268 67 10MB
German Pages 1711 [1712] Year 2018
Hölters
Handbuch Unternehmenskauf
Handbuch Unternehmenskauf herausgegeben von
Dr. Wolfgang Hölters
9. neu bearbeitete und erweiterte Auflage
2019
Bearbeiter Dr. Fabian Billing
Dipl. oec. Andreas Keim
Düsseldorf
Wirtschaftsprüfer in Stuttgart
Dr. Henning Bloß, LL.M. (London)
Dr. Lars Lensdorf
Rechtsanwalt in Frankfurt a. M.
Rechtsanwalt in Frankfurt a.M.
Dipl.-Kfm. Stefan Blum
Prof. Dr. Olaf Müller-Michaels
Wirtschaftsprüfer/Steuerberater in Düsseldorf
Rechtsanwalt in Düsseldorf, Professor an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management in Essen
Dr. Jens Buchta Rechtsanwalt in Düsseldorf
Dr. Michael Ramb, LL.M.
Dr. Mathias Eisen
Rechtsanwalt in Berlin
Rechtsanwalt in Frankfurt a. M.
Ansgar Rempp, M.C.J. (N.Y.U.)
Dr. Max Flötotto
Rechtsanwalt in München
München
Dr. Stefan Renner
Dr. Holger Franz
Rechtsanwalt in Düsseldorf
Syndikusanwalt in München
Dr. Frank Röhling
Dr. Denis Gebhardt, LL.M. (McGeorge)
Rechtsanwalt in Berlin
Rechtsanwalt in Düsseldorf Attorney-at-Law (New York)
Dipl.-Kfm. Prof. Dr. Friedhelm Sahner
Rechtsanwältin/Steuerberaterin in Berlin Attorney-at-Law (New York)
Wirtschaftsprüfer/Steuerberater in Düsseldorf, Honorarprofessor an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen
Dr. Kerstin Henrich, LL.M. (Duke)
Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück
Dr. Heide Gröger, M.C.J. (N.Y.U)
Dr. Tanja Hölters
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Berlin, Honorarprofessor an der Universität Potsdam
Rechtsanwältin Syndikusrechtsanwältin in Köln
Dr. Thomas Thees
Rechtsanwältin in Düsseldorf
Dr. Wolfgang Hölters Rechtsanwalt in Düsseldorf
Dr. Thomas Ingenhoven, LL.M. (Cambridge)
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Frankfurt a.M.
Dr. Peter Vocke Rechtsanwalt in Düsseldorf
Rechtsanwalt in Frankfurt a. M. Solicitor (England & Wales)
Dr. Markus Weber
Dipl. Kfm. Axel Gerhardt Jeromin
Dr. Stefan Weinheimer
Wirtschaftsprüfer in Stuttgart
Rechtsanwalt in Düsseldorf
Prof. Dr. Marcel Kaufmann, LL.M.
Dr. Christoph Wetzler
Rechtsanwalt in Berlin
Rechtsanwalt in Frankfurt a.M.
Rechtsanwalt in Düsseldorf
Zitierempfehlung: Verfasser in Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, 9. Aufl., Rz. …
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-45558-3 ©2018 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany
Vorwort zur neunten Auflage Seit dem Erscheinen der achten Auflage dieses Handbuchs sind keine vier Jahre vergangen. Das ist für den Erscheinungsrhythmus eines solchen Handbuchs eine eher kurze Zeitspanne. Angesichts der rasanten Entwicklung des M&A-Marktes war eine Neuauflage dringend geboten. Herausgeber, Autoren und Verlag waren stets stolz, ihr Handbuch als „Klassiker“ in diesem Sektor auf dem neuesten Stand der Entwicklung zu halten, und werden sich weiterhin diesem Anspruch stellen. Unternehmenskäufe haben eine außerordentliche volkswirtschaftliche Bedeutung. Makroökonomisch gibt die Zahl der Unternehmenskäufe Auskunft über die Flexibilität einer Volkswirtschaft, über das Ausmaß unternehmerischer Risikobereitschaft, über die Attraktivität des jeweiligen nationalen Marktes für Unternehmenskäufe, über das Ausmaß der Konzentration und über viele andere volkswirtschaftliche Eckdaten mehr. Mikroökonomisch bedeutet der Verkauf eines Unternehmens meist einen entscheidenden Einschnitt in dessen Positionierung in der Produktpalette, im Marketing, in der Organisation sowie im Personalwesen. Der Schwerpunkt der Entwicklung seit Erscheinen der letzten Auflage liegt weniger in einer Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen, sondern im Erstarken bestimmter wirtschaftlicher Themenfelder, die sich bei Akquisitionsstrategie und Durchführung der Transaktion bemerkbar machen. Genannt seien hier insbesondere die Themen IT und Datenschutz sowie Regulierte Industrien, die ihrer Bedeutung entsprechend in neu aufgenommenen Beiträgen behandelt werden. Von den Autoren der achten Auflage sind – teils aus Gründen des Generationenwechsels – die Herren Dr. Martin Bouchon, Dr. Oliver Duys, Prof. Dr. Kai Lucks, Gerrit Raupach, Jochim Sedemund sowie Prof. Dr. Franz-Jörg Semler ausgeschieden. Ich danke den ausgeschiedenen Autoren für ihre Mitwirkung über mehrere Auflagen. Die Herren Sedemund und Prof. Dr. Semler waren bereits seit der ersten Auflage dabei. Als neue Autoren konnte ich die Herren Dr. Fabian Billing, Dr. Henning Bloß, Dr. Mathias Eisen, Dr. Max Flötotto, Dr. Denis Gebhardt, Dr. Thomas Ingenhoven, Prof. Dr. Marcel Kaufmann, Dr. Lars Lensdorf, Dr. Michael Ramb, Ansgar Rempp, Dr. Stefan Renner, Dr. Frank Röhling, Dr. Peter Vocke sowie Dr. Markus Weber gewinnen. Es handelt sich – wie bei den übrigen Autoren – sämtlich um erfahrene Praktiker. Die Zahl von mittlerweile 19 Beiträgen machte eine formale Änderung sinnvoll. Jeder Autorenbeitrag erscheint nunmehr als Kapitel. Mehrere Kapitel werden zu insgesamt vier Teilen zusammengefasst. Teil I wird unter der Überschrift „Übergreifende/Strategische Themen“ vorangestellt. Es folgen alsdann funktionale Themen (Teil II), Akquisitionstypen (Teil III) sowie – neu – Staats- und Schiedsgerichte (Teil IV). Als weitere Neuerung wird jedem Kapitel ein Überblick vorangestellt. In diesem Überblick werden in knappen Worten der Inhalt des Kapitels sowie dessen wesentliche Schwerpunkte genannt. Herausgeber, Autoren und Verlag sind zuversichtlich, dass die neunte Auflage dieses Handbuchs dem Benutzer eine wertvolle Hilfestellung bei praktischen Fragen des Unternehmenskaufs leisten wird. Für Anregungen und Kritik aus der Leserschaft sind wir dankbar. Diese können mir als Herausgeber und dem Verlag unter [email protected] mitgeteilt werden. Düsseldorf, im Oktober 2018
Wolfgang Hölters
VII
Inhaltsübersicht* Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII XXVII
Teil I Übergreifende/Strategische Themen Kapitel 1 Mergers & Acquisitions (Rempp) A. Bedeutung und Grundfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Erwerbsobjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erwerbswege und Durchführungsformen . . . . . . . . III. Der Markt für Unternehmen und Beteiligungen . . . . IV. Unternehmenskauf als konzernstrategisches Konzept V. Unternehmenskauf und Konzentration . . . . . . . . . . VI. Unternehmenskauf und Investitionsprüfung . . . . . . VII. Management Buy-Out und Leveraged Buy-Out . . . . VIII. Feindliche Übernahmen (Hostile Takeovers) . . . . . .
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3 3 4 7 16 19 21 25 31
B. Projektmanagement beim Unternehmenskauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Organisation des Unternehmenskaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33 34 35
C. Abwicklung des Unternehmenskaufs . . . . . . I. Formen der Abwicklung . . . . . . . . . . II. Ablauf von Unternehmenskäufen . . . . III. Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Warranty & Indemnity Insurance . . . V. Kaufpreis und Bewertung . . . . . . . . . VI. Unternehmenskauf vor den Gerichten
40 40 42 48 49 50 54
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* Ausführliche Inhaltsverzeichnisse jeweils zu Beginn der einzelnen Kapitel.
IX
Inhaltsübersicht
Kapitel 2 Integrationsmanagement (Billing/Flötotto) Seite
A. M&A als wichtiger Wachstumstreiber . . . . . . . . . . . . I. Einfluss von M&A auf den Unternehmenserfolg . II. Die Prozesskette des Unternehmenskaufs . . . . . III. Erfolgsfaktoren für M&A . . . . . . . . . . . . . . . .
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60 60 62 64
B. Post-Merger-Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Integrationsphasen und mögliche Hindernisse II. Integrationsarchitektur und Masterplan . . . . III. Value Capture . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Organisationsdesign und Talentmanagement . V. Kultur und Change Management . . . . . . . . . VI. Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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66 66 70 76 84 89 92
C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
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Teil II Funktionale Themen Kapitel 3 Bewertung (Keim/Jeromin) A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
102
B. Wertbegriffe, Funktion der Unternehmensbewertung sowie Bewertungsanlässe I. Begriff des Unternehmenswertes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anlässe der Unternehmensbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bewertungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Funktion des Bewerters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Prozess der Unternehmensbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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104 104 106 108 112 113
C. Methodische Grundlagen . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . II. Gesamtbewertungsverfahren III. Einzelbewertungsverfahren .
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115 115 116 163
D. Prognose der finanziellen Überschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Informationsbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vergangenheitsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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X
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III. Prognoserechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Prognose bei subjektiver Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ableitung der Komponenten des Kapitalisierungszinssatzes . . . . . . . . III. Anwendung des CAPM bei der Bewertung ausländischer Unternehmen IV. Wachstumsabschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Steuern im Kapitalisierungszinssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Kapitalisierungszinssatz nach der Zinszuschlagsmethode . . . . . . . . . .
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173 196
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203 203 211 235 236 240 242
F. Steuerlich und rechtlich regelmäßig auftretende Sonderthemen . . . . . . . . . . . . I. Gesondert bewertbares Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bewertung von Sacheinlagen bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Pensionsverpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Dauerhaft negative Auszahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Bedingte Ansprüche und Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
244 244 247 250 252 252
Kapitel 4 Akquisitionsfinanzierung (Ingenhoven/Eisen) A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
B. Arten von Unternehmenskäufen aus Finanzierungssicht . . . . . . . . . I. Die Finanzierung des „Corporate“-Unternehmenskaufs . . . . . II. Die Finanzierung eines Leveraged Buy-Out – die „Leveraged“Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Cross Over-Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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262 264
C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen . . . . . . . . . I. Kreditvertragliche Finanzierungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kapitalmarktinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwitterformen – kapitalmarktnahe Instrumente zur Finanzierung einer Unternehmensakquisition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Übersicht zu den Instrumenten der Akquisitionsfinanzierung . . . . . . . D. Ablauf und Dokumentation einer typischen Akquisitionsfinanzierung . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Phase I – Bis zum indikativen Angebot – Lender Education und Highly Confident Letter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Phase II – Bis zum verbindlichen Angebot – Commitment Papers .
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264 265 275
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283 285
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286 286
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287 288 XI
Inhaltsübersicht
Seite
IV. Phase III – Bis zur Unterzeichnung des SPA – Kreditvertragsdokumentation und „Certain Funds“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Phase IV – Bis zum Vollzug des Kaufvertrags und erster Inanspruchnahme der Kreditfinanzierung – Bestellung der Closing Sicherheiten und Erfüllung sonstiger Auszahlungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . VI. Phase V – Nach Vollzug des Kaufvertrags – Beitritt und Sicherheiten durch die Zielgruppe und geplante Reorganisationsschritte . . . . . . . . . .
293
E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die heutigen Vertragsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der LMA-basierte Konsortialkreditvertrag für Akquisitionsfinanzierungen
297 297 297 300
F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Begriff der Anleihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Platzierung und Börsennotierung von Anleihen . . . . . . . . . . . IV. Rechtsverhältnisse und Dokumentation von Anleiheemissionen V. High Yield-Anleihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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323 323 323 325 336 348
A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Steuerliche Fragestellungen beim Unternehmenskauf . . . . . . . . . . . . . . II. Steuerliche Interessen von Verkäufer und Käufer . . . . . . . . . . . . . . . . .
360 360 361
B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ertragsteuerliche Konsequenzen des Verkaufs eines Unternehmens . . . . . II. Steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
363 363 373
C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ertragsteuerliche Konsequenzen des Unternehmenserwerbs . . . . . . . . . . II. Steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
392 392 409
D. Steuerliche Gestaltung von grenzüberschreitenden Unternehmenskäufen I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erwerb eines inländischen Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erwerb eines ausländischen Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . .
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427 427 428 436
E. Verkehrsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Asset Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Share Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
439 439 440
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Kapitel 5 Steuern (Gröger)
XII
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F. Haftung für Steuern und Steuerklauseln im Unternehmenskaufvertrag . . . . . . . I. Haftung für Steuern des Veräußerers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vertragliche Absicherung des Erwerbers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
443 443 446
G. Leveraged Buy-Out (LBO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bedeutung des Leverage-Effekts . . . . . . . . . . . . . . II. Transaktionsstruktur bei einem Leveraged Buy-Out III. Beteiligung des Managements am Unternehmen . .
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447 447 447 451
H. Erwerb eines Unternehmens in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Erwerb nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erwerb im Vorfeld eines Insolvenzverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 6 Arbeitsrecht (von Steinau-Steinrück/Thees) A. Arbeitsrecht beim Unternehmens- und Beteiligungskauf I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Änderungen auf Unternehmensebene . . . . . . . . . III. Änderungen auf Betriebsebene . . . . . . . . . . . . . IV. Einzel- oder Gesamtrechtsnachfolge . . . . . . . . . . V. Überblick: Arbeitsrecht bei Umwandlungen . . . . .
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461 461 462 463 464 465
B. Betriebsübergang nach § 613a BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen des Übergangs von Arbeitsverhältnissen . . . . . . . . . . . III. Übergang der Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Rechtsstellung übergegangener und ausgeschiedener Arbeitnehmer . . . . . VII. Rechtsstellung Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Kündigungsrechtliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Haftungssystem des § 613a BGB und Verhältnis zum Umwandlungsrecht . X. § 613a BGB in der Insolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI. Betriebsverfassungs- und mitbestimmungsrechtliche Auswirkungen . . . . XII. Fortgeltung von Kollektivnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII. Prozessuale Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
467 467 471 501 512 519 536 559 559 570 576 590 605 628
XIII
Inhaltsübersicht
Seite
C. Arbeitsrechtliche Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gegenstand der Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Datenschutzrechtliche Grenzen nach DSGVO und BDSG
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635 635 636 637
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644 644 645
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646 654 668 694 707 708
B. Anwendung des Kartellverbots nach § 1 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gemeinschaftsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wettbewerbsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
712 712 715
C. Europäische Fusionskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnis zur nationalen Fusionskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . III. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenschlussbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Materielle Untersagungsvoraussetzungen (Art. 2 Abs. 1–3 FKVO) VI. Fusionskontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 7 Kartellrecht (Röhling) A. Deutsche Fusionskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnis zur Fusionskontrolle des EU-Rechtes . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anwendbarkeit der deutschen Fusionskontrolle aufgrund der Umsatzund Transaktionsschwellenwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Zusammenschlussbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Materielle Untersagungsvoraussetzungen (§ 36 Abs. 1 GWB) . . . . . . . VI. Fusionskontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Ministererlaubnis nach § 42 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Auslandszusammenschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Anwendbarkeit des Art. 101 AEUV auf Gemeinschaftsunternehmen . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verfahrensrechtliche Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kollision zwischen Entscheidungen der Kommission und des BKartA
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760 760 761 764 766
XIV
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Inhaltsübersicht
Kapitel 8 IT und Datenschutz (Lensdorf/Bloß) Seite
A. Die wesentlichen IT-Verträge . . . . . . . I. Software-Lizenzverträge . . . . . . II. Software-Pflegeverträge . . . . . . III. Hardware-Beschaffungsverträge . IV. Hardware-Wartungsverträge . . . V. Cloud-Verträge . . . . . . . . . . . .
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770 770 774 774 775 775
B. IT-Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
776 776 776
C. Formen des Unternehmenskaufs und ihre Folgen für IT-Aspekte . . . . . . . . . . . I. Share Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Asset Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
778 778 779
D. Trennung bzw. Herauslösung der IT-Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Besonderheiten bei Carve-out Transaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zeitpunkt für IT-Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Übertragung bzw. Teilung von IT-Lizenzen/Dienstleistungsverträgen und IT-Hardware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Transitional Service Agreements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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783 783 783 784
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785 786
E. IT Garantien im Unternehmenskaufvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
786
F. Datenschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Offenlegung personenbezogener Daten im Rahmen der Due Diligence . III. Übertragung von Kundendaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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787 787 791 795
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805 805 806 809
B. Vorvertragliches Stadium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Pflichten während der Vertragsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
810 810
Kapitel 9 Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag (Weber) A. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Unternehmen und Unternehmensträger . . . . . . . . . . . . II. Anwendbare Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zielsetzungen beim Unternehmens- und Beteiligungskauf
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XV
Inhaltsübersicht
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II. Vorbereitende Festlegungen ohne vertragliche Bindung . . . . . . . . . . . . . III. Vorbereitende Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
815 817
C. Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriff und Gegenstand der Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnis zu Gewährleistung und Verschulden bei Vertragsanbahnung III. Verpflichtungen des Kaufinteressenten aufgrund der Due Diligence . . . IV. Rechtliche Schranken der Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug . . . . . . . . . . . . I. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Asset Deal – Ausgewählte Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Share Deal – Ausgewählte Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ausgewählte Form-, Zustimmungs- und Genehmigungserfordernisse
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839 839 840 848 862
E. Kaufpreis . . . . . . . . . . . . . . . I. Modalitäten . . . . . . . . . II. Sicherung des Verkäufers III. Sicherung des Käufers . .
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870 870 876 879
F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte . I. Gesetzliche Regelung der Gewährleistung . . II. Verschulden bei Vertragsanbahnung . . . . . . III. Vertragliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . IV. Sonstige Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . V. W&I-Insurance . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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881 882 892 899 907 907
G. Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Haftung des Erwerbers beim Asset Deal II. Haftung des Erwerbers beim Share Deal III. Haftung des Veräußerers . . . . . . . . . .
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913 913 914 916
A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
919
B. Die Erwartungen US-amerikanischer Käufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Standardregelungen bei Unternehmenskäufen in den USA . . . . . . . . . . . II. Wichtige Themen aus Sicht eines US-Käufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
921 921 922
C. Die Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
923
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Kapitel 10 Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik (Henrich)
XVI
Inhaltsübersicht
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D. Kaufgegenstand und Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das dingliche Vollzugsgeschäft unter aufschiebender Bedingung . . . . . . . II. Das auf das dingliche Vollzugsgeschäft anwendbare Recht . . . . . . . . . . .
924 925 926
E. Der Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vollzugsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Streitigkeiten über das Vorliegen der Vollzugsvoraussetzungen – Fast Track Arbitration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
929 929
F. Gewährleistungen des Verkäufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Typische Gewährleistungen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . III. Haftung des Verkäufers bei Verletzung der Verkäufergarantien IV. Freistellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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941 941 944 952 958
G. Sonstige Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verhalten zwischen Signing und Closing (Covenants) . . . . . . . . . . . . . . II. Wettbewerbsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
959 959 960
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940
Kapitel 11 Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung von Beteiligungen (Sahner/Blum) A. Grundlegende Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
968
B. Wertbeimessung von Beteiligungen nach deren Erwerb auf Ebene des handelsrechtlichen Jahresabschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
968
C. Folgebewertungen des Beteiligungsansatzes im handelsrechtlichen Jahresabschluss im Rahmen sog. Werthaltigkeitstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bewertungsanlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Berücksichtigung von Unternehmens- und Ertragsteuern . . . . . . . III. Berücksichtigung von Synergieeffekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bestimmung der Alternativanlage für den Kapitalisierungszinssatz . V. Bewertung unter Veräußerungsgesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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970 970 971 972 974 976 977
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978 978
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980 1000
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss nach IFRS . . . . I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bilanzierung von Business Combinations nach IFRS 3 im Konzernabschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bewertungsvorgehen für ausgewählte immaterielle Vermögenswerte
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XVII
Inhaltsübersicht
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E. Werthaltigkeitstests im Rahmen der Folgekonsolidierung nach IAS 36 I. Impairment Only Approach (IOA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Durchführung des Impairmenttests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Feststellung eines möglichen Wertminderungsbedarfs . . . . . . . IV. Beizulegender Zeitwert abzgl. Veräußerungskosten (Fair Value less Costs of Disposal) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Nutzungswert (Value in Use) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Buchwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Realisierung des Wertminderungsbedarfs . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Zuordnung des Goodwill zu Cash Generating Units . . . . . . . .
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1009 1009 1011 1012
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1012 1013 1015 1015 1017
A. Vorstand und Unternehmenskauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1025
B. Vorstand und Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Relevanz der Due Diligence für Target-, Veräußerer- und Erwerber-AG II. Erwerber-AG und Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Target-AG und Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Veräußerer-AG und Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Compliance beim Unternehmenskauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Kostenübernahme durch das Target . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1026 1026 1027 1031 1037 1038 1040
Teil III Akquisitionstypen Kapitel 12 Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition (Hölters/Hölters)
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C. Einflussmöglichkeiten des Erwerbers auf die Unternehmensführung im Rahmen der Transaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zahlung einer Sondervergütung an den Vorstand der Target-AG durch die Erwerber-AG; Anforderungen an eine Sondervergütung im Allgemeinen . II. Möglichkeit der Einflussnahme des Erwerbers auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats und des Vorstands der Target-AG . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gesamtvorstand und Zustimmung des Aufsichtsrats . . . . . . . . . III. Zustimmungserfordernis der Hauptversammlung . . . . . . . . . . . IV. Zuständigkeit der Hauptversammlung einer Veräußerer- bzw. Erwerber-AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. „Holzmüller-Hauptversammlung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XVIII
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1044 1044 1046
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1051 1051 1051 1054
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1055 1075
Inhaltsübersicht
Seite
E. Mitteilungspflichten bei M&A-Transaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Relevanz der Thematik für Target-, Veräußerer- und Erwerber-AG . . . . II. Aktienrechtliche und kapitalmarktrechtliche Mitteilungspflichten gegenüber dem Target . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ad-hoc-Mitteilungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1087 1087
A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG) . . . . . . . . . . . II. Veröffentlichte Angebotsunterlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1097 1098 1103
B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots . . . . . . . . . . . . . . I. Vorbereitungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Angebotsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1103 1103 1118
C. Pflichtangebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kontrollerwerb als Auslöser des Pflichtangebots III. Angebotsunterlage, Mindestpreis . . . . . . . . . . IV. Ausnahmen vom Pflichtangebot . . . . . . . . . .
Kapitel 13 Börsennotierte Unternehmen (Müller-Michaels)
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D. Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Pflichten im Vorfeld von Übernahmeangeboten . . . . . . . . . . . . . . . III. Stellungnahme des Vorstands und des Aufsichtsrats nach § 27 WpÜG IV. Sondervorteile und Anerkennungsprämien für Verwaltungsmitglieder der Zielgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Abwehrmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1137 1137 1137 1139
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A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriff und Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Aktuelle Entwicklungen der Private Equity-Praxis . . . . . . . . . . . . . . . .
1164 1164 1178
B. Gesellschaftsrechtliche Schranken der Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsnatur und Inhalt des Beteiligungsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . .
1183 1183
Kapitel 14 Private Equity (Weinheimer/Renner)
XIX
Inhaltsübersicht
Seite
II. Beschränkung der Nutzung des Vermögens der Zielgesellschaft bei Leveraged Buy-Outs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Gesellschaftervereinbarung zwischen Investoren und (Alt-)Gesellschaftern . I. Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mitverwaltungsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Veräußerungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bezugsrechte und -pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Vesting-Klauseln und Key-Man-Issues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Exit-Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Liquidationspräferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Sanktionen bei Verstoß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1194
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1203 1203 1204 1209 1210 1210 1213 1214 1215
A. Gegenstand eines Immobilienunternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1219
B. Zentrale Inhalte der Due Diligence . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Prüfung der grundbuchrechtlichen Situation III. Mietverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Öffentlich-rechtliche Rahmenbedingungen . V. Verträge mit der öffentlichen Hand . . . . . . VI. Finanzierungsverträge . . . . . . . . . . . . . . . VII. Vertragsinhalte bei Projektentwicklungen . .
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1220 1220 1221 1229 1240 1245 1247 1248
C. Besonderheiten des Kaufvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Formale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Inhaltliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1249 1250 1254
D. Besicherung der Kaufpreisfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundpfandrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Abtretung von Mietzinsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Steuerrechtliche Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . I. Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gewerbesteuer bei Miet- und Pachteinnahmen
1267 1267 1273 1276
Kapitel 15 Immobilienunternehmen (Franz/Vocke)
XX
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Inhaltsübersicht
Kapitel 16 Unternehmen in Krise und Insolvenz (Buchta) Seite
A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1282
B. Abgrenzung von Krise und Insolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick über das Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Stadien der Krise und Insolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1284 1284 1290
C. Vorbereitungsphase des Unternehmenskaufs I. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . II. Kaufobjekt: Anteile oder Assets . . . . . III. Besonderheiten der Due Diligence . . . IV. Übernahme- und Sanierungskonzept . V. Sanierungsbeteiligung Dritter . . . . . .
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D. Unternehmenskauf in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Risiken beim Kauf vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens II. Haftungsrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Insolvenzrechtliche Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vertragsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Unternehmenskauf im Insolvenzeröffnungsverfahren . . . . . . . I. Unternehmenskauf vom vorläufigen Insolvenzverwalter II. Zustimmungserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Risiken für den Käufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vertragsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Handlungsempfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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F. Unternehmenskauf im eröffneten Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Stellung des Insolvenzverwalters (Verwaltungs- und Verfügungsbefugnisse) II. Zustimmungserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Veräußerung vor dem Berichtstermin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Haftungs- und Anfechtungsrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Vertragsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Übertragende Sanierung auf eine Betriebsübernahmegesellschaft . . . . . . .
1316 1316 1317 1317 1318 1318 1319
G. Unternehmenskauf und Insolvenzplanverfahren . I. Vorteile des Insolvenzplans . . . . . . . . . . . II. Ablauf des Insolvenzplanverfahrens . . . . . III. Zielsetzung und Inhalt des Insolvenzplans . IV. Konsequenzen für den Unternehmenskauf
1320 1320 1321 1325 1328
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XXI
Inhaltsübersicht
Kapitel 17 Regulierte Industrien (Kaufmann/Ramb) Seite
A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriff der regulierten Industrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Allgemeine Aspekte bei Transaktionen in regulierten Industrien . . . . . . .
1333 1333 1335
B. Transaktionen in ausgewählten regulierten Sektoren I. Pharmaunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Medizinprodukteunternehmen . . . . . . . . . . III. Leistungserbringer im Gesundheitswesen . . . IV. Energiewirtschaft und erneuerbare Energien . V. Telekommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Allgemeine öffentlich-rechtliche Aspekte bei Transaktionen in regulierten Industrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Umweltrecht und öffentlich-rechtliche Genehmigungen . . . . . . . . II. Öffentlich-rechtliche Genehmigungen in der Transaktion . . . . . . . III. Vergaberecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1405
B. Internationales Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriff des Internationalen Privatrechts . . . . . . . . . . . . II. Rechtsquellen des deutschen Internationalen Privatrechts III. Struktur von Kollisionsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Vertragsstatut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Gesellschaftsstatut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Weitere für Erfüllungsgeschäfte relevante Statuten . . . . . VII. Vollmacht und organschaftliche Vertretung . . . . . . . . . .
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1409 1409 1410 1411 1411 1419 1426 1428
C. Internationales Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schiedsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1430 1431 1443
D. Formfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Materiell-rechtliche Wirksamkeitserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Öffentliche Urkunden und Vertretungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1446 1446 1454
Kapitel 18 Besonderheiten beim grenzüberschreitenden Unternehmenskauf (Wetzler)
XXII
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E. Ausländische Investitionen und Außenwirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnis zwischen sektorübergreifender Investitionsprüfung und sektorspezifischen Melde- und Untersagungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sachlicher Anwendungsbereich der Kontrollbefugnisse . . . . . . . . . . . . . IV. Persönlicher Anwendungsbereich der Kontrollbefugnisse . . . . . . . . . . . . V. Untersagung des Erwerbs bei Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verfahrensfragen bezüglich der Prüfung und Beschränkung von Transaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Gestaltungsempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1457 1457
F. Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1463
1459 1459 1460 1460 1461 1462 1462
Teil IV Staatliche Gerichte und Schiedsgerichte Kapitel 19 Der Unternehmenskauf vor staatlichen Gerichten und Schiedsgerichten (Gebhardt) A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1470
B. Typische Streitigkeiten bei Unternehmenskäufen . I. Presigning Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . II. Preclosing Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . III. Closing Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . IV. Postclosing Streitigkeiten . . . . . . . . . . . .
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C. Verfahren vor staatlichen Gerichten I. Prozessstrategie des Klägers . II. Prozessstrategie des Beklagten III. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . IV. Klageerhebung . . . . . . . . . . V. Zustellung . . . . . . . . . . . . . VI. Partei- und Prozessfähigkeit . VII. Prozessführungsbefugnis . . . VIII. Streitverkündung . . . . . . . . IX. Beweisverfahren . . . . . . . . . X. Kosten . . . . . . . . . . . . . . . XI. Entscheidung . . . . . . . . . . .
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XII. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII. Einstweilige Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1500 1500
D. Verfahren vor Schiedsgerichten . . . . . . . . . . . I. Wesen der Schiedsgerichtsbarkeit . . . . . . II. Schiedsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . III. Verfahrensstrategie des Schiedsklägers . . IV. Verfahrensstrategie des Schiedsbeklagten . V. Anwendbares materielles Recht . . . . . . . VI. Vertraulichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Schiedsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Verfahrenseinleitung . . . . . . . . . . . . . . IX. Verfahrensschritte . . . . . . . . . . . . . . . . X. Beweisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . XI. Schiedsspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . XII. Einstweilige Maßnahmen . . . . . . . . . . .
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E. Vergleich der Verfahrensarten . . . . . . . . I. Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . II. Verfahrenskosten . . . . . . . . . . . . III. Verfahrenseinleitung . . . . . . . . . . IV. Verfahrensflexibilität . . . . . . . . . . V. Beteiligung Dritter . . . . . . . . . . . VI. Richter/Schiedsrichter . . . . . . . . . VII. Vertraulichkeit . . . . . . . . . . . . . . VIII. Verteidigungsmöglichkeiten . . . . . IX. Vollstreckbarkeit der Entscheidung X. Einstweilige Maßnahmen . . . . . . . XI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . .
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1539 1539
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Anhang A Vertragsbeispiele I. Kauf sämtlicher Geschäftsanteile einer GmbH (Weber) . . . . . . . . . . . . . II. Kauf durch Übertragung von Wirtschaftsgütern und Verbindlichkeiten – „Asset Deal“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kaufvertrag (Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unterrichtung der Arbeitnehmer wegen Betriebsübergang (von Steinau-Steinrück/Thees) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XXIV
Inhaltsübersicht
Seite
III. Limited Partnership Interest and Share Purchase Agreement (Henrich) . . . . . . IV. Vertraulichkeitsvereinbarung (Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Erwerb eines in der Insolvenz befindlichen Unternehmens (Buchta) . . . . . . . .
1550 1575 1578
Anhang B Checklisten (deutsch/englisch) Seite
I. Checkliste Due Diligence im Zusammenhang mit dem beabsichtigten Erwerb der Anteile der Zielgesellschaft/Checklist Due Diligence Review in Connection with the Acquisition of Shares in (Target Company) (Müller-Michaels) . . . . . . 1584 II. Steuerliche Due Diligence: Anforderungsliste Deutschland/Tax Due Diligence: Information request list Germany (Gröger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1593 III. Checkliste Arbeitsrechtliche Due Diligence/Checklist Labour Law Due Diligence (von Steinau-Steinrück/Thees) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1600
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1605
XXV
Abkürzungsverzeichnis a.A. ABl. EG/EU Abschn. AcP AEUV AfA AG AGB AiB AIF AktG ÄndG AnfG AngKSchG AnSVG AnwBl. AO AP ApoG APV ArbG ArbGG ArbNErfG ArbplSchG ArbRGW ARSt. ARUG AStG AuA AÜG AuR AVG AWD AWG AWV
anderer Ansicht Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften/Union Abschnitt Archiv für die civilistische Praxis Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Absetzung für Abnutzung Aktiengesellschaft; Die Aktiengesellschaft Allgemeine Geschäftsbedingungen Arbeitsrecht im Betrieb Alternative Investmentfonds Aktiengesetz Änderungsgesetz Anfechtungsgesetz Angestelltenkündigungsschutzgesetz Anlegerschutzverbesserungsgesetz Anwaltsblatt Abgabenordnung Arbeitsrechtliche Praxis Gesetz über das Apothekenwesen Adjusted Present Value Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Arbeitnehmererfindungsgesetz Arbeitsplatzschutzgesetz Das Arbeitsrecht der Gegenwart Arbeitsrecht in Stichworten Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie Außensteuergesetz Arbeit und Arbeitsrecht Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Arbeit und Recht Angestelltenversicherungsgesetz Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters Außenwirtschaftsgesetz Außenwirtschaftsverordnung
BaFin BAG BAGE BAnz. BauGB BauR BayObLG BB BBiG BBK
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bundesarbeitsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bundesanzeiger Baugesetzbuch Baurecht Bayerisches Oberstes Landesgericht Betriebs-Berater Berufsbildungsgesetz Buchführung, Bilanzierung, Kostenrechnung XXVII
Abkürzungsverzeichnis
BBodSchG Begr. RegE BeschFG BetrAVG BetrVG BeurkG BewG BFH BFH/NV BFuP BGB BGBl. BGH BGHZ BilMoG BImSchG BiRiLiG BKartA BKR BlStSozArbR BMF BMWi BörsG BörsZulV BP BR-Drucks. BSG BSK BStBl. BT-Drucks. BUrlG BuW BVerfG BVerfGE BVerwG BVG BVS BZ
Bundes-Bodenschutzgesetz Begründung Regierungsentwurf Beschäftigungsförderungsgesetz Gesetz zur Regelung der betrieblichen Altersversorgung Betriebsverfassungsgesetz Beurkundungsgesetz Bewertungsgesetz Bundesfinanzhof Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundesgerichtshof, Entscheidungen in Zivilsachen Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz Bundesimmissionsschutzgesetz Bilanzrichtlinien-Gesetz Bundeskartellamt Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht Bundesfinanzministerium Bundesministerium für Wirtschaft und Energie Börsengesetz Börsenzulassungs-Verordnung BewertungsPraktiker Bundesrats-Drucksache Bundessozialgericht Börsensachverständigenkommission Bundessteuerblatt Bundestags-Drucksache Bundesurlaubsgesetz Betrieb und Wirtschaft Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Bundesversorgungsgesetz Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben Börsen-Zeitung
CAC CAPM CCZ CEO CISG CR
Contributory Asset Charges Capital Asset Pricing Models Corporate Compliance Zeitschrift Chief Executive Officer Contracts for the International Sale of Goods Computer und Recht
DB DBA
Der Betrieb Doppelbesteuerungsabkommen
XXVIII
Abkürzungsverzeichnis
DBW DCF DJ DJT DNotZ DrittelbG DSGVO DStR DStZ DUV DV, DVO DZWIR
Die Betriebswirtschaft Discounted Cash Flow Deutsche Justiz Deutscher Juristentag Deutsche Notar-Zeitschrift Drittelbeteiligungsgesetz Datenschutz-Grundverordnung Deutsches Steuerrecht Deutsche Steuer-Zeitung Deutscher Universitätsverlag Durchführungsverordnung Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
EBIT EBITDA ECFR ECJ ECLR EFG EFZG EG EGAktG EGBGB EGHGB EGKS EGKSV EK ELR ErbbauRG ErbbauRVO ErbStG ErfKomm. ERP EStDV EStG EStR ESUG EuG EuGH EuGVÜ EuGVVO
Earnings before interest and taxes Earnings before interests, taxes, depreciation and amortisation European Company and Financial Law Review European coatings journal European Competition Law Review Entscheidungen der Finanzgerichte Entgeltfortzahlungsgesetz Einführungsgesetz, Europäische Gemeinschaften Einführungsgesetz zum Aktiengesetz Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Einführungsgesetz zum Handelsgesetzbuch Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Eigenkapital European Law Reporter Gesetz über das Erbbaurecht Verordnung über das Erbbaurecht Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz Erfurter Kommentar European Recovery Program Einkommensteuer-Durchführungsverordnung Einkommensteuergesetz Einkommensteuer-Richtlinien Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften Europäischer Gerichtshof Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen VO (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilund Handelssachen Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht einstweilige Verfügung Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht
EuZW e.V. EVÜ EWGV EWiR
XXIX
Abkürzungsverzeichnis
EWR EzA
Europäischer Wirtschaftsraum Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht
FA FamFG
FKVO FMStBG FMStG FR FRN FRUG FS FuE FverlV
Fachanwalt Arbeitsrecht Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Fachausschuss für Unternehmensbewertung und Betriebswirtschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung Finanz-Betrieb Finanzgericht; Fachgutachten Gesetz über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit Gesetz zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Schriftenreihe des Forschungsinstituts für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e.V. Köln Fusionskontrollverordnung Finanzmarktstabilisierungsbeschleunigungsgesetz Finanzmarktstabilisierungsgesetz Finanz-Rundschau Floating Rate Note Finanzmarktrichtlinie-Umsetzungsgesetz Festschrift Forschung und Entwicklung Funktionsverlagerungsverordnung
G-BA GBO GbR GBV GesR GewO GewStG GewStR GG GK GmbH GmbHG GmbHR GmbH-StB GNotKG GOB GrEStG Großkomm. GrS GRUR GU GuV GVG
Gemeinsamer Bundesausschuss Grundbuchordnung Gesellschaft bürgerlichen Rechtes Gesamtbetriebsvereinbarungen Gesundheitsrecht (Zeitschrift) Gewerbeordnung Gewerbesteuergesetz Gewerbesteuer-Richtlinien Grundgesetz Gemeinschaftskommentar Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau Der GmbH-Steuer-Berater Gerichts- und Notarkostengesetz Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung Grunderwerbsteuergesetz Großkommentar Großer Senat Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gemeinschaftsunternehmen Gewinn- und Verlustrechnung Gerichtsverfassungsgesetz
FamRZ FAUB FAZ FB FG FGG FGG-ReformG FIW
XXX
Abkürzungsverzeichnis
GWB GWR
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht
H HandwO HBG HdbPersG HFA HG HGB HWB HWF HWK HwStR HypBG
Hinweis Handwerksordnung Hypothekenbankgesetz Handbuch der Personengesellschaft Hauptfachausschuss (des Instituts der Wirtschaftsprüfer) Härtegrade Handelsgesetzbuch Handwörterbuch der Betriebswirtschaft Handwörterbuch der Finanzwirtschaft Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar Handwörterbuch des Steuerrechts Hypothekenbankgesetz
IAS IBA IdW IdW RS HFA IFRS IMO InsO IntGesR IOA IPO IPR IPRax IPRspr. IStR IWB
International Accounting Standards International Bar Association Institut der Wirtschaftsprüfer IdW Stellungnahme zur Rechnungslegung des Hauptfachausschusses International Financial Reporting Standards Integration Management Office Insolvenzordnung Internationales Gesellschaftsrecht Impairment Only Approach Initial Public Offering Internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiete des Internationalen Privatrechts Internationales Steuerrecht Internationale Wirtschafts-Briefe
JStG JZ
Jahressteuergesetz Juristenzeitung
KAGB KapErhG KapMuG KBV KG KGaA KO KÖSDI KonTraG KoR KostO KR
Kapitalanlagegesetzbuch Kapitalerhöhungsgesetz Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz Konzernbetriebsvereinbarungen Kommanditgesellschaft; Kammergericht Kommanditgesellschaft auf Aktien Konkursordnung Kölner Steuerdialog Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich Zeitschrift für Kapitalmarktorientierte Rechnungslegung Kostenordnung Gemeinschaftskommentar zum KSchG und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften XXXI
Abkürzungsverzeichnis
KSchG KStG KTS KWG
Kündigungsschutzgesetz Körperschaftsteuergesetz Konkurs-, Treuhand- und Schiedsgerichtswesen Kreditwesengesetz
LAG LBO LFG LG lit. LMA LM/LMK
Landesarbeitsgericht Leveraged Buy-Out Lohnfortzahlungsgesetz Landgericht Buchstabe Loan Market Association Lindenmaier/Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofes/ Entscheidungen in Zivilsachen Leveraged Management Buy-Out Letter of Intent Leitsatz Landeszentralbank
LMBO LoI Ls. LZB M&A MAR
MoU MPJ MPR MVZ MünchKomm MuSchG m.w.N.
Mergers and Acquisitions Marktmissbrauchsverordnung (Market Abuse Regulation)/ M&A Review Management Buy-In Management Buy-Out Medizinischer Dienst der Krankenkassen Monatsschrift für Deutsches Recht Mitbestimmungsgesetz Mitteilungen des Bayerischen Notarvereins, der Notarkasse und der Landesnotarkammer Bayern Mitteilungen der deutschen Patentanwälte Multimedia und Recht Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen Gesetz zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen Memorandum of Understanding Medizinprodukte-Journal Medizin Produkte Recht (Zeitschrift) Medizinisches Versorungszentrum Münchener Kommentar Mutterschutzgesetz mit weiteren Nachweisen
NachwG NJOZ NJW NJW-RR NOI NStZ n.v.
Nachweisgesetz Neuen Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungs-Report Net Operating Income Neue Zeitschrift für Strafrecht nicht veröffentlicht
MBI MBO MDK MDR MitbestG MittBayNot MittdtschPatAnw MMR MoMiG MoRaKG
XXXII
Abkürzungsverzeichnis
NWB NZA NZG NZI NZM
Neue Wirtschafts-Briefe für Steuer- und Wirtschaftsrecht Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht
OFD OHG OLG OLGZ OR
Oberfinanzdirektion Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen Obligationenrecht (Schweiz)
PartGG PatG PBefG PfandBG PharmR PinG PiR ProdhaftG PSV
Partnerschaftsgesellschaftsgesetz Patentgesetz Personenbeförderungsgesetz Pfandbriefgesetz Pharma Recht (Zeitschrift) Privacy in Germany Praxis der internationalen Rechnungslegung Produkthaftungsgesetz Pensions-Sicherungs-Verein
R R&D RdA Rdw RegE REXP RFH RG RGRK RGZ RIW RNotZ Rpfleger Rs. Rspr. RVO Rz.
Richtlinie research and development (Forschung und Entwicklung) Recht der Arbeit Recht der Wirtschaft Regierungsentwurf Deutscher Renten-Performance Index Reichsfinanzhof Reichsgericht Reichsgerichtsräte-Kommentar Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Recht der internationalen Wirtschaft Rheinische Notar-Zeitschrift Der Deutsche Rechtspfleger Rechtssache Rechtsprechung Reichsversicherungsordnung Randzahl
SAE ScheckG SchiedsVZ SEStEG
Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen Scheckgesetz Zeitschrift für Schiedsverfahren Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften Sozialgesetzbuch Schweizerische Juristen-Zeitung Sammlung
SGB SJZ Slg.
XXXIII
Abkürzungsverzeichnis
SMG SoFFin SolZ Sp. SprAuG SpruchG SpTrUG SPV ST StBP StEK SteuK StGB StW
Schuldrechtsmodernisierungsgesetz Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung Solidaritätszuschlag Spalte Sprecherausschussgesetz Spruchverfahrensgesetz Gesetz über die Spaltung der von der Treuhandanstalt verwalteten Unternehmen Special Purpose Vehicles Der Schweizer Treuhänder Die steuerliche Betriebsprüfung Steuererlasse in Karteiform Steuerrecht kurzgefasst Strafgesetzbuch Steuer-Warte
TB TVG Tz. TzBfG
Tätigkeitsbericht Tarifvertragsgesetz Textziffer Teilzeit- und Befristungsgesetz
Ubg UBG UBGG UEC
UmwG UmwStG UrhG US-GAAP UStG UStR UWG
Die Unternehmensbesteuerung Unternehmensbeteiligungsgesellschaft Gesetz über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften Union Européenne des Experts Comptables, Economiques et Financiers Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts Umwandlungsgesetz Umwandlungssteuergesetz Urheberrechtsgesetz United States Generally Accepted Accounting Principles Umsatzsteuergesetz Umsatzsteuer-Richtlinien Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
VAG VDI VerbrKrG VersR VO VorstAG VRG VVaG VVG VwGO VwVfG
Versicherungsaufsichtsgesetz Verein Deutscher Ingenieure Verbraucherkreditgesetz Versicherungsrecht Verordnung Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung Vorruhestandsgesetz Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit Versicherungsvertragsgesetz Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz
UMAG
XXXIV
Abkürzungsverzeichnis
WAAC WG WiB WiSt wistra WKBG WM WP WpAIV WPg WPHdb. WpPG WPrax WpÜG WRP WuW WuW/E WZG
Weighted Average Cost of Capital Wechselgesetz Wirtschaftsrechtliche Beratung Wirtschaftswissenschaftliches Studium Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer und Strafrecht Wagniskapitalbeteiligungsgesetz Wertpapier-Mitteilungen Wirtschaftsprüfer Wertpapierhandelsanzeige- und Insiderverzeichnisverordnung Die Wirtschaftsprüfung Wirtschaftsprüfer-Handbuch Wertpapierprospektgesetz Wirtschaftsrecht und Praxis Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz Wettbewerb in Recht und Praxis Wirtschaft und Wettbewerb Entscheidungssammlung zum Kartellrecht Warenzeichengesetz
ZBB ZEuP ZEV ZfA ZfB Zfbf ZfBR ZfIR ZfK ZfO ZfSH/SGB ZG ZGR ZGS ZHR ZInsO ZIP ZMR ZNotP ZPO ZRP ZTR ZVglRWiss ZWeR
Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Betriebswirtschaft Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung Zeitschrift für deutsches und internationales Bau- und Vergaberecht Zeitschrift für Immobilienrecht Zeitung für kommunale Wirtschaft Zeitschrift für Organisation Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für Vertragsgestaltung, Schuld- und Haftungsrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Miet- und Raumrecht Zeitschrift für die Notarpraxis Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Tarifrecht Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Wettbewerbsrecht
XXXV
Teil I Übergreifende/Strategische Themen Kapitel 1 Mergers & Acquisitions Ansgar Rempp
Überblick A. Bedeutung und Grundfragen . . . .
1.1
I. Erwerbsobjekte . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1
II. Erwerbswege und Durchführungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unternehmenserwerb durch Kauf . 2. Übernahme über die Börse . . . . . . . 3. Gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Umwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.7 1.7 1.12
2. Potentielle Interessenkonflikte beim LBO und MBO . . . . . . . . . . . . 3. Fremdkapitalfinanzierung des Buy-Outs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuerliche Behandlung des Buy-Outs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.93
VIII. Feindliche Übernahmen (Hostile Takeovers) . . . . . . . . . . . .
1.95
1.82 1.90
1.17 1.18
B. Projektmanagement beim Unternehmenskauf . . . . . . . . . . . . 1.102
1.20 1.20 1.21
II. Organisation des Unternehmenskaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Steering Committee und Projektteam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bedeutung externer Berater . . . 3. Die Rollen der externen Berater . . . a) Investmentbanken . . . . . . . . . . . b) Anwaltskanzleien . . . . . . . . . . . . c) Wirtschaftsprüfer . . . . . . . . . . . . d) Sonstige externe Berater . . . . . . .
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.102
III. Der Markt für Unternehmen und Beteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Informationsquellen . . . . . . . . . . . . 2. Die Akteure im M&A-Markt . . . . . 3. Entwicklung des weltweiten M&A-Marktes . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Besonderheiten des deutschen M&A-Marktes . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.36
IV. Unternehmenskauf als konzernstrategisches Konzept . . . . . . . . . .
1.45
V. Unternehmenskauf und Konzentration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.52
C. Abwicklung des Unternehmenskaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.116
1.58
I. 1. 2. 3. 4.
VI. Unternehmenskauf und Investitionsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausländische Direktinvestitionen in Europa und in Deutschland . . . . 2. Das Verfahren der Investitionsprüfung in Deutschland . . . . . . . . . 3. Die europäische Gesetzgebungsinitiative für Investitionsprüfungen . . 4. Die Auswirkungen des amerikanischen CFIUS-Verfahrens auf Unternehmenskäufe in Deutschland . . 5. Empfehlungen für die Transaktionspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Management Buy-Out und Leveraged Buy-Out . . . . . . . . . . . . 1. Begriffsdefinition, Verbreitung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.28
1.60 1.62 1.66 1.68 1.69 1.71 1.71
1.107 1.108 1.111 1.115 1.115a 1.115c 1.115f 1.115g
Formen der Abwicklung . . . . . . . . Auktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . Zwei Verhandlungspartner . . . . . . . Öffentliche Übernahmen . . . . . . . . Sonderformen . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.116 1.117 1.118 1.119 1.120
II. Ablauf von Unternehmenskäufen 1. Kein typischer Ablauf . . . . . . . . . . . 2. Auktionsverfahren (aus Sicht des Verkäufers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auktionsverfahren (Besonderheiten aus Sicht des Käufers) . . . . . . . . . . . 4. Besonderheiten bei zwei Verhandlungspartnern . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.121 1.121 1.123 1.134 1.135
III. Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.139 IV. Warranty & Indemnity Insurance
1.145
Rempp
1
Kap. 1
Mergers & Acquisitions
V. Kaufpreis und Bewertung . . . . . . . 1. Überblick über gängige Bewertungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedeutung und Methoden . . . . . b) Discounted Cashflow Verfahren („DCF“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Multiple Verfahren . . . . . . . . . . . d) Equity Bridge . . . . . . . . . . . . . . . e) Working Capital Referenzwert . . f) LBO-Bewertung . . . . . . . . . . . . .
1.150 1.151 1.151 1.151a 1.151b 1.151c 1.151d 1.151e
2. Kaufpreisverhandlungen und Festlegen des Kaufpreises . . . . . . . . 3. Umsetzung im Anteilskaufvertrag . 4. Umsetzung beim Asset Deal . . . . . . 5. Kaufpreisanpassung nach Closing . 6. Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.153 1.155 1.156 1.157 1.158
VI. Unternehmenskauf vor den Gerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.161
Literatur: Beinert/Burmeister/Tries, Mergers & Acquisitions in Germany, 2009; Beisel/Klumpp, Der Unternehmenskauf, 7. Aufl. 2016; Gran, Abläufe bei Mergers & Acquisitions, NJW 2008, 1409; Hannappel/Fresl, Private Equity in Schramm/Hansmeyer, Transaktionen erfolgreich managen, 2010, S. 207; Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, 15. Aufl. 2017; Jansen, Mergers & Acquisitions, 6. Aufl. 2016; Kästle/Oberbracht, Unternehmenskauf – Share Purchase Agreement, 3. Auflage 2018; Knott, Unternehmenskauf, 5. Aufl. 2017; Lucks/Meckl, Internationale Mergers & Acquisitions, 2. Auflage 2015; Meyer-Sparenberg/Jäckle, Beck’sches M&A-Handbuch, 2017; Pataki, Distressed M&A, in Schramm/Hansmeyer, Transaktionen erfolgreich managen, 2010, S. 247; Picot, Handbuch Mergers & Acquisitions, 5. Aufl. 2012; Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, 4. Aufl. 2013; Pöllath/Greitemann/Viskorf, Verkauf von Familienunternehmen, in Festschrift für Rödl, 2008, S. 301; TenBrink/Brodie (Hrsg.), Mergers & Acquisitions in Europe, 1990 ff., Loseblatt, Stand: November 2002; Wollny/Hallerbach/Dönmez/Liebert/Wepler, Unternehmens- und Praxisübertragungen, 9. Aufl. 2018.
Überblick Der Markt für Unternehmenskäufe verändert sich in nahezu allen relevanten Bereichen mit hoher Geschwindigkeit. Die Gründe hierfür sind vielfältig. So hat beispielsweise der Einsatz neuer Technologien (wie etwa künstlicher Intelligenz zum Auffinden und Abschätzen bestimmter Risiken im Rahmen der Due Diligence) zahlreiche Prozesse revolutioniert. Auch der zunehmende Einfluss externer Berater, der wiederum zu einer fortschreitenden Standardisierung der Abläufe und zur Entwicklung neuer kreativer Gestaltungsformen (z.B. die Einführung von Warranty & Indemnity Insurance) geführt hat, hat hierzu wesentlich beigetragen. Dies zwingt sowohl die Parteien als auch die externen Berater dazu, die Marktentwicklung ständig zu verfolgen, um auf dem neuesten Stand zu bleiben. Es hat auch dazu geführt, dass sich inzwischen in allen Bereichen hochspezialisierte Experten durchgesetzt haben. Dieses Kapitel gibt im Abschnitt A einen ersten generellen Überblick über Formen des Unternehmenskaufs und den Markt für selbige sowie über einige ausgewählte Themen (z.B. Zusammenschlusskontrolle sowie Investitionsprüfung), die in den folgenden Kapiteln vertieft werden. Bei Unternehmenskäufen handelt es sich meist um äußerst komplexe und im Hinblick auf Zeit- und auch Ressourceneinsatz ausgesprochen aufwendige Prozesse, bei denen zahlreiche Disziplinen oft unter hohem Zeitdruck ohne Reibungsverluste nahtlos ineinander greifen müssen. Dementsprechend hängt der erfolgreiche Abschluss einer Transaktion häufig nicht nur von der Expertise der jeweiligen internen und externen Spezialisten, sondern mehr noch von einem straffen Prozessmanagement und einer reibungslosen Koordination und Verzahnung der vielen meist parallel ablaufenden und sich überlappenden Arbeitsabläufe ab. Hier sollten keine Fehler oder unnötige Zeitverluste auftreten. Die Abschnitte B und C beschrei2
Rempp
A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.4 Kap. 1
ben die aus Sicht der Praxis des Verfassers wesentlichen Elemente des Projektmanagements, des Ablaufs sowie der Abwicklung eines Unternehmenskaufs. Darüber hinaus wird in allen Abschnitten auf aktuelle Entwicklungen eingegangen.
A. Bedeutung und Grundfragen I. Erwerbsobjekte Gegenstand dieses Handbuchs sind Erwerb bzw. Veräußerung von Unternehmen und Beteiligungen an Unternehmen (Unternehmensakquisitionen). Untersuchungsobjekt sind also zum einen – bei gegenständlicher Betrachtung – Unternehmen und Beteiligungen an solchen, zum anderen – aus Sicht der Handelnden – Vorgänge des Inhaberwechsels bei Unternehmen und Beteiligungen.
1.1
Eine einheitliche und anerkannte Definition des Unternehmensbegriffs besteht wegen der schillernden Vielfalt dieses wirtschaftlichen und sozialen Gebildes nicht. Nach vielfältigen Definitionsversuchen ist man vielmehr zu der Einsicht gelangt, dass eine Definition nur zielgerichtet für den Zweck der Untersuchung erfolgen kann.1 Das führt für unterschiedliche Sachbereiche zu unterschiedlichen Unternehmensbegriffen. Für die Betrachtung des Unternehmenskaufs kann das Unternehmen als Gesamtheit von materiellen und immateriellen Rechtsgütern und Werten verstanden werden, die in einer Organisation zusammengefasst und einem einheitlichen wirtschaftlichen Zweck dienstbar gemacht sind (zu den in Nuancen unterschiedlichen Definitionen in den einzelnen Rechtsgebieten Rz. 7.46 und Rz. 9.1). Unternehmensträger ist der Inhaber sämtlicher positiver oder negativer Vermögenswerte. Es handelt sich dabei um eine natürliche Person, juristische Person oder im Falle von Personengesellschaften um quasirechtsfähige Personenvereinigungen.
1.2
Der Übergang eines Unternehmens kann sich durch Übertragung materieller oder immaterieller Vermögensbestandteile in Form der Singularzession vollziehen. Das kann die Gesamtheit aller Vermögensbestandteile sein, es können aber auch aus der Gesamtheit der Organisation einige Vermögensbestandteile herausgenommen und andere zurückgelassen werden. In letzterem Falle liegt ein Unternehmenserwerb nur vor, wenn die übernommenen Vermögensbestandteile den für das soziale und wirtschaftliche Gebilde prägenden Charakter haben (vgl. zu den steuerlichen Konsequenzen Rz. 5.12 ff., Rz. 5.108 ff., Rz. 5.269 ff.).
1.3
Ist Unternehmensträger eine natürliche Person, kann der Erwerb stets nur durch Übertragung von Vermögensbestandteilen stattfinden. Bei juristischen Personen und Personengesellschaften mit Quasirechtsfähigkeit kommt statt einer Übertragung einzelner Vermögensbestandteile in Form der Singularzession eine Übertragung von Beteiligungen an einem Unternehmen in Betracht. Bei einem völligen Wechsel des Unternehmensträgers, d.h. bei Übertragung sämtlicher Anteile, ist dabei in jedem Fall von einem Unternehmenskauf zu sprechen. Dasselbe gilt, wenn Anteile übertragen werden, die dem Übernehmer den absoluten unternehmerischen Einfluss gewähren, in der Regel je nach Gesellschaftsform und gesell-
1.4
1 BGH v. 8.5.1979 – KVR 1/78, BGHZ 74, 359 (364) = AG 1980, 50 = MDR 1980, 31; BGH v. 13.10.1977 – II ZR 123/76, BGHZ 69, 334 (335) – VEBA/Gelsenberg; Hölters/Hirschmann, § 15 AktG Rz. 4; Bayer in MünchKomm/AktG, § 15 AktG Rz. 10; K. Schmidt, ZGR 1980, 277 (280); stärker im Sinne einer einheitlichen Definition noch RG v. 16.1.1943 – VII (VIII) 139/42, RGZ 170, 292 (298); Koch in Hüffer, § 15 AktG Rz. 8 f.
Rempp
3
Kap. 1 Rz. 1.5
Mergers & Acquisitions
schaftsrechtlicher Ausgestaltung also bei mehr als 50 %. Bei einer geringeren Beteiligungshöhe sollte man eher von der Veräußerung einer Beteiligung sprechen. Allerdings gehen sowohl das Kartellrecht als auch das Übernahmerecht für börsennotierte Unternehmen davon aus – letzteres in Form einer widerlegbaren Vermutung –, dass bereits bei Erwerb von 30 % ein relevantes Maß an Kontrolle erlangt wird. Die nicht nur theoretische Unterscheidung zwischen Unternehmenskauf und Erwerb einer Beteiligung hat sowohl Bedeutung bei der rechtlichen Betrachtung als auch bei der Bewertung (vgl. hierzu Kapitel 3 und Rz. 9.4 ff.).
1.5 Überleitungen der Unternehmensträgerschaft durch Erbfolge (Universalsukzession) oder staatliche Eingriffe sind keine Veräußerungsvorgänge.
1.6 In diesem Handbuch werden lediglich Erwerb und Veräußerung von inländischen Unternehmen und Beteiligungen, d.h. von solchen Unternehmen, die in der Bundesrepublik Deutschland ihren Sitz haben, behandelt. Unternehmensakquisitionen im Ausland sind aufgrund der Unterschiedlichkeit der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse in den einzelnen Ländern einer einheitlichen Betrachtung nicht zugänglich. Die Problemerörterung müsste also entweder für jeden ausländischen Staat gesondert erfolgen, was den umfangmäßigen Rahmen dieses Handbuchs sprengen, oder sich in nichts sagenden Allgemeinfloskeln erschöpfen würde. Fälle, in denen ein inländisches Unternehmen bzw. eine inländische Beteiligung von einer ausländischen Rechtspersönlichkeit aufgrund eines nicht der deutschen Rechtsordnung unterstellten Vertrages erworben wird, bleiben für die zivilrechtliche Betrachtung in Kapitel 9 ausgespart.
II. Erwerbswege und Durchführungsformen 1. Unternehmenserwerb durch Kauf
1.7 Gegenstand der Untersuchungen und Beiträge in diesem Handbuch sind vorrangig Erwerbsvorgänge durch Verhandlungen und anschließende vertragliche Vereinbarung mit dem bisherigen Unternehmensträger. Dabei ist es gleichgültig, ob dabei die Gesamtheit oder nahezu die Gesamtheit aller Vermögenswerte oder Beteiligungen übertragen werden.
1.8 Der Abschluss eines Kaufvertrages mit der Verpflichtung zur Übertragung von Beteiligungen oder Vermögensgegenständen und der korrespondierenden Verpflichtung zur Zahlung eines Kaufpreises ist die einfachste Form der Übertragung von Unternehmen und Beteiligungen. Diese Grundkonstellation des Unternehmenskaufes wird daher auch Ausgangspunkt für die Beiträge in den übrigen Teilen dieses Handbuches sein. Wirtschaftliche, zivilrechtliche oder steuerrechtliche Überlegungen machen jedoch häufig andere Durchführungsformen erforderlich, die wirtschaftlich nichts anderes als die Übertragung eines Unternehmens oder eines Unternehmensteils darstellen. Die vertragliche Verpackung kann sehr unterschiedlich sein, die betriebswirtschaftlichen und rechtlichen Themen sind jedoch nahezu identisch mit dem Ausgangsfall des Unternehmenskaufvertrages.
1.9 Von außerordentlicher Komplexität ist die Übernahme internationaler Unternehmensgruppen, d.h. von Konzernen oder Teilen von Konzernen. In diesen Fällen muss oft eine Vielzahl von Gesellschaften und Betriebsstätten in verschiedenen Ländern übertragen werden. Vor der Übertragung müssen häufig noch Aus- und Eingliederungen von Betriebsteilen erfolgen.
1.10 Im Rahmen des Unternehmenskaufvertrages ist grundsätzlich zwischen dem sog. Share Deal (Verkauf und Übertragung von – je nach Rechtsform des Zielunternehmens – Anteilen bzw. 4
Rempp
A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.14 Kap. 1
Beteiligungen) und dem sog. Asset Deal (Verkauf und Übertragung von einzelnen Vermögensgegenständen) zu unterscheiden (vgl. hierzu Rz. 9.6). Neben diesen beiden Grundformen des Unternehmenskaufvertrages kommt in der Praxis häufig auch eine Mischung aus Share und Asset Deals in Betracht. Dies gilt insbesondere bei der Veräußerung von in mehreren Jurisdiktionen tätigen Teilkonzernen, die meist in einigen Ländern keine eigenständigen Rechtseinheiten haben, sondern zusammen mit anderen Teilkonzernen des Gesamtkonzerns in einer Rechtseinheit zusammengefasst sind (sog. „Zebragesellschaften“). Ein Unternehmenskauf kann durch Einbringung eines Betriebes oder eines Teilbetriebes in eine bereits bestehende oder zu diesem Zweck neu gegründete Gesellschaft erfolgen.
1.11
2. Übernahme über die Börse Übernahmen von Beteiligungen über die Börse kommen nur bei der Aktiengesellschaft (sowie der SE und der KGaA) in Betracht.2 Bei börsennotierten Gesellschaften können Beteiligungen in verschiedenen Formen erworben werden:
1.12
– im Wege eines öffentlichen Übernahmeangebotes; – durch Paketkauf vom bisherigen Paketinhaber; – durch gezielte Zukäufe über die Börse; – durch Kapitalerhöhungen (insbesondere solchen unter Ausschluss des Bezugsrechts und sog. „Rump Placements“, d.h. Erwerb von Aktien, für die ein Bezugsrecht nicht ausgeübt wurde). In bestimmten Fällen, wie etwa bei einer Sanierung, kann ein Kontrollerwerber von der Abgabe eines öffentlichen Angebots befreit werden (vgl. hierzu Rz. 13.125). In der Mehrzahl aller Fälle werden größere unternehmerische Beteiligungen auch bei börsennotierten Aktiengesellschaften nicht über die Börse, sondern in Form von Paketkäufen durch Verhandlungen und abschließende Kaufverträge mit dem bisherigen Paketinhaber oder den bisherigen Paketinhabern erworben. Der Übernahmeinteressent kann den verbleibenden Aktionären nach einem Paketkauf ein öffentliches Übernahmeangebot nach Maßgabe der Regelungen des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes (WpÜG) unterbreiten (vgl. hierzu im Einzelnen Kapitel 13). Nach den Regelungen des WpÜG ist ein Bieter, der auf der Grundlage eines öffentlichen Übernahmeangebots die Kontrolle, d.h. mindestens 30 % der Stimmrechte der Zielgesellschaft erwerben will, zur Abgabe eines öffentlichen Übernahmeangebotes verpflichtet, das auf den Erwerb sämtlicher Aktien der Zielgesellschaft gerichtet ist.
1.13
Insbesondere Übernahmen durch öffentliche Übernahmeangebote haben in der Vergangenheit für größere Aufmerksamkeit gesorgt. Die lebhafte Übernahmeschlacht Mannesmann AG/Vodafone AirTouch (1999/2000, also vor Einführung des WpÜG) ist auch heute noch im öffentlichen Bewusstsein verankert. In den Folgejahren standen spektakuläre öffentliche Übernahmen und Übernahmeversuche stets auf den ersten Seiten der Wirtschaftspresse, so z.B. die Übernahmeangebote RAG/Degussa (2002), Procter & Gamble/Wella (2003), Blackstone/Celanese (2004), Unicredit/HVB (2005), Bayer/Schering (2006), Porsche/VW (2007), Schaeffler/ Continental (2008), Soffin/Hypo Real Estate (2009), Deutsche Bank/Deutsche Postbank (2010), Alpha Beta Netherlands Holding/Deutsche Börse (2011), Fresenius/Rhön-Klinikum
1.14
2 Zur aktuellen Literatur vgl. Kapitel 13.
Rempp
5
Kap. 1 Rz. 1.15
Mergers & Acquisitions
(2012), Vodafone/Kabel Deutschland (2013), McKesson/Celesio (2014), DMG MORI/DMG MORI SEIKI (2015), Potash/K+S (2015), Midea/Kuka (2016) und Bain-Cinven/Stada (2017). Aus rechtlicher Sicht von Interesse waren neben den vorgenannten Angeboten an die Aktionäre der HVB und der Deutschen Börse auch weitere Tauschangebote, etwa Depfa plc/Depfa AG (2002), UCB/Schwarz Pharma (2006), ACS/Hochtief (2010), Deutsche Wohnen/GSW Immobilien (2013) und Diebold/Wincor Nixdorf (2016).3 Aus dem angloamerikanischen Rechtssystem haben sich bei Übernahmen – insbesondere bei Übernahmen aufgrund öffentlicher Übernahmeangebote – die Begriffe des „Friendly Takeover“, „Unfriendly Takeover“ oder „Hostile Takeover“ eingebürgert. Die Begriffsunterscheidung knüpft daran an, in welcher Haltung das Management des Zielunternehmens dem Übernahmeangebot des Erwerbsinteressenten gegenübersteht (vgl. hierzu im Einzelnen Rz. 1.95 ff. sowie Rz. 13.22 ff.).
1.15 Einige der genannten Transaktionen haben der BaFin, der zuständigen Aufsichtsbehörde für Übernahmen, und verschiedenen Gerichten Gelegenheit gegeben, sich mit etlichen Rechtsfragen auseinanderzusetzen, z.B. zur Ermittlung der angemessenen Gegenleistung (etwa im Fall von unterschiedlichen Aktiengattungen), der Stimmrechtszurechnung (vor allem im Rahmen eines Acting in Concert), den Rechten von Aktionären der Zielgesellschaft (etwa bei pflichtwidrig unterlassenem Angebot), der Frage ihrer Beteiligung am Verwaltungsverfahren der BaFin sowie zum Ausschluss von Aktieninhabern aus anderen Staaten.
1.16 Seit Inkrafttreten des WpÜG zum 1.1.2002 ist beim Überschreiten der Kontrollschwelle von 30 % der Stimmrechte der Zielgesellschaft ein auf den Erwerb aller Aktien gerichtetes öffentliches Pflichtangebot (vgl. hierzu im Einzelnen Rz. 13.106) gegenüber den restlichen Aktionären der Zielgesellschaft abzugeben. Dabei blieb es auch nach Umsetzung der Übernahmerichtlinie aus dem Jahr 2004; sie überließ es den Mitgliedstaaten, die entsprechenden Schwellenwerte festzulegen. Seither gab es Transaktionen, bei denen der Bieter die Kontrollschwelle überschritt und den Aktionären lediglich den gesetzlichen Mindestpreis anbot (sog. low balling)4. Dies führte zu einer kontroversen Diskussion und die EU-Kommission erwägt, geeignete Schritte zu ergreifen, etwa die Empfehlung zusätzlicher Schwellenwerte für Pflichtangebote. 3. Gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzung
1.17 Ein weiterer Weg des Erwerbs eines Unternehmens oder einer Beteiligung ist der über eine gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzung oder durch Erbgang. Insbesondere bei Familiengesellschaften wird auf diese Weise häufig im Interesse des Fortbestandes von Unternehmen die Gesellschafterstruktur bereinigt. Leider werden die Probleme des Generationenwechsels in vielen Familienunternehmen von der Seniorengeneration nicht rechtzeitig bedacht. Aus der Vielzahl der auftretenden Probleme ist insbesondere ein Problempaar herauszugreifen: Treten sämtliche erbrechtlichen Nachfolger als Gesellschafter in das Unternehmen ein, tauchen infolge sachlicher Inkompetenz oder Meinungsvielfalt oft Führungsprobleme auf. Kommen aufgrund gesellschaftsrechtlicher oder erbrechtlicher Gestaltung verschiedene Erben als Gesellschafter nicht in Betracht, gibt es Abfindungsprobleme, die das Unternehmen 3 Vgl. Fleischer in Paschos/Fleischer, Übernahmerecht-HdB, 2017, § 1 Rz. 4 ff. m.w.N. 4 Vgl. z.B. Kalss in Kämmerer/Veil (Hrsg.), Übernahme- und Kapitalmarktrecht in der Reformdiskussion, 2013, S. 139; Baums, Low Balling, Creeping in und deutsches Übernahmerecht, ILF Working Paper 122 (2010), www.ilf-frankfurt.de.
6
Rempp
A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.20 Kap. 1
in Liquiditätsschwierigkeiten bringen können. Kennzeichnend für den Erwerb einer Beteiligung über eine gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzung ist die Tatsache, dass die Beteiligung nicht auf einen völlig neuen Gesellschafter, sondern auf einen oder mehrere der bereits beteiligten Altgesellschafter übergeht. Ein Ausscheiden im Wege einer gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzung ist meist ein zwangsweises Ausscheiden. Das kann bei einer Personenhandelsgesellschaft durch Ausschließung eines Gesellschafters aus wichtigem Grund geschehen, bei einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung z.B. durch Einziehung des Geschäftsanteils. Bei einer Personengesellschaft kann man sich auch einvernehmlich auf das Ausscheiden eines Gesellschafters zu einem bestimmten Stichtag einigen. In sämtlichen Fällen erfolgt das Ausscheiden nicht auf der Basis eines Unternehmenskaufvertrages. Gesellschafterwechsel aufgrund von gesellschaftsrechtlichen Vorgängen sind deshalb grundsätzlich nicht Gegenstand dieses Handbuchs. 4. Umwandlung Elemente eines Unternehmenskaufs kann auch die Umwandlung haben. Nach dem Umwand- 1.18 lungsgesetz sind Arten der Umwandlung die Verschmelzung, die Spaltung – Aufspaltung, Abspaltung, Ausgliederung –, die Vermögensübertragung und der Formwechsel. Darüber hinaus kann es in besonderen Konstellationen (z.B. wenn der Verkäufer eine Veräußerung sehr langfristig plant aus steuerlichen (vgl. hierzu im Einzelnen Rz. 5.46 ff.) oder auch aus anderen Gründen) empfehlenswert sein, einen Asset Deal statt durch Einzelrechtsübertragung in Form eines umwandlungsrechtlichen Spaltungsvorgangs durchzuführen. Die Spaltung wird fast immer schon vom Verkäufer im Vorgriff auf eine später zu erfolgende Veräußerung vorgenommen werden. Dies hat – und zwar sowohl beim Asset Deal als auch bei einem Spaltungsvorgang – u.a. den Vorteil, dass der Verkäufer bestimmen kann, welche Vermögensgegenstände und Rechte und welche Verbindlichkeiten und Risiken auf den zu veräußernden Rechtsträger übertragen und damit vom Käufer übernommen werden (vgl. hierzu im Einzelnen Rz. 9.91 ff.).
1.19
III. Der Markt für Unternehmen und Beteiligungen 1. Informationsquellen Amtliche statistische Aufzeichnungen über Unternehmens- und Beteiligungstransaktionen in der Bundesrepublik Deutschland gibt es nicht. Offizielle Informationen über Erwerbsvorgänge gibt es lediglich bei Aktiengesellschaften aufgrund der Mitteilungen über Beteiligungen nach §§ 33 ff., 38 ff. WpHG und nach §§ 20, 21 AktG sowie nach §§ 10 ff. WpÜG5. Bei Personengesellschaften ergeben sich Wechsel im Gesellschafterkreis aus dem Handelsregister. Gleiches gilt für Gesellschaften mit beschränkter Haftung aufgrund der zum Handelsregister einzureichenden Gesellschafterliste. Keinerlei offizielle Informationen gibt es über Erwerbsvorgänge, die sich über die Übertragung sämtlicher oder nahezu aller Vermögensgegenstände vollziehen. Auch die Angaben des BKartA6 (dazu Rz. 7.1 ff.) sowie die Verlautbarungen
5 Vgl. hierzu die Datenbank der BaFin über veröffentliche Angebotsunterlagen nach § 14 WpÜG unter www.bafin.de. 6 Die Tätigkeitsberichte des BKartA, die alle zwei Jahre erscheinen, enthalten einen umfangreichen Statistikteil; vgl. auch die Entscheidungsübersicht unter www.bundeskartellamt.de.
Rempp
7
1.20
Kap. 1 Rz. 1.21
Mergers & Acquisitions
der EU-Kommission7 sind nur begrenzt aussagekräftig, da sie nur die kartellrechtlich relevanten Vorgänge enthalten. Allerdings kann man sich bei systematischem Verfolgen der Verlautbarungen zumindest einen Überblick über die bedeutenderen Transaktionen verschaffen. Ein Überblick über die gesamten Unternehmenstransaktionen lässt sich nur durch OnlineDatenbanken gewinnen, die laufend aktualisiert werden und verlautbarte Pressemitteilungen verfolgen sowie eigene Recherchen anstellen.8 Ein Anspruch auf Vollständigkeit besteht allerdings auch hier nicht, da es tatsächlich – in erster Linie kleinere – Transaktionen gibt, die weder offengelegt noch von den Medien aufgegriffen werden. 2. Die Akteure im M&A-Markt
1.21 Der bei Unternehmenskäufen angewendete Kontaktmechanismus hat sich im Laufe der Jahre geändert. Einige der historischen Anbahnungsformen bestehen immer noch, sind aber durch neue Kontaktwege unter Einschaltung professioneller Berater ergänzt worden.
1.22 Die Kontakte bei rein deutschen Unternehmens- und Beteiligungserwerben werden immer noch häufig unmittelbar durch Absprachen auf der höchsten Geschäftsführungs- und Vorstandsebene geknüpft. In vielen Fällen kennt man sich und nimmt direkten Kontakt auf. Dies dürfte zumindest im Verhältnis zwischen deutschen Großunternehmen immer noch ein häufiger Fall der ersten Initialzündung einer Unternehmensakquisition sein.
1.23 Das Entstehen eines M&A-Marktes in Deutschland wurde maßgeblich mitgeprägt und sogar mitverursacht durch eine breite Palette von Mittlern und Beratern. Die klassischen internationalen (vorwiegend amerikanischen) Investmentbanken haben in den 1980er-Jahren ihre Tätigkeit auf den deutschen Markt ausgedehnt, indem sie eigene Niederlassungen gegründet oder Tochtergesellschaften errichtet haben. Fast sämtliche deutsche Banken haben bei ihrer Suche nach neuen Betätigungsfeldern außerhalb des klassischen Kreditgeschäftes eigene Abteilungen für das Corporate-Finance-Geschäft gebildet. Daneben sind unabhängige M&A-Beratungsfirmen von Unternehmensberatern gegründet worden. M&A-Beratungsabteilungen hat mittlerweile auch jede größere Wirtschaftsprüfungsgesellschaft.
1.24 Die Investmentbanken haben den bei weitem größten Anteil an den Veränderungen im deutschen Transaktionsmarkt. Sie haben zum Teil neue Veräußerungstechniken und Abwicklungsmethoden eingeführt, z.B. das Auktionsverfahren („Controlled Auction“). Dieses wird unter Rz. 1.117 und Rz. 1.123 ff. im Einzelnen geschildert. Das hat zu einer Angloamerikanisierung der gesamten Rechts- und Wirtschaftssprache im M&A-Markt geführt. Dahingestellt, ob man dies gutheißt oder nicht, verwenden die im Unternehmenskaufsektor schwerpunktmäßig tätigen Akteure größtenteils englische Fachausdrücke. Infolge der Globalisierung der Wirtschaft und der inzwischen gängigen Praxis, auf Verkäuferseite Auktionsverfahren aufzusetzen, werden inzwischen praktisch alle Kaufverträge in Englisch abgefasst und viele Verhandlungen in Englisch geführt (vgl. Rz. 1.163 und Kapitel 10).
1.25 Gerade bei kleineren und mittelgroßen Transaktionen sind oft auch sog. M&A-Berater, die unabhängig von Banken bzw. Investmentbanken sind, vermittelnd tätig (vgl. hierzu im Einzelnen Rz. 1.115). 7 Die jährlich erscheinenden Berichte der EU-Kommission über die Wettbewerbspolitik enthalten Übersichten und Statistiken über die getroffenen Entscheidungen; vgl. auch die Übersichten unter http://ec.europa.eu/competition/index_de.html. 8 www.ma-online.de; www.mergermarket.com; http://www.bvmarketdata.com/; http://www.bvdinfo .com/Products/Economic-and-M-A/M-A/Zephyr.aspx.
8
Rempp
A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.29 Kap. 1
Neben den Investmentbanken und M&A-Beratern ist nach wie vor die Rolle der Geschäftsbanken auf der Kreditseite bei Veräußerungsvorgängen nicht zu unterschätzen. Sie haben oft, insbesondere bei Not leidenden Familienunternehmen, den Anstoß zu Veräußerungen gegeben. Bei Familienunternehmen ergibt sich diese Tätigkeit bei den deutschen Banken quasi als Nebenprodukt aus ihrer Rolle als finanzwirtschaftlicher Berater von Unternehmenskunden.
1.26
Vermittler und Berater bei Unternehmenskäufen sind seit jeher auch Wirtschaftsanwälte. Dabei handelt es sich um den kleinen Kreis von Angehörigen dieses Berufsstandes, die aufgrund ihrer Persönlichkeit und ihrer allgemeinen wirtschaftlichen Erfahrung in ihrer Bedeutung weit über die des Fachberaters hinausgewachsen sind. Dieser kleine Kreis von Wirtschaftsanwälten, die sich schwerpunktmäßig mit Unternehmenskäufen beschäftigen, hat mit dem Entstehen eines M&A-Marktes eine über die herkömmliche Anwaltstätigkeit hinausgehende Akquisitionsberatung in seine Dienstleistungspalette aufgenommen.
1.27
3. Entwicklung des weltweiten M&A-Marktes Weltweit lassen sich, was Zahl und Umfang von Transaktionen anbetrifft, immer wieder Wellenbewegungen beobachten.9 Die im Folgenden angegebenen Zahlen entstammen nicht amtlichen Statistiken. Hier gibt es abhängig von der erhebenden Institution Unterschiede im Einzelnen, nicht jedoch im Hinblick auf Trends und Entwicklungen.
1.28
Der weltweite Markt für Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen ist seit Mitte der 1.29 1990er-Jahre stetig gewachsen und erzielte 2000 mit einem Transaktionsvolumen i.H.v. 3,167 Billionen US-Dollar bei ca. 37.000 Transaktionen einen vorläufigen Höchststand.10 Seit dem zweiten Quartal 2000 trat jedoch eine weltweite Abschwächung der Marktaktivitäten ein. 2002 betrug das Transaktionsvolumen nur noch 1,058 Billionen US-Dollar und erreichte damit den niedrigsten Stand seit 1997. Die wesentlichen Ursachen für den massiven Rückgang lagen in der Schwächephase der New Economy („Platzen der Dotcom Blase“) sowie der weltpolitischen Situation. Seither erholte sich das weltweite M&A-Volumen wieder stetig bis es 2007 i.H.v. 4,6 Billionen US-Dollar11 den absoluten Höchststand erreichte. Mit der im September 2008 durch die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers endgültig ausgebrochenen globalen Finanzkrise, die sich in der Folge zu einer Wirtschaftskrise auswuchs, ebbte die Transaktionsaktivität schlagartig ab und erreichte 2009 das schwächste Ergebnis seit 2004 bei 2,3 Billionen US-Dollar. Staatliche Rettungsmaßnahmen sowie Zinssenkungen und weitere Maßnahmen („Quantitative Easing“) der Notenbanken versuchten der Lähmung des Finanzkreislaufs entgegenzuwirken, mit teilweisem Erfolg. In der Folge blieb die globale M&A-Aktivität weitgehend stabil, wobei ab 2012 die aufkeimende Eurokrise (Griechenlandkrise) einen weiteren Unsicherheitsfaktor darstellte, der einen eher dämpfenden Effekt auf den (europäischen) M&A-Markt hatte. Ab 2014 verzeichnete man wieder starke bis sehr starke M&A-Jahre, getragen von der generellen wirtschaftlichen Erholung in den USA und anderen Teilen der Welt nach der Finanzkrise. Außerdem wurden in den Jahren 2014-2016 auch viele sog. „Mega-Deals“ abgeschlossen (z.B. Verizon Communications/Verizon Wireless [130,3 Milliarden US-Dollar, 2013], AT&T/Time Warner [85,41 Milliarden US-Dollar, 2016], Bayer/Monsanto [58,3 Milliarden US-Dollar, 2016] und Linde/Praxair [42,2 Milliarden Euro, 2016]). So knüpfte der Markt 2015 mit 4,5 Billionen US-Dollar fast an den Höchststand von 2007 an. Seitdem ist das Volu9 Schramm/Hansmeyer, Transaktionen erfolgreich managen, 2010, S. 15 ff. 10 Mezger, MAR 2001, 1. 11 Alle Daten aus JP Morgan 2018 Global M&A Outlook, p.3, basierend auf Daten von Dealogic zum 1.4.2018.
Rempp
9
Kap. 1 Rz. 1.30
Mergers & Acquisitions
men wieder moderat auf 3,7 Billionen US-Dollar in 2017 abgesunken, was teilweise der BrexitEntscheidung aus 2016 sowie den erstarkenden populistischen und nationalistischen Tendenzen in den USA und Europa zuzuschreiben sein dürfte, aber auch an einer geringeren Anzahl an „Mega-Deals“ liegt. Die Zahl der Transaktionen ist aber weiter sehr hoch. Die Aussicht eines „Wirtschaftskrieges“ durch Einführung von Einfuhrzöllen und sonstigen Handelshemmnissen stellt infrage, wie lange der seit Ende der Finanzkrise globale Aufwärtstrend der Märkte noch anhält. Hierzu zählt auch der stärkere Protektionismus in Bezug auf ausländische Direktinvestitionen, insbesondere in den USA durch CFIUS (vgl. hierzu im Einzelnen Rz. 1.68). Als Gegentrend hierzu ist wiederum die Ende 2017 beschlossene US-Steuerreform („Tax Cuts and Jobs Act“) zu nennen, die USA-bezogene Akquisitionen incentiviert, u.a. dadurch, dass US-Unternehmen ihren „Offshore Cash“ nun einfacher repatriieren können.
1.30 Die USA wurden von der Finanzkrise zwar zunächst am härtesten getroffen. Sie blieben jedoch auch im Jahr 2009 die stärkste M&A-Region weltweit. In der Folge erholte sich die US-Wirtschaft schneller von der Krise als viele andere Industrienationen. 2017 betrug der US-Anteil am globalen M&A-Markt 1,5 Billionen US-Dollar,12 und damit ca. 40 % des Gesamtmarktes (gegenüber 32 % des Gesamtmarktes in 2009).
1.31 Grenzüberschreitendes („Cross Border“) M&A machte 2017 1,3 Billionen US-Dollar aus, oder ca. 35 % des Gesamtmarktes.13 Als eigenständig zu betrachtende Cross Border M&AForm haben sich in den letzten Jahren Direktinvestitionen aus China entwickelt („China Outbound M&A“). Globales China Outbound M&A fand seinen vorläufigen Höhepunkt in 2016 mit 230 Milliarden US-Dollar (bzw. 183 Milliarden US-Dollar nach den Daten der UNCTAD)14 Volumen, gegenüber 141 Milliarden US-Dollar in 2017 und 86 Milliarden USDollar in 2015.15 In Umsetzung der Strategien „One Belt, One Road“ und „Made in China 2025“ der chinesischen Regierung haben die chinesischen Auslandsinvestments massiv zugenommen. So repräsentierte China 2006 mit ca. 18 Milliarden US-Dollar an Investitionen lediglich 1,3 % der globalen Investitionen. 2016 hatte sich das Volumen bereits verzehnfacht, und repräsentierte 12,6 % der globalen Investitionen. Damit war China 2016 nach den USA der zweitgrößte Auslandsinvestor weltweit.16 Das Gros dieser Investition (66 %) fließt nach Asien, sowie 8,7 % in die USA und 5,1 % in die EU. Nach diesem beispiellosen Boom werden chinesische Investitionen in vielen Ländern, allen voran den USA, nun zunehmend skeptisch gesehen und sehen sich verschärften Prüfungen durch Außenwirtschaftskontrollen (in den USA: CFIUS) ausgesetzt (vgl. Rz. 1.61 ff.). Dies hat in 2017 und 2018 zu einigen aufsehenerregenden Untersagungen von Transaktionen chinesischer Investoren durch CFIUS geführt und in dessen Folge zu einer Verringerung des chinesischen Gesamttransaktionsvolumens. Beispiele hierfür sind:
1.32 Die 1,3 Milliarden US-Dollar Akquisition von Lattice Semiconductor durch Canyon Bridge Capital, einem chinesischen Private Equity-Fonds, die 2017 durch den US-Präsidenten wegen nationaler Sicherheitsbedenken untersagt wurde sowie die Übernahme von MoneyGram durch Ant Financial im Wert von 1,2 Milliarden US-Dollar, die aufgegeben wurde, nachdem CFIUS die Untersagung in Aussicht gestellt hatte.17 12 13 14 15 16 17
10
https://corpgov.law.harvard.edu/2018/01/29/mergers-and-acquisitions-2018-with-a-brief-look-back/. https://corpgov.law.harvard.edu/2018/01/29/mergers-and-acquisitions-2018-with-a-brief-look-back/. Kauft China systematisch Schlüsseltechnologien auf?, Studie der Bertelsmann Stiftung, 2018, S. 10. https://corpgov.law.harvard.edu/2018/01/29/mergers-and-acquisitions-2018-with-a-brief-look-back/. Kauft China systematisch Schlüsseltechnologien auf?, Studie der Bertelsmann Stiftung, 2018, S. 10. www.mergermarket.com.
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A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.37 Kap. 1
Es steht zu erwarten, dass aufgrund des geänderten Investmentklimas chinesische Investoren ihren Fokus von den USA auf Europa verschieben werden. Erste Auswirkungen hiervon sind auch auf dem deutschen Markt bereits zu spüren.
1.33
Bemerkenswert ist im Übrigen die zunehmende Bedeutung von Private Equity-Transaktionen. Private Equity-Transaktionen sind ein fest etablierter Bestandteil des globalen und deutschen M&A-Marktes. Ihr Anteil an der Anzahl der Gesamttransaktionen weltweit ist in den letzten Jahren relativ konstant geblieben. So gab es 2017 weltweit ca. 38.000 Transaktionen. Hiervon entfielen 3.077 (ca. 8 %) auf Transaktionen unter Beteiligung von Private Equity-Fonds, welche wiederum ein Gesamtvolumen von 440 Milliarden US-Dollar hatten.18 Dies ist zwar ein Plus von 19 % gegenüber dem Vorjahr, liegt jedoch immer noch unter den Jahren 2006, 2007 und 2015. Dabei können sich die Private Equity-Fonds nicht über einen Mangel an Eigenkapital bzw. liquiden Mitteln beklagen. Alleine in 2017 wurden Private Equity-Fonds über 700 Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt, so dass die Summe des nicht investierten Vermögens (sog. „dry powder“) auf den Rekordstand von 1,7 Billionen US-Dollar gestiegen ist (davon allein über 600 Milliarden US-Dollar für Buy-OutTransaktionen). Private Equity-Fonds könnten also mehr investieren, haben allerdings Probleme, interessante Zielunternehmen zu angemessenen Bewertungen zu identifizieren. Denn aufgrund der langanhaltenden Boomphase sind die Verkäufererwartungen sehr hoch, und die Private Equity-Fonds befinden sich im ewigen Wettbewerb mit strategischen Investoren, welche oft bereit sind, Aufschläge für künftige Synergien zu zahlen. Neben der Konkurrenz durch strategische Investoren machen den Private Equity-Fonds zunehmend auch chinesische Investoren zu schaffen, die aus unterschiedlichsten Gründen bereit und in der Lage sind, Kaufpreise zu bezahlen, die sich nach den üblichen Berechnungsmethoden für Private Equity-Investoren (vgl. Rz. 1.151) nicht rechtfertigen lassen.
1.34
Trendmäßig spielen Akquisitionen von Portfoliogesellschaften von Private Equity-Fonds 1.35 (sog. „Add-Ons“) eine immer größere Rolle. Diese machen mittlerweile jede zweite Private Equity-Transaktion aus (2008 war es nur jede dritte Transaktion). Ein weiterer Trend sind sog. „Public-to-Private“-Transaktionen, in denen ein Private Equity-Fonds die Anteilsmehrheit an einem börsennotierten Unternehmen erwirbt mit dem Ziel, es von der Börse nehmen zu lassen („Delisting“) und die Anteile an der Zielgesellschaft vollständig zu übernehmen („Squeeze-out“). Deren Wert hat sich 2017 auf 180 Milliarden US-Dollar gegenüber dem Vorjahr nahezu verdoppelt. 4. Besonderheiten des deutschen M&A-Marktes Für Deutschland lässt sich bei generalisierender Betrachtung mit einer hohen Wahrscheinlichkeit vermuten, dass der Schwerpunkt der Erwerbsvorgänge was die Erwerbsobjekte angeht gemessen an ihrer Anzahl bei den Familienunternehmen mit Jahresumsätzen von 10 bis 250 Millionen Euro liegt. Der Mittelstand ist auch weiterhin bei Private Equity-Investoren und neuerdings bei chinesischen Investoren im Fokus (insbesondere hier die sog. „Hidden Champions“, welche Marktführer in technologischen Nischenbereichen sind).
1.36
Unternehmen dieser Größenordnung werden häufig durch Nachfolge- und Managementprobleme zur Veräußerung gezwungen.19 Nach Schätzungen des Instituts für Mittelstands-
1.37
18 http://www.bain.de/press/press-archive/private-equity-report-2018.aspx. 19 S. hierzu Picot/Classen, MAR 2008, 173 ff.
Rempp
11
Kap. 1 Rz. 1.38
Mergers & Acquisitions
forschung Bonn20 wird die Nachfolgefrage im Zeitraum von 2018 bis 2022 für knapp 150.000 Familienunternehmen mit rund 2,4 Millionen Beschäftigten relevant werden.21 Die Nachfolgefrage stellt sich in Familienunternehmen, wenn der Eigentümer aus der Führung seines Unternehmens aus alters- oder krankheitsbedingten Gründen ausscheidet oder verstirbt und das Unternehmen ausreichend Potential für eine Übernahme aufweist. 150.000 Unternehmensnachfolgen im Zeitraum von 2018 bis 2022 entsprechen 30.000 Unternehmensnachfolgen pro Jahr. Es wird erwartet, dass 29 % dieser Unternehmen an externe Dritte veräußert werden.22
1.38 Gerade im mittelständischen Bereich gibt es zudem noch eine Reihe von Marktnischen, in denen Unternehmen mit monopolartigem Charakter außerordentlich gute Erträge erzielen und damit die Begehrlichkeit größerer Unternehmen wecken.23
1.39 Die Entwicklung des deutschen Marktes für Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen ist aufgrund einiger Sonderfaktoren nicht immer parallel zur weltweiten Entwicklung verlaufen. Zu Beginn der 1990er-Jahre erfolgten zahlreiche Unternehmensübernahmen im Hinblick auf das Entstehen eines freien EG-Binnenmarktes und infolge der Verwirklichung der deutschen Einheit. So führten die Privatisierungsbemühungen der Treuhandanstalt zu einem wahren Strohfeuer an M&A-Transaktionen und dem endgültigen Markteintritt ausländischer Investmentbanken. Die historische und immer noch gültige Höchstzahl wurde 1990 mit mehr als 4.000 Transaktionen erreicht. Nach einer zwischenzeitlichen Abschwächung des Marktes erreichten die Transaktionen im Jahr 1997 mit einer Zahl von mehr als 3.000 einen neuen Höchststand. Diese Zahl fiel dann auf etwa 1.700 Transaktionen im Jahr 2003. Neben den Ursachen, die auch auf dem weltweiten M&A-Markt zu einem Rückgang der Unternehmensveräußerungen geführt haben, beruhte diese Entwicklung auf dem deutschen Markt noch auf zusätzlichen Faktoren. Die Konjunkturentwicklung in Deutschland war hinter der weltweiten Entwicklung zurückgeblieben. Darüber hinaus wirkten sich auch die fehlende unternehmerische Planungssicherheit vor dem Hintergrund stockender Reformbemühungen, insbesondere aufgrund ständig wechselnder steuerlicher Rahmenbedingungen, sowie angesichts anstehender tief greifender Reformen der sozialen Sicherungssysteme sowie der anhaltend schwache Dollarkurs negativ auf die Kaufbereitschaft vor allem ausländischer Investoren aus. Der 2002 beginnende Abwärtstrend auf dem deutschen M&A-Markt hatte, insbesondere infolge der 2008 auftretenden Finanz- und Wirtschaftskrise, seinen absoluten Tiefstand im zweiten Quartal 2009 mit 204 Transaktionen und einem Gesamtvolumen von unter 30 Milliarden Euro. Insgesamt waren im Jahr 2009 972 abgeschlossene Transaktionen zu verzeichnen.24 So genannte „Distressed M&A“-Transaktionen dominierten den Markt, also Transaktionen aufgrund Liquiditätsschwächen, Sanierungsbedürftigkeit oder sogar drohender Insolvenz, wie beispielsweise die Übernahme von Sal. Oppenheim durch die Deutsche Bank AG.25 Zudem trat der Staat verstärkt in den Vordergrund. Der Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin) war an drei der größten M&A-Transaktionen in Deutschland beteiligt. Im zweiten Halbjahr 2009 war ein leichter Aufschwung im deutschen M&A-Markt zu verzeich20 21 22 23 24 25
12
S. www.ifm-bonn.org (Stand 11.9.2014). S. https://www.ifm-bonn.org//uploads/tx_ifmstudies/Daten_und_Fakten_18.pdf. S. https://www.ifm-bonn.org//uploads/tx_ifmstudies/Daten_und_Fakten_18.pdf. Timmreck/Bäzner in Picot, Hdb. Mergers & Acquisitions, S. 83 (87). Kunisch/Wahler, MAR 2010, 53 (55). Kunisch/Wahler, MAR 2010, 53 (55); vgl. auch GoingPublic Magazin, Distressed M&A 2009: Unternehmenskauf in der Krise, Special August 2009; Pataki in Schramm/Hansmeyer, Transaktionen erfolgreich managen, 2010, S. 247 ff.
Rempp
A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.39 Kap. 1
nen. Dies führte jedoch in den Folgejahren nicht dazu, dass die Höchststände der Zahl der Transaktionen von 2007 und erst recht von 1990 auch nur annähernd erreicht worden wären. Seit 2009 ist die Anzahl der M&A-Transaktionen in Deutschland relativ stabil geblieben. Den vorläufigen Höhepunkt nach Anzahl der Transaktionen stellte 2016 mit 813 Transaktionen und einem Gesamtwert von 87,9 Milliarden Euro dar.26 Was den Gesamtwert an deutschen M&A-Transaktionen angeht, erreichte 2017 mit 96 Milliarden Euro den höchsten Wert seit 2007.27 Wie sich aus nachfolgendem Schaubild ergibt, verteilte sich nahezu die Hälfte des gesamten Transaktionswertes auf die zehn größten M&A-Transaktionen im Jahr 2017. Target
Deal Value (Cbn)
Percent Sought
Buyer Type
26-Sep-17 Independent Power Fortum Participation Producers an Energy Limited Traders
Uniper SE
11.0
100.0%
Strategic Buyer
26-Sep-17 Construction Alstom SA Machinery an Heavy Trucks
Siemens AG, Mobility solutions business
8.2
100.0%
Strategic Buyer
27-Jul-17
Electronic Equipment an Instruments
ista international
5.8
81.1%
Strategic Buyer
1-Jun-17
Construction Deere & Company Machinery an Heavy Trucks
WIRTGEN GROUP Holding GmbH
4.5
100.0%
Strategic Buyer
10-Jul-17
Pharmaceuticals
STADA Arzneimittel 4.2 Aktiengesellschaft
100.0%
Financial Buyer
Galeria Kaufhof and 63% of Kaufhof Real Estate
3.0
100.0%
Strategic Buyer
CeramTec GmbH
2.6
80.0%
Financial Buyer
Portfolio of Five Prestigious Properties in Large Cities
1.5
100.0%
Strategic Buyer
Date
Sector
Acquirer
CK Infrastructure Holdings Limited, CK Asset Holdings Limited
Multiple acquirers(1)
1-Nov-17 Real Estate Operating SIGNA Holding GmbH Companies
11-Oct-17 Specialty Chemicals
BC Partners; Ontario Teachers’ Pension Plan Board; Public Sector Pension Investment Board
9-Nov-17 Real Estate Operating SIGNA Prime Selection AG Companies
Acquirer Country
11-Dec-17 Distributors
LKQ Corporation
STAHLGRUBER GmbH
1.5
100.0%
Strategic Buyer
29-Mar-17 Biotechnology
Tiancheng International Investment Limited
Biotest Aktiengesellschaft
1.3
100.0%
Strategic Buyer
Note: (1) Multiple acquirers constitute a consortium of (i) Bain Capital Private Equity, LP and (ii) Cinven Capital Management (Vi) Limited Partnership Incorporated
Abb. 1: Top Inbound Deals Deutschland 2017 (nach Volumen) Quelle: Deloitte Germany: Cross Border M&A Yearbook 2017 Edition
Das erste Halbjahr 2018 wurde ebenfalls stark abgeschlossen. Gezählt wurden 410 Transaktionen im Wert von 78,6 Milliarden Euro.28 Die bislang größte Transaktion in 2018 stellt
26 Deloitte Germany: Cross Border M&A Yearbook 2017 Edition, S. 6. 27 https://www.finance-magazin.de/deals/ma/ma-2017-weniger-deals-aber-trotzdem-robust-2008101/. 28 Mergermarket DACH Trend Report H1 2018.
Rempp
13
Kap. 1 Rz. 1.40
Mergers & Acquisitions
das auf 37,9 Milliarden Euro bewertete Übernahmeangebot von E.ON für die Aktien der innogy SE dar.
1.40 Dem weltweiten Trend folgend hat sich in den letzten Jahren die Anzahl und der Wert an ausländischen Transaktionen in Deutschland stetig erhöht.
1.41 Die meisten ausländischen Investitionen kommen nach wie vor aus den USA. In den letzten Jahren hat allerdings die Anzahl an chinesischen Investitionen zunächst merklich zugenommen, ist jedoch seit 2017 wieder leicht rückläufig. So wurden 2014 35 Unternehmen durch chinesische Käufer erworben, 2015 37, 2016 56 und 2017 47, insgesamt also 175 Transaktionen seit 2014.29 Im ersten Halbjahr 2018 wurden 22 chinesische Transaktionen in Deutschland gezählt.30 Zu den wertmäßig größten Akquisitionen durch chinesische Käufer in jüngster Vergangenheit gehören Geely/Daimler, Midea/KUKA, HNA/Deutsche Bank, ChemChina/ KraussMaffei und Creat Group/Biotest.31 Der Fokus der chinesischen Investments hat sich von ursprünglich (teilweise in Schieflage geratenen) Industrieunternehmen wie etwa Putzmeister in 2012 zu Technologieunternehmen sowie Finanzinstituten und Energieversorgern verschoben,32 im Einklang mit Chinas „Made in China 2025“ Strategie.33 Diese Investitionen haben seit November 2016 einen Dämpfer erhalten, als China strikte Regeln zur Überwachung der Kapitalströme aus China heraus in Kraft setzte. Trotzdem besteht die Erwartung, dass chinesische Investoren sich in naher Zukunft weiter bzw. sogar verstärkt für Investitionen in Deutschland interessieren, da das Investitionsklima in den USA – wie oben beschrieben – sich stark eingetrübt hat. Die Auswirkungen einer stärkeren deutschen und europäischen Außenwirtschaftskontrolle auf diesen Trend sollten beobachtet werden. Letztlich lässt sich feststellen, dass durch die besonders strikte Regulierung in China, die regelmäßig mehrere staatliche Genehmigungen zur Durchführung eines – aus chinesischer Sicht – Outbound Investment erforderlich sind einerseits sowie durch die verschärften Außenwirtschaftskontrollen andererseits sich eine spezielle Gestaltungspraxis in M&A-Prozessen mit chinesischen Investoren herausbildet, um diesen Besonderheit im Prozess und der Transaktionsdokumentation durch angemessene Risikoverteilung Rechnung zu tragen. So hat sich beispielsweise ein Marktstandard dahingehend entwickelt, dass chinesische Investoren eine Vertragsstrafe für den Fall entrichten (und diesen durch Hinterlegung des entsprechenden Geldbetrages oder Begebung einer Bankbürgschaft absichern), dass die Transaktion wegen Versagung einer Genehmigung durch chinesische Behörden scheitert.
1.42 Entsprechend der weltweiten Entwicklung zeigte sich auch in Deutschland 2003 bei allgemeinem Rückgang der Transaktionen eine deutliche Zunahme von Private Equity-Transaktionen. So wurden mehr als ein Drittel der 25 größten Transaktionen von Finanzinvesto-
29 Kauft China systematisch Schlüsseltechnologien auf?, Studie der Bertelsmann Stiftung, 2018, S. 10. 30 EY: Chinesische Unternehmenskäufe in Europa, Juli 2018; https://www.ey.com/Publication/ vwLUAssets/ey-chinesische-unternehmenskaeufe-in-europa-juli-2018/$FILE/ey-chinesische-unter nehmenskaeufe-in-europa.pdf. 31 https://www.bloomberg.com/news/articles/2018-02-27/merkel-fixes-sights-on-china-as-chinese-in vestors-target-germany. 32 EY: Chinesische Unternehmenskäufe in Europa, Juli 2018; https://www.ey.com/Publication/ vwLUAssets/ey-chinesische-unternehmenskaeufe-in-europa-juli-2018/$FILE/ey-chinesische-unter nehmenskaeufe-in-europa.pdf. 33 Vgl. Kauft China systematisch Schlüsseltechnologien auf?, Studie der Bertelsmann Stiftung, 2018.
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A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.42 Kap. 1
ren abgewickelt.34 Insgesamt waren 2003 in Deutschland Private Equity-Gesellschaften an knapp 25 % der angekündigten Transaktionen beteiligt, gegenüber 10 % in 2002. Die Gründe für das starke Engagement von Private Equity-Gesellschaften lagen vor allem in den geringen Fremdkapitalzinsen sowie in den niedrigen Entry-Multiplikatoren aufgrund des angespannten Kapitalmarktumfeldes, was Finanzinvestoren einen relativ günstigen Einstieg mit Aussicht auf einen profitablen Exit in einem bis dahin veränderten Marktumfeld ermöglichte.35 Der Aufschwung im Private Equity-Sektor mit einem Volumen von 22,5 Milliarden Euro36 nahm seine Fortsetzung im Jahr 2004, wobei Wachstumsmotor der Buy-Out-Sektor war, während der Bereich Venture Capital nur schwach zunahm, nachdem er infolge des Platzens der New-Economy-Blase stark geschrumpft war.37 Entscheidende Faktoren waren insbesondere der gewachsene Kapitalbedarf der mittelständischen Unternehmen und die neu geschaffenen Investitionsmöglichkeiten für Private Equity-Gesellschaften durch die Entflechtung der „Deutschland AG“.38 Diese Faktoren wirkten auch in den folgenden zwei Jahren weiter.39 Weiterhin wurde der Private Equity-Markt begünstigt durch die immer bessere Verfügbarkeit von Fremdkapital und attraktive Kreditkonditionen.40 Das Wachstum des Private Equity-Marktes wurde durch die 2007 beginnende und sich auf die Gesamtwirtschaft extrem auswirkende Kreditmarktkrise jäh gestoppt.41 Die Aktivitäten auf dem M&A-Markt sanken rapide, die Bewertungen der Unternehmen fielen und die Verfügbarkeit von Fremdkapital nahm stark ab.42 Das Investitionsvolumen von Private Equity-Gesellschaften in deutsche Unternehmen betrug 2008 noch ca. 9,1 Milliarden Euro und fiel 2009 auf ca. 2,7 Milliarden Euro. Die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise zwangen die Private Equity-Unternehmen ihre Strategie umzustellen. Der erschwerte Zugang zu Fremdkapital führte zu einer teils drastischen Erhöhung des Eigenkapitalanteils bei Private Equity-Investitionen. Das Augenmerk wurde vermehrt auf mittelständische Unternehmen gelenkt, da die Finanzierung größerer Transaktionen43 kaum noch möglich war.44 Die Private Equity-Branche nahm größtenteils Abstand von Maßnahmen zur kurzfristigen Wertsteigerung des Unternehmens und setzte stärker auf Nachhaltigkeit.45 Mittlerweile hat sich der Private Equity-Markt wieder erholt (vgl. hierzu im Einzelnen Rz. 1.78 ff.). Wie auch im weltweiten Markt sitzen die in Deutschland aktiven Private Equity-Fonds auf großen Mengen Eigenkapital bzw. Liquidität („dry powder“). Zudem ist der Zugang zu Fremdkapital über syndizierte Kredite und Private Equity-Fonds, die Fremdkapital zur Verfügung stellen (sog. „Debt Fonds“), vergleichs34 Pressemitteilung M&A International GmbH, Kronberg/Taunus unter www.m-a-international. de. 35 Vgl. Herden/Meier-Sierden, MAR 2004, 222 (224). 36 Schaaf, E-conomics – Digitale Ökonomie und struktureller Wandel, Deutsche Bank Research, Publikation v. 26.1.2005, S. 8, abrufbar unter www.dbresearch.de (Stand 11.9.2014). 37 Schaaf, E-conomics – Digitale Ökonomie und struktureller Wandel, Deutsche Bank Research, Publikation v. 26.1.2005, S. 8, abrufbar unter www.dbresearch.de (Stand 11.9.2014). 38 Schaaf, E-conomics – Digitale Ökonomie und struktureller Wandel, Deutsche Bank Research, Publikation v. 26.1.2005, S. 8 f., abrufbar unter www.dbresearch.de (Stand 11.9.2014). 39 S. Puccinelli, MAR 2006, 267 ff. 40 Puccinelli, MAR 2006, 267 ff. 41 S. Lichtner, MAR 2009, 14 ff.; Scheiter/Dunne/Niewiem/Ostroumov, MAR 2010, 1 ff.; Meyer, E-conomics, Private Equity, Deutsche Bank Research, S. 8 ff., abrufbar unter www.dbresearch.de. 42 Lichtner, MAR 2009, 14 (17). 43 S. noch zum Trend zu großen Deals und Megadeals bis zum Jahr 2007 Engler, MAR 2007, 124 ff. 44 Scheiter/Dunne/Niewiem/Ostroumov, MAR 2010, 1 (4); Meyer, E-conomics, Private Equity, Deutsche Bank Research, S. 11, abrufbar unter www.dbresearch.de. 45 Scheiter/Dunne/Niewiem/Ostroumov, MAR 2010, 1 (4 ff.).
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Kap. 1 Rz. 1.43
Mergers & Acquisitions
weise unkompliziert möglich. Da sich auch Deutschland mittlerweile in einem langanhaltenden Verkäufermarkt befindet, fällt es den Private Equity-Fonds auf der anderen Seite allerdings zunehmend schwer, Zielgesellschaften zu finden, für die nicht Kaufpreise verlangt und erzielt werden, die sich für Private Equity-Fonds, was den Return on Investment angeht, nicht rechnen. Zudem ist selbst im Jahre 2018 die Akzeptanz von Private Equity-Investoren im deutschen Mittelstand und in Familienunternehmen (dies ist oftmals deckungsgleich) noch nicht so ausgeprägt wie in vergleichbaren Industrienationen. Dies dürfte ein Hauptgrund sein, warum das Volumen der Private Equity-Transaktionen in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt auch heute noch deutlich hinter Großbritannien und Frankreich zurückbleibt.46 Die Akzeptanz von Private Equity-Investoren nimmt aber kontinuierlich weiter zu.
1.43 Mit dem leichteren Zugang zu Fremdkapital gelingt es den Private Equity-Fonds auch wieder, größere Unternehmen zu erwerben. In diesem Zuge werden auch in Deutschland wieder häufiger öffentliche Übernahmen durch Private Equity-Investoren (meist in Form von sog. „Going Private-Transaktionen“) ins Visier genommen (vgl. hierzu die Beispiele in Rz. 1.78).
1.44 Zu erwähnen ist noch, um den Vergleich des deutschen Marktes für Unternehmen und Beteiligungen mit dem amerikanischen wieder aufzugreifen, ein unternehmenspsychologisches Spezifikum des deutschen Marktes. Unternehmen in den USA werden von ihren Inhabern mit weit weniger emotionaler Verbundenheit betrachtet als dies in Deutschland über Jahrzehnte hinweg üblich war. Das Unternehmen war und ist in Deutschland nicht ausschließlich ein Mittel zur Erzielung von Renditen, sondern wird bewusst als Lebenswerk eines Unternehmers oder einer ganzen Unternehmerfamilie betrachtet. Ebenso wie von Grund und Boden, zu dem die Deutschen eine fast verklärte Beziehung haben, trennten sich Familienunternehmer von Unternehmen oft nicht im günstigsten Zeitpunkt, um „Kasse zu machen“, sondern erst in einem Stadium, in dem – z.B. unter Druck der Banken oder des oben erwähnten Wegfalls von steuerlichen Vergünstigungen – keine andere Entscheidung mehr möglich ist. Der amerikanische Unternehmer hat dagegen keine Bedenken, das selbst aufgebaute Unternehmen auf dem Gipfel seines Erfolges zu veräußern, um sich möglicherweise wieder einer neuen interessanten unternehmerischen Aufgabe zu widmen.
IV. Unternehmenskauf als konzernstrategisches Konzept Literatur: Aus der Fülle der Literatur zur Beteiligungspolitik sei genannt: Bea/Haas, Strategisches Management, 9. Aufl. 2017; Beitel, Akquisitionen und Zusammenschlüsse europäischer Banken. Wertsteigerung durch M&A-Transaktionen, 2002; Goedhart/Koller/Wessels, The six types of successful acquisitions, McKinsey&Company Corporate Finance Practice, May 2017; Hungenberg, Strategisches Management im Unternehmen – Ziele – Prozesse – Verfahren, 8. Aufl. 2014; Köppen, Synergieermittlung im Vorfeld von Unternehmenszusammenschlüssen, 2004; Motive und Zielsetzungen von Mergers & Acquisitions, in Wirtz, Mergers & Acquisitions Management, 4. Auflage, 2016, S. 61; Metzenthin, Kompetenzorientierte Unternehmensakquisitionen, 2002; H.-E. Müller, Übernahme und Restrukturierung: Neuausrichtung der Unternehmensstrategie, 2003; Timmreck/Bäzner, Mergers & Acquisitions als strategisches Instrument im Rahmen der Branchenkonsolidierung, in Picot, Handbuch Mergers & Acquisitions, 5. Aufl. 2012, S. 83; Wagner, M&A-Strategien, in Schramm/Hansmeyer, Transaktionen erfolgreich managen, 2010, S. 15; Welge/Al-Laham/Eulerich, Strategisches Management – Grundlagen – Prozess – Implementierung, 7. Aufl. 2017.
46 PWC Private Equity Trend Report 2018, S. 81.
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A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.48 Kap. 1
In der Nachkriegswirtschaft der deutschen Industrie wurde die Diversifikation47 durch Erwerb von Unternehmen und Beteiligungen oft als Patentrezept für das weitere Wohlergehen des eigenen Unternehmens verstanden. Als notwendig angesehenes Wachstum wurde damit äußeres im Gegensatz zu innerem Wachstum durch Ausweitung der vorhandenen Produktionskapazitäten verwirklicht. Die Diversifikation war neben dem Wunsch nach Vergrößerung der Marktanteile wichtigstes Kaufmotiv. Es entstanden auf diese Weise Konglomerate, die in den verschiedensten Wirtschaftsbereichen und -stufen tätig waren.
1.45
Die im internationalen Vergleich geringe Eigenkapitaldecke48 der deutschen Wirtschaft machte eine weitestgehende Fremdfinanzierung der Aufkäufe notwendig. In folgenden Zeiten des durch Zinserhöhungen knappen Geldes entstanden dadurch enorme Belastungen für die Unternehmen, die vielfach neben anderen Ursachen Grund für Insolvenzen waren. Andererseits wurde die durch Diversifikation gewachsene Unternehmensgröße oft durch die gestiegene Bereitschaft der öffentlichen Hand honoriert, das Not leidende Unternehmen zu stützen. Mag auch diese Art der Verringerung des unternehmerischen Risikos bei Beginn der Diversifikation durch Akquisition nicht das Motiv gewesen sein, so war sie dennoch ein sich später ergebender willkommener Nebeneffekt.
1.46
Unternehmens- und Beteiligungskäufe unter dem Gesichtspunkt der Diversifikation sind je- 1.47 doch spätestens mit Beginn der 1980er-Jahre in ihrer Zahl geringer geworden. Das hatte seinen Grund zum einen in der mangelnden Liquidität der Unternehmen in der Konsolidierungsphase. Vielen Unternehmen fehlte einfach das Geld für Beteiligungskäufe. Zum anderen hatte sich herausgestellt, dass die vermeintliche Reduzierung des unternehmerischen Risikos durch Diversifikation wiederum neue Risiken hervorruft. So hat der Erwerb von Unternehmen und Beteiligungen oft dann nicht zum Erfolg geführt, wenn das erwerbende Unternehmen sich bei der Diversifikation in einen völlig fremden Bereich begeben hat. Das vielfach zu vernehmende Postulat, ein guter Manager müsse auf allen Gebieten und in jeder Branche etwas leisten können, trifft nämlich in dieser Allgemeinheit nicht zu. Es gilt allenfalls für einen kleinen Kreis von absoluten Spitzenmanagern, wie sie in der obersten Führungsebene der deutschen Großunternehmen angesiedelt sind. Leute von dieser Qualifikation hat aber nicht jeder Erwerber in den eigenen Reihen. Selbst wenn der Erwerber, der ein Unternehmen einer gänzlich anderen Branche erworben hat, für die Führung dieses Unternehmens einen sich in allen Branchen bewährenden Spitzenmanager zur Verfügung hat, kann dieser die neue Aufgabe nicht ohne einen qualifizierten Unterbau bewältigen. Bei der Bewältigung dieses Führungsproblems – sei es auf oberster Führungsebene, sei es auf der Ebene des oberen Mittelmanagements – kann sich der Erwerber nicht auf das beim Erwerbsobjekt vorhandene Führungspersonal verlassen. Entweder handelt es sich dabei um Mitglieder der ehemaligen Inhaberfamilie, die sich für Führungsaufgaben nicht mehr zur Verfügung stellen, oder das bisherige Führungspersonal ist nicht geeignet. Oft treffen beide Konstellationen bei Familienunternehmen in der dritten und späteren Generation zusammen. Neben der Gefahr der bei einer Diversifikation durch Aufkäufe von Unternehmen auftauchenden neuen Risiken hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass mit der Streuung der Aktivität die in jedem Aktivitätsspektrum zu erringenden Marktanteile und damit tendenziell die Gewinne sinken. Wie in Bereichen der privaten Kapitalanlage gilt auch im Bereich der strategischen Unternehmensplanung der Grundsatz, dass optimale Sicherheit und optimaler 47 Vgl. hierzu Wagner in Schramm/Hansmeyer, Transaktionen erfolgreich managen, 2010, S. 15 (22 f.). 48 Vgl. hierzu etwa Frien, Finance 6/2003, 52 ff.; Bauer, Handelsblatt v. 8.4.2010.
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17
1.48
Kap. 1 Rz. 1.49
Mergers & Acquisitions
Ertrag nicht miteinander zu vereinbaren sind. Dieser Grundsatz ist nicht zwingend, jedoch hat die vermehrte Erfahrung zu sorgfältigster Überprüfung der Erreichbarkeit und der negativen Folgewirkungen des mit der Diversifikation angestrebten Zwecks geführt. Der Gesichtspunkt der Diversifikation durch Risikostreuung ist deshalb beim Unternehmens- und Beteiligungserwerb durch andere strategische Unternehmensziele in den Hintergrund gedrängt worden. Im Bereich der Risikoverminderung versucht man stattdessen, sich durch vertikale Integration in die Beschaffungs- und/oder Absatzmärkte einzukaufen. Horizontale Absicherung soll durch Aufkäufe von oder Beteiligungen an Wettbewerbern erreicht werden. Hierbei werden aber in weiterem Maße Schranken durch die kartellrechtlichen Vorschriften gesetzt (vgl. hierzu Rz. 1.52 ff. und Kapitel 7).
1.49 Zwänge zum Unternehmens- und Beteiligungserwerb entstehen durch Umweltveränderungen. Bei einer Verschlechterung des eigenen Standortes – beispielsweise auch durch steigende Produktionskosten oder wachsende Unzulänglichkeit der Verkehrsverhältnisse – kann es sinnvoll sein, ein bereits bestehendes Unternehmen in günstiger Lage aufzukaufen, statt „auf der grünen Wiese“ neu zu beginnen. Anstöße zur Konzentration durch Unternehmenskauf bewirken auch Marktveränderungen. Haben die Betriebe des eigenen Unternehmens nicht mehr die optimale Betriebsgröße und können sie auch nicht auf die wettbewerbsfähige Größe erweitert werden, liegt es nahe, sich zur wettbewerbsfähigen Größe durch Kaufvorgänge zusammenzuschließen. Eine sehr deutliche Entwicklung in dieser Hinsicht war in der Vergangenheit in nahezu sämtlichen Industrie- und Handelsbereichen zu sehen. Die seit Jahren diskutierte Notwendigkeit einer stärkeren Konzentration im deutschen Bankensektor hat durch die noch lange nicht überwundene Finanzmarktkrise eine neue aktuelle Note und verstärkte Dringlichkeit erhalten.
1.50 Schließlich werden Käufe getätigt, um damit in neue Wachstumsmärkte einzudringen, um Absatzorganisationen oder neue Produktionskapazitäten zu erwerben. Sämtliche dieser beispielhaft aufgeführten Motive basieren auf der Überlegung, der Erwerb einer bereits bestehenden funktionsfähigen Einheit sei entweder preisgünstiger als der Aufbau einer eigenen Alternative oder sogar der einzige Weg, das angestrebte Ziel zu erreichen. Konzernstrategische Motive, die zu Unternehmensverkäufen führen, schlagen sich in den letzten Jahren zunehmend unter dem Gesichtspunkt der Restrukturierung oder dem immer stärker werdenden angloamerikanischem Sprachgebrauch entsprechenden Corporate Restructuring nieder. So gibt es den Sell-Off oder Equity Carve-Out (Abverkauf), die Divestiture (Abtrennung) oder die Spin-Offs, Split-Offs oder Split-Ups (Verselbständigung). Es handelt sich um nichts anderes als den Verkauf von Unternehmen oder Unternehmensteilen, die nicht mehr in das konzernstrategische Konzept passen.
1.51 Für den Bereich der Großunternehmen (insbesondere Industrieunternehmen und Banken) gab es in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre eine publizistische Richtung, die glauben machen wollte, Unternehmenskäufe gehörten der Vergangenheit an. Statt auf sie würden die Unternehmen auf strategische Allianzen („Strategic Alliances“) setzen. Bei solchen strategischen Bündnissen zur gemeinsamen Markteroberung oder zur Ergänzung in einzelnen Tätigkeitsbereichen seien die Risiken überschaubarer. Ähnliche Ziele wie durch einen Unternehmenskauf ließen sich auch durch solche schuldrechtlichen Absprachen erreichen. Diese Aussage hat sich als falsche Prophezeiung entpuppt. Strategische Allianzen zwischen Unternehmen hat es neben Unternehmenskäufen stets gegeben. Selbstverständlich muss in jedem Unternehmen überlegt werden, ob es notwendig ist, ein anderes Unternehmen zu übernehmen, um sich beispielsweise dessen Vertriebskanäle zueigen zu machen, oder ob nicht eine Kooperation ausreicht. Es war und wird stets unter unternehmerischen Gesichtspunkten ab18
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A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.54 Kap. 1
zuwägen sein, in welchen Fällen eine Akquisition oder eine strategische Allianz das beste Mittel zum Erreichen des jeweiligen konkreten Unternehmensziels ist. Unternehmens- und Beteiligungserwerbe werden daher auch in Zukunft einen elementaren Bestandteil der Konzernpolitik bilden. Ausschlaggebende Motivation wird dabei wieder verstärkt das Ziel der Erhöhung von Marktanteilen und der Erschließung neuer Märkte sein.
V. Unternehmenskauf und Konzentration Der Markt für Unternehmen und Beteiligungen ist ein ordnungspolitisch geregelter und kein gänzlich freier Markt. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern beispielsweise auch für die USA, die übrigen westlichen Industriestaaten und seit knapp zehn Jahren auch für China. Die Marktbegrenzungen sind wettbewerbspolitischer Art. Nach dem wettbewerbspolitischen Konzept des deutschen Gesetzgebers soll auf dem Markt für Dienstleistungen und Waren Freiheit, auf dem Markt für die Erzeuger dieser Güter dagegen staatliche Kontrolle herrschen. Begründet wird der scheinbare Widerspruch mit dem Argument, dass nur die Kontrolle auf dem Erzeugermarkt die Freiheit auf dem Markt für Waren und Dienstleistungen wieder ermögliche.
1.52
Innerhalb des Gebiets der Europäischen Union ist die wettbewerbspolitische und die recht- 1.53 liche Zuständigkeit bei Transaktionen größeren und bedeutenderen Umfangs von Bonn nach Brüssel gewechselt. Gemäß Art. 1 Abs. 1 der Fusionskontrollverordnung49 ist die EU-Kommission statt der nationalen Kartellbehörden für die Prüfung eines Zusammenschlussvorhabens von gemeinschaftsweiter Bedeutung zuständig. Ein Zusammenschluss von gemeinschaftsweiter Bedeutung liegt vor, wenn die beteiligten Unternehmen bestimmte Umsatzschwellen erreichen und ihre Umsätze nicht jeweils zu mindestens zwei Dritteln in ein und demselben Mitgliedstaat der Europäischen Union erzielen (vgl. die Ausführungen in Rz. 7.240 ff. zu den Einzelheiten der Abgrenzung der Zuständigkeit der EU-Kommission und den nationalen Kartellbehörden für die Prüfung von Zusammenschlussvorhaben). Der Zuständigkeit der EU-Kommission für die Prüfung von Zusammenschlussvorhaben von gemeinschaftsweiter Bedeutung hat der deutsche Gesetzgeber durch § 35 Abs. 3 GWB50 Rechnung getragen. Danach finden die Vorschriften des GWB keine Anwendung, soweit die EU-Kommission nach der Fusionskontrollverordnung für die Prüfung des Zusammenschlussvorhabens ausschließlich zuständig ist. In dem der deutschen Legislative verbliebenen Segment erfolgt die Regulierung auf dem 1.54 Markt für Unternehmen und Beteiligungen unter wettbewerbspolitischen Gesichtspunkten durch das BKartA auf der Grundlage des GWB sowie unter investitionspolitischen Gesichtspunkten durch das Bundeswirtschaftsministerium („BMWi“) auf Grundlage des Außenwirtschaftsgesetzes („AWG“)51 und der Außenwirtschaftsordnung („AWV“)52 (vgl. hierzu Rz. 1.62 ff.). Die ordnungspolitische Konzeption des GWB ist die Sicherung der freien Zu49 Verordnung (EWG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen vom 20.1.2004, ABl. EG Nr. L 24, 1. 50 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 26.6.2013 (BGBl. I, 1750, 3245), das zuletzt durch Art. 10 Abs. 9 des Gesetzes vom 30.10.2017 (BGBl. I, 3618) geändert worden ist. 51 Außenwirtschaftsgesetz vom 6.6.2013 (BGBl. I S. 1482), das zuletzt durch Art. 4 des Gesetzes vom 20.7.2017 (BGBl. I S. 2789) geändert worden ist. 52 Außenwirtschaftsverordnung vom 2.8.2013 (BGBl. I S. 2865), die zuletzt durch Art. 1 der Verordnung vom 13.12.2017 (BAnz AT 20.12.2017 V1) geändert worden ist.
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Kap. 1 Rz. 1.55
Mergers & Acquisitions
gangschancen zu Märkten für Waren und Dienstleistungen. Dies kann im Einzelfall auch bedeuten, dass der Untergang von Unternehmen in Kauf genommen wird. Jedoch wird das Entstehen von Marktmacht durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen nicht gänzlich untersagt. Inneres Wachstum kennt auch im Rahmen des GWB keine Schranken. Wenn vermutet wird, dass der Grund für die ungleiche Behandlung von Wachstum darin liege, dass bei innerem Wachstum neue wirtschaftliche Kapazitäten geschaffen und Anreize für die Forschung und Entwicklung gesetzt, bei externem Wachstum jedoch durch Erwerb von Beteiligungen oder Unternehmen solche lediglich neu verteilt würden, verbleibt Skepsis. Auch Größe durch inneres Wachstum kann zu einem Grad der Monopolisierung führen, der die übrig gebliebenen Kapazitäten zerstört oder Konkurrenten anderweitig behindert. Daher erlegen das deutsche und das europäische Kartellrecht marktmächtigen Unternehmen strenge Verhaltenspflichten auf, die für nicht marktmächtige Unternehmen nicht gelten.
1.55 Seit Einführung der Fusionskontrolle in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1973 bis 2004 sind beim BKartA 33.234 vollzogene Zusammenschlüsse angezeigt worden. Zwischen 2005 und 2017 wurden insgesamt ca. 17.700 Zusammenschlüsse angemeldet.53 Statistische Daten und historische Entwicklungen können im Einzelnen in den alle zwei Jahre erscheinenden Tätigkeitsberichten des BKartA sowie seinen Jahresberichten nachgelesen werden. Einschränkend muss man berücksichtigen, dass sich die gesetzlichen Kriterien für eine Anmelde- bzw. Anzeigepflicht seit 1973 vielfach geändert haben, und zwar sowohl bei den Aufgreifkriterien, die nach der Umsatzgröße der Beteiligten eine Anmeldepflicht grundsätzlich entstehen lassen, wie auch bei den Kriterien der Umsatzberechnung sowie den Ausnahmen für kleine Zielunternehmen und de minimis-Märkte. Außerdem werden viele wettbewerbsrechtlich problematische Vorhaben von den Unternehmen schon im Vorfeld aufgegeben, wenn das BKartA in informellen Vorgesprächen signalisiert, dass mit einer Untersagung oder einschneidenden Auflagen gerechnet werden muss. Oft werden Anmeldungen auch zurückgezogen, wenn das BKartA im Hauptprüfungsverfahren ernsthafte Bedenken vorbringt.54 2242 1675
2007
2008
998
987
2009
2010
1108
1127
1091
2011
2012
2013
1188
1211
1229
2014
2015
2016
Abb. 2: Beim BKartA angemeldete Zusammenschlüsse 2007 bis 2016 53 Bericht des BKartA über seine Tätigkeit in den Jahren 2015/2016 sowie über die Lage und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet, BT-Drucks. 18/12760, 131; BKartA, Jahresrückblick 2017, Pressemitteilung vom 21.12.2017. 54 Wegen dieser Vorfeldwirkungen ist auch die augenscheinlich geringe Zahl der Untersagungen (2015: 1, 2016: 0, 2017: 1) mit Vorsicht zu genießen.
20
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A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.59 Kap. 1
Durch die 6. GWB-Novelle,55 die am 1.1.1999 in Kraft getreten ist, haben die Vorschriften über die Fusionskontrolle eine umfassende Überarbeitung erfahren. Nach der bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Regelung bestand gem. § 23 Abs. 1 Satz 1 GWB a.F. eine allgemeine (nachträgliche) Anzeigepflicht für alle kontrollpflichtigen Zusammenschlüsse kombiniert mit einer fakultativen präventiven Kontrolle gleichen Anwendungsbereichs (§ 24a Abs. 1 Satz 1 GWB a.F.) und einer (vorherigen) Anmeldepflicht mit Vollzugsverbot für besonders schwer wiegende Zusammenschlüsse (§ 24a Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 GWB a.F.). Stattdessen gilt seitdem gem. § 39 Abs. 1 GWB eine generelle präventive Kontrolle der anzumeldenden Zusammenschlussvorhaben. Der Gesetzgeber hat dieses System in weiteren Novellen nachjustiert, aber im Wesentlichen jeweils unverändert übernommen. Eine wichtige Änderung war jedoch die Überführung der de minimis-Ausnahme für Kleinmärkte mit einem Gesamtvolumen von weniger als 15 Millionen Euro von der formellen in die materielle Fusionskontrolle mit der 8. GWB-Novelle.56 Seit 2013 prüft das BKartA nach Anmeldung, ob die Kriterien dieser Ausnahme erfüllt sind, es muss also jedenfalls angemeldet werden (liegen Kleinmärkte vor, kann das BKartA insoweit nicht untersagen, § 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 GWB). Ob auch die Bezugnahme auf den Transaktionswert von mehr als 400 Millionen Euro als neuem und zusätzlichem Anmeldekriterium mit der 9. GWB-Novelle eine Zäsur bedeuten wird, ist derzeit noch nicht absehbar.57 (vgl. hierzu im Einzelnen Rz. 7.12).
1.56
Wird damit eine wettbewerbspolitisch unerwünschte Unternehmenskonzentration erschwert, so schafft dies auf der anderen Seite weitere bei Beteiligungstransaktionen zu überwindende Klippen. Kartellrechtliche Fragen sind nicht nur beim „großen“ Unternehmenskauf, sondern auch in Bereichen zu bedenken, in denen die Beteiligten kein kartellrechtliches Problembewusstsein haben und oft von der Mitteilung überrascht werden, eine Transaktion sei kartellrechtlich nicht unproblematisch. Das gilt zum einen für den Kaufvorgang als solchen, aber auch für begleitende Absprachen, die anlässlich von Unternehmenskaufverträgen getroffen werden sollen, z.B. Wettbewerbsverbote, Lieferverträge, Gebietsabgrenzungen usw. Bei der Prüfung des Kaufvorganges selbst kann es vorkommen, dass das BKartA die relevanten Märkte anders (meist enger) definiert, als den Parteien des Kaufvertrages vorschwebt. Eine engere Marktdefinition hat denklogisch eine höhere Marktkonzentration und damit tendenziell eine höhere Wahrscheinlichkeit kartellrechtlicher Probleme zur Folge.
1.57
VI. Unternehmenskauf und Investitionsprüfung Eine ständig steigende Zahl von Unternehmenskäufen findet inzwischen in einem internationalen Kontext statt, wenn etwa ein deutsches Unternehmen ein ausländisches Unternehmen oder umgekehrt ein ausländisches Unternehmen ein deutsches Unternehmen erwirbt. In diesen Fällen stellt sich für die Regierung des Landes, in dem das Zielunternehmen seinen Sitz oder ein operatives Tochterunternehmen hat, die Frage, ob sie eine solche Transaktion zur Wahrung nationaler Interessen prüfen oder gar untersagen möchte („Investitionsprüfung“).
1.58
Die deutschen Regelungen zur Investitionsprüfung sind 2004 (Rüstungs- und Sicherheitstechnologie) bzw. 2009 (Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung) mit Ergänzungen
1.59
55 Sechstes Gesetz zur Änderung des GWB in der Fassung der Bekanntmachung v. 26.8.1998, BGBl. I 1998, 2521. 56 Achtes Gesetz zur Änderung des GWB, BGBl. I 2013, 1738. 57 Neuntes Gesetz zur Änderung des GWB, BGBl. I 2017, 1416.
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21
Kap. 1 Rz. 1.60
Mergers & Acquisitions
des AWG und der AWV eingeführt worden. Diese Regelungen sind 2017 insbesondere im Hinblick auf chinesische Direktinvestitionen in deutsche Hochtechnologieunternehmen ergänzt und erweitert worden. Diese Entwicklung ist im Zusammenhang mit Plänen zur Verschärfung der Investitionsprüfung der Europäischen Union, der USA und anderer Länder zu sehen, in denen der Anstieg von strategischen Investitionen durch staatlich kontrollierte Unternehmen aus China mit Sorge betrachtet wird. Andererseits gibt es auch in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Regelungen, mit denen europäische Direktinvestitionen in strategischen (nicht notwendigerweise sicherheitsbezogenen) Bereichen untersucht werden können.58 1. Ausländische Direktinvestitionen in Europa und in Deutschland
1.60 Sowohl Deutschland als auch Europa haben ausländische Direktinvestitionen stets begrüßt und gelten als „offene Märkte“.59 Die USA führen immer noch die Liste der in Europa investierenden Länder an. Der Anteil der USA fiel jedoch nach von der Europäischen Kommission („Kommission“) veröffentlichten Zahlen von 51,3 % im Jahr 1995 auf 41,4 % im Jahr 2016. Im gleichen Zeitraum stieg demgegenüber der Anteil der Investitionen aus der Volksrepublik China von 0,3 % auf 2 %.60 Nach aktuelleren Auswertungen der Unternehmensberatung Ernst & Young zu chinesischen Unternehmenskäufen in Europa stellte das Jahr 2016 mit 309 Transaktionen mit einem Wert von 85,8 Milliarden US-Dollar den bisherigen Höhepunkt chinesischer Investitionen in Europa dar. Im Jahr 2017 waren demgegebenüber nur 247 Unternehmenskäufe oder -beteiligungen chinesischer Unternehmen in Europa mit einem Transaktionsvolumen von 57,6 Milliarden US-Dollar festzustellen. Allein in Deutschland sollen chinesische Unternehmen im Jahr 2017 47 Unternehmenskäufe getätigt haben. Der Trend für das erste Halbjahr 2018 ist dabei weiter rückläufig; so zählte Ernst & Young in Europa lediglich 111 Transaktionen mit einem Wert von knapp 15 Milliarden US-Dollar.61 Die Entwicklung in Deutschland verlief im Wesentlichen parallel.
1.61 Der festzustellende strategische Fokus der chinesischen Direktinvestitionen in industrielle Hoch- und Schlüsseltechnologieunternehmen soll einen Bezug zu der von der Volksrepublik China beschlossenen Strategie „Made in China 2025“ haben.62 Der staatlich finanzierte und 58 So hat das italienische Parlament am 16.10.2017 eine Verordnung erlassen, die ausländische Erwerber dazu verpflichtet, bestimmte Informationen offenzulegen, wenn sie bestimmte Anteile an bestimmten börsennotierten Unternehmen erwerben wollen. Darüber hinaus erhält die italienische Regierung das Recht, Akquisitionen in sicherheitsrelevante Unternehmen, aber auch in Unternehmen der Energie-, Transport oder Telekommunikationsindustrie, zu untersagen oder mit Auflagen zu versehen. Die Verordnung war die Reaktion Italiens auf den Erwerb einer Minderheitsbeteiligung an der Telekom Italia durch den französischen Konzern Vivendi. 59 OECD, Foreign Direct Investment Statistics: Data, Analysis and Forecasts, http://www.oecd.org/cor porate/mne/statistics.htm. 60 Commission Staff Working Document accompanying the document Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council establishing a framework for screening of foreign direct investment into the European Union, COM(2017) 487 final, S. 3 f. 61 Ernst & Young, Chinesische Unternehmenskäufe in Europa, Eine Analyse von M&A Deals 2006-2018, S. 3-6, http://www.ey.com/Publication/vwLUAssets/ey-chinesische-unternehmenskau fe-in-europa-juli-2018/$FILE/ey-chinesische-unternehmenskaufe-in-europa.pdf. 62 BMWi, Entwicklungen im Investitionsprüfungsrecht, Monatsbericht 10/2017 des BMWi, S. 2. vgl. hierzu auch die Studie der Bertelsmann Stiftung „Kauft China systematisch Schlüsseltechnologien auf?“ vom 22.5.2018, abrufbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/ Publikationen/GrauePublikationen/MT_Made_in_China_2025.pdf.
22
Rempp
A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.65 Kap. 1
koordinierte Erwerb von Hochtechnologieunternehmen wird von vielen als Wettbewerbsverzerrung angesehen.63 2. Das Verfahren der Investitionsprüfung in Deutschland In der Bundesrepublik Deutschland existieren zwei unterschiedliche Verfahrensordnungen für die Prüfung von Investitionen. Das sog. sektorübergreifende Prüfverfahren gilt für jeden Erwerb von 25 % oder mehr der Stimmrechte eines in Deutschland ansässigen Unternehmens durch einen Erwerber, der nicht in der EU oder in der EFTA seinen Sitz hat.
1.62
Seit Sommer 2017 besteht eine Meldepflicht für den Erwerber, wenn die Zielgesellschaft eine sog. „kritische Infrastruktur“ betreibt oder Software für eine derartige kritische Infrastruktur entwickelt. Mit der Einführung der Meldepflicht für den Erwerb von Unternehmen im Bereich kritischer Infrastruktur und der weiten Definition dieses Begriffes hat die deutsche Investitionsprüfung erheblich an Bedeutung für den Unternehmenskauf gewonnen. Der Verstoß gegen die Meldepflicht ist nicht bußgeldbewehrt. Transaktionen, die unter das sektorübergreifende Prüfverfahren fallen, sind jedoch bis zur ausdrücklichen oder fingierten Freigabe durch das BMWi bzw. dem Ablauf der Aufgreiffrist schwebend unwirksam.
1.63
Unabhängig von der Meldepflicht für bestimmte Transaktionen kann das BMWi innerhalb von drei Monaten nach positiver Kenntnis von einer Transaktion, maximal jedoch innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren, jeden Erwerb von mehr 25 % oder mehr der Stimmrechte eines deutschen Unternehmens durch einen nicht in der EU oder in der EFTA ansässigen Erwerber prüfen. Der Erwerber einer deutschen Zielgesellschaft hat die Möglichkeit, in einem überschaubaren Zeitraum Rechtssicherheit zu bekommen, indem er eine Unbedenklichkeitsbescheinigung beantragt. Erteilt das BMWi eine solche Bescheinigung nicht innerhalb einer Frist von zwei Monaten, so gilt diese als erteilt, wenn das BMWi nicht zuvor ein Prüfverfahren eröffnet hat. Ein solches Prüfverfahren ist vom BMWi grundsätzlich innerhalb von vier Monaten abzuschließen. Das sog. sektorspezifische Prüfverfahren für rüstungs- und sicherheitssensible Unternehmen sieht eine generelle Meldepflicht für den Erwerb von 25 % oder mehr der Stimmrechte an einem deutschen Unternehmen durch jeden ausländischen Erwerber vor.
1.64
Anfang August 2018 hat die Bundesregierung das BMWi ermächtigt, den geplanten Erwerb der Leifeld Metal Spinning durch ein Konsortium bestehend aus der französischen Manoir Gruppe und der chinesischen Yantai Taihai Gruppe zu untersagen. Die Bundesregierung verzichtete auf eine direkte Untersagung, weil die Parteien der Transaktion das BMWi erst unmittelbar vor der Entscheidung darüber informiert hatten, ihr Vorhaben doch aufzugeben. Die Ermächtigung des BMWi erfolgte, um diesem die Untersagung der Transaktion für den Fall zu erlauben, dass die Parteien ihr Vorhaben doch nicht vollständig aufgegeben haben. Die Bundesregierung begründete die Ermächtigung des BMWi mit dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Presseberichten zufolge verfügt Leifeld Metal Spinning über ein besonderes Know-How bei der Verarbeitung hochfester Metalle, die unter anderem in der Raumfahrt und in der Nuklearindustrie verwendet werden. Wenige Tage zuvor hatte
1.65
63 „China pursues an outbound industrial policy with government capital and highly opaque investor networks to facilitate high-tech acquisitions abroad. This undermines the principles of fair competition: China’s state-led economic system is exploiting the openness of market economies in Europe and the United States.“, Wübbeke/Meissner et al., Made in China 2025, The making of a high-tech superpower and consequencess for industrial countries, MERICS Papers on China, No. 2, Dezember 2016, S. 7 f.
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23
Kap. 1 Rz. 1.66
Mergers & Acquisitions
die Kreditanstalt für Wiederaufbau bekannt gegeben, im Auftrag der Bundesregierung und mit Hilfe eines Vorkaufsrechts des anderen Gesellschafters eine Minderheitsbeteiligung von 20 % an 50Hertz, dem Betreiber eines Hochspannungsnetzes im Osten Deutschlands, von IFM Investors zu erwerben, um auf diese Weise den Einstieg von State Grid Corporation of China in 50Hertz zu verhindern. Die Bundesregierung rechtfertigte diesen ungewöhnlichen Schritt damit (die Transaktion hätte nicht untersagt werden können, weil die Aufgreifschwelle von 25 % der Stimmrechte an der Zielgesellschaft nicht erreicht wurde), dass 50Hertz für die Versorgung von etwa 20 % der deutschen Bevölkerung mit Elektrizität verantwortlich sei. Als Konsequenz dieses Falles kündigte das BMWi im Sommer 2018 an, die Aufgreifschwelle für Investitionsprüfungen zumindest für Unternehmen, die im Bereich der kritischen Infrastruktur tätig sind, von 25 % auf 15 % zu senken. Ob diese beiden Fälle, deren zeitliche Nähe zueinander Zufall gewesen sein dürfte, wirklich einen Paradigmenwechsel in der deutschen Investitionsprüfung in Richtung einer generell kritischen Haltung gegenüber chinesischen Direktinvestitionen darstellen, erscheint zweifelhaft. Zum einen hat das BMWi auch in der Vergangenheit Bedenken hinsichtlich des Schutzes der nationalen Sicherheit und Ordnung erhoben, ohne dass eine Untersagung nötig wurde. Zum anderen zeigte die ebenfalls im Sommer 2018 erfolgte und seitens der Politik und der Wirtschaft begrüßte Übernahme des deutschen Automobilzulieferers Grammer durch den chinesischen Wettbewerber Ningbo Jifeng, dass es „den“ chinesischen Investor nicht gibt und dass der Erwerb deutscher Zielgesellschaften durch nicht-europäische Investoren nur in den seltensten Fällen Bedenken auslösen dürfte. 3. Die europäische Gesetzgebungsinitiative für Investitionsprüfungen
1.66 Vor dem Hintergrund der bereits angesprochenen zunehmenden Besorgnis über Direktinvestitionen aus China hat die Kommission im September 2017 einen Verordnungsentwurf für einen einheitlichen Rahmen der Durchführung von Investitionsprüfungen vorgestellt, der am 28.5.2018 vom zuständigen Ausschuss des Europäischen Parlamentes mit einigen Änderungen angenommen wurde. Mit dem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens wird im Laufe des Jahres 2018 gerechnet.
1.67 Der derzeitige Verordnungsentwurf schreibt die Einführung von Regelungen zur Investitionsprüfung nicht vor. Leiten Mitgliedstaaten auf der Basis ihrer nationalen Regelungen ein Prüfverfahren ein, sollen die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten hierüber informiert werden. Der prüfende Mitgliedstaat bleibt in seiner Entscheidung über die Transaktion frei, soll aber Stellungnahmen der Kommission und der anderen Mitgliedstaaten berücksichtigen. Das von dem Verordnungsentwurf vorgesehene Verfahren der gegenseitigen Information und der Möglichkeit zur Stellungnahme dürfte die Dauer der nationalen Verfahren der Investitionsprüfung beeinflussen. 4. Die Auswirkungen des amerikanischen CFIUS-Verfahrens auf Unternehmenskäufe in Deutschland
1.68 Unternehmenskäufe in Bezug auf deutsche Unternehmen können jedoch nicht nur durch das Investitionsprüfungsverfahren der AWV, sondern auch durch ausländische Verfahren beeinflusst werden. Welche Rolle hier insbesondere das „Committee on Foreign Investment in the United States“ („CFIUS“) spielen kann, zeigten jüngst eine Reihe von Transaktionen mit deutschem Bezug (vgl. etwa der gescheiterte Erwerb der Aixtron SE durch Fujian Grand Chip Investment Fund sowie die Übernahme der Biotest AG durch die Creat Group Corporation, die letzten Endes nur deswegen erfolgreich war und von CFIUS buchstäblich in letzter Sekunde 24
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A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.70 Kap. 1
genehmigt wurde, weil die Parteien sich bereiterklärten, die US-Tochter der Biotest AG an einen Dritten zu veräußern). Das CFIUS-Verfahren kann entweder von Amts wegen oder durch eine Anzeige der Parteien ausgelöst werden. Können die Bedenken von CFIUS nicht ausgeräumt werden, muss die Transaktion dem US-Präsidenten zur Entscheidung vorgelegt werden. Die Bedeutung des CFIUS-Verfahrens für die Transaktionspraxis ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Für das Jahr 2017 wird mit insgesamt 250 Verfahren gerechnet. Im August 2018 ist der Foreign Investment Risk Review Modernization Act in Kraft getreten, der die Zuständigkeiten von CFIUS erheblich erweitert hat. So kann CFIUS nun auch Minderheitsbeteiligungen an Unternehmen prüfen, die im Bereich kritischer Infrastruktur oder kritischer Technologien tätig sind. Darüber hinaus fallen nun auch Immobilientransaktionen sowie Veränderungen von Stimmrechten ausländischer Investoren bei bereits durchgeführten Transaktionen in den Zuständigkeitsbereich von CFIUS. 5. Empfehlungen für die Transaktionspraxis Parteien einer grenzüberschreitenden Transaktion sind gut beraten, frühzeitig die möglichen Auswirkungen von Investitionsprüfungen zu berücksichtigen. Wie das Beispiel Italien zeigt, kann dies sogar bei rein europäischen Transaktionen der Fall sein.
1.69
Während staatliche Eingriffe bei rein europäischen Transaktionen die Ausnahme bleiben soll- 1.70 ten, sind auf beiden Seiten des Atlantiks als Folge der beschränkten Investitionsmöglichkeiten von ausländischen Unternehmen in China sowie einer offenbar von staatlichen chinesischen Organisationen gelenkten Einkaufsstrategie in westliche Hochtechnologieunternehmen Tendenzen festzustellen, chinesische Direktinvestitionen kritisch zu hinterfragen. In Fällen, in denen die geplante Transaktion auch einen Bezug zu den USA hat, ist aufgrund der immer intensiver werdenden Kommunikation zwischen den zuständigen amerikanischen und deutschen Stellen ein koordinierter Ansatz in allen betroffenen Jurisdiktionen erforderlich, wie er im Rahmen der Fusionskontrolle bereits ständige Praxis ist. Auch bei rein europäisch/chinesischen Transaktionen ist von einem lebhaften Interesse des BMWi und anderer europäischer Behörden auszugehen. Unabhängig davon, ob eine Transaktion geeignet ist, die öffentliche Sicherheit oder Ordnung zu beeinträchtigen, werden die Behörden sehr genau wissen wollen, von welcher chinesischen Einheit das zu erwerbende Unternehmen kontrolliert wird. Dieses Interesse kann den Zeitplan der Parteien für die Durchführung der Transaktion erheblich beeinflussen und sollte bei der Bestimmung der Fristen, innerhalb derer sämtliche Vollzugsbedingungen erfüllt sein müssen (sog. „Drop Dead Date“), entsprechend berücksichtigt werden. Die Investitionsprüfung kann daher in manchen Fällen eine Bedeutung für den Unternehmenskauf erlangen, die mit der der Fusionskontrolle vergleichbar ist.
VII. Management Buy-Out und Leveraged Buy-Out Literatur: Böhme, Kapitalschutz und die Bestellung von Sicherheiten beim Leveraged Buy-Out in der englischen und deutschen Rechtspraxis, 2004; Diem, Akquisitionsfinanzierung – Kredite für Unternehmenskäufe, 3. Aufl. 2013; Drescher, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, 7. Aufl. 2013; Ecker/Heckemüller, Der deutsche Leveraged Finance-Markt und die Beziehung zwischen Private Equity-Häusern und Anbietern von Akquisitionsfinanzierung, MAR 2005, 16; Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, 3. Aufl. 2018; Fleischer, Informationspflichten der Geschäftsleiter beim Management Buy-Out im Schnittfeld von Vertrags-, Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, AG 2000, 309; Haak, Management- und Employee-Buy-Out: ein Mittel zur Arbeitsplatzsicherung?, 2002; Hoenig/ Klingen, Grenzen der Wissenszurechnung beim Unternehmenskauf, NZG 2013, S. 1046; Hohaus/Inhester, Rahmenbedingungen von Management-Beteiligungen, DStR 2003, 1765; Hug/Ernst, Finanzie-
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25
Kap. 1 Rz. 1.71
Mergers & Acquisitions
rungsmodelle von Leveraged Buy-outs, MAR 2003, 441, 1765; Koblenzer, Management Buy-Out (MBO) und Management Buy-In (MBI) als Instrumente der Unternehmensnachfolge, ZEV 2002, 350; Labbé, Unternehmensnachfolge durch Management-Buy-Out, DB 2001, 2362; Lichtner, Private Equity muss sich veränderten Gegebenheiten anpassen, MAR 2009, 14; Löwisch in MünchKomm/GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 43a Rz. 31; Magnus/Pfister, LBO-Finanzierung im Stresstest – Handlungsoptionen und Strategien von Kreditgebern, MAR 2010, 177; Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbH-Gesetz, 3. Aufl. 2017; Mittendorfer, Praxishandbuch Akquisitionsfinanzierung – Erfolgsfaktoren fremdfinanzierter Unternehmensübernahmen, 2007; Münchow/Striegel/Jesch, Management Buy-Out (MBO), Beck’sche Musterverträge, 2008; Oechsler in MünchKomm/AktG, 4. Aufl. 2016, § 71a AktG Rz. 1 f.; Schaefer/Ortner, Verhaltens- und Wissenszurechnung bei M&A-Transaktionen, DStR 2017, S. 1710; Schäffler, Leveraged Buy-Out, 2006; Schiereck/Lange, Unternehmensnachfolge und Private Equity, 2002; Thiele, Aktuelle Entwicklungen bei der steuerlichen Behandlung von Managementbeteiligungen, BB 2017, S. 983; Thum/Timmreck/Keul, Private Equity, 2008; Tirpitz, Die Pflichten der GmbH-Manager gegenüber den Altgesellschaftern beim Management Buy-Out, 2001; Scheiter/Dunne/Niewiem/ Ostroumov, „Zurück in die Zukunft“ – In der Private Equity-Branche steht Performance wieder auf Nummer eins, MAR 2010, 1; Weber/Hohaus, in Beck’sches Mandatshandbuch: Vorstand der AG, 2. Aufl. 2010; 10, Rz. 10; Weber/Hohaus, Buy-Outs: Funktionsweise, Strukturierung, Bewertung und Umsetzung von Unternehmenstransaktionen, 2010; Weitnauer, Management Buy-Out, 2. Aufl. 2013; Weitnauer, Handbuch Venture Capital, 5. Aufl. 2016.
1. Begriffsdefinition, Verbreitung in Deutschland
1.71 Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit zwei Sonderformen der Unternehmensakquisition, dem Leveraged Buy-Out (LBO) und dem Management Buy-Out (MBO) und gibt einen ersten Einblick in die Besonderheiten dieser Akquisitionsformen. Zur Vertiefung sei auf die Kapitel 5 und 14 verwiesen.
1.72 Beide Begriffe wurden in den USA geprägt.64 Mit Leveraged Buy-Out (LBO) wird ein Unternehmenskauf bezeichnet, bei dem ein Teil des Kaufpreises durch eigens für diesen Zweck aufgenommenes Fremdkapital finanziert wird. Das zur Finanzierung des Kaufpreises aufgenommene Fremdkapital wird aus dem Cashflow des erworbenen Unternehmens bedient und über Vermögensgegenstände des Unternehmens abgesichert. Finanzinvestoren wie Private EquityFonds erwerben Zielunternehmen typischerweise im Wege des LBOs (vgl. Rz. 14.8, Rz. 14.15, Rz. 14.23 und Rz. 14.67 ff.) aber prinzipiell steht diese Erwerbsform jedem Käufer offen. So wird sie gelegentlich auch von „Family Offices“ und „Sovereign Wealth Funds“ (Staatsfonds), aber auch von strategischen Investoren verwendet.
1.73 Erfolgt der Erwerb eines Unternehmens durch das Management dieses Unternehmens, liegt ein Management Buy-Out (MBO) vor. Die Besonderheit des MBOs besteht also in erster Linie in der Person des Erwerbers. Zwar wird auch bei einem Unternehmenskauf durch Private Equity-Fonds das Management meist kapitalmäßig am Zielunternehmen beteiligt (sog. Managementbeteiligung, Management Equity Participation), allerdings geschieht dies üblicherweise nur mit einer vergleichsweise geringen Minderheitsbeteiligung, weshalb diese Fälle nicht zu den MBOs gezählt werden. Auch bei einem MBO wird es sich in der Regel um einen Unternehmenskauf mit Fremdkapitalfinanzierung handeln, da das angestellte Management typischerweise nicht das Eigenkapital für den Erwerb des Unternehmens aufbringen kann. Von einem Management Buy-In (MBI) spricht man, wenn unternehmensfremde Manager dieses Unternehmen erwerben.
1.74 Einstweilen frei. 64 S. zur Entwicklung in den USA Thum/Timmreck/Keul, Private Equity, S. 5 ff.
26
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A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.78 Kap. 1
Die Finanzierung des Unternehmenskaufes mittels Fremdkapital bietet zwei Vorteile: Zum 1.75 einen ermöglicht die Fremdkapitalfinanzierung Unternehmensakquisitionen, die anderenfalls mangels Eigenkapital nicht zustande kämen; zum anderen steigert sie – im günstigen Fall – die Rendite des eingesetzten Eigenkapitals (sog. Hebeleffekt, daher die Bezeichnung „Leverage“). Andererseits erhöht die Fremdkapitalfinanzierung das Risiko von Verlusten (im schlechtesten Fall bis hin zur Insolvenz des Zielunternehmens). Daher erfordert ein erfolgreicher LBO ein besonderes Maß an sorgfältiger Planung, Prüfung, Durchführung und Kontrolle, was eine Professionalisierung der Käufer, der Berater sowie des Akquisitionsprozesses bedingt. Verdeutlicht wird dies durch die gestiegene Verbreitung und weiter zunehmende Aktivität von Private Equity-Fonds (insbesondere auch bei Transaktionen mit Kaufpreisen in Milliardenhöhe (sog. „Large-Cap“-Transaktionen) und bei Übernahmen börsennotierter Unternehmen wie beispielsweise die Übernahme der GfK SE durch KKR), welche Unternehmen weit überwiegend im Wege des LBOs erwerben. Einstweilen frei.
1.76
Zugleich schränken die besonderen Anforderungen der Fremdkapitalfinanzierung die Anzahl tauglicher Zielunternehmen ein, welche typischerweise mehrere, wenn auch nicht alle der folgenden Kriterien aufweisen sollten:
1.77
– hoher Reifegrad mit etabliertem Geschäftsgegenstand und vergleichsweise geringem Investitionsbedarf; – qualifiziertes, langfristig gebundenes und motiviertes Management; – starker kontinuierlicher, von saisonalen Schwankungen unabhängiger Cashflow; – hohe Beleihungsgrenzen für das Anlagevermögen; – stille Reserven in nicht betriebsnotwendigen veräußerbaren Aktiva; – geringe Ausfallquoten und kurze Zahlungsziele bei Forderungen. Ganz anders sieht das Anforderungsprofil allerdings bei LBOs mit notleidenden Zielunternehmen („Distressed M&A“) aus. LBOs und MBOs haben in Deutschland bei weitem immer noch nicht die Bedeutung und die Häufigkeit erlangt wie in ihrem Ursprungsland USA oder z.B. auch in Großbritannien. Dennoch ist der LBO auch im Markt der Unternehmensakquisitionen für deutsche Unternehmen in den letzten 15 Jahren eine feste Größe mit ca. 100 bis 130 Unternehmenskäufen und Transaktionswerten von ca. 4 bis 6 Milliarden Euro, jeweils pro Jahr.65 In 2017 ist bei etwa gleichbleibender Anzahl der Unternehmenskäufe (119 in 2017, 116 in 2016 und 120 in 2015) der Transaktionswert mit nahezu 9 Milliarden Euro weit über den Werten der Vorjahre (2016 ca. 5 Milliarden Euro, 2015 ca. 4,8 Milliarden Euro).66 Auch wenn die Statistiken und die Schlagzeilen von wenigen großen Mega-Buy-Outs beeinflusst sind, sind der Großteil dieser Transaktionen kleinere (,15 Millionen Euro) und mittelgroße (15 – 150 Millionen Euro) Buy-Outs. Allerdings hat in den letzten Jahren die Anzahl der öffentlichen Übernahmen in Form von LBOs durch Private Equity-Investoren deutlich zugenommen (beispielsweise Apollo/Fair Value REIT-AG, Apollo/DEMIRE Deutsche Mittelstand Real Estate AG, 65 Bundesverband Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften, Jahresstatistik 2016, unter www.bvkap. de. 66 Bundesverband Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften, Jahresstatistik 2017, unter www.bvkap. de.
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1.78
Kap. 1 Rz. 1.79
Mergers & Acquisitions
Vestigo Capital/Accentro Real Estate AG, Bain Capital & Cinven/STADA Arzneimittel AG, Creat/Biotest AG, Serafin/BHS tabletop AG, KKR/GfK SE, Lone Star/Isaria Wohnbau AG, Capital Stage/CHORUS Clean Energy AG).
1.79 Verglichen mit den LBOs spielen hingegen MBOs mit ca. 30 bis 45 Unternehmenskäufen und Transaktionswerten von ca. 60 bis 230 Millionen Euro, jeweils pro Jahr, eine deutlich kleinere Rolle.67 Der Hauptgrund für die geringere Anzahl dürfte darin liegen, dass bei dieser Form des Buy-Out das Zustandekommen von sehr vielen Faktoren abhängt und die bei LBOs zu beobachtende Professionalisierung und Institutionalisierung der Akteure im Bereich der MBOs naturgemäß schwieriger ist. Allerdings sind auch diese Probleme mit professioneller Organisation und Beratung lösbar.
1.80 Weitere Besonderheiten ergeben sich, wenn bei einem LBO die Eigentümer des Zielunternehmens und damit die Verkäufer auf der einen und das Management des Zielunternehmens auf der anderen Seite ganz oder teilweise personengleich sind. In diesen Konstellationen wird häufig vereinbart, dass die Verkäufer und ehemaligen Eigentümer einen Teil des erzielten Kaufpreises dazu verwenden, sich gemeinsam mit dem Private Equity-Investor kapitalmäßig am Zielunternehmen zu beteiligen. Gleichzeitig werden die ehemaligen Eigentümer und Verkäufer sehr wahrscheinlich weiterhin im Management des Zielunternehmens verbleiben. Hier verknüpfen sich also Elemente des LBO mit solchen des MBO, was zu erhöhter Komplexität und erweitertem Regelungsbedarf führt (vgl. hierzu Rz. 5.308). Eine weitere Mischform ergibt sich dann, wenn sich das Management im Rahmen eines LBO nicht oder nicht nur klassischer Finanzierungsmethoden bedient, sondern einen Private Equity-Fond als sog. Co-Investor hinzuzieht (vgl. hierzu Rz. 14.8).
1.81 Der Kauf eines Unternehmens durch die bisherigen Manager oder Finanzinvestoren kann eine Lösung von Nachfolgeproblemen bei klassischen Familiengesellschaften bieten, wenn familienintern kein Nachfolger zur Verfügung steht und der Gang an die Börse nicht zweckmäßig ist.68 Zum anderen werden LBOs und MBOs oft bei der Verselbständigung von Konzernteilen angewandt.69 Oft führen bestimmte Geschäftssparten ein Schattendasein und sind in ihrer Entwicklung gehemmt. Nach der Herauslösung aus dem Konzern unter Führung ihrer Manager gelangen sie aufgrund ihrer neu gewonnenen Freiheit und Flexibilität teilweise zu erstaunlichen Ergebnissen. 2. Potentielle Interessenkonflikte beim LBO und MBO
1.82 Wie eingangs erwähnt, liegt eine Hauptbesonderheit von LBOs durch Private Equity-Fonds und MBOs darin, dass sich das Management des erworbenen Unternehmens kapitalmäßig an diesem oder der Erwerbsgesellschaft beteiligen soll und somit das Management in der Rolle eines potentiellen Erwerbers steht. Dies eröffnet ein Feld von möglichen Interessenskonflikten und Pflichtenkollisionen, deren sich alle Beteiligten und nicht zuletzt das Management bewusst sein müssen.70 67 Bundesverband Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften, Jahresstatistik 2016, unter www.bvkap.de. 68 Picot in Picot, Hdb. Mergers & Acquisitions, S. 2 (11); Beisel/Klumpp, Der Unternehmenskauf, § 13 Rz. 2; Labbé, DB 2001, 2362 f. 69 Timmreck, MAR 2003, 225 (229); Fleischer, Informationspflichten der Geschäftsleiter beim Management Buy-Out im Schnittfeld von Vertrags-, Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, AG 2000, 309. 70 Fleischer, Informationspflichten der Geschäftsleiter beim Management Buy-Out im Schnittfeld von Vertrags-, Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, AG 2000, 309.
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A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.87 Kap. 1
Im Falle des MBOs sind diese Konfliktpotentiale noch einmal verschärft, da in dieser Konstellation das Management aktiv die Stellung des potentiellen Erwerbers innehat. Zudem muss das Management neben den Verhandlungen mit dem Verkäufer zum Kaufvertrag auch noch Verhandlungen mit den Fremdkapitalgebern zu den Kreditverträgen führen, wodurch sich auch ein Zeitproblem ergibt. Neben dem Aufbau eines Beraterteams sollte das Management abwägen, ab welchem Zeitpunkt gegebenenfalls die vorübergehende Niederlegung des Amtes im Zielunternehmen ratsam wird.
1.83
Zu minimieren sind diese Konfliktpotentiale durch geeignete Regelungen in den prozessgestaltenden Dokumenten (z.B. Vertraulichkeitsvereinbarung, Genehmigungsbeschlüsse, etc.), im Kaufvertrag sowie – im typischen Falle der Gewährung einer Managementbeteiligung im Rahmen des LBOs – im (Management-)Beteiligungsvertrag (auch „Co-Investment Agreement“ oder „Shareholders Agreement“ genannt).
1.84
Obwohl keine Besonderheit der Buy-Outs, ist vor Beginn der Due Diligence an erster Stelle an 1.85 den Konflikt zwischen dem Geheimhaltungsinteresse des Zielunternehmens und dem Informationsinteresse des potentiellen Erwerbers zu denken. Mit einer unbefugten Offenlegung vertraulicher Informationen des Zielunternehmens würde sich das Management Schadensersatzansprüchen und strafrechtlicher Verfolgung (§ 85 GmbHG, § 404 AktG) aussetzen. Zur Vermeidung dieser Risiken sollten die zuständigen Gremien des Zielunternehmens der Offenlegung von Informationen im Rahmen der Due Diligence vorher schriftlich zustimmen. Es gelten im Übrigen die allgemeinen Grenzen zur Offenlegung von Informationen aus Gesetz (z.B. Kartellrecht, Datenschutz, Kapitalmarktrecht) und vertraglichen Verpflichtungen (Geheimhaltungsklauseln). Eine weitere Besonderheit ergibt sich beim sog. „Secondary Buy-Out“, bei dem das Zielunternehmen von einem Private Equity-Fond an einen weiteren Private Equity-Fond veräußert wird. Hier wird das Management auf der einen Seite über die bereits vorhandene Kapitalbeteiligung am Zielunternehmen am Erlös des Secondary Buy-Out beteiligt. Auf der anderen Seite wird der Käufer meist nach Erwerb des Zielunternehmens das Management wiederum kapitalmäßig beteiligen. Damit ist das Management des Zielunternehmens sowohl mit dem Verkäufer als auch mit dem Käufer im Boot, was insbesondere bei der Verhandlung der kaufvertraglichen Gewährleistungen und der sog. Disclosure Schedules zwingend zu Interessenkonflikten führen muss (vgl. hierzu Rz. 1.115c).
1.86
Ein weiteres Spannungsfeld eröffnet sich dadurch, dass das Management des Zielunterneh- 1.87 mens in aller Regel die besten Kenntnisse (im Vergleich zu Käufer und Verkäufer beim LBO und beim MBO im Vergleich zum Verkäufer) über Risiken und Chancen des Zielunternehmens hat und durch Auswahl und Präsentation offengelegter Informationen sowohl das Zustandekommen der Transaktion als auch die Bewertung des Zielunternehmens durch Käufer und Verkäufer beeinflussen könnte.71 Will das Management das Zielunternehmen erwerben oder sich in Absprache mit dem Käufer kapitalmäßig beteiligen, hat das Management ein gesteigertes Eigeninteresse an einem für den Erwerber günstigen Unternehmenskauf.72 Entgegengesetzt gelagert sind die Fälle, in denen der Verkäufer des Zielunternehmens dem Management einen Transaktionsbonus für den Fall der Durchführung der Unternehmensakquisition verspricht, was sinnvoll sein kann, um dem Loyalitätswechsel entgegenzuwirken. 71 Timmreck, MAR 2003, 225 (229). 72 Für eine schematische Darstellung des typischen Loyalitätswechsels des Managements s. Weber/ Hohaus, in Beck’sches Mandatshandbuch: Vorstand der AG, § 10 Rz. 10.
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Kap. 1 Rz. 1.88
Mergers & Acquisitions
1.88 Allerdings sind dem Management durch Auskunftspflichten, Treuepflichten und Wettbewerbsverbote (z.B. hinsichtlich der Realisierung von Geschäftschancen) Grenzen gesetzt, die das Management zur Vermeidung von Haftungsrisiken unter Hinzuziehung von Beratern sorgfältig prüfen sollte. Die Haftungsrisiken legen es nahe, dass der bisherige Inhaber des Zielunternehmens und das Management offen über Probleme und auch künftige Chancen des Unternehmens sprechen. Häufig wird das Management Gestaltungsmöglichkeiten zur Verbesserung der Unternehmenssituation bereits vorgetragen haben.
1.89 Schließlich sollte im Kaufvertrag geregelt werden, wem das Wissen und das Handeln des Managements jeweils zugerechnet werden soll:73 Stellt z.B. die Nicht-Offenlegung von Problemen des Zielunternehmens durch das Management eine Arglist des Verkäufers dar, welche die vertraglichen Garantiebeschränkungen aushebelt? Oder muss sich der Käufer die Kenntnis des Managements (wegen der Personenidentität beim MBO oder dem Loyalitätswechsel beim LBO) zurechnen lassen? Führt das Management das Zielunternehmen im Zeitraum zwischen Abschluss des Kaufvertrages (Signing) und Durchführung (Closing) im Interesse des Verkäufers oder bereits des Käufers? Um den Interessen aller Beteiligten gerecht zu werden, wird man sich nicht mit pauschalen Antworten begnügen können. 3. Fremdkapitalfinanzierung des Buy-Outs
1.90 Wie ausgeführt ist eines der definierenden Merkmale der LBOs und MBOs die Finanzierung des Kaufpreises durch Fremdkapitalgeber zu einem wesentlichen Teil. Da der Käufer (also ein Akquisitionsvehikel im Falle des LBOs oder das Management im Falle des MBOs) nach Aufbringung des Eigenkapitalanteils typischerweise über kein wesentliches Vermögen zur Bestellung von Sicherheiten oder Einkünfte zur Tilgung verfügt, wird die Fremdfinanzierung mit Pfandrechten an den Geschäftsanteilen oder Aktien des Zielunternehmens sowie mit dem Vermögen des Zielunternehmens besichert; Zins und Tilgung werden aus den Erträgen des Zielunternehmens bestritten (vgl. hierzu im Einzelnen Rz. 4.8 ff.). Da die Kreditvergabe für den oder die Fremdkapitalgeber mit einem erheblichen Risiko behaftet ist, werden zum einen hohe Anforderungen an die Qualität des Zielunternehmens und die Nachhaltigkeit der Erträge aus diesem gestellt, zum anderen werden Fremdkapitalgeber versuchen, ihr Risiko im Rahmen der Kredit- und Sicherheitenverträge zu minimieren.74
1.91 Die größte rechtliche Gefahrensituation für das Management des Zielunternehmens ergibt sich bei der Besicherung der Fremdfinanzierung durch die Hingabe von Sicherheiten für die Kaufpreisverbindlichkeiten des Akquisitionsvehikels, da dies unter Umständen eine verbotene Rückzahlung von Stammkapital (§ 30 GmbHG) bzw. Rückgewähr von Einlagen oder finanzielle Unterstützung des Erwerbs von Aktien (§ 57 AktG bzw. § 71, 71a AktG) darstellen kann. Diese Risiken sind durch geeignete Strukturierung der Finanzierungs- und Sicherheitenverträge und die Aufnahme schützender Klauseln (sog. „Limitation Language“) zu minimieren; den rechtlichen Bedenken des Managements muss hier ausreichend Rechnung getragen werden. Unter strafrechtlichen Gesichtspunkten ist für die Geschäftsführer des Zielunternehmens auch der Untreuetatbestand (§ 266 StGB) zu beachten. Des Weiteren gelten Zahlungsverbote bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung des Zielunternehmens. Gewährt das Zielunternehmen dem Management im Falle des MBOs einen Kredit zum Erwerb 73 Als anschauliches Beispiel s. OLG Düsseldorf v. 16.6.2016 – I-6 U 20/15, AG 2017, 124; besprochen von Schaefer/Ortner in Verhaltens- und Wissenszurechnung bei M&A-Transaktionen, DStR 2017, 1710. 74 Weber/Hohaus in Buy-Outs, S. 81.
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A. Bedeutung und Grundfragen
Rz. 1.95 Kap. 1
des Zielunternehmens, ist außerdem § 43a GmbHG (Verbot der Kreditgewährung durch verbotene Rückzahlung von Stammkapital) zu beachten; dessen Anforderungen sind noch einmal strenger als die des § 30 GmbHG.75 Der Vollständigkeit halber sei noch der sog. existenzvernichtende Eingriff erwähnt, der bei einem MBO eine höhere Relevanz aufweist als beim LBO oder anderen Unternehmensakquisitionen. Der existenzvernichtende Eingriff ist ein von Gerichten entwickeltes Haftungskonzept, welches einen beherrschenden Gesellschafter einer Gesellschaft zum Ausgleich verpflichtet, wenn dieser die Gesellschaft durch sittenwidriges, missbräuchliches Verhalten schädigt und so die Insolvenz der Gesellschaft herbeiführt oder vertieft. Weil beim MBO der Erwerber des Zielunternehmens personenidentisch mit dem Management des Zielunternehmens ist, besteht hier eine größere Gefahr der Vermischung des Vermögens von Gesellschaft (Zielunternehmen) und Gesellschaftern (Management). In der Regel wird eine Haftung der Gesellschafter im Rahmen der Buy-Out-Finanzierung jedoch ausscheiden; auf eine sorgfältige Trennung der Vermögenssphären ist dennoch zu achten.76
1.92
4. Steuerliche Behandlung des Buy-Outs Auch die steuerliche Behandlung des MBO/LBO wirft grundsätzlich keine anderen Probleme auf als jeder andere Unternehmenskauf. Wegen der vergleichsweise geringen Eigenkapitaldecke der Erwerber und der daraus resultierenden Notwendigkeit der Zahlung von Zins und Tilgung aus den Erträgen des Zielunternehmens erhält die steuerliche Planung und Gestaltung jedoch einen noch höheren Stellenwert als bei anderen Unternehmenskäufen. Auch der kleinste Vorteil bei der steuerlichen Gestaltung kann für das Gelingen des MBO entscheidend sein (vgl. zur steuerlichen Behandlung im Einzelnen Rz. 5.308 ff.). Zudem ist zu vermeiden, dass Zahlungen aus den Erträgen des Zielunternehmens oder die Bestellung von Sicherheiten durch das Zielunternehmen als verdeckte Gewinnausschüttungen qualifiziert werden.
1.93
Ebenfalls besonders sorgfältig zu strukturieren ist in steuerlicher Hinsicht die kapitalmäßige Beteiligung des Managements im Rahmen eines LBOs. Zwar hat der BFH im Oktober 201677 zuletzt eine für das Management günstige Qualifikation der Einkünfte aus Managementbeteiligungen gegen die Ansicht der Finanzverwaltung gebilligt; ob damit aber die Diskussionen hinsichtlich der Qualifikation der Einkünfte aus Managementbeteiligungen weitgehend erledigt sind, muss sich in der Praxis noch zeigen (insbesondere bei Abweichungen von dem der BFH-Entscheidung zugrunde liegendem Fall).
1.94
VIII. Feindliche Übernahmen (Hostile Takeovers) Eines der in den vergangenen Jahren auf dem Gebiet des Unternehmenskaufs besonders dis- 1.95 kutierten Probleme ist das der feindlichen Übernahmen („Hostile“ bzw. „Unfriendly Takeovers“). Dabei handelt es sich um (nur teils erfolgreiche) Akquisitionsversuche, die vom Erwerbsinteressenten gegen den Willen der Unternehmensleitung des Zielunternehmens vorgenommen werden. Wie fast alle Begriffe auf dem Gebiet der „Mergers & Acquisitions“ stammt er aus dem angloamerikanischen Rechtsbereich. Sowohl in den USA als auch in Groß75 Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbH-Gesetz, 3. Aufl. 2017, § 43a Rz. 35; Löwisch in MünchKomm/GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 43a Rz. 31. 76 Drescher, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, 7. Aufl. 2013, S. 161 ff. 77 BFH v. 4.10.2016 – IX R 43/15, GmbHR 2017, 256 = AG 2017, 480.
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Kap. 1 Rz. 1.96
Mergers & Acquisitions
britannien haben „Unfriendly Takeovers“ und „Hostile Takeovers“ eine lange Tradition.78 Da die rechtlichen Gegebenheiten in den USA und Großbritannien gegenüber dem deutschen Recht gänzlich anders sind, lassen sich einige Facetten, die im angloamerikanischen Bereich eine besondere Rolle spielen, nicht ohne weiteres auf Übernahmen in Deutschland übertragen. Mangels übernahmerechtlicher Rechtsvorschriften wurde früher die Frage, wie sich ein Vorstand gegenüber Übernahmeversuchen nach deutschem Recht zu verhalten habe oder wie er sich verhalten könne, auf aktienrechtlicher Ebene diskutiert.79
1.96 Vor Inkrafttreten des WpÜG zum 1.1.2002 war der spektakulärste Fall einer feindlichen Übernahme der Kauf der Mannesmann AG durch Vodafone, der lange für Schlagzeilen sorgte. Erwähnenswert sind ebenfalls die unmittelbar vor Inkrafttreten des WpÜG durchgeführten Schritte der Übernahme von Buderus durch Bosch.
1.97 Nach Inkrafttreten des WpÜG 2002 fanden eine Reihe von unwillkommenen Übernahmen statt, von denen allerdings viele im Verlauf der Transaktion in eine einverständliche Unternehmenszusammenführung („Friendly Takeovers“) übergingen. Besonders intensiv diskutiert wurden neben dem geplanten Angebot Merck/Schering (2006), für das allerdings keine Angebotsunterlage veröffentlicht wurde, vor allem die Angebote Macquarie/Techem (2006), Porsche/Volkswagen (2007), Schaeffler/Continental (2008), ACS/Hochtief (2010), Deutsche Balaton/Beta Systems (2012), Tocos/Hawesko (2014) und Marsella Holdings/Braas Monier (2016).
1.98 In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Problematik des sog. Anschleichens zu erwähnen, d.h. der Versuch des Bieters, sich vor Bekanntgabe der Übernahmeabsicht Zugriff auf einen bedeutenden Anteil an den Stimmrechten der Zielgesellschaft mit Hilfe von derivativen Finanzinstrumenten mit Barausgleich zu sichern, ohne dies zu veröffentlichen.
1.99 Der Gesetzgeber hat, auch als Reaktion auf diese spektakulären Übernahmefälle, verschiedene Vorschriften des WpHG und des WpÜG geändert (vgl. auch Rz. 13.116). So wurde durch das Risikobegrenzungsgesetz vom 12.8.2008 in § 22 Abs. 2 WpHG (nunmehr: § 34 Abs. 2 WpHG) der Begriff des acting in concert erweitert. Darüber hinaus waren Finanzinstrumente (etwa schuldrechtliche Optionen auf Aktien) fortan mit den nach §§ 21, 22 WpHG (nunmehr: §§ 33, 34 WpHG) meldepflichtigen Stimmrechten zusammenzurechnen. Bei Erreichen einer Meldeschwelle von 10 % der Aktien wurde eine besondere Publikationspflicht des Meldepflichtigen über die mit den Stimmrechten verfolgten Ziele und die Art der Finanzierung des Erwerbs geschaffen. Die Dauer des Stimmrechtsverlusts bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der Meldepflichten wurde auf sechs Monate ab dem Zeitpunkt der Meldung erstreckt, um ein bewusstes Verzögern der Meldung bis kurz vor einer Hauptversammlung zu unterbinden. Später wurden mit dem Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz vom 5.4.2011 die Meldepflichten auf bis dahin nicht erfasste Finanzinstrumente erweitert, um ein Anschleichen weiter zu erschweren.
78 Vgl. etwa die detaillierten, rechtsvergleichenden Literaturangaben bei Paschos in Paschos/Fleischer, Übernahmerecht-HdB (2017), vor § 24; BeckHdB M&A/Boxell (2017), § 89 Rz. 282 ff. (zum UK); BeckHdB M&A/Emmerich/Cohen (2017), § 96 Rz. 109 ff. (zu den USA). 79 S. für die Zeit vor Inkrafttreten des WpÜG etwa Schanz, NZG 2000, 337. Vgl. zum am 1.10.1995 in Kraft getretenen und am 4.3.2002 außer Kraft gesetzten, in ZIP 1995, 1464 abgedruckten Übernahmekodex der Börsensachverständigenkommission (Empfehlung von Verhaltensnormen bei Unternehmensübernahmen) Letzel, NZG 2001, 260. Für die Zeit nach Inkrafttreten des WpÜG vgl. z.B. Süßmann, NZG 2011, 1281.
32
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B. Projektmanagement beim Unternehmenskauf
Rz. 1.101 Kap. 1
Durch das WpÜG wurden mit Wirkung zum 1.1.2002 erstmals Verhaltensregeln für den 1.100 Vorstand einer von einem öffentlichen Übernahmeangebot betroffenen Gesellschaft (Zielgesellschaft) ausdrücklich gesetzlich normiert. Gemäß § 33 Abs. 1 WpÜG darf der Vorstand der Zielgesellschaft grundsätzlich keine Handlungen vornehmen, durch die der Erfolg des Übernahmeangebots verhindert werden könnte. Ausgenommen sind Handlungen der laufenden Geschäftsführung, die ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter auch ohne das Vorliegen eines Übernahmeangebotes vorgenommen hätte, die Suche nach einem konkurrierenden Übernahmeangebot sowie Handlungen, denen der Aufsichtsrat der Zielgesellschaft zugestimmt hat. Darüber hinaus kann sich der Vorstand gem. § 33 Abs. 2 WpÜG von der Hauptversammlung zu Abwehrmaßnahmen ermächtigen lassen. Die Ermächtigung kann sowohl erst während eines konkreten Übernahmeangebotes als auch bereits im Vorfeld eines eventuellen Übernahmeangebots durch einen sog. Vorratsbeschluss erteilt werden. Zu den Einzelheiten vgl. Rz. 13.162 ff. Das Thema der Einführung eines Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes wurde mitbeeinflusst durch die Diskussion um eine EU-Übernahmerichtlinie (s. Rz. 13.10 ff.). Nachdem das Zustandekommen einer solchen Richtlinie mehrfach, zuletzt 2001 am Widerstand Deutschlands, gescheitert war, hat der Ministerrat (Justiz und Inneres) am 30.3.2004 schließlich eine Europäische Übernahmerichtlinie80 verabschiedet. Die Richtlinie ist am 20.5.2004 in Kraft getreten und war in den Mitgliedstaaten bis spätestens zum 20.5.2006 umzusetzen,81 was dann am 14.7.2006 erfolgte.82 Eine Einigung auf EU-Ebene war erst möglich geworden, nachdem ursprüngliche Vorschläge der EU-Kommission zur weitgehenden Abschaffung nationaler Übernahmehürden entschärft wurden. Die verabschiedete Richtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten weiterhin, an bestimmten nationalen Instrumenten zur Abwehr unerwünschter Firmenübernahmen festzuhalten. Dazu zählen in Deutschland z.B. sog. Vorratsbeschlüsse (vgl. § 33 Abs. 2 WpÜG), mit denen die Aktionäre bereits ohne konkretes Übernahmeangebot Abwehrmaßnahmen autorisieren können. Diese Regelung spielt allerdings in der Praxis bislang keine Rolle.83 Zu den Einzelheiten vgl. Rz. 13.154 ff.
B. Projektmanagement beim Unternehmenskauf Literatur: Balz/Arlinghaus, Das Praxishandbuch Mergers & Acquisitions – Von der strategischen Überlegung zur erfolgreichen Integration, 4. Aufl. 2014; Lucks/Meckl, Internationale Mergers & Acquisitions 2. Aufl., 2015; Lucks, Management komplexer M&A-Projekte, MAR 2005, 159; Organisation und Steuerung des Akquisitionsprozesses, in Wirtz, Handbuch Mergers & Acquisitions Management, 4. Aufl. 2016, S. 171; Sodeik, Projektmanagement wertorientierter Mergers & Acquisitions, 2009; Prozess der Strategieentwicklung, in Wirtz, Mergers & Acquisitions Management, 4. Aufl. 2016, S. 136; Ablauf des Akquisitionsmanagement, in Wirtz, Mergers & Acquisitions Management, 4. Aufl. 2016, S. 134; Ablauforganisation des Akquisitionsprozesses, in Wirtz, Mergers & Acquisitions Management, 4. Aufl. 2016, S. 451.
80 Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. Nr. L 142 v. 30.4.2004. 81 Vgl. Wiesner, ZIP 2004, 343; Picot, MAR 2004, 45; Zschocke, Finance 7/8 2004, 39; Kindler/Horstmann, DStR 2004, 866. 82 Vgl. Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote (Übernahmerichtlinie-Umsetzungsgesetz) v. 8.7.2006, BGBl. I 2006, 1426; hierzu Seibt/Heiser, AG 2006, 301 ff. 83 Vgl. Brandi in Angerer/Geibel/Süßmann, WpÜG, 3. Aufl. 2017, § 33 Rz. 80 m.w.N.
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33
1.101
Kap. 1 Rz. 1.102
Mergers & Acquisitions
I. Einleitung 1.102 Unternehmenstransaktionen sind in den meisten Fällen äußerst komplexe Vorgänge, bei denen verschiedene betriebswirtschaftliche und rechtliche Aspekte stark ineinander greifen. Die Richterskala auf der sich die Komplexität der Transaktionen bewegt, ist nach oben offen. Am unteren Ende kann beispielsweise ein Zielunternehmen stehen, welches einen Eigentümer (z.B. ein Finanzinvestor oder eine natürliche Person), keine Produktionsstätten (z.B. Softwareentwicklung, reiner Vertrieb), keinerlei Verbindung zum Ausland, keinen Betriebsrat, lediglich eine gemietete Betriebsstätte (z.B. eine Bürofläche) und nur wenige Arbeitnehmer hat. Hier dürfte sich die Komplexität der Transaktion und damit auch des Projektmanagements in Grenzen halten.
1.103 Am oberen Ende der Richterskala befinden sich Transaktionen, bei denen das Zielunternehmen ein global agierender Teilkonzern ist. Diese haben Geschäftsaktivitäten und Betriebsstätten in zahlreichen Ländern (nicht selten bis zu 100 Länder) und sind häufig eng in den Konzernverbund (z.B. Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge; Konzernfinanzierung/Cash Pool) und in zentrale Konzernfunktionen (z.B. IT, Finanzen, Steuern, Recht, Patente, Umwelt etc.) eingegliedert. Ersteres führt dazu, dass insbesondere auf juristischer Seite Expertise in sämtlichen relevanten Jurisdiktionen erforderlich ist, so dass beispielsweise im Rahmen der Due Diligence durchaus Teams von mehreren Hundert Anwälten erforderlich sein können. Letzteres bedeutet zum einen, dass der Teilkonzern aus der Eingliederung in den Gesamtkonzern herausgelöst werden muss (sog. „Carve-Out“), wobei der Carve-Out und die damit im Zusammenhang stehenden Probleme durchaus komplexer sein können als die Transaktion selbst. Zum anderen heißt dies, dass der Teilkonzern alleine nicht lebensfähig ist, was insbesondere dann zu zusätzlichen Schwierigkeiten führt, wenn der Käufer selbst (z.B. ein reiner Finanzinvestor oder ein strategischer Käufer, der in einigen Jurisdiktionen oder einem ganzen Kontinent noch über keine Aktivitäten und keine Infrastruktur verfügt) die überlebensnotwendige Infrastruktur nicht zur Verfügung stellen kann. Dann sind Verkäufer und Käufer wohl oder übel gezwungen, über sog. Transitional Services Agreements („TSAs“), unter denen der verkaufende Konzern dem Teilkonzern weiter bestimmte Dienstleistungen und Infrastruktur zur Verfügung stellt, die Überlebensfähigkeit des Teilkonzerns zu sichern. Noch komplexer wird das Ganze, wenn es sog. Zebragesellschaften (d.h. Gesellschaften, denen sowohl Aktivitäten des zu veräußernden Teilkonzerns als auch Aktivitäten, die beim Veräußerer bleiben sollen, gehören) oder sog. „Shared Sites“ (Produktionsstätten, die sowohl vom zu veräußernden Teilkonzern als auch von beim Verkäufer verbleibenden Unternehmensteilen genutzt werden) gibt.
1.104 Hingegen spielt anders, als landläufig vermutet, der Wert bzw. Kaufpreis der Transaktion für die Komplexität und den Aufwand des Projektmanagements häufig keine Rolle. Im Gegenteil, gerade bei Kaufpreisen in Milliardenhöhe fallen die meisten Themen unter die sog. Wesentlichkeitsschwellen. Diese Wesentlichkeitsschwellen können durchaus auch im zweistelligen Millionenbereich angesiedelt sein, so dass zahlreiche Themen und Gesellschaften bzw. Aktivitäten in bestimmten Ländern mit geringen Umsätzen (sog. „B-Entities“ oder „B-Activities“) im Rahmen der Due Diligence und häufig auch bei den meisten Garantien im Kaufvertrag nicht berücksichtigt werden.
1.105 In vergangenen Zeiten wurde ein Unternehmenskauf zumeist als ad-hoc-Aufgabe angesehen. Auch im Leben eines Großunternehmens war ein Unternehmenskauf etwas nicht Alltägliches. Die Verantwortlichkeiten und Teams wurden eher zufällig aufgrund einer Entscheidung des Vorstands bzw. der Geschäftsführung oder des Vorstandsvorsitzenden bzw. des Vorsitzenden 34
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B. Projektmanagement beim Unternehmenskauf
Rz. 1.108 Kap. 1
der Geschäftsführung, je nach Verfügbarkeit von Personen und vorhandener oder vermeintlicher Eignung, zusammengestellt. Dies geschah oft ohne die notwendige Professionalität wie sie in sämtlichen anderen Unternehmensbereichen zur Selbstverständlichkeit gehörte. Diese Zeiten sind seit langem bei Großunternehmen vorbei. Insbesondere bei Großunternehmen, bei denen Akquisitionen zur Tagesordnung gehören, sind dafür spezielle M&A-Abteilungen oder M&A-Ausschüsse gebildet worden, in denen Unternehmenskäufe (oder auch Unternehmensverkäufe) vorbereitet werden. Hier erfolgt die strategische Planung, in welchen Geschäftsfeldern akquiriert werden soll und welche Qualitäten das Zielobjekt aufzuweisen hat. Auch bei der Suche nach entsprechenden Zielobjekten ist oft in diesen Abteilungen beziehungsweise Ausschüssen unternehmensinternes Know-how vorhanden. Oft wird in diesem Vorfeld dann auch bereits mit Investmentbanken zusammengearbeitet. Von der professionellen Planung und Abwicklung eines Unternehmenskaufs bei Großunternehmen, die einen Unternehmenskauf als eine der wichtigsten Managementaufgaben begriffen haben, sind mittelständische Unternehmen oft noch weit entfernt. Erst recht gilt dies für Privatpersonen (Familien) als Veräußerer, die sich vom Unternehmen lösen wollen, ein im Leben der Privatpersonen meist einmaliger Vorgang. Sie sind deshalb bei der Planung und Abwicklung eines Unternehmenskaufs häufig im Nachteil. Dies gilt umso mehr, wenn die Veräußerung unter besonderem Druck aufgrund schwindender Liquidität des Unternehmens oder im Zusammenhang mit einer erbrechtlichen Auseinandersetzung erfolgt. Es sind insoweit aber Ansätze zu einer Änderung zu erkennen. Mittelständische Unternehmen und Privatpersonen als (zumeist) Veräußerer sind gut beraten, die Organisation von Unternehmenskäufen und -verkäufen von außenstehenden Beratern vornehmen zu lassen.
1.106
II. Organisation des Unternehmenskaufs Ähnlich wie bei der Richterskala der Komplexität der Unternehmenstransaktion stellt es sich bei der Organisation des Unternehmenskaufs dar. Hier kommen beliebig viele Organisationsformen in Betracht, die sich wiederum an der Größe und geographischen Aufstellung des Zielunternehmens, der Komplexität der Transaktion selbst, den verfügbaren internen Ressourcen der Parteien sowie zahlreichen weiteren Faktoren orientieren. Im Folgenden soll eine häufig so oder ähnlich vorkommende Organisationsform auf Verkäuferseite bei der Veräußerung eines produzierenden global agierenden Zielunternehmens dargestellt werden.
1.107
1. Steering Committee und Projektteam Bei einer größeren Unternehmenstransaktion wird heutzutage typischerweise ein Steering 1.108 Committee (die Benennung ist beliebig, entscheidend ist die Funktion) sowohl auf der Erwerber- als auch auf der Veräußererseite gebildet. Darüber hinaus empfiehlt es sich zumindest auf Verkäuferseite ein internes Projektteam zu bilden, an das das Steering Committee Aufgaben (u.a. das bei einer komplexen Transaktion zu bestimmten Phasen rund um die Uhr anfallende Tagesgeschäft) delegiert. Das Projektteam besteht üblicherweise aus einem Projektleiter sowie Personen, die über für die Transaktion wesentlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen (typischerweise Recht, Finanzen, Steuern, Personal sowie aus dem relevanten operativen Geschäft; je nach Art des Zielunternehmens weitere, wie beispielsweise Patente, Umwelt, IT etc.). Das Projektteam (meist zumindest der Projektleiter) berichtet regelmäßig an das Steering Committee, welches wiederum auf der Grundlage von Entscheidungsvorlagen, die durch das Projektteam erarbeitet wurden, sämtliche wichtigen Entscheidungen trifft. Das Steering Committee wird geleitet durch den Hauptverantwortlichen für Rempp
35
Kap. 1 Rz. 1.109
Mergers & Acquisitions
die Transaktion, bei größeren Transaktionen durch ein Vorstandsmitglied bzw. ein Mitglied der Geschäftsführung. Daneben gehören dem Steering Committee typischerweise jeweils ein Vertreter der Finanzabteilung, der M&A-Abteilung (häufig gleichzeitig der sog. Projektleiter), der Investmentbank sowie ein akquisitionserfahrener Anwalt und/oder interner Rechtsberater an. Je nachdem wie steuerlich komplex die Transaktion ist, kann auch noch ein Steuerfachmann hinzugezogen werden, wobei die steuerliche Expertise meist im Projektteamund nicht gleichzeitig auch im Steering Committee angesiedelt ist. Die dem Steering Committee gestellte Aufgabe lautet: Gesamtverantwortung statt Erledigung von Einzelaufgaben. Das Steering Committee begleitet die Transaktion von der Planung bis zur Umsetzung. Die letzte und entscheidende Verantwortung hat dabei immer der im Unternehmen Verantwortliche, oft als Leiter des Steering Committees.
1.109 Steering Committee
Vertreter der Finanzabteilung
Verantwortliche(r) im Unternehmen
Jurist
Projektleiter Investmentbanker
(häufig Leiter oder Vertreter der M&A-Abteilung)
Projektteam Projektleiter
Recht
Finanzen
Umwelt
IT
Steuern
Personal
M&A
Operativ
Optional: Patente
Abb. 3: Steering Committee/Projektteam
1.110 In einem ersten Stadium wird im Steering Committee die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit der Akquisition erörtert. Alsdann muss die Struktur der Transaktion festgelegt werden. Diese kann insbesondere bei größeren Transaktionen unter Beteiligung mehrerer Unternehmen äußerst komplex sein. Weiterhin muss eine interne Bewertung zum Zwecke der Festsetzung des Preiszieles vorgenommen werden. Finanzierungsfragen und Steuereffekte werden diskutiert und entschieden. Schließlich wird die strategische Vorgehensweise konzipiert und bei Bedarf überarbeitet. Nicht bei all diesen Fragen nehmen die einzelnen Mitglieder des Steering Committees eine gleichbedeutende Rolle ein. Wichtig ist jedoch, dass bei einem bestimmten Aspekt kein sich zunächst nicht aufdrängender Gesichtspunkt aus einem Fachbereich übersehen wird.
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B. Projektmanagement beim Unternehmenskauf
Rz. 1.115 Kap. 1
2. Die Bedeutung externer Berater Die Komplexität einer Unternehmenstransaktion erfordert regelmäßig neben der Beteiligung einer Vielzahl unternehmensinterner Fachleute auch die Konsultation externer Berater. In Großunternehmen mit eigenen M&A-Abteilungen beziehungsweise mit auf das Transaktionsgeschäft spezialisierten Rechtsabteilungen war in letzter Zeit zwar vereinzelt ein Trend erkennbar, Transaktionen möglichst eigenständig, d.h. ohne die Einschaltung externer Berater, zu bewältigen. Hierbei handelt es sich allerdings um absolute Ausnahmeerscheinungen. Auch Großunternehmen mit eigenen M&A-Spezialisten werden jedenfalls bei größeren Transaktionen in aller Regel nicht auf die Unterstützung durch externe Berater verzichten können. Selbst wenn sämtliche erforderliche Expertise im Unternehmen vorhanden sein sollte, werden in aller Regel zumindest Haftungsgesichtspunkte für die Hinzuziehung außenstehender Experten sprechen.
1.111
Darüber hinaus ist selbst ein Großkonzern, der regelmäßig M&A-Transaktionen durchführt und dementsprechend eine interne M&A-Abteilung sowie oft auch eine M&A-Unterabteilung innerhalb der Rechtsabteilung unterhält, nicht in der Lage, diejenigen Kapazitäten vorzuhalten, die eine komplexe und zahlreiche Länder umfassende Transaktion erforderlich macht. Dies wäre im Übrigen auch wirtschaftlich nicht sinnvoll. Zu guter Letzt ist es selbst für den größten Konzern weder notwendig noch angebracht, in jeder relevanten Jurisdiktion die notwendige Expertise intern (insbesondere innerhalb der Rechtsabteilung) vorzuhalten.
1.112
Haftungsrisiken ergeben sich zum einen für die beteiligten Unternehmen als solche, zum anderen aber insbesondere auch für die verantwortlichen Entscheidungsträger in den Unternehmen. Letztere sind dazu verpflichtet, im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen über alle entscheidungsrelevanten Umstände auszuschöpfen und sich, sofern diese nicht ausreichen, zusätzliche Informationen zu beschaffen (s. Rz. 12.15 ff.).84 Hierzu gehört auch die Einholung sachverständiger Beratung (beispielsweise in Form einer meistens durch eine Investmentbank zu erstellenden „Fairness Opinion“, die dem Vorstand bzw. der Geschäftsführung bestätigt, dass der zu zahlende bzw. zu fordernde Kaufpreis angemessen ist).85 Darüber hinaus hat die Rechtsprechung klargestellt, dass es zu den Pflichten eines Vorstands gehört, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Zielgesellschaft einer „umfangreichen und mit äußerster Sorgfalt zu führenden Prüfung“ zu unterziehen.86 Vgl. hierzu unter aktienrechtlichen Aspekten unten Rz. 12.11 ff.
1.113
Auch die Einschaltung von Beratern befreit die Entscheidungsträger im Unternehmen nicht von ihrer unternehmerischen Verantwortung. Aufgabe des Beraters ist es, die unternehmensintern Verantwortlichen, d.h. die Geschäftsführung oder den Vorstand, in seinem jeweiligen Fachgebiet zu unterstützen. Dabei ist zwar eine weitgehende Übertragung von Aufgaben, nicht jedoch die Delegation von Entscheidungen auf den Berater zulässig.
1.114
3. Die Rollen der externen Berater Sowohl auf Käufer- als auch auf Verkäuferseite wird in der Mehrzahl der größeren Transaktionen auf beiden Seiten zumindest je eine Investmentbank bzw. ein M&A-Berater, je eine Anwaltskanzlei sowie je eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft eingeschaltet. Daneben kom84 S. auch Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 34 und Rz. 179. 85 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 34; Hopt/Roth in Großkomm/AktG, § 93 AktG Rz. 108. 86 LG Hannover v. 23.2.1977 – 1 O.123/75, AG 1977, 198 (200); vgl. auch BGH v. 4.7.1977 – II ZR 150/75, BGHZ 69, 207 (213 f.).
Rempp
37
1.115
Kap. 1 Rz. 1.115a
Mergers & Acquisitions
men je nach Art und Größe des Zielunternehmens sowie intern vorhandener Expertise und Kapazitäten zahlreiche weitere externe Berater in Betracht. a) Investmentbanken
1.115a Die Bedeutung von Investmentbanken hat gerade bei größeren Transaktionen im deutschen Raum bzw. unter deutscher Beteiligung stark zugenommen. Insbesondere öffentliche Übernahmen sind ohne Beteiligung von Investmentbanken nicht mehr denkbar, da diese über Kenntnisse und Erfahrungen in Bereichen verfügen, die selbst bei Großkonzernen oder erfahrenen Private Equity-Investoren, die ständig Transaktionen abwickeln, nicht vorhanden sein können. Hierzu gehören beispielsweise Kenntnisse über sog. „Hedge Fonds“ bzw. „Activist Shareholder“, und deren Einfluss auf Erfolg oder Misserfolg und Kosten einer öffentlichen Übernahme sowie Erfahrungen was den Einfluss weiterer Faktoren auf Kursentwicklung und Erfolgschancen eines öffentlichen Übernahmeangebots angeht. Schließlich ist es inzwischen Standard, bei öffentlichen Übernahmen sog. „Fairness Opinions“ der Investmentbanken einzuholen.
1.115b Neben Investmentbanken spielen vor allen Dingen im Bereich der Mid-Cap-Transaktionen zahlreiche M&A-Berater eine Rolle. Deren Aufgabe und Expertise unterscheidet sich nicht wesentlich von denen einer Investmentbank bei großen („Large-Cap“) M&A-Transaktionen. M&A-Berater kommen bei Mid-Cap-Transaktionen u.a. auch deswegen häufig zum Zug, weil die großen Investmentbanken dieses Marktsegment entweder gar nicht oder nur mit ihren B-Teams bedienen. Schließlich bemisst sich der Löwenanteil des Honorars der Investmentbanken (und zwar das Erfolgshonorar) meist (Ausnahmen bilden z.B. Distressed M&A-Transaktionen, bei denen der Kaufpreis eine untergeordnete Rolle spielt) an einem Prozentsatz des Transaktionswertes, so dass Mid-Cap-Transaktionen für große Investmentbanken wenig oder gar nicht lukrativ erscheinen. b) Anwaltskanzleien
1.115c Je nach Kapazität und Expertise der internen Rechtsabteilung spielen die externen Rechtsberater eine mehr oder weniger große Rolle. Die von Kanzleien abgedeckten Bereiche sind normalerweise u.a. Strukturierung der Transaktion, rechtliche Due Diligence und rechtliche Risikoabschätzung und -abwägung und Entwurf und Verhandlungen des Unternehmenskaufvertrages sowie der sonstigen Verträge und Anlagen. Darüber hinaus übernehmen die Kanzleien bei großen komplexen Transaktionen meist die Projektkoordination oder zumindest einen wesentlichen Teil derselben. In der Praxis ist es meist so, dass die Kanzleien immer mehr in die Projektkoordinationsrolle hineinwachsen, je weiter die Transaktionen fortschreiten. Dies liegt zum einen daran, dass die juristischen Themen, insbesondere Haftungs- und Risikoverteilungsfragen, gegen Ende der Transaktion an Gewicht gewinnen. Dies gilt nicht zuletzt weil die sog. „Disclosure Schedules“, mit denen der Verkäufer offenlegt, inwieweit seine Garantien nicht zutreffen (vgl. hierzu Rz. 9.280), sehr oft – nicht selten aus verhandlungstaktischen Gründen – erst kurz vor Schluss erstellt und dem Käufer vorgelegt werden. Zum anderen intensiviert sich erfahrungsgemäß der Dokumentationsaufwand je näher die Unterzeichnung des Kaufvertrags rückt.
1.115d Darüber hinaus laufen beim leitenden Anwalt („Lead Partner“), der die Letztverantwortung für den Unternehmenskaufvertrag trägt, gegen Ende alle Fäden zusammen. Denn der Lead Partner muss alle Themenbereiche und deren Überschneidungen und Zusammenhänge ver-
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B. Projektmanagement beim Unternehmenskauf
Rz. 1.115g Kap. 1
stehen und letzten Endes im Unternehmensvertrag stimmig bündeln und konsolidieren. Die führenden M&A-Lead Partner zeichnen sich daher dadurch aus, dass sie neben der perfekten Beherrschung der rechtlichen Kernthemen (insbesondere kaufrechtliche Aspekte des Unternehmenskaufs, Gesellschaftsrecht sowie öffentliches Übernahmerecht) und einem guten Grundverständnis der sonstigen relevanten rechtlichen Themen (z.B. Kartellrecht, Außenwirtschaftsrecht, Steuerrecht, Umweltrecht, Arbeitsrecht und Betriebsrentenrecht) auch gute Kenntnisse in nicht oder nicht nur juristischen Themenbereichen haben. Hierzu gehören beispielsweise vertiefte Kenntnis der Unternehmensbewertung und der Akquisitionsfinanzierung im generellen sowie das konkrete Zielunternehmen betreffend. Deswegen ist eine enge Verzahnung und Zusammenarbeit der juristischen Seite mit der Finanzabteilung und den externen Wirtschaftsprüfern zwingend notwendig. Letzten Endes ist der Lead Partner das zentrale Bindeglied zwischen juristischen und vertraglichen Themen auf der einen und Finanzthemen wie Bewertung und Kaufpreisfinanzierung auf der anderen Seite. Hierzu ist es unerlässlich, dass der Lead Partner, was die relevanten Finanzthemen angeht, auf gleicher Augenhöhe mit den Wirtschaftsprüfern und der internen Finanzabteilung agiert. So ist es beispielsweise für den Lead Partner unerlässlich, dass er für die Formulierung des Kaufpreisanpassungsmechanismus im Unternehmenskaufvertrag die Bewertungsthemen, die sich wiederum zu einem großen Teil aus der Financial Due Diligence ergeben, im Detail erfasst und verstanden hat und in juristisch korrekter und gerichtsfester Vertragssprache wiedergeben kann. Dies gilt in noch verstärktem Maße, wenn weitere bewertungs- oder finanzierungsrelevante Themen (z.B. beim Earn-Out oder einer Vendor Loan in Verbindung mit sog. Inter Creditor Agreements) hinzukommen. Was die Organisation des anwaltlichen Projektteams angeht, ist es inzwischen bei großen komplexen Transaktionen die Norm, dass neben dem Kernteam um den oder die Lead Partner weitere Projektteams gebildet werden, auf die bestimmte Themenbereiche gänzlich ausgelagert werden und die jeweils einen gesonderten Projektteamleiter haben. Dies gilt beispielsweise für bestimmte rechtliche Bereiche wie etwa Kartell- oder Steuerrecht. Darüber hinaus werden aber auch andere Aufgabenbereiche wie beispielsweise Carve-Out und TSAs (vgl. Rz. 1.103), Warranty & Indemnity Insurance (vgl. Rz. 1.145 ff.) oder Disclosure Schedules (vgl. Rz. 9.280) häufig auf separate Projektteams ausgelagert.
1.115e
c) Wirtschaftsprüfer Externe Wirtschaftsprüfer werden u.a. im Rahmen der Financial Due Diligence und häufig auch der Tax Due Diligence eingesetzt und mit der Erstellung von Fact Books oder Vendor Due Diligence Reports (vgl. Rz. 9.25) für diese Bereiche beauftragt. Da sich die Erkenntnisse aus der Financial Due Diligence unmittelbar auf die Bewertung und die Equity Bridge und damit die Kaufpreisanpassung auswirken, sind die externen Wirtschaftsprüfer – wie oben erwähnt – regelmäßig auch in bewertungsrelevante Themen sowie Kaufpreis- und Kaufpreisanpassungsthemen im Unternehmenskaufvertrag eingebunden.
1.115f
d) Sonstige externe Berater Neben Investmentbanken, Anwaltskanzleien und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften wird 1.115g häufig in bestimmten Bereichen der Due Diligence auf externe Expertise vertraut. Dies gilt beispielsweise in den Bereichen Umwelt, Employee Benefits/Betriebsrenten und Compliance. Darüber hinaus empfiehlt es sich je nach Anforderungen der Transaktion in einigen weiteren Bereichen externe Berater hinzuzuziehen. So ist es beispielsweise dann, wenn eine WarRempp
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Kap. 1 Rz. 1.116
Mergers & Acquisitions
ranty & Indemnity Insurance in Betracht kommt (vgl. Rz. 1.145 ff.), ratsam, einen Versicherungsmakler einzuschalten, der über spezielle Expertise, Erfahrungen und Kontakte in diesem Bereich verfügt. Bei Transaktionen, die stark im politischen und/oder öffentlichen Rampenlicht stehen, werden häufig Kommunikationsberater, die u.a. gute Kontakte zu den Medien haben, sowie Lobbyisten, die politisch gut vernetzt sind, eingeschaltet. Bei der Finanzierung von Private Equity-Transaktionen zeichnet sich in den letzten Jahren ein Trend dahingehend ab, dass die Vermittlung finanzierender Banken über externe Berater (sog. „Debt Advisor“) abgewickelt wird.
C. Abwicklung des Unternehmenskaufs I. Formen der Abwicklung 1.116 Mit Ausnahme der im deutschem Markt sehr seltenen öffentlichen Übernahmen wird ein Unternehmenskauf grundsätzlich entweder im Wege eines Auktionsverfahrens oder durch exklusive Verhandlungen zwischen zwei Parteien abgewickelt, wobei die Abwicklungsform regelmäßig vom Verkäufer vorgegeben wird. In seltenen Fällen kommt es zu Sonder- bzw. Mischformen. 1. Auktionsverfahren
1.117 Im deutschen Markt hat sich in den letzten Jahren das Auktionsverfahren („Controlled Auction“) als die mit Abstand häufigste Form der Abwicklung durchgesetzt. In der Praxis des Verfassers werden inzwischen ca. 80 bis 90 % aller Transaktionen im Wege von Auktionsverfahren durchgeführt. Dies liegt zum einen daran, dass – zumindest ab einem gewissen Transaktionsvolumen (Mid- und Large-Cap-Transaktionen) – auf Verkäuferseite regelmäßig Investmentbanker oder M&A-Berater eingesetzt werden, die aus unterschiedlichen Gründen zu Auktionsverfahren raten und kostenlos bzw. kostengünstig einen Großteil der zur Organisation eines solchen Verfahrens notwendigen Zusatzkapazitäten zur Verfügung stellen. Zum anderen hat das Auktionsverfahren für den Verkäufer zahlreiche Vorteile, die den erhöhten Zeit-, Arbeits- und Kostenaufwand in den meisten Fällen mehr als aufwiegen. So führt ein professionell aufgesetztes Auktionsverfahren typischerweise zur Identifizierung des richtigen Käuferkreises und damit des richtigen Käufers, zur Maximierung des Kaufpreises und zu erhöhter Transaktionssicherheit („Certainty of Closing“). Da wir uns derzeit (und wahrscheinlich auch weiterhin auf absehbare Zeit) in einem Verkäufermarkt befinden, hat ein Verkäufer normalerweise auch keinen Widerstand gegen ein Auktionsverfahren zu erwarten. Ausnahmen – wie beispielsweise bei schwer verkäuflichen Zielunternehmen (z.B. im Bereich „Distressed M&A“) – bestätigen hier die Regel. Darüber hinaus haben einige Großkonzerne, die bereits zahlreiche Unternehmensverkäufe hinter sich haben, inzwischen standardisierte Auktionsabläufe und gut eingespielte Teams etabliert, die wiederum den Aufwand und die scheinbare Komplexität mindern. 2. Zwei Verhandlungspartner
1.118 Private M&A-Transaktionen außerhalb von Auktionsverfahren (d.h. es stehen sich Verkäufer und lediglich ein Kaufinteressent gegenüber; „One on One“-Situation) sind – wie bereits gesagt – inzwischen eher selten (in der Praxis des Verfassers ca. 10 bis 20 %) und kommen in erster Linie in folgenden Konstellationen vor: 40
Rempp
C. Abwicklung des Unternehmenskaufs
Rz. 1.120 Kap. 1
– Das Zielunternehmen ist schwer verkäuflich. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn das Zielunternehmen Verluste erwirtschaftet oder sich in oder kurz vor der Insolvenz befindet. In Betracht kommen auch Konstellationen, in denen der Markt des Zielunternehmens so stark konzentriert ist und die Marktanteile der Wettbewerber und in Fragen kommenden strategischen Erwerber so hoch sind, dass kartellrechtliche Gründe den Verkauf unmöglich oder zumindest wegen zu erwartender Auflagen hoch kompliziert machen. Im letzteren Fall verbleibt möglicherweise nur noch ein Auktionsverfahren ausschließlich mit Finanzinvestoren, die allerdings zum einen wissen dürften, dass keine strategischen Mitbieter zu erwarten sind und zum anderen davon ausgehen müssen, dass spätere „Add-Ons“ nicht in Frage kommen werden, was wiederum negativen Einfluss auf das Wachstum des Zielunternehmens und einen späteren Exit haben dürfte. Dieser wird im Übrigen auch dadurch erschwert, dass ein Verkauf/Exit an einen strategischen Investor nicht in Betracht kommt und damit nur ein sog. „Secondary Buy-Out“ oder ein Börsengang als Exit bleibt. – Zwischen Verkäufer (oder Zielunternehmen) und Käufer bestehen bereits seit langem gute Geschäftsbeziehungen (z.B. Kunde/Lieferant oder Kooperationspartner), enge Beziehungen persönlicher Natur (beispielsweise familiäre Beziehungen) oder sonstige Verflechtungen (z.B. ein Joint Venture-Partner übernimmt den Anteil des anderen). – Das Zielunternehmen ist sehr jung (Start-Up) oder sehr klein (oder beides) und der oder die Verkäufer sind unerfahren. Hier wird manchmal – oft aus Unerfahrenheit oder Unkenntnis – von einem Auktionsverfahren abgesehen, um den vermeintlich zu hohen Aufwand zu vermeiden. Häufig kommt dann für den bzw. die Verkäufer das dicke Ende am Schluss, wenn der Käufer seine „Quasiexklusivität“ zum taktisch günstigen Zeitpunkt zu seinen Gunsten ausspielt. Nicht selten passiert das in allerletzter Minute (d.h. kurz vor Unterzeichnung des Kaufvertrages), da zu dem Zeitpunkt die Rückzugsmöglichkeiten für den bzw. die Verkäufer (z.B. weil Belegschaft und Geschäftspartner bereits informiert sind) sehr eingeschränkt bis unmöglich sind. 3. Öffentliche Übernahmen Auch bei öffentlichen Übernahmen kommen Sonderformen von Auktionsverfahren vor. Dies ist zwar weder rechtlich zwingend noch die Regel, es kann aber für den Vorstand und Aufsichtsrat des Zielunternehmens von Vorteil sein, den Markt zu sondieren und mehrere Angebote einzuholen (vgl. Rz. 13.158). Zum einen erleichtert dies eine positive Empfehlung im Rahmen der Stellungnahme gem. § 27 WpÜG. Zum anderen vermindert es das Risiko, später dem Vorwurf (und damit möglicherweise auch einer potentiellen Haftung) durch Aktionäre ausgesetzt zu sein, nicht den besten Preis erzielt zu haben. Bei einer drohenden feindlichen Übernahme kann ein Auktionsverfahren darüber hinaus auch als Abwehrmaßnahme (Suche nach sog. „White Knights“) eingesetzt werden. Bei Vorhandensein eines Haupt- oder Mehrheitsaktionärs, der sich bereits für einen Kaufinteressenten/Bieter entschieden hat, dürfte sich allerdings in der Regel ein Auktionsverfahren erübrigen.
1.119
4. Sonderformen Abgesehen davon, dass sich ein Auktionsverfahren je nach Stärke der Verhandlungspositionen und nach Verhandlungsgeschick jederzeit zu einer „One on One“-Situation drehen kann und umgekehrt eine „One on One“-Situation nicht selten in ein Auktionsverfahren umschlägt (insbesondere dann, wenn der Käufer das Ausnutzen des Vorteils seiner „Quasiexklusivität“ überzieht), gibt es in seltenen Ausnahmefällen auch Sonderformen, die vom tyRempp
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1.120
Kap. 1 Rz. 1.121
Mergers & Acquisitions
pischen Abwicklungsbild (Auktionsverfahren oder „One on One“) abweichen. So erlebt man in der Praxis teilweise Konstellationen, in denen Käufer selbst eine Art Auktionsprozess (verdeckt oder sogar offen) aufgesetzt haben, weil gleich mehrere geeignete Zielunternehmen zum Verkauf anstehen und der Käufer parallel mit mehreren Verkäufern verhandelt aber beabsichtigt, letztlich nur mit einem Verkäufer abzuschließen. In einer solchen Konstellation kann es dann durchaus vorkommen, dass sowohl auf Verkäufer- wie auch auf Käuferseite Auktionsverfahren parallel stattfinden. Weitere – wenn auch seltene – Sonderkonstellationen sind etwa denkbar, wenn sich im Verlaufe eines Auktionsverfahrens zwei oder mehr Bieter zu einem Bieterkonsortium zusammenschließen und dem Verkäufer dann u.U. nur noch ein Bieter(konsortium) gegenübersteht. Diese Sonderkonstellation kann u.a. dann entstehen, wenn – was nicht selten der Fall ist – ein Finanzinvestor Co-Investoren einschaltet und – was eher selten aber nicht ausgeschlossen ist und in der Praxis des Verfassers bereits mehrmals vorkam – diese (zufälligerweise oder auch nicht) die einzigen sonst verbleibenden Bieter sind. Zu einem ähnlichen Ergebnis kann es kommen, wenn ein strategischer Käufer wegen kartellrechtlicher Hindernisse (z.B. in einem bestimmten Produktsortiment oder in bestimmten Jurisdiktionen) gezwungen ist, einen Co-Investor aufzunehmen der in der Lage ist, die kartellrechtlich problematischen Teile des Zielunternehmens zu übernehmen. Bei dem CoInvestor handelt es sich in den allermeisten Fällen um einen Finanzinvestor – und zwar um einen, der bereits selbst als Bieter am Auktionsverfahren teilgenommen und damit einen Wissensvorsprung erworben hat. Bei den vorgenannten Sonderkonstellationen stellen sich regelmäßig auch teils rechtlich schwierige Fragen im Hinblick auf die bereits abgeschlossenen Vertraulichkeitsvereinbarungen. Darf ein Bieter Dritte wegen eines möglichen Co-Investments ansprechen? Darf ein als Co-Investor angesprochener Bieter hierauf reagieren? Ein näheres Eingehen hierauf würde an dieser Stelle zu weit führen.
II. Ablauf von Unternehmenskäufen 1. Kein typischer Ablauf
1.121 Festzuhalten ist zunächst, dass es nicht „den“ typischen Ablauf eines Unternehmenskaufes gibt. Jede Transkation hat bereits zu Beginn ihre Besonderheiten, die im Laufe des Prozesses eher mehr als weniger werden. Als Verkäufer (aber auch als Käufer) ist man gut beraten, hier nicht krampfhaft zu versuchen, jede Transaktion mit ihren oder trotz ihrer Besonderheiten in eine vorgegebene Schablone zu zwängen. Selbst im angloamerikanischen Markt, in dem Standards im M&A-Geschäft weiter entwickelt sind als anderswo, versucht man das normalerweise nicht.
1.122 Auf der anderen Seite kann man feststellen, dass sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren zumindest bei Auktionsverfahren gewisse Abläufe als marktüblich eingebürgert haben. Dies ist in erster Linie auf den zunehmenden Einfluss der großen Investmentbanken zurückzuführen. Jede dieser großen Investmentbanken führt jedes Jahr Hunderte von M&A-Transaktionen in Form von Auktionsverfahren durch, und die führenden Investmentbanken tauschen sich regelmäßig über die gemachten Erfahrungen aus. Die gesammelten Erfahrungen fließen naturgemäß in die Entwicklung von Prozessschritten ein, die dann aufgrund von ständiger Wiederholung im Markt als üblich angesehen werden. Deshalb orientiert sich die folgende Darstellung eines Transaktionsablaufes am Ablauf eines Auktionsverfahrens, der in der Praxis so oder ähnlich häufig vorkommt.
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Rempp
C. Abwicklung des Unternehmenskaufs
Rz. 1.125 Kap. 1
2. Auktionsverfahren (aus Sicht des Verkäufers) Nachdem ein Verkäufer die Entscheidung getroffen hat, ein Zielunternehmen (beispielsweise einen Teilkonzern oder Geschäftsbereich einer größeren Einheit oder ein Unternehmen im Eigentum einer Einzelperson oder Familie oder eines Finanzinvestors) zu veräußern, und bevor eine erste Ansprache nach außen erfolgt, sind intern zahlreiche vorbereitende Maßnahmen notwendig. Diese Maßnahmen finden meist – zumindest teilweise – parallel statt.
1.123
In einem ersten Schritt werden auf Verkäuferseite ein internes Projektteam sowie ein Steering Committee gebildet (vgl. hierzu Rz. 1.108). Häufig werden parallel auch schon externe Berater (Investmentbanken/M&A-Berater, Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer) eingeschaltet, die das Projektteam und das Steering Committee unterstützen.
1.124
Zu den zentralen internen Vorbereitungshandlungen gehören:
1.125
– Das Screening des Marktes nach potentiellen Käufern. Hier spielen häufig die Investmentbank bzw. der M&A-Berater eine entscheidende Rolle, da diese meist über überlegene Marktinformationen – auch was die Eignung bzw. Zuverlässigkeit bestimmter Kaufinteressenten angeht – verfügen. Das Screening führt normalerweise im ersten Schritt zu einer sog. Long List, die in einem zweiten Schritt auf eine Short List derjenigen potentiellen Käufer gekürzt wird, die als geeignet in Betracht kommen. Die Short List kann durchaus immer noch 20 bis 30 Kaufinteressenten umfassen. Bei der Eignung spielen Kriterien wie kartellrechtliche Machbarkeit, Finanzkraft zur Aufbringung des Kaufpreises sowie aus dem Markt bekannte Faktoren wie Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Effizienz und Transaktionserfahrung eine Rolle. – Das Sammeln und Zusammenstellen von Informationen über das Zielunternehmen. Dies erfolgt in erster Linie aus vier Gründen: (1) um verkäuferseitig das Zielunternehmen zu bewerten und einen Kaufpreiskorridor mit entsprechender Schmerzgrenze für die Verhandlungen festzulegen, (2) um ein sog. Confidential Information Memorandum („CIM“) zu erstellen, das – ähnlich eines Verkaufsprospektes – die relevanten Informationen über das Zielunternehmen zusammenfasst und zu einem späteren Zeitpunkt den Kaufinteressenten zur Verfügung gestellt wird, (3) um dem Verkäufer und seinen Beratern Kenntnisse über das Zielunternehmen zu verschaffen (Stichwort Vendor Due Diligence; vgl. Rz. 9.25), die für die Vertragsverhandlungen notwendig bzw. sinnvoll sind. Für einen Verkäufer gibt es im Rahmen der Vertragsverhandlungen nichts Schlimmeres, als mit einem Käufer konfrontiert zu sein, der aufgrund seiner Due Diligence das Zielunternehmen besser kennt als der Verkäufer und diesen im Verlaufe der Verhandlungen immer wieder mit Kenntnissen von Risiken oder Problemen beim Zielunternehmen zu einem für den Verkäufer taktisch ungünstigen Zeitpunkt auf dem falschen Fuß erwischt, (4) um den Datenraum, in dem alle für einen potentiellen Käufer relevanten Informationen über das Zielunternehmen zusammengetragen werden, zu erstellen. Inzwischen hat es sich eingebürgert, dass Datenräume in elektronischer Form („Virtual Data Room“) und unter Zuhilfenahme eines externen Dritten („Data Room Provider“) eingerichtet werden. Für den Verkäufer birgt der Virtual Data Room (im Gegensatz zu den früher üblichen physischen Datenräumen) zahlreiche Vorteile, u.a. ist er effizienter und schneller zu erstellen, verwalten und ergänzen. Es können unterschiedliche Zugangsrechte erteilt werden (1. oder Rempp
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Kap. 1 Rz. 1.126
Mergers & Acquisitions
2. Phase Due Diligence, „Clean Room“, „For lawyers only“ etc.). Darüber hinaus ermöglicht es dem Käufer im Nachhinein exakt nachzuvollziehen, wann, wie oft und wie lange der Käufer durch wen welche Informationen hat ansehen lassen. Diese Information kann in einer späteren rechtlichen Auseinandersetzung durchaus von zentraler Bedeutung sein. Schwierigkeiten beim frühzeitigen Erstellen des Datenraums bereitet oft, dass das Management des Zielunternehmens oder zumindest große Teile desselben zwar auf der einen Seite nicht eingeweiht, aber auf der anderen Seite eben gerade diejenigen sind, die Kenntnis über die relevanten Vorgänge und Zugang zu den relevanten Dokumenten haben. Manchmal wird hier von Verkäuferseite unter dem Deckmantel eines Vorwandes (z.B. Internal Audit oder Umstrukturierung) auf die relevanten Informationen zugegriffen, ohne das Verkaufsvorhaben offenzulegen. Das ist ein riskantes Unterfangen, zumal früher oder später klar werden wird, dass es sich um Vorbereitungshandlungen für einen Verkauf handelte und dies in der in der Endphase immens wichtigen Beziehung zwischen Verkäufer und Management des Zielunternehmens nicht gerade vertrauensfördernd wirkt. – Die Bewertung des Zielunternehmens. Diese erfolgt in erster Linie, damit der Verkäufer eine realistische Kaufpreiseinschätzung (meist ein Korridor bzw. eine Range) bilden kann, aber auch, um den Kaufinteressenten die für ihre Bewertung notwendigen Informationen im Rahmen des CIM und später unter Umständen eines sog. „Financial Fact Books“ zur Verfügung zu stellen. Hierbei geht es in erster Linie um Ist-Zahlen und in die Zukunft gerichtete Budgets oder Forecasts des Zielunternehmens. – Die Entscheidung über den Einsatz externer Berater. Hierbei ist zunächst zu entscheiden, in welchen Bereichen Unterstützung durch externe Berater notwendig oder sinnvoll ist. In den relevanten Bereichen ist sodann eine Auswahl unter mehreren in Frage kommenden Beratern zu treffen. Es empfiehlt sich häufig, auf Beraterteams zu setzen, mit denen man bereits mehrfach erfolgreich bei M&A-Transaktionen zusammengearbeitet hat. Dies gilt vor allen Dingen deswegen, weil das Projektteam des Verkäufers und die externen Beraterteams aus vorherigen Transaktionen bereits gut eingespielt sind und die externen Berater die internen Standards und Abläufe beim Verkäufer bereits kennen und hierauf eingerichtet sind. Nachdem die Auswahl getroffen wurde, sind sodann Mandatsvereinbarungen bzw. Engagement Letter mit den externen Beratern abzuschließen.
1.126 Typischerweise besteht der erste externe Schritt darin, dass ein sog. „Teaser“ (kurze – meist vier bis maximal zehn Seiten – anonymisierte Zusammenfassung der wichtigsten Eckdaten des Zielunternehmens) an die auf der Short List befindlichen potentiellen Käufer versandt wird. Diese werden aufgefordert auf Grundlage des Teaser mitzuteilen, ob sie generell Interesse am Zielunternehmen haben.
1.127 Im nächsten Schritt (manchmal allerdings auch schon vor oder gleichzeitig mit der Übersendung des „Teaser“) werden die verbleibenden Kaufinteressenten aufgefordert, eine Vertraulichkeitsvereinbarung zu unterschreiben, aufgrund derer sichergestellt wird, dass Kaufinteressenten zum einen den Verkaufsvorgang selbst geheim halten und keine Mitarbeiter des Zielunternehmens ansprechen und zum anderen sämtliche Informationen über das Zielunternehmen vertraulich behandeln.
1.128 Typischerweise erhalten diejenigen Bieter, die eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterzeichnet haben, im nächsten Schritt einen ersten Ablaufplan („Process Letter I“), der u.a. die einzelnen Schritte des Prozesses und Zeitvorgaben festlegt, sowie das CIM verbunden mit der Aufforderung, innerhalb eines vom Verkäufer vorgegebenen Zeitraumes ein erstes indikatives Angebot („Non-Binding Offer“) abzugeben. Im Process Letter I wird üblicherweise im 44
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C. Abwicklung des Unternehmenskaufs
Rz. 1.131 Kap. 1
Detail festgelegt, welche Informationen das Non-Binding Offer mindestens enthalten muss. Hierzu gehören neben Kaufpreis und Equity Bridge (Herleitung vom Enterprise Value zum Equity Value) normalerweise u.a. Angaben zur Notwendigkeit interner (z.B. Aufsichtsrat, Board of Directors) aber vor allen Dingen auch behördlicher Zustimmungen (in erster Linie fusionskontrollrechtliche, vermehrt aber auch Zustimmungserfordernisse im Rahmen der Investitionsprüfung), Finanzierung des Kaufpreises, strategische Ziele des Käufers sowie Zeitplan für Due Diligence. Nach Erhalt und auf Grundlage der Non-Binding Offers findet auf Verkäuferseite ein erstes Auswahlverfahren statt. Zentrales Kriterium ist hierbei der Kaufpreis, daneben – falls kritisch – auch die Machbarkeit aus kartellrechtlicher und investitionsrechtlicher Sicht. Ziel des Auswahlprozesses ist es – soweit genügend geeignete Kaufinteressenten vorhanden sind – eine limitierte Anzahl von Kaufinteressenten (oft 6 bis 10) in die nächste Runde einzuladen.
1.129
Die nächste Runde wird typischerweise durch einen weiteren Process Letter („Process Let- 1.130 ter II“) eingeleitet. Hiermit werden die verbleibenden Kaufinteressenten eingeladen, die erste Phase ihrer Due Diligence durchzuführen (vgl. hierzu Rz. 1.85). Zur Durchführung der Due Diligence und nach Unterzeichnung der vom Verkäufer aufgestellten „Data Room Rules“ wird den Kaufinteressenten Zugang zum Datenraum, eventuell vom Verkäufer und dessen Berater erstellten Fact Books oder Vendor Due Diligence Reports (vgl. hierzu Rz. 1.115) sowie im Rahmen von Managementpräsentationen dem Management des Zielunternehmens gewährt. Weiterhin werden die Kaufinteressenten aufgefordert, nach Durchführung der ersten Phase der Due Diligence das Non-Binding Offer (insbesondere den Kaufpreis und die Equity Bridge) durch Abgabe eines sog. „Confirmatory Offer“ zu bestätigen und sämtlich noch verbleibende offene Punkte aus der Due Diligence zu nennen. Manchmal stellt der Verkäufer schon in der Phase des Process Letter II den Kaufvertragsentwurf zur Verfügung mit der Aufforderung, mit dem Confirmatory Offer schon eine erste Überarbeitung („Mark-up“) des Kaufvertrages, einschließlich aller Vollzugsbedingungen („Closing Conditions“), zu übersenden. Anders sieht es aus, wenn der Verkäufer von vorneherein einen lediglich zweistufigen Prozess vorsieht, was eher selten vorkommt. Dann wird mit dem Prozess Letter II bereits ein vollständiger Mark-up als Teil eines „Binding Offer“ verlangt. Nach Erhalt des Confirmatory Offers wird der Verkäufer in einem weiteren Auswahlprozess diejenigen verbleibenden Kaufinteressenten (das können bei zufriedenstellenden Angeboten durchaus weiterhin dieselben 6 bis 10 sein) auswählen, die per „Process Letter III“ zur nächsten Runde zugelassen werden. In dieser nächsten Runde werden vom Verkäufer sämtliche weiteren relevanten Informationen (z.B. kartellrechtlich oder anderweitig sensible) sowie etwaige Updates zur Verfügung gestellt, um den Kaufinteressenten den Abschluss ihrer Due Diligence („Confirmatory Due Diligence“) zu ermöglichen. Häufig geschieht dies (insbesondere wegen kartellrechtlicher Bedenken) im Rahmen eines sog. „Clean Room“ (vgl. hierzu Rz. 1.125). Gleichzeitig werden die Kaufinteressenten aufgefordert, ein „bindendes“ Angebot („Binding Offer“) abzugeben. Beim Binding Offer handelt es sich (praktisch) nie um ein rechtlich bindendes Angebot, das vom Verkäufer nur noch angenommen werden müsste (das wäre quasi eine „Put Option“). Meist schon alleine deswegen nicht, weil bei der weitaus häufigsten Form des Verkaufes einer GmbH dem Beurkundungserfordernis nicht Genüge getan wäre. Das Binding Offer hat mindestens den finalen Kaufpreis und abschließend alle Bestandteile der Equity Bridge, eine Bestätigung, dass die Due Diligence abgeschlossen ist sowie eine finale Überarbeitung des Kaufvertrages einschließlich einer Bestätigung, dass dieser aus Sicht des Käufers so unterschrieben werden kann, zu beinhalten. Sofern im Rahmen des Confirmatory Offers bereits ein erster Mark-up vorgelegt wurde, bietet es sich aus Verkäufersicht an, Rempp
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1.131
Kap. 1 Rz. 1.132
Mergers & Acquisitions
hierzu den Kaufinteressenten bereits erste Kommentare (z.B. zu Verständnisfragen oder zu Punkten, die für den Verkäufer gänzlich inakzeptabel sind, sog. „No-Gos“) zukommen zu lassen, die diese dann in den finalen Mark-up im Rahmen des Binding Offers einfließen lassen können.
1.132 Aus Verkäufersicht ist es ideal (und das kommt bei dem derzeitigen Verkäufermarkt nicht selten vor), wenn sich unter den Binding Offers zwei bis drei befinden, die akzeptabel bis gut und die jeweiligen Kaufinteressenten bereit sind, in finale Verhandlungen einzusteigen, ohne hierfür Exklusivität oder Ähnliches (z.B. „Cost Cover“; vgl. hierzu Rz. 1.133) zu verlangen. Mit zwei bis drei Bietern parallel bis zur Unterschriftsreife zu verhandeln, erfordert zwar einen extrem hohen Aufwand und ein enorm hohes Maß an Koordination, zahlt sich jedoch üblicherweise bei Preis und sonstigen Konditionen aus. Sollten alle verbliebenen akzeptablen Bieter oder ein Bieter, dessen Angebot weitaus besser ist als alle anderen, Exklusivität verlangen und dies auch ernst meinen, wird der Verkäufer diesem Verlangen wohl oder übel nachkommen müssen. Er ist jedoch gut beraten, lediglich exklusives Verhandeln – und keine sog. „Signing Exclusivity“ – im Rahmen eines möglichst kurzen Zeitraums und ohne Verpflichtung, anderen Bietern hiervon Mitteilung zu machen, anzubieten. Während des Exklusivitätszeitraums wird der Verkäufer versuchen, die oder den anderen Bieter in Warteposition zu halten, um bei Scheitern der Verhandlungen mit dem ersten Bieter nicht ohne Alternative dazustehen.
1.133 Im Spannungsfeld zwischen Exklusivitätsverlangen der Kaufinteressenten und dem Wunsch des Verkäufers, sich nicht in eine Sackgasse zu begeben, bietet sich als Kompromiss oftmals eine sog. „Cost Cover“-Vereinbarung an. Hierin verpflichtet sich der Verkäufer bei Scheitern der Verhandlungen dem Käufer seine nachgewiesenen Transaktionskosten (meist auf einen Maximalbetrag begrenzt) zu erstatten, vorausgesetzt der Käufer weicht im Laufe der Verhandlungen nicht ungerechtfertigt von seinen bisherigen Verhandlungspositionen (Kaufpreis, Equity Bridge, Mark-up) ab. Die Cost Cover-Variante ist besonders bei Private Equity-Käufern beliebt, da hierdurch verhindert wird, dass der Fond bei Scheitern mit hohen Transaktionskosten ohne Gegenwert belastet wird. Für den Verkäufer birgt sie den Vorteil, dass er mehrere Bieter im Rennen halten kann und sich die Kosten hierfür in Grenzen halten und in den meisten Fällen durch einen besseren Kaufpreis aufgewogen werden. 3. Auktionsverfahren (Besonderheiten aus Sicht des Käufers)
1.134 Letzten Endes stellen sich der Ablauf und die einzelnen Schritte im Rahmen eines Auktionsverfahrens aus Käufersicht nicht wesentlich anders dar als aus Sicht des Verkäufers. Allerdings finden zahlreiche Schritte zeitversetzt statt (z.B. Aufsetzen eines Projektteams und Steering Committees, Einschaltung von Beratern, Bewertung, Due Diligence). Inhaltlich gibt es drei wesentliche Unterschiede: – Zum einen sollte ein Kaufinteressent – insbesondere ein strategischer Investor – sehr frühzeitig die Integration des Zielunternehmens in die eigene Organisation analysieren. Dies verknüpft sich in den meisten Fällen eng mit der Frage, ob, inwieweit und für wie lange TSAs (vgl. hierzu Rz. 1.103) notwendig sein werden sowie – in Carve-Out Konstellation – mit der Frage, welche Carve-Out Planung der Verkäufer vorgesehen oder möglicherweise bereits umgesetzt hat (vgl. hierzu Rz. 1.103). – Zum anderen sollten diejenigen Kaufinteressenten, die für die Aufbringung des Kaufpreises eine Bankfinanzierung in Anspruch nehmen wollen oder müssen, frühzeitig mit den
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C. Abwicklung des Unternehmenskaufs
Rz. 1.138 Kap. 1
in Frage kommenden Banken in Kontakt treten und deren Bereitschaft zur Finanzierung und die wesentlichen kommerziellen Eckdaten festlegen. In Carve-Out-Konstellationen verzahnt sich dies wiederum häufig eng mit der Ablösung der vorhandenen Konzernfinanzierung des Verkäufers. – Schließlich wird ein Kaufinteressent immer daran interessiert sein herauszufinden, welche Verhandlungsposition er hat (Sind noch weitere Bieter im Rennen und, wenn ja, wer? Wie liegen andere Bieter preislich?). Selbstredend wird der Verkäufer alles daran setzen, den Prozess so zu steuern, dass die Bieter hierüber im Dunkeln gelassen werden (nicht selten kommt es sogar vor, dass Verkäufer oder deren Berater bewusst unrichtige Informationen im Markt streuen, um den Prozess zugunsten des Verkäufers zu beeinflussen). Dies ist jedoch leichter gesagt als getan. In der Praxis gibt es zahlreiche mehr oder weniger legale Wege für Bieter und deren Berater, dies zu umgehen. 4. Besonderheiten bei zwei Verhandlungspartnern Im Gegensatz zum Auktionsverfahren, in dem der Verkäufer den Ablauf vorgibt, sind es bei One on One-Situationen beide Seiten, die gemeinsam den Prozess und den Zeitplan bestimmen. Dies geschieht in der Regel in Form einer vorläufigen Vereinbarung, für die sich zahlreiche Begriffe (z.B. Absichtserklärung, „Letter of Intent“ („LoI“), „Memorandum of Understanding“ („MoU“); im Folgenden der Einfachheit halber der wohl am häufigsten benutzte Begriff: „LoI“) eingebürgert haben, die letzten Endes dasselbe meinen. Im LoI, der – sollte diese nicht schon im Vorfeld abgeschlossen worden sein – auch eine Vertraulichkeitsvereinbarung enthält, wird typischerweise folgendes geregelt:
1.135
– Kaufpreis bzw. Kaufpreisberechnungsmethode – Struktur (z.B. Asset oder Share Deal) – Zentrale Vertragspunkte („Key Terms“) – Ablauf der Due Diligence – Zeitplan bis zur Unterzeichnung („Signing“) des Kaufvertrages und bis zum Vollzug („Closing“) Die vorbezeichneten Inhalte sind in den allermeisten Fällen rechtlich unverbindlich. Beide 1.136 Seiten sind gut beraten, hierauf im LoI klar und deutlich hinzuweisen. Nicht selten wird der LoI im Laufe des Prozesses weiter präzisiert, indem beispielsweise ein „Term Sheet“ verhandelt und vereinbart wird, dass die Inhalte sämtlicher wesentlicher Punkte des Kaufvertrages verkürzt zusammenfasst sowie Kaufpreis, Equity Bridge und Kaufpreisanpassungsmechanismus im Detail regelt. Darüber hinaus enthält ein LoI auch einige bindende Vorschriften (z.B. Vertraulichkeit, Rechtswahl und Gerichtsstand). Schließlich wird auch häufig Exklusivität vereinbart (wenn, dann selbstredend bindend), obwohl dies in der One on One-Situation zwar eigentlich unnötig erscheint, es jedoch – wie bereits erwähnt – durchaus vorkommen kann, dass ein weiterer Kaufinteressent im Laufe der Transaktion an den Verkäufer herantritt (vgl. Rz. 1.120).
1.137
Der weitere Ablauf der Due Diligence bis zur Verhandlung und zum Signing und Closing des Unternehmenskaufvertrages unterscheidet sich bei One on One-Situationen nicht wesentlich von dem bei Auktionsverfahren. Es kommt allerdings bei One on One-Situationen öfter vor, dass Due Diligence und Kaufvertragsverhandlungen parallel laufen und dement-
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Kap. 1 Rz. 1.139
Mergers & Acquisitions
sprechend Ergebnisse der Due Diligence unmittelbar und direkt in die Verhandlungen und den Kaufvertragsentwurf mit einfließen.
III. Due Diligence 1.139 Heutzutage findet kaum ein Unternehmenskauf mehr ohne (zumindest auf Käuferseite) Due Diligence (d.h. eine meist ausführliche Untersuchung des Kaufobjekts) statt. Darüber hinaus geht inzwischen auch die gängige Beratungspraxis dahin, dem Verkäufer dringend zu empfehlen, in jedem Fall eine eigene sog. „Vendor Due Diligence“ zu einem möglichst frühen Stadium durchzuführen (vgl. hierzu Rz. 1.125).
1.140 Neben Fragen der Strukturierung der Transaktion und Bewertung des Zielunternehmens dient die Due Diligence in erster Linie der Erfassung und Analyse von Risiken sowie nachfolgend deren Berücksichtigung im Kaufvertrag. Letzteres geschieht häufig in Form von sog. „Specific Indemnities“, mit denen der Verkäufer sich verpflichtet, den Käufer freizustellen bzw. schadlos zu halten, wenn und soweit sich ein während der Due Diligence identifiziertes Risiko verwirklicht. Alternativ (und bei dem derzeitigen Verkäufermarkt nicht selten) kommt eine mehr oder weniger zuverlässige Bewertung der Risiken und entsprechende Berücksichtigung im Rahmen der Kaufpreisfestlegung in Betracht. Für den Verkäufer birgt dies den Vorteil, mit Vollzug der Transaktion einen Schlussstrich ziehen zu können (sog. „Clean Deal“).
1.141 Darüber hinaus hat die Due Diligence des Käufers auch Einfluss auf die Haftung des Verkäufers aus dem Kaufvertrag. In der Praxis haben sich sog. „Anti Sandbagging“-Klauseln eingebürgert, wonach der Verkäufer bei Verletzung einer Garantie nicht haftet, falls der Käufer hiervon Kenntnis hatte oder aus der Due Diligence hätte haben können (grob fahrlässige Unkenntnis). Letztere ist meist daran geknüpft, dass ein Umstand vom Verkäufer dergestalt offengelegt wurde, dass dem Käufer bzw. seinen Beratern der betreffende Umstand sowie das hieraus resultierende Risiko hinreichend klar hätte sein müssen (Stichwort „Fair Disclosure“).
1.142 Die Due Diligence – und zwar auf Käufer- wie auch auf Verkäuferseite – deckt im Normalfall mindestens folgende Bereiche ab: – Recht, einschließlich Compliance – Finanzen – Steuern – Umwelt – HR – Versicherung – Gewerbliche Schutzrechte und Geistiges Eigentum – IT – Datenschutz – Technik – Immobilien 48
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C. Abwicklung des Unternehmenskaufs
Rz. 1.146 Kap. 1
Ergänzend zur Sichtung des Datenraums wird – meist über ein sog. „Q&A-Tool“ im Daten- 1.143 raum – ein Fragen- und Antwortprozess durchgeführt, im Rahmen dessen dem Käufer Gelegenheit gegeben wird, weiterführende Fragen an den Verkäufer zu richten. Flankiert wird das Ganze im Normalfall durch Managementpräsentationen und Ortsbesichtigungen („Site Visits“). Über die klassische Due Diligence hinaus ist es inzwischen auch – zumindest bei größeren 1.144 Transaktionen, die im Wege eines Auktionsverfahrens durchgeführt werden – fast gängige Praxis, dass der Verkäufer den Kaufinteressenten einen Teil seiner Erkenntnisse aus der Vendor Due Diligence zur Verfügung stellt. Hiermit soll den Kaufinteressenten die eigene Due Diligence erleichtert und damit Transaktionskosten gemindert werden. Die Vorteile für den Verkäufer liegen auf der Hand. Zum einen kann er sehr wahrscheinlich mehr Bieter – vor allen Dingen Finanzinvestoren – länger im Rennen halten, da sich hierdurch für Kaufinteressenten, die letztlich nicht zum Zuge kommen, die vergeblich aufgewendeten Kosten für eine eigene Due Diligence vermindern. Zum anderen wirken sich die Transaktionskosten bei Finanzinvestoren direkt auf die sog. Internal Rate auf Return und damit den zu erzielenden Kaufpreis aus (vgl. hierzu Rz. 1.42). Die Zurverfügungstellung kann entweder in der Form eines sog. „Fact Books“, das lediglich Fakten zusammenfasst, ohne diese zu analysieren, oder eines „Vendor Due Diligence Reports“, der dann auch eine Analyse der Berater des Verkäufers beinhaltet, geschehen. Typische Bereiche, die hier abgedeckt werden sind neben Recht meist Finanzen, Steuern und oft auch Umwelt. Die Zurverfügungstellung erfolgt immer auf Basis eines sog. „Non-Reliance Letters“, in dem die Kaufinteressenten bestätigen, dass sie nicht auf die Richtigkeit des Fact Books bzw. Vendor Due Diligence Reports vertrauen und aus deren möglicher Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit keine Ansprüche herleiten werden. In seltenen Fällen – und zwar meist dann, wenn der endgültige Käufer ein Private Equity-Investor ist – wird bei Abschluss des Unternehmenskaufvertrages von den Beratern des Verkäufers, die die Vendor Due Diligence Reports erstellt haben, ein sog. „Reliance Letter“ an den endgültigen Käufer (und häufiger dessen finanzierende Banken) übergeben. Mit dem Reliance Letter bestätigen die relevanten Berater des Verkäufers die Richtigkeit des Inhalts ihres jeweiligen Vendor Due Diligence Reports gegenüber einem Dritten (d.h. Käufer oder häufiger dessen finanzierende Banken) und schaffen damit eine eigene vertragliche Haftungsgrundlage zugunsten des Dritten. Dies geschieht im Normalfall nur unter zahlreichen Einschränkungen (z.B. Haftungsobergrenze, Verjährung, Beschränkung auf Prüfungszweck und -umfang etc.).
IV. Warranty & Indemnity Insurance In den letzten zwei bis drei Jahren hat im deutschen Markt die Anzahl der Transaktionen, bei denen Risiken des Verkäufers aus Garantien oder Freistellungen ganz oder teilweise durch eine sog. Warranty & Indemnity Insurance abgedeckt werden, stark zugenommen. In der Praxis des Verfassers dürfte das inzwischen etwa bei der Hälfte aller Transaktionen, die keine öffentlichen Übernahmen sind, der Fall sein.
1.145
Bei der Warranty & Indemnity Insurance handelt es sich um ein Produkt, das ursprünglich in Großbritannien entwickelt und verwendet wurde, um Private Equity-Verkäufern einen „Clean Exit“ (d.h. keine Haftung für Garantien und damit kein Risiko nach dem Vollzug der Transaktion) zu ermöglichen. Inzwischen hat sich das Produkt auch im deutschen Markt etabliert und wird nicht nur von Private Equity-Verkäufern verwendet, sondern erfreut sich auch bei sonstigen Verkäufern (insbesondere natürlichen Personen, die ihr Unter-
1.146
Rempp
49
Kap. 1 Rz. 1.147
Mergers & Acquisitions
nehmen veräußern) zunehmender Beliebtheit. Die Beweggründe sind letzten Endes denen der Privaten Equity-Verkäufer sehr ähnlich (Clean Exit, aber auch Erhalt des Familienvermögens für folgende Generationen).
1.147 Vereinfacht ausgedrückt werden Risiken aus der Verletzung vom Verkäufer gegebener Garantien und der Steuerfreistellung von der Versicherung gedeckt. Damit wird der Verkäufer faktisch enthaftet, sofern er den Käufer nicht arglistig täuscht (vgl. hierzu Rz. 9.273). Inzwischen hat sich im Markt sogar durchgesetzt, dass die Versicherungen vom Verkäufer nicht mehr verlangen, dass dieser für einen gewissen Grundbetrag (in der Vergangenheit häufig 1 % des Kaufpreises) vorrangig einstehen muss bevor die Versicherung deckt. In der heutigen Praxis verzichten die Versicherungen häufig auf dieses sog. „skin in the game“. Allerdings sind die Versicherungen nicht bereit, sämtliche Risiken zu decken. Zu den Ausnahmen gehören beispielsweise vom Verkäufer offengelegte Garantieverletzungen und Compliance Verstöße in bestimmten Ländern (z.B. Brasilien, China und Russland) (vgl. hierzu näher Rz. 9.275 ff.).
1.148 In der Praxis ist es für beide Parteien wichtig sicherzustellen, dass ein in Sachen Warranty & Indemnity Insurance erfahrener Versicherungsmakler eingeschaltet wird und dass die letztlich beauftragte Versicherung Erfahrungen mit Warranty & Indemnity Insurance im deutschen Markt und nach deutschem Recht hat. Es gibt inzwischen Versicherer, die deutsche Warranty & Indemnity Insurance-Teams haben, denen meist auch ein deutscher Jurist mit Erfahrungen im Bereich M&A (häufig ein Anwalt, der einige Jahre in einer der großen Kanzleien tätig war) angehört.
1.149 Die Einschaltung einer Warranty & Indemnity Insurance führt dazu, dass faktisch eine zweite Transaktion und ein zweites Verhandlungsfeld eröffnet wird, welches seine eigene Komplexität aufweist. Schließlich wird hier im Dreieck verhandelt (Verkäufer, Käufer und Versicherung), denn dort wo die Versicherung nicht bereit ist, Deckung zu geben, wird der Käufer versuchen, den Verkäufer in die Haftung zu nehmen. Zu Einzelheiten, die sich aus den zahlreichen komplexen Themen im Zusammenhang mit einer Warranty & Indemnity Insurance ergeben (vgl. Rz. 9.272).
V. Kaufpreis und Bewertung 1.150 Die Festlegung des Kaufpreises ist eine der wichtigsten – wenn nicht die wichtigste – Maßnahme beim Kauf oder Verkauf eines Unternehmens oder einer Beteiligung. 1. Überblick über gängige Bewertungsmethoden a) Bedeutung und Methoden
1.151 In einem möglichst frühen Stadium der Transaktion werden sowohl Verkäufer als auch Kaufinteressent eine Bewertung des Kaufobjekts vornehmen (vgl. hierzu Rz. 1.125), die wiederum Grundlage für die Kaufpreisfindung ist. Typischerweise erfolgt die Bewertung auf Kaufinteressentenseite später, da den Kaufinteressenten das für die Bewertung notwendige Zahlenmaterial des Kaufobjekts nicht von vorneherein zur Verfügung stehen wird. Ausnahmen wie beispielsweise beim Erwerb von börsennotierten Unternehmen, die regelmäßig die relevanten Zahlen veröffentlichen, bestätigen die Regel. In vielen Fällen wird es im Verlaufe des Prozesses auf Käuferseite (häufig aber auch auf Verkäuferseite) notwendig, eine erste Bewertung auf Grundlage neuen Zahlenmaterials des Kaufobjekts anzupassen.
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C. Abwicklung des Unternehmenskaufs
Rz. 1.151d Kap. 1
Ausgangspunkt einer jeden Bewertung sind objektive Bewertungsmethoden. Bei M&A-Transaktionen sind die gebräuchlichsten Methoden das Discounted Cashflow Verfahren sowie EBITDA oder EBIT Multiplikatoren. Mit beiden Methoden wird der Unternehmenswert („Enterprise Value“) ermittelt. Im Gegensatz hierzu verwenden Finanzinvestoren dagegen häufig die sog. LBO („Leveraged Buy-Out“) Bewertung. b) Discounted Cashflow Verfahren („DCF“) Bei der Bewertung im Wege des Discounted Cashflow Verfahrens wird der Wert des Unter- 1.151a nehmens bestimmt, indem die zukünftig erwarteten Cashflows des Unternehmens auf den Bewertungsstichtag abgezinst werden. Die Summe aus den abgezinsten Werten ergibt den Unternehmenswert. In der am häufigsten verwendeten „Brutto“-Variante des Discounted Cashflow Verfahrens werden in einem ersten Schritt die den Eigenkapital- und den Fremdkapitalgebern gemeinsam zustehenden Cashflows des Unternehmens ermittelt und mit einem Zinssatz abgezinst, der dem gewichteten Mittel aus der Eigenkapitalrendite und dem Marktzins des Fremdkapitals entspricht. Die mit diesem gewichteten Zinssatz abgezinsten Cashflows ergeben den Enterprise Value (vgl. hierzu Rz. 3.112). c) Multiple Verfahren Im Gegensatz zur DCF-Verfahren wird im Rahmen von Multiple Verfahren der Unternehmenswert aus der Börsenbewertung vergleichbarer börsennotierter Unternehmen oder der Bewertung vergleichbarer Unternehmen im Rahmen von M&A-Transaktionen abgeleitet. Die Bewertung mit Multiplikatoren basiert auf der Annahme, dass ähnliche Unternehmen ähnlich bewertet werden. Dazu werden bestimmte Finanzkennzahlen wie z.B. das EBITDA oder das EBIT ins Verhältnis zum Unternehmenswert der Vergleichsunternehmen gesetzt und so ein entsprechender Multiplikator ermittelt. Die entsprechende Finanzkennzahl des Zielunternehmens multipliziert mit diesem Multiplikator ergibt sodann den Enterprise Value (vgl. hierzu Rz. 3.193 ff.).
1.151b
d) Equity Bridge Sowohl beim DCF-Verfahren als auch beim Multiple Verfahren sind vom Enterprise Value die Nettofinanzverbindlichkeiten („Net Debt“) abzuziehen, um den „Equity Value“ (d.h. den Kaufpreis) zu ermitteln. Die Nettofinanzverbindlichkeiten beinhalten zum einen klassische Finanzverbindlichkeiten wie beispielsweise Darlehen und Anleihen sowie häufig weitere Positionen („debt-like“) wie beispielsweise Pensionsrückstellungen, Steuerverbindlichkeiten- und Rückstellungen etc. Zum anderen werden als Aktivposten nicht betriebsnotwendiges Vermögen (d.h. Vermögensgegenstände, die dem Unternehmen ohne Beeinträchtigung seines Geschäftszwecks entzogen werden können) addiert. Hierzu gehören überschüssige Barbestände sowie vergleichbare Positionen („cash-like“) wie beispielsweise Ausleihungen, Wertpapiere und Steuerforderungen. Die Gesamtheit der Abzugs- und Additionsposten wird als sog. „Equity Bridge“ bezeichnet.
1.151c
e) Working Capital Referenzwert Schließlich wird der Enterprise Value in aller Regel im Hinblick auf das am Bewertungsstichtag vorhandene operative Nettoumlaufvermögen („Working Capital“) angepasst. Dazu wird ein Referenzwert für das Working Capital definiert, der dem durchschnittlich vorhanRempp
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1.151d
Kap. 1 Rz. 1.151e
Mergers & Acquisitions
denen Working Capital entspricht. Sofern das Working Capital des Zielunternehmens am Bewertungsstichtag den Referenzwert überschreitet, wird der Kaufpreis entsprechend erhöht. Sofern der Referenzwert unterschritten wird, wird der Kaufpreis entsprechend gemindert. f) LBO-Bewertung
1.151e Im Gegensatz zu strategischen Investoren erwerben Finanzinvestoren ein Unternehmen mit dem Ziel, dieses nach einem Zeitraum von in der Regel drei bis fünf Jahren weiterzuveräußern. Wegen dieser begrenzten Haltefrist liegt der Fokus von Finanzinvestoren auf der während dieser Haltefrist erwirtschafteten jährlichen Rendite. Diese setzt sich zusammen aus den bis zur Weiterveräußerung („Exit“) erwirtschafteten Erträgen des Unternehmens sowie dem beim Exit erzielten Erlös. Die gegenüber dem Einstiegspreis jährlich erwirtschaftete Rendite wird als sog. Internal Rate of Return („IRR“) bezeichnet und ist für Finanzinvestoren eine entscheidende Zielgröße. Im Rahmen der LBO-Bewertung ermittelt der Finanzinvestor, welchen Einstiegspreis er maximal zahlen kann, um unter bestimmten Annahmen die angestrebte IRR zu erzielen. Dazu setzt der Finanzinvestor Annahmen z.B. im Hinblick auf den Zeitpunkt des Exits, das EBITDA bzw. EBIT des Unternehmens beim Exit, das beim Exit erzielbare EBITDA bzw. EBIT Multiple sowie die Verschuldung des Unternehmens beim Exit.
1.152 Im Gegensatz zur Discounted Cashflow Methode sowie den EBITDA/EBIT Multiples wird bei der LBO-Bewertung nicht der Enterprise Value des Unternehmens ermittelt, sondern der Einstiegspreis des Investors. Der Enterprise Value lässt sich daraus allenfalls mittelbar unter Berücksichtigung des vorhandenen und neuen Fremdkapitals ableiten. Da Verkäufer im Rahmen von M&A-Transaktionen allerdings regelmäßig den Enterprise Value und darauf basierend die Equity Bridge (d.h. die Überleitung zum Equity Value) abfragen, legt der Finanzinvestor im Rahmen seines Angebots fest, welche Positionen er insoweit in die Nettofinanzverbindlichkeiten einbezieht. 2. Kaufpreisverhandlungen und Festlegen des Kaufpreises
1.153 Bei normalem Verhandlungsverlauf werden sowohl Verkäufer als auch Käufer jeweils für sich die Kaufpreisvorstellungen in Form eines Korridors festlegen. Die Ober- bzw. Untergrenze des Korridors entspricht der jeweiligen Schmerzgrenze des Verkäufers bzw. Käufers. Nur wenn sich zwischen beiden Korridoren eine Schnittmenge ergibt oder eine Partei oder beide Parteien im Verlauf der Verhandlungen bereit sind, ihre jeweilige Schmerzgrenze nach unten bzw. nach oben anzupassen, ist eine Einigung denklogisch möglich. Allerdings gibt es in bestimmten Konstellationen Mittel und Wege trotz fehlender Schnittmenge ein vorhandenes Delta bei den Kaufpreisvorstellungen zu überbrücken und letztlich doch eine Einigung hinsichtlich des Kaufpreises zu erzielen (Stichwort „Earn-Out“; vgl. hierzu Rz. 1.158).
1.154 Grundlage für die Ermittlung der Kaufpreisvorstellungen sind die oben genannten objektiven Bewertungsmethoden, wobei allen objektiven Bewertungsmethoden in die Zukunft gerichtete Prognosen (z.B. zu zukünftigen Umsätzen, Erträgen oder Marktentwicklungen) zugrunde liegen, die wiederum von subjektiven Faktoren bestimmt werden. So ist es nicht verwunderlich, dass der Verkäufer typischerweise bei Prognoseentscheidungen über Budgets und Forecasts optimistischer zu Werke geht als die Kaufinteressenten. Darüber hinaus spielen bei der Ermittlung der Kaufpreisvorstellungen zahlreiche subjektive Kriterien oft eine entscheidende Rolle. Auf Käuferseite werden die Kaufpreisvorstellungen häufig von zahlreichen weiteren Faktoren beeinflusst (z.B. von potentiellen Synergieeffekten, der Möglichkeit
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C. Abwicklung des Unternehmenskaufs
Rz. 1.157 Kap. 1
der Nutzung steuerlicher Verlustvorträge, dem Erwerb einer zukunftsweisenden Technologie, die potentiell ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber Wettbewerbern bedeutet oder der geografischen Expansion in bisher nicht erschlossene Märkte). So werden beispielsweise im Bereich der New Technologies Kaufpreise in Höhen geboten bzw. bezahlt, die von den gängigen objektiven Bewertungsmethoden völlig losgelöst sind. 3. Umsetzung im Anteilskaufvertrag Generell gibt es in Anteilskaufverträgen zahllose Formen von Kaufpreisklauseln, deren Logik oftmals nicht oder nur teilweise den oben geschilderten Prinzipien zur Unternehmensbewertung folgt. Grundsätzlich lassen sich jedoch zwei Mechanismen unterscheiden. In den meisten Fällen wird der wirtschaftliche (Bewertungs)Stichtag der Transaktion auf den Tag des Vollzugs der Transaktion („Closing“) gelegt. In diesem Fall wird der Equity Value (= Kaufpreis für die Anteile) zum Closing vom Enterprise Value abgeleitet. Als zweite insbesondere im deutschen Markt immer häufiger zu beobachtende verkäuferfreundliche Variante kommt in Betracht, den wirtschaftlichen (Bewertungs)Stichtag auf ein Datum vor dem Closing zu legen (sog. „Locked Box“). In diesem Fall wird der Equity Value (= Kaufpreis für die Anteile) zu diesem früheren Datum bestimmt. Gleichzeitig verpflichtet sich der Verkäufer, nach dem Stichtag weder direkt noch indirekt Mittel aus dem Unternehmen abzuziehen (sog. „Non-Leakage“), d.h. alle seit dem Stichtag erwirtschafteten Erträge stehen dem Käufer zu. Da das Unternehmen rechtlich erst zum Closing übergeht und auch dann erst der Kaufpreis gezahlt wird, vereinbaren die Parteien in der Regel, dass der Kaufpreis zwischen dem in der Vergangenheit liegendem Stichtag und dem Closing verzinst wird.
1.155
4. Umsetzung beim Asset Deal Bei Asset Deals werden in der Regel keine Barmittel und keine sonstigen nicht betriebsnotwendigen Vermögensgegenstände veräußert sowie keine Finanzverbindlichkeiten übernommen. Es wird also ausschließlich das operative Geschäft übertragen. In diesem Fall bedarf es grundsätzlich keiner weiteren Anpassung des Enterprise Values, um zum Equity Value des veräußerten Unternehmens zu gelangen, d.h. Enterprise Value und Equity Value des veräußerten Geschäftsbetriebs sind identisch. Ausnahmen gelten gegebenenfalls, wenn gegenüber den übernommenen Arbeitnehmern Pensionsverpflichtungen bestehen oder bestimmte mit dem operativen Geschäft in engem Zusammenhang stehende Finanzinstrumente (z.B. „Financial Leases“) übernommen werden. Zudem werden im Rahmen von Asset Deals üblicherweise Bestandteile des Working Capitals übernommen, nämlich zumindest Vorräte und darüber hinaus in vielen Fällen Forderungen und Verbindlichkeiten aus Lieferung und Leistung. Daher besteht Anpassungsbedarf, wenn das übernommene Working Capital vom Durchschnitt abweicht.
1.156
5. Kaufpreisanpassung nach Closing Wenn der Equity Value des Zielunternehmens (= Kaufpreis für die Anteile) zum Closing ermittelt wird, vereinbaren die Parteien einen Grundkaufpreis, der dem vom Käufer gebotenen Enterprise Value des Zielunternehmens entspricht. Zum Closing werden dann die Nettofinanzverbindlichkeiten sowie das Working Capital des Zielunternehmens bestimmt und der Grundkaufpreis entsprechend angepasst. Dazu vereinbaren die Parteien in aller Regel, dass die Nettofinanzverbindlichkeiten und das Working Capital zum Closing geschätzt werden und am Closing auf dieser Grundlage ein vorläufiger Kaufpreis gezahlt wird. Nach dem Rempp
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1.157
Kap. 1 Rz. 1.158
Mergers & Acquisitions
Closing werden die tatsächlichen Werte dann aufgrund einer Stichtagsbilanz ermittelt und der vorläufige Kaufpreis entsprechend angepasst (sog. „True-Up“). Für den Fall, dass sich die Parteien und deren Wirtschaftsprüfer auf relevante Werte und damit den finalen Kaufpreis nicht einigen können, wird typischerweise bereits im Kaufvertrag ein neutraler Wirtschaftsprüfer benannt, der als Schiedsgutachter i.S.d. § 317 BGB die streitigen Punkte entscheidet und den finalen Kaufpreis für die Parteien festlegt. 6. Sonderfälle
1.158 Wie bereits erwähnt, wurden von der Praxis verschiedene Mechanismen entwickelt, mit denen die Parteien zu einer Einigung beim Kaufpreis kommen können, obwohl zwischen den Kaufpreiskorridoren des Verkäufers und des Käufers keine Schnittmenge besteht (vgl. Rz. 1.153). Die in der Praxis wohl gängigste Methode dürfte der sog. „Earn-Out“ sein, der vor allen Dingen dann in Betracht kommt, wenn die Einigungslücke hinsichtlich Kaufpreis darauf zurückzuführen ist, dass die Prognosen von Verkäufer und Käufer über zukünftige Umsätze bzw. Erträge so weit auseinander liegen, dass der Käufer die Prognosen des Verkäufers für nicht realistisch bzw. erzielbar hält. Häufig wird in solchen Fällen ein Kompromiss dahingehend vereinbart, dass beim Closing der vom Käufer gebotene (d.h. der niedrigere) Kaufpreis zu bezahlen ist. Stellt sich später für einen Zeitraum nach dem Closing (oft zwei bis drei Jahre) heraus, dass die vom Verkäufer prognostizierten Umsätze bzw. Erträge entgegen der Prognose des Käufers tatsächlich erzielt wurden, erklärt sich der Käufer bereit, einen erhöhten bzw. zusätzlichen Kaufpreis zu entrichten, der dann meist den ursprünglichen Vorstellungen des Verkäufers nahe kommt. Zur Komplexität der entsprechenden Regelungen (s. Rz. 9.186).
1.159 Eine weitere, insbesondere bei Finanzinvestoren auf Käuferseite vorkommende Kompromissform ist die sog. „Vendor Loan“ oder „Vendor Note“. Hierbei handelt es sich um eine Kaufpreisstundung durch den Verkäufer, die es dem Finanzinvestor ermöglicht, mit geringerem Eigenkapitaleinsatz (und damit einer höheren Debt Equity Ratio) den Kaufpreis zu finanzieren. Letzten Endes kann hierdurch sowohl eine etwaige Finanzierungslücke geschlossen als auch eine Verbesserung des IRR erreicht werden. Der Verkäufer als de facto Darlehensgläubiger steht typischerweise sowohl im Rang als auch bei der Besicherung hinter sämtlichen anderen Gläubigern des Käufers und des Zielunternehmens.
1.160 Um das Verhältnis zwischen den finanzierenden Banken und dem die Vendor Loan begebenden Verkäufer zu regeln wird zwischen diesen nicht selten ein sog. „Inter Creditor Agreement“ geschlossen.
VI. Unternehmenskauf vor den Gerichten 1.161 Im Verhältnis zu der mutmaßlichen Zahl der durchgeführten Transaktionen gibt es bei Unternehmenskäufen nur eine relativ geringe Anzahl von veröffentlichten Gerichtsentscheidungen. Das hat zwei Gründe:
1.162 Das Recht der Unternehmenskäufe wird weitgehend durch eine qualitätsmäßig auf hohem Niveau stehende Kautelarpraxis bestimmt. So sind Probleme, wie die in der Literatur und in der Rechtsprechung ausgiebigst erörterte Frage der Sachmängelhaftung in der Praxis nicht so häufig, wie man annehmen sollte. Die Fragen werden in guten Kaufverträgen eingehend geregelt, indem bestimmte Garantietatbestände festgelegt werden und gleichfalls die Rechtsfolge 54
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C. Abwicklung des Unternehmenskaufs
Rz. 1.165 Kap. 1
bei Nichteinhaltung der Garantietatbestände im Detail vertraglich geregelt werden. In der Mehrzahl liegt den Gerichtsentscheidungen ein Sachverhalt zugrunde, bei dem ein kleineres Objekt veräußert wurde. Bei Veräußerung solch kleiner Objekte sind die Vertragskonzepte häufig nicht hinreichend durchdacht. Dennoch können auch bei sorgfältig ausformulierten Verträgen rechtliche Streitigkeiten entstehen, z.B. über die Erfüllung eines Garantietatbestandes oder die Einhaltung einer Wettbewerbsabrede. Der zweite Grund, weshalb veröffentlichte Gerichtsentscheidungen zu Problemen des Unternehmenskaufs recht selten sind, ist die weit verbreitete Praxis der Schiedsvereinbarungen. Eine Statistik über die bei Unternehmensveräußerungen durchgeführten Schiedsgerichtsstreitigkeiten besteht nicht. Aus Erfahrung lässt sich jedoch sagen, dass zwischen 90 und 95 % aller Unternehmenskäufe nach deutschem Recht der Streitbeilegung durch Schiedsgerichte unterliegen. Dies dürfte in erster Linie daran liegen, dass inzwischen fast alle Unternehmenskäufe in irgendeiner Form grenzüberschreitend (d.h. eine der Parteien ist nicht oder das Zielunternehmen ist nicht oder nicht nur in Deutschland ansässig) sind und bei Auktionsverfahren praktisch immer ein oder mehrere Kaufinteressenten nicht deutsch sind und der Verkäufer dementsprechend einen englischsprachigen Unternehmenskaufvertrag vorlegt. Dementsprechend werden Unternehmenskaufverträge, die deutschem Recht unterliegen, inzwischen fast ausschließlich in englischer Sprache abgefasst. Neben Vertraulichkeitsgesichtspunkten besteht einer der wesentlichen Vorteile von Schiedsverfahren darin, dass sie in englischer Sprache gehalten werden können und damit der Vertragssprache gerecht werden (vgl. Rz. 19.207 ff.).
1.163
Bei Unternehmensveräußerungen nach deutschem Recht wird inzwischen häufig das in Deutschland gebräuchlichste Schiedsverfahren nach Regeln der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit („DIS“) gewählt, und zwar auch dann, wenn – wie häufig – eine der Parteien nicht in Deutschland ansässig ist.87 Es wird dann oft ein Dreierschiedsgericht gebildet. Jeweils ein Schiedsrichter wird von einer Partei benannt. Die beiden benannten Schiedsrichter wählen den Obmann. Bei Nichteinigung wird dieser durch den Ernennungsausschuss der DIS benannt. Alternativ – bei einem nicht administrierten Ad-hoc-Verfahren – kann ein neutrales Gremium, häufig der Präsident der örtlich zuständigen Industrie- und Handelskammer oder der Präsident des OLG, angerufen werden. Bei der Besetzung der Schiedsgerichte sind Anwälte in der Mehrzahl. Zumindest die beiden Beisitzer sind oft Rechtsanwälte. Vorsitzender kann dann ein profilierter Richter oder Professor einer Hochschule sein. Jedenfalls sind in der weit überwiegenden Zahl aller Fälle die Schiedsrichter Juristen. Das gilt auch dann, wenn als Vorfrage zur Entscheidung des Rechtsstreits Bewertungsfragen zu lösen sind. Der Wirtschaftsprüfer wird im Schiedsgerichtsverfahren dann nur als Sachverständiger hinzugezogen. Davon zu unterscheiden ist die Tätigkeit des Wirtschaftsprüfers, wenn er, wie dies häufig der Fall ist, als Schiedsgutachter i.S.d. § 317 BGB herangezogen wird.
1.164
Neben der DIS nimmt eine zweite Organisation der institutionellen Schiedsgerichtsbarkeit, die Internationale Handelskammer in Paris („ICC“), eine große Bedeutung bei Unternehmenskäufen (insbesondere grenzüberschreitenden) nach deutschem Recht ein. Bei der ICC ist ein Schiedsgerichtshof gebildet, dessen Aufgabe es ist, Vorsorge für die schiedsgerichtliche Beilegung wirtschaftlicher Streitigkeiten internationalen Charakters zu treffen. Sein Verfah-
1.165
87 Vgl. hierzu ausführlich Nedden/Herzberg, Praxiskommentar zu den Schiedsgerichtsordnungen (ICC-SchO, DIS-SchO), 2014.
Rempp
55
Kap. 1 Rz. 1.166
Mergers & Acquisitions
ren richtet sich nach einer Schiedsordnung, deren gültige Fassung aus dem Jahr 2017 datiert.88
1.166 Weitere größere europäische Institutionen, die Schiedsverfahren administrieren sind der London Court of International Arbitration („LCIA“), die Stockholm Chamber of Commerce („SCC“) und die Swiss Chambers’ Arbitration Institution („SCAI“). Diese kommen jedoch bei Unternehmenskäufen nach deutschem Recht eher selten in Betracht.
1.167 Eine weitere größere internationale Organisation ist die American Arbitration Association in New York („AAA“), mit ihrem internationalen Arm, dem International Center for Dispute Resolution („ICDR“). Es handelt sich dabei um eine unabhängige, gemeinnützige Organisation mit dem Hauptsitz in New York. Von der AAA wurden die Commercial Arbitration Rules89 entwickelt, aufgrund derer bei entsprechender Wahl der Parteien auch internationale Handelsschiedsstreitigkeiten entschieden werden.90 Zudem gibt es die internationaler ausgerichteten Regelungen des ICDR.91 Auch die AAA spielt bei deutschrechtlichen Unternehmenskäufen eine eher untergeordnete Rolle.
1.168 Neben der Vereinbarung einer Schiedsordnung einer der anerkannten Institutionen für Schiedsgerichtsbarkeit kommt es – wenn auch sehr selten – vor, dass die Parteien die Regeln für das Schiedsverfahren ergänzend zu einer Schiedsordnung oder sogar in Gänze selbst vertraglich festlegen (sog. Ad-hoc-Schiedsvereinbarung). Die Parteien sind beispielsweise oftmals versucht, abweichende vertragliche Regelungen bezüglich Offenbarungspflichten (Stichwort „Discovery“) zu vereinbaren. Hierbei ist Vorsicht geboten und hiervon ist eher abzuraten, da die Gefahr besteht, dass eine von den Parteien selbst gezimmerte Schiedsordnung unvollständig ist oder Ungereimtheiten aufweist.
1.169 Den Parteien sollte darüber hinaus klar sein, dass keine Schiedsordnung – auch nicht die der gängigen Schiedsinstitutionen – auch nur annähernd vollständige Verfahrensregeln zur Verfügung stellen. Im Gegenteil, die wichtigsten Verfahrensregeln sind aus der jeweils anwendbaren Zivilprozessordnung zu entnehmen. Diese wiederum richtet sich normalerweise nach dem Sitz des Schiedsgerichtes (d.h. bei Sitz des Schiedsgerichtes in Deutschland käme die ZPO zur Anwendung), womit der Wahl des Schiedsortes durchaus eine gewisse inhaltliche Bedeutung zukommt.
88 Die Regeln sind abrufbar unter: https://iccwbo.org/dispute-resolution-services/arbitration/rulesof-arbitration/; Münch in MünchKomm/ZPO, 5. Aufl. 2017, Vorb. zu § 1025 Rz. 131 ff.; zu den vormals in Kraft gewesenen Regeln (2012-2017) vgl: Fry/Greenberg/Mazza, The Secretariat’s Guide to ICC Arbitration, 2012, vgl. weiter zur Schiedsgerichtsordnung der Internationalen Handelskammer in Paris: Böckstiegel (Hrsg.), Beweiserhebung im internationalen Schiedsverfahren, 2001; Bühler/Webster, The Handbook of ICC Arbitration, 2005; Craig/Park/Paulsson, International Chamber of Commerce Arbitration, 3. Aufl. 2000; Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008, Kap. 32; Reiner/Jahnel in Schütze, Institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit, 3. Aufl. 2017, Kap. II, ICC-Schiedsordnung; Sandrock, RIW 1987, 649 ff.; Schäfer/Verbist/Imhoos, ICC Arbitration in Practice, 2. Aufl. 2015; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. 2005; Weigand, Practitioner’s Handbook on International Arbitration, 2. Aufl. 2010; mit einem Blick auf die Schweiz: Arroyo, Arbitration in Switzerland, 2013. 89 https://www.adr.org/sites/default/files/document_repository/commercial_rules.pdf. 90 Vgl. Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008, Kap. 31, Rz. 2944 und Kap. 47, Rz. 4767. 91 https://www.adr.org/sites/default/files/ICDR%20Rules_0.pdf.
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C. Abwicklung des Unternehmenskaufs
Rz. 1.173 Kap. 1
Schiedsgerichtsverfahren bei Unternehmenskäufen, an denen auf einer Seite ein ausländischer 1.170 Käufer oder Verkäufer beteiligt ist, werden erleichtert durch die auf diesem Gebiet abgeschlossenen multilateralen und bilateralen Verträge. Diese ermöglichen die Anerkennung und Vollstreckung von Schiedssprüchen. Das wohl wichtigste dieser Abkommen ist das UN-Übereinkommen über die Anerkennung und die Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10.6.1958 („New Yorker Übereinkommen“).92 Das New Yorker Übereinkommen ist für die Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung vom 28.9.1971 in Kraft getreten.93 Ziel dieses Abkommens, das mittlerweile fast universale Gültigkeit hat, ist die Förderung der weltweiten Freizügigkeit schiedsgerichtlicher Entscheidungen.94 Weitere wichtige Abkommen sind: – das Genfer Protokoll vom 24.9.1923 sowie das Genfer Abkommen vom 26.9.1927 – und das europäische Übereinkommen über die Handelsschiedsgerichtsbarkeit vom 21.4.1961. Bei der Frage, welche Schiedsordnung vereinbart werden soll, kommt es selten zu Verhandlungen und erst recht nicht zu Streitigkeiten. Der Schiedsordnung kommt eine untergeordnete Rolle zu, da für beide Parteien meist kein Vor- oder Nachteil auf der Hand liegt. Anders verhält es sich häufig mit der Wahl des Schiedsortes (vgl. hierzu Rz. 1.169).
1.171
Das Verfahren vor den Schiedsgerichten endet in der Mehrzahl der Fälle mit einem Vergleich. Schiedsgerichte bewirken durch die Andeutung oder Kundgabe ihrer vorläufigen Rechtsmeinung oft Wunder, was die Vergleichsbereitschaft der Parteien angeht. Während bei den ordentlichen Gerichten noch auf die zweite und auch dritte Instanz gehofft werden kann, wenn einem die in der Rechtsdiskussion geäußerte Meinung des Gerichtes nicht so recht gefällt, ist das Schiedsgericht erste und letzte Instanz. Ordentliche Gerichte können Entscheidungen der Schiedsgerichte nur im Hinblick auf formelle Mängel und die Einhaltung bestimmter rechtsstaatlicher Grundsätze überprüfen. Das erhöht die Bereitschaft der Parteien zur Einigung. Wird das Schiedsgericht dennoch zu einer Entscheidung gezwungen, ist der Wille zur Rechtsgestaltung oft größer als bei den ordentlichen Gerichten.
1.172
Das Klagepetitum bei Klagen vor dem Schiedsgericht beinhaltet selten ein Rückgängigmachen des Kaufvertrages. Wenn ein solches Ergebnis auch theoretisch möglich ist, so ist es praktisch kaum durchführbar (vgl. hierzu Rz. 9.221), wobei dies für den Käufer in der Regel ein geringeres Problem darstellt, da er schlicht den bezahlten Kaufpreis herausverlangen kann. In der Vielzahl der Fälle wird vom Käufer Freistellung oder Schadensersatz wegen der Unrichtigkeit von Garantieversprechen („Representations & Warranties“) verlangt. Die Art der Freistellungen bzw. die Berechnung des Schadensersatzes wird meist abweichend von den gesetzlichen Regelungen im Unternehmenskaufvertrag ausführlich festgeschrieben (vgl. hierzu Rz. 9.249 ff.).
1.173
92 Vgl. hierzu im Detail Wolff, The New York Convention: A Commentary, 2012; Born, International Commercial Arbitration, Volume I, 2. Aufl. 2014, S. 98 ff. 93 Vgl. BGBl. II 1965, 102. 94 Dörig, Anerkennung und Vollstreckung US-Amerikanischer Entscheidungen, 1998, S. 25.
Rempp
57
Kapitel 2 Integrationsmanagement Fabian Billing und Max Flötotto1
Überblick A. M&A als wichtiger Wachstumstreiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1
I. Einfluss von M&A auf den Unternehmenserfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3
II. Die Prozesskette des Unternehmenskaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.10
III. Erfolgsfaktoren für M&A . . . . . . . . .
2.14
B. Post-Merger-Integration . . . . . . . . .
2.19
I. Integrationsphasen und mögliche Hindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die vier Phasen der Post-MergerIntegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sechs Standardaufgaben der PostMerger-Integration . . . . . . . . . . . . . . 3. Zu beachtende Integrationsrisiken . . II. Integrationsarchitektur und Masterplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Akquisitionstypen und ihre Bedeutung für den Integrationsansatz . . . . 2. Zielsetzung und Elemente der Integrationsarchitektur . . . . . . . . . . . 3. Der Integrationsleiter (Leiter des IMO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Masterplan: erste große Aufgabe des IMO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.21 2.21 2.31 2.32 2.34 2.34 2.35 2.40 2.43
III. Value Capture . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Typen von Synergien . . . . . . . . . . . . . 2. Die fünf Phasen des Value-CaptureProzesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Baselining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Identifizierung von Bottom-upInitiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Implementierungsplanung . . . . . . e) Implementierungscontrolling . . . . 3. Clean Teams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Organisationsdesign und Talentmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Organisationsdesign zur Gestaltung der NewCo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Talentmanagement und RetentionMaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Kultur und Change Management . . 1. Unternehmenskultur . . . . . . . . . . . . . 2. Entwicklung eines Change-Management-Programms . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sieben Stolpersteine der kulturellen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.47 2.49 2.55 2.56 2.60 2.62 2.64 2.66 2.69 2.74 2.74 2.86 2.90 2.90 2.94 2.96
VI. Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . 2.97 1. Die fünf Phasen der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.101 2. Konzeption der Kommunikationsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.102 C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.103
Überblick M&A sind ein zentraler Wachstumshebel für viele Unternehmen. Die erfolgreichsten nutzen einen programmatischen M&A-Ansatz; sie führen eine größere Anzahl Deals durch und konzentrieren sich dabei auf einige wenige M&A-Themen, welche direkt die übergreifende Strategie unterstützen. Dabei erreichen sie Exzellenz entlang des gesamten Prozesses: in der strategischen Betrachtung und Identifikation möglicher Übernahmeziele vor der Transaktion, der Bewertung, Verhandlung und Deal-Strukturierung im Rahmen der Transaktion und natürlich in der Post-Merger-Integration.
1 Die Autoren danken ihrem Kollegen Dr. Dominic Distel, der maßgeblich an diesem Kapitel mitgearbeitet hat.
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Kap. 2 Rz. 2.1
Integrationsmanagement
Nach Abschluss der Transaktion beginnt die eigentliche Arbeit, denn Integrationen stellen das Management vor große Herausforderungen. Es gilt, die Ansprüche verschiedener Stakeholder-Gruppen unter hohem Zeitdruck zu erfüllen. Die Erfolgswahrscheinlichkeit lässt sich deutlich steigern, wenn eine Reihe von Faktoren beachtet wird. Diese lassen sich in drei Kategorien zusammenfassen: Fokus auf Wertgenerierung, gute Planung und Vorbereitung sowie rigorose Umsetzung. Unsere Erkenntnisse zum Einfluss von M&A auf den Unternehmenserfolg und die wichtigsten Erfolgsfaktoren für Integrationen fassen wir in Abschnitt A. zusammen. Die Post-Merger-Integration lässt sich in vier zeitliche Phasen unterteilen, die größtenteils durch klare Meilensteine abgegrenzt sind (z.B. Announcement, Closing). Über alle Phasen hinweg existieren eine Reihe typischer Risiken, die es im Verlauf der Integration zu beachten und zu vermeiden gilt. In Abschnitt B. werden zunächst die zeitlichen Phasen erläutert. Die restlichen Abschnitte des Kapitels widmen sich den Risiken, die wir zu fünf Schwerpunktthemen zusammengefasst haben – Integrationsarchitektur und Masterplan, Value Capture, Organisationsdesign und Talentmanagement, Kultur und Change Management sowie Kommunikation. Jedes Thema veranschaulichen wir durch zentrale Erkenntnisse aus unserer operativen Erfahrung im Integrationsmanagement.
A. M&A als wichtiger Wachstumstreiber 2.1 M&A sind ein wichtiger Wachstumstreiber: Unternehmen, die regelmäßig Transaktionen tätigen, sind im Durchschnitt erfolgreicher als Wettbewerber ohne rege M&A-Aktivität. Dabei geht es nicht nur um die Übernahme anderer Unternehmen; auch Joint Ventures oder gezielte Veräußerungen von Unternehmensteilen können Wert schaffen. Abschnitt A. I. (Rz. 2.3 ff.) dieses Kapitels präsentiert die Ergebnisse einer umfangreichen empirischen Untersuchung zu diesem Thema.
2.2 Transaktionen folgen üblicherweise einem etablierten Prozess. Die Prozesskette reicht dabei von der Klärung strategischer Ziele über die eigentliche Transaktion bis hin zur Integration und dem sich anschließenden Übergang zum Tagesgeschäft. Unternehmen können aktiv zum Gelingen des Transaktionsprozesses beitragen, indem sie eine Reihe von Erfolgsfaktoren berücksichtigen. Abschnitt A. II. (Rz. 2.10 ff.) des vorliegenden Kapitels beschreibt diese Erfolgsfaktoren.
I. Einfluss von M&A auf den Unternehmenserfolg 2.3 Auf Dauer erfolgreich zu sein ist eine Herausforderung, die längst nicht alle Unternehmen meistern. Nehmen wir als Beispiel die 1.000 Unternehmen mit der größten Marktkapitalisierung aus dem Jahr 20042: Zehn Jahre später spielten lediglich 56 % dieser Unternehmen noch in derselben Liga. Wirft man einen Blick auf jene 440 Unternehmen, die in dieser Zeit aus dem Ranking verschwunden sind, stellt man fest: 264 sind in Konkurs gegangen oder selbst Gegenstand einer Übernahme geworden und weitere 176 sind auf Grund geringeren Wachstums aus den Top 1.000 herausgefallen.
2 McKinsey Global M&A 1000 Database.
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A. M&A als wichtiger Wachstumstreiber
Rz. 2.8 Kap. 2
Was aber unterscheidet erfolgreiche von weniger erfolgreichen Unternehmen? Ein essenzieller Bestandteil des Wachstums von erfolgreichen Unternehmen ist der Kauf von anderen Unternehmensteilen und ganzen Unternehmen. Auch der Verkauf von Unternehmensteilen kann die Allokation des eingesetzten Kapitals verbessern und somit Wert schaffen. Die Unternehmen unter den erwähnten Top 1.000 tätigten zwischen 2004 und 2014 ca. 15.800 Übernahmen mit einem Gesamttransaktionsvolumen von rund 5,2 Billionen US-Dollar.
2.4
Eine nähere Betrachtung der Top 1.000 Unternehmen im Hinblick auf ihr Akquisitionsverhalten offenbart einen starken positiven Effekt dieses Verhaltens. Wir unterscheiden vier Archetypen, und zwar programmatische M&A, selektive M&A, „große Deals“ und organisches Wachstum:
2.5
– Bei einem programmatischen Programm tätigt ein Unternehmen mehr als zwei mittelgroße Übernahmen im Jahr. In diese Kategorie fallen 30 % der führenden 1.000 Unternehmen. – In einem selektiven Programm erfolgen bis zu zwei Deals pro Jahr. Die Größe der Transaktionen kann dabei stark variieren. Dies trifft auf 43 % der Top 1.000 Unternehmen zu. – In einem auf „große Deals“ fokussierten Programm kommt es zu mindestens einem transformatorischen Deal, der mehr als 30 % des Marktwertes des kaufenden Unternehmens beträgt. In diese Kategorie fallen 13 % der Top 1.000 Unternehmen. – Bei rein organischem Wachstum führt ein Unternehmen höchstens einen Deal pro Jahr durch. Dessen Volumen entspricht weniger als 2 % des Marktwertes des kaufenden Unternehmens. Diese Strategie verfolgen 13 % der Top 1.000 Unternehmen. Unternehmen, die programmatisch M&A betreiben, gelingt es deutlich besser, ihren Platz in der Gruppe der langfristig erfolgreichen Player zu verteidigen. Unternehmen, die rein organisch wachsen bzw. ein nur selektives Akquisitionsprogramm betreiben, fallen mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit aus der Gruppe der Top 1.000 heraus. Beide Trends treten noch deutlicher zutage, wenn man sich auf die Top 250 bzw. Top 100 Unternehmen konzentriert. Hier zeigt sich ein klarer Zusammenhang zwischen langfristig erfolgreichen Top-Unternehmen und einem programmatischen M&A-Programm. In Abbildung 1 wird dieser Zusammenhang deutlich.
2.6
Typische Vertreter eines programmatischen M&A-Programms sind IBM, Siemens oder Da- 2.7 naher. IBM beispielsweise hat durch eine große Anzahl an M&A-Transaktionen den Schritt aus dem Hardware-Geschäft hin zu Software und Services geschafft und damit deutlich höhere Margen erreicht. Zu den raren, rein organisch wachsenden und dennoch erfolgreichen Unternehmen gehörten im betrachteten Zeitraum McDonald’s und China Mobile (s. Abbildung 1, S. 62). Auch innerhalb der Gruppe von Unternehmen, die programmatisch M&A betreiben, ergibt 2.8 sich ein klares Bild: Unternehmen, die aktiver M&A betreiben, erzielen im Mittel eine höhere Rendite. So betrug der Total Return to Shareholders (TRS) von Unternehmen mit mehr als fünf Transaktionen pro Jahr durchschnittlich 0,8 Prozentpunkte mehr als bei Unternehmen mit drei bis fünf Transaktionen pro Jahr. Zudem vernichten Unternehmen mit reger Akquisitionsaktivität Unternehmenswert mit geringerer Wahrscheinlichkeit.
Billing/Flötotto 61
Kap. 2 Rz. 2.9
Integrationsmanagement
in Prozent; Betrachtungszeitraum 2004–2014 560
100% Programmatisch
145
53
17 35 58 74 53
Selektiv
40 26
11
Große Deals
15
14 19
Organisch
Aus Top 1.000 verschwunden
11 In Top 1.000 gehalten
12 3
9 2
In Top 250 gehalten
In Top 100 gehalten
Abb. 1: Verteilung der Top 1.000 Unternehmen je Akquisitionstyp Quelle: CPAT; Dealogic; Deal Patterns 2014; McKinsey Global M&A 1000 Database
2.9 Die Art und Weise, wie diese Akquisitionen während des Transaktions- und Integrationsprozesses gesteuert werden, hat einen signifikanten Einfluss darauf, ob die Unternehmen langfristig erfolgreich sind. Ein gut strukturierter Prozess für Akquisitionsaktivitäten ist für den Unternehmenserfolg deshalb von zentraler Bedeutung. Das nächste Kapitel beschreibt zu diesem Aspekt eine Auswahl wichtiger Best Practices.
II. Die Prozesskette des Unternehmenskaufs 2.10 Um ein M&A-Programm erfolgreich zu betreiben, muss ein Unternehmen die gesamte Prozesskette der Akquisition beherrschen. Diese geht weit über die Due Diligence und die Abwicklung der Transaktion hinaus. Der übergreifende Prozess ist in Abbildung 2 illustrativ dargestellt; er gliedert sich in die drei großen Etappen „Zeit vor der Transaktion“, „Iterativer Bewertungsprozess“ und „Post-Merger-Integration“:
2.11 Zeit vor der Transaktion – A Unternehmensstrategie. Eine gewissenhafte Vorbereitung und Planung sämtlicher M&A-Vorhaben ist für erfolgreiche Transaktionen unabdingbar. Eine klare Unternehmensstrategie bildet das notwendige Fundament, auf dem die Transaktionsstrategie aufsetzen kann.
62
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A. M&A als wichtiger Wachstumstreiber
Rz. 2.13 Kap. 2
– B Transaktionsstrategie. Im Rahmen der Transaktionsstrategie werden Geschäftsbereiche identifiziert, die für Zukäufe oder Veräußerungen in Frage kommen. Außerdem werden Randbedingungen für Akquisitionen, Joint Ventures und Veräußerungen definiert. – C Identifikation und Bewertung. Aus der Strategie leiten sich Kriterien ab, nach denen ein Screening des Marktes und eine Evaluierung möglicher Übernahmekandidaten – eine Long List – erfolgen kann. Anhand von im Vorfeld definierten Kriterien wird dann eine Short List generiert.
2.12
Iterativer Bewertungsprozess – 1 Bewertung und Synergien. Die wenigen verbleibenden Kandidaten werden anschließend im Rahmen eines iterativen Prozesses aus Bewertung und detaillierter Due Diligence evaluiert. Für die Bewertung ist die Wertgenerierung sowohl aus der Optimierung des Übernahmeobjekts („stand-alone“), als auch aus Integrationssynergien zu betrachten. – 2 Due Diligence. Die Analyse des potentiellen Übernahmekandidaten in der Due Diligence (DD) basiert in einem ersten Schritt auf öffentlich zugänglichen Informationen („outside-in“) über Marktposition, Wettbewerber und Chancen bzw. Risiken. – 3 Verhandlung. Führt die outside-in Due Diligence zu einer positiven Einschätzung, wird mit dem Shareholder des Zielunternehmens Kontakt aufgenommen. Dies eröffnet die Möglichkeit, im rechtlich möglichen Rahmen unter Zugang zu Unternehmensdaten die Due Diligence zu verfeinern, verbleibende Risiken abzuschätzen und einen möglichen Kaufpreis zu bestimmen. – 4 Strukturierung. Im letzten Schritt werden die Verpflichtungen der Vertragsparteien im Detail ausgearbeitet und der Kaufpreis festgeschrieben.
2.13
Post-Merger-Integration – D Vorbereitung der Integration. Nach der Einigung auf die Transaktion beginnt der Prozess der Post-Merger-Integration. Bei börsennotierten Unternehmen ist im Nachgang der Transaktion und vor dem Closing noch eine Aktionärsversammlung einzuberufen, die der Übernahme zustimmen muss. Eine weitere Voraussetzung ist die Zustimmung der relevanten Regulatoren in den Märkten, in denen die Unternehmen tätig sind. Dies kann eine Transaktion verzögern oder mit schwerwiegenden Auflagen versehen. Daran kann eine Transaktion durchaus scheitern. – E Planung der Integration. Vor Beginn der Integrationsphase müssen die organisatorischen und personellen Voraussetzungen – die sog. Integrationsarchitektur – für eine erfolgreiche Durchführung geschaffen werden. Es ist festzulegen, wie die Integration erfolgen soll, wer sie verantwortet und bis wann welche Meilensteine erreicht werden sollen. – F Durchführung der Integration. Den vorletzten Schritt bildet die operative Integration. In der Phase zwischen Ankündigung (Signing) und Closing müssen sämtliche Design-Entscheidungen für die Zusammenführung getroffen werden und der Day 1 (operativer Start als gemeinsames Unternehmen) vorbereitet werden. Häufig werden auch nach Day 1 große Meilensteine definiert, beispielsweise ein Day 100. Bis zu diesem Stichtag werden typischerweise die wichtigsten Integrationsschritte abgeschlossen und häufig wird bereits ein Großteil der Synergien realisiert.
Billing/Flötotto 63
Kap. 2 Rz. 2.14
Integrationsmanagement
– G Übergang zum Tagesgeschäft. An die Phase der Integration schließt sich dann der Übergang zum normalen Geschäft an, bei dem sich die Linienorganisation um die letzten Integrationsschritte kümmert.
Vor Transaktion
Post-Merger-Integration 1
A
B
2 D
C 4
A Unternehmensstrategie B Transaktionsstrategie (M&A, JV, Veräußerung) C Identifikation und Bewertung
E
F
G
3
1 Bewertung und Synergien 2 Due Diligence 3 Verhandlung 4 Strukturierung
D E F G
Vorbereitung der Integration Planung der Integration Durchführung der Integration Übergang zum Tagesgeschäft
Abb. 2: Prozesskette des gesamten M&A-Programms
III. Erfolgsfaktoren für M&A 2.14 Die Integration stellt das Management vor große Herausforderungen. Die Erfolgswahrscheinlichkeit der Post-Merger-Integration kann erhöht werden, indem eine Reihe von Faktoren beachtet werden. Diese lassen sich in drei Kategorien zusammenfassen, dem Fokus auf Wertgenerierung, einer guten Planung und Vorbereitung sowie einer rigorosen Umsetzung.
2.15 Fokus auf Wertgenerierung – Transaktionslogik in der Integrationsarchitektur berücksichtigen. Die Transaktionslogik beschreibt die zu verfolgenden strategischen Ziele. Die Projektorganisation der Integration muss so definiert werden, dass diese Ziele realisiert werden können. Beispielsweise erfordert eine geografische Expansion eine andere Architektur als die Integration zweier Unternehmen mit starken Überlappungen im Produktangebot und einem Fokus auf Kosteneinsparungen. Die passende Architektur hilft dem Integrationsteam, die richtigen Prioritäten zu setzen. – Synergien aus der Due Diligence übertreffen. Synergieberechnungen in der Due-Diligence-Phase werden größtenteils outside-in durchgeführt. Sobald aber die Teams von beiden Seiten miteinander arbeiten, werden häufig weitere Potentiale identifiziert. Deshalb sollte man für die Integrationsteams durchaus höhere Ziele definieren, als für die Realisierung der Due-Diligence-Ziele notwendig wären. – Geschäft selektiv transformieren. Eine Integration impliziert oftmals nicht nur die Verbesserung der Performance des gekauften Unternehmens. Sie eröffnet auch die Chance, das Operating Model des gemeinsamen Unternehmens neu zu definieren. Die gewonnene Größe erlaubt es z.B. häufig, Prozesse völlig anders zu gestalten. Nach diesen Chancen sollte aktiv gesucht werden, denn dadurch wird eine Transformation zu stärkerer Leistungskraft möglich.
64
Billing/Flötotto
A. M&A als wichtiger Wachstumstreiber
Rz. 2.18 Kap. 2
– Laufendes Geschäft sichern. Eine Integration bindet viel Managementkapazität. So gerät das Tagesgeschäft gegenüber den Integrationsbemühungen teilweise in den Hintergrund, was zu Performance-Problemen führen kann. Diesem Risiko ist aktiv entgegenzuwirken.
2.16
Gute Planung und Vorbereitung – Umfassenden und maßgeschneiderten Integrationsansatz definieren. Zu Beginn der Integration stehen einige fundamentale Designentscheidungen an. Beispielsweise müssen die Rolle des Integrationsleiters, der Zeitrahmen für die Integration und die Ambition bzgl. zu realisierender Synergien festgelegt werden. Sobald diese Entscheidungen getroffen wurden, sind sie konsequent und konsistent umzusetzen. – Wertgenerierendes Integration Management Office etablieren. Das Integration Management Office muss mehr sein als ein prozesskoordinierendes PMO. Es muss die funktionalen Teilprojekte inhaltlich hinterfragen, Abhängigkeiten aufzeigen, die Lösung der Teilprojekte vorantreiben und die Qualität der Einlieferungen in das Integration Steering Committee sicherstellen. Die Auswahl der Projektmitglieder im IMO ist ein Signal an die Organisation, welch hohe Bedeutung das Integrationsprojekt besitzt. – Bedeutung von Kultur nicht unterschätzen. Die Zusammenführung der Unternehmenskulturen zählt zu den größten Herausforderungen in einer Integration. Es empfiehlt sich, Gemeinsamkeiten und Unterschiede möglichst faktenbasiert und quantitativ herauszuarbeiten. Auf dieser Basis kann dann die kulturelle Ausrichtung des gemeinsamen Unternehmens definiert werden. – Kernentscheidungen schnell treffen. Bei einer Unternehmensübernahme herrscht viel Unsicherheit in beiden Organisationen. Diese kann reduziert werden, indem Kernentscheidungen (z.B. in Bezug auf die Organisationsstruktur) relativ schnell getroffen und kommuniziert werden.
2.17
Rigorose Umsetzung – Day 1 fokussiert halten. Der Day 1 muss ein Erfolg werden und sicherstellen, dass die gemeinsamen Prozesse wie geplant ablaufen. Deshalb hilft es, den Day 1 fokussiert zu halten und auf die für das operative Geschäft absolut notwendigen Elemente zu beschränken. – Fortschritt systematisch messen. Der Fortschritt der Integration muss kontinuierlich und systematisch gemessen werden. Dies gilt für Aktivitäten und Meilensteine, aber auch für operative und später finanzielle Kennzahlen. – Kommunikation nicht unterschätzen. Die Bedeutung der Kommunikation und deren notwendige Intensität werden oft unterschätzt. Kommunikation hilft dabei, Unsicherheit in der Organisation zu reduzieren. Selbst wenn noch nicht über Entscheidungen berichtet werden kann, verleiht Kommunikation über den Prozess der Organisation Stabilität. – Fähigkeiten aufbauen für zukünftige Deals. Es ist davon auszugehen, dass das Unternehmen auch zukünftig Akquisitionen realisieren wird. Deshalb ist es sinnvoll, im Rahmen der gegenwärtigen Integration systematisch Fähigkeiten für zukünftige Integrationen aufzubauen. Die übrigen Teile dieses Kapitels widmen sich im Detail der Post-Merger-Integration. Eine umfassende Befragung von integrationserfahrenen Managern ergab, dass der Erfolg von Akquisitionen essenziell von der Qualität der Integrationsarbeit abhängt. Bei Transaktionen, die am Ende die Erwartungen nicht erfüllten, war in lediglich ca. 30 % der Fälle der Deal an sich Billing/Flötotto 65
2.18
Kap. 2 Rz. 2.19
Integrationsmanagement
die Ursache.3 In rund 70 % der Fälle nannten die befragten Manager hingegen die Ausführung der Integration als Grund für den unbefriedigenden Ausgang.
B. Post-Merger-Integration 2.19 Im vorangegangenen Abschnitt (Rz. 2.4 ff.) wurde deutlich, dass M&A-Aktivitäten eine besondere Bedeutung für den Erfolg von Unternehmen zukommt. Dies gilt insbesondere für die Integrationsarbeit nach Abschluss des Deals. Abschnitt B. I. (Rz. 2.21 ff.) enthält eine Gliederung der Post-Merger-Integration sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Dimension und benennt die größten Risiken, die es zu beachten und zu vermeiden gilt. Die darauffolgenden Abschnitte B. II. – B. VI. (Rz. 2.34 ff.) behandeln die Aufgaben, die im Rahmen dieses Prozesses typischerweise bearbeitet werden.
2.20 Die Aktivitäten in einer Post-Merger-Integration lassen sich in vier Phasen strukturieren, die jeweils unterschiedliche Aufgaben erfüllen und mit spezifischen Herausforderungen verknüpft sind. Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick.
I. Integrationsphasen und mögliche Hindernisse 1. Die vier Phasen der Post-Merger-Integration
2.21 Eine Post-Merger-Integration gliedert sich in vier Phasen (vgl. Abbildung 3): 2.22 Phase 0 – Vorbereitung der Integration. Zum Auftakt werden zunächst die Grundvoraussetzungen geschaffen, um die Integration durchzuführen. Dies geschieht idealerweise schon vor dem „Signing“ bzw. der Ankündigung, um direkt im Anschluss an das Signing keine Zeit zu verlieren. Der wichtigste Schritt ist hierbei die Definition der Integrationsarchitektur, basierend auf dem Ziel der Übernahme. Hieraus resultieren eine an das Unternehmen angepasste Festlegung der Teilprojekte (z.B. Value Capture, Organisationsdesign, Kultur), des Integration Management Office (IMO) und der übergeordneten Kontrollgremien sowie die Nominierung von Managern, die in den Kontrollgremien vertreten sein sollen.
2.23 Das neu aufgestellte Team übernimmt die abschließende Bewertung aus der Due-DiligencePhase vom M&A-Team und leitet hierauf aufbauend Synergiepotentiale für die einzelnen Teilprojekte ab. In dieser Phase wird auch eine erste Version des Integrationsplans erstellt. Zudem werden die wichtigsten Meilensteine definiert.
2.24 Zuletzt beginnt das neu geschaffene IMO-Team mit der Vorbereitung der Aktivitäten rund um das Signing. Diese umfassen die Vorbereitung der Launch-Kommunikation, die Planung des Kick-off-Workshops und die Nominierung von Leitern der einzelnen Teilprojekte; deren Aufgabe ist es, die einzelnen Geschäftsfunktionen der Unternehmen (z.B. R&D, Vertrieb) zu integrieren.
2.25 Phase 0 endet mit der formellen Unterzeichnung des Letter of Intent (Signing), in dessen Rahmen dem Markt die Übernahmeabsicht offiziell verkündet wird.
3 McKinsey/Conference Board Merger Integration Conference.
66
Billing/Flötotto
B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.30 Kap. 2
Phase 1 – Planung der Integration. Das IMO koordiniert und leitet alle Teilprojekt-über- 2.26 greifenden Prozesse und erarbeitet basierend auf den wichtigsten Meilensteinen einen Masterplan für die Gesamtintegration, in dem sämtliche inhaltlichen Schritte und deren logische Verkettung abgebildet sind. Die einzelnen funktionalen Teilprojekte verfolgen im Prinzip drei Aufgaben: die Vorbereitung des Day 1, die Erarbeitung der Organisationsstruktur für die jeweilige Funktion und die Definition von Synergiemaßnahmen in dem jeweiligen Bereich. Darüber hinaus werden bereits jetzt die wichtigsten Entscheidungen gefällt, z.B. zur Besetzung der obersten Ebenen des Managements, zur zukünftigen Ausrichtung und Struktur und zum Operating Model des Unternehmens. Dies reduziert die Unsicherheit und gibt den Teilprojekten einen Rahmen vor, innerhalb dessen sie die Details der Integration planen können, ohne in Konflikt mit übergreifenden strategischen Zielen zu geraten.
2.27
In dieser Phase arbeiten die beiden Unternehmen operativ getrennt. Das kaufende Unternehmen nimmt also keinen operativen Einfluss auf das Tagesgeschäft im anderen Unternehmen. Parallel dazu wird die Genehmigung der relevanten Regulatoren eingeholt, eine der Voraussetzungen für das Closing. Sobald die Planung der Integration abgeschlossen ist und die Wettbewerbsbehörden den Zusammenschluss (unter akzeptablen Auflagen) genehmigt haben, wird die Übernahme vollzogen. Dieser Tag bildet den Day 1 (auch Closing) für das gemeinsame Unternehmen.
2.28
Phase 2 – Durchführung der Integration. Nach dem Wegfall wichtiger rechtlicher Limitie- 2.29 rungen mit dem Closing beginnt die eigentliche Integration. So werden nach dem Zusammenschluss sukzessive die neuen, einheitlichen Prozesse in beiden Unternehmen eingeführt. Die neue, bereits in Phase 1 auf den obersten Ebenen detaillierte Zielorganisation wird umgesetzt. Hierzu gehört die Überführung der Mitarbeiter in ihre Zielfunktionen und eine frühzeitige Kommunikation hinsichtlich möglicher Reduktionen der Mitarbeiterzahl. Zudem beginnen die Teilprojekte mit der Realisierung der Synergien und berichten ihren Fortschritt an das zentrale Value-Capture-Teilprojekt im IMO. Phase 3 – Übergang zum Tagesgeschäft. Sobald die wichtigsten (übernahmespezifischen) Meilensteine erreicht wurden, beginnt der Weg in den Alltag. Diese Phase ist gekennzeichnet von der sukzessiven Übergabe der Tätigkeiten des IMO und der Teilprojekte an die Linienorganisation. Die Linienorganisation hebt die verbleibenden Synergien, zudem detailliert und harmonisiert sie die verbleibenden Prozesse. Der langfristige Prozess der kulturellen Harmonisierung wird parallel weiter vorangetrieben. Phase 0
Phase 1
Vorbereitung der Integration
Phase 2
Planung der Integration
Ankündigung (Signing)
Phase 3
Durchführung der Integration
GenehmiDay 1 gung der (Closing) Wettbewerbsbehörden
Übergang zum Tagesgeschäft
Hauptmeilensteine erreicht
Abb. 3: Prozessschritte und zentrale Meilensteine der Post-Merger-Integration
Billing/Flötotto 67
2.30
Kap. 2 Rz. 2.31
Integrationsmanagement
2. Sechs Standardaufgaben der Post-Merger-Integration
2.31 Im Rahmen einer Post-Merger-Integration sind typischerweise fünf Themen zu bearbeiten. Abbildung 4 gibt eine Überblick über diese Themen, die in den restlichen Abschnitten dieses Kapitels detailliert behandelt werden.
Vorbereitung der Integration
Durchführung der Integration
Übergang zum Tagesgeschäft
Integrationsarchitektur und Masterplan
1 2
Planung der Integration
Value Capture (inkl. Clean Teams) Organisationsdesign und Talentmanagement
3 4
Unternehmenskultur und Change Management
5
Kommunikation Genehmigung durch Wettbewerbsbehörden
Closing
Abb. 4: Übersicht über die Prozessschritte und wichtigsten Ereignisse der Post-Merger-Integration
– Die Entwicklung der Integrationsarchitektur und des Masterplans ist eine der ersten Aufgaben der Integration. Verschiedene Deal-Typen haben dabei durchaus unterschiedliche Implikationen auf den Integrationsansatz. Das Integration Management Office wird von einem Integrationsleiter geführt, der die Verantwortung für die operative Umsetzung der Integration trägt. Der Masterplan bildet eines der zentralen Steuerungselemente für die Integration bis zur Übergabe an die Linienorganisation (Rz. 2.34 ff.). – Value Capture beschäftigt sich mit den Synergiepotentialen, die es auf die einzelnen Teilprojekte aufzuteilen, zu detaillieren und zu realisieren gilt. Bei der Identifikation von Synergiepotentialen kommt sog. Clean Teams eine besondere Rolle zu (Rz. 2.47 ff.). – Die Definition der Organisationstruktur ist eine der zentralen Integrationsaufgaben, die möglichst früh zu starten ist. Auch das Talentmangement (z.B. Retention-Maßnahmen) hat eine sehr hohe Bedeutung und muss sicherstellen, dass dem Unternehmen kritische Fähigkeiten erhalten bleiben (Rz. 2.74 ff.). – Die Diagnose von Unterschieden in der Unternehmenskultur beginnt idealerweise bereits im Rahmen der Due Diligence, da sie signifikante Implikationen für die Integration birgt. Die Bedeutung dieses Faktors wird häufig unterschätzt. Das daraus abgeleitete Change Management erstreckt sich über die gesamte Integration und wird wegen des langfristigen 68
Billing/Flötotto
B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.32 Kap. 2
Charakters auch nach Übergabe des IMO an die Linienorganisation weitergeführt (Rz. 2.90 ff.). – Kommunikation ist ein häufig unterschätzter Bereich im Rahmen von M&A-Transaktionen. Neun Kernelemente einer robusten Kommunikationsstrategie sowie eine angemessene Intensität der Kommunikation im Verlauf des Integrationsprozesses gilt es zu berücksichtigen. Die Kommunikation zur M&A-Aktivität dauert bis nach dem Übergang zum Tagesgeschäft an (Rz. 2.97 ff.). – Die Vorbereitung und Begleitung der Genehmigung durch die Wettbewerbsbehörden beginnt ebenfalls bereits im Rahmen der Due Diligence. Diese Aufgabe ist jedoch nicht Gegenstand dieses Kapitels. 3. Zu beachtende Integrationsrisiken Integrationen sind komplex: Sie erfordern die Koordination vieler Mitarbeiter in Teilprojekten, zwischen denen häufig erhebliche Abhängigkeiten bestehen. Die Arbeit geschieht unter Zeitdruck und in einem Umfeld sehr hoher Erwartungen an Synergien. Zugleich gilt es, die Unsicherheit von Kunden und Mitarbeitern zu reduzieren. Bei alldem muss eine Reihe von Risiken proaktiv gemanagt und mitigiert werden: – Ablenkung vom Tagesgeschäft. Die Integration lenkt Schlüsselmitarbeiter vom Tagesgeschäft ab. Laufende Prozesse werden dadurch ebenso gestört wie die Abwicklung laufender Geschäfte mit Kunden. Dies muss in der Definition der Integrationsarchitektur berücksichtigt werden. – Projektressourcen und Datenzugang. Wertvolle Zeit geht verloren, wenn Mitarbeitern die notwendige Erfahrung für die Integration fehlt oder sie keinen ausreichenden Zugang zu benötigten Daten haben. Deshalb sind rechtzeitig (intern und extern) Projektmitarbeiter mit der nötigen Kompetenz zu identifizieren. – Abhängigkeiten. Integrationen verzögern sich, wenn wechselseitige Abhängigkeiten nicht berücksichtigt wurden und kritische Entscheidungen nicht rechtzeitig getroffen werden. Das passiert in der Regel, wenn keine Transparenz über den kritischen Pfad existiert. Abhängigkeiten zwischen Teilprojekten müssen deshalb von Anfang an systematisch transparent gemacht und koordiniert werden. – Fehler an Day 1. Ein unzureichend vorbereiteter Day 1 kann zu Unzufriedenheit wichtiger Kunden, generellem Reputationsverlust oder auch zu direkten finanziellen Einbußen führen. Das Management steht in der Verantwortung, eine frühzeitige und robuste Planung des Day 1 vorzunehmen und rechtzeitig Projektmitarbeiter mit entsprechender Erfahrung zu identifizieren, die den Day 1 inhaltlich vorbereiten können. – Zu geringe Synergien. Das Synergiepotential wurde im Vorfeld überschätzt, da relevante Umsetzungshürden (z.B. kulturelle Konflikte) ignoriert, Dissynergien (z.B. Überschneidungen in der Kundenbasis) vernachlässigt oder die Reaktion von Wettbewerbern unterschätzt wurden. Diese Themen sind bereits im Rahmen der Due Diligence direkt aufzugreifen. – Verspätung von Synergien. Synergien werden verspätet erzielt, da sie nicht konsequent implementiert werden oder Umsetzungshürden in der Planung ignoriert wurden. Das IMO und der Integrationsleiter müssen die notwendige Autorität und Erfahrung besitzen, um solchen Entwicklungen von Anfang an entgegenwirken zu können. Billing/Flötotto 69
2.32
Kap. 2 Rz. 2.33
Integrationsmanagement
– Verlust von Top-Performern. Mitarbeiter mit besonders relevanten Fähigkeiten, Kundenbeziehungen oder spezifischem Wissen verlassen das Unternehmen angesichts der Unsicherheit über ihre Karriereoptionen. Eine frühzeitige Kommunikation hinsichtlich der Auswirkungen der Transformation auf individuelle Karrieren und der Einsatz gezielter Retention-Maßnahmen kann dies vermeiden. – Juristische, regulatorische oder sanktionsbedingte Risiken. Spezifische juristische, regulatorische oder sanktionsbedingte Risiken werden vom IMO nicht rechtzeitig identifiziert und entsprechend bearbeitet, weil z.B. die benötigte Kompetenz fehlt. In allen relevanten Phasen der Transaktion sollten deshalb Rechtsberater mit professioneller juristischer Erfahrung eingebunden werden.
2.33 Die beschriebenen Themen stellen erhebliche Risiken für den Erfolg einer Integration dar und sind daher gezielt im Rahmen der Post-Merger-Integration zu bearbeiten. Die folgenden Kapitel enthalten erfolgreiche Antworten aus der Praxis auf diese Risiken.
II. Integrationsarchitektur und Masterplan 1. Akquisitionstypen und ihre Bedeutung für den Integrationsansatz
2.34 Der Integrationsansatz muss auf den Kontext der beteiligten Unternehmen und den Hintergrund des Deals maßgeschneidert werden. Ein Ansatz, typische Akquisitionstypen zu strukturieren, ist in Abbildung 5 dargestellt. Hier werden zwei Kriterien angesetzt: erstens die relative Größe der Unternehmen (y-Achse) und zweitens das Maß, in dem die Akquisition zu neuen Fähigkeiten verhelfen soll (x-Achse). Im Folgenden werden beispielhaft Deal-Archetypen beschrieben: – Ähnliche Kompetenzen der beteiligten Unternehmen. Wenn das übernommene Unternehmen relativ groß ist und über ähnliche Kompetenzen wie der Käufer verfügt, ist die Reduktion von Überkapazitäten im Markt häufig primäre Motivation für die Übernahme. Diese Akquisitionen bieten oft massive Kostensynergien, wenn sich die Aktivitäten der beiden Unternehmen stark überlappen. Bei der Übernahme eines kleineren Unternehmens mit ähnlichen Kompetenzen spricht man von einem Roll-up. Er dient üblicherweise dazu, die Kosten beim akquirierten Unternehmen signifikant zu reduzieren. Hier werden häufig ein oder mehrere relativ kleine Unternehmen durch den Käufer integriert und gleichzeitig auf Seiten des übernommenen Unternehmens signifikant die Kosten reduziert. – Komplementäre Kompetenzen der beteiligten Unternehmen: Bei einer Kompetenzerweiterung und hoher Unternehmensgröße spricht man von einer Produkt- oder Marktkonsolidierung. In diesem Fall geht es oftmals um die Akquisition von komplementären Produkten oder den Zugang zu benachbarten Märkten oder Kunden. Die korrespondierende Übernahme von kleinen Unternehmen wird als Produkt- bzw. Marktakquisition bezeichnet. – Abweichende Kompetenzen der beteiligten Unternehmen: Stößt ein Unternehmen durch die Akquisition in völlig neue Kompetenzbereiche vor und akquiriert dabei ein relativ großes Unternehmen, spricht man von einer Transformation. Das zukünftige, gemeinsame Unternehmen unterscheidet sich fundamental von den bislang separat bestehenden Unternehmen. Die äquivalente Übernahme eines kleineren Unternehmens wird als Strategische Wachstumsinvestition bezeichnet und dient dem Zugang zu neuartigen Techno-
70
Billing/Flötotto
B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.35 Kap. 2
logien, die von kleineren, agileren Unternehmen entwickelt wurden und die das große Unternehmen einer breiteren Kundengruppe zur Verfügung stellen kann.
Groß
Reduktion Überkapazitäten
Produkt-/Marktkonsolidierung
Industriekonsolidierung
Relative Größe des übernommenen Unternehmens
Transformation
Unternehmenstransformation
White-SpaceAkquisition
Geografische Verbreiterung Roll-up durch überlegene Fähigkeiten
Klein
Produkt-/Marktakquisition
Roll-up Kosteneinsparungen
Produktakquisition (Tuck-in)
Cross-Selling Neue Kundenexistierender beziehungen Produkte
IP-Akquisition Strategische Wachstumsinvestition Neue Produkte
Neues Geschäftsmodell
Anteil an neu erlangten Fähigkeiten
Abb. 5: Ausgewählte Deal-Archetypen
2. Zielsetzung und Elemente der Integrationsarchitektur Aus der Art der Transaktion leitet sich die Integrationsarchitektur ab. Ihre Struktur muss drei Zielsetzungen gerecht werden: – Konsequente Wertfokussierung. Die Integrationsarchitektur muss sich auf optimale Wertgenerierung aus der Post-Merger-Integration fokussieren. Sie muss gewährleisten, dass sowohl kombinatorische als auch transformatorische Synergien realisiert werden. Darüber hinaus muss der Schutz des bestehenden Geschäfts sichergestellt werden. – Erfolgreicher Day 1. Ein erfolgreicher Day 1 ist ausschlaggebend für den Erfolg des gesamten Integrationsprogramms innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens. Die Integrationsarchitektur kann helfen, diesen Erfolg zu garantieren, indem ein geeignetes Operating Model für Day 1 konzipiert, Vorbereitungsmaßnahmen für Day 1 festgelegt, der Fortschritt der operativen Vorbereitung überwacht und Abhängigkeiten zwischen den Teilprojekten systematisch gemanagt werden. – Konsistentes Operating Model. Transparenz über das Zielbild des Operating Model ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration. Das bedeutet, dass Struktur, Prozesse und Governance festgelegt werden müssen. Außerdem muss die Zusammenführung der beiden Unternehmenskulturen geplant werden.
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2.35
Kap. 2 Rz. 2.36
Integrationsmanagement
2.36 Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, weist die Integrationsarchitektur typischerweise drei organisatorische Elemente auf.
2.37 Integration Steering Committee. Das Steering Committee (s. hierzu auch Rz. 1.108 ff.) stellt durch wichtige strategische Entscheidungen die Weichen für eine erfolgreiche Integration. Zudem kontrolliert es den Fortschritt der operativen Umsetzung. Das Gremium setzt sich aus erfahrenen Führungskräften der relevanten organisatorischen Einheiten zusammen, die für die Gestaltung und Führung des gemeinsamen Unternehmens verantwortlich sind. Die Zusammensetzung des Steering Committee kann sich im Verlauf der Integrationsphasen ändern. So besteht es zu Beginn häufig lediglich aus Vertretern des kaufenden Unternehmens. In den späteren Phasen werden oft Vertreter des gekauften Unternehmens involviert, die auch meist zum zukünftigen Managementteam gehören. Der Masterplan ist der Leitfaden des Steering Committee – sowohl hinsichtlich strategischer Entscheidungen als auch der kontinuierlichen Kontrolle des Fortschritts in den Teilprojekten. Schließlich genehmigt es die für die Integration erforderlichen Budgets und Ressourcen.
2.38 Integration Management Office (IMO). Das IMO besteht aus dem Integrationsleiter sowie den Mitarbeitern, die für die sechs funktionsübergreifenden Teilprojekte verantwortlich sind. Das IMO definiert den Taktschlag der Integration, steuert die funktionalen Teilprojekte, managt die Abhängigkeiten zwischen den Teilprojekten und sichert die Qualität der Einlieferungen, die dem Steering Committee für Entscheidungen vorgelegt werden. Abbildung 6 zeigt die Zusammensetzung des IMO illustrativ.
Integration Steering Committee
Integrationsleiter
Masterplan
Value Capture
Unternehmenskultur und Change Management
Operative Integrationsteams (Regional oder je Bereich)
Organisationsdesign und Talentmanagement
Kommunikation
Funktionale Integrationsteams
Abb. 6: Typische Struktur des Integration Management Office (IMO)
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B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.41 Kap. 2
Operative und funktionale Integrationsteams (Teilprojekte). Meist sind die Teilprojekte 2.39 entsprechend der aktuellen oder der zukünftigen Organisationstruktur aufgestellt. Bei einer funktionalen Organisationsstruktur kann es beispielsweise Teilprojekte für Forschung & Entwicklung, Einkauf, Produktion, Supply Chain, Marketing, Vertrieb, Finanzen und Personal geben. Bei einer regionalen Organisationstruktur hingegen gibt es beispielsweise Teilprojekte wie EMEA, Americas, APAC etc. Die einzelnen funktionalen Teilprojekte verfolgen dabei im Prinzip drei Aufgaben: die Vorbereitung des Day 1 für die jeweilige Funktion, die Erarbeitung der Organisationsstruktur für die jeweilige Funktion und die Definition von Synergiemaßnahmen im jeweiligen Bereich. Die Teilprojekte haben typischerweise einen Executive Sponsor – häufig die Person, die auch zukünftig für diesen Bereich verantwortlich sein wird. Dadurch wird Konsistenz in der Integrationsplanung und -implementierung sichergestellt und langfristige Orientierung gewährt. Ein operativer Projektleiter leitet das Integrationsprojekt als rechte Hand des Sponsors. 3. Der Integrationsleiter (Leiter des IMO) Die Auswahl der richtigen Führungskräfte und Mitarbeiter für ein M&A-Programm trägt entscheidend zum Gelingen einer Integration bei. Insbesondere der Integrationsleiter übernimmt eine sehr zentrale Rolle; er gestaltet maßgeblich das Operating Model des gemeinsamen Unternehmens. Zudem ist er für die Realisierung von Synergien verantwortlich. Damit nimmt er direkten Einfluss auf die erwartete Steigerung des Unternehmenswertes. Mit der Nominierung des Integrationsleiters kann der CEO ein klares Signal setzen. Wird ein erfahrener und erfolgreicher Manager für diese Rolle nominiert, versteht die Organisation, dass das Integrationsprojekt für das Unternehmen höchste Priorität hat.
2.40
Um seiner Aufgabe gerecht zu werden, sollte der Integrationsleiter ein bestimmtes Erfahrungs- und Persönlichkeitsprofil mitbringen und insbesondere auf folgenden Gebieten Kompetenz besitzen:
2.41
– Generalist. Der Integrationsleiter muss die Fähigkeit haben, das Gesamtunternehmen im Blick zu behalten. Er muss über profunde Kenntnisse der Industrie, der zentralen Prozesse im Unternehmen und der wichtigsten Hebel zur Wertschöpfung verfügen. Von Belang ist dabei weniger spezifische funktionale Expertise als die Fähigkeit, das Gesamtunternehmen für die Zukunft zu gestalten zu können. – Mitarbeiterführung. Typischerweise ist eine Integration für die beteiligten Mitarbeiter eine sehr intensive Zeit und oft mit sehr hoher Arbeitsbelastung verbunden. Es besteht ein hoher Erfolgsdruck, die Transaktion gegenüber Shareholdern und Öffentlichkeit mit der Hebung von Synergien und der Steigerung des Unternehmenswertes zu rechtfertigen. Darüber hinaus kann es insbesondere zwischen den Mitarbeitern der beiden Ursprungsunternehmen auch zu erheblichen zwischenmenschlichen Spannungen kommen. Insofern muss der Integrationsleiter erfahren in der Mitarbeiterführung sein, um in dieser intensiven Zeit das Integrationsteam effektiv zu steuern. – Fokus auf Wertgenerierung. Der Integrationsleiter hat die Integrationsaktivitäten kontinuierlich auf die Steigerung des Unternehmenswertes auszurichten. Er muss in der Lage sein zu beurteilen, ob das Ambitionsniveau anspruchsvoll genug ist. Dabei hilft ein quantitatives Profil, das erlaubt, Zahlen schnell hinterfragen zu können. In diesem Zusammenhang muss der Integrationsleiter eng mit dem Finanzbereich zusammenarbeiten.
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Kap. 2 Rz. 2.42
Integrationsmanagement
– Management der Integrations-Governance. Der Integrationsleiter muss in der Lage sein, die Integration effektiv zu managen. Dazu gehört, das Alignment der relevanten Stakeholder im Unternehmen sicherzustellen, Entscheidungen des Steering Committee effektiv vorzubereiten und Entscheidungen rigoros in die Umsetzung zu bringen. Dabei benötigt der Integrationsleiter ein gutes Gespür dafür, welche Entscheidungen er selber treffen kann und welche Entscheidungen dem Steering Committee vorgelegt werden müssen. – Netzwerker und Schlichter. Der Integrationsleiter interagiert mit einer Vielzahl von Stakeholdern. Er muss häufig unbequeme Entscheidungen kommunizieren und umsetzen sowie Konflikte schlichten. Dabei hilft ein weit verzweigtes Netzwerk in der Organisation. Der Integrationsleiter muss die Fähigkeit besitzen, divergierende Meinungen systematisch, fair und transparent zu evaluieren und zu einer Entscheidung zu bringen. – Programmmanagement. Der Integrationsleiter muss ein exzellenter Prozessmanager sein. Eine Integration ist extrem komplex und besteht aus Tausenden von Aktivitäten. Viele dieser Aktivitäten sind voneinander abhängig. Der Integrationsleiter muss einen guten Überblick über die zu erreichenden Meilensteine haben, intervenieren, wenn es zu Verzögerungen kommt, und konstruktiv das gesamte Integrationsprojekt „vor sich hertreiben“.
2.42 Es gibt grundsätzlich zwei Typen von Integrationsleitern: – Typ 1 – Sehr erfahren und gut vernetzt im Unternehmen: Für diese Kandidaten ist die Rolle als Integrationsleiter häufig eine Chance auf den Sprung in den Vorstand oder die Geschäftsführung. Ein anderer Ansatz – etwas unkonventioneller, aber durchaus nicht unüblich – ist die Nominierung eines Integrationsleiters, für den die Position eine der letzten im Berufsleben ist. Das bietet die Möglichkeit, Neutralität und Objektivität auszustrahlen. – Typ 2 – Jung und aufsteigend: Für diesen Typ Integrationsleiter stellt die Position einen weiteren Schritt auf der Karriereleiter dar. Wenn diese Option gewählt wird, ist wichtig, dass der CEO sichtbar hinter dem Integrationsleiter steht. Ebenfalls ist wichtig, dass der Integrationsleiter eine gute Reputation in der Organisation genießt und bereits ein breites Netzwerk aufgebaut hat. 4. Der Masterplan: erste große Aufgabe des IMO
2.43 Sobald die Architektur für die Integration definiert und der Integrationsleiter ernannt worden sind, gehört die Aufstellung eines Masterplans für die Integration zu den ersten Aufgaben des IMO. Der Masterplan besteht aus insgesamt drei Ebenen, die in Abbildung 7 dargestellt werden. – Um die Komplexität überschaubar zu halten, wird der Masterplan auf der höchsten Ebene zuerst mit den 20 bis 50 wichtigsten Meilensteinen der Integration hinterlegt. Diese Meilensteine werden primär durch das Integration Steering Committee genutzt, um zu beurteilen, ob die Integration insgesamt plangemäß verläuft. Diese Hauptmeilensteine werden in der Regel top-down definiert und orientieren sich oftmals an externen Ereignissen (z.B. Signing, Closing, Hauptversammlungen der beteiligten Unternehmen). – Auf dieser Basis definieren Teilprojekte auf der nächsten, detaillierteren Ebene ihre jeweiligen Meilensteinpläne und identifizieren Abhängigkeiten. Diese Ebene umfasst meist ca. 200 bis 500 Meilensteine der operativen und funktionalen Integrationsteams, welche diese für die Steuerung ihrer Aktivitäten nutzen. Das IMO betrachtet die Meilensteine dieser Ebene aus zwei Gründen: Einerseits, um Konsistenz zu den übergreifenden Hauptmei74
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B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.45 Kap. 2
lensteinen sicherzustellen und andererseits, um die Abhängigkeiten zwischen den Teilprojekten zu managen. Abhängigkeiten können dabei sowohl inhaltlicher als auch prozessualer Natur sein. Daraus entwickelt das IMO den kritischen Pfad. – Auf der untersten Ebene definieren die Teilprojekte ihre operativen Aktivitäten. Üblicherweise enthält diese Ebene zwischen 1.000 und 5.000 Elemente. Es werden alle für die Integrationsplanung und -exekution relevanten Aktivitäten aufgeführt. Dabei werden der Startzeitpunkt, der Endtermin und der für die Ausführung Verantwortliche angegeben.
Endprodukt
Hauptmeilensteine 20–50 Elemente
Meilensteine und Abhängigkeiten der operativen und funktionalen Teams 200–500 Elemente Detaillierte Arbeitspläne aller Teams inklusive aller relevanten Aktivitäten
1.000–5.000 Elemente
Abb. 7: Die drei Ebenen eines Masterplans
Der Masterplan muss alle wichtigen Designschritte und -entscheidungen abbilden und unter Berücksichtigung von Abhängigkeiten eine sinnvolle Reihenfolge ableiten. Die Funktion des Masterplans besteht keinesfalls nur darin, den Kalender mit regelmäßig stattfindenden Terminen zu füllen. Vielmehr geht es darum, die Abstimmung zwischen Teilprojekten zu ermöglichen und die Entscheidungsfindung sicherzustellen.
2.44
Über den Integrationsplanungsprozess hinweg sollte es immer wieder Interaktionsforen geben, in denen Teilprojekte des Integrationsprojektes zusammenkommen und ihre Aktivitäten synchronisieren. Dies geschieht operativ z.B. in wöchentlichen Jour Fixes der Teilprojektleiter. Allerdings empfiehlt es sich, zu bestimmten Anlässen alle (oder zumindest einen Großteil) der Teilprojekte zu gezielten Workshops zusammenzubringen, um Schnittstellenthemen auszuarbeiten. Denkbar sind beispielsweise die folgenden Foren:
2.45
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Kap. 2 Rz. 2.46
Integrationsmanagement
– Integration Kick-off: Beim Kick-off kommen alle Teilprojektleiter (häufig auch die Projektmitarbeiter) zusammen. Typischerweise werden die beiden Unternehmen einander vorgestellt und charakterisiert. Der Integrationsleiter stellt die Integrationsarchitektur und den groben Masterplan vor. Im Anschluss beginnen die Teilprojektleiter damit, den Umfang ihrer Teilprojekte zu detaillieren. Der Kick-off wird häufig auch für das gegenseitige Kennenlernen der Projektmitglieder genutzt. Je nach Status des regulatorischen Genehmigungsprozesses sind beim Kick-off idealerweise Vertreter von beiden Unternehmen und nicht nur des Käufers anwesend. – Value Capture Summit: Ca. vier bis sechs Wochen nach dem Kick-off bietet es sich an, einen Value Capture Summit durchzuführen. Bei diesem Summit stellen alle Teilprojekte ihre geplanten Maßnahmen zur Realisierung von Synergien vor und berichten, zu welchem Grad sie die definierten Ziele bereits erreicht haben. Der Summit dient dazu, allen Teilprojektleitern einen Gesamtüberblick zu verschaffen und sich gegenseitig zu hinterfragen. So können ggf. weitere Maßnahmen identifiziert werden. – Interdependency Summit: Bei diesem Summit geht es darum, die Abhängigkeiten zwischen den Teilprojekten transparent zu machen und idealerweise direkt zu lösen. Typischerweise werden im Vorfeld des Summit Abhängigkeits-Matrizen erarbeitet, mit deren Hilfe die Teilprojekte Abhängigkeiten mit anderen Teilprojekten auflisten, die gelöst werden müssen. So können diese Abhängigkeiten im Rahmen des Summit systematisch abgearbeitet werden. Typischerweise kann es zu drei möglichen Ergebnissen kommen: Das Thema wird direkt während des Summit zwischen den beiden Teilprojekten gelöst; es werden zwei Optionen bewertet und dem Integration Steering Committee zur Entscheidung vorgelegt; oder es müssen verschiedene Optionen systematisch bewertet und anhand eines Business Case eine Entscheidung herbeigeführt werden. – Day 1 Readiness Summit (Stresstest): Ca. drei bis vier Wochen vor dem Day 1 sollte ein Readiness Summit oder Stresstest veranstaltet werden. Bei dieser Gelegenheit stellen die Teilprojektleiter ihre Day-1-Readiness-Maßnahmen vor. Der Workshop dient insbesondere dazu, relevante Use Cases und vollständige Prozessketten durchzuspielen. Damit wird getestet, ob die Vorbereitung auf den Day 1 Lücken aufweist.
2.46 Eine effiziente Integrationsarchitektur und ein gut strukturierter Masterplan sind kein Selbstzweck. Vielmehr stellen sie die organisatorische Voraussetzung dafür dar, dass die im Rahmen der Due Diligence artikulierten finanziellen Ziele erreicht und nach Möglichkeit übertroffen werden. Der folgende Abschnitt stellt dar, wie die Realisierung von Synergien gelingen kann.
III. Value Capture 2.47 Für eine Übernahme müssen häufig Preise gezahlt werden, die signifikant über dem aktuellen Marktwert liegen. Diese höheren Preise werden als Premium bzw. Kontroll-Premium bezeichnet, da sie gezahlt werden, um die Kontrolle über das Unternehmen zu erhalten. Daher muss ein Käufer zwangsläufig Synergien erzeugen, um die Akquisition wertschöpfend zu gestalten. Die Realisierung dieser Synergien wird als Value Capture bezeichnet.
2.48 Die Herangehensweise an das Thema Synergien ändert sich nach dem Announcement grundsätzlich. Während der Due-Diligence-Phase ist das Ziel eine angemessene Bewertung des Übernahmekandidaten. Die zentrale Frage in dieser Phase lautet, wieviel Synergien erreicht werden müssen, um einen bestimmten Kaufpreis zu rechtfertigen. Synergien werden top76
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B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.51 Kap. 2
down und mit begrenztem Zugang zu internen Daten abgeschätzt. Nach dem Announcement liegt der Fokus darauf, den Wert aus der Übernahme zu maximieren sowie an den Markt und an Mitarbeiter aggressive, dabei jedoch realistische Ziele zu kommunizieren. Die Top-downAbschätzung wird jetzt durch einen Bottom-up-Prozess ergänzt. Mit besserem Zugang zu internen Daten und häufig in Kooperation mit dem Führungsteam des übernommenen Unternehmens werden Möglichkeiten gesucht, weiteren Wert aus der Transaktion zu generieren. In dieser Phase lautet die zentrale Frage demnach, wieviel Synergien erreicht werden können. In der Praxis lässt sich feststellen, dass die tatsächlich in der Integration umgesetzten Synergien häufig stark von der ursprünglichen Planung aus der Zeit vor der Transaktion abweichen – und durchaus oft auch höher sind als in der Due Diligence angenommen. 1. Typen von Synergien Ein hilfreiches Modell zur Einordnung von Synergiearten nutzt zwei Dimensionen: die Art der Synergie und das Ausmaß der Veränderung. Drei Arten von Synergien existieren:
2.49
– Kostensynergien entstehen durch Kosteneinsparungen, etwa durch Abbau von Redundanzen (z.B. überlappendes Produktportfolio, überlappender Produktions-Footprint, Redundanzen in G&A-Funktionen etc.) und Effizienzsteigerung. – Kapitalsynergien schlagen sich in einer Verbesserung der Bilanz nieder, die auf der Reduzierung von Umlaufvermögen, Anlagevermögen, Kreditaufnahme oder Finanzierungskosten beruht. – Umsatzsynergien ergeben sich aus einer Steigerung des Umsatzwachstums, z.B. durch gegenseitige Synergieeffekte von Produktportfolios, Zugang zu neuen Regionen, Kundensegmenten und Kanälen. Je nach Typ der Transaktion werden unterschiedliche Schwerpunkte bei den Synergien gelegt. Überlappen sich die Geschäftsaktivitäten deutlich, stehen Kostensynergien im Fokus. Ermöglicht die Akquisition den Zugang zu neuen Regionen oder Kundensegmenten, stehen eher die Umsatzsynergien im Mittelpunkt. Kostensynergien sind häufig leichter und schneller zu realisieren als Umsatzsynergien. Deshalb agieren Unternehmen in der Due Diligence oft aggressiver bei den Kosten und konservativer auf der Umsatzseite – haben damit aber auch die Chance, mehr Synergiepotentiale zu realisieren als in der Due Diligence angenommen.
2.50
Zum anderen lassen sich Synergien danach unterscheiden, welches Ausmaß der Veränderung 2.51 sie bewirken: Die untere Zeile in Abbildung 8 zeigt Werthebel zur Absicherung des Kerngeschäfts. Es handelt es sich hier um Maßnahmen zur Werterhaltung des operativen Geschäfts und zur Absicherung des Kerngeschäfts. Das hört sich einfacher an, als es ist: Studien von McKinsey haben ergeben, dass es häufig zu einem erheblichen Rückgang im Kerngeschäft in den zwei Quartalen nach Bekanntgabe einer Übernahme kommt. Dieser Effekt lässt sich durch verschiedene Treiber erklären: Erstens ist ein Teil der Führungsmannschaft in die Integration eingebunden und somit rein zeitlich zu einem gewissen Grad vom Tagesgeschäft abgelenkt. Zweitens impliziert die bevorstehende Integration für viele Mitarbeiter eine erhebliche persönliche Unsicherheit, die ebenfalls vom Tagesgeschäft ablenken kann. Drittens nutzen Wettbewerber ganz bewusst diesen Moment der Ablenkung, um die eigene Kundenbasis aggressiv zu umwerben. Aus unserer Erfahrung gibt es eine Reihe von Best Practices, die dabei helfen, das Kerngeschäft abzusichern:
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Kap. 2 Rz. 2.52
Integrationsmanagement
– Erhalt der Verantwortung für die Ergebnisse im laufenden Geschäftsjahr und Tätigung notwendiger Investitionen zur Sicherung der Qualität. – Trennung von Integrationsmaßnahmen und Führung des laufenden Geschäfts so weit wie möglich, wobei die Integration von einem hochkarätig besetzten Integration Management Office (IMO) geleitet wird. – Möglichst Verkürzung der nach dem Announcement beginnenden Pre-Closing-Phase sowie möglichst frühe Bekanntgabe des neuen Führungsteams, um Sicherheit im Hinblick auf die Führung zu geben. – Bindung von Kunden durch frühe und gezielte Kommunikation. – Bindung wichtiger Mitarbeiter durch gemeinsame Ziele, klare Kommunikation und adäquate Anreize.
2.52 Die mittlere Zeile der Grafik zeigt Werthebel zur Realisierung von Synergien durch Bündelung. Hierunter fallen klassische Maßnahmen zur Erzielung von Skaleneffekten und gesteigerter Effizienz, die durch die Bündelung der beiden Geschäfte entstehen. Maßnahmen zur Realisierung von Synergien durch Bündelung konzentrieren sich, oft zumindest anfangs, meist auf Kosten- und Kapitalsynergien. Ein Beispiel für solche Synergien ist das Zusammenlegen der Einkaufsvolumina und damit eine Neuverhandlung mit den Lieferanten über das konsolidierte und damit größere Einkaufsvolumen. Andere Beispiele sind die Konsolidierung der Unternehmensstandorte, die Konsolidierung des R&D- und auch des Produktportfolios, die Reduktion von Redundanzen in den G&A-Funktionen oder die Konsolidierung des Vertriebes. Diese Synergien werden oft auch kombinatorische Synergien genannt, da sie rein aus der Kombination der beiden Unternehmen entstehen.
2.53 In der oberen Zeile der Grafik sind die sog. transformatorischen Synergien zu sehen. Dabei handelt es sich um häufig übersehene Potentiale durch konsequente Transformation ausgewählter Funktionen, Prozesse oder Geschäftsbereiche. Hier geht es darum, nicht nur die beiden Unternehmen zusammenzuführen und sich für eins der beiden Operating Model zu entscheiden, sondern eine Chance darin zu sehen, dass beide Unternehmen nicht perfekt in einem Bereich aufgestellt waren. So kann man hinterfragen, ob bestimmte Dinge nicht fundamental anders gemacht werden sollten. Beispielsweise ist es denkbar, dass beide Unternehmen in einem bestimmten Land nicht groß genug waren, um einen eigenen Vertrieb zu rechtfertigen und stattdessen Distributoren genutzt haben. Nach der Zusammenführung könnte das neue Unternehmen nun die ausreichende Größe für den Aufbau eines eigenen Vertriebs haben. Ein anderes Beispiel sind große R&D- oder Produktionsstandorte der beiden ursprünglichen Unternehmen in Hochlohnländern. Da dieser Footprint gegebenenfalls durch die Integration ohnehin signifikant konsolidiert wird, kann es für das gemeinsame Unternehmen ggf. sinnvoll sein, im gleichen Zug eine Migration an günstigere Standorte zu prüfen. Folgende Best Practices sind zu berücksichtigen: – Voraussetzung für die Identifikation von transformatorischen Synergien sind sehr anspruchsvolle Ziele. Wenn Ziele nicht ambitioniert genug formuliert sind, werden die einzelnen Teilprojekte primär inkrementelle Veränderungsmaßnahmen definieren, da diese zur Zielerreichung ausreichen. Um herausfordernde Ziele zu erhalten, können beispielsweise die folgenden Fragen gestellt werden: „Was müssten wir tun, um diesen Bereich mit 50 % der Kosten zu realisieren?“ oder „Was müssten wir tun, um den Umsatz in diesem
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B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.55 Kap. 2
Produktbereich oder in einer bestimmten Region nicht um 5 % zu steigern, sondern zu verdoppeln?“ – Schaffen von Anreizen mit echtem Potential für herausragende Leistungen. Insbesondere in Unternehmen, bei denen Anteilseigner im Management oder aktiv im Aufsichtsrat vertreten sind, steht das Thema Unternehmenswertgenerierung deutlich mehr im Vordergrund als die Budgeterreichung. Es wird deshalb oftmals mit Sonderanreizen für die Realisierung von besonders anspruchsvollen Zielen gearbeitet.
Typischer Deal-Fokus Kosten
Kapital
Umsatz
Selektive Suche nach Transformationschancen
Neue Outsourcing-/ Offshoring-Allianzen
Neugestaltung Portfolio-/Kapitalallokationsprozess
Neues Go-to-MarketModell; neue Programme und Services
Ausschöpfung gebündelter Synergien
Zentralisierung Einkauf und Konsolidierung Backoffice
Realisierung geringerer Finanzierungskosten
Gegenseitiger Synergieeffekt von Produkten, Regionen und Kanälen
Beibehaltung Produktionseffizienz
Sicherung Bestandskunden
Absicherung des Vermeidung von Verlusten aus Kerngeschäfts Vertragsangleichung
Abb. 8: Zusätzliche Möglichkeiten der Wertgenerierung durch erweiterten Fokus
Viele Unternehmen schaffen es in dieser Phase zwar, erhebliche Synergien zu identifizieren, häufig scheitern sie jedoch an der Realisierung. Diesem Effekt lässt sich durch einen strukturierten Prozess begegnen. Er umfasst ein hohes Maß an Aufmerksamkeit des Topmanagements und ein laufendes Tracking von Aktivitäten sowie operativen und finanziellen Kennzahlen.
2.54
2. Die fünf Phasen des Value-Capture-Prozesses Der Value-Capture-Prozess lässt sich in fünf Phasen strukturieren: Baselining, Zielsetzung, Identifizierung von Bottom-up-Initiativen, Implementierungsplanung und Implementierungscontrolling. Diese werden im Folgenden näher erläutert und in Abbildung 9 illustrativ dargestellt.
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2.55
Kap. 2 Rz. 2.56
Integrationsmanagement
Due Diligence (vor Signing) Phase 1 Baselining
Durchführung der Integration
Planung der Integration
2
3 Zielsetzung
4 Identifizierung von Bottom-upInitiativen
5 Implementierungsplanung
Implementierungscontrolling (Überwachung)
Abb. 9: Aktivitäten im Rahmen des Value-Capture-Prozesses
a) Baselining
2.56 Für das Baselining bietet sich der Einsatz eines gemeinsamen Finanz- und HR-Teams mit Vertretern des übernehmenden und des übernommenen Unternehmens an. Dies stellt sicher, dass während der Entwicklung und Ausgestaltung der Baseline unternehmensspezifische Besonderheiten identifiziert werden. Wichtig ist im ersten Schritt die Definition einer gemeinsamen Taxonomie (d.h. eine einheitliche Definition der wichtigsten Metriken, um Vergleichbarkeit herzustellen). Als hilfreich erweist sich zudem eine Strukturierung nach Funktionen in enger Abstimmung mit den Integrationsplanungsteams. Schließlich ist es von Vorteil, Flexibilität für die Erfassung neuer oder veränderter Daten während des gesamten Berichtsprozesses zu gewährleisten, beispielsweise bei organisatorischen Veränderungen.
2.57 Für die Validierung der Baseline bietet sich die Etablierung eines schrittweisen Prozesses mit Integrationsplanungsteams bzw. Finanzcontrollern an. Die Vorgabe klarer Richtlinien für die Teams hilft, ihre Erwartungen zu managen (z.B. werden Kostenstellen nur unter extremen Umständen aufgeteilt).
2.58 Ist die Baseline einmal finalisiert, sollte sie möglichst nicht mehr verändert werden. Für die Integrationsteams ist die Baseline dann der Ankerpunkt, gegen den sie ihre Synergiemaßnahmen quantifizieren und gegen den in der Implementierung auch die Realisierung der Synergien gemessen wird.
2.59 Endprodukte dieser Phase sind eine abgestimmte Taxonomie sowie eine erste Baseline zu Personalbestand und Finanzdaten. Eine ausreichende Detaillierung der Baseline ist zentral für eine effektive Zielsetzung, Planung und das Tracking von Synergien. Die Baseline besteht idealerweise aus „IST-Zahlen“ (also z.B. Daten des letzten abgeschlossenen Geschäftsjahres) und nicht aus „PLAN-Zahlen“. b) Zielsetzung
2.60 In dieser zweiten Phase werden Top-down-Ziele für einzelne Funktionen oder Bereiche formuliert und mit klaren Verantwortlichkeiten versehen. Das Formulieren der Ziele ist eine zentrale Möglichkeit für den CEO, die Vision für die zukünftige Organisation greifbar zu machen und klar zu kommunizieren. Die Ziele sollten ambitioniert sein, um sicherzustellen, dass nicht nur inkrementelle Veränderungen angestrebt werden. Oftmals werden intern hö80
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B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.63 Kap. 2
here Ziele gesetzt als nach außen kommuniziert werden. So etabliert man einen Puffer, um die verlautbarten Ziele auch sicher erreichen zu können. Dem natürlichen Abschmelzen während der Umsetzungsphase, z.B. aufgrund nicht vorhergesehener Hindernisse, wird damit entgegengewirkt. Ziele müssen aber zugleich auch realistisch und erreichbar sein, schon um mögliche Frustrationen der Arbeitsteams zu verhindern. Dabei hilft es, die Vorgehensweise zur Abschätzung der Synergien transparent mit den relevanten Arbeitsteams zu teilen und einen Black-Box-Ansatz zu vermeiden. Ein einheitlicher und konsistenter Ansatz, z.B. im Umgang mit Benchmarks, hilft an dieser Stelle. Die Top-down-Ziele müssen in Summe mindestens so hoch sein, dass die in der Due Diligence quantifizierten Synergien erreicht werden, um den Kaufpreis für die Akquisition zu rechtfertigen. Verantwortlich für die Top-down-Ziele ist meist ein Team, das sich aus Mitarbeitern der Strategieabteilung und des Finanzbereichs zusammensetzt.
2.61
c) Identifizierung von Bottom-up-Initiativen Aufbauend auf den in Phase 2 gesetzten Zielen geht es nun darum, Bottom-up-Pläne zu entwickeln, mit denen die formulierten Ziele erreicht werden können. Darüber hinaus müssen potentielle Dissynergien identifiziert und Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Synergiemaßnahmen adressiert werden. Das Endprodukt dieser Phase ist eine Reihe von konkreten Synergiemaßnahmen, die bewertet und vom IMO geprüft worden sind. Die Bottom-up-Planung liegt in der Verantwortung der einzelnen Teilprojekte in der Integration. Häufig entstehen Spannungen zwischen dem zentralen Team, das die Top-down-Ziele definiert hat, und den Teams, die die Bottom-up-Planung durchführen müssen – der Streitpunkt ist oft das Ambitionsniveau. Dieser Dialog ist allerdings extrem wichtig, um die richtige Balance aus Ambition und Umsetzbarkeit zu finden. Gegebenenfalls können während der Bottom-up-Planung Zielsetzungen verschoben werden, wenn beispielsweise feststellt wird, dass weniger Synergien in der Produktionskonsolidierung liegen als angenommen, aber doch mehr als erwartet in der IT. Das zentrale Integrationsoffice muss hier die Abhängigkeiten zwischen den meist funktionalen Teilprojekten managen.
2.62
Für die Identifizierung von Bottom-up-Initiativen haben sich eine Reihe von Best Practices bewährt:
2.63
– Einbindung der Linienverantwortlichen. Die später für die Umsetzung verantwortlichen Manager müssen von Beginn an in die Planung der Synergien einbezogen werden. Ansonsten entsteht ein „Not invented here“-Problem, mit dem später ein Hinterfragen der Ergebnisse einhergeht. – Nutzung von Härtegraden. Die Synergien sollten nach Härtegraden gemessen werden, d.h. man verfolgt laufend die Planungsgenauigkeit der Synergien. Oftmals werden fünf Härtegrade (HG) genutzt, z.B. HG1 (es gibt eine Idee für eine Maßnahme), HG2 (die Idee ist grob quantifiziert), HG3 (die Maßnahme wurde beschrieben, das Potential quantifiziert, der Linienverantwortliche hat der Umsetzung zugestimmt und der Finanzbereich den Business Case verabschiedet), HG4 (die Maßnahme befindet sich in Umsetzung), HG5 (die Umsetzung der Maßnahme ist abgeschlossen). – Nutzung eines Tools. Idealerweise wird für die Bottom-up-Planung ein Tool eingesetzt, in das die Teilprojektverantwortlichen die Maßnahmen eintragen. Ein solches Tool forciert Konsistenz und Synchronisation zwischen den Teilprojekten; zugleich ermöglicht es die Identifikation und das Managen von Abhängigkeiten zwischen den Synergiemaßnahmen. Billing/Flötotto 81
Kap. 2 Rz. 2.64
Integrationsmanagement
– Managen von Abhängigkeiten. Synergiemaßnahmen bergen die Gefahr von Doppelzählungen, Überlappungen oder gegenläufigen Effekten. Diese müssen systematisch ausgesteuert werden. Verantwortlich ist hierfür typischerweise das zentrale Synergy Office, ein Teil des Integration Management Office. d) Implementierungsplanung
2.64 In dieser vorletzten Phase wird die Umsetzung der Initiativen geplant. Zudem wird die zeitliche Abfolge geplant, in der die Initiativen – unter Berücksichtigung von Abhängigkeiten – im Rahmen des Gesamtplans umgesetzt werden. Am Ende dieser Phase steht ein detaillierter Plan zur Realisierung von Synergien einschließlich vollständiger (und überprüfter) Annahmen.
2.65 Die Synergiemaßnahmen sind ein elementarer Bestandteil des Masterplans. Die Business Cases müssen auf der Zeitachse angesiedelt werden, um den Hochlauf der Synergien zu bestimmen, d.h. zu welchem Zeitpunkt (z.B. in welchem Quartal) welcher Anteil des Potentials einer Synergiemaßnahme realisiert werden soll. Der Hochlauf kann sich durchaus unterschiedlich gestalten: Manche Synergien weisen ein linear hochlaufendes Potential auf, andere Synergien erzielen bei der Implementierung sofort die volle Wirkung (z.B. bewirkt die Abschaltung eines IT-Systems den Wegfall der Lizenzgebühren), wieder andere Synergien laufen schrittweise (sprungfix) hoch. Für die Implementierung der Synergien werden dann operative Meilensteine definiert, die als Proxy für die Potentialgenerierung dienen. Hier empfiehlt es sich, keine prozess- oder aktivitätenbasierten Meilensteine zu nutzen, sondern stattdessen endproduktorientierte Meilensteine zu definieren (z.B. Schließung eines Standortes, Abschaltung eines IT-Systems, Stopp von R&D-Projekten etc.). Sobald diese Meilensteine erreicht wurden, sollten die Synergien in den finanziellen Kennzahlen des Unternehmens sichtbar werden. Wichtig ist bei den Business Cases natürlich, dass die entsprechenden Implementierungskosten ebenfalls quantifiziert sind. e) Implementierungscontrolling
2.66 Viele Unternehmen schaffen es nicht, die Ergebnisse des Projektcontrollings in der operativen GuV wiederzufinden. Eine enge Zusammenarbeit zwischen dem IMO und dem Controlling des Unternehmens von Beginn des Prozesses an ist demnach äußerst wichtig. Das Implementierungscontrolling hält drei Ebenen nach: – 1. Ebene – Aktivitäten. Zunächst muss das Controlling verfolgen, ob die Maßnahmen operativ implementiert werden, d.h. ob die nötigen Schritte getätigt worden sind. Dies geschieht über das Aktivitätencontrolling. – 2. Ebene – operative Kennzahlen. Wenn die richtigen Schritte erfolgt sind (1. Ebene), dann sollte dies früher oder später Einfluss auf die operativen Kennzahlen haben (z.B. Anzahl Standorte, Anzahl IT-Systeme, Anzahl Mitarbeiter etc.). – 3. Ebene – finanzielle Kennzahlen. Wenn eine Verbesserung bei operativen Kennziffern erreicht wurde, müsste der Effekt in den finanziellen Kennziffern – und damit in der GuV – sichtbar werden.
2.67 Da der Effekt in den finanziellen Kennzahlen oft erst später eintritt, wirkt das Aktivitätencontrolling und das Controlling der operativen Kennzahlen wie ein Frühwarnsystem.
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B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.73 Kap. 2
Neben dem Schaffen von Transparenz bezüglich der Effekte ist es wichtig, den Prozess durch 2.68 eine entsprechende Governance zu unterstützen. Es muss also Steuerungskreise geben, die den Fortschritt regelmäßig diskutieren, eventuelle Verzögerungen identifizieren und Eskalationen managen. 3. Clean Teams Vor der Genehmigung durch die Regulierungsbehörde müssen die beiden Unternehmen sicherstellen, dass keine wettbewerblich sensitiven Daten ausgetauscht werden oder in irgendeiner Weise Einfluss auf die operative Geschäftstätigkeit des anderen Unternehmens ausgeübt wird. Ansonsten würde man wegen Fehlverhaltens die Genehmigung durch die Regulierungsbehörde riskieren. Es gibt einige Unternehmen, die in der Phase des Genehmigungsprozesses de facto keinen Austausch zwischen den beiden Unternehmen erlauben – selbst wenn es um nicht wettbewerblich sensitive Informationen geht. Allerdings lässt sich die operative Integration deutlich detaillierter planen, wenn Experten von beiden Seiten zusammenarbeiten.
2.69
Clean Teams schaffen einen juristisch möglichen Rahmen, um eine Kooperation zu ermöglichen. Die Mitglieder eines Clean Teams dürfen Daten von beiden Unternehmen sehen und diese auswerten. Sie dürfen die Ergebnisse allerdings nicht kommunizieren. Darüber hinaus müssen sie in einer speziellen Umgebung arbeiten (z.B. eigene Server, eigene Räume, zu denen nur Clean-Team-Mitglieder Zugang haben etc.). Die Mitarbeiter des Clean Teams müssen eine spezielle Vertraulichkeitserklärung unterschreiben und über die Regeln des Clean Teams sowie möglicher persönlicher Implikationen im Falle einer Nicht-Genehmigung aufgeklärt werden.
2.70
Die Daten werden durch strikte Vertraulichkeitsvereinbarungen geschützt. Sämtliche Analysen werden entweder erst bei Abschluss der Transaktion zugänglich oder in einer Form aggregiert, die den Schutz der zugrunde liegenden Daten sichert, gleichzeitig aber dem IMO eine Informationsgrundlage für wichtige Entscheidungen bietet. Jedwede Weitergabe von Informationen aus dem Clean Team heraus benötigt zuvor die Zustimmung von Rechtsberatern.
2.71
Ein Clean Team kann auf verschiedene Weise eingesetzt werden. Zunächst einmal kann ein 2.72 Clean Team dabei helfen, die identifizierten Synergiepotentiale exakter abzuschätzen. Der Zugang zu Kundendaten kann beispielsweise dazu genutzt werden, Cross-Selling-Potentiale zu quantifizieren und Überschneidungen in der Vertriebspipeline zu ermitteln. Ein Clean Team kann außerdem dazu genutzt werden, umsetzungsreife Implementierungspläne für Themen zu erarbeiten, die ohne Zugang zu vertraulichen Daten nicht zu bearbeiten wären. Beispielsweise kann ein Clean Team Lieferantenverträge analysieren, um Potentiale für Nachverhandlungen zu identifizieren. Die Vorbereitung im Rahmen des Clean Teams ermöglicht es, diese Verhandlungen sofort nach dem Closing zu starten. Somit können Clean Teams eine schnellere Realisierung der Synergien ermöglichen. Clean Teams generieren einen besonders hohen Nutzen, wenn einige der folgenden Rahmenbedingungen gegeben sind: – Wenn synergiebezogene Daten für die Fusion eine große Bedeutung haben. – Wenn der Umfang vertraulicher Informationen hoch ist. – Wenn eine Chance besteht, unmittelbar nach dem Closing Synergien zu erzielen. – Wenn umfangreiche geografische oder produktbezogene Überschneidungen bestehen. Billing/Flötotto 83
2.73
Kap. 2 Rz. 2.74
Integrationsmanagement
IV. Organisationsdesign und Talentmanagement 1. Organisationsdesign zur Gestaltung der NewCo
2.74 Die Organisation der NewCo umfasst weit mehr als die Definition von Rollen und Verantwortlichkeiten. Die Organisation muss die Strategie widerspiegeln und die effiziente Abwicklung von Kernprozessen ermöglichen (z.B. strategische Planung, Budgetierung, Kapitalallokation, Performance Management, Vergütung, Talententwicklung/Karrierepfade). Die Neudefinition des Operating Models erfolgt entlang der drei Dimensionen Prozess, Mitarbeiter und Struktur. Diese werden in Abbildung 10 dargestellt.
r ktu
Rollen, Zuständigkeiten
Randbedingungen und Standort
Governance Prozessstruktur und Entscheidungen
Leistungsmanagement
Positionen und Berichtslinien
Prozess
u Str
Organisationsstruktur Systeme und Technologien
Personalbestand
Talent und Fähigkeiten
Mi tar
b ei ter
Abhängigkeiten Kultur
Informelle Netzwerke
Abb. 10: Zwölf Kernelemente für die Definition des Operating Models
2.75 Struktur: Die zukünftige Organisationsstruktur wird meist sehr frühzeitig im Integrationsprozess festgelegt. Das ist wichtig, da Entscheidungen zur Struktur der Organisation Stabilität verleihen und somit Unsicherheiten reduzieren. Zusammen mit der Organisationsstruktur wird meist auch das zukünftige Führungsteam definiert. Der erste Aspekt ist die originäre Organisationsstruktur, also Organigramm, Positionen und Berichtslinien. Diese legt fest, anhand welcher Logik das Unternehmen zukünftig geführt wird – z.B. mit Produktlinien, Regionen oder Funktionen als führende Achse. Dabei kann die etablierte Struktur des 84
Billing/Flötotto
B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.80 Kap. 2
kaufenden Unternehmens übernommen werden. Bei Akquisitionen, die komplementäre Ergänzungen bzgl. Produkten oder Regionen darstellen, kann sich die Struktur allerdings auch signifikant ändern. Über die Struktur werden auch die erlaubten Führungsspannen und -ebenen definiert. Ebenfalls werden die Rollen und Zuständigkeiten, insbesondere die GuV-Verantwortung, zu- 2.76 gewiesen. Drüber hinaus müssen die zukünftige Rolle sowie der Standort der Zentrale bestimmt und über eine Konsolidierung oder Erweiterung der Standorte entschieden werden. Typischerweise wird die Struktur sequentiell Ebene für Ebene definiert, d.h. es wird zunächst die Vorstands- oder Geschäftsführungsstruktur definiert (N-1), dann die Ebene darunter (N-2) usw. Idealerweise findet die Definition der Ebenen über Funktionen hinweg im Gleichklang statt, so dass es Meilensteine gibt, an denen jeweils eine Ebene für das Gesamtunternehmen finalisiert wird. Dies ermöglicht die Sicherung der Konsistenz und Redundanzfreiheit über die Bereiche hinweg. Parallel zur Strukturdefinition wird die Anzahl der Mitarbeiter für die einzelnen Bereiche definiert. Prozess: In einer Integration „erbt“ das neue gemeinsame Unternehmen zwei vollständige 2.77 Prozesslandschaften. Bei einer komplementären Akquisition können oftmals unterschiedliche Prozesslandschaften verbleiben – bei den meisten Akquisitionen empfiehlt es sich jedoch, die Prozesslandschaften zu harmonisieren und am besten gleichzeitig zu verbessern. Zunächst müssen die Kernprozesse für das Unternehmen definiert werden. Für diese Prozesse werden dann die beiden existierenden Prozesse verglichen (d.h. die Prozesse des kaufenden und die des gekauften Unternehmens) und es wird analysiert, wo die Unterschiede liegen (also z.B. im Prozessablauf, in den Schnittstellen, der Effizienz oder dem Automatisierungsgrad) und welcher der Prozesse der bessere (d.h. der effektivere oder effizientere) ist. In diesem Zusammenhang muss auch evaluiert werden, ob im Zuge der Integration der jeweilige Prozess signifikant verbessert, also selektiv transformiert werden kann. Viele Unternehmen nutzen das Ereignis einer Integration als Anstoß, ihre Prozesslandschaft zu modernisieren, z.B. den Automatisierungsgrad zu erhöhen, Schnittstellen zu vereinfachen etc. Prozesse und darunterliegende IT-Architektur können hier nicht voneinander getrennt betrachtet werden. Insofern ist es bei der Bewertung von Prozessen wichtig, dass funktionsübergreifende Teams mit Vertretern aus dem operativen Geschäft und der IT zusammenarbeiten. Dies ist unter dem Aspekt „Systeme und Technologien“ in der untenstehenden Grafik zu verstehen.
2.78
Ein weiterer wichtiger Aspekt bei Prozessen ist das Leistungs- oder Performance Manage- 2.79 ment. Hier werden für die einzelnen Prozesse die wichtigsten Kennzahlen definiert, über die die Leistung des Prozesses gemessen wird, und welche Zielgrößen erreicht werden sollen. Zum Bereich des Leistungsmanagements zählt allerdings nicht nur die Definition der Kennzahlen, sondern ebenfalls die Governance zur Steuerung, d.h. über welche Gremien wird das Leistungsmanagement im Unternehmen realisiert und wie wird das Leistungsmanagement vom obersten Führungsteam durch die Organisation kaskadiert. Der letzte Punkt im Zusammenhang der Prozesse sind die Abhängigkeiten. Prozesse durchlaufen oftmals viele Bereiche im Unternehmen. Insofern müssen die Übergabepunkte bzw. Schnittstellen sehr sauber definiert werden, d.h. welches Endprodukt wird in welcher Form an einer entsprechenden Schnittstelle übergeben. Eine sorgfältige Definition dieser Abhängigkeiten sorgt später für einen reibungslosen Ablauf der Prozesse.
Billing/Flötotto 85
2.80
Kap. 2 Rz. 2.81
Integrationsmanagement
2.81 Mitarbeiter: Ein ganz entscheidender Aspekt einer Integration sind die Mitarbeiter. Durch die Akquisition steht ein deutlich vergrößerter Personalkörper zur Verfügung. Wie im Abschnitt zur Baseline beschrieben, muss zunächst der Status Quo des Personalbestandes transparent gemacht werden (Zahl der Mitarbeiter, Standorte, Gehaltsstrukturen, Fähigkeiten etc.). Im Zuge des Synergiemanagements wird dann die Zielgröße für den Personalbestand definiert. Bei überlappenden Integrationen ist das Potential größer als bei komplementären Integrationen.
2.82 Durch die Akquisitionen entstehen natürlich auch Chancen für den Personalbestand – das kaufende Unternehmen hat nun Zugang zu einem neuen Portfolio an Talenten und oftmals auch Zugang zu neuen Fähigkeiten, z.B. wenn das gekaufte Unternehmen seine Digitalisierung schon weiter vorangetrieben hat als das kaufende Unternehmen. Für die Auswahl der Führungskräfte existieren unterschiedliche Ansätze. Manche Unternehmen benennen nach der Akquisition relativ schnell die Führungskräfte, um der Organisation Stabilität zu verleihen. Andere Unternehmen verfolgen den Ansatz „all jobs are open“ und unterziehen alle Führungskräfte (d.h. vom kaufenden und vom gekauften Unternehmen) einem umfassenden Assessment; dadurch gewähren sie erstens Chancengleichheit und stellen zweitens sicher, dass jeweils die besten Kandidaten ausgewählt werden.
2.83 Das Thema Unternehmenskultur spielt im Rahmen von Integrationen eine sehr wichtige Rolle. Bei einer Integration treffen zwei oftmals sehr unterschiedliche Kulturen aufeinander. Wenn dies nicht effektiv und aktiv gemanagt wird, kann es zu großen Frustrationen in der Zusammenarbeit kommen, da Missverständnisse entstehen. Es ist wichtig, zu Beginn Transparenz über die kulturellen Charakteristika beider Unternehmen herzustellen und Foren zu bieten, auf denen sich die Mitarbeiter mit diesem Thema auseinandersetzen können. Auf diese Weise lernen die Mitarbeiter beider Seiten voneinander und gewinnen ein Verständnis darüber, wie das jeweils andere Unternehmen „tickt“. Letztendlich erübrigt sich dadurch die Frage, ob die Kultur des kaufenden Unternehmens später dominieren soll oder ob man im Zuge der Integration eine neue gemeinsame Kultur schaffen möchte. Nachdem das Zielbild der Kultur definiert ist, gilt es, entsprechende Veränderungsmaßnahmen zu initiieren, die das Unternehmen zur Zielkultur hinführen.
2.84 Im folgenden Abschnitt wird der Ansatz zur Definition der Organisationsstruktur des neuen Unternehmens erläutert. Dieser beinhaltet fünf Schritte, wie in Abbildung 11 aufgezeigt: – Schritt 1. Bei der Gestaltung der neuen Organisationsstruktur wird zunächst eine „1:1Baseline“ entlang der Positionen, Rollen, Zuständigkeiten und weiteren Randbedingungen (z.B. geografische Verteilung) entwickelt, um die beiden Unternehmen miteinander vergleichbar zu machen. Endprodukte dieses ersten Schritts sind demnach eine Kosten- und FTE-Baseline, eine Aufstellung der historischen Stärken und Schwächen des Unternehmens sowie eine Aufstellung der organisatorischen Ziele einschließlich eines Zeitplans zu deren Realisierung. – Schritt 2. Anschließend wird ein vorläufiger Zielzustand definiert, der die Strategie widerspiegelt. Dies gewährleistet, dass das Topteam entsprechend der Deal-Vorgaben und der Strategie für das neue Unternehmen handelt. Dies beinhaltet die Definition einer vorläufigen Struktur für den Zielzustand und der dafür zu ergreifenden Maßnahmen. Als Endprodukte dieses zweiten Schritts liegen eine Vision für den Zielzustand vor, eine Aufstellung der Designprinzipien sowie Beschreibungen von Strukturen auf den ersten beiden Führungsebenen, der Rolle der Zentrale, der geografischen Aufstellung sowie der Kernrollen und Zuständigkeiten. 86
Billing/Flötotto
B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.86 Kap. 2
– Schritt 3. Aus dem Zielzustand wird anschließend der Interimszustand abgeleitet und ein Plan für Day 1 entwickelt. Bei Bedarf wird im Anschluss erneut das Zielbild überarbeitet, wenn z.B. unüberwindbare Diskrepanzen zwischen aktuellem Zustand und anvisiertem Zielbild auftreten. Endprodukte dieses Schritts sind eine Übersicht über die Voraussetzungen für Day 1, das Interimsdesign, eine Implementierungs-Roadmap sowie eine verfeinerte Struktur für den Zielzustand (reicht die Zeit dafür bis zum Closing nicht, kann dieses Produkt auch im Nachgang vorgelegt werden). Sobald Schritt 3 abgeschlossen ist und sämtliche Voraussetzungen erfüllt sind, kann Day 1 vollzogen werden. – Schritt 4. Nach Day 1 erfolgt die Integration und Stabilisierung des Zielunternehmens einschließlich der Feinplanung der Roadmap für die Übergangszeit sowie eine Iteration und Verfeinerung des Zielzustands. Endprodukte dieses vorletzten Schritts sind eine verfeinerte und detaillierte Struktur für den Zielzustand, ein detaillierter Übergangsplan sowie ein Katalog mit Leistungskennzahlen. – Schritt 5. Den letzten Schritt stellt die Implementierung des Zielzustands von Organisationsstruktur und Operating Model dar.
1
Heute
Zielzustand
3 Gestaltungsschritte
Day 1/ Interimszustand
4 Ziel
Käufer
2
4
Umsetzungsschritte
Ziel
Käufer
5 NewCo Synergien
Abb. 11: Organisationsdesign ausgehend vom gewünschten Zielzustand
Neben der Wahl der richtigen Struktur für die Organisation ist häufig die Identifikation und Weiterbeschäftigung von Leistungsträgern des Zielunternehmens von kritischer Relevanz für eine erfolgreiche Akquisition.
2.85
2. Talentmanagement und Retention-Maßnahmen Es hat viele Vorteile, die obersten zwei Führungsebenen möglichst frühzeitig zu definieren 2.86 und sogar zu besetzen. Das gibt sowohl Managern als auch Mitarbeitern Orientierung und reduziert deren Unsicherheit. Neu entstehende bzw. vakante Rollen sollten in einem strukturier-
Billing/Flötotto 87
Kap. 2 Rz. 2.87
Integrationsmanagement
ten und transparenten Prozess besetzt werden, um die besten Talente zu gewinnen und zugleich jegliches Gefühl von Unfairness zu vermeiden.
2.87 Von zentraler Bedeutung ist die Identifizierung und Weiterbeschäftigung von erfolgskritischen Mitarbeitern. Das können Führungskräfte mit erheblichem Einflussbereich sein, Experten mit tiefer und spezifischer technischer Expertise oder auch Influencer, die eine zentrale Rolle im informellen Netzwerk der beiden Organisationen einnehmen, ohne formal besonderen Einfluss zu besitzen.
2.88 Retention-Maßnahmen sollten gezielt auf die Wertvorstellungen und Erwartungen der zu haltenden Mitarbeiter abgestimmt sein. Häufig wird bei der Auswahl von Retention-Maßnahmen die Effektivität von nicht-finanziellen Hebeln unterschätzt. In Interviews von Managern mit substantieller Erfahrung hinsichtlich Integrationen erwiesen sich als die beiden effektivsten Maßnahmen „Lob und Wertschätzung“ sowie „Aufmerksamkeit durch die Unternehmensleitung“. Und auch einige weitaus seltener eingesetzte nicht-monetäre Maßnahmen wie etwa die „Teilnahme an Führungskräfteprogrammen“ oder die Möglichkeit für „Jobrotationen oder Secondments“ wurden für effektiver befunden als „Ruhestandsoptionen“, „langfristige finanzielle Anreize“ und „Aktien oder Aktienoptionen“. Abbildung 12 enthält hierzu weitere Details. Finanzielle Hebel
Effektivität
Nicht finanzielle Hebel
15 11
14 16
8 12
5
10 6
3
17
13
9 7
2 1 4
Nutzungshäufigkeit 1 Großzügige Renten/Ruhestandsoptionen 2 Langfristige finanzielle Anreize neben Aktienoptionen 3 Aktien oder Aktienoptionen 4 Unbezahlte oder teilweise bezahlte Freistellung 5 Teilnahme an Führungskräfteprogrammen 6 Jobrotationen oder Secondments 7 Einladungen zu externen Konferenzen 8 Häufige Beförderungen
9 Flexible Arbeitsbedingungen 10 Spezielle Events für Leistungsträger 11 Aufmerksamkeit durch Unternehmensleitung 12 Öffentliche Anerkennung 13 Trainingsprogramme 14 Chance zur Leitung von Projekten 15 Lob und Wertschätzung 16 Gehaltserhöhung 17 Leistungsabhängiger Bonus
Abb. 12: Nicht-finanzielle Anreize als effektive Motivatoren
88
Billing/Flötotto
B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.93 Kap. 2
Bei der Auswahl der Mitarbeiter, die man wirklich im Unternehmen halten möchte, muss 2.89 Objektivität gewährleistet werden. Das kaufende Unternehmen verfügt häufig nicht über ausreichende Transparenz, wer die wirklichen Leistungsträger im gekauften Unternehmen sind, und ist damit auf die Empfehlungen des Managements aus dem gekauften Unternehmen angewiesen. Dies birgt die Gefahr, dass dieses Management eng vertrauten Kollegen Sicherheit im neuen Unternehmen verschaffen will und diese somit für die Retention-Maßnahmen vorschlägt. Typischerweise sind ausgewählte Mitarbeiter aus dem Bereichen Sales (extrem gute Verkäufer, Mitarbeiter mit wichtigen Kundenbeziehungen), R&D (extrem gute Fachexperten), IT (Mitarbeiter, die die Systemarchitektur und Schnittstellen sehr gut kennen) relevant für Retention-Maßnahmen.
V. Kultur und Change Management 1. Unternehmenskultur Leitende Manager, die häufig mit Post-Merger-Integrationen zu tun haben, wissen, wie wichtig kulturelle Aspekte beim Zusammenschluss zweier Unternehmen sind. Dennoch stellen sie fest, dass diese während des Integrationsprozesses regelmäßig zu wenig Aufmerksamkeit erhalten, wie in Abbildung 13 aufgezeigt. Der Begriff Unternehmenskultur wird in diesem Zusammenhang jedoch häufig unsauber verwendet. So gibt es eine große Anzahl von Unternehmen, die in ihrer Vision oder ihrer Mission für sich in Anspruch nehmen, dass der Kunde im Mittelpunkt ihres Handelns steht. Kultur ist jedoch vielmehr die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden und wie die Arbeit erledigt wird (Management Practices und Working Norms). Diese Vorgehensweisen und Normen lassen sich objektivieren und systematisch erfassen, so dass Unterschiede zwischen Unternehmen identifiziert und sogar quantifiziert werden können. Die frühzeitige Diagnostik der Unternehmenskulturen im Kontext einer anstehenden Integration ist aus zwei Gründen wichtig (s. Abbildung 13, S. 90).
2.90
Erstens hilft ein Verständnis kultureller Unterschiede dabei, frühzeitig besonders konfliktbeladene Themen zu erkennen und präventiv gegenzusteuern. Die Erkenntnisse der kulturellen Diagnostik sollten demnach in das Design der Integrationsarchitektur einfließen und aktiv im Rahmen der Integrationsarbeit angegangen werden. Die Zusammenarbeit in den oft gemischten Teams in der Integrationsplanung bildet nämlich den Nukleus für die zukünftige Unternehmenskultur.
2.91
Zweitens bietet eine Integration die seltene Gelegenheit, die Unternehmenskultur signifikant zu ändern. Sie sollte hierfür zum Anlass genommen werden, falls dies erwünscht bzw. notwendig ist. Aus einer faktenbasierten Diagnostik können gezielte Interventionen abgeleitet werden, um kulturelle Unterschiede abzumildern oder die Unternehmenskultur punktuell zu ändern.
2.92
Die Vernachlässigung des Themas Kultur beruht häufig darauf, dass den Managern ein faktenbasierter Ansatz fehlt. Hier bieten sich verschiedene Tools und Workshop-Formate an, die effektiv aufzeigen, welche kulturellen Unterschiede zwischen den beiden Unternehmen bestehen und wie sich diese Kluft überwinden lässt, damit im neuen Unternehmen schließlich die gewünschte Kultur gelebt wird.
2.93
Billing/Flötotto 89
Kap. 2 Rz. 2.94
Integrationsmanagement
in Prozent Welchen Effekt hat die Kultur auf die finanzielle Performance während der Integration Vergleich zum Tagesgeschäft?
Gleicher Geringer Effekt Effekt 5 12
Welches Maß an Aufmerksamkeit wird kulturellen Aspekten üblicherweise im Rahmen einer Integration gewidmet?
Ungefähr richtig
Zu viel 2
Kultur kann Deutlich definiert zu gering werden 26
29
Die Unfähigkeit, die Kultur klar zu definieren, erschwert es, gezielte Maßnahmen zur Veränderung zu ergreifen Kultur sollte nicht priorisiert werden 10
10
13 70 43 Deutlich höherer Effekt
Höherer Effekt
Zu gering
80 Zustimmung
Abb. 13: Kultur als häufig unterschätzte Dimension der Integration Quelle: Umfrage unter Teilnehmern der McKinsey/Conference Board Merger Integration Conference
2. Entwicklung eines Change-Management-Programms
2.94 Angesichts des langfristigen und tiefgreifenden Charakters einer Unternehmenskultur ist es mit der bloßen Definition eines kulturellen Zielbildes nicht getan. Vielmehr muss ein ChangeManagement-Programm konzipiert werden, um die neue, angestrebte Kultur sowohl im Zielals auch im Käuferunternehmen zu verankern. Die im Rahmen der kulturellen Diagnostik und aus dem Akquisitionsziel abgeleiteten Änderungen sollten von der gesamten Organisation implementiert werden. Kultureller Wandel kann nicht alleine aus der Personalabteilung heraus betrieben oder bewirkt werden. Die Änderung der Unternehmenskultur ist auch keine einmalige Aufgabe zu Beginn oder gegen Ende der Integration, sondern muss kontinuierlich während des gesamten Akquisitionsprozesses vorangetrieben werden.
2.95 Die Entwicklung eines solchen Programms gliedert sich in vier Schritte, wie in Abbildung 14 schematisch dargestellt: – Diagnose. Zum Auftakt gilt es, die Ausgangssituation transparent zu machen. D.h. die kulturellen Charakteristika von beiden Seiten müssen offengelegt werden. Anschließend wird das angestrebte kulturelle Profil (die Zielkultur) definiert und im gemeinsamen Topteam abgestimmt. – Design. Im zweiten Schritt werden Veränderungsmaßnahmen definiert, die das gemeinsame Unternehmen in Richtung der Zielkultur bewegen. Um eine nachhaltige Veränderung im Verhalten der Mitarbeiter, und damit in der Kultur, zu erreichen, müssen vier Aspekte berücksichtigt werden: 1) Das Management muss als Rollenmodell agieren und das ge90
Billing/Flötotto
B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.96 Kap. 2
wünschte Verhalten vorleben, 2) es muss den Mitarbeitern in einer überzeugenden Change Story vermittelt werden, warum sich das Unternehmen weiterentwickeln möchte bzw. muss, 3) es müssen bei den Mitarbeitern die Fähigkeiten aufgebaut werden, mit denen sie die Veränderung erfolgreich bewältigen können und 4) es müssen Mechanismen geschaffen werden, die das gewünschte Verhalten fördern und fordern. Insgesamt muss sichergestellt werden, dass die Kulturmanagementmaßnahmen auf den übergreifenden Integrationsprozess abgestimmt sind – also Teil des Masterplans sind und mit den anderen Aktivitäten synchronisiert werden. – Umsetzung. Die in der vorigen Phase definierten Maßnahmen werden nun umgesetzt. Wichtig ist dabei, dass das Change Programm nicht an den Personalbereich delegiert wird. Oftmals fungiert der Personalbereich als Orchestrator des Change Programms. Die wirkliche Veränderung muss aber in den operativen Bereichen passieren – insofern haben hier die operativen Führungskräfte die sehr relevante Rolle, die Veränderung in ihren Bereichen zu gestalten, vorzuleben und zu treiben. – Messung und Absicherung der Verbesserung. Anhand spezifischer Kennzahlen, u.a. zu Mitarbeiterbindung, -zufriedenheit und -produktivität, wird der Effekt der kulturellen Maßnahmen gemessen. Die Messung ist wichtig, um festzustellen, ob der gewünschte Effekt eintritt, und um die Maßnahmen bei Bedarf anzupassen.
Diagnose
1
Wo stehen Sie heute und was ist Ihr Ziel?
Design
2
Umsetzung
Was müssen Sie tun, um Ihr Ziel zu erreichen?
3
4
Messung und Absicherung der Verbesserung
Wie erkennen Sie, ob Sie Fortschritte machen?
Abb. 14: Vier Schritte zur Entwicklung und Umsetzung des Change-Management-Programms
3. Sieben Stolpersteine der kulturellen Integration Wie bereits erläutert, ist eine unzureichende kulturelle Integration leider allzu häufig die Ursache für das Scheitern einer Unternehmenszusammenführung. Den nachfolgend aufgeführten Stolpersteinen ist daher unbedingt aus dem Weg zu gehen: – Stopp nach der Diagnose. Viele Projekte zu Kultur und Zufriedenheit beschränken sich auf die Beschreibung des Ist-Zustands und des Zielbildes. Die Konzeption, Umsetzung und Messung konkreter Maßnahmen bleibt aus. – Intuitive Einschätzung der Kultur durch das Management. Das Management sieht kaum die Hälfte von dem, was die Kultur wirklich ausmacht. Alle Hierarchieebenen nehmen Einfluss auf die Organisation, aber längst nicht alle befinden sich im Blickfeld des Managements. Insofern ist es wichtig, eine vollständige Transparenz über die kulturellen Charakteristika herzustellen. Somit wird die Diskussion auch durch eine Faktenbasis untermauert und basiert nicht auf „Bauchgefühl“ – Furcht vor unpopulären Entscheidungen. Organisationen können nur selten mit zwei Kulturen bestehen. Die Mitarbeiter benötigen einheitliche Vorgaben dazu, wie sie ihre Billing/Flötotto 91
2.96
Kap. 2 Rz. 2.97
Integrationsmanagement
Arbeit erledigen sollen. Das Management muss dabei häufig auch unpopuläre Entscheidungen treffen. Dies ist wichtig, um Klarheit zu schaffen. – Kultur als Personalthema. Die Kultur muss von allen Mitarbeitern verantwortet werden. Wenn das obere Management das gewünschte Verhalten nicht vorlebt, lässt die Motivation nach – und die Konfusion nimmt zu. – Unterschätzung der Bedeutung von Kultur. Die Kultur bedingt die Maßnahmen. Sie müssen eng an die Werttreiber gekoppelt sein und die gleiche Aufmerksamkeit erhalten. – Verwechslung von „Artefakten der Kultur“ mit „Kultur“. Happy Hours an Freitagen und Aktionen wie „bringen Sie Ihr Kind mit zur Arbeit“ sind nicht mit „Kultur“ gleichzusetzen. „Kultur“ ist vielmehr die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden und wie die Arbeit erledigt wird.
VI. Kommunikation 2.97 Kommunikation ist erfolgsentscheidend während einer Akquisition. Gute Kommunikation hilft, das laufende Geschäft zu schützen, die Integration speziell in der frühen Phase zu stabilisieren sowie das zukünftige vereinte Unternehmen maßgebend zu formen. Aus diesem Grund sollte eine gute Kommunikationsstrategie stets zweigleisig fahren: Während Worst-Case-Szenarien der Abwehr dienen, z.B. von durch die Konkurrenz gestreuten Gerüchten oder Angriffen, trägt die Vermittlung einer klaren Vision des Zielbilds für das gemeinsame Unternehmen dazu bei, die Mitarbeiter für das vereinte Unternehmen zu gewinnen.
2.98 Da im Rahmen einer Integration diverse Stakeholder mit unterschiedlichen Interessen zu berücksichtigen sind, sollten die Botschaften auf die verschiedenen Empfänger zugeschnitten werden. Zusätzlich sollten stakeholder-spezifische Ereignisse genutzt werden, um diese gezielt und kontinuierlich mit neuen Informationen zu versorgen („Integration Drumbeat“).
2.99 Für den Leiter der Integration ist es essenziell, die Kommunikation aktiv und sichtbar zu unterstützen sowie die Kommunikationspläne zu prüfen und die gewünschten Verhaltensweisen vorzuleben, um als Vorbild zu fungieren. Die eigene Kommunikationsweise gilt es kritisch zu hinterfragen, da Führungskräfte ihre Kommunikationsfähigkeiten häufig überschätzen.
2.100 Die Kommunikation sollte sich sowohl der existierenden Kanäle bedienen als auch neue Kanäle ins Leben rufen, mit denen sich auch Fragen aus dem Unternehmen empfangen lassen – es ist wichtig, zuzuhören und Feedback während der gesamten Integration zu sammeln. 1. Die fünf Phasen der Kommunikation
2.101 Während der Post-Merger-Integration unterscheiden wir hinsichtlich der notwendigen Kommunikation zwischen fünf Phasen, wie Abbildung 15 zu entnehmen ist: – Vor Ankündigung (Announcement). In dieser Phase ist es wichtig zu verhindern, dass vertrauliche Informationen durchsickern und das Entstehen von Gerüchten begünstigen. Die geordnete Ankündigung des Zusammenschlusses muss gut vorbereitet werden, um konsistente und auch positive Kommunikation sicherzustellen. – Begleitend zur Ankündigung. Soweit möglich, müssen die Mitarbeiter, aber auch Kunden, Aktionäre, Gewerkschaften, Zulieferer und die Medien zielgruppenspezifisch mit In-
92
Billing/Flötotto
B. Post-Merger-Integration
Rz. 2.101 Kap. 2
formationen versorgt werden. Wichtigste Zielgruppe sind dabei die Mitarbeiter, die auf die Fortsetzung der Leistungserbringung im Tagesgeschäft fokussiert werden müssen. – Vor Day 1. Im Vorfeld des operativen Zusammenschlusses ist eine koordinierte und einheitliche Kommunikation vorzubereiten, die für eine reibungsfreie Integration sorgt. Die Kommunikation richtet sich vor allem an das Führungsteam bzw. die leitenden Mitarbeiter, die gesamte Belegschaft und die Medien, wobei es nach wie vor in erster Linie darum geht, den Mitarbeitern durch umfassende Information dabei zu helfen, sich auf das Tagesgeschäft zu konzentrieren. Typischerweise fokussiert sich die Kommunikation in dieser Phase auf a) inspirierende Kommunikation über die Chancen des gemeinsamen Unternehmens und b) konkrete Informationen, was sich im Arbeitsalltag ändert und was nicht, damit die Mitarbeiter ohne Disruption weiter produktiv sein können. – Begleitend zu Day 1. Zeitgleich mit dem offiziellen Zusammenschluss startet die formale Integration der beiden Unternehmen. Nun gilt es, die Organisation auf die neue Vision auszurichten. Parallel dazu müssen sich die Kommunikationsverantwortlichen so gut es geht auf unvorhergesehene Ereignisse vorbereiten. Die Kommunikation richtet sich nun an den bislang größten Kreis an Zielgruppen, nämlich an die gesamten Mitarbeiter, Kunden, Aktionäre und Betriebsräte sowie die Medien. – Laufend nach Day 1. Ziel der laufenden Kommunikation an die Mitarbeiter einschließlich Führungsteam ist es, die Vision und die neue Kultur im Unternehmen zu verankern. Darüber hinaus müssen die Kommunikationsfunktionen der beiden ursprünglichen Unternehmen zusammengeführt werden. Ankündigung (Signing)
Vorbereitung der Integration
Day 1 (Closing) Durchführung der Integration
Planung der Integration
Übergang zum Tagesgeschäft
Intensität der Kommunikation Vor Day 1 3 Laufend nach Day 1 5
1 Vor Ankündigung
2 Ankündigung
4
Day 1
Zeit
Abb. 15: Kommunikation entlang des M&A-Prozesses
Billing/Flötotto 93
Kap. 2 Rz. 2.102
Integrationsmanagement
2. Konzeption der Kommunikationsstrategie
2.102 Den Auftakt bei der Konzeption der Kommunikationsstrategie bildet die Diagnose bzw. die Beurteilung und Reaktion auf unmittelbare Bedürfnisse. Anschließend werden die Beteiligten und ihre Positionen identifiziert und im nächsten Schritt priorisiert (Bildung von Zielgruppen). Danach gilt es, große und kleine Ereignisse zu identifizieren und zu beurteilen. Auch ist die Effektivität der bestehenden Kommunikationskanäle zu beurteilen. Als nächstes sind die vorhandenen Kommunikationsressourcen zu identifizieren und neue Systeme bzw. Prozesse zu konzipieren. Daran schließt sich die Entwicklung eines Maßnahmenplans an, ebenso die Formulierung von Botschaften an die einzelnen Zielgruppen. Schließlich wird Feedback auf die bisherige Kommunikation eingeholt. Dieses bildet die Basis für die Konzeption von Folgemaßnahmen.
C. Fazit 2.103 Ein erfolgreiches M&A-Programm kann einen erheblichen Beitrag zum Unternehmenserfolg leisten. Zugleich gilt es eine Reihe von Risiken zu vermeiden, die typischerweise im Rahmen von Integrationen auftreten. In diesem Kapitel haben wir wichtige Erfolgsfaktoren zusammengefasst, die wir aus unserer operativen Arbeit in Integrationen ableiten konnten. Eine solche Zusammenstellung ist sicher niemals vollständig; mit ausreichendem Fokus auf die hier aufgeführten Themen kann die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Integration aber deutlich gesteigert werden.
94
Billing/Flötotto
Teil II Funktionale Themen Kapitel 3 Bewertung Andreas Keim und Axel Jeromin1
Überblick A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1
B. Wertbegriffe, Funktion der Unternehmensbewertung sowie Bewertungsanlässe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.10
I. Begriff des Unternehmenswertes . .
3.10
II. Anlässe der Unternehmensbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.18
III. Bewertungszweck . . . . . . . . . . . . . . .
3.23
IV. Funktion des Bewerters . . . . . . . . . .
3.36
V. Prozess der Unternehmensbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.38
C. Methodische Grundlagen . . . . . . . . .
3.45
I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.45
II. Gesamtbewertungsverfahren . . . . . . 1. Ertragswertverfahren . . . . . . . . . . . . . a) Grundsätzliche Überlegungen zum Ertragswertverfahren . . . . . . b) Begrenzte vs. ewige Lebensdauer eines Unternehmens . . . . . . . . . . . c) Das Ertragswertverfahren in der Konzeption des IDW S 1 i.d.F. 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Discounted Cash-Flow-Verfahren . . . a) Bruttoansatz (Entity-Approach) . aa) Konzept der gewogenen Kapitalkosten (WACC-Ansatz) . . . (1) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Ermittlung der gewogenen Kapitalkosten . . . . . . . . . . . . . (3) Höhe der durchschnittlichen Kapitalkosten in deutschen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . bb) Adjusted Present Value (APV) b) Nettoansatz (Equity-Approach) . .
3.53 3.66 3.66 3.88 3.96 3.112 3.118 3.122 3.122 3.128 3.146 3.147 3.162
c) Vergleich der verschiedenen Ansätze des Discounted CashFlow-Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . 3. Market-Approach . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Comparative Company Approach aa) Similar-public-companyAnsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Recent-acquisitions-Ansatz . . cc) Initial-public-offering-Ansatz c) Market Multiples . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundüberlegungen . . . . . . . . bb) Umsetzung einer Multiplikatoranalyse . . . . . . . . . . . . . . 4. Vergleich der Gesamtbewertungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Discounted Cash-Flow-Verfahren vs. Ertragswertmethode . . . . . . . . b) Market Approach vs. Ertragswert bzw. Discounted Cash-FlowVerfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.169 3.175 3.175 3.181 3.186 3.190 3.192 3.193 3.193 3.211 3.226 3.226 3.234
III. Einzelbewertungsverfahren . . . . . . . 3.242 1. Substanzwertverfahren . . . . . . . . . . . . 3.244 2. Liquidationswert . . . . . . . . . . . . . . . . 3.254 D. Prognose der finanziellen Überschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.262 I. Informationsbeschaffung . . . . . . . . . 3.267 II. Vergangenheitsanalyse . . . . . . . . . . . 1. Ausgangspunkt, Ziel und Funktion der Vergangenheitsanalyse . . . . . . . . . 2. Bereinigungen in der Vergangenheitsrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ertrags- und Aufwandsbereinigung nicht betriebsnotwendigen Vermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bereinigung des nicht periodengerechten Erfolgsausweises . . . . . .
3.271 3.271 3.276 3.277 3.278
1 Unter Mitarbeit von Dipl.-Kfm. Mark Bachmann, Thomas Bantz M.A., Dr. Sebastian Schrader.
Keim/Jeromin
95
Kap. 3
Bewertung
c) Bereinigung aufgrund der Ausübung von Bilanzierungswahlrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.279 d) Bereinigung um personenbezogene und außerordentliche Erfolgsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . 3.280 e) Erfassung von Folgeänderungen vorgenommener Bereinigungsvorgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.280a III. Prognoserechnung . . . . . . . . . . . . . . 1. Stellenwert der Planung und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Phasenmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Plausibilitätskontrollen . . . . . . . . . . . 4. Prognoseschritte bei Ertragswertverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ermittlung der Ertragsüberschüsse aus dem betriebsnotwendigen Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aufwandsprognose . . . . . . . . . . . . c) Finanzplanung . . . . . . . . . . . . . . . . d) Berücksichtigung der Ertragsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ewige Rente im Ertragswertverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Ausschüttungsannahme . . . . . . . . 5. Prognose bei Discounted Cash-FlowVerfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Prognose bei subjektiver Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Restrukturierungsmaßnahmen . . . . . 2. Synergiepotentiale . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prognose unter Gesichtspunkten des Gläubigerschutzes . . . . . . . . . . . .
3.281 3.281 3.285 3.297 3.300 3.302 3.304 3.312 3.320 3.337 3.349 3.352 3.366 3.371 3.373 3.382
II. Ableitung der Komponenten des Kapitalisierungszinssatzes . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Basiszinssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ermittlung des Basiszinssatzes nach der Svensson-Methodik . . . .
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3.442 3.442 3.450 3.455 3.459 3.465 3.465 3.469 3.470 3.474 3.476 3.477 3.479 3.481 3.484 3.492 3.494a 3.495
III. Anwendung des CAPM bei der Bewertung ausländischer Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.505 IV. Wachstumsabschlag . . . . . . . . . . . . . 3.509 V. Steuern im Kapitalisierungszinssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.523
3.408
VI. Kapitalisierungszinssatz nach der Zinszuschlagsmethode . . . . . . . . . . . 3.533 1. Ableitung des Kapitalisierungszinssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.533 2. Angemessenheitsbeurteilung des Kapitalisierungszinssatzes . . . . . . . . . 3.534
3.411
F. Steuerlich und rechtlich regelmäßig auftretende Sonderthemen . . . . 3.536
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.396 I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Kapitalisierungszinssatz nach der Gesamtzinsmethode . . . . . . . . . . 2. Der Kapitalisierungszinssatz nach der Zinszuschlagsmethode . . . . . . . . . 3. Risikozuschläge anhand subjektiver Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Risikozuschläge anhand kapitalmarktbasierter (objektiver) Kriterien
3. Rendite des Marktportfolios und Marktrisikoprämie . . . . . . . . . . . . . . . a) Empirisch gestützte Ableitung der Marktrisikoprämie . . . . . . . . . b) Vorsteuer-Risikoprämien . . . . . . . c) Marktrisikoprämie und Steuern . . d) Logische Untergrenzen von Risikoprämien . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Betafaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Praktisches Vorgehen bei der Ermittlung der Betafaktoren . . . . . aa) Beobachtungszeitraum und Renditeintervall . . . . . . . . . . . . bb) Marktindex . . . . . . . . . . . . . . . cc) Dividendenbereinigung . . . . . dd) Statistische Überprüfung der Aussagefähigkeit . . . . . . . . ee) Raw- vs. Adjusted-Beta . . . . . . ff) Peer Group . . . . . . . . . . . . . . . gg) Ermittlung unverschuldeter Betafaktoren . . . . . . . . . . . . . . hh) Historisches vs. zukunftsgerichtetes Beta . . . . . . . . . . . . c) Übersicht über aktuelle Betafaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fremdkapital-Beta-Faktoren . . . . .
3.396
3.416 3.419 3.425 3.425 3.427 3.427 3.429
I. Gesondert bewertbares Vermögen . 1. Verlustvorträge und Zinsschranke . . a) Gewerbesteuerliche und körperschaftsteuerliche Verlustvorträge . b) Zinsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nicht betriebsnotwendiges Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.536 3.537 3.537 3.545 3.547
II. Bewertung von Sacheinlagen bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen . . . . . . . . . . . . . . 3.552
Bewertung
1. Sacheinlage mit Gewinnabführung zu Ober- oder Schwesterunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.553 2. Sacheinlage mit Gewinnabführung zu fremden Dritten . . . . . . . . . . . . . . 3.559 3. Absehbare Auflösung des Unternehmensvertrags in zeitlicher Nähe zum oder nach dem Einlagezeitpunkt . . . . 3.561
Kap. 3
4. Gestaltungen bei Sacheinlagebewertungen mit bestehenden oder beabsichtigten Abschlüssen von Unternehmensverträgen . . . . . . . . . . 3.562 III. Pensionsverpflichtungen . . . . . . . . . 3.566 IV. Dauerhaft negative Auszahlungen . 3.580 V. Bedingte Ansprüche und Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.581
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100
Keim/Jeromin
Bewertung
Kap. 3
rücksichtigung von Ertragsteuern bei der Unternehmensbewertung (Teil II), WPg. 1997, 37; Stehle, Renditevergleich von Aktien und festverzinslichen Wertpapieren auf Basis des DAX und des REXP, Humboldt-Universität zu Berlin, April 1999 bzw. unter Verwendung aktualisierter Renditeberechnungen, abrufbar im Juli 2014 im Internet unter der Adresse: http://www.wiwi.hu-berlin.de/professu ren/bwl/bb/data; Stehle, Die Festlegung der Risikoprämie von Aktien im Rahmen der Schätzung des Wertes von börsennotierten Kapitalgesellschaften, WPg. 2004, 906; Stehle/Hartmond, Durchschnittsrenditen deutscher Aktien 1954–1988, Kredit und Kapital 1991, 371; Steiner/Bruns, Wertpapiermanagement, 8. Aufl. 2002; Steiner/Wallmeier, Unternehmensbewertung mit Discounted Cash-Flow-Methoden und dem Economic Value Added-Konzept, FB 1999, 1; Storm, Wahrscheinlichkeitsrechnung, mathematische Statistik und statistische Qualitätskontrolle, 10. Aufl. 1995, S. 149; Stryker/Pittock, Revenue Ruling 77–387 Revisited, SRC Quarterly Reports 1983, Spring, 1; Tschöpel/Wiese/Willershausen, Unternehmensbewertung und Wachstum bei Inflation, persönlicher Besteuerung und Verschuldung, Working Paper; Uhlir/Steiner, Wertpapieranalyse, 1994; Uzik/Weiser, Kapitalkostenbestimmung mittels CAPM oder MCPMTM? Eine empirische Untersuchung für den deutschen Kapitalmarkt, FB 2003, 705; Wagner/Jonas/Ballwieser/Tschöpel, Weiterentwicklung der Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1), WPg. 2004, 889; Wagner/Saur/Willershausen, Zur Anwendung der Neuerungen der Unternehmensbewertungsgrundsätze des IDW S 1 i. d. F. 2008 in der Praxis, WPg. 2008, 731; Weber, Berücksichtigung von Synergieeffekten bei der Unternehmensbewertung, in Baetge (Hrsg.), Akquisition und Unternehmensbewertung, 1991, S. 97; Welch, Views of Financial Economists on the Equity Premium and on Professional Controversies, Journal of Business 2000, Vol. 73, No. 4; Welch in Wittmann/Kern/Köhler et al. (Hrsg.), Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, Teilband 3, 5. Aufl. 1993; Widmann/Schieszl/Jeromin, Der Kapitalisierungszinssatz in der praktischen Unternehmensbewertung, FB 2003, 800; Wiese, Unternehmensbewertung und Abgeltungsteuer, WPg. 2007, 368; Wirtschaftsprüfer-Handbuch 1998, Handbuch für Rechnungslegung, Prüfung und Beratung Band II, 1998 (zit. WPHdb. II/1998); Wirtschaftsprüfer-Handbuch 2002, Handbuch für Rechnungslegung, Prüfung und Beratung Band II, 2002 (zit. WPHdb. II/2002); Wirtschaftsprüfer-Handbuch 2008, Handbuch für Rechnungslegung, Prüfung und Beratung Band II, 2008 (zit. WPHdb. II/2008); Wirtschaftsprüfer-Handbuch 2014, Handbuch für Wirtschaftsprüfung, Rechnungslegung und Beratung Band II, 2014 (zit. WPHdb. II/2008); Wollny, Der objektivierte Unternehmenswert, 2. Aufl., 2010.
Überblick Kapitel 3 des Werkes widmet sich grundlegenden Prinzipien und Themenstellungen bei Unternehmensbewertungen. Ausgehend von einer einleitenden Darstellung methodischer Grundlagen liegt der Focus in der praxisgerechten Erläuterung notwendiger Analysebereiche und Tätigkeiten auf dem Weg der Bestimmung eines Unternehmenswerts. A. startet zunächst mit der Betrachtung des Stellenwerts von Unternehmensbewertungen sowie ihrer rechtlichen wie wirtschaftlichen Hintergründe und identifiziert diejenigen Interessenten, welche in der heutigen Praxis Adressaten derartiger Wertüberlegungen sind. B. führt den abstrakten Überblick aus Kapitel A fort und geht tiefer auf die notwendigen Prozesse einer Unternehmensbewertung im Kontext alternativer Bewertungsanlässe und Bewertungszwecke ein. C. umreißt die methodischen Grundlagen einer Unternehmensbewertung. Im Zentrum der Ausführungen steht die systematische Aufbereitung und Einordnung verschiedener Bewertungsverfahren. Dem Leser werden mit den Erläuterungen Hinweise an die Hand gegeben, unter welchen Bedingungen alternative Wertermittlungsmethoden zur Anwendung kommen. Die Vor- und Nachteile der wesentlichen Bewertungsmethoden werden zusammengefasst. Ausgehend von dem Ziel, dem Leser je nach Bewertungszweck eine Entscheidungshilfe für eiKeim/Jeromin
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Kap. 3 Rz. 3.1
Bewertung
ne geeignete Auswahl und Anwendung von Wertermittlungsmethoden an die Hand zu geben, wurde in dem Kapitel zugunsten qualitativer, entscheidungsorientierter Hilfen bewusst auf eine überbordende Darstellung mathematischer Grundlage verzichtet. D. ist dem Themenkomplex der Prognoseplanung und Prognoserechnung vorbehalten. Dieses Thema fristet in vielen Fachbüchern zu Unrecht ein Schattendasein, da gerade die Aufstellung einer angemessenen Unternehmensplanung eine Schlüsselposition im gesamten Wertermittlungsprozess einnimmt. E. schließt sich im Anschluss an und erläutert die Prinzipien der praxisnahen Bestimmung sonstiger Bewertungsparameter. Der Schwerpunkt liegt insbesondere auf Themen zur Einschätzung von Geschäftsrisiken, Zins- und Diskontierungsfaktoren. F. beendet die Ausführungen von Teil III mit einer generischen Erläuterung wesentlicher Bewertungssachverhalte, die regelmäßig nicht zum Standardrepertoire der theoretisch orientierten Fachliteratur gehören. Hierzu zählen z.B. das Vorgehen bei dauerhaft verlustbringenden Unternehmen oder Sonderthemen bei konzerninternen oder rechtlich orientierten Bewertungen insbesondere, wenn Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge in der Bewertung nicht unberücksichtigt bleiben können oder bei Sacheinlageprüfungen. Die Kenntnisse über diese grundsätzlichen Fragestellungen und Lösungsmöglichkeiten gehören zum Rüstzeug des Anwenders, da es sich um regelmäßig in der Praxis auftretende und somit weit verbreitete Themenstellungen handelt.
A. Einleitung 3.1 Die theoretischen Grundlagen der Unternehmensbewertung als auch Fragen ihrer praktischen Anwendung nehmen bei verschiedenen betriebswirtschaftlichen, steuerlichen und rechtlichen Gestaltungsfragen der Unternehmensführung, Vermögensverwaltung und Portfoliooptimierung eine zentrale Rolle ein. Bewertungsergebnisse besitzen sowohl für Shareholder, wie Management und Stakeholder hohe Stellenwerte.
3.2 Unternehmensbewertungen sind beispielsweise erforderlich bei Mergers & Acquisitions Transaktionen (z.B. Käufe und Verkäufe von Unternehmen/Unternehmensteilen), bei der Vereinbarung und der Durchführung von Unternehmensverträgen, bei der Abfindung von Gesellschaftern im Falle gesellschaftsrechtlicher Konzernierungsvorgänge, bei Gründungen, Sacheinlagen und Restrukturierungsvorhaben. Ebenso bilden insolvenz-, zivil- und steuerrechtliche Auseinandersetzungen, Erbschafts- und Schenkungsvorgänge sowie reine handelsrechtliche Erfordernisse bzw. die Aufstellung von Jahresabschlüssen den Rahmen innerhalb dessen sich die Verantwortlichen mit Fragen der Bewertung von Unternehmen oder Unternehmensteilen auseinandersetzen.
3.3 Die Bedeutung von Unternehmensbewertungen und verwandter Wertermittlungen hat in der jüngeren Zeit deutlich zugelegt. Dieses ist einerseits auf die ständig zunehmende Verbreitung unternehmenswertorientierter Ansatz- und Bewertungsvorschriften in den ständig aktualisierten nationalen wie internationalen Rechnungslegungsstandards (BilMoG, IFRS) sowie im Steuerrecht (schenkungs- und erbschaftsteuerliche Bewertungen, ertragsteuerliche motivierte Bewertungen insbesondere bei Umstrukturierungen, Verkäufen oder im Hinblick auf Spezialfragen wie die Bestimmung der Werte von Transferpaketen, Optionen etc.) zurückzuführen
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Keim/Jeromin
A. Einleitung
Rz. 3.8 Kap. 3
als auch auf zunehmende Compliance-Anforderungen und steigende Haftungsrisiken2 auf Ebene von Vorständen und Geschäftsführern. Grundkenntnisse zur Technik und Durchführung von Unternehmensbewertungen, deren Anwendungsbereiche, die Kenntnis ihrer Anwendungsgrenzen und Aussagekraft gehören somit zum notwendigen Rüstzeug der mit Unternehmensführung oder Unternehmensverwaltung direkt oder indirekt involvierten Parteien. Vor diesem Hintergrund ist eine Auseinandersetzung mit Themen der Unternehmens- und Anteilsbewertung aktueller denn je.
3.4
Dieses gilt insbesondere, da die Bewertung von Unternehmen, Unternehmensteilen und Beteiligungen jeder Art eine anspruchsvolle multidisziplinäre Tätigkeit darstellt. In der praktischen Umsetzung reicht es bei Weitem nicht aus, lediglich das theoretische finanzmathematische Fundament einer Unternehmensbewertung zu verinnerlichen. Die Kenntnis der gesamten Bandbreite von Bewertungsmethoden stellt das absolut notwendige, nicht aber das hinreichende Rüstzeug zu einer erfolgreichen Unternehmensbewertung dar.
3.5
Der Praktiker ist gefordert, einen konkreten Bewertungssachverhalt in seiner Gesamtheit zu würdigen und die konkreten Umstände durch geeignete Maßnahmen anschließend in einen Wert zu verdichten. Das setzt eine gesamthafte Analyse dahingehend voraus, welche konkrete Methodik im Spannungsfeld des theoretisch Wünschbaren, rechtlich Zulässigen und praktisch Umsetzbaren für den Einzelfall eine hinreichend verlässliche Wertermittlung gewährleistet.
3.6
Für den Bewerter steht somit die Bewertungsmethodik und Befüllung eines wie auch immer gearteten Bewertungsmodells nicht am Anfang einer Bewertung. Sie bildet den Abschluss eines Prozesses, in dessen Verlauf sämtliche relevanten Begleitumstände abgebildet, untersucht und analysiert werden. Somit kommt vor dem Hintergrund einer konkreten Transaktionsstruktur, Verhandlungssituation und Lage des einzelnen Unternehmens der Analyse und Klärung sämtlicher rechtlicher, steuerlicher wie betriebswirtschaftlicher Fragestellungen für die Unternehmensbewertung die größte Bedeutung zu. Der Fachmann legt den Schwerpunkt seiner Arbeiten auf das Verständnis der Komplexität der gesamten Transaktion, miteinander agierender Akteure sowie ihrer divergierenden Interessen. Erst auf Basis eines daraus gewonnenen Verständnisses lassen sich mit einer auf den Einzelfall abgestimmten Unternehmensbewertung die enge Gratwanderung zwischen Theorie, Rechtsprechung und Betriebswirtschaft erfolgreich bewältigen und die divergierenden Interessen der involvierten Parteien möglichst vollumfänglich wahrnehmen und bei der Überleitung zu einem Unternehmenswert verarbeiten.
3.7
Folglich ist das Ziel einer ordnungsgemäßen Unternehmensbewertung weder wissenschaftliche Genugtuung noch die Ermittlung eines alleinig korrekten punktgenauen Wertes. Vielmehr ist vor dem Hintergrund der konkreten Bewertungssituation auf die Herstellung einer angemessenen Symbiose aller mit dieser Bewertung interagierenden Teildisziplinen und anerkannten Bewertungsvorschriften zu achten, um insoweit eine größtmögliche Erfüllung des mit der Bewertung verbundenen Zwecks sicherzustellen. Mithin ist es für den Praktiker empfehlenswert bei einer Unternehmensbewertung sich auf jene Methoden, Vorschriften und Vorgehensweisen zu verlassen, welche das Risiko einer Fehlbewertung, Anfechtung oder sonstiger Nachteile minimieren.
3.8
2 Vgl. ursächlich für die Haftungsverpflichtungen die Regelungen in § 93 AktG, § 43 GmbHG, sowie im § 116 AktG bezüglich der Sorgfaltspflicht der Vorstände, Geschäftsführer und Aufsichtsräte.
Keim/Jeromin
103
Kap. 3 Rz. 3.9
Bewertung
3.9 Vor diesen Überlegungen ist es faktisch unmöglich, im Rahmen eines einzelnen geschlossenen Kapitels in begrenzter Form sämtliche bei einer Unternehmensbewertung auftretenden Themenstellungen, Konstellation und Sonderthemen sowohl umfassend wie erschöpfend zu diskutieren. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich darum vielmehr auf die Darstellung wesentlicher Sachverhalte, betriebswirtschaftlicher Methoden und Techniken, die derzeit bei Unternehmensbewertungen, Bewertungen von Unternehmensteilen oder Anteilsbewertungen Anwendung finden. Die Ausführungen dieses Kapitels sind eher der Versuch, dem Leser den grundlegenden Rahmen von Bewertungstheorie und Methoden zu vermitteln, um ihm so ein grundlegendes Nachschlagewerk für eigenständige Analysen und Wertermittlungen zur Verfügung zu stellen.
B. Wertbegriffe, Funktion der Unternehmensbewertung sowie Bewertungsanlässe I. Begriff des Unternehmenswertes 3.10 Unternehmensbewertungen stellen für Praktiker regelmäßig eine Herausforderung dar. Aus der Schnittstelle zwischen theoretisch Richtigem, praktisch Handhabbarem, rechtlich Zulässigem und betriebswirtschaftlich Anerkanntem hat er einen gangbaren Mittelweg zu finden, der ihm für einen konkret geschaffenen wirtschaftlichen Sachverhalt zu einer fundierten Wertermittlung befähigt. Hierbei ist nicht außer Acht zu bleiben, dass unter den Bedingungen der realen und mit allen Unsicherheiten behafteten Welt es nicht DEN einzigen oder DEN richtigen Unternehmenswert gibt.
3.11 Unternehmenswerte können nur innerhalb plausibler Bandbreiten bestimmt werden, deren konkrete Grenzen darüber hinaus vom Ziel und Zweck der Unternehmensbewertung markiert werden. Dementsprechend ist Bewertungsanlässen und damit einhergehend der jeweils konkret zugrunde liegenden Wertkonzeptionen Rechnung zu tragen, insbesondere da die der jeweiligen Einzelbewertung zugrunde liegende Wertkonzeption regelmäßig die Auswahl einer konkret anzuwendenden Bewertungsmethodik tangiert.3
3.12 Dieses erklärt sich damit, dass der konkrete Entschluss für die Verwendung einer Ansatz- und Untersuchungsmethode sowie die Bewertungsmethode vom verfolgten Ziel der Wertermittlung dominiert wird. Je nachdem, ob Ziel der Bewertung die Bestimmung eines Wertes ist für einen Sachverhalt, der entweder einen Substanz- oder einen Liquidations-, einen Zukunftserfolgs- bzw. einen Vergangenheitswert zu liefern hat, finden alternative Vorgehensweisen für Analysen und Unternehmensbewertungen Anwendung.
3.13 Der Begriff des Unternehmenswertes unterlag in der Vergangenheit einem stetigen Wandel.4 Bis in die sechziger Jahre hinein dominierte der Begriff des objektiven Unternehmenswertes die Fachliteratur und die Bewertungspraxis. Demnach stellte der Unternehmenswert eine dem Wirtschaftsgut innewohnende selbständige Eigenschaft dar. Eine Abhängigkeit des Wertbegriffes von Personen, Bewertungsanlässen und Bewertungszielen wurde grundsätzlich abgelehnt. Nach damaliger Auffassung hatte die Bewertung primär vergangene und gegenwärtige Verhältnisse zu berücksichtigen. Deswegen wurde dem Substanzwert eines Unternehmens die
3 Vgl. Drukarczyk, Unternehmensbewertung, S. 128–135. 4 Vgl. Seppelfricke, S. 4–5.
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Keim/Jeromin
B. Wertbegriffe/Unternehmensbewertung/Bewertungsanlässe
Rz. 3.17 Kap. 3
wesentliche Bedeutung zugesprochen.5 Der Substanzwert entspricht dem Betrag, der für eine identische Reproduktion/Wiederherstellung des zu bewertenden Unternehmens aufzuwenden ist. Im Laufe der Zeit geriet diese Wertkonzeption in die Kritik. Sie war nicht zur Lösung wesentlicher Probleme in der Lage, die mit der Konzeption des objektiven Unternehmenswertes verbunden waren. Als wesentlicher Mangel galt insbesondere, dass der Substanzwert keinen hinreichend genauen Rückschluss auf die Fähigkeit eines Unternehmens zur Erzielung nachhaltiger zukünftiger Überschüsse zuließ. Dieses ist insbesondere damit zu begründen, dass die zukünftige Rendite des eingesetzten Kapitals i.d.R. nicht nur von der Substanz eines Unternehmens abhängig ist.6 Eine weitere Kritik an der dem Substanzwert zugrunde liegenden Konzeption des objektiven Unternehmenswertes beruht auf dem Argument, dass ein objektiver Unternehmenswert den Verhandlungspartnern nicht als Entscheidungsgrundlage dienen kann, da er gerade nicht die besonderen Verhältnisse der Verhandlungsparteien berücksichtigt. Da letztlich jedoch jede individuelle Wertvorstellung von subjektiven Einflüssen geprägt ist, kann insofern ein objektiver Unternehmenswert nicht existieren.
3.14
Anknüpfend an diesen Kritikpunkt bzgl. der korrespondierenden objektiven Wertkonzeption wurde in den 60er Jahren des 20. Jh. die Lehre vom subjektiven Unternehmenswert entwickelt. Diese Wertkonzeption geht davon aus, dass sich der Wert eines Gutes aus dessen Gebrauchswert (d.h. aus dessen Nutzen für ein einzelnes Individuum) ableitet. Alle für einen Investor relevanten subjektiven Ziele, Möglichkeiten und Erwartungen werden in der Unternehmensbewertung berücksichtigt. Der subjektive Unternehmenswert kann als ein Grenzpreis interpretiert werden, den ein Käufer maximal zu zahlen bereit ist bzw. der mindestens bei einer Veräußerung von einem Verkäufer realisiert werden soll. Das Konzept des subjektiven Unternehmenswertes gilt heute als eine wesentliche Grundlage der Lehre von der Unternehmensbewertung.7 Unternehmen werden anderen Investitionsobjekten gleichgestellt. Ihre Werte spiegeln demzufolge die Vorteilhaftigkeit der Unternehmenserträge gegenüber den Erträgen aus alternativen Investitionsprojekten für deren Eigentümer wider.
3.15
Mithilfe einer subjektiven Wertermittlung können aber nicht alle Aufgaben der Bewertung erfüllt werden. Die Konzeption vom subjektiven Unternehmenswert gelangt insbesondere bei denjenigen Bewertungsanlässen an ihre Grenzen, die einen Konfliktausgleich zwischen verschiedenen divergierenden Parteien erfordern. Die derzeit vorherrschende Auffassung stellt sich somit in Bezug auf die Bewertungsverfahren als ein Kompromiss zwischen objektiver und subjektiver Wertermittlung dar. Eine Konventionalisierung der Wertermittlung für bestimmte Bewertungszwecke wird akzeptiert, gleichzeitig wird jedoch der prinzipiell subjektive Charakter der Unternehmensbewertung betont.8
3.16
Aus der Notwendigkeit zur Erstellung neutraler Gutachten, die einen Konfliktausgleich zwischen verschiedenen Interessengruppen schaffen sollen, hat sich der Begriff des objektivier-
3.17
5 Vgl. Mandl/Rabel, S. 7. 6 Ein Praxisbeispiel aus dem deutschen Bergbau oder der deutschen Energiebranche verdeutlicht diese Überlegung. Ohne Zweifel weist beispielsweise die Ruhrkohle AG einen ausgesprochen hohen Substanzwert auf. Selbiges dürfte für ein stillgelegtes Kernkraftwerk gelten, dessen Wiederaufbau- und damit Substanzwert gigantisch sein dürfte. Ertragsfähigkeit ist beiden aufgrund der mangelnden oder gar fehlenden Ertragskraft sowie der hohen Rekultivierungsaufwendungen hingegen kaum noch zuzubilligen. 7 Vgl. WPHdb. II/2014, S. 1-3. 8 Vgl. Sieben in Wittmann/Kern/Köhler, S. 4315.
Keim/Jeromin
105
Kap. 3 Rz. 3.18
Bewertung
ten Unternehmenswertes entwickelt. Der Bewerter soll hiernach mit nachvollziehbaren Methoden einen objektivierten, von den individuellen Wertvorstellungen betroffener Parteien unabhängigen Wert des Unternehmens ermitteln. Der objektivierte Unternehmenswert ist nicht mit einem objektiven Unternehmenswert gleichzusetzen, da er sich i.d.R. nicht an Substanzwerten orientiert. Er wird stattdessen als ein Zukunftserfolgswert definiert, der sich bei einer Fortführung des Unternehmens „so, wie es steht und liegt“ ergibt.9 Ausgehend von einem unveränderten Unternehmenskonzept unter Leitung des vorhandenen Managements wird folglich ein Zukunftserfolgswert berechnet.10 Dabei bleiben Wertvorstellungen potentieller Käufer oder wertverändernde Argumente der Verkäufer unberücksichtigt.11 Vom objektivierten Unternehmenswert abzugrenzen ist der sog. subjektivierte Unternehmenswert. Weiterführende Ausführungen zur Abgrenzung objektivierter und subjektivierter Unternehmensbewertungen können den Abschnitten D., E. und F. entnommen werden.
II. Anlässe der Unternehmensbewertung 3.18 Anstöße zur Durchführung einer Unternehmensbewertung können verschiedene Anlässe liefern.12 Bewertungen können beispielsweise beim Kauf und Verkauf eines Unternehmens oder von Anteilen an Unternehmen, bei der Ermittlung eines Zugewinnausgleichs, bei der Bestimmung von Abfindungen für Gesellschafter oder eines Abschichtungsguthabens ausscheidender Gesellschafter notwendig sein. Umfangreiche Anwendungsbereiche haben heutzutage Unternehmensbewertungen im Rahmen der Ermittlung von Besteuerungsgrundlagen, für die Planung steuerlicher Gestaltungen oder für Erbschaft- und Schenkungsteuer. Auch für die Erstellung und Prüfung von Jahresabschlüssen haben Unternehmensbewertungen zentrale Bedeutung.13
3.19 Grundsätzlich wird zwischen transaktionsbezogenen und nicht transaktionsbezogenen Bewertungsanlässen unterschieden. Bei transaktionsbezogenen Bewertungen dient eine Unternehmensbewertung als Entscheidungsgrundlage für eine tatsächliche oder geplante Änderung der Eigentumsverhältnisse am Bewertungsobjekt. Bewertungen, die nicht zum Zweck der Änderung von Eigentumsverhältnissen durchgeführt werden, bezeichnet man als nicht transaktionsbezogene Anlässe. Hierunter fallen beispielsweise steuerliche Bewertungen oder Ermittlungen von Beleihungsgrenzen im Rahmen von Kreditwürdigkeitsprüfungen und Unternehmenssanierungen. Auch Bewertungen, die durch das Management einer Gesellschaft im Rahmen von Wertsteigerungsstrategien (z.B. Auswirkung einzelner Geschäftsstrategien auf den Wert des Eigenkapitals/Shareholder Values14), zum Zweck der Erstellung von Jahresabschlüssen oder zur Ermittlung von Steuerbilanzwerten bzw. steuerlichen Teilwerten durchgeführt werden, führen nicht zu einer Änderung der Eigentumsverhältnisse. Hierunter fallen auch Bewertungen, die im Kontext grenzüberschreitender Funktionsverlagerungen (z.B. Verlagerung der Produktion oder von wesentlichen immateriellen Vermögenswerten ins Ausland)
9 Vgl. zur Kritik am objektivierten Unternehmenswert: Ballwieser, BFuP 2/81, 126 ff.; Moxter, S. 28 ff.; Seppelfricke, S. 12. 10 Vgl. Piltz, S. 13. 11 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Abschnitt 4.4.2. und WPHdb. II/2014, S. 7-8. 12 Für einen detaillierten Überblick vgl. auch WPHdb. II/2014, S. 5-12–14, Rz. A 14 bis A 40. 13 Vgl. Seppelfricke, S. 5–7. 14 Vgl. Rappaport, S. 53 f. und zu einem Überblick über die verschiedenen Ausprägungen des Shareholder Value Ansatzes: Heesen/Karl/Moser, S. 6 ff.
106
Keim/Jeromin
B. Wertbegriffe/Unternehmensbewertung/Bewertungsanlässe
Rz. 3.20 Kap. 3
durchgeführt werden.15 Bewertungsgegenstand ist hier das sog. Gewinnpotential, d.h. die aus der verlagerten Funktion zu kapitalisierenden Reingewinne nach Steuern.16 Bei Bewertungsanlässen mit der Folge von Änderungen in den Eigentumsverhältnissen ist ergänzend zwischen sog. dominierten und nicht dominierten Verhandlungssituationen zu unterscheiden. Als nicht dominierte Verhandlungssituation wird eine Änderung der Eigentumsverhältnisse bezeichnet, die nicht ohne Mitwirkung und nicht gegen den erklärten Willen einer anderen Partei durchgeführt werden kann.17 In nicht dominierten Verhandlungssituationen findet nicht immer ein vollständiger Eigentümerwechsel statt. Daneben existieren Bewertungsanlässe, die nur zu einer Verbreiterung oder Reduktion der bestehenden Eigentümerbasis führen. Unternehmensbewertungen sind teilweise beim Eintritt neuer Gesellschafter in die Unternehmung erforderlich. Dann ist der Preis für diejenigen Rechte zu bestimmen, die der neue Gesellschafter mit der Anteilsübernahme erwirbt.18 Eigentumsverhältnisse
transaktionsbezogen
Verhandlungssituation
nicht dominiert
Kauf oder Verkauf
– Kauf oder Verkauf des Unternehmens oder von Unternehmensanteilen – Festsetzen des Emissionskurses beim Going Public
Eintritt, Austritt, Verschmelzung
– Abfindung von Min– Eintritt eines Gederheitsgesellschaftern sellschafters in ein in Aktien der Oberbestehendes Untergesellschaft nehmen ohne Ausscheiden eines bisherigen Gesellschafters – Gesellschaftsgründung durch Einbringung eines Unternehmens – Verschmelzung – Spaltung
nicht transaktionsbezogen
dominiert – Barabfindung von Minderheitsgesellschaftern – Enteignung – Erbauseinandersetzungen – Zugewinnausgleich
– steuerliche Bewertungsanlässe – Kreditwürdigkeitsprüfungen – Unternehmenssanierung – Wertsteigerungsanalysen (Shareholder Value-Analysen)
Abb. 1: Anlässe der Unternehmensbewertung
15 16 17 18
Vgl. hierzu § 1 AstG in Verbindung mit der FVerlV. Vgl. § 1 (4) FVerlV. Vgl. Drukarczyk, Unternehmensbewertung, S. 123–124. Vgl. Mandl/Rabel, S. 14.
Keim/Jeromin
107
3.20
Kap. 3 Rz. 3.21
Bewertung
3.21 Verschmelzungen bilden im Rahmen nicht dominierter Verhandlungssituationen einen Sonderfall. Anstatt einen Wert für eine bestehende Gesellschaft sind in diesem Fall eine angemessene Verschmelzungsrelation und damit Unternehmenswerte aller beteiligten Unternehmen/Gesellschaften/Rechtsträger zu bestimmen.19 Anteilseigner der betroffenen Unternehmen/Gesellschaften/Rechtsträger erhalten z.B. bei Verschmelzung einer Aktiengesellschaft durch Neugründung für ihre Altaktien Anteile an der neu entstandenen Gesellschaft.20 Die Umtauschrelation von Alt- zu Neuaktien bemisst sich nach dem Verhältnis der Werte der in der neuen Gesellschaft aufgegangenen Unternehmen.21 Unternehmensbewertungen sind darüber hinaus für andere Rechtsformen notwendig, wenn mehrere Altgesellschaften in einer neuen Gesellschaft aufgehen.
3.22 In dominierten Verhandlungssituationen22 kann eine Partei eine Änderung der Eigentumsrechte gegen den erklärten Willen einer anderen Partei durchsetzen. Die Voraussetzungen für das Entstehen einer dominierten Verhandlungsposition sind, dass der dominanten Partei das Recht zur Änderung der Eigentumsverhältnisse entweder vertraglich eingeräumt wird oder ihr das Recht von Gesetzes wegen zusteht. Die dominierte Partei kann die Bedingungen für eine Eigentumsänderung allerdings i.d.R. gerichtlich überprüfen lassen. Darunter fallen bspw. die Ermittlung des Guthabens von ausscheidenden Gesellschaftern bei Kündigung oder bei Ausschluss, die Regelungen hinsichtlich der Bemessung von Barabfindungen23 bzw. von Abfindungen in Aktien24 für Minderheitsgesellschafter, die Vorschriften zur Ermittlung angemessener Ausgleichszahlungen25 beim Abschluss von Unternehmensverträgen oder der Zugewinnausgleich bei familienrechtlichen Abfindungen.
III. Bewertungszweck 3.23 Die Ermittlung des Bewertungszwecks und des Bewertungszieles26 dient der Festlegung der anzuwendenden Bewertungsmethode. Da alternative Bewertungsmethoden regelmäßig Differenzen in den Bewertungsergebnissen aufweisen, hängt von dem Bewertungszweck und Bewertungsziel somit indirekt der Wert ab.27 Während die Ermittlung von Grenzpreisen bspw. 19 Vgl. §§ 9 und 125 UmwG; WPHdb. II/2014, S. 178, Rz. A 507. 20 Vgl. Heurung, S. 837–839. 21 Das OLG Düsseldorf vertritt die Auffassung, dass unter bestimmten Voraussetzungen Börsenkurse zumindest gleichwertig sein können. Vgl. OLG Düsseldorf v. 31.3.2009 – I-26 W 5/08, justiz.nrw – Leitsatz und Gründe. Vgl. zu diesem Thema weiterhin Baums, 9 ff. 22 Vgl. Drukarczyk, Unternehmensbewertung, S. 125–127. 23 Vgl. die §§ 305, 320b und 327a AktG, § 31 WpÜG, §§ 29, 36, 125, 174, 176–180, 184, 188, 189 und 207 UmwG. 24 Vgl. die §§ 305 und 320b AktG. 25 Vgl. § 304 AktG. 26 Bspw. wurden bis Ende 2004 Bewertungen im Rahmen der §§ 304, 305, 320b und 327a AktG als eine Nachsteuerrechnung i.S.d. IDW S 1 i.d.F. v. 20.6.2000 durchgeführt. Beteiligungsbewertungen folgen dagegen bspw. als Vorsteuerrechnung dem IDW RS HFA 10, Rz. 10. Seit dem Jahr 2005 hat der IDW ES 1 die bisherige Vorgehensweise bei der Nachsteuerrechnung geändert; vgl. IDW ES 1 i.d.F. v. 9.12.2004, Rz. 38–41, 54–55, 102–103 und 125–134. Der IDW S 1 i.d.F. 2008 hat dieses Konzept mittlerweile fortentwickelt und unterscheidet je nach Bewertungsanlass mittelbare und unmittelbare (steuerliche) Typisierung, vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 43–47, 93, WPHdb. II/2008, Rz. 2–6, S. 2 f. 27 Es gibt nicht den schlechthin richtigen Unternehmenswert: Da Unternehmenswertermittlungen sehr unterschiedlichen Zwecken dienen können, ist der richtige Unternehmenswert jeweils
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Keim/Jeromin
B. Wertbegriffe/Unternehmensbewertung/Bewertungsanlässe
Rz. 3.26 Kap. 3
der Entscheidung über den Kauf eines Unternehmens dient, können im Rahmen der Steuerbemessungsfunktion Steuerbilanzwerte oder steuerliche Teilwerte ermittelt werden; und bei Abfindung ausgeschiedener Minderheitsaktionäre sind Werte zu ermitteln, die ein Anteilseigner unter Beachtung verfassungsrechtlicher Grundsätze des Eigentumsschutzes mindestens erzielen könnte, wenn der ausgeschiedene Minderheitsaktionär eine freiwillige Desinvestitionsentscheidung getroffen hätte. Im Rahmen der funktionalen Unternehmensbewertung wird den wichtigsten Bewertungszwecken eine Funktion der Bewertung zugeordnet.28 Hierbei werden die Beratungs-, Vermittlungs- und Argumentationsfunktion als Hauptfunktionen der Unternehmensbewertung bezeichnet, während die übrigen Funktionen unter dem Begriff Nebenfunktionen subsumiert werden.29 Funktion der Bewertung
Bewertungszweck:
Beratungsfunktion
Entscheidungswerte (Grenzpreise, Marktwert)
Argumentationsfunktion
Argumentationswerte
Vermittlungsfunktion
Schiedswerte
Bilanzfunktion
Buch- bzw. Bilanzwerte
Steuerbemessungsfunktion
Steuerbilanzwerte, steuerlichen Teilwerte
3.24
Abb. 2: Gegenüberstellung von Bewertungsfunktion und Bewertungszweck
Eine Unternehmensbewertung mit dem Zweck der Ermittlung von Entscheidungswerten 3.25 gibt Aufschluss darüber, welcher Grenzpreis für einen potentiellen Käufer bzw. Verkäufer existiert. Bis zu diesem Grenzpreis ist es für die jeweilige Partei vorteilhaft, den Unternehmenskauf bzw. -verkauf durchzuführen. Der Grenzpreis repräsentiert für einen potentiellen Käufer eine Preisobergrenze, welche er gerade noch zu akzeptieren bereit ist. Für einen Verkäufer bildet sein Grenzpreis die Preisuntergrenze, welche er mindestens erreichen muss.30 Die Ermittlung von Entscheidungswerten erfolgt anhand subjektiver Faktoren, d.h. in Abhängigkeit von Einflussgrößen, die nur für jeweils eine der beiden am Verhandlungsprozess beteiligten Parteien wertbestimmend sind. Neben Synergieeffekten und Steuerbelastungen gehört dazu die Wirkung der Akquisition auf das vorhandene Vermögen des Investors. Weiterhin beeinflussen finanzielle und nicht-finanzielle Nutzenerwartungen des Käufers bzw. des Verkäufers den Unternehmenswert. Durch die Integration der unterschiedlichen Zielsetzungen und Risikoneigungen der Verhandlungsparteien sowie ihrer unterschiedlichen Möglichkeiten zur Beeinflussung des Unternehmenserfolges sind Entscheidungswerte grundsätzlich subjektive Unternehmenswerte. Der Marktwert eines (Gesamt-)Unternehmens bzw. der Gesamtunternehmenswert entspricht nach herrschender Meinung dem Barwert aller zukünftigen Zahlungen, welche die Gesamtheit aller Kapitalgeber aus dem Unternehmen erwarten. Vom Begriff des Marktwerzweckadäquat. Vgl. Moxter, S. 6; WPHdb. II/2014, Rz. 45, S. 14; Drukarczyk, Unternehmensbewertung, S. 128 f. 28 Vgl. Piltz, S. 12–15; Matschke, S. 1 ff.; Schildbach, S. 25. 29 Zu einem Überblick über die verschiedenen Funktionen der Unternehmensbewertung vgl. Goetzke/Sieben und Mandl/Rabel, S. 15. 30 Vgl. Moxter, S. 5; Piltz, S. 9 und S. 13.
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3.26
Kap. 3 Rz. 3.27
Bewertung
tes eines (Gesamt-)Unternehmens abzugrenzen ist der Begriff des Unternehmenswertes. Hierunter wird in der Regel nur noch derjenige Wert verstanden, den das Unternehmen für dessen Anteilseigner (Eigenkapitalgeber) besitzt. Das heißt, es ist der Unternehmenswert im Sinne eines Eigenkapitalwertes. Er unterscheidet sich vom Gesamtunternehmenswert um denjenigen Teil, welcher den Fremdkapitalgebern oder Dritten zuzurechnen ist. Häufig wird für diesen Begriff synonym „Marktwertes des Eigenkapitals“ verwendet. Nach derzeitiger Auffassung entspricht der Unternehmenswert somit dem Barwert sämtlicher zukünftiger Zahlungen, welche die Eigenkapitalgeber aus dem Unternehmen erhalten.
3.27 Weiterhin dienen Marktwerte der Ermittlung von Emissionspreisen bei der Neuemission von Aktien. Obwohl in der Praxis die Unternehmenswerte börsennotierter Aktiengesellschaften nicht zwangsläufig mit deren Börsenkapitalisierungen übereinstimmen,31 scheint sich langfristig der Börsenkurs am Unternehmenswert zu orientieren.32
3.28 Bei einem Unternehmenskauf durch einen Investor muss der Marktwert des zu erwerbenden Unternehmens nicht zwangsläufig dem Entscheidungswert der akquirierenden Partei entsprechen. Angenommen, der Marktwert wurde aus Sicht des bisherigen Eigentümers ermittelt, der von einer unveränderten Fortführung der Gesellschaft ausgeht. Dieser Marktwert entspricht nur dann dem Entscheidungswert des Investors, wenn er tatsächlich eine unveränderte Fortführung der Unternehmung beabsichtigt und sonst keine weiteren Vorteile aus dem Anteilserwerb ziehen kann, die nicht auch durch den Verkäufer realisierbar sind. Exemplarisch für solche Investoren sind natürliche Personen, die ein diversifiziertes Kapitalmarktportfolio halten. Ihr Stimmrechtsanteil ist i.d.R. derart gering, dass sie keine Möglichkeit der weiteren Einflussnahme auf die Unternehmensführung ausüben können.33 Wenn ein Unternehmenskauf aber mit einer geplanten Veränderung der Unternehmenspolitik verbunden ist oder durch einen Kauf Synergieeffekte zwischen dem erworbenen und dem akquirierenden Unternehmen entstehen und genutzt werden können, kann der Entscheidungswert des Investors über dem Marktwert des erworbenen Unternehmens liegen. Zur Ermittlung des Entscheidungswertes aus Sicht des Investors müssen die Erfolge der Restrukturierung, mögliche Synergieeffekte und eventuell veränderte Risikostrukturen, die sich auf die Renditeforderung der Eigenkapitalgeber auswirken, bei der Berechnung des Barwerts der zukünftigen Zahlungsüberschüsse berücksichtigt werden.34
3.29 Die Abb. 3 (Rz. 3.30) stellt die Abhängigkeit des Unternehmenswertes von verschiedenen objektiven wie subjektiven Komponenten (Vergangenheitsdaten, Zukunftserfolge, Synergieeffekte und strategische Optionen) dar. Ein vergangenheitsorientierter Wert ist ein Unternehmenswert, dessen Wert aus um außergewöhnliche Vorkommnisse bereinigten Vergangenheitswerten abgeleitet wurde. Wird ein Unternehmenswert in Abhängigkeit von geplanten Zukunftserfolgen bestimmt, spricht man von einem zukunftsorientierten Wert. Dieser Wert entspricht in der Praxis dem objektivierten Unternehmenswert. Werden bei der Unterneh31 In Abfindungsfällen ist nach dem Urteil des BVerfG neben dem Ertragswert auch der Börsenkurs einer Aktie zu berücksichtigen. Ein Aktionär soll i.d.R. keine geringere Abfindung erhalten als er bei einer freiwilligen Desinvestitionsentscheidung erhalten hätte. Vgl. BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, AG 1999, 566 m. Anm. Vetter = DB 1999, 1693 (1695). 32 Vgl. Mandl/Rabel, S. 19; Ruhnke in Kruschwitz/Heintzen, S. 76–99; aber: Ballwieser in Kruschwitz/Heintzen, S. 19–20. Zur Frage, ob fundamentalanalytische Methoden deshalb besser geeignet sind als der Börsenwert, vgl. OLG Stuttgart v. 5.5.2009 – 20 W 13/08, AG 2009, 707 = rkr., DB 2009, 1584 f.; kritisch dazu Schnabel/Köritz, 28 f. 33 Vgl. Copeland/Weston, S. 203. 34 Vgl. Mandl/Rabel, S. 18 ff.
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B. Wertbegriffe/Unternehmensbewertung/Bewertungsanlässe
Rz. 3.32 Kap. 3
menswertermittlung neben Zukunftserfolgen zusätzlich Synergieeffekte berücksichtigt, fällt der Unternehmenswert i.d.R. höher aus. Er wird als synergetischer Wert bezeichnet. Den subjektiv höchsten Wert weist ein strategischer Wert35 auf. Dieses ist ein Unternehmenswert, wenn zusätzlich wertsteigernde strategische Optionen einbezogen werden. Der synergetische und der strategische Wert stellen subjektivierte Unternehmenswerte dar.
3.30
Unternehmenswert Vergangenheitsorientierter Wert (bereinigte Vergangenheitsergebnisse)
Zukunftsorientierter Wert (Zukunftserträge unter GoingConcernGesichtspunkten)
Synergetischer Wert
(Zukunftserträge unter Berücksichtigung von Synergieeffekten)
Strategischer Wert
(Zukunftserträge unter Berücksichtigung von Synergieeffekten und Strategiezuschlägen)
Abb. 3: Werteskala beim Unternehmenskauf
Bei einem Unternehmenskauf suchen Käufer und Verkäufer nach Argumenten zur Stärkung ihrer eigenen Verhandlungsposition. Hierbei werden oft Bewertungsgutachten Dritter als Argumentationshilfe verwendet. Durch einen Bewerter wird ein parteiischer Wert ermittelt, um den Investor argumentativ zu unterstützen und dadurch seine Verhandlungsposition zu stärken. Damit soll in einer Verhandlungssituation ein Preis realisiert werden, der je nach Betrachtungsweise und Ziel des Auftraggebers möglichst nahe am Grenzpreis der Gegenseite liegt. Für die Bestimmung eines solchen Argumentationswertes lassen sich kaum allgemeine Regeln ableiten.36 Der Argumentationswert erfüllt in der Kaufverhandlung nur seinen Zweck, wenn die Entscheidungswerte beider Parteien bekannt sind bzw. zumindest eine ungefähre Vorstellung über ihre Höhe existiert. Der Entscheidungswert stellt für die verhandelnden Parteien die Rückzugslinie ihrer Argumentation dar.37
3.31
Ein weiterer Zweck der Unternehmensbewertung kann im Rahmen dominierter Verhandlungspositionen in der Bestimmung eines Wertes liegen, der sich zur Herstellung eines Interessenausgleichs zwischen zwei Parteien eignet. Dieser Wert wird als Schiedswert (Arbitriumwert) bezeichnet.38 Weiterhin erfüllt die Unternehmensbewertung den Zweck, Infor-
3.32
35 Durch Strategiezuschläge wird dem strategisch motivierten Charakter vieler Akquisitionen Rechnung getragen, indem die mit dem Unternehmenserwerb zusätzliche unternehmerische Flexibilität wertsteigernd berücksichtigt werden soll. Für die Bemessung der Zuschläge wird vorgeschlagen, auf Optionspreismodelle zurückzugreifen. Allerdings ist aufgrund der begrenzten Übertragbarkeit dieser Modelle auf die Bewertung von Realinvestitionen das Problem der Quantifizierung eines Zuschlags noch nicht befriedigend gelöst. Vgl. WPHdb. II/2014, S. 37 ff. 36 Vgl. Born, Unternehmensanalyse, S. 44. 37 Vgl. Sieben in Wittmann/Kern/Köhler, S. 4319. 38 Vgl. Drukarczyk, Unternehmensbewertung, S. 128–129.
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111
Kap. 3 Rz. 3.33
Bewertung
mationen über die Ertragskraft der Unternehmung zu ermitteln, bspw. zur Ermittlung von Steuerbilanzwerten bzw. steuerlichen Teilwerten.39
3.33 Für den Käufer eines Unternehmens oder einer Beteiligung kann eine Bewertung verschiedenen Zwecken dienen: Die Ermittlung von Entscheidungswerten dient z.B. zur Feststellung, inwiefern ein Unternehmenskauf für ihn individuell lohnend ist. In diesem Kontext wird mittlerweile regelmäßig eine Due Diligence durchgeführt.40 Eine Due Diligence zielt auf die detaillierte und systematische Analyse von Daten einer Unternehmung mit dem Ziel, ein Gesamtbild des Unternehmens zu erlangen und verdeckte Risiken offenzulegen.41
3.34 Nachdem der Einfluss des Bewertungszweckes auf den Unternehmenswert dargestellt wurde, ist eine Definition des Unternehmenswerts möglich: Er entspricht dem Wert des Eigenkapitals eines Unternehmens, der an einem bestimmten Stichtag im Hinblick auf die Zwecke des Bewertungsanlasses als zutreffend erscheint.42 Je nach Zweck des Bewertungsanlasses und der für den Bewertungsfall vorliegenden gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen können im Einzelfall andere Werte angesetzt werden.
3.35 Der im Rahmen der Unternehmensbewertung ermittelte Wert ist nicht identisch mit dem Preis, der im Rahmen einer Kaufverhandlung realisiert wird.43 Der Wert einer Unternehmung resultiert aus einer methodischen Vorgehensweise, der Bewertung. Der Preis eines Unternehmens repräsentiert das Ergebnis einer taktischen Vorgehensweise, der Preisverhandlung. Beide Größen sind miteinander korreliert, denn der Wert eines Unternehmens ist oft die Ausgangsbasis für Preisverhandlungen. Umgekehrt können Börsenpreise oder außerbörslich gezahlte Kaufpreise als Orientierungsgrößen bei der Unternehmensbewertung genutzt werden.44
IV. Funktion des Bewerters 3.36 Mit einem Bewertungsanlass können mehrere Bewertungszwecke verbunden sein. So kann bei Abfindung eines Gesellschafters der Bewertungszweck in der Ermittlung einer subjektiven Entscheidungsgrundlage liegen, während die Ermittlung von Argumentationswerten der Vorbereitung eines Verhandlungsergebnisses dient. Auch die Ermittlung eines Schiedswertes zur Herbeiführung eines Interessenausgleichs kommt als Bewertungszweck in diesem Kontext zum Tragen. Unabhängig vom Bewertungsanlass ist für die Auswahl des jeweils geeigneten Bewertungsverfahrens alleinig der Zweck der jeweiligen Bewertung maßgeblich.45 39 Exemplarisch sei an dieser Stelle auf Unternehmensbewertungen im Rahmen von Erb- bzw. Schenkungsangelegenheiten zum Zwecke der zu leistenden Schenkungs- oder Erbschaftsteuer verwiesen. 40 Je nachdem, ob die Due Diligence von der Verkäufer- oder der Käuferseite in Auftrag gegeben und durchgeführt wird, unterscheidet man die sog. Vendor-(Verkäufer-)Due Diligence und die Buy Side-(Käufer-) Due Diligence. 41 Vgl. Koch/Wegmann, S. 3. Eine detaillierte Checkliste für eine Financial Due Diligence ist dem WPHdb. II/2014, Rz. D 348 zu entnehmen. 42 Vgl. Bellinger/Vahl, S. 29. 43 Vgl. Ballwieser in Kruschwitz/Heintzen, S. 15 f. 44 Vgl. Ballwieser in Kruschwitz/Heintzen, S. 17–21. 45 Vgl. Drukarczyk, Unternehmensbewertung, S. 126–127. Allerdings ist zu beachten, dass die Rechtsprechung in gewissen Fallkonstellationen unabhängig vom Bewertungszweck das Bewertungsverfahren vorgeben kann. Vgl. hierzu insbesondere die Diskussion um die Behandlung der Vorgaben des BVerfG hinsichtlich der Berücksichtigung von Börsenkursen. Nachzulesen in Hüttemann, S. 153–154, 156–160 und 165–172.
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B. Wertbegriffe/Unternehmensbewertung/Bewertungsanlässe
Rz. 3.41 Kap. 3
Ein Bewerter kann in der Funktion eines Beraters, Schieds- oder Gerichtsgutachters46 und neutralen Gutachters tätig werden. Bei der Ermittlung von Markt-, Entscheidungs- und Argumentationswerten fungiert er als Berater eines bestimmten Investors und ist demzufolge parteiisch. In einer Funktion als Schiedsgutachter kommt ihm die Aufgabe zu, einen Interessenausgleich zwischen divergierenden Parteien herbeizuführen. Als neutraler Bewerter soll er mit nachvollziehbaren Methoden einen objektivierten, von individuellen Wertvorstellungen betroffener Parteien unabhängigen Wert ermitteln. Dieser objektivierte Unternehmenswert kann bei einer Transaktion als Ausgangsbasis von Preisverhandlungen dienen. Zugleich bildet dieser Wert die Basis für eine gegebenenfalls nachfolgende Überleitung zu einem subjektiven Unternehmenswert. Zum subjektiven Unternehmenswert gelangt man, indem ausgehend vom objektivierten Unternehmenswert zur Wertermittlung individuelle Vorstellungen des Investors einbezogen werden. In den subjektiven Unternehmenswert fließen somit individuelle Wertkomponenten des Entscheiders und beabsichtigte Fortführungskonzepte ein, die z.B. durch Restrukturierungen oder über Synergienutzung weiteren Wert schaffen.47
3.37
V. Prozess der Unternehmensbewertung Der Prozess der Unternehmensbewertung erfordert unabhängig vom angewendeten Bewertungsverfahren ein mehrstufiges Vorgehen.48
3.38
Zunächst weist die Abgrenzung der Bewertungseinheit Priorität auf. Das Ziel ist hierbei, sich 3.39 einen kompletten und detaillierten Überblick über das zu bewertende Unternehmen im Hinblick auf Struktur, steuerliche, wirtschaftliche und rechtliche Grundlagen zu verschaffen. Diese schließen neben konkreten Hinweisen auf die vorhandenen (und bei Transaktionen vor allem auf die nicht aus dem Altbestand übernommenen) Vermögensgegenstände, einen vollständigen Überblick über die Unternehmensstruktur einschließlich bestehender Beteiligungsquoten, über konkret bestehende wirtschaftliche Verflechtungen bis hin zu hinsichtlich konkreten steuerlichen und rechtlichen Besonderheiten (einschließlich Detailinformationen über Satzungen, Gewinnverteilungen und Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge) ein. Von wesentlicher Bedeutung sind auch die Kenntnis und Würdigung über Gegebenheiten und tatsächliche Kontroll- wie Zugriffsrechte von beispielsweise Holdingunternehmen auf die Vermögen in Tochtergesellschaften. Sofern sich ein Unternehmen im Bewertungszeitpunkt und in Zukunft von der jüngeren Vergangenheit unterscheidet, bildet z.B. im Falle des Abgangs bedeutender Tochtergesellschaften in der jüngeren Vergangenheit die Entkonsolidierung und Aufbereitung der Konzern-/und Einzelabschlüsse eine wesentliche Voraussetzung für den Eintritt in den nachfolgenden Schritt der Status-Quo-Analyse.
3.40
Im Rahmen der Status-Quo Analyse wird das Unternehmens im Ist-Zustand konkret ana- 3.41 lysiert. Typischerweise gehören zum Stadium der Status-Quo-Analyse diejenigen Arbeitsschritte, welche im Rahmen einer Financial-, Tax-, Operational- und Commercial-Due Diligence durchgeführt werden. Die Status-Quo-Analyse ihrerseits erstreckt sich inhaltlich von der nach den Vorschlägen des Bewertungsstandards der Wirtschaftsprüfer (IDW S 1) als Start46 Z.B. in der Eigenschaft als gerichtlich bestellter Übertragungsgutachter im Squeeze-out-Verfahren. 47 Vgl. Siepe, WPg. 1997 Teil I, S. 2; WPHdb. II/2014, Rz. A 14–A 32. 48 Vgl. Popp, S. 101.
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Kap. 3 Rz. 3.42
Bewertung
phase einer Unternehmensbewertung vorgesehenen Vergangenheitsanalyse bis hin zu der einer kompletten Planungsanalyse vorangestellten Markt- und Wettbewerbsanalyse. Die Ziele der Status-Quo-Analyse liegen in der Identifikation wesentlicher bewertungsrelevanter Stärken, Schwächen sowie Chancen und Risiken des zu bewertenden Unternehmens.
3.42 Anschließend setzt sich der Bewertungsprozess mit dem Stadium der Planungsanalyse fort. Aufbauend auf den Erkenntnissen aus den vorangegangenen Vorarbeiten wird entweder ein eigener Unternehmensplan für Bewertungszwecke entwickelt oder alternativ wird ein bereits vorliegender Geschäfts- und Unternehmensplan auf Plausibilität hin untersucht. Sofern es sich bei dem zu bewertenden Unternehmen um junge Unternehmen, Start-ups, Einzelunternehmen etc. handelt, können an der Grenze von Status-Quo Analyse und Planungsanalyse auch typische investorenbezogene Tätigkeiten wie z.B. das „Challenging“ von Geschäftsplänen, Strategien und Fähigkeiten der Gründer oder des Managements mit Bestandteil der Bewertungsüberlegungen und Plausibilisierungshandlungen sein.
3.43 Das Ziel dieses strukturierten Bewertungsprozessschritts besteht in der Erstellung und Ableitung einer angemessenen und für die Unternehmensbewertung verwendbaren, plausiblen, dokumentierten und nachvollziehbaren Planungsrechnung die zur Prognose der künftig erwarteten Überschüsse (Soll-Zustand) herangezogen werden kann.49 Ist der Käufer des zu bewertenden Unternehmens selber ein Unternehmen, ist ergänzend die Analyse von Werteffekten aus möglichen Synergien und Umstrukturierungen empfehlenswert.50
Unternehmenswert Ertragswertmethode DCF-Methode Diskontierung mit Opportunitätskosten
Zeit Vergangenheitsanalyse
Einnahmeüberschüsse/Cash-flows Detaillierte Planungsrechnung
Ewige Rente Prognose nachhaltiger Überschüsse
Abb. 4: Kapitalwertorientierte Unternehmensbewertung
3.44 Die Schritte Abgrenzung der „Bewertungseinheit“, „Status-Quo-Analyse“ und „Planungsanalyse“ stellen das Fundament der Unternehmensbewertung dar. Wird diese Aufgabe nicht sorgfältig erledigt, ist die gesamte Bewertung zum Scheitern verurteilt, da die wesentlichsten wirtschaftlichen, rechtlichen und unternehmensindividuellen Sachverhalte nicht hinreichend genug gewürdigt worden sind und somit die wesentlichsten Bewertungsgrundlagen nicht kor49 Vgl. WPHdb. II/2008, Rz. A 223–A 227. 50 Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 5–7.
114
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C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.46 Kap. 3
rekt ermittelt wurden.51 Nach Abschluss dieser vorbereitenden Schritte liegen hinsichtlich der prognostizierten Überschüsse die wesentlichsten Bewertungsgrundlagen fest.
C. Methodische Grundlagen I. Überblick Im Wesentlichen finden folgende drei Bewertungskonzepte Anwendung: Gesamtbewertungsverfahren, Einzelbewertungsverfahren und Mischverfahren.
3.45
Bewertungsverfahren
Gesamtbewertungsverfahren
Einzelbewertungsverfahren
Mischverfahren
Substanzwerte Ertragswertverfahren
Discounted Cash FlowVerfahren WACCAnsatz
Market Approach
Liquidationswerte
Comparative Company Approach
APV-Ansatz EquityApproach
Market Multiples
Abb. 5: Überblick über die Bewertungsverfahren
Gesamtbewertungsverfahren sind die gebräuchlichsten Bewertungsverfahren. Dort werden 3.45a Unternehmen als Bewertungseinheit angesehen, deren Wert sich aus zukünftig erzielbaren Erträgen ableitet. Zu den Gesamtbewertungsverfahren zählen die Ertragswertmethode, das Discounted Cash-Flow-Verfahren und der Market Approach. Innerhalb der Gesamtbewertungsverfahren unterscheidet man Verfahren, die Bruttounternehmenswerte (Summe aus Eigenkapital und Fremdkapital) bestimmen oder die direkt der Bestimmung von Nettounternehmenswerten (Eigenkapitalwerte) dienen. Einzelbewertungsverfahren dienen zur Ableitung der Unternehmenswerte aus der Summe der Werte einzelner Unternehmensbestandteile und Vermögensgegenstände. Hierbei ist zu differenzieren, ob die einzelnen Unternehmensbestandteile unter der Prämisse der Unter-
51 Vgl. Henselmann, S. 70–75.
Keim/Jeromin
115
3.46
Kap. 3 Rz. 3.47
Bewertung
nehmensfortführung (Substanzwert) oder unter der Prämisse der Liquidation (Liquidationswert) zu bewerten sind.
3.47 Da Einzelbewertungsverfahren im Gegensatz zu Gesamtbewertungsverfahren grundsätzlich erwartete zukünftige Zahlungsüberschüsse außer Acht lassen, führen Wertermittlungen auf Basis von Einzel- und Gesamtbewertungsverfahren sowohl regelmäßig zu unterschiedlichen Ergebnissen als auch im Einzelfall zu widersprüchlichen Würdigungen.
3.48 Die Kombination von Methoden der Gesamtbewertungs- und Einzelbewertungsverfahren führt zu den sog. Mischverfahren, bei denen i.d.R. sowohl Substanzwertüberlegungen als auch kapitalwertorientierte Aspekte parallel bei der Wertermittlung Anwendung finden. Diese Bewertungsmethodik wurde in der Vergangenheit vor dem Hintergrund des Bestrebens entwickelt, einen gewissen Ausgleich zwischen den Bewertungsunterschieden von Gesamt- bzw. Einzelbewertungsverfahrens herzustellen.
3.49 Einzelne Mischverfahren unterscheiden sich im Wesentlichen danach, in welchem Maße sie jeweils Substanz- oder zukunftsorientierte Wertkomponenten (Ertragswertkomponenten) betonen. Mischverfahren (wie z.B. das „Stuttgarter Verfahren“) gelten nach allgemeiner Überzeugung der Fachwelt heutzutage nicht mehr als zeitgemäß.
3.50 Allerdings kann nicht außer Acht gelassen werden, dass aktuelle steuerliche Bewertungsvorschriften bei Fragen der Unterbewertung sich nicht vollständig von dem Substanzwertgedanken und den auf Mischverfahren beruhenden Bewertungsüberlegungen verabschiedet haben. Dieses wird insbesondere deutlich vor dem Hintergrund der ausufernden Bedeutung des sog. Substanzwerttests bei schenkungs- und erbschaftsteuerlichen Bewertungsanlässen.
3.51 Mischverfahren werden von der Fachliteratur als ungeeignet angesehen52 und gelten nicht als geeignete Basis für die Ermittlung von Entscheidungswerten.53 Die Autoren stehen dieser Einschätzung jedoch insoweit kritisch gegenüber, als es sehr wohl eine nicht unerhebliche Anzahl von praktischen Bewertungsfällen gibt, in denen mischwertorientierte Bewertungsansätze teilweise nicht nur für gangbar und verlässlich sondern im Einzelfall sogar als die einzige geeignete Bewertungsmethodik gelten.
3.52 Letztlich sollte für den Praktiker nicht die mathematische und wissenschaftliche Eleganz das Entscheidungskriterium für die Auswahl eines geeigneten Bewertungsverfahrens sein. Vielmehr ist entscheidend, mit welchem Bewertungsverfahren das Wertpotential eines konkret bestehendes Unternehmen unter Abwägung bestehender Information und Informationsdefizite am ehesten und verlässlichsten bestimmt werden kann.
II. Gesamtbewertungsverfahren 3.53 Gesamtbewertungsverfahren gelten als kapitalwertorientierte Verfahren, die ihre theoretische Fundierung in den modernden Ansätzen der Portfolio- und Kapitalmarkttheorie haben. Diese Verfahren sind sowohl von der Theorie, der Praxis als auch von der Rechtsprechung als geeignete Bewertungsverfahren akzeptiert. Nach diesen Verfahren ergibt sich der Unternehmenswert aus der Kapitalisierung zukünftiger Einzahlungen bzw. Erträge auf den jeweiligen Bewertungsstichtag unter Verwendung geeigneter Zinssätze. 52 Vgl. Lausterer, S. 116–120. 53 Vgl. Mandl/Rabel, S. 380; Großfeld, S. 53 und S. 260 ff.
116
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.59 Kap. 3
Bei der Zinsermittlung stehen alternative Wege zu Verfügung. Entweder sie werden aus Vergleichsstudien abgeleitet, aus Urteilen der Rechtsprechung zu vergleichbaren Verfahren und Zeiträumen entnommen, aus Erfahrungswerten von Management und Bewerter abgeleitet oder unter Verwendung theoretisch fundierter finanzmathematischer Ansätze abgeleitet.
3.54
Auch wenn es in der Praxis heutzutage überwiegend anerkannt, akzeptiert und verbreitet ist, bei der Zinsableitung dem Versuch einer Objektivierung Vorrang einzuräumen und die Zinsbestimmung anhand theoretisch fundierter finanzmathematischer Modelle (z.B. CAPM) abzuleiten, ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, den Kapitalisierungszinssatz auch anhand weniger verbreiteter und nicht auf den Füßen der modernen Kapitalmarkttheorie stehender Methoden zu bestimmen.
3.55
Hier kommt es im Zweifel immer auf den Bewertungszweck und vor allem auf die Verlässlichkeit und Dokumentierbarkeit der Parameterschätzungen an. Auch wenn üblicherweise unterstellt wird, dass eine objektivierte CAPM-gestützte Zinsermittlung den State-of-the-Art darstellt, steht und fällt diese Auffassung letztlich mit der Verlässlichkeit der verwendeten Parameter. Ist Parameterverlässlichkeit einer CAPM-basierten Zinsermittlung nicht gegeben, gilt das Prinzip des „Substance-over-Form“. D.h. im Zweifel ist dann unter Umständen einer weniger sophistizierten Methode Vorrang einzuräumen, wenn dadurch der Kapitalisierungszinssatz eine dokumentierbar höhere Aussagekraft oder Nachvollziehbarkeit hat.
3.56
Generell gilt, dass der für die Kapitalisierung zu verwendende Zinssatz die zur alternativ möglichen Anlage- bzw. Investitionsgelegenheit vergleichbare und risikoadäquate Verzinsung widerspiegeln soll und das Opportunitätsprinzip der Unternehmensbewertung erfüllen muss.
3.57
Zu den Gesamtbewertungsverfahren zählen das Ertragswertverfahren, das Discounted Cash-Flow-Verfahren (DCF-Verfahren) sowie diverse Bewertungsverfahren, die unter dem Begriff des Market Approaches zusammengefasst werden. Insbesondere die Ertragswert- wie auch die DCF-Verfahren nutzen zur Wertermittlung moderne statistisch-mathematische Methoden und Erkenntnisse der Finanz- und Kapitalmarkttheorie. Aufgrund ihres zukunftsorientierten Ansatzes haben diese Bewertungsverfahren einen hohen Stellenwert54 in der heutigen Bewertungspraxis.55 International werden überwiegend die DCF-Verfahren56 präferiert. Analoges gilt für Deutschland, soweit Unternehmensbewertungen für Zwecke internationaler Rechnungslegungsvorschriften oder bei der Bewertung im Rahmen von Mergers & Acquisitions Transaktionen durchgeführt werden.57
3.58
Während noch vor gut ein bis zwei Dekaden in Deutschland das Ertragswertverfahren beinahe jede kapitalwertorientierte Bewertung dominierte, haben in Deutschland DCF-Bewer-
3.59
54 Diese Aussage wird durch eine im Dezember 2003 abgeschlossene Analyse der Saubach, Blühm & Co. Unternehmensplanung GmbH untermauert. Demnach besitzen Ertragswert- und DCF-Verfahren in der derzeitigen Unternehmenspraxis im Vergleich zu anderen Bewertungsmethoden einen überragenden Stellenwert. 55 Vgl. Löhnert/Böckmann, S. 403. 56 Hierzu zählen insbesondere das WACC-Verfahren, der APV-Ansatz sowie der sog. Equity-Approach. Vgl. Moser, S. 117. 57 So ist die Anwendungshäufigkeit des DCF-Verfahrens bei der Bewertung von internationalen Mergers & Acquisitions von deutschen Unternehmen von 25 % im Jahr 1990 auf 95 % im Jahr 1998 gestiegen. Universalbanken, Investmentbanken und Unternehmensberatungen verwenden zu 100 % das DCF-Verfahren. Andere Verfahren werden ergänzend eingesetzt. Vgl. Peemöller/Kunowski/Hillers, S. 623.
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Kap. 3 Rz. 3.60
Bewertung
tungsverfahren mittlerweile eine so hohe Akzeptanz erreicht, dass sie bei nahezu allen größeren Transaktionen das Ertragswertverfahren ersetzt haben. Nur noch bei Bewertungen insbesondere für zivilrechtliche Zwecke (Ermittlung von Abfindungen, Abschichtungsguthaben, Verschmelzungswertrelationen), bei steuerrechtlichen Zwecken (z.B. Bewertungen für erbschaftsteuerliche Zwecke) bei der Bewertung kleinerer Unternehmen oder Unternehmen mit unsicherer Datenbasis dominiert in Deutschland noch das Ertragswertverfahren.
3.60 Vom Berufsstand der Wirtschaftsprüfer werden DCF-Verfahren und Ertragswertverfahren als gleichwertige Alternativen anerkannt.58
3.61 Bei der Anwendung von DCF- und Ertragswertverfahren sind die buchhalterischen Mindestvoraussetzungen streng zu beachten.
3.62 Ohne gut integrierte Planung der Gewinn- und Verlustrechnung, Bilanz und Cash-FlowRechnung („integrierte“ Planung), die eine umfängliche und widerspruchsfreie Verarbeitung der wesentlichsten Bewertungsannahmen gewährleisten, sind weder eine sachgerechte DCFnoch Ertragswertermittlung möglich.
3.63 Bei den im internationalen Umfeld sowie im Bankenumfeld weit verbreiteten marktorientierten Verfahren (Market Approach) werden Unternehmenswerte aus Vergleichsüberlegungen abgeleitet. Grundlage dieser Verfahren sind beobachtete Markt- oder Börsenpreise sowie unternehmensindividuelle Finanz- und sonstige Unternehmenskennzahlen vergleichbarer Unternehmen. In der Vergangenheit nahmen diese Bewertungsverfahren in Deutschland eine untergeordnete Stellung ein.59 Dieses war auf die im Vergleich zu den USA verhältnismäßig geringere Anzahl börsennotierter Unternehmen und die daraus resultierende geringere Zahl von Unternehmenstransaktionen zurückzuführen. Außerdem spielten Datenbeschaffungsprobleme eine Rolle spielen, welche insbesondere aus der für den deutschen Kapitalmarkt typischen, geringeren Transparenz (z.B. durch das Fehlen wesentlicher Angaben zu einzelnen Transaktionen) resultieren dürften.
3.64 In den letzten Jahren ist in der deutschen Bewertungspraxis ein spürbarer Trend zu ergänzenden marktwertbasierten Bewertungen zu beobachten.60 Kosten und Verfügbarkeiten geeigneter Kapitalmarkt- und Vergleichsdaten stellen kein Hindernis mehr für die Durchführung marktorientierter Bewertungsverfahren dar. Dieses gilt insbesondere bei transaktionsvorbereitenden oder transaktionsnahen Unternehmensbewertungen. Dementsprechend kann nach IDW S 1 dieses Verfahren ergänzend zur Plausibilisierung einer Unternehmensbewertung verwendet werden.
3.65 Eine eigenständige Bedeutung weisen Multiplikatoranalysen bei der Erstellung von Fairness Opinions. Hier besteht explizit eine Vorgabe zur methodenübergreifenden Unternehmens58 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Abschnitt 7, insbesondere Rz. 101. 59 In Deutschland waren 1998 ca. 800 Unternehmen börsennotiert, in den USA mehr als 13 000, vgl. Ballwieser, DB 1997, 83 und Sanfleber-Decher, WPg. 1992, 597. Diese Aussage ändert sich auch nicht, wenn aktuellere Zahlen verwendet werden. So geht Ballwieser in seiner neueren Veröffentlichung von über 1 000 in Deutschland notierten Unternehmen aus. Vgl. Ballwieser in Kruschwitz/Heintzen, S. 18. 60 Die Anwendungshäufigkeit des Market Approaches bei internationalen Mergers & Acquisitions ist von 8 % im Jahr 1990 auf 73 % im Jahr 1998 gestiegen. Insbesondere Unternehmensberatungen, Investmentbanken und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften verwenden dieses Verfahren mit einer Häufigkeit von 80 % und mehr. Vgl. Peemöller/Kunowski/Hillers, S. 623.
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C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.70 Kap. 3
bewertung. Die marktwertorientierten Verfahren stellen in diesem Rahmen gleichberechtigte Entscheidungskriterien für die Urteilsbildung dar. 1. Ertragswertverfahren a) Grundsätzliche Überlegungen zum Ertragswertverfahren Mit dem Ertragswertverfahren werden Nutzen bzw. Erfolg einer Investition oder Kapital- 3.66 anlage durch die Höhe zukünftig erwirtschafteter Überschüsse bestimmt. Es existieren verschiedene monetäre Stromgrößen, mit denen die erzielten Überschüsse gemessen werden können: Netto-Einnahmen des Investors, Netto-Ausschüttungen aus dem Unternehmen, Cash-Flows des Unternehmens und der Periodenerfolg des Unternehmens.61 Die Netto-Einnahmen des Investors umfassen alle Geldbeträge, die ihm aus dem Investitionsobjekt zufließen. Dabei sind Steuern zu berücksichtigen. Grundsätzlich ist für Wertfindung bei einer Unternehmensbewertung die Sicht des Investors anstatt derjenigen des zu bewertenden Unternehmens selber entscheidend. Diese Aussage ist zu relativieren, wenn die Unternehmensbewertung bzw. eine Beteiligungsbewertung zum Zwecke der Erstellung eines handelsrechtlichen Jahresabschlusses erfolgt und die Investoren eine gruppen- oder konzernweite Gesamtbetrachtung anstellen.62
3.67
Ausgehend von einer detaillierten Investitionsrechnung werden für die Auswahl einer optimalen Investitionsentscheidung diejenigen Anlagealternativen ausgewählt, die den höchsten Barwert für den Investor erwirtschaften. Unter theoretischen Gesichtspunkten ist die Erfolgsgröße Netto-Einnahme des Investors aus der Gruppe der möglichen Messgrößen die richtige Erfolgsgröße.63 Da die Prognose der Einnahmen eines Investors jedoch relativ komplex ist, wird i.d.R. auf andere monetäre Stromgrößen als Erfolgsindikator zurückgegriffen.
3.68
Anstelle der Netto-Einnahmen des Investors sind alternativ Netto-Ausschüttungen des Un- 3.69 ternehmens als Erfolgsgröße verwendbar. Hierbei wird vereinfachend unterstellt, dass die vom Unternehmen erwirtschafteten Einzahlungsüberschüsse nach erfolgter Bedienung der fälligen Ansprüche von Fremdkapitalgebern an die Eigenkapitalgeber ausgeschüttet werden. Das IDW unterscheidet in seinen Bewertungskonzeptionen danach, ob Investoren in ihre Entscheidungsfindung persönliche Einkommensteuern mit einbeziehen (unmittelbare Typisierung) oder nicht (mittelbare Typisierung).64 Wird von einer vollständigen Ausschüttung der Einzahlungsüberschüsse ausgegangen, bezeichnet man diese Vorgehensweise als Vollausschüttungsfiktion.65 Im Unterschied zur Orientierung an den Netto-Einnahmen bleiben bei der Orientierung an den Netto-Ausschüttungen die persönlichen steuerlichen Belastungen der Investoren und externe Synergien unberücksichtigt. Zur Schätzung der Erfolgsgröße Ausschüttung (insbesondere hinsichtlich der Höhe zukünftiger Gewinne sowie der Ausschüttungsquoten), kann eine mittelbare Prognose der monetären Stromgrößen zwischen Investor und Unternehmen erfolgen. Hierzu sind die
61 Eine grafische Darstellung der Zahlungsströme findet sich bei Helbling, S. 100. 62 In diesem Falle handelt es sich um eine Bewertung auf Grundlage des IDW RS HFA 10. 63 Die Netto-Einnahmen des Investors werden auch als Netto-Cash-Flows bezeichnet. Vgl. Mandl/ Rabel, S. 33. 64 WPHdb. II/2008, Rz. A 3 sowie IDW S 1 id.F. 2008, Rz. 43–47. 65 Vgl. Mandl/Rabel, S. 34.
Keim/Jeromin
119
3.70
Kap. 3 Rz. 3.71
Bewertung
Zahlungen zwischen dem Unternehmen und seiner Umwelt (Kunden, Lieferanten, Mitarbeiter etc.) zu analysieren.
3.71 Da die meisten Unternehmen in der Vergangenheit nicht über ein zahlungsstromorientiertes Planungssystem verfügten, war ihnen die Prognose von Einzahlungsüberschüsse über einen langen Planungszeitraum nur mit hohem Implementationsaufwand möglich, weshalb sich historisch ertragswertorientierte Bewertungen einer größeren Beliebtheit erfreuten. Bei der Ertragswertberechnung wird für die Unternehmensbewertung und Entscheidungsfindung auf prognostizierte Aufwendungen und Erträge in Form von Plan-Gewinn- und Verlustrechnungen zurückgegriffen. Bei der Ermittlung des zukünftigen Periodenerfolgs ist zu bedenken, dass zwischen Erträgen und Einnahmen sowie Aufwendungen und Ausgaben teilweise erhebliche zeitliche Differenzen bestehen. Infolgedessen erfordert eine sachgerechte Unternehmensbewertung insbesondere bei Anwendung des Ertragswertverfahrens immer eine vollintegrierte Planung, bestehend aus Plan-Gewinn- und Verlustrechnung, Bilanzplanung und CashflowPlanung die idealerweise um die Nebenrechnungen Investitions- und Abschreibungsplanung und Working-Capital-Planung ergänzen sind.
3.72 Nur in einigen besonders eingeschränkten Einzelfällen kann eine Ertragswertrechnung unter einem stark vereinfachten Planungssystem hinreichend genaue Bewertungsergebnisse liefern. Dieses setzt allerdings voraus, dass unter dem Blickwinkel der Wesentlichkeit alle vorrangig bewertungsrelevanten Vorgänge mit Auswirkungen auf die Zahlungsströme und die wesentlichsten Bilanzpositionen des zu bewertenden Unternehmens korrekt abgeschätzt werden. Dieses vereinfachte Vorgehen macht in jedem Fall jedoch die Erstellung einer mehr oder weniger detaillierten Nebenrechnung in Form einer langfristigen Finanzbedarfsrechnung66, Investitions- und Abschreibungsrechnung sowie Working-Capital-Planung notwendig.67
3.73 Steuerzahlungen mindern die erwarteten Überschüsse des Investors, weshalb bei der Ertragswertberechnung grundsätzlich sämtliche aus Sicht des Investors anfallenden Steuern bei der Ableitung der Erträge und damit bei der Ertragswertermittlung zu berücksichtigen sind. Welche Steuern im Einzelfall konkret zu berücksichtigen sind, hängt maßgeblich vom Bewertungszweck und vom Investor ab.
3.74 Wird eine Unternehmensbewertung aus der Sichtweise eines Privatinvestors auf Basis des IDW S 1 durchgeführt, sind unter Anwendung der Bewertungsgrundsätze von der unmittelbaren Typisierung für die Erstellung der Unternehmensplanung sowie für die Wertermittlung sowohl Unternehmen- als auch persönliche Einkommensteuern relevant.68 Ein Unternehmenswert, der nach dem IDW S 1 unter Verwendung der unmittelbaren oder mittelbaren Typisierung als ein intersubjektiv nachprüfbarer Zukunftserfolgswert aus Sicht der Anteilseigner bestimmt wird, ist ein objektivierter Unternehmenswert69.
3.75 Wird eine Unternehmensbewertung stattdessen aus der Sicht eines Unternehmens (Kapitalgesellschaft) durchgeführt und erfolgt hierbei eine Unternehmensbewertung auf Basis des 66 Vgl. Jonas, BFuP 1995, S. 86. 67 Vgl. HFA 2/1983, S. 103. 68 Unmittelbare Typisierung wird i.S.d. IDW 1 i.d.F. 2008 grundsätzlich nur noch für Bewertungen empfohlen, die auf gesellschaftsrechtlicher oder vertraglicher Basis erfolgen (vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 48). In allen anderen Fällen empfiehlt der IDW, die Bewertung auf Basis des Konzepts der mittelbaren Typisierung, d.h. ohne Berücksichtigung persönlicher Einkommensteuern vorzunehmen (vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 45). 69 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 29.
120
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.79 Kap. 3
IDW RS HFA 10 (oder auf Basis von Wertermittlungen nach IDW RS HFA 8 (Fairness Opinion) unter Einbeziehung von individuellen, Auftraggeber bezogenen Komponenten70, ist die unmittelbare Typisierung nicht anwendbar. Da die IDW RS HFA 8 und IDW RS HFA 10 das Konzept um subjektive Entscheidungsbestandteile erweitern, werden dort subjektivierte Unternehmenswerte ermittelt.71 Werden bei der Unternehmensbewertung zwar Unternehmensteuern, nicht jedoch persönli- 3.76 che Einkommensteuern privater Investoren (mittelbare Typisierung) berücksichtigt, bezeichnet man die Bewertungsmethode als eine Vorsteuerrechnung. Fließt zusätzlich die persönliche Einkommensteuerlast der Privatinvestoren in die Wertermittlung ein (unmittelbare Typisierung), wird die Bewertungsmethode als eine Nachsteuerrechnung72 bezeichnet. Eine Nachsteuerrechnung i.S.d. IDW S 1 gilt grundsätzlich als objektivierte Bewertung. Die folgende Grafik skizziert die Bewertungsmethodik des Ertragswertverfahrens für die Ab- 3.77 leitung eines objektivierten Unternehmenswertes auf Basis einer Nachsteuerrechnung unter Verwendung der unmittelbaren Typisierung gemäß IDW S 1. Sofern eine Wertableitung im Rahmen des IDW S 1 im Rahmen einer mittelbaren Typisierung oder nach den Standards IDW RS HFA 8 bzw. IDW RS HFA 10 jeweils als Vorsteuerrechnung erfolgt, ändert sich die Grafik dahin gehend, dass die zu kapitalisierenden Überschüsse nicht um persönliche Einkommensteuer zu mindern sind. Außerdem entfällt in diesem Fall der nachstehend skizzierte Abzug für die individuelle Ertragsteuer Belastung im Kapitalisierungszinssatz (s. Abbildung 6, S. 122). Rechnerisch entspricht der Ertragswert dem Barwert sämtlicher zukünftiger Erträge. Für dessen Berechnung muss neben den Zukunftserfolgen der Kapitalisierungszinssatz bekannt sein. Um aus dem Ertragswert auf den Unternehmenswert zu schließen, benötigt der Bewerter zusätzlich Informationen über den Umfang und Gegenwert des nicht betriebsnotwendigen Vermögens.
3.78
Seit der erstmaligen Verabschiedung des IDW Standards RS HFA 10 am 29.9.2003, der sich mit der Wertermittlung aus der Sicht eines Unternehmens als Gesellschafter befasst und insbesondere mit der Fassung des IDW S 1 i.L. 2008 ist die Nachsteuerrechnung grundsätzlich nur noch für eingeschränkte Bewertungszwecke (z.B. in den Fällen der §§ 304, 305 AktG und §§ 327a-f AktG, d.h. in Fällen, in denen Privatpersonen als Gesellschafter/Aktionär abgefunden werden sowie in Fällen, in denen aufgrund gesellschaftsvertraglicher Regelungen zwingend die Nachsteuerrechnung anzuwenden ist) erforderlich.73
3.79
70 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 40. 71 Selbiges kann für Privatinvestoren gelten, sofern diese im Inland keiner persönlichen Einkommensteuerbelastung unterliegen (z.B. ausländische Investoren). 72 In der Stellungnahme IDW S 1 i.d.F. v. 28.6.2000 fordert das Institut der Wirtschaftsprüfer, dass bei der Unternehmensbewertung grundsätzlich die persönlichen Ertragsteuern des Investors zu berücksichtigen sind. Auch die Neufassung des IDW ES 1 i.d.F. v. 9.12.2004 geht von der Notwendigkeit einer Nachsteuerrechnung aus. Seit dem IDW S 1 i.d.F. 2008 unterscheidet das IDW nach mittelbarer und unmittelbarer Typisierung. Während vor dem IDW S 1 i.d.F. 2008 nur eine „Nachsteuerrechnung“ als objektivierte Unternehmensbewertung angesehen worden ist, kann nunmehr auch eine entsprechend dem Konzept der mittelbaren Typisierung vorgenommene Vorsteuerrechnung als objektivierte Bewertung angesehen werden. 73 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 46.
Keim/Jeromin
121
Kap. 3 Rz. 3.80
Bewertung
3.80 Ertrag (nach Abzug individueller Ertragsteuerbelastung) Jahr 1 Jahr n
Diskontierung
Ertragswert
Kapitalisierungszinsfuß
Unternehmenswert
Landesüblicher Zins Risikozuschlag Individuelle Ertragsteuerbelastung des Investors
Basis: Portfoliorendite/ Kapitalmarktrendite
Nicht betriebsnotwendiges Vermögen
Abb. 6: Ertragswertverfahren (objektivierte Bewertung, unmittelbare Typisierung, Nachsteuerrechnung) Quelle: in Anlehnung an Hafner, BFuP 1995, 82.
3.81 Grundsätzlich führen – im Gegensatz74 zur Vergangenheit75 – die gegenwärtig angewandten Bewertungsregelungen unabhängig vom Ansatz eines Wachstumsabschlags bei Vor- und Nachsteuerrechnung zu vergleichbaren Unternehmenswerten.
3.82 Das nichtbetriebsnotwendige Vermögen wird nach den Kriterien der bestmöglichen Verwendung einer separaten Bewertung unterzogen. Dabei wird der Liquidations- bzw. Veräußerungserlös der einzelnen Vermögensgegenstände des nicht betriebsnotwendigen Vermögens angesetzt.
3.83 Wird von einer unendlichen Fortführung des Unternehmens ausgegangen, berechnet sich der Unternehmenswert (UW0) nach der folgenden Gleichung:76
74 Das in der Vergangenheit beobachtete Auseinanderfallen von Vor- und Nachsteuerwerten war technisch eine Folge des sog. Steuerparadoxons. Zu detaillierten Ausführungen zum Steuerparadoxon und den daraus folgenden wirtschaftlichen Implikationen vgl. Schneider, S. 246 f. 75 In der Vergangenheit, insbesondere unter Geltung des Bewertungsstandards IDW S 1 i.d.F. 2000, führten Vor- und Nachsteuerbewertungen zu unterschiedlichen Werten. Nur im Sonderfall konstanter finanzieller Überschüsse (konstante ewige Renten) liefen die Bewertungsergebnisse von Vor- und Nachsteuerrechnung damals zusammen; vgl. WPHdb. II/2002, S. 75–79, WPHdb. II/2014, S. 113 ff. Vgl. auch Tschöpel/Wiese/Willershausen, 533 f. 76 Vgl. Mandl/Rabel, S. 31 f.
122
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.88 Kap. 3
∞
UW0 = ∑ Et ∙ (1 + r)−t + N0 , t=1
mit: Et = zukünftige Erträge, r = Kapitalisierungszinssatz, N0 = Barwert des nicht betriebsnotwendigen Vermögens. Die Höhe des Kapitalisierungszinssatzes leitet sich aus der Rendite der besten, dem Investor zur Verfügung stehenden alternativen Kapitalanlage (Alternativanlage) ab. Eine Vergleichbarkeit der Investitionsmöglichkeiten ist nur gegeben, wenn die zu bewertenden und zu vergleichenden Investitionsmöglichkeiten hinsichtlich Laufzeitstruktur, Verfügbarkeit und Ausschüttungsquote, Unsicherheit, Kaufkraft und Besteuerung übereinstimmen.
3.84
Wird vereinfachend unterstellt, dass kein nicht betriebsnotwendiges Vermögen vorhanden ist und die Unternehmenserträge in den zukünftigen Perioden konstant sind, dann entspricht der Unternehmenswert dem Barwert einer ewigen Rente:
3.85
E UW0 = r1 .
Unter der Annahme eines kontinuierlichen Wachstums (w) der zukünftigen Erträge (E1) in der ewigen Rente erhöht sich der Unternehmenswert. Er errechnet sich dann folgendermaßen:
3.86
(1 + w) ∙ E E UW0 = r −1w = r − w 0 .
Bei der abschließenden Bestimmung und Würdigung des Unternehmenswerts mithilfe des Ertragswertverfahrens sind noch folgende Kontrollüberlegungen erforderlich: Zunächst sollte der Unternehmenswert bei Fortführung mit dem entsprechenden Liquidationswert abgeglichen werden, da der Liquidationswert die Untergrenze des Unternehmenswerts repräsentiert.77 Hiervon ist nur dann abzuweichen, wenn eine Liquidation des zu bewertenden Unternehmens aus rechtlichen oder sonstigen tatsächlichen Gründen nicht möglich oder aus überzeugenden Gründen nicht geplant bzw. nicht unterstellt werden kann. Weiterhin wird vorgeschlagen, den Unternehmenswert nach Abschluss der Bewertungsarbeiten unter Verwendung von Marktpreisen vergleichbarer Unternehmen oder mittels Rückgriff auf Multiplikator basierte Bewertungsverfahren auf Plausibilität zu kontrollieren.78
3.87
b) Begrenzte vs. ewige Lebensdauer eines Unternehmens Nach allgemeiner Auffassung führen Vor- und Nachsteuerrechnung grundsätzlich immer zum selben Unternehmenswert, sofern die der Bewertung zugrunde liegenden Annahmen identisch sind. Als Beweis für diese These wurde in der Literatur vorwiegend auf eine mathematische Grenzwertbetrachtung einer Vorsteuerwertermittlung gemäß der Gleichung T
UW0 = ∑ Et ∙ (1 + r)−t t=1
77 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 140 sowie LG München v. 23.4.2009 – 5 HK O 542/09, rkr., AG 2009, 634. 78 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 143.
Keim/Jeromin
123
3.88
Kap. 3 Rz. 3.89
Bewertung
mit einer Nachsteuerrechnung verwiesen: T
UW0 = ∑ (1 − s) ∙ Et ∙ (1 + (1 − s) ∙ r)−t t=1
3.89 Für den Fall einer Bewertung unter der Annahme einer ewigen Rente konvergiert der Zeitindex gegen unendlich und die Ergebnisse führen dann für den Fall einer ewigen Rente sowohl die Vor- als auch die Nachsteuerrechnung zu demselben Barwert i.H.v. E UW0 = r1 .
3.90 Ursächlich für die absolute Wertidentität von Vor- und Nachsteuerrechnung ist unter diesen Annahmen einer unendliche Bewertungsperspektive.
3.91 Sobald man von einer unendlichen Bewertungsperspektive abweicht, führen Vor- und Nachsteuerrechnung niemals zu identischen Ergebnissen. Bei einer Nachsteuerrechnung ist die Summe der kapitalisierten Rückflüsse nach Steuern immer kleiner als die Summe der kapitalisierten Rückflüsse einer Vorsteuerrechnung, sobald man eine begrenzte Laufzeit unterstellt. Die Angleichung der Bewertungsergebnisse von Vor- und Nachsteuerrechnung findet – finanzmathematisch gesprochen – im Grenzwertwert der Unendlichkeit statt. Beispiel: Eine Investition erbringt bei Steuersatz von 30 % und Zinssatz von 10 % ein gleichbleibendes Einkommen von 100 Euro. Je kürzer die Laufzeiten sind, umso mehr weichen die Bewertungsergebnisse von Vor- und Nachsteuerrechnung ab. Gegenläufig könnten im Einzelfall lediglich Effekte aus dem Ansatz eines Wachstumsabschlags auswirken.
Laufzeiten
Vorsteuer-Berechnung
Nachsteuerrechung gemäß traditionellem Konzept
Nachsteuer-Berechnung bei Besteuerung des ökonomischen Gewinns
in Jahren
in Euro
in Euro
in Euro
1
91
65
91
5
379
287
379
10
614
492
614
15
761
638
761
20
851
742
851
30
943
869
943
50
991
966
991
100
1.000
999
1.000
Unendliche Laufzeit
1.000
1.000
1.000
Abb. 7: Barwerte bei Vor- und Nachsteuerrechnung
3.92 Der bereits in der Bewertungstheorie erklärte Hintergrund für diesen Effekt liegt darin, dass bei begrenzter Laufzeit eine Anpassung des Steuerfaktors bei Zins- und Ertrag nicht bei beiden Komponenten quotal zur Steuerquote erfolgen darf, wie es derzeit in der Praxis regel124
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.95 Kap. 3
mäßig zu beobachten ist, sondern korrekterweise nur über den Umweg der korrekten Ermittlung und Versteuerung des ökonomischen Gewinnes zu erfolgen hätte. Die anwendungsorientierte Schlussfolgerung für den Praktiker ist, dass bei begrenzter Laufzeit die Aussage, dass Vor- und Nachsteuerrechnung grundsätzlich zu demselben Wert führen, nicht haltbar ist.79 In diesem Fall hängt die Frage der Verwendung einer Vor- und Nachsteuerberechnung zunächst von der Würdigung des Einzelfalls ab.80
3.93
Grundsätzlich lässt sich die Hypothese aufstellen, dass bei begrenzten Laufzeiten zukünftiger Ansprüche oder Einkommen, die in naher Zukunft erheblich oberhalb der nachhaltig zu erwartenden Ergebnisse liegen, die Handhabung einer Nachsteuerrechnung ohne korrekte Berücksichtigung und Bestimmung der kurzfristig tatsächlichen Steuerfolgen (und nicht unter der Annahme typisierender Steuerfolgen bei ewiger Rente) unabdingbar ist, da anderenfalls tendenziell erhebliche Fehlbewertungen resultieren können.81
3.94
Für die praktische Anwendung empfehlen sich daher folgende drei Lösungsmöglichkeiten: entweder man bildet die tatsächlichen Steuerfolgen individuell ab,82 alternativ sollte ggf. bei
3.95
79 Die Bewertungsfehler sind dabei umso größer, je geringer die Lebensdauer des Unternehmens oder die Anzahl zukünftig erwarteter Rückflüsse sind. Dieses gilt umso mehr, je größer die Differenzen zwischen höheren Erträgen in der näheren Zukunft und niedrigeren Erträgen in der späteren Zukunft wird. Analoges gilt bei größeren Zinssätzen (ab ca. 12 % bis 15 % p.a.) oder beim Ansatz von Wachstumsabschlägen ab 1,5 % p.a. und mehr. 80 Hat beispielsweise ein Minderheitsaktionäre Anspruch auf eine einmalige Dividende in einem Jahr von 110 Euro bei 10 % Kapitalmarktzinssatz und 25%iger Dividendenversteuerung, so erhält er netto nach tatsächlicher Veranlagung in einem Jahr 82,50 Euro, was bei 10 % Zinssatz einem Gegenwartswert von nicht unter 75 Euro entspricht. Es ist daher fehlerhaft, wenn beispielsweise im Falle eines zwangsweisen Ausschlusses aus der Gesellschaft bei einer begrenzten Laufzeit der Abfindungsanspruch aus einer Nachsteuerrechnung ermittelt wird als Barwert aus einer zukünftigen Nachsteuerdividende von 82,50 Euro und einem Nachsteuerzinssatz von 7,5 %. Denn der sich so ermittelnde Abfindungsbetrag unterliegt immer noch der Abgeltung und/oder Einkommensteuer, weshalb bei dieser Art der Berechnung die beim Minderheitsaktionär einfließende Abfindung netto tatsächlich nur 57,56 Euro statt der tatsächlich zustehenden 75 Euro beträgt. 81 Besonders eindeutig ist dieses Extremfall, dass ein Unternehmen im Bewertungszeitpunkt nur noch über Sondervermögen verfügt und dieser Eigentümer auch noch 100 % der Anteile eines Unternehmens besitzt. Es steht außer Frage, dass der Wert seines Unternehmens vor Steuern aus der vollen Liquidität besteht und nach Steuern aus der Liquidität abzgl. der tatsächlichen steuerlichen Ausschüttungsbelastung. Selbiges gilt wenn das Unternehmen nicht einen Eigentümer sondern derer viele hat. Sachlich und rechnerisch fehlerhaft hingegen wäre es in diesem Fall für die Annahme einer Auseinandersetzung zwischen den Eigentümern abfindungsberechtigten Anteilseigner einen Abfindungsanspruch in Form einer Nachsteuerberechnung zuzugestehen, da dieses wirtschaftlich einem Vermögenstransfer von ausscheidenden Eigentümern zu verbleibenden Eigentümern gleichkommt – Denn der scheidende Alteigentümer wird sich gegenüber der Finanzverwaltung in keinem Falle auf die Steuerfreiheit seiner Abfindung berufen können. Einziger Weg, dieses unbillige Ergebnis zu vermeiden ist die Ausschüttung des vollen anteiligen Sonderwerts ohne fiktiven Steuerabzug da dieser ja gerade nicht zu einer steuerlichen Freistellung der Abfindung berechtigt. Dieses Ergebnis angewandt auf viele Alternative Bewertungsüberlegungen führt in letzter Konsequenz zu dem Ergebnis, dass es unter diesen Überlegungen generell nicht angemessen sein kann, bei der Ermittlung von Sonderwerten irgendwelche Nachsteuerrechnungsbedingte Steuerabzüge vorzunehmen. 82 Bei größeren Eigentümern bedeutet individuell abbilden nicht, dass für jeden Investor seine individuelle Steuerfolgen zu berücksichtigen sei. Unter individueller Vorgehensweise ist auch gemeint, dass für einen typisierten Investor die Steuerfolgen durch einen tatsächlichen Steuerbelas-
Keim/Jeromin
125
Kap. 3 Rz. 3.96
Bewertung
begrenzter Laufzeit komplett auf eine Nachsteuerberechnung verzichtet werden oder es wird zum Bewertungssystem der Besteuerung des ökonomischen Gewinns übergegangen. c) Das Ertragswertverfahren in der Konzeption des IDW S 1 i.d.F. 2008
3.96 Im Zuge der Einführung des Halbeinkünfteverfahrens und nachfolgend der Abgeltungsteuer wurde der IDW S 1 kontinuierlich weiterenwickelt und jeweils unter Berücksichtigung neuester betriebswirtschaftlicher Entwicklungen angepasst.
3.97 Die zur Drucklegung dieses Bandes aktuellste Fassung des IDW S 1 datiert immer noch aus dem Jahr 2008. Seit dem Jahr 2008 fand keine grundlegende Überarbeitung dieses Standards mehr statt.
3.98 Allerdings sind in den letzten Jahren verschiedene Praxishinweise veröffentlicht worden, die Hilfestellungen zu bewertungstechnischen oder methodischen Einzelfragen bieten (z.B. Praxishinweis zur Planungsanalyse, Bewertung kleinerer Unternehmen, Beurteilung von Verschuldungsgraden).
3.99 Darüber hinaus hat das IDW Einzelstandards zu speziellen Bewertungsfragen verabschiedet, die mit verschiedenen Detailfragen von Unternehmenswertermittlungen (z.B. Immaterielle Vermögensgegenstände IDW S 5, Fairness Opinion IDW S 8, Immobilienbewertung IDW S 10, Beteiligungsbewertung IDW RS HFA 10, Bewertungen im Familien- und Erbrecht IDW S 13) beschäftigen.
3.100 Allen vom IDW verabschiedeten berufsständischen Standards der Wirtschaftsprüfer zur Unternehmensbewertung ist grundsätzlich gemein, dass nach diesen der IDW S 1 grundlegender Bewertungsstandard ist und Zweifelsfragen der Bewertung, die im Detail in den Spezialstandards nicht geklärt sind unter Rückgriff auf die grundlegenden Empfehlungen des IDW S 1 geklärt werden sollen.
3.101 Der IDW S 1 i.d.F. 2008 vertritt hinsichtlich der Bewertungstechnik den Standpunkt, dass Unternehmenswerte maßgeblich durch die den Aktionären zufließenden Netto-Gewinne (d.h. nach persönlicher Einkommensteuer) bestimmt werden. Bei der Ertragswertermittlung sind folglich einkommensteuerliche Wirkungen auf die zu kapitalisierenden Ergebnisse wie auf den Kapitalisierungszinssatz explizit zu berücksichtigen. Hinter diesen Überlegungen verbirgt sich das Bestreben, bei der Ertragswertermittlung zueinander konsistente und äquivalente Bewertungsannahmen zu verwenden. Hinsichtlich der Ableitung der Komponenten des Kapitalisierungszinssatzes wird die Auffassung vertreten, dass als Alternativanlage eines Anteilseigners die Rendite eines risikoadäquaten Aktienportfolios zu verwenden sei.
3.102 Bei der Unternehmensbewertung sind in der grundlegenden Bewertungskonzeption des IDW S 1 verschiedene Äquivalenzgrundsätze, wie der Grundsatz der Laufzeitäquivalenz oder der Grundsatz der Steueräquivalenz, zu berücksichtigen. Bewertungstechnisch findet sich
tungsvergleich ermittelt wird, um dann konkret abzuwägen, ob die Verwendung eines Nachsteuermodells für die ewige Rente im konkreten Bewertungsfall in der Tat zu einem wirtschaftlich korrekten Ergebnis führt und der damit errechnete Unternehmenswert in der Tat – wie es die Prämisse der Nachsteuerberechnung fordert – vollumfänglich steuerfrei beim Eigentümer vereinnahmt werden kann.
126
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.110 Kap. 3
dieses durch den Übergang vom Standard-CAPM auf das Tax CAPM bei einer Bewertung nach persönlicher Einkommensteuer wider.83 Die nach IDW S 1 i.d.F. 2008 bevorzugte Orientierung der Alternativanlage an einer Aktieninvestition beruhte auf der Annahme, dass ein Aktionär seine Kapitalmarktrendite nur zum Teil aus ausgeschütteten Dividenden realisiert und ein weiterer, seiner Höhe nach wesentlicher Teil, dagegen aus thesaurierungsbedingten Kursgewinnen stammt.84
3.103
Da unter gegenwärtigem Einkommensteuersystem Ergebnisthesaurierungen gegenüber Ergebnisausschüttung steuerlich bevorzugt werden, entspricht die Differenz zwischen einer Portfoliorendite vor Einkommensteuer und einer Portfoliorendite nach Einkommensteuer der mittleren typisierten Einkommensteuerbelastung der Dividende.
3.104
In der praktischen Anwendung wird für die Erstellung einer Unternehmensbewertung modelltechnisch auf ein sog. 2-Phasen-Modell zurückgegriffen. Nach diesem teilt man den Bewertungshorizont auf zwei zeitliche Phasen auf.
3.105
In einer ersten Phase, der sog. Detailplanungsphase oder Phase I werden für die Ermittlung der zu kapitalisierenden Ergebnisse häufig auf vom Unternehmen selbst erstellte Ergebnisplanungen zurückgegriffen. Diese Phase erstreckt sich meist auf ein bis fünf Jahre. In seltenen Ausnahmefällen kann dieser Zeitraum aber deutlich erweitert werden.
3.106
Die zweite Phase der Bewertung bildet eine sich daran anschließende fernere Zukunft mit fiktiv unterstellter ewiger Lebensdauer. Diese zweite Phase wird in der Praxis als ewige Rente, Terminal Value oder einfach als Phase II bezeichnet.
3.107
In Bezug auf das für eine Bewertung unterstellte Ausschüttungsverhalten werden in Phase I regelmäßig die Ausschüttungsplanungen des Bewertungsobjekts verwendet. Für die Ausschüttungspolitik der Phase II orientiert man sich in der Praxis typischerweise an der Alternativanlage oder der Branche. In der betriebswirtschaftlichen Praxis variieren die verwendeten Ausschüttungsquoten in Phase II weit überwiegend zwischen 40 % und 60 %.85
3.108
Für die Wiederanlagerendite der in der ewigen Rente nach typisierter Ausschüttungsannahme noch fiktiv im Unternehmen verbleibenden, thesaurierten Beträge wird typisierend und im Sinne von Komplexitätsreduktionen angenommen, dass sich darauf eine Renditeerwartung in Höhe des Kapitalisierungszinssatzes (vor Berücksichtigung der auf Unternehmensebene anfallenden Steuern) ergibt (kapitalwertneutrale Anlage).
3.109
Die finanzmathematische Umsetzung der vorstehend beschriebenen Prämissen in einem Bewertungsmodell erfolgt vorzugsweise derart, dass Thesaurierungen und deren Ergebniswirkung im Bewertungsbericht grundsätzlich separat dargestellt werden.
3.110
83 Zu dieser Neukonzeption des IDW S 1 2004 trugen insbesondere Kapitalmarktuntersuchungen zur Höhe der Aktienportfoliorendite und der darin enthaltenen Einkommensteuerbelastungen bei. 84 Die Wissenschaft gelangte in Untersuchungen zur (messbaren) Erkenntnis, dass die empirisch beobachtbare Aktienportfoliorendite einkommensteuerpflichtige Dividendenanteile und einkommensteuerfreie Wertsteigerungen (Aktienkurssteigerungen) enthält. Ausgehend davon wurde das CAPM zum sog. Tax CAPM weiter entwickelt. Im Ergebnis dieses Entwicklungsprozesses wurde es möglich, die empirisch abgeleitete Portfoliorendite um die darauf lastende Einkommensteuerbelastung der Anteilseigner zu bereinigen und durch Subtraktion, einer ebenfalls um Einkommensteuern zu bereinigenden Umlaufrendite, eine Marktrisikoprämie nach Einkommensteuern zu ermitteln. 85 WPHdb. II/2014, Rz. A 103.
Keim/Jeromin
127
Kap. 3 Rz. 3.111
Bewertung
3.111 Für die praktische Umsetzung werden in der Literatur alternative Varianten vorgeschlagen.86 Die bevorzugte Variante geht im Rentenfall davon aus, dass (fiktive) Thesaurierungsbeträge den Gesellschaftern in „anderer Form“ (d.h. zum Ende einzelner Geschäftsjahre bspw. über Kurssteigerungen) zufließen, die sich annahmegemäß kapitalisieren lassen. Aus dieser fiktiven Thesaurierungszurechnung wird folglich rechnerisch eine Art Vollausschüttungsvariante. Bei dieser wird der Dividendenanteil mit pauschaler Abgeltungsteuer voll und der fiktive Thesaurierungsteil mit einer den Steuerstundungseffekt der Thesaurierung berücksichtigenden (typisierten, d.h. niedrigeren pauschalen) Abgeltungsteuer belastet.87 Hierbei wird typisierend unterstellt, dass der fiktive Thesaurierungsanteil pauschaliert nur der hälftigen Abgeltungsteuer unterliegt. 2. Discounted Cash-Flow-Verfahren
3.112 Das Discounted Cash-Flow-Verfahren (DCF-Verfahren) beruht ebenfalls auf einem investitionstheoretischen Barwertmodell.88 Während beim Ertragswertverfahren Aufwendungen und Erträge Ausgangspunkt der Ermittlung der zu kapitalisierenden Größe sind, wird bei den DCF-Verfahren direkt auf die Kapitalisierung von Zahlungsmittelüberschüssen (CashFlows) abgestellt.
3.113 Je nach Struktur der zu berücksichtigenden Cash-Flows und der Diskontierungsfaktoren können zwei Ansätze unterschieden werden: der Netto-Ansatz (Equity-Approach) und der Brutto-Ansatz (Entity-Approach). Innerhalb des Bruttoansatzes wird eine Differenzierung in das Konzept der gewogenen Kapitalkosten (WACC-Ansatz) und das Adjusted Present ValueVerfahren (APV-Verfahren) vorgenommen.89
3.114 Bei Anwendung der Bruttoverfahren wird der Marktwert des Eigenkapitals indirekt ermittelt. Es wird zunächst der Marktwert des Gesamtkapitals (bzw. der gesamten Unternehmenseinheit, entity approach) berechnet, indem die sog. Free Cash-Flows kapitalisiert werden (Bruttokapitalisierung). Die Free Cash-Flows entsprechen denjenigen Finanzmitteln (Zahlungsmittelüberschüsse), welche für eine Ausschüttung an die Eigen- und für die Bedienung der Fremdkapitalgeber des Unternehmens zur Verfügung stehen. Nach der Berechnung des Gesamtkapitals wird durch Subtraktion des Marktwerts des Fremdkapitals vom Unternehmensgesamtwert der Marktwert des Eigenkapitals ermittelt.
86 Vgl. Wagner et al., WPg. 2004, 889 (898). 87 Wegen des seit dem Jahr 2009 geltenden Abgeltungsteuersystems wird nunmehr hinsichtlich des Dividendenteils eine definitive Belastung mit pauschaler Abgeltungsteuer von 26,38 % (pauschale Abgeltungsteuer 25 % zzgl. 5,5 % Solidaritätszuschlag) unterstellt. Hinsichtlich der Besteuerung des Thesaurierungsbetrags wird typisierend von einer hälftigen Steuerbelastung i.H.v. 13,19 % (12,75 % hälftige pauschale Abgeltungsteuer zzgl. 5,5 % Solidaritätszuschlag) ausgegangen. Bei einfachen Bewertungsfällen, d.h. bei Verwendung von typisierten Thesaurierungsquoten und entsprechender typisierter Wiederanlageprämisse, wird diese Verfahrensweise vereinzelt auch im Phasenmodell, d.h. in Phase I angewandt, wobei die Handhabung insoweit von Bewerter zu Bewerter nicht einheitlich gehandhabt wird. Die Umsetzung dieser Vorgehensweise führt z.B. bei einer 40%igen Dividendenquote dazu, dass in der ewigen Rente der Einkommensteuersatz anzupassen wäre. In diesem Beispiel wäre bspw. mit einem Einkommensteuersatz von 18,5 % (40/100 × 26,38 % + 60/100 × 13,19 %) zu rechnen. 88 Vgl. Sieben in Lanfermann, S. 716. 89 Vgl. Ballwieser, WPg. 1998, 81. In der Literatur wird teilweise auch nur der WACC-Ansatz als Bruttomethode bzw. Entity-Methode bezeichnet. Vgl. Mandl/Rabel, S. 38.
128
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.117 Kap. 3
DCF-Verfahren
Bruttoverfahren (Entity-Approach)
WACC-Ansatz
Nettoverfahren (Equity-Approach)
APV-Ansatz
Abb. 8: Überblick über DCF-Verfahren
Die in Abb. 8 dargestellten Bruttoverfahren (der WACC-Ansatz und der APV-Ansatz) unterscheiden sich voneinander hinsichtlich der Art, wie die im Unternehmen anfallenden Fremdkapitalkosten und der Einfluss der Fremdkapitalfinanzierung auf die Unternehmensteuern berücksichtigt werden. Bei dem WACC-Ansatz wird der Free Cash-Flow mit dem gewogenen Kapitalkostensatz aus Eigen- und um das Tax Shield gekürzten Fremdkapitalkosten abgezinst (= Wert des Gesamtkapitals).90 Demnach wird der Einfluss der Fremdkapitalfinanzierung auf die Unternehmensteuern in den gewogenen Kapitalkosten durch das Tax Shield berücksichtigt. Beim APV-Ansatz wird zunächst der Marktwert eines unverschuldeten Unternehmens ermittelt. Anschließend wird dieser Betrag um den Einfluss der Fremdkapitalfinanzierung auf die steuerliche Belastung des Unternehmens (Tax Shield) korrigiert, um so den Marktwert des Gesamtkapitals zu bestimmen.91 Bei beiden Verfahren wird durch Abzug des Marktwerts des Fremdkapitals vom Marktwert des berechneten Gesamtkapitals der Marktwert des Eigenkapitals berechnet.
3.115
Vor dem Hintergrund der technischen Umsetzung, Nachvollziehbarkeit der Bewertung sowie des Einflusses einzelner Bewertungsparameter sowie vor dem Aspekt der Fehleranfälligkeit ist für die praktische Umsetzung der APV-Ansatz aus Sicht eines Anwenders am empfehlenswertesten. Am weitesten verbreitet hingegen ist in der täglichen Praxis der sog. WACC-Ansatz.
3.116
Bei Verwendung des Netto-Ansatzes wird der Marktwert des Eigenkapitals (equity approach) direkt aus den erwarteten Cash-Flows berechnet, die an die Eigenkapitalgeber ausgeschüttet werden können. Diese Vorgehensweise entspricht grundsätzlich dem Berechnungsansatz der Ertragswertmethode. Die Vorgehensweise der direkten Wertermittlung des Marktwerts des Eigenkapitals, die beim Netto-Ansatz und dem Ertragswertverfahren verfolgt wird, bezeichnet man als Nettokapitalisierung.92
3.117
90 Das Tax Shield entspricht dem Steuervorteil der Fremdfinanzierung gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung. 91 Vgl. WPHdb. II/2014, S. 50-58. 92 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 99.
Keim/Jeromin
129
Kap. 3 Rz. 3.118
Bewertung
a) Bruttoansatz (Entity-Approach)
3.118 Im Rahmen des Bruttoansatzes wird zunächst der Unternehmensgesamtwert ermittelt, bevor der Marktwert des Eigenkapitals berechnet wird.
3.119 Als Ausgangsgröße dient der Free Cash-Flow. 3.120 Bei Diskontierung der Free Cash-Flows wird der Wert des Unternehmens für die Eigen- und Fremdkapitalgeber ermittelt.
3.121 Die aus der Fremdfinanzierung resultierende Unternehmensteuerersparnis (Tax Shield) wird beim Bruttoverfahren erst in einem zweiten Bewertungsschritt berücksichtigt. Dabei sind zwei Vorgehensweisen denkbar. Entweder wird das Tax Shield im Kapitalisierungszinssatz berücksichtigt (dieses entspricht dem Konzept der gewogenen Kapitalkosten, im Folgenden „WACC-Ansatz“ genannt) oder es wird als Erfolgsgröße zum Unternehmenswert addiert (Adjusted Present Value).93 aa) Konzept der gewogenen Kapitalkosten (WACC-Ansatz) (1) Überblick
3.122 Die methodische Vorgehensweise zur Berechnung des Unternehmenswertes (d.h. des Marktwertes des Eigenkapitals) nach dem WACC-Ansatz kann der Abb. 9 entnommen werden. Ergebnis vor Zinsen und Steuern (EBIT) + Unternehmens– steuern
Brutto Cash Flow +
Abschreibungen +
Investitionen in das Anlagevermögen –
Jahr 1 Free Cash Flow
Erhöhung des Working Capitals –
Diskontierung
Dotierung/ Auflösung von Rückstellungen + Eigenkapitalkosten
Gewichtete Kapitalkosten (WACC)
Fremdkapitalkosten Tax Shield
Jahr n
Unternehmensgesamtwert (= Marktwert des Eigen- und Fremdkapitals) ./. Marktwert des Fremdkapitals = Marktwert des Eigenkapitals
–
Abb. 9: WACC-Ansatz – Methodischer Überblick; Quelle: in Anlehnung an Copeland/Koller/Murrin, S. 19.
93 Zu einer detaillierten Darstellung des Tax Shields mit Berücksichtigung persönlicher Einkommensteuer s. Auge-Dickhut/Moser/Widmann, FB 2000, 368 und Auge-Dickhut/Moser/Widmann, S. 1 ff.
130
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.128 Kap. 3
Da in den Free Cash-Flows weder das Tax Shield noch die Zahlungen an die Fremdkapital- 3.123 geber berücksichtigt werden, erfolgt dieses im Rahmen des WACC Ansatzes über eine entsprechende Anpassung im Kapitalisierungszinssatz. Hierzu wird aus dem Eigenkapitalkostensatz und dem Zinssatz für Fremdkapital ein Mischzinssatz (die sog. gewichteten Kapitalkosten bzw. WACC) ermittelt, der sowohl den Umfang der Fremdfinanzierung als auch das daraus resultierende Tax Shield berücksichtigt. Eine Besonderheit bei der Berechnung des WACC liegt darin, dass die Kosten jeder Finanzierungsform mit einem Gewichtungsfaktor angesetzt werden. Dieser spiegelt den Anteil der jeweiligen Finanzierungsquelle am gesamten Unternehmenswert wider. Die Anteilsquoten sind hierbei nicht auf Basis von Buchwerten, sondern auf Basis von Marktwerten zu ermitteln.
3.124
Grundsätzlich stehen sich bei der praktischen Umsetzung des WACC-Ansatzes zwei Methoden zur Abbildung der Verschuldung gegenüber. Während einige Anwender von einer in Zukunft konstanten Verschuldung bzw. von konstanten Verschuldungsgraden auf Marktwertbasis ausgehen, vertreten andere Anwender die Auffassung, dass eine DCF-Bewertung nur dann korrekt ist, wenn bei zukunftsgerichteter Kapitalisierung der Verschuldungsgrad mit der Bilanzplanung atmet. Grundsätzlich sind beide Wege akzeptabel, die Differenzen zwischen beiden Wegen der Berücksichtigung des Verschuldungsgrades liegen bei korrekter Anwendung lediglich in einem Tax-Shield-Effekt. Dieser tritt in Anbetracht der deutlich höheren Parameterunsicherheit bei Planungs- und Zinsanalyse im Vergleich dazu hinsichtlich seiner Bedeutung deutlich zurück. Im Zweifel ist zu empfehlen, die für die praktische Durchführung einer Bewertung begrenzten Kapazitäten eher in die Planungs- und Parameteranalyse als in die eher theoretisch interessante Frage nach der Verwendung einer atmenden oder Zielkapitalstruktur beim WACC-Ansatz zu investieren.
3.125
Nach der Diskontierung der Überschüsse aus dem Leistungsbereich mit dem Mischzinssatz (WACC) erhält man den Marktwert des gesamten Unternehmens. Dieser setzt sich zusammen aus dem Marktwert des Eigen- und Fremdkapitals. Von diesem Wert werden die Verbindlichkeiten gegenüber den Fremdkapitalgebern (Marktwert des Fremdkapitals) in Abzug gebracht. Die verbleibende Saldogröße entspricht dem Marktwert des Eigenkapitals.94
3.126
Bei der Bestimmung des Fremdkapitals sind regelmäßig Anpassungen von Buchwerten an Marktwerte empfehlenswert, so diese deutlich voneinander abweichen. Dieses ist z.B. der Fall bei Hochverzinslichen Anleihen/Krediten oder bei Pensionsverpflichtungen, die regelmäßig in den Bilanzen mit im Vergleich zum Marktwert zu niedrigen Werten ausgewiesen sind.
3.127
(2) Ermittlung der gewogenen Kapitalkosten Das grundsätzliche methodische Vorgehen zur Berechnung der gewogenen Kapitalkosten (WACC) ist im nachfolgenden Schema (Abb. 10) dargestellt.
94 Vgl. Steiner/Wallmeier, S. 5.
Keim/Jeromin
131
3.128
Kap. 3 Rz. 3.129
Bewertung
WACC (gewichtete durchschnittliche Kapitalkosten)
Fremdkapitalkosten
Marktrendite des Fremdkapitals
Tax Shield
Tax Shield
Eigenkapitalkosten
Rendite risikofreier Anlagen
Marktrisikoprämie
Risikoprämie
Beta-Faktor
Abb. 10: Zusammensetzung der durchschnittlichen Kapitalkosten (WACC); Quelle: in Anlehnung an Börsig, S. 87.
3.129 Bei der Ermittlung des WACC sind nach allgemeiner Ansicht folgende Anforderungen einzuhalten:95 – Ableitung der Eigenkapitalkostensätze aus kapitalmarkttheoretischen Modellen (CAPM bzw. Tax-CAPM), – Berücksichtigung von Unternehmensteuern zur Ermittlung des Fremdkapitalkostensatzes (inkl. Tax Shield), – Berechnung des Mischzinssatzes als gewichteter Mittelwert der Kosten sämtlicher Kapitalquellen, – Ansatz von Marktwerten für jede Finanzierungsart, – gegebenenfalls Berücksichtigung persönlicher Einkommensteuern.96
3.130 Die Eigenkapitalkosten entsprechen dem risikoadäquaten Kapitalisierungszinssatz. Sie enthalten eine risikofreie Zinskomponente (Basiszinssatz) und einen Risikozuschlag. Der Risikozuschlag ist die Vergütung, die ein Anleger als Gegenleistung für das aus seiner Investition resultierende Risiko beansprucht. Der Risikozuschlag wird üblicherweise aus einem kapitalmarkttheoretischen Modell berechnet. In der Praxis hat sich das CAPM bewährt. Danach ergibt sich der Risikozuschlag aus dem Produkt eines unternehmensspezifischen Betafaktors sowie der Marktrisikoprämie.
95 Vgl. Copeland/Koller/Murrin, S. 260. 96 Vgl. Moser, FB 1999, 121; Auge-Dickhut/Moser/Widmann, FB 2000, 369; Kohl/Schulte, WPg. 2000, 1156.
132
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.134 Kap. 3
Nach Auffassung des IDW stellt der Kapitalisierungszinssatz die Rendite eines Aktienportfolios (Portfolio- bzw. Marktrendite) dar. Technisch erfolgt die Bewertung dergestalt, dass je nach dem Risiko des Investitionsobjekts Risikozu- oder Risikoabschläge bestimmt werden, welche auf die (von der) Portfoliorendite zu addieren (oder davon in Abzug zu bringen) sind.
3.131
Die Fremdkapitalkosten ergeben sich als gewogener durchschnittlicher Kostensatz einzelner 3.132 Fremdkapitalfinanzierungen des zu bewertenden Unternehmens. Die Betrachtung ist auf das verzinsliche Fremdkapital zu beschränken.97 Die Marktrendite des Fremdkapitals entspricht grundsätzlich der Rendite vergleichbarer, börsengehandelter Anleihen gleicher Risikokategorie. Zur Schätzung der Fremdkapitalverzinsung ist die Kenntnis der Bonität des Bewertungsobjektes erforderlich. Anhand von Veröffentlichungen international anerkannter Ratingagenturen (Moody’s, Standard & Poors, Fitch) oder über Informationsdienstleister (z.B. Bloomberg, Reuters) lassen sich diese Marktrenditen beziehen.98 Bei variabel verzinslichen Anleihen kann der langfristig erwartete Zins als Näherung dienen. In der Praxis wird regelmäßig auf die Durchschnittsverzinsung des von einem Unternehmen aufgenommenen Fremdkapitals abgestellt. Die Berücksichtigung des Tax Shields erfolgt im WACC-Ansatz über eine Anpassung im Fremdkapitalzins- bzw. Fremdkapitalkostensatz. Der Fremdkapitalzinssatz wird hierbei um ein Tax Shield für Gewerbeertragsteuer und Körperschaftsteuer korrigiert.
3.133
Für eine Vorsteuerrechnung ergeben sich folgende gewogenen durchschnittlichen Kapitalkosten (WACC):
3.134
– Vorsteuerrechnung rWACC = rEK ∙ EK + rFK ∙ 1 − 3 ∙ sg − sk ∙ FK 4 GK GK
Üblicherweise wird in der Praxis für die Ermittlung des WACC das Fremdkapital (FK) als eine Nettoposition bestehend aus liquiden Mittel und geldmarktnahen Verbindlichkeiten ermittelt. Mit dieser vereinfachenden Vorgehensweise wird explizit eine gewisse Fehlbewertung infolge von steuerrechtlich kodifizierten Differenzen in der steuerlichen Behandlung von Zinserträgen und Zinsaufwendungen in Kauf genommen wird. Die Einbeziehung des Gewerbesteuersatzes in die WACC-Berechnung zu lediglich 3/4 ist dem Umstand geschuldet, dass in Deutschland die Zinsaufwendungen zu 25 % der Bemessungsgrundlage99 für die Gewerbesteuer100 hinzuzurechnen sind und somit nur zu 75 % die ge97 Unverzinsliche Fremdkapitalpositionen (z.B. Lieferantenverbindlichkeiten) werden aufgrund ihrer Anrechnung im Netto-Umlaufvermögen dem Leistungsbereich zugeordnet. Vgl. Mandl/Rabel, S. 313. 98 Der Bewerter ist gehalten, diese Daten einer Plausibilitätskontrolle zu unterwerfen. Wie im Zuge der Subprime-Krise festzustellen war, kam es selbst bei teilweise gut gerateten Anleihen und Finanzkonstruktionen in den Jahren 2008 und 2009 zu nicht vernachlässigbaren Kreditausfällen. 99 Die vorstehend beschriebenen Vorgehensweisen hinsichtlich der Ermittlung der steuerlichen Wirkung der Fremdkapitalfinanzierung sind insgesamt vereinfacht dargestellt worden; vgl. zur Möglichkeit der Berücksichtigung erteilter Pensionszusagen im WACC Ballwieser, Unternehmensbewertung, S. 153. 100 So werden bspw. Abweichungen der Cash-Flows vom Gewerbeertrag vernachlässigt. vgl. Ballwieser, WPg. 1998, 87.
Keim/Jeromin
133
Kap. 3 Rz. 3.134a
Bewertung
werbesteuerliche Bemessungsgrundlage mindern.101 Andererseits sind sie vollumfänglich von körperschaftsteuerliche Bemessungsgrundlage abzugsfähig, weshalb der Körperschaftsteuersatz ungemindert in die Bestimmung des WACC eingeht. Die Wirkungen der Zinsschranke wären korrekterweise auch in die Abbildung des Tax Shields einzubeziehen.102 Allerdings lassen sich aufgrund der Freibetragsregelungen und aufgrund erheblicher Schwierigkeiten bei der Abschätzung von Befreiungsmöglichkeiten (z.B. Konzern-Eigenkapitalklauseln) die Folgen der Zinsschranke auf das Tax Shield nicht seriös abschätzen. Folglich ist in der Praxis eine Berechnung des Tax Shields ohne Ermittlung der Zinsschranke aus Vereinfachungsgründen nicht zu beanstanden.
3.134a – Vorsteuerrechnung mit expliziter Berücksichtigung verfügbarer Anlageliquidität LIQ rWACC = rEK ∙ EK − rLIQ ∙ 1 − sg − sk ∙ + rFK ∙ 1 − 3 ∙ sg − sk ∙ FK 4 GK GK GK
Verfügt ein Unternehmen sowohl über anlagefähige liquide Mittel als auch über Verbindlichkeiten gegenüber Kreditgebern und fallen darüber hinaus die Anlagezinssätze sowie die Fremdfinanzierungszinssätze auseinander, empfiehlt es sich, dass WACC-Modell nach vorstehend benannter Konzeption zu ermitteln. Hierbei entsprechen die mit dem Fremdkapital ausgewiesenen Werte dem Marktwert aller im Unternehmen vorhandenen Brutto-Verbindlichkeiten. Sie werden für diese Art der WACC Berechnung nicht mit den im Unternehmen vorhandenen liquiden Mitteln saldiert. Vielmehr werden die liquiden Mittel explizit ebenfalls mit dem im Unternehmen vorhandene Bruttomarktwerten bei der WACC-Berechnung angesetzt. Es ist technisch ebenso möglich, in die Ermittlung des WACC sowohl bestehende Zinsschrankenregelungen wie auch bestehende Regelungen über Freibetrag bei der gewerbesteuerlichen Zinszurechnung zu integrieren. Da die Praxis zu nahezu 95 % bei der WACC-Berechnung allerdings in der Regel nicht einmal die Unterschiede in den Zinssätzen und der Besteuerung von Geldanlagen und Kreditaufnahmen berücksichtigt, wird vorliegend auf eine explizite Erweiterung obigen WACC-Modells verzichtet.
3.135 Erfolgt die Bewertung anhand einer Nachsteuerrechnung, sind zusätzlich individuelle Einkommensteuern des Anteilseigners einzubeziehen. Im Rahmen des WACC-Ansatzes finden die persönlichen Einkommensteuern hierbei mittels eines zusätzlichen Tax Shields im Fremdkapitalzinssatz Berücksichtigung.103 Der Eigenkapitalzinssatz kann grundsätzlich durch eine typisierte Einkommensteuer korrigiert werden.104
101 Fremdkapitalzinsen reduzieren im Endergebnis die Gewerbesteuerbemessungsgrundlage nur zu 75 %. Der Steuersatz der Gewerbesteuer ergibt sich durch die Multiplikation einer Messzahl (3,5 %) mit dem durch die jeweilige Gemeinde festgesetzten Hebesatz. 102 Vgl. Förster/Stöckl/Brenken, ZfB 2009, 986-1018. 103 Vgl. Auge-Dickhut/Moser/Widmann, FB 2000, 367; Kohl/Schulte, WPg. 2000, 1157. 104 Zudem wird unterstellt, dass der WACC aufgrund des Steuereffekts mit steigender Verschuldungsquote sinkt. Damit wächst der Unternehmensgesamtwert. Dies gilt allerdings nur, wenn die Kapitalgeber nicht aufgrund des gewachsenen Verschuldungsgrades eine überproportional höhere Risikoprämie fordern; vgl. zur weiteren Kritik an den Prämissen zur Berechnung des WACC Drukarczyk, Unternehmensbewertung, S. 149.
134
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.138 Kap. 3
– Nachsteuerrechnung rWACC = rEK ∙ 1 − se ∙ EK + rFK ∙ 1 − 3 ∙ sg − sk ∙ 1 − se ∙ FK 4 GK GK
bzw. LIQ rWACC = rEK ∙ 1 − se ∙ EK − rLIQ ∙ 1 − sg − sk ∙ 1 − se ∙ + rFK ∙ 1 − 3 ∙ sg − sk ∙ 1 − se ∙ FK 4 GK GK GK
mit: rWACC = gewogener Kapitalkostensatz (WACC), = Renditeforderung der Eigenkapitalgeber rEK (Opportunitätskosten der Eigenkapitalgeber), EK = Marktwert des Eigenkapitals, GK = Marktwert des Gesamtkapitals (EK + FK), = Renditeforderung der Fremdkapitalgeber (Opportunitätskosten der FremdkapirFK talgeber), = Renditeforderung/Anlagezinssatz betrieblicher Liquidität, rLIQ = Steuersatz für Ertragsteuern (Gewerbeertrag) auf Unternehmensebene, unter sg Berücksichtigung der 25%igen Hinzurechnung von Zinszahlungen auf die gewerbesteuerliche Bemessungsgrundlage, = Körperschaftsteuerbelastung auf Unternehmensebene (KSt 15 %), sk = Effektiver Einkommensteuersatz; ist variabel, da direkt abhängig vom typisierse ten Einkommensteuersatz sowie vom Verhältnis steuerpflichtiger Dividendenzahlungen und steuerfreier Kursgewinne, FK = Marktwert des verzinslichen Fremdkapitals, LIQ = Marktwert der verfügbaren und anlagefähigen Liquidität. Gerade die Bestimmung des WACC erweist sich als eine ständige, in der Praxis immer wiederkehrende Fehlerquelle. Der mit Abstand häufigste Anwendungsfehler (der mit hohen zweistelligen Prozentzahlen aller nach dem WACC durchgeführten, jahresabschlussbezogenen Beteiligungsbewertungen auftritt) liegt darin, dass Anwender in ihren Bewertungsmodellen bei der WACC- und Risikobestimmung anstatt der finanzmathematisch korrekten Lösung (Ansatz eines tatsächlichen, ggf. auch negativen Verschuldungsgrades) auf eine sog. Praktikerlösung bei der WACC-Ermittlung zurückgreifen.
3.136
Die Praktikerlösung bei der WACC-Ermittlung stellt eine systemwidrige, weder steuerlich, 3.137 noch finanzmathematisch und auch eine nicht im Einklang mit der dem WACC-Verfahren zugrunde liegenden portfoliotheoretischen Betrachtungsweise vorgenommene Entscheidungsregelung hinsichtlich eines bei der Bewertung anzuwendenden „zulässigen“ Verschuldungsgrades auf. Hierbei sind zwei häufige Vorgehensweisen zu beobachten. Einerseits wird in den Bewertungen das Auftreten negativer Verschuldungsgrade komplett ausgeschlossen. Andererseits wird im Falle sehr hoher Verschuldung oft die Höhe der Eigenkapitalkosten auf einen Maximalwert gedeckelt. Begründet wird das häufig mit den beiden theoretisch unfundierten Behauptungen, dass es eine „negative“ Verschuldung gar nicht geben könne oder weil im zweiten Fall sonst unrealistisch „zu hohe“ Eigenkapitalzinssätze resultieren. Bei negativen Verschuldungsgraden wird in Praxis bei der Modellierung von Zinssätzen oft eine mathematische Nebenbedingung dergestalt eingeführt, dass im Falle des Auftretens eiKeim/Jeromin
135
3.138
Kap. 3 Rz. 3.139
Bewertung
nes negativen Verschuldungsgrads anstatt auf diesen Verschuldungsgrad fälschlicherweise auf einen Ersatzverschuldungsgrad von Null zurückgegriffen wird. Technisch erfolgt das in Excel-Modellen beispielsweise durch die Einfügung einer mathematischen Nebenbedingung, dass im Fall des Auftretens einer negativen Kapitalstruktur (FK/EK , 0) statt des tatsächlichen (negativen) Verschuldungsgrades für die weiteren Zinsberechnungen und Wertermittlungen von einem Verschuldungsgrad von Null ausgegangen wird.
3.139 Ein negativer Verschuldungsgrad ist jedoch kein praxisfernes theoretisches Denkkonstrukt sondern ein Zustand, der in praktischen Unternehmensbewertungen regelmäßig beobachtbar ist. Aus ihm ist zunächst einmal ein Hinweis auf eine Überfinanzierung des Unternehmens abzulesen. Das Unternehmen hat bei negativer Verschuldung keine finanziellen NettoSchulden. Es besitzt einen Liquiditätsüberhang.
3.140 Darüber wird WACC durch diese Praktikerlösung aus portfoliotheoretischen Gründen zu niedrig ermittelt. Unter Portfoliogesichtspunkten besitzt ein Unternehmen mit Liquiditätsüberschüssen idealerweise zwei Vermögensgegenstände, eine risikolose Anlage in Geld in Höhe des Liquiditätsüberschusses sowie eine riskante Investition in das operative Geschäft. Liquidität hat per Definition kein systematisches Risiko (Beta also Null) und leistet damit einen Beitrag zur Senkung des Risikos des Gesamtportfolios, so dass dieser insgesamt das Gesamtunternehmensrisiko senkende Wertbeitrag bei der Wertermittlung des operativen Geschäfts zu bereinigen ist. Der aus Börsenkursen abgeleitete Risikofaktor ist folglich portfoliotheoretisch bereits eine Art Durchschnittswert, der unterhalb des Risikos für das operative Geschäft und oberhalb des Risikos für die risikofreie Anlage Überschussliquidität liegt. Durch die Anwendung der Praktikerlösung wird dieser Zusammenhang negiert und dem operativen Geschäft ein zu niedriger WACC beigemessen.
3.141 In der Folge wird insoweit durch die Praktikerlösung der wertsenkende Beitrag von Überschussliquidität mehrfach bewertet. Ein erstes Mal erfolgt dieses durch Unterschätzung des Risikos für das operative Geschäft und darüber hinaus über die Hinzurechnung der gesamten Liquidität auf den Gesamtunternehmenswert ohne Berücksichtigung eines TAX-Burdens. Ein bei Nettoverschuldung wertsteigernd wirkendes Tax-Shield wandelt sich bei Liquiditätsüberschüssen in ein sog. wertminderndes Tax-Burden um. Damit wäre der Bewertungsgrundsatz der vollständigen und adäquaten Berücksichtigung der Einnahmen und Ausgaben verletzt.105
3.142 Ähnliche Auswirkungen haben Eingriffe auf die maximale Höhe von Eigenkapitalkosten. Hier ist immer wieder in der Praxis zu beobachten, dass bei sehr hohen Verschuldungsgraden in Bewertungsmodellen die Eigenkapitalrendite auf „angemessene“ Maximalwerte begrenzt wird. Technisch erfolgt dieses beispielsweise durch die Einfügung einer mathematischen Nebenbedingung in den Excel-Modellen, dass die Eigenkapitalrendite niemals höher sein kann als der Betrag von x%. Die Folge einer derartigen Deckelung des EK-Zinssatzes ist ein in der WACC-Welt ausgeschlossener Effekt: der WACC sinkt mit steigender Verschuldung und erreicht im Zweifel sein Maximum bei vollständiger Eigenfinanzierung und sein Minimum bei vollständiger Fremdfinanzierung. Da aber bei vollständiger Fremdfinanzierung der Fremdkapitalgeber in der 100 % Eigentumsposition ist und er damit das volle Unternehmensrisiko 105 Da in Einzelfällen und besonderen Konstellationen die Praktikerlösung bei der WACC-Ermittlung zu erheblichen Fehlbewertungen führen kann, die beim Anwender im Zweifel erhebliche Konsequenzen und Sanktionen finanzieller, rechtlicher, steuerlicher und sonstiger wirtschaftlicher und nichtwirtschaftlicher Art führen kann, wird empfohlen, von der Praktikerlösung Abstand zu nehmen.
136
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.146 Kap. 3
trägt, haben grundsätzlich hier beide Renditeforderungen identisch zu sein (von Tax-ShieldEffekten abstrahiert). Damit führt die Deckelung von Zinsen zu falschen Bewertungsergebnissen, da der WACC, abgesehen von Tax-Shield Effekten, grundsätzlich eine unveränderbare Größe ist. Diese vorstehend benannten Praktikerlösungen sollten daher vermieden werden. Sie sind theoretisch fehlerhaft, die ergänzende Modellierung der Nebenbedingungen macht die Bewertungsmodelle fehleranfällig und das Ergebnis sind Fehlbewertungen, die insbesondere in handelsrechtlichen Beteiligungsbewertungen schnell zur Überschreitung einschlägiger Materialitätsgrenzen führen.
3.143
Bei der Berechnung des WACC kann die zukünftige Entwicklung des zu bewertenden Unternehmens berücksichtigt werden. Sofern absehbar ist, dass sich das Verhältnis der Marktwerte des Eigen- und Fremdkapitals im Zeitablauf verändert, kann man gewogene Kapitalkosten periodenabhängig bestimmen. Modifikationen sind vorzunehmen, wenn sich von der Kapitalstruktur unabhängige Basisdaten für Eigen- und Fremdkapitalkosten ändern (z.B. ansteigender Zinsspread, Anstieg unverschuldeter Risikozuschlag oder risikofreier Zinssätze). Allerdings ist dieses soft- und hardwarebedingt mittlerweile kein Problem mehr, aber die Modellierung derartiger Modelle ist aufgrund der vielfältigen Interaktionen zwischen den einzelnen Bewertungsparametern aufwendig. Aus diesem Grunde wird in der Praxis die Wertableitung unter Rückgriff auf eine vorgegebene Zielkapitalstruktur favorisiert. Dabei wird die Annahme getroffen, dass die gewogenen Kapitalkosten im Zeitablauf unveränderlich sind. Als Basis der künftigen Kapitalstruktur werden Schätzungen über die aktuelle Kapitalstruktur, die sich an den Marktwerten oder den Buchwerten des Eigen- und Fremdkapitals orientieren, genutzt.106
3.144
Wählt der Investor eine im erheblichen Maß von der bestehenden Kapitalstruktur abwei- 3.145 chende Zielkapitalstruktur aus, impliziert dieses, dass nach dem Erwerb des Unternehmens eine Anpassung der effektiven Finanzierungsstrategie an die vorgegebene Zielkapitalstruktur erfolgt. Unter Plausibilitätsgesichtspunkten dürften bei der Wertermittlung aufgrund von Zielkapitalstrukturen oder anhand sog. individueller, periodenabhängiger Kapitalstrukturen mit Ausnahme geringfügiger Tax-Shield-Effekte keine wesentlichen Wertabweichungen voneinander resultieren. (3) Höhe der durchschnittlichen Kapitalkosten in deutschen Unternehmen Die aktuell (2018) von deutschen Großunternehmen ausgewiesenen Kapitalkosten (WACC) vor und Nach-Steuern sind in der nachfolgenden Tabelle dargestellt.
Unternehmen
Kapitalkosten vor Steuern (%)
Kapitalkosten nach Steuern (%)
-
6,5–9,0
7,7–14,3
7,7–14,3
Adidas Allianz Group BASF
6,43–10,77
Kapitalkosten vor Steuern (%)
Kapitalkosten nach Steuern (%)
Fresenius Medical Care
-
5,5
Heidelberg Cement
-
7,0
8,25
5,75
Unternehmen
5,07–8,01 Henkel
106 Vgl. Mandl/Rabel, S. 322.
Keim/Jeromin
137
3.146
Kap. 3 Rz. 3.147
Bewertung
Unternehmen
Kapitalkosten vor Steuern (%)
Kapitalkosten nach Steuern (%)
Bayer Beiersdorf BMW
7,5 Infineon 6,9 12,0–13,4
Commerzbank Continental
Unternehmen
Linde
- Munic RE
12,0–13,0
8
Deutsche Börse
10,4–14,1
7,7–12,7 RWE
Deutsche Post Deutsche Telekom E.ON Fresenius
8,–9,9 SAP 7,5–8,4 5,8 -
12,3–14,1
9,3–10,4
-
4,8
7,2–8,1
5,9–6,1
-
7,8–8,9
ProSiebenSat.1 Media
Daimler
Deutsche Bank
Kapitalkosten nach Steuern (%)
- Lufthansa 7,5 Merck
10
Kapitalkosten vor Steuern (%)
4,0–5,75 10,4–11,7
-
-
6,5–8,0
-
8,0
6,7 Vonovia
3,8–4,1
-
5,1–5,9 Volkswagen
5,4–7,7
-
Siemens 4,64–9,93 Thyssen Krupp
Abb. 11: Kapitalkosten vor und nach Steuern von DAX-30 Unternehmen, Stand: Geschäftsbericht 2018.
bb) Adjusted Present Value (APV)
3.147 Das APV-Verfahren beruht auf der Annahme, dass der Wert eines Unternehmens über eine gedankliche Zerlegung des Unternehmens in mehrere (Teil-)Projekte bestimmbar ist. Für die einzelnen (Teil-)Projekte werden isolierte Kapitalwerte bestimmt. Diese ergeben in der Summe den Kapitalwert des zu bewertenden Unternehmens. Mit dieser Vorgehensweise ist es möglich, die wertbeeinflussenden Merkmale einer Unternehmung getrennt darzustellen und zu bewerten. Damit soll bei der Wertbestimmung eine Genauigkeit erreicht werden, die bei den anderen DCF-Verfahren üblicherweise nicht zu erwarten ist.107
3.148 Die Strukturierung der einzelnen Erfolgsbeiträge wird durch den APV-Ansatz im Hinblick auf den Einfluss der Fremdkapitalfinanzierung auf den Gesamtwert des Unternehmens verfolgt. Während der WACC-Ansatz ansatzweise die Effekte des Finanzierungsbereichs isoliert, indem diese sich nur bei der Bestimmung des Mischzinssatzes auswirken, wird beim APV-Ansatz diese Auftrennung in Leistungs- und Finanzierungsbereich vollständig durchgeführt. Der Einfluss der Fremdkapitalfinanzierung auf die Unternehmensteuer (in Deutschland sind das die Gewerbesteuer und die Körperschaftsteuer) wird als ein einzelnes Teilprojekt behandelt und gesondert ausgewiesen.
3.149 Einen Überblick über die grundsätzliche Struktur des Vorgehens im Rahmen einer Bewertung nach dem APV-Ansatz ist der Abb. 12 zu entnehmen.
107 Vgl. Drukarczyk, Unternehmensbewertung, S. 209–258.
138
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.153 Kap. 3
Ergebnis vor Zinsen und Steuern (EBIT) + Unternehmenssteuern –
Brutto Cash Flow
Jahr n
+
Abschreibungen +
Investitionen in das Anlagevermögen
Dotierung/ Auflösung von Rückstellungen +
Erhöhung des Working Capitals–
Jahr 1 Free Cash Flow –
Eigenkapitalkosten (rein eigenfinanziertes Unternehmen)
Diskontierung
Unternehmensgesamtwert eines rein eigenfinanzierten Unternehmens + Tax Shield = Unternehmensgesamtwert eines verschuldeten Unternehmens ./. Marktwert des Fremdkapitals = Marktwert des Eigenkapitals
Abb. 12: Überblick über den APV-Ansatz
Das Konzept des Adjusted Present Value-Ansatzes geht zunächst vom Wert eines fiktiv unverschuldeten Unternehmens aus und modifiziert diese Größe sukzessive um Finanzierungsund Steuereffekte.
3.150
Dazu werden die Free Cash-Flows berechnet. Die Vorgehensweise gleicht dem Verfahrensablauf bei Anwendung des WACC-Ansatzes. Da der Free Cash-Flow unabhängig von der Kapitalstruktur des Unternehmens ist, wird er im Rahmen des APV-Ansatzes als der erwartete Überschuss eines rein eigenfinanzierten Unternehmens interpretiert.
3.151
Anschließend werden die Free Cash-Flows diskontiert. Dabei wird im Gegensatz zum 3.152 WACC-Ansatz kein Mischzinssatz verwendet, sondern die Renditeforderung der Eigenkapitalgeber eines unverschuldeten Unternehmens.108 Da die Free Cash-Flows nach dem WACC Ansatz und dem APV-Ansatz mit unterschiedlichen Zinssätzen kapitalisiert werden, weichen die nach dem WACC-Ansatz und dem APV-Ansatz bestimmten Barwerte der Free Cash-Flows voneinander ab. Nicht betriebsnotwendiges Vermögen wird gesondert bewertet und zum Barwert der Free Cash-Flows addiert. Am Ende dieses ersten Schrittes erhält man als Zwischenergebnis den Marktwert eines unverschuldeten Unternehmens. Im darauffolgenden Schritt werden die steuerlichen Auswirkungen der Unternehmensfinanzierung separat berücksichtigt. Der Marktwert des Unternehmens wird um die Steuerersparnis infolge der teilweisen Fremdkapitalfinanzierung (Tax Shields) erhöht. Diese Markt108 Diese Vorgehensweise entspricht der Vorgehensweise bei Nutzung des WACC-Ansatzes. Bei reiner Eigenfinanzierung entspricht der Mischzinssatz den Kosten des Eigenkapitals eines unverschuldeten Unternehmens.
Keim/Jeromin
139
3.153
Kap. 3 Rz. 3.154
Bewertung
werterhöhung (Barwert des Tax Shield) entspricht dem Barwert der Steuervorteile, die mit dem risikoadäquaten Kapitalkostensatz abgezinst wurden.109 Die Einbeziehung des Tax Shields bewirkt eine Erhöhung des Marktwerts des Gesamtkapitals, so dass man statt des Marktwerts des eigenfinanzierten Unternehmens den gesamten Wert eines verschuldeten Unternehmens erhält.
3.154 Ist das zu bewertende Unternehmen nicht verschuldet, sondern weist es einen Liquiditätsüberschuss auf (negative Nettofinanzposition), wandelt sich das Tax-Shield der Fremdkapitalisierung in ein sog. Tax Burden, welches dann analog in die Bewertung mit einzubeziehen ist.
3.155 Nach Abzug des Marktwerts des verzinslichen Fremdkapitals erhält man den Marktwert des Eigenkapitals.110 Die Summe aus dem Marktwert des unverschuldeten Unternehmens und dem Barwert des Tax Shields entspricht dem Marktwert des Gesamtkapitals des verschuldeten Unternehmens. Wird davon der Marktwert des Fremdkapitals subtrahiert, gelangt man zum Marktwert des Eigenkapitals.111
3.156 Bei der praktischen Anwendung des APV-Ansatzes wird ebenso wie beim WACC-Ansatz regelmäßig von konstanter Kapitalstruktur und konstanten Kapitalkosten ausgegangen. Zusätzlich wird in der Praxis die Annahme getroffen, dass das Tax Shield mit dem Basiszins abzuzinsen ist.112 Bei der Diskontierung der Free Cash-Flows mit den Kapitalkosten eines rein eigenfinanzierten Unternehmens steht der Bewerter vor dem Problem, dass kaum ein Unternehmen vollständig eigenfinanziert ist. Daher muss der Bewerter die Kapitalkosten aus Marktdaten für verschuldete Unternehmen ableiten. Dieses erhöht die Unsicherheit, da die so gewonnenen Kapitalkosten an die Situation eines fiktiv unverschuldeten Unternehmens anzupassen sind. Die Eigenkapitalkosten eines unverschuldeten Unternehmens können aber unter der Annahme einer linearen Approximation (der sog. Reaktionshypothese) zwischen dem Verschuldungsgrad eines Unternehmens und den Eigenkapitalkosten zumindest näherungsweise aus den Eigenkapitalkosten eines verschuldeten Unternehmens abgeleitet werden.113
3.157 Erfolgt die Berechnung der Eigenkapitalkosten anhand des CAPM, können die Auswirkungen der Fremdfinanzierung auf den Eigenkapitalkostensatz durch Anpassungen des Betafaktors dargestellt werden.
3.158 Der Betafaktor spiegelt die zwei Risiken wider, welchen Unternehmen durch ihre Geschäftstätigkeit ausgesetzt sind, das Geschäfts- und das Kapitalstrukturrisiko. Wird eine Unternehmung nur mit Eigenkapital finanziert, dann entfällt das Kapitalstrukturrisiko. Es verbleibt lediglich das Geschäftsrisiko.
3.159 Der Verschuldungsgrad des zu bewertenden Unternehmens ist für die o.g. Berechnungen nicht aus Buchwertrelationen sondern anhand des Marktwerts von Fremd- und Eigenkapital 109 In der Praxis wird das Tax Shield häufig mit dem risikolosen Zins diskontiert. Diese Verwendung des sicheren Zinssatzes bei der Diskontierung des Tax Shields ist allerdings nur unter sehr eingeschränkten Prämissen theoretisch korrekt. Vgl. Drukarczyk, Unternehmensbewertung, S. 216. 110 Vgl. Mandl/Rabel, S. 41 f. 111 Vgl. Mandl/Rabel, S. 373. 112 Vgl. Mandl/Rabel, S. 373. 113 Allerdings wird dieser lineare Zusammenhang (Modigliani-Miller-Theorem) in der Literatur differenziert diskutiert. Die Hauptkritikpunkte liegen in den zahlreichen praxisfernen Annahmen, die vorausgesetzt werden, um die Linearität zu erreichen, vgl. Ballwieser, WPg. 1998, 91.
140
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.162 Kap. 3
zu ermitteln. Dies setzt die Kenntnis der Marktwerte voraus, was in der Praxis nicht immer gegeben ist. Deshalb sind sie oft zu schätzen. Bspw. eignet sich für den Marktwert des Eigenkapitals die aktuelle Börsenkapitalisierung eines Unternehmens. Der Marktwert des Fremdkapitals wird in der Praxis oft durch Buchwerte angenähert.114 Im Vergleich zum WACC-Ansatz zeichnet sich der APV-Ansatz dadurch aus, dass der Free 3.160 Cash-Flow nicht mit einem Mischzinssatz abgezinst wird, sondern mit der Rendite eines vollständig eigenfinanzierten Unternehmens. Fremdkapitalkosten und die steuerlichen Effekte der Fremdkapitalfinanzierung werden erst nach der Ermittlung des Barwerts eines rein eigenfinanzierten Unternehmens angerechnet. Der Steuereffekt wird in Form eines Tax Shields berücksichtigt, während er im WACC-Ansatz bei der Ableitung der Kapitalkosten Berücksichtigung findet. Wie beim WACC-Ansatz gilt für die Bewertung nach dem APV-Verfahren, dass die analoge Anwendung der Praktikerlösung (Ausschluss negativer Verschuldungsgrade oder Kappung von Zinskomponenten) grundsätzlich unzulässig ist.
3.161
b) Nettoansatz (Equity-Approach) Im Nettoansatz fokussiert sich die Wertermittlung auf die den Eigentümern einer Unternehmung zufließenden Zahlungsströme. Das grundsätzliche Bewertungsschema kann nachfolgender Darstellung in Abb. 13 entnommen werden.
Free Cash Flow Fremdkapitalzinsen
+
Jahr n
–
Jahr 1 Flow to Equity
Unternehmenssteuerersparnis aus Fremdkapitalzinsen Aufnahme/Tilgung von verzinslichem Fremdkapital
+
Diskontierung
Marktwert des Eigenkapitals
+/–
Eigenkapitalkosten
Abb. 13: Grundsätzliches Bewertungsschema im DCF-Nettoansatz
114 Vgl. Mandl/Rabel, S. 300 ff.
Keim/Jeromin
141
3.162
Kap. 3 Rz. 3.163
Bewertung
3.163 Zwischen dem Equity-Approach und dem Ertragswertverfahren besteht grundsätzlich Übereinstimmung. Analog zum Ertragswertverfahren werden im Equity-Approach die Zahlungsströme an die Eigenkapitalgeber diskontiert.115
3.164 Die Bewertung nach der Equity Methode erfolgt in einem mehrstufigen Verfahren. In einem ersten Schritt wird der Free Cash-Flow modifiziert und ein sog. Flow to Equity bestimmt. Flow to Equity (FTE) sind diejenigen Erträge, die alleine den Eigenkapitalgebern zur Verfügung stehen. Der Flow to Equity stellt rechnerisch eine Restgröße dar. Sie ergibt sich, nachdem der Free Cash-Flow um die Zahlungen an die Fremdkapitalgeber und um Steuereffekte der Fremdfinanzierung angepasst wurde.116 + + -
Free Cash-Flow117 Fremdkapitalzinsen Unternehmensteuerersparnis aus Fremdkapitalzinsen Aufnahme von verzinslichem Fremdkapital Tilgung von verzinslichem Fremdkapital Flow to Equity
3.165 Da der Flow to Equity ausschließlich die erwarteten Ausschüttungen an die Eigenkapitalgeber verkörpert, wird sein Barwert durch Diskontierung mit den Eigenkapitalkosten des Unternehmens berechnet. Sofern nicht betriebsnotwendiges Vermögen vorhanden ist, muss der Barwert des Flow to Equity anschließend um dessen Marktwert erhöht werden.118
3.166 Die Bestimmung des Flow to Equity setzt voraus, dass sämtliche aus der Fremdfinanzierung resultierenden Zahlungen vor der Kapitalisierung der zukünftigen Ergebnisse adäquat berücksichtigt werden. Daher werden die Free Cash-Flows so bereinigt, dass die mit der Fremdkapitalfinanzierung verbundenen Zahlungsströme direkt in die Cash-Flow-Ermittlung mit eingehen.
3.167 Da bei der Anwendung des Nettoverfahrens sämtliche Änderungen der Kapitalstruktur des zu bewertenden Unternehmens direkt in die Ermittlung des Flow to Equity einfließen, kann die Entwicklung des Fremdkapitalbestands frei geplant werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass eine Schwankung der Fremdkapitalquote einen Einfluss auf die Eigenkapitalkosten hat. Rein theoretisch steigen die Eigenkapitalkosten mit wachsendem Verschuldungsgrad. Da mit der Prognose der Flows to Equity explizit der Verschuldungsgrad des Unternehmens mitprognostiziert wird, könnte es hier zu Inkonsistenzen zwischen geplantem Verschuldungsgrad und Eigenkapitalkosten kommen. Sind keine materiellen Kapitalstrukturveränderungen geplant, wird in der Praxis von einer Anpassung der Eigenkapitalkosten an die evtl. in den Planperioden schwankenden Verschuldungsgrade ausgegangen. Es wird dann von konstanten Eigenkapitalkosten ausgegangen.119
3.168 Bei der Anwendung der Nachsteuerrechnung ist das Nettoverfahren unter Berücksichtigung der Auswirkungen der persönlichen Steuern der Anteilseigner zu rechnen. Insoweit be115 Vgl. Ballwieser, WPg. 1998, 81. 116 Veränderungen bei unverzinslichen Fremdkapitalkomponenten werden in der Free Cash-FlowPosition Working Capital berücksichtigt. 117 Nach Abzug der Unternehmensteuer vom Free Cash-Flow unter der Prämisse eines rein eigenfinanzierten Unternehmens. 118 Vgl. Mandl/Rabel, S. 41. 119 Vgl. Mandl/Rabel, S. 369.
142
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.170 Kap. 3
stehen grundsätzlich keine Unterschiede zum Ertragswertverfahren. Bei gleichen Annahmen führen beide Verfahren zu gleichen Unternehmenswerten. c) Vergleich der verschiedenen Ansätze des Discounted Cash-Flow-Verfahrens Die vorgestellten DCF-Ansätze unterscheiden sich hinsichtlich der verwendeten Parameter und des Ablaufs der Bewertung. Bei den Bruttoverfahren werden Free Cash-Flows kapitalisiert. Beim Nettoverfahren ist der an Eigenkapitalgeber ausschüttbare Überschuss zu kapitalisieren. Hierbei handelt es sich um denjenigen Zahlungsmittelüberschuss, der sich nach Abzug von Zins- und Unternehmensteuerzahlungen ergibt. Aufgrund ihrer konzeptionellen Unterschiede muss die Diskontierung der Cash-Flows bei diesen Bewertungsalternativen voneinander abweichen. Beim WACC-Ansatz wird der Free Cash-Flow mit dem aus der Eigen- und Fremdkapitalrendite resultierenden Mischzinssatz diskontiert. Das Ergebnis führt zum Marktwert des gesamten Unternehmens. Beim APV-Ansatz werden die Free CashFlows mit der Renditeforderung der Eigenkapitalgeber eines unverschuldeten Unternehmens diskontiert. Dieses ergibt den Wert eines rein eigenfinanzierten Unternehmens. Die Nettomethode kapitalisiert die zukünftigen an die Eigenkapitalgeber fließenden Überschüsse mit der Eigenkapitalrendite des verschuldeten Unternehmens. Damit berechnet man direkt den Marktwert des Eigenkapitals, ohne den Umweg über den Marktwert des gesamten Unternehmens einschlagen zu müssen.
3.169
Weitere Unterschiede sind im Hinblick auf die Behandlung der steuerlichen Effekte der Fremdkapitalfinanzierung zu beobachten. Der WACC-Ansatz berücksichtigt die steuerlichen Effekte der Fremdkapitalfinanzierung beim Fremdkapitalzins. Beim APV-Ansatz wird das Tax Shield separat für jede Periode berechnet. Das Nettoverfahren korrigiert hingegen direkt die an die Eigenkapitalgeber ausschüttbaren Überschüsse um die steuerlichen Effekte der Fremdkapitalfinanzierung in der Überleitung zu den Nettoausschüttungen.
3.170
Merkmale
Methode der gewogenen Kapitalkosten
Adjusted Present Value
Equity-Methode (Nettoverfahren)
Berechneter Wert
Unternehmensgesamtwert
Marktwert eines unver- Marktwert des schuldeten Unterneh- Eigenkapitals mens
Cash-Flow
Ermittlung des entziehbaren Cash-Flows des Unternehmens bei unterstellter Eigenfinanzierung (Free Cash-Flow)
Ermittlung des entziehbaren Cash-Flows des Unternehmens bei unterstellter Eigenfinanzierung (Free Cash-Flow)
Ermittlung des den Eigentümern zustehenden Cash-Flows unter Beachtung der realisierten Kapitalstruktur (Flow to Equity)
Kapitalisierungszinssatz
Diskontierung mit den durchschnittlichen gewogenen Kapitalkosten (WACC)
Diskontierung mit den Kosten des Eigenkapitals bei vollständiger Eigenfinanzierung
Diskontierung mit den Kosten des Eigenkapitals des verschuldeten Unternehmens
1. Schritt
Keim/Jeromin
143
Kap. 3 Rz. 3.171
Bewertung
Merkmale
Methode der gewogenen Kapitalkosten
Adjusted Present Value
2. Schritt
Ermittlung des Wertes des Eigenkapitals, indem der Unternehmensgesamtwert um den Marktwert des Fremdkapitals reduziert wird
Ermittlung der Vorbzw. Nachteile aus der realisierten Kapitalstruktur (Tax Shield) Ergebnis aus 1.+2. führt zu Unternehmensgesamtwert
3. Schritt
Equity-Methode (Nettoverfahren)
Ermittlung des Wertes des Eigenkapitals, indem der Unternehmensgesamtwert um den Wert des Fremdkapitals reduziert wird
Abb. 14: Vergleich der verschiedenen DCF-Ansätze; Quelle: in Anlehnung an Drukarczyk, Unternehmensbewertung, S. 200.
3.171 Die Beurteilung der drei Ansätze kann im Hinblick auf die Transparenz der Bewertungsverfahren erfolgen, da die vorgestellten DCF-Verfahren unterschiedliche Möglichkeiten bieten, die durch das Unternehmen erwirtschafteten Überschüsse separat den Leistungs- oder Finanzierungsbereichen zuzuordnen. Dieses Wissen ist z.B. erforderlich, um bei stark diversifizierten Konzernen die Cash-Flows der verschiedenen Geschäftsbereiche unabhängig von der Art der Finanzierung und den damit verbundenen Steuerzahlungen zu prognostizieren.
3.172 Im Gegensatz zu den Brutto-Ansätzen isoliert das Nettoverfahren wegen der direkten Verrechnung der Ertragsüberschüsse aus dem Leistungs- und Finanzbereich nicht die Steuereffekte der Fremdkapitalfinanzierung.120 Beim WACC- und APV-Ansatz hingegen ist eine separate Analyse der Wirkung der Finanzierungspolitik auf den Unternehmenswert möglich. Beim WACC-Ansatz wird das Tax Shield nicht als separate Erfolgsgröße ausgewiesen. Stattdessen wird es indirekt bei der Ermittlung des Mischzinssatzes berücksichtigt. Darüber hinaus muss der WACC bei einer im Zeitablauf schwankenden Kapitalstruktur permanent neu kalkuliert werden.121
3.173 Der Einfluss der Fremdkapitalfinanzierung zeigt sich am deutlichsten bei der Wahl des APVAnsatzes. Im APV-Ansatz entfällt im Vergleich zur WACC-Methode die Notwendigkeit einer permanenten Anpassung des Kapitalisierungszinssatzes im Falle schwankender Kapitalstrukturen. Dieses folgt daraus, dass im APV-Ansatz nur die Eigenkapitalrendite eines unverschuldeten Unternehmens für die Kapitalisierung bewertungsrelevant ist.
3.174 Die Unterschiede zwischen den verschiedenen DCF-Ansätzen beziehen sich zusammengefasst im Wesentlichen darauf, wie und an welcher Stelle der Berechnungsmethodik der Einfluss der Fremdkapitalfinanzierung auf den Unternehmenswert berücksichtigt wird. Im Hinblick auf die Höhe des berechneten Unternehmenswerts gilt aber, dass alle drei Verfahren rechentech-
120 Vgl. Steiner/Wallmeier, S. 7. 121 Ansonsten sind die Gewichte einzelner Finanzierungsformen nicht konsistent zur geplanten Kapitalstruktur.
144
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.178 Kap. 3
nisch ineinander überführt werden können. Somit führen alle drei Verfahren zu identischen Unternehmenswerten, sofern die die wesentlichen Bewertungs-, Steuer- und Finanzierungsprämissen zueinander kongruent in der Bewertung erfasst worden sind.122 3. Market-Approach a) Überblick Der Marktwert börsennotierter Unternehmen im Sinne eines Eigenkapitalwerts wird grundsätzlich als Produkt des Aktienpreises und der Anzahl emittierter Aktien ermittelt.
3.175
In der deutschen Bewertungspraxis und Rechtsprechung123 wird die Ansicht vertreten, dass der Börsenkurs für die Unternehmensbewertung nicht außer Acht gelassen werden darf.124 Liegen für Unternehmensanteile Börsenkurse vor, so sind diese zur Plausibilitätsbeurteilung des ermittelten Unternehmens- oder Anteilswerts heranzuziehen.125
3.176
Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 12.3.2001126 die vom BVerfG aufgestellten Grundsätze dahin gehend ausgelegt, als dass er aus Gründen der Rechtssicherheit auf einen auf den Stichtag bezogenen durchschnittlichen Referenzkurs abstellt, der nach Meinung des BGH aus Kursdaten ermittelt wird, die in größtmöglicher Nähe zu diesem Stichtag liegen. Der Rechtsprechung erscheinen drei Monate vor Ansatz der Maßnahme als geeignet.127 Bei nicht börsennotierten Unternehmen wird das Ziel verfolgt, den gesuchten Wert aus realisierten Markt- oder Börsenpreisen vergleichbarer Unternehmen abzuleiten. Aufgrund der Ermittlung des Unternehmenswertes aus den Preisen vergleichbarer Gesellschaften wird der Market Approach als Vergleichsverfahren bezeichnet.128
3.177
Bei marktorientierten Bewertungsverfahren liegt der Fokus weniger auf der Detailanalyse zukünftiger Marktpositionierungen, Strategien, Risiken und Überschüsse von Unternehmen bzw. Unternehmensteilen als auf deren tatsächlich realisierbaren Markt- bzw. Veräußerungspreisen, die sich als Folge der Bewertungszeitraum sich konkret ergebenden Konjunktur- und Börsensituation resultierend von Angebot und Nachfrage nach Investitionen in Unternehmensanteile ergeben.129 Der Marktpreis des Unternehmens für die Eigenkapitalgeber anhand
3.178
122 Allerdings kann die konsistente Handhabung der drei DCF-Verfahren zum Teil erhebliche Anstrengungen des Bewerters voraussetzen. Vgl. Ballwieser, WPg. 1995, 123 f. und Drukarczyk, Unternehmensbewertung, 1996, S. 142. 123 Vgl. BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 1613/94, AG 1999, 566 m. Anm. Vetter = DB 1999, 1693. 124 Vgl. BVerfG v. 27.4.1999 sowie Der Betrieb 1999, S. 1693. 125 Vgl. IDW S 1 i.d.F 2008, S. 33. 126 Vgl. BGH v. 12.1.2001 – II ZB 15/00, DB 2001, 969 ff. 127 Dieser Verweis auf den Dreimonatszeitraum vor dem Bewertungsstichtag ist zwischenzeitlich in der Diskussion. Vgl. OLG Düsseldorf v. 27.5.2009 – I-26 W 5/07 (AktE), S. 35 f.; LG München v. 23.4.2009 – 5 HK O 542/09, rkr., AG 2009, 635 f. sowie OLG Frankfurt v. 9.12.2008 – WpUG 2/08, AG 2009, 87. 128 Neben dem Market Approach existiert noch der Income Approach (dies entspricht dem DCFVerfahren bzw. in Deutschland der Ertragswertmethode.) und der Cost Approach (entspricht dem Substanzwertverfahren). Vgl. Sanfleber-Decher, WPg. 1992, 597. 129 Vgl. hierzu folgendes Zitat: „… define fair market value, in effect, as the price at which the property would change hand between a willing buyer and a willing seller when the former is not under any compulsion to buy and the latter is not under any compulsion to sell, both parties having reasonable knowledge of relevant facts.“ Revenue Ruling 59–60, 1959-1 C. B. 237, Sec. 2.02.
Keim/Jeromin
145
Kap. 3 Rz. 3.179
Bewertung
dieser Bewertungsverfahren wird aus aktuellen und in der Vergangenheit an den Kapitalmärkten beobachtbaren Unternehmenspreisen abgeleitet. Voraussetzungen für die Anwendung dieses Verfahrens sind die Existenz liquider Kapitalmärkte für Unternehmen bzw. Unternehmensanteile und die Verfügbarkeit über hinreichend verlässlichen Informationen zu den für eine verlässliche Bewertung erforderlichen Informationen wie Markt- bzw. Transaktionspreise, Finanzkennzahlen, Gegenstand, Inhalt und Umfang der Geschäftstätigkeit vergleichbarer Unternehmen sowie des Zielobjekts der Bewertung.
3.179 Die Vergleichsverfahren benötigen verlässliche Daten und Finanzinformationen des zu bewertenden Unternehmens und wie auch der zum Vergleich herangezogenen Unternehmen. Hierbei kommt es insbesondere darauf an, zueinander kompatible Informationen und Unternehmen zu verwenden. Da die meisten Finanzkennzahlen von Peer Group Unternehmen und von den zu bewertenden Unternehmen auf Basis von Konzernabschlüssen gewonnen werden, ist insbesondere auf eine korrekte Verarbeitung und ggf. Adjustierung der verwendeten Ausgangsdaten zu achten.
3.180 Gebräuchliche Vergleichsverfahren sind der Comparative Company Approach (Vergleichsunternehmensansatz) und der Market Multiples Approach (Bewertung mittels Branchenmultiplikatoren bzw. Multiplikatormodelle). b) Comparative Company Approach
3.181 Zur Bestimmung des Unternehmenswertes orientiert sich der Comparative Company Approach an unmittelbar realisierten (Kauf-)Preisen ausgewählter Referenzunternehmen. Anhand tatsächlich gezahlter Marktpreise für Vergleichsunternehmen (Comparative Company) wird der Preis für das Bewertungsobjekt geschätzt. Bei der Anwendung dieser Bewertungsmethode sind folgende Aspekte zu berücksichtigen. Zunächst ist die Auswahl der Referenzgesellschaften anspruchsvoll. Als Kriterien für den Auswahlprozess dienen u.a. die Branchenzugehörigkeit, die Produktpalette oder die Höhe des Umsatzes.130 Die Selektion der Referenzunternehmen wird erschwert, sobald es sich bei der zu bewertenden Gesellschaft um einen Mischkonzern handelt.131 Insbesondere bei mittleren und großen Unternehmen wird in der Praxis immer wieder eine Aufteilung in Bewertungseinheiten vorgenommen.132
3.182 Für die Wertfindung werden die Vergangenheitsergebnisse des zu bewertenden Unternehmens anhand historisch verfügbarer Informationen (z.B. Jahresabschlussdaten) analysiert. Die bereinigten Vergangenheitsergebnisse werden dann in Relation zu den Ergebnissen der Vergleichsunternehmen gesetzt. Wenn die Wertbestimmung nur mithilfe eines einzigen Referenzunternehmens vorgenommen wird, kann nach folgendem Schema vorgegangen werden:133
130 Zu einem Katalog der Vergleichskriterien vgl. Arbenz/Möckli, Praxis 1999, 7 und Barthel, DB 1996, 150. Börsig gibt einen Überblick über die Höhe relevanter Kennziffern bei ausgewählten Transaktionen in der Kraftfahrzeug-Zulieferindustrie und in der Telekommunikationsbranche. Vgl. Börsig, Zfbf 1993, 83. 131 Da dieser nicht einer einzelnen Branche zugeordnet werden kann. 132 Vgl. Barthel, DB 1996, 150. 133 Vgl. Mandl/Rabel, S. 44.
146
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.187 Kap. 3
MPB = VB ∙ MPV VV
mit: MPB VB MPV VV
= = = =
potentieller Marktpreis des zu bewertenden Unternehmens, Vergleichsgröße des zu bewertenden Unternehmens, Marktpreis des Vergleichsunternehmens, Vergleichsgröße des Vergleichsunternehmens.
Der Quotient aus Marktpreis und Vergleichsgröße des Referenzunternehmens repräsentiert den Multiplikator. Dieser wird in seiner absoluten Höhe meist nicht ohne weitere Korrekturen angewandt. Vielmehr werden hierauf teilweise Zu- oder Abschläge in Abhängigkeit von der Größe des zu bewertenden Unternehmens erhoben. Weitere Faktoren, die zu einer Modifikation des Multiplikators führen, können die Börsennotierung des Unternehmens (Fungibilitäts- bzw. Liquiditätsprämie), die Berücksichtigung der Zahlung von Kontrollprämien, die Volatilität der Erträge und die Diversifikation des Unternehmens sein.134
3.183
In Abhängigkeit von der Art der benutzten Vergleichspreise werden innerhalb des Comparative Company Approach drei Methoden unterschieden:
3.184
– Similar-public-company-Ansatz (Methode vergleichbarer börsennotierter Unternehmen), – Recent-acquisitions-Ansatz (Vergleichstransaktionsmethode), – Initial-public-offering-Ansatz (Börsengangmethode).135 Unterschiede zwischen den drei Ansätzen bestehen in den genutzten Preisen, die als Abgrenzungssystematik dienen. Je nach Ansatz dienen als Basis der Unternehmensbewertung Börsenkurse bereits längerfristig notierter Gesellschaften, Kaufpreise nicht öffentlich notierter Unternehmen sowie die Preise erstmals notierter Unternehmen.
3.185
aa) Similar-public-company-Ansatz Bei Verwendung des Similar-public-company-Ansatzes dienen die Marktpreise öffentlich notierter Unternehmen in Form von deren Marktkapitalisierung als Referenzgröße. Der Vergleich erfolgt mithilfe von Schlüsselgrößen aus dem Jahresabschluss oder Konzernabschluss wie EBIT, Cash-Flow, Eigenkapital, Umsatz etc. Diese Kenngrößen werden zunächst für die Vergleichsunternehmen berechnet und dann auf das zu bewertende Unternehmen bezogen. Hierbei ist inhaltliche Kompatibilität sowohl zwischen den Finanzdaten aber auch ermittelten Eigen- und Gesamtkapitalwerten der Vergleichsunternehmen als auch der zu bewertenden Unternehmung unabdingbar.
3.186
Im Einzelnen werden vier Schritte durchlaufen: Zunächst wird im Rahmen einer Due Diligence136 die allgemeine ökonomische Lage, die spezielle Branche insbesondere das zu bewer-
3.187
134 Weitere zu berücksichtigende Aspekte für die Ermittlung des Multiplikators finden sich bei Arbenz/Möckli, Praxis 1999, 7. 135 Vgl. Sanfleber-Decher, WPg. 1992, 598 ff. 136 Eine Due Diligence wird häufig im Zusammenhang mit Unternehmenskäufen durchgeführt. Darunter wird die sorgfältige Analyse, Prüfung und Bewertung eines Objektes im Rahmen einer beabsichtigten geschäftlichen Transaktion verstanden. Mithilfe der Due Diligence sollen Infor-
Keim/Jeromin
147
Kap. 3 Rz. 3.188
Bewertung
tende Unternehmen, bspw. im Hinblick auf seine finanzielle Situation, analysiert. Daran schließt sich das Kernstück der Bewertung an, die Auswahl der geeigneten Vergleichsunternehmen. Nach der Bestimmung von Auswahlkriterien werden entsprechende Referenzunternehmen ermittelt. Anschließend werden Jahres- und Quartalsabschlüssen der Vergleichsunternehmen ermittelt sowie sämtliche Finanzkennzahlen in zueinander äquivalenter Form aufbereitet. Die verlässlichste Methode ist hierbei der Rückgriff auf Quartals- und Jahresabschlüsse aus der Konzernrechnungslegung. Die insoweit ausgesprochene Präferenz für Finanzzahlen aus der Konzernrechnungslegung liegt darin, dass grundsätzlich nur anhand von Kennzahlen aus den Konzernabschlüssen sowohl weitgehend einheitliche und äquivalente Informationen über die gesamte Ertragskraft den Konzerns einschließlich adäquat zugerechneter Minderheitenanteile und die konzernweite Kapitalstruktur ermitteln lassen. Sofern hingegen bei der Analyse vergleichbarer Unternehmen lediglich auf Einzelabschlüsse zurückgegriffen werden oder bei der Ermittlung der Verschuldungsgrade nicht die tatsächliche Kapitalstruktur unter Einbezug konzernweiter Minderheiten oder Fremdverbindlichkeiten zugrunde gelegt werden, können bereits aus diesen Gründen rein technisch bedingte Fehlbewertungen resultieren.
3.188 Aus adjustierten Eigenkapitalwerten und maßgeblichen Finanzkennzahlen werden anschließend sog. Multiplikatoren (Verhältniszahlen) gebildet. Bei der anschließenden Wertermittlung steht dann nicht die Ermittlung des Wertes des gesamten Unternehmens im Vordergrund, sondern die Überleitung auf den Wert einzelner Anteile (Aktien) des zu bewertenden Unternehmens. Auch hier sind anschließend konzernbedingte Eigenheiten sachgerecht zu berücksichtigen.
3.189 Börsentransaktionen sind i.d.R. auf Minderheitsanteile beschränkt. Daher wird davon ausgegangen, dass die zu bewertenden Anteile keine Kontrollmehrheit begründen und frei handelbar sind. Die Preise für nicht marktgängige Mehrheitsbeteiligungen können durch Einräumung von Zu- und Abschlägen (Fungibilitätszuschläge bzw. Discount for Lack of Marketability137 sowie Paketzuschläge bzw. Control Premium138 ermittelt werden.139 bb) Recent-acquisitions-Ansatz
3.190 Technisch folgt dieser Bewertungsansatz grundsätzlich der im letzten Abschnitt beschrieben Methodik. Der maßgebliche Unterschied besteht hinsichtlich der zugrunde liegenden Preisinformationen. Dieser Bewertungsansatz greift bei der Wertfindung konkret auf jene Preise zurück, die bei Unternehmenstransaktionen von öffentlich notierten, aber auch bei nicht öffentlich notierten Unternehmen, im Rahmen von Akquisitionen tatsächlich realisiert wurden. Hierbei besteht das größte Hindernis für die Anwendung dieser Methode in der Beschaffung einer verlässlichen Datengrundlage. Hierbei stellt die Schwierigkeit der geeigneten Informationsbeschaffung von Marktpreisen, die nicht nur in möglichst kurzem zeitlichem Abstand vor dem Termin der Unternehmensbewertung beobachtet werden müssen sondern auch noch bekannt sein sollen, das geringste Bewertungshindernis dar, obgleich schon an dieser Voraussetzung zu großen Teilen die Umsetzung dieses Ansatz scheitern dürfte. Denn mationen beschafft und ausgewertet werden, mit dem Zweck, beim Zielunternehmen Chancen und Risiken aufzudecken. Dadurch soll die Due Diligence zur Qualitätsverbesserung bei der Entscheidungsfindung beitragen. 137 Börsengängigkeits- oder Handelbarkeitszu- oder -abschlag. 138 Kontrollprämien bzw. Zu- oder Abschläge für den Besitz/Nichtbesitz von Kontrollpaketen oder Stimmrechten. 139 Vgl. Buchner/Englert, BB 1994, 1579.
148
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.193 Kap. 3
für die Mehrzahl der Akquisitionen werden bereits aufgrund von Interessen der Vertragsparteien oder aufgrund vertraglich vereinbarter Schweigeklauseln dem Markt keine Preisinformationen zur Verfügung stehen. Aber auch für die Fälle, bei denen Transaktionspreise bekannt sein sollten dürften spätestens dann für die Verwendung dieser Informationen bei einer Wertermittlung Schwierigkeiten entstehen, wenn der Analyst den tatsächlichen Umfang des Transaktionsobjekts einschließlich der erforderlichen Kenntnisse über wesentliche vertragliche, erheblich wertbeeinflussende Nebenabreden wie Garantien, Optionen, Haftungen und sonstige vertragliche Vereinbarungen sucht. Da bei dieser Methode die der Bewertung zugrunde liegenden Kaufpreise sich regelmäßig auch nicht auf den Erwerb von Minderheitenanteilen beziehen und daher den Wert der gesamten Gesellschaft repräsentieren, wird bei diesem Ansatz auch der control value (die Kontrollprämie) des Unternehmens berücksichtigt.
3.191
cc) Initial-public-offering-Ansatz Im Rahmen von Börsengängen erfolgt die Bestimmung eines Unternehmenswerts durch den Initial-public-offering-Ansatz. Der gesuchte Wert wird auf Basis von Emissionspreisen der erstmaligen Börsennotierung von Vergleichsunternehmen bestimmt. Aufgrund der geringen Zahl von Börsengängen vergleichbarer Unternehmen und der zyklischen Schwankungen auf dem Markt für Börsengänge wird dieser Ansatz nur bei Börsengängen und nicht bei anderen Bewertungsanlässen verwendet.140 Hierbei ist darauf zu achten, dass Börseneinführungskurse kurzfristig spekulativ verzerrt sein könnten. Ein daraus abgeleiteter Wert kann unter Umständen deutlich von Unternehmenswerten abweichen, die auf Kapitalwertbasis ermittelt wurden. Ggf. empfiehlt es sich im Rahmen dieses Ansatzes auch auf Durchschnittskurse über einen abgeschlossenen Zeitraum nach der Börseneinführung zurückzugreifen.
3.192
c) Market Multiples aa) Grundüberlegungen Der Unternehmenswert berechnet sich bei diesem Ansatz aus branchentypischen Multiplikatoren.141 In der Praxis werden Branchenmultiplikatoren (Market Multiples), die sich aus Erfahrungssätzen gebildet haben, vor allem zur Bewertung mittlerer und kleiner Unternehmen herangezogen. Gleichwohl können derartige Ansätze kapitalwertorientierte Verfahren nicht ersetzen.142 Der Wert einer Gesellschaft ergibt sich als Produkt einer geeigneten Bezugsgröße mit einem Multiplikator. Dieser stellt einen Erfahrungssatz einer gesamten Branche bzw. eines Geschäftszweigs dar.143 Eine Analyse möglicher Vergleichsunternehmen ist nicht erforderlich.144
140 141 142 143
Vgl. Sanfleber-Decher, WPg. 1992, 600 f. Diese Vorgehensweise wird auch als Faustformel- oder Praktikerverfahren bezeichnet. Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, S. 33. In Deutschland wird z.B. bei Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Steuerberatungsgesellschaften der Preis i.H.v. 100 % bis 150 % des Umsatzes geschätzt. Arztpraxen wird ein Wert i.H.v. 1/3 des durchschnittlichen Umsatzes der letzten drei Jahre abzgl. des Gehalts für einen vergleichbaren angestellten Arzt zugestanden. Vgl. Niehues, BB 1993, 2249. 144 Teilweise werden auch bei diesem Bewertungsansatz Gewinnbereinigungen durchgeführt, um die Vergleichbarkeit der zu bewertenden Gesellschaften mit dem Referenzunternehmen sicherzustellen. Vgl. Barthel, DB 1996, 157.
Keim/Jeromin
149
3.193
Kap. 3 Rz. 3.194
Bewertung
3.194 Es gibt eine Vielzahl sog. Market Multiples, die sich im Wesentlichen in sog. gesamtunternehmenswertbezogene Multiplikatoren und eigenkapitalorientierte Multiplikatoren einteilen lassen. Der konzeptionell wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Multiplikatoren ist, dass gesamtunternehmenswertbezogene Multiplikatoranalysen das Ergebnispotential eines fiktiv unverschuldeten Unternehmens bzw. eines Unternehmens vor Abzug der Fremdfinanzierung widergeben. Folglich sind für gesamtunternehmenswertbezogene Multiplikatoren bei der Wertanalyse und Wertableitung ökonomische Indikatoren (gesamtkapitalorientierte Indikatoren) heranzuziehen, welche explizit Vergütungen an Fremdkapitalgeber unberücksichtigt lassen. Eigenkapitalorientierte Multiplikatoren verwenden hingegen ökonomische Indikatoren (eigenkapitalorientierte Indikatoren), bei deren Herleitung explizit bereits Vergütungen an Fremdkapitalgeber in Abzug gebracht worden sind.
3.195 Von der reinen Bewertungstechnik lassen sich Multiplikatoren in sog. finanzielle Multiplikatoren und nichtfinanzielle Multiplikatoren aufteilen. Finanzielle Multiplikatoren basieren auf Finanzkennzahlen aus dem Rechnungswesen, Kostenrechnung oder Finanzbuchhaltung. Die üblichsten finanziellen Indikatoren wären Umsatz, Gesamtleistung, EBITDA, EBIT, EBT oder Jahresüberschuss. Hierbei gehören die EBT und Jahresüberschuss zu den sog. eigenkapitalorientierten Indikatoren. Die anderen Indikatoren (Umsatz, Gesamtleistung, EBIT, EBITDA) zählen ebenso wie sämtliche nichtfinanzielle Indikatoren (beispielsweise Anzahl der Festnetzkunden, oder Anzahl der Hausanschlüsse) zu den gesamtkapitalorientierten Indikatoren.
3.196 Umsatz- oder produktmengenorientierte Multiplikatoren gelten häufig als überwiegend ungeeignet für Unternehmensbewertungen, da mit ihnen keine verlässlichen Rückschlüsse auf die nachhaltige Profitabilität des Unternehmens gewonnen werden.145 Dieses Pauschalurteil ist nicht überzeugend. Die Frage, welche finanziellen oder nichtfinanziellen Indikatoren für eine sorgfältige Bewertung als zulässig und sachgerecht anzusehen ist, kann nur vor dem Hintergrund der konkret zu bewertenden Unternehmung, Branche und den üblichen Usancen der Unternehmenswertermittlung abschließend beantwortet werden.146
3.197 Gerade Umsatzmultiplikatoren werden beispielsweise insbesondere zur Ermittlung der Marktpreise von freiberuflichen Praxen und Dienstleistungsunternehmen verwendet und dienen dort regelmäßig als Ausgangspunkt der Unternehmensbewertungen.
3.198 Grundsätzlich steht dahinter die Annahme, dass in Branchen mit einer Vielzahl von Wettbewerbern vergleichbarer Größe, vergleichbar ertragsfähigem Kundenstamm, vergleichbarer Kapitalausstattung und vergleichbarem Anlage- und Umlaufvermögen bei weitgehend identischer Renditeerwartung allenfalls noch die Umsatzhöhe einen Hinweis auf Wertabweichungen zwischen alternativen Unternehmen bieten und folglich Umsatzmultiplikatoren in jenen Branchen mit hinreichender Verlässlichkeit eine vereinfachte Unternehmenswertermittlung gestatten. Die Beliebtheit und Verwendbarkeit von Umsatzmultiplikatoren als Wertindikator ist maßgeblich dort hoch und aussagekräftig, wo die Unternehmenswerte oftmals weitgehend durch den Wert eines verkehrsfähigen Kundenstamms geprägt sind.
3.199 Auch der Marktwert von freiberuflichen Praxen wie derjenigen von Architekten, Ärzten, Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern wird im Wesentlichen durch übertragbare Mandantenstämme bestimmt, weshalb bei Verkäufen und Käufen von Freiberufler-
145 Zur Kritik an der Verwendung von Multiplikatoren Ballwieser, 1997, S. 188. 146 Z.B. gleiche steuerliche Basis, vergleichbare Ergebnisbasis, Zeiträume etc.
150
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.204 Kap. 3
praxen trotzt gegenläufiger Empfehlungen der Berufskammern häufig für die Wertfindung überwiegend Umsatzmultiplikatoren herangezogen werden.147 Ergebnismultiplikatoren, wie die gesamtunternehmenswertbezogenen EBIT- und EBITDAMultiplikatoren oder die eigenkapitalwertbezogenen EBT-, Jahresüberschuss- oder Net-Income-Multiplikatoren sowie beispielsweise das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) erfreuen sich in der Praxis einer noch größeren Beliebtheit, da deren Anwendungsbereich deutlich weiter reicht, als derjenige von Umsatzmultiplikatoren bzw. derjenige von nichtfinanziellen Multiplikatoren.
3.200
Die eigenkapitalorientieren Multiplikatoren KGV oder der EBT-Multiplikator ergeben sich aus Quotienten von Kurswert zu erzieltem bzw. geschätztem Jahresgewinn oder zu erzielten bzw. geschätztem EBIT.148 Beide Multiplikatoren werden häufig zur überschlägigen Schnellbewertung von Unternehmen und zur Diskussion und Darstellung der Ertragslage und der vergleichenden Wertermittlung gegenüber der Öffentlichkeit verwendet. Analoges gilt für vergleichbare eigenkapital- und zahlungsstromorientierte Multiplikatoren wie das Kurs-CashFlow-Verhältnis.149
3.201
Die Verwendung dieser Kennzahl wird auf die Argumentation gestützt, dass sie es erlaube, bei der vergleichenden Analyse von Unternehmen die Ausnutzung von Bewertungsspielräumen bei der Ermittlung realisierter bzw. prognostizierter Gewinne aus der Bewertung zu eliminieren.
3.202
Ein sorgfältiger Bewerter wird diese Auffassung nicht teilen, da die Schätzunsicherheiten dieser Ergebnisgrößen zu hoch sind, um ein tatsächlich realistisches Bild von dem zu bewertenden Unternehmen sowie eine hinreichende Vergleichbarkeit zu anderen Unternehmen der Branche herstellen zu können. Hier sei erwähnt, dass Kennzahlen zu Kurs-Gewinn-Verhältnissen es nicht hinreichend gestatten, die Effekte kurzfristiger Ergebnisverzerrungen wie außerordentlicher Erträge und Aufwendungen, steuerliche Einflüsse, Folgen der Refinanzierung oder bei Cashflow-orientierten Zahlungen die Folgen von Zahlungsverschiebungen und Cashflow-Verzerrungen beispielsweise aufgrund der Vorziehung und Verschiebung von Einzahlungen und Auszahlungen oder aufgrund von Über- und Unterinvestitionen in einer oder mehrerer Perioden hinreichend zu erfassen. Darüber hinaus kann die unterschiedliche Ausstattung der Unternehmen mit Eigen- und Fremdkapital Einfluss auf die Multiplikatoren haben und somit die Bewertungsergebnisse häufig verzerren.
3.203
Die weit überwiegende Praxis nutzt für die Suche nach detaillierteren und verlässlicheren Bewertungsergebnissen gesamtkapitalorientierte Multiplikatoren. Hierbei haben neben dem Umsatzmultiplikator insbesondere EBITDA- und EBIT Multiplikatoren eine hohe Bedeutung. Die Bewertung mit diesen Multiplikatoren liefert im Gegensatz zu den Kurs-Gewinn Multiplikatoren zunächst Angaben zur Höhe eines Entity-Values (Gesamtunternehmenswert). Für die Berechnung des Eigenkapitalwerts der jeweiligen Eigentümer oder Aktionäre sind vom Gesamtunternehmenswert nach einer entsprechenden Überleitung noch das vom Unternehmen zu bedienende Fremdkapital zum Marktwert sowie – falls in dem zu bewertenden
3.204
147 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, S. 38. 148 Vgl. Born, Unternehmensanalyse, S. 174 ff. 149 Neben den Kennziffern zur Ermittlung des Unternehmenswerts (equity-value) können andere Kennziffern genutzt werden, um den Unternehmensgesamtwert (enterprise value) zu berechnen. Vgl. Arbenz/Möckli, Praxis 1999, 3 ff.
Keim/Jeromin
151
Kap. 3 Rz. 3.205
Bewertung
Unternehmen noch Minderheiten vorhanden sind – die zum Marktwert bewerteten Fremdanteile der Minderheiten in Abzug zu bringen.
3.205 In jedem Fall gilt bei der Multiplikatoranalyse immer das strenge Äquivalenzprinzip zu beachten, wonach generell auf größtmögliche Konsistenz in den Bewertungsgrundlagen zu achten ist. Die Konsistenz ist dabei sowohl in rechnerischer, als sachlicher und zeitlicher Hinsicht zu wahren.150
3.206 Die Multiplikatoren werden oft in Bandbreiten angegeben. Ein Gewinnmultiplikator kann als Kehrwert des Kalkulationszinsfußes interpretiert werden. Je niedriger der Multiplikator ist, desto höher sind der Kalkulationszinsfuß und damit das Risiko einer Investition einzuschätzen.151 Multiplikatoren
Umsatz
EBITDA
EBIT
KGV
Automobilhersteller
0,5x
5,6x
9,1x
8,3x
Automobilzulieferer
1,5x
7,8x
10,9x
14,5x
Banken
NA
NA
NA
11,9x
Chemie
2,3x
11,9x
17,2x
19,1x
Pharma
4,3x
12,7x
14,5x
15,8x
Software
6,6x
15,9x
18,1x
25,0x
Telekommunikation
2,1x
6,8x
13,8x
14,7x
Strom- und Gasversorger
3,3x
10,4x
16,3x
17,4x
Energiezulieferbranchen
1,7x
6,7x
14,2x
16,2x
Wasserversorger
6,1x
13,1x
17,9x
18,6x
Elektrische und elektronische Geräte
2,0x
12,7x
16,9x
21,7x
150 Einen der häufigsten Verstöße gegen das strenge Äquivalenzprinzip stellen sog. Zeitmismatches dar. Bei dieser Form der Bewertung werden zeitlich unvereinbare Informationsgrundlagen verwendet. Beispielsweise werden EBITDA-Multiplikatoren der Peer Group für das Jahr 2018 ermittelt und anschließend zur Wertableitung des zu bewertenden Unternehmens aber dann ein erst in der Zukunft liegendes EBITDA (z.b. 2020) herangezogen. Diese Vorgehensweise wird in Verhandlungen teils bewusst eingesetzt, um auf Seiten eines Verkäufers höhere Veräußerungspreise von Unternehmen zu rechtfertigen. Korrekt und zulässig ist es nur, wenn entweder auch für die Peer Group ein Multiplikator des Jahres 2020 ermittelt wird oder wenn dazu alternativ für die Bewertung auf das EBITDA des zu bewertenden Unternehmens im aktuellen Jahr abgestellt wird. Befolgt man dieses Äquivalenzprinzip nicht, ergeben sich Fehlbewertungen. Die Erklärung hierfür findet sich darin, dass nahezu jede Unternehmensplanung als auch nahezu jede am Markt erhältliche Analystenschätzung bei der Planung von Umsätzen und Erträgen sog. Hockey-Stick-Planungen zugrundelegen. 151 Während bspw. die Verwendung von Multiplikatoren i.H.v. fünf üblich ist, sind entsprechende Kapitalisierungszinssätze i.H.v. 20 % eher unüblich. Als Begründung wird bei Unternehmensakquisitionen angeführt, dass die Kapitalisierung mittels des Zinsfußes vorwiegend bei Investoren mit Kapitalanlageabsicht angewendet wird. Bei Verwendung eines Multiplikators ist hingegen das persönliche Engagement des Käufers erforderlich, so dass der persönliche Arbeitseinsatz eine höhere Rendite erfordert. Vgl. Niehues, BB 1993, 2248 f.
152
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Multiplikatoren
Rz. 3.210 Kap. 3
Umsatz
EBITDA
EBIT
KGV
Einzelhandel
1,3x
11,0x
14,3x
20,0x
Lebensmittelhersteller
4,8x
15,2x
18,0x
23,2x
Bekleidungshersteller
3,0x
14,3x
17,9x
25,5x
Großhandel
1,0x
12,4x
17,4x
20,5x
Maschinenbau
2,8x
14,3x
18,4x
21,3x
Technologie
1,4x
8,5x
11,9x
14,5x
Dienstleistungen
5,9x
15,2x
19,7x
25,9x
Lebensversicherungen
NA
NA
NA
16,2x
Sachversicherungen
NA
NA
NA
15,7x
Abb. 15: Multiplikatoren deutscher Industriezweige zum 31.3.2018. Quelle: in Anlehnung an: Jeromin/Awasthi, WP-Information 81, Aktualisierung der Kapitalkosten zum 31.3.2018 Quarterly Bulletin #1/18 Beteiligungsbewertung nach IDW RS HFA 10, 2018, S. 37/38.
Ein Vorteil der Verwendung von Market Multiples im Vergleich zum Comparative Company Approach liegt darin, dass der Bewerter nicht von der Kenntnis tatsächlich realisierter Kaufpreise oder Börsenwerte für konkrete Unternehmen abhängig ist. Er muss keine gezielte Auswahl von Vergleichsunternehmen sowie die damit verbundene Ableitung von Multiplikatoren durchführen. Entscheidend sind die Zuordnung des gesamten Unternehmens oder der Teile des Unternehmens zu einem bestimmten Geschäftszweig und die Kenntnis der entsprechenden Branchenmultiplikatoren.152
3.207
Andererseits sind die Multiplikatoren nicht theoretisch ableitbar. Neuere empirische Untersuchungen zeigen, dass mit Multiplikatoren die Preise von Unternehmen nicht vollständig erklärbar sind.153
3.208
Dieses folgt daraus, dass Multiplikatoren nur grobe Wertschätzungen repräsentieren, welche nicht die individuellen Besonderheiten der zu bewertenden Unternehmung berücksichtigen. Zudem wird nicht explizit das Risiko der Kapitalanlage quantifiziert.
3.209
Gleichwohl ist festzustellen, dass sowohl Stellenwert der Multiplikatoranalysen als auch die Häufigkeit deren Verwendung in den letzen Jahren deutlich gewachsen ist. Dieses hängt einerseits damit zusammen, dass die für eine sorgfältige Analyse notwendigen Informationsgrundlagen mittlerweile auf breiterer Basis vorhanden sind. Darüber hinaus finden insbesondere in der heutigen Praxis Multiplikatoren breite Anwendungen bei der Analyse von Wertbandbreiten als Ausgangspunkt für Kauf- und Verkaufsverhandlungen sowie als zunehmend akzeptiertes Mittel zur Plausibilitätskontrolle sowohl von bilanziellen Wertansätzen als auch im Rahmen von Fairness Opinions nach IDW S 8.
3.210
152 Vgl. Mandl/Rabel, S. 45. 153 Vgl. Ruhnke in Kruschwitz/Heintzen, S. 84–89.
Keim/Jeromin
153
Kap. 3 Rz. 3.211
Bewertung
bb) Umsetzung einer Multiplikatoranalyse
3.211 Eine Multiplikatoranalye beginnt, ausgehend von den vorhandenen Informationen der zu bewertenden Unternehmen, idealtypisch mit der Status-Quo Analyse. Dieses schließt eine Markt- und Wettbewerbsanalyse des zu bewertenden Unternehmens ein. Im Detail sind Produktlinien, wesentliche rechtliche, finanzielle, steuerliche und örtliche Gegebenheiten des zu bewertenden Unternehmens und daraus schlussfolgernd auch der Vergleichsunternehmen zu erstellen. Das Ziel der Status-Quo- Analyse ist die Bestimmung einer angemessenen Vergleichsgruppe und vor allem die Identifikation der maßgebenden Multiplikatoren. Hierbei ist der Bewerter nicht daran gebunden, sich auf aktuell direkte Wettbewerber oder reine Finanzkennzahlen zu beschränken. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann in dieser Status-Quo Analyse auch für die Auswahl zukünftiger Wettbewerber, Abnehmer oder Lieferanten optiert werden. Einziger Maßstab ist eine größte mögliche Vergleichbarkeit zwischen Peer Unternehmen und zu bewertendem Unternehmen sowie die Festlegung auf branchenakzeptierte allgemeine Wertindikationen.
3.212 Anschließend werden über Peer Group Analysen Marktvergleiche erstellt. Nach Festlegung einer Peer Group folgen in diesem Schritt die Analyse der Gewinn- und Verlustrechnung der Peer Unternehmen, die Analyse der Bilanz der Peer Unternehmen und die Bestimmung der Peer Group Multiplikatoren. Dieser Schritt ist sorgfältig durchzuführen. Regelmäßig erfordert dieses eine Bilanzanalyse bei den Peer Unternehmen. Je nach Komplexität und Struktur der zu bewertenden Unternehmen sind ggf. bestimmte rechtliche Strukturen so aufzuarbeiten und adäquat abzubilden, dass hieraus bereits von der strukturellen Aufarbeitung eine größte mögliche Übereinstimmung mit dem zu bewertenden Unternehmen besteht. Besondere Aufmerksamkeit ist bei der Datenaufbereitung ggf. bei unterschiedlichen Bilanzierungen vergleichbarer Sachverhalte zu widmen. Standardmäßig sind Fremdkapital, Eigenkapital, Minderheiten und Liquiditätskennzahlen korrekt aufzuarbeiten. Sofern die Markt- und Buchwerte einzelner Aktiv- oder Passivpositionen auseinanderfallen, sind hier entsprechende Korrekturen vorzunehmen.
3.213 Den Abschluss bildet die Marktbewertung. Bei der Marktbewertung werden die unternehmensindividuellen, ebenfalls korrekt aufgearbeiteten Kennzahlen des zu bewertenden Unternehmens mit entsprechenden Multiplikatoren der Peer Group verglichen. Der Anwender ist bei der Anwendung der Kennzahlen nicht auf mathematische Mittelwerte, Medianwerte, Obergrenzen oder Untergrenzen gebunden. Vielmehr liegt es im Ermessen und in der konkreten Sachverhaltswürdigung, auf welche Art und Weise die Ermittelten Multiplikatoren in die Bewertung integriert werden.
3.214 Bei der Verwendung von Multiplikator-Ansätzen ist zwischen zwei konkurrierenden Konzepten zu unterscheiden. Einerseits gibt es sog. Gesamtunternehmensmultiplikatoren. Diese erfassen die gesamte (operative) Ertragskraft eines Unternehmens und nehmen eine Überleitung auf den Eigenkapitalwert erst nach multiplikatorbasierter Bestimmung von Gesamtunternehmenswerten vor. Hierzu werden in einem ersten Schritt für die Peer Unternehmen Gesamtunternehmenswerte bestimmt. Anschließend werden deren Gesamtunternehmensmultiplikatoren, berechnet aus den Quotienten von Gesamtunternehmenswert und der zugehörigen Finanzkennzahlen (Finanz- oder Ergebniskennzahlen, bei denen Zinserträge bzw. Fremdkapital in nicht Abzug gebracht wurden) ermittelt. Auf deren Basis wird dann für die Zielunternehmung der Gesamtunternehmenswert bestimmt. Die Überleitung zum Eigenkapitalwert erfolgt anschließend retrograd über den Abzug von Fremdkapital. Dieser retrograde Abzug von Fremdkapital ist hier notwendig, weil die dem Fremdkapitalgebern zustehenden 154
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.219 Kap. 3
Wertbeiträge noch nicht in den Multiplikatoren und verwendeten Finanzkennzahlen zum Abzug gebracht wurden. Das andere Konzept ist das der Eigenkapitalmultiplikatoren. Diese erfassen die sowohl bei Peer Group als auch beim Zielunternehmen nur die den Eigenkapitalgebern zuzurechnende Ertragskraft. Dieses ist die nach Abzug der den Fremdkapitalgebern zustehenden Zahlungen verbleibende Ertragskraft. Hierfür werden geeignete Finanzkennzahlen und Multiplikatoren verwendet. Rechnerisch werden hierbei zunächst für die Peer Group Unternehmen ihre Eigenkapitalwerte bestimmt. Hier ist zwischen Konzerneigenkapitalkonzepten oder Börsenkapital zu unterscheiden. Anschließend werden daraus aus den hierzu kompatiblen Finanzkennzahlen (Finanz- oder Ergebniskennzahlen, bei denen Zinserträge bzw. Fremdkapital in Abzug gebracht wurden) ermittelt. Auf deren Basis wird dann für die Zielunternehmung direkt der Eigenkapitalwert bestimmt. Ein retrograder Abzug von Fremdkapital entfällt hier, weil die dem Fremdkapitalgebern zustehenden Wertbeiträge bereits in den Multiplikatoren und verwendeten Finanzkennzahlen zum Abzug gebracht wurden.
3.215
Wird ein Konzerneigenkapitalkonzept verfolgt, erfolgt ergänzend eine Überleitung zum Eigenkapitalwert durch Herausrechnung etwaiger Minderheitenanteile.
3.216
Generell sind Eigenkapitalmultiplikatoren (z.B. EBT-Multiplikator, KGV etc.) von geringerer Verlässlichkeit und Aussagekraft als Gesamtkapitalmultiplikatoren, da voneinander variierende Kapitalstrukturen von Peer Group Unternehmen und Bewertungsobjekt die Treffgenauigkeit der Analyse mindern. Darum werden in der Praxis Gesamtunternehmensmultiplikatoren bevorzugt, wobei in den meisten Fällen dem EBITDA Multiplikator die größte Bedeutung beikommt. Mit ihm werden auch Wertverzerrungen aus alternativen Investitionsverhalten der zu vergleichenden Unternehmen minimiert. Verwendung finden daneben Umsatz- und EBIT-Multiplikatoren.
3.217
Für die nachfolgende Darstellung des Multiplikatorverfahrens wird bei Gesamtkapitalmultiplikatoren auf Umsatz- und EBITDA-Multiplikatoren abgestellt und bei den Eigenkapitalmultiplikatoren auf den EBT-Multiplikator. Rechnerisch bestimmen sich die Multiplikatoren folgendermaßen.
3.218
Wert des operativen Geschäfts Umsatzmultiplikator = Umsatz EBITDA Multiplikator = EBT Multiplikator =
Wert des operativen Geschäfts EBITDA Konzern − Eigenkapital EBT
Hervorzuheben ist, dass das erste Ziel jeder Gesamtmultiplikator basierten Bewertung nicht 3.219 die Identifikation eines Gesamtunternehmenswertes ist, sondern die Bestimmung des Gesamtwertes des operativen Geschäfts (ohne Finanzergebnis) da nur die Finanzkennzahlen des operativen Geschäft als Ausgangspunkt der Multiplikatoranalyse herangezogen werden. Der Wert des operativen Geschäft ist der Teil des Unternehmensgesamtwertes, der sich vor Abzug etwaiger vorhandener Nettoverschuldung oder vor Hinzurechnung etwaiger positiver(!) Nettoliquidität ergibt.
Keim/Jeromin
155
Kap. 3 Rz. 3.220
Bewertung
3.220 Beispiel einer Multiplikatoranalyse – Teil A) Datenaufbereitung Schritt 1: Status-Quo Analyse
Bewertungsobjekte
1.a.) GuV – Kennzahlen Umsatz EBITDA
Anton Chemie I
Anton Chemie II
Anton Chemie III
Euro
Euro
Euro
500 40
500 40
500 40
28
88
33
90
Euro -1.100
10
1.200
EBT154 1.b.) Bilanzielle Kennzahlen Nettoverschuldung
Euro
Anteil Minderheiten im Konzern Schritt 2: Peer Group Analyse
100
Chemie Peer 1
Chemie Peer 2
Chemie Peer 3
Euro
Euro
Euro
257 19
300 20
360 18
16
23
18
EBT155 2.b.) Bilanzielle Kennzahlen Konzern-Eigenkapital (exkl. Minderheiten)
Euro
Euro 100
Konzern-Eigenkapital (inkl. Minderheiten)
40
5
240
180
60
-60
0
180
180
180
0
60
0
180
240
180
+ Nettoliquidität Gesamtunternehmenswert
175
20
+ Nettoverschuldung/– Nettoliquidität Wert des operativen Geschäfts
Euro 200
120
+ Minderheiten im Konzern
Schritt 3: Peer Group Multiplikatoren
Peer-Unternehmen Mittelwert
EBT Multiplikator156
0
Peer-Unternehmen
2.a.) GuV – Kennzahlen Umsatz EBITDA
Umsatzmultiplikator EBITDA Multiplikator
Euro
Chemie Peer 1
Chemie Peer 2
Chemie Peer 3
Multiple 0,6x 9,5
Multiple 0,7x 9,5x
Multiple 0,6x 9,0x
9,3x
7,5x
10,4x
Multiple 0,5x 10,0x 10,0x
Abb. 16: Datenaufbereitung zur Multiplikatoranalyse 154 Die Abweichungen im EBT ergeben sich aus der unterschiedlichen Finanzierungsstruktur, ermittelt aus einer Verzinsung von 5 % der Nettoliquidität. Bei der Überleitung zum EBT wurde außerdem eine Abschreibung von 7,5 Euro unterstellt. 155 Entspricht dem Konzern EBT vor Minderheiten. 156 Entspricht dem Konzern EBT Multiplikator vor Minderheiten.
156
Keim/Jeromin
Rz. 3.221 Kap. 3
C. Methodische Grundlagen
Die obige Multiplikatoranalyse erfolgt am Beispiel des fiktiv zu bewertenden Unternehmens Anton Chemie. Aus didaktischen Gründen wird hierbei für die Anton Chemie die Berechnung anhand drei alternativer Kapitalstrukturen (jeweils verschuldet, unverschuldet sowie negativ verschuldet, d.h. mit Liquiditätsüberhang ausgestattet, dargestellt. Dabei weist Anton Chemie I eine Nettoverschuldung von 90 Euro und Konzernminderheiten von 10 Euro auf. Im Falle von Anton Chemie II haben Minderheiten einen größeren Betrag in den Konzern investiert, entweder auf Ebene der AG oder in einem verbundenen Unternehmen gegen Erhalt von Anteilen an Tochterunternehmen der Konzernmutter. Dementsprechend besitzt der Konzern einen Liquiditätsüberschuss (netto) von 1.100 Euro. Anton Chemie 3 besitzt keine Nettoverschuldung und keine Nettoliquidität. Die Konzernminderheiten liegen bei 100. Das Beispiel verdeutlicht eindrucksvoll die Überlegenheit der Gesamtkapitalmultiplikatoren gegenüber einer marktorientierten Bewertung anhand von Eigenkapitalmultiplikatoren. Die Vergleichsunternehmen bestehen aus drei Unternehmen, aus zum Bewertungsobjekt vergleichbaren Branchen. Das Beispiel greift hierbei typische Problemstellungen und Fragestellungen auf, welche insbesondere hinsichtlich der Fragestellungen Behandlung von Fremdkapital, Liquiditätsüberschüssen und Minderheitenanteilen in Konzernen bestehen. Aus vereinfachenden Gründen wird in der nachfolgenden Wertableitung davon ausgegangen, dass für die Überleitung zu den Unternehmenswerten der Anton Chemie.
3.221
Beispiel einer Multiplikatoranalyse – Teil B) Unternehmenswertermittlungen Schritt 4: Marktbewertung 4.a.) Bewertung nach Umsatz-Multiplikator
Bewertungsobjekte Anton Chemie I
Anton Chemie II
Anton Chemie III
Euro
Euro
Euro
Umsatz der Bewertungsobjekte
500
500
500
Umsatzmultiplikator Peer Group (Mittelwert)
0,6
0,6
0,6
Wert des operativen Geschäfts
300
300
300
- Nettoverschuldung/+ Nettoliquidität
-90
1.100
0
Konzern-Eigenkapital (inkl. Minderheiten)
210
1.400
300
- Minderheiten im Konzern
-10
-1.200
-100
Konzern-Eigenkapital (exkl. Minderheiten)
200
200
200
4.b.) Bewertung nach EBITDA-Multiplikator
Anton Chemie I Euro
Anton Chemie II
Anton Chemie III
Euro
Euro
EBITDA der Bewertungsobjekte
40
40
40
EBITDA Multiplikator Peer Group (Mittelwert)
9,5
9,5
9,5
Wert des operativen Geschäfts
380
380
380
- Nettoverschuldung/+ Nettoliquidität
-90
1.100
0
Konzern-Eigenkapital (inkl. Minderheiten)
290
1.480
380
- Minderheiten im Konzern
-10
-1.200
-100
Konzern-Eigenkapital (exkl. Minderheiten)
280
280
280
Keim/Jeromin
157
Kap. 3 Rz. 3.222
Bewertung
4.c.) Bewertung nach EBT-Multiplikator
EBT der
Anton Chemie I
Anton Chemie II
Anton Chemie III
Euro
Euro
Euro
Bewertungsobjekte157
28
88
33
EBT Multiplikator Peer Group (Mittelwert)158
9,32
9,32
9,32
Konzern-Eigenkapital (inkl. Minderheiten)159
261
816
373
n/a
n/a
n/a
Konzern-Eigenkapital (inkl. Minderheiten)
171
816
373
- Minderheiten im Konzern
-10
-1200
-100
161
-416
273
- Nettoverschuldung/+
Nettoliquidität160
Konzern-Eigenkapital (exkl.
Minderheiten)161
Abb. 17: Wertermittlungen nach der Multiplikatoranalyse
Gesamtkapitalmultiplikatoren bestimmen zunächst nur den Wert des operativen Geschäfts vor Abzug der Anteile/Ansprüche Dritter zu bestimmen (d.h. vor Abzug etwaiger, zu Marktwerten bewerteter Passivpositionen einer Bilanz). Nicht enthalten sind im Wert des operativen Geschäfts die Marktwerte sonstiger bilanzieller Aktivpositionen. Idealtypisch stellen dieses i.d.R. einen nach Abzug der Konzernverschuldung von der Konzernliquidität verbleibender Liquiditätsüberschuss dar.
3.222 Nach Erstellung der Peer Group, Auswertung und notwendiger Anpassung der für die Multiplikatoranalysen erforderlichen bewertungsrelevanten Kennzahlen der Peer Group und des zu bewertenden Unternehmens lässt sich abschließend die Multiplikatoranalyse durchführen.
3.223 Die Ergebnisse der nach Gesamtunternehmensmultiplikatoren berechneten Konzern-Eigenkapitalwerte liegen nach den Gesamtunternehmensmultiplikatoren jeweils in engen Bandbreiten von 200 Euro bis 280 Euro, deren Größe sich allenfalls durch den verwendeten Multiplikatoren-Typ (Umsatzmultiplikator vs. EBITDA-Multiplikator) unterscheidet. Dieses stellt im Hinblick auf das gewählte Ausgangsbeispiel ein konsistentes Ergebnis dar.
3.224 Bei der Verwendung des Eigenkapital-Multiplikators weichen die Ergebnisse bei der Überleitung auf das Konzerneigenkapital exkl. Minderheiten teilweise erheblich voneinander ab. Dieses ist ein Hinweis dafür, dass die Anwendung von Eigenkapitalmultiplikatoren in der Regel nur ratsam erscheint, wenn die Kapitalstrukturen von Peer Group Unternehmen und 157 Entspricht dem Konzern EBT vor Minderheiten. 158 Entspricht dem mittlerem Peer Group EBT Multiplikator vor Minderheiten. 159 Bei dieser Art der Berechnung wird über den Multiplikator implizit das Zinsergebnis mit dem branchenüblichen Multiplikator vervielfältigt. Dieses stellt faktisch eine implizite und in der tatsächlichen Situation nicht gerechtfertigte Pauschalannahme dar. Damit führt das Berechnungsverfahren nur dann zum korrekten Ergebnis, wenn die Kapitalstrukturen von Bewertungsobjekt und Peer Group Unternehmen vergleichbar sind. 160 Nettoliquidität ist bei Verwendung eines Eigenkapitalmultiplikators nicht in Abzug zu bringen, da das Eigenkapital durch den Eigenkapitalmultiplikator direkt bestimmt wird. 161 Bei der Bewertung von Anton Chemie I und Anton Chemie II ergeben sich nach dem Eigenkapitalmultiplikator weitgehend vergleichbare Eigenkapitalwerte exkl. Minderheiten wie nach den Gesamtmultiplikatoren. Ursächlich sind implizit vergleichbare Annahmen hinsichtlich Kapitalstruktur von Peer Group und Bewertungsobjekt.
158
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.227 Kap. 3
zu bewertenden Unternehmen nicht maßgeblich voneinander abweichen. Anderenfalls kann es bei der Anwendung von Eigenkapitalmultiplikatoren zu Wertverzerrungen kommen, die umso höher werden, je niedriger die Nettoverschuldung des zu bewertenden Unternehmens ist.162 Aus diesem Grund sollte im Zweifel bei einer marktorientierten Bewertung entweder der Verwendung von Gesamtmultiplikatoren der Vorzug eingeräumt werden.163
3.225
4. Vergleich der Gesamtbewertungsverfahren a) Discounted Cash-Flow-Verfahren vs. Ertragswertmethode DCF-Verfahren und das Ertragswertverfahren basieren auf einer einheitlichen Bewertungsmethodik. Sie führen bei konsistenter Anwendung grundsätzlich zu identischen Bewertungsergebnissen. Nach beiden Verfahren wird der Unternehmenswert durch Kapitalisierung der Zukunftserfolge berechnet.164 Unterschiede zwischen DCF- und Ertragswertverfahren bestehen in den diesen Methoden zugrunde liegenden Differenzen bei der Ableitung der zu diskontierenden Größen, der Kapitalisierungszinssätze und in einzelnen Fällen in der abweichenden Behandlung von Sonderwerteren, Finanzierungsmitteln und Finanzierungsprämissen. Unter identischen Prämissen sollten sowohl DCF-Bewertungen und Ertragsbewertungen dieselben Unternehmenswerte ergeben.165
3.226
Ertragswertverfahren treten in der Praxis in zwei grundlegenden Formen auf. Die reinen Ertragswertverfahren unterstellen unabhängig von der Dividendenplanung eines Unternehmens die volle Ausschüttung der relevanten Jahresüberschüsse, sofern dieses rechtlich zulässig ist. In der jüngeren Zeit ist insbesondere in der Version der Neukonzeption des IDW S 1 von einer
3.227
162 Alternativ könnte bei der Verwendung von Eigenkapitalmultiplikatoren eine Fehlbewertung dadurch vermieden werden, dass zunächst als Zwischenschritt vor Anwendung des Multiplikators Anpassungsrechnungen bei den zu bewertenden Unternehmen bzgl. der EBT- sowie der Verschuldungskennzahlen durchgeführt werden. Weiter sind dann in nachfolgenden Bewertungsschritten die aus jenen Anpassungsrechnungen resultierenden Folgebereinigungen und Rückrechnungen auf den endgültig zu bestimmenden Eigenkapitalwert vorzunehmen. Faktisch wird damit jedoch der Vorteil der einfachen Handhabbarkeit der Bewertung nach Eigenkapitalmultiplikatoren gegenüber derjenigen nach Gesamtmultiplikatoren aufgehoben. 163 Finanzmathematisch ist die Wertabweichung bei zunehmend verschiedenen Kapitalstrukturen darauf zurückzuführen, dass die gegenüber dem Peer Group Durchschnitt im Zinsergebnis aufgrund abweichender Kapitalstruktur des Bewertungsunternehmens enthaltenen Mehr- und Minderfinanzergebnisse ebenfalls bei der Wertableitung mit einem Peer Group Multiple bewertet werden, ohne die risiko- und zinsbedingten Differenzen zwischen marktüblichen Multiplikatoren für Finanzanlagen adäquat zu bereinigen. 164 Vgl. Jonas, BFuP 1995, 85. 165 Allerdings zeigt die praktische Erfahrung, dass dieser theoretisch zwingende Idealzustand in der tatsächlichen Praxis kaum oder fast nie erreicht werden kann, weil der Bewertungspraktiker sich in der Regel bei der Bewertung eines lebenden Unternehmens, welches nach einem Zwei-Phasen Modell mit Detailplanungsphase und ewiger Rente unter Ansatz eines Wachstumsabschlags bewertet wird, mit einer Vielzahl von Schätzungen, Unwägbarkeiten und Komplexitäten auseinanderzusetzen hat, die faktisch fast niemals gestatten, eine vollständige Überleitung von Ertragswert- und DCF-Bewertung aufzustellen. In der Praxis gilt es überwiegend als akzeptabel, wenn die Wertabweichungen zwischen DCF-Modellen und Ertragswertmodell bei komplexen Sachverhalten bei ca. 5 % liegen. Abweichungen, die diese Schwankungsbreite überschreiten, geben hingegen Anlass zur Überprüfung der Bewertungsergebnisse.
Keim/Jeromin
159
Kap. 3 Rz. 3.228
Bewertung
vollausschüttungsorientierten Ertragswertermittlung abgegangen worden. Es wird nunmehr eher eine an der tatsächlichen Dividendenplanung orientierte Teilthesaurierung verwendet. Differenzen, welche sich aus der Abweichungen zwischen Aufwand/Ertrags sowie Auszahlungen/Einzahlungen ergeben, müssen im Rahmen einer Ertragswertberechnung durch eine adäquate Modellierung der der Aufnahme/Tilgung von Finanzmitteln und/oder Fremdkapital sowie bei der Ermittlung des Finanzergebnisses in der Gewinn- und Verlustrechnung ausgeglichen werden.
3.228 Eine analoge Nebenrechnung ist bei DCF-Verfahren nicht erforderlich, da bei diesen Verfahren die Cashflow-Rechnung direkt die Höhe der zu kapitalisierenden Ergebnisse bestimmt. Dafür besteht bei DCF-Verfahren das sachliche und rechnerische Problem der korrekten Abgrenzung und Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlagen. Während hierbei bei DCFBrutto Modellen die Zinsbesteuerung über eine entsprechende Anpassung der Anlage- und Fremdkapitalzinssätze im WACC erfolgt, finden die Abweichungen zwischen handels- und steuerrechtlichen Steuergrundlagen als auch von steuerrechtlichen Verlustvorträgen regelmäßig eine gesonderte Nebenrechnung Berücksichtigung. Hinsichtlich der Annahmen zur Finanzierung von Investitionen wird bei DCF-Verfahren implizit eine anteilige Finanzierung der künftigen Investitionen mit Eigen- und Fremdkapital entsprechend der geplanten Kapitalstruktur unterstellt.166
3.229 Hinsichtlich der Berücksichtigung der konkreten Kapitalstruktur über einen Detailplanungszeitraum gibt es bei DCF-Verfahren mehrere konkurrierende Ansätze. So wird im angelsächsischen Bereich der Verwendung einer Zielkapitalstruktur der Vorrang eingeräumt, während in der europäischen und deutschen Bewertungspraxis eher die Bewertung auf Basis einer rollierenden Verschuldung entsprechend der tatsächlichen Unternehmensplanung bevorzugt wird. Wertmäßig können beide Vorgehensweisen sich lediglich im Umfang eines aus den konkurrierenden Verschuldungsannahmen resultierenden Tax-Shields unterscheiden.
3.230 Die Unterschiede zwischen Ertragswert- und DCF-Verfahren sind nicht grundsätzlicher Natur. Werden bei beiden Verfahren vergleichbare Annahmen getroffen, sind beide Modelle miteinander kompatibel.167 Dies bedeutet, dass beide Verfahren unter denselben Prämissen gleichwertige Bewertungsmodelle darstellen.
3.231 Generell gilt der Grundsatz, dass sowohl eine fachgerechte Ertragswertermittlung als auch eine sorgfältige DCF-Bewertung die Verwendung vollständig integrierter Planungsgrundlagen empfohlen wird. Eine integrierte Planungsgrundlage besteht aus der Aufstellung integrierter Plan-Bilanzen einschließlich zugehöriger Plan-Cashflow-Rechnungen und Plan-Gewinn- und Verlustrechnungen. Während hierbei eine DCF-Bewertung ohne integrierte Planungsgrundlagen generell unmöglich oder zumindest unzuverlässig ist, kann abweichend von der Empfehlung eine Ertragswertermittlung rechnerisch in seltenen Einzelfällen unter Verzicht auf eine integrierte Planungsgrundlage (aber unter Verwendung hinreichend verlässlicher Nebenrechnungen) erfolgen. 166 Neben den Finanzierungsprämissen unterscheiden sich beide Ansätze darin, an welcher Stelle der Berechnungssystematik die Überschüsse aus dem Leistungs- und Finanzbereich miteinander verrechnet werden. Beim Ertragswertverfahren und den (DCF-)Nettoverfahren werden beide Größen bereits im ersten Bewertungsschritt miteinander verrechnet. Bei den (DCF-)Bruttoverfahren erfolgt dieses erst zu einem späteren Zeitpunkt. 167 Vgl. Drukarczyk, WPg. 1995, 329. Ein entsprechendes Zahlenbeispiel findet sich bei Jonas, BFuP 1995, 92 ff. Vgl. auch Kohl/Schulte und Auge-Dickhut/Moser/Widmann.
160
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.236 Kap. 3
Mindestvoraussetzung für die Anwendung einer Ertragswerberechnung ist lediglich das Vorhandensein einer GuV-Planung und die Aufstellung von Nebenrechnungen für die Finanzplanung sowie einige wesentliche bewertungsrelevante Sachverhalte wie die Abschreibungsund Investitionsplanung. Die Möglichkeit zur vereinfachten Umsetzung der Ertragswertermittlung ohne begleitende Bilanz- und Cashflow-Planung begründet deren Verbreitung in der deutschen Bewertungspraxis.
3.232
Der Anwender sollte berücksichtigen, dass diese Art der Bewertungsvereinfachung untrennbar mit einem erhöhten Risiko von Fehlbewertungen verbunden ist, da unter Umständen durch dieses vereinfachte vorgehen Doppelbewertungen oder Nichtbewertungen wesentlicher Sachverhalte begünstigt werden. Die modelltechnischen Vereinfachungen und die Einsparungen bei der Anwendung einer vereinfachten Ertragswertberechnung sind daher mit einem höheren Plausibilisierungs-, Prüfungs- und Analyseaufwand verbunden.168 Allgemein sollte darum einer integrierten GuV-, Bilanz- und Cashflow-Planung auch im Rahmen einer Ertragswertermittlung der Vorrang eingeräumt werden.
3.233
b) Market Approach vs. Ertragswert bzw. Discounted Cash-Flow-Verfahren Eine Unternehmensbewertung unter Verwendung von Marktwertverfahren ist mit Vor- und Nachteilen verbunden. Zu den Vorteilen zählt, dass die verschiedenen Ansätze aufgrund ihrer Marktorientierung und ihrer Einfachheit gut durch Dritte nachvollziehbar sind. Damit ist eine hohe Akzeptanz des Bewertungsverfahrens bei Nicht-Fachleuten gegeben.169 Als weiterer Vorteil wird die Vermeidung der Prognose der zukünftigen Überschüsse genannt, die ihrerseits bei Anwendung zukunftsorientierter Erfolgswerte erforderlich ist.170 Kritik am Market Approach erhebt sich bezüglich der möglicherweise unzureichenden Datenqualität, der fehlenden Berücksichtigung spezifischer Gegebenheiten des zu bewertenden Unternehmens und der unter Umständen (durch Kapitalmarktineffizienzen ausgelösten) mangelnden Eignung von Marktpreisen zur Unternehmensbewertung. Diese Kritiken sind jedoch nur teilweise berechtigt. Auch bei Anwendung von Marktmultiplikatoren können unternehmensspezifische Besonderheiten durch entsprechend zusätzliche Analysen und Untersuchungen der konkreten Situation des zu bewertenden Unternehmens grundsätzlich korrekt ermittelt, (wenn auch in vereinfachtem Verfahren) angemessen bewertet und bei der Wertableitung gewürdigt werden.
3.234
Als besonderer Kritikpunkt in Bezug auf die Anwendung des Market Approaches wurde die Notwendigkeit der Beschaffung zeitlich und örtlich relevanter Marktdaten benannt. Heutzutage muss dieses angezweifelt werden. Es ist mittlerweile faktisch für jeden zu angemessenen Kosten und Zeitaufwand möglich, jederzeit und überall geeignete Marktdaten und Risikoeinschätzungen zu erlangen.
3.235
Soweit als Argument für die fehlende Verlässlichkeit des Market Approaches die aufwendige Selektion von Referenzunternehmen benannt wurde, welche mit wachsender Größe und Di-
3.236
168 In der Gesamtwürdigung zeigt sich, dass es letztlich empfehlenswert ist, auf die Durchführung einer vereinfachten Ertragswertermittlung zu verzichten und stattdessen verfahrensunabhängig immer vollständig integrierte Planungsgrundlagen zu verwenden oder zu erstellen. 169 „Die Multiplikatormethode ist folglich zumindest dann zu rechtfertigen, wenn der Bewerter mit der Begründung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen überfordert sein könnte, …“, Niehues, BB 1993, 2249. 170 Vgl. Barthel, DB 1996, 162.
Keim/Jeromin
161
Kap. 3 Rz. 3.237
Bewertung
versifikation der zu bewertenden Gesellschaft immer komplizierter werden, so stellt dieses ein systemimmanentes und Bewertungsverfahren übergreifendes Problem aller Wertüberlegungen dar. Mit vergleichbarem Unsicherheitsgrad und Schätzrisiken hat man auch bei DCF- und Ertragswertmodellen im Rahmen der Bestimmung geeigneter Kapitalisierungszinssätze und Risikozuschläge aus geeigneten Peer Group Unternehmen zu kämpfen.
3.237 Analog hat sich die Einschätzung gewandelt, sofern in der Vergangenheit als Kritikpunkt an der Methodik die alleinige Fokussierung des Market Approaches auf die Ermittlung vergangenheitsorientierter Kennziffern angeführt wurde. Unzweifelhaft können vergangenheitsorientierte Ermittlungen von Gewinn- und Umsatzgrößen aus den Konzern- oder Jahresabschlüssen eines zu bewertenden Unternehmens als auch der Peer Group Unternehmen von zufälligen Besonderheiten und Buchungsstrategien der Vergangenheit beeinflusst sein. Dieses rechtfertigt aber nicht mehr die Behauptung, dass damit eine korrekte marktorientierte Bewertung unzuverlässig ist. Ebenso wenig kann mittlerweile noch vertreten werden, dass eine deswegen notwendige Anpassung von Multiplikatoren oder Finanzkennzahlen zu aufwendig sei.171 Aufgrund des hohen Informationsstandes über marktrelevante Bedingungen (mittlerweile sind Jahresabschlüsse und Langfristvergleiche dauerhaft, kostengünstig und für die Öffentlichkeit weitestgehend frei zugänglich) ist dieser Einwand heutzutage kaum noch relevant. Auch langfristige Prognosen notwendiger Kennzahlen für fast sämtliche Regionen, Branchen und wesentliche Peer Group Unternehmen sind mittlerweile fast für jeden erhältlich, so dass auch für die Anwendung des Market Approaches die Verfügbarkeit zukunftsgerichteter Analysen kein Anwendungshindernis mehr darstellt.
3.238 Ein gewichtiger Kritikpunkt zielt auf das Grundkonzept des Market Approaches, die Nutzung von Marktpreisen. Die betrachtete Unternehmung wird nicht absolut für sich bewertet, sondern als Element in einer Gruppe von vergleichbaren Unternehmen. Der so ermittelte Unternehmenswert spiegelt den zurzeit am Markt erzielbaren Verkaufserlös wider. Bei Existenz eines effizienten Kapitalmarkts reflektieren die Börsenkurse zu jeder Zeit alle verfügbaren Informationen über ein Unternehmen, d.h. die Aktienkurse symbolisieren vor allem die jeweiligen Gewinnerwartungen der Gesellschaft.172 Es besteht bei Erfüllung dieser Prämisse keine Diskrepanz, wenn die Bewertung auf Marktpreisen oder auf Basis zukünftig erwarteter Überschüsse beruht. Einige Autoren bezweifeln, dass die Börsenkurse den Wert einer Unternehmung korrekt widerspiegeln.173 Dieses Argument ist nicht von der Hand zu weisen.
3.239 Die ablehnende Haltung wird im Wesentlichen damit begründet, dass die Aktienkurse durch nicht bewertungsrelevante, spekulative Faktoren beeinflusst werden. Bei ineffizienten Kapitalmärkten sind damit Divergenzen zwischen dem Börsenpreis und dem Gegenwartswert der zukünftigen Erträge eines Unternehmens unausweichlich. Der Bewerter, der den Unternehmenswert nach dem Ertragswertverfahren ermittelt, besitzt unter dieser Prämisse Informationsvorsprünge gegenüber dem Kapitalmarkt, denn er kann auf interne Informationen und Planungsüberlegungen zurückgreifen, die nicht am Markt verfügbar sind.174 Marktorientierte
171 Marktorientierte Bewertungsverfahren verstoßen gegen die in Deutschland üblichen Bewertungsprinzipien der Subjekt- und Zukunftsbezogenheit. 172 Zu Abstufung der Informationseffizienz des Kapitalmarkts in Abhängigkeit von der Art der verfügbaren Informationen vgl. Steiner/Bruns, S. 40. 173 Vgl. Buchner/Englert, BB 1994, 1579; Meyersiek, BFuP 1991, 233; Ballwieser in Kruschwitz/ Heintzen, S. 13 ff. 174 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 143 f. sowie Rz. 164–169.
162
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.244 Kap. 3
Bewertungsverfahren können somit nicht die kapitalwerttheoretischen Bewertungsverfahren ersetzen, die sich an zukünftigen Überschüssen orientieren.175 Die Anwendung des Market Approaches gehört mittlerweile zum notwendigen Bewertungs- 3.240 standard bei einer Unternehmensbewertung. Marktpreise und Multiplikatoranalysen bieten sich auf jeden Fall als Kontrollgrößen an, um die ermittelten Unternehmenswerte auf ihre Plausibilität zu prüfen. Auch wenn der Market Approach mit gewissen konzeptionellen Besonderheiten versehen ist, verwischt sich in der Wahrnehmung der Praxis zunehmend der vormals noch als bedeutend angesehene Unterschied zwischen der Verlässlichkeit von kapitalwertbasiert bestimmten Unternehmenswerten und der nach dem Market Approach bestimmten Werten. Dieses äußert sich darin, dass marktbasiert bestimmte Unternehmenswerte standardmäßig zur Plausibilitätskontrolle herangezogen werden.176
3.241
III. Einzelbewertungsverfahren Einzelbewertungsverfahren ermitteln den Unternehmenswert durch isolierte Betrachtung der Vermögensgegenstände zu einem bestimmten Stichtag. Die Bewertung der Vermögensgegenstände kann anhand einer Vielzahl von Wertmaßstäben erfolgen. In diesem Zusammenhang wird im Folgenden insbesondere der Ansatz von Substanz- und Liquidationswerten erläutert.
3.242
Bei der Wertermittlung sind verfahrensunabhängig die folgenden Arbeitsschritte durchzuführen:
3.243
– Abgrenzung der Bewertungseinheit, – Identifikation und vollständige Auflistung sämtlicher materiellen und immateriellen Vermögensgegenstände einschließlich notwendiger Rechte und Pflichten, – Bestimmung des Erhaltungs- und Wiederbeschaffungszustands, – Ermittlung der zugehörigen Werte, ggf. durch Vergleich, – Im Einzelfall: Berücksichtigung von Steuerfolgen, – Addition sämtlicher Zurechnungs- und Abzugspostitionen zu einem Gesamtwert. 1. Substanzwertverfahren Substanzwertverfahren unterstellen wie Gesamtbewertungsverfahren eine Fortführung des zu bewertenden Unternehmens (Going concern-Prämisse). Bei der Substanzwertbewertung spielen zukünftig erwartete Überschüsse des zu bewertenden Unternehmens grundsätzlich keine Rolle. Die Wertermittlung erfolgt auf Basis einer Einzelbewertung der Vermögensgegenstände des Unternehmens. Der Unternehmenswert leitet sich aus der Summe der Werte der Einzelgüter ab.
175 Zur Kritik an den marktorientierten Bewertungsverfahren vgl. Ballwieser, Unternehmensbewertung, S. 199; Großfeld, S. 151 und Meyersiek, S. 233. 176 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 142 ff., 164 ff.
Keim/Jeromin
163
3.244
Kap. 3 Rz. 3.245
Bewertung
3.245 Die entscheidende Frage besteht in der Ermittlung derjenigen Aufwendungen, die für den Nachbau eines identischen Unternehmens erforderlich sind. Der Substanzwert wird daher als Rekonstruktionswert bezeichnet. Er ist zu interpretieren als die Summe derjenigen Ausgaben, die ein Investor für den Aufbau eines vollkommen identischen Unternehmens aufzuwenden hätte.177 Die ermittelten Rekonstruktionswerte können den Wiederbeschaffungsoder Zeitwerten entsprechen. Insofern handelt es sich um einen synthetischen Wert. In Abhängigkeit vom Umfang des hypothetischen Nachbaus des Unternehmens (insbesondere hinsichtlich der Annahmen bzgl. der Werte immaterieller Vermögensgegenstände und Schulden sowie der Berücksichtigung des Erhaltungszustands) kann zwischen unterschiedlichen Varianten des Rekonstruktionswertes unterschieden werden178. (Voll-)Rekonstruktionswert Brutto
Netto
(Teil-)Rekonstruktionswert
zum Neuwert (Bruttovoll-)RekonstruktionsNeuwert
(Bruttoteil-)RekonstruktionsNeuwert
zum Altwert
(Bruttoteil-)RekonstruktionsAltwert
(Bruttovoll-)RekonstruktionsAltwert
zum Neuwert (Nettovoll-)RekonstruktionsNeuwert
(Nettoteil-)RekonstruktionsNeuwert
zum Altwert
(Nettoteil-)RekonstruktionsAltwert
(Nettovoll-)RekonstruktionsAltwert
3.246 Die Substanzwertermittlung kann nach dem folgenden Schema durchgeführt werden:179 Rekonstruktion des betriebsnotwendigen Vermögens + Liquidationswert des nicht betriebsnotwendigen Vermögens -
Bruttosubstanzwert Schulden (auf Going concern-Basis) Nettosubstanzwert
3.247 Der Rekonstruktionswert aller Vermögensgegenstände vor Abzug aller Verbindlichkeiten der zu bewertenden Gesellschaft wird als Bruttosubstanzwert bezeichnet. Der Nettosubstanzwert ist der Rekonstruktionswert nach Abzug aller Schulden.
3.248 Die Substanzwertermittlung geht grundsätzlich von der Prämisse eines vollständigen Unternehmensnachbaus aus. Bei der Wertermittlung sind sämtliche Vermögensgegenstände zu berücksichtigen, unabhängig von deren Ausweis in der Handelsbilanz. Als anspruchsvoll erweisen sich hierbei Bewertungen nicht bilanzierungsfähiger, immaterieller Vermögensgegenstände. Eine ebenfalls eigenständige Bewertungsproblematik stellt die Frage der Bewertung latenter Ertragsteuern dar.180 In Abhängigkeit davon, ob diese Positionen bei der Ermittlung
177 178 179 180
164
Vgl. Moxter, S. 42. Vgl. Sieben/Maltry in Peemöller, S. 545. Vgl. Mandl/Rabel, S. 47. Vgl. Großfeld, Unternehmensbewertung, 2002, S. 207 und 226.
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.251 Kap. 3
der Unternehmenswerte berücksichtigt werden oder nicht, haben sich zwei Konzepte entwickelt: der Vollrekonstruktions- und der Teilrekonstruktionswert.181 Substanzwertverfahren sind vordergründig einfach anzuwenden, da sie keine Prognose der zukünftigen Unternehmensentwicklung erfordern. Es ist aber zu beachten, dass hier jeder Vermögensgegenstand und jede Verbindlichkeit zunächst identifiziert und zugeordnet werden muss, anschließend hinreichend genau bewertet werden muss und im Übrigen separat zu bewerten ist. Dieses ist bereits schwierig für die Identifikation, Zuordnung und Einzelbewertung materieller Vermögensgegenstände. Das Identifikations- und Bewertungsproblem dupliziert sich um ein Mehrfaches, sofern immaterielle Vermögensgegenstände oder überhaupt nicht mehr bewertbare Sachverhalte mit essentiellem Beitrag zum Goodwill und zum Unternehmenswert vorhanden und zu bewerten sind.
3.249
Zudem gibt der Substanzwert keine Anhaltspunkte über die zukünftige Ertragslage einer Ge- 3.250 sellschaft.182 Der Wert einer Unternehmung entspricht nicht dem Substanzwert oder einer Kombination von Substanzwert und Zukunftserfolgswert.183 Diesem Verfahren kommt deshalb in der Praxis grundsätzlich keine eigenständige Bedeutung zu.184 Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht in Deutschland im Hinblick auf Bewertungen nach dem Erbschaftund Schenkungsteuergesetz. Bei derartigen Bewertungen bildet der Substanzwert185 die Untergrenze des Unternehmenswertes (§ 11 Abs. 2 BewG).186 Darüber hinaus findet das Substanzwertverfahren vereinzelt bei der Bewertung von nicht gewinnorientierten Organisationen (Nonprofit-Organisationen) oder im Falle der Bewertung von Unternehmen Anwendung, welche entweder eine dauerhaft Ertragsschwäche oder gar dauerhaft negative Erträge aufweisen oder für Unternehmen der öffentlichen Daseinsvorsorge ohne Überschüsse.187 Hierbei ist zu beachten, dass in diesen Fällen immer eine Ertragswertkontrolle durchzuführen ist, da eine Substanzbewertung eines Unternehmens mit Ertrags181 Zu einer umfassenden Darstellung der verschiedenen Ansätze des Substanzwertverfahrens vgl. Helbling, S. 201 ff. 182 Zwei Drittel der von Prietze/Walker befragten 500 deutschen Unternehmen verwenden noch die Substanzwertmethode. Allerdings verwenden alle Unternehmen die Substanzwertmethode zusätzlich zu einem zukunftsorientierten Bewertungsverfahren. Vgl. Prietze/Walker, Betriebswirtschaft 1995, S. 205. 183 Wirtschaftsprüfer sollen nur dann den Substanzwert als Unternehmenswert ermitteln, wenn dies ausdrücklich im Auftrag für das Bewertungsgutachten festgelegt wurde, vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 170 f. 184 Vgl. OLG Düsseldorf v. 28.1.2009 – I-26 W 7/07, Rz. 45 f. Substanzwertverfahren verstoßen gegen das Prinzip der Zukunftsbezogenheit, Bewertungseinheit und Subjektivität. Vgl. Sieben in Wittmann/Kern/Köhler, S. 4328. 185 Demnach stellt der Substanzwert bei Bewertungen nach ErbStG eine Wertuntergrenze dar. Die Gesetzesbegründung zur damaligen Änderung des Steuerrechts verstand unter dem Substanzwert jedoch eher einen markt- oder ertragswertorientierten Wertansatz. Ob sich somit die von der Finanzverwaltung vertretene Bewertungskonzeption nach dem derzeit geltenden ErbStG dauerhaft halten lässt, ist im Zeitpunkt der Drucklegung dieses Werkes nicht absehbar. 186 Mit Einführung der Erbschaftsteuerreform am 1.1.2009 wurde die Bedeutung des Substanzwertes weiter reduziert. Wurde der Substanzwert nach altem Erbschaftsteuerrecht noch zur Bewertung von Personengesellschaften herangezogen, werden nach neuem Recht Unternehmen, unabhängig von deren Gesellschaftsform, nach markt- bzw. kapitalwertorientierten Verfahren bewertet. Der Substanzwert bildet lediglich eine Wertuntergrenze ab. Vgl. § 12 (1) ErbStG in Verbindung mit Teil I BewG. 187 Vgl. WPHdb. II/2014, Rz. A421.
Keim/Jeromin
165
3.251
Kap. 3 Rz. 3.252
Bewertung
schwäche, dauerhaft negativen Erträgen oder fehlenden Überschüssen weder zu demselben und erst recht nicht zu einem höheren Unternehmenswert führen kann, als wenn für selbige Unternehmen eine Ertragswertermittlung auf Basis einer Prämisse ausreichender Erträge durchgeführt wird.
3.252 Die Analyse der Substanz eines zu bewertenden Unternehmens ist notwendig und im Einzelfall sinnvoll, wenn der Umfang, die Struktur und die Beschaffenheit der Unternehmenssubstanz das Potential der zu erwartenden Unternehmenserträge mitbestimmen. In diesem Kontext können aus der Substanz der Unternehmung folgende Informationen gewonnen werden: – die Re-Investitionsraten, – der Finanzbedarf und die zukünftige Zinsbelastung, – ein Anhaltspunkt für den Unternehmenswert bei fehlendem Ertragswert, – ein Anhaltspunkt für Unterlegung des Ertragswerts mit der Substanz, – die Ermittlung derivativer Geschäfts- und Firmenwerte.
3.253 Zusammenfassend gilt, dass die Kenntnis der Unternehmenssubstanz für den Bewerter wichtig ist, nicht jedoch die Zusammenfassung der Vermögenspositionen zu einem Substanzwert. 2. Liquidationswert
3.254 Während für Substanzwertverfahren die Prämisse der Unternehmensfortführung gilt, wird bei der Ermittlung des Liquidationswertes von einer Zerschlagung der Gesellschaft ausgegangen. Der Liquidationswert einer Unternehmung entspricht dem erzielbaren Preis aus einer vollständigen Veräußerung der Vermögensgegenstände des Unternehmens. Insofern ergibt er sich aus der Summe der mit seinen Veräußerungspreisen angesetzten Vermögensgegenstände inkl. immaterieller Vermögensgegenstände abzgl. der Schulden der Gesellschaft und Veräußerungskosten.188
3.255 Die Kosten der Veräußerung können mit den aufgrund der Liquidation entfallenden, jedoch unter Going concern-Bedingungen passivierbaren, Verpflichtungen verrechnet werden. Dazu zählen bspw. nicht mehr benötigte Aufwands- und Kulanzrückstellungen.189 Die Höhe des Liquidationswertes ist abhängig von dem Zeitdruck, unter dem das Unternehmen liquidiert wird (Zerschlagungsgeschwindigkeit) und von der Intensität der Auflösung des Unternehmens in einzelne Bestandteile (Zerschlagungsintensität). In Abhängigkeit von der Zerschlagungsgeschwindigkeit und dem Grad der Auflösung kann der Liquidationswert von einem reinen Zerschlagungswert bis zu einem Kaufpreis reichen, der bei Gesamtveräußerung des Unternehmens ohne Zeitdruck realisierbar ist. Wenn sich lebensfähige Teile eines Unternehmens in ihrer Gesamtheit veräußern lassen, ist regelmäßig ein höherer Liquidationserlös erzielbar als bei einer vollständigen Zerschlagung aller Unternehmensteile. 188 Veräußerungskosten sind Ausbau-, Rückbau-, Rekultivierungs-, Abbruchkosten, Kosten der Altlastensanierung, Kosten der Altersversorgung für die Mitarbeiter und für die Einrichtung von Sozialplänen. Dazu zählen auch Kosten für die vorzeitige Ablösung von Darlehen. Der Liquidationswert nach Abzug der Schulden und Veräußerungskosten wird als Liquidationsnettowert bezeichnet. Vgl. Großfeld, S. 99. 189 Zur Berücksichtigung der Steuerbelastung stiller Reserven bei Liquidation vgl. Helbling, S. 324 ff.
166
Keim/Jeromin
C. Methodische Grundlagen
Rz. 3.261 Kap. 3
Unternehmensteuern auf Veräußerungsgewinne sind bei der Berechnung des Liquidationswertes grundsätzlich immer zu berücksichtigen. Bei der Berechnung eines Liquidationswertes im Sinne einer subjektiven Wertfindung im Rahmen einer Transaktion müssen grundsätzlich keine individuellen Steuern berücksichtigt werden. Diese fallen nur beim Veräußerer im Hinblick auf den Liquidationsgewinn an.
3.256
Wird der Liquidationswert in Anlehnung an die in der Handelsbilanz erfassten Positionen er- 3.257 mittelt, sind gegebenenfalls immaterielle Vermögensgegenstände werterhöhend anzusetzen. Dies gilt allerdings nur, wenn diese selbständig veräußerbar sind. Hierzu zählen bspw. Kundenkarteien und Markennamen. Weitere derivative Firmenwertanteile (soweit sie nicht selbständig übertragbar sind) dürfen nicht in den Unternehmenswert einfließen, da hierbei die Going concern-Prämisse ihre Gültigkeit verliert. Werden Liquidationswerte erst in der Zukunft realisiert, sind sie als Barwert anzusetzen und auf den Bewertungsstichtag abzuzinsen. Im Rahmen einer Unternehmensbewertung sind grundsätzlich zwei sich ergänzende Betrachtungen durchzuführen: die Ermittlung des Unternehmenswertes unter der Prämisse der Liquidation und unter der Prämisse der Fortführung. Liquidationswerte konkurrieren bei der Unternehmensbewertung mit Fortführungswerten. Übersteigt der Liquidationswert den Ertragswert, ist eine Schließung der Gesellschaft aus ökonomischer Sicht effizient. Eine Weiterführung ist bei einem rationalen Investor nur mit außerökonomischen Zwängen und Wertvorstellungen zu erklären. Der gegenüber dem Ertragswert höhere Liquidationswert bildet ökonomisch betrachtet die Wertuntergrenze des Unternehmenswerts.190
3.258
Selbst wenn eine Fortführung der Gesellschaft ökonomisch sinnvoll ist, spielen Einzelliquidationswerte bei der Ertragswertmethode eine Rolle. Bei der Ermittlung von Fortführungswerten ist eine Aufteilung der Gegenstände des Unternehmens in betriebsnotwendige und nicht betriebsnotwendige Vermögensgegenstände vorzunehmen. Letztere sind Vermögensteile, die frei veräußert werden können, ohne den eigentlichen Unternehmenszweck und damit den erwarteten Überschuss aus dem zu bewertenden Unternehmen zu berühren.191
3.259
Übersteigt der Liquidationswert der nicht betriebsnotwendigen Vermögensgegenstände den Barwert ihrer finanziellen Überschüsse, stellt eine Liquidation die vorteilhaftere Verwertung dar. Der Gesamtwert des Unternehmens ermittelt sich dann aus der Addition des Liquidationswertes des nicht betriebsnotwendigen Vermögens zum Fortführungswert des betriebsnotwendigen Vermögens. Selbiges gilt für komplette Unternehmensteile, wenn das Management der Unternehmung diese Subeinheiten unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht fortführen sollte.
3.260
Liquidationswerte sind im Gegensatz zu Substanzwerten für die Unternehmensbewertung eine wichtige Größe. Sie sind bei Aufhebung der Going concern-Prämisse für das gesamte Unternehmen oder für einzelne Unternehmensteile als Wert anzusetzen, da sie die Untergrenze des Unternehmenswertes bilden. Dieses gilt jedoch nur insoweit, als sowohl die Liquidation
3.261
190 Nach der Meinung deutscher Obergerichte kommt in Abfindungsfällen der Liquidationswert als Mindestwert infrage. Vgl. LG Stuttgart v. 21.4.2008 – 34 AktE 4/04 KfH, OLG Düsseldorf v. 27.5.2009 – 18 AktE 5/03, LG München v. 23.4.2009 – 5 HK O 542/09, rkr., Rz. 52, m.w.N. Bei Vorliegen eines tatsächlichen oder rechtlichen Zwangs zur Fortführung (z.B. infolge testamentarischer Auflagen, öffentlich-rechtlicher Bindungen etc.) soll im Rahmen einer Unternehmensbewertung der niedrigere Fortführungswert angesetzt werden. Vgl. WPHdb. II/2014, S. 59 ff. und Großfeld, S. 100. 191 Vgl. Siepe, WPg. 1997 Teil I, 6.
Keim/Jeromin
167
Kap. 3 Rz. 3.262
Bewertung
des betreffenden Unternehmens als auch die Auskehrung der Liquidationserlöse an die Anteilseigner juristisch sowohl zulässig als auch tatsächlich realisierbar erscheint.192
D. Prognose der finanziellen Überschüsse 3.262 Das Kernproblem jeder ertragswertorientierten Unternehmensbewertung ist nicht primär die technisch korrekte Berechnung des Unternehmenswerts. Vielmehr erweist sich neben der Status-Quo-Analyse insbesondere die Prognose der künftigen finanziellen Überschüsse als der anspruchsvollere Teil der Unternehmensbewertung.193 Voraussetzung für eine zuverlässige Prognose der zukünftigen finanziellen Überschüsse ist ein genauer Einblick in das Unternehmen auf der Grundlage eines Konvoluts von Strategie-, Markt-, Wettbewerb- und Wettbewerberanalysen, Planungs- und sonstigen Analysen (Unternehmens- und Planungsanalysen). Der Bewerter sollte sich im Hinblick auf Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken der Gesellschaft sowie auf die Wettbewerbsintensität in der Branche ein möglichst zutreffendes Bild über das Bewertungsobjekt verschaffen. Diese Analysen dienen zur Verifikation der prognostizierten finanziellen Überschüsse und helfen z.B. bei Klärung der Frage, inwiefern das Unternehmen den strategischen Vorstellungen des Erwerbers entspricht. Insofern bildet die Unternehmensanalyse die Basis zur Ermittlung des Preises, welchen der Käufer zu zahlen bereit ist.
3.263 Unternehmens- und Planungsanalysen sind Gegenstand der strategischen Planung und des strategischen Controllings. Ebenso erfordern Sanierungsprüfungen bzw. -konzepte Unternehmens- und Planungsanalysen.194 Die dort zur Anwendung kommenden Analyseinstrumente sind grundsätzlich für die Unternehmensbewertung zur Prognose künftiger finanzieller Überschüsse einsetzbar.195
3.264 In Rahmen des Analyseprozesses sind die Planungsprognosen mittels Plausibilitätsüberlegungen kritisch zu hinterfragen und auf Konsistenz zu prüfen.196 Bei Hinweisen auf Unplausibilitäten sind die Planungsprämissen zu aktualisieren und gegebenenfalls anzupassen.197 Bestehen für Unternehmen Teilplanungen, sind diese zu konsolidieren oder zumindest zueinander 192 Dieses impliziert auch, dass rein hypothetische und theoretische Fallgestaltungen außer Acht bleiben müssen. Ebenso erscheint der Ansatz von Liquidationswerten als Untergrenze fraglich, wenn auch aus überzeugenden oder dauerhaft nachgewiesenen sonstigen, außerökonomischen Gründen nicht von einer kurz- bis mittelfristigen Unternehmensliquidation ausgegangen werden kann. Ebenso erscheint der Ansatz eines Liquidationswerts fraglich, wenn es Gründe auf Ebene der Anteilseigner und Entscheidungsträger gibt, welche ihnen eine Liquidationsentscheidung erschweren oder verunmöglichen. Hier sei beispielsweise der Fall eines entsprechenden Testaments erwähnt, bei dem der Erblasser einen Begünstigten durch testamentarische Bestimmung wirtschaftlicher oder sonstiger Sanktionen zur Unterlassung der Liquidation von bestimmten Unternehmen verpflichtet. 193 „Valuation is 95 % research and analysis. The actual calculations take about 30 seconds on calculator. It is rigorous.“ Born, Unternehmensanalyse, S. 65; zur selben Thematik: WPHdb. II/2014, S. 68 f. 194 Vgl. WPHdb. II/2014, S. 69 und zu Analyseinstrumenten speziell im Kontext von Sanierungsprüfungen bzw. -konzepten vgl. WPHdb. II/2014, S. 741 ff. und IDW ES 6. 195 Auf eine ausführliche Darstellung der Analyseinstrumente im Rahmen von Sanierungsprüfungen bzw. -konzepten wird an dieser Stelle verzichtet, vgl. hierzu WPHdb. II/2014, S. 807 ff. und IDW ES 6, S. 7 ff. 196 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008; Tz. 81. 197 Vgl. WPHdb. II/2014, Rz. A 243.
168
Keim/Jeromin
D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.267 Kap. 3
abzustimmen.198 Dies beinhaltet die Planung der GuV, der Finanzen sowie der Bilanz. Korrekturen in einer Teilplanung ziehen demnach Folgekorrekturen in den abgestimmten Teilbereichen nach sich. Der Bewertungsmethodik eines Zweiphasenmodells folgend, wird empfohlen im ersten Schritt der Planungsanalyse die finanziellen Überschüsse der Detailplanungsphase und erst in einem nachfolgend die Planung der ewigen Rente auf Plausibilität zu prüfen.199 Der Ablauf des Prognoseprozesses ist vom spezifischen Einzelfall abhängig. Vier typische Schritte werden aber bei der Erarbeitung einer Unternehmensplanung immer durchlaufen:200
3.265
– Analyse der strategischen Position des Unternehmens im Hinblick auf seine Wettbewerbsfähigkeit am Markt und die Besonderheiten seiner Branche, – Entwicklung von Zukunftsszenarien für das Unternehmen und seine Branche, – Prognose einer Plan-Gewinn- und Verlustrechnung und einer Planbilanz sowie die anschließende Ermittlung der erwarteten Überschüsse, – Überprüfung der Gesamtprognose. Die Planung der künftigen wirtschaftlichen Situation des zu bewertenden Unternehmens beginnt mit der Beschaffung von prognoserelevanten Daten.
3.266
I. Informationsbeschaffung Für die Qualität einer Unternehmensbewertung sind Güte und Umfang der zur Verfügung stehenden Informationen entscheidend. Der folgende Auszug aus dem für Unternehmensbewertungen nach dem Ertragswertverfahren vom IDW ausgearbeiteten IDW-Erhebungsbogen gibt einen Überblick über die zu beschaffenden Daten:201 Erhebungen zur Wertermittlung a. Vergangenheitsanalyse b. Planungsanalyse c. Darstellung der den Planungen zugrunde liegenden Prämissen und Daten sowie Angabe ihrer Quellen d. Ermittlung der Ergebniserwartungen i. Gesamtleistung 1. Produktanalyse 2. Absatzmarktanalyse ii. Materialeinsatz (Beschaffungsmarkt) iii. Personalaufwendungen (einschließlich Aufwendungen für Altersversorgung) iv. Investitionen und Instandhaltungsaufwendungen v. Sonstige Aufwendungen 1. Vertriebsaufwendungen 2. Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen
198 199 200 201
Vgl. Wollny, S. 171 ff. Vgl. WPHdb. II/2014, S. 77 f. Vgl. Copeland/Koller/Murrin, S. 224. Vgl. IDW, Erhebungsbogen, S. 1.
Keim/Jeromin
169
3.267
Kap. 3 Rz. 3.268
e. f. g. h.
i. j.
k. l.
Bewertung
3. Verwaltungsaufwendungen 4. übrige betriebliche Aufwendungen vi. Steuern des Unternehmens Finanzplanung und Zinsprognose Ertragsteuern der Unternehmenseigner (persönliche Ertragsteuern) Nicht betriebsnotwendiges Vermögen Ermittlung des Kapitalisierungszinssatzes i. Kapitalisierungszinssatz bei der Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes ii. Kapitalisierungszinssatz bei der Ermittlung eines subjektivierten Unternehmenswertes Ermittlung der künftigen Ertragsüberschüsse Ermittlung der künftigen Cash-Flows i. Entity-Ansätze ii. Equity-Ansätze Liquidationswert Anhaltspunkte für Plausibilitätsbeurteilungen
3.268 Der IDW-Erhebungsbogen verdeutlicht, dass eine wesentliche Aufgabe der Unternehmensbewertung die Beschaffung und das Auswerten relevanter Unternehmensdaten ist. Diese reichen von Angaben zum Materialeinsatz über den Verwaltungsaufwand bis hin zur Höhe der Ertragsteuern. Häufig basiert die Informationsbeschaffung auf Jahresabschlüssen und Prüfungsberichten. Idealerweise das gesamte Rechnungslegungswerk des Unternehmens bestehend aus Konzernabschlüssen, Einzelabschlüssen aller oder zumindest der wesentlichen Beteiligungen sowie den maßgeblichen steuerlichen Abschlüssen oder den maßgeblichen steuerrelevanten Informationen zu untersuchen ist.
3.269 Bei der Analyse des vorhandenen Datenmaterials ist zu berücksichtigen, dass vergangenheitsbezogene Informationen nur Relevanz besitzen, wenn sie sowohl als Orientierungsgrundlage für die Schätzung der zukünftigen Entwicklung und für Plausibilitätskontrollen als auch für die Ermittlung des korrekten Bilanzaufsatzes der Bewertung genutzt werden können.202 Hierbei kommen bei transaktionsbegleitenden Bewertungen auch Anpassungen des Bilanzaufsatzes an Änderungen in der durch die Transaktion bedingten Finanzierungsstruktur der Unternehmung Bedeutung zu. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass bei jeder Informationsbeschaffung eine Wechselbeziehung zwischen dem Nutzenzuwachs aufgrund zusätzlicher Information und den damit verbundenen Kosten existiert.
3.270 Neben den ertragswertbezogenen Checklisten sind weiter gehende Due Diligence-Checklisten zu berücksichtigen. Diese sprechen weitere Risikopotentiale aus den Bereichen Markt, Umwelt, Recht und Steuern an.203
202 Vgl. IDW S 1, i.d.F. 2008, S. 17 f. 203 Vgl. WPHdb II/2014, Rz. D 25 sowie Rz. D 347-350.
170
Keim/Jeromin
D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.273 Kap. 3
II. Vergangenheitsanalyse 1. Ausgangspunkt, Ziel und Funktion der Vergangenheitsanalyse Die Vergangenheitsanalyse umfasst die Untersuchung der Entwicklung des Unternehmens 3.271 und seiner Umwelt in der Vergangenheit. Den Ausgangspunkt dieser Analyse bilden die Jahresabschlüsse unter Rückgriff auf interne Informationen es Unternehmen einschließlich der vorliegenden Erläuterungen. Idealerweise werden Prüfungsberichte des Abschlussprüfers sowie interne Strategieunterlagen der Geschäftsführung herangezogen. In der Regel werden drei bis fünf vorangegangene Jahresabschlüsse des zu bewertenden Unternehmens zugrunde gelegt.204 Dieser Zeitraum kann im Einzelfall jedoch auch kürzer oder länger zu wählen sein. Für die Festlegung der Anzahl von Vergangenheitszeiträumen kommt es in erster Linie auf Konsistenz der in der Vergangenheit analysierten Unternehmenseinheit zu der aktuell zu bewertenden Unternehmenseinheit an.205 Einen besonderen Aspekt der Vergangenheitsanalyse stellen nicht-monetäre Faktoren dar. Dazu zählen bspw. das Know-how und die Erfahrung des Managements. Ein weiterer nichtmonetärer Faktor ist die innere Organisation des zu bewertenden Unternehmens. Sie besitzt in der Regel einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Ertragskraft des Unternehmens. Die Angleichung von Organisationsstrukturen zweier verschiedener Unternehmen, bspw. im Rahmen von Fusionen, kann ein erhebliches Konfliktpotential beherbergen. Bei der Bewertung kleinerer Unternehmen wird manchmal das Verkäufermotiv als wichtiger Aspekt bei der Unternehmensbewertung genannt. Die vom Verkäufer aufgezählten Motive, wie bspw. eine ungelöste Nachfolgeproblematik, geben nicht immer verlässliche Hinweise auf die Lage des Unternehmens. Als tatsächliche Beweggründe können Investitions- und Entwicklungsrückstände des Unternehmens oder Finanzierungsschwierigkeiten infrage kommen. Die Vergangenheitsanalyse muss daher neben der Analyse der monetären Kerngrößen „weiche“ Erfolgsfaktoren beinhalten.
3.272
Die Ist-Analyse dient der Ermittlung der Lebensphase eines Unternehmens. Damit wird untersucht, ob es eine stabile Entwicklung durchlaufen hat oder ob in der Unternehmensentwicklung außergewöhnliche Ausschläge zu beobachten sind.206 Die Vergangenheitsanalyse dient, neben dem Nachweis einer zum Bewertungsstichtag grundsätzlich vorhandenen Ertragsfähigkeit, der Identifikation wesentlicher Einflussfaktoren, welche künftig Einfluss auf den Unternehmenserfolg haben können. Mit zunehmender Genauigkeit der aus der Ver-
3.273
204 In der Praxis werden zu 90 % die Vergangenheitsanalysen für einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren durchgeführt. Vgl. Bruns, S. 76. 205 Wurde das Unternehmen z.B. vor 3 Jahren restrukturiert und bedeutende Unternehmensteile vor 3 Jahren veräußert, führt eine Planungsanalyse über zwei Jahre zu einem höheren Erklärungsgehalt als beispielsweise eine über drei Jahre und mehr. Andererseits kann in diesem Falle auch ein längerer Vergangenheitszeitraum analysiert werden, sofern es die Datenlage erlaubt, für die Vergangenheit die Jahresabschlüsse mit vertretbarem Aufwand und hoher Verlässlichkeit um die abgegangenen Unternehmensteile zu entkonsolidieren. 206 Von großer Bedeutung ist, ob sich das Bewertungsobjekt in einer Investitions- oder Desinvestitionsphase befindet. Gerade in Desinvestitionsphasen weisen die zu bewertenden Gesellschaften Überschüsse auf, die in Zukunft nicht mehr aufrechterhalten werden können. Vgl. Niehues, BB 1993, 2249.
Keim/Jeromin
171
Kap. 3 Rz. 3.274
Bewertung
gangenheitsanalyse gewonnenen Informationen verbessert sich die Grundlage der Prognose. Die Untersuchungen sind folgendermaßen zu differenzieren:207 – politische, gesellschaftliche, gesamtwirtschaftliche und technische Entwicklungen, – Branchenentwicklung, – Marktstellung des Unternehmens und der Wettbewerber, – Geschäftsverlauf, Geschäftsrisiken und sonstige wirtschaftliche, steuerliche und rechtliche Gegebenheiten.
3.274 Ein weiteres Ziel der Vergangenheitsanalyse besteht darin, die der Bewertung zugrunde zu legenden Ist-Bilanz (Bilanzaufsatz) sowie einen Maßstab für die Abschätzung der künftigen Überschüsse zu generieren. Die prognostizierten Erträge können mit historischen Daten verglichen werden und erlauben somit Plausibilitätskontrollen. Eine typische unplausible Unternehmensplanung äußert sich z.B. im sog. Hockeyschlägereffekt (engl. „Hockey Stick“).
3.275 Den gewonnenen Vergangenheitsdaten kommt die Funktion einer Orientierungs- und Kontrollgröße zu. Unmittelbar bewertungsrelevant sind sie mit Ausnahme des zum Bewertungsstichtag zu verwendenden Bilanzaufsatzes nicht. Auch ersetzt die Ableitung künftiger Unternehmenserträge direkt aus den Vergangenheitsdaten nicht die fachgerechte Planprognose. Aus diesem Grunde kann die Ertragsprognose nicht durch schematisierende Handlungen ersetzt werden, nach denen bspw. etwa die Erträge bei der Planung in Höhe eines bereinigten Durchschnittswertes von Vergangenheitsergebnissen angesetzt werden.208 Diese Vorgehensweise ist erst nach einer zusätzlichen Planprognose empfehlenswert. Erst dann kann der Bewerter mit nachvollziehbaren Argumenten bspw. zum Resultat gelangen, dass sich eine Durchschnittsbildung von Erfolgsgrößen als hinreichende Hilfslösung für in der Praxis schwer planbare Positionen eignet. 2. Bereinigungen in der Vergangenheitsrechnung
3.276 Die Analyse der Vergangenheitsrechnung stützt sich primär auf Controllingunterlagen des Unternehmens sowie auf Informationen aus dessen Jahresabschlüssen in den letzten drei bis fünf Jahren einschließlich etwaig bestehender Prüfungsberichte des Abschlussprüfers. Die dort buchmäßig ausgewiesenen Gewinne können Positionen enthalten, welche das Betriebsergebnis derart beeinflussen, dass diese Erfolgsgröße nicht mehr unverändert als Prognosebasis für die Ertragswertberechnung zugrunde gelegt werden kann. Dazu zählen die willkürlichen, betriebsfremden, periodenfremden und außerordentlichen Positionen. So sind bspw. Aufwendungen außerordentlicher Art wie Schadensfälle oder einmalige Gewinne aus Sonderverkäufen aus dem Betriebsergebnis zu eliminieren.209 Generell kann die Bereinigung der Erträge und Aufwendungen in fünf Themenkomplexe gegliedert werden:210 207 Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Analysen findet sich bei Born, Unternehmensanalyse, S. 50 ff. 208 Eine dementsprechende Fortschreibung von Vergangenheitsergebnissen findet sich dagegen innerhalb der Bewertungskonzeption des sog. „vereinfachten Ertragswertverfahrens“, welches für Zwecke einer vereinfachten und dadurch kostengünstigeren erbschaftsteuerlichen Bewertung ins Bewertungsgesetz aufgenommen wurde. Vgl. zur Ermittlung des „zukünftig nachhaltig zu erzielenden Jahresertrags“ und die Regelung des § 201 BewG. 209 Vgl. Helbling, S. 357 ff. 210 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 120, und WPHdb. II/2014, S. 81 ff.
172
Keim/Jeromin
D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.281 Kap. 3
a) Ertrags- und Aufwandsbereinigung nicht betriebsnotwendigen Vermögens Diese Posten fließen gesondert in den Unternehmenswert mit ein, denn das nicht betriebsnotwendige Vermögen wird mit seinem Verkehrswert außerhalb der Ertragsbewertung angesetzt. Hierbei handelt es sich bspw. um Aufwendungen und Erträge für Grundsteuern der nicht betriebsnotwendigen Grundstücke oder um Erträge bzw. Verluste aus nicht betriebsnotwendigen Beteiligungen.
3.277
b) Bereinigung des nicht periodengerechten Erfolgsausweises Hierzu zählt die periodengerechte Zuordnung wesentlicher aperiodischer Erträge und Aufwendungen, die z.B. aus der Bildung und Auflösung von Rückstellungen resultieren. Neben dem zeitlichen Auseinanderfallen von Ausgaben und Aufwand ist eine Umbewertung dann erforderlich, wenn Aufwendungen noch keine entsprechenden Erträge gegenüberstehen (wie bei langfristigen Vorleistungen im Rahmen von Werbekampagnen).
3.278
c) Bereinigung aufgrund der Ausübung von Bilanzierungswahlrechten Hierunter fällt die Neutralisierung von Ergebnisauswirkungen, die aus Änderungen in den Bewertungsmethoden resultieren.
3.279
d) Bereinigung um personenbezogene und außerordentliche Erfolgsfaktoren Die Vergangenheitsergebnisse werden um spezifische Faktoren korrigiert, die nicht in die Zukunft übertragbar sind. So wird bei Personenhandelsgesellschaften ein angemessener kalkulatorischer Unternehmerlohn für tätige Gesellschafter angesetzt. Die der privaten Sphäre des Unternehmers zuzurechnenden Aufwendungen sind ebenso wie die Erfolgswirkungen aus besonderen Einkaufs- und Absatzbeziehungen im Rahmen eines Konzernverbundes zu bereinigen. Außerordentliche Erfolgsfaktoren sind unabhängig von handelsrechtlichen Vorgaben nach operativen Gesichtspunkten zu bewerten. Bereinigt werden u.a. außerordentliche Forderungsausfälle und nicht regelmäßig eintretende Schadensfälle, welche nicht durch eine Versicherung gedeckt sind.
3.280
e) Erfassung von Folgeänderungen vorgenommener Bereinigungsvorgänge Durch die Veränderung der Ergebnisse kann eine Neuberechnung der ergebnisabhängigen Aufwendungen, wie z.B. der Steuern und Tantiemen, erforderlich werden. Nachdem ein mehrperiodiges Bild über die bisherige Ertragslage der Gesellschaft vorliegt, kann eine Plausibilisierung der Prognose zukünftiger Ertragsüberschüsse erfolgen.
3.280a
III. Prognoserechnung 1. Stellenwert der Planung und Prognose Eine sorgfältige Planung stellt eine wichtige Grundlage jeder Unternehmensbewertung dar. Die Planung der zukünftigen Unternehmensentwicklung baut auf der Analyse aktueller und zukunftsbezogener Wettbewerbs-, Markt- und Umweltinformationen auf. Für den weiteren Fortgang von Bewertungsarbeiten sind darüber hinaus Untersuchungen über die konkrete wirtschaftliche, rechtliche und steuerliche Situation des zu bewertenden Unternehmens unabdingbar. Keim/Jeromin
173
3.281
Kap. 3 Rz. 3.282
Bewertung
3.282 Die Gewinnung, Auswertung und Verarbeitung von Plandaten ist generell mit Unsicherheiten verbunden. Hinsichtlich der Zukunftserwartungen besteht beispielsweise Ungewissheit darüber, ob geplante Maßnahmen umgesetzt werden können. Insbesondere hängt der Erfolg geplanter oder bereits umgesetzter Maßnahmen von Aktionen dritter Parteien ab, die i.d.R. nicht unmittelbar von dem Unternehmen beeinflusst werden können. Erschwerend wirkt, dass die künftigen Zusammenhänge zwischen eigenen und fremden Maßnahmen nicht vollständig bekannt sind. Zur Beurteilung der Unsicherheit der künftigen Überschüsse kann auf Verfahren der Risikoanalyse zurückgegriffen werden, die beim strategischen Controlling und bei Sanierungsprüfungen Anwendung finden. Beispiele sind Wettbewerbsanalysen, die Stärken-Schwächen-Analyse (SWOT-Analyse), die Szenario-Technik oder die Portfolio-Analyse. Nachdem die Zukunftsszenarien für das Unternehmen und seine Branche entwickelt wurden, erfolgt darauf aufbauend eine Prognose von Einzelposten der Gewinnund Verlustrechnung und der Bilanz.
3.283 Grundsätzlich wird für die Prognose der künftigen Überschüsse auf die vom zu bewertenden Unternehmen erstellten Planungsunterlagen zurückgegriffen.211 Hierbei gilt die Regel, dass üblicherweise für Bewertungen aufgrund aktienrechtlicher Konzernierungsmaßnahmen, aufgrund gesellschaftsrechtlicher Grundlage oder für die Erstellung von Jahresabschlüssen bei der Beteiligungsbewertung zunächst auf ordnungsgemäß erstellte und von den Gremien und Organen des Unternehmens genehmigte Planungen abzustellen ist. Die Verwendung jener Planungen setzt gleichwohl voraus, dass sowohl der Planungs- und Genehmigungsprozess der Unternehmensplanung als auch die Unternehmensplanung selber gewissen qualitativen Mindestanforderungen entsprechen. Gleichwohl können diese Unterlagen jedoch nicht ungeprüft übernommen werden. Sie sind während des Prozesses der Planungsanalyse auf Plausibilität und Konsistenz zu kontrollieren.
3.284 Eine komplette eigenständige Planung des Bewerters ist nur bei einer subjektivierten Bewertung zulässig. Hiervon muss im Einzelfall jedoch abgewichen werden, wenn der Bewerter zu der Auffassung gelangt, dass die ihm vorgelegte Planung erhebliche Schwächen und Unplausibilitäten aufweist. 2. Phasenmethode
3.285 Die mit der Prognose der künftigen Überschüsse verbundenen Unsicherheiten spiegeln sich in der Zerlegung des Prognosezeitraums in verschiedene Phasen wider.212 Die Anzahl der Phasen in einem Phasenmodell und die Länge der einzelnen Phasen sollen der unterschiedlichen Genauigkeit und Verlässlichkeit der Schätzung Rechnung tragen und ggf. die individuellen Besonderheiten des Bewertungszweckes bzw. der zu bewertenden Unternehmen oder der Branche berücksichtigen. Die Sicherheit der Prognose nimmt mit zunehmendem zeitlichem Abstand der Phase vom Bewertungsstichtag ab. Die Länge der letzten Phase variiert in Abhängigkeit davon, welche Annahmen über die Dauer der Unternehmensfortführung getroffen wurden. Zunächst wird im Folgenden von der Prämisse unendlicher Unternehmensdauer ausgegangen.
211 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 71, nach dem idealerweise Planungsdaten, bestehend aus Plan-Bilanzen, Plan-Gewinn- und Verlustrechnungen sowie Plan-Kapitalflussrechnungen, vorliegen und herangezogen werden können. Bei kleinen und mittelständischen Unternehmen dürften solche Informationen i.d.R. nicht vorliegen. Vgl. Niehues, BB 1993, 2242. 212 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 76 ff.
174
Keim/Jeromin
D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.289 Kap. 3
In der Praxis ist die Planung auf Basis zweier Phasen üblich (Zweiphasenmodelle).213 Hier- 3.286 bei wird eine erste Phase, die in der Regel einen Detailplanungszeitraum von bis zu fünf Jahren abdeckt, und eine sich daran anschließende fernere Phase, die „ewige Rente“, unterschieden.214 In der ersten Phase erfolgt eine detaillierte, periodenspezifische Prognose der Einflussgrößen, welche die Höhe der finanziellen Überschüsse beeinflussen. Die Planungskomponenten der zweiten Phase basieren in der Regel auf mehr oder weniger pauschalen Fortschreibungen der Detailplanungen der ersten Phase. Im Folgenden wird der Unternehmenswert der ersten Phase als Present Value, der Unternehmenswert der zweiten Phase unter der Prämisse der unbegrenzten Unternehmensfortführung als Continuing Value bezeichnet.215 Fundierte Schätzungen der zukünftigen Zahlungsüberschüsse werden für die zweite Phase 3.287 kaum für möglich gehalten. Aus diesem Grunde stellt die Berechnung der ewigen Rente eine Behelfslösung dar. Erschwerend kommt hinzu, dass die ewige Rente ein über sämtliche Boom- und Rezessionsphasen zu beobachtendes, durchschnittliches Ergebnis liefern soll. Vor diesem Hintergrund ist im Einzelfall zu prüfen, ob in der ewigen Rente das Ergebnis des letzten Planjahres im Detailplanungsjahr pauschal fortgeschrieben werden darf. Gegebenenfalls ist unter Berücksichtigung der nachgewiesenen Entwicklung und Ertragskraft des Bewertungsobjektes in einem möglichst langen Vergangenheitszeitraum und der erwarteten zukünftigen Ergebnisentwicklung in der Zukunft auf Durchschnittswerte, gewogene Durchschnittswerte oder Trendinterpolationen zurückzugreifen.216 Bei der Abbildung der ewigen Rente ist zu berücksichtigen, dass durch die Annahme einer unbegrenzten Lebensdauer des zu bewertenden Unternehmens der Continuing Value und somit der Unternehmenswert grundsätzlich systematisch überschätzt wird. Dieses ist darauf zurückzuführen, dass in der Praxis kein Unternehmen in alle Ewigkeit fortbestehen wird. Der Schätzfehler reduziert sich jedoch mit zunehmender tatsächlicher Lebensdauer des zu bewertenden Unternehmens.217
3.288
Im Phasenmodell weist die ewige Rente einen hohen Beitrag zum Gesamtunternehmenswert auf. Deshalb ist bei der Ableitung der ewigen Rente eine sorgfältige Überprüfung der zugrunde liegenden Annahmen notwendig.218 Dazu zählen Annahmen hinsichtlich der Veränderungen auf dem Absatz- und Beschaffungsmarkt, die Analyse des Produkt- und Marktpotentials auf Ausgewogenheit im Produktlebenszyklus, die Analyse der Markt- und Wettbewerbspositi-
3.289
213 Vgl. WPHdb. II/2014, S. 74. 214 Während Großfeld seriöse Schätzungen höchstens für drei bis fünf Jahre für möglich hält, benutzen Copeland/Koller/Murrin selten einen Prognosehorizont, der kürzer als sieben Jahre ist. Vgl. Copeland/Koller/Murrin, S. 309 und Großfeld, S. 49. In der Praxis sind Planprognosen über einen Horizont von drei Jahren am häufigsten. 215 Der Unternehmenswert der zweiten Phase wird auch als unendlicher Fortführungswert, Restwert, Terminal Value oder Perpetuity bezeichnet. Vgl. Mandl/Rabel, S. 154. 216 WPHdb. II/2014, Rz. A 157 – A 158. 217 Bei einem Unternehmen mit einer Lebensdauer von 32 Jahren beträgt die Überschätzung des Unternehmenswerts durch die ewige Rente (bei einem Kapitalisierungszins von 10 %) nicht mehr als 5 %. Vgl. Bruns, S. 27 f. Eine allgemeine Übersicht mit verschiedenen Kapitalisierungszinssätzen findet sich im WPHdb. II/1998, S. 53 bzw. WPHdb. II/2014, S. 75 f. 218 Berechnungen für amerikanische Unternehmen verschiedener Branchen ergeben, dass der Continuing Value der zweiten Phase zwischen 56 % (Tabak) und 125 % (Hochtechnologie) liegt. Vgl. Copeland/Koller/Murrin, S. 293; bzw. eine allgemeine Darstellung des Anteils der ewigen Rente im Unternehmenswert in WPHb II/2014, Rz. A 239.
Keim/Jeromin
175
Kap. 3 Rz. 3.290
Bewertung
on der Produkte und Leistungen sowie Annahmen hinsichtlich der realistischerweise nachhaltig zu erwartenden Gewinnthesaurierungsquote (um daraus den der Ausschüttung entsprechenden typisierenden Einkommensteuerabzug abzuleiten). Daher sollte der Prognosezeitraum der ersten Phase möglichst so lang gewählt werden, dass alle erforderlichen Investitionsschübe, Markterschließungen und andere bedeutsame unternehmerische Maßnahmen erfasst werden. Eine längere Detailplanungsphase bietet einen tieferen Einblick in das Unternehmen und dessen geplante Ergebnisentwicklung. Überdies bewirkt ein längerer Detailprognosezeitraum, dass der Continuing Value aufgrund des Diskontierungseffekts an Gewicht verliert.219
3.290 Wesentliche Stellgrößen bei der Bestimmung der ewigen Rente stellen neben direkten Einflussgrößen auf die Gewinn und Verlustrechnung (wie z.B. Zins-, Umsatz- und Renditeparameter) Untersuchungen und getroffene Annahmen zur Bilanzfortschreibung und Bilanzentwicklung im nachhaltigen Ergebnis dar. Die Planung des zukünftigen Bestands der bilanziellen Aktiv- und Passivpositionen besitzt aus Sicht eines Unternehmensbewerters denselben Stellenwert wie auch die Untersuchungen zur Ableitung eines nachhaltig zu kapitalisierenden zukünftigen Ergebnisses. Ausgangspunkt sind Untersuchungen über den notwendigen Bestand des nachhaltigen materiellen und immateriellen Anlagevermögens sowie des notwendigen Umlaufvermögens. Hierbei spielt der Grundsatz der Vorsichtigkeit und der Bilanzierbarkeit keine Rolle. Bewertungsrelevant ist die Erfassung, Berücksichtigung und Verarbeitung aller Vermögensgegenstände, auf welche ein Unternehmen für den nachhaltigen Betrieb und ggf. für die Aufrechterhaltung nachhaltigen Wachstums angewiesen ist.
3.291 Die nachhaltig zur Aufrechterhaltung der Ertragskraft erforderlichen Investitionen in materielle und immaterielle Vermögensgegenstände sind ebenso und unabhängig von deren Bilanzierbarkeit korrekt zu erfassen wie Schätzungen zum Umfang der notwendigen Erweiterungsinvestitionen im Falle unterstellten Umsatz- und Ergebniswachstums. Nicht außer Acht zu lassen sind darüber hinaus ebenso die Mittelbindung in Working-Capital zur Wachstumsfinanzierung wie zeitlich begrenzte Sondersachverhalte (z.B. bestehende Unter- oder Überinvestitionen im Zeitpunkt des Beginns der ewigen Rente einschließlich der damit korrespondierenden zeitlich begrenzten Rückwirkungen auf Investitionen, Abschreibungen und Steuerplanungen). Besonders zu würdigen sind die Wertauswirkungen von Pensionen, bestehenden Optionen, begrenzt laufenden Kreditverträgen mit günstigen oder ungünstigen Zinsvereinbarungen etc.
3.292 In der Unternehmensbewertung muss von der Berücksichtigung einer „ewigen Rente“ abstrahiert werden, wenn die Lebensdauer des zu bewertenden Unternehmens begrenzt ist. Dieses ist der Fall, wenn aufgrund rechtlicher oder wirtschaftlicher Gegebenheiten (z.B. bei zeitlich befristeten Konzessionen oder Abhängigkeit von einer bestimmten Person) die Lebensdauer des Bewertungsobjekts limitiert ist oder wenn aufgrund hoher Insolvenzrisiken in der jeweiligen Branche die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass das Unternehmen in absehbarer Zeit liquidiert wird. In diesem Fall ist für Zwecke der Unternehmensbewertung die absehbare Restlebensdauer des Unternehmens zu schätzen,220 der Detailplanungszeitraum bis zum prognostizierten Ende des Unternehmens auszuweiten und die erwarteten Erfolgsgrößen entsprechend abzuzinsen.221 Alternativ kann ein Barwert zum Beginn der Phase zwei berechnet und mittels Annuisierung in eine ewige Rente transformiert werden. 219 Vgl. Copeland/Koller/Murrin, S. 323. 220 Vgl. Bruns, S. 29 f. 221 Vgl. WPHdb. II/2014, Rz. A 159.
176
Keim/Jeromin
D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.298 Kap. 3
Am Ende der operativen Planung ist der Verkauf oder die Liquidation des Unternehmens in die Bewertung mit einzubeziehen. Für Zwecke der Ermittlung eines zeitlich entfernten Verkaufs- oder Liquidationswertes wird vereinzelt vorgeschlagen, diese Werte anhand erwarteter Veräußerungserlöse, Börsenwerte, Liquidationswerte oder unter Rückgriff auf Multiplikatoren zu ermitteln.222
3.293
Hinweise auf die künftige Lebensdauer einer Unternehmung lassen sich aus deren Eingruppierung in bestimmte Güte- oder Risikoklassen gewinnen.223 Hierbei finden Ratings Verwendung. Aus der durchschnittlichen Insolvenzwahrscheinlichkeit von Unternehmen der jeweiligen Risikoklasse in der Vergangenheit wird die erwartete Insolvenzwahrscheinlichkeit des zu bewertenden Unternehmens abgeleitet.224 Im Hinblick auf die Prognostizierbarkeit eines zeitlich weit entfernten Liquidationswertes ist diese Methodik aber mit mindestens den gleichen Problemen und Unsicherheiten behaftet wie die Prognose einer ewigen Rente.
3.294
Ist bei der Bewertung eines Unternehmens von einer begrenzten Laufzeit auszugehen, kommt der Untersuchung, ob die Anwendung einer Nachsteuerrechnung (noch) zu einem korrekten Bewertungsergebnis führt, eine besondere Bedeutung zu.
3.295
Fehler bei der Planung der künftigen Unternehmenssituation, insbesondere im Hinblick auf inkonsistente Annahmen, können bei den sich der Prognose anschließenden Plausibilitätskontrollen aufgedeckt werden.
3.296
3. Plausibilitätskontrollen Eine präzise Planung der zu kapitalisierenden finanziellen Überschüsse baut idealerweise auf 3.297 Einzelplänen der Gewinn- und Verlustrechnung, der Bilanz und der Zahlungsstromrechnung auf, welche in der integrierten Gesamtplanung untereinander abgestimmt und miteinander verknüpft sind. Die Planungsrechnungen müssen nicht die gleiche Gliederungstiefe wie vergleichbare Jahresabschlussunterlagen aufweisen. Allerdings sollte ein vergleichbarer Aufbau der Planungsunterlagen gewählt werden, um Plausibilitätskontrollen zu erleichtern. Die Plausibilitätskontrollen sollen grundsätzlich für jede Stufe des Bewertungsprozesses vorgenommen werden. Sofern für Unternehmensanteile Börsenpreise zur Verfügung stehen, können diese zur Kontrolle des berechneten Unternehmenswerts benutzt werden. Ebenso können die mithilfe von Multiplikatoren berechneten Werte zur Ergebnisüberprüfung genutzt werden. Bei einem unplausiblen Ergebnis sind die bei der Planung relevanten Annahmen zu hinterfragen. Der Umfang und die Intensität der Plausibilitätsüberlegungen werden von den Umständen des Einzelfalls bestimmt. Folgende Aspekte sind grundsätzlich zu prüfen:225 – Korrespondiert die Leistung des Unternehmens im Bereich der wertbestimmenden Faktoren mit seiner wirtschaftlichen Lage und der Wettbewerbsdynamik in der Branche? – Stimmt das Umsatzwachstum des Unternehmens mit dem Branchenwachstum in Zukunft und Vergangenheit überein? 222 Vgl. Mandl/Rabel, S. 154. 223 Vgl. Analysen von Moody’s, Fitch oder S&P, die direkt bei den Unternehmen oder über Datenbanken wie Thomson Financial DataStream, I/B/E/S oder Bloomberg bezogen werden können. 224 Vgl. Großfeld in Kruschwitz/Heintzen, S. 114. 225 Vgl. Copeland/Koller/Murrin, S. 236 f.
Keim/Jeromin
177
3.298
Kap. 3 Rz. 3.299
Bewertung
– Stimmen die Umsatz- und Kapitalrenditen mit der Wettbewerbsstruktur der Branche überein? – WelchenEinfluss haben technologische Innovationen auf die Überschüsse des Unternehmens?
3.299 Schließlich sollte untersucht werden, ob die explizit getroffenen Finanzierungsprämissen korrekt umgesetzt wurden. Wenn kein eigenständiger Finanzplan aufgestellt wird, ist zu prüfen, ob die implizit getroffenen Finanzierungsprämissen sachgerecht sind. 4. Prognoseschritte bei Ertragswertverfahren
3.300 Grundsätzlich unterscheiden sich die inhaltlichen Grundlagen, Techniken und Anforderungen bei der Planungsanalyse im Rahmen objektivierter Bewertung nicht von derjenigen einer subjektivierten Unternehmensbewertung. Maßgeblicher Differenzierungspunkt ist bei objektivierter Bewertung die Frage des Bewertungsstandpunkts (Stand-alone vs. Nutzung von Verbundvorteilen aus bestehenden Konzern- und/oder Beteiligungsstrukturen) sowie insbesondere die Möglichkeiten zur Integration von Synergiepotentialen in eine Wertermittlung.
3.301 Im Ertragswertverfahren wird bei objektiver Bewertung der Unternehmenswert durch Abzinsung der den Eigentümern künftig zufließenden finanziellen Überschüsse ermittelt. In der Praxis werden die Zahlungsströme häufig auf Basis künftiger handelsrechtlicher Erträge und Aufwendungen berechnet (traditionelles Ertragswertverfahren).226 Der Barwert der erwarteten Überschüsse ist aber nicht identisch mit dem Barwert der künftigen Nettoeinnahmen der Unternehmenseigentümer, obwohl die Nettoeinnahmen die theoretisch korrekte Erfolgsgröße repräsentieren. Zur Angleichung der beiden Erfolgsgrößen sind Korrekturrechnungen erforderlich. Zunächst sind die Vergangenheitsergebnisse des zu bewertenden Unternehmens anhand der vorliegenden Jahresabschlüsse zu analysieren und zu bereinigen. Auf Basis dieser bereinigten historischen Erfolgsgrößen erfolgt anschließend die Planung der künftigen finanziellen Überschüsse. a) Ermittlung der Ertragsüberschüsse aus dem betriebsnotwendigen Vermögen
3.302 Die künftigen Erträge eines Unternehmens sind maßgeblich von dessen Umsatzerlösen abhängig. Die Analyse dieser GuV-Position zählt im Rahmen der Unternehmensbewertung zu den wichtigsten Aufgaben, denn neben den Erlösen wird über das im Umsatz enthaltene PreisMengengerüst der Aufwand entscheidend mitbestimmt. Die dort getroffenen Planungsprämissen sollten insbesondere im Hinblick auf die konjunkturelle Branchenentwicklung und auf die Existenz saisonaler Einflüsse überprüft werden.227 Die Beurteilung der Qualität der Prognose hängt davon ab, ob alle Anhaltspunkte berücksichtigt wurden, die auf eine vom Branchentrend abweichende Unternehmensentwicklung hindeuten.228
226 Wenn in der Praxis mit Gewinnen und nicht mit Ausschüttungen kalkuliert wird, dann kann das so interpretiert werden, als ob der einbehaltene Gewinn im Interesse der Investoren angelegt wird. Vgl. Helbling, S. 356. Eine dementsprechend durchgeführte Bewertung muss diese Finanzierungseffekte mit berücksichtigen. Vgl. Jonas, BFuP 1995, S. 86. Zur Berechnung der Unternehmensüberschüsse auf Basis von Cash-Flows: Mandl/Rabel, S. 148 f. 227 Diese Vorgehensweise ist ein wesentlicher Bestandteil einer Market Due Diligence. 228 Bei der Umsatzprognose sollte die Marktform auf dem Absatzmarkt und die Stellung des Unternehmens im jeweiligen Markt berücksichtigt werden. Vgl. WPHdb. II/2002, S. 89 f.
178
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D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.306 Kap. 3
Schwierig gestaltet sich die Plausibilisierung der Umsatzprognose, wenn keine oder nur we- 3.303 nige Vergangenheitsdaten vorliegen. Dies ist typisch für junge Unternehmen. Hier können die Prognosen anhand der Entwicklung vergleichbarer Gesellschaften verprobt werden. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass in Abhängigkeit von der Branche des zu bewertenden Unternehmens im Zeitablauf stark schwankende Umsatzerlöse vorliegen können.229 Fehlt eine sorgfältige Untersuchung und Analyse der Umsatzprognosen für die Detailplanungsphase besteht grundsätzlich die Gefahr, dass die Ergebnisse der Unternehmensbewertung im Einzelfall als hochgradig unsicher angesehen werden können. Es gehört daher in der heutigen Unternehmensbewertung zum Standard, die Analysen zur Umsatzplanung durch detaillierte Markt- und Wettbewerbsanalysen sowie durch konkrete Abgleiche der zahlungskräftigen Marktnachfrage abzugleichen. b) Aufwandsprognose Nach der Planung der Umsatzerlöse wird untersucht, ob das zu bewertende Unternehmen in Zukunft von einer konstanten Kosten-Erlös-Relation ausgeht oder ob eine Veränderung der Kosten-Erlös-Relation erwartet wird. Ausgangspunkt einer sorgfältigen Aufwandsprognose bildet hierbei zunächst ein Abgleich des geplanten Produktionsausstoßes mit den hierfür erforderlichen materiellen, finanziellen, personellen Ressourcen sowie den vorhandenen und geplanten Produktions- und Transportkapazitäten.
3.304
Die Plausibilisierung der Prognose des Materialaufwands erfolgt auf Basis der künftigen 3.305 Produktionsmengen und der Einkaufspreise für Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe. Durch Abzug des Materialaufwands von den Gesamterlösen erhält man Rückschlüsse auf die Entwicklung des Rohertrags. Die Entwicklung des Personalaufwands wird am zweckmäßigsten anhand der Struktur des Personalbestands in der Vergangenheit analysiert. Bereits beschlossene und künftig bevorstehende Personalanpassungen sind ebenso wie Lohn- und Gehaltssteigerungen in die Prognose einzubeziehen. Komplex ist die Analyse der erwarteten Pensionsaufwendungen. Wenn Pensionsaufwendungen und Pensionsauszahlungen wesentlich auseinanderfallen, also z.B. bei relativ jungen Unternehmen mit einer noch geringen Anzahl an pensionierten, ehemaligen Mitarbeitern, sind gesonderte Prognoserechnungen erforderlich. Dabei wird die Auswirkung der Pensionszusagen auf die Finanzierung und Besteuerung überprüft.230 Unterschiede zwischen Pensionsaufwendungen und -auszahlungen führen zu einer Veränderung der Pensionsrückstellungen und schlagen sich in der Finanzbedarfsrechnung nieder. Sind die geplanten Pensionsaufwendungen für einen bestimmten Zeitraum höher als die Pensionsauszahlungen, dann steht dem Unternehmen befristet Kapital zur Verfügung.231 Teilweise werden in der Praxis Pensionszusagen gesondert bewertet, indem sie aus der Planungsrechnung herausgelöst werden. Ihr Barwert wird in einer Nebenrechnung mithilfe versicherungsmathematischer Verfah-
229 Vgl. Bruns, S. 110. 230 Bestimmungsgrößen des Pensionsaufwands sind die Personalstruktur, die Pensionsordnung, das Betriebsrentengesetz, das von der Unternehmung angewandte versicherungsmathematische Verfahren und der Kapitalisierungszinssatz; vgl. WPHdb. II/2014, S. 86. 231 Zur Einbeziehung von Pensionsverpflichtungen in die Unternehmensbewertung vgl. Rhiel, WPg. 1999, 62 ff.
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3.306
Kap. 3 Rz. 3.307
Bewertung
ren bestimmt. Anschließend wird der Barwert als Verbindlichkeit vom Unternehmenswert abgezogen.232
3.307 Die Grundlage der Planung von Abschreibungen für die erste Phase bzw. von Reinvestitionsraten für die zweite Phase der Unternehmensplanung ist die Investitionsplanung. Dabei können folgende Investitionsarten unterschieden werden: – Ersatzinvestitionen (gleiche neue Anlagen), – Rationalisierungsinvestitionen (technisch neue Anlagen), – Erweiterungsinvestitionen (zusätzliche gleiche oder technisch neue Anlagen), – sonstige Investitionen (Umweltschutz, Sozialbereich, Verwaltung etc.).
3.308 Noch nicht eingeleitete Investitionsmaßnahmen bleiben bei der Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes unbeachtet (Wurzeltheorie). Es werden nur die Überschüsse aus Maßnahmen angerechnet, die bereits am Stichtag eingeleitet sind.233 Allerdings gilt diese Aussage nur im Hinblick auf Erweiterungs- und Desinvestitionen. Investitionen, die zur Weiterführung des Unternehmens in der jetzigen Form nötig sind, werden zur Analyse des geplanten Investitionsaufwandes berücksichtigt. Dies gilt z.B. für Investitionen zum Zwecke der Kapazitäts- bzw. Substanzerhaltung.
3.309 In der Planung der zweiten Phase (ewigen Rente) werden Abschreibungen grundsätzlich nicht mit einem fortgeführten Wert der Vorperiode angesetzt. Vielmehr wird die Höhe der Abschreibungen mit dem Wert der Reinvestitionsrate gleichgesetzt. Reinvestitionsraten geben den Betrag an, der durchschnittlich in einer Periode aufgewendet werden muss, um abnutzbare Vermögensgegenstände des Unternehmens am Ende ihrer Nutzungsdauer wieder zu erwerben und um das zu erwartende Unternehmenswachstum zu ermöglichen. Der Ansatz von Reinvestitionsraten verhindert einen Substanzverzehr und gewährleistet einen zukünftige Wachstumserwartungen berücksichtigenden, kontinuierlichen Austausch des verbrauchten Vermögens.
3.310 Die Abschreibungen bzw. Reinvestitionsraten können entweder auf Basis von Wiederbeschaffungskosten am Bewertungsstichtag (Prognose auf Basis von Realwerten) oder auf Basis zukünftiger, geschätzter Wiederbeschaffungskosten (Prognose auf Basis von Nominalwerten) vorgenommen werden.234 Die bei Durchführung der Investition anfallenden Auszahlungen und die sich anschließenden Abschreibungen sind in die Bilanz- und Finanzplanung zu integrieren. Nur so besteht die Möglichkeit, das zeitliche Auseinanderfallen von Investitionsausgaben und zufließenden Abschreibungsgegenwerten zu berücksichtigen.
3.311 Neben den Personalaufwendungen und den Abschreibungen sind die Betriebssteuern und die sonstigen betrieblichen Aufwendungen vom Umsatz abzuziehen. Zu den Betriebssteuern 232 Die Verwendung von Pensionsgutachten in Anlehnung an § 6a EStG führt regelmäßig zu einer Fehleinschätzung, da die steuerlichen Vorschriften zur Bewertung von Pensionsrückstellungen keinen hinreichend verlässlichen Rückschluss auf die tatsächliche zukünftige wirtschaftliche Belastung eines Unternehmens mit Pensionsverpflichtungen gestattet. 233 Eine Maßnahme ist eingeleitet, wenn ein Umsetzungsbeschluss der Geschäftsführung oder eines Aufsichtsorgans und dokumentierte Planungen vorliegen. Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2014, S. 16 ff. 234 Für die Prognose der zukünftigen Preise der Investitionsgüter kann der Bewerter veröffentlichte Prognosen von Wirtschaftsinstituten nutzen oder eigene statistische Prognosen durchführen. Vgl. Bruns, S. 137 ff.
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D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.314 Kap. 3
zählen alle Steuern und Abgaben, soweit sie keine Ertragsteuern repräsentieren. Darunter fallen in Deutschland Grundsteuern, Verbrauchsteuern und Kraftfahrzeugsteuern.235 Unter den sonstigen betrieblichen Aufwendungen subsumiert man die verbleibenden Positionen. c) Finanzplanung Die Berücksichtigung des zukünftigen, häufig schwankenden Finanzierungsbedarfs des Bewertungsobjektes wird im Rahmen der Ertragswertberechnung heutzutage über die integrierte Planung der Bilanz-, Cashflow- und Gewinn- und Verlustrechnung sichergestellt. Bei Nutzung eines vereinfachten Ertragswertverfahrens ist zumindest eine separate Finanzplanung236 erforderlich. Die Finanzplanung ist ein Beispiel für eine typische Nebenrechnung bei Anwendung der Ertragswertmethode. In der Finanzplanung werden alle wesentlichen künftigen Einund Auszahlungen berücksichtigt.237 Dies ermöglicht die Ermittlung des Finanzbedarfs und damit die Berechnung der anfallenden Zinskosten. Die Zinskosten reduzieren den Ertragsüberschuss, der den Eigenkapitalgebern zur Verfügung steht.
3.312
Für die Planung des Finanzbedarfs ist entscheidend, ob die Durchführung zukünftiger Investitionen nur durch eine Erhöhung des Fremdkapitals oder durch eine Veränderung des Eigenkapitals (z.B. durch Gewinnthesaurierungen) finanziert wird. Die Vorgabe, ob ein vorhandener Kapitalbedarf mit Eigen- oder Fremdkapital gedeckt werden soll, ist vom Zweck der Unternehmensbewertung abhängig.
3.313
Bei der Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes ist grundsätzlich von den finanziellen Überschüssen auszugehen, die nach Berücksichtigung des zum Bewertungsstichtag dokumentierten Unternehmenskonzepts und der handelsrechtlichen Restriktionen zur Ausschüttung zur Verfügung stehen.238 Für die Detailplanungsphase bedeutet dieses, dass die finanziellen Überschüsse der einzelnen Wirtschaftsjahre gemäß dem individuellen Unternehmenskonzept und unter Berücksichtigung der bisherigen und geplanten Ausschüttungspolitik, der Eigenkapitalausstattung und der steuerlichen Rahmenbedingungen in einen Ausschüttungs- und einen Thesaurierungsanteil aufzuteilen und dementsprechend zu berücksichtigen sind. Darüber hinaus muss im Fall einer fehlenden Planung über die Verwendung der thesaurierten Beträge eine sachgerechte Prämisse zur weiteren Mittelverwendung unterstellt werden. In der ewigen Rente wird angenommen, dass sich das Ausschüttungsverhalten der Unternehmung äquivalent zu dem der Alternativanlage verhält, solange nicht Besonderheiten der Branche, der Kapitalstruktur oder der rechtlichen Rahmenbedingungen zu beachten sind, die dieser Annahme entgegenstehen.239 Die Rechtsprechung erkennt in diesem Zusammenhang an, dass in bestimmten Branchen, insbesondere im Banken- und Versicherungsbereich, die Wachstumsfinanzierung nur durch eine entsprechende Eigenmittelzuführung in Form von Thesaurierungen möglich ist.240
3.314
235 Vgl. WPHdb. II/2014, S. 89-90. 236 Regelmäßig erweist sich die die Finanzplanung als ein Nebenprodukt bei der Erstellung der Bilanzplanung. 237 Die Prognosequalität des künftigen Finanzbedarfs kann durch Nutzung von Einnahmen- und Ausgabenschätzungen des zu bewertenden Unternehmens verbessert werden. Genutzt werden Erläuterungsberichte, steuerliche Prüfberichte und gutachterliche Stellungnahmen. Vgl. Bellinger/Vahl, S. 299. 238 Vgl. WPHb II/2014, S. 92. 239 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, S. 12. 240 Vgl. LG Stuttgart v. 21.4.2008 – 34 AktE 4/04 KfH, LG Stuttgart v. 21.4.2008 – 34 AkgE 5/05/KfH, LG Frankfurt v. 13.3.2009 – 3-5 O 57/06.
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Kap. 3 Rz. 3.315
Bewertung
3.315 Diese Annahme kann bei der Bestimmung eines subjektiven Unternehmenswertes modifiziert werden. Der Investor gibt eine bestimmte Kapitalstruktur vor, mit der die künftige Geschäftstätigkeit finanziert werden soll. Neben einer vollständigen Ausschüttung der Überschüsse an die Eigenkapitalgeber kann in diesem Fall eine teilweise bzw. vollständige Thesaurierung geplant werden. Das thesaurierte Kapital kann zur Tilgung von Fremdkapital verwendet oder für Erweiterungsinvestitionen eingesetzt werden. Im letzteren Fall ist gegebenenfalls unter Umständen die Aufnahme zusätzlichen Fremdkapitals geplant. Hierbei ist darauf zu achten, dass die mit der Gewinnthesaurierung verbundenen steuerlichen und sonstigen Effekte in der Planung adäquat berücksichtigt werden. Zudem führt die Gewinnthesaurierung zu einer Verschiebung der Ertragsüberschüsse in den verschiedenen Planungsperioden. In der Phase der Thesaurierung reduziert sich das zu kapitalisierende Ergebnis. Dieser negative Effekt wird in den Folgeperioden kompensiert, wenn mit den thesaurierten Gewinnen ein zusätzlicher ausschüttbarer Ergebnisbeitrag erwirtschaftet wird.
3.316 Jeder zusätzliche Kapitalbedarf oder -überschuss wirkt sich unter der Vorgabe des geplanten Ausschüttungsverhaltens unmittelbar auf den Fremdkapitalbestand aus. Daraus ergeben sich Rückwirkungen sowohl für die zukünftige Ertragssituation als auch für die Kapitalstruktur des Unternehmens. Ein Anstieg der Fremdkapitalquote führt in der Zukunft zunächst zu einem höheren Zinsaufwand. Darüber hinaus erhöht eine Fremdkapitalaufnahme das Finanzierungsrisiko eines Unternehmens. Dieses ist darauf zurückzuführen, dass mit zunehmender Verschuldung das (Kredit-)Ausfallrisiko für die Kapitalgeber ansteigt. Zur Kompensation dieses höheren Risikos ist in der Regel für die Überlassung von Fremdkapital (gegebenenfalls auch für das verbleibende Eigenkapital) ein höherer Kapitalkostensatz zu veranschlagen. Mit einer Veränderung der Kapitalstruktur kann eine Veränderung der Konditionen der Eigen- und Fremdkapitalfinanzierung verbunden sein. Diese Effekte sollten sowohl bei der Planung des Finanzbedarfs als auch bei der Ableitung der Kapitalisierungszinssätze berücksichtigt werden.
3.317 Eine detaillierte Finanzbedarfsrechnung wird in der Regel nur für die erste Prognosephase aufgestellt. In der zweiten Phase entfällt die Notwendigkeit, sofern sich das zu bewertende Unternehmen bereits in einem finanziellen Gleichgewicht (dem sog. „eingeschwungenen Zustand“) befindet. Das Gleichgewicht liegt vor, wenn die Auszahlungen durch Einzahlungen aus der laufenden Geschäftstätigkeit des Unternehmens gedeckt sind. Es ist dann keine Veränderung der Kapitalstruktur, in Form von Eigen- bzw. Fremdkapitalaufnahme erforderlich. Die Pensionsaufwendungen entsprechen den Pensionszahlungen und die Anlagenwerte sind gleichmäßig auf die Anschaffungsjahre im Rahmen der Nutzungsdauer der Anlagegüter zu verteilen. Die Abschreibung der Anlagen gestattet vollumfänglich die Finanzierung von Ersatzbeschaffungen und die Erhaltung von Kapazitäten, ohne noch Rückwirkungen auf das Finanzierungsvolumen und den Zinsaufwand aufzuweisen.241
3.318 Hat ein Unternehmen im Detailprognosezeitraum den Gleichgewichtszustand noch nicht erreicht, kommt es zu einer Überlappung der Prognosezeiträume. Für die entsprechenden
241 Bei Vorliegen einer regelmäßigen Investitionstätigkeit können die Abschreibungen in Höhe der Reinvestitionsraten angesetzt werden. Zinseffekte brauchen dann nicht berücksichtigt zu werden. Wird eine unregelmäßige Investitionstätigkeit unterstellt oder treten Investitionsschübe bei kostenträchtigen Anlagen auf, sind Zinseffekte zu berücksichtigen. Vgl. Bruns, S. 140.
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D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.319 Kap. 3
Positionen ist eine gesonderte Nebenrechnung242 durchzuführen bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Gleichgewichtszustand erreicht wird. Finanzbedarf
Jahr 1 Jahr 2 Jahr 3 Jahr 4 Jahr 5
Laufender Finanzbedarf 1. Ersatzinvestitionen 2. Erweiterungsinvestitionen 3. Pensionszahlungen 4. Sonstige nicht aufwandswirksame Ausgaben Laufende Finanzdeckung 1. Abschreibung 2. Erhöhung der Pensionsrückstellungen 3. Sonstige nicht ausgabewirksame Aufwendungen Unter- bzw. Überdeckung p.a. Vortrag Kredite Kredittilgung – planmäßige – außerplanmäßige Kreditaufnahme Kreditbedarf Kreditzinsen (% auf den Bestand am Anfang des Jahres) Abb. 18: Muster einer Finanzbedarfsrechnung243
Zur Berechnung des Kreditbedarfs in künftigen Perioden sind weitergehende Prüfungen erforderlich. Insbesondere interessiert, inwiefern die geplanten Auszahlungen für Investitionen, Pensionen und sonstige Verpflichtungen durch Aufwendungen gedeckt sind, die nicht mit Auszahlungen in der jeweiligen Periode verbunden sind. Zu den zahlungsunwirksamen Aufwendungen zählen Abschreibungen sowie die Erhöhung der Pensionsrückstellungen. Die Differenz zwischen dem Finanzbedarf und der Finanzdeckung zeigt den aufgrund einer unzureichenden Innenfinanzierung ungedeckten Kapitalbedarf an. Folglich besteht ein Finanzierungserfordernis durch Fremdkapital. Der geschätzte Kreditbedarf wird mit dem prognostizierten Fremdkapitalzins verzinst. Der daraus resultierende Zinsaufwand wird von den erwarteten Ertragsüberschüssen des jeweiligen Jahres abgezogen.244
242 Sofern eine vollständige Bilanzplanung vorliegt, kann insofern der Umfang der Nebenrechnung reduziert werden, da sich zahlungswirksame Änderungen dann direkt über die Cash-FlowRechnung in die Bilanz abbilden. 243 Bei Vorliegen einer regelmäßigen Investitionstätigkeit können die Abschreibungen in Höhe der Re-Investitionsraten angesetzt werden. Zinseffekte brauchen dann nicht berücksichtigt werden. Wird eine unregelmäßige Investitionstätigkeit unterstellt oder treten Investitionsschübe bei kostenträchtigen Anlagen auf, sind Zinseffekte zu berücksichtigen. Vgl. Bruns, S. 140. 244 Vgl. WPHdb. II/2014, S. 90 f.
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3.319
Kap. 3 Rz. 3.320
Bewertung
d) Berücksichtigung der Ertragsteuern
3.320 Die der Ertragswertermittlung zugrunde liegenden Überschüsse sind grundsätzlich um die Ertragsteuern des Unternehmens und anschließend im Fall der unmittelbaren ertragsteuerlichen Typisierung im Rahmen gesetzlicher oder vertraglicher Bewertungsanlässe um persönliche Ertragsteuern der Unternehmenseigner zu vermindern.245
3.321 Basis für die Ertragsteuerberechnung ist hierbei grundsätzlich die Steuerbilanz des Unternehmens.
3.322 Hinsichtlich der einkommensteuerlichen Behandlung seit Einführung der Abgeltungsteuer unterscheidet der IDW S 1 für die Einbeziehung der persönlichen Besteuerung in die Unternehmensbewertung anlassbezogen in eine mittelbare und eine unmittelbare Typisierung der steuerlichen Verhältnisse der Anteilseigner.
3.323 Die mittelbare Typisierung sieht analog zum IDW HFA RS 10 eine Nichtberücksichtigung der persönlichen Ertragsbesteuerung innerhalb des Bewertungskalküls vor.246 Von einer mittelbaren Typisierung ist immer dann auszugehen, wenn der Wirtschaftsprüfer in der Funktion eines neutralen Gutachters einen objektivierten Unternehmenswert im Rahmen unternehmerischer Initiativen ermittelt, bei denen die Bewertung als objektivierte Informationsgrundlage dient.247 Die weit überwiegenden Bewertungen basieren auf mittelbarer Typisierung.
3.324 Die unmittelbare Typisierung ist bei einer objektivierten Unternehmensbewertung einer Aktiengesellschaft durch eine explizite Berücksichtigung der persönlichen Ertragsteuern eines typisierten Anteilseigners248 gekennzeichnet und steht im Einklang mit der langjährigen Bewertungspraxis und der deutschen Rechtsprechung249. Entsprechend dem IDW S 1 i.d.F. 2008 ist von einer unmittelbaren Typisierung im Rahmen gesellschaftsrechtlich und vertraglich veranlasster Ermittlungen objektivierter Unternehmenswerte, wie bspw. bei der Bestimmung von Abfindungen bei aktienrechtlichen Konzernierungsmaßnahmen z.B. Squeeze-out, bei der Ermittlung von Unternehmenswerten im Zugewinnausgleich oder bei Abfindungen unter Gesellschaftern).250 Die Berücksichtigung der persönlichen Ertragsteuern bei der danach durchgeführten Nachsteuerrechnung erfolgt sowohl innerhalb der zu kapitalisierenden Überschüsse wie auch im Kapitalisierungszinssatz erfolgen.
3.325 Für die Bewertung eines Einzelunternehmens oder einer Personenhandelsgesellschaft bedarf es weiterhin generell einer expliziten Berücksichtigung persönlicher Ertragsteuern, da (wie im derzeitigen Steuersystem vorliegend) die persönliche Einkommensteuer teilweise oder ganz an die Stelle der in der Alternativrendite bereits berücksichtigten Unternehmensteuer tritt. 245 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 29 f. 246 Ein Ausblenden der persönlichen Besteuerung wird dahingehend begründet, dass in den betrachteten Fällen die Nettozuflüsse sowohl aus dem Bewertungsobjekt als auch aus der Alternativinvestition in einem Aktienportfolio einer vergleichbaren persönlichen Besteuerung unterliegen und demnach eine Steueräquivalenz vorliegt. Vgl. WPHb II/2014, Rz, A 83 bzw. Wagner/Saur/Willershausen, 733. 247 Als Beispiele für dementsprechende Bewertungsanlässe führt der IDW S 1 i.d.F. 2008 in Rz. 30 Kaufpreisverhandlungen, Fairness Opinions und Kreditwürdigkeitsprüfungen an. 248 Als typisierter Anteilseigner wird auf eine im Inland ansässige, unbeschränkt steuerpflichtige Person abgestellt, deren Beteiligung am Unternehmen weniger als 1 % beträgt und die ihre Anteile im Privatvermögen hält. 249 Vgl. WPHB II/2008 S. 1 f. 250 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 47.
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D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.330 Kap. 3
Bei der Bewertung von Sonderbetriebsvermögen ist rechtlich noch nicht abschließend geklärt, ob bei mittelbarer Typisierung persönliche Einkommensteuern in Abzug zu bringen sind. Die Praxis und Rechtsprechung handelt insoweit uneinheitlich. Allerdings sprechen vorangegangene Überlegungen gegen die Praxisausübung, bei der Bestimmung der Barabfindung das Sonderbetriebsvermögen unter Abzug typisierter Steuerbelastung zu bewerten.251 Allenfalls kann, jedoch nur nach gründlicher Einzelfallprüfung, ggf. in dieser Konstellation bei unmittelbarer Typisierung ein typisierter Steuerabzug dann gerechtfertigt sein, wenn das Sonderbetriebsvermögen tatsächlich weder zeitlich noch in der ausgewiesenen Höhe an die Aktionäre ausgeschüttet werden kann. Weitere Voraussetzung ist dann aber zusätzlich, dass das Unternehmen unter realistischen Erwartungen nicht dauerhaft in der Lage ist, die bei der Unternehmensbewertung zugrunde gelegte Kapitalmarktrendite für jenes Sonderbetriebsvermögen zu verdienen.
3.326
Bei Auslandsbeteiligungen sind alle Steuern, auch Ertragsteuern, als Kostensteuern anzusetzen. Dieses gilt auch für Einkommen- und Quellensteuer, soweit diese definitiv werden.252
3.327
Die Gewerbesteuer belastet als Kostensteuer den Unternehmensertrag. Sie ist stets vom Zu- 3.328 kunftsertragswert abzuziehen. Im Hinblick auf die Körperschaftsteuer ist zunächst zu differenzieren, ob das zu bewertende Unternehmen überhaupt der Körperschaftsteuer unterliegt. Unternehmen, die keine Körperschaften sind, repräsentieren keine selbständigen Steuersubjekte. Körperschaftsteuer fällt nicht an. Das Ergebnis vor Abzug von Unternehmensteuern wird definitiv mit 15 % Körperschaftsteuer zzgl. Solidaritätszuschlag (SolZ) belastet. Darüber hinaus ist zu beachten, dass Ausschüttungen, die einer Kapitalgesellschaft von einer anderen Kapitalgesellschaft zufließen in Deutschland nur insoweit steuerpflichtig sind, als diese nach § 8b Abs. 3 KStG i.H.v. 5 % als fiktiv nicht abzugsfähige Betriebsausgaben gelten.253
3.329
Nachdem die Ertragsteuern des Unternehmens vom Zukunftserfolgswert abgesetzt worden sind, erfolgt im Fall der Bewertung auf Grundlage der unmittelbaren Typisierung die Subtraktion der persönlichen Ertragsteuer des Unternehmenseigentümers. Dividenden und Veräußerungsgewinne aus einer Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft unterliegen seit dem Übergang vom Halbeinkünfteverfahren zum Abgeltungsteuersystem durch die Unternehmensteuerreform 2008 auf privater Ebene dem Abgeltungsteuersatz von 25 % zzgl. SolZ.254
3.330
251 Für die Auffassung sprechen zwei Gründe. Zunächst kann argumentiert werden, dass Sonderbetriebsvermögen bereits der Barwert zukünftiger Ergebnisse ist, die unter einer Nachsteuerberechnung ermittelt worden sind. Der erneute Abzug typisierter Steuer erschiene vor diesem Hintergrund sowohl rechnerisch als auch methodisch unstatthaft. Darüber hinaus ist Sonderbetriebsvermögen wirtschaftlich wie eine Investition mit einer begrenzten Laufzeit von genau 0 Perioden anzusehen, deren Ausschüttung beim Aktionär als Dividende – unabhängig davon ob für die Bewertung eine typisierte Steuerlast berechnet wurde – vollständig der Abgeltungsteuer unterläge. Da die bei der Bewertung ermittelte typisierte persönliche Einkommensteuer nicht auf die Kapitalertragsteuer anrechenbar ist, ist zumindest bei Sonderbetriebsvermögen unter diesen Annahmen der bei unmittelbarer Typisierung empfohlene Steuerabzug nicht überzeugen. 252 Aus aktueller Sicht ist bei Auslandsbeteiligungen auch der § 8b KStG zu berücksichtigen. 253 Vgl. Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz, BGBl. I 2003, Nr. 65, ausgegeben zu Bonn am 27.12.2003, S. 1–4. 254 Vgl. Wagner/Saur/Willershausen, S. 735.
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Kap. 3 Rz. 3.331
Bewertung
3.331 Bei Gesellschaftern von Personenunternehmen erfolgt die Besteuerung der Brutto-Gewinne in Höhe des progressiv ausgestalteten, persönlichen Einkommensteuertarifs zzgl. der um die pauschalierte Anrechnung nach § 35 EStG (maximal um das 3,8fache der Steuermesszahl von 3,5 %) gekürzten Gewerbesteuer. Im Rahmen einer objektivierten Bewertung ist von einem typisierten Einkommensteuersatz von 35 % (inklusive SolZ) auszugehen.255 Dividenden und Veräußerungsgewinne aus Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, deren Anteile im Betriebsvermögen eines Personenunternehmens gehalten werden, sind im Rahmen der Einkommensteuer der Gesellschafter zu 40 % steuerfrei zu berücksichtigen.256 Darüber hinaus wird für die Einkommensteuerbelastung der den Gesellschaftern zuzurechnenden Gewinne der Personengesellschaft eine sofortige Entnahme der Steuerzahlung unterstellt.
3.332 Gerade bei der Bewertung von Personenunternehmen ist eine fundierte Kenntnis der Besteuerungsgrundlagen erforderlich, da die verschiedenen Hinzu- und Abrechnungen vom Umfang und der Reichweite deutlich über die für Kapitalgesellschaft allgemein bekannten Sachverhalte hinausgehen. Besondere Vorsicht ist bei der Existenz von Gesellschafterdarlehen und Finanzierungsgestaltungen zwischen Gesellschaftern und der zu bewertenden Personengesellschaft geboten. Hier werden regelmäßig Zinsaufwendungen den gewerbesteuerlichen Bemessungsgrundlagen zuzurechnen sein, so dass insoweit die Berücksichtigung eines aus der DCF-Welt bekannten Tax-Shields für derartig zurechnungsverhaftete Sachverhalte nicht korrekt wäre.
3.333 Vor dem Hintergrund der umfangreichen steuerlichen Besonderheiten und Schwierigkeiten bei der Bewertung von Personengesellschaften und der darauf aufbauenden Modellierung von Bewertungsmodellen wird empfohlen, im Zweifel bei der Modellwahl bei Personengesellschaften einem Ertragswertverfahren gegenüber einem DCF-Verfahren den Vorzug zu geben oder zumindest in den zu erstellenden Bewertungsmodellen ein DCF-basiertes Modell durch eine parallel laufende ertragswertbasierte Kontrollrechnung zu ergänzen.
3.334 Bei der Ermittlung objektivierter Unternehmenswerte auf Grundlage der unmittelbaren Typisierung ist von der Ausschüttung derjenigen finanziellen Überschüsse auszugehen, die nach Berücksichtigung des dokumentierten Unternehmenskonzepts, der bisherigen und der geplanten Ausschüttungspolitik sowie gegebenenfalls bestehender rechtlicher Restriktionen für eine Ausschüttung zur Verfügung stehen.257 Bei einer zwei Phasen unterscheidenden Planung sind in der ewigen Rente die Ausschüttungen grundsätzlich äquivalent zum Ausschüttungsverhalten der Alternativanlage zu planen, insoweit wiederum nicht Besonderheiten der Branche, der Kapitalstruktur oder rechtliche Restriktionen dem entgegenstehen.258
3.335 Wie die Dividenden, unterliegen die auf Gewinnthesaurierungen zurückzuführenden Kursgewinne auf persönlicher Ebene grundsätzlich der Abgeltungsteuer. Im Gegensatz zum jähr255 Vgl. WPHdb II/2014 Rz. A 116. Zur Diskussion um die Festlegung eines typisierten persönlichen Ertragsteuersatzes insbesondere unter Berücksichtigung der Thesaurierungsbegünstigung nach § 34a EStG vgl. Popp, S. 937 f. 256 Vgl. § 3 Nr. 40 EStG (nach dem sog. Teileinkünfteverfahren). 257 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 89 f., WPHdb II/2014 Rz. A 92 ff. 258 Für die Wiederanlage der thesaurierten Beträge ist typisierend die kapitalwertneutrale Anlage zum Kapitalisierungszinssatz anzunehmen. Die kapitalwertneutrale Wiederanlage kann wertgleich durch eine fiktive unmittelbare Zurechnung der Thesaurierungsbeträge an die Aktionäre abgebildet werden, die diese letztlich über thesaurierungsbedingte Kurssteigerungen und Anteilsveräußerungen realisieren können. Aus diesem Grund umfassen die zu kapitalisierenden Ergebnisse der Anteilseigner sowohl die ihnen zufließenden Dividenden als auch die unmittelbare Zurechnung der thesaurierten Beträge.
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D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.336 Kap. 3
lichen Zufluss der Dividenden entscheidet indes die Aktienveräußerung über den Zeitpunkt der Gewinnrealisation der Thesaurierungen. Der zeitliche Aufschub bei der Realisierung des Mittelzuflusses bewirkt eine werterhöhende Steuerstundung. Aus diesem Grund empfiehlt der IDW S 1 die verschiedenen Komponenten der zu kapitalisierenden Ergebnisse (der Ausschüttungsanteil und der Thesaurierungsbetrag) bewertungstechnisch unterschiedlich hoch mit persönlicher Einkommensteuer zu belasten. Während die geplanten Ausschüttungen mit der vollen Abgeltungsteuer zu belegen sind, ist der Steuerstundungseffekt259, dessen Ausmaß mit der Rendite und der Anlagendauer im Unternehmen zunimmt260, in Form eines reduzierten effektiven (typisiert mit 12,5 % zzgl. SolZ unterstellten261) Kursgewinnsteuersatzes in den Berechnungen berücksichtigt wird. Der Ertragswert des betriebsnotwendigen Vermögens unter Berücksichtigung der Besteuerung auf Basis der mittelbaren bzw. unmittelbaren Typisierung der persönlichen Ertragsteuern bemisst sich dann nach folgendem Schema: Jahr 1
Jahr 2
Jahr 3
Ewige Rente ab Jahr 4 ff.
Ergebnis vor Ertragsteuern betriebliche Ertragsteuern (Inland, Ausland) Ergebnis nach betrieblichen Ertragsteuern Körperschaft- und Gewerbesteuerminderungen aus + Verlustvorträgen Ergebnis vor Steuern der Anteilseigner (zu kapitalisierendes Ergebnis bei mittelbarer Typisierung) davon: + Wertbeitrag aus Thesaurierung - typisierte hälftige Abgeltungsteuer (12,5 % zzgl. SolZ) + Ausschüttung Anteilseigner - Abgeltungsteuer (25 % zzgl. SolZ) Nettoeinnahmen (zu kapitalisierendes Ergebnis bei unmittelbarer Typisierung) Barwertfaktoren vor bzw. nach Abgeltungsteuer (gemäß mittelbarer bzw. unmittelbarer Typisierung) entsprechend dem CAPM bzw. Tax-CAPM
259 Vgl. Wiese, WPg. 2007, S. 370. Die aufschiebende steuerliche Wirkung ist unabhängig von der Art der Mittelauskehr aus dem Unternehmen. Eine reduzierte steuerliche Effektivbelastung tritt sowohl im Fall eines Anteilsrückkaufs als auch bei einer Auflösung der Gewinnrücklage und anschließenden Ausschüttung an die Aktionäre ein. 260 Das Ausmaß der Steuerstundung hängt von der Haltedauer sowie der kapitalwertneutralen Wiederanlagerendite innerhalb des Unternehmens ab. Vgl. Wiese, WPg. 2007, S. 368 ff. insbesondere die Übersicht auf S. 371, bzw. Übersicht 2 bei Wagner/Saur/Willershausen, WPg. 2008, S. 736, welche die unterschiedlichen effektiven Steuersätze im Fall der Veräußerungsgewinnbesteuerung enthalten. 261 Vgl. Wiese, WPg. 2007, 370 f. bzw. mit einer allgemeinen Bestimmungsgleichung Wagner/Saur/ Willershausen S. 735 f., insbesondere Fn. 31.
Keim/Jeromin
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3.336
Kap. 3 Rz. 3.337
Bewertung
Jahr 1
Jahr 2
Jahr 3
Ewige Rente ab Jahr 4 ff.
Barwert der Zahlungen zum Stichtag Ertragswert Abb. 19: Schema der Steuerberücksichtigung beim Ertragswert einer Kapitalgesellschaft nach dem Tax-CAPM
e) Ewige Rente im Ertragswertverfahren
3.337 Die Veranschlagung des nachhaltigen Ergebnisses erweist sich als eine anspruchsvolle Aufgabe. Dieses resultiert daraus, dass in der ewigen Rente die zu kapitalisierenden Ergebnisse in der Regel nicht durch bloße Fortschreibung von Ergebnissen aus dem Detailplanungszeitraum ermittelt werden können. Die Jahresüberschüsse der ewigen Rente stellen im Gegensatz zu den einzelnen Jahresüberschüssen des Detailplanungszeitraumes einen für sämtliche zukünftige Boom- und Rezessionsphasen repräsentativen Erwartungswert dar. Infolge dieses besonderen Charakters der ewigen Rente ist der Bewerter darauf angewiesen, langfristige Branchentrends, Investitions- und Konjunkturzyklen, aber auch Zins- und Börsenzyklen zu untersuchen.
3.338 Je nach den Besonderheiten des Einzelfalles werden die zu kapitalisierenden Ergebnisse der ewigen Rente bspw. unter Zuhilfenahme von Daten des letzten Detailplanungszeitraums fortgeschrieben. Die zu kapitalisierenden Ergebnisse in der ewigen Rente lassen sich anhand langfristiger Durchschnittswerte branchenüblicher EBITDA- oder EBIT-Margen, Refinanzierungszinssätze und Re-Investitionsraten plausibilisieren.
3.339 Darüber hinaus darf bei der Veranschlagung der ewigen Rente der Zeithorizont nicht außer Acht gelassen werden. In der ewigen Rente gelten beim Ertragswertverfahren Aufwendungen und Erträge als dauerhaft konstant. Die wirtschaftliche Vernunft gebietet es daher, für die ewige Rente in einem gewissen Maße die Bewertungslogik gegenüber dem Detailplanungszeitraum anzupassen.
3.340 In der Denklogik des Zweiphasenmodells der Unternehmensbewertung gilt das nachhaltige Ergebnis als Äquivalent für einen sog. eingeschwungenen Zustand. Einnahmen und Ausgaben sind so anzusetzen, dass diese dauerhaft ihrer Größenordnung nach den Ein- und Auszahlungen des jeweiligen Unternehmens entsprechen. Dieses bedeutet, dass langfristig die Abschreibungen sich den nachhaltigen Investitionen entsprechen müssen. Die Steuerzahlungen in der ewigen Rente orientieren sich daher langfristig an den dauerhaften steuerrechtlichen Regelungen und nicht an handelsrechtlichen Überlegungen. Rückstellungen, die in der Vergangenheit für Ereignisse der Zukunft gebildet wurden, sind bei der ewigen Rente zu korrekt zu bewerten. Handelt es sich um Rückstellungen für Einmalereignisse (z.B. aufgrund eines Gerichtsverfahrens) so sind diese Rückstellungen bewertungstechnisch als Fremdkapital zu behandeln, da sich in der ewigen Rente der Grund für die Erfassung eines der Zeit nach ungewissen Auszahlung materialisiert. Rückstellungen jeglicher Art die bei Going-Concern-Prämisse revolvierend neu gebildet werden, sind bewertungstechnisch als Aufwand abzubilden.262 262 Dieser Hinweis ist hierbei insbesondere für die DCF-Verfahren von Relevanz, da es bei einem DCF-Verfahren als Bewertungsfehler gilt, wenn eine Rückstellungsbildung in der ewigen Rente bei der Ableitung der maßgeblichen zu kapitalisierenden Cash-Flows faktisch über die Hintertür der Cash-Flow-Überleitung wieder eliminiert wird.
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D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.344 Kap. 3
Eine gewisse Sonderbehandlung nehmen Pensionsrückstellungen ein. Bei jenen wird typischerweise zunächst der Zins- vom Dienstzeitaufwand isoliert um anschließend Rückstellungen aus bestehenden Ansprüchen einer gesonderten Wertüberprüfung zu unterziehen und diese ggf. neu zu bewerten. Grundsätzlich müsste dieser Schritt auch bei der Bestimmung des Dienstzeitaufwands vorgenommen werden, sofern dieser aus Versicherungs- und finanzmathematischen Annahmen gebildet und errechnet wird, die aus Sicht des Bewertungsstichtags ggf. neu anzupassen wären.263
3.341
Ist dieses nicht der Fall, weil beispielsweise im Zeitpunkt der ewigen Rente noch für eine gewisse Übergangszeit mit einem Auseinanderfall von Einnahmen und Ausgaben zu Einzahlungen und Auszahlungen zu rechnen ist, sind Anpassungen vorzunehmen. Der Bewerter wird hierbei diese zeitweiligen Differenzen entweder gesondert Bewerten und als eine Art Sonderwert oder zumindest als Sonderausweis dem Ertragswert hinzu- oder abrechnen. Alternativ ist es üblich die entsprechenden Differenzen durch eine geeignete Annuisierung direkt bei der Ergebnisableitung in der ewigen Rente auszugleichen.
3.342
Der zeitweise Auseinanderfall von Einnahmen/Ausgaben bzw. Einzahlungen/Auszahlungen mit der Folge entsprechender Anpassungsrechnungen tritt beispielsweise bei folgenden Sachverhalten auf:
3.343
– Abschreibungen: die Annahme der sofortigen Anpassung der Abschreibungen im nachhaltigen Ergebnis an die nachhaltigen Abschreibungen lässt sich weder steuer- noch handelsrechtlich rechtfertigen. Bis zur Angleichung der Abschreibungen ist in der Steuer- und Handelsbilanz eine Nebenrechnung erforderlich; – latente Steuern: Latente Steuer haben ihre Ursache vor dem Eintritt der ewigen Rente und resultieren nicht dauerhaften Differenzen zwischen Handels- und Steuerbilanz; – Rückstellungen: das Rückstellungsniveau der Vergangenheit entspricht nicht dem in der Nachhaltigkeit erwarteten Niveau; – Rückstellungen aus Optionsverträgen (z.B. Mitarbeiteroptionen); die Optionen sind zum Bewertungsstichtag neu zu bewerten und zwar mit dem vollen Zeitwert und unabhängig davon, ob diese in der Vergangenheit bereits als Aufwand in der GuV erfasst worden sind. Im Einzelfall ist eine rechtliche Würdigung erforderlich, ob ggf. eine Deckelung auf den aktuellen Inneren Wert infrage kommt. In Bezug auf typische Ertrags- und Aufwandspositionen (Umsatz, Sonstige betriebliche Er- 3.344 träge, Gesamtleistung, Materialaufwand, Personalaufwand, Sonstige Aufwendungen, Abschreibungen) ist bei der Ableitung der ewigen Rente Sorgfalt walten zu lassen. Sowohl die Umsatz- als auch die Margen- und Ergebniserwartungen bedürfen einer plausiblen Annahme. Grundsätzlich muss das nachhaltige Ergebnis einen gesunden Mix zwischen den Möglichkeiten, Risiken, Chancen des Unternehmens als auch der Branche und des allgemeinen Marktes darstellen.264 263 Die Bewertungspraxis vereinfacht allerdings insoweit häufig, als unter Materialitätsgesichtspunkten der Dienstzeitaufwand des letzten Jahres fortgeschrieben wird oder die aus den versicherungsmathematischen Gutachten ersichtlichen Dienstzeitaufwendungen einzeln unter Geltung konkreter Bewertungsparameter bewertet und anschließend in der ewigen Rente als Annuität abgebildet werden. 264 In der Praxis häufig anzutreffen sind Planungen, bei denen Umsatz- und Ergebniserwartungen des letzten Planjahrs oder eines Durchschnitts der Planjahre in die Zukunft fortgeschrieben wer-
Keim/Jeromin
189
Kap. 3 Rz. 3.345
Bewertung
3.345 Besondere Vorsicht walten zu lassen ist bei der Ableitung des nachhaltigen Wachstums in Verbindung mit den entziehbaren Erträgen und der Marge. Insbesondere besteht ein hoher Analyse- und Dokumentationsbedarf, wenn in der Bestimmung der ewigen Rente dauerhaft hohe Umsätze, hohe Margen und hohe Erträge in Kombination mit hohen Wachstumsraten und vergleichsweise dauerhaft niedrigen Kapitalisierungszinssätzen kombiniert werden.265
3.346 Bei der Veranschlagung des nachhaltig zu kapitalisierenden Ergebnisses der ewigen Rente kommt daher nicht nur technische Konsistenzüberlegungen und Planungsanalyse (geschlossene, korrekte integrierte Planung i.V.m. der Analyse des Preis-Mengengerüsts der Planung und dem Abgleich der Kapazitäten mit der Marktnachfrage, Wettbewerb, Rohstoffangebot etc., sonstige Planungswürdigungen) eine hohe Bedeutung zu. Vielmehr sollten sich die Plausibilitätsüberlegungen nicht nur auf volkswirtschaftliche Überlegungen (Wachstumsraten, Wettbewerbs- und Marktanalysen) sondern auch auf wirtschaftstheoretische Analysen (z.B. Gleichgewichtsüberlegungen) erstrecken.
3.347 So kann z.B. nicht unbeachtet bleiben, dass sich in der Wirtschaftsgeschichte kaum empirische Beispiele dafür finden, dass eine Unternehmung ewig am Markt besteht. Ebenso ist die Annahme dauerhaften Unternehmenswachstums kaum von empirischen Beobachtungen gedeckt. Empirisch beobachtbar ist das Gegenteil. Kaum ein Unternehmen besteht dauerhaft am Markt. Selbst jahrzehntelang dominante Unternehmen und Konzerne und schnell wachsende Unternehmen sind nicht vor Wettbewerb, Insolvenz und Zerschlagung gefeit.266 Vor diesem empirischen Hintergrund muss die Verwendung dauerhaft überdurchschnittlicher Wachstumsraten auf diejenigen Unternehmen beschränkt bleiben, welche durch kurz- bis mittelfristig nachweisliches Potential nur auf diese Weise im Rahmen eines Zweiphasenmodells korrekt bewertbar sind.267 den. Hiergegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn die Kernkennzahlen Umsatz-, Marge und Ergebnis sowohl mit der Unternehmenshistorie, eigenen realen Möglichkeiten, dem Markt und Wettbewerb übereinstimmen. Allerdings bietet diese schematische Vorgehensweise Raum für Fehleinschätzungen. Insbesondere ist das der Fall, wenn das nachhaltige Ergebnis dadurch ein (so hohes oder so niedriges) Niveau erreicht, welches von dem Unternehmen selber noch nie oder nur höchst selten erreicht wurde. Diese Vorgehensweise ist häufig in der Praxis. Ist das Ergebnis jedoch nicht Ausdruck verbesserter (verschlechterter) Zukunftserwartungen, sondern lediglich Folge von übermäßigem, ungerechtfertigtem Optimismus bzw. Pessimismus, kann dieses zu Überbewertungen oder Unterbewertungen führen. Plausibel wären derartige Fortschreibungen nur, wenn die tatsächlichen unternehmensindividuellen, die Markt- und die Wettbewerbsbedingungen plausible Begründungen hierfür treffen. Planungsoptimismus (-pessimismus) darf nicht zum Ersatz realistischer Erwartungen bei Ableitung des nachhaltigen Ergebnisses führen. 265 Bei einer derartigen Annahme wird unterstellt, dass das zu bewertende Unternehmen faktisch dauerhaft und konkurrenzlos überdurchschnittliches Wachstum bei fehlender oder ungenügender Aufmerksamkeit durch Konkurrenz und gleichzeitig hohem Marktwachstum sowie niedrigem Investitionsrisiko aufweist. Eine derartige Kombination von bestmöglichen Szenarien lässt sich in der Realität eigentlich weder realisieren noch empirisch nachweisen. 266 In der Praxis empirisch beobachtbar sind auch einige Unternehmen, die eine mittlere bis höhere dreistellige Lebensdauer aufweisen. Interessanterweise haben diese Unternehmen allerdings zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Daseins ihre Geschäftstätigkeit auf bestimmte Marktnischen oder Marktsegmente begrenzt, sich von der Aufmerksamkeit des Wettbewerbs ferngehalten und damit ihr Größenwachstum in der Vergangenheit eingestellt. 267 Aus reinen mathematischen Gründen unmöglich ist es darüber hinaus anzunehmen, dass eine Unternehmung permanent höhere Wachstumsraten als alle Volkswirtschaften der Welt aufweisen kann (anderenfalls das zu bewertende Unternehmen irgendwann die Größe aller Volkswirt-
190
Keim/Jeromin
Rz. 3.351 Kap. 3
D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Folglich ist bei der Ermittlung der ewigen Rente von realistischen Umsatz-, Ertrags-, Wachstums- und Renditeerwartungen auszugehen die nicht nur die konkret kurzfristig beobachtbare Marktsituation sondern auch langfristig realistische wirtschaftliche Annahmen widerspiegeln sollen.
3.348
f) Ausschüttungsannahme Für die Ermittlung des objektivierten Unternehmenswertes ist im Fall der auf Grundlage der unmittelbaren Typisierung von der einkommensteuerpflichtigen Ausschüttung derjenigen finanziellen Überschüsse auszugehen, die nach Berücksichtigung des zum Bewertungsstichtag dokumentierten, individuellen Unternehmenskonzeptes, der bisherigen und geplanten Ausschüttungspolitik, der Eigenkapitalausstattung und rechtlicher Restriktionen (z.B. Bilanzgewinn, ausschüttbarer handelsrechtlicher Jahresüberschuss) und nach Abzug typisierter persönlicher Einkommensteuern zur Ausschüttung an die Anteilseigner zur Verfügung stehen. Soweit die Planung zwei Phasen unterscheidet, sind die Ausschüttungen der finanziellen Überschüsse sowie die Verwendung thesaurierter Beträge und deren Rendite für die erste Planphase auf Basis der Unternehmensplanung zu veranschlagen. Sofern die Gewinnverwendung nicht explizit geplant ist, sollen vereinfachend kapitalwertneutrale Anlagen (sowohl in der Detailplanungsphase als auch in der ewigen Rente) unterstellt werden, wenn nicht faktische Restriktionen dem entgegenstehen.268
3.349
In der ewigen Rente wird typisierend unterstellt, dass das Ausschüttungsverhalten des zu bewertenden Unternehmens äquivalent zum Ausschüttungsverhalten der Alternativanlage sei.
3.350
Rechnerisch ergibt sich das zu kapitalisierende Ergebnis folgendermaßen269:
3.351
Jahr 1
Jahr 2
Ewige Rente
Jahr 3
Ergebnis vor Steuern der Anteilseigner
100,0
100,0
100,0
100,0
Gewinnthesaurierung
-50,0
-
-
-50,0
davon: + Wertbeitrag aus Thesaurierung -
typisierte hälftige Abgeltungsteuer (13,188
50,0 %)270
-
-
-
-6,6
schaften der Welt überschreitet). Schließlich erscheint es unter Wettbewerbs- und Gleichgewichtsaspekten unwahrscheinlich, dass ein Unternehmen dauerhaft Erträge erzielt, welche oberhalb der Kapitalkosten liegen, da dieses früher oder später Wettbewerber zum Markteintritt bewegt. Dadurch würde sich der Wettbewerb verschärfen und durch die Wirkung von Angebot und Nachfrage die Möglichkeiten zur ständigen Realisierung hoher Renditen (im Sinne von Überrenditen) verloren gehen. 268 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 35–37. 269 Der für die Kapitalisierung der Nettoeinnahmen angesetzte Diskontierungssatz beträgt 6.4. 270 Unter der generellen Annahme einer Thesaurierungsquote in der ewigen Rente i.H.v. 50 % wurde zusätzlich für den Detailplanungszeitraum eine vollständig in die Planung integrierte Investitions- und Thesaurierungsplanung unterstellt, die im Jahr 1 eine hälftige Thesaurierung und in den Jahren 2 und 3 eine Vollausschüttung der jeweils erwirtschafteten Ergebnisse vorsieht. Für die ewige Rente wurde ein Wachstum von w = 0 % unterstellt, das auf dem Ergebnis des letzten Planjahres aufsetzt.
Keim/Jeromin
191
Kap. 3 Rz. 3.352
Bewertung
Jahr 1 + Wertbeitrag aus Ausschüttung -
Abgeltungsteuer auf Ausschüttung (26,375 %)
= Nettoeinnahmen (zu kapitalisierendes Ergebnis) Barwertfaktor nach Abzug typisierter Einkommensteuer entsprechend Tax-CAPM Barwert zum Stichtag Ertragswert
Jahr 2
Jahr 3
Ewige Rente
50,0
100,0
100,0
50,0
-13,2
-26,4
-26,4
-13,2
36,8
73,6
73,6
80,2
0,9398
0,8833
0,8302
12,9719
34,6
65,0
61,1
1040,3
1201,0
Abb. 20: Schema zur Ermittlung des Ertragswertes
5. Prognose bei Discounted Cash-Flow-Verfahren
3.352 Die Prognose der Überschüsse ist beim DCF-Verfahren der entscheidende Schritt der Unternehmensbewertung. Nach der Analyse der Vergangenheitsinformationen wird eine Zukunftsprognose durchgeführt. Sie basiert auf Planbilanzen und Plan-Gewinn- und Verlustrechnungen.
3.353 Dabei werden ergänzend alternative Szenarien für die wichtigsten Werttreiber (Value Driver) entworfen. Zu den Werttreibern zählen die Wachstumsrate des Umsatzes, die betrieblichen Gewinnmargen, die Investitionspolitik und die Kapitalkosten.271
3.354 Die Prognose der Cash-Flows erfolgt ebenfalls mithilfe eines Zwei-Phasen-Modells. Neben einer detaillierten Planung in der ersten Phase werden die Cash-Flows der zweiten Phase, analog zu den Ertragswertverfahren (ewige Rente) als konstant (gegebenenfalls konstant wachsend) unterstellt.272 Als künftiger gleich bleibender Cash-Flow kann der Cash-Flow des letzten Jahres des Detailprognose-Zeitraums verwendet werden. In Analogie zur Vorgehensweise bei der Ertragswertmethode sollten diese Überschüsse noch bereinigt werden, sofern das Unternehmen noch nicht den Gleichgewichtszustand erreicht hat.
3.355 Für die Bestimmung des zukünftig erwarteten Free Cash-Flows werden in der Literatur verschiedene Darstellungsformen gewählt und unterschiedliche Positionen angeführt.273 Letztlich entscheidend ist, dass alle Überschüsse aus dem Leistungsbereich in voller Höhe erfasst werden. Dies bedeutet, dass der geplante Free Cash-Flow bereits um den Kapitalbedarf des Unternehmens für künftige operative und strategische Maßnahmen (bspw. in Form von Investitionen) reduziert wurde. Eine Schuldentilgung stellt keine Investition in das operative Geschäft des Unternehmens dar und ist deshalb nicht vom Free Cash-Flow abzusetzen.274
3.356 Der Free Cash-Flow kann in Anlehnung an die im Rahmen der Prognose erstellten Plan-Gewinn- und Verlustrechnungen ermittelt werden:275 271 Vgl. Rappaport, S. 53. 272 Vgl. Copeland/Koller/Murrin, S. 269. 273 Einen Überblick über die verschiedenen Vorgehensweisen von Rappaport, Stern, Stewart und anderen bietet Lorson, S. 1332 ff. 274 Vgl. Kohl/Schulte, WPg. 2000, 1159. 275 Vgl. Copeland/Koller/Murrin, S. 161 und Richter/Simon-Keuenhof, BFuP 1996, 700.
192
Keim/Jeromin
D. Prognose der finanziellen Überschüsse
-
Rz. 3.360 Kap. 3
Operatives Ergebnis vor Zinsen und Steuern (EBIT) Unternehmensteuern auf das operative Ergebnis
Operatives Ergebnis vor Zinsen, nach adaptierten Steuern (NOPLAT) +/- Erhöhung/Minderung der Rückstellungen +/- Abschreibungen/Zuschreibungen Operativer Brutto Cash-Flow +/- Veränderung des Working Capitals -/+ Mittelabflüsse aus Investitionen/-zuflüsse aus Desinvestitionen bei Sachanlagen und immateriellen Vermögensgegenständen Operativer Free Cash-Flow +/- Nicht operativer Free Cash-Flow Free Cash-Flow Das operative Ergebnis vor Zinsen und Unternehmensteuern (EBIT = Earnings before Interest and Tax) ist als Ausgangsbasis zur Ableitung des Free Cash-Flows um die vom Unternehmen fiktiv auf den EBIT zu zahlende Ertragsteuer zu reduzieren.276 Diese Steuer umfasst in Deutschland die Gewerbe- und die Körperschaftsteuer. Steuerliche Effekte, welche im Zusammenhang mit der Kapitalstruktur der Unternehmung stehen, werden an dieser Stelle der Berechnung nicht berücksichtigt. Es werden nur die Überschüsse aus dem Leistungsbereich erfasst.
3.357
Das o.g. operative Ergebnis vor Zinsen und nach Unternehmensteuern (NOPLAT = Net operating Profit less adjusted Taxes) wird anschließend um nicht zahlungswirksame Aufwendungen korrigiert, die z.B. bei der Bildung von Abschreibungen und Rückstellungen anfallen.277 Der so berechnete Brutto Cash-Flow entspricht dem gesamten, von einem Unternehmen erwirtschafteten leistungswirtschaftlichen Cash-Flow. Es ist der Betrag, der ohne zusätzliche Kapitalaufnahme für Investitionen und Ausschüttungen zur Verfügung steht.
3.358
Daneben wird die Position Veränderung des Working Capitals berücksichtigt. Diese Position entspricht dem Umlaufvermögen abzgl. der unverzinslichen kurzfristigen Verbindlichkeiten:278
3.359
Vorräte + Forderungen aus Lieferungen und Leistungen - Lieferantenverbindlichkeiten Working Capital/Nettoumlaufvermögen Um den operativen Free Cash-Flow zu erhalten, muss der operative Brutto Cash-Flow um die geplanten Investitionsauszahlungen korrigiert werden. Zu den Investitionen in Sachanlagen zählen alle Aufwendungen für die Ersatz- und Neubeschaffung von Sachanlagen. 276 Der EBIT entspricht den Umsatzerlösen, abzgl. den Betriebsaufwendungen und den Abschreibungen auf Sachanlagen, zzgl. des Aufwands aus Leasingverträgen. Vgl. Hölscher, S. 94. 277 Alternativ können Rückstellungen unter dem Unterpunkt Investitionen berücksichtigt werden. Hier wird in der angelsächsischen Literatur eine Position „Veränderung sonstiger Vermögensgegenstände“ gebildet, welche Veränderungen bei den Rückstellungen und den immateriellen Vermögensgegenständen umfasst. Vgl. Copeland/Koller/Murrin, S. 197. 278 Vgl. Born, Unternehmensanalyse, S. 113.
Keim/Jeromin
193
3.360
Kap. 3 Rz. 3.361
Bewertung
3.361 Im ursprünglichen Sinne stammt die Position Working Capital aus der Bilanzanalyse. Sie liefert Informationen über die Liquiditätssituation des betrachteten Unternehmens. Mit dieser Kennzahl kann analysiert werden, in welchem Umfang die kurzfristigen Verbindlichkeiten durch geldnahes Vermögen abgesichert sind. Eine Veränderung des Working Capitals zeigt an, welchen Kapitalbetrag ein Unternehmen in einer bestimmten Periode in die Vermögensgegenstände des Nettoumlaufvermögens investiert oder desinvestiert hat.
3.362 Für Zwecke der wertorientierten Unternehmensführung wird oft der operative Free CashFlow als Ausgangsbasis der Analyse gewählt.279 Die Trennung in einen operativen und nicht operativen Free Cash-Flow erfolgt aus prognosetechnischen Gründen. Die Prognose des operativen Free Cash-Flows basiert auf der Analyse von Werttreibern (Value drivers). Dazu zählen das Umsatzwachstum, die Investitionstätigkeit und die Kapitalkosten.280
3.363 Neben dem operativen freien Cash-Flow sind die Erträge aus den nicht operativen Aktivitäten zu berücksichtigen. Kennzeichnend für den Free Cash-Flow aus dem nicht operativen Bereich ist, dass die Überschüsse nicht regelmäßig erwirtschaftet werden. Da es sich hier im Wesentlichen um periodenfremde und außerordentliche Positionen handelt, dürfte die Höhe der Cash-Flows aus den nicht operativen Aktivitäten bei einer Prognose der zukünftigen Überschüsse relativ gering sein. Diese Positionen sind in der Regel nicht Teil einer längerfristigen Unternehmensplanung. Wie bei der Ertragswertmethode sind Einflüsse aus nicht betriebsnotwendigem Vermögen und Verlustvorträgen gesondert zu berücksichtigen.
3.364 In der ewigen Rente soll die nachhaltige Ertragskraft des Unternehmens im eingeschwungenen Zustand dargestellt werden. Wie beim Ertragswertverfahren ist in den Discounted CashFlow-Verfahren zu berücksichtigen, dass die langfristige ökonomische Entwicklung eine Abfolge von Boom- und Rezessionsphasen darstellt. Das in der ewigen Rente anzusetzende Ergebnis muss dem Rechnung tragen. Analog zur Vorgehensweise des Ertragswertverfahrens bilden daher langfristige Analysen und Durchschnittsbildungen wesentlicher Erfolgsgrößen die Voraussetzung für die sachgerechte Bemessung der ewigen Rente.
3.365 Berechnungsbeispiel und Schema einer DCF-Berechnung Schritt 1: Berechnung der Free Cashflows Jahr 1
Jahr 2
Jahr 3
Ewige Rente
Euro 150
Euro 149
Euro 148
Euro 149
Steuern auf EBIT
- 43
- 42
- 42
- 42
NOPAT Abschreibung Investitionen Zunahme/Abnahme kurzfr. Vermögensgegenstände
107 80 - 90
107 81 - 91
106 82 - 92
107 83 - 88
- 50
- 50
- 50
-5
- 10
5
5
1
38
52
51
98
EBIT + + -/+ -/+ +/-
Zunahme/Abnahme sonstige Verbindlichkeiten
=
Free Cashflow
279 Vgl. Ballwieser, WPg. 1998, 84 und Copeland/Koller/Murrin, S. 161. 280 Vgl. dazu Rappaport, S. 79.
194
Keim/Jeromin
D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.365 Kap. 3
Schritt 2: Bestimmung der Kapitalkosten (WACC) Jahr 1
Jahr 2
Jahr 3
Ewige Rente
Basiszinssatz Marktrisikoprämie Betafaktor
1,25 % 7% 0,52
1,25 % 7% 0,53
1,25 % 7% 0,54
1,25 % 7% 0,55
Risikozuschlag (= Betafaktor × Marktrisikoprämie)
3,66 %
3,72 %
3,76 %
3,82 %
Eigenkapitalkosten (relevered)
4,91 %
4,97 %
5,01 %
5,07 %
Eigenkapitalquote (EK/GK)
78,53 %
79,68 %
80,63 %
81,70 %
Gewichtete Eigenkapitalkosten
3,85 %
3,96 %
4,04 %
4,14 %
Fremdkapitalkosten (variabel)
8,37 %
8,65 %
8,93 %
8,97 %
Steuerabzug vom Fremdkapital
-2,27 %
-2,34 %
-2,42 %
-2,43 %
Fremdkapitalkosten nach Steuern
6,11 %
6,31 %
6,52 %
6,54 %
Fremdkapitalquote (FK/GK)
21,47 %
20,32 %
19,37 %
18,30 %
Gewichtete Fremdkapitalkosten
1,07 %
1,02 %
0,97 %
0,91 %
WACC vor Wachstumsabschlag
5,14 %
5,22 %
5,29 %
5,33 %
Wachstumsrate
0%
0%
0%
1%
WACC nach Wachstumsabschlag
5,14 %
5,22 %
5,29 %
4,33 %
Jahr 1
Jahr 2
Jahr 3
Ewige Rente
Free Cashflow
Euro 38
Euro 52
Euro 51
Euro 98
Barwertfaktor
0,95
0,90
0,86
19,85
36
47
44
1.949
Schritt 3: Berechnung des Marktwertes des Eigenkapitals
Barwert Gesamtunternehmenswert zum 31.12.2000
2.077
Marktwert Fremdkapital zum 31.12.2000
- 777
Marktwert Eigenkapital zum 31.12.2000
1.300
Abb. 22: Beispiel eines Brutto-DCF Verfahrens
Zahlen gerundet, Differenzen zwischen Aufwendungen und Auszahlungen implizit über die Bilanzplanung abgebildet, in der ewigen Rente über Annuisierung, weshalb dort Abschreibungen und Investitionen trotz der Annahme der Angleichung auseinanderfallen. Fremdkapitalkosten: unterstellt ist wirtschaftlich Fremdfinanzierung in der Form eines Eigenkapitalersatzes (z.B. fehlende Mitspracherechte, weshalb vorliegend Renditeforderung für Eigenkapital sogar unterhalb derjenigen für Fremdkapital liegt); Beispiele aus der deutKeim/Jeromin
195
Kap. 3 Rz. 3.366
Bewertung
schen Rechtspraxis: Gesellschafterdarlehen bei GmbHs, die faktisch in Insolvenzfällen eigenkapitalähnlichen Charakter aufweisen und in Grenzfällen sogar von der Haftung und der Ertragsposition für den Kapitalgeber eine ungünstigere rechtliche Ausstattung als der Erwerb eines direkten GmbH-Anteils aufweist.
IV. Prognose bei subjektiver Bewertung 3.366 Von der Ergebnisprognose im Zusammenhang mit der objektivierten Unternehmensbewertung ist die Prognose unter Berücksichtigung subjektiver Aspekte zu unterscheiden. Dieses Bewertungskonzept stellt gegenüber dem objektivierten Wertkonzept eine Erweiterung dar. Eine subjektivierte Unternehmensbewertung baut auf den methodischen Grundsätzen einer objektivierten Bewertung auf, wobei zusätzlich subjektive Wertfaktoren berücksichtigt werden. Hierbei handelt es sich z.B. um mögliche Synergievorteile, Managementfaktoren und Vorteile aus Restrukturierungsmaßnahmen oder sonstige individuelle Merkmale der Investoren oder Bewertungsobjekte. Hinweise auf Komponenten einer subjektiven Unternehmensbewertung können sowohl aus IDW S 1 als auch aus RS HFA 10 entnommen werden.
3.367 Der IDW S 1 i.d.F. 2008 gibt Hinweise zur subjektiven Unternehmensbewertung aus der Sicht eines individuellen Investors, der sowohl hinsichtlich der prognostizierten Ergebnisse, der Art von Synergieeffekten, der Kapital- und Finanzierungsstruktur, der Ausschüttungspolitik, der Einkommensteuerbelastung als auch der Ableitung des Kapitalisierungszinssatzes auf seine individuelle Einschätzung zurückgreifen kann. Insoweit bestehen nach IDW S 1 sehr umfangreiche Bewertungsspielräume, die einer intersubjektiven Nachprüfung entzogen sind. Bewertungen unter Zuhilfenahme des IDW RS HFA 10 werden dagegen z.B. zur Ermittlung von Beteiligungsansätzen für handelsrechtliche oder steuerliche Zwecke durchgeführt. Die IDWStellungnahme zur Rechnungslegung (IDW RS HFA 10) bestimmt, wie die Grundsätze des IDW S 1 auf die Ermittlung/Prüfung von Beteiligungsansätzen usw. anzuwenden sind. Dabei werden die oben genannten nach IDW S 1 dargestellten subjektiven Komponenten eingeschränkt.
3.368 Da die Prüfung des Wertansatzes aus Sicht der bilanzierenden Gesellschaft erfolgt, sind subjektive Komponenten insbesondere im Hinblick auf die spezifische Unternehmensteuerbelastung zu berücksichtigen.
3.369 Darüber hinaus sind bei der Ermittlung eines subjektiven Unternehmenswertes nach IDW RS HFA 10 neben den bereits eingeleiteten Maßnahmen solche Maßnahmen zu berücksichtigen, die noch nicht Bestandteil des bestehenden Unternehmenskonzepts sind. Dazu zählen Synergieeffekte und solche geplanten Veränderungen des Anlagebestands, die Teil der vom Käufer beabsichtigten Restrukturierungsmaßnahmen sind.
3.370 Die Ableitung des Kapitalisierungszinssatzes erfolgt nach IDW RS HFA 10 unter Berücksichtigung einer alternativen Anlagenrendite in Unternehmensbeteiligungen. 1. Restrukturierungsmaßnahmen
3.371 Werterhöhungen bei Unternehmensakquisitionen ergeben sich insbesondere aus Restrukturierungsmaßnahmen und der Erschließung von Synergiepotentialen (bei Übernahmen und Fusionen). Zu den Restrukturierungsmaßnahmen zählen alle Versuche des Erwerbers, das Wertpotential des akquirierten Unternehmens zu steigern. Restrukturierungsmaßnahmen können in zwei Gruppen unterteilt werden. 196
Keim/Jeromin
D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.377 Kap. 3
Ein Komplex von Maßnahmen zielt auf das effiziente Management der vorhandenen Vermögensgegenstände und Finanzierungsmittel ab, z.B. durch Kostensenkungen oder Umsatzerhöhungen. Auf die Überprüfung der Notwendigkeit der vorhandenen Aktiva und Passiva zielt ein zweites Bündel von Maßnahmen. Es werden Re-Allokationen der Vermögensgegenstände vorgenommen und stille Reserven realisiert.
3.372
2. Synergiepotentiale Hohe Kaufpreise für Unternehmen werden nicht selten mit der Erschließung von Synergiepotentialen begründet. Ein positiver Synergieeffekt tritt auf, wenn die Überschüsse des aus einem Unternehmenskauf resultierenden neuen Unternehmensverbunds höher sind als die Summe der Überschüsse der einzelnen Unternehmen.281 Alternativ können Synergienachteile, d.h. negative Synergieeffekte auftreten.
3.373
Synergieeffekte werden nach verschiedenen Kriterien systematisiert. Hierzu zählen bspw. die 3.374 Aufteilung in betriebliche Funktionsbereiche, in quantitative und qualitative Synergien oder die Einteilung nach dem Zeitpunkt ihres zeitlichen Wirksamwerdens. Neben echten Synergieeffekten, die sich aus der Kooperation bestimmter Unternehmen aufgrund spezifischer Eigenschaften wie bspw. Know-how-Transfer oder Ergänzung des jeweiligen Produktportfolios ergeben, existieren unechte Synergieeffekte. Unechte Synergieeffekte können durch eine beliebige Anzahl von Partnern realisiert werden. In diesem Kontext spielen steuerliche Verlustvorträge eine Rolle. Für einen großen Kreis potentieller Erwerber stellen diese wegen der daraus erzielbaren Steuervorteile ein wesentliches Motiv für einen Unternehmenserwerb dar. Bei einer Unternehmensbewertung ist der Wert der steuerlichen Verlustvorträge mit dem Barwert der finanziellen Vorteile anzusetzen, die sich durch die Verrechnung der Verlustvorträge mit steuerlichen Gewinnen für die Zukunft ergeben.282 Bei der Ermittlung des subjektiven Unternehmenswerts ist von der geplanten Gewinnverwendung des Unternehmenskäufers auszugehen. Maßgeblich für den Ansatz von Steuervorteilen bei einer geplanten Transaktion als Synergie ist deren tatsächliches rechtliches Weiterbestehen.
3.375
Synergien können verschiedene Erscheinungsformen aufweisen und sind auf unterschiedliche Einflussfaktoren zurückzuführen. Positive Effekte können durch folgende Aktivitäten realisiert werden:283
3.376
– Unterlassung sich einander neutralisierender Aktivitäten, – Vermeidung bzw. Beendigung von Doppelaktivitäten, – Verbesserung der Faktorallokation durch bessere Nutzung von vorhandenen Faktoren, – Erhöhung der Marktmacht und – Übernahme des akquisitorischen Potentials anderer Konkurrenzunternehmen.
3.377
Negative Synergien können durch folgende Effekte ausgelöst werden: – Reibungsverluste aus der Zusammenführung unterschiedlicher Unternehmenskulturen, Betriebsorganisationen und Vergütungssystemen, 281 Vgl. Franke/Hax, S. 326. 282 Vgl. Angermayer/Oser in Peemöller. 283 Vgl. Küting, BFuP 1981, 182; Weber in Baetge, S. 111 f., Ossadnik, S. 7 f.
Keim/Jeromin
197
Kap. 3 Rz. 3.378
Bewertung
– Ausrichtung der Personalkosten an dem Partner mit besseren Sozialleistungen, – Überbesetzung von Stellen und – Abschmelzungsverluste als Reaktion der Kunden auf den Wegfall der bisherigen Produktdifferenzierung.
3.378 Synergieeffekte können beim Ertragswertverfahren durch Modifikationen der Ertragsüberschüsse berücksichtigt werden.284 Alternativ kann zunächst der objektivierte Unternehmenswert berechnet („Stand-alone-Prinzip“) und anschließend in einer gesonderten Nebenrechnung der Wert der Synergien bestimmt werden. Diese Vorgehensweise entspricht dem Verfahren bei einer Unternehmensbewertung nach der DCF-Methode.285
3.379 Die erwarteten Synergieeffekte können nach folgendem Schema bestimmt und bewertet werden:286 – Erfassung von Synergiepotentialen Soweit es die Informationen erlauben, erfasst der Bewertende in einem ersten Schritt alle wesentlichen Synergiepotentiale. So liegen bspw. positive (qualitative) Synergien vor, wenn von einer bedeutenden Verbesserung der Stärken oder von einer erheblichen Verminderung der Schwächen der betroffenen Unternehmen auszugehen ist. – Untersuchung der Voraussetzung für die Ausschöpfung des Synergiepotentials Ein Vergleich von den zur Realisierung notwendigen Soll-Voraussetzungen mit den tatsächlichen Gegebenheiten erlaubt die Beurteilung, inwieweit die vorhandenen Synergiepotentiale realisierbar sind. – Prognose der quantitativen Auswirkungen auf die Ertragsüberschüsse Bei der Quantifizierung der Synergieeffekte sind folgende Einflussgrößen zu berücksichtigen: die Auswirkung positiver und negativer Synergieeffekte, die Kosten für die Ausschöpfung von Synergiepotentialen und die Zeitspanne bis zur vollen Wirksamkeit der Synergieeffekte. Bei der Abschätzung der Auswirkungen von positiven Synergieeffekten kann grundsätzlich zwischen kostenorientierten und marktorientierten Bewertungssystemen differenziert werden. Kostenorientierte Synergiepotentiale beruhen insbesondere auf Gründungssynergien. Dem Investor entsteht ein Vorteil, da er ein bestehendes Unternehmen erwirbt und sich die Kosten für den Aufbau einer eigenen Organisation erspart. Um diese Synergien zu quantifizieren, sind zunächst ein Mengengerüst zu erstellen und darauf aufbauend die erforderlichen monetären Größen abzuschätzen. Unter marktorientierten Synergiepotentialen versteht man die Verbreiterung der Geschäftsbasis und die Erschließung zusätzlicher Marktanteile. Hierzu zählt bspw. der Erwerb neuer Produktlinien zur Erweiterung des Produktangebots. Neben positiven sind negative Synergieeffekte bspw. aus den Reibungsverlusten von Unternehmen mit unterschiedlichen Unternehmenskulturen zu beachten. Des Weiteren ist zu beachten, dass für die Realisierung von Synergien Kosten anfallen können, bspw. in Form von Informationskosten oder Personalkosten für das mittlere und obere Management.287 Zusätzlich ist im Rahmen der 284 285 286 287
198
Vgl. Angermayer/Oser in Peemöller. Vgl. Copeland/Koller/Murrin, S. 441 f. Vgl. Weber in Baetge, S. 106 ff. Vgl. Niehues, BB 1993, 326.
Keim/Jeromin
D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.383 Kap. 3
subjektiven Unternehmensbewertung der zeitliche Horizont bis zum Wirksamwerden der erwarteten Synergien relevant. Je später die Synergieeffekte realisiert werden, desto geringer fällt der Barwert für deren Überschüsse aus. – Bestimmung der Eintrittswahrscheinlichkeiten für die Realisierung von Synergien Anschließend muss der Bewerter die Eintrittswahrscheinlichkeiten der identifizierten und bewerteten (positiven wie negativen) Synergieeffekte beurteilen. Dabei erhöhen sich die Wahrscheinlichkeiten für das erfolgreiche Ausschöpfen von Synergiepotentialen oftmals, wenn beide Unternehmen in der gleichen Branche tätig sind. Die vorhandenen Branchen- und Marktkenntnisse erlauben es dem Management in aller Regel, die vorhandenen Synergiepotentiale realistisch zu erkennen und zu beurteilen.288 Die erwarteten Synergieeffekte müssen bei einem Unternehmenskauf zur Bestimmung des 3.380 subjektiven Unternehmenswerts zwischen Käufer und Verkäufer nicht gleichmäßig aufgeteilt werden. Die Preisobergrenze des Käufers wird durch seinen Grenzpreis repräsentiert. Dieser Grenzpreis entspricht dem Barwert der künftigen finanziellen Überschüsse. Dabei fließen die erwarteten Synergieeffekte in die Berechnung des subjektiven Unternehmenswerts mit ein. Bei der Berechnung des subjektiven Unternehmenswerts (Grenzpreis) des Verkäufers können Synergieeffekte ebenfalls unter bestimmten Bedingungen eine Rolle spielen. Für den Verkäufer kann ein Nachteil des Unternehmensverkaufs darin liegen, dass das Unternehmen aus einem Unternehmensverbund herausgelöst wird und damit vorher realisierte, positive Synergien entfallen. Die erwarteten Synergieverluste führen zu einer Erhöhung des Grenzpreises des Verkäufers.289 Darüber hinaus wird der Verkäufer in der Praxis, wenn er erkennt, dass der Erwerber hohe Synergiepotentiale erzielen kann, daran partizipieren wollen und seinen Grenzpreis entsprechend anpassen. Nachdem die Unternehmensplanung unter Berücksichtigung möglicher positiver und negativer Synergieeffekte abgeschlossen wurde, kann der Unternehmenswert mittels der Kapitalisierung der erwarteten Überschüsse berechnet werden.
3.381
3. Prognose unter Gesichtspunkten des Gläubigerschutzes Der Wert eines Unternehmens aus Sicht eines (potentiellen) Erwerbers wird maßgeblich durch dessen subjektive Nutzenerwartungen mit Bezug auf das Akquisitionsobjekt bestimmt. Neben einer erwerberspezfischen Einschätzung der Zukunftschancen des Akquisitionsobjektes werden u.a. sowohl unternehmensspezifische Synergieerwartungen als auch strategische Überlegungen den Kaufpreis beeinflussen. Ist das erwerbende Unternehmen in einen Konzernverbund eingeschlossen, erstreckt sich die Synergieberücksichtigung im Allgemeinen nicht ausschließlich auf das erwerbende Unternehmen selbst, sondern schließt den gesamten Unternehmensverbund ein. Nach erfolgter Transaktion hat das erwerbende Unternehmen die neue Beteiligung in Deutschland (zumindest im Rahmen des Einzelabschlusses) nach handelsrechtlichen Grundsätzen zu bilanzieren.
3.382
Im Rahmen der Prüfung des handelsrechtlichen Einzelabschlusses ist die Einschätzung der Werthaltigkeit von Beteiligungen ein wesentlicher Vorgang. Gemäß § 253 Abs. 1 HGB gilt bei der Bewertung von Beteiligungen das Anschaffungskostenprinzip. Ist der beizulegende Wert am Abschlussstichtag unter die Anschaffungskosten gesunken, so ist bei einer dauernden
3.383
288 Vgl. Angermayer/Oser in Peemöller. 289 Vgl. WPHdb. II/2014, S. 37-40.
Keim/Jeromin
199
Kap. 3 Rz. 3.384
Bewertung
Wertminderung auf diesen abzuschreiben (vgl. § 253 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 279 Abs. 1 HGB). Da bei handelsrechtlich orientierten Bewertungen Gläubigerschutzgrundsätze zu beachten sind, muss die Beteiligungsbewertung Rückschlüsse auf das Schuldendeckungspotential des Bewertungsobjekts bei der bilanzierenden Gesellschaft zulassen. Erfolgt eine Bewertung zum Zweck der Erstellung des handelsrechtlichen Jahresabschlusses, ist als Bewertungsstandard grundsätzlich die IDW-Stellungnahme RS HFA 10 anzuwenden. Im Gegensatz zum IDW S 1 ist eine nach IDW RS HFA 10 durchgeführte Unternehmensbewertung nach Auffassung des IDW aus der Sicht der die Beteiligung bilanzierenden Gesellschaft vorzunehmen und nicht aus der Sicht des dahinter stehenden Gesellschafters.
3.384 Wird die Bewertung unter dem Aspekt der Ermittlung von Schuldendeckungspotentialen durchgeführt, können der Wertermittlung nur noch eigentümerunabhängige Bewertungskriterien zugrunde gelegt werden. Das heißt der ausgewiesene Anteilswert darf keine Wertbestandteile enthalten, die nur von einzelnen Anteilseignern der Beteiligung realisierbar sind. Im Rahmen handelsrechtlich orientierter Beteiligungsbewertungen erweist sich die sorgfältige Abgrenzung des Bewertungsobjektes als besonders wichtig. Praktische Konsequenzen hat der Gläubigerschutzgedanke im Hinblick auf die Abgrenzung des Synergiekreises bei den für Jahresabschlüsse erstellten Unternehmens- und Anteilsbewertungen. Zum Bewertungskreis zählen in diesem Falle nur jene Synergien, welche das zu bewertende Unternehmen bzw. der zu bewertende Anteil selber generieren kann.290 Nicht zum Synergiekreis gehörig sind Synergien, die außerhalb des Bewertungsobjektes generiert werden.
Muttergesellschaft (MG) Schwestergesellschaft der OG
Synergiebereich
Erwerbende Gesellschaft (OG) Schwestergesellschaft der UG
Zu bewertende Beteiligung (UG)
Tochterunternehmen (TU)
TU
TU
TU
Abb. 23: Darstellung des Synergiekreises
3.385 Danach kommt die Berücksichtigung von Synergieeffekten, die voraussichtlich bei einer Muttergesellschaft (MG) oder bei Schwestergesellschaften der die Beteiligung bilanzierenden 290 D.h. hierzu zählen Synergien, die das zu bewertende Unternehmen bzw. die Beteiligung selber erzielen kann, oder Synergien, die von Tochterunternehmen des zu bewertenden Unternehmens bzw. der zu bewertenden Beteiligung generiert werden.
200
Keim/Jeromin
D. Prognose der finanziellen Überschüsse
Rz. 3.389 Kap. 3
Gesellschaft (OG) anfallen werden, nicht in Betracht. Bei der Bewertung der Beteiligung für handelsrechtliche Zwecke dürfen Synergiepotentiale nur berücksichtigt werden, wenn sie zwischen der zu erwerbenden Gesellschaft (Obergesellschaft (OG)), der zu bewertenden Beteiligungsgesellschaft (UG) oder deren Tochtergesellschaften (TU), das heißt innerhalb des (Teil-) Konzerns der Obergesellschaft, realisierbar sind. Insbesondere sind Synergieeffekte, die bei einer Schwestergesellschaft der zu bewertenden Beteiligung anfallen, die jedoch nur durch die Existenz der UG realisierbar sind, berücksichtigungsfähig. Durch genaue Dokumentation dieser Synergieeffekte müssen in derartigen Fällen Doppelbewertungen vermieden werden.
3.386
Zu den berücksichtigungsfähigen Synergieeffekten zählen solche Vorteile, die im Sinne einer subjektiven Einflussmöglichkeit des bilanzierenden Unternehmens realisierbar erscheinen z.B.:291
3.387
– bei der Umgestaltung des Managementfaktors; – der steuerlichen Optimierung; – der steuerlich optimierten Thesaurierung von Erträgen ausländischer Tochtergesellschaften; – der Berücksichtigung geplanter, noch nicht eingeleiteter Maßnahmen; – der Veränderung bzw. Optimierung der Finanzierungsstruktur; – Realisierung steuerlicher Verlustvorträge. Die innerhalb der gemäß IDW RS HFA 10 abzugrenzenden Bewertungseinheit möglichen positiven und negativen Synergieeffekte können darüber hinaus sehr vielschichtig sein.292 Während bei einer Erstbewertung einer Akquisition eine Zuordnung der Synergiepotentiale auf OG und UG meist nicht eindeutig möglich und nicht zwingend erforderlich ist, bedarf es jedoch für Zwecke der Folgebewertung und deren Prüfung einer besonderen Dokumentation im Hinblick auf die Zuordnung der Synergien auf OG und UG.
3.388
Bei der erstmaligen Erfassung von Synergien findet eine Erstprüfung der aktivierten An- 3.389 schaffungskosten zum Ende des Geschäftsjahres statt, in dem eine Akquisition erfolgt ist. Hierbei ist zu beachten, dass in dem seitens des Erwerbers bezahlten Kaufpreises ggf. zulässigerweise alle Arten von unechten und echten Synergieeffekten (inkl. Steuervorteile), unabhängig davon einbezogen wurden, an welcher Stelle im Konzern diese anfallen. Für den ersten Werthaltigkeitstest sind demgegenüber jedoch lediglich die Synergien berücksichtigungsfähig, die bei und unterhalb der die Beteiligung erwerbenden bzw. haltenden Gesellschaft anfallen. Sollten im Kaufpreis Bestandteile enthalten sein, die außerhalb des Bewertungs- bzw. Synergiekreises anfallen, ist die in IDW RS HFA 10, Tz. 7 vorgesehene Bilanzierung vorzunehmen. Dabei wird unterschieden, ob es sich um einen faktischen Konzern, einen Vertragskonzern oder eine quasi konzernlose Struktur handelt. Hinsichtlich der Erfassung der Synergieeffekte ist in IDW RS HFA 10 vorgesehen, dass in die Bewertung des Tochterunternehmens auch Synergien einfließen dürfen, die bei der die Beteiligung haltenden Gesellschaft anfallen. Entspre-
291 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Tz. 50 f. 292 Zur Systematisierung und Qualifizierung von Synergieeffekten vgl. Ossadnik, W., S. 6 bis 14 (m.w.N.), sowie Lechner/Meyer, S. 367 bis 372.
Keim/Jeromin
201
Kap. 3 Rz. 3.390
Bewertung
chende Informationen werden im Rahmen einer Akquisition im überwiegenden Falle nur im Schätzwege vorliegen.
3.390 Für Zwecke der Folgebewertung (Impairment Test) für die Abschlussstichtage nach dem Akquisitionszeitpunkt ist dafür Sorge zu tragen, dass von den gesamten ursprünglich erwarteten Synergiepotentialen die seit Beteiligungserwerb zwischenzeitlich realisierten Synergien getrennt werden. Im Gegenzug sind ggf. seit Beteiligungserwerb neu entstandene Synergien zusätzlich wertbeeinflussend zu berücksichtigen. Hinsichtlich bei der OG oder einer Schwestergesellschaft der UG anfallenden Synergien hat eine genaue Dokumentation zu erfolgen, um eine nicht zulässige Erfassung zu vermeiden. Aus diesem Grund wird vorgeschlagen, dass die außerhalb der zu bewertenden Beteiligung anfallenden und für Bewertungszwecke der zu bewertenden Beteiligung zugeordnete Synergieeffekte gesondert, d.h. in einer zweiten Stufe erfasst und bewertet werden. Die Folgebewertung ist willkürfrei nach gleichen methodischen Grundsätzen und Prämissen vorzunehmen, es sei denn, es treten Änderungen hinsichtlich der anzuwendenden Methoden oder Merkmale ein.
3.391 Insbesondere im Hinblick auf die Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes ist eine möglichst hohe methodische Stetigkeit zu bewahren (z.B. grundsätzlich vergleichbare Alternativindizes bei der Ableitung des Beta-Faktors, vergleichbare Peer Group, vergleichbare Vorgehensweise bei der Ermittlung des Basiszinssatzes). Die konkrete Höhe der anzusetzenden Kapitalmarktrenditen, der Beta-Faktoren und der Wachstumsabschläge ist jedoch jährlich neu zu überprüfen.
3.392 Eine Beteiligungsbewertung nach dem Standard IDW RS HFA 10 erfordert eine Differenzierung, ob das Beteiligungsunternehmen unter Going concern- oder Veräußerungsgesichtspunkten zu bewerten ist. Erfolgt eine Unternehmens- oder Beteiligungsbewertung unter der Going concern-Prämisse, ist bei der Wertableitung die Sichtweise der die Beteiligung bilanzierenden Gesellschaft anzunehmen. Wegen des Gläubigerschutzgrundsatzes erweisen sich für die Wertableitung nur solche Faktoren (z.B. Verlustvorträge, Synergien- und sonstige subjektive Einflüsse) als werthaltig, welche ausschließlich von der bilanzierenden Gesellschaft bzw. der zu bewertenden Beteiligungsgesellschaft oder deren Tochtergesellschaften realisierbar sind. Dahinter steht die Vermutung, dass im Bedarfsfalle ein möglicher Gläubiger nur auf jene Vermögenswerte Zugriffsmöglichkeiten besitzt. Daher bleiben bei der Wertermittlung jene Synergieeffekte unberücksichtigt, die voraussichtlich nur bei Mutter- oder Schwestergesellschaften anfallen.
3.393 Den Werteinfluss von Verlustvorträgen und sonstigen Steuervorteilen betreffend gelten dieselben Maßstäbe wie bei der Berücksichtigung von Synergieeffekten. D.h. nur den von der bilanzierenden Gesellschaft oder ihrer Töchter bzw. Beteiligungen selbst realisierbaren Steuervorteilen wird im Rahmen der IDW RS HFA 10-Bewertung ein positiver Wertbeitrag zugewiesen. Hinsichtlich der Einbeziehung von Ertragsteuern ist ebenso nur die Perspektive des die Beteiligung haltenden Bewertungsobjekts interessant. Die Unternehmenswerte werden durch Kapitalisierung der aus der Beteiligung resultierenden Nettozuflüsse an die bilanzierende Gesellschaft ermittelt. Daher finden nur die von der Beteiligungsgesellschaft zu tragenden Unternehmensteuern (Gewerbesteuer und Körperschaftsteuer) Berücksichtigung. Die Ertragsteuerbelastung der Anteilseigner bleibt ebenso wie diejenige des bilanzierenden Unternehmens für die Wertermittlung unberücksichtigt.
3.394 Ist hingegen eine Veräußerung der Beteiligung von der bilanzierenden Unternehmung geplant, dann muss im Rahmen einer IDW HFA RS 10-Bewertung die Beteiligungsbewer202
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.398 Kap. 3
tung unter Veräußerungsgesichtspunkten erfolgen. Dieses erfordert eine Wertbestimmung aus Sicht eines potentiellen Erwerbers der Beteiligung. Dafür ist eine Stand-alone-Bewertung unter Anwendung der Grundsätze zur Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes Voraussetzung. Hinsichtlich der Synergien sind nur jene berücksichtigungsfähig, die sich unabhängig vom Bewertungsanlass oder mit nahezu beliebigen Partnern erzielen lassen. Bei bereits eingeleiteten Maßnahmen ist die Wurzeltheorie zu beachten. Darüber hinaus sind für die Wertermittlung nur typisierte Managementfaktoren zugrunde zu legen. Da bei dieser Bewertung die Sichtweise eines potentiellen Erwerbers eingenommen wird, bemisst sich der Wert der Beteiligung nach ihrem Nutzen für den potentiellen Käufer. Infolgedessen sind bei der Wertermittlung diejenigen Nettoeinkünfte zu kapitalisieren, welche der Erwerber aus der Beteiligung erzielen kann. Insofern sind grundsätzlich dessen persönliche Ertragsteuern relevant. Daher sind für die Bewertung die Grundsätze zur Ermittlung objektivierter Unternehmenswerte und typisierter persönlicher Ertragsteuern zu berücksichtigen. Bei der Ermittlung des Kapitalisierungszinssatzes kommt eine Berücksichtigung vom Inves- 3.395 tor individuell und rein subjektiv bestimmter Renditeerwartungen nicht in Betracht. Hingegen können am relevanten Kapitalmarkt gemessene Renditen vergleichbarer Investitionen berücksichtigt werden.
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes I. Überblick An die Planung der nachhaltig erzielbaren Überschüsse schließt sich die Berechnung des Unternehmenswertes an. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ertragswertmethode und das Discounted Cash-Flow-Verfahren auf dem gleichen investitionstheoretischen Fundament basieren. Der Wert der Unternehmung wird nach beiden Verfahren durch Diskontierung der künftigen Zahlungsüberschüsse bestimmt. Für die Wertermittlung nach einem kapitalwertbasierten Verfahren bemisst sich der Kapitalisierungszinssatz nach der Höhe der Rendite einer zur zum bewertenden Unternehmen äquivalenten Alternativanlage.293
3.396
Das Äquivalenzprinzip294 fordert eine Vergleichbarkeit zwischen dem Bewertungsobjekt und dessen durch den Kapitalisierungszinssatz repräsentierten Alternativinvestition im Hinblick auf die Kriterien Währung und Kaufkraft, Laufzeit, Besteuerung und Risiko.
3.397
Eine Äquivalenz in den Punkten Währung und Kaufkraft erfordert, dass Zahlungen aus der Alternativinvestition und dem zu bewertenden Unternehmen in derselben Währung geleistet werden.295 Weiterhin sind Aspekte bzgl. der Kaufkraftäquivalenz der für die Bewertung herangezogenen Investitionsalternativen konsistent zueinander zu berücksichtigen. Basieren die der Bewertung zugrunde liegenden Ertragserwartungen auf nominalen Größen, ist der Kapitalisierungszinssatz ebenfalls anhand nominaler Zinsgrößen zu bestimmen.296 Sofern die erwar-
3.398
293 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 4. 294 Die Beachtung des Äquivalenzprizips ist eine essenzielle Bedingung für die fachgerechte Bestimmung eines Unternehmenswertes. Das Äquivalenzprinzip sorgt für Konsistenz zwischen Zählergrößen (Erträge) und Nennergrößen (Kapitalisierungszinssätze) der Barwertgleichung. Vgl. zu Äquivalenzgrundsätzen Moxter, S. 155 ff. 295 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 94. 296 D.h. es erfolgt keine Bereinigung um Inflation.
Keim/Jeromin
203
Kap. 3 Rz. 3.399
Bewertung
teten Erträge im Zähler des Kapitalwerts als sog. Realgrößen geplant wurden, sind andererseits bei der Kapitalisierung zukünftiger Erträge entsprechend reale Zinssätze zu verwenden.297
3.399 Die Forderung nach Laufzeitäquivalenz bedeutet, dass zukünftige Erträge grundsätzlich periodengerecht bewertet werden, d.h. mit fristenäquivalenten Kapitalisierungszinssätzen abzuzinsen sind. Die technische Umsetzung dieser Forderung stellt den Unternehmensbewerter insoweit vor eine Herausforderung, da Unternehmensbewertungen regelmäßig auf der Grundlage einer fiktiv unendlich laufenden Rente basieren, dagegen aber an den Kapitalmärkten lediglich Zinsinformationen für endliche Zeiträume beobachtet werden können.298 Hier müsste folgerichtig für sämtliche zukünftige Perioden ein periodenspezifischer Kapitalisierungszinssatz ermittelt werden. Dies ist faktisch unmöglich, da z.B. in Deutschland im besten Fall Zinsinformationen für Laufzeiten bis zu etwa 30 Jahren vorliegen.299 Die Praxis behilft sich mit der Verwendung entsprechender, von der betriebswirtschaftlichen Literatur, der Rechtsprechung und Bewertungspraxis anerkannter Schätzmethoden.
3.400 Äquivalenz ist ebenfalls im Hinblick auf die Besteuerung der aus dem Bewertungsobjekt sowie der Alternativanlage erwarteten Zahlungen geboten. Die Wahrung der Steueräquivalenz stellt sicher, dass Unternehmenswertermittlungen nicht von Faktoren unzulässiger Weise verzerrt werden, die auf außerunternehmerischen Gestaltungsüberlegungen beruhen. Es gilt der Grundsatz, dass sowohl bei der Alternativanlage als auch beim zu bewertenden Unternehmen jeweils vergleichbare Kostenbestandteile (also Unternehmen- und gegebenenfalls persönliche Einkommensteuern) in die Wertüberlegungen einfließen.
3.401 Da künftige Überschüsse in der Realität sowohl beim Bewertungsobjekt als auch bei der Alternativanlage selten mit Sicherheit vorherzusagen sind, ist bei Wertüberlegungen eine adäquate Berücksichtigung von Unsicherheit unumgänglich. Es gilt der Grundsatz der Risikoäquivalenz, d.h. ein Unternehmen wird mit einer Alternativanlage verglichen, welche hinsichtlich des unternehmerischen Risikos grundsätzlich mit dem Bewertungsobjekt vergleichbar ist.
3.402 Die Berechnung des Barwerts bestimmt den Wert eines Unternehmens mittels Kapitalisierung der erwarteten finanziellen Überschüsse anhand der am Kapitalmarkt beobachtbaren Renditen risikoäquivalenter Zahlungsströme. Sichere Zahlungserwartungen können bspw. durch den entsprechenden Kauf von quasi-sicheren Staatsanleihen nachgebildet werden, deren Marktpreise sich in den periodenspezifisch sicheren (Kassa-) Zinssätzen widerspiegeln. Die aus einem Unternehmen erwarteten zukünftigen Rückflüsse sind aus Gegenwartssicht jedoch ungewiss. Deren tatsächliche zukünftige Realisation ist folglich mit Risiken behaftet. Der Unsicherheit über die Höhe der finanziellen Überschüsse trägt ein risikoscheuer Investor dadurch Rechnung, dass er einen Wertabschlag im Vergleich zum Fall der Bewertung quasi-sicherer Anleihen vornimmt.
3.403 Im Rahmen des Barwertkalküls kann ein die Unsicherheit der erwarteten Zahlungen widerspiegelnder Wertabschlag auf zwei Arten rechnerisch im Bewertungskalkül berücksichtigt 297 Die Bewertungspraxis sieht dieses Kriterium weitgehend als unproblematisch an. Die weit überwiegende Zahl der Bewertungen verfolgt das sog. Nominalprinzip, während nur in den USA Bewertungen auf Basis realer Größen üblich sind. 298 Da fast jede Unternehmensbewertung von einer unendlichen Laufzeit ausgeht, dürfte der vorstehend beschriebene Sachverhalt daher auf mehr als 95 % aller Unternehmensbewertungen zutreffen. 299 Diese Laufzeitengrenze ergibt sich aus der Laufzeit der von der Bundesrepublik Deutschland emittierten Staatsanleihen mit den längsten Laufzeiten.
204
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.406 Kap. 3
werden. Neben einem Abschlag bei den Zahlungsüberschüssen des Investitionsobjekts im Zähler der Barwertformel (Sicherheitsäquivalenzmethode), kann der Kapitalisierungszinssatz im Nenner der Bestimmungsgleichung wertäquivalent um einen Risikozuschlag erhöht werden (Risikozuschlagsmethode). Die nachfolgende Abbildung (Abb. 24) systematisiert die verschiedenen Methoden zur Berücksichtigung der Unsicherheit bei der Bewertung finanzieller Überschüsse.
3.404
Berücksichtigung der Unsicherheit
Sicherheitsäquivalentmethode
Risikozuschlagsmethode
Zinszuschlagsmethode
Subjektive Bestimmung des Risikozuschlags
Gesamtzinsmethode
Kapitalmarktbasierte Bestimmung des Risikozuschlags
Abb. 24: Übersicht der Methoden zur Berücksichtigung der Unsicherheit
Während im Rahmen der Sicherheitsäquivalentmethode der Unsicherheit über einen Ab- 3.405 schlag vom Erwartungswert der prognostizierten Überschüsse und Abzinsung der resultierenden Größen mit dem risikolosen Zinssatz Rechnung getragen wird300, berücksichtigt die Risikozuschlagsmethode das Risiko durch einen Zuschlag im Kapitalisierungszinssatz. Der Kapitalisierungszins setzt sich dementsprechend bei der Risikozuschlagsmethode aus einem risikolosen Zinssatz, dem Basiszins, und einem unternehmensspezifischen Risikozuschlag zusammen.301 Der Vorteil der Risikozuschlagsmethode liegt darin, dass der unternehmensspezifische Risikoaufschlag grundsätzlich objektiviert über Kapitalmarktbeobachtungen abgeleitet werden kann. Bei der praktischen Anwendung der Risikozuschlagsmethode lassen sich die Zinszuschlagsmethode und die Gesamtzinsmethode unterscheiden. Die Zinszuschlagsmethode schätzt den Kapitalisierungszinssatz auf Basis eines risikofreien Zinssatzes (Basiszins) und erhöht diesen Zinssatz additiv um Zuschläge als Ausgleich für ein gegenüber dem risikofreien Invest300 Vgl. Ballwieser, DB 1997, 2393 ff. 301 Beide Methoden führen unter bestimmten Prämissen zum selben Barwert. Vgl. Sieben, 1998, S. 326.
Keim/Jeromin
205
3.406
Kap. 3 Rz. 3.407
Bewertung
ment bestehendes erhöhtes Risiko. Die Konzeption der Gesamtzinsmethode geht hingegen von einer für die gesamte Volkswirtschaft repräsentativ ermittelten Portfolio-Renditeforderung aus und berücksichtigt das unternehmensspezifische Risiko mittels weiterer Risikozuoder Risikoabschläge auf die bzw. von der Portfoliorendite. Grundsätzlich führen die nach der Zinszuschlagsmethode und der Gesamtzinsmethode ermittelten Kapitalisierungszinssätze zum gleichen Kapitalisierungszinssatz.
3.407 Formal lässt sich der Kapitalisierungszinssatz unter den beiden Methoden wie folgt ableiten302:
+ -
Zinszuschlagsmethode Basiszinssatz Ertragsteuersatz gegebenenfalls Risikozuschlag gegebenenfalls Wachstumsabschlag Kapitalisierungszinssatz
-/+ -
Gesamtzinsmethode Portfoliorendite Ertragsteuersatz gegebenenfalls Risikozu-/abschlag gegebenenfalls Wachstumsabschlag Kapitalisierungszinssatz
Abb. 25: Kapitalisierungszinssatz nach der Zinszuschlags- und der Gesamtzinsmethode
1. Der Kapitalisierungszinssatz nach der Gesamtzinsmethode
3.408 Die Gesamtzinsmethode wird in der Praxis vornehmlich bei Unternehmens- und Anteilsbewertungen angewendet, welche dem Standard IDW S 1 bei mittelbarer Typisierung oder dem IDW RS HFA 10 folgen.303 Dieses hat Konsequenzen hinsichtlich der Behandlung von Ertragsteuern. Die Bewertungen unter Verwendung der mittelbaren Typisierung nach IDW S 1 oder nach dem RS HFA 10 erfolgen aus Sicht eines Unternehmens.
3.409 Nach der Gesamtzinsmethode bildet eine Markt- bzw. Portfoliorendite den Ausgangspunkt für die Ableitung des Kapitalisierungszinssatzes. Das Gebot der Willkürfreiheit verlangt, dass 302 Um eine steuerliche Äquivalenz zwischen der Ertragsteuerbelastung des zu bewertenden Unternehmens und der Alternativanlage herzustellen, sind gegebenenfalls Ertragsteuern des Investors zu berücksichtigen. Je nachdem, ob eine Bewertung aus Sicht eines Privatinvestors (Nachsteuerrechnung nach dem IDW S 1 unter Anwendung der unmittelbare Typisierung) oder aus Sicht eines Unternehmens (Vorsteuerrechnung unter Anwendung der mittelbaren Typisierung nach IDW S 1 oder Vorsteuerrechnung nach dem IDW HFA RS 10) durchgeführt wird, sind die Art der zu berücksichtigenden Steuern und auch der Steuersatz dementsprechend anzupassen. Allerdings spielt die Berücksichtigung von Ertragsteuern in der Regel nur in der deutschen Bewertungspraxis eine eigenständige Rolle. Vgl. zur Berücksichtigung der Besteuerung im Ertragswert und Kapitalisierungszins und zur Berücksichtigung persönlicher Ertragsteuern beim DCF-Verfahren auch Auge-Dickhut/Moser/Widmann, FB 2000, 366 ff. 303 Die genannten unterschiedlichen Sichtweisen sind insofern relevant, als der zur Herstellung der steuerlichen Äquivalenz zwischen Bewertungsobjekt und Alternativanlage vorgenommene Steuerabzug vom Kapitalisierungszinssatz nach jeweils verschiedenen Methoden und unter Verwendung unterschiedlicher Steuersätze vorgenommen werden muss. Im Rahmen der Zinszuschlagsmethode wird auch ein Steuerabzug für die erwartete persönliche Einkommensteuer (derzeit für die pauschale Abgeltungsteuer) vorgenommen. Dieser wird nach den Bestimmungen des IDW S 1 i.d.F. 2008 vom Basiszinssatz in Abzug gebracht. Da die Marktrisikoprämie direkt als eine Größe nach Abzug typisierter persönlicher Einkommensteuer angesetzt wird, erübrigt sich bei ihr ein Steuerabzug. Bei der Gesamtzinsmethode repräsentiert der vorgenommene Steuerabzug lediglich die aus der Alternativanlage erwartete durchschnittliche Unternehmensteuerbelastung; persönliche Einkommensteuern bleiben hier unberücksichtigt.
206
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.413 Kap. 3
die Renditen der Alternativinvestitionen am relevanten Kapitalmarkt erhoben werden. Soweit es sich bei dem die Beteiligung haltenden Unternehmen um ein Unternehmen mit Sitz in der Bundesrepublik Deutschland handelt, ist es zulässig, auf am deutschen Kapitalmarkt gemessene Renditen zurückzugreifen. Für die Vergangenheit liegen zahlreiche Untersuchungen vor, die unterschiedliche Betrachtungszeiträume sowie unterschiedliche methodische Details aufweisen. Soweit eine zu bewertende Gesellschaft hinsichtlich Größe, Branche, Kapitalstruktur, Sitzland etc. von der in der zugrunde gelegten Alternativanlage berücksichtigten Risikostruktur abweicht, ist diese Alternativrendite anzupassen. Hinsichtlich der Bemessung des Kapitalisierungszinssatzes vor Steuern bietet die Gesamtzinsmethode ggü. der Zinszuschlagsmethode den Vorteil, dass zur Zinsermittlung weniger Einzelkomponenten herangezogen werden müssen. Da grundsätzlich mit der Ermittlung jeder einzelnen Komponente ein Ermessensspielraum verbunden ist, weist die Gesamtzinsmethode daher einen geringeren Interpretationsspielraum auf.
3.410
2. Der Kapitalisierungszinssatz nach der Zinszuschlagsmethode In der Praxis findet vorwiegend die Zinszuschlagsmethode nicht nur bei Bewertungen nach dem IDW S i.d.F. 2008 sondern bspw. bei Werthaltigkeitsprüfungen, sog. Impairmentests, Anwendung. Den Ausgangspunkt der Ermittlung des Kapitalisierungszinssatzes nach der Zinszuschlagsmethode bildet die Verzinsung eines risikofreien Wertpapiers, zu dem zusätzlich ein dem Risiko des zu bewertenden Unternehmens entsprechender Risikozuschlag hinzuzufügen ist. Der Kapitalisierungszinssatz wird formal aus den Komponenten Basiszinssatz und Risikozuschlag ermittelt.304
3.411
Empirisch lässt sich feststellen, dass Kapitalanlagen in Aktien durchschnittlich eine höhere 3.412 Verzinsung erzielen als Kapitalanlagen in risikofreien Anleihen.305 Die Risikounterschiede zwischen beiden Anlageformen liegen u.a. darin begründet, dass (risikofreie) Anleihen geringere Renditeschwankungen als riskantere Aktien aufweisen. Anleihegläubiger erhalten eine feste Zins- und Tilgungszahlung, während die Aktionäre eine schwankende, in ihrer Höhe nicht begrenzte, Rendite erhalten. Darüber hinaus weisen Anleihen im Vergleich zu Aktien generell ein geringeres Zinsausfall- und Tilgungsrisiko auf, da im Insolvenzfall Anleihegläubiger gegenüber den Aktienbesitzern bei der Verteilung der Vermögensmasse bevorrechtigt sind. Die Mehrverzinsung riskanterer Anlageformen gegenüber einer risikofreien Anlage wird als Risikoprämie bezeichnet. Die Höhe des Basiszinssatzes und der Marktrisikoprämie kann aus den historischen Daten innerhalb gewisser Grenzen verhältnismäßig verlässlich geschätzt werden. Damit lassen sich aus den empirisch beobachtbaren Kapitalmarktdaten die Bewertungsparameter für die Risikozuschlagsmethode veranschlagen. Für die Ermittlung des Basiszinssatzes wird der Zinssatz einer verzinslichen Anlagemöglichkeit gesucht, die hinsichtlich Zins- und Tilgungszahlungen weitestgehend risikolos ist. Es wird vereinfachend die Annahme getroffen, dass langfristige, festverzinsliche Anleihen der öffentlichen Hand keinem Ausfallrisiko unterliegen. Der Zinssatz dieser Anleihen spie304 Beide Methoden führen unter bestimmten Prämissen zum selben Barwert. Vgl. Sieben in Lanfermann, S. 326. 305 Die jährliche geometrische Durchschnittsrendite deutscher Aktien beläuft sich seit Bestehen der Bundesrepublik auf 10 bis 12 %. Der Zinssatz der risikolosen (Staats-)Anleihen betrachtet über Beobachtungszeiträume von 20 bis 50 Jahren betrug in der Vergangenheit bis Anfang des Jahrtausends etwa 6,0 bis 7,2 %. Aktuell liegt der Basiszinssatz bei etwa 1,25 %.
Keim/Jeromin
207
3.413
Kap. 3 Rz. 3.414
Bewertung
gelt den Zinssatz einer risikofreien Anlagemöglichkeit wider. Die Bewertungspraxis geht derzeit nahezu ausschließlich von der aus der Sicht der zum Bewertungsstichtag vorhandenen, langfristig zu erwartenden, durchschnittlichen Renditeerwartung aus. Basis für die Abschätzung des Basiszinssatzes bilden grundsätzlich die von der deutschen Bundesbank veröffentlichten Zinssätze, welche ihrerseits eine Zinsstrukturkurve der am Markt gehandelten Bundesanleihen abbilden.306
3.414 Praktische Probleme bei der Bemessung des Kapitalisierungszinsfußes307 liegen in der Bestimmung der Risikozuschläge. In der Praxis wird die geforderte Mindestverzinsung durch die Eigenkapitalgeber teilweise in Form einer Hurdle Rate (Cut-off-Rate) vorgegeben. Diese Vorgehensweise wird insbesondere für Tochterunternehmen innerhalb eines Konzerns gewählt.
3.415 Zur Ermittlung des Risikozuschlags kommen zwei grundsätzliche Vorgehensweisen in Betracht. Dies ist zum einen die Bestimmung des vom Bewertungsobjekt abhängigen Risikozuschlags anhand subjektiver Kriterien. Zum anderen kann der Bewerter Risikozuschläge über kapitalmarktbasierte und damit anhand intersubjektiv nachvollziehbarer Informationen, bspw. unter Verwendung des Capital Asset Pricing Models (CAPM), bestimmen. Die Risikozuschläge werden dabei aus an den Kapitalmärkten308 beobachtbaren Sachverhalten (z.B. Wertpapierrenditen, Zinssätze etc.) abgeleitet.309 3. Risikozuschläge anhand subjektiver Kriterien
3.416 Bei der Ermittlung von Risikozuschlägen anhand subjektiver Kriterien wird explizit das Entscheidungsumfeld des Unternehmenskäufers berücksichtigt. Der Entscheider wählt einen Kapitalisierungszinssatz, der seine individuelle Risikoneigung zum Ausdruck bringt. Mit zunehmender Risikoaversion steigt bei unveränderter Wahrscheinlichkeitsverteilung der Erträge der Risikozuschlag. Ceteris paribus resultiert eine zunehmende Risikoaversion damit in einem geringeren Unternehmenswert. Analog gilt, dass risikoaverse Investoren bei gegebenem Erwartungswert der Investition einen umso höheren Risikozuschlag fordern, je höher die Streuung der erwarteten Erträge ist.310 Die Differenz zwischen dem ohne Berücksichtigung von Risikozuschlägen berechneten Unternehmenswert und dem ermittelten subjektiven Unternehmenswert kann als Marktpreis für die Übernahme des subjektiv eingeschätzten Risikos interpretiert werden.
306 Bei Gerichtsentscheiden wurde in der Vergangenheit häufig die Umlaufrendite der öffentlichen Hand, der gewogene Durchschnitt der Renditen von Pfandbriefen, Kommunalobligationen und Anleihen des Bundes oder der Länder, verwendet. Mittlerweile sind die Gerichte einheitlich dazu übergegangen, den Basiszinssatz anhand der von der deutschen Bundesbank veröffentlichten Svensson-Zinsstrukturkurven zu bestimmen. 307 Bei der Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes bilden die Renditen von Anleihen der öffentlichen Hand den Ausgangspunkt für die Ableitung des Basiszinssatzes. 308 Zu den besonderen Aspekten der Ermittlung von Risikoprämien, wenn der Kapitalmarkt des erwerbenden Unternehmens nicht mit dem Kapitalmarkt des zu bewertenden Unternehmens übereinstimmt, vgl. Peemöller/Kunowski/Hillers, WPg. 1999, S. 621 ff. 309 Vgl. allgemein Mandl/Rabel, S. 37 bzw. zum CAPM vgl. Copeland/Koller/Murrin, S. 214 ff. 310 Schwanken die prognostizierten, gleichwahrscheinlichen Unternehmenserträge einer Periode zwischen 1.000 Euro bis 2.000 Euro und diejenigen einer anderen Periode zwischen -1.000 Euro bis 4.000 Euro, so beträgt der Erwartungswert beider Zahlungsreihen 1.500 Euro. Ein risikoaverser Entscheider wird aber im zweiten Fall eine höhere Risikoprämie fordern.
208
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E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.421 Kap. 3
In der Praxis ist die Ermittlung eines Risikozuschlags anhand subjektiver Kriterien (Risikopräferenzen und Nutzenfunktionen) mit erheblichen Bewertungsspielräumen und somit mit hohen Schätzunsicherheiten verbunden. Bspw. sieht sich der Bewerter in der Regel mit dem Problem konfrontiert, dass zur Ermittlung eines Unternehmenswerts stets eine Bandbreite an gut begründbaren Risikozuschlägen verbleibt. Die Risikozuschlagsmethode auf Basis subjektiver Risikozuschläge wird darum in der betriebswirtschaftlichen Literatur im Hinblick auf die Nachprüfbarkeit und Begründbarkeit der Zuschläge kritisiert.311
3.417
Aufgrund dieser Kritik kommt der Bemessung des Risikozuschlags anhand subjektiver Kriterien in der Praxis eine, im Vergleich zur Ermittlung von Risikozuschlägen anhand von kapitalmarkttheoretischen Modellen, nur untergeordnete Bedeutung zu. Faktisch besteht in der Mehrzahl von Unternehmensbewertungen eine eindeutige Tendenz zur Verwendung objektivierter Kriterien bei der Bemessung von Risikozuschlägen.
3.418
4. Risikozuschläge anhand kapitalmarktbasierter (objektiver) Kriterien In Reaktion auf die konzeptionellen Schwächen subjektiver Methoden bei der Bestimmung von Risikozuschlägen setzt sich in der Bewertungstheorie und in der Bewertungspraxis zunehmend die Ansicht durch, dass Risikozuschläge am ehesten anhand objektiver Kriterien zu ermitteln sind. Dabei finden kapitalmarkttheoretische Modelle Anwendung. Diese verwenden objektiv an den Kapitalmärkten beobachtbare Sachverhalte (z.B. Risikozuschläge, Zinssätze etc.).312
3.419
Hierbei werden die Risikozuschläge aus den Renditen von am Kapitalmarkt gehandelten 3.420 Wertpapieren abgeleitet.313 Die Berechnung der geforderten Eigenkapitalrendite kann beispielsweise mithilfe des CAPM erfolgen.314 Die erwartete Rendite eines Wertpapiers wird dabei aus dem Zinssatz für sichere Anlagen und einer Risikoprämie berechnet. Die Höhe der Risikoprämie wird mithilfe der erwarteten Rendite eines Marktportfolios bestimmt. Ein Marktportfolio umfasst alle am Markt gehandelten Finanztitel, d.h. quasi-sichere und riskante Wertpapiere.315 Nach dem CAPM ist für den Risikozuschlag nicht das Risiko der Einzelanlage entscheidend. Vielmehr kommt es auf die Korrelation zwischen der Renditeschwankung des Einzeltitels und der Veränderung der Marktrendite (dem systematischen Risiko in Form des Betafaktors) an. Der Zusammenhang zwischen der erwarteten Rendite eines Wertpapiers und seinem Risiko stellt sich rechnerisch wie folgt dar:316
311 Vgl. Mandl/Rabel, S. 234 und Sieben in Wittmann/Kern/Köhler, S. 4326. Mittlerweile existieren interessante Vorschläge, wie logische Untergrenzen für Risikozuschläge ohne die Kenntnis von Risikonutzenfunktionen eines Investors geschätzt werden können. Vgl. dazu Widmann/Schieszl/ Jeromin, FB 2003, 806–808. Ebenfalls Drukarczyk, Unternehmensbewertung, 1996, S. 238 ff. 312 Vgl. Mandl/Rabel, S. 37. 313 Zu den besonderen Aspekten der Ermittlung von Risikoprämien, wenn der Kapitalmarkt des erwerbenden Unternehmens nicht mit dem Kapitalmarkt des zu bewertenden Unternehmens übereinstimmt, vgl. Peemöller/Kunowski/Hillers, WPg. 1999, 621 ff. 314 Vgl. zur alternativ anwendbaren Arbitrage Pricing Theory Copeland/Weston und Steiner/Bruns. 315 Vgl. Uhlir/Steiner, S. 188. 316 Vgl. Steiner/Bruns, S. 26.
Keim/Jeromin
209
3.421
Kap. 3 Rz. 3.422
Bewertung
E(ri) = rf + βi [E(rm) − rf ]
mit: E(ri) rf E(rm) bi
= = = =
Erwartete Rendite des Wertpapiers i, Rendite der risikolosen Anlagemöglichkeit, Erwartete Rendite des Marktportfolios, Maß für das systematische Risiko des Wertpapiers i.
3.422 Der erste Term der Formel stellt die Rendite der risikolosen Anlagemöglichkeit und damit den risikofreien Zinssatz dar. Die Risikoprämie, welche Investoren aufgrund der unsicheren erwarteten Zahlungen für ein spezifisches, nicht risikoloses Wertpapier verlangen, wird durch den zweiten Term dargestellt. Der Risikozuschlag eines bestimmten Wertpapiers wird demnach durch zwei Faktoren beeinflusst: Marktrisikoprämie (E(rm) – rf ) und Betafaktor (bi). Die Marktrisikoprämie ist die Differenz zwischen der erwarteten Marktrendite (E(rm)) und dem Zinssatz für sichere Anlagen (r). Sie ist somit als Marktüberrendite eines marktüblich finanzierten durchschnittlichen Marktportfolios gegenüber dem risikolosen Wertpapier zu interpretieren. Diese Prämie wird dem Anleger vergütet, wenn er sein Kapital, anstatt in die sichere Anlage in das aus riskanten Wertpapieren bestehende Marktportfolio investiert.317 Die Marktrisikoprämie wird in der Bewertungspraxis als vom Kapitalmarkt gegeben und langfristig konstant angenommen. Deshalb wird die Renditeerwartung des Anlegers alleine vom Betafaktor des jeweiligen Wertpapiers bestimmt.
3.423 Bei der praktischen Anwendung des CAPM zeigt sich, dass die Ermittlung der einzelnen Komponenten der CAPM-Rendite-Gleichung nicht trivial ist (die Ableitung der einzelnen Größen erfolgt im Anschluss gesondert. Jede einzelne Komponente muss sorgfältig bestimmt werden. Sie können nicht unabhängig voneinander ermittelt werden, sondern es müssen die vielfältig zwischen ihnen bestehenden Interdependenzen beachtet werden. Außerdem sind bei der abschließenden Beurteilung der CAPM-basiert ermittelten Risikozuschläge die restriktiven Modellprämissen des CAPM zu beachten: – es existiert ein vollkommener Kapitalmarkt318, – alle Anleger sind risikoscheu, – alle Anleger haben homogene Erwartungen bezüglich der Wertpapierrenditen, – der Planungshorizont beträgt eine Periode, – es besteht die Möglichkeit, unbegrenzt Geld zum sicheren Zinssatz aufzunehmen bzw. anzulegen.
3.424 Diese Modellannahmen sind nicht übermäßig realitätsnah. Zugleich sind empirische Tests hinsichtlich der Gültigkeit des CAPM problematisch, da sich die Frage stellt, ob das Modell 317 Empirische Untersuchungen unterlegen, dass die Marktrisikoprämie überwiegend zwischen 4 % und 6 % liegt. Vgl. Widmann/Schieszl/Jeromin, FB 2003, 804–806; Ballwieser, WPg. 1998, 82; Copeland/Koller/Murrin, S. 279 und zu einem Überblick über verschiedene empirische Untersuchungen zur Bestimmung der Marktrisikoprämie Mandl/Rabel, S. 294. 318 Als Annahmen des vollkommenen Kapitalmarkts werden genannt: Es existieren keine Transaktionskosten und Steuern. Alle Wertpapiere sind beliebig teilbar und es herrscht ein vollständiger Wettbewerb. Alle Marktteilnehmer erhalten sämtliche Informationen gleichzeitig und kostenlos. Alle Anleger verhalten sich rational. Vgl. Steiner/Bruns, S. 2.
210
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.427 Kap. 3
aufgrund seiner Konstruktion überhaupt testbar ist.319 Entsprechende Tests, auch im Hinblick auf den deutschen Aktienmarkt, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Es kann weder von einer Unterstützung noch von einer Falsifizierung des Modells gesprochen werden.320
II. Ableitung der Komponenten des Kapitalisierungszinssatzes 1. Überblick Bei Unternehmensbewertungen wird der Kapitalisierungszinssatz häufig aus unabhängig voneinander ermittelten Teilkomponenten (Basiszinssatz, Risikoprämie, Betafaktor, Wachstumsabschlag und gegebenenfalls persönliche Einkommensteuern) bestimmt, ohne die zwischen jenen ökonomischen Größen bestehenden vielfältigen Zusammenhänge hinreichend zu würdigen. Ein so festgelegter Kapitalisierungszinssatz repräsentiert deswegen kaum eine adäquate Rendite einer Alternativinvestition, weshalb er für eine sachgerechte Wertermittlung ungeeignet ist. Eine sachgerechte Ableitung des Kapitalisierungszinssatzes kann nach dem CAPM von einer langfristig beobachtbaren Portfoliorendite ausgehen, von der aus anschließend die Bestandteile des Kapitalisierungszinssatzes abzuleiten und aufeinander abzustimmen sind.
3.425
Vor diesem Hintergrund wird nachfolgend dargestellt, wie Basiszinssätze, Portfoliorenditen und Marktrisikoprämien, Wachstumsabschläge sowie die Berücksichtigung der Besteuerung im Kapitalisierungszins im Rahmen einer Unternehmensbewertung sachgerecht festzusetzen sind.321
3.426
2. Basiszinssatz a) Grundlagen In der Theorie der Unternehmensbewertung wird vorgeschlagen, dass die Kapitalisierung von zukünftig periodisch anfallenden finanziellen Überschüssen mit den jeweiligen laufzeitspezifischen (Kassa-)Zinssätzen zu erfolgen hat.322 In der Bewertungspraxis wird hingegen aus Vereinfachungsgründen ein einheitlicher, barwertäquivalent ermittelter Einheitszinssatz, der sog. Basiszins, zur Diskontierung aller in Zukunft erwarteten Zahlungen verwendet. Der Basiszins bildet die Verzinsung einer risikolosen, zum Bewertungsobjekt laufzeitäquivalenten Alternativanlage ab. Eine Investition ist risikolos, wenn sie keinerlei Ausfall-,323 Zins-
319 Einer der Hauptkritikpunkte an diesem Modell ist, dass i.d.R. nicht das Marktportfolio, sondern ein Index als Approximation des Marktportfolios verwendet wird. Dem ist entgegenzuhalten, dass die mittels des CAPM prognostizierten Eigenkapitalkosten eines Wertpapiers nicht so sensitiv auf die Wahl eines bestimmten Marktsegments zu reagieren scheinen. Demnach ist die Wahl eines bestimmten Indexes nicht entscheidend für die Risikoquantifizierung. Zu Weiterentwicklungen hinsichtlich der restriktiven Modellprämissen vgl. Steiner/Bruns, S. 28 f. 320 Einen Überblick über empirische Tests bieten Copeland/Weston, S. 212 ff. und Steiner/Bruns, S. 28 f. 321 Vgl. OLG Düsseldorf v. 31.1.2003 – 19 W AktE 9/00, AG 2003, 329. 322 Vgl. Drukarczyk, Unternehmensbewertung, S. 356 mit weiteren Nennungen in Fn. 296. 323 Risiko des Investors, wegen Zahlungsunfähigkeit des Kreditschuldners nicht sämtliche versprochenen Zahlungen zu erhalten. Vgl. Damodoran, S. 78–82; Brealy/Myers, S. 689–701; Betsch/ Groh/Lohmann, S. 29–35 oder Drukarczyk, Unternehmensbewertung, S. 23 ff.
Keim/Jeromin
211
3.427
Kap. 3 Rz. 3.428
Bewertung
änderungs- sowie Währungsrisiken aufweist. Der historische Verlauf des Basiszinsentwicklung (3-Monats-Durchschnitt und Basiszinssatz am Stichtag) wird nachfolgend dargestellt. 6,00 % 4,50 % 3,00 % 1,50 %
01
.0 4 01 .200 .1 0 7 01 .200 .0 4 7 01 .200 .1 0. 8 01 200 8 .0 4 01 .200 .1 0 9 01 .20 .0 09 4 01 .201 .1 0 0 01 .201 .0 4 0 01 .201 .1 0 1 01 .201 .0 4 1 01 .201 .1 0. 2 01 201 2 .0 4 01 .201 .1 0 3 01 .201 .0 4 3 01 .201 .1 0 4 01 .201 .0 4. 4 01 201 5 .1 0 01 .201 .0 4 5 01 .201 .1 0 6 01 .20 .0 16 4 01 .20 .1 17 0. 20 17
0,00 %
Basiszins 3-Monats-Durchschnitt Basiszins am Stichtag
Abb. 26: Historischer Verlauf des Basiszinssatzes (3 Monatsdurchschnitt und Stichtag), Stand Februar 2018.
3.428 Da im Regelfall eine Unternehmensbewertung eine unendliche Lebensdauer des Bewertungsobjekts324 unterstellt, muss der Basiszinssatz ebenfalls die Rendite einer risikolosen Alternativanlage für die Planjahre 1 bis unendlich abbilden. In der Praxis gibt es keine unendlich325 laufenden Anleihen. Insofern kann der Basiszinssatz nicht direkt am Markt beobachtet werden. Er muss verlässlich geschätzt werden.326 b) Ermittlung des Basiszinssatzes nach der Svensson-Methodik
3.429 Seit dem IDW ES 1 i.d.F. 2005 wird vom IDW empfohlen, als Ausgangspunkt für die Ermittlung des risikofreien Zinssatzes Svensson-Zinsstrukturdaten der Bundesbank zu verwenden. Die auf die Svensson-Formel und eine barwertäquivalente Umformung zurückgreifende Methodik soll die Verzinsung einer risikolosen, zum Bewertungsobjekt laufzeitäquivalenten Alternativanlage abbilden.
3.430 Die Svensson-Methodik ist hinsichtlich der Abschätzung eines laufzeitenäquivalenten Basiszinssatzes grundsätzlich mit datentechnischen und sachlogischen Problemen konfrontiert. Insbesondere muss der Bewerter entscheiden, welche der zahlreichen am Kapitalmarkt verfügbaren Zinssätze (Zerobonds, Kuponanleihen, Zinsswap-Sätze, Forward-Rates etc.) er für die Unternehmensbewertung heranzieht und auf welche Weise er eine unendlich laufende quasi-risikolose Anleihe (die auch bei Verwendung von Svensson-Zinssätzen nicht beobachtbar ist) für die Basiszinsbestimmung simuliert.
3.431 Bei der Bestimmung von Basiszinssätzen unter Verwendung der Svensson-Methode werden als Ausgangsbasis für die Zinsermittlung sog. risikolose periodenspezifische Kassazinssätze (spot rates) verwendet. Es handelt sich hierbei um laufzeitenspezifische Effektivverzinsun324 Dieses spiegelt das in der Bewertungslehre gängige Going concern-Prinzip wider. Vgl. WPHdb. II/2014, Rz. A 19. 325 Ausnahmen sind britische Consols. Da diese kündbar sind, sind sie keine echten unendlich laufenden Anleihen. 326 Vgl. WPHdb. II/2014, S. 1100 f.
212
Keim/Jeromin
Rz. 3.435 Kap. 3
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
gen von Zerobonds.327 Zinsdaten sämtlicher am Markt gehandelter Laufzeiten werden von mehreren europäischen Zentralbanken, bspw. der Deutschen Bundesbank sowie der Europäischen Zentralbank in Form der sog. Svensson-Parameter (b0, b1, b2, b3, t1, t2) börsentäglich bereitgestellt. Die Parameter, anhand derer mit der Svensson-Formel eine stetige Zinskurve abgeleitet werden kann, werden mittels einer Interpolation aus den tatsächlich am Rentenmarkt beobachtbaren Marktzinsen gewonnen. Die Marktzinsen in Deutschland beruhen ihrerseits auf Kursnotierungen sämtlicher am Markt gehandelter Bundesanleihen, Bundesobligationen und Bundesschatzanweisungen mit Restlaufzeiten von mindesten drei Monaten. Die Ableitung der Svensson-Parameter erfolgt nach einem Optimierungsmodell. Dieses berechnet Werte, anhand derer sich mit einem speziellen mathematischen Modell eine sog. stetige Zinskurve ableiten lässt, welche ihrerseits die tatsächlich beobachtbaren Marktzinsen möglichst genau annähert. Bei Kenntnis der Svensson-Parameter können unter Verwendung der Svensson-Funktion für beliebige Laufzeiten Zerobondzinssätze bestimmt werden.
3.432
Die Svensson-Funktion weist folgendes mathematische Format auf:
3.433
−
T
−
T
−
T
T T τ τ τ z(T, ß) = ß0 + ß1 ∙ 1 − e + ß2 ∙ 1 − e − e τ + ß3 ∙ 1 − e − e τ T T T τ1 τ1 τ2 1
1
−
2
1
−
2
mit: z(T,b) b0 bis b3 t1 bis t2 T e
= = = = =
mit Svensson berechneter Zerobondzinssatz (kontinuierlich), Laufzeit T, für b, börsentäglich von der Bundesbank gelieferte Svensson-Parameter b0 bis b3, börsentäglich von der Bundesbank gelieferte Svensson-Parameter t1 bis t2, Laufzeit, für die der Zerobondzins z(T,b) errechnet werden soll, Eulersche Zahl.
Durch Vorgabe der Svensson-Parameter können unter Verwendung der Svensson-Funktion Zerobondzinssätze für beliebige Laufzeiten bestimmt werden. Die aus den aktuellen Schätzungen der Deutschen Bundesbank resultierende Zinsstrukturkurve zeigt Abb. 27, s. S. 214.
3.434
Prinzipiell könnten mit der Svensson-Funktion (theoretische) Zinssätze für jede gewünschte 3.435 Laufzeit zwischen einem Tag und T Jahren (im Extremfall bis unendlich) ermittelt werden. Problematisch ist aber, dass die Ermittlung der Svensson-Parameter selbst nur auf den aus Wertpapiernotierungen gewonnenen Kassazinssätzen mit einer Laufzeit von bis zu 29 Jahren aufbaut. Die Svensson-Zinskurve ist insofern eine hinreichend verlässliche Abschätzung für die tatsächlich vorherrschende Zinsstrukturkurve für die nächsten (ersten) dreißig Jahre. Die Prognose von Wiederanlagezinssätzen unter Verwendung der Svensson-Parameter für die ferne Zukunft (bspw. bis zum Jahr 1000) zeigt, dass die Extrapolation von Zinssätzen für weiter in der Zukunft liegende Zeiträume unzulässig ist, da die Svensson-Kurve selber
327 Die interne Verzinsung risikoloser Kuponanleihen ist dagegen zur Bestimmung des risikolosen Zinssatzes nicht geeignet. Dies liegt darin begründet, dass bei der Berechnung des internen Zinfußes von Kuponanleihen sämtliche anfallenden Zahlungen mit demselben Zinssatz abgezinst werden. Somit stimmen interner Zinsfuß einer Kuponanleihe und Zerobondzinssatz nur überein, wenn entweder lediglich eine Zahlung der Kuponanleihe aussteht oder die aus Zerobondzinssätzen abgeleiteten Renditen der betreffenden Perioden einen flachen Verlauf aufweisen.
Keim/Jeromin
213
Kap. 3 Rz. 3.436
Bewertung
keine statistisch valide Prognose von Zinssätzen für die fernere Zukunft liefert.328 Die Svensson-Methode eignet sich somit nicht dazu, Zinssätze für Anleihen mit einer Laufzeit über 30 Jahre hinaus zu prognostizieren.329
1,5 %
1,0 %
0,5 %
0,0 % 1
3
5
7
9
11
13
15
17
19
21
23
25
27
29
-0,5 %
-1,0 %
Abb. 27: Zinsstrukturkurve gemäß Svensson-Funktion; Stand Februar 2018.
3.436 Aus diesem Grund empfiehlt seit der zweiten Jahreshälfte 2008 der Fachausschuss für Unternehmensbewertung und Betriebswirtschaft (FAUB) des IDW nunmehr als pragmatischen Ansatz, das im 30. Jahr erreichte Zinsniveau für die darauffolgenden Jahre konstant fortzuschreiben.
3.437 Die Ableitung des Basiszinssatzes erfolgt als Ermittlung einer in allen Perioden einheitlich unterstellten Effektivverzinsung (in Form eines internen Zinsfußes). Rechnerisch wird zunächst der Barwert einer um den Wachstumsfaktor (w) stetig anwachsenden Zahlungsreihe bestimmt. Als Kapitalisierungszinssätze werden hierfür die anhand der Svensson-Formel approximierten Kassazinssätze der Periode 1 (1–30. Jahr) und danach der für die gesamte Zukunft fortgeschriebene Spotzinssatz des 30. Jahres verwendet. Dieser Barwert wird dem Barwert der entsprechenden Zahlungsreihe jedoch nun unter Abzinsung anhand eines konstanten und somit einheitlichen Zinssatzes gegenübergestellt. Als Ausgangsbedingung resultiert demnach: 328 So ergaben sich z.B. in bestimmten Situationen Basiszinssätze, die weit außerhalb der Bandbreite der am Markt beobachteten Werte lagen. Im Extremfall ergaben sich Basiszinssätze von teilweise 0,8 % und weniger bei einer Zinskurve, die von knapp unter 2 % im kurzfristigen bis zu nahe 4 % im langfristigen Bereich reichte. Dieses bestätigte eindrucksvoll die Auffassung der Bundesbank, wonach Svensson-Parametern keine Prognosequalität für das langfristige Zinsniveau zuzubilligen sind. 329 So auch die Bundesbank selber, die ihrerseits die Prognosequalität von Svensson-Zinsdaten für Laufzeiten aus zeitlichen Bereichen, für die bei der Ableitung der Svensson-Parameter keine Zinsinformationen vorliegen, verneint.
214
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.440 Kap. 3
∞ (1 + w)t (1 + w)t +∑ . t t = 1 (1 + b ) t = 31 (1 + b )t t 30
w) ∑ (1(1 ++ bz) =∑ ∞
t
t=1
t
30
mit: w bz bt b30 t
= = = = =
Wachstumsrate, Basiszinssatz, (diskreter) periodenspezifischer risikoloser Zinssatz (aus der Svensson-Funktion), 30-jähriger risikofreier Wiederanlagezinssatz (Spotzins des 30. Jahres), Zeit bzw. Jahr.
Nach Auflösen bzw. Vereinfachen der vorstehenden Gleichung ergibt sich der mittels Verwendung von Svensson-Daten ermittelte (für eine ewige Rente) anzusetzende Basiszinssatz bz: bz =
+ w) ∑ (1 + (1 + b ) t
30
t=1
t
t
1 1 + w 30 ∙ 1 + b30 b30 − w
−1
+w.
Für die Verwendung der vorangestellten, zeitdiskret definierten Bestimmungsgleichung für den Basiszins muss beachtet werden, dass die aus der Svensson-Formel gewonnenen Parameter grundsätzlich ebenfalls auf einer zeitdiskreten Schätzung basieren müssen.
3.438
Die von der Bundesbank auf ihrer Internet-Seite bereitgestellten Svensson-Parameter erfüllen diese Forderung.330 Es gilt daher im Fall der Verwendung von Bundesbank-Daten:
3.439
bt = z(T, ß) .
Im Gegensatz dazu stellt die Europäische Zentralbank (EZB) zeitkontinuierlich bestimmte Svensson-Parameter zum Download bereit.331 Eine Verwendung der EZB-Parameter bedarf einer Umrechnung der zeitkontinuierlichen in zeitdiskrete, periodenspezifische Zinssätze (bt), gemäß der folgenden Gleichung bt = ln(1 + z(T, ß)) .
In der täglichen Anwendung empfiehlt das IDW den Ansatz von periodenspezifischen Durchschnittsrenditen der Basiszinssätze über einen bestimmten Beobachtungszeitraum. Um die am Markt beobachteten kurzfristigen Schwankungen des Basiszinssatzes auszugleichen und der eingeschränkten Prognosequalität permanenter Zinsänderungen entgegenzutreten, empfiehlt das IDW den bei einer Unternehmensbewertung heranzuziehenden Basiszinssatz aus dem Mittelwert der mittels der Svensson-Parameter gewonnenen Zinssätze der letzten drei vollen Monate vor dem Bewertungsstichtag zu ermitteln und den auf diese Weise bestimmten Basiszinssatz auf den nächstliegenden 1/4-Prozentpunkt zu runden.332
330 Die Svensson-Parameter sind bei der Bundesbank unter folgender Internet-Adresse erhältlich: http://www.bundesbank.de/Navigation/DE/Statistiken/Zeitreihen_Datenbanken/Makrooekono mische_Zeitreihen/its_list_node.html?listId=www_s140_it04c. Tagesaktuelle Berechnungen zum Svensson-Basiszinssatz nach der vom IDW empfohlenen Methodik sind im Internet unter der http://www.basiszinskurve.de/basiszinssatz-gemaess-idw.html abrufbar. 331 Die von der Europäischen Zentralbank bereitgestellten Svensson-Parameter sind unter http:// www.ecb.int/stats/money/yc/html/index.en.html#data abrufbar. 332 Vgl. FN-IDW, Nr. 11/2008, S. 491 f.
Keim/Jeromin
215
3.440
Kap. 3 Rz. 3.441
Bewertung
3.441 Diese Methodik der Ermittlung des Basiszinssatzes wird durch die Finanzmarktkrise nicht infrage gestellt, zumal in der Bewertungspraxis üblicherweise lange Laufzeiten zugrunde gelegt werden.333 Allerdings können länderspezifische Risiken im konkreten Bewertungsfall relevant werden, da sich zwischenzeitlich relevante Renditeaufschläge zwischen einzelnen europäischen Staatsanleihen und deutschen Bundesanleihen ergeben haben. 3. Rendite des Marktportfolios und Marktrisikoprämie a) Empirisch gestützte Ableitung der Marktrisikoprämie
3.442 Im Rahmen der Risikozuschlagsmethode wird die Unsicherheit über die Höhe der zukünftigen finanziellen Überschüsse durch einen Zuschlag zum risikolosen Zinssatz bei der Bewertung von Unternehmen berücksichtigt. In der CAPM-Renditegleichung (wie auch bei der Nachsteuervariante, dem Tax-CAPM) umfasst der Kapitalisierungszins dementsprechend neben dem Basiszins die mit dem unternehmensspezifischen Betafaktor zu gewichtende Marktrisikoprämie. Die Marktrisikoprämie stellt gemäß der finanzwirtschaftlichen Theorie die langfristig erwartete jährliche Überrendite des Marktportfolios gegenüber der risikofreien Anlage dar. Formal dargestellt ergibt sich die Marktrisikoprämie (MRP) als: MRP = E(rm) − rf
mit: MRP Marktrisikoprämie = Rendite der risikolosen Anlagemöglichkeit, rf E(rm) = Erwartete Rendite des Marktportfolios,
3.443 Für eine Anwendung des CAPM (bzw. Tax-CAPM) ist hiermit zunächst eine Schätzung der zu erwartenden Rendite des Marktportfolios bzw. seiner Überrendite über den risikolosen Zins vonnöten. Der Theorie des CAPM folgend stellt das Marktportfolio das unter Berücksichtigung des risikolosen Zinssatzes risikooptimal zusammengesetzte Portfolio aller gehandelten riskanten Finanztitel, d.h. riskante Wertpapiere, Immobilien, Rohstoffe etc.334, dar. Das Marktportfolio repräsentiert die optimale riskante Alternativanlage, mit deren Hilfe durch zusätzlichen An- oder Verkauf von risikolosen Wertpapieren (d.h. in Form einer quasi-sicheren Geldanlage bzw. Kreditaufnahme) jeder Investor eine in Abhängigkeit seiner persönlichen Risikoneigung beliebig riskante Kapitalmarktanlage durchführen kann. Aus Praktikabilitätsgründen wird in der Regel unterstellt, dass das Marktportfolio ausschließlich aus (inländischen) Aktien besteht. In der Praxis wird regelmäßig auf einen möglichst breiten Aktienindex des Staates zurückgegriffen, in dem das zu bewertende Unternehmen seinen Sitz hat. Diese auf den ersten Blick vereinfachende Annahme dürfte in der Realität eine hinreichend genaue Annäherung an das Marktportfolio darstellen, da bereits ab einer Anzahl von 15 Aktien in einem Portfolio ein so großer Diversifikationseffekt erzielt wird, dass diese sog. naive Diversifikation durch Aufnahme weiterer Aktien nur noch unwesentlich verbessert wird.335 Gleichfalls ist das Abstellen auf einen reinen Aktienindex und demnach explizite Nichteinbeziehung von Rohstoffen und Immobilien ebenso unschädlich, da viele im Index enthaltene Großunternehmen ihrerseits Portfolioinvestitionen halten, welche wiederum 333 Vgl. Jonas, FB 2009, S. 542 f. 334 Vgl. Uhlir/Steiner, S. 188. 335 Vgl. zur naiven Diversifikation und perfekter Diversifikation durch intelligentes Anlageverhalten Kruschwitz, Finanzierung, S. 201 ff.
216
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.447 Kap. 3
Investments in alternative Anlageformen wie eben Rohstoffe umfassen, woraus ein mittelbarer Diversifikationseffekt resultiert. Nach der Wahl des zugrunde gelegten Marktportfolios stellt sich die Frage, ob die Marktrisikoprämie336 vergangenheits- oder zukunftsbezogen ermittelt werden soll. Werden erwartete Aktien(über)renditen auf Grundlage aktueller Prognosen bestimmt, spricht man von ex-ante Schätzungen. Die Renditeerwartungen der Marktteilnehmer können dabei mithilfe von Befragungen337 oder anhand von Schätzmodellen prognostiziert werden.338 Aktuelle Schätzkonzepte ermitteln die gesuchten ex-ante Eigenkapitalkosten bzw. Risikoprämien als implizite Größen auf Grundlage jederzeit beobachtbarer Analystenerwartungen und den aktuellen Aktienkursen.339 Ex-post-basierte Schätzungen ermitteln hingegen historisch beobachtete Überschussrenditen von Aktien gegenüber festverzinslichen Wertpapieren und setzten diese als Erwartungswert für die zukünftige Überschussrendite an.340
3.444
Schätzungen zu Portfoliorenditen und Risikoprämien des deutschen Kapitalmarkts basieren fast ausschließlich auf ex-post Analysen. Dementsprechend empfiehlt der Bewertungsstandard IDW S 1 für die Bemessung des Risikozuschlags als Ausgangspunkt auf die am Markt beobachtbaren Risikoprämien zurückzugreifen.341
3.445
Dabei gilt zu beachten, dass die Ergebnisse empirischer Studien zu historischen Überrenditen von Aktien gegenüber Anleihen von der jeweiligen Methodik der Untersuchungen abhängen. Unterschiede ergeben sich insbesondere hinsichtlich der folgenden Punkte:
3.446
Betrachtungszeitraum: Die ermittelten Marktrisikoprämien sind tendenziell höher, wenn längerfristige Haussephasen mit eingeschlossen sind, wie bspw. die 50er oder 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Vergleichsweise niedrigere Aktienrenditen und Risikoprämien lassen sich bspw. für den Zeitraum 1960 bis 1980 ableiten. Die Frage, welche historische Zeitperiode repräsentativ ist, wird kontrovers diskutiert.342 Hierbei sind zwei Überlegungen maßgeblich. Einerseits sollte der Zeitraum möglichst lang sein, um zufällige Schwankungen von Aktienkursen zu glätten und stabile Aussagen über langfristige Entwicklungen zu treffen. Andererseits kann die Aussagekraft weit zurückreichender Untersuchungen durch den Einfluss politischer und wirtschaftlicher Sonderfaktoren, wie Strukturbrüche infolge von Weltkriegen, Hyperinflation, Währungsreformen oder der Weltwirtschaftskrise, eingeschränkt sein.
3.447
336 Die Marktrisikoprämie stellt die Differenz zwischen der Aktienrendite und der Rendite risikofreier Anlagen dar und wird in der Literatur daher als Aktien(über)rendite bezeichnet. 337 Vgl. Welch, 2000; Kritisch ist, dass die Ergebnisse von Umfragen auf Einschätzungen relativ kleiner Personengruppen basieren, zumeist sehr kurze Prognosehorizonte aufweisen und regelmäßig unsystematisch durchgeführt werden. Vgl. Fama/French, 2001, Daske/Gebhardt, zfbf 2006, S. 536. 338 Botosan, 1997, S. 323–349; Gordon/Gordon, 1997, S. 52–61; Ohlson/Juettner-Nauroth, 2000; Gebhardt/Lee/Swaminathan, 2001; Gode/Mohanram, 2001; Botosan/Plumlee, 2002, S. 21–40; Easton, 2002. 339 Vgl. Daske/Gebhardt, zfbf 2006, S. 537 ff. 340 Ex-post-basierte Schätzungen nutzen historische Aktienrenditen als Orientierungsgrundlage für die Zukunft. Aus der historischen Überschussrendite von Aktien gegenüber festverzinslichen Wertpapieren wird die zukünftig erwartete Marktrisikoprämie bestimmt. 341 Vgl. IDW S 1, i.d.F. 2008, Rz. 91. 342 Vgl. Ballwieser, WPg. 2002, S. 736–743.
Keim/Jeromin
217
Kap. 3 Rz. 3.448
Bewertung
3.448 Durchschnittsbildung der Renditen: Die Wahl der Methode zur Durchschnittsbildung beeinflusst die Ergebnisse in erheblichem Maße. So kommen Studien, welche das arithmetische Mittel verwenden, im Durchschnitt zu Renditen des Marktportfolios, die um etwa 2,5 % bis 3 % über den Renditen liegen, die sich bei Anwendung des geometrischen Mittels ergeben.343 Im Schrifttum konnte man sich bislang nicht einigen, ob Marktrisikoprämien aus arithmetischen oder geometrischen Durchschnitten zu berechnen sind. Unter der Prämisse stochastisch unabhängiger historischer Renditen stellt das arithmetische Mittel der historischen Renditen den besten Schätzwert für zukünftig zu erwartende Renditen des Marktportfolios dar. Inzwischen wird die Auffassung vertreten, dass die Marktrisikoprämie aus einem Durchschnitt geometrischer und arithmetischer Mittelwerte zu bilden sei.344
3.449 Einbeziehung von Ertragsteuern: Empirische Studien, die sowohl Marktrisikoprämien vor Steuern als auch nach Steuern betrachten zeigen, dass die Nachsteuerüberrendite von Aktien in der Vergangenheit über der Vorsteuerüberrendite lag. Dies deutet auf eine Benachteiligung von Zinserträgen gegenüber Dividendenerträgen und Erträgen aus Kursgewinnen im Untersuchungszeitraum hin. Bedingt durch die Abgeltungsteuer wurde die Bevorzugung von Aktienerträgen weitgehend beseitigt, eine Ausnahme bilden lediglich die in Zukunft steuerfreien Kursgewinne für vor dem 1.1.2009 erworbene Aktien. b) Vorsteuer-Risikoprämien
3.450 Die Studien über Marktrisikoprämien unterscheiden sich in ihrer Methodik sowie in den betrachteten Zeiträumen. Bei der Betrachtung empirischer Ausarbeitungen zur Marktrisikoprämie am deutschen Kapitalmarkt fällt auf, dass sich die meisten Arbeiten auf Zeiträume nach 1948 beschränken. Gielen (1994), Morawietz (1994) sowie Conen (1995)345 analysieren Aktienrenditen und Risikoprämien ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
3.451 Die langfristigen Betrachtungen minimieren Fehler aus zufälligen Schwankungen von Aktienkursen einzelner Dekaden. Allerdings nehmen mit zunehmender Länge des Auswertungszeitraums die Einflüsse politischer und wirtschaftlicher Sonderfaktoren, wie Strukturbrüche infolge von Weltwirtschaftskrisen, zu. Abb. 28 stellt die Studien im Einzelnen dar. Auf der Grundlage arithmetischer Renditen leiten Conen/Väth (1993)346 Marktrisikoprämien von rund 7 % ab, während Morawietz (1994) auf Basis geometrischer Berechnungen Risikoprämien von 3 % bis 4 % ermittelt. Hierbei ist anzumerken, dass arithmetische Renditendurchschnitte niemals kleiner als aus derselben Datenreihe berechnete geometrische Mittelwerte sind.347
3.452 Im Gegensatz zu der geringen Anzahl von Arbeiten, deren Untersuchungszeitraum bereits im 19. Jahrhundert beginnt, liegen für Beobachtungszeiträume nach den Weltkriegen zahlreiche Studien vor. Hervorzuheben sind die Arbeiten von Stehle und Hartmond (1991), Bimberg (1991), Morawietz (1994), Baetge und Krause (1994), Uhlir und Steiner (1994), Conen (1995) sowie Stehle (1999 und 2003), Reitzenstein (2009) und Hachmeister et al (2014).348 343 Hierbei ist anzumerken, dass arithmetische Renditendurchschnitte niemals kleiner als aus derselben Datenreihe berechnete geometrische Mittelwerte sind, vgl. Dudley 1989, S. 119, Satz 5.1.6. 344 Vgl. Drukarczyk, 2003, S. 389 f. 345 Vgl. Gielen; Morawietz; Conen. 346 Conen/Väth, Die Bank 1993, 642–647. 347 Diese Aussage gilt laut einem Satz von Cauchy. Vgl. Dudley, S. 119, Satz 5.1.6. 348 Vgl. Stehle/Hartmond, 1991, S. 371–411; Bimberg, 1993; Uhlir/Steiner, 1994, S. 156–162 sowie Stehle, 1999, 2003.
218
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.453 Kap. 3
Wie Tabelle 4 zu entnehmen ist, lassen sich für den deutschen Kapitalmarkt stabile Ergebnisse ableiten, unabhängig davon ob die Marktrisikoprämie auf Basis nominaler oder realer Renditen bestimmt wird. Hierbei ergeben sich bei arithmetischer Berechnung Marktrisikoprämien von 6,5 % bis 8 %, bei geometrischer Ermittlung rund 4 % bis 5 %. Ausnahmen bilden die Studien von Conen (1995) sowie von Baetge und Krause (1994). Zur Analyse von Baetge und Krause ist anzumerken, dass dort die historisch realisierte Gesamtrendite inländischer Aktionäre wegen der Nichtberücksichtigung von Körperschaftsteuergutschriften349 unterschätzt wird. Die Studien von Stehle (1999, 2003 und 2004) verwenden als Rendite der risikolosen Ver- 3.453 gleichsanlage anstatt der Umlaufrendite deutscher Staatsanleihen die Rendite des REXP (Deutscher Renten-Performance Index). Der REXP ist ein sog. Total-Return-Index, der die Rendite eines Portfolios von 30 synthetischen Anleihen mit Laufzeiten von 1 bis zu 10 Jahren nachbildet. Die Index-Rendite berücksichtigt sowohl Zinserträge als auch Kapital- bzw. Kursgewinne. Die Kursgewinne des Portfolios resultieren aus Schwankungen des allgemeinen Zinsniveaus. In Stehles Studien wird die REXP-Rendite für den Zeitraum von 1955 bis 2008 mit durchschnittlich 6,73 % ausgewiesen. Die durchschnittliche Umlaufrendite deutscher öffentlicher Anleihen belief sich nach Angaben der Deutschen Bundesbank für den gleichen Zeitraum nur auf 6,62 %.350 Die Abweichung zwischen beiden Renditen ist ein Hinweis darauf, dass die REXP-Rendite durch Kursgewinne verzerrt ist, die maßgeblich auf den seit 1990 beobachteten Zinsverfall zurückzuführen sind. Insofern sind durchschnittliche Vergangenheitsrenditen des REXP für die Zukunft weniger repräsentativ als Mittelwerte von Umlaufrenditen. Aus diesem Grund rechnet Stehle im Vergleich zu den anderen Untersuchungen mit einem um 0,3 bis 0,7 Prozentpunkte erhöhten risikofreien Zinssatz mit entsprechenden Konsequenzen für die Marktrisikoprämie. Autor
Periode
Aktienrendite
Bondrendite
Risikoprämie
Marktrisikoprämie (arithm. Mittel) auf Basis nominaler Bond- und Aktienrenditen (vor Steuer) Bimberg (1991) Bimberg (1991) Morawietz (1994) Uhlir/Steiner (1994) Conen (1995) Stehle (1999) Stehle (2003) Reitzenstein (2009) Hachmeister et al (2014)
Jahre 1954–1992 1954–1988 1950–1992 1953–1988 1959–1992 1967–1998 1967–1998 1954–2007 1975–2010
% 14,1 15,0 14,6 14,4 16,6 14,4 14,8 -
% 6,8 6,8 7,5 7,9 6,2 7,8 7,8 -
% 7,3 8,2 7,1 6,5 10,4 6,6 7,0 6,8 5,8
349 Während des Anrechnungsverfahrens (1977-2000) erhöhten Körperschaftsteuergutschriften die Gesamtrendite eines inländischen Investors. 350 Vgl. Deutsche Bundesbank: „Umlaufrenditen inländischer Inhaberschuldverschreibungen“, abrufbar im Juli 2014 im Internet unterhttp://www.bundesbank.de/Navigation/DE/Statistiken/Zeit reihen_Datenbanken/Makrooekonomische_Zeitreihen/its_list_node.html?listId=www_s140_it01.
Keim/Jeromin
219
Kap. 3 Rz. 3.454
Bewertung
Autor
Periode
Aktienrendite
Bondrendite
Risikoprämie
Marktrisikoprämie (geom. Mittel) auf Basis nominaler Bond- und Aktienrenditen (vor Steuer) Bimberg (1991) Bimberg (1991) Stehle/Hartmond (1991) Stehle/Hartmond (1991) Morawietz (1994) Baetge/Krause (1994) Stehle (1999) Stehle (2003) Reitzenstein (2009)
Jahre 1954–1991 1954–1988 1954–1988 1960–1988 1950–1992 1967–1991 1967–1998 1967–1998 1954–2007
% 11,2 11,9 12,1 7,8 11,8 10,4 11,8 12,1 -
% 6,7 6,6 7,5 7,5 7,8 7,7 7,7 -
% 4,5 5,3 4,6 4,3 2,6 4,1 4,4 4,1
Marktrisikoprämie (arithm. Mittel) auf Basis realer Bond- und Aktienrenditen (vor Steuer) Bimberg (1991) Bimberg (1991) Morawietz (1994) Uhlir/Steiner (1994) Conen (1995) Stehle (1999) Stehle (2003) Reitzenstein (2009)
Jahre 1954–1992 1954–1988 1950–1992 1953–1988 1959–1992 1967–1998 1967–1998 1954–2007
% 10,8 11,7 11,4 13,6 10,8 -
% 3,6 3,6 4,9 3,3 4,3 -
% 7,2 8,1 6,5 10,3 6,5 6,8
Marktrisikoprämie (geom. Mittel) auf Basis realer Bond- und Aktienrenditen (vor Steuer) Bimberg (1991) Bimberg (1991) Stehle/Hartmond (1991) Stehle/Hartmond (1991) Morawietz (1994) Baetge/Krause (1994) Stehle (1999) Stehle (2003) Reitzenstein (2009)
Jahre 1954–1991 1954–1988 1954–1988 1960–1988 1950–1992 1967–1991 1967–1998 1967–1998 1954–2007
% 7,8 8,5 8,7 4,3 8,1 -
% 3,4 3,4 3,9 4,2 -
% 4,4 5,1 4,8 3,9 4,1
Die Spalte „Bondrendite“ weist die risikolose Verzinsung aus, welche je nach Autor aus Renditen des REXP (Stehle), Renditen für Monatsgeld (Conen) bzw. aus deutschen Umlaufrenditen bestimmt wurde. Abb. 28: Marktrisikoprämien in Deutschland auf Basis von Nominal- und Realrenditen
3.454 Unstrittig ist, dass die Ergebnisse aus den Untersuchungen zur Marktrisikoprämie sensitiv gegenüber ausgeprägten Börsencrashs bzw. -booms sind. Empfehlenswert erscheint der Rückgriff auf gesicherte langfristige Ergebnisbandbreiten. Für Deutschland sind Marktrisikoprä220
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.457 Kap. 3
mien von 4 % bis 5 % für geometrische Durchschnitte und 6 % bis 8 % für arithmetische Durchschnitte wiederholt belegt. c) Marktrisikoprämie und Steuern Im Rahmen einer Nachsteuerrechnung nach IDW S 1 und Berücksichtigung der Besteuerung im Kapitalisierungszinsfuß gemäß des Tax-CAPM besitzen Vorsteuer- Marktrisikoprämien nur eine eingeschränkte Aussagekraft, da bei derartigen Bewertungsvorgängen ausschließlich Nachteuer-Marktrisikoprämien bewertungsrelevant sind.
3.455
Da die Marktrisikoprämie die Differenz aus der Aktienrendite und der Verzinsung einer Bundesanleihe darstellt, weitete sich in der Vergangenheit bei Existenz steuerfreier Kursgewinnkomponenten in der Aktienrendite infolge der ungleichen Besteuerung beider Anlageinstrumente in der Nachsteuer-Betrachtung der Renditeabstand von Aktien und festverzinslichen Anlagen aus. Im Ergebnis glichen bzw. sogar überstiegen daher die Nachsteuer-Marktrisikoprämien ihre vorsteuerlichen Pendants.351 Diesen Zusammenhang zeigen die nachfolgend in der Abbildung aufgeführten Ergebnisse der Studien von Conen (1995) und Morawietz (1994).
3.456
Langfristige Marktrisikoprämie (arithmetisches Mittel) Autor
Periode
Aktienrendite
Bondrendite
Risikoprämie
Jahre
%
%
%
Conen (1995)
nominal, vor Steuer
1876–1992
12,0
5,3
6,7
Conen (1995)
nominal, nach Steuer
1876–1992
-
-
-
Conen (1995)
real, vor Steuer
1876–1992
10,3
3,7
6,6
Conen (1995)
real, nach Steuer
1876–1992
8,2
1,0
7,2
Langfristige Marktrisikoprämie (geometrisches Mittel) Autor
Periode
Aktienrendite
Bondrendite
Risikoprämie
Jahre
%
%
%
Morawietz (1994)
nominal, vor Steuer
1870–1992
8,9
5,8
3,1
Morawietz (1994)
nominal, nach Steuer
1870–1992
7,6
3,5
4,1
Morawietz (1994)
real, vor Steuer
1870–1992
7,2
4,2
3,0
Morawietz (1994)
real, nach Steuer
1870–1992
5,9
1,8
4,1
Abb. 29: Langfristige Marktrisikoprämien am deutschen Kapitalmarkt
Mit Einführung der Abgeltungsteuer wurde die vorstehend beschriebene steuerliche Ungleichbehandlung unterschiedlicher Kapitalanlagen beseitigt. Nunmehr unterliegen Zinserträge, Dividenden und Veräußerungsgewinne grundsätzlich derselben nominalen Steuerbelastung von pauschal 25 % zzgl. SolZ. Unter Berücksichtigung dieser Änderung im 351 Vgl. Rosen, Aktie vs. Rente: Aktuelle Renditevergleiche zwischen Aktien und festverzinslichen Wertpapieren, Studien des Deutschen Aktieninstituts, Heft 26, Juli 2004, S. 29.
Keim/Jeromin
221
3.457
Kap. 3 Rz. 3.458
Bewertung
Einkommensteuergesetz, hatte der FAUB (Fachausschuss Unternehmensbewertung des IDW e.V.) vorgeschlagen, nur noch für Bewertungsstichtage bis zum 6.7.2007 (Bundesratsbeschluss zur Unternehmenssteuerreform) eine Marktrisikoprämie von 4,0 % bis 5,0 % vor Steuern bzw. 5,0 % bis 6,0 % nach Steuern zu verwenden. Für Bewertungsstichtage zwischen dem 7.7.2007 und dem 31.12.2008 wurden für Vor- und Nachsteuerrechnungen einheitliche Marktrisikoprämien in Spanne von 4,5 % bis 5,5 % herangezogen. Seit dem 1.1.2009 werden für Vor- und Nachsteuerrechnungen wieder verschiedene Bandbreiten empfohlen. Nachdem zwischen dem 1.1.2009 und dem 18.9.2012 die verwendeten Marktrisikoprämine bei 4,5 % bis 5,5 % bzw. 4,0 % bis 5,0 % lagen (Vorsteuerrechnung bzw. Nachsteuerrechnung) verwendet man aktuell höhere Marktrisikoprämine (5,5 % bis 7,0 % Vorsteuerrechnungen bzw. 5,0 bis 6,0 % bei Nachsteuerrechnungen).
3.458 Diese Empfehlung stellt keine fixe Festlegung auf einen bestimmt Wert dar. Sie ist vielmehr flexibel zu handhaben und von der jeweiligen situativen Entwicklung an den Kapitalmärkten abhängig. d) Logische Untergrenzen von Risikoprämien
3.459 Häufig erweist es sich als erforderlich, eine minimale Marktrisikoprämie im Sinne eines Mindestwertes zu bestimmen, deren Unterschreitung im Normalfall nicht zu akzeptieren ist. Hierzu erweist sich die Analyse von Renditespreads zwischen Unternehmens- und Staatsanleihen als hilfreich.352
3.460 Aktien weisen im Allgemeinen ein höheres Risiko als Anleihen auf. Dies begründet sich damit, dass im Regelfall Zinszahlungen für Anleihen laufend bedient werden müssen und seitens der Schuldner kaum beeinflussbar sind. Gewinnausschüttungen sind dagegen abhängig von der wirtschaftlichen und finanziellen Situation des Unternehmens sowie der Thesaurierungspolitik des Vorstands der Aktiengesellschaft und können insoweit ausfallen. Im Falle der Insolvenz des Anleiheschuldners hat der Gläubiger einen vorrangigen Anspruch auf Rückzahlung seines Darlehens.353 Überlassenes Eigenkapital fällt dagegen im Falle einer Insolvenz eines Unternehmens überwiegend zu 100 % aus.
3.461 Die Anregung, Eigenkapitalkosten oder Marktrisikoprämien unter Rückgriff auf Anleihenrenditen zu ermitteln, findet zunehmend in der neueren Fachliteratur Zuspruch. So setzt sich nach Uzik und Weiser die Eigenkapitalrendite eines Unternehmens aus folgenden Hauptkomponenten zusammen: dem Risiko eines Wertverlustes infolge nationaler Politik, dem unternehmensspezifischen Insolvenzrisiko und dem reinen Eigenkapitalrisiko, welches sich aus der Nachrangigkeit des Eigenkapitals gegenüber Fremdkapital ergibt. Dementsprechend lassen sich die Eigenkapitalrenditen dann aus Anleiherenditen und Marktpreisen für Aktienoptionen ableiten.354
3.462 Um aus Anleihespreads eine Untergrenze für Marktrisikoprämien bestimmen zu können, müssen Anleihespreads von ihrer Soll-Rendite auf ihren Erwartungswert korrigiert werden. Ihre tatsächliche, erwartete Gesamtrendite (nach Abzug des Ausfallrisikos) ist zu bestimmen. Dies geschieht durch Aufteilung des Spreads in verschiedene Komponenten: einem 352 Zusammenhänge von Anleihenspreads und Marktrisikoprämie sind in der Literatur bisher nur oberflächlich betrachtet. 353 Vgl. Drukarczyk, Unternehmensbewertung, S. 403; Betsch/Groh/Lohmann, S. 270 f. 354 Vgl. McNulty/Yeh/Schulze/Lubatkin, Harvard Business Review 2002.
222
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.465 Kap. 3
Zuschlag für das Ausfallrisiko der Anleihe (Ausfallprämie bzw. Insolvenzrisiko) sowie einem Zuschlag zur Kompensation für die Unsicherheit der erwarteten Zinserträge (Zinsausfallprämie bzw. Risikoprämie).355 Eine Abschätzung der Ausfallprämie kann anhand von Ausfallquoten und sog. Recovery Rates (Anteil des Nominalwerts der Anleihe, den der Investor bei Ausfall der Anleihe zurückbekommt) erfolgen. Spread von BBB-Anleihen zu Staatsanleihen (Laufzeit 10 Jahre) 1,6 1,4 1,2 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 0,0 Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17
Abb. 30: Spreads von Staats-/Unternehmensanleihen (Jan. 2016 bis Dez. 2017)
Zu diskutieren verbleibt, wie viel höher die Risikoprämie für eine Aktie im Vergleich zu derjenigen einer Anleihe sein soll. Hierzu kann bspw. mit der Standardabweichung von Wertpapierrenditen ein übliches Risikomaß herangezogen werden. Der Vergleich von Aktienund Bondindices zeigt, dass die Standardabweichung der Renditen von Bondportfolien nur rund ein Sechstel der Standardabweichung von Aktienportfolien beträgt. Langfriststudien für den amerikanischen Markt zeigen, dass die (jährliche) Standardabweichung von Aktienrenditen mehr als doppelt so hoch wie die von Anleihenrenditen ist.356
3.463
Zur Abschätzung logischer Wertuntergrenzen von Marktrisikoprämien kann daher davon ausgegangen werden, dass das Risiko einer Investition sich proportional zur Standardabweichung verhält357 und mit steigender Standardabweichung der Renditen ansteigt.
3.464
4. Betafaktor a) Einleitung Der Betafaktor ist ein Maß für das nicht diversifizierbare, sog. systematische Risiko eines bestimmten Wertpapiers. Er beschreibt die Sensitivität der Rendite eines Einzelwerts in Bezug auf die Renditeänderung des Marktportfolios, dessen Betafaktor per Definition eins be-
355 Vgl. Elton/Gruber/Agrawal/Mann, Journal of Finance 2001. Die Autoren identifizieren speziell für amerikanische Anleihen eine weitere Komponente, die aus der unterschiedlichen Besteuerung von Unternehmens- und Staatsanleihen durch den amerikanischen Fiskus herrührt. Diese dritte Komponente ist auf deutsche Anleihen nicht anwendbar. 356 Vgl. Deutscher Investment Trust Gesellschaft für Wertpapieranlagen mbH, S. 5. 357 Vgl. Damodaran, S. 168.
Keim/Jeromin
223
3.465
Kap. 3 Rz. 3.466
Bewertung
trägt.358 Weist ein einzelnes Wertpapier ebenfalls einen Betafaktor von eins auf, so gleicht die erwartete Rendite des Wertpapiers der erwarteten Rendite des Marktportfolios.359 Ist der Betafaktor eines spezifischen Wertpapiers größer (geringer) als eins, ist das systematische Risiko des Wertpapiers größer (kleiner) als das des Marktportfolios. Ein Betafaktor von bspw. 1,2 besagt, dass bei einer Zu-/Abnahme der Marktrendite um 20 % die erwartete Rendite des jeweiligen Wertpapiers um 24 % steigt bzw. fällt. Der Betafaktor der risikolosen Anlage ist null, da diese definitionsgemäß eine sichere Rendite aufweist, die folglich nicht schwankt.
3.466 Der Ableitung des Betas kommt in der Unternehmensbewertung eine gesteigerte Bedeutung zu, da über die multiplikative Verknüpfung des Faktors mit der Marktrisikoprämie die Höhe des Risikozuschlags und somit direkt der für die Kapitalisierung verantwortliche Diskontierungssatz festgelegt wird. Da sich Betafaktoren direkt nur für börsennotierte Unternehmen aus Kapitalmarktdaten ableiten lassen, ist bei der Ermittlung des Betafaktors zwischen börsennotierten und nicht börsennotierten Unternehmen zu differenzieren.
3.467 In der Praxis wird bei der Ermittlung von Betafaktoren standardmäßig auf Vergangenheitswerte zurückgegriffen, wobei auf die Konsistenz der Daten zu achten ist.360 Der unternehmensindividuell festzulegende Betafaktor von börsennotierten Aktien wird aus einer Regression zwischen der Aktienrendite des zu bewertenden Unternehmens und der Portfoliorendite eines das Marktportfolio repräsentierenden Aktienindexes berechnet.361 Betafaktoren messen die über bestimmte Renditeintervalle realisierten Renditen des zu bewertenden Unternehmens in Relation zur Rendite eines Marktportfolios. Rechnerisch ist der Betafaktor die nach der Methode der kleinsten Quadrate berechnete Steigung der Regressionsgeraden zwischen der Aktien- und der Marktrendite. Nach Ableiten der für das gewählte Zeitintervall bestimmten Rendite der Aktie und des Marktportfolios auf Grundlage der folgenden Gleichung ri = ln
Kurst + 1 Kurst
mit: ri = Rendite des Wertpapiers i innerhalb des gewählten Zeitintervalls, Kurst = Aktienkurs zum Zeitpunkt t, bemisst sich der Betafaktor als der Quotient aus der Kovarianz der Renditen von Wertpapier und Marktportfolio und der Varianz der Rendite des Marktportfolios:
358 Dies gilt, da Covm,m=sm2. 359 Die Betafaktoren liegen in der Regel zwischen 0,1 und 2,0; vgl. Copeland/Koller/Murrin, S. 277. 360 Die Bewertungspraxis behilft sich teilweise auch mit Renditen aus Wertpapierfonds, die ein relativ breites Spektrum an Wertpapieren abdecken. Dabei zeigen sich (abhängig vom Beobachtungszeitpunkt und dem Portfolio) Marktrenditen, die weit über den üblich angenommenen Durchschnittswerten liegen. Bspw. lag nach Angaben des FCS Finanz Computer-Service, Hürth, die durchschnittliche jährliche Rendite von 95 Investmentfonds bei 19,5 % (Zeitraum: 31.1.1996 bis 31.1.2001). Bei Verwendung vergleichbarer Basiszinssätze ergeben sich daraus entsprechend höhere Marktrisikoprämien. 361 So spiegeln die 250-Tage-Betas die Messung der Tagesrenditen von Aktien und Marktportfolios an 250 Handelstagen wider.
224
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
ßi =
Rz. 3.472 Kap. 3
Covi, m E[[ri − E(ri)][rm − E(rm)]] = σ2m E[rm − E(rm)]2
mit: Covi,m = Kovarianz der Rendite des Wertpapiers mit der Rendite des Marktportfolios s2m = Varianz der Rendite des Marktportfolios. Die Berechnung der Regressionsgeraden ist mittels Tabellenkalkulationsprogrammen mög- 3.468 lich. Zudem werden Betafaktoren von verschiedenen Informationsdienstleistungsanbietern berechnet. Als Informationsquellen können Veröffentlichungen des Betafaktors in Tageszeitungen (z.B. Handelsblatt oder Börsenzeitung), professionelle Informationsdienstleister (z.B. Reuters, Thomson Financial DataStream, Bloomberg) oder Internet-Informationsangebote (z.B. finance.yahoo.com, www.comdirect.de) dienen. b) Praktisches Vorgehen bei der Ermittlung der Betafaktoren Die dargelegte theoretische Ermittlung stellt sich für den Bewerter als unproblematisch dar, 3.469 wohingegen in der Praxis und Rechtsprechung bestimmte Anforderungen an die Daten und die Parameter zu beachten sind, für die sich bestimmte Vorgehensweisen etabliert haben. Diese betreffen insbesondere Fragen zu den Inputdaten der Regression, zur Interpretation und notwendigen Anpassungen des Betafaktors, zur statistischen Aussagekraft der berechneten Parameter sowie zu den Besonderheiten der Peer Group und unternehmensindividueller Kapitalstrukturen. Die nachfolgende Übersicht fasst die Vorgehensweise der Ermittlung des Betafaktors für börsennotierte und nicht börsennotierte Unternehmen zusammen, s. Abb. 31, S. 226. aa) Beobachtungszeitraum und Renditeintervall Ein Auswahlproblem ergibt sich hinsichtlich des Betrachtungszeitraumes sowie des Renditeintervalls, da Betafaktoren in Abhängigkeit von der Länge des Zeitraums, über den sie berechnet werden, und der Häufigkeit ihrer Erhebung schwanken.362
3.470
Bezüglich der Länge des Beobachtungszeitraumes ist Folgendes zu berücksichtigen: Zum einen spricht bei einem längeren Beobachtungszeitraum die damit realisierbare höhere Anzahl von Datenpunkten für eine zunehmende statistische Verlässlichkeit der Betafaktor-Schätzung. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass die sachliche Aussagekraft abnimmt, wenn sich z.B. das Geschäftsmodell oder das Geschäftsrisiko im Berechnungszeitraum geändert haben.
3.471
Welches Renditeintervall (Tag, Woche, Monat, Jahr) gewählt werden sollte, hängt vom Beobachtungszeitraum ab. Je kürzer dieser Zeitraum gewählt wird, desto kürzer sollte das Renditeintervall sein, um das Vorliegen einer ausreichenden Anzahl von Datenpunkten zu gewährleisten. Analog gilt, dass das Renditeintervall bei langen Zeiträumen entsprechend länger gewählt werden kann. Das birgt den Vorteil, dass dadurch Renditeschwankungen, die nicht auf neuen ökonomischen Informationen beruhen (sog. „Noise-Trading“) geglättet werden.
3.472
362 Die Wahl des Berechnungszeitraumes hat einen Einfluss auf die Höhe der Marktrisikoprämie. Bspw. variieren die Eigenkapitalkosten der Daimler-Benz (welche von dem Betafaktor und der Marktrisikoprämie abhängen) zwischen 0,984 % (1987–1991) und 17,406 % (1982–1991), vgl. Böcking/Nowak, DB 1998, 688 f. Ein weiterer Entscheidungsspielraum ergibt sich aus der Länge des Zeitraums, aus dem historische Betafaktoren gewonnen werden sollen, und bei deren Berechnung (arithmetisches vs. geometrisches Mittel).
Keim/Jeromin
225
Kap. 3 Rz. 3.472
Bewertung
nein
Zusammenstellung Peer Group Nur börsennotierte Unternehmen
Bewertungsobjekt börsennotiert? ja Regression: – Index? – Zeitraum? – Intervall? – Dividendenbereinigung erforderlich?
nein
Keine weitere Berücksichtigung dieses Vergleichsunternehmens
nein Raw- oder Adjusted Beta? Ermittlung unverschuldeter Betafaktoren – Pensionsverpflichtungen? – Liquide Mittel – Nominale Steuerquote?
Betafaktor signifikant? ja
Ermittlung unverschuldeter Peer Group-Betafaktor■en■ – Arithmetisches Mittel? – Median?
ja
Relevern – Kapitalstruktur?
Betafaktor plausibel? ja Betafaktor kann zur Berechnung der Eigenkapitalkosten verwendet werden
Abb. 31: Vorgehensweise zur Ermittlung des Betafaktors
226
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.478 Kap. 3
Für die Praxis erscheinen Kombinationen von Beobachtungszeitraum und Renditeintervall sinnvoll, die mindestens 60 Datenpunkte generieren, um die Stichprobe aussagekräftig zu halten. Bei monatlichen Renditeintervallen entspricht dies 60 Monaten und damit einem Vergleichszeitraum von fünf Jahren, bei wöchentlichen Renditeintervallen ist mindestens auf einen zweijährigen Vergleichszeitraum zu achten.
3.473
bb) Marktindex Da das Marktportfolio in der Realität nicht verfügbar ist, muss vereinfachend auf einen alternativen Index zurückgegriffen werden.363 Fraglich ist, ob ein nationaler oder internationaler, möglichst breiter oder branchenspezifischer, marktkapitalisierungsgewichteter oder preisgewichteter, Performance- oder Kursindex stellvertretend für das Marktportfolio gewählt werden soll.
3.474
In der Praxis hat es sich bewährt, den Betafaktor von dem breitesten marktkapitalisierungsgewichteten nationalen Performanceindex (CDAX, Dow Jones Stoxx 600) abzuleiten bzw. diesen zumindest als Referenz heranzuziehen, da dieses Vorgehen am ehesten mit den Annahmen des CAPMs vereinbar ist. Um weiterhin die Konsistenz des CAPMs zu wahren, darf die Auswahl des Index bei der Betafaktoren-Bestimmung nicht losgelöst von dem der Bemessung der Marktrisikoprämie zugrunde liegenden Index durchgeführt werden.
3.475
cc) Dividendenbereinigung Vereinzelt wird vorgeschlagen, dass bei der Analyse Kursausschläge zu bereinigen sind, welche auf Dividendenausschüttungen zurückzuführen sind. Aus Vereinfachungsgründen und unter Materialitätsaspekten kann eine solche Anpassung in der Praxis unterbleiben.364
3.476
dd) Statistische Überprüfung der Aussagefähigkeit Fehlender Handel, Marktenge oder unkorrelierte Aktienkursentwicklungen sind Gründe dafür, dass Betafaktoren ihre Aussagekraft zur Interpretation eines unternehmensspezifischen Risikos teilweise oder vollständig einbüßen können. Vor der Verwendung von Betafaktoren sollten diese auf ihre statistische Aussagekraft untersucht werden. Sinnvoll erscheinen neben einem Signifikanztest, um die Verlässlichkeit des ermittelten Betafaktors sicherzustellen, Tests darauf, ob die Varianz der Residualterme über sämtliche Beobachtungen konstant ist (Test auf Homoskedastizität), ob die Residualtherme keine Korrelation aufweisen (Autokorrelationstest) oder ob die beobachtete Korrelation zwischen Indexrendite und Aktienrendite nicht lediglich auf Scheinkorrelationen beruht (Stationaritätstest).365
3.477
Weisen ein oder mehrere der genannten Tests ein negatives Ergebnis auf, kann dies einen Hin- 3.478 weis auf mögliche im Beobachtungszeitraum enthaltene Strukturbrüche darstellen. Da diese Tests jedoch nur mit zum Teil erheblichem Arbeitsaufwand durchgeführt werden können, liegt es im Ermessen des Bewerters, zu entscheiden, ob dieser zusätzliche Aufwand vertretbar ist. 363 Vgl. Baetge et al., 2009, S. 376 f. 364 Der Effekt ist zu vernachlässigen. Bei jährlicher Zahlung erfolgt eine Kursbereinigung nur am ersten Handelstag nach der Dividendenzahlung. Rein mathematisch ist bei einer über mehrere Jahre laufenden Betafaktorenanalyse bei normalen Dividendenausschüttungen der Einfluss damit unbedeutend. Im Übrigen kann man auch argumentieren, dass bei vollkommenen Märkten die Dividenden vollumfänglich abgebildet sind, insbesondere, da sie wochen- bzw. teilweise monatelang im Voraus angekündigt sind. 365 Zu den Testverfahren vgl. Greene, S. 265, 268 f., 591–594, 825, 848–851.
Keim/Jeromin
227
Kap. 3 Rz. 3.479
Bewertung
ee) Raw- vs. Adjusted-Beta
3.479 Während das Raw-Beta das historische Beta eines Unternehmens widerspiegelt, stellt das Adjusted-Beta eine Schätzung des zukünftigen Betas des Unternehmens unter der Annahme dar, dass sich das unternehmensspezifische Beta über die Zeit approximativ dem Beta des Marktportfolios angleicht. Die Idee einer solchen Anpassung ist die Erwartung, dass der Betafaktor des Unternehmens sich im Zeitverlauf, bedingt durch Diversifikationseffekte und die fehlende Nachhaltigkeit überdurchschnittlicher Wachstumsraten, dem Marktdurchschnitt annähern wird. Der Informationsdienstleister Bloomberg greift diesen Gedanken auf und veröffentlicht neben dem statistisch ermittelten Betafaktor (als Raw-Beta bezeichnet) ein sog. Adjusted-Beta, das sich gemäß der folgenden Formel berechnet: ßadjusted = 1 + 2 ∙ ßraw 3 3
3.480 Bei der Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes ist das Raw-Beta praktikabel, da nur bereits zum Bewertungsstichtag eingeleitete oder dokumentierte Maßnahmen zu beachten sind. Für junge Unternehmen und solche Unternehmen, bei denen davon auszugehen ist, dass ein reifer Zustand im gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht erreicht wurde, kann eine Anpassung des Betafaktors in Richtung des Betafaktors des Marktportfolios eine sinnvolle Glättung bewirken. Durch die Finanzkrise 2008 f. und die damit verbundene erhöhte Volatilität der Börsenkurse wurden die historischen Betafaktoren beeinflusst, weshalb hier ebenfalls eine Bereinigung um nicht nachhaltige Einflüsse sinnvoll sein kann.366 Bei Beta unlevering ist es regelmäßig falsch den adjusted Beta-Faktor zu verwenden, denn im ersten Schritt muss der raw Beta-Faktor ermittelt werden. ff) Peer Group
3.481 Ist das Bewertungsobjekt nicht börsennotiert oder ist der Betafaktor eines börsennotierten Unternehmens als statistisch nicht signifikant einzustufen, so kann die vorstehend beschriebene Vorgehensweise bzgl. der Regressionsanalyse nicht verlässlich durchgeführt werden.
3.482 In Ermangelung beobachtbarer Preisfeststellungen an organisierten Kapitalmärkten367 sind in solchen Fällen alternative Schätzverfahren zu verwenden. Als Hilfslösungen kommen unter anderen Analogieansätze (Pure Play-Beta, Industry-Beta), qualitative Schätzungen (statistische Verfahren, Managementbefragung)368 oder Branchenanalysen in Betracht. Bei Letzteren wird der Betafaktor eines Unternehmens aus einer sog. Peer Group ermittelt.369 Eine Peer Group ist eine Gruppe von börsennotierten Vergleichsunternehmen, die zum Bewertungsobjekt in wesentlichen Geschäftsparametern als verwandt anzusehen ist. Sofern dies nicht möglich ist, könnte auf ein Branchenbeta ausgewichen werden.
366 Vgl. Jonas, FB 2009, S. 545 f. 367 Aufgrund der geringen Marktkapitalisierung der überwiegenden Anzahl der börsennotierten Aktiengesellschaften können diese Preise nicht als „Marktpreise“ aufgefasst werden. Vgl. Böcking/Nowak, DB 1998, 689. 368 Möglichkeiten zur Ermittlung von Betafaktoren nicht börsennotierter Unternehmen zeichnen Copeland/Koller/Murrin, S. 345 ff. auf. 369 Eine Übersicht über individuelle Betafaktoren und Branchen-Betafaktoren bieten Göppl/Hermann/Kirchner/Neumann.
228
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.485 Kap. 3
Gewisse Herausforderungen bei der Peer Group-Analyse bestehen hinsichtlich der Identifikation der Vergleichsunternehmen. Deren Vergleichbarkeit sollte sich nicht nur auf die Branche sondern ebenso auf die Kapitalstruktur, die Größe, die regionale Präsenz sowie das Geschäftsmodell beziehen. Da diese Bedingungen in der Praxis nur selten in Gesamtheit erfüllt sind, muss der Bewerter gegebenenfalls die Kriterien aufweichen, um eine Peer Group ausreichender Größe zusammenstellen zu können. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Wahl des geeigneten Mittelwertes: Während bei kleineren oder (bezogen auf die Betas) verhältnismäßig homogenen Peer Groups der Durchschnitt sinnvoll erscheint, liefert der Median bei großen oder heterogenen Peer Groups verlässlichere Ergebnisse. Ein Peer Group-Beta ist bei börsennotierten Unternehmen deshalb nur zur Verprobung heranzuziehen. Zur Identifikation vergleichbarer Unternehmen können neben der Branchenkenntnis des Bewerters auch Informationsdienstleister (wie z.B. Bloomberg oder OneSource), Marktstudien oder Analystenreports herangezogen werden.
3.483
gg) Ermittlung unverschuldeter Betafaktoren Bei Verwendung von Peer Group-Betafaktoren sind Anpassungen erforderlich. Dieses ist da- 3.484 rauf zurückzuführen, dass Betafaktoren zwei Arten von Risiken messen: das Geschäftsrisiko (Operating Beta) und das Kapitalstrukturrisiko (Financial Beta). Während das Geschäftsrisiko wesentlich durch die Branche des zu bewertenden Unternehmens beeinflusst wird, bestimmt sich das Kapitalstrukturrisiko aus dem Verschuldungsgrad (also dem Verhältnis von Fremd- und Eigenkapital) eines Unternehmens. Weil nach der Theorie Eigenkapitalgeber bei zunehmendem Verschuldungsgrad ein persönlich erhöhtes Geschäftsrisiko wahrnehmen, fordern sie höhere Eigenkapitalkosten.370 Bevor Betafaktoren von Vergleichsunternehmen für die Bewertung des Bewertungsobjekts herangezogen werden können, sind sie um die unternehmensspezifische Kapitalstruktur des jeweiligen Peer Group-Unternehmens zu bereinigen (sog. „Unlevering“).371 In der Praxis existiert kein einheitliches Vorgehen, da je nach unterstellter Reaktionshypothese hierbei ein abweichendes Vorgehen notwendig ist. Gemäß der in der Literatur vorwiegend diskutierten Ansätze kann der unverschuldete Betafaktor folgendermaßen berechnet werden372: 370 Vgl. Kruschwitz/Milde, Zfbf 1996, 1122 f. 371 Diese Bereinigung setzt bestimmte Annahmen hinsichtlich der Reaktion der Eigenkapitalkosten auf eine Veränderung des Verschuldungsgrads voraus. Unstrittig ist, dass die geforderte Rendite der Eigenkapitalgeber als Residualempfänger umso höher ausfällt, je höher die Verschuldung des betrachteten Unternehmens ist. Fraglich ist, wie die wegen der Abzugsfähigkeit von Fremdkapitalzinsen bei der Steuerbemessungsgrundlage bedingten Steuerersparnisse zu berücksichtigen sind. Kern dieser Frage ist die Ungewissheit der Höhe des zukünftigen Fremdkapitalbestands. Als grundsätzliche Vorgehensweisen bieten sich zum einen der Ansatz eines konstanten absoluten Bestands an Fremdkapital, zum anderen die Annahme eines konstanten relativen Bestands an Fremdkapital an. Wird der absolute Bestand als konstant angesetzt, spricht man von autonomer Finanzierungspolitik, wohingegen bei Annahme eines konstanten Verschuldungsgrads von einer wertorientierten Finanzierungspolitik gesprochen wird. Im Hinblick auf den Risikogehalt der fremdfinanzierungsbedingten Steuerersparnis führt ein im Zeitverlauf konstanter absoluter Fremdkapitalbestand zu sicheren Steuerersparnissen. Demgegenüber sind zukünftige Steuerersparnisse bei Annahme eines konstanten Verschuldungsgrads abhängig von der Entwicklung des Marktwerts des Eigenkapitals, sie können mithin nicht als sicher angesehen werden. 372 Die Formeln zur Berechnung der unverschuldeten Betafaktoren lassen sich aus den jeweiligen WACC-Ansätzen überleiten. Vgl. Kruschwitz/Löffler/Essler, 2009, S. 147 ff.
Keim/Jeromin
229
3.485
Kap. 3 Rz. 3.486
Bewertung
raw Beta Modigliani/ Miller:
Miles/Ezzell:
1 + (1 − su) ∙
FK EK
2 1 ß − 3 adj 3
ßV
ßU =
ßU =
2 1 ß − 3 adj 3 ßU = FK 1 + (1 − su) ∙ EK
ßV
ßU =
1+
Harris/Pringle:
adjusted Beta
FK ∙ EK
1 + rf ∙ 1 − su ∙
ßV 1+
FK EK
1 + rf
FK EV
ßU = FK 1+ ∙ EK
1 + rf ∙ 1 − su ∙
FK EV
1 + rf
2 1 ßadj − 3 3 ßU = FK 1+ EK
mit: Badj bV bU FK EK EV rf su
= = = = = = = =
angepasstes/adjusted Beta verschuldeter Betafaktor, unverschuldeter Betafaktor, Marktwert des Fremdkapitals, Marktwert des Eigenkapitals, Unternehmenswert, Risikofreier Zinssatz, Unternehmensteuersatz.
3.486 Der beim Unlevering anzusetzende Marktwert des Eigenkapitals ist meist die aktuelle Börsenkapitalisierung, der Marktwert des Fremdkapitals kann durch Buchwerte angenähert werden.373 Es hat sich bislang kein einheitliches Vorgehen etabliert, wie die Kapitalstruktur zu ermitteln ist. Weiterhin treten folgende Problemfelder in der Praxis auf:
3.487 Liquide Mittel: Da es im Allgemeinen schwierig ist, vorhandene Liquiditätsbestände in einen betriebsnotwendigen und einen nicht betriebsnotwendigen Teil aufzugliedern, werden in der Praxis aus Vereinfachungsgründen die liquiden Mittel vom verzinslichen Fremdkapital abgezogen. Eine negative Nettoverschuldung ist ein Hinweis auf nicht betriebsnotwendige Liquidität.
3.488 Wird die nicht betriebsnotwendige Liquidität nicht als Sonderwert ausgewiesen, ist die gesamte im Unternehmen vorhandene Nettofinanzposition bei der Bestimmung der Kapitalkosten und der Betafaktoren einzubeziehen.
373 Vgl. Mandl/Rabel, S. 300 ff.
230
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.494 Kap. 3
Pensionsrückstellungen: Pensionsverpflichtungen sind bei der Ermittlung des Fremdkapitals zu berücksichtigen. Je nach zugrunde liegendem Rechnungslegungsstandard und Sachverhalt sind jedoch die zinstragenden Verbindlichkeiten in bestimmten Fällen anzupassen.
3.489
Leasing: Werden Operating Leases nicht oder unzutreffend im Fremdkapital des Leasingnehmers berücksichtigt, wird die Nettoverschuldung des Unternehmens unzutreffend abgebildet. Steuern: Anzurechnen ist der Grenzsteuersatz der Fremdfinanzierung. Insbesondere aufgrund des Schätzproblems hinsichtlich wesentlicher Ausgangsdaten ist der dieser Prozess in der Praxis fehleranfällig. Deshalb ist das Ergebnis eines Beta-Unleverings anhand weiterführender Plausibilitätsüberlegungen zu verifizieren.
3.490
Der bewertungsobjektspezifische Betafaktor berechnet sich nach Modigliani/Miller und den 3.491 vorstehenden Anpassungen für das raw Beta und das angepasste/adjusted Beta folgendermaßen: Raw Beta:
Adjusted Beta:
ßVB = ßUPG 1 + (1 − su) ∙
ßadjB =
FK EK
1 2 ß PG 1 + (1 − su) ∙ FK + U EK 3 3
mit: bVB = Verschuldeter Betafaktor des Bewertungsobjekts bUPG = Unverschuldeter Betafaktor der Peer Group.374 hh) Historisches vs. zukunftsgerichtetes Beta Vereinzelt wird vorgetragen, dass aus historischen Daten ermittelte Betafaktoren sich nicht für die zukunftsgerichtete Ertragswertbewertung eignen und daher vielmehr durch Prognosedaten ersetzt werden sollten. Die Forderungen nach der Verwendung prognostizierter Betafaktoren werden in der Fachliteratur oft in Kombination mit Vorschlägen zur Verwendung sog. fundamentaler Analysen erhoben.
3.492
Nach den Verfechtern der fundamentalorientierten Betafaktoranalyse lassen sich die Einflüsse verschiedenster wirtschaftlicher Ereignisse (Fundamentalereignisse), die insbesondere bei einem Unternehmenskauf und den damit verbundenen Umstrukturierungen zu beobachten sind (wie Unternehmensakquisitionen, Veränderungen der Kapitalstruktur oder die Höhe der Dividendenzahlungen375), isolieren und für die Betafaktorenanalyse verwenden.
3.493
Eine derartig fundamentalorientierte Prognose von Betafaktoren eignet sich gleichwohl nur als Mittel zur Unterstützung und Plausibilitätsanalyse. Denn sowohl die Auswirkungen, Erfas-
3.494
374 Der Peer Group Betafaktor stellt sich als ein Durchschnittswert der Betafaktoren aus den Vergleichsunternehmen dar. Die Durchschnittsbildung kann auf dem arithmetischen Mittel oder dem Median beruhen. Der Median ist zu präferieren, wenn die einzelnen Beta-Faktoren heterogen sind oder deutlich voneinander abweichen. 375 Vgl. Kleeberg, Die Bank 1992, 475.
Keim/Jeromin
231
Kap. 3 Rz. 3.494a
Bewertung
sung, Deutung und die Abbildung der vorstehend benannten Fundamentalereignisse auf den Betafaktor können nicht eindeutig quantifiziert werden, weshalb die Verwendung von Prognosebetafaktoren einen erheblichen, oft intersubjektiv kaum nachprüfbaren Schätzspielraum eröffnet, da bei der Prognose von Betafaktoren Ermessensspielräume entstehen. Gegenüber einer klassischen (vergangenheitsorientierten) Betafaktorenanalyse ist ein Prognose- oder Qualitätsvorteil der fundamentalorientierten Betafaktorenanalyse nicht nachgewiesen.376 c) Übersicht über aktuelle Betafaktoren
3.494a
Industrie
Wöchentliche Beobachtung über 2 Jahre Levered Beta
Monatliche Beobachtung über 5 Jahre
Unlevered Beta Levered Beta Unlevered Beta
Automobilhersteller
1,41
NA
1,37
NA
Automobilzulieferer
0,98
0,74
1,12
0,84
Banken
1,24
NA
1,18
NA
Chemie
1,02
0,83
0,93
0,76
Pharma
1,00
0,91
0,87
0,75
Software
0,80
0,78
0,88
0,86
Telekommunikation
0,74
0,59
0,72
0,57
Strom- und Gasversorger
0,57
0,38
0,87
0,52
Energiezuliefererbranchen
0,57
0,38
0,87
0,52
Elektrische und elektronische Geräte
NA
NA
NA
NA
Einzelhandel
0,86
0,71
1,10
0,97
Lebensmittel
0,76
0,61
0,96
0,81
Bekleidungshersteller
0,42
0,36
NA
NA
Großhandel
0,75
0,71
0,77
0,75
Maschinenbau
0,98
0,67
0,93
0,67
Technologie
0,86
0,78
0,84
0,76
Dienstleistungen
1,30
1,30
1,05
0,92
Lebensversicherungen
0,70
0,66
0,81
0,74
Sachversicherungen
0,91
NA
0,51
NA
Abb. 32: Sektor-Beta Übersicht für Deutschland; Stand: 31.12.2017. Bestimmung der unverschuldeten Beta-Faktoren erfolgte aufgrund verfügbarer Finanzkennzahlen der Peer Group Unternehmen. Quelle: Jeromin/Awasthi, WP-Information 81, Aktualisierung der Kapitalkosten zum 31.12.2017 Quarterly Bulletin #1/18 Beteiligungsbewertung nach IDW RS HFA 10, S. 6. 376 Vgl. zu einer Schätzung der fundamentalen Betafaktoren am Beispiel der Barra-Risikofaktoren Kleeberg, Die Bank 1992, 475.
232
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.499 Kap. 3
d) Fremdkapital-Beta-Faktoren In der neueren Bewertungspraxis wird wiederholt empfohlen, die Bestimmung von Betafaktoren aus sog. Fremdkapital-Betafaktoren (auch bezeichnet als Debt-Beta) explizit in die Wertüberlegungen einzuführen.
3.495
Hinter diesem Vorschlag steht die Überlegung, dass im Gegensatz zu sog. sicheren Finanzanla- 3.496 gen, wie beispielsweise festverzinsliche Wertpapieren des Bundes oder der Länder, das Fremdkapital verschuldeter Unternehmen grundsätzlich nicht risikolos sondern riskanter anzusehen sei. Dementsprechend hat die langjährige Praxis kritisiert, dass im Hinblick auf die Risikobeurteilung des Fremdkapitals bei der Bewertung einerseits beim Fremdkapital- und damit auch beim Kapitalisierungszins ein risikobehaftetes Fremdkapital unterstellt wurde und andererseits bei der Ableitung von Betafaktoren anhand der in Praxis verwendeten Reaktionshypothese nach Modigliani/Miller implizit von risikofreiem Fremdkapital ausgegangen wurde.377 Aufgrund dessen mehren sich zunehmend die Vorschläge, diese vordergründliche Inkonsistenz zu beseitigen und in der Unternehmensbewertung ebenso einen fremdkapitalbezogenen Faktor bei der Ermittlung des Risikozuschlags abzubilden. Rechnerisch soll dieses Fremdkapitalrisiko im Fall stark verschuldeter Unternehmen durch 3.497 Einbezug eines Fremdkapital-Betafaktors in die Reaktionshypothese nach Modigliani/Miller integriert werden, wobei die Ermittlung des Fremdkapital-Beta nach folgender Formel erfolgen soll: ßDebt =
E[rFK] − rf MRP
Hinsichtlich des Verhältnisses von Fremdkapitalzinssatz und risikofreiem Zinssatz gilt nach überwiegender Meinung der Fachliteratur, dass der Fremdkapitalzinssatz sowohl einen Zinsanteil enthält. Dieser weist keinerlei Risikokomponenten auf, sondern stellte lediglich eine geforderte rechnerische Mehrrendite dar, welche vom Fremdkapitalgeber rechnerisch lediglich zum vollständigen Ausgleich eines statistischen Kreditausfalls zu fordern ist, um im Erwartungswert aus der Kreditvergabe denselben Zinsertrag wie eine risikofreie Anlage zu erzielen. Nur die über diesen notwendigen Zinsanteil zum 100%igen Ausgleich des Zinsausfallrisikos hinausgehende Mehrrenditeforderung eines Fremdkapitalgebers stellt im finanzmathematischen Sinne eine echte Risikoprämie als Entschädigung für das übernommene Kreditrisiko dar. Und nur diese Komponente wäre bei der Bestimmung des Debt-Beta abzubilden.
3.498
Rechnerisch lässt sich das folgendermaßen darstellen: Die Nominalverzinsung rFK
3.499
abzgl. des Zinsverlustes aufgrund eines Kreditausfalls a ∙ rFK und abzgl. eines echten Risikozuschlags Ϛ ist rechnerisch identisch mit dem risikofreien Zinssatz: E[rFK] = rFK − a ∙ rFK − Ϛ = rf .
Hieraus lässt sich ableiten, dass für die Bestimmung des Debt-Betafaktors die Kenntnis des echten Risikozuschlags Ϛ 377 Dasselbe gilt auch für die Reaktionshypothesen nach M.E. und HP; vgl. Booth/Laurence (2007), European Financial Management, 2007, 29-48.
Keim/Jeromin
233
Kap. 3 Rz. 3.500
Bewertung
erforderlich ist, da unter Kenntnis der hier dargestellten Zusammenhänge sich durch einfaches Umstellen aus der im vorletzten Abschnitt für die Ermittlung des Debt-Betas ergibt, dass der Debt-Betafaktor sich keinesfalls aus Quotient von Nominalzinssatz und risikofreiem Zinssatz und der Marktrisikoprämie ermittelt, sondern aus dem Quotienten von echtem Risikozuschlag Ϛ
und der Marktrisikoprämie. Mithin gilt für die Berechnung des Debt-Beta folgender mathematischer Zusammenhang: ßDebt =
rFK − rf a ∙ rf Ϛ = − MRP MRP MRP
3.500 Verschiedene Praktiker (vgl. z.B. IDW WpHB 2014, Band II, S. 129) empfehlen für die Ableitung des Debt-Beta statt korrekt auf das echte Fremdkapitalrisiko abzustellen, hilfsweise auf die Zinsspreads zwischen risikobehaftetem Fremdkapital und sicherer Anlage abzustellen: Debt ßPraktiker =
rFK − rf MRP
3.501 Wie der Vergleich zwischen theoretischer und Praktikerlösung zeigt, überschätzt die Praktikerlösung jedoch den Debt-Beta mit dem Ergebnis, dass der Eigenkapitalzinssatz dadurch systematisch zu niedrig ausgewiesen wird:
3.502
rFK − rf rFK − rf a − rf > − MRP MRP MRP
3.503 Aufgrund dieser Differenzen ist die theoretische und praktische Anwendbarkeit des DebtBetafaktorenverfahren nur gegeben, sofern der Schätzfehler zu vernachlässigen ist. Nach Untersuchungsergebnissen verschiedener empirischer Studien liegt der vorangegangen mit Ϛ
bezeichnete echte, für die Ableitung des Debt-Betafaktor tatsächlich alleinig relevante Risikoanteil am Zinsspread je nach Untersuchungsmethodik überwiegend in der Bandbreite von höchstens 10 % bis 30 % des gesamten Zinsspreads. Aufgrund dieser Überlegungen muss die Praktikerlösung der Bestimmung des Debt-Betafaktors nicht nur als theoretisch fehlerhaft, sondern als praktisch unzureichend bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund von ohnehin hoher Schätzunsicherheit bei der Ableitung von Risikoprämien, ist die Verwendung der Praktikerlösung zu Debt-Betafaktoren bei der Ableitung von Risikozuschlägen weder erkenntniserhöhend noch als zuverlässig anzusehen. Von dessen Anwendung ist daher grundsätzlich abzuraten. Sofern bei der Berechnung gleichwohl auf die Anwendung des Debt-Betafaktors nicht verzichtet werden soll, ergeben sich Modifikationen bei der Bestimmung des Betafaktors, die nachfolgend am Beispiel der Reaktionshypothese von Modigliani/Miller verdeutlicht wird:
234
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
ßL = ßU ∙ 1 + (1 − s) ∙
Rz. 3.507 Kap. 3
FK FK = ßU + ßU ∙ (1 − s) ∙ EK EK
mit: bL bU s FK EK
= = = = =
Beta des verschuldeten Unternehmens („levered“ Beta) Beta des voll eigenkapitalfinanzierten Unternehmens („unlevered“ Beta) Unternehmensteuersatz Marktwert des Fremdkapitals Marktwert des Eigenkapitals
Man erkennt, dass die Annahme von Modigliani/Miller einen Spezialfall darstellt, bei dem das Fremdkapital nicht risikobehaftet ist. Die Nicht-Berücksichtigung des Fremdkapital-Betas kann zu Eigenkapitalkosten führen, die vom operativen Risiko des Unternehmens entkoppelt sind und die zu systematischen Fehleinschätzungen des Risikos der Eigenkapitalgeber führen. Folglich überschätzt Modigliani/Miller den Anteil des operativen Risikos den die Eigenkapitalgeber übernehmen bei der Ableitung des Equity Betas („Levered Beta“). Da das Fremdkapital bei Modigliani/Miller implizit risikolos ist, wird ihm kein Anteil am operativen Risiko zugewiesen und die ermittelten Eigenkapitalkosten sind zu hoch.
3.504
III. Anwendung des CAPM bei der Bewertung ausländischer Unternehmen Sind Unternehmen mit Sitz im Ausland zu bewerten erfordert dieses länderspezifische Zinssätze. Bei der Bewertung von Beteiligungen in hochentwickelten Ländern ist die Ableitung der Zinssätze tendenziell unproblematisch. Herausforderungen treten insbesondere bei Bewertungen von Unternehmen aus Emerging-Market-Ländern und aus Entwicklungsländern auf. Eine auf Staatsanleihen jener Länder gestützte Basiszinsermittlung scheitert regelmäßig an fehlenden Kapitalmarktdaten. Fraglich ist auch, ob die vom jeweiligen Staat begebenen Anleihen tatsächlich als risikolos anzusehen sind. Marktrisikoprämien können oft nicht bestimmt werden.
3.505
Um in diesen Fällen dennoch verwendbare Kapitalisierungszinssätze zu ermitteln, kann bspw. der pragmatische Ansatz nach Damodaran verwendet werden. Hierbei wird die jeweilige Marktrisikoprämie über länderspezifische Zuschläge zur Marktrisikoprämie eines hochentwickelten Landes mit ausreichender Kapitalmarkthistorie ermittelt. Der Betafaktor wird entweder, im Falle eines börsennotierten Bewertungsobjekts, über die Regression gegenüber einem landesspezifischen Marktindex oder, falls das Bewertungsobjekt selbst nicht gelistet ist, über Vergleichsunternehmen bestimmt.
3.506
Die Höhe der länderspezifischen Zuschläge auf die Marktrisikoprämie (Länderrisikoprämien) orientiert sich nach Damodaran an der langfristigen Bonitätseinschätzung der jeweiligen im Umlauf befindlichen Staatsanleihen. Ausgehend von jenen Ratings wird der Spread von Fremdkapitaltiteln dieser Ratingklasse gegenüber Anleihen bester Bonität bestimmt. Da Investitionen in Aktien gegenüber Investitionen in Anleihen aufgrund der Nachrangigkeit grundsätzlich riskanter einzustufen sind, empfiehlt Damodaran den aus Staatsanleihen ermittelten Spread nach oben anzupassen. Um diese Anpassung intersubjektiv nachprüfbar zu gestalten, wird von ihm ein Abstellen auf Marktdaten präferiert. Als möglichen Anpassungsfaktor führt Damodaran durchschnittliche, weltweit zu beobachtende Relationen aus der Volatilität der Aktienmärkte und der Volatilität der Anleihemärkte an. In seinen Berechnun-
3.507
Keim/Jeromin
235
Kap. 3 Rz. 3.508
Bewertung
gen verwendet Damodaran einen Wert von 1,5. Der zuvor aus Anleihen ermittelte Spread ist damit für Zwecke der Ermittlung von Eigenkapitalkosten um die Hälfte zu erhöhen. Im Januar 2009 ergeben sich für einen US-amerikanischen Investor die nachfolgend dargestellten Länderrisikoprämien.
3.508 Länderrisikozuschläge ausgewählter Länder aus Sicht eines US-amerikanischen Investors: Afrika Ägypten Südafrika
10 % 3,39 %
Osteuropa Polen Russland Ukraine
Asien China Japan Indien
1,08 % 1,08 % 2,93 %
Mittlerer Osten Katar Saudi Arabien
Ozeanien Australien Neuseeland Latein- und Südamerika Brasilien Mexiko Venezuela
0% 0%
4,62 % 1,85 % 15,37 %
Nordamerika Kanada USA Westeuropa Deutschland Italien Großbritannien
1,30 % 3,84 % 13,85 %
0,93 % 1,08 %
0% 0%
0% 2,93 % 0,76 %
Abb. 33: Länderrisikozuschläge Quelle: Damodaran, abrufbar im Februar 2018 im Internet auf den Seite http://pages.stern.nyu.edu/ ~adamodar
IV. Wachstumsabschlag 3.509 Wenn die Planung der finanziellen Überschüsse des Bewertungsobjekts auf nominalen Größen basiert, sind zukünftig erwartete Preissteigerungen in den Planzahlen der Detailplanungsphase berücksichtigt. Eine detaillierte Planung der finanziellen Überschüsse liegt jedoch häufig nur für die kommenden drei bis fünf Wirtschaftsjahre vor.378 Anschließend an die Detailplanungsphase wird in der Regel ein wachsendes nachhaltiges Ergebnis angesetzt.
3.510 Der Wachstumsabschlag379 im Kapitalisierungszinssatz erweist sich in einem Zwei-Phasenmodell als ein wesentlicher Werttreiber für den Unternehmenswert und erfordert eine sorgfältige Analyse der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Bewertungsobjekts.380 Die Praxis zeigt, dass die Abschätzung des Wachstumsabschlags mit Schwierigkeiten verbunden ist. 378 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 77. 379 Die häufig gewählte Bezeichnung Wachstumsabschlag resultiert daraus, dass in der Formel zur Berechnung des Barwerts einer wachsenden ewigen Rente im Nenner die Wachstumsrate vom Kapitalisierungszinssatz subtrahiert wird. 380 Aus zwei Gründen stellt der Wachstumsabschlag einen wesentlichen Werttreiber des Unternehmenswerts dar. Erstens reagiert der Barwert der ewigen Rente äußerst sensitiv auf Änderungen des Nenners, d.h. auf Änderungen des Kapitalisierungszinssatzes und des Wachstumsabschlags. Zweitens liegt der Anteil der diskontierten finanziellen Überschüsse der Detailplanungsphase häufig bei nur zehn bis dreißig Prozent des gesamten Unternehmenswerts, wodurch den Para-
236
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.513 Kap. 3
Der Bewerter muss die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Bewertungsobjekts sorgfältig analysieren. Nach IDW S 1, Rz. 96 kann die erwartete Inflationsrate ein erster Anhaltspunkt für die Höhe des Wachstumsabschlags sein. Bei der Schätzung der im Rahmen einer objektivierten Unternehmenswertermittlung anzusetzenden Wachstumsrate gilt es zu beachten, dass gemäß IDW S 1, Rz. 32 auf die am Bewertungsstichtag vorhandene Ertragskraft abzustellen ist. Nicht hinreichend konkretisierte Maßnahmen und deren zukünftige Ergebniseffekte bleiben unberücksichtigt. Aus diesem Grund sind Innovationen und Erweiterungsinvestitionen im Rahmen der zukünftigen finanziellen Überschüsse regelmäßig nicht anzusetzen. Der Wachstumsabschlag im Kapitalisierungszinssatz repräsentiert ein im langfristigen Durchschnitt erwartetes Gewinnwachstum eines Unternehmens. Vereinfacht formuliert handelt es sich um einen hinsichtlich Konjunkturzyklen geglätteten Wachstumstrend. Die Schätzung des Gewinnwachstums erweist sich als eine komplexe Aufgabe, die in der Praxis kaum erschöpfend zu lösen ist. Um einen Überblick über das Wachstumspotential zu erlangen, können historisch erzielte Wachstumsraten der Jahresgewinne deutscher Industrieunternehmen verschiedenster Größenklassen und Rechtsformen anhand von Veröffentlichungen der Deutschen Bundesbank zur wirtschaftlichen Entwicklung in der westdeutschen Industrie in den Jahren von 1971 bis 1994 herangezogen werden.381
3.511
Die Jahresüberschüsse deutscher Industrieunternehmen382 wuchsen in den Jahren 1971 bis 1994 durchschnittlich mit 1,7 % p.a. Damit lag das durchschnittliche Gewinnwachstum rund 50 % unter der langjährigen Inflationsrate der Konsumentenpreise. Diese stiegen im Vergleichszeitraum durchschnittlich mit 3,7 % jährlich. Teilweise in Literatur und Rechtsprechung geäußerte Ansichten, wonach Unternehmensgewinne mindestens in Höhe der Inflation ansteigen müssten, lassen sich empirisch nicht bestätigen. Das im Vergleich zur Inflation nur unterdurchschnittliche Gewinnwachstum ist darauf zurückzuführen, dass es deutschen Unternehmen im Betrachtungszeitraum im Mittel nicht gelang, Kostensteigerungen vollständig auf die Absatzpreise zu überwälzen. Dieses zeigt sich darin, dass im Betrachtungszeitraum die Umsatzerlöse nominal mit 5,3 % p.a. stiegen, während die Aufwendungen im gleichen Zeitraum um 0,1 Prozentpunkte p.a. stärker zunahmen und ein Wachstum von 5,4 % p.a. aufwiesen. Im Ergebnis verschlechterten sich die Umsatzrenditen von 3,3 % im Jahre 1971 auf 1,6 % im Jahre 1994. Der empirisch beobachtete Gewinnanstieg war demzufolge ausschließlich mengenbedingt und wurde zum Teil über (Eigen-)Kapitalzuführungen383 finanziert. Diese Ergebnisse wurden auf ihre Stabilität hinsichtlich unterschiedlicher Konjunkturzyklen überprüft.
3.512
Die Auswahl geeigneter Konjunkturzyklen erfolgte durch die Analyse von Wachstumsraten des deutschen Brutto-Inlandsprodukts (BIP). Das BIP-Wachstum stieg im Zeitraum 1967 bis 1969 von real rund 0 % auf annähernde 8 % p.a. an, um in den zwei darauf folgenden Jahren 1970 und 1971 wieder auf rund 3 % zu fallen. Damit sind die Jahre 1970 und 1971 einer konjunkturellen Schwächephase zuzuordnen. Ein weiterer konjunktureller Abschwung wurde in
3.513
metern, welche Eingang in die Formel der ewigen Rente finden, eine herausragende Bedeutung zukommt. 381 Vgl. Deutsche Bundesbank, Sonderveröffentlichung, S. 19–23. Die in der Literaturquelle angeführten Daten für 1995 und 1996 sind lediglich Schätzwerte und schieden für die Analysen aus. 382 Nicht eingeschlossen sind Unternehmen aus der „New Economy“ sowie dem Finanzdienstleistungsbereich. 383 Die durchschnittliche Thesaurierungsquote betrug in den Betrachtungszeiträumen rund 50 %.
Keim/Jeromin
237
Kap. 3 Rz. 3.514
Bewertung
den Jahren 1980 sowie 1991 bis 1993 beobachtet. Aufgrund dieser Überlegungen lassen sich für die Bundesrepublik Deutschland folgende Konjunkturzyklen erkennen:384 Zyklus
Gewinnwachstum (p.a.)
Inflation (p.a.)
Gewinnwachstum zur Inflation (p.a.)
1971 bis 1980
2,2 %
5,1 %
44,0 %
1980 bis 1994
1,4 %
2,9 %
48,0 %
1971 bis 1994
1,7 %
3,7 %
45,9 %
1971 bis 1992
1,7 %
3,8 %
45,1 %
Abb. 34: Gewinnwachstum und Inflation in den einzelnen Konjunkturzyklen Quelle: Deutsche Bundesbank, abrufbar im Februar 2004 im Internet unter http://www.bundesbank.de.
3.514 Aus der obigen Abbildung ist zu entnehmen, dass in keinem einzigen oben dargestellten vollständigen Konjunkturzyklus das Gewinnwachstum nur annähernd das Niveau der Inflation erreichen konnte. Die Gewinne konnten im Durchschnitt lediglich mit Raten von 1,4 % bis 2,2 % p.a. gesteigert werden, während die Konsumentenpreise mit 2,9 % bis 5,1 % p.a. anstiegen. Daraus folgt, dass zwischen der Inflation und der Höhe des Gewinnwachstums ein zyklusübergreifender stabiler Zusammenhang besteht.385 Im Durchschnitt beträgt das in einem Konjunkturzyklus realisierte Gewinnwachstum lediglich 45 % bis 50 % der Inflationsrate. Auch bei Kenntnis der deutschen Wirtschaftsentwicklung in den 90er-Jahren erweist sich der Zusammenhang von Inflationsrate und Gewinnwachstum als stabil. Im Zeitraum von 1971 bis 2001386 wuchsen die Jahresüberschüsse deutscher Unternehmen mit Raten von durchschnittlich 1,4 %,387 während die jährliche Inflationsrate im Mittel 3,1 % p.a.388 betrug. Die vorstehend aufgeführten Gewinnwachstumsraten deutscher Industrieunternehmen erweisen sich bei näherer Betrachtung allerdings als eine Obergrenze, da die aus der BundesbankStudie ablesbare Gewinnentwicklung durch nachfolgend erläuterte Sonderfaktoren verzerrt wird.
384 Vgl. Baßeler/Heinrich/Utecht, S. 705–725; Pätzold, S. 56–82. 385 Können Unternehmen Preissteigerungen nicht vollständig weitergeben und sind zudem Mengensteigerungen aufgrund der Vernachlässigung von Innovationen und Erweiterungsinvestitionen zu vernachlässigen, kann davon ausgegangen werden, dass das langfristige thesaurierungsbereinigte Wachstum der Unternehmensgewinne unterhalb der Inflationsrate liegt. 386 Sowohl die Gewinne des Jahres 1971 als auch des Jahres 2001 befinden sich unmittelbar nach einem relativen Konjunktur-Hochpunkt. Da über das Jahr 2001 mit einer weiteren Verschlechterung der Gewinne zu rechnen ist, konnte das Jahr 2001 nicht als relativer Konjunkturtiefpunkt definiert werden. Vgl. zur weiteren Entwicklung über das Jahr 2001 hinaus z.B. die Entwicklung der kumulierten Earnings per Share der Dax 30-Unternehmen, Quelle: Thomson DataStream. 387 Vgl. Deutsche Bundesbank, Sonderveröffentlichung, S. 18–20, Deutsche Bundesbank, Monatsbericht März 2000, S. 34; Deutsche Bundesbank, Monatsbericht März 2001, S. 23; Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 2002, S. 38; Deutsche Bundesbank, Monatsbericht April 2003, S. 54. Berücksichtigt wurde auch die Neuabgrenzung des Untersuchungsfeldes im Zeitablauf sowie die neue Grundgesamtheit Bundesrepublik Deutschland gesamt. 388 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Preise. Verbraucherpreisindex und Einzelhandelspreise, Lange Reihe ab 1984–2002, S. 3 f. Fehlende Daten für 2000 und 2001 wurden beim Statistischen Bundesamt direkt erfragt.
238
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.522 Kap. 3
So weisen die Bundesbank-Daten einen „Survivorship Bias“ auf, da in der Datenbasis nega- 3.515 tive Ergebnisbeiträge von aus dem Markt ausgeschiedenen Unternehmen fehlen. Damit wird die langfristige Ergebnisentwicklung zu positiv ausgewiesen. Zum Ausgleich der ergebnisverzerrenden Effekte ist deswegen vom Wachstumsabschlag eine „Konkursprämie“ abzuziehen. Kritisch ist weiter, dass die in der Bundesbank-Studie erfassten Unternehmen ihre Jahresüberschüsse im gesamten Untersuchungszeitraum zu nicht vernachlässigbaren Teilen thesaurierten. Damit ist das realistische Wachstumspotential sogar überschätzt worden. Dabei ist das langjährige Gewinnwachstum bei thesaurierenden Unternehmen im Vergleich zu voll ausschüttenden Gesellschaften generell höher, weil thesaurierte Gewinne für Investitionen verwendet werden und eine zusätzliche Rendite in Form zeitlich nachgelagerter Gewinne generieren. Da in der Unternehmensbewertung die zu kapitalisierenden Erträge in der Regel auf Basis der Vollausschüttungsprämisse bestimmt werden, muss der Wachstumsabschlag im Kapitalisierungszinssatz um die aufgrund der vollen Gewinnausschüttung wegfallenden zukünftigen Ergebniszuwächse korrigiert werden.
3.516
Neuere Veröffentlichungen zum Wachstumsabschlag sind die Arbeiten von Knoll (2008), Meitner (2007), Tschöpel/Wiese/Willershausen (2009). Knoll kommt in seiner Veröffentlichung zu dem Ergebnis, dass Wachstumsraten zwischen 5-10 % p.a. liegen. Seine Untersuchungen basieren allerdings auf erheblichen methodischen Schwächen die darin bestehen, dass er eine wenig repräsentative Datenbasis verwendet und übersieht, dass die Wachstumseffekte von Ergebnisthesaurierungen für die Ermittlung von Wachstumsraten grundsätzlich zu bereinigen sind. Schließlich ist sein Ergebnis deswegen unplausibel, da die von ihm vorgeschlagenen Wachstumsraten nicht mit den von ihm akzeptierten Größenordnungen für die Kapitalmarktrendite übereinstimmen und insofern seine Aussagen in sich widersprüchlich sind.
3.517
Meitner gelangt mit überzeugender Methodik zu der Erkenntnis, dass Wachstumsabschläge grundsätzlich klein, gegebenenfalls sogar 0 sein müssen.
3.518
Tschöpel/Wiese/Willershausen stellen in ihren Untersuchungen die Wichtigkeit der Berücksichtigung von Thesaurierungseffekten in den Vordergrund. Faktisch führen ihre Analysen zur Erkenntnis, dass nur vorsichtig geschätzte Wachstumsraten in der Unternehmensbewertung verwendbar sind.
3.519
In einer auf Widmann/Schieszl/Jeromin sowie Bundesbankdaten aufbauenden Untersuchung 3.520 kann die Höhe der historisch in Deutschland beobachteten Wachstumsraten bis zum Jahr 2007 fortgeschrieben werden. Hierbei können explizit Wachstumseffekte aus Ergebnisthesaurierung ermittelt werden. Im Ergebnis gelangt man zu der Erkenntnis, dass nur Wachstumsabschläge von 0,4 % bis höchstens 1,0 % empirisch nachweisbar sind. Im Ergebnis dieser Überlegungen wird von neueren Untersuchungen und Überlegungen zum Wachstumsabschlag bestätigt, dass Wachstumsabschläge allenfalls in vorsichtig geschätzten Größenordnungen von 0,5 % bis 2,0 % angemessen sind. Die Orientierung des Wachstumsabschlags an der halben Inflationsrate wird auch durch die neueren Untersuchungen nicht widerlegt.
3.521
In welchem Bereich dieser Bandbreite der Wachstumsabschlag gewählt werden sollte, ist einzelfallbezogen zu prüfen. So erfordert die Wertbestimmung des Wachstumsabschlags eine
3.522
Keim/Jeromin
239
Kap. 3 Rz. 3.523
Bewertung
eingehende Analyse langfristig prognostizierter Wachstumstrends und damit verbundener Investitionserfordernisse.389
V. Steuern im Kapitalisierungszinssatz 3.523 Nach dem Erfordernis der Steueräquivalenz sind Erträge und Kapitalisierungszinssätze steuerlicher vergleichbar bei einer Wertermittlung zu behandeln. Das sichert die Konsistenz der Unternehmensbewertung im Kontext mit dem Vergleich der Alternativinvestition.
3.524 Bei Bewertung nach dem Vorgehen der unmittelbaren Typisierung gemäß IDW S 1 i.d.F. 2008, Tz. 31 sind damit sowohl die prognostizierten finanziellen Überschüsse der Unternehmung als auch die Rendite der Alternativinvestition um persönliche Ertragsteuern zu kürzen sind.390 Als geeignete Alternativanlage wird vom IDW S 1 i.d.F. 2008 ein Aktienportfolio empfohlen, dessen Rendite als Ausgangsgröße zur Ableitung der Alternativverzinsung heranzuziehen ist391. Die Rendite vor Steuern des äquivalenten Aktienportfolios wird, wie in der Bewertungspraxis üblich, mittels des Standard-CAPMs abgeleitet.
3.525 Für die Berücksichtigung persönlicher Ertragsteuern gemäß der unmittelbaren Typisierung des IDW S 1 i.d.F. 2008 wird die steuerliche Äquivalenz zwischen den Anlageformen dadurch hergestellt,392 dass der Kapitalisierungszinssatz um einen typisierten Steueranteil393 gekürzt wird.394 Für die steuerliche Kürzung des Kapitalisierungszinssatzes wird auf das von Brennan bereits 1970 entwickelte Tax-CAPM abgestellt, welches eine konzeptionelle Weiterentwicklung des prämissengemäß die persönliche Einkommensteuer nicht berücksichtigende StandardCAPM darstellt.
3.526 Die in der Bewertungspraxis zur Anwendung kommende, modifizierte Tax-CAPM-Renditegleichung lautet:
389 390 391 392
Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Tz. 97. Vgl. Schneider, S. 193, 218–220. Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Tz. 45. Die Steuerbelastung der Erträge aus dem zu bewertenden Unternehmen und der alternativen Kapitalanlage am Finanz- und Kapitalmarkt kann grundsätzlich nicht gegeneinander aufgerechnet werden, weil die Steuerbelastungen der beiden Investitionsalternativen hinsichtlich Zeitpunkt und Höhe unterschiedliche Strukturen aufweisen. Nur bei sicheren Erwartungen, unendlicher Unternehmensfortführung und uniformen Periodenerträgen aus dem Unternehmen, die demselben Steuerfaktor unterliegen wie die Alternativanlage, ist eine separate Berücksichtigung der Steuerbelastung entbehrlich. Diese restriktiven Bedingungen sind in der Praxis so gut wie nie erfüllt. Vgl. Ballwieser, WPg. 1995, S. 119 ff. 393 Die Verwendung typisierter Einkommensteuersätze bei der Berechnung der Überschüsse und des Kapitalisierungszinssatzes ist nicht zwingend. So ist bei Berechnung eines subjektiven Unternehmenswerts auch der individuelle Steuersatz des Investors verwendbar. Eine Besonderheit des subjektiven Unternehmenswertes liegt darin, dass der individuelle Einkommensteuersatz des Investors nicht als gegeben betrachtet werden muss. Es besteht die Möglichkeit, den Erwerb einer Kapitalgesellschaft bzw. einer Beteiligung steueroptimierend zu gestalten. Hierbei hängt die konkrete Steuerwirkung für den Investor davon ab, wie er die Akquisition gestaltet. Infrage kommen bspw. der Erwerb der Anteile an einem Unternehmen (share deal) oder des Betriebs einer Kapitalgesellschaft (asset deal) oder eine Mischform aus beiden. Vgl. dazu eine Übersicht von Mandl/Rabel, S. 185. 394 Vgl. Kruschwitz, Investitionsrechnung, S. 129–147.
240
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.530 Kap. 3
rinS = rf ∙ (1 − se) + MRPnS ∙ ßi
mit: rinS rf se MRPnS bi
= = = = =
Nettorendite des Eigenkapitals nach persönlichen Steuern, Rendite der risikolosen Anlagemöglichkeit, Abgeltungsteuersatz der Einkommensteuer, Marktrisikoprämie nach Steuern, Maß für das systematische Risiko des Wertpapiers i.
Für Bewertungsanlässe, deren Bewertung auf der mittelbaren Typisierung der persönlichen Ertragsbesteuerung basiert bzw. zum Zweck der Bewertung einer Beteiligungen aus Sicht des die Beteiligung bilanzierenden Unternehmens, erfolgt die Ableitung des Kapitalisierungszinses gemäß des Standard-CAPMs. In diesem Fall wird die persönliche Einkommensteuer der Kapitalgeber weder bei den finanziellen Überschüssen noch bei der Alternativanlage zum Abzug gebracht, da in diesen Fällen die implizite Annahme einer vergleichbaren Besteuerung des Bewertungsobjekts und der Alternativinvestition (sog. Steueräquivalenz) unterstellt wird.395 Die Renditegleichung des Standard-CAPMs lautet hierfür:
3.527
rivS = rf ∙ + MRPvS ∙ ßi
3.528
mit: rivS MRPvS
= Bruttorendite des Eigenkapitals vor persönlichen Steuern, = Marktrisikoprämie vor Steuern,
Die Herleitung der Kapitalisierungszinssätze vor und nach Steuern in Form der jeweiligen 3.529 Rendite des Eigenkapitals bedarf neben der kapitalmarktorientierten Ableitung des Betafaktors und des Basiszinses zusätzlich der Bestimmung der Marktrisikoprämien vor und nach Steuern. Die für das CAPM bzw. das Tax-CAPM anzusetzenden Marktrisikoprämien werden unter Verwendung der Ergebnisse empirischer Kapitalmarktstudien und unter Berücksichtigung der durch die Unternehmensteuerreform 2008 geänderten Rechtslage bestimmt. Zu diesem Zweck wird die empirisch beobachtete Aktienmarktrendite in einen Dividendenanteil und einen Kursgewinnanteil gesplittet und die beiden Renditebestandteile entsprechend den empirischen Erkenntnissen bzw. nach den aktuellen Vorgaben des Einkommensteuergesetzes besteuert. Nach der Unternehmensteuerreform 2008 bedeutet dies, dass bewertungstechnisch der Netto-Kapitalisierungszinsfuß sich aus einem der Abgeltungsteuer vollständig unterliegenden (Basis-)Zinsteil und einer steuerlich effektiv niedriger besteuerten Kursgewinnkomponente zusammensetzt. Auf Basis der aus statistischen Wirtschaftsdaten für deutsche Unternehmen abgeleiteten re- 3.530 präsentativen Ausschüttungsquote von durchschnittlich zwischen 40 % und 60 %396 kann davon ausgegangen werden, dass der Dividendenanteil sich auf ca. 50 % der Aktienrendite vor Steuern beläuft und dieser in voller Höhe der Abgeltungsteuer unterliegt.397 Die restlichen 50 % sind dagegen als Kursgewinnanteil lediglich mit dem typisierten, von der Haltedauer und der Kursrendite der Aktien abhängenden Steuersatz auf Veräußerungsgewinne i.H.v. 395 Vgl. Wagner/Saur/Willershausen, S. 734. 396 Vgl. Wagner/Saur/Willershausen, S. 739 f. 397 Vgl. Wagner/Saur/Willershausen, S. 735.
Keim/Jeromin
241
Kap. 3 Rz. 3.531
Bewertung
13,2 % zu versteuern.398 Diese zur Ableitung der Netto-Rendite nach dem Tax-CAPM abgeleiteten Ergebnisse sind darüber hinaus an die am Kapitalmarkt beobachtbaren Marktrisikoprämien anzupassen.
3.531 Unabhängig von der Höhe des anzusetzenden typisierten Steuersatzes wird nach IDW S 1 i.d.F. 2008 der Kapitalisierungszinssatz nach Steuern anhand des nachfolgenden Schemas berechnet: Detailplanungsphase -
ewige Rente
Basiszins Typisierte Steuern der Anteilseigner (26,375 %)
Basiszinssatz nach typisierten Steuern der Anteilseigner + Risikozuschlag (Marktrisikoprämie nach typisierten Steuern der Anteilseigner × Betafaktor)
-
Kapitalisierungszinssatz nach typisierten Steuern der Anteilseigner Wachstumsabschlag Kapitalisierungszinssatz nach typisierten Steuern der Anteilseigner und nach Wachstumsabschlag
Abb. 35: Ermittlung des Kapitalisierungszinssatzes nach der Zinszuschlagsmethode399
3.532 Beim Abstellen auf die tatsächliche Steuerbelastung des Investors im Rahmen der Ermittlung subjektiver Unternehmenswerte ist grundsätzlich analog zur unmittelbaren Typisierung vorzugehen, d.h. zum einen ist für den Basiszinssatz eine Steuersatz von 26,375 % anzusetzen und zum anderen ist ein Risikozuschlag nach Steuern zu verwenden. Die Voraussetzung der Verwendung eines geringeren Steuersatzes zur Berechnung des Nachsteuerbasiszinssatzes gem. § 32d Abs. 6 EStG dürfte nur in seltenen Ausnahmefällen erfüllt sein. Da sich die Ermittlung subjektiver Entscheidungswerte an den individuellen Verhältnissen des Investors orientiert, ist als Alternativinvestition nicht zwingend ein Aktienportfolio anzusetzen. Auch die Ablösung eines bestehenden Kredits kann bspw. als Alternativinvestition gewählt werden.400 Im Fall der mittelbaren Typisierung oder einer Bewertung gemäß IDW RS HFA 10 empfiehlt der FAUB eine entsprechende Marktrisikoprämie vor Steuern i.H.v. 5 %.
VI. Kapitalisierungszinssatz nach der Zinszuschlagsmethode 1. Ableitung des Kapitalisierungszinssatzes
3.533 Ausgehend von dem zum Beginn des Jahres 2018 geltenden Zinsniveau leitet sich nach dem IDW S 1 der Kapitalisierungszinssatz unter der exemplarischen Annahme aktueller (Stand: Februar 2018) Basiszinssätze, Marktrisikoprämien und Wachstumsabschläge für die Detail398 Vgl. Wiese, WPg. 2007, 370 f.; Wagner/Saur/Willershausen, S. 735 f. 399 Der Wachstumsabschlag ist nicht um die persönliche Ertragsteuer des Investors zu kürzen; vgl. Ballwieser, DB 1997, 2396 und Siegel, DB 1997, 2392. 400 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Tz. 123.
242
Keim/Jeromin
E. Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes
Rz. 3.534 Kap. 3
planungsphase und die Phase der ewigen Rente nach den folgenden Schemata ab, die sich ihrerseits lediglich in der Behandlung persönlicher Einkommensteuer unterscheiden: Kapitalisierungszinssatz bei Nachsteuerrechnung
Basiszinssatz
ZinsDetailkomponente planungsphase
Phase der ewigen Rente
1,25 %
1,25 %
1,25 %
26,38 %
-0,33 %
-0,33 %
0,92 %
0,92 %
Risikozuschlag nach pauschaler Abgeltungsteuer
5,50 %
5,50 %
Kapitalisierungszinssatz vor Wachstumsabschlag
6,42 %
6,42 %
Pauschale Abgeltungsteuer (inkl. SolZ) Basiszinssatz nach pauschaler Abgeltungsteuer (inkl. SolZ) Marktrisikoprämie nach pauschaler Abgeltungsteuer Betafaktor
Wachstumsabschlag in der ewigen Rente
5,50 % 1,00
Kapitalisierungszinssatz für die Bewertung
Kapitalisierungszinssatz bei Vorsteuerrechnung
Basiszinssatz
-1 %
1% 6,42 %
ZinsDetailkomponente planungsphase
1,25 %
Marktrisikoprämie vor pauschaler Abgeltungsteuer
7%
Betafaktor
1,00
Wachstumsabschlag in der ewigen Rente Kapitalisierungszinssatz für die Bewertung
Phase der ewigen Rente
1,25 %
1,25 %
7%
7%
8,25 %
8,25 %
Risikozuschlag Kapitalisierungszinssatz vor Wachstumsabschlag
5,42 %
-1 %
1% 8,25 %
7,25 %
Abb. 36: Ermittlung des Kapitalisierungszinssatzes für die Bewertung
2. Angemessenheitsbeurteilung des Kapitalisierungszinssatzes Da sich die für eine Unternehmensbewertung benötigten Kapitalisierungszinssätze auf unterschiedlichsten Wegen ermitteln lassen, hat sich ein Unternehmensbewerter nach der Ableitung des Kapitalisierungszinssatzes ein Urteil über die Plausibilität des insgesamt sich ergebenden Kapitalisierungszinssatzes zu verschaffen. Keim/Jeromin
243
3.534
Kap. 3 Rz. 3.535
Bewertung
3.535 Mithin wird ein Kapitalisierungszinssatz grundsätzlich als angemessen zu beurteilen sein, wenn er seiner Höhe nach innerhalb empirisch bestätigter Bandbreiten liegt. Ergibt sich aber ein Wert außerhalb jener Bandbreiten, sollte ein Bewerter das Ergebnis und die Abweichungen zunächst prüfen und die Abweichungen erklären. Gegebenenfalls ist im Ergebnis dieser Prüfungshandlung der Kapitalisierungszinssatz noch einmal zu korrigieren, sofern konkrete Umstände des Einzelfalles dem nicht entgegenstehen.
F. Steuerlich und rechtlich regelmäßig auftretende Sonderthemen I. Gesondert bewertbares Vermögen 3.536 In der Bewertungspraxis sind verschiedene Sondertatbestände bei der Bewertung zu berücksichtigen. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um Verlustvorträge und um sog. nicht betriebsnotwendige Vermögensbestandteile.401 1. Verlustvorträge und Zinsschranke a) Gewerbesteuerliche und körperschaftsteuerliche Verlustvorträge
3.537 Grundsätzlich402 ist bei der Bewertung von Verlustvorträgen zwischen handelsrechtlichen und steuerrechtlichen Verlustvorträgen zu unterscheiden. Handelsrechtliche Verlustvorträge haben für die Bewertung Bedeutung, wenn sie zu Ausschüttungssperren führen. Dieses hat zur Konsequenz, dass im Rahmen der Bewertung bis zum Verbrauch der handelsrechtlichen Verlustvorträge von der Vollausschüttungsprämisse Abstand zu nehmen ist.
3.538 Steuerliche Verlustvorträge mindern die Steuerbemessungsgrundlage und reduzieren das zu versteuernde Einkommen. Folglich resultiert eine geringere Steuerschuld, wodurch sich ein absoluter Vermögensvorteil ergibt. Die Bewertung von steuerlichen Verlustvorträgen erfolgt auf integrierte oder separate Weise.
3.539 Bei der integrierten Methode werden die Verlustvorträge direkt bei der Bestimmung der zu kapitalisierenden Ergebnisse berücksichtigt. Bei der Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage und der zukünftigen Unternehmensteuerlast wird in den Planungsperioden der vorhandene Verlustvortrag bis zu dessen Verbrauch explizit berücksichtigt. Werden so ermittelte zukünftige Ergebnisse (nach Unternehmensteuern) kapitalisiert, ist der Wertvorteil der zukünftigen Steuervorteile bereits vollumfänglich im Ertragswert der Unternehmung abgebildet. Alternativ besteht die Möglichkeit, den Wert des Steuervorteils separat zu ermitteln.
3.540 Bei der separaten Methode bleibt der existierende Steuervorteil bei der Ertragswertberechnung zunächst unberücksichtigt, d.h., die vorhandenen Verlustvorträge spielen bei der Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlagen und der Bestimmung der Unternehmensteuer keine Rolle. Werden die so ermittelten zukünftigen Erträge kapitalisiert, ergibt sich der Ertragswert für ein Unternehmen, dessen zukünftige Erträge zunächst voll zu versteuern sind. Der aus dem bestehenden Verlustvortrag resultierende Wertbeitrag wird als Sonderwert zu dem nach
401 Im Hinblick auf die gesondert bewerteten Vermögensbestandteile kann die persönliche Ertragsteuer des Investors einen erheblichen Einfluss auf die Höhe der Unternehmenswerte haben. 402 Im Hinblick auf die gesondert bewerteten Vermögensbestandteile kann die persönliche Ertragsteuer des Investors einen erheblichen Einfluss auf die Höhe der Unternehmenswerte haben.
244
Keim/Jeromin
F. Steuerlich und rechtlich regelmäßig auftretende Sonderthemen
Rz. 3.546 Kap. 3
der indirekten Methode ermittelten Ertragswert addiert. Der gesondert auszuweisende Wert der Verlustvorträge entspricht den kapitalisierten zukünftigen Steuerersparnissen.403 In Deutschland ergibt sich der Vorteil der gewerbesteuerlichen Verlustvorträge aus der daraus erzielbaren Gewerbesteuerersparnis. Die mit einer Nutzung körperschaftsteuerlicher Verlustvorträge verbundenen Vorteile ergeben sich aus der Steuerersparnis der ansonsten mit 15 % Körperschaftsteuer zzgl. SolZ belasteten Einkünfte.404
3.541
Soweit beim Vorliegen steuerlicher Verlustvorträge Ausschüttungen vorgenommen werden, unterliegen diese grundsätzlich der persönlichen Einkommensteuer der Anteilseigner. Ein körperschaftsteuerlicher Verlustvortrag führt insoweit beim Gesellschafter zu keiner direkten Steuerersparnis.405
3.542
Steuerfreie Einkünfte (z.B. bestimmte Auslandseinkünfte) bleiben auf der Ebene der Gesellschaft steuerfrei, sie führen nicht zur Nutzung steuerlicher Verlustvorträge. Bei Ausschüttung steuerfreier Ergebnisbestandteile einer Kapitalgesellschaft unterliegen diese der individuellen Einkommensteuer (Abgeltungsteuer).
3.543
Bei Personengesellschaften und Einzelunternehmen können körperschaftsteuerpflichtige Verlustvorträge nicht bestehen. Soweit steuerliche Verlustvorträge im individuellen Einkommensteuerbereich der Gesellschafter existieren, entziehen sich diese einer objektivierten Unternehmensbewertung wegen der hierbei empfohlenen Typisierung.
3.544
b) Zinsschranke Seit dem Veranlagungszeitraum 2008 wird der steuerliche Betriebsausgabenabzug von Zinsaufwendungen für sämtliche Fremdfinanzierungen generell eingeschränkt (sog. Zinsschranke, § 4h EStG und § 8a KStG), sofern sich das steuerpflichtige Unternehmen nicht anhand der folgenden Tatbestände von der Anwendung der Zinsschranke befreien kann.
3.545
Greift die Zinsschrankenregelung, sind Zinsaufwendungen steuerlich in Höhe der Zinserträ- 3.546 ge, darüber hinaus bis 30 % des steuerlichen Betriebsergebnisses vor Zinsen und Abschreibungen (verrechenbares EBITDA, § 4h Abs. 1 Satz 2 EStG) steuerlich abzugsfähig. Höhere Zinsaufwendungen stellen im laufenden Geschäftsjahr steuerlich nicht abzugsfähige Betriebsausgaben dar und können auf die Folgejahre vorgetragen werden (Zinsvortrag), wo sie grundsätzlich im Rahmen der Zinsschrankenregelung steuerlich abziehbar sind. Soweit das verrechenbare EBITDA den Zinsaufwandsüberhang des Betriebs übersteigt, kann es in die folgenden fünf Wirtschaftsjahre vorgetragen werden (EBITDA-Vortrag) und erhöht in den Folgejahren grundsätzlich die Abzugsmöglichkeit für Zinsaufwendungen. Bei Anwendung der Going Concern Prämisse ist der Zinsvortrag im Rahmen der IDW RS HFA 10 Bewertung als zukünftiges Steuerminderungspotential zu bewerten.
403 Vgl. D. Schneider, S. 235, 246, 267, 271, 282 und auch Kruschwitz/Schäfer/Jeromin, ZfB 1995, 1005. 404 Vgl. Kohl/Schulte, WPg. 2000, 1161. 405 Vgl. Siepe, WPg. 1997 Teil II, S. 37 ff.
Keim/Jeromin
245
Kap. 3 Rz. 3.547
Bewertung
2. Nicht betriebsnotwendiges Vermögen
3.547 Unternehmen verfügen neben dem betriebsnotwendigen Vermögen häufig über nicht betriebsnotwendiges Vermögen. Dies sind Vermögensgegenstände, deren Vorhandensein grundsätzlich nicht zur Fortführung des operativen Geschäfts erforderlich ist und ohne Einschränkung der eigentlichen Unternehmensaufgabe frei veräußert werden können.406 Hierbei kann es sich bspw. um Kunstgegenstände, Immobilien, Beteiligungen und sonstige Finanzanlagen (nicht betriebsnotwendige Liquidität) handeln.
3.548 Bei einer Unternehmensbewertung wird dieses Vermögen gesondert bewertet. Das nicht betriebsnotwendige Vermögen ist grundsätzlich unter Berücksichtigung der bestmöglichen Verwertung sowie der optimalen Verwendung der freigesetzten Mittel zu bemessen. Hinsichtlich der Bewertung nicht betriebsnotwendiger Vermögensbestandteile ist es prinzipiell vorstellbar, diese unter der Fiktion einer Sofortausschüttung an die Aktionäre zu bewerten. Schließlich dokumentiert die Zuordnung dieser Vermögensbestandteile zum nichtbetriebsnotwendigen Vermögen gerade, dass die Gegenstände nicht produktiv im Sinne des Unternehmenszweckes verwertbar sind.407
3.549 In der Praxis erfolgt üblicherweise ein Ansatz zum Netto-Liquidationswert und die Annahme einer kapitalwertneutralen fiktiven Anlage der Mittel auf Unternehmensebene. Der Netto-Liquidationswert setzt sich aus dem Einzelveräußerungserlös abzgl. eventuell anfallender Veräußerungskosten sowie Unternehmensteuern auf Veräußerungsgewinne408 im Fall eines den Buchwert übersteigenden Verkaufserlöses zusammen.409
3.550 Bei der Unternehmensbewertung i.V.m. nicht betriebsnotwendigem Vermögen ist grundsätzlich darauf zu achten, dass die als nicht betriebsnotwendig deklarierten Vermögensgegenstände regelmäßig Finanzierungsfunktionen im Unternehmen wahrnehmen. Sie dienen entweder Fremdkapitalgebern als Sicherheiten für Kredite oder der Kapitalmarkt betrachtet nicht betriebsnotwendiges Vermögen als Verbesserung der Kapitalstruktur. Das Vorhandensein nicht betriebsnotwendigen Vermögens im Betriebsvermögen führt zu einer Reduktion der geforderten Eigen- und Fremdkapitalkosten des Unternehmens. Werden jene Vermögenswerte gesondert erfasst und bewertet, stellt dieses im bewertungstechnischen Sinne eine fiktive Auskehrung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens aus dem Unternehmen an die Anteilseigner dar.410
406 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008 Tz, 59 ff. 407 Folglich kann die Zuordnung jener Vermögensgegenstände als „nicht“ betriebsnotwendig nicht gleichzeitig widerspruchsfrei mit der hierzu diametral entgegenstehenden Fiktion einer dauerhaften Weiterverwendung jener Vermögensgegenstände im Unternehmen gekoppelt werden. 408 Das Vorhandensein nicht betriebsnotwendiger Schulden ist für sich alleine sachlogisch kaum vorstellbar. In Ausnahmefällen bestehen eindeutige, unmittelbare Verknüpfungen zwischen nicht betriebsnotwendigen Vermögensteilen und Schulden. In diesem Falle sind Vermögensund Schuldenposition zu saldieren. 409 Eine Versteuerung kann gegebenenfalls unter den Voraussetzungen des § 6b EStG vermieden werden. 410 Und zwar einmal direkt über den ausgewiesenen Wertansatz der Vermögensgegenstände und ein weiteres Mal indirekt durch die unterlassene Adjustierung der Kapitalkosten (bei den Kapitalkosten erfolgte die Doppelerfassung über die fehlende Berücksichtigung der fiktiven Änderung einer Kapitalstruktur bei unterstellter Auskehrung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens an die Anteilseigener).
246
Keim/Jeromin
F. Steuerlich und rechtlich regelmäßig auftretende Sonderthemen
Rz. 3.555 Kap. 3
Nach Bewertung des betriebsnotwendigen Vermögens und des Werts des nicht betriebsnotwendigen Vermögens sowie steuerlicher Sonderwerte wird der Wert der Unternehmung wie folgt bestimmt: +
3.551
Wert des betriebsnotwendigen Vermögens (nach Ertragswert-/DCF Methode) Gesondert bewertbare Wertbestandteile (Verlustvorträge/nicht betriebsnotwendiges Vermögen) Unternehmenswert
II. Bewertung von Sacheinlagen bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen Bei der Bewertung von Sacheinlagen treten in der Praxis regelmäßig Unsicherheiten auf, sofern hierbei besondere Vertragsgestaltungen, insbesondere GAV (Gewinnabführungsverträge) oder BGAV (Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge) existieren und bei der Sacheinlage in die aufnehmende Gesellschaft eine Beteiligung/Tochter-/Enkel-/oder Schwesterunternehmung mit existierendem oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Sacheinlage geplantem Abschluss von Unternehmensverträgen erfolgen soll. Folgende typischen Fälle sind in der Praxis regelmäßig zu beobachten:
3.552
1. Sacheinlage mit Gewinnabführung zu Ober- oder Schwesterunternehmen Ein Mutterunternehmen (M) hält zwei direkte Mehrheitsbeteiligungen, eine Tochterunternehmung (T) und eine weitere Tochter-/Schwester- oder Enkelunternehmung (E). Zwischen E und M besteht ein BGAV/GAV mit M als herrschendem Unternehmen. E wird als Sacheinlage von M in T eingebracht ohne dass E auf die T verschmolzen wird. T ist anschließend Mehrheitsaktionärin der im selbständigen Rechtskleid weiterbestehenden E. Aufgrund der bestehenden Unternehmensverträge kann T aus E bei Fortbestehen der BGAV/GAV zwischen M und E keinerlei Erträge vereinnahmen. Für die Frage der Bewertung der Sacheinlage von E in T sowie für Werthaltigkeitsprüfungen sind Kündigungsmöglichkeiten des BGAV/GAV von Relevanz.
3.553
Ist T nicht in der Lage, unabhängig von M den BGAV/GAV zwischen E und M zu kündigen, 3.554 besitzt E aus Sicht von T keinerlei Ertragswert, da sämtliche Jahresüberschüsse zukünftig weiterhin an die Mutterunternehmung abzuführen sind. Eine Sacheinlagenprüfung oder Bewertung anhand des Ertragswertes der E führt damit regelmäßig zu dem Ergebnis, dass ein Bewerter der Sacheinlage in diesem Fall unter Ertragswertgesichtspunkten einen positiven Ertragswert für die E nicht ausweisen kann. Ein Sacheinlagenprüfer wird folgerichtig unter dieser Konstellation eine Grund-oder Stammkapitalaufbringung kaum bestätigt können. Es ist sogar höchst fraglich, ob unter diesen konkreten rechtlichen Bedingungen für die T wirtschaftlich überhaupt ein positiver Wertzufluss aus der Kapitaleinlage der E bei T realisiert werden kann, da die Erträge des Investments in die E und die Geschäftsführung alleinig bei der Mutterunternehmung M liegen. Für den Prüfer der Sachkapitalerhöhung stellt sich damit die generelle Frage, ob in irgendeiner Konstellation bei einer Sacheinlage einer mit einem BGAV/GAV vorbelasteten E in eine T die Kapitalaufbringung überhaupt bestätigt werden kann. Unter Ertragswertgesichtspunkten erscheint dieses ausgeschlossen, da von einer Kündigung des BGAV/GAV zwischen M und E unter finanziellen Aspekten nur dann auszugehen ist, wenn aus Sicht der M die BeteiKeim/Jeromin
247
3.555
Kap. 3 Rz. 3.556
Bewertung
ligung an E zu einem zukünftig negativen Ergebnisbeitrag aufgrund gesetzlicher Verlustausgleichsregelungen zu rechnen ist und die E damit wirtschaftlich wertlos wäre.
3.556 Überlegenswert ist daher alternativ die Bewertung einer solchen Unternehmung nach dem Liquidationswertverfahren, wobei dieses fraglich ist, da nach derzeitiger Rechtsprechung die Anwendung eines Liquidationswertverfahrens voraussetzt, dass für die Beteiligung in absehbarer Zeit tatsächlich eine Liquidation der jeweiligen Beteiligung E beabsichtigt ist und weiterhin hierfür Anzeichen für eine Beendigung des BGVAV/GAV vorliegen müssten. In diesem Falle bildet allerdings das (ggf. auf den Bewertungszeitpunkt abgezinste) bilanzielle Eigenkapital, die Obergrenze der Bewertung. Aus Sicht der Bewerter kann hier nicht außer Acht bleiben, dass sämtlicher Liquidationsüberschuss wegen des bestehenden BGAV/GAV noch der Mutterunternehmung zusteht.
3.557 Interessanter bleiben diese bewertungstechnischen Schwierigkeiten selbst dann erhalten, wenn in die E im Zuge der Kapitaleinlage eine bare Zuzahlung in Höhe der bei der T zu bestätigenden Stammkapitalerhöhung geleistet wird. Denn wegen des bestehenden BGAV/GAV zwischen M und E führen die aus dieser Barkapitalerhöhung resultierenden zukünftigen Zinserträge zu einem höheren Jahresüberschuss, der an die Vertragspartei des BGAV/GAV (M) abgeführt wird. Deshalb wird bei bestehendem BGAV/GAV zwischen M und E selbst eine reine Barzuzahlung bei der E nicht zu einer Erhöhung des Ertragswertes aus Sicht der T führen und damit auch nicht oder nicht vollständig zur Erfüllung der gesetzlichen Kapitalaufbringungsregelungen beitragen können.
3.558 Sofern im Fall 1 T dagegen rechtlich wie wirtschaftlich tatsächlich in der Lage ist, E zur Lösung des BGAV/GAV zwischen E und M zu veranlassen, steht für Zwecke der Werthaltigkeitsprüfung grundsätzlich der Ansatz des Ertragswertverfahrens offen. Allerdings können in diesem Falle zukünftige Erträge erst dann im Rahmen der Ertragswertermittlung Berücksichtigung finden, soweit diese nach dem Termin der möglichen Beendigung des BGAV/ GAV von T vereinnahmt werden können. 2. Sacheinlage mit Gewinnabführung zu fremden Dritten
3.559 Die Ausgangssituation sei grundsätzlich wie Fall 1. Es besteht aber eine Abwandlung dahingehend, dass der BGAV/GAV nicht zwischen M und E sondern zwischen E und einem Dritten (D) geschlossen wurde oder wird. Ein Dritter kann eine weitere Tochterunternehmung der M sein, eine Schwesterunternehmung zu M oder eine Oberholdung oder gar ein fremder Dritter.
3.560 Das Bewertungsvorgehen ist faktisch analog zum Fall 1. D.h. ein Ertragswert ist in dieser Konstellation erst recht nicht gegeben. Gegenüber dem Fall 1 ist die Wahrscheinlichkeit für die Aufhebung des BGAV/GAV noch geringer. Selbiges gilt für die Annahme einer fiktiven Liquidation von E als Voraussetzung für die Möglichkeit der Bewertung anhand eines Liquidationswertverfahrens, da die dafür notwendigen Entscheidungen nur ein fremder Dritter D fällen kann. In diesem Fall ist die Wahrscheinlichkeit einer Liquidation bei positiven Ergebnisprognosen umso niedriger, womit die Anwendbarkeit der Grundsätze der Liquidationsbewertung im Rahmen einer Bewertung und Prüfung der Kapitalaufbringung bei der T einer noch strengeren Würdigung als im Fall 1 unterliegt.
248
Keim/Jeromin
F. Steuerlich und rechtlich regelmäßig auftretende Sonderthemen
Rz. 3.565 Kap. 3
3. Absehbare Auflösung des Unternehmensvertrags in zeitlicher Nähe zum oder nach dem Einlagezeitpunkt Wie Fall 1 bzw. Fall 2, aber unmittelbar vor bzw. nach Einbringung von E in die T wird der BGAV/GAVentweder zwischen M und E oder zwischen D und E aufgelöst. Unabhängig davon, ob nachfolgend zwischen E und T ein BGAV/GAV geschlossen wird, kann T aus der E zukünftig die vollen Erträge vereinnahmen. Eine Bewertung mit positivem Ertragswert oder eine Bestätigung der Kapitalaufbringung anhand des Ertragswerts scheint dem Grund nach aus Sicht der T für die Sacheinlage der E möglich. Dieses setzt allerdings voraus, dass zum Bewertungszeitpunkt sämtliche notwendigen rechtlichen Voraussetzungen für die Aufhebung der der BGAV/GAV aus Sicht der T gegeben sind und die T im Einlagezeitpunkt der E bei T auch nicht aus anderen rechtlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Gründen gehindert ist, den BGAV/ GAV zu dem der Bewertung zugrundliegenden Zeitpunkt aufzulösen. Sofern eine Ertragswertberechnung möglich ist, sind Voraussetzungen für die Anwendung von Liquidationswertverfahren gegeben.
3.561
4. Gestaltungen bei Sacheinlagebewertungen mit bestehenden oder beabsichtigten Abschlüssen von Unternehmensverträgen Fraglich erscheint es, ob die vorstehend benannten Grundsätze durch „geschickte“ Gestaltungen umgangen werden kann. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen dem Ersteller der Bewertung sowie dem Prüfer der Sachkapitalerhöhung bei T aufgrund der vorstehend beschriebenen Sachlage.
3.562
Sofern im Zeitpunkt der Sacheinlage die E mit niemandem einen BGAV/GAV geschlossen hat 3.563 oder alternativ ein Fall 3 vorliegt, aber bereits im Zeitpunkt der Prüfung absehbar ist, dass nachfolgend aus dem Fall 3 ein Fall vom Typ 1 oder 2 geschaffen werden soll (durch geplante bzw. nachträgliche Vereinbarung eines BGAV/GAV der E unter Umgehung von T mit M oder durch Abschluss mit Dritten D), stellt sich die Frage, inwiefern hierin wirtschaftlich gesehen die empfangende Gesellschaft überhaupt die laut Gesetz vorgeschriebene freie Verfügbarkeit über die einzubringende Sacheinlage erworben hat. Dieses ist auf jeden Fall Gegenstand von Untersuchungen, die aus Sicht eines Prüfers der Kapitalerhöhung unter Beachtung handelsrechtlicher Gläubigerschutz- und den Gesichtspunkten der Sicherstellung der Kapitalaufbringung zu beachten ist. Sollte beispielsweise bereits im Zeitpunkt der Sacheinlage beabsichtigt sein und dieses dem Prüfer der Kapitalerhöhung bekannt sein, dass zeitlich nach Sacheinlage innerhalb der gesetzlichen Nachgründungsfristen ein BGAV/GAV abgeschlossen werden muss, kann er dieses im Rahmen seiner Prüfungshandlung der Kapitalaufbringung nicht außer Acht lassen. Die Folgen für die Bewertung und Werthaltigkeitsprüfung sind unter Umständen mit den Fällen 1 und 2 vergleichbar.
3.564
Selbst für den Fall, dass der Abschluss eines BGAV/GAV im Zeitpunkt der Sacheinlage noch nicht geplant ist, dieses aber innerhalb der gesetzlichen Nachgründungsfristen erfolgt, besteht grundsätzlich das Risiko, ob dieser Sachverhalt nicht als fehlende freie Verfügbarkeit oder implizit versteckte Grund-/Stammkapitalrückzahlung zu werten ist, welcher regelmäßig zum Erfordernis einer Nachgründungsprüfung der Kapitalaufbringung führt. Auch wenn hierfür derzeit noch keine belastbaren Erfahrungen mit der Rechtsprechung bestehen, sollten vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren immer mehr ausufernden Haftungspraxis die jeweiligen entscheidungsbefugten Organe der der T bereits aus Gründen des straf- und haftungsrecht-
3.565
Keim/Jeromin
249
Kap. 3 Rz. 3.566
Bewertung
lichen Selbstschutzes diesen oder ähnlichen Sachverhalten ggf. gebührend Aufmerksamkeit zu widmen.
III. Pensionsverpflichtungen 3.566 Bei der Bewertung von Pensionsverpflichtungen werden gerne die Bewertungsgutachten renommierter Consultingfirmen herangezogen die darin enthalten Werte bei der Bestimmung von Unternehmenswerten und der dabei zu berücksichtigenden Wertminderungen aus Pensionsverpflichtungen zugrunde gelegt.
3.567 Sowohl dem vorsichtigen Unternehmensbewerter aber noch mehr einem potentiellen Unternehmenskäufer sei geraten, auf diese Vorgehensweise zu verzichten. Die tatsächlichen wirtschaftlichen Gegenwerte von Pensionsverpflichtungen unterscheiden sich in der Regel deutlich von denjenigen Rechengrößen, welche sich aufgrund von Vorschriften für nationale handelsrechtliche oder steuerrechtliche Bilanzierungsvorschriften (z.B. HGB, EStG etc.) oder für internationale Bilanzierungsvorschriften (z.B. US-GAAP, IFRS etc.) ergeben. Infolgedessen sollte man sich bei einer Unternehmensbewertung insoweit eigener Überlegungen, Untersuchungen und Plausibilisierungshandlungen bemächtigen. Hierfür bieten sich Gutachten unter Verwendung realistischer und vor allem versicherungs- und marktgerechter Prämissen an, die im Einzelfall ebenfalls von den am Markt agierenden Consultingunternehmen im versicherungsmathematischen Bereich angeboten werden.
3.568 Pensionsverpflichtungen schließen in der Regel Invaliditäts- oder Krankenversicherungs- oder Rentenzusagen (oder je nach Rechtskreis Kombinationen davon) ein. Sie stellen für das Unternehmen quasisichere zukünftige Auszahlungen an die Pensionsberechtigten dar. Diesen Verpflichtungen kann sich das Unternehmen bei Eintritt der Voraussetzungen nicht entziehen.
3.569 Die in Bezug auf die zugesagte Pensionsverpflichtungen bestehenden Unsicherheiten wirken aus Sicht eines aus Sicht des Käufers eines Unternehmens allenfalls risikoerhöhend. Empirisch ist feststellbar, dass ein Unternehmenskäufer freiwillig oder ohne erhebliche Preisnachlässe bei Kaufpreis kaum bereit ist, bestehende Pensionsverpflichtungen eines Dritten zu übernehmen. Das mit Pensionsverpflichtungen bestehende wahrgenommene Risiko liegt darin, dass einerseits die Auszahlungsverpflichtung rechtlich unabdingbar ist, aber weder die konkrete Höhe der Verpflichtung noch der konkrete Zeitpunkt des Zahlungsbeginns sowie die konkrete Dauer der Auszahlungsverpflichtung bekannt ist. Insbesondere zu benennen in diesem Zusammenhang sind die von Versicherungswirtschaft häufig kolportierten Invaliditäts- und Langlebigkeitsrisiken.
3.570 Aus Sicht des Bewerter erfordert eine korrekte Bewertung von Pensionsverpflichtungen, dass der Wert der Pensionsverpflichtungen mathematisch so bemessen wird, dass er genau demjenigen Grenzpreis entspricht, den ein Dritter von dem Verpflichteten der Pensionen (hier Unternehmen) verlangen würde, damit dieser den Verpflichteten der Pensionszusagen vollständig, unabhängig vom Eintritt von Invaliditäts- und Langlebigkeitsrisiken und ohne Nachforderungen bei deren Eintritt immer und zu jeder Zeit vollständig von seinen zukünftigen Pensionszusagen gegenüber den Berechtigten freistellt.
3.571 Da diese Überlegung bei den handels- und steuerrechtlichen Bewertungsvorschriften zu Pensionsverpflichtungen nicht angestellt wurden und diese den dort zugrunde gelegten Bewertungen nicht systemimmanent sind, führt die Verwendung jener Gutachten ohne adäquate
250
Keim/Jeromin
F. Steuerlich und rechtlich regelmäßig auftretende Sonderthemen
Rz. 3.576 Kap. 3
Anpassungen an die reale wirtschaftliche Verpflichtung generell zu einer Fehlbewertung aus Sicht eines sorgfältigen Bewerters. Mithin ergibt sich der wirtschaftliche Wert von Pensionsverpflichtungen aus dem Grenzpreis, den ein Übernehmer von Pensionsverpflichtungen zum Ausgleich für die Übernahme der damit verbundenen Auszahlungsverpflichtungen verlangen würde. Dieser Preis ergibt sich rechnerisch aus dem Betrag, der erforderlich ist, um ohne Inkaufnahme zusätzlicher persönlicher Investitionsrisiken die übernommenen Pensionsverpflichtungen mit Sicherheit bedienen zu können. Da nach allgemeiner Annahme der Bewertungstheorie auch der Erwerber/Übernehmer der Pensionsverpflichtungen ein Unternehmer/Investor ist, welcher für die Übernahme eines Risikos mit einer gezahlten Risikoprämie entschädigt werden möchte, wird er – wie es bei jeder Investitionsentscheidung nach dem CAPM unterstellt – wird, für die mit der Übernahme der Pensionsverpflichtungen außerdem eine angemessene Risikovergütung verlangen.
3.572
Nach den allgemein anerkannten Prinzipien der Sicherheitsäquivalenzmethodik wird der Gegenwartswert einer Investition aus der mit dem risikofreien Zinssatz diskontieren Differenz zukünftiger Erträgen abzgl. einer Risikoprämie bestimmt:
3.573
PV =
E[CF] + RP . 1 + rf
Für den Fall positiver Erträge (also zukünftiger Zahlungszuflüsse an den Investor aufgrund Dividenden und Jahresüberschüsse etc.) folgt nach einfachen mathematischen Umformungen das allgemein bekannte Diskontierungsmodell nach der Risikozuschlagsmethodik für riskante zukünftige Zahlungsansprüche: PV =
3.574
E[CF] { für: CF > 0 , 1 + rf + z
bei dem die zukünftigen Zahlungen mit einem um einen Risikozuschlag z erhöhten Kapitalisierungszinssatz abgezinst werden. Das Entscheidungskalkül kann jedoch so nicht auf den Fall zukünftiger Auszahlungen übertragen werden. Aus der Sicherheitsäquivalenzmethodik folgt nach einfacher mathematischer Umformung für das Risikozuschlagsmodell bei dauerhaft Zahlungsmittelabflüssen (d.h. bei CF , 0) nämlich ein leicht abweichendes Entscheidungskalkül: PV =
3.575
E[CF] { für: CF < 0 , 1 + rf − z
wonach zukünftige Auszahlungen korrekterweise bei Annahme risikoaverser Investoren niemals durch Hinzurechnung eines Risikozuschlags auf den sicheren Zinssatz zu bewerten sind. Korrekt ist in diesem Falle vielmehr sogar der Abschlag einer Risikoprämie z vom sicheren Zinssatz. Dieses Bewertungsschema entspricht letztlich demjenigen eines reinen Versicherungsgebers z.B. aus dem reinen Risikolebens- und Gesundheitsversicherungsgeschäfts, dessen Geschäft die Übernahme zukünftiger Risiken gegen Vorab- und Einmalzahlung ist.
Keim/Jeromin
251
3.576
Kap. 3 Rz. 3.577
Bewertung
3.577 Abweichend von der vorstehenden Darstellung schreiben jedoch handels- und steuerrechtliche Regelungen regelmäßig die Bewertung von Pensionsverpflichtungen nach der für zukünftige dauerhafte Einzahlungen (nicht aber Auszahlungen) geltenden Methode vor. Die dort für die Bewertung vorgeschriebenen oder akzeptierten Kapitalisierungszinssätze liegen damit oberhalb statt, wie wirtschaftlich und finanzmathematisch korrekt unter halb des risikofreien Zinssatzes. Für die Käufer eines Unternehmens ist es daher ratsam, Kaufverhandlungen und Kaufpreisverhandlung auf Basis einer angemessenen, finanzmathematisch zutreffenden Neubewertung unter Anwendung eines Zinsabschlags auf den Basiszinssatz durchzuführen.
3.578 Alternativ bietet sich eine sog. marktbezogene Bewertung an. Als hinreichender Hinweis auf die Höhe der tatsächlichen Verpflichtungen oder als zutreffender Markttest kann abweichend von einer Neubewertung und erst recht abweichend von den nach handels- und steuerrechtlichen Grundsätzen ermittelten versicherungsmathematischen Gutachten auch ein Versicherungsangebot eines hochsolventen Versicherungsunternehmens eine gute Grundlage zur realitätsgerechteren Schätzung der tatsächlichen Pensionsverbindlichkeit verwendet werden.
3.579 Sofern zwischen Käufer- und Verkäufer eines Unternehmens im Hinblick auf die Bewertung von Pensionsverpflichtungen jedoch unauflösbaren Differenzen bestehen, wird vor dem Hintergrund der vorstehenden Überlegungen alternativ dringend empfohlen, im Zweifel rechtssicher die Übernahme von Pensionsverpflichtungen im Rahmen einer Transaktion auszuschließen.
IV. Dauerhaft negative Auszahlungen 3.580 Die im vorstehenden Abschnitt unter Pensionsverpflichtungen beschriebenen Bewertungsgrundsätze haben außerhalb des Handels- und Steuerrecht sowie außerhalb sonstiger Vorschriften bei denen die Bewertung nach ähnlichen Verfahren erfolgen soll, Allgemeingültigkeit für die Ermittlung korrekter wirtschaftlicher Gegenwerte sämtlicher Auszahlungsverpflichtungen, die voraussichtlich von dauerhafter Natur sind. Dazu zählen beispielsweise nicht nur Pensionsverpflichtungen, sondern beispielsweise dauerhafte Schadensersatzzahlungen ungewisser Länge und Höhe, Rekultivierungsverpflichtungen im Bergbau oder sonstiger Art, Rückbauverpflichtungen (z.B. bei Kernkraftwerten), Verpflichtungen zur dauerhaften Lagerung umweltgefährdender Güter oder Sanierungsverpflichtungen ungewisser Höhe.
V. Bedingte Ansprüche und Verpflichtungen 3.581 Bedingte Ansprüche erwachsen in erster Linie aus bestehenden, übernommenen oder in der konkreten Unternehmenstransaktion vereinbarten rechtlichen Vereinbarungen oder bestehenden gesetzlichen Regelungen und führen mit einer gewissen Erwartung zu einer Minderung oder Erhöhung des Unternehmenswerts. Die Bedeutung dieser Ansprüche sollte nicht unterschätzt werden.411 Erwartungen auf Ein- und Auszahlungen sind, selbst bei nied-
411 Besonders häufig und hochgradig explosiv im Sinne bewertungstechnischer Risiken bei gleichzeitig schwieriger Abschätzungen sind hierbei Vereinbarungen über floatende Preise, wobei insbesondere die in der Praxis äußerst beliebten Verkaufsklauseln anhand einfach zu berechnender EBITDA- oder EBIT-Relationen bei einzelnen Vertragsgestaltungen hohe Wertrisiken beherbergen können. In einzelnen, den Autoren bekannten Praxisfällen erreichten diese Risiken für die
252
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F. Steuerlich und rechtlich regelmäßig auftretende Sonderthemen
Rz. 3.585 Kap. 3
riger Wahrscheinlichkeit, immer wertrelevant und sind daher standardmäßig grundsätzlich bewertungsrelevant. Es ist empfehlenswert, während oder bei Abschluss einer Transaktion zumindest wertmäßige Einflüsse bedingter Ansprüche und Verpflichtungen zu identifizieren und zu bewerten. Analog zur Vorgehensweise bei Pensionen und dauerhaft negativen Auszahlungen muss es unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt hierbei irrelevant sein, ob bestimmte Rechnungslegungsvorschriften die Identifikation, den bilanziellen Ansatz und/oder die Bewertung entsprechender Ansprüche oder Verpflichtungen in irgendeiner Weise normieren. Maßgeblich ist in der konkreten Übernahme- und Verhandlungssituation nicht die Frage ob ein Anspruch nach einer gesetzlich vorgeschriebenen Bewertungsmethodik zu bewerten ist oder ab dieser überhaupt bilanziell zu erfassen ist. Die tatsächliche wirtschaftliche Belastung ist unabhängig davon zu identifizieren und ggf. angemessen zu bepreisen.
3.582
In Einzelfällen können bedingte Ansprüche überaus hohe Werte aufweisen, ohne dass diese bei einer Transaktion adäquat bewertet wurden oder sich die Vertragspartner der Dimension selbiger bewusst sind. Hier kommt der Sensibilisierung der Parteien für das Bestehen und den Umfang bestehender bedingter Ansprüche eine erhebliche Bedeutung zu, da bei inkorrekter Bewertung daraus relevante wirtschaftliche, rechtliche und steuerliche Risiken resultieren.412
3.583
Im einfachsten Fall sind diese Ansprüche in Kauf- und Verkaufsverträgen direkt als Kauf- oder Verkaufsoptionen, Drag-oder Tag-Along-Vereinbarungen, Kündigungs- oder Schadensersatzregelungen vereinbart. In versteckten Fällen erwachsen bedingte Ansprüche aus Nebenregelungen zu den Verträgen über eine Transaktion wie z.B. Garantieregelungen oder Vereinbarungen über das Bestehen bestimmter Vermögens- und Bilanzpositionen bzw. Vermögensund Bilanzrelationen zu einem vertraglich vereinbarten Stichtag. Hierbei können bedingte Ansprüche nicht nur vertraglicher Natur sein. Auch gesetzliche Regelungen können Ursache für deren Auftreten sein.
3.584
Weitere Beispiele für bedingte Ansprüche sind vertragliche Garantie aus dem laufenden Geschäft, dem Verkauf- und Kauf von immateriellen Vermögensgegenständen, dem Erwerb oder dem Verkauf von Unternehmen, während einer Transaktion aus der Gewährung von Garantien für das Vorhandensein bestimmter Vermögenspositionen und Bilanzrelationen am vertraglich vereinbarten Stichtag. Die Bewertung bedingter Ansprüche beginnt nach der Identifikation mit einer Detailanalyse aller strukturellen Eigenschaften und der Aufzeichnung der daraus resultierenden Ansprüche und Verpflichtungen. Erst nachdem man sich ein vollständiges Bild über die wesentlichen Charakteristika geschaffen hat, kann ein konkreter Bewertungsvorschlag, ein konkretes Bewertungsverfahren sowie konkrete Bewertungsparameter ausgewählt werden.
3.585
Stillhaltepartei teilweise Größenordnungen in den Bereichen mehrere Hundert Millionen Euro bis zu niedrigen Euro Milliardengrößen. 412 Besonderen Anlass zur Aufmerksamkeit geben Vereinbarungen, bei denen die interessierende Partei sich vertraglich in einer Art Stillhalterposition befindet. Typische Formulierungen hierfür sind die, bei denen man z.B. einer Partei Rechte gewährt ihre Anteile zu festgelegten Preisen oder Preismultiplikatoren der interessierenden Partei anzudienen oder diese sich verpflichtet auf Verlangen der Gegenpartei ihre Anteile aufzugeben. Analoges gilt für bestimmte Garantien.
Keim/Jeromin
253
Kapitel 4 Akquisitionsfinanzierung Thomas Ingenhoven und Mathias Eisen
2. Schuldscheindarlehen . . . . . . . . . . . .
4.71
A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1
B. Arten von Unternehmenskäufen aus Finanzierungssicht . . . . . . . . . . .
IV. Übersicht zu den Instrumenten der Akquisitionsfinanzierung . . . . .
4.72
4.4
I. Die Finanzierung des „Corporate“Unternehmenskaufs . . . . . . . . . . . . .
D. Ablauf und Dokumentation einer typischen Akquisitionsfinanzierung
4.73
4.5
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.73
II. Die Finanzierung eines Leveraged Buy-Out – die „Leveraged“-Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.8
II. Phase I – Bis zum indikativen Angebot – Lender Education und Highly Confident Letter . . . . . . . . . .
4.74
III. Die Cross Over-Finanzierung . . . . .
4.11
C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen . . .
III. Phase II – Bis zum verbindlichen Angebot – Commitment Papers . . .
4.75
4.12
IV. Phase III – Bis zur Unterzeichnung des SPA – Kreditvertragsdokumentation und „Certain Funds“ . . . . . . .
4.79
V. Phase IV – Bis zum Vollzug des Kaufvertrags und erster Inanspruchnahme der Kreditfinanzierung – Bestellung der Closing-Sicherheiten und Erfüllung sonstiger Auszahlungsvoraussetzungen . . . . .
4.81
VI. Phase V – Nach Vollzug des Kaufvertrags – Beitritt und Sicherheiten durch die Zielgruppe und geplante Reorganisationsschritte . . . . . . . . . .
4.88
E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster . . . .
4.96
Überblick
I. Kreditvertragliche Finanzierungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konsortialkredit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bilateraler Kredit . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Senior-Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Second Lien-Kredite . . . . . . . . . . . . . 6. Mezzanine-Kredite . . . . . . . . . . . . . . . 7. PIK-Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Unitranche-Kredite . . . . . . . . . . . . . . 9. Super Senior-Kredite . . . . . . . . . . . . . 10. Covenant Lite- und Covenant Loose-Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Verkäuferdarlehen . . . . . . . . . . . . . . . II. Kapitalmarktinstrumente . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einsatz von Anleihen zur Finanzierung einer Unternehmensakquisition a) Anleihefinanzierung und Unternehmenskaufvertrag . . . . . . . . . . . b) Anleihefinanzierung und Finanzierungssicherheit . . . . . . . . . . . . . 3. Relevante Anleihetypen für die Akquisitionsfinanzierung . . . . . . . . . a) High Yield Bonds . . . . . . . . . . . . . b) Unternehmensanleihen/ Corporate Bonds . . . . . . . . . . . . . . c) Hybridanleihen . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwitterformen – kapitalmarktnahe Instrumente zur Finanzierung einer Unternehmensakquisition . . . 1. Term Loan B („TLB“)-Kredite . . . . . .
4.13 4.13 4.14 4.19 4.22 4.24 4.27 4.32 4.36 4.41 4.45 4.46 4.49 4.49 4.51 4.52 4.54 4.58 4.60 4.61 4.67
4.69 4.69
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.96
II. Die heutigen Vertragsmuster . . . . . .
4.98
III. Der LMA-basierte Konsortialkreditvertrag für Akquisitionsfinanzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Definitions and Interpretation . . . . . 2. The Facilities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Purpose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Conditions of Utilisation . . . . . . . . . . 5. Utilisation – Loans . . . . . . . . . . . . . . . 6. Utilisation – Letters of Credit . . . . . . 7. Letters of Credit . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Optional Currencies . . . . . . . . . . . . . . 9. Ancillary Facilities . . . . . . . . . . . . . . . 10. Establishment of Incremental Facilities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.103 4.107 4.110 4.111 4.112 4.114 4.115 4.116 4.117 4.118
Ingenhoven/Eisen
4.119
255
Kap. 4
Akquisitionsfinanzierung
11. Repayment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Illegality, Voluntary Prepayment and Cancellation . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Mandatory Prepayment and Cancellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Restrictions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Interest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Interest Periods . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Changes to the Calculation of Interest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Fees . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Tax Gross Up and Indemnities . . . . . 20. Increased Costs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21. Other Indemnities . . . . . . . . . . . . . . . 22. Mitigation by the Lenders . . . . . . . . . 23. Costs and Expenses . . . . . . . . . . . . . . 24. Guarantee and Indemnity . . . . . . . . . 25. Representations . . . . . . . . . . . . . . . . . 26. Information Undertakings . . . . . . . . . 27. Financial Covenants . . . . . . . . . . . . . . 28. General Undertakings . . . . . . . . . . . . 29. Events of Default . . . . . . . . . . . . . . . . 30. Changes to the Lenders . . . . . . . . . . . 31. Restriction on Debt Purchase Transactions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32. Changes to the Obligors . . . . . . . . . . 33. Role of the Agent, the Arranger, the Issuing Bank and Others . . . . . . . . . . 34. Conduct of Business by the Finance Parties . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35. Sharing among the Finance Parties . . 36. Payment Mechanics . . . . . . . . . . . . . . 37. Set-Off . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38. Notices . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39. Calculations and Certificates . . . . . . . 40. Partial Invalidity . . . . . . . . . . . . . . . . . 41. Remedies and Waivers . . . . . . . . . . . . 42. Amendments and Waivers . . . . . . . . . 43. Confidential Information . . . . . . . . . 44. Confidentiality of Funding Rates and Reference Bank Quotations . . . . 45. Disclosure of Lender details by Agent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46. Counterparts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47. Governing Law . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.121
48. Enforcement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.181
4.122
F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen . . . . . . . . . . . . 4.184
4.124 4.125 4.127 4.128 4.129 4.130 4.132 4.133 4.134 4.135 4.136 4.138 4.140 4.142 4.143 4.149 4.152 4.155 4.156 4.157 4.159 4.162 4.163 4.165 4.166 4.167 4.168 4.170 4.171 4.172 4.175 4.176 4.177 4.178 4.180
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.184 II. Begriff der Anleihe . . . . . . . . . . . . . . 4.185 III. Platzierung und Börsennotierung von Anleihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Platzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Platzierung in den EU-Mitgliedsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Platzierung in den Vereinigten Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Börsennotierung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Neue Europäische Prospektverordnung und PRIIP-Verordnung . . . . . . a) Neue Europäische Prospektverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) PRIIP-Verordnung . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsverhältnisse und Dokumentation von Anleiheemissionen . . . . . 1. Prospekt/Offering Memorandum . . . a) Prospekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Offering Memorandum . . . . . . . . 2. Anleihebedingungen . . . . . . . . . . . . . a) Anleihen nach deutschem Recht . b) Anleihen nach New Yorker Recht . 3. Übernahmevertrag . . . . . . . . . . . . . . . 4. Engagement Letter . . . . . . . . . . . . . . . 5. Intercreditor Agreement . . . . . . . . . . 6. Zahlstellenvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . V. 1. 2. 3. 4. 5.
High Yield-Anleihe . . . . . . . . . . . . . . Platzierung und Börsennotierung . . . Volumen und Laufzeit . . . . . . . . . . . . Verzinsung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kündigungssperre/Non-Call Periods . Covenants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einzelne Covenants einer High Yield-Anleihe . . . . . . . . . . . . 6. Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Anwendbares Recht . . . . . . . . . . . . . .
4.188 4.188 4.192 4.194 4.201 4.206 4.206 4.207 4.208 4.208 4.210 4.213 4.216 4.217 4.220 4.222 4.230 4.231 4.232 4.233 4.234 4.235 4.236 4.238 4.239 4.239 4.241 4.247 4.248
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Akquisitionsfinanzierung
Kap. 4
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Kap. 4
Akquisitionsfinanzierung
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Überblick Die Akquisitionsfinanzierung ist zentraler Bestandteil jedes Unternehmenskaufs. Neben dem meist als Geldleistung zu erbringenden Kaufpreis müssen bestehende Finanzierungen der Zielgesellschaften refinanziert und der Mittelbedarf der kombinierten Gruppe gesichert werden. Die Finanzierung entscheidet nicht selten über Erfolg und Misserfolg eines Unternehmenskaufs: Kann der Kaufpreis nicht finanziert werden, ist der Kauf schon nicht durchführbar; stehen nach dem Vollzug keine ausreichenden Mittel zur Verfügung, um die verfolgte Strategie umzusetzen, oder sind die Finanzierungsvereinbarungen zu unflexibel und lassen geplante Reorganisationen und Investitionen post-Closing nicht zu, können diese gesteckten Ziele nicht erreicht werden. Je nach vorhandener Substanz beim Käufer und seiner Bonität können Unternehmenskäufe aus Finanzierungssicht in allgemeine „Corporate“-Transaktionen, Leveraged Buy-Outs und sog. Cross Over-Finanzierungen unterschieden werden. Diese Kategorien und ihre besonderen Anforderungen an eine erfolgreiche Akquisitionsfinanzierung werden im ersten Abschnitt des Kapitels dargestellt. Für die Finanzierung eines Unternehmenskaufs steht eine Vielzahl von Finanzierungsinstrumenten zur Verfügung. Die Grundform bilden kreditvertragliche Finanzierungsinstrumente, allen voran der Konsortialkredit in seinen unterschiedlichen Spielarten. Aber auch Kapitalmarktinstrumente haben ihren festen Platz in der Akquisitionsfinanzierung, zumal bei der Finanzierung oder Refinanzierung großer Unternehmenstransaktionen. Schließlich haben sich Zwitterformen entwickelt, die kreditvertragliche Elemente und solche des Kapitalmarkts miteinander kombinieren. Der zweite Abschnitt des Kapitels gibt einen umfassenden Überblick über sämtliche dieser Finanzierungsinstrumente und stellt neben den klassischen Finanzierungsformen des Konsortialkredits und der High Yield-Anleihe auch Neuentwicklungen der aktuellen Praxis wie Term Loan B-Kredite und Unitranche-Finanzierungen dar. Der dritte Abschnitt des Kapitels ist dem Ablauf einer typischen Akquisitionsfinanzierung vom indikativen Angebot bis hin zur Reorganisation der Zielgruppe nach Vollzug des Unternehmenskaufs gewidmet. In der Darstellung der Abläufe wird die enge Verzahnung des M&A-Prozesses mit der Finanzierung aufgezeigt und aus praktischer Sicht beschrieben, welche Anforderungen die Finanzierung in den jeweiligen Prozessabschnitten erfüllen muss, um den Unternehmenskauf zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Die letzten beiden Abschnitte des Kapitels stellen die aktuelle Dokumentationspraxis für Konsortialkredite und High Yield-Anleihen umfassend dar. Konsortialkredite für Akquisi258
Ingenhoven/Eisen
B. Arten von Unternehmenskäufen aus Finanzierungssicht
Rz. 4.4 Kap. 4
tionsfinanzierungen werden im deutschen und europäischen Markt überwiegend nach den anglo-amerikanischen Mustern der Loan Market Association (LMA) dokumentiert, die eingehend beschrieben und mit Fokus auf die praxisrelevanten Verhandlungsschwerpunkte analysiert werden. Abschließend erfolgt eine Darstellung der Dokumentation einer High Yield-Anleihe mit Schwerpunkt auf die besonders relevanten Incurrence Covenants.
A. Einführung Kein Unternehmenskauf ohne Leistung eines Kaufpreises. Nur in seltenen Fällen wird der Kaufpreis ausschließlich als Sachleistung erbracht, etwa beim Tausch von Anteilen mit anschließender Überkreuzbeteiligung beider Parteien oder bei der Einbringung eines Geschäftsbetriebs im Rahmen einer Kapitalerhöhung. Der Beschaffung ausreichender liquider Mittel zur Begleichung des unter Umständen hohen Kaufpreises kommt daher beim Unternehmenskauf zentrale Bedeutung zu.
4.1
Verfügt der Unternehmenskäufer bereits über eine hohe Liquidität, so kann er die Geldleistung aus diesen allgemeinen Mitteln erbringen, und der Schwerpunkt der Finanzierung verschiebt sich auf eine allgemeine Unternehmensfinanzierung zur Wiederherstellung des gewünschten Mindestbestands an liquiden Mitteln. Hierzu gilt aber, was dem verstorbenen Medienunternehmer Leo Kirch als Zitat zugeschrieben wird: „Mit Geld kann es jeder machen.“ In vielen Fällen kann der Käufer einen Unternehmenskauf gerade nicht aus seinen allgemeinen Mitteln bestreiten, weil die Zielgesellschaft zu groß und der Kaufpreis und ein möglicher Refinanzierungsbedarf zu hoch ist, seine liquiden Mittel nur auf den bisherigen Geschäftsbetrieb zugeschnitten sind und keine größeren Investitionen ermöglichen oder weil der Käufer kein werbendes Unternehmen ist, sondern ein von Private Equity Investoren eingesetztes Vehikel, welches nur für die Zwecke des Unternehmenskaufs gegründet und mit Eigen- und Fremdkapital ausgestattet wird. In diesen Fällen ist eine Akquisitionsfinanzierung durch Aufnahme von Krediten ein flexibles, im Vergleich zum Eigenkapital günstiges und in aller Regel hinreichend verfügbares Mittel zur Ermöglichung selbst der größten Unternehmenskäufe.
4.2
Dieser akquisitionsspezifischen Fremdfinanzierung in ihren verschiedenen Spielarten ist das folgende Kapitel gewidmet. Es stellt zunächst die verschiedenen Arten von Unternehmenskäufen aus Finanzierungssicht und die zur Verfügung stehenden Finanzierungsinstrumente dar. Im Anschluss wird der Ablauf einer typischen Akquisitionsfinanzierung beschrieben. Der letzte Abschnitt widmet sich den im heutigen Markt etablierten Kreditvertragsvorlagen und dort insbesondere dem Vertragsmuster der Loan Market Association (LMA) für Leveraged Acquisition Finance Transactions, also in hohem Maße fremdfinanzierten Unternehmenskäufen durch Private Equity Investoren.
4.3
B. Arten von Unternehmenskäufen aus Finanzierungssicht Aus Finanzierungssicht lassen sich Unternehmenskäufe in zwei Kategorien einteilen: Ist der Käufer ein bestehendes Unternehmen mit Geschäftsbetrieb und Vermögensgegenständen, spricht man allgemein von einer „Corporate“-Transaktion. Wird als Käufer hingegen ein Vehikel eingesetzt, welches keinen eigenen Geschäftsbetrieb hat und nur dem Zweck dient, die Unternehmensakquisition durchzuführen, wird dies als „Leveraged“-Transaktion oder kurz „LBO“ (für „Leveraged Buy-Out“) bezeichnet. Diese auf den ersten Blick sehr grobe EinteiIngenhoven/Eisen
259
4.4
Kap. 4 Rz. 4.5
Akquisitionsfinanzierung
lung ist für das Verständnis einer für die Transaktion erhältlichen Akquisitionsfinanzierung und ihrer strukturellen Anforderungen sehr hilfreich, so dass Corporate- und LeveragedTransaktionen im Folgenden kurz idealtypisch dargestellt werden (Rz. 4.5 ff. und Rz. 4.8 ff.). Selbstverständlich gibt es auch Mischformen, die als „Cross-Over“-Transaktionen bezeichnet werden (s. näher unter Rz. 4.11 ff.). Auch deren Anforderungen lassen sich aus denen der Grundtypen Corporate und Leveraged ableiten.
I. Die Finanzierung des „Corporate“-Unternehmenskaufs 4.5 Kaufpreis
Verkäufer
Käufer
Kredit
Banken/Fonds/ Kapitalmarkt
Übertragung
Konzerngesellschaften
Zielgesellschaft
Tochtergesellschaft
Tochtergesellschaft
Tochtergesellschaft
Tochtergesellschaft
Tochtergesellschaft
Tochtergesellschaft
Abb. 1: Struktur des Corporate-Unternehmenskaufs
Der Corporate Unternehmenskauf stellt gewissermaßen den Normalfall einer Unternehmensakquisition dar: Ein Unternehmen möchte den Geschäftsbetrieb eines anderen Unternehmens erwerben, sei es als Share Deal oder als Asset Deal, um seinen eigenen Geschäftsbetrieb zu ergänzen, fortzuentwickeln oder umzugestalten. Im Einzelnen mögen hinter der Entscheidung zum Unternehmenskauf auf Seiten des kaufenden Unternehmens eine Vielzahl von strategischen und sonstigen Überlegungen stehen, und die unternehmerische Logik hinter dem Zukauf wird auch eine gewichtige Rolle für die Kreditentscheidung der finanzierenden Kreditgeber spielen. Der Ausgangspunkt für die Akquisitionsfinanzierung und der wesentliche Unterschied zu einer LBO-Transaktion ist jedoch, dass der Käufer selbst ein werbendes Unternehmen ist, über Vermögensgegenstände verfügt und eigene Erträge erwirtschaftet und damit das Zielunternehmen nur eine untergeordnete Rolle bei der Strukturierung der Akquisitionsfinanzierung spielt. Die Ausgangsfrage für eine Corporate-Finanzierung ist daher nicht, ob das Zielunternehmen seinen Preis wert ist oder die Erträge aus dem Zielunternehmen ausreichen, um den Schuldendienst1 zu leisten. Entscheidend ist vielmehr, ob der Käufer und sein Unternehmen, nach Akquisition kombiniert mit dem Zielunternehmen, in der Lage sind, die Lasten der Akquisitionsfinanzierung zu tragen und den Schuldendienst aus eigener Kraft, ergänzt um mögliche Zuflüsse aus dem Zielunternehmen, darzustellen.
1 Also Zins, Tilgung und andere Finanzierungskosten wie einmalige und laufende Gebühren.
260
Ingenhoven/Eisen
B. Arten von Unternehmenskäufen aus Finanzierungssicht
Rz. 4.7 Kap. 4
Bei einem besonders starken Käufer, der über hohe Liquidität, Vermögensgegenstände und Erträge verfügt, tritt das Zielunternehmen fast vollständig in den Hintergrund. Überspitzt formuliert ist es für die Finanzierung irrelevant, ob ein (Unternehmens-) Zukauf, der Erwerb einer Immobilie oder einer Produktionsanlage oder sogar eine Ausschüttung an die Gesellschafter des Käufers finanziert wird: Die Kreditwürdigkeit des Käufers allein ist Grundlage für die Finanzierung. Akquisitionsfinanzierungen dieser Art finden sich in der Praxis typischerweise bei kleineren oder mittelgroßen Zukäufen durch Investment Grade-Unternehmen.2 Eine solche Corporate-Akquisitionsfinanzierung wird üblicherweise durch die Obergesellschaft der Käufergruppe selbst aufgenommen, so dass die finanzierenden Kreditgeber, ganz überwiegend Banken3, vollen Zugriff auf die Ertragskraft und die Cashflows der Käufergruppe haben. Die hohe Kreditwürdigkeit des Käufers bringt es mit sich, dass die Akquisitionsfinanzierung unbesichert ist, also weder durch die Käufergruppe noch durch das Zielunternehmen und seine Tochtergesellschaften dingliche4 oder persönliche5 Sicherheiten gewährt werden.
4.6
Je höher das mit der Finanzierung einhergehende Kreditrisiko ist, desto höher werden auch die Anforderungen der Kreditgeber. Ein erhöhtes Kreditrisiko kann sich im Wesentlichen aus einer geringeren Kreditwürdigkeit des Käufers6 oder der Größe oder den Herausforderungen der zu finanzierenden Unternehmensakquisition ergeben.7 Das erhöhte Kreditrisiko drückt sich primär in engeren Kreditauflagen,8 Financial Covenants9 und der Forderung nach Kreditsicherheiten aus. Abhängig von den individuellen Gegebenheiten der einzelnen Transaktion reicht das Spektrum einer möglichen Kreditsicherung von Garantieerklärungen durch einzelne oder alle wesentlichen Gesellschaften der Käufergruppe (nach Vollzug des Unternehmenskauf ggf. auch des Zielunternehmens und seiner [wesentlichen] Tochtergesellschaften) über vereinzelte dingliche Sicherheiten (so insbesondere die Verpfändung der Anteile am Zielunternehmen) bis hin zu einem umfänglichen Garantie- und Sicherheitenpaket, das alle wesentlichen Mitglieder der Käufergruppe und der Zielgruppe erfasst.
4.7
2 „Investment Grade“ in diesem Sinne bedeutet hierbei nicht zwingend ein externes Rating einer oder mehrerer Ratingagenturen (wobei in der Nomenklatur der wichtigsten Ratingagenturen S&P und Fitch die Ratingstufen von BBB- bis zur Bestnote AAA (bei Moody’s Baa3 bis Aaa) als Investment Grade bezeichnet werden), sondern auch solche Unternehmen, die von kreditgebenden Banken aufgrund eigener Rating-Modelle als „Investment Grade“ eingeschätzt werden. 3 Zu den einzelnen Finanzierungsinstrumenten und den jeweiligen Kreditgebern Rz. 4.12 ff. 4 Insbesondere Pfandrechte an den Anteilen der Zielgesellschaft oder sonstigen Gruppengesellschaften, Sicherungsabtretungen von Forderungen, Sicherungsübereignungen von beweglichem Vermögen, Kontenverpfändungen oder Grundschulden. 5 Bürgschaften und die in der Kreditvertragspraxis häufigeren Garantien. 6 Etwa bei Unternehmen im Sub-investment Grade-Bereich (also unterhalb der Ratingstufe BBB-, s. oben), bei jungen Unternehmen, deren Geschäftsbetrieb noch nicht etabliert ist bzw. für die noch keine ausreichenden historischen Ertrags- und sonstige Finanzkennzahlen vorliegen oder bei Investment Grade-Unternehmen, die mit besonderen Herausforderungen zu kämpfen haben, wie etwa ein kurzfristig hoher Investitionsbedarf oder sonstige außerordentliche Aufwendungen. 7 Beispielsweise die Übernahme einer Zielgruppe, die ähnlich groß oder sogar größer als die Käufergruppe ist; ein besonders hoher Kaufpreis, der ausschließlich oder jedenfalls in hohem Maße fremdfinanziert werden soll; die Übernahme einer Käufergruppe in wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder sogar aus der Insolvenz oder einer insolvenznahen Situation heraus. 8 Zu Kreditauflagen näher Rz. 4.149. 9 Zu Financial Covenants näher Rz. 4.143.
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261
Kap. 4 Rz. 4.8
Akquisitionsfinanzierung
II. Die Finanzierung eines Leveraged Buy-Out – die „Leveraged“-Finanzierung 4.8 Die Finanzierung eines LBO stellt gewissermaßen die Umkehrung einer Corporate-Finanzierung dar: Während letztere ausschließlich oder vorwiegend auf den Geschäftsbetrieb des Käuferunternehmens abstellt, existiert ein solcher bei einem LBO faktisch nicht. Der Sponsor10 setzt für den Unternehmenskauf ein Vehikel ein, welches nur für die Zwecke des Kaufs gegründet oder kurz vorher als Regalgesellschaft erworben wurde. Das Vehikel verfügt über keinerlei Geschäftsbetrieb oder Vermögensgegenstände. Der Sponsor schießt lediglich zur teilweisen Abdeckung der Kaufpreiszahlung für den Unternehmenskauf begrenzte liquide Eigenmittel ein, die mit einer hohen Fremdfinanzierung „gehebelt“ werden11. Ein Rückgriff (sog. „recourse“) der Kreditgeber auf den Sponsor ist ausgeschlossen (die Finanzierung wird daher als „non-recourse“ bezeichnet), sie müssen bei ihrer Kreditanalyse ausschließlich auf das Zielunternehmen und den Geschäftsplan des Sponsors für die Zielgruppe abstellen. Sofern sich die Erwartungen des Sponsors für die Zielgruppe nicht bewahrheiten und die Vorgaben des Geschäftsplans nicht erreicht werden können, stehen keinerlei sonstige Cashflows oder Vermögensgegenstände zur Deckung des Schuldendienstes und ultimativ zur Befriedigung der Kreditgeber zur Verfügung. Haftungsmasse der Kreditgeber und Basis der Finanzierung ist ausschließlich die Zielgruppe. Selbstverständlich spielen auch weitere Faktoren eine Rolle, wie etwa die Reputation des Sponsors, seine Erfahrungen im Segment der Zielgruppe und der Erfolg seiner Investments in der Vergangenheit („track record“), jedoch sind dies eher „soft factors“ ohne direkte Auswirkung auf die Struktur der Finanzierung.
4.9 Kreditnehmer der Akquisitionsfinanzierung ist das vom Sponsor eingesetzte Akquisitionsvehikel, welches die Anteile der Zielgesellschaft erwirbt (im Folgenden als „Company“ bezeichnet).12 Beim Erwerb deutscher Gesellschaften kommen meist GmbHs zum Einsatz. Sämtliche Anteile an der Company werden durch eine weitere GmbH gehalten (im Folgenden „Parent“). Beim Vollzug des Unternehmenskaufvertrags stellt der Sponsor der Company (über den Parent) zur teilweisen Finanzierung des Unternehmenskaufs Barmittel zur Verfügung.13 Der Kaufpreis, die oft nicht unerheblichen Transaktionskosten sowie häufig auch die Ablösung von bestehenden Finanzierungen der Zielgruppe werden durch die Barmittel des Sponsors sowie die Darlehensvaluta der Fremdfinanzierung finanziert. Der Anteil der Eigenmittel des Sponsors an der Gesamtkapitalstruktur ist dabei in heutigen LBOFinanzierungen fast immer wesentlich geringer als der der Fremdfinanzierung und kann in Einzelfällen sogar weniger als 30 % betragen.
10 Der Initiator der Transaktion und späterer indirekter Haupteigentümer der Zielgruppe (mittelbar durch das Kaufvehikel und meist weitere Gesellschaften mit ausschließlich strukturellen Zwecken). Die Sponsoren von LBOs sind meist Private Equity-Investoren, die die Zielgesellschaft unter Rückbeteiligung ihres Managements übernehmen. 11 Daher der englische Begriff „leveraged“; in der Praxis bezeichnet leverage ratio in einem engeren Sinne das Verhältnis der Nettofinanzverschuldung zum operativen Gewinn (EBITDA) nach der Unternehmenstransaktion. Zur Leverage-Kennzahl näher Rz. 4.145. 12 Die Terminologie folgt dem Standardvertrag der LMA für LBO-Finanzierungen, dazu im Einzelnen Rz. 4.103. 13 Vgl. hierzu näher Söhner in ZIP 2011, 2085 ff. und Bergjan in Saenger et al., Handels- und Gesellschaftsrecht, § 11 Rz. 254 ff.
262
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B. Arten von Unternehmenskäufen aus Finanzierungssicht
Rz. 4.10 Kap. 4
Private Equity-Fund
LuxCo
PIK Darlehen/ Nachrangdarlehen
Fonds
Mezzanine Darlehen
Holding GmbH
Fonds/Kapitalmarkt
Gesellschafterdarlehen
Kaufpreis
Verkäufer
Käufer
Senior Darlehen/ Unitranche/ High Yield Bond
(neu geründete GmbH)
Übertragung Geschäftsanteile
Banken/Fonds/ Kapitalmarkt
Refinazierung Alt-Kreditgeber RCF
Alt-Kreditgeber
Tochtergesellschaft
Bestehende Finanzierung
Tochtergesellschaft
Zielgesellschaft
Tochtergesellschaft
Tochtergesellschaft
Tochtergesellschaft
Tochtergesellschaft
Abb. 2: Struktur einer LBO-Finanzierung
Zur Absicherung des Risikos, das sich aus der regresslosen14 Finanzierung des Großteils des Unternehmenskaufs ergibt, lassen sich die Kreditgeber umfassende Garantien und Sicherheiten der Zweckgesellschaften des Sponsors und der Zielgruppe gewähren: Der Parent verpfändet sämtliche Anteile an der Company. Die Company verpfändet schon vor dem Vollzug des Unternehmenskaufs (dem Closing) den mit der Akquisitionsfinanzierung erworbenen Vermögensgegenstand, also sämtliche Anteile an der Zielgesellschaft.15 Beide Verpfändungen sind von enormer struktureller Bedeutung, da die Kreditgeber im Falle ei14 Selbstverständlich hat der Kreditgeber vollen Zugriff auf den Kreditnehmer sowie auf möglicherweise gewährte Sicherheiten. Regresslos ist die Finanzierung insofern, als dass auf den Sponsor kein Rückgriff besteht. 15 So beim Share Deal, bei dem häufig auch noch Gesellschafterdarlehen oder ähnliche Ansprüche der Verkäufer miterworben werden. Bei dem in der Praxis selteneren Asset Deal müssen Sicherheiten an den einzelnen Vermögensgegenständen bestellt werden.
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4.10
Kap. 4 Rz. 4.11
Akquisitionsfinanzierung
ner Verwertung der Kreditsicherheiten durch einen „single point of enforcement“ die Möglichkeit benötigen, das Unternehmen als Ganzes zu veräußern, da die Erlöse einer Veräußerung als „going concern“ meist erheblich höher sind als die Zerschlagungswerte der einzelnen Vermögensgegenstände der Unternehmensgruppe. Daneben werden durch ein umfassendes Garantie- und Sicherheitenpaket sämtliche wesentlichen Gesellschaften der Gruppe (Parent, Company und die Zielgruppe) und ihre Vermögensgegenstände zur Haftungsmasse für die Kreditgeber. Um die Kreditgeber vor wesentlichen Veränderungen in der Gruppe zu schützen, ihnen bei wesentlichen Vorgängen Mitspracherechte einzuräumen und sie im Falle von negativen Entwicklungen handlungsfähig zu machen, sehen die Dokumentationen von LBOFinanzierungen ein umfangreiches und enges Korsett von Kreditauflagen und Finanzkennzahlen (Financial Covenants) vor.
III. Die Cross Over-Finanzierung 4.11 Die oben beschriebenen Grundtypen einer Corporate- und einer Leveraged-Finanzierung treten in der Praxis natürlich in allen möglichen Spielarten und Mischformen auf. Bei einer Corporate-Finanzierung etwa verschiebt sich der Fokus der Finanzierung mit zunehmendem Kreditrisiko von der Käufergruppe auf die Zielgesellschaft und die Erfolgsaussichten der Kombination von Käufer- und Zielgruppe. Mit dieser Verschiebung verliert eine Finanzierung graduell ihren Charakter als „Corporate“ und wird bei Entlehnung einzelner Instrumente einer Leveraged-Finanzierung, etwa engerer Kreditauflagen und vereinzelter Garantien oder dinglicher Sicherheiten, zu einer sog. Cross Over-Finanzierung oder nimmt die Gestalt einer Leveraged-Finanzierung an, obwohl der Käufer über einen eigenen Geschäftsbetrieb verfügt. Cross Over-Situationen in einem weiteren Sinne treten auch in anderen Situationen auf. So wählen Unternehmen, die eigentlich eine Corporate-Finanzierung aufnehmen könnten, gelegentlich den Weg einer non-recourse-Finanzierung, meist zur Isolation des aus der Akquisition entstehenden unternehmerischen Risikos, durch Verwendung eines Akquisitionsvehikels, welches die Akquisitionskredite aufnimmt und zusammen mit der Zielgruppe für sie ausschließlich haftet. Vereinzelt gibt es auch Unternehmensgruppen, die zwar über einen bestehenden Geschäftsbetrieb verfügen und dem Grunde nach eine Corporate-Finanzierung aufnehmen könnten, deren Eigentümer aber Private Equity-Sponsoren sind, so dass aufgrund der von Private Equity-Sponsoren erwarteten Unternehmensstrategien und Anforderungen an eine Finanzierung Geschäftsbanken einer üblichen Corporate-Finanzierung skeptisch gegenüberstehen und nur eine Finanzierung aus ihren Leveraged-Abteilungen anbieten.16 Diesen Konstellationen ist gemein, dass der Fokus der Kreditgeber, und damit der Struktur der Finanzierung und ihrer Dokumentation, zumindest in gewissem Maße auf der Zielgruppe und ihrer Wirtschaftskraft liegt.
C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen 4.12 Für die Finanzierung eines Unternehmenskaufs steht eine Vielzahl von unterschiedlichen Finanzierungsinstrumenten zur Verfügung. Ihnen allen ist das Element der Darlehensvergabe gemein. Die in der Praxis häufigste Form der Fremdfinanzierung ist der Konsortial16 Dies ist etwa der Fall bei Unternehmensgruppen, die schon lange im Eigentum des Private Equity-Sponsors stehen, deren ursprüngliche Leveraged-Finanzierung mittlerweile erheblich getilgt oder schon einmal refinanziert worden ist und an denen der Sponsor ggf. durch einen Teil-Exit bereits Anteile abgegeben hat.
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C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen
Rz. 4.16 Kap. 4
kredit in seinen verschiedenen Spielarten, aber auch Kapitalmarktinstrumente, bei denen die Rückzahlungsforderungen der Kreditgeber in Wertpapieren verbrieft sind, können zum Einsatz kommen. Im Folgenden werden die praktisch wichtigsten Formen der Kreditfinanzierung (Rz. 4.13 ff.), die für Akquisitionsfinanzierungen geeigneten Kapitalmarktinstrumente (Rz. 4.49 ff.) sowie kapitalmarktnahe Zwitterprodukte und ihre jeweilige Verwendung in der Praxis summarisch beschrieben (Rz. 4.69 ff.). Unter Rz. 4.72 findet sich eine tabellarische Übersicht über alle dargestellten Finanzierungsinstrumente.
I. Kreditvertragliche Finanzierungsinstrumente 1. Einleitung Kreditvertragliche Finanzierungsformen sind die klassische Finanzierungsquelle für einen Unternehmenskauf. Sie sind überaus flexibel, ihre Gestaltung kann durch die Parteien weitgehend privatautonom vereinbart werden und ihre Erhältlichkeit ist von Schwankungen an den Kapitalmärkten kaum abhängig. Aufgrund der Gestaltungsfreiheit der Vertragsparteien gibt es eine Vielzahl von Spielarten, deren vertragliche Basis in den meisten Fällen der klassische Konsortialkredit ist.
4.13
2. Konsortialkredit Der Konsortialkredit ist ein Darlehensvertrag i.S.d. §§ 488 ff. BGB, bei dem die Darlehensvaluta durch eine Mehrzahl von Kreditgebern (das Konsortium)17 ausgereicht wird. Der Konsortialkredit kann von vornherein als solcher ausgereicht werden18 oder erst später durch Syndizierung, also Übertragung von Kreditteilen an weitere Kreditgeber nach anfänglicher Ausreichung durch einen oder mehrere Underwriter, entstehen.
4.14
Der Konsortialkredit wird durch einen einheitlichen Kreditvertrag zwischen dem Kreditnehmer (und ggf. weiteren Mitgliedern der Kreditnehmergruppe) und sämtlichen Kreditgebern dokumentiert. Neben den kreditvertraglichen Bestimmungen enthält der Kreditvertrag meist auch die Konsortialbestimmungen für das Innenverhältnis der Kreditgeber untereinander;19 sonstige Bestandteile der Dokumentation, wie etwa zur Verwaltung und Verwertung der Sicherheiten, werden üblicherweise in separaten Vereinbarungen dokumentiert.20
4.15
Der Konsortialkredit ist in seiner Grundform darauf ausgelegt, den gesamten Finanzierungsbedarf eines Unternehmenskaufs abzudecken, also neben der eigentlichen Kaufpreiszahlung auch die Begleichung von Transaktionskosten, die Refinanzierung von bestehenden Kredi-
4.16
17 Nach h.M. wird das Kreditkonsortium als BGB-Gesellschaft angesehen; vgl. näher hierzu: Rauch/ Kaufmann, WM 2018, 652 ff. Trotz Bildung eines Konsortiums bleiben die Kreditgeber Einzelschuldner und Einzelgläubiger. Die Gesamtschuldnerschaft (durch die jeder Kreditgeber etwa verpflichtet wäre, die gesamte Darlehensvaluta auszureichen) und die Gesamtgläubigerschaft (jeder Kreditgeber könnte Rückzahlung des gesamten Kredits bzw. Zahlung der geschuldeten Zinsen verlangen) wird ausdrücklich ausgeschlossen (s. Clause 2.4 des LBO LMA und Clause 2.3 des Investment Grade LMA German Law). 18 Bei einer gemeinschaftlichen Kreditvergabe durch eine begrenzte Zahl von Kreditgebern (meist bis ca. zehn) ohne weitere Syndizierung spricht man von einem „Club Deal“. 19 In der traditionellen deutschen Kreditvertragsdokumentation war die Konsortialvereinbarung in einen separaten Vertrag nur zwischen den Kreditgebern ausgegliedert. 20 Sicherheitentreuhandvertrag (engl. Security Agency Agreement). Die Bestimmungen zu den Sicherheiten sind in Leveraged-Finanzierungen im Intercreditor Agreement enthalten.
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Kap. 4 Rz. 4.17
Akquisitionsfinanzierung
ten der Zielgruppe, weitere langfristige Investitionen und den Betriebsmittelbedarf der Unternehmensgruppe. Daher enthält ein Konsortialkreditvertrag üblicherweise mehrere Kreditfazilitäten, die für die jeweiligen Finanzierungszwecke zur Verfügung stehen: Laufzeitkredite (sog. Term Facilities) für die Kaufpreiszahlung und sonstigen langfristigen Finanzierungsbedarf und eine revolvierende Kreditlinie, die während ihrer Laufzeit wiederholt und in unterschiedlichen Höhen und Formen durch Barkredite, zur Ausstellung von Bankavalen oder durch die Einrichtung von sog. Ancillary Facilities (Abzweig- oder Unterkreditlinie, s. im Einzelnen Rz. 4.118) in Anspruch genommen werden kann. Hinsichtlich der Laufzeiten ist der Konsortialkreditvertrag völlig flexibel. Bei Corporate-Finanzierungen sind fünf Jahre üblich,21 bei Leveraged-Finanzierungen enden die Term Facilities derzeit meist bei 7 Jahren. In Sondersituationen kann die Laufzeit wesentlich kürzer (z.B. bei Brückenfinanzierungen zu anderen Finanzierungsinstrumenten, s. dazu auch Rz. 4.49) sowie länger (etwa bei immobilienlastigen Transaktionen) laufen.
4.17 Dem Volumen von Konsortialkrediten sind praktisch weder nach unten, noch nach oben Grenzen gesetzt. Am oberen Ende sind Milliardenbeträge keine Seltenheit.22 Bei einstelligen Millionensummen ist der erhöhte Abstimmungsaufwand eines Konsortialkredits oft nicht verhältnismäßig und ein bilateraler Bankkredit eines Instituts oft die einfachere Variante.
4.18 Kreditgeber von Konsortialkrediten waren früher ausschließlich Geschäftsbanken. Mittlerweile haben sich auch Nicht-Banken23 als Kreditgeber etabliert, und zwar nicht nur hinsichtlich bereits ausgereichter Kredite als Teilnehmer an einer Kreditsyndizierung oder als Käufer von Kreditbeteiligungen im Sekundärmarkt, sondern zunehmend und gerade in jüngster Zeit auch als Arrangeure bzw. ursprüngliche Kreditgeber bei der erstmaligen Kreditvergabe.24 3. Bilateraler Kredit
4.19 Bilaterale Kredite sind Darlehen eines einzelnen Kreditgebers, meist einer Bank, an einen Kreditnehmer, den der Kreditgeber allein an den Kreditnehmer in der Absicht vergibt, ihn 21 Oft versehen mit einer Verlängerungsoption (Extension Option), bei der der Kreditnehmer zwei Mal eine Verlängerung um jeweils ein Jahr beantragen kann. Die Teilnahme an der Verlängerung steht im Ermessen eines jeden Kreditgebers; nicht teilnehmende Kreditgeber haben aber kein Vetorecht. 22 Beispielsweise die Konsortialfinanzierung für United Internet i.H.v. 2,5 Mrd. Euro zur Übernahme von Drillisch (s. Wirtschaftswoche, Drillisch-Aktionäre müssen entscheiden, 26.5.2017 https://www.wiwo.de/unternehmen/dienstleister/uebernahme-durch-united-internet-drillisch-ak tionaere-muessen-entscheiden/19856322.html); ein Konsortialkredit von 18,2 Mrd. Euro, den Hochtief laut Presseberichten für das Übernahmeangebot für den spanischen Autobahnbetreiber Abertis aufgenommen hat, ist hingegen selten. 23 So genannte non-bank lenders oder direct lenders; dies sind zumeist Debt Funds, also Kapitalanlagegesellschaften, die bei ihren Investoren Mittel mit dem Ziel der Gewinnerzielung durch Kreditvergaben einwerben, s. Handelsblatt, Aufstieg des alternativen Kapitals, 25.1.2018). 24 Erleichtert wurde diese Entwicklung maßgeblich durch das Inkrafttreten des OGAW-V-Umsetzungsgesetzes im März 2016. Außerhalb dieses Anwendungsbereichs ist die Kreditvergabe von (zumeist ausländischen) Debt Funds ohne Bankgenehmigung unter dem Kreditwesengesetz (§ 32 KWG) oder ein europäisches Äquivalent (s. etwa § 53b KWG) nur unter den engen Voraussetzungen der zulässigen genehmigungsfreien grenzüberschreitenden Kreditvergabe möglich, s. hierzu das BaFin-Merkblatt zur Erlaubnispflicht von grenzüberschreitend betriebenen Geschäften vom 1.4.2005 ergänzt am 13.9.2017 (s. hierzu https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichun gen/DE/Merkblatt/mb_050401_grenzueberschreitend.html?nn= 9450978).
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C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen
Rz. 4.24 Kap. 4
bis zum Laufzeitende zu halten. Durch diese Absicht unterscheidet sich der bilaterale Kredit von anderen Darlehensformen, bei denen anfangs ggf. auch nur ein einziger Kreditgeber beteiligt ist (so etwa bei Mezzanine-, Second Lien- und Unitranche-Krediten), die aber darauf ausgelegt sind, an weitere Kreditgeber ausplatziert zu werden. Bilaterale Kredite werden üblicherweise auf Basis von durch die kreditgebende Bank entwickelten hausinternen Vertragsvorlagen dokumentiert, die meist wesentlich weniger umfangreich als „marktgängige“ Konsortialkreditvertragsdokumentationen sind.
4.20
In der Praxis der Akquisitionsfinanzierung sind bilaterale Kredite überwiegend bei kleineren Corporate-Finanzierungen oder gelegentlich für starke Investment Grade-Kreditnehmer anzutreffen.
4.21
4. Senior-Kredite Der Begriff „Senior-Kredit“ bezeichnet generisch jeden Kredit, der in einer mehrschichtigen Kapitalstruktur mit verschiedenen Fremdfinanzierungsinstrumenten gegenüber anderen Finanzierungsbestandteilen vorrangig (also „Senior“) und meist auch erstrangig besichert ist. Senior-Kredite sind überwiegend als Konsortialkredite ausgestaltet, auch wenn sie ggf. anfänglich durch nur einen Kreditgeber zugesagt und ausgereicht werden. Da den SeniorKrediten die erste Rangstelle sowohl hinsichtlich der Zahlungsansprüche als auch hinsichtlich der Sicherheiten und ihrer Erlöse eingeräumt wird, stellen sie bei einer typischen Leveraged-Finanzierung25 den Großteil des Fremdfinanzierungsvolumens.
4.22
Die Dokumentation und die sonstige Ausprägung von Senior-Krediten entsprechen den allgemeinen Grundsätzen für Konsortialkredite (s. Rz. 4.14).
4.23
5. Second Lien-Kredite Der Second Lien-Kredit ist ein in aller Regel als Konsortialkredit ausgestaltetes Darlehen, das 4.24 im Rang hinter den Senior-Krediten steht. Die Nachrangigkeit bezog sich in der ursprünglich in den USA entwickelten Form nur auf die Erlöse bei einer eventuellen Sicherheitenverwertung, wurde jedoch in der europäischen Finanzierungspraxis auch auf die Zahlungsansprüche an sich ausgeweitet, so dass bei Stockungen beim Schuldendienst aufgrund von Liquiditätsschwierigkeiten des Kreditnehmers Zahlungen auf den Second Lien-Kredit suspendiert werden. Eine weitere Ausprägung des Nachrangs des Second Lien-Kredits ist seine gegenüber dem Senior-Kredit um mindestens ein halbes Jahr längere Laufzeit.26 Die Nachrangigkeit spiegelt sich natürlich auch in einer höheren Zinsmarge wider, die regelmäßig um einige Prozentpunkte über der des Senior Kredits liegt. Der Second Lien-Kredit wird meist nur für die Finanzierung des Kaufpreises eingesetzt und dient der Steigerung des „Hebeleffekts“ durch die Aufnahme zusätzlicher Fremdmittel, die als Senior-Finanzierung im Markt nicht erhältlich sind.
25 Die Differenzierung nach Senior- und sonstigen Krediten ist bei Corporate-Krediten kaum relevant, weil dort überwiegend nur ein Finanzierungsinstrument eingesetzt wird und es daher keine Rangverhältnisse gibt. 26 Bei einer derzeit in Leveraged-Finanzierungen üblichen Laufzeit der längsten Senior-Fazilität von 7 Jahren liegt der Second Lien-Kredit mithin bei mindestens 7,5 Jahren.
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Kap. 4 Rz. 4.25
Akquisitionsfinanzierung
4.25 Für die Dokumentation des Second Lien-Kredites wird in der heutigen Praxis überwiegend ein separater Kreditvertrag verwendet,27 der auf Grundlage des Senior-Kreditvertrags erstellt wird und diesem bis auf die Second Lien-Spezifika28 entspricht. Das Rangverhältnis zum Senior-Kredit und seinem Kreditgeberkonsortium wird in einer sog. Intercreditor-Vereinbarung zwischen den Kreditgebern der Senior- und der Second Lien-Kredite (unter Einbeziehung der Kreditnehmergruppe und ihrer Gesellschafter, die ihrerseits (Gesellschafter-) Darlehen gewährt haben) geregelt.
4.26 Aufgrund ihres Risikoprofils werden Second Lien-Kredite überwiegend von Debt Funds und nur selten von Banken gewährt. 6. Mezzanine-Kredite
4.27 Mezzanine-Kredite29 sind gegenüber den Senior-Krediten sowohl hinsichtlich der Zahlungsansprüche als auch der Teilhabe an den Erlösen einer Sicherheitenverwertung nachrangige Darlehen. Wie Second Lien-Kredite dienen Mezzanine-Kredite der Hebung weiteren Finanzierungsvolumens für die Kaufpreisfinanzierung. Aufgrund des recht günstigen Finanzierungsumfelds in den letzten Jahren ist die Bedeutung des teuren Mezzanine-Kredits für die Praxis der Akquisitionsfinanzierung gesunken.
4.28 Der vertragliche Nachrang des Mezzanine-Kredits ist umfassend, so dass von wenigen Ausnahmen abgesehen30 Zahlungen auf den Mezzanine-Kredit erst nach vollständiger Rückführung der Senior-Kredite (und evtl. vorhandener Second Lien-Kredite) geleistet werden 27 Bis vor einigen Jahren war es üblich, die Second Lien-Tranche in den Senior-Kreditvertrag zu integrieren. Innerhalb des Kreditvertrags wurde dann zwischen den Priority Senior Facilities (Fazilitäten A, B, C und RCF) und der Second Lien Facility (häufig als Facility D definiert) unterschieden. Eine wesentliche Konsequenz dieser vertraglichen Gestaltung der Second Lien-Tranche als Senior-Fazilität lag bei Abstimmungen innerhalb des Senior-Konsortiums, da die Second LienKreditgeber bei dieser Gestaltung dem Senior-Konsortium angehören und mit diesem gemeinsam abstimmen. Bei allgemeinen Entscheidungen konnten die Second Lien-Kreditgeber von den erstrangigen Senior-Kreditgebern meist überstimmt werden (bei der Dimensionierung der Kredite wurde üblicherweise darauf geachtet, dass die Second Lien-Fazilität keine blocking minority erhält). Eine separate Abstimmung der Second Lien-Kreditgeber wurde nur für wenige Second Lien-spezifische Grundlagenentscheidungen vorgesehen (typischerweise die Abstimmung über eine Kündigung der Second Lien-Kredite bei Vorliegen eines besonders gravierenden Kündigungsgrundes in Bezug auf die Second Lien-Fazilität (z.B. Zahlungsverzug oder Insolvenz des Second Lien-Kreditnehmers). 28 Insbesondere: Nur eine endfällige Kredittranche (Laufzeitdarlehen), längere Laufzeit, höhere Zinsmarge und keine oder nur sehr beschränkte Anpassung der Zinsmarge bei verringertem Verschuldungsgrad, andere Levels bei den Finanzkennzahlen (gegenüber dem Senior-Kredit zusätzlicher Headroom zugunsten des Kreditnehmers), Besonderheiten beim Cross Default zum SeniorKredit, um eine mittelbare Begünstigung des Second Lien-Kreditgebers durch die engeren Senior-Covenants zu vermeiden etc. 29 Im hier verwendeten Sinne handelt es sich um Mezzanine-Fremdkapital. Verschiedentlich gibt es auch als Mezzanine bezeichnete Finanzierungen, die bilanziell als Eigenkapital qualifiziert werden. Diese Instrumente sind in der Praxis der Akquisitionsfinanzierung eher selten. S. allgemein zu Mezzanine-Krediten Baums, Recht der Unternehmensfinanzierung, § 66 Rz. 20 ff. 30 Die Referenzzinssatz (meist EURIBOR, dazu Rz. 4.127) und die Barkomponente der Zinsmarge dürfen regelmäßig solange gezahlt werden, wie der Kreditnehmer hierzu ohne Zahlungsschwierigkeiten in der Lage ist. Sofern Zahlungen an den Sponsor kreditvertraglich zugelassen sind (etwa bei einem auch nach der Zahlung geringen Nettoverschuldungsgrad), sind stattdessen Zah-
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C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen
Rz. 4.32 Kap. 4
dürfen. Das Endfälligkeitsdatum liegt regelmäßig ein Jahr hinter dem der Senior-Kredite und damit sechs Monate nach dem eines möglichen Second Lien-Kredits. Der Nachrang des Mezzanine-Kredits wird zusätzlich dadurch strukturell sichergestellt, dass der Mezzanine-Kredit nicht der Company gewährt wird, sondern dem Parent oder einer noch weiter darüber liegenden Strukturgesellschaft. Direkte Zahlungsansprüche der Mezzanine-Kreditgeber gegen die Kreditnehmergruppe aus der Darlehensvergabe sind daher ausgeschlossen; die Garantien und Sicherheiten der Kreditnehmergruppe sind vertraglich und – soweit rechtlich möglich – dinglich nachrangig gestellt.31 Der Nachrang des Mezzanine-Kredits schlägt sich auch im Pricing der Finanzierungsform nieder. Neben einer im hohen einstelligen oder gar zweistelligen Bereich liegenden Zinsmarge treten der durch die teilweise Kapitalisierung des geschuldeten Zinses erzielte Zinseszinseffekt32 sowie regelmäßig weitere Vergütungselemente.33
4.29
Wie der Second Lien-Kredit wird auch der Mezzanine-Kredit durch einen auf Grundlage des Senior-Kreditvertrags erstellten separaten (Konsortial-) Kreditvertrag und eine flankierende Intercreditor-Vereinbarung dokumentiert.
4.30
Als nachrangiges und sehr risikoreiches Instrument kommt der Mezzanine-Kredit für Banken regelmäßig nicht in Betracht, so dass als Kreditgeber fast ausnahmslos Debt Funds auftreten.
4.31
7. PIK-Kredite Der Begriff „PIK-Kredit“ oder „PIK Facility“ steht für eine tief subordinierte Darlehensform, die während ihrer Laufzeit keinerlei Zahlungen vorsieht. Der Kredit wird in der Regel lungen auf den Mezzanine-Kredit zulässig. Daneben treten in der Praxis seltene Fälle, in denen gesetzlich zwingende Rückzahlungen erforderlich werden. 31 Dies erfordert separate Sicherheitenverträge, welche zur Schaffung der gewünschten Rangfolge zeitlich nacheinander abgeschlossen werden, d.h. zunächst Senior-Kredite und anschließend zweitrangige Pfandrechte für nachrangige Kredittranchen. Die Schaffung mehrerer Pfandrechte mit dinglicher Rangfolge ist in den letzten Jahren jedoch häufig einem einheitlichen Pfandrecht für alle Kredittranchen mit flankierender nur schuldrechtlicher Erlösverteilungsabrede. Hierfür sind zum einen Praktikabilitätsgründe ausschlaggebend und zum anderen die Erfahrungen aus Restrukturierungs- und Verwertungsfällen, in denen sich die schuldrechtlichen Abreden zur Rangfolge weitgehend bewährt haben. 32 Die Zinsmarge wird ca. hälftig aufgeteilt in eine bar zu zahlende Komponente und den sog. PIKZins, der zu den Zinszahlungsterminen (viertel- oder halbjährlich) kapitalisiert, d.h. der Darlehensvaluta zugeschlagen wird, so dass der kapitalisierte PIK-Zins künftig mit der Darlehensvaluta zu verzinsen und mit ihr erst bei Endfälligkeit zahlbar ist. Aufgrund des Zinseszinsverbots gem. § 248 BGB müssen besondere vertragliche Gestaltungen gewählt werden (i.d.R. ein Wahlrecht des Kreditnehmers zur schriftlichen Kapitalisierungsbestätigung). Auch i.R.e. einer LBO-Transaktion muss von der Anwendbarkeit des § 248 BGB ausgegangen werden, obwohl ein Schutzbedürfnis der Kreditnehmer kaum erkennbar ist. Zum Ganzen vgl. Castor in Langenbucher/Bliesener/Spindler, 16. Kapitel, Rz. 50. 33 Typischerweise eine sog. Call Protection, der zufolge frühzeitige Rückzahlungen in den ersten zwei bis drei Laufzeitjahren untersagt oder mit Vorfälligkeitsgebühren (Prepayment Fees) sanktioniert werden; höhere anfängliche Einmalgebühren sowie regelmäßig auch ein sog. Warrant oder auch Equity Kicker, durch den der Mezzanine-Kreditgeber an einem erfolgreichen Exit des Sponsors durch eine Abschlusszahlung beim Unternehmensverkauf so beteiligt wird, als sei er auch (zu einem entsprechend geringen Prozentsatz) am Eigenkapitalinvestment beteiligt gewesen.
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4.32
Kap. 4 Rz. 4.33
Akquisitionsfinanzierung
weit oberhalb der eigentlichen Kreditnehmergruppe von Parent, Company und ihrer Tochtergesellschaften an eine Strukturgesellschaft des Sponsors ausgereicht, meist auch oberhalb der Strukturgesellschaft, an der das Management der Zielgruppe (rück-) beteiligt ist. PIK-Kredite können zu Beginn der Transaktion eingesetzt werden, um den Fremdkapitalanteil der Kaufpreisfinanzierung zu erhöhen.34 Sehr häufig ist aber auch der Einsatz zur Refinanzierung eines Teils des Eigenkapitalinvestments des Sponsors nach Vollzug des Unternehmenskaufs.35 Der PIK-Kredit hat in jüngster Zeit für die Akquisitionsfinanzierung stark an Bedeutung gewonnen.36
4.33 Abgesehen von einer Gebührenzahlung vor Ausreichung werden dem Darlehensgeber Rückzahlung der Valuta und Zahlung des aufgelaufenen Zinses erst zum Ende der vertraglichen Laufzeit oder vorfällig bei einem Exit zugesagt. Der gesamte Zins wird regelmäßig37 kapitalisiert, also dem Prinzipalbetrag des Darlehens zugeschlagen.38
4.34 Der PIK-Kredit wird durch einen Kreditvertrag dokumentiert, der regelmäßig einen Konsortialkredit vorsieht,39 aber wesentlich schlanker als der Senior-Kreditvertrag oder die auf seiner Basis erstellten Verträge für Second Lien- und/oder Mezzanine-Kredite ist. Der wesentliche Grund für das geringere Volumen des Vertrags liegt darin, dass sich die Zusicherungen, Kreditauflagen und Kündigungsgründe nur in einem geringen Maß auf die Zielgruppe beziehen, da der PIK-Kredit als eigenkapitalähnliches Instrument angesehen wird, welches dem operativen Geschäftsbetrieb keine Beschränkungen auferlegen darf. Hinsichtlich des auf den PIK-Kreditvertrag anwendbaren Rechts folgt dieses meist dem des SeniorKreditvertrags, jedoch ist in der Vertragspraxis eine gewisse Präferenz für englisches Recht (kombiniert mit einer Gerichtsstandvereinbarung zugunsten der englischen Gerichte) zu beobachten.40 Der PIK-Kredit wird nicht durch die Vermögensgegenstände oder Garantie34 Abhängig von den Umständen des Einzelfalls kann der Betrag des PIK-Darlehens bei Ausreichung (also noch vor der ersten Kapitalisierung) ca. das ein- bis zweifache des EBITDA der Zielgruppe betragen. 35 Sofern dann erste konsolidierte Zahlen für die Zielgruppe in neuer Eigentümerschaft vorliegen, sind Hochrisikokredite wie ein PIK-Instrument wesentlich einfacher zu beschaffen. Die Aufnahme einer Finanzierung auf der Ebene oberhalb der Senior-Kreditnehmergruppe wird durch die Senior-Kreditverträge regelmäßig nicht beschränkt. 36 Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass die durch Senior-Kreditgeber angebotenen Leverage-Levels aufgrund regulatorischer Vorgaben (z.B. die sog. Guidance on Leveraged Transactions der EZB, hierzu näher unter https://www.bankingsupervision.europa.eu/press/pr/date/2017/html/ssm. pr170516.en.html) eher abgenommen haben. Durch die Kombination einer günstigen Senior-Finanzierung mit einer PIK-Finanzierung kann der Eigenkapitalanteil reduziert werden, während die Gesamtkosten für die kombinierte Fremdfinanzierung geringer sein können als etwa die einer konkurrierenden Unitranche-Finanzierung (dazu näher Rz. 4.36). 37 Meist alle sechs oder zwölf Monate. 38 Wie die PIK-Zins-Komponente beim Mezzanine-Kredit, s. Rz. 4.27 Fn. 32. Die Abkürzung „PIK“ steht für „payment in kind“ und beschreibt die Begleichung der Zinsschuld durch Zuwendung neuer Darlehensforderungen an Erfüllungs statt. Zinszahlungen während der Laufzeit sind allenfalls freiwillig zulässig („pay as you want“), freiwillige vorfällige Zahlungen auf die Darlehensvaluta während der ersten Laufzeitjahre nur im Rahmen einer strengen Call Protection, hierzu oben Fn. 33. 39 Aufgrund des anspruchsvollen Risikoprofils bestehen PIK-Kreditgeber üblicherweise auf dem Recht, den PIK-Kredit oder zumindest Teile davon unter bestimmten Umständen ausplatzieren zu dürfen. 40 Verschiedene, kommerziell sehr wichtige Elemente des PIK-Kredits, allen voran der PIK-Zins und die Call Protection, sind unter deutschem Recht nur mit Schwierigkeiten darstellbar. Der
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C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen
Rz. 4.37 Kap. 4
erklärungen der Zielgruppe besichert. Die PIK-Kreditgeber erhalten regelmäßig nur eine „strukturelle“ Sicherheit über die Anteile am PIK-Kreditnehmer oder seiner unmittelbaren Tochtergesellschaft und eventuelle Darlehensansprüche gegen diese.41 Ein flankierender Intercreditor-Vertrag mit den Senior- und anderen Fremdkapitalgebern ist oft nicht erforderlich, weil die Ansprüche der PIK-Kreditgeber aufgrund des tiefen strukturellen Nachrangs des PIK-Darlehens nicht mit denen anderer Fremdkapitalgeber konkurrieren. Es wird allenfalls eine Nachrangvereinbarung mit den Sponsoren-Gesellschaften oberhalb des PIK-Kreditnehmers erforderlich, sofern diese Gesellschafterdarlehen an den PIK-Kreditnehmer vergeben haben. PIK-Kredite werden als Hochrisikoinstrument praktisch ausschließlich von Nicht-BankenKreditgebern zugesagt und gewährt.
4.35
8. Unitranche-Kredite Mit Unitranche-Krediten hat sich in den letzten Jahren ein weiteres Fremdfinanzierungs- 4.36 instrument für Unternehmenskäufe fest etabliert. Unitranche-Kredite haben sich insbesondere im Segment der kleinen und mittelgroßen Unternehmensübernahmen42 zu einer attraktiven Alternative zu den früher fast ausschließlich erhältlichen Senior-Krediten entwickelt. Unitranche-Finanzierungen kombinieren bekannte Strukturierungselemente von Nachrang- und Senior-Krediten zu einem neuen Finanzierungsprodukt. Da Kreditgeber von Unitranche-Finanzierungen ausschließlich Debt Funds sind, die als Nicht-Banken keinen oder nur geringen regulatorischen Restriktionen unterliegen, stellen Unitranche-Kredite im Vergleich zu SeniorKrediten regelmäßig ein höheres Kreditvolumen43 bei gleichzeitig geringerem Eigenkapitaleinsatz des Sponsors44 zur Verfügung. Dieses Kreditpaket muss sich der Kreditnehmer allerdings durch ein erheblich höheres Pricing teuer erkaufen.45 In der deutschen Akquisitionsfinanzierungspraxis46 ist der Unitranche-Kredit ein Laufzeitdarlehen, welches im Grunde einem Senior-Kredit entspricht, weil es bei etwa gleicher
41 42 43 44 45 46
PIK-Kreditvertrag spielt auch für das häufig deutsche Management der Zielgruppe keine Rolle, sodass dieses Argument für das deutsche Recht der Senior-Verträge (Vertrautheit des Managements, Einheitlichkeit der anwendbaren Rechtsordnungen in der Kapitalstruktur) unbeachtlich ist. Schließlich kommen viele PIK-Kreditgeber aus dem anglo-amerikanischen Rechtsraum und sind mit dem englischen Recht ohnehin vertrauter als mit dem deutschen. Insbesondere aus der Weiterreichung der Erlöse des PIK-Kredits durch die Kette der Holding-Gesellschaften in die Zielgruppe. Mit einem Fremdfinanzierungsvolumen von bis zu ca. 200 Mio. Euro. Vereinzelt wurden im Markt aber auch Kredite von um 500 Mio. Euro von einzelnen Debt Funds oder kleineren Debt Fund-Konsortien beobachtet. Anfängliche Leverage Levels von 6x oder höher (der Kredit beträgt also das Sechsfache des jährlichen EBITDA der Zielgruppe) sind keine Seltenheit. Der Anteil des Eigenkapitals kann auf weniger als 30 % sinken. Die Zinsmarge einer Unitranche beträgt regelmäßig etwas mehr als das Doppelte der Zinsmarge eines Senior-Kredits. Unitranche-Finanzierungen sind im US-amerikanischen Mid-Market-Segment entwickelt worden. In ihrer ursprünglichen Form hat die Unitranche-Facility Kredite mehrerer Ränge zu einer einheitlichen (daher „uni“) Kreditfazilität vereint, die dem Kreditnehmer gegenüber als Einheit ausgereicht und nur durch eine Gläubigervereinbarung ohne Beteiligung des Kreditnehmers („agreement among the lenders“) in verschiedene Rangklassen (first-out und second-out) aufgefächert wird. Zum Ganzen s. auch Ingenhoven in Jesch/Striegel/Boxberger, Rechtshandbuch Private Equity, § 12 S. 264 f. sowie Bellucci/McCluskey, The LSTA’s Complete Credit Agreement
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4.37
Kap. 4 Rz. 4.38
Akquisitionsfinanzierung
Laufzeit (üblicherweise ca. 7 Jahre) den Löwenanteil des Finanzierungsbedarfs abdeckt und dafür durch die Kreditnehmergruppe erstrangig besichert wird. Da der Kreditgeber der Unitranche als Nicht-Bank die fast immer erforderliche revolvierende Betriebsmittellinie für die Zielgruppe nicht darstellen kann, wird das Unitranche-Laufzeitdarlehen meist mit einer durch eine Geschäftsbank gestellten revolvierenden Kreditlinie kombiniert. Die Geschäftsbank ist aber zur Stellung der Betriebsmittellinie zusätzlich zu einer sehr hohen Laufzeitfinanzierung regelmäßig nur dann gewillt, wenn ihr Ausfallrisiko durch Kreditsicherheiten vollumfänglich abgedeckt wird, und zwar vorrangig vor der Unitranche-Finanzierung. Die revolvierende Kreditfazilität wird daher „Super Senior“ ausgestaltet, was wohl am besten mit „vor dem ersten Rang stehend“ übersetzt werden kann: Dem Super Senior-Kreditgeber wird (durch Intercreditor-Vereinbarung mit dem Unitranche-Kreditgeber) ein vorrangiger Anspruch auf Auskehrung der Erlöse einer möglichen Sicherheitenverwertung eingeräumt. Mit dieser vertraglichen Rangabrede geht weder eine separate erstrangige dingliche Sicherheit zugunsten des Super Senior-Kreditgebers einher noch ein allgemeiner Nachrang der Unitranche. Vielmehr sind beide Kredite während der Laufzeit im Prinzip gleichrangig und sowohl Zinsen als auch Rückzahlungen dürfen jederzeit geleistet werden; lediglich in einem Verwertungsszenario wird der Super Senior-Kreditgeber zu einem erstranging Berechtigten und kann vom Sicherheitentreuhänder die Auskehrung von Verwertungserlösen vor dem Unitranche-Kreditgeber verlangen. Mit Blick auf die Beteiligten ist die Rollenverteilung bei einer Unitranche-Finanzierung im Vergleich zu einer herkömmlichen Senior-Finanzierung gewissermaßen umgekehrt: Bei einer Senior-Finanzierung sind die Senior-Kreditgeber die maßgeblichen Kreditgeber, die den Großteil der Finanzierung stellen und eine Führungsrolle im Konsortium beanspruchen; Debt Funds als weiteren Kreditgebern verbleibt allenfalls eine ergänzende Funktion durch Stellung eines verhältnismäßig geringen, streng nachrangigen Kreditinstruments. Bei der Unitranche-Finanzierung hingegen stellt der Debt Fund die Hauptfinanzierung und beansprucht dementsprechend auch eine grundsätzlich erstrangige Besicherung und eine Führungsrolle.47 Die Rolle der Bank ist auf die Stellung einer ergänzenden Betriebsmittellinie reduziert.
4.38 In der Finanzierungspraxis ist eine Vielzahl von Gestaltungen zu beobachten, die aber letztlich alle Varianten der oben beschriebenen Grundstruktur darstellen.48
4.39 Der Kreditvertrag für einen Unitranche-Kredit entspricht grds. einem Senior-Konsortialkreditvertrag, der zur Abbildung der Super Senior-Position der revolvierenden Kreditfazilität entsprechend angepasst wird. Hinzu tritt eine Intercreditor-Vereinbarung.
4.40 Als Kreditgeber von Unitranches treten praktisch nur Debt Funds auf. 9. Super Senior-Kredite
4.41 Super Senior-Kredite im weiteren Sinne sind Darlehen, die bei einer bereits bestehenden erstrangigen („Senior“)-Finanzierung eine dem Senior-Kredit vorrangige Stellung einnehmen sollen. Diese vorrangige Stellung bezeichnet dabei in aller Regel keinen vollständigen Guide, S. 57 f.; Ward/Darley in Mellor, The International Comparative Legal Guide to Lending & Secured Finance 2017, Chapter 10, Part A. 47 Etwa bei Abstimmungen im Kreditgeberkonsortium. 48 So kann die erforderliche Betriebsmittel-Finanzierung auch außerhalb der Unitranche in einem separaten Kreditvertrag dargestellt werden. Umgekehrt beteiligt sich der Super Senior-Betriebsmittelkreditgeber teilweise auch mit einer weiteren Super Senior-Tranche an dem Laufzeitdarlehen.
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C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen
Rz. 4.45 Kap. 4
Vorrang der Super Senior-Finanzierung (wie der Vorrang eines Senior-Kredits gegenüber einem Mezzanine-Kredit), sondern eine durch schuldrechtliche Vereinbarungen zwischen den Kreditgebergruppen erzielte Berechtigung, aus den Erlösen einer Sicherheitenverwertung vorrangig befriedigt zu werden. In der Akquisitionsfinanzierung werden diese Kredite häufig als Ergänzung für eine Unitranche-Finanzierung eingesetzt, dort primär als revolvierende Kreditlinie, teils aber auch als kleine „First-Out“ Term Loan-Tranche; s. bereits Rz. 4.36. Ähnlich gelagert ist die ebenfalls oft anzutreffende Konstellation, dass der Super Senior-Kredit neben einen High Yield Bond oder ein Term Loan B (TLB) tritt, um dem Emittenten eine revolvierende Finanzierung seiner allgemeinen Unternehmenszwecke zur Verfügung zu stellen, die durch die Kapitalmarkt- oder kapitalmarktnahen Produkte nicht dargestellt werden können (s. hierzu im Einzelnen Rz. 4.60 sowie Rz. 4.69).
4.42
Die Dokumentation von Super Senior-Krediten ist stark von den Umständen des Einzelfalls abhängig. In Kombination mit einer Unitranche-Laufzeitfinanzierung eingesetzt, werden die Super Senior-Kredite überwiegend als eine selbständige Tranche in den Konsortialkreditvertrag für die Gesamtfinanzierung aufgenommen; in selteneren Fällen wird der Super Senior-Kredit in einem separaten Vertrag dokumentiert und mit dem Unitranche-Kreditvertrag durch einen Intercreditor-Vertrag verklammert.49 Tritt der Super Senior-Kredit als Ergänzung neben einen High Yield Bond, muss er selbstverständlich in einem eigenständigen Kreditvertrag dokumentiert werden, der grds. der Form eines üblichen Konsortialkredits entspricht, jedoch in wesentlichen Teilen, so insbesondere den Kreditauflagen (Covenants), an die Vorgaben des High Yield Bond angeglichen wird.50
4.43
Kreditgeber von Super Senior-Krediten sind in der Akquisitionsfinanzierung fast ausschließlich Banken, weil sie in der Lage sind, Kapital dauerhaft vorzuhalten und den mit den wiederholten Inanspruchnahmen verbundenen erhöhten Verwaltungsaufwand darzustellen.
4.44
10. Covenant Lite- und Covenant Loose-Kredite Der Vollständigkeit halber seien zwei weitere Begriffe erwähnt, die im Kontext einer Akquisitionsfinanzierung in den letzten Jahren regelmäßig genannt werden: So genannte Covenant Lite oder Covenant Loose-Finanzierungen. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um eine eigene Finanzierungsform, sondern vielmehr um übliche Konsortialkreditfinanzierungen in einer der oben beschriebenen Spielarten (etwa Senior-Kredite, Second Lien-Kredit oder Unitranche-Finanzierungen), die unter Bezugnahme auf die in der jeweiligen Finanzierung enthaltenen Finanzkennzahlen als „Covenant Lite“ (dann gar kein Financial Covenant oder ein sog. „Springing Financial Covenant“, der nur zugunsten der Kreditgeber der revolvierenden Kreditlinie wirkt und nur eingehalten werden muss, wenn die revolvierende Kreditlinie an einem Quartalsende zu einem Mindestprozentsatz in Anspruch genommen ist (hierzu auch Rz. 4.49) oder „Covenant Loose“ (reduziertes Paket von Financial Covenants (meist nur der Nettoverschuldungsgrad51) mit einem zugunsten des Kreditnehmers hohen Headroom) bezeichnet werden. 49 Etwa wenn die bisherige Hausbank der Zielgesellschaft auch nach dem Unternehmenskauf die revolvierende Kreditlinie, dann auf Super Senior-Basis, stellt und nicht auf ihre eigene, vertraute Dokumentation verzichten möchte. Erfahrungsgemäß ist dieser Weg eher aufwendiger. 50 Zu dieser Dokumentationstechnik im Einzelnen in Rz. 4.60. 51 Zu den Financial Covenants im Einzelnen s. Rz. 4.143.
Ingenhoven/Eisen
273
4.45
Kap. 4 Rz. 4.46
Akquisitionsfinanzierung
11. Verkäuferdarlehen
4.46 Auch wenn es sich bei Verkäuferdarlehen nicht um eine klassische, durch Drittgläubiger gewährte Finanzierung handelt, sind die sog. Vendor Loans, die wirtschaftlich durch das Stehenlassen eines Teils der Kaufpreisforderung unter dem Unternehmenskaufvertrag entstehen, wichtige Fremdfinanzierungsinstrumente für einen Unternehmenskauf. Für den Käufer kann ein Verkäuferdarlehen sehr attraktiv sein, weil es ihm hilft, seine Finanzierungskapazität zu erhöhen, ohne seine vielleicht schon ausgereizte Fremdfinanzierung noch stärker in Anspruch nehmen zu müssen; daneben spricht aus der Bereitschaft des Verkäufers, auf die sofortige Zahlung des Kaufpreises zu verzichten, ein hohes Vertrauen des Verkäufers in die Qualität des verkauften Unternehmens und den Erfolg des Unternehmenskaufs auch nach Vollzug. Der Verkäufer wiederum kann durch die Bereitschaft zu einem Verkäuferdarlehen unter Umständen den Kaufpreis erhöhen und so auch nach Closing von seinem Unternehmen profitieren (durch regelmäßig geleistete oder aufgelaufene Zinsen und schlussendlich die (Rück-) Zahlung der Valuta).52
4.47 So attraktiv Vendor Loans für Verkäufer und Käufer in der Verhandlungssituation sein mögen, so schwierig sind sie in die sonstige Fremdfinanzierung des Käufers zu integrieren: Fremdkapitalgeber akzeptieren konkurrierende Finanzierungen regelmäßig nur dann, wenn sie sowohl vertraglich als auch strukturell nachrangig gestellt werden. Dies erfordert, dass die Verkäufer den Nachrang hinter der Konsortial- oder sonstigen Finanzierung des Käufers akzeptieren müssen und erst dann Zahlungen erhalten können, wenn die Käuferfinanzierung vollständig abgelöst ist. Dem steht wiederum die Erwartung der Verkäufer entgegen, kurz oder zumindest mittelfristig den Restkaufpreis (einschließlich Zinsen) zu erhalten und nicht erst frühestens nach 7 Jahren (derzeit eine übliche Laufzeit von Akquisitionsfinanzierungen). Der Verhandlungsschwerpunkt liegt daher auf der Ausgestaltung des Nachrangs und insbesondere erlaubten frühzeitigen Zahlungen auf die Vendor Loans (etwa beim Erreichen von bestimmten Milestones oder besonders günstiger Finanzrelationen, die weit unter den eigentlichen Financial Covenants der der Fremdfinanzierung liegen) und möglichen Mitspracherechten der Verkäufer bei späteren Änderungen der Fremdfinanzierung (wie beispielsweise ihre Verlängerung oder Erhöhung).
4.48 Die Dokumentation eines Verkäuferdarlehens erfolgt nur selten als integraler Bestandteil des Unternehmenskaufvertrags, sondern wird meist in einen separaten, eher kurzen Vertrag ausgegliedert, der dem Unternehmenskaufvertrag als Anhang beigefügt ist.53
52 Ggf. auch durch eine weitere Earn-Out-Komponente. Unter einem Earn-Out versteht man die Konstellation, dass ein Teil des Kaufpreises von künftigen Ereignissen, z.B. vom Erreichen bestimmter Ziele, abhängig gemacht wird, so dass der betreffende Kaufpreis erst bei Zielerreichung fällig wird. Dabei handelt es sich zwar nicht um einen Vendor Loan im engeren Sinne, jedoch führt diese Gestaltung praktisch zu einer Stundung, vgl. hierzu von Braunschweig, DB 2010, 713 ff. 53 Bei einer Ausgestaltung als echtes Darlehen sollte berücksichtigt werden, dass eine auch einmalige Darlehensvergabe unter Umständen der Genehmigungspflicht für Bankgeschäfte im KWG unterfallen kann, s. § 32 i.V.m. § 1 Abs. 1 Nr. 2 KWG i.V.m. dem BaFin Merkblatt Kreditgeschäft, 2.5.2016.
274
Ingenhoven/Eisen
C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen
Rz. 4.50 Kap. 4
II. Kapitalmarktinstrumente 1. Einleitung Während kreditvertragliche Finanzierungsformen die klassische Finanzierungsquelle für ei- 4.49 nen Unternehmenskauf darstellen, werden insbesondere für Akquisitionsfinanzierungen mit einem hohen Finanzierungsvolumen Kapitalmarktinstrumente eingesetzt. Dabei werden häufig Kapitalmarktinstrumente in Form von Anleihen in Kombination mit einer klassischen Akquisitionsfinanzierung durch Konsortialkredit (sog. Bank/Bond-Finanzierung) eingesetzt. Hierdurch kann das auf die Kreditinstitute aufgrund des Konsortialkredits entfallende Finanzierungsvolumen auf eine akzeptable bzw. zulässige Größe reduziert werden.54 Die Anleihe kann den Konsortialkredit in Form des Laufzeitdarlehens aber auch ersetzen. Da die Begebung von Anleihen stets nur innerhalb bestimmter Zeitfenster erfolgen kann und zudem die Kapitalmärkte innerhalb dieser Zeitfenster Schwankungen unterliegen, werden Anleihefinanzierungen von Akquisitionen durch kreditvertragliche Brückenfinanzierungen regelmäßig abgesichert: Kann aufgrund eines schwachen Kapitalmarktumfelds die Begebung der Anleihe nicht erfolgen, stellt die Brückenfinanzierung die Finanzierung des Kaufpreises für den Verkäufer sicher. Nach Vollzug der Akquisition wird die Brückenfinanzierung durch die Begebung der Anleihen refinanziert und abgelöst (sog. Bridge to Bond-Finanzierung). Neben der Anleihe als wichtigstem und am stärksten verbreiteten Kapitalmarktinstrument zur Finanzierung einer Unternehmensakquisition, sollen unter Rz. 4.69 auch Misch- bzw. Zwitterformen der Kapitalmarktfinanzierung angesprochen werden, Schuldscheindarlehen nach deutschem Recht und nach englischem bzw. New Yorker Recht dokumentierte „Term Loan B“-Kredite. Trotz ihrer im Einzelnen noch aufzuzeigenden Unterschiedlichkeit zeichnen sich beide Finanzierungsinstrumente durch ihre Annäherung zu „echten“ Kapitalmarktinstrumenten aus, die sich im Schuldscheindarlehen in seiner Handelbarkeit unter institutionellen Investoren und für „Term Loan B“-Kredite in ihrer an Anleihen orientierten Dokumentation zeigt; s. hierzu Rz. 4.69.
54 So genannte „Großkreditobergrenze“, s. Art. 395 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 646/2012 (Capital Requirements Regulation [CRR]), wonach Institute gegenüber Kunden oder einer Gruppe verbundener Kunden (unter Berücksichtigung etwaiger Kreditrisikominderungen) keine Risikopositionen eingehen dürfen, deren Wert 25 % der anrechenbaren Eigenmittel des Instituts übersteigt. Zur „Gruppe verbundener Kunden“ zählen gem. Art. 4 Abs. 1 Nr. 39 der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 nicht nur solche Konstellationen, in denen eine (juristische oder natürliche) Person die direkte oder indirekte Kontrolle über eine andere Person verfügt, sondern auch Abhängigkeitsverhältnisse, die es als wahrscheinlich erscheinen lassen, dass bei finanziellen Schwierigkeiten, insbesondere Finanzierungs- oder Rückzahlungsschwierigkeiten, eines Kunden auch andere Personen auf Finanzierungs- oder Rückzahlungsschwierigkeiten stoßen. Der Begriff „Gruppe verbundener Kunden“ ist nicht identisch mit dem Begriff der Kreditnehmereinheit gem. § 19 Abs. 2 und Abs. 3 KWG, s. hierzu ausführlich Bock in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, § 19 Rz. 125 f. Neben der stets einzuhaltenden Großkreditobergrenze kann das jeweilige Institut auch bestrebt sein, eine Meldung von Großkrediten nach Art. 394 der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 zu vermeiden. Danach sind Kredite zu melden, die an einen Kunden oder eine Gruppe von Kunden ausgereicht sind, sofern der Wert der Kredite 10 % der anrechenbaren Eigenmittel des Instituts erreicht oder überschreitet. Zum Begriff der anrechenbaren Eigenmittel s. Art. 4 Abs. 1 Nr. 71 der Verordnung (EU) Nr. 575/2013.
Ingenhoven/Eisen
275
4.50
Kap. 4 Rz. 4.51
Akquisitionsfinanzierung
2. Einsatz von Anleihen zur Finanzierung einer Unternehmensakquisition
4.51 Sollen Anleihen zur Finanzierung einer Unternehmensübernahme eingesetzt werden, muss zunächst danach unterschieden werden, ob die Erlöse aus der Begebung der Anleihen tatsächlich die Unternehmensakquisition finanzieren oder diese re-finanzieren sollen. Im ersten Fall werden die Emissionserlöse zur Begleichung des Kaufpreises gegenüber dem Verkäufer verwendet, im zweiten Fall lösen die Anleihen eine bereits bestehende Kaufpreisfinanzierung (regelmäßig in Form einer Brückenfinanzierung, dazu unter Rz. 4.57) ab. a) Anleihefinanzierung und Unternehmenskaufvertrag
4.52 Sollen Anleihen im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Vollzug des Kaufvertrages emittiert werden und den Kaufpreis finanzieren, steht der Käufer vor einem Dilemma: Er muss in dem für die Platzierung und/oder Börsennotierung der Anleihe zu erstellenden Prospekt (bzw. Offering Memorandum) umfassend die Zielgesellschaft, ihre Geschäftsaktivitäten, Märkte und die Geschäftsrisiken beschreiben sowie die Jahres- und Quartalsabschlüsse offenlegen,55 hat aber vor Vollzug des Kaufvertrages keinen Zugang zur Zielgesellschaft bzw. Zugriff auf die entsprechenden Informationen. Um dieses Problem zu lösen, wird daher regelmäßig bereits im Anteilskaufvertrag eine umfassende Kooperationsverpflichtung des Verkäufers (und ggf. der Zielgesellschaft) festgelegt, die den Verkäufer (und ggf. die Zielgesellschaft) verpflichtet, dem Käufer bereits zwischen Signing und Closing Zugang zur Zielgesellschaft zu gewähren. Hierdurch sollen die für die Erstellung des Prospekts bzw. des Offering Memorandum erforderlichen Informationen, insbesondere die erforderlichen Finanzinformationen zur Verfügung gestellt werden.
4.53 Für den Verkäufer ist diese Kooperation vor dem Vollzug des Kaufvertrages – trotz des Interesses des Verkäufers am Gelingen der Finanzierung des Käufers – nicht ohne Risiko: Die für die Erstellung des Prospekts bzw. des Offering Memorandum zur Verfügung gestellten Informationen können z.B. Sachverhalte offenbaren, die während der M&A Due Diligence nicht offengelegt oder beachtet worden sind. Ferner kann die Kooperationsverpflichtung auch über die Informationsweitergabe hinausgehende Verpflichtungen enthalten, z.B. bestimmte konzerninterne Umstrukturierungen vorzunehmen oder bestimmte Finanzierungsdokumente der Käuferfinanzierung zu unterzeichnen.56 Abgesehen von der Informationsweitergabe sollten die Mitwirkungspflichten des Verkäufers grundsätzlich keine Verpflichtungen oder Haftungen der veräußerten Unternehmensgruppe begründen, die nicht aufschiebend bedingt auf den Vollzug des Anteilskaufvertrages sind. b) Anleihefinanzierung und Finanzierungssicherheit
4.54 Eine kapitalmarktbasierte Akquisitionsfinanzierung steht regelmäßig noch vor der weiteren Herausforderung der unzureichenden Finanzierungssicherheit: Wie im Einzelnen unter Rz. 4.222 dargelegt, sind die Emissionsbanken auch im Rahmen eines hard underwriting im Übernahmevertrag regelmäßig nicht zur Übernahme der Anleihen verpflichtet, wenn die (Weiter-) Platzierung bei den Investoren nicht gelingt oder ein Business MAC oder Market MAC eintritt. 55 Zum Erfordernis der Erstellung eines Prospekts bzw. Offering Memorandums, s. Rz. 4.188; zu den hierfür im Einzelnen erforderlichen Informationen s. Rz. 4.210. 56 Z.B. um bereits ab dem Vollzugsdatum einen „Debt Push Down“ zu ermöglichen, s. hierzu unter Rz. 4.95.
276
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C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen
Rz. 4.57 Kap. 4
Unabhängig davon spielt hier die 135-Tage Regel eine entscheidende Rolle, nach der die im Prospekt oder Offering Memorandum verwendeten Finanzinformationen zum Zeitpunkt der Emission nicht 135 Tage oder älter sein dürfen. Andernfalls erteilen die Abschlussprüfer des Emittenten auf die Finanzinformationen keinen Comfort Letter, s. Rz. 4.212. Da der Comfort Letter conditio sine qua non für die Übernahme der Anleihen durch die Emissionsbanken ist, bedeutet dies praktisch, dass eine Emission nur innerhalb bestimmter Zeiträume eines Jahres in Betracht kommt. Da der Käufer allerdings verpflichtet ist, den Kaufpreis zu einem bestimmten, im Vorfeld festgelegten, Stichtag zu entrichten, sieht er sich aufgrund der vorstehend genannten Umstände dem Risiko ausgesetzt, am Vollzugstag der Akquisition nicht den vollständigen Kaufpreis durch Begebung der Anleihen aufbringen zu können. In der Praxis wird dieser Mangel an Finanzierungssicherheit entweder durch ein vorweggenommenes Closing der Anleiheemission (sog. Escrow Funding) oder durch eine Brückenfinanzierung (Bridge to Bond) mitigiert, wobei beide Instrumente auch miteinander kombiniert werden können.
4.55
Beim Escrow Funding wird die Anleiheemission einige Zeit vor dem geplanten Closing der Unternehmensakquisition vollzogen. Die Emissionserlöse werden nicht durch die Emissionsbanken an den Emittenten zur Begleichung der (noch nicht fälligen) Kaufpreisschuld aus der Akquisition ausgekehrt, sondern auf ein Treuhandkonto im Namen des Emittenten hinterlegt, welches zugunsten des Trustee bzw. des gemeinsamen Vertreters der Anleihegläubiger verpfändet ist.57 Kommt es innerhalb eines bestimmten Zeitraums zum Vollzug der Akquisition, werden die Emissionserlöse vom Treuhandkonto an den Emittenten (bzw. direkt an den Verkäufer) überwiesen. Kommt es nicht zum Vollzug der Akquisition, werden die Anleihen inklusive aufgelaufener Zinsen vorzeitig zurückgezahlt. Durch ein Escrow Funding kann die Finanzierungssicherheit erhöht werden,58 allerdings wird dies mit einem (ggf. nicht unerheblichen) negative carry erkauft.59
4.56
In einer Brückenfinanzierung (Bridge Facility, Bridge to Bond) verpflichten sich die Emissionsbanken der geplanten Anleihe, dem Emittenten ein Laufzeitdarlehen zur Verfügung zu stellen, wenn die geplante Anleihe nicht oder nur zu unverhältnismäßigen Konditionen am Kapitalmarkt platziert werden kann.60 Die Laufzeit ist regelmäßig auf zwei Jahre begrenzt. Der Zins des Brückendarlehens steigt in bestimmten Intervallen an, um den Emittenten zur Begebung der Anleihe zu inzentivieren.61 Die Emissionserlöse werden zur Rückführung des Brückendarlehens verwendet. Sofern die zu begebende Anleihe eine High Yield-Anleihe ist, (s. hierzu unter Rz. 4.233) richten sich die Verpflichtungen (Covenants) des Darlehensnehmers bzw. Emittenten weitestgehend nach den Covenants der zu begebenden High Yield-Anleihe, welche zwischen dem Emittenten und den Emissionsbanken zum Zeitpunkt der Aus-
4.57
57 Zum Trustee s. Rz. 4.220 und zum gemeinsamen Vertreter nach § 8 SchVG s. Rz. 4.231. 58 Hierdurch stehen u.a. mehrere Zeiträume während des 135-Tages Zeitraums für eine Emission zur Verfügung, d.h. der Emittent kann sich anhand der Marktgegebenheiten für einen public launch der Anleiheemission entscheiden oder diesen verschieben und ist nicht auf ein einziges „Emissionsfenster“ angewiesen. 59 Für die Anleihen laufen bereits ab Vollzug der Emission die in den Anleihebedingungen versprochenen Zinsen auf, während die Emissionserlöse auf einem unverzinsten (oder jedenfalls geringer als der Anleihezins verzinsten) Konto hinterlegt sind. 60 S. zur Brückenfinanzierung von fremdfinanzierten Unternehmensakquisitionen insgesamt Cohen, LBO Bridge Financings, Covenant Review, August 2007. 61 Häufig wird in diesem Zusammenhang mit Verlängerungsoptionen gearbeitet, d.h. die ursprüngliche Laufzeit ist z.B. auf 12 Monate begrenzt und der Emittent hat das Recht, die Laufzeit des Brückendarlehens zweimal um je sechs Monate zu verlängern (sog. 12+6+6 Brückenfinanzierung).
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277
Kap. 4 Rz. 4.58
Akquisitionsfinanzierung
zahlung der Brückenfinanzierung in abgestimmter Form vorliegt. Eine Brückenfinanzierung für High Yield-Anleihen kann auch ein Recht der Emissionsbanken enthalten, die Emission der High Yield-Anleihen unter bestimmten Umständen zu verlangen (sog. securities demand). 3. Relevante Anleihetypen für die Akquisitionsfinanzierung
4.58 Sollen Anleihen eine Unternehmensübernahme finanzieren, mithin die Erlöse aus der Emission zur Begleichung des Kaufpreises eingesetzt werden oder die anderweitige Kaufpreisfinanzierung unmittelbar nach Vollzug der Akquisition refinanzieren, kommen grundsätzlich – abhängig von der Struktur der Akquisitionsfinanzierung (non-recourse-Finanzierung oder Aufnahme der Akquisitionsfinanzierung auf der Ebene einer operativen Einheit des Käufers, s. hierzu unter Rz. 4.4) – zwei verschiedene Typen von Anleihen in Betracht: Unternehmensanleihen (Corporate Bonds) und High Yield-Anleihen. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Typen erfolgt nach dem Grad der Ausfallwahrscheinlichkeit, standardisiert ausgedrückt in Form des Ratings durch eine Rating-Agentur. Ein Rating ist ein Bonitätsurteil in Bezug auf ein Unternehmen (Emittenten-Rating oder issuer rating) oder eine finanzielle Verbindlichkeit, eine Schuldverschreibung oder ein anderes Finanzinstrument eines Emittenten (Emissions-Rating oder issue rating), das anhand eines festgelegten und definierten Einstufungsverfahrens für Ratingkategorien abgegeben wird und eine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit versprechensgemäßer Erfüllung von Zins- und Tilgungsverpflichtungen darstellt.62 Die bedeutendsten Rating-Agenturen sind Standard & Poor’s, Moody’s Investors Service (Moody’s) und Fitch Ratings,63 deren einzelne Ratingkategorien nachfolgend dargestellt sind: Standard & Poor’s „Investment Grade“
Moody’s
Fitch Ratings
langfristig
kurzfristig
langfristig
kurzfristig langfristig
kurzfristig
AAA
A-1+
Aaa
P-1
F1+
AAA
AA+
Aa1
AA+
AA
Aa2
AA
AA-
Aa3
AA-
A1
A+
F1+ oder F1
A
F1
A-
F1 oder F2 F2
A+
A-1
A A-
A2 A-2
BBB+ BBB BBB-
A-3
A3
P-1 oder P-2
Baa1
P-2
BBB+
Baa2
P-2 oder P-3
BBB
Baa3
P-3
BBB-
F2 oder F3 F3
62 Art. 3 Abs. 1 lit (a) der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des europäischen Parlamentes und des Rates vom 16.9.2009 über Ratingagenturen; IOSCO, Report on the Activities of Credit Rating Agencies, September 2003, S. 3: „A credit rating is an assessment of how likely an issuer is to make timely payments on a financial obligation“. 63 Göres in Habersack/Mülbert/Schlitt, Hdb. der Kapitalmarktinformation, § 25 Rz. 1.
278
Ingenhoven/Eisen
C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen
Standard & Poor’s „Speculative Grade“ bzw. „Non-investment Grade“
BB+
B
Moody’s Ba1
NP (Not Prime)
Rz. 4.60 Kap. 4
Fitch Ratings BB+
B
BB
Ba2
BB-
Ba3
BB-
B+
B1
B+
B
B2
B
B3
B-
Caa1
CCC+/ CCC/CCC-
CC
Caa2
CC
C
Caa3
C
Ca
RD
RD
C
D
D
BCCC+/ CCC/CCC-
SD D
C
D
BB
C
Von großer Bedeutung ist die Unterteilung der Ratingkategorien in „investment grade“ und „speculative grade“,64 die ein fester Bestandteil des Kapitalmarkts ist, da sowohl Investoren als auch Aufsichtsbehörden diese Differenzierung zur Unterscheidung von bonitätsmäßig guten („sicheren“) Schuldtiteln und spekulativen Schuldtiteln übernommen haben. Die Unterscheidung von Unternehmensanleihen (Corporate Bonds) und High Yield-Anleihen verläuft ebenfalls an dieser Trennlinie. Unternehmensanleihen (Corporate Bonds) besitzen regelmäßig ein Investment Grade-Rating während Anleihen ab einem Rating von „BB+“ bzw. „Ba1“ oder schlechter dem High Yield Bond-Segment zugerechnet werden. Der Begriff „High Yield“ trägt dabei dem Umstand Rechnung, dass aufgrund der erhöhten Ausfallwahrscheinlichkeit auch ein höherer Zins seitens des Emittenten zu zahlen ist.65
4.59
a) High Yield Bonds High Yield-Anleihen sind die häufigste Form der Mittelaufnahme am Kapitalmarkt zur Finan- 4.60 zierung von in erheblichem Maße fremdfinanzierten Unternehmenskäufen (Leveraged Buyouts, LBOs).66 High Yield-Anleihen sind in den letzten Jahren auch verstärkt für Akquisitionen in Deutschland verwendet worden.67 In Europa wurden im Jahr 2017 ca. 10 Mrd. Euro an 64 Diese geht nicht auf die Rating-Agenturen zurück, sondern wurde vielmehr von der U. S. Bankenaufsichtsbehörde (U. S. Comptroller of the Currency) im Jahre 1931 vorgenommen, s. Eisen, Haftung und Regulierung internationaler Rating-Agenturen, S. 62 f. 65 Kaulamo in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 17 Rz. 10. 66 In den Vereinigten Staaten haben sich High Yield Bonds insbesondere aus der Finanzierung von Leveraged Buyouts entwickelt, s. Hutter in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 18 Rz. 6. 67 S. z.B. die Übernahme der STADA Arzneimittel AG durch die Private Equity Investoren Bain und Cinven in 2017: 735 Mio. Euro 3,5 % Senior Secured Notes due 2024 und 340 Mio. Euro 5 % Senior Notes due 2025; die Übernahme von Schustermann & Borenstein durch Private Equity Investor Permira in 2016: PrestigeBidCo GmbH, 260 Mio. Euro 6,250 % Senior Secured Notes
Ingenhoven/Eisen
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Kap. 4 Rz. 4.61
Akquisitionsfinanzierung
High Yield-Anleihen zur Finanzierung von Unternehmensakquisitionen begeben.68 High Yield-Anleihen sind mithin das am häufigsten verwendete und praktisch relevanteste Finanzierungsinstrument des Kapitalmarkts zur Fremdfinanzierung einer Unternehmensakquisition, insbesondere da High Yield-Anleihen auch solchen Emittenten zur Verfügung stehen, deren Kreditwürdigkeit nicht als Investment Grade bewertet wird. High Yield-Anleihen werden unter Rz. 4.233 eingehend dargestellt. b) Unternehmensanleihen/Corporate Bonds
4.61 Im Gegensatz zu High Yield-Anleihen zeichnen sich Unternehmensanleihen (Corporate Bonds) durch ein Investment Grade Rating aus, stehen mithin nur Emittenten offen, deren Kreditwürdigkeit entsprechend hoch eingeschätzt wird.69 Daher eignen sich Unternehmensanleihen grundsätzlich nicht für non-recourse bzw. leveraged Unternehmensakquisitionen, in denen alleine die seitens der Zielgesellschaft generierte Liquidität für die Rückführung der Akquisitionsfinanzierung zur Verfügung steht (Cashflow-based lending), sondern eher für strategische Unternehmensakquisitionen, die direkt durch operative Unternehmen bzw. deren Holding-Gesellschaften durchgeführt werden.70
4.62 Mit der höheren Kreditwürdigkeit des Emittenten geht ein gegenüber High Yield-Anleihen erheblich reduziertes Korsett an Verpflichtungen (Covenants) einher, welches sich für Unternehmensanleihen regelmäßig auf die Gleichrangklausel (Pari Passu-Klausel) und die Negativerklärung (sog. Negative Pledge) beschränkt. Ferner sind Unternehmensanleihen im Gegensatz zu High Yield-Anleihen nicht durch Kreditsicherheiten besichert.
4.63 Die Gleichrangklausel bestimmt für Unternehmensanleihen, dass die Verbindlichkeiten des Emittenten aus den Schuldverschreibungen nicht nachrangige Verbindlichkeiten des Emittenten sind, die untereinander und mit allen anderen nicht nachrangigen Verbindlichkeiten des Emittenten gleichrangig sind, soweit diesen Verbindlichkeiten nicht durch zwingende gesetzliche Bestimmungen Vorrang eingeräumt wird.71 Der Negative Pledge verpflichtet den
68 69
70 71
due 2023; die Übernahme der GFKL Gruppe durch Permira in 2015: 365 Mio. Euro 7,500 % Senior Secured Notes due 2022; und die Übernahme der GEA Heat Exchanges Gruppe durch Private Equity Investor Triton in 2014: 200 Mio. Euro 5,375 % Senior Secured Fixed Rate Notes due 2021, 325 Mio. Euro Senior Secured Flooding Rate Notes due 2021 und 250 Mio. Euro 7,000 % Senior Notes due 2022. Debtwire, European Levaraged Insights – Year-end 2017, S. 148 f. (M&A High Yield Bond Emissionen und LBO High Yield Bond Emissionen zusammengefasst). Ein externes Rating durch eine Rating-Agentur ist nicht immer zwingend erforderlich. Sofern die beteiligten Emissionsbanken die Kreditwürdigkeit des Emittenten als „Investment Grade“ einschätzen, können auch nicht geratete Emittenten Unternehmensanleihen begeben, s. Financial Times vom 1.8.2013, Unrated bond issues double in Europe, abrufbar unter https://www.ft.com/ content/9372ca6a-faa9-11e2-87b9-00144feabdc0, mit Verweis auf u.a. SAP AG und SIXT SE und Herold/Dere, UniCredit Credit Research, Unrated corporate bonds market vom 6.2.2015, abrufbar unter https://www.research.unicredit.eu/DocsKey/credit_docs_2015_145888.ashx?EXT=pdf&KEY =n03ZZLYZf5l73IxHdbTjmj51LyBDKF1nFsc0YSMk26c=, S. 11 (Übersicht der nicht gerateten corporate bond -Emissionen in Europa seit 2010). Zur Unterscheidung zwischen non-recourse/leveraged Unternehmensakquisitionen und strategischen Unternehmensakquisitionen s. Rz. 4.4. Hintergrund der international üblichen pari passu-Klausel ist, dass in manchen Rechtsordnungen die Ranggleichheit von Forderungen im Falle der Insolvenz des Schuldners durch privatautonome Vereinbarung festgelegt werden kann. Mittels der pari passu-Klausel soll verhindert werden, dass sich die Anleihegläubiger gegenüber anderen Gläubigern im Falle einer Insolvenz des
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C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen
Rz. 4.66 Kap. 4
Emittenten, seinen Finanzgläubigern keine Sicherheiten an Vermögensgegenständen des Emittenten oder seiner (wesentlichen) Tochtergesellschaften zu bestellen oder die Bestellung zu dulden,72 sofern nicht den Anleihegläubigern gleichrangig die jeweiligen Sicherheiten ebenfalls eingeräumt werden. Hierdurch soll das Vermögen des Emittenten während der Dauer der Anleihe lastenfrei bleiben und damit letztlich auch der Gleichrang der Anleihe sichergestellt werden. Schließlich hätten dinglich besicherte Anleihegläubiger Zugriff auf die mit den Sicherungsrechten belasteten Vermögensgegenstände des Emittenten und damit wirtschaftlich im Falle der Insolvenz des Emittenten Vorrang gegenüber den unbesicherten Anleihegläubigern. Der Negative Pledge ist insbesondere bei unbesicherten Anleihen von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung.73 Unternehmensanleihen weisen regelmäßig einen jährlich zahlbaren Fixzins auf und haben Laufzeiten zwischen fünf und zehn Jahren, z.T. aber auch deutlich länger.74
4.64
Kündigungsrechte der Anleihegläubiger bestehen bei Eintritt eines Kontrollwechsels und der Nichteinhaltung des Negative Pledge, der Gleichrangklausel oder sonstiger in der Anleihe niedergelegten (administrativen) Nebenpflichten des Emittenten (v.a. Informationspflichten). Sonstige Kündigungsgründe sind insbesondere: Zahlungsverzug unter der Anleihe, Drittverzug (Cross Acceleration),75 d.h. der Emittent ist hinsichtlich einer Finanzverbindlichkeit gegenüber einem Dritten im Zahlungsverzug, Bekanntgabe der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, Einleitung bzw. Eröffnung eines Insolvenz- oder vergleichbaren Verfahrens und Liquidation. Die Kündigungsgründe stehen, mit Ausnahme der Bekanntgabe der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung und der Liquidation regelmäßig unter dem Vorbehalt, dass bestimmte Heilungsperioden (Grace Periods) fruchtlos verstrichen und/oder Schwellenbeträge überschritten sind.
4.65
Ein Recht des Emittenten zur vorzeitigen Rückzahlung der Anleihe besteht im Falle von 4.66 Unternehmensanleihen regelmäßig nur (i) bei Veränderung der steuerlichen Rahmenbedin-
72
73 74 75
Emittenten in einer schlechteren Situation befinden als beim Erwerb der Schuldverschreibungen, s. hierzu Siebel, Rechtsfragen internationaler Anleihen, S. 471 ff. und S. 511 ff. Daneben bewirkt die pari passu-Klausel die gleichrangige Behandlung der Schuldverschreibungen und damit der Anleihegläubiger untereinander. Eine regelmäßig in diesem Zusammenhang diskutierte Frage ist, welche Finanzgläubiger des Emittenten unter den Negative Pledge fallen sollen. Während Gläubiger sonstiger Kapitalmarktverbindlichkeiten des Emittenten stets dem Negative Pledge unterfallen, ist dies z.B. für Verbindlichkeiten aus Konsortial- oder bilateralen Kreditverträgen häufig nicht der Fall. Ein weiterer Diskussionspunkt ist, ab welcher Größe bzw. Bedeutung eine Tochtergesellschaft des Emittenten „wesentlich“ ist und damit dem Negative Pledge unterliegen soll. S. zum Negative Pledge umfassend Siebel, Rechtsfragen internationaler Anleihen, S. 477 ff. Kaulamo in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 17 Rz. 47. Die Cross Acceleration ist von einem Cross Default zu unterscheiden. Ein Cross Default wird bereits ausgelöst, wenn Finanzverbindlichkeiten gegenüber dem Schuldner aufgrund eines Vertragsverstoßes (default) fällig gestellt werden können (aber eben noch nicht fällig sind bzw. fällig gestellt worden sind), s. insgesamt hierzu Castor in Langenbucher/Bliesener/Spindler, 16. Kapitel, Rz. 165. Insbesondere eine Cross Default-Klausel kann einen Dominoeffekt auslösen und daher für den Schuldner in besonderem Maße gefährlich sein, s. Welter in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., § 118 Rz. 143 und Horn, ZHR 173 (2009), 12 (51). Aus diesem Grund und der Überlegung, dass für einen Verzicht (Waiver) des eingetretenen Kündigungsgrundes ein Beschluss der Anleihegläubiger erforderlich ist, sind in Anleihedokumentationen überwiegend Cross Acceleration-Klauseln zu finden.
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Kap. 4 Rz. 4.67
Akquisitionsfinanzierung
gungen in der Form, dass der Emittent zur Zahlung von zusätzlichen Beträgen (neben den geschuldeten Zinsen) verpflichtet wäre und diese Verpflichtung nicht durch das Ergreifen zumutbarer Maßnahmen vermeiden kann oder (ii) gegen Entschädigung (Make Whole). Um den Make Whole zu leisten, muss der Emittent die bis zum Laufzeitende der Anleihe ausstehenden Zinszahlungen (diskontiert zum Zeitpunkt der vorzeitigen Rückzahlung) an die Anleihegläubiger zahlen. c) Hybridanleihen
4.67 Hybridanleihen sind Anleihen, die rechtlich Fremdkapital darstellen, wirtschaftlich aber Eigenkapital verkörpern, in dem die Anleihen entweder nach den anwendbaren Rechnungslegungsgrundsätzen als Eigenkapital gewertet oder seitens der den Emittenten bewertenden Rating-Agenturen als Eigenkapital (sog. equity credit) eingestuft werden. Während traditionell hauptsächlich Kreditinstitute als Emittenten von Hybridanleihen zwecks Erhöhung des regulatorisch anerkannten Eigenkapitals am Kapitalmarkt aufgetreten sind, gab es in den vergangenen Jahren einen starken Anstieg der Hybridanleiheemissionen durch deutsche Unternehmen.76 Solche Hybridanleihen sind zwar ebenso wie Unternehmensanleihen Schuldverschreibungen nach deutschem Recht weisen jedoch gegenüber herkömmlichen Unternehmensanleihen eine Reihe von Besonderheiten auf. Insbesondere haben sie einen tiefen Nachrang, d.h. die Forderungen aus der Hybridanleihe sind subordiniert gegenüber sämtlichen sonstigen Forderungen gegen den Emittenten (vorrangig nur gegenüber den Ansprüchen aus oder im Zusammenhang mit dem Grundkapital oder Stammkapital des Emittenten bzw. gleichgestellten Forderungen), eine unbegrenzte Laufzeit77 und eine komplexere Zinsstruktur.78 Zinszahlungen des Emittenten auf Hybridanleihen finden grundsätzlich nur auf freiwilliger Basis statt, es sei denn, der Emittent zahlt auf im Rang nachgehende Forderungen oder beschließt solche Zahlungen (z.B. Dividendenausschüttungen). Kündigungsrechte der Anleihegläubiger sind im Rahmen von Hybridanleihen ausgeschlossen und es bestehen keine Verhaltenspflichten (Covenants) für den Emittenten oder seine Tochtergesellschaften.79
76 Z.B. Deutsche Annington, 1 Mrd. Euro 4 % undated subordinated NC 7 notes 2021 vom 15.12.2014, Volkswagen 1,250 Mrd. Euro 3,75 % undated subordinated NC 7 notes 2021 und 1,750 Mrd. Euro 4,625 % undated subordinated NC 12 notes 2026, jeweils vom 18.3.2014 sowie VTG Finance S.A., 250 Mio. Euro 5 % undated subordinated NC 5 notes 2020 vom 26.1.2015. 77 Jedenfalls sofern die Behandlung der Hybridanleihe als Eigenkapital nach IFRS erfolgen soll, s. Spanier in MünchKomm/HGB, § 337 Rz. 45. Bereits nur mögliche Rückzahlungsansprüche gegenüber dem Emittenten führen zwingend zu einem Ausweis als finanzielle Verbindlichkeit, Clemens in Driesch/Riese/Schlüter/Senger, IFRS-Handbuch, § 12 Eigenkapital Rz. 13. 78 Der Zinssatz ist typischerweise zunächst ein Festzinssatz, der ab dem Tag, an welchem der Emittent erstmals die Hybridanleihe zurückzahlen kann (das sog. First Call Date), neu bestimmt wird und eine Erhöhung der Marge erhält (sog. Margin Step-up). Hierdurch verteuert sich die Anleihe für den Emittenten, er wird mithin inzentiviert diese zurückzuzahlen. Am Second Call Date erhöht sich die Marge regelmäßig noch einmal. S. hierzu auch Bliesener/Schneider in Langenbucher/Bliesener/Spindler, 17. Kapitel, § 1 Rz. 68. 79 Die vorstehend aufgegriffenen Besonderheiten beziehen sich auf Hybridanleihen, die nach IFRS als Eigenkapital gewertet werden oder seitens der Rating-Agentur als Eigenkapital (Equity Credit) gewertet werden sollen. Für eine Einstufung einer Hybridanleihe als Eigenkapital nach den Rechnungslegungsvorschriften des HGB gelten andere Voraussetzungen, s. hierzu die Vorgaben des IDW HFA 1994/1 (und bei Personengesellschaften die zusätzlichen Vorgaben des IDW RS HFA 7), die im Wesentlichen die Kriterien der Nachrangigkeit, Verlustteilnahme, Erfolgsabhängigkeit und Längerfristigkeit für den Eigenkapitalausweis hybrider Finanzierungsformen festlegen.
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Ingenhoven/Eisen
C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen
Rz. 4.69 Kap. 4
Aufgrund des hierdurch einer Hybridanleihe inhärenten höheren Risikos (im Vergleich zu herkömmlichem Fremdkapital) werden diese häufig nur von Emittenten begeben, die auch Unternehmensanleihen begeben bzw. begeben könnten und sind auch nur insoweit für Zwecke einer Akquisitionsfinanzierung einsetzbar.80
4.68
III. Zwitterformen – kapitalmarktnahe Instrumente zur Finanzierung einer Unternehmensakquisition 1. Term Loan B („TLB“)-Kredite Term Loan B-Kredite sind nach englischem oder New Yorker Recht dokumentierte Kreditverträge, die weitgehend High Yield-Anleihen angenähert sind und insbesondere in großvolumigen Akquisitionsfinanzierungen (300 Mio. Euro Fremdfinanzierungsvolumen und mehr) eingesetzt werden.81 Term Loan B-Kredite werden von Kreditinstituten arrangiert und entweder vor Vollzug oder nach Vollzug der Akquisition im Rahmen einer breitangelegten Syndizierung an institutionelle Investoren weiterveräußert. Traditionell sind diese Investoren Anleger, die auch in High Yield-Anleihen investieren, mithin die typischen Bestimmungen einer High Yield-Anleihe kennen und auf diese vertrauen. Der Term Loan B-Kredit ist an diese Bestimmungen der High Yield-Anleihe angelehnt und unterscheidet sich insbesondere aufgrund der nachfolgenden Besonderheiten von einem herkömmlichen besicherten Akquisitionskreditvertrag: – Laufzeit der Term Loan B-Kredite von bis zu sieben Jahren und ausschließlich endfällige Laufzeittranchen (bullet repayment),82 – Kündigungssperren zu Lasten des Kreditnehmers (Call Protections),83 – keine Verpflichtung zur Aufrechterhaltung bestimmter Finanzkennzahlen (Maintenance Financial Covenants), sondern Test bestimmter Finanzkennzahlen nur, sofern bestimmte Maßnahmen, die außerhalb des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs liegen, vorgenommen werden sollen (Incurrence Covenants),84 sowie – Inkorporation bestimmter, für High Yield-Anleihen typische, Flexibilisierungen der Covenants (insbesondere sog. Ratio Debt, grower baskets, builder baskets und Beschränkung der Covenants auf die Restricted Group des Kreditnehmers).85
80 S. z.B. die Emission von Hybridanleihen durch die Merck KGaA über insgesamt 1,5 Mrd. Euro im Jahre 2014 zur (teilweisen) Finanzierung der Übernahme von Sigma-Aldrich: 1 Mrd. Euro Subordinated Fixed to Reset Rate Notes due 2074 with a First Call Date 2021 und 500 Mio. Euro Subordinated Fixed to Reset Rate Notes due 2074 with a First Call Date 2024. 81 Im zweiten Halbjahr 2017 waren 32 % der europäischen Akquisitionskreditfinanzierungen Term Loan B-Kredite, s. Debtwire, European Levaraged Insights – Year-end 2017, S. 89. Dort werden diese zutreffend als „High-yield bonds in disguise“ bezeichnet. 82 Unter Rz. 4.235 ist dies für High Yield-Anleihen dargestellt. 83 Diese sind allerdings in der Regel deutlich kürzer als für High Yield-Anleihen. Zu den Kündigungssperren bei High Yield-Anleihen s. Rz. 4.238. 84 S. hierzu für High Yield-Anleihen unter Rz. 4.239. 85 S. hierzu für High Yield-Anleihen unter Rz. 4.240 ff. So genannte builder baskets schaffen zusätzliche Freibeträge für Dividendenzahlungen und sonstige Ausschüttungen an die Gesellschafter, indem diese builder baskets z.B. einen bestimmten Anteil des in einer Periode generierten CashflowÜberschusses für Dividenden und Ausschüttungen zur Verfügung stellen. Der Begriff builder
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4.69
Kap. 4 Rz. 4.70
Akquisitionsfinanzierung
4.70 Typischerweise wird der Term Loan B-Kredit zusammen mit einer revolvierenden Kreditfazilität gewährt, um den Bedarf des Kreditnehmers bzw. des akquirierten Unternehmens an Liquidität für Betriebsmittel bzw. sonstige betriebliche Zwecke abzudecken. Diese revolvierende Kreditfazilität wird in der Regel von Kreditinstituten zur Verfügung gestellt und kann gleichrangig (pari passu) zum Term Loan B-Kredit sein oder (wie zumeist) eine sog. super senior-Stellung haben. Der super senior-Vorrang bezieht sich hierbei typischerweise ausschließlich auf etwaige Verwertungserlöse aus einer Vollstreckung der dinglichen Sicherheiten, die für den Term Loan B-Kredit und die revolvierende Kreditfazilität gewährt wurden. Im Übrigen stehen Term Loan B-Kredit und die revolvierende Kreditfazilität im gleichen Rang. Gleichzeitig besteht unter der revolvierenden Kreditfazilität häufig eine Verpflichtung zur Aufrechterhaltung eines bestimmten Verschuldungsgrades (Leverage Ratio),86 allerdings nur wenn die revolvierende Kreditfazilität in einer bestimmten Höhe (typischerweise 30 % bis 40 %) gezogen worden ist (sog. springing financial covenant). Ein etwaiger Bruch dieser Finanzkennzahlen berechtigt regelmäßig nur den Kreditgeber der revolvierenden Kreditfazilität zur Kündigung und Fälligstellung derselbigen, nicht die Kreditgeber des Term Loan B-Kredits. Diese sind erst zur Kündigung berechtigt, wenn die revolvierende Kreditfazilität fällig gestellt worden ist (Cross Acceleration). Der springing financial covenant schützt daher allenfalls mittelbar die Kreditgeber unter dem Term Loan B-Kreditvertrag. Eine solche Konstruktion wird häufig auch als covenant-lite bezeichnet. 2. Schuldscheindarlehen
4.71 Schuldscheindarlehen sind Darlehensverträge gem. § 489 ff. BGB, bei denen ein Schuldschein als Beweisurkunde gem. § 371 BGB dient. Durch diese Verbriefung des Leistungsanspruchs besitzen Schuldscheindarlehen eine gewisse Fungibilität und damit eine gewisse Kapitalmarktkomponente, die sich in der Praxis durch die erleichterte Handelbarkeit bemerkbar macht, die im Gegensatz zu Konsortialkrediten regelmäßig nicht von der Zustimmung des Darlehensnehmers abhängt.87 Zur Arrangierung des Schuldscheindarlehens mandatiert der Darlehensnehmer ein oder mehrere Kreditinstitute als Arrangeure auf best-efforts-Basis, d.h. jeder Arrangeur muss sich nach besten Kräften um die Platzierung des Schuldscheindarlehens bei den Investoren bemühen, ohne einen Platzierungserfolg zu schulden.88 In der Praxis kann diese Platzierungsphase durchaus einige Wochen dauern, insbesondere wenn der Arrangeur zunächst die Bereitschaft potentieller Investoren für bestimmte Laufzeiten, Volumina und Zinssätze testen muss. Schuldscheindarlehen eignen sich daher nur sehr eingeschränkt für die zumeist zeitkritische Finanzierung einer Akquisition. Für deren Refinanzierung nach Vollzug des Kaufvertrages sind sie hingegen grundsätzlich einsetzbar.
baskets ist an den für High Yield-Anleihen üblichen Built-up Basket angelehnt, s. hierzu Rz. 4.242. 86 Das Verhältnis von Nettoverschuldung (net debt) zu EBITDA, s. hierzu ausführlich unter Rz. 4.145. 87 Wehrhahn, BKR 2012, 363 f.; Oulds in Veranneman, SchVG, § 1 Rz. 29 m.w.N. 88 Wehrhahn, BKR 2012, 363 (365).
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C. Fremdfinanzierungsinstrumente für Akquisitionsfinanzierungen
Rz. 4.72 Kap. 4
IV. Übersicht zu den Instrumenten der Akquisitionsfinanzierung Bezeichnung des Finanzierungsinstruments
Kreditvertrag/ Kapitalmarkt
4.72
Verwendung/Eigenart
Kreditgeber
Volumen
Konsortialkredit Kreditvertrag
Finanzierung der Akquisition sowie des weiteren Finanzierungsbedarfs der Gruppe nach Closing. Umfassendes und flexibles Finanzierungsinstrument.
Banken als Arrangeure, in großen Krediten auch Debt Funds als Partizipanten in den Laufzeitdarlehen.
Einstellige Millionenbeträge bis zu hohen Milliardenbeträgen.
Bilateraler Kredit
Kreditvertrag
Finanzierung kleinerer CorporateFinanzierungen und gelegentlich größere Finanzierungen für starke Investment Grade-Kreditnehmer.
Meist eine Bank, die den Kredit bis zum Laufzeitende hält.
Meist kleinere Finanzierungen, aber auch höhere Beträge möglich.
Senior-Kredit
Kreditvertrag
Kredit mit erstrangigen Zahlungsanspruch und Sicherheiten bei mehrschichtiger Finanzierungsstruktur mit verschiedenen Finanzierungsinstrumenten.
Wie Konsortialund bilateraler Kredit.
Wie Konsortial- und bilateraler Kredit.
Second LienKredit
Kreditvertrag
Kredit im Rang unter den Senior Debt Funds. Krediten hinsichtlich ZahlungsSelten Banken. anspruch und Sicherheiten. Meist sechs Monate längere Laufzeit und höhere Zinsmarge als Senior Kredite.
(Teil-) Finanzierung des Kaufpreises.
MezzanineKredit
Kreditvertrag
Kredit im Rang unter den Senior Debt Funds. Sehr (und ggf. Second Lien-) Krediten selten Banken. hinsichtlich Zahlungsanspruch und Sicherheiten. Meist ein Jahr längere Laufzeit als Senior Kredite und sechs Monate länger als Second Lien-Kredite.
(Teil-) Finanzierung des Kaufpreises.
PIK-Kredit
Kreditvertrag
Unterster Rang durch strukturelle und teils zusätzlich vertragliche Subordination. Keine verpflichtenden Zahlungen während der Laufzeit, Zins wird kapitalisiert.
Teilfinanzierung des Kaufpreises oder Refinanzierung des Eigenkapitalinvestments des Sponsors.
UnitrancheKredit
Kreditvertrag
Debt Funds Erstrangig aber hinter einer Super Senior Betriebsmittellinie bezüglich des Erlöses aus den Sicherheiten.
Kleinere und mittlere Unternehmenskäufe. Teils auch hohe Volumen.
Super SeniorKredit
Kreditvertrag
Vorrang gegenüber einem Senior Banken Kredit hinsichtlich des Verwertungserlöses. Wird häufig als revolvierende Finanzierung eingesetzt.
Als Ergänzung einer bestehenden Finanzierung.
Debt Funds
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Kap. 4 Rz. 4.73
Akquisitionsfinanzierung
Bezeichnung des Finanzierungsinstruments
Kreditvertrag/ Kapitalmarkt
Verwendung/Eigenart
Covenant Liteund Covenant Loose-Kredit
Kreditvertrag
Konsortialkreditvertrag in einer der Wie oben oben beschriebenen Formen ohne oder mit nur reduzierten Financial Covenants.
Wie oben
Verkäuferdarlehen
Kreditvertrag
Finanzierung durch den Verkäufer durch besondere Abreden zur Kaufpreisfälligkeit.
Verkäufer
(Teil-) Finanzierung des Kaufpreises
Unternehmensanleihen/ Corporate Bonds
Kapitalmarkt
Inhaberschuldverschreibung, die von Emittenten mit „Investment Grade“ Bonität begeben wird.
Kapitalmarktteilnehmer
Nach oben ohne Limit
High YieldAnleihen
Kapitalmarkt
Anleihe mit höheren Zins, meist von Emittenten mit geringer Bonität begeben; wichtigstes Kapitalmarktinstrument zur (Re-) Finanzierung einer Unternehmensübernahme.
Kapitalmarktteilnehmer
Nach oben ohne Limit
Hybridanleihen
Kapitalmarkt
Nachrangige Inhaberschuldverschreibung, die als Eigenkapital ausgewiesen werden kann.
Kapitalmarktteilnehmer
Nach oben ohne Limit
Term Loan B
Hybrid
Konsortialkreditvertrag, arrangiert Debt Funds durch Banken für den institutionellen Debt Fund-Markt. Endfälliges Laufzeitdarlehen, meist Covenant Light, vereinzelt Covenant Loose.
Höhere Volumina ab ca. 200 Mio Euro.
Schuldscheindarlehen
Hybrid
Kurzer Kreditvertrag mit reduzierten Kreditauflagen. Als Take-andHold-Position für Banken, Sparkassen und Versicherungen strukturiert. I.d.R. nur für die Refinanzierung einer bereits durchgeführten Akquisition geeignet.
Bilaterale Schuldschein im niedrigen Millionen-Bereich; syndizierte Schuldscheine bis über eine Milliarde.
Kreditgeber
Banken als Arrangeure. Banken, Sparkassen, Versicherungen als Kreditgeber.
Volumen
D. Ablauf und Dokumentation einer typischen Akquisitionsfinanzierung I. Einleitung 4.73 Der zeitliche Ablauf einer Akquisitionsfinanzierung richtet sich in aller Regel nach dem Verfahren für den Unternehmenskauf, den die Finanzierung unterstützen und letztlich ermöglichen soll. Der Ablauf eines Unternehmenskaufs kann durch die beteiligten Parteien frei gestaltet werden; üblicherweise geben der Verkäufer und seine Berater das Verfahren vor, zumal dann, wenn mehr als ein Interessent für das zum Verkauf stehende Unternehmen bietet. Unabhängig davon, ob es sich beim Verkauf um eine Corporate- oder Leveraged-Transaktion handelt, ob für den Unternehmenskauf ein aufwendiges Auktionsverfahren mit einer Vielzahl von Bietern durchgeführt wird oder Verkaufsgespräche mit nur einem exklusiven Interessen286
Ingenhoven/Eisen
D. Ablauf und Dokumentation einer typischen Akquisitionsfinanzierung
Rz. 4.74 Kap. 4
ten gehalten werden, lassen sich die Abläufe für die meisten Verkaufsverfahren in die unten dargestellten und beschriebenen Phasen einteilen. Phase
Unternehmenskauf
Finanzierung
Finanzierungsdokumentation
Phase I Beginn der Verhandlungen bis zur Abgabe eines indikativen Angebots
Erste Sondierungsgespräche und Verhandlungen. Abgabe eines indikativen Angebots mit Kaufpreisvorstellung des Bieters
Erste Sondierungsgespräche des Käufers mit potentiellen Kreditgebern. Befassung der Kreditgeber mit dem Zielunternehmen, den vorhandenen Unternehmens- und Finanzinformationen und der Strategie des Käufers.
Highly Confident Letters durch Kreditgeber
Phase II Abgabe eines indikativen Angebots bis zur Abgabe eines verbindlichen Angebots
Weitere Verhandlungen und Austausch von Kommentierungen des SPA89; Abgabe eines verbindlichen Angebots, meist mit Finanzierungsbestätigung
Verhandlung und Vereinbarung der wesentlichen Finanzierungsbedingungen. Abgabe einer Finanzierungszusage (Financing Commitment)
Commitment Letter und Term Sheet Teilweise vorläufiger Kreditvertrag (Interim Loan Agreement) Vereinzelt bereits finaler Kreditvertrag
Phase III Finale Verhandlungen des Abgabe eines SPA und Unterzeichnung verbindlichen Angebots bis zur Unterzeichnung des SPA
Weitere Verhandlung der Finanzierung, teils Erstellung und Verhandlung der nächsten Stufe der Finanzierungsdokumentation. Unterzeichnung des Kreditvertrags
Wie Phase II. Meist bereits „fundable“ Finanzierungsdokumente (Certain Funds)
Phase IV Schaffung der ClosingUnterzeichnung Voraussetzungen und des SPA bis zum Vollzug des SPA Closing des SPA
Erfüllung der Auszahlungsvoraussetzungen unter dem Kreditvertrag und erste Inanspruchnahme der Kredite zur Kaufpreiszahlung und Refinanzierung der Altkredite der Zielgruppe
Vollständiger Kreditvertrag sowie Dokumentation der Auszahlungsvoraussetzungen, einschließlich aller Sicherheiten von Parent und Company
Phase V Post Closing
Bestellung von Garantien und Sicherheiten durch die Zielgruppe, eventuelle Reorganisationsschritte (Verschmelzungen, Debt Push Down etc.)
Garantie- und Sicherheitendokumentation
Kleinere Nacharbeiten, Komplettierung der Dokumentation des Closing-Ablaufs.
II. Phase I – Bis zum indikativen Angebot – Lender Education und Highly Confident Letter Zu Beginn des Verkaufsprozesses stehen erste Sondierungsgespräche zwischen dem Verkäufer und möglichen Käufern, die zum Abschluss der ersten Phase regelmäßig aufgefordert werden, ein indikatives Angebot abzugeben. Auf Grundlage der eingehenden Angebote entscheidet der Verkäufer, ob und mit welchen Bietern die Gespräche fortgesetzt werden. Auf der Finanzierungsseite finden in dieser Phase ebenfalls noch unverbindliche Vorgespräche 89 Diese Abkürzung steht für Sale and Purchase Agreement, teils auch Share Purchase Agreement (bei reinen Share Deals).
Ingenhoven/Eisen
287
4.74
Kap. 4 Rz. 4.75
Akquisitionsfinanzierung
statt, die der Käufer mit seinen potentiellen Kreditgebern führt, um sie mit der Zielgruppe, der geplanten Akquisition und seinen Plänen für die Unternehmensgruppe vertraut zu machen. Die Kreditgeber erhalten dann meist bereits Zugang zu vorhandenen Due DiligenceMaterialien90 und haben regelmäßig die Gelegenheit, an einer durch den Verkäufer organisierten Managementpräsentation teilzunehmen, in der sich die Zielgruppe möglichen Bietern und deren Kreditgebern präsentiert. Ziel des oft als „Lender Education“ bezeichneten Prozesses ist es, möglichst viele potentielle Kreditgeber für ihren aufwendigen Kreditgenehmigungsprozess vorzubereiten, um so im Interesse der Käufer, aber auch der Verkäufer, gute und verlässliche Finanzierungsmöglichkeiten zu schaffen.91 Der jeweilige Käufer wird zum Abschluss dieser Phase einige oder alle seiner potentiellen Kreditgeber um die Ausstellung eines „Highly Confident Letter“ bitten, in dem der jeweilige Kreditgeber bestätigt, dass er auf Basis der bisher erhaltenen Informationen und nach hausinternen Vorbesprechungen „highly confident“ ist (oder inhaltsgleiche Formulierungen), eine Finanzierung in bestimmter oder generisch beschriebener Höhe bereitstellen oder arrangieren zu können. Dies wird fast ausnahmslos mit dem Hinweis verbunden, dass die eigentliche Kreditgenehmigung beim Kreditgeber noch aussteht und sich aus dem Highly Confident Letter keinerlei Ansprüche auf Kreditgewährung ableiten lassen.92 Rechtlich gesehen ist der Highly Confident Letter keine Willenserklärung93, sondern eine bloße Tatsachenmitteilung (zum Stand und den bisherigen Ergebnissen des Kreditgenehmigungsprozesses) und Willensbekundung (zum weiteren Fortgang der Strukturierung und Verhandlung). Die Highly Confident Letters werden den Verkäufern regelmäßig zur Information vorgelegt.
III. Phase II – Bis zum verbindlichen Angebot – Commitment Papers 4.75 Als nächsten Schritt sieht der Ablauf des Unternehmenskaufs – nach Durchführung von Due Diligence und detaillierteren Verhandlungen – die Abgabe eines verbindlichen Kaufangebots durch den oder die Bieter vor. Das Angebot soll meist bereits voll finanziert sein, was mehr oder weniger ausführlich zu bestätigen ist; bei strategischen Käufern mit entsprechender Kreditwürdigkeit gibt es keine oder nur geringe Anforderungen, während bei Private Equity Investoren, die für den Kauf ein Vehikel einsetzen, die Finanzierung detailliert und unter Vorlage aller relevanten Dokumente nachzuweisen ist.94
4.76 Die erforderliche Finanzierungszusage wird durch die Kreditgeber in den sog. Commitment Papers (Commitment Documents) abgegeben. Die Commitment Papers setzen sich zusammen
90 In dieser frühen Phase meist nur ein durch die Berater der Verkäuferseite erstelltes Fact Book oder eine ebenfalls vom Verkäufer stammende Vendor Due Diligence. 91 Möglich ist auch eine sog. Staple Finanzierung. Dabei beauftragt der Verkäufer eine Bank, eine Auktion zu organisieren und dabei für die potentiellen Käufer bereits ein Angebot zur Finanzierung mit anzubieten. S. hierzu auch Risse/Kästle in Risse/Kästle/Engelstädter/Gebler/Lorenz, M&A und Corporate Finance von A – Z, Stichwort Staple Financing. 92 Weshalb der Highly Confident Letter despektierlich, aber treffend auch als Flower Letter bezeichnet wird. 93 Dies ergibt sich daraus, dass kein Rechtsbindungswille vorliegt. 94 Teils wird bereits zum binding bid verkäuferseitig die Bestätigung von „Certain Funds“ (also absolute Finanzierungssicherheit) verlangt oder vom Käufer von seinen Kreditgebern gewünscht. Teils ist dies erst für die finale Unterzeichnung des SPA erforderlich. Das Certain Funds-Konzept ist hier in Phase III (unten Rz. 4.79) dargestellt.
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D. Ablauf und Dokumentation einer typischen Akquisitionsfinanzierung
Rz. 4.78 Kap. 4
aus dem eigentlichen Zusageschreiben95 und dem mehr oder weniger ausführlichen Term Sheet, welches die wesentlichen Bedingungen der Finanzierung zusammenfasst und Grundlage für den späteren Kreditvertrag und die sonstigen Finanzierungsdokumente ist.96 Die Finanzierungszusage im Commitment Letter sollte nur wenige, abschließend aufgezählte Bedingungen aufweisen; eine besonders wesentliche ist der sog. Dokumentationsvorbehalt, wonach die Finanzierung unter dem Vorbehalt steht, dass bis zu einem angegebenen Datum der Kreditvertrag in für die Parteien zufriedenstellender Form abgeschlossen ist. Umgekehrt werden in der jüngeren Praxis zugunsten des Kreditnehmers andere wesentliche Bedingungen als erfüllt bestätigt, so etwa, dass der Kreditgeber alle intern erforderlichen Kreditgenehmigungen eingeholt hat, der Due Diligence-Prozess für den Kreditgeber abgeschlossen ist und keine weiteren Due Diligence-Anforderungen mehr bestehen. Seiner Rechtsnatur nach stellt der Commitment Letter, der durch die Kreditnehmerseite ge- 4.77 gengezeichnet werden muss, einen Vertrag dar. Hinsichtlich des Kreditvertrags handelt es sich um eine Art Vorvertrag. Aufgrund seiner vielen sonstigen Regelungen (Haftungsfreistellung und -begrenzung, Abreden zur Syndizierung, Vertraulichkeit, Veröffentlichungen, Gebühren und Kosten, Preisanpassungsklauseln etc.) sollte der Commitment Letter als Vertrag sui generis qualifiziert werden. Für bestimmte Gebührenarten, insbesondere die einmaligen Upfront Fees der Arrangeure sowie die Gebühren von Konsortialagent (Facility Agent) und Sicherheitentreuhänder (Security Agent) werden meist separate Gebührenschreiben unterzeichnet. Die unterschriebenen Commitment Papers müssen bei Leveraged-Transaktionen dem Verkäufer zum Nachweis der Finanzierung vorgelegt werden,97 sind aber nicht an den Verkäufer gerichtet.98 Der Verkäufer hat also keinen direkten Anspruch gegen die Kreditgeber auf Auszahlung von Darlehen an ihn, zumal bei einem bloßen Term Sheet ohnehin noch kein Kreditvertrag und damit auch noch kein Auszahlungsanspruch vorliegt. Auch ein Schadensersatzanspruch (etwa wegen einer späteren überraschenden Verweigerung der Finanzierung) dürfte nur unter sehr engen Voraussetzungen begründbar sein.99 95 Commitment Letter, teils auch Mandate Letter, wobei dieser Name oft für „schwächere“ Formen der Finanzierungszusage verwendet wird, z.B. bei der Mandatierung von Banken, eine Finanzierung auf „best efforts basis“ (wörtlich: „nach bestem (oder redlichem) Bemühen“ zu arrangieren (also ohne Risikoübernahme). Bei einer echten Finanzierungszusage sollte der Begriff „Commitment Letter“ verwendet werden. 96 Bei kurzen Term Sheets (bis ca. 15 Seiten) spricht man von Short Form oder Commercial Term Sheets; Long Form Term Sheets erreichen bis weit über 50 Seiten. Mit einem Long Form Term Sheet verfolgen die Parteien, meist auf Initiative des Kreditnehmers, das Ziel, nicht nur die kaufmännischen Bedingungen des Kredits in den Commitment Papers zu vereinbaren, sondern auch bereits alle wesentlichen vertraglichen Regelungen der finalen Finanzierungsdokumentation vorwegzunehmen. 97 Was in der Vertraulichkeitsklausel des Commitment Letters auch zuzulassen ist. 98 Der Kreditgeber gibt gegenüber dem potentiellen Käufer und Kreditnehmer ein Angebot hinsichtlich der Finanzierung ab. S. hierzu auch Diem, Akquisitionsfinanzierungen, § 2 Rz. 21. 99 Als Haftungsgrundlage käme allenfalls § 826 BGB in Betracht. In den USA kam es während der Finanzkrise zu Fällen, in denen Kreditgeber die Auszahlung von Akquisitionskrediten verweigerten und als Folge vom Verkäufer verklagt wurden (s. etwa den Verkaufsprozess für das Unternehmen Clear Channel Communications in Wall Street Journal, 26.3.2008, Major Buyout Deal Is Close To Collapse, https://www.wsj.com/articles/SB120647527104363151). Dies führte zur Einfügung von sog. „Xerox-Klauseln“ (benannt nach der Transaktion, in der die Klauseln dem Vernehmen nach erstmals verwendet wurden) in Unternehmenskaufverträge, in denen der Verkäufer ausdrücklich bestätigt, keine Ansprüche gegen die Kreditgeber des Käufers zu haben.
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4.78
Kap. 4 Rz. 4.79
Akquisitionsfinanzierung
IV. Phase III – Bis zur Unterzeichnung des SPA – Kreditvertragsdokumentation und „Certain Funds“ 4.79 Zwischen der Abgabe eines verbindlichen Angebots (binding bid) am dafür vom Verkäufer vorgesehenen Tag (bid date) und der Unterzeichnung des Kaufvertrags können je nach Transaktionsverlauf und Stand der Verhandlungen am bid date nur wenige Stunden oder auch Wochen verstreichen, in denen der Unternehmenskaufvertrag finalisiert wird. Parallel hierzu muss die Akquisitionsfinanzierung so weit vorangetrieben werden, dass ein Auszahlungsanspruch des Käufers besteht oder die Erfüllung der letzten Bedingungen ausschließlich in seiner Sphäre liegt, mithin spätestens mit verbindlicher Unterzeichnung des Kaufvertrags Finanzierungssicherheit („certainty of funds“) besteht.100 Die verbindlich zugesagten Finanzmittel (Certain Funds) müssen dem Verkäufer in Leveraged-Transaktionen durch Vorlage der relevanten Finanzierungsdokumentation nachgewiesen werden.101
4.80 Certain Funds haben im Wesentlichen drei Voraussetzungen: (i) Ein verbindlicher Kreditvertrag, der dem Kreditnehmer einen Anspruch auf Auszahlung der Valuta gewährt, ist abgeschlossen,102 (ii) sämtliche Auszahlungsvoraussetzungen sind erfüllt und als solche bestätigt103 und (iii) es bestehen keine Kündigungs- oder sonstigen Möglichkeiten des Kreditgebers, sich von seiner Finanzierungszusage zu lösen oder sonst die Auszahlung aus Gründen zu verweigern, die ihren Ursprung in der Sphäre der Zielgruppe haben.104 100 In Corporate-Transaktionen mit finanzstarken Käufern spielt die Finanzierungssicherheit regelmäßig eine geringere Rolle, da eine mögliche Akquisitionsfinanzierung nur der Optimierung der Finanzierungsstruktur des Käufers dient, er aber die Kaufpreiszahlung notfalls auch anders finanzieren kann. Eher selten ist ein Finanzierungsvorbehalt im Unternehmenskaufvertrag, wonach der Käufer nur dann zum Vollzug des Kaufs verpflichtet ist, wenn er die Fremdfinanzierung des Kaufpreises gesichert hat. 101 Das Konzept der Finanzierungsbestätigung entstammt ursprünglich dem Übernahmerecht, welches für ein öffentliches Übernahmeangebot eine Finanzierungsbestätigung gesetzlich vorschreibt (s. § 13 WPÜG). 102 Dies ist traditionell der finale Kreditvertrag, unter dem die Finanzierung für die gesamte Laufzeit gewährt wird; in Leveraged-Transaktionen werden häufig verkürzte Kreditverträge verwendet, die parallel mit dem Commitment Letter unterzeichnet werden, unter denen die Kreditgeber gegebenenfalls für eine kurze Übergangszeit (ca. 60 – 90 Tage) eine Zwischenfinanzierung zur Verfügung stellen, sofern beim Vollzug des Kaufvertrags wider Erwarten der finale Kreditvertrag noch nicht abgeschlossen ist (sog. Interim Loan Agreement, hierzu s. etwa Knepper in Meyer-Sparenberg/Jäckle, Beck’sches M&A-Handbuch, § 15 Rz. 84; Diem in Akquisitionsfinanzierungen, § 2 Rz. 42 ff. und Ingenhoven in Jesch/Striegel/Boxberger, Rechtshandbuch Private Equity, § 12 S. 270). 103 „Erfüllung“ in diesem Sinne ist pragmatisch mit Blick auf Sinn und Zweck von Certain Funds zu sehen: Der Kreditgeber soll die Auszahlung nicht mehr einseitig verweigern dürfen. Dies ist gesichert, wenn (1) eine Auszahlungsvoraussetzung erfüllt ist, (2) auf sie verzichtet wurde oder (3) die Form des zu liefernden Dokuments abgestimmt ist und der Kreditnehmer das entsprechende Dokument in der abgestimmten Form ohne Zutun des Kreditgebers liefern kann. Die sog. „CP Bestätigung“ zur „CP Satisfaction“ wird vom Agenten unter dem Kreditvertrag in einem separaten Schreiben gegenüber dem Kreditnehmer bestätigt; im Rahmen der Commitment Papers werden meist einige wesentliche Auszahlungsvoraussetzungen (u.a. die Due Diligence Reports, der Geschäftsplan (sog. Base Case Model) des Käufers sowie die Form des Unternehmenskaufvertrags) bereits im Commitment Letter bestätigt. 104 Zur Sicherstellung dieser Voraussetzung werden die Zusicherungen, Kreditauflagen und Kündigungsgründe für die erste Inanspruchnahme der Kreditfinanzierung zum Vollzug des Kaufvertrags derart beschränkt, dass sie sich nur auf Parent und Company beziehen (von engen Ausnahmen für besonders gravierende Tatbestände abgesehen, beispielsweise das Vorliegen eines
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D. Ablauf und Dokumentation einer typischen Akquisitionsfinanzierung
Rz. 4.82 Kap. 4
V. Phase IV – Bis zum Vollzug des Kaufvertrags und erster Inanspruchnahme der Kreditfinanzierung – Bestellung der Closing-Sicherheiten und Erfüllung sonstiger Auszahlungsvoraussetzungen Mit Abschluss des Kaufvertrags, bei Kauf von GmbH-Anteilen, also mit Schließen der notariellen Urkunde, treten der Unternehmenskauf und seine Finanzierung in eine neue Phase ein. Verkäufer und Käufer verlassen den Bereich der unverbindlichen Vorgespräche und Verhandlungen und sind nun zur Durchführung des Unternehmenskaufs nach den Bestimmungen des Kaufvertrags verpflichtet. Zwischen Abschluss des Kaufvertrags und seinem Vollzug (dem sog. Closing) liegen regelmäßig einige Monate,105 in denen die Vollzugsvoraussetzungen unter dem Kaufvertrag geschaffen werden. Auf der Finanzierungsseite muss die Akquisitionsfinanzierung zur Auszahlungsreife gebracht werden, denn auch wenn bereits bei Abgabe des verbindlichen Angebots, spätestens mit Unterzeichnung des Kaufvertrags, Finanzierungssicherheit bestehen sollte (s. oben zur Phase III Rz. 4.79), bedeutet dies noch nicht, dass definitiv ein durchsetzbarer Anspruch des Kreditnehmers gegen seine Kreditgeber auf Auszahlung der Darlehensvaluta besteht. Lagen bei Kaufvertragsunterzeichnung nur Commitment Papers vor, müssen diese zeitnah in einen Kreditvertrag umgesetzt werden, um die Basis der Kreditgewährung zu dokumentieren und dem Kreditnehmer einen Anspruch auf Auszahlung zu verschaffen.106
4.81
Selbst wenn bereits ein langfristiger Kreditvertrag abgeschlossen wurde, müssen regelmäßig Auszahlungsvoraussetzungen vorbereitet werden, ohne deren Erfüllung die Kredite nicht ausgereicht werden. Hierzu zählen zunächst förmliche, den Kreditnehmer und seine gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse betreffende Auszahlungsvoraussetzungen wie etwa Handelsregisterauszüge, Satzungen und Gesellschaftsverträge, Beschlüsse der Gesellschafter und sonstiger Gremien und ein Rechtsgutachten107 einer Anwaltskanzlei, durch das die Existenz des Kreditnehmers und seine ordnungsgemäße Unterzeichnung der Finanzierungsdokumente bestätigt wird.
4.82
Insolvenztatbestands hinsichtlich der Zielgesellschaft oder anderer wesentlicher Gesellschaften der Zielgruppe). 105 Die Länge der Frist bestimmt sich überwiegend nach den fusionskontrollrechtlichen Anforderungen. 106 Dies gilt auch dann, wenn die Commitment Papers um ein sog. Interim Loan Agreement (dazu Rz. 4.80 Fn. 102) ergänzt wurden, denn das Interim Loan Agreement gibt dem Kreditnehmer zwar einen Anspruch auf Auszahlung des Darlehens, es ist aber aufgrund seiner nur rudimentären Regelungen und seiner kurzen Laufzeit (üblicherweise 60 – 90 Tage, in Einzelfällen länger) keine Basis für die langfristige Kreditgewährung. Wird das Interim Loan Agreement nicht vor Vollzug des Kaufvertrags durch einen langfristigen Kreditvertrag ersetzt, riskiert der Käufer seinen Eigenkapitalanteil nach Ende der Laufzeit des Interim Loan Agreement zu verlieren, wenn es ihm bis dahin nicht gelingt, sich mit den Kreditgebern auf einen langfristigen Kreditvertrag zu einigen. Die Kreditgeber wiederum möchten ihrerseits eine Auszahlung unter dem Interim Loan Agreement ebenfalls vermeiden, weil es auch nicht in ihrem Interesse liegt, schon wenige Monate nach Ausreichung der Kredite einen Rückzahlungsanspruch gegen den Kreditnehmer durchsetzen zu müssen oder faktisch zu einer Verlängerung der Kredite gezwungen zu sein. Eine tatsächliche Ausreichung von Krediten unter einem Interim Loan Agreement ist daher in der Praxis höchst selten, es wird fast ausnahmslos vor Closing durch einen langfristigen Kreditvertrag ersetzt. 107 So genannte Legal Opinion; bei der auf den Kreditnehmer bezogenen Legal Opinion spricht man von der Legal Capacity Opinion. Die Legal Validity (oder Enforceability) Opinion zur Wirksamkeit der Finanzierungsdokumente wird vom Anwalt der Kreditgeber abgegeben und sollte ebenfalls zumindest der Form nach abgestimmt sein.
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Kap. 4 Rz. 4.83
Akquisitionsfinanzierung
4.83 Daneben treten weitere Finanzierungsdokumente, die bei Abschluss des Kreditvertrags ihrer Form und ihrem Inhalt nach zwar vorgezeichnet, aber regelmäßig noch nicht finalisiert und abgeschlossen sind. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um die Sicherheitenverträge und das Intercreditor Agreement.108
4.84 Die Sicherheiten beziehen sich nur auf die Vermögensgegenstände des Kreditnehmers bzw. weiterer, durch den Käufer in die Finanzierung eingebundener Gesellschaften109 und gerade nicht auf die Vermögensgegenstände der Zielgruppe, da diese erst mit Vollzug des Kaufvertrags erworben wird und die Zielgesellschaften konsequenterweise vorher auch noch keine Sicherheiten für die Finanzierung eines Käufers geben werden, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht ihr Gesellschafter ist. Die Vermögensgegenstände der Zielgruppe werden dadurch mittelbar besichert, dass der Käufer bereits vor Closing seine zukünftigen, unter dem Kaufvertrag zu erwerbenden Anteile am Zielunternehmen an die Kreditgeber verpfändet.110 Mit Vollzug des Unternehmenskaufvertrags und Übergang des Eigentums an den Anteilen wird die Verpfändung wirksam.111
4.85 Das Intercreditor Agreement beinhaltet die Vereinbarungen der verschiedenen Gläubigerklassen112 zu ihren Rangverhältnissen, ihren Stimmrechten bei eventuellen Abstimmungen, der Sicherheitenverwertung und schließlich der Erlösverteilung daraus. 108 Dies gilt selbstverständlich nur bei besicherten Akquisitionsfinanzierungen. Bei unbesicherten Corporate-Finanzierungen entfällt dieser Teil. 109 Bei einer Leveraged Finanzierung spricht man von einem Holding Company Security Package, welches i.d.R. Anteils- und Bankkontenverpfändungen und Abtretungen von Zahlungsansprüchen (wie etwa Ansprüche aus Versicherungen, den für die Finanzierung abzuschließenden Zins-Hedging-Vereinbarungen, Schadensersatzansprüche gegen den Verkäufer und gegen die Ersteller der Due Diligence Reports sowie aus zukünftigen Gesellschafterdarlehen an die Zielgesellschaft) umfasst. Mangels entsprechender Vermögensgegenstände bei den Zweckgesellschaften ist eine Sicherungsübereignung von beweglichen Gegenständen des Anlage- und Umlaufvermögens oder die Besicherung von Immaterialgüterrechten oder Grundstücken meist nicht relevant. Bei einer Corporate-Finanzierung sind die Verhältnisse anders, da der Käufer bereits ein werbendes Unternehmen ist und einen Geschäftsbetrieb und Vermögensgegenstände hat, die als Sicherheit für die Finanzierung dienen können. 110 Bei Anteilen an einer GmbH handelt es sich um eine Rechtsverpfändung nach §§ 413, 1273 ff. BGB; bei der Aktiengesellschaft hängt die Art der Verpfändung von der Eigenart der betroffenen Aktien ab. Bei globalverbrieften Aktien kann sowohl der Miteigentumsanteil an der Aktienurkunde verpfändet werden als auch die vermögensrechtlichen Mitgliedschaftsrechte per Rechtsverpfändung. Ist die Zielgesellschaft eine GmbH & Co. KG, werden regelmäßig die Kommanditanteile, die Anteile am Komplementär sowie auch der Anteil des Komplementärs an der Kommanditgesellschaft verpfändet, auch wenn letzterer nach dem Gesellschaftsvertrag oft keinen wirtschaftlichen Wert hat. Eine Sicherungsabtretung kommt bei Gesellschaftsanteilen wegen des dadurch ausgelösten insolvenzrechtlichen Nachrangs (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) nicht in Betracht. Bei den in der Praxis selteneren Asset Deals richtet sich die Besicherung nach der Eigenart der erworbenen Vermögensgegenstände. 111 § 185 Abs. 2 BGB, 2. Alternative, da der zunächst Nichtberechtigte den Verfügungsgegenstand nachträglich erwirbt. Eine aufschiebende Bedingung der Verpfändung auf den Erwerb der Anteile bei Closing gem. § 158 Abs. 1 BGB ist unnötig und sollte aus Darlegungs- und Beweisgründen vermieden werden. 112 Die Senior-Kreditgeber (einschließlich des Sicherheitentreuhänders), bei mehrschichtiger Fremdfinanzierung weitere Kreditgeber wie Second Lien- oder Mezzanine-Kreditgeber, nachrangige Gesellschafter, die Darlehen in die Gruppe geben, Hedging-Banken, die Zins- und andere Absicherungsgeschäfte mit der Gruppe tätigen und den Gesellschaften der Gruppe selbst,
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D. Ablauf und Dokumentation einer typischen Akquisitionsfinanzierung
Rz. 4.89 Kap. 4
Schließlich gibt es direkt auf die Akquisition bezogene Auszahlungsvoraussetzungen wie die Vorlage der finalen Due Diligence- und Strukturberichte,113 die Vorlage des finalen Kaufvertrags114 sowie den Nachweis des Eigenkapitals115 und eine Freigabe- und Ablösungsvereinbarung116 mit den Altbanken der Zielgruppe, sofern diese fremdfinanziert war und die bestehenden Kredite mit Closing abgelöst werden müssen.117
4.86
Die letzte zu erfüllende Auszahlungsvoraussetzung ist regelmäßig der Vollzug des Unternehmenskaufvertrags, also der Anteilsübergang. Da dieser wiederum nach den Regelungen des Kaufvertrages die Zahlung des Kaufpreises voraussetzt, was aber die Auszahlung der Kredite erfordert, behilft sich die Praxis mit einem Acquisition Certificate. Darin bestätigt der Kreditnehmer, dass alle Voraussetzungen für den Vollzug des Kaufvertrags und mithin des Übergangs der Anteile am Zielunternehmen bis auf die Zahlung des Kaufpreises erfüllt sind und dass dementsprechend mit Auszahlung der Kredite die letzte Bedingung eintritt und der Käufer Inhaber der Anteile am Zielunternehmen wird. Die Kreditgeber treten damit rein technisch gesehen in Vorleistung, jedoch kontrollieren sie regelmäßig die Zahlungsströme beim Closing,118 so dass sie die Erfüllung der letzten Vollzugsbedingung „Kaufpreiszahlung“ selbst herbeiführen können.
4.87
VI. Phase V – Nach Vollzug des Kaufvertrags – Beitritt und Sicherheiten durch die Zielgruppe und geplante Reorganisationsschritte Mit Vollzug des Kaufvertrags wird der Käufer Eigentümer der Zielgruppe. Er kann sie nach 4.88 seinen Vorstellungen umgestalten, um sie etwa bei einer Corporate-Akquisition mit einem bestehenden Geschäftsbetrieb zu kombinieren und dadurch Synergien zu erzielen, oder um sie anderweitig fortzuentwickeln, beispielsweise durch die Konzentration auf bestimmte Geschäftsbereiche oder umgekehrt durch gezielte Zukäufe Wachstum generieren (sog. Buyand-Build-Strategy). Aus der Perspektive der Finanzierung ist Kreditgebern wie Kreditnehmern daran gelegen, die Zielgruppe so zu gestalten und zu integrieren, dass sie zur Bedienung der Finanzierung
113 114
115
116 117
118
die Sicherheiten und Garantien für die Finanzierung bereitstellen und gruppeninterne Darlehen ausreichen. So genanntes Structure Memorandum, welches die Erwerbsstruktur nach steuerlichen und finanziellen Gesichtspunkten analysiert und zusammenfasst. Für die Zwecke der Certain Funds-Bestätigung bestätigen die Kreditgeber regelmäßig, dass sie mit dem zuletzt vorlegten Entwurf des SPA einverstanden sind und auch der finale Kaufvertrag als Auszahlungsvoraussetzung akzeptiert wird, wenn die finale Form nicht nachteilig von der des zuletzt geprüften Entwurfs abweicht. In den seltensten Fällen wird eine Akquisition zu 100 % schuldenfinanziert. Bei einer Leveraged-Transaktion muss das Eigenkapital durch den Sponsor in den Kreditnehmer als echtes Eigenkapital, Einlagen in die Rücklage oder nachrangige Gesellschafterdarlehen in den Kreditnehmer eingeschossen werden. Bei einem Corporate-Unternehmenskauf sind die entsprechenden Gelder meist bereits vorhanden. So genanntes Release Agreement. Dies ist fast ausnahmslos der Fall, da kaum eine Unternehmensgruppe keine (Bank-) Kredite in Anspruch nimmt und fast jeder Kreditvertrag eine Kontrollwechselbestimmung enthält, wonach der Kredit automatisch fällig wird (oder jedenfalls durch den Kreditgeber fällig gestellt werden kann), wenn ein Dritter die Kontrolle über den Kreditnehmer erwirbt. Der Fazilitätsagent unter dem Kreditvertrag führt regelmäßig die Überweisungen zum Closing selbst aus; meist wird er angewiesen, die Darlehensvaluta direkt an den Verkäufer zu zahlen.
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4.89
Kap. 4 Rz. 4.90
Akquisitionsfinanzierung
und ggf. als Sicherheit zur Verfügung steht. Je risikoreicher die Finanzierung und je geringer die Kreditwürdigkeit des Käufers, desto höher sind die Anforderungen der Finanzierung hinsichtlich der Gestaltung der Zielgruppe. Ein besonderer Fokus liegt hierbei darauf, den sog. strukturellen Nachrang der Akquisitionskredite zu überwinden oder wenigstens abzuschwächen. Mit diesem Begriff wird die Tatsache umschrieben, dass die Akquisitionskredite auf der Ebene der Käufergesellschaft aufgenommen werden, während die Cashflows und Vermögensgegenstände, die den eigentlichen Wert der Gruppe ausmachen, in den Zielgesellschaften liegen, die aber nicht Kreditnehmer sind und daher für die Kredite per se nicht haften. Daher stehen bei einer Leveraged-Finanzierung klassischerweise die folgenden Schritte nach Closing an:
4.90 K Beitritt der Zielgruppe 4.91 Alle wesentlichen Gesellschaften119 der Zielgruppe müssen sämtliche Ansprüche der Kreditgeber unter dem Kreditvertrag garantieren und sich den Bestimmungen des Kreditvertrags, insbesondere den Kreditauflagen (Undertakings, dazu Rz. 4.149) unterwerfen. Dies geschieht dadurch, dass sie dem Kreditvertrag als Garanten (und meist auch als zusätzliche Kreditnehmer)120 beitreten und dadurch Vertragspartei werden.121 Als Garanten müssen die betreffenden Gruppengesellschaften auch dingliche Sicherheiten an ihren wesentlichen Vermögensgegenständen bestellen. Sofern es sich um operativ tätige Gesellschaften handelt, kommt es zu umfänglichen Sicherheitenpaketen über eine Vielzahl von verschiedenen Asset-Klassen im In- und Ausland,122 deren Bestellung in der Praxis einen teils hohen Aufwand verursacht. Die Sicherheiten sind Voraussetzung für den Beitritt als Garant und werden daher parallel mit diesem bestellt. Für den Beitritt, die Bestellung der Sicherheiten und die damit verbundenen Formalitäten123 wird im Kreditvertrag üblicherweise eine auskömmliche Frist eingeräumt.124 119 Welche Gesellschaften als wesentlich einzustufen sind hängt von der Geschäftstätigkeit der Gesellschaften des Zielunternehmens und dem mit der Sicherheitenbestellung verbundenen Aufwand ab und ist im Einzelfall auszuhandeln, s. hierzu auch Knepper in Mayer-Sparenberg/Jäckle, Beck’sches M&A-Handbuch, § 17 Rz. 8. 120 Zum einen als Kreditnehmer unter der revolvierenden Kreditlinie, zum anderen auch unter den Laufzeitkrediten für die Zwecke der Refinanzierung ihrer eigenen bestehenden Finanzverbindlichkeiten. Da die bestehenden Finanzverbindlichkeiten aufgrund Kontrollwechselklauseln meist bereits zum Closing fällig werden, die Zielgesellschaften aber schon aus logistischen Gründen nicht bereits zum Closing dem Kreditvertrag beitreten können, werden die Schulden der Zielgesellschaften fast immer zunächst durch die Käufergesellschaft mit den Mitteln der Akquisitionskredite abgelöst. Die daraus entstehenden Kreditverbindlichkeiten der Käufergesellschaft können dann per Debt Push (dazu Rz. 4.95) auf die Zielgesellschaften übertragen werden. 121 Die Garantie ist im Kreditvertrag enthalten, der Beitritt selbst wird durch eine kurze Beitrittserklärung (Accession Letter) unter Verweis auf den Kreditvertrag und die darin enthaltenen Garantiebestimmungen bewirkt. 122 Typischerweise Anteilsverpfändungen, Kontenverpfändungen, Abtretung von Handelsforderungen, Abtretung von Versicherungsansprüchen, Sicherungsübereignungen von beweglichen Sachen (Umlauf- und Anlagevermögen), Immaterialgüterrechte wie Patente, Marken und gewerbliche Schutzrechte sowie Grundpfandrechte an Grundstücken (im Ausland die jeweiligen ausländischen Entsprechungen). 123 Wie für den anfänglichen Kreditnehmer zum Closing sind auch für jeden Garanten gesellschaftsrechtliche Dokumente, Legal Opinions etc. erforderlich. 124 Noch vor einigen Jahren wurde keine Frist eingereicht (Beitritte und Sicherheitenbestellungen daher direkt am Tag des Closing) oder nur sehr kurze Fristen (einige wenige Tage) eingeräumt.
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D. Ablauf und Dokumentation einer typischen Akquisitionsfinanzierung
Rz. 4.92 Kap. 4
Die Garantien und Sicherheiten der Zielgruppe besichern sämtliche Ansprüche der Finan- 4.92 zierungsparteien unter der Akquisitionsfinanzierung „up-, cross- und downstream“, so dass jeder Garant und Sicherheitengeber nicht nur seine eigenen Inanspruchnahmen der Kredite (sofern überhaupt vorhanden) sichert, sondern auch für die seiner Mutter- („upstream“), Schwester- („cross-stream“) und Tochtergesellschaften („downstream“) haftet und Sicherheiten gibt. Haftungsübernahmen und Sicherheiten zugunsten der Gläubiger von Gesellschaftern oder von Schwestergesellschaften begründen mittelbare Leistungen an diese und können daher zu Verstößen gegen das Kapitalerhaltungsrecht führen.125 In der Vertragspraxis werden daher Upstream-Sicherheiten und -Garantien von Gesellschaften in der Rechtsform einer GmbH oder GmbH & Co. KG mit Restriktionsklauseln (sog. „Limitation Language“) beschränkt. Durch die Limitation Language soll die Inanspruchnahme einer Garantie und die Verwertung der Sicherheiten derart eingeschränkt werden, dass ein Absinken des Reinvermögens der GmbH unter ihre Stammkapitalziffer vermieden wird, nicht zuletzt, um eine mögliche persönliche Haftung der Geschäftsführung auszuschließen.126 Dies hat dazu geführt, dass der Kreditvertrag schon kurz nach Closing zur Verlängerung der Frist angepasst werden musste, weil die Garantenbeitritte und Sicherheitenbestellungen auf Kreditnehmer- und auch Kreditgeberseite einen erheblichen Aufwand erfordern und auch mit entsprechender Vorbereitung meist nicht innerhalb weniger Tage zu bewerkstelligen sind. Mit Ausnahme von wirklich kleinen Transaktionen, in denen nur die Zielgesellschaft selbst beitritt und es nur deutsche Sicherheiten gibt, haben sich für deutsche Garanten und Sicherheiten 30 bis 45 Kalendertage, für ausländische Garanten und Sicherheiten 45 bis 60 Kalendertage, jeweils ab Closing, als praktikabel und für beide Seiten akzeptabel erwiesen. Im Rahmen der Insolvenzanfechtung kann eine solche längere Frist problematisch sein, weil bei fehlendem zeitlichem Zusammenhang kein Bargeschäft nach § 142 InsO mehr vorliegt. Nach dem Rechtsgedanken von § 286 Abs. 3 BGB sieht in der Regel eine zeitliche Unmittelbarkeit bei 30 Tagen Dauer vor. Es kann aber im Einzelfall auch eine andere Frist angemessen sein. S. hierzu BGH v. 13.4.2006 – IX ZR 158/05, MDR 2007, 113 = NJW 2006, 2701 ff. sowie Schoon in Fridgen/Geiwitz/Göpfert, BeckOK InsO, § 142 Rz. 17. 125 Das Kapitalerhaltungsrecht der GmbH (§§ 30 ff. GmbHG) verbietet die Auszahlung des zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlichen Vermögens der Gesellschaft an die Gesellschafter. Das auf eine Aktiengesellschaft anwendbare Regime ist noch strenger und verbietet grundsätzlich jede Einlagenrückgewähr (§ 57 Abs. 1 AktG) oder die Unterstützung eines Dritten beim Erwerb der Aktien der AG (sog. Financial Assistance, § 71a AktG. Für die AG (Gleiches gilt für die KGaA) sind aufsteigende Garantien und Sicherheiten daher nur sehr eingeschränkt möglich. Vgl. zum Ganzen etwa Knepper in Meyer-Sparenberg/Jäckle, Beck’sches M&A-Handbuch, § 17 Rz. 76 ff. sowie Diem, Akquisitionsfinanzierung, §§ 43 bis 49. Der BGH hat für den Fall der Bestellung einer dinglichen Sicherheit zu der Frage Stellung genommen, auf welchen Zeitpunkt es für die Feststellung einer verbotenen Auszahlung bei aufsteigenden Sicherheiten ankommt (BGH v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, MDR 2017, 711 = GmbHR 2017, 643 m. Anm. Bormann = WM 2017, 945 zur GmbH/GmbH & Co. KG sowie WM 2017, 479 zur AG). Bei der Bestellung einer dinglichen (Stück-) Sicherheit soll es danach grds. auf den Zeitpunkt der Bestellung ankommen. Beide Entscheidungen haben einen engen Anwendungsbereich, so dass in der Praxis zu beobachten ist, dass die bisher üblichen Beschränkungen der Verwertbarkeit der Sicherheiten (also abstellend auf den Verwertungszeitpunkt) weiterhin verwendet werden. 126 §§ 31, 43 Abs. 3 GmbHG. Neben Kapitalerhaltungsbeschränkungen treten vereinzelt Beschränkungen mit weiteren Schutzrichtungen, so z.B. zur Vermeidung eines Verstoßes gegen die Vorschrift des § 64 S. 3 GmbHG (Verbot von Zahlungen an Gesellschafter, die zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen) oder eines existenzgefährdenden Eingriffs in den Geschäftsbetrieb der Gesellschaft. Weitergehende Beschränkungen aufgrund des Verbots des sog. „Asset Stripping“ nach § 292 KAGB spielen in der Praxis keine Rolle (für eine Anwendung Thiermann, NZG 2016, 335; überzeugend für die Nichtanwendbarkeit des § 292 KAGB aber Längsfeld, NZG 2016, 1096).
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Kap. 4 Rz. 4.93
Akquisitionsfinanzierung
4.93 Diese erforderlichen Einschränkungen reduzieren den Sicherungswert von Up- und CrossStream-Sicherheiten und -Garantien unter Umständen erheblich, so dass Ziel der Strukturierung einer Akquisitionsfinanzierung ist, zumindest für Senior-Kredite durch einen Debt Push oder ähnliche Maßnahmen eine verbesserte Position zu schaffen.
4.94 K Debt Push von Akquisitionskrediten auf die Zielgesellschaften 4.95 Viele strukturierte Akquisitionsfinanzierungen sehen einen sog. Debt Push Down vor. Im Zuge eines solchen Debt Push Down übernehmen Gesellschaften der Zielgruppe Teile der Akquisitionsschulden vom Käufer, der diese durch schuldbefreiende Vertragsübernahme auf die jeweilige Zielgesellschaft überträgt.127 Hierdurch rücken die Kreditverbindlichkeiten strukturell näher an die Vermögensgegenstände und Cashflows der Zielgesellschaft heran,128 wodurch die Risikoposition der Kreditgeber verbessert wird, und steuerlich fallen Zinsaufwendungen dort an, wo auch die Gewinne erzielt werden, was die Abzugsfähigkeit erleichtert. Ein Debt Push Down drängt sich insbesondere dort auf und ist besonders einfach umzusetzen, wo der Käufer beim Closing des Unternehmenskaufvertrags auch eine bestehende Finanzverschuldung der Zielgruppe abgelöst hat. Durch die Ablösung befreit der Käufer das betreffende Zielunternehmen von einer Schuld und erwirbt daraus einen Aufwendungsersatzanspruch, der üblicherweise zunächst als Gesellschafterdarlehen des Käufers an die Zielgesellschaft stehen bleibt. In dem Maße, wie ein solcher Aufwendungsersatzanspruch bei Closing entsteht und als solcher oder als Gesellschafterdarlehen fortbesteht, kann die Zielgesellschaft die Akquisitionsschulden des Käufers zur Befriedigung des Aufwendungsersatzanspruchs an Erfüllungs statt übernehmen.129
127 Der hier verwendete finanzrechtliche/zivilrechtliche Begriff ist nicht mit einem steuerlichen Debt Push Down zu verwechseln. Aus steuerlicher Sicht kann ein Debt Push Down auch ohne Schuldübernahme dadurch bewirkt werden, dass die jeweilige Zielgesellschaft mit dem Käufer eine steuerliche Organschaft begründet (durch einen Gewinnabführungsvertrag), da hierdurch alle Gewinne auf Ebene der Zielgesellschaft auf die des Käufers gezogen werden. 128 Der umgekehrte Weg zur Überwindung des strukturellen Nachrangs, also durch Verschiebung der Vermögensgegenstände nach oben zu den Akquisitionsschulden (etwa durch Verschmelzungen von Zielgesellschaften in die Käufergesellschaft) ist aufgrund der rechtlichen, steuerlichen und oft auch operativen Komplexität eher selten. Bei einem Secondary Buy-Out (also dem Kauf eines Unternehmens, das schon früher durch einen Private Equity Investor im Wege eines LBO übernommen wurde und durch diesen veräußert wird) werden die Strukturgesellschaften des früheren LBO oberhalb der operativen Gesellschaften oft obsolet und können durch Verschmelzungen oder ähnliche Schritte beseitigt werden, wodurch die neuen Akquisitionsschulden näher an die operativen Zielgesellschaften heranrücken. Die Bereinigung der Struktur um reine Holdinggesellschaften ist i.d.R. unproblematisch. 129 Ein Debt Push kann auch dadurch bewerkstelligt werden, dass sonstige Forderungen der Käufer- gegen die Zielgesellschaft erworben (z.B. bestehende Gesellschafterdarlehen des Verkäufers) oder geschaffen (beispielsweise durch Beschluss einer Dividende) werden, um diese durch die Übernahme von Akquisitionsschulden an Erfüllungs statt zu befriedigen. Alternativ ist ein Upstream-Darlehen der übernehmenden Zielgesellschaft an die Käufergesellschaft möglich (der Aufwendungsersatzanspruch der Zielgesellschaft aus der Übernahme der Akquisitionsschulden wird darlehenshalber stehen gelassen), wenn die gesellschaftsrechtlichen Voraussetzungen für ein aufsteigendes Darlehen erfüllt sind (zum Ganzen auch Knepper in Meyer-Sparenberg/Jäckle, Beck’sches M&A-Handbuch, § 17 Rz. 95 f.).
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E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster
Rz. 4.98 Kap. 4
E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster I. Einleitung Der Konsortialkreditvertrag ist die Grundform der meisten kreditvertraglichen Akquisitions- 4.96 finanzierungen, und zwar selbst dann, wenn der Kredit zunächst auf bilateraler Basis durch nur einen Kreditgeber ausgereicht wird,130 weil die anfänglichen Kreditgeber in fast allen Fällen die Ausplatzierung von Kreditteilen an andere Kreditgeber in Absprache mit dem Kreditnehmer planen oder sich zumindest den Weg einer späteren Ausplatzierung oder eines vollständigen Verkaufs offenhalten möchten. Der Konsortialkreditvertrag regelt die wesentlichen Bedingungen des Kreditverhältnisses über seine gesamte Laufzeit und ist damit das zentrale Dokument einer jeden Akquisitionsfinanzierung. Der Darlehensvertrag ist im BGB und auch sonstigen Gesetzen nur rudimentär geregelt.131 Die Parteien genießen daher ein hohes Maß an Vertragsfreiheit und können die Bedingungen des Kreditverhältnisses bis ins kleinste Detail privatautonom gestalten.132 Dem tragen die Muster für Konsortialkreditverträge Rechnung, die sich in den letzten Jahrzehnten in der deutschen Vertragspraxis etabliert haben.
4.97
II. Die heutigen Vertragsmuster In den Anfängen der Akquisitionsfinanzierung war der Markt noch von einer Vielzahl an verschiedenen Vertragsmustern geprägt, welche führende Banken jeweils als ihren „Hausstandard“ in den durch sie arrangierten Transaktionen verwendeten. Ein übergreifender Standard, nach dem sich alle Marktteilnehmer, Kreditgeber wie Kreditnehmer, richten konnten, existierte nicht. Das Vertragsmuster des Bundesverbands Deutscher Banken für gewerbliche Kreditnehmer133 ist weder auf eine Akquisitionsfinanzierung zugeschnitten noch für einen syndizierten Kredit geeignet, so dass es in der Praxis keine Bedeutung erlangt hat. 130 Etwa ein Unitranche-Kredit vor Hinzutreten des Super Senior-Kreditgeber, s. Rz. 4.36. 131 S. §§ 488 ff. BGB. Die Vorschriften für Verbraucherkredite §§ 491 ff. BGB spielen für Unternehmenskredite keine Rolle. 132 Leider existieren im deutschen Zivilrecht verschiedene Regelungen, die die Vertragsautonomie in für den unternehmerischen Bereich unangemessenem und im internationalen Vergleich problematischem Maße beschränken, so etwa die Schwierigkeiten bei der vertraglichen Vereinbarung von Zinseszins, der für Mezzanine- und PIK-Kredite wesensprägend ist und auch für Kreditnehmer hohe Vorteile hat (hierzu Rz. 4.27 ff.); die Probleme bei der Vereinbarung einer sog. Call Protection, also Beschränkungen der Rückzahlbarkeit von variabel verzinslichen Krediten (s. Rz. 4.34, Fn. 38) und insbesondere die AGB-Vorschriften im deutschen Recht (ehemals AGB-Gesetz, mittlerweile §§ 305 ff. BGB), die zu hoher Rechtsunsicherheit (sogar im Bereich von am Kapitalmarkt für professionelle Anleger emittierten Wertpapieren führen, da potentiell fast alle vertraglichen Regelungen einer richterlichen Inhaltskontrolle unterworfen werden und selbst Abreden zur Vergütung und Preisstruktur zwischen professionellen Kreditgebern und Kreditnehmern vor einer richterlichen Inhaltskontrolle nicht sicher sind (s. zur Unwirksamkeit von Bearbeitungsgebühren bei Kreditverträgen mit Unternehmern BGH v. 4.7.2017 – XI ZR 562/15, MDR 2017, 1196; NJW 2017, 2986; v. 4.7.2017 – XI ZR 233/16, MDR 2017, 1198; BB 2017, 2066 sowie hierzu Rz. 4.180 Fn. 246). Es wäre wünschenswert, dass der Gesetzgeber professionellen Kreditgebern und Kreditnehmern die Vertragsfreiheit auch in diesen Bereichen zubilligt und sichert. 133 Die Muster des Bundesverbands Deutscher Banken sind teilweise online abrufbar (https:// bankenverband.de) und teilweise nur über den Bank-Verlag zu beziehen.
Ingenhoven/Eisen
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4.98
Kap. 4 Rz. 4.99
Akquisitionsfinanzierung
4.99 Mit der Veröffentlichung des ersten Mustervertrags für Konsortialkredite durch die englische Loan Market Association (kurz: LMA)134 im Jahr 1999 begann der Siegeszug der englischen Vertragsmuster in der deutschen Kreditvertragspraxis. Die damalige Vorlage war nur für unbesicherte Investment Grade-Kredite geeignet und musste für die Besonderheiten der Akquisitionsfinanzierung umfassend ergänzt und angepasst werden, fand aber bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung weitreichende Verwendung als Grundmuster im deutschen Markt. Im Jahr 2004 folgte die erste Version eines Musters für „Leveraged Acquisition Finance Transactions“, welches seitdem laufend angepasst wurde, um die sich ständig weiterentwickelnde Praxis der Akquisitionsfinanzierung abzubilden. Obwohl beide Vertragsvorlagen englischem Recht unterliegen, folgt heute die weit überwiegende Zahl von Akquisitionsfinanzierungen in Deutschland der Vertragstechnik der LMA-Muster. Eine Ausnahme bilden allenfalls kleine Transaktionen mit einem Volumen von typischerweise weniger als ca. 50 Millionen Euro, die durch eine oder jedenfalls wenige deutsche Banken bilateral oder in einem „Club“ ausgereicht werden oder am oberen Ende des Spektrums sehr große Transaktionen, die durch starke Private Equity-Investoren aus London herausgetrieben werden und für die ein „Sponsor Precedent“ vorgegeben wird, der oft nur entfernte Ähnlichkeit mit dem LMA Muster aufweist.
4.100 Wenn in der Praxis vom „LMA Standard“ gesprochen wird, dann bedeutet das allerdings nicht, dass der jeweilige Kreditvertrag tatsächlich Wort für Wort der LMA-Vorlage entspricht. Vielmehr werden die LMA-Vertragsvorlagen oft nur als konzeptioneller Ausgangspunkt verwendet und dann durch Kürzungen, Streichungen und in Kombination mit anderen LMA- (oder sonstigen) Vertragsmustern auf das Gepräge der jeweiligen Transaktion zugeschnitten.
4.101 Übersicht über die wichtigsten Vertragsmuster der LMA:135 Bezeichnung
Anwendb. Recht
LMA Multicurren- Englisch cy Term and Revolving Facilities Agreement136 („Investment Grade LMA“)
Ursprünglicher Anwendungsbereich
Verwendung in der Praxis der Akquisitionsfinanzierung
Allgemeine Unternehmenskredite nach englischem Recht für Investment Grade-Kreditnehmer
Akquisitionsfinanzierungen für CorporateFinanzierungen mit nur wenigen akquisitionsspezifischen Anpassungen. Grundlage für Cross Over-Finanzierungen (durch Anreicherung durch Elemente des LBO LMA) für starke Kreditnehmer.
134 Die LMA ist ein Interessenverband mit Sitz in London. Sie hat über 630 Mitglieder aus den Bereichen Banken, institutionelle Investoren, Rechtsanwaltskanzleien, Servicedienstleister und Rating Agenturen. Ziel der LMA ist es, den Markt für syndizierte Kredite in Europa, dem Nahen Osten und Afrika zu fördern. Dazu stellt die LMA Informationen und Vertragsmuster zur Verfügung. 135 Sämtliche Vertragsmuster der LMA sind auf ihrer Website (http://www.lma.eu.com/docu ments-guidelines/documents) einsehbar, leider nur für registrierte Nutzer. 136 Das Investment Grade LMA Vertragsmuster gibt es in verschiedenen Varianten: Beispielsweise gibt es das Muster als Single und Multi Currency Version, als Term und Revolving, nur Term und nur Revolving Version und weitere Differenzierungen, auf die hier nicht weiter eingegangen wird.
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E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster Bezeichnung
Anwendb. Recht
Rz. 4.101 Kap. 4
Ursprünglicher Anwendungsbereich
Verwendung in der Praxis der Akquisitionsfinanzierung
Senior MulticurEnglisch rency Term and Revolving Facilities Agreement for Leveraged Acquisition Finance Transactions („LBO LMA“)
Leveraged-Finanzierungen für einen LBO, in dem ein Private Equity Sponsor unter Verwendung eines Akquisitionsvehikels ein Unternehmen akquiriert
LBO-Finanzierungen nach englischem Recht. LBO-Finanzierungen nach deutschem Recht (durch punktuelle Anpassungen an das deutsche Recht). Grundlage für Cross Over-Finanzierungen (durch angemessene Kürzungen) für Transaktionen, die eher „Leveraged“ als „Corporate“ sind. Grundlage für LBO Finanzierungen nach deutschem Recht, die mit einem verkürzten LMA-Vertrag dokumentiert werden sollen (durch starke Kürzungen); meist für kleiner deutsche Transaktionen.
German Law Deutsch Multicurrency Term and Revolving Facility Agreement („Investment Grade LMA German Law“)
Allgemeine Unternehmenskredite nach deutschem Recht für Investment Grade Kreditnehmer
Akquisitionsfinanzierungen für CorporateFinanzierungen mit nur wenigen akquisitionsspezifischen Anpassungen. Grundlage für Cross Over-Finanzierungen (durch Anreicherung durch Elemente des LBO LMA) für starke Kreditnehmer. Vorlage zur „Umschreibung“ von englischen Vertragsmustern (insbesondere der LBO LMA) auf deutsches Recht
Super Senior Multicurrency Revolving Facility Agreement
Leveraged-Finanzierungen mit Kapitalmarktinstrumenten und einer revolvierenden Super Senior-Betriebsmittellinie137
Leveraged-Finanzierungen unter Kombination von Kapitalmarktinstrumenten mit einer Super Senior Revolving Facility. Die Vorlage enthält keine Restrictive Covenants (also negative Kreditauflagen), weil vorausgesetzt wird, dass die entsprechenden Vorschriften im Kapitalmarktinstrument138 in den Vertrag übernommen werden.139
Verwendung zusammen mit dem LBO LMA für Senior-/Mezzanine-Finanzierungen
Leveraged-Finanzierungen nach englischem und deutschem Recht. Vorlage nicht nur für Senior-/Mezzanine-Finanzierungen, sondern auch andere mehrschichtige Finanzierungen (z.B. Senior-/Second Lien). Vorlage für Security Agency Agreements/Sicherheitentreuhandverträge oder Subordination Agreements Nachrangvereinbarungen.140
Englisch
LMA Intercreditor Englisch Agreement
137 Es existieren zwei Varianten dieser Vorlage: Die eine setzt eine Kombination einer Super Senior Revolving Facility mit Senior Secured Note voraus, bei der anderen besteht die Kombination mit Senior Secured Notes sowie zusätzlich einem High Yield Bond. 138 In den „DoN“ (Description of the Notes). 139 Da die Kapitalmarktinstrumente oft nach dem Recht von New York dokumentiert sind, entscheiden sich die Parteien regelmäßig für eine split governing law clause, also eine teilweise Rechtswahl des Rechts von New York für die restrictive covenants, während der Kreditvertrag im Übrigen dem englischen Recht unterliegt. 140 In Corporate und Cross Over-Finanzierungen wird oft nicht der gesamte Intercreditor gebraucht, sondern nur einige Regelungsbereiche wie beispielsweise zur Sicherheitenverwaltung und -verwertung sowie zur Nachrangigkeit von Gesellschafterdarlehen. Für diese Zwecke wer-
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Kap. 4 Rz. 4.102 Bezeichnung
Akquisitionsfinanzierung Anwendb. Recht
LMA Super Senior Englisch Intercreditor Agreement
Ursprünglicher Anwendungsbereich
Verwendung in der Praxis der Akquisitionsfinanzierung
Leveraged-Finanzierungen mit Kapitalmarktinstrumenten und einer revolvierenden Super Senior-Betriebsmittellinie141
Leveraged-Finanzierungen unter Kombination von Kapitalmarktinstrumenten mit einer Super Senior Revolving Facility. Die entsprechenden Elemente des Intercreditor Agreements finden auch für andere Super Senior-Kombinationen als Orientierungspunkt Anwendung, so z.B. für Unitranche-oder Term Loan B-Finanzierungen.142
4.102 Keine der für die Akquisitionsfinanzierung relevanten Vertragsvorlagen der LMA ist bisher in deutscher Sprache veröffentlicht worden, so dass sich die Marktteilnehmer mit für Vortransaktionen erstellten Übersetzungen behelfen, sofern die Parteien Deutsch als verbindliche Vertragssprache wünschen.
III. Der LMA-basierte Konsortialkreditvertrag für Akquisitionsfinanzierungen 4.103 Für alle Finanzierungssituationen, die oben idealtypisch als Corporate, Leveraged und Cross Over bezeichnet wurden, sowie die verschiedenen Abwandlungen davon für beispielsweise Unitranche-Finanzierungen und Term Loan B-Finanzierungen,143 folgt die Kreditvertragstechnik der gleichen Grundstruktur des LMA-Vertrags. Auch wenn sich die Vorlagen für Corporate- (Investment Grade LMA) und Leveraged-Finanzierungen (LBO LMA) in Umfang und Komplexität unterscheiden,144 basieren beide Vorlagen auf dem gleichen Grundmuster und sind insoweit deckungsgleich, als die unterschiedlichen Anwendungsbereiche keine Unterschiede erfordern.
4.104 Im Folgenden werden Gliederung und Inhalt des LMA-Kreditvertrags am Beispiel des LBO LMA summarisch dargestellt.
4.105 K Section 1 – Interpretation 4.106 Der englischen Vertragstechnik entsprechend ist dem Vertrag ein sehr umfangreicher definitorischer Teil vorangestellt. 1. Definitions and Interpretation
4.107 Aus operativer Sicht besonders relevant sind die Erlaubnistatbestände, die Ausnahmen zu den Kreditauflagen (Undertakings) darstellen (Permitted Acquisition, Permitted Disposal, Permitted Financial Indebtedness etc.). Diese sind nur im LBO LMA im Definitionenkatalog
141 142 143 144
300
den die entsprechenden Vorschriften entweder aus der LMA Vorlage punktuell herauskopiert und in einen anderen Vertrag übertragen oder der LMA Vertrag wird als Ganzes zur Grundlage gemacht und alle anderen Vorschriften gelöscht. Wie das Super Senior Multicurrency Revolving Facility Agreement in zwei Varianten, s. oben. S. Rz. 4.36 und 4.69. S. Rz. 4.4, 4.36 und 4.69. Der Investment Grade LMA umfasst ca. 130 Seiten, der LBO LMA ca. 330 Seiten (jeweils mit Anhängen).
Ingenhoven/Eisen
E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster
Rz. 4.114 Kap. 4
enthalten; im Investment Grade LMA sind sie in den Vertragstext der Kreditauflagen integriert.145 Für das Vertragsverständnis sehr relevant sind auch die Auslegungsregeln in Clause 1.2 (Construction), welche die Verwendung von systematisch bedeutsamen Begriffen und Konzepten regeln.146
4.108
K Section 2 – The Facilities
4.109
2. The Facilities Clause 2 beschreibt die verschiedenen Kreditfazilitäten des Vertrags. Laufzeitkredite werden 4.110 als Term Loan bezeichnet, die revolvierende Betriebsmittellinie als Revolving Loan Facility oder (sofern die Inanspruchnahme nicht nur als Bar- sondern auch als Avalkredit zur Ausstellung von Bankgarantien zugelassen ist) als Revolving Credit Facility. 3. Purpose Beschreibung des Verwendungszwecks, für den der Kreditnehmer die Kreditlinien in Anspruch nehmen darf.
4.111
4. Conditions of Utilisation Bestimmung der Voraussetzungen, die für eine Inanspruchnahme erfüllt sein müssen. Dies umfasst einen umfangreichen dokumentären Katalog von Auszahlungsvoraussetzungen (sog. Conditions Precedent oder kurz „CPs“), die Voraussetzung für die erste Inanspruchnahme sind. Daneben treten inhaltliche Voraussetzungen (kein Vorliegen eines Kündigungsgrundes, Korrektheit der abzugebenden Zusicherungen), die für jede, auch später während der Laufzeit getätigte Inanspruchnahmen erfüllt sein müssen. Für die Akquisitionsfinanzierung besonders wichtig ist hier das Certain Funds-Konzept (s. Rz. 4.80 und Clause 4.5 im LBO LMA), durch das für Inanspruchnahmen zur Finanzierung der Unternehmensakquisition ein besonderes Conditions Precedent-Regime geschaffen wird, welches keine oder nur sehr beschränkte Bezugnahmen auf die Zielgruppe beinhaltet und so einen weitgehenden Gleichlauf von Kaufvertrag und Kreditvertrag erzielt (so dass dem Käufer die Kredite unter dem Kreditvertrag zur Verfügung stehen, wenn er den Kaufvertrag vollziehen muss).
4.112
K Section 3 – Utilisation
4.113
5. Utilisation – Loans Regelung der technischen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Barkrediten (Betrag, Währung, Anzahl der einzelnen Darlehen, Zeitpunkt und Form der einzureichenden Ziehungsnotiz etc.).
145 S. dort Clause 22 (General Undertakings). 146 Beispielsweise die Ablösung von ausgereichten Bankgarantien durch Barunterlegung.
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301
4.114
Kap. 4 Rz. 4.115
Akquisitionsfinanzierung
6. Utilisation – Letters of Credit
4.115 Regelung der technischen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Avalkrediten (also die Beantragung der Ausstellung einer Bankgarantie). 7. Letters of Credit
4.116 Spezielle Regelungen für unter dem Vertrag ausgestellte Bankgarantien (im LBO LMA als „Letters of Credit“ bezeichnet), u.a. Regelung des Aufwendungsersatzanspruchs der ausstellenden Bank gegen den beauftragenden Kreditnehmer und ihres Rückgriffs auf die anderen Konsortialbanken. 8. Optional Currencies
4.117 Spezielle Regelungen zu Fremdwährungen (also andere Währungen als die sog. Base Currency Euro). Üblicherweise sind Inanspruchnahmen in Fremdwährung nur unter der Revolving Credit Facility zulässig; Laufzeitkredite (Term Loans) in Fremdwährung sind möglich, aber seltener. 9. Ancillary Facilities
4.118 Umfangreiche Regelungen zu den in der Praxis für Kreditnehmer sehr wichtigen Ancillary Facilities (im Deutschen als Abzweig- oder Unterkreditlinien bezeichnet). Hierbei handelt es sich um Kreditlinien, die durch einzelne Kreditgeber der Revolving Credit Facility auf bilateraler Basis zur Verfügung gestellt werden und durch Umwandlung der Beteiligung des jeweiligen Kreditgebers an der Revolving Credit Facility entstehen. Als bilaterale Kredite sind Ancillary Facilities viel flexibler als die syndizierte Betriebsmittellinie, da die Parteien die Nutzung der Unterkreditlinie und ihre Bedingungen weitgehend frei von den Zwängen des Konsortialkreditvertrags bilateral vereinbaren können (so etwa als Kontokorrentlinie, Fremdwährungslinie, zur Ausstellung von Bankgarantien etc.). Gleichwohl bleibt die Ancillary Facility ein in den Konsortialkredit eingebundenes Finanzierungsdokument und der Ancillary Lender profitiert dadurch weiterhin vom Garantie- und Sicherheitenpaket des Konsortialkreditvertrags. In der Praxis wird ein großer Teil des alltäglichen Finanzierungsbedarfs einer Kreditnehmergruppe durch Ancillary Facilities abgedeckt. Insbesondere Bankavale werden in der Praxis meist über Ancillary Facilities durch einzelne Kreditgeber ausgestellt.147 10. Establishment of Incremental Facilities
4.119 Incremental Facilities sind zusätzliche Kreditfazilitäten (daher oft auch als Additional Facilities bezeichnet), die zwar im Kreditvertrag bereits vertragstechnisch angelegt, zu Beginn der Finanzierung durch die Kreditgeber aber noch nicht zugesagt sind. Incremental Facilities geben dem Kreditnehmer die Möglichkeit, bei den Kreditgebern die Einrichtung einer zusätzlichen Kreditfazilität zu beantragen (z.B. zur Finanzierung einer Add-on Akquisition oder einer
147 Das im LMA Vertrag grds. angelegte Fronting-Konzept, bei dem ein Kreditgeber (die sog. Issuing Bank) für das Konsortium eine Bankgarantie ausstellt und von den anderen Kreditgebern entsprechend ihrer Kreditbeteiligungen eine Freistellungserklärung erhält, ist seit der Finanzkrise seltener zu beobachten, da die Issuing Bank das Ausfallrisiko der anderen Konsortialbanken trägt.
302
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E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster
Rz. 4.124 Kap. 4
sonstigen größeren Investition), ohne dass dafür Vertragsänderungen und die Zustimmung aller Kreditgeber oder einer qualifizierten Mehrheit der Kreditgeber erforderlich wäre. Der Kreditnehmer benötigt lediglich die Zustimmung der Kreditgeber, die ihm die neue Incremental Facility stellen. Die Praxis, derartige zusätzliche Fazilitäten in der Kreditvertragsdokumentation vorzusehen, ist eine sinnvolle vertragliche Ergänzung,148 da zusätzlicher Mittelbedarf während der üblichen fünf bis siebenjährigen Laufzeit von Akquisitionskrediten häufig auftritt und sich die Einholung der Zustimmung aller Kreditgeber oder einer qualifizierten Mehrheit gerade in großen Konsortien erfahrungsgemäß schwierig gestalten kann. K Section 4 – Repayment, Prepayment and Cancellation
4.120
11. Repayment Regelung der Rückzahlungsmodalitäten für die einzelnen Kreditfazilitäten. Laufzeitkredite werden endfällig („bullet repayment“) oder „amortising“ anhand eines Tilgungsplans zurückgeführt. Darlehen unter der revolvierenden Kreditlinie müssen grds. am Ende jeder Zinsperiode zurückgezahlt werden,149 es sei denn, sie werden für die folgende Zinsperiode verlängert (sog. „Rollover Loan“).
4.121
12. Illegality, Voluntary Prepayment and Cancellation Regelungen zum Kündigungsrecht einzelner Kreditgeber, denen es aus rechtlichen Gründen unmöglich wird, am Kredit weiterhin teilzunehmen (praktisch relevant sind hier aufsichtsrechtliche und gesetzliche Verbote) (Illegality).
4.122
Der Kreditnehmer ist grds. berechtigt, ausgereichte Kredite freiwillig vorfällig zurückzuzahlen (Voluntary Prepayment) und die zugrunde liegende Kreditlinie zu kündigen (Voluntary Cancellation).150
4.123
13. Mandatory Prepayment and Cancellation Regelungen zu Pflichtsondertilgungen. Diese verpflichten den Kreditnehmer bei einem Kontrollwechsel (Change of Control), der Veräußerung im Wesentlichen aller Vermögensgegenstände der Kreditnehmergruppe oder teils auch bei einem Börsengang der Gruppe zur
148 Die Praxis hat sich erst in den letzten Jahren entwickelt. In der Folge der häufiger werdenden Verwendung in der Praxis hat die LMA 2016 ein entsprechendes Modul in den LBO LMA aufgenommen. 149 Und können dann neu in Anspruch genommen werden, daher „revolvierend“. 150 Darlehen unter Konsortialkreditverträgen sind praktisch immer variabel verzinslich (veränderlicher Referenzzinssatz plus Marge, s. Rz. 4.127), so dass wirtschaftlich nichts gegen eine frühzeitige Rückzahlung spricht. Anders bei Schuldverschreibungen (Bonds) und Schuldscheindarlehen, die meist festverzinslich und daher nicht nach Belieben frühzeitig zurückgeführt werden können. Ausnahmen bestehen bei bestimmten, durch institutionelle Fonds begebenen Krediten (Unitranche-Kredite, nachrangige Second Lien-Kredite oder Mezzanine-Kredite sowie Term Loan B-Finanzierungen (s. Rz. 4.36, Rz. 4.24, Rz. 4.27 und Rz. 4.69), die zwar variabel verzinslich sind, bei denen die Kreditgeber aber die Erwartung eines Mindestanlagehorizonts haben (sog. Call Protection, die eine Rückzahlung während der Call Protection Period (zwischen einem und drei Jahren) untersagt oder von der Zahlung einer mit über die Zeit abnehmenden Vorfälligkeitsgebühr abhängig macht).
Ingenhoven/Eisen
303
4.124
Kap. 4 Rz. 4.125
Akquisitionsfinanzierung
sofortigen und vollständigen Rückführung aller Kredite. Teilweise Pflichttilgungen sind aus den Erlösen besonderer Mittelzuflüsse zu leisten, so insbesondere: Veräußerungen von Vermögensgegenständen, Versicherungsleistungen, Ersatz- oder Rückzahlungen des Verkäufers unter dem Unternehmenskaufvertrag, Schadensersatzzahlungen durch die Ersteller der Due Diligence Berichte für die Akquisition, wobei für alle Tatbestände Schwellenwerte, Freibeträge und sonstige Ausnahmen (insbesondere für die bestimmungsgemäße Reinvestition) vorgesehen sind. Darüber hinaus wird jährlich der sog. Excess Cashflow festgestellt151 und ein bestimmter Prozentsatz davon zur Pflichtsondertilgung verwendet (wobei der Prozentsatz bei sinkendem Nettoverschuldungsgrad der Gruppe stufenweise abnimmt). 14. Restrictions
4.125 Verschiedene technische Vorschriften zu den freiwilligen Sondertilgungen und den Pflichtsondertilgungen.
4.126 K Section 5 – Costs of Utilisation 15. Interest
4.127 Der Zinssatz setzt sich aus dem veränderlichen Referenzzinssatz (EURIBOR für Kredite in Euro, für Fremdwährungen kommt meist LIBOR zur Anwendung)152 und einer Margenkomponente zusammen, die üblicherweise abhängig vom Nettoverschuldungsgrad der Gruppe (Leverage Ratio) stufenweise sinkt und steigt (sog. Margin Grid).153 16. Interest Periods
4.128 Technische Bestimmungen zu den Zinsperioden, die der Kreditnehmer wählen kann und zu deren Beginn der jeweilige Referenzzinssatz anhand der relevanten öffentlichen Quelle festgelegt wird („fixing“).154 Zur Auswahl stehen üblicherweise 1, 2, 3 und 6 Monate (die kurzen von 1 und 2 Monaten oft nur für die revolvierende Kreditlinie); abweichende Zinsperioden sind auch möglich, bedürfen aber der Zustimmung aller am jeweiligen Darlehen beteiligten Kreditgeber, da deren Refinanzierung betroffen ist.
151 Cashflow nach Schuldendienst (also Zins, sonstige Finanzierungskosten und Tilgungen). 152 Zur anstehenden Reform des LIBOR und auch des EURIBOR s. ESMA, Questions and Answers on the Benchmarks Regulation (https://www.esma.europa.eu/policy-rules/benchmarks). Ist der Referenzzinssatz negativ, wird er mit Null fingiert (sog. „Zero Floor“), so dass die Marge nicht reduziert wird (s. die Definitionen der Begriffe Euribor und LIBOR im LBO LMA). Zum Phänomen der negativen Zinsen aus rechtlicher Sicht, vgl. Krepold/Herrle, BKR 2018, 89 ff. 153 Die dritte im LBO LMA angegebene Komponente, die sog. Mandatory Costs, betrafen primär aufsichtsrechtliche Kosten für englische Banken und spielen in der heutigen Finanzierungspraxis keine Rolle mehr. 154 Da der Referenzzinssatz jeweils abschnittsweise festgelegt wird, stellen die Darlehen, sofern sie deutschem Recht unterliegen, solche mit gebundenem Sollzinssatz i.S.d. § 489 Abs. 1, 5 Satz 2 BGB dar und sind nicht im engeren Sinne „veränderlich“ i.S.d. § 489 Abs. 2 BGB. Sie sind daher mit einer Frist von einem Monat zum Zinsperiodenende gesetzlich kündbar, wobei dieses gesetzliche Kündigungsrecht in der Praxis keine Rolle spielt, da das vertragliche Kündigungsrecht (s. oben Clause 12) wesentlich weitergeht.
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E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster
Rz. 4.133 Kap. 4
17. Changes to the Calculation of Interest Technische Vorschriften zum Umgang mit Störungen in der Vertragsdurchführung, die sich daraus ergeben, dass der Referenzzinssatz nicht bestimmt werden kann oder die Refinanzierungskosten der Kreditgeber nicht adäquat widerspiegelt.155
4.129
18. Fees Regelungen zu den während der Laufzeit wiederkehrend anfallenden Gebühren (Bereitstellungsprovision und Gebühren im Zusammenhang mit der Ausstellung von Bankgarantien). Einmalprovisionen zu Beginn der Finanzierung oder nur für bestimmte Finanzierungsparteien (z.B. für den Facility Agent und den Security Agent) werden üblicherweise in separaten Gebührenvereinbarungen geregelt, auf die im Kreditvertrag verwiesen wird.
4.130
K Section 6 – Additional Payment Obligations
4.131
19. Tax Gross Up and Indemnities In Deutschland fällt auf Zinszahlungen regelmäßig keine Kapitalertragsteuer an. Kredite wer- 4.132 den daher auf der Grundlage strukturiert, dass der Kreditgeber neben der Ertragsteuer auf die Darlehenszinsen, die er in seinem Ansässigkeits-bzw. Betriebsstättenstaat schuldet, keine weiteren Steuern schuldet und der Kreditnehmer bei der Auszahlung der Vergütung nicht zur Einbehaltung (und Abführung) von Kapitalertrag- oder ähnlichen Steuern verpflichtet ist.156 Für den Fall, dass – insbesondere durch Rechtsänderungen – während der Laufzeit des Kredits doch der Einbehalt von Steuern auf die für den Kredit zu zahlende Vergütung erforderlich ist, ist eine Aufstockungsverpflichtung (Tax Gross-up Clause) vorgesehen, nach der der Kreditnehmer verpflichtet ist, die Kreditvergütung in dem erforderlichen Maße aufzustocken, um dem Kreditgeber nach Einbehalt tatsächlich den Betrag auszahlen zu können, den er erhalten hätte, wenn es keine Einbehaltenspflicht gäbe. Ist der Kreditgeber selbst zur Steuerzahlung verpflichtet, greift grundsätzlich eine Ausgleichsverpflichtung des Kreditnehmers ein (Tax Indemnity Clause). Ergänzt werden beide Regelungen durch eine Tax Credit Clause, wonach eventuell im Zusammenhang mit den zusätzlichen Zahlungen des Kreditnehmers beim Kreditgeber entstehende Steuervorteile abgeschöpft werden und dem Kreditnehmer zugute kommen. 20. Increased Costs Die Increased Cost-Regelungen geben den Finanzierungsparteien das Recht, Kostenerhöhun- 4.133 gen in ihrer Sphäre, die in direktem Zusammenhang mit ihrer Beteiligung am jeweiligen Kredit stehen, an den Kreditnehmer weiterzureichen und entsprechenden Ersatz zu verlan155 So genannte Market Disruption, s. hierzu etwa Ingenhoven in Jesch/Striegel/Boxberger, Rechtshandbuch Private Equity, § 12 S. 273, Fn. 1034 und Castor in Langenbucher/Bliesener/Spindler, 16. Kapitel Rz. 44. 156 Ausnahmen können etwa dann bestehen, wenn der Kreditnehmer ein inländisches Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitut ist, es sich um bestimmte verbriefte oder registrierte Kreditforderungen handelt (z.B. solche, die in ein öffentliches Schuldbuch bzw. ein ausländisches Register eingetragen sind oder über Sammelurkunden bzw. Teilschuldverschreibungen ausgegeben werden; beides ist im rein kreditvertraglichen Bereich nicht relevant) oder eine erfolgsabhängige Kreditvergütung vereinbart ist.
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Kap. 4 Rz. 4.134
Akquisitionsfinanzierung
gen. In der Praxis geht es hier insbesondere um aufsichtsrechtliche Kosten, die den Kreditgebern, insbesondere Banken, durch erhöhte Anforderungen an das regulatorische Mindestkapital und ähnliche Umstände entstehen. Die Geltendmachung derartiger Ersatzansprüche durch Kreditgeber ist in der Praxis selten. 21. Other Indemnities
4.134 Unter Other Indemnities sind weitere Ausgleichsverpflichtungen des Kreditnehmers im Zusammenhang mit Umständen geregelt, die in der Sphäre des Kreditnehmers entstehen, so beispielsweise beim Auftreten von Kündigungsgründen, dem Ausbleiben einer durch den Kreditnehmer angekündigten vorfälligen Rückzahlung oder einer verspäteten Zahlung durch den Kreditnehmer. 22. Mitigation by the Lenders
4.135 Regelung zur allgemeinen Schadensminderungspflicht der Kreditgeber, die gehalten sind, durch entsprechende Maßnahmen Tatbestände zu verhindern oder zu entschärfen, die nach den Steuerregelungen oder den Increased Costs-Regelungen zu Zahlungspflichten für den Kreditnehmer führen können. 23. Costs and Expenses
4.136 Regelungen zu den Kosten und Auslagen der Finanzierungsparteien im Zusammenhang mit dem Kreditvertrag, üblicherweise unterteilt in die anfänglichen Transaktionskosten (Transaction expenses), spätere Kosten von Vertragsänderungen (Amendment costs) und schließlich Vollstreckungskosten (Enforcement costs).
4.137 K Section 7 – Guarantee 24. Guarantee and Indemnity
4.138 Der Kreditvertrag enthält auch die Garantieerklärung der Gruppengesellschaften, die die Kredite durch ihre Garantie besichern müssen.157 Die Garantieerklärung wird nahezu immer als echte Garantie und nicht als Bürgschaft vorgesehen.158 In deutschen Kreditverträgen wird die Garantie nicht als Garantie auf erstes Anfordern ausgestaltet.159 Die Garantie wird von einer Vielzahl von Schutzvorschriften zugunsten der begünstigten Finanzierungsparteien flankiert. Umgekehrt enthält der Abschnitt zur Garantie auch die sog. Limitation Language, die die Durchsetzbarkeit der Garantie in dem erforderlichen Maße beschränkt,
157 S. hierzu bereits oben Rz. 4.89. Eine separate Garantievereinbarung ist sehr selten, da die Garanten nicht nur die Garantie abgeben, sondern sich auch den Kreditauflagen und sonstigen Bestimmungen des Kreditvertrags unterwerfen, indem sie den Kreditvertrag unterzeichnen oder später beitreten und so Vertragspartei sind bzw. werden. 158 Eine Bürgschaft nach §§ 765 ff. BGB ist aufgrund ihrer akzessorischen Natur das schwächere Sicherungsmittel. S. hierzu etwa Habersack in MünchKomm/BGB, Vorbem. § 765 Rz. 20. 159 Die Investment Grade LMA German Law Vorlage sieht eine ausdrückliche Klarstellung vor, dass die Garantie keine Garantie auf erstes Anfordern ist und es dem Garanten daher nicht verwehrt ist, trotz Erhalt einer schriftlichen Zahlungsaufforderung unter der Garantie Einreden und Einwendungen geltend zu machen.
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E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster
Rz. 4.142 Kap. 4
um einen Verstoß gegen gesellschaftsrechtliche oder sonstige auf den jeweiligen Garanten anwendbare zwingende Vorschriften zu vermeiden.160 Bei ausländischen Garanten muss für das Recht eines jeden Garanten eine spezifische Limitation Language eingefügt werden. K Section 8 – Representations, Undertakings and Events of Default
4.139
25. Representations Clause 25 enthält eine umfangreiche161 Liste von Zusicherungen, durch die der Kreditnehmer und alle anderen Verpflichteten zahlreiche Bestätigungen zu ihrer eigenen Beschaffenheit, zu den Finanzierungsdokumenten, der Unternehmensakquisition und den im Zusammenhang mit der Transaktion zur Verfügung gestellten Informationen abgeben. Hierdurch wird die Geschäftsgrundlage der Kreditgewährung und Belassung dokumentiert und der Kreditnehmer gezwungen, die Richtigkeit der Annahmen der Kreditgeber, die in den vertraglich vorgesehenen Zusicherungen zum Ausdruck kommen, zu überprüfen. In der Akquisitionsfinanzierung sind typischerweise die Representations zur Beschaffenheit der Zielgesellschaften, zur Vollständigkeit und Korrektheit der auf sie bezogenen Due-Diligence-Berichte und zum Geschäftsplan des Sponsors besonders verhandlungsintensiv.162 Die Zusicherungen werden nicht nur einmalig zum Beginn der Finanzierung (Abschluss des Kreditvertrags bzw. erstmalige Ausreichung der Kredite) abgegeben, sondern müssen – sofern sie besonders fundamentale Sachverhalte wie die gesellschaftsrechtliche Verfassung des Kreditnehmers und der anderen Verpflichteten oder die essentiellen Bestimmungen der Finanzierung betreffen – regelmäßig während der Laufzeit der Kredite wiederholt werden.163
4.140
Die Folge der Abgabe einer unrichtigen Zusicherung164 ist das Entstehen eines außerordentlichen Kündigungsgrunds.165
4.141
26. Information Undertakings Clause 26 enthält die Vorschriften zur Lieferung von Finanz- und sonstigen Informationen zur Kreditnehmergruppe. Neben den Jahresabschlüssen (konsolidiert für die Gruppe, zusätzlich üblicherweise auch die Einzelabschlüsse der Obligors [also aller Kreditnehmer und Garantiegeber]) ist die Vorlage der konsolidierten Quartalsberichte166 vorgesehen, auf deren Grundlage die Einhaltung der Finanzkennzahlen geprüft wird.167 Monatsberichte sind nur
160 S. hierzu Rz. 4.92. 161 Insgesamt 31 Tatbestände mit teils zahlreichen Unterabsätzen. 162 S. insbesondere die Representations in Clause 25.12 (No misleading information) und Clause 25.13 (Financial Statements). 163 Mit Inanspruchnahme eines Kredits, mit Wahl einer neuen Zinsperiode, beim Beitritt eines neuen Verpflichteten und zu anderen kreditmateriellen Anlässen. S. im Einzelnen die Begriffsdefinition „Repeating Representations“ im LBO LMA sowie zu den Zeitpunkten der Wiederholung Clause 25.33 (Times when representations made). 164 Im Jargon als „misrep“ bezeichnet. 165 Clause 29.4 (Misrepresentation). Zu den Besonderheiten bei den Repeating Representations etwa Ingenhoven in Jesch/Striegel/Boxberger, Rechtshandbuch Private Equity, § 12 S. 273 Fn. 1036. 166 Zu den Unterschieden zwischen Quartalsberichten und Quartalsmitteilungen s. Ahr/Loitz/Seidel, Informationsvermittlung durch Quartalsberichterstattung – wachsender Trend zur Quartalsmitteilung, BB 2017, 1451 ff. 167 In Corporate-Finanzierungen teils auch halbjährlich.
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4.142
Kap. 4 Rz. 4.143
Akquisitionsfinanzierung
in Leveraged-Finanzierungen üblich. Die regelmäßige Information zum Zustand und der Entwicklung der Kreditnehmergruppe ist für Kreditgeber extrem wichtig, insbesondere in Leveraged-Finanzierungen mit hohen Verschuldungsgraden. Zum regelmäßigen financial reporting gehört auch ein jährliches Budget, also ein Geschäftsplan für jedes neue Geschäftsjahr, welches oft auch einen 3-Jahres-Zeitraum abdeckt.168 Komplettiert werden die regelmäßigen Informationspflichten durch weitere Informationsansprüche der Kreditgeber für konkrete Vorgänge (z.B. die Einreichung von Klagen gegen eine Gruppengesellschaft, die eine wesentlich nachteilige Auswirkung auf das Kreditverhältnis haben kann) und einen Auffangtatbestand für aufsichtsrechtlich erforderliche oder sonst üblicher Bankpraxis entsprechende Informationsbegehren. 27. Financial Covenants
4.143 Die Finanzkennzahlen (englisch Financial Covenants) sind bei Kreditnehmern gefürchtet und bei Kreditgebern begehrt, weil sie – anders als klassische Kreditauflagen, die an das Verhalten des Kreditnehmers anknüpfen – objektiv auf die Verfassung der Kreditnehmergruppe abstellen und nur mittelbar vom Kreditnehmer beeinflusst werden können. Laufen die Geschäfte schlecht, wird sich das in schlechteren Finanzrelationen niederschlagen, und ist die negative Entwicklung wesentlich genug, kann die vertraglich vorgegebene Finanzkennzahl unter Umständen nicht mehr eingehalten werden. Die Konsequenz der Nichteinhaltung der Finanzkennzahl ist die Entstehung eines außerordentlichen Kündigungsrechts für die Kreditgeber, das in der Praxis zwar nur selten sofort zur Fälligstellung der Kredite genutzt wird. Ein Event of Default gibt den Kreditgebern aber eine Vielzahl von Rechten unterhalb der Schwelle einer Fälligstellung der Kredite,169 die die Machtverhältnisse innerhalb der Finanzierungsstruktur wesentlich zugunsten der Kreditgeber verschieben.170
4.144 Die Art der Finanzkennzahl, die in den Kreditvertrag aufgenommen wird, hängt stark von der Art der Finanzierung (insbesondere Leveraged oder Corporate), der Beschaffenheit des Kreditnehmers, den Anforderungen der angesprochenen Kreditgeber und natürlich dem jeweils aktuellen Marktumfeld ab.
168 Der Kreditnehmer ist dann meist gehalten, in den Quartalsberichten die tatsächliche Performance der Gruppe mit dem entsprechenden Vorjahreszeitraum sowie der Planung im Budget zu vergleichen. 169 Die Kreditgeber werden in vielen Situationen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gehalten sein, nicht gleich sämtliche Kredite fällig zu stellen; dies sollte die ultima ratio sein, zumal die sofortige Kündigung ohnehin meist unweigerlich zur Insolvenz des Kreditnehmers und damit zu erheblichen Ausfällen bei den Kreditgebern führen wird. S. hierzu etwa Diem, Akquisitionsfinanzierungen, § 23 Rz. 27; Mansel in Jauernig, BGB, § 242 Rz. 32 ff.; Schubert in MünchKomm/BGB, § 242 Rz. 202 ff. und Sutschet in BeckOK/BGB, § 242 Rz. 47 ff. 170 Der anwendbare Zinssatz erhöht sich, neue Kreditausreichungen unter revolvierenden und sonst noch nicht voll gezogenen Kreditlinien können verweigert werden, vertragliche Erlaubnisse für z.B. Unternehmensakquisitionen, Dividendenzahlungen oder sonstige mit einer Erhöhung des Kreditrisikos behaftete Transaktionen werden suspendiert, weitere engmaschige Informationsrechte der Kreditgeber entstehen; auch Teilkündigungen von ausstehenden Beträgen oder ungenutzten Linien können ausgesprochen werden (ohne vollständige Beendigung des Kreditvertrags) etc.
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E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster
Rz. 4.147 Kap. 4
Die wichtigste Kennzahl, die Grundlage für viele Financial Covenants ist, ist das operative 4.145 Ergebnis, der sog. EBITDA. Dies ist die übliche Abkürzung für Earnings Before Interest, Tax, Depreciation and Amortisation, zu Deutsch: „Gewinn vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen auf Sachanlagen und Abschreibungen auf immaterielle Vermögensgegenstände“. Für die am häufigsten verwendete Finanzrelation, den Nettoverschuldungsgrad (Leverage Ratio), wird der EBITDA zur Nettofinanzverschuldung (Total Net Debt)171 ins Verhältnis gesetzt. Auch für den Zinsdeckungsgrad und den Schuldendienstdeckungsgrad (zu den Begrifflichkeiten s. die folgende Tabelle) bildet das als EBITDA ausgedrückte operative Ergebnis der Gruppe die Grundlage. Sinkt die Ertragskraft des Unternehmens, verschlechtert sich die Finanzrelation, wenn nicht gleichzeitig die Vergleichsgröße (z.B. die Nettoverschuldung oder der Schuldendienst) ebenfalls proportional abnimmt. Wird der Puffer172 zwischen der tatsächlich gemessenen Finanzrelation und dem vertraglich vorgeschriebenen Level aufgebraucht, kommt es unweigerlich zum Financial Covenant Breach mit den oben beschriebenen Folgen. Der einmal eingetretene Bruch der Finanzkennzahl kann unter Umständen durch den Einschuss von Eigenkapital oder nachrangigen Gesellschafterdarlehen geheilt werden, wenn dies als sog. Equity Cure Right vertraglich vereinbart ist.173 Sofern dem Kreditnehmer die neuen Eigenmittel innerhalb eines kurzen Zeitfensters nach Offenlegung der Nichteinhaltung der Finanzkennzahl zufließen174 und die nicht eingehaltene Finanzkennzahl bei Neuberechnung unter Einbeziehung der neuen Mittel eingehalten ist, ist der Financial Covenant Breach geheilt und gilt als nicht aufgetreten. Da die Finanzkennzahlen die Aufgabe haben, die operative Ertragskraft der Gruppe zu messen, ist die Einhaltung nach einem Equity Cure natürlich künstlich, weshalb sein Einsatz vertraglich begrenzt wird.175 In Corporate-Finanzierungen werden zusätzlich zum Nettoverschuldungsgrad und zum Zinsdeckungsgrad häufig Eigenkapital-Kennzahlen eingesetzt.
4.146
Die folgende Tabelle enthält eine Übersicht der in der Akquisitionsfinanzierung wichtigsten Finanzkennzahlen:
4.147
171 Nettofinanzverschuldung sind die Finanzverbindlichkeiten eines Unternehmens abzgl. seiner liquiden Mittel. Der Bruttoverschuldungsgrad ist als Finanzkennzahl selten. Die sog. Leverage Guidelines (Guidance on Leveraged Transactions) der EZB (dazu Rz. 4.32 Fn. 36) stellen hingegen auf den Bruttoverschuldungsgrad ab (s. Fn. 6 zu „Total Debt“ in Teil 3 Definition of Leveraged Transactions der EZB Guidance), was den betroffenen Banken den Umgang mit den Guidelines erheblich erschwert. 172 So genannter Headroom. 173 In Leveraged Finanzierungen bedingen sich Sponsoren dieses Recht fast ausnahmslos aus. In Corporate-Finanzierungen fehlt es schon oft an einem starken Gesellschafter, der kurzfristig Kapital nachschießen könnte; Equity Cure-Rechte sind daher in Corporate-Finanzierungen sehr selten. 174 Meist ein Zeitfenster von ca. einem Monat nach Vorlage des relevanten Compliance Certificates. 175 Equity Cures dürfen üblicherweise nicht in aufeinander folgenden Quartalen eingesetzt werden und nicht öfter als eine zu vereinbarende maximale Anzahl. Zu Equity Cures s. auch Knepper in Meyer-Sparenberg/Jäckle, Beck’sches M&A-Handbuch, § 16 Rz. 45 f. sowie Ingenhoven in Jesch/Striegel/Boxberger, Rechtshandbuch Private Equity, § 12 S. 279.
Ingenhoven/Eisen
309
Kap. 4 Rz. 4.147
Akquisitionsfinanzierung
Name/Synonym
Berechnung
Verwendung
Nettoverschuldungsgrad Leverage Ratio Total Leverage Ratio
Verhältnis von Nettofinanzverschuldung (Total Net Debt) der Gruppe zu konsolidiertem EBITDA
In fast allen Akquisitionsfinanzierungen unabhängig von ihrer Prägung als Leveraged oder Corporate. In mehrschichtigen Finanzierungen teils auch differenziert nach Rangklassen (also z.B. Total Leverage Ratio für die Gesamtverschuldung, Senior Leverage Ratio zur Messung der erstrangigen Verschuldung). In High Yield Bond- und Term Loan B-Dokumentationen wird für den Springing Financial Covenant176 i.d.R. die Senior Secured Leverage Ratio gemessen, also nur erstrangig besicherte Finanzverbindlichkeiten berücksichtigt.
Zinsdeckungsgrad Interest Cover
Verhältnis von konsolidiertem EBITDA zu Finanzierungsaufwendungen (Net Finance Charges)
Ursprünglich in vielen Akquisitionsfinanzierungen unabhängig von ihrer Prägung als Leveraged oder Corporate enthalten. In den letzten Jahren seltener.
Schuldendienstdeckungsgrad Cashflow Cover Fixed Charge Cover
Verhältnis von Cashflow zu Schuldendienst (Debt Service)
Ursprünglich in vielen Akquisitionsfinanzierungen unabhängig von ihrer Prägung als Leveraged oder Corporate enthalten. In den letzten Jahren seltener. Wird Teilweise in High Yield Bond und Term Loan B-Dokumentationen als zusätzlicher incurrence-based financial covenant für die Aufnahme weiterer nachrangiger Finanzverschuldung verwendet.
Investitionsbudget Capital Expenditure
Festschreibung eines jährlichen Investitionsbudgets. Meist versehen mit Flexibilisierungen (Möglichkeit des Vortrags nicht genutzter Teile in das Folgejahr, Vorziehen von Teilbeträgen des Folgejahres, pauschale Anhebung bei größeren Add-on Akquisitionen)
Ursprünglich in vielen Akquisitionsfinanzierungen unabhängig von ihrer Prägung als Leveraged oder Corporate enthalten. In den letzten Jahren seltener.
176 S. Rz. 4.143.
310
Ingenhoven/Eisen
E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster
Rz. 4.148 Kap. 4
Name/Synonym
Berechnung
Verwendung
Eigenkapitalquote Equity Ratio
Verhältnis von Eigenkapital zu Bilanzsumme (ausgedrückt als Prozentsatz)
Corporate-Finanzierungen.177 Die Eigenkapitalquote ist der gebräuchlichste Equity-Covenant.
Verschuldungsgrad178 Gearing
Verhältnis von Finanzverschul- Corporate-Finanzierungen. dung zu Eigenkapital
Minimum Equity
Absoluter Betrag an Eigenkapi- Corporate-Finanzierungen. tal
Tangible Net Worth
Absoluter Betrag an Eigenkapi- Corporate-Finanzierungen. tal, berechnet nach Abzug von immateriellen Vermögenswerten wie Patente, Urheberrechte und andere Immaterialgüterrechte
Die Einhaltung der Finanzkennzahlen wird während der Laufzeit des Kreditvertrags regelmäßig geprüft, in den meisten Fällen rollierend zu jedem Quartalsende, in Corporate-Finanzierungen vereinzelt auch halbjährlich oder jährlich.179 Flussgrößen wie EBITDA, Zinsaufwendungen oder Finanzierungsaufwendungen werden jeweils für den am Quartalsstichtag endenden 12-Monats-Zeitraum gemessen,180 die Nettoverschuldung statisch zum Quartalsstichtag.181 Die Einhaltung der vorgeschriebenen Finanzrelation muss durch den Kreditnehmer zusammen mit der Vorlage der Quartals- und Jahresabschlüsse für den jeweiligen Zeitraum bestätigt werden. Da die Finanzkennzahlen unabhängig vom Verhalten der Kreditnehmergruppe eingehalten und turnusgemäß geprüft werden, handelt es sich um sog. „maintenance financial covenants“. Der Gegensatz hierzu sind „incurrence-based financial covenants“, die nur anlässlich der Durchführung einer kreditmateriellen Transaktion eingehalten und geprüft werden müssen.182 Incurrence-based financial covenants werden in Unternehmensanleihen, High Yield Bonds und Zwitterprodukten wie Term Loan B-Finanzierungen eingesetzt (s. hierzu im Einzelnen Rz. 4.69), während traditionelle Kreditvertragsfinanzierungen ausnahmslos maintenance financial covenants beinhalten.183 177 In Corporate-Finanzierungen wird größerer Wert auf ein angemessenes Eigenkapital gelegt. Insgesamt spielen Eigenkapital-Covenants in der Akquisitionsfinanzierung eine eher untergeordnete Rolle. 178 Bei der Verwendung dieses Begriffs besteht eine Verwechslungsgefahr mit der in der Akquisitionsfinanzierung viel häufiger verwendeten Leverage Ratio. 179 Der Capital Expenditure-Covenant, der ein jährliches Investitionsbudget vorgibt, wird seiner Natur nach nur jährlich getestet. 180 So genannte LTM-Basis (dies steht für „Last Twelve Months“). 181 Die Bildung von Durchschnittswerten, etwa der Verschuldung zu den letzten drei und des aktuellen Quartalsstichtages, ist äußerst selten. Müssen Finanzverbindlichkeiten in Fremdwährung in Euro umgerechnet werden, kommt regelmäßig ein durchschnittlicher Währungskurs zur Anwendung, um die Volatilität der Währungen etwas abzufedern. 182 Z.B. die Aufnahme weiterer Finanzverbindlichkeiten, die Durchführung einer großen Unternehmensakquisition oder die Zahlung einer Dividende an Gesellschafter außerhalb der Kreditnehmergruppe. 183 Allerdings in den letzten Jahren mit einer Tendenz zur Auflockerung der Anforderungen, s. oben zu Covenant Loose- und Covenant Lite-Finanzierungen Rz. 4.45.
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311
4.148
Kap. 4 Rz. 4.149
Akquisitionsfinanzierung
28. General Undertakings
4.149 Operatives Herzstück des Kreditvertrags sind die allgemeinen Kreditauflagen in Clause 28. Sie reglementieren für die Laufzeit der Kredite das Verhalten der Kreditnehmergruppe durch Handlungspflichten (Positive Undertakings)184 und Verbote (Negative Undertakings). Der Regelungsanspruch der Kreditauflagen ist allumfassend: Sachlich wird der gesamte Geschäftsbetrieb der Gruppe abgedeckt,185 persönlich beanspruchen die Kreditauflagen Gültigkeit für die gesamte Gruppe, indem die Kreditnehmer und Garanten, die den Kreditvertrag als Vertragspartei unterzeichnen oder ihm beitreten, dafür Sorge zu tragen haben, dass sich auch ihre jeweiligen direkten und indirekten Tochtergesellschaften den Vorgaben des Kreditvertrags entsprechend verhalten. Der umfassende Geltungsanspruch dieser Undertakings spiegelt sich in ihrer Regelungstechnik wider: Die jeweilige geschäftliche Maßnahme wird generisch beschrieben und umfassend untersagt. In einem zweiten Schritt werden als Ausnahme vom Verbot detailliert ausformulierte Erlaubnistatbestände zugelassen, unter die die Geschäftsvorgänge der Gruppe zu subsumieren sind. Liegt kein Erlaubnistatbestand vor oder „passt“ ein grds. vorhandener Erlaubnistatbestand nicht, ist die Maßnahme untersagt und darf nicht durchgeführt werden. Diese Vertragstechnik birgt ein hohes Risiko, dass legitime und vielleicht sogar zwingend gebotene geschäftliche Maßnahmen durch die Gruppe ohne vorherige Zustimmung der Kreditgeber186 nicht umgesetzt werden können.187
4.150 Die wohl wichtigsten Kreditauflagen sind die Verbote von Unternehmensakquisitionen,188 der Bestellung dinglicher Sicherheiten,189 der Veräußerung von Vermögensgegenständen,190 der Aufnahme von Finanzverbindlichkeiten,191 der Ausstellung von Garantien192 und Ausreichung von Darlehen193 sowie das Verbot, Dividenden oder andere Zahlungen an die Gesellschafter der Gruppe zu leisten.194 Der Verhandlungsschwerpunkt liegt in der Praxis der Leveraged-Finanzierungen auf der Vereinbarung möglichst zahlreicher und weitgehender Erlaubnistatbestände, durch die die Verbote abgeschwächt und durchbrochen werden.195 Bei Corporate- und Cross Over-Finanzierungen tritt neben die Aushandlung von weitrei184 So beispielsweise die Verpflichtung zur Einhaltung zwingender gesetzlicher Vorschriften, zur Unterhaltung eines angemessenen Versicherungsschutzes oder zum Abschluss angemessener Zinssicherungsgeschäfte (Hedging) zur Absicherung des aus den Krediten erwachsenden Zinsänderungsrisiken. 185 Clause 28 enthält insgesamt 41 separate Unterabsätze, die ihrerseits teils mehrere Auflagen enthalten. 186 So genannter waiver, s. hierzu Rz. 4.172. 187 Um ein Beispiel zu bilden: Clause 28.17 (Disposals) untersagt allen Mitgliedern der Kreditnehmergruppe über irgendeinen ihrer Vermögensgegenstände zu verfügen. „Vermögensgegenstand“ ist dabei weit formuliert und umfasst „present and future properties, revenues and rights of every description“ (s. die Auslegungsregel in Clause 1.2 [Construction]), mithin auch Bargeld und Giralgeld in Bankkonten. Es liegt auf der Hand, dass ohne weitreichende und passende Erlaubnistatbestände kein Kreditnehmer seinen Geschäftsbetrieb ohne Verstoß gegen den Kreditvertrag aufrechterhalten könnte. 188 Clause 28.9 (Acquisitions). 189 Clause 28.16 (Negative pledge). 190 Clause 28.17 (Disposals). 191 Clause 28.24 (Financial Indebtedness). 192 Clause 28.20 (No guarantees or indemnities). 193 Clause 28.19 (Loans or credit). 194 Clause 28.21 (Dividends and share redemption). 195 Im LBO LMA die sog. „Permitteds“ in Clause 1.2, dort etwa Permitted Acquisition, Permitted Disposal, Permitted Financial Indebtedness, Permitted Security etc.
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E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster
Rz. 4.152 Kap. 4
chenden Erlaubnissen auch die Verringerung der Kreditauflagen insgesamt196 sowie in der Einengung der in den jeweiligen Kreditauflagen enthaltenen Verbote.197 Sind zum Zeitpunkt der Erstellung und des Abschlusses der Kreditvertragsdokumentation die Voraussetzungen für eine weitergehende, kreditnehmerfreundliche Flexibilisierung noch nicht gegeben, aber geplant und zu erwarten, wird mitunter das Konzept der Release Condition198 vereinbart. Bei Erfüllung der Release Condition sind bestimmte Kreditauflagen199 nicht mehr anwendbar, Freibeträge in den Erlaubnistatbeständen werden erhöht und auch sonstige strenge Kreditbedingungen werden modifiziert oder suspendiert.200 Als Bedingung können Finanzrelationen vereinbart werden,201 ein externes Investment Grade Rating202 oder bestimmte Ereignisse, wie beispielsweise ein Börsengang. Stellt die Release Condition auf eine positive Finanzverfassung ab (also z.B. ein geringer Nettoverschuldungsgrad oder ein gutes Rating), ist ihre Wirkung in aller Regel nur suspensiv so lange, wie die Release Condition erfüllt ist. Bei ereignisbezogenen Erleichterungen für einen IPO ist die Wirkung meist endgültig. Durch das Release Condition-Konzept kann in geeigneten Fällen ein fließender Übergang von einer Leveraged-Dokumentation zu einer Cross Over-Dokumentation bis hin zu einer Corporate-Dokumentation ermöglicht werden. Ein Verstoß gegen eine Kreditauflage begründet einen außerordentlichen Kündigungsgrund (Event of Default, dazu Rz. 4.152), welcher die Kreditgeber nach Ablauf einer Heilungsfrist von ca. 10 bis 20 Bankarbeitstagen zur Kündigung der Kredite berechtigt.203
4.151
29. Events of Default Die Events of Default beschreiben Umstände, bei deren Auftreten die Kreditgeber204 die Kredite außerordentlich kündigen können.205 Die Kündigungsgründe stellen die vertragsauto196 Der Investment Grade LMA beinhaltet gerade einmal sechs General Undertakings (s. Clause 22). 197 Das generelle Verbot der Sicherheitenbestellung (Negative Pledge) wird z.B. bei starken Kreditnehmern auf das Verbot der Besicherung von Finanzverbindlichkeiten beschränkt und das Verbot der Veräußerung von Vermögensgegenständen wird teilweise auf Gegenstände des Anlagevermögens eingeengt. 198 Teils auch als Suspension Condition, Suspension Trigger, Fall-away Event oder ähnlich bezeichnet. 199 Z.B. die Verbote der Aufnahme von Finanzverbindlichkeiten, der Ausstellung von Garantien, der Gewährung von Darlehen. 200 Z.B. Wegfall von bestimmten Financial Covenants, Wegfall von Pflichtsondertilgungen der Kredite aus bestimmten Mittelzuflüssen, Freigabe von Sicherheiten etc. 201 Meist ein geringer Nettoverschuldungsgrad, der für eine Corporate-Finanzierung adäquat wäre (i.d.R. unter 3,00:1). 202 Ab BBB- oder besser in der Nomenklatur von Standard & Poor’s. 203 Theoretisch könnte die Einhaltung einer Kreditauflage auch mit einer Leistungsklage erzwungen und notfalls mit einer einstweiligen Verfügung im vorläufigen Rechtsschutz durchgesetzt werden. Aufgrund der meist drastischen Konsequenzen einer Kündigung der Kredite spielt die klageweise Durchsetzung von Kreditauflagen in der Praxis aber kaum eine Rolle. 204 Die Kündigung wird durch den Agenten auf Anweisung der erforderlichen Mehrheit der Kreditgeber (sog. Majority Lenders, üblicherweise zwei Drittel der Gesamtkreditzusagen, dazu auch Rz. 4.172) erklärt. Ohne vorherige Anweisung der qualifizierten Kreditgebermehrheit kann der Agent eine außerordentliche Kündigung nur ausnahmsweise bei Gefahr im Verzug aussprechen, was in der Praxis extrem selten ist. 205 Da eine vollumfängliche Kündigung der Kredite bei vielen größeren Krediten fast unweigerlich zur Zahlungsunfähigkeit der Kreditnehmer führt, ist eine solche Kündigung in der Praxis eher
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4.152
Kap. 4 Rz. 4.153
Akquisitionsfinanzierung
nome Ausgestaltung eines wichtigen Grundes im Sinne des BGB dar.206 Der Katalog der Kündigungsgründe ist in aller Regel umfassend und beinhaltet neben einem Kernbereich, der grds. in jedem Kreditvertrag enthalten ist (Zahlungsverzug, Verletzung der Finanzkennzahlen, Verstoß gegen Kreditauflagen, Abgabe unrichtiger Zusicherungen, Drittverzug mit anderen Finanzverbindlichkeiten (Cross Default), Auftreten von Insolvenzgründen und Einleitung von Insolvenzverfahren,207 die Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen, die rechtliche Unmöglichkeit für einen Kreditnehmer oder Garanten sowie die Ablehnung der Vertragserfüllung durch einen Verpflichteten) oft noch weitere Sachverhalte (so etwa eine eingeschränktes Testat durch den Wirtschaftsprüfer der Gruppe, die Geschäftsaufgabe durch wesentlich Gruppengesellschaften und die Einleitung von wesentlichen Gerichts- und ähnlichen Verfahren gegen Gruppenmitglieder, die eine wesentlich nachteilige Auswirkung auf die Kreditnehmergruppe haben können)208 sowie einen Auffangtatbestand, der eine vertragliche Entsprechung des § 490 Abs. 1 BGB ist.209 In deutschen Kreditverträgen wird die Geltung des § 490 Abs. 1 BGB neben dem vertraglichen Katalog der Kündigungsgründe nur in seltenen Fällen ausgeschlossen, so etwa punktuell im Rahmen von Certain Funds (dazu Rz. 4.80), um die anfängliche Ausreichung der Kredite zur Kaufpreiszahlung nicht zu gefährden) oder bei Corporate Kreditverträgen für sehr starke Investment Grade-Kreditnehmer.
4.153 Um den Besonderheiten der Akquisitionsfinanzierung und dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Kreditnehmer auch nach Closing des Unternehmenskaufs noch eine Weile benötigen wird, um die Zielgruppe vollständig zu durchdringen und sicherzustellen, dass sie sich den Anforderungen des Kreditvertrags entsprechend verhält, wird in moderneren Dokumentationen eine sog. Clean-up Period von je nach Größe und Internationalität der Gruppe ca. 3–6 Monaten eingeräumt, innerhalb derer unter bestimmten Umständen Verstöße gegen den Kreditvertrag, die allein aus der Zielgruppe entstehen, nicht zu einem Kündigungsgrund der Kreditgeber führen, sofern die relevanten Missstände vor Ablauf Clean-up Period bereinigt werden.210
206 207
208 209 210
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selten. Das Vorliegen eines Event of Default wird eher dazu verwendet, den Kreditnehmer durch Androhung der Kündigung, durch gezielt eingesetzte Teilkündigungen (etwa nicht ausgenutzter Teile der Kreditzusagen), durch Verweigerung weiterer Auszahlungen (z.B. unter der revolvierenden Kreditfazilität) und durch sonstige, im Kreditvertrag angelegte Nachteile für den Kreditnehmer (automatische Margenerhöhung (Anwendung der höchsten Margenstufe unabhängig vom Nettoverschuldungsgrad), Verbot von Unternehmensakquisitionen, sonstiges Einengen des operativen Spielraums des Kreditnehmers) an den Verhandlungstisch zu zwingen. S. bereits zu den Financial Covenants Rz. 4.143. §§ 314 BGB in seiner speziellen Ausprägung für den Darlehensvertrag in § 490 Abs. 1 BGB. Zur insolvenzrechtlichen Problematik sog. insolvenzabhängiger Lösungsklauseln s. insbesondere das Grundsatzurteil des BGH vom 15.11.2012 – IX ZR 169/11, abgedruckt in MDR 2013, 372 = NJW 2013, 1159 ff., bestätigt durch BGH v. 5.11.2015 – I ZR 76/11, MDR 2016, 785 = NJW 2016, 2338 ff. Die Wirksamkeit von insolvenzabhängigen Lösungsklauseln in Darlehensverträgen ist noch nicht abschließend geklärt, s. Huber in MünchKomm/InsO, § 119 Rz. 37 ff.; Obermüller, ZInsO 2013, 476 (478 f.) sowie Berberich in Fridgen/Geiwitz/Göpfert, BeckOK InsO, § 119 Rz. 18 ff. S. im Einzelnen Clause 29 des LBO LMA. Vgl. den Kündigungsgrund in Clause 29.19 des LBO LMA sowie die vertragliche Definition von „Material Adverse Effect“. S. Clause 29.21 (Clean-Up Period). In Fortentwicklung dieses Konzepts wird diese vertragliche Abfederung nicht nur für den anfänglichen Unternehmenskauf angewendet, sondern auch für Add-on-Akquisitionen während der Laufzeit der Kredite eingeräumt.
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E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster
Rz. 4.157 Kap. 4
K Section 9 – Changes to Parties
4.154
30. Changes to the Lenders Clause 30 beinhaltet die sehr wichtigen Regelungen zur Übertragung der Kredite211 an andere Kreditgeber. Dies ist relevant für Übertragungen im Rahmen der anfänglichen Syndizierung212 der Kredite unmittelbar nach Unterzeichnung des Kreditvertrags oder erstmaliger Ausreichung sowie für spätere Übertragungen während der Laufzeit. Für Kreditgeber ist die Fähigkeit, sich von Krediten unter Umständen zu trennen, ein wichtiges Instrument der Risikosteuerung, während der Kreditnehmer in aller Regel Wert darauf legt, seine Kreditgeber zu kennen und ein gewisses Maß an Kontrolle über die Zusammensetzung des Konsortiums zu haben. Ein Zustimmungsvorbehalt für den Kreditnehmer und die Ausnahmen von dem Erfordernis der Zustimmung sind in der aktuellen Akquisitionsfinanzierungspraxis ein hart umkämpfter Teil des Kreditvertrags.213
4.155
31. Restriction on Debt Purchase Transactions Die Beschränkungen der Debt Purchase Transactions sind als Reaktion auf das Phänomen der sog. Debt Buy-Backs eingeführt worden. Im Zuge der Finanzkrise wurden selbst Kredite, die nicht notleidend waren, teils erheblich unter ihrem Nennwert verkauft, so dass sich Kreditnehmer durch den Rückkauf ihrer eigenen Finanzschulden günstig entschulden konnten.214 Die Praxis wählt hier üblicherweise nicht den Weg, derartige Debt Buy-Backs kategorisch zu untersagen, sondern sieht ein vertragliches Regime vor, welches Transparenz gewährleisten und Interessenkonflikte adressieren soll.
4.156
32. Changes to the Obligors Clause 32 regelt den Beitritt von Gruppenmitgliedern als weitere Garanten und Kreditnehmer.215
211 Meist durch Vertragsübernahme, seltener durch die bloße Abtretung von Zahlungsansprüchen. Im englischen Recht wird häufig durch Novation (also eine Schuldumschaffung) übertragen, was zu Problemen bei akzessorischen Kreditsicherheiten führen kann. 212 Primary Syndication. 213 Der LBO LMA sieht als Modul weiterhin auch die bloße Konsultation des Kreditnehmers vor einer Übertragung vor (s. die erste Alternative in Clause 30.2 (Parent consultation). Anders der Investment Grade LMA, s. Clause 24.2(a)). In Leveraged-Finanzierungen dürfte der Zustimmungsvorbehalt mittlerweile der Regelfall sein. 214 Ebenso war es für die Sponsoren attraktiv, die Schulden ihrer Portfoliogesellschaften unter par zu erwerben (bei deutschen Kreditnehmern allerdings mit der Gefahr eines insolvenzrechtlichen Nachrangs nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO behaftet). 215 Dies wird regelmäßig relevant beim Beitritt von Mitgliedern der Zielgruppe nach Vollzug des Unternehmenskaufs, s. Rz. 4.88. Wichtig ist auch die auch die Entlassung von Verpflichteten aus ihrer Haftung und Stellung als Vertragspartei, etwa bei vertraglichen zulässigen Veräußerungen von Gesellschaften der Gruppe.
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4.157
Kap. 4 Rz. 4.158
Akquisitionsfinanzierung
4.158 K Section 10 – The Finance Parties 33. Role of the Agent, the Arranger, the Issuing Bank and Others
4.159 Die Section 10 des LBO LMA Vertrags enthält einen Teil der Konsortialbestimmungen, so insbesondere die Ernennung des Agenten,216 der als Beauftragter der Kreditgeber217 die Kreditfazilitäten verwaltet. Die Kreditgeber können dem Agenten durch Beschluss Anweisungen erteilen; umgekehrt hat der Agent das Recht, sich in Zweifelsfällen rückzuversichern und eine ausdrückliche Anweisung durch die Kreditgeber zu bestimmten Themen einzuholen. Daneben beinhalten die Konsortialbestimmungen umfängliche Vorschriften zum Schutz des Agenten, so insbesondere einen Haftungsausschluss für (einfache) Fahrlässigkeit, einen Anspruch auf Schadloshaltung gegen die Kreditgeber hinsichtlich der Kosten oder Haftungsfolgen, die sich aus seiner Tätigkeit als Agent ergeben, die Klarstellung, dass er für die Kreditvertragsdokumentation nicht verantwortlich ist etc.).
4.160 Neben den Vorschriften zur Agentschaft enthält Section 10 flankierende Regelungen zu besonderen Rollen von Finanzierungsparteien, so insbesondere des Arrangers,218 der Issuing Bank,219 der Ancillary Lenders220 sowie der Referenzbanken.221 Der Security Agent222 wird nicht im Kreditvertrag, sondern im Intercreditor Agreement oder einem separaten Security Agency Agreement ernannt und seine Tätigkeit geregelt.
4.161 Die in der Praxis gerade auch für den Kreditnehmer besonders wesentlichen Regelungen zu Abstimmungen im Konsortium und erforderlichen Mehrheiten sind in Clause 42 geregelt (dazu Rz. 4.172). 34. Conduct of Business by the Finance Parties
4.162 Clause 34 enthält eine Klarstellung, dass der Konsortialkreditvertrag das Verhalten und die Angelegenheiten der Finanzierungsparteien im Übrigen außerhalb der Kreditfazilitäten nicht zu regeln beansprucht. 216 In englischsprachigen Verträgen Agent oder Facility Agent, in deutschen Verträgen Agent, Fazilitätsagent, Verwaltungsstelle oder Konsortialführer. Der letztgenannte Begriff suggeriert eine Führungsrolle, die dem Agenten als beauftragter Verwalter der Kreditgeber eigentlich nicht zukommt. 217 Anders die Zahlstelle bei einem syndizierten Schuldschein, die Beauftragte des Kreditnehmers ist (s. Rz. 4.71). So ist der Agent zuständig für die Inempfangnahme von Erklärungen unter dem Kreditvertrag wie etwa Inanspruchnahmeschreiben, die Wahl von Zinsperioden, Ankündigungen von Rückzahlungen, Kündigungen und Vertragsänderungsanträgen und dergleichen; er führt die Bücher zu den Kreditbeteiligungen der Kreditgeber, berechnet Zinsen und Fälligkeitstermine, nimmt Zahlungen in Empfang und leitet sie den Vorgaben des Kreditvertrags entsprechend an die berechtigten Parteien weiter. 218 Der Arranger strukturiert und arrangiert den Konsortialkredit, hat aber im Übrigen keine besonderen Funktionen in der Kreditvertragsdokumentation. 219 Zu diesem Begriff Rz. 4.118 Fn. 147. 220 Hierzu Rz. 4.118. 221 Das sind die Konsortialbanken (oder auch Drittbanken), die Quotierungen zur Bildung des Referenzzinssatzes (s. Rz. 4.127) abgeben, wenn die gewählte öffentliche Referenzquelle (für den EURIBOR z.B. eine Internetseite von Thomson Reuters, die sog. Screen Rate) nicht zugänglich ist. 222 Seltener Collateral Agent; in deutschen Verträgen Sicherheitentreuhänder oder Sicherheitenagent.
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E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster
Rz. 4.169 Kap. 4
35. Sharing among the Finance Parties Technische Vorschriften zur (Um-) Verteilung von Leistungen unter den Finanzierungsdokumenten, die einzelne Kreditgeber direkt von der Kreditnehmergruppe in Abweichung von der Zahlungsmechanik des Konsortialkreditvertrags (geregelt in Section 11, insbesondere Clause 36, wonach alle Zahlungsströme über den Agenten laufen) erhalten haben.
4.163
K Section 11 – Administration
4.164
36. Payment Mechanics Technische Vorschriften zu Zahlungsströmen unter dem Kreditvertrag. Sämtliche Zahlungen werden über den Agenten abgewickelt, der sowohl Zahlungen der Kreditnehmer in Empfang nimmt und sie an die berechtigten Kreditgeber weiterleitet, wie auch umgekehrt Zahlungen von Kreditgebern, die sich entsprechend ihrer Kreditbeteiligung an jeder Ausreichung an die Kreditnehmer beteiligen müssen.
4.165
37. Set-Off Klarstellung, dass Kreditgeber zur Aufrechnung berechtigt sind. Im Kontext der Akquisitionsfinanzierung wird diese Berechtigung durch das Certain Funds-Konzept (s. Rz. 4.80) beschränkt, da eine Aufrechnungslage nicht dazu führen darf, dass zum Closing des Unternehmenskaufs die zugesagten Kredite nicht vollumfänglich zur Verfügung stehen. Umgekehrt wird die Aufrechnung durch den Kreditnehmer soweit rechtlich zulässig eingeschränkt.223
4.166
38. Notices Vertragliche Regelungen zur (auch elektronischen) Kommunikation der Vertragsparteien, zum Zugang und der Form von Willenserklärungen etc.
4.167
39. Calculations and Certificates Clause 39 enthält Beweisregelungen, wonach die Berechnungen und Bestätigungen von Beträgen durch eine Finanzierungspartei verbindlich sein sollen.224
4.168
Daneben enthält Clause 39 die Zinskonvention, die sog. Day Count Convention, zur Berechnung des taggenauen Zinses.225
4.169
223 Clause 36.7 des LBO LMA. Im Investment Grade LMA German Law (Clause 29.6) ist der Ausschluss den Vorgaben des deutschen Rechts entsprechend beschränkt („unless the counterclaim is undisputed or has been confirmed in a final non-appealable judgement“). Dies spiegelt die entsprechende Rechtsprechung des BGH zum Aufrechnungsausschluss (s. BGH v. 17.2.1986 – II ZR 285/84, MDR 1986, 733 = NJW 1986, 1757 ff.; zum Ganzen Wurmnest in MünchKomm/ BGB, § 309 Nr. 3 Rz. 1 ff.) wider. 224 Im deutschen Investment Grade LMA German Law als Beweis des ersten Anscheins bzw. als einseitiges Leistungsbestimmungsrecht ausgestaltet, welches nach billigem Ermessen auszuüben ist (Clause 32.2). 225 Im Euroraum ist die Berechnung auf Basis eines Jahres mit 360 Zinstagen gebräuchlich. Anders etwa bei Krediten in englischen Pfund, bei denen meist 365 Tage zugrunde gelegt werden. Zu Zinskonventionen allgemein s. Haag in Hoffmann-Becking/Gebele, Beck’sches Formularbuch
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Kap. 4 Rz. 4.170
Akquisitionsfinanzierung
40. Partial Invalidity
4.170 Clause 40 enthält eine übliche salvatorische Klausel zur Bewahrung des Vertrags im Übrigen bei teilweiser Unwirksamkeit.226 41. Remedies and Waivers
4.171 Hinter der etwas kryptischen Überschrift verbirgt sich eine Klarstellung zum Ausschluss von impliziten Rechtswirkungen bei nur teilweiser oder unterlassener Wahrnehmung von Rechten durch eine Finanzierungspartei. 42. Amendments and Waivers
4.172 Unter dieser Überschrift verbirgt sich mit den Mehrheitserfordernissen und Abstimmungsregelungen der Kreditgeber das Herzstück der Konsortialbestimmungen. Gerade bei großen, internationalen Konsortien ist die Entscheidungsfindung der Kreditgeber immens wichtig für den Erfolg einer Finanzierung, denn in den wenigsten Fällen wird diese zurückgezahlt, ohne dass es während der Laufzeit Anpassungen der Kreditvertragsbestimmungen, Verzichtserklärungen der Kreditgeber auf ihre Einhaltung (sog. Waiver) oder sonstige Änderungen geben würde. Anders als etwa ein Schuldscheindarlehen227 oder bilaterale Kredite kann der Konsortialkreditvertrag durch eine Mehrheitsentscheidung in wesentlichen Teilen an neue Verhältnisse angepasst werden, was ihn im Vergleich zu anderen Finanzierungsinstrumenten besonders flexibel macht.
4.173 Die Grundzüge der Mehrheitsbestimmungen können wie folgt zusammengefasst werden: – Majority Lenders:228 Entscheidungen der Kreditgeber werden grundsätzlich mit einer qualifizierten Mehrheit der Kreditgeber getroffen. Die Mehrheit beträgt ganz überwiegend zwei Drittel der Kreditbeteiligungen.229 – All Lender matters:230 Besonders kreditmaterielle Entscheidungen bedürfen der einstimmigen Zustimmung aller Kreditgeber. Hierfür ist ein abschließender Katalog von Einstimmigkeit erfordernden Belangen vorgesehen. – Super Majority Lenders: Die Freigabe von Garantien und Sicherheiten wird meist der Zustimmung einer besonders qualifizierten Mehrheit unterstellt.231
226 227 228 229 230 231
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Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, Darlehensvertrag zwischen Handelsgesellschaften Rz. 6. Zu den Anforderungen des deutschen Rechts s. Clause 33 im Investment Grade LMA German Law. Hierzu Rz. 4.71. Clause 42.2 (Required consents). Abgestellt wird also nicht pro Kopf auf jeden Kreditgeber, sondern auf die von den Kreditgebern gehaltenen Kreditbeteiligungen (die Summe aus ausgereichten Krediten und ungenutzten Kreditzusagen). Clause 42.3 (All Lender matters). Meist 85 % oder 80 % der Gesamtkreditzusagen. Entscheidungen zu Sicherheiten und Garantien durch die Super Majority Lenders (anstelle von Einstimmigkeit) haben sich im Markt weitgehend durchgesetzt. Im LBO LMA ist das Konzept Teil des Structural Adjustment (Clause 42.6 (Structural Adjustment)).
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E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster
Rz. 4.174 Kap. 4
– Structural Adjustment:232 Besonders kreditmaterielle Änderungen an der Struktur der Kreditfazilitäten wie eine Laufzeitverlängerung, Betragserhöhung, Währungsänderung, die Einführung einer neuen Kredittranche oder die Reduktion von Gebühren und Zinsen waren traditionell im Einstimmigkeitskatalog enthalten und konnten nur mit der Zustimmung aller Kreditgeber durchgeführt werden, und zwar selbst dann, wenn nicht alle Kreditgeber an der Änderung teilnahmen bzw. von ihr betroffen waren. Damit waren strukturelle Maßnahmen dieser Art oft nicht durchführbar, weil schon die Weigerung eines Kreditgebers mit einer nur kleinen Kreditbeteiligung genügte, um die Zustimmung des Konsortiums zu blockieren. Die Vertragspraxis hat daher das Konzept des Structural Adjustment233 entwickelt, durch das Strukturmaßnahmen der beschrieben Art mit der Zustimmung einer qualifizierten Kreditgebermehrheit234 und der teilnehmenden oder direkt betroffenen Kreditgeber235 ermöglicht werden.236 Structural Adjustment-Konzepte sind aus der Kreditvertragslandschaft nicht mehr wegzudenken und werden von Kreditnehmern in vielen Kredittransaktionen rege genutzt.237 – Individual Lender consent:238 Individuelle Rechte einer bestimmten Finanzierungspartei (etwa der Verwaltungsparteien Agent und Security Agent, eines Ancillary Lender etc.) dürfen nur mit ihrer Zustimmung geändert werden. – Class voting:239 Class voting ist ein recht neues Konzept, welches vereinzelt in Kreditverträgen mit vielen unterschiedlichen Kreditfazilitäten verwendet wurde und mittlerweile als Modul Einzug in den LBO LMA gehalten hat. Hierbei stimmt über Änderungen, die nur die Rechte einer bestimmten Kreditgebergruppe betreffen und keine negativen Auswirkungen auf andere Kreditgebergruppen haben, nur die betroffene Kreditgebergruppe ab. Aufgrund der Komplexität der Konsortialkreditverträge und der vielen Quer- und Folgewirkungen von Änderungen ist die praktische Relevant der Bestimmung eher gering geblieben. Die beschriebenen Mehrheitserfordernisse stellen die Anpassungsfähigkeit des Kreditvertrags auch bei großen Konsortien sicher und sind eines der großen Vorteile des Konsortialkreditvertrags.
232 Clause 42.6 (Structural Adjustment). 233 So der Begriff im LMA. Alternative Bezeichnungen sind etwa Facility Change oder Structural Change. 234 Zunehmend Majority Lenders, teilweise noch Super Majority Lenders. 235 Also beispielsweise die Kreditgeber, die sich an einer neuen Kredittranche beteiligen, deren Laufzeit verlängert oder deren Zinsmarge verringert wird. 236 Das LMA-Konzept in Clause 42.6 (Structural Adjustment) ist leider so komplex geraten, dass es in der Praxis, zumindest in seiner Reinform, kaum verwendet wird. 237 So hat es aufgrund der steten Verbesserungen des Zinsumfeldes und der vorhandenen Liquidität etliche sog. Repricing Transactions gegeben, bei denen die zu zahlende Zinsmarge verringert wurde. Bei einem Repricing wird den Kreditgebern angeboten, ihre bestehende Kreditbeteiligung in eine neue Kredittranche, die hierfür in den Kreditvertrag eingezogen wird, zu überführen (durch zahlungslose Umschaffung). Die neue Kredittranche ist niedriger verzinst. Erkennen Kreditgeber an, dass die Verzinsung der neuen Tranche marktgerecht ist und müssen sie befürchten, anderenfalls vorzeitig zurückgeführt zu werden, entschließen sie sich zumeist zur Teilnahme. 238 Clause 42.4 (Other exceptions). 239 Clause 42.4 (Other exceptions), Absatz (c).
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4.174
Kap. 4 Rz. 4.175
Akquisitionsfinanzierung
43. Confidential Information
4.175 Clause 43 beinhaltet eine ausführliche Vertraulichkeitsvereinbarung, wonach jede Finanzierungspartei verpflichtet ist, im Zusammenhang mit dem Kreditverhältnis erhaltene Informationen zu den Krediten und der Kreditnehmergruppe vertraulich zu behandeln.240 Die Verpflichtung zur Vertraulichkeit wird durch zahlreiche Ausnahmetatbestände qualifiziert, die in der Praxis zwingend erforderlich sind, so etwa für die Offenlegung an verbundene Unternehmen, Wirtschaftsprüfer und Berater der Finanzierungsparteien, andere Vertragsparteien, an Behörden und Gerichte oder an neue Kreditgeber oder Unterbeteiligte, die sich am Konsortialkredit beteiligen möchten. 44. Confidentiality of Funding Rates and Reference Bank Quotations
4.176 Besondere Regelungen zur Vertraulichkeit von Quotierungen, die von Kreditgebern im Zusammenhang mit einer Störungen bei der Zinsberechnung241 abgegeben werden. 45. Disclosure of Lender details by Agent
4.177 Technische Vorschriften zur Regelung der Frage, wer innerhalb des Konsortiums die Identität und die Einzelheiten der Kreditbeteiligung der anderen Kreditgeber erfahren darf. So kennen Kreditgeber in den meisten Konsortien weder die Identität der anderen Kreditgeber noch die Höhe deren Beteiligung. Der Kreditnehmer hat selbstverständlich das Recht, diese Details vom Agenten jeweils aktuell zur Verfügung gestellt zu erhalten. Gegenüber anderen Kreditgebern ist die Offenlegung nur unter bestimmten Umständen zulässig, so beispielsweise auf Wunsch des Kreditnehmers zur Vorbereitung einer Refinanzierung oder einer Vertragsänderung oder bei Zustimmung des jeweiligen Kreditgebers. 46. Counterparts
4.178 Clause 46 ist eine nur im englischen Recht relevante Vorschrift zum Vertragsschluss, wonach die Unterschriften der Vertragsparteien auch auf verschiedenen Exemplaren des Vertrags geleistet werden können. Diese Regelung ist in deutschen Verträgen nicht erforderlich.242 In deutschen Verträgen findet sich vielmehr eine technische Regelung zum Vertragsschluss durch telekommunikative Übermittlung (also durch Austausch von Faxschreiben oder Scans der unterschriebenen Dokumente per E-Mail).243
240 Die Vertraulichkeitsverpflichtung hat erst recht spät Eingang in die LMA Vertragsmuster gefunden. In früheren Kreditverträgen verließ sich die Vertragspraxis weitgehend auf das „Bankgeheimnis“ (zu diesem eher amorphen Konzept Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, AGB-Banken Rz. 1 ff.), was aber bei Kreditgebern, die keine Banken sind, aus naheliegenden Gründen nicht ausreichend ist. 241 S. zur Clause 17 (Changes to the calculation of interest) Rz. 4.129. 242 Vgl. § 126 Abs. 2 Satz 2 BGB. 243 S. Clause 40 im Investment Grade LMA German Law. Diese Art des Vertragsschlusses entspricht der mittlerweile ganz überwiegenden Praxis, da die Organisation einer Unterzeichnung der Verträge in einem Präsenzmeeting aufgrund der Vielzahl der beteiligten Parteien und ihrer unterschiedlichen Standorte logistisch überaus aufwendig ist. Für die Zwecke des Vertragsschlusses wird ein Beteiligter, meist der Anwalt der Kreditgeber, als Empfangsvertreter der Parteien ernannt. Der Vertrag ist dann mit Zugang der letzten Unterschriftenseite beim Empfangsvertreter geschlossen.
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E. Der Konsortialkreditvertrag nach anglo-amerikanischem Muster
Rz. 4.181 Kap. 4
K Section 12 – Governing Law and Enforcement
4.179
47. Governing Law Clause 47 enthält die Rechtswahlklausel, die Finanzierungen für deutsche Kreditnehmer bzw. deutsche Zielunternehmen fast ausnahmslos zugunsten deutschen oder englischen Rechts ausfällt. In den meisten größeren Finanzierungen sind ausländische Kreditgeber oder Kreditnehmer und Garanten beteiligt, so dass der für eine umfängliche Wahl ausländischen Rechts erforderliche hinreichende Auslandsbezug gegeben ist.244 Aufgrund der mittlerweile weitgehend angeglichenen Vertragstechnik, ist die Wahl des einen oder anderen Rechts für die Prinzipale in der Vertragspraxis kaum spürbar; insbesondere die durch die Kreditnehmergruppe einzuhaltenden Kreditauflagen sind ihrer Formulierung und Funktionsweise nach mehr oder weniger identisch.245 In letzter Zeit gibt es eine Tendenz, für immer mehr Kreditverträge, und vor allem auch bei kleineren Finanzierungen, englisches Recht zu wählen, weil das deutsche Vertragsrecht zunehmend als weniger verlässlich und international tauglich angesehen wird.246
4.180
48. Enforcement Die Rechtswahlklausel wird durch eine Gerichtsstandsvereinbarung flankiert. Bei der Wahl englischen Rechts wird die Zuständigkeit der englischen Gerichte gewählt, bei deutschem Recht ein Gerichtsstand in Deutschland.247 Die Gerichtsstandsvereinbarung ist grds. ausschließlich, derogiert also alle anderen Gerichte, räumt aber den Finanzierungsparteien das Recht ein, auch an anderen Gerichtsständen Verfahren einzuleiten.248 Ergänzt wird die Wahl eines Gerichtsstands durch die vertragliche Vereinbarung, dass die gewählten Gerichte die „most appropriate and convenient courts“ sind.249
244 Thorn in Palandt, Rom II 6 Rz. 14. 245 Die Unterschiede der Rechtsordnungen werden erst dann wieder wesentlich, wenn es Streitigkeiten gibt und Rechte unter den Verträgen durchgesetzt werden müssen. 246 S. hierzu Rz. 4.97 Fn. 132. Die Kritiker des deutschen Rechts wurden jüngst insbesondere durch die BGH-Entscheidungen zu Bearbeitungsgebühren bei Unternehmenskrediten (BGH v. 4.7.2017 – XI ZR 562/15, NJW 2017, 2986; BGH v. 4.7.2017 – XI ZR 233/16, BB 2017, 2066) bestätigt, durch die den Parteien das Recht genommen wird, eine kaufmännisch beidseitig gewünschte Gebührenstruktur privatautonom zu vereinbaren. 247 Bei englischen Gerichten kann kein örtliches Gericht ausgewählt werden. Aufgrund der Zuständigkeitsverteilung innerhalb der englischen Gerichte nach den Civil Procedure Rules 1998 liegt die Zuständigkeit für größere Finanzierungsverträge beim High Court in London. Der Investment Grade LMA German Law sieht Frankfurt/M. als Vorschlag für einen deutschen Gerichtsstand vor. 248 Zur Problematik solch „einseitig ausschließlicher“ Gerichtsstandsvereinbarungen s. etwa Geimer in Internationales Zivilprozessrecht, Rz. 1738. 249 Diese für deutsche Juristen eher eigentümliche Formulierung entspringt der forum non conveniens-Doktrin des englischen Rechts, welche auch in anderen Common Law-Jurisdiktionen Anwendung findet. Für ein Gericht in diesen Rechtsordnungen ist eine Vereinbarung der Parteien zur convenience des Gerichtsstands ein wichtiger Faktor für die Anerkennung der vertraglichen Gerichtsstandsvereinbarung.
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4.181
Kap. 4 Rz. 4.182
Akquisitionsfinanzierung
4.182 K Die Anhänge (Schedules) 4.183 Zusätzlich zum eigentlich Vertragstext der 48 oben summarisch erläuterten Klauseln enthält der LBO LMA-Vertrag verschiedene Anhänge mit einem Umfang von insgesamt ca. 60 Seiten. Die meisten Anhänge enthalten Formulare für während der Vertragslaufzeit immer wieder vorkommende Erklärungen wie etwa Inanspruchnahmebenachrichtigungen (Utilisation Requests), die Wahl einer Zinsperiode bei Laufzeitdarlehen (Selection Notice), Beitrittsformulare für neue Garanten oder Kreditnehmer (Accession Deed) oder Übertragungsvereinbarungen für neue Kreditgeber (je nach Art der Übertragung das Transfer Certificate (Vertragsübernahme, in englischen Verträgen durch Novation) oder das Assignment Agreement (bei Abtretungen)). Die für die Akquisitionsfinanzierung wichtigsten Anhänge sind die Grundsätze zur Sicherheitenbestellung (Agreed Security Principles) sowie die Auflistung der Auszahlungsvoraussetzungen in Schedule 2250 Die in Part IA und Part IB enthaltene Aufteilung der Conditions Precedent in solche, die schon für die Unterzeichnung des Kreditvertrags erfüllt sein müssen und solche, die erst für die erste Kreditausreichung erforderlich sind, enthält einen gewissen Zirkelschluss, da ein Vertrag, der noch nicht abgeschlossen ist, eigentlich auch keine Vorgaben für seine Unterzeichnung machen kann. In der Vertragspraxis werden beide Teile zumeist miteinander verschmolzen und nur dokumentäre Voraussetzungen für die tatsächliche Inanspruchnahme der Kredite vorgeschrieben.251 Da Zweck der Akquisitionsfinanzierung die Bereitstellung der notwendigen liquiden Mittel zur Begleichung der Kaufpreisschuld des Unternehmenskäufers ist, hat die Rechtssicherheit bei den Conditions Precedent oberste Priorität; die Finanzierungssicherheit (Certain Funds, s. oben Rz. 4.79) ist in Gefahr, wenn die Form oder der Inhalt der zu liefernden Dokumente noch nicht abgestimmt sind und für die Kreditgeber, zu deren Zufriedenheit die Auszahlungsvoraussetzungen erfüllt werden müssen,252 ein Ermessenspielraum besteht. Sind Öffnungsklauseln vorhanden253 oder wesentliche kaufmännische Inhalte noch nicht abgestimmt,254 ist die Akquisitionsfinanzierung für keinen Beteiligten befriedigend.255 250 Conditions Precedent; die in Part I genannten anfänglich zu erfüllenden, überwiegend dokumentären Auszahlungsvoraussetzungen werden oft als Initial Conditions Precedent (so auch die Überschrift der operativen Vertragsvorschrift (Clause 4.1 (Initial conditions precedent)), die auf Part I von Schedule 2 verweist oder Documentary Conditions Precedent bezeichnet. 251 Sofern die Kreditgeber schon für die Unterzeichnung bestimmte Anforderungen haben (so üblicherweise Dokumentation zur Durchführung von Know-Your-Customer (kurz: KYC) Prüfungen, um aufsichtsrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden), werden diese dem Kreditnehmer vorab mitgeteilt und schon vor Vertragsunterzeichnung erfüllt. 252 Der LBO LMA stellt auf den Agenten ab („in form and substance satisfactory to the Agent“, Clause 4.1(a)). In der Praxis lassen sich Agenten üblicherweise zu diesem Punkt ausdrücklich von den anfänglichen Kreditgebern anweisen, so dass faktisch die anfänglichen Kreditgeber über die Erfüllung der Auszahlungsvoraussetzungen bestimmen. 253 Bisweilen schleicht sich eine Formulierung des LMA Musters, die dort schon als Voraussetzung für die Unterzeichnung vorgesehen ist, systemwidrig bei den Voraussetzungen für die Auszahlung für die Kredite ein („A copy of any other document, opinion or assurance which the Agent considers to be necessary or desirable in connection with the entry into and performance of the transactions contemplated by any Finance Document.“ (verkürzt). 254 Insbesondere die Due Diligence Reports, der Kaufvertrag und der Geschäftsplan des Käufers, s. Rz. 4.86 Fn. 102. 255 Der Käufer kann sich nicht sicher sein, ob er den Kaufpreis bei Closing zahlen kann und riskiert die Insolvenz der Käufergesellschaft und den Verlust seines eingesetzten Eigenkapitals, wenn die Fremdfinanzierungskomponente nicht zur Auszahlung kommt; der Verkäufer kann sich ebenfalls nicht sicher sein, ob der Käufer den Kaufpreis tatsächlich finanzieren und zahlen kann;
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.185 Kap. 4
F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen I. Einleitung Nachfolgend werden die wesentlichen Elemente einer Fremdkapitalaufnahme am Kapitalmarkt durch Anleihen dargestellt. Die Abschnitte F.II. bis IV. gelten grundsätzlich sowohl für Unternehmensanleihen (Corporate Bonds) als auch für High Yield-Anleihen, wobei die für Unternehmens- und High Yield-Anleihen typischen Elemente jeweils hervorgehoben sind.256 Als häufigste Form der Mittelaufnahme am Kapitalmarkt zur Finanzierung von Unternehmensakquisitionen werden High Yield-Anleihen unter F.V. vertieft behandelt.
4.184
II. Begriff der Anleihe Unter Anleihen versteht man auf den Inhaber lautende Schuldverschreibungen gem. §§ 793 ff. BGB, die zur Fremdkapitalaufnahme des Emittenten am Kapitalmarkt begeben werden. Als Inhaberschuldverschreibung ist die Anleihe ein Wertpapier im engeren Sinne: Die Anleihe enthält ein in der Wertpapierurkunde verbrieftes Leistungsversprechen des Emittenten, als Aussteller an den jeweiligen Inhaber der Anleihe eine Zahlung zu leisten.257 Die Anleihe verbrieft damit nicht nur ein privates Forderungsrecht in der Weise, dass zu dessen Geltendmachung die Vorlage der Urkunde erforderlich ist, sondern sie weist den jeweiligen Inhaber als berechtigt aus, das verbriefte Forderungsrecht geltend zu machen (sog. Inhaberpapier). Die rechtsgeschäftliche Übertragung des verbrieften Forderungsrechts erfolgt daher durch sachenrechtliche Übereignung der Urkunde gemäß den §§ 929 ff. BGB,258 welche jedoch nach h.M. die Übertragung des verbrieften Forderungsrechts durch Abtretung gem. §§ 398, 413 BGB nicht ausschließt.259
256
257
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259
schließlich ist es auch für die Kreditgeber riskant, wenn zu Auszahlungsvoraussetzungen noch ein versteckter oder offener Dissens besteht und es dadurch zu Streitigkeiten mit potentiell hohen Haftungsfolgen kommt. Unternehmensanleihen/Corporate Bonds werden typischerweise an einem regulierten Markt notiert und an institutionelle Investoren und Retail-Investoren vertrieben, es findet allerdings grundsätzlich kein Vertrieb der Anleihen in die Vereinigten Staaten statt, s. Rz. 4.209. Bei High Yield-Anleihen findet hingegen regelmäßig ein (begrenztes) Angebot in den Vereinigten Staaten statt, die Anleihen werden üblicherweise aber nicht Retail-Investoren zum Kauf angeboten und auch nicht an einem regulierten Markt notiert, s. Rz. 4.189. Das Deckblatt der Haupturkunde (sog. Mantel, im Gegensatz zum Bogen, der im Falle einer (früher üblichen) separaten Verbriefung der Zinsansprüche für die jeweiligen Zinsperioden die jeweiligen Zinsscheine (Kupons) enthält) enthält regelmäßig das Versprechen des Emittenten als Aussteller der Schuldverschreibung, die Zahlung von Zinsen und die Rückzahlung des Kapitals gemäß den Anleihebedingungen vorzunehmen. Merksatz: „Das Recht aus dem Papier folgt dem Recht am Papier“, s. Hueck/Canaris, Recht der Wertpapiere, S. 24 f. Umgekehrt verhält es sich bei Rekta- oder Namenspapieren (z.B. Namensschuldverschreibung oder Sparbuch), bei denen das Recht am Papier dem Recht aus dem Papier folgt und die nicht gem. §§ 929 ff., sondern nach § 952 BGB erworben werden, s. Marburger in Staudinger, Vorbem. zu §§ 793–808 Rz. 10; Oechsler in MünchKomm/BGB, § 929 Rz. 15. BGH v. 21.9.2010 – XI ZR 6/10; BGH v. 14.5.2013 – XI ZR 160/12, MDR 2013, 896 = NZG 2013, 903 (905) Rz. 16 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Hueck/Canaris, Recht der Wertpapiere, S. 24 f. Der Zessionar erwirbt in diesem Fall analog § 952 Abs. 2 BGB das Eigentum an der Urkunde; a.A. Steffen in BGB-RGRK, Vorbem. 6, § 793 Rz. 23.
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4.185
Kap. 4 Rz. 4.186
Akquisitionsfinanzierung
4.186 Die Anleihe entsteht als Wertpapier nach der heute ganz überwiegend vertretenen modifizierten Vertragstheorie durch die Ausstellung der Urkunde (sog. Skripturakt) und dem Begebungsvertrag zwischen dem Aussteller der Urkunde und dem ersten Nehmer, wobei nicht der Skripturakt, sondern der Begebungsvertrag die Grundlage für die Verpflichtung des Ausstellers sein soll.260 Durch den Begebungsvertrag, der sich auf die vom Aussteller unterzeichnete Urkunde bezieht, wird einerseits die Verpflichtung des Ausstellers begründet (schuldrechtliches Element) und zugleich dem ersten Nehmer das Eigentum an dieser Urkunde verschafft.261
4.187 Die Verbriefung der Anleihe als Wertpapier in einer Urkunde stellt den Rechtsanwender immer wieder vor Probleme, insbesondere bei der Übertragung, Verwahrung und Verwaltung von Wertpapieren. Während am Grundsatz der Verbriefung der Anleihe festgehalten werden muss, haben sich in der Praxis eine Reihe von Lösungen entwickelt: So wird im Rahmen der Emission von Anleihen am Kapitalmarkt an eine Vielzahl von Investoren auf eine Verbriefung der einzelnen Anleihen in Einzelurkunden verzichtet und stattdessen eine Globalurkunde verwendet, die sämtliche Anleihen verbrieft.262 Diese wird in der sog. Girosammelverwahrung, d.h. der ungetrennten Verwahrung vertretbarer Wertpapiere derselben Art für mehrere Hinterleger bzw. Eigentümer in einem einheitlichen Bestand (Sammelbestand),263 von einer Wertpapiersammelbank gehalten.264 Die Regelverwahrung ist die Girosammelverwahrung, eine Streifbandverwahrung wird nur vorgenommen, wenn es sich um Wertpapiere handelt, die nicht zur Sammelverwahrung durch eine Wertpapiersammelbank zugelassen sind oder wenn der Hinterleger die gesonderte Aufbewahrung ausdrücklich verlangt, § 2 DepotG.265 Im Falle der Girosammelverwahrung verliert der Hinterleger bzw. der Dritte, 260 BGH v. 30.11.1972 – II ZR 70/71, NJW 1973, 282 (283); Marburger in Staudinger, Vorbem. zu §§ 793 – 808 Rz. 19; Habersack in MünchKomm/BGB, Vorbem. zu § 793 Rz. 29; Sprau in Palandt, § 793 Rz. 8. 261 Hueck/Canaris, Recht der Wertpapiere, S. 31 f.; Habersack in MünchKomm/BGB, § 793 Rz. 26. 262 S. § 9a Abs. 1 DepotG: Eine solche Globalurkunde ist demnach ein Wertpapier, das mehrere Rechte verbrieft, „die jedes für sich in vertretbaren Wertpapieren ein und derselben Art verbrieft sein könnten“. § 9a Abs. 1 DepotG bezeichnet eine solche Urkunde als Sammelurkunde, in der Praxis hat sich jedoch der Begriff Globalurkunde durchgesetzt. Der Anspruch der Anleihegläubiger auf Auslieferung von Einzelurkunden ist regelmäßig gem. § 9a Abs. 3 S. 2 DepotG ausgeschlossen, in diesem Fall ist die Globalurkunde eine Dauer-Globalurkunde. S. zu den Einzelheiten: Heinsius/Horn/Than, DepotG, § 9a Rz. 9; Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, § 9a DepotG Rz. 4; Klanten in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., § 72 Rz. 55 ff. 263 Klanten in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., § 72 Rz. 71. 264 In Deutschland ist dies die Clearstream Banking AG, ein Zentralverwahrer („Central Securities Depository“) i.S.d. Art. 2 Abs. 1 der Zentralverwahrer-Verordnung (Verordnung (EU) Nr. 909/ 2014 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 23.7.2014). Hiervon sind die internationalen Zentralverwahrer („International Central Securities Depository“, ICSD) zu unterscheiden, welche die Abwicklung und Abrechnung von Wertpapiertransaktionen im internationalen sowie in bestimmten lokalen Märkten, häufig durch direkte oder indirekte (über lokale Kreditinstitute) Einbindung nationaler Zentralverwahrer („Central Securities Depository“), vornehmen, s. hierzu Bliesener/Schneider in Langenbucher/Bliesener/Spindler, 17. Kapitel, § 21 Rz. 9–10; Oulds in Veranneman, Schuldverschreibungsgesetz, § 2 Rz. 11. 265 S. § 5 DepotG im Gegensatz zur Sonderverwahrung gem. § 2 DepotG (Streifbandverwahrung). Durch die Streifbandverwahrung ändern sich die Eigentumsverhältnisse an den der Wertpapiersammelbank zur Sonderverwahrung eingelieferten Wertpapieren, im Gegensatz zur Girosammelverwahrung, gerade nicht, d.h. der Hinterleger oder der Dritte, für den der Hinterleger auftritt, bleibt Alleineigentümer der sonderverwahrten Wertpapiere.
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.189 Kap. 4
für den der Hinterleger handelt, das Eigentum an den zur Verwahrung eingelieferten Wertpapieren und erwirbt hierfür gem. § 6 Abs. 1 S. 1 DepotG mit dem Zeitpunkt des Eingangs der eingelieferten Wertpapiere beim Sammelverwahrer Miteigentum nach Bruchteilen an den zum Sammelbestand des Verwahrers gehörenden Wertpapieren derselben Art. Die dingliche Berechtigung des Hinterlegers setzt sich mithin als Miteigentum an der Sammelurkunde fort.266
III. Platzierung und Börsennotierung von Anleihen 1. Platzierung Während der Skripturakt und der Vollzug des Begebungsvertrages zwischen dem Aussteller und dem ersten Nehmer die Entstehung der Anleihe bewirken (s. oben Rz. 4.186), ist hiermit über die Unterbringung der Anleihe am Kapitalmarkt noch nichts gesagt. Diese kann sich grundsätzlich auf zwei verschiedene Arten vollziehen, eine Platzierung bei einem oder wenigen bereits im Vorfeld bekannten Investoren (sog. Privatplatzierung oder Private Placement) oder einer Platzierung „am Kapitalmarkt“, d.h. bei einer noch unbestimmten und unbekannten Anzahl von Investoren. Im letztgenannten Fall besteht regelmäßig eine gesetzliche Verpflichtung zur Erstellung und Veröffentlichung eines Prospekts im Sinne des Wertpapierprospektgesetzes aufgrund eines „öffentlichen Angebots“ von Wertpapieren.267
4.188
Desweiteren richten sich die rechtlichen Anforderungen an die Platzierung im Wesentlichen 4.189 nach der Art der potentiellen Investoren, die die Anleihe zeichnen sollen, und dem Sitz der Investoren. Hinsichtlich der Art der Investoren wird gemeinhin nach Privatinvestoren (Retail-Investors) und institutionellen Investoren (z.B. Pensionsfonds, Versicherungen, Investmentfonds, Hedge-Funds, CLOs, CDOs etc.) unterschieden.268 Soll ein Vertrieb der Anleihe 266 H.M., s. BGH v. 16.7.2004 – IXa ZB 24/04, MDR 2005, 110 = NJW 2004, 3340 (3341); BGH v. 14.5.2013 – XI ZR 160/12, MDR 2013, 896 = NZG 2013, 903 Rz. 14; BGH v. 24.9.2015 – IX ZR 272/13, AG 2016, 29 = MDR 2016, 359 = ZIP 2015, 2286 Rz. 15 ff.; Will in Kümpel/Wittig, Bank- und Kapitalmarktrecht, Rz. 18.106; Hirte/Knof WM 2008, 7 (10); Koller DB 1972, 1905 (1909); Mülbert, FS Nobbe, 2009, S. 691, 701; Brand, ZBB 2015, 40 ff.; a.A. Habersack in MünchKomm/BGB, Vorbem. zu § 793 Rz. 31 ff.; Einsele, WM 2001, 7 (11); Habersack/Mayer, WM 2000, 1678 (1680). 267 Zum Begriff des öffentlichen Angebots s. § 2 Nr. 4 WpPG und § 3 Abs. 1 WpPG zur Verpflichtung, einen Prospekt im Fall eines öffentlichen Angebots zu veröffentlichen. S. ferner hierzu Groß, Kapitalmarktrecht, § 2 WpPG Rz. 9 ff.; Schnorbus in Frankfurter Kommentar zum WpPG und zur EU-Prospektverordnung, § 2 Rz. 29 ff. Im europäischen Recht finden sich die entsprechenden Vorschriften in Art. 2 Abs. 1 lit. (d) und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/71 vom 4.11.2003, ABl. 2003 L 64, 89, zuletzt geändert durch Art. 46 der Verordnung (EU) 2017/1129 vom 14.6.2017, ABl. 2017 L 168, 12 (die „Prospektrichtlinie“). S. im Einzelnen hierzu unter Rz. 4.206. 268 Eine Collateralised Debt Obligations (CDO) Transaktion besteht, vereinfacht ausgedrückt, aus dem Erwerb von Kredit- und/oder Anleiheforderungen durch eine Zweckgesellschaft, die ihrerseits den Erwerb aus der Begebung von Anleihen refinanziert (Verbriefung). Diese Anleihen haben unterschiedliche Rangklassen, d.h. ein Zahlungsausfall der erworbenen Kredit- und/oder Anleiheforderungen trifft zunächst ausschließlich die subordinierte (Junior-) Tranche der vom Verbriefungsvehikel begebenen Anleihe. Erst wenn die Zahlungsausfälle den Nennbetrag der subordinierten Junior-Anleihe übersteigen, sind die ranghöheren Anleihen betroffen, hierdurch wird das Kreditausfallrisiko der erworbenen Kredit- und/oder Anleiheforderungen „tranchiert“, s. hierzu Schüwer in Zerey, Finanzderivate, § 1 Rz. 42 ff. Zu den Collaterlised Loan Obligations
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Kap. 4 Rz. 4.190
Akquisitionsfinanzierung
zumindest auch an Privatinvestoren erfolgen, z.B. weil der Emittent ein in der breiten Öffentlichkeit bekanntes Unternehmen ist,269 wird eine Stückelung der Anleihe von 1.000 Euro gewählt, mit der Folge, dass aufgrund §§ 3, 4 Abs. 1 WpPG regelmäßig ein Prospekt zu erstellen ist.270 Spielen Privatinvestoren hingegen für die erfolgreiche Platzierung der Anleihe keine Rolle oder soll ein Vertrieb an Privatinvestoren aufgrund des gesteigerten Risikos einer Anlage in die Anleihe, wie dies z.B. bei High Yield-Anleihen der Fall ist, ausgeschlossen werden, wird entweder eine Stückelung der Anleihe von 100.000 Euro festgelegt oder eine Stückelung von 1.000 Euro mit einem Mindesterwerbsvolumen von 100.000 Euro festgesetzt. Die letztgenannte Alternative bietet den Vorteil, dass Investoren in ganzzahligen Vielfachen von 1.000 Euro investieren können (und nicht nur in ganzzahligen Vielfachen von 100.000 Euro). Dies erhöht die Vermarktbarkeit als auch die spätere Liquidität der Anleihe im Börsenhandel. Sowohl die 100.000 Euro Stückelung als auch das Mindesterwerbsvolumen von 100.000 Euro führt dazu, dass keine Verpflichtung zur Veröffentlichung eines Prospekts für das öffentliche Angebot einer solchen Anleihe besteht.271
4.190 Besteht (ausnahmsweise) keine gesetzliche Verpflichtung zur Erstellung und Veröffentlichung eines Prospekts aufgrund des Vorliegens der vorgenannten oder weiterer Ausnahmetatbestände gem. § 3 Abs. 2 WpPG bzw. Art. 3 Abs. 2 der Prospektrichtlinie, ändert dies häufig jedoch nichts an der faktischen Notwendigkeit, der Vielzahl von potentiellen Anlegern eine informierte Entscheidung über die Investition in die zu begebende Anleihe zu ermöglichen. Diesem Informationsbedürfnis der potentiellen Anleger wird durch Erstellung und Distribution einer einem Prospekt ähnlichen Informationsgrundlage, dem sog. Offer(CLOs) werden regelmäßig auch solche Verbriefungen gezählt, welche die vom Verbriefungsvehikel zu begebenden Anleihen durch Forderungen aus seitens des Verbriefungsvehikels erworbenen Anleihen unterlegen. Richtiger erscheint jedoch der Begriff Collaterlised Bond Obligations (CBOs), s. Sethe in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., § 114a Rz. 19. 269 S. die 300 Mio. Euro 6,75 % Anleihe der Schaeffler Finance B.V. vom 29.6.2012, die als eine der wenigen High Yield-Anleihen eine 1.000 Euro Stückelung der begebenen Anleihen aufweist, sich mithin an Retail-Investoren richtet und zudem eine separate Tranche zur Zeichnung durch die Mitarbeiter der Schaeffler AG vorgesehen hat. 270 Die Prospektpflicht nach § 3 Abs. 1 WpPG gilt für im Inland öffentlich angebotene Wertpapiere. Da die Vorschrift, ebenso wie die in Abs. 2 geregelten Ausnahmetatbestände, die Umsetzung des Art. 3 Abs. 1 und Abs. 2 der Prospektrichtlinie (s. hierzu oben Fn. 268) darstellen, gilt in den Mitgliedsstaaten aufgrund entsprechender Umsetzungsgesetze grundsätzlich nichts anderes. Die in § 3 Abs. 2 WpPG bzw. Art. 3 Abs. 2 der Prospektrichtlinie vorgesehenen Ausnahmetatbestände sind in den Fällen eines Angebots an Retail-Investoren regelmäßig nicht einschlägig, insbesondere hilft die in Nr. 2 geregelte Ausnahme für ein Angebot, das sich in jedem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums an weniger als 150 nicht qualifizierte Anleger richtet, regelmäßig nicht weiter, denn es lässt sich praktisch kaum feststellen, wie viele Anleger im Zuge eines Angebotes in einem Staat tatsächlich angesprochen worden sind, s. Kunold/Schlitt, BB 2004, 501 (504). 271 S. § 3 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4 WpPG sowie Art. 3 Abs. 2 lit. (c) und (d) der Prospektrichtlinie. Insbesondere bei großvolumigen Akquisitionsfinanzierungen am Kapitalmarkt sowie Refinanzierungen von Unternehmen, deren Bonität unterhalb der Investment Grade- Schwelle liegt („BBB-“ bei Standard and Poor’s und Fitch, „Baa3“ bei Moody’s, s. hierzu im Einzelnen unter Rz. 4.58), soll häufig ein Erwerb von Privat- bzw. Kleinanlegern durch Wahl einer solchen hohen Mindeststückelung bzw. Mindesterwerbsvolumens von jeweils 100.000 Euro ausgeschlossen werden. Zu weitergehenden (im Einzelnen umstrittenen) Auswirkungen der Wahl einer hohen Stückelung bzw. eines hohen Mindesterwerbsvolumens, s. u.a. Masuch, Anleihebedingungen und AGB-Gesetz: Die Bedeutung des AGB-Gesetzes für Emissionsbedingungen von Anleihen, § 8 II, III.
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.192 Kap. 4
ing Memorandum (häufig auch als Offering Circular, Private Placement Memorandum oder Information Memorandum bezeichnet), Rechnung getragen. Soll die Platzierung der Anleihe hingegen im Wege einer Privatplatzierung (Private Placement) an einen oder wenige bereits bekannte (qualifizierte) Investoren durchgeführt werden,272 bestehen weder gesetzliche Veröffentlichungspflichten noch die tatsächliche Notwendigkeit, eine vergleichbare Informationsgrundlage zu schaffen, so dass seitens des Emittenten hinsichtlich der Platzierung weder Prospekt noch Offering Memorandum zu erstellen sind. Hinsichtlich des Sitzes der Investoren sind für in Deutschland ansässige Emittenten vor al- 4.191 lem die übrigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und die Vereinigten Staaten von Bedeutung. a) Platzierung in den EU-Mitgliedsstaaten Ist gem. § 3 WpPG bzw. Art. 3 der Prospektrichtlinie ein Prospekt für das öffentliche Angebot der Anleihen zu erstellen, so ist der von der zuständigen Aufsichtsbehörde in einem Mitgliedsstaat gebilligte Prospekt auch in allen anderen Mitgliedsstaaten gültig und kann dort für ein öffentliches Angebot der Wertpapiere sowie für die Zulassung der Wertpapiere zum Handel an einer Wertpapierbörse verwendet werden. Voraussetzung hierfür ist, dass die zuständige Aufsichtsbehörde eine Bescheinigung über die Billigung ausstellt, aus der hervorgeht, dass der Prospekt gemäß der Prospektrichtlinie erstellt wurde, und diese Bescheinigung sowie eine Kopie des Prospekts den Aufsichtsbehörden der anderen Mitgliedsstaaten, in denen ein öffentliches Angebot oder eine Zulassung zum Handel stattfinden sollen, übermittelt wird.273 Zu dieser Notifizierung sind die Herkunftsmitgliedsstaaten des Emittenten innerhalb weniger Arbeitstage verpflichtet, s. Art. 18 der Prospektrichtlinie. Die Aufsichtsbehörde des Aufnahmemitgliedsstaates darf für den bereits gebilligten Prospekt keine weiteren Billigungs- oder Verwaltungsverfahren durchführen, ihr ist mithin jegliche inhaltliche Prüfung des Prospekts verwehrt, Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der Prospektrichtlinie. Der Aufsichtsbehörde des Aufnahmemitgliedsstaates ist lediglich gestattet, eine Übersetzung der Zusammenfassung des Prospekts in ihre Amtssprache zu verlangen, Art. 19 der Prospektrichtlinie. Ferner ist zu beachten, dass die für die Billigung des Prospekts zuständige Aufsichtsbehörde nicht zwingend die Aufsichtsbehörde des Staates ist, in dem der Emittent seinen Sitz hat, sondern der Emittent von Anleihen mit einer Mindeststückelung von 1.000 Euro daneben auch den Staat wählen kann, in dem die Anleihen öffentlich angeboten oder zum Handel zugelassen werden sollen, § 2 Nr. 13 lit. b) WpPG.274 272 S. § 3 Abs. 2 Nr. 1 sowie Art. 3 Abs. 2 lit. (a) der Prospektrichtlinie. Der „qualifizierte Anleger“ ist in § 2 Nr. 6 WpPG bzw. Art. 3 Abs. 2 lit. (a) der Prospektrichtlinie legaldefinitiert. Die Ausnahme von der Prospektpflicht rechtfertigt sich daraus, dass der Gesetzgeber für qualifizierte Anleger annimmt, dass diese ausreichend Zugang zu anderweitigen Informationsquellen besitzen, um sich die für den Kauf von Wertpapieren notwendige Erkenntnisgrundlage zu verschaffen, s. hierzu Groß, Kapitalmarktrecht, § 3 WpPG Rz. 6. Nicht zu verwechseln ist der „qualifizierte Anleger“ i.S.d. WpPG bzw. Prospektrichtlinie mit dem Qualified Institutional Buyer (QIB) gemäß Rule 144A, lit.(a) unter Section 5 des Securities Act von 1933. 273 S. Art. 17 Prospektrichtlinie, sog. „Europäischer Pass“. Der Begriff geht zurück auf das Konsultationspapier der FESCO (Forum of European Securities Commissions), A „European Passport“ for Issuers vom 10.5.2000, Ref. Fesco/99-098e, s. hierzu auch Heidelbach/Preuße, BKR 2006, 316 (321 f.); Kunold/Schlitt, BB 2004, 501 (502). 274 S. Art. 2 Abs. 1 lit. m) Prospektrichtlinie. Ein in Deutschland ansässiger Emittent, der ein öffentliches Angebot seiner Anleihen in Deutschland, Österreich und den Niederlanden durchführen möchte, kann daher Luxemburg als Herkunftsmitgliedsstaat bestimmen, sofern in Luxemburg
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Kap. 4 Rz. 4.193
Akquisitionsfinanzierung
4.193 Ist kein Prospekt für das öffentliche Angebot der Anleihen zu erstellen, entfällt auch die Anerkennung der Angebotsunterlagen in den EU-Mitgliedsstaaten im Zuge des Europäischen Passes. Für grenzüberschreitende Emissionen in der EU sind dann die jeweiligen nationalen Vorschriften für das öffentliche Angebot von Wertpapieren einzuhalten.275 b) Platzierung in den Vereinigten Staaten
4.194 In besonderem Maße reguliert ist ein öffentliches Angebot von Wertpapieren in den Vereinigten Staaten. Ein öffentliches Angebot von Wertpapieren ist in den Vereinigten Staaten grundsätzlich nur gestattet, wenn ein von der Securities and Exchange Commission (SEC) gebilligter Registrierungsantrag (Registration Statement) vorliegt.276 Insbesondere zwei Ausnahmen sind für deutsche Emittenten relevant: Die „Safe Harbour“-Vorschrift Regulation S und die Private Placement-Ausnahme unter Section 4 (2) des Securities Act i.V.m. der hierunter von der SEC erlassenen Rule 144A.
4.195 Unter Regulation S oder Reg. S werden die von der SEC unter Section 5 des Securities Act erlassenen Rules 901 bis 905 zusammengefasst. Kern dieser Vorschriften ist eine Einschränkung des territorialen Anwendungsbereichs des aus Section 5 des Securities Act resultierenden Erfordernisses, kein öffentliches Angebot von Wertpapieren durchzuführen, sofern nicht ein von der SEC gebilligter Registrierungsantrag vorliegt. Voraussetzung für diese Einschränkung ist, dass sich das öffentliche Angebot „außerhalb der Vereinigten Staaten“ vollzieht.277 Damit ein Angebot als „außerhalb der Vereinigten Staaten“ vollzogen angesehen wird, sind nach Rule 903(a) die folgenden Voraussetzungen zu erfüllen: (1) Es muss sich um eine Offshore Transaction handeln, mithin darf sich das Angebot nicht an Personen in den Vereinigten Staaten richten und die Käufer dürfen sich zum Zeitpunkt der Annahme des Angebots nicht in den Vereinigten Staaten befinden,278 (2) es dürfen keine gezielten Verkaufsanstrengungen in den Vereinigten Staaten oder in Bezug auf US-Personen vorgenommen werden (No Directed
275 276
277
278
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die Zulassung der Anleihen zum Handel erfolgen soll. Die Commission de Surveillance du Secteur Financier (CSSF) wäre dann als Aufsichtsbehörde für die Billigung des Prospekts zuständig. Z.B. für ein Angebot der Anleihen in England, den Financial Services and Markets Act 2000 oder in Frankreich den Code Monetaire et Financier. S. Section 5 des Securities Act; weiterführend hierzu Foulkes in Veranneman, SchVG, Anhang I Rz. 3 ff.; Werlen/Sulzer in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 45 Rz. 23 ff. Der Registrierungsantrag besteht im Wesentlichen aus dem Prospekt und enthält darüber hinaus bestimmte technische Informationen und gesetzlich vorgeschriebene Verpflichtungserklärungen des Emittenten. Ferner sind alle transaktionsspezifischen (z.B. Übernahmevertrag für die Wertpapiere) und alle wesentlichen Verträge des Emittenten (z.B. Kreditverträge) beizufügen, s. Werlen/Sulzer in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 45 Rz. 33 ff. Neben der Registrierung unter dem Securities Act besteht auch die Registrierung unter dem Securities and Exchange Act 1934, welche u.a. dann eingreift, wenn ein Emittent seine Wertpapiere zum Handel an einer nationalen Börse anmelden möchte, Sec. 12(b) Securities and Exchange Act 1934, hierzu Foulkes in Veranneman, SchVG, Anhang I Rz. 9 f. S. Regulation S, Preliminary Notes, Nr. 6: „Regulation S is available only for offers and sales of securities outside the United States“ und Rule 901: „For the purposes only of section 5 of the Act, the terms offer, offer to sell, sell, sale, and offer to buy shall be deemed to include offers and sales that occur within the United States and shall be deemed not to include offers and sales that occur outside the United States.“. Rule 902(h) definiert die „Offshore Transaction“.
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.198 Kap. 4
Selling Efforts)279 und (3) müssen die besonderen Voraussetzungen in Abschnitt (b) der Rule 903 eingehalten werden, sofern an den zu begebenden Anleihen im US-amerikanischen Markt ein erhebliches Interesse (Substantial U. S. Market Interest) besteht bzw. nicht sicher ausgeschlossen werden kann.280 Sofern keine Nachfrage von in den Vereinigten Staaten ansässigen Investoren bedient werden soll, ist das Wertpapierangebot gemäß den Anforderungen von Regulation S zu unterbreiten. Sind diese Anforderungen eingehalten, greift die „Safe Harbour“-Regelung, d.h. der Emittent ist von der Geltung des Securities Act ausgenommen, selbst wenn z.B. USStaatsangehörige das Wertpapierangebot annehmen sollten.281
4.196
Ist hingegen eine erhebliche Nachfrage von in den Vereinigten Staaten ansässigen Investoren zu erwarten und soll diese im Rahmen des Wertpapierangebots bedient werden, wird auf die Ausnahmebestimmung für Privatplatzierungen in Section 4(2) des Securities Act und Rule 144A zurückgegriffen. Rule 144A gestattet Weiterverkäufe (Resales) von Wertpapieren in den Vereinigten Staaten an Qualified Institutional Buyers durch Privatplatzierungen, indem solche Weiterverkäufe nicht als öffentliches Angebot im Sinne von Section 4(a)(3)(A) des Securities Act gewertet werden und folglich von der Registrierungspflicht gemäß Section 5 des Securities Act ausgenommen werden.282 Die ursprüngliche Ausgabe der Wertpapiere durch den Emittenten an das Bankenkonsortium als erste Zeichner der Wertpapiere ist hingegen nicht von Rule 144A erfasst, so dass in der Praxis die Erstbegebung der Wertpapiere zwischen Emittent und Bankenkonsortium als Privatplatzierung nach Section 4(2) des Securities Act strukturiert wird und das Bankenkonsortium unter Anwendung von Rule 144A weiterveräußert.283 Qualified Institutional Buyers sind institutionelle Investoren (Versicherungsgesellschaften, Investmentgesellschaften, Pensionsfonds Wertpapierhandelshäuser etc.), die über ein in Wertpapieren angelegtes Investmentvermögen von mindestens US-Dollar 100 Mio. verfügen.284 Durch ein Rule 144A Angebot können mithin zumindest große Investmentgesellschaften in den Vertrieb der Anleihe einbezogen werden.
4.197
Für die Erstellung des Prospekts bzw. der sonstigen Angebotsunterlagen (Offering Memorandum etc.) hat ein Angebot nach Rule 144A erhebliche Auswirkungen, da die Bestimmungen zur Prospekthaftung aus Section 17 des Securities Act und Section 10(b) des Securities and Exchange Act Anwendung finden, mit der Folge, dass insbesondere die durch Rule 10b-5 konkretisierten Haftungsbestimmungen zu beachten sind.285 Nach Rule 10b-5 ist es verboten, im Zusammenhang mit dem Kauf oder Verkauf von Wertpapieren täuschende
4.198
279 S. Rule 902(c). 280 Häufig abgekürzt als „SUSMI“, definiert in Rule 902(j). Die Emittenten werden in diesem Zusammenhang in verschieden Kategorien eingeteilt (Category 1, Category 2 und Category 3), s. Rule 903(b). 281 Lehmann in MünchKomm/BGB, Band 12, Teil 12, Internationales Finanzmarktrecht, Rz. 298. 282 S. Rule 144A(c): „Any dealer who offers or sells securities in compliance with the conditions set forth in paragraph (d) of this section shall be deemed not to be a participant in a distribution of such securities within the meaning of section 4(a)(3)(C) of the Act and not to be an underwriter of such securities within the meaning of section 2(a)(11) of the Act, and such securities shall be deemed not to have been offered to the public within the meaning of section 4(a)(3)(A) of the Act.“. 283 Werlen/Sulzer in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 45 Rz. 82. 284 S. Rule 144A(a)(1). 285 Foulkes in Veranneman, SchVG, Anhang I Rz. 14.
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Kap. 4 Rz. 4.199
Akquisitionsfinanzierung
Handlungen zu begehen286, an einem Betrug teilzunehmen,287 sowie hinsichtlich wesentlicher Angaben irreführende Aussagen zu machen bzw. Aussagen zu unterlassen, die nötig sind, damit die übrigen Angaben nicht trügerisch sind.288 Da der Anwendungsbereich von Section 10(b) des Securities and Exchange Act of 1934 auf manipulierende oder täuschende Verhaltensweisen beschränkt ist, werden besondere Anforderungen an das Verschulden gestellt: Nur wer wissentlich (scienter) handelt, also bewusst täuscht, manipuliert oder betrügt, kann der Haftung nach Section 10 (b), Rule 10b-5 unterliegen. Allerdings: Liegt ein derart „wissentliches“ Handeln vor, besteht nach dem U. S. Supreme Court auch ein individuelles Klagerecht des geschädigten Anlegers.289
4.199 Dass vorsätzliches Verhalten diese Voraussetzung erfüllt, liegt auf der Hand. Ferner ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch eine Form der Fahrlässigkeit bzw. Leichtfertigkeit (recklessness) das Kriterium der Wissentlichkeit erfüllen kann.290 Was jedoch genau unter recklessness zu verstehen ist und unter welchen Umständen recklessness das scienter-Kriterium erfüllt, ist in der Rechtsprechung umstritten. Überwiegend wird nur eine Art grober Fahrlässigkeit für hinreichend erachtet (highly reckless).291
4.200 Berücksichtigt man neben dem individuellen Klagerecht einzelner Investoren und der Haftung auch für grobe Fahrlässigkeit noch, dass die Haftung aus Rule 10b-5 nicht lediglich auf bei der SEC eingereichte Dokumente anwendbar ist, sondern auch auf jede Weiterveräußerung (resale) der Wertpapiere (am Sekundärmarkt) und alle weiteren Informationen, die vom Emittenten im Zusammenhang mit der Wertpapiertransaktion öffentlich verbreitet werden, wird deutlich, dass die Rule 10b-5 die bedeutendste Haftungsnorm des US-amerikanischen Kapitalmarktrechts für jede Form der Privatplatzierung, einschließlich Rule
286 „To employ any device, scheme, or artifice to defraud“, Rule 10b-5(a). 287 „To engage in any act, practice, or course of business which operates or would operate as a fraud or deceit upon any person“, Rule 10b-5(c). 288 „To make any untrue statement of a material fact or to omit to state a material fact necessary in order to make the statements made, in the light of the circumstances under which they were made, not misleading“, Rule 10b-5(c). 289 Ernst & Ernst v. Hochfelder, 425 U. S. 185: „A private cause of action for damages will not lie under 10 (b) and Rule 10b-5 in the absence of any allegation of „scienter,“ i. e., intent to deceive, manipulate, or defraud on the defendant’s part.“. Die weiteren Voraussetzungen für eine auf Rule 10b-5 gestützte Klage sind: (1) a material misrepresentation or omission; (2) scienter; (3) a connection with the purchase or sale of a security; (4) reliance; (5) economic loss; und (6) loss causation, s. Michael Evans, Adding a Due Diligence Defense to § 13(b) and Rule 13b 2 – 2 of the Securities Exchange Act of 1934, 72 Wash. & Lee L. Rev. (2015), 901 (912) m.w.N. zur Entwicklung der Rechtsprechung, die ein individuelles Klagerecht des geschädigten Anlegers anerkennt. 290 Securities and Exchange Commission v. Rauscher, 254 F.3d 852, 856 (9th Cir. 2001); Hollinger v. Titan Capital Corp., 914 F.2d 1564, 1568 (9th Cir. 1990); Hazen, Treatise on the Law of Securities Regulation, Volume 2, § 12:52, m.w.N. 291 Hollinger v. Titan Capital Corp., 914 F.2d 1564, 1569 (9th Cir. 1990), unter Berufung auf Sunstrand Corp. v. Sun Chem. Corp., 553 F.2d 1033, 1044 f. (7th Cir. 1977); Securities and Exchange Commission v. Rauscher, 254 F.3d 852, 856 (9th Cir. 2001); die genannten Entscheidungen definieren reckless wie folgt: „Reckless conduct is conduct that consists of a highly unreasonable act, or omission, that is an extreme departure from the standards of ordinary care, and which presents a danger of misleading buyers or sellers that is either known to the defendant or is so obvious that the actor must have been aware of it.“; Hazen, Volume 2, S. 499 f. m.w.N.
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.201 Kap. 4
144A Offerings, ist.292 Daher orientiert sich die Erstellung der Angebotsunterlagen maßgeblich an diesem Haftungsmaßstab mit entsprechenden Konsequenzen für die Offenlegung im Prospekt bzw. Offering Memorandum,293 der Durchführung einer adäquaten Due Diligence,294 der Abgabe sog. „10-b5 Opinions“ für die an der Emission beteiligten Konsortialbanken295 und letztlich der vertraglichen Übernahme einer etwaigen Haftung der Konsortialbanken durch den Emittenten im Übernahmevertrag.296 Die hierfür entstehenden Kosten sind bei der Strukturierung der Anleiheemission gegen die Vorteile der Verbreiterung der Investorenbasis abzuwägen. 2. Börsennotierung Ebenso bedeutsam wie die Festlegung des Investorenkreises und der Art der Platzierung ist die Auswahl des Börsenplatzes, an dem die zu begebenden Anleihen zum Handel zugelassen 292 Greene/Beller/Rosen/Silverman/Braverman/Sperber/Grabar/Fleisher, U. S. Regulation of the International Securities and Derivatives Markets, 12. Aufl., § 4.12 Rz. 2; Ebenso: Werlen/Sulzer in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 45 Rz. 176. Dies sollte auch vor dem Hintergrund, dass der U. S. Supreme Court in der Entscheidung Morrison v. National Australia Bank Ltd. 561 U.S. (2010), die extraterritoriale Anwendung von Section 10(b) des Securities and Exchange Act und der darauf aufbauenden Rule 10b-5 eingeschränkt hat, weiterhin gelten, denn durch den Vertrieb der Wertpapiere in den Vereinigten Staaten sollte ein hinreichender Anknüpfungspunkt bestehen, s. hierzu auch Boehn, Harvard International Law Journal, Vol. 53, 502 (504 f.); Mankowski, NZG 2010, 961 (965 ff.). 293 S. Rz. 4.213. Die durch den Prospekt bzw. Offering Memorandum vorgenommene Offenlegung gegenüber den Anlegern wird dabei insbesondere durch die aus der Rechtsprechung zur Rule 10b-5 entwickelten Haftungs- und Offenlegungsmaßstäbe determiniert. 294 In Anlehnung an die Rechtsprechung, u.a. in Escott v. BarChris Construction Corp., 283 F. Supp. 643 (S.D.N.Y. 1968) und Lanza v. Drexel & Co Fed. Sec. L. Rep. 92, 826 (S.D.N.Y. 1970) wird den an einer Kapitalmarkttransaktion Beteiligten eine Due Diligence Defence zugesprochen: Sofern der Beteiligte nachweisen kann, dass er eine reasonable investigation der im Prospekt enthaltenen Angaben durchgeführt hat und er aufgrund dieser Untersuchung berechtigterweise annehmen durfte, dass der Prospekt inhaltlich zutreffend und vollständig ist, d.h. keine wesentlichen Aspekte verschweigt, kann er sich mit dem Due Diligence-Einwand gegen die Inanspruchnahme aus Rule 10b-5 verteidigen, s. hierzu Prospectus Liability and Rule 10b-5: A Sequel to Barchris, Duke Law Journal 1971, 559 (565 ff.); Aborn, 10 Boston College Law Review 360 (1969), 360 (367 ff.); Venditti, Indiana Law Review, Vol. 11, 727 ff. und allgemein zu den möglichen Einreden und Einwendungen gegen Rule 10b-5 Ansprüche, Jacobs, 61 Cornell L. Rev. 857 (1976), 857 ff. Die Due Diligence dient der Bestätigung der seitens des Emittenten im Prospekt angegebenen Informationen und bezieht sich in rechtlicher Hinsicht folglich auf alle wesentlichen Verträge und wesentlichen gesellschaftsrechtlichen Dokumente. Hierzu gehört auch die Durchsicht der Vorstands- und Aufsichtsratsprotokolle des Emittenten, Roth/Schoneweg, NZG 2004, 206 (207) mit Verweis auf Phillips v. Kidder, 933 F.Supp. 303, 317 (S.D.N.Y. 1996). Daneben findet regelmäßig noch eine management due diligence und accounting due diligence statt. 295 Die „10b-5 Opinions“ (auch Disclosure Opinions bezeichnet) werden zugunsten der Emissionsbanken von den Rechtsberatern des Emittenten und den Rechtsberatern der Emissionsbanken auf der Grundlage der durchgeführten Due Diligence ausgestellt. Die Rechtsberater bestätigen hierin förmlich gegenüber den Emissionsbanken, dass nach ihrem besten Wissen der Wertpapierprospekt nicht in wesentlichen Punkten unvollständig, unrichtig oder irreführend ist. 296 Im Übernahmevertrag gibt der Emittent zugunsten der Emissionsbanken Zusicherungen hinsichtlich der Richtigkeit und Vollständigkeit des Prospekts ab und verspricht ferner, die Emissionsbanken von jeglichen Ansprüchen und Schäden aus einer etwaigen Prospekthaftung im Außenverhältnis freizustellen, s. hierzu unter Rz. 4.225 f.
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4.201
Kap. 4 Rz. 4.202
Akquisitionsfinanzierung
werden sollen. Die Börsennotierung der Anleihen kann zahlreiche (Folge-) Pflichten für den Emittenten begründen und je nach Auswahl des Börsenplatzes stellen sich unterschiedliche Anforderungen für den Emittenten und die zu emittierenden Anleihen.
4.202 Die Börsennotierung wird seitens der (potentiellen) Investoren regelmäßig vor allem aus zwei Gründen verlangt: Die Börsennotierung sorgt für eine erleichterte Handelbarkeit der Anleihen, da Käufe und Verkäufe über die Börse abgewickelt werden können, und sie bietet eine gewisse Gewähr dafür, dass sowohl die zur Emission der Anleihe erstellte Informationsgrundlage (Emissionspublizität in Form eines Prospekts oder Offering Memorandum, s. Rz. 4.188 ff.) als auch die laufenden Publizitätspflichten des Emittenten (Marktteilnahmepublizität) gewissen Mindeststandards genügen. Diese Mindeststandards hängen weitgehend davon ab, an welcher Börse und in welchem Marktsegment die Anleihe notiert werden soll. Die Prospektrichtlinie unterteilt diese in den geregelten Markt und den ungeregelten Markt. Der geregelte Markt ist gem. Art. 4 Abs. 1 Nr. 21 der MiFID II-Richtlinie ein von einem Marktbetreiber betriebenes und/oder verwaltetes multilaterales System, das die Interessen einer Vielzahl von Personen am Kauf und Verkauf von Finanzinstrumenten innerhalb des Systems und nach seinen nichtdiskretionären Regeln in einer Weise zusammenführt (oder das Zusammenführen fördert), die zu einem Vertragsschluss in Bezug auf diese Finanzinstrumente führt.297 Geregelte Märkte finden sich auf Börsen oder elektronischen Handelsplattformen, bedürfen einer staatlichen Zulassung (Art. 44 MiFID II-Richtlinie) und müssen ordnungsgemäß und gemäß Titel III der MiFID II-Richtlinie funktionieren, d.h. bestimmte organisatorische Anforderungen erfüllen (Art. 47 MiFID II-Richtlinie) und wirksame Vorkehrungen für die Einhaltung der nach dem EU-Recht bestehenden erstmaligen, laufenden und punktuellen Publizitätspflichten treffen (Art. 51 Abs. 3 MiFID II-Richtlinie).298 Finanzinstrumente werden nur auf Antrag des Emittenten in den Handel am geregelten Markt einbezogen. Der gemeinsame Nenner der geregelten Märkte in Europa ist, dass für in solchen Märkten zugelasse297 Markets in Financial Instruments Directive, Richtlinie 2014/65/EU des europäischen Parlamentes und des Rates vom 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU (MiFID II-Richtlinie). Diese wird ergänzt durch die MiFIR-VO, VO (EU) 600/2014 vom 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente, ABl. 2014 L 173, 84. MiFID II-Richtlinie und die MiFIR-VO sind am 2.7.2014 in Kraft getreten und lösen die Regelungen der Richtlinie 2004/39/EG (MiFID I) und der zugehörigen Ausführungsrechtsakte ab. Durch das Zweite Gesetz zur Novellierung von Finanzmarktvorschriften auf Grund europäischer Rechtsakte (Zweites Finanzmarktnovellierungsgesetz – 2. FiMaNoG) sind die MiFID II-Richtlinie und die MiFIR-VO in deutsches Recht umgesetzt worden, am 3.1.2018 ist das 2. FiMaNoG vollumfänglich in Kraft getreten, s. BT-Drucks. 18/10936, 18. Wahlperiode, 23.1.2017. 298 S. ferner zur MiFID II-Richtlinie und den mit ihr verfolgten Zielen des Gesetzgebers, Ress/ Ukrow in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 63 AEUV, Rz. 404 f. m.w.N. Im deutschen Recht wird der geregelte Markt auch als „organisierter Markt“ bezeichnet, s. § 2 Abs. 11 WpHG, inhaltliche Unterschiede bestehen zwischen diesen beiden Begriffen nicht, s. Seiler/Geier in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., Vorbem. § 104 Rz. 22. Da die englische Fassung der MiFID II-Richtlinie von „regulated market“ i.S.d. geregelten Marktes in Art. 4 Abs. 1 Nr. 21 der MiFID II-Richtlinie spricht, wird in der Praxis in Deutschland häufig auch der Begriff „regulierter Markt“ statt „geregelter Markt“ verwendet. Daneben verwendet das BörsenG in den §§ 32 ff. den Begriff „regulierter Markt“, der im Wesentlichen dem Begriff des geregelten Marktes im Sinne der europäischen Gesetzgebung entspricht, allerdings nicht völlig deckungsgleich ist, da sich der (deutsche) Begriff des regulierten Markts nur auf Börsen bezieht, deren Satzungssitz im Inland ist, s. Kumpan in Schwark/Zimmer, KapitalmarktrechtsKommentar, WpHG, § 2 Rz. 120; Oulds in Kümpel/Wittig, Bank- und Kapitalmarktrecht, Rz. 14.72.
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.204 Kap. 4
ne Finanzinstrumente aufgrund der europäischen Vorgaben einheitliche Melde- und Transparenzanforderungen, Ad-hoc-Publizitätspflichten und Insiderhandelsverbote gelten, so dass insgesamt von einer Gleichwertigkeit der geregelten Märkte ausgegangen werden kann.299 Sollen Wertpapiere zum Handel an einem geregelten Markt zugelassen werden, ist grundsätzlich ein seitens der zuständigen Aufsichtsbehörde gebilligter Prospekt erforderlich, Art. 3 Abs. 3, 13 Abs. 1 der Prospektrichtlinie. Folglich ist zunächst zu prüfen, ob die Anforderungen der Prospektrichtlinie und der dazugehörigen Prospektverordnung durch den Emittenten praktisch erfüllt werden können. So scheidet beispielsweise eine Zulassung der Wertpapiere zum Handel an einem geregelten Markt von vornherein aus, wenn der Emittent seine Jahresabschlüsse bisher nur auf Grundlage der HGB-Rechnungslegungsvorschriften erstellt hat und keine konsolidierten Jahresabschlüsse auf Grundlage der IFRS-Rechnungslegungsvorschriften vorweisen bzw. in einem vertretbaren zeitlichen Rahmen (und monetären Aufwand) erstellen kann.300
4.203
In der Praxis stellen sich hier ferner häufig Probleme aufgrund des Erfordernisses der Pro- 4.204 spektverordnung, alle Garanten wie Emittenten zu behandeln, mit der Folge, dass entsprechende Jahresabschlüsse der Garanten zu publizieren sind.301 Werden die Verbindlichkeiten des Emittenten aus der Anleihe, wie für High Yield-Anleihen oder sonstige Anleihen im Sub-Investment Grade Bereich üblich, von den jeweiligen Tochtergesellschaften garantiert,302 sind testierte Jahresabschlüsse auf Grundlage der IFRS-Rechnungslegungsvorschrif299 Groß, Kapitalmarktrecht, § 33 Rz. 2. 300 Gemäß Art. 3 Satz 1, Art. 7 i.V.m. Anhang IV Ziff. 13.1 (bzw. Art. 12 i.V.m. Anhang IX Ziff. 11.1 für Anleihen oder sonstige Schuldtitel mit einer Mindeststückelung von 100.000 Euro) der Verordnung (EG) Nr. 809/2004 der Kommission vom 29.4.2004 zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die in Prospekten enthaltenen Angaben sowie die Aufmachung, die Aufnahme von Angaben in Form eines Verweises und die Veröffentlichung solcher Prospekte sowie die Verbreitung von Werbung, ABl. Nr. L 149/1, zuletzt geändert durch Art. 13 ÄndVO (EU) 2016/301 vom 30.11.2015 (ABl. 2016 Nr. L 58 S. 13), nachfolgend die „Prospektverordnung“, sind die historischen Finanzinformationen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards (nachfolgend, die „IAS-Verordnung“) oder, falls die IAS-Verordnung nicht anwendbar ist, gemäß den nationalen Rechnungslegungsvorschriften zu erstellen. Art. 4 dieser Verordnung schreibt vor, dass Gesellschaften, die dem Recht eines Mitgliedstaates unterliegen, ihre konsolidierten Abschlüsse nach den internationalen Rechnungslegungsstandards aufzustellen haben, wenn am jeweiligen Bilanzstichtag ihre Wertpapiere in einem beliebigen Mitgliedstaat zum Handel in einem geregelten Markt zugelassen sind (s. hierzu auch § 315a Abs. 2 HGB, die Vorschrift ist letztlich Ausfluss der IAS-Verordnung). Mit der obligatorischen Anwendung der IFRS-Rechnungslegungsvorschriften auf die konsolidierten Abschlüsse von Unternehmen, deren Wertpapiere in einem beliebigen Mitgliedstaat zum Handel an einem geregelten Markt zugelassen sind, soll die Transparenz und Vergleichbarkeit dieser Informationen gefördert und so ein Beitrag zur effizienten und kostengünstigen Funktionsweise des Kapitalmarktes geleistet werden, Busse/von Colbe in MünchKomm/HGB, § 315a Rz. 2. Auch Debüt-Emittenten, deren Wertpapiere bislang nicht zum Handel an einem geregelten Markt zugelassen sind, müssen die historischen Finanzinformationen gemäß den IFRS-Rechnungslegungsvorschriften im Prospekt darstellen, s. hierzu Rz. 4.211. 301 Nach Art. 9 i.V.m. Anhang VI Nr. 3 der Prospektverordnung muss der Garantiegeber Angaben über sich selbst so offenlegen, als wäre er selbst der Emittent derselben Art des Wertpapiers, welches Gegenstand der Garantie ist. 302 So genannte Upstream Guarantees. S. hierzu und zur Garantenabdeckung Rz. 4.92.
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Kap. 4 Rz. 4.205
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ten für sämtliche die Anleihe garantierenden Tochtergesellschaften zu veröffentlichen.303 Da dies meist nur mit einem unvertretbaren Aufwand bewerkstelligt werden könnte, weichen Emittenten in diesem Fall regelmäßig auf den ungeregelten Markt aus. Hier gelten dann nicht die Vorgaben der Prospektrichtlinie und der Prospektverordnung, bzw. solche nationale Regelungen, durch welche die Vorgaben der Prospektrichtlinie umgesetzt werden, sondern eigenständige, nationale Regelungen.304 Zuständig für die Zulassung von Wertpapieren am ungeregelten Markt sind daher auch die nationalen Börsen selbst, nicht die (staatlichen) Aufsichtsbehörden.305 Für High Yield Bonds, die regelmäßig durch Garantien der Tochtergesellschaften des Emittenten besichert werden, sind in der Vergangenheit v.a. das Euro MTF Segment der Luxemburger Börse, der Global Exchange Market der Irish Stock Exchange und zuletzt die Channel Islands Stock Exchange als Notierungsort ausgewählt worden.306 Ferner ist es im ungeregelten Markt den Emittenten in aller Regel gestattet, die zu veröffentlichenden Finanzinformationen nach nationalen Rechnungslegungsvorschriften zu erstellen.307
4.205 Zu beachten ist, dass seit dem 3.7.2016 die Marktmissbrauchsverordnung in Kraft getreten ist,308 welche die Vorschriften über Ad-hoc Publizitätspflichten (Art. 17 Marktmissbrauchsverordnung), Meldepflichten für Wertpapiergeschäfte von Personen, die bei dem jeweiligen Emittenten Führungsaufgaben wahrnehmen, (sog. Directors’ Dealings, Art. 19 Marktmissbrauchsverordnung) und die Verpflichtung zur Führung von Insiderlisten (Art. 18 Marktmissbrauchsverordnung), nicht nur auf eine unmittelbar geltende unionsrechtliche Rechtsgrundlage gestellt hat, sondern auch den Anwendungsbereich erheblich erweitert hat: Die vorgenannten Vorschriften gelten nunmehr auch für Emittenten, deren Finanzinstrumente an einem ungeregelten Markt zum Handel zugelassen sind, Art. 2 Abs. 1 lit. b) und c) Marktmissbrauchsverordnung.309 Von der Neuregelung durch die Marktmissbrauchsverord303 S. Anhang IV Ziff. 13 bzw. Anhang IX Ziff. 11 der Prospektverordnung und oben Fn. 301. 304 Z.B. die Rules and Regulations of the Luxembourg Stock Exchange für das Euro MTF Segment der Luxemburger Börse, abrufbar unter: https://www.bourse.lu/regulations. Der Freiverkehr der Frankfurter Wertpapierbörse (unregulierter Markt) kommt als Börsenplatz häufig nicht in Betracht, da die Börsensegmente „Scale“ bzw. das „Basic Board“ für Anleihen eine Stückelung vorschreiben, die 1.000 Euro nicht überschreiten darf, § 19 Abs. 1 lit. b) der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Deutsche Börse AG für den Freiverkehr, Stand 3.1.2018. 305 S. z.B. §§ 1 und 7 ff. der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Deutsche Börse AG für den Freiverkehr, Stand 3.1.2018. 306 Für High Yield Bonds gewährt die Luxemburger Börse im Euro MTF Segment beispielsweise eine Ausnahme vom Erfordernis, Garanten ebenso wie Emittenten vollumfänglich beschreiben zu müssen, mithin testierte Abschlüsse für die Garanten beibringen zu müssen, sofern u.a. die Anleihen eine Mindeststückelung von 100.000 Euro aufweisen, alle Garanten in die konsolidierten Abschlüsse des Emittenten einbezogen sind und die Garanten der Anleihe zusammengenommen 75 % oder mehr des konsolidierten EBITDA und der konsolidierten Bilanzaktiva des Emittenten darstellen, s. Frequently Asked Questions Euro MTF, abrufbar unter: https:// www.bourse.lu/faq-euro-mtf-fr, Nr. 12. 307 S. z.B. Ziff. 2A.11 (Financial Information concerning the Issuer’s Assets and Liabilities, Financial Position and Profits and Losses) der Checkliste des Global Exchange Market der Irish Stock Exchange, abrufbar unter: http://www.ise.ie/Products-Services/Listing-Debt/GEM/. 308 Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 16.4.2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission, ABl. Nr. L 173/1. 309 Voraussetzung ist allerdings, dass der Emittent die Zulassung zum Handel an dem jeweiligen (ungeregelten) Markt beantragt oder erhalten hat, s. Art. 17 Abs. 1 3. Unterabsatz, Art. 18
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.207 Kap. 4
nung betroffen sind u.a. Emittenten, deren Anleihen im Euro MTF Segment der Luxemburger Börse zugelassen sind, nicht aber Emittenten, deren Anleihen an der Channel Islands Stock Exchange notiert sind, da diese in Guernsey, mithin nicht in einem EU-Mitgliedsstaat, und damit außerhalb des territorialen Anwendungsbereichs der EU-Marktmissbrauchsverordnung liegt.310 3. Neue Europäische Prospektverordnung und PRIIP-Verordnung a) Neue Europäische Prospektverordnung Das derzeit geltende Regelungsregime bestehend aus der Prospektrichtlinie und der sie konkretisierenden delegierten Prospektverordnung wird überwiegend am 21.7.2019 durch die am 20.7.2017 in Kraft getretene neue Europäische Prospektverordnung (VO (EU) Nr. 2017/1129 vom 14.6.2017, ABl. 2017 L 168, 12) abgelöst.311 Bis Juli 2019 ist darüber hinaus mit dem Erlass einer Reihe sog. Level-2-Maßnahmen durch die EU-Kommission sowie der Veröffentlichung bestimmter technischer Regelungen durch die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) zu rechnen, die das neue Regelungsregime näher ausgestalten.312 Daneben können die Mitgliedstaaten einzelne Bereiche der Verordnung (z.B. Prospekthaftung, Ahndung von Rechtsverstößen und Behördenzuständigkeiten) durch nationale Umsetzungsgesetzgebung ausgestalten.313
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b) PRIIP-Verordnung Am 1.1.2018 ist die sog. PRIIP-Verordnung (VO (EU) Nr. 1286/2014 vom 26.11.2014, ABl. 2014 L 352, 1) in Kraft getreten, deren Anwendungsbereich grundsätzlich auch Emittenten von Anleihen erfasst. Sofern das emittierte Wertpapier als packaged retail investment
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Abs. 7, Art. 19 Abs. 4 Marktmissbrauchsverordnung. Hintergrund dieser Einschränkung ist, dass einige ungeregelte Märkte (u.a. auch der Freiverkehr der Frankfurter Wertpapierbörse) auch eine Einbeziehung von Schuldtiteln in den Handel der Börse ohne die Zustimmung des Emittenten vorsehen (s. z.B. § 10 Abs. 1 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Deutsche Börse AG für den Freiverkehr, Stand 3.1.2018). Es wäre nur schwer vertretbar, Emittenten die in Art. 17 bis 19 Marktmissbrauchsverordnung vorgesehenen Pflichten aufzuerlegen, wenn die Emittenten sich nicht willentlich für den Handel an einer Börse entschieden haben und ggf. nicht einmal von der Einbeziehung Kenntnis erlangen. S. hierzu ferner Scholz, NZG 2016, 1286 (1287 f.); Poelzig, NZG 2016, 761 (763 ff.); Poelzig, NZG 2016, 528 (530); Rubner/Pospiech, GWR 2016, 228 ff.; Krause, CCZ 2014, 248 (249 f.). Klöhn in Klöhn, MAR, Art. 2 Rz. 104 ff. Weber, NJW 2018, 995 (996). Die Verordnung ist formal zum 20.7.2017 in Kraft getreten, gilt jedoch in weiten Teilen erst ab dem 21.7.2019. Nur einzelne Bestimmungen gelten bereits vor diesem Stichtag. Die neue Europäische Prospektverordnung ist ein wesentlicher Schritt zur Vollendung der Kapitalmarktunion. Sie soll Unternehmen den Zugang zu einer größeren Vielfalt an Finanzierungsquellen in der gesamten Europäischen Union erleichtern, ein effizienteres Funktionieren der Märkte ermöglichen und Anlegern zusätzliche Ertragsmöglichkeiten bieten und so das Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern. Kernpunkte der neuen Europäischen Prospektverordnung sind Erleichterungen bei der Prospekterstellung und -billigung für kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) sowie Vereinfachungen für Sekundäremissionen und Daueremittenten. Bronger/Scherer, WM 2017, 460 (467). Basedow, EuZW 2018, 1 (2).
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Kap. 4 Rz. 4.208
Akquisitionsfinanzierung
product (PRIP)314 zu klassifizieren ist und an Kleinanleger315 vertrieben werden soll, muss der Emittent ein Basisinformationsblatt (key information document, KID) erstellen und gegebenenfalls regelmäßig aktualisieren.316 Während herkömmliche Anleihen hiervon nicht erfasst sein sollen, können Anleihen mit strukturierter Verzinsung (z.B. variable Verzinsung mit einem Cap oder Floor) als PRIP zu qualifizieren sein.317 Seit dem 1.1.2018 dürfen Wertpapierdienstleister Kaufanträge für PRIIP-Produkte, zu dem der Emittent kein KID zur Verfügung gestellt hat, nicht mehr ausführen.318
IV. Rechtsverhältnisse und Dokumentation von Anleiheemissionen 1. Prospekt/Offering Memorandum
4.208 Ob und in welcher Form ein Prospekt oder ein Offering Memorandum für die Emission der Anleihe erforderlich ist, wird durch die gewünschte Platzierung der Anleihe (s. unter Rz. 4.188 ff.) und die Festlegung, ob und wenn ja, an in welchem Markt- bzw. Börsensegment die Anleihe notiert und in den Handel einbezogen werden soll (s. unter Rz. 4.201 ff.) determiniert. Ist ein Prospekt oder ein Offering Memorandum hiernach erforderlich, in der Praxis stellt dies den Regelfall dar, ist der Prospekt bzw. Offering Memorandum das zentrale Dokument der Anleiheemission, da es als allein maßgebliches Offenlegungsdokument die vollständige Beschreibung des Emittenten, seiner Tochtergesellschaften und der avisierten Anleiheemission enthält. Der Prospekt bzw. das Offering Memorandum stellt damit die Geschäftsgrundlage für die Übernahme der Anleihen durch das arrangierende Bankenkonsortium im Zuge des Übernahmevertrages und die Investitionsentscheidung der Anleger dar, welche Zeichnungsgebote für die Anleihen gegenüber dem arrangierenden Bankenkonsortium abgeben.319 Diese zentrale Bedeutung ist unabhängig davon, ob rechtlich ein öffentliches Angebot der Anleihen vorliegt oder nicht, der Prospekt bzw. das Offering Memoran314 „Verpacktes Anlagenprodukt für Kleinanleger“ oder „PRIP“ bezeichnet gem. Art. 4 Nr. 1 PRIIPVerordnung eine Anlage, einschließlich von Zweckgesellschaften i.S.d. Art. 13 Nr. 26 der RL 2009/138 EG oder Verbriefungsgesellschaften i.S.d. Art. 4 Abs. 1 Buchstabe an der RL 2011/61/EU ausgegebener Instrumente, bei der unabhängig von der Rechtsform der Anlage, der dem Kleinanleger rückzuzahlende Betrag Schwankungen aufgrund der Abhängigkeit von Referenzwerten oder von der Entwicklung eines oder mehrerer Vermögenswerte, die nicht direkt vom Kleinanleger erworben werden, unterliegt. 315 Kleinanleger sind alle Anleger, bei denen es sich nicht um professionelle Anleger im Sinne der MiFID II-Richtlinie handelt. 316 Bei fehlerhaften oder ungenauen KIDs besteht nicht nur ein erhebliches zivilrechtliches Haftungsrisiko, sondern auch das Risiko der Verhängung erheblicher Ordnungsgelder durch die BaFin (bis zu 5 Mio. Euro oder 3 % des Jahresumsatzes). Auch wenn der Emittent einen Dritten damit beauftragt, das KID zu entwerfen und zu aktualisieren, haftet er für ein fehlerhaftes KID. 317 Vgl. Jordans, BKR 2017, 273. 318 Weber, NJW 2018, 995 (998). 319 Aus Marketingerwägungen wird neben dem Prospekt auch eine Präsentation den potentiellen Anlegern im Rahmen der Roadshow (Roadshow Presentation) zur Verfügung gestellt und durch die Geschäftsführung des Emittenten erläutert, diese Roadshow Presentation muss allerdings mit dem Prospekt bzw. Offering Memorandum übereinstimmen und darf keine Informationen enthalten, die über die im Prospekt bzw. Offering Memorandum enthaltenen Informationen hinausgehen. Für Tatbestände, die unter das WpPG fallen, ist dies unter § 15 Abs. 4 und Abs. 5 WpPG gesetzlich vorgeschrieben, Verbot der sog. „selective disclosure“, s. hierzu auch Müller, WpPG, § 15 Rz. 1.
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.209 Kap. 4
dum mithin als Angebotsunterlage für den Vertrieb der Anleihen fungiert oder „nur“ aus Gründen der Börsenzulassung erstellt wird, denn tatsächlich verlassen sich die arrangierenden Banken und die Investoren auch im letztgenannten Fall auf den Prospekt bzw. das Offering Memorandum.320 Prospekt und Offering Memorandum haben mithin stets zwei grundlegende Funktionen: Sie sind einerseits Marketinginstrument, mit welcher der Emittent und die zu emittierende Anleihe gegenüber interessierten Anlegern beworben werden, und Disclosure Document, durch das der Emittent seine Offenlegungsverpflichtungen erfüllt und sich gleichzeitig vor dem Vorwurf mangelhafter oder unzutreffender Offenlegung schützt. Hinsichtlich Inhalt, Art und Aufmachung des Prospekts lassen sich ausgehend von der Kreditwürdigkeit des Emittenten und der gewünschten Platzierung grundsätzlich zwei verschiedene Typen unterscheiden: erstens ein vergleichsweise kurzer Prospekt, der gemäß der Prospektrichtlinie und Prospektverordnung erstellt wird und von Emittenten, deren Kreditwürdigkeit als „Investment Grade“ eingestuft wird,321 für Unternehmensanleihen (Corporate Bonds) erstellt wird, die ausschließlich in Mitgliedsstaaten der EU vertrieben werden sollen, und zweitens ein umfangreicheres Offering Memorandum für Emittenten, deren Kreditwürdigkeit im Sub-Investment Grade-Bereich liegt und für die ein Vertrieb in die Vereinigten Staaten gemäß Rule 144A vorgesehen ist (High Yield-Anleihen).322 320 Auch im Falle eines reinen Börsenzulassungsprospekts sind die Anleger nach § 21 Abs. 1 WpPG berechtigt, von den Prospektverantwortlichen die Übernahme der Wertpapiere gegen Erstattung des Erwerbspreises zu verlangen, wenn im Prospekt wesentliche Angaben unrichtig oder unvollständig sind und das Erwerbsgeschäft nach Veröffentlichung des Prospekts und innerhalb von sechs Monaten nach erstmaliger Einführung der Wertpapiere in den Börsenhandel abgeschlossen wurde. Auch wenn der Emittent im Ausland sitzt und die Anleihen zum Handel im geregelten Markt einer ausländischen Börse zugelassen sind, greift die Prospekthaftung nach § 21 Abs. 1 WpPG, sofern die Anleihen auf Grund eines im Inland abgeschlossenen Geschäfts oder einer ganz oder teilweise im Inland erbrachten Wertpapierdienstleistung erworben wurden, § 21 Abs. 3 WpPG. Voraussetzung für die Prospekthaftung nach § 21 Abs. 1 WpPG ist jedoch die Zulassung zum geregelten Markt, s. Habersack in Habersack/Mülbert/Schlitt, Hdb. der Kapitalmarktinformation, § 29 Rz. 10. Eine Zulassung der Anleihen zum ungeregelten Markt genügt nicht. In diesem Fall kann sich eine Prospekthaftung aus §§ 22, 24 WpPG ergeben, sofern ein öffentliches Angebot nach § 2 Nr. 4 WpPG vorliegt, wobei die bloße Einbeziehung von Wertpapieren in den ungeregelten Markt (z.B. Freiverkehr) kein öffentliches Angebot darstellt, s. Begr. Regierungsentwurf zum Prospektrichtlinie-Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 15/4999, 28. Zum Ganzen s. auch Mülbert/Steup in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 41 Rz. 22 ff. Da der Emittent ferner im Übernahmevertrag durch entsprechende Zusicherungen (representations and warranties) gegenüber dem Bankenkonsortium die Richtigkeit und Vollständigkeit des Prospekts bzw. Offering Memorandum verspricht, führt eine Fehlerhaftigkeit des Prospekts bzw. Offering Memorandum auch in Fällen, in denen keine gesetzlichen Haftungstatbestände erfüllt sind, zu Schadensersatz und ggf. Rücktrittsrechten der die Anleiheemission arrangierenden Banken, s. hierzu Rz. 4.225. 321 Zu den einzelnen Rating-Stufen s. Rz. 4.58. 322 S. hierzu auch Rz. 4.60 ff. und Rz. 4.188. Auf die als „Mittelstandsanleihen“ bezeichneten Anleihen kleiner und mittlerer Unternehmen, die ohne Einschaltung von Banken direkt an bestimmten Börsensegmenten emittiert worden sind, Volumina üblicherweise zwischen 5 Mio. Euro und 50 Mio. Euro aufweisen und trotz einer eher im Sub-Investment Grade-Bereich angesiedelten Kreditwürdigkeit nur verhältnismäßig kurze Prospekte (ca. 80-140 Seiten) gemäß Prospektrichtlinie und Prospektverordnung publiziert hatten, wird vorliegend nicht eingegangen. Diese Form der Anleiheemission ist von zahlreichen Insolvenzen betroffen (von ca. 180 Anleihen mit einem Volumen von rund 11 Mrd. Euro waren Ende 2016 ca. 31 Anleihen mit einem Volumen von ca. 1,5 Mrd. Euro ausgefallen, in 2017 kamen noch die Großinsolvenzen der Reederei
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Kap. 4 Rz. 4.210
Akquisitionsfinanzierung
a) Prospekt
4.210 Die in den Prospekt aufzunehmenden Mindestangaben sind in der unmittelbar geltenden Prospektverordnung in verschiedenen Schemata (Registrierungsformular und Wertpapierbeschreibung) niedergelegt. Für Anleihen mit einer Stückelung von weniger als 100.000 Euro, die typischerweise auch Privatanlegern angeboten werden, sind die erforderlichen Angaben gem. Art. 3 S. 1, Art. 7 und Art. 8 der Prospektverordnung in Anhang IV und Anhang V der Prospektverordnung geregelt. Für Anleihen mit einer Stückelung von 100.000 Euro (oder Mindesterwerbsvolumina von 100.000 Euro) finden sich die entsprechenden Mindestangaben gem. Art. 12 und Art 16 der Prospektverordnung in Anhang IX und Anhang XIII der Prospektverordnung.323
4.211 Die wichtigsten Abschnitte des Prospekts sind die Zusammenfassung, die Risikofaktoren, die Finanzinformationen, die Anleihebedingungen und die Bedingungen des Angebots. Die Finanzinformationen erstrecken sich auf die geprüften historischen Finanzinformationen für die letzen zwei Geschäftsjahre,324 den Bestätigungsvermerk (Testat) und, sofern seit dem letzten geprüften Jahresabschluss vierteljährliche oder halbjährliche Finanzinformationen veröffentlich worden sind, auch auf diese Zwischenabschlüsse.325 Werden konsolidierte Abschlüsse erstellt, sind diese in den Prospekt aufzunehmen.326 Sollen die Anleihen an einem geregelten Markt zum Handel zugelassen werden, müssen die historischen Finanzinformationen nach den IFRS-Rechnungslegungsgrundsätzen erstellt sein.327
4.212 Hinsichtlich der Finanzinformationen ist ferner die 135-Tage Regel zu beachten, d.h. die im Prospekt verwendeten Finanzinformationen dürfen zum Zeitpunkt der Emission nicht 135 Tage oder älter sein. Hintergrund hierfür ist die durch den Abschlussprüfer des Emittenten erfolgende Erteilung des sog. Comfort Letters,328 in welchem der Abschlussprüfer eine Bestätigung über die im Prospekt enthaltenen Finanzinformationen, insbesondere für die Jahresund Zwischenabschlüsse des Emittenten, erteilt. Hierdurch verschaffen sich die Emissionsbanken Gewissheit, dass diese Finanzinformationen richtig und vollständig sind.329 Für den Zeitraum zwischen dem Stichtag des letzten Jahres- oder Zwischenabschlusses und der Emis-
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Rickmers und der Fluggesellschaft Air Berlin hinzu) und hat sich letztlich nicht bewährt, s. Raettig, ZVglRWiss 2017, 230 (232 ff.). S. im Einzelnen zur Gestaltung des Prospekts Wolf/Wink in Frankfurter Kommentar zum WpPG und zur EU-Prospektverordnung, S. 1384 ff.; 1466 ff., Schlitt/Wilczek in Habersack/Mülbert/ Schlitt, Hdb. der Kapitalmarktinformation, § 5. Anhang IV Ziff. 13.1 Prospektverordnung (bzw. Art. 12 i.V.m. Anhang IX Ziff. 11.1 für Anleihen oder sonstige Schuldtitel mit einer Mindeststückelung von 100.000 Euro). Anhang IV Ziff. 13.5 Prospektverordnung, dies gilt nicht für Anleihen oder sonstige Schuldtitel mit einer Mindeststückelung von 100.000 Euro. Anhang IV Ziff. 13.3.3 Prospektverordnung (bzw. Art. 12 i.V.m. Anhang IX Ziff. 11.3.3 für Anleihen oder sonstige Schuldtitel mit einer Mindeststückelung von 100.000 Euro). Gemäß § 315a Abs. 2 HGB und Art. 4 IAS-Verordnung sind Unternehmen, die Wertpapiere zum Handel am geregelten Markt zugelassen haben, „kapitalmarktorientierte“ Unternehmen und als solche verpflichtet, ihre konsolidierten Abschlüsse gemäß IFRS aufzustellen. Anhang IV Ziff. 13.1 bzw. Anhang IX Ziff. 11.1 der Prospektverordnung verpflichtet die Emittenten wiederum für den hinsichtlich dieser Wertpapiere publizierten Prospekt die historischen Finanzinformationen in einer Form darzustellen, die konsistent mit der im folgenden Jahresabschluss zur Anwendung kommenden Form (mithin IFRS) ist. Dieser wird bestimmt durch die „Grundsätze für die Erteilung eines Comfort Letter (IDW PS 910)“. Singhof in MünchKomm/HGB, Band 6, Emissionsgeschäft, Rz. 213 f.
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.214 Kap. 4
sion ist damit aber noch nichts gesagt, weshalb seitens der Emissionsbanken weitere Untersuchungshandlungen durch den Abschlussprüfer erwartet werden,330 um sicherzustellen, dass keine wesentliche Veränderung der bestätigen Finanzinformationen eingetreten ist. Dies wird durch den Abschlussprüfer in Form der sog. negative assurance bestätigt, allerdings nur dann, wenn seit dem Stichtag des letzten Jahres- oder Zwischenabschlusses weniger als 135 Tage vergangen sind, da andernfalls aufgrund des Zeitablaufs die notwendige Sicherheit für die Negativaussage nicht mehr gegeben ist.331 Praktisch bedeutet dies die zwingende Aufnahme von Zwischenabschlüssen in den Prospekt, wenn andernfalls 135 Tage oder mehr zwischen dem Stichtag des letzten geprüften oder prüferisch durchgesehenen Abschlusses und dem Tag der Emission liegen würden. b) Offering Memorandum Die Offenlegung (disclosure) in einem Offering Memorandum für eine Rule 144A-Platzierung geht weit über die Offenlegung in einem gemäß der Prospektverordnung für eine Anleiheemission erstellten Prospekt hinaus. Ein solches Offering Memorandum ist sowohl inhaltlich als auch in der Aufmachung eher mit einem Prospekt für die Emission von Aktien vergleichbar. Die weitreichende und detaillierte Offenlegung folgt insbesondere aus der Anwendbarkeit der Haftungsbestimmungen aus Section 10 (b) des Securities and Exchange Act und der hierauf beruhenden Rule 10b-5, die auch für Privatplatzierungen in Form von Rule 144A Offerings gilt.332 Das Offering Memorandum für eine Rule 144A-Platzierung entspricht daher in vielerlei Hinsicht einem bei der SEC registrierten Prospekt für eine Wertpapieremission in den USA. Das Offering Memorandum enthält z.B. im Gegensatz zu einem typischen Anleiheprospekt nach der Prospektverordnung eine nach Berichtszeiträumen gegliederte Beschreibung von Veränderungen in der Finanz- und Ertragslage des Emittenten durch die Geschäftsführung (management’s discussion & analysis, MD& A),333 eine Beschreibung der Kapitalstruktur vor und nach der Durchführung der Emission (Capitalisation Table), eine detaillierte Aufbereitung der Finanzinformationen, die zudem für die letzten drei (statt zwei) Geschäftsjahre darzustellen sind,334 und eine detaillierte Beschreibung des Geschäftsmodells, wesentlicher Verträge und etwaiger Geschäfte mit verbundenen Personen.
4.213
Für die im Offering Memorandum enthaltenen Finanzinformationen werden zwei Comfort Letters ausgestellt, ein Comfort Letter nach dem in Deutschland geltenden Standard (IDW PS 910) und ein Comfort Letter nach dem in den Vereinigten Staaten vom American Institute of Certified Public Accountants (AICPA) herausgegebenen Standard für Comfort Letter (AICPA Standard AU-C Section 920, früher: Statement on Auditing Standards No. 72 (SAS
4.214
330 Regelmäßig gehört hierzu die Durchsicht der Monatsberichte und eine Befragung der für das Rechnungswesen des Emittenten verantwortlichen Personen, s. IDW PS 910 Rz. 72. 331 S. IDW PS 910 Rz. 73 f. 332 S. Rz. 4.198. 333 In der Terminologie der Prospektverordnung: operating and financial review, OFR. Nach der Prospektverordnung ist eine solche OFR gerade nicht für Emissionen von Anleihen bzw. sonstigen Schuldtiteln erforderlich, sondern für Aktienemissionen, Ziff. 9 Anhang I Prospektverordnung. 334 Die testierten Abschlüsse werden als „F-pages“ dem Offering Memorandum beigefügt. Die Abschlüsse müssen nicht zwingend der IFRS-Rechnungslegung unterliegen, allerdings ist in Fällen der Anwendung lokaler Rechnungslegungsvorschriften (z.B. HGB) eine kurze Beschreibung aufzunehmen, die die wesentlichen Unterschiede zwischen IFRS und den lokalen Rechnungslegungsvorschriften erläutert.
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Kap. 4 Rz. 4.215
Akquisitionsfinanzierung
72)), weshalb ein nach diesem Standard ausgestellter Comfort Letter immer noch häufig als SAS 72 Comfort Letter bezeichnet wird).335
4.215 Desweiteren basiert das Offering Memorandum im Gegensatz zum Prospekt nach der Prospektverordnung auf einer umfangreichen Due Diligence,336 die den Geschäftsbetrieb des Emittenten (Business Due Diligence), Jahresabschlüsse und sonstige Finanzinformationen (Financial Due Diligence) und die Durchsicht und Prüfung wesentlicher Dokumente und Verträge des Emittenten (Legal Due Diligence) umfasst. Art und Umfang der Due Diligence sind abhängig von Größe und Geschäftsbetrieb des Emittenten und davon, ob es sich um eine Inauguralemission handelt oder der Emittent ein repeat issuer ist. Insbesondere die folgenden Informationen können Bestandteil der Due Diligence sein: – Informationen über den Emittenten und die Organisation der Unternehmensgruppe (insbesondere frühere Beschlüsse der Leitungsorgane des Emittenten und wesentlicher Tochtergesellschaften); – Fremdfinanzierungen, Finanzierungsleasing und andere finanzierungsrelevante Informationen (insbesondere Dokumentation von bestehenden Finanzierungen, gewährten Sicherheiten etc.); – Weitere wesentliche Vertragsverhältnisse des Emittenten; – Informationen betreffend die Bilanzierung (insbesondere historische Abschlüsse und Zwischenfinanzinformationen); – Informationen über Organmitglieder; – Beschäftigungsbezogene Informationen (etwa Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge sowie gegebenenfalls bestehende betriebliche Altersversorgung); – Informationen betreffend einschlägige Regulierung (etwa Genehmigungen, Korrespondenz mit Behörden); – Informationen über wesentliche Investitionen sowie Subventionen und Zuschüsse; – Vermögensgegenstände (insbesondere auch Grundbesitz) und geistiges Eigentum; – Datenschutz und Informationstechnologie; – Versicherungen und Informationen über anhängige Verwaltungsverfahren und wesentliche Rechtsstreitigkeiten; – Umweltbezogene Informationen; – Steuerrelevante Informationen; – Externe Analysen, Berichte und Studien; und – Wettbewerbsbezogene Informationen. 335 Die Emissionsbanken verlangen regelmäßig diese sog. „Zwei-Brief-Lösung“, damit sie im Falle der Geltendmachung von Prospekthaftungsansprüchen vor einem US-Gericht auch in der Lage sind, im Rahmen ihrer Due Diligence Defense (s. hierzu unter Rz. 4.194) den in den USA üblichen Standard vorzulegen, vgl. Singhof in MünchKomm/HGB, Band 6, Emissionsgeschäft, Rz. 215. 336 S. hierzu unter Rz. 4.200. Für Prospekte nach der Prospektverordnung, die nicht nach Rule 144A vertrieben werden, führen die Emissionsbanken lediglich Due Diligence Calls mit der Geschäftsführung des Emittenten durch.
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Rz. 4.217 Kap. 4
Die Due Diligence ist außerdem Grundlage für die Abgabe der 10-b5 Opinions seitens der Anwälte des Emittenten und der Anwälte der Emissionsbanken zugunsten der Emissionsbanken.337 2. Anleihebedingungen Das Rechtsverhältnis zwischen dem Emittenten und den Anleihegläubigern wird durch die Anleihebedingungen ausgestaltet.
4.216
a) Anleihen nach deutschem Recht Unterliegt die zu begebende Anleihe deutschem Recht, wird das Rechtsverhältnis zwischen dem Emittenten und den Anleihegläubigern durch die Anleihebedingungen bestimmt (häufig als Terms and Conditions of the Notes oder Conditions of Issue bezeichnet). Die Anleihebedingungen sind Bestandteil der Globalurkunde der Anleihe. Sie enthalten das primäre Leistungsversprechen des Emittenten, Zins an den jeweiligen Fälligkeitsterminen an die Anleihegläubiger zu entrichten und den ausstehenden Kapitalbetrag am Laufzeitende zurückzuzahlen,338 sämtliche dieses Leistungsversprechen sichernde Nebenpflichten des Emittenten sowie die Rechte der Anleihegläubiger gegenüber dem Emittenten und die Rechte des Emittenten gegenüber den Anleihegläubigern.339 Zu den das Leistungsversprechen sichernden Nebenpflichten des Emittenten gehört insbesondere das sog. Covenant Package, d.h. die Verpflichtungen des Emittenten für die Dauer der Anleihe bestimmte Handlungen zu unterlassen bzw. nur im Falles des Vorliegens bestimmter Voraussetzungen vorzunehmen und einen bestimmten Zustand aufrechtzuerhalten.340 Die Rechte der Anleihegläubiger sind auf Kündigungsrechte beschränkt, die sich aus dem Eintritt eines Kontrollwechsels, Nichteinhaltung der in der Anleihe niedergelegten Nebenpflichten des Emittenten (d.h. Verstoß gegen eine Verpflichtung aus dem Covenant Package) und Eintritt sonstiger Kündigungsgründe (Events of Default) ergeben.341 Der Emittent hat umgekehrt das Recht, unter bestimmten Umständen die Anleihe vorzeitig zu kündigen und diese zurückzuzahlen oder zurückzu-
337 S. hierzu unter Rz. 4.200. 338 Anleihen sind regelmäßig endfällige Finanzierungsinstrumente. 339 Zum Begriff der Anleihe s. unter Rz. 4.185. Da die Anleihe, außer im Falle einer Selbstemission, z.B. durch Kreditinstitute, die die von ihnen begebenen Anleihen direkt bei den Investoren platzieren, nicht direkt von den Anleihegläubigern erworben wird, sondern von den Emissionsbanken, welche die Anleihen an die Investoren aufgrund der erhaltenen Zeichnungsgebote weiterveräußern, bestehen keine unmittelbaren Vertragsbeziehungen zwischen Emittent und Anleihegläubiger, sondern nur die aus den Anleihebedingungen, §§ 793 BGB ff. und den Vorschriften des SchVG resultierenden Rechtsbeziehungen, s. Grundmann in Schimansky/Bunte/ Lwowski, Bankrechts-Hdb., § 112 Rz. 117. Die Anleihebedingungen müssen sich grundsätzlich aus der Urkunde ergeben, §§ 793 Abs. 1 Satz 1, 796 BGB und § 2 SchVG. Zu den nach § 2 Satz 2 SchVG zulässigen Ausnahmen von diesem Skripturprinzip, s. Oulds in Veranneman, SchVG, § 2 Rz. 9 ff. 340 S. hierzu unter Rz. 4.239. 341 Typische weitere Kündigungsgründe für Anleihen sind: Zahlungsverzug, Drittverzug, d.h. der Emittent ist hinsichtlich einer Finanzverbindlichkeit gegenüber einem Dritten im Zahlungsverzug, Bekanntgabe der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, Einleitung bzw. Eröffnung eines Insolvenz- oder vergleichbaren Verfahrens, Liquidation und ggf. Unwirksamkeit der gestellten Sicherheiten.
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Kap. 4 Rz. 4.218
Akquisitionsfinanzierung
kaufen (Early redemption/Prepayment).342 Die konkrete Ausgestaltung des Covenant Package und der jeweiligen Rechte der Anleihegläubiger und des Emittenten wird durch die Bonität des Emittenten (insbesondere dem Rating des Emittenten bzw. der Anleihe) und die im Rahmen der Platzierung anzusprechende Investorenklasse determiniert.
4.218 Ferner sind die §§ 1 bis 4 des SchVG auf Anleihen anzuwenden.343 In aller Regel werden in den Anleihebedingungen auch die Vorschriften des 2. Abschnitts des SchVG hinsichtlich der Fassung von mehrheitlichen Gläubigerbeschlüssen mit allgemeiner Geltung für alle Anleihegläubiger ausdrücklich für anwendbar erklärt.344 Insbesondere für High Yield-Anleihen ist dies erforderlich,345 die Anleihebedingungen enthalten hier ausführliche Vorschriften zur Änderung derselbigen (Amendments and Waivers).346
4.219 Daneben werden nach herrschender Ansicht die Vorschriften der §§ 305 ff. BGB auf Anleihebedingungen angewendet,347 mit der Folge, dass eine Inhaltskontrolle der Anleihebedingungen nach §§ 307 ff. BGB stattfindet.348 Dies gilt nicht, sofern die Anleihebedingungen den Hauptleistungsinhalt der Anleihe definieren oder nicht von den gesetzlichen Vorschriften (insbesondere des SchVG) abweichen, § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB.349 b) Anleihen nach New Yorker Recht
4.220 Unterliegt die zu begebende Anleihe New Yorker Recht, sind die Anleihebedingungen in der Indenture enthalten.350 Die Indenture ist ein Vertrag zwischen dem Emittenten und einem 342 Dies ist typischerweise der Fall, falls der Emittent aufgrund des Eintritts bestimmter Änderungen des Steuerrechts zusätzliche Beträge an die Anleihegläubiger zahlen müsste, um einen Quellensteuereinbehalt von Zahlungen unter der Anleihe auszugleichen (sog. Tax Gross up). 343 Oulds in Veranneman, SchVG, § 1 Rz. 35; Bliesener/Schneider in Langenbucher/Bliesener/Spindler, 17. Kapitel, § 1 Rz. 1. 344 S. § 5 Abs. 1 Satz 1 SchVG. Wird von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht, kann der Emittent keine nachträglichen Änderungen der Anleihebedingungen durch Mehrheitsbeschluss der Anleihegläubiger herbeiführen, Bliesener/Schneider in Langenbucher/Bliesener/Spindler, 17. Kapitel, § 5 Rz. 9. 345 Bliesener/Schneider in Langenbucher/Bliesener/Spindler, 17. Kapitel, § 5 Rz. 15. Erst durch die im Rahmen des SchVG geschaffene Möglichkeit, Anleihebedingungen nachträglich durch Mehrheitsbeschluss der Anleihegläubiger zu ändern, ist das deutsche Recht zur Alternative zum (immer noch vorherrschenden) New Yorker Recht für High Yield-Anleihen aufgestiegen, s. Balz, ZBB 2009, 401 (409 ff.); Schlitt/Hekmat/Kasten, AG 2011, 429 (441 ff.). 346 Zum Umfang der Änderungskompetenz s. Bliesener/Schneider in Langenbucher/Bliesener/ Spindler, 17. Kapitel, § 5 Rz. 20. 347 BGH v. 28.6.2005 – XI ZR 363/04, MDR 2005, 1425 = NJW 2005, 2917; BGH v. 30.6.2009 – XI ZR 364/08, MDR 2009, 1122 = NJW-RR 2009, 1641 (1642); zur Gegenansicht in der Literatur s. Bliesener/Schneider in Langenbucher/Bliesener/Spindler, 17. Kapitel, § 3 Rz. 29 ff. und zum Stand der Diskussion insgesamt s. Veranneman in Veranneman, SchVG, Vorbem. zu § 5 Rz. 4 ff. 348 Für Anleihebedingungen soll ebenfalls § 305c Abs. 2 BGB gelten, wonach Zweifel bei der Auslegung allgemeiner Geschäftsbedingungen zu Lasten des Verwenders gehen, s. Hopt in FS für Steindorff, S. 341 (369); Horn, ZHR 173 (2009), 12 (37). 349 Habersack in MünchKomm/BGB, § 793 Rz. 48 und Rz. 53; Marburger in Staudinger, Vorbem. zu §§ 793 – 808 Rz. 20. 350 Insbesondere High Yield-Anleihen unterliegen traditionell New Yorker Recht, auch wenn in den letzten Jahren vermehrt High Yield-Anleihen nach deutschem Recht begeben worden sind, s. hierzu Rz. 4.248.
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.223 Kap. 4
Treuhänder (Trustee), der für die Anleihegläubiger handelt und diese vertritt. Die Anleihegläubiger sind hingegen nicht Partei zu dieser Indenture, mit der Konsequenz, dass alleine der Treuhänder (Trustee) eine vertragliche Rechtsbeziehung zum Emittenten hat und daher auch nur der Treuhänder die Bestimmungen der Indenture gegenüber dem Emittenten zugunsten der Anleihegläubiger durchsetzen kann.351 Daneben handelt der Treuhänder regelmäßig auch als Zahlstelle für die Anleihen, d.h. er verteilt die vom Emittenten erhaltenen Zins- und Kapitalzahlungen an die Anleihegläubiger. Praktisch keine Unterschiede zu den Anleihebedingungen nach deutschem Recht ergeben sich für den kommerziellen Inhalt einer Indenture. Der Inhalt des Leistungsversprechens des Emittenten, die Zusicherungen und Verpflichtungen (Covenants) des Emittenten sowie die jeweiligen Kündigungsrechte des Emittenten und der Anleihegläubiger entsprechen daher jeweils weitestgehend den entsprechenden Bedingungen einer Anleihe nach deutschem Recht.
4.221
3. Übernahmevertrag Im Übernahmevertrag (häufig als Subscription Agreement oder Purchase Agreement bezeichnet) verpflichtet sich der Emittent, die Anleihe an die Emissionsbanken Zug-um-Zug gegen Zahlung des vereinbarten Ausgabepreises zu begeben und die Emissionsbanken verpflichten sich, die zu begebende Anleihe zu übernehmen und den vereinbarten Ausgabepreis an den Emittenten zu entrichten.352 Unterliegt die Anleihe deutschem Recht, führt der Vollzug des Übernahmevertrages zur Entstehung der Anleihe: Zwischen Emittent und Emissionsbank (bzw. Konsortialführer der Emissionsbanken) wird die Begebung der Anleihe vorgenommen,353 d.h. Abschluss des Begebungsvertrages und Übertragung des Eigentums an der seitens des Emittenten ausgestellten Wertpapierurkunde durch den Emittenten an die Emissionsbank in einem einheitlichen Akt.354
4.222
Die Übernahmeverpflichtung der Emissionsbanken kann unterschiedlich ausgestaltet werden: Im Regelfall sind die Emissionsbanken wie oben dargestellt verpflichtet, die zu begebende Anleihe zu übernehmen (z.T. als firm commitment oder hard underwriting bezeichnet). Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich der Emittent auf die Übernahme unter allen Umständen verlassen kann. Denn die Übernahmeverpflichtung der Banken steht u.a. unter dem Vorbehalt der Emissionsbanken, den Rücktritt vom Übernahmevertrag erklären zu dürfen, wenn eine wesentliche nachteilige Veränderung im Geschäft, der finanziellen Situation oder in den sonstigen Angelegenheiten des Emittenten eintritt (sog. Business Material Adverse Change oder Business MAC) oder eine Änderung in den nationalen oder internationalen Kapital-, Finanz oder Devisenmärkten bzw. eine sonstige Veränderung der finanziellen, wirtschaftlichen oder politischen Rahmenbedingungen eintritt (sog. Market Material Adverse Change oder Market MAC), welche die Bonität der zu begebenden Anleihen oder
4.223
351 Plepelits, Corporate Finance Law, 2010, 119 (122); Foulkes in Veranneman, SchVG, Anhang I, Rz. 22. 352 Zur (umstrittenen) Rechtsnatur des Übernahmevertrages s. Müller in Kümpel/Wittig, Bankund Kapitalmarktrecht, Rz. 15.111; Grundmann in Schimansky/Bunte/Lwowski, BankrechtsHdb., § 112 Rz. 73; Schäfer in MünchKomm/BGB, Vorbem. § 705 Rz. 57; Derleder/Knops/Bamberger, Handbuch Bankrecht, § 58 Rz. 27, jeweils m.w.N. 353 S. hierzu Rz. 4.186. 354 Marburger in Staudinger, Vorbem. § 793 – 808 Rz. 18; Singhof in MünchKomm/HGB, Band 6, Emissionsgeschäft, Rz. 149; Ekkenga/Maas, Das Recht der Wertpapieremissionen, § 4 Rz. 311.
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343
Kap. 4 Rz. 4.224
Akquisitionsfinanzierung
die Platzierbarkeit der Anleihen am Sekundärmarkt beeinträchtigt.355 Unabhängig davon übernehmen die Emissionsbanken im Falle eines firm commitment oder hard underwriting auch im Übrigen, d.h. auch bei Abwesenheit eines Business MAC und Market MAC im Zeitraum zwischen Unterzeichnung des Übernahmevertrages und Vollzug der Anleiheemission (Closing), nur in recht eingeschränktem Maße das Platzierungsrisiko der Anleihen im Sekundärmarkt. Der Übernahmevertrag wird vielmehr üblicherweise erst durch die Emissionsbanken unterzeichnet, wenn die Roadshow bereits abgeschlossen ist und die Investoren ihre Zeichnungsgebote bei den Emissionsbanken platziert haben.356 Letztlich tragen die Emissionsbanken mithin (nur) das Risiko, dass die Investoren ihre abgegebenen Zeichnungsgebote nicht erfüllen. Vor diesem Hintergrund ist die Übernahmeverpflichtung der Emissionsbanken tatsächlich eher ein soft underwriting.357
4.224 Statt der vorgenannten Form der Übernahme der Anleihen,358 können sich die Emissionsbanken auch nur zur Platzierung der Anleihen im fremden Namen und auf fremde Rechnung (des Emittenten) verpflichten (sog. Placement Agreement) oder einen Kommissionsvertrag gem. § 383 HGB mit dem Emittenten abschließen und die Anleihen im eigenen Namen aber für Rechnung des Emittenten weiterveräußern (bloßes Begebungskonsortium oder Best Efforts Underwriting).359
4.225 Im Übernahmevertrag gibt der Emittent ferner bestimmte Zusicherungen und Gewährleistungen (Representations and Warranties) gegenüber den Emissionsbanken ab. Hierdurch wird die zwischen Emittent und Emissionsbank vereinbarte Risikoallokation im Innenverhältnis hergestellt. Ferner werden dadurch bestimmte rechtliche und tatsächliche Verhältnisse, die für die Emissionsbanken von entscheidender Bedeutung sind bzw. im Rahmen der Due Diligence festgestellt worden sind, rechtlich abgesichert. Zur Risikoverteilung zwischen Emittent und Emissionsbank gehört insbesondere, dass die mit der Emission verbundenen (Prospekt-)Haftungsrisiken gegenüber den Investoren vom Emittenten zu tragen sind, denn er profitiert wirtschaftlich von dem Emissionserlös und ist zwangsläufig mit den eigenen rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen vertraut bzw. hat für diese einzustehen.360 Eine wesentliche Gewährleistung ist daher die Richtigkeit und Vollständigkeit des Prospekts 355 Müller in Kümpel/Wittig Bank- und Kapitalmarktrecht, Rz. 15.298 und der Mustervertrag bei Bosch/Groß, Emissionsgeschäft (BuB), Rz. 10/245, Art. 10 (Change of Circumstances); Horn, Recht der internationalen Anleihen, S. 127 ff.; Grundmann in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., § 112 Rz. 72; Bartz in Derleder/Knops/Bamberger, Handbuch Bankrecht, § 58 Rz. 28. Daneben kann auch noch Force Majeure, d.h. der unvorhersehbare Eintritt schwerwiegender Ereignisse aufgrund höherer Gewalt, als Rücktrittsgrund vereinbart werden, s. hierzu Müller in Kümpel/Wittig Bank- und Kapitalmarktrecht, Rz. 15.295. 356 Der Weiterverkauf der übernommenen Anleihen an die Investoren findet unmittelbar nach dem Closing im eigenen Namen und auf eigene Rechnung der Emissionsbanken statt. 357 Ebenso Diekmann in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 31 Rz. 30 und Groß in Langenbucher/Bliesener/Spindler, 40. Kapitel, Rz. 31, der zu Recht darauf hinweist, dass das Platzierungsrisiko der Emissionsbanken aufgrund der Ausgestaltung der Verträge und der zeitlichen Abfolge ihrer Unterzeichnung „faktisch ausgeschlossen werden kann“. 358 Die Übernahmeverpflichtung in Form firm commitment oder hard underwriting bildet den Regelfall für Anleiheemissionen in Deutschland, s. Singhof in MünchKomm/HGB, Band 6, Emissionsgeschäft, Rz. 14. 359 Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, Emissions- und (Effekten-) Konsortialgeschäft, Rz. Y/3; Grundmann in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., § 112 Rz. 6. 360 Singhof in MünchKomm/HGB, Band 6, Emissionsgeschäft, Rz. 167.
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.227 Kap. 4
bzw. Offering Memorandums und die Richtigkeit der für Zwecke des Prospekts bzw. Offering Memorandums verwendeten Jahresabschlüsse.361 Weiterer Bestandteil der vorstehend beschriebenen Risikoverteilung zwischen Emittent und Emissionsbank ist eine umfassende Haftungsfreistellung der Emissionsbanken durch den Emittenten im Falle von Ansprüchen aufgrund der Verletzung der im Übernahmevertrag enthaltenen Representations and Warranties und der Inanspruchnahme der Emissionsbanken durch Investoren aufgrund etwaiger Prospekthaftung. Diese Haftungsfreistellung deckt in der Regel auch noch nicht rechtskräftig bzw. gerichtlich festgestellte Ansprüche der Investoren gegen die Emissionsbanken ab. Die Freistellung greift mithin zeitlich bereits ab der (gerichtlichen) Geltendmachung etwaiger Prospekthaftungsansprüche der Investoren gegen die Emissionsbanken ein.362
4.226
Die Preisfindung (Pricing) für die zu begebende Anleihe bezieht sich auf den Ausgabe- bzw. 4.227 Emissionspreis der Anleihe und den Zins der Anleihe, mithin die Rendite p.a. der Anleihe. Es ist zwischen einem open pricing und einen fixed pricing zu unterscheiden: Bei einem open pricing wird zu Beginn der Zeichnungsphase nur eine indikative Rendite genannt und der endgültige Ausgabepreis und Zins wird erst nach Abschluss der Zeichnungsphase (aber vor Vollzug der Anleiheemission (Closing)) bekanntgegeben. Für das fixed pricing werden Ausgabepreis und Zins bereits bei Beginn der Zeichnungsphase festgelegt.363 Eine Variante des open pricing ist das auch bei Anleihen angewandte Bookbuilding-Verfahren. Hier werden die Investoren zur Abgabe von Zeichnungsangeboten aufgefordert und diese Zeichnungsangebote werden nach Ablauf der Zeichnungsphase in einem Orderbuch (book) des Konsortialführers der Emissionsbanken zusammengefasst.364 Das Orderbuch (book) enthält die Höhe der jeweiligen Zeichnungsgebote, die Namen und die Preisvorstellungen der jeweiligen Investoren. Emittent und Emissionsbank entscheiden sodann gemeinsam über den Preis, d.h. Ausgabepreis und Zinskupon der Anleihe, das Emissionsvolumen insgesamt, welches nachfrageinduziert aufgestockt oder reduziert werden kann, und die Zuteilung der Anleihen an die Investoren.365 361 S. hierzu Diekmann in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 31 Rz. 66 ff. 362 Hierdurch werden auch die Rechtsverteidigungskosten der Emissionsbanken ab Beginn der (gerichtlichen) Auseinandersetzung mit dem Investor von der Haftungsfreistellung erfasst. Letztlich besteht hier ein Gleichlauf der Interessen zwischen Emittent und Emissionsbanken, schließlich ist auch der Emittent an der Abweisung der Klage des Investors gegen die Emissionsbanken interessiert, um nicht dem Rückgriffsanspruch der Emissionsbanken im Falle einer erfolgreichen Klage des Investors gegen die Emissionsbanken ausgesetzt zu sein. Zum Ganzen s. Singhof in MünchKomm/HGB, Band 6, Emissionsgeschäft, Rz. 180; Müller in Kümpel/Wittig, Bank- und Kapitalmarktrecht, Rz. 15.291; Hartwig-Jacob, Internationale Anleiheemissionen, S. 93 f. 363 Groß in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, Handelsgesetzbuch, Rz. VII 47; Groß, ZHR 162 (1998), 318 (322 ff.); Müller in Kümpel/Wittig, Bank- und Kapitalmarktrecht, Rz. 15.86. 364 In der Praxis werden die Investoren über die verschiedenen Informationsdienste durch sog. deal announcements über die geplante Emission informiert und zur Abgabe von Zeichnungsgeboten aufgefordert, z.B. das „books open“-deal announcement, in dem der Emittent, Emissionsvolumen, Laufzeit und Preisspanne der geplanten Anleihen gegenüber dem Kapitalmarkt kommuniziert werden und das „initial price talk“-deal announcement, in dem provisorische Informationen zum Pricing der Anleihe unmittelbar vor der Eröffnung des Orderbuchs und der Bekanntgabe der formalen Preisspanne publiziert werden. 365 Müller in Kümpel/Wittig, Bank- und Kapitalmarktrecht, Rz. 15.87; Ekkenga/Maas, Das Recht der Wertpapieremissionen, § 4 Rz. 311; Diekmann in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 31 Rz. 14.
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Kap. 4 Rz. 4.228
Akquisitionsfinanzierung
4.228 Der Übernahmevertrag enthält ferner eine Reihe von Voraussetzungen für die Übernahme der Anleihen durch die Emissionsbanken und die Zahlung des Ausgabepreises an den Emittenten (sog. Closing Conditions). Zu diesen Closing Conditions gehören typischerweise die Vorlage der Beschlüsse der Organe des Emittenten über die Ausgabe der Anleihen, gesellschaftsrechtliche Dokumente (Satzung bzw. Gesellschaftsvertrag, Handelsregisterauszug), Vorlage der Rechtsgutachten (Legal Opinions) der jeweiligen Rechtsberater zur Wirksamkeit der zu begebenden Anleihe und der in diesem Zusammenhang abgeschlossenen Verträge, Vorlage der Disclosure Letters (10b-5 Opinions),366 Abgabe der Bestätigung des Emittenten, dass die Gewährleistungen (Representations and Warranties) am Vollzugstag zutreffend sind und der Emittent seine Verpflichtungen aus dem Übernahmevertrag vollständig erfüllt hat (sog. Officer’s Certificate) sowie die Abgabe bzw. Bestätigung des Comfort Letters durch die Wirtschaftsprüfer des Emittenten.367
4.229 Der Übernahmevertrag für eine Anleiheemission unterliegt grundsätzlich dem Recht, welches für die zu begebende Anleihe gewählt wurde. Möchte ein deutscher Emittent daher High Yield-Anleihen nach New Yorker Recht emittieren, würde der Übernahmevertrag New Yorker Recht unterliegen.368 4. Engagement Letter
4.230 Da der Übernahmevertrag in der Praxis häufig erst nach Abgabe der Zeichnungsgebote der Investoren bei den Emissionsbanken (bzw. frühestens unmittelbar vor Beginn der Bookbuilding-Phase (s. unter Rz. 4.227)), mithin erst gegen Ende der Transaktion zwischen Emittent und Emissionsbanken abgeschlossen wird, werden die wechselseitigen Pflichten des Emittenten und der Emissionsbanken regelmäßig in einem Mandatsbrief (Engagement Letter oder Letter of Engagement) festgehalten. Als entgeltlicher Geschäftsbesorgungsvertrag gem. § 675 BGB werden in diesem insbesondere vereinbart: der Umfang des Mandats der Emissionsbanken (d.h. der konkreten Dienstleistungen der (konsortialführenden) Emissionsbank(en) für den Emittenten im Rahmen der Anleiheemission), die Aufgabenverteilung unter den Emissionsbanken (u.a. für Prospekt bzw. Offering Memorandum, Organisation der Roadshow, Durchführung des Rating-Prozesses, Dokumentation der Anleiheemission etc.), das voraussichtliche bzw. angestrebte Emissionsvolumen, die Festlegung der Platzierungsart (Public vs. Private Placement, Vertrieb in die Vereinigten Staaten etc.), des Börsenplatzes und des Marktsegments (geregelter oder ungeregelter Markt), Honorar- und Kostenregelungen sowie Regelungen hinsichtlich einer Exklusivität der Mandatierung der Emissionsbanken für die Anleihetransaktion.369
366 S. hierzu unter Rz. 4.200. 367 S. hierzu unter Rz. 4.212 und Rz. 4.214. Sofern einzelne Closing Conditions bereits zu früheren Zeitpunkten (z.B. Festsetzung des Ausgabepreises der Anleihen oder Billigung des Prospekts oder Offering Memorandums durch die zuständige Aufsichtsbehörde) abgegeben worden sind, werden diese durch sog. Bring-down Letters bzw. Bring-down Calls zum Zeitpunkt des Closings bestätigt. 368 Inhalt und Aufbau des Übernahmevertrages ändern sich hierdurch grundsätzlich nicht, s. Kaulamo in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 17 Rz. 27. 369 Singhof in MünchKomm/HGB, Band 6, Emissionsgeschäft, Rz. 130 ff.
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.232 Kap. 4
5. Intercreditor Agreement Sofern die Anleihe (wie häufig) nicht die einzige Finanzierungsform der Akquisitionsfinan- 4.231 zierung insgesamt darstellt, werden die Rechtsbeziehungen der Anleihegläubiger zu den übrigen Finanzierungsgläubigern der Akquisitionsfinanzierung in einer Gläubigervereinbarung (Intercreditor Agreement) geregelt.370 Mangels einer solchen Gläubigervereinbarung könnten die Gläubiger der Akquisitionsfinanzierung ihre aus den jeweiligen Finanzierungsinstrumenten resultierenden Rechte unabhängig voneinander ausüben,371 mit der Konsequenz, dass im Falle des Eintritts eines Kündigungsgrundes die Gefahr einer unkoordinierten Verwertung der Sicherheiten und letztlich eines „Wettlaufs der Sicherungsnehmer“ bestünde. Verstärkt wird dieses Risiko dadurch, dass die Kündigung und Fälligstellung der Darlehensforderungen aus dem Akquisitionskreditvertrag eine Mehrheit von mindestens 2/3 der Kreditzusagen der Kreditgeber erfordert,372 hingegen für Anleihen die Kündigung und Fälligstellung der Anleihen nur einem Mindestquorum von 25 % der ausstehenden Anleihen unterliegt.373 Um solche Zufälligkeiten zu vermeiden, sieht die Marktpraxis vor,374 dass die Anleihen ebenfalls den Regelungen einer Gläubigervereinbarung unterworfen werden, die u.a. die Rangfolge der Befriedigung festlegt und die Abstimmung der verschiedenen Gläubigergruppen über eine etwaige Verwertung regelt. Rechtlich wird die Bindung der Anleihegläubiger an das Intercreditor Agreement durch den Beitritt des Vertreters der Anleihegläubiger (Trustee im Falle von Anleihen nach New Yorker Recht und gemeinsamer Vertreter nach § 8 SchVG, sofern die Anleihen deutschem Recht unterliegen) zum Intercreditor Agreement vollzogen.375 6. Zahlstellenvertrag In der Zahlstellenvereinbarung (Paying Agency Agreement) bestellt der Emittent einen Dritten (regelmäßig ein Kreditinstitut, das auch als Emissionsbank im Rahmen des Übernahmevertrages tätig ist) als Zahlstelle auf Grundlage eines Geschäftsbesorgungsvertrages gem. § 675 BGB. Aufgabe der Zahlstelle ist insbesondere die Einlieferung der Wertpapiere bei der Verwahrstelle (in Deutschland: Clearstream) und die Abwicklung des Zahlungsverkehrs zwischen dem Emittenten und den Anleihegläubigern (insbesondere Zinszahlungen an den Zinszahlungsterminen und Rückzahlung der Anleihe bei Fälligkeit).376 Die Zahlstelle handelt hier370 S. hierzu Rz. 4.85. 371 Im Falle einer kombinierten Kredit- und Anleihefinanzierung der Akquisition (Bank/Bond-Finanzierung) könnten nach Eintritt eines Kündigungsgrundes ein oder mehrere Anleihegläubiger ihre Anleihen kündigen und zur Besicherung der Anleihen bestellte Sicherheiten verwerten. 372 S. hierzu Rz. 4.152 und Rz. 4.172. 373 Für Anleihen nach deutschem Recht ist dies zwingend, s. § 5 Abs. 5 Satz 1 SchVG, wonach das Recht jedes Anleihegläubigers zur Kündigung der von ihm gehaltenen Schuldverschreibungen nur eingeschränkt werden darf, sofern der für die Kündigung erforderliche Mindestanteil der ausstehenden Schuldverschreibungen nicht mehr als 25 % beträgt. Auch für Anleihen nach englischem oder amerikanischem Recht ist dies die übliche Schwelle, d.h. Anleihegläubiger, die 25 % oder mehr der ausstehenden Anleihen halten, können vom Anleihetreuhänder (Trustee) die Kündigung der Anleihe gegenüber dem Emittenten verlangen, s. hierzu Veranneman, SchVG, § 5 Rz. 42 ff. 374 Jedenfalls für dinglich besicherte Anleihen bzw. Akquisitionsfinanzierungsstrukturen. 375 In Anleihen nach deutschem Recht wird ferner noch geregelt, dass die Kündigung der Anleihe gegenüber dem Emittenten nur durch den gemeinsamen Vertreter nach § 8 SchVG erklärt wird, da die Anleihegläubiger selbst nicht Partei zum Intercreditor Agreement werden. 376 Zur Verwahrstelle s. unter Rz. 4.187.
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4.232
Kap. 4 Rz. 4.233
Akquisitionsfinanzierung
bei als Erfüllungsgehilfin des Emittenten gem. § 278 BGB. Es bestehen mithin im Gegensatz zum Agenten einer Konsortialfinanzierung,377 keine vertraglichen Rechtsbeziehungen zwischen den Anleihegläubigern und der Zahlstelle.378
V. High Yield-Anleihe 4.233 High Yield-Anleihen (High Yield Bonds oder Junk Bonds) zeichnen sich neben dem Sub-Investment Grade Rating und dem dadurch resultierenden höheren Zins durch eine Besicherung und ein umfangreiches Korsett an Verpflichtungen (Covenants) aus,379 die dem Emittenten und seinen Tochtergesellschaften bestimmte Handlungen untersagen oder die Vornahme nur bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen gestatten. Durch diese Covenants soll die Zahlungsfähigkeit des Emittenten während der Laufzeit der Anleihe sichergestellt werden und das Rangverhältnis der Anleihegläubiger gegenüber anderen Gläubigern des Emittenten und seinen Tochtergesellschaften gewahrt bleiben.380 Neben den Covenants, die das zentrale Element einer High Yield-Anleihe sind, werden nachfolgend die wesentlichen Merkmale von High Yield-Anleihen dargestellt. 1. Platzierung und Börsennotierung
4.234 High Yield-Anleihen werden regelmäßig im Rahmen einer Rule 144A Platzierung vertrieben,381 mit der Folge, dass das dazugehörige Offering Memorandum im Wesentlichen den Offenlegungsvorschriften des US-amerikanischen Kapitalmarktrechts entspricht.382 Eine Börsennotierung der High Yield-Anleihen findet zumeist im ungeregelten Markt, v.a. im Euro MTF Segment der Luxemburger Börse, Global Exchange Market der Irish Stock Exchange und an der die Channel Islands Stock Exchange.383 2. Volumen und Laufzeit
4.235 Ein Faktor im Rahmen der Beurteilung einer potentiellen Investition in eine High Yield-Anleihe durch die Anleger ist die voraussichtliche Liquidität am Sekundärmarkt, mithin die Möglichkeit der Anleger, die erworbene Anleihe ggf. auch über die Börse wieder verkaufen zu können. Eine angemessene Liquidität bedingt einen gewissen Mindestumfang der Emission, der häufig bei 150 Mio. Euro angesetzt wird.384 Typische Laufzeiten für High Yield-
377 S. hierzu Rz. 4.159 ff. 378 Zum Ganzen s. Diekmann in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 31 Rz. 96 ff. 379 High Yield-Anleihen sind regelmäßig durch (Upstream-) Garantien der Tochtergesellschaften und Realsicherheiten besichert. S. hierzu und zu verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten der Besicherung, Schlitt/Hekmat/Kasten, AG 2011, 429 (437 ff.). 380 Bliesener/Schneider in Langenbucher/Bliesener/Spindler, 17. Kapitel, § 1 Rz. 67; Hutter in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 17 Rz. 67; Hoffmann/Baron, ZBB 2005, 317 (332 f.). 381 Hoffmann/Baron, ZBB 2005, 317 (320 ff.). Insbesondere soll durch die kombinierte Rule 144A und Reg S-Platzierung eine möglichst hohe Nachfrage generiert werden. 382 S. hierzu unter Rz. 4.213 ff. 383 S. unter Rz. 4.204. 384 Harrer/Fisher, FB 2003, 781 (782).
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.238 Kap. 4
Anleihen betragen fünf, sieben, acht oder auch zehn Jahre, High Yield-Anleihen sind stets endfällig.385 3. Verzinsung High Yield-Anleihen sind traditionell festverzinsliche Wertpapiere mit halbjährlichen Zinszahlungen,386 es werden allerdings auch variabel (floating) verzinsliche Anleihen emittiert. In den letzten Jahren hat der Anteil variabel verzinslicher Hochzinsanleihen am Gesamtemissionsvolumen recht stark zugenommen.387 Die Effektivverzinsung bzw. Endfälligkeitsrendite (Yield to Maturity), d.h. der Prozentsatz, der sich aus der Summe der zukünftigen Zins- und Kapitalzahlungen bis zur Endfälligkeit der Anleihe im Verhältnis zum Ausgabepreis der Anleihe ergibt,388 lag im Jahr 2017 für dinglich besicherte (senior secured) High Yield-Anleihen bei durchschnittlich ca. 5 %.389 Die Spannbreite der Endfälligkeitsrenditen (Yield to Maturity) betrug, abhängig von der Bonität, mithin dem Rating der High Yield-Anleihe, durchschnittlich zwischen 3 % (für „BB+“ geratete Anleihen) und ca. 6,4 % (für „B-“ geratete Anleihen).390
4.236
High Yield-Anleihen können auch vorsehen, dass der Emittent das Recht hat, statt einer Zinszahlung in Geld, Zinszahlungen in Form der Ausgabe weiterer Anleihen zu erbringen (sog. Payment-in-kind oder PIK Zins und die entsprechenden Anleihen aufgrund des Wahlrechts des Emittenten: PIK Toggle Notes). Da sich hierdurch die insgesamt durch den Emittenten zurückzuzahlende Schuld erheblich erhöhen kann, insbesondere durch den Zinseszins-Effekt,391 kann der Emittent den PIK Zins regelmäßig nur bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen bzw. während bestimmter Zeiträume wählen.392
4.237
4. Kündigungssperre/Non-Call Periods Die Investoren in High Yield-Anleihen erwarten, im Gegensatz zu den Investoren in Unternehmensanleihen, nur eine begrenzte Sicherung ihrer Investition (und der Rendite ihrer Investition) durch die Aufnahme von Kündigungssperren in die Anleihedokumentation (sog. Non-Call Periods).393 Traditionell betragen die Kündigungssperrfristen die Hälfte der vorgesehenen Laufzeit, bei üblichen Laufzeiten von fünf oder sieben Jahren finden sich mittlerweile häufig Kündigungssperrfristen von zwei bzw. drei Jahren.394 Auch der Inhalt der Kündigungs385 Kaulamo in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 17 Rz. 47. 386 Strauch in Eilers/Rödding/Schmalenbach, Unternehmensfinanzierung, C. Fremdkapitalfinanzierung, Rz. 177. 387 Während im Jahr 2013 der Anteil der variabel verzinslichen High Yield-Anleihen ca. 8 % betragen hat, hat sich der Anteil auf 16 % in 2017 verdoppelt, s. Debtwire, European Levaraged Insights – Year-end 2017, S. 144. 388 Zu den unterschiedlichen Berechnungsmethoden der Rendite von Wertpapieren s. SchulteMattler in Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Schulte-Mattler, VO (EU) 575/2013 Art. 340 Rz. 2 ff. 389 Debtwire, European Levaraged Insights – Year-end 2017, S. 159. 390 Debtwire, European Levaraged Insights – Year-end 2017, S. 161. 391 Die als PIK begebenen Anleihen tragen ihrerseits wiederum Zins. 392 S. z.B. ca. 2,5 Mrd. Euro Senior Secured PIK Toggle Notes der IHO Verwaltungs GmbH (Hauptgesellschafterin der börsennotierten Schaeffler AG), Offering Memorandum vom 22.9.2016. 393 Balz, ZBB 2009, 401 (408). 394 S. z.B. PrestigeBidCo GmbH, 260 Mio. Euro 6,250 % Senior Secured Notes due 2023: Non-Call Periode von drei Jahren bei einer Laufzeit von sieben Jahren; Senvion Holding GmbH, 400 Mio. Euro 3,875 % Senior Secured Notes due 2022: Non-Call Periode von zwei Jahren bei
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4.238
Kap. 4 Rz. 4.239
Akquisitionsfinanzierung
sperrfristen hat sich gewandelt: Während ursprünglich dem Emittenten die Kündigung während der Non-Call Period untersagt war, ist sie in aktuellen Anleihedokumentationen dem Emittenten regelmäßig gegen Zahlung einer Make Whole-Prämie gestattet.395 Diese setzt sich zumeist aus einem Aufgeld von 1 % auf den Nennbetrag der Anleihe und einer Prämie, welche die Investoren wirtschaftlich zum Zeitpunkt der vorzeitigen Rückzahlung der Anleihe so stellt, wie sie bei vertragskonformer Erfüllung der Anleihebedingungen durch den Emittenten bis zum Ende der Non-Call Period und anschließender Rückzahlung der Anleihe stünden.396 Nach dem Ende der Non-Call Period ist es dem Emittenten gestattet, die Anleihen zu einem Rückkaufpreis zurückzukaufen, der sich aus der Summe des Nennbetrags der Anleihe und 50 % des Zinskoupons zusammensetzt. Im zweiten, dritten und den nachfolgenden Jahren nach dem Ende der Non-Call Period reduziert sich dieser Aufschlag über den Nennbetrag der Anleihe bis auf null, d.h. der Emittent kann die Anleihe zum Nennbetrag zurückzahlen.397 Daneben sehen die Anleihebedingungen regelmäßig ein Recht für den Emittenten vor, einen Teil der High Yield-Anleihe (häufig bis zu 35 % oder 40 % des Nennbetrages) durch die Erlöse aus einer Aufnahme von Eigenkapital am Kapitalmarkt zurückzuführen (sog. Equity Clawback).398 5. Covenants a) Allgemein
4.239 Die Anleihegläubiger verfolgen durch die Aufnahme restringierender Covenants in die High Yield-Anleihe ihr Interesse, die Zahlungsfähigkeit des Emittenten während der Laufzeit der Anleihe sicherzustellen und das Rangverhältnis der Anleihegläubiger gegenüber anderen Gläubigern des Emittenten und seinen Tochtergesellschaften zu wahren. Der Emittent hat hingegen ein legitimes Interesse daran, operativen Handlungsspielraum zu wahren und die breit gestreute Anlegerbasis möglichst nicht mit Zustimmungsanfragen kontaktieren zu müssen, es sei denn er möchte für die Bonität der Gesellschaft relevante Maßnahmen durchführen, z.B. zusätzliche Finanzverschuldung aufnehmen oder Dividenden an die Gesellschafter zahlen. Diese widerstreitenden Interessen werden dadurch in Einklang gebracht, dass die High Yield-Anleihe dem Emittenten keine Verpflichtung zur Aufrechterhaltung bestimmter Finanzkennzahlen (Maintenance Financial Covenants, wie sie z.B. in Konsortialkreditverträgen verwendet werden, s. hierzu Rz. 4.143) aufgibt, sondern stattdessen die Durchführung bestimmter, außerhalb des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs liegender Maßnahmen, an das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen, einschließlich des Erreichens bestimmter Finanzkennzahlen, bindet (Incurrence Covenants). Im Ergebnis bewirken Incurrence Covenants, dass eine volatile bzw. negative Entwicklung des Geschäftsbetriebs des Emittenten für sich
395 396
397 398
350
einer Laufzeit von fünf Jahren; Garfunkel Holdco 3 S.A., 365 Mio. Euro 7,500 % Senior Secured Notesdue 2022: Non-Call Periode von drei Jahren bei einer Laufzeit von sieben Jahren. Kusserow/Dittrich, WM 2000, 745 (748); Schlitt/Hekmat/Kasten, AG 2011, 429 (434). Vertragstechnisch wird diese Prämie durch die (positive) Differenz zwischen (i) der Summe aus dem Rückkaufpreis der Anleihe am Ende der Non-Call Period und sämtlicher bis zu diesem Zeitpunkt noch anfallender Zinszahlungen, abdiskontiert mit einem vereinbarten Zinssatz (für Anleihen deutscher Emittenten regelmäßig die Rendite von Bundesanleihen der Bundesrepublik Deutschland zzgl. eines Risikoaufschlags) und (ii) dem Nennbetrag der Anleihen am Rückzahlungstag dargestellt. Strauch in Eilers/Rödding/Schmalenbach, Unternehmensfinanzierung, C. Fremdkapitalfinanzierung, Rz. 178; Hutter in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 18 Rz. 102 f. Kusserow/Dittrich, WM 2000, 745 (748).
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F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.241 Kap. 4
alleine genommen, nicht zu einem Verstoß gegen die Bedingungen der High Yield-Anleihe führt und mithin die Anleihegläubiger nicht hinsichtlich Verzichts- oder Zustimmungserklärungen kontaktiert werden müssen.399 Die wichtigsten Covenants sind der financial indebtedness covenant, restricted payment covenant, asset sale covenant, transactions with affiliates covenant, liens covenant (Negative Pledge) und der reporting covenant. Diese verpflichten nicht nur den Emittenten selbst, sondern auch seine Tochtergesellschaften (Restricted Subsidaries), andernfalls bestünde das Risiko der Umgehung der Covenants durch die Tochtergesellschaften sowie ggf. der strukturellen Subordination.400 Während zum Zeitpunkt der Emission einer High Yield-Anleihe regelmäßig sämtliche Tochtergesellschaften Restricted Subsidaries sind, hat der Emittent während der Laufzeit der Anleihe das Recht, Tochtergesellschaften aus der Gruppe der Restricted Subsidaries herauszulösen, mit der Folge, dass diese nicht mehr den Covenants der High Yield-Anleihe unterliegen, gleichzeitig aber auch hinsichtlich der verbliebenen Restricted Subsidaries wie Dritte behandelt werden, mithin nicht mehr von gruppeninternen Erlaubnistatbeständen innerhalb der Covenants profitieren.401 Um dem Emittenten und den Restricted Subsidiares bei expandierendem Geschäftsbetrieb weiterhin ausreichende Erlaubnistatbestände zu gewähren, werden in High Yield Covenants häufig auch sog. grower baskets verwendet. Diese räumen Freibeträge in der Form ein, dass stets das Höhere eines festen Betrages oder eines Prozentsatzes einer Bilanz- oder sonstigen Größe (v.a. EBITDA) zur Verfügung steht.
4.240
b) Einzelne Covenants einer High Yield-Anleihe Der financial indebtedness covenant soll die Aufnahme übermäßiger Finanzverschuldung durch 4.241 den Emittenten (und die Restricted Subsidaries) verhindern. Der financial indebtedness covenant ist zusammen mit dem restricted payment covenant die wichtigste Covenant-Verpflichtung des Emittenten, da jede zusätzliche Finanzverbindlichkeit eine Belastung des Emittenten darstellt, die seine Fähigkeit die Anleihe zu bedienen bedrohen kann.402 Neben der Ausnahme zum Zeitpunkt der Emission bestehender Finanzverschuldung (bzw. deren Refinanzierung) ist die wichtigste Ausnahme hiervon die sog. Ratio Debt. Die Ratio Debt gestattet die Aufnahme weiterer Finanzverbindlichkeiten, sofern ein bestimmtes Verhältnis von konsolidierter Finanzverschuldung (Consolidated Total Indebtedness) zu EBITDA (Leverage Ratio)403 und/oder EBITDA zu 399 Heitmann, High-Yield-Anleihen, S. 122 ff.; Strauch in Eilers/Rödding/Schmalenbach, Unternehmensfinanzierung, C. Fremdkapitalfinanzierung, Rz. 179; Plepelits, Corporate Finance Law, 2010, 119 (122 ff.); Hutter in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 18 Rz. 68 ff. Gleichzeitig geht hierdurch die „Frühwarnfunktion“ maintance-basierter Finanzkennzahlen verloren, s. hierzu Rz. 4.148. 400 So z.B. bei Aufnahme von Finanzverschuldung durch die Tochtergesellschaften des Emittenten, s. hierzu allgemein Rz. 4.89. Außerdem muss insbesondere in Fällen, in denen der Emittent eine Holding-Gesellschaft ohne eigenen Geschäftsbetrieb ist, sichergestellt werden, dass die operativen Tochtergesellschaften den Covenants unterliegen. 401 Heitmann, High-Yield-Anleihen, S. 120 ff.; Schlitt/Hekmat/Kasten, AG 2011, 429 (430 f.). 402 Heitmann, High-Yield-Anleihen, S. 204 f. 403 S. hierzu Rz. 4.145. Allerdings ist zu beachten, dass die Finanzkennzahlen unter einer High YieldAnleihe häufig nur bedingt mit den korrespondierenden Finanzkennzahlen eines Kreditvertrages vergleichbar sind, z.B. wenn die Finanzkennzahlen der High Yield-Anleihe (wie häufig) auf die Brutto-Finanzverschuldung des Emittenten und seiner Tochtergesellschaften (Restricted Subsidiaries) abstellen (im Gegensatz zur im Konsortialkredit üblichen Netto-Finanzverschuldung, s. Rz. 4.145).
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351
Kap. 4 Rz. 4.242
Akquisitionsfinanzierung
laufendem Kapitaldienst404 (Fixed Charge Cover Ratio – FCCR) eingehalten wird.405 Überwiegend wird hier nur noch auf das Fixed Charge Cover Ratio abgestellt, ein Verhältnis von 2:1 hat sich hierfür als Marktstandard etabliert. Finanzverbindlichkeiten, die im gewöhnlichen Geschäftsgang aufgenommen werden sind neben weiteren Ausnahmetatbeständen ebenfalls ausgenommen. Soll die neu aufzunehmende Finanzverschuldung auch besichert werden, ist neben dem Fixed Charge Cover Ratio auch ein bestimmtes Verhältnis von besicherter Finanzverschuldung zu EBITDA (Consolidated Secured Debt Ratio) einzuhalten.406 Für die Prüfung, ob die vorgenannten Kennzahlen eingehalten werden, wird die Aufnahme der (besicherten) Finanzverschuldung so behandelt, als wäre sie bereits erfolgt (sog. pro forma-Betrachtung).
4.242 Der restricted payment covenant schränkt den Emittenten und die Restricted Subsidaries ein, Dividenden auszuschütten oder sonstige Ausschüttungen an die Gesellschafter vorzunehmen. Gewinne sollen grundsätzlich thesauriert und das Vermögen des Emittenten und der Restricted Subsidaries in den Gesellschaften belassen werden, um das equity cushion möglichst groß zu halten und die langfristige Bedienung der High Yield-Anleihe sicherzustellen.407 Die Ausschüttung ist hingegen u.a. erlaubt, wenn (i) der Emittent noch mindestens 1 Euro Ratio Debt aufnehmen könnte, d.h. der Emittent hat die vorgenannte Finanzkennzahl Fixed Charge Cover Ratio (und/oder ggf. Leverage Ratio) nicht überschritten und würde diese auch unter Zugrundelegung der gewünschten Ausschüttung nicht überschreiten, und (ii) bestimmte prozentuale Schwellen nicht überschritten werden. Diese betragen regelmäßig 50 % des kumulierten Konzernergebnisses (consolidated net income) seit der Emission (sog. Built-up Basket).408
4.243 Der asset sale covenant schränkt den Emittenten und die Restricted Subsidaries grundsätzlich nicht hinsichtlich der Veräußerung ihrer Vermögensgegenstände ein, vielmehr soll nur sichergestellt werden, dass die Gegenleistung marktgerecht ist, zu einem bestimmten Prozentsatz aus Barmitteln besteht (typischerweise 75 %) und dieser Barerlös innerhalb einer bestimmten Frist (typischerweise 365 Tage) für (Re-) Investititionszwecke oder zur Rückzahlung von bestehender Finanzverschuldung verwendet wird.409
4.244 Der transactions with affiliates convenant soll vor einer Umgehung des restricted payment covenant schützen, indem Transaktionen zwischen dem Emittenten bzw. den Restricted Subsidaries und den mit ihnen verbundenen Unternehmen, die nicht zu marktüblichen Bedingungen erfolgen, beschränkt werden. Verbunden sind in diesem Zusammenhang Unternehmen, die den Emittenten oder seine Tochtergesellschaften beherrschen oder unter gemeinsamer Beherr-
404 Insbesondere Zinszahlungen, (Regel-) Tilgungen von Kapital etc. 405 Heitmann, High-Yield-Anleihen, S. 204 ff.; Schlitt/Hekmat/Kasten, AG 2011, 429 (431); Hutter in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 18 Rz. 78. 406 Im Gegensatz zum FCCR hat sich hier kein festes Verhältnis als Marktstandard etabliert. Die Höhe des Schwellenwertes für den Consolidated Secured Debt Ratio hängt vielmehr in erheblichem Maße davon ab, welches Consolidated Secured Debt Ratio der Emittent zum Emissionszeitpunkt aufweist. 407 Heitmann, High-Yield-Anleihen, S. 173 ff.; Schlitt/Hekmat/Kasten, AG 2011, 429 (431 f.); Hutter in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 18 Rz. 80. 408 Der Basket baut sich durch Konzernüberschüsse des Emittenten immer weiter auf. Etwaige Verluste des Emittenten reduzieren diesen Basket allerdings auch wieder. 409 Plepelits, Corporate Finance Law, 2010, 119 (126); Strauch in Eilers/Rödding/Schmalenbach, Unternehmensfinanzierung, C. Fremdkapitalfinanzierung, Rz. 204 f.
352
Ingenhoven/Eisen
F. Kapitalmarktbasierte Finanzierung durch Anleihen
Rz. 4.248 Kap. 4
schung mit dem Emittenten stehen. Typischerweise genügt eine Beteiligung von bereits 10 %, um von der Beherrschung auszugehen.410 Der liens covenant (Negative Pledge) einer High Yield-Anleihe ähnelt dem Negative Pledge für Unternehmensanleihen,411 gestattet aber in Form der Permitted Collateral Liens auch Belastungen der Vermögensgegenstände, die bereits mit Sicherungsrechten zugunsten der High Yield-Anleihe belastet sind.412
4.245
Im Rahmen des reporting covenants ist der Emittent verpflichtet, Jahres- und Quartalsabschlüsse den Anleihegläubigern innerhalb bestimmter Fristen (typischerweise 120 Tage nach Ablaufe des Geschäftsjahres im Falle der Jahresabschlüsse und 60 bzw. 90 Tage nach Quartalsende im Falle der Quartalsabschlüsse) zu Verfügung zu stellen.
4.246
6. Kündigung Die Kündigung einer High Yield-Anleihe sieht außer im Falle der Insolvenz des Emittenten regelmäßig vor, dass der gemeinsame Vertreter bzw. Trustee die Kündigung nur dann erklärt, wenn dieser von Anleihegläubigern, deren Anleihen insgesamt mindestens 25 % aller ausstehenden Anleihen ausmachen, entsprechend zur Kündigung angewiesen worden ist.413
4.247
7. Anwendbares Recht Traditionell unterliegen High Yield-Anleihen stets dem Recht des Bundesstaates New York.414 Nach der Reform des deutschen Schuldverschreibungsrechts durch das Schuldverschreibungsgesetz im Jahr 2009 wurden in den letzten Jahren vermehrt High Yield-Anleihen auch nach deutschem Recht begeben.415
410 Strauch in Eilers/Rödding/Schmalenbach, Unternehmensfinanzierung, C. Fremdkapitalfinanzierung, Rz. 210 ff. 411 S. hierzu unter Rz. 4.62. 412 Erlaubte Belastungen von Vermögensgegenständen, die nicht bereits mit Sicherungsrechten zugunsten der High Yield-Anleihe belastet sind, werden als Permitted Liens bezeichnet, s. Hutter in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 18 Rz. 86. 413 Für Anleihen nach deutschem Recht wäre eine höhere Schwelle nicht möglich, s. § 5 Abs. 5 Satz 1 SchVG. Für Anleihen nach englischem oder amerikanischem Recht ist 25 % ebenfalls die übliche Schwelle, s. hierzu Rz. 4.231. 414 Plepelits, Corporate Finance Law, 2010, 119 (121). 415 Zuletzt z.B. Wepa Hygieneprodukte GmbH 450 Mio. Euro 3.750 % Senior Secured Notes due 2024; ProGroup AG 450 Mio. Euro Senior Secured Notes due 2026; Schmolz+Bickenbach 250 Mio. Euro 5.625 % Senior Secured Notes due 2022 und Corestate Capital Holding S.A. 300 Mio. Euro 3.50 % Notes due 2023.
Ingenhoven/Eisen
353
4.248
Kapitel 5 Steuern Heide Gröger
Überblick A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1
I. Steuerliche Fragestellungen beim Unternehmenskauf . . . . . . . . . . . . . .
5.1
II. Steuerliche Interessen von Verkäufer und Käufer . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.5
B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.12
I. Ertragsteuerliche Konsequenzen des Verkaufs eines Unternehmens . 1. Verkauf eines inländischen Unternehmens als Gesamtheit von aktiven und passiven Wirtschaftsgütern (Asset Deal) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Veräußerungsgewinn/-verlust . . . . b) Zeitpunkt der steuerlichen Berücksichtigung des Veräußerungsgewinns/-verlusts . . . . . . . . . c) Personenbezogene steuerrechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Veräußerung eines Anteils an einer Personengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . a) Veräußerungsgewinn/-verlust . . . . b) Personenbezogene Steuerfolgen . . 3. Veräußerung eines Anteils an einer Kapitalgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . a) Veräußerungsgewinn/-verlust . . . . b) Personenbezogene Steuerfolgen . . aa) Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften durch eine Körperschaft . . . . . bb) Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften aus dem Betriebsvermögen einer natürlichen Person . . . . . . . . . cc) Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften aus dem Privatvermögen einer natürlichen Person . . . . . . . . . II. Steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nutzung einer Steuerbegünstigung . . a) Einbringung oder Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft . . . . . . .
5.12
5.12 5.12 5.15 5.18 5.21 5.21 5.23 5.29 5.29 5.33 5.33
5.37
5.42 5.46 5.46
aa) Einbringung des Betriebsvermögens in eine Kapitalgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . 5.47 bb) Abspaltung von Betriebsvermögen auf eine Kapitalgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . 5.57 b) Kapitalerhöhungsmodell . . . . . . . . 5.67 c) Vom Teileinkünfteverfahren zum Abgeltungsteuersatz . . . . . . . 5.69 2. Optimierung des Veräußerungspreises durch Nutzung von Steuervorteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.71 a) Verlustvorträge . . . . . . . . . . . . . . . 5.72 aa) Veräußerung von Einzelunternehmen und Anteilen an Personengesellschaften . . . . . . 5.72 bb) Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften . . . . . 5.73 b) Zinsvortrag und EBITDA-Vortrag nach § 4h EStG . . . . . . . . . . . . . . . 5.81 c) Verlustvorträge, Zinsvorträge und EBITDA-Vorträge in Umwandlungsfällen . . . . . . . . . . . 5.86 d) Übertragung von latenten Steuervorteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.88 3. Optimierung der Dekonsolidierung . 5.95 4. Earn-Out und ähnliche Gestaltungsüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.102 C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.108 I. Ertragsteuerliche Konsequenzen des Unternehmenserwerbs . . . . . . . 1. Erwerb eines inländischen Unternehmens als Gesamtheit von aktiven und passiven Wirtschaftsgütern (Asset Deal) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktivierung der Anschaffungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verteilung des Gesamtkaufpreises auf die erworbenen Wirtschaftsgüter . . . . . . . . . . . bb) Methode der Verteilung des Gesamtkaufpreises . . . . . . . . . cc) Einzelbewertung . . . . . . . . . . .
5.108
5.108 5.108 5.108 5.110 5.111
5.46
Gröger
355
Kap. 5
Steuern
dd) Verhältnis der Summe der Einzelbewertungen zum Gesamtkaufpreis . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Vereinbarung eines variablen Kaufpreises . . . . . . . . . . . . . . . b) Abschreibung des Kaufpreises . . . c) Finanzierung des Unternehmenserwerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verlustnutzung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Share Deal bezüglich eines Personengesellschaftsanteils . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktivierung und Abschreibung der Anschaffungskosten . . . . . . . . aa) Gesellschaftsanteil als transparentes Wirtschaftsgut . . . . . bb) Steuerrechtliche Ergänzungsbilanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Steuerrechtliche Sonderbilanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Erlöschen der Gesellschaft durch Anteilserwerb . . . . . . . . ee) Herauskauf eines lästigen Gesellschafters . . . . . . . . . . . . . b) Finanzierung des Anteilserwerbs . c) Verlustnutzung . . . . . . . . . . . . . . . 3. Share Deal bezüglich eines Kapitalgesellschaftsanteils . . . . . . . . . . . . . . . a) Abschreibung des Kaufpreises . . . b) Finanzierung des Anteilserwerbs . aa) Erwerb durch Körperschaften bb) Erwerb durch natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nutzung von Verlustvorträgen der erworbenen Gesellschaft . . . . . II. Steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abschreibung der Anschaffungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abschreibung der Anschaffungskosten im Fall eines Asset Deals . . b) Abschreibung der Anschaffungskosten im Fall eines Share Deals . . 2. Optimierung der Abziehbarkeit der Kaufpreisfinanzierungskosten . . . . . . a) Verschmelzung von Akquisitionsgesellschaft und Zielgesellschaft . . aa) Aufwärtsverschmelzung der Zielgesellschaft auf die Akquisitionsgesellschaft . . . . . . . . . . bb) Abwärtsverschmelzung der Akquisitionsgesellschaft auf die Zielgesellschaft . . . . . . . . . b) Anwachsung der Zielgesellschaft auf die Akquisitionsgesellschaft . .
356
Gröger
5.119 5.122 5.124 5.126 5.139 5.140
c) Begründung einer Organschaft zwischen Akquisitionsgesellschaft und Zielgesellschaft . . . . . . . . . . . . d) Debt-Push-Down . . . . . . . . . . . . . e) Schuldenallokation . . . . . . . . . . . . 3. Verlustnutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesellschaftsrechtliche Integration b) Integration in die konzerninternen Leistungsbeziehungen . . . . . .
5.199 5.207 5.215 5.219 5.225 5.226 5.232
5.140
D. Steuerliche Gestaltung von grenzüberschreitenden Unternehmenskäufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.236
5.140
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.236
5.141 5.143 5.144 5.145 5.147 5.152 5.155 5.155 5.158 5.158
II. Erwerb eines inländischen Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Akquisitionsvehikel . . . . . . . . . . . . . . 2. Double Dip-Finanzierungen . . . . . . . 3. Planung von Dividenden-, Lizenzund Zinszahlungen . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuereffiziente Exitplanung . . . . . . . III. Erwerb eines ausländischen Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuereffiziente Integration in den internationalen Erwerberkonzern . . . 3. Vermeidung der Hinzurechnungsbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.238 5.238 5.242 5.249 5.257 5.261 5.261 5.264 5.266
E. Verkehrsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.269 5.163 5.167 5.172 5.172 5.172 5.178 5.182 5.187 5.187 5.194 5.198
I. Asset Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.269 1. Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.269 2. Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . 5.272 II. Share Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grunderwerbsteuer . . . . . . . . . . . . . . a) Erwerb eines Anteils an einer Personengesellschaft . . . . . . . . . . . b) Erwerb eines Anteils an einer Kapitalgesellschaft . . . . . . . . . . . . .
5.273 5.273 5.278 5.278 5.282
F. Haftung für Steuern und Steuerklauseln im Unternehmenskaufvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.284 I. Haftung für Steuern des Veräußerers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Haftung nach § 75 AO . . . . . . . . . . . . 2. Haftung nach § 73 AO . . . . . . . . . . . . 3. Haftung nach zivilrechtlichen Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.284 5.285 5.288 5.291
Steuern
4. Indirekte Übernahme von Steuerverbindlichkeiten bei Erwerb von Gesellschaftsbeteiligungen . . . . . . . . . 5.293 II. Vertragliche Absicherung des Erwerbers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.295 G. Leveraged Buy-Out (LBO) . . . . . . . . 5.299 I. Bedeutung des Leverage-Effekts . . . 5.299 II. Transaktionsstruktur bei einem Leveraged Buy-Out . . . . . . . . . . . . . . 5.300
Kap. 5
III. Beteiligung des Managements am Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.308 H. Erwerb eines Unternehmens in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.312 I. Erwerb nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.312 II. Erwerb im Vorfeld eines Insolvenzverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.314
Literatur: Adrian/Weiler, Unterjähriger Beteiligungserwerb, Konzernklausel und Stille-ReservenKlausel, BB 2014, 1303; Balbinot, § 8c Abs. 1a KStG (Sanierungsklausel) doch keine unionsrechtswidrige Beihilfe? Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in der Rs. Heitkamp (C-203/16 P), DStR 2018, 334; Beck’scher Bilanz-Kommentar, 11. Aufl. 2018; Behrendt/Arjes/Nogens, § 8c KStG – Struktur zum Erhalt gewerbesteuerlicher Verlustvorträge, BB 2008, 367; Behrens/Schmitt, § 7 Satz 2 GewStG n.F. – Neue Gewerbesteuertatbestände für Mitunternehmerschaften und KGaA, BB 2002, 860; Benecke/Schnitger, Wichtige Änderungen bei der körperschaftsteuerlichen Organschaft durch das UntStG 2013, IStR 2013, 143; Benz/Placke, Die neue gesetzliche Regelung durch das AIFM-Steuer-Anpassungsgesetz zur „angeschafften Drohverlustrückstellung“ in § 4f und § 5 Abs. 7 EStG, DStR 2013, 2653; Berger, Steuerliche Behandlung von Finanzierungs- und Transaktionskosten bei Private Equity Erwerben, StuB 2012, 903; Bergmann, Double dip ade – Erste Einordnung des neuen § 4i EStG, FR 2017, 126; Bisle, Steuerklauseln in Unternehmenskaufverträgen, SteuK 2013, 204; Blumers/ Beinert, Grundregeln für die Optimierung des Unternehmenskaufs nach neuem Umwandlungs(-steuer)recht, DB 1995, 1043; Blumers/Beinert, Unternehmenskauf und Mitunternehmermodelle, DB 1997, 1636; Blumers/Beinert/Witt, Unternehmenskaufmodelle nach der Steuerreform, DStR 2001, 234; Blümich, EStG/KStG/GewStG, Kommentar, Loseblatt; Bogenschütz, Behandlung steuerlich nicht passivierungsfähiger Verpflichtungen beim Asset Deal, Ubg 2008, 135; Boruttau, Grunderwerbsteuergesetz, Kommentar, 18. Aufl. 2016; Broemel/Mörwald, Grunderwerbsteuerreform im Bereich der „Share Deals“ – Beschlüsse der Finanzministerkonferenz, Praxisfolgen, verfassungsrechtliche Probleme, DStR 2018, 1521; Brune, Die Haftung beim Erwerb eines Unternehmens nach § 75 AO, NWB F. 2, S. 5805; Brunsbach/Syré, Die 10 %-Grenze des § 8a Abs. 3 KStG-neu als Voraussetzung für den Eigenkapitalvergleich, IStR 2008, 157; Bruski, Step-up Modelle beim Unternehmenskauf, FR 2002, 185; Ditzsch/Quilitzsch, Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen – die Einführung einer Lizenzschranke in § 4j EStG, DStR 2017, 1561; Dötsch/Pung/Möhlenbrock, Die Körperschaftsteuer, Kommentar, Loseblatt; Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, Umwandlungssteuerrecht, 7. Aufl. 2012; Eggers/Ahrens, Vorsteuerabzug bei Holdinggesellschaften: Sphärentheorie reloaded?, DB 2013, 2528; Eggers/Korf, Vorsteuerabzug beim Share Deal – Anm. zum EuGH-Urteil vom 29.10.2009 – Rs. C-29/08, AB SKF, DB 2009 S. 2695, DB 2009, 2685; Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, Unternehmenskauf, Finanzierung, Restrukturierung, Exitstrategien, 2. Aufl. 2012; Ernst & Young (Hrsg.), Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, KStG mit Nebenbestimmungen, Loseblatt; Fey/ Deubert, Bedingte Anschaffungskosten für Beteiligungen im handelsrechtlichen Jahresabschluss des Erwerbers, BB 2012, 1461; Förster/Staaden, Übertragung von Verpflichtungen mit Ansatz- und Bewertungsvorbehalten (§§ 4f, 5 Abs. 7 EStG), Ubg 2014, 1; von Freeden/Liekenbrock, Neue Zinsabzugsbeschränkung für Inbound-Akquisitionsfinanzierungen durch § 14 Abs. 1 Nr. 5 KStG n.F.?, DB 2013, 1690; Frotscher/Maas, KStG, Kommentar, Loseblatt; Füger/Rieger/Schell, Die Behandlung von Ergebnisabführungsverträgen beim Unternehmenskauf – gesellschafts-, steuer- und insolvenzrechtliche Aspekte, DStZ 2015, 404; Geerling/Hartmann, Der BFH verwirft den Sanierungserlass, DStR 2017, 752; Glanegger/Güroff, GewStG, Kommentar, 9. Aufl. 2017; Gosch, Körperschaftsteuergesetz, 3. Aufl. 2015; Gradl/Kiesewetter, Das Mehrseitige Übereinkommen (Multilateral Instrument) zur Umsetzung abkommensbezogener Maßnahmen aus dem OECD/G20-BEPS-Projekt und dessen voraussichtliche Auswirkungen auf die deutschen Doppelbesteuerungsabkommen, IStR 2018, 1; Gröger, Verlustnutzung in Folge eines Sanierungserwerbs, BB 2010, 2916; Gründig/Schmid, Die Änderung des § 14
Gröger
357
Kap. 5
Steuern
Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 KStG und deren Auswirkung auf grenzüberschreitende Unternehmensstrukturen, DStR 2013, 617; Hahn, Der Verzicht auf die Durchführung der Gewinnabführung als Gestaltungsinstrument bei M&A Transaktionen, Ubg 2014, 427; Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommen- und Körperschaftsteuergesetz, Loseblatt; Herzberg, Überlegungen zum Ausschluss der Escape-Klausel nach § 8a Abs. 3 KStG mit der Folge des Eingeifens der Zinsschranke bei Konzerngesellschaften, GmbHR 2009, 367; Hey, Organschaft und Verlustberücksichtigung im Ausland – Adressatenkreis von § 14 Abs. 1 Nr. 5 KStG n.F., BB 2002, 915; Hoffmann, Der gekaufte Drohverlust, GmbH-StB 2009, 144; Hruschka, Das neue BMF-Schreiben zur Anwendung von DBA auf Personengesellschaften, DStR 2014, 2421; Hülsmann, Die Steuerklausel im Unternehmenskaufvertrag, DStR 2008, 2402; Hülsmann, Die gewerbesteuerlichen Folgen der Veräußerung einer doppelstöckigen Personengesellschaft durch eine Kapitalgesellschaft, DStR 2014, 184; Jacobs/Endres/Spengel, Internationale Unternehmensbesteuerung, 8. 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Steuern
Kap. 5
nanzinvestoren (Private Equity Fonds) – Gestaltungsformen und steuerliche Beurteilung – Teil I, StBP 2010, 301; Teil II, StBP 2010, 329; Teil III, StBP 2011, 1; Ruthe, Steuerrechtliche Korrekturmöglichkeiten im Lichte von grenzüberschreitenden LBO-Transaktionen – Ein Sonderunrecht für Private Equity Fonds?, StBP 2012, 121; Ruthe, Leverage Buy Out Transaktionen – Bei welcher Gesellschaft sind Finanzierungsaufwendungen und Beratungskosten abzugsfähig?, StBP 2013, 153; Schaden/Polatzky, Neuregelung der Verlustausgleichsbeschränkung des § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 KStG – Auswirkungen auf deutsche Inbound-Finanzierungen über KG-Holding-Strukturen, IStR 2013, 131; Schaden/Wild, Die Kosten des grenzüberschreitenden Unternehmenserwerbs als verdeckte Gewinnausschüttung – ein Sonder(un)recht für Private Equity?, Ubg 2011, 337; Schiffers, Zwölf Punkte zur weiteren Modernisierung und Vereinfachung des Unternehmenssteuerrechts, DStZ 2012, 173; Schlütter, Steuerprobleme des Unternehmenskaufs, NJW 1993, 2023; Schmid/Mertgen, Organschaft, Zinsschranke und § 8c KStG bei unterjährigem Beteiligungserwerb – eine Steuerfalle, DB 2012, 1830; Schmidt, EStG, Kommentar, 36. Aufl. 2017; Schmidt/Hageböck, Gewerbesteuer bei der Veräußerung eines Mitunternehmeranteils an einer Obergesellschaft einer doppelstöckigen Personengesellschaft nach § 7 Satz 2 Nr. 2 GewStG, DB 2003, 790; Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG UmwStG, Kommentar, 7. Aufl. 2016; Schneider, Zum Einsatz von Steuerklauseln bei fraglicher Umsatzsteuerfreiheit, BB 2013, 2846; Schneider/Sommer, Der Entwurf des neuen BMF-Schreibens zu § 8c KStG, FR 2014, 537; Schramm/ Hansmeyer (Hrsg.), Transaktionen erfolgreich managen, Ein M&A-Handbuch für die Praxis, 2010; Schulze-Osterloh, Passiver Ausgleichsposten beim Erwerb von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft gegen Zuzahlung des Verkäufers, BB 2006, 1955; Schwetlik, vGA-Problematik bei LBO-Transaktionen, StBP 2012, 80; Sedlitz, Das Ping-Pong um den Sanierungserlass, DStR 2017, 2785; Seibt, Unternehmenskauf und -verkauf nach dem Steuersenkungsgesetz, DStR 2000, 2061; Seer, Unterjähriger Beteiligungswechsel bei der Organschaft und Verlustabzugsbeschränkung nach § 8c Abs. 1 KStG, § 10a S. 10 GewStG, FR 2015, 729; Stadler, Übergangsregelungen und Gestaltungsmöglichkeiten für Insolvenzplanverfahren nach den Entscheidungen des BFH zum Sanierungserlass, NZI 2018, 49; Stein/Becker, Steuerplanung beim Erwerb von Auslandsbeteiligungen im Kapitalgesellschaftskonzern, GmbHR 2003, 84; Streit/Behrens, Veräußerung von Beteiligungen an Organgesellschaften – mehrwertsteuerlich ein „asset deal“ und eine Geschäftsveräußerung im Ganzen, DStR 2012, 877; Suchanek, Anwendung von § 7 S. 2 Nr. 2 GewStG bei der Veräußerung von doppelstöckigen Mitunternehmerschaften, GmbHR 2007, 248; Tipke/Kruse, Abgabenordnung – Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Loseblatt; Wagner/Liekenbrock, Organschaft und Ausschluss der doppelten Verlustberücksichtigung im In- und Ausland nach § 14 Abs. 1 Nr. 5 KStG n.F., Ubg 2013, 133; von Werder/Li, Aktuelle Entwicklungen bei Managementbeteiligungsprogrammen im Rahmen von Leveraged Buy Outs, BB 2013, 1736; Wirth, Beendigung von Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen bei der Veräußerung der abhängigen GmbH, DB 1990, 2105; Wollweber, Steuerklauseln in Unternehmenskaufverträgen – Typische Problemstellungen in der Praxis, AG 2012, 789; Wollweber, Steuerfolgen von Steuerklauseln – Wer zahlt an wen?, AG 2013, 796; Zugmaier, Der Share Deal in der Umsatzsteuer, DStR 2009, 882.
Überblick Die Besteuerung des Veräußerungsgewinns durch den Veräußerer und die Möglichkeit der steuerlichen Geltendmachung von Anschaffungs- und Finanzierungskosten durch den Erwerber sind die wesentlichen Treiber der Strukturierung eines Unternehmenskaufs. Eine echte Transaktionssteuer ist in Deutschland nur die Grunderwerbsteuer, die folglich nur bei Transaktionen von Unternehmen mit Grundbesitz Einfluss auf die Transaktionsstrukturierung gewinnen kann. Die Verhandlungen befassen sich in vielen Fällen mit dem Ausgleich der unterschiedlichen steuerlichen Interessen von Veräußerer und Erwerber. Insofern ist es entscheidend, die unterschiedlichen Möglichkeiten zu kennen, eine begünstigte Veräußerungsgewinnbesteuerung ggf. durch Gestaltungsmaßnahmen zu erreichen. Da in den meisten Fällen ein Share Deal zu einer privilegierten Besteuerung des Veräußerers führt, ist auf Seiten des Erwerbers im Rahmen der Akquisitionsstrukturierung festzustellen, ob mittels
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Kap. 5 Rz. 5.1
Steuern
Gestaltungsmaßnahmen die steuerliche Geltendmachung von Anschaffungskosten und ein steuerlich optimierter Abzug von Finanzierungsaufwendungen ermöglicht werden kann. Heute sind Unternehmenstransaktionen in den wenigsten Fällen ausschließlich auf Deutschland beschränkt. Nicht nur Verkäufer und Erwerber, sondern auch die Zielgesellschaft oder die finanzierenden Banken sind sowohl bei großen als auch mittelständischen Transaktionen global agierende Unternehmen. Auch im Bereich der Venture Capital Investments in Start ups handelt es sich in vielen Fällen um Transaktionen mit internationalem Bezug. Folglich gehören internationale Aspekte der direkten und indirekten Steuern zum Handwerkszeug der Steuerplanung bei Unternehmenstransaktionen. Vor dem Hintergrund der BEPS Initiative der OECD haben sich in diesem Bereich in den letzten Jahren diverse Rechtsänderungen auf nationaler und internationaler Ebene ergeben, und es ist zu erwarten, dass sich dieser Trend in naher Zukunft weiter fortsetzt. Den Auswirkungen dieser internationalen Rechtsänderungen auf Unternehmenstransaktionen ist daher besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Unternehmensverkäufe sind auch wichtige Instrumente der Sanierungspraxis. Im vergangenen Jahr hat der Große Senat des BFH mit einem Paukenschlag einem wichtigen Instrument der Sanierungspraxis ein Ende gesetzt: Die Anwendung des Sanierungserlasses wurde mangels Rechtsgrundlage und wegen Bedenken in Bezug auf seinen Subventionscharakter auch für Altfälle untersagt. Der Gesetzgeber reagierte schnell mit einer gesetzlichen Regelung zu den Sanierungserträgen; die Anwendung der Vorschrift steht unter dem Vorbehalt eines Beschlusses der EU-Kommission zur Frage der Rechtskonformität der Vorschrift mit dem EUBeihilferecht. Nach einer Pressemeldung hat die EU-Kommission im August 2018 verlauten lassen, dass sie aus beihilferechtlicher Sicht keine Bedenken gegen die Neuregelung der Sanierungsgewinne hat. Auch wenn für die Anwendung der neuen Vorschrift noch eine Gesetzesänderung erforderlich sein dürfte, ist zu erwarten, dass es zukünftig einen gesetzlichen Rahmen für den Beitrag des Steuerrechts zu Unternehmenssanierungen geben wird.
A. Einleitung I. Steuerliche Fragestellungen beim Unternehmenskauf 5.1 Unternehmenskäufe haben die unterschiedlichsten Gründe: Verkäufe können durch eine Unternehmensnachfolge, eine strategische Neuausrichtung oder eine Sanierung initiiert werden. Erwerber zielen mit einem Unternehmenskauf darauf ab, in neue Märkte oder Regionen zu expandieren, sich zu diversifizieren oder neue Technologien oder Produkte zu übernehmen. In allen diesen Situationen und im gesamten Prozess eines Unternehmenskaufs (angefangen von der strategischen Analyse, Verkaufsvorbereitung, Due Diligence, Vertragsverhandlungen bis zur Integration) sind steuerliche Fragestellungen von wesentlicher Bedeutung. Sie beeinflussen die Bewertung des Kaufgegenstands, die Transaktionsstrukturierung und die Gestaltung des Unternehmenskaufvertrags.
5.2 Für den Veräußerer ist es dabei von besonderem Interesse festzustellen, welche steuerlichen Konsequenzen sich an die Veräußerung des Unternehmens knüpfen. Unter Umständen besteht für ihn die Möglichkeit, die steuerlichen Folgen der Veräußerung durch vorgelagerte Umstrukturierungen vorteilhaft zu beeinflussen.
5.3 Auch der Erwerber kann die steuerlichen Konsequenzen des Unternehmenskaufs durch Gestaltung der Akquisitionsstruktur maßgeblich beeinflussen. Aus diesem Grunde ist es für 360
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A. Einleitung
Rz. 5.7 Kap. 5
ihn von besonderer Bedeutung, im Rahmen des Due Diligence Prozesses möglichst umfassende Kenntnis von den steuerlichen Besonderheiten des Kaufgegenstands zu erhalten. Denn von diesen Informationen hängen u.a. die Bestimmung der Transaktionsstruktur und des Akquisitionsvehikels, die Integration des Zielunternehmens in das Unternehmen des Erwerbers und die Gestaltung und die Konditionen der Finanzierung ab. Die Möglichkeit der Generierung von steuerlichen Synergien durch die Erwerbsstrukturierung wirkt sich auf die Bewertung des Kaufgegenstands (s. zur Bewertung Kapitel 3) und die Gestaltung des Unternehmenskaufvertrags (vgl. Rz. 9.88 ff.) aus. Des Weiteren hat der Erwerber die Möglichkeit, die im Rahmen der Due Diligence Untersuchung ermittelten Steuerrisiken entweder vom Kaufpreis abzuziehen oder das Zahlungsrisiko durch Steuergarantien oder Steuerfreistellungsregelungen im Unternehmenskaufvertrag ganz oder teilweise auf den Veräußerer zu übertragen. Da die Veräußerungs- oder Erwerbsstrukturierung dazu dienen soll, sowohl den Nettozufluss des Veräußerers aus dem Veräußerungspreis nach Steuern als auch die Eigenkapitalrendite des Erwerbers aus seiner Investition in das Zielunternehmen zu optimieren, sollten die steuerlichen Fragestellungen grundsätzlich zeitgleich mit der finanziellen und wirtschaftlichen Untersuchung (Financial und Commercial Due Diligence) und der Bewertung untersucht und berücksichtigt werden. Dabei sollte den Parteien auch bewusst sein, dass die steuerlichen Interessen der Beteiligten unterschiedlich und ggf. gegensätzlich sind.
5.4
II. Steuerliche Interessen von Verkäufer und Käufer Auch wenn sowohl Verkäufer als auch Käufer eines Unternehmens das gleiche Ziel verfolgen, die effektiven Steuerzahllasten aufgrund und als Folge der Transaktion möglichst auf das Notwendige zu reduzieren, führt die Erreichung dieses Ziels zu Zielkonflikten zwischen Verkäufer und Käufer.
5.5
Dem Verkäufer ist daran gelegen, dass der Veräußerungsgewinn entweder steuerfrei oder zumindest steuerbegünstigt vereinnahmt werden kann. Dieses Ziel lässt sich bei Anwendung von Steuerbefreiungen oder besonderer Steuertarife erreichen. Steuerbefreiungen finden in Deutschland beispielsweise auf die Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften Anwendung. Besondere Steuertarife bestehen für natürliche Personen z.B. in Fällen der Unternehmensnachfolge, wenn der Verkäufer das 55. Lebensjahr erreicht hat oder dauerhaft berufsunfähig ist.
5.6
Zur Optimierung des Veräußerungspreises ist der Veräußerer zudem daran interessiert, dass 5.7 steuerliche Vorteile wie Verlustvorträge oder Zinsvorträge im Rahmen der Zinsschranke nach § 4h EStG die Veräußerung unbeschadet überleben oder in anderer Form übertragen werden können. Soweit steuerliche Nachteile wie beispielweise noch nicht abgelaufene Haltefristen für die Geltendmachung von Steuerbefreiungen bestehen sollten, stellt sich die Frage nach Gestaltungsmöglichkeiten, die das Auslösen des Steuernachteils vermeiden oder den Steuernachteil durch gegenläufige Steuervorteile weitgehend kompensieren. In vielen Fällen ist aus gesellschaftsrechtlicher, wirtschaftlicher oder prozessökonomischer Sicht ein vorgelagerter sog. Carve-Out, d.h. eine Separation des zu verkaufenden Unternehmensbereichs zwecks Bestimmung und Abgrenzung des Kaufgegenstands, geplant, die auch möglichst ohne zusätzliche Steuerbelastung erfolgen soll.
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Kap. 5 Rz. 5.8
Steuern
5.8 Der Erwerber verfolgt das Ziel, seine Anschaffungskosten in Form von steuerwirksamen Abschreibungen steuermindernd geltend zu machen. Dieses Ziel lässt sich beim Erwerb von Wirtschaftsgütern erreichen, die steuerwirksam abgeschrieben werden können. Der Erwerb von Anteilen an Kapitalgesellschaften ist insoweit nicht zielführend, da Anteile an Kapitalgesellschaften nicht einer Abschreibung über eine gewöhnliche Nutzungsdauer unterliegen. Auch außerordentliche Abschreibungen der Anteile an Kapitalgesellschaften aufgrund von Wertminderungen können nicht oder nur teilweise mit steuerlicher Wirkung vorgenommen werden. Daher wird der Erwerber im Allgemeinen den Erwerb des Unternehmens im Wege eines Asset Deals dem Erwerb der Anteile an einer Kapitalgesellschaft vorziehen. Diese Ausgangslage steht in Widerspruch zu dem Interesse des Verkäufers, Anteile an Kapitalgesellschaften steuerbegünstigt zu veräußern.
5.9 Ein weiteres wichtiges Ziel des Erwerbers ist es, die Finanzierungskosten möglichst vollumfänglich mit steuerlicher Wirkung zum Abzug zu bringen. Dies ist jedenfalls dann grundsätzlich möglich, wenn der Erwerber das Unternehmen im Wege eines Asset Deals erwirbt und die Finanzierungskosten unmittelbar den Gewinn aus dem erworbenen Unternehmen mindern. Allerdings sind Beschränkungen der Abziehbarkeit von Finanzierungskosten aufgrund der Zinsschranke nach § 4h EStG und bei der Gewerbesteuer nach § 8 Nr. 1 GewStG zu beachten.
5.10 Soweit eine natürliche Person Anteile an einer Kapitalgesellschaft erwirbt, ist mit Anwendung der teilweisen Steuerbefreiung von Dividendenerträgen im Rahmen des Teileinkünfteverfahrens nach § 3 Nr. 40 EStG auch eine teilweise eingeschränkte Berücksichtigung von Finanzierungsaufwendungen nach § 3c Abs. 2 EStG verbunden. Unterliegen die Dividendenerträge der Abgeltungsteuer, ist die Abziehbarkeit von Finanzierungsaufwendungen neben dem Sparer-Pauschbetrag von 801 Euro nach § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG vollständig ausgeschlossen. Ist der Erwerber eine Kapitalgesellschaft, wird zwar im Grundsatz die Abziehbarkeit der Finanzierungskosten auch im Falle der Steuerfreistellung der Dividendenerträge nach § 8b Abs. 1 und 5 KStG nicht eingeschränkt, doch führt die effektiv 95%ige Freistellung der Dividendenerträge bei einer Mindestbeteiligung von 10 % dazu, dass die Akquisitionsgesellschaft – sollte sie nicht steuerpflichtige Einkünfte aus anderen Quellen erzielen – aus dem erworbenen Unternehmen nur in geringem Umfang zu versteuerndes Einkommen generiert, das mit den Finanzierungskosten steuerwirksam gemindert werden könnte. In einem solchen Fall ist damit zu rechnen, dass die Akquisitionsgesellschaft erhebliche Zinsvorträge oder Verlustvorträge generiert, die strukturbedingt nicht zum Abzug gelangen. Damit würde der ökonomische Effekt der steuerwirksamen Abziehbarkeit der Finanzierungskosten, effektiv die Kosten der Akquisitionsfinanzierung zu mindern und folglich die Eigenkapitalrendite zu erhöhen, nicht zum Tragen kommen. Ziel der Erwerbsstrukturierung muss es daher sein, diesen Strukturnachteil des Share Deals z.B. durch eine Verschmelzung oder die Begründung einer steuerlichen Organschaft zu verhindern.
5.11 Neben diesen grundlegenden Interessen des Verkäufers und Erwerbers können auch weitere steuerliche Besonderheiten zu Interessenkonflikten führen, die es gilt, entweder durch eine entsprechende Veräußerungs- oder Erwerbsstrukturierung zum Ausgleich zu bringen oder im Rahmen des Kaufpreises oder in Steuergarantien oder Steuerfreistellungsregelungen im Unternehmenskaufvertrag zu berücksichtigen. Soweit es gelingt, durch eine Strukturierung des Unternehmenskaufs die ökonomischen Interessen möglichst beider Parteien zur Geltung zu bringen, leistet die steuerliche Strukturierung einen Wertbeitrag im Rahmen der Transaktion, der sich in der Bewertung des Kaufgegenstands niederschlagen wird. Folglich liegt es im Interesse von Veräußerer und Erwerber, die steuerlichen Rahmenbedingungen möglichst 362
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B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.13 Kap. 5
umfassend und zeitgleich mit der Bewertung des Kaufgegenstands und der Kaufvertragsverhandlung zu ermitteln und Vorschläge zu einer steueroptimierten Transaktionsgestaltung sowie einem angemessenen Interessenausgleich zu erarbeiten.
B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers I. Ertragsteuerliche Konsequenzen des Verkaufs eines Unternehmens 1. Verkauf eines inländischen Unternehmens als Gesamtheit von aktiven und passiven Wirtschaftsgütern (Asset Deal) a) Veräußerungsgewinn/-verlust Eine Veräußerung liegt grundsätzlich bei einer entgeltlichen Übertragung des juristischen Eigentums an den Wirtschaftsgütern, hier an sämtlichen aktiven und passiven Wirtschaftsgütern des inländischen Unternehmens, vor. Für das Steuerrecht ist jedoch nicht der zivilrechtliche Vorgang entscheidend, sondern der Tatbestand der entgeltlichen Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums auf einen anderen Rechtsträger. Wirtschaftlicher Eigentümer ist dabei derjenige, der die tatsächliche Sachherrschaft über einen Vermögensgegenstand in einer Weise ausübt, dass dadurch der nach bürgerlichem Recht Berechtigte wirtschaftlich auf Dauer von der Einwirkung ausgeschlossen ist (§ 39 Abs. 2 AO).1 Die Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums eines Unternehmens erfolgt in der Regel im Zeitpunkt der Übergabe des Betriebs bzw. dann, wenn das wirtschaftliche Eigentum an den wesentlichen Betriebsgrundlagen auf den Erwerber übertragen wird.2
5.12
Der Veräußerungsgewinn bzw. -verlust ist bei der Veräußerung eines inländischen Unternehmens der Unterschiedsbetrag zwischen dem Veräußerungspreis und dem auf den Veräußerungszeitpunkt nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften ermittelten Betriebsvermögen oder Anteil am Betriebsvermögen zu Buchwerten abzgl. Veräußerungskosten (§ 16 EStG). Als Veräußerungspreis ist alles zu berücksichtigen, was der Veräußerer für die Übertragung des Unternehmens vom Erwerber oder einem Dritten erhält.3 Hierzu gehören neben dem Veräußerungserlös in Geld auch die Übernahme von Schulden oder andere Wirtschaftsgüter. Ausgenommen sind jedoch die Schulden, die passives Betriebsvermögen des übertragenen Betriebs darstellen.4 Veräußerungskosten sind Aufwendungen, die in einem Veranlassungszusammenhang mit dem Veräußerungsvorgang stehen.5 Nach dem BFH6 sind sie auch dann im Jahr der Veräußerung zu erfassen, wenn sie zeitlich vorher oder nachher angefallen sind.
5.13
1 Vgl. Schmidt/Ries in BeckBilanzkomm, § 246 HGB Rz. 5, 6; BFH v. 28.7.1993 – I R 88/92, BStBl. II 1994, 164. 2 Wacker in Schmidt, § 16 EStG Rz. 214 unter Verweis auf BFH v. 22.9.1992 – VIII R 7/90, BStBl. II 1993, 228 = GmbHR 1993, 606; BFH v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897. 3 BFH v. 17.12.1975 – I R 29/74, BStBl. II 1976, 224; BFH v. 26.6.1990 – VIII R 221/85, BStBl. II 1990, 978. 4 BFH v. 5.7.1990 – GrS 4/89, GrS 5/89, GrS 6/89, BStBl. II 1990, 847; BMF, Schr. v. 13.1.1993 – IV B 3 – S-2190 – 37/92, BStBl. I 1993, 80 Rz. 29. 5 BFH v. 25.1.2000 – VIII R 55/97, BStBl. II 2000, 458; BFH v. 2.4.2008 – IX R 73/04, BFH/NV 2008, 1658; BFH v. 20.7.2010 – IX R 45/09, BStBl. II 2010, 969 = GmbHR 2010, 1160. 6 BFH v. 26.8.2004 – IV R 5/03, BStBl. II 2005, 215; BFH v. 20.1.2005 – IV R 22/03, BStBl. II 2005, 559 = GmbHR 2005, 779; BFH v. 19.5.2005 – IV R 17/02, BStBl. II 2005, 637.
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Kap. 5 Rz. 5.14
Steuern
5.14 Da es im Rahmen einer Veräußerung von Betriebsvermögen (Asset Deal) zu einer Übernahme von Schulden durch den Erwerber kommt, ist seit dem AIFM-StAnpG vom 18.12.20137 zu prüfen, ob mit dem Asset Deal Verpflichtungen übertragen werden, die beim ursprünglich Verpflichteten Ansatzverboten, -beschränkungen oder Bewertungsvorbehalten unterlegen haben. Denn nach dem neu eingeführten § 4f EStG kommt es zu einer außerbilanziell zu berücksichtigenden Verteilung des durch die Übertragung dieser Verpflichtungen mit steuerlichen „stillen Lasten“ entstehenden Aufwands über das Jahr der Entstehung und die folgenden 14 Jahre. Dies ist ausnahmsweise nicht der Fall, wenn der ganze Betrieb übertragen wird oder der Betrieb am Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahrs die Größenmerkmale des § 7g Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 lit. a bis c EStG nicht überschreitet. Andererseits reduziert sich der verteilungspflichtige Aufwand auf einen etwaig entstehenden oder sich erhöhenden Veräußerungsverlust, wenn ein Teilbetrieb veräußert wird. Damit erhält die Fragestellung, ob ein Betrieb, Teilbetrieb oder lediglich eine Sachgesamtheit von Aktiva und Passiva veräußert werden, bei der Rechtsfolgenbestimmung eines Asset Deals eine grundlegende Bedeutung und bestimmt nicht nur die Anwendung von Steuerbegünstigungen bei Veräußerung durch natürliche Personen nach § 16 EStG. Denn die Verteilung von andernfalls im Veräußerungsgewinn enthaltenem Aufwand führt zu einer Minderung des Barwerts der Steuerentlastung dieses sich realisierenden Aufwands.8 Zu beachten ist auch, dass die genannten Ausnahmevorschriften keine Anwendung finden, wenn es nicht zu einer Schuldübernahme, sondern nur zu einer Erfüllungsübernahme oder einem Schuldbeitritt kommt, da der Gläubiger der Schuldübernahme beispielsweise nicht zugestimmt hat. b) Zeitpunkt der steuerlichen Berücksichtigung des Veräußerungsgewinns/-verlusts
5.15 Der Veräußerungsgewinn wird auf den Stichtag ermittelt, an dem die Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums tatsächlich vollzogen wird. Eine Rückbeziehung des Veräußerungsstichtags ist grundsätzlich nicht möglich;9 eine Ausnahme hat der BFH nur in dem Falle zugelassen, in dem die Rückbeziehung lediglich eine kurze Zeitspanne umfasste und der technischen Vereinfachung der Besteuerung diente.10 Bei Überschreiten dieser kurzen Frist werden die bis zur Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums entstehenden Ergebnisse unter entsprechender Reduktion des Veräußerungsgewinns im Gewinnfall bzw. unter entsprechender Erhöhung des Veräußerungsgewinns im Verlustfall noch dem Veräußerer zugerechnet.
5.16 Der Veräußerungsgewinn wird für Zwecke der Besteuerung zum Übertragungsstichtag realisiert, wenn auch der Anspruch auf die Gegenleistung entstanden ist, gleichgültig ob er sofort fällig oder gestundet wird (Stundungszinsen sind nicht Teil des Veräußerungsgewinns). Eine nachträgliche Herabsetzung des Verkaufspreises durch vergleichsweise Festlegung eines strittigen Veräußerungspreises oder wegen Einwendungen des Käufers gegen die Rechtswirksamkeit des Kaufvertrages sind rückwirkende Ereignisse i.S.v. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
7 BGBl. I 2013, 4318; vgl. auch BMF, Schr. v. 30.11.2017 – IV C 6 – S-2133/14/10001, BStBl. I 2017, 1619. 8 Kaminski, Stbg 2014, 145; Förster/Staaden, Ubg 2014, 1 (4). 9 Wacker in Schmidt, § 16 EStG Rz. 215; Rapp in Littmann/Bitz/Pust, § 16 EStG Rz. 134. 10 Vgl. BFH v. 21.5.1987 – IV R 80/85, BStBl. II 1987, 710 m.w.N.; BFH v. 14.6.2006 – VIII B 196/05, BFH/NV 2006, 1829; vgl. auch Rapp in Littmann/Bitz/Pust, § 16 EStG Rz. 134; Schallmoser in Blümich, § 16 EStG Rz. 242.
364
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B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.19 Kap. 5
AO und reduzieren deshalb den Veräußerungsgewinn.11 Entsprechendes gilt bei der Rückabwicklung12 eines Anteilskaufvertrages, bei Kaufpreisanpassungen aufgrund von Gewährleistungs- bzw. Steuerklauseln im Unternehmenskaufvertrag13 sowie für den späteren Ausfall einer gestundeten Kaufpreisforderung.14 Dies gilt gleichermaßen für Veräußerungsgewinne nach § 17 Abs. 2 EStG und § 8b Abs. 2 KStG, sowohl in Bezug auf den Zeitpunkt der Einkommenszurechnung als auch die Anwendung der (teilweisen) Steuerfreistellung.15 Ansprüche auf variable Kaufpreiszahlungen, die an die künftige Entwicklung des Unternehmens durch Gewinn- oder Umsatzbeteiligung beim Erwerber gekoppelt sind, entstehen sukzessive und sind als nachträgliche Betriebseinnahmen zu erfassen, soweit das Entgelt in der Summe das Schlusskapitalkonto zzgl. Veräußerungskosten übersteigt. Bei natürlichen Personen sind diese nachträglichen Betriebseinnahmen stets zum vollen Steuersatz zu versteuern.16 Veräußerungsverluste sind gleichermaßen im Veranlagungszeitraum der Veräußerung zu erfassen und können im Rahmen des horizontalen Verlustausgleichs gegen einen laufenden Gewinn des letzten (Rumpf-)Wirtschaftsjahres verrechnet werden. Kann der Verlust im Entstehungsjahr nicht ausgeglichen werden, so wird nach Maßgabe des § 10d EStG wahlweise ein Verlustrücktrag in den unmittelbar vorangegangenen Veranlagungszeitraum oder ein Verlustvortrag durchgeführt. Dabei ist der Verlustrücktrag betragsmäßig auf 1 Mio. Euro beschränkt. Beim Verlustvortrag ist bis zu einer Höhe von 1 Mio. Euro eine unbegrenzte Verrechnung möglich, darüber hinaus nur noch bis zu 60 % des verbleibenden Gesamtbetrags der Einkünfte bzw. bis zu 60 % des verbleibenden zu versteuernden Einkommens bei Körperschaften.
5.17
c) Personenbezogene steuerrechtliche Folgen Veräußerungen von inländischen Betrieben oder Teilbetrieben durch unbeschränkt oder beschränkt steuerpflichtige Kapitalgesellschaften sind gewerbesteuerpflichtig und unterliegen der Körperschaftsteuer einschließlich Solidaritätszuschlag. Die Gesamtsteuerbelastung mit Körperschaftsteuer (15 %), Solidaritätszuschlag und Gewerbesteuer beträgt durchschnittlich ca. 30 %, abhängig vom Gewerbesteuerhebesatz der betreffenden Gemeinden.
5.18
Gewinne aus der Veräußerung eines Betriebs oder Teilbetriebs eines Einzelunternehmers (natürliche Person) oder einer Personengesellschaft (mit natürlichen Personen als unmittelbar beteiligte Mitunternehmer) unterliegen nicht der Gewerbesteuer und – dies gilt auch für mittelbar beteiligte Mitunternehmer17 – nach Abzug eines etwaigen Freibetrags gem. § 16 Abs. 4 EStG ggf. einem ermäßigten Einkommensteuersatz nach § 34 EStG. Nach § 16 Abs. 4 EStG wird dem Steuerpflichtigen auf Antrag einmalig ein Freibetrag von 45 000 Euro gewährt,
5.19
11 BFH v. 23.6.1988 – IV R 84/86, BStBl. II 1989, 41; BFH v. 21.12.1993 – VIII R 69/88, BStBl. II 1994, 648 = GmbHR 1994, 724; vgl. auch Rapp in Littmann/Bitz/Pust, § 16 EStG Rz. 111 ff. 12 BFH v. 19.8.2003 – VIII R 67/02, BStBl. II 2004, 107 = GmbHR 2004, 129. 13 Wacker in Schmidt, § 16 EStG Rz. 384; Wollweber, AG 2013, 796 ff. 14 BFH v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897; Stundung des Kaufpreises ist keine schenkungsteuerpflichtige Zuwendung, s. BFH v. 30.3.1994 – II R 7/92, BStBl. II 1994, 580; vgl. auch BFH v. 14.12.1994 – X R 128/92, BStBl. II 1995, 465 = GmbHR 1995, 542. 15 Zu § 17 EStG: BFH v. 19.8.2003 – VIII R 67/02, BStBl. II 2004, 107 = GmbHR 2004, 129; zu § 8b KStG: BFH v. 12.3.2014 – I R 55/13, GmbHR 2014, 766 entgegen BMF, Schr. v. 13.3.2008 – IV B 7 – S-2750a/07/002, BStBl. I 2008, 506; vgl. auch BMF, Schr. v. 24.7.2015 – IV C 2 - S 2750-a/07/10002:002, BStBl. I 2015, 612. 16 BFH v. 14.5.2002 – VIII R 8/01, BStBl. II 2002, 532; BFH v. 6.5.2010 – IV R 52/08, BStBl. II 2010, 261 = GmbHR 2010, 876. 17 Wacker in Schmidt, § 16 EStG Rz. 582.
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Kap. 5 Rz. 5.20
Steuern
wenn er das 55. Lebensjahr vollendet hat oder im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauerhaft berufsunfähig ist. Der Freibetrag schmilzt um den Betrag ab, um den der Veräußerungsgewinn 136 000 Euro übersteigt. Nach § 34 Abs. 1 EStG beträgt die für die Veräußerungsgewinne (und ggf. andere außerordentliche Einkünfte) anzusetzende Einkommensteuer das Fünffache des Unterschiedsbetrags zwischen der Einkommensteuer für das verbleibende zu versteuernde Einkommen und der Einkommensteuer für das verbleibende zu versteuernde Einkommen zzgl. eines Fünftels dieser außerordentlichen Einkünfte (sog. „Fünftelregelung“). Die Regelung kann eine Progressionsmilderung zur Folge haben und damit die Besteuerung des Veräußerungsgewinns abmildern. Darüber hinaus ist es nach § 34 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 EStG einem Steuerpflichtigen, der das 55. Lebensjahr vollendet hat oder dauernd berufsunfähig ist, auf Antrag möglich, einmal im Leben bei Gewinnen infolge einer Betriebsveräußerung bis zu 5 Mio. Euro einen ermäßigten Steuersatz von 56 % des durchschnittlichen Steuersatzes, mindestens aber einem Steuersatz von 14 %, in Anspruch zu nehmen.
5.20 Ein nach §§ 16 Abs. 4 und 34 EStG begünstigter Veräußerungsgewinn liegt nicht vor, wenn wesentliche Betriebsgrundlagen zurückbehalten werden.18 Im Unterschied hierzu liegt bei gleichzeitigem Verkauf wesentlicher Betriebsgrundlagen an einen Erwerber und Überführung in das Privatvermögen ebenfalls der nach §§ 16, 34 EStG begünstigte Tatbestand einer Betriebsaufgabe des Veräußerers vor. Der BFH19 und ihm folgend die Einkommensteuerrichtlinien bestimmen eine wesentliche Betriebsgrundlage nach der funktional-quantitativen Betrachtungsweise. Danach gehören zu den wesentlichen Betriebsgrundlagen nicht nur die für den Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil funktional erforderlichen Wirtschaftsgüter, sondern auch solche, in denen erhebliche stille Reserven gebunden sind.20 Deshalb kann eine bloße Verpachtung von Teilen des Sachanlagevermögens, insbesondere von Grundbesitz, die Anwendung der §§ 16 Abs. 4 und 34 EStG gefährden.21 2. Veräußerung eines Anteils an einer Personengesellschaft a) Veräußerungsgewinn/-verlust
5.21 Bei der Veräußerung eines Anteils an einer gewerblichen Personengesellschaft (Mitunternehmerschaft) ist der Veräußerungsgewinn der Betrag, um den der Veräußerungspreis den steuerlichen Buchwert des Anteils am Betriebsvermögen der Mitunternehmerschaft nach Abzug der Veräußerungskosten übersteigt. Der Anteil am Betriebsvermögen wird bei einer Mitunternehmerschaft durch das steuerliche Kapitalkonto des betreffenden Mitunternehmers dargestellt. Das steuerliche Kapitalkonto umfasst dabei sowohl das steuerliche Kapital auf Grundlage der Gesamthandsbilanz als auch das Mehr- oder Minderkapital aus sog. Ergänzungs- und Sonderbilanzen des Mitunternehmers. Ein Veräußerungsgewinn entsteht auch bei der Übernahme eines negativen Kapitalkontos durch den Erwerber. Hingegen entsteht ein Veräußerungsverlust, wenn der Kaufpreis das steuerliche Kapitalkonto einschließlich Ergänzungs- und Sonderbilanzkapital unterschreitet. 18 Vgl. Wacker in Schmidt, § 16 EStG Rz. 100 m.w.N., 120; Rapp in Littmann/Bitz/Pust, § 16 EStG Rz. 26. 19 BFH v. 25.2.2010 – IV R 49/08, BStBl. II 2010, 726 = GmbHR 2010, 776; BFH v. 10.11.2005 – IV R 7/05, BStBl. II 2006, 176; BFH v. 26.4.1979 – IV R 119/76, BStBl. II 1979, 557. 20 H 16 Abs. 8 EStR 2012 zum Begriff der wesentlichen Betriebsgrundlage; BFH v. 2.10.1997 – IV R 84/96, GmbHR 1998, 202 = BStBl. II 1998, 104; BFH v. 10.11.2005 – IV R 7/05, BStBl. II 2006, 176. 21 BFH v. 1.10.1986 – I R 96/83, BStBl. II 1987, 113.
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B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.25 Kap. 5
Nach dem AIFM-StAnpG vom 18.12.201322 ist auch bei der Übertragung von Mitunternehmeranteilen zu prüfen, ob sich im Betriebsvermögen der Personengesellschaft (Mitunternehmerschaft) Verpflichtungen befinden, die einem Ansatzverbot, -beschränkungen oder Bewertungsvorbehalten unterlegen haben. Denn nur im Falle der Veräußerung des gesamten Mitunternehmeranteils kann der Veräußerer gem. § 4f Abs. 1 Satz 3 EStG auf eine Verteilung des Aufwands aus der Realisation der steuerlichen stillen Lasten verzichten. Bei Übertragung von Teilen eines Mitunternehmeranteils ist nach § 4f Abs. 1 und Abs. 2 EStG der Aufwand außerbilanziell auf das Entstehungsjahr und die folgenden 14 Jahre gleichmäßig zu verteilen, da das Gesetz im Unterschied zur Teilbetriebsveräußerung keine Sonderregelung für die Übertragung eines Teils eines Mitunternehmeranteils vorsieht. Soweit diese außerbilanzielle Korrektur nach § 7 Satz 2 GewStG auf Ebene der Mitunternehmerschaft die Gewerbesteuer beeinflusst, ist zu erwägen, die personenbezogene Gewerbesteuerbelastung im Rahmen der Gewinnverteilung nach dem Gesellschaftsvertrag der Personengesellschaft in einer Gewerbesteuerklausel verursachungsgerecht dem veräußernden Gesellschafter zuzuordnen.23
5.22
b) Personenbezogene Steuerfolgen Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an Mitunternehmerschaften unterliegen nur dann nicht der Gewerbesteuer, wenn sie auf natürliche Personen als unmittelbar beteiligte Mitunternehmer entfallen (§ 7 Satz 2 GewStG). Gewinne, die von Kapitalgesellschaften bei der Veräußerung eines Mitunternehmeranteils erzielt werden, sind damit gewerbesteuerpflichtig. Darüber hinaus fallen auch Gewinne unter die Gewerbesteuerpflicht, die bei sog. doppelstöckigen Personengesellschaften von der Obergesellschaft aus der Veräußerung der Untergesellschaft erzielt werden, selbst wenn die Gesellschafter der Obergesellschaft ausschließlich natürliche Personen sind.
5.23
Da nach herrschender Meinung in der Literatur24 die Gewerbesteuer auf Ebene der Personengesellschaft entsteht, deren Anteile veräußert werden, wird eine Zuweisung der Gewerbesteuerbelastung auf mittelbar mitverkaufte Anteile an Unterpersonengesellschaften, deren stille Reserven den Kaufpreis der veräußerten Obergesellschaft beeinflusst haben, und in diesem Zusammenhang eine Verrechnung mit laufenden Verlusten der Untergesellschaft abgelehnt. Entsprechend kommt auch eine Gewerbebesteuerung eines anteiligen Veräußerungsgewinns einer natürlichen Person aus dem Verkauf der Obergesellschaft, der auf die Anteile an der Unterpersonengesellschaft entfällt, nicht in Betracht, da in diesem Fall eine Veräußerung eines Anteils an der Untergesellschaft, an die das Gesetz die Steuerpflicht anknüpft, nicht vorliegt.25
5.24
Da die gewerbesteuerpflichtigen Veräußerungsgewinne auf Ebene der Personengesellschaft der Gewerbebesteuerung unterliegen, ist im Allgemeinen im Rahmen des Kaufvertrags oder bei der Bewertung des Kaufgegenstands die Verpflichtung des Kaufobjekts zur Zahlung der Gewerbesteuer auf den Veräußerungsgewinn entsprechend zu berücksichtigen. Soweit nur ein Gesellschafter seinen Mitunternehmeranteil veräußert, werden auch die verbleibenden Gesellschafter von der Gewerbesteuer auf den Veräußerungsgewinn durch Minderung ihres Gewinnanteils betroffen, wenn der Gesellschaftsvertrag nicht für diese Fälle eine abweichen-
5.25
22 BGBl. I 2013, 4318. 23 Benz/Placke, DStR 2013, 2653 (2656). 24 Pieper in Lippross/Seibel, § 7 GewStG Rz. 30 m.w.N.; Selder in Glanegger/Güroff, § 7 GewStG Rz. 128; Schmidt/Hageböck, DB 2003, 790 ff.; Suchanek, GmbHR 2007, 248; vgl. auch Ludwig, BB 2007, 2152; kritisch Hülsmann, DStR 2014, 184. 25 So auch Rödder/Hötzel/Mueller-Thuns, § 24 Rz. 192.
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Kap. 5 Rz. 5.26
Steuern
de Gewinnverteilungsabrede, nach der die gesellschafterbezogenen Gewerbesteuerbelastungen dem Gewinnanteil des verursachenden Gesellschafters zugeordnet werden, oder einen Ausgleich durch den veräußernden Gesellschafter vorsieht. In solchen Fällen kann es ratsam sein, im Unternehmenskaufvertrag die Freistellung der Personengesellschaft hinsichtlich der Gewerbesteuer, die auf den Veräußerungsgewinn und die entsprechende Freistellungszahlung entfällt, durch den Veräußerer vorzusehen.
5.26 Verluste aus der Veräußerung eines Mitunternehmeranteils können gewerbesteuerlich zum Abzug gebracht werden, wenn auch ein Gewinn aus der Veräußerung des Mitunternehmeranteils gewerbesteuerpflichtig wäre.26 Bei der faktischen Umsetzung der Abzugsfähigkeit ergibt sich allerdings das Problem, dass auch der gewerbesteuerliche Verlust auf der Ebene der Mitunternehmerschaft entsteht und wegen des Erfordernisses der Unternehmensidentität27 nicht mit etwaigen anderen gewerbesteuerpflichtigen Gewinnen des Veräußerers ausgeglichen werden kann. Auf der anderen Seite kann der Verlust auch nicht vom Erwerber des Anteils mit zukünftigen Gewinnanteilen verrechnet werden, da es insoweit an der Unternehmeridentität28 fehlt. Im Ergebnis kann ein bei der Veräußerung eines Mitunternehmeranteils entstandener Gewerbeverlust nur mit einem laufenden gewerbesteuerpflichtigen Gewinn, der bis zum Veräußerungszeitpunkt entstanden ist, ausgeglichen werden.
5.27 Die hinsichtlich der Veräußerung eines Einzelunternehmens durch natürliche Personen gemachten Ausführungen zum Freibetrag des § 16 Abs. 4 EStG und zum ermäßigten Steuersatz nach § 34 EStG gelten grundsätzlich auch bei der Veräußerung von Anteilen an einer Mitunternehmerschaft, allerdings nur, sofern der gesamte Mitunternehmeranteil übertragen wird. Gewinne aus der Veräußerung von Teilen eines Mitunternehmeranteils werden nach § 16 Abs. 1 Satz 2 EStG hingegen als laufende Gewinne qualifiziert, auf die § 16 Abs. 4 und § 34 EStG keine Anwendung finden. Nach Auffassung der Finanzverwaltung unterliegen sie auch der Gewerbesteuer.29
5.28 Ist der Veräußerer eine Körperschaft, so unterliegt der erzielte Veräußerungsgewinn der Körperschaftsteuer einschließlich Solidaritätszuschlag; es ergeben sich insoweit keine Besonderheiten, d.h. die durchschnittliche Gesamtsteuerbelastung einschließlich Gewerbesteuer beträgt ca. 30 %. 3. Veräußerung eines Anteils an einer Kapitalgesellschaft a) Veräußerungsgewinn/-verlust
5.29 Bei Veräußerungen aus dem Privatvermögen ist nach den §§ 17, 20 Abs. 2 EStG bzw. § 23 EStG a.F. die steuerliche Bemessungsgrundlage der Veräußerungsgewinn bzw. -verlust, der sich aus der Differenz zwischen dem Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten und den Anschaffungskosten ergibt. Bei Veräußerungen aus dem Betriebsvermögen ergibt sich der Veräußerungsgewinn aus dem Unterschied zwischen dem Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten und dem auf den Übertragungsstichtag nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften ermittelten Buchwert der veräußerten Anteile. Ein Veräußerungsgewinn kann steuerrechtlich auch dann erzielt werden, wenn ein im Wege der Kapital26 27 28 29
Selder in Glanegger/Güroff, § 7 GewStG Rz. 128; Behrens/Schmitt, BB 2002, 860. Vgl. R 10a.2 GewStR 2009. Vgl. R 10a.3 GewStR 2009. Wacker in Schmidt, § 16 EStG Rz. 410 m.w.N.; Selder in Glanegger/Güroff, § 7 GewStG Rz. 126.
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B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.32 Kap. 5
erhöhung neu hinzukommender Gesellschafter ein Agio in die Kapitalgesellschaft einzahlt, das kurz danach an die Altgesellschafter wieder ausgekehrt wird.30 Der Veräußerungsgewinn gilt auch hier als mit der entgeltlichen Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums an den Gesellschaftsanteilen verwirklicht.31 Das wirtschaftliche Eigentum an einer Kapitalgesellschaftsbeteiligung geht im Allgemeinen dann auf den Erwerber über, wenn der Erwerber auf Grund eines (bürgerlich-rechtlichen) Rechtsgeschäfts bereits eine rechtlich geschützte, auf den Erwerb des Rechts gerichtete Position erworben hat, die ihm gegen seinen Willen nicht mehr entzogen werden kann, und die mit dem Anteil verbundenen wesentlichen Rechte sowie das Risiko der Wertminderung und die Chance einer Wertsteigerung auf ihn übergegangen sind.32 Bei einem Geschäftsanteil an einer GmbH ist hierbei regelmäßig erforderlich, dass dem Erwerber das Gewinnbezugsrecht und das Stimmrecht eingeräumt werden. Hieran ändert sich nichts durch die Bestimmung eines zurückliegenden Datums für die wirtschaftliche Wirkung der Übertragung („effective date“), welches nur bestimmt, ab welchem Zeitpunkt dem Erwerber der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens zustehen soll. Der Übergang des wirtschaftlichen Eigentums an den Anteilen an der Kapitalgesellschaft wird hierdurch nicht rückbezogen.
5.30
Oft wird die Übertragung des Gesellschaftsanteils im Unternehmenskaufvertrag aufschiebend bedingt vereinbart. Aufschiebende Bedingungen können z.B. die Zahlung des Kaufpreises, die Zustimmung von Aufsichtsrat oder Beirat (Gremienvorbehalte), der erfolgreiche Abschluss eines Kartellverfahrens oder die Erteilung einer verbindlichen Auskunft der zuständigen Finanzbehörde sein. Während das rechtliche Eigentum an den Gesellschaftsanteilen zweifelsohne erst mit Eintritt der aufschiebenden Bedingung übertragen wird, stellt sich hier die Frage, ob das wirtschaftliche Eigentum bereits zu einem früheren Zeitpunkt übertragen worden sein kann. Das wirtschaftliche Eigentum geht zwar grundsätzlich ebenfalls erst mit dem Eintritt der aufschiebenden Bedingung auf den Erwerber über; dies gilt jedoch nicht, wenn der Eintritt allein vom Willen und Verhalten des Erwerbers abhängig ist.33 In diesem Fall hat der Erwerber bereits eine rechtliche geschützte Position erworben, die ihm gegen seinen Willen nicht mehr entzogen werden kann. Eine solche Bedingung, die ausschließlich von einer Handlung des Erwerbers abhängt, liegt z.B. bei der aufschiebenden Bedingung der Zahlung des Kaufpreises vor.34 Hingegen führt die aufschiebende Bedingung, dass das BKartA den Zusammenschluss nicht innerhalb der Frist des § 24a Abs. 2 GWB a.F. untersagt oder vorab erklärt, die Untersagung nicht vornehmen zu wollen, zum Übergang des wirtschaftlichen Eigentums im Bedingungseintritt, da der Erwerber hierauf keinen Einfluss hat.35
5.31
Ausnahmsweise kann das wirtschaftliche Eigentum bereits mit der Einräumung von wechselseitigen Optionen auf den Erwerber übertragen werden. Dies ist der Fall, wenn der Verkäufer dem Erwerber eine Kaufoption (Call-Option) und der Erwerber dem Verkäufer ein Andienungsrecht (Put-Option) in der Weise einräumt, dass die Ausübung beider Optionen im Überschneidungsbereich der vereinbarten Optionszeiträume zu demselben Optionspreis erfolgen kann, da insoweit bereits die Chancen und Risiken aus einer Wertsteigerung der An-
5.32
30 BFH v. 13.10.1992 – VIII R 3/89, BStBl. II 1993, 477 = GmbHR 1993, 378. 31 Vgl. hierzu H 17 Abs. 4 EStR 2012 zum wirtschaftlichen Eigentum; BFH v. 17.2.2004 – VIII R 26/01, BStBl. II 2004, 651 = GmbHR 2004, 904 m. Anm. Kleinert/Sedlaczek. 32 BFH v. 11.7.2006 – VIII R 32/04, BStBl. II 2007, 296 = GmbHR 2007, 49 m. Anm. Hoffmann. 33 BFH v. 25.6.2009 – IV R 3/07, GmbHR 2009, 1282 m. Anm. Hoffmann = BFH/NV 2009, 2039. 34 Vgl. auch Kleinheisterkamp/Schell, DStR 2010, 833 (837). 35 BFH v. 25.6.2009 – IV R 3/07, GmbHR 2009, 1282 m. Anm. Hoffmann = BFH/NV 2009, 2039.
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Kap. 5 Rz. 5.33
Steuern
teile an der Kapitalgesellschaft auf den Erwerber übergegangen sind.36 Optionsgestaltungen sind vielfach in Situationen eingesetzt worden, in denen die Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums auf einen zukünftigen Zeitpunkt verschoben werden soll, weil zu jenem Zeitpunkt aufgrund einer Steuerrechtsänderung eine begünstigte Veräußerungsgewinnbesteuerung erwartet wird, auf der anderen Seite der Veräußerer jedoch in gewissem Umfang Gewissheit besitzen möchte, dass es tatsächlich zu einer Veräußerung kommen wird. Eine solche Situation bestand z.B. beim Übergang vom körperschaftsteuerlichen Anrechnungsverfahrens zum Halbeinkünfteverfahren, nach dem der Veräußerungsgewinn von Anteilen an Kapitalgesellschaften (teilweise) steuerbefreit wurde. Werden die Optionsgeschäfte vor diesem Hintergrund so ausgestaltet, dass es zwangsläufig zu einer Ausübung der Option kommen muss, kann das wirtschaftliche Eigentum bereits übertragen worden sein. Dies sollte jedenfalls dann anzunehmen sein, wenn aufgrund von weiteren Vereinbarungen (z.B. Stimmrechtsvereinbarungen, Kontrollrechten des Erwerbers) der Einfluss des Veräußerers auf die Kapitalgesellschaft nahezu ausgeschlossen oder eine andere Verwertungsmöglichkeit als die Optionsausübung nur von theoretischer Natur ist.37 b) Personenbezogene Steuerfolgen aa) Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften durch eine Körperschaft
5.33 Werden Kapitalgesellschaftsanteile durch eine unbeschränkt steuerpflichtige Körperschaft veräußert, ist der Veräußerungsgewinn effektiv zu 95 % steuerfrei. Dies ergibt sich aus § 8b Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 KStG, nach dem 5 % des Veräußerungsgewinns pauschal als nicht abziehbare Betriebsausgaben behandelt werden. Im Falle von beschränkt steuerpflichtigen Körperschaften findet § 8b Abs. 3 KStG (d.h. die 5 % Schachtelstrafe) hingegen keine Anwendung, wenn die ausländische Körperschaft im Inland weder eine Betriebsstätte noch einen ständigen Vertreter hat.38 Die Steuerbefreiung gilt unabhängig davon, ob es sich um eine Inlands- oder Auslandsbeteiligung handelt, und ebenso ungeachtet einer Mindestbeteiligungshöhe, Aktivitätsklausel oder Haltefrist. Veräußerungsgewinne sind jedoch voll steuerpflichtig, soweit die Anteile in früheren Wirtschaftsjahren, z.B. während der Geltung des körperschaftsteuerlichen Anrechnungsverfahrens, steuerwirksam auf den niedrigeren Teilwert abgeschrieben und die Gewinnminderung nicht durch den Ansatz eines höheren Wertes ausgeglichen worden ist.
5.34 Besonderheiten gelten, wenn die veräußerten Anteile zum Betriebsvermögen von Unternehmen bestimmter Branchen gehören. Nach § 8b Abs. 7 KStG finden die Steuerbefreiungen des § 8b Abs. 1 bis 6 KStG für Anteile, die bei Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten dem Handelsbuch zuzurechnen sind, sowie für Anteile, die bei Finanzunternehmen im Sinne des Kreditwesengesetzes, an denen Kreditinstitute oder Finanzdienstleistungsinstitute mittelbar oder unmittelbar zu mehr als 50 % beteiligt sind, zum Zeitpunkt des Zugangs zum Betriebsvermögens als Umlaufvermögen auszuweisen sind, keine Anwendung. Beachtlich ist, dass auch Industrieholdinggesellschaften als Finanzunternehmen angesehen werden können. Die Finanzverwaltung verweist hinsichtlich der Kriterien, die für die Qualifikation als Finanzunternehmen i.S.d. § 8b Abs. 7 KStG maßgeblich sind, auf die Tatbestandsmerkmale 36 BFH v. 11.7.2006 – VIII R 32/04, BStBl. II 2007, 296 = GmbHR 2007, 49 m. Anm. Hoffmann. 37 BFH v. 11.7.2006 – VIII R 32/04, BStBl. II 2007, 296 = GmbHR 2007, 49 m. Anm. Hoffmann; vgl. auch Kleinheisterkamp/Schell, DStR 2010, 833 (838); BFH v. 15.10.2013 – I B 159/12, BFH/NV 2014, 291, Vorinstanz: FG Hessen v. 31.8.2012 – 4 K 1637/09, EFG 2013, 4; BFH v. 7.5.2014 – IX B 146/13, BFH/NV 2014, 1204, Vorinstanz: FG München v. 15.10.2013 – 15 K 2429/10. 38 BFH v. 31.5.2017 – I R 37/15, GmbHR 2017, 1339 = BFH/NV 2017, 1680.
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B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.38 Kap. 5
der Holdinggesellschaft des ehemaligen § 8a Abs. 4 KStG a.F. Danach müssen die Bilanzsumme der Holdinggesellschaft zu mehr als 75 % aus Beteiligungen an Kapitalgesellschaften sowie die Bruttoerträge im Durchschnitt der drei vorausgegangenen Jahre zu mindestens 75 % aus Beteiligungserträgen und Erträgen aus Finanzierungen von Kapitalgesellschaften bestehen. Zwar ist mit der Einschränkung39 des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf Finanzunternehmen, an denen Kreditinstitute oder Finanzinstitute mittelbar oder unmittelbar zu mindestens 50 % beteiligt sein müssen, § 8b Abs. 7 KStG nicht mehr auf die typische Industrieholding in Konzernen des Nichtbankenbereichs anwendbar. Bei Portfoliogesellschaften von Private Equity Fonds können jedoch weiterhin Anwendungsbereiche möglich sein und somit Unsicherheiten bei der Rechtsanwendung verbleiben. Des Weiteren sind die Befreiungen des § 8b KStG auch nicht auf Anteile anzuwenden, die zu den Kapitalanlagen von Lebens- und Krankenversicherungsunternehmen gehören (§ 8b Abs. 8 KStG). Spiegelbildlich zur Steuerfreistellung von Veräußerungsgewinnen bleiben auch Veräuße- 5.35 rungsverluste und sonstige Gewinnminderungen (Teilwertabschreibungen, Gewinnminderungen im Zusammenhang mit Darlehensforderungen oder aus der Inanspruchnahme von Sicherheiten für Darlehen, die von einem wesentlichen Gesellschafter oder einer diesem nahestehenden Person oder einem rückgriffsberechtigten Dritten gewährt worden sind) steuerlich unberücksichtigt (§ 8b Abs. 3 KStG). Dem entsprechend können Veräußerungsverluste und Teilwertabschreibungen der unter § 8b Abs. 7 und 8 KStG fallenden Anteile wiederum steuerlich geltend gemacht werden. Die 95%ige Steuerbefreiung von Gewinnen aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften gilt auch dann, wenn dieser Tatbestand durch eine Mitunternehmerschaft realisiert wird, an der die Körperschaft beteiligt ist (1. Variante) bzw. soweit bei der Veräußerung von Anteilen an einer Mitunternehmerschaft Gewinne anfallen, die auf Anteile einer nachgeschalteten Kapitalgesellschaft entfallen (2. Variante). Solche mittelbaren Veräußerungsgewinne sind auf Ebene der Körperschaft für Zwecke der Körperschaftsteuer stets nach § 8b Abs. 6 KStG in dem nach § 8b Abs. 2 und 3 KStG bestimmten Umfang steuerbefreit. § 8b KStG findet nach § 7 Satz 4 GewStG auch bei der Ermittlung des Gewerbeertrags zwischengeschalteter Mitunternehmerschaften Anwendung.
5.36
bb) Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften aus dem Betriebsvermögen einer natürlichen Person Werden Anteile aus einem Betriebsvermögen von Einzelunternehmen und Personengesellschaften, an der natürliche Personen beteiligt sind, veräußert, unterliegt der Veräußerungsgewinn grundsätzlich dem Teileinkünfteverfahren, d.h. 40 % dieser Einkünfte sind steuerfrei (§ 3 Nr. 40 lit. a EStG). Verluste aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften im Betriebsvermögen sind nach § 3c Abs. 2 EStG nur zu 60 % abziehbar. Im Falle steuerwirksamer früherer Teilwertabschreibungen sind Veräußerungsgewinne voll steuerpflichtig und Veräußerungsverluste vollumfänglich zu berücksichtigen.
5.37
Veräußerungsgewinne bis zu einem Betrag von 500 000 Euro, die auf natürliche Personen als Einzel- oder Mitunternehmer entfallen, können nach Maßgabe des § 6b Abs. 10 EStG auf Anschaffungskosten von Anteilen an Kapitalgesellschaften, beweglichen Wirtschaftsgütern oder Gebäuden übertragen werden. Soweit eine Übertragung im Veräußerungsjahr
5.38
39 Gesetz zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnverkürzungen und -verlagerungen v. 20.12.2016, BStBl. I 2016, 3000.
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Kap. 5 Rz. 5.39
Steuern
nicht möglich ist, kann eine steuerfreie Rücklage gebildet werden, die in den folgenden zwei Jahren auf begünstigte Wirtschaftsgüter übertragen werden kann. Die Übertragungsfrist verlängert sich bei Gebäudeanschaffungen auf vier Jahre. Die Anschaffungskosten mindern sich bei Kapitalgesellschaftsanteilen um den vollen Betrag des Veräußerungsgewinns und bei beweglichen Wirtschaftsgütern und Gebäuden um den nach § 3 Nr. 40 EStG steuerpflichtigen Teil. Im Ergebnis wird mit der Übertragung von Veräußerungsgewinnen auf neu angeschaffte Wirtschaftsgüter die Besteuerung des Veräußerungsgewinns auf den Realisationszeitpunkt von Gewinnen und Verlusten aus dem neuen Wirtschaftsgut (auch in Form von geminderten Abschreibungen) verschoben und damit ein Barwertvorteil gegenüber einer Sofortbesteuerung erzielt. Bestehen Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Übertragung des Gewinns, sollte in erster Linie eine Minderung der Anschaffungskosten von Kapitalgesellschaftsanteilen angestrebt werden, da diese nicht planmäßig abgeschrieben werden können.
5.39 Die Begünstigung des § 6b Abs. 10 EStG wird allerdings nur für Veräußerungsgewinne (vor Anwendung des Teileinkünfteverfahrens) bis zur Höhe von 500 000 Euro gewährt. Diese Grenze gilt für Veräußerungen innerhalb eines Jahres40 und im Falle einer Mitunternehmerschaft bezogen auf den einzelnen Mitunternehmer. Bei Mitunternehmerschaften ist ferner zu beachten, dass Veräußerungsgewinne, die einem Gesellschafter einer Personengesellschaft im Rahmen der Gewinnverteilung der Mitunternehmerschaft zugerechnet worden sind, auch auf Anschaffungen im eigenen Betriebsvermögen übertragen werden können und umgekehrt.
5.40 Die Veräußerung einer 100%igen Beteiligung durch natürliche Personen kann nach §§ 16, 34 EStG begünstigt sein, da die Beteiligung nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG als Teilbetrieb gilt. Allerdings schließt die Anwendung des Teileinkünfteverfahrens, das nach § 3 Nr. 40 lit. b EStG grundsätzlich zum Tragen kommt, die Tarifbegünstigung nach § 34 EStG aus.
5.41 Die Veräußerung auch einer 100%igen Beteiligung ist grundsätzlich gewerbeertragsteuerpflichtig,41 es sei denn, sie erfolgt in engem Zusammenhang mit der Aufgabe des Gewerbebetriebs des Veräußerers. cc) Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften aus dem Privatvermögen einer natürlichen Person
5.42 Werden Beteiligungen aus einem Privatvermögen veräußert, so sind diese entweder nach § 17 EStG – wenn es sich um eine wesentliche Beteiligung i.S.d. § 17 EStG handelt – oder nach § 20 Abs. 2 Nr. 1 EStG steuerpflichtig. Darüber hinaus gelten Besonderheiten für die Veräußerung von Anteilen i.S.v. § 23 EStG a.F., die vor dem 1.1.2009 angeschafft worden sind.
5.43 Eine Beteiligung gem. § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG liegt dabei bereits dann vor, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft zu mindestens 1 % mittelbar oder unmittelbar beteiligt war (sog. „wesentliche Beteiligung“). Für Gewinne aus der Veräußerung wesentlicher Beteiligungen i.S.d. § 17 EStG gilt das Teileinkünfteverfahren, d.h. 40 % des Veräußerungsgewinns sind nach § 3 Nr. 40 lit. c EStG steuerbefreit.
5.44 Im Übrigen unterliegen Veräußerungsgewinne natürlicher Personen aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften nach § 20 Abs. 2 Satz 1 EStG der Besteuerung als Einkünfte aus Kapitalvermögen. Nach § 20 Abs. 4 EStG ermittelt sich der Veräußerungsgewinn als Unterschiedsbetrag zwischen den Einnahmen aus der Veräußerung nach Abzug 40 Loschelder in Schmidt, § 6b EStG Rz. 98. 41 Vgl. BFH v. 14.1.2002 – VIII B 95/01, BFH/NV 2002, 811.
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B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.47 Kap. 5
der Aufwendungen, die im unmittelbaren sachlichen Zusammenhang mit dem Veräußerungsgeschäft stehen, und den Anschaffungskosten. Der Tatbestand des § 20 Abs. 2 Satz 1 EStG ist gegenüber anderen Einkunftsarten subsidiär (§ 20 Abs. 8 EStG). Soweit ein Veräußerungsgewinn unter § 20 Abs. 2 Satz 1 EStG fällt, können neben dem Sparer-Pauschbetrag i.H.v. 801 Euro weitere tatsächliche Werbungskosten nicht abgezogen werden (§ 20 Abs. 9 Satz 1 EStG). Allerdings findet nach § 32d Abs. 1 EStG auf diese Einkünfte ein besonderer Einkommensteuersatz von 25 % zzgl. Solidaritätszuschlag Anwendung (sog. „Abgeltungsteuersatz“). Der Steuerpflichtige hat jedoch nach § 32d Abs. 6 EStG die Möglichkeit, auf Antrag die Veranlagung mit der tariflichen Einkommensteuer zu wählen, wenn dies zu einer niedrigeren Steuer führt (sog. „Günstigerprüfung“). Eine Kapitalertragsteuerpflicht in Bezug auf den Veräußerungserlös besteht nach § 43 Abs. 1 Nr. 9 i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 Nr. 1 EStG grundsätzlich nur, wenn ein inländisches Kreditinstitut die Anteile verwahrt oder verwaltet. Das Abgeltungsteuersystem gilt ab 1.1.2009. Zuvor waren Veräußerungsgewinne natürlicher 5.45 Personen, die nicht auf wesentliche Beteiligungen i.S.d. § 17 EStG entfielen, nur innerhalb der Spekulationsfrist von einem Jahr nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG steuerpflichtig. Mit der Einführung des Abgeltungsteuersystems wurde für nicht wesentliche Beteiligungen, die vor dem 1.1.2009 erworben worden sind, in § 52a Abs. 11 Satz 4 EStG eine Übergangsvorschrift vorgesehen. Hiernach findet § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG in der Fassung vom 1.1.1999 weiterhin auf die Veräußerung von nicht wesentlichen Beteiligungen Anwendung, wenn diese vor dem 1.1.2009 erworben worden sind.
II. Steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten 1. Nutzung einer Steuerbegünstigung a) Einbringung oder Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft Da die Besteuerung von Gewinnen aus der Veräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften sowohl für Körperschaften (§ 8b Abs. 2 und 3 KStG) als auch für natürliche Personen (Teileinkünfteverfahren bzw. Abgeltungsteuersatz) im Allgemeinen günstiger erscheint als die Veräußerung von Betriebsvermögen, stellt sich im Vorfeld einer Veräußerung eines Betriebs oder Teilbetriebs die Frage, ob eine Umwandlung oder Ausgliederung des Kaufgegenstands in eine Kapitalgesellschaft und anschließende Veräußerung der Kapitalgesellschaftsanteile zu einer vorteilhafteren Besteuerung des Veräußerungsgewinns führt. Allerdings muss die Arbeitshypothese, dass die Besteuerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften günstiger ist, nicht in jedem Fall gelten: Denn soweit laufende Verluste eines Betriebs oder Verlustvorträge mit dem Gewinn aus der Veräußerung des Betriebsvermögens verrechnet werden können und in Folge dessen keine oder nur eine geringe Steuerbelastung entsteht, ist die grundsätzlich steuerpflichtige Veräußerung des Betriebsvermögens auf Grund der Möglichkeit für den Erwerber, hierdurch Abschreibungspotential zu erwerben, zumindest als gleichwertig, ggf. sogar als vorteilhafter zu betrachten. Aus diesem Grunde ist es bei der steuerlichen Gestaltung von Veräußerungsvorgängen in jedem Fall zu empfehlen, einen Steuerbelastungsvergleich bezüglich der unterschiedlichen Gestaltungsvarianten durchzuführen.
5.46
aa) Einbringung des Betriebsvermögens in eine Kapitalgesellschaft Um zu einer Veräußerung eines Anteils an einer Kapitalgesellschaft zu gelangen, bietet sich zunächst an, das betreffende Betriebsvermögen auf eine Tochterkapitalgesellschaft zu überGröger
373
5.47
Kap. 5 Rz. 5.48
Steuern
tragen. Zivilrechtlich erfolgt dies entweder im Wege einer Ausgliederung nach § 123 Abs. 3 UmwG durch Gesamtrechtsnachfolge oder im Wege einer Sachkapitalerhöhung durch Einzelrechtsnachfolge. In beiden Fällen kann die Ausgliederung oder Einbringung steuerneutral vorgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des § 20 UmwStG erfüllt sind.
5.48 Eine solche Reorganisation im Vorfeld einer Veräußerung kann sinnvoll erscheinen, um den Kaufgegenstand zu separieren (sog. „Carve Out“) und damit auch zivilrechtlich die Veräußerung zu erleichtern, insbesondere wenn zum Kaufgegenstand branchenspezifisch im Wesentlichen Verträge gehören, deren Übertragung im Wege der Einzelrechtsnachfolge (Asset Deal) nur mit einem erheblichen Aufwand und Risiko möglich ist. Diese Problematik ist z.B. bei Finanzdienstleistungs-, Telekommunikations-, Internetunternehmen oder Verlagen anzutreffen. Hier kann ggf. durch Ausgliederung des Betriebsvermögens einschließlich der Vertragsbeziehungen im Wege der Gesamtrechtsnachfolge der Kaufgegenstand zivilrechtlich ohne Zustimmung der Gläubiger auf die Tochterkapitalgesellschaft übertragen und anschließend die Veräußerung der Anteile an der Kapitalgesellschaft vorgenommen werden.
5.49 Befindet sich das zu veräußernde Vermögen in einer Personengesellschaft, bietet sich zur Nutzung einer Steuerbegünstigung für die Veräußerung von Kapitalgesellschaftsanteilen auch ein Formwechsel der Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft an. Ein solcher Formwechsel erfolgt nach § 25 UmwStG ebenfalls auf Grundlage der Regelungen des § 20 UmwStG. Im Unterschied zu einer Einbringung hat der Formwechsel den Vorteil, dass er mangels Vermögensübertragung keine Grunderwerbsteuer auslöst.
5.50 Aus steuerlicher Sicht ist für eine ertragsteuerneutrale Übertragung des Betriebsvermögens auf die Tochterkapitalgesellschaft nach § 20 Abs. 1 UmwStG erforderlich, dass entweder ein Betrieb, ein Teilbetrieb oder ein Mitunternehmeranteil übertragen wird und die übertragende Gesellschaft als Gegenleistung neue Anteile an der aufnehmenden Gesellschaft erhält. Dies gilt auch, wenn die übertragende Gesellschaft bereits zu 100 % an der übernehmenden Gesellschaft beteiligt ist. Folglich ist für eine ertragsteuerneutrale Übertragung eine Einlage in die freie Rücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB nicht ausreichend.
5.51 Das eingebrachte Betriebsvermögen muss als Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil qualifizieren. Als Teilbetrieb gilt hierbei ein mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestatteter, organisch geschlossener Teil des Gesamtbetriebs, der für sich betrachtet alle Merkmale eines Betriebs i.S.d. Einkommensteuergesetzes aufweist und für sich lebensfähig ist.42 Diese Qualifikation des Betriebsvermögens ist sorgfältig zu prüfen, da bei Nichtbestehen der Voraussetzungen die Einbringung grundsätzlich in vollem Umfang steuerpflichtig ist.
5.52 Nach dem Umwandlungssteuergesetz ist auch bei Vorliegen der o.g. Voraussetzungen nach § 20 Abs. 2 UmwStG grundsätzlich der gemeine Wert anzusetzen und mithin die Übertragung des Betriebsvermögens steuerpflichtig. Allerdings kann die Tochterkapitalgesellschaft auf Antrag den Buchwert ansetzen, und eine Besteuerung auf Ebene des Übertragenden vermieden werden, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt werden: – Es ist sichergestellt, dass das Betriebsvermögen später bei der übernehmenden Körperschaft der Besteuerung mit Körperschaftsteuer unterliegt; – die Passivposten des eingebrachten Betriebsvermögens übersteigen nicht die Aktivposten; dabei ist das Eigenkapital nicht zu berücksichtigen; 42 Vgl. R 16 Abs. 3 Satz 1 EStR 2012.
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Rz. 5.55 Kap. 5
– das Recht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Besteuerung des Gewinns aus der Veräußerung des eingebrachten Betriebsvermögens bei der übernehmenden Gesellschaft wird nicht ausgeschlossen oder beschränkt und – der gemeine Wert von sonstigen Gegenleistungen, die neben den neuen Gesellschaftsanteilen gewährt werden, beträgt nicht mehr als – 25 Prozent des Buchwerts des eingebrachten Betriebsvermögens oder – 500.000 Euro, höchstens jedoch den Wert des eingebrachten Betriebsvermögens. In Inlandsfällen sind diese Voraussetzungen im Allgemeinen gegeben.
5.53
Als steuerlicher Übertragungsstichtag und Einbringungszeitpunkt kann der Stichtag der Schlussbilanz des übertragenden Rechtsträgers nach § 17 Abs. 2 UmwG vorgesehen werden. Dieser Stichtag darf nach § 20 Abs. 6 UmwStG höchstens acht Monate vor der Anmeldung der Ausgliederung zur Eintragung in das Handelsregister liegen. Eine entsprechende Rückbeziehung ist auch bei einer Einbringung im Wege einer Sachkapitalerhöhung nach § 20 Abs. 6 Satz 3 UmwStG zulässig.
5.54
Um jedoch zu vermeiden, dass durch Rechtsvorgänge dieser Art stille Reserven eines Betriebsvermögens im Veräußerungsfall grundsätzlich der Besteuerung entzogen werden, hat der Gesetzgeber eine rückwirkende, wenn auch abschmelzende Besteuerung der stillen Reserven des Betriebsvermögens bei einer im Anschluss an die steuerneutrale Einbringung erfolgenden Veräußerung der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft vorgesehen. Nach § 22 Abs. 1 UmwStG ist im Falle einer nachgelagerten Veräußerung der im Wege einer Sacheinlage unter dem gemeinen Wert erhaltenen Anteile rückwirkend der Einbringungsgewinn zu versteuern. Bei natürlichen Personen gilt der Einbringungsgewinn als Gewinn i.S.d. § 16 EStG. § 16 Abs. 4 und § 34 EStG sind hierbei nicht anzuwenden. Daher ist bei Anwendbarkeit dieser Steuerbegünstigungen auf die Betriebsveräußerung die Vorteilhaftigkeit dieser Gestaltung vom Einzelfall abhängig und individuell zu prüfen. Der Einbringungsgewinn ist gewerbesteuerpflichtig, wenn auch die Veräußerung des eingebrachten Vermögens gewerbesteuerpflichtig gewesen wäre.43 Ein solcher Fall liegt nach Auffassung der Finanzverwaltung z.B. vor, wenn nach Einbringung des gesamten Mitunternehmeranteils nur ein Teil der erhaltenen Kapitalgesellschaftsanteile veräußert werden und der Einbringende damit weiterhin an der Kapitalgesellschaft beteiligt bleibt.44 Diese Gestaltung, mit der das Ziel eines steuerfreien „Roll-overs“, d.h. einer steuerfreien weiteren Beteiligung des Einbringenden an dem umgewandelten und zu verkaufenden Unternehmen erreicht werden soll, führt daher zur Gewerbebesteuerung des insoweit entstehenden Einbringungsgewinns. Der Einbringungsgewinn ermittelt sich nach § 22 Abs. 1 Satz 2 UmwStG als der Betrag, um den der gemeine Wert des eingebrachten Betriebsvermögens im Einbringungszeitpunkt nach Abzug von Kosten der Vermögensübertragung den Wert, mit dem die übernehmende Körperschaft das Betriebsvermögen angesetzt hat, übersteigt, vermindert um jeweils ein Siebtel für jedes seit dem Einbringungszeitpunkt abgelaufene Zeitjahr. Der Einbringungsgewinn gilt als nachträgliche Anschaffungskosten der erhaltenen Anteile. Folglich unterliegt der Veräußerungsgewinn nach
5.55
43 Vgl. BMF, Schr. v. 11.11.2011 – IV C 2 – S-1978b/08/10001, BStBl. I 2011, 1314 (Umwandlungssteuererlass), Rz. 22.07. 44 BMF, Schr. v. 11.11.2011 – IV C 2 – S-1978b/08/10001, BStBl. I 2011, 1314 (Umwandlungssteuererlass), Rz. 22.07; a.A. FG Köln v. 19.7.2018 – 6 K 2507/16 (Rev. eingelegt), BFH – I R 26/18, anhängiges Verfahren.
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Kap. 5 Rz. 5.56
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Ablauf von sieben Jahren in vollem Umfang der begünstigten Besteuerung des Teileinkünfteverfahrens bzw. nach § 8b KStG im Falle von Kapitalgesellschaften.
5.56 Vor dem Hintergrund dieser Gesetzeslage ist eine steuerneutrale Einbringung in eine Tochterkapitalgesellschaft dann von Vorteil, wenn die Veräußerung der Anteile an der Kapitalgesellschaft nach Ablauf von mindestens einem Zeitjahr erfolgt und daher die stillen Reserven des übertragenen Betriebsvermögens nur noch zu höchstens sechs Siebtel oder weniger der vollen Besteuerung und im Übrigen der begünstigten Besteuerung nach dem Teileinkünfteverfahren bzw. § 8b KStG unterliegen. Da auch bestimmte Ersatztatbestände nach § 22 Abs. 1 Satz 6 UmwStG die Besteuerung des Einbringungsgewinns auslösen, können die genannten Rechtsfolgen auch im Allgemeinen nicht durch weitere Umwandlungen oder Kapitalerhöhungsmodelle vermieden werden. Bei der Frage, ob zwecks Erreichung eines möglichst langen Zeitraums zwischen Einbringung und Veräußerung bereits Jahre vor einem möglichen Veräußerungszeitpunkt eine Einbringung in eine Tochterkapitalgesellschaft vorgenommen werden soll, ist auch zu berücksichtigen, dass sich die Besteuerung des Einbringungsgewinns grundsätzlich am gemeinen Wert des Betriebsvermögens zum Einbringungszeitpunkt orientiert und sich nachfolgende Werterhöhungen, aber auch Wertminderungen des Betriebsvermögens nicht auf die Höhe des Einbringungsgewinns auswirken. bb) Abspaltung von Betriebsvermögen auf eine Kapitalgesellschaft
5.57 Wenn nur ein Teilbetrieb einer Kapitalgesellschaft veräußert werden soll, stellt eine Abspaltung des Betriebsvermögens auf eine Schwesterkapitalgesellschaft mit anschließender Veräußerung der Anteile an der Schwesterkapitalgesellschaft eine Alternative zur Übertragung des Betriebsvermögens auf eine Tochterkapitalgesellschaft und Veräußerung der Tochterkapitalgesellschaft dar. Diese Abspaltung erfolgt zivilrechtlich nach § 123 Abs. 1 oder 2 UmwG ebenfalls durch Gesamtrechtsnachfolge und ist unter den Voraussetzungen des § 15 UmwStG auch steuerneutral.
5.58 Wesentliche Voraussetzung für die steuerneutrale Spaltung nach § 15 Abs. 1 UmwStG ist, dass sowohl ein Teilbetrieb im Wege der Spaltung übertragen wird als auch im Fall der Abspaltung bei der übertragenden Körperschaft mindestens ein Teilbetrieb verbleibt. Als Teilbetrieb i.S.d. § 15 UmwStG gilt hierbei die Gesamtheit der in einem Unternehmensteil einer Gesellschaft vorhandenen aktiven und passiven Wirtschaftsgüter, die in organisatorischer Hinsicht einen selbständigen Betrieb, d.h. eine aus eigenen Mitteln funktionsfähige Einheit, darstellt.45 Zu einem Teilbetrieb gehören danach alle funktional wesentlichen Betriebsgrundlagen sowie diesem Teilbetrieb nach wirtschaftlichen Zusammenhängen zuordenbaren Wirtschaftsgüter. Eine Trennung von einzelnen Wirtschaftsgütern vom verbleibenden oder übertragenen Betrieb ist nach § 15 UmwStG nicht steuerneutral möglich. Nach Auffassung der Finanzverwaltung ist es erforderlich, dass sämtliche wesentlichen Betriebsgrundlagen entweder übertragenen oder verbleibenden Teilbetrieben zugeordnet werden können (Nur-Teilbetriebserfordernis), so dass Vermögen, das von beiden Teilbetrieben genutzt wird, grundsätzlich ein Spaltungshindernis darstellt. Allerdings lässt es die Finanzverwaltung in Fällen, in denen eine reale Teilung (insbesondere von Grundstücken) nicht zumutbar ist, im Billig-
45 BMF, Schr. v. 11.11.2011 – IV C 2 – S-1978b/08/10001, BStBl. I 2011, 1314 (Umwandlungssteuererlass), Rz. 15.02.
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B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.64 Kap. 5
keitswege genügen, wenn eine ideelle Teilung im Verhältnis der tatsächlichen Nutzung unmittelbar nach der Spaltung erfolgt.46 Sind jedoch die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 UmwStG gegeben, kann auf Antrag entspre- 5.59 chend § 11 Abs. 2 UmwStG bei der Übertragung des Betriebsvermögens der Buchwert angesetzt und damit eine Besteuerung vermieden werden, wenn folgende drei Voraussetzungen vorliegen: – Es ist sichergestellt, dass das Betriebsvermögen später bei der übernehmenden Körperschaft der Besteuerung mit Körperschaftsteuer unterliegt; – das Recht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Besteuerung des Gewinns aus der Veräußerung des übertragenen Betriebsvermögens bei der übernehmenden Gesellschaft wird nicht ausgeschlossen oder beschränkt; – eine Gegenleistung wird entweder nicht gewährt oder besteht in Gesellschaftsrechten. In Inlandsfällen sind diese Voraussetzungen im Allgemeinen gegeben.
5.60
Ebenso ist die Abspaltung für die Anteilseigner der Kapitalgesellschaft auf Antrag nach § 13 Abs. 2 UmwStG steuerneutral, wenn im Wesentlichen das Recht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Besteuerung des Gewinns aus der Veräußerung der Anteile an der übernehmenden Körperschaft nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird.
5.61
Auch diese Voraussetzung liegt bei Inlandsfällen im Allgemeinen vor.
5.62
Um einen Missbrauch dieser Gestaltungsmöglichkeit für Zwecke einer steuerbegünstigten Veräußerung von Betriebsvermögen zu verhindern, hat der Gesetzgeber in § 15 Abs. 2 UmwStG diverse Missbrauchsvermeidungsvorschriften vorgesehen. So ist nach § 15 Abs. 2 Satz 2 UmwStG die steuerneutrale Abspaltung des Betriebsvermögens nach § 11 Abs. 2 UmwStG nicht möglich, wenn durch die Spaltung die Veräußerung an außenstehende Personen vollzogen wird. Das Gleiche soll gelten, wenn durch die Spaltung die Voraussetzungen für eine Veräußerung geschaffen werden. Davon ist nach § 15 Abs. 2 Satz 4 UmwStG auszugehen, wenn innerhalb von fünf Jahren nach dem steuerlichen Übertragungsstichtag Anteile an einer an der Spaltung beteiligten Körperschaft, die mehr als 20 % der vor Wirksamwerden der Spaltung an der Körperschaft bestehenden Anteile ausmachen, veräußert werden.
5.63
Nach der Rechtsprechung des BFH zum wortgleichen § 15 Abs. 3 UmwStG a.F. handelt es 5.64 sich bei § 15 Abs. 3 Satz 4 UmwStG a.F. um eine unwiderlegliche Vermutung.47 Daraus wird geschlossen, dass in den Fällen, in denen die Veräußerung nach Ablauf der Frist von fünf Jahren erfolgt oder die veräußerten Anteile nicht mehr als 20 % der vor Wirksamwerden der Spaltung an der Körperschaft bestehenden Anteile ausmachen, keine die Steuerneutralität verhindernde Schaffung der Voraussetzungen für eine Veräußerung i.S.v. § 15 Abs. 2 Satz 4 UmwStG vorliegt.48 Gleichermaßen werden die Verlautbarungen der Finanzverwal46 BMF-Schr. v. 11.11.2011 – IV C 2 – S-1978b/08/10001, BStBl. I 2011, 1314 (Umwandlungssteuererlass), Rz. 15.07, 15.08. 47 BFH v. 3.8.2005 – I R 62/04, BStBl. II 2006, 391 ff. = GmbHR 2006, 218 m. Anm. Breuninger/ Schade. 48 Vgl. Dötsch/Pung in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, § 15 UmwStG (SEStEG) Rz. 120 f. und 157; Schumacher in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, § 15 UmwStG Rz. 221 f.
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Kap. 5 Rz. 5.65
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tung interpretiert.49 Aus diesem Grund kann nach herrschender Auffassung in Sonderfällen, in denen die o.g. Voraussetzungen vorliegen und § 15 Abs. 2 Satz 3 und 4 UmwStG keine Anwendung finden, eine begünstigte Veräußerung des Betriebsvermögens umgesetzt werden.
5.65 In diesen Fällen ist jedoch darauf zu achten, dass die übertragende Körperschaft nachweisen kann, dass die in § 15 Abs. 2 Satz 4 UmwStG geregelte 20 % Grenze hinsichtlich der innerhalb von fünf Jahren veräußerten Anteile eingehalten worden ist. Hierfür sollte eine Bewertung des Unternehmens vor der Spaltung sowie des abgespaltenen Vermögens zum Übertragungsstichtag vorgenommen werden. Während der Wert des abgespaltenen Vermögens ggf. aus einer zeitnahen nachfolgenden Veräußerung abgeleitet werden kann, ist eine solche Ableitung für das verbleibende Vermögen nicht uneingeschränkt möglich, weil für die Bewertung des verbleibenden Teilbetriebs auf Grund seiner Art und Struktur vom abgespaltenen Vermögen verschiedene Bewertungsparameter maßgeblich sein können.
5.66 Auf die Veräußerung der Anteile an der übernehmenden Körperschaft findet grundsätzlich das Teileinkünfteverfahren oder die 95%ige Steuerbefreiung nach § 8b Abs. 2 und 3 KStG Anwendung. b) Kapitalerhöhungsmodell
5.67 Eine wirtschaftliche Beteiligung eines Außenstehenden an dem Zielunternehmen kann auch durch eine Barkapitalerhöhung der Zielgesellschaft oder einer Zwischenholdinggesellschaft, in die die Zielgesellschaft eingebracht wird, unter Ausschluss des Bezugsrechts der Altgesellschafter erzielt werden. Wird jedoch durch zeitnahe Auskehrung des Agios an die Altgesellschafter eine Teilveräußerung wirtschaftlich realisiert, wird dies vom BFH nicht als eine Dividendenausschüttung oder Einlagenrückgewähr gesehen, sondern als Veräußerungstatbestand,50 der nach den jeweils einschlägigen Regelungen steuerpflichtig ist und gegebenenfalls zudem eine rückwirkende Besteuerung des Einbringungsgewinns nach § 22 Abs. 1 Satz 6 Nr. 3 UmwStG auslöst.
5.68 Mit dem Kapitalerhöhungsmodell kann jedoch bereits eine Beteiligung eines Außenstehenden an der Zielgesellschaft bewirkt, die Verwirklichung des Veräußerungstatbestands dagegen aufgeschoben werden, um ggf. eine günstigere Besteuerung nach Ablaufen von Haltefristen zu erreichen oder die Besteuerung eines rückwirkenden Einbringungsgewinns zu vermeiden. Dies kann dadurch erzielt werden, dass neben der Kapitalerhöhung dem Neugesellschafter eine Kaufoption (Call-Option) auf die Anteile der Altgesellschafter oder den Altgesellschaftern eine Verkaufsoption (Put-Option) bezüglich ihrer Anteile gewährt werden. Selbst eine Kombination von Kauf- und Verkaufsoption sollte nicht grundsätzlich zu einer Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums im Zeitpunkt der Einräumung der Optionen führen, solange dem Erwerber nicht eine Rechtsposition eingeräumt wird, die auf den Erwerb der Anteile gerichtet ist und ihm gegen seinen Willen nicht mehr entzogen werden kann. Entscheidend ist nach der Rechtsprechung des BFH das Gesamtbild der Verhältnisse im Einzelfall. Eine Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums kann bereits vorliegen, wenn aufgrund weiterer Vereinbarungen (z.B. Stimmrechtsvereinbarungen, Kontrollrechten des Erwerbers) der Einfluss des Veräußerers auf die Kapitalgesellschaft nahezu ausgeschlos49 BMF, Schr. v. 25.3.1998 – IV B 7 - S 1978 – 21/98/IV B 2 - S 1909 – 22/98, BStBl. I 1998, 268, Rz. 15.29 und Rz. 15.31; BMF, Schr. v. 11.11.2011 – IV C 2 – S-1978b/08/10001, BStBl. I 2011, 1314 (Umwandlungssteuererlass), Rz. 15.31 und Rz. 15.32. 50 BFH v. 13.10.1992 – VIII R 3/89, BStBl. II 1993, 477 = GmbHR 1993, 378.
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B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.71 Kap. 5
sen oder eine andere Verwertungsmöglichkeit als Optionsausübung nur von theoretischer Natur ist.51 c) Vom Teileinkünfteverfahren zum Abgeltungsteuersatz Vor Einführung des Abgeltungsteuersystems ab dem 1.1.2009 war die Veräußerung von im Privatvermögen gehaltenen Anteilen natürlicher Personen entweder nach § 17 EStG oder, soweit die Voraussetzungen des § 17 EStG, d.h. insbesondere die Beteiligung von mindestens 1 % des Stammkapitals nicht erfüllt waren, nach § 23 Abs. 1 Nr. 2 EStG a.F. nur im Rahmen der Spekulationsfrist von einem Jahr steuerpflichtig. Folglich war es möglich, durch Reduktion der Beteiligungshöhe unter die Schwelle von 1 % und Ablauf der damit verbundenen Haltefrist von fünf Jahren einen steuerfreien Veräußerungsgewinn zu generieren. Diese Gestaltungsmöglichkeit konnte in bestimmten Fällen bei Minderheitsbeteiligungen durch Aufspaltung des Anteilsbesitzes auf mehrere natürliche Personen, insbesondere Familienmitglieder, eine sog. steuerliche Entstrickung der Anteile und damit steuerfreie Veräußerungsgewinne für sämtliche Personen ermöglichen. Bevor die Schwelle des Anteilsbesitzes für Anwendung des § 17 EStG ab dem Jahr 1999 von 25 % auf 10 % bzw. ab dem Jahr 2002 von 10 % auf 1 % herabgesetzt worden war, war diese Gestaltungsmöglichkeit bei Familienunternehmen interessant, da die Familienmitglieder durch die sog. „Quartettlösung“ die Veräußerungsgewinne bezüglich sämtlicher Anteile an dem Familienunternehmen steuerlich entstricken konnten.
5.69
Nach Einführung des Abgeltungsteuersystems findet § 23 Abs. 1 Nr. 2 EStG a.F. nur noch auf die Veräußerung von Anteilen Anwendung, die vor dem 1.1.2009 erworben wurden. Die Veräußerung aller nach diesem Zeitpunkt erworbenen Beteiligungen von weniger als 1 % des Stammkapitals vermittelt nunmehr nach § 20 Abs. 2 Nr. 1 EStG Einkünfte aus Kapitalvermögen, die mit dem Abgeltungsteuersatz nach § 32d EStG zu besteuern sind. Folglich ist die oben bezeichnete Gestaltungsmöglichkeit für solche Anteile nur in den Fällen noch von Vorteil, in denen der Veräußerungsgewinn nach dem Abgeltungsteuersatz zu einer geringeren Steuerbelastung führt als die Besteuerung nach dem Teileinkünfteverfahren. Ob dies der Fall ist, muss in jedem Fall individuell ermittelt werden.
5.70
2. Optimierung des Veräußerungspreises durch Nutzung von Steuervorteilen Für den Veräußerer besteht die Möglichkeit, den steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn mit 5.71 Verlustvorträgen zu verrechnen und damit die Steuerbelastung auf den Veräußerungsgewinn zu mindern. Darüber hinaus stellt sich jedoch auch die Frage, ob und in welchem Umfang Steuervorteile wie Verlustvorträge oder Zinsvorträge nach § 4h EStG von dem Kaufobjekt auch nach der Veräußerung mit zu versteuerndem Einkommen verrechnet werden können und dadurch der effektive zahlungswirksame Steuersatz gemindert werden kann. Wird der Kaufpreis auf Grundlage einer Unternehmensbewertung nach einer Discounted Cashflow Methode ermittelt, würde eine entsprechend zu erwartende Minderung des effektiven zahlungswirksamen Steuersatzes den für die Eigentümer verbleibenden Free Cash Flow und damit den Unternehmenswert erhöhen, wenn diese Steuervorteile nach der Transaktion weiterhin uneingeschränkt genutzt werden könnten. Daher ist auch für den Veräußerer von Be51 BFH v. 11.7.2006 – VIII R 32/04, BStBl. II 2007, 296 = GmbHR 2007, 49 m. Anm. Hoffmann; BFH v. 15.10.2013 – I B 159/12, BFH/NV 2014, 291, Vorinstanz: Hessisches FG v. 31.8.2012 – 4 K 1637/09, EFG 2013, 4; BFH v. 7.5.2014 – IX B 146/13, BFH/NV 2014, 1204, Vorinstanz: FG München v. 15.10.2013 – 15 K 2429/10.
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Kap. 5 Rz. 5.72
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deutung, die vorhandenen Steuervorteile des Kaufobjekts zu bestimmen, ihre Verwendung nach der Veräußerung zu prüfen und gegebenenfalls durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen. a) Verlustvorträge aa) Veräußerung von Einzelunternehmen und Anteilen an Personengesellschaften
5.72 Bei der Veräußerung von Einzelunternehmen und Anteilen an Personengesellschaften gehen einkommensteuerliche Verlustvorträge oder negative Einkünfte bereits deshalb nicht auf den Erwerber über, weil sie nur von demselben Steuerpflichtigen zum Abzug gebracht werden können. Aber auch die gewerbesteuerlichen Verlustvorträge des Einzelunternehmens oder der Personengesellschaft, die von dem Veräußerer generiert worden sind oder quotal auf seine Beteiligung an der Personengesellschaft entfallen, können mangels Unternehmeridentität nicht vom Erwerber geltend gemacht werden. bb) Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften
5.73 Bei der Übertragung von Anteilen an Kapitalgesellschaften wird weder das Unternehmen der Kapitalgesellschaft durch die Transaktion berührt, noch ändert sich durch die Transaktion der hinsichtlich des Gewinns aus dem Unternehmen Steuerpflichtige. Jedoch hatte das Körperschaftsteuergesetz zunächst durch die sog. Mantelkaufregelung des § 8 Abs. 4 KStG a.F. und seit dem Veranlagungszeitraum 2008 im Falle von Anteilsübertragungen nach dem 31.12.2007 durch § 8c KStG den Abzug von Verlustvorträgen oder laufenden Verlusten nach Anteilsübertragungen erheblich eingeschränkt.
5.74 Nach § 8c KStG sind bis zum Beteiligungserwerb nicht ausgeglichene oder abgezogene negative Einkünfte (Verlustvorträge oder laufende Verluste) anteilig nicht mehr abziehbar, wenn innerhalb von fünf Jahren mehr als 25 %, aber maximal 50 % des gezeichneten Kapitals, der Mitgliedschaftsrechte, Beteiligungsrechte oder Stimmrechte an einer Körperschaft an einen Erwerber oder diesem nahe stehende Personen übertragen werden oder ein vergleichbarer Sachverhalt vorliegt. Verlustvorträge oder laufende Verluste gehen vollständig unter, wenn mehr als 50 % der genannten Rechte an einer Körperschaft entsprechend übertragen werden. Auch eine Kapitalerhöhung wird nach § 8c Abs. 1 Satz 4 KStG erfasst, soweit sie zu einer Veränderung der Beteiligungsquoten am Kapital der Körperschaft führt. Die Rechtsfolgen des § 8c Abs. 1 Satz 1 und 2 KStG gelten für Beteiligungserwerbe ab 2010 jedoch nur, soweit die betreffenden Verluste die (anteiligen) im Inland steuerpflichtigen stillen Reserven übersteigen (§ 8c Abs. 1 Satz 6 KStG). Stille Reserven sind nach § 8c Abs. 1 Satz 7 KStG der Unterschiedsbetrag zwischen dem (anteiligen) Eigenkapital in der Steuerbilanz und dem auf dieses Eigenkapital entfallenden gemeinen Wert der Anteile an der Kapitalgesellschaft. In den Fällen, in denen das steuerbilanzielle Eigenkapital negativ ist, ermitteln sich die stillen Reserven nach § 8c Abs. 1 Satz 8 KStG als Unterschiedsbetrag zwischen dem (anteiligen) Eigenkapital in der Steuerbilanz und dem (anteiligen) gemeinen Wert des Betriebsvermögens der Körperschaft. Dabei ist nach § 8c Abs. 1 Satz 9 KStG auf das Betriebsvermögen im Zeitpunkt der Anteilsübertragung ohne Berücksichtigung von rückwirkenden Reorganisationen, insbesondere unter Anwendung des § 2 Abs. 1 UmwStG, abzustellen.
5.75 Auch wenn mit dieser Vorschrift in vielen Fällen die Fortführung von Verlusten und Verlustvorträgen nach einer Anteilsübertragung ermöglicht wird, bestehen hinsichtlich der Anwendung der Vorschrift Auslegungsprobleme. Insbesondere erscheint die von der Finanzverwal-
380
Gröger
B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.76 Kap. 5
tung vertretene Auffassung der separaten Anwendung der Norm auf jede einer Organschaft angehörigen Gesellschaft vor der organschaftlichen Einkommenszurechnung52 nicht sachgerecht, da systembedingt laufende Verluste und Verlustvorträge auf Ebene des Organträgers entstehen, eine Holdinggesellschaft als Organträger jedoch typischerweise keine oder nur geringe steuerpflichtige stille Reserven besitzt. Diese Interpretation belastet folglich gerade steuerrechtlich anerkannte Organschaftsstrukturen, ohne dass es dafür sachgerechte Gründe gibt. Eine solche Rechtsunsicherheit betreffend die Ermittlung der weiterhin verrechenbaren Verlustvorträge führt zu Sicherheitsabschlägen bei der Bewertung des Kaufobjekts und folglich zu einer dem Steuerrecht geschuldeten Wertvernichtung für den Verkäufer. Auch im Übrigen hat § 8c KStG und seine Interpretation durch die Finanzverwaltung erhebliche Kritik53 erfahren, u.a. weil sie mit ihrem vorrangigen Abstellen auf den Erwerb von Anteilen über definierten Kontrollschwellen gegen das Trennungsprinzip zwischen Gesellschafter und Gesellschaft und das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verstößt.54 Vor diesem Hintergrund hat das BVerfG die Verfassungswidrigkeit von § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG aufgrund Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz festgestellt und den Gesetzgeber aufgefordert, bis zum 31.12.2018 eine rückwirkende Neuregelung für die Jahre vom 1.1.2008 bis zum 31.12.2015 zu schaffen, die verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt.55 Nach dem Entwurf eines Gesetzes zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 10.8.2018 soll auf Vorschlag der Bundesregierung die Anwendung des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG auf Anteilsübertragungen vom 1.1.2008 bis 31.12.2015 endgültig entfallen.56 Inzwischen ist nunmehr auch ein Verfahren in Bezug auf die Verfassungswidrigkeit von § 8c Satz 2 KStG a.F. (heute § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG) vor dem BVerfG anhängig.57 Als Erwerber soll nach § 8c Abs. 1 Satz 3 KStG auch eine Gruppe von Erwerbern mit gleich- 5.76 gerichteten Interessen gelten. Auch wenn es nachvollziehbar ist, dass die Vorschrift des § 8c KStG nicht durch sog. Quartettlösungen „umgangen“ werden können soll, so ist doch zu fordern, dass gleichgerichtete Interessen nicht bereits in einem zeitgleichen Erwerb mit der Folge einer gemeinsamen Beherrschung einer Kapitalgesellschaft gesehen werden.58 Gleichgerichtete Interessen sollten vielmehr nur dann bestehen, wenn es zwischen den Erwerbern mündliche oder schriftliche Vereinbarungen gibt, die auf ein Pooling der Interessen der Gesellschafter ausgerichtet sind.59 Nur die übereinstimmende Stimmrechtsausübung in der Gesellschafter-
52 Rz. 37, 38 des BMF-Schreibens zur Verlustabzugsbeschränkung für Körperschaften v. 28.11.2017 – IV C 2 – S-2745a/09/10002:004. 53 Zuletzt im Hinblick auf den Entwurf des BMF-Schreibens zur Anwendung des § 8c KStG: Adrian/Weiler, BB 2014, 1303 ff.; Rödder, Ubg 2014, 317 (322 ff.); Schneider/Sommer, FR 2014, 537 ff. 54 Vgl. Brandis in Blümich, § 8c KStG Rz. 22 m.w.N. 55 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11. 56 Entwurf eines Gesetzes zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften in der Fassung vom 10.8.2018, BRDrucks. 372/18. 57 Vorlagebeschluss des FG Hamburg v. 29.8.2017 – 2 K 245/17, DStR 2017, 2377; Az. beim BVerfG: 2 BvL 19/17. 58 So aber die Begründung des Gesetzentwurfs in BT-Drucks. 16/5491, 22; BMF, Schr. v. 4.7.2008 – IV C 7 – S-2745a/08/10001, BStBl. I 2008, 736 Rz. 27. 59 Vgl. BFH v. 22.11.2016 – I R 30/15, BStBl. II 2017, 921 = GmbHR 2017, 826 m. Anm. Suchanek; So auch Suchanek in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8c KStG Rz. 39; ebenso Brandis in Blümich, § 8c KStG Rz. 52 m.w.N.
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Kap. 5 Rz. 5.77
Steuern
versammlung sollte für die Annahme gleichgerichteter Interessen i.S.d. § 8c Abs. 1 Satz 3 KStG nicht ausreichen.60
5.77 Ausnahmen von den Rechtsfolgen des § 8c Abs. 1 Satz 1 und 2 KStG bestehen ab 2010 des Weiteren für bestimmte Konzernsachverhalte (§ 8c Abs. 1 Satz 5 KStG). So liegt ein schädlicher Beteiligungserwerb nicht vor, wenn an dem übertragenden Rechtsträger der Erwerber oder an dem übernehmenden Rechtsträger der Veräußerer oder an dem übertragenden und dem übernehmenden Rechtsträger dieselbe Person zu 100 % mittelbar oder unmittelbar beteiligt ist. Erwerber, Veräußerer oder Person im Sinne dieser Vorschrift sind natürliche oder juristische Personen oder eine Personenhandelsgesellschaft.
5.78 Zudem war mit Wirkung ab 2008 eine Ausnahme für Sanierungsfälle in § 8c Abs. 1a KStG eingefügt worden. Danach sollte ein Beteiligungserwerb zum Zwecke der Sanierung des Geschäftsbetriebs der Körperschaft unschädlich sein. Als Sanierung wird dabei eine Maßnahme verstanden, die darauf gerichtet ist, die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung zu verhindern oder zu beseitigen und zugleich die wesentlichen Betriebsstrukturen zu erhalten. Die EU-Kommission hatte jedoch mit Schreiben vom 25.2.2010 Zweifel an der Vereinbarkeit der Regelung mit EU-Beihilferecht geäußert und das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV eingeleitet. Am 26.1.2011 kam die EU-Kommission zu dem Schluss, dass die Sanierungsklausel nach § 8c Abs. 1a KStG gegen EU-Beihilferecht verstößt. Hiergegen haben die Bundesregierung und verschiedene betroffene Unternehmen Klage erhoben. Am 18.12.2012 stellte der Gerichtshof der Europäischen Union fest, dass die Nichtigkeitsklage der Bundesregierung gegen den Beschluss der EU-Kommission zur Qualifizierung der Sanierungsklausel als unzulässige Beihilfe unzulässig ist, da die Klageschrift um einen Tag zu spät beim Gericht eingegangen ist.61 Am 28.6.2018 entschied der EuGH jedoch zu zwei Verfahren betroffener Unternehmen, dass die Sanierungsklausel keine unzulässige Beihilfe darstellt, und erklärte den Beschluss der EU-Kommission vom 26.1.2011 für nichtig.62 Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften soll die Anwendung der Sanierungsklausel auf Vorschlag der Bundesregierung für Anteilsübertragungen nach dem 31.12.2007 nunmehr uneingeschränkt wiederhergestellt werden.63
5.79 Mit Gesetz zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften vom 20.12.2016 hat der Gesetzgeber nunmehr eine weitere Vorschrift zur Verschonung des Verlustuntergangs bei schädlichem Anteilserwerb nach § 8c KStG erlassen. Nach § 8d Abs. 1 Satz 1 KStG ist § 8c KStG auf Antrag bei Anteilserwerben nach dem 31.12.2015 nicht anzuwenden, wenn die Körperschaft seit ihrer Gründung oder zumindest seit dem Beginn des dritten Veranlagungszeitraums, der dem Veranlagungszeitraum des schädlichen Anteilserwerbs vorausgeht, ausschließlich denselben Geschäftsbetrieb unterhält und in diesem Zeitraum kein sog. schädliches Ereignis eingetreten ist. Schädliche Ereignisse sind u.a. nach § 8d Abs. 2 KStG die Einstellung oder Ruhendstellung des Geschäftsbetriebs, die Zuführung des 60 Suchanek in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8c KStG Rz. 39. 61 EuG v. 18.12.2012 – Rs. T-205/11. 62 EuGH v. 28.6.2018 – C-219/16 P, Lowell Financial Services GmbH, vormals GFKL Financial Services AG, DStR 2018, 1434; EuGH v. 28.6.2018 – C-203/16 P, Dirk Andres (Insolvenzverwalter Heitkamp BauHolding)/Kommission, IStR 2018, 552. 63 Entwurf eines Gesetzes zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften in der Fassung vom 10.8.2018, BRDrucks. 372/18.
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B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.83 Kap. 5
Geschäftsbetriebs zu einer anderweitigen Zweckbestimmung oder die Aufnahme eines zusätzlichen Geschäftsbetriebs. Ebenso ist es schädlich, wenn die Körperschaft sich an einer Mitunternehmerschaft beteiligt oder als Organträger fungiert. Ein solches schädliches Ereignis darf auch nicht bis zur vollständigen Nutzung des sog. „fortführungsgebundenen Verlusts“ eintreten. In der engen Fassung der Vorschrift erkennt man den Willen des Gesetzgebers, insbesondere Start-ups vor einem Verlustuntergang zu bewahren, wenn sie die Frühphasenfinanzierung über Beteiligungskapital einwerben. Allerdings kann die Vorschrift auch in anderen besonderen Einzelfällen den Verlustuntergang nach § 8c KStG vermeiden. § 8c KStG und § 8d KStG sind nach § 10a Satz 10 GewStG entsprechend auch auf vortragsfähige Fehlbeträge für Zwecke der Ermittlung des Gewerbeertrags anzuwenden. § 8c KStG gilt auch für Fehlbeträge einer Mitunternehmerschaft, wenn diese einer Körperschaft unmittelbar oder einer Mitunternehmerschaft zuzurechnen ist, an der eine Körperschaft unmittelbar oder mittelbar über eine oder mehrere Personengesellschaften beteiligt ist. Nachdem diese Vorschrift mit Wirkung für schädliche Beteiligungserwerbe nach dem 28.11.2008 in das GewStG aufgenommen worden war, war es nicht mehr möglich, die gewerbesteuerlichen Fehlbeträge einer Körperschaft durch Ausgliederung des Betriebs auf eine Mitunternehmerschaft vor dem (teilweisen) Untergang aufgrund der nachfolgenden schädlichen Anteilsübertragung bei einer Körperschaft zu bewahren.64
5.80
b) Zinsvortrag und EBITDA-Vortrag nach § 4h EStG Bei einem Zinsvortrag handelt es sich nach § 4h Abs. 1 Satz 5 EStG um Zinsaufwendungen, die in einem Veranlagungszeitraum nicht im Rahmen der Zinsschranke nach § 4h Abs. 1 Satz 1 bis Satz 4 EStG abgezogen werden konnten. Nach § 4h Abs. 1 Satz 1 EStG können Zinsaufwendungen eines Betriebs in Höhe des Zinsertrags und der verbleibende Nettozinsaufwand darüber hinaus nur in Höhe des verrechenbaren EBITDA abgezogen werden. Verrechenbares EBITDA ist dabei nach § 4h Abs. 1 Satz 2 EStG 30 % des um Zinsaufwendungen und Abschreibungen nach § 6 Abs. 2 Satz 1, § 6 Abs. 2a Satz 2 und § 7 EStG erhöhten und um Zinserträge verminderten maßgeblichen Gewinns. Soweit Zinsaufwendungen nach diesen Vorschriften nicht abziehbar sind, erhöhen sie die Zinsaufwendungen der folgenden Wirtschaftsjahre, nicht jedoch den maßgeblichen Gewinn (§ 4h Abs. 1 Satz 6 EStG). Im Ergebnis können die nicht abziehbaren Finanzierungsaufwendungen uneingeschränkt vorgetragen und im Rahmen des verrechenbaren EBITDA zukünftiger Wirtschaftsjahre in zukünftigen Veranlagungszeiträumen zum Abzug gebracht werden.
5.81
Soweit das verrechenbare EBITDA in einem Veranlagungszeitraum den Nettozinsaufwand des Betriebs übersteigt, ist es in die fünf folgenden Jahre vorzutragen (EBITDA-Vortrag) und steht zur Verrechnung mit Zinsaufwendungen dieser Jahre zur Verfügung (§ 4h Abs. 1 Satz 3 und 4 EStG). Mit der Verrechnung mit Zinsaufwendungen mindern sich die EBITDA-Vorträge in ihrer zeitlichen Reihenfolge. Der EBITDA-Vortrag erhöht folglich die Grenze für die steuerliche Abziehbarkeit von Finanzierungsaufwendungen in zukünftigen Veranlagungszeiträumen.
5.82
Im Falle einer Veräußerung des Betriebs gehen ein EBITDA-Vortrag sowie ein nicht verbrauchter Zinsvortrag nach § 4h Abs. 5 Satz 1 EStG unter. Ebenso gehen ein EBITDA-Vortrag und ein Zinsvortrag einer Personengesellschaft in Höhe der Quote des Mitunternehmers unter, der seinen Anteil an der Personengesellschaft veräußert (§ 4h Abs. 5 Satz 2 EStG).
5.83
64 Zu dieser Gestaltungsidee Behrendt/Arjes/Nogens, BB 2008, 367 ff.
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383
Kap. 5 Rz. 5.84
Steuern
5.84 Die Zinsschranke nach § 4h EStG ist grundsätzlich auch auf Körperschaften anwendbar (§ 8a Abs. 1 Satz 1 und 2 KStG). Die Zinsschranke gilt nach § 8a Abs. 1 Satz 4 KStG auch für Kapitalgesellschaften, die ihre Einkünfte als Überschusseinkünfte nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG ermitteln, d.h. im Ausland ansässige Kapitalgesellschaften, die im Inland Überschusseinkünfte nach § 49 Abs. 1 EStG erzielen. Mit dieser Vorschrift zielte der Gesetzgeber insbesondere auf die ausländischen Grundstücksgesellschaften in der Rechtsform von Kapitalgesellschaften z.B. niederländischen oder luxemburgischen Rechts mit inländischem Grundbesitz ab, die im Inland ausschließlich Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung erzielten. Mit Änderung des § 49 Abs. 1 Nr. 2 lit. f EStG ab 2009 stellen die Einkünfte dieser Gesellschaften grundsätzlich Einkünfte aus Gewerbebetrieb dar, so dass die Gewinnermittlungsvorschrift des § 4h EStG nunmehr unmittelbar Anwendung findet.
5.85 Nach § 8a Abs. 1 Satz 3 KStG gilt § 8c KStG für den Zinsvortrag einer Körperschaft nach § 4h Abs. 1 Satz 5 EStG mit der Maßgabe entsprechend, dass im Inland steuerpflichtige stille Reserven den Untergang des Zinsvortrags nur verhindern, soweit sie nicht bereits in Bezug auf die Übertragung von nicht abziehbaren Verlusten berücksichtigt wurden. In diesem Umfang kann auch ein Zinsvortrag ungeachtet der Übertragung der Anteile an einer Kapitalgesellschaft auch nach der Transaktion genutzt werden, soweit die Voraussetzungen dafür gegeben sind, und kann folglich die zukünftigen Steuerzahllasten mindern und den Unternehmenswert erhöhen. Aber auch bei der Anwendung des § 8c KStG auf den Zinsvortrag bestehen Auslegungsprobleme, die zu einer Rechtsunsicherheit bei der Ermittlung etwaig übergegangener Zinsvorträge führt. Rechtsunsicherheiten bestehen sowohl bei der Anwendung des § 8c KStG bei einer unterjährigen Anteilsübertragung als auch im Falle der Anwendung der Stille-Reserven-Klausel insbesondere in Organschaftsfällen.65 Folglich ist auch bei Vorliegen von Zinsvorträgen zu erwarten, dass es zu Sicherheitsabschlägen bei der Berücksichtigung etwaiger Steuervorteile bei der Bewertung des Kaufobjekts und zu einer dem Steuerrecht geschuldeten Wertvernichtung für den Veräußerer kommt. Da § 8a KStG keine entsprechende Anwendung des § 8c KStG auf den EBITDA-Vortrag vorsieht, bleibt dieser von einem Beteiligungserwerb grundsätzlich unberührt und kann mithin auch nach dem Erwerb verwendet werden. Die Regelungen des § 8c KStG sind auf den Zinsvortrag einer Personengesellschaft entsprechend anzuwenden, wenn an dieser unmittelbar oder mittelbar eine Körperschaft als Mitunternehmerin beteiligt und hinsichtlich der Körperschaft ein schädlicher Beteiligungserwerb nach § 8c KStG festzustellen ist. c) Verlustvorträge, Zinsvorträge und EBITDA-Vorträge in Umwandlungsfällen
5.86 Ferner gelten Verlustverrechnungsbeschränkungen und Einschränkungen der Nutzung von Zinsvorträgen bei Unternehmensreorganisationen. Diese Vorschriften sind in den letzten Jahren immer weiter zu Lasten des Steuerpflichtigen verschärft worden.
5.87 Nach Neufassung des Umwandlungssteuergesetzes durch das SEStEG können verrechenbare Verluste, verbleibende Verlustvorträge, nicht ausgeglichene negative Einkünfte und ein Zinsvortrag nach § 4h Abs. 1 Satz 5 EStG sowie ein EBITDA-Vortrag nach § 4h Abs. 1 Satz 3 EStG nicht im Rahmen einer Verschmelzung, Spaltung oder sonstigen Vermögensübertragung auf 65 S. zur Organschaft/Zinsschranke/§ 8c KStG: Schmid/Mertgen, DB 2012, 1830 ff.; zur Anwendung des § 8c KStG auf Organschaftsstrukturen: Rz. 37 und 38 des BMF-Schreibens zum Verlustabzug bei Körperschaften v. 28.11.2017; kritisch zum Entwurf des BMF-Schreibens Adrian/Weiler, BB 2014, 1303 ff.; Rödder, Ubg 2014, 317 ff.; Schneider/Sommer, FR 2014, 537 ff.; Seer, FR 2015, 729 ff.; Pohl, DStR 2017, 1687 ff.
384
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B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.89 Kap. 5
einen anderen Rechtsträger im Rahmen des UmwStG übertragen werden. Sie gehen vielmehr unter. Eine Verrechnung von verrechenbaren Verlusten, verbleibenden Verlustvorträgen, nicht ausgeglichenen negativen Einkünften, einem Zinsvortrag mit oder die Berücksichtigung eines EBITDA-Vortrags bei dem Übertragungsgewinn des übertragenden Rechtsträgers ist nach § 2 Abs. 4 Satz 1 UmwStG nur zulässig, wenn diese Verlust- und Zinsvortragsnutzung auch ohne rückwirkende Umwandlung möglich gewesen wäre. Auch eine Verrechnung von positiven Einkünften des übertragenden Rechtsträgers mit verrechenbaren Verlusten, verbleibenden Verlustvorträgen, nicht ausgeglichenen negativen Einkünften und einem Zinsvortrag des übernehmenden Rechtsträgers ist nach § 2 Abs. 4 Satz 3 UmwStG im Rückwirkungszeitraum nicht möglich, es sei denn, der übertragende und der übernehmende Rechtsträger waren vor Ablauf des Übertragungsstichtags verbundene Unternehmen i.S.d. § 271 Abs. 2 HGB. d) Übertragung von latenten Steuervorteilen Vor diesem gesetzlichen Hintergrund steht der Veräußerer vor dem Problem, dass die zum Zeitpunkt der Veräußerung nicht ausgeglichenen oder abgezogenen Verlustvorträge und laufenden Verluste sowie ein Zinsvortrag entweder – im Falle einer Veräußerung eines Einzelunternehmens oder eines Anteils einer Personengesellschaft – grundsätzlich nicht übertragen werden können oder – im Falle einer Veräußerung eines Anteils an einer Kapitalgesellschaft – nur in Höhe der (anteiligen) stillen Reserven bestehen bleiben, im Übrigen jedoch grundsätzlich ersatzlos vollständig oder anteilig entfallen. Soweit dies der Fall ist, kann der Veräußerer dem Erwerber keinen wirtschaftlichen Vorteil in Form einer Steuerbarwertminderung durch Verlustverrechnung übertragen. Allerdings besteht eine Optimierungsmöglichkeit in den Fällen, in denen Verluste und Zinsvorträge eines Organträgers durch eine geplante Anteilsübertragung deshalb untergehen würden, weil der Organträger als Holdinggesellschaft keine oder nur geringe steuerpflichtige stille Reserven besitzt. In diesem Fall kann die Verschmelzung einer oder mehrerer Organgesellschaften auf den Organträger diesen mit steuerpflichtigen stillen Reserven ausstatten und damit die weitere Nutzung eines erhöhten Betrages an Verlusten und Zinsvorträgen sicherstellen.66
5.88
Eine Übertragung der laufenden Verluste oder Verlustvorträge und Zinsvorträge durch Transfer dieser Steuervorteile in Abschreibungspotential im Wege einer prä-akquisitorischen Reorganisation, in der die stillen Reserven in amortisationsfähigen Wirtschaftsgütern gehoben werden, ist bei einem Einzelunternehmen oder einer Personengesellschaft nicht erforderlich, weil der Erwerb ohnehin zur Aufstockung der Wirtschaftsgüter auf die Höhe der Anschaffungskosten führt. Seit 2010 ist eine solche Reorganisation auch im Falle einer Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaft nicht mehr notwendig, da die laufenden Verluste, Verlustvorträge und Zinsvorträge in Höhe der steuerpflichtigen stillen Reserven in den Wirtschaftsgütern der Zielgesellschaft übertragen werden können. Eine prä-akquisitorische Reorganisation würde daher keinen steuerlichen Vorteil bieten, sondern vielmehr das Risiko der Mindestbesteuerung, d.h. den Nachteil einer teilweisen sofortigen Besteuerung im Rahmen des § 10d Abs. 2 EStG, mit sich bringen. Allenfalls in speziellen Einzelfällen, in denen die Verlusttransformation ohne eine durch die Mindestbesteuerung verursachte Sofortbesteuerung erfolgen kann und auf Seiten des Erwerbers der Steuerbarwertvorteil aus der Abschreibung höher ist als aus der Verlustverrechnung unter Berücksichtigung der Mindestbesteuerung, kann die prä-akquisitorische Reorganisation noch einen Barwertvorteil bieten. Letzteres hängt jedoch von der Abschreibungsdauer der aufstockungsfähigen Wirtschaftsgüter und der
5.89
66 Vgl. auch Gröger, BB 2010, 2926 (2918).
Gröger
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Kap. 5 Rz. 5.90
Steuern
Höhe des Einkommens im Übrigen ab, das u.a. auch durch Aufwendungen der Akquisitionsfinanzierung gemindert sein wird. Ob es insoweit zu einem Steuervorteil durch eine prä-akquisitorische Reorganisation kommen kann, ist folglich durch einen mehrjährigen Steuerbelastungsvergleich auf Grundlage von Plan-Gewinn-und-Verlustrechnungen und Plan-Bilanzen zu ermitteln.
5.90 Reorganisationen, die eine steuerliche Realisierung von stillen Reserven ermöglichen, sind alle Veräußerungs- und Tauschvorgänge sowie Umwandlungsvorgänge nach dem UmwStG. Allerdings kann nur im Rahmen von Umwandlungsvorgängen nach dem UmwStG auf Antrag unter bestimmten Voraussetzungen auch ein Zwischenwert angesetzt werden, der es ermöglicht, die Aufstockung („Step up“) der abschreibbaren Wirtschaftsgüter auf einen bestimmten Wert zu bemessen, so dass die Realisierung von steuerpflichtigen Gewinnen die projizierten laufenden Verluste und einen Verlustvortrag bis zu 1 Million Euro nicht überschreitet. Zudem ermöglicht das Umwandlungssteuergesetz eine Rückbeziehung der Umwandlung bzw. Einbringung auf einen bis zu acht Monate zurückliegenden Zeitpunkt. Allerdings ist bei Umwandlungsvorgängen zu berücksichtigen, dass nach § 2 Abs. 4 UmwStG der Ausgleich oder die Verrechnung eines Übertragungsgewinns mit verrechenbaren Verlusten, verbleibenden Verlustvorträgen, nicht ausgeglichenen negativen Einkünften, einem Zinsvortrag und einem EBITDA-Vortrag nach § 4h EStG des übertragenden Rechtsträgers nur zulässig ist, wenn dem übertragenden Rechtsträger die Nutzung dieser Steuervorteile auch ohne eine Rückbeziehung der Umwandlung bis zu acht Monate vor Anmeldung der Umwandlung zur Eintragung in das Handelsregister möglich gewesen wäre. Dies gilt auch in Einbringungsfällen nach § 20 Abs. 6 Satz 4 UmwStG. Mithin entfällt eine entsprechende Berücksichtigung von Verlusten, Zinsvorträgen und EBITDA-Vorträgen, wenn und soweit beispielsweise im Rückwirkungszeitraum auf Grund eines schädlichen Beteiligungserwerbs nach § 8c KStG diese Steuervorteile untergehen, was nur hinsichtlich der Verluste und Zinsvorträge vorgesehen ist, die die (anteiligen) steuerpflichtigen stillen Reserven übersteigen. Mithin sollte diese Vorschrift nur dann relevant werden, wenn die stillen Reserven im Zeitpunkt der rückwirkenden Umwandlung höher gewesen sein sollten als im Zeitpunkt des schädlichen Beteiligungserwerbs, da nur in diesem Fall durch den Step up eine höhere Verlusttransformation in Abschreibungspotential möglich wäre, als Verluste nach § 8c KStG auf den Erwerber übergingen. In diesen Fällen sollte die Reorganisation vor der Veräußerung vollständig vollzogen, d.h. auch im Handelsregister eingetragen worden sein.
5.91 Darüber hinaus können Steuervorteile auch durch Rekapitalisierungs- oder Refinanzierungsmaßnahmen in die Zeit nach der Transaktion transferiert werden. Diese Maßnahmen können unabhängig vom Vorliegen von stillen Reserven im Zeitpunkt der Transaktion und damit auch hinsichtlich der Verluste und Verlustvorträge getroffen werden, die auf Grund der Begrenzung des Verlusttransfers nach § 8c KStG auf die Höhe der (anteiligen) steuerpflichtigen stillen Reserven im inländischen Betriebsvermögen untergehen würden. Eine solche Maßnahme ist beispielsweise ein Forderungsverzicht des Gesellschafters, der mit einem sog. Besserungsschein, d.h. einer Bedingung des Wiederauflebens des Darlehens für den Fall, dass die Gesellschaft in Zukunft wieder Gewinne erwirtschaftet, verbunden wird. Vorausgesetzt, dass im Zeitpunkt des Forderungsverzichts das Gesellschafterdarlehen nicht werthaltig ist, führt der Verzicht zu einem steuerpflichtigen Ertrag auf Ebene der Kapitalgesellschaft,67 der mit laufenden Verlusten oder bestehenden Verlustvorträgen verrechnet werden kann und in Folge dessen ggf. nicht in einer durch die Mindestbesteuerung verursachten Steuerzahlung resultiert. Bei Wiederaufleben des Darlehens nach der Veräußerung der Anteile entsteht steuerlich 67 BFH v. 9.6.1997 – GrS 1/94, BStBl. II 1998, 307 = GmbHR 1997, 851.
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Gröger
B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.94 Kap. 5
abziehbarer Aufwand, der das zu versteuernde Einkommen des Unternehmens mindert.68 Hinsichtlich der Anwendung des § 8 Abs. 4 KStG a.F. vertrat die Finanzverwaltung jedoch die Auffassung, dass ein Forderungsverzicht mit Besserungsschein im Zusammenhang mit einer Anteilsveräußerung nicht dazu führen sollte, dass die Verlustvorträge in Form von zukünftigen Aufwendungen bei Wiederaufleben des Darlehens die Anteilsübertragung überleben.69 Dass dies für die Anwendung des § 8c KStG ebenfalls vertreten wird, ist bisher nicht erkennbar. Hiergegen spricht, dass § 8c KStG nicht mehr eine Betriebsvermögenszuführung im Zusammenhang mit einer Anteilsübertragung verlangt, welche in dem Forderungsverzicht gesehen werden könnte, sondern ausschließlich auf einen schädlichen Beteiligungserwerb über 25 % der Anteile oder Stimmrechte abstellt und es daher ausschließlich auf den Bestand von Verlusten oder Verlustvorträgen im Zeitpunkt des schädlichen Beteiligungserwerbs ankommen sollte.70 Eine weitere Möglichkeit der Übertragung von Steuervorteilen aus Verlusten, Verlustvorträ- 5.92 gen und Zinsvorträgen besteht darin, dass ein verzinsliches Gesellschafterdarlehen an die Zielkapitalgesellschaft zinslos gestellt wird. Die damit verbundene steuerlich angeordnete Abzinsung mit einem Zinssatz von 5,5 % nach § 6 Abs. 1 Nr. 3a lit. e EStG führt zu einem steuerpflichtigen Ertrag. Der Ertrag aus der Abzinsung stellt dabei nach Auffassung der Finanzverwaltung als Bewertungskorrektur von Verbindlichkeiten keinen Zinsertrag im Sinne der Zinsschranke dar.71 Der Abzinsungsertrag erhöht jedoch das verrechenbare EBITDA und ermöglicht insoweit die Abziehbarkeit des Zinsvortrags. Entsteht darüber hinaus ein Gewinn, kann dieser mit laufenden Verlusten oder Verlustvorträgen verrechnet werden. Die Aufzinsung der Verbindlichkeit in der Zukunft generiert hingegen steuerlich im Rahmen der Zinsschranke72 abzugsfähige Aufwendungen, so dass dieser Vorteil nach einer Veräußerung vom Erwerber steuerwirksam genutzt werden kann. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit der Überführung von Steuervorteilen wie Verlusten, Verlustvorträgen und Zinsvorträgen in zukünftige steuerwirksame Aufwendungen dadurch, dass der Veräußerer der Zielgesellschaft ein Gesellschafterdarlehen gewährt bzw. ein bestehendes Gesellschafterdarlehen in der Weise umwandelt, dass es aus zukünftigen Einnahmen oder Gewinnen zurück zu zahlen ist. Für ein solches Darlehen ist in der Steuerbilanz nach § 5 Abs. 2a EStG keine Verbindlichkeit anzusetzen. Die Darlehensgewährung bzw. die Ausbuchung der Verbindlichkeit führt folglich in vollem Umfang zu einem steuerpflichtigen Ertrag, der gleichermaßen durch Erhöhung des verrechenbaren EBITDA eine weitere Nutzung eines Zinsvortrags ermöglicht sowie gegen laufende Verluste oder Verlustvorträge verrechnet werden kann. Nach der Anteilsübertragung führt die Rückzahlung des Darlehens zu Aufwand in der Steuerbilanz.
5.93
Da davon auszugehen ist, dass das Gesellschafterdarlehen regelmäßig mit an den Erwerber veräußert wird, ist bei der Erwerbsstrukturierung zu berücksichtigen, dass der durch die Rückzahlung des Darlehens über dessen Anschaffungskosten in Höhe des Barwertes hinaus entstehende steuerpflichtige Ertrag nach Möglichkeit den Steuervorteil durch den Aufzinsungsaufwand nicht aufwiegt. Dies bedeutet, dass die Forderung entweder durch eine Gesellschaft erworben wird, die einer niedrigeren Ertragsbesteuerung unterliegt oder die aufgrund
5.94
68 69 70 71 72
BFH v. 12.7.2012 – I R 23/11, GmbHR 2012, 1188 m. Anm. Hoffmann = BFH/NV 2012, 1901. Vgl. BMF, Schr. v. 2.12.2003 – IV A 2 - S 2743 – 5/03, BStBl. I 2003, 648. Vgl. dazu Pohl, DB 2008, 1531; Ott, Stbg 2014, 250. BMF, Schr. v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2742a/07/10001, BStBl. I 2008, 718, Rz. 27. BMF, Schr. v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2742a/07/10001, BStBl. I 2008, 718, Rz. 27.
Gröger
387
Kap. 5 Rz. 5.95
Steuern
von bestehenden Verlustvorträgen, den Ertrag zumindest teilweise im Rahmen der Mindestbesteuerung neutralisieren kann. 3. Optimierung der Dekonsolidierung
5.95 Besonderheiten sind auch in den Fällen zu beachten, in denen die Anteile an einer Kapitalgesellschaft veräußert werden sollen, die eine Organgesellschaft im Rahmen einer Organschaft mit dem Veräußerer nach § 14 KStG ist.73 Wird eine Kapitalgesellschaft im Laufe und nicht zum Ende eines Wirtschaftsjahres veräußert, scheidet diese schon zu Beginn des Geschäftsjahres aus dem Organkreis aus (§ 14 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 KStG). Die Veräußerung der Anteile stellt steuerlich im Allgemeinen einen wichtigen Grund für die Aufhebung eines Gewinnabführungsvertrages dar,74 so dass sie keine schädliche Auswirkung auf den Bestand der Organschaft in Vorjahren hat, auch wenn der Vertrag noch keine fünf Jahre (Mindestlaufzeit nach § 14 Abs. 1 Nr. 3 KStG) bestanden hat (§ 14 Nr. 3 Satz 2 KStG). Allerdings muss die Beendigung der Organschaft auch nachweislich auf Grund der Veräußerung und nicht aus anderen Gründen erfolgt sein und dies zum Zeitpunkt des Abschlusses des Ergebnisabführungsvertrages nicht bereits festgestanden haben.75 Handelsrechtlich ist die Aufhebung eines Gewinnabführungsvertrages nur zum Ende eines laufenden Geschäftsjahres zulässig (§ 296 Abs. 1 AktG). Eine außerordentliche Kündigung kann, soweit dies im Ergebnisabführungsvertrag vorgesehen ist, auch unterjährig erfolgen. Dies gilt auch für den GmbH-Konzern.76
5.96 Ein unterjähriger Verkauf hat somit ein Auseinanderfallen zwischen handelsrechtlicher und steuerrechtlicher Ergebniszurechnung zur Folge. In diesen Fällen stellt sich die Frage, ob die Ergebnisabführung, die im Zeitpunkt der Beendigung des Unternehmensvertrages an den Veräußerer erfolgt, steuerlich als Gewinnausschüttung an den Veräußerer oder den Erwerber anzusehen ist. Da die steuerliche Organschaft mit dem Veräußerer mangels finanzieller Eingliederung nach der Veräußerung der Anteile an der Organgesellschaft seit Beginn des Wirtschaftsjahres nicht mehr besteht, handelt es sich bei der letztmaligen unterjährigen Ergebnisabführung steuerlich um eine verdeckte Gewinnausschüttung. Fraglich ist, ob diese ebenso wie eine ordentliche Gewinnausschüttung nach § 20 Abs. 5 Satz 1 EStG dem Anteilseigner im Zeitpunkt der Ausschüttung zuzurechnen ist. Letzteres wäre nach der Übertragung der Anteile der Erwerber. Anderseits könnte die Ergebnisabführung auch als nachträgliche (verdeckte) Gewinnausschüttung an den Veräußerer angesehen werden, da sie auf Grund des ursprünglich bestehenden Unternehmensvertrags mit dem ehemaligen Gesellschafter geleistet wird. Dann erzielt der Veräußerer Dividendenerträge aus der verdeckten Gewinnausschüttung. Muss er die Leistung an den Erwerber weiterleiten, verringert dies seinen Veräußerungsgewinn.
5.97 Zu dieser Frage liegt bisher nur ein Urteil des BFH für den Fall einer Verlustübernahme vor.77 Hiernach vertritt der BFH die Auffassung, dass die Verlustübernahme des ehemaligen Gesellschafters als Einlage in die veräußerte ehemalige Organgesellschaft zu betrachten ist 73 Vgl. dazu auch Füger/Rieger/Schell, DStZ 2015, 404 ff. 74 So R 60 Abs. 6 Satz 2 KStR 2004; s. aber auch BFH v. 13.11.2013 – I R 45/12, AG 2014, 369 = GmbHR 2014, 499 m. Anm. Herzberg = DStR 2014, 643 zur Aufhebung eines Gewinnabführungsvertrags aus wichtigem Grund im Zusammenhang mit einer konzerninternen Anteilsübertragung. 75 Vgl. R 60 Abs. 6 Satz 3 KStR 2004. 76 Wirth, DB 1990, 2106 m.w.N. 77 BFH v. 16.5.1990 – I R 96/88, BStBl. II 1990, 797 = GmbHR 1991, 34; vgl. hierzu auch Walter in Ernst&Young, § 14 KStG Rz. 731.
388
Gröger
B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.99 Kap. 5
und im Wege der Erhöhung der Anschaffungskosten der veräußerten Beteiligung nachträglich den Veräußerungsgewinn mindert. Im Fall einer verdeckten Gewinnabführung wird vertreten, dass der Begünstigte der verdeckten Gewinnausschüttung der Veräußerer als ehemaliger Vertragspartner des Gewinnabführungsvertrages sei.78 Mangels Gewinnverteilungsbeschlusses sei § 20 Abs. 5 EStG nicht auf die verdeckte Gewinnausschüttung anwendbar.79 Bei ausscheidenden Gesellschaftern sei vielmehr zu berücksichtigen, ob die Leistung in Zusammenhang mit einer schuldrechtlichen Verpflichtung steht, die eingegangen worden ist, als das Gesellschaftsverhältnis noch bestand.80 Relevant ist die steuerliche Zurechnung der verdeckten Gewinnausschüttung im Fall der verunglückten Organschaft im Veräußerungsfall, wenn Dividendeneinkünfte und Veräußerungsgewinne auf Seiten des Veräußerers unterschiedlich besteuert werden oder die Voraussetzungen für die Entlastung oder Anrechnung von Kapitalertragsteuer beim Erwerber nicht erfüllt werden können. Daher empfiehlt sich – soweit ein solcher Fall nicht vermieden werden kann – eine eindeutige Regelung im Unternehmenskaufvertrag ggf. mit einer damit verbundenen Steuerklausel. Einem Auseinanderfallen zwischen handelsrechtlicher und steuerrechtlicher Ergebniszurechnung durch einen unterjährigen Verkauf der Anteile kann dadurch begegnet werden, dass das Geschäftsjahr der zu veräußernden Gesellschaft auf den vorgesehenen Veräußerungsstichtag umgestellt und der Gewinnabführungsvertrag auf diesen Stichtag aufgehoben wird, so dass das dadurch entstehende Rumpfgeschäftsjahr noch in die handels- und steuerrechtliche Einkommensermittlung des veräußernden Organträgers einbezogen wird.81 Die Umstellung des Wirtschaftsjahrs vom Kalenderjahr auf ein vom Kalenderjahr abweichendes Wirtschaftsjahr bedarf nach § 7 Abs. 4 Satz 3 KStG der Zustimmung der Finanzverwaltung, die jedoch für Zwecke der Entkonsolidierung grundsätzlich erteilt werden soll.82 Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Umstellung des Wirtschaftsjahrs steuerlich nur Anerkennung findet, wenn die Eintragung der Satzungsänderung in Bezug auf das Geschäftsjahr vor dem neuen Stichtag für das Geschäftsjahresende im Handelsregister erfolgt ist. Daher ist bei der Transaktionsplanung der Zeitraum für die Umstellung des Wirtschaftsjahres entsprechend zu berücksichtigen.
5.98
Aus Sicht des Erwerbers hat eine bis zum Übertragungsstichtag bestehende Organschaft zwischen der Zielgesellschaft und dem Veräußerer zur Folge, dass die ertragsteuerlichen und im Falle einer gleichzeitig bestehenden umsatzsteuerlichen Organschaft die umsatzsteuerlichen Pflichten auf Ebene des Veräußerers zu berücksichtigen und Steuerzahlungen von diesem zu entrichten sind. Daher sind Steuerfreistellungen im Unternehmenskaufvertrag nur für nicht von der Organschaft umfasste Steuern sowie für eine ggf. zum Tragen kommende Haftung für Steuern der Organschaft nach § 73 AO erforderlich. Eine zeitliche Übereinstimmung der steuerlichen Haftungssituation des Veräußerers mit dem Ende der steuerlichen Organschaft besteht jedoch nur dann, wenn auch das Unternehmen mit wirtschaftlicher Wirkung zum Stichtag der Anteilsübertragung („Closing Date“) übertragen werden soll und folglich der Kaufpreis auf diesen Stichtag bestimmt wird. Dies ist typischerweise der Fall, wenn auch der Kaufpreis auf Basis von sog. „Closing Accounts“ final bestimmt werden soll. Bei einem Locked-Box Mechanismus, d.h. der Übertragung des Unternehmens mit wirtschaftlicher Wirkung zum Ende des vorangegangenen Wirtschaftsjahres, würden die steuerliche Organschaft und der handelsrechtliche Ergebnisabführungsvertrag jedoch bei Einlegen eines Rumpfwirt-
5.99
78 79 80 81 82
Vgl. Hahn, Ubg 2014, 427 (430). Vgl. Gosch in Gosch, § 8 KStG Rz. 211. Vgl. Gosch in Gosch, § 8 KStG Rz. 211 m.w.N. Vgl. R 59 Abs. 2 Satz 3 KStR 2004. Vgl. R 59 Abs. 3 Satz 1 KStR 2004.
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Kap. 5 Rz. 5.100
Steuern
schaftsjahres erst zu einem Zeitpunkt enden, zu dem die handelsrechtlichen Gewinne bereits dem Erwerber zustehen und er insoweit auch die damit verbundene Steuerbelastung tragen sollte. Kann der Zeitpunkt der wirtschaftlichen Wirkung der Anteilsübertragung nicht auf das Ende des Rumpfwirtschaftsjahres verschoben werden, macht es diese Gestaltung erforderlich, die Abtretung des Gewinnabführungsanspruchs und eine Steuerfreistellung für die beim Veräußerer stattfindende Besteuerung des Einkommens zu vereinbaren.
5.100 Eine Veräußerung und Übertragung der Anteile der Organgesellschaft mit Ablauf des Geschäftsjahrs oder des für Zwecke der Beendigung der Organschaft eingelegten Rumpfwirtschaftsjahres (sog. „Mitternachtsgeschäft“) hat den Vorteil, dass der Erwerber mit Erwerb der Anteile ebenfalls unmittelbar mit Beginn des (abweichenden) Wirtschaftsjahres eine Organschaft mit der Akquisitionsgesellschaft herstellen kann.83 Dadurch kann erreicht werden, dass die Kosten der Akquisitionsfinanzierung unmittelbar mit den Gewinnen der erworbenen Organgesellschaft verrechnet werden können. Die Umsetzung eines sog. Mitternachtsgeschäfts bedarf jedoch einer Abstimmung mit dem geplanten Vollzug des Unternehmenskaufvertrags. Denn wenn beispielsweise die Übertragung des rechtlichen Eigentums an den Anteilen hinsichtlich der Kaufpreiszahlung aufschiebend bedingt ist und nur erfolgen darf, wenn der Eingang des Kaufpreises auf dem Konto des Erwerbers nachgewiesen wird, sollten Vollzugsprobleme dadurch vermieden werden, dass der Stichtag für das (Rumpf-)Wirtschaftsjahr auf einen Arbeitstag und nicht auf einen Samstag, Sonntag oder Feiertag fällt, an dem die Bank möglicherweise den Nachweis der Kaufpreiszahlung nicht erbringen kann.
5.101 Schließlich sollten auch die Auswirkungen der Umstellung des Wirtschaftsjahrs auf die gesetzlichen Pflichten zur Rechnungslegung berücksichtigt werden, da ein zusätzlicher (Konzern-)abschluss auf den neuen Abschlussstichtag und eine zusätzliche (Konzern-)abschlussprüfung mit nicht unerheblichen unternehmensinternen und externen Kosten verbunden sind. 4. Earn-Out und ähnliche Gestaltungsüberlegungen
5.102 Bei sog. Earn-Out-Regelungen handelt es sich um besondere Formen der Bestimmung eines Veräußerungspreises, der aus einem festen und mindestens einem variablen Anteil besteht und sich an der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung des Zielunternehmens nach der Unternehmensübertragung bemisst. Der variable Anteil des Veräußerungspreises orientiert sich im Allgemeinen an finanziellen Ergebniskomponenten wie Umsatz, EBITDA, EBIT, EBT oder Cashflow-Kennzahlen. Die besondere Herausforderung ist es, diese Kennzahlen, auf die sich die Earn-Out-Regelung bezieht, in einer Art und Weise zu definieren, dass sie nach Möglichkeit weder vom Veräußerer noch vom Erwerber zum Zweck der Erhöhung oder Reduktion eines fairen Veräußerungspreises manipuliert werden können.
5.103 Earn-Out-Regelungen versuchen dem Interesse des Veräußerers gerecht zu werden, den Veräußerungspreis des Unternehmens in bestimmten Situationen angemessen zu ermitteln. Insbesondere in Fällen, in denen die üblichen Bewertungsmethoden den Wert des Unternehmens beispielsweise aufgrund einer neuen Entwicklung eines Produktes oder Verfahrens, das noch nicht in vollem Umfang am Markt platziert ist, nur unzureichend ermitteln können, kann eine Earn-Out-Regelung helfen, unterschiedliche Vorstellungen des Veräußerers und Erwerbers über die Bewertung eines Unternehmens zu überbrücken. Unterschiedliche Vorstellungen über die Bewertung entstehen regelmäßig auch in Fällen von eigentümerge83 Vgl. R 59 Abs. 2 KStR 2004; vgl. auch Rödder/Hötzel/Mueller-Thuns, § 25 Rz. 198.
390
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B. Unternehmensverkauf aus Sicht des Veräußerers
Rz. 5.106 Kap. 5
führten Unternehmen, bei denen der Unternehmer aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen und Kontakte sowie Managementfähigkeiten von einem höheren Wert des Unternehmens ausgeht als der Erwerber. Insbesondere bei Dienstleistungsunternehmen des Beratungssektors kann der wertbegründende Faktor in der qualifizierten Tätigkeit, dem Erfahrungshintergrund und der Persönlichkeit der Berater liegen, die auch Gesellschafter und Verkäufer des Unternehmens sind. Eine Earn-Out-Regelung kann dem Erwerber hier die Chance bieten, den Unternehmer überhaupt zur Veräußerung zu bewegen. Zudem kann aus Sicht des Erwerbers eine Earn-Out-Regelung den Veräußerer motivieren, seine Kontakte und Arbeitskraft auch nach der Veräußerung gewinnbringend im Interesse des Unternehmens einzusetzen. Sie tritt damit neben eine Incentivierung durch Tantiemeregelungen oder eine Managementbeteiligung am Zielunternehmen. Wird ein Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil gegen einen gewinnabhängigen oder umsatzabhängigen Kaufpreis veräußert, ist das Entgelt als laufende nachträgliche Betriebseinnahme im Jahr des Zuflusses in der Höhe zu versteuern, in der die Summe der Kaufpreiszahlungen das – ggf. um Einmalzahlungen gekürzte – steuerliche Kapitalkonto zzgl. der Veräußerungskosten übersteigt.84 Als laufende nachträgliche Betriebseinnahme entfällt für natürliche Personen die Anwendung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG und der ermäßigte Steuersatz nach § 34 EStG. Beim Erwerber entstehen nachträgliche Anschaffungskosten in dem Zeitpunkt, in dem die Aufwendungen getätigt werden.85 Diese sind zusätzlich zu den Anschaffungskosten der erworbenen Wirtschaftsgüter zu aktivieren.
5.104
Im Falle der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften war bisher in ständiger Rechtsprechung vertreten worden, dass das Entstehen eines variablen Kaufpreisanteils zur rückwirkenden Erhöhung des Veräußerungsgewinns führt.86 Bei gewinn- oder umsatzabhängigen variablen Kaufpreisbestandteilen haben FG allerdings vor dem Hintergrund des bilanziellen Realisierungszeitpunkts zuletzt Zweifel an der rückwirkenden Berücksichtigung des Veräußerungsgewinns geäußert.87 Über diese Rechtsfrage wird der BFH in naher Zukunft ausdrücklich entscheiden dürfen.88 Die Behandlung der nachträglichen Aufwendungen als nachträgliche Anschaffungskosten beim Erwerber bleibt hiervon unberührt.
5.105
Soweit der veräußernde Unternehmer weiterhin für das Unternehmen tätig und durch eine 5.106 Earn-Out-Regelung incentiviert werden soll, sich auch zukünftig für eine Unternehmenswertsteigerung einzusetzen, gilt es neben der Verhandlung über den variablen Anteil des Veräußerungspreises auch über die Höhe und Ausgestaltung der Tätigkeitsvergütung zu verhandeln. Eine Motivation zur Unternehmenswertsteigerung kann hierbei prinzipiell auch über eine entsprechend ausgestaltete Tantiemeregelung erreicht werden. Soweit das Einkommen aus den verschiedenen Quellen beim Veräußerer aufgrund unterschiedlicher Steuersätze (z.B. Teileinkünfteverfahren oder Abgeltungsteuersatz hinsichtlich der Veräußerung von Kapitalgesellschaftsbeteiligungen im Unterschied zu Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit) unterschiedlich besteuert wird, finden auch steuerliche Überlegungen Eingang in die 84 BFH v. 14.5.2002 – VIII R 8/01, BStBl. II 2002, 532; in diesem Sinne auch die Finanzverwaltung in H 16 Abs. 11 EStR 2012 zu einem gewinn- oder umsatzabhängigen Kaufpreis. 85 Vgl. dazu auch Link, BB 2014, 554 (556); Fey/Deubert, BB 2012, 1461 (1462). 86 Vgl. BFH v. 12.3.2014 – I R 55/13, GmbHR 2014, 766; BFH v. 19.8.2003 – VIII R 67/02, BStBl. II 2004, 107 = GmbHR 2004, 129. 87 FG München v. 25.4.2016 – 7 K 1364/14, EFG 2016, 1360 (Rev. eingelegt); FG Hamburg v. 19.9.2016 – 6 K 67/15, EFG 2016, 1987 (Rev. eingelegt). 88 BFH – I R 36/16 und BFH – I R 71/16, anhängige Verfahren.
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391
Kap. 5 Rz. 5.107
Steuern
Diskussion. Dabei spielt aus Sicht des Erwerbers die Steuerwirkung auf der Ebene des Zielunternehmens, d.h. die ggf. bestehende Möglichkeit, die Vergütung als Betriebsausgabe steuermindernd geltend zu machen, bei der Verhandlung eine Rolle. Bei diesen Überlegungen ist jedoch zu beachten, dass die Finanzverwaltung die Vereinbarungen auf ihre Fremdüblichkeit und Angemessenheit prüfen und ggf. die Einkünfte entsprechend einer anderen Einkunftsart zuordnen wird, soweit die vereinbarte Zuordnung ausschließlich aus steuerlichen Gründen erfolgt sein sollte. Dies kann sowohl zur Nichtanerkennung von als Aufwand berücksichtigten Tantiemezahlungen führen als auch zu ggf. nicht anrechenbaren oder erstattungsfähigen Kapitalertragsteuern, sofern in der Leistung des Zielunternehmens eine verdeckte Gewinnausschüttung erkannt wird. Bei der Qualifizierung der Entgeltkomponenten als Earn-Out-Zahlung bzw. Tantieme kommt es darauf an, ob die Tantiemeregelung grundsätzlich dem Grunde und der Höhe nach für Mitarbeiter oder Führungskrafte des betreffenden Zielunternehmens oder vergleichbarer Unternehmen üblich ist und die tatsächliche Leistung vergütet, während die Earn-Out-Zahlung sich an der Entwicklung von Kennzahlen des Zielunternehmens orientieren sollte, die die Unternehmensbewertung beeinflussen. Betragsmäßig feste Zahlungen über eine Mindestdauer der Betriebszugehörigkeit können hingegen auf einen Ratenkauf hindeuten, insbesondere wenn die Beträge zusätzlich zu einer Tantieme und über das betriebsübliche Niveau geleistet werden. Andererseits kann auch ein sog. „Signing bonus“ in bestimmten Branchen als Komponente der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit üblich sein. Gleiches gilt auch für Veräußerer, die weiterhin als Berater für das veräußerte Unternehmen tätig bleiben.
5.107 Auch eine Managementbeteiligung des weiter für das Unternehmen tätigen Veräußerers an dem nunmehr vom Erwerber mehrheitlich gehaltenen Unternehmens kann neben oder anstelle einer Earn-Out-Regelung zur Incentivierung des mitarbeitenden Unternehmers treten. Eine Managementbeteiligung kann auch zusätzlich zu einer Tätigkeitsvergütung vereinbart werden. Im Fall einer unterschiedlichen Besteuerung der Einkünfte aus den unterschiedlichen Incentivierungsinstrumenten fließen auch hier steuerliche Überlegungen in die Verhandlungen ein, und es stellt sich die Frage der Fremdüblichkeit und Angemessenheit des jeweiligen Instruments, mit dem Risiko, dass die Finanzverwaltung abweichend von den Vereinbarungen eine Zuordnung der Einkünfte vornimmt.
C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers I. Ertragsteuerliche Konsequenzen des Unternehmenserwerbs 1. Erwerb eines inländischen Unternehmens als Gesamtheit von aktiven und passiven Wirtschaftsgütern (Asset Deal) a) Aktivierung der Anschaffungskosten aa) Verteilung des Gesamtkaufpreises auf die erworbenen Wirtschaftsgüter
5.108 Beim Kauf eines Unternehmens ist letztlich nur die insgesamt gewährte Gegenleistung (Gesamtkaufpreis) von wirtschaftlicher Bedeutung und damit die für die Aktivierung und Abschreibung des Kaufpreises maßgebliche Größe. Dennoch hat die Kaufpreisaufteilung auf die verschiedenen erworbenen Wirtschaftsgüter eine erhebliche steuerliche Bedeutung für den Erwerber, da die Abschreibungsdauer den Steuerbarwertvorteil („Tax Amortization Benefit“) aus der Geltendmachung der Anschaffungskosten wesentlich bestimmt. Zwar kann eine vertragliche Aufteilung des Gesamtkaufpreises auf einzelne Wirtschaftsgüter im Unter392
Gröger
C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.110 Kap. 5
nehmenskaufvertrag vereinbart werden, jedoch ist diese nach der Rechtsprechung des BFH dann nicht maßgeblich, wenn diesbezüglich kein wirtschaftlicher Interessengegensatz zwischen den Parteien besteht. In diesen Fällen sei vielmehr erforderlich, dass die Allokation des Kaufpreises durch eine Teilwertermittlung für die erworbenen Wirtschaftsgüter unterlegt ist.89 Heute können jedoch die Parteien in vielen Fällen unterschiedliche steuerrechtliche Interessen bei der Aufteilung des Kaufpreises besitzen. Dann ist die im Unternehmenskaufvertrag vorgenommene Kaufpreisallokation auch für die steuerliche Kaufpreisaufteilung bindend, solange die Vereinbarung über die Kaufpreisallokation nicht zum Schein getroffen worden ist oder ein Gestaltungsmissbrauch vorliegt.90 Ein solcher Fall liegt insbesondere vor, wenn neben Betriebsvermögen auch Anteile an Kapitalgesellschaften veräußert werden, da der Veräußerer wegen der begünstigten Besteuerung des Veräußerungsgewinns von Anteilen an Kapitalgesellschaften nach Einführung des Halbeinkünfteverfahrens am 1.1.2001 den Kaufpreis auf die Kapitalgesellschaftsanteile zu allokieren interessiert ist, während der Erwerber zwecks Optimierung der Abschreibung seiner Anschaffungskosten diese vorzugsweise auf das sonstige Betriebsvermögen zu verteilen sucht. Auch wenn erworbene Wirtschaftsgüter ursprünglich beim Veräußerer unterbewertet waren, hat der Erwerber ein Interesse daran, diese zum Zweck einer schnelleren Abschreibung von Anschaffungskosten höher zu bewerten. Der Veräußerer ist demgegenüber daran interessiert, diese niedrigen Werte im Vertrag festzuschreiben, um eine Erhöhung der Bilanzansätze für zurückliegende Zeiträume und damit einhergehende etwaige Zinsen auf Steuernachzahlungen gem. § 233a AO zu vermeiden.
5.109
bb) Methode der Verteilung des Gesamtkaufpreises Wenn die Kaufpreisallokation nicht dem Unternehmenskaufvertrag entnommen werden 5.110 kann, ist der Gesamtkaufpreis grundsätzlich auf die übernommenen materiellen und immateriellen Wirtschaftsgüter zu verteilen. Der Rechtsprechung des BFH lässt sich dabei nicht eindeutig entnehmen, nach welcher Methode die Verteilung des Gesamtkaufpreises vorzunehmen ist.91 Im Schrifttum wird überwiegend die Auffassung vertreten, die Verteilung sei auf sämtliche bilanzierte materielle und immaterielle Wirtschaftsgüter und nicht bilanzierten immateriellen Einzelwirtschaftsgütern gleichmäßig und proportional durchzuführen (modifizierte Stufentheorie), was zu einem sofortigen Ausweis möglicherweise schneller abschreibbarer immaterieller Einzelwirtschaftsgüter führen und insofern einen entsprechenden Steuerbarwertvorteil generieren kann.92 Eine Mindermeinung vertritt hingegen die Auffassung, dass der Ansatz der bereits beim Veräußerer bilanzierten materiellen und immateriellen Wirtschaftsgüter Priorität hat, d.h. ein Ansatz der nicht bilanzierten immateriellen Wirtschaftsgüter nur dann in Betracht kommt, wenn der Gesamtkaufpreis die Summe der Teilwerte der bilanzierten materiellen und immateriellen Wirtschaftsgüter übersteigt
89 BFH v. 5.8.1970 – I R 180/66, BStBl. II 1970, 804; BFH v. 12.6.1978 – GrS 1/77, BStBl. II 1978, 625; BFH v. 23.2.1984 – IV R 128/81, BStBl. II 1984, 516; BFH v. 17.9.1987 – III R 272/83, BStBl. II 1988, 441. 90 Vgl. BFH v. 16.9.2015 – IX R 12/14, DStR 2016, 33; FG Rheinland-Pfalz v. 23.2.2011 – 2 K 1903/09, EFG 2012, 63 (rkr.); Niedersächsiches FG v. 19.6.2013 – 4 K 12052/07 (rkr.). 91 BFH v. 14.6.1994 – VIII R 37/93, BStBl. II 1995, 246 = GmbHR 1995, 314; BFH v. 29.10.1991 – VIII R 148/85, BStBl. II 1992, 647; BFH v. 7.11.1985 – IV R 7/83, BStBl. II 1986, 176; BFH v. 7.6.1984 – IV R 79/82, BStBl. II 1984, 584. 92 So z.B. Ley, KÖSDI 2001, 12985 f. Kritisch: Rödder/Hötzel/Mueller-Thuns, § 27 Rz. 23.
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393
Kap. 5 Rz. 5.111
Steuern
(Drei-Stufen-Theorie).93 Relevanz erlangt dieser Meinungsstreit jedoch nur, wenn der Gesamtkaufpreis nicht sämtliche stille Reserven in bilanzierten und nicht bilanzierten materiellen und immateriellen Wirtschaftsgütern vergüten sollte. In diesem Fall stellt sich zudem die noch nicht abschließend entschiedene Frage, ob die Verteilung des Gesamtkaufpreises im Verhältnis der Teilwerte94 oder im Verhältnis der stillen Reserven95 erfolgen soll. Ein Geschäftswert ist nach allgemeiner Auffassung96 nur anzusetzen, wenn die Summe der Teilwerte der erworbenen bilanzierten und nicht bilanzierten materiellen und immateriellen Wirtschaftsgüter den Gesamtkaufpreis nicht erreicht (Restwert). cc) Einzelbewertung
5.111 Von besonderer Relevanz ist die Teilwertermittlung der erworbenen Wirtschaftsgüter, da sich hiernach die steuerlichen Wirkungen der Abschreibungen bestimmen und folglich sich entsprechende Auswirkungen auf den Steuerbarwertvorteil aus der Abschreibung der Anschaffungskosten ergeben. Dabei ist der Grundsatz der Einzelbewertung zu berücksichtigen. Die Werte des Sachanlagevermögens werden häufig durch Sachverständigengutachten ermittelt. Bei Vorräten wird üblicherweise von dem erzielbaren Kaufpreis abzgl. der noch anfallenden Kosten ausgegangen, d.h., der Gewinn gilt schon als durch den Unternehmensverkauf realisiert.
5.112 Im Bereich der immateriellen Wirtschaftsgüter sind als gesondert bewertungsfähige Wirtschaftsgüter in erster Linie Auftragsbestand, Patente, Marken, sonstige Schutzrechte, Knowhow und andere vorteilhafte Vertragsbeziehungen mit Dritten zu nennen.97 Die Abgrenzung zu Positionen, die im Geschäftswert aufgehen, ist jedoch fließend.98 Keineswegs kommt es dabei entscheidend darauf an, ob sie im Rahmen des Unternehmenskaufvertrags ausdrücklich hervorgehoben und mit einer Wertangabe versehen sind.99 Nur wenn nach der Verkehrsanschauung eine Position nicht ohne Weiteres als immaterielles Einzelwirtschaftsgut erkennbar ist, mag der Behandlung durch die Parteien eines Kaufvertrages indizielle Bedeutung zukommen. Bei Projekten, die noch nicht zur Nutzungsreife gelangt sind, kann sich die Teilwertermittlung an den bisher angefallenen Projektkosten orientieren.
5.113 Die Möglichkeit einer gesonderten Berücksichtigung eines Wettbewerbsverbots erscheint zweifelhaft,100 es sei denn, es kommt dem Wettbewerbsverbot eine eigenständige wirtschaftliche Bedeutung zu. Hierfür muss zumindest die Möglichkeit eines Wettbewerbs durch den Veräußerer nach den gegebenen Umständen wirtschaftlich relevant101 und das Verbot befristet sein. Ist der Verpflichtung aus dem Wettbewerbsverbot keine eigenständige wirtschaftli93 Vgl. Rödder/Hötzel/Mueller-Thuns, § 27 Rz. 21; Blumers/Beinert, DB 1995, 1043; vgl. auch Wacker in Schmidt, § 16 EStG Rz. 487 ff. 94 BFH v. 21.4.1994 – IV R 70/92, BStBl. II 1994, 745 = GmbHR 1994, 818; Meyering, DStR 2008, 1011. 95 Ley, KÖSDI 2001, 12987; Rödder/Hötzel/Mueller-Thuns, § 27 Rz. 22; Wacker in Schmidt, § 16 EStG Rz. 487 ff. 96 Vgl. Hinweise bei Wacker in Schmidt, § 16 EStG Rz. 487 ff. 97 Vgl. Schlütter, NJW 1993, 2023. 98 BFH v. 26.11.2009 – III R 40/07, BStBl. II 2010, 609; vgl. Anzinger in Herrmann/Heuer/Raupach, § 5 EStG Rz. 1800. 99 BFH v. 25.11.1981 – I R 54/77, BStBl. II 1982, 189; BFH v. 28.5.1979 – I R 1/76, BStBl. II 1979, 734; BFH v. 5.8.1970 – I R 180/66, BStBl. II 1970, 804. 100 Vgl. auch Franz in Herrmann/Heuer/Raupach, § 5 EStG Rz. 1579. 101 BFH v. 21.9.1982 – VIII R 140/79, BStBl. II 1983, 289.
394
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.117 Kap. 5
che Bedeutung beizumessen, stellt das hierfür entrichtete Entgelt einen Teil des Kaufpreises für den gesamten Betrieb dar.102 Die Abspaltung eines Teils des insgesamt zu zahlenden Entgelts ist auch für andere Rechtsbeziehungen möglich und kann steuerrechtlich wegen eines etwaigen sofortigen Betriebsausgabenabzugs interessant sein. Sofort abziehbare Betriebsausgaben können beispielsweise vorliegen, wenn Abfindungen für das vorzeitige Ausscheiden eines Geschäftsführers oder anderer Angestellter gezahlt werden oder Zahlungen für die Entlassung aus einem nachteiligen Vertrag geleistet werden.103 Aber auch in Fällen, in denen das Zielunternehmen nur zum Zwecke der Betriebsstilllegung oder zur Ausschaltung eines Konkurrenten erworben wird, ist der Mehraufwand nicht als aktivierungspflichtiger Aufwand auf den Firmenwert zu betrachten, sondern als sofort abziehbare Betriebsausgabe.104
5.114
Die durch den Erwerber übernommenen Verbindlichkeiten und Rückstellungen sind ebenfalls gesondert zu bewerten. In diesem Zusammenhang war lange streitig, wie hinsichtlich der beim Veräußerer steuerlich nicht abzugsfähigen bzw. vom Handelsrecht abweichend zu bewertenden Rückstellungen (z.B. etwaiger steuerlich nicht abzugsfähiger Teil der Jubiläumsrückstellungen, Aufwandsrückstellungen, Pensionsrückstellungen) zu verfahren ist, d.h. ob das Passivierungsverbot ceteris paribus auch beim Erwerber greift.
5.115
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH105 bis zur Gesetzesänderung durch das AIFM-Steuer-Anpassungsgesetz vom 23.12.2013 waren betriebliche Verbindlichkeiten, die beim Veräußerer in der Steuerbilanz abweichend von der Handelsbilanz einem Ausweisverbot, einer Ansatzbeschränkung oder einem Bewertungsvorbehalt unterlagen und vom Erwerber im Rahmen des Unternehmenskaufs entgeltlich gegen Schuldübernahme erworben worden sind, als Freistellungsverpflichtung sowohl in der Handels- als auch in der Steuerbilanz nach den für ungewisse Verbindlichkeiten geltenden Grundsätzen zu passivieren.106 Dies wurde aus dem Grundsatz der erfolgsneutralen Behandlung von Anschaffungskosten abgeleitet, der auch für übernommene Passivposten Anwendung findet.
5.116
Als Reaktion auf diese Rechtsprechung ergänzte der Gesetzgeber durch das AIFM-Steuer-Anpassungsgesetz vom 23.12.2013 § 5 EStG um einen Abs. 7, demzufolge nunmehr übernommene Verpflichtungen, die beim ursprünglich Verpflichteten Ansatzverboten, -beschränkungen oder Bewertungsvorbehalten unterlegen haben, zu den auf die Übernahme folgenden Abschlussstichtagen bei dem Übernehmer und dessen Rechtsnachfolger so zu bilanzieren
5.117
102 Vgl. BFH v. 29.8.2012 – IX R 1/11, GmbHR 2012, 696 = BFH/NV 2013, 659; BFH v. 23.2.1999 – IX R 86/95, BStBl. II 1999, 590 = GmbHR 1999, 871. 103 Vgl. Rödder/Hötzel/Mueller-Thuns, § 27 Rz. 28. 104 Vgl. BFH v. 25.1.1979 – IV R 21/75, BStBl. II 1979, 369. 105 BFH v. 14.12.2011 – I R 72/10, GmbHR 2012, 402 m. Anm. Höhn/Geberth = BFH/NV 2012, 635 (übernommene Jubiläumszuwendungen und Beiträge zum Pensionssicherungsverein); BFH v. 12.12.2012 – I R 69/11, GmbHR 2013, 425 = BFH/NV 2013, 840 (Übernahme einer Pensionsverpflichtung nach § 613a BGB); BFH v. 12.12.2012 – I R 28/11, GmbHR 2013, 429 m. Anm. Hoffmann = BFH/NV 2013, 884 (Übernahme von Pensionsverpflichtungen durch Ausgliederung); BFH v. 16.12.2009 – I R 102/08, GmbHR 2010, 382 = BFH/NV 2010, 517 (Drohverlustrückstellung). 106 Vgl. auch Bogenschütz, Ubg 2008, 135 (139); im Ergebnis wohl auch Ley, DStR 2007, 589 (591 f.); Hoffmann, GmbH-StB 2009, 144 (145); Koch, BB 2008, 2736.
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395
Kap. 5 Rz. 5.118
Steuern
sind, wie sie beim ursprünglich Verpflichteten ohne Übernahme zu bilanzieren wären.107 Nach § 5 Abs. 7 Satz 5 EStG kann jedoch für einen Gewinn, der sich hieraus ergibt, jeweils i.H.v. 14/15 eine gewinnmindernde Rücklage gebildet werden, die in den folgenden 14 Wirtschaftsjahren jeweils mit mindestens 1/14 gewinnerhöhend aufzulösen ist (Auflösungszeitraum). Besteht hingegen eine Verpflichtung, für die eine Rücklage gebildet worden war, vor Ablauf des Auflösungszeitraums nicht mehr, ist die insoweit verbleibende Rücklage aufzulösen.
5.118 Folglich hat sich die steuerbilanzielle Behandlung von Verpflichtungen im Anwendungsbereich des Gesetzes auf Seiten des Erwerbers nunmehr an der Bilanzierung des ursprünglich Verpflichteten zu orientieren, womit der Erwerber im Rahmen eines Asset Deals nunmehr gehalten ist, die steuerbilanzielle Behandlung dieser Verpflichtungen beim Veräußerer in Erfahrung zu bringen. Eine Verpflichtung des Veräußerers zur Auskunft über die steuerbilanzielle Behandlung besteht hingegen nicht und im Einzelfall wird es dem Erwerber auch nicht möglich sein, diese Information in Erfahrung zu bringen. Berücksichtigt man zudem, dass diese Regelung eine weitere Abkehr von bilanziellen Grundsätzen (Neutralität des Anschaffungsvorgangs) ist und eine nachteilige Steuerwirkung nur insoweit entsteht, als die regelmäßige Mindestauflösung der Rücklage nicht durch die Realisation des Aufwands aus dem betreffenden Rechtsvorgang in dem gleichen Wirtschaftsjahr kompensiert wird, stellt sich die Frage, ob diese Regelung eine angemessene Reaktion auf die dem Gesetzgeber offenbar regelungsbedürftigen Missbrauchsfälle der konzerninternen Realisierung von stillen Lasten ist. dd) Verhältnis der Summe der Einzelbewertungen zum Gesamtkaufpreis
5.119 Übersteigt der gezahlte Kaufpreis die Summe der Teilwerte aller erworbenen materiellen und immateriellen Wirtschaftsgüter, ist die Residualgröße als Geschäfts- oder Firmenwert („Goodwill“) zu aktivieren und über die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer abzuschreiben. Nach § 7 Abs. 1 Satz 3 EStG beträgt die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer eines Geschäfts- oder Firmenwerts für steuerliche Zwecke grundsätzlich 15 Jahre.
5.120 Übersteigt die Summe der Teilwerte aller gesondert bewerteten materiellen und immateriellen Wirtschaftsgüter hingegen den Gesamtkaufpreis, ist jeweils ein Abschlag von den Teilwerten der Einzelwirtschaftsgüter im Verhältnis der Summe der Teilwerte zum Gesamtkaufpreis vorzunehmen.108 Ein Abschlag ist nicht möglich, wenn es dadurch zu einer unzulässigen Unterbewertung kommt, wie z.B. bei flüssigen Mitteln oder voll werthaltigen Forderungen.109
5.121 Liegt der Gesamtkaufpreis unter der Summe der Werte, die keinem Abschlag mehr zugänglich sind, ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH ein passiver Ausgleichsposten anzusetzen, der gegen spätere Verlustanteile sowie bei gänzlicher oder teilweise Beendigung der Beteiligung gewinnerhöhend aufzulösen ist.110 Nach einer Entscheidung des FG Düsseldorf müssen die nach dem Erwerb entstehenden Verluste jedoch nicht vorrangig mit dem passiven Ausgleichsposten verrechnet werden, wenn in der Zwischenzeit Gewinne entstan107 S. auch BMF, Schr. zur steuerlichen Gewinnermittlung; Bilanzsteuerliche Berücksichtigung von Verpflichtungsübernahmen, Schuldbeitritten und Erfüllungsübernahmen mit vollständiger oder teilweiser Schuldfreistellung, Anwendung der Regelungen § 4f und § 5 Abs. 7 Einkommensteuergesetz (EStG) v. 30.11.2017 – IV C 6 - S 2133/14/10001, BStBl. I 2017, 1619. 108 Rödder/Hötzel/Mueller-Thuns, § 27 Rz. 31. 109 BFH v. 12.12.1996 – IV R 77/93, BStBl. II 1998, 180 = GmbHR 1998, 50. 110 BFH v. 19.2.1981 – IV R 41/78, BStBl. II 1981, 730; BFH v. 21.4.1994 – IV R 70/92, GmbHR 1994, 818 = BB 1994, 1602.
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.125 Kap. 5
den und versteuert worden sind.111 Diese Rechtsprechung, die zu dem Erwerb von Anteilen an Personengesellschaften ergangen ist, ist auf Erwerbe von ganzen Betrieben analog anzuwenden. ee) Vereinbarung eines variablen Kaufpreises Entgelt kann auch eine variable Größe sein, wie z.B. eine im Kaufvertrag geregelte Betei- 5.122 ligung des Veräußerers an künftigen Gewinnen oder die Zahlung von Leibrenten. Soweit variable Größen von vornherein (wie z.B. bei Leibrentenverpflichtungen nach versicherungsmathematischen Grundsätzen) im Schätzwege bewertet werden können, ist dieser Wert anzusetzen.112 Aufschiebend bedingte Zahlungsverpflichtungen i.S.d. § 1 Abs. 1 i.V.m. § 6 Abs. 1 BewG sind nach der Rechtsprechung des BFH im Zeitpunkt des Bedingungseintritts zu berücksichtigen und führen insofern nachträglich zu Anschaffungskosten des oder der erworbenen Wirtschaftsgüter.113 Diesen Rechtsgedanken wendet der BFH auch auf die Aktivierung von Anschaffungskosten des Betriebsvermögens einschließlich immaterieller Wirtschaftsgüter an.114 Folglich entstehen aktivierungspflichtige Anschaffungskosten, wenn der Bedingungseintritt wahrscheinlich erscheint und der Betrag der Erhöhung verlässlich geschätzt werden kann.115 Darüber hinaus wird auch vertreten, dass wenn der gewinn- oder umsatzabhängige Kaufpreis Entgelt für schwer bewertbare immaterielle Wirtschaftsgüter (Geschäftswert, Firmenname etc.) darstellt, dem Erwerber u.U. ein Wahlrecht zwischen sukzessiver und sofortiger Aktivierung in Höhe der geschätzten Entgelte eingeräumt werden kann. Liegen nachträgliche Änderungen des Kaufpreises vor, wirken sich diese auf die Anschaffungskosten des Erwerbers im Zeitpunkt der Änderung aus und nicht auf das Anschaffungsjahr zurück.116
5.123
b) Abschreibung des Kaufpreises Die Aufteilung des Kaufpreises und die darauf beruhende steuerrechtliche Abschreibung der einzelnen Wirtschaftsgüter ist unabhängig davon, ob es sich beim Erwerber um eine natürliche oder juristische Person handelt und ob der Erwerber beschränkt oder unbeschränkt steuerpflichtig ist. Die ökonomischen Konsequenzen der Abschreibung können jedoch insoweit verschieden sein, als je nach der persönlichen steuerlichen Situation des einzelnen Erwerbers unterschiedliche Ertragsteuersätze gelten und folglich die Abschreibungen eine mehr oder weniger steuermindernde Wirkung entfalten.
5.124
Allerdings hängt die Möglichkeit der Inanspruchnahme von bestimmten Abschreibungs- 5.125 methoden (z.B. Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter nach § 6 Abs. 2 EStG, degressive Abschreibung nach § 7 Abs. 2 EStG, Sonderabschreibung nach § 7g EStG) von den hierfür gegebenen Voraussetzungen ab, die auch nach dem Erwerb des Unternehmens (weiterhin) vorliegen müssen. 111 112 113 114
FG Düsseldorf v. 15.12.2010 – 15 K 2784/09 F, rkr. BFH v. 18.1.1989 – X R 10/86, BStBl. II 1989, 542; Wacker in Schmidt, § 16 EStG Rz. 232. BFH v. 22.8.2007 – X R 2/04, BStBl. II 2008, 109 m.w.N. BFH v. 1.9.2010 – IV B 132/09, BFH/NV 2011, 27; BFH v. 14.5.2002 – VIII R 8/01, BStBl. II 2002, 532; Kulosa in Schmidt, § 6 EStG Rz. 81. 115 Winkeljohann/Deubert in BeckBilanzkomm., § 301 Rz. 28; vgl. auch Link, BB 2014, 554 (556); Fey/Deubert, BB 2012, 1461 (1463 f.). 116 Kulosa in Schmidt, § 6 EStG Rz. 57, 66.
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Kap. 5 Rz. 5.126
Steuern
c) Finanzierung des Unternehmenserwerbs
5.126 Grundsätzlich sind alle mit dem Unternehmenserwerb zusammenhängenden Aufwendungen, vor allem Zinsaufwendungen auf für den Erwerb aufgenommene Kredite, steuerrechtlich abzugsfähig, da sie in unmittelbarem Veranlassungszusammenhang mit der Erzielung von Einkünften aus Gewerbebetrieb stehen (§ 4 Abs. 4 EStG). Eine Ausnahme bilden Aufwendungen, die bei natürlichen Personen mit nach § 3 Nr. 40 EStG zu 40 % steuerfreien Einkünften (d.h. Dividendeneinkünften aus Beteiligungen an Kapitalgesellschaften) im Zusammenhang stehen. Diese sind gem. § 3c Abs. 2 EStG nur zu 60 % abzugsfähig.
5.127 Die Abzugsfähigkeit von Finanzierungsaufwendungen kann zum anderen durch die „Zinsschranke“ des § 4h EStG eingeschränkt werden. Wie in Rz. 5.81 ff. beschrieben, sind nach § 4h Abs. 1 EStG die Zinsaufwendungen eines Betriebs in Höhe des Zinsertrags in vollem Umfang, darüber hinaus nur in Höhe des verrechenbaren EBITDA abziehbar. Zinsaufwendungen, die nicht abgezogen werden dürfen, sind in die folgenden Wirtschaftsjahre vorzutragen (Zinsvortrag) und erhöhen die Zinsaufwendungen dieser Wirtschaftsjahre, nicht jedoch den maßgeblichen Gewinn. Übersteigt das verrechenbare EBITDA die um die Zinserträge geminderten Zinsaufwendungen des Betriebs, ist es in die folgenden fünf Jahre vorzutragen (EBITDA-Vortrag) und erhöht in diesen Jahren das verrechenbare EBITDA.
5.128 Ziel des Gesetzgebers mit Einführung der Zinsschranke war, die Ausstattung der im Inland ansässigen Unternehmen mit Eigenkapital zu fördern, indem Nettozinsaufwendungen nur im Rahmen des verrechenbaren EBITDA abziehbar sind und darüber hinaus folglich als steuerlich nicht abziehbare Aufwendungen ebenso wie Vergütungen für gewährtes Eigenkapital behandelt werden. Die Regelung der Zinsschranke führt in der Praxis tatsächlich dazu, dass Unternehmen mit einem sehr hohen Fremdfinanzierungsanteil wie beispielsweise PrivateEquity Portfolio Unternehmen in vielen Fällen einen Teil ihrer Zinsaufwendungen nicht abziehen können. Dadurch erhöht sich der effektive zahlungswirksame Steuersatz dieser Unternehmen. In vielen Fällen ist auch ein Abzug des Zinsvortrags in folgenden Wirtschaftsjahren nicht zu erwarten, wenn sich die Zinsaufwendungen der Akquisitionsfinanzierung nicht aufgrund von Tilgungen oder Refinanzierungen reduzieren.
5.129 Die von der Zinsschranke betroffenen Zinsaufwendungen sind sämtliche Vergütungen für Fremdkapital, die den maßgeblichen Gewinn gemindert haben. Dazu gehören neben festen und variablen Zinsen auch Vergütungen für partiarische Darlehen, typisch stille Beteiligungen, Genussrechte und Gewinnbeteiligungen sowie Umsatzbeteiligungen. Des Weiteren rechnet die Finanzverwaltung auch Vergütungen zu den Zinsaufwendungen, die nicht als Zins berechnet werden, aber dennoch Vergütungscharakter haben wie beispielsweise ein Damnum, Disagio, Provisionen und Gebühren, die an einen Fremdkapitalgeber gezahlt werden.117
5.130 Da die Abziehbarkeit von Zinsaufwendungen von dem verrechenbaren EBITDA abhängt, hat eine Reduktion des EBITDA auf Grund einer Krisensituation des betreffenden Betriebs auch eine Reduktion des steuerlich abziehbaren Zinsaufwands zur Folge. Die Zinsschranke wirkt daher Krisen verschärfend und kann in Einzelfällen nicht nur zu einer Erhöhung des Zinsvortrags, sondern auch zu Steuerzahlungen führen. Diese Wirkung der Zinsschranke wurde in der Vergangenheit erheblich kritisiert und bisher nicht beseitigt.118 Der BFH hat die Prüfung
117 BMF, Schr. v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2742a/07/10001, BStBl. I 2008, 718, Rz. 11. 118 Vgl. z.B. Prinz, DB 2013, 1571 ff. mit Darstellung der aktuellen Rechtsprechung zur Zinsschranke; Lenz/Dörfler/Adrian, Ubg 2010, 1 ff.; Rödding, DStR 2009, 2649 ff.
398
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.135 Kap. 5
der Verfassungsmäßigkeit der Zinsschranke mit Vorlagebeschluss vom 18.12.2013 dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt.119 Hingegen wurde ein EBITDA-Vortrag eingeführt, der die steuerliche Grenze für den Abzug von Finanzierungskosten in Wirtschaftsjahren ab 2010 erhöht, wenn in Vorjahren der Nettozinsaufwand nicht die Grenze des verrechenbaren EBITDA voll ausschöpfte. So kann der Unterschiedsbetrag zwischen dem verrechenbaren EBITDA und dem Nettozinsaufwand eines Wirtschaftsjahres bis zu maximal fünf Folgejahre vorgetragen werden und das verrechenbare EBITDA und mithin die abzugsfähigen Nettozinsaufwendungen dieser Wirtschaftsjahre erhöhen. Im Jahr 2010 konnte zudem ein fiktiver EBITDA-Vortrag der Wirtschaftsjahre 2007 bis 2009 berücksichtigt werden.
5.131
Eine Ausnahme von der Zinsschranke ist nach § 4h Abs. 2 Satz 1 lit. a EStG für Fälle vorgesehen, in denen der Betrag der Zinsaufwendungen, der den Betrag der Zinserträge übersteigt (Nettozinsaufwand), einen Betrag von 3 Millionen Euro nicht überschreitet. Diese Freigrenze hat die Entlastung des Mittelstands von den Rechtsfolgen der Zinsschranke zum Ziel. Soweit sich im Einzelfall das zu erwerbende Unternehmen in verschiedene selbständige Betriebe aufteilen lässt, kann durch eine entsprechende „Atomisierung“ die steuerliche Abzugsfähigkeit der Zinsaufwendungen erhöht werden. Die Zinsschranke einschließlich ihrer Ausnahmen ist betriebsbezogen anzuwenden.
5.132
Nach § 4h Abs. 2 Satz 1 lit. b EStG besteht ferner eine Ausnahme, wenn der Betrieb nicht oder nur anteilsmäßig zu einem Konzern gehört. Darüber hinaus sieht § 4h Abs. 2 Satz 1 lit. c EStG eine Ausnahme für konzernangehörige Betriebe vor, wenn die Eigenkapitalquote am Stichtag des vorangegangenen Abschlussstichtags gleich hoch oder höher ist als die des Konzerns (Eigenkapitalquotenvergleich). Ein Unterschreiten der Eigenkapitalquote des Konzerns bis zu zwei Prozentpunkte ist hingegen unschädlich.
5.133
Für Zwecke des Eigenkapitalquotenvergleichs ist das Verhältnis des Eigenkapitals zur Bilanzsumme des Konzernabschlusses, der den Betrieb umfasst, mit dem Verhältnis des Eigenkapitals zur Bilanzsumme des Betriebs auf Grundlage dessen Jahresabschlusses zu vergleichen. Dabei sind die hierfür maßgeblichen Abschlüsse gem. § 4h Abs. 2 Satz 8 EStG einheitlich nach den International Financial Reporting Standards (IFRS) zu erstellen. Soweit ein solcher Konzernabschluss nicht erstellt oder veröffentlicht werden muss, können subsidiär auch Abschlüsse nach den Rechnungslegungsvorschriften eines Mitgliedstaates der EU oder nachrangig auch nach den US-GAAP verwendet werden. Des Weiteren sind für den Eigenkapitalquotenvergleich weitere gesetzlich definierte Korrekturen nach § 4h Abs. 2 Satz 4 bis 7 EStG vorzunehmen, um die Abschlüsse einerseits vergleichbar zu machen und andererseits Bilanzgestaltungen auszuschließen.
5.134
Bei Körperschaften oder einer Körperschaft nachgeordneten Personengesellschaften sind ferner die Einschränkungen des § 8a Abs. 2 und 3 KStG zu berücksichtigen, wonach die Ausnahmevorschriften für nicht konzernangehörige Gesellschaften und Konzerngesellschaften nur Anwendung finden, wenn Vergütungen für Fremdkapital, die die nicht konzernangehörige Gesellschaft oder eine der konzernangehörigen Gesellschaften an einen wesentlichen Anteilseigner (zu mehr als 25 % beteiligt), eine diesem nahe stehende Person oder einen rückgriffsberechtigten Dritten leistet, nicht mehr als 10 % des Nettozinsaufwands des
5.135
119 BFH v. 18.12.2013 – I B 85/13, GmbHR 2014, 542 m. Anm. Wiese = DB 2014, 927; dazu Prinz, DB 2014, 1102 f.; München/Mückl, DStR 2014, 1469.
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399
Kap. 5 Rz. 5.136
Steuern
Rechtsträgers i.S.d. § 4h Abs. 3 EStG darstellt und dies entsprechend durch die Gesellschaft nachgewiesen wird.
5.136 Bei Aufgabe oder Übertragung eines Betriebes gehen ein nicht verbrauchter Zinsvortrag sowie ein EBITDA-Vortrag nach § 4h Abs. 5 EStG unter. Ein Erwerb eines Zinsvortrags oder eines EBITDA-Vortrags vom Veräußerer ist im Rahmen eines Asset Deals folglich nicht möglich.
5.137 Die Einkommenserhöhung nach § 4h EStG gilt auch vollumfänglich für die Gewerbesteuer. 5.138 Über die Einschränkungen des § 3c Abs. 2 EStG und des § 4h EStG hinaus wirken sich einkommen- bzw. körperschaftsteuerlich abzugsfähige Zinsaufwendungen für Zwecke der Gewerbesteuer nur zu 75 % gewerbeertragsmindernd aus. Denn nach § 8 Nr. 1 lit. a GewStG unterliegen sämtliche Finanzierungsaufwendungen unabhängig davon, ob die zugrunde liegende Darlehensschuld als Dauerschuld qualifiziert oder nicht, einer Hinzurechnung von 25 %, soweit die Hinzurechnungen insgesamt eine Freigrenze von 100 000 Euro überschreiten. Das Gleiche gilt auch bei Kaufpreiszahlung in Form von Rentenzahlungen nach § 8 Nr. 1 lit. b GewStG oder bei einer Finanzierung durch eine stille Beteiligung gem. § 8 Nr. 1 lit. c GewStG. Die Vereinbarung dieser Regelung mit dem verfassungsrechtlich verbürgten Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit steht zur Zeit vor dem Prüfstand des BVerfG.120 d) Verlustnutzung
5.139 Bei einem Asset Deal gehen weder die einkommen- oder körperschaftsteuerlichen noch die gewerbesteuerlichen Verluste des Veräußerers auf den Erwerber über. Im Hinblick auf die einkommensteuerlichen oder körperschaftsteuerlichen Verluste und Verlustvorträge beruht dies darauf, dass die Verluste mit dem Steuersubjekt, d.h. dem Veräußerer untrennbar verbunden sind. Der gewerbesteuerliche Verlustabzug im Rahmen des § 10a GewStG setzt nach ständiger Rechtsprechung des BFH121 voraus, dass hinsichtlich des verlustverursachenden Betriebs und des verlustnutzenden Betriebs Unternehmens- und Unternehmeridentität besteht. Bei einem Asset Deal entfällt jedoch grundsätzlich die Voraussetzung der Unternehmeridentität. 2. Share Deal bezüglich eines Personengesellschaftsanteils a) Aktivierung und Abschreibung der Anschaffungskosten aa) Gesellschaftsanteil als transparentes Wirtschaftsgut
5.140 Der Anteil an einer Personenhandelsgesellschaft stellt zivilrechtlich einen selbständigen Vermögensgegenstand dar, steuerrechtlich handelt es sich jedoch um den Erwerb eines Anteils an den aktiven und passiven Wirtschaftsgütern der Gesellschaft. Dementsprechend sind wie beim Erwerb eines Einzelunternehmens die Anschaffungskosten, d.h. der Kaufpreis, den verschiedenen Wirtschaftsgütern zuzuordnen. Da die Gesellschaft selbst nicht Vertragspartei, sondern lediglich Gegenstand des Erwerbs ist, kann jedoch grundsätzlich in der Gesamthandsbilanz bzw. in der steuerrechtlichen Hauptbilanz der Gesellschaft aufgrund des Anteilsverkaufs keine Neubewertung stattfinden. 120 Vorlagebeschluss des FG Hamburg v. 29.2.2012 – 1 K 138/10, EFG 2012, 960; Az. beim BVerfG: 1 BvL 8/12. 121 Vgl. BFH v. 3.5.1993 – GrS 3/92, BStBl. II 1993, 616 m.w.N.
400
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.145 Kap. 5
bb) Steuerrechtliche Ergänzungsbilanzen Übersteigt der Kaufpreis das erworbene, anteilige steuerrechtliche Buchvermögen der Hauptbilanz oder liegt es darunter, sind die Unterschiede in positiven oder negativen Ergänzungsbilanzen des erwerbenden Gesellschafters auszuweisen.122 Die positiven Ergänzungsbilanzen enthalten die zusätzlichen Anschaffungskosten der in der steuerlichen Hauptbilanz ausgewiesenen materiellen und immateriellen Wirtschaftsgüter und den Ansatz bisher nicht bilanzierter immaterieller Wirtschaftsgüter. Die negative Ergänzungsbilanz enthält etwaige Minderwerte.
5.141
Nach dem BFH123 sind die in der Ergänzungsbilanz erfassten Anschaffungskosten so fortzuführen, dass der Gesellschafter soweit wie möglich einem Einzelunternehmer gleichgestellt wird, dem Anschaffungskosten für entsprechende Wirtschaftsgüter entstanden sind. Folglich seien Abschreibungen auf die im Zeitpunkt des Erwerbs geltende Restnutzungsdauer der Wirtschaftsgüter vorzunehmen. Die Zusatzabschreibungen in der Ergänzungsbilanz mindern – auch zugunsten der nicht am Erwerb beteiligten Gesellschafter – die Gewerbesteuer der Gesellschaft, die nur über eine Modifizierung der Gewinnverteilungsabrede im Gesellschaftsvertrag zugunsten des Erwerbers berücksichtigt werden können. Bei der Bemessung des Ausgleichsbetrages ist allerdings zu berücksichtigen, dass für die anderen Gesellschafter aus der Minderung des Gewerbeertrags der Mitunternehmerschaft ein entsprechendes Anrechnungspotential i.S.d. § 35 EStG entfällt und sie insoweit einen Nachteil erleiden. Der Vorteil der Gewerbesteuerminderung wird somit gemindert und kann bei bestimmten Fallkonstellationen ganz entfallen.124
5.142
cc) Steuerrechtliche Sonderbilanzen Wirtschaftgüter, die ein Mitunternehmer seiner Personengesellschaft entgeltlich oder unentgeltlich zur Nutzung überlässt, gehören ebenfalls zum steuerlichen Betriebsvermögen des Mitunternehmers und sind in einer Sonderbilanz auszuweisen. Das Gleiche gilt für etwaige Verbindlichkeiten, die der Mitunternehmer zwecks Beteiligung an der Personengesellschaft aufgenommen hat. Dies betrifft insbesondere die Verbindlichkeiten aus der Finanzierung des Erwerbs des Anteils an der Personengesellschaft, die notwendiges Sonderbetriebsvermögen darstellen. Steuerrechtlich sind die Ergänzungsbilanzen strikt von Sonderbilanzen zu trennen, da sie sich unterschiedlich auf den maximalen Verlustausgleich im Rahmen des § 15a EStG auswirken.
5.143
dd) Erlöschen der Gesellschaft durch Anteilserwerb Führt der Erwerb von Gesellschaftsanteilen an einer Personengesellschaft wegen rechtlicher 5.144 Vereinigung aller Anteile in einer Hand (Anwachsung) zur Auflösung der Gesellschaft, wird das Unternehmen vom Erwerber unmittelbar fortgeführt, so dass für den Erwerber hier die gleichen Steuerfolgen wie beim Erwerb der gesamten Aktiva und Passiva gelten. ee) Herauskauf eines lästigen Gesellschafters Wenn Differenzen zwischen den Gesellschaftern bestehen und ein Gesellschafter zum Verlassen der Gesellschaft bewegt werden soll, sind die verbleibenden Gesellschafter oftmals bereit, einen über den betriebswirtschaftlich gerechtfertigten Wert hinausgehenden Kaufpreis zu 122 Vgl. Kahle, FR 2013, 873 ff. 123 BFH v. 20.11.2014 – IV R 1/11, BStBl. II 2017, 34 = GmbHR 2015, 334. 124 Vgl. auch Rödder/Hötzel/Mueller-Thuns, § 27 Rz. 52 ff.
Gröger
401
5.145
Kap. 5 Rz. 5.146
Steuern
entrichten. Dieser Vorgang wird allgemein als Abfindung eines lästigen Gesellschafters bezeichnet. Die entsprechende Zahlung ist als sofortige Betriebsausgabe abzugsfähig, weil sie nicht für den Erwerb eines Wirtschaftsgutes geleistet wird. Praktisch wird die Abzugsfähigkeit nur selten durchzusetzen sein, da der Steuerpflichtige die Lästigkeit des Gesellschafters und die Tatsache nachweisen muss, dass der Kaufpreis jedes betriebswirtschaftlich vernünftige Maß übersteigt.125
5.146 Auch im Rahmen des Erwerbs eines Anteils an einer Personengesellschaft können u.U. Beträge an den Veräußerer entrichtet werden, die nicht nur mit dem Ertragswert des Unternehmens, sondern nur damit begründet werden können, dass ein Wettbewerber vom Markt genommen werden soll. Auch hier kommt (teilweise) die Behandlung als sofort abziehbare Betriebsausgaben und nicht als aktivierungspflichtige Aufwendungen auf einen Firmenwert in Betracht.126 b) Finanzierung des Anteilserwerbs
5.147 Alle mit dem Anteilserwerb zusammenhängenden Aufwendungen, insbesondere Zinsen aus der Akquisitionsfinanzierung, sind grundsätzlich steuerrechtlich abzugsfähig. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die zugrunde liegenden Verpflichtungen bei der Personengesellschaft oder beim erwerbenden Gesellschafter (dies betrifft die Finanzierung bezüglich des Gesellschaftsanteils) angesiedelt sind. Im letzteren Fall handelt es sich um negatives Sonderbetriebsvermögen bzw. um Sonderbetriebsausgaben, die im Rahmen der einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung der Personengesellschaft bei der Ermittlung des auf den Erwerber entfallenden Anteils an den Gesamtbemessungsgrundlagen zu berücksichtigen sind. Eine Ausnahme bilden auch im Falle von Personengesellschaften Aufwendungen, die mit nach § 3 Nr. 40 EStG zu 40 % steuerfreien Einkünften (d.h. Dividendeneinkünften aus Beteiligungen an Kapitalgesellschaften) im Zusammenhang stehen. Diese sind gem. § 3c Abs. 2 EStG auch nur zu 60 % abzugsfähig.
5.148 Unabhängig von der Berücksichtigung der Kosten der Akquisitionsfinanzierung als Sonderbetriebsausgaben kann eine Umschuldung auf die Gesellschaft erwogen werden, um den strukturellen Nachrang der die Akquisitionsfinanzierung gewährenden Bank zu beseitigen. Dies kann beispielsweise dadurch erfolgen, dass die Gesellschaft einen Kredit aufnimmt und der Gesellschafter die Kreditmittel zur Tilgung der Akquisitionsfinanzierung entnimmt; jedoch ist die steuerrechtliche Anerkennung dieser Gestaltung keineswegs ohne Risiko.127 Nach Auffassung der Finanzverwaltung sind insbesondere Darlehen zur Finanzierung einer (Privat-)Entnahme nicht betrieblich veranlasst und begründen daher nicht den Schuldzinsenabzug auf Ebene der Personengesellschaft.128 Darüber hinaus schränkt § 4 Abs. 4a EStG auch den Schuldzinsenabzug einer Personengesellschaft ein, wenn Überentnahmen getätigt 125 BFH v. 12.6.1975 – IV R 129/71, BStBl. II 1975, 807. 126 Vgl. Rödder/Hötzel/Mueller-Thuns, § 27 Rz. 28; BFH v. 25.1.1979 – IV R 21/75, BStBl. II 1979, 369. 127 Ggf. Anwendung der Rechtsprechung zur Finanzierung von Gesellschafterentnahmen zur Tilgung privater Schulden, z.B. BFH v. 5.3.1991 – VIII R 93/84, BStBl. II 1991, 516 = GmbHR 1991, 386; FG Bremen v. 18.8.1992 – II 92 033 K 4, EFG 1993, 139. 128 BMF, Schr. v. 17.11.2005 – IV B 2 - S 2144 – 50/05, BStBl. I 2005, 1019; BFH v. 4.7.1990 – GrS 2/88, GrS 3/88, BStBl. II 1990, 817; BFH v. 8.12.1997 – GrS 1/95, GrS 2/95, BStBl. II 1998, 193; BFH v. 4.3.1998 – XI R 64/95, BStBl. II 1998, 511; BFH v. 19.3.1998 – IV R 110/94, BStBl. II 1998, 513.
402
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.150 Kap. 5
worden sind.129 Als Überentnahme ist hierbei der Betrag zu verstehen, um den die Entnahmen die Summe des Gewinns und der Einlagen des Wirtschaftsjahres übersteigen. Die nicht abziehbaren Schuldzinsen betragen typisiert 6 % der Überentnahme des Wirtschaftsjahres zzgl. der Überentnahmen der vorangegangen Wirtschaftsjahre und abzgl. der sog. Unterentnahmen, d.h. der Beträge, um die in vorangegangenen Wirtschaftsjahren der Gewinn und die Einlagen die Entnahmen überstiegen haben. Nach § 4 Abs. 4a Satz 5 EStG bleibt jedoch der Abzug von Schuldzinsen für Darlehen zur Finanzierung von Anschaffungs- und Herstellungskosten von Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens unberührt. Dies gilt entsprechend für Darlehen, die zur Finanzierung eines Asset Deals aufgenommen worden sind, aber auch für Darlehen im Sonderbetriebsvermögen des Gesellschafters zur Finanzierung des Erwerbs eines Mitunternehmeranteils, soweit es auf die Finanzierung von anteilig erworbenen Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens entfällt. Bei einer Refinanzierung der Gesellschaftereinlage oder des Kaufpreises des Mitunternehmeranteils mit einem einheitlichen Darlehen sind die Schuldzinsen im Verhältnis der Teilwerte der anteilig erworbenen Wirtschaftsgüter aufzuteilen.130 Bei der Frage, ob eine Überentnahme vorliegt, ist jedoch auch das Ergänzungsbilanzkapital zu berücksichtigen, so dass eine Refinanzierung des Kaufpreises im Allgemeinen nicht zu einer Überentnahme führen sollte, wenn die Refinanzierung zeitnah nach dem Erwerb getätigt wird. Da die Zinsschranke nach § 4h EStG betriebsbezogen anzuwenden ist, findet sie auch auf den Betrieb von Personengesellschaften Anwendung. Zum Betrieb einer Personengesellschaft gehört neben dem Gesamthandsvermögen auch das in Ergänzungsbilanzen und Sonderbilanzen ausgewiesene Vermögen. Folglich ist die in der Sonderbilanz ausgewiesene Akquisitionsfinanzierung bei der Ermittlung einer Abzugsbeschränkung für Zinsen des Betriebs der Personengesellschaft zu berücksichtigen. Die Zinsaufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung sind daher nur unter Berücksichtigung der Vorschriften des § 4h EStG in Bezug auf den Betrieb der Personengesellschaft abziehbar, d.h. im Rahmen des verrechenbaren EBITDA der Personengesellschaft unter Berücksichtigung der Aufwendungen und Erträge in der Sonder- und der Ergänzungsbilanz. Hiernach – auch unter Berücksichtigung etwaig bestehender EBITDA-Vorträge – nicht abziehbare Zinsaufwendungen sind nach Auffassung der Finanzverwaltung den Gesellschaftern auch dann nach dem Gewinnverteilungsschlüssel zuzurechnen, wenn es sich um Zinsaufwendungen aus dem Sonderbetriebsvermögensbereich eines Gesellschafters handelt.131 Es ist zu vermuten, dass die Finanzverwaltung dieselbe Auffassung auch in Bezug auf EBITDA-Vorträge vertreten wird. Diese Auffassung führt allerdings zu weiteren verursachungsunabhängigen Effekten bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens von Personengesellschaften und der an ihr beteiligten Gesellschafter. Aufgrund der Komplexität, die eine diesbezügliche Ausgleichsregelung bei der Gewinnverteilung der Personengesellschaft besitzen würde, wird in der Praxis auf einen entsprechenden Ausgleich insoweit meist verzichtet werden.
5.149
Scheidet ein Gesellschafter aus einer Personengesellschaft aus, gehen ein Zinsvortrag und ein EBITDA-Vortrag nach § 4h Abs. 5 Satz 2 EStG anteilig mit der Quote unter, mit der der ausgeschiedene Gesellschafter an der Gesellschaft beteiligt war. Folglich ist es auch bei dem Erwerb eines Anteils an einer Personengesellschaft nicht möglich, den Zinsvortrag des Veräußerers auf den Erwerber zu übertragen.
5.150
129 Zur Verfassungsmäßigkeit des § 4 Abs. 4a EStG: BFH v. 22.12.2011 – II R 99/07, BFH/NV 2012, 729; BFH v. 23.3.2011 – X R 28/09, BStBl. 2011, 753. 130 BMF, Schr. v. 7.8.2008 – IV B 2 - S 2144/07/0001, BStBl. I 2008, 588. 131 BMF, Schr. v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2742a/07/10001, BStBl. I 2008, 718, Rz. 51.
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403
Kap. 5 Rz. 5.151
Steuern
5.151 Die einkommen- bzw. körperschaftsteuerlich abzugsfähigen Zinsaufwendungen der Personengesellschaft sind für Zwecke der Gewerbesteuer grundsätzlich zu 75 % absetzbar (§ 8 Nr. 1 GewStG). c) Verlustnutzung
5.152 Auch beim Erwerb eines Anteils an einer Personengesellschaft gehen die einkommen- oder körperschaftsteuerlichen Verluste des Veräußerers nicht auf den Erwerber über, weil die Verluste mit dem Steuersubjekt, d.h. dem Veräußerer untrennbar verbunden sind. Dies gilt auch für verrechenbare Verluste nach § 15a EStG.
5.153 Der gewerbesteuerliche Verlustabzug im Rahmen des § 10a GewStG auf Ebene der Personengesellschaft setzt ebenfalls voraus, dass hinsichtlich des Betriebs der Personengesellschaft Unternehmens- und Unternehmeridentität besteht. Da nach der Rechtsprechung des BFH132 bei einer Personengesellschaft die Gesellschafter als Unternehmer betrachtet werden, erfolgt bei einem Erwerb eines Anteils an einer Personengesellschaft ein (partieller) Unternehmerwechsel. Folglich gehen gewerbesteuerliche Verlustvorträge insoweit unter, als durch diese Transaktion Unternehmeridentität nicht mehr besteht. Dabei ist auf den unmittelbaren Gesellschafter abzustellen, so dass in Fällen einer doppelstöckigen Personengesellschaft ein Unternehmerwechsel bei der Obergesellschaft nicht zugleich einen Unternehmerwechsel bei der Untergesellschaft mit sich bringt.133
5.154 Veräußert ein Gesellschafter einer Personengesellschaft seinen Anteil an der Personengesellschaft an einen Dritten, so entfällt der Verlustabzug nach § 10a GewStG mit der Quote, mit der der Gesellschafter im Erhebungszeitraum der Verlustentstehung gemäß Gewinnverteilungsschlüssel an dem negativen Gewerbeertrag beteiligt war.134 Nach dem Erwerb des Anteils an der Personengesellschaft ist der vor der Veräußerung entstandene und nicht auf Grund des Ausscheidens des Veräußerers untergegangene Fehlbetrag nach § 10a GewStG nur insoweit abziehbar, als der Gewerbeertrag auf Gesellschafter entfällt, die bereits vor der Veräußerung beteiligt waren.135 Soweit die Gewinnverteilungsabrede im Gesellschaftsvertrag der Personengesellschaft keine Sonderregelung hierfür vorsieht, kommt diese Entlastung von Gewerbesteuer durch die Verrechnung von Verlusten der verbleibenden Gesellschafter der Personengesellschaft sämtlichen Gesellschaftern gemäß ihrem Gewinnverteilungsschlüssel zugute. 3. Share Deal bezüglich eines Kapitalgesellschaftsanteils a) Abschreibung des Kaufpreises
5.155 Gleichgültig, ob sie im Betriebs- oder Privatvermögen gehalten werden, sind die Anschaffungskosten der erworbenen Anteile an einer Kapitalgesellschaft einer planmäßigen Abschreibung nicht zugänglich. Daher ist es beim Erwerb von Anteilen an Kapitalgesellschaften umso wichtiger festzustellen, welche mit der Anschaffung verbundenen Kosten wie Beratungskosten und Due Diligence Kosten als Anschaffungsnebenkosten zu aktivieren und welche dieser Kosten sofort abzugsfähig sind. Nach Auffassung des BFH stellen Kosten, die 132 So BFH v. 3.5.1993 – GrS 3/92, BStBl. II 1993, 616; R 10a.3 Abs. 3 Satz 1 GewStR 2009; BFH v. 3.5.1993 – GrS 3/92, BStBl. II 1993, 616. 133 Vgl. R 10a.3 Abs. 3 Satz 9 Nr. 8 GewStR 2009. 134 BFH v. 14.12.1989 – IV R 117/88, BStBl. II 1990, 436. 135 BFH v. 3.5.1993 – GrS 3/92, BStBl. II 1993, 616.
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.160 Kap. 5
nach dem grundsätzlichen Entschluss zum Erwerb des Unternehmens angefallen sind, Anschaffungsnebenkosten dar.136 Allerdings ist im Einzelfall zu prüfen, wann die grundsätzliche Erwerbsentscheidung gefallen ist.137 Die gesonderte Aktivierung eines miterworbenen Gewinnbezugsrechts, gegen das der an den Anteilserwerber ausgeschüttete Gewinn verrechnet werden könnte, hat der BFH138 abgelehnt.
5.156
Bei Erwerb eines Anteils an einer Kapitalgesellschaft gegen Zuzahlung des Veräußerers, was beispielsweise im Falle eines Erwerbs einer überschuldeten Gesellschaft veranlasst sein kann, ist ein passiver Ausgleichsposten zu bilden. Dieser ist grundsätzlich erfolgswirksam aufzulösen, wenn ein Realisationstatbestand vorliegt, d.h. wenn die Beteiligung ihrerseits wieder veräußert oder liquidiert wird.139
5.157
b) Finanzierung des Anteilserwerbs aa) Erwerb durch Körperschaften Beziehen Körperschaften Bezüge i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1, 2, 9 und 10 lit. a EStG (insbesondere Dividenden) aus einer Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft, an der sie seit Beginn des Kalenderjahrs unmittelbar zu mindestens 10 % am Grund- oder Stammkapital beteiligt sind, bleiben diese gem. § 8b Abs. 1 KStG bei der Ermittlung des Einkommens für Zwecke der Körperschaftsteuer außer Ansatz. Dies gilt gem. § 8b Abs. 6 KStG ebenso für Bezüge, die mittelbar über eine Mitunternehmerschaft bezogen werden. § 8b KStG gilt ferner auch für die Gewerbesteuer.
5.158
Unabhängig von den tatsächlich angefallenen Betriebsausgaben erfolgt die Ermittlung der mit den Einkünften nach § 8b Abs. 1 KStG in unmittelbarem Zusammenhang stehenden und daher nicht abziehbaren Betriebsausgaben gem. § 8b Abs. 5 KStG pauschal i.H.v. 5 % der empfangenen Dividende. Damit sind Dividenden nur zu 95 % steuerfrei (ebenso wie Veräußerungsgewinne von Kapitalgesellschaftsanteilen gem. § 8b Abs. 2 und 3 KStG). Daneben sind Betriebsausgaben, d.h. insbesondere die Kosten der Akquisitionsfinanzierung vollumfänglich abziehbar. Wenn jedoch eine Akquisitionsgesellschaft ohne weitere Einkünfte nur zu 95 % steuerfreie Dividendenerträge aus der Zielgesellschaft erzielt, geht der Betriebsausgabenabzug ins Leere und führt nur zur Entstehung von Zinsvorträgen als Folge der Zinsschranke oder zu Verlustvorträgen, die strukturbedingt nicht genutzt werden können.
5.159
Ist eine Körperschaft zu Beginn des Kalenderjahrs unmittelbar zu weniger als 10 % an dem 5.160 Grund- oder Stammkapital einer Kapitalgesellschaft beteiligt, sind die o.g. Bezüge nach § 20 EStG steuerpflichtig (§ 8b Abs. 4 KStG). Folglich besteht auch keine Beschränkung des Abzugs von Betriebsausgaben, d.h. auch des Abzugs von Aufwendungen der Akquisitionsfinanzierung. 136 BFH v. 27.3.2007 – VIII R 62/05, BStBl. II 2010, 159 = GmbHR 2007, 780 m. Anm. Hoffmann. 137 Vgl. Hierzu Kahle/Hiller, DB 2014, 500 (502 ff.). 138 BFH v. 21.5.1986 – I R 190/81, BStBl. II 1986, 815 = GmbHR 1986, 326; BFH v. 21.5.1986 – I R 199/84, BStBl. II 1986, 794 = GmbHR 1986, 329; BFH v. 21.5.1986 – I R 362/83, BFHE 147, 37 = GmbHR 1986, 328. 139 BFH v. 26.4.2006 – I R 49, 50/04, BStBl. II 2006, 656 = GmbHR 2006, 891; Schulze-Osterloh, BB 2006, 1955.
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Kap. 5 Rz. 5.161
Steuern
5.161 Die Zinsschranke nach § 4h EStG limitiert die Abziehbarkeit von Zinsaufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung. Abzustellen ist hierbei auf den Betrieb der Akquisitionsgesellschaft, nicht auf die erworbene Gesellschaft, die einen eigenen Betrieb unterhält. Die Zinsschranke begrenzt den Abzug der Nettozinsaufwendungen bei einer Körperschaft nach § 8a Abs. 1 Satz 1 KStG i.V.m. § 4h EStG ebenfalls in Höhe des verrechenbaren EBITDA (zu den Einzelheiten der Zinsschranke s. Rz. 5.81 ff.; Rz. 5.127 ff.). Das maßgebliche Einkommen für die Ermittlung des verrechenbaren EBITDA stellt das nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes und des Körperschaftsteuergesetzes ermittelte Einkommen mit Ausnahme der §§ 4h und 10d EStG und § 9 Abs. 1 Satz 2 KStG dar. Soweit die Akquisitionsgesellschaft steuerfreie Einkünfte aus Dividenden von Kapitalgesellschaften erzielt, ist das steuerliche EBITDA ebenfalls um diese steuerfreien Beträge gemindert und im Allgemeinen nicht ausreichend, um eine volle Abziehbarkeit der Zinsaufwendungen zu gewährleisten. Diese Situation ist bei Holdinggesellschaften und reinen Akquisitionsgesellschaften anzutreffen und erfordert weitere post-akquisitorische Umstrukturierungen, um die steuerliche Abziehbarkeit von Zinsaufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung herzustellen oder zumindest zu optimieren. Solche Umstrukturierungen können z.B. eine Verschmelzung der erworbenen Gesellschaft auf die Akquisitionsgesellschaft (oder umgekehrt) sein oder die Begründung einer Organschaft, da der Organkreis für Zwecke der Zinsschranke als ein Betrieb gilt.140
5.162 Soweit die Akquisitionsgesellschaft oder der Organkreis, d.h. der Betrieb, der die Akquisitionsgesellschaft umfasst, ein konzernangehöriger Betrieb ist, stellt sich die Frage, ob die Ausnahme für konzernangehörige Gesellschaften nach § 4h Abs. 2 Satz 1 lit. c EStG vorliegen könnte. Dies setzt einen Eigenkapitalquotenvergleich zwischen dem Betrieb und dem Konzern nach den ausführlichen, aber durchaus interpretationsbedürftigen Vorschriften des § 4h Abs. 2 Sätze 3 bis 15 EStG voraus. Des Weiteren ist nach § 8a Abs. 3 KStG erforderlich, dass die Vergütungen für Fremdkapital der Körperschaft oder eines anderen demselben Konzern angehörigen Rechtsträgers an einen wesentlichen Anteilseigner (zu mehr als 25 % unmittelbar oder mittelbar am Kapital der Gesellschaft beteiligt), eine diesem nahe stehende Person oder einen rückgriffsberechtigten Dritten nachweislich nicht mehr als 10 % der Nettozinsaufwendungen des Rechtsträgers i.S.d. § 4h Abs. 3 EStG betragen. Da es hierbei auf jede konzernangehörige Gesellschaft ankommt, nicht jedoch darauf, dass sie in Deutschland steuerpflichtig ist, ist dieser Nachweis für jede, auch im Ausland ansässige Konzerngesellschaft zu führen. Ob der Steuerpflichtige diesen Nachweis führen und damit die Ausnahmevorschrift anwenden kann, hängt folglich von der Größe und der Internationalität des Konzerns ab. Rechtsunsicherheit besteht auch in Bezug auf die relevante Vergleichsgröße. Einerseits wird vertreten, dass es sich auf Grundlage einer Wortlautauslegung um dieselbe Gesellschaft handeln muss, die auch die Finanzierung durch den wesentlichen Anteilseigner bzw. der diesem nahestehenden Person oder den rückgriffsberechtigten Dritten erhalten hat.141 Andererseits wird der Verweis auf § 4h Abs. 3 EStG zum Anlass genommen, die relevante Vergleichsgröße als den von § 4h EStG betroffenen Rechtsträger zu interpretieren, da nur insoweit Gestaltungen erfasst werden, in denen Finanzierungen eines wesentlichen Anteilseigners bzw. der diesem nahestehenden Person oder des rückgriffsberechtigten Dritten, die über eine ausländische Konzerngesellschaft an den inländischen Betrieb weitergeleitet werden mit der Folge, dass der Eigenkapitalquotenvergleich gerade im Hinblick auf diese schädliche Finanzierung zustande
140 BMF, Schr. v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2742a/07/10001, BStBl. I 2008, 718, Rz. 10. 141 Möhlenbrock/Pung in Dötsch/Pung/Möhlenbrock, § 8a KStG Rz. 169.
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.167 Kap. 5
kommt.142 In letzterem Sinne hat auch der BFH in einem rein inländischen Fall die maßgebliche Vergleichsgröße erkannt.143 bb) Erwerb durch natürliche Personen Hält eine natürliche Person einen Anteil an einer Kapitalgesellschaft im Betriebsvermögen, ist zu beachten, dass § 3 Nr. 40 Satz 1 lit. d und e EStG eine 40%ige Steuerfreistellung der Bezüge i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 9 EStG (Dividenden) vorsieht. § 3c Abs. 2 EStG versagt entsprechend den Abzug der eventuellen Betriebsvermögensminderung, Betriebsausgaben, Veräußerungskosten oder Werbungskosten (mithin auch Finanzierungskosten), die mit den begünstigten Einnahmen wirtschaftlich zusammenhängen, zu 40 %. Anders als in § 3c Abs. 1 EStG wird ein unmittelbarer wirtschaftlicher Zusammenhang nicht gefordert. Vielmehr hebt § 3c Abs. 2 EStG explizit hervor, dass die Einschränkung unabhängig davon gilt, in welchem Veranlagungszeitraum die Einnahmen anfallen.
5.163
Soweit die Anteile in einem Betrieb gehalten werden, können auch die Beschränkungen des steuerlichen Abzugs von Zinsaufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung durch die Zinsschranke nach § 4h EStG Anwendung finden.
5.164
Hält eine natürliche Person einen Anteil an einer Kapitalgesellschaft im Privatvermögen, unterliegen die Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 1 und 2 EStG grundsätzlich dem Abgeltungsteuersystem. Nach § 20 Abs. 8 EStG ist der Abzug von tatsächlichen Werbungskosten, die mit diesen Einkünften in Zusammenhang stehen, außerhalb des Werbungskostenpauschbetrags ausgeschlossen. Eine steuerliche Geltendmachung von tatsächlichen Finanzierungsaufwendungen ist folglich nicht möglich. Diesem Nachteil steht jedoch der gesonderte Steuertarif i.H.v. 25 % zzgl. Solidaritätszuschlags nach § 32d EStG gegenüber.
5.165
Nach § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG besteht auf Antrag für Steuerpflichtige, die im Veranlagungs- 5.166 zeitraum, für den der Antrag erstmals gestellt wird, unmittelbar oder mittelbar entweder zu mindestens 25 % an der Kapitalgesellschaft beteiligt sind oder zu mindestens 1 % an der Kapitalgesellschaft beteiligt und beruflich für diese tätig sind (betriebliche Beteiligungen), die Möglichkeit, auf die Anwendung des Abgeltungsteuersystems für mindestens fünf Veranlagungszeiträume zu verzichten und nach dem Teileinkünfteverfahren besteuert zu werden. Dies ermöglicht insbesondere den limitierten Abzug von Finanzierungskosten144 und ist daher in den Fällen interessant, in denen die Beteiligung mit erheblichem Fremdkapital erworben worden ist, substantielle Dividendenausschüttungen jedoch nicht zu erwarten sind. c) Nutzung von Verlustvorträgen der erworbenen Gesellschaft Nach § 8c KStG gehen die Verlustvorträge, laufende Verluste und negative Einkünfte ebenso wie Zinsvorträge der erworbenen Kapitalgesellschaft grundsätzlich pro rata unter, wenn mehr als 25 % bis maximal 50 % des Stammkapitals oder der Stimm- oder Mitgliedschaftsrechte auf einen Erwerber oder eine Erwerbergruppe übertragen werden. Werden mehr als 50 % des Stammkapitals bzw. der Stimm- oder Mitgliedschaftsrechte an einen Erwerber oder eine Er-
142 Herzberg, GmbHR 2009, 367 (370); Brunsbach/Syré, IStR 2008, 157 (163). 143 BFH v. 11.11.2015 – I R 57/13, BStBl. II 2017, 319 = GmbHR 2016, 380 m. Anm. Wiese. 144 Weber-Grellet in Schmidt, § 32d EStG Rz. 12.
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5.167
Kap. 5 Rz. 5.168
Steuern
werbergruppe übertragen, gehen die Verlustvorträge und laufenden Verluste vollständig unter. Für Beteiligungserwerbe ab dem 1.1.2010 gelten diese Bestimmungen jedoch nur, soweit die nicht abziehbaren Verluste und Verlustvorträge die im Inland steuerpflichtigen stillen Reserven übersteigen (§ 8c Abs. 1 Satz 6 und 7 KStG). Als stille Reserven soll hierbei der Unterschiedsbetrag zwischen dem (anteiligen) in der steuerlichen Gewinnermittlung ausgewiesenen Eigenkapital und dem auf dieses Eigenkapital jeweils entfallenden gemeinen Wert der Anteile an der Körperschaft zu verstehen sein, soweit diese im Inland steuerpflichtig sind. Ist jedoch das Eigenkapital der Körperschaft negativ, sind die stillen Reserven nach § 8c Abs. 1 Satz 8 KStG als Unterschiedsbetrag zwischen dem (anteiligen) in der steuerlichen Gewinnermittlung ausgewiesenen Eigenkapital und dem diesem Anteil entsprechenden gemeinen Wert des Betriebsvermögens zu ermitteln. Dabei ist nach § 8c Abs. 1 Satz 9 KStG auf das Betriebsvermögen im Zeitpunkt der Anteilsübertragung ohne Berücksichtigung von rückwirkenden Reorganisationen, insbesondere unter Anwendung des § 2 Abs. 1 UmwStG abzustellen. Eine Nutzung von darüber hinausgehenden Verlustvorträgen, laufenden Verlusten und Zinsvorträgen, die die Gesellschaft vor der Veräußerung generiert hat, ist insoweit folglich nur noch (anteilig) möglich, wenn Minderheitsbeteiligungen an einen Erwerber bzw. Erwerbergruppe übertragen werden.
5.168 Nach der Konzernklausel liegt ein schädlicher Beteiligungserwerb nach § 8c Abs. 1 Satz 5 KStG nicht vor, wenn an dem übertragenden Rechtsträger der Erwerber oder an dem übernehmenden Rechtsträger der Veräußerer oder an dem übertragenden und übernehmenden Rechtsträger dieselbe Person zu jeweils 100 % mittelbar oder unmittelbar beteiligt ist. Als Erwerber, Veräußerer oder Person im Sinne dieser Vorschrift gelten natürliche und juristische Personen sowie Personenhandelsgesellschaften.
5.169 Im Hinblick auf das beim BVerfG anhängige Verfahren zur Verfassungswidrigkeit von § 8c Satz 2 KStG a.F. (s. dazu Rz. 5.75) ist anzuraten, die Veranlagungszeiträume, in denen ein Verlustuntergang nach § 8c Abs. 1 KStG erfolgt, bis zu einer Entscheidung des BVerfG offenzuhalten.
5.170 Die Anwendung von § 8c Abs. 1 KStG kann bei Anteilserwerben nach dem 31.12.2015 zudem in speziellen Einzelfällen auf Antrag nach § 8d KStG für sog. „fortführungsgebundene Verluste“ vermieden werden (s. dazu Rz. 5.79).
5.171 Steuerrechtliche Verlustvorträge der erworbenen Gesellschaft, die nach der Transaktion noch bestehen, sind grundsätzlich nach gegenwärtigem Recht an diese gebunden und können vom Erwerber nur in der Weise genutzt werden, dass er steuerneutral unter Buchwertfortführung gewinnbringende Aktivitäten oder ertragreiche Beteiligungen auf die erworbene Gesellschaft überträgt.145 Dies gilt jedoch nicht für den „fortführungsgebunden Verlust“ nach § 8d KStG, der nur mit dem Einkommen des Geschäftsbetriebs verrechnet werden kann, der auch den Verlust generiert hat.
145 Vgl. BFH v. 18.12.2013 – I R 25/12, GmbHR 2014, 605 = BFH/NV 2014, 904; s. auch Ott, Stbg 2014, 250 ff.
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.175 Kap. 5
II. Steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten 1. Abschreibung der Anschaffungskosten a) Abschreibung der Anschaffungskosten im Fall eines Asset Deals Im Fall eines Asset Deals und auch im Fall des Erwerbs eines Personengesellschaftsanteils werden die erworbenen Wirtschaftsgüter grundsätzlich mit ihren Anschaffungskosten angesetzt und abgeschrieben (s. dazu Rz. 5.108 ff.). Die Allokation des Gesamtkaufpreises auf die einzelnen Wirtschaftsgüter erfolgt – soweit keine vertraglichen Vereinbarungen in einer interessengegensätzlichen Verhandlung dazu getroffen worden sind – nach der sog. modifizierten Stufentheorie in der Weise, dass zunächst die materiellen und immateriellen Wirtschaftsgüter bis zu ihren Teilwerten aufgestockt werden und eine darüber hinaus verbleibende Residualgröße grundsätzlich als Firmenwert zu berücksichtigen ist. Wird ein Anteil an einer Personengesellschaft erworben, erfolgt die Aufstockung der Wirtschaftsgüter bzw. der Ansatz von immateriellen Wirtschaftsgütern und eines Firmenwerts in der Ergänzungsbilanz des Erwerbers.
5.172
Aus steuerlicher Sicht sollte die Abschreibung der Anschaffungskosten möglichst unmittelbar und zeitnah erfolgen, um den Barwert des Steuervorteils aus den Abschreibungen zu maximieren. Daher hat der Erwerber grundsätzlich ein Interesse daran, die Anschaffungskosten auf abschreibbare Wirtschaftsgüter zu allokieren. Auf welche abschreibbaren Wirtschaftsgüter die Anschaffungskosten jedoch vorzugsweise allokiert werden sollten, hängt vom Einzelfall ab. Hierfür muss nämlich festgestellt werden, wie hoch die Abschreibungen sein können, um das Einkommen unmittelbar zu entlasten, ohne dass ein Verlustvortrag entsteht, der nur im Rahmen der Mindestbesteuerung mit zukünftigem zu versteuernden Einkommen verrechnet werden kann. Ob folglich eine Allokation der Anschaffungskosten auf Wirtschaftsgüter mit kurzer Abschreibungsdauer oder mit einer längeren Abschreibungsdauer zielführend ist, kann nur durch eine Steuerplanungsrechnung ermittelt werden.
5.173
Grundsätzlich steht die Bewertung eines Wirtschaftsgutes jedoch nicht im Ermessen des Steuerpflichtigen, sondern ist im Allgemeinen durch ein Bewertungsgutachten zu dokumentieren. Eine Vereinbarung eines Kaufpreises für einzelne Wirtschaftsgüter im Rahmen des Unternehmenskaufvertrages für einen Asset Deal wird als Maßstab für die zutreffende Kaufpreisallokation nur anerkannt, wenn hinsichtlich der Kaufpreisallokation ein für eine kontroverse Verhandlungssituation erforderlicher Interessengegensatz zwischen Veräußerer und Erwerber besteht.146 Sind die Teilwerte der betreffenden Wirtschaftsgüter ermittelt, ist der Kaufpreis grundsätzlich auf sämtliche Wirtschaftsgüter, einschließlich der vom Veräußerer selbstgeschaffenen immateriellen Wirtschaftsgüter zu verteilen. Die unterschiedlichen Wirkungsweisen der Allokation des Gesamtkaufpreises nach der Drei-Stufen-Theorie oder nach der modifizierten Stufentheorie bzw. nach dem Verhältnis der Teilwerte oder dem Verhältnis der stillen Reserven führt nur zu entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten, wenn mit dem Kaufpreis nicht sämtliche stille Reserven einschließlich Firmenwert vergütet worden sind.
5.174
Auch wenn insofern wenig Gestaltungsmöglichkeit in Bezug auf die zutreffende Kaufpreisallokation der Höhe nach bestehen dürfte, können jedoch steuerlich vorteilhafte Effekte
5.175
146 BFH v. 5.8.1970 – I R 180/66, BStBl. II 1970, 804; BFH v. 12.6.1978 – GrS 1/77, BStBl. II 1978, 625; BFH v. 23.2.1984 – IV R 128/81, BStBl. II 1984, 516; BFH v. 17.9.1987 – III R 272/83, BStBl. II 1988, 441; vgl. aber FG Rheinland-Pfalz v. 23.2.2011 – 2 K 1903/09, EFG 2012, 63 (rkr.); Niedersächsiches FG v. 19.6.2013 – 4 K 12052/07 (n. rkr.).
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Kap. 5 Rz. 5.176
Steuern
durch die Identifikation von immateriellen Wirtschaftsgütern erreicht werden. Denn vom Veräußerer selbst geschaffene immaterielle Wirtschaftsgüter besitzen vielfach eine kürzere Abschreibungsdauer als die Residualgröße „Firmenwert“, die nach § 7 Abs. 1 Satz 5 EStG über 15 Jahre abzuschreiben ist. Solche immaterielle Wirtschaftsgüter sind beispielsweise der Auftragsbestand, vorteilhafte Vertragsverhältnisse, Patente, Erfindungen, Rezepte, Kundenstamm, Alleinvertriebsrechte, Belieferungsrechte und bestimmte Erlaubnisse. Ob ein vereinbartes Wettbewerbsverbot ein selbständig zu aktivierendes Wirtschaftsgut darstellt, hängt davon ab, ob ihm eine eigenständige wirtschaftliche Bedeutung zukommt.147
5.176 Eine weitere Möglichkeit der Optimierung der Kaufpreisallokation ist die Identifikation von geringwertigen Wirtschaftsgütern, da die Sofortabschreibung dieser Wirtschaftsgüter nach § 6 Abs. 2 EStG nicht den Erwerb neuwertiger Wirtschaftsgüter voraussetzt. Gerade in Branchen, die umfangreiche Bestände von geringwertigen Wirtschaftsgütern vorhalten (z.B. Abfallbehälter, Getränkekästen, Paletten, Videokassetten etc.), kann durch Allokation des Kaufpreises auf diese beim Veräußerer nicht (mehr) bilanzierten Wirtschaftsgüter eine Vollabschreibung der Anschaffungskosten nach § 6 Abs. 2 EStG bereits im Jahr des Erwerbs erfolgen.148
5.177 Im Falle des Erwerbs eines Anteils an einer Personengesellschaft ist jedoch zu berücksichtigen, dass die zusätzlichen Abschreibungen auf Anschaffungskosten des Erwerbers in der Ergänzungsbilanz gewerbesteuerlich allen Gesellschaftern der Personengesellschaft zugute kommen. Insofern könnte sich die Frage stellen, ob für die entsprechende Gewerbesteuerminderung der Mitgesellschafter im Rahmen der Gewinnverteilungsabrede der Personengesellschaft ein Ausgleich für den Erwerber berücksichtigt werden sollte. Ob bei dem Mitgesellschafter hieraus tatsächlich ein Steuervorteil entsteht, lässt sich jedoch nur unter Berücksichtigung der hierdurch ggf. entstehenden Minderung des Anrechnungspotentials nach § 35 EStG beantworten. Aus diesem Grunde lässt sich ein etwaig auszugleichender Steuervorteil nur sehr individuell ermitteln, was in der Praxis zur Folge hat, dass die Gewinnverteilungsabrede nur die verursachungsgerechte Allokation der Gewerbesteuer, nicht aber den Ausgleich eines individuellen Steuervorteils zum Ziel hat. b) Abschreibung der Anschaffungskosten im Fall eines Share Deals
5.178 Trotz des Umstandes, dass Anteile an einer Kapitalgesellschaft einer planmäßigen Abschreibung nicht zugänglich sind, bot das bis zum 31.12.2001 geltende körperschaftsteuerliche Anrechnungssystem und das Umwandlungssteuergesetz 1995 die Möglichkeit, durch geeignete Gestaltungsmaßnahmen eine Abschreibung des Kaufpreises für den Anteilserwerb zu erreichen. In der Praxis stellten vornehmlich das sog. „Kombinationsmodell“149 (konzerninterner Asset Deal mit anschließender steuerwirksamer Teilwertabschreibung), das „Mitunternehmermodell“150 (Ausgliederung in eine Personengesellschaft und anschließende gewerbesteuerfreie Veräußerung der Anteile an der Personengesellschaft sowie steuerwirksame Teilwertabschreibung) sowie das „Umwandlungs- bzw. step-up-Modell“ (Umwandlung in eine Personengesellschaft) geeignete post-akquisitorische Maßnahmen zur steuerfreien Ge-
147 BFH v. 23.2.1999 – IX R 86/95, BStBl. II 1999, 590 = GmbHR 1999, 871; vgl. auch Köhler/Hartmann, IStR 2001, 560. 148 FG München v. 28.9.2005 – 9 K 4501/03, rkr. 149 Vgl. Koenen, DB 1993, 2541; Rödder/Hötzel, FR 1994, 285. 150 Vgl. Blumers/Beinert, DB 1997, 1636.
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.180 Kap. 5
nerierung von Abschreibungspotential dar.151 Mit der Änderung des Körperschaftsteuerrechts und des Umwandlungssteuerrechts im Zuge der Abschaffung des körperschaftsteuerlichen Anrechnungsverfahrens führen jedoch diese Gestaltungsmöglichkeiten nicht mehr zur Erzielung von Abschreibungspotential. Nur noch in besonderen Einzelfällen lassen sich gegenwärtig durch interne Unternehmens- 5.179 verkäufe noch Step-up-Vorteile erzielen. Da ab 2010 nach § 8c KStG Verlustvorträge und laufende Verluste nur insoweit ersatzlos untergehen, als sie die im Inland steuerpflichtigen stillen Reserven in den Wirtschaftsgütern übersteigen, wenn mehr als 50 % der Anteile an einer Kapitalgesellschaft an einen Erwerber übertragen werden, kann ein auf Grund eines postakquisitorischen internen Unternehmensverkaufs in Form eines Asset Deals entstehender Veräußerungsgewinn zwar grundsätzlich mit bestehenden Verlusten der Zielgesellschaft neutralisiert werden. Die Vermeidung einer Steuerzahllast auf den Veräußerungsgewinn hängt jedoch von dem Bestand von laufenden Verlusten und Verlustvorträgen sowie von der Einschränkung der vollumfänglichen Verrechnung von Verlustvorträgen i.H.v. 1 Million Euro auf Grund der Mindestbesteuerung ab. Ob die Aufstockung und Abschreibung der Wirtschaftsgüter gegenüber einer unmittelbaren Verlustvortragsverrechnung vorteilhaft ist, ist auch individuell auf Grundlage eines Steuerplanungsmodells zu ermitteln. Soweit hiernach ein steuerneutraler Step-up im Wege eines konzerninternen post-akquisitorischen Asset Deals nicht möglich ist, sollte lediglich das „Organschaftsmodell“ unter spezifischen Umständen noch einen Steuervorteil aus einem post-akquisitorischen Step-up-Modell generieren können. Nach diesem Modell erfolgt der Erwerb der Ziel-Kapitalgesellschaft mittelbar durch die Zwischenschaltung einer Erwerbs-Objektgesellschaft. Zwischen diesen Gesellschaften wird ein Ergebnisabführungsvertrag geschlossen. Anschließend verkauft die Zielgesellschaft einzelne Wirtschaftsgüter152 an die Objektgesellschaft, die letztere abschreiben kann. Der auf Ebene der Zielgesellschaft entstandene Veräußerungsgewinn ist an die Objektgesellschaft abzuführen und auf dieser Ebene körperschaft- und gewerbesteuerpflichtig. Als Konsequenz verbleibt die Zielgesellschaft wertlos, so dass die Objektgesellschaft eine Teilwertabschreibung auf die Zielgesellschaft vorzunehmen hat, die für gewerbesteuerliche Zwecke wieder hinzuzurechnen ist (§ 8 Nr. 10 GewStG). Da § 8 Abs. 3 KStG die steuerliche Anerkennung einer Teilwertabschreibung für Kapitalgesellschaften gänzlich ausschließt, basiert das Organschaftsmodell auf der Annahme, dass eine Personengesellschaft mit natürlichen Personen als Gesellschaftern oder eine natürliche Person die Beteiligung an der Zielgesellschaft kauft.153 Aber auch für diesen Personenkreis begrenzt § 3c Abs. 2 EStG die steuerliche Anerkennung der Teilwertabschreibung auf 60 %, so dass sich folgende Steuerwirkungen des Organschaftsmodells ergeben: Der auf Ebene der Zielgesellschaft entstehende Veräußerungsgewinn unterliegt beim Organträger bzw. dessen Gesellschaftern der Einkommen- und Gewerbesteuer. Letztere stellt jedoch durch die (pauschale) Anrechnung auf die Einkommensteuer der Gesellschafter nach § 35 EStG häufig keine Zusatzbelastung dar. Die abführungsbedingte Teilwertabschreibung erfährt eine 60%ige Anerkennung für Zwecke der Einkommensteuer. Somit stehen in einer Gesamtbetrachtung einer 40%igen Einkommensteuerbelastung auf die aufgedeckten stillen Reserven die zukünftigen Mehrabschreibungen für Zwecke der Gewerbe- und Einkommensteuer gegenüber. Je schneller die zusätzlichen Abschreibungen wirksam werden, desto höher ist die Chance, dass das Organschaftsmodell steuerliche Barwertvorteile bietet. 151 Vgl. Rödder/Hötzel/Mueller-Thuns, § 28 Rz. 2 bis 8. 152 Wegen H 61 KStR 2004 zur Einstellung der gewerblichen Tätigkeit. 153 Blumers/Beinert/Witt, DStR 2001, 234; Bruski, FR 2002, 185.
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411
5.180
Kap. 5 Rz. 5.181
Steuern
5.181 Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass post-akquisitorische Maßnahmen zur Generierung von Abschreibungspotential kaum mehr gegeben sind. Daher ist es von besonderem Interesse festzustellen, ob nicht bereits beim Veräußerer die Voraussetzungen für die Generierung von Step-up-Volumen geschaffen werden können (s. dazu auch Rz. 5.89 ff.). In Betracht kommt bspw. eine vorgeschaltete Einbringung des Unternehmens der Zielgesellschaft in eine Personengesellschaft oder in eine Kapitalgesellschaft und anschließender Verkauf der Anteile an der Personen- oder Kapitalgesellschaft. Eine solche Strategie ist insbesondere empfehlenswert, wenn ein Gewinn aus dem Ansatz des gemeinen Wertes bei der Einbringung in die Personen- oder Kapitalgesellschaft gegen laufende Verluste oder bestehende Verlustvorträge im Rahmen der Mindestbesteuerung im Konzern (Organschaft) des Veräußerers verrechnet werden können und im Veräußererkonzern ein höheres Potential an insbesondere unbeschränkt verrechenbaren laufenden Verlusten besteht als im Erwerberkonzern. Durch Einbringung des Zielunternehmens in mehrere Personen- oder Kapitalgesellschaften mit unterschiedlichem rückwirkendem Effekt lassen sich ggf. laufende Verluste und Verlustvorträge des Veräußererkonzerns mehrerer Veranlagungszeiträume verrechnen. Ob die Strategie der vorgeschalteten Einbringung insgesamt vorteilhaft ist, muss einer Einzelfallprüfung vorbehalten bleiben. Dabei ist insbesondere bei Gestaltungen mit Auslösen eines Einbringungsgewinns nach § 22 Abs. 1 UmwStG auch zu untersuchen, wann der steuerliche Step-up gewährt wird und welche Wirtschaftsgüter von dem Step-up noch erfasst werden. Zudem können sich Auswirkungen bei einer nachfolgenden Integration durch Abschluss eines Ergebnisabführungsvertrages ergeben, da zuvor durch die Abschreibung entstehende Verlustvorträge „eingefroren“ und nicht im Rahmen der Organschaft verrechnet werden können sowie sich auf Grund der nur steuerlich wirkenden Mehrabschreibungen erhebliche vororganschaftliche Mehrabführungen mit der Verpflichtung zur Abführung von Kapitalertragsteuer ergeben können. 2. Optimierung der Abziehbarkeit der Kaufpreisfinanzierungskosten
5.182 Im Falle eines Asset Deals befinden sich die Akquisitionsfinanzierung und der erworbene Betrieb auf Ebene desselben Steuerpflichtigen, so dass die Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung das zu versteuernde Einkommen des erworbenen Betriebs unmittelbar mindern. Auch für Zwecke der Anwendung von Zinsabzugsbeschränkungen wie der Zinsschranke ist auf das verrechenbare EBITDA des erworbenen Betriebs (mit) abzustellen. Wird ein Anteil an einer Personengesellschaft erworben, besteht für steuerliche Zwecke dieselbe Ausgangslage, da die Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung als Sonderbetriebsausgaben das zu versteuernde Einkommen aus der Personengesellschaft mindern und auch für Zwecke der Anwendung der Zinsschranke auf das verrechenbare EBITDA der Personengesellschaft einschließlich der Ergebnisse aus der Sonder- und der Ergänzungsbilanz abzustellen ist.
5.183 Soweit die steuerwirksame Abziehbarkeit der Kosten der Akquisitionsfinanzierung auf Ebene des Erwerbers limitiert ist, weil nicht ausreichend zu versteuerndes Einkommen für die steuerwirksame Verrechnung der Finanzierungskosten vorhanden ist oder eine steuerliche Abzugsbeschränkung (§ 3c Abs. 2 EStG, § 4h EStG, § 20 Abs. 8 EStG) besteht, kann die steuermindernde Wirkung der Finanzierungskosten („Tax Shield“) durch post-akquisitorische Umstrukturierungen optimiert werden. Eine solche Situation ist im Allgemeinen anzutreffen, wenn eine Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft erworben wird, da in diesen Fällen systembedingt die Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung und das zu versteuernde Einkommen des erworbenen Unternehmens bei zwei unterschiedlichen Steuerpflichtigen, dem Erwerber und der erworbenen Kapitalgesellschaft, entstehen. 412
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.187 Kap. 5
Zur steuerlichen Optimierung dieser Situation kommt für natürliche Personen einerseits in 5.184 Betracht, die Akquisitionsfinanzierung auf das erworbene Unternehmen zu übertragen (Debt-push-down im eigentlichen Sinne), um eine Konsolidierung der Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung und dem Einkommen der Zielgesellschaft zu erreichen. Andererseits können natürliche Personen auch die Beteiligung und Akquisitionsfinanzierung auf eine Kapitalgesellschaft übertragen und damit die unten beschriebenen steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten für Kapitalgesellschaften umsetzen. Für eine natürliche Person, die ihre Beteiligung im Privatvermögen hält, besteht zudem die Möglichkeit, zur Anwendung des Teileinkünfteverfahrens nach § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG zu optieren, soweit die betreffenden Voraussetzungen, nämlich ein Anteilsbesitz von mindestens 25 % bzw. von mindestens 1 % und eine berufliche Tätigkeit für die Zielkapitalgesellschaft bestehen. Hierdurch könnte im Unterschied zu dem sonst anwendbaren Abgeltungsteuersystem eine zumindest teilweise Abziehbarkeit der Finanzierungskosten erreicht werden. Wenn diese Voraussetzungen nicht vorliegen, könnte zwecks Ermöglichung der Anwendung des Teileinkünfteverfahrens die Beteiligung einschließlich Finanzierung in den betrieblichen Bereich – z.B. in eine gewerbliche geprägte Personengesellschaft – überführt werden, soweit durch Anwendung des Teileinkünfteverfahrens eine günstigere Besteuerung erreicht werden kann. Ein Optimierungsbedarf besteht insbesondere auch in den Fällen, in denen eine Kapitalgesellschaft als Akquisitionsgesellschaft eine Beteiligung an einer anderen Kapitalgesellschaft unter Aufnahme von Fremdkapital erwirbt. Denn die Akquisitionsgesellschaft generiert aus einer Beteiligung, an der sie zu mindestens 10 % beteiligt ist, ausschließlich zu 95 % steuerbefreite Dividendeneinkünfte, so dass das zu versteuernde Einkommen einerseits nicht ausreicht, um die Finanzierungskosten in vollem Umfang steuerlich zum Abzug zu bringen, und andererseits die Abziehbarkeit der Finanzierungsaufwendungen mangels verrechenbarem EBITDA durch die Zinsschranke eingeschränkt wird.
5.185
Eine Optimierung dieser Situation zielt folglich darauf ab, das zu versteuernde Einkommen der Zielgesellschaft bzw. der Gruppengesellschaften des Zielgesellschaftskonzerns mit den Kosten der Akquisitionsfinanzierung zu konsolidieren. Dies kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen. In Betracht kommen beispielsweise eine Verschmelzung der Zielgesellschaft auf die Akquisitionsgesellschaft oder umgekehrt, eine Anwachsung der Zielgesellschaft auf die Akquisitionsgesellschaft oder die Begründung einer steuerlichen Organschaft zwischen der Akquisitionsgesellschaft und der Zielgesellschaft. Aber es bestehen auch andere Möglichkeiten, einen sog. „Debt-push-down“, d.h. eine Verlagerung der Akquisitionsfinanzierung auf die Zielgesellschaft zu erreichen, die ebenfalls zu einer Konsolidierung des zu versteuernden Einkommens der Zielgesellschaft mit den Kosten der Akquisitionsfinanzierung führen. Verschmelzung und Debt-push-down Gestaltungen im eigentlichen Sinne werden im Allgemeinen auch von den finanzierenden Banken bevorzugt, wenn nicht sogar zur Bedingung für die Finanzierung gemacht, da mit der Verlagerung der Finanzierung auf die Ebene der operativen Zielgesellschaft auch ein struktureller Nachrang des Zugriffs der Banken auf Sicherheiten der Zielgesellschaft gegenüber den Gläubigern der Zielgesellschaft vermieden wird.
5.186
a) Verschmelzung von Akquisitionsgesellschaft und Zielgesellschaft aa) Aufwärtsverschmelzung der Zielgesellschaft auf die Akquisitionsgesellschaft In den meisten Fällen wird eine Verschmelzung der operativen Zielgesellschaft auf die Akquisitionsgesellschaft angestrebt. Soweit es sich bei beiden Gesellschaften um Kapitalgesellschaften handelt, kann eine solche Verschmelzung nach § 11 Abs. 1 und Abs. 2 UmwStG auf Gröger
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5.187
Kap. 5 Rz. 5.188
Steuern
Antrag der übertragenden Gesellschaft zu Buchwerten, d.h. steuerneutral ohne Aufdeckung der stillen Reserven durchgeführt werden, wenn – sichergestellt ist, dass die übertragenen Wirtschaftsgüter bei der Akquisitionsgesellschaft der Körperschaftsteuer unterliegen, – das Recht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Besteuerung des Gewinns aus der Veräußerung der übertragenen Wirtschaftsgüter bei der Akquisitionsgesellschaft nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird, und – eine Gegenleistung nicht gewährt wird oder in Gesellschaftsrechten besteht.
5.188 Bei einer Aufwärtsverschmelzung („Upstream Merger“) der Zielgesellschaft auf die Akquisitionsgesellschaft im reinen Inlandsfall sollten diese Voraussetzungen grundsätzlich vorliegen.
5.189 Zu beachten ist jedoch, dass nach § 12 Abs. 2 Satz 2 UmwStG auf Ebene der übernehmenden Akquisitionsgesellschaft ein Verschmelzungsgewinn, der sich aus dem Unterschied zwischen dem Buchwert der Anteile an der Zielgesellschaft und dem Wert der übertragenen Wirtschaftsgüter abzgl. Verschmelzungskosten ergibt, einer Besteuerung nach § 8b KStG unterliegt, soweit die Akquisitionsgesellschaft an der Zielgesellschaft beteiligt ist. Ein Verschmelzungsgewinn entsteht dann, wenn der Kaufpreis für die erworbenen Anteile und folglich der Buchwert der Beteiligung an der Zielgesellschaft nicht mindestens das steuerbilanzielle Eigenkapital der Zielgesellschaft darstellt. In diesen Fällen unterliegt der Verschmelzungsgewinn nach § 8b Abs. 3 KStG zu 5 % der Besteuerung mit Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer. Hier könnte alternativ erwogen werden, eine Abwärtsverschmelzung vorzunehmen oder eine andere Methode für den Debt-push-down zu wählen.
5.190 In den meisten Fällen dürfte jedoch ein Verschmelzungsverlust zu erwarten sein, wenn der Buchwert der Beteiligung an der Zielgesellschaft das steuerbilanzielle Eigenkapital der Zielgesellschaft übersteigt, da der Kaufpreis, d.h. die Anschaffungskosten der Beteiligung stille Reserven im Vermögen der Zielgesellschaft reflektiert. Ein Verschmelzungsverlust bleibt nach § 12 Abs. 2 Satz 1 UmwStG außer Ansatz. Zu beachten bleibt jedoch, dass mit der Verschmelzung die Beteiligung an der Zielgesellschaft untergeht und folglich auch eine Veräußerung des Unternehmens unter Geltendmachung der entrichteten Anschaffungskosten für die Beteiligung nicht mehr möglich ist. Die in den Anschaffungskosten zum Ausdruck kommenden Aufwendungen stehen für steuerliche Zwecke nicht mehr zur Verfügung.
5.191 Die Aufwärtsverschmelzung kann nach den oben genannten Vorschriften steuerlich zu Buchwerten erfolgen unabhängig davon, ob für handelsrechtliche Zwecke in der Übernahmebilanz die Buchwertfortführung nach § 24 UmwG oder der Ansatz der Verkehrswerte gewählt wird. In den Fällen, in denen die Akquisition zu einem großen Teil mit Fremdkapital finanziert worden ist und mit dem Kaufpreis auch erhebliche stille Reserven im Vermögen der Zielgesellschaft bezahlt worden sind, ist es daher im Allgemeinen von Interesse, handelsrechtlich durch Ansatz der Verkehrswerte der übertragenen Vermögensgegenstände einschließlich der nicht bilanzierten Vermögensgegenstände und eines Firmenwerts die Entstehung eines Verschmelzungsverlusts zu vermeiden und damit die bilanzielle Eigenkapitalquote der aufnehmenden Akquisitionsgesellschaft vorbehaltlich zukünftiger Abschreibungen aufrechtzuerhalten. Diese Vorgehensweise hat auf das steuerliche Wahlrecht zum Ansatz der Buchwerte nach § 11 Abs. 2 UmwStG keine Auswirkung.154 Auch eine sog. phasenverschobene Wertaufholung auf die handelsrechtlichen Buchwertansätze zum folgenden Bilanzstichtag wird nicht 154 Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, § 11 UmwStG Rz. 54.
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.194 Kap. 5
mehr vertreten.155 Zu beachten ist, dass als Konsequenz aus einer unterschiedlichen Ausübung der Ansatz- und Bewertungswahlrechte für handels- und steuerliche Zwecke Handels- und Steuerbilanz in der post-akquisitorischen Phase voneinander abweichen mit entsprechenden Pflichten zur Bildung von latenten Steuern in Einzel- und Konzernabschluss sowie Auswirkungen auf die zahlungswirksame Steuerquote und das Ausschüttungsvolumen. Diese Effekte sind auch bei der Unternehmensplanung zu berücksichtigen. Eine weitere Folge der Verschmelzung der Zielgesellschaft auf die Akquisitionsgesellschaft ist 5.192 nach § 12 Abs. 3 i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 2 UmwStG der Verlust sämtlicher laufender Verluste, Verlust-, Zinsvorträge und EBITDA-Vorträge, die vor der Verschmelzung entstanden sind. Bei einer Verschmelzung nach einer Akquisition der Beteiligung zwecks Optimierung des steuerlichen Abzugs von Finanzierungskosten ist diese Vorschrift allerdings nur dann von praktischer Relevanz, wenn die Verluste, Verlust- und Zinsvorträge nicht im Rahmen der Transaktion nach § 8c Abs. 1 KStG untergegangen oder nach der Transaktion neue Verluste entstanden sind bzw. ein EBITDA-Vortrag besteht, der vom Beteiligungserwerb unbeeinflusst bleibt. Soweit solche Verluste oder Zinsvorträge bestehen, könnte der Ansatz eines Zwischenwerts oder des gemeinen Werts der Wirtschaftsgüter für steuerliche Zwecke erwogen werden, um die Verluste und Verlustvorträge im Rahmen der Mindestbesteuerung mit aus der Realisierung der stillen Reserven resultierenden Gewinnen zu verrechnen und zukünftige Steuervorteile in Form von erhöhtem steuerlichem Abschreibungspotential zu sichern. Eine Rückbeziehung der Verschmelzung nach § 2 Abs. 1 UmwStG auf einen Stichtag, der vor dem Erwerb der Beteiligung liegt, dürfte nach Einführung der Regelung zur Verschonung von Verlusten und Verlustvorträgen in Höhe der im Inland steuerpflichtigen stillen Reserven nur in den Fällen einen steuerlichen Vorteil bringen, in denen sich die stillen Reserven im inländischen Betriebsvermögen im Rückwirkungszeitraum reduziert hätten. Für diese Fälle versagt jedoch § 2 Abs. 4 UmwStG die Verrechnung des Übertragungsgewinns aus dem Ansatz des gemeinen Werts oder eines Zwischenwerts mit den Verlusten, Verlust- und Zinsvorträgen der übertragenden Zielgesellschaft, wenn dem übertragenden Rechtsträger die Verlustnutzung nicht auch ohne Rückwirkung der Verschmelzung möglich gewesen wäre. In jedem Fall von Bedeutung ist, dass mit der Aufwärtsverschmelzung ein EBITDA-Vortrag untergeht und folglich nicht durch die Akquisitionsgesellschaft für Zwecke einer erhöhten steuerlichen Abziehbarkeit der Akquisitionsfinanzierung erschlossen werden kann. Folglich wäre zwecks Erschließung des EBITDA-Vortrags der Zielgesellschaft eine andere Strukturmaßnahme zu erwägen wie beispielsweise eine Abwärtsverschmelzung oder ein Debt-PushDown im eigentlichen Sinne (s. dazu nachfolgend Rz. 5.194 ff.).
5.193
bb) Abwärtsverschmelzung der Akquisitionsgesellschaft auf die Zielgesellschaft In steuerlicher Hinsicht ist die Abwärtsverschmelzung auf Antrag der übertragenden Akquisitionsgesellschaft ebenfalls steuerneutral ohne Aufdeckung der stillen Reserven (soweit nach der Akquisition überhaupt vorhanden) nach den oben beschriebenen Voraussetzungen möglich. Insbesondere in reinen Inlandsfällen sollte einer steuerneutralen Verschmelzung grundsätzlich nichts im Wege stehen. Zu beachten ist jedoch, dass nach Auffassung der Finanzverwaltung156 die Anteile an der aufnehmenden Gesellschaft nur dann mit dem Buch155 BMF, Schr. v. 11.11.2011 – IV C 2-S 1978b/08/10001, BStBl. I 2011, 1314, Rz. 04.04; ebenso Dötsch in Dötsch/Pung/Möhlenbrock, § 12 UmwStG (SEStEG) Rz. 11; Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, § 12 UmwStG Rz. 44. 156 BMF, Schr. v. 11.11.2011 – IV C 2 - S 1978-b/08/10001, BStBl. I 2011, 1314 ff., Rz. 11.19.
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5.194
Kap. 5 Rz. 5.195
Steuern
wert angesetzt werden können, wenn auch die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 UmwStG vorliegen, d.h. insbesondere das Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland an den Anteilen nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird. Hierbei soll es auf die Besteuerung der Anteile in den Händen der die Anteile an der Tochtergesellschaft übernehmenden Muttergesellschaft ankommen.157 Handelt es sich folglich bei der an der Akquisitionsgesellschaft beteiligten Gesellschaft um eine im Ausland ansässige Gesellschaft, liegen die Voraussetzungen für eine Buchwertfortführung nicht vor. Dies hätte zwar zur Konsequenz, dass mit dem Ansatz des gemeinen Werts der Anteile die stillen Reserven an der Beteiligung aufzudecken und nach § 8b Abs. 2 und 3 KStG zu versteuern wären. Dieser Rechtsauffassung widersprechend hat das FG Rheinland-Pfalz den Buchwert- oder Zwischenwertansatz auch für Abwärtsverschmelzungen mit ausländischen Anteilseignern anerkannt, wenn dem Ansässigkeitsstaat des ausländischen Anteilseigners das Besteuerungsrecht für etwaige Gewinne aus der Veräußerung der übergegangen Anteile zusteht.158 Die Revision gegen diese Entscheidung ist beim BFH anhängig.159
5.195 Ein Verschmelzungsgewinn oder -verlust bleibt im Falle einer Abwärtsverschmelzung nach § 12 Abs. 2 Satz 1 UmwStG grundsätzlich außer Ansatz. Verluste, Verlust-, Zinsvorträge und ab 2010 EBITDA-Vorträge der Akquisitionsgesellschaft gehen nach § 12 Abs. 3 i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 2 UmwStG unter. Verluste, Verlust- und Zinsvorträge der Zielgesellschaft gehen nach § 8c Abs. 1 KStG, der durch den Anteilstausch auf Gesellschafterebene ausgelöst wird, ebenfalls unter, soweit die Konzernklausel des § 8c Abs. 1 Satz 5 KStG nicht einschlägig sein sollte oder über den Bestand an im Inland steuerpflichtigen stillen Reserven hinaus Verluste, Verlustvorträge und Zinsvorträge bestehen sollten, was angesichts einer zeitnah vorgehenden Akquisition von mehr als 50 % der Anteile an der Zielgesellschaft im Allgemeinen nicht der Fall sein sollte. EBITDA-Vorträge der Zielgesellschaft bleiben hingegen unberührt. Daher eignet sich insbesondere die Abwärtsverschmelzung zur Erschließung des EBITDAVortrags der Zielgesellschaft für eine erhöhte steuerliche Abziehbarkeit der Akquisitionsfinanzierung der Akquisitionsgesellschaft im Rahmen der Zinsschranke.
5.196 Auch auf Ebene der Anteilseigner der Akquisitionsgesellschaft ist die Abwärtsverschmelzung im reinen Inlandsfall nach § 13 Abs. 2 UmwStG auf Antrag steuerneutral möglich. Dies gilt auch für Auslandsfälle oder grenzüberschreitende Fälle, wenn das Recht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Besteuerung des Gewinns aus der Veräußerung der Anteile an der übernehmenden Zielgesellschaft nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird.
5.197 Zu prüfen bleibt in Fällen einer Abwärtsverschmelzung einer fremdfinanzierten Akquisitionsgesellschaft jedoch, ob diese Verschmelzungsrichtung gesellschaftsrechtlich zulässig ist. Insbesondere wenn die Akquisitionsgesellschaft außer der Beteiligung an der Zielgesellschaft kein weiteres Vermögen besitzt, führt die Verschmelzung auf die Zielgesellschaft im Wesentlichen dazu, dass die Zielgesellschaft die Fremdfinanzierung der Akquisitionsgesellschaft übernimmt. Da im Rahmen einer Abwärtsverschmelzung die stillen Reserven in den Vermögensgegenständen der aufnehmenden Zielgesellschaft nicht handelsrechtlich gehoben werden können, mindert der Verschmelzungsverlust aus der Übertragung der Fremdfinanzierung das bestehende Eigenkapital der Zielgesellschaft. Da die Akquisitionsfinanzierung zur Finanzierung des Kaufpreises der Beteiligung und mithin der Finanzierung der erworbenen stillen Reserven im Vermögen der Zielgesellschaft diente, kann die übertragene Akquisi157 BMF, Schr. v. 11.11.2011 – IV C 2 - S 1978-b/08/10001, BStBl. I 2011, 1314 ff., Rz. 11.19. 158 FG Rheinland-Pfalz v. 12.4.2016 – 1 K 1001/14, GmbHR 2016, 1218 = EFG 2016, 1392. 159 BFH – I R 35/16, Anhängige Verfahren.
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.199 Kap. 5
tionsfinanzierung das bestehende Eigenkapital grundsätzlich auch übersteigen. Soweit hierdurch das Grundkapital einer Ziel-Aktiengesellschaft betroffen werden würde, wird in der Abwärtsverschmelzung eine nach § 57 Abs. 3 AktG unzulässige Einlagenrückgewähr gesehen.160 Eine Abwärtsverschmelzung dürfte in einem solchen Fall unzulässig sein und würde daher voraussetzen, dass vor der Abwärtsverschmelzung durch vorgeschaltete steuerneutrale Reorganisationen handelsrechtlich die stillen Reserven gehoben und damit ein ausreichendes freies Eigenkapital geschaffen wird. Die gleichen Rechtsgrundsätze dürften unter dem Gesichtspunkt der Kapitalerhaltung (§§ 30, 31 GmbHG) auch für die GmbH gelten.161 b) Anwachsung der Zielgesellschaft auf die Akquisitionsgesellschaft Die Finanzierung des Erwerbs eines Personengesellschaftsanteils durch den Gesellschafter 5.198 (Akquisitionsgesellschaft) ist als notwendiges Sonderbetriebsvermögen zwar grundsätzlich bei der Gewinnermittlung der Zielpersonengesellschaft zu berücksichtigen; es kann jedoch dennoch beabsichtigt sein, die Finanzierung und das operative Geschäft der Zielpersonengesellschaft in einer Gesellschaft zu vereinen, um beispielsweise den andernfalls bestehenden strukturellen Nachrang der Gläubiger der Akquisitionsfinanzierung zu beseitigen und infolgedessen von günstigeren Finanzierungsbedingungen zu profitieren. Dies kann durch Anwachsung der Personengesellschaft auf die Akquisitionsgesellschaft erfolgen. Der Betrieb einer Personengesellschaft wächst auf die Akquisitionsgesellschaft an, wenn die Voraussetzungen für den gesellschaftsrechtlichen Bestand einer Personengesellschaft, nämlich die Existenz zweier Personengesellschafter nicht mehr gegeben ist. Dies lässt sich bereits im Rahmen des Unternehmenskaufs realisieren, wenn die Akquisitionsgesellschaft sämtliche Anteile an der Personengesellschaft erwirbt. Steuerlich ist diese Akquisition wie ein Asset Deal zu behandeln. Gleichermaßen kann auch nach der Akquisition eine Anwachsung dadurch erzielt werden, dass alle bis auf ein Gesellschafter aus der Personengesellschaft austreten und als Konsequenz das Vermögen der Personengesellschaft dem allein verbleibenden Gesellschafter anwächst. Soweit der verbleibende Gesellschafter z.B. als Kommanditist einer GmbH & Co. KG bereits zu 100 % an dem Vermögen der Personengesellschaft beteiligt war, ist die Anwachsung steuerneutral. Andernfalls lässt sich eine steuerneutrale Anwachsung auch durch Einbringung der Personengesellschaftsanteile in die Komplementärgesellschaft gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten nach § 20 UmwStG oder durch Verschmelzung der Komplementär-GmbH auf die Akquisitionsgesellschaft (Kommanditist) nach §§ 11 ff. UmwStG durchführen. c) Begründung einer Organschaft zwischen Akquisitionsgesellschaft und Zielgesellschaft Aus steuerlicher Sicht kann die Konsolidierung des zu versteuernden Einkommens mit den Kosten der Akquisitionsfinanzierung auch ohne Auflösung der Akquisitions- oder Zielgesellschaft durch Begründung einer steuerlichen Organschaft erreicht werden. Hierfür sind nach § 14 KStG allein die finanzielle Eingliederung der Zielgesellschaft und der Abschluss eines Ergebnisabführungsvertrages mit einer Mindestlaufzeit von fünf Zeitjahren erforderlich. Organträger kann nach § 14 Abs. 1 Nr. 2 KStG sogar jede unbeschränkt oder beschränkt steuerpflichtige natürliche Person und nicht steuerbefreite Körperschaft sein. Ebenso kann eine Personengesellschaft als Organträger dienen, wenn sie gewerbliche Einkünfte nach § 15 Abs. 1 160 Kallmeyer, § 24 UmwG Rz. 39, 40 m.w.N.; Hörtnagl in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, § 24 UmwG Rz. 52. 161 Kallmeyer, § 24 UmwG Rz. 39, 40; Hörtnagl in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, § 24 UmwG Rz. 52.
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Kap. 5 Rz. 5.200
Steuern
Nr. 1 EStG selbst erzielt. Voraussetzung ist ferner, dass die Beteiligung an der Organgesellschaft ununterbrochen während der gesamten Dauer der Organschaft einer inländischen Betriebsstätte nach § 12 AO des Organträgers zugeordnet werden kann. Dabei gilt eine Betriebsstätte nach § 14 Abs. 1 Nr. 2 Satz 7 KStG nur dann als inländische Betriebsstätte, wenn die dieser Betriebsstätte zuzurechnenden Einkünfte sowohl nach innerstaatlichem Steuerrecht als auch nach einem anwendbaren Doppelbesteuerungsabkommen der inländischen Besteuerung unterliegen. Organgesellschaft kann jede Kapitalgesellschaft mit Geschäftsleitung im Inland und Sitz in einem Mitgliedstaat der EU oder einem Vertragsstaat des EWR-Abkommens sein.
5.200 Rechtsfolge einer wirksamen steuerlichen Organschaft ist nach § 14 Abs. 1 KStG, dass das Einkommen der Organgesellschaft dem Organträger zuzurechnen ist und auf Ebene des Organträgers besteuert wird. Somit kommt es auf Ebene des Organträgers zur Verrechnung des Einkommens der Organgesellschaft mit den Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung. Für Zwecke der Anwendung der Zinsschranke gelten Organträger und Organgesellschaft nach § 15 Nr. 3 KStG als ein Betrieb, so dass das verrechenbare EBITDA des gesamten Organkreises die Grenze für die Abziehbarkeit der Nettozinsaufwendungen des Organkreises einschließlich des Organträgers bestimmt. Diese Situation verbessert grundsätzlich die steuerliche Abziehbarkeit der Finanzierungsaufwendungen der Akquisitionsgesellschaft. Damit wird ein mit der Verschmelzung vergleichbares Resultat erreicht.
5.201 Die trotz des Beteiligungserwerbs bei der Zielgesellschaft verbleibenden Verlustvorträge, Zinsvorträge und EBITDA-Vorträge gelten bei der Organgesellschaft als „eingefroren“ und sind für die Dauer der Organschaft weder mit dem Einkommen der Organgesellschaft noch mit dem des Organträgers verrechenbar. Die Begründung einer Organschaft führt folglich nicht zur Erschließung der bei der Zielgesellschaft befindlichen Steuervorteile.
5.202 Die für die Begründung der Organschaft erforderliche finanzielle Eingliederung der Zielgesellschaft setzt voraus, dass der Organträger, d.h. die Akquisitionsgesellschaft an der Zielgesellschaft vom Beginn ihres Wirtschaftsjahres an ununterbrochen in einem solchen Maße beteiligt ist, dass ihm die Mehrheit der Stimmrechte aus den Anteilen an der Zielgesellschaft zustehen. Bei dem Erwerb einer Mehrheitsbeteiligung liegt die erforderliche Mehrheit der Stimmrechte regelmäßig vor.
5.203 Hinsichtlich der zeitlichen Komponente können jedoch Strukturierungsmaßnahmen erforderlich sein. Aus steuerlicher Sicht ist die sofortige Abziehbarkeit der Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung von dem zu versteuernden Einkommen der Zielgesellschaft erwünscht. Hingegen beginnt das Wirtschaftsjahr der Zielgesellschaft nur in seltenen Fällen im Zeitpunkt des Anteilserwerbs. Dies ist im Allgemeinen nur bei einem Mitternachtsgeschäft auf den Bilanzstichtag oder ggf. den gewählten Stichtag des Rumpfwirtschaftsjahres der Fall.162 Um daher die Voraussetzung der ununterbrochenen finanziellen Eingliederung seit Beginn des Wirtschaftsjahres der Organgesellschaft zu erfüllen, muss das Wirtschaftsjahr der Zielgesellschaft kurzfristig auf ein abweichendes Wirtschaftsjahr umgestellt werden, was nach § 7 Abs. 4 Satz 3 KStG das Einvernehmen des Finanzamts voraussetzt, das jedoch grundsätzlich in diesen Situationen gewährt werden sollte.163
5.204 Es wird auf diesem Wege ferner nur dann möglich sein, sämtliche Finanzierungsaufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung zumindest mit dem Einkommen der Zielgesellschaft seit 162 Vgl. R 59 Abs. 2 Satz 2 KStR 2004. 163 Vgl. R 59 Abs. 3 Satz 2 KStR 2004.
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.207 Kap. 5
Beginn des neuen Wirtschaftsjahres zu verrechnen, wenn das Wirtschaftsjahr der Zielgesellschaft wieder vor dem Ende des Wirtschaftsjahres der Akquisitionsgesellschaft (Organträger) endet und folglich die Einkommenszurechnung bereits im Wirtschaftsjahr der Akquisitionsgesellschaft, das die Transaktion erfasst, erfolgt. Die dafür vorzunehmende Rückumstellung des Wirtschaftsjahres der Zielgesellschaft bedarf nur erneut des Einvernehmens des Finanzamts, wenn die Umstellung auf ein vom Kalenderjahr abweichendes Wirtschaftsjahr erfolgt. Auch in diesem Fall ist jedoch grundsätzlich die Zustimmung zu erteilen.164 Weitere Voraussetzung für die Begründung einer Organschaft ist nach § 14 Abs. 1 Nr. 3 KStG der Abschluss eines Gewinnabführungsvertrages für eine Mindestdauer von mindestens fünf Zeitjahren, der auch während seiner gesamten Geltungsdauer durchgeführt werden muss. Demnach kann eine Beendigung des Gewinnabführungsvertrages innerhalb der fünfjährigen Mindestdauer dazu führen, dass das Organschaftsverhältnis rückwirkend nicht anerkannt wird und die Einkommenskonsolidierung nicht zustande kommt. Allerdings sieht die Finanzverwaltung Beendigungsgründe wie Reorganisationen oder auch eine Veräußerung der Organgesellschaft grundsätzlich nicht als schädlich an.165 Aus diesem Grunde empfiehlt es sich, eine Beendigung im Zusammenhang mit einer Veräußerung der Beteiligung auch rechtlich im Gewinnabführungsvertrag als außerordentlichen Kündigungsgrund vorzusehen.
5.205
Mit der Begründung einer steuerlichen Organschaft wird zwar grundsätzlich das steuerliche Ziel einer „Konsolidierung“ des steuerlichen Einkommens von Akquisitions- und Zielgesellschaft erreicht. Die finanzierenden Banken betrachten diese Gestaltungsvariante einer steuerlichen Optimierung des steuerwirksamen Abzugs der Finanzierungskosten jedoch im Allgemeinen nicht für ausreichend, weil der strukturelle Nachrang der Banken gegenüber den Gläubigern der Zielgesellschaft in Bezug auf die Verwertung von Sicherheiten nicht beseitigt, mit Abschluss des Ergebnisabführungsvertrags aber das vollständige ökonomische Risiko der Zielgesellschaft übernommen wird. Aus diesen Gründen werden oft weitere Maßnahmen zur Umsetzungen eines Debt-push-down im eigentlichen Sinne erforderlich.
5.206
d) Debt-Push-Down Eine Übertragung der Akquisitionsfinanzierung auf die Zielgesellschaft und mithin eine Konsolidierung des Einkommens der Zielgesellschaft mit den Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung ist ferner dadurch möglich, dass die Zielgesellschaft Fremdkapital aufnimmt, um entweder Eigenkapital an die Akquisitionsgesellschaft als Gesellschafter zurückzuzahlen (fremdfinanzierte Einlagenrückgewähr), eine Dividende auszuschütten (fremdfinanzierte Ausschüttung) oder eigene Anteile zurückzukaufen (fremdfinanzierter Anteilsrückkauf), und die Akquisitionsgesellschaft mit der erhaltenen Zahlung die Akquisitionsfinanzierung tilgt. Diese Vorgänge können auch dadurch abgekürzt und ohne Aufnahme von weiterem Fremdkapital und einer tatsächlichen Auszahlung an die Akquisitionsgesellschaft erfolgen, wenn die Verpflichtung zur Leistung der Einlagenrückgewähr, Dividende oder des Veräußerungsgewinns für die eigenen Anteile durch Übernahme der Gesellschafterschuld getilgt wird. Eine einfache Schuldübernahme hingegen führt zwar dazu, dass die Akquisitionsfinanzierung auf die Ebene der Zielgesellschaft übertragen wird, wenn die Bank der Schuld164 Vgl. R 59 Abs. 3 Satz 2 und 3 KStR 2004. 165 Vgl. R 60 Abs. 6 Satz 2 KStR 2004; s. aber BFH v. 13.11.2013 – I R 45/12, AG 2014, 369 = GmbHR 2014, 499 m. Anm. Herzberg = BFH/NV 2014, 783: Die Aufhebung des Ergebnisabführungsvertrages innerhalb der Mindestlaufzeit, um die Rechtsfolgen der Organschaft zeitlich zu begrenzen, stellt keinen wichtigen Grund dar.
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5.207
Kap. 5 Rz. 5.208
Steuern
übernahme zustimmt; aufgrund des Rückgriffsanspruchs der Zielgesellschaft gegenüber der Akquisitionsgesellschaft entstehen die Zinsaufwendungen jedoch weiterhin auf Ebene der Akquisitionsgesellschaft und eine Einkommenskonsolidierung findet im Unterschied zu den oben beschriebenen Fällen nicht statt, es sei denn, dass eine Organschaft mit der Akquisitionsgesellschaft begründet wird oder dass die Zielgesellschaft auf den Rückgriffsanspruch verzichtet – was jedoch wiederum zu einer Ausschüttung oder Einlagenrückgewähr führt.
5.208 Eine Einlagenrückgewähr setzt voraus, dass die Zielgesellschaft freie Rücklagen in Form von Kapitalrücklagen besitzt, die sie auflösen und ausschütten kann. Steuerlich führt diese Rückzahlung des Eigenkapitals zu einer Auszahlung aus dem Einlagenkonto, wenn die Zielgesellschaft nicht steuerlich über einen ausschüttbaren Gewinn nach § 27 Abs. 1 Satz 5 KStG verfügen sollte. Ein ausschüttbarer Gewinn liegt vor, wenn das in der Steuerbilanz ausgewiesene Eigenkapital das gezeichnete Kapital und das steuerliche Einlagekonto nach § 27 Abs. 1 Satz 1 KStG übersteigt. In diesem Fall handelt es sich bei der handelsrechtlichen Einlagenrückgewähr steuerlich um eine Dividendenausschüttung i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG, die nach § 43 Abs. 1 Nr. 1 EStG die Einbehaltung und Abführung von Kapitalertragsteuer erforderlich macht. Die Auszahlung aus dem Einlagekonto löst eine Kapitalertragsteuerpflicht nicht aus und hat daher den Vorteil, dass mit den entsprechenden Gesellschafterbeschlüssen in voller Höhe eine Verpflichtung zur Auszahlung der Rücklage gegenüber der Akquisitionsgesellschaft entsteht. Die Einlagenrückgewähr führt zur steuerneutralen Minderung des Buchwerts der Akquisitionsgesellschaft an der Zielgesellschaft, soweit der Betrag der Einlagenrückgewähr den Buchwert der Beteiligung nicht übersteigt. Da die Akquisitionsfinanzierung der Finanzierung des Kaufpreises dienen soll, sollte sie grundsätzlich nicht die Anschaffungskosten der Beteiligung übersteigen, so dass auch die für Zwecke der Übertragung der Akquisitionsfinanzierung auf die Zielgesellschaft erforderliche Einlagenrückgewähr den Buchwert der Beteiligung grundsätzlich nicht übersteigen sollte. Die Verpflichtung zur Auszahlung der Rücklage kann die Zielgesellschaft durch Übernahme der Schuld der Akquisitionsgesellschaft gegenüber der Bank in gleicher Höhe tilgen, soweit die Bank der Schuldübernahme zustimmt. Dies löst keine steuerlichen Konsequenzen auf Ebene der Akquisitions- oder Zielgesellschaft aus.
5.209 Besitzt die Gesellschaft offene Rücklagen und verfügt sie steuerlich über einen ausschüttbaren Gewinn, kann sie eine Dividende ausschütten. In diesem Fall ist jedoch im Inlandsfall grundsätzlich die Kapitalertragsteuerpflicht zu beachten. Daher bietet sich in Inlandsfällen ein Debt-push-down durch eine fremdfinanzierte Ausschüttung auf Grund der zu erwartenden Kapitalertragsteuerzahlung an das Finanzamt im Allgemeinen nicht an. Soweit im Fall der Ansässigkeit der Akquisitionsgesellschaft im Ausland die Kapitalertragsteuer auf Grund der EU-Mutter-Tochter-Richtlinie bzw. eines Doppelbesteuerungsabkommens auf Null herabgesetzt werden kann, sollten die entsprechenden Freistellungsbescheinigungen nach § 50d EStG zuvor vom Bundeszentralamt für Steuern ausgestellt worden sein. In diesem Fall kann vom Kapitalertragsteuereinbehalt abgesehen werden, und die Auszahlungsverpflichtung entsteht in voller Höhe. Auf Ebene einer unbeschränkt steuerpflichtigen Akquisitionsgesellschaft oder im Fall einer deutschen Betriebsstätte der Akquisitionsgesellschaft entsteht ein steuerpflichtiger, aber im Falle einer zu Beginn des Kalenderjahrs zu mindestens 10 % am Grund- oder Stammkapital unmittelbar beteiligten Kapitalgesellschaft ein grundsätzlich nach § 8b Abs. 1 und 5 KStG zu 95 % steuerbefreiter Dividendenertrag. Die Zielgesellschaft kann die Auszahlungsverpflichtung wie im Fall der Einlagenrückgewähr durch Übernahme der Akquisitionsfinanzierung tilgen, wenn die Bank entsprechend zustimmt.
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.213 Kap. 5
Besitzt die Zielgesellschaft keine offenen Rücklagen, können diese durch Heben stiller Re- 5.210 serven in den Wirtschaftsgütern der Zielgesellschaft für handelsrechtliche Zwecke geschaffen werden. Dies kann durch interne Veräußerungs- oder Tauschvorgänge sowie Umwandlungen nach dem UmwG erfolgen. Zielrichtung ist es aus steuerlicher Sicht, diese Reorganisation ertragsteuerlich neutral zu Buchwerten oder gegen Verrechnung mit Verlusten und Verlustvorträgen durchzuführen, um keine Steuerzahlungen auszulösen und ggf. aus einem bestehenden Einlagekonto steuerneutral und ohne Kapitalertragsteuerpflicht auszuschütten. Soweit die Zielgesellschaft Grundbesitz hält, kann zudem die Erhebung der Grunderwerbsteuer vermieden werden, wenn bei einer Einbringung in eine Personengesellschaft § 5 GrEStG zur Anwendung gelangt. Verfügt die Zielgesellschaft über offene Rücklagen, besitzt sie jedoch einen ausschüttbaren Gewinn, so dass sowohl die handelsrechtliche Einlagenrückgewähr als auch eine Dividendenausschüttung eine Kapitalertragsteuerpflicht auslösen würde, bietet sich alternativ ein Rückkauf eigener Anteile von der Akquisitionsgesellschaft an.166 Dieser Anteilsrückkauf führt nicht zu einer Kapitalertragsteuerpflicht, sondern ist vielmehr auf Ebene des Gesellschafters wie eine Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft zu behandeln.167 Soweit ein Veräußerungsgewinn entstehen sollte, wäre dieser nach § 8b Abs. 2 und 3 KStG grundsätzlich i.H.v. 5 % steuerpflichtig. Da der Debt-push-down jedoch in kurzem zeitlichem Abstand zur Akquisition der Beteiligung durchgeführt wird, ist im Allgemeinen nicht zu erwarten, dass sich in den Anteilen bereits stille Reserven bilden konnten. Die Zielgesellschaft kann die Tilgung der Verpflichtung zur Zahlungen des Kaufpreises für die eigenen Anteile durch Übernahme der Akquisitionsfinanzierung vornehmen, wenn die Bank dem zustimmt.
5.211
Auch wenn beim Erwerb eines Anteils an einer Personengesellschaft sich steuerlich die Ab- 5.212 ziehbarkeit der Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung mit dem Einkommen der Personengesellschaft auf Grund der Transparenz der Personengesellschaft ergibt, kann auch hier das Interesse der finanzierenden Bank in einem Push-down der Finanzierung auf die Ebene der Personengesellschaft bestehen. Auch in diesem Fall lässt sich dies über eine fremdfinanzierte Eigenkapitalrückzahlung in Form einer Entnahme durchführen. Da Entnahmen aus einer Personengesellschaft weder einer Steuerpflicht auf Ebene des Gesellschafters noch einer Kapitalertragsteuerpflicht unterliegen, ist die Einlagenrückgewähr grundsätzlich ohne Steuerzahlung durchführbar. Eine den Schuldzinsenabzug limitierende Überentnahme nach § 4 Abs. 4a EStG sollte nicht vorliegen, wenn die Darlehensschuld zuvor im Sonderbetriebsvermögen zu erfassen und daher als sog. Investitionsdarlehen von der Schuldzinsenabzugsbeschränkung bereits ausgenommen war (s. auch Rz. 5.148).168 Bei sämtlichen oben beschriebenen Möglichkeiten des Debt-Push-Down ändern sich die Beteiligungsverhältnisse nicht, so dass eine Anwendung des § 8c KStG auf bei der Zielgesellschaft bestehende Verluste, Verlust- und Zinsvorträge nicht in Betracht kommt.169 Ebenso bleibt ein EBITDA-Vortrag von diesen Maßnahmen unberührt, so dass hierdurch ein bei der Zielgesellschaft bestehender EBITDA-Vortrag für die Ermittlung der Grenze der steuerlichen Abziehbarkeit der Akquisitionsfinanzierung erschlossen werden kann. 166 Prinz/von Freeden, FR 2005, 533. 167 Vgl. BMF, Schr. v. 27.11.2013 – IV C 2 – S-2742/07/10009, BStBl. I 2013, 1614 f., Rz. 11. 168 BMF, Schr. v. 17.11.2005 – IV B 2 - S 2144 – 50/05, BStBl. I 2005, 1019, geändert durch BMF, Schr. v. 7.5.2008 – IV B 2 - S 2144/07/0001, BStBl. I 2008, 588, Rz. 32a bis 32c. 169 Vgl. BMF, Schr. v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2742a/07/10001, BStBl. I 2008, 736, Rz. 7 in Bezug auf den Erwerb eigener Anteile.
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5.213
Kap. 5 Rz. 5.214
Steuern
5.214 Schließlich ist ein Debt-Push-Down – insbesondere auch grenzüberschreitend – dadurch erreichbar, dass eine Beteiligung des Zielunternehmens an eine andere Gesellschaft im Erwerberkonzern veräußert wird und die fremdfinanzierte Gegenleistung zur Tilgung eines Teils der Akquisitionsfinanzierung verwendet wird. Durch eine solche post-akquisitorische Gestaltung wird die Akquisitionsfinanzierung von der Akquisitionsgesellschaft auf die die Beteiligung erwerbende, ggf. in einer anderen Jurisdiktion ansässige Konzerngesellschaft (Sparten- oder Landesholdinggesellschaft) verlagert. Voraussetzung für die steuerlich wirksame Geltendmachung der Aufwendungen dieser Finanzierung ist jedoch, dass diese mit zu versteuerndem Einkommen entweder der erwerbenden Konzerngesellschaft oder im Rahmen einer Gruppenbesteuerung dem zu versteuernden Einkommen der erworbenen Gesellschaft verrechnet werden kann und zudem keine steuerliche Beschränkung der Abziehbarkeit solcher Finanzierungskosten für einen internen Beteiligungskauf vorliegt (wie z.B. bis zum Veranlagungszeitraum 2007 nach § 8a Abs. 6 KStG a.F.). e) Schuldenallokation
5.215 Bei der Planung der Konsolidierungsmaßnahmen und/oder des Debt-push-down ist zu beachten, dass die Zielgesellschaft oder Zielgesellschaften ausreichend zu versteuerndes Einkommen besitzen, um eine möglichst vollständige Verrechnung der Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung erreichen zu können. Gleichermaßen sind eventuelle steuerliche Grenzen der Abziehbarkeit der Finanzierungskosten wie beispielsweise die Zinsschranke zu berücksichtigen. Besteht das Zielunternehmen daher aus mehreren Gesellschaften, ist zu ermitteln, welche Gesellschaften auf Grund eines ausreichenden zu versteuernden Einkommens und unter Berücksichtigung steuerlicher Abzugsbeschränkungen in die Einkommenskonsolidierung bzw. in die Debt-push-down Maßnahmen einbezogen werden sollen.
5.216 Zur Ermittlung der optimalen Gestaltung des Debt-push-down ist ein Steuerplanungsmodell auf Grundlage der Business Pläne der Einzelgesellschaften erforderlich. Nur auf Grundlage eines Steuerplanungsmodells, das sich weitgehend an einer Veranlagungssimulation orientiert, kann bestimmt werden, welche Gesellschaften in welchem Umfang zur Optimierung des steuerlichen Zinsabzugs in die Gestaltungsmaßnahmen einbezogen werden sollten. Dabei sollte die Zielrichtung aus steuerlicher Sicht sein, dass die jährlich entstehenden Zinsaufwendungen in demselben Veranlagungszeitraum möglichst in vollem Umfang gegen zu versteuerndes Einkommen verrechnet werden können und folglich weder Zinsvorträge noch Verlustvorträge auf Grund der Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung entstehen. Hierbei sind auch die Mehrabschreibung aus einer Aufstockung der materiellen und immateriellen Wirtschaftsgüter sowie eines Firmenwerts zu berücksichtigen.
5.217 Des Weiteren sollte im Hinblick auf eine Optimierung des Steuerbarwertvorteils aufgrund der Abziehbarzeit der Finanzierungskosten (d.h. der Optimierung des „Tax Shields“) die Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung vorzugsweise gegen das am höchsten besteuerte zu versteuernde Einkommen verrechnet werden. Insofern müssen auch die Möglichkeiten eines Debt-push-down über die Grenze in andere Länder mit hohen Steuersätzen und ausreichendem verrechenbarem zu versteuernden Einkommen geprüft werden. Bei internationalen Debt-Push-Down Gestaltungen ist ferner zu eruieren, ob die Darlehen im Ausland in jeweils nationaler Währung denominiert werden können, um das steuerliche Risiko aus der Versteuerung von Währungsgewinnen zu reduzieren.
5.218 Neben der steuerlichen Optimierung der Allokation der Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung auf Gruppengesellschaften zur Optimierung des Steuerbarwertvorteils aus 422
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.222 Kap. 5
der Akquisitionsfinanzierung muss grundsätzlich auch die Wirkung der steuerlich vorzugswürdigen Gestaltungsvariante auf die Cashflow-Situation und die Bilanzsituation der betreffenden Konzerngesellschaften untersucht werden. Denn die Konzerngesellschaften müssen in der Lage sein, den Zins- und Tilgungsdienst aus der Akquisitionsfinanzierung auch zu tragen, und zudem darf das Eigenkapital nicht durch den Debt-push-down in einem Umfang erodiert werden, der die Solvenz der Gesellschaft in Frage stellt. 3. Verlustnutzung Die steuerliche Nutzung von Verlusten und Verlustvorträgen, die das Zielunternehmen vor der Transaktion generiert hat, ist wie oben ausgeführt nur noch eingeschränkt möglich (s. Rz. 5.167 ff.). Im Wesentlichen stehen Verluste und Verlustvorträge zu einer weiteren Nutzung nur in Höhe der im Zeitpunkt des Beteiligungserwerbs bestehenden inländischen stillen Reserven zur Verfügung.
5.219
Um die Nutzung dieser Verluste und Verlustvorträge zu optimieren, d.h. einen höheren Steuerbarwertvorteil aus der zukünftigen Verlustnutzung zu generieren, kann zusätzliches zu versteuerndes Einkommen zur Verrechnung mit den Verlusten und Verlustvorträgen gebracht werden. Dies kann durch Verschmelzung von Gesellschaften, die positives steuerpflichtiges Einkommen generieren, auf die Zielgesellschaft mit Verlusten und Verlustvorträgen erfolgen.170 Ferner können auch Beteiligungen von Gesellschaften mit steuerpflichtigem Einkommen in die Verlustgesellschaft eingebracht werden und anschließend eine Organschaft mit der Verlustgesellschaft als Organträger begründet werden.171
5.220
Eine andere Optimierungsmöglichkeit hinsichtlich der Nutzung von Verlusten und Verlustvorträgen der Zielgesellschaft kann in der Überführung dieser Steuervorteile in Abschreibungspotential durch Heben der stillen Reserven und Verrechnung der Verluste liegen. Dies kann beispielsweise dann zielführend sein, wenn die Zielgesellschaften auf die Akquisitionsgesellschaft verschmolzen werden sollen, um Synergien aus der Reduktion der Anzahl der zu verwaltenden Gesellschaften sowie aus der Konsolidierung von Akquisitionsfinanzierung und dem operativen Betrieb zu generieren. Ohne Transformation der Verluste und Verlustvorträge in Abschreibungspotential gingen diese im Rahmen der Verschmelzung nach § 12 Abs. 3 i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 2 UmwStG unter. Auch kann hierdurch der Steuerbarwertvorteil der Verluste und Verlustvorträge erhöht werden, wenn die Reduktion des steuerpflichtigen Einkommens im Falle der erhöhten Abschreibungen in größerem Umfang erfolgt als im Falle der Verrechnung mit Verlustvorträgen im Rahmen der Mindestbesteuerung. In jedem Fall sind die aus diesen Gestaltungen entstehenden potentiellen Steuerbelastungen aus der Mindestbesteuerung und die erzielbaren Steuerbarwertvorteile gegenüber denen von Alternativgestaltungen im Rahmen eines Steuerplanungsmodells rechnerisch zu ermitteln und zu vergleichen.
5.221
Um den Steuervorteil aus Verlusten und Verlustvorträgen über die in Höhe der stillen Reserven bestehenden Verluste und Verlustvorträge hinaus auch nach dem Beteiligungserwerb nutzbar zu machen, sind hingegen Maßnahmen im Vorfeld der Veräußerung durch den Veräußerer vorzunehmen (s. Rz. 5.91). In Betracht kommt hierbei die Generierung von Erträgen aus einem Forderungsverzicht mit Besserungsschein oder aus der Zinslosstellung von Gesell-
5.222
170 So auch BFH v. 18.12.2013 – I R 25/12, GmbHR 2014, 605 = BFH/NV 2014, 904 zu § 8 Abs. 4 KStG a.F. und § 12 Abs. 3 Satz 2 UmwStG a.F. 171 Ott, Stbg 2014, 250 ff.
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Kap. 5 Rz. 5.223
Steuern
schafterdarlehen, die zukünftigen Aufwand aus der Umkehr der ertragswirksamen Effekte zur Folge haben.
5.223 Soweit der Erwerber Verluste in zukünftigen Aufwand (Abschreibungen, Aufzinsungsaufwand, etc.) transferiert hat, stellt sich die Aufgabe, die optimale Nutzung der höheren steuerlichen Aufwendungen in einer Weise zu planen, dass sie möglichst in vollem Umfang das Einkommen der Zielgesellschaft reduzieren und damit die Cashflows aus Steuerzahlungen mindern, ohne Verlustvorträge zu generieren, die nur zukünftig im Rahmen der Mindestbesteuerung nach § 10d EStG verrechenbar sind. Da die planmäßig entstehenden Aufwendungen aus Umkehrwirkungen im Allgemeinen der Höhe nach feststehen, stellt sich in diesen Fällen daher die steuerplanerische Aufgabe, entsprechendes Einkommen in der Zielgesellschaft zu generieren, um die Aufwandsverrechnung zu optimieren. Dies kann durch die Konsolidierung des Einkommens der Zielgesellschaft mit dem Einkommen anderer profitabler Gesellschaften im Erwerberkonzern im Wege einer steuerlichen Organschaft erreicht werden. Auch die Verschmelzung von profitablen Gesellschaften auf die Zielgesellschaft oder umgekehrt kann dem Ziel der optimalen Aufwandsverrechnung dienen.
5.224 Hat der Veräußerer die Übertragung von Steuervorteilen durch einen Forderungsverzicht mit Besserungsschein oder durch eine Zinslosstellung eines Gesellschafterdarlehens vorgesehen, ist mit der Veräußerung der Anteile an der Zielgesellschaft im Allgemeinen auch die Übertragung der entsprechenden Gesellschafterforderung oder des Anspruchs aus dem Besserungsschein verbunden. Der Erwerber wird jedoch für diese Rechte nicht den Nominalwert der ursprünglichen Forderung, sondern den jeweiligen Zeitwert (z.B. Barwert) bezahlen. Folglich entsteht beim Erwerber ein steuerpflichtiger Ertrag, wenn die Rückzahlung der Schuld die jeweiligen Anschaffungskosten übersteigt. Die Besteuerung dieses Ertrages reduziert den Vorteil aus der Steuerminderung durch die zusätzlichen Aufwendungen aus der Aufzinsung des zinslosen Darlehens oder des Wiederauflebens der Forderung auf Grund des Besserungsscheins. Um den Steuervorteil aus dem zusätzlichen Aufwand zu erhalten, sollten die Erträge entweder mit Verlusten oder Verlustvorträgen verrechnet werden können oder in einer ggf. im Ausland ansässigen Gesellschaft entstehen, die geringeren Steuersätzen unterliegt. 4. Integration
5.225 Wird ein Zielgesellschafts-Konzern von einem anderen Konzern übernommen, stellt sich nach der Akquisition grundsätzlich die Aufgabe, die Unternehmen zu integrieren. Die Integration kann die gesellschaftsrechtliche Integration betreffen, d.h. die Übertragung von Gesellschaften des Zielkonzerns an die jeweilige Landesholding oder Spartenholding des Erwerberkonzerns. Darüber hinaus können die Gesellschaften des Zielkonzerns in die bestehende Struktur der konzerninternen Leistungsverrechnung bzw. der Wertschöpfungskette einzugliedern sein. a) Gesellschaftsrechtliche Integration
5.226 Die Übertragung von Gesellschaften des Zielkonzerns an eine andere Konzerngesellschaft kann durch eine Veräußerung oder durch eine Einbringung erfolgen. Im Anschluss an die Übertragung der Beteiligung wird die übertragene Gesellschaft zwecks steuerlicher Einkommenskonsolidierung entweder in die Gruppenbesteuerung einbezogen oder auf eine bestehende Gesellschaft verschmolzen.
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C. Unternehmenskauf aus Sicht des Erwerbers
Rz. 5.229 Kap. 5
Die Veräußerung führt grundsätzlich zu einem Veräußerungsgewinn, soweit stille Reserven 5.227 in der Beteiligung bestehen. Als Veräußerung sind dabei sämtliche entgeltliche Veräußerungsvorgänge und Tauschvorgänge zu betrachten. Um festzustellen, inwieweit stille Reserven in den Beteiligungsansätzen vorliegen, kann ggf. eine sog. Kaufpreisallokation („Purchase Price Allocation“) für Zwecke der Konsolidierung des erworbenen Konzerns im Konzernrechnungswesen herangezogen werden oder im Zusammenhang mit der Purchase Price Allocation eine Anteilsbewertung vorgenommen werden. Enthalten die Beteiligungen stille Reserven, ist eine Veräußerung der betreffenden Beteiligungen nur sinnvoll, wenn eine Steuerbefreiung für Veräußerungsgewinne („Participation Exemption“) besteht oder steuerpflichtige Veräußerungsgewinne mit Verlusten verrechenbar sind. Die Veräußerung einer Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft durch eine in Deutschland ansässige Kapitalgesellschaft ist im Grundsatz zu 95 % steuerbefreit. Hinsichtlich der Veräußerung einer Beteiligung an einer im Ausland ansässigen Gesellschaft ist zudem zu untersuchen, ob es zu einer Veräußerungsgewinnbesteuerung im Ausland kommt bzw. ob ein Doppelbesteuerungsabkommen besteht und ob dieses das Besteuerungsrecht für Veräußerungsgewinne dem Wohnsitzstaat des Veräußerers oder dem Ansässigkeitsstaat der Gesellschaft zuweist. Da mit der Veräußerung der Gesellschaft des Zielkonzerns an eine Gesellschaft des Erwerberkonzerns auch die Finanzierung der Beteiligung übertragen werden kann, ist ferner festzustellen, ob die steuerliche Abziehbarkeit der Aufwendungen aus der Finanzierung einer konzerninternen Veräußerung ggf. beschränkt ist. Nach Abschaffung der Regelungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung nach § 8a KStG a.F. enthält das deutsche Steuerrecht keine selbständige Abzugsbeschränkung für bestimmte Arten der Finanzierung von konzerninternen Anteilsübertragungen („Anti Debt-push-down Regelungen“). Es sind jedoch die Rechtsfolgen der Zinsschranke zu beachten. Daher ist im Inlandsfall grundsätzlich denkbar, dass die Veräußerung der Beteiligung (teilweise) durch Übernahme der Beteiligungsfinanzierung durch die Erwerbergesellschaft finanziert wird.
5.228
Soweit eine Veräußerung auf Grund der Existenz erheblicher steuerpflichtiger stiller Reserven in der Beteiligung nicht zielführend ist, sind Möglichkeiten einer steuerneutralen Übertragung der Gesellschaft des Ziel-Konzerns zu untersuchen. Mit Neufassung des UmwStG in der Fassung des SEStEG ist der Anwendungsbereich des deutschen Umwandlungssteuerrechts teilweise auf internationale und grenzüberschreitende Rechtsvorgänge erweitert worden, so dass auch steuerneutrale Übertragungsmöglichkeiten über die Grenze bestehen. Danach ist ein Anteilstausch nach § 21 UmwStG auf Antrag zu Buchwerten bzw. Anschaffungskosten grundsätzlich steuerneutral möglich, wenn
5.229
– die Einbringung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft gegen Gewährung neuer Anteile an der übernehmenden, innerhalb eines Mitgliedstaates der EU oder des Europäischen Wirtschaftsraums gegründeten und ansässigen Gesellschaft erfolgt (Anteilstausch); – die übernehmende Gesellschaft nach der Einbringung der Beteiligung auf Grund ihrer Beteiligung einschließlich der eingebrachten Anteile nachweisbar unmittelbar die Mehrheit der Stimmrechte an der erworbenen Gesellschaft hat (qualifizierter Anteilstausch), und – soweit der gemeine Wert von sonstigen Gegenleistungen, die neben den neuen Anteilen gewährt werden, nicht mehr beträgt als – 25 Prozent des Buchwerts der eingebrachten Anteile oder – 500.000 Euro, höchstens jedoch den Wert der eingebrachten Anteile; Gröger
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Kap. 5 Rz. 5.230
Steuern
– das Recht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Besteuerung des Gewinns aus der Veräußerung der erhaltenen Anteile nicht ausgeschlossen oder beschränkt ist.
5.230 Dies ist in reinen Inlandsfällen unter den genannten Voraussetzungen der Einbringung von mehrheitsvermittelnden Anteilen im Allgemeinen der Fall. Aber auch in vielen grenzüberschreitenden Fällen innerhalb der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums sind steuerneutrale Einbringungen von Anteilen möglich.
5.231 Nach Einbringung der Beteiligung in die gewünschte Konzerngesellschaft ist die Einkommenskonsolidierung herzustellen. In Deutschland kann dies durch Begründung einer Organschaft oder – soweit keine gesellschaftsrechtlichen oder strategischen Gründe dagegen sprechen – durch eine steuerneutrale Verschmelzung erreicht werden. Auch in anderen Ländern kann die Einkommenskonsolidierung durch eine Verschmelzung oder die Einbeziehung der Gesellschaft in eine Gruppenbesteuerung erzielt werden, soweit die jeweiligen Voraussetzungen dafür erfüllt werden. b) Integration in die konzerninternen Leistungsbeziehungen
5.232 In modernen Konzernstrukturen finden sich im Allgemeinen Gesellschaften, die konzerninterne Dienstleistungen für sämtliche Konzerngesellschaften erbringen (Shared Service Centers). Bei diesen Dienstleistungen kann es sich um Aufgaben in folgenden Gebieten handeln: Finanzbuchhaltung, Steuern, Recht, Treasury, Controlling, IT, Personal, etc. Diese Dienstleistungen werden auf Grund von Verträgen zwischen den Konzerngesellschaften, die die Leistungen erbringen, und den Konzerngesellschaften, die die Leistungen in Anspruch nehmen, regelmäßig abgerechnet. Hinsichtlich der verschiedenen Leistungen bestehen zwar grundsätzlich unterschiedliche Möglichkeiten der Weiterbelastung der Vergütung. Aus steuerlicher Sicht ist jedoch entscheidend, dass der jeweilige Verrechnungspreis einem Drittvergleich standhält, d.h. die Vertragskonditionen nachweisbar denen zwischen fremden Dritten entsprechen. Ist dies nicht der Fall, können verdeckte Gewinnausschüttungen oder verdeckte Einlagen oder Einkommenserhöhungen nach § 1 AStG entstehen.
5.233 Werden die Zielgesellschaften in den Erwerberkonzern integriert, werden Synergien u.a. dadurch gehoben, dass sie in das konzerninterne System der Dienstleistungsverrechnung einbezogen werden. Dies kann einerseits zur Folge haben, dass die Abteilungen, die diese Leistungen bisher erbracht haben, auf die Konzerngesellschaft übertragen werden, die diese Konzerndienstleistungen erbringt. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass es sich um einen internen Asset Deal eines Betriebsteils handelt, der neben dem erforderlichen Sachanlagevermögen auch den Transfer von immateriellen Wirtschaftsgütern umfassen kann. Bei der Übertragung dieser Funktionen ist daher ebenfalls ein dokumentierbarer Fremdvergleichspreis zu bestimmen mit der Konsequenz, dass die Übertragung ggf. auch zu einem steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn führen kann. Insbesondere bei der Übertragung von Konzernfunktionen einer im Inland ansässigen Gesellschaft auf eine im Ausland ansässige Gesellschaft sind die Regelungen des § 1 Abs. 3 Sätze 9 bis 12 AStG betreffend die Funktionsverlagerung zu beachten.172 172 S. auch Verordnung zur Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes nach § 1 Abs. 1 des Außensteuergesetzes in Fällen grenzüberschreitender Funktionsverlagerungen (Funktionsverlagerungsverordnung – FVerlV) v. 12.8.2008, BGBl. I 2008, 1680, geändert durch Art. 24 Gesetz zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz – AmtshilfeRLUmsG) v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809; BMF,
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D. Steuerliche Gestaltung von grenzüberschreitenden Unternehmenskäufen
Rz. 5.236 Kap. 5
Andererseits sind die Zielgesellschaften in die Dienstleistungsverrechnung zu integrieren, indem Verträge über die Erbringung der erforderlichen Leistungen geschlossen und sie in das entsprechende Abrechnungssystem einbezogen werden. Werden bestimmte Konzerndienstleistungen nicht separat pro Gesellschaft ermittelt, sondern ein Abrechnungsschlüssel zugrunde gelegt, sind die neu hinzugekommenen Gesellschaften bei diesem Schlüssel entsprechend zu berücksichtigen. Im Ergebnis sind die neu hinzugekommenen Gesellschaften in das gesamte Verrechnungspreissystem des Erwerberkonzerns zu integrieren und die Verrechnungspreisdokumentation entsprechend zu ergänzen (Masterfile, Local File, Country by Country Reporting).
5.234
Unternehmensgruppen können in der Weise organisiert sein, dass eine oder mehrere 5.235 strategieverantwortliche Zentralgesellschaften alle wesentlichen geschäftlichen Risiken und besonders werthaltigen Funktionen im Rahmen der gesamten Wertschöpfung wahrnehmen, während sie andere Konzerngesellschaften beauftragen, überwiegend Routinefunktionen mit begrenztem Risiko (Auftragsforschung und -entwicklung; Lohn- oder Auftragsfertigung; Handelsvertretung/Kommissionärstätigkeit) auszuführen (sog. Prinzipalstrukturen). In diesen Fällen sind die Zielgesellschaften auch in diese Struktur der Wertschöpfungskette einzugliedern. Ist beispielsweise im Erwerberkonzern eine Prinzipalstruktur installiert, könnte es zielführend sein, lokale Produktionsgesellschaften des Zielkonzerns in Lohnfertiger vergleichbar mit den Produktionseinheiten des Erwerberkonzerns zu überführen. Auch diese Veränderung der Aufgaben- und Funktionsverteilung der Zielgesellschaften kann eine Funktionsverlagerung zur Folge haben und eine Ermittlung der Verrechnungspreise und eine entsprechende Dokumentation erforderlich machen. Eine Angleichung der Konzernfunktionen mit Anpassung des Verrechnungspreissystems kann auch erforderlich sein, wenn Erwerber- und Zielkonzern unterschiedliche Vertriebssysteme unterhalten und diesbezüglich eine Vereinheitlichung vorgenommen werden soll. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Erwerberkonzern eine Kommissionärstruktur implementiert hat, der Zielkonzern hingegen Vertriebstochtergesellschaften mit sämtlichen Vertriebsfunktionen unterhält. Da nicht nur bei nicht fremdvergleichskonformen Verrechnungspreisen steuerlich ein Risiko einer Einkommenshinzurechnung und im internationalen Kontext ein Risiko der Doppelbesteuerung besteht, sondern auch die fehlende oder mangelhafte Dokumentation des Verrechnungspreissystems in vielen Ländern zu erheblichen Strafen führen kann, sollte die Integration auch von der steuerlichen Seite beleuchtet und die erforderlichen Maßnahmen getroffen werden.
D. Steuerliche Gestaltung von grenzüberschreitenden Unternehmenskäufen I. Einleitung Unabhängig davon, ob die grenzüberschreitende Akquisition einen vereinfachten Marktzutritt in einem bestimmten Land oder Region oder die Schaffung von Synergieeffekten aus einer Optimierung der internationalen Zusammenarbeit zum Ziel hat, folgen die grenzüberschreitenden Unternehmenskäufe grundsätzlich vergleichbaren Prozessen wie inländische Unternehmenskäufe und rufen die gleichen Interessen der unterschiedlichen Prozessbeteiligten auf den Plan. Auch in steuerlicher Hinsicht ist festzuhalten, dass die Interessengegensätze zwischen Verkäufer und Erwerber in gleicher Weise bei einem grenzüberschreitenden UnSchr. v. 13.10.2010 – IV B 5 - S 1341/08/10003, Grundsätze für die Prüfung der Einkunftsabgrenzung zwischen nahestehenden Personen in Fällen grenzüberschreitender Funktionsverlagerungen (Verwaltungsgrundsätze Funktionsverlagerung).
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5.236
Kap. 5 Rz. 5.237
Steuern
ternehmenskauf bestehen wie bei einer rein inländischen Transaktion. Der Verkäufer verfolgt hierbei das Ziel, die Steuerbelastung bezüglich des Veräußerungsgewinns und die Transaktionskosten möglichst gering zu halten. Der Erwerber hingegen zielt darauf ab, den Kaufpreis in steuerwirksame Betriebsausgaben, d.h. Abschreibungen auf Anschaffungskosten zu transformieren, die Kosten der Akquisitionsfinanzierung steuerlich optimal zum Abzug zu bringen, Steuervorteile wie Vorlustvorträge, Zinsvorträge, EBITDA-Vorträge oder Anrechnungsguthaben steuereffizient zu nutzen und die Transaktionskosten wie beispielsweise Stamp duties oder Grunderwerbsteuern zu minimieren.173
5.237 Neben diesen für den Unternehmenskauf typischen steuerlichen Interessen treten insbesondere auf Seiten des Erwerbers weitere steuerplanerische Ziele hinzu, die sich auf eine steuerlich optimierte Integration des Zielunternehmens in den Erwerberkonzern oder in die Erwerbsstruktur eines internationalen Finanzinvestors beziehen. Zu diesen Zielen gehört u.a. die optimale Nutzung des im Rahmen des Erwerberkonzerns bestehenden Steuergefälles durch eine entsprechende Gestaltung der konzerninternen Finanzierung, durch eine steuereffiziente Planung der Supply-Chain unter Berücksichtigung der Transferpreisregimes sowie eine Reduktion von Quellensteuern auf konzerninterne Zahlungsströme betreffend Finanzierungen, Lizenzen und Dienstleistungen. Weitere wichtige Planungsziele sind jedoch auch die Vermeidung von Doppelbesteuerungen durch Nutzung von Doppelbesteuerungsabkommen, der Anwendung von Hinzurechnungsbesteuerungssystemen (CFC-Rules) durch Spitzeneinheiten in Hochsteuerländern sowie die Schaffung möglichst umfangreicher Flexibilität in Bezug auf steuerneutrale Reorganisationen und Veräußerungen (Exit). Abhängig von der Ertragssituation der Einheiten des Zielunternehmens und des Erwerberkonzerns kann zudem eine internationale Gruppenbesteuerung, eine internationale Verlustnutzung oder Anrechnung von Steuern von Interesse sein, um Cash-Flow-Vorteile durch eine Steuerbarwertreduktion zu erreichen.
II. Erwerb eines inländischen Unternehmens 1. Akquisitionsvehikel
5.238 Ein beschränkt steuerpflichtiger Erwerber kann das inländische Unternehmen direkt erwerben und folglich eine im Inland belegene Betriebsstätte begründen oder zukünftig eine Beteiligung an einer inländischen Kapital- oder Personengesellschaft halten. Vielfach wird jedoch ein inländisches Akquisitionsvehikel gegründet oder erworben, um den Erwerb des inländischen Unternehmens durchzuführen. Im Falle eines Asset Deals eröffnet dies die Möglichkeit, das inländische Unternehmen in Form einer inländischen Gesellschaft zu führen, um dadurch einen lokalen Marktauftritt zu befördern. Aus steuerrechtlicher Sicht ändert sich dadurch nichts daran, dass sowohl die Abschreibungen der Anschaffungskosten als auch der Abzug der Finanzierungskosten von der steuerlichen Bemessungsgrundlage unter Beachtung der Regelungen der Zinsschranke und der 25%igen Hinzurechnung für Gewerbesteuerzwecke grundsätzlich im Inland erfolgen. Wird als Akquisitionsvehikel eine Kapitalgesellschaft gewählt, entsteht zudem eine Abschirmwirkung bezüglich der Besteuerung der inländischen Betriebsstättengewinne auf Ebene des ausländischen Erwerbers. Erst die Ausschüttung von Gewinnen führt im Allgemeinen zur Besteuerung von Einkünften im Wohnsitzstaat des beschränkt steuerpflichtigen Erwerbers aus dem inländischen Unternehmen. 173 Vgl. auch Jacobs in Jacobs/Endres/Spengel, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 1185 f.; Stein/Becker, GmbHR 2003, 84 ff.
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D. Steuerliche Gestaltung von grenzüberschreitenden Unternehmenskäufen
Rz. 5.241 Kap. 5
Aber auch beim Erwerb von Anteilen an Kapital- oder Personengesellschaften wird vielfach eine inländische Akquisitionsgesellschaft eingesetzt.174 Auf Grund des in Deutschland herrschenden Transparenzprinzips bei der Einkommenbesteuerung von Gewinnen aus einer Personengesellschaft, begründet eine Akquisitionsgesellschaft in Form einer Kapitalgesellschaft eine vergleichbare Abschirmwirkung von der Besteuerung der inländischen Gewinne im Wohnsitzstaat des ausländischen Erwerbers wie bei einem Asset Deal. In der Vergangenheit fanden nach deutschem Steuerrecht die Finanzierungsaufwendungen für den Erwerb der Anteile an einer Personengesellschaft als Sonderbetriebsausgaben grundsätzlich auch bei der inländischen Gewinnermittlung Berücksichtigung, so dass eine Akquisitionsgesellschaft im Inland für einen „debt push down“ im weiteren Sinne, d.h. der Allokation der Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung in den Ansässigkeitsstaat des erworbenen Unternehmens, im Grundsatz nicht erforderlich war.175 Inzwischen schränkt § 4i EStG den Abzug von Sonderbetriebsausgaben bei Vorgängen mit Auslandsbezug ein, so dass im Einzelfall zu prüfen ist, inwieweit das Ziel eines „debt push down“ ohne Einsatz einer inländischen Akquisitionsgesellschaft noch möglich ist. Beim Erwerb von Anteilen an Kapitalgesellschaften wird hingegen nur durch die Einschaltung einer Akquisitionsgesellschaft in Form einer Kapital- oder gegebenenfalls Personengesellschaft dieses Ziel erreicht: Erst durch den Erwerb der inländischen Akquisitionsgesellschaft wird ein Anschaffungsvorgang im Inland vollzogen, so dass die Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung im Rahmen der inländischen Gewinnermittlung berücksichtigt werden können.176
5.239
Aus Sicht von insbesondere ausländischen Finanzinvestoren (Private Equity Fonds, Staats- 5.240 fonds, Pensionsfonds) ist bei der Wahl der Rechtsform des Akquisitionsvehikels auch die zukünftige Repatriierung von Gewinnen aus der Investition zu berücksichtigen. Während Private Equity Fonds ihre Rendite aus einem erfolgreichen Exit, d.h. der Veräußerung des Unternehmens erzielen, gehen Staatsfonds und Pensionsfonds oftmals von regelmäßigen Ausschüttungen der erworbenen Unternehmen aus. Vor diesem Hintergrund haben Private Equity Fonds eine Präferenz für die Nutzung einer Kapitalgesellschaft als Akquisitionsvehikel mit dem Ziel, dass ein zukünftiger Veräußerungsgewinn unter ein sog. ausländisches Participation Exemption Regime (Freistellung von Veräußerungsgewinnen aus Anteilen an Kapitalgesellschaften) fällt und damit weitestgehend steuerbefreit bleibt. Da es in diesem Zusammenhang nicht auf eine Reduktion der Kapitalertragsteuer oder anderer Abzugssteuern ankommt, sind an den Gesellschafter der Akquisitionsgesellschaft nicht die gesteigerten Substanzanforderungen des § 50d Abs. 3 EStG anzulegen. Die üblichen Anforderungen an die wirtschaftliche und rechtliche Existenz und eine angemessene Ausstattung für die limitierte Funktion der Holdinggesellschaft sollten insoweit aus Sicht des deutschen Steuerrechts ausreichend sein. Zudem wird mit Blick auf den zukünftig zu beachtenden „Principle Purpose Test“ der Doppelbesteuerungsabkommen auch die wirtschaftliche Begründung für die Standortwahl der Holdinggesellschaft mehr und mehr an Bedeutung gewinnen.177 Institutionelle Investoren, die regelmäßige Ausschüttungen aus ihren Beteiligungsunternehmen erwarten, wählen hingehen vielfach eine Personengesellschaft als Akquisitionsvehikel, um den Abzug von Quellensteuern auf die Gewinnrepatriieung in Form von Entnahmen zu vermeiden und damit auch nicht in den Anwendungsbereich des § 50d Abs. 3 EStG zu gelangen. Nach der bisherigen Rechtsauffassung der Finanzverwaltung unterlag eine solche 174 175 176 177
Vgl. auch Schaden/Polatzky, IStR 2013, 131 ff. Vgl. auch Kraft, RIW 2003, 641 (644). So auch Kraft, RIW 2003, 641 (644). Zum Multilateral Instrument des BEPS-Projekts Gradl/Kiesewetter, IStR 2018, 1 ff.
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5.241
Kap. 5 Rz. 5.242
Steuern
Holding-Personengesellschaft trotz ausschließlich vermögensverwaltender Aktivitäten bei gewerblicher Prägung der inländischen beschränkten Steuerpflicht nach § 49 Abs. 1 Nr. 2a EStG (gewerbliche Einkünfte), soweit sie eine Betriebsstätte im Inland unterhielt und sie mehr als eine Beteiligung verwaltete.178 Hier ist jedoch zu beachten, dass die Finanzverwaltung nunmehr mit dem BMF-Schreiben zur Anwendung der Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) auf Personengesellschaften vom 26.9.2014 im Hinblick auf die Rechtsprechung des BFH179 im Anwendungsbereich der Doppelbesteuerungsabkommen eine Besteuerung nach § 49 Abs. 1 Nr. 2a EStG (gewerbliche Gewinne) in Deutschland nur noch anzunehmen beabsichtigt, wenn im Inland eine Betriebsstätte unterhalten wird, der auch nach Anwendung der Doppelbesteuerungsabkommen Unternehmensgewinne zugerechnet werden. Rein vermögensverwaltende Personengesellschaften unterhalten hiernach – ungeachtet einer gewerblichen Prägung – keine Betriebsstätte im Inland.180 In einem solchen Fall ist das Besteuerungsrecht an den Einkünften nach den entsprechenden Artikeln der Doppelbesteuerungsabkommen zu bestimmen. Sollte die Holding-Personengesellschaft auf Grund von Konzerndienstleistungen eine Betriebsstätte begründen, stellt sich weiterhin die Frage der Zuordnung der betreffenden Beteiligung zu dieser Betriebsstätte. Nach der Rechtsprechung des BFH und dem oben genannten BMF-Schreiben ist die Zuordnung nach einer funktionalen Betrachtungsweise181 zu vollziehen, wobei untergeordnete Konzerndienstleistungen unter Umständen nicht ausreichen, um die Zuordnung der Beteiligung zu der Betriebsstätte der Personengesellschaft zu begründen. Soweit hiernach eine Zuordnung der Beteiligung zur Betriebsstätte der Personengesellschaft ausscheidet, schlägt die Gestaltung zur Vermeidung von Quellensteuern und der Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG fehl, wenn in der ausländischen Holdingstruktur keine Gesellschaft die Voraussetzungen des § 50d Abs. 3 EStG erfüllt und eine Reduktion der deutschen Kapitalertragsteuer auf Grund eines Doppelbesteuerungsabkommens ermöglicht. Allerdings hat die Finanzverwaltung mit BMF-Schreiben vom 4.4.2018182 den Anwendungsbereich des § 50d Abs. 3 EStG hinsichtlich der Entlastung von Quellensteuern nach der EU-Mutter-Tochter-Richtlinie deutlich eingeschränkt, um nach zwei Urteilen des EuGH zu § 50d Abs. 3 EStG183 eine EU-rechtskonforme Anwendung der Vorschrift zu erzielen (s. dazu auch Rz. 5.251). Insofern könnte in Einzelfällen eine Quellensteuer auf Dividenden dennoch auf Grundlage der Mutter-TochterRichtlinie vermieden werden. 2. Double Dip-Finanzierungen
5.242 Grundsätzlich sind Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung in dem Staat steuerlich zu berücksichtigen, in dem sie zum Erwerb von Einkommen generierenden Wirtschaftsgütern dienten. Erwirbt ein beschränkt Steuerpflichtiger ein inländisches Unternehmen im Rahmen eines Asset Deals und führt er dieses Unternehmen als inländische Betriebsstätte fort, ist die Akquisitionsfinanzierung unabhängig davon, ob sie vom Stammhaus z.B. in dessen Ansässigkeitsstaat aufgenommen worden ist, auf Grund des Veranlassungsprinzips 178 BMF, Schr. v. 16.4.2010 – IV B 2 - S 1300/09/10003, BStBl. I 2010, 354 ff., Rz. 2.2.3 und 3.1. 179 BFH v. 25.5.2011 – I R 95/10, GmbHR 2011, 1004 m. Anm. Suchanek = BFH/NV 2011, 1602; BFH v. 28.4.2010 – I R 81/09, BFH/NV 2010, 1550. 180 BMF, Schr. v. 26.9.2014 – IV B 5 - S 1300/09/10003, BStBl. I 2014, 1258, Rz. 2.2.1, 2.3.1. und 2.3.3. 181 BMF, Schr. v. 26.9.2014 – IV B 5 - S 1300/09/10003, BStBl. I 2014, 1258, Rz. 2.2.4.1.; BFH v. 13.2.2008 – I R 63/06, BStBl. II 2009, 414 = GmbHR 2008, 780. 182 BMF, Schr. v. 4.4.2018 – IV B 3 - S 2411/07/10016-14, IStR 2018, 324. 183 EuGH v. 20.12.2017 – C-504/16, C-613/16, IStR 2018, 197; EuGH v. 14.6.2018 – C-440/17, DStR 2018, 1479.
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D. Steuerliche Gestaltung von grenzüberschreitenden Unternehmenskäufen
Rz. 5.244 Kap. 5
nach § 50 Abs. 1 Satz 1 und § 4 Abs. 4 EStG grundsätzlich im Inland abziehbar.184 Darüber hinaus vertritt die Finanzverwaltung gemäß Betriebsstättenerlass die Auffassung, dass zwar grundsätzlich eine Aufteilung der Finanzierungsmittel des Gesamtunternehmens nach Fremdvergleichsgrundsätzen vorzunehmen ist, ferner jedoch auch ein angemessenes fremdübliches Dotationskapital bestehen muss, so dass Fremdkapital der Betriebsstätte bis zur Höhe des steuerlich angemessenen Dotationskapitals als Eigenkapital zu behandeln sei.185 An dieser Auffassung hält sie auch nach Einführung des Authorized OECD Approachs in das deutsche Außensteuerrecht weiter fest.186 Ferner sind die steuerlichen Einschränkungen des § 4h EStG und § 8 Nr. 1 GewStG zu berücksichtigen. Die Finanzierung des Erwerbs eines Anteils an einer inländischen Personengesellschaft durch einen beschränkt Steuerpflichtigen stellt nach nationalem Rechtsverständnis notwendiges Sonderbetriebsvermögen der Personengesellschaft dar, so dass die Aufwendungen und Erträge hieraus bei der Ermittlung des Gewinns der Personengesellschaft für Gewerbesteuerzwecke bzw. des beschränkt steuerpflichtigen Personengesellschafters für Einkommensteuerbzw. Körperschaftsteuerzwecke bisher als grundsätzlich abziehbar betrachtet wurden.187 Auch in DBA-Fällen hat der BFH das Sonderbetriebsvermögen II bei der inländischen Gewinnermittlung berücksichtigt, soweit keine Betriebsstätte des Mitunternehmers im Ausland bestand.188 Einschränkungen bestanden ggf. nach § 4h EStG bzw. § 8 Nr. 1 GewStG. Diese Steuerwirkung der ausländischen Akquisitionsfinanzierung bei der inländischen Gewinnermittlung ist Ausfluss des im deutschen Steuerrecht bestehenden Konzepts des Sonderbetriebsvermögens, das nur in wenigen anderen Staaten ebenfalls Anwendung findet. Zwar wurde nach Veröffentlichung des BMF-Schreibens zur Anwendung der Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) auf Personengesellschaften am 26.9.2014 vereinzelt vertreten, dass bei Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen Gewinne und Verluste aus dem Sonderbetriebsvermögen, die mit dem Erwerb der Beteiligung in Zusammenhang stehen, nur im Ansässigkeitsstaat zum Abzug zu bringen sein sollen.189 Diese Auffassung überzeugte jedoch nicht: Weder das o.g. BMF-Schreiben noch die BFH-Rechtsprechung vertraten diese Auffassung. Aufgrund des Transparenzprinzips waren die Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung vielmehr ebenso wie bei einem Asset Deal nach dem funktionalen Zusammenhang mit den erworbenen Wirtschaftsgütern unter Berücksichtigung eines angemessenen Dotationskapitals der Betriebsstätte im Inland zuzuordnen und damit steuerlich absetzbar.
5.243
Soweit die Aufwendungen aus der Akquisitionsfinanzierung im jeweiligen Ansässigkeitsstaat des Erwerbers steuerlich berücksichtigt wurden, da der Ansässigkeitsstaat die Finanzierung nicht als Sonderbetriebsvermögen der deutschen Personengesellschaft, sondern als Betriebsvermögen des Erwerbers betrachtete, kam es auf Grund dieses Qualifikationskonflikts zu einer doppelten Berücksichtigung derselben Aufwendungen in zwei Staaten („Double Dip“).190 In einem solchen Fall konnte in beiden Staaten das steuerpflichtige Einkommen hierdurch
5.244
184 So auch nach § 15 der Betriebsstättengewinnaufteilungsverordnung (BsGaV) v. 13.10.2014, BGBl. I 2014, 1603; vgl. auch Nientimp/Ludwig, IWB 2013, 638 (646, 647). 185 BMF, Schr. v. 24.12.1999 – IV B 4 - S 1300 – 111/99, BStBl. I 1999, 1076 ff., Rz. 2.5.1. 186 Vgl. §§ 14 und 15 der Betriebsstättengewinnaufteilungsverordnung (BsGaV) v. 13.10.2014, BGBl. I 2014, 1603; vgl. auch Nientimp/Ludwig, IWB 2013, 638 (646, 647). 187 BFH v. 17.6.1993 – IV R 10/92, BStBl. II 1993, 843. 188 Vgl. BFH v. 13.2.2008 – I R 63/06, BStBl. II 2009, 414 = GmbHR 2008, 780; BFH v. 12.6.2013 – I R 47/12, BStBl. II 2014, 770 = GmbHR 2013, 1285. 189 Hruschka, DStR 2014, 2421 (2426). 190 Schaden/Polatzky, IStR 2013, 131 (132); Wagner/Liekenbrock, Ubg 2013, 133 (142, 143); von Freeden/Liekenbrock, DB 2013, 1690 f.; Kraft, RIW 2003, 641 (644).
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Kap. 5 Rz. 5.245
Steuern
nach den jeweiligen nationalen Vorschriften steuerwirksam gemindert werden mit einem entsprechend mindernden Effekt auf den effektiven Steuersatz des Konzerns. Allerdings konnten sich aus diesen Gestaltungen erhebliche Steuerrisiken aus Wechselkursschwankungen ergeben, da die Finanzierung nur in einer Währung aufgenommen werden konnte und daher im anderen Staat ein Fremdwährungsdarlehen darstellte. Durch Tilgungen konnten bei Wechselkursschwankungen erhebliche, in vollem Umfang steuerpflichtige Erträge entstehen, denen kein Liquiditätszufluss gegenüber stand.
5.245 Die Anwendung von § 50d Abs. 10 EStG i.d.F. des AmtshilfeRLUmsG widerspricht der Berücksichtigung von Aufwendungen der Akquisitionsfinanzierung betreffend den Erwerb von inländischen Personengesellschaftsanteilen, d.h. von Aufwendungen des Sonderbetriebsvermögens II bei der inländischen Gewinnermittlung nicht. Allerdings soll sich nach § 50d Abs. 10 Satz 3 EStG die Zuordnung von Aufwendungen des Sonderbetriebsvermögens gleichermaßen wie die Zuordnung von Sondervergütungen nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG danach richten, dass die inländische Betriebsstätte auch die aus der die Sondervergütung betreffenden Leistungsbeziehung resultierenden Aufwendungen getragen hat. Insofern stellt sich die Frage, ob eine Zuordnung der Aufwendungen des Sonderbetriebsvermögens II zu einer inländischen Betriebsstätte scheitert, wenn eine Sondervergütung im o.g. Sinne fehlt. Diese Auffassung wird zum Teil vertreten.191 Dagegen spricht, dass der Gesetzgeber als Reaktion auf die Rechtsprechung des BFH mit der Einführung des § 50d Abs. 10 EStG beabsichtigte, das deutsche Besteuerungsrecht an Sondervergütungen auch in DBAFällen sicherzustellen, aber nicht Sonderbetriebsvermögen II von der deutschen Besteuerung auszunehmen.192
5.246 Allerdings ist nunmehr nach Einführung von § 4i EStG ein Sonderbetriebsausgabenabzug ausgeschlossen, soweit die Sonderbetriebsausgaben auch die Steuerbemessungsgrundlage in einem anderen Staat mindern. Dies gilt ausnahmsweise nur dann nicht, wenn diese Aufwendungen Erträge desselben Steuerpflichtigen mindern, die bei ihm sowohl der inländischen Besteuerung unterliegen als auch nachweislich der tatsächlichen Besteuerung in einem anderen Staat. Folglich sind mit dem Veranlagungszeitraum 2017 die sog. „Double Dip“ Gestaltungen durch eine ausländische Akquisitionsfinanzierung von inländischen Personengesellschaftsanteilen nicht mehr möglich.193
5.247 Aufgrund von besonderen Vorschriften im ausländischen Steuerrecht kann es zudem zu einer doppelten Berücksichtigung von Aufwendungen der Akquisitionsfinanzierung in Fällen des Erwerbs einer deutschen Kapitalgesellschaft durch eine im Ausland ansässige beschränkt steuerpflichtige Kapitalgesellschaft kommen: Z.B. ist es nach US-amerikanischem Recht möglich, weltweit im Falle bestimmter Gesellschaftsformen – darunter auch im Falle einer deutschen GmbH – Gesellschaften für US-steuerliche Zwecke als transparente Einheiten (d.h. entweder als Betriebsstätte des Mutterunternehmens oder als transparente Personengesellschaft) zu berücksichtigen („sog. „Check-the-box Rules“). So ließen sich Double-Dip-Finanzierungsgestaltungen beispielsweise dadurch herstellen, dass die Finanzierung 191 Hruschka, DStR 2014, 2421 (2426); Sonnleitner/Winkelhog, BB 2014, 473 (478); nicht eindeutig BMF-Schreiben zur Anwendung der Doppelbesteueuerungsabkommen (DBA) auf Personengesellschaften v. 26.9.2014 – IV B 5 - S 1300/09/10003, BStBl. I 2014, 1258: Hier wurde lediglich die in der Entwurfsfassung enthaltene Aussage, dass § 50d Abs. 10 EStG nicht für das Sonderbetriebsvermögen II gilt, gestrichen. 192 Vgl. Hagemann/Kahlenberg, IStR 2015, 54 (57 f.). 193 Zu § 4i EStG: Bergmann, FR 2017, 126 ff.
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D. Steuerliche Gestaltung von grenzüberschreitenden Unternehmenskäufen
Rz. 5.249 Kap. 5
von einer deutschen Akquisitions-GmbH aufgenommen wird, deren Aufwendungen und Erträge einerseits auf Grund der oben genannten „Check-the-box Rules“ bei der US-amerikanischen steuerlichen Gewinnermittlung berücksichtigt sowie andererseits nach Begründung einer Organschaft mit dem Zielunternehmen bei der steuerlichen Gewinnermittlung des Organkreises in Deutschland erfasst wurden.194 Mit § 14 Abs. 1 Nr. 5 KStG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts195 soll einer doppelten Berücksichtigung von Verlusten in mehreren Staaten entgegengewirkt werden, indem negative Einkünfte des Organträgers oder der Organgesellschaft bei der inländischen Besteuerung unberücksichtigt bleiben sollen, soweit sie in einem ausländischen Staat im Rahmen der Besteuerung des Organträgers, der Organgesellschaft oder einer anderen Person berücksichtigt werden (dies entspricht einer sog. „Dual Consolidated Loss Rule“).196 Voraussetzung ist in jedem Fall, dass in Deutschland eine Organschaft besteht. Ist dies nicht der Fall, schränkt diese Norm nicht die Abziehbarkeit von Finanzierungsaufwendungen in einem Double-Dip-Modell ein. Auch wird in der Literatur bezweifelt, ob die Regelung auf Organträger-Personengesellschaften Anwendung findet, da sie nicht Subjekt der Einkünfteerzielung sind und daher keine negativen Einkünfte des Organträgers entstehen können.197 Weitere Voraussetzung für die Anwendung der Norm ist die Berücksichtigung der negativen Einkünfte bei der Besteuerung im Ausland, wobei insoweit noch nicht abschließend geklärt ist, ob auch im Ausland negative Einkünfte vorliegen müssen198 und ob es erforderlich ist, dass die negativen Einkünfte im Jahr der Entstehung von der ausländischen Bemessungsgrundlage abgezogen werden, oder ob eine Berücksichtigung in einer zukünftigen Periode ausreichend ist.199 In seiner Entscheidung vom 12.10.2016 konnte der BFH sämtliche diese Fragen mangels Entscheidungserheblichkeit offenlassen.200 Auch wenn die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 Nr. 5 KStG nicht vorliegen sollten, bleibt zu untersuchen, ob das ausländische Steuerrecht nicht eine vergleichbare Vorschrift für Fälle einer doppelten Verlustnutzung hat. So befinden sich beispielsweise im US-amerikanischen Recht Regelungen, die die doppelte Nutzung von Verlusten im Rahmen eines solchen Gestaltungsmodells einschränken können.201
5.248
3. Planung von Dividenden-, Lizenz- und Zinszahlungen Eine weitere Besonderheit eines grenzüberschreitenden Erwerbs eines inländischen Unter- 5.249 nehmens besteht darin, dass die Erträge, die der Erwerber aus seinem inländischen Unternehmen zu erzielen beabsichtigt, dem beschränkt steuerpflichtigen Erwerber in Form von ggf. quellensteuerpflichtigen Dividenden oder Zinszahlungen aus dem Inland zufließen. Darüber hinaus kann im Rahmen der Strukturierung des Erwerbs auch eine Veräußerung von immateriellen Wirtschaftsgütern an eine ausländische Konzerngesellschaft im Erwerber194 195 196 197 198 199 200 201
Vgl. Gründig/Schmid, DStR 2013, 617 (620, 621); Wagner/Liekenbrock, Ubg 2013, 133 (143). BGBl. I 2013, 285. Vgl. hierzu Gründig/Schmid, DStR 2013, 617 ff. So Benecke/Schnitger, IStR 2013, 143 ff.; von Freeden/Liekenbrock, DB 2013, 1690 ff.; Schaden/ Polatzky, IStR 2013, 134 ff.; Wagner/Liekenbrock, Ubg 2013, 133 ff. von Freeden/Liekenbrock, DB 2013, 1690 (1692); vgl. auch Benecke/Schnitger, IStR 2013, 143 (151); Wagner/Liekenbrock, Ubg 2013, 133 (143). Gründig/Schmid, DStR 2013, 617 (621 ff.); Wagner/Liekenbrock, Ubg 2013, 133 (140). BFH v. 12.10.2016 – I R 92/12, GmbHR 2017, 425 m. Anm. Unterberg = DStR 2017, 589. Gründig/Schmid, DStR 2013, 617 (620); Kollruss, IStR 2004, 735 f.
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Kap. 5 Rz. 5.250
Steuern
konzern vorgenommen worden sein, so dass nachfolgend Lizenzzahlungen vom inländischen Unternehmen an die ausländische Konzerngesellschaft zu leisten sind. Hier stellt sich die steuerplanerische Aufgabe, die Konzernstruktur so zu gestalten, dass die Erträge der beschränkt steuerpflichtigen Empfänger nach Möglichkeit gar nicht oder nur geringfügig mit inländischer Quellensteuer belastet werden.
5.250 Nach nationalem deutschem Steuerrecht werden Dividendenerträge beschränkt steuerpflichtiger Anteilsinhaber mit inländischer Quellensteuer i.H.v. 25 % zzgl. Solidaritätszuschlag belastet. Im Falle einer Kapitalgesellschaft als Anteilsinhaber, kann der Unterschiedsbetrag zum inländischen Körperschaftsteuersatz i.H.v. 15 % zzgl. Solidaritätszuschlag nach § 44a Abs. 9 EStG erstattet werden, wenn nicht die Voraussetzungen des § 50d Abs. 3 EStG erfüllt sind, der eine missbräuchliche Ausnutzung von Zwischenholdinggesellschaften zwecks Erzielung einer Entlastung von Quellensteuern verhindern soll. Darüber hinaus kann auf Antrag eine (Teil-)freistellung vom Abzug oder eine Erstattung der Kapitalertragsteuer nach § 50d Abs. 1 und 2 EStG erreicht werden, wenn die Voraussetzungen der EU-Mutter-TochterRichtlinie bzw. eines Doppelbesteuerungsabkommens erfüllt sind. Auch in diesen Fällen dürfen die Voraussetzungen des § 50d Abs. 3 EStG nicht gegeben sein.
5.251 Ziel der Strukturierung ist somit, diese Erträge durch Gesellschaften zu vereinnahmen, die in Staaten ansässig sind, die auf Grund eines weiten Netzes von Doppelbesteuerungsabkommen oder ihrer Ansässigkeit in der EU eine möglichst weitgehende Entlastung von Quellensteuern ermöglichen. Dabei sind die deutschen „Anti-Treaty-Shopping“- bzw. „Anti-DirectiveShopping“-Vorschriften des § 50d Abs. 3 EStG zu beachten. Nach dieser Vorschrift hat eine ausländische Gesellschaft keinen Anspruch auf völlige oder teilweise Entlastung von deutschen Quellensteuern, soweit Personen an ihr beteiligt sind, denen die Erstattung oder Freistellung nicht zustände, wenn sie die Einkünfte unmittelbar selbst erzielten, und die von der ausländischen Gesellschaft im betreffenden Wirtschaftsjahr erzielten Bruttoerträge nicht aus eigener Wirtschaftstätigkeit stammen, sowie in Bezug auf diese Erträge für die Einschaltung der Gesellschaft entweder wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe fehlen oder die Gesellschaft nicht mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt.202 Folglich ist im Rahmen der Steuerplanung zu berücksichtigen, dass eine Entlastung vom Quellensteuerabzug auf Dividendenerträge nur möglich ist, wenn der im Ausland ansässige Anteilsinhaber die qualifizierten Substanzanforderungen erfüllt. Soweit nur eine vermögensverwaltende Holdinggesellschaft die Beteiligung hält, sollen die erforderlichen Substanzmerkmale nicht vorliegen. Diesbezüglich hat die Finanzverwaltung mit BMF-Schreiben vom 4.4.2018203 jedoch eine Ausnahme betreffend die Anwendung der Mutter-Tochter-Richtlinie verfügt, nachdem der EuGH in Bezug auf die Vorgängervorschrift die Nichtkonformität mit Unionsrecht festgestellt hat.204 Nachfolgend hat der EuGH diese Rechtsauffassung auch für § 50d Abs. 3 EStG in der aktuellen Fassung bestätigt.205 Im Anwendungsbereich der Mutter-Tochter-Richtlinie soll eine Entlastungsberechtigung nunmehr grundsätzlich nur ausgeschlossen sein, wenn sich aus einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls ergibt, dass mit der Einschaltung der ausländischen Gesellschaft im Wesentlichen nur ein steuerlicher Vorteil bezweckt wird.206 202 203 204 205
Vgl. auch BMF, Schr. v. 24.1.2012 – IV B 3 – S-2411/07/10016, BStBl. I 2012, 171. BMF, Schr. v. 4.4.2018 – IV B 3 - S 2411/07/10016-14, IStR 2018, 324. EuGH v. 20.12.2017 – C-504/16, C-613/16, IStR 2018, 197. EuGH v. 14.6.2018 – C-440/17, GS Vorabentscheidungsersuchen des FG Köln v. 17.5.2017 – 2 K 773/16, DStR 2018, 1479. 206 BMF, Schr. v. 4.4.2018 – IV B 3 - S 2411/07/10016-14, IStR 2018, 324.
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D. Steuerliche Gestaltung von grenzüberschreitenden Unternehmenskäufen
Rz. 5.256 Kap. 5
In allen anderen Fällen ist entweder zu erwägen, die Holdinggesellschaft mit weiterer Substanz, d.h. beispielsweise mit im Konzern verrechenbaren Konzernfunktionen und entsprechendem Personal anzureichern oder die Rechtsform der inländischen Einheit von einer Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft zu transformieren, da Entnahmen aus der Personengesellschaft im Unterschied zu Dividendenerträgen keiner Kapitalertragsteuer unterliegen. Bei Einsatz einer Personengesellschaft ist jedoch zu berücksichtigen, dass ihre wirtschaftlichen Aktivitäten auch bei Anwendung eines Doppelbesteuerungsabkommens zu einer inländischen Betriebsstätte des ausländischen Anteilseigners führen müssen, der etwaige Beteiligungen an deutschen Kapitalgesellschaften zugerechnet werden können (s. Rz. 5.241).
5.252
Hinsichtlich Zinserträgen aus inländischen Unternehmen sieht das deutsche Steuerrecht 5.253 nur in speziellen Sonderfällen überhaupt eine inländische Steuerpflicht nach § 49 Abs. 1 Nr. 5c EStG vor, nämlich dann wenn das Darlehen durch inländisches Grundvermögen, durch grundstücksgleiche Rechte oder durch Schiffe besichert ist, die in ein inländisches Schiffsregister eingetragen sind. Dies ist bei Gesellschafterdarlehen im Allgemeinen nicht der Fall, so dass Zinszahlungen auf Gesellschafterdarlehen üblicherweise keine Quellensteuern auslösen. Demgegenüber unterliegen Lizenzzahlungen an beschränkt steuerpflichtige Lizenzgeber einem Quellensteuerabzug von 15 % zzgl. Solidaritätszuschlag nach § 50a Abs. 2 Satz 1 EStG, soweit nicht eine Entlastung von der Quellensteuer auf Grund eines Doppelbesteuerungsabkommens oder auf Grund der EU-Zins- und Lizenzrichtlinie nach § 50g EStG in Betracht kommt. Hinsichtlich der Entlastung von der Quellensteuer auf Lizenzzahlungen sind dabei wiederum die qualifizierten Substanzanforderungen an den Lizenzgeber nach § 50d Abs. 3 EStG zu berücksichtigen und in die Steuerplanung einzubeziehen.
5.254
Neben einer möglichen Quellensteuerbelastung von Lizenzzahlungen an den ausländischen Lizenzgeber ist mit Einführung von § 4j EStG ab dem Veranlagungszeitraum 2018 zu prüfen, inwieweit die Lizenzaufwendungen von der steuerlichen Bemessungsgrundlage des inländischen Lizenznehmers abzugsfähig sind. § 4j EStG richtet sich gegen Präferenzregelungen der Lizenzbesteuerung (Patentbox) und führt insoweit für nahestehende Personen ein Korrespondenzprinzip ein, das den Abzug der Lizenzaufwendungen von einer Mindestbesteuerung der Lizenzerträge von 25 % abhängig macht. Liegt eine Niedrigbesteuerung der Lizenzerträge vor, sind Lizenzaufwendungen nur teilweise nach § 4j Abs. 3 EStG steuerlich berücksichtigungsfähig.207
5.255
Auch vor dem Hintergrund der Durchführung eines Debt-Push-Down der ausländischen Akquisitionsfinanzierung in das Zielunternehmen im Inland kann die Planung der Ansässigkeit und der Substanzausstattung des Akquisitionsvehikels und Anteilsinhabers des Zielunternehmens eine bedeutende Rolle spielen. Denn wenn der Debt-Push-Down durch eine fremdfinanzierte Ausschüttung erreicht werden soll, können hierdurch Dividendenerträge des beschränkt steuerpflichtigen Anteilsinhabers entstehen. Soweit in diesem Zusammenhang Quellensteuern entstehen, führen diese zu einer zumindest vorübergehenden, wenn nicht sogar endgültigen Steuerbelastung und einem Liquiditätsabfluss, welcher einerseits das Volumen des Debt-Push-Down beschränken kann und andererseits auch finanziert werden muss. Neben dem Problem der Entstehung einer Quellensteuer ist des Weiteren zu berücksichtigen, dass zur Vermeidung von Steuerrisiken aus Wechselkursschwankungen das inländische Darlehen nach dem Debt-Push-Down in inländischer Währung gewährt sein sollte.
5.256
207 Vgl. Jochimsen/Zinowsky/Schraud, IStR 2017, 593; Ditz/Quilitzsch, DStR 2017, 1561.
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435
Kap. 5 Rz. 5.257
Steuern
4. Steuereffiziente Exitplanung
5.257 Im Hinblick auf regelmäßige Änderungen der strategischen Ausrichtung eines Unternehmens sowie der Erzielung einer Flexibilität in Bezugs auf spätere Änderungen der gesellschaftsrechtlichen Struktur ist der Erwerber zumeist im Rahmen der steuerlichen Planung der Akquisitionsstruktur bemüht, die steuerlichen Konsequenzen einer zukünftigen Veräußerung des Zielunternehmens zu optimieren. Ziel dieser Steuerplanung ist, die Veräußerung möglichst ohne oder allenfalls mit geringer Belastung des Veräußerungsgewinns mit inländischer Steuer vornehmen zu können.
5.258 Die Veräußerung des Vermögens einer inländischen Betriebsstätte sowie einer im Inland gewerblich tätigen Personengesellschaft ist grundsätzlich – auch unter Berücksichtigung von Doppelbesteuerungsabkommen – im Inland steuerpflichtig. Soweit es nicht zu einer Verrechnung des entstehenden Veräußerungsgewinns mit steuerlichen Verlusten und Verlustvorträgen kommt, kann die Steuerbelastung auf den Veräußerungsgewinn nur in bestimmten Fällen durch natürliche Personen abgemildert werden (s. Rz. 5.19). Demgegenüber bestehen für Kapitalgesellschaften, d.h. insbesondere in internationalen Konzernstrukturen, in diesen Fällen keine Entlastungsmöglichkeiten.
5.259 Die Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an inländischen Kapitalgesellschaften sind zwar nach nationalem deutschem Steuerrecht ebenfalls im Inland steuerpflichtig. Allerdings unterliegen diese Veräußerungsgewinne grundsätzlich der vollständigen Steuerbefreiung nach § 8b Abs. 2 KStG, wenn der beschränkt steuerpflichtige Anteilseigner keine inländische Betriebsstätte unterhält. Darüber hinaus sieht jedoch die Mehrheit der Doppelbesteuerungsabkommen vor, dass die Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften im Ansässigkeitsstaat des Gesellschafters zu versteuern ist, so dass im Falle der Anwendung eines solchen Doppelbesteuerungsabkommens der Veräußerungsgewinn nicht mit inländischer Steuer belastet wird. Ausnahmen gelten nach manchen Doppelbesteuerungsabkommen dann, wenn die inländische Kapitalgesellschaft überwiegend in Grundbesitz investiert ist.
5.260 Neben den oben genannten Gründen für die Investition einer im Ausland ansässigen Kapitalgesellschaft in eine inländische Kapitalgesellschaft spricht auch für diese Gestaltung, dass verschiedene ausländische Staaten eine volle Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen auf Schachtelbeteiligungen vorsehen und mithin der Gewinn aus der Veräußerung im Ergebnis ohne jegliche Steuerbelastung vereinnahmt werden kann. Darüber hinaus sind jedoch etwaige steuerliche Konsequenzen aus Verkehrsteuern zu berücksichtigen wie beispielsweise die Grunderwerbsteuer. Gegebenenfalls sind weitere steuerliche Gestaltungen zur Minimierung der Grunderwerbsteuer mit in die Steuerplanung einzubeziehen.
III. Erwerb eines ausländischen Unternehmens 1. Finanzierung
5.261 Bei einem Asset Deal von ausländischem Betriebsvermögen gelten grundsätzlich keine Besonderheiten. Soweit die Akquisitionsfinanzierung dem Erwerb des ausländischen Betriebsvermögens dient, sind die zugehörigen Aufwendungen grundsätzlich der ausländischen Betriebsstätte zuzuordnen.208 Soweit ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Freistellungs208 Vgl. §§ 14 und 15 der Betriebsstättengewinnaufteilungsverordnung (BsGaV) v. 13.10.2014, BGBl. I 2014, 1603.
436
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D. Steuerliche Gestaltung von grenzüberschreitenden Unternehmenskäufen
Rz. 5.264 Kap. 5
klausel Anwendung findet, sind die Kosten der Akquisitionsfinanzierung ausschließlich im Ausland bei der Ermittlung der steuerlichen Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen. Die Finanzierung des Erwerbs eines Anteils an einer ausländischen Personengesellschaft stellt Sonderbetriebsvermögen der ausländischen Personengesellschaft dar und wäre daher grundsätzlich nach dem deutschen Mitunternehmerschaftskonzept bei Anwendung eines Doppelbesteuerungsabkommens mit Freistellungsklausel entsprechend freizustellen. Berücksichtigt der ausländische Staat das Konzept des Sonderbetriebsvermögens nicht, würde es insoweit zu einer doppelten Nichtberücksichtigung von Betriebsausgaben kommen. In einem solchen Fall ist die Möglichkeit eines Debt-Push-Down in die ausländische Gesellschaft zu untersuchen. Auch stellt sich die Frage, ob die Aufwendungen zum Erwerb eines Anteils an einer Personengesellschaft nach § 50d Abs. 10 Satz 3 EStG im Falle fehlender Sondervergütungen nicht dem inländischen Gesellschafter zuzuordnen sind und damit von der dt. Bemessungsgrundlage abziehbar bleiben. Bei dem Erwerb von Anteilen an ausländischen Kapitalgesellschaften gelten grundsätzlich ebenfalls keine Besonderheiten. Die Kosten der Akquisitionsfinanzierung sind bei natürlichen Personen allenfalls teilweise abziehbar. Bei Kapitalgesellschaften wird der Abzug der Finanzierungskosten zwar nicht eingeschränkt, bei fehlendem zu versteuernden Einkommen wie beispielsweise in Fällen von Holdinggesellschaften entstehen jedoch Zinsvorträge oder Verlustvorträge, die ggf. strukturell auch nicht in der Zukunft verwertbar sind. In einem solchen Fall bietet sich einerseits die Integration der deutschen Holdinggesellschaft in den Organkreis des Erwerbers an, um ausreichend zu versteuerndes Einkommen mit den Kosten der Akquisitionsfinanzierung verrechnen zu können und auch im Hinblick auf die Zinsschranke möglichst in keine Abzugsbeschränkungen zu laufen. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass für die Anwendung des Eigenkapitalquotenvergleichs der Konzernklausel nach § 4h Abs. 2 Satz 1 lit. c EStG die Buchwerte der Anteile an anderen Konzerngesellschaften, d.h. auch der Anteile an der erworbenen ausländischen Gesellschaft zu kürzen sind.
5.262
Andererseits wäre ein Debt-Push-Down in die ausländische Kapitalgesellschaft zu erwägen. Letzteres könnte neben den oben beschriebenen Debt-Push-Down Gestaltungen (s. Rz. 5.207 ff.) auch dadurch erreicht werden, dass die deutsche Holdinggesellschaft eine ausländische Akquisitionsgesellschaft gründet, die die Anteile an der ausländischen Zielgesellschaft unter Einsatz des Fremdkapitals erwirbt. Nach der Akquisition wird die ausländische Zielgesellschaft entweder auf die Akquisitionsgesellschaft verschmolzen oder eine Gruppenbesteuerung hergestellt.
5.263
2. Steuereffiziente Integration in den internationalen Erwerberkonzern Die Integration der ausländischen Zielgesellschaft in den Erwerberkonzern ist grundsätzlich auch aus steuerlicher Sicht zu beleuchten. Einerseits sollen die Konzernfunktionen des Erwerberkonzerns und des Zielunternehmens dergestalt restrukturiert werden, dass es nicht zu einer Verdoppelung von Konzernfunktionen kommt, dass sämtliche Konzernfunktionen möglichst kosten-, d.h. auch steuereffizient in dem betreffenden Land ihrer Ansässigkeit erfüllt werden können und dass die Struktur der Wertschöpfungskette wie beispielsweise beim Vertrieb (z.B. Kommissionärstruktur, Buy-Sell-Struktur) oder bei der Produktion (z.B. Prinzipalstruktur mit Lohnfertigern) vereinheitlicht werden. Bei dieser strategischen Planung ist auch das Steuergefälle zwischen den verschiedenen internationalen Standorten zu berücksichtigen. Soweit es hierbei allerdings zu Funktionsverlagerungen kommt, ist das Vorliegen einer Exitbesteuerung in dem betreffenden Land zu prüfen. Darüber hinaus gilt es, das ge-
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437
5.264
Kap. 5 Rz. 5.265
Steuern
samte Verrechnungspreissystem zu überarbeiten und die erforderliche Dokumentation zu ergänzen.
5.265 Andererseits kann aber auch eine Reorganisation der gesellschaftsrechtlichen Struktur erforderlich sein. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn die Rechtsformen der inländischen Holdinggesellschaft oder der ausländischen Einheit nicht die gewünschten internationalen Steuerprivilegien vermitteln können. Um beispielsweise die Anwendung der EU-MutterTochter-Richtlinie in Anspruch zu nehmen und auch die Anwendung der Schachtelprivilegien der Doppelbesteuerungsabkommen sicherzustellen, ist es im Allgemeinen ratsam, die Konzerngesellschaft in der Rechtsform von Kapitalgesellschaften zu unterhalten. Dies erleichtert nicht nur die Möglichkeit der Entlastung von Quellensteuern auf Dividenden, Zinsen und Lizenzgebühren, sondern auch die Exitbesteuerung. Darüber hinaus eröffnet diese Struktur es in der Regel, die jeweils nationalen Gesellschaften im Rahmen eines Gruppenbesteuerungssystems zu verbinden, um innerperiodische Gewinne und Verluste möglichst steueroptimal zu verrechnen. 3. Vermeidung der Hinzurechnungsbesteuerung
5.266 Ein weitererentscheidender Steuerplanungsaspekt ist die Vermeidung einer sog. Hinzurechnungsbesteuerung (d.h. der Anwendung sog. „CFC Rules“), die der Gewinnverlagerung in Niedrigsteuergebiete dadurch entgegenwirken soll, dass sie niedrig besteuerte passive Einkünfte im Ausland auch ohne Zufluss im Inland unmittelbar besteuert und damit den auf diese Einkünfte anwendbaren Steuersatz auf das nationale Niveau hochschleust. In Deutschland ist die Hinzurechnungsbesteuerung in §§ 7 ff. AStG geregelt.
5.267 Gegenstand der Hinzurechnungsbesteuerung sind passive Einkünfte, d.h. Einkünfte aus passiven Quellen wie Zinsen und Lizenzgebühren, aber auch aus Dienstleistungen und Vermietung und Verpachtung, soweit diese im Wesentlichen konzernintern erbracht werden (vgl. im Einzelnen § 8 Abs. 1 AStG) und einer niedrigen Besteuerung unterliegen, wobei beachtenswert ist, dass eine Niedrigbesteuerung bereits vorliegt, wenn die Steuerbelastung weniger als 25 % beträgt (§ 8 Abs. 3 AStG). Eine Ausnahme besteht nach § 8 Abs. 2 AStG im Fall von innerhalb der EU oder dem EWR ansässigen Gesellschaften, die einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen.
5.268 Bei einem Erwerb eines ausländischen Unternehmens ist für den inländischen Erwerber daher von besonderem Interesse festzustellen, ob dieses Unternehmen Strukturen unterhält, die nach dem Erwerb zu einer Hinzurechnungsbesteuerung führen würden, wie beispielsweise Lizenz- und Patentgesellschaften in Niedrigsteuergebieten, die nicht zugleich die Forschung und Entwicklung selbst unterhalten, oder bestimmte Konzernfinanzierungs- oder -versicherungsgesellschaften („Captives“). Ist dies der Fall, sollte bereits bei der Erwerbsstrukturierung diese Struktur beseitigt werden, indem im Zweifel die Wirtschaftsgüter dieser Gesellschaften im Wege eines Asset Deals durch eine Konzerngesellschaft in einem Staat ohne Niedrigbesteuerung erworben werden, da jede Übertragung nach dem Erwerb eine Hinzurechnungsbesteuerung bereits auslösen kann.209
209 Vgl. auch Kraft, RIW 2003, 641 (648); Köhler/Hartmann, IStR 2001, 560 (564).
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E. Verkehrsteuern
Rz. 5.272 Kap. 5
E. Verkehrsteuern I. Asset Deal 1. Umsatzsteuer Die entgeltliche Veräußerung von Wirtschaftsgütern eines Betriebsvermögens unterliegt grundsätzlich der Umsatzsteuer. Bemessungsgrundlage ist der Wert der tatsächlich gewährten Gegenleistung. Steuerschuldner ist im Allgemeinen der Veräußerer, der die Steuer über den Kaufpreis auf den Erwerber abwälzt. Eine wirtschaftliche Belastung für den Erwerber wird sich daraus in aller Regel nicht ergeben, weil dieser zum Vorsteuerabzug berechtigt ist. Nicht umsatzsteuerpflichtig ist jedoch die entgeltliche Veräußerung von
5.269
– Grundstücken (§ 4 Nr. 9 lit. a UStG), – Beteiligungen an Personen- und Kapitalgesellschaften (§ 4 Nr. 8 lit. f UStG), – ggf. Forderungen (§ 4 Nr. 8 lit. c UStG). Die Vertragsparteien werden sich jedoch auf eine Umsatzsteuerpflicht im Wege der Option des Veräußerers (§ 9 UStG) verständigen, wenn der Erwerber uneingeschränkt zum Vorsteuerabzug berechtigt ist und dem Veräußerer anderenfalls der Verlust von Vorsteuerbeträgen droht, z.B. bei Grundstücken gem. § 15a UStG oder bezüglich der mit der Veräußerung zusammenhängenden Kosten. Allerdings ist bei Grundstücksveräußerungen zu beachten, dass eine Option zur Umsatzsteuerpflicht nach § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG nur noch in dem nach § 311b Abs. 1 Satz 1 BGB notariell zu beurkundenden Vertrag erklärt werden kann. Die Möglichkeit einer nachträglichen Optionsausübung besteht also nicht mehr.
5.270
Die Geschäftsveräußerung von Betrieben oder Teilbetrieben im Ganzen ist nicht steuerbar (§ 1 Abs. 1a UStG). Umsatzsteuer wird in diesem Fall nicht geschuldet. Eine dennoch in der Rechnung ausgewiesene Umsatzsteuer ermöglicht nicht den Vorsteuerabzug auf Seiten des Erwerbers, während der Veräußerer trotzdem für die falsch ausgewiesene Umsatzsteuer nach § 14 UStG haftet. Wird hingegen in der fehlerhaften Annahme, es handele sich um eine nicht umsatzsteuerbare Geschäftsveräußerung im Ganzen, dem Erwerber keine Umsatzsteuer in Rechnung gestellt, haftet der Veräußerer für die nicht abgeführte Umsatzsteuer, ohne den Betrag vom Erwerber als Kaufpreisbestandteil erhalten zu haben. Daher wird im Allgemeinen in den Fällen, in denen es fraglich erscheint, ob die Übertragung eines Betriebs oder Teilbetriebs als Geschäftsveräußerung im Ganzen qualifiziert, der Kaufpreis netto ohne Ausweis der Umsatzsteuer bestimmt und für den Fall, dass die Finanzverwaltung eine abweichende Auffassung vertritt und die Umsatzsteuer erhebt, eine entsprechende Korrektur der Rechnung sowie die Abtretung des Vorsteuererstattungsanspruchs des Erwerbers an den Veräußerer vereinbart.210 Dies birgt insoweit ein Risiko für den Veräußerer, als es nicht möglich ist, einen Vorsteuererstattungsanspruch aus einer Transaktion abzutreten, sondern nur den Erstattungsanspruch aus einem Vorsteuerüberhang, soweit ein solcher unter Berücksichtigung aller umsatzsteuerpflichtiger Lieferungen und Leistungen besteht.
5.271
2. Grunderwerbsteuer Bei Veräußerung eines Grundstücks fällt Grunderwerbsteuer an, die zumeist vertraglich vom Erwerber getragen wird, für die aber grundsätzlich nach § 13 Nr. 1 GrEStG beide Ver210 Zu Steuerklauseln in diesem Zusammenhang s. Schneider, BB 2013, 2846 ff.
Gröger
439
5.272
Kap. 5 Rz. 5.273
Steuern
tragspartner als Gesamtschuldner haften. Bemessungsgrundlage ist der Wert der tatsächlich gewährten Gegenleistung, soweit er auf den Grundbesitz entfällt. Eine Umsatzsteueroption erhöht die Bemessungsgrundlage für die Grunderwerbsteuer nicht, da Steuerschuldner der Umsatzsteuer nach § 13b Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 5 UStG unmittelbar der Leistungsempfänger, d.h. der Erwerber ist.
II. Share Deal 1. Umsatzsteuer
5.273 Ist der Veräußerer Unternehmer i.S.d. Umsatzsteuergesetzes, ist die Veräußerung von Gesellschaftsanteilen grundsätzlich umsatzsteuerbar, aber gem. § 4 Nr. 8 lit. f UStG steuerbefreit, wobei jedoch die Möglichkeit besteht, für die Steuerpflicht zu optieren (§ 9 UStG), wenn der Veräußerer die Beteiligung an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen veräußert.
5.274 Das bloße Erwerben, Halten und Veräußern von gesellschaftsrechtlichen Beteiligungen ist für sich genommen keine unternehmerische Tätigkeit.211 Soweit jedoch darüber hinaus eine weitergehende Geschäftstätigkeit ausgeübt wird, die für sich die Unternehmereigenschaft begründet, ist diese vom nichtunternehmerischen Bereich zu trennen.212 Demnach ist eine reine Finanzholding nicht Unternehmer i.S.d. § 2 UStG, eine Führungs- oder Funktionsholding ist hingegen unternehmerisch tätig, und eine gemischte Holding hat sowohl einen unternehmerischen als auch einen nichtunternehmerischen Bereich.213 Die Veräußerung einer nichtunternehmerisch gehaltenen Beteiligung schließt den Vorsteuerabzug auf reine Veräußerungskosten aus. Unter Hinweis auf die in der Securenta-Entscheidung214 entwickelten Grundsätze sollte allerdings ein Vorsteuerabzug nach Maßgabe der Allgemeinkosten möglich sein, soweit die durch die Veräußerung erzielten Finanzmittel für unternehmerische Tätigkeiten verwendet werden.215
5.275 Hingegen ist es bei einer Veräußerung einer unternehmerisch gehaltenen Beteiligung möglich, dass der Veräußerer durch Ausübung der Option zur Umsatzbesteuerung die mit den reinen Veräußerungskosten zusammenhängenden Vorsteuern abziehen kann. Allerdings ist zuvor festzustellen, ob es sich bei der Veräußerung der Beteiligung nicht um eine Geschäftsveräußerung im Ganzen nach § 1 Abs. 1a UStG handeln könnte.216 In diesem Fall würde sich der Vorsteuerabzug auch nach dem Verhältnis der steuerfreien zu den steuerpflichtigen Umsätzen des veräußernden Unternehmens richten.217 Nach Auffassung der Finanzverwaltung kann die Übertragung eines Gesellschaftsanteils nur dann eine nicht steuerbare Geschäftsveräußerung im Ganzen darstellen, wenn der Gesellschaftsanteil Teil einer eigenständigen Einheit ist, die ei-
211 212 213 214 215 216
So Abschn. 2.3 Abs. 2 Satz 1 UStAE 2010 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH. Vgl. Abschn. 2.3 Abs. 2 Satz 4 UStAE 2010. Vgl. Abschn. 2.3 Abs. 3 Sätze 2 bis 4 UStAE 2010. EuGH v. 13.3.2008 – C-437/06, BStBl. II 2008, 727. Eggers/Korf, DB 2009, 2685 (2690). EuGH v. 29.10.2009 – C-29/08 – AB SKF, DB 2009, 2695; dazu Streit/Behrens, DStR 2012, 877 ff. 217 Eggers/Korf, DB 2009, 2685 (2690).
440
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E. Verkehrsteuern
Rz. 5.279 Kap. 5
ne selbständige wirtschaftliche Betätigung ermöglicht, und diese Tätigkeit vom Erwerber fortgeführt wird.218 Im Fall einer Führungsholding gehört das Halten und Verwalten von Beteiligungen, denen ge- 5.276 genüber die Leistungen erbracht werden, grundsätzlich zur unternehmerischen Tätigkeit.219 Insoweit ist bei direkt der unternehmerischen Tätigkeit zuordenbaren Kosten ein voller Vorsteuerabzug möglich.220 Beabsichtigt der Unternehmer bei Bezug der Leistung, diese teilweise für unternehmerische und nichtunternehmerische Tätigkeiten zu verwenden, ist er grundsätzlich nur im Umfang der beabsichtigten Verwendung für seine unternehmerische Tätigkeit zum Vorsteuerabzug berechtigt.221 Allerdings ist in der Praxis festzustellen, dass die Option zur Umsatzsteuer oft nicht gegenüber dem Erwerber durchsetzbar ist, da dieser in diesem Fall den Bruttopreis einschließlich 19 % Umsatzsteuer eventuell mit Fremdkapital der finanzierenden Banken vorfinanzieren müsste. Zwar besteht auf Seiten des Erwerbers ein Anspruch auf Vorsteuererstattung, doch können in der Praxis Verzögerungen hinsichtlich der Auszahlung des Vorsteuerüberhangs entstehen, weil die Finanzverwaltung den Sachverhalt zuvor eingehend prüft und ggf. sogar eine Umsatzsteuersonderprüfung ansetzt.222
5.277
2. Grunderwerbsteuer a) Erwerb eines Anteils an einer Personengesellschaft Obwohl ertragsteuerlich das Gesamthandsvermögen wie Bruchteilseigentum zu behandeln ist, gelten die Personenhandelsgesellschaften – wie allgemein Personen-(BGB-)Gesellschaften – bei der Grunderwerbsteuer als selbständige Rechtspersonen mit der Folge, dass bei Fortsetzung der Personengesellschaft eine Steuerpflicht wegen des indirekten Eigentumsübergangs der der Personenhandelsgesellschaft gehörenden inländischen Grundstücke nur dann gegeben ist, wenn innerhalb von fünf Jahren 95 % der Anteile der Personengesellschaft unmittelbar oder mittelbar auf neue Gesellschafter übergehen (§ 1 Abs. 2a GrEStG).
5.278
Liegt kein Gesellschafterwechsel i.S.d. § 1 Abs. 2a GrEStG vor und werden mindestens 95 % der Anteile an der grundbesitzenden Personengesellschaft durch einen Erwerbsvorgang unmittelbar oder mittelbar bzw. durch mehrere konzernmäßig verbundene Unternehmen in der Hand eines Erwerbers vereinigt, so löst dieser Vorgang nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG Grunderwerbsteuer aus. In der Vergangenheit war herrschende Rechtsauffassung, dass im Gegensatz zum Gesellschafterwechsel nach § 1 Abs. 2a GrEStG die Anteilsvereinigung nach § 1 Abs. 3 GrEStG nicht auf die vermögensmäßige Beteiligung, sondern die gesamthänderische Mitberechtigung abstellt und somit beim Erwerb aller Anteile an einer GmbH & Co. KG keine Anteilsvereinigung vorliegt, wenn die Anteile der regelmäßig nicht am Kapital beteiligten Komplementär-GmbH zurückbehalten werden.223 Diese Rechtsauffassung hat der
5.279
218 Abschn. 1.5 Abs. 9 UStAE 2010 mit Verweis auf EuGH v. 30.5.2013 – C-651/11, HFR 2013, 754. 219 Vgl. Abschn. 2.3 Abs. 2 Satz 5 und 6 UStAE 2010; Eggers/Ahrens, DB 2013, 2528 ff. 220 BFH v. 1.6.2016 – XI R 17/11, GmbHR 2014, 376 m. Anm. Masuch = NZG 2016, 1110 im Nachgang zu EuGH v. 16.7.2015 – C-108/14, C-109/14, NZG 2015, 1004 (Latentia + Minerva). 221 Abschnitt 15.2b Abs. 2 Satz 6 UStAE 2010. 222 Zugmaier, DStR 2009, 882 (885). 223 Diese Auffassung war seit langer Zeit herrschende Meinung in der Literatur (vgl. Boruttau, § 1 GrEStG Rz. 867) und der Rechtsprechung (BFH v. 8.8.2001 – II R 66/98, BStBl. II 2002, 156 =
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Kap. 5 Rz. 5.280
Steuern
BFH mit Urteil vom 27.9.2017 revidiert: Ein Anteilserwerb an einer zwischengeschalteten Personengesellschaft kann zu einer mittelbaren Anteilsvereinigung nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 und 2 GrEStG führen, wenn dem Erwerber nach dem Anteilserwerb mindestens 95 % der Beteiligung am Gesellschaftskapital der Personengesellschaft zuzurechnen ist.224 Darüber hinaus schließt § 1 Abs. 3a GrEStG hiernach noch bestehende Besteuerungslücken, da nach dieser Vorschrift eine Anteilsvereinigung auch gegeben ist, wenn ein Rechtsträger unmittelbar oder mittelbar eine wirtschaftliche Beteiligung i.H.v. mindestens 95 % an einer grundbesitzenden Gesellschaft innehat. Dabei ergibt sich die wirtschaftliche Beteiligung aus der Summe der unmittelbaren und mittelbaren Beteiligungen am Kapital oder dem Vermögen der Gesellschaft, welche durch Multiplikation der Prozentsätze seiner Beteiligung am Kapital oder Vermögen der Gesellschaften zu ermitteln ist. Kommt es durch einen Anteilserwerb zu einer rechtlichen Vereinigung aller Anteile in der Hand einer Person und erlischt die Personengesellschaft, so liegt in grunderwerbsteuerlicher Hinsicht weder ein Fall des Gesellschafterwechsels noch der Anteilsvereinigung vor, da die Anteile durch die Vereinigung untergehen. Auf Grund der erlöschensbedingten Anwachsung des Vermögens der grundbesitzenden Gesellschaft beim Erwerber kommt es zu einem Rechtsträgerwechsel hinsichtlich des Grundbesitzes, der nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 GrEStG Grunderwerbsteuer auslöst.225 Bleibt die Gesellschaft bestehen, wird in Fällen des § 1 Abs. 2a, Abs. 3 und Abs. 3a GrEStG die Grunderwerbsteuer auf Basis der Grundbesitzwerte nach § 151 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 157 Abs. 1 bis 3 BewG erhoben (§ 8 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GrEStG). Erlischt die Gesellschaft wegen rechtlicher Vereinigung aller Anteile in einer Hand, werden ebenfalls die Grundbesitzwerte nach dem BewG zugrunde gelegt (§ 8 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GrEStG).
5.280 Zur Minimierung der Grunderwerbsteuerbelastung erscheint daher ein Anteilerwerb unter 95 % sinnvoll, mit der Möglichkeit, nach Ablauf von fünf Jahren weitere Anteile grunderwerbsteuerfrei zu erwerben. Ist dies nicht möglich, so könnte die Miete oder Pacht der Grundstücke anstelle des Erwerbes in Betracht gezogen werden. In jedem Falle ist jedoch der Direkterwerb der Grundstücke durch eine für diesen Zweck gegründete Grunderwerbsgesellschaft zu prüfen.226
5.281 War der Erwerber bereits vorher an der Personenhandelsgesellschaft mindestens fünf Jahre beteiligt, wird beim Erlöschen der Gesellschaft im Rahmen einer Anwachsung die Grunderwerbsteuer nur anteilig in Höhe der neuerworbenen Beteiligungsquoten erhoben (§ 6 Abs. 2 i.V.m. Abs. 4 GrEStG). Soweit bekannt soll im Herbst 2018 ein Gesetzentwurf in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden, der eine Herabsetzung der Erwerbsschwellen des Grunderwerbsteuergesetzes von 95 % auf 90 % sowie eine Verlängerung der Haltefristen von 5 auf 10 Jahre, ggf. sogar auf 15 Jahre vorsehen soll.227 Bei Transaktionen in den kommenden Monaten wird die Entwicklung der Gesetzgebung im Bereich der Grunderwerbsteuer genau zu beobachten sein, um die Rechtsfolgen von Anteilsübertragungen und damit die Transaktionskosten bestimmen zu können.
224 225 226 227
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GmbHR 2001, 1065 m. Anm. Götz). Dieser Ansicht hat sich auch die Finanzverwaltung mit gleich lautendem Ländererlass vom 26.2.2003 (BStBl. I 2003, 271) angeschlossen. BFH v. 27.9.2017 – II R 41/15, DStR 2018, 189. Vgl. Fischer in Boruttau, § 1 GrEStG Rz. 553 ff. Seibt, DStR 2000, 2076. Vgl. Broemel/Mörwald, DStR 2018, 1521.
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F. Haftung für Steuern und Steuerklauseln im Unternehmenskaufvertrag
Rz. 5.284 Kap. 5
b) Erwerb eines Anteils an einer Kapitalgesellschaft Der Erwerb von mindestens 95 % der Anteile an einer Kapitalgesellschaft mit inländischem Grundbesitz durch eine Person oder durch einen Konzern unterliegt nach § 1 Abs. 3 Nr. 3 bzw. Nr. 4 GrEStG der Grunderwerbsteuer, wobei die Bemessungsgrundlage wiederum auf Grundlage der Grundbesitzwerte nach Maßgabe des Bewertungsgesetzes (§§ 151 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 157 Abs. 1 bis 3 BewG) ermittelt wird. Der Zurückbehalt eines Anteils von mehr als 5 % bzw. seine Veräußerung an einen mit dem Erwerber nicht im Konzern verbundenen Dritten vermeidet eine Besteuerung. Allerdings führte die Kombination eines Erwerbs bis zu 95 % der Anteile an einer Kapitalgesellschaft mit dem Erwerb der verbleibenden Anteile durch eine GmbH & Co. KG, an deren Vermögen der Erwerber als einziger Kommanditist zu 100 % beteiligt war, in der Vergangenheit zur Vermeidung von Grunderwerbsteuer in Bezug auf das Grundvermögen der Kapitalgesellschaft (sog. „RETT Blocker Strukturen“). Nach dem BFH wird durch eine zwischengeschaltete Personengesellschaft nur dann eine mittelbare Anteilsvereinigung nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 und 2 GrEStG vermieden, wenn dem Erwerber nach dem Anteilserwerb nicht mindestens 95 % der Beteiligung am Gesellschaftskapital der Personengesellschaft zuzurechnen ist.228 Der Gesetzgeber reagierte zudem mit Einführung des § 1 Abs. 3a GrEStG auf diese Gestaltungen. Hiernach löst nunmehr auch ein Rechtsvorgang Grunderwerbsteuer aus, bei dem ein Rechtsträger unmittelbar oder mittelbar eine wirtschaftliche Beteiligung i.H.v. mindestens 95 %, die sich durch Multiplikation der Prozentsätze seiner Beteiligung am Kapital oder Vermögen der betreffenden Gesellschaften ergibt, an einer grundbesitzenden Gesellschaft innehat.
5.282
Im Hinblick auf „Share Deals“ soll in dem für Herbst 2018 avisierten Gesetzentwurf nicht nur die Herabsetzung der Erwerbsschwellen und die Verlängerung von grunderwerbsteuerlichen Fristen vorgesehen werden, sondern auch für Kapitalgesellschaften ein grunderwerbsteuerlicher Tatbestand ähnlich dem des § 1 Abs. 2a GrEStG für Personengesellschaften eingeführt werden.229 Auch insoweit muss die weitere Entwicklung beobachtet werden, um die zusätzlichen Transaktionskosten bei zukünftigen Anteilsübertragungen ermitteln zu können. Folgt dem Anteilserwerb eine Grundstücksveräußerung an den Anteilserwerber oder die Verschmelzung der Kapitalgesellschaft auf den Anteilserwerber, so ist die auf den Anteilserwerb zu leistende Steuer auf die durch den anschließenden Grundstückserwerb bzw. die Verschmelzung entstehende Steuer anrechenbar (§ 1 Abs. 6 GrEStG).
5.283
F. Haftung für Steuern und Steuerklauseln im Unternehmenskaufvertrag I. Haftung für Steuern des Veräußerers Eine Haftung des Erwerbers für Steuern des Zielunternehmens für Zeiträume, in denen es 5.284 vom Veräußerer kontrolliert worden ist, kann sich zunächst auf gesetzliche Haftungstatbestände gründen.230 Darüber hinaus kann sich eine wirtschaftliche Übernahme von Steuerrisiken aus Zeitperioden vor dem Erwerb daran anknüpfen, dass der Erwerber Eigentümer des Steuersubjekts wird, das für seine steuerlichen Verpflichtungen verantwortlich bleibt.231 In beiden Fällen sind im Rahmen von Due Diligence Untersuchungen die Art und der Umfang 228 229 230 231
BFH v. 27.9.2017 – II R 41/15, DStR 2018, 189. Broemel/Mörwald, DStR 2018, 1521. Vgl. auch Hülsmann, DStR 2008, 2402; Wollweber, AG 2012, 789. Vgl. Hülsmann, DStR 2008, 2402 ff.; Wollweber, AG 2012, 789 ff.
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Kap. 5 Rz. 5.285
Steuern
der Steuerrisiken zu ermitteln, für die ggf. eine Haftung oder wirtschaftliche Risikotragung mit der Transaktion auf den Erwerber übergeht. Der Erwerber kann hiernach entweder die ermittelten Risiken beim Kaufpreis berücksichtigen oder die wirtschaftlichen Konsequenzen durch Vereinbarung entsprechender Freistellungsregelungen auf den Veräußerer übertragen. 1. Haftung nach § 75 AO
5.285 Nach dieser Vorschrift haftet der Erwerber eines Betriebs für Steuern des erworbenen Betriebs, die seit dem Beginn des letzten, vor dem Erwerb liegenden Kalenderjahrs entstanden sind und bis zum Ablauf von einem Jahr nach Anmeldung des Betriebs durch den Erwerber festgesetzt oder angemeldet werden. Die Haftung beschränkt sich auf das übernommene Vermögen. Die Haftung gilt auch dann für den maßgeblichen Zeitraum, wenn der Betrieb mehrfach den Inhaber wechselt.232
5.286 § 75 AO gilt beim Erwerb eines Betriebs oder eines Teilbetriebs. Im Fall des Erwerbs eines Teilbetriebs tritt eine anteilige Haftung ein, d.h. nur für Steuern aus diesem Betrieb.233 Entscheidend ist, ob auf den Erwerber die Grundlagen des Unternehmens übergehen, die den Erwerber in die Lage versetzen, das Unternehmen oder den Betrieb in der bisherigen Art weiterzuführen.234 Für die Haftung des Erwerbers ist erforderlich, dass alle wesentlichen Betriebsgrundlagen des Betriebs/Teilbetriebs erworben werden. Mehrere, zeitlich auseinander liegende Übertragungen von Wirtschaftsgütern können nur dann als Betriebserwerb gewertet werden, wenn diese wirtschaftlich als ein einheitlicher Vorgang anzusehen sind.235
5.287 Die Haftung bezieht sich nur auf betriebliche Steuern wie Gewerbesteuer oder Umsatzsteuer, nicht aber persönliche Steuern des Veräußerers wie Einkommen- und/oder Körperschaftsteuer. Sie umfasst andererseits im Abzugswege zu entrichtende Steuern wie Lohnsteuer oder Kapitalertragsteuer. Ausgeschlossen von der Haftung sind steuerliche Nebenleistungen.236 Die Ansprüche müssen bis zum Ablauf eines Jahres nach Anmeldung des Betriebs durch den Erwerber festgesetzt oder angemeldet sein. Mit der Anmeldung des Betriebs ist die Anzeige nach § 138 Abs. 1 AO bei der zuständigen Finanzbehörde gemeint.237 Folglich kann der Erwerber durch zeitnahe Anzeige des Übergangs des Betriebs auf den Erwerber die Haftung nach § 75 AO zeitlich begrenzen. Darüber hinaus können Steuergarantien oder Steuerfreistellungen durch den Veräußerer nur dann eine Absicherung bieten, wenn diese durch Sicherheiten wie beispielsweise eine Bankbürgschaft besichert sind, da die Inanspruchnahme des Erwerbers insbesondere dann zu erwarten ist, wenn der Veräußerer zur Entrichtung der Betriebssteuern nicht in der Lage sein sollte. 2. Haftung nach § 73 AO
5.288 Von Bedeutung ist ferner die Haftung einer Organgesellschaft nach § 73 AO für solche Steuern des Organträgers, für welche die Organschaft zwischen ihnen steuerlich von Bedeutung ist. Nach dieser Vorschrift haftet eine Zielgesellschaft auch nach der Veräußerung an
232 233 234 235 236 237
444
BFH v. 4.2.1974 – IV R 172/70, BStBl. II 1974, 434. BFH v. 11.12.1984 – VIII R 131/76, BStBl. II 1985, 354. BFH v. 27.11.1979 – VII R 12/79, BStBl. II 1980, 258. Brune, NWB F. 2, S. 5805. Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 38. Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 58.
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F. Haftung für Steuern und Steuerklauseln im Unternehmenskaufvertrag
Rz. 5.291 Kap. 5
den Erwerber für die Steuern aus der vor der Transaktion bestehenden Organschaft mit dem Veräußerer. Bisher wurde die Auffassung vertreten, dass die Haftung alle Steuern des Organkreises umfasst ohne Rücksicht darauf, durch welche Gesellschaft des Organkreises diese Steuern verursacht worden sind. Folglich sollte die ehemalige Organgesellschaft nicht nur für Steuern haften, die in ihrem eigenen Betrieb oder dem des Organträgers, sondern auch für die Steuern, die im Betrieb einer anderen Organgesellschaft, d.h. z.B. einer Schwestergesellschaft verursacht worden sind.238 Allerdings wird eine Inanspruchnahme für Steuern, die nicht im Betrieb der Zielgesellschaft verursacht worden sind, im Allgemeinen für ermessensfehlerhaft erachtet, ist jedoch in begründeten Einzelfällen nicht ausgeschlossen.239 Nach der Entscheidung des BFH vom 31.5.2017 zur mittelbaren Organschaft soll der Gegenstand der Haftung nach § 73 AO auf solche Steueransprüche beschränkt sein, die gegen den durch das konkrete Organschaftsverhältnis bestimmten Organträger gerichtet sind.240 Damit scheidet eine weitergehendere Haftung für Steuern des gesamten Organkreises aus. Die Haftung bezieht sich auf die Steuerarten, für die die Organschaft besteht.
5.289
In den oben genannten Fällen ist es im Rahmen einer üblichen Due Diligence Untersuchung in den seltensten Fällen möglich, sich einen Überblick über die Steuerrisiken des Organträgers zu verschaffen, da der Veräußerer dem Erwerber grundsätzlich keinen Einblick in seine eigene Steuerposition gewähren wird. Folglich wird der Erwerber im Zweifel im Hinblick auf die Haftung nach § 73 AO eine Steuergarantie oder Steuerfreistellung vom Veräußerer verlangen, die jedoch nur dann eine Sicherungswirkung entfaltet, wenn sie durch Sicherheiten wie eine Bankbürgschaft abgesichert ist; denn die Inanspruchnahme der Zielgesellschaft nach § 73 AO dürfte grundsätzlich dann zu erwarten sein, wenn der Veräußerer als Organträger nicht mehr in der Lage sein sollte, seine Steuerschulden zu begleichen.
5.290
3. Haftung nach zivilrechtlichen Vorschriften Insbesondere in den Fällen, in denen zur Vorbereitung einer Veräußerung eine Ausgliederung oder Abspaltung von Vermögen auf die Zielgesellschaft erfolgte, besteht eine gesamtschuldnerische Haftung der Zielgesellschaft nach § 133 UmwG für Verbindlichkeiten des übertragenden Rechtsträgers, die vor Wirksamwerden der Spaltung begründet worden und vor Ablauf von fünf Jahren nach der Spaltung fällig und entsprechende Ansprüche gerichtlich oder behördlich z.B. durch Bescheid geltend gemacht worden sind. Nach dem Erwerb der Zielgesellschaft treffen die wirtschaftlichen Konsequenzen aus einer Inanspruchnahme der Zielgesellschaft den Erwerber. Die Haftung umfasst alle Verbindlichkeiten, die vor Eintragung der Spaltung oder Ausgliederung begründet worden sind. Wird die Zielgesellschaft in Anspruch genommen, besteht nach § 426 Abs. 1 BGB ein Ausgleichanspruch gegenüber dem Hauptschuldner, d.h. dem Rechtsträger, dem die Verbindlichkeiten nach Spaltungsplan zugeordnet worden sind.241 Der Erwerber könnte zudem eine entsprechende Freistellungsvereinbarung mit dem Veräußerer treffen, die nach Möglichkeit zudem durch Sicherheiten wie eine Bankbürgschaft besichert ist.
238 239 240 241
Loose in Tipke/Kruse, § 73 AO Rz. 4. Loose in Tipke/Kruse, § 73 AO Rz. 8 m.w.N. BFH v. 31.5.2017 – I R 54/15, BStBl. II 2018, 54 = GmbHR 2017, 1285 m. Anm. Bormann. Hörtnagl in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, § 133 UmwG Rz. 16.
Gröger
445
5.291
Kap. 5 Rz. 5.292
Steuern
5.292 Nach § 25 HGB haftet der Erwerber u.a. auch dann für Steuern des Betriebs und des Veräußerers, wenn der Erwerber das Unternehmen unter der bisherigen Firma mit oder ohne Beifügung eines das Nachfolgeverhältnis andeutenden Zusatzes fortführt. Die Haftung geht über den Rahmen des § 75 AO hinaus, da in § 25 HGB keine zeitliche Beschränkung vorgesehen ist. Von der Haftung erfasst werden auch die steuerlichen Nebenleistungen, jedoch nicht die Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Erbschaft- und Schenkungsteuer und die darauf entfallenden Nebenleistungen.242 Allerdings kann diese Haftung durch Eintragung im Handelsregister und deren Bekanntmachung bzw. durch Mitteilung gegenüber Dritten abbedungen werden (§ 25 Abs. 2 HGB). Der Haftungsausschluss muss nach der Rechtsprechung „unverzüglich“ nach der Übernahme erfolgen, d.h. regelmäßig innerhalb von sechs bis acht Wochen; ansonsten ist er unwirksam.243 4. Indirekte Übernahme von Steuerverbindlichkeiten bei Erwerb von Gesellschaftsbeteiligungen
5.293 Bei Personenhandelsgesellschaften ist diese selbst nur Steuerschuldner für die Betriebsteuern. Da sie auch zivilrechtlich unter ihrer Firma Eigentum und andere Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen kann (§ 124 HGB), trifft den Erwerber der Anteile nach Maßgabe seiner Beteiligungsquote indirekt auch die Verpflichtung, für vor dem Anteilserwerb entstandene Verpflichtungen zur Entrichtung von Betriebsteuern einstehen zu müssen.
5.294 Bei Erwerb von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften werden indirekt Betrieb- und Personensteuern übernommen.
II. Vertragliche Absicherung des Erwerbers 5.295 Soweit der Erwerber nicht die im Due Diligence Prozess identifizierten Steuerrisiken unmittelbar bei der Kaufpreisbestimmung durch Abzug des Steuerrisikos vom Unternehmenswert berücksichtigt, ist er im Allgemeinen bestrebt, das Steuernachzahlungsrisiko durch entsprechende Steuergarantien oder Steuerfreistellungsregelungen im Kaufvertrag auf den Veräußerer zu übertragen. Hierbei haben sich in der Vergangenheit gewisse Standards herausgebildet nicht zuletzt durch den Einfluss anglo-amerikanischer Regelungsstandards auf die Gestaltung von Unternehmenskaufverträgen.
5.296 Im Allgemeinen enthalten Unternehmenskaufverträge sowohl Garantien („Warranties“) betreffend steuerliche Fragestellungen als auch Freistellungsregelungen („Tax Indemnities“).244 Der Unterschied zwischen Garantien und Freistellungen besteht konzeptionell darin, dass Freistellungen das Finanzierungsrisiko für streitbehaftete Steuerrisiken auf den Veräußerer verlagern, während Garantien nur über die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen für einen finanziellen Ausgleich sorgen, nachdem der Schaden sich realisiert und damit zu einer Zahlungsverpflichtung des Erwerbers geführt hat. Es ist jedoch in vielen Fällen zu beobachten, dass dieser konzeptionelle Unterschied durch die Regelungen zur Fälligkeit von Freistellungsleistungen oder durch gemeinsame Regelungen der Rechtsfolgen von Garantieverletzungen und Steuerfreistellungen zugunsten des Veräußerers „verwischt“ wird.
242 S. auch BFH v. 6.4.2016 – I R 19/14, GmbHR 2016, 1114 = BFH/NV 2016, 1491. 243 BGH v. 16.1.1984 – II ZR 114/83, MDR 1984, 646 = ZIP 1984, 442. 244 Vgl. auch Bisle, SteuK 2013, 204; Hülsmann, DStR 2008, 2402 ff.; Wollweber, AG 2012, 789 ff.
446
Gröger
G. Leveraged Buy-Out (LBO)
Rz. 5.300 Kap. 5
Die steuerlichen Garantien betreffen vor diesem Hintergrund grundsätzlich folgende Versicherungen des Veräußerers: Zum einen garantiert der Veräußerer, dass das Zielunternehmen bis zum Zeitpunkt der Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums auf den Erwerber bei Closing sämtliche steuerliche Erklärungspflichten und Anmeldepflichten ordnungs- und fristgemäß erfüllt hat, und dass das Zielunternehmen zum anderen allen steuerlichen Zahlungspflichten vollständig und fristgemäß nachgekommen ist. Ggf. versichert der Veräußerer zudem, dass zwischen Signing und Closing keine Maßnahmen ohne Zustimmung des Erwerbers getroffen worden sind, die die steuerliche Position des Zielunternehmens beeinträchtigen.
5.297
Die Steuerfreistellung bezieht sich im Allgemeinen auf alle Nachzahlungen für Steuern, die beispielsweise aus einer nach dem Erwerb stattfindenden Betriebsprüfung resultieren können. Die Freistellungsverpflichtung besteht für Steuern, die für Zeiträume entstanden sind, in denen der Veräußerer die Kontrolle über das Unternehmen besaß und ihm dessen wirtschaftliche Ergebnisse zugute kamen. Daher findet hier eine Abgrenzung auf den Tag der „wirtschaftlichen Wirkung“ („Effective Date“) der Veräußerung statt, da die Gewinne und Verluste aus Perioden nach diesem Tag bereits dem Erwerber zustehen sollen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Freistellungsverpflichtung nur insoweit entsteht, als zukünftige Steuerzahlungen nicht durch eine entsprechende Rückstellung in der Bilanz zum Tag der „wirtschaftlichen Wirkung“ ausgewiesen sind. Denn diese Rückstellung hat als zukünftige Zahlungsverpflichtung üblicherweise bereits den Kaufpreis gemindert. Schließlich können weitere Einschränkungen der Freistellungsverpflichtung vorgesehen werden, wenn Steuernachzahlungen Umkehrwirkungen in nachfolgenden Perioden hervorrufen, die entweder zu Steuererstattungen oder Steuerminderungen führen, so dass der Schaden aus der Steuernachzahlung sich insoweit reduziert. An dieser Stelle sei auch auf die zutreffende Formulierung der Definition für die freizustellenden Steuern hingewiesen, die nicht nur Steuern, Abgaben, Gebühren und Sozialversicherungsbeiträge umfassen sollten, sondern auch Nebenleistungen wie Zinsen, Säumnis- und Verspätungszuschläge.
5.298
G. Leveraged Buy-Out (LBO) I. Bedeutung des Leverage-Effekts Der LBO ist eine Form des Unternehmenskaufs, bei dem das Unternehmen oder die Beteiligung an einem Unternehmen mit einem vergleichsweise hohen Fremdkapitaleinsatz erworben wird. Durch einen erhöhten Fremdmitteleinsatz soll eine erhöhte Eigenkapitalrendite erreicht werden, wenn die Ertragskraft des Unternehmens den Zins für das Fremdkapital übersteigt (sog. Hebel = Leverage-Effekt). Wegen der erwarteten Kurzfristigkeit des Engagements sind die Kreditgeber teilweise bereit, hinsichtlich der Besicherung durch materielle Aktiva sehr hohe Beleihungswerte zugrunde zu legen, ja sogar teilweise auf Besicherung überhaupt zu verzichten und gegenüber anderen Gläubigern nachrangige Darlehen zu gewähren.
5.299
II. Transaktionsstruktur bei einem Leveraged Buy-Out Der LBO ist insbesondere das Geschäftsmodell von vielen Private Equity Fonds (vgl. auch Rz. 14.9, 14.15 und 14.23). Zweck dieser Fonds ist es, Investitionskapital von unterschiedlichen Investoren (institutionelle Investoren wie Banken, Versicherungen und Pensionsfonds Gröger
447
5.300
Kap. 5 Rz. 5.301
Steuern
sowie vermögende Privatpersonen) zu sammeln, um es in Beteiligungen zu investieren. Beabsichtigt der Private Equity Fonds, in LBOs zu investieren, werden Mehrheitsbeteiligungen erworben, um über den durch den LBO bewirkten erhöhten Verschuldungsgrad eine höhere Eigenkapitalrendite zu erzielen, aber auch um durch die erforderliche erhöhte Finanzdisziplin eine größere Effizienz des Managements zu erreichen. Zu diesem Zweck wirken die Manager des Private Equity Fonds darauf hin, dass dem Management sowohl das erforderliche Expertenwissen als auch Finanzierungsmittel für Investitionen in zukunftsweisende Projekte zur Verfügung stehen, indem Managementpositionen mit weiteren branchenspezifischen Fachleuten besetzt, beratende Gremien zur Seite gestellt werden und Kreditmittel im Zusammenhang mit dem LBO bereits gesichert wurden.
5.301 Private Equity Fonds werden überwiegend in ausländischen Staaten gegründet, die sich durch geringe Steuern, gesellschaftsrechtliche Flexibilität und geringe regulatorische Anforderungen z.B. in Bezug auf Melde-, Registrierungs- und Offenlegungspflichten auszeichnen. Daher sind diese Fonds oftmals Gesellschaften, die in Steueroasen wie Jersey, Guernsey, den Cayman Islands oder British Virgin Islands ansässig sind. Im Ergebnis handelt es sich um steuerlich transparente Vehikel, die die Einkünfte unmittelbar und ohne Steuerbelastung in dem Ansässigkeitsstaat des Fonds an ihre Gesellschafter, d.h. die Eigenkapitalinvestoren weiterreichen sollen.
5.302 Für eine typische Transaktionsstruktur245 gründet der Fonds meist mehrere nacheinander geschaltete Holdinggesellschaften in der Rechtsform von Kapitalgesellschaften. Die verschiedenen Ebenen der Holdinggesellschaften dienen dabei der Gestaltung der Nachrangigkeit verschiedener Finanzierungstranchen, insbesondere der endfälligen Tranchen oder PIK-Notes mit eingeschränkter oder ohne Besicherung sowie der Nachrangigkeit der Eigenkapitalinvestoren, welche neben dem Fonds auch Berater als Co-Investoren und Manager über ein Management Participation Program sein können. Die Holdinggesellschaften werden im Allgemeinen in Jurisdiktionen angesiedelt, die sich dadurch auszeichnen, dass die ansässigen Gesellschaften Dividenden oder Zinsen ohne Quellensteuerbelastung an den Fonds auszahlen können und eine Steuerbefreiung für Dividendeneinkünfte und Veräußerungsgewinne besteht. Denn im Ergebnis zielt der Private Equity Fonds darauf ab, die Eigenkapitalrendite über einen Exit bzw. mehrere Teilexits zu realisieren. Im Rahmen des Exits durch Veräußerung des Unternehmens oder einen Börsengang werden Veräußerungsgewinne generiert, die nach Möglichkeit steuerfrei vereinnahmt werden sollen. Teilexits erfolgen im Rahmen von Rekapitalisierungen und führen in diesem Zusammenhang vielfach zu möglichst steuerfreien Dividendenerträgen. Diese Erträge sollen durch die Holdinggesellschaften möglichst ohne weitere Steuerbelastung an den Fonds transferiert werden.
5.303 Eine weitere Eigenschaft der Ansässigkeitsstaaten der Holdinggesellschaften ist, dass sie über ein weites Netz an Doppelbesteuerungsabkommen insbesondere mit den Ländern verfügen, in denen der Fonds Portfoliounternehmen zu erwerben beabsichtigt. Die Doppelbesteuerungsabkommen sollen dabei im Wesentlichen das Besteuerungsrecht betreffend Veräußerungsgewinne auf Unternehmensbeteiligungen dem Ansässigkeitsstaat der Holdinggesellschaft zuweisen und ggf. darüber hinaus Quellensteuern auf Abzugssteuern auf Dividenden, Zinsen und Lizenzen herabsetzen. Innerhalb der EU kommt es auch auf die Möglichkeit der Anwendung der Mutter-Tochter-Richtlinie für die Entlastung von Quellensteuern auf Dividenden und die Zins- und Lizenzrichtlinie für die Entlastung von Quellensteuern auf diese Einkünfte an, auch wenn die Veräußerungsgewinnbesteuerung klar im Vordergrund steht. 245 Vgl. auch Eilers in Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 354 ff.
448
Gröger
G. Leveraged Buy-Out (LBO)
Rz. 5.305 Kap. 5
Üblicherweise werden als Holdingstandorte Luxemburg oder die Niederlande gewählt. Aus deutscher steuerlicher Sicht ist jedoch zu beachten, dass eine Entlastung vom Quellensteuerabzug voraussetzt, dass die ausländische Holdinggesellschaft die erhöhten Substanzanforderungen des § 50d Abs. 3 EStG erfüllt. Da die Holdinggesellschaften jedoch in den seltensten Fällen eine eigene wirtschaftliche Tätigkeit unterhalten oder als Management Holdinggesellschaft fungieren, stellte § 50d Abs. 3 EStG in vielen Fällen ein Hindernis für die gewünschte Quellensteuerneutralität in einer Private Equity Struktur dar. Soweit nunmehr als Reaktion auf das EuGH-Urteil vom 20.12.2017 mit BMF-Schreiben vom 4.4.2018 eine Einzelfallprüfung der Entlastungsberechtigung in Bezug auf Missbrauchsfälle für die Anwendung der MutterTochter-Richtlinie verfügt wurde (s. Rz. 5.251) und vermögensverwaltende Holdinggesellschaften nicht mehr pauschal als nicht entlastungsberechtigt eingestuft werden, könnte sich diese Einschätzung zumindest in EU-Fällen ändern. Da die Fonds jedoch vorrangig die Eigenkapitalrendite ausschließlich über einen Exit, d.h. durch einen Veräußerungsgewinn zu erzielen beabsichtigen, sollten die üblichen Substanzanforderungen an die Existenz und Ansässigkeit der ausländischen Gesellschaft im Allgemeinen genügen. Zukünftig wird jedoch auch mehr Aufmerksamkeit der wirtschaftlichen Begründung für die Standortwahl zu schenken sein, wenn der „Principle Purpose Test“ in die Doppelbesteuerungsabkommen Eingang findet. Die Holdinggesellschaft gründet oder erwirbt eine Akquisitionsgesellschaft in dem Ansässigkeitsstaat des Zielunternehmens, d.h. z.B. Deutschland. Im Allgemeinen kommt hier die Rechtsform einer Kapitalgesellschaft in Betracht, um im Falle der späteren Veräußerung beim Exit steuerfreie Veräußerungsgewinne auf Grundlage der „Participation Exemption“, d.h. Steuerbefreiung von Gewinnen aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften zu erzielen. Die Akquisitionsgesellschaft erwirbt die Anteile an dem Zielunternehmen unter Einsatz eines hohen Anteils an Fremdkapital. Im Allgemeinen erwarten die Banken unmittelbar im Anschluss an die Transaktion einen Debt-Push-Down von der Akquisitionsgesellschaft auf die Ebene der operativen Gesellschaften des Zielunternehmens, um den strukturellen Nachrang für die Senior Lender zu vermeiden. Zu den Gestaltungsmöglichkeiten s. Rz. 5.207 ff. Gerade bei der Strukturierung eines LBO ist es von entscheidender Bedeutung, den Steuerbarwertvorteil aus dem Abzug der Kosten der Akquisitionsfinanzierung mit Blick auf die Abzugsbeschränkungen der Zinsschranke nach § 4h EStG und den erworbenen Steuervorteilen zu optimieren, da sich andernfalls die Kosten der Finanzierung indirekt erhöhen und die Cashflows belasten. Für die Gestaltung der Nachrangigkeit verschiedener Finanzierungstranchen, insbesondere der endfälligen Tranchen oder PIK-Notes mit eingeschränkter oder ohne Besicherung, dienen die verschiedenen Ebenen der Holdinggesellschaften.
5.304
In der Vergangenheit waren auf Seiten der Bundesregierung und der Finanzverwaltung Ansätze zu erkennen, die steuerliche Abziehbarkeit der Finanzierungsaufwendungen und Transaktionskosten im Zusammenhang mit Unternehmenskäufen von Private Equity Fonds in Frage zu stellen. So enthielt das sog. 12-Punkte-Programm der Fraktionen CDU/CSU und FDP aus dem Jahr 2012 die Feststellung, dass LBO-Gestaltungen eine nicht gewünschte Verlagerung von Finanzierungsaufwendungen in das erworbene Unternehmen darstellen mit der Folge, dass das erworbene Unternehmen wirtschaftlich gesehen den Kaufpreis seiner eigenen Übernahme selbst finanzieren müsse.246 Als Lösungsmöglichkeit stellte das 12-Punkte-Programm die über die Rechtsfolgen der Zinsschranke hinausgehende Versagung des Betriebsausgaben-
5.305
246 Punkt 9 der von den finanzpolitischen Sprechern der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP am 14.2.2012 vorgestellten Zwölf Punkte zur weiteren Modernisierung und Vereinfachung des Unternehmenssteuerrechts, s. Schiffers, DStZ 2012, 173 f.
Gröger
449
Kap. 5 Rz. 5.306
Steuern
abzugs in Aussicht.247 Zur Umsetzung ist diese wirtschaftspolitische Forderung jedoch nicht gekommen.
5.306 Ferner hat die Finanzverwaltung vereinzelt in Betriebsprüfungen die Abziehbarkeit von Finanzierungsaufwendungen und Transaktionskosten bei Unternehmenskäufen durch Private Equity Fonds aufgegriffen und versucht, diese mit wenig überzeugenden Argumenten auf Grundlage des aktuellen Steuerrechts nicht zum Abzug zuzulassen. Sehr aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Veröffentlichungen von Ruthe, der die von der Finanzverwaltung hierbei vorgetragenen Argumente ausführlich erläutert.248 Scheinbar auf Grund eines „Störgefühls“249 vor dem Hintergrund der sog. „Heuschreckendebatte“ sollen Finanzierungsaufwendungen bei einem Erwerb eines inländischen Unternehmens durch einen Private Equity Fonds nicht mehr steuerlich zum Abzug zugelassen werden, weil sie dem Fonds bzw. der Holdinggesellschaft des Akquisitionsvehikels auf Grund ihres Geschäftsmodells des Beteiligungshandels zuzurechnen seien: Bei einem Down-Stream Merger ergebe sich dies aus der nur kurzfristigen Zwischenschaltung der Akquisitionsgesellschaft nach § 42 AO, bei einem Upstream Merger oder einer Organschaft aus dem Umstand, dass dem Fonds bzw. der Holdinggesellschaft im Hinblick auf die im Zusammenhang mit dem Erwerb geschlossenen Vereinbarungen das wirtschaftliche Eigentum an dem erworbenen Unternehmen direkt zuzurechnen sein sollen. Trägt stattdessen die Akquisitionsgesellschaft die Kosten, sei eine verdeckte Gewinnausschüttung gegeben.250
5.307 Gegen diese Rechtsauffassung wird zutreffend eingewendet, dass der Akquisitionsgesellschaft wegen der Erfolgsneutralität des Anschaffungsgeschäfts kein Vermögensnachteil zugefügt wird, welcher aber wesentliches Tatbestandsmerkmal der verdeckten Gewinnausschüttung ist.251 Vielmehr erhält sie neben der Finanzierung auch den Zugriff auf die erworbenen Wirtschaftsgüter.252 Zudem wird die Schuldentragfähigkeit der Akquisitionsfinanzierung auch von den finanzierenden Banken, also einem fremden Dritten auf Grund einer eigenen Risikobewertung geprüft, so dass sich auch aus diesen Gründen nicht von einem LBO als einem grundsätzlich riskanten Marktverhalten253 oder einer Schadenszufügung sprechen lässt. Dass die Veräußerung der Beteiligung auf einer anderen Ebene, nämlich bei der Holdinggesellschaft stattfindet, ist nur Reflex der Ausübung ihrer Eigentümerrechte.254 Die Möglichkeit zum Verkauf des Unternehmens besteht grundsätzlich auf jeder Ebene innerhalb der Holdingsstruktur. Verschmelzungen und die Begründung einer Organschaft, also sog. „Debt push down“ Gestaltungen im weiteren Sinne sind in den Steuergesetzen vorgesehene und geregelte Maßnahmen, so dass ihnen ein Missbrauch im Grundsatz nicht innewohnen kann.255 Zudem sind diese typischen post-akquisitorischen Reorganisationsmaßnahmen nicht auf Unternehmenskäufe der Private Equity Fonds beschränkt, sondern gehören zum Standardrepertoire bei Unterneh-
247 Punkt 9 der von den finanzpolitischen Sprechern der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP am 14.2.2012 vorgestellten Zwölf Punkte zur weiteren Modernisierung und Vereinfachung des Unternehmenssteuerrechts, s. Schiffers, DStZ 2012, 173 f. 248 Ruthe, StBP 2013, 153 ff.; StBP 2012, 121 ff.; StBP 2011, 1 ff.; StBP 2010, 329 ff.; StBP 2010, 301 ff. 249 Ruthe, StBP 2013, 153 (154). 250 Ruthe, StBP 2013, 153 ff. 251 Berger, StuB 2012, 903 ff.; Schwetlik, StBP 2012, 80 ff. 252 Berger, StuB 2012, 903 Fn. 174; Schaden/Wild, Ubg 2011, 337 (340). 253 Otto, AG 2013, 357 (362); Schaden/Wild, Ubg 2011, 337 (342). 254 Ebenso Berger, StuB 2012, 903 (906). 255 Berger, StuB 2012, 903 (905).
450
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G. Leveraged Buy-Out (LBO)
Rz. 5.310 Kap. 5
menskäufen sämtlicher Investoren.256 Vielfach werden diese Maßnahmen auch durch die Interessen der finanzierenden Banken an der Reduktion des strukturellen Nachrangs der Senior Lender befördert. Auch der von Ruthe in dem Geschäftsmodell der Private Equity Fonds erkannte Gesamtplan hat keine Gemeinsamkeit mit dem von der Rechtsprechung definierten Gesamtplan als künstliche Aufspaltung eines einheitlichen wirtschaftlichen Vorgangs. Der Erwerb, das Halten und das zwecks Realisierung einer hohen Eigenkapitalrendite vorgenommene Beraten und Verwalten sowie der abschließende Verkauf in einer Periode von fünf bis sieben Jahren stellt keine künstliche Aufspaltung eines einheitlichen Sachverhalts in einem engen zeitlichen Zusammenhang dar, sondern beschreibt nur planmäßiges wirtschaftliches Handeln.257 Diesen Argumenten ist uneingeschränkt zuzustimmen. Eine weitere Beschränkung des Betriebsausgabenabzugs über die aktuellen gesetzlichen Regelungen hinaus bedarf einer entsprechenden Gesetzesänderung, die die volkswirtschaftlichen Chancen und Risiken der Private Equity Investments sorgsam abzuwägen hat.258
III. Beteiligung des Managements am Unternehmen Um das Management in Hinblick auf die Erreichung der gewünschten Eigenkapitalrendite zu incentivieren, werden im Rahmen typischer Private-Equity-Strukturen üblicherweise auch Managementbeteiliungsprogramme eingesetzt.259 Hierbei handelt es sich um Beteiligungen der Manager an den Anteilen der Akquisitionsgesellschaft bzw. der Holdinggesellschaft, die später Gegenstand des Exits wird. Diese Beteiligungen werden zwecks besserer Verwaltung des Programms üblicherweise über eine vermögensverwaltende GmbH & Co. KG gehalten mit dem steuerlichen Ziel, dass den einzelnen Managern das wirtschaftliche Eigentum von Beteiligungen zuzurechnen ist.
5.308
Im Allgemeinen handelt es sich um Beteiligungen an dem Stammkapital der betreffenden Gesellschaft, so dass die Manager trotz eines vergleichsweise geringen Investments eine erhebliche Rendite im Exitfall erhalten können. Diese Renditechance soll jedoch im Allgemeinen nur den aktiven Managern offenstehen. Daher enthalten die Managementbeteiligungsprogramme Regelungen zum vorzeitigen Ausscheiden der Manager („Good Leaver vs. Bad Leaver Konzept“) und den Bedingungen für die Realisierung der vollen Rendite („Ratchets“), die sich an der Erreichung von bestimmten Finanzkennzahlen orientieren.
5.309
Aus steuerlicher Sicht ist es entscheidend, dass den Managern mit dem Erwerb der Beteiligung an der GmbH & Co. KG wirtschaftliches Eigentum an den Anteilen an der Akquisitionsgesellschaft bzw. Holdinggesellschaft vermittelt wird, da andernfalls keine Einkünfte aus Kapitalvermögen im Zeitpunkt des Exits entstehen können.260 Letzteres ist jedoch gewünscht, weil die Veräußerungsgewinne entweder als Einkünfte aus Kapitalvermögen mit dem sog. Abgeltungsteuersatz von 25 % zzgl. Solidaritätszuschlag oder als Einkünfte i.S.d. § 17 EStG nach dem Teileinkünfteverfahren besteuert werden und damit mit erheblich weniger Steuern belas-
5.310
256 257 258 259
Berger, StuB 2012, 903 (905); Otto, AG 2013, 357 (361). Ebenso Berger, StuB 2012, 903 (907); Schaden/Wild, Ubg 2011, 337 (342). S. hierzu auch Otto, AG 2013, 357 ff. Von Werder/Li, BB 2013, 1736 ff.; vgl. auch Mackensen in Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 415 ff. 260 Kein Arbeitslohn liegt vor, wenn die Zuwendung wegen anderer Rechtsverhältnisse oder aufgrund sonstiger, nicht auf dem Dienstverhältnis beruhender Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gewährt wird, BFH v. 20.11.2008 – VI R 25/05, BStBl. II 2009, 382 m.w.N.; BFH v. 5.4.2006 – IX R 111/00, BStBl. II 2006, 654.
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Kap. 5 Rz. 5.311
Steuern
tet werden als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit aufgrund des Dienstverhältnisses mit dem Zielunternehmen.
5.311 Die Abgrenzung zwischen Einkünften aus Kapitalvermögen und Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit ist oft nicht eindeutig und wird von den FG auf Grundlage der Umstände des Einzelfalls entschieden. Während Good Leaver/Bad Leaver Klauseln zwar grundsätzlich nicht das Vorliegen von Einkünften aus Kapitalvermögen ausschließen,261 so stellen sie doch ein Indiz für eine enge wirtschaftliche Verknüpfung zwischen dem Dienstverhältnis und der Kapitalbeteiligung dar.262 Auch der Umstand, dass die Kapitalbeteiligungen nur leitenden Angestellten gewährt werden, schließt weder Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit aus, noch begründet er zwingend Einkünfte aus Kapitalvermögen.263 Handelt es sich bei der Kapitalbeteiligung allerdings nicht um Rechte, deren Wert sich nach der Übertragung auf den Mitarbeiter selbständig und losgelöst von dem Arbeitsverhältnis entwickeln kann, weil der Mitarbeiter die Kapitalbeteiligung nur durch Veräußerung an den Arbeitgeber verwerten kann und der Rückkaufswert davon abhängt, wie das Arbeitsverhältnis endet, liegen nach der Rechtsprechung des BFH Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit vor.264
H. Erwerb eines Unternehmens in der Krise I. Erwerb nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens 5.312 Befindet sich ein Unternehmen bereits derart in einer Liquiditäts- und Erfolgskrise, dass es zu einer Eröffnung des Insolvenzverfahrens gekommen ist, ist in der Regel ein Unternehmenskauf in Form eines Asset Deals zu erwarten. Hintergrund hierfür ist, dass der Erwerber zum einen nicht den sich in Insolvenz befindlichen Rechtsträger erwerben möchte, sondern das Unternehmen mit seinen wesentlichen Assets, von denen in Zukunft positive Cashflow-Überschüsse zu erwarten sind, und zum anderen weil nach § 75 Abs. 2 AO bei einem Erwerb aus der Insolvenzmasse sowie nach der Rechtsprechung265 auch beim Erwerb vom vorläufigen Insolvenzverwalter, wenn das Insolvenzverfahren später eröffnet wird, die Haftung des Betriebsübernehmers für Betriebssteuern entfällt (vgl. auch Rz. 16.116). Allerdings sind ggf. weitere Haftungstatbestände zu berücksichtigen, wie beispielsweise bei miterworbenen Organgesellschaften nach § 73 AO, soweit bei der Organgesellschaft kein Insolvenzverfahren eröffnet worden sein sollte.
5.313 Bei Transaktionen dieser Art steht daher die steuerliche Strukturierung auf Seiten des Erwerbers im Vordergrund, da das Unternehmen im Konzern des Erwerbers steueroptimal integriert werden muss und die steuerliche Wirkung von Realisationstatbeständen aufgrund niedriger Anschaffungskosten beispielsweise im Vorratsvermögen sowie der Sanierungsmaßnahmen des Erwerbers berücksichtigt werden müssen, um die Sanierung des Unternehmens insgesamt durch Steuerineffizienzen nicht zu gefährden. 261 Vgl. BFH v. 4.10.2016 – IX R 43/15, BStBl. II 2017, 790 = GmbHR 2017, 256 = AG 2017, 480; s. auch Rödding, DStR 2017, 437. 262 Vgl. BFH v. 17.6.2009 – VI R 69/06, BStBl. II 2010, 69 ff.; BFH v. 20.11.2008 – VI R 25/05, BStBl. II 2009, 382 ff. 263 Vgl. BFH v. 17.6.2009 – VI R 69/06, BStBl. II 2010, 69 ff.; BFH v. 20.11.2008 – VI R 25/05, BStBl. II 2009, 382 ff. 264 BFH v. 5.11.2013 – VIII R 20/11, BStBl. II 2014, 275 = GmbHR 2014, 334. 265 BFH v. 23.7.1998 – VII R 143/97, BStBl. II 1998, 765; Loose in Tipke/Kruse, § 75 AO Rz. 37.
452
Gröger
H. Erwerb eines Unternehmens in der Krise
Rz. 5.316 Kap. 5
Soweit im Rahmen eines Insolvenzplanverfahrens ein Share Deal bezüglich des insolventen Unternehmens in Betracht gezogen wird, sind die nachfolgend beschriebenen Fragestellungen der Behandlung des Sanierungsgewinns und der Erhaltung und Nutzung von Verlustvorträgen zu prüfen.
II. Erwerb im Vorfeld eines Insolvenzverfahrens Soweit die Liquiditäts- oder Erfolgskrise eines Unternehmens noch nicht das Stadium eines Insolvenzgrundes erreicht hat, stehen als Transaktionsformen grundsätzlich sowohl ein Asset Deal als auch ein Share Deal zur Verfügung. Bei einem Asset Deal besteht zwar insoweit uneingeschränkt die Haftung des Betriebsübernehmers für Betriebssteuern nach § 75 AO; jedoch kann u.U. im Rahmen eines Asset Deals ein Teilverkauf eines Unternehmensteils erreicht werden, der für sich genommen gute Aussichten auf eine erfolgreiche Sanierung hat. Eine Übertragung von Verlustvorträgen und Zinsvorträgen, die ggf. eine Sanierung durch eine Reduktion der Steuerzahlungen auf erfolgswirksame Sanierungsmaßnahmen und zukünftige Gewinne erleichtern könnten, findet bei einem Asset Deal allerdings grundsätzlich nicht statt. Zu berücksichtigen sind aber auch hier zukünftige steuerpflichtige Realisationstatbestände auf Grund niedriger Anschaffungskosten von Wirtschaftsgütern, insbesondere des Vorratsvermögens, sowie Steuerwirkungen aus Verpflichtungsübernahmen auf Grund von § 5 Abs. 7 EStG.
5.314
Erfolgt der Erwerb des sanierungsbedürftigen Unternehmens in Form eines Share Deals, ist es von entscheidender Bedeutung, dass sich der Erwerber im Rahmen einer Due Diligence Untersuchung über die steuerliche Situation des Unternehmens informiert. Denn es dürfte zu erwarten sein, dass bereits der Veräußerer verschiedene Sanierungsmaßnahmen getroffen hat, die auch erhebliche steuerliche Konsequenzen zur Folge hatten.266 Zum einen kann der Veräußerer das Eigenkapital des sanierungsbedürftigen Unternehmens durch Maßnahmen wie Forderungsverzichte auf Gesellschafterdarlehen oder interne Asset Deals oder Umwandlungen zwecks Hebens von stillen Reserven gestärkt haben. Diese Maßnahmen können auch steuerlich erfolgswirksam gewesen sein und nach Verrechnung mit laufenden Verlusten und Verlustvorträgen im Rahmen der Mindestbesteuerung zu einer Steuerbelastung geführt haben. Der Veräußerer kann zudem auf eine Sicherung des Eigenkapitals des Unternehmens im Rahmen der Bilanzierung hingewirkt haben, wenn das Unternehmen Bewertungswahlrechte an der oberen Bandbreite ausgeübt hat. Aus steuerlicher Sicht können solche Maßnahmen Wertaufholungen zur Folge gehabt haben, die grundsätzlich voll steuerpflichtig sind, soweit es nicht zur Verrechnung mit Verlusten kommt. Schließlich kann der Veräußerer Liquiditätshilfen oder Sicherheiten gewährt haben. Liquiditätshilfen können auch zu steuerpflichtigen Erträgen geführt haben, während die Gewährung von Sicherheiten sich grundsätzlich bilanziell erst mit drohender Inanspruchnahme auswirkt.
5.315
Die Untersuchung der steuerlichen Situation des sanierungsbedürftigen Unternehmens im Zeitpunkt der Transaktion hat zum Ziel, die vorhandenen Verlust- oder Zinsvorträge zu identifizieren, die ggf. in der Zukunft durch entsprechende Verrechnung gegen Erträge aus den Sanierungsmaßnahmen des Erwerbers die Sanierung erleichtern könnten. Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob diese Verlust- oder Zinsvorträge nach dem Erwerb des Unternehmens im Rahmen eines Share Deals tatsächlich fortgeführt werden können;
5.316
266 S. dazu auch Gröger/Jänisch in Schramm/Hansmeyer, Transaktionen erfolgreich managen, 2010, S. 262 ff.
Gröger
453
Kap. 5 Rz. 5.317
Steuern
denn die Ausnahme der stille Reserven Regelung des § 8c Abs. 1 Satz 6 KStG wird in Sanierungsfällen mangels ausreichender stiller Reserven nicht weit tragen. Dagegen könnten Verluste auf Antrag als sog. „fortführungsgebundene Verluste“ unter den Voraussetzungen des § 8d KStG weiter verrechnet werden. Das setzt aber u.a. voraus, dass der Verlust verursachende Geschäftsbetrieb nicht eingestellt, ruhend gestellt oder einer neuen Zweckbestimmung zugeführt wurde oder im Rahmen der Sanierung wird. Nach den Urteilen des EuGH zu § 8c Abs. 1a KStG (Sanierungsklausel), in denen der EuGH feststellte, dass die Sanierungsklausel keine unzulässige Beihilfe darstellt, und daher den diesbezüglichen Beschluss der EU-Kommission für nichtig erklärte, beabsichtigt die Bundesregierung nunmehr mit dem Gesetzentwurf zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften in der Fassung vom 10.8.2018 die Anwendung von § 8c Abs. 1a KStG für Anteilsübertragungen nach dem 31.12.2007 wieder uneingeschränkt herzustellen (s. Rz. 5.78). Unter den Voraussetzungen des § 8c Abs. 1a KStG sollten dann auf Anteilserwerbe zu Sanierungszwecken die Regelungen des § 8c Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 KStG nicht anzuwenden sein, so dass in Sanierungsfällen ein Untergang von Verlustvorträgen und laufenden Verlusten verhindert werden kann.
5.317 Ferner sind Abweichungen zwischen Handels- und Steuerbilanz in Bezug auf Teilwertabschreibungen und Drohverlustrückstellungen zu ermitteln, um die zukünftige Ertragsteuerbelastung des Unternehmens zu berechnen und die Steuerwirkung aus Gesellschafterdarlehen mit Besserungsscheinen einschätzen zu können. Des Weiteren ist von entscheidender Bedeutung, die Erwerbsstrukturierung und die erforderlichen Sanierungsmaßnahmen mit der steuerlichen Situation abzustimmen. Miterworbene Forderungen mit Besserungsscheinen sollten nach Möglichkeit so strukturiert werden, dass ein steuerlicher Vorteil aus dem aufwandswirksamen Wiederaufleben der Schuld nicht durch einen gleichlaufenden steuerpflichtigen Ertrag kompensiert wird.
5.318 Soweit erfolgswirksame Sanierungsmaßnahmen nach dem Erwerb stattfinden, die zu einer erheblichen Steuerbelastung führen würden, bestand in der Vergangenheit zudem die Möglichkeit, einen Antrag auf Erlass von Steuern auf Grundlage und unter den Bedingungen des Sanierungserlasses267 zu stellen. Im Allgemeinen wurde die Anwendung des Sanierungserlasses durch eine entsprechende verbindliche Auskunft beim zuständigen Finanzamt vor Durchführung der Sanierungsmaßnahmen sichergestellt, um die nachfolgende Sanierung des Unternehmens u.a. auch durch den Erlass der Steuern abzusichern. Da für den Erlass der Gewerbesteuer jedoch im Allgemeinen die Gemeinden zuständig waren, war neben der Abstimmung mit dem zuständigen Betriebsstättenfinanzamt auch die Erlassmöglichkeit mit den Gemeinden vorab zu besprechen.
5.319 Mit Beschluss des Großen Senats des BFH vom 28.11.2016 wurde diese Praxis nunmehr beendet.268 Der Große Senat verwarf die Anwendung des Sanierungserlasses mit der Begründung, der Sanierungserlass verstoße gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.269 Auch die Anwendung des Sanierungserlasses auf Altfälle aufgrund Vertrauensschutzes hat der BFH nicht akzeptiert.270 267 BMF, Schr. v. 27.3.2003 – IV A 6 - S 2140 – 8/03, BStBl. I 2003, 240. 268 BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393 = GmbHR 2017, 310 m. Anm. Hinder/Broekmann. 269 Vgl. dazu auch Geerling/Hartmann, DStR 2017, 752. 270 S. BFH v. 23.8.2017 – I R 52/14, BFH/NV 2017, 1644 entgegen BMF, Schr. v. 27.4.2017 – IV C 6-S 2140/13/10003, DStR 2017, 986; s. auch Sedlitz, DStR 2017, 2785.
454
Gröger
H. Erwerb eines Unternehmens in der Krise
Rz. 5.320 Kap. 5
Als Reaktion auf diese Sachlage hat der Gesetzgeber im Rahmen des Gesetzes gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen vom 27.6.2017271 eine neue gesetzliche Regelung in § 3a EStG n.F. geschaffen, die Sanierungserträge unter bestimmten Voraussetzungen steuerfrei stellen soll. Dabei hat der Steuerpflichtige nach § 3a Abs. 2 EStG n.F. für den Zeitpunkt des Schuldenerlasses die Sanierungsbedürftigkeit und die Sanierungsfähigkeit des Unternehmens, die Sanierungseignung des betrieblich begründeten Schuldenerlasses und die Sanierungsabsicht der Gläubiger nachzuweisen. Die Regelung soll gleichermaßen auch für die Gewerbesteuer Anwendung finden (§ 7b GewStG n.F.). Da der Gesetzgeber sich jedoch mit Blick auf die europäischen Beihilferegelungen durch ein Notifizierungsverfahren nach Art. 108 Abs. 3 AEUV bei der EU-Kommission absichern wollte, steht die Anwendung der oben beschriebenen Neuregelungen unter dem Vorbehalt eines zustimmenden Beschlusses der EU-Kommission.272 Inzwischen hat die EU-Kommission nach Pressemeldungen verlauten lassen, dass sie aus beihilferechtlicher Sicht keine Einwände gegen § 3a EStG n.F. hat.273 Da diese Stellungnahme jedoch nicht als formaler Beschluss erging, dürfte eine weitere Gesetzesänderung für die Anwendung der neuen Vorschrift zu Sanierungserträgen notwendig sein.
271 Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen v. 27.6.2017, BGBl. I 2017, 2074. 272 Art. 6 des Gesetzes gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen v. 27.6.2017, BGBl. I 2017, 2074; vgl. auch Kußmaul/Licht, DB 2017, 1797 ff.; Stadler, NZI 2018, 49. 273 FAZ v. 13.8.2018, S. 18.
Gröger
455
5.320
Kapitel 6 Arbeitsrecht Robert von Steinau-Steinrück und Thomas Thees
e) Einzelne Rechtsgeschäfte . . . . . . 4. Übergang und Übergangszeitpunkt
Überblick A. Arbeitsrecht beim Unternehmensund Beteiligungskauf . . . . . . . . . . .
6.1
I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1
III. 1. 2. 3. 4. 5.
II. Änderungen auf Unternehmensebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Share Deal oder Asset Deal . . . . . . . 2. Anhörung des Wirtschaftsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gesellschafternachhaftung . . . . . . .
6.5 6.6 6.7
III. Änderungen auf Betriebsebene . .
6.8
6. 7. 8. 9.
IV. Einzel- oder Gesamtrechtsnachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.10
10.
V. Überblick: Arbeitsrecht bei Umwandlungen . . . . . . . . . . . . . . .
6.13
B. Betriebsübergang nach § 613a BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.19
I. 1. 2. 3.
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen des Übergangs von Arbeitsverhältnissen . . . . . . . . 1. Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines zur Identität der wirtschaftlichen Einheit . . . . . . . b) Begriff der wirtschaftlichen Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Betriebsteil . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Betriebsinhaberwechsel . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesellschaftsrechtliche Vorgänge c) Verhältnis von Betriebsstilllegung und Betriebsübergang . . . . 3. Rechtsgeschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesamtrechtsnachfolge und Umwandlungsgesetz . . . . . . . . . . c) Mehrere Rechtsgeschäfte . . . . . . d) Wirksamkeit/Rücktrittsrecht . . .
6.3 6.3
11. 6.19 6.19 6.20 6.22 6.23 6.27 6.27 6.27 6.33 6.52 6.57 6.57 6.60 6.63 6.70 6.70 6.74 6.78 6.80
Übergang der Arbeitsverhältnisse Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittelbares Arbeitsverhältnis . . . . . Faktisches Arbeitsverhältnis . . . . . . Gekündigtes Arbeitsverhältnis . . . . Vertretungsberechtigte Organmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Zweifelhafte“ Arbeitsverträge . . . . Arbeitnehmerähnliche Personen . . Leiharbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . Pensionäre, Versorgungsanwärter, Vorruheständler und Mitarbeiter in Altersteilzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuordnungsfragen . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umwandlungsfälle . . . . . . . . . . . Abweichende Vereinbarungen . . . .
6.82 6.89 6.91 6.91 6.93 6.94 6.95 6.96 6.99 6.101 6.102 6.103 6.104 6.104 6.109 6.113
IV. Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.117 1. Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.117 2. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.118 V. Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsmissbrauch . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sozialauswahl . . . . . . . . . . . . . . . c) Annahmeverzug . . . . . . . . . . . . . d) Sozialplananspruch . . . . . . . . . . 4. Absprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Rechtsstellung übergegangener und ausgeschiedener Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Übergehende Rechte und Pflichten a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . b) Betriebszugehörigkeit . . . . . . . . c) Gestaltungsrechte . . . . . . . . . . . . d) Nachwirkungen aus beendeten Arbeitsverhältnissen . . . . . . . . . . e) Rückständige Ansprüche . . . . . .
von Steinau-Steinrück/Thees
6.128 6.128 6.130 6.130 6.137 6.140 6.140 6.144 6.153 6.154 6.155
6.158 6.158 6.158 6.162 6.167 6.168 6.172
457
Kap. 6
Arbeitsrecht
f) Rückständige Sozialversicherungsbeiträge/Lohnsteuer . . . . . g) Rechtsähnliche Positionen . . . . . h) Vollmachten, Ämter, Statusfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Lohnpfändung . . . . . . . . . . . . . . j) Darlehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Mitarbeiterbeteiligungen/ Aktienoptionen . . . . . . . . . . . . . l) Werkswohnungen . . . . . . . . . . . m)Arbeitnehmer-Erfindungen . . . . n) Urlaubsansprüche . . . . . . . . . . . o) Zeugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . p) Dienstwagen . . . . . . . . . . . . . . . . q) Produktbezogene Vergünstigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . r) Anpassung von unternehmensoder leistungsabhängigen Vergütungen . . . . . . . . . . . . . . . . s) Gesetzliches Wettbewerbsverbot, § 60 HGB . . . . . . . . . . . . t) Nachvertragliche Wettbewerbsverbote, §§ 74 ff. HGB . . . . . . . . u) Betriebliche Altersversorgung . . 2. Rechtsstellung übergehender Mitarbeiter im aufnehmenden Betrieb 3. Abweichende Vereinbarungen mit den Arbeitnehmern . . . . . . . . . 4. Abweichende Regelungen zwischen Erwerber und Veräußerer . . . . . . . .
3. Sonstige Haftungsfragen . . . . . . . . . 6.274 6.174 6.177 6.178 6.184 6.185 6.188 6.198 6.201 6.204 6.205 6.206 6.207 6.208 6.209 6.211 6.219 6.229 6.231 6.234
VII. Rechtsstellung Dritter . . . . . . . . . . 6.236 VIII. Kündigungsrechtliche Fragen . . . . 1. Rechtsnatur und Geltungsbereich von § 613a Abs. 4 BGB . . . . . . . . . . 2. Kündigung „wegen Betriebs(teil)übergang“ . . . . . . . . . . . . 3. Kündigung „aus anderen Gründen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kündigung „wegen Widerspruchs“ 5. Leitende Angestellte . . . . . . . . . . . . 6. Besonderheiten bei (werdenden) Müttern und Schwerbehinderten . . 7. Sozialversicherungsrechtliche Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Haftungssystem des § 613a BGB und Verhältnis zum Umwandlungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Haftungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . a) Haftung des Erwerbers . . . . . . . . b) Haftung des Veräußerers . . . . . . 2. Verhältnis zum Umwandlungsrecht a) §§ 133, 134 UmwG . . . . . . . . . . . b) §§ 22, 45 UmwG . . . . . . . . . . . . .
458
von Steinau-Steinrück/Thees
6.237 6.237 6.240 6.249 6.255 6.257 6.258 6.260
6.261 6.261 6.261 6.263 6.269 6.269 6.271
X. § 613a BGB in der Insolvenz . . . . . 1. Anwendbarkeit von § 613a BGB . . . 2. Behandlung der Arbeitnehmeransprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sozialplanansprüche . . . . . . . . . . c) Betriebliche Altersversorgung . . 3. Kündigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Insolvenzeröffnungsverfahren . . . . 5. Insolvenzplanverfahren . . . . . . . . . . 6. Erleichterte Sanierungsmöglichkeiten in der Insolvenz . . . . . . . . . . a) Regelungen der InsO . . . . . . . . . b) Einsatz von Beschäftigungsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . c) Insolvenzgeld . . . . . . . . . . . . . . . XI. Betriebsverfassungs- und mitbestimmungsrechtliche Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterrichtung und Schicksal des Wirtschaftsausschusses . . . . . . . . . . 2. Mitwirkung und Mitbestimmung des Betriebsrats . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schicksal des Betriebsrats . . . . . . . . 4. Schicksal des Gesamtbetriebsrats, Mitwirkung und Mitbestimmung . 5. Betriebsverfassungs- und mitbestimmungsrechtliche Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Umwandlungsgesetz . . . . . . . . . . . . 7. Betriebsübergang und Sprecherausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XII. Fortgeltung von Kollektivnormen 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Transformation von Kollektivnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Transformationsakt . . . . . . . . . . b) Betriebsvereinbarungen . . . . . . . c) Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kollektivrechtliche Fortgeltung . . . a) Betriebsvereinbarungen . . . . . . . b) Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Fortgeltung von Gesamt- und Konzernbetriebsvereinbarungen . . . 5. Geltung eines anderen Kollektivvertrags (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB) a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Betriebsvereinbarungen . . . . . . . c) Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung gelten nicht mehr (§ 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 BGB) . . . . . . . .
6.278 6.278 6.280 6.280 6.284 6.285 6.293 6.295 6.296 6.297 6.297 6.301 6.304
6.308 6.308 6.309 6.321 6.327 6.332 6.338 6.342 6.348 6.348 6.351 6.351 6.353 6.359 6.361 6.361 6.363 6.370 6.373 6.373 6.374 6.379 6.390
Arbeitsrecht
7. Fortgeltung anderer Kollektivvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.391 8. Ausgründungsmodelle . . . . . . . . . . 6.395 XIII. Prozessuale Fragen . . . . . . . . . . . . . 1. Kündigungsrechtsstreit . . . . . . . . . . 2. Durchsetzung übergegangener Rechte und Pflichten . . . . . . . . . . . . 3. Streitverkündung gegenüber dem Pensions-Sicherungs-Verein . . . . . . 4. Fortsetzung anhängiger Verfahren, Rechtskraftwirkung gegenüber Erwerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.397 6.397 6.408 6.410
Kap. 6
5. Beteiligtenwechsel . . . . . . . . . . . . . . 6.412 6. Lohnpfändungen . . . . . . . . . . . . . . . 6.413 C. Arbeitsrechtliche Due Diligence . 6.414 I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.414 II. Gegenstand der Prüfung . . . . . . . . 6.417 III. Datenschutzrechtliche Grenzen nach DSGVO und BDSG . . . . . . . . 6.422
6.411
Literatur: Allgemein: Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 5. Aufl. 2017 (zit. APS); Bauer, Aktuelle Probleme betriebsbedingter Kündigungen unter besonderer Berücksichtigung des Betriebsübergangs, 1986; Bauer, Arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge, 9. Aufl. 2014; Bauer, Unternehmensveräußerungen und Arbeitsrecht, Schriften des Betriebs-Beraters, Bd. 65, 1983; Bauer/Lingemann/Diller/Haußmann, Anwaltsformularbuch Arbeitsrecht, 6. Aufl. 2017; Bauer/Röder, Taschenbuch zur Kündigung, 2. Aufl. 2000; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018; Boecken, Unternehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, 1996; Borngräber, Arbeitsverhältnis bei Betriebsübergang, 1977; Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, Betriebsverfassungsgesetz, 16. Aufl. 2018; Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht (Hrsg. Müller-Glöge/Preis/Schmidt), 18. Aufl. 2018; Erman, Bürgerliches Gesetzbuch, 15. Aufl. 2017; Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 29. Aufl. 2018; B. Gaul, Das Arbeitsrecht der Betriebs- und Unternehmensspaltung, 2002; D. Gaul, Der Betriebsübergang, 2. Aufl. 1993; Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften, 11. Aufl. 2016 (zit. KR); Großkommentar zum HGB, begr. von Staub, §§ 145–160, 1999; Häger/Kieborz, Checkbuch Unternehmenskauf, 2000; Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 7. Aufl. 2016 (zit. HWK); Huntemann/Brockdorff, Der Gläubiger im Insolvenzverfahren, 1999; Kallmeyer, Umwandlungsgesetz, 6. Aufl. 2017; Kasseler Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 2 (Hrsg. Leinemann), 2. Aufl. 2000; Kreitner, Kündigungsschutzrechtliche Probleme beim Betriebsinhaberwechsel, 1989; Lutter, Umwandlungsgesetz, 5. Aufl. 2014; Mengel, Umwandlungen im Arbeitsrecht, 1997; Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Schuldrecht Besonderer Teil II (Hrsg. Henssler/Krüger), 7. Aufl. 2016; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 77. Aufl. 2018; Pietzko, Der Tatbestand des § 613a, 1989; Preis/Steffan, Zum Schicksal kollektivrechtlicher Regelungen beim Betriebsübergang, in Festschrift für Kraft, 1998, S. 477; Preis/Willemsen (Hrsg.), Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, 1999; Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, 16. Aufl. 2018; Röder/Baeck, Interessenausgleich und Sozialplan, 4. Aufl. 2009; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 17. Aufl. 2017; Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, 2. Aufl. 2002; Seiter, Betriebsinhaberwechsel, 1980; Staudinger, BGB, §§ 613a-619a BGB, 2016; Tschöpe, Arbeitsrecht Handbuch, 10. Aufl. 2017; Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 4. Aufl. 2011. Voraussetzungen des Betriebsübergangs: Baeck/Hauck/Preis u.a., Festschrift für Jobst-Hubertus Bauer zum 65. Geburtstag; Fabricius, Rechtsprobleme gespaltener Arbeitsverhältnisse im Konzern, 1982; Hoppe/Uechtritz/Reck, Handbuch Kommunale Unternehmen, 3. Aufl. 2012; Lieb, Arbeitsrecht, Schwerpunkte, 9. Aufl. 2006; Schwerdtner, Individualrechtliche Probleme des Betriebsüberganges, in Festschrift für Gerhard Müller, 1981, S. 557; von Steinau-Steinrück, Haftungsrechtlicher Arbeitnehmerschutz bei der Betriebsaufspaltung, 1996. Rechtsfolgen des Betriebsübergangs: Martens, Das Arbeitsrecht der leitenden Angestellten, 1982. Unterrichtung und Widerspruchsrecht: Tschöpe, Rechtsfolgen eines arbeitnehmerseitigen Widerspruchsrechts beim Betriebsinhaberwechsel, 1984.
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Kap. 6
Arbeitsrecht
Rechtsstellung „übergegangener“ Arbeitnehmer: Bartenbach/Volz, Gesetz über Arbeitnehmererfindungen vom 25.7.1957, 4. Aufl. 2002; Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, 7. Aufl. 2015; Baumbach/ Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018; Bossmann, Die Auswirkungen des Betriebsübergangs nach § 613a auf die Wettbewerbsverbote der Arbeitnehmer, 1993; Buchner, Wettbewerbsverbote, 2. Aufl. 1997; Diller, Gesellschafter und Gesellschaftsorgane als Arbeitnehmer, 1993; Fuchs, Betriebliche Sozialleistungen beim Betriebsübergang, 2000; Gockel, Übergang von Ansprüchen und Anwartschaften aus einer betrieblichen Altersversorgung nach § 613a BGB, 1988; Grunsky, Wettbewerbsverbote für Arbeitnehmer, 2. Aufl. 1987; Heymann, HGB, 2. Aufl. 1995 ff.; Hill, Das neue Umwandlungsrecht und seine Auswirkungen auf die betriebliche Altersversorgung, BetrAVG 1995, 114; Leinemann/Linck/Fenski, Urlaubsrecht, 2. Aufl. 2001; L. Schmidt, EStG, 36. Aufl. 2017; Schwerdtner (Hrsg.), Individualarbeitsrechtliche Probleme des Betriebsüberganges, Festschrift für Gerhard Müller, 1981. Kündigungsrechtliche Fragen: Buchner, Mutterschutzgesetz, Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, 8. Aufl. 2008; Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 10. Aufl. 2010. Haftungssystem des § 613a BGB und Verhältnis zum Umwandlungsrecht: Commandeur, Betriebs-, Firmen- und Vermögensübernahme. Eine Gesamtdarstellung der haftungsrechtlichen Probleme bei Einzelrechtsnachfolge (§§ 613a BGB, 419 BGB; § 25 HGB; 75 AO), München 1990. § 613a BGB in der Insolvenz: Gagel, SGB III, Loseblatt, Stand 06/2009; Gänßbauer, Beschäftigungsund Qualifizierungsgesellschaften zur Unternehmenssanierung in der Insolvenz, 2002; Kiel/Lunk/ Oetker, Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2018. Betriebsverfassungsrechtliche und mitbestimmungsrechtliche Auswirkungen des Betriebsübergangs: Bauer, Sprecherausschussgesetz, 2. Aufl. 1990; Hromadka/Sieg, Sprecherausschussgesetz, 4. Aufl. 2017; Löwisch, Sprecherausschussgesetz, 2. Aufl. 1994; Löwisch/Kaiser, Betriebsverfassungsgesetz, 6. Aufl. 2010; Moll, Münchener Handbuch Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2017; Wiese/Kreutz/Oetker/ Raab/Weber/Franzen/Gutzeit/Jacobs, Gemeinschaftskommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 11. Aufl. 2018. Fortgeltung von Kollektivnormen: Blomeyer/Rolfs/Otto, Betriebsrentengesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2015; Däubler, Tarifvertragsgesetz, 4. Aufl. 2016; Dehmer, Die Betriebsaufspaltung, 2. Aufl. 1987; D. Gaul, Der Betriebsübergang, 2. Aufl. 1993; Gussen/Dauck, Die Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen bei Betriebsübergang und Umwandlung, 2. Aufl. 1997; Hanau/Vossen, Die Auswirkungen des Betriebsinhaberwechsels auf Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge, in Festschrift für Hilger und Stumpf, 1983, S. 271; Kempen/Zachert, Tarifvertragsgesetz, 5. Aufl. 2014; Rieble/Blank, Flucht aus dem Tarifvertrag – Flucht in den Tarifvertrag, 2000. Due Diligence: Berens/Brauner/Strauch, Due Diligence bei Unternehmensakquisitionen, 7. Aufl. 2013; Gola/Klug/Körffer, Bundesdatenschutzgesetz, 12. Aufl. 2015; Picot, Handbuch Mergers & Acquisitions, 5. Aufl. 2012.
Überblick Für die Gestaltung eines Unternehmenskaufs sind häufig steuer- und haftungsrechtliche Vorgaben maßgeblich. Eine fast ebenbürtige Bedeutung hierbei nimmt mittlerweile aber auch die zentrale arbeitsrechtliche Norm des Arbeitsrechts für den „Betriebsübergang“, nämlich § 613a BGB ein. Sie regelt das „Ob“ und „Wie“ von Fragen wie der Überleitung der Arbeitnehmer, die Verteilung der Haftung zwischen Veräußerer und Erwerber, die Zuordnung von Pensionsverbindlichkeiten, die Kontinuität des Betriebsrats sowie die Weitergeltung kollektiver Regelungen wie Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen. Schließlich gehören auch die Fragen der Unterrichtung und des Widerspruchs der Arbeitnehmer dazu. Grundsätzlich soll § 613a BGB eigentlich „nur“ die Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs für die Arbeitsverhältnisse regeln. Jedoch variieren die Voraussetzungen für den Übergang von 460
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A. Arbeitsrecht beim Unternehmens- und Beteiligungskauf
Rz. 6.2 Kap. 6
Arbeitsverhältnissen nach § 613a BGB, wie beispielsweise beim Übergang des gesamten Betriebs oder nur eines Betriebsteils. Zu den wichtigen Fragen gehört auch die Rechtsstellung übergegangener und ausgeschiedener Arbeitnehmer sowohl beim Veräußerer als auch beim Erwerber. Relevant ist dies etwa im Hinblick auf die häufig angestrebte Lohnangleichung aller Arbeitnehmer. Die arbeitsrechtlichen Auswirkungen hängen davon ab, ob Veränderungen an der Ebene des Unternehmens oder des Betriebs ansetzen sowie welche Erwerbsgegenstände und Erwerbsformen geplant werden. Die Vorschrift ist rechtlich auch deshalb komplex, weil sie nicht nur eine nationale deutsche Norm sondern gleichzeitig die Umsetzungsnorm für die Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23 EG ist. Zu den Einzelfragen gibt es jeweils eine wahre Flut von Entscheidungen des BAG sowie der LAG sowie „last not least“ des EuGH, die wiederum wechselseitig bisweilen in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen. So wandte sich etwa auf europäischer Ebene jüngst der EuGH mit Urteil vom 27.4.2017 (Asklepios) von seiner sog. Alemo-Herron-Entscheidung ab, mit Blick auf sog. dynamische Bezugnahmeklauseln (mit denen arbeitsvertraglich auf die Geltung eines Tarifvertrags verwiesen wird). Die Asklepios-Entscheidung ist wiederum entsprechend bei der arbeitsrechtlichen Due Diligence Prüfung zu beachten. Von daher ist § 613a BGB für alle mit ihr befassten Praktiker eine herausfordernde Norm. Der Beitrag stellt die rechtlichen Fragen und Gestaltungsmöglichkeiten für den Praktiker neben einer Einführung mit einem Überblick und einem Schlussteil zur Due-Diligence in seinem Hauptteil in 13 Abschnitten im Einzelnen dar.
A. Arbeitsrecht beim Unternehmens- und Beteiligungskauf I. Einführung Für Unternehmens- und Beteiligungskäufe gibt es eine breite Palette gesellschaftsrechtlicher Gestaltungsformen. Die Vertragsgestaltung folgt in der Regel steuer- und haftungsrechtlichen Vorgaben. Dagegen werden die arbeitsrechtlichen Auswirkungen häufig unterschätzt. Da sie leicht erhebliche wirtschaftliche Dimensionen annehmen können, empfiehlt sich bereits bei der konzeptionellen Gestaltung der Transaktion die Einschaltung arbeitsrechtlicher Berater.
6.1
Beispiel: Die A-Gesellschaft mit 5 000 Arbeitnehmern und einem „billigen“ Flächentarifvertrag soll mit der ebenfalls tarifgebundenen B-Gesellschaft mit 1 000 Arbeitnehmern und einem „teuren“ Tarifvertrag fusionieren. Die künftigen Lohnkosten können bei einer Verschmelzung der B-Gesellschaft auf die A-Gesellschaft deutlich geringer sein als im umgekehrten Fall. Die Gehälter der 5 000 Arbeitnehmer der A-Gesellschaft müssen dann nämlich nicht an das (höhere) Niveau der B-Gesellschaft angepasst werden.
§ 613a BGB ist die zentrale Norm des Arbeitsrechts beim Unternehmenskauf. Sie regelt 6.2 Überleitung und Bestandsschutz von Arbeitsverhältnissen, Haftungsverteilung zwischen Veräußerer und Erwerber, Kontinuität des Betriebsrates, die Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen sowie Unterrichtung und Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer. Die arbeitsrechtlichen Auswirkungen hängen davon ab, ob die gewählte Gestaltungsform die Identität des Unternehmens und/oder des Betriebs verändert. Beide Ebenen müssen bei der Beurteilung der Folgen im Individualarbeits-, Betriebsverfassungs-, Tarifvertrags- und Mitbestimmungsrecht jeweils getrennt betrachtet werden. Die verschiedenen Gestaltungsformen lassen sich nach Erwerbsgegenstand (Share Deal oder Asset Deal) sowie Erwerbsform, nämvon Steinau-Steinrück/Thees
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Kap. 6 Rz. 6.3
Arbeitsrecht
lich Einzel- oder Gesamtrechtsnachfolge, unterteilen. Innerhalb der Gesamtrechtsnachfolge kommt es darauf an, ob sich der Erwerb innerhalb oder außerhalb des UmwG vollzieht.
II. Änderungen auf Unternehmensebene 1. Share Deal oder Asset Deal
6.3 Käufer neigen aus haftungsrechtlichen Gründen erfahrungsgemäß eher zum Asset Deal. Dabei werden alle oder bestimmte Wirtschaftsgüter und Verbindlichkeiten durch Einzelrechtsnachfolge auf einen neuen Rechtsträger übertragen. Auf diese Weise kann der Erwerber konkret bestimmen, welche Teile des Zielunternehmens er übernimmt. Aus arbeitsrechtlicher Sicht hat die Entscheidung zwischen Share Deal (Kauf von Anteilen am Zielunternehmen) und Asset Deal erhebliche Konsequenzen: Beim Share Deal bleibt die Identität des Unternehmens gewahrt. Der Erwerber übernimmt das Zielunternehmen mit allen guten und schlechten Eigenschaften. Das hat den „Vorteil“, dass die arbeitsrechtlichen Auswirkungen gering sind. § 613a BGB greift nicht ein.1 Aufgrund der fortbestehenden Identität des Unternehmens bleibt auch die Belegschaft identisch. Für den Erwerber ist das günstig, wenn ihm am Erhalt der Mitarbeiter gelegen ist. Das Risiko eines Widerspruchs von Teilen der Belegschaft gegen den Übergang ihres Arbeitsverhältnisses (vgl. dazu Rz. 6.128 ff.) besteht nicht. Der Veräußerer von Gesellschaftsanteilen muss seinerseits nicht befürchten, aufgrund des Widerspruchs von Arbeitnehmern betriebsbedingte Kündigungen, eventuell sogar eine sozialplanpflichtige Betriebsänderung (§§ 111 ff. BetrVG) durchführen zu müssen (vgl. dazu Rz. 6.8).
6.4 Der Asset Deal hat meist den Verkauf eines Betriebs oder Betriebsteils zum Gegenstand. In diesem Fall gilt § 613a BGB aufgrund seiner Schutzfunktion.2 Danach ist der Erwerber gezwungen, die Arbeitsverhältnisse mit den vom Übergang betroffenen Arbeitnehmern unverändert fortzusetzen. Die Arbeitsverhältnisse der widersprechenden Arbeitnehmer bleiben beim Veräußerer. 2. Anhörung des Wirtschaftsausschusses
6.5 Die Anhörung des Wirtschaftsausschusses (§ 106 BetrVG) ist sowohl beim Asset Deal als auch beim Share Deal erforderlich. Die Unterrichtung muss rechtzeitig erfolgen und umfassend sein. Das bedeutet, dass er alle Informationen erhält, die für eine sinnvolle Beratung der Angelegenheit erforderlich sind. Gesetzgeberisches Ziel ist eine Informationsparität zwischen Unternehmer und den Mitgliedern des Wirtschaftsausschusses. Dabei sind dem Wirtschaftsausschuss die erforderlichen Unterlagen vorzulegen (vgl. dazu im Einzelnen Rz. 6.308). Meist werden in diesem Zusammenhang der Jahresabschluss, der Wirtschaftsprüfungsbericht, Marktanalysen etc. genannt.3 Soweit allerdings eine Gefährdung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen droht, kann der Arbeitgeber die Auskunft verweigern.4
1 Vgl. Lieb, S. 14 ff.; Der bloße Erwerb von Anteilen an einem Unternehmen und die Ausübung von Herrschaftsmacht über dieses Unternehmen durch ein anderes Unternehmen genügen nicht für die Annahme eines Betriebsübergangs gem. § 613a BGB, BAG v. 23.3.2017 – 8 AZR 91/15, MDR 2017, 1191 = NZA 2017, 981. 2 Vgl. zu Zwischenformen zwischen Share und Asset Deal Holzapfel/Pöllath, Rz. 1 ff. 3 Vgl. Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, § 106 BetrVG Rz. 37. 4 Vgl. Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, § 106 BetrVG Rz. 43.
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A. Arbeitsrecht beim Unternehmens- und Beteiligungskauf
Rz. 6.8 Kap. 6
3. Mitbestimmung Änderungen auf Unternehmensebene können den Mitbestimmungsstatus des Unternehmens beeinflussen. Bei Unternehmens- und Beteiligungskäufen ist das häufig dann der Fall, wenn sich die Arbeitnehmerzahl unmittelbar oder jedenfalls durch Zurechnung im Konzern ändert. Bei Unternehmen in der Rechtsform einer AG, KGaA, GmbH, e.G. oder VVaG mit in der Regel mehr als 500 und nicht mehr als 2000 Arbeitnehmern muss der Aufsichtsrat zu einem Drittel aus Vertretern der Arbeitnehmer bestehen, §§ 4 Abs. 1, 1 Abs. 1 Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG). Werden in der Regel mehr als 2000 Arbeitnehmer beschäftigt, ist ein Aufsichtsrat zu bilden, der sich paritätisch aus Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer zusammensetzt (§§ 1 Abs. 1, 6, 7 MitbestG). Im Geltungsbereich des DrittelbG werden Arbeitnehmer von Konzernunternehmen der Mitarbeiterzahl der herrschenden Konzernobergesellschaft nur dann zugerechnet, wenn zwischen den Unternehmen ein Beherrschungsvertrag besteht oder das abhängige Unternehmen in das herrschende Unternehmen eingegliedert ist (§ 2 Abs. 2 DrittelbG). Allerdings sind alle Mitarbeiter von abhängigen Konzernunternehmen wahlberechtigt (§ 2 Abs. 1 DrittelbG). Im Geltungsbereich des MitbestG werden weiter gehend auch die Arbeitnehmer abhängiger Konzerngesellschaften i.S.v. § 18 AktG zur Mitarbeiterzahl hinzugerechnet (§ 5 MitbestG).5
6.6
4. Gesellschafternachhaftung Im Rahmen von Unternehmensveräußerungen scheiden häufig Gesellschafter aus. Handelt es 6.7 sich dabei um persönlich haftende Gesellschafter von Personengesellschaften (GbR6, OHG und KG), stellt sich die Frage nach der Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten, die zwar vor dem Ausscheiden entstanden sind, aber unter Umständen erst lange danach fällig werden. Nach § 160 HGB haftet der Gesellschafter, nachdem er aus der Gesellschaft ausgeschieden ist, für die bis dahin begründeten Gesellschaftsverbindlichkeiten nur, wenn sie innerhalb von fünf Jahren nach Ausscheiden sowohl fällig als auch gerichtlich geltend gemacht sind.7 Diese fünfjährige Ausschlussfrist gilt auch für Personen, die z.B. im Fall der Umwandlung einer Personengesellschaft in eine GmbH & Co. KG in die Kommanditistenstellung zurücktreten, aber als Geschäftsführer oder Teilhaber der Komplementär-GmbH weiterhin die Geschäftsführung der Personengesellschaft maßgeblich beeinflussen (§ 160 Abs. 3 HGB). Eine Enthaftung des Gesellschafters ist damit nach einem Zeitraum von fünf Jahren möglich.8
III. Änderungen auf Betriebsebene Kommt es im Zuge eines Unternehmenskaufs zu Eingriffen in die Organisationsebene des Betriebs, kann dies zu einer interessenausgleichs- und sozialplanpflichtigen Betriebsänderung führen (§§ 111 ff. BetrVG). Das ist z.B. der Fall, wenn die Veräußerung eines Unternehmensteils die Stilllegung, Verlegung oder Spaltung eines Betriebs zur Folge hat (§ 111 Satz 2 Nr. 1–3 BetrVG). Dann besteht die Verpflichtung, den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und die geplante Betriebsänderung mit ihm zu beraten. Mit dem Betriebsrat sind dann Verhandlungen über einen Interessenausgleich hinsichtlich der un5 Dazu ausführlich Seibt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, F Rz. 31 ff. 6 Vgl. dazu BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, AG 2001, 307. 7 Vgl. zur Nachhaftung des ausgeschiedenen Gesellschafters einer KG für nach seinem Ausscheiden entstandene Entgeltansprüche LAG Düsseldorf v. 14.12.2000 – 11 Sa 1356/00, ZIP 2001, 758. 8 Vgl. im Einzelnen Habersack in Großkomm/HGB, § 160 HGB Rz. 4 ff.
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6.8
Kap. 6 Rz. 6.9
Arbeitsrecht
ternehmerisch-wirtschaftlichen Entscheidung aufzunehmen. Zusätzlich kann der Betriebsrat den Abschluss eines Sozialplans verlangen, der regelmäßig Abfindungszahlungen an die entlassenen Arbeitnehmer vorsieht.9 Die wirtschaftlichen Nachteile werden bei größeren Massenentlassungen häufig durch die Einschaltung von Transfergesellschaften gemildert, die Teile der Belegschaft übernehmen und von den Arbeitsämtern durch die Förderung von Transfermaßnahmen (§ 110 SGB III) und die Zahlung von Transferkurzarbeitergeld (§ 111 SGB III) mitfinanziert werden können (Rz. 6.301).
6.9 Nach abzulehnender, aber auch von einer Vielzahl von LAG vertretener Auffassung steht dem Betriebsrat ein Unterlassungsanspruch zu, wenn der Arbeitgeber die Durchführung einer Betriebsänderung ohne Wahrung der beschriebenen Rechte des Betriebsrats versucht.10 Zusätzlich drohen Ordnungsgelder (§ 121 BetrVG), außerdem stehen den Arbeitnehmern Ansprüche auf Nachteilsausgleich zu (§ 113 BetrVG). Die beschriebenen Folgen können in Spaltungsfällen vermieden werden, wenn die gespaltenen Unternehmen ihren Betrieb als Gemeinschaftsbetrieb weiterführen (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 2 BetrVG).11
IV. Einzel- oder Gesamtrechtsnachfolge 6.10 Arbeitsrechtlich ist schließlich von Bedeutung, ob sich der Unternehmenskauf im Wege der Einzel- oder der Gesamtrechtsnachfolge vollzieht, insbesondere ob das UmwG Anwendung findet. Der Unternehmenskauf durch rechtsgeschäftliche Übertragung einzelner Vermögensgegenstände des Zielunternehmens (Einzelrechtsnachfolge) führt zur Anwendbarkeit des § 613a BGB. In den Fällen der Gesamtrechtsnachfolge ist wiederum zu unterscheiden: Vollzieht sich der Unternehmenskauf nach den Regeln des UmwG und kommt es daher zu einer umwandlungsrechtlichen Gesamtrechtsnachfolge, gilt § 613a BGB durch spezialgesetzliche Anordnung des § 324 UmwG. Diese Klarstellung hielt der Gesetzgeber für nötig, da die Richtlinien 2001/23/EG und 82/891/EWG den Schutz der Arbeitnehmer auch in Umwandlungsfällen bezweckt.12 Die Voraussetzungen des § 613a BGB – und damit auch das Vorliegen eines Betriebsübergangs – sind deshalb auch bei Umwandlungen selbständig zu prüfen.13 Die Umwandlung ist nicht etwa gegenüber dem Betriebsübergang der speziellere Tatbestand.14
6.11 In den übrigen Fällen der (gesetzlichen) Gesamtrechtsnachfolge außerhalb des UmwG, etwa durch Erbfolge (§§ 1922, 1967 BGB) sowie durch personengesellschaftsrechtliche An- und Abwachsung, ist die Anwendbarkeit von § 613a BGB nach zutreffender Ansicht ausgeschlossen.15 Das „Anwachsungsmodell“ macht sich zunutze, dass eine Personengesellschaft erlischt, wenn sich alle Gesellschaftsanteile in einer Person vereinigen. In diesem Fall verwandelt sich das bisherige Gesamteigentum ohne jeden Übertragungsakt (kraft Gesetzes) in Alleineigentum des Übernehmers. Grundfall der Anwachsung ist das Ausscheiden eines von zwei Gesellschaftern aus einer Personengesellschaft. Es ist aber auch zulässig, die Gesellschaftsanteile ei9 10 11 12 13 14 15
Vgl. dazu im Einzelnen Röder/Baeck, S. 1 ff. Vgl. statt aller Fitting, § 111 BetrVG Rz. 131 f. Dazu Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, D Rz. 30 ff. Vgl. Joost in Lutter, § 324 UmwG Rz. 3. BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 316/04, NZA 2006, 990. BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 416/99, MDR 2000, 1444 = ZIP 2000, 1630 m. Anm. Bauer/Mengel. Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, B Rz. 120; demgegenüber für Anwendung des § 613a BGB LAG Köln v. 14.5.2001 – 2 Sa 1054/00, MDR 2001, 1175; offengelassen mit Tendenz zur Annahme eines Betriebsübergangs von BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 157/07, MDR 2008, 1045 = NZA 2008, 815.
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Rz. 6.13 Kap. 6
ner Personengesellschaft auf einen einzigen Erwerber zu übertragen, mit der Wirkung, dass der Erwerber als Gesamtrechtsnachfolger Inhaber der bisher zum Gesellschaftsvermögen gehörenden Rechte wird.16 Der arbeitsrechtliche „Vorteil“ besteht darin, dass sowohl § 613a BGB als auch die besonderen arbeitsrechtlichen Vorschriften des UmwG vermieden werden können.17 Die h.M. sieht in der Anwachsung keinen Fall des § 613a BGB mit der Folge, dass die darin enthaltenen besonderen arbeitsrechtlichen Schutzregelungen (z.B. einjährige Veränderungssperre von kollektiven Regelungen, Pflicht zur Erstellung eines Informationsschreibens) nicht gelten.18 Selbstverständlich gehen aber auch bei der Anwachsung die Arbeitsverhältnisse unverändert auf den Erwerber über. Die Rechtsprechung hat sich in der Frage der Anwendung des § 613a BGB in Anwachsungsfällen bislang noch nicht festgelegt – das BAG verneint nur das Vorliegen eines Widerspruchsrechts gem. § 613a Abs. 6 BGB (was seiner Rechtsprechung für die Fälle der Verschmelzung bei Erlöschen des übertragenden Rechtsträgers entspricht) und tendiert offenbar dazu, einen Betriebsübergang anzunehmen.19 Dies ist abzulehnen, da es im Gegensatz zu den Umwandlungsfällen, für die § 324 UmwG ausdrücklich auf die Geltung des § 613a BGB verweist, für die Anwachsung an einer derartigen Verweisungsnorm fehlt. Folgt man dem nicht, stellt sich die Frage, ob auch bei einer Anwachsung – trotz Fehlen des Widerspruchsrechts – eine Information der Mitarbeiter gem. § 613a Abs. 5 BGB über die Folgen des Übergangs ihrer Arbeitsverhältnisse erforderlich ist. Da die h.M. den betroffenen Mitarbeitern zu Recht ein außerordentliches Kündigungsrecht zubilligt, weil es aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zulässig ist, einem Arbeitnehmer gegen seinen Willen einen neuen Arbeitgeber aufzudrängen, kann ein Informationsbedürfnis der Mitarbeiter nicht verneint werden. Um möglichst kurzfristig Klarheit über die Ausübung eines solchen Kündigungsrechts zu bekommen, bietet es sich für die Arbeitgeberseite an, auch bei der Anwachsung vorsorglich eine Information der Arbeitnehmer entsprechend § 613a Abs. 5 BGB durchzuführen.20 Die Entscheidung zwischen einem Unternehmenskauf im Wege der Einzelrechtsnachfolge oder einer Verschmelzung nach Umwandlungsrecht (§§ 2 ff. UmwG) kann auch Auswirkungen auf die Art und Weise der Fortgeltung von Tarifverträgen haben. Aufgrund der Gesamtrechtsnachfolge gilt der bisherige Haustarifvertrag kollektivrechtlich beim Erwerber fort, wenn sich der Unternehmenskauf im Rahmen des UmwG vollzieht.21 Dagegen kommt eine solche kollektivrechtliche Fortgeltung bei einer Unternehmensübertragung im Wege der Einzelrechtsnachfolge nicht in Betracht (vgl. dazu Rz. 6.368 ff.). Der Wunsch nach kollektivrechtlicher Weitergeltung des (günstigen) Firmentarifvertrages eines Zielunternehmens kann deshalb den Ausschlag zugunsten einer umwandlungsrechtlichen Lösung geben.
6.12
V. Überblick: Arbeitsrecht bei Umwandlungen Das UmwG sieht vier Arten der Umwandlung vor, Verschmelzung, Spaltung, Vermögensübertragung und Formwechsel (§§ 1 Abs. 1, 2 ff., 123 ff., 174 ff., 190 ff. UmwG). Es enthält eine Reihe besonderer arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften, die neben § 613a BGB gelten. Dazu gehören zunächst Unterrichtungspflichten des Betriebsrats. Über seine sonstigen be16 17 18 19 20 21
BGH v. 10.5.1978 – VIII ZR 32/77, BGHZ 71, 296. Ebenso Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, B Rz. 120. Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 310 m.w.N. BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 157/07, MDR 2008, 1045 = NZA 2008, 815. Dazu Vogt/Oltmanns, NZA 2012, 1190. BAG v. 15.6.2016 – 4 AZR 805/14, NZA 2017, 326.
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Kap. 6 Rz. 6.14
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triebsverfassungsrechtlichen Kompetenzen hinaus ist der Betriebsrat in allen relevanten Umwandlungsfällen durch Vorlage des Umwandlungsvertrages oder der Umwandlungsbeschlüsse zu unterrichten (§§ 5 Abs. 3, 126 Abs. 3, 176 Abs. 1, 194 Abs. 2 UmwG). Gegenstand der Unterrichtung sind der konkrete Inhalt der Unternehmensumwandlung und die Folgen der Umwandlung für die Arbeitnehmer und ihre Vertretungen sowie die insoweit vorgesehenen Ausgleichsmaßnahmen. Die dazu erforderlichen arbeitsrechtlichen Angaben im Umwandlungsvertrag sind zwingend.22 Der Umwandlungsvertrag oder sein Entwurf muss spätestens einen Monat vor dem Tag der Gesellschafterversammlung, die über die Zustimmung zur Umwandlung beschließen soll, dem Betriebsrat zugeleitet werden.
6.14 Kommt es im Zuge einer Umwandlung zur Spaltung eines Betriebs, hat der Betriebsrat ein Übergangsmandat (§ 21a BetrVG). Der Betriebsrat des gespaltenen Betriebs bleibt grundsätzlich im Amt. Er führt die Geschäfte für die durch die Spaltung entstandenen Betriebsteile übergangsweise fort, längstens bis zu sechs Monaten. Das Mandat endet, sobald in den gespaltenen Betriebsteilen ein neuer Betriebsrat gewählt und das Wahlergebnis bekannt gegeben ist (§ 21a Abs. 1 Satz 3 BetrVG). Sofern Betriebsteile oder Betriebe im Zuge von Spaltungen und Verschmelzungen zusammengefasst werden, nimmt der Betriebsrat, der die meisten Arbeitnehmer repräsentiert, ebenfalls ein Übergangsmandat wahr (§ 21a Abs. 2 BetrVG). Maßgeblicher Zeitpunkt des Größenvergleichs ist nicht der Zeitpunkt der letzten Betriebsratswahl. Bei einer Verschmelzung von Betriebsteilen ließe sich deren Stärke nicht sinnvoll „herunterbrechen“. Richtig ist es, wie sonst auch bei der Berechnung von Schwellenwerten, auf aktuelle Größenverhältnisse und damit auf den Zeitpunkt der Verschmelzung abzustellen.23 Entfallen aufgrund der Spaltung des Betriebs Beteiligungsrechte des Betriebsrates, kann deren Fortgeltung durch Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag vereinbart werden (gemäß § 325 Abs. 2 UmwG – vgl. zum Übergangsmandat außerhalb des UmwG Rz. 6.322).
6.15 In bestimmten Umwandlungsfällen ist eine auf fünf Jahre befristete Beibehaltung der Unternehmensmitbestimmung vorgesehen (§ 325 Abs. 1 UmwG). Entfallen durch Abspaltung oder Ausgliederung die gesetzlichen Voraussetzungen für die Beteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat, bleibt die bis dahin bestehende Form der Unternehmensmitbestimmung weiter bestehen. Das gilt aber nicht, wenn die für die Mitbestimmung vorausgesetzte Mindestzahl von Arbeitnehmern im Betrieb so weit unterschritten wird, dass sie auf weniger als 1/4 der Mindestzahl sinkt (§ 325 Abs. 1 Satz 2 UmwG). Bleibt bei einem Formwechsel die Unternehmensmitbestimmung bestehen, erübrigt sich eine Neuwahl der Arbeitnehmervertreter. Die Mitglieder des Aufsichtsrates bleiben für den Rest ihrer Wahlzeit als Mitglieder des Rechtsträgers neuer Rechtsform im Amt (§ 203 Abs. 1 Satz 1 UmwG). Im Übrigen gelten die allgemeinen Regeln (Statusverfahren gem. §§ 98 ff. AktG).
6.16 Neben dem Kündigungsverbot wegen des Betriebsübergangs (§ 613a Abs. 4 BGB) gelten spezielle kündigungsschutzrechtliche Vorschriften. Bewirkt eine Unternehmensspaltung zugleich eine Betriebsspaltung, gelten auch nach der Spaltung die zu unterschiedlichen Unternehmen gehörenden Betriebsteile als ein Betrieb im kündigungsschutzrechtlichen Sinne (§ 322 Abs. 2 UmwG), wenn ein gemeinsamer Betrieb geführt wird. Darüber hinaus wird die bisherige kündigungsrechtliche Stellung des Arbeitnehmers im Fall der Spaltung oder Teilübertragung für die Dauer von zwei Jahren geschützt (§ 323 Abs. 1 UmwG). Diese Fortdauer
22 Zum Inhalt der arbeitsrechtlichen Angaben im Einzelnen Joost in Preis/Willemsen, C Rz. 11 ff. 23 Rieble/Gutzeit, ZIP 2004, 693.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.19 Kap. 6
des Kündigungsschutzes ist nicht analog auf Betriebsübergänge außerhalb des Umwandlungsrechts anwendbar.24 Durch Interessenausgleich kann in den Fällen der Verschmelzung, Spaltung oder Vermö- 6.17 gensübertragung eine Zuordnung von Arbeitnehmern zu bestimmten Betrieben oder Betriebsteilen nach der Umwandlung vorgenommen werden (§ 322 UmwG). Die im Interessenausgleich enthaltene Zuordnung kann durch das ArbG nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Die Zuordnungskompetenzen der Betriebsparteien sind allerdings dadurch beschränkt, dass sie die Wertungen des § 613a BGB beachten müssen. Die im Interessenausgleich getroffene Zuordnung dürfte allerdings nur dann „grob fehlerhaft“ sein, wenn ihr jedwede sachliche und objektive Grundlage fehlt (vgl. dazu Rz. 6.110 ff.). Neben der auch in Umwandlungsfällen maßgeblichen Haftungsverteilung des § 613a Abs. 2 BGB (vgl. dazu Rz. 6.261 ff.) gilt für die Fälle der sog. typischen Betriebsaufspaltung25 die besondere Haftungsvorschrift des § 134 Abs. 1 Satz 1 UmwG. Wird ein Unternehmen in eine Besitz- und Betriebsgesellschaft gespalten, haftet die Besitzgesellschaft auch für die Forderungen der Arbeitnehmer der Betriebsgesellschaft, die innerhalb von fünf Jahren nach der Umwandlung begründet werden.
6.18
B. Betriebsübergang nach § 613a BGB I. Allgemeines 1. Geschichte Mit Inkrafttreten des erst 1972 durch § 122 BetrVG26 in das BGB eingefügten § 613a BGB 6.19 sollten allgemein die Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs für die Arbeitsverhältnisse geregelt werden. Nachdem Art. 3 Abs. 2 der Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG vom 14.2.197727 die Mitgliedstaaten zur Aufrechterhaltung kollektivvertraglicher Arbeitsbedingungen beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen verpflichtete, wurde durch die Richtlinie 98/50/EG28 vom 29.6.1998 die Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG abgeändert. Die Texte der beiden Betriebsübergangsrichtlinien sind „aus Gründen der Klarheit“ noch einmal in der Richtlinie 2001/23 EG29 vom 12.3.2001 kodifiziert worden. Mit Wirkung vom 1.4.2002 hat der Gesetzgeber zuletzt durch das Gesetz zur Änderung des Seemannsgesetzes vom 23.3.200330 im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie die Unterrichtungspflicht in § 613a Abs. 5 BGB und das Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer in § 613a Abs. 6 BGB normiert.
24 25 26 27 28 29 30
BAG v. 15.2.2007 – 8 AZR 397/06, MDR 2007, 1025 = NZA 2007, 739. Vgl. von Steinau-Steinrück, S. 15 ff. BGBl. I 1972, 13. ABl. EG Nr. L 61 v. 5.3.1977, 26G. ABl. EG Nr. L 201 v. 29.6.1998, 88. ABl. EG Nr. L 82 v. 22.3.2001, 16. BGBl. I 2003, 1163.
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Kap. 6 Rz. 6.20
Arbeitsrecht
2. Sinn und Zweck
6.20 § 613a BGB verfolgt folgende Hauptziele: (1) Schutz des sozialen Besitzstandes, d.h. Schutz der Arbeitnehmer durch unveränderte Erhaltung der Arbeitsplätze;31 (2) Kontinuität des amtierenden Betriebsrats;32 (3) Haftungsverteilung zwischen bisherigem und neuem Inhaber.33 Der Schutzzweck der Haftungsverteilung tritt allerdings bei Betriebsveräußerungen in der Insolvenz hinter die Verteilungsgrundsätze der InsO zurück (vgl. Rz. 6.278 ff.).
6.21 Die drei verschiedenen Ziele der Vorschrift wurden als „Zwecktrias“ bezeichnet. Weitere Zwecke sind hinzugetreten: Die Auswirkungen eines Betriebsinhaberwechsels auf Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen regelt § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB (vgl. Rz. 6.348 ff.).34 Unterrichtung und Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer als letzter Zweck sind in § 613a Abs. 5 und 6 BGB normiert. 3. Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht der EU
6.22 Spätestens die „Christel-Schmidt“-Entscheidung des EuGH35 und die nachfolgende Diskussion hatten deutlich gemacht, dass die Auslegung des § 613a BGB die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen muss. Bis dahin war die Rechtsprechung des BAG parallel zu der des EuGH erfolgt, ohne deren Leitlinien36 zu berücksichtigen. Der EuGH hat die Aufgabe, europäisches Recht zu konkretisieren. Dazu gehört auch die aktuell geltende Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23 EG. Die vom EuGH aufgestellten Rechtssätze müssen nach dem Grundsatz der gemeinschaftskonformen Auslegung von der nationalen Rechtsprechung befolgt werden.37 Wegen der Vorabentscheidungskompetenz zur Interpretation der Betriebsübergangsrichtlinie hat die Rechtsprechung des EuGH entscheidende Bedeutung für die Bestimmung der Reichweite des § 613a BGB. Die Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23 EG enthält nach ihrem Art. 8 aber nur Mindestbedingungen. Nationale Abweichungen sind deshalb so lange zulässig, als sie einen Übergang der Arbeitsverhältnisse unter erleichterten Bedingungen vorsehen.38
31 32 33 34 35 36
BAG v. 2.10.1974 – 5 AZR 504/73, AP 1 zu § 613a BGB m. Anm. Seiter. BAG v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, MDR 1980, 523 = DB 1980, 308. BAG v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, MDR 1980, 523 = DB 1980, 308. Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 12. EuGH v. 14.4.1994 – C-392/92, NZA 1994, 545. Vgl. EuGH v. 18.3.1986 – C-24/85, Slg. 1986, 1119 – Spijkers; EuGH v. 19.5.1992 – C-29/91, Slg. 1992, I-3189 – Redmond Stichting; EuGH v. 19.9.1995 – C-48/94, Slg. 1995, I-2745 – Rygaard; EuGH v. 7.3.1996 – C-171/94 und C-172/94, Slg. 1996, I-1253 – Merckx v. Neuhuys. 37 Vgl. BAG v. 15.10.1992 – 2 AZR 227/92, MDR 1993, 550 = NZA 1993, 257 unter II. 2. a) der Gründe. 38 Vgl. Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 37.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.25 Kap. 6
4. Geltungsbereich § 613a BGB betrifft ausschließlich Arbeitnehmer bzw. Arbeitsverhältnisse (dazu im Einzelnen Rz. 6.91 ff.). Beim sachlichen Geltungsbereich ist zu berücksichtigen, dass es sich nicht um eine betriebsverfassungsrechtliche Regelung handelt (vgl. Rz. 6.46). Daher kommt es nicht darauf an, ob das BetrVG 1972 auf den in Rede stehenden Betrieb Anwendung findet. Unerheblich ist auch Betriebsgröße und Vorhandensein eines Betriebsrats oder Eingreifen der Tendenzschutzbestimmung des § 118 BetrVG. Bei Umwandlungen gilt § 613a Abs. 1 und Abs. 4 BGB auch im Fall der Verschmelzung, Spaltung oder Vermögensübertragung39 (vgl. dazu Rz. 6.76). Sachlich gilt § 613a BGB schließlich auch, wenn an dem Betriebsübergang eine Anstalt, Körperschaft oder Stiftung des öffentlichen Rechts beteiligt ist40 (vgl. auch Rz. 6.48).
6.23
Die Geltung kann auch nicht durch Vereinbarung eines anderen Arbeitsvertragsstatuts ausgehebelt werden, da Art. 30 Abs. 1 EGBGB (bzw. für alle nach dem 17.12.2009 geschlossenen Verträge Art. 8 Abs. 1 Rom I-VO) auch im Falle der anderweitigen Rechtswahl die Fortgeltung der zwingenden Vorschriften des objektiven Vertragsstatuts – also des üblicherweise vor Ort geltenden Arbeitsrechts – festschreibt.41
6.24
§ 613a BGB findet grundsätzlich auch Anwendung, wenn ein inländischer Betrieb in das 6.25 Ausland verlagert wird.42 Dies gilt jedenfalls bis zum Übergang des Arbeitsverhältnisses. Ist das Arbeitsverhältnis zum Veräußerer über die Geltung des § 613a BGB im Inland beendet worden, stellt sich die Frage, ob sich das weitere Schicksal des Arbeitsverhältnisses nach dem (ausländischen) Arbeitsrecht am Ort des Erwerbers richtet oder ob es bei der Anwendung deutschen Arbeitsrechts auf den ausländischen Erwerber bleibt. Der Wechsel des Vertragsstatuts kann im Ergebnis dazu führen, dass für den betroffenen Arbeitnehmer, der sein Widerspruchsrecht nicht ausübt, durch den Übergang des Arbeitsverhältnisses ein geringeres rechtliches Schutzniveau eintritt. So hat das BAG einen Betriebsübergang bei der Verlegung einer Produktionsstätte von Süddeutschland in die Schweiz angenommen mit der Folge, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den deutschen Arbeitgeber unwirksam war, weil sie „wegen des Betriebsübergangs“ (§ 613a Abs. 4 BGB) erfolgte.43 Die Anwendbarkeit des am bisherigen Arbeitsort geltenden § 613a BGB auf den Übertragungsvorgang ist jedenfalls nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Arbeitsort künftig im Ausland liegt.44 Ob aber das Arbeitsverhältnis auf den Erwerber übergeht und inwieweit das übergegangene Arbeitsverhältnis dann geschützt ist, hatte das BAG nicht zu entscheiden. Führt man die vom BAG eingeschlagene Linie weiter, wäre dies bei einem Wechsel in die neue Schweizer Betriebsstätte eine Frage des nationalen Schweizer Rechts, da sich das Arbeitsvertragsstatut eines Arbeitnehmers, in dessen Vertragsverhältnis keine Rechtswahl vereinbart
39 Willemsen in Kallmeyer, § 324 UmwG Rz. 3. 40 BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 783/13, NZA 2015, 866. 41 Verordnung über vertragliche Schuldverhältnisse – Rom I Verordnung – VO (EG) 593/2008; zur am 17.12.2009 in Kraft getretenen Gesetzesänderung in Bezug auf Art. 30 EGBGB: Schneider, NZA 2010, 1380. 42 BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, NZA 2011, 1143 (Verlagerung von Deutschland in die Schweiz); BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, AP BGB § 613a Nr. 237 (Verlagerung von Deutschland nach Österreich); BAG v. 20.4.1989 – 2 AZR 431/88, AP BGB § 613a Nr. 81 (Verlagerung von Deutschland nach Frankreich). 43 BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, NZA 2011, 1143. 44 LAG BW v. 17.9.2009 – 11 Sa 39/09, ZIP 2010, 388; ErfK/Schlachter, Rom I-VO Art. 9 Rz. 9.
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Kap. 6 Rz. 6.26
Arbeitsrecht
worden ist, „regelmäßig“ bei einem Wechsel infolge eines Betriebsübergangs ändere.45 Dies trifft zu, soweit ein Arbeitnehmer tatsächlich mit der Betriebsverlagerung seinen Arbeitsort wechselt. Art. 8 II Rom I-VO bestimmt nämlich, dass bei Unterbleiben einer Rechtswahl der Arbeitsvertrag dem Recht des Staates unterliegt, in dem der Arbeitnehmer in Erfüllung seines Vertrags gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Ein Übergang des Arbeitsverhältnisses auf den neuen Arbeitgeber im Ausland kann aber nicht mit der tatsächlichen Arbeitsaufnahme im Ausland, die jedenfalls zur Änderung des Vertragsstatuts führen würde, gleichgesetzt werden.46 Damit sich der vertragsgemäße Arbeitsort automatisch mit dem Betriebsübergang ändert, müsste zumindest eine passende und wirksame Versetzungsklausel im Vertrag vorhanden sein, die dann auch dem neuen Arbeitsvertragsstatut Geltung verschaffen könnte. Im vom BAG entschiedenen Fall waren hierzu keine Feststellungen getroffen. In der Regel wird es deshalb so sein, dass es trotz Betriebsübergang in Kombination mit einer Betriebsverlagerung beim deutschen Arbeitsort und damit auch beim deutschen Arbeitsvertragsstatut bleibt, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit nicht tatsächlich am ausländischen Arbeitsort aufnimmt.47 Den von einer solchen Transaktion mit Auslandbezug betroffenen Arbeitnehmern ist anzuraten, sorgsam über die Geltendmachung des Widerspruchsrechts nachzudenken, um etwaige Nachteile im Arbeitsverhältnis mit dem Erwerber im Ausland zu vermeiden. Auch für einen Betriebsübergang aus Deutschland in einen EU-Mitgliedstaat ist bislang nicht entschieden, ob der Erwerber des Betriebs auch Arbeitgeber wird und welche Bindungen dann hinsichtlich des Arbeitsverhältnisses gelten. Es erscheint naheliegend, dass das übergegangene Arbeitsverhältnis den nationalen Regelungen unterliegt, mit denen die Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG umgesetzt worden ist. Dies entspräche dem Zweck der Richtlinie, auch im europäischen Binnenmarkt den Bestand von Arbeitsplätzen und die Aufrechterhaltung des bestehenden sozialen Schutzniveaus beim Übergang von Betrieben zu schützen.48 Diese Konsequenz ergibt sich jedenfalls, wenn man – wie das BAG – den Anwendungsbereich des § 613a BGB nicht auf Betriebsübergänge im Inland beschränkt. Im Hinblick darauf, dass bei grenzüberschreitender Anwendung des § 613a BGB negative Folgen für die betroffenen Arbeitnehmer aufgrund eines geringeren Schutzniveaus des dann anwendbaren ausländischen Rechts entstehen können, wird diese weite Anwendung des § 613a BGB teilweise abgelehnt und für die nationalen Vorschriften über den Betriebsübergang das Vorliegen einer „ungeschriebene Inlandsbegrenzung“ angenommen.49 Die Klärung des Geltungsbereichs wird wohl einer Entscheidung des EuGH bedürfen.
6.26 In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass das BAG in der Entfernung der inländischen alten von der ausländischen neuen Betriebsstätte ein Kriterium dafür sieht, ob der verlagerte Betrieb seine Identität bewahrt. Eine Entfernung zum ausländischen Betrieb von nicht mehr als einer Autostunde (hier 59 km) hat es nicht als so gravierend angesehen,
45 BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, NZA 2011, 1143 unter Rz. 44 und 45. 46 So auch Henne, Anm. zu BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, GWR 2011, 532. 47 So schon Feudner, NZA 1999, 1184 (1188); dazu Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/ Seibt, G 46a und G 89 ff., dazu auch Raif/Ginal: Betriebsübergang bei Verlagerung ins Ausland nach der BAG-Rechtsprechung, GWR 2013, 217. 48 Auf die Auswirkungen bzw. die Verwirklichung des Binnenmarkts nimmt die Richtlinie unter Erwägungsgründen 5 und 7 Bezug. 49 Junker, NZA Beilage 1/2012, 8 (13 ff.); unter Verweis auf Loritz, RdA 1987, 65 (84) und Feudner, NZA 1999, 1184 (1187).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.29 Kap. 6
dass die Wahrung der Identität zweifelhaft erscheine.50 Ob das Merkmal der Entfernung bei Betriebsverlagerungen überhaupt relevant ist, ist umstritten.51
II. Voraussetzungen des Übergangs von Arbeitsverhältnissen 1. Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils a) Allgemeines zur Identität der wirtschaftlichen Einheit § 613a BGB ist das notwendige Korrelat dafür, dass sich der Übernehmer das wirtschaftliche 6.27 Substrat aus der übergegangenen Einheit zunutze macht und sich so gleichsam „in ein gemachtes Bett legt“.52 Ob dies der Fall ist, beurteilt sich anhand des Betriebsbegriffs. Dieser ist im Rahmen des § 613a BGB seit langem Objekt sowohl der deutschen als auch der europäischen Rechtsprechung. Während früher die Ansichten von BAG und EuGH zum Teil divergierten, ist mittlerweile ein zu begrüßender weitgehender Gleichlauf der Rechtsprechung beider Institutionen erreicht worden. Die Richtlinie 2001/23/EG v. 12.3.2001 (dazu Rz. 6.19) hat die Grundsätze der „Ayse Süzen“-Entscheidung53 des EuGH in Art. 1b Teil I übernommen und definiert erstmals die Voraussetzungen des Betriebsübergangs. Dort heißt es:
6.28
„Vorbehaltlich Buchstabe a) und der nachstehenden Bestimmungen dieses Artikels gilt als Übergang im Sinn dieser Richtlinie der Übergang einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit im Sinn einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit.“ Entscheidend ist daher, ob eine „wirtschaftliche Einheit“ übergegangen ist. Ein Betriebs- 6.29 übergang ist gegeben, wenn die fragliche Einheit beim Erwerber ihre Identität wahrt.54 Das richtet sich nach den Umständen des konkreten Falls.55 Den Begriff der „Einheit“ definiert der EuGH als organisierte Gesamtheit von Personen und Sachen zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigener Zielsetzung.56 Nach Auffassung des BAG ist die Identität der wirtschaftlichen Einheit gegeben, wenn der Kern des zur Wertschöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs gewahrt bleibt. Der Begriff der „wirtschaftlichen Einheit“ ist ebenso weit gefasst, wie derjenige des „Betriebs“.57 Eine bloße Tätigkeit kann allerdings
50 BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, NZA 2011, 1143 unter Rz. 36; s.a. BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 335/99, BeckRS 2009/67931 (mehrere hundert km Entfernung sprechen gegen Wahrung der Identität); BAG v. 13.11.1997 – 8 AZR 435/95, ZInsO 1998, 140 f.; BAG v. 12.2.1987 – 2 AZR 247/86, AP BGB § 613a Nr. 67 (nicht unerhebliche räumliche Verlegung des Betriebs spricht für Betriebsstilllegung); BAG v. 29.8.2013 – 2 AZR 809/12, MDR 2014, 549 (Verlagerung von Tätigkeiten von Westfalen nach Tschechien über mehr als 800 km Entfernung spricht für Auflösung der Betriebsgemeinschaft und führt nicht zu einer Pflicht gem. § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 KSchG, dort bestehende freie Arbeitsplätze anzubieten). 51 Kritisch Bauer/Schansker, ArbRAktuell 2011, 298; Junker, NZA-Beil. 2012, 8 (11). 52 BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 249/04, MDR 2007, 39 = NZA 2006, 1039 (1042). 53 EuGH v. 11.3.1997 – C-13/95, MDR 1997, 654 = NZA 1997, 433. 54 EuGH v. 11.3.1997 – C-13/95 – Ayse Süzen, MDR 1997, 654 = NZA 1997, 433. 55 BAG v. 13.2.2003 – 8 AZR 102/02, BB 2003, 1286; BAG v. 18.9.2014 – 8 AZR 733/13, NZA 2015, 97. 56 EuGH v. 11.3.1997 – C-13/95 – Ayse Süzen, MDR 1997, 654 = NZA 1997, 433 (434). 57 Vgl. BAG v. 27.4.2000 – 8 AZR 260/99, n.v.
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Kap. 6 Rz. 6.30
Arbeitsrecht
keine solche „Einheit“ darstellen.58 Die reine Funktionsnachfolge stellt daher keinen Betriebsübergang dar.59 Umgekehrt kann die „Einheit“ aber auch nicht nur in materiellen Betriebsmitteln bestehen. Die wirtschaftliche Einheit muss schließlich nach der Rechtsprechung des EuGH „auf Dauer“ angelegt sein. Ihre Tätigkeit darf deshalb nicht auf die Ausführung nur eines Vorhabens beschränkt sein.
6.30 Mit dem EuGH kommt es auch in Fällen der Änderung der Arbeitsorganisation zu einem Betriebsübergang, sofern nur die funktionelle Verknüpfung der Produktionsfaktoren erhalten bleibt.60 Nach der früheren Rechtsprechung des BAG war für den Betriebsübergang erforderlich, dass der Betrieb oder Betriebsteil beim Erwerber als Betrieb oder organisatorisch selbständiger Betriebsteil fortgeführt wird.61 Wurde die wirtschaftliche Einheit jedoch sofort in die eigene Organisationsstruktur eines anderen Unternehmens eingegliedert, so sollte ein Betriebsübergang ausscheiden (identitätszerstörende Eingliederung).62 Das BAG begründete dieses Ergebnis damit, dass ohne Übernahme der Organisationsstruktur der Erwerber keine wirtschaftliche Einheit übernehme, sondern nur einzelne, nicht in einem Organisationszusammenhang stehende Betriebsmittel der aufgelösten Einheit.63 Er führe die Aufgabe dann mit seiner eigenen wirtschaftlichen Einheit durch. Aufgrund dieser Rechtsprechung erhielt der Erwerber ein probates Mittel, um den Übergang der Arbeitnehmer durch Umstrukturierungsmaßnahmen auf Unternehmensebene zu verhindern. So konnten eine Änderung des Konzepts bzw. der Organisation Umstände darstellen, die einem Betriebsübergang entgegenstanden.64 Zur Vermeidung eines Betriebsübergangs bei der Auftragsvergabe konzentrierten sich die gestalterischen Überlegungen daher darauf, inwiefern bei betriebsmittelarmen Tätigkeiten die bisherigen Organisationsstrukturen und Konzepte verändert werden konnten. Bei stark betriebsmittelgeprägten Branchen stellte sich dagegen die Frage, inwieweit die Betriebsmittel selbst oder die Art und Weise ihrer Nutzung änderbar waren.65
6.31 Diese rechtsfolgenvermeidenden Gestaltungen stehen nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Klarenberg66 dem Erwerber nicht mehr zur Verfügung. In dieser Rechtssache hatte der Erwerber materielle und immaterielle Betriebsmittel, sowie einige Arbeitnehmer, die mit den Betriebsmitteln zuvor beim Veräußerer gearbeitet hatten, übernommen. Die zuvor in einer einheitlichen Abteilung eingesetzten Arbeitnehmer wies der Erwerber nunmehr verschiedenen Organisationseinheiten zu. Neben den bisherigen Aufgaben wurden den Arbeitnehmern zudem weitere Aufgaben übertragen. Der Erwerber vertrat die Ansicht, dass ein Betriebsübergang wegen der Organisationsveränderung ausgeschlossen sei. Der EuGH führt in seiner Entscheidung aus, dass das Kriterium der Organisation „zu den Kriterien für die Bestimmung der Identität einer wirtschaftlichen Einheit gehört“, „dass eine Änderung der 58 EuGH v. 11.3.1997 – C-13/95 – Ayse Süzen, MDR 1997, 654 = NZA 1997, 433 (434); BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR 1043/06, NZA 2007, 1431 (1433). 59 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 11. 60 EuGH v. 12.2.2009 – C-466/07, NZA 2009, 251. 61 Vgl. nur BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 249/04, MDR 2007, 39 = NZA 2006, 1039 (1042). 62 BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 249/04, MDR 2007, 39 = NZA 2006, 1039 (1042); BAG v. 4.5.2006 – 8 AZR 299/05, AP BGB § 613a Nr. 304; BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 331/05, NZA 2006, 1357 (1359); BAG v. 13.12.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 1021 (1024). 63 BAG v. 24.4.2008 – 8 AZR 268/07, NZA 2008, 1314 (1317); Thüsing, RdA 2008, 51 (54); Kock, BB 2007, 714 (716). 64 BAG v. 4.5.2006 – 8 AZR 299/05, AP BGB § 613a Nr. 304. 65 von Steinau-Steinrück, NJW-Spezial 2007, 514. 66 EuGH v. 12.2.2009 – C-466/07, NZA 2009, 251; dazu auch die Folgeentscheidung BAG v. 13.10.2011 – 8 AZR 455/10, MDR 2012, 590 = NZA 2012, 504.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.32 Kap. 6
Organisationsstruktur der übertragenen Einheit der Anwendung der Richtlinie 2001/23/EG [aber] nicht entgegenstehen kann“. „Um der Richtlinie 2001/23/EG nicht einen Teil ihrer praktischen Wirksamkeit zu nehmen, ist die genannte Voraussetzung [der Wahrung der Identität] nicht dahin auszulegen, dass sie verlangt, die konkrete Organisation der verschiedenen übertragenen Produktionsfaktoren durch den Unternehmer beizubehalten, sondern […] dahin, dass die Beibehaltung der funktionellen Verknüpfung der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung zwischen diesen Faktoren erforderlich ist. Die Beibehaltung einer solchen funktionellen Verknüpfung zwischen den übertragenen Faktoren erlaubt es nämlich dem Erwerber, diese, selbst wenn sie nach der Übertragung in eine neue, andere Organisationsstruktur eingegliedert werden, zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen“.67 Nach Ansicht des EuGH ist es mit der Richtlinie nicht zu vereinbaren, dass ein Kriterium zur Prüfung des Vorliegens eines Betriebsübergangs ergebnisbestimmend ist. Letztlich führt dies dazu, dass es eine subsumtionsfähige Definition des Betriebsübergangsbegriffs nicht geben kann.68 Zur Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit ist es folglich ausreichend, wenn identische Betriebsmittel in den Erwerberbetrieb integriert werden, um dort, wenn auch nur teilweise den gleichen Betriebszweck oder eine gleichartige wirtschaftliche Tätigkeit wie beim Veräußerer zu verfolgen.69 Daran ändert dann eine neue betriebliche Zuordnung nichts.70 Zwar führt diese Rechtsprechung zu einer größeren Flexibilität, dies geschieht jedoch auf Kosten der Rechtssicherheit.71 Das BAG übernimmt die Wortwahl der Klarenberg-Rechtsprechung des EuGH.72 Zu einem Betriebsübergang kommt es in den Fällen der Eingliederung eines Betriebs(teils) danach nur dann nicht, wenn die Organisationsänderung so weit geht, dass die funktionelle Verknüpfung zwischen den Produktionsfaktoren in ihrer Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung aufgelöst wird. Eine solche Situation war in dem vom BAG entschiedenen Fall73 gegeben: Dort übernahm der Erwerber einer Betriebskantine weder die Köche, noch bereitete er die Speisen wie der Veräußerer selbst zu, sondern ließ sie lediglich in der Küche durch Hilfskräfte erwärmen. Nach Ansicht des BAG lag ein Betriebsübergang nicht vor. Durch die erhebliche Änderung der Organisation und der Personalstruktur blieb gerade die funktionale Verknüpfung der Betriebsmittel nicht erhalten. Diese Rechtsprechung führt dazu, dass eine Abgrenzung von Betriebsübergang einerseits und den unstreitig nicht von § 613a BGB erfassten Fällen der Funktionsnachfolge und der Betriebsmittelübertragung andererseits, zunehmend schwieriger wird. Von der Richtlinie erfasst ist gem. Art. 1b Teil I jedoch nur die Beibehaltung einer „organisierten Zusammenfassung“ von Ressourcen zur Verfolgung ei67 EuGH v. 12.2.2009 – C-466/07, NZA 2009, 251 (253); BAG v. 13.10.2011 – 8 AZR 455/10, MDR 2012, 590 = ArbRAktuell 2011, 324059 m. Anm. Bauer NZA 2012, 504; im Revisionsverfahren im Fall Klarenberg hat das BAG das Vorliegen eines Teilbetriebs beim Veräußerer verneint und damit den Übergang des Arbeitsverhältnisses von Herrn Klarenberg auf den Erwerber nach § 613a BGB abgelehnt. 68 Schlachter, RdA-Beil. 2009, 31 (38). 69 Willemsen, NZA 2009, 289 (292). 70 Schlachter, RdA-Beil. 2009, 31 (40); entgegen Wißmann/Schneider, BB 2009, 1126 (1128) ist die bloße Möglichkeit der identitätswahrenden Fortführung des Betriebs nicht ausreichend. Eine Rückkehr zur alten Rechtsprechung des BAG ist daher nicht zu erwarten. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist für die Identitätswahrung erforderlich, dass die funktionelle Verbundenheit von Personal, Betriebsmitteln und Betriebszweck aufrechterhalten bleibt. 71 Schiefer in FS Bauer, S. 901 (906 ff.). 72 BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 158/07, NZA 2009, 905; BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 1019/08, NZA 2010, 499 (502). 73 BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 1019/08, NZA 2010, 499.
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6.32
Kap. 6 Rz. 6.33
Arbeitsrecht
nes Zwecks, so dass eine klare Abgrenzung zu Fällen in denen eine Eingliederung in die eigene Organisation zur Verfolgung bzw. Erweiterung des eigenen Unternehmenszwecks nötig ist. So hatte das BAG in seiner Entscheidung vom 26.7.200774 entschieden, dass ein Betriebsübergang nicht vorliegt, wenn der Erwerber einzelne, bislang nicht teilbetrieblich organisierte Betriebsmittel übernimmt, die er zu einem Betrieb oder Betriebsteil zusammenfügt. Eine solche klare Abgrenzung ist nach der neuen Rechtsprechung in weite Ferne gerückt. b) Begriff der wirtschaftlichen Einheit
6.33 Zur Prüfung der Frage, ob eine ihre Identität bewahrende Einheit übergegangen ist, ist eine wertende Gesamtbetrachtung aller den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen vorzunehmen.75 EuGH76 und BAG77 verlangen ausdrücklich die Prüfung folgender sieben Kriterien: 1. Art des betreffenden Betriebs oder Unternehmens. 2. Etwaiger Übergang der materiellen Betriebsmittel. 3. Wert der immateriellen Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs. 4. Etwaige Übernahme der Hauptbelegschaft durch den Erwerber. 5. Etwaiger Übergang der Kundschaft. 6. Grad der Ähnlichkeit zwischen den vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeiten. 7. Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeit.
6.34 Die Prüfung dieser sieben Kriterien ist Pflichtprogramm der ArbG. Eine fehlerhafte oder teilweise unterlassene Prüfung und Abwägung der Kriterien ist revisibel.78 Die sieben Kriterien sind lediglich Teilaspekte der vorzunehmenden Gesamtbewertung und dürfen nicht isoliert betrachtet werden.79 Den für das Vorliegen eines Übergangs maßgeblichen Kriterien kommt allerdings je nach der ausgeübten Tätigkeit und je nach den Produktions- oder Betriebsmethoden unterschiedliches Gewicht zu.80 Als Orientierungshilfe dient die Unterscheidung zwischen betriebsmittelgeprägten Tätigkeiten, bei denen die bloße Übernahme von Betriebsmitteln einen Betriebsübergang auslösen kann und betriebsmittelarmen Tätigkeiten, bei denen ein Betriebsübergang nur möglich ist, wenn der Erwerber einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil der in der wirtschaftlichen Einheit beschäftigten Arbeitnehmer
74 BAG v. 26.7.2007 – 8 AZR 769/06, NZA 2008, 112 (114). 75 Vgl. nur BAG v. 16.5.2007 – 8 AZR 693/06, AP BetrVG 1972 § 111 Nr. 64. 76 EuGH v. 11.3.1997 – C-13/95 – Ayse Süzen, MDR 1997, 654 = NZA 1997, 433 (434) im Anschluss an EuGH v. 18.3.1986 – C-24/85 – Spijkers, Slg. 1986, 1119, Rz. 12 und an EuGH v. 19.5.1992 – C-29/91 – Redmond Stichting, NZA 1994, 200; EuGH v. 20.11.2003 – C-340/01 – Abler, NZA 2003, 1385. 77 Vgl. nur BAG v. 11.9.1997 – 8 AZR 555/95, MDR 1998, 164 – Tausendundeine Nacht, DB 1997, 2540; BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 416/99, BAGE 95, 1 = MDR 2000, 1444 = ZIP 2000, 1630 m. Anm. Bauer/Mengel; BAG v. 18.4.2002 – 8 AZR 346/01, NZA 2002, 1207; BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 331/05, NZA 2006, 1357 (1358). 78 Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 98. 79 EuGH v. 11.3.1997 – C-13/95 – Ayse Süzen, MDR 1997, 654 = NZA 1997, 433 (434); dazu auch Willemsen in HWK, § 613a BGB Rz. 93 ff. 80 BAG v. 26.7.2007 – 8 AZR 769/06, NZA 2008, 112 (114).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.36 Kap. 6
übernimmt.81 Die Rechtsprechung des BAG bemüht sich um sachgerechte Ergebnisse im Einzelfall. Das gelingt ihr weitgehend in den Fällen der Übertragung von Dienstleistungsfunktionen. Ansonsten besteht wegen der Komplexität der Sach- und Rechtsfragen nach wie vor ein hohes Prognoserisiko, insbesondere weil sich nicht immer eindeutig feststellen lässt, ob es sich um einen betriebsmittelarmen oder -geprägten Betrieb handelt. Das Kriterium Nr. 1 der Art des betreffenden Betriebs oder Unternehmens ist maßgeblich 6.35 für die Gewichtung der übrigen Kriterien im Rahmen der Gesamtbewertung.82 Entsprechend spielt der Übergang der materiellen Betriebsmittel (Kriterium Nr. 2) bei Produktionsunternehmen eine größere, bei Dienstleistungsunternehmen eine geringere Rolle.83 Ob und inwiefern der Übergang materieller bzw. immaterieller Betriebsmittel für einen Betriebsübergang wesentlich ist, hängt nach der Rechtsprechung des BAG entscheidend davon ab, wo der „Kern des zur Wertschöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs“ liegt,84 ob es sich also um einen betriebsmittelarmen oder betriebsmittelgeprägten Betrieb handelt. Nach Ansicht des BAG handelt es sich z.B. bei einem Callcenter85,einem Bewachungsunternehmen86 und einem Zustelldienst für Zeitungen87 um betriebsmittelarme Betriebe, die mittlerweile in der Rechtsprechung auch als „Betriebe, in denen die menschliche Arbeitskraft im Mittelpunkt steht“, bezeichnet werden. Hingegen sind das Bodenpersonal einer Fluglinie auf einem Großflughafen,88 der Lagerbetrieb für die Industrie,89 der Verpackungsbereich eines Druckzentrums90, der Schlachthof91 und der von einem Landkreis mit Rettungsfahrzeugen betriebene Rettungsdienst92 Beispiele für eine Betriebsmittelprägung. Aus der Art des betreffenden Betriebs oder Unternehmens ergibt sich zudem der wesentliche Inhalt der Arbeitsorganisation (nunmehr verstanden als funktionelle Verknüpfung der übertragenen Produktionsfaktoren), deren Weiternutzung durch den Erwerber den Betriebsübergang charakterisiert. Das Kriterium Nr. 2 (etwaiger Übergang der materiellen Betriebsmittel) hat wesentliche Indizfunktion bei Produktionsunternehmen. Der Übergang materieller Betriebsmittel allein begründet aber noch keinen Betriebsübergang. Im Rahmen der Gesamtbewertung kommt es vielmehr darauf an, ob der Erwerber über die Betriebsmittel hinaus die Arbeitsorganisation übernommen hat.93 Dem Betrieb werden dabei auch solche Gebäude, Maschinen, Werkzeuge oder Einrichtungsgegenstände als materielle Betriebsmittel zugerechnet, die nicht im Eigentum des Betriebsinhabers stehen, die er aber aufgrund einer Nutzungsvereinbarung (Pacht,
81 Müller-Bonanni, NZA-Beil. 2009, 13 (13); BAG v. 16.5.2007 – 8 AZR 693/06, AP BetrVG 1972 § 111 Nr. 64. 82 EuGH v. 11.3.1997 – C-13/95 – Ayse Süzen, MDR 1997, 654 = NZA 1997, 433 (434). 83 Vgl. Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 100 ff. 84 BAG v. 13.12.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 1021 (1023). 85 BAG v. 25.6.2009 – 8 AZR 258/08, NZA 2009, 1412. 86 BAG v. 23.5.2013 – 8 AZR 207/12, DB 2013, 2336; BAG v. 25.9.2008 – 8 AZR 607/07, BB 2009, 1080. 87 BAG v. 19.3.2015 – 8 AZR 150/14, AP BGB § 613a Nr. 461. 88 BAG v. 16.5.2007 – 8 AZR 693/06, NZA 2007, 1296. 89 BAG v. 13.12.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 1021. 90 BAG v. 27.1.2011 – 8 AZR 326/09, NZA 2011, 1162. 91 BAG v. 15.2.2007 – 8 AZR 431/06, NZA 2007, 793. 92 BAG v. 25.8.2016 – 8 AZR 53/15, NZA 2017, 599. 93 BAG v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96 – Modefachgeschäft, NZA 1997, 1050.
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6.36
Kap. 6 Rz. 6.37
Arbeitsrecht
Nießbrauch, etc.)94 für eigene Zwecke einsetzen kann und somit mit ihnen wirtschaften kann. Nach früherer Rechtsprechung des BAG setzte dies jedoch voraus, dass die Betriebsmittel dem Erweber zur eigenwirtschaftlichen Nutzung überlassen wurden.95 Eine Zurechnung sollte nicht erfolgen, wenn der Auftragnehmer nur eine Dienstleistung an fremden Geräten und Maschinen ohne die Befugnis erbringt, eigenwirtschaftlich über die Art und Weise der Nutzung dieser Betriebsmittel zu entscheiden.96 In seiner berühmten Entscheidung „Güney-Görres“97 hat der EuGH jedoch klargestellt, dass die eigenwirtschaftliche Nutzung der Betriebsmittel „keine notwendige Voraussetzung für die Feststellung eines Übergangs dieser Mittel vom ursprünglichen Auftragnehmer auf den neuen Auftragnehmer ist“. In der Folgezeit hat das BAG diese Auffassung übernommen, so dass eine Prüfung dieses Kriteriums nun obsolet ist.98 An die Stelle der Prüfung der eigenwirtschaftlichen Nutzung, tritt seitdem die Prüfung der Frage, ob die materiellen Betriebsmittel bei wertender Betrachtung den eigentlichen Kern des zur Wertschöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs ausmachen. Trotz weitgehend übernommener sächlicher Betriebsmittel ist ein Betriebsübergang nicht anzunehmen, wenn der Betriebserwerber aufgrund eines veränderten Betriebskonzepts diese nur noch teilweise benötigt und nutzt.99 Dass das BAG den Übergang der materiellen Betriebsmittel stark gewichtet, zeigt seine Verneinung des Übergangs einer wirtschaftlichen Einheit im Fall eines Rettungsdienstes, von dem die als wesentlich angesehenen Rettungsfahrzeuge nicht übernommen worden waren. Hier reichte die erfolgte Übernahme aller Mitarbeiter, die ununterbrochene Fortführung und die Erbringung der Rettungsleistungen an den gleichen Kundenkreis nicht für die Annahme eines Betriebsübergangs.100
6.37 Dem dritten Kriterium des Wertes der immateriellen Aktiva kommt ebenfalls Indizfunktion zu. Leicht können die immateriellen Aktiva (Patente, Gebrauchsmusterrechte, Schutzrechte, Warenzeichen, Marken, Lizenzen, Know-how, Good Will etc.) den Wert der materiellen Aktiva übersteigen. Werden solche immateriellen Aktiva übernommen, kann dies ein Indiz für einen Betriebsübergang sein.101 Voraussetzung ist freilich, dass die immateriellen Aktiva einen gewissen Wert (im Verhältnis zu den übrigen Kriterien) haben. Der bloße Erwerb von Lizenzrechten allein begründet aber noch keinen Betriebsübergang.102
6.38 Außerdem kommt dem Kriterium des Wertes der immateriellen Aktiva bei der schwierigen Abgrenzung zwischen bloßer Veräußerung einzelner Betriebsmittel und einem Betriebsübergang erhebliche Bedeutung zu. Überschneidungen ergeben sich mit dem vierten Kriterium, da das Know-how des Betriebs maßgeblich durch die Arbeitnehmer verkörpert wird. 94 BAG v. 11.12.1997 – 8 AZR 426/94 – Catering, MDR 1998, 723 = NZA 1998, 532; vgl. dazu auch BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 337/99, n.v.; BAG v. 22.7.2004 – 8 AZR 350/03 – Gefahrstofflager, MDR 2005, 220 = NZA 2004, 1383. 95 BAG v. 11.12.1997 – 8 AZR 426/94 – Catering, MDR 1998, 723 = NZA 1998, 532 (533); offengelassen von BAG v. 22.7.2004 – 8 AZR 350/03 – Gefahrstofflager, MDR 2005, 220 = NZA 2004, 1383 (1387). 96 Vgl. BAG v. 29.6.2000 – 8 AZR 521/99, n.v. 97 EuGH v. 15.12.2005 – C-232/04, C-233/04, NZA 2006, 29. 98 BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 222/04, NZA 2006, 723; BAG v. 13.6.2006 – 8 AZR 271/05, NJW 2007, 106; BAG v. 29.3.2007 – 8 AZR 519/06, NZA 2007, 927. 99 BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 1019/08, NZA 2010, 499. 100 BAG v. 25.8.2016 – 8 AZR 53/15, NZA 2017, 599. 101 Der Erwerb von Gläubigerrechten wie auch von Forderungen aus Miet-, Pacht- und Darlehensverträgen indiziert dagegen keinen Betriebsübergang, vgl. LAG Düsseldorf v. 10.3.2000 – 11 (8) Sa 1301/99, ARST 2000, 235. 102 So LAG Hamm v. 24.2.2000 – 4 Sa 1731/99, ZInsO 2000, 467.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.40 Kap. 6
Nach früherer Rechtsprechung des BAG gehörte der Übergang der Arbeitsverhältnisse 6.39 (Kriterium Nr. 4) auf die Rechtsfolgenseite des Betriebsübergangs. Aus der Übernahme von Arbeitsverhältnissen konnte deshalb nicht auf einen Betriebsübergang geschlossen werden.103 Mittlerweile kommt der Übernahme des Personals in betriebsmittelarmen Branchen entscheidende Bedeutung neben den übrigen Kriterien zur Annahme eines Betriebsübergangs zu.104 Die Übernahme von Arbeitnehmern gehört zur Voraussetzungsseite des Betriebsübergangs. In Branchen, in denen es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft ankommt, stellt gerade die durch ihre gemeinsame Tätigkeit dauerhaft verbundene Gesamtheit von Arbeitnehmern eine „wirtschaftliche Einheit“ dar.105 Voraussetzung für die Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit ist die Übernahme eines „nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teils des Personals“.106 Wann ein nach Zahl und Sachkunde wesentlicher Teil des Personals vorliegt, hängt von betrieblicher Branche und Qualifikationsgrad der Arbeitnehmer ab. Je geringer die Qualifikation, desto größer muss der Anteil der übernommenen Arbeitnehmer sein, damit der Übergang der Arbeitsorganisation indiziert wird. Stellen die Arbeitsplätze keine hohen Anforderungen an die Qualifikation wie typischerweise in der Reinigungs- oder Bewachungsbranche, genügt ein Anteil von 75 % der übernommenen Arbeitnehmer noch nicht zur Annahme des Übergangs der Hauptbelegschaft.107 Bei hohem Qualifikationsgrad und entsprechendem Spezialwissen kann bereits die Übernahme eines wesentlich geringeren Teils des Personals („Know-how-Träger“) Indizfunktion für den Betriebsübergang haben. Dies sorgt in der Praxis für Unsicherheit, da die Bestimmung des „nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teils“ der Belegschaft äußerst schwierig ist.108 In betriebsmittelgeprägten Betrieben kann die Gesamtabwägung allerdings auch zum Vorliegen eines Betriebsübergangs führen, ohne dass Arbeitnehmer übernommen worden sind.109 Dem fünften Kriterium des Übergangs der Kundschaft kommt in der Dienstleistungsbranche erhebliches Gewicht bei der Prüfung zu, ob eine ihre Identität wahrende Einheit übergegangen ist. Bei Einzelhandelsbetrieben ist nach Auffassung des BAG der Erhalt der regelmäßig durch Geschäftslage, Warensortiment und Betriebsform geprägten Kundenbeziehungen entscheidend.110 In einem Fall, in dem eine Mineralölgesellschaft eine Tankstelle schloss und in ca. 800 m Entfernung eine neue Tankstelle errichtete und an einen neuen Pächter vergab, hat das 103 Vgl. BAG v. 24.7.1979 – 1 AZR 219/77, DB 1980, 164 m. Anm. Gutbrod. 104 BAG v. 22.7.2004 – 8 AZR 350/03 – Gefahrstofflager, NZA 2004, 1383 = MDR 2005, 220. 105 Vgl. BAG v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96 – Modefachgeschäft, NZA 1997, 1050 (Ls. 2); BAG v. 11.9.1997 – 8 AZR 555/95 – Tausendundeine Nacht, DB 1997, 2540 = MDR 1998, 164; BAG v. 11.12.1997 – 8 AZR 729/96 – Reinigungsauftrag II, MDR 1998, 722 = DB 1998, 883; vgl. dazu Preis/Steffan, DB 1998, 309 ff.; Schiefer, NZA 1998, 1095 ff. 106 Vgl. BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 676/97 – Personalübernahme, NZA 1999, 420. 107 Vgl. BAG v. 19.3.1998 – 8 AZR 737/96, n.v.; BAG v. 14.5.1998 – 8 AZR 418/96, n.v.; BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 676/97, NZA 1999, 420. 108 Die Übernahme von 9 der insgesamt 15 Busfahrer bei gleichzeitiger Auftragsneuvergabe genügt nach Auffassung des LAG Köln nicht zur Wahrung der Betriebsidentität, da der Betrieb einer Buslinie keine Spezialkenntnisse verlange, vgl. LAG Köln v. 14.3.2000 – 13 Sa 1356/99, NZA-RR 2000, 634; BAG v. 22.10.2009 – 8 AZR 766/08, NZA-RR 2010, 660 zur Übernahme von Metzgern und Köchen für eine Metzgerei mit Partyservice und Catering; BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 244/11, Beck RS 2012, 74677 – bei einem IT-Servicebetrieb reicht aufgrund des erforderlichen hohen Qualifikationsniveaus die Übernahme von mehr als der Hälfte der Arbeitnehmer für die Annahme eines Betriebsübergangs aus, dazu auch die Parallelentscheidung BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 181/11, BB 2012, 3144 m. Anm. Heuchemer. 109 BAG v. 27.1.2011 – 8 AZR 326/09, NZA 2011, 1162. 110 So BAG v. 2.12.1999 – 8 AZR 796/98 – Einzelhandelsgeschäft, EzA § 613a BGB Nr. 188.
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6.40
Kap. 6 Rz. 6.41
Arbeitsrecht
BAG das Vorliegen eines Betriebsübergangs abgelehnt, obwohl die neue Tankstelle einen großen Teil der Kunden der alten Tankstelle bediente. Das BAG wertete die Fortdauer der Kundenbeziehung in der Gesamtabwägung der Betriebsübergangskriterien nur gering, da es bei der Tankstelle an einer besonderen „Markenbindung“ fehle.111
6.41 Der Grad der Ähnlichkeit der vorher und nachher verrichteten Tätigkeiten als sechstes Kriterium kann vor allem bei betriebsmittelarmen Tätigkeiten von Bedeutung sein. Ähnlichkeit meint in diesem Kontext die Fortführung des bisherigen oder eines gleichartigen Betriebszwecks.112 Eine wesentliche Änderung des Betriebszwecks schließt den Betriebsübergang aus.113 Auch hier besteht in der Praxis jedoch ein Prognoserisiko, da nicht klar definierbar ist, wann eine Änderung des Betriebszwecks so wesentlich ist, dass ein Betriebsübergang ausscheidet. Jedenfalls führt eine Erweiterung der Tätigkeiten der übernommenen Arbeitnehmer, die eine Fortbildung erforderlich macht, für sich genommen noch nicht dazu, dass die Tätigkeiten sich nicht mehr ähnlich sind.114
6.42 Nach der Rechtsprechung von EuGH und BAG steht fest, dass die bloße Funktionsnachfolge keinen Betriebsübergang darstellt.115 Eine Einheit darf nämlich nicht als bloße Tätigkeit verstanden werden.116 Der bloße Umstand, dass die nacheinander vom alten und neuen Auftragnehmer erbrachten Leistungen einander ähnlich sind, lässt nicht auf den Übergang einer solchen Einheit schließen.117 Das Kriterium der Ähnlichkeit der vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeiten ist nicht Tatbestandsvoraussetzung eines Betriebsübergangs, sondern Indiz für die Entscheidung der Frage, ob eine Organisationseinheit unter Wahrung ihrer Identität übergegangen ist.118
6.43 Das letzte Kriterium der Dauer einer eventuellen Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit betrifft die Identitätswahrung beim Übergang einer wirtschaftlichen Einheit. Entscheidend ist, ob die Dauer der Unterberechung wirtschaftlich erheblich ist. Dies ist eine Frage des Einzelfalls, bei der zu prüfen ist, ob die Unterbrechung geeignet ist, die funktionsfähige wirtschaftliche Einheit zu zerschlagen.119 Denn nur in diesem Fall legt sich der Erwerber gerade nicht „in das gemachte Bett“. Je länger die Unterbrechung dauert, desto größer ist die Indizwirkung gegen das Vorliegen eines Betriebsübergangs. In ihrer Einzelfallkasuistik hat die Rechtsprechung im Einzelhandel eine neunmonatige,120 in der Gastronomie eine sechsmonatige Unterbrechung121 für erheblich gehalten. Die Möglichkeit der Übernahme des Kundenstamms (vgl. Kriterium Nr. 5) hielt die Rechtsprechung in diesen Fällen für zweifelhaft. Generell ist nach Auffassung des BAG eine Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeiten erheblich,
111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121
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BAG v. 18.9.2014 – 8 AZR 733/13 – Tankstelle, NZA 2015, 97. EuGH v. 18.3.1986, Slg. 1986, 1119 – Spijkers. Vgl. nur BAG v. 4.5.2006 – 8 AZR 299/05, BB 2007, 46. BAG v. 25.6.2009 – 8 AZR 258/08, NZA 2009, 1412. BAG v. 25.8.2016 – 8 AZR 53/15, NZA-RR 2017, 123; BAG v. 25.9.2003 – 8 AZR 421/02, NZA 2004, 316; BAG v. 11.12.1997 – 8 AZR 426/94, MDR 1998, 723 = NZA 1998, 532. EuGH v. 11.3.1997 – C-13/95 – Ayse Süzen, MDR 1997, 654 = NZA 1997, 433 (434); EuGH v. 10.12.1998 – C-173/96 und C-247/96 – Tiemann, EzA § 613a BGB Nr. 172. Ebenso EuGH v. 10.12.1998 – C-127/96 – Santner, EzA § 613a BGB Nr. 173. BAG v. 22.7.2004 – 8 AZR 350/03 – Gefahrstofflager, MDR 2005, 220 = NZA 2004, 1383; Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 137. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 35. BAG v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96 – Modefachgeschäft, NZA 1997, 1050. BAG v. 11.9.1997 – 8 AZR 555/95 – Tausendundeine Nacht, DB 1997, 2540.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.48 Kap. 6
wenn sie länger dauert als die längste, im konkreten Fall durch den Veräußerer einzuhaltende gesetzliche Kündigungsfrist (§ 622 Abs. 2 BGB).122 Vom Betriebsbegriff des § 613a BGB ist der des Unternehmens zu unterscheiden. Das Un- 6.44 ternehmen kann als organisatorische Einheit definiert werden, unter der eine natürliche oder juristische Person einen oder mehrere meist wirtschaftliche oder auch ideelle Zwecke fortgesetzt verfolgt. Ihm dienen regelmäßig ein oder mehrere organisatorisch verbundene Betriebe, wobei das Unternehmen Rechtsträger ist. Während dem Betrieb die zur Verwirklichung des technisch geprägten Betriebszwecks nötigen arbeitstechnischen und organisatorischen Sachmittel zuzuordnen sind, sind es beim Unternehmen die Werte, die die wirtschaftlich oder ideell geprägte Ausrichtung der Unternehmensziele realisieren können. Letztlich kann im Bereich des § 613a BGB meist auf eine exakte Unterscheidung zwischen Unternehmen und Betrieb verzichtet werden, da die Vorschrift auch dann Anwendung findet, wenn Unternehmen oder Teile von Unternehmen veräußert werden, sofern es sich dabei um einen Asset-Deal handelt.123 Ein Betriebsübergang ist auch in einem Gemeinschaftsbetrieb möglich, wenn die Inhaberschaft an einem Betriebsteil oder einer Betriebsabteilung auf ein anderes am Gemeinschaftsbetrieb beteiligtes Unternehmen wechselt.124
6.45
Da § 613a BGB trotz seiner Herkunft aus dem BetrVG 1972 eine zivilrechtliche Norm ist,125 ist die im Betriebsverfassungsrecht gültige Betriebsdefinition nicht maßgebend. Es kommt deshalb auch nicht darauf an, ob ein Betriebsteil (§ 4 BetrVG) vorliegt. Auch ist nicht entscheidend, ob in dem Betrieb ein Betriebsrat besteht oder nicht oder ob der Betrieb überhaupt betriebsratsfähig ist.126 Schließlich gilt § 613a BGB grundsätzlich auch, wenn es sich um einen Tendenzbetrieb nach § 118 Abs. 1 BetrVG oder einen Betrieb einer Religionsgemeinschaft nach § 118 Abs. 2 BetrVG handelt (vgl. Rz. 6.23).127
6.46
Bei der Frage, ob ein Betrieb i.S.v. § 613a BGB vorliegt, kann nicht auf den Begriff der Betriebsstätte zurückgegriffen werden, der vor allem im Steuerrecht für die Zuständigkeit zur Besteuerung und die unbeschränkte oder beschränkte Steuerpflicht sowie für den Ort der sonstigen Leistungen im Umsatzsteuerrecht bedeutsam ist (vgl. im Übrigen § 12 AO).
6.47
§ 613a BGB differenziert nicht zwischen privatrechtlichen Betrieben und solchen der öffentlichen Hand (vgl. Rz. 6.57).128 Es ist deshalb unschädlich, wenn Erwerber oder Veräußerer eine juristische Person des öffentlichen Rechts ist.129 Auch öffentlich-rechtlich organisierte
6.48
122 BAG v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96 – Modefachgeschäft, NZA 1997, 1050 (1052). 123 Vgl. dazu EuGH v. 2.12.1999 – C-234/98 – Allen, AG 2000, 358 = NZA 2000, 587, danach ist die Betriebsübergangsrichtlinie auch auf den Unternehmensübergang innerhalb desselben Konzerns anwendbar. 124 BAG v. 15.2.2007 – 8 AZR 310/06, AP 2 zu § 613a BGB Widerspruch. 125 BAG v. 22.2.1978 – 5 AZR 800/76, AP 11 zu § 613a BGB m. Anm. Küchenhoff. 126 BAG v. 6.2.1980 – 5 AZR 275/78, AP 21 zu § 613a BGB m. Anm. Herschel. 127 BAG v. 7.11.1975 – 1 ABR 78/74, AP 3 zu § 99 BetrVG 1972 m. Anm. Kraft/Geppert. 128 BAG v. 6.2.1980 – 5 AZR 275/78, AP 21 zu § 613a BGB m. Anm. Herschel; Willemsen in HWK, § 613a BGB Rz. 23. 129 Vgl. BAG v. 27.4.2000 – 8 AZR 260/99, n.v. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann ein Betriebsübergang auch bei der Privatisierung einer bislang öffentlich-rechtlich verwalteten Stelle vorliegen, vgl. EuGH v. 14.9.2000 – C-343/98 – Telecom Italia, NZA 2000, 1279 sowie umgekehrt, wenn eine Gemeinde Werbetätigkeiten selbst übernimmt, die bislang von einem privat-
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479
Kap. 6 Rz. 6.49
Arbeitsrecht
Betriebseinheiten zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben können Betriebe i.S.d. § 613a BGB sein.130 Auch militärische Einrichtungen können danach unter § 613a BGB fallen.131 Die Rechtsfolgen des § 613a BGB sind allerdings auf Arbeitnehmer beschränkt; Beamte werden nicht erfasst.132 Nach der Rechtsprechung des EuGH kann sich ein Betriebsübergang auch im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge vollziehen, im konkreten Fall ging es um die Übernahme des Betriebs einer regionalen Buslinie.133
6.49 § 613a BGB bezieht sich vor allem auf Gewerbebetriebe. Betroffen sein können aber auch kaufmännische, land- und forstwirtschaftliche Betriebe, Hotels134, Restaurants, Anwaltsund Steuerkanzleien,135 Arztpraxen,136 Privatschulen usw.
6.50 Um keinen Betrieb handelt es sich dagegen beim privaten Haushalt.137 Ein fremdgenutztes Mietshaus kann aber ein Betrieb oder bei Vorliegen weiterer fremdgenutzter Mietshäuser ein Betriebsteil i.S.v. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB sein, mit der Folge, dass das Arbeitsverhältnis eines Hausmeisters bei Aufrechterhaltung des Charakters als fremdgenutztes Mietshaus auf den rechtsgeschäftlichen Erwerber des Mietshauses übergeht.138 Maßgeblich für den Übergang ist dabei nicht der Zeitpunkt der Eintragung des Eigentumsübergangs in das Grundbuch, sondern der Zeitpunkt, zu dem der Erwerber Nutzen und Lasten übernimmt.139 Zu beachten ist allerdings, dass es sich bei dem von einem Hausverwaltungsunternehmen verwalteten Grundstück nicht um ein Betriebsmittel dieses Unternehmens handelt. Vielmehr ist es das Objekt der Verwaltungstätigkeit. Die Arbeitsverhältnisse der mit der Grundstücksverwaltung betrauten Arbeitnehmer des Hausverwaltungsunternehmens gehen deshalb nicht im Wege eines Betriebsübergangs auf den Erwerber der verwalteten Immobilie über, wenn dieser die Immobilie eigenwirtschaftlich nutzt.140
6.51 Entgegen der früher vom BAG vertretenen Theorie der Fortführungsmöglichkeit ist nun entscheidend, dass der Erwerber tatsächlich von der Möglichkeit der Fortführung des Be-
130 131 132 133 134 135
136 137 138 139 140
480
rechtlichen Verein wahrgenommen wurden, vgl. EuGH v. 26.9.2000 – C-175/99 – APIM, NZA 2000, 1327; EuGH v. 25.1.2001 – C-172/99 – Liikenne, NZA 2001, 249; vgl. auch Resch, AuR 2000, 87 ff.; Bieback, ZTR 1998, 396; dazu auch Kohte, BB 1997, 1738. BAG v. 25.9.2003 – 8 AZR 421/02, NZA 2004, 316. BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 783/13, NZA 2015, 866; BAG v. 25.9.2003 – 8 AZR 421/02, NZA 2004, 316 (318). Vgl. auch BAG v. 28.3.2001 – 7 ABR 21/00, MDR 2001, 1121 = NZA 2002, 1294, wonach Beamte kein Wahlrecht bei einer Betriebsratswahl haben. Vgl. EuGH v. 25.1.2001 – C-172/99 – Liikenne, NZA 2001, 249. BAG v. 21.8.2008 – 8 AZR 201/07, NZA 2009, 29. Vgl. zum Notariat BAG v. 26.8.1999 – 8 AZR 827/98, MDR 2000, 525 = NZA 2000, 371, danach führt die Bestellung eines neuen Notars auch dann nicht zu einem Betriebsübergang, wenn der neue Notar die Kanzlei und das Personal eines aus dem Amt ausgeschiedenen Notars übernimmt. Die Entscheidung bezieht sich allerdings auf das „Nur-Notariat“. Aufgrund der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben erlischt dort die organisatorische Einheit des Notariats mit dem Ende des Notaramtes. Auf Anwaltskanzleien dürfte diese Entscheidung nicht ohne weiteres übertragbar sein; vgl. zur Steuerkanzlei, LAG Brandenburg v. 22.7.1999 – 8 Sa 102/99, BB 2000, 936. Vgl. LAG Düsseldorf v. 29.2.2000 – 3 Sa 1896/99, NZA-RR 2000, 353. Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 16; Seiter, S. 51. BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 159/98, MDR 1999, 1071 = NZA 1999, 869 ff.; BAG v. 16.10.1987 – 7 AZR 519/86, DB 1988, 712. BAG v. 16.10.1987 – 7 AZR 519/86, DB 1988, 712. BAG v. 15.11.2012 – 8 AZR 683/11, NJW 2013, 2379.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.53 Kap. 6
triebs Gebrauch macht.141 Im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung führt deshalb in den Pachtfällen die Rückgabe des Betriebs nach Ablauf des Pachtverhältnisses nur dann zu einem Betriebsübergang an den Verpächter, wenn dieser den Betrieb tatsächlich selbst weiterführt (vgl. Rz. 6.69).142 c) Betriebsteil Der Übergang eines Betriebsteils ist an dieselben Voraussetzungen gebunden wie der Betriebsübergang. Es gelten die von EuGH und BAG entwickelten Grundsätze in gleicher Weise.143 Voraussetzung für den Übergang eines Betriebsteils ist der Übergang einer wirtschaftlichen Teileinheit, die ihre Identität wahrt.144 Betriebsteile sind Teileinheiten (Teilorganisationen) des Betriebes.145 Bei übertragenen sächlichen und/oder immateriellen Betriebsmitteln muss es sich um eine selbständige, abtrennbare und organisatorische Untergliederung des Gesamtbetriebs handeln, mit der innerhalb des betrieblichen Gesamtzwecks ein Teilzweck verfolgt wird, auch wenn es sich hierbei nur um eine untergeordnete Hilfsfunktion handelt.146 Ein Betriebsteilübergang i.S.v. § 613a BGB setzt voraus, dass die übernommenen Betriebsmittel bereits beim Veräußerer die Qualität eines Betriebsteils hatten.147 Es reicht nicht aus, wenn der Erwerber mit einzelnen, bislang nicht teilbetrieblich organisierten Betriebsmitteln erst einen Betrieb oder Betriebsteil gründet.148
6.52
Eine wirtschaftlich vernünftige Übertragbarkeit setzt in der Regel voraus, dass der Betriebsteil räumlich und personell abgrenzbar ist. Das darf jedoch nicht als unverzichtbare Voraussetzung missverstanden werden. Vor allem muss der Betriebsteil des § 613a BGB kein selbständiger Betriebsteil i.S.v. § 4 BetrVG sein. Die übertragenen sächlichen und immateriellen Betriebsmittel müssen aber eine organisatorische Untergliederung des gesamten Betriebs bilden, mit denen ein Teilzweck (innerhalb des betrieblichen Gesamtzwecks) verfolgt wird, wie z.B. die Reinigungsarbeiten in einem Krankenhaus.149 Das Merkmal „Teilzweck“ dient dabei zur Abgrenzung der organisatorischen Einheit vom bloßen Übergang einzelner Betriebsmittel.150 Im Teilbetrieb müssen nicht andersartige Zwecke als im übrigen Betrieb ver-
6.53
141 BAG v. 22.7.2004 – 8 AZR 350/03 – Gefahrstofflager, MDR 2005, 220 = NZA 2004, 1383; Koch in Schaub, § 117 Rz. 26; BAG v. 15.11.2012 – 8 AZR 683/11, NJW 2013, 2379; BAG v. 10.5.2012 – 8 AZR 639/10, AP BGB § 613a Nr. 429 – Rettungsdienst. 142 BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 159/98, MDR 1999, 1071 = NZA 1999, 704. 143 Vgl. EuGH v. 11.3.1997 – C-13/95 – Ayse Süzen, MDR 1997, 654 = NZA 1997, 433 (434); BAG v. 24.4.1997 – 8 AZR 848/94 – EDV-Dienstleistung, NZA 1998, 253; dazu auch Steffan, NZA 2000, 687 ff.; BAG v. 13.2.2003 – 8 AZR 102/02, BB 2003, 1286 (1287). 144 BAG v. 26.8.1999 – 8 AZR 718/98 – Drei Lkws, NZA 2000, 144. 145 BAG v. 8.8.2002 – 8 AZR 583/01, NZA 2003, 317. 146 BAG v. 27.9.2007 – 8 AZR 941/06, NZA 2008, 1130; BAG v. 13.2.2003 – 8 AZR 102/02, BB 2003, 1286 (1287). 147 BAG v. 16.2.2006 – 8 AZR 211/05, NZA 2006, 592 (595); BAG v. 7.4.2011 – 8 AZR 730/09, NZA 2011, 1231 – Zweckverband Wasser; BAG v. 13.10.2011 – 8 AZR 455/10, MDR 2012, 590 = ArbRAktuell 2011, 324059 m. Anm. Bauer NZA 2012, 504 – im Revisionsverfahren im Fall Klarenberg (EuGH v. 12.2.2009 – C-466/07, NZA 2009, 251 – Klarenberg/Ferrotron) hat das BAG letztendlich das Vorliegen eines Teilbetriebs beim Veräußerer verneint und damit den Übergang des Arbeitsverhältnisses von Herrn Klarenberg auf den Erwerber nach § 613a BGB abgelehnt. 148 BAG v. 24.4.1997 – 8 AZR 848/94 – EDV-Dienstleistungen, NZA 1998, 253; BAG v. 9.2.1994 – 2 AZR 666/93, ZIP 1994, 1041. 149 BAG v. 21.5.2008 – 8 AZR 481/07, NZA 2009, 144. 150 BAG v. 17.4.2003 – 8 AZR 253/02, ZInsO 2003, 1010 = AP § 613a BGB Nr. 253.
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Kap. 6 Rz. 6.54
Arbeitsrecht
folgt werden.151 Die Wahrnehmung eines dauerhaften Teilzwecks führt nur dann zu einer selbständig übergangsfähigen Einheit, wenn eine organisierte Gesamtheit von Personen und Sachen vorliegt.152 Das ist nicht schon der Fall, wenn ein oder mehrere Betriebsmittel ständig dem betreffenden Teilzweck zugeordnet sind. Ebenso wenig genügt es, dass ein oder mehrere Arbeitnehmer ständig bestimmte Aufgaben mit bestimmten Betriebsmitteln erfüllen. Stattdessen muss eine eigenständige Organisation in Bezug auf die Erfüllung des Teilzwecks vorliegen.153
6.54 In seiner Entscheidung Jouini u.a./PPS154 hat der EuGH festgestellt, dass die Gesamtheit aus einigen Verwaltungsangestellten, einem Teil der Leiharbeitnehmer und der Fachkenntnisse aus einem Leiharbeitsunternehmen einen eigenen Zweck haben kann. Wechselt diese Gesamtheit zu einem anderen Leiharbeitsunternehmen, um dort die gleichen Tätigkeiten im Dienst derselben Kunden auszuüben, so liege ein Betriebs(teil)übergang vor, wenn die von dem Übergang betroffenen Mittel als solche ausreichen, um die für die wirtschaftliche Tätigkeit kennzeichnenden Leistungen ohne Inanspruchnahme anderer wichtiger Betriebsmittel und ohne Inanspruchnahme anderer Unternehmensteile weiter erbringen zu können. Die Übernahme von bei einem Entleiher eingesetzten Leiharbeitern durch ein anderes Leiharbeitsunternehmen stellt hingegen keinen Betriebs(teil)übergang dar, wenn nicht auch die für die Verwaltung des Leiharbeitseinsatzes erforderlichen Mitarbeiter des ursprünglichen Verleihers mit übernommen werden, da es dann am Vorliegen eines Betriebsteils mangelt.155
6.55 Ein oder mehrere Lkws aus einer einheitlichen organisierten Gesamtheit von Lkws sind nur Betriebsmittel, aber kein Betriebsteil. Ein „Herauspicken“ einzelner Betriebsmittel führt daher nicht zu einem Betriebs(teil)übergang. Auch hier ist mit der Rechtsprechung des EuGH und des BAG letztlich entscheidend, ob die funktionale Verknüpfung der Produktionsfaktoren erhalten bleibt. Obwohl die Verwaltungstätigkeit immer notwendige Voraussetzung oder Folge des operativen Geschäfts ist, kann auch der Verwaltungsbereich eines Betriebs ein selbständig organisierter Betriebsteil sein.156 Eine bloße Wahrnehmung der gleichen Funktion beim Erwerber mit dessen eigenem Personal reicht für einen Betriebsübergang hingegen nicht aus. Die Übernahme eines Betriebsteils i.S.v. § 613a BGB setzt nicht voraus, dass der beim Veräußerer verbliebene Betrieb fortgesetzt werden kann. Der Übergang des Betriebsteils folgt aus der Wahrung seiner Identität beim Erwerber und nicht aus dem Untergang der Identität des Gesamtbetriebs, wenn ein Betriebsteil desselben übergeht.157
6.56 Klargestellt hat das BAG, dass der Betriebsteilübergang nur diejenigen Arbeitsverhältnisse erfasst, die dem übertragenen Betriebsteil oder -bereich im Zeitpunkt des Betriebs(teil)übergangs angehörten.158 Dafür genügt es nicht, dass der Arbeitnehmer, ohne dem übertragenen Betriebsteil anzugehören, als Beschäftigter einer nicht übertragenen Abteilung auch Tätig-
151 152 153 154 155 156 157
BAG v. 26.8.1999 – 8 AZR 718/98, BB 2000, 466; BAG v. 14.12.2000 – 8 AZR 220/00, n.v. BAG v. 26.8.1999 – 8 AZR 718/98 – Drei Lkws, NZA 2000, 144. BAG v. 26.8.1999 – 8 AZR 718/98 – Drei Lkws, NZA 2000, 144. EuGH v. 13.9.2007 – C-458/05, NZA 2007, 1151. BAG v. 12.12.2013 – 8 AZR 1023/12, NZA 2014, 436. BAG v. 8.8.2002 – 8 AZR 583/01, NZA 2003, 315. BAG v. 7.4.2011 – 8 AZR 730/09, NZA 2011, 1231 – Zweckverband Wasser; BAG v. 27.1.2011 – 8 AZR 326/09 – Kleinpaketfertigung, NZA 2011, 1162; EuGH v. 12.2.2009 – C-466/07 – Klarenberg, NZA 2009, 251. 158 BAG v. 13.2.2003 – 8 AZR 102/02, BB 2003, 1286 (1288); BAG v. 21.1.1999 – 8 AZR 287/98, n.v.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.59 Kap. 6
keiten für den übertragenen Betriebsteil verrichtet hat, wie dies bei Stabsabteilungen typischerweise der Fall ist159 (vgl. dazu Rz. 6.104 ff.). 2. Betriebsinhaberwechsel a) Allgemeines § 613a BGB verlangt einen Wechsel des Inhabers. Maßgeblich ist ein Wechsel der Rechtspersönlichkeit des Betriebsinhabers.160 Der bisherige Inhaber muss seine wirtschaftliche Betätigung in dem Betrieb oder Betriebsteil einstellen, während die Geschäftstätigkeit durch diejenige Person weiter geführt wird, die nunmehr für den Betrieb als Inhaber „verantwortlich“ ist.161 Inhaber eines Betriebs oder Betriebsteils ist, wer im eigenen Namen einen bestimmten arbeitstechnischen Zweck verfolgt.162 Betriebsinhaber ist derjenige, der im eigenen Namen und nach außen hin erkennbar den Betrieb führt.163 Es ist gleichgültig, ob auf Seiten des bisherigen und/oder neuen Inhabers natürliche Personen, Gesamthände (GbR, KG, OHG) oder juristische Personen des privaten (AG, GmbH, Genossenschaft, SE) oder öffentlichen Rechts164 stehen. Entscheidend ist, dass der neue Inhaber den Betrieb tatsächlich führt.165 Der Inhaberwechsel ist vom Betriebsübergang zu unterscheiden. Er ist nur der rechtliche Vorgang, der zum Betriebsübergang führt. In der Praxis wird oft auch vom Arbeitgeberwechsel gesprochen. Ein Inhaberwechsel i.S.v. § 613a BGB liegt auch bei Veräußerungen im Rahmen eines Konzerns vor,166 und zwar auch dann, wenn der Betriebserwerber nach dem Übergang vom Betriebsveräußerer beherrscht wird.167 Ein Inhaberwechsel erfolgt auch bei der sog. „typischen Betriebsaufspaltung“.168 Richtigerweise handelt es sich dabei um eine Unternehmensaufspaltung, bei der ein bisher einheitliches Unternehmen in eine Betriebsgesellschaft (meist GmbH) und eine Besitzgesellschaft (meist Personengesellschaft) aufgespalten wird (vgl. Rz. 6.83).169
6.57
Ein Betriebsübergang liegt auch bei der Betriebsnachfolge vor. Sie ist gegeben, wenn eine natürliche oder juristische Person ihren Betrieb als Sacheinlage in eine Gesellschaft einbringt.170
6.58
Ein Betriebsinhaberwechsel setzt keinen Eigentumswechsel an den Betriebsmitteln voraus. 6.59 Das Eigentum an den Betriebsmitteln ist für die Beurteilung eines Betriebsübergangs irrelevant.171 Deshalb genügt die Einräumung einer schuldrechtlichen oder dinglichen Nutzungsberechtigung (Pacht, Nießbrauch).172 Der Pächter ist dann Betriebsinhaber, wenn er den 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169
BAG v. 13.11.1997 – 8 AZR 375/96 – Teileinheit, MDR 1998, 419 = NZA 1998, 249. BAG v. 3.5.1983 – 3 AZR 1263/79, GmbHR 1984, 38 = NJW 1983, 2283. BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 159/98, BAGE 91, 121 = MDR 1999, 1071 = ZIP 1999, 1318. BAG v. 6.2.1985 – 5 AZR 411/83, BAGE 48, 59. BAG v. 15.12.2005 – 8 AZR 202/05, NZA 2006, 597. BAG v. 26.6.1997 – 8 AZR 426/95 – Verwaltung, ZIP 1997, 1975. BAG v. 12.11.1998 – 8 AZR 282/97, NZA 1999, 310 = EWiR 1999, 993 m. Anm. Joost. Vgl. EuGH v. 2.12.1999 – C-234/98 – Allen, AG 2000, 358 = NZA 2000, 587. EuGH v. 6.3.2014 – C-458/12 – Lorenzo Amatori, NZA 2014, 423 (426). Dazu Schaub, § 118 Rz. 47 ff.; von Steinau-Steinrück, S. 12 ff. BAG v. 17.2.1981 – 1 ABR 101/78, DB 1981, 1190; BAG v. 16.6.1987 – 1 ABR 41/85, DB 1987, 1842; BAG v. 19.1.1988 – 3 AZR 263/86, GmbHR 1988, 339 = DB 1988, 1166. 170 Schaub, § 118 Rz. 46. 171 BAG v. 15.12.2005 – 8 AZR 202/05, NZA 2006, 597. 172 Vgl. Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 61; BAG v. 29.3.2007 – 8 AZR 474/06, AP BGB § 613a Nr. 330; BAG v. 15.2.2007 – 8 AZR 431/06; NZA 2007, 793.
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Kap. 6 Rz. 6.60
Arbeitsrecht
Betrieb im eigenen Namen führt. Das gilt auch, wenn der bisherige Inhaber als Verpächter den Betrieb im Namen und auf Rechnung des Pächters leitet.173 Beauftragt ein Unternehmen einen Dritten damit, die Geschäfte des Unternehmens nach außen im eigenen Namen des Dritten zu führen (sog. unechter Betriebsführungsvertrag) und überträgt das Unternehmen dabei auch die Leitungsmacht in personellen Angelegenheiten an diesen Dritten, so liegt hierin ein Betriebsinhaberwechsel. Durch diese Art der Geschäftsbesorgung wird der Betriebsführer zum Arbeitgeber.174 Vereinbart der Betriebsinhaber mit einem Dritten, dass dieser die Betriebsführung übernimmt und dabei ausschließlich für Rechnung und im Namen des Betriebsinhabers tätig wird, liegt darin kein Betriebsübergang. Es fehlt hierfür an der Voraussetzung des Wechsels der für den Betrieb als wirtschaftliche Einheit verantwortlichen Person.175 Übernimmt die Konzern-Muttergesellschaft die Kundenbeziehungen der Tochtergesellschaft und beauftragt die Muttergesellschaft die Tochtergesellschaft gleichzeitig mit der Durchführung der bisher für die Kunden erbrachten Tätigkeiten, liegt kein Betriebsinhaberwechsel und damit auch kein Betriebsübergang vor.176 Ein Betriebsübergang liegt auch nicht bei einer Sicherungsübereignung von Betriebsmitteln vor, soweit die Nutzungsberechtigung beim bisherigen Inhaber bleibt. Nutzt der Sicherungsnehmer die Betriebsmittel hingegen im eigenen Namen, kommt ein Inhaberwechsel durch Sicherungsübereignung in Betracht.177 b) Gesellschaftsrechtliche Vorgänge
6.60 Beim Gesellschafterwechsel in Personengesellschaften (GbR, OHG oder KG) wächst der entsprechende Teil des Gesamthandvermögens automatisch den Gesellschaftern zu, die die Gesellschaft fortführen. Treten deshalb in solchen Fällen Gesellschafter ein oder aus, wird zwar oft von partiellem Arbeitgeberwechsel gesprochen, ein Betriebsinhaberwechsel i.S.v. § 613a BGB findet aber nicht statt, da die Identität der Gesellschaft als solche bestehen bleibt. Das gilt auch bei einem vollständigen Gesellschafterwechsel.178 Ebenso ist die Anwendbarkeit von § 613a BGB bei der personengesellschaftsrechtlichen An- und Abwachsung ausgeschlossen (strittig, vgl. dazu Rz. 6.11). Auch in diesem Fall gelten die Grundsätze der Gesamtrechtsnachfolge.179 Eine Personengesellschaft erlischt, wenn sich alle Gesellschaftsanteile in einer Person vereinigen. Das bisherige Gesamteigentum verwandelt sich in diesem Fall ohne jeden Übertragungsakt (kraft Gesetzes) in Alleineigentum des Übernehmers. Grundfall der Anwachsung ist das Ausscheiden eines von zwei Gesellschaftern. Es ist aber auch zulässig, die Gesellschaftsanteile einer Personengesellschaft auf einen einzigen Erwerber zu übertragen, mit der Wirkung, dass der Erwerber als Gesamtrechtsnachfolger Inhaber der bisher zum Gesell-
173 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 46. 174 Rieble, NZA 2010, 1145 (1147); zum Betriebsübergang bei Neubereederung eines Schiffes BAG v. 2.3.2006 – 8 AZR 147/05, NZA 2006, 1105. 175 BAG v. 25.1.2018 – 8 AZR 338/16 u.a. (Pressemitteilung des BAG). 176 BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR 803/06, NZA 2007, 1428. 177 BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 312/02, ZIP 2003, 1557; BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR 803/06, NZA 2007, 1428. 178 BAG v. 12.7.1990 – 2 AZR 39/90, NZA 1991, 63; Seiter, S. 39; Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 27. 179 Vgl. BGH v. 8.11.1965 – II ZR 223/64, BGHZ 44, 229; a.A. offenbar Holzapfel/Pöllath, Rz. 586, die einen Betriebsübergang auf einen neuen Inhaber annehmen wollen, wenn es sich um den Erwerb aller Gesellschaftsanteile einer Personengesellschaft durch eine Person handelt, obwohl eine Gesamtrechtsnachfolge vorliegt.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.62 Kap. 6
schaftsvermögen gehörenden Rechte wird.180 Auch wenn eine GmbH als Komplementärin anstelle eines persönlich haftenden Gesellschafters in eine KG eintritt, bleibt die Identität der Gesellschaft unberührt, so dass von einem Betriebsinhaberwechsel nicht die Rede sein kann.181 Eine analoge Anwendung des § 613a Abs. 4 BGB auf den Fall des Gesellschafterwechsels stünde mit dem Normzweck der Vorschrift nicht in Einklang und scheidet deshalb aus.182 Schließlich gilt für den Fall nichts anderes, dass ein weiterer Gesellschafter einer Personengesellschaft beitritt.183 Lösen dagegen alle Gesellschafter die alte Gesellschaft auf, und übertragen sie dann den Betrieb auf eine neu gebildete Gesellschaft, gilt § 613a BGB, weil die beiden Gesellschaften nicht identisch sind, gleichgültig, ob in beiden Gesellschaften identische Gesellschafter vertreten sind.184 Beim Wechsel der Gesellschafter einer BGB-Gesellschaft greift § 613a BGB nicht ein. Die Identität der BGB-Gesellschaft bleibt nach dem Ausscheiden oder Auswechseln der Gesellschafter bestehen. Bereits nach früherer Ansicht des BGH185 hatte ein Wechsel im Mitgliederbestand keinen Einfluss auf den Fortbestand der mit der Gesellschaft bestehenden (Dauer-)Rechtsverhältnisse. Diese Auffassung verdeutlicht sich durch das Urteil des BGH, in dem er die Außen-GbR als rechtsfähig ansieht186 und dem sich das BAG angeschlossen hat.187 Daraus ergibt sich die grundsätzliche Arbeitgeberfähigkeit der Außen-GbR selbst. Die GbRGesellschafter in ihrer gesamthänderischen Verbundenheit sind an sich keine Arbeitgeber.188
6.61
Die Veräußerung von Gesellschaftsanteilen juristischer Personen (vor allem von Aktien und GmbH-Anteilen) beeinflusst nicht die Identität der Gesellschaft.189 Um die bei der Veräußerung von Betrieben oder Betriebsteilen nach der Rechtsprechung des BAG möglichen Widersprüche der Arbeitnehmer (vgl. Rz. 6.128 ff.) zu vermeiden, bietet sich deshalb folgendes Vorgehen an: Zunächst wird durch Ausgliederung eine Betriebsgesellschaft (meist in Form der GmbH) gegründet. Dann werden die Anteile der neuen Gesellschaft auf den oder die Erwerber übertragen. Bei diesem Beispiel greift § 613a BGB nur bei der Einbringung des Betriebs oder Betriebsteils in die Betriebsgesellschaft ein. In diesem Stadium besteht aber für die Arbeitnehmer meist kein Anlass, dem Übergang ihrer Arbeitsverhältnisse zu widersprechen. Allerdings ist es erforderlich, die vom Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmer im Rahmen der Unterrichtungspflicht des § 613a Abs. 5 BGB darüber zu informieren, dass später eine Veräußerung der Anteile an der Betriebsgesellschaft erfolgen soll. Hierbei handelt es sich um eine wirtschaftliche Folge des Übergangs, die im Lichte der durch die Rechtsprechung des BAG stets verschärften Anforderungen an die Unterrichtung190 den Arbeitnehmern mitgeteilt werden muss. Dies gilt natürlich nur, sofern zum Zeitpunkt des Betriebs-
6.62
180 BGH v. 10.5.1978 – VIII ZR 32/77, BGHZ 71, 296. 181 BGH v. 8.11.1965 – II ZR 223/64, BGHZ 44, 229; BAG v. 3.5.1983 – 3 AZR 1263/79, GmbHR 1984, 38 = BB 1983, 1539; a.A. von Stebut, ZGR 1981, 183 (206). 182 BAG v. 12.7.1990 – 2 AZR 39/90, NZA 1991, 63; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 43. 183 BAG v. 15.1.1991 – 1 AZR 94/90, AG 1991, 434 = GmbHR 1991, 413 = NZA 1991, 681. 184 BGH v. 8.11.1965 – II ZR 223/64, BGHZ 44, 229; Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 28. 185 BGH v. 15.12.1980 – II ZR 52/80, BGHZ 79, 374 = MDR 1981, 561 (378) = NJW 1981, 1213. 186 Vgl. BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, NJW 2001, 1056. 187 BAG v. 1.12.2004 – 5 AZR 597/03, MDR 2005, 584 = NZA 2005, 318; BAG v. 30.10.2008 – 8 AZR 397/07, NZA 2009, 485 (Rechtsanwaltskanzlei in Rechtsform der GbR). 188 Vgl. Diller, NZA 2003, 401. 189 Seiter, S. 40; Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 27 f. 190 Z.B. BAG v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, NZA 2008, 642; BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, MDR 2007, 222 = NZA 2006, 1268; dazu Maschmann, Special zu BB 2006 Heft 34, 29; BAG v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, NZA 2007, 682; Lunk, RdA 2009, 48.
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Kap. 6 Rz. 6.63
Arbeitsrecht
übergangs tatsächlich eine Planung zur Veräußerung der Betriebsgesellschaft vorliegt. Bei der später erfolgenden Übertragung der Anteile an der Betriebsgesellschaft liegen die Voraussetzungen des § 613a BGB dagegen nicht vor; damit entfällt das Widerspruchsrecht. Unterlässt es der Arbeitgeber, die Arbeitnehmer im Informationsschreiben gem. § 613a Abs. 5 BGB über die geplante Veräußerung der Betriebsgesellschaft zu informieren, besteht ein hohes Risiko, dass die Frist für die Ausübung das Widerspruchsrechts nicht zu laufen beginnt und die Arbeitnehmer bei Veräußerung der Betriebsgesellschaft durch Ausübung des Widerspruchsrechts noch in das Arbeitsverhältnis zu ihrem alten Arbeitgeber – der Besitzgesellschaft – zurückkehren können. Zur Haftung in Fällen der Betriebsaufspaltung vgl. Rz. 6.270. c) Verhältnis von Betriebsstilllegung und Betriebsübergang
6.63 Ein Betriebsinhaberwechsel kann nicht vorliegen, wenn der Betrieb vor dem Erwerb stillgelegt worden ist. Betriebsveräußerung und Betriebsstilllegung schließen sich systematisch aus.191 Ob eine Stilllegung oder ein Betriebsübergang vorliegt, kann im Einzelfall fraglich sein: Nach Auffassung des BAG192 setzt eine Betriebsstilllegung den ernstlichen und endgültigen Entschluss voraus, die Betriebs- und Produktionsgemeinschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer für einen seiner Dauer nach unbestimmten, wirtschaftlich nicht unerheblichen Zeitraum aufzugeben.193 Die Produktionsgemeinschaft besteht auch bei einem Betriebsübergang zwischen Veräußerer und Erwerber fort. Daher ist die Fortführung der betriebsorganisatorischen Einheit in ihrer bisherigen Form das ausschlaggebende Merkmal gegen Stilllegung und für Betriebsübergang. Eine Stilllegungsabsicht des Arbeitgebers liegt nicht vor, wenn er beabsichtigt, seinen Betrieb zu veräußern. In diesem Fall bleibt nämlich die Identität des Betriebes gewahrt. Es wechselt lediglich sein Inhaber.194 Steht die Betriebseinheit lediglich für einen unerheblichen Zeitraum still, liegt nur eine unerhebliche Betriebspause oder Betriebsunterbrechung vor.195 Deshalb soll bei alsbaldiger Wiedereröffnung des Betriebs eine tatsächliche Vermutung gegen eine ernsthafte Stilllegungsabsicht sprechen.196 Insbesondere soll eine solche tatsächliche Vermutung gegen eine ernsthafte und endgültige Stilllegungsabsicht des Unternehmers zum Zeitpunkt der Kündigung sprechen, wenn es noch innerhalb der Kündigungsfrist zu einem Betriebsübergang nach § 613a Abs. 1 BGB kommt.197 Dieses Kriterium ist aber schon deshalb untauglich, weil bei einer Betriebsstilllegung regelmäßig eine Vielzahl von Arbeitnehmern mit unterschiedlichen Kündigungsfristen betroffen ist und 191 BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93; BAG v. 25.6.2009 – 8 AZR 258/08, NZA 2009, 1412; BAG v. 26.4.2007 – 8 AZR 695/05, AP InsO § 125 Nr. 4; BAG v. 13.6.2006 – 8 AZR 271/05, NZA 2006, 1101; BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 222/04, NZA 2006, 723, im Anschluss an EuGH v. 15.12.2005 – C-232/04 und C-233/04 – Güney-Görres, ZIP 2006, 95. 192 BAG v. 8.4.2003 – 2 AZR 15/02, ZIP 2003, 1260; BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93. 193 BAG v. 21.5.2015 – 8 AZR 409/13, NZG 2016, 35; BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 270/01, NZA 2003, 145; BAG v. 18.9.2003 – 2 AZR 79/02, ZIP 2004, 677. 194 BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93. 195 Etzel in KR, § 15 KSchG Rz. 88; BAG v. 22.10.2009 – 8 AZR 766/08: Schließung einer Metzgerei für sieben Wochen genügt nicht für Ausschluss eines Betriebsübergangs. 196 BAG v. 12.2.1987 – 2 AZR 247/86, NZA 1988, 170; vgl. auch BAG v. 15.5.1985 – 5 AZR 276/84, NZA 1985, 736, wonach der Beweis des ersten Anscheins für einen rechtsgeschäftlichen Betriebsübergang sprechen soll, wenn der in Anspruch genommene Erwerber nach Einstellen des Geschäftsbetriebes durch den bisherigen Inhaber die wesentlichen Betriebsmittel verwendet, um einen gleichartigen Geschäftsbetrieb zu führen. 197 BAG v. 27.9.1984 – 2 AZR 309/83, MDR 1985, 699 = NZA 1985, 493; BAG v. 20.1.1994 – 2 AZR 489/93, NZA 1994, 653.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.64 Kap. 6
in der Regel der Betrieb sukzessive stillgelegt wird. Andererseits soll es laut BAG für die Erheblichkeit einer Unterbrechensphase sprechen, wenn sie länger anhält als die längste im konkreten Fall durch den Veräußerer einzuhaltende gesetzliche Kündigungsfrist.198 Die Praxis wird sich in Folge dieser Rechtsprechung darauf einstellen müssen, dass die Dauer der Unterbrechung wesentliches Abgrenzungsmerkmal zwischen Betriebsstilllegung und -übergang nach der Rechtsprechung von EuGH und BAG darstellt (vgl. dazu Rz. 6.43). Die bloße Produktionseinstellung bedeutet dagegen noch keine Stilllegung. Es muss die Auflösung der dem Betriebszweck dienenden Organisation hinzukommen.199 Nach ständiger Rechtsprechung des 2. Senats des BAG200 ist die geplante Stilllegung des Betriebs ein dringendes betriebliches Erfordernis nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG, sofern die Planung endgültig und abschließend ist. Eine hierauf gestützte Kündigung gehört zu den (zulässigen) Kündigungen „aus anderen Gründen“ i.S.v. § 613a Abs. 4 Satz 2 BGB. Problematisch sind die Fälle, in denen sich der Unternehmer gezwungen sieht, entweder den Betrieb zu schließen oder ihn zu veräußern. Es soll nämlich am ernstlichen und endgültigen Stilllegungsentschluss so lange fehlen, wie der Unternehmer noch ernsthafte Verhandlungen über eine Veräußerung des Betriebes führt.201 Kündigt der Unternehmer in diesem Stadium seinen Arbeitnehmern vorsorglich für den Fall, dass die Verkaufsverhandlungen scheitern, so sollen die Kündigungen wegen Verstoßes gegen § 1 KSchG unwirksam sein.202 Aufgrund dieser Rechtsprechung wird es möglicherweise mancher Unternehmer vorziehen, den Betrieb gleich zu zerschlagen und sämtliche Veräußerungsbemühungen einzustellen.203 Die Ernsthaftigkeit und Endgültigkeit des Entschlusses erfordert nicht, dass er dem eigenen Wunsch des Unternehmers entspricht. Sieht sich der Unternehmer durch außerbetriebliche Umstände zu dem Stilllegungsentschluss gezwungen, so ist es unschädlich, wenn er sich vorbehält, seinen Entschluss nicht zu verwirklichen, sollten sich die Verhältnisse wider Erwarten anders entwickeln, als bei vernünftiger Betrachtung vorhersehbar.204 Erfreulicherweise hat das BAG seine Rechtsprechung wieder etwas eingeschränkt: Eine wegen einer geplanten Betriebsstilllegung erklärte Kündigung ist dann sozial gerechtfertigt, wenn die auf eine Betriebsstilllegung gerichtete unternehmerische Entscheidung zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits greifbare Formen angenommen hat.205 Danach brauchen die betrieblichen Gründe grundsätzlich noch nicht tatsächlich eingetreten zu sein, sondern es genügt, wenn sie sich konkret und greifbar abzeichnen.206 Das ist dann der Fall, wenn zum Kündigungszeitpunkt auf Grund einer vernünftigen, betriebswirtschaftlichen Prognose mit einiger Sicherheit der Eintritt eines die Entlassung erforderlich machenden betrieblichen Grundes vorliegt.207
198 BAG v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96, BAGE 86, 20 = NZA 1997, 1050. 199 BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93. 200 Vgl. nur BAG v. 27.9.1984 – 2 AZR 309/83, MDR 1985, 699 = NZA 1985, 493 = BAG, EWiR § 613a BGB 1/85, 379 (Bauer); BAG v. 10.10.1996 – 2 AZR 477/95, NZA 1997, 251. 201 BAG v. 27.4.1995 – 8 AZR 197/94, MDR 1995, 1146 = NZA 1995, 1155. 202 BAG v. 27.4.1995 – 8 AZR 197/94, MDR 1995, 1146 = NZA 1995, 1155; BAG v. 19.5.1988 – 2 AZR 596/87, DB 1989, 934; BAG v. 18.5.1995 – 2 AZR 920/93, MDR 1994, 1127 = EzA § 613a BGB Nr. 139. 203 Ebenso Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 82. 204 BAG v. 27.2.1987 – 7 AZR 652/85, DB 1987, 1896. 205 BAG v. 27.11.2003 – 2 AZR 48/03, MDR 2004, 756 = NZA 2004, 477. 206 BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93. 207 BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 273/08, NZA 2009, 1267; BAG v. 18.9.2003 – 2 AZR 79/02, ZIP 2004, 677; BAG v. 8.4.2003 – 2 AZR 15/02, ZIP 2003, 1260; BAG v. 18.1.2001 – 2 AZR 514/99, BAGE
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6.64
Kap. 6 Rz. 6.65
Arbeitsrecht
6.65 Liegt zum Zeitpunkt des Ausspruchs einer Kündigung ein greifbarer Stilllegungsentschluss vor, kann die Unwirksamkeit der Kündigung nicht aus einer Umgehung von § 613a Abs. 1 und 4 BGB hergeleitet werden, wenn es später doch noch zu einer Betriebsveräußerung kommt. Nach richtiger Auffassung ist daher zu unterscheiden: Verhandelt der Arbeitgeber schon über die Veräußerung und kündigt er nur vorsorglich für den Fall des Scheiterns, sind die Kündigungen unwirksam. Zeichnet sich dagegen zum Kündigungszeitpunkt die Stilllegung konkret und greifbar ab, sind die Kündigungen wirksam. Unerheblich bleibt, ob sich der Arbeitgeber ggf. daneben noch bemüht, den Betrieb noch zu veräußern. Maßgeblich sind die Verhältnisse bei Ausspruch der Kündigung.208 Denn kündigungsrechtlich ist nur entscheidend, dass zur Zeit des Ausspruchs der Kündigung die Prognose gerechtfertigt war, dass die Entscheidung zur Stilllegung tatsächlich und planmäßig durchgeführt wird und deshalb für den gekündigten Arbeitnehmer mit Ablauf der Kündigungsfrist keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit mehr besteht.209 Eine unerwartete spätere Betriebsfortführung, die einer vom Arbeitgeber geplanten, schon eingeleiteten oder bereits durchgeführten Betriebsstilllegung nach der Kündigung folgt, wirkt sich daher ebenso wenig auf den Kündigungsgrund aus wie ein späteres Scheitern eines im Zeitpunkt der Kündigung geplanten Betriebsübergangs.210 Die unternehmerische Entscheidung zur Stilllegung ist von den Gerichten nicht auf ihre Zweckmäßigkeit zu überprüfen.211 Wenn die Umsetzung planmäßig verläuft, lässt sich allerdings an der nachfolgend eingetretenen betrieblichen Lage verifizieren, ob das Konzept von einer betriebswirtschaftlich vernünftigen Prognose getragen und realisierbar gewesen ist.212 Führt ein Arbeitgeber eine Betriebsstilllegung durch, indem er allen Arbeitnehmern seines Betriebs kündigt, wird jedoch einem Teil davon im Zusammenwirken mit einem Schwesterunternehmen die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses angeboten, ohne dass in diesem Fall die ausgesprochene Kündigung irgendwelche weiteren Folgen für den rechtlichen und sozialen Bestand des Arbeitsverhältnisses haben soll, muss eine Sozialauswahl erfolgen.213
6.66 Für den Fall, dass es während des Laufs der jeweiligen Kündigungsfristen doch noch unvorhergesehen zu einem Betriebs(teil)übergang kommt, räumt das BAG den betroffenen Arbeitnehmern einen Wiedereinstellungsanspruch ein.214 Der Anspruch besteht sowohl gegen den Veräußerer als auch gegen den Erwerber.215 Zunächst offen ließ die Rechtsprechung einen solchen Wiedereinstellungsanspruch bei einem Betriebs(teil)übergang nach Ablauf der
208 209 210 211 212 213 214
215
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97, 10 = MDR 2001, 878 = NZA 2001, 719; zur Unterscheidung zwischen Stilllegungs- und Fortführungskonzept: LAG Köln v. 11.12.2009 – 11 Sa 1061/09, BeckRS 2010, 70012. BAG v. 3.9.1998 – 8 AZR 306/97, NZA 1999, 147; BAG v. 28.4.1988 – 2 AZR 623/87, NZA 1989, 265; BAG v. 19.6.1991 – 2 AZR 127/91, NZA 1991, 891. BAG v. 8.4.2003 – 2 AZR 15/02, ZIP 2003, 1260. BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93; BAG v. 22.10.2009 – 8 AZR 766/08, NZA-RR 2010, 660. BAG v. 18.9.2003 – 2 AZR 79/02, ZIP 2004, 677. LAG Düsseldorf v. 7.5.2003 – 12 Sa 1437/02, LAGE § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 66. BAG v. 21.5.2015 – 8 AZR 409/13, NZG 2016, 35. BAG v. 25.9.2008 – 8 AZR 607/07, NZA-RR 2009, 469; allgemein zum Wiedereinstellungsanspruch BAG v. 28.6.2000 – 7 AZR 904/98, MDR 2000, 1440 m. Anm. Adam = NZA 2000, 1097; vgl. Boewer, NZA 1999, 1121 ff. (1177 ff.); Kleinebrink, FA 1999, 138 ff. – der Wiedereinstellungsanspruch besteht jedoch nicht für Arbeitnehmer ohne gesetzlichen Kündigungsschutz, z.B. beim Betriebsübergang im Kleinbetrieb, BAG v. 19.10.2017 – 8 AZR 845/15, FD-ArbR 2017, 395831. BAG v. 13.11.1997 – 8 AZR 295/95, MDR 1998, 420 = NZA 1998, 251.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.66 Kap. 6
Kündigungsfrist.216 In einer späteren Entscheidung hat das BAG jedoch zutreffend auf berechtigte Interessen des Arbeitgebers verwiesen, die einem solchen Anspruch entgegenstehen können.217 Der Gedanke des Vertrauensschutzes, auf den der Wiedereinstellungsanspruch u.a. gegründet wird, kann einen Anspruch auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses im Falle eines Betriebs(teil)-übergangs, der nach Ablauf der Kündigungsfrist vollzogen wird, nicht rechtfertigen. Aus Gründen der Rechtssicherheit muss auf die individuelle Kündigungsfrist abgestellt werden. Das wird in folgendem Beispiel deutlich: Allen 100 Arbeitnehmern des Betriebs B wird am 30.9.2014 gekündigt. Kommt es am 1.1.2015 zu einem Betriebs(teil)übergang, haben diejenigen Arbeitnehmer einen Anspruch auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, deren Kündigungsfristen noch nicht abgelaufen sind. Es kann nicht etwa für alle Arbeitnehmer auf die längste individuelle Kündigungsfrist ankommen. Demgegenüber nimmt das BAG allerdings an, dass der Wiedereinstellungsanspruch ausnahmsweise in Betracht kommen soll, wenn nach Ablauf der Kündigungsfrist eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit durch einen Betriebs(teil)übergang entsteht218 oder wenn der eigentliche Betriebsübergang zwar nach dem Ablauf der Kündigungsfrist liegt, die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit (durch Vereinbarung der Betriebsfortführung mit einem Erwerber) aber bereits während des Laufs der Kündigungsfrist entsteht.219 Das BAG legt hier also einen großzügigen Maßstab zugunsten der Arbeitnehmer an. Das Fortsetzungsverlangen ist vom Arbeitnehmer binnen einer Frist von einem Monat nach Kenntniserlangung von den tatsächlichen Umständen, die den Betriebsübergang ausmachen, geltend zu machen,220 ansonsten tritt Verwirkung ein.221 Es bleibt dann bei der Wirksamkeit der einmal erklärten Kündigung.222 Der Wiedereinstellungsanspruch besteht allerdings auch nach Auffassung des BAG nur im Rahmen der Zumutbarkeit.223 Hat der Betriebserwerber nach dem Betriebsübergang bereits andere Dispositionen getroffen, z.B. Besetzung des frei gewordenen Arbeitsplatzes oder Änderung des Anforderungsprofils, kann dies zu einem berechtigten Interesse des Erwerbers führen, das dem Wiedereinstellungsanspruch entgegensteht.224 Kommt es nach einem Stilllegungsbeschluss während des Laufs der Kündigungsfristen doch noch zu einem Betriebsübergang, wird eine Unzumutbarkeit der Wiedereinstellung bereits gekündigter Arbeitnehmer häufig gegeben sein. In solchen Fällen macht der Erwerber die Betriebsübernahme erfahrungsgemäß von Rationalisierungsmaßnahmen des Veräußerers abhängig.225 Ein Wiedereinstellungsanspruch kann in einem solchen Fall nicht bestehen, wenn er zum Scheitern der Verkaufsbemühungen führen würde. Ein Wiedereinstellungsanspruch kann aber auch ausdrücklich vom Betriebsveräußerer zugesagt werden, um vom Betriebsübergang betroffene Arbeitnehmer zu motivieren, von ihrem Widerspruchsrecht keinen Gebrauch zu machen.226
216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226
BAG v. 4.12.1997 – 2 AZR 140/97, MDR 1998, 723 = NZA 1998, 701. BAG v. 28.6.2000 – 7 AZR 904/98, MDR 2000, 1440 m. Anm. Adam = NZA 2000, 1097. BAG v. 25.9.2008 – 8 AZR 607/07, NZA-RR 2009, 469 (Rz. 33). BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 989/06, NZA 2008, 357. BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 989/06, NZA 2008, 357. BAG v. 21.8.2008 – 8 AZR 201/07, NZA 2009, 29. BAG v. 22.10.2009 – 8 AZR 766/08, NZA-RR 2010, 660. BAG v. 27.2.1997 – 2 AZR 160/96, MDR 1997, 749 = NZA 1997, 757. BAG v. 4.5.2006 – 8 AZR 299/05, NZA 2006, 1096 (Rz. 38). Vgl. BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, MDR 1997, 174 = AP 147 zu § 613a BGB. Zu einem Rückkehrrecht aufgrund einer Betriebsvereinbarung: BAG v. 24.4.2013 – 7 AZR 523/11, DB 2013, 2094.
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Kap. 6 Rz. 6.67
Arbeitsrecht
6.67 Die Arbeitnehmer, die hinsichtlich einer beabsichtigten Betriebsstilllegung auf Grund eines Aufhebungsvertrages oder eines Abfindungsvergleichs bereits aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sind, haben bei einer Betriebs(teil)veräußerung keinen Fortsetzungsanspruch. Eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gem. § 313 Abs. 1 BGB kommt nicht in Betracht, wenn es doch noch zu einer Betriebsübernahme kommt.227 Bei Aufhebungsvertrag wie Abfindungsvergleich wollen beide Parteien das Arbeitsverhältnis beenden. Soweit die Abfindung in Anlehnung an § 10 KSchG, § 113 Abs. 1 und 2 BetrVG einen angemessenen Ausgleich schafft, kann der Arbeitnehmer keine Vertragsanpassung verlangen. Es bleibt bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses.228 Um ganz sicher zu gehen, können die Parteien einen etwaigen Wiedereinstellungsanspruch ausdrücklich im Aufhebungsvertrag ausschließen.229
6.68 Im Falle der Betriebsverlegung hängt die Abgrenzung zwischen Betriebsübergang und -stilllegung davon ab, ob die örtliche Verlagerung des Betriebs zu einem Identitätsverlust führt. In seiner Entscheidung vom 12.2.1987230 nahm der 2. Senat an, eine Betriebsstilllegung und kein Betriebsübergang liege vor, wenn der Betrieb räumlich nicht unerheblich weit verlegt werde und sich ein beträchtlicher Teil der Arbeitnehmer weigere, am neuen Ort weiterzuarbeiten. In einem nachfolgenden Urteil231 meinte der 2. Senat allerdings, der Erwerber trete nach § 613a Abs. 1 BGB in die Rechte und Pflichten derjenigen Arbeitnehmer ein, die zur Weiterarbeit am neuen Leistungsort bereit seien. Dieses Urteil ist allerdings unklar, das Ergebnis so nicht nachvollziehbar. In diesem Fall konnte nur dann denjenigen Arbeitnehmern betriebsbedingt gekündigt werden, die bereits vor der Betriebsveräußerung erklärt hatten, das Arbeitsverhältnis am neuen Leistungsort nicht fortsetzen zu wollen. Ist der Großteil der Belegschaft dazu aber nicht bereit, liegt richtigerweise eine Betriebsstilllegung vor, die einen Betriebsübergang ausschließt.232 In den Fällen der Verlagerung der Produktion ins Ausland liegt deshalb eine Betriebsstilllegung vor, wenn zu erwarten ist, dass die Belegschaft nicht bereit ist, am neuen Ort weiterzuarbeiten (s.o. Rz. 6.24).233 Die Ähnlichkeit einer betrieblichen Tätigkeit und damit die Identität der wirtschaftlichen Einheit geht nicht bereits dadurch verloren, dass ein Erwerber einen Betrieb verlegt. Die wirtschaftliche Einheit kann trotz Ortsverlegung gewahrt bleiben, wenn der Erwerber eines Produktionsbetriebs Betriebsmittel verlagert und an einem anderen Ort mit gleicher Arbeitsorganisation und gleichen Betriebsmethoden die Produktion weiterführt.234 Bei Einzelhandelsgeschäften kann ein Identitätsverlust eintreten, wenn die bisherigen Kundenbeziehungen durch die Ortsverlagerung verloren gehen.235 Bei Ungewissheit über das Vorliegen eines Betriebsübergangs kann ein vorsorglicher Sozialplan geschlossen werden.236 Allerdings ist zu beachten, dass der EuGH
227 So wohl BAG v. 27.2.1997 – 2 AZR 160/96, MDR 1997, 749 = NZA 1997, 757 (759); B. Gaul, Betriebsspaltung, § 20 Rz. 246, 266. 228 Bauer, Aufhebungsverträge, I Rz. 219 ff.; Linck, FA 2000, 334 (338); in diese Richtung wohl auch BAG v. 28.6.2000 – 7 AZR 904/98, MDR 2000, 1440 m. Anm. Adam = NZA 2000, 1097 (1099). 229 Vgl. BAG v. 28.6.2000 – 7 AZR 904/98, MDR 2000, 1440 m. Anm. Adam = NZA 2000, 1097 (1099). 230 BAG v. 12.2.1987 – 2 AZR 247/86, DB 1988, 126. 231 BAG v. 20.4.1989 – 2 AZR 431/88, DB 1989, 2334. 232 Ebenso Schweibert in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, C Rz. 33. 233 Schweibert in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, C Rz. 31. 234 BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93. 235 Vgl. dazu BAG v. 2.12.1999 – 8 AZR 796/98, EzA § 613a BGB Nr. 188. 236 C. Meyer, AP 123 zu § 112 BetrVG 1972; C. Meyer, NZA 2000, 297.
490
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.69 Kap. 6
in der Klarenberg-Entscheidung237 die bisherige Interpretation des Tatbestandsmerkmals der „Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit“ als Voraussetzung für das Vorliegen eines Betriebsübergangs insoweit erweitert hat, als ein Betriebsübergang auch dann vorliegt, wenn der übertragene Unternehmens- oder Betriebsteil seine organisatorische Selbständigkeit nicht bewahrt, sondern die funktionelle Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren beibehalten wird und sie es dem Erwerber erlaubt, diese Faktoren zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen Tätigkeit nachzugehen. Hierdurch wird die Grenze zwischen Betriebsstilllegung und Betriebsfortführung zugunsten der Betriebsfortführung verschoben, da es entgegen der bisher weitgehend vertretenden Ansicht zur Vermeidung eines Betriebsübergangs nicht mehr ausreicht, die bestehenden organisatorischen Strukturen zu zerschlagen. Solange es nach Aufgabe der vorherigen Organisationsstruktur dazu kommt, dass der Erwerber die „funktionelle Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren“ wirtschaftlich nutzt, wird ein Betriebsübergang vorliegen. Die Eingliederung übernommener „Produktionsfaktoren“ (Assets) in die beim Erwerber bereits bestehende Organisation verhindert damit nicht mehr das Vorliegen eines Betriebsübergangs. Das BAG hat nach Klarenberg diese Grundsätze bereits angewandt (dazu auch Rz. 6.31 ff.).238 Seine frühere Rechtsprechung zur Fortführungsmöglichkeit hat das BAG aufgegeben. Danach genügte bereits die bloße Möglichkeit zu einer unveränderten Fortsetzung des Betriebs für die Annahme eines Betriebsübergangs.239 Nach neuerer Rechtsprechung ist wesentliches Kriterium für den Übergang die tatsächliche Weiterführung oder Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit beim Wechsel der natürlichen oder juristischen Person, die für den Betrieb verantwortlich ist.240 Das Bestehen eine bloßen rechtlichen Verpflichtung zur Übernahme eines Betriebs führt noch nicht zum Vorliegen eines Betriebsübergangs.241 Das bedeutet in den Pachtfällen, dass nach Aufgabe der Betriebsinhaberschaft durch den Pächter kein Betriebsübergang auf den Verpächter stattfindet, wenn dieser den „zurückgefallenen Betrieb“ nicht führt.242 Ein Betriebsübergang kann sich allerdings auf den neuen Pächter vollziehen, wenn dieser die Betriebstätigkeit fortsetzt oder wieder aufnimmt.243 Wird der Betrieb zum Zweck der Stilllegung (durch den Pächter) verpachtet, kann die Betriebsstilllegung dem Verpächter zuzurechnen sein.244 In diesem Fall liegt eine vom bisherigen Betriebsinhaber (Verpächter) veranlasste Betriebsstilllegung vor. Dieser muss folglich mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich und Sozialplan nach §§ 111 ff. BetrVG verhandeln. Der Betrieb kann auch vom Pächter stillgelegt werden. Dazu genügt es, dass er den Betrieb schließt und eindeutig kundgibt, die Betriebstätigkeit vollständig einzustellen und die Betriebsmittel, über die er verfügen kann, zu veräußern, den Pachtvertrag zum nächst möglichen Termin aufzulösen und 237 EuGH v. 12.2.2009 – C-466/07, NZA 2009, 251 – Klarenberg/Ferrotron; hierzu Willemsen, NZA 2009, 289; Wissmann/Schneider, BB 2009, 1126; das Urteil erfolgte auf Vorlage des LAG Düsseldorf v. 10.8.2007, NZA-RR 2008, 17. 238 BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 158/07, NZA 2009, 905; anders noch BAG v. 30.10.2008 – 8 AZR 855/07, AP Nr. 359 zu § 613a BGB (Rz. 44) und BAG v. 24.4.2008 – 8 AZR 268/07, NZA 2008, 1314 (Rz. 39); BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 249/04, MDR 2007, 39 = NZA 2006, 1039 (Rz. 23) – kein Betriebsübergang bei Eingliederung in eigene Organisationsstruktur des Erwerbers. 239 Vgl. BAG v. 27.4.1995 – 8 AZR 197/94, BAGE 80, 74 = MDR 1995, 1146. 240 BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 159/98, MDR 1999, 1071 = NZA 1999, 704 im Anschluss an EuGH v. 10.2.1988 – C-324/86 – Daddy’s Dancehall, Slg. 1988, 739, Rz. 9; BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 77/07, NZA 2008, 825. 241 BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 77/07, NZA 2008, 825. 242 BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 159/98, MDR 1999, 1071 = NZA 1999, 704. 243 BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 159/98, MDR 1999, 1071 = NZA 1999, 704. 244 BAG v. 17.3.1987 – 1 ABR 47/85, AP 18 zu § 111 BetrVG 1972.
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6.69
Kap. 6 Rz. 6.70
Arbeitsrecht
allen Arbeitnehmern zu kündigen245 (vgl. auch Rz. 6.315 zur Frage, wann eine Stilllegung des Betriebs oder Betriebsteils als Betriebsänderung nach § 111 BetrVG dem Verpächter/Veräußerer zuzurechnen ist). 3. Rechtsgeschäft a) Allgemeines
6.70 § 613a BGB verlangt, dass ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber übergeht. Diese Formulierung ist nicht genau, weil ein Betrieb oder Betriebsteil als Gesamtheit von Sachen und Rechten überhaupt nicht durch Rechtsgeschäft übertragen werden kann.246 Möglich ist nur die schuldrechtliche Verpflichtung zur Übertragung; die tatsächliche Übertragung der erfassten Gegenstände (z.B. Maschinen und sonstige bewegliche Sachen, Grundstücke, dingliche Rechte, gewerbliche Schutzrechte, Firma) folgt für jeden einzelnen Gegenstand gesondert nach sachenrechtlichen Vorschriften. Bei der Betriebs- oder Betriebsteilverpachtung, die nach allgemeiner Meinung von § 613a BGB ebenfalls erfasst wird, liegen solche Übertragungsakte nicht vor; dem Pächter wird nur die Nutzungsbefugnis und das Recht zur Führung des Betriebs im eigenen Namen eingeräumt. Soweit der Verpächter verpflichtet ist, dem Pächter den Besitz zu verschaffen, geschieht dies nicht durch Rechtsgeschäft, sondern durch bloße tatsächliche Vorgänge. Die Pachtverträge werden deshalb streng genommen nicht durch Rechtsgeschäft erfüllt. Um auch Pachtverträge unter § 613a BGB fassen zu können, wird der Übergang „durch Rechtsgeschäft“ nach der von Seiter stammenden Definition247 zu Recht als „Einräumung der Leitungsmacht im eigenen Namen und auf eigene Rechnung aufgrund eines Rechtsgeschäfts“ verstanden. Das Vorliegen eines bloßen obligatorischen Rechtsgeschäfts (z.B. Kaufvertrag) genügt deshalb nicht. Das „Rechtsgeschäft“ i.S.v. § 613a BGB bezieht sich auf den Übergang der Leitungsmacht; deshalb muss sich die Einigung der Parteien darauf beziehen.248
6.71 Ein Betriebsübergang liegt schon dann vor, wenn die Rechte zur Nutzung der zum Betriebsvermögen gehörenden Gegenstände rechtsgeschäftlich übertragen werden, wobei es gleichgültig ist, welches bestimmte Rechtsverhältnis im Einzelnen zugrunde liegt.249 Es kommt nicht einmal darauf an, ob die Betriebsüberlassung entgeltlich erfolgt.250 Die häufigsten zugrunde liegenden kausalen Rechtsgeschäfte in der Praxis sind: Veräußerung, Verpachtung, Nießbrauch, Schenkung, Leihe und sonstige Überlassungen zur Nutzung. Auch wenn ein öffentlich-rechtlicher Betriebsinhaber einen Betrieb oder Betriebsteil durch privates Rechtsgeschäft überträgt, greift § 613a BGB ein (vgl. Rz. 6.23). Ein rechtsgeschäftlicher Betriebsübergang scheidet auch bei gesetzlich angeordneter Übernahme des Betriebs nicht aus.251 Wenn dem Übergang ein öffentlich-rechtlicher Vertrag zugrunde liegt, sind gem. § 62 Satz 2 VwVfG die Vorschriften des BGB, damit auch § 613a BGB anzuwenden. Zu beachten ist, dass § 613a BGB nur das Vorliegen eines Rechtsgeschäfts, nicht aber eines Vertrags verlangt. Deshalb reicht eine vom bisherigen gegenüber dem neuen Inhaber erteilte Ermächtigung zur Fortführung des Betriebs oder Betriebsteils, also die einverständliche Übertragung der 245 246 247 248 249 250 251
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BAG v. 26.2.1987 – 2 AZR 768/85, NZA 1987, 419; vgl. dazu Salje, NZA 1988, 449. BAG v. 20.6.2002 – 8 AZR 459/01, NZA 2003, 318 (321). Seiter, S. 41. BAG v. 8.11.1988 – 3 AZR 85/87, MDR 1989, 846 = DB 1989, 1526. BAG v. 31.1.2008 – 8 AZR 2/07, AP BGB § 613a Nr. 339. BAG v. 15.5.1985 – 5 AZR 276/84, NZA 1985, 736. Vgl. BAG v. 25.1.2001 – 8 AZR 336/00, n.v.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.73 Kap. 6
Leitungsmacht, aus.252 Auch die Übertragung von Aufgaben durch einseitige Entscheidungen öffentlicher Stellen kann als Betriebsübergang qualifizieren, solange diese nicht hoheitliche Tätigkeiten betrifft.253 § 613a BGB gilt grundsätzlich auch im Insolvenzverfahren (vgl. § 128 InsO).254 Dies galt nach ständiger Rechtsprechung bereits für Betriebsveräußerungen im Konkurs.255 Eine unmittelbare rechtsgeschäftliche Vereinbarung zwischen Erwerber und Veräußerer ist nicht erforderlich. Der Betriebsinhaberwechsel muss nur rechtsgeschäftlich vermittelt werden.256 Deshalb kann sich der rechtsgeschäftliche Betriebsübergang auch durch rechtsgeschäftliche Vereinbarungen zwischen dem Verpächter und dem Erst- und Zweitpächter vollziehen, ohne dass zwischen diesen eine rechtsgeschäftliche Vereinbarung existiert257 (vgl. zum Betriebsübergang durch mehrere Rechtsgeschäfte Rz. 6.78 f.). Es kommt allein auf die willentliche Übernahme der Organisations- und Leitungsmacht an, so dass grds. auch bei Nichtigkeit des zugrunde liegenden Rechtsgeschäfts ein Betriebsübergang vorliegt.258 Im Einzelfall kann jedoch der Schutzzweck der Nichtigkeitsnorm gegenüber dem Schutzzweck des § 613a BGB vorrangig sein.259 Geht ein Grundstück, auf dem sich ein Betrieb oder Betriebsteil befindet, durch Zwangsversteigerung auf einen Dritten über, ist § 613a BGB an und für sich nicht anwendbar, da es sich um einen staatlichen Hoheitsakt, nicht aber um ein Rechtsgeschäft handelt.260 Die Zwangsverwaltung eines Grundstücks erfasst nicht einen auf dem Grundstück ausgeübten Gewerbebetrieb; will der Verwalter den Betrieb fortführen, bedarf es einer entsprechenden rechtsgeschäftlichen Vereinbarung mit dem Schuldner, die dann allerdings die Folgen des § 613a BGB auslöst.261 Übernimmt der Ersteher eines Betriebsgrundstücks nach dem Zuschlag in der Zwangsversteigerung den vom Zwangsverwalter bis zur Beendigung der Zwangsversteigerung fortgeführten Gewerbebetrieb des Schuldners, tritt er in die mit dem Zwangsverwalter bestehenden Arbeitsverhältnisse nach § 613a BGB ein.262
6.72
Von rechtsgeschäftlichem Übergang kann bei faktischer Betriebsübernahme und bewusster Duldung eines durch verbotene Eigenmacht herbeigeführten Übergangs nicht gesprochen werden.263 Die Rechtsprechung264 neigt in diesen Fällen allerdings dazu, sich über den Wortlaut des Gesetzes hinwegzusetzen. Auch eine „feindliche“ Betriebsübernahme durch Abwer-
6.73
252 BAG v. 8.11.1988 – 3 AZR 85/87, MDR 1989, 846 = DB 1989, 1526; die Existenz einer Fortführungsvereinbarung ist aber für das Vorliegen eines Betriebsübergangs nicht erforderlich, ErfK/ Preis, § 613a BGB Rz. 60 sowie Rz. 66. 253 EuGH v. 6.9.2011 – C-108/10 – Scattolon, NZA 2011, 1077; BAG v. 10.5.2012 – 8 AZR 639/10, AP BGB § 613a Nr. 429 – Rettungsdienst. 254 BAG v. 20.6.2002 – 8 AZR 459/01, NZA 2003, 318 (322). 255 BAG v. 21.7.1977 – 3 AZR 703/75, AP 8 zu § 613a BGB; BAG v. 3.7.1980 – 3 AZR 751/79, MDR 1981, 82 = AP 22 zu § 613a BGB; BAG v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, MDR 1984, 171 = BB 1983, 2116; a.A. LAG Hamm v. 17.12.1981 – 10 Sa 1381/80, DB 1982, 1986. 256 BAG v. 9.2.1994 – 2 AZR 781/93, EzA § 613a BGB Nr. 115. 257 BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 159/98, MDR 1999, 1071 = NZA 1999, 704 (705 f.); vgl. auch EuGH v. 25.1.2001 – C-172/99 – Liikenne, NZA 2001, 249. 258 BAG v. 6.2.1985 – 5 AZR 411/83, AP 44 zu § 613a BGB. 259 Dazu ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 61; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 119. 260 Seiter, S. 140; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 64 f. 261 BAG v. 18.8.2011 – 8 AZR 230/10, NZA 2012, 267. 262 BAG v. 18.8.2011 – 8 AZR 230/10, NZA 2012, 267. 263 LAG Hamm v. 10.1.1975 – 3 Sa 933/74, BB 1975, 282; vgl. auch Loritz, RdA 1987, 65 (73). 264 Vgl. ArbG Köln v. 29.7.1976 – 13 Ca 1477/76, DB 1976, 2021; LAG Düsseldorf/Köln v. 13.2.1982 – 7 (22) Sa 737/81, DB 1982, 1327.
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Kap. 6 Rz. 6.74
Arbeitsrecht
ben von Know-how-Trägern („Ausspannen“) kann richtigerweise keinen Betriebsübergang darstellen (vgl. dazu unten Rz. 6.79). b) Gesamtrechtsnachfolge und Umwandlungsgesetz
6.74 Gesamtrechtsnachfolge liegt vor, wenn das Vermögen einschließlich der Schulden kraft Gesetzes auf einen neuen Rechtsträger uno actu ohne Rechtsgeschäfte übergeht. Der neue Inhaber rückt in die rechtliche Position des alten, der als Rechtsperson aufhört zu existieren. Der Nachfolger erwirbt automatisch als neuer Arbeitgeber alle Rechte und Pflichten aus bestehenden Arbeitsverhältnissen, ohne dass die Arbeitnehmer dem Übergang ihrer Arbeitsverhältnisse widersprechen könnten (vgl. Rz. 6.142 ff.).
6.75 Zur (gesetzlichen) Gesamtrechtsnachfolge zählt die Erbfolge (§§ 1922, 1967 BGB), zur rechtsgeschäftlichen (partiellen) Gesamtrechtsnachfolge gehören die im Umwandlungsgesetz geregelten Fälle der Verschmelzung (§§ 2 ff. UmwG), Spaltung (§§ 123 ff. UmwG) oder der Vermögensübertragung (§§ 174 f. UmwG) sowie die Anwachsung.
6.76 Das BAG hatte ursprünglich § 613a Abs. 1 und 4 BGB auf die Verschmelzung von Genossenschaften angewandt,265 dann aber die Auffassung vertreten, aufgrund des Erfordernisses eines rechtsgeschäftlichen Übergangs könne die Vorschrift nicht auf den Übergang durch Gesamtrechtsnachfolge angewandt werden.266 Inzwischen besteht weitgehende Einigkeit, dass § 613a BGB auf das Umwandlungsrecht uneingeschränkt anwendbar ist.267 Ausgangspunkt hierfür ist § 324 UmwG. Die in ihrem Wortlaut unklare Vorschrift ist so zu verstehen, dass sich in den Fällen der Verschmelzung, Aufspaltung oder Vermögensübertragung der Übergang der Arbeitsverhältnisse nicht als gesetzliche Folge der Universalsukzession vollzieht, sondern ausschließlich aus § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt.268 Den Hintergrund für dieses Verständnis bildet die Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG, die in Art. 1 ihren Geltungsbereich auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung regelt.269 Für die in § 324 UmwG genannten Umwandlungsformen vollzieht sich daher der Übergang der Arbeitsverhältnisse ausschließlich nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB. Das erforderliche „Rechtsgeschäft“ liegt in dem der jeweiligen Verschmelzung, Spaltung oder Vermögensübertragung zugrunde liegenden Vertrag. Die Umwandlung ist nicht der gegenüber dem Betriebsübergang speziellere Tatbestand. Die Voraussetzungen des Betriebsübergangs sind demnach auch im Umwandlungsfall selbständig zu prüfen.270 Mit der Eintragung einer Verschmelzung durch Aufnahme gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwG gehen nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG die beim übertragen265 BAG v. 14.6.1994 – 9 AZR 89/93, AP 2 zu § 3 TVG Verbandsaustritt. 266 Vgl. dazu Mengel, Rz. 53 ff. 267 So BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 416/99, MDR 2000, 1444 = ZIP 2000, 1630 m. Anm. Bauer/Mengel; vgl. auch Boecken, Rz. 56 ff.; Kreßel, BB 1995, 925 (928); Mengel, Rz. 75 ff.; Willemsen in Kallmeyer, § 324 UmwG Rz. 3; Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, B Rz. 88 ff.; Joost in Lutter, § 324 UmwG Rz. 3. 268 Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, B Rz. 91, hat darauf hingewiesen, dass es sich rechtstechnisch um eine Rechtsgrund- und nicht um eine Rechtsfolgenverweisung handelt. 269 Die 6. Richtlinie des Rates betr. die Spaltung von Aktiengesellschaften v. 17.12.1982 (82/891/EWG) sieht in Art. 11 ausdrücklich vor, dass die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer der an der Spaltung beteiligten Gesellschaften gemäß der Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG geregelt wird. 270 BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 416/99, MDR 2000, 1444 = NZA 2000, 1115.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.79 Kap. 6
den Rechtsträger bestehenden Arbeitsverhältnisse auf den übernehmenden Rechtsträger über.271 Keine Anwendung findet § 613a BGB auf den Formwechsel (§§ 119 ff. UmwG). Hierbei 6.77 handelt es sich weder um Gesamtrechtsnachfolge noch einen Inhaberwechsel. Da die rechtliche Identität des Rechtsträgers als Betriebsinhaber unberührt bleibt (§ 202 Abs. 1 Nr. 1 UmwG), greift § 613a BGB nicht ein. Auch bei der Eingliederung einer Aktiengesellschaft nach §§ 319, 320 AktG braucht § 613a BGB nicht beachtet zu werden. Das eingegliederte Unternehmen behält seine rechtliche Selbständigkeit, so dass weder eine Gesamtrechtsnachfolge noch ein Inhaberwechsel gegeben sind. § 613a BGB greift schließlich auch bei der erbrechtlichen Gesamtrechtsnachfolge nicht ein, unabhängig davon, ob sie auf Gesetz oder Erbeinsetzung (Testament, Erbvertrag) beruht.272 Tritt eine Partei kraft Amtes (z.B. Insolvenzverwalter) in die Rechtsstellung des bisherigen Rechtsträgers ein, kommt § 613a BGB ebenso wenig zum Zuge. Anders ist die Rechtslage aber, wenn z.B. der Insolvenzverwalter den Betrieb oder Betriebsteil veräußert (vgl. Rz. 6.278 ff.). Auch die Anwachsung ist kein Fall des § 613a BGB (vgl. Rz. 6.11). c) Mehrere Rechtsgeschäfte Ein Betriebsübergang i.S.v. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB kann auch dann vorliegen, wenn der 6.78 Erwerber die für die Betriebsführung wesentlichen sächlichen Betriebsmittel von mehreren Dritten erhält, die als Sicherungseigentümer oder aufgrund ähnlicher Rechtsstellung über das Betriebsvermögen verfügen können.273 Auch wenn es dabei darauf ankommen soll, dass die mehreren gebündelten Rechtsgeschäfte insgesamt dazu dienen, einen funktionsfähigen Betrieb zu erwerben,274 bedeutet dies, dass der Erwerber von Einzelgegenständen aus verschiedenen Quellen immer § 613a BGB einkalkulieren muss. Ausreichend für einen Betriebsübergang ist es, wenn der Übergang durch eine Reihe von verschiedenen Rechtsgeschäften mit verschiedenen Dritten, die Teile des Betriebsvermögens oder die Nutzungsbefugnis darüber vom ehemaligen Betriebsinhaber erlangt haben, erfolgt, sofern die Rechtsgeschäfte darauf gerichtet sind, eine funktionsfähige betriebliche Einheit zu übernehmen.275 In betriebsmittelarmen Branchen, in denen die menschliche Arbeitskraft im Vordergrund 6.79 steht (Reinigungs-, Bewachungsgewerbe) kann ein rechtsgeschäftlicher Betriebsübergang auch dadurch herbeigeführt werden, dass der Erwerber mit einer substantiellen Anzahl der Arbeitnehmer des Veräußerers bzw. vormaligen Auftragnehmers Arbeitsverträge abschließt. Auch in diesem Fall wird die Möglichkeit der Betriebsfortführung durch ein Bündel von Rechtsgeschäften erworben.276 Diese Rechtsprechung wird zu Recht im Schrifttum als zu
271 272 273 274
Vgl. BAG v. 6.8.2002 – 1 AZR 247/01, MDR 2003, 513 = NZA 2003, 449. Seiter, S. 42. BAG v. 22.5.1985 – 5 AZR 173/84, NZA 1985, 773. BAG v. 22.7.2004 – 8 AZR 350/03 – Gefahrstofflager, MDR 2005, 220 = NZA 2004, 1383 (1388); BAG v. 22.5.1985 – 5 AZR 173/84, NZA 1985, 773. 275 BAG v. 2.3.2006 – 8 AZR 147/05, NZA 2006, 1105 – Forschungsschiff. 276 BAG v. 11.12.1997 – 8 AZR 729/96, MDR 1998, 722 = NZA 1998, 534; BAG v. 25.9.2008 – 8 AZR 607/07, NZA-RR 2009, 469 lehnt einen Betriebsübergang im Bewachungsgewerbe ab, wenn weniger als die Hälfte der für die Bewachung des Objekts eingesetzten Mitarbeiter vom Erwerber eingestellt werden; BAG v. 21.5.2008 – 8 AZR 481/07, NZA 2009, 144 nimmt einen Betriebsübergang bei Übernahme des gesamten Reinigungspersonals eines Krankenhauses durch Arbeitnehmerüberlassungsgesellschaft an; BAG v. 24.5.2005 – 8 AZR 333/04, NZA 2006, 31 lehnt
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Kap. 6 Rz. 6.80
Arbeitsrecht
weitgehend kritisiert.277 Da eine Vereinbarung zwischen Erwerber und Veräußerer nicht verlangt wird, könnte danach ein Betriebsübergang auch dadurch herbeigeführt werden, dass der Erwerber dem Veräußerer die Belegschaft einfach „ausspannt“. Das BAG hat z.B. angenommen, dass ein Betriebsübergang schon dann vorliegt, wenn der Betreiber eines CallCenters im Rahmen der Übernahme eines Auftrags sukzessive etwa 3/4 der Belegschaft eines anderen Call-Centers einstellt, ohne dass ansonsten weitere Betriebsmittel übertragen werden.278 Ob hier ein Konsens zwischen altem und neuem Auftragnehmer vorgelegen hat, wurde vom BAG gar nicht geprüft. Da es sich hierbei um zwei Konzerngesellschaften handelte, mag zumindest eine stillschweigende Übereinkunft hinsichtlich der Übernahme der Mitarbeiter vorgelegen haben. Das Vorliegen einer Einigung oder eines ähnlichen subjektiven Elements zwischen altem und neuem Betriebsinhaber wird von der Rechtsprechung nicht als Tatbestandsvoraussetzung für das Vorliegen eines Betriebsübergangs gefordert.279 Eine Einigung als subjektives Element muss u.E. aber vorliegen, um das Tatbestandsmerkmal „durch Rechtsgeschäft“ zu erfüllen. Handlungen des „Erwerbers“, die unter völligem Ausschluss des vormaligen Betriebsinhabers, ggf. sogar gegen dessen Willen („Ausspannen von Mitarbeitern“) zum Erwerb der Leitungsmacht führen, können nicht zum Betriebsübergang führen. d) Wirksamkeit/Rücktrittsrecht
6.80 Für den zwangsweisen Übergang der Arbeitsverhältnisse ist nicht Voraussetzung, dass ein wirksames Rechtsgeschäft vorliegt.280 Handelt es sich um ein fehlerhaftes Rechtsgeschäft, ist für die Anwendung des § 613a BGB nur Voraussetzung, dass eine tatsächliche Übernahme der betrieblichen Organisation erfolgt.281 Der Wortlaut des § 613a BGB spricht im Übrigen dafür, die Vorschrift auch dann anzuwenden, wenn der Betrieb oder Betriebsteil wegen eines nichtigen Rechtsgeschäfts wieder zurückübertragen werden muss.282
6.81 Das Bestehen eines Rücktrittsrechts hindert einen Betriebsübergang nicht.283 Auch wenn der Veräußerer aufgrund eines vorbehaltenen Rücktrittsrechts vom Überlassungsvertrag zurücktritt und den Betrieb im bisherigen Umfang weiterführt, liegen zwei Betriebsübergänge i.S.v. § 613a BGB vor. Das hat zur Folge, dass die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer, die vom Übernehmer während seiner Betriebsinhaberschaft eingestellt worden sind, zunächst mit dem Erwerber bestehen, dann aber wieder an den ursprünglichen Veräußerer zurückfallen. Macht der Veräußerer von seinem Rücktrittsrecht Gebrauch, muss er beachten, dass mehr Arbeitnehmer an ihn zurückfallen können, als beim ursprünglichen Rechtsgeschäft auf den Erwerber übergegangen sind. Hat der Erwerber nämlich vor Ausübung des Rücktrittsrechts durch den Veräußerer das Personal aufgestockt, gehen auch die neu eingetretenen Arbeitnehmer nach § 613a BGB auf den ursprünglichen Veräußerer über.
277 278 279 280 281 282 283
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Betriebsübergang ab, wenn bei der Fremdvergabe von Reinigungsleistungen 60 % der betroffenen Mitarbeiter Weiterbeschäftigungsangebote bei dem neuen Dienstleister ablehnen. Vgl. Joost in Lutter, § 324 UmwG Rz. 12. BAG v. 25.6.2009 – 8 AZR 258/08, NZA 2009, 1412. Vgl. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 60. BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06, NZA-RR 2008, 367; BAG v. 6.2.1985 – 5 AZR 411/83, NZA 1985, 735; Seiter, S. 47; einschränkend ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 61 dahingehend, dass die Schutzvorschriften zugunsten Geschäftsunfähiger Vorrang genießen. BAG v. 6.2.1985 – 5 AZR 411/83, NZA 1985, 735. Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 32; Willemsen in HWK, § 613a BGB Rz. 207; a.A. LAG Köln v. 7.12.2001 – 11 Sa 867/01, DB 2002, 592. BAG v. 15.12.2005 – 8 AZR 202/05, NZA 2006, 597.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.85 Kap. 6
e) Einzelne Rechtsgeschäfte Pacht ist ein Rechtsgeschäft i.S.v. § 613a Abs. 1 BGB. Dabei geht das BAG284 von einem rechtsgeschäftlichen Übergang auch dann aus, wenn keine unmittelbaren rechtsgeschäftlichen Beziehungen zwischen bisherigem und neuem Inhaber vorliegen, also in Fällen des Pächterwechsels285 (vgl. Rz. 6.69).
6.82
Auch die sog. typische Betriebsaufspaltung eines einheitlichen Unternehmens in je eine rechtlich selbständige Besitz- und Produktionsgesellschaft der Art, dass die Produktionsgesellschaft die Betriebsmittel von der Besitzgesellschaft pachtet und die Arbeitnehmer übernimmt, stellt sich im Regelfall als rechtsgeschäftlicher Übergang nach § 613a BGB dar.286 Entsprechendes gilt auch dann, wenn eine rechtlich selbständige Besitz- und mehrere Produktionsgesellschaften gegründet werden. In einem solchen Fall werden regelmäßig einzelne Betriebsteile rechtsgeschäftlich auf die neuen Produktionsgesellschaften übertragen (vgl. zu betriebsverfassungsrechtlichen Auswirkungen Rz. 6.310 ff.).
6.83
Unternehmensinsolvenzen führen immer wieder zur Gründung von Auffanggesellschaften. 6.84 Bei der Frage, ob ein Betrieb oder Betriebsteil auf eine solche Gesellschaft rechtsgeschäftlich übergeht, argumentiert das BAG nicht streng anhand der Voraussetzungen des § 613a Abs. 1 BGB; es geht nur um ein sinnvoll erscheinendes Ergebnis. Das ergibt sich z.B. aus dem Urteil vom 20.11.1984.287 In dem Fall hatte eine Auffanggesellschaft treuhänderisch die Abwicklung der noch laufenden Verträge eines insolvent gewordenen Fernlehrganginstituts übernommen. Dort heißt es: „Wollte man die vorliegende Fallgestaltung von der Geltung des § 613a BGB ausnehmen, wäre das Ergebnis absurd.“ Im Urteil vom 25.6.1985 hat das BAG288 dann noch mal ausdrücklich bestätigt, dass ein Rechtsgeschäft zur Übertragung eines Betriebs auch in einem Gesellschaftsvertrag bestehen kann, in dem der Veräußerer mit Dritten eine Auffanggesellschaft gründet, um Teile seines Betriebs durch diese fortführen zu lassen. Nicht entscheidend ist, dass bei dieser Konstellation zwischen alter und neuer Gesellschaft kein unmittelbares Rechtsgeschäft abgeschlossen wird289 (vgl. zur Zulässigkeit von Aufhebungsverträgen im Zusammenhang mit Beschäftigungsgesellschaften Rz. 6.301). Wenn der Pächter dem Verpächter als bisherigem Inhaber die tatsächliche Betriebsleitung überlässt, dieser aber im Namen und auf Rechnung des Pächters den Betrieb leitet, ist § 613a BGB ebenfalls einschlägig.290 Ein Inhaberwechsel liegt dagegen nicht vor, wenn der Verpächter den Betrieb im eigenen Namen, aber für Rechnung des Pächters führt; hier handelt es sich der Sache nach nur um bloße Gewinnabführung, die an der Betriebsinhaberschaft nichts ändert.291 Die Praxis kennt auch Pachtverträge, bei denen der Pächter ermächtigt und verpflichtet ist, den gepachteten Geschäftsbetrieb auf eigene Rechnung, aber nach außen im Namen des Verpächters zu betreiben (sog. Innenpacht); zu dieser Variante hat sich die Rechtspre284 BAG v. 21.8.2008 – 8 AZR 201/07, NZA 2009, 29 – Pacht eines Hotels. 285 Hierzu BAG v. 18.9.2014 – 8 AZR 733/13, NZA 2015, 97 – Tankstelle. 286 BAG v. 17.2.1981 – 1 ABR 101/78, AP 9 zu § 111 BetrVG 1972 (Kittner); BAG v. 19.1.1988 – 3 AZR 263/86, GmbHR 1988, 339 = DB 1988, 1166; Schaub, § 118 II. 6. e, Rz. 47; von SteinauSteinrück, S. 24 ff. 287 BAG v. 20.11.1984 – 3 AZR 584/83, DB 1985, 1135 = AP 38 zu § 613a BGB (Willemsen). 288 BAG v. 25.6.1985 – 3 AZR 254/83, NZA 1986, 93 = AP 23 zu § 7 BetrAVG (Kraft); vgl. dazu Loritz, SAE 1986, 138 ff. 289 BAG v. 25.6.1985 – 3 AZR 254/83, NZA 1986, 93 = AP 23 zu § 7 BetrAVG (Kraft). 290 Vgl. Seiter, S. 38, auch zur treuhänderischen Betriebsübertragung. 291 Seiter, S. 38; Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 40.
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6.85
Kap. 6 Rz. 6.86
Arbeitsrecht
chung bisher nicht geäußert. Bei der Innenpacht dürfte ein Betriebsübergang i.S.v. § 613a BGB abzulehnen sein, da kein erkennbarer Inhaberwechsel vorliegt.292
6.86 Ähnliche Probleme wie bei der Innenpacht ergeben sich bei der treuhänderischen Übertragung von Betriebsmitteln. Das ArbG Siegen293 lehnt einen Betriebsinhaberwechsel für den Fall ab, dass der bisherige Betriebsinhaber aufgrund des fiduziarischen Rechtsverhältnisses den Betrieb im eigenen Namen weiter betreibt. Fraglich ist, was dann zu gelten hat, wenn der Schuldner aber intern nur die Stellung eines abhängigen Verwalters hat. Worauf ist abzustellen, auf das Auftreten nach außen oder auf die eigentliche Inhaberschaft des Sicherungsnehmers? Ebenso wie bei der Innenpacht sollte nur nach dem Auftreten nach außen differenziert werden; entscheidendes Abgrenzungsmerkmal für die Frage des Betriebsübergangs sollte also immer sein, ob nach außen ein – vor allem für die Arbeitnehmer – erkennbarer Inhaberwechsel vorliegt.294 Anhand dieses Kriteriums sind auch Betriebsführungsverträge zu beurteilen: Ist die Betriebsführungsgesellschaft beauftragt, ein Unternehmen in dessen Namen und auf dessen Rechnung zu führen (sog. „echter“ Betriebsführungsvertrag), löst dies keinen Betriebsinhaberwechsel aus, da der Betriebsführer nicht Inhaber des Betriebes ist, sondern diesen Betrieb lediglich für den bisherigen Inhaber führt295. Wird der Betriebsführer dagegen auf Rechnung des geführten Betriebes, aber in eigenem Namen tätig (sog. „unechter“ Betriebsführungsvertrag), gehen die bisherigen Arbeitsverhältnisse, wie bei der Verpachtung, auf das betriebsführende Unternehmen über.296
6.87 Zweifelhaft ist, ob § 613a BGB nur Rechtsgeschäfte unter Lebenden oder auch Verfügungen von Todes wegen erfasst. Soweit der Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils durch Vermächtnis erfolgt, gilt § 613a BGB, weil der Übergang in Vollzug der letztwilligen Verfügung durch das Übertragungsgeschäft zwischen Erben und Vermächtnisnehmer bewirkt wird.297 Anders ist die Rechtslage bei Erbeinsetzung (Testament, Erbvertrag).298 Auch hier geht zwar der Betrieb mittelbar durch die rechtsgeschäftliche Verfügung über; unmittelbar erfolgt der Übergang aber erst durch den Todesfall. Die Frage, ob der mittelbare Übergang im Rahmen des § 613a BGB genügt, ist aber nur von untergeordneter Bedeutung, denn der zwangsweise Eintritt in bestehende Arbeitsverhältnisse tritt wie bei § 613a BGB durch § 1922 BGB ein.299
292 Im Ergebnis ebenso Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 101; Karamarias, RdA 1983, 353 (355); Konzen, RdA 1984, 64 (75). 293 ArbG Siegen v. 16.4.1985 – 2 Ca 2226/84, EWiR § 613a BGB 14/85, 861 m. Anm. Schwerdtner. 294 Vgl. BAG v. 20.11.1984 – 3 AZR 584/83, NZA 1985, 393 = AP 38 zu § 613a BGB (Willemsen); Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 106; Schwerdtner, EWiR § 613a BGB 14/85, 861, meint dagegen, dass eine Differenzierung nach dem Auftreten nach außen wenig für die Antwort auf die Frage besage, ob eine Betriebsübernahme vorliegt. 295 Das bestätigt BAG v. 25.1.2018 – 8 AZR 338/16 u.a. (Pressemitteilung). 296 Vgl. Rieble, Betriebsführungsvertrag als Gestaltungsinstrument, NZA 2010, 1145 (1147); Huber, ZHR 152 (1988), 123 (155); Willemsen, Anm. zu BAG, AP 38 zu § 613a BGB; Richardi in MünchHdb. ArbR, Bd. 1, § 31 Rz. 15. 297 Seiter, S. 42; Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 41; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 121. 298 A.A. Edenfeld in Erman, § 613a BGB Rz. 38; Seiter, S. 42. 299 Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 41.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.89 Kap. 6
§ 613a BGB gilt auch bei einem Betriebsübergang aufgrund eines öffentlich-rechtlichen Vertrags nach §§ 54 ff. VwVfG300 und bei der Privatisierung von einzelnen Aufgaben des öffentlichen Dienstes301 oder im Anschluss an ein öffentliches Vergabeverfahren.302 Allerdings ist nach allgemeiner Ansicht § 613a BGB bei Übertragungen kraft Gesetzes303 oder aufgrund eines Hoheitsaktes nicht anwendbar.304 Nur bei wirtschaftlichen Tätigkeiten kommt eine Anwendung der Richtlinie in Betracht,305 nicht dagegen bei der Übertragung von (hoheitlichen) Verwaltungsaufgaben von einer öffentlichen Verwaltung auf die andere.306 Damit kann § 613a BGB auch dann nicht zur Anwendung kommen, wenn Unternehmen aufgrund des Vermögensgesetzes307 kraft Bescheides (Verwaltungsaktes) rückübertragen werden.308 In diesem Fall entsteht keine Lücke zum Nachteil der betroffenen Arbeitnehmer, da § 9 Abs. 1 Satz 2 der Unternehmensrückgabeverordnung309 ausdrücklich bestimmt, dass es sich dabei um einen Fall der Gesamtrechtsnachfolge handelt. Handelt es sich dagegen um eine einvernehmliche Übertragung des Unternehmens i.S.v. § 9 Abs. 1 Satz 1 der Unternehmensrückgabeverordnung, ist § 613a BGB anwendbar.310
6.88
4. Übergang und Übergangszeitpunkt Der Übergang des Betriebs oder Betriebsteils ist vollzogen, wenn die als wirtschaftliche Einheit genutzten organisierten materiellen, immateriellen und personellen Mittel tatsächlich im eigenen Namen genutzt werden.311 Der neue Inhaber muss in der Lage sein, den arbeitstechnischen (Teil-) Zweck weiter zu verfolgen, d.h. die technischen und organisatorischen Voraussetzungen zu nutzen und die Leitung des Betriebs oder Betriebsteils im eigenen Namen zu übernehmen.312 Auf das obligatorische Rechtsgeschäft kommt es nicht an, da dessen 300 BAG v. 7.9.1995 – 8 AZR 928/93, NZA 1996, 424; Schaub, § 118 II. 5d., Rz. 37; Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 68 ff.; Commandeur, NZA 1991, 705. 301 Vgl. Hoppe/Uechtritz/Lorenzen/Schuster, § 12 Rz. 18, 31; Schaub, § 118 II. 5b, Rz. 30; Resch, AuR 2000, 87 ff. 302 BAG v. 2.3.2006 – 8 AZR 147/05, NZA 2006, 1105 (Forschungsschiff). 303 BAG v. 18.12.2008 – 8 AZR 660/07, AP Nr. 366 zu § 613a BGB (Universitätsklinikum Gießen und Marburg – Übertragung von Landesbediensteten auf eine Anstalt des öffentlichen Rechts im Zuge geplanter Privatisierung) – den Ausschluss der Möglichkeit des Verbleibs im öffentlichen Dienst (Fehlen eines Widerspruchsrechts der Arbeitnehmer) bei diesem Übergang kraft Landesgesetz außerhalb des Geltungsbereichs des § 613a BGB hat das BVerfG allerdings als verfassungswidrig erachtet: BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 1741/09, NZA 2011, 400; den in § 6c I SGB II gesetzlich angeordneten Übergang von Arbeitnehmern der Agentur für Arbeit auf „Optionskommunen“ hält das BAG wegen Verstoß gegen Art. 12 GG für verfassungswidrig: BAG v. 26.9.2013 – 8 AZR 775/12, ArbR Aktuell 2014, 104; BAG v. 28.9.2006 – 8 AZR 441/05, AP BGB § 419 Funktionsnachfolge Nr. 26 = NZA 2007, 352 und BAG v. 2.3.2006 – 8 AZR 124/05, MDR 2006, 1298 = NZA 2006, 848 (Stiftung Oper Berlin). 304 BAG v. 6.9.1978 – 4 AZR 162/77, AP Nr. 13 zu § 613a BGB. 305 BAG v. 10.5.2012 – 8 AZR 639/10, AP Nr. 429 zu § 613a BGB – Rettungsdienst. 306 EuGH v. 6.9.2011 – C-108/10 – Scattolon, NZA 2011, 1077. 307 V. 21.12.1998, BGBl. I 1998, 4026, aktuell in der Fassung der Bekanntmachung v. 9.2.2005, BGBl. I 2005, 205. 308 Commandeur, NZA 1991, 705. 309 V. 13.7.1991, BGBl. I 1991, 1541. 310 Commandeur, NZA 1991, 705. 311 So BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 416/99, MDR 2000, 1444 = ZIP 2000, 1630 m. Anm. Bauer/Mengel; BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 77/07, NZA 2008, 825. 312 BAG v. 16.10.1987 – 7 AZR 519/86, DB 1988, 712; vgl. auch Müller-Glöge in MünchKomm/ BGB, § 613a BGB Rz. 57 ff.
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6.89
Kap. 6 Rz. 6.90
Arbeitsrecht
Abschluss regelmäßig vor dem Übergang liegt. Die Übergabe der Betriebsmittel mit den Rechtsfolgen des § 613a BGB kann aber auch vor Abschluss des Verpflichtungsgeschäftes liegen.313 Der Übergang der Leitungsmacht ist ein Realakt und kann als solcher nicht unter einen vertraglichen Bedingungsvorbehalt (z.B. Zahlung des Kaufpreises für die übernommenen Betriebsmittel) gestellt werden.314 Nicht unbedingt maßgebend ist der Vollzug der Übertragungsgeschäfte. So erfolgt z.B. in der Praxis die Eigentumsübertragung an Grundstücken oft erst viel später als der Übergang der Betriebsleitung. Zeitliche Fixierungsschwierigkeiten ergeben sich, wenn der Erwerber die Leitung des Betriebs nicht „auf einen Schlag“ übernimmt. In solchen Fällen sollte auf den im Übernahmevertrag angegebenen Zeitpunkt zurückgegriffen werden.315 Der Betriebsübergang ist ansonsten bei einem schrittweisen Übergang der Betriebsmittel in dem Zeitpunkt erfolgt, in dem die wesentlichen, zur Fortführung des Betriebes erforderlichen Betriebsmittel übergegangen sind und die Entscheidung über den Betriebsübergang nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.316 Vollzieht sich ein Betriebsübergang im Rahmen einer Umwandlung, sind Tatbestand und Zeitpunkt des Betriebsübergangs unabhängig von Tatbestand und Zeitpunkt der Umwandlung zu beurteilen.317 Da es auf die tatsächliche Übernahme der Leitungsmacht ankommt, treten die Folgen des § 613a BGB entsprechend bei einer rückwirkend beschlossenen Umwandlung nicht auch mit Wirkung für die Vergangenheit ein, da ein Übergang der Leitungsmacht nicht rückwirkend möglich ist. Im Übrigen kommt es darauf an, ob der Erwerber die Leitungsmacht tatsächlich übernimmt, die bloße Möglichkeit ihrer Ausübung genügt nicht.318 Die Leitungsmacht kann der Erwerber schon dann einvernehmlich ausüben, wenn ihm Nutzungsrechte an den Betriebsmitteln übertragen werden. Auf den Eigentumsübergang kommt es nicht an.319
6.90 Für einen Betriebs- oder Betriebsteilübergang tragen grundsätzlich die betroffenen Arbeitnehmer die Beweislast. Das ergibt sich aus dem allgemeinen prozessrechtlichen Grundsatz, wonach demjenigen, der sich auf eine Norm beruft, die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich ihrer Voraussetzungen obliegt. Nach der überholten Rechtsprechung des BAG kamen den Arbeitnehmern Beweiserleichterungen nach dem Grundsatz des Anscheinsbeweises zugute. Der Arbeitnehmer brauchte lediglich darzulegen, dass der Erwerber die wesentlichen Betriebsmittel übernommen habe, um einen gleichartigen Geschäftsbetrieb zu führen.320 Diese Rechtsprechung ist überholt, da es auf die Übernahme der Betriebsmittel als alleiniges Kriterium nicht mehr ankommt, sondern die Voraussetzungen des Betriebsübergangs durch eine wertende Gesamtbetrachtung aller entscheidungserheblichen Umstände unter Einschluss der sieben Prüfungskriterien der Rechtsprechung ermittelt werden muss (vgl. dazu Rz. 6.33 ff.). Der Vortrag eines einzelnen Kriteriums durch den Arbeitnehmer kann deshalb nicht mehr zu einem Anscheinsbeweis führen. Der klagende Arbeitnehmer muss vielmehr sämtliche entscheidungserheblichen Umstände darlegen und unter Beweis stellen.321 313 BAG v. 8.11.1988 – 3 AZR 85/87, MDR 1989, 846 = DB 1989, 1526; BAG v. 28.4.1987 – 3 AZR 75/86, MDR 1988, 344 = DB 1988, 400 = EzA § 613a BGB Nr. 67 m. krit. Anm. Willemsen. 314 BAG v. 13.12.2007 – 8 AZR 1107/06, AP BGB § 613a Nr. 338. 315 Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 63. 316 BAG v. 16.2.1993 – 3 AZR 347/92, EzA § 613a BGB Nr. 106. 317 BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 416/99, MDR 2000, 1444 = ZIP 2000, 1630 m. Anm. Bauer/Mengel. 318 Vgl. BAG v. 22.7.2004 – 8 AZR 350/03 – Gefahrstofflager, MDR 2005, 220 = NZA 2004, 1383 (1386); BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 77/07, NZA 2008, 825. 319 BAG v. 12.11.1991 – 3 AZR 559/90, NZA 1992, 929. 320 BAG v. 15.5.1985 – 5 AZR 276/84, BAGE 48, 345. 321 Ebenso Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 145.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.92 Kap. 6
III. Übergang der Arbeitsverhältnisse 1. Allgemeines Sind die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, ist Rechtsfolge von § 613a BGB die Überlei- 6.91 tung der Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber. Der Übergang von Arbeitsverhältnissen kann damit sowohl Tatbestandsmerkmal als auch Rechtsfolge sein. Bewirkt die Übernahme einzelner Arbeitnehmer (als Tatbestandsvoraussetzung) einen Betriebsübergang, ist Rechtsfolge die Überleitung aller übrigen Arbeitsverhältnisse. Erfasst werden die Arbeitsverhältnisse, die zum Zeitpunkt des Übergangs bestehen. Für den Begriff Arbeitsverhältnis gilt die übliche arbeitsrechtliche Definition. Darunter fallen alle Arbeitsverhältnisse, also auch (Alters-)Teilzeitarbeits-, befristete,322 Aushilfsarbeits-, Nebenbeschäftigungs-, Probearbeits- sowie Ehegattenarbeitsverhältnisse.323 Ist ein Arbeitsverhältnis auf den Tag des Betriebsübergangs befristet und wird es vom Erwerber nahtlos durch Abschluss eines neuen Arbeitsverhältnisses fortgesetzt, liegt ein hinreichend enger Zusammenhang zwischen beiden Arbeitsverhältnissen vor, um diese als einheitliches Arbeitsverhältnis zu behandeln, auf welches die Regelungen des § 613a BGB Anwendung finden.324 § 613a BGB ist auch auf solche Arbeitsverhältnisse anwendbar, für die besondere kündigungsschutzrechtliche Bestimmungen gelten, auf Schwangere und Mütter, Schwerbehinderte,325 Auszubildende,326 leitende Angestellte und auf Mitglieder von Betriebsverfassungsorganen. Dagegen scheidet grundsätzlich ein automatischer Übergang solcher Dienstverhältnisse aus, die keine Arbeitsverhältnisse sind, wie z.B. Dienstverhältnisse von GmbH-Geschäftsführern327 und Vorstandsmitgliedern von Aktiengesellschaften (vgl. Rz. 6.96 ff.)328 und Handelsvertretern. Sog. freie Mitarbeitsverhältnisse gehen nur dann auf den neuen Inhaber über, wenn es in Wahrheit Arbeitsverhältnisse sind (sog. Scheinselbständige). Diese Vertragsverhältnisse voneinander zuverlässig abzugrenzen, bereitet der Praxis immer wieder erhebliche Schwierigkeiten. § 613a BGB ist zwar durch § 122 BetrVG in das BGB eingefügt worden, dennoch handelt es sich um eine zivilrechtliche Norm (vgl. Rz. 6.46), die leitende Angestellte i.S.v. § 14 Abs. 2 KSchG und/oder § 5 Abs. 3 BetrVG nicht von ihrem Geltungsbereich ausnimmt. Das BAG329 wendet deshalb zutreffend § 613a BGB auch auf diesen Personenkreis an.330 Da § 613a BGB eindeutig nur die zur Zeit des Betriebsübergangs bestehenden Arbeitsverhältnisse betrifft, kann der Erwerber auch nicht Schuldner der Provisionsansprüche von Arbeitnehmern werden, die zur Zeit des Betriebsübergangs schon ausgeschieden waren, deren Provisionsansprü-
322 Die Befristung eines Arbeitsverhältnisses ist sachlich nicht gerechtfertigt, wenn sie darauf abzielt, den durch § 613a BGB bezweckten Bestandsschutz bei rechtsgeschäftlichen Betriebsübergängen zu vereiteln, BAG v. 15.2.1995 – 7 AZR 680/94, NZA 1995, 987. 323 Vgl. dazu BAG v. 17.8.2000 – 8 AZR 443/99, n.v.; B. Gaul, Betriebsspaltung, § 10 Rz. 4 f. 324 BAG v. 19.5.2005 – 3 AZR 649/03, NZA-RR 2006, 373. 325 Vgl. dazu BAG v. 11.12.2008 – 2 AZR 395/07, MDR 2009, 637 = NZA 2009, 556. 326 Gemäß § 3 BBiG, vgl. Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 80; BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 382/05, NZA 2006, 1406. 327 Vgl. zum ruhenden Arbeitsverhältnis von GmbH-Geschäftsführern Bauer, GmbHR 2000, 767. 328 Vgl. Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 49 m.w.N. 329 BAG v. 22.2.1978 – 5 AZR 800/76, AP 11 zu § 613a BGB (Küchenhoff). 330 Rost in KR, § 14 KSchG Rz. 47; Martens, S. 222 f.
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6.92
Kap. 6 Rz. 6.93
Arbeitsrecht
che aber erst danach fällig wurden.331 Hier kann nichts anderes gelten als für Ruhegeldansprüche (vgl. Rz. 6.103). 2. Mittelbares Arbeitsverhältnis
6.93 Zu den Arbeitnehmern eines Betriebs oder Betriebsteils gehören auch diejenigen, die nicht vom Inhaber selbst, sondern von einer Zwischenperson eingestellt werden. In solchen Fällen wird die Arbeitgeberfunktion zwischen Inhaber und Zwischenperson aufgeteilt.332 Entscheidend für die Anwendbarkeit des § 613a BGB ist, dass eine Bindung des Arbeitnehmers an die Weisungen des mittelbaren Arbeitgebers besteht und das Arbeitsergebnis dessen Betrieb bzw. Betriebsteil zugutekommt. 3. Faktisches Arbeitsverhältnis
6.94 Für die Frage des automatischen Übergangs eines Arbeitsverhältnisses ist nicht entscheidend, ob ein wirksamer Arbeitsvertrag vorliegt. Auch sog. faktische Arbeitsverhältnisse werden erfasst.333 Der neue Inhaber hat allerdings dieselben Rechte wie sein Vorgänger; ebenso wie dieser kann er regelmäßig das faktische Verhältnis für die Zukunft lösen. 4. Gekündigtes Arbeitsverhältnis
6.95 Zu den im Zeitpunkt des Betriebs- oder Betriebsteilübergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen gehören auch solche, die schon von einer Seite wirksam gekündigt worden sind, bei denen aber die Kündigungsfrist noch nicht abgelaufen ist. Der automatische Übergang solcher Arbeitsverhältnisse ist auch hier sinnvoll, weil dem neuen Inhaber, der für Lohnrückstände haftet, die Haftungsgrundlage übertragen wurde. Auch das Recht eines gekündigten Arbeitnehmers auf Beschäftigung wäre in Frage gestellt, wenn sein Arbeitsverhältnis vom Inhaberwechsel ausgenommen würde (vgl. im Übrigen Rz. 6.238 ff. zur Frage der Wirksamkeit von Kündigungen anlässlich eines Betriebsübergangs und Rz. 6.397 ff. zur Frage, gegen wen Kündigungsschutz- bzw. allgemeine Feststellungsklagen zu richten sind).334 Der Arbeitgeber, der die Kündigung vor dem Betriebsübergang ausgesprochen hat, bleibt im Kündigungsschutzprozess dazu befugt, einen Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG zu stellen, wenn der Auflösungszeitpunkt vor dem Betriebsübergang liegt.335 5. Vertretungsberechtigte Organmitglieder
6.96 Vertretungsberechtigte Organmitglieder juristischer Personen, vor allem Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften und GmbH-Geschäftsführer, sind keine Arbeitnehmer im arbeitsrechtlichen Sinne. Soweit es ihr Anstellungsverhältnis erfordert und die Organstellung nicht verbietet, wendet die Rechtsprechung allerdings einzelne Bestimmungen des Arbeitsrechts (analog) an.336 § 613a BGB spricht ausdrücklich nur von bestehenden Arbeitsverhält331 BAG v. 11.11.1986 – 3 AZR 179/85, DB 1987, 2047; BAG v. 26.2.1987 – 2 AZR 321/86, EWiR § 613a BGB 8/87, 767 m. zust. Anm. Seiter. 332 Vgl. BAG v. 9.4.1957 – 3 AZR 435/54, AP 2 zu § 611 BGB mittelbares Arbeitsverhältnis; BAG v. 8.8.1958 – 4 AZR 173/55, AP 3 zu § 611 BGB mittelbares Arbeitsverhältnis. 333 Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 80. 334 Vgl. auch Friedrich in KR, § 4 KSchG Rz. 96 f. 335 BAG v. 24.5.2005 – 8 AZR 246/04, MDR 2005, 1232 = NZA 2005, 1178. 336 Boemke, RdA 2018, 1.
502
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.98 Kap. 6
nissen337 und enthält keine planwidrige Regelungslücke hinsichtlich der im Dienstverhältnis stehenden Organmitglieder juristischer Personen. Da die Stellung von vertretungsberechtigten Organmitgliedern in hohem Maße vom persönlichen Vertrauen der Gesellschafter bzw. der Hauptversammlung und des Aufsichtsrats abhängig ist, kann § 613a BGB auch nicht auf solche Dienstverhältnisse analog angewandt werden.338 Im Übrigen ist z.B. der Geschäftsführer einer GmbH nach § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG nicht gegen Kündigungen geschützt. Die Anwendung des § 613a BGB würde somit keine Regelungslücke schließen, sondern einen solchen Schutz erst schaffen. Dieser Auffassung hat sich auch der BGH angeschlossen und im konkreten Fall einen Übergang eines Anstellungsvertrages eines GmbH-Geschäftsführers auf den Betriebserwerber verneint.339 § 613a BGB ist nur auf Arbeitnehmer zugeschnitten, deren Rechtsverhältnisse mehr von der Bindung an den Betrieb oder Betriebsteil als an dessen Rechtsträger geprägt ist. Ganz anders ist es bei vertretungsberechtigten Organmitgliedern, deren Rechtsverhältnisse in erster Linie von der Organstellung bestimmt werden. Würde man § 613a BGB im Übrigen analog anwenden, käme es zu einem Dienstverhältnis zwischen Dienstnehmer und Erwerber; gleichzeitig bliebe aber der Dienstnehmer Organmitglied der veräußernden Gesellschaft. Eine solche Aufsplittung hat der Gesetzgeber nicht gewollt. Schließt ein Arbeitnehmer mit seinem Arbeitgeber einen Geschäftsführerdienstvertrag, endet mit Aufnahme der Geschäftsführertätigkeit grds. das Arbeitsverhältnis.340 Eine Anwendung des § 613a BGB auf GmbH-Geschäftsführer ist generell, also auch im Falle eines ausnahmsweise bestehenden ruhenden Arbeitsverhältnisses, abzulehnen. Es führte potentiell zu Interessenkollisionen, wenn das ruhende Arbeitsverhältnis nach § 613a BGB auf den Erwerber übergeht, das Geschäftsführeramt als solches jedoch bei der veräußernden GmbH bestehen bleibt.341 Die Geschäftsführerstellung verhindert deshalb den Übergang eines parallel bestehenden ruhenden Arbeitsverhältnisses. Bei den Vertragsverhandlungen über einen Asset-Deal sollte die Behandlung derartiger parallel bestehender Dienstverhältnisse möglichst im Vorfeld des Betriebsübergangs geregelt werden.
6.97
In der GmbH & Co. KG kann der Dienstvertrag des Geschäftsführers mit der GmbH oder mit der KG abgeschlossen werden.342 Liegt ein Dienstvertrag mit der KG vor, neigt das BAG343 dazu, den Geschäftsführer als arbeitnehmerähnliche Person (vgl. Rz. 6.101) oder sogar als Arbeitnehmer der KG anzusehen. Im letzteren Fall müsste dies zur Anwendung des § 613a BGB führen, wenn der Betrieb oder ein Betriebsteil der KG übertragen wird und der Geschäftsführer im internen Verhältnis (ausschließlich eine Frage der Geschäftsführungsbefugnis) nur für den Betrieb oder Betriebsteil zuständig ist. Selbstverständlich kann in die-
6.98
337 338 339 340
Vgl. auch BT-Drucks. VI/1786, 59. OLG Hamm v. 18.6.1990 – 8 U 146/89, GmbHR 1991, 466. BGH v. 13.2.2003 – 8 AZR 654/01, NZA 2003, 552. BAG v. 19.7.2007 – 6 AZR 774/06, GmbHR 2007, 1219 = MDR 2007, 1379 = NZA 2007, 1095. 341 Zweifelnd auch Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 154, der darauf hinweist, dass ein möglicher Übergang des ruhenden Arbeitsverhältnisses jedenfalls bei der Due Diligence (vgl. dazu Rz. 6.414 ff.) berücksichtigt werden sollte. 342 Vgl. LG Braunschweig v. 18.12.1975 – 9a O 201/75, NJW 1976, 1748; OLG Celle v. 21.9.1979 – 3 U 197/79, GmbHR 1980, 32. 343 BAG v. 10.7.1980 – 3 AZR 68/79, GmbHR 1982, 113 = DB 1981, 276; BAG v. 15.4.1982 – 2 AZR 1101/79, MDR 1983, 785 = NJW 1983, 2405; vgl. auch Bauer, GmbHR 1984, 109; BAG v. 13.7.1995 – 5 AZB 37/94, NZA 1995, 1070.
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Kap. 6 Rz. 6.99
Arbeitsrecht
sen Fällen § 613a BGB nicht zur Folge haben, dass auch die Geschäftsführerstellung mit übergeht. 6. „Zweifelhafte“ Arbeitsverträge
6.99 Nur „echte“ Arbeitsverträge werden von § 613a BGB erfasst. Kein „echter“ Vertrag liegt vor, wenn es sich um einen Scheinvertrag nach § 117 Abs. 1 BGB handelt. Verdeckt ein Scheinvertrag ein anderes Rechtsgeschäft, so sind die für das verdeckte Rechtsgeschäft geltenden Vorschriften anwendbar (§ 117 Abs. 2 BGB), was dazu führen kann, dass bei solchen allerdings seltenen Vertragsgestaltungen § 613a BGB nicht eingreift.
6.100 Zweifelhaft kann die Rechtslage sein, wenn ein Arbeitsvertrag zwar kein Scheinvertrag ist, aber ein erhebliches Ungleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung aus außervertraglichen Gründen besteht. Den Parteien steht es zwar grundsätzlich frei, solche Arbeitsverträge zu schließen, im Rahmen des § 613a BGB kann dies aber nicht grenzenlos gelten. Ein erhebliches Ungleichgewicht verbietet vielmehr nach Sinn und Zweck der Vorschrift, einen solchen Vertrag als „Arbeitsverhältnis“ einem Dritten aufzunötigen. Der BGH344 lehnt deshalb zu Recht den Übergang eines Dienstvertrages nach § 613a BGB ab, wenn der wirtschaftliche Zweck des Vertragsschlusses im Wesentlichen in der Entschädigung eines ausscheidenden Gesellschafters liegt. 7. Arbeitnehmerähnliche Personen
6.101 Nach § 12a TVG, § 5 ArbGG, § 2 BUrlG sind arbeitnehmerähnlich solche Personen, die zwar nicht persönlich, aber wirtschaftlich abhängig und einem Arbeitnehmer vergleichbar sozial schutzbedürftig sind. Voraussetzung ist daher grundsätzlich eine Bindung an einen einzigen Auftraggeber, ohne dessen Aufträge die wirtschaftliche Existenzgrundlage entfallen würde.345 Allerdings handelt es sich um eine arbeitnehmerähnliche Person auch dann, wenn die Arbeitskraft verschiedenen Auftraggebern zur Verfügung gestellt wird, jedoch ein klares wirtschaftliches Schwergewicht auf den Beziehungen zu einem Vertragspartner liegt.346 Da § 613a BGB nur von Arbeitsverhältnissen spricht, gilt die Vorschrift für arbeitnehmerähnliche Personen, vor allem Einfirmen-Handelsvertreter und Heimarbeiter, zumindest nicht unmittelbar. Unter Hinweis auf strukturelle Unterschiede zu Arbeitsverhältnissen lehnt es das BAG347 ab, § 613a BGB entsprechend auf Heimarbeitsverhältnisse anzuwenden. Strukturelle Unterschiede bestehen aber auch zwischen Arbeitsverhältnissen und Einfirmen-Handelsvertreterverhältnissen. Trotz eines gewissen Schutzbedürfnisses dieses Personenkreises sind ebenso wie bei Heimarbeitern keine rechtlich zwingenden Anhaltspunkte für eine entsprechende Anwendung des § 613a BGB erkennbar.348 Ansprüche gegen den Erwerber kommen in diesen Fällen nur nach § 429 BGB, § 25 HGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 288 StGB und nach § 826 BGB in Betracht.
344 345 346 347 348
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BGH v. 10.2.1981 – VI ZR 185/79, MDR 1981, 661 = BB 1982, 48. Vgl. Bauer/Baeck/Schuster, Scheinselbständigkeit, 2000, Rz. 27 ff. BAG v. 28.6.1973 – 5 AZR 568/72, BAGE 25, 248. BAG v. 3.7.1980 – 3 AZR 1077/78, MDR 1981, 436 = BB 1981, 1466. Im Ergebnis ebenso BAG v. 24.3.1998 – 9 AZR 218/97, NZA 1998, 1001.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.103 Kap. 6
8. Leiharbeitsverhältnisse Bei erlaubter gewerbsmäßiger Verleihung von Arbeitskräften bestehen arbeitsrechtliche Be- 6.102 ziehungen nur zwischen Leiharbeitnehmern und Verleiher (§ 1 AÜG). Wird deshalb ein Betrieb oder Betriebsteil des Verleihers i.S.v. § 613a BGB übertragen, greift § 613a BGB ein und die Arbeitsverhältnisse der Leiharbeitnehmer gehen vom Verleiher auf den Erwerber über.349 Die bloße Übernahme von bei einem Entleiher eingesetzten Leiharbeitern durch ein anderes Leiharbeitsunternehmen stellt hingegen nur dann einen Betriebs(teil)übergang dar, wenn auch die für die Verwaltung des Leiharbeitseinsatzes erforderlichen Mitarbeiter des ursprünglichen Verleihers mit übernommen werden. Die Leiharbeitnehmer allein stellen noch keinen Betriebsteil dar.350 Fehlt dem Verleiher dagegen die nötige Erlaubnis nach § 1 AÜG, fingiert § 10 Abs. 1 AÜG ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Arbeitnehmer. Wird in einem solchen Fall der Entleiherbetrieb oder -betriebsteil auf den Erwerber übertragen, geht das fingierte Arbeitsverhältnis nach § 613a BGB auf den Erwerber über. Der EuGH hat zudem in der bislang isoliert gebliebenen Entscheidung „Albron Catering“ überraschend geurteilt, dass Arbeitsverhältnisse von Leiharbeitnehmern, die dauerhaft im Entleihbetrieb tätig sind, auf den Erwerber des Entleihbetriebs übergehen können.351 Es handelte sich hierbei um einen Sonderfall der dauerhaften konzerninternen Überlassung durch eine Personalüberlassungsgesellschaft, bei dem der EuGH den Entleiher ebenfalls als Arbeitgeber im Sinne der Betriebsübergangsrichtline angesehen hat. Ob dies auch auf Fälle dauerhafter, nicht konzerninterner Überlassung ausgedehnt werden kann, ist offen. 9. Pensionäre, Versorgungsanwärter, Vorruheständler und Mitarbeiter in Altersteilzeit Der Erwerber ist nach § 613a BGB nicht verpflichtet, Versorgungsansprüche der Arbeitnehmer zu erfüllen, die schon vor dem Übergang des Betriebs oder Betriebsteils aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden und in den Ruhestand getreten sind.352 Auch unverfallbare Versorgungsanwartschaften der zu Zeiten des bisherigen Inhabers ausgeschiedenen Arbeitnehmer, stammen nicht aus bestehenden, sondern aus zum Zeitpunkt des Übergangs beendeten Arbeitsverhältnissen und berühren den Erwerber deshalb nicht. Er haftet aber für die genannten Ansprüche, wenn er auch die Firma übernimmt, unter der der Betrieb bisher am Rechtsverkehr teilnahm (§ 25 HGB, vgl. Rz. 6.275). Für die Ruhegeldansprüche von Arbeitnehmern, die im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bereits ausgeschieden sind, haftet der Veräußerer allein und zeitlich unbeschränkt.353 Bei Mitarbeitern in Altersteilzeit ist nicht danach zu differenzieren, ob diese nach dem Betriebsübergang noch aktiv im Arbeitsverhältnis tätig sind. Auch die Arbeitsverhältnisse von Mitarbeitern, die Altersteilzeit im Blockmodell vereinbart haben und die sich in der Freistellungsphase befinden, wobei üblicherweise die
349 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 67; EuGH v. 13.9.2007 – C-458/05 – Jouini, NZA 2007, 1151; BAG v. 12.12.2013 – 8 AZR 1023/12, NZA 2014, 436. 350 BAG v. 12.12.2013 – 8 AZR 1023/12, NZA 2014, 436. 351 EuGH v. 21.10.2010 – C-242/09 – Albron Catering, NZA 2010, 1225; dazu Willemsen, NJW 2011, 1546. 352 BAG v. 11.11.1986 – 3 AZR 194/85, NZA 1987, 559; BAG v. 24.3.1987 – 3 AZR 384/85, DB 1988, 123. 353 Zur Betriebsrentenanpassung beim Veräußerer, der durch den Betriebsübergang zur Rentnergesellschaft wird, s. BAG v. 17.6.2014 – 3 AZR 298/13, DStR 2014, 2350 und BAG v. 15.9.2015 – 3 AZR 839/13, MDR 2016, 282 = NZA 2016, 235.
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6.103
Kap. 6 Rz. 6.104
Arbeitsrecht
Freistellungsphase nach Abschluss der aktiven Tätigkeit und vor Eintritt in die Altersrente liegt, gehen auf den Betriebserwerber über.354 10. Zuordnungsfragen a) Allgemeines
6.104 Geht ein kompletter Betrieb auf den Erwerber über, werden sämtliche Arbeitsverhältnisse übergeleitet. Dagegen können beim Betriebsteilübergang Zuordnungsfragen entstehen. Das betrifft zum einen diejenigen Arbeitnehmer, die sog. „Overhead-“ oder Querschnittsfunktionen (z.B. Buchhaltung, EDV, Stabsabteilung) wahrnehmen. Arbeitnehmer mit solchen Funktionen sind typischerweise in eine bestimmte Betriebsabteilung organisatorisch eingegliedert, funktional aber für verschiedene Betriebsabteilungen tätig. Zum anderen können sich Zuordnungsfragen bei solchen Arbeitnehmern stellen, die in verschiedene Betriebsabteilungen eingegliedert sind (z.B. sog. Springer).
6.105 Keine Probleme entstehen, wenn sich Veräußerer, Erwerber sowie der betroffene Arbeitnehmer über das Schicksal des Arbeitsverhältnisses einig sind. Eine von den Beteiligten herbeigeführte einvernehmliche Lösung ist zulässig.355 Der Schutzzweck des § 613a BGB verlangt nicht, in Grenz- und Zweifelsfällen eine Zuordnung gegen den Willen der Beteiligten vorzunehmen.356
6.106 Für die Zuordnung von Arbeitnehmern in Overhead- und Querschnittsfunktionen ist eine strukturorientierte Betrachtungsweise erforderlich.357 Nach der vom EuGH entwickelten Rechtsprechung358 hängt die Zuordnung davon ab, ob der betreffende Arbeitnehmer in den übergegangenen Betrieb oder Betriebsteil tatsächlich eingegliedert war. Es reicht nicht aus, dass der Arbeitnehmer auch für den übertragenen Teil Tätigkeiten verrichtet hat.359 Das BAG, das früher auf den objektiven Tätigkeitsschwerpunkt abgestellt hat,360 hat sich auch insoweit der EuGH-Rechtsprechung angeschlossen.361 So werden deshalb beim Betriebsteilübergang nur diejenigen Arbeitsverhältnisse übergeleitet, die dem übertragenen Betriebsteil angehörten.362 Die Zuordnung von Arbeitnehmern in Overhead- und Querschnittsfunktionen dürfte auf der Grundlage dieser Rechtsprechung kaum Probleme bereiten, da solche Arbeitnehmer regelmäßig einer bestimmten Betriebsabteilung organisatorisch zugeordnet sind. Allein das ist entscheidend. Der Jurist aus der Rechtsabteilung geht daher bei der Veräuße354 BAG v. 31.1.2008 – 8 AZR 27/07, MDR 2008, 980 = AP BGB § 613a Nr. 340 = NZA 2008, 705; BAG v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, MDR 2009, 574 = NZA 2009, 432. 355 BAG v. 20.7.1982 – 3 AZR 261/80, MDR 1983, 346 = DB 1983, 50; BAG v. 5.5.1988 – 2 AZR 795/87, DB 1989, 1139. 356 BAG v. 20.7.1982 – 3 AZR 261/80, MDR 1983, 346 = DB 1983, 50; dazu Kreitner, NZA 1990, 429. 357 Vgl. Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 141 ff. 358 EuGH v. 7.2.1985 – C-186/83 – Botzen, Slg. 1985, 519 (528); EuGH v. 16.2.1992 – C-132/91 – Katsikas, Slg. 1992, 6577 (6607) = AP 97 zu § 613a BGB. 359 BAG v. 24.8.2006 – 8 AZR 556/05, AP BGB § 613a Nr. 315; BAG v. 8.8.2002 – 8 AZR 583/01, NZA 2003, 315. 360 BAG v. 20.7.1982 – 3 AZR 261/80, BAGE 39, 208 = MDR 1983, 346 (214). 361 BAG v. 11.9.1997 – 8 AZR 555/95, MDR 1998, 164 = NZA 1998, 31. 362 BAG v. 7.4.2011 – 8 AZR 730/09, NZA 2011, 1231 – Zweckverband Wasser; BAG v. 13.2.2003 – 8 AZR 102/02, BB 2003, 1286 (1288); BAG v. 25.9.2003 – 8 AZR 446/02, AP 256 zu § 613a BGB; BAG v. 22.7.2004 – 8 AZR 350/03 – Gefahrstofflager, MDR 2005, 220 = NZA 2004, 1383 (1389).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.109 Kap. 6
rung eines Produktionsbereiches auch dann nicht mit über, wenn er überwiegend für diesen Bereich tätig war. Diese Rechtsprechung ist zu begrüßen, weil sie für Klarheit sorgt. Damit kann es durchaus zu Fallgestaltungen kommen, in denen z.B. die unmittelbar produktbezogenen Betriebsteile eines Unternehmens im Rahmen von Betriebsübergängen übertragen werden und die zentralen Overhead-Funktionen zurückbleiben, ohne dass diese innerhalb des Unternehmens noch sinnvoll eingesetzt werden können, was dann als Konsequenz zur Stilllegung des Restbetriebs und zu betriebsbedingten Kündigungen führt.363 Schwieriger ist die Zuordnung derjenigen Arbeitnehmer, die strukturell keiner bestimmten Betriebsabteilung zugeordnet werden können und bei denen eine einvernehmliche Lösung nicht möglich ist. Für solche Ausnahmesituationen wird vorgeschlagen, den betroffenen Arbeitnehmern ein Wahlrecht einzuräumen364 oder im Zweifel § 613a BGB anzuwenden365 mit der Folge, dass dem Übergang des Arbeitsverhältnisses – vgl. Rz. 6.128 ff. – widersprochen werden könnte. Sachgerechter dürfte es sein, dem bisherigen Inhaber in Anlehnung an § 315 BGB ein Bestimmungsrecht dahin zu geben, ob das Arbeitsverhältnis auf den neuen Inhaber übergehen soll oder nicht.366 Dabei muss der bisherige Inhaber soziale Gesichtspunkte berücksichtigen: Möchte ein Arbeitnehmer beim Veräußerer bleiben und ist er sozial schutzbedürftiger als andere vergleichbare Arbeitnehmer, bei denen eine schwerpunktmäßige Zuordnung zum einen oder anderen Betrieb bzw. Betriebsteil ebenfalls nicht möglich ist, so ist er für den Übergang nicht zu bestimmen. Geht der bisherige Inhaber so vor und widersprechen dennoch einzelne zum Übergang bestimmte Arbeitnehmer, müssen sie mit betriebsbedingten Kündigungen rechnen.
6.107
Räumt man dem bisherigen Inhaber das Bestimmungsrecht ein, so hat keiner der nicht zuzuordnenden Arbeitnehmer einen Anspruch auf Übergang seines Arbeitsverhältnisses. Damit kann sich ergeben, dass alle oder bestimmte Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse nicht eindeutig zugeordnet werden können, beim bisherigen Inhaber bleiben, ohne dass ein Widerspruch ausgeübt werden müsste. Eine Benachteiligung des neuen Inhabers kann nicht eintreten, da er es in der Hand hat, sich im Rahmen des obligatorischen Rechtsgeschäfts entsprechend abzusichern. So spricht nichts dagegen, die Ausübung des Bestimmungsrechts zwischen den beiden Arbeitgebern vertraglich festzulegen, ggf. verbunden mit Sicherungsklauseln (z.B. Minderung des Kaufpreises), falls einer oder mehrere der zugeordneten Arbeitnehmer widersprechen sollten. Betriebsratsmitglieder (vgl. Rz. 6.321 ff.) sind dem Betriebsteil zuzuordnen, in dem sie tätig sind bzw. ohne Freistellung tätig wären.
6.108
b) Umwandlungsfälle Keine Zuordnungsprobleme entstehen bei Verschmelzungen (§§ 2 ff. UmwG) sowie bei der Vermögensübertragung in Form der Vollübertragung (§ 174 UmwG). Für den Fall der Spaltung (§§ 123 ff. UmwG) oder der Teilübertragung (§ 177 UmwG) müssen die übergehenden Betriebe und Betriebsteile im Spaltungs- oder Übernahmevertrag im Einzelnen bezeichnet 363 Dies dürfte bei BAG v. 7.4.2011 – 8 AZR 730/09, NZA 2011, 1231 – Zweckverband Wasser – so eingetreten sein. 364 Seiter, S. 64; von Hoyningen-Huene/Windbichler, RdA 1977, 329; Annuß, NZA 1998, 70 (76 f.). 365 Vgl. Seiter, S. 64. 366 Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 47; Bauer, DB 1983, 1097; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 143; a.A. Kreitner, NZA 1990, 429, der ein einseitiges Bestimmungsrecht des Betriebsteilsveräußerers ablehnt mit der Folge, dass ein Übergang kraft Gesetzes nicht stattfinden kann.
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6.109
Kap. 6 Rz. 6.110
Arbeitsrecht
und aufgeteilt werden (§ 126 Abs. 1 Nr. 9 UmwG). Die weit gehende Freiheit bei der Aufteilung des Vermögens des sich spaltenden Rechtsträgers endet bei den Arbeitsverhältnissen. Die Zuordnung der Arbeitnehmer richtet sich zwingend nach § 324 UmwG i.V.m. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB. Werden im Spaltungs- und Übernahmevertrag dennoch Arbeitsverhältnisse zugeordnet, hat dies lediglich deklaratorische Wirkung.367 In diesen Fällen richtet sich die Zuordnung nach den oben beschriebenen Grundsätzen.
6.110 Erleichterte Zuordnungsmöglichkeiten bietet § 323 Abs. 2 UmwG. Danach kann bei einer Verschmelzung, Spaltung oder Vermögensübertragung auf umwandlungsrechtlicher Grundlage die Zuordnung der Arbeitnehmer in einem Interessenausgleich (§ 112 BetrVG) vorgenommen werden. Die darin enthaltene Zuordnung kann durch das ArbG nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Der Interessenausgleich bindet zwar nur den Unternehmer,368 bezieht seine konstitutive Wirkung aber aus der beschränkten gerichtlichen Nachprüfbarkeit.369 Die Möglichkeit der Zuordnung von Arbeitnehmern durch Interessenausgleich gem. § 323 Abs. 2 UmwG unterliegt allerdings mehrfachen Beschränkungen. Die erste Voraussetzung ist das Zustandekommen des Interessenausgleichs mit dem Betriebsrat. In der Literatur wird darüber hinaus überwiegend die Auffassung vertreten, der von § 323 Abs. 2 UmwG geforderte Interessenausgleich könne nur bei Vorliegen einer Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG geschlossen werden.370 Nach richtiger Auffassung kann die Zuordnung der Arbeitnehmer durch freiwilligen Interessenausgleich auch ohne Vorliegen einer Betriebsänderung i.S.d. BetrVG erfolgen.371 Der Wortlaut von § 323 Abs. 2 UmwG verlangt lediglich den Abschluss eines Interessenausgleichs, nicht aber das Vorliegen einer Betriebsänderung. Es ist anerkannt, dass Arbeitgeber und Betriebsrat über die Gegenstände erzwingbarer Mitbestimmung hinaus freiwillige Vereinbarungen schließen können.372 Solche Abmachungen können in einer (verbindlichen) Betriebsvereinbarung oder aber in einem Interessenausgleich bestehen.373 Die Betriebsparteien können daher auch ohne Vorliegen einer Betriebsänderung eine Zuordnung in einem (freiwilligen) Interessenausgleich vornehmen.
6.111 Umstritten ist auch die Reichweite der Zuordnungskompetenzen der Betriebsparteien. Überwiegend wird angenommen, die Betriebsparteien sollen bei der Zuordnung die sich aus § 613a BGB ergebenden Wertungen beachten. Nach dieser Auffassung darf die Zuordnung selbst bei zweifelhafter Rechtslage nicht in Abweichung von § 613a BGB vorgenommen werden.374 Eine im Interessenausgleich getroffene Zuordnung ist richtigerweise erst dann „grob fehlerhaft“, wenn ihr jedwede sachliche und objektive Grundlage fehlt.375 Dieser Fall ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn eine eindeutige Zuordnung des Arbeitnehmers zu einem übertragenden Betrieb oder Betriebsteil möglich war. Die Darlegungs- und Beweislast für diejenigen tatsächlichen Umstände, die die Zuordnung als „grob fehlerhaft“ erscheinen lassen, trägt 367 Vgl. Priester in Lutter, § 126 UmwG Rz. 68 f.; die noch in § 126 des Referentenentwurfs enthaltene Möglichkeit der Zuordnung von Arbeitsverhältnissen ist nicht Gesetz geworden. 368 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 50. 369 Vgl. Joost in Lutter, § 323 UmwG Rz. 34. 370 Vgl. Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 162; Boecken, Unternehmensumwandlungen, Rz. 124; Joost in Lutter, § 323 UmwG Rz. 32; ErfK/Oetker, § 323 UmwG Rz. 8. 371 Ebenso Hohenstatt, NZA 1998, 846 (852). 372 Vgl. nur Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 19 ff. 373 Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, §§ 112, 122a BetrVG Rz. 21. 374 Vgl. Joost, ZIP 1995, 976; zum Meinungsstand Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/ Seibt, G Rz. 159. 375 Bauer/Lingemann, NZA 1994, 1057 (1064); Wlotzke, DB 1995, 40 (45).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.112 Kap. 6
der Arbeitnehmer.376 Für die Geltendmachung der groben Fehlerhaftigkeit sieht das Gesetz keine Frist vor. Es ist davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer unverzüglich nach Kenntnis des Betriebsübergangs die grobe Fehlerhaftigkeit der Zuordnung geltend machen muss.377 Außerhalb des Anwendungsbereiches von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB kommt eine ausschließ- 6.112 lich umwandlungsrechtliche Zuordnung von Arbeitnehmern in Betracht. Ein Bedürfnis hierfür kann sich ergeben, wenn lediglich Betriebsmittel übertragen werden, die keine wirtschaftliche Einheit im Sinne der Rechtsprechung zum Betriebs(teil)übergang bilden, dennoch aber Arbeitsverhältnisse übergehen sollen. Ebenso kann es Fälle geben, in denen Arbeitsverhältnisse übertragen werden sollen, die weiterhin Betriebsteilen des übertragenden Rechtsträgers zuzuordnen sind.378 In diesen Fällen kann § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB nicht eingreifen. Der Übergang der Arbeitsverhältnisse vollzieht sich nach den Grundsätzen des Umwandlungsrechtes. Dazu müssen die übergehenden Arbeitsverhältnisse im Spaltungs- und Übernahmevertrag namentlich aufgeführt werden, die bloße Nennung von Betrieben oder Betriebsteilen (§ 126 Abs. 1 Nr. 9 UmwG) ist nicht ausreichend.379 Da § 613a BGB nicht eingreift, steht den Arbeitnehmern ein Widerspruchsrecht nicht zu. Die freie Zuordnungsmöglichkeit auf Grundlage von § 126 Abs. 1 Nr. 9 UmwG steht aber unter dem Vorbehalt des § 132 UmwG. Danach bleiben allgemeine Vorschriften, die die Übertragbarkeit eines bestimmten Gegenstandes ausschließen oder an bestimmte Voraussetzungen knüpfen, durch die Wirkungen der Eintragung (der Spaltung) unberührt. Ausdrücklich ist in § 132 UmwG bestimmt, dass § 399 BGB (vertraglicher Ausschluss der Abtretbarkeit) im Fall der Aufspaltung nicht entgegenstehen soll. Zu den im Rahmen des § 132 UmwG zu beachtenden Vorschriften wird allgemein auch § 613 Satz 2 BGB gezählt.380 Danach ist der Anspruch auf die Arbeitsleistung „im Zweifel“ nicht übertragbar. Bei uneingeschränkter Anwendbarkeit von § 613 Satz 2 BGB wäre im Ergebnis das Arbeitsverhältnis nur mit Zustimmung oder Genehmigung des Arbeitnehmers nach § 126 Abs. 1 Nr. 9 UmwG übertragbar. Die Anwendbarkeit von § 613 Satz 2 BGB ist in diesen Fällen jedoch stark relativiert. § 613 Satz 2 BGB ist ein Spezialfall von § 399 BGB.381 Sein Anwendungsbereich kann deshalb sachlich nicht weiter reichen als der des § 399 BGB. Ebenso wie § 399 BGB gilt § 613 Satz 2 BGB deshalb nicht in Aufspaltungsfällen. Dazu zählen die Spaltung sowie die Vermögensteilübertragung unter Auflösung des ursprünglichen Rechtsträgers (§§ 123 Abs. 1, 174 Abs. 2 Nr. 1 UmwG). Eine spaltungsrechtliche Zuordnung des Arbeitsverhältnisses wird durch § 613 Satz 2 BGB somit nicht verhindert.382 Bei den verbleibenden Umwandlungsfällen steht § 613 Satz 2 BGB lediglich dann entgegen, wenn das Arbeitsverhältnis konkret auf den jeweiligen Betriebsteil bezogen ist, dessen Zuordnung geändert werden soll.383
376 377 378 379 380 381 382 383
Vgl. Bauer/Lingemann, NZA 1994, 1057 (1061); Mengel, S. 155. Vgl. Mengel, S. 155. Vgl. weitere Fälle bei Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 164 ff. Vgl. Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 165. Vgl. Hartmann, ZfA 1997, 21 (26). Vgl. Hartmann, ZfA 1997, 21 (27) m.w.N. Vgl. Hartmann, ZfA 1997, 21 (27). Dazu im Einzelnen Hartmann, ZfA 1997, 21 (27 f.); Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/ Schweibert/Seibt, G Rz. 168, nach dessen Auffassung § 613 Satz 2 BGB in den Fällen nicht entgegensteht, in denen dem Arbeitgeber ein arbeitsvertragliches Versetzungsrecht eingeräumt ist.
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Kap. 6 Rz. 6.113
Arbeitsrecht
11. Abweichende Vereinbarungen
6.113 Der (potentielle) Erwerber ist oft nur an einer zahlenmäßig verringerten Belegschaft interessiert. Dagegen steht der Schutzzweck von § 613a BGB. Durch die Vorschrift soll erreicht werden, dass das Arbeitsverhältnis zu den bisherigen Bedingungen zwischen dem Arbeitnehmer und dem Erwerber fortbesteht. Sie enthält zum Schutz der betroffenen Arbeitnehmer zwingendes Recht.384 Deshalb kann der Eintritt des Erwerbers in die Rechte und Pflichten aus dem betroffenen Arbeitsverhältnis nicht durch Vertrag zwischen Veräußerer und Erwerber ausgeschlossen werden.
6.114 Der zwingende Schutzzweck beschränkt nach zweifelhafter Auffassung der Rechtsprechung auch die Befugnis der Arbeitsvertragsparteien zu Vertragsänderungen im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang. So unterwirft das BAG sowohl einvernehmliche Vertragsänderungen zum Nachteil des Arbeitnehmers als auch den Verzicht des Arbeitnehmers auf einzelne Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis durch Erlassvertrag (§ 397 BGB) einer Inhaltskontrolle, für die sachliche Gründe vorliegen müssen.385 Dieses Erfordernis soll nach der Rechtsprechung dann gelten, wenn es sich um Regelungen zum Nachteil des Arbeitnehmers betreffend vor dem Betriebsübergang bereits verdientes Arbeitsentgelt oder erdiente Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung handelt. Nach erfolgtem Betriebsübergang hindert § 613a BGB Arbeitnehmer und Betriebsübernehmer allerdings nicht, einzelvertraglich eine Verschlechterung von Arbeitsbedingungen (hier: Absenkung der Vergütung) zu vereinbaren.386 (vgl. dazu und zu den von der Rechtsprechung verlangten sachlichen Gründen Rz. 6.232). Beim Verzicht auf tarifvertraglich begründete Ansprüche nach einem Betriebsübergang ist allerdings zu beachten, dass solche Ansprüche durch den Betriebsübergang nicht ihre Unverzichtbarkeit gem. § 4 Abs. 4 TVG verlieren. Ob die Tarifbindung, die beim Veräußerer bestanden hat, beim Erwerber fortbesteht, ist dabei ohne Belang. Ein ohne Zustimmung der bei Entstehung des Anspruchs zuständigen Tarifvertragsparteien erklärter Verzicht auf tarifvertraglich entstandene Rechte ist deshalb unwirksam.387
6.115 Aufhebungsverträge zwischen dem bisherigen und/oder dem neuen Arbeitgeber einerseits und einzelnen Arbeitnehmern andererseits werden durch § 613a BGB nicht ausgeschlossen.388 Auch hierbei sind aber Einschränkungen zu beachten: Aufhebungsverträge sind nur dann ohne weiteres zulässig, wenn die Vereinbarung auf das endgültige Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Betrieb gerichtet ist.389 Das Arbeitsverhältnis kann auch rückwirkend aufgelöst werden, wenn es bereits außer Vollzug gesetzt worden war.390 Als unzulässige Umgehung von 384 BAG v. 12.5.1992 – 3 AZR 247/91, MDR 1993, 59 = NZA 1992, 1080. 385 BAG v. 18.8.1976 – 5 AZR 95/75, EzA § 613a BGB Nr. 7; BAG v. 26.1.1977 – 5 AZR 302/75, AP 5 zu § 613a BGB; BAG v. 29.10.1985 – 3 AZR 485/83, AP 4 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung; krit. dazu Moll, NJW 1993, 2016 (2022); BAG v. 19.3.2009 – 8 AZR 722/07, MDR 2009, 1398 = NZA 2009, 1091. 386 BAG v. 7.11.2007 – 5 AZR 1007/06, MDR 2008, 456 = NZA 2008, 530; dazu Dzida/Wagner, NZA 2008, 571. 387 BAG v. 12.2.2014 – 4 AZR 317/12, MDR 2014, 787; BAG v. 27.4.1988 – 5 AZR 358/87, NZA 1988, 655. 388 Vgl. Bauer, Arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge, Rz. 895 ff.; Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 52; Bauer, DB 1983, 713. 389 BAG v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, MDR 2006, 578 = NZA 2006, 145; BAG v. 11.12.1997 – 8 AZR 654/95, NZA 1999, 262; vgl. auch Hanau, ZIP 1998, 1817 (1822). 390 BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, NZA 1999, 422 ff. m. Anm. Hanau; Joost, EWiR § 613a BGB 1999, 247.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.116 Kap. 6
§ 613a BGB erachtet die Rechtsprechung dagegen Konstruktionen, bei denen das Arbeitsverhältnis formal durch Aufhebungsvertrag mit dem Veräußerer beendet wird, zugleich aber ein neues Arbeitsverhältnis (in der Regel zu ungünstigeren Bedingungen) mit dem Erwerber geschlossen wird.391 Deshalb ist ein Aufhebungsvertrag wegen objektiver Gesetzesumgehung nichtig, wenn er lediglich die Beseitigung der Kontinuität des Arbeitsverhältnisses bei gleichzeitigem Erhalt des Arbeitsplatzes bezweckt. Das ist bei Aufhebungsverträgen immer dann der Fall, wenn zugleich mit ihrem Abschluss ein neues Arbeitsverhältnis mit dem Erwerber vereinbart oder zumindest verbindlich in Aussicht gestellt wird.392 Die Einschaltung sog. Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften (BQG) oder von Transfergesellschaften ist dagegen zulässig, solange den Arbeitnehmern eine anschließende Weiterbeschäftigung bei einem Erwerber (z.B. eine Auffanggesellschaft) nicht verbindlich zugesagt wird393 (ausführlich zur BQG Rz. 6.301). Aufhebungsverträge, die nicht zu einer Änderung, sondern zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen, sind daher grundsätzlich wirksam und scheitern nicht an § 613a Abs. 4 BGB. Arbeitnehmer, die durch Aufhebungsvertrag aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sind, haben auch keinen Weiterbeschäftigungs- oder Fortsetzungsanspruch gegen den Erwerber, es sei denn, die Wirksamkeit des Aufhebungsvertrages wird durch Anfechtung oder den Wegfall der Geschäftsgrundlage beseitigt.394 Veranlasst der Arbeitgeber vor einem Betriebsübergang die Arbeitnehmer zur Erklärung von Eigenkündigungen und stellt gleichzeitig den Abschluss von neuen Arbeitsverträgen mit dem Betriebserwerber in Aussicht, sind solche Eigenkündigungen ebenfalls wegen Umgehung des § 613a BGB unwirksam.395 Anfechtbar können Aufhebungsverträge im Übrigen aber dann sein, wenn sie vom bisherigen Inhaber unter dem Vorwand abgeschlossen werden, den Betrieb oder Betriebsteil alsbald stilllegen zu wollen oder zu müssen, in Wirklichkeit aber von vornherein eine Übertragung nach § 613a BGB beabsichtigt war oder ist.396 Dann kommt eine Anfechtung nach § 123 BGB wegen arglistiger Täuschung in Betracht; der anfechtbare Aufhebungsvertrag wird als von Anfang an nichtig angesehen (§ 142 Abs. 1 BGB) mit der Folge, dass das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Übergangs noch bestanden hat. Werden auf diese Weise viele Aufhebungsverträge angefochten, ist eine Anfechtung des Übernahmevertrages durch den Erwerber denkbar; auch Schadenersatz- oder Minderungsansprüche sind möglich. Vgl. weiter Rz. 6.231 zu der Frage, 391 BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, NZA 1999, 422. 392 BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, NZA 1999, 422; BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06, NZARR 2008, 367. 393 BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, NZA 1999, 422. Diese Entscheidung bezieht sich auf den Fall, in dem eine Beschäftigungsgesellschaft zwischen Veräußerer und Erwerber geschaltet wird. Erfreulicherweise besteht damit in Sanierungsfällen die Möglichkeit, die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer eines insolventen Unternehmens durch Aufhebungsverträge zu beenden und gleichzeitig neue, befristete Arbeitsverhältnisse mit einer Beschäftigungsgesellschaft einzugehen. Die Entscheidung wird bestätigt durch BAG v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, MDR 2006, 578 = NZA 2006, 145; es muss aber zur Vermeidung der Umgehung des § 613a BGB für den Arbeitnehmer das Risiko bestehen bleiben, nach Eintritt in die BQG vom Betriebserwerber nicht weiterbeschäftigt zu werden; die Zusage lediglich befristeter Arbeitsverträge durch den Erwerber (BAG v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZI 2013, 313) oder einer Chance von 352 zu 452 auf Erhalt eines Arbeitsplatzes durch Los (BAG v. 18.8.2011 – 8 AZR 312/10, MDR 2012, 232 = NZA 2012, 152 – „Lotterie-Urteil“) reichen hierfür nicht aus; vgl. Rz. 6.301 ff. 394 BAG v. 23.11.2006 – 8 AZR 349/06, NZA 2007, 886; BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, NZA 1999, 422. 395 BAG v. 27.9.2012 – 8 AZR 826/11, NZA 2013, 961 wendet die Rechtsprechung zur Umgehung des § 613a BGB durch Aufhebungsverträge auch auf Eigenkündigungen an. 396 Vgl. Bauer, Arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge, Rz. 895.
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6.116
Kap. 6 Rz. 6.117
Arbeitsrecht
inwieweit Aufhebungsverträge mit dem bisherigen Inhaber und neue Arbeitsverträge mit dem Erwerber abgeschlossen werden können.
IV. Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers 1. Rechtsnatur
6.117 Nach h.M. und ständiger Rechtsprechung des BAG handelt es sich bei der Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB um eine echte Rechtspflicht und nicht lediglich um eine Obliegenheit.397 Deshalb kann sich aus deren Verletzung neben der Rechtsfolge, dass die Frist für die Ausübung des Widerspruchsrechts nicht zu laufen beginnt, auch ein Schadensersatzanspruch des von einer Verletzung der Unterrichtungspflicht betroffenen Arbeitnehmers ergeben.398 Die Verletzung der Unterrichtungspflicht führt jedoch nicht zur Unwirksamkeit einer gegen den vom Betriebübergang betroffenen Arbeitnehmer ausgesprochenen Kündigung – ein Kündigungsverbot nach fehlender oder unvollständiger Unterrichtung besteht nicht.399 Der Gesetzeswortlaut sieht eine Unterrichtungspflicht für jeden Fall des Betriebsübergangs vor, demgegenüber wird in der Literatur vertreten, bei Fehlen eines Widerspruchsrechts, etwa im Falle des Erlöschens des alten Arbeitgebers als übertragender Rechtsträger bei einer Verschmelzung,400 entfalle auch die Unterrichtungspflicht.401 Dies ist schon deshalb abzulehnen, weil die Rechtswirkung der Unterrichtungspflicht nicht auf das bloße Auslösen der Widerspruchsfrist beschränkt ist. Die Rechtsprechung billigt dem vom Erlöschen seines alten Arbeitgebers betroffenen Arbeitnehmer ein außerordentliches Kündigungsrecht gem. § 626 Abs. 1 BGB gegenüber dem Erwerber zu, um der Sicherung der gem. Art. 2 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Vertrags- und Berufsfreiheit des Arbeitnehmers Rechnung zu tragen.402 Es bedarf deshalb ebenso wie bei der Frage der Ausübung des Widerspruchsrechts der Information der betroffenen Arbeitnehmer hinsichtlich der Ausübung dieses Kündigungsrechts.403 Auch in Verschmelzungsfällen hat ein Arbeitnehmer ein Interesse daran, über die zukünftige Situation seines Arbeitsverhältnisses beim Erwerber informiert zu werden. Erleidet er durch schuldhaft falsche oder unvollständige Information einen Schaden, ist der Erwerber hierfür ersatzpflichtig. Die Unterrichtungspflicht des § 613a Abs. 5 BGB ist auch nicht gesetzessystematisch derart mit dem Widerspruchsrecht verknüpft, welches gesondert in § 613a Abs. 6 BGB geregelt ist, dass letzteres die Bedingung für die Geltung der Unterrichtungspflicht darstellen würde. 2. Inhalt
6.118 § 613a Abs. 5 BGB sieht vor, dass Veräußerer oder Erwerber die Arbeitnehmer zeitlich vor dem Betriebsübergang über Zeitpunkt oder geplanten Zeitpunkt, Grund sowie die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Betriebsübergangs und die hinsichtlich der 397 BAG v. 2.4.2009 – 8 AZR 220/07, AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 6; BAG v. 20.3.2008 – 8 AZR 1022/06; BAG v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, NZA 2008, 642; BAG v. 13.7.2006, AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 1; BAG v. 24.5.2005 – 8 AZR 398/04, NZA 2005, 1302; Rupp, NZA 2007, 301; Wank in MünchHdb. ArbR, § 102 Rz. 91. 398 LAG Schleswig-Holstein v. 14.2.2012 – 1 Sa 221d/11, EWiR 2012, 277. 399 BAG v. 24.5.2005 – 8 AZR 398/04, NZA 2005, 1302. 400 Vgl. BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 157/07, MDR 2008, 1045 = NZA 2008, 815. 401 So Simon/Weninger, BB 2010, 117. 402 BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 157/07, MDR 2008, 1045 = NZA 2008, 815. 403 So auch Otto/Mückl, BB 2011, 1978.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.119 Kap. 6
Arbeitnehmer in Aussicht genommenen Maßnahmen rechtzeitig und vollständig unterrichten. Es ist nicht ersichtlich, welche Informationen offenbart werden müssen, damit die Anforderungen an die „Vollständigkeit“ erfüllt sind.404 In dieser Rechtsunsicherheit liegt ein Anreiz für die betroffenen Arbeitnehmer, in der Unterrichtung irgendeinen Fehler zu finden, um noch viele Monate nach dem Übergang widersprechen zu können.405 Da die einmonatige Widerspruchsfrist des Arbeitnehmers erst nach „ordnungsgemäßer“ Information406 beginnt, entzünden sich in der Praxis endlose Streitfragen daran, ob die Unterrichtung inhaltlich „vollständig“ war oder nicht. Unseres Erachtens muss die Unterrichtung kurz und verständlich sein, um ihre Funktion als Entscheidungsgrundlage für den Widerspruch erfüllen zu können. Demgegenüber hat die Rechtsprechung in mehreren Entscheidungen ganz erhebliche Anforderungen an die inhaltliche Tiefe und auch die juristische Richtigkeit der Angaben im Unterrichtungsschreiben gemacht – demnach muss die Auskunft vollständig, inhaltlich richtig und präzise sein.407 Die Unterrichtung muss den Gegenstand des Betriebsübergangs bezeichnen, d.h. welcher Betrieb oder Betriebsteil übergeht. Hierzu gehört auch die Angabe, dass der Erwerber nur das bewegliche Anlagevermögen, nicht aber das Betriebsgrundstück erwirbt.408 So ist in der Unterrichtung der neue Betriebsinhaber so zu bezeichnen, dass hinreichende Klarheit über dessen Identität besteht. Der Arbeitnehmer muss in der Lage sein, Erkundigungen über den Erwerber einzuholen – hierzu gehört die Angabe der Firma des Erwerbers, des Firmensitzes, die Angabe einer Geschäftsadresse409, und der für den Erwerber in Personalangelegenheiten vertretungsbefugten Personen. Werden Handelsregisterangaben gemacht, müssen diese korrekt sein.410 Liegen Teile dieser Informationen zum Zeitpunkt der Unterrichtung noch nicht vor – etwa weil die Erwerber-Gesellschaft noch nicht gegründet ist – sind diese Informationen später ausdrücklich in der gesetzlich vorgeschriebenen Form zu vervollständigen.411 Erst danach beginnt die Monatsfrist für die Ausübung des Widerspruchsrechts zu laufen. Für die Beurteilung ihrer Vollständigkeit und Richtigkeit kommt es auf den Kenntnisstand von Veräußerer und Erwerber zum Zeitpunkt der Unterrichtung412 an. Die Informationen beruhen vielfach auf Prognosen. Da der genaue Zeitpunkt des Betriebsübergangs zum Zeitpunkt der Unterrichtung meist noch nicht genau angegeben werden kann, sollten die Beteiligten in dem Unterrichtungsschreiben ausdrücklich auf den „geplanten“ Übergangszeitpunkt verweisen. Ver-
404 405 406 407
408 409 410 411 412
Bauer/von Steinau-Steinrück, ZIP 2002, 461 ff.; Worzalla, NZA 2002, 354. Vgl. Rieble, NZA 2004, 3. BAG v. 24.5.2005 – 8 AZR 398/04, NZA 2005, 1302. BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 303/05, MDR 2007, 223 und 305/05, AP BGB § 613a Nr. 311, 312; dazu Hohenstatt/Grau, NZA 2007, 13 und BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, MDR 2010, 396 = DB 2010, 58; BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 808/07, NZA 2009, 547 (Rz. 26); kritisch hierzu Willemsen, NJW 2007, 2065; BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, MDR 2010, 396 = NZA 2010, 89; BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 357/08, NZA 2010, 393. BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, MDR 2007, 222 = NZA 2006, 1268; BAG v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, NZA 2008, 642. BAG v. 21.8.2008 – 8 AZR 407/07, NZA-RR 2009, 62 (Rz. 37). BAG v. 14.11.2013 – 8 AZR 824/12, NJW 2014, 1755. BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 541/08, n.v. (Rz. 23 ff.); BAG v. 21.8.2008 – 8 AZR 407/07, NZA-RR 2009, 62 (Rz. 39); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 88; dies wurde z.B. vom Arbeitgeber versäumt in BAG v. 14.11.2013 – 8 AZR 824/12, NJW 2014, 1755. BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, MDR 2007, 222 = AP BGB § 613a Nr. 312; BAG v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, NZA 2007, 682.
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6.119
Kap. 6 Rz. 6.120
Arbeitsrecht
schiebt sich dieser Zeitpunkt später, wird die Information deshalb nicht unrichtig, solange der Grund der Verschiebung im Zeitpunkt der Unterrichtung nicht absehbar war.413 Erfolgt die Unterrichtung nicht – wie in § 613a Abs. 5 BGB vorgesehen – „vor“ dem Betriebsübergang sondern gleichzeitig damit oder gar erst danach, bleibt es dabei, dass mit Zugang der vollständigen Unterrichtung beim Arbeitnehmer die Monatsfrist für die Ausübung des Widerspruchsrechts zu laufen beginnt.414
6.120 Was „Grund“ für den Betriebsübergang sein soll, ist nach dem Wortlaut der Norm nicht eindeutig. Die Ratio der Richtlinie bezweckt, den Arbeitnehmer vor wesentlichen Nachteilen zu schützen, ohne dabei den Arbeitgeber zur Offenlegung vertraulicher Informationen zu zwingen. Angesichts dieser Vorgabe sollte es eigentlich genügen, als „Grund“ das dem Betriebsübergang zugrunde liegende Rechtsgeschäft (z.B. Unternehmenskaufvertrag oder Umstrukturierung nach UmwG) allgemein zu benennen. Die bloße Angabe des dem Betriebübergang zugrunde liegenden Rechtsgeschäfts (Kauf, Pacht, Miete, Umwandlung o.Ä.) lässt das BAG allerdings nicht stets genügen. Den betroffenen Arbeitnehmern müssen demnach zumindest schlagwortartig die unternehmerischen Gründe für den Betriebsübergang mitgeteilt werden, die sich beim Betriebserwerber und im Falle des Widerspruchs beim Betriebsveräußerer auf den Arbeitsplatz auswirken können.415 Erfolgt etwa eine (Teil)Betriebsveräußerung im Rahmen der Einstellung des Geschäfts beim Betriebsveräußerer, wäre dies mitzuteilen, da dies die Einsatzmöglichkeiten der Arbeitnehmer nach Ausübung des Widerspruchs einschränkt und widersprechende Arbeitnehmer der erhöhten Gefahr von betriebsbedingten Kündigungen aussetzt. Es empfiehlt sich deshalb, das tragende Motiv für den Übergang bekannt zu machen.416
6.121 Bei den „rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen“ des Betriebsübergangs ist eine restriktive Auslegung geboten.417 Das zeigt sich aus einem Vergleich dieser Begriffe mit den in § 5 Abs. 1 Nr. 9 UmwG enthaltenen Pflichtangaben bei einer Umwandlung gegenüber der Arbeitnehmervertretung. Bereits dort ist eine in alle Einzelheiten gehende Darstellung nicht erforderlich.418 Die Adjektive „wirtschaftlich“ und „sozial“ lassen eine Konkretisierung im Übrigen kaum zu. Nach der Gesetzesbegründung sind drei Umstände rechtlich erheblich:419 – Auswirkungen auf den Inhalt des Arbeitsverhältnisses – Haftungsverteilung zwischen Veräußerer und Erwerber sowie – Kündigungsschutz
6.122 Zu den rechtlichen Folgen gehören die sich unmittelbar aus dem Betriebsübergang als solchem ergebenden Rechtsfolgen, wie z.B. der Eintritt des Übernehmers in die Rechte und Pflichten aus dem übergehenden Arbeitsverhältnis, die gesamtschuldnerische Haftung 413 Vgl. Bauer/von Steinau-Steinrück, Sonderbeil. zu NZA 16/2003, S. 73. 414 BAG v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, NZA 2007, 682. 415 BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 541/08, n.v. (Rz. 28); BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, MDR 2007, 222 = NZA 2006, 1268; BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 304/05, AP BGB § 613a Nr. 312. 416 Vgl. Bauer/von Steinau-Steinrück, ZIP 2002, 457 (462 f.); Bauer/von Steinau-Steinrück, Sonderbeil. zu NZA 16/2003, S. 73. 417 Nach Pröpper, DB 2003, 2011 (2012) müssen nach dem Maßstab der subjektiven Determination nach § 102 BetrVG auch bei der Unterrichtung nur die arbeitgeberseitig als ausschlaggebend angesehenen Umstände mitgeteilt werden. 418 Willemsen in Kallmeyer, § 5 UmwG Rz. 54. 419 BT-Drucks. 14/7760, 19.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.122 Kap. 6
von Übernehmer und Veräußerer und die kündigungsrechtliche Situation420 sowie die Auswirkungen von beim Übernehmer geltenden Tarifregelungen und die Geltung oder Ablösung von Betriebsvereinbarungen einschließlich der Angabe, ob diese kollektiv- oder individualrechtlich gelten.421 Hierzu gehört auch die Mitteilung, dass für den neuen Inhaber die Sozialplanprivilegierung nach § 112a Abs. 2 Satz 1 BetrVG gilt.422 Der Arbeitgeber muss die unmittelbaren individual- und kollektivrechtlichen Auswirkungen nicht für jeden einzelnen Arbeitnehmer, sondern generell für alle Arbeitnehmer beschreiben.423 Er muss deutlich machen, dass die individualvertraglichen Rechte und Pflichten aus Arbeitsvertrag, betrieblicher Übung etc. unverändert auf den Erwerber übergehen. Eine Auflistung im Einzelnen ist nicht erforderlich. Zum Zwecke der Anschaulichkeit kann es sinnvoll sein, auf einzelne Vertragspositionen wie die betriebliche Altersversorgung oder besonders ausgehandelte Rechte wie z.B. Arbeitgeberdarlehen gesondert hinzuweisen. Eine Verpflichtung zur Angabe der Höhe der beim Betriebsübergang bestehenden Anwartschaft auf betriebliche Altersversorgung ergibt sich aus § 613a Abs. 5 BGB nicht.424 Ggf. hat der Arbeitgeber auch auf speziell sich beim Betriebsübergang ergebende Veränderungen, wie z.B. den Verfall von Aktienoptionen,425 einzugehen. Ist der Betriebserwerber als neu gegründetes Unternehmen gem. § 112a BetrVG nicht sozialplanpflichtig, muss darauf hingewiesen werden.426 Die Fragen um das „Ob“ und das „Wie“ der Fortgeltung von Kollektivnormen nach dem Übergang sind in der Regel sehr komplex (Rz. 6.348 ff.). Daher genügt es, wenn z.B. der Veräußerer die Arbeitnehmer darüber unterrichtet, ob die bisherigen Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen unverändert beim Erwerber weitergelten, in das individuelle Arbeitsverhältnis transformiert oder ob sie durch regelungsidentische Kollektivvereinbarungen des Erwerbers verdrängt werden.427 Die beteiligten Arbeitgeber müssen den Arbeitnehmer über die Haftungsverteilung informieren. Dazu gehört zum einen der Hinweis, dass der Erwerber in die unbeschränkte Haftung für alle, auch rückständige Ansprüche aus dem übergehenden Arbeitsverhältnis eintritt. Zum anderen muss gesagt werden, dass der Veräußerer daneben für diejenigen Ansprüche haftet, die vor dem Betriebsübergang entstanden und fällig geworden sind oder innerhalb eines Jahres danach fällig werden. Für die danach fällig werdenden Ansprüche haftet er dann nur noch zeitanteilig. Die beteiligten Arbeitgeber müssen schließlich darauf hinweisen, dass Kündigungen „wegen“ Betriebsübergangs unwirksam sind, Kündigungen aus anderen Gründen dagegen unberührt bleiben. Die Information muss sich auch darauf beziehen, ob beim neuen Arbeitgeber Kündigungsschutz nach dem KSchG besteht. Dies richtet sich nach der Erreichung des Schwellenwerts des § 23 Abs. 1 KSchG beim Betriebserwerber – ein auf Grund der Mitarbeiterzahl vorhandener Kündigungsschutz beim Veräußerer geht nicht mit dem Arbeitsverhältnis gem. § 613a BGB auf den Erwerber über.428 Die Information über die rechtlichen Folgen muss präzise sein und darf keinen ju420 BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 541/08, n.v. (Rz. 33); BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 808/07, AP BGB § 613a Unterrichtung Nr. 4. 421 BAG v. 27.11.2008 – 8 AZR 174/07, MDR 2009, 813 = NZA 2009, 552. 422 BAG v. 15.12.2016 – 8 AZR 612/15, NZA 2017, 783. 423 Vgl. BT-Drucks. 14/7760, 19. 424 BAG v. 22.5.2007 – 3 AZR 357/06, NZA 2007, 1285; BAG v. 22.5.2007 – 3 AZR 834/05, MDR 2007, 1431 = NZA 2007, 1283. 425 Vgl. von Steinau-Steinrück, NZA 2003, 473; Bauer/Göpfert/von Steinau-Steinrück, ZIP 2001, 1129 ff. 426 BAG v. 14.11.2013 – 8 AZR 824/12, NJW 2014, 1755. 427 Bauer/von Steinau-Steinrück, Sonderbeil. zu NZA 16/2003, S. 74; Bauer/von Steinau-Steinrück, ZIP 2002, 462. 428 BAG v. 15.2.2007 – 8 AZR 397/06, MDR 2007, 1025 = NZA 2007, 739.
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Kap. 6 Rz. 6.123
Arbeitsrecht
ristischen Fehler enthalten, eine nur „im Kern“ richtige Belehrung reicht nicht mehr aus.429 Eine fehlerhafte Unterrichtung über Rechtsfragen führt allerdings dann nicht zur Unwirksamkeit, wenn der Unterrichtungspflichtige die Rechtslage gewissenhaft geprüft und einen vertretbaren Rechtsstandpunkt eingenommen hat.430 Die Fehlerhaftigkeit der Information braucht nicht kausal für die Ausübung des Widerspruchsrechts zu sein;431 dies eröffnet dem Arbeitnehmer die Möglichkeit, jeglichen Fehler im Informationsschreiben, und sei dieser für die konkrete Situation des Arbeitnehmers noch so unbedeutend, zur Begründung des Fortbestehens des Widerspruchsrechts zu nutzen.
6.123 Veräußerer und Erwerber müssen nur über Maßnahmen für die berufliche Entwicklung der Arbeitnehmer informieren, die im Zusammenhang mit dem Betriebsübergang stehen und bereits konkret geplant sind, wie insbesondere Fortbildungen u.Ä. Denn sie sind „hinsichtlich der Arbeitnehmer in Aussicht genommen“.432 Auch über alle Maßnahmen i.S.d. §§ 92 ff. BetrVG muss informiert werden. Betriebsänderungen wie z.B. Stilllegungen werden an sich nicht hinsichtlich „der Arbeitnehmer“ in Aussicht genommen. Derartige Umstrukturierungskonzepte bringen aber regelmäßig personelle Auswirkungen wie z.B. einen Personalabbau mit sich, so dass auch darüber informiert werden sollte. Wurde im Rahmen der Betriebsänderung ein Interessenausgleich/Sozialplan geschlossen, dann wäre auch über die darin geregelten Maßnahmen (Weiterbildungsmaßnahmen) zu informieren. Das kann auch in der Form geschehen, dass auf den Interessenausgleich/Sozialplan hingewiesen und zusätzlich angegeben wird, wo beides eingesehen werden kann. Denkbar ist schließlich ebenfalls, dass sich der Betriebsübergang im Rahmen einer Umstrukturierung nur als ein erster Schritt darstellt und von vornherein ein zweiter oder sogar ein dritter Betriebsübergang geplant ist; dann ist auch darüber zu unterrichten. Die Folgen des Betriebsübergangs für die Arbeitnehmervertretungen berühren zwar auch die Interessen der einzelnen Arbeitnehmer. Sie sind aber für die Arbeitnehmer keine unmittelbaren Folgen des § 613a BGB, sondern betreffen das Betriebsverfassungsrecht. Da die Gesetzesbegründung dies nicht zu den drei maßgebenden Auswirkungen für die Arbeitnehmer zählt und auch der Wortlaut nichts Derartiges erwähnt, spricht dies eigentlich dagegen, dass die Arbeitnehmer auch darüber informiert werden müssen.433 Es ist aber unverkennbar, dass mit der Existenz eines Betriebsrat auch z.B. kündigungsrechtliche Auswirkungen für die einzelnen Arbeitnehmer verbunden sind (Anhörungspflicht, ggf. Sozialplanpflicht434) die für die Entscheidung über die Ausübung des Widerspruchsrechts von Relevanz sind. Dies spricht für die Aufnahme der betriebsverfassungsrechtlichen Folgen in das Informationsschreiben. Auch angesichts der Tendenz des BAG dazu, hohe Anfor-
429 BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 541/08, n.v. (Rz. 35); BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, MDR 2007, 222 = NZA 2006, 1268; BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 304/05, AP BGB § 613a Nr. 312; damit sind die geringeren Anforderungen aus der früheren Rechtsprechung des BAG (v. 22.4.1993 – 2 AZR 313/92, AP BGB § 613a Nr. 102) überholt. 430 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 303/05, MDR 2007, 223 = NZA 2006, 1273. 431 BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 808/07, NZA 2009, 547 (Rz. 30); BAG v. 24.7.2008 – 8 AZR 755/07, NZA-RR 2009, 294 (Rz. 37); a.A. Lindemann/Wolter-Roßteutscher, BB 2007, 938 ff.; Willemsen, NJW 2007, 2065; Wank in MünchHdb. ArbR, § 102 Rz. 102. 432 Vgl. BT-Drucks. 14/7760, 19. 433 Im Erg. auch Willemsen/Lembke, NJW 2002, 1159 (1162 f.); a.A. C. Meyer, BB 2003, 1010 (1013); Wank in MünchHdb. ArbR, § 102 Rz. 98; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 88, der auch das Vorhandensein eines Betriebsrats beim Erwerber oder die Änderung der betriebsverfassungsrechtlichen Struktur in die Information aufnehmen will. 434 Zur Betriebsübergang und Ausnahme von der Sozialplanpflichtigkeit gem. § 112a Abs. 2 Satz 1 BetrVG vgl. BAG v. 27.6.2006 – 1 ABR 18/05, NZA 2007, 106.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.125 Kap. 6
derungen an die Unterrichtung zu stellen, sollten vorsichtshalber auch die betriebsverfassungsrechtlichen Auswirkungen aufgenommen werden. In der Unterrichtung ist auch auf das Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers, das Verfahren zu dessen Ausübung und dessen Rechtsfolgen hinzuweisen.435 Der Arbeitgeber macht damit auch deutlich, dass er die Information als vollständig ansieht und die Monatsfrist für die Ausübung des Widerspruchs in Gang gesetzt ist. Außerdem kann er mit dieser Belehrung den Hinweis auf ein Kündigungsrisiko bei einer Ausübung des Widerspruchsrechts verbinden. Gerade dieses Risiko hält in der Praxis die meisten Arbeitnehmer vom Widerspruch ab. Schließlich sind die Arbeitnehmer über die (Rechts-)Person des Erwerbers zu informieren.436 Die Unterrichtung umfasst auch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Betriebsübergangs. Hierzu gehört z.B. der Hinweis, dass wesentliche Betriebsmittel, die einen relevanten Anteil des Haftungssubstrats des Betriebsveräußerers ausmachen (z.B. Betriebsgrundstück;437 Patente438) nicht an den Erwerber übertragen werden. Auch über die wirtschaftliche Situation des Erwerbers ist zu berichten, soweit mit dieser ein Risiko für die dauerhafte Fortführung der Arbeitsverhältnisse verbunden wäre, etwa bei Unterkapitalisierung oder bei einer konkret bevorstehenden Insolvenz439 oder wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen des Betriebsübergangs zu einer gravierenden Gefährdung der wirtschaftlichen Absicherung der Arbeitnehmer beim neuen Betriebsinhaber führen, etwa bei gravierender Einschränkung der Haftungsmasse.440 Auch für die Informationen über die wirtschaftliche Lage des Erwerbers gilt, dass diese jeweils zutreffen müssen.441 Die wirtschaftliche Situation des Veräußerers gehört allerdings nicht zu den Gegenständen der Unterrichtung – § 613a BGB soll den vom Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmern ihren beim alten Arbeitgeber erworbenen Besitzstand erhalten und das Risiko eines Arbeitgeberwechsels mindern. Bleiben die Arbeitnehmer durch Ausübung des Widerspruchsrechts beim „alten“Arbeitgeber, ändert der Betriebsübergang grundsätzlich nichts an dessen bereits zuvor bestehender wirtschaftlicher Situation. Hier besteht eine Pflicht zur Unterrichtung ebenso wenig wie im laufenden Arbeitsverhältnis ohne Vorliegen eines Betriebsübergangs.
6.124
Adressat der Unterrichtung ist jeder vom Betriebsübergang betroffene Arbeitnehmer. Irrelevant ist, ob im Unternehmen ein Betriebsrat existiert oder nicht. Die Neuregelung geht insoweit über die Vorgabe der Richtlinie442 hinaus, entspricht aber der individualrechtlichen Regelung des Widerspruchsrechts. Darüber hinaus stellt sich nun die Frage, ob der Veräußerer oder Erwerber, wenn er mit dem Betriebsrat in Verhandlungen über einen Interessenausgleich und einen Sozialplan tritt, erst nach deren Abschluss die Arbeitnehmer in gleichem Maße vollständig unterrichten kann. Denn erst mit einem vollständigen Interessenausgleich lassen sich regelmäßig verbindliche Angaben zu den sozialen Folgen des Betriebsübergangs
6.125
435 BAG v. 20.3.2008 – 8 AZR 1016/06, NZA 2008, 1354; BAG v. 24.7.2008 – 8 AZR 73/07, AP BGB § 613a Nr. 345. 436 Vgl. zum Ganzen Bauer/von Steinau-Steinrück, Sonderbeil. zu NZA 16/2003, 73 f.; Bauer/von Steinau-Steinrück, ZIP 2002, 457 (462 f.); s. auch Willemsen/Lembke, NJW 2002, 1159 (1163); Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 229 ff. 437 BAG v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, NZA 2008, 642. 438 Offengelassen von BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, MDR 2010, 396 = DB 2010, 58 (Rz. 28) – BenQ. 439 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 88; Schiefer/Worzalla, NJW 2009, 558 (562). 440 BAG v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, NZA 2008, 642 (Rz. 34); hierzu kritisch Lunk, RdA 2009, 48; Reinhard, NZA 2009, 63. 441 LAG Köln v. 4.6.2007 – 14 Sa 1225/06. 442 RL 2001/23/EG, ABl. EG Nr. L v. 12.3.2001, 82.
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Kap. 6 Rz. 6.126
Arbeitsrecht
machen.443 Es widerspricht aber dem Interesse von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, bis zu diesem späten Zeitpunkt mit der Ungewissheit belastet zu werden, welche Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber übergehen und welche nicht. Daher bleibt es bei dem Grundsatz, dass für die Entscheidung über Richtigkeit und Vollständigkeit der Unterrichtung der Zeitpunkt des Zugangs der Unterrichtungserklärung maßgeblich ist.444
6.126 Für die Unterrichtung ist Textform (§ 126b BGB) vorgeschrieben. Um dieser Form zu genügen, muss die Erklärung lesbar sein und erkennen lassen, von wem sie stammt. Im Wesentlichen kommen Erklärungen per Post, Telefax oder E-Mail in Betracht. Eine eigenhändige Unterschrift ist nicht erforderlich, es reicht, wenn der Abschluss der Erklärung durch Namensnennung oder eingescannte Unterschrift erkennbar ist. Wichtig ist, dass Veräußerer oder Erwerber die Darlegungs- und Beweislast für den Zugang der Unterrichtung tragen. Für die Praxis ergibt sich daraus die wichtige Erkenntnis, dass nur solche Übermittlungsformen sinnvoll sind, bei denen Veräußerer oder Erwerber einen Zugangsnachweis mittels protokollierter Übergabe durch Boten oder schriftliches Empfangsbekenntnis erhalten. Eine Übermittlung der Informationen gem. § 613a Abs. 5 BGB per Fax oder E-Mail ist daher nicht ratsam. Sie kommt zudem nur dann in Betracht, wenn der Empfänger durch Mitteilung seiner Faxnummer oder seiner E-Mail-Adresse zu erkennen gegeben hat, dass er mit einer Übermittlung rechtserheblicher Erklärungen einverstanden ist. Um jedes Risiko auszuschließen, empfiehlt es sich nach wie vor, den Empfang des Informationsschreibens auf einer Kopie quittieren zu lassen.
6.127 Das Gesetz stellt nicht darauf ab, wer die Arbeitnehmer unterrichten soll und in welchem Maße dies geschehen soll. Die Erfüllung durch den Erwerber „befreit“ den Veräußerer (und umgekehrt).445 Das BAG betrachtet Veräußerer und Erwerber hinsichtlich der Unterrichtungspflicht aus § 613a Abs. 5 BGB als Gesamtschuldner.446 Erwerber und Veräußerer sollten sich untereinander verständigen, wann und in welcher Weise sie ihre gemeinsame Verpflichtung erfüllen.447 In der Regel ist es am sinnvollsten, im Unternehmenskaufvertrag das Verfahren der Unterrichtung im Einzelnen festzulegen. Dazu gehört die Abrede, wer informiert und wann dies geschieht; ferner über welche Inhalte im Einzelnen unterrichtet wird und wie der Zugang der Unterrichtung sichergestellt wird. Veräußerer und Erwerber sollten außerdem sich gegenseitig über Widersprüche von Arbeitnehmern informieren und festlegen, wie die Risiken unvollständiger Information verteilt werden. Möglich sind beispielsweise Schadensersatzansprüche einer Partei für den Fall, dass Arbeitnehmer unter Berufung auf unrichtige oder unvollständige Information ihr Widerspruchsrecht erfolgreich geltend machen. Es ist auch denkbar, dass beide Beteiligten eine Regelung zur Verteilung der wirtschaftlichen Lasten aus der Beendigung der Arbeitsverhältnisse widersprechender Arbeitnehmer treffen. Schließlich kommt die Vereinbarung eines Rücktrittsrechts vom Kaufvertrag für den Fall in Betracht, dass bestimmte Arbeitnehmer oder eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern widersprechen.448 Zur Vermeidung von Widersprüchen kann der Erwerber mit bestimmten Arbeitnehmern schon vor dem Betriebsübergang die Überleitung des Arbeitsverhältnisses vereinbaren. Das kann vor allem bei „Key employees“ sinnvoll sein. In diesen Fällen kann es 443 444 445 446 447 448
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Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 226. Bauer/von Steinau-Steinrück, ZIP 2002, 457 (463). C. Meyer, BB 2003, 1010 (1011). BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 357/08, NZA 2010, 393 (Rz. 49); Rupp, NZA 2007, 301. Bauer/von Steinau-Steinrück, ZIP 2002, 457 (463). Bauer/von Steinau-Steinrück, ZIP 2002, 457 (465); Bauer/von Steinau-Steinrück, Sonderbeil. zu 16/2003, S. 76.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.130 Kap. 6
sich auch empfehlen, einen neuen Arbeitsvertrag anzubieten. Schließlich sollte der Arbeitgeber beachten, dass bei einer Information der Öffentlichkeit über die geplante Unternehmensumstrukturierung bzw. einen Betriebsübergang die betroffenen Arbeitnehmer spätestens zeitgleich und wenigstens mit identischem Inhalt unterrichtet werden sollten, damit eine rechtzeitige und vollständige Information gewährleisten ist. Ein „Gleichklang“ der Informationspolitik sollte auch gegenüber Arbeitnehmervertretungen wie etwa dem Wirtschaftsausschuss oder dem Sprecherausschuss bestehen.449
V. Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer 1. Grundlagen Das Widerspruchsrecht450 ist ein Rechtsfolgenverweigerungsrecht.451 Ein sachlicher Grund ist für die Wirksamkeit des Widerspruchs nicht erforderlich;452 sein Fehlen hat nach der Rechtsprechung des BAG auch keine Auswirkungen auf die Sozialauswahl bei einer anschließenden betriebsbedingten Kündigung durch den Veräußerer453 (vgl. Rz. 6.144 ff.). Übt der Arbeitnehmer das Widerspruchsrecht aus, bleibt sein Arbeitsverhältnis mit dem bisherigen Arbeitgeber bestehen.
6.128
Das Widerspruchsrecht besteht auch dann, wenn sich der Betriebsübergang im Rahmen einer Verschmelzung, Spaltung oder Vermögensübertragung nach dem Umwandlungsgesetz vollzieht. Das ist mit dem Verweis in § 324 UmwG auf § 613a Abs. 6 nunmehr eindeutig454 (vgl. aber zum Fall des Erlöschens des bisherigen Betriebsinhabers Rz. 6.142).
6.129
2. Ausübung a) Allgemeines Die Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 116 ff. BGB, vor allem §§ 130 ff. BGB) sind anzuwenden. Im konkreten Einzelfall kann es problematisch sein, ob eine Willenserklärung als Widerspruch, als Kündigung oder als beides zusammen zu verstehen ist. I.d.R. wird die Einhaltung der gesetzlich vorgesehene Schriftform (§§ 623, 613a Abs. 6 i.V.m. § 126 Abs. 1 BGB) für die Wirksamkeit maßgeblich sein. Allerdings bleibt auch ein Widerspruch durch Auslegung einer schriftlichen Erklärung möglich.455
449 Vgl. C. Meyer, BB 2003, 1010 (1011). 450 Hauck, Sonderbeil. zu NZA 1/2004, 43. 451 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 382/05, NZA 2006, 1406; BAG v. 22.4.1993 – 2 AZR 50/92, EzA § 613a BGB Nr. 111. 452 BAG v. 15.2.2007 – 8 AZR 310/06, AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 2; BAG v. 30.9.2004 – 8 AZR 462/03, MDR 2005, 514 = NZA 2005, 43. 453 BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 276/06, MDR 2008, 270 = NZA 2008, 33; BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 218/06, n.v.; anders noch zuvor BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 190/98, MDR 1999, 1202 = NZA 1999, 870; BAG v. 5.12.2002 – 2 AZR 522/01, NZA 2003, 1168; krit. Lipinski, DB 2002, 1214 ff. 454 So schon BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 416/99, MDR 2000, 1444 = ZIP 2000, 1630 m. Anm. Bauer/ Mengel. 455 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 382/05, NZA 2006, 1406 (hier aufgrund der Auslegung eines Berufungsschriftsatzes gem. §§ 133, 157 BGB).
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Kap. 6 Rz. 6.131
Arbeitsrecht
6.131 Als Adressaten des Widerspruchs bestimmt § 613a Abs. 6 Satz 2 BGB sowohl den bisherigen als auch den neuen Inhaber, und zwar unabhängig davon, ob der Widerspruch vor oder nach dem Betriebs- oder Betriebsteilübergang erfolgt. Veräußerer und Erwerber haben sich im Innenverhältnis aufgrund ihrer nebenvertraglichen Pflichten gegenseitig über einen Widerspruch der betroffenen Arbeitnehmer zu unterrichten.456 Bei mehreren aufeinander folgenden Betriebsübergängen kann der Arbeitnehmer einem vor dem jüngeren Betriebsübergang erfolgten, früheren Übergang seines Arbeitsverhältnisses nicht mehr aufgrund fehlerhafter Information gem. § 613a Abs. 5 BGB widersprechen, wenn gegen den jüngeren Betriebsübergang kein Widerspruchsrecht mehr besteht.457 Kann er noch dem letzten Betriebsübergang widersprechen, so soll der Widerspruch gegen den vorangegangenen Betriebsübergang nur noch binnen einer Frist von einem Monat seit der Information über den erneuten Betriebsübergang möglich sein, wenn die Information über den vorangegangenen Betriebsübergang einem Mindestumfang gerecht geworden ist. Dieser beinhaltet die Mitteilung über den (geplanten) Zeitpunkt des Übergangs des Arbeitsverhältnisses sowie den Gegenstand des Betriebsübergangs und des Betriebsübernehmers. Sind diese, vom Senat als „grundlegende Informationen“ (Rz. 15 des Urteils) bezeichneten Umstände mitgeteilt, so beginnt eine Monatsfrist dann zu laufen, wenn der Arbeitnehmer die Information über den neuerlichen Betriebsübergang erhält458. Der Widerspruch ist gem. § 613a Abs. 6 schriftlich i.S.d. § 126 Abs. 1 BGB oder § 126a BGB zu erklären und muss dem Adressaten innerhalb eines Monats459 nach dem Zugang der Unterrichtung zugehen. Der Arbeitnehmer kann wegen der vorgesehenen Schriftform nicht mehr konkludent widersprechen. Ein nach § 126 BGB unwirksam erklärter Widerspruch kann nach Ablauf der Monatsfrist auch nicht mehr nachgeholt werden. Der Arbeitnehmer hat den rechtzeitigen Zugang seines Widerspruchs darzulegen und zu beweisen.460 Er kann bei einem konkret bevorstehenden Übergang auf sein Widerspruchsrecht schriftlich verzichten oder den Übergang seines Arbeitsverhältnisses mit dem Erwerber vereinbaren.461 Dies ist Ausdruck seiner Vertragsfreiheit.462
6.132 Die Widerspruchsfrist berechnet sich nach §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB und beginnt mit dem Zugang der vollständigen Unterrichtung beim vom Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmer. Indem die Neuregelung den Fristbeginn an den Zeitpunkt der Unterrichtung unabhängig vom Ablauf des Betriebsübergangs knüpft, können der Veräußerer und der Erwerber durch eine frühzeitige Unterrichtung die Widerspruchsfrist auslösen und so rechtzeitig vor dem Übergang Kenntnis über den Verbleib der Arbeitnehmer erlangen.463 Gerade bei Arbeitnehmern mit langen Kündigungsfristen empfiehlt es sich, rechtzeitig diesen Weg einzuschlagen, damit der bisherige Inhaber auf Widersprüche unverzüglich mit betriebsbeding-
456 BAG v. 22.4.1993 – 2 AZR 50/92, NZA 1994, 360. 457 BAG v. 19.11.2015 – 8 AZR 773/14, NZA 2016, 647. 458 BAG v. 19.11.2015 – 8 AZR 773/14, NZA 2016,647 = AP BGB § 613a Nr. 465 m. Anm. Melot de Beauregard. 459 BT-Drucks. 14/7760, 20 lehnte sich noch zutreffend an die Drei-Wochen-Frist in § 4 KSchG an. 460 Worzalla, NZA 2002, 353 (357). 461 BAG v. 19.3.1998 – 8 AZR 139/97, MDR 1998, 1035 = NZA 1998, 750 (751). 462 Bauer/von Steinau-Steinrück, ZIP 2002, 457; krit. Grobys, BB 2002, 726. 463 Vgl. C. Meyer, BB 2003, 1010; B. Gaul/Otto, DB 2002, 634 (637); anders zur früheren Rechtslage noch BAG v. 19.3.1998 – 8 AZR 139/97, MDR 1998, 1035 = NZA 1998, 750 (751).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.132 Kap. 6
ten Kündigungen reagieren kann.464 Die einmonatige Widerspruchsfrist beginnt nur zu laufen, wenn der Arbeitnehmer vollständig gem. § 613a Abs. 5 BGB informiert wurde. Die Norm schreibt zudem eine Unterrichtung vor Betriebsübergang vor. Die Frist beginnt nach ganz h.M. aber auch dann ab dem Zeitpunkt der Unterrichtung zu laufen, wenn der Arbeitnehmer verspätet, d.h. nach Betriebsübergang informiert wird.465 Absolute Höchstfristen bezüglich der Ausübung des Widerspruchrechts bestehen nicht.466 Enthält das Informationsschreiben keinen Hinweis auf die Sozialplanprivilegierung des neuen Inhabers gem. § 112a Abs. 2. Satz 1 BetrVG, führt dies dazu, dass die Widerspruchsfrist nach § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB nicht in Lauf gesetzt wird. Mit dem Ablauf des Privilegierungszeitraums von vier Jahren seit der Gründung des neuen Inhabers ist dieser Fehler in der Unterrichtung kraft Gesetzes geheilt. Zu diesem Zeitpunkt beginnt im Hinblick auf diesen Unterrichtungsfehler entsprechend § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB eine Widerspruchsfrist von einem Monat zu laufen.467 Das Widerspruchsrecht kann nach der Rechtsprechung des BAG sogar noch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausgeübt werden, da die Gestaltungs- und Verfügungsbefugnis des Arbeitnehmers zu dessen Ausübung nachvertraglich fortgelte.468 Allerdings kann der Arbeitnehmer sein Widerspruchsrecht in bestimmten Fällen verwirken.469 Ein Anspruch ist verwirkt, wenn der Berechtigte ihn längere Zeit nicht verfolgt (Zeitmoment), mit seinem Verhalten den Eindruck erweckt, dass er ihn nicht mehr geltend macht (Umstandsmoment) und die Erfüllung daher nicht mehr zumutbar ist (Zumutbarkeitsmoment).470 Das Widerspruchsrecht soll dem Arbeitnehmer die freie Wahl seines Arbeitgebers ermöglichen und sein Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 GG schützen. Nach dem Betriebsübergang geht das Arbeitsverhältnis auf den Erwerber über. Setzt der Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis mit ihm fort, manifestiert er – stillschweigend – sein Einverständnis mit dem Arbeitgeberwechsel. Die Weiterarbeit allein reicht aber für die Annahme einer Verwirkung des Widerspruchsrechts nicht aus.471 Durch seine fortgesetzte Tätigkeit erlangt der Arbeitnehmer zwar i.d.R. die Kenntnisse, über die er nach § 613a Abs. 5 BGB hätte unterrichtet werden müssen und kann im Prinzip eine bewusste Arbeitsplatzwahl treffen. Eine generelle Annahme, wonach der Arbeitnehmer, der ab diesem Zeitpunkt nicht innerhalb eines Monats widerspricht, den Eindruck erweckt, dass er bewusst sein Widerspruchsrecht nicht mehr ausübt, lässt sich für die Beratungspraxis angesichts der aktuellen Rechtsprechung des BAG472 nicht mehr vertreten. Ausgangspunkt der Rechtsprechung des BAG ist, dass eine unzuläng464 Zu Recht weist ArbG Hamburg v. 20.7.1979 – S 15 Ca 410/78, AP 25 zu § 613a BGB darauf hin, dass der Veräußerer gerade im Hinblick auf eine lange Kündigungsfrist die Kündigung auch schon vor dem Übergangszeitpunkt aussprechen kann. Vgl. auch Rz. 6.243 ff. 465 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 100; Olbertz/Ungnad, BB 2004, 213 (218); Willemsen/Lembke, NJW 2002, 1159 (1160) mit Hinweis auf die Gesetzesbegründung; BAG v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, NZA 2007, 682. 466 Vgl. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 101. 467 BAG v. 15.12.2016 – 8 AZR 612/15, NZA 2017, 783. 468 BAG v. 24.7.2008 – 8 AZR 755/07, NZA-RR 2009, 294 (Rz. 38); BAG v. 20.3.2008 – 8 AZR 1016/06, NZA 2008, 1354.; zu zivilrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten des Betriebsveräußerers zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Löwisch, BB 2009, 326. 469 Dazu Roth in MünchKomm/BGB, § 242 BGB Rz. 407 ff.; Dzida, NZA 2009, 641. 470 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 382/05, NZA 2006, 1406. 471 BAG v. 2.4.2009 – 8 AZR 318/07, AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 8 (Rz. 22). 472 BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 357/08, BB 2010, 115 – BenQ; BAG v. 2.4.2009 – 8 AZR 220/07, AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 6; BAG v. 19.2.2009 – 8 AZR 176/08, NZA 2009, 1095; BAG v. 20.5.2010 – 8 AZR 734/08, NZA 2010, 1295 (Personalleiter BenQ); BAG v. 15.3.2012 – 8 AZR 700/10, NZA 2012, 1097.
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Kap. 6 Rz. 6.132
Arbeitsrecht
liche Unterrichtung die Monatsfrist des § 613a Abs. 6 BGB für den Widerspruch nicht in Lauf setzt. Das Widerspruchsrecht kann jedoch verwirkt werden. Demnach muss der Berechtigte (Gläubiger/Arbeitnehmer) seine Rechte längere Zeit nicht geltend gemacht und damit gegenüber dem Verpflichteten (Schuldner/Arbeitgeber) unter Umständen untätig geblieben sein, die den Eindruck erweckt haben, dass er sein Recht nicht mehr geltend machen wolle, so dass sich der Verpflichtete darauf einstellen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden und dem Verpflichteten deshalb unter Vertrauensschutzerwägungen die Erfüllung des Anspruchs nicht mehr zumutbar ist. Das Zeitmoment kann sich mangels gesetzlicher Vorgaben nicht an einer festen Frist, sondern nur an den Umständen des jeweiligen Einzelfalls orientieren. Das BAG hat allerdings insoweit eine Grenze eingezogen, als eine widerspruchslose Weiterarbeit beim Betriebserwerber über 7 Jahre „regelmäßig“ zur Verwirkung des Widerspruchsrechts führt.473 Dabei soll die die Verwirkung umso später eintreten können, je komplexer der mit dem Betriebsübergang verbundene Sachverhalt ist. Je stärker das Vertrauen des Arbeitgebers in die Nichtausübung des Widerspruchsrechts ist, desto eher soll die Verwirkung eintreten. Letztendlich müssen besondere Verhaltensweisen des Berechtigten und des Verpflichteten vorliegen, die es rechtfertigen, eine Verwirkung anzunehmen.474 Eine zutreffende Unterrichtung der Arbeitnehmer über den Betriebsübergang ist allerdings keine Voraussetzung für die Erfüllung des Zeitmoments der Verwirkung.475 Das Zeitmoment hat das BAG bei einem Abwarten des Arbeitnehmers von 15,5 Monaten nach Zugang des unvollständigen Informationsschreibens und 14,5 Monaten nach erfolgtem Betriebsübergang476 als erfüllt angesehen. Im konkreten Fall hatte der Arbeitnehmer elf Monate nach dem Betriebsübergang mit dem Erwerber einen Aufhebungsvertrag geschlossen. Diesen Vertragsschluss mit der darin enthaltenen Disposition des Arbeitnehmers über sein Arbeitsverhältnis wertete das BAG als Umstandsmoment, dass einen Vertrauenstatbestand für den Veräußerer schaffe, wonach der Arbeitnehmer nicht mehr sein Widerspruchsrecht ausüben werde. Allein eine Disposition über einzelne Vertragsbestimmungen (Vergütung, Arbeitstätigkeit) reicht hierfür aber nicht aus. Die Kenntnis des Betriebserwerbers vom Umstandmoment wird dem Betriebsveräußerer im Rahmen des vom BAG angenommenen Gesamtschuldverhältnisses bei der Unterrichtungspflicht zugerechnet, wodurch sich Veräußerer und Erwerber hinsichtlich des Widerspruchsrechts auch auf die zunächst faktisch nur einem von Beiden bekannten Umstände wechselseitig berufen können.477 Der Abschluss eines Aufhebungsvertrags mit dem Betriebserwerber nach Ausübung des Widerspruchsrechts geht jedoch grundsätzlich ins Leere – auf diesen Aufhebungsvertrag kann sich der Betriebs473 BAG v. 24.8.2017 – 8 AZR 265/16, NZA 2018, 168. 474 BAG v. 12.11.2009 – 8 AZR 751/07, n.v.; BAG v. 24.7.2008 – 8 AZR 175/07, AP BGB § 613a Nr. 347; instruktiv hierzu BAG v. 24.7.2008 – 8 AZR 205/07, NZA 2008, 1294 (Rz. 32) – Verwirkung eingetreten durch Schreiben des Prozessbevollmächtigten des Arbeitnehmers, welches Vertrauen des Arbeitgebers auf Einverständnis mit dem Übergang erweckt hatte. Diese Anforderungen hat allerdings der 8. Senat in der Entscheidung BAG v. 24.8.2017 – 8 AZR 265/16 (NZA 2018, 168) abgeschwächt, indem er in einem Fall widerspruchsloser Weiterarbeit beim neuen Betriebsinhaber über den Zeitraum von 7 Jahren „regelmäßig“ die Verwirkung des Widerspruchsrechts angenommen hat, ohne dass es noch auf darüber hinausgehende Verwirkungsumstände angekommen wäre. 475 BAG v. 2.4.2009 – 8 AZR 220/07, AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 6. 476 BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 357/08, BB 2010, 115 – BenQ; so auch BAG v. 12.11.2009 – 8 AZR 370/07 und 8 AZR 530/07, letzteres in NJW 2010, 1302; vgl. dazu Gelhaar, BB 2009, 1182. 477 BAG v. 2.4.2009 – 8 AZR 220/07, AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 6; BAG v. 2.4.2009 – 8 AZR 262/07, AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 7 = NZA 2009, 1149; BAG v. 27.11.2008 – 8 AZR 174/07, MDR 2009, 813 = NZA 2009, 552; BAG v. 27.11.2008 – 8 AZR 225/07, AP BGB § 613a Nr. 364.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.133 Kap. 6
veräußerer nicht berufen, da das Arbeitsverhältnis bereits vor dem Vertragsschluss wieder mit dem Betriebserwerber bestand. Eine Rücknahme des erklärten Widerspruchs ist in einem solchen Aufhebungsvertrag nicht zu sehen.478 Als Umstandsmoment kommen neben dem Abschluss eines Aufhebungsvertrags auch andere Beendigungsgründe wie die Hinnahme einer Kündigung oder der Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung in Betracht. Schließt der Arbeitnehmer nach einem Betriebsübergang einen Vergleich mit dem Erwerber, wonach ein Betriebsübergang nicht vorliege und macht danach sein Widerspruchsrecht geltend, um Weiterbeschäftigung vom alten Arbeitgeber zu verlangen, liegt hierin eine Disposition über das Arbeitsverhältnis, die das Umstandsmoment verwirklicht.479 Allerdings ist die Erhebung einer Kündigungsschutzklage gegen den Betriebserwerber kein Umstandsmoment, da damit der Bestand des Arbeitsverhältnisses gesichert, nicht aber darüber disponiert werden soll.480 Bereits im Falle des Abschlusses eines Aufhebungsvertrags 7,5 Monate nach dem Betriebsübergang hat das BAG eine Verwirkung des Widerspruchsrechts angenommen.481 Ohne Vorliegen derartiger besonderer Umstände hat das BAG bei bloßer Weiterarbeit beim Erwerber über 7 Jahre hinweg eine regelmäßige Verwirkung des Widerspruchsrechts angenommen. Ob und inwieweit dies auch für einen kürzeren Zeitraum der bloßen Weiterarbeit beim Erwerber eintreten kann, bleibt offen.482 Bislang offengelassen hat das BAG zudem die Frage, ob das für die Verwirkung des Widerspruchsrechts erforderliche Zeitmoment bei Vorhandensein einer betrieblichen Altersversorgung erst ab Fälligkeit der sich aus dem Stammrecht ergebenden Leistungen zu laufen beginnt.483 Dies ist abzulehnen, weil es zu einer uferlosen Widerspruchsmöglichkeit über die gesamte Dauer des aktiven Arbeitsverhältnisses führen würde. Es kann deshalb nur geraten werden, größte Sorgfalt auf die Formulierung des Informationsschreibens zu verwenden. Ratsam kann es auch sein, den Arbeitnehmer nach dem Betriebsübergang sicherheitshalber erneut zu unterrichten. Im Streitfall trifft den Veräußerer die Darlegungs- und Beweislast, wenn er sich auf Verwirkung beruft. Das BAG qualifiziert die Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB als eine Rechtspflicht, deren 6.133 Verletzung grundsätzlich zu Schadensersatzansprüchen gem. § 613a Abs. 5 i.V.m. §§ 280 Abs. 1, 249 Abs. 1 BGB führen könne.484 Dieser Schadensersatzanspruch soll aber nicht dazu führen, dass bei eingetretener Verwirkung des Widerspruchsrechts ein Arbeitnehmer im Wege der Naturalrestitution die Wiedereinstellung beim alten Arbeitgeber verlangen kann. Das Widerspruchsrecht des § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB schränke den Schutzzweck des § 613a Abs. 5 BGB dahingehend ein, dass es neben der Ausübung des Widerspruchsrechts nicht noch eines anderen Rechtsinstituts bedürfe, mit dem das „alte“Arbeitsverhältnis wieder in Vollzug gesetzt wird. Die Anwendung des schadensersatzrechtlichen Grundsatzes der Naturalrestitution würde im Ergebnis zu einer Umgehung des Widerspruchsrechts führen.485 Bei eingetretener Verwirkung besteht auch kein Schadensersatz dahingehend, wirtschaftlich so gestellt zu werden, 478 BAG v. 2.4.2009 – 8 AZR 318/07, AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 8 (Rz. 22). 479 BAG v. 17.10.2013 – 8 AZR 974/12, ArbR Aktuell 2014, 153. 480 BAG v. 14.11.2013 – 8 AZR 824/12, NJW 2014, 1755; BAG v. 2.4.2009 – 8 AZR 178/07, AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 9. 481 BAG v. 2.4.2009 – 8 AZR 220/07, AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 6. 482 BAG v. 24.8.2017 – 8 AZR 265/16, NZA 2018, 168. 483 BAG v. 24.7.2008 – 8 AZR 755/07, NZA-RR 2009, 294 (Rz. 47). 484 BAG v. 2.4.2009 – 8 AZR 220/07, AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 6; BAG v. 20.3.2008 – 8 AZR 1022/06, NZA 2008, 1297; BAG v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, NZA 2008, 642; hierzu Lunk, RdA 2009, 48. 485 Vgl. BAG v. 2.4.2009 – 8 AZR 220/07, AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 6 (Rz. 40).
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Kap. 6 Rz. 6.134
Arbeitsrecht
als wäre der Widerspruch wirksam ausgeübt worden.486 Selbst wenn man dieser einschränkenden Auslegung folgt, bleibt es dabei, dass dann jedenfalls Schadensersatz in Form eines finanziellen Wertersatzes geleistet werden müsste. Erleidet ein Arbeitnehmer etwa durch die Insolvenz des Betriebserwerbers Gehaltseinbußen, wären diese nach Ausübung des Widerspruchsrechts vom alten Arbeitgeber zu ersetzen, sofern die falsche oder unvollständige Unterrichtung durch den Erwerber oder den Veräußerer schuldhaft herbeigeführt worden ist und der Arbeitnehmer darlegt, dass er bei zutreffender Unterrichtung von seinem Widerspruchsrecht Gebrauch gemacht hätte. Hierin liegt ein erhebliches Haftungspotential! Allerdings ist zu berücksichtigen, dass für die Begründung des Schadensersatzanspruches – anders als bei der Ausübung des Widerspruchsrechts487 – die fehlende oder unzutreffende Unterrichtung kausal für die Nichtausübung des Widerspruchsrechts innerhalb der Widerspruchsfrist gewesen sein muss und dass der Arbeitnehmer diese Kausalität darzulegen und zu beweisen hat.488
6.134 Sofern der Veräußerer nach Ausübung des Widerspruchsrechts den Arbeitnehmer nicht beschäftigt, liegt in der Nichtbeschäftigung allein noch kein Grund für den Arbeitnehmer, sein Arbeitsverhältnis fristlos zu kündigen und Schadensersatz gem. § 628 Abs. 2 BGB zu verlangen. Eine schwerwiegende Vertragsverletzung, die einen derartigen Schadensersatzanspruch rechtfertigt, liegt jedenfalls nicht vor, solange der Arbeitnehmer die nach seiner Auffassung bestehenden Gründe für die Fehlerhaftigkeit der Unterrichtung auf Aufforderung des Veräußerers nicht darlegt.489 Für die Praxis ist damit der Arbeitgeberseite zu raten, bei Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers diesen grundsätzlich nach der Begründung für die angebliche Fehlerhaftigkeit der Unterrichtung zu fragen, um weitergehende Schadensersatzrisiken durch Auflösungsverschulden zu vermeiden.
6.135 Widerspricht ein Arbeitnehmer einseitig dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses, kann er diese einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung nicht einseitig nach Zugang beim Erklärungsadressaten widerrufen.490 Der Widerspruch ist wie andere Gestaltungsrechte bedingungsfeindlich. Unzulässig ist es daher, wenn der Arbeitnehmer seinen Widerspruch mit einem sog. einseitigen Widerrufsvorbehalt verbindet, nach dem z.B. der Widerspruch im Falle einer betriebsbedingten Kündigung des Veräußerers nicht gelten soll.491 Würde man dies zulassen, könnte der Arbeitnehmer außerdem sein Risiko, in keinem Arbeitsverhältnis mit dem neuen Arbeitgeber zu stehen und durch den bisherigen Inhaber betriebsbedingt gekündigt zu werden, erheblich einschränken.492 Eine zwischen Arbeitnehmer und Veräußerer getroffene Vereinbarung, wonach das Arbeitsverhältnis ungeachtet des zuvor erklärten Widerspruchs auf den Erwerber übergehen soll, ist als Vertrag zu Lasten Dritter unwirksam.493 Zulässig ist aber die vertragliche Einräumung eines Widerrufsvorbehalts. Zu überlegen ist auch, ob ein Vorbehalt wirksam sein kann, wenn er sich auf eine Rechtsbedingung bezieht. Grund der Bedingungsfeindlichkeit von Gestaltungsrechten ist nämlich, dass dem Erklärungsempfänger 486 BAG v. 12.11.2009 – 8 AZR 751/07, DB 2010, 789. 487 BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 808/07, NZA 2009, 547 (Rz. 30). 488 Vgl. dazu BAG v. 27.11.2008 – 8 AZR 1023/06, AP BGB § 613a Unterrichtung Nr. 8; BAG v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, NZA 2008, 642 und auch LAG Schleswig-Holstein v. 14.2.2012 – 1 Sa 221d/11, EWiR 2012, 277. 489 BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 808/07, NZA 2009, 547 (Rz. 33). 490 BAG v. 30.10.2003 – 8 AZR 491/02, MDR 2004, 691 = NZA 2004, 481; Seiter, S. 74. 491 BAG v. 30.10.2003 – 8 AZR 491/02, MDR 2004, 691 = NZA 2004, 481. 492 Darauf weist zutreffend Seiter, S. 74, hin. 493 BAG v. 30.10.2003 – 8 AZR 491/02, MDR 2004, 691 = NZA 2004, 481.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.138 Kap. 6
keine (dauerhafte) Ungewissheit über die Erklärung zuzumuten ist. Diese Ungewissheit tritt bei einer Rechtsbedingung nicht ein, weil ihr Eintritt vom Vorliegen oder Nichtvorliegen rechtlicher Voraussetzungen abhängt. Schließlich können der Erwerber und der betroffene Arbeitnehmer einen Arbeitsvertrag für den Fall schließen, dass der bisherige Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis wegen Widerspruchs betriebsbedingt kündigen sollte.494 Der Arbeitnehmer sollte sich nach alledem genau überlegen, ob er einen Widerspruch erklärt oder nicht.495 Der Widerruf des Widerspruchs bzw. die nachträgliche Zustimmung zum Übergang des Arbeitsverhältnisses ist dabei in aller Regel als Angebot zu einem dreiseitigen Vertrag zwischen dem Arbeitnehmer und den beiden Arbeitgebern anzusehen, denen zu raten ist, sich alsbald zu dem „Widerruf“ zu erklären, sei es negativ oder positiv.
6.136
b) Rechtsmissbrauch Wie jedes andere Recht auch, darf das Widerspruchsrecht nicht missbräuchlich ausgenutzt werden. Die Ausübung des Widerspruchs ist nicht wegen widersprüchlichen Verhaltens ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer vor seinem Widerspruch mit dem Erwerber über neue Arbeitsbedingungen verhandelt hat.496 Unter welchen Voraussetzungen Rechtsmissbrauch vorliegt, lässt sich generell schwer sagen. Bloße finanzielle Nachteile des bisherigen und/oder neuen Inhabers genügen regelmäßig nicht. Problematisch ist dagegen der Missbrauch des Widerspruchsrechtes als kollektives Druckmittel.497 Konzertierte Aktionen können den Zweck haben, die Übertragung eines sanierungsbedürftigen Betriebs oder Betriebteils zu verhindern und eine Stilllegung nebst Sozialplan nach §§ 111 ff. BetrVG zu erreichen. Solche Versuche sind nach der gesetzlichen Wertung des § 112 Abs. 5 Nr. 2 BetrVG nicht zu billigen. Wird der Veräußerer durch den Widerspruch vieler Arbeitnehmer im Falle eines kompletten Betriebsübergangs zum Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen gezwungen, ist die Betriebsänderung nur dann von ihm veranlasst, wenn er noch Betriebsinhaber ist. Andernfalls ist er nur noch Arbeitgeber (ohne Betrieb) der widersprechenden Arbeitnehmer. In diesen Fällen ist entscheidend, ob es trotz des (kollektiven) Widerspruchs zu einem Betriebsübergang kommt. Wenn dies der Fall ist, kann der Veräußerer nach erfolgtem Betriebsübergang die Kündigungen ohne Sozialplan aussprechen. Verhindert der kollektiv ausgeübte Widerspruch der Arbeitnehmer den Betriebsübergang, muss sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten der Belegschaft bei einem anschließend ggf. zu schließenden Sozialplan negativ auf das Sozialplanvolumen auswirken, bis hin zu einem „Null-Sozialplan“ (vgl. § 112 Abs. 5 Nr. 2 BetrVG, vgl. dazu auch Rz. 6.311).
6.137
Problematisch ist die Rechtslage, wenn sich der Veräußerer im Vorfeld eines Betriebsübergangs an die Arbeitnehmer wendet und den Mitarbeitern eine Frist hinsichtlich eines möglichen Widerspruchs setzt und daraufhin kollektive Widersprüche vor dem Betriebsübergang erfolgen und der Veräußerer auch vor dem Betriebsübergang die betriebsbedingten
6.138
494 Vgl. zum Ganzen von Steinau-Steinrück/Wagner, NJW-Spezial 2004, 33. 495 Vgl. von Steinau-Steinrück/Wagner, NJW-Spezial 2004, 33. 496 BAG v. 19.3.1998 – 8 AZR 139/97, MDR 1998, 1035 = NZA 1998, 750; BAG v. 19.2.2009 – 8 AZR 176/08, NZA 2009, 1095. 497 BAG v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, MDR 2010, 396 Rz. 40, BB 2010, 58; BAG v. 30.9.2004 – 8 AZR 462/03, MDR 2005, 514 = NZA 2005, 43; Rieble, NZA 2005, 1; Seiter, Anm. zu BAG, AP 1 zu § 613a BGB; Bauer, Arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge, Rz. 918; Bauer, Betriebsänderungen, S. 172; von Steinau-Steinrück, S. 60 ff.; vgl. aber auch Tschöpe, S. 130, der dieses Druckmittel grundsätzlich für billigenswert hält.
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Kap. 6 Rz. 6.138
Arbeitsrecht
Kündigungen ausspricht. Nach zweifelhafter Rechtsprechung des BAG liegt in diesem Fall, wie auch im Fall eines Teilbetriebsübergangs, dem Arbeitnehmer widersprochen haben, eine Betriebsänderung i.S.v. §§ 111 ff. BetrVG vor.498 Nach Auffassung des BAG hindert die Ausübung des Widerspruchs nicht, die betreffenden Arbeitnehmer bei der Frage mit zu berücksichtigen, ob eine Betriebsänderung vorliegt.499 Der Widerspruch und die dafür maßgeblichen Gründe sind erst bei der Bemessung des Sozialplananspruchs zu berücksichtigen (vgl. § 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BetrVG). Wichtig ist deshalb, dass der Arbeitgeber einen Interessenausgleich versucht, um zu vermeiden, dass dem widersprechenden Arbeitnehmer Ansprüche auf Nachteilsausgleich (§ 113 BetrVG) erwachsen.500 Diese Rechtsprechung ist verfehlt. Es handelt sich hier nicht um eine Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG seitens des Veräußerers. Eine Betriebsänderung in diesem Sinne muss die ganze Belegschaft oder doch erhebliche Teile des Betriebs berühren. Diesem Tatbestandsmerkmal kommt nach Auffassung des BAG501 keine selbständige Bedeutung zu, sofern eine Betriebseinschränkung schon infolge Entlassung einer größeren Zahl von Arbeitnehmern vorliegt. Dabei kann auf die Zahlen- und Prozentangaben des § 17 Abs. 1 KSchG zurückgegriffen werden.502 Die Praxis muss sich freilich darauf einstellen, dass auch die widersprechenden Arbeitnehmer bei der Ermittlung der für eine Betriebsänderung durch reinen Personalabbau erforderlichen Anzahl von zu entlassenden Arbeitnehmern „mitzuzählen“ sind.503 Immerhin ist das BAG nicht so weit wie Tschöpe504 gegangen, der den Arbeitnehmern grundsätzlich ein kollektives Wahlrecht einräumen will. Nach dessen Ansicht können die Arbeitnehmer entweder ihre Arbeitsplätze sichern oder durch die gemeinsame Ausübung des Widerspruchs über die §§ 111 ff. BetrVG in den Genuss eines Sozialplans mit Abfindungsregelungen kommen. Richtigerweise dürften solche Abfindungen nur dann angebracht sein, wenn konkrete Nachteile für die Belegschaft zu befürchten sind, etwa dann, wenn der Betrieb auf eine „blutleere GmbH“ übertragen wird.505 Das BAG hat offengelassen, ob § 112 Abs. 5 Nr. 2 Satz 1 BetrVG bei der Bemessung der Sozialplanleistungen zu berücksichtigen ist. Diese Vorschrift soll Arbeitnehmer von Leistungen ausschließen, die in einem zumutbaren Arbeitsverhältnis im selben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens oder eines zum Konzern gehörenden Unternehmens weiterbeschäftigt werden können und die Weiterbeschäftigung ablehnen, wobei die mögliche Weiterbeschäftigung an einem anderen Ort für sich allein nicht die Unzumutbarkeit begründet (§ 112 Abs. 5 Nr. 2 Satz 2 BetrVG). Deshalb sind widersprechende Arbeitnehmer, denen betriebsbedingt „wegen“ Widerspruchs gekündigt werden muss, richtigerweise von Sozialplanleistungen auszuschließen,506 es sei denn, sie könnten vertretbare (sachliche) Gründe im Sinne der Rechtsprechung des BAG507 ins Feld führen. Erst recht sind 498 499 500 501 502 503 504 505 506
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BAG v. 10.12.1996 – 1 AZR 290/96, NZA 1997, 787 ff. BAG v. 10.12.1996 – 1 AZR 290/96, NZA 1997, 787 ff. Vgl. BAG v. 10.12.1996 – 1 AZR 290/96, NZA 1997, 787 ff. BAG v. 22.5.1979 – 1 AZR 848/76, AP 3 zu § 111 BetrVG 1972 sowie BAG v. 2.8.1983 – 1 AZR 516/81, AP 12 zu § 111 BetrVG 1972 (modifizierte Rechtsprechung zu den Großbetrieben). BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 5/05, MDR 2007, 96 = BB 2006, 2084; § 112a BetrVG sieht andere Zahlen- und Prozentverhältnisse für den Sozialplan vor. BAG v. 10.12.1996 – 1 AZR 290/96, NZA 1997, 787 ff.; vgl. auch Matthes, NZA 2000, 1073. Tschöpe, S. 129. Vgl. Tschöpe, S. 131. Auch wenn nur einzelne Arbeitnehmer widersprechen und diesen der alte Arbeitgeber kündigen muss, ohne dass insoweit eine Betriebsänderung nach § 111 BetrVG in Betracht kommen kann und ein einschlägiger Tarifvertrag für betriebsbedingte Kündigungen Abfindungen vorsieht, kann dieser Tarifvertrag widersprechende Arbeitnehmer von Abfindungsansprüchen ausschließen, BAG v. 10.11.1993 – 4 AZR 184/93, NZA 1994, 892. BAG v. 7.4.1993 – 2 AZR 449/91, NZA 1993, 795.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.140 Kap. 6
solche widersprechenden Arbeitnehmer von Sozialplanleistungen dann auszuschließen, wenn es sich um die rechtliche Verselbständigung eines Betriebs oder Betriebsteils im Rahmen eines Konzerns handelt (§ 112 Abs. 5 Nr. 2 Satz 2 BetrVG). Um Ansprüchen der widersprechenden Arbeitnehmer auf Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG zu entgehen, muss der Arbeitgeber auf der Grundlage der Rechtsprechung des BAG508 einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versuchen. Wenn dennoch einzelne Arbeitnehmer, Arbeitnehmergruppen oder die ganze Belegschaft 6.139 aus dem Übergang des Betriebs oder Betriebsteils zusätzlich Kapital schlagen, indem sie sich das Widerspruchsrecht von einem der beiden Arbeitgeber durch „Abfindungen“ oder „freiwillige Sozialpläne“ abkaufen lassen, kommen diese Zahlungen richtigerweise nicht in den Genuss der steuerbegünstigenden Vorschriften der §§ 24, 34 EStG: Sie bezwecken keinen Ausgleich für den Verlust von Arbeitsplätzen, sondern gerade das Gegenteil, nämlich eine Fortsetzung der Arbeitsverhältnisse. Widerspricht die Belegschaft kollektiv und muss der Veräußerer deshalb zur Vermeidung von Entgeltfortzahlungskosten in erheblichem Umfang betriebsbedingte Kündigungen aussprechen und mit der Auffassung des BAG509 einen Sozialplan nach §§ 111 ff. BetrVG aufstellen, greift § 613a BGB bei einer Neueinstellung betroffener Arbeitnehmer durch den Erwerber nicht ein; dieser kann z.B. innerhalb der Wartezeit des § 1 KSchG kündigen,510 es sei denn, der Erwerber würde die beim Veräußerer zurückgelegten Dienstzeiten vertraglich als Betriebszugehörigkeit zu ihm (dem Erwerber) anerkennen.511 3. Rechtsfolgen a) Allgemeines Folge des Widerspruchs ist das Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses mit dem Veräußerer 6.140 trotz des Betriebsübergangs. Der Widerspruch wirkt nicht nur für die Zukunft, sondern zurück auf den Zeitpunkt des Betriebsübergangs.512 Das ist unproblematisch bei einem Widerspruch zeitlich vor einem Betriebsübergang. Ist der Arbeitsplatz wegen des Betriebs- oder Betriebsteilübergangs weggefallen und verfügt der Veräußerer nicht über freie, vergleichbare Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten, kann er den widersprechenden Arbeitnehmer betriebsbedingt kündigen. Problematisch ist, wie der Übergang des Arbeitsverhältnisses zu verhindern ist, wenn der Widerspruch nach dem Betriebsübergang erklärt wird. Diese Frage stellt sich, weil die einmonatige Widerspruchsfrist erst mit der vollständigen Unterrichtung des Arbeitnehmers zu laufen beginnt. Bei einer unvollständigen Unterrichtung wird sie nicht in Gang gesetzt.513 Die Rechtsprechung nimmt (auch schon zur alten Rechtslage) an, dass das Arbeitsverhältnis dann rückwirkend mit dem Erwerber beendet wird und mit dem Veräußerer fortbesteht.514 Der Widerspruch gilt insofern als aufschiebende Bedingung für den Über-
508 509 510 511
BAG v. 10.12.1996 – 1 AZR 290/96, NZA 1997, 787 ff. BAG v. 10.12.1996 – 1 AZR 290/96, NZA 1997, 787 ff. Darauf weist Tschöpe, S. 133, mit Recht hin. Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 59; Bauer, Arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge, Rz. 918. 512 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, MDR 2007, 222 = AP BGB § 613a Nr. 312 = NZA 2006,1268. 513 Rieble, NZA 2004, 1 (3). 514 BAG v. 30.10.1986 – 2 AZR 101/85, NZA 1987, 524; Franzen, RdA 2002, 258 (270); B. Gaul, Betriebsspaltung, § 11 Rz. 61 f.; Willemsen/Lembke, NJW 2002, 1159 (1164).
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Kap. 6 Rz. 6.141
Arbeitsrecht
gang des Arbeitsverhältnisses.515 Das führt zu Unsicherheiten, weil solange keine Gewissheit über den Betriebsübergang herrscht, bis der Widerspruch erklärt wird. Die Lösung der Rechtsprechung entspricht Sinn und Zweck des Widerspruchsrechts, die Aufdrängung eines neuen Arbeitgebers verhindern zu können. Sie führt jedoch zu Problemen, wenn der Arbeitnehmer den Widerspruch erst einige Monate, ggf. Jahre516 nach dem Betriebsübergang erklärt. Diese Situation lässt sich nach den Grundsätzen des Annahmeverzugs lösen: Hat der Arbeitnehmer zwischenzeitlich beim Erwerber gearbeitet und setzt sein Arbeitsverhältnis rückwirkend zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs rechtlich mit dem Veräußerer fort, so befindet sich der Veräußerer ab diesem Zeitpunkt im Annahmeverzug (§ 615 Satz 1 BGB), soweit der Arbeitnehmer leistungsfähig und leistungsbereit ist. Bei der Zuweisung von Arbeit und der Zurverfügungstellung des Arbeitsplatzes handelt es sich um eine gem. § 296 BGB nach dem Kalender bestimmte Mitwirkungshandlung. Erklärt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer im Unterrichtungsschreiben, dass eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit wegen des Wegfalls seines Arbeitsplatzes nicht mehr gegeben ist, so macht er damit deutlich, der ihm obliegenden Mitwirkungshandlung nicht nachkommen zu wollen. Er gerät damit in Annahmeverzug, ohne dass ein Angebot der Arbeitsleistung seitens des Arbeitnehmers erforderlich ist.517 Durch die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers bei einem anderen Arbeitgeber tritt nicht zwangsläufig ein Unvermögen des Arbeitnehmers zur Arbeitsleistung i.S.d. § 297 BGB ein, welches den Annahmeverzug ausschließt. Dies ergibt sich aus der Bestimmung des § 615 Satz 2 BGB, wonach sich der Dienstverpflichtete den Wert desjenigen anrechnen lassen muss, was er durch anderweitige Verwendung seiner Dienste erwirbt. Hat der Arbeitnehmer beim Erwerber weniger verdient als die Vergütung im Arbeitsverhältnis mit dem Veräußerer betragen hätte (z.B. im Falle der Insolvenz des Erwerbers), ist vom Veräußerer die Differenz als Annahmeverzugslohn zu erstatten. Bietet der Arbeitnehmer im Widerspruchsschreiben dem Veräußerer seine Arbeitsleistung ausdrücklich an, besteht ab dem Zugang des Widerspruchsschreibens der Annahmeverzugslohnanspruch auch auf der Grundlage des § 295 Satz 1 BGB (wörtliches Angebot), sofern der Veräußerer seiner Mitwirkungshandlung als Arbeitgeber nicht nachkommt indem er es unterlässt, dem Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz zuzuweisen.518 Weigert sich der Arbeitnehmer, zunächst beim Erwerber tätig zu werden und wäre ihm diese Tätigkeit zumutbar, so kann der Veräußerer den Wert des nicht erworbenen Arbeitsentgelts auf den Annahmeverzugslohn anrechnen (§ 615 Satz 2 BGB). Ein böswilliges Unterlassen des Erwerbs beim neuen Betriebsinhaber ist nicht schon deswegen ausgeschlossen, weil das Widerspruchsrecht zulässigerweise ausgeübt wurde.519 Vielmehr dürfte es i.d.R. dem Arbeitnehmer zumutbar sein, das Arbeitsangebot eines potentiellen Betriebserwerbers ggf. unter Vorbehalt der Klärung des Vorliegens eines Betriebsübergangs anzunehmen. Andernfalls kann der Veräußerer die Einrede des böswilligen Unterlassens anderweitigen Erwerbs erheben.520
6.141 Die Arbeitsverhältnisse derjenigen Arbeitnehmer, die einem Betriebsteilübergang widersprechen, fallen nicht „automatisch“ in den vom Arbeitgeber eventuell weitergeführten Betriebsteil. Dafür ist eine ausdrückliche oder konkludente Zuordnungsentscheidung notwendig 515 Vgl. Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 186. 516 Z.B. lagen im Fall BAG v. 14.11.2013 – 8 AZR 824/12, NJW 2014, 1755, zwei Jahre und vier Monate zwischen Betriebsübergang und erfolgreichem Widerspruch. 517 BAG v. 27.11.2008 – 8 AZR 1021/06, AP BGB § 613a Nr. 361; BAG v. 24.7.2008 – 8 AZR 1020/06, BeckRS 2009, 74821. 518 BAG v. 20.5.2010 – 8 AZR 734/08, NZA 2010, 1295 (Personalleiter BenQ). 519 BAG v. 19.3.1998 – 8 AZR 139/97, MDR 1998, 1035 = NZA 1998, 750. 520 BAG v. 22.3.2017 – 5 AZR 337/16, NZA 2017, 988.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.143 Kap. 6
(z.B. durch Zuordnung von Tätigkeiten). Gegebenenfalls kann es auch zu einer Teilbetriebsstilllegung kommen, die die widersprechenden Arbeitnehmer und deren Arbeitsverhältnisse erfasst.521 Umstritten war, ob der Arbeitnehmer auch dann widersprechen kann, wenn der bisherige Arbeitgeber nach dem Betriebsübergang als Rechtsperson aufhört zu bestehen, so etwa bei den Umwandlungsfällen der Verschmelzung (§ 20 Abs. 1 Nr. 2 UmwG), der Aufspaltung (§ 131 Abs. 1 Nr. 2 UmwG) oder der Vermögensvollübertragung (§ 175 UmwG). Ein „Widerspruch“ geht in diesen Fällen ins Leere.522 Das BAG hat entschieden, dass ein Widerspruchsrecht gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses in Fällen des Übergangs des Arbeitsverhältnisses auf einen neuen Arbeitgeber durch gesellschaftsrechtliche Gesamtrechtsnachfolge nicht besteht, wenn dabei der übertragende Rechtsträger erlischt. Ein etwa erklärter Widerspruch sei auch nicht als Kündigung auszulegen.523 Da der übertragende Rechtsträger mit Eintragung einer der genannten Umwandlungsformen ins Handelsregister erlischt, kann der Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis mit dem Veräußerer nicht fortführen. Folgt man der – zweifelhaften – Annahme der Rechtsprechung, dass die „Aufdrängung“ eines neuen Arbeitgebers gegen den Willen des Arbeitnehmers sein Recht auf freie Arbeitsplatzwahl verletzen würde, dann ist ihm auch eine Handhabe zur einseitigen Loslösung aus dem „neuen“ Arbeitsverhältnis zu geben.524 Eine Möglichkeit ist, auf Grund der umwandlungsrechtlichen Universalsukzession das Arbeitsverhältnis – jedenfalls zunächst – auf den neuen Rechtsträger übergehen zu lassen und dem Arbeitnehmer dann mit ex-nunc-Wirkung ein Recht zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses nach § 626 BGB zuzugestehen.525 Das BAG hat im Zusammenhang mit der Prüfung eines Betriebsübergangs durch Landesgesetz, welches kein Widerspruchsrecht vorsah, ausgeführt, dass Arbeitnehmer sich im Falle eines Arbeitgeberwechsels, dem sie nicht widersprechen können, auf das Vorliegen eines wichtigen Grundes gem. § 626 Abs. 1 BGB berufen können.526 Der Arbeitnehmer muss dann binnen zwei Wochen (§ 626 Abs. 2 BGB) nach der Eintragung der Verschmelzung die außerordentliche Kündigung gem. § 626 Abs. 1 BGB erklären. Ein Schadensersatzanspruch gem. § 628 BGB scheidet schon deshalb aus, weil es sich bei der Verschmelzung um kein pflichtwidriges Verhalten des Arbeitgebers handeln wird.
6.142
In allen übrigen Fällen, in denen der bisherige Arbeitgeber als Rechtsperson fortbesteht, be- 6.143 wirkt der Widerspruch die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit ihm.527 Eine tarifvertragliche Ausschlussfrist zur gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen gegen den alten Arbeitgeber beginnt erst mit Ausübung des Widerspruchsrechts zu laufen. Die Rückwirkung des Widerspruchs gem. § 613a Abs. 6 BGB führt nicht dazu, dass eine Ausschlussfrist rückwirkend als abgelaufen gilt.528 Betriebsbedingte Kündigungen kann der Arbeitgeber nur unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfristen aussprechen. Der Widerspruch mehrerer Arbeitneh-
521 BAG v. 13.2.2003 – 8 AZR 102/02, BB 2003, 1286 (1288). 522 BT-Drucks. 14/7760, 20. 523 BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 157/07, MDR 2008, 1045 = NZA 2008, 815; dazu Simon/Weninger, BB 2010, 117. 524 Insoweit besteht Einigkeit zwischen den verschiedenen Ansichten, Nachw. sogleich. 525 Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 180; B. Gaul/Otto, DB 2002, 636. 526 BAG v. 18.12.2008 – 8 AZR 660/07, AP BGB § 613a Nr. 366 – Unikliniken Gießen/Marburg. 527 Vgl. auch BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 416/99, MDR 2000, 1444 = ZIP 2000, 1630 m. Anm. Bauer/ Mengel. 528 BAG v. 16.4.2013 – 9 AZR 731/11, MDR 2013, 1289 = NZA 2013, 850.
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Kap. 6 Rz. 6.144
Arbeitsrecht
mer kann daher vor allem dann zu erheblichen wirtschaftlichen Belastungen des Veräußerers führen, wenn für die Kündigung ihnen gegenüber lange Kündigungsfristen gelten. b) Sozialauswahl
6.144 Schwierigkeiten bei der Kündigung „wegen“ Widerspruchs kann die vorgeschriebene Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG bereiten. Die Auswahl ist betriebsbezogen vorzunehmen, d.h., dass Arbeitnehmer anderer Betriebe desselben Unternehmens nicht mit einzubeziehen sind. Bei der Veräußerung eines Teilbetriebs kann sich ein widersprechender Arbeitnehmer grundsätzlich auf eine mangelhafte Sozialauswahl berufen.529 Veräußert der Arbeitgeber dagegen einen ganzen Betrieb, hat er nur die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit widersprechender Arbeitnehmer in anderen Betrieben des Unternehmens nach § 1 Abs. 2 KSchG zu prüfen, aber keine Sozialauswahl zu treffen.530 Seit dem 1.1.2004 hat der Gesetzgeber die Sozialauswahl im KSchG modifiziert.531 Die Sozialauswahl ist danach auf vier feste Kriterien beschränkt, nämlich Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflicht und – ggf. – Schwerbehinderung. Jedes dieser Kriterien soll gleiches Gewicht haben. Eine betriebsbedingte Kündigung ist daher gem. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG n.F. sozialwidrig, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl unter mehreren für die Kündigung in Frage kommenden Arbeitnehmern diese Kriterien nicht hinreichend berücksichtigt. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG bestimmt, dass in die Sozialauswahl solche Arbeitnehmer nicht einzubeziehen sind, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt.532 Schließlich erstreckt sich die Beschränkung der Prüfung einer Sozialauswahl auf grobe Fehlerhaftigkeit (wieder) nur auf die in einem Tarifvertrag, einer Betriebsvereinbarung oder einer personalvertretungsrechtlichen Richtlinie festgelegte Bewertung der vier Kriterien untereinander. Die Begrenzung der Sozialauswahl auf vier feste Kriterien ist im Interesse der Rechtssicherheit zu begrüßen.
6.145 Für die Betriebsratsanhörung gem. § 102 BetrVG gilt bei der Kündigung widersprechender Mitarbeiter Folgendes: Anzuhören ist der Betriebsrat des Betriebs, dem der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Kündigung angehört. Geht der vormalige Betrieb des Arbeitgebers, für den ein Betriebsrat errichtet war, als Ganzes auf einen anderen Betrieb über und widerspricht der Arbeitnehmer dem Betriebsübergang, endet aufgrund des Widerspruchs seine Zugehörigkeit zu diesem Betrieb. Der im übergegangenen Betrieb fortbestehende Betriebsrat ist dann nicht zur Kündigung anzuhören. Dieser Betriebsrat besitzt insoweit auch kein Restmandat i.S.v. § 21b BetrVG und auch kein Übergangsmandat i.S.v. § 21a BetrVG, da der Betrieb im Ganzen seine Identität gewahrt hat.533 In den Fällen, in denen ein Betrieb durch Stilllegung, Spaltung oder Zusammenlegung untergeht, behält dessen Betriebsrat ein Restmandat gem. § 21b BetrVG. Er bleibt so lange im Amt, wie dies zur Wahrnehmung der damit in Zusammenhang stehenden Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte erforderlich ist. Dabei liegt im Ausscheiden einzelner Arbeitnehmer durch Widerspruch gem. § 613a Abs. 6 BGB keine Spaltung des Betriebs. An einen solchen Widerspruch, in dem die Ausübung der individuellen Rechtsposition des Arbeitnehmers liegt, kann ein Restmandat nicht anknüpfen. Eine Anhörung des Betriebs529 BAG v. 15.8.2002 – 2 AZR 195/01, MDR 2003, 461 = NZA 2003, 430; BAG v. 28.10.2004 – 8 AZR 391/03, NZA 2005, 285. 530 Vgl. Bauer/Röder, S. 148 ff.; C. Meyer, NZA 2005, 9 (12). 531 BGBl. I 2003, 3002. 532 Diesbezüglich gilt wieder der Rechtszustand von 1996. 533 BAG v. 8.5.2014 – 2 AZR 1005/12, NZA 2015, 889.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
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rats im Rahmen des Restmandats wird regelmäßig ausscheiden, da es an einem funktionalen Bezug zu den durch die Stilllegung, Spaltung oder Zusammenlegung ausgelösten Aufgaben des Betriebsrats mangeln wird534. Im Rahmen eines Übergangsmandats gem. § 21a BetrVG, bei dem es sich um ein Vollmandat des Betriebsrats handelt, bleibt die Betriebsratsanhörung gem. § 102 BetrVG erforderlich, wenn der widersprechende Arbeitnehmer bei Zugang der Kündigung noch zum vom Übergangsmandat umfassten Betrieb gehört535. Die bloße Möglichkeit, dass mangels Zugehörigkeit des widersprechenden Arbeitnehmers zu einem Betrieb überhaupt kein Betriebsrat zu beteiligen ist, begründet nicht die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats.536 Schwieriger ist die Rechtslage bei einer Betriebsteilveräußerung. Der Arbeitgeber darf seine Sozialauswahl nicht auf Arbeitnehmer eines Betriebsteils oder einer Betriebsabteilung beschränken. Das gilt auch für räumlich weit entfernt liegende Betriebsteile.537 Die Sozialauswahl ist nur dann auf einen Betriebsteil beschränkt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht im Wege des Direktionsrechts in andere Betriebsteile um- oder versetzen kann. In diesem Fall fehlt es an der Vergleichbarkeit nach § 1 Abs. 3 KSchG.538 Das BAG hat am 31.5.2007 entschieden, dass auch widersprechende Arbeitnehmer sich auf die Sozialauswahl berufen können und dass nach der Beschränkung der Sozialauswahlkriterien im KSchG mit Wirkung vom 1.1.2004 die Gründe für den Widerspruch eines Arbeitnehmers gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf einen Betriebserwerber bei der Abwägung der Sozialauswahlkriterien nicht mehr zu berücksichtigen sind.539 Damit ist für die Praxis geklärt, dass der widersprechende Arbeitnehmer eine fehlerhafte Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG rügen und eine Weiterbeschäftigung im verbleibenden Betriebsteil oder im Unternehmen verlangen kann, ohne dass es auf die Motive für seinen Widerspruch ankommt.540 In der Literatur herrschte zuvor überwiegend die Auffassung, dass sich der Arbeitnehmer durch seinen Widerspruch selbst des Arbeitsplatzes beim Erwerber beraubt und deshalb jedenfalls nicht ohne sachliche Gründe die „Opferung“ eines anderen Mitarbeiters des Veräußerers verlangen darf.541
6.146
Diese Rechtsprechung des BAG kann für sich jedenfalls in Anspruch nehmen, für Klarheit bei der Durchführung des Kündigungsverfahrens zu sorgen. Dass hierdurch im Ergebnis ggf. Mitarbeiter gekündigt werden müssen, die von einem sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmer verdrängt werden, der „mutwillig“ einen vorhandenen Arbeitsplatz ausgeschlagen hat, wird von der Rechtsprechung und vom Gesetzgeber so in Kauf genommen.
6.147
Entschieden abzulehnen ist der vom BAG vertretene Ansatz, den Arbeitgeber bei einem bevorstehenden Betriebsteilübergang zu verpflichten, für die übergehenden Arbeitnehmer
6.148
534 535 536 537 538 539 540 541
BAG v. 24.9.2015 – 2 AZR 562/14, NZA 2016, 366. BAG v. 24.9.2015 – 2 AZR 562/14, NZA 2016, 366. BAG v. 21.3.1996 – 2 AZR 559/95, NZA 1996, 974 ff. BAG v. 28.10.2004 – 8 AZR 391/03, NZA 2005, 285; BAG v. 5.5.1994 – 2 AZR 917/93, NZA 1994, 1023. BAG v. 17.9.1998 – 2 AZR 725/97, NZA 1998, 1232; LAG Köln v. 8.10.2003 – 8 Sa 131/03, EzA SD 2004, 5 (12); C. Meyer, NZA 2005, 9 (12). BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 276/06, MDR 2008, 270 = NZA 2008, 33. Dazu Schumacher-Mohr/Urban, NZA 2008, 513. So schon Bauer, DB 1983, 713; Pietzko, S. 307; Tschöpe, S. 55 ff.; Kreitner, S. 163; Neef, NZA 1994, 97 (102); Moll, NJW 1993, 2016; Gentges, Anm. zu BAG, AP 22 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl; a.A. Ingelfinger, ZfA 1996, 591 (608 ff.); Commandeur, NJW 1996, 2537 ff.; Nicolai, BB 2006, 1162.
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Kap. 6 Rz. 6.149
Arbeitsrecht
sämtliche vergleichbaren und „zumutbaren“ Arbeitsplätze in seinem Unternehmen freizuhalten, solange der Arbeitnehmer widersprechen könne. In diesem Fall wisse er, dass das Beschäftigungsbedürfnis für die übergehenden Arbeitnehmer entfalle, falls sie von ihrem Widerspruchsrecht Gebrauch machen. Ab dem Zeitpunkt, in dem er den Arbeitnehmer vom bevorstehenden Übergang unterrichte, müsse er mit seinem Widerspruch rechnen, weil Letzterer an keine besonderen Gründe gebunden sei. Deshalb müsse er ihm auch eine Weiterbeschäftigung – ggf. zu geänderten Bedingungen – anbieten. Der Arbeitgeber dürfe nicht die freie Stelle zunächst besetzen und dann dem Widersprechenden kündigen. Nach dem Rechtsgedanken des § 162 Abs. 1 und 2 BGB könne er sich in diesem Fall nicht auf den Wegfall der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit berufen. Offen lässt das BAG, wie lange der Arbeitgeber die Stellen freihalten muss. Das Gericht deutet aber eine Monatsfrist in entsprechender Anwendung des § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB an.542 Diese Rechtsprechung überzeugt nicht. Auf § 162 BGB kann sich das Gericht nicht berufen. Nach dieser Norm darf niemand aus einem von ihm treuwidrig herbeigeführten Ereignis Vorteile herleiten.543 Es ist aber vom Veräußerer nicht treuwidrig, wenn er einen Arbeitsplatz in einem vom Teilübergang nicht betroffenen Bereich neu besetzt. Auch ist die These des BAG nicht haltbar, dass ein Arbeitgeber ab Unterrichtung des Arbeitnehmers mit dessen Widerspruch rechnen müsse. Bei der Neueinstellung kann der Arbeitgeber regelmäßig nicht erkennen, ob dem Übergang widersprochen wird oder nicht. Nicht der Arbeitgeber bewirkt treuwidrig den Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit, wenn er eine freie Stelle neu besetzt. Es ist vielmehr der Arbeitnehmer, der diese Situation durch den Widerspruch herbeiführt.544 Entgegen der Senatsansicht besteht also keine Parallele zu den sog. „Missbrauchsfällen“, in denen ein Arbeitgeber vor Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen freie Arbeitsplätze gezielt neu besetzt. Im Übrigen führen schon die Grundsätze der Sozialauswahl zu einem befriedigenden Ergebnis, weil auch die neu eingestellten Arbeitnehmer bei der Kündigung des widersprechenden Arbeitnehmers in die Sozialauswahl einbezogen werden können.545 Neben weiteren misslichen Auswirkungen dieser Rechtsprechung546 wiegt besonders schwer, dass der Arbeitgeber bei einer unvollständigen Unterrichtung wegen des dann zeitlich unbegrenzten Widerspruchsrechts des Arbeitnehmers unter Umständen noch monatelang freie Arbeitsplätze nicht besetzen dürfte. Der Praxis ist wegen dieser Rechtsansicht umso mehr anzuraten, frühzeitig ihrer Unterrichtungspflicht nachzukommen, um so ebenso frühzeitig abschließende Klarheit über etwaige Widersprüche zum Betriebs(teil)übergang zu erhalten.
6.149 Da die Rechtsprechung des BAG die Berücksichtigung der Motive für den Widerspruch im Rahmen der Sozialauswahl nunmehr ablehnt,547 kommt es auf die konkreten Widerspruchsgründe des jeweiligen Arbeitnehmers nicht mehr an.
6.150 Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass eine Kündigung wegen Wegfalls des bisherigen Arbeitsplatzes durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist, weil eine anderweitige Beschäftigung nicht möglich oder zumutbar ist, trägt nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG der Arbeitgeber.548 Es gilt eine abgestufte Darlegungslast. Bestreitet der Arbeitnehmer nur den 542 543 544 545 546 547 548
532
BAG v. 15.8.2002 – 2 AZR 195/01, MDR 2003, 461 = NZA 2003, 430 = ZIP 2003, 365. Frövekamp in Bamberger/Roth, § 162 BGB Rz. 1, 4. Lunk/Möller, NZA 2004, 9 (10); Pomberg, DB 2003, 2177 (2178). Lunk/Möller, NZA 2004, 9 (10); Pomberg, DB 2003, 2177 (2178). Ausführlich dazu Lunk/Möller, NZA 2004, 9 ff.; C. Meyer, NZA 2005, 9 ff. BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 276/06, MDR 2008, 270 = NZA 2008, 33. BAG v. 3.2.1977 – 2 AZR 476/75, AP 4 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung; vgl. Bauer/Röder, S. 177 ff.
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Rz. 6.152 Kap. 6
Wegfall seines Arbeitsplatzes, dann muss der Arbeitgeber darlegen, aus welchen wirtschaftlichen, organisatorischen oder technischen Gründen kein Bedürfnis mehr für eine Weiterbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers besteht. Legt der Arbeitnehmer aber auch dar, wie er sich eine Weiterbeschäftigung vorstellt, muss der Arbeitgeber unter Darlegung von Einzelheiten erläutern, aus welchen Gründen die Umsetzung auf einen entsprechenden freien Arbeitsplatz nicht möglich gewesen sei.549 Der Arbeitgeber ist aber im Allgemeinen nicht verpflichtet, bestimmte freie Arbeitsplätze im Betrieb oder in anderen Betrieben seines Unternehmens zu benennen.550 Diese Grundsätze gelten auch für eine nicht vorhandene Weiterbeschäftigungsmöglichkeit eines widersprechenden Arbeitnehmers im Rahmen eines Betriebs(teil)übergangs.551 Ebenso sind die generellen Maßstäbe zur sozialen Auswahl vom Arbeitgeber darzulegen und zu beweisen, während der widersprechende Arbeitnehmer seinerseits einen Fehler in der sozialen Auswahl dartun und ggf. auch beweisen muss.552 Besondere Schwierigkeiten ergeben sich bei widersprechenden „unkündbaren“ Arbeit- 6.151 nehmern, d.h. solchen, denen nur noch bei Vorliegen wichtiger Gründe i.S.v. § 626 BGB gekündigt werden kann, z.B. wegen tariflicher Alterssicherung, sowie bei Arbeitnehmern mit längeren als gesetzlichen Kündigungsfristen. Handelt es sich um die Veräußerung des Gesamtbetriebs, ist in diesen Fällen richtigerweise ausnahmsweise eine „außerordentliche“ Kündigung unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist möglich, die ohne den besonderen Kündigungsschutz gelten würde, allerdings nur mit der Maßgabe, dass die Kündigung frühestens zum Zeitpunkt des Übergangs wirken darf. Geht es um eine Betriebsteilveräußerung, ist der Veräußerer dagegen verpflichtet, den Arbeitnehmer im Restbetrieb weiterzubeschäftigen. Nach Auffassung des Zweiten Senats des BAG ist grundsätzlich für den unkündbaren Arbeitnehmer ein Arbeitsplatz frei zu machen, den er nach einer dem Arbeitgeber zumutbaren Einarbeitung wahrnehmen kann. Aufgrund seiner Unkündbarkeit soll der widersprechende Arbeitnehmer keine Nachteile dadurch haben, dass er einen Arbeitgeberwechsel abgelehnt hat.553 Nur in besonders gelagerten Fällen sind bei Betriebs(teil)übergängen Konstellationen denkbar, die eine außerordentliche Kündigung des widersprechenden Arbeitnehmers unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist rechtfertigen können. Das BAG hat sich noch nicht mit der Frage befasst, ob und wie einem Betriebsratsmitglied gekündigt werden kann, wenn es dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses aus Anlass der Veräußerung eines Betriebs oder Betriebsteils widerspricht. Es hat allerdings im Falle eines Betriebsratsmitglieds, das dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses widersprochen hatte, entschieden, dass für die außerordentliche Kündigung des Betriebsratsmitglieds (§ 15 KSchG) eine Zustimmung des Betriebsrats gem. § 103 BetrVG entbehrlich ist, wenn die Kündigung auf einem Sachverhalt beruht, der von § 15 Abs. 4 KSchG (Betriebsstillegung) und Abs. 5 (Stilllegung einer Betriebsabteilung) umfasst wird554. Die Regelungen des § 15 Abs. 4 und Abs. 5 KSchG sind auf die Kündigung des Betriebsratsmitglieds nach Ausübung des Widerspruchs549 BAG v. 3.2.1977 – 2 AZR 476/75, AP 4 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung; BAG v. 24.3.1983 – 2 AZR 21/82, BAGE 42, 151 = NJW 1984, 78. 550 BAG v. 6.11.1997 – 2 AZR 253/97, NZA 1998, 833; Etzel in KR, § 1 KSchG Rz. 576 f. 551 BAG v. 15.8.2002 – 2 AZR 195/01, MDR 2003, 461 = NZA 2003, 430; Etzel in KR, § 1 KSchG Rz. 576 f. 552 BAG v. 15.8.2002 – 2 AZR 195/01, MDR 2003, 461 = NZA 2003, 430; Etzel in KR, § 1 KSchG Rz. 714 ff. 553 BAG v. 17.9.1998 – 2 AZR 419/97, NZA 1999, 258 (261); vgl. dazu Groeger, NZA 1999, 850 ff.; Neuner, EzA § 626 BGB Unkündbarkeit Nr. 3; C. Meyer, NZA 2005, 9 (13). 554 BAG v. 18.9.1997 – 2 ABR 15/97, NZA 1998, 189.
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6.152
Kap. 6 Rz. 6.153
Arbeitsrecht
rechts analog anzuwenden.555 Handelt es sich um den Übergang des ganzen Betriebs, so scheidet das Betriebsratsmitglied aus dem übergegangenen Betriebsrat aus, da ein Arbeitsverhältnis mit dem Erwerber nicht zustande kommt. Da der Veräußerer ab dem Übergang des Betriebs nicht mehr Inhaber des Betriebs ist, kann er das widersprechende Betriebsratsmitglied ab diesem Zeitpunkt nicht mehr beschäftigen. Bei der Stilllegung des ganzen Betriebs ist die ordentliche Kündigung der Betriebsratsmitglieder grundsätzlich zum Zeitpunkt der Stilllegung zulässig,556 wobei der Betriebsrat nach § 102 BetrVG anzuhören ist,557 sofern die Kündigung vor dem Betriebsübergang erfolgen soll. Die Veräußerung eines Betriebs ist keine Stilllegung.558 Das Gesetz enthält hier eine Lücke, die durch analoge Anwendung zu schließen ist.559 Der widersprechende Betriebsrat kann daher nach § 15 Abs. 4 KSchG in analoger Anwendung gekündigt werden. Wird ein Betriebsteil veräußert und widerspricht hier ein betroffenes Betriebsratsmitglied, so ist § 15 Abs. 5 KSchG analog anzuwenden.560 c) Annahmeverzug
6.153 Auch wenn der Veräußerer keine Beschäftigungsmöglichkeiten mehr hat, gerät er gegenüber dem widersprechenden Arbeitnehmer in Annahmeverzug (s.o. Rz. 6.140). Der Arbeitnehmer muss sich jedoch auf das Annahmeverzugsentgelt anrechnen lassen, wenn er eine zumutbare vorübergehende Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten beim Erwerber ausschlägt und damit eigenen Verdienst unterlässt. In diesem Fall handelt der Arbeitnehmer böswillig (i.S.v. § 615 Satz 2 BGB), da ihm ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er trotz Arbeitsmöglichkeit, Zumutbarkeit der Arbeit und nachteiliger Folgen für den Arbeitgeber vorsätzlich untätig bleibt. Auf die Gründe für den Widerspruch kommt es dabei nicht an.561 d) Sozialplananspruch
6.154 Ein weiterer möglicher Nachteil des Widerspruchs für den widersprechenden Arbeitnehmer liegt darin, dass er etwaige Sozialplanansprüche verlieren kann, wenn es infolge des Widerspruchs zu betriebsbedingten Beendigungskündigungen kommt.562 Nach § 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BetrVG soll die Einigungsstelle Arbeitnehmer von Leistungen ausschließen, die in einem zumutbaren Arbeitsverhältnis im selben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens weiterbeschäftigt werden können und die Weiterbeschäftigung ablehnen. Grundsätzlich ist die Weiterarbeit beim Erwerber nach einem Betriebsübergang zumutbar.563 Widerspricht 555 LAG Düsseldorf v. 25.11.1997 – 8 Sa 1358/97, NZA-RR 1998, 539. 556 BAG v. 29.3.1977 – 1 AZR 46/75, AP 11 zu § 102 BetrVG 1972. 557 BAG v. 23.4.1980 – 5 AZR 49/78, BB 1981, 1335. Ist das Betriebsratsmitglied zugleich tariflich altersgesichert (also ordentlich unkündbar), bedarf es für dessen außerordentliche betriebsbedingte Kündigung nach § 15 Abs. 4, Abs. 5 KSchG nicht der Zustimmung des Betriebsrates nach § 103 BetrVG, vgl. BAG v. 18.9.1997 – 2 ABR 15/97, NZA 1999, 189. 558 BAG v. 26.4.2007 – 8 AZR 695/05, AP InsO § 125 Nr. 4; BAG v. 13.6.2006 – 8 AZR 271/05, NZA 2006, 1101. 559 A.A. Annuß, DB 1999, 798, der eine unmittelbare Anwendung des § 15 Abs. 4 KSchG befürwortet. 560 Stahlhacke/Preis/Vossen, Rz. 994d; Gerauer, BB 1990, 1127; Seiter, Anm. zu BAG v. 2.10.1974 – 5 AZR 504/73, AP Nr. 1 zu § 613a BGB. 561 BAG v. 19.3.1998, – 8 AZR 139/97, MDR 1998, 1035 = NZA 1998, 750 = EWiR 1998, 829 (Thüsing); Weber, SAE 1998, 32; vgl. dazu auch Nikolai, ZfA 1999, 617 (633 f.). 562 Vgl. Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 186; C. Meyer, NZA 2005, 9 (13). 563 BAG v. 5.2.1997 – 10 AZR 553/96, NZA 1998, 158.
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von Steinau-Steinrück/Thees
B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.157 Kap. 6
der Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses und kommt es deshalb zu einer Beendigungskündigung, ohne dass ein besonderer sachlicher Grund für den Widerspruch vorlag, kann er von Sozialplanleistungen ausgeschlossen werden.564 Dem widersprechenden Arbeitnehmer droht allerdings wegen des Widerspruchs nicht die Verhängung einer Sperrzeit (§ 159 SGB III) und des Ruhens des Anspruchs auf Arbeitslosengeld, da die Ausübung des Widerspruchs keinen sperrzeitrechtlich relevanten Lösungssachverhalt darstellt. Der Widerspruch soll nämlich das Arbeitsverhältnis fortsetzen, es nicht aber beenden565 (s. Rz. 6.260). 4. Absprachen Bloßes Schweigen auf die Mitteilung des bisherigen Inhabers, das Unternehmen bzw. der Betrieb oder Betriebsteil sei oder werde veräußert, genügt noch nicht, um einen Verzicht auf die Ausübung des Widerspruchsrechts anzunehmen.
6.155
Hat der Arbeitnehmer erklärt, er werde dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses nicht wi- 6.156 dersprechen, und hat der bisherige Arbeitgeber auf diese Erklärung vertraut, so verstößt ein späterer Widerspruch gegen Treu und Glauben.566 Erst recht kommt ein Widerspruch nicht mehr in Betracht, wenn sich beide darüber einig waren, dass das Arbeitsverhältnis auf den Betriebsnachfolger übergehen soll.567 An den vorstehenden Entscheidungen aus der Zeit vor Einführung des gesetzlichen Schriftformerfordernisses (§ 126 BGB) für den Widerspruch in § 613a Abs. 6 BGB ist festzuhalten. Nach richtiger Auffassung bedarf der in einer derartigen Erklärung liegende Verzicht auf die Ausübung des Widerspruchsrechts nicht selbst der Schriftform, da die mit dem Formerfordernis bezweckte Warnfunktion für die Arbeitnehmer hier nicht relevant wird – anders als die Ausübung des Widerspruchsrechts erhöht der Verzicht auf den Widerspruch nämlich nicht das Risiko der Arbeitnehmer, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.568 Die mit dem Widerspruchsrecht verbundenen rechtlichen Konsequenzen können in Extremfällen dazu führen, dass der Betriebsübergang für den Erwerber völlig wertlos wird. Das ist z.B. der Fall, wenn der Zweck einer Betriebsüberleitung gerade darin besteht, das in diesem Bereich vorhandene Know-how zu erwerben, und ausgerechnet die Know-how-Träger dem Übergang ihrer Arbeitsverhältnisse widersprechen. Hier besteht für den Erwerber keine Möglichkeit, in Anwendung der Rechtsgrundsätze vom Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 Abs. 1, 3 BGB) die vereinbarte Betriebsüberleitung wieder rückgängig zu machen, da die Möglichkeit eines Widerspruchs gesetzlich festgeschrieben ist. Um sich gegen die beschriebenen negativen Folgen abzusichern, kann im Veräußerungsvertrag die Vereinbarung aufgenommen werden, dass der rechtsgeschäftlich begründete Betriebsübergang von der Bedingung abhängig gemacht wird, dass kein Arbeitnehmer oder allenfalls eine bestimmte Anzahl oder bestimmte Arbeitnehmer nicht widerspricht bzw. widersprechen. Eine auflösend bedingte Vereinbarung (§ 158 Abs. 2 BGB), die erst nach dem Betriebsübergang zum Zuge kommt, kann dagegen nur eingeschränkt empfohlen werden: Bei diesem Weg ist zu beachten, dass bei Eintritt der Bedingung der Betrieb u.U. wieder an den Veräußerer zurückfallen kann. 564 BAG v. 5.2.1997 – 10 AZR 553/96, NZA 1998, 158; bestätigt durch BAG v. 19.2.1998 – 6 AZR 367/96, NZA 1998, 1239; vgl. auch Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 70. 565 BSG v. 8.7.2009 – B 11 AL 17/08 R, BB 2010, 433; a.A. Commandeur, NJW 1996, 2537 (2544). 566 BAG v. 19.3.1998 – 8 AZR 139/97, MDR 1998, 1035 = NZA 1998, 750 (751). 567 BAG v. 19.3.1998 – 8 AZR 139/97, MDR 1998, 1035 = NZA 1998, 750 (751). 568 Vgl. Willemsen/Müller-Bonanni in HWK, § 613a BGB Rz. 362.
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535
6.157
Kap. 6 Rz. 6.158
Arbeitsrecht
VI. Rechtsstellung übergegangener und ausgeschiedener Arbeitnehmer 1. Übergehende Rechte und Pflichten a) Allgemeines
6.158 Nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB tritt der Erwerber „in die Rechte und Pflichten aus den […] Arbeitsverhältnissen ein“. Es besteht kein Streit darüber, dass der Gesetzeswortlaut zu eng ist. Auf den Erwerber gehen nicht nur die einzelnen Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis über, sondern das Vertragsverhältnis insgesamt569 und der gesamte Bestand der normativ geltenden Kollektivregelungen, die die Rechte und Pflichten zwischen dem Betriebsveräußerer und dem Arbeitnehmer geregelt haben.570 Dabei gehen auch die von normativ geltenden Tarifregelungen verdrängten untertariflichen Arbeitsvertragsbedingungen über und können mit Wegfall dieser Tarifregelungen – z.B. wegen Ablösung der Tarifregelungen durch einen beim Erwerber geltenden Tarifvertrag – als dann günstigere Vertragsbestimmungen (§ 4 Abs. 3 TVG) wieder Geltung entfalten.571 Ein Vertragspartnerwechsel auf Arbeitgeberseite tritt ein, der das zwischen Arbeitnehmer und Veräußerer bestehende Arbeitsverhältnis unverändert lässt.572 Auch sog. „freiwillige“ Leistungen wie z.B. übertarifliche Löhne und Gehälter, muss der Erwerber übernehmen. Eine Reduzierung solcher Leistungen (z.B. das Zurückfahren der Löhne und Gehälter auf die tariflich festgelegten Vergütungen) ist nur in dem Umfang zulässig, wie sie beim Veräußerer möglich gewesen wäre. Auch aus einer Gesamtzusage des Veräußerers erwachsende individualvertragliche Verpflichtungen gehen auf den Erwerber über.573
6.159 § 613a BGB hat aber auch Grenzen. Der Eintritt des Erwerbers beschränkt sich im Rahmen des § 613a BGB auf die „im Arbeitsverhältnis“ begründeten Rechte und Pflichten. Außerhalb des Arbeitsverhältnisses begründete Rechtsverhältnisse, die auf einem besonderen Rechtsakt beruhen, gehen nicht über. Das ist für Prokuren, Handlungsvollmachten, Aufsichtsratsmandate, Titel wie z.B. Direktor anerkannt. Ausnahmsweise gehen auch solche rechtlichen oder tatsächlichen Vergünstigungen nicht über, die zwar Bestandteil des Arbeitsverhältnisses sind, aber auf einer besonderen gesellschaftsrechtlichen, sachenrechtlichen oder dinglichen Beziehung zum Veräußerer beruhen. Das ist bei Aktienoptionen, bei Werkswohnungen im Eigentum des Veräußerers oder bei verbilligten Unternehmensprodukten des Veräußerers der Fall. Der in der Rechtsform der GmbH organisierte Erwerber kann den übergegangenen Arbeitnehmern ebenso wenig Aktienoptionen an seinem Unternehmen verschaffen wie eine vergünstigte Werkswohnung oder spezielle produktbezogene Vergünstigungen des Veräußerers, wie z.B. Freiflüge, Jahreswagenrabatte, „Haustrunk“ etc. (vgl. dazu jeweils Rz. 6.188 ff., 6.207). Nach richtiger Auffassung wird der Erwerber in diesen Fällen nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (Fälle der übermäßigen Leistungserschwerung) von solchen Leistungen frei.574 Von den Umständen des Einzelfalles hängt jeweils die Entscheidung ab, ob und inwieweit der Erwerber einen finanziellen Ausgleich schaffen muss.
569 Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 132. 570 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41; BAG v. 12.12.2007 – 4 AZR 998/06, MDR 2008, 866 = NZA 2008, 649. 571 BAG v. 12.12.2007 – 4 AZR 998/06, MDR 2008, 866 = NZA 2008, 649; Hohenstatt, NZA 2010, 23. 572 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 66. 573 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 421/07, NZA 2008, 1360. 574 Vgl. dazu auch Fuchs, S. 27 ff.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.162 Kap. 6
§ 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ordnet einen Übergang von Verträgen kraft Gesetzes an. Auf solche gesetzlichen Vertragsübergänge ist § 412 BGB entsprechend anzuwenden, so dass die für die Abtretung von Forderungen geltenden §§ 399 ff. BGB anwendbar sind. Damit gilt auch § 407 BGB. Ist der Arbeitnehmer über den Betriebsübergang nicht informiert worden und leistet er deshalb an seinen früheren Arbeitgeber (z.B. Rücküberweisung einer Gehaltsüberzahlung, Tilgung eines Arbeitnehmerdarlehens, Leistung von Schadensersatz für grob fahrlässig zerstörtes Arbeitsgerät etc.), wird er frei, der Ausgleich zwischen Erwerber und Veräußerer erfolgt gem. § 816 Abs. 2 BGB.
6.160
Häufig wird übersehen, dass – jedenfalls gegenüber den Arbeitnehmern – der Eintritt des Erwerbers in Anwartschaften in vollem Umfang erfolgt, also nicht nur pro rata. Wer einen Arbeitnehmer mit 24 Dienstjahren nach § 613a BGB übernimmt, muss diesem also ein Jahr nach der Übernahme beim 25. Dienstjubiläum des Arbeitnehmers die volle Jubiläumszahlung leisten, sofern beim früheren Arbeitgeber ebenfalls eine Jubiläumszahlung vorgesehen war und insoweit eine Anwartschaft begründet worden ist.575 Noch bedeutsamer ist der volle Eintritt des Erwerbers in Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung. Tritt der Arbeitnehmer einen Tag nach der Übernahme gem. § 613a BGB in den Ruhestand, hat der Erwerber die volle Betriebsrente zu zahlen. Für den Erwerber gilt dann auch künftig die Anpassungsverpflichtung gem. § 16 BetrAVG.576 Ob und in welchem Umfang im Hinblick auf die Versorgungsaufwendungen ein interner Ausgleich zwischen Erwerber und Veräußerer vereinbart ist, geht den Arbeitnehmer nichts an.577
6.161
b) Betriebszugehörigkeit Der Erwerber tritt auch in Rechtspositionen und Anwartschaften ein, die sich noch nicht zu 6.162 „Rechten und Pflichten“ verdichtet haben. Das spielt insbesondere eine Rolle für rechtliche „Besitzstände“. Solche rechtlichen „Besitzstände“ betreffen arbeitsrechtliche Schutznormen, deren Eingreifen von der Länge der Betriebszugehörigkeit abhängt. Die Betriebszugehörigkeit ist für sich allein kein Recht, sondern lediglich ein Tatbestandsmerkmal, von dem die Entstehung oder der Inhalt eines Rechts oder einer Anwartschaft abhängen kann.578 Nach § 613a Abs. 1 BGB bleiben den Arbeitnehmern vertragliche oder gesetzliche Ansprüche erhalten, soweit diese an die zurückgelegte Dienstzeit beim Veräußerer geknüpft sind. Im Hinblick auf § 613a BGB spielt der Eintritt des Erwerbers in die beim Veräußerer zurückgelegte Betriebszugehörigkeit vor allem in folgender Hinsicht eine Rolle: – Verlängerte gesetzliche (§ 622 Abs. 2 BGB), tarifliche oder vertragliche Kündigungsfristen, – verkürzte Kündigungsfrist bei vereinbarter Probezeit (§ 622 Abs. 3 BGB), – Berechnung der Höchstgrenzen für Abfindungen nach § 10 Abs. 2 und 3 KSchG, § 1a KSchG, – Verfallbarkeitsfristen bei der betrieblichen Altersversorgung (§ 1 BetrAVG) (vgl. Rz. 6.221 ff., 6.375 ff.),579 575 BAG v. 26.9.2007 – 10 AZR 657/06, NZA 2007, 1426. 576 BAG v. 21.2.2006 – 3 AZR 216/05, NZA 2007, 931. 577 Besonderheiten gelten allerdings in der Insolvenz, hier tritt der Erwerber nicht in die vor Insolvenzeröffnung erdienten Anwartschaftsteile ein, im Einzelnen dazu Rz. 6.285 ff. 578 BAG v. 25.8.1976 – 5 AZR 788/75, AP 41 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; BAG v. 30.8.1979 – 3 AZR 58/78, AP 16 zu § 613a BGB. 579 Lindemann/Simon, BB 2003, 2510; Hambach, NZA 2000, 291.
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537
Kap. 6 Rz. 6.163
Arbeitsrecht
– sechsmonatige Wartezeit für Urlaubsansprüche (§ 4 BUrlG), – sechsmonatige Wartezeit für den Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit (§ 8 TzBfG), – sechsmonatige Wartezeit für den allgemeinen Kündigungsschutz (§ 1 Abs. 1 KSchG), – Entstehung des tariflichen Sonderkündigungsschutzes, – vierwöchige Wartezeit für den Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (§ 3 Abs. 3 EFZG), – Berechnung der Ruhensfristen beim Arbeitslosengeld (§§ 157 ff. SGB III), – Betriebszugehörigkeit als Berechnungsgrundlage für die Höhe von Abfindungszahlungen aus einem Sozialplan.
6.163 Wenn also – wie in der Praxis häufig – den Arbeitnehmern anlässlich eines Betriebsübergangs in Informationsschreiben, Betriebsvereinbarungen oder „Überleitungs-Tarifverträgen“ ausdrücklich zugesagt wird, sie würden nicht nur mit allen Rechten und Pflichten, sondern auch „unter Anrechnung ihrer Betriebszugehörigkeit“ übernommen, so handelt es sich um eine rein deklaratorische Zusage, die nur das wiedergibt, was ohnehin von Gesetzes wegen gilt. Allerdings ergibt sich aus § 613a Abs. 1 BGB keine zwingende Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten für Leistungen, die erstmals beim Erwerber begründet werden. Den tariflichen Ausschluss der Anerkennung von Vorbeschäftigungszeiten beim Betriebsveräußerer im Rahmen der Bemessung von Vergütungsbestandteilen nach Betriebszugehörigkeitsstufen hat das BAG z.B. für wirksam erachtet.580
6.164 Der Eintritt des Erwerbers in die bereits zurückgelegte Betriebszugehörigkeit kann auch zu Lasten des Arbeitnehmers wirken. Bei einem befristeten Arbeitsverhältnis (§ 1 TzBfG) beginnt die Befristungsdauer im Moment des Betriebsübergangs nicht etwa neu zu laufen.
6.165 Fraglich ist, inwieweit der Erwerber die über § 613a BGB „mitgebrachte“ Betriebszugehörigkeit beachten muss, wenn er nach dem Betriebsübergang neue Sozialleistungen einführt oder bestehende Sozialleistungen verbessert. Nach richtiger Auffassung581 kann es insoweit keine grenzenlose Bindung des Erwerbers geben, er ist vielmehr an die mitgebrachte Betriebszugehörigkeit nur in den allgemeinen Grenzen von Recht und Billigkeit gebunden. Das gilt beispielsweise bei der Aufstellung von Sozialplänen (§ 112 BetrVG), aber auch bei der Neu-Einführung einer betrieblichen Altersversorgung oder ähnlicher Leistungen.
6.166 Bei der betrieblichen Altersversorgung wirkt sich die beim Veräußerer zurückgelegte Betriebszugehörigkeit daher nur teilweise aus. Es ist wie folgt zu differenzieren: (1) Bestanden zur Zeit des Betriebsinhaberwechsels keine Versorgungsanwartschaften, die übernommen werden müssen, bestimmt sich allein nach der Versorgungszusage des Erwerbers, ob und in welcher Höhe er Versorgungsleistungen erbringt (vgl. Rz. 6.230). (2) Für die gesetzliche Unverfallbarkeit muss die vor dem Betriebsübergang liegende Zeit aber berücksichtigt werden, da die Betriebszugehörigkeit gesetzliches Tatbestandsmerkmal ist.582 (3) Für die erwerberseitige Berechnung der Höhe „seiner“ Altersversorgung muss die vor dem Betriebs-
580 BAG v. 2.7.2008 – 4 AZR 246/07, n.v.; BAG v. 17.10.2007 – 4 AZR 1005/06, NZA 2008, 713. 581 Vgl. Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 188 f.; BAG v. 19.1.2010 – 3 ABR 19/08, NZA-RR 2010, 356. 582 Vgl. dazu BAG v. 8.2.1983 – 3 AZR 229/81, DB 1984, 301.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.170 Kap. 6
übergang zurückgelegte Betriebszugehörigkeit dagegen nicht zugrunde gelegt werden (vgl. Rz. 6.230).583 c) Gestaltungsrechte Zu den nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB übergehenden Rechten gehören selbstverständlich 6.167 auch einseitige Gestaltungsrechte (Kündigung, Rücktritt, Widerruf etc.). Waren solche Gestaltungsrechte im Moment des Betriebsübergangs noch nicht ausgeübt, kann sie der Erwerber ausüben (bzw. im umgekehrten Fall der Arbeitnehmer gegenüber dem Erwerber). Das gilt etwa für den vorbehaltenen Widerruf von Sozialleistungen, den vorbehaltenen Widerruf eines Prozessvergleichs etc. Sind Gestaltungsrechte bereits vor dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs ausgeübt worden, so wirken sie für und gegen den Erwerber. Ist beispielsweise das Arbeitsverhältnis von einer der Parteien vor dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs zu einem nach dem Betriebsübergang liegenden Zeitpunkt gekündigt worden, so wirkt diese Kündigung für und gegen den Erwerber. Eine nach dem Betriebsübergang ausgesprochene Kündigung kann der Erwerber auch ohne weiteres auf Gründe stützen, die beim Veräußerer entstanden sind. Bei verhaltensbedingten Kündigungen muss allerdings stets geprüft werden, ob die für die Kündigung erforderliche negative Prognose uneingeschränkt auch gegenüber dem Erwerber gilt. Das ist zwar grundsätzlich zu bejahen, kann aber in Ausnahmefällen zu verneinen sein (z.B. ständige Streitereien des Arbeitnehmers mit einem ehemaligen Geschäftsführer, der im Zuge des Betriebsübergangs ausgeschieden ist).584 Bei außerordentlichen Kündigungen wird die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB durch den Betriebsübergang nicht unterbrochen. Teilt der Veräußerer kündigungsrelevante wichtige Gründe dem Erwerber nicht mit und versäumt dieser deshalb die Zweiwochenfrist, kann sich der Veräußerer schadensersatzpflichtig machen. d) Nachwirkungen aus beendeten Arbeitsverhältnissen Nach § 613a BGB tritt der Erwerber grundsätzlich nur in solche Arbeitsverhältnisse ein, die im Moment des Betriebsübergangs rechtlich noch bestehen. Maßgeblich ist allein der rechtliche Bestand des Arbeitsverhältnisses. Deshalb tritt der Erwerber auch in solche Arbeitsverhältnisse ein, die ruhen oder sonstwie außer Vollzug gesetzt sind (Elternzeit, Wehrdienst, Mutterschutz, dauernde Krankheit, vereinbarter Sonderurlaub, Freistellung während der Kündigungsfrist, Freistellungsphase bei Altersteilzeit im Blockmodell etc.).
6.168
Ist das Arbeitsverhältnis rechtlich im Moment des Betriebsübergangs bereits beendet, tritt der Erwerber auch nicht in solche Ansprüche ein, die erst nach dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs fällig werden. Das gilt z.B. für Umsatz- oder Gewinntantiemen. Ist beispielsweise der Arbeitnehmer zum 30.6. ausgeschieden und wird der Betrieb zum 30.9. übernommen, so haftet der Erwerber nicht für am 31.12. fällig werdende Tantiemen. Das Gleiche gilt für die betriebliche Altersversorgung. Ist der Mitarbeiter bereits vor dem Betriebsübergang ausgeschieden, haftet der Erwerber nicht für die Rentenansprüche, die erst nach dem Betriebsübergang fällig werden, auch nicht anteilig.
6.169
Der Erwerber tritt auch dann nicht in irgendwelche Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis ein, wenn es bereits vor dem Betriebsübergang beendet war, Arbeitgeber und Arbeitnehmer aber zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs noch durch anders geartete Rechts-
6.170
583 BAG v. 19.12.2000 – 3 AZR 451/99, NZA 2002, 615. 584 Seiter, S. 84 f.
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Kap. 6 Rz. 6.171
Arbeitsrecht
verhältnisse miteinander verbunden sind. So mag beispielsweise im Anschluss an das Arbeitsverhältnis ein Beratervertrag abgeschlossen worden sein oder im Rahmen des Aufhebungsvertrages wurde die Weiternutzung von Dienstwagen und/oder Dienstwohnung vereinbart. In solchen Fällen liegt die weitere Abwicklung der Rechtsbeziehungen mit dem Arbeitnehmer ausschließlich beim Veräußerer.
6.171 Besondere Probleme entstehen bei nachvertraglichen Wettbewerbsverboten nach §§ 74 ff. HGB (vgl. Rz. 6.211 ff.). e) Rückständige Ansprüche
6.172 Besteht das Arbeitsverhältnis am Übergangsstichtag noch, so tritt der Erwerber nicht nur in die aktuellen Rechte und Pflichten ein, sondern auch in noch unerfüllte Verbindlichkeiten aus der Vergangenheit. Insbesondere haftet er für sämtliche Lohn- und Gehaltsrückstände. Die Jahresfrist des § 613a Abs. 2 BGB hat mit der Haftung für Rückstände gegenüber dem Arbeitnehmer nichts zu tun, sondern betrifft ausschließlich das Innenverhältnis zwischen Erwerber und Veräußerer. Lohn- und Gehaltsrückstände muss der Erwerber also zahlen, ebenso wie er noch nicht genommenen Urlaub zu gewähren oder abzugelten hat. Allerdings werden selbstverständlich Verjährungs- und Ausschlussfristen durch § 613a BGB nicht verändert und insbesondere nicht unterbrochen. Sie laufen vielmehr gegen den Erwerber so weiter, wie sie ohne Betriebsübergang gegenüber dem Veräußerer weitergelaufen wären.585
6.173 Oft wird verkannt, dass die besonderen Haftungsregeln des § 613a Abs. 2 BGB in keiner Weise den Eintritt des Erwerbers in rückständige Ansprüche der Arbeitnehmer verhindern oder auch nur beschränken. § 613a Abs. 2 BGB ordnet nämlich nicht eine Mithaft des Erwerbers an, sondern eine Mithaft des Veräußerers. Der Erwerber haftet also für Rückstände stets und ohne Rücksicht auf die zeitlichen Beschränkungen des § 613a Abs. 2 BGB. f) Rückständige Sozialversicherungsbeiträge/Lohnsteuer
6.174 Nach herrschender Auffassung haftet der Erwerber nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB zwar für Lohn- und Gehaltsrückstände, nicht aber für rückständige Sozialversicherungsbeiträge und nicht abgeführte Lohnsteuer. Bezüglich der Sozialabgaben liegt auf der Hand, dass den Erwerber insoweit keine „Eintrittspflicht“ trifft, als die Beiträge originär vom Arbeitgeber zu tragen sind (Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung, Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung, Schwerbehindertenabgabe). Es handelt sich nicht um Ansprüche aus dem Verhältnis Arbeitgeber/Arbeitnehmer, sondern um öffentlich-rechtliche Verpflichtungen des Arbeitgebers.586 Gleiches gilt für rückständige Arbeitnehmerbeiträge sowie für nicht abgeführte Lohnsteuer. In diese Verpflichtungen, die der Arbeitgeber quasi als „Einzugsstelle“ für den Arbeitnehmer an Dritte (Sozialversicherungsträger, Finanzamt) erbringt, tritt der Erwerber nicht ein. Die Einzugsstelle bzw. das Finanzamt muss sich an den Veräußerer halten.587
6.175 Eine Haftung des Betriebsübernehmers für lohnsteuerbegründende Vorgänge aus der Zeit vor dem Betriebsübergang kommt nach § 75 AO in Betracht,588 wobei allerdings der Über585 Hattesen in Kasseler Hdb., 6.7 Rz. 147. 586 BayObLG v. 31.10.1974 – 1 U 2225/74, BB 1974, 1582. 587 BayObLG v. 31.10.1974 – 1 U 2225/74, BB 1974, 1582; Palandt/Weidenkaff, § 613a BGB Rz. 26. 588 Mösbauer, DStZ 1995, 705.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.180 Kap. 6
nehmer nach herrschender Auffassung nur subsidiär gegenüber dem Veräußerer haftet (§ 219 AO).589 Bei der gesetzlichen Unfallversicherung besteht die Besonderheit, dass für die Beiträge desjenigen Geschäftsjahres, in das der Betriebsübergang fällt, grundsätzlich Erwerber und Veräußerer gesamtschuldnerisch haften (§ 150 Abs. 4 SGB VII).
6.176
g) Rechtsähnliche Positionen Das Arbeitsverhältnis geht so auf den Erwerber über, wie es zum Zeitpunkt des Betriebs- 6.177 übergangs „steht und liegt“. Deshalb tritt der Erwerber nicht nur in vollwertige Rechte der Arbeitnehmer ein, sondern auch in rechtsähnliche Positionen. So muss er eine beim Veräußerer schon entstandene betriebliche Übung gegen sich gelten lassen, weil sie einen vollwertigen Rechtsanspruch vermittelt.590 Der Erwerber muss aber auch dann Verhaltensweisen des Veräußerers gegen sich gelten lassen, wenn diese noch nicht zu Rechtspositionen erstarkt sind. Wenn beispielsweise bei dreimaliger vorbehaltloser Zahlung einer Weihnachtsgratifikation ein Anspruch der Arbeitnehmer aus betrieblicher Übung entsteht591 und der Veräußerer bereits zweimal vorbehaltlos eine Weihnachtsgratifikation gezahlt hat, entsteht mit der erstmaligen (und damit insgesamt dritten) Zahlung der gleichen Gratifikation durch den Erwerber die betriebliche Übung. Ebenso wird der Erwerber durch eine vom Veräußerer erteilte Gesamtzusage gebunden.592 h) Vollmachten, Ämter, Statusfragen Handelsrechtliche Vollmachten wie Prokura und Handlungsvollmacht erlöschen automatisch im Moment des Betriebsübergangs, da sie nicht rechtlicher Bestandteil des Arbeitsverhältnisses sind.593 Unter Umständen kann der bisherige Prokurist nach dem Betriebsübergang stillschweigende Handlungsvollmacht haben.594
6.178
Die Anstellungsverhältnisse vertretungsberechtigter Organmitglieder (Geschäftsführer, 6.179 Vorstände) fallen nach herrschender Auffassung595 nicht unter § 613a BGB; erfasst werden nur Arbeitnehmer (vgl. dazu Rz. 6.96). Für Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gilt Folgendes: Während ihr Arbeitsverhältnis 6.180 übergeht, erlischt ihr Aufsichtsratsmandat.596 Ebenso endet das Betriebsratsamt eines übergehenden Arbeitnehmers, wenn der Betriebsrat (z.B. beim Teilbetriebsübergang) beim Veräußerer bestehen bleibt und auch kein Übergangsmandat entsteht.597 Auch die Ämter von sog. „Betriebsbeauftragten“ (Fachkräfte für Arbeitssicherheit nach dem ASiG; Sicherheits589 Drenseck in Schmidt, § 42d EStG Anm. 37. 590 Vgl. § 1 Abs. 1 Satz 4 BetrAVG, zum Eintritt des Erwerbers in Ansprüche aufgrund betrieblicher Übung auch BAG v. 6.12.1978 – 5 AZR 545/77, AP 7 zu § 2 AngKündG. 591 BAG v. 23.3.1963 – 3 AZR 173/62, BB 1963, 938. 592 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 421/07, NZA 2008, 1360. 593 Köhler, BB 1979, 912 ff.; Schwerdtner in FS Müller, S. 573; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 209; a.A. D. Gaul, Betriebsübergang, S. 182. 594 Baumbach/Hopt, § 52 HGB Rz. 5. 595 BAG v. 13.2.2003 – 8 AZR 654/01, GmbHR 2003, 765 = ZIP 2003, 1010; OLG Celle v. 15.6.1977 – 3 U 96/76, DB 1977, 1840; offengelassen von Fleck, WM Sonderbeilage 3/1981, 14. 596 Statt aller: Kraft in Großkomm. BetrVG, § 76 BetrVG 1952 Rz. 94. 597 Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, § 24 BetrVG Rz. 21 ff.
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541
Kap. 6 Rz. 6.181
Arbeitsrecht
beauftragte gem. § 22 SGB VII; Datenschutzbeauftragte gem. Art. 37 ff. DSGVO etc.)598 erlöschen, soweit der Betrieb nicht als ganzer übergeht.
6.181 Dagegen erlöschen Ämter und Vollmachten der Arbeitnehmer selbstverständlich nicht, wenn sie bei anderen Unternehmen bestehen, etwa im Konzern. Ist beispielsweise in der GmbH & Co. KG der GmbH-Geschäftsführer bei der KG angestellt und veräußert die KG ihren Geschäftsbetrieb an einen Dritten, geht das Anstellungsverhältnis auf den Erwerber über, während das Amt als Geschäftsführer der GmbH fortbesteht, jedenfalls soweit der Geschäftsführer als Arbeitnehmer der KG anzusehen ist.599
6.182 Bloße Titel wie „Direktor“, „Hauptabteilungsleiter“ etc. sind rein deklaratorischer Natur und werden deshalb von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB nicht erfasst. Der Erwerber ist deshalb ohne weiteres berechtigt, die Titel der übergehenden Mitarbeiter an die in seinem Betrieb/ Unternehmen herrschenden Verhältnisse anzupassen.
6.183 Die Eigenschaft als „leitender Angestellter“ gem. § 5 Abs. 3 BetrVG ist ebenfalls nichts, was aufgrund von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf den Erwerber übergehen müsste. Allerdings gehen die Anstellungsverhältnisse leitender Angestellter nach § 613a BGB auf den Erwerber über.600 Die Frage, ob die übergehenden Angestellten auch beim Erwerber als „leitend“ nach § 5 Abs. 3 BetrVG anzusehen sind, richtet sich dagegen allein nach den betrieblichen Verhältnissen beim Erwerber. Wird beispielsweise ein Kleinbetrieb im Zuge des § 613a BGB in einen Großbetrieb eingegliedert, so werden die bisherigen leitenden Angestellten den Status nach § 5 Abs. 3 BetrVG häufig verlieren. Eine einseitige Verschlechterung der materiellen Arbeitsbedingungen (Urlaubsansprüche, Zulagen etc.) darf damit wegen § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB allerdings nicht verbunden sein. i) Lohnpfändung
6.184 Sind Vergütungsansprüche des Arbeitnehmers beim Veräußerer gepfändet worden, besteht das Pfändungspfandrecht nach dem Betriebsübergang gegenüber dem Erwerber weiter, so dass es keiner neuen Pfändung bedarf.601 j) Darlehen
6.185 Umstritten ist, ob Ansprüche aus Arbeitnehmerdarlehen (langfristige Darlehen, Vorschüsse, Ausbildungsdarlehen) von § 613a BGB erfasst werden. Dabei kommt ein isolierter Übergang einzelner Rechte und Pflichten aus dem Darlehensverhältnis nicht in Betracht. Es kann nur ein „alles oder nichts“ geben. Entweder bleibt die gesamte darlehensrechtliche Beziehung mit dem Veräußerer bestehen602 oder sie geht komplett auf den Erwerber über.603 Richtigerweise ist so zu differenzieren: 598 Vgl. die Übersicht bei Küttner/Griese, Personalbuch 2014, Stichwort „Betriebsbeauftragte“. 599 Dazu BAG v. 10.7.1980 – 3 AZR 68/79, GmbHR 1982, 113 = DB 1981, 276 und BAG v. 15.4.1982 – 2 AZR 1101/79, GmbHR 1984, 70 = MDR 1983, 785 = NJW 1983, 2405. 600 BAG v. 22.2.1978 – 5 AZR 800/76, AP 11 zu § 613a BGB. 601 LAG Hamm v. 7.5.1976 – 3 Sa 1093/75, BB 1976, 1369. 602 So z.B. Borngräber, S. 90; Mösenfechtel/Schmitz, RdA 1976, 108; a.A. Willemsen in Willemsen/ Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 192, der zwischen Deckungs- und Valutaverhältnis unterscheidet. 603 Seiter, S. 78; Posth, S. 147.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.189 Kap. 6
Ein Arbeitgeberdarlehen kann auf den Erwerber übergehen, wenn das Darlehen zu den Rechten und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis gehört. Das ist dann der Fall, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer ein Darlehen als Lohn- oder Gehaltsvorschuss gegeben hat.604 Dagegen bleibt der Darlehensvertrag beim Veräußerer, wenn die Arbeitsvertragsparteien neben dem Arbeitsvertrag einen vom Arbeitsverhältnis unabhängigen, eigenständigen Darlehensvertrag geschlossen haben.605 Das kann bei einer Einzelvereinbarung der Fall sein (kurzfristiges Darlehen des Arbeitgebers zur Behebung einer individuellen Notlage des Arbeitnehmers, Ausbildungsdarlehen etc.). So gehen etwa die normalen Girokonten von Bankmitarbeitern nicht nach § 613a BGB über, wenn die Bank einen Teil ihres Geschäftsbetriebes an einen Dritten veräußert. Ein enger Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis, der eine Anwendung von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB rechtfertigt, kann vor allem dann vorliegen, wenn der Arbeitgeber Arbeitnehmerdarlehen flächendeckend als Sozialleistung gewährt.606
6.186
Bleibt der Darlehensvertrag beim Veräußerer, greift im Moment des Betriebsübergangs eine eventuell vereinbarte Klausel, wonach das Darlehen mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Rückzahlung fällig ist. Allerdings wird es dem Arbeitgeber nach Treu und Glauben und in entsprechender Anwendung von § 162 BGB verwehrt sein, sich auf die sofortige Fälligkeit zu berufen, wenn dies für den Arbeitnehmer eine unzumutbare Härte bedeuten würde.607
6.187
k) Mitarbeiterbeteiligungen/Aktienoptionen Die Entscheidung über die Frage, ob Ansprüche der Arbeitnehmer aus Mitarbeiterbeteiligungen nach § 613a BGB übergehen, kann letztendlich nur anhand des jeweiligen Beteiligungsmodells getroffen werden.
6.188
Bei Aktienoptionen bereitet die Einordnung in § 613a BGB Schwierigkeiten, weil jeweils geprüft werden muss, ob sie Bestandteil des Arbeitsverhältnisses sind. Die Gewährung durch Optionsvertrag beruht auf einem Aktienoptionsprogramm, das von den aktienrechtlich zuständigen Gremien beschlossen werden muss. Formal betrachtet ist weder die Gewährungsart noch die gewährte gesellschaftsrechtliche Beteiligung selbst Bestandteil des Arbeitsverhältnisses. Andererseits sind Aktienoptionen unter Umständen gerade Teil der erfolgsabhängigen, leistungsbezogenen Vergütung. Daher stehen sie zumindest in einem engen Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis. Es muss unterschieden werden: Der Optionsplan ist die gesellschaftsrechtliche Grundlage, auf der die individualvertragliche Vereinbarung über die Begebung von Optionen basiert. Allein Letztere kann, als Vergütungsbestandteil oder als freiwillige Zusatzleistung, Bestandteil des Arbeitsverhältnisses werden.608 Arbeitsrechtliche Regeln wie etwa der Gleichbehandlungsgrundsatz finden unstreitig Anwendung.609
6.189
604 ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 426; vgl. BAG v. 21.1.1999 – 8 AZR 373/97, n.v. Das Urteil befasst sich auch mit der Frage, was mit einer mit dem Arbeitgeberdarlehen im Zusammenhang stehenden Grundschuld, die zugunsten des Arbeitgebers bestellt wurde, beim Betriebsübergang passiert. Nach Auffassung des Senats geht diese nicht auf den Erwerber über; im Ergebnis auch MüllerGlöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 89. 605 Vgl. BAG v. 21.1.1999 – 8 AZR 373/97, n.v.; Fuhlrott/Fabritius, BB 2013, 1592 (1595). 606 Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 222. 607 Ähnlich Schaub, § 70 III 5. 608 Vgl. dazu Bauer/Göpfert/von Steinau-Steinrück, ZIP 2001, 1129; Baeck/Diller, DB 1998, 1405. 609 Vgl. dazu Baeck/Diller, DB 1998, 1405 (1408).
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Kap. 6 Rz. 6.190
Arbeitsrecht
6.190 In seiner ersten Leitentscheidung610 zur Behandlung von Aktienoptionsplänen bei Betriebsübergängen klärte der 10. Senat des BAG, dass ein Betriebsübergang solche Optionsansprüche nicht erfasst, die der Arbeitnehmer gegenüber einem anderen Konzernunternehmen innehat. In diesem Fall ist der Arbeitsvertrag mit der Konzerntochter lediglich Motiv für die Gewährung der Optionen durch andere Konzernunternehmen, in der Praxis häufig durch die Konzernmutter. Solche Aktienoptionen zählen dann nicht zur arbeitsvertraglichen Vergütung, sondern sind nach den Worten des BAG lediglich ein zusätzliches „Anreizsystem für das leitende Konzernpersonal“. Rechtlich steht der Optionsvertrag somit neben dem Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers. Optionsansprüche werden folglich nicht Bestandteil des Arbeitsvertrages. Der Betriebserwerber ist diesen Ansprüchen nicht ausgesetzt, da er nicht Vertragspartner dieses Vertrages ist.611 Das BAG bestätigt damit, dass sich der Eintritt des Erwerbers im Rahmen des § 613a BGB auf die „im Arbeitsverhältnis“ begründeten Rechte und Pflichten beschränkt.
6.191 Bislang nicht höchstrichterlich entschieden ist die Behandlung von Aktienoptionen beim Betriebsübergang, die der Arbeitgeber selbst oder gemeinsam mit einer anderen Konzerngesellschaft – in letzterem Falle unter Begründung eine Gesamtschuld612 – zugesagt hat. Würde man die Optionszusage als einen gesonderten, neben dem Arbeitsverhältnis bestehenden Vertrag sehen, so ginge diese nicht nach § 613a BGB auf den Erwerber über.613 Für diesen Ansatz spricht, dass es oftmals dem Erwerber gar nicht möglich sein wird, dem Arbeitnehmer die zugesagte gesellschaftsrechtliche Beteiligung an einem anderen Unternehmen zu verschaffen. Es kommt hinzu, dass mit dem Betriebsübergang an einen nicht mit dem Veräußerer konzernmäßig verbundenen Erwerber der Zweck der Gewährung der Aktienoption – der Anreiz zur Förderung des Ergebnisses des Unternehmens, an dem die Beteiligung bestehen soll – gerade nicht mehr besteht. Beim Erwerb des Betriebs durch einen Konkurrenten müsste die Zweckrichtung vielmehr genau entgegengesetzt sein. Diese eher pragmatischen Überlegungen tragen aber nicht: Begibt der Arbeitgeber auch die Optionszusage, wird diese stets als Bestandteil des Arbeitsverhältnisses und als Teil der Vergütung zu betrachten sein. Aus Sicht beider Parteien des Arbeitsvertrags stellt die Optionszusage einen Baustein im System der Gesamtvergütung für das Arbeitsverhältnis dar. Die Trennung zwischen Arbeitsverhältnis und Optionszusage erscheint künstlich und ist auch von den Parteien im laufenden Arbeitsverhältnis i.d.R. nicht beabsichtigt. Mit einem Erfordernis zur strikten Trennung der Optionszusage vom Arbeitsverhältnis kann daher nicht begründet werden, dass ein Übergang der Optionszusage nicht stattfinden kann. Die Optionszusage ist Bestandteilt des Arbeitsverhältnisses614 und geht grundsätzlich auf den Erwerber über. Allerdings ist dann zu prüfen, ob beim Erwerber eine Vertragsanpassung im Hinblick auf die Aktienoptionen zu erfolgen hat. Grundsätzlich wird die weitere Gewährung von Aktienoptionen nur zu erwarten sein, wenn die damit verfolgten Ziele der Motivation und zusätzlichen Belohnung von Arbeitnehmern auch nach dem Betriebsübergang weiter erreicht werden können. Dies mag man bei Betriebsübergängen innerhalb eines Konzerns bejahen können – erfolgt der Übergang aber an einen außer610 BAG v. 12.2.2003 – 10 AZR 299/02 – Nokia, AG 2003, 387 = NZA 2003, 487 = DB 2003, 1056 m. Anm. Piran; von Steinau-Steinrück, NZA 2003, 473. 611 BAG v. 12.2.2003 – 10 AZR 299/02, AG 2003, 387 = NZA 2003, 487 (489); a.A. Lipinski/Melms, BB 2003, 150. 612 So der Fall in BAG v. 28.5.2008 – 10 AZR 351/07, AG 2008, 632 = MDR 2008, 1106 = NZA 2008, 1066. 613 Bauer/Göpfert/von Steinau-Steinrück, ZIP 2001, 1129. 614 BAG v. 28.5.2008 – 10 AZR 351/07, AG 2008, 632 = MDR 2008, 1106 = NZA 2008, 1066; BAG v. 16.1.2008 – 7 AZR 887/06, NZA 2008, 836.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.193 Kap. 6
halb des Konzerns stehenden Erwerber, wird die Vertragsanpassung im Regelfall zum ersatzlosen Wegfall des Anspruchs aus der Optionszusage führen.615 Erreicht der Gegenwert der Optionszusage allerdings mindestens 25 % der Vergütung und nimmt deshalb im Synallagma des Arbeitsvertrags einen erheblichen Stellenwert ein, wird in der Literatur teilweise ein ersatzloser Wegfall wegen des damit verbundenen übermäßigen Eingriffs in die Vertragskontinuität verneint.616 In diesem Fall hätte beim Erwerber eine Anpassung des Vertrags zu erfolgen, ggf. im Wege einer rein finanziellen Kompensation des Arbeitnehmers für den entgehenden Optionsanspruch. Dieser Ansicht folgt das BAG offenbar nicht, da es den Verfall von Aktienoptionen nicht an den üblichen strengen Voraussetzungen für den Wegfall von Sonderzahlungen bemisst, indem es betont, dass der Wert der Aktienoptionszusage i.d.R. höchst spekulativ ist und Arbeitnehmer hierin nicht die gleiche Sicherheit einer Vergütungserwartung setzen können wie z.B. bei einer variablen Bonusregelung aufgrund von Zielvereinbarungen.617 Das BAG lässt es grundsätzlich zu, das Bestehen der Aktienoptionsrechte an das Bestehen des Arbeitsverhältnisses zu knüpfen. Ein weiterer maßgeblicher Punkt ist die Auswirkung des Betriebsübergangs auf die bereits 6.192 entstandenen Rechte und Anwartschaften aus der Optionszusage. Regelmäßig unterliegen diese Verfallklauseln und sind bedingt durch Mindestwartezeiten und die Erreichung von Erfolgszielen. Sieht die Optionszusage den Verfall von Optionen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor, so tritt diese Rechtsfolge bei Fehlen einer ausdrücklichen anderweitigen Regelung auch beim Übergang des Arbeitsverhältnisses gem. § 613a Abs. 1 BGB ein, da hiermit die Beendigung des Arbeitsverhältnisses verbunden ist. Ist der Verfall jedoch für den Fall der betriebsbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen, wird man mangels spezieller vertraglicher Regelung die Beendigung durch Betriebsübergang entsprechend derjenigen durch betriebsbedingte Kündigung behandeln müssen. In beiden Fällen verliert der Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz durch eine einseitige betriebliche Maßnahme des Arbeitgebers, auf die der Arbeitnehmer keinen Einfluss hat. Sind beim Betriebsübergang die vorgegebenen Erfolgsziele noch nicht erreicht, entsteht das 6.193 Optionsrecht nicht. Auch wenn die Wartefrist zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs nicht erfüllt ist, entsteht das Optionsrecht nicht. Sind beim Betriebsübergang Erfolgsziele und Wartefrist erfüllt, so entsteht der Anspruch gegen den Veräußerer, es sei denn, er hat die Leistung wirksam unter die Bedingung des Bestands des Arbeitsverhältnisses gestellt. Hat der Veräußerer die Optionen bereits zugeteilt, ist insoweit Erfüllung eingetreten, was einen Übergang auf den Erwerber ausschließt. Falls vom Veräußerer noch nicht erfüllt worden ist, richtet sich die Frage nach dem Anspruch gegen den Erwerber nach dem Ergebnis der Prüfung der Vertragsanpassung. Im Regelfall wird vom Erwerber der Anspruch nicht zu erfüllen sein.
6.194–6.197
Einstweilen frei.
615 Vgl. dazu Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 196. 616 Vgl. dazu Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 197. 617 BAG v. 28.5.2008 – 10 AZR 351/07, AG 2008, 632 = MDR 2008, 1106 = NZA 2008, 1066, zustimmend Lingemann/Gotham, Anm. zu BAG v. 28.5.2008 – 10 AZR 351/07, AG 2008, 632 = MDR 2008, 1106 = AP BGB § 305 Nr. 12.
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Kap. 6 Rz. 6.198
Arbeitsrecht
l) Werkswohnungen
6.198 Ohne weiteres auf den Erwerber über geht die Pflicht des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer Mietkosten zu erstatten, einen Mietzuschuss zu zahlen oder ihm eine günstige Mietwohnung zu beschaffen, sofern es um Wohnungen geht, die im Eigentum Dritter stehen. Es handelt sich um normale Vergütungsbestandteile, für die § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB uneingeschränkt gilt.
6.199 Problematisch ist allerdings die Vermietung von Werkswohnungen im engeren Sinne, die im Eigentum des Veräußerers stehen. Keine Probleme entstehen insoweit, wenn der Erwerber zusammen mit den Betriebsmitteln das Eigentum an der Wohnung erwirbt (z.B. bei einem Lehrlingswohnheim, einer Hausmeisterwohnung etc.), da dann der Erwerber schon nach § 566 BGB anstelle des alten Arbeitgebers in die fortbestehenden Mietverhältnisse zu unveränderten Konditionen eintritt, ein Rückgriff auf § 613a BGB also nicht erforderlich ist.618 Schwierig wird es dagegen, wenn der Erwerber die Werkswohnungen nicht mitübernimmt. Das ist regelmäßig der Fall bei alten Industrieunternehmen, die im Laufe der Jahrzehnte ausgedehnte Werkssiedlungen für ihre „Belegschaftsangehörigen“ errichtet haben. Kein Erwerber des Betriebes oder gar nur eines Betriebsteils hätte Interesse, ganze Siedlungen mitzuerwerben. Nach ganz herrschender Auffassung greift hier § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB nicht. Weder erwirbt der Erwerber kraft Gesetzes die Wohnungen, noch geht der Mietvertrag in irgendeiner Weise auf ihn über. Auf der Hand liegt dieses Ergebnis, wenn der Mietvertrag nur auf der Motivebene mit dem Arbeitsverhältnis verbunden ist, also das Arbeitsverhältnis nur Anlass für den Abschluss des Mietvertrages war. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB greift aber auch dann nicht, wenn die Wohnung zu günstigeren Konditionen oder gar mietfrei überlassen war, so dass die Überlassung des Wohnraums von der Finanzverwaltung als steuerbarer geldwerter Vorteil angesehen wurde. Die Herausnahme der Wohnungsvermietung aus § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB rechtfertigt sich in diesen Fällen deshalb, weil das Mietverhältnis schlechterdings nicht von der dinglichen Konstellation gelöst werden kann.619 Erhöht der bisherige Arbeitgeber als Reaktion auf den Übergang des Arbeitsverhältnisses auf den Erwerber die Miete auf die ortsüblichen Sätze, kann der Arbeitnehmer vom Erwerber keinen Ausgleich verlangen. Denn es fehlt regelmäßig an einer Rechtsgrundlage für einen Anspruch des Arbeitnehmers, auf Dauer eine verbilligte Werkswohnung gestellt zu bekommen, so dass es keinen Anspruch gibt, der sich in eine Geldleistung umwandeln könnte. Außerdem gibt es keinen Grundsatz, dass bei Wegfall einer Naturalvergünstigung sich diese stets in eine Geldvergünstigung umwandelt.620
6.200 Teilweise differenziert die Literatur zwischen normalen Werkmietwohnungen (§§ 576, 576a BGB) und Werkdienstwohnungen (§ 576b BGB). Als Werkdienstwohnungen bezeichnet man an den Arbeitnehmer vermietete Wohnungen, bei denen kein gesonderter Mietvertrag besteht, sondern die Wohnungsüberlassung Teil des Arbeitsverhältnisses ist. Das kommt insbesondere bei Hausmeister- oder Pförtnerwohnungen vor. Nach herrschender Auffassung soll hier § 613a BGB anwendbar sein.621 Diese Auffassung ist wegen § 566 BGB nur relevant, wenn die Wohnung nicht an den Erwerber mitveräußert wird. Geschieht das nicht, wären aber die praktischen Schwierigkeiten unlösbar, wenn § 613a BGB anwendbar wäre. Insbesondere könnte der Arbeitnehmer den Erwerber dazu verurteilen lassen, ihm weiterhin 618 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 77. 619 Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 240; Seiter, S. 79; Posth, S. 144 ff. 620 Grundlegend BAG v. 7.12.1982 – 3 AZR 1103/79, EzA § 242 BGB betriebliche Übung Nr. 9 = AP 56 zu § 611 BGB Dienstordnungs-Angestellte = BB 1993, 1283. 621 Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 99; Seiter, S. 79; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 240; Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 193.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.203 Kap. 6
das Wohnen in der Dienstwohnung zu ermöglichen, so dass der Erwerber gezwungen wäre, um jeden Preis die Wohnung vom Veräußerer anzumieten. Da dies Ergebnis nicht sachgerecht ist, muss auch insoweit die dingliche Situation vorgehen und die Anwendung von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ausscheiden. m) Arbeitnehmer-Erfindungen Auch die Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf Ansprüche aus Arbeitnehmer-Erfindungen sind mangels einschlägiger höchstrichterlicher Rechtsprechung noch ungeklärt.
6.201
Ist die Erfindung zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs noch nicht gem. § 6 ArbNErfG vom 6.202 Arbeitgeber in Anspruch genommen, gehen unstreitig sämtliche Rechte und Pflichten hinsichtlich der Erfindung auf den Erwerber über. Der Arbeitnehmer-Erfinder hat die Erfindung also dem Erwerber zu melden und dieser kann über die Inanspruchnahme entscheiden. Nimmt er die Erfindung in Anspruch, hat er die Erfindervergütung zu zahlen. § 613a BGB greift auch dann uneingeschränkt, wenn zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs die Erfindung bereits dem alten Arbeitgeber angezeigt worden war, dieser aber über die Inanspruchnahme noch nicht entschieden hat. Hier geht die Möglichkeit der Inanspruchnahme auf den Erwerber über. Dieser kann also innerhalb der Frist des § 6 Abs. 2 Satz 2 ArbNErfG über die Inanspruchnahme (für sich, nicht für den Veräußerer!) entscheiden. Wie allgemein bei Fristen beginnt die Inanspruchnahmefrist im Moment des Betriebsübergangs nicht neu, vielmehr muss der Erwerber den beim Veräußerer abgelaufenen Teil der Frist gegen sich gelten lassen.622 Ungleich problematischer ist die Rechtslage hinsichtlich solcher Erfindungen, die der Ver- 6.203 äußerer bereits in Anspruch genommen hatte und für die ggf. bereits eine Vergütungsvereinbarung getroffen wurde (§§ 9 ff., 22, 23 ArbNErfG). Weitgehend Einigkeit besteht insoweit, dass die Rechte des Veräußerers an der in Anspruch genommenen Erfindung nicht unter § 613a BGB fallen. Sie gehen also nicht automatisch auf den Erwerber über. Soll die Erfindung auf den Erwerber übergehen, muss dies im Zuge der Übernahme der Betriebsmittel ausdrücklich mitvereinbart werden. Davon zu trennen ist die Frage, ob die wechselseitigen Rechte und Pflichten zwischen Arbeitnehmer und Veräußerer nach dem ArbNErfG nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf den Erwerber übergehen. Die herrschende Auffassung623 differenziert danach, ob der Erwerber die Erfindung rechtsgeschäftlich übernimmt oder nicht. Erwirbt er die Erfindung, sollen die damit zusammenhängenden Rechte und Pflichten nach dem ArbNErfG nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf ihn übergehen. Der Erwerber tritt dann in die Pflicht zur Zahlung der Erfindervergütung ein, kann aber vom Arbeitnehmer entsprechend dem ArbNErfG Geheimhaltung etc. verlangen. Anders soll es dagegen sein, wenn die Erfindung beim Veräußerer verbleibt. Dann sollen nach herrschender Auffassung auch die wechselseitigen Rechte und Pflichten aus dem ArbNErfG mit dem Veräußerer bestehen bleiben und nicht nach § 613a BGB übergehen, so dass insbesondere der Veräußerer Schuldner der Erfindervergütung bleibt, aber auch die Rechte gegenüber dem Arbeitnehmer auf Geheimhaltung etc. behält. Diese Auffassung ist praxisgerecht, wenngleich dogmatisch nicht leicht zu begründen.624 Nach abweichenden Auffassungen in der Literatur soll es nicht auf den Übergang der Erfindung ankommen, vielmehr sollen die sich aus dem ArbNErfG ergebenden Rechte und Pflichten entweder grundsätzlich beim Veräußerer bleiben oder grundsätzlich auf 622 Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 194. 623 Ausführlich Bartenbach/Volz, § 1 ArbNErfG Rz. 118 m.w.N. 624 A.A. z.B. D. Gaul, GRUR 1994, 1 ff.
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Kap. 6 Rz. 6.204
Arbeitsrecht
den Erwerber übergehen. Fallen nach diesen Auffassungen das Recht an der Erfindung und die wechselseitigen Rechte und Pflichten aus dem ArbNErfG auseinander, ist dies als Veräußerung der Erfindung anzusehen, so dass sich die Vergütung des Arbeitnehmer-Erfinders nicht am Nutzungswert der Erfindung bemisst, sondern am Veräußerungserlös. n) Urlaubsansprüche
6.204 Der Erwerber tritt in die gesamte urlaubsrechtliche Situation des Arbeitsverhältnisses ein. Erfolgt beispielsweise der Betriebsübergang zum 30.6., so hat der Erwerber in der zweiten Jahreshälfte die Resturlaubsansprüche des Arbeitnehmers zu erfüllen, und zwar unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer in der ersten Jahreshälfte mehr oder weniger als den hälftigen Jahresurlaub genommen hatte. Hier ergibt sich zwar zwischen Veräußerer und Erwerber möglicherweise ein Bereicherungsausgleich.625 Dies geht den Arbeitnehmer aber nichts an, da für ihn wegen § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ausschließlich der Erwerber für die Erfüllung der Urlaubsansprüche verantwortlich ist. Entsprechendes gilt für Ansprüche auf Urlaubsentgelt, Urlaubsgeld sowie Urlaubsabgeltung. Letzteres setzt aber voraus, dass das Arbeitsverhältnis nicht mit dem Erwerber fortgesetzt wird. Ist das doch der Fall, hat er den Urlaub nicht abzugelten. Das gilt selbst dann, wenn dem Arbeitnehmer zunächst vom Veräußerer wirksam betriebsbedingt gekündigt wird und es danach zur Übernahme der Hauptbelegschaft durch einen Erwerber kommt, der das Arbeitsverhältnis nahtlos fortführt.626 o) Zeugnis
6.205 Da beim Betriebsübergang das Arbeitsverhältnis nicht endet, hat der Arbeitnehmer auch grundsätzlich keinen Zeugnisanspruch nach § 630 BGB. Allerdings ist anerkannt, dass der Arbeitnehmer nach Treu und Glauben Anspruch auf ein Zwischenzeugnis haben kann. Das kommt insbesondere dann in Betracht, wenn es sich um einen Teilbetriebsübergang handelt und die Vorgesetzten des Mitarbeiters nicht mit übergehen. Hat der alte Arbeitgeber ein Zwischenzeugnis erstellt, ist der Betriebserwerber regelmäßig an den Inhalt des Zwischenzeugnisses gebunden, wenn er ein Endzeugnis erteilt.627 p) Dienstwagen
6.206 Wird – wie häufig – Führungskräften ein Dienstwagen auch zur privaten Nutzung überlassen, handelt es sich im Grundsatz um einen vollwertigen arbeitsrechtlichen Anspruch, der nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf den Erwerber übergeht. Eine Differenzierung – ähnlich wie bei Werkswohnungen – danach, ob der Erwerber auch den Dienstwagen mit erwirbt, kommt nicht in Betracht. Anders als Werkswohnungen sind Dienstwagen austauschbare Massegüter. Geht der Dienstwagen nicht mit über, ist der Erwerber verpflichtet, dem Arbeitnehmer ein anderes gleichwertiges Fahrzeug zu besorgen. Allenfalls in Fällen, in denen ein Dienstwagen mit Fahrer zugesagt wurde, gelten aber die gleichen Einschränkungen wie bei Werkswohnungen (vgl. oben Rz. 6.199). Hatte sich der Veräußerer ein Widerrufsrecht vorbehalten, geht diese Rechtsposition selbstverständlich auf den Erwerber über.
625 Dazu BGH v. 25.3.1999 – III ZR 27/98, MDR 1999, 749 = DB 1999, 1213. 626 Ausführlich Leinemann/Linck, § 1 BUrlG Rz. 139 ff.; vgl. BAG v. 2.12.1999 – 8 AZR 774/98, BAG 2000, 480. 627 BAG v. 16.10.2007 – 9 AZR 248/07, MDR 2008, 326 = NZA 2008, 298.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.208 Kap. 6
q) Produktbezogene Vergünstigungen In der Praxis kommen immer wieder Fälle vor, in denen der Veräußerer seinen Mitarbeitern Produkte des Unternehmens verbilligt, zum Selbstkostenpreis oder gar kostenlos überlässt (Personalrabatte). Man denke beispielsweise an verbilligte Stromtarife für die Mitarbeiter von Stromversorgern, die Jahreswagen für Mitarbeiter von Automobilherstellern, die Freiflüge von Mitarbeitern von Fluggesellschaften sowie die Freifahrkarten der Deutschen Bahn für ihre Mitarbeiter. Geht der Betrieb nach § 613a BGB als ganzer über, entstehen keine Probleme. Der Erwerber muss dann – wenn ein entsprechender Verpflichtungstatbestand wie betriebliche Übung, Betriebsvereinbarung, Gesamtzusage etc. existiert – die Vergünstigungen weitergewähren. Problematisch sind hingegen die Fälle des Teilbetriebsübergangs, wenn der Erwerber die Produktionsmittel nicht mitübernimmt. Man denke beispielsweise an die Fälle, dass der Automobilhersteller seine Kantine verpachtet, die Fluggesellschaft die Kabinenreinigung outsourced oder die Deutsche Bahn den Gepäckträgerservice privatisiert. Würde man hier § 613a BGB voll anwenden, wäre der Erwerber verpflichtet, die entsprechenden Produkte bzw. Leistungen beim Veräußerer einzukaufen, notfalls zu Marktpreisen, und dann mit den bisherigen Vergünstigungen an die Mitarbeiter weiterzugeben. Das könnte zu exorbitanten Kostenbelastungen des Erwerbers führen, wie schon das Beispiel der Freiflüge bei Fluggesellschaften zeigt. Das BAG hat im Falle von Personalrabatten, verbilligtem Personaleinkauf und Flugvergünstigungen für Konzernangehörige angenommen, dass diese vom Arbeitgeber gewährten Vorteile grundsätzlich als Vergütungsbestandteile auf den Erwerber übergehen, die Leistungszusage aber so ausgelegt, dass diese unter dem immanenten Vorbehalt steht, dass der Arbeitgeber die preisgeminderten Waren selbst herstellt628 bzw. selbst oder im Konzernverbund Flüge anbietet.629 Diesem Ansatz ist zuzustimmen, da Geschäftsgrundlage für die Gewährung in der Regel die Herrschaft des Arbeitgebers bzw. der mit ihm verbundenen Unternehmen über die jeweiligen Produktionsmittel ist.
6.207
r) Anpassung von unternehmens- oder leistungsabhängigen Vergütungen Mitunter führt ein Betriebsübergang dazu, dass die Bemessungsgrundlage für variable Ver- 6.208 gütungen unbrauchbar wird. Das kann beim Teilbetriebsübergang der Fall sein, aber auch wenn der gesamte Betrieb beim Erwerber in eine größere Betriebsorganisation eingegliedert wird. Ist beispielsweise dem Prokuristen eines kleinen Ingenieurbüros eine Gewinnbeteiligung von 5 % eingeräumt worden und wird dieses Ingenieurbüro von einem weltweit tätigen Automobilkonzern übernommen, so kann der Prokurist entgegen dem Wortlaut seines Anstellungsvertrages und § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB selbstverständlich nicht 5 % vom Konzerngewinn verlangen. Hier sind die Parteien nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage verpflichtet, neue angemessene Bemessungsgrundlagen für die variable Vergütung zu vereinbaren, notfalls muss die Festsetzung gerichtlich erfolgen. Das allgemeine arbeitsrechtliche Dogma, wonach die Möglichkeit der Änderungskündigung (§ 2 KSchG) die Grundsätze vom Wegfall der Geschäftsgrundlage verdrängt,630 gilt hier nicht. Bei der arbeitsvertraglichen Zusage einer „Gratifikation entsprechend den Richtlinien der Gesellschaft“ durch den alten Arbeitgeber kann die Auslegung des Arbeitsvertrags jedoch ergeben, dass sich auch nach dem Betriebsübergang die Bemessungsgrundlage nach den je-
628 BAG v. 7.9.2004 – 9 AZR 631/03, MDR 2005, 934 = AP BGB § 611 Sachbezüge Nr. 17 = NZA 2005, 1223. 629 BAG v. 13.12.2006 – 10 AZR 792/05, NZA 2007, 325. 630 Dazu Rost in KR, § 2 KSchG Rz. 54k.
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549
Kap. 6 Rz. 6.209
Arbeitsrecht
weils beim alten Arbeitgeber geltenden Richtlinien richtet.631 Betriebserwerber müssen sich also ggf. darauf einstellen, dass sie dauerhaft an Arbeitsvertragsklauseln zu variablen Leistungen gebunden werden können, deren Ausgestaltung und Höhe sich ausschließlich nach den Verhältnissen beim Betriebsveräußerer richten.632 s) Gesetzliches Wettbewerbsverbot, § 60 HGB
6.209 Das gesetzliche Wettbewerbsverbot nach § 60 HGB, das während der Dauer des Anstellungsverhältnisses gilt, geht nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf den Erwerber über. Der Arbeitnehmer darf also dem Erwerber künftig keine Konkurrenz machen, während er dies gegenüber dem Veräußerer uneingeschränkt tun kann. Dem Veräußerer gegenüber unterliegt der Arbeitnehmer grundsätzlich keinen Bindungen. Zu beachten ist allerdings, dass sich die sachliche Reichweite des Verbots aus § 60 HGB durch den Betriebsübergang ändern kann. Das kommt insbesondere beim Betriebsteilübergang in Betracht, aber auch wenn der übernommene Betrieb in einem größeren Unternehmen aufgeht, das noch andere Geschäftsgegenstände hat. Das gesetzliche Wettbewerbsverbot aus § 60 HGB ist grundsätzlich dynamisch, nicht statisch. Inhalt und Reichweite des Verbots richten sich also nach dem jeweiligen Geschäftsgegenstand des Arbeitgebers, der sich im Laufe der Zeit ändern kann.633 Dass sich durch den Betriebsübergang möglicherweise der sachliche Geltungsbereich des Verbots ausweitet, hat der Arbeitnehmer grundsätzlich hinzunehmen. Problematisch sind die Fälle, in denen sich der Arbeitnehmer im Vertrauen auf den Fortbestand der tatsächlichen Verhältnisse beim Veräußerer einen mit diesem nicht in Konflikt stehenden Nebenerwerb aufgebaut hat. Gerät er mit diesem Nebenerwerb nach dem Betriebsübergang in Konflikt zum Unternehmensgegenstand des Erwerbers, kann dieser jedoch auch hier die Einstellung des Nebenerwerbs nach § 60 HGB verlangen.634 Zur Beendigung der Nebentätigkeit ist dem Arbeitnehmer eine Übergangsfrist zu gewähren.635
6.210 Bereits entstandene Ansprüche des Veräußerers gegen den Arbeitnehmer auf Schadensersatz wegen Verletzung von § 60 HGB gehen wie alle anderen Schadensersatzansprüche auch gem. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf den Erwerber über.636 t) Nachvertragliche Wettbewerbsverbote, §§ 74 ff. HGB
6.211 Umstritten sind die Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf nachvertragliche Wettbewerbsverbote nach §§ 74 ff. HGB. Insoweit ist danach zu differenzieren, ob das Arbeitsverhältnis im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bereits beendet ist oder nicht:
6.212 War das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs bereits beendet, hatte das nachvertragliche Wettbewerbsverbot also bereits zu laufen begonnen, so greift § 613a BGB nach herrschender Auffassung637 nicht. Der Erwerber tritt also nicht in das Wettbewerbsverbot ein, vielmehr bleibt es mit allen Rechten und Pflichten gegenüber dem Veräußerer bestehen. Folglich darf der Arbeitnehmer zum Erwerber beliebig in Konkurrenz treten, nicht da631 632 633 634 635 636 637
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BAG v. 18.4.2012 – 10 AZR 47/11, NZA 2012, 791. BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 181/11, NZA-RR 2013, 6 = BB 2012, 3144 m. Anm. Heuchemer. Grundlegend D. Gaul, NZA 1989, 698. Willemsen/Müller-Bonanni in HWK, § 613a BGB Rz. 242. Willemsen/Müller-Bonanni in HWK, § 613a BGB Rz. 242. Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 243. Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, Rz. 684 ff.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.214 Kap. 6
gegen zum Veräußerer. Hat der Veräußerer den gesamten Betrieb verkauft, entfällt sein berechtigtes geschäftliches Interesse an der Einhaltung des Verbots gem. § 74a Abs. 1 HGB.638 Damit wird das Wettbewerbsverbot automatisch unverbindlich, so dass der Arbeitnehmer es nicht weiter einzuhalten braucht.639 Dagegen steht dem Arbeitgeber nach der Systematik des § 74a HGB grundsätzlich kein Lösungsrecht zu.640 Denkbar ist allerdings, dass sich der Veräußerer im Rahmen der Betriebsveräußerung gegenüber dem Erwerber verpflichtet, für das Unterbleiben von Wettbewerb durch seine früheren Mitarbeiter einzustehen. Eine solche Verpflichtung sollte ausreichen, um das erforderliche berechtigte geschäftliche Interesse gem. § 74a Abs. 1 HGB zu begründen.641 Möglich ist nach herrschender Auffassung auch, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber bereits bei Vereinbarung des Wettbewerbsverbots ausdrücklich regeln, dass das Verbot bei einem Betriebsübergang nach Ausscheiden des Arbeitnehmers auf den Erwerber übergeht.642 Ohne weiteres zulässig ist die Überleitung des Wettbewerbsverbots auf den Erwerber durch dreiseitige Vereinbarung,643 ebenso wie die Vereinbarung eines gesonderten Wettbewerbsverbots zwischen Arbeitnehmer und Erwerber (das nicht den arbeitsrechtlichen Regeln der §§ 74 ff. HGB unterliegt!). Die isolierte Abtretung des Unterlassungsanspruchs an den Erwerber ist nicht möglich.644 Erfolgt der Betriebsübergang noch während des rechtlichen Bestands des Arbeitsverhältnisses, gehört ein vereinbartes nachvertragliches Wettbewerbsverbot grundsätzlich zu den Rechten und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis, in die der Erwerber nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB eintritt.645 Das gilt unabhängig davon, ob das Wettbewerbsverbot im Arbeitsvertrag enthalten war oder getrennt davon zeitgleich oder nachträglich vereinbart wurde.646 Der Übergang nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ist auch nicht davon abhängig, ob das Arbeitsverhältnis im Moment des Betriebsübergangs bereits gekündigt war oder nicht, solange es noch rechtlich besteht.647
6.213
Das Wettbewerbsverbot ändert allerdings durch den Betriebsübergang seinen Inhalt. Durfte der Arbeitnehmer bislang seinem bisherigen Arbeitgeber keine Konkurrenz machen, ist ihm dies nach dem Betriebsübergang erlaubt, wogegen er sich einer Konkurrenz zum Erwerber zu enthalten hat. Diese Inhaltsänderung findet nach den Grundsätzen des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auch dann statt, wenn das Wettbewerbsverbot ausdrücklich regelte, dass der Arbeitnehmer für keinen Konkurrenten „der Firma XY-GmbH“ tätig werden darf. Wird der Betrieb der XY-GmbH von der Z-GmbH übernommen, ist dem Arbeitnehmer künftig die
6.214
638 Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, Rz. 687a; Etzel in Großkomm/HGB, §§ 74 bis 75d HGB Rz. 66. 639 BAG v. 28.1.1966 – 3 AZR 374/65, AP Nr. 18 zu § 74 HGB unter III 3 c) der Gründe; Grunsky, S. 95; Buchner, C Rz. 257; Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, Rz. 219. 640 BAG v. 24.4.1970 – 3 AZR 328/69, AP 25 zu § 74 HGB unter I 2 b) der Gründe m.w.N.; Bauer/ Diller, Wettbewerbsverbote, Rz. 220. 641 Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, Rz. 687a; Henssler in Heymann, § 74a HGB Rz. 9. 642 Etzel in Großkomm/HGB, §§ 74 bis 75d HGB Rz. 66; Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, Rz. 687a. 643 Etzel in Großkomm/HGB, §§ 74 bis 75d HGB Rz. 66; Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, Rz. 687a. 644 Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, Rz. 687a, 689; Henssler in Heymann, § 74a HGB Rz. 37. 645 Ganz h.M., z.B. Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, Rz. 669; Grunsky, S. 139; Buchner, C Rz. 435 ff.; Bossmann, S. 144 ff.; a.A. nur Nägele, BB 1989, 1481. 646 Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, Rz. 669 m.w.N. 647 Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, Rz. 671.
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Kap. 6 Rz. 6.215
Arbeitsrecht
Konkurrenztätigkeit zur XY-GmbH erlaubt, während sie zur Z-GmbH verboten ist.648 Insoweit gilt nichts anderes als für sämtliche anderen Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis, in die der Erwerber unabhängig davon eintritt, welches Unternehmen im Arbeitsvertrag namentlich als Arbeitgeber bezeichnet ist.
6.215 Besonderheiten entstehen allerdings, wenn das Wettbewerbsverbot seine sachliche Reichweite nicht über das Konkurrenzverhältnis definiert, sondern ausdrücklich die gesperrten Branchen bezeichnet. Hier können sich Schutzlücken ergeben. Ist beispielsweise der bei einem Automobilhersteller beschäftigte Arbeitnehmer durch das Wettbewerbsverbot für jegliche Tätigkeit „für einen Hersteller von Personenkraftwagen“ gesperrt und geht sein Betriebsteil auf einen anderen Pkw-Hersteller über, der auch Lkw produziert, bleibt es bei der ausdrücklich vereinbarten Reichweite des Verbots mit der Folge, dass der Arbeitnehmer nach seinem Ausscheiden beim Erwerber für konkurrierende Lkw-Hersteller tätig werden darf, nicht aber für konkurrierende Pkw-Hersteller.649
6.216 Für den Erwerber ist es unverzichtbar, sich möglichst rasch Klarheit über den Inhalt übergehender Wettbewerbsabreden zu verschaffen. Sind solche Verbote so formuliert, dass sie für den Erwerber keinen Sinn haben, muss er mit dem Arbeitnehmer über eine Neufassung verhandeln oder gem. § 75a HGB mit Jahresfrist auf das Verbot verzichten.
6.217 Nach dem Betriebsübergang kann der Arbeitnehmer dem Veräußerer grundsätzlich unbegrenzt Konkurrenz machen. Davor schützen kann sich der Veräußerer nur dadurch, dass er mit dem Arbeitnehmer ein zusätzliches getrenntes Wettbewerbsverbot vereinbart.650
6.218 Den Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf den Erwerber kann der Arbeitnehmer durch Widerspruch verhindern (vgl. Rz. 6.128 ff.). Ein Widerspruch nur hinsichtlich einzelner Arbeitsbedingungen ist dagegen nicht möglich. So ist es dem Arbeitnehmer nicht möglich, zwar sein Arbeitsverhältnis auf den Erwerber übergehen zu lassen, hinsichtlich des Wettbewerbsverbots jedoch einen Widerspruch zu erklären mit der Folge, dass das Wettbewerbsverbot gegenüber dem Veräußerer bestehen bliebe.651 u) Betriebliche Altersversorgung
6.219 Die weitaus größten Probleme beim Übergang von Arbeitsverhältnissen nach § 613a BGB entstehen im Bereich der betrieblichen Altersversorgung. Das liegt zum einen an den verschiedenen Durchführungswegen der betrieblichen Altersversorgung (§ 1b Abs. 1 bis Abs. 4 BetrAVG), zum anderen an der langen Zeit zwischen Erteilung der Zusage und Fälligkeit der Versorgungsleistungen. Die Probleme der betrieblichen Altersversorgung beim Betriebsübergang füllen mittlerweile Bibliotheken.652 An dieser Stelle sei nur auf folgende Grundsätze hingewiesen:
6.220 Ist der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs bereits ausgeschieden, tritt der Erwerber grundsätzlich nicht in irgendwelche Versorgungsansprüche ein. Das gilt unabhängig davon, ob der ausgeschiedene Arbeitnehmer bereits laufende Rentenzahlungen erhält
648 649 650 651 652
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Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, Rz. 672. Ausführlich Bossmann, S. 251 ff.; Bauer/Diller, Wettbewerbsverbote, Rz. 675. Bossmann, S. 290. Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 244; Seiter, S. 80. Z.B. Gockel, S. 1 ff.; Doetsch/Rühmann in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, J Rz. 1 ff.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.222 Kap. 6
oder ob er sich noch im Anwärter-Stadium vor Erreichen der Altersgrenze befindet.653 Versorgungsschuldner bleibt in allen Fällen der Veräußerer. Besteht das Arbeitsverhältnis im Moment des Betriebsübergangs noch, so tritt der Erwerber 6.221 grundsätzlich voll in die Versorgungsansprüche ein (vgl. Rz. 6.375 ff. zur Ablösung von Versorgungsansprüchen durch Betriebsvereinbarung des Erwerbers). Dabei ist egal, auf welcher Rechtsgrundlage die Versorgungsansprüche beruhen (Direktzusage, Gesamtzusage, betriebliche Übung, Gleichbehandlungsgrundsatz etc.). Der Übergang der Versorgungsansprüche auf den Erwerber hängt auch nicht davon ab, ob die Anwartschaft des Arbeitnehmers bereits unverfallbar (§ 1b BetrAVG)654 ist. Der Erwerber tritt also auch in noch verfallbare Anwartschaften ein, wobei er bezüglich der Erfüllung der Unverfallbarkeitsfristen die beim Veräußerer zurückgelegte Dienstzeit anrechnen muss.655 Bei der Aufstellung von Berechnungsregeln der eigenen Versorgungszusage ist der Erwerber allerdings frei und daher nicht verpflichtet, Beschäftigungszeiten der übernommenen Arbeitnehmer beim Veräußerer anzurechnen.656 Für eine Berechnung der Unverfallbarkeit nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 BetrAVG kann es auch auf frühere Beschäftigungszeiten in der früheren DDR ankommen.657 Da durch den Eintritt in die Versorgungszusagen des Veräußerers enorme finanzielle Belastungen auf den Erwerber zukommen können, ist ein entsprechender Ausgleich im Rahmen des Kaufvertrages unentbehrlich. Denn aus § 613a BGB folgt entgegen einem verbreiteten Irrglauben keineswegs, dass der Veräußerer für den Übergang der Alt-Versorgungsansprüche in irgendeiner Weise an den Erwerber einen Ausgleich zu zahlen hätte, etwa aus ungerechtfertigter Bereicherung etc. Besondere Probleme entstehen bei Formen betrieblicher Altersversorgung, bei denen der Arbeitgeber nicht in Form von „Direktzusagen“ selbst Versorgungsschuldner ist, sondern die Versorgung über einen rechtlich selbständigen Dritten erfolgt. Typische Fälle solcher „mittelbaren Versorgungszusagen“ sind die Versorgung über Unterstützungskassen, Pensionskassen, Pensionsfonds und Direktversicherungen (Lebensversicherungen) sowie im Bereich des öffentlichen Dienstes die Altersversorgung über Zusatzversorgungskassen (ZVK) oder die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL). Die Problematik liegt darin, dass der Erwerber häufig nicht die technischen Möglichkeiten hat, die Versorgung in ihrer jetzigen Form weiterzuführen. So mag beispielsweise bei einer Konzern-Pensionskasse die Pensionskassensatzung vorsehen, dass konzernfremde Unternehmen nicht Trägerunternehmen der Kasse sein können. Wird jetzt ein Betrieb oder Betriebsteil an einen konzernfremden neuen Arbeitgeber veräußert, kann dieser die bisherige Pensionskassenversorgung nicht fortführen. Das Gleiche gilt für eine Unterstützungskasse. Auch bei Lebensversicherungen kommt es häufig vor, dass der Veräußerer eine besonders günstige Gruppenversicherung abgeschlossen hat, die es unmöglich macht, einzelne Versicherungsverträge herauszulösen und auf den Erwerber eines Betriebsteils zu übertragen. Für Privatunternehmen, die 653 BAG v. 24.3.1977 – 3 AZR 649/76, BAGE 29, 98 = AP Nr. 6 zu § 613a BGB; BAG v. 15.3.1979 – 3 AZR 859/77, AP Nr. 15 zu § 613a BGB. 654 Zur Unverfallbarkeit beim Betriebsübergang vgl. Hambach, NZA 2000, 291. 655 BAG v. 19.12.2000 – 3 AZR 451/99, NZA 2002, 615. 656 BAG v. 19.4.2005 – 3 AZR 469/04, AP BetrVG § 1b Nr. 19; BAG v. 19.12.2000 – 3 AZR 451/99, NZA 2002, 615 (617); für die Zulässigkeit der Nichtanrechnung der beim Betriebsveräußerer zurückgelegten Beschäftigungszeiten bei der tariflichen Vergütung vgl. BAG v. 2.7.2008 – 4 AZR 246/07, n.v. (Rz. 25 ff.); BAG v. 9.4.2008 – 4 AZR 184/07, n.v.; BAG v. 17.10.2007 – 4 AZR 1005/06, NZA 2008, 713. 657 BAG v. 19.12.2000 – 3 AZR 451/99, NZA 2002, 615 (617).
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6.222
Kap. 6 Rz. 6.223
Arbeitsrecht
Betriebe oder Betriebsteile aus dem Bereich des öffentlichen Dienstes übernehmen, ist es zudem oftmals nicht möglich, die Altersversorgung in einer ZVK oder der VBL weiterzuführen.
6.223 Die Rechtsprechung hat diese Fälle pragmatisch gelöst, indem sie das Versorgungsverhältnis in das arbeitsvertragliches „Grundverhältnis“ gegenüber dem Arbeitnehmer einerseits und das „Deckungsverhältnis“ gegenüber dem mittelbaren Versorgungsträger andererseits aufspaltet. Von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB erfasst ist nach der BAG-Rechtsprechung grundsätzlich nur das Grundverhältnis. Nicht von § 613a BGB erfasst ist dagegen der mittelbare Versorgungsträger und die mit ihm bestehenden Rechtsbeziehungen. Bei einer über eine Unterstützungskasse abgewickelten Versorgung bedeutet dies, dass die Unterstützungskasse grundsätzlich nicht auf den Erwerber übergeht. Vielmehr verbleibt die Unterstützungskasse beim Veräußerer und wird von den Ansprüchen der übergehenden Arbeitnehmer befreit.658 Die beim Veräußerer verbleibende Unterstützungskasse bleibt hingegen für die Ansprüche der bereits vor dem Betriebsübergang ausgeschiedenen Rentner und Anwärter zuständig. Dass die Ansprüche der übergehenden Arbeitnehmer gegenüber der Unterstützungskasse erlöschen, bringt die Arbeitnehmer jedoch nicht um ihre Versorgungsansprüche. Denn aus dem nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB übergehenden Grundverhältnis ergibt sich, dass der Erwerber den übergehenden Arbeitnehmern eine in jedem Falle entsprechende Versorgung „zu verschaffen“ hat.659 Dabei bleibt es grundsätzlich dem Erwerber überlassen, auf welche Weise er den übergehenden Arbeitnehmern die Versorgung verschaffen will. Er hat insoweit die freie Wahl zwischen den verschiedenen möglichen Durchführungswegen. Er kann beispielsweise eine Lebensversicherung einrichten. Denkbar wäre auch, im Einvernehmen mit dem Veräußerer und der Unterstützungskasse die Versorgungsansprüche aufgrund besonderer rechtlicher Vereinbarungen weiterhin über die alte Unterstützungskasse abwickeln zu lassen. Im Ergebnis muss der Erwerber die Leistungen verschaffen, die der Arbeitnehmer erhalten hätte, wenn er bei dem ursprünglichen Arbeitgeber verblieben wäre und entsprechend den ursprünglich in Bezug genommenen Bestimmungen versichert worden wäre.660 Richtet der Erwerber keine mittelbaren Versorgungssysteme ein, erwerben die übergehenden Arbeitnehmer einen unmittelbaren Direktanspruch gegen den Erwerber auf entsprechende Versorgungsleistungen (Direktzusage).
6.224 Noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, in welchem Umfang sich Bereicherungsansprüche ergeben, wenn nach den dargestellten Grundsätzen die Unterstützungskasse von den Ansprüchen der übergehenden Mitarbeiter frei wird. Für das Entstehen von Bereicherungsansprüchen spricht, dass die Unterstützungskasse ohne Rechtsgrund einen Vermögensvorteil (Befreiung von Verbindlichkeiten) erlangt. Andererseits hätten keine Bereicherungsansprüche des Erwerbers bestanden, wenn es sich um eine unmittelbare Versorgungszusage gehandelt hätte. Angesichts dieser Unklarheiten ist es unabdingbar, dass Veräußerer und Erwerber im Unternehmenskaufvertrag die Kostenbelastung aus der betrieblichen Altersversorgung einkalkulieren und umfassend regeln.
658 Grundlegend BAG v. 5.5.1977 – 3 AZR 34/76, AP 7 zu § 613a BGB und BAG v. 15.3.1979 – 3 AZR 859/77, AP Nr. 15 zu § 613a BGB. 659 BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848; BAG v. 18.9.2001 – 3 AZR 689/00, NZA 2002, 1391. 660 Für den Verschaffungsanspruch bzgl. einer ZVK-Versorgung BAG v. 13.11.2007 – 3 AZR 191/06, MDR 2008, 752 = NZA 2008, 600.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.227 Kap. 6
Die am Beispiel der Unterstützungskasse dargestellten Grundsätze gelten auch für Pensionskassenversorgungen661 und bei der Direktversicherung. Bei der Direktversicherung kommt es also darauf an, ob der Veräußerer die Versicherungsnehmer-Stellung auf den Erwerber überträgt (was entgegen § 4 BetrAVG nicht von der Zustimmung des Arbeitnehmers abhängt!). Kommt es zur Übertragung der Versicherungsnehmer-Stellung, wird die Direktversicherung nahtlos fortgeführt. Wird dagegen die Versicherungsnehmer-Stellung nicht übertragen, erlischt die Lebensversicherungs-Versorgung gegenüber dem Arbeitnehmer. Der Veräußerer kann die Lebensversicherung dann zurückkaufen, während der Erwerber die Versorgung entweder selbst erbringen oder eine entsprechende neue mittelbare Versorgung einrichten muss. Bei jedem Wechsel des Durchführungsweges ist darauf zu achten, dass die neue Versorgung wertmäßig exakt der alten Versorgung entsprechen muss, Abschläge braucht der Arbeitnehmer nicht hinzunehmen.
6.225
In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass Veräußerer und Erwerber vereinbaren, dass die Versorgungsansprüche der übergehenden Mitarbeiter beim Veräußerer bleiben sollen. Solche Vereinbarungen sind wegen Verstoßes gegen § 4 BetrAVG nichtig und zwar auch dann, wenn die Arbeitnehmer zustimmen. § 4 BetrAVG verbietet zum Schutz des PSV die Verschiebung von Versorgungsansprüchen auf Dritte, selbst wenn der Arbeitnehmer zustimmt (Ausnahmen662 gelten nur für die Übertragung der Versorgungsansprüche auf Lebensversicherungen, Pensionskassen und – eingeschränkt – Unterstützungskassen).663 Wenn somit der Eintritt des Erwerbers in die Versorgungsanwartschaften der übergehenden Mitarbeiter nicht zu verhindern ist, bleiben gleichwohl Absprachen zwischen Veräußerer und Erwerber möglich, wonach im Innenverhältnis der Veräußerer für die Versorgungsansprüche einstehen soll und später die laufenden Renten im Namen und für Rechnung des Erwerbers zu zahlen hat. All dies ändert aber nichts daran, dass schuldrechtlich gegenüber den Arbeitnehmern die Verpflichtung auf den Erwerber übergeht, was auch für die Beitragspflicht zur Insolvenzsicherung, für die Bildung von Rückstellungen etc. beim Erwerber von Bedeutung ist. Auch können beim Betriebsveräußerer geltende tarifliche Altersversorgungsregelungen nicht durch beim Erwerber bestehende ungünstigere Betriebsvereinbarungen zur betrieblichen Altersversorgung abgelöst werden. Eine derartige „Über-Kreuz-Ablösung“ hat das BAG wegen der fehlenden Kongruenz der erzwingbaren Regelungsmacht von Tarifparteien und Betriebsparteien hinsichtlich der betrieblichen Altersversorgung abgelehnt.664
6.226
Angesichts der erheblichen Belastungen durch die Betriebliche Altersversorgung stellt sich häufig die Frage, ob und wie Versorgungsanwartschaften abgefunden werden können. Für die Abfindung unverfallbarer Anwartschaften bei Beendigung von Arbeitsverhältnissen enthält § 3 Abs. 1 BetrAVG ein grundsätzliches Abfindungsverbot. Die zulässigen Abfindungsmöglichkeiten richten sich entsprechend § 3 Abs. 2 BetrAVG nach der Höhe der Anwartschaft. Der Arbeitgeber hat im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein einseitiges Abfindungsrecht, wenn der Monatsbetrag der Rente 1 % bzw. eine einmalige Kapitalleistung 120 % der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV nicht übersteigt.
6.227
661 Hill, S. 137. 662 Vgl. BAG v. 17.3.1987 – 3 AZR 605/85, BB 1987, 2233 (2234 f.). 663 BAG v. 14.7.1981 – 3 AZR 517/80, NJW 1982, 1607 = AP Nr. 27 zu § 613a BGB m. Anm. Thieme. 664 BAG v. 13.11.2007 – 3 AZR 191/06, MDR 2008, 752 = NZA 2008, 600; umfassend hierzu Bepler, RdA 2009, 65; Döring/Grau, BB 2009, 158.
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Kap. 6 Rz. 6.228
Arbeitsrecht
6.228 § 3 BetrAVG greift nur ein, wenn das Arbeitsverhältnis beendet wird. Kein Verstoß gegen die Schutzvorschrift liegt vor, wenn das Arbeitsverhältnis fortdauert.665 Problematisch ist die Handhabung des § 3 BetrAVG aber beim Betriebsübergang, wobei verschiedene Varianten unterschieden werden müssen: Wird das Arbeitsverhältnis mit dem neuen Arbeitgeber fortgesetzt, können nach richtiger Auffassung Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung ohne Rücksicht auf § 3 BetrAVG einvernehmlich kapitalisiert werden. Das ergibt sich daraus, dass gerade wegen des Betriebsübergangs nicht von einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses gesprochen werden kann. Zwar ist der Veräußerer nach dem Betriebsübergang nicht mehr der Arbeitgeber, doch kommt es im Rahmen des § 3 BetrAVG darauf an, dass das Arbeitsverhältnis mit dem neuen Arbeitgeber fortgesetzt wird. § 3 BetrAVG ist daher nach zutreffender Auffassung nicht einschlägig. Vorsicht ist aber dennoch geboten: Das BAG hat ausdrücklich offengelassen,666 ob ein entschädigungsloser Verzicht an § 3 BetrAVG zu messen ist; es hat einen solchen Verzicht – jedenfalls dann, wenn keine sachlichen Gründe vorliegen – als Umgehung des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB gewertet. Das bedeutet, dass auch solche nachteiligen Änderungen zu Lasten der Arbeitnehmer, die sich nicht als entschädigungsloser Verzicht darstellen, an § 613a BGB zu messen sind. Nach richtiger Auffassung dürfte ein Verstoß gegen § 613a BGB aber dann nicht vorliegen, wenn der Anspruch auf betriebliche Altersversorgung im Einvernehmen mit dem Arbeitnehmer voll kapitalisiert wird. 2. Rechtsstellung übergehender Mitarbeiter im aufnehmenden Betrieb
6.229 Wird der übernommene Betrieb vom Erwerber in eine bestehende Betriebsorganisation integriert, ändert dies zunächst nichts daran, dass die übergehenden Mitarbeiter alle individualvertraglichen Rechte und Pflichten behalten (zur entgegengesetzten Rechtslage bei kollektivrechtlichen Rechten und Pflichten s. Rz. 6.373 ff.). Dadurch kann es dazu kommen, dass im aufnehmenden Betrieb vergleichbare Mitarbeiter die gleiche Tätigkeit zu ganz unterschiedlichen Konditionen verrichten. Während die übergehenden Mitarbeiter ihre bisherigen Konditionen mitnehmen, gelten im aufnehmenden Betrieb möglicherweise ganz andere Vergütungs- und Sozialleistungsstrukturen. Eine Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in Bezug auf die Anpassung der unmittelbar im Anschluss an den Betriebsübergang bestehenden Arbeitsbedingungen scheidet aus. Die übernommenen Mitarbeiter können also nicht verlangen, dass ihre Vergütungen bzw. ihre Sozialleistungen auf das Niveau im aufnehmenden Betrieb angehoben werden. Der Erwerber verstößt nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn er die Anpassung der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen unterlässt.667 Ebenso wenig können die Mitarbeiter des aufnehmenden Betriebs verlangen, dass ihnen die gleichen Konditionen gewährt werden, wie sie die übernommenen Mitarbeiter mitbringen.668 Die Ungleichbehandlung ist hier systembedingt und gerechtfertigt, da die in § 613a BGB angeordneten Rechtswirkungen einen sachlichen Grund für die Ungleichbehandlung darstellen. Die Differenzierung soll aber im Einzelfall und im Laufe der Zeit ihren sachlichen Grund verlieren können,669 was aber nur sehr zurückhaltend anzunehmen ist. Teilweise wird zudem vertreten, dass die Berechtigung zur Differenzierung bei Auflösung des bisheri665 BAG v. 14.8.1990 – 3 AZR 301/89, MDR 1991, 181 = NZA 1991, 174. 666 BG v. 12.5.1992 – 3 AZR 247/91, MDR 1993, 59 = NZA 1992, 1080. 667 BAG v. 31.8.2005 – 5 AZR 517/04, MDR 2006, 454 = NZA 2006, 265 = AP BGB § 613a Nr. 288. 668 Unstreitig, BAG v. 25.8.1976 – 5 AZR 788/75, AP Nr. 41 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; BAG v. 30.8.1979 – 3 AZR 58/78, AP Nr. 16 zu § 613a BGB. 669 So ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 75; a.A. BAG v. 31.8.2005 – 5 AZR 517/04, MDR 2006, 454 = AP BGB § 613a Nr. 288 = NZA 2006, 265.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.230 Kap. 6
gen Betriebs und Integration der Arbeitnehmer in den Betrieb des Erwerbers entfällt und der Gleichbehandlungsgrundsatz dann eingreifen soll.670 Dem ist nicht zu folgen: Für die übergehenden Arbeitnehmer bewirkt der Gleichbehandlungsgrundsatz lediglich, dass sie bei Anpassungen der Vergütungs- und Arbeitsbedingungen im Betrieb auf der Basis der übergegangenen Vertragsregelungen gleich behandelt werden müssen; nicht jedoch, dass die Vertragsgrundlage selbst angepasst werden muss. Dies würde zudem die Frage aufwerfen, in welche Richtung die Anpassung zu erfolgen hätte – müssten gutbezahlte Stammarbeitnehmer bei Übernahme und Integration einer erheblichen Anzahl gering vergüteter Arbeitnehmer aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes Gehaltsreduzierungen hinnehmen? Was zu Lasten der Arbeitnehmer gilt, gilt selbstverständlich auch zu ihren Gunsten. Deshalb darf der Erwerber individualrechtliche Ansprüche übernommener Arbeitnehmer nicht unter Hinweis auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz an schlechtere Bedingungen der Belegschaft des aufnehmenden Betriebs anpassen,671 ebenso wenig wie der Erwerber die Konditionen seiner Stammbelegschaft an die schlechteren Bedingungen der übernommenen Mitarbeiter anpassen kann. Bei Änderungen der Arbeitsbedingungen, insbesondere Lohnerhöhungen, im Zeitraum nach dem Betriebsübergang ist allerdings der Gleichbehandlungsgrundsatz hinsichtlich aller Mitarbeiter des Betriebs zu berücksichtigen – hier kann ein sachlicher Grund für die Differenzierung zwischen Stammarbeitnehmern und nach § 613a BGB übergegangenen Arbeitnehmern darin liegen, dass der Arbeitgeber beabsichtigt, nach dem Betriebsübergang bestehende unterschiedliche Arbeitsbedingungen aneinander anzupassen.672 Problematisch ist die Frage, ob und in welchem Umfang der Erwerber die bisherige Betriebszugehörigkeit der übergehenden Mitarbeiter im Hinblick auf Sozialleistungen berücksichtigen muss, auf die die übergegangenen Mitarbeiter beim Veräußerer keinen Anspruch hatten, die aber im aufnehmenden Betrieb gelten. Beispiel: Der Veräußerer hat keine betriebliche Altersversorgung, während der Erwerber in einer Betriebsvereinbarung allen Mitarbeitern in Abhängigkeit von ihrer Betriebszugehörigkeit Altersrenten zusagt. Nach richtiger Auffassung kann der Erwerber nicht gezwungen sein, die übernommenen Mitarbeiter unter Anrechnung ihrer bisherigen Betriebszugehörigkeit voll in die bestehende Versorgungszusage zu integrieren. Dies hätte zur Folge, dass auf einen Schlag gewaltige neue Rückstellungen zu bilden wären. Lediglich für die Frage der Unverfallbarkeit muss der Erwerber die bisherigen Zeiten der Betriebszugehörigkeit berücksichtigen.673 Bei der Bemessung der Höhe der Versorgungszusage muss der Erwerber dagegen die bisherigen Dienstzeiten nicht berücksichtigen.674 Dieses Ergebnis ist sachgerecht, weil die betriebliche Altersversorgung grundsätzlich der Honorierung der Betriebstreue dient, aber die übernommenen Arbeitnehmer bei ihrem früheren Arbeitgeber ihre Dienste gerade nicht in der Erwartung einer betrieblichen Altersversorgung erbracht haben. Gleiches muss für alle anderen Ansprüche auf Sozialleistungen gelten. Für den Betriebserwerber ist es ratsam, in den bei ihm bestehenden Altersversorgungsregelungen Bestimmungen darüber zu treffen, ob und inwieweit gem. § 613a BGB übergehende Arbeitnehmer von der Altersversorgung mit umfasst sein sollen. So hat es das BAG für zulässig gehalten, gem. § 613a 670 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 75; a.A. Willemsen/Müller-Bonanni in HWK, § 613a BGB Rz. 246. 671 Vgl. BAG v. 20.1.2000 – 2 ABR 40/99, NZA 2000, 592; BAG v. 6.12.1978 – 5 AZR 545/77, AP Nr. 7 zu § 2 AngkündG. 672 BAG v. 14.3.2007 – 5 AZR 420/06, MDR 2007, 1141 = NZA 2007, 862. 673 Vgl. BAG v. 8.2.1983 – 3 AZR 229/81, AP Nr. 35 zu § 613a BGB m. abl. Anm. Blomeyer; BAG v. 24.7.2001 – 3 AZR 660/00, NZA 2002, 520; vgl. auch BAG v. 18.2.2003 – 3 AZR 81/02, BB 2003, 1841. 674 BAG v. 24.7.2001 – 3 AZR 660/00, NZA 2002, 520; BAG v. 19.11.2002 – 3 AZR 167/02, BB 2003, 1624; vgl. ausführlich Rz. 6.378 ff.
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6.230
Kap. 6 Rz. 6.231
Arbeitsrecht
BGB übergehende Arbeitnehmer aus dem persönlichen Geltungsbereich der beim Erwerber bestehenden betrieblichen Altersversorgung (hier einer Konzernbetriebsvereinbarung) auszuschließen.675 Ein Verstoß gegen die Regelungen des § 613a BGB lag hierin bereits deshalb nicht, weil diese Bestimmung den Schutz der „Rechte und Pflichten“ aus dem „im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden“ Arbeitsverhältnis garantiert, nicht die Teilhabe an Regelungen, die beim Erwerber bestehen. Auch einen Verstoß gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 75 Abs. 1 BetrVG) sah das BAG hierin nicht.
3. Abweichende Vereinbarungen mit den Arbeitnehmern
6.231 Die Wirkungen des § 613a BGB dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass der Erwerber den vom Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmern eine Einstellungszusage macht, die Mitarbeiter daraufhin mit dem Veräußerer Aufhebungsverträge abschließen und dann vom Erwerber ohne Rücksicht auf die bisher geltenden Rechte und Pflichten zu neuen (verschlechterten) Konditionen eingestellt werden. Solche Vorgehensweisen („Lemgoer-Modell“) waren bei der Sanierung angeschlagener Unternehmen üblich und fanden häufig im vollen Einvernehmen mit Betriebsräten und Gewerkschaften statt. Gleichwohl sind solche Vereinbarungen nicht wirksam, so dass sich die Arbeitnehmer später auf die Unwirksamkeit der Aufhebungsverträge und der Abreden mit dem Erwerber berufen können mit der Folge, dass ihnen alle bisherigen Rechte aus dem früheren Arbeitsverhältnis zustehen.676
6.232 Nach erfolgtem Betriebsübergang kann indes der Erwerber mit den Arbeitnehmern einzelvertraglich die Arbeitsbedingungen beliebig verschlechtern, soweit diese nicht durch Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen geregelt sind (§§ 4, 5 TVG, § 77 BetrVG) oder vor dem Betriebsübergang hierdurch normativ geregelt waren. Entgegen einem weit verbreiteten Irrtum gilt die Jahresfrist nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nur für „transformierte“ Ansprüche aus Kollektivregelungen.
6.233 Eine einseitige Reduzierung der übergangenen Ansprüche durch Änderungskündigung scheidet dagegen regelmäßig aus, egal ob sie während der Jahresfrist oder danach versucht wird. Denn die Rechtsprechung lässt eine Änderungskündigung zum Zwecke der Herabsetzung der vertraglichen Vergütung nur äußerst eingeschränkt zu (Existenzgefährdung des Betriebes)677 und die insoweit geltenden hohen Hürden sind fast unüberwindbar (zur Frage, in welchen Fällen auch schon während der Jahresfrist eine Änderungskündigung ausgesprochen werden kann, Rz. 6.351 ff.). 4. Abweichende Regelungen zwischen Erwerber und Veräußerer
6.234 Die Rechtswirkungen des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB stehen grundsätzlich nicht zur Disposition der Parteien des Betriebsveräußerungsvertrages. § 613a BGB steht freilich schuldrechtlichen Vereinbarungen zwischen Veräußerer und Erwerber grundsätzlich nicht entgegen. Das gilt selbst dann, wenn dadurch Ergebnisse erzielt werden, die dem Schutzzweck von § 613a BGB eigentlich entgegenlaufen. So können beispielsweise trotz § 613a Abs. 4 BGB Veräußerer und Erwerber vereinbaren, dass der Erwerber bestimmte Arbeitnehmer nicht übernehmen will und deshalb der Veräußerer verpflichtet ist, sich zur Vermeidung einer ver675 BAG v. 19.1.2010 – 3 ABR 19/08, NZA-RR 2010, 356. 676 BAG v. 29.10.1985 – 3 AZR 485/83, BAGE 50, 65 = AP Nr. 4 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung. 677 BAG v. 12.11.1998 – 2 AZR 91/98, MDR 1999, 681 = DB 1999, 536.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.238 Kap. 6
einbarten Vertragsstrafe bis zum Übergangsstichtag von bestimmten Arbeitnehmern durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag zu trennen. Solche Vereinbarungen sind uneingeschränkt wirksam und auch nicht sittenwidrig. Gelingt allerdings dem Veräußerer die Trennung von dem betreffenden Arbeitnehmer nicht, geht dessen Arbeitsverhältnis selbstverständlich nach § 613a BGB auf den Erwerber über. Das Gleiche gilt für Vereinbarungen im Betriebsveräußerungsvertrag, wonach der Veräußerer vor dem Übergang noch bestimmte Sozialleistungen abzubauen hat. Gelingt ihm dies – aus welchen Gründen auch immer – nicht, gehen die Arbeitnehmer mit allen bisherigen Rechten und Pflichten über (zu Vereinbarungen, wonach Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung beim Veräußerer bleiben sollen, s. Rz. 6.226). Für diesen Fall können im Betriebsveräußerungsvertrag Schadensersatzansprüche oder eine Reduzierung des Kaufpreises vereinbart werden.
6.235
VII. Rechtsstellung Dritter Bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und der Begründung eines neuen mit einem neuen Arbeitgeber erlischt die Pfändung von Arbeitseinkommen insoweit, als Vergütungsansprüche gegen den neuen Arbeitgeber grundsätzlich neu gepfändet werden müssen (§ 833 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Dies gilt aber nicht beim Übergang eines Arbeitsverhältnisses im Rahmen des § 613a BGB, da kein „neues Arbeitsverhältnis“ begründet wird; vielmehr ist von einem einheitlichen Arbeitsverhältnis trotz des rechtlichen Wechsels in der Person des Arbeitgebers auszugehen678 (vgl. Rz. 6.158). Damit erfasst eine Lohnpfändung auch Ansprüche auf Arbeitseinkommen, die dem Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber zustehen, auf den der Betrieb oder Betriebsteil übergegangen ist; ebenso im umgekehrten Fall der Pfändung des Arbeitslohns des Arbeitnehmers.679
6.236
VIII. Kündigungsrechtliche Fragen 1. Rechtsnatur und Geltungsbereich von § 613a Abs. 4 BGB Die von § 613a BGB bezweckte Sicherung der Arbeitsplätze liefe leer, wenn anlässlich des Betriebs(teil)übergangs betriebsbedingte Kündigungen uneingeschränkt zulässig wären. Der Übergang des Betriebs oder Betriebsteils als solcher ist kein Kündigungsgrund. Der Übergang des Arbeitsverhältnisses auf den Erwerber infolge des Betriebsübergangs ist schon im Wortsinne kein „betriebsbedingtes Ausscheiden“ und keine „betriebsbedingte Beendigung des Arbeitsverhältnisses“.680 Das Recht, aus anderen Gründen das Arbeitsverhältnis zu kündigen, bleibt davon unberührt, § 613a Abs. 4 Satz 2 BGB.
6.237
Nach Auffassung des BAG enthält § 613a Abs. 4 BGB ein eigenständiges Kündigungsverbot i.S.v. § 13 Abs. 3 KSchG, § 134 BGB.681 Die Folge ist, dass die Unwirksamkeit einer Kündi-
6.238
678 LAG Hamm v. 7.5.1976 – 3 Sa 1093/75, BB 1976, 1369; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 833 ZPO Rz. 4. 679 LAG Hessen v. 22.7.1999 – 5 Sa 13/99, NZA 2000, 615 unter deutlicher Bezugnahme auf LAG Hamm v. 29.8.1975 – 3 Sa 483/75, DB 1976, 440. 680 BAG v. 11.11.2010 – 8 AZR 392/09, AP Nr. 392 zu § 613a BGB. 681 Vgl. BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, MDR 1997, 174 = NZA 1997, 148; s. zu dieser lange umstrittenen Frage Pfeiffer in KR, § 613a BGB Rz. 178; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 153.
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Kap. 6 Rz. 6.239
Arbeitsrecht
gung wegen § 613a Abs. 4 BGB unabhängig von den Beschränkungen des KSchG geltend gemacht werden kann. Die Frist des § 4 Satz 1 KSchG zur Erhebung einer Kündigungsschutzklage gilt seit dem 1.1.2004 für sämtliche Unwirksamkeitsgründe. Auch bei einer Kündigung nach § 613a Abs. 4 BGB muss der Arbeitnehmer innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung Klage erheben.682 Versäumt er diese Frist, gilt gem. § 7 KSchG die Kündigung als von Anfang an rechtswirksam.683
6.239 Mit dem Kündigungsverbot des § 613a Abs. 4 BGB soll die Überleitung der Arbeitsverhältnisse beim Betriebsübergang gewährleistet und die Umgehung des Kündigungsschutzes verhindert werden.684 Der kündigende Erwerber hat bei der Berechnung der Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 BGB und bei der Ermittlung der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG die Beschäftigungszeiten zusammenzurechnen, wenn die Identität des Betriebs gewahrt ist.685 Unerheblich ist, falls der gekündigte Arbeitnehmer bereits eine Abfindung erhalten hat.686 Das Umgehungsverbot erfasst nach der Rechtsprechung auch Aufhebungsverträge und (veranlasste) Eigenkündigungen aus Anlass des Betriebsübergangs, wenn sie vom Veräußerer oder Erwerber allein veranlasst werden, um dem bestehenden Kündigungsverbot auszuweichen und dadurch die Kontinuität des Arbeitsverhältnisses zu beseitigen.687 Dies ist anzunehmen, wenn die Arbeitnehmer mit dem Hinweis auf eine geplante Betriebsveräußerung und bestehende Arbeitsplatzangebote des Erwerbers veranlasst werden, ihre Arbeitsverhältnisse mit dem Veräußerer selbst zu kündigen oder Auflösungsverträgen zuzustimmen, um mit dem Erwerber neue Arbeitsverträge abschließen zu können oder wenn zugleich ein Arbeitsverhältnis mit dem Erwerber vereinbart bzw. verbindlich in Aussicht gestellt wird.688 Verbindlich ist die Vertragsaussicht beispielsweise dann, wenn ein Losentscheid für die Auswahl der Arbeitnehmer gelten soll, die einen solchen neuen Arbeitsvertrag erhalten;689 ebenso, wenn nach den gesamten Umständen klar ist, dass der Arbeitnehmer vom Erwerber (neu) eingestellt wird690 und aus seiner Sicht nur noch im Ermessen des Erwerbers steht, für welche Dauer die Weiterbeschäftigung erfolgen wird. Dagegen können die Arbeitsvertragsparteien ihr Rechtsverhältnis im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes wirksam durch Aufhebungsvertrag auflösen, sofern die Vereinbarung auf das endgültige Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Betrieb gerichtet ist. Dann steht auch § 14 Abs. 2 TzBfG dem Abschluss einer sachgrundlosen Befristung mit dem Erwerber bzw. mit einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft nicht entgegen.691 Unzulässig sind dagegen Vereinbarungen zur Befristung eines Arbeitsverhältnisses wegen eines bevorstehen-
682 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 173; zu europarechtlichen Bedenken Kamanabrou, NZA 2004, 950. 683 BT-Drucks. 15/1204, 9 f. (13). 684 BAG v. 18.9.2003 – 2 AZR 330/02, NZA 2004, 319. 685 BAG v. 24.10.2013 – 2 AZR 1057/12, MDR 2014, 666 = DB 2014, 958; BAG v. 5.2.2004 – 8 AZR 639/02, NZA 2004, 845; BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 270/01, NZA 2003, 145; § 193 BGB ist auf die Berechnung der Wartezeit nicht anwendbar. 686 BAG v. 18.9.2003 – 2 AZR 330/02, NZA 2004, 319; vgl. von Steinau-Steinrück/Wagner, NJWSpezial 2004, 34. 687 BAG v. 27.9.2012 – 8 AZR 826/11, DB 2013, 642; Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, H Rz. 123. 688 BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06, NZA-RR 2008, 367 (370); BAG v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, MDR 2006, 578 = NJW 2006, 938 (Ls. 2). 689 BAG v. 18.8.2011 – 8 AZR 312/10, MDR 2012, 232 = NZA 2012, 152. 690 BAG v. 25.10.2012 – 8 AZR 572/11, NZA 2013, 203. 691 BAG v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, NZA 2006, 145 (147); s. Rz. 6.302.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.242 Kap. 6
den oder vollzogenen Betriebsübergangs.692 Der für eine Befristung erforderliche sachliche Grund kann nicht allein in einem geplanten Betriebsübergang liegen. Nach der Wertung des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB hat der Betriebsübergang außer der Auswechslung der Person des Arbeitgebers (Vertragsübergang kraft Gesetzes auf Arbeitgeberseite) keine Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis.693 Ein die Befristung rechtfertigender Grund kann sich aber aus Umständen ergeben, die mit der Betriebsveräußerung zusammenhängen.694 Nach zweifelhafter Auffassung des BAG soll ein sachlicher Grund auch dann erforderlich sein, wenn das Kündigungsschutzgesetz mangels Betriebsgröße auf das Arbeitsverhältnis keine Anwendung findet.695 2. Kündigung „wegen Betriebs(teil)übergang“ Betriebsbedingte Kündigungen sind nach § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB unwirksam, wenn sie „wegen des Übergangs eines Betriebs oder Betriebsteils“ erfolgen. Ein naher zeitlicher Zusammenhang zwischen Kündigung und Betriebsübergang ist nicht notwendig,696 auch kann die Kündigung vor oder nach dem Betriebsübergang ausgesprochen werden.697 Nach ganz h.M. in Literatur und Rechtsprechung liegt eine Kündigung wegen des Betriebsübergangs vor, wenn der Betriebsübergang überwiegende Ursache für die Kündigung ist.698 Damit ist nicht jede betriebsbedingte Kündigung verboten, die bloß in ursächlichem Zusammenhang mit dem Übergang steht, andererseits genügt jedoch auch der Übergang allein nicht als Kündigungsgrund.
6.240
Nach ständiger Rechtsprechung des BAG erfolgt eine Kündigung „wegen“ Betriebs(teil)übergangs, wenn dieser tragender Beweggrund und nicht nur äußerer Anlass für die Kündigung ist.699 Dabei kommt es ausschließlich auf die Verhältnisse bei Zugang der Kündigung an.700 Findet eine nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zunächst fest geplante Betriebsstilllegung doch noch den Weg in einen Betriebsübergang, ohne dass dies beabsichtigt war (beispielsweise wegen fehlender konkreter Übernahmemöglichkeit), so liegt weder eine Unwirksamkeit der Kündigung nach § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB noch eine Umgehung von § 613a Abs. 1 BGB vor.701
6.241
Nach Auffassung des BAG hat § 613a Abs. 4 BGB eine Ergänzungsfunktion gegenüber § 613a Abs. 1 BGB. Als spezialgesetzliche Regelung des allgemeinen Umgehungsverbotes verhindert § 613a Abs. 4, dass der in § 613a Abs. 1 BGB angeordnete Bestandsschutz durch Kündigungen unterlaufen wird. Für den Veräußerer kann das zutreffen, wenn der Erwerber die Personalbereinigung zur Kaufvoraussetzung gemacht hat und daraufhin betriebsbeding-
6.242
692 693 694 695 696 697 698 699 700 701
BAG v. 30.10.2008 – 8 AZR 855/07, NZA 2009, 723. BAG v. 2.12.1998 – 7 AZR 579/97, NZA 1999, 926 (928); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 157. BAG v. 2.12.1998 – 7 AZR 579/97, NZA 1999, 926 (928); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 157. BAG v. 2.12.1998 – 7 AZR 579/97, NZA 1999, 926 (928). BAG v. 27.10.2005 – 8 AZR 568/04, NZA 2006, 668 (673); BAG v. 19.5.1988 – 2 AZR 596/87, NZA 1989, 461. BAG v. 27.10.2005 – 8 AZR 568/04, NZA 2006, 668; Pfeiffer in KR, § 613a BGB Rz. 184. Vgl. BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 306/98, NZA 1999, 706; BAG v. 3.9.1998 – 8 AZR 306/97, NZA 1999, 147 (149). BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, MDR 2014, 478 = NZA-RR 2014, 185; BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387; BAG v. 24.5.2005 – 8 AZR 333/04, NZA 2006, 31 (33). BAG v. 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, NZA 2014, 336; BAG v. 28.10.2004 – 8 AZR 391/03, NZA 2005, 285. BAG v. 3.9.1998 – 8 AZR 306/97, NZA 1999, 147 (149); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 161, 162.
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Kap. 6 Rz. 6.242
Arbeitsrecht
te Kündigungen ausgesprochen werden.702 Gleiches gilt für die Kündigung mit der Begründung, der Erwerber sei wegen der Höhe des Gehalts des betroffenen Arbeitnehmers nicht bereit, diesen zu übernehmen.703 § 613a Abs. 4 BGB erfasst auch Änderungskündigungen, da sich der Schutz der Vorschrift auch auf den Inhalt der Arbeitsbedingungen erstreckt. Im Übrigen richtet sich das Verbot sowohl an den bisherigen als auch an den neuen Arbeitgeber. Das Kündigungsverbot ist nicht einschlägig, wenn es neben dem Betriebs(teil)übergang einen sachlichen Grund gibt, der „aus sich heraus“ die Kündigung rechtfertigt, so dass der Betriebsübergang nur äußerer Anlass, aber nicht tragender Grund der Kündigung ist.704 Das kann auch eine Betriebs(teil)stilllegung vor dem Erwerb sein;705 Betriebsveräußerung und Betriebsstilllegung schließen sich systematisch aus.706 Erforderlich und vom Arbeitgeber darzulegen707 ist hierfür, dass der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst hat, den Betrieb(steil) endgültig und nicht nur vorübergehend stillzulegen.708 Die geplanten Maßnahmen müssen zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits „greifbare Formen“ angenommen haben.709 An dem erforderlichen endgültigen Entschluss zur Betriebsstilllegung fehlt es, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung noch in Verhandlungen über eine Veräußerung des Betriebes steht.710 Bei einer Betriebsteilstilllegung bei gleichzeitigem Übergang des restlichen Betriebs auf einen neuen Erwerber ist eine Kündigung dann gerechtfertigt, wenn der zu kündigende Arbeitnehmer dem stillzulegenden Betriebsteil zugeordnet werden kann.711 Dann kann der bisherige Arbeitgeber, bereits vor dem Inhaberwechsel, unter den allgemeinen Voraussetzungen für betriebsbedingte Kündigungen Personalabbau betreiben, wenn der Übergang des Betriebsteils konkret bevorsteht. Dringende betriebliche Rationalisierungsmaßnahmen zur Rettung des Unternehmens, Betriebs oder Betriebsteils werden somit durch den zeitlichen Zusammenhang mit dem Übergang nach § 613a BGB nicht beeinträchtigt.712 Insbesondere greift § 613a BGB nicht, wenn jeder Betriebsinhaber die Kündigung – unabhängig von der Veräußerung – hätte durchführen dürfen.713 Für die Annahme eines Kündigungsverbots nach § 613a Abs. 4 BGB ist es nicht ausreichend, wenn dem von einem Übergang anderer
702 BAG v. 2.12.1998 – 7 AZR 579/97, NZA 1999, 926 (928). 703 BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, MDR 2003, 1300 = NZA 2003, 1027. 704 BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, MDR 1997, 174 = NZA 1997, 148 (149); BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387 (388); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 155. 705 BAG v. 28.10.2004 – 8 AZR 391/03, NZA 2005, 285; BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93. 706 St. Rspr., zuletzt BAG v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465; vgl. auch ausführlich zur Abgrenzung Betriebsveräußerung – Betriebsstilllegung Rz. 6.63 ff. 707 BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93. 708 BAG v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465. 709 BAG v. 15.12.2011 – 8 AZR 692/10, NZA-RR 2012, 570; zu den entsprechenden Anforderungen sowie zu der Frage der Betriebsteilsverlagerung ins grenznahe Ausland BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, NJW 2011, 3323. 710 Nach LAG Berlin-Brandenburg v. 2.4.2014 – 15 Sa 275/14, NZA-RR 2014, 422 gilt das Gleiche, wenn für derartige Verhandlungen noch ein Unternehmensberater engagiert wird und potentielle Investoren noch durch den Betrieb geführt werden. 711 Zuletzt BAG v. 18.10.2012 – 6 AZR 41/11, NZA 2013, 1007; BAG v. 30.10.2008 – 8 AZR 397/07, NZA 2009, 485; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rz. 1. 712 So auch ausdrücklich BAG v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, MDR 1984, 171 = BB 1983, 2116; vgl. auch Hilger, ZGR 1984, 258; Willemsen, ZIP 1983, 411. 713 BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387 (389).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.243 Kap. 6
Betriebsteile nicht betroffenen Arbeitnehmer deshalb gekündigt wird, weil durch den Übergang der anderen Betriebsteile der Beschäftigungsbedarf für ihn zurückgeht oder entfällt.714 Kontrovers werden die Fälle diskutiert, in denen der Veräußerer eines Betriebes im Hinblick auf die Betriebs(teil)veräußerung betriebsbedingte Kündigungen allein deshalb ausspricht, weil er zu der Erkenntnis gelangt ist, den Betrieb bzw. Betriebsteil ansonsten nicht veräußern zu können. Diese Diskussion spitzt sich in der Frage zu, ob der Veräußerer als Alternative zur Stilllegung oder sogar Insolvenz des Unternehmens Kündigungen auf ein vom Erwerber entwickeltes unternehmerisches Konzept stützen darf (sog. „Veräußererkündigung auf Erwerberkonzept“).715 Bei dieser Variante handelt es sich nach richtiger Auffassung um eine Kündigung „aus anderen Gründen“, also nicht um eine Kündigung „wegen“ Betriebsübergangs. Denn das Kündigungsverbot nach § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB greift nicht ein, wenn neben dem Betriebsübergang ein sachlicher Grund besteht, der „aus sich heraus“ die Kündigung zu rechtfertigen vermag,716 dabei ist es unerheblich, ob das unternehmerische Konzept vom Erwerber oder vom Veräußerer stammt.717 Schutzzweck der Norm ist es, bei der Übernahme der Belegschaft eine „Auslese“ der Arbeitnehmer zu verhindern.718 Sein Schutzzweck ist es nicht, den Erwerber auch bei einer auf Grund betriebswirtschaftlicher Gesichtspunkte voraussehbar fehlenden Beschäftigungsmöglichkeit zu verpflichten, das Arbeitsverhältnis mit einem Arbeitnehmer noch einmal künstlich zu verlängern, bis der Erwerber selbst die Kündigung aussprechen kann.719 Der Bestandsschutz des § 613a BGB darf nicht zur Lähmung der als notwendig erachteten unternehmerischen Maßnahmen führen.720 Er schützt nicht vor Risiken, die sich jederzeit unabhängig vom Betriebs(teil)übergang ereignen können. Eine Kündigung nach dem Erwerberkonzept ist daher wirksam, wenn der Arbeitsplatz auf Grund des Erwerberkonzepts wegfällt und den allgemeinen Anforderungen einer betriebsbedingten Kündigung nach § 1 KSchG entspricht.721 Unerheblich ist schließlich, ob der Veräußerer auch ohne den Betriebs(teil)übergang das vom Erwerber stammende Konzept hätte umsetzen können.722 Dieses Kriterium hat nun auch das BAG – jedenfalls für den Fall der Insolvenz – aufgegeben.723 Es entfaltet aber auch darüber hinaus 714 BAG v. 17.6.2003 – 2 AZR 134/02, ZIP 2004, 820. 715 Vgl. dazu statt aller Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 353 ff.; Edenfeld in Erman, § 613a BGB Rz. 113, sowie insgesamt Sieger/Hasselbach, DB 1999, 430 ff.; noch offengelassen in; BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, MDR 1997, 174 = NZA 1997, 148 (150); nun unter bestimmten Voraussetzungen bejaht von BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, MDR 2003, 1300 = NZA 2003, 1027 (1029) und BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387. Lesenswert Fuhlrott, BB 2013, 2042 (2044), der die Erwerberkonzeptkündigung dem anforderungsschärferen BQG-Modell vorzieht, wie auch Pils, NZA 2013, 125; Willemsen, NZA 2013, 242. 716 BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, MDR 1997, 174 = NZA 1997, 148 (150). 717 Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 354. 718 BAG v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, MDR 1984, 171 = NJW 1984, 627. 719 BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, MDR 2003, 1300 = NZA 2003, 1027 (1029). 720 Vgl. BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, MDR 1997, 174 = NZA 1997, 148 (149); Ascheid, NZA 1991, 873 (878 f.). 721 Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, H Rz. 107 ff.; Annuß/Starner, NZA 2003, 1247 (1248). 722 So noch BAG v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, MDR 1984, 171 = NJW 1984, 627; ebenfalls dagegen Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 356; das LAG Rheinland-Pfalz sah (v. 11.3.2013 – 5 Sa 556/12, GWR 2013, 326) eine Erwerberkonzeptkündigung für zulässig an, obwohl der Veräußerer sich nicht in Insolvenz befand, ohne Erörterung, ob das Konzept des Erwerbers selbsttragend war (s. dazu sogleich Rz. 6.264). 723 BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, MDR 2003, 1300 = NZA 2003, 1027 (1029).
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6.243
Kap. 6 Rz. 6.244
Arbeitsrecht
keine Geltung.724 Denn nicht ein Sanierungskonzept oder der Zustand der Insolvenz entscheidet über die Wirksamkeit der Kündigung, sondern die Frage, ob es einen sachlichen Grund gibt, der „aus sich heraus“ die Kündigung zu rechtfertigen vermag. Gerade bei echten Sanierungsfällen außerhalb der Insolvenz ist der Betrieb aus sich heraus nicht mehr sanierungsfähig und kann daher nur mit fremder Hilfe gerettet werden.725 Das gefundene Ergebnis gilt erst recht bei einem eigenen Sanierungskonzept des Veräußerers zur Verbesserung des Betriebs.726
6.244 Die Kündigung muss den allgemeinen Anforderungen (Prognoseprinzip) genügen. Eine vernünftige, betriebswirtschaftliche Betrachtung muss die Prognose rechtfertigen, dass bis zum Ablauf der Kündigungsfrist die Maßnahme durchgeführt werden kann und diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einer weiteren Beschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers entgegensteht.727
6.245 Das BAG verlangt ein verbindliches Konzept oder einen Sanierungsplan, dessen Durchführung im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung bereits greifbare Formen angenommen hat.728 Teile der Literatur fordern zusätzlich, dass der bevorstehende Betriebsübergang und mit ihm das Erwerberkonzept hinreichend rechtlich fixiert ist, z.B. Bestandteil in einem Vor-729 oder aufschiebend bedingten Übernahmevertrag.730 Nicht ausreichend ist die alleinige Forderung, die Belegschaft vor Betriebs(teil)übergang zu verkleinern.731 Problematisch ist auch die Frage nach dem Kreis der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer. Die Veräußererkündigung auf Erwerberkonzept ist letztlich eine „fremdbestimmte“ Kündigung. Sie basiert auf Vorstellungen des Erwerbers und ist insofern „vorgezogen“.732
6.246 Hinsichtlich der Möglichkeit der Weiterbeschäftigung und der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG sind auch die betriebs- und unternehmensbezogenen Verhältnisse des Erwerbers zu berücksichtigen,733 insbesondere bei der Eingliederung eines Betriebsteils in einen bereits bestehenden Betrieb, und dies sowohl bei Veräußerer- als auch bei nachträglicher Erwerberkündigung.734 Beim Veräußerer ist die Sozialauswahl auf den gesamten Betrieb zu beziehen, unabhängig von der Veräußerung des ganzen Betriebs oder nur eines Betriebsteils. Das verhindert Manipulationen und schafft für alle Beteiligten die erforderliche Rechtssicherheit. Um724 B. Gaul/Bonanni/Naumann, DB 2003, 1902 (1903); Annuß/Stamer, NZA 2003, 1247 (1248). 725 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 170; Lipinski, NZA 2002, 75 (79); C. Meyer, NZA 2003, 244 (245 f.); Kappenhagen, BB 2003, 2182 (2183). 726 BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387 (389); zum Ausspruch einer Kündigung, um den Betrieb „verkaufsfähig“ zu machen: LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 9.1.2013 – 2 Sa 166/12, NZA-RR 2013, 238. 727 BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, MDR 2003, 1300 = NZA 2003, 1027 (1029). 728 BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387; BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, MDR 2003, 1300 = NZA 2003, 1027 (1029); zust. B. Gaul/Bonanni/Naumann, DB 2003, 1902 (1903); C. Meyer, NZA 2003, 244. 729 Sieger/Hasselbach, DB 1999, 430 (433); C. Meyer, NZA 2003, 244 (247); Fuhlrott, BB 2013, 2042 (2044). 730 Willemsen, ZIP 1983, 411 (416); Annuß/Stamer, NZA 2003, 1247 (1248) m.w.N. 731 BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387. 732 Kreitner, Kündigungsrechtliche Probleme, S. 111; ErfK/Preis § 613a BGB Rz. 172; zum Meinungsstreit der Sozialauswahl s. sehr instruktiv Schmädicke, NZA 2014, 515. 733 Vgl. Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, H Rz. 116 und Annuß/Stamer, NZA 2003, 1247 (1248) m.w.N. zu a.A. 734 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 172.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.249 Kap. 6
stritten ist die Einbeziehung von Arbeitnehmern des Erwerbers in die Sozialauswahl bei der Fortführung eines Betriebs oder Betriebsteils als eigenständige Einheit, die teilweise der Eingliederung eines Betriebs im Ganzen in einen bestehenden Betrieb gleichgesetzt wird.735 Anders liegt die Sache, wenn der Veräußerer das (Sanierungs-) Konzept des Erwerbers auch selbst umsetzen könnte (sog. „selbsttragende Veräußererkündigung auf Erwerberkonzept“736). Auch dann macht sich zwar der Veräußerer den Plan des Erwerbers zu eigen, die Kündigung ist aber nicht „fremdbestimmt“. Das Erwerberkonzept rechtfertigt im Unternehmen des Veräußerers die Kündigung, so dass es sich letztlich um eine ohne weiteres zulässige Sanierungskündigung des Veräußerers handelt, die auf den Vorstellungen des Erwerbers basiert.737 Es rechtfertigt die auf ihr beruhenden Kündigungen aus sich heraus, so dass es nicht darauf ankommt, wer die Kündigung ausspricht oder wer die Maßnahmen umsetzt.738 Für die Sozialauswahl und die Weiterbeschäftigung kommt es folglich nicht auf die Erwerberverhältnisse an. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BAG wird man aber auch in diesem Fall davon ausgehen müssen, dass das Gericht weiterhin verlangt, dass das unternehmerische Konzept des Erwerbers „greifbare Formen“ angenommen haben muss.739 Konsequenter wäre es, auf Grund der „selbsttragenden Kündigung“ diese Anforderung zu streichen. Ausreichend ist es, dass die Kündigung (weiterhin) den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 und 3 KSchG Stand halten muss. Die „Veräußererkündigung auf Erwerberkonzept“ rechtfertigt auch dann betriebsbedingte Kündigungen, wenn der spätere Betriebs(teil)übergang eine zusätzliche, notwendige Voraussetzung für den Erhalt des Betriebes ist, d.h. Bestandteil des Konzeptes ist.740 Die in der Praxis äußerst schwer zu ziehende Grenze zur (unzulässigen) Kündigung wegen Betriebs(teil)übergangs liegt dort, wo das vom Erwerber stammende Konzept bereits speziell auf die Verhältnisse des Erwerbers zugeschnitten ist. Auf ein solches Konzept gestützte betriebsbedingte Kündigungen sind möglicherweise unzulässig, da andernfalls der noch beim Veräußerer beschäftigte Arbeitnehmer den Nachteil der Unternehmerentscheidung des Erwerbers tragen müsste, ohne den Vorteil der übergreifenden Sozialauswahl zu genießen.741
6.247
Macht der Arbeitnehmer die Unwirksamkeit einer Kündigung nur mit der Berufung auf das Kündigungsverbot des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB geltend, hat er darzulegen und – bei Bestreiten des Arbeitgebers – zu beweisen, dass die Kündigung wegen Übergangs des Betriebs oder Betriebsteils erklärt worden ist.742 Ebenso muss er zu den tatsächlichen Voraussetzungen eines Betriebsübergangs vortragen.743
6.248
3. Kündigung „aus anderen Gründen“ Nach § 613a Abs. 4 Satz 2 BGB bleibt das Recht zur Kündigung von Arbeitsverhältnissen „aus anderen Gründen“ unberührt. Damit sind personen- und/oder verhaltensbedingte Kündigungen gemeint, aber auch betriebsbedingte, wenn sie nicht „wegen“ Übergangs eines Betriebs 735 736 737 738 739 740
Vossen, BB 1984, 1557 (1560). Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, H Rz. 110. Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, H Rz. 109. BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, MDR 1997, 174 = NZA 1997, 148. Vgl. aber C. Meyer, NZA 2003, 244 (247). So BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, MDR 1997, 174 = NZA 1997, 148 (149); vgl. auch EuGH v. 12.3.1998 – C-319/94 – Dethier/Dassy, NZA 1998, 529. 741 Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 356. 742 BAG v. 5.12.1985 – 2 AZR 3/85, NZA 1986, 522; vgl. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 177 ff. 743 BAG v. 22.6.2011 – 8 AZR 107/10, NZA-RR 2012, 119. S. näher hierzu Rz. 6.407.
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6.249
Kap. 6 Rz. 6.250
Arbeitsrecht
oder Betriebsteils ausgesprochen werden (vgl. Rz. 6.241 ff. und vor allem Rz. 6.63 ff. zum Problem der Kündigung wegen Betriebsstilllegung).
6.250 Von einer zulässigen Kündigung „aus anderen Gründen“ geht ein Teil der Literatur744 aus, wenn der bisherige Inhaber den Betrieb bzw. Betriebsteil nicht mehr halten kann und der einzige Interessent eine Übernahme ablehnt oder verzögert, weil er nicht alle Arbeitnehmer weiterbeschäftigen will. Das BAG hat diese Auffassung abgelehnt745 und nimmt eine Kündigung „wegen Übergangs“ i.S.v. § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB an, wenn dieser tragender Grund für die Kündigung war.746 Existiert dagegen ein sachlicher Grund, der aus sich heraus die Kündigung rechtfertigen kann, liegt keine Kündigung „wegen Betriebs(teil)übergangs“ vor. Eine Rationalisierung zur Verbesserung der Verkaufschancen ist ein solcher sachlicher Grund.747
6.251 Kündigt der Veräußerer den Arbeitnehmer verhaltensbedingt, weil das Vertrauensverhältnis zerstört ist, wirkt die Kündigung nach dem Betriebsübergang auch zugunsten des Erwerbers. Anderes gilt nur, wenn dem Erwerber die weitere Zusammenarbeit zumutbar ist. Dies wird grundsätzlich nicht der Fall sein, wenn das Vertrauensverhältnis auch gegenüber dem Kollektiv (Vorgesetzte, Mitarbeiter und Untergebene) zerstört ist. Zur Sicherheit empfiehlt sich in solchen Fällen aber dennoch gemeinsames Handeln beider Arbeitgeber. Der neue Inhaber sollte bestätigen, dass er ebenfalls von einem gestörten Vertrauensverhältnis ausgeht.
6.251a Soll eine verhaltensbedingte Kündigung ausgesprochen werden, bedarf diese im Regelfall der vorherigen Abmahnung. Beim Erwerber ausgesprochene Abmahnungen behalten der Literatur nach ihre Wirkung auch beim Erwerber, da § 613a BGB keine Besserstellung bewirken soll.748
6.252 Entfällt nach Betriebsübergang die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit, ist dies kein tauglicher außerordentlicher Kündigungsgrund für den Veräußerer.749 Ist eine außerordentliche Kündigung jedoch möglich, bleibt zu beachten, dass diese innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis des Kündigungsgrundes ausgesprochen werden muss (§ 626 Abs. 2 BGB). Der Erwerber muss sich vielmehr die Kenntnis des Veräußerers mit der Maßgabe zurechnen lassen, dass die Zweiwochenfrist auch nicht durch den Eintritt des Betriebs(teil)übergangs unterbrochen wird.750
6.253 In europakonformer Auslegung751 entschied das BAG,752 dass Vorbeschäftigungszeiten im Rahmen von § 23 Abs. 1 Satz 2, 3 KSchG gemäß dem Schutzweck von § 613a BGB – z.B. im Falle einer Kündigung – berücksichtigigungsfähig seien. Die Dauer einer beim Betriebsveräußerer zurückgelegten Beschäftigungszeit zähle zu den „Rechten und Pflichten“ i.S.d. § 613a Abs. 1 BGB, in die der Betriebserwerber eintrete. 744 Hanau, DJT-Gutachten 1982, Bd. I, § 40; Grunsky, ZIP 1982, 772 (776); Timm, ZIP 1983, 225 (228); Vossen, BB 1984, 1557. 745 BAG v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, MDR 1984, 171 = NJW 1984, 627. 746 BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, MDR 1997, 174 = NZA 1997, 148 (149). 747 Vgl. BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, MDR 1997, 174 = NZA 1997, 148 (149); s.a. Schiefer, NJW 1998, 1817 (1823) und bereits Rz. 6.243. 748 Kreitner in Küttner, Personalbuch, Betriebsübergang, Rz. 73. 749 Wank in MünchHdb. ArbR, § 103 Rz. 51. 750 So auch Henssler in MünchKomm/BGB, § 626 BGB Rz. 310. 751 EuGH v. 6.4.2017 – C-336/15, NZA 2017, 585. 752 BAG v. 23.5.2013 – 2 AZR 54/12, MDR 2013, 1470 = NZA 2013, 1197. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.256 Kap. 6
Nach Ansicht des BAG wirkt ein zwischen dem Arbeitnehmer und dem Veräußerer im Rahmen einer (Änderungs-)Kündigungsschutzklage geschlossener Beendigungsvergleich hinsichtlich der Beendigung für und gegen den Erwerber, wenn dieser die Beendigungsvereinbarung zumindest konkludent gem. § 177 BGB genehmigt.753 Es spricht viel dafür, dass diese Wertung auch auf den Fall übertragen werden kann, dass der Erwerber dem Arbeitnehmer nach erfolgtem Betriebsübergang, aber vor der wirksamen rückwirkenden Ausübung des Widerspruchsrechts kündigt.754 Der wirksame Widerspruch führt dazu, dass das Arbeitsverhältnis mit dem Veräußerer zunächst über den Termin des Betriebsübergangs fortbesteht. Allerdings ist auch die Kündigung als einseitiges Rechtsgeschäft grundsätzlich zustimmungsbzw. genehmigungsfähig gem. §§ 177 Abs. 1, 183, 184 Abs. 1, 180 Satz 2 BGB. Eine Zustimmung oder Genehmigung des Veräußerers zur Kündigung des Erwerbers könnte dazu führen, dass das Arbeitsverhältnis auch bei einem Widerspruch nicht mehr bei dem Veräußerer besteht.755 Dazu würde es sich anbieten, dass der Erwerber vor dem Ausspruch der Kündigung die Zustimmung des Veräußerers zur Kündigung einholt. Die Zustimmung und die Genehmigung bedürfen gem. § 182 Abs. 2 BGB nicht der Schriftform des § 623 BGB, so dass eine formlose Mitteilung, auch per E-Mail, ausreichend ist.
6.254
4. Kündigung „wegen Widerspruchs“ Ein dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses widersprechender Arbeitnehmer muss nach 6.255 der Rechtsprechung des BAG mit einer betriebsbedingten Kündigung durch den Veräußerer rechnen.756 Daran ändert § 613a Abs. 4 BGB nichts. Widerspricht ein Arbeitnehmer und wird ihm dann vom bisherigen Inhaber gekündigt, handelt es sich deshalb nicht um eine Kündigung „wegen Übergangs“.757 Die Kündigung steht damit nur in mittelbarem Zusammenhang. Sie erfolgt, weil sich der Arbeitnehmer weigert zum Erwerber zu wechseln; der Betriebsübergang ist lediglich mitursächlich. Ohne Frage setzt die Wirksamkeit einer solchen betriebsbedingten Kündigung gem. § 1 Abs. 2 KSchG die fehlende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Betrieb des Veräußerers voraus.758. Es liegt deshalb eine Kündigung „aus anderen Gründen“ i.S.v. § 613a Abs. 4 Satz 2 BGB vor. Grundsätzlich wird es allerdings nicht möglich sein, eine verhaltensbedingte Kündigung einzig „wegen Widerspruchs“ auszusprechen (vgl. zu den Rechtsfolgen des Widerspruchs Rz. 6.140 ff.).759 Nach ständiger Rechtsprechung des BAG ist im Falle einer betriebsbedingten Kündigung § 1 6.256 Abs. 3 KSchG zugunsten des widersprechenden Arbeitnehmers anzuwenden.760 Grundsätzlich ist die vorzunehmende Sozialauswahl betriebsbezogen und kann daher nicht auf einzelne Betriebsteile oder Betriebsabteilungen beschränkt werden (s.o. Rz. 6.144). Dies gilt laut BAG, wenn ein Betriebsteil stillgelegt und ein anderer auf einen Erwerber übertragen werden
753 754 755 756 757 758 759 760
BAG v. 24.8.2006 – 8 AZR 574/05, NZA 2007, 328. So LAG Köln v. 5.10.2007 – 11 Sa 257/07, NZA-RR 2008, 5. Dazu näher Löwisch, BB 2009, 326. BAG v. 24.2.2000 – 8 AZR 145/99, ZInsO 2000, 568; Nicolai, BB 2006, 1162; Franzen, RdA 2002, 258. Willemsen/Müller-Bonanni in HWK, § 613a BGB Rz. 357. BAG v. 15.8.2002 – 2 AZR 195/01, MDR 2003, 461 = NZA 2003, 430; BAG v. 25.4.2002 – 2 AZR 260/01, NZA 2003, 605. BAG v. 30.9.2004 – 8 AZR 462/03, MDR 2005, 514 = RdA 2006, 228; BAG v. 7.4.1993 – 2 AZR 449/91, NJW 1993, 3156; Pfeiffer in KR, § 613a BGB Rz. 117. BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 190/98, MDR 1999, 1202 = NZA 1999, 870.
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Kap. 6 Rz. 6.257
Arbeitsrecht
soll, so dass auch der später übergehende Betriebsteil einbezogen wird.761 Alle weiteren Fälle sind umstritten, wie beispielsweise die Konstellation des Betriebsteilübergangs und Bestehenbleibens eines Restbetriebs beim Veräußerer, die Übertragung des gesamten Betriebs762 oder der Vollzug des Betriebsteilübergangs bereits vor dem Zugang der Kündigung.763 Ebenfalls nicht einhellig beurteilt wird die Frage, ob sich widersprechende Arbeitnehmer auf eine mangelnde Sozialauswahl berufen können. Zumindest das BAG hat dies bejaht.764 Bei der Prüfung der sozialen Auswahlgesichtspunkte sind seit der Neufassung des § 1 Abs. 3 KSchG die Gründe des widersprechenden Arbeitnehmers für den Widerspruch nicht mehr zu berücksichtigen, da aus Gründen der Rechtssicherheit die Sozialauswahl auf die dort genannten Kriterien beschränkt wurde.765 Auch im Rahmen des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG können diese Gründe grundsätzlich nicht berücksichtigt werden.766 5. Leitende Angestellte
6.257 Bei leitenden Angestellten i.S.v. § 14 Abs. 2 KSchG (nicht zu verwechseln mit § 5 Abs. 3 BetrVG767) bedarf der Auflösungsantrag des Arbeitgebers keiner Begründung. Dies könnte den Veräußerer oder Erwerber dazu verleiten, leitenden Angestellten ohne triftigen Kündigungsgrund i.S.v. § 1 KSchG zu kündigen, um dann über §§ 9, 10 KSchG eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wenn auch gegen Zahlung einer Abfindung, zu erreichen. Unproblematisch möglich ist dies für den Veräußerer, der eine Kündigung vor einem Betriebsübergang ausspricht und dann einen Auflösungsantrag stellt, wenn der Auflösungszeitpunkt zeitlich dem Betriebsübergang vorausgeht. Der kündigende Veräußerer bleibt antragsberechtigt und hat auch die dann fällige Abfindung zu leisten.768 Der Erwerber müsste antragsberechtigt sein, wenn das Arbeitsverhältnis vor Ablauf der Kündigungsfrist auf ihn übergegangen ist. Trotzdem ist Vorsicht geboten: Nach der Rechtsprechung des BAG769 wird die Unwirksamkeit einer Kündigung i.S.v. § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB nicht als Konkretisierung der Unwirksamkeit i.S.v. § 1 KSchG angesehen, sondern als selbständiges Kündigungsrecht i.S.d. § 13 Abs. 3 KSchG, § 134 BGB verstanden.770 Insofern wird bezweifelt, ob bei einer Kündigung „wegen Betriebs(teil)übergang“ ein Auflösungsantrag möglich ist.771 Dagegen könnte § 13 Abs. 3 KSchG sprechen, der klarstellt, dass die Vorschriften über den Auflösungsantrag nur auf Kündigungen anzuwenden sind, die nach § 1 Abs. 2, 3 KSchG unwirksam sind. Lässt man die Möglichkeit eines Auflösungsantrags zu, gilt für Geschäftsführer-Dienstverhältnisse (§ 14 Abs. 2 i.V.m. § 9 KSchG), dass zwischen den Parteien die Anwendbarkeit des
761 762 763 764 765 766 767 768 769 770 771
568
BAG v. 28.10.2004 – 8 AZR 391/03, BB 2005, 892 (849). So diskutiert in ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 107. Kreitner in Küttner, Personalbuch, Betriebsübergang Rz. 79. BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 276/06, MDR 2008, 270 = NZA 2008, 33 (38). ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 108; Eylert/Spinner, BB 2008, 50; Schumacher-Mohr/Urban, NZA 2008, 513; Lunk/Möller, NZA 2004, 10. BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 276/06, MDR 2008, 270 = NZA 2008, 33 (38). Vgl. dazu BAG v. 18.10.2000 – 2 AZR 465/99, MDR 2001, 574 = NZA 2001, 437. BAG v. 24.5.2005 – 8 AZR 246/04, MDR 2005, 1232 = NZA 2005, 1178; Biebl in APS, § 9 KSchG Rz. 48. BAG v. 31.1.1985 – 2 AZR 530/83, MDR 1985, 960 = NZA 1985, 593; BAG v. 5.12.1985 – 2 AZR 3/85, NZA 1986, 522. BAG v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96, NZA 1997, 1050; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 373. Vgl. Friedrich in KR, § 13 KSchG Rz. 410 m.w.N.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.260 Kap. 6
KSchG vertraglich vereinbart sein muss und eine Auslegung dieser Vereinbarung ergibt, dass hiervon auch die Option des Auflösungsvertrags erfasst sein soll.772 6. Besonderheiten bei (werdenden) Müttern und Schwerbehinderten Das Kündigungsverbot nach § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG greift nur ein, wenn dem Arbeitgeber zur Zeit der Kündigung die Schwangerschaft oder Entbindung bekannt war oder innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird. Dabei ist beim Betriebsinhaberwechsel die Kenntnis des Veräußerers von der Schwangerschaft dem Erwerber grundsätzlich zuzurechnen, da das Arbeitsverhältnis „in der Lage“, in der es sich befindet, übergeht.773 Nach anderer Ansicht ist die Arbeitnehmerin verpflichtet, erneut die Schwangerschaft mitzuteilen, wenn der Arbeitgeber kündigen sollte.774 Widerspricht eine Arbeitnehmerin dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses, muss sie selbstverständlich die Schwangerschaft dem bisherigen Arbeitgeber mitteilen. Informieren weder Veräußerer noch Erwerber die betroffene Arbeitnehmerin vom Betriebs(teil)übergang, wahrt sie ihre Rechte aus § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG, wenn sie die Schwangerschaft rechtzeitig dem Arbeitgeber mitteilt, der die Kündigung ausgesprochen hat. Entsprechend § 407 BGB ist die Mitteilung an den bisherigen Inhaber dem neuen Arbeitgeber zuzurechnen.775
6.258
Für die Eigenschaft einer Schwerbehinderung hat das BAG entschieden, dass diese Kenntnis des Veräußerers dem Betriebserwerber zuzurechnen ist.776 Schwerbehinderte genießen den besonderen Kündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX. Wie bei „normalen“ Arbeitsverhältnissen kann auch der Schwerbehinderte im Rahmen eines Betriebs(teil)übergangs nach § 613a BGB auf den Kündigungsschutz verzichten oder einen Aufhebungsvertrag (vgl. Rz. 6.115) schließen.777 Vor Abschluss des Aufhebungsvertrags hat der Arbeitgeber jedoch gem. § 95 Abs. 2 SGB IX die Schwerbehindertenvertretung zu informieren und anzuhören.778 Der Inhaberwechsel führt aber grundsätzlich nicht zu einer Stilllegung i.S.v. § 89 SGB IX. Bei der Frage, welchem Arbeitgeber das Integrationsamt die Zustimmung zu erteilen hat, ist auf den Zeitpunkt des Betriebs(teil)übergangs abzustellen, jedenfalls soweit das Integrationsamt Kenntnis vom Übergang hat.
6.259
Generell sollten für Fälle des Sonderkündigungsschutzes im Betriebsveräußerungsvertrag Unterrichtungspflichten des Veräußerers vorgesehen sein, die durch Schadensersatzansprüche oder die Möglichkeit der Herabsetzung des Kaufpreises gesichert sind.779
6.259a
7. Sozialversicherungsrechtliche Auswirkungen Der Widerspruch ist, da er gerade nicht auf ein „Lösen des Arbeitsverhältnisses“ zielt, nach Ansicht des BSG nicht mitursächlich für die nachfolgende Arbeitslosigkeit und damit im 772 BGH v. 10.5.2010 – II ZR 70/09, GmbHR 2010, 808 m. Anm. Ulrich = MDR 2010, 877 = NZA 2010, 889. Dann käme ein Auflösungsantrag auch außerhalb eines Kündigungsschutzverfahrens vor der Arbeitsgerichtsbarkeit in Betracht. 773 Bader/Gallner in KR, § 9 MuSchG Rz. 39b; Hergenröder in HWK, § 9 MuSchG Rz. 7; Rolfs in APS, § 9 MuSchG Rz. 33; Reinecke in Küttner, Personalbuch, Mutterschutz Rz. 40. 774 Becker in Buchner, § 9 MuSchG Rz. 107; Meisel/Sowka, § 9 MuSchG Rz. 88a. 775 Becker in Buchner, § 9 MuSchG Rz. 123. 776 BAG v. 11.12.2008 – 2 AZR 395/07, MDR 2009, 637 = NJW 2009, 2153. 777 Bauer, Aufhebungsverträge, II Rz. 217. 778 Bauer, Aufhebungsverträge, II Rz. 217. 779 NJW-Spezial 2009, 308.
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6.260
Kap. 6 Rz. 6.261
Arbeitsrecht
Grundsatz sperrzeitneutral und kein „arbeitsvertragswidriges Verhalten“ i.S.v. § 159 SGB III.780 Deshalb führt der Widerspruch auch nicht zu einer Kürzung der Anspruchsdauer gem. § 148 Abs. 1 Nr. 4 SGB III. Der Widersprechende hat folglich keine sozialrechtlichen Konsequenzen zu fürchten.
IX. Haftungssystem des § 613a BGB und Verhältnis zum Umwandlungsrecht 1. Haftungssystem a) Haftung des Erwerbers
6.261 Gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB tritt der Erwerber von Gesetzes wegen in die Rechte und Pflichten aus den Arbeitsverhältnissen mit dem Veräußerer ein. Von dieser Haftung sind sämtliche Ansprüche der Arbeitnehmer umfasst, also auch solche, die vor dem Übergang entstanden und/oder fällig geworden sind, § 613a Abs. 2 Satz 1 BGB. Er wird damit Schuldner aller Verbindlichkeiten aus dem Arbeitsverhältnis. Der Erwerber haftet für Rückstände stets und ohne zeitliche Beschränkungen. Insbesondere haftet er auch für Ansprüche aus bestehenden Versorgungsanwartschaften der betrieblichen Altersversorgung.781 Dadurch können sich erhebliche Probleme ergeben. Beispiel: Stichtag für einen Betriebsübergang ist der 30.6. des Jahres; ein vom Betriebsübergang betroffener Arbeitnehmer scheidet wegen Erreichens der Altersgrenze am 30.9. des Jahres nach über 30-jähriger Betriebszugehörigkeit mit einem Anspruch auf betriebliche Altersversorgung aus. Hier haftet der Erwerber im Außenverhältnis gesamtschuldnerisch. Da fraglich sein kann, wie die Haftungsverteilung gemäß § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB ohne ausdrückliche Regelung im Innenverhältnis zwischen Veräußerer und Erwerber vorzunehmen ist (vgl. Rz. 6.265), sollte auf jeden Fall eine vertragliche Regelung vorgesehen werden.
6.262 Der Erwerber haftet allerdings nicht für rückständige Ansprüche des Trägers der gesetzlichen Krankenversicherung für Sozialversicherungsbeiträge, da sich § 613a BGB nach Wortlaut, Sinn und Zweck nur auf Forderungen „aus dem Arbeitsverhältnis“ bezieht. Die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen richtet sich aber nach Bestimmungen der Sozialgesetzbücher. Auch bei Ansprüchen der Finanzverwaltung wegen rückständiger Lohnsteuer handelt es sich nicht um Forderungen „aus dem Arbeitsverhältnis“.782 Soweit Arbeitsverhältnisse vor dem Betriebs(teil)übergang enden und ein Sozialplan des Veräußerers für diese Abfindungen vorsieht, kommt eine Haftung des Erwerbers nicht in Betracht. Enden die Arbeitsverhältnisse allerdings erst nach dem Übergang, haftet der Erwerber, gleichgültig, ob der Sozialplan von ihm oder dem Veräußerer (auch dem Insolvenzverwalter) aufgestellt worden ist. Auf diese Haftung muss man die Rechtsprechung anwenden, die den Erwerber im Insolvenzverfahren von den vor Verfahrenseröffnung entstandenen Arbeitnehmeransprüchen freistellt (vgl. Rz. 6.281).783
780 BSG v. 8.7.2009 – B 11 AL 17/08 R, NJW 2010, 2459. 781 St. Rspr., vgl. BAG v. 25.4.2006 – 3 AZR 50/05, NZA-RR 2007, 310; BAG v. 26.3.1996 – 3 AZR 965/94, AP Nr. 148 zu § 613a BGB; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 225 ff. m.w.N.; Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 92; Reinsch/Novara/Stratmann, NZA 2011, 10. Das betrifft auch beim bisherigen Betriebsinhaber zurückgelegte Dienstzeiten: LAG Rheinland-Pfalz v. 12.2.2010 – 6 Sa 596/09, NZA-RR 2010, 429. 782 Palandt/Weidenkaff, § 613a BGB Rz. 26. 783 Hanau, KTS 1982, 625 (630).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.266 Kap. 6
b) Haftung des Veräußerers Für Forderungen aus Arbeitsverhältnissen, die im Zeitpunkt des Betriebs(teil)übergangs bereits beendet sind, wie rückständige Vergütungen, haftet der Veräußerer allein und zeitlich unbeschränkt, soweit nicht die allgemeinen Verjährungsvorschriften greifen.784 Diese Arbeitsverhältnisse werden vom Übergang nicht erfasst, so auch nicht Versorgungsansprüche von bereits ausgeschiedenen Arbeitnehmern.785
6.263
Nach § 613a Abs. 2 Satz 1 BGB haftet der Veräußerer im Sinne einer abgestuften Haftung neben dem Erwerber als Gesamtschuldner für Verpflichtungen, die vor dem Zeitpunkt des Übergangs entstanden sind und vor Ablauf von einem Jahr nach diesem Zeitpunkt fällig werden (gesetzlicher Schuldbeitritt).786 Der Wortlaut ist unglücklich; er erfasst nämlich nicht den Fall, dass ein Anspruch vor Übergang des Betriebs oder Betriebsteils sowohl entstanden als auch fällig geworden ist. Dabei kann es sich aber nur um ein Versehen des Gesetzgebers gehandelt haben: Wenn der Veräußerer schon für entstandene und noch nicht fällig gewordene Schulden aufgrund ausdrücklicher Regelung haftet, muss dies erst recht für schon fällige Verbindlichkeiten gelten.787 Die Haftung des Betriebsveräußerers gem. § 613a Abs. 2 Satz 1 BGB kann nicht durch Vereinbarung mit dem Erwerber abbedungen werden; eine Haftungserweiterung zwischen Veräußerer und Betriebserwerber zugunsten der Arbeitnehmer bleibt aber immer möglich.788
6.264
Nach § 613a Abs. 2 Satz 1 BGB haften Veräußerer und Erwerber im Außenverhältnis gesamtschuldnerisch nach §§ 421 – 426 BGB gegenüber dem Arbeitnehmer. Die Haftung im Innenverhältnis bestimmen Veräußerer und Erwerber individualvertraglich. Fehlt es an einer solchen Bestimmung, haften beide gem. § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB zu gleichen Teilen (Orientierung am Gesetzestext). Da eine solche Haftungsverteilung vor allem bei rückständigen Vergütungsansprüchen nicht sachgerecht ist, ist in diesen Fällen im Zweifel eine stillschweigende Haftungsverteilung zu Lasten des Veräußerers anzunehmen.789
6.265
Für Forderungen, die vor dem Betriebsübergang entstanden und fällig geworden waren, trifft den Veräußerer die volle gesamtschuldnerische Haftung. Bei Verbindlichkeiten, die erst nach Übergang des Betriebs oder Betriebsteils fällig werden, haftet der Veräußerer nur „pro rata temporis“ (§ 613a Abs. 2 Satz 2 BGB).790 Er muss daher nur Ansprüche für gegenüber ihm erbrachte Arbeitsleistungen erfüllen. Hauptsächliche Anwendungsfälle sind: Weihnachtsgratifikation und 13. Monatsgehalt. Der Betriebsveräußerer haftet dagegen nicht für
6.266
784 Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 159; Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 159. 785 BAG v. 24.3.1987 – 3 AZR 384/85, NZA 1988, 246; s. instruktiv Rolfs, NZA-Beilage 4/2008, 164. 786 Vgl. LAG Düsseldorf v. 12.5.1976 – 6 (10) Sa 802/75, DB 1977, 502; Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 160. 787 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 302/02, MDR 2004, 98 = NZA 2003, 1145; Seiter, S. 102; Seiter, Anm. zu BAG, AP Nr. 12 zu § 613a BGB; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 302; Schaub in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 106. 788 Schaub in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 112; Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 164; Fuhlrott, FA 2012, 231. 789 Vollen internen Ausgleich fordern z.B. Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 161; Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 167; a.A. z.B. Palandt/Weidenkaff, § 613a BGB Rz. 24; Seiter, S. 105. 790 BAG v. 22.6.1978 – 3 AZR 832/76, DB 1978, 1795; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 301; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 136.
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Kap. 6 Rz. 6.267
Arbeitsrecht
Ansprüche, die nach dem Betriebsübergang entstehen und fällig werden, sowie für die erst nach Ablauf der Ablauf der Jahresfrist fällig werdenden Ansprüche.791 Die Haftungssituation verdeutlicht folgendes Schaubild:792
01.01.
30.06.
Ggf. 30.11.
Betriebsübergang
Eröffnung Insolvenzverfahren
31.12.
Veräußerer-GmbH: Haftung als Gesamtschuldner(!) im Außenverhältnis; Ansprüche müssen 1 Jahr nach BÜ fällig werden; im Innenverhältnis Haftung beschränkt auf 6/12 der Ansprüche; bei Inanspruchnahme Ausgleichsanspruch gegen Erwerber Erwerber-AG: Haftung im Außenverhältnis; keine Beschränkung, da Betriebsübergang vor Eröffnung Insolvenzverfahren (BAG v. 20.6.2002, NZA 2003, 318); 12/12 Haftung
Abb. 1: Haftung außerhalb der Insolvenz
6.267 Urlaubsabgeltung nach Betriebsübergang kann nur durch den Erwerber erfüllt werden und dieser allein schuldet das Urlaubsentgelt.793 Urlaubsabgeltung schuldet der Veräußerer außerdem nicht, wenn ein von ihm zunächst wirksam betriebsbedingt gekündigter Arbeitnehmer später vom Erwerber weiterbeschäftigt wird. (Auch) in diesem Fall muss der Urlaub im fortgesetzten Arbeitsverhältnis (mit dem Erwerber) gewährt und genommen werden.794 Allerdings schuldet der bisherige Arbeitgeber nach § 613a Abs. 2 i.V.m. § 426 BGB dem neuen Arbeitgeber im Innenverhältnis anteiligen Ausgleich in Geld für die vor dem Betriebsübergang entstandenen Ansprüche der Arbeitnehmer auf Gewährung bezahlter Freizeit, die der neue Arbeitgeber erfüllt hat.795 Dass der Veräußerer nach § 275 BGB von seiner gesetzlichen Verpflichtung zur Gewährung bezahlter Freizeit befreit ist, schließt die Annahme einer Gesamtschuld nicht aus. § 421 BGB setzt insofern nur voraus, dass beide Schuldner zu der gleichen Leistung verpflichtet sind, nicht, dass die Leistung von beiden auch tatsächlich erbracht werden kann.796 791 792 793 794
ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 138; Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 168. Vgl. zur besonderen Situation in der Insolvenz Rz. 6.280. LAG Hessen v. 30.3.1998 – 11 Sa 1227/97, NZA-RR 1998, 532. Vgl. BAG v. 2.12.1999 – 8 AZR 774/98, SAE 2000, 293 m. Anm. Sandmann; a.A. LAG v. Köln 12.3.1998 – 10 Sa 1242/97, NZA-RR 1999, 133. 795 BGH v. 25.3.1999 – III ZR 27/98, MDR 1999, 749 = NZA 1999, 817. 796 BGH v. 4.7.1985 – IX ZR 172/84, MDR 1986, 51 = NJW 1985, 2643.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.270 Kap. 6
Für Versorgungsanwartschaften hat § 613a Abs. 2 Satz 1 BGB zur Konsequenz, dass der Veräußerer nur für die innerhalb eines Jahres nach dem Betriebsübergang fällig werdenden Betriebsrentenansprüche haftet.797 Im Einzelfall kann eine tarifliche Ausschlussfrist für Ansprüche zu laufen beginnen, die der Veräußerer aus Anlass des Betriebsübergangs zusagt,798 jedoch im Falle eines Widerspruchs nicht vor Zugang des Widerspruchs.799
6.268
2. Verhältnis zum Umwandlungsrecht a) §§ 133, 134 UmwG Der Fall des Zusammentreffens von arbeitsrechtlichem Betriebs(teil)übergang und Unternehmensumwandlung ist in § 613a Abs. 3 BGB nur unvollkommen geregelt. § 613a Abs. 3 BGB ordnet lediglich an, dass Abs. 2 nicht gilt, wenn ein Unternehmen durch Umwandlung erlischt. Damit ist klargestellt, dass § 613a Abs. 2 BGB jedenfalls nicht bei einer Aufspaltung nach § 123 Abs. 1 UmwG zur Anwendung kommt, sondern die Sonderregelungen des §§ 133, 134 UmwG einschlägig sind.800 Im Übrigen ist das Verhältnis zu den umwandlungsrechtlichen Haftungsregelungen umstritten. Im Umkehrschluss kann nicht aus § 613a Abs. 3 BGB gefolgert werden, dass § 613a Abs. 2 BGB für solche Umwandlungen gilt, die nicht zum Erlöschen des übertragenden Rechtsträgers führen.801 Die richtige Lösung ergibt sich aus dem inhaltlichen Vergleich der Haftungsnormen: Nach § 133 UmwG haften die an der Spaltung beteiligten Rechtsträger für Verbindlichkeiten des übertragenden Rechtsträgers, die vor dem Wirksamwerden der Spaltung begründet worden sind, bis zu fünf Jahre als Gesamtschuldner. Innerhalb dieser Frist müssen die Ansprüche fällig geworden sein und der Gläubiger sie gerichtlich geltend gemacht haben (§ 133 Abs. 3 bis 5 UmwG). Nach § 613a Abs. 2 BGB haftet der ursprüngliche Arbeitgeber nur bis zu einem Jahr nach dem Stichtag des Betriebsübergangs. Durch die ausschließliche Anwendung des § 613a Abs. 2 BGB würde der Arbeitnehmer gegenüber den übrigen Gläubigern schlechter gestellt. Dies ist mit dem Zweck des § 613a BGB, einen Mindeststandard für die betroffenen Arbeitnehmer zu erreichen, unvereinbar.802 Dass durch die Anwendung der umwandlungsrechtlichen Haftungsnormen insofern eine Besserstellung gegenüber dem rein arbeitsrechtlichen Betriebsübergang erreicht wird, steht zu dieser Auffassung nicht in Widerspruch.803 § 133 UmwG stellt demgemäß eine vorrangige Sonderregelung dar, die § 613a BGB verdrängt.
6.269
Für § 134 UmwG ist dies im Übrigen unumstritten. § 134 UmwG trifft eine Sonderregelung zur Haftungsverschärfung für bestimmte Arbeitnehmeransprüche im Fall der typischen Betriebsaufspaltung.804 Die Vorschrift soll den Gefahren der Verlagerung von haftendem Ver-
6.270
797 BGH v. 19.3.2009 – III ZR 106/08, MDR 2009, 635 = NZA 2009, 848; BAG v. 25.4.2006 – 3 AZR 50/05, NZA-RR 2007, 310. 798 BAG v. 10.8.1994 – 10 AZR 937/93, BB 1995, 521; krit. Neef, NZA-RR 1999, 225 (229). 799 BAG v. 16.4.2013 – 9 AZR 731/11, MDR 2013, 1289 = NZA 2013, 850; BAG v. 18.11.2004 – 6 AZR 651/03, NZA 2005, 516; vgl. auch BAG v. 26.2.2003 – 5 AZR 223/02, NZA 2003, 922. 800 Kallmeyer/Sickinger in Kallmeyer, § 133 UmwG Rz. 10; ebenso Boecken, Rz. 227. 801 Wie hier Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 217; anders Boecken, Rz. 227 ff. 802 Joost in Lutter, § 324 UmwG Rz. 81; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 307 m.w.N.; ErfK/ Preis, § 613a BGB Rz. 190. 803 Anders jedoch Boecken, Rz. 227 ff. 804 Vgl. dazu von Steinau-Steinrück, S. 15 (18 f.); Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 307; Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 219; Boecken, Rz. 254.
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Kap. 6 Rz. 6.271
Arbeitsrecht
mögen mit erschwertem Vollstreckungszugriff für die Gläubiger entgegenwirken.805 Es besteht eine Mithaftung der Anlagegesellschaft, wenn das Vermögen in Anlage- und Betriebsgesellschaft gespalten wird, die Anlagegesellschaft der Betriebsgesellschaft die betriebsnotwendigen Vermögensteile zur Nutzung überlässt und die Anteilsinhaber der beteiligten Rechtsträger im Wesentlichen identisch sind. Die Anlagegesellschaft haftet für Forderungen der Arbeitnehmer der Betriebsgesellschaft aufgrund der §§ 111 bis 113 BetrVG, also aus Sozialplänen gem. § 112 BetrVG oder auf Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG, soweit diese Forderungen innerhalb von fünf Jahren nach dem Wirksamwerden der Spaltung begründet werden.806 Erweitert wird diese Haftung nach § 134 Abs. 2 UmwG für Betriebsrentenansprüche, die vor dem Wirksamwerden der Spaltung begründet wurden. § 134 Abs. 3 UmwG enthält eine Regelung zur Nachhaftungsbegrenzung und verweist auf § 133 Abs. 3–5 UmwG. Danach haftet der Rechtsträger, dem Verbindlichkeiten im Spaltungs- und Übernahmevertrag nicht zugewiesen wurden, nach Eintragung der Spaltung weiter. § 134 Abs. 3 UmwG regelt für die Ansprüche aus den §§ 111–113 BetrVG und aus Betriebsrenten, dass die Gesellschaft zeitlich erweitert nachhaftet. Es ist ausreichend, dass die gem. § 134 Abs. 1 und 2 UmwG begründeten Verbindlichkeiten binnen fünf Jahren nach Wirksamwerden der Spaltung fällig und gerichtlich geltend gemacht werden. Diese Regelung will sicherstellen, dass dem besonderen Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer in den Fällen der Betriebsaufspaltung Rechnung getragen wird.807 b) §§ 22, 45 UmwG
6.271 Bei der Verschmelzung (§§ 2 ff. UmwG) gewährt § 22 UmwG den Gläubigern einen besonderen Schutz. Wenn sie glaubhaft machen können, dass die Verschmelzung die Erfüllung ihrer Forderungen gefährdet, können sie Sicherheitsleistung verlangen. Da bei der Verschmelzung der übertragende Rechtsträger erlischt (§ 20 Abs. 1 Nr. 2 UmwG), ist das Verhältnis zu § 613a BGB unproblematisch (§ 613a Abs. 3 BGB). Die Arbeitnehmer können unter denselben Voraussetzungen wie die übrigen Gläubiger Sicherheit verlangen. Sicherheitsleistungsfähig sind grundsätzlich auch gem. § 1 Abs. 1 BetrAVG unverfallbare Versorgungsanwartschaften.808 Allerdings ist § 22 Abs. 2 UmwG zu beachten. Danach steht das Recht, Sicherheitsleistung zu verlangen, den Gläubigern nicht zu, die im Falle der Insolvenz ein Recht auf vorzugsweise Befriedigung aus einer Deckungsmasse haben, die nach gesetzlicher Vorschrift zu ihrem Schutz errichtet und staatlich überwacht ist. Hierunter fallen Versorgungsansprüche und unverfallbare Versorgungsanwartschaften von Arbeitnehmern aus unmittelbaren Versorgungszusagen des Arbeitgebers, für die der Insolvenzschutz des Pensions-Sicherungs-Vereins nach § 7 BetrAVG gilt. In diesen Fällen greift § 22 Abs. 1 UmwG nicht ein.809
6.272 Eine solche Absicherung besteht jedoch nicht hinsichtlich des Anspruchs auf Versorgungsdynamik aus § 16 BetrAVG, da den Pensions-Sicherungs-Verein keine Anpassungspflicht trifft. Teilweise wird daher für § 16 BetrAVG ein Anspruch nach § 22 Abs. 1 UmwG bejaht.810 Da Grund und Höhe einer solchen Anpassung zu ungewiss sind, ist dies jedoch abzulehnen.811
805 806 807 808 809 810 811
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Schwab in Lutter, § 134 UmwG Rz. 11 ff. Bauer/Lingemann, NZA 1994, 1057 (1062). BT-Drucks. 12/7850, 143. Boecken, Rz. 215. Boecken, Rz. 219; vgl. BAG v. 30.7.1996 – 3 AZR 397/95, AG 1997, 268 = ZIP 1997, 289 (292). Boecken, Rz. 220. Wie hier Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 220.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.276 Kap. 6
Für den Fall der Verschmelzung einer Personengesellschaft auf eine Kapitalgesellschaft sind die Arbeitnehmer ebenso wie die übrigen Gläubiger zusätzlich durch § 45 UmwG geschützt, der eine fünfjährige Nachhaftung der ehemals persönlich haftenden Gesellschafter für Verbindlichkeiten der Personengesellschaft vorsieht.
6.273
3. Sonstige Haftungsfragen Soweit ein Arbeitnehmer einen Anspruch des bisherigen Arbeitgebers (z.B. auf Schadensersatz oder wegen ungerechtfertigter Bereicherung) gegenüber diesem erfüllt, obwohl die Gläubigerstellung inzwischen auf den neuen Arbeitgeber übergegangen ist, sind nach § 412 BGB die §§ 399–404, 406–410 BGB entsprechend anwendbar. Leistet deshalb der Arbeitnehmer in Unkenntnis des Betriebs(teil)übergangs, wird er gegenüber dem neuen Inhaber gem. § 407 Abs. 1 BGB frei. Im Übrigen kann der Arbeitnehmer als Schuldner gegenüber dem neuen Inhaber alle Einwendungen erheben, die zur Zeit des Übergangs schon gegenüber dem bisherigen Inhaber begründet waren (§ 404 BGB).
6.274
Folgende Haftungsregeln können daneben Bedeutung haben. Bei einer Geschäftsübernahme nach § 25 HGB haftet der Erwerber eines unter Lebenden erworbenen Handelsgeschäftes für alle im Betrieb des Geschäfts begründeten Verbindlichkeiten des früheren Inhabers, wenn das Geschäft wenigstens im Kern fortgeführt wird; zu den Verbindlichkeiten gehören hier auch Arbeitnehmeransprüche wie z.B. auf Vergütung und betriebliche Altersversorgung. Tritt jemand als persönlich haftender Gesellschafter oder als Kommanditist in das Geschäft eines Einzelkaufmanns ein, so haftet die Gesellschaft (also die neu gebildete OHG oder KG), auch wenn sie die frühere Firma nicht fortführt, für alle im Betrieb des Geschäfts entstandenen Verbindlichkeiten des früheren Geschäftsinhabers (§ 28 Abs. 1 Satz 1 HGB). Als spezielle Regelung geht § 28 Abs. 1 Satz 1 HGB gegenüber § 613a Abs. 2 Satz 1 BGB vor.812 Diese Haftungsregelung ist vor allem für die betriebliche Altersversorgung von Bedeutung. Wird nämlich das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers, der zuvor bei einem Einzelunternehmer beschäftigt war, von der KG oder OHG, in die das Einzelunternehmen eingebracht wurde, fortgesetzt, wird die Gesellschaft auch Schuldnerin der im Einzelunternehmen begründeten Versorgungsanwartschaften. Tritt dann ein Sicherungsfall bei der KG oder OHG (also dem neuen Arbeitgeber) ein, hat der Pensions-Sicherungs-Verein für Versorgungsanwartschaften und Versorgungsverbindlichkeiten dieser Arbeitnehmer einzustehen. Ansprüche der Arbeitnehmer gegen den insolvent gewordenen neuen Arbeitgeber (KG oder OHG) gehen nach Maßgabe des § 9 Abs. 2 BetrAVG auf den Pensions-Sicherungs-Verein über. Mit diesen Ansprüchen gegen die KG oder OHG gehen auch Ansprüche der Arbeitnehmer gegen den früheren Einzelunternehmer in entsprechender Anwendung von § 401 BGB auf den Pensions-Sicherungs-Verein über.813
6.275
Möglich sind auch rechtsgeschäftliche Schuld- und Vertragsübernahmen, die allerdings nur deklaratorische Bedeutung haben, soweit gleichzeitig die Voraussetzungen des § 613a BGB erfüllt sind.814 Vgl. im Übrigen zur steuerlichen Seite der „Nachhaftung“ des Veräußerers
6.276
812 BAG v. 29.1.1991 – 3 AZR 593/89, MDR 1991, 774 = NZA 1991, 555; Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 168; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 143. 813 BAG v. 29.1.1991 – 3 AZR 593/89, MDR 1991, 774 = NZA 1991, 555. 814 Vgl. BAG v. 19.10.1977 – 5 AZR 293/76, AP Nr. 9 zu § 613a BGB; Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 169.
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Kap. 6 Rz. 6.277
Arbeitsrecht
im Rahmen der Geschäftsübertragung nach §§ 25, 26 HGB sowie zur Haftung des Übernehmers bei Einzelrechtsnachfolge nach § 25 HGB, die Norm des § 75 AO.815
6.277 Schließlich darf neben den zivilrechtlichen Haftungstatbeständen (§ 613a BGB, §§ 25, 28 HGB) die öffentlich-rechtliche Haftung des Erwerbers eines Betriebs nach § 75 AO nicht übersehen werden. Danach haftet der Übernehmer eines Betriebs oder gesondert geführten Betriebsteils für Betriebssteuern und Steuerabzugsbeträge (vgl. Kapitel 5).
X. § 613a BGB in der Insolvenz 1. Anwendbarkeit von § 613a BGB
6.278 § 613a BGB ist in der Insolvenz anwendbar.816 Uneingeschränkt gilt dies für die Bestandsschutzfunktion der Arbeitsplätze und die Kontinuität des Betriebsrats,817 während die von § 613a BGB vorgesehene Haftungsverteilung keine Anwendung findet. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG818 haftet der Erwerber nicht für Ansprüche, die bei Insolvenzeröffnung bereits entstanden waren. Insoweit haben die insolvenzrechtlichen Verteilungsgrundsätze Vorrang,819 da der insolvenzrechtliche Grundsatz der gleichen Gläubigerbefriedigung andernfalls durchbrochen würde. Der Erwerber würde die uneingeschränkte Haftung für Altverbindlichkeiten (gemäß § 613a Abs. 2 BGB) über den Kaufpreis ausgleichen und damit zugunsten der Arbeitnehmer, aber zulasten der übrigen Gläubiger die Masse schmälern.820 Entscheidend ist daher die Unterscheidung zwischen Masseforderungen, auf die die Haftung des Betriebserwerbers in der Insolvenz beschränkt ist821 und Ansprüchen, die dem insolvenzrechtlichen Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung unterliegen, und für die der Erwerber nicht haftet.822 Der Ausschluss der Erwerberhaftung für vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstandene Ansprüche hat größte Bedeutung für die Verbindlichkeiten aus der betrieblichen Altersversorgung (dazu sogleich Rz. 6.285 ff.). Die Erwerberhaftung ist jedoch nur begrenzt, sofern der Betriebsübergang nach Eröffnung des Insolvenzver-
815 Commandeur, Rz. 187 ff., 232 ff., 258 ff. 816 BAG v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81 und 17.1.1980 – 3 AZR 360/79, AP Nr. 34, 18 zu § 613a BGB. Bis zum 31.12.1998 war § 613a BGB allerdings nicht auf einen Betriebs(teil)übergang im Gesamtvollstreckungsverfahren aufgrund Art. 232 § 5 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB anzuwenden; das galt auch für Betriebs(teil)übergänge im Gesamtvollstreckungsverfahren, die sich außerhalb der neuen Bundesländer vollzogen, dazu BAG v. 19.10.2000 – 8 AZR 42/00, NZA 2001, 252. 817 BAG v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203; BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06, DB 2008, 989. 818 Seit BAG v. 17.1.1980, AP Nr. 18 zu § 613a BGB. 819 Zur InsO: BAG v 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203; BAG v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, MDR 2009, 574 = NZA 2009, 432; BAG v. 19.12.2006 – 9 AZR 230/06, BB 2007, 1281; BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 215/06, MDR 2007, 553 = NZA 2007, 335; BAG v. 20.6.2002 – 8 AZR 459/01, NZA 2003, 318. 820 Vgl. BAG v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, MDR 2009, 574 = NZA 2009, 432; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 316; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 146; Franzen, RdA 1999, 361. 821 Zuletzt nochmals ausdrücklich BAG v. 14.11.2012 – 5 AZR 778/11, BeckRS 2013, 67325; BAG v. 22.10.2009 – 8 AZR 766/08, NZA-RR 2010, 660; BAG v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, MDR 2009, 574 = NZA 2009, 432; BAG v. 19.12.2006 – 9 AZR 230/06, BB 2007, 1281 (1282), vgl. auch Schrader/Straube, VIII. Rz. 24 ff.; Düwell/Pulz, NZA 2008, 786; s.a. BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 406/11, NZA 2013, 743. 822 BAG v. 19.5.2005 – 3 AZR 649/03, BB 2006, 943 (945).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.280 Kap. 6
fahrens stattfindet.823 Bei einem Erwerb vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens haftet der Erwerber für sämtliche bisher entstandenen Ansprüche.824 Steht die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens bevor, kommt der Vertragsverhandlung hinsichtlich des Zeitpunkts des Betriebsübergangs entscheidende Bedeutung zu.825 Der Umstand, dass alle für den Betriebs(teil)übergang erforderlichen Rechtsgeschäfte bereits vor Insolvenzeröffnung abschließend verhandelt waren, kann jedoch ein Indiz für die Übertragung der tatsächlichen Leitungsmacht und damit für den Betriebs(teil)übergang sein.826 Die bei einem Betriebs(teil)übergang nach Insolvenzeröffnung eingetretene Haftungsbeschränkung entfällt durch eine spätere Einstellung des Insolvenzverfahrens mangels Insolvenzmasse (§ 207 Abs. 1 InsO) nicht.827 Das gilt allerdings nicht, wenn die Eröffnung des Insolvenzverfahrens von vornherein mangels Masse abgelehnt wurde.828 Diese zu individualrechtlichen Forderungen der Arbeitnehmer aufgestellten Rechtssätze gelten nach Auffassung des BAG829 gleichermaßen für kollektivrechtliche Forderungen des Betriebsrats bzw. der Betriebsratsmitglieder gem. § 40 Abs. 1 BetrVG, zuletzt entschieden für Honoraransprüche, die durch die Hinzuziehung eines Beraters nach § 111 Abs. 1 Satz 2 BetrVG oder eines Sachverständigen nach § 80 Abs. 3 BetrVG entstanden sind. Dem Betriebsrat kann bei Forderungen nach § 40 Abs. 1 BetrVG keine bessere Stellung als anderen Insolvenzgläubigern zukommen.
6.279
2. Behandlung der Arbeitnehmeransprüche a) Vergütung Bei Vergütungsbestandteilen, die zusätzlich zum monatlichen Gehalt gezahlt werden, wie Weihnachtsgeld, Gratifikationen, Tantiemen etc. ist zu unterscheiden: Vergütungsbestandteile mit Entgeltcharakter, die erst nach Insolvenzeröffnung fällig werden, aber sowohl zuvor als auch danach zeitanteilig verdient worden sind, müssen für den Zeitraum bis zur Insolvenzeröffnung zur Insolvenztabelle angemeldet und für die Zeiträume danach als Masseverbindlichkeiten nach § 55 InsO gegen den Erwerber gerichtet werden. Knüpft der Anspruch dagegen lediglich an einen bestimmten Stichtag an und liegt dieser nach Insolvenzeröffnung, haftet der Erwerber hierfür in vollem Umfang.830 Zur Verdeutlichung soll folgendes Beispiel dienen: Über die A-GmbH wird am 31.10. des Jahres das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Insolvenzverwalter veräußert die A-GmbH am 30.11. des Jahres an den Erwerber B-AG. Den Arbeitnehmern der A-GmbH wird ein zusätzliches Urlaubsgeld gewährt, welches mit jedem Monat Betriebszugehörigkeit
823 BAG v. 19.5.2005 – 3 AZR 649/03, BB 2006, 943; Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 180. 824 BAG v. 20.6.2002 – 8 AZR 459/01, NZA 2003, 318 (323); BAG v. 15.11.1978 – 5 AZR 199/77, EzA § 613a BGB Nr. 21. 825 Darauf weist Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, G Rz. 152 zu Recht hin. 826 Vgl. BAG v. 26.3.1996 – 3 AZR 965/94, NZA 1997, 94. 827 BAG v. 11.2.1992 – 3 AZR 117/91, NZA 1993, 20; Hamacher in Nerlich/Römermann, § 128 InsO Rz. 57. 828 Vgl. BAG v. 20.11.1984 – 3 AZR 584/83, AP Nr. 38 zu § 613a BGB. 829 BAG v. 9.12.2009 – 7 ABR 90/07, MDR 2010, 659 = NZA 2010, 461; BAG v. 13.7.1994 – 7 ABR 50/93, MDR 1995, 73 = NZA 1994, 1144. 830 BAG v. 11.10.1995 – 10 AZR 984/94, MDR 1996, 392 = NZA 1996, 432; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 347; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 147; Lembke, BB 2007, 1333 (1335).
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6.280
Kap. 6 Rz. 6.281
Arbeitsrecht
anteilig entsteht und am 31.12. jeden Jahres fällig wird. Wie haften Veräußerer und Erwerber für diese Ansprüche?
01.01.
31.10.
30.11.
Eröffnung Insolvenzverfahren
Betriebsübergang
Veräußerer-GmbH: Haftung auf 10/12 der Ansprüche; Geltendmachung als Insolvenzforderung. AN sollten Insolvenzgeld beantragen, um Nachteile zu vermeiden.
31.12.
Erwerber-AG: Haftung auf 2/12 der Ansprüche (Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung entscheidend); Geltendmachung als Masseverbindlichkeit.
Abb. 2: Haftung innerhalb der Insolvenz
6.281 Für rückständige Entgeltansprüche bis Eröffnung des Insolvenzverfahrens haftet der Erwerber nach der Rechtsprechung des BAG nicht. Diese Ansprüche sind normale Insolvenzforderungen (§§ 38, 108 Abs. 2 InsO). Die Arbeitnehmer sind allerdings für die letzten, der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorausgehenden, drei Monate des Arbeitsverhältnisses durch das Insolvenzgeld (§§ 165 ff. SGB III) abgesichert (vgl. Rz. 6.304 ff.).
6.282 Urlaubsansprüche aus dem Arbeitsverhältnis werden nach § 108 Abs. 3 InsO nur dann Insolvenzforderungen, wenn es sich um solche „für“ die Zeit vor Eröffnung handelt. Noch nicht festgelegte Ansprüche können wegen ihrer Unbestimmtheit daher nicht auf einen fixen Zeitpunkt vor oder nach der Eröffnung der Insolvenz bestimmt werden.831 Nicht erfüllte Urlaubsansprüche sind daher nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO als Masseforderung uneingeschränkt zu erfüllen; vgl. zum diesbezüglichen Ausgleich zwischen Erwerber und Veräußerer Rz. 6.265. Der Erwerber muss den gesamten Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers durch Freistellung gewähren, auch wenn dieser im Wesentlichen beim früheren Arbeitgeber erdient worden ist.832 Der Urlaubsabgeltungsanspruch ist ein Anspruch, der dem Arbeitnehmer wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zusteht, wenn der erarbeitete Anspruch auf bezahlten Urlaub nicht mehr verwirklicht werden kann. Der Anspruch entsteht nicht nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens und auch nicht mit dem Betriebsübergang,833 sondern erst mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Das Entstehen erst mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat zur Konsequenz, dass es sich um keine Insolvenzforderung, sondern um eine Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 InsO handelt.834 Endet das Arbeitsverhältnis nach Betriebsübergang mit dem Erwerber, scheidet damit ein (auch nur anteiliger) Abgeltungsanspruch gegen 831 BAG v. 21.11.2006 – 9 AZR 97/06, NZA 2007, 696; BAG v. 15.2.2005 – 9 AZR 78/04, NZA 2005, 1124; BAG v. 25.3.2003 – 9 AZR 174/02, MDR 2003, 1379 = BB 2003, 2404; BAG v. 18.11.2003 – 9 AZR 347/03, MDR 2004, 964 = DB 2004, 1269; BAG v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03, NZA 2004, 651; Düwell/Pulz, NZA 2008, 786. 832 Vgl. BSG v. 14.3.1989 – 10 RAr 6/87, KTS 1989, 704. 833 BAG v. 2.12.1999 – 8 AZR 774/98, NZA 2000, 480. 834 BAG v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03, NZA 2004, 651; BAG v. 25.3.2003 – 9 AZR 174/02, MDR 2003, 1379 = BB 2003, 2404 m. Anm. Hess.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.284 Kap. 6
den Veräußerer aus, da dieser erst dann entsteht und § 613 Abs. 2 BGB nicht greift.835 Nach § 166 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI steht dem Arbeitnehmer kein Anspruch auf Insolvenzgeld für Ansprüche auf Arbeitsentgelt zu, die er wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder für die Zeit danach hat. Deshalb ist der Urlaubsabgeltungsanspruch auch nicht insolvenzgeldfähig.836 Nimmt der Insolvenzverwalter eine angebotene Arbeitsleistung des Arbeitnehmers nicht an, haftet der Erwerber nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB allerdings für die Ansprüche dieses Arbeitnehmers aus Annahmeverzug auch für den Zeitraum vor Betriebs(teil)übergang.837
6.283
b) Sozialplanansprüche Verbindlichkeiten aus einem nach Insolvenzeröffnung geschlossenen Sozialplan sind gem. 6.284 § 123 Abs. 2 Satz 1 InsO Masseverbindlichkeiten, und somit rangmäßig vor den Insolvenzforderungen, § 38 InsO, zu befriedigen.838 Die absolute Obergrenze der Abfindungen für die entlassenen Mitarbeiter beträgt hierbei 2,5 Monatsverdienste im Einzelfall (§ 123 Abs. 1 InsO) und insgesamt höchstens 1/3 der verteilungsfähigen Masse (§ 123 Abs. 2 Satz 2 und 3 InsO, relative Obergrenze). Verbindlichkeiten aus einem frühestens drei Monate vor dem Eröffnungsantrag aufgestellten Sozialplan (insolvenznaher Sozialplan) sind dagegen Insolvenzforderungen gem. § 38 InsO. Von dieser Grundregel kennt die InsO nur eine Ausnahme: Verbindlichkeiten in Sozialplänen, die ein vorläufiger, „starker“ Insolvenzverwalter mit Verfügungsbefugnis nach §§ 21 Abs. 2 Nr. 2, 22 InsO vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens abschließt, sind Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 2 InsO.839 Diese Ausnahme ist gerechtfertigt, weil die Rechtsposition des vorläufigen „starken“ Insolvenzverwalters der des Insolvenzverwalters nach Eröffnung gleicht. An Stelle des früheren gleichen Insolvenzranges840 von insolvenznahen Sozialplänen und nach Insolvenzeröffnung geschlossenen Sozialplänen hat der Gesetzgeber in § 124 Abs. 1 InsO eine Widerrufsmöglichkeit von Betriebsrat und Insolvenzverwalter für insolvenznahe Sozialpläne festgelegt. Widerruft einer von beiden, können die Arbeitnehmer, denen Forderungen aus dem widerrufenen Sozialplan zustanden, bei der Aufstellung eines Sozialplans im Insolvenzverfahren berücksichtigt werden. Der widerrufende Betriebsrat kann auf diese Weise Masseverbindlichkeiten begründen, was ratsam ist, wenn die Leistungen aus dem Sozialplan zum großen Teil noch nicht geleistet worden sind.841 Der Insolvenzverwalter kann widerrufen, wenn in massestarken Verfahren Ansprüche aus dem insolvenznahen Sozialplan die Grenzen von § 123 Abs. 1 und 2 InsO über-
835 Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 179. 836 BSG v. 20.2.2002 – B 11 Al 71/01 R, AP SGB III § 184 Nr. 1; a.A. Peters-Lange in Gagel, SGB II/ III, § 165 SGB III Rz. 114. 837 BAG v. 4.12.1986 – 2 AZR 246/86, MDR 1987, 522 = NZA 87, 460. Dies gilt ebenso für beim Direkterwerb vom Veräußerer ohne Insolvenz: BAG v. 21.3.1991 – 2 AZR 577/90, AP Nr. 49 zu § 615 BGB. 838 Auf eine einseitige Sozialzusage des Arbeitgebers oder Insolvenzverwalters ohne Beteiligung des Betriebsrates findet § 123 InsO keine Anwendung: BAG v. 21.9.1999 – 9 AZR 912/98, NZA 2000, 662. 839 BAG v. 31.7.2002 – 10 AZR 275/01, MDR 2003, 175 = NZA 2002, 1332; LAG Köln v. 2.3.2001 – 12 Sa 1467/00, ZIP 2001, 1070 (1071); Hamacher in Nerlich/Römermann, § 124 InsO Rz. 23; Caspers in MünchKomm/InsO, § 124 InsO Rz. 9; Zwanziger, BB 2003, 630. 840 Vgl. BAG v. 15.1.2002 – 1 AZR 58/01, MDR 2002, 1271 = NZA 2002, 1034. 841 Hamacher in Nerlich/Römermann, § 123 InsO Rz. 37, § 124 InsO Rz. 11, 17.
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Kap. 6 Rz. 6.285
Arbeitsrecht
schreiten.842 Betriebsübernahmen im Insolvenzverfahren führen nach alledem grundsätzlich nicht zu einer Haftung des Erwerbers für Forderungen aus insolvenznahen oder verfahrensimmanenten Sozialplänen. c) Betriebliche Altersversorgung
6.285 Besondere wirtschaftliche Bedeutung hat die Haftungsbeschränkung des Erwerbers für Ansprüche aus betrieblicher Altersversorgung.
6.286 aa) Bei Erwerb eines Betriebs oder Betriebsteils nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens tritt der Erwerber in die Versorgungsanwartschaften der übernommenen Belegschaft ein; im Versorgungsfall schuldet er nicht die volle Betriebsrente, sondern nur den bei ihm seit Betriebsübergang zeitanteilig erdienten Teil.843 Nicht erheblich für die Haftung des Betriebserwerbers ist hierbei, ob es sich um verfallbare oder unverfallbare Anwartschaften handelt.844
6.287 bb) War die übernommene Versorgungsanwartschaft schon bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens unverfallbar, haftet der Pensions-Sicherungs-Verein als Träger der Insolvenzsicherung für den bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens erdienten Teil zeitanteilig (§ 7 Abs. 2 BetrAVG).845 Der Pensions-Sicherungs-Verein ist für eine unverfallbare Anwartschaft auch dann einstandspflichtig, wenn Veräußerer und Erwerber den Betriebs(teil)übergang bewusst bis nach Insolvenzeröffnung hinauszögern.846 Voraussetzung dafür ist, dass der Sicherungsfall nach § 7 Abs. 1 BetrAVG beim letzten Arbeitgeber des Versorgungsberechtigten eingetreten ist.
6.288 cc) War die übernommene Versorgungsanwartschaft bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens dagegen noch nicht unverfallbar, müssen die Arbeitnehmer die bis zum Betriebs(teil)übergang erdienten Ansprüche als Insolvenzforderung geltend machen.847 Die Beschränkung der Haftung des Erwerbers für die Ansprüche vor Insolvenzeröffnung gilt auch in diesem Fall.
6.289 dd) Findet ein Betriebsübergang während des Insolvenzverfahrens statt, gilt: Unabhängig von der Verfallbarkeit, handelt es sich bei zwischen Insolvenzeröffnung und Betriebsübergang verdienten Versorgungsansprüchen um Masseverbindlichkeiten aus einem Dauerschuldverhältnis gem. § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO. Für diesen Teilanspruch sieht das BetrAVG ein eigenständiges Abfindungsrecht vor (§ 3 Abs. 4 BetrAVG), dem § 613a BGB nicht entgegen steht. Der Insolvenzverwalter ist für die während des Insolvenzverfahrens erworbenen Anwartschaften derjenigen haftbar, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, aber vor dem Betriebsübergang ausgeschieden sind, oder die von einem Betriebsübergang nicht erfasst werden oder einem Betriebsübergang widersprochen haben. Der Betriebserwerber haftet hinsichtlich der übergegangenen Arbeitnehmer nicht nur für die Anwartschaften, die in der Zeit nach dem Be842 BAG v. 31.7.2002 – 10 AZR 275/01, MDR 2003, 175 = ZIP 2002, 2051 (2052); Caspers in MünchKomm/InsO, § 124 InsO Rz. 8; dazu kritisch Häsemeyer, ZIP 2003, 229 ff. 843 Vgl. BAG v. 22.12.2009 – 3 AZR 814/07, MDR 2010, 819 = NZA 2010, 568; BAG v. 19.5.2005 – 3 AZR 649/03, BB 2006, 943 (946); Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 181. 844 BAG v. 22.12.2009 – 3 AZR 814/07, MDR 2010, 819 = NZA 2010, 568; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 169. 845 Vgl. BAG v. 16.2.1993 – 3 AZR 347/92, NZA 1993, 643; ErfK/Steinmeyer, § 7 BetrAVG Rz. 43 ff.; Hambach, NZA 2000, 291 ff. 846 Vgl. Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 325. 847 Schnitker in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, J Rz. 510; Hamacher in Nerlich/Römermann, § 128 InsO Rz. 61.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.294 Kap. 6
triebsübergang entstehen, sondern auch für Anwartschaften, die vom Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bis zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs entstanden sind.848 ee) Der Erwerber haftet für die Versorgungsanwartschaften der übernommenen Belegschaft unbeschränkt, wenn der bisherige Arbeitgeber im Zeitpunkt des Betriebs(teil)übergangs zahlungsunfähig war und das Insolvenzverfahren mangels Masse nicht eröffnet werden kann.849 Der Erwerber haftet in gleicher Weise unbeschränkt, sofern der Betriebsübergang vor Insolvenzeröffnung stattgefunden hat.
6.290
Die durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingetretene Haftungsbeschränkung des Erwerbers wird dagegen durch die spätere Einstellung des Insolvenzverfahrens mangels Masse (§ 207 InsO) nicht berührt.850
6.291
Einstweilen frei.
6.292
3. Kündigungen Die kündigungsrechtlichen Vorschriften des § 613a BGB gelten auch für den Insolvenzverwalter, vgl. § 128 Abs. 2 InsO. Eine Kündigung wegen Betriebsübergangs darf auch er nicht aussprechen, denn die Insolvenz stellt keinen „anderen Grund“ i.S.v. § 613a Abs. 4 Satz 2 BGB dar.851 Für Kündigungen im Insolvenzverfahren gilt für beide Seiten gem. § 113 Abs. 1 InsO eine Kündigungsfrist von drei Monaten zum Monatsende, sofern keine kürzere Frist maßgeblich ist. Die Dreimonatsfrist nach § 113 Abs. 1 InsO gilt als lex specialis auch dann, wenn Dienstverträge, Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträge eine längere Kündigungsfrist vorsehen.852 Dies gilt auch bei tariflicher Alterssicherung.853 Tariflich oder betriebsvertragsrechtlich unkündbare Arbeitsverhältnisse werden im Insolvenzverfahren durch § 113 InsO ordentlich kündbar,854 auch bei Kündigungsausschluss in einem tariflichen Standortsicherungsvertrag.855 Diese Regelung findet auch auf Insolvenzverfahren mit Eigenverwaltung (§ 270 Abs. 1 Satz 2 InsO) Anwendung.856 Kündigt der Insolvenzschuldner bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens (ggf. mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters) mit einer längeren Kündigungsfrist, ist die erneute Kündigung mit verkürzter Frist keine unzulässige „Nachkündigung“.857
6.293
Gegen eine Kündigung des Insolvenzverwalters muss der Arbeitnehmer gem. § 4 Satz 1 KSchG innerhalb von drei Wochen Klage erheben, vgl. §§ 13 Abs. 3, 23 Abs. 1 KSchG. Der
6.294
848 849 850 851 852 853 854 855 856 857
BAG v. 22.12.2009 – 3 AZR 814/07, MDR 2010, 819 = NZA 2010, 568. BAG v. 20.11.1984 – 3 AZR 584/83, NZA 1985, 393; Rolfs, NZA-Beil. 4/2008, 164. BAG v. 11.2.1992 – 3 AZR 117/91, NZA 1993, 20. BAG v. 26.7.2007 – 8 AZR 769/06, NZA 2008, 112. BAG v. 16.6.1999 – 4 AZR 191/98, NZA 1999, 1331; ErfK/Müller-Glöge, § 113 Inso Rz. 1; Hamacher in Nerlich/Römermann, § 113 InsO Rz. 90 ff. Vgl. BAG v. 19.1.2000 – 4 AZR 70/99, NZA 2000, 658. Kritisch hierzu beispielsweise Caspers in MünchKomm/InsO, § 113 InsO Rz. 27. BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387; BAG v. 22.9.2005 – 6 AZR 526/04, MDR 2006, 936 = NZA 2006, 658. BAG v. 17.11.2005 – 6 AZR 107/05, NZA 2005, 661. BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, NZA 2011, 1108. BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 948/08, MDR 2011, 52 = NZA 2010, 1057; BAG v. 26.7.2007 – 8 AZR 769/06, NZA 2008, 112; BAG v. 22.5.2003 – 2 AZR 255/02, MDR 2004, 37 = NZA 2003, 1086; LAG Hamm v. 7.2.2001 – 2 Sa 200/00, ZInsO 2001, 678.
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Kap. 6 Rz. 6.295
Arbeitsrecht
Insolvenzverwalter führt eine gegen den Insolvenzschuldner angestrengte Kündigungsschutzklage wegen einer Kündigung vor dem Eintritt des Insolvenzfalls in der Stellung als Arbeitgeber i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 3 ArbGG fort;858 nach Eröffnung des Insovenzverfahrens ist eine Kündigungsschutzklage gegen ihn in seiner Eigenschaft als Partei kraft Amtes zu erheben;859 dies gilt nicht, wenn der Insolvenzschuldner eine selbständige Tätigkeit ausübt und der Insolvenzverwalter das Vermögen aus dieser Tätigkeit gem. § 35 Abs. 2 InsO aus der Insolvenzmasse freigegeben hat.860 4. Insolvenzeröffnungsverfahren
6.295 An den Grundsätzen der Haftungsbeschränkung eines Erwerbers in der Insolvenz861 hält das BAG auch unter der Geltung der Insolvenzordnung fest. Danach ist die Haftung eines Erwerbers gem. § 613a BGB nicht beschränkt, wenn er den Betrieb vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§§ 21 ff. InsO) übernommen hat.862 Eine Erstreckung des für den Erwerb im Insolvenzeröffnungsverfahren richterrechtlich entwickelten Haftungsprivilegs (teleologische Reduktion des § 613a BGB bei dem Erwerb eines Betriebs aus dem eröffneten Insolvenzverfahren) kommt nicht in Betracht. Dem vorläufigen Insolvenzverwalter ist keine dem (endgültigen) Insolvenzverwalter entsprechende Funktion beizumessen.863 § 613a BGB gilt bei Betriebsübergang im Insolvenzeröffnungsverfahren damit uneingeschränkt. Dagegen soll nach Auffassung des BFH die Haftung des Erwerbers für rückständige Steuerschulden des Veräußerers aus § 75 Abs. 2 AO im Insolvenzeröffnungsverfahren ausgeschlossen sein.864 5. Insolvenzplanverfahren
6.296 Das Insolvenzplanverfahren (§§ 217 ff. InsO) eröffnet für die Beteiligten die Möglichkeit, eine von den Vorschriften der InsO weitgehend abweichende Lösung zur Bewältigung der Insolvenz zu erarbeiten.865 Nach Auffassung des BAG gilt § 613a BGB hier nur beschränkt.866 Endet das Insolvenzverfahren mit einem von den Gläubigern akzeptierten und gerichtlich bestätigten Insolvenzplan, haftet der Erwerber nur für die ab Insolvenzeröffnung entstehenden Ansprüche der Arbeitnehmer.867
858 Vgl. GmS-OGB v. 27.9.2010 – GmS-OGB 1/09, BGHZ 187, 105. 859 BAG v. 18.10.2012 – 6 AZR 41/11, NZA 2013, 1007; BAG v. 21.9.2006 – 2 AZR 573/05, NJW 2007, 458. 860 BAG v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, MDR 2014, 354 = NZI 2014, 324 m. Anm. Feußner und w.N.; BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, MDR 2013, 727 = NZA 2013, 797 zur internationalen Zuständigkeit von Kündigungsschutzklagen im Insolvenzfall. 861 BAG v. 11.10.1995 – 10 AZR 984/94, MDR 1996, 392 = NZA 1996, 432. 862 BAG v. 20.6.2002 – 8 AZR 459/01, NZI 2003, 222 und dazu ausführlich Menke, NZI 2003, 522; Ott/Vuia in MünchKomm/InsO, § 80 InsO Rz. 55. 863 S. für den vorläufigen Insolvenzverwalter im Kündigungsschutzprozess C. Meyer, NZA 2014, 642. 864 BFH v. 23.7.1998 – VII R 143/97, ZIP 1998, 1845 (1846); vgl. dazu Lohkemper, ZIP 1999, 1251 ff. 865 Vgl. dazu Brockdorff in Huntemann/Brockdorff, Kap. 13 Rz. 1 ff. 866 So zur Vergleichsordnung BAG v. 4.7.1989 – 3 AZR 756/87, NZA 1990, 188; Althaus in Nerlich/ Kreplin, Münchener Handbuch Insolvenz und Sanierung, § 19 Rz. 246. 867 Vgl. dazu Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 322.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.297 Kap. 6
6. Erleichterte Sanierungsmöglichkeiten in der Insolvenz a) Regelungen der InsO Befindet sich ein Unternehmen in Insolvenz, bleiben dem Insolvenzverwalter häufig nur zwei Alternativen: Die Betriebsänderung (§ 111 BetrVG) oder Veräußerung des Unternehmens. Die Betriebsänderung regeln §§ 125–127 InsO. Sie gelten ab Insolvenzeröffnung und nicht bereits im Insolvenzeröffnungsverfahren868 und sollen Sanierungen insolventer Unternehmen erleichtern, Rationalisierungsmaßnahmen zügig ermöglichen und Massenentlassungen beschleunigen; dies durch eine modifizierte Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes in der Insolvenz.869 § 125 InsO geht als speziellere Norm dem § 1 Abs. 5 KSchG vor.870 Im Gegensatz zu § 1 Abs. 5 KschG reicht es für § 125 InsO aus, dass die Betriebsänderung geplant ist. Eine Kündigung „auf Vorrat“ ohne endgültige Stilllegungsabsicht ist jedoch nicht möglich.871 Kommt gem. § 125 InsO zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat mit Blick auf eine geplante Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG872 ein Interessenausgleich mit Namensliste i.S.v. § 112 Abs. 1 BetrVG zustande (in dem die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, namentlich bezeichnet sind), wird vermutet, dass die betriebsbedingten Beendigungs- und Änderungskündigungen durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung in diesem Betrieb oder Unternehmen873 oder einer Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen entgegenstehen, bedingt ist.874 Der Insolvenzverwalter muss die Betriebsänderung und die Existenz des Interessenausgleichs nebst Namensliste nach einer gestuften Darlegungslast darlegen und ggf. beweisen; dann wird widerleglich (§ 292 Satz 1 ZPO) vermutet, dass ein dringendes betriebliches Erfordernis besteht und eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit fehlt.875 Darüber hinaus kann die soziale Auswahl der Arbeitnehmer nur im Hinblick auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhalts-
868 In diesem Fall ist aber § 1 Abs. 5 KSchG anwendbar: BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, MDR 2012, 1296 = NZA 2012, 1029; ErfK/Gallner, § 125 InsO Rz. 1; Mückl/Krings, ZIP 2012, 106 (108). 869 BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, MDR 2013, 102 = NZA 2013, 32; BAG v. 18.1.2012 – 6 AZR 407/10, MDR 2012, 780 = NZA 2012, 817; BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, NZA 2011, 1108; BAG v. 28.8.2003 – 2 AZR 368/02, NZA 2004, 432; Caspers in MünchKomm/InsO, § 125 InsO Rz. 1. 870 BAG v. 15.12.2011 – 8 AZR 692/10, ZInsO 2012, 1851; Janzen, AuR 2013, 203 (205). 871 LAG Köln v. 15.4.2010 – 13 Sa 983/09, BeckRS 2010, 72973; LAG Hamm v. 19.9.2007 – 2 Sa 1844/06, BeckRS 2008, 50917. 872 Auf Vorgänge außerhalb einer Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG findet § 125 InsO keine Anwendung: BAG v. 26.4.2007 – 8 AZR 612/06, NZA 2007, 1319; ErfK/Gallner, § 125 InsO Rz. 3. 873 BAG v. 27.9.2012 – 2 AZR 516/11, MDR 2013, 664 = NZA 2013, 559; BAG v. 6.9.2007 – 2 AZR 715/06, MDR 2008, 633 = zu § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG; ErfK/Gallner, § 125 InsO Rz. 7; a.A. Hamacher in Nerlich/Römermann, § 125 InsO Rz. 40 f. 874 BAG zu § 1 KSchG, dessen Rechtsprechung auf § 125 InsO übertragen werden kann, v. 19.6.2007 – 2 AZR 304/06, MDR 2008, 155 = NZA 2008, 103; Andres in Andres/Leithaus, InsO, § 125 InsO Rz. 11; Hamacher in Nerlich/Römermann, § 125 InsO Rz. 23; ErfK/Gallner, § 125 InsO Rz. 1. 875 BAG v. 13.7.2006 – 6 AZR 198/06, NZA 2007, 25; BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93. Zu § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG: BAG v. 27.9.2012 – 2 AZR 516/11, MDR 2013, 664 = NZA 2013, 559. Zum Einsatz von Leiharbeitnehmern in einem Interessenausgleich mit Namensliste in der Insolvenz: BAG v. 18.10.2012 – 6 AZR 289/11, NZA-RR 2013, 68. Unzulässige Leistungsverdichtung: BAG v. 12.3.2009 – 2 AZR 418/07, NZA 2009, 1023.
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Kap. 6 Rz. 6.298
Arbeitsrecht
pflichten und auch insoweit nur auf grobe Fehlerhaftigkeit nachgeprüft werden;876 sie ist nicht als grob fehlerhaft anzusehen, wenn eine ausgewogene Personalstruktur erhalten oder geschaffen wird (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO). § 125 InsO entbindet nicht von der Informationspflicht gem. § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, die Unterrichtung kann unter bestimmten Umständen allerdings mit den Verhandlungen über den Interessenausgleich verbunden werden.877 Der Interessenausgleich mit Namensliste bringt zum Ausdruck, dass der Insolvenzverwalter gleichzeitig das Anhörungsverfahren für die darin aufgeführten Arbeitnehmer eingeleitet und der Betriebsrat über alle Kündigungen eine abschließende Stellungnahme nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG abgegeben hat.878 Ein allein vom Betriebsrat unterzeichneter Interessenausgleich mit oder ohne Namensliste oder eine integrierte Stellungnahme reichen hierbei aus.879 Die Einigung mit dem zuständigen Gesamtbetriebsrat kann die Stellungnahme des örtlichen Betriebsrats ersetzen.880 Soll der Interessenausgleich gleichzeitig sowohl den Anforderungen des § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG als auch § 17 Abs. 2 KSchG genügen, ist sorgfältig auf den gesetzlich vorgeschriebenen Inhalt zu achten.
6.298 In § 126 InsO ist ein beschleunigtes Beschlussverfahren geregelt, welches der Insolvenzverwalter, bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen, beim AG einleiten kann.881 Kündigt der Insolvenzverwalter einem Arbeitnehmer, der in dem Antrag nach § 126 Abs. 1 InsO bezeichnet ist, und erhebt der Arbeitnehmer Klage auf Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst oder die Änderung der Arbeitsbedingungen sozial ungerechtfertigt ist, so ist die rechtskräftige Entscheidung im Verfahren nach § 126 InsO für die Parteien bindend (§ 127 Abs. 1 Satz 1 InsO). Der Insolvenzverwalter kann so die Wirksamkeit seiner Kündigungen vorab verbindlich vom Gericht prüfen lassen.
6.299 Der Insolvenzverwalter muss in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern den Betriebsrat über eine (beabsichtigte) Betriebsstilllegung unterrichten und mit ihm versuchen, einen Interessenausgleich herbeizuführen. Unterlässt er dies, haben die Arbeitnehmer nach § 113 Abs. 3 BetrVG einen Anspruch auf Nachteilsausgleich.882 Er ist keine Masseverbindlichkeit, sondern als Insolvenzforderung zur Tabelle anzumelden.883
6.300 Neben der Betriebsänderung versuchen Insolvenzverwalter häufig, die wirtschaftliche Abwärtsspirale durch eine übertragende (Teil)Sanierung, also den zeitnahen und möglichst teuren Verkauf des betrieblichen Anlagenvermögens an einen neuen Unternehmensträger, abzufangen. Potentielle Erwerbsinteressenten werden allerdings durch die Rechtsfolgen des 876 BAG v. 21.1.1999 – 2 AZR 624/98, NZA 1999, 866; Dörner/Künzl in APS, § 125 InsO Rz. 19; LAG Düsseldorf v. 23.1.2003 – 11 (12) Sa 1057/02, ZIP 2003, 817 (822). 877 BAG v. 28.8.2003 – 2 AZR 377/02, BB 2004, 1056; Caspers in MünchKomm/InsO, § 125 InsO Rz. 52 m.w.N. 878 LAG Düsseldorf v. 23.1.2003 – 11 (12) Sa 1057/02, ZIP 2003, 817 (822); LAG Hamm v. 4.6.2002 – 4 Sa 81/02, BB 2003, 159; Caspers in MünchKomm/InsO, § 125 InsO Rz. 109. 879 BAG v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, NZA 2012, 1058; BAG v. 18.1.2012 – 6 AZR 407/10, MDR 2012, 780 = NZA 2012, 817; Fuhlrott, EWiR 2012, 429. 880 BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, MDR 2013, 102 = NZA 2013, 32; BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, NZA 2011, 1108. 881 Vgl. Dörner/Künzl in APS, § 126 InsO Rz. 34 ff. für Einzelheiten. 882 BAG v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, MDR 2004, 234 = NZA 2004, 93; Hamacher in Nerlich/Römermann, § 125 InsO Rz. 5; Fischermeier, NZA 1997, 1089. 883 BAG v. 8.4.2003 – 2 AZR 15/02, ZIP 2003, 1260; vgl. auch BAG v. 4.12.2002 – 10 AZR 16/02, NZA 2003, 665 = AiB 2003, 702 (Backmeister).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.300 Kap. 6
§ 613a BGB abgeschreckt.884 Dies soll § 128 InsO abmildern, der §§ 125, 126 InsO dann ins Spiel bringt, wenn Rationalisierungsmaßnahmen im Vorgriff auf einen Betriebs(teil)übergang geplant sind. Zwar stellt ein Betriebs(teil)übergang i.S.d. § 613a BGB grundsätzlich keine Betriebsänderung nach § 111 BetrVG dar, was § 125 InsO voraussetzt.885 § 128 InsO sieht speziell für diesen Fall jedoch vor, dass die Anwendung der §§ 125 bis 127 InsO nicht dadurch ausgeschlossen wird, dass die Betriebsänderung, die dem Interessenausgleich oder dem Feststellungsantrag zugrunde liegt, erst nach einer Betriebsveräußerung nach § 613a BGB durchgeführt werden soll. Zum Einen soll dadurch ermöglicht werden, die Reihenfolge Rationalisierung – Betriebsveräußerung umzukehren. Zum Anderen kann damit der Betrieb oder Betriebsteil schon vor dem Übergang auf die Bedürfnisse des Erwerbers angepasst werden, ohne dass der Personalbestand rechtlich ungesichert ist. Ein Erwerberkonzept kann Grundlage der vom Veräußerer/Insolvenzverwalter ausgesprochenen Kündigungen sein, auch wenn der Veräußerer die geplante Betriebsänderung selbst bei Fortführung des Betriebs nicht hätte durchführen können.886 Umgekehrt können Planung und Kündigung nach der Betriebsübernahme auch vom Erwerber durchgeführt werden.887 Die vom Erwerber später durchzuführende Betriebsänderung muss allerdings im Kündigungszeitpunkt bereits greifbare Formen angenommen haben (s.o. Rz. 6.245).888 An dem Verfahren nach § 126 InsO ist der (potentielle) Erwerber zu beteiligen.889 Die Beteiligtenstellung muss daher spätestens im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung konkret feststehen.890 Für etwaige Kündigungsschutzprozesse ist von Bedeutung, dass eine „doppelte“ Vermutung zum Tragen kommt: Zum einen wird nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO vermutet, dass die Kündigung der Arbeitsverhältnisse der in einem zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat zustande gekommenen Interessenausgleich mit Namensliste durch dringende betriebliche Erfordernisse i.S.v. § 1 KSchG bedingt sind. Zum anderen wird nach § 128 Abs. 2 InsO vermutet, dass die Kündigung dieser Arbeitsverhältnisse nicht „wegen“ des Betriebsübergangs erfolgt ist. Der Arbeitnehmer muss damit durch Gegenbeweis gem. § 292 ZPO die Vermutung widerlegen, dass keine betriebsbedingte Kündigung vorliegt, sondern dass sie wegen des Betriebsübergangs erfolgt ist.891 Steht fest, dass der Insolvenzverwalter oder der Veräußerer keine endgültige Stilllegungsabsicht haben, ist die doppelte Vermutungswirkung nach §§ 125, 128 InsO widerlegt.892 884 Hierzu Berscheid in Uhlenbruck, § 128 InsO Rz. 24; Hamacher in Nerlich/Römermann, § 125 InsO Rz. 2; Müller, NZI 2009, 153; kritisch: Wellensiek, NZI 2005, 603; Gravenbrucher Kreis, ZIP 1993, 625; Rattunde, ZIP 2003, 2103. 885 BAG v. 15.12.2011 – 8 AZR 692/10, NZA-RR 2012, 570; BAG v. 26.4.2007 – 8 AZR 695/05, NZA 2008, 72; BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387. Vgl. zur Geltung auch für Betriebsteilübergänge: LAG Hamm v. 3.9.2003 – 2 Sa 331/03, ZInsO 2004, 820. 886 BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, MDR 2003, 1300 = NZA 2003, 1027; vgl. Stahlhacke/Preis/Vossen, Rz. 2345; Menke/Wolf, BB 2011, 1461; s. bereits Rz. 6.243. 887 Caspers in MünchKomm/InsO, § 128 InsO Rz. 37; Lakies, RdA 1997, 145. 888 In der Literatur wird die gleiche rechtliche Absicherung wie bei § 613a BGB gefordert: Hamacher in Nerlich/Römermann, § 128 InsO Rz. 66. 889 BAG v. 29.6.2000 – 8 ABR 44/99, NZA 2000, 1180; Caspers in MünchKomm/InsO, § 128 InsO Rz. 40. 890 Stahlhacke/Preis/Vossen, Rz. 2347; Hamacher in Nerlich/Römermann, § 128 InsO Rz. 73. 891 BAG v. 29.9.2005 – 8 AZR 647/04, NZA 2006, 720 (722); LAG Düsseldorf v. 23.1.2003 – 11 (12) Sa 1057/02, ZIP 2003, 817 (821); LAG Hamm v. 4.6.2002 – 4 Sa 81/02, BB 2003, 159; Stahlhacke/ Preis/Vossen, Rz. 2350. Die Regelung des § 128 Abs. 2 InsO ist überflüssig, da der Arbeitnehmer, der sich auf § 613a BGB beruft, ohnehin beweispflichtig ist: ErfK/Gallner, § 128 InsO Rz. 2. 892 BAG v. 13.2.2008 – 2 AZR 543/06, NZA 2008, 821; BAG v. 29.9.2005 – 8 AZR 647/04, NZA 2006, 720 (723).
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Kap. 6 Rz. 6.301
Arbeitsrecht
b) Einsatz von Beschäftigungsgesellschaften
6.301 Erheblich erleichtert hat das BAG Sanierungsmöglichkeiten durch den Einsatz von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften (BQG oder auch Transfergesellschaft).893 Dabei werden alle Arbeitsverhältnisse oder zumindest ein überwiegender Teil einvernehmlich durch eine Transferleistungsvereinbarung zwischen dem Arbeitgeber und der Transfergesellschaft sowie aufgrund eines dreiseitigen Vertrages zwischen Erwerber, BQG und Arbeitnehmer auf eine externe (entweder neu gegründete oder bereits vorhandene) BQG übergeleitet.894 Das Ausscheiden der Arbeitnehmer entlastet die Insolvenzmasse und erleichtert die Vorbereitung einer (übertragenden) Sanierung. Idealtypisch kommt es dann zum Betriebsübergang eines arbeitnehmerleeren Betriebs. Die Betriebsmittel des insolventen Arbeitgebers können auf einen Erwerber oder eine Auffanggesellschaft übertragen werden. Ein potentieller Betriebserwerber hat insofern die für ihn attraktive Gelegenheit, die Übernahme von Betriebsmitteln in sein Unternehmen nach seinen Wünschen zu gestalten. Regelmäßig stellt der Erwerber anschließend Arbeitnehmer aus der Transfergesellschaft ein und ist hierbei frei, die Arbeitsbedingungen (insbesondere Gehälter, betriebliche Altersvorsorge und Befristungen) völlig neu zu gestalten.895 Neben der BQG kümmert sich die Bundesagentur für Arbeit parallel um die Vermittlung der Arbeitnehmer aus der BQG. Die Zwischenschaltung einer BQG ist jedoch nur zulässig, wenn zum Zeitpunkt des Abschlusses des Aufhebungsvertrages die Übernahme von wesentlichen Vermögensgegenständen des Geschäftsbetriebs auf einen späteren Erwerber noch nicht feststeht. Der Einsatz einer BQG ist aus Arbeitnehmersicht vorteilhaft, weil der durch die Insolvenz drohende Ausspruch von betriebsbedingten Kündigungen (zunächst) vermieden wird. Dem Arbeitnehmertransfer zeitlich nachgeschaltet ist die Übernahme (eines Teils) der ursprünglichen Belegschaft durch eine Auffanggesellschaft oder durch eine Arbeitnehmerüberlassung von der Beschäftigungsgesellschaft an die Auffanggesellschaft. Der Übergang der Arbeitnehmer auf die Auffanggesellschaft via BQG ist in der Regel kein Betriebsübergang nach § 613a BGB, da zum Zeitpunkt des Übergangs auf die BQG die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer mit dem insolventen Veräußerer durch den Abschluss von Aufhebungsverträgen bereits beendet waren.896 Dies gilt selbst dann, wenn der Erwerber die BQG finanziert und vereinzelte Mitarbeiter aus der BQG nach Ablauf von deren befristeten Verträgen wieder einstellt.897 Die Grenze liegt dort, wo den Arbeitnehmern die Übernahme durch den Erwerber bereits bei Übertritt in die BQG versprochen oder verbindlich in Aussicht gestellt wird. In diesem Fall läge ein Verstoß gegen § 613a Abs. 4 BGB vor,898 so, wenn nur die Beseitigung der Kontinuität des Arbeitsverhältnisses bei gleichzeitigem Erhalt des Arbeitsplatzes bezweckt wird.899 Eine nur eintägige Tätigkeit in einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft, verbunden mit einem verbindlichen Losver-
893 Vgl. dazu LAG Hessen v. 27.5.2013 – 16 Sa 1187/12, ArbRAktuell 2014, 157; Fuhlrott, BB 2013, 2042; Fuhlrott, NZA 2012, 549; Hervorragender aktueller Überblick bei Pils, NZA 2013, 125; Lembke, BB 2004, 773; Meyer, SAE 2000, 39 (40 ff.). 894 Gaul/Otto, NZA 2004, 1301; Bissels/Jordan/Wisskirchen, NZI 2009, 865. 895 Fuhlrott/Chwalisz, FA 2011, 38; Gaul/Ludwig, DB 2011, 298. 896 Die BQG führt nach der Gesamtbetrachtungslehre den Veräußerer-Betrieb nicht fort: Lindemann, ZInsO 2012, 605 m.w.N. 897 BAG v. 23.11.2006 – 8 AZR 349/06, BB 2007, 1054; BAG v. 22.11.2005 – 1 AZR 458/04, NZA 2006, 220. 898 Vgl. auch BAG v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, MDR 2006, 578 = NZA 2006, 145; s. bereits Rz. 6.239. 899 BAG v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203; Pfeiffer in KR, § 613a BGB Rz. 201.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.302 Kap. 6
fahren, stellt einen solchen Verstoß dar.900 Ohne die verbindliche Aussicht auf ein neues Arbeitsverhältnis bleibt der Abschluss eines Aufhebungsvertrages allerdings Risikogeschäft des Arbeitnehmers. So kann eine Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft zur Vermeidung einer Insolvenz eingeschaltet werden und dies verschlechterte Arbeitsbedingungen sachlich rechtfertigen.901 Nach Abschluss eines Aufhebungsvertrages scheidet ein anschließender Weiterbeschäfti- 6.301a gungsanspruch gegen den Erwerber aus, solange die Wirksamkeit des Aufhebungsvertrages nicht wegen Anfechtung oder Wegfalls der Geschäftsgrundlage beseitigt wird.902 Unabhängig von der Wirksamkeit des Aufhebungsvertrages existiert in Insolvenzfällen kein Weiterbeschäftigungsanspruch der Arbeitnehmer, der gegen einen Erwerber gerichtet werden könnte. Dies wurde auch aus europarechtlicher Sicht in vollem Umfang bestätigt.903 Das freiwillige Ausscheiden in zeitlichem Zusammenhang mit einem Betriebsübergang bestimmen der Arbeitnehmer und der Veräußerer. Der Erwerber nimmt daran nicht teil. Die wirksamen Aufhebungsverträge sind außerdem auf das endgültige Ausscheiden des Mitarbeiters aus dem Betrieb gerichtet. Von einer Wahlfreiheit des Betriebserwerbers über die Übernahme der Belegschaft kann man nicht sprechen.904 Ein Weiterbeschäftigungsanspruch (auch Fortsetzungsanspruch oder Wiedereinstellungsanspruch genannt)905 ist lediglich dann denkbar, wenn es trotz vorgesehener Betriebsstilllegung und damit einhergehender wirksamer Kündigung zu einem Betriebsübergang kommt, sich also die tatsächlichen Umstände nach Ausspruch einer Kündigung ändern.906 Der neue Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers mit der Beschäftigungsgesellschaft richtet sich in der Regel nach der Dauer der staatlichen Förderung durch Transferkurzarbeitergeld nach § 111 SGB III907, die maximal 12 Monate beträgt.908 Die Verträge mit der BQG werden daher ohne sachlichen Grund (§ 14 Abs. 2 TzBfG) maximal auf ein Jahr befristet sein. Die BQG kann das Kurzarbeitergeld durch eine mit dem Insolvenzverwalter abzuschließende Verpflichtung zur Zahlung von Lohnzuschüssen erhöhen.909 Während das Transferkurzarbeitergeld selbst gem. § 3 Nr. 2 EStG steuerfrei ist, qualifiziert der BFH Zuzahlungen nach Sozialplan mit dem
900 BAG v. 18.8.2011 – 8 AZR 312/10, MDR 2012, 232 = NZA 2012, 152; s. auch zu einer ähnlichen Fallkonstellation LAG Köln v. 7.3.2012 – 9 Sa 1310/11, BeckRS 2012, 71553, Revision anhängig unter 8 AZR 708/12. 901 BAG v. 21.4.2010 – 4 AZR 768/08, DB 2010, 1998; BAG v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, MDR 2006, 578 = NZA 2006, 145. 902 BAG v. 24.4.2004 – 2 AZR 281/03, NJOZ 2004, 4096; BAG v. 28.6.2000 – 7 AZR 904/98, MDR 2000, 1440 m. Anm. Adam = NZA 2000, 1097; Oberhofer, RdA 2006, 92. 903 BAG v. 28.10.2004 – 8 AZR 199/04, NZA 2005, 405; BAG v. 13.5.2004 – 8 AZR 198/03, MDR 2004, 1302 = DB 2004, 2107; s.a. LAG Düsseldorf v. 10.6.2011 – 6 Sa 327/11, ArbRAktuell 2011,467 entgegen LAG Düsseldorf v. 29.4.2009 – 12 Sa 1551/08, NZA-RR 2009, 637. 904 So aber Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, H Rz. 124. 905 Vgl. hierzu Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 184; Pfeiffer in KR § 613a BGB Rz. 194. 906 BAG v. 15.12.2011 – 8 AZR 197/11, NZA-RR 2013, 179; BAG v. 25.9.2008 – 8 AZR 607/07, NZA-RR 2009, 469; s. bereits Rz. 6.241. 907 Nach der Neusystematisierung des Leistungsrechts des SGB III durch das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt (Eingliederungschancengesetz v. 20.12.2012, BGBl. I, 1854) als § 110 in Kraft seit dem 1.4.2012. Hierzu Voelzke, NZA 2012, 177. 908 Einzelheiten s. Rolf/Riechwald, BB 2011, 2805; Lindemann, ZInsO 2012, 605. 909 Vgl. Ries, NZI 2002, 521 (527).
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6.302
Kap. 6 Rz. 6.303
Arbeitsrecht
Ziel, die Nachteile der Kurzarbeit auszugleichen, als steuerpflichtigen Arbeitslohn.910 In diesem Dienstleistungs- und Kooperationsvertrag sollten einerseits die von der BQG geschuldeten Qualifizierungs- und Vermittlungsdienste sowie andererseits die vom insolventen Unternehmen geschuldeten Vergütungs- und sonstige Leistungspflichten geregelt sein.911
6.303 Liegt eine Betriebsänderung nach § 111 BetrVG vor, kann der Betriebsrat nach § 92a Abs. 1 BetrVG im Rahmen des Interessenausgleichsverfahrens dem Arbeitgeber beratungspflichtige Vorschläge zur Sicherung und Förderung der Beschäftigung machen. Umstritten ist, ob dies auch den Vorschlag zur Einschaltung einer BQG, ggf. in zwingender Form über die Einigungsstelle gem. § 112 Abs. 5 Nr. 2a BetrVG, beinhalten kann.912 Ein solches Initiativrecht, auf das der Arbeitgeber konstruktiv reagieren muss, ist systemfremd. Dem Betriebsrat steht es nicht zu, sich zum Sachwalter von Arbeitsuchenden zu machen. Die Beschäftigungsförderung ist eine überbetriebliche Angelegenheit, der der Betriebsrat nicht verpflichtet sein kann.913 Eine Sozialplanregelung über die Gründung einer externen BQG ist zwar freiwillig möglich, jedoch nicht erzwingbar;914 ebenso nicht die Errichtung einer internen betriebsorganisatorisch selbständigen Einheit (beE, § 111 Abs. 3 Nr. 2 SGB III).915 Anders wird dies für die Einschaltung einer bereits vorhandenen externen BQG bzw. für von Dritten durchgeführte Fördermaßnahmen gesehen, die der erzwingbaren Mitbestimmung nach § 112 Abs. 4 BetrVG unterliegen sollen.916 In der Insolvenz dürfen außerhalb der Fälle der §§ 123, 124 InsO nicht zwangsweise Masseverbindlichkeiten geschaffen werden.917 Ein Sozialplan zur Schaffung neuer Beschäftigungsperspektiven, ein sog. Transfersozialplan,918 Sozialplan gem. § 112 BetrVG, kann aber die finanzielle Ausstattung einer Beschäftigungsgesellschaft bei entsprechendem Wegfall oder bei Kürzungen von Abfindungen sowie Transfermaßnahmen im Allgemeinen regeln.919 Vor Abschluss eines solchen Transfersozialplans ist seit der Aktualisierung der §§ 110, 111 SGB III eine Beratung durch die Bundesagentur für Arbeit zwingend und die Gewährung von Förderleistungen davon abhängig.920 § 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2a BetrVG bestimmt ausdrücklich, dass die Einigungsstelle die im SGB III vorgesehenen Förderungsmöglichkeiten zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit berücksichtigen soll. Aus diesen neuen Regelungen wird ersichtlich, dass der Gesetzgeber den Einsatz von Beschäftigungs910 BFH v. 20.7.2010 – IX R 23/09, NZA-RR 2011, 94. 911 Vgl. Lembke, BB 2004, 773 (776); Gänßbauer, S. 158; Gaul/Kliemt, NZA 2000, 674; Muster eines solchen Kooperationsvertrags zu finden bei Schrader/Thoms in Schaub/Schrader/Straube/Vogelsang, Arbeitsrechtliches Formular- und Verfahrenshandbuch, B. Rz. 295 ff. 912 S. näher Wendeling-Schröder/Welkoborsky, NZA 2002, 1370 (1373 f.); Krieger/Fischinger, NJW 2007, 2289, 2293; Schütte, NZA 2013, 249. 913 Bauer, NZA 2001, 375 (378); Rieble, ZIP 2001, 133 (142); a.A. Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, § 92a BetrVG Rz. 2. 914 So auch Lembke, BB 2004, 773 (775); Schweibert in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, C Rz. 252a; a.A. Wendeling-Schröder/Welkoborsky, NZA 2002, 1370 (1377). 915 Bissels/Jordan/Wisskirchen, NZI 2009, 865 (869); Krieger/Fischinger, NZA 2007, 2289 (2293). 916 Vgl. Deinert in Gagel, SGB II/III, § 111 SGB III Rz. 148 m.w.N.; Richardi/Annuß, § 112 BetrVG Rz. 120–133. 917 Lembke, BB 2004, 773 (775). 918 BT-Drucks. 14/5741, 52. 919 Vgl. Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 192a; Schweibert in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, C Rz. 251; Bepler in Gagel, SGB II/III, § 110 SGB III Rz. 78; daneben kommt auch eine Förderung durch den Europäischen Sozialfonds in Betracht, vgl. § 5 Abs. 1 ESF-RL. Zur sog. „Sprinterprämie“: BAG v. 10.2.2009 – 1 AZR 809/07, AP Nr. 199 zu § 112 BetrVG 1972. 920 S. dazu Schindele, ArbRAktuell 2013, 512; Diller, FA 2011, 135; Thannheiser, AiB 2011, 222.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.306 Kap. 6
gesellschaften in der Insolvenz als eine tatsächliche Chance zur Sanierung des krisenbefangenen Unternehmens ansieht. c) Insolvenzgeld Die Bundesagentur für Arbeit zahlt unter bestimmten Voraussetzungen für ausgefallenes Arbeitsentgelt in der Insolvenz das sog. Insolvenzgeld, §§ 165 ff. SGB III. Es wird höchstens für die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses vor Verfahrenseröffnung oder anderer Insolvenzgründe ausgezahlt. Im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang ist das besonders für den Erwerber von Interesse, da der Anspruch der übergehenden Arbeitnehmer auf Insolvenzgeld auch dann bestehen kann, wenn der Erwerber nach Betriebsübergang Insolvenz anmeldet.921 Das Insolvenzgeld kann für den Insolvenzschuldner als Kreditierungsund Sicherungsinstrument wie eine Lohnvorfinanzierung bei der Sanierung des Unternehmens dienen. Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Agentur für Arbeit nach § 168 SGB III sogar einen Vorschuss auf das Insolvenzgeld leisten. Die Vorfeldfinanzierung der Löhne durch die Agentur für Arbeit kommt allerdings nur für den Zeitraum bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Betracht, § 168 Satz 1 Nr. 1 SGB III. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens richtet sich eine Vorschussgewährung grundsätzlich nach § 42 SGB I. Die Zustimmungspflicht der Bundesagentur für Arbeit nach § 170 Abs. 4 Satz 2 SGB III beugt Missbräuchen bei der (dann vermeintlichen) Sanierung vor. Eine Zustimmung darf nur erteilt werden, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass durch die Vorfinanzierung der Löhne ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze erhalten bleibt.922 Gemäß § 167 SGB III richtet sich die Höhe des Insolvenzgeldes nach dem Bruttoarbeitsentgelt, begrenzt durch die monatliche Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten (§ 341 Abs. 4 SGB III). Insolvenzgeld wird nicht für Arbeitsverhältnisse gezahlt, die der Arbeitgeber nach dem Insolvenzereignis einging.923 Der Arbeitgeber/Insolvenzverwalter muss bei der Leistung von Insolvenzgeld der Agentur für Arbeit gem. § 316 SGB III Auskunft sowie gem. § 314 SGB III auf Verlangen Insolvenzgeldbescheinigungen erteilen.
6.304
Gemäß § 169 SGB III gehen mit der Stellung des Antrags auf Insolvenzgeld die den Anspruch auslösenden Lohnansprüche auf die Agentur für Arbeit über. Die Agentur für Arbeit wird mit dem Rechtsübergang Inhaberin der Arbeitsentgeltforderung. Die auf die Agentur für Arbeit gem § 169 SGB III übergegangenen Arbeitsentgeltansprüche sind gewöhnliche Insolvenzforderungen (§ 55 Abs. 3 InsO), um eine Sanierung nicht zu gefährden.924 Im Falle eines Betriebsübergangs macht die Agentur für Arbeit übergegangene Zahlungsansprüche (Erstattungsansprüche) gegen den Erwerber geltend.
6.305
Das Insolvenzgeld umfasst in sachlicher Hinsicht sämtliche Arten von Bezügen aus dem Arbeitsverhältnis. Gemäß § 166 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 SGB III sind Abfindungen nicht insolvenz-
6.306
921 Eine Haftung des Hauptunternehmers gem. § 1a AEntG a.F. für das an die Arbeitnehmer des insolventen Nachunternehmers gezahlte Insolvenzgeld besteht aber nicht: BAG v. 8.12.2010 – 5 AZR 95/10, MDR 2011, 986 = NZA 2011, 514. 922 Vgl. Insolvenzgeld-DA, Auszug abgedr. bei Peters-Lange in Gagel, Anh. zu § 170 SGB III. 923 BSG v. 23.5.2017 – B 12 AL 1/15 R; BSG v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, NZI 2017, 862, nach einer ersten Insolvenz des Arbeitgebers setzt ein erneuter Insolvenzgeldanspruch des Arbeitnehmers nach § 165 I 2 Nr. 1 SGB III voraus, dass die Zahlungsfähigkeit des Schuldners wiederhergestellt war. 924 BAG v. 27.7.2017 – 6 AZR 801/16, AP InsO § 55 Nr. 22.
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Kap. 6 Rz. 6.307
Arbeitsrecht
geldfähig.925 Bei Altersteilzeitregelungen erhält der Arbeitnehmer gem. § 166 Abs. 2 Satz 2 SGB III stets Insolvenzgeld in Höhe des vorgesehenen Monatsgehalts; und zwar auch dann, wenn er im maßgebenden zurückliegendem Zeitraum gerade noch nicht die erforderliche Stundenzahl gearbeitet hat oder freigestellt war. Das gilt umgekehrt auch dann, wenn er sich gerade in der sog. „Ansparphase“ befindet, in der er mehr Arbeitszeit ableistet. Ebenfalls insolvenzgeldfähig sind Auslagen für die Reparatur eines Dienstwagens.926
6.307 Beitragsansprüche der Versicherungsträger für Einmalzahlungen gem. § 175 Abs. 1 SGB III entstehen gem. § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB IV erst, wenn der Arbeitgeber sie tatsächlich auszahlt, sog. Zuflussprinzip.927 Hiervon macht § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB IV für wegen eines Insolvenzereignisses i.S.d. § 165 SGB III nicht gezahlter Einmalzahlungen eine Ausnahme, wenn es sich um Beitragsforderungen gegenüber der Agentur für Arbeit aufgrund der Zahlung von Insolvenzgeld handelt.928
XI. Betriebsverfassungs- und mitbestimmungsrechtliche Auswirkungen 1. Unterrichtung und Schicksal des Wirtschaftsausschusses
6.308 Ist im Veräußererbetrieb und/oder im Erwerberbetrieb ein Wirtschaftsausschuss vorhanden, kann nach § 106 BetrVG die Verpflichtung bestehen, diesen über wirtschaftliche Angelegenheiten zu unterrichten. Zu den wirtschaftlichen Angelegenheiten zählt auch gem. § 106 Abs. 3 Nr. 10 BetrVG die Veräußerung von Betrieben und Betriebsteilen.929 Die Unterrichtungspflicht obliegt in erster Linie dem Veräußerer und muss rechtzeitig, also vor der Entscheidung über den Betriebs(teil)übergang, erfolgen.930 Darüber hinaus muss die Unterrichtung umfassend sein. Sie dient der Herstellung der Informationsparität zwischen Unternehmer und Wirtschaftsausschuss.931 Nach § 106 Abs. 2 BetrVG muss die Unterrichtung unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen erfolgen. Dazu können der Jahresabschluss, der Wirtschaftsprüferbericht, Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen etc. zählen.932 Der Arbeitgeber soll verpflichtet sein, die Unterlagen den Mitgliedern des Wirtschaftsausschusses vor der Sitzung zur Vorbereitung vorzulegen und ggf. sogar vorübergehend zu überlassen; die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses sollen aber ohne seine Zustimmung nicht berechtigt sein, von den
925 BAG v. 27.7.2017 – 6 AZR 801/16, AP InsO § 55 Nr. 22. 926 BSG v. 8.9.2010 – B 11 AL 34/09 R, NZA-RR 2011, 437. Weitere Einzelheiten vgl. Peters-Lange in Gagel, § 165 SGB III Rz. 90 ff. 927 BT-Drucks. 15/26, 24. 928 BT-Drucks. 15/4228, 22. Näher hierzu Kreikebohm in Kreikebohm, § 22 SGB IV Rz. 7 und Seewald in KassKomm., § 22 SGB IV Rz. 12. 929 BAG v. 22.1.1991 – 1 ABR 38/89, GmbHR 1991, 313 = MDR 1991, 775 = NZA 1991, 649; Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 154; Schweibert in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, C Rz. 409; Henssler, NZA 1994, 297; Weimar/Alfes, BB 1993, 783 (786). 930 BAG v. 22.1.1991 – 1 ABR 38/89, GmbHR 1991, 313 = MDR 1991, 775 = NZA 1991, 649; Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, § 106 BetrVG Rz. 39; Art. 7 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2001/23/EG präzisiert dies dahingehend, dass die Informationen „rechtzeitig vor dem Vollzug des Übergangs“ zu übermitteln sind. 931 Vgl. dazu Mengel, S. 324. 932 Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, § 106 BetrVG Rz. 48; Althaus in Nerlich/Kreplin, Münchener Handbuch Insolvenz und Sanierung, § 19 Rz. 244; von Steinau-Steinrück/Brugger, NJW-Spezial 2010, 50.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.309 Kap. 6
Unterlagen Kopien oder Abschriften anzufertigen.933 Ein Verstoß gegen §§ 106 Abs. 2 und 3 BetrVG ist eine Ordnungswidrigkeit i.S.v. § 121 Abs. 1 BetrVG. Die Amtszeit des Wirtschaftsausschusses ist nach § 107 Abs. 2 Satz 1 BetrVG an die Amtszeit des Betriebsrats gekoppelt. Endet das Betriebsratsamt vorzeitig, gilt dies auch für den Wirtschaftsausschuss.934 Ein Übergangs- oder Restmandat ist dagegen – anders als für den Betriebsrat, s. dazu sogleich – für den Wirtschaftsausschuss nicht vorgesehen, für eine Analogie fehlt ihm eine dem Betriebsrat gleichbedeutende betriebsverfassungsrechtliche Stellung.935 Das Amt des Wirtschaftsausschusses im Unternehmen des Veräußerers endet ebenfalls, wenn die dortige Belegschaftsstärke infolge eines Betriebsübergangs nicht nur vorübergehend auf weniger als 101 Arbeitnehmer absinkt, in diesem Fall besteht er nicht bis zur Beendigung der Amtszeit des Betriebsrats fort.936
6.308a
Das Erreichen der erforderlichen Arbeitnehmerzahl ist konstitutiv. Kann kein Wirtschaftsausschuss gebildet werden, ist der Betriebsrat nicht ersatzweise zuständig; §§ 106-109 BetrVG finden keine Anwendung.937 Wird nach Betriebsübergang der Schwellenwert von in der Regel mehr als 100 Arbeitnehmern überschritten, kann die Notwendigkeit zur Bildung eines Wirtschaftsausschusses jedoch bestehen.938
6.308b
Für Unternehmen, die nicht die erforderliche Arbeitnehmerzahl erreichen, kann kein Wirtschaftsausschuss eingerichtet werden. Ist im Betrieb kein Wirtschaftsausschuss vorhanden, ist der Betriebsrat nicht ersatzweise zuständig; §§ 106–109 BetrVG finden keine Anwendung.939 Nach Betriebsübergang kann sich im Unternehmen des Erwerbers erstmals die Notwendigkeit zur Bildung eines Wirtschaftsausschusses ergeben, wenn der Schwellenwert von in der Regel mehr als 100 Arbeitnehmern im Unternehmen des Erwerbers durch den Betriebsübergang überschritten wird.940 2. Mitwirkung und Mitbestimmung des Betriebsrats Der Betriebsübergang ist für sich genommen keine Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG und lässt die Organisationsebene „Betrieb“ unberührt und löst deshalb keine Beteiligungsrechte des Betriebsrates aus.941 Die Beteiligungsrechte des Betriebsrats nach §§ 111 ff. BetrVG kommen deshalb nur dann zum Zuge, wenn sich der Betriebsübergang nicht im bloßen Inhaberwechsel erschöpft, sondern mit Maßnahmen verbunden ist, die als solche einen der Tatbestände des § 111 BetrVG erfüllen.942 Wird dagegen in einem Teilbereich der bestehenden 933 BAG v. 20.11.1984 – 1 ABR 64/82, NZA 1985, 432 (434); Richardi/Annuß, § 106 BetrVG Rz. 30-31. 934 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, § 107 BetrVG Rz. 14. 935 Richardi/Thüsing, § 21a BetrVG Rz. 26; Rieble, NZA 2002, 240; s.a. LAG Düsseldorf v. 14.2.2001 – 4 TaBV 67/00, NZA-RR 2001, 594. 936 BAG v. 7.4.2004 – 7 ABR 41/03, NZA 2005, 311. 937 BAG v. 7.4.2004 – 7 ABR 41/03, NZA 2005, 311. 938 Cohnen in MünchHdb. ArbR, § 54 Rz. 144. 939 BAG v. 7.4.2004 – 7 ABR 41/03, NZA 2005, 311. 940 Cohnen in MünchHdb. ArbR, § 54 Rz. 144. 941 Vgl. BAG v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, NZA 2008, 642; BAG v. 25.1.2000 – 1 ABR 1/99, NZA 2000, 1069; Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 153 m.w.N.; vgl. dazu auch Matthes, NZA 2000, 1073 ff. 942 Vgl. dazu BAG v. 25.1.2000 – 1 ABR 1/99, NZA 2000, 1069; danach ist ein von der Einigungsstelle aufgestellter Sozialplan nicht schon deshalb wegen Kompetenzüberschreitung unwirksam,
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6.309
Kap. 6 Rz. 6.310
Arbeitsrecht
Organisation lediglich die Person des Betriebsinhabers ausgewechselt, bleibt die Betriebsidentität unverändert.943 Das Gleiche gilt, wenn ein betriebsratsfähiger Betriebsteil vom Erwerber als selbständiger Betrieb weiter geführt wird.944
6.310 Eine Betriebsteilveräußerung dagegen ist aufgrund der spezialgesetzlichen Regelung in § 111 Satz 3 Nr. 3 BetrVG als „Spaltung von Betrieben“ eine Betriebsänderung und daher mitbestimmungs- und sozialplanpflichtig.945 Entscheidend ist hierbei, ob eine veräußerungsfähige Einheit mit einer abgrenzbaren, eigenständigen Struktur abgespalten wird. Nicht erforderlich ist, dass wesentliche Betriebsteile betroffen sind.946 Darunter fällt aber nicht die sog. typische Betriebsaufspaltung, die richtigerweise eine Spaltung des Unternehmens in eine je rechtlich selbständige Besitz- und Produktionsgesellschaft ist. Regelmäßig pachtet die Produktionsgesellschaft die Betriebsmittel von der Besitzgesellschaft und übernimmt von ihr die Arbeitnehmer. Eine Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG liegt bei dieser Konstruktion nicht vor.947 Einer möglichen Gefährdung der Arbeitnehmer durch Entzug der ihnen bei der Produktionsgesellschaft zur Verfügung stehenden Haftungsmasse kann nur mit gesellschaftsrechtlichen Instrumenten entgegengewirkt werden.948 Vollzieht sich die „Betriebsaufspaltung“ nach dem Umwandlungsgesetz, greift die Spezialregelung des § 134 UmwG ein.
6.311 § 613a BGB und §§ 111, 112 BetrVG dienen verschiedenen Zwecken. Ansatzpunkt des § 111 BetrVG ist die Änderung der Betriebsstruktur. Geht der Betriebsübergang mit einer Betriebsänderung einher, hat der Betriebsrat einen Anspruch auf Verhandlungen über Interessenausgleich und Sozialplan, es sei denn, es liegt ein Fall des § 112a Abs. 1 oder Abs. 2 (dazu unter Rz. 6.318) BetrVG vor. Dem Betriebsübergang widersprechenden Arbeitnehmern, denen betriebsbedingt gekündigt werden muss, wird häufig im Sozialplan eine Entschädigung für den Verlust des Arbeitsplatzes zuteil. Ob und welche wirtschaftlichen Nachteile für die betroffenen Arbeitnehmer entstanden sind und ausgeglichen oder gemildert werden sollen, haben bisheriger Arbeitgeber und Betriebsrat, notfalls die Einigungsstelle zu prüfen.949 Da die Arbeitsverhältnisse der verbleibenden Arbeitnehmer unverändert bestehen bleiben und zugunsten der zum Erwerber wechselnden Arbeitnehmer § 613a BGB eingreift, werden in solchen Fällen vielfach unmittelbare wirtschaftliche Nachteile kaum feststellbar sein. Sozialplanpflichtig sind aber nur die unmittelbar aus der Spaltung folgenden Nachteile, nicht ein im Zusammenhang damit vom Veräußerer oder Erwerber durchgeführter Personalabbau, mit der Folge,
943 944 945
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weil die Begründung des Spruchs ausschließlich Nachteile aufführt, die unmittelbar auf dem Betriebsübergang beruhen. Ein Rechtsverstoß liege nur vor, wenn keine Nachteile zu erwarten waren, die Ausgleichsmaßnahmen rechtfertigen konnten. Ausführlich Moll, RdA 2003, 124; Kleinebrink/Commandeur, NZA 2007, 113. BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404. Die Anknüpfung an die Betriebsidentität entspricht hierbei der europäischen Rechtsprechung, s. EuGH v. 29.7.2010 – C-151/09, NZA 2010, 1014. BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 604/02, NZA 2004, 803. BAG v. 10.12.1996 – 1 ABR 32/96, GmbHR 1997, 850 = NZA 1997, 898 (899); Unter dem gesetzlich nicht definierten Begriff der „Spaltung“ ist die Änderung der betrieblichen Organisationsstruktur zu verstehen, bei der der Betrieb entweder in zwei oder mehrere Einheiten aufgespalten oder Teilbereiche des Betriebs zu einer Ausgliederung abgespalten werden: Löwisch/Schmidt-Kessel, BB 2001, 2162 (2163). BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 77/06, NZA 2008, 957. BAG v. 17.2.1981 – 1 ABR 101/78, NJW 1981, 2716; vgl. von Steinau-Steinrück, S. 80 ff. Vgl. dazu von Steinau-Steinrück, S. 49 ff. BAG v. 16.6.1987 – 1 ABR 41/85, BAGE 55, 356.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.313 Kap. 6
dass sog. „Nullsozialpläne“ durchaus denkbar sind.950 In einem durch Spruch der Einigungsstelle zustande gekommenen Sozialplan können nur diejenigen Nachteile ausgeglichen bzw gemildert werden, die die Betriebsänderung selbst verursacht.951 Der bloße Entzug von Haftungsmasse ist als solcher kein sozialplanpflichtiger Nachteil.952 Unwirksam sind Betriebsvereinbarungen, mit denen potentielle Nachteile für ausgegliederte Arbeitnehmer verhindert werden sollen, indem diesen Leistungen zugesichert werden. Für solche Vereinbarungen fehlt dem bisherigen Arbeitgeber die Kompetenz. Die Betriebspartner können zwar Arbeitsbedingungen der beim bisherigen Arbeitgeber beschäftigten Arbeitnehmer regeln; diese gehen nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB über (dazu Rz. 6.355 ff.). Den Betriebspartnern ist es jedoch verwehrt, Arbeitsbedingungen für die Zeit nach Betriebsübergang unmittelbar zu regeln.953 Eine beteiligungspflichtige Betriebsänderung liegt allerdings nicht vor, wenn der Betrieb oder Teile davon mehreren Unternehmen zugeordnet werden, mit der Folge, dass ein sog. Gemeinschaftsbetrieb entsteht.954 In Umwandlungsfällen wird nach § 1 Abs. 2 BetrVG die Entstehung eines Gemeinschaftsbetriebs vermutet. Sofern keine weitere Änderung außer der Umgestaltung des bisherigen Betriebs in einen Gemeinschaftsbetrieb vorgenommen wird, fehlt es an einer Betriebsänderung.955
6.312
Ist im Einzelfall ungewiss, ob ein Betriebs(teil)übergang überhaupt vorliegt, oder ob der bisherige Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern präventiv betriebsbedingt kündigen muss, können die Betriebsparteien vorsorglich, d.h. für den Fall, dass kein Betriebs(teil)übergang gegeben ist, einen Sozialplan vereinbaren.956 Vorsorgliche Sozialpläne sind freiwillige, nicht erzwingbare Betriebsvereinbarungen i.S.d. § 88 BetrVG.957 Ändern sich die bei Abschluss des Sozialplans angenommenen Verhältnisse, können die Betriebsparteien den vorsorglichen Sozialplan nachträglich wegen Wegfalls der angenommenen Geschäftsgrundlage anpassen.958 Ein vorsorglicher Sozialplan vebraucht das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats.959 Er begründet normative Ansprüche zugunsten von Arbeitnehmern typischerweise für den Fall, dass aus Anlass einer konkreten Betriebsänderung auf betrieblicher Ebene der Abschluss eines Sozialplans unterbleibt.960 Somit ist der Betriebsrat grundsätzlich nicht daran gehindert,
6.313
950 BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 77/06, NZA 2008, 957. 951 BAG v. 10.12.1996 – 1 ABR 32/96, GmbHR 1997, 850 = NZA 1997, 898; Liebers in MünchHdb. ArbR, § 55 Rz. 59. 952 BAG v. 25.1.2000 – 1 ABR 1/99, NZA 2000, 1069. 953 BAG v. 1.4.1987 – 4 AZR 77/86, NZA 1987, 593. 954 Vgl. BAG v. 24.2.2000 – 8 AZR 162/99, BeckRS 2009, 67932; danach wird mit einer Vereinbarung über die gemeinsame Betriebsführung nur das Direktionsrecht in seiner faktischen Ausübung koordiniert, aber keine wirtschaftliche Einheit übertragen. Zu den Eigenschaften eines Gemeinschaftsbetriebs s. BAG v. 11.2.2004 – 7 ABR 27/03, MDR 2004, 946 = NZA 2004, 618. 955 LAG Frankfurt v. 12.2.1985 – 4 TaBV 70/83, DB 1985, 1999; Bork, BB 1989, 2185; Kleinebrink/ Commandeur, NZA 2007, 113; Moll, RdA 2003, 129. 956 BAG v. 1.4.1998 – 10 ABR 17/97, NZA 1998, 768 = AP Nr. 123 zu § 112 BetrVG 1972 m. Anm. Meyer; C. Meyer zu Sozialplangestaltung bei nachträglichem Betriebsübergang, NZA 2000, 297. 957 BAG v. 11.12.2007 – 1 AZR 824/06, NZA-RR 2008, 298; Hamacher in Nerlich/Römermann, Vorbemerkung vor §§ 121 bis 124 InsO Rz. 66. 958 BAG v. 28.8.1996 – 10 AZR 886/95, MDR 1997, 173 = NZA 1997, 109 und v. 5.10.2000 – 1 AZR 48/00, NZA 2001, 849. 959 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 342/98, NZA 1999, 949 zu den näheren Voraussetzungen. 960 BAG v. 17.4.2012 – 1 AZR 119/11, NZA 2012, 1241.
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593
Kap. 6 Rz. 6.314
Arbeitsrecht
mit dem Arbeitgeber trotz vorhandenem vorsorglichen Sozialplan (abweichende) Sozialplanregelungen zu treffen. Dies gilt nur dann nicht, wenn bei Abschluss des vorsorglichen Sozialplans die spätere Betriebsänderung in ihren groben Umrissen zutreffend antizipiert worden war.961
6.314 Die Bundesagentur für Arbeit fördert die Teilnahme an Transfermaßnahmen (§ 110 SGB III).962 Für die Betriebsparteien ist dabei Folgendes interessant: Förderanträge an die Agentur für Arbeit haben für die Parteien nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Agentur bereits vor Abschluss der Transferregelung über Fördermöglichkeiten im Rahmen von Sozialplanmaßnahmen nach § 112 BetrVG beraten hat. Als Betriebsänderung i.S.v. § 110 Abs. 1 SGB III gilt eine Betriebsänderung gem. § 111 BetrVG unabhängig von der Unternehmensgröße und unabhängig davon, ob im jeweiligen Betrieb das Betriebsverfassungsgesetz anzuwenden ist, § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB III. Die Bundesagentur bezuschusst die Maßnahmekosten mit 50 %, höchstens 2500 Euro je gefördertem Arbeitnehmer, wobei die Maßnahmekosten „erforderlich“ und „angemessen“ sein müssen, § 110 Abs. 2 Satz 2 SGB III.963
6.315 Legt der Erwerber den nach § 613a BGB übernommenen Betrieb oder Betriebsteil still, treffen ihn die Verpflichtungen aus §§ 111 ff. BetrVG. Erfolgt die Veräußerung eines Betriebs oder Betriebsteils allerdings zum Zwecke der Stilllegung durch den Erwerber, kann eine dem Veräußerer zuzurechnende Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG vorliegen, was zu dessen Verpflichtung nach § 111 BetrVG führt.964 Die Stilllegung selbst ist auch in diesem Fall dem Erwerber zuzurechnen. Für den Fall des Betriebs(teil)übergangs während eines Beschlussverfahrens wird der Erwerber automatisch Beteiligter anstelle des bisherigen Beteiligten des anhängigen Verfahrens, weil eine „geltend gemachte, nur dem Betriebsrat gegenüber bestehende betriebsverfassungsrechtliche Pflicht nur den jeweiligen Inhaber des Betriebs als den ‚Arbeitgeber‘ im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes gleichsam als Organ der Betriebsverfassung treffen kann“.965 Dann kann aber auch nichts anderes für die Frage gelten, wer Verhandlungspartner des Betriebsrats für Interessenausgleich und Sozialplan wird, wenn im Zusammenhang mit dem Übergang des ganzen Betriebs eine Betriebsänderung vorgenommen wird.966 Grundsätzlich ist bei Entschluss zur Betriebsänderung durch den Veräußerer dieser der richtige Verhandlungspartner, bei interessenausgleichpflichtigem Entschluss des Erwerbers letzterer.967
961 BAG v. 26.8.1997 – 1 ABR 12/97, NZA 1998, 216. 962 § 216a SGB III a.F. Zur Neuregelung durch das Beschäftigungschancengesetz durch das Beschäftigungschancengesetz s. BT-Drucks. 17/6277, 103. 963 S. umfassend zu diesem Thema Bepler/Peters-Lange, § 110 SGB III Rz. 16 ff. 964 BAG v. 17.3.1987 – 1 ABR 47/85, NZA 1987, 523 = EWiR § 613a BGB 9/87, 769 (Willemsen); vgl. auch Salje, NZA 1988, 449; Cohnen/Tepass in MünchHdb. ArbR, § 51 Rz. 154. 965 BAG v. 28.9.1988 – 1 ABR 37/87, NZA 1989, 188. Ein solcher Betriebsinhaberwechsel ist auch noch in der Rechtsbeschwerdeinstanz von Amts wegen zu beachten. Vgl. BAG v. 22.11.2005 – 1 ABR 50/04, NZA 2006, 803. Das Gleiche gilt für ein anhängiges Einigungsstellenverfahren: Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 148. 966 Bauer, Betriebsänderungen, II. 3. c) unter Hinweis darauf, dass der Betriebsrat ein „Restmandat“ hinsichtlich der Arbeitnehmer hat, die zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs schon ausgeschieden sind, dagegen dem neuen Inhaber die Regelungskompetenz für diesen Personenkreis fehlt. Daraus kann sich die Konsequenz ergeben, dass bisheriger und neuer Inhaber jeweils einen getrennten Sozialplan mit dem Betriebsrat auszuhandeln haben; ebenso Bauer, BB 1994, 217 (227); vgl. auch Neef, NZA 1994, 97. 967 ErfK/Kania, § 112a BetrVG Rz. 22.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.318 Kap. 6
Bei Ausgliederung eines Betriebsteils schließt der Veräußerer mit dem bisherigen Betriebsrat einen Interessenausgleich und Sozialplan sowohl hinsichtlich der bei ihm verbliebenen Arbeitnehmer als auch hinsichtlich der übergegangenen Arbeitnehmer ab. Für die Sozialplanleistungen der übergegangenen Arbeitnehmer haften bisheriger und neuer Arbeitgeber nach § 613a Abs. 1 und 2 BGB.
6.316
Wenn es sich bei der Änderung des Betriebs nur um eine Entscheidung des Erwerbers handelt, kann dieser schon vor dem Betriebsübergang einen Interessenausgleich und auch einen Sozialplan mit dem Betriebsrat vereinbaren.
6.317
Beispiel: Ein mittelständisches Kaufhausunternehmen mit mehreren Kaufhäusern verkauft vier davon an ein größeres Unternehmen. Die vier Betriebe sollen per 1.7. des Jahres nach § 613a BGB übergehen. Der Kaufvertrag wird schon im Januar abgeschlossen. Der Erwerber will die vier Kaufhäuser in geänderter Form ab 1.7. des Jahres fortführen. Es sollen vor allem die Lebensmittelabteilungen geschlossen werden. Hier können nach richtiger Auffassung Interessenausgleich und Sozialplan mit den örtlichen Betriebsräten der vier Kaufhäuser schon vor dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs geschlossen werden. § 613a BGB bezweckt nur, den bisherigen Besitzstand der Arbeitnehmer aufrechtzuerhalten. Das soll aber nicht zu einer Verzögerung im Rahmen geplanter Betriebsänderungen führen. Das praktische Bedürfnis für solche Regelungen ist unverkennbar. Auch rechtsdogmatisch bereiten vertragliche Absprachen vor Eintritt des maßgeblichen Tatbestands keine Schwierigkeiten.968 § 112 BetrVG verbietet nicht den Abschluss aufschiebend bedingter Vereinbarungen, solche sind nach § 158 Abs. 1 BGB grundsätzlich möglich. Im Beispielsfall kann deshalb der Erwerber mit den örtlichen Betriebsräten schon vor dem Betriebsübergang einen Interessenausgleich abschließen, allerdings mit der Maßgabe, dass die Wirksamkeit dieser Vereinbarung unter der Bedingung des tatsächlichen Eintritts des Betriebsübergangs erfolgt. Die Kündigungen können dann unverzüglich nach Eintritt des Betriebsübergangs ausgesprochen werden, also ab 1.7. des Jahres. Da ein solcher bedingter Interessenausgleich zulässigerweise vereinbart werden kann, muss der Erwerber konsequenterweise sogar Anspruch auf Errichtung und Tätigwerden der Einigungsstelle vor dem Betriebsübergang haben. So kann er Zeit gewinnen und Geld (Personalkosten) sparen.
§ 112a Abs. 2 BetrVG sieht vor, dass im Betrieb eines neu gegründeten Unternehmens in 6.318 den ersten vier Jahren nach seiner Gründung Betriebsänderungen durchgeführt werden können, ohne dass ein Sozialplan über die Einigungsstelle erzwungen werden kann. Dabei ist auf das Alter des Unternehmens und nicht das des Betriebs abzustellen.969 Diese Ausnahmeregelung führt zu keinen Änderungen des Begriffs der Betriebsänderung, der Unterrichtungs- und Beratungspflicht des Unternehmers nach § 111 BetrVG oder der Notwendigkeit eines Interessenausgleichs und des Nachteilsausgleichs. Nur § 112 Abs. 4 und 5 BetrVG finden auf die erwähnten Betriebe in den ersten vier Jahren keine Anwendung. § 112a Abs. 2 BetrVG gilt nicht für Unternehmen und Konzerne, die rechtlich umstrukturiert werden und bei denen in diesem Zusammenhang Unternehmen neu gegründet werden. Als solche rechtliche Gestaltungsformen kommen unabhängig davon, ob das Instrumentarium des Umwandlungsgesetzes verwandt wird,970 in Betracht: Verschmelzung, Umwandlung, Übertragung, Aufspaltung oder Abspaltung von Unternehmen zu einem neu gegründeten Unternehmen/Tochtergesellschaften. Die Tatsache, dass ein Betriebsübergang eine sozialplanfreie Neugründung gem. § 112a Abs. 2 BetrVG ist, unterfällt der Unterrichtungspflicht gem. § 613a Abs. 5 BGB.971 968 Bauer, BB 1994, 217 (221). Auch das BAG (Urt. v. 24.3.1977 – 3 AZR 649/76, DB 1977, 1466) hat keine Bedenken gegen solche vorweggenommenen Abreden mit schuldrechtlicher Wirkung; vgl. auch Neef, NZA 1994, 97 (100). 969 BAG v. 27.6.2006 – 1 ABR 18/05, NZA 2007, 106. 970 Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 37. 971 BAG v. 14.11.2013 – 8 AZR 824/12, NZA 2014, 610.
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Kap. 6 Rz. 6.319
Arbeitsrecht
6.319 Dagegen ist ein neu gegründetes Unternehmen in den ersten vier Jahren nach seiner Gründung auch dann von der Sozialplanpflicht für eine Betriebsänderung befreit, wenn diese Betriebsänderung in einem Betrieb erfolgt, den das Unternehmen nach § 613a BGB übernommen hat und der selbst schon länger als vier Jahre besteht.972 Die so verstandene Regelung kann Bestrebungen erleichtern, einen Betrieb dadurch stillzulegen, dass dieser auf ein neu gegründetes Unternehmen übertragen und dann von dem neu gegründeten Unternehmen stillgelegt wird. Die Gründung einer solchen „Stilllegungs-GmbH“ kann nach den Gegebenheiten des Einzelfalls eine rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme des Befreiungstatbestandes in § 112a Abs. 2 Satz 1 BetrVG sein, mit der Folge, dass sich das neu gegründete Unternehmen darauf nicht berufen kann.973 Im Übrigen kann ein solcher Vorgang unter Umständen auch als Umstrukturierung des Unternehmens verstanden werden, so dass die Befreiung von der Sozialplanpflicht nach § 112a Abs. 2 Satz 2 BetrVG ohnehin nicht eintritt.974 Weiterhin führt die fehlende Information über die Sozialplanprivilegierung nach § 112a Abs. 2 Satz 1 BetrVG des neuen Inhabers dazu, dass die Widerspruchsfrist nach § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB nicht beginnt.975 Nach Ablauf des Privilegierungszeitraums von vier Jahren ist dieser Fehler der Unterrichtung kraft Gesetz geheilt. Ab dann beginnt im Hinblick auf diesen Fehler entsprechend § 613a Abs. 6 BGB die Widerspruchsfrist von einem Monat zu laufen. Allerdings kann ein solches Widerspruchsrecht, nach Ansicht des BAG,976 durch den Arbeitnehmer verwirkt werden. Im vorliegenden Fall arbeitete die Arbeitnehmerin nach fehlerhafter Unterrichtung, die nicht den Ansprüchen des § 613a Abs. 5 BGB genügte, sieben Jahre für den neuen Inhaber. Die Verwirkung ist dabei ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung nach § 242 BGB.
6.320 Der Eintritt des Erwerbers nach § 613a Abs. 1 BGB in die Rechte und Pflichten der zum Zeitpunkt des Übergangs des Betriebs oder Betriebsteils bestehenden Arbeitsverhältnisse löst für sich genommen nicht die Mitbestimmung nach § 99 BetrVG aus, da es sich nicht um Neueinstellungen, sondern um die Fortsetzung bestehender Arbeitsverhältnisse handelt.977 Denkbar ist aber, dass aufgrund weiterer Maßnahmen Versetzungen nötig sind, bei denen dann § 99 BetrVG eingreift. 3. Schicksal des Betriebsrats
6.321 Der Betriebsübergang als solcher und Strukturänderungen auf Unternehmensebene im Allgemeinen (Aufspaltungen, Abspaltungen, Verschmelzungen oder Vermögensübertragungen) haben grundsätzlich keine Auswirkungen auf den Betriebsrat als Organ oder die Mitgliedschaft im Betriebsrat.978 Solange die betriebsverfassungsrechtliche Identität des Betriebes fortbesteht, lässt ein Betriebsinhaberwechsel die Rechtsstellung des für den Betrieb gewähl-
972 BAG v. 27.6.2006 – 1 ABR 18/05, NZA 2007, 106; Willemsen, DB 1990, 1405; Heinze, NZA 1987, 41 (49); Oetker in Großkomm. BetrVG, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 310. 973 BAG v. 27.6.2006 – 1 ABR 18/05, NZA 2007, 106; Oetker in Großkomm. BetrVG, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 311. 974 Althaus in Nerlich/Kreplin, Münchener Handbuch Insolvenz und Sanierung, § 19 Rz. 238. 975 BAG v. 15.12.2016 – 8 AZR 612/15, NZA 2017, 783. 976 BAG v. 24.8.2017 – 8 AZR 265/16, NZA 2018, 168. 977 BAG v. 7.11.1975 – 1 ABR 78/74, AP Nr. 3 zu § 99 BetrVG 1972 (Kraft/Geppert). 978 St. Rspr. des BAG, vgl. nur BAG v. 11.10.1995 – 7 ABR 17/95, MDR 1996, 614 = NZA 1996, 495; BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, MDR 2002, 220 = NZA 2002, 41 (43); Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 71 ff.; Koch in APS, § 102 BetrVG Rz. 55.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.322 Kap. 6
ten Betriebsrats unberührt.979 Dies gilt ebenso, wenn nur eine kleine Einheit abgespalten wird, so dass die betriebliche Identität im verbleibenden Hauptteil gewahrt bleibt. Der VeräußererBetriebsrat bleibt für diesen Hauptteil im Amt.980 Endet das Amt des Betriebsrats wegen Identitätsverlusts, kann, soweit die Voraussetzungen vorliegen, beim Erwerber ein neuer Betriebsrat gebildet werden. Auch wenn nur ein Betriebsteil (i.S.v. § 4 BetrVG) mit einem Betriebsrat veräußert wird, geht der gesamte Betriebsrat über, sofern es sich um den Hauptteil des Betriebes handelt. Dem (alten) Betriebsrat steht für den Fall der Betriebsspaltung und der Zusammenlegung von Betrieben oder Betriebsteilen zu einem Betrieb zur Sicherung der Kontinuität der Betriebsratsarbeit gem. § 21a Abs. 1, 2 BetrVG ein Übergangsmandat981 für sechs Monate zu, soweit die betriebliche Organisation verändert wird und sich der Fortbestand des Betriebsratsmandats nicht bereits aus allgemeinen Regeln ergibt (vgl. einführend bereits Rz. 6.19). § 21a BetrVG gilt somit nur subsidiär im Falle des Verlustes der Identität des Betriebs. Der Rechtsstatus des Betriebsratsmitglieds während des Übergangsmandats unterscheidet sich grundsätzlich nicht von dem während des regulären Mandats. Hauptsächliche Aufgabe während dieser Übergangszeit ist es, Wahlvorstände zu bestellen. Mögliche Folge des Übergangsmandates ist ein Auseinanderfallen von Arbeitsverhältnis und Betriebsratsamt, was „jedoch mangels einer besseren Alternative hinzunehmen“ ist,982 um die Existenz eines funktionsfähigen Betriebsrats bei Betriebsspaltung und -zusammenlegung zu gewährleisten. Die Ausgliederung/Abspaltung eines Betriebsteils (vgl. bereits Rz. 6.316) wie auch die Aufteilung einer betriebsratsfähigen Einheit fallen als Spaltung unter Abs. 1. Wird ein Betrieb oder selbständiger Betriebsteil i.S.v. § 4 BetrVG in einen bestehenden Betrieb des Erwerbers eingegliedert, verliert er seine Eigenständigkeit und ist nicht mehr betriebsratsfähig; die Mitgliedschaft im Betriebsrat erlischt sofort wegen Ablaufs der Amtszeit (§ 24 BetrVG).983 Neu hinzugekommene Arbeitnehmer werden dann durch den beim Erwerber bestehenden Betriebsrat vertreten.984 § 21a BetrVG greift aber, wenn in der aufnehmenden Einheit kein Betriebsrat existiert und diese betriebsratsfähig ist.985 Bewirkt der Übergang ein Absinken oder Ansteigen der Belegschaftsstärken, können außerplanmäßige Betriebsratswahlen bei Veräußerer oder Erwerber nach § 13 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG nötig sein;986 fällt aufgrund dessen der Betrieb nicht mehr unter den Geltungsbereich des BetrVG, endet das Betriebsratsamt.987 Werden 979 LAG Hessen v. 14.3.2011 – 16 Sa 1677/10, NZA-RR 2011, 419; Richardi/Annuß/Thüsing, § 21 BetrVG Rz. 28; Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, § 21 BetrVG Rz. 34. 980 Richardi/Thüsing, § 21a BetrVG Rz. 6; Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, § 21a BetrVG Rz. 9 f.; s.a. BAG v. 14.8.2013 – 7 ABR 56/11, DB 2014, 308. 981 Dieses soll verhindern, dass eine betriebsratslose Zeit entsteht, vgl. BT-Drucks. 14/5741, 38 f. Zuletzt BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 62/11, MDR 2013, 352 = NZA 2013, 277; EuGH v. 29.7.2010 – C-151/09, NZA 2010, 1014; vgl. zur Entstehung von Übergangsmandaten nach § 21a BetrVG im Allgemeinen Linsenmaier, RdA 2017, 128. 982 Vgl. Richardi/Thüsing, § 21a BetrVG Rz. 23. 983 Seiter, S. 124; Hohenstatt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, D Rz. 64; Däubler/Kittner/ Klebe/Wedde, § 24 BetrVG Rz. 29; Cohnen in MünchAnwHdbArb, § 54 Rz. 156 m.w.N. 984 LAG Hessen v. 14.3.2011 – 16 Sa 1677/10, NZA-RR 2011, 419; LAG Frankfurt v. 6.5.2004 – 9 TaBVGa 61/04, BeckRS 2004 30450086; ArbG Cottbus v. 24.1.2013 – 3 BVGa 1/13, juris; ErfK/ Koch, § 21a BetrVG Rz. 3; Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, § 21a BetrVG Rz. 14. 985 BAG v. 31.5.2000 – 7 ABR 78/98, NZA 2000, 1350. 986 Seiter, S. 124; vgl. Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, § 13 BetrVG Rz. 18 ff. und § 21 BetrVG Rz. 35; Koch in APS, § 102 BetrVG Rz. 57. 987 Ebenso bei Übernahme durch kirchlichen Träger: BAG v. 9.2.1982 – 1 ABR 36/80, NJW 1982, 1894, vgl. Rz. 6.334.
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6.322
Kap. 6 Rz. 6.322a
Arbeitsrecht
Betriebe oder Betriebsteile im Rahmen des § 613a BGB zu einem Betrieb zusammengefasst, so nimmt gem. § 21a Abs. 2 BetrVG der Betriebsrat des nach Zahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer größten Betriebs das Übergangsmandat wahr. Für die Bestimmung des größten Betriebs ist nach herrschender Auffassung auf den Zeitpunkt der Zusammenfassung abzustellen.988 War der betriebsratslose Betrieb bzw. Betriebsteil nach der Zahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer der größte, nimmt das Übergangsmandat der nächst größte wahr.989
6.322a Im Fall der Betriebsstilllegung oder Zerschlagung eines Betriebs, also der Übertragung von Betriebsteilen auf verschiedene Rechtsträger und dem damit einhergehenden Untergang (mithin Verlust) des Betriebs (der Betriebsidentität), endet das Amt des Betriebsrats, wobei ihm gem. § 21b BetrVG ein Restmandat verbleibt.990 Insbesondere ist dieses Restmandat für den dem Betriebsübergang widersprechenden Arbeitnehmer im Rahmen einer anschließenden betriebsbedingten Kündigung von Bedeutung,991 wobei hervorgehoben werden muss, dass auch bei Widerspruch ein Betrieb an sich noch existieren muss; die Widerspruchserklärung an sich kann kein Restmandat begründen.992 Ein vor der Betriebsaufspaltung amtierender Betriebsrat muss in der Regel auch nicht kraft eines Restmandates nach § 21b BetrVG beteiligt werden.993 Gleichwohl bleibt dort Raum für ein Übergangsmandat nach § 21a BetrVG, wo bei der Zerschlagung betriebsratsfähige Einheiten übertragen werden.994 Ein Nebeneinander von Restmandat (Zuständigkeit für Betrieb im Zustand vor Betriebsänderung) und Übergangsmandat (Zuständigkeit für neuen Betrieb) ist auch bei der Zusammenlegung von Betrieben nicht ausgeschlossen.995
6.323 Ebenso wenig wie die Veräußerung des gesamten Betriebs als solche ein Grund für eine Auflösung oder Neuwahl des Betriebsrats ist, bewirkt sie auch nicht das Erlöschen der Mitgliedschaft im Betriebsrat (vgl. aber Rz. 6.152). Die Arbeitsverhältnisse der einzelnen Betriebsratsmitglieder gehen kraft Gesetzes auf den Erwerber über; von einer Beendigung der Arbeitsverhältnisse nach § 24 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG kann deshalb nicht die Rede sein. Anders ist die Rechtslage, wenn ein Betriebsteil übergeht oder wenn ein Betriebsratsmitglied dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses widerspricht.
6.324 Wird ein Betriebsteil veräußert, scheiden betroffene Betriebsratsmitglieder aus dem Betriebsrat des Veräußererbetriebs gem. § 24 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG aus, da ihr Arbeitsverhältnis mit dem Veräußerer endet; für sie rücken Ersatzmitglieder nach (§ 25 BetrVG). Sollten nicht genügend Ersatzmitglieder vorhanden sein, sind nach § 13 Abs. 2 Nr. 2 BetrVG Neuwahlen 988 Löwisch/Kaiser, § 21a BetrVG Rz. 23; Rieble/Gutzeit, ZIP 2004, 693; Hohenstatt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, D Rz. 81; Rieble, NZA 2002, 233; a.A. Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, § 21a BetrVG Rz. 18; s.a. BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097. Die Terminologie zu § 21a Abs. 2 BetrVG ist nicht einheitlich, es wird synonym von Zusammenfassung und Verschmelzung gesprochen. Unter Zusammenfassung von Betrieben oder Betriebsteilen verstehen wir den umgekehrten Fall der Aufspaltung, wenn durch das Zusammenfassen ein neuer Betrieb entsteht: Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, § 21a BetrVG Rz. 11. 989 Hanau, NJW 2001, 2513. 990 BAG v. 19.11.2003 – 7 AZR 11/03, NZA 2004, 435. 991 Vgl. LAG Rheinland-Pfalz v. 18.4.2005 – 2 TaBV 15/05, NZA-RR 2005, 529. 992 BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 62/11, MDR 2013, 352 = NZA 2013, 277; Hidalgo/Kobler, NZA 2014, 290. 993 BAG v. 24.9.2015 – 2 AZR 562/14, NZA 2016, 366. 994 ErfK/Koch, § 21a BetrVG Rz. 3, § 21b BetrVG Rz. 2; vgl. zu Übergangs- und Restmandat Moll/ Ersfeld, DB 2011, 1108; Kittner, NZA 2012, 541. 995 BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 62/11, MDR 2013, 352 = NZA 2013, 277.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.327 Kap. 6
einzuleiten.996 Sollte dem Betriebsrat ein Rest- oder Übergangsmandat zukommen, so wird vertreten, dass das Betriebsratsamt erst mit dessen Beendigung erlischt.997 Geht das Arbeitsverhältnis des Betriebsratsmitglieds bei einer Betriebsteilveräußerung wegen Widerspruchs nicht über,998 besteht das Betriebsratsamt im Betriebsrat des Veräußererbetriebs fort. Widerspricht ein Betriebsratsmitglied beim Übergang des ganzen Betriebs, so scheidet es aus dem übergegangenen Betriebsrat aus, da ein Arbeitsverhältnis mit dem Erwerber nicht besteht; auch in diesem Fall rückt beim Erwerber ein Ersatzmitglied nach (vgl. Rz. 6.255 zur Kündigung „wegen“ Widerspruchs durch den früheren Betriebs(teil)inhaber). Wenn die Zuordnung999 (vgl. Rz. 6.108) eines Betriebsratsmitglieds problematisch ist, ist es bis zur rechtskräftigen Entscheidung an der Wahrnehmung seines Amtes gehindert;1000 die Amtsgeschäfte sind von einem Ersatzmitglied wahrzunehmen. Dem Erwerber kann nicht durch einstweilige Verfügung aufgegeben werden, dem Arbeitnehmer Zutritt zum Betrieb zum Zwecke der Wahrnehmung von Betriebsaufgaben zu gestatten.1001
6.325
Die Veräußerung eines Betriebs oder Betriebsteils ist keine Stilllegung; die Voraussetzungen für Kündigungen von Betriebsratsmitgliedern nach § 15 Abs. 4 und Abs. 5 KSchG liegen damit nicht vor. Legen Betriebsratsmitglieder ihr Amt nieder, kommen sie in den Genuss des nachwirkenden Kündigungsschutzes nach § 15 Abs. 1 KSchG; dieser nachwirkende Kündigungsschutz greift auch dann ein, wenn ein Betriebsratsmitglied sein Amt anlässlich des Übergangs eines Betriebs oder Betriebsteils verliert.1002
6.326
4. Schicksal des Gesamtbetriebsrats, Mitwirkung und Mitbestimmung Nach überwiegender Literaturauffassung war ein Gesamtbetriebsrat nach § 47 Abs. 1 BetrVG 6.327 in seinem Bestand an das Unternehmen gebunden, bei dem er gebildet wurde.1003 Seine Zuständigkeit verliert er für die Betriebe, die auf einen neuen Rechtsträger übertragen werden. Für sein Bestehen braucht es beim übertragenden Unternehmen noch mindestens zwei Betriebe mit einem Betriebsrat. Beim Erwerber ist ein neuer Gesamtbetriebsrat zu bilden, wenn dort die Voraussetzungen gem. § 47 Abs. 1 BetrVG vorliegen. Das BAG1004 fragt hinsichtlich eines Fortbestands des Gesamtbetriebsrats nach dem Erhalt der gesamten betrieblichen Identität. Damit ist der betriebliche Bereich gemeint, den der Gesamtbetriebsrat repräsentiert und nicht der einzelne Betriebsrat. Bleibt der Gesamtbetriebsrat bei einem Betriebsübergang erhalten, indem alle Betriebe auf ein bisher betriebsloses Unternehmen übergehen, deutet das BAG einen Fortbestand des Gesamtbetriebsrats beim Erwerber an.1005 Weil in einem solchen Fall die Betriebsidentität aller Betriebe erhalten bleibe, könnte wie bei einem Inhaberwechsel in einem Betrieb von einem Fortbestand des Gesamtbetriebsrats auszugehen sein. Im Ergebnis lässt das 996 Richardi/Thüsing, § 13 BetrVG Rz. 29. 997 Richardi/Thüsing, § 24 BetrVG Rz. 12; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 126. 998 Vgl. dazu Annuß, DB 1999, 798 ff.; Feudner, DB 1994, 1570; vgl. Rz. 6.140 ff.; Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 151. 999 Vgl. dazu LAG Sachsen-Anhalt v. 16.3.1999 – 8 Sa 589/98, BB 1999, 1875. 1000 Vgl. LAG Köln v. 27.6.1997 – 11 TaBV 75/96, NZA-RR 1998, 266. 1001 LAG Hamm v. 14.6.1978 – 3 TaBV 57/78, ARSt. 1979, 159. Vgl. auch zur Zuordnung von Betriebsratsmitgliedern LAG Sachsen-Anhalt v. 16.3.1999 – 8 Sa 589/98, NZA-RR 1999, 574. 1002 Schaub in MünchKomm/BGB, § 613a Rz. 142; Cohnen in MünchAnwHdbArb, § 54 Rz. 153. 1003 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, § 47 BetrVG Rz. 18; Kreutz in Großkomm. BetrVG, § 47 BetrVG Rz. 52; Röder/Haußmann, DB 1999, 1754. 1004 BAG v. 5.6.2002 – 7 ABR 17/01, NZA 2003, 336. 1005 So auch Cohnen in MünchAnwHdbArb, § 54 Rz. 142.
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599
Kap. 6 Rz. 6.328
Arbeitsrecht
BAG dies aber noch offen. Hinsichtlich der Situation beim Veräußerer zieht das BAG die Vorschrift des § 47 Abs. 1 BetrVG heran. Werden sämtliche Betriebe übertragen, existiert mangels Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen kein Gesamtbetriebsrat mehr.1006
6.328 Richtig ist es, die Wahrung der gesamten Betriebsidentität als notwendige Bedingung des Fortbestands des Betriebsrats zu bestimmen. Die Betriebsverfassung begreift ihren Gegenstand, den Betrieb, als Arbeitsorganisation. Daraus bezieht sie ihr staatlich verordnetes Mandat. Wird die Arbeitsorganisation geändert, entfällt ihre Legitimation.1007 Erkennt man nun die identische Funktion von Einzel- und Gesamtbetriebsrat an, den Arbeitnehmern ein Vertretungsorgan auf jeder Leitungsebene des Unternehmens bereitzustellen, ohne dass eine Vertretung gegenüber der anderen über- oder untergeordnet ist,1008 entscheidet der Erhalt der betriebsverfassungsrechtlichen Identität auch über den Fortbestand des Gesamtbetriebsrats, weshalb die unternehmensbezogene Ansicht der Literatur, den Fortbestand des Gesamtbetriebsrats von dem „unternehmerischen Ort“ seiner Gründung abhängig zu machen, abzulehnen ist.1009
6.329 Allein das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des § 47 Abs. 1 BetrVG ist maßgeblich für den Bestand des Gesamtbetriebsrats beim Veräußerer. Dafür spricht der Zweck dieser Norm und es ist vorteilhaft, dass klar erkennbar ist, wann beim Veräußerer ein Gesamtbetriebsrat nicht mehr existiert. Das dient der Rechtssicherheit. Nach anderer Ansicht soll hingegen (auch) beim Veräußerer der Fortbestand des Gesamtbetriebsrats davon abhängig gemacht werden, ob sich die gesamte betriebliche Identität veränderte.1010 Das wäre zwar eine konsequentere Lösung. Es ist aber unklar, wann genau eine solche Veränderung anzunehmen sein soll. Zählt dabei nur die Anzahl der übergehenden einzelnen Betriebe oder finden auch andere Gesichtspunkte Beachtung, wie z.B. die Größe des Betriebs oder seine Bedeutung für den Geschäftszweck des Unternehmens? Da das BAG zumindest beim Erwerber jede Identitätsänderung für wesentlich hält, hätte diese Lösung unter Umständen auch zur Folge, dass beim Veräußerer mit jedem Betriebs(teil)übergang ein neuer Gesamtbetriebsrat zu bilden wäre. Das ist unseres Erachtens nicht haltbar. Da laut BAG1011 jede Änderung wesentlich ist, kommt es ebenfalls nicht in Betracht, auf eine „wesentliche“ Erhaltung der Identität der Betriebe für den Fortbestand der Gesamtbetriebsräte abzustellen.1012 Die Rechtsprechung des BAG begegnet trotzdem Bedenken. Das BAG bestimmt zum einen nicht hinreichend genau, mit welchen Kriterien eine Änderung der gesamten betrieblichen Identität bestimmt werden kann. Zum anderen lässt das Gericht offen, was passieren soll, wenn entsprechend dem Fortbestand des Gesamtbetriebsrats „seine“ Gesamtbetriebsvereinbarungen beim Erwerber weitergelten sollen, dort aber bereits regelungsgleiche Gesamtbetriebsvereinbarungen existieren. Darauf ist an späterer Stelle einzugehen (Rz. 6.370 ff.).
6.330 Fraglich ist, ob dem Gesamtbetriebsrat ein Rest- und Übergangsmandat nach §§ 21a, 21b BetrVG bis zu seiner Neuerrichtung beim Erwerber zusteht. Dafür soll sprechen, dass das Übergangsmandat für den Fall der Betriebsstilllegung entwickelt wurde und der „Untergang 1006 1007 1008 1009
Wohl auch LAG Düsseldorf v. 14.2.2001 – 4 TaBV 67/00, NZA-RR 2001, 594. Rieble/Gutzeit, NZA 2003, 233 (234). Vgl. Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, § 50 BetrVG Rz. 5. Vgl. Hohenstatt/Müller-Bonanni, NZA 2003, 766 (768) mit dem zutreffenden Hinweis, dass der Fortbestand dadurch oft auch von „Zufälligkeiten“ bei der Übertragung der Unternehmensanteile beeinflusst ist. 1010 Hohenstatt/Müller-Bonanni, NZA 2003, 766 (768). 1011 BAG v. 5.6.2002 – 7 ABR 17/01, NZA 2003, 336 (337). 1012 So aber Hohenstatt/Müller-Bonanni, NZA 2003, 766 (768).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.331a Kap. 6
eines Rechtsträgers“ damit vergleichbar sei.1013 Diese Auffassung überzeugt nicht. Der Gesamtbetriebsrat hat ebenso wenig wie der Konzernbetriebsrat eine feste Amtszeit.1014 Die Beteiligungsrechte des Gesamt- und Konzernbetriebsrats können vom Einzelbetriebsrat wahrgenommen werden.1015 §§ 21a, b BetrVG sind deshalb in diesem Fall nicht (auch nicht analog) anwendbar. Bis zur Errichtung eines Gesamtbetriebsrats entfallen dessen Beteiligungsrechte. Der Erwerber kann in mitbestimmungpflichtigen Angelegenheiten, die in den Zuständigkeitsbereich des Gesamtbetriebsrats fallen, wirksam einseitig handeln.1016 Für die Zukunft ist davon auszugehen, dass die Gerichte den Fortbestand des Gesamtbetriebsrats beim Erwerber von der Beibehaltung der gesamten betriebsverfassungsrechtlichen Identität abhängig machen. Jegliche Änderung ist dabei erheblich. Für die Existenz des Gesamtbetriebsrats beim Veräußerer gilt die Regelung des § 47 Abs. 1 BetrVG. Die neue Rechtsprechung des BAG hat im Einzelnen folgende Auswirkungen:
6.331
(1) Bei der Übertragung sämtlicher Betriebe auf einen bislang betriebslosen Erwerber bleibt die ursprüngliche Betriebsidentität erhalten. Der Gesamtbetriebsrat besteht beim Erwerber fort. (2) Gehen nicht sämtliche, sondern ein oder mehrere Betriebe über, kommt es stets zu einer Veränderung der betriebsverfassungrechtlichen Identität. Auf wesentliche Änderungen oder auf eine Vielzahl von betroffenen Betrieben kommt es nicht an. Der „alte“ Gesamtbetriebsrat kann beim Erwerber nicht fortbestehen. Es ist ein „neuer“ Gesamtbetriebsrat nach Maßgabe des § 47 Abs. 1 BetrVG von den Einzelbetriebsräten zu bilden. Der Gesamtbetriebsrat beim Veräußerer besteht fort, soweit noch die Voraussetzungen gem. § 47 Abs. 1 BetrVG vorliegen. (3) Existieren beim Erwerber bereits Betriebe, sind die übergehenden Betriebe, auch wenn es alle sind, in die dortige betriebsverfassungsrechtliche Struktur zu integrieren. Auch dadurch fällt die „Gesamtidentität“ weg. Insofern gilt das Gleiche wie unter Punkt (2). Wird im Rahmen eines Betriebsübergangs ein Interessenausgleich ausgehandelt, ist der Gesamtbetriebsrat nur zuständig, wenn dieser nach § 50 Abs. 2 BetrVG ermächtigt ist oder die unternehmerische Planung mehrere Betriebe betrifft und eine einheitliche Regelung erfordert (§ 50 Abs. 1 BetrVG);1017 dann betrifft dies auch den Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste (§ 1 Abs. 5 KSchG, § 125 InsO).1018 Dies gilt nicht für den Abschluss eines Sozialplans. Dessen Regelung muss zwingend unternehmenseinheitlich oder betriebsübergreifend erfolgen, z.B. auf der Grundlage eines bestimmten, auf das gesamte Unternehmen bezogenen Sozialplanvolumens.1019 Anders beurteilt dies das BAG nur, wenn die Durchführung der vereinbarten Betriebsänderung von „betriebsübergreifenden einheitlichen Kompensations-
1013 1014 1015 1016
Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, § 21b BetrVG Rz. 7, § 47 BetrVG Rz. 23e. Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, § 21b BetrVG Rz. 3. Richardi/Thüsing, § 21a BetrVG Rz. 26 m.w.N. Kreutz in Großkomm. BetrVG, § 47 BetrVG Rz. 30; a.A. Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, § 47 BetrVG Rz. 5. 1017 BAG v. 15.1.2002 – 1 ABR 10/01, NZA 2002, 988. S. ausführlich Richardi/Annuß, § 50 BetrVG Rz. 37 ff. 1018 BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 386/11, NZA 2013, 333; BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, NZA 2011, 1108. 1019 BAG v. 3.5.2006 – 1 ABR 15/05, NZA 2007, 1245; BAG v. 23.10.2002 – 7 ABR 55/01, NZA 2003, 1360.
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6.331a
Kap. 6 Rz. 6.331b
Arbeitsrecht
regelungen“ abhängig ist.1020 Ein vom örtlichen Betriebsrat ausgehandelter Sozialplan aus Anlass einer konkreten Betriebsänderung geht regelmäßig einem mit dem Gesamtbetriebsrat ausgehandelten vorsorglichen Sozialplan, der für eine Vielzahl künftig möglicher, noch nicht geplanter Betriebsänderungen den Ausgleich oder die Milderung wirtschaftlicher Nachteile vorsieht, vor (s. hierzu bereits Rz. 6.313). Steht die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats fest, ist dessen Verhandlungspartner auf Unternehmerseite grundsätzlich die Unternehmensleitung, die ihre Befugnisse allerdings an die Betriebsleitung delegieren kann.1021
6.331b Entsprechendes gilt für die Zuständigkeit des Konzernbetriebsrats: Ein Konzernbetriebsrat ist originär nur zuständig, wenn es sich um eine Betriebsänderung handelt, die mehrere oder alle Konzernunternehmen betrifft und die notwendigerweise für die betroffenen Konzernunternehmen einheitlich behandelt werden muss (vgl. § 58 Abs. 1 Satz 1 BetrVG). Verhandlungspartner des Konzernbetriebsrats ist die Konzernleitung als Leitung des herrschenden Unternehmens.
6.331c Ist dem Arbeitgeber nicht klar, ob der Betriebsrat, der Gesamtbetriebsrat oder der Konzernbetriebsrat zuständiger Verhandlungspartner ist, um die betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsrechte zu erfüllen, so sollte er diese zur Klärung der Zuständigkeitsfrage auffordern.1022 Der nach dieser Einigung bestimmte Betriebsrat ist dann der „richtige“ Verhandlungspartner. Verhandlungen mit dem „falschen“ Betriebsrat sollten unbedingt vermieden werden.1023 Handelt es sich um eine betriebs- bzw. unternehmensübergreifende Maßnahme, sind im Rahmen von §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 1 BetrVG auch Interessenausgleiche und Sozialpläne in betriebsratslosen Betrieben oder sogar Unternehmen, die in die Zuständigkeit von Gesamt- bzw. Konzernbetriebsrat fallen, möglich.1024 Schließlich ergibt sich eine mögliche Zuständigkeit des Gesamt- oder sogar Konzernbetriebsrats, wenn der Betriebsrat seinem Übergangsmandat gem. § 21a BetrVG nicht ordnungsgemäß nachkommt und Wahlvorstände zu bestellen sind.1025 5. Betriebsverfassungs- und mitbestimmungsrechtliche Veränderungen
6.332 Die Übertragung eines Betriebs oder Betriebsteils nach § 613a BGB kann nicht nur außerplanmäßige Betriebsratswahlen nach § 13 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG bewirken, sondern auch eine Veränderung betriebsverfassungsrechtlicher Beteiligungsrechte des Betriebsrats, z.B. wenn die Schwellenwerte der §§ 27, 99, 106 oder 110 BetrVG unter- oder überschritten werden.
6.333 Führt der Betriebsübergang beim Erwerber zu einem Unternehmen mit mehreren Betrieben, muss ein Gesamtbetriebsrat nach § 47 BetrVG errichtet werden. Wird ein Konzern i.S.v. § 18 Abs. 1 AktG gebildet, kann durch Beschlüsse der einzelnen Gesamtbetriebsräte ein Konzernbetriebsrat errichtet werden (§ 54 BetrVG).
6.334 Das BetrVG gilt nicht für Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen (§ 118 Abs. 2 BetrVG). Übernimmt deshalb ein kirchlicher Träger durch 1020 1021 1022 1023 1024 1025
BAG v. 23.10.2002 – 7 ABR 55/01, NJOZ 2003, 3369. S. näher Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, § 50 BetrVG Rz. 10. BAG v. 24.1.1996 – 1 AZR 542/95, NZA 1996, 1107. Vgl. Freckmann, DStR 2006, 1842. ErfK/Kania, § 111 BetrVG Rz. 6. Richardi/Thüsing, § 21a BetrVG Rz. 21 m.w.N.; s.a. LAG Hessen v. 19.4.2002 – 9 Ta BV Ga 71/02, BeckRS 2002, 30449548. Zum Übergangsmandat s. bereits Rz. 6.322.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.338 Kap. 6
Rechtsgeschäft ein bisher von einem nicht kirchlichen Träger betriebenes Krankenhaus, wird das Krankenhaus allein durch den Trägerwechsel zu einer karitativen Einrichtung der Kirche i.S.v. § 118 Abs. 2 BetrVG mit der Folge, dass der Betriebsrat aufzulösen ist und die Arbeitnehmer die betrieblichen Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte verlieren.1026 Erhält ein Betrieb durch den Betriebsübergang Tendenzcharakter oder wird ein Betriebsteil in einen Tendenzbetrieb eingegliedert, greift von diesem Zeitpunkt an § 118 Abs. 1 BetrVG ein. Die Pflicht zur Verhandlung über einen Interessenausgleich entfällt beispielsweise.
6.335
Geht der Betrieb oder Betriebsteil von einem öffentlich-rechtlichen auf einen privat-rechtlichen Rechtsträger über, endet damit die Geltung des Personalvertretungsrechts und das Betriebsverfassungsgesetz kommt zum Zuge.1027 Anders kann dies lediglich in Fällen sein, in denen die Privatisierung durch Gesetz angeordnet wird.1028 Umgekehrt gilt das Gleiche, § 613a BGB ist unmittelbar bzw. bei einem durch öffentlich-rechtlichen Vertrag erfolgenden Übergang nach § 62 Satz 2 VwVfG entsprechend anwendbar.
6.336
Wird ein Betrieb oder Betriebsteil nach § 613a BGB übertragen und sinkt oder steigt dadurch die Arbeitnehmerzahl unter bzw. über die jeweils erforderliche Grenze nach den Mitbestimmungsgesetzen, kann eine Aufsichtsratsumbildung nötig sein. Verliert ein Aufsichtsratsmitglied, das nach § 7 Abs. 2 MitbestG ein Arbeitnehmer des Unternehmens sein muss, die Wählbarkeit, erlischt sein Amt (§ 24 Abs. 1 MitbestG). Da ein betroffener Arbeitnehmer durch den Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils die Wählbarkeit im Unternehmen des bisherigen Inhabers verliert, erlischt sein Aufsichtsratsamt automatisch. Dies gilt nur dann nicht, wenn ein Betrieb oder Betriebsteil eines abhängigen Unternehmens auf das herrschende Unternehmen übergeht (§ 5 Abs. 1 Satz 1 MitbestG). Ein übergegangener Arbeitnehmer ist nur dann zum Aufsichtsrat wählbar, wenn er u.a. mindestens ein Jahr dem Unternehmen angehört hat (§ 7 MitbestG, § 8 BetrVG). Dabei ist nicht der Zeitpunkt der Wahl, sondern der Zeitpunkt des Beginns der Amtszeit des Aufsichtsratsmitglieds entscheidend.1029 Die Wahl kann also durchaus während der Jahresfrist erfolgen.
6.337
6. Umwandlungsgesetz Das Umwandlungsgesetz enthält wichtige betriebsverfassungsrechtliche Regelungen. Der Betriebsrat ist auf Grundlage des gesellschaftsrechtlichen Vertrags über eine geplante Umwandlung zu unterrichten. Für die betroffenen Arbeitnehmer und Betriebsräte sind besonders wichtig die anzugebenden „Folgen der Umwandlung für die Arbeitnehmer und ihre Vertretungen sowie die insoweit vorgesehenen Maßnahmen“1030 (§ 5 Abs. 1 Nr. 9, § 126 Abs. 1 Nr. 11, §§ 136, 176, 177, 194 Abs. 1 Nr. 7 UmwG). Der gesellschaftsrechtliche Umwandlungsvertrag bzw. sein Entwurf muss spätestens einen Monat vor dem Tag der Anteilsinhaberversammlung jedes beteiligten Unternehmens, die über die Zustimmung zum Vertrag beschließt, dem jeweiligen zuständigen Betriebsrat zugeleitet werden.1031 Der Nachweis über die Zulei1026 1027 1028 1029 1030
BAG v. 9.2.1982 – 1 ABR 36/80, BB 1982, 924; Neumann/Duesberg, NJW 1973, 268. Althaus in Nerlich/Kreplin, Münchener Handbuch Insolvenz und Sanierung, § 19 Rz. 241. Vgl. hierzu Edenfeld in Erman, § 613a BGB Rz. 75. Seibt in HWK, § 7 MitbestG Rz. 3. Vgl. dazu Bauer/Lingemann/Diller/Haußmann, Formularbuch Arbeitsrecht, Kap. 39.9; Lutter/ Drygala in Lutter, § 5 UmwG Rz. 55 ff.; Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, C Rz. 356 ff. 1031 Vgl. dazu Willemsen in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, B Rz. 147 ff.
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6.338
Kap. 6 Rz. 6.339
Arbeitsrecht
tung an den Betriebsrat ist eine Voraussetzung für die Eintragung der Umwandlung in das Register und damit Wirksamkeitsvoraussetzung.
6.339 § 21a BetrVG verhindert, dass es bei der Spaltung eines Rechtsträgers zu betriebsratslosen Betrieben kommt. Der Betriebsrat des bisherigen Betriebs erhält für höchstens sechs Monate ein befristetes Übergangsmandat. Dafür müssen die auf- oder abgespaltenen Betriebsteile über die in § 1 BetrVG genannten Arbeitnehmerzahlen verfügen und nicht in einen anderen Betrieb eingegliedert werden, in dem ein Betriebsrat bereits besteht. Der Betriebsrat führt die ihm zugeordneten Betriebsteile weiter und für die auf- und abgespaltenen Betriebsteile die Wahl von Betriebsräten durch.
6.340 In § 1 Abs. 2 Nr. 2 BetrVG ist eine widerlegbare Vermutung für einen gemeinsamen Betrieb für den Fall normiert, dass eine Unternehmensaufspaltung oder Vermögensteilübertragung auch die Spaltung eines Betriebes zur Folge hat, die bisherige Organisation jedoch nicht verändert wird. Der Betriebsrat bleibt dann im Amt.
6.341 Entfallen durch Abspaltung oder Ausgliederung (§ 123 Abs. 2, Abs. 3 UmwG) die Voraussetzungen für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat, ordnet § 325 Abs. 1 UmwG eine Mitbestimmungsbeibehaltung für die Dauer von fünf Jahren an. Führt die Spaltung oder Teilübertragung eines Betriebs zum Wegfall der Beteiligungsrechte des Betriebsrates, kann die Fortgeltung dieser Rechte durch Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag vereinbart werden.1032 7. Betriebsübergang und Sprecherausschuss
6.342 So, wie beim Übergang des ganzen Betriebs der Betriebsrat regelmäßig im Amt bleibt, wird auch das Amt des Sprecherausschusses1033 nicht berührt.1034 Dies gilt auch für Unternehmenssprecherausschüsse im erwerbenden und veräußernden Unternehmen.1035 Das SprAuG kennt jedoch keine mit § 13 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 BetrVG vergleichbare Regelung, mit der Folge, dass auch der Unternehmenssprecherausschuss außerhalb der regelmäßigen Wahlen nicht neu zu wählen ist, wenn die Gesamtzahl der Sprecherausschussmitglieder nach Eintreten sämtlicher Ersatzmitglieder unter die nach § 4 SprAuG vorgeschriebene Zahl gesunken ist. Trifft im Zuge des Betriebsübergangs ein (Betriebs-) Sprecherausschuss auf einen Unternehmenssprecherausschuss, erlischt das Amt des Ersten.1036
6.343 Beim Übergang eines Betriebsteils bleibt der Sprecherausschuss in dem beim Veräußerer verbleibenden Betriebsteil im Amt,1037 während im erworbenen Betriebsteil eine neue Wahl stattfindet. Anders als im BetrVG hat sich der Gesetzgeber dagegen entschieden, ein Über-
1032 Vgl. dazu Joost in Lutter, § 325 UmwG Rz. 42 ff. 1033 Vgl. dazu insgesamt Löwisch, SprAuG. 1034 BAG v. 28.9.1988 – 1 ABR 37/87, BB 1989, 286; Löwisch, BB 1990, 1698; Hohenstatt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, D Rz. 205 ff.; Wollenschläger/Pollert, ZFA 1996, 547; s. ausführlich Hauck, Auswirkungen des Betriebsübergangs auf Betriebsratsgremien, FS 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft zum Arbeitsrecht im Deutschen Anwaltverein, 2006, S. 621. 1035 Löwisch, BB 1990, 1698. 1036 Löwisch, BB 1990, 1698. 1037 Vgl. Löwisch/Schmidt-Kessel, BB 2001, 2162.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.348 Kap. 6
gangs- oder Restmandat für den Sprecherausschuss zu schaffen.1038 Die Mitbestimmungsrechte des Sprecherausschusses sind im Vergleich zu denen des Betriebsrates zu gering.1039 Sinkt während der Amtsperiode die Zahl der leitenden Angestellten wegen eines Betriebsoder Betriebsteilübergangs nicht nur vorübergehend unter die Mindestzahl von 10, endet die Sprecherausschussfähigkeit im verbleibenden Betrieb und zugleich das Amt des gewählten Sprecherausschusses.1040 Können leitendete Angestellte des übergangenen oder verbleibenden Betriebsteils nach § 1 Abs. 2 SprAuG zugeordnet werden, vertritt dieser Sprecherausschuss die Belange der betroffenen leitenden Angestellten bis zur Neuwahl mit.
6.344
Geht ein übergegangener Betrieb(steil) organisatorisch in einen beim Erwerber bestehenden Betrieb auf, besteht nur der Erwerberbetrieb samt Sprecherausschuss fort. Die Ämter der aufgenommenen Sprecherausschussmitglieder erlöschen.1041 Wird jedoch eine neue Organisationsstruktur geschaffen, insbesondere neue Leitungsstrukturen in personellen und sozialen Angelegenheiten, entsteht ein neuer Betrieb. Es wird nicht nur ein neuer Betriebsrat, sondern auch ein neuer Sprecherausschuss gewählt.
6.345
Nach § 32 Abs. 1 SprAuG hat der Unternehmer den Sprecherausschuss mindestens einmal im Kalenderjahr über die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Betriebs und des Unternehmens zu unterrichten, § 106 Abs. 3 BetrVG (vgl. Rz. 6.308). Gemäß § 32 Abs. 2 SprAuG gilt dies auch für die im Zusammenhang mit der Betriebsveräußerung geplanten Betriebsänderungen i.S.v. § 111 BetrVG. Damit ist nicht nur der Wirtschaftsausschuss, sondern auch der Sprecherausschuss regelmäßig bei Veräußerungen von Betrieben oder Betriebsteilen zu unterrichten.
6.346
Die Unterrichtung muss „ausdrücklich rechtzeitig und umfassend“ unter Berücksichtigung der weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des § 32 Abs. 2 SprAuG erfolgen. Eine Verpflichtung zum Abschluss von Vereinbarungen, die dem Interessenausgleich und/oder Sozialplan des § 112 BetrVG entsprechen, besteht nicht.1042 Im Übrigen gilt das in Rz. 6.309 ff. Gesagte hinsichtlich der Frage, ob im Rahmen einer Betriebs- oder Betriebsteilveräußerung überhaupt eine Betriebsänderung vorliegen kann.
6.347
XII. Fortgeltung von Kollektivnormen 1. Allgemeines § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB regelt die Auswirkungen des Betriebsübergangs auf die anwend- 6.348 baren Kollektivnormen und spricht neben Tarifverträgen nur von Betriebsvereinbarungen. Nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung fallen darunter auch Gesamtbetriebs- und Konzernbetriebsvereinbarungen.1043 Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen wirken von
1038 Rieble, NZA 2002, 233; BT-Drucks. 14/5741. 1039 So wie hier Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 150; a.A. HK-BetrVG/Düwell, § 21a BetrVG Rz. 16. 1040 Löwisch, § 1 SprAuG Rz. 48; Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 24; Hromadka/Sieg, § 1 SprAuG Rz. 45; vgl. auch BAG v. 16.8.1983 – 1 AZR 544/81, DB 1984, 129. 1041 Löwisch, BB 1990, 1698. 1042 Buchner, NZA Beil. 1/1989, 2; Wlotzke, DB 1989, 173 (178); Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 101. 1043 Seiter, S. 94; BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, BB 2003, 1387 (1391); Kern, NZA 2009, 1313 (1316).
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Kap. 6 Rz. 6.349
Arbeitsrecht
außen wie Gesetze auf das Arbeitsverhältnis ein.1044 Von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB werden Tarifverträge daher nur erfasst, wenn die Regelungen einzelvertraglich in das Arbeitsverhältnis einbezogen werden. Die entstehende Lücke schließt § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB. § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB schützt den Arbeitnehmer daher vor den Nachteilen, die bei einem Betriebs(teil)übergang entstehen würden, wenn der Erwerber nicht an die bisher im Betrieb geltenden Kollektivnormen gebunden wäre.
6.349 Grundsätzlich sind zwei Formen der Fortgeltung von Kollektivnormen möglich: Im Falle des Verlusts der Betriebsidentität kommt § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB als Auffangtatbestand zum Zuge, der eine – je nach Ansicht – individualrechtliche bzw. kollektivrechtliche Fortgeltung der Kollektivnormen anordnet (dazu sogleich Rz. 6.351 ff.). Im Falle des Erhalts der Betriebsidentität gelten Betriebsvereinbarungen unmittelbar und zwingend kollektivrechtlich gem. § 77 Abs. 4 BetrVG, Tarifverträge gem. § 4 Abs. 1 TVG weiter (Rz. 6.361 ff.).
6.350 Die Rechtslage bei Gesamt- und Konzernbetriebsvereinbarungen ist nicht eindeutig geklärt (Rz. 6.370 ff.). Existieren im Erwerberbetrieb bereits Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträge, ist je nach Fall gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB zu entscheiden (Rz. 6.373 ff.). Die Rechtslage, wenn Kollektivnormen nicht mehr gelten, regelt § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB (Rz. 6.390). Ob auch andere Kollektivvereinbarungen gem. § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB fortgelten, ist teilweise umstritten (Rz. 6.391 ff.). Ausgründungsmodelle sind gesondert zu betrachten (Rz. 6.395). 2. Transformation von Kollektivnormen a) Transformationsakt
6.351 Geht die Betriebsidentiät verloren, geschieht ein Transformationsakt der Kollektivnormen. Durch diesen Transformationsakt werden die beim bisherigen Arbeitgeber kollektivrechtlich geregelten Rechte und Pflichten mit zwingender Wirkung Inhalt der auf den neuen Arbeitgeber übergehenden Arbeitsverhältnisse. Ob die transformierten Normen auch beim Erwerber ihren kollektiv-rechtlichen Charakter beibehalten oder sich in individualvertragliche Vereinbarungen umwandeln, ist in der Literatur umstritten.1045 Nach Ansicht des BAG behalten die transformierten Normen auch beim Erwerber ihren kollektiv-rechtlichen Charakter.1046 Das BAG erläutert in dieser Entscheidung umfassend, dass der Erwerber an diese Normen in einer Weise gebunden sei, die der Nachbindung des aus einem tarifschließenden Arbeitgeberverband ausgetretenen Arbeitgebers gem. § 3 Abs. 3 TVG weitgehend entspreche, allerdings zeitlich begrenzt auf eine Höchstdauer von einem Jahr. Danach entspricht die Wirkung der transformierten Normen derjenigen des § 4 Abs. 5 TVG. Zum Nachteil der 1044 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 112. 1045 Für individualvertragliche Fortgeltung s. 6. Aufl., Rz. 342; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 112; Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 131. Dagegen meint Zöllner, DB 1995, 1401, die Fortgeltung tarifvertraglicher Regelungen nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB sei nicht „individualrechtlich“ denkbar, auch nicht als Transformation in den Arbeitsvertrag; es handele sich vielmehr um eine normative Weitergeltung, allerdings personell beschränkt auf die übergegangenen Arbeitsverhältnisse. Die Weitergeltung erfolge zunächst als zwingende, nach einem Jahr als dispositive; ähnlich Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 250; Willemsen/Müller-Bonanni in HWK, § 613a BGB Rz. 250 bezeichnen § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB als Fortgeltungsanordung sui generis. 1046 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (46); Hohenstatt, NZA 2010, 23; Meyer, DB 2010, 1404.
606
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.353 Kap. 6
Arbeitnehmer dürfen diese Normen nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Übergangs geändert werden.1047 Dieses einseitig zwingende Verschlechterungsverbot erfasst nicht Arbeitsverhältnisse neu eintretender oder beim neuen Arbeitgeber schon beschäftigter Arbeitnehmer, sondern nur die übergehenden Arbeitnehmer. Zulässig dürfte es aber sein, Änderungskündigungen dieser Arbeitnehmer, soweit sie nach §§ 1, 2 KSchG überhaupt in Betracht kommen, schon während der Jahresfrist auszusprechen; wirken dürfen sie aber erst nach Ablauf der Frist.1048 Der Betriebserwerber ist neu eintretenden Arbeitnehmern gegenüber nicht zur Gleichstellung verpflichtet.1049 Im Übrigen werden nur solche kollektivvertraglichen Regelungen erfasst, die zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs beim alten Arbeitgeber galten.1050 Dazu gehören auch Rechte und Pflichten, die zwar erst in Zukunft wirksam werden sollen, aber vor dem Betriebsübergang bereits fest vereinbart sind, so dass sie auch beim Veräußerer aufgrund bloßen Zeitablaufs wirksam werden würden.1051 Die Transformation von Kollektivnormen kann erhebliche Bedeutung für die kündigungsrechtliche Position eines übergegangenen Arbeitnehmers haben. Galt für seinen alten Arbeitgeber ein Tarifvertrag, wonach das Arbeitsverhältnis bei Erreichen eines bestimmten Alters und einer bestimmten Betriebszugehörigkeit ordentlich nicht mehr kündbar ist, oder ist im Rahmen einer Betriebsvereinbarung eine Beschäftigungssicherung1052 vorgesehen, ist daran auch der neue Arbeitgeber wegen der Transformation nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB gebunden. Ein solcher (ggf. befristeter) Ausschluss der ordentlichen Kündigung provoziert natürlich häufig (zusätzliche) Widersprüche.
6.352
b) Betriebsvereinbarungen Geht die betriebsverfassungsrechtliche Identität des (bisherigen) Betriebs beim Betriebsübergang verloren, kommt es im Grundsatz (von der in Rz. 6.361 geschilderten Ausnahme abgesehen) zur Transformation der Betriebsvereinbarungen. Erfasst sind lediglich die Inhaltsnormen von Betriebsvereinbarungen; die betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen sind ausgenommen.1053 Eine im übernommenen Betrieb geschlossene Betriebsvereinbarung gilt dann nicht mehr normativ gem. § 77 Abs. 4 BetrVG weiter. Die sich aus ihr ergebenden Rechte und Pflichten werden vielmehr Inhalt des Arbeitsverhältnisses der übernommenen Arbeitnehmer und dürfen nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Betriebsübergang zum Nachteil des Arbeitnehmers abgeändert werden (sog. Veränderungssperre, s. bereits Rz. 6.351).1054
1047 Veränderungen zugunsten der Arbeitnehmer sind jederzeit zulässig, vgl. Röder, DB 1981, 1980; Seiter, S. 95. 1048 Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 108. 1049 Röder, DB 1981, 1980; Wank, NZA 1987, 505; a.A. Schaub in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 114. 1050 BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154. 1051 BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, MDR 2008, 458 = NZA 2008, 241 (242). 1052 Vgl. zur Beschäftigungssicherung in der Metallindustrie Bauer/Diller, NZA 1994, 353. 1053 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 114; Knigge, BB 1980, 1272 (1276); Lorenz, DB 1980, 1745 (1447); Seiter, DB 1980, 877 (878). 1054 BAG v. 24.7.2001 – 3 AZR 660/00, NZA 2002, 520; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 249.
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6.353
Kap. 6 Rz. 6.354
Arbeitsrecht
6.354 Im Einzelnen können sich folgende Fallgestaltungen1055 ergeben: (1) Bei einem Betriebsteilübergang gelten die Betriebsvereinbarungen im Restbetrieb des Veräußerers unverändert weiter, wenn dessen Betriebsidentität durch den Betriebsteilübergang erhalten bleibt. (2) Führt der Erwerber den durch Aufspaltung übergegangenen Betrieb oder Betriebsteil als selbständigen Betrieb fort, gelten die Betriebsvereinbarungen (im Erwerberbetrieb) normativ weiter, bis sie durch neue Betriebsvereinbarungen abgelöst werden.1056 (3) Gliedert der Erwerber den Betrieb als Ganzes/Betriebsteil in die Betriebsorganisation ein oder verschmilzt ihn mit einem anderen Betrieb(steil), verändert sich seine Betriebsidentität. Eine normative Fortgeltung ist ausgeschlossen.1057 Besteht beim Erwerber bereits ein Betriebsrat und wurden dort Betriebsvereinbarungen mit gleichem Regelungsgegenstand geschlossen, lösen sie nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB die „alten“ Betriebsvereinbarungen ab. Ist dies nicht der Fall, werden die sich aus der Betriebsvereinbarung ergebenden Rechte und Pflichten Inhalt der Arbeitsverträge nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB. Diese arbeitsvertraglichen Regelungen können auch vor Ablauf der Frist von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB durch Betriebsvereinbarungen des Erwerbers abgelöst werden (dazu Rz. 6.355).1058 Die transformierten Regelungen dürfen nämlich nicht stärker geschützt sein als bei Fortbestehen der Betriebsidentität und kollektiver Weitergeltung.1059
6.355 Eine Ablösung setzt voraus, dass die ersetzende Betriebsvereinbarung denselben Gegenstand regelt und nach ihrem Geltungsbereich und der Regelungskompetenz der abschließenden Betriebsparteien den übergegangenen Betrieb oder Betriebsteil erfasst (sog. Sachgruppenvergleich), sie kommt auch dann zur Anwendung, wenn sie für den Arbeitnehmer ungünstigere Regelungen enthält.1060 Umstritten ist die Frage, ob eine im übergegangenen Betrieb geltende Betriebsvereinbarung durch einen beim Erwerber geltenden Tarifvertrag (oder umgekehrt) abgelöst werden kann (sog. Über-Kreuz-Ablösung). Nach richtiger Ansicht ist dies zu bejahen. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ist insofern lex specialis zu § 77 Abs. 3 BetrVG.1061 Das BAG hat jedoch entschieden, dass tarifliche Ansprüche des Arbeitnehmers, die arbeitsvertraglich in Bezug genommen wurden und damit gem. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB bei dem Erwerber weitergelten, nicht durch eine beim Erwerber geltende Betriebsvereinbarung abgelöst werden können.1062 Dabei stützt sich das BAG auf die Entscheidung vom 6.11.2007,1063 in der der 1. Senat
1055 Vgl. Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, § 77 BetrVG Rz. 51. 1056 BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, NZA 2003, 670. 1057 A.A. Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, § 77 BetrVG Rz. 48, kollektive Fortgeltung im Rahmen ihres Geltungsbereichs. 1058 Maschmann, NZA-Beil. 2009, 32 (39). 1059 BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 619/00, MDR 2002, 399 = NZA 2002, 276. 1060 BAG v. 28.6.2005 – 1 AZR 213/04, n.v.; BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 604/02, NZA 2004, 803; BAG v. 29.10.2002 – 1 AZR 573/01, NZA 2003, 393; BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, MDR 2002, 220 = NZA 2002, 41 (43); BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 619/00, MDR 2002, 399 = NZA 2002, 276. 1061 Vgl. ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 61–63; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 126; C. Meyer, NZA 2001, 751; a.A. Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, § 77 BetrVG Rz. 67, 51; für eine Über-Kreuz-Ablösung auch Döring/Grau, BB 2009, 158. 1062 BAG v. 13.11.2007 – 3 AZR 191/06, MDR 2008, 752 = NZA 2008, 600 (603). 1063 BAG v. 6.11.2007 – 1 AZR 862/06, MDR 2008, 695 = NZA 2008, 542 (546), bestätigt durch BAG v. 3.7.2013 – 4 AZR 961/11, NZA-RR 2014, 80 m.w.N.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.358 Kap. 6
der Über-Kreuz-Ablösung zumindest außerhalb des Bereichs zwingender Mitbestimmung eine klare Absage erteilt hat. Begründet wird dies mit systematischen und teleologischen Erwägungen. Würde man die Über-Kreuz-Ablösung außerhalb des Bereichs der erzwingbaren Mitbestimmung zulassen, so würden die Betriebsparteien aus Anlass des Betriebsübergangs in die Lage versetzt, tarifliche Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Diese Folge sei weder mit dem Sinn und Zweck des § 613a BGB (Bestandssicherung) noch mit dem Regelungsgehalt der Richtlinie 77/187/EWG in ihrer Fassung durch die Richtlinie 2001/23/EG vereinbar und auch außerhalb eines Betriebsübergangs gem. § 4 Abs. 3 TVG nicht möglich. Besonderer Betrachtung bedarf die Transformation freiwilliger Betriebsvereinbarungen.1064 Anders als erzwingbare Betriebsvereinbarungen wirken sie nicht nach (vgl. § 77 Abs. 6 BetrVG), sondern erlöschen nach dem Auslaufen der Kündigungsfrist, es sei denn, die Nachwirkung der freiwilligen Betriebsvereinbarung wurde vertraglich vereinbart.1065 Da die Rechtsstellung der Arbeitnehmer durch die Transformation der Kollektivnormen weder verbessert noch verschlechtert werden soll, unterliegen freiwillige Betriebsvereinbarungen einer nur begrenzten Transformation. Vor dem Betriebsübergang freiwillig gekündigte Betriebsvereinbarungen, betreffen den Erwerber nur, wenn das Ende der Kündigungsfrist in die Zeit nach dem Betriebsübergang fällt. Es wird unterschieden:
6.356
(1) Wurde der ganze Betrieb veräußert, gilt die freiwillige Betriebsvereinbarung für den Erwerber bis zum Ablauf der Kündigungsfrist unmittelbar kollektivrechtlich weiter und erlischt dann.
6.357
(2) Wurde nur ein Betriebsteil veräußert, kommt es zur Transformation. In diesem Fall stellt 6.358 sich die Frage, welche Bedeutung die Jahresfrist hat. Aufgrund ihrer fehlenden Nachwirkung wirken freiwillige Betriebsvereinbarungen nur begrenzt im Wege der Transformation nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB weiter. Die individualrechtlich fortgeltenden Regelungen einer freiwilligen Betriebsvereinbarung fallen nach Auslaufen der Kündigungsfrist ersatzlos weg, ohne dass der Erwerber noch eine Änderungskündigung aussprechen oder einen Änderungsvertrag schließen muss.1066 Da freiwillige Betriebsvereinbarungen jederzeit frei gekündigt werden können,1067 muss dasselbe auch für die nach dem Betriebsübergang individualrechtlich fortgeltenden Normen zugunsten des Erwerbers gelten.1068 Aus diesem Grund steht dem Erwerber hinsichtlich dieser Normen ein individualrechtlich ausnahmsweise zulässiges Teilkündigungsrecht zu, das nicht den Beschränkungen der §§ 1, 2 KSchG unterliegt. Auf diese Weise wird der von § 613a Abs. 1 BGB bezweckte Bestandsschutz gewährleistet, ohne dass die übergegangenen Arbeitnehmer bessergestellt werden. Wegen der unsicheren Rechtslage sollte der Erwerber vorsorglich aber darauf achten, dass der Veräußerer rechtzeitig vor dem Betriebsübergang die freiwilligen Betriebsvereinbarungen kündigt. Diese Verpflichtung kann auch im Veräußerungsvertrag festgelegt werden.
1064 1065 1066 1067 1068
Vgl. dazu Bauer/von Steinau-Steinrück, NZA 2000, 505. Vgl. dazu Jacobs, NZA 2000, 69. Vgl. Bauer/von Steinau-Steinrück, NZA 2000, 505. BAG v. 26.10.1993 – 1 AZR 46/93, MDR 1994, 696 = NZA 1994, 572. Ebenso Cohnen/Tepass in MünchHdb. ArbR, § 51 Rz. 62 f.
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Kap. 6 Rz. 6.359
Arbeitsrecht
c) Tarifverträge
6.359 Der Transformation bedarf es nur, wenn und soweit Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung nicht kollektiv beim Erwerber weitergelten.1069 Die Fortgeltung setzt eine kongruente Tarifbindung voraus. Der andere Tarifvertrag muss daher kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit für das übergegangene Arbeitsverhältnis gelten.1070
6.360 Die Bindung des neuen Arbeitgebers an tarifvertragliche Normen (Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung) betrifft für die Dauer eines Jahres nach dem Betriebs(teil)übergang nur die zur Zeit des Übergangs geltenden Tarifnormen,1071 weil § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB keine dynamische Verweisung enthält.1072 Dies gilt selbst bei einer in einem transformierten Tarifvertrag angelegten dynamischen Verweisung auf andere Tarifverträge.1073 Spätere Änderungen der tariflichen Regelungen haben keinen Einfluss auf die weitere Anwendbarkeit des transformierten Normenbestandes.1074 Tritt ein Tarifvertrag nicht mit seinem Abschluss, sondern erst später und nach Betriebsübergang in Kraft, gehört er nicht zu den Rechten und Pflichten des Arbeitsverhältnisses und geht nicht gem. § 613a Abs. 1 Satz 1 oder 2 BGB auf den Erwerber über.1075 § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB erfasst nur sog. Inhaltsnormen eines Tarifvertrages, weil nur sie Rechtsnormen enthalten, die die Rechte und Pflichten der bestehenden Arbeitsverhältnisse regeln.1076 Abschluss-, Betriebs-, betriebsverfassungsrechtliche Normen und Normen über gemeinsame Einrichtungen können dagegen nicht transformiert werden.1077 So wirken auch die betriebsverfassungsrechtlichen Normen eines Zuordnungstarifvertrags i.S.v. § 3 Abs. 1 BetrVG im Fall eines Betriebsteilübergangs beim neuen Rechtsträger grundsätzlich nicht fort.1078 Gleiches gilt auch für den schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrages. Schließlich bezieht sich die Anordnung der Fortgeltung nur auf tarifvertragliche Regelungen
1069 Vgl. nur BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, NZA 2003, 670 = BB 2003, 1387 m. Anm. Grobys; BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, GmbHR 1998, 1234 = NZA 1998, 1346 (1347); vgl. dazu Mengel, AuR 1999, 152; Rieble, EzA § 20 UmwG Nr. 1. 1070 BAG v. 19.11.2014 – 4 AZR 761/12, NZA 2015, 950 (953); BAG v. 3.7.2013 – 4 AZR 138/12, NJOZ 2014, 1110; LAG Berlin-Brandenburg v. 3.12.2014 – 24 Sa 1126/14, LSK 2015, 260431. 1071 BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404. 1072 BAG v. 14.11.2007 – 4 AZR 828/06, NZA 2008, 420; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513. 1073 BAG v. 26.8.2009 – 5 AZR 969/08, NZA 2010, 173 (175); vgl. Hohenstatt, NZA 2010, 23 (26), der auf einen Widerspruch zu BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, MDR 2008, 458 = NZA 2008, 241 (242) hinweist. 1074 BAG v. 3.7.2013 – 4 AZR 961/11, NZA-RR 2014, 80. Ebenso urteilte das BAG in dieser Entscheidung, dass eine streitige Transformation im Wege einer arbeitsgerichtlichen Feststellungsklage geklärt werden kann. 1075 BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 321/10, MDR 2012, 1353 = NZA 2012, 923. 1076 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 118. 1077 Beseler in Tschöpe, Teil 2 G Rz. 223; differenziert für Betriebsnormen ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 118 und Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 135; differenziert für Abschlussnormen Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 135. 1078 BAG v. 18.1.2012 – 7 ABR 72/10, NZA-RR 2013, 133. Die bloße Zusammenfassung von Betrieben zu einer größeren Organisationseinheit durch Zuordnungstarifvertrag verändert nicht die Betriebsidentität: BAG v. 7.6.2011 – 1 ABR 110/09, NZA 2012, 110.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.361 Kap. 6
mit zwingender Wirkung und nicht auf dispositive oder auf nachwirkende Regelungen nach § 4 Abs. 5 TVG.1079 Die Fortgeltung nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB erfasst auch Tarifverträge, die im Zeitpunkt des Betriebsübergangs zwar wirksam, aber nach § 4a TVG im Betrieb des Veräußerers unanwendbar sind. Sie können aber beim Erwerber anwendbar sein.1080 Generell gilt, dass die Regelungen in § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB als lex specialis der Regelung des § 4a TVG vorgehen. Ein nach § 613a BGB fortgeltender Tarifvertrag wird somit nicht durch § 4a Abs. 2 TVG verdrängt, der eine Fortgeltung nach § 613a BGB nicht erfasst.1081 Das BVerfG hat § 4a TVG für überwiegend mit Art. 9 III vereinbar erklärt.1082 Allerdings muss der Gesetzgeber teilweise bis Ende 2018 nachbessern. Bis zur Neuregelung gilt daher § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG mit der Maßgabe fort, dass ein Tarifvertrag von einem kollidierenden Tarifvertrag nur verdrängt werden kann, wenn die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, in dem neuen Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden.
6.360a
3. Kollektivrechtliche Fortgeltung a) Betriebsvereinbarungen Betriebsvereinbarungen gelten kollektivrechtlich, d.h. normativ unmittelbar und zwingend, § 77 Abs. 4 BetrVG, weiter, wenn die Identität des Betriebs beim Betriebsübergang gewahrt wird.1083 Geht der Betrieb als Ganzes auf den Erwerber über, bleibt also dessen betriebsverfassungsrechtliche Identität erhalten, gelten die Betriebsvereinbarungen weiter und der Betriebsrat bleibt unverändert im Amt.1084 Der Erwerber wird Betriebspartner des (bisherigen) Betriebsrates.1085 Eine Transformation ihrer Inhaltsnormen in einzelvertragliche Regelungen ist in diesem Fall nicht erforderlich, zumal es sich bei § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB „nur“ um einen „Auffangtatbestand“ handelt,1086 mit dem der von der Norm bezweckte Bestandsschutz gesichert werden soll. Die kollektivrechtliche Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen ist vorrangig. Trotz eines teilweisen Verlusts der Identität folgt aus der das Übergangsmandat des Betriebsrats rechtfertigenden Amtskontinuität, dass die Betriebsvereinbarungen des Veräußerers auch dann beim Erwerber kollektivrechtlich fortgelten müssen, wenn nur
1079 Wank in MünchHdb. ArbR, § 102 Rz. 171; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41; anders noch BAG v. 24.11.1999 – 4 AZR 666/98, NZA 2000, 435; BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, MDR 2002, 220 = NZA 2002, 42. 1080 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 113 a. 1081 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 124. 1082 BVerfG v. 11.7.2017 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16, AP GG Art. 9 Nr. 151. 1083 BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, NZA 2003, 670 = BB 2003, 1387 m. Anm. Grobys; BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 619/00, MDR 2002, 399 = NZA 2002, 276; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 256; Wank in MünchHdb. ArbR, § 102 Rz. 180; Röder, DB 1981, 1980; Willemsen/ Müller-Bonanni in HWK, § 613a BGB Rz. 255; a.A. Kreutz in Großkomm. BetrVG, § 77 BetrVG Rz. 376 ff.; Kreutz in FS Kraft, S. 323 (340). 1084 BAG v. 5.6.2002 – 7 ABR 17/01, NZA 2003, 336. 1085 Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 149. 1086 BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, NZA 2003, 670 = BB 2003, 1387 m. Anm. Grobys; Völksen, NZA 2013, 1182; Sagan, RdA 2011, 163.
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611
6.361
Kap. 6 Rz. 6.362
Arbeitsrecht
ein Betriebsteil an einen Erwerber übertragen wird, der diesen als eigenständigen Betrieb fortführt; dies gilt für jeden der entstehenden Betriebsteile.1087
6.362 Die kollektive Fortgeltung wird verschieden begründet: Nach einer Auffassung tritt der neue Inhaber als Folge des Betriebsüberganges in vollem Umfang in die Arbeitgeberstellung seines Vorgängers und damit auch in dessen betriebsverfassungsrechtliche Stellung als Partei der Betriebsvereinbarungen ein.1088 Die andere Auffassung stellt dagegen zu Recht darauf ab, dass die Betriebsvereinbarung ungeachtet ihrer vertraglichen Züge (Betriebsrat/bisheriger Arbeitgeber) eine kollektive Arbeitsorganisation des Betriebes schafft, d.h. eine Art Statut, das in seinem Bestand von Veränderungen in den Parteistellungen der Betriebsvereinbarung unabhängig ist.1089 Diese Gestaltung einer kollektiven Ordnung für eine Betriebsidentität bildet damit die Grundlage für den Fortbestand einer Betriebsvereinbarung nach einem Betriebsübergang. Das BAG argumentiert in letzter Zeit eher ergebnisorientiert. Die Fortgeltung begründet das BAG mit der Amtskontinuität des Betriebsrats und der Wahrung der Betriebsidentität.1090 Die vorrangig kollektivrechtliche Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen entspricht auch den europäischen Vorgaben durch die Richtlinie 2001/23/EG (Betriebsübergangsrichtlinie), die in Art. 6 lediglich die Amtskontinuität von Mandatsträgern, nicht den Fortbestand von Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmervertretungen gewährt.1091 b) Tarifverträge
6.363 Ein Tarifvertrag gilt kollektivrechtlich (ohne Einfluss von § 613a BGB) beim Erwerber fort, wenn der Betrieb(-steil) auch nach Betriebsübergang unter seinen Geltungsbereich fällt und beiderseitige Tarifgebundenheit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern besteht oder durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung (§ 5 Abs. 4 TVG) ersetzt ist.
6.364 Die ununterbrochene Fortgeltung von Verbandstarifverträgen bei dem Erwerber des Betriebs setzt dessen Mitgliedschaft im zuständigen Arbeitgeberverband – er kann diesem auch erst beitreten – oder die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages voraus. Die Verbandsmitgliedschaft des Veräußerers ist ein höchstpersönliches Recht (§ 38 BGB). Sie geht deshalb bei Umwandlungsfällen nicht im Wege der Gesamtrechtsnachfolge über, soweit die Satzung nichts Abweichendes bestimmt.1092 Die bisherigen Tarifverträge gelten dann zwingend weiter, sofern nicht der Erwerber durch eine Änderung des Betriebszwecks aus dem fachlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages oder aus der Zuständigkeit der Vertragsparteien herausfällt.1093 1087 BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, NZA 2003, 670 (675); diff. Lindemann/Simon, BB 2003, 2510 (2512) hinsichlich Vereinbarungen der betrieblichen Altersversorgung; a.A. Hohenstatt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, E Rz. 20; a.A. Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 149. 1088 Vgl. hierzu BAG v. 5.2.1991 – 1 ABR 32/90, MDR 1991, 648 = AP Nr. 89 zu § 613a BGB und BAG v. 25.10.1994 – 3 AZR 279/94, NZA 1995, 373 unter II. der Gründe. 1089 Rieble/Gutzeit, NZA 2003, 233 (234); so etwa auch Hanau/Vossen in FS Hilger und Stumpf, S. 273; a.A. Bachner, NZA 1997, 79 (81), der die kollektive Fortgeltung mit dem notwendigen Schutz der Arbeitnehmer vor unkontrollierbaren Entscheidungen des Arbeitgebers begründet. 1090 BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, NZA 2003, 670; krit. zur neuen Rechtsprechung Preis/Richter, ZIP 2004, 925. 1091 BAG v. 27.6.2006 – 1 ABR 18/05, NZA 2007, 106. 1092 BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, GmbHR 1998, 1234 = NZA 1998, 1346 (1347). 1093 BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848.
612
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.368 Kap. 6
Hatte der Veräußerer einen Firmentarifvertrag (auch Haustarifvertrag genannt) geschlossen, ordnet § 613a Abs. 1 BGB dessen kollektivrechtliche Fortgeltung nicht an. Anders als die Betriebsvereinbarung ist der Firmentarifvertrag keine Kollektivordnung des Betriebes, sondern des Unternehmens. Die zur Fortgeltung der Betriebsvereinbarungen entwickelte Argumentation lässt sich auf Firmentarifverträge deshalb nicht übertragen.1094 Anders als im Falle der Betriebsvereinbarung tritt der Erwerber auch nicht in die Parteistellung des Veräußerers ein, da Partei nicht der Arbeitgeber des Betriebes, sondern der Unternehmer ist, der neben dem veräußerten Betrieb unter Umständen auch andere Betriebe unterhält.1095 Bei der Einzelrechtsnachfolge i.S.v. § 613a Abs. 1 BGB kann die Fortgeltung eines Firmentarifvertrags daher nicht durch den bloßen Betriebsübergang begründet werden, sondern setzt eine eigene konstitutive Willenserklärung voraus.1096 Zu den nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformierten Regeln gehört nicht das zum schuldrechtlichen Teil des Firmentarifvertrags gehörende Kündigungsrecht.1097 Die Kündigung eines Tarifvertrags kann nur von einer Tarifvertragspartei gegenüber einer Tarifvertragspartei erklärt werden.
6.365
Vollzieht sich der Betriebsübergang außerhalb des Umwandlungsgesetzes, wird der Erwerber somit nicht kraft kollektiver Fortgeltung Partei des Haustarifvertrages.1098 Das Recht zur Kündigung des Haustarifvertrages geht damit nicht auf den Erwerber über. Im Einzelfall kann es dann ratsam sein, den Veräußerer im Übernahmevertrag zur Kündigung des Haustarifvertrages zu verpflichten. Es ist aber auch möglich, dass alter und neuer Arbeitgeber einerseits und die Gewerkschaft andererseits eine rechtsgeschäftliche Vertragsübernahme oder einen inhaltsgleichen Haustarifvertrag vereinbaren.
6.366
In Umwandlungsfällen – bsp. Verschmelzung – dagegen gilt der Haustarifvertrag kollektivrechtlich beim Erwerber weiter, da ein Fall der gesetzlichen Rechtsnachfolge vorliegt.1099 Die Parteistellung als Firmentarifvertragspartei stellt eine Verbindlichkeit i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG dar, und geht daher auf den Rechtsnachfolger über,1100 dieser rückt in den mit dem übertragenden Rechtsträger abgeschlossenen Haustarifvertrag ein.1101 Beschäftigt der übernehmende Rechtsträger seinerseits bereits Arbeitnehmer, erstreckt sich der bisherige Haustarifvertrag des übertragenden Rechtsträgers aber nicht auch auf den übernehmenden Rechtsträger. Er bleibt auf die Betriebe des übertragenden Rechtsträgers beschränkt.1102
6.367
Ist der Erwerber seinerseits nicht an den Tarifvertrag des Veräußerers gebunden oder unter- 6.368 liegt er einer anderen Tarifbindung, können die Tarifregelungen nach dem Betriebsübergang keine normative Geltung mehr beanspruchen. Sie werden vielmehr Inhalt des Arbeitsverhältnisses gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB und gehen statisch in dem Tarifstand in das Arbeitsverhältnis über, in dem sie sich zur Zeit des Betriebsübergangs befanden.1103 In den Arbeitsver1094 Wohl a.A. Rieble/Gutzeit, NZA 2003, 233 (234). 1095 Vgl. BAG v. 20.6.2001 – 4 AZR 295/00, NZA 2002, 517 (518); Edenfeld in Erman, § 613a BGB Rz. 74. 1096 BAG v. 10.6.2009 – 4 ABR 21/08, NZA 2010, 51 (52). 1097 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238 (241). 1098 BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513. 1099 Däubler, RdA 1995, 136 (140); a.A. Kreßel, BB 1995, 925 (930). 1100 BAG v. 15.6.2016 – 4 AZR 805/14, NZA 2017, 326; BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307 (310). 1101 BAG v. 20.6.2001 – 4 AZR 295/00, NZA 2002, 517. 1102 Vgl. Joost in Lutter, § 324 UmwG Rz. 34. 1103 BAG v. 14.11.2007 – 4 AZR 828/06, NZA 2008, 420 (421); BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, MDR 2008, 458 = NZA 2008, 241 (243).
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613
Kap. 6 Rz. 6.369
Arbeitsrecht
hältnissen der übergegangenen Arbeitnehmer ist der Arbeitgeber nicht an später in Kraft tretende Tarifänderungen gebunden.1104 Verweist die transformierte Regelung ihrerseits auf andere normative Regelungen, die sich weiterentwickeln, so wird auch deren Weiterentwicklung nicht zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses. Inhalt des Arbeitsvertrages wird allein der Regelungsgehalt der in Bezug genommenen Tarifnorm, den sie zur Zeit des Betriebsübergangs hatte.1105 § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB schreibt nämlich „nur“ den Eingang des Regelungsgehalts in das Arbeitsverhältnis vor. Ein Anspruch auf eine dynamische Fortentwicklung lässt sich daraus nicht ableiten. Wäre dies so, könnte sich der Arbeitgeber auch nicht durch eine Kündigung der Tarifnorm oder durch einen Verbandsaustritt von dieser Entwicklung lösen. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB und § 4 Abs. 5 TVG verbindet insoweit eine vergleichbare Regelung.1106 Dabei macht es auch keinen Unterschied, ob es sich um einen Verbandstarifvertrag oder einen Firmentarifvertrag handelt.1107 Nachwirkende Tarifnormen werden ebenfalls nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Inhalt des Arbeitsverhältnisses. Sie können jederzeit abgeändert werden.1108 Für die nur „statische Weitergeltung“ macht es weiterhin keinen Unterschied, ob es sich um eine Verweisung auf eine dynamisch gesetzliche oder eine dynamische tarifliche Bestimmung handelt.1109
6.369 Die transformierten Normen gelten nach dem Betriebs(teil)übergang jedoch nicht völlig unabhängig vom Fortbestand des Tarifvertrags, sondern können auch weiterhin das Schicksal der tariflichen Regelung teilen. Eine tarifliche Regelung gilt im übergegangenen Arbeitsverhältnis daher nicht mehr fort, wenn ein Tarifvertrag, an den der Erwerber nicht nach § 3 Abs. 1 TVG gebunden ist, (durch Kündigung) ersatzlos ohne Nachwirkung wegfällt.1110 Dieses Ergebnis mag zunächst erstaunen, soll doch § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zu einer statischen Fortgeltung führen. Die Lösung des BAG erklärt sich jedoch daraus, dass die Transformation lediglich zu einer Bestandssicherung und nicht zu einer Verbesserung oder Verschlechterung der beim Veräußerer bestehenden Situation führen soll. Würde sich eine Kündigung des Tarifvertrags nicht auf das übergegangene Arbeitsverhältnis auswirken, käme es im oben genannten Fall jedoch gerade zu dieser von § 613a BGB als Schutzvorschrift zugunsten des Arbeitnehmers nicht bezweckten Situation. 4. Die Fortgeltung von Gesamt- und Konzernbetriebsvereinbarungen
6.370 Die Fortgeltung von Gesamt- und Konzernbetriebsvereinbarungen bei Betriebsübergängen ist in der Literatur umstritten.1111 Zu Konzernbetriebsvereinbarungen hat sich das BAG bisher nicht geäußert, es wird aber angenommen, dass die Überlegungen zur Gesamtbetriebsvereinbarung übertragbar sind.1112 Für eine Fortgeltung von Gesamtbetriebsvereinbarungen 1104 BAG v. 20.6.2001 – 4 AZR 295/00, NZA 2002, 517. 1105 BAG v. 20.6.2001 – 4 AZR 295/00, NZA 2002, 517; BAG v. 21.8.2002 – 4 AZR 263/01, ZIP 2003, 639; abl. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 117. 1106 BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (516); vgl. auch BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, BAGE 94, 367 = NZA 2001, 453. 1107 BAG v. 20.6.2001 – 4 AZR 295/00, NZA 2002, 517; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (516). 1108 BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, MDR 2002, 220 = NZA 2002, 41. 1109 BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (516). 1110 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41. 1111 Vgl. Salamon, RdA 2007, 103. 1112 Cisch/Hock, BB 2012, 2113 (2118); Salamon, NZA 2009, 471; vgl. auch Kern, NZA 2009, 1313. Mengel, S. 198, geht davon aus, dass nur dann eine kollektivrechtliche Weitergeltung anzunehmen ist, wenn der Betriebsübergang betriebsintern erfolgt; a.A. Meyer, DB 2000, 1174.
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von Steinau-Steinrück/Thees
B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.371 Kap. 6
wird zum Teil verlangt, dass die Betriebsidentität durch den Betriebs(teil)übergang gewahrt und ein Betriebsrat weiterhin als betriebsverfassungsrechtlich funktionsfähige Organisationseinheit erhalten bleibt, um die auf die Betriebsvereinbarung bezogenen Rechte auszuüben.1113 Ein Verlust der normativen Wirkung soll nach anderer Ansicht dann eintreten, wenn nicht alle von der Gesamtbetriebsvereinbarung betroffenen Betriebe des abgebenden Unternehmens übergehen, da dann ein Verlust der „Unternehmensidentität“ eintrete.1114 Schließlich wird auch vertreten, dass eine Fortgeltung zwar auch dann in Betracht komme, wenn nicht alle von der Gesamtbetriebsvereinbarung betroffenen Betriebe übergehen, jedoch dann ausscheide, wenn lediglich ein Betrieb übergeht.1115 Eine weitere Auffassung geht davon aus, dass eine Gesamtbetriebsvereinbarung auch für nur einen übertragenen Betrieb weiterhin kollektivrechtlich gelten kann, dann jedoch als Einzelbetriebsvereinbarung auf Betriebsebene.1116 Nach Ansicht des BAG1117 gelten Gesamtbetriebsvereinbarungen in den übertragenen Teilen 6.371 des Unternehmens auch dann kollektivrechtlich fort, wenn nur einer oder mehrere Betriebe unter Wahrung ihrer Betriebsidentität übergehen.1118 Ein Erhalt der „Unternehmensidentität“, indem fast alle Betriebe übertragen werden, sei angesichts der Tatsache, dass Gesamtbetriebsvereinbarungen nicht für das Unternehmen, sondern für die einzelnen Betriebe abgeschlossen werden, nicht notwendig. Dies gilt laut BAG jedenfalls dann, wenn das andere Unternehmen bis dahin keinen Betrieb geführt hat. Wird nur ein Betrieb übernommen, bleiben die Gesamtbetriebsvereinbarungen als Einzelbetriebsvereinbarungen bestehen. Ausschlaggebendes Argument und ausreichend für die Annahme kollektiver Fortgeltung ist nach Ansicht des Gerichts die jeweilige Identitätswahrung der übergegangenen Betriebe.1119 Damit verwendet es denselben Ansatz wie bei der Frage nach dem Fortbestand der Gesamtbetriebsräte (vgl. Rz. 6.327 ff.). Der Gesamtbetriebsrat des abgebenden Unternehmens verliert zwar seine Zuständigkeit für den „ausgelagerten“ Einzelbetrieb. Eine kollektive Fortgeltung scheidet damit an sich aus. Gleichwohl bejaht sie das BAG mit der Begründung, dass durch die Wahrung der Betriebsidentität das Regelungsobjekt der Gesamtbetriebsvereinbarung erhalten bleibe. Die Unzuständigkeit des Gesamtbetriebsrats rechtfertigt nach seiner Auffassung keinen Wegfall der normativen Wirkung.1120 Die normative Fortgeltung ist nach dem Schutzzweck der Betriebsverfassung zu erhalten.1121 Da laut BAG Regelungssubstrat einer Gesamtbetriebsvereinbarung allein der jeweilige Betrieb ist, ändert auch eine durch den Übergang verloren gegangene „Unternehmensidentität“ nichts an dem Gebot der kollektiven 1113 Wank in MünchHdb. ArbR, § 102 Rz. 183; Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 151. 1114 Hohenstatt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, E Rz. 58 ff.; Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 115; Gussen/Dauck, S. 25 f.; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 115; Preis/Steffan in FS Kraft, S. 477 (479); Boecken, S. 111 (112). 1115 Wank in MünchHdb. ArbR, § 102 Rz. 183. 1116 Gussen/Dauck, Rz. 80 ff.; Hanau/Vossen in FS Hilger und Stumpf, S. 271 (275 f.); B. Gaul, Betriebsspaltung, S. 994 f.; Kreßel, BB 1995, 925; so auch Boecken, S. 111 (112), für den Fall der Delegation gem. § 50 Abs. 2 Satz 1 BetrVG. 1117 BAG v. 5.5.2015 – 1 AZR 763/13, NZA 2015, 1331; BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, NZA 2003, 670 = ZIP 2003, 1059; vgl. auch BAG v. 5.6.2002 – 7 ABR 17/01, NZA 2003, 336. 1118 Krit. Preis/Richter, ZIP 2004, 925. 1119 BAG v. 24.1.2017 – 1 ABR 24/15, NZA-RR 2017, 413; BAG v. 8.7.2015 – 4 AZR 111/14, BeckRS 2015, 72448. 1120 BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, NZA 2003, 670; kritisch dazu Hohenstatt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, E Rz. 58 ff. 1121 Zur normativen Fortgeltung einer Gesamtbetriebsvereinbarung bei Betriebsübergang vgl. Meyer, NZA 2016, 749.
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Kap. 6 Rz. 6.372
Arbeitsrecht
Fortgeltung. Bei der Übernahme sämtlicher Betriebe liegt ein Fortbestand des Gesamtbetriebsrats nahe. Nach Auffassung des Senats spricht schon der Grundsatz der Amtskontinuität für eine kollektive Fortgeltung. In Anwendung dieser Rechtsprechung ergeben sich folgende Fallgestaltungen: (1) Bei der Übertragung aller Betriebe auf ein „betriebsloses“ Unternehmen wirken die Gesamtbetriebsvereinbarungen kollektiv fort, soweit sie nicht die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Unternehmen voraussetzen und ihr Inhalt daher nach Betriebsübergang gegenstandslos wird. Das BAG lässt dies zwar im Ergebnis noch offen. Es deutet aber ein solches Ergebnis mit ausführlicher Begründung an.1122 In einem solchen Fall kann auch der Gesamtbetriebsrat im Amt bleiben. Der Grundsatz der Amtskontinuität spricht daher bereits für diese Lösung. (2) Eine Fortgeltung besteht auch dann, wenn „nur“ mehrere Betriebe auf ein betriebs(rats)loses Unternehmen übergehen. Entscheidend ist, dass sie ihre jeweilige einzelbetriebliche Identität wahren. Bis zur Neukonstituierung des Gesamtbetriebsrats beim Erwerber ist eine Änderung der Gesamtbetriebsvereinbarung ausgeschlossen. Möglich ist nur eine vollständige Beendigung durch gleichzeitige Kündigung des Arbeitgebers gegenüber allen Einzelbetriebsräten der übernommenen Betriebe. (3) Bleibt nur ein Betrieb beim Veräußerer, endet die Existenz des Gesamtbetriebsrats gem. § 47 Abs. 1 BetrVG. Die von ihm geschlossenen Gesamtbetriebsvereinbarungen gelten beim Veräußerer als Einzelbetriebsvereinbarungen kollektiv fort. (4) Geht ein Betrieb oder Betriebsteil über, gilt die Gesamtbetriebsvereinbarung kollektiv als Einzelbetriebsvereinbarung fort.1123 Voraussetzung ist, dass der Betrieb oder Betriebsteil als eigenständige betriebliche Einheit beim bisher betriebs(rats)losen Erwerber fortgeführt wird. Die Vereinbarung kann dann durch den Erwerber und den Betriebsrat gekündigt oder geändert werden. Dafür spricht, dass auch bei Einzelbetriebsvereinbarungen, der vorübergehende oder endgültige Wegfall des Betriebsrats die bestehenden Betriebsvereinbarungen in ihrer normativen Wirkung nicht berührt.
6.372 Dem Ansatz des BAG, an die Wahrung der Betriebsidentität als entscheidendes Merkmal anzuknüpfen, ist zuzustimmen (vgl. Rz. 6.328). Die vom BAG vertretene kollektive Fortgeltung schafft jedoch ein Konkurrenzproblem, wenn beim Erwerber (mindestens) ein (weiterer) Betrieb existiert. Denn dann würde die Geltung der Gesamtbetriebsvereinbarung beim Erwerber allein auf die übergegangenen Betriebe beschränkt sein. Regelt bereits eine Gesamtbetriebsvereinbarung des Erwerbers denselben Gegenstand, bestünden zwei Gesamtbetriebsvereinbarungen nebeneinander. Diese Konstellationen sind im Interesse von Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu vermeiden.1124 Im Vergleich zum Tarifvertrag ist die Nachwirkung der Betriebsvereinbarung beschränkt. Sie kann gem. § 77 Abs. 6 BetrVG nach ihrem Ablauf durch eine andere ersetzt werden. Ihre Nachwirkung hat insoweit „nur“ die Funktion, die Zeit bis zur Ablösung durch eine andere Betriebsvereinbarung zu überbrücken.1125 Eine mögliche Kollision von Gesamtbetriebsvereinbarungen beim Erwerber ist daher u.E. in (entsprechender) An1122 BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, NZA 2003, 670. 1123 BAG v. 5.5.2015 – 1 AZR 763/13, NZA 2015, 1331; a.A LAG Köln v. 27.6.2013 – 6 Sa 151/13, ArbRAktuell 2013, 505: Danach kann im Einzelfall eine kollektivrechtliche Fortgeltung daran scheitern, dass die Regelung nach deren Inhalt die Zugehörigkeit zum bisherigen Unternehmen zwingend voraussetzt. Anhängig unter 3 AZR 763/13 beim BAG. 1124 A.A. Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, § 50 BetrVG Rz. 217. 1125 Rieble/Gutzeit, NZA 2003, 233 (235).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.373 Kap. 6
wendung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB derart zu lösen, dass die beim Erwerber geltenden Gesamtbetriebsvereinbarungen vorrangig sind.1126 Voraussetzung ist, dass die Gesamtbetriebsvereinbarungen denselben Gegenstand regeln und sich ihr Geltungsbereich auch auf den Konzern oder dem Unternehmen hinzukommende Betriebe erstrecken soll. Bei der Kollision von einer (einfachen) Betriebsvereinbarung des Veräußerers mit einer Gesamt- oder Konzernbetriebsvereinbarung des Erwerbers wird erstere verdrängt.1127 Der Vorrang der Kollektivvereinbarungen des Erwerbers gilt auch dann, wenn die Regelungen für die übergehenden Arbeitnehmer ungünstiger sind (Ablösungsprinzip).1128 Bei der Ablösung von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung ist der bis zum Betriebsübergang erdiente Besitzstand aufrechtzuerhalten.1129 5. Geltung eines anderen Kollektivvertrags (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB) a) Allgemeines Die individualvertragliche Fortgeltung nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB scheidet aus, wenn die Rechte und Pflichten beim Erwerber durch Rechtsnormen eines anderen Kollektivvertrages geregelt werden (sog. sachlich kongruente Regelungsidentität).1130. Das ist in zweifacher Hinsicht denkbar:1131 Zum einen kann der „neue“ Kollektivvertrag so auszulegen sein, dass er die arbeitsvertraglich fortgeltende Regelung auch ohne eigenständige Regelung dieses Gegenstandes ablösen soll. Zum anderen kann der beim Erwerber geltende Kollektivvertrag den „alten“ gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ablösen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die bisherigen Regelungen für die Arbeitnehmer günstiger waren oder nicht.1132 Irrelevant ist es auch, ob der ablösende Kollektivvertrag vor oder nach dem Betriebsübergang entsteht.1133 Ansonsten würde man § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB einen überschießenden Schutzzweck zubilligen. Der Arbeitnehmer stünde im Falle eines Betriebsübergangs besser da als ohne Betriebsübergang.1134 Das ist mit Sinn und Zweck dieser Norm nicht zu vereinbaren und wird auch nicht von der EG-Betriebsübergangsrichtlinie gefordert.1135 Die Feststellung der sachlichkongruenten Regelungsidentität kann im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Unerheblich ist das „Wie“ der Kollektivregelung; deshalb ist es möglich, dass eine beim neuen Arbeitgeber geltende Betriebsvereinbarung eine an und für sich individualrechtlich weitergeltende Tarifnorm verdrängt.1136 Auch spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Verbands- oder Haustarifvertrag handelt.1137 Die neue Kollektivregelung entfaltet gegenüber der gesetzlich begründeten Nach1126 Wie hier Cohnen/Tepass in MünchHdb. ArbR, § 51 Rz. 51. 1127 BAG v. 27.6.1985 – 6 AZR 392/81, NZA 1986, 401. 1128 BAG v. 1.8.2002 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41; BAG v. 27.6.1985 – 6 AZR 392/81, BAGE 49, 151 = NZA 1986, 401; Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, § 77 BetrVG Rz. 51; vgl. B. Gaul/Kühnreich, NZA 2002, 495 (497). 1129 BAG v. 24.7.2001 – 3 AZR 660/00, NZA 2002, 520. 1130 BAG v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, DB 2003, 1852 für einen Tarifvertrag; BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318; BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, MDR 2002, 220 = NZA 2002, 41 für eine Betriebsvereinbarung; BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140. 1131 BAG v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, DB 2003, 1852. 1132 BAG v. 1.4.1987 – 4 AZR 77/86, NZA 1987, 593; Annuß in Staudinger, § 613a BGB Rz. 273; Wank in MünchHdb. ArbR, § 102 Rz. 176; Junker, RdA 1993, 203 (207). 1133 BAG v. 16.5.1995 – 3 AZR 535/94, DB 1995, 2074; D. Gaul, Der Betriebsübergang, S. 163. 1134 BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (516). 1135 BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 619/00, BAGE 98, 323 (332) = MDR 2002, 399. 1136 Röder, DB 1981, 1980. 1137 D. Gaul, Der Betriebsübergang, S. 278 f.
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6.373
Kap. 6 Rz. 6.374
Arbeitsrecht
wirkung einzelvertraglicher Art der in der Sphäre des Veräußerers anwendbaren Kollektivregelung einen Regelungsvorrang (sog. Ordnungsprinzip).1138 b) Betriebsvereinbarungen
6.374 Im Verhältnis zweier gleichrangiger Rechtsnormen, die denselben Gegenstand regeln und sich an denselben Adressatenkreis richten, gilt nicht das Günstigkeitsprinzip, sondern die Zeitkollisionsregel. Danach wird die ältere Regelung durch die jüngere abgelöst.1139 Grenzen ergeben sich nur aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und dem darauf beruhenden Rückwirkungsverbot.1140 Die Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen soll dadurch erleichtert werden. Nach Ansicht des BAG gelten diese Grundsätze auch dann, wenn die „alte“ Betriebsvereinbarung gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB individualrechtlicher Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem Arbeitnehmer und dem Erwerber wurde: Eine individualrechtlich übergegangene Betriebsvereinbarung ist vor der Ablösung einer späteren Betriebsvereinbarung nicht stärker geschützt, als wenn sie kollektivrechtlich weitergegolten hätte.1141 Da sie in diesem Fall durch die zeitlich spätere Betriebsvereinbarung abgelöst worden wäre, gilt dies auch für die zum Inhalt des Arbeitsvertrags transformierte Betriebsvereinbarung. Zwar gilt im Verhältnis von Arbeitsvertrag und Betriebsvereinbarung das Günstigkeitsprinzip. Doch darf im Fall des Betriebsübergangs der Ursprung der vertraglichen Regelung nicht außer Betracht gelassen werden. Der Bestand einer von Gesetzes wegen auf die individualrechtliche Ebene transformierten Kollektivregelung kann nicht weiter gehend geschützt sein als die ursprünglich kollektive Regelung selbst. Andernfalls würde die vor dem Betriebsübergang bestehende Rechtsposition der Arbeitnehmer durch den Betriebsübergang nicht nur gesichert, sondern verbessert. Das ist aber mit Sinn und Zweck des § 613a Abs. 1 BGB nicht zu vereinbaren. Folge der Ablösung ist, dass die spätere Betriebsvereinbarung an die Stelle der individualrechtlich fortgeltenden früheren Regelung tritt. Die individualrechtliche Position lebt deshalb auch nach einer Kündigung der sie ablösenden kollektiven Regelung nicht wieder auf.1142
6.375 Besondere Probleme ergeben sich, wenn Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung sowohl beim bisherigen als auch beim neuen Arbeitgeber aufgrund von Betriebsvereinbarungen bestehen.1143 Für Betriebsvereinbarungen, durch die eine betriebliche Altersversorgung geregelt wird, bedarf allerdings § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB (als vorrangige Regelung gegenüber § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB) ergänzender Erläuterungen.1144 Für die Arbeitnehmer des veräußerten Betriebs handelt es sich um die Ablösung einer bisher für sie geltenden Betriebsvereinbarung durch eine neue Betriebsvereinbarung. Solche „Ablösungen“ sind auch außerhalb von Betriebs(teil)übergängen möglich und üblich. Sie müssen auch nicht bereits beim Be1138 Offenlassend BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, MDR 2002, 220 = NZA 2002, 41 (43); bejahend D. Gaul, Der Betriebsübergang, S. 278 f.; Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 139. 1139 BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 604/02, NZA 2004, 803. 1140 BAG v. 6.8.2002 – 1 ABR 49/01, NZA 2003, 386 = DB 2003, 290. 1141 BAG v. 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, NZA 2012, 990; BAG v. 28.6.2005 – 1 AZR 213/04, AP Nr. 25 zu § 77 BetrVG 1972 Betriebsvereinbarung; BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 619/00, MDR 2002, 399 = NZA 2002, 276. 1142 BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 604/02, AP BetrVG 1972 § 77 Nachwirkung Nr. 15. 1143 Vgl. B. Gaul/Kühnreich, NZA 2002, 495 (496); zur Frage der Auswirkung des Betriebs(teil)übergangs auf die gesetzlichen Unverfallbarkeitsfristen Hambach, NZA 2000, 291. 1144 Vgl. dazu auch BAG v. 24.7.2001 – 3 AZR 660/00, NZA 2002, 520 (522).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.377 Kap. 6
triebsübergang vorliegen.1145 Erfolgen sie im Rahmen des § 613a BGB, besteht der einzige Unterschied darin, dass die Ablösung einer Betriebsvereinbarung durch eine neue Betriebsvereinbarung außerhalb eines Betriebs(teil)übergangs auf einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat beruht, während es sich im Falle des Betriebs(teil)übergangs nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB um eine Ablösung kraft Gesetzes handelt. Auch wenn es sich um die vertragliche Ablösung einer Betriebsvereinbarung handelt und da- 6.376 mit die neue Betriebsvereinbarung grundsätzlich normativ wirkt, unterwirft sie das BAG1146 einer Billigkeitskontrolle.1147 Es gilt zwar die sog. Zeitkollisionsregel, wonach die jüngere Norm die ältere verdrängt. Wird dadurch aber eine Verschlechterung bewirkt, sind bei Versorgungsansprüchen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes im Sinne eines beschränkten Bestandsschutzes zu berücksichtigen. Danach darf lediglich ein abgestufter Eingriff in erworbene Besitzstände erfolgen.1148 Bei der betrieblichen Altersversorgung gilt nach ständiger Rechtsprechung des BAG1149 ein sog. „3-Stufen-Modell“.1150 Dabei gilt der Grundsatz, dass die Anforderungen umso höher sind, je stärker in Besitzstände eingegriffen wird. Begründet wird die Billigkeitskontrolle damit, dass die Mitglieder des Betriebsrats vom Arbeitgeber nicht völlig unabhängig seien und dem Betriebsrat ein Streikrecht zur Durchsetzung seiner Ziele im Konfliktfall – wie im Tarifbereich vorgesehen – nicht zustehe.1151 Wird eine solche Billigkeitskontrolle in Fällen ohne Betriebsübergang anerkannt,1152 besteht erst recht Anlass, nicht jede Ablösung der im veräußerten Betrieb geltenden Betriebsvereinbarung durch eine im Betrieb des Erwerbers geltende Betriebsvereinbarung ohne Rücksicht auf den Inhalt der jeweiligen Regelungen für zulässig zu halten.1153 Die Ablehnung einer solchen Billigkeitskontrolle würde zu einem kaum aufzulösenden Wertungswiderspruch führen. Besteht nämlich im Betrieb des Erwerbers gar keine Betriebsvereinbarung über eine Altersversorgung, so gelten gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB die Regelungen der Versorgungsordnung im veräußerten Betrieb als transformierte Regelungen weiter (vgl. Rz. 6.351). Das Fehlen einer Betriebsvereinbarung ist günstiger als das Vorliegen einer schlechteren.1154 Auch die gesetzliche Ablösung von Ansprüchen betrieblicher Altersversorgung durch Betriebsvereinbarungen im Rahmen eines Betriebsübergangs ist einer Billigkeitskontrolle nach dem sog. „3-Stufen-Modell“ unterworfen.1155 Der bis zum Betriebs(teil)übergang bereits erdiente Besitzstand (1. Stufe) bleibt danach aufrechterhalten, soweit nicht zwingende Gründe eine Änderung erlauben. Soweit eine Versorgungszusage von sich verändernden 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155
BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 619/00, MDR 2002, 399 = ZIP 2002, 316 = BB 2002, 413. BAG v. 26.8.1997 – 3 AZR 213/96, NZA 1998, 605. Andresen/Cisch in MünchHdb. ArbR, § 151 Rz. 66 ff. BAG v. 17.3.1987 – 3 AZR 64/84, NZA 1987, 855. BAG v. 17.4.1985 – 3 AZR 72/83, BB 1986, 1139; BAG v. 26.8.1997 – 3 AZR 213/96, NZA 1998, 605. Dazu BAG v. 18.2.2003 – 3 AZR 81/02, BB 2003, 1841; BAG v. 10.9.2002 – 3 AZR 635/01, DB 2003, 1525; Lindemann/Simon, BB 2003, 2510 (2515); Höfer/Reiners/Wüst, Betriebsrentenrecht, Rz. 463. BAG v. 22.5.1990 – 3 AZR 128/89, MDR 1990, 1145 = NZA 1990, 813. Kritisch Kreutz, ZfA 1975, 65; Ahrend/Förster/Rühmann, DB 1982, 224. Junker, RdA 1993, 203 (208); Schnitker in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, J Rz. 452 ff. Hanau/Vossen, S. 277; Kemper, BB 1990, 785. Vgl. BAG v. 18.2.2003 – 3 AZR 81/02, BB 2003, 1841; BAG v. 10.9.2002 – 3 AZR 635/01, DB 2003, 1525; BAG v. 24.7.2001 – 3 AZR 660/00, NZA 2002, 520; Lindemann/Simon, BB 2003, 2510 (2515).
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6.377
Kap. 6 Rz. 6.378
Arbeitsrecht
Größen, wie z.B. dem Arbeitslohn, abhängig ist (2. Stufe als sog. „zeitanteilig erdiente Dynamik“), partizipiert der Arbeitnehmer auch bei einer Ablösung der Zusage weiter von den darin vorgesehenen Steigerungen, soweit nicht „triftige“ Gründe dagegen sprechen. In noch nicht erdiente „Zuwachsraten durch weitere Betriebszugehörigkeit“ (3. Stufe) kann der Erwerber bereits mit sachlichen Gründen eingreifen. Das Interesse des Erwerbers an einer Vereinheitlichung seiner Versorgungszusagen nach einem Betriebsübergang ist ein solcher sachlicher Grund.1156
6.378 Die gebotene Besitzstandswahrung führt grundsätzlich nur in dem Maße zu einem erhöhten Versorgungsanspruch, wie die Ansprüche aus der Neuregelung im Versorgungsfall hinter dem zurückbleiben, was bis zum Betriebsübergang erdient war.1157 Der übernommene Arbeitnehmer darf mit anderen Worten im Versorgungsfall in keinem Fall geringere Versorgungsleistungen erhalten, als er sie erhalten hätte, wenn er im Ablösungszeitpunkt aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden wäre. Die ablösende Regelung des Erwerbers darf angesichts dessen auch Vordienstzeiten im übernommenen Betrieb für Anspruchsdynamik oder die Berechnung der Wartezeit und der Versorgungshöhe nicht anrechnen, solange die Versorgungsleistung nicht hinter der gerade bezeichneten Mindestgrenze zurückbleibt. Einer Addition des bis zu diesem Zeitpunkt erdienten Versorgungsbesitzstands mit dem beim Erwerber erworbenen Besitzstand bedarf es gerade nicht. Nur hinsichtlich der Unverfallbarkeit der Versorgungsanwartschaften sind die Vordienstzeiten zwingend zu berücksichtigen. Der Arbeitnehmer ist mit diesen Grundsätzen ausreichend geschützt. Deshalb ist er selbst ausnahmsweise im Ergebnis nicht so zu stellen, als wäre er bis zum Versorgungsfall Arbeitnehmer des Veräußerers geblieben.1158 Das BAG hat dies jedoch noch offengelassen.1159 c) Tarifverträge
6.379 Die Fortgeltung eines Tarifvertrags ist nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ausgeschlossen, wenn die Rechte und Pflichten beim Erwerber durch Rechtsnormen eines anderen Tarifvertrags oder einer Betriebsvereinbarung geregelt werden.1160 Für eine Ablösung der tariflichen Regelungen müssen nicht nur der Erwerber, sondern zugleich auch die übergehenden Arbeitnehmer hinsichtlich des „neuen“ Tarifvertrages in der entsprechenden Gewerkschaft tarifgebunden sein. Das hat das BAG in mehreren Entscheidungen klargestellt.1161 Andernfalls wird der „alte“ Tarifvertrag transformiert (vgl. Rz. 6.351). Die Erforderlichkeit der kongruenten Tarifbindung für die Ablösung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB dient dem Schutz der negativen Koalitionsfreiheit des übernommenen Arbeitnehmers. Der Erwerber kann die Geltung des neuen Tarifvertrages mit den übernommenen Arbeitnehmern aber individualvertraglich gem. § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB vor Ablauf der Jahresfrist vereinbaren. § 4 Abs. 3 TVG findet in
1156 BAG v. 19.11.2002 – 3 AZR 167/02, NZA 2004, 264 (267). 1157 BAG v. 24.7.2001 – 3 AZR 660/00, NZA 2002, 520. 1158 Schnitker in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, J Rz. 454; Lindemann/Simon, BB 2003, 2510 (2516). 1159 BAG v. 24.7.2001 – 3 AZR 660/00, NZA 2002, 520 (523). 1160 So kann durch einen Tarifvertrag z.B. auch keine vom Betriebsverfassungsgesetz abweichende Zuständigkeit für die Ausübungen von Beteiligungsrechten bestimmt werden, vgl. BAG v. 18.11.2014 – 1 ABR 21/13, NZA 2015, 694. 1161 BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, MDR 2006, 98 = NZA 2005, 1362 (1364); BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510; BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318 = DB 2001, 1837 m. Anm. Haußmann; vgl. auch ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 123.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.381 Kap. 6
diesem Zusammenhang keine Anwendung. Die Vereinbarung ist demnach auch dann wirksam, wenn der neue Tarifvertrag ungünstiger ist als der alte. Der Gesetzgeber hat nicht ausdrücklich die Rechtslage bei nur einseitiger Tarifbindung des 6.380 Erwerbers geregelt, wenn Arbeitnehmer nach dem Übergang des Betriebs oder Betriebsteils nicht mehr in der zuständigen Gewerkschaft organisiert sind. Der Tarifvertrag des Erwerbers gilt für diese Arbeitsverhältnisse nicht (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Laut BAG ist in diesem Fall auch eine Fortgeltung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB nicht möglich. Diese Auffassung nimmt dem Erwerber jedoch tarifliche Gestaltungsmöglichkeiten beim Betriebsübergang. Ihm bleibt allein der individualvertragliche Weg einer Vereinbarung der neuen Tarifregeln, da die alten Regelungen transformiert werden. Der Arbeitnehmer ist aber nicht verpflichtet, einer Vertragsänderung nach § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB zuzustimmen. Der Erwerber muss notfalls versuchen, die Bezugnahme durch eine Änderungskündigung herbeizuführen. Allein der Umstand, dass ein übernommener Arbeitnehmer aufgrund von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB eine bessere Stellung im Verhältnis zu tarifgebundenen Arbeitnehmern des Erwerbers einnimmt, stellt aber noch kein dringendes betriebliches Erfordernis i.S.v. § 1 Abs. 2 KSchG für eine Änderungskündigung dar.1162 Der Arbeitnehmer hat es damit in der Hand, eine Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen zu verhindern. Die dadurch entstehende faktische Tarifpluralität ließ sich bereits bislang nicht durch die Grundsätze des BAG zur Tarifeinheit lösen, da § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB abschließende Sonderregelungen darstellen.1163 Mit der Aufgabe dieser Grundsätze1164 steht endgültig fest, dass sich die Unternehmen auf die Schwierigkeiten, die durch die Tarifpluralität nach Unternehmenskauf oder -umstrukturierung zumindest während der Zeit der Veränderungssperre entstehen, einstellen müssen. Finden tarifvertragliche Normen beim tariflich ungebundenen Erwerber nur kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel1165 Anwendung, ist § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB einschlägig. Eine Bezugnahme ist in verschiedenen Fallgestaltungen (in fachlicher und zeitlicher Hinsicht) denkbar: (1) Konkret-Statisch (z.B.: „Es findet der Tarifvertrag der XY-Branche in der Fassung vom XYZ Anwendung.“) (2) Konkret-Dynamisch (sog. kleine dynamische Bezugnahmeklausel) (z.B.: „Es findet der Tarifvertrag der XY-Branche in seiner jeweils gültigen Fassung Anwendung.“ oder auch nur: „Es gelten die einschlägigen tariflichen Regelungen.“1166) (3) Abstrakt-Statisch (z.B.: „Es findet der jeweils für den Arbeitgeber einschlägige Tarifvertrag in seiner am XYZ geltenden Fassung Anwendung.“) (4) Abstrakt-Dynamisch (sog. große dynamische Bezugnahmeklausel oder Tarifwechselklausel) (z.B.: „Es findet der jeweils für den Arbeitgeber einschlägige Tarifvertrag in seiner jeweils geltenden Fassung Anwendung.“)
1162 BAG v. 28.4.1982 – 7 AZR 1139/79, NJW 1982, 2687; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 122. 1163 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 124. 1164 Vgl. BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 3/10, ZIP 2010, 1309; BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08 (A), BB 2010, 1988. 1165 Vgl. dazu Wahlig/Brune, NZA 2018, 22; vgl. dazu auch Willemsen/Müller-Bonanni in HWK, § 613a BGB Rz. 277 ff. 1166 BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925).
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Kap. 6 Rz. 6.382
Arbeitsrecht
6.382 Im Rahmen eines Betriebsübergangs ergibt sich bei Bezugnahmeklauseln folgendes Problem: Für die organisierten Arbeitnehmer gilt nach dem Betriebsübergang gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB der „neue“ Tarifvertrag, dem der Erwerber bei beiderseitiger Tarifgebundenheit unterliegt. Da die individualvertraglich geltende Bezugnahmeklausel nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf den Erwerber übergeht, kann es bei einer konkreten Bezugnahmeklausel daher dazu kommen, dass organisierte und nicht organisierte Arbeitnehmer unterschiedlich behandelt werden. Während die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer weiter nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB den Regelungen des konkret in Bezug genommenen Tarifvertrages unterliegen, findet für die organisierten Arbeitnehmer nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB der beim Erwerber geltende, neue und vielleicht ungünstigere Tarifvertrag Anwendung. Eine solche mögliche Ungleichbehandlung ist zwar nicht im Interesse der Arbeitsparteien. Es kommt vor dem Hintergrund einer AGB-rechtlichen Prüfung allerdings trotzdem entscheidend auf die Transparenz der Klausel an.So legt das BAG kleine dynamische Bezugnahmeklauseln nunmehr als unbedingte zeitdynamische Verweisungen aus.1167 Für große dynamische Bezugnahmeklauseln dürfte nichts anderes gelten. Für Altverträge, d.h. für Verträge, die bis zum 31.12.2001 abgeschlossen wurden, gilt die frühere Auslegungsregel des BAG fort: Danach galt im Rahmen einer widerleglichen Vermutung, dass durch die konkret-dynamische Bezugnahme nicht tarifgebundene und tarifgebundene Arbeitnehmer im Zweifel im Sinne einer einheitlichen Tarifanwendung im Betrieb gleichgestellt werden sollen (sog. Gleichstellungsabrede).1168 Eine inhaltsgleiche Vermutung bestand auch bei abstrakt-dynamischen Klauseln.1169 Dynamische Bezugnahmeklauseln sind danach im Zweifel lediglich Gleichstellungsabreden.
6.383 Diese Auslegungsregel gilt jedoch nur im Zweifel. Die Arbeitsvertragsparteien können frei wählen, ob sie mittels einer Gleichstellungsabrede vereinbaren, dass durch die konkret oder abstrakt dynamische Bezugnahme nicht tarifgebundene und tarifgebundene Arbeitnehmer im Sinne einer einheitlichen Tarifanwendung im Betrieb gleichgestellt werden sollen.1170 Dieses Regelungsziel muss lediglich mit hinreichender Deutlichkeit für den Vertragspartner zum Ausdruck kommen. Auf diesem Wege kann auch eine statische Verweisung oder eine Tarifwechselklausel vereinbart werden. Die Unterscheidung zwischen Alt- und Neuverträgen bereitet dann Probleme, wenn der Vertrag vor dem 31.12.2001 geschlossen wurde und nach diesem Stichtag Vertragsänderungen vereinbart wurden. Entscheidend für die Differenzierung ist, ob anlässlich der Vertragsänderung die Bezugnahmeklausel Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung der Vertragsparteien gewesen ist.1171 Wird die Bezugnahmeklausel in den Vertragswillen bei Vertragsänderung aufgenommen, ist die Klausel wie eine solche in einem Neuvertrag zu behandeln.1172 Nach Ansicht des BAG ist dafür ausreichend, dass sich im Änderungsvertrag die ausdrückliche Erklärung findet, dass „alle anderen Vereinbarungen aus dem Anstellungsvertrag unberührt bleiben“.1173 Das führt dazu, dass bei einer Vertragsänderung nach dem Stichtag von einer Gleichstellungsabrede nur ausgegangen werden kann, wenn der Änderungsvertrag keinerlei Bezug auf den zu ändernden Vertrag nimmt.
1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173
BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965. BAG v. 21.8.2002 – 4 AZR 263/01, NZA 2003, 442 (443). BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390. BAG v. 18.11.2009 – 4 AZR 514/08, MDR 2010, 451 = NZA 2010, 170 (172). BAG v. 18.11.2009 – 4 AZR 514/08, MDR 2010, 451 = NZA 2010, 170 (172). BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530. BAG v. 18.11.2009 – 4 AZR 514/08, MDR 2010, 451 = NZA 2010, 170 (172).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.386 Kap. 6
Eine konkret-dynamische Bezugnahmeklausel ist gegen ihren Wortlaut auch nicht korrigie- 6.384 rend als abstrakt-dynamische Bezugnahme auf den jeweils für den Arbeitgeber geltenden Tarifvertrag auszulegen. Eine kleine dynamische Verweisung kann über ihren Wortlaut hinaus nur dann als große dynamische Verweisung ausgelegt werden, wenn sich dies aus besonderen Umständen ergibt.1174 Wollen die Parteien eine Tarifwechselklausel vereinbaren, so muss dieser Wille eindeutig zum Ausdruck kommen. Mit Urteil vom 27.4.20171175 hat der EuGH auf Vorlage des erkennenden Senats des BAG1176 entschieden, dass die RL 2001/23/EG i.V.m. Art. 16 GRC der dynamischen Fortgeltung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel im Verhältnis zwischen dem Arbeitnehmer und dem Betriebserwerber nicht entgegensteht, sofern das nationale Recht sowohl einvernehmliche als auch einseitige Anpassungsmöglichkeiten für den Erwerber vorsieht. Letztendlich bedarf es eines höchstrichterlichen Urteils für die Beantwortung der Frage, ob die Anpassungsmöglichkeiten des Erwerbers nach deutschem Recht tatsächlich i.S.d. Richtlinie ausreichend sind. Sowohl einvernehmliche Vertragsänderungen als auch betriebsbedingte Kündigungen sind grundsätzlich möglich, doch in der Praxis schwerlich umzusetzen. Bezugnahmeklauseln schaffen arbeitsvertragliche Ansprüche auf Tarifanwendung und wirken 6.385 konstitutiv.1177 Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer bereits Mitglied der zuständigen Gewerkschaft ist. In diesem Fall wird die Tarifgeltung durch zwei Rechtsgründe, beiderseitige Tarifbindung und vertragliche Bezugnahme, ausgelöst. Bezugnahmeklauseln gelten im Fall eines Betriebs(teil)übergangs als Arbeitsvertragsinhalt gem. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB fort. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB findet keine, auch keine analoge, Anwendung.1178 Im Falle einer kongruenten Tarifbindung der Arbeitsvertragsparteien nach dem Betriebs(teil)übergang sind daher potentiell zwei Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis anzuwenden. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Tarifkonkurrenz, da nicht zwei Tarifverträge, sondern eine arbeitsvertragliche Regelung und ein Tarifvertrag miteinander konkurrieren. Diese Konkurrenz ist durch das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG aufzulösen.1179 Ist das durch arbeitsvertragliche Bezugnahme anwendbare Tarifwerk für den Arbeitnehmer günstiger, so kann es auch nicht durch eine Betriebsvereinbarung, die den beim Erwerber geltenden Tarifvertrag für anwendbar erklärt, verdrängt werden.1180 Aus dem vorstehend Gesagten ergeben sich folgende Konstellationen, wenn die Bezugnahmeklausel nicht eindeutig einen Gleichstellungszweck verfolgt: (1) Haben die Arbeitsvertragsparteien eine statische Bezugnahmeklausel vereinbart und war der Veräußerer tarifgebunden, gilt sowohl für Gewerkschaftsmitglieder, als auch für Außenseiter die Bezugnahmeklausel gem. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB fort. Für die Gewerkschaftsmitglieder kommt es zudem zu einer normativen Fortgeltung des alten Tarifwerks gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, wobei dieses Tarifwerk bei kongruenter Tarifbindung gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB durch ein beim Erwerber geltendes Tarifwerk verdrängt 1174 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (365); BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 784/07, NZA 2009, 151 (152). 1175 EuGH v. 27.4.2017 – C-680/15 und C-681/15 (Asklepios Kliniken Langen-Seligenstadt), NZA 2017, 571. 1176 BAG v. 17.6.2015 – 4 AZR 61/14 (A), NZA 2016, 373. 1177 BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (967). 1178 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (366). 1179 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (366). 1180 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 765/06, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 62.
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6.386
Kap. 6 Rz. 6.386
Arbeitsrecht
wird. Für die bei Gewerkschaftsmitgliedern eintretende Situation muss dann § 4 Abs. 3 TVG zur Anwendung kommen. (2) Bei konkret-dynamischer Bezugnahmeklausel gelten über § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB sowohl für Gewerkschaftsmitglieder, als auch für Außenseiter die Tarifregelungen dynamisch weiter.1181 Für Gewerkschaftsmitglieder gelten über § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB die Tarifregelungen auch statisch fort. Diese statische Fortgeltung wird jedoch durch die günstigere dynamische Bezugnahmeklausel überlagert.1182 Bei kongruenter Tarifbindung beim Erwerber findet § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB Anwendung, so dass eine Transformation nicht stattfindet. In diesem Fall gilt für Gewerkschaftsmitglieder wiederum das Günstigkeitsprinzip, da eine Konkurrenz zwischen normativ geltendem Tarifvertrag und Arbeitsvertrag besteht. (3) Problematisch ist die Situation bei einer abstrakt-dynamischen Bezugnahmeklausel (Tarifwechselklausel). Sowohl für Außenseiter, als auch für Gewerkschaftsmitglieder findet gem. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB der beim Erwerber geltende Tarifvertrag (neuer Tarifvertrag) Anwendung. Daneben kommt es für die Gewerkschaftsmitglieder jedoch zu einer Transformation der bisherigen Tarifregelungen gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, sofern nicht § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB zur Anwendung kommt. Umstritten ist in diesem Fall das Verhältnis zwischen dem in Bezug genommenen (neuen) Tarifvertrag und dem statisch transformierten Tarifvertrag. In Betracht kommt zunächst, dass wegen § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB der alte Tarifvertrag anzuwenden ist, sofern nicht der neue Tarifvertrag für den Arbeitnehmer günstiger ist. Dies entspricht dem Sinn und Zweck des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, der den Arbeitnehmer gerade vor einer Verschlechterung durch Betriebs(teil)übergang schützen soll. Allerdings handelt es sich bei der abstraktdynamischen Bezugnahmeklausel um eine Vereinbarung i.S.v. § 613a Abs. 1 Satz 4 Var. 2 BGB, so dass der neue Tarifvertrag zur Anwendung kommt.1183 Das BAG hat bereits für die vergleichbare Regelung des § 4 Abs. 5 TVG entschieden, dass eine Bezugnahmeklausel eine Abmachung im Sinne dieser Vorschrift sein kann, obwohl der Wortlaut der Vorschrift eher dafür spricht, dass die Nachwirkung zeitlich vor der anderen Abmachung eintreten muss.1184 Zwar spricht der Wortlaut von § 613a Abs. 1 Satz 4 Var. 2 BGB von einer Vereinbarung zwischen dem Erwerber und dem Arbeitnehmer, so dass fraglich ist, ob eine Bezugnahmeklausel, als Vereinbarung zwischen dem Veräußerer und dem Arbeitnehmer, eine Vereinbarung im Sinne der Vorschrift ist. Die Bezugnahmeklausel ist jedoch gem. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen Erwerber und Arbeitnehmer und wirkt deshalb als Vereinbarung zwischen diesen. Sie ist folglich eine ablösende Vereinbarung nach § 613a Abs. 1 Satz 4 Var. 2 BGB und verhindert die Transformation der kollektiven Regelungen des Veräußerers. Regelungszweck der Vorschrift ist es, die vorzeitige Ablösung transformierter Tarifnormen dort zu gestatten, wo an ihre Stelle die mit der tariflichen Richtigkeitsgewähr ausgestatteten Bedingungen eines anderen Tarifvertragswerks treten. Auf den Zeitpunkt der Vereinbarung der Ablösung, eventuell auch vor dem Betriebsübergang, kommt es deshalb nicht an. Im Rahmen des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ist die Ablösung durch die Tarifbindung der Parteien legitimiert. Bei § 613a Abs. 1 Satz 4 Var. 2 BGB gibt der Arbeitnehmer mit der Vereinbarung einer abstrakt-dynamischen Bezugnahmeklausel 1181 BAG v. 30.8.2017 – 4 AZR 61/14, Rz. 42. 1182 Hohenstatt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, E Rz. 196. 1183 Bauer/Günther, NZA 2008, 6 (11); Hohenstatt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, E Rz. 206; wohl auch Bepler, RdA 2009, 65 (71). 1184 BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925).
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.389 Kap. 6
sein Einverständnis, dass es zu einem Tarifwechsel (durch Betriebsübergang) kommen kann. Damit legitimiert er den Tarifwechsel schon vor dem Zeitpunkt des Übergangs.1185 Dieses Ergebnis wird durch die Rechtsprechung des BAG1186 gestützt. Sie legt den Parteien die ausdrückliche Manifestation ihres Willens zum Tarifwechsel nahe. Liegt nach diesen hohen Anforderungen eine Tarifwechselklausel vor, muss man davon ausgehen, dass der Arbeitnehmer damit auch in eine Ablösung nach § 613a Abs. 1 Satz 4 Var. 2 BGB einwilligte. Seiner Nachweispflicht gem. § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG genügt der Arbeitgeber, wenn er die aktuell anwendbaren Tarifverträge konkret bezeichnet. (4) Ist im Fall (3) der Erwerber nicht tarifgebunden, bleibt es bei einer Fortgeltung der Bezugnahmeklausel gem. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB. Unseres Erachtens wirkt der Tarifvertrag in dieser Konstellation lediglich statisch fort, da sich nach der großen Bezugnahmeklausel die Dynamik ausdrücklich auf den beim Arbeitgeber jeweils geltenden Tarifvertrag bezieht.1187 Die Praxis muss aber damit rechnen, dass ein Arbeitsgericht auch in diesem Fall – wie bei der konkret-dynamischen Bezugnahmeklausel – eine dynamische Fortgeltung zu Grunde legen wird. Das BAG stellt folglich hohe Anforderungen an die Präzision der Vertragsparteien bei der Formulierung des Arbeitsvertrags. Es ist daher zu empfehlen, ausdrücklich die Motivation der Bezugnahme (über das bereits typischerweise anzunehmende Gleichstellungsinteresse hinaus) im Arbeitsvertrag festzuhalten. Damit ist sichergestellt, dass ein etwaiger Tarifwechsel vom Willen der Parteien gedeckt ist. Auslegungsschwierigkeiten lassen sich so vermeiden.1188 Zudem ist zu beachten, dass eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel, sofern es sich um eine vom Arbeitgeber vorformulierte Vertragsbedingung handelt, einer AGB-Kontrolle standhalten muss.1189 Der Klauselverwender hat (insbesondere bei der Tarifwechselklausel) bei der Vertragsgestaltung den voraussichtlichen Wegfall des Grundsatzes der Tarifeinheit zu berücksichtigen.1190 Die bislang durch die Rechtsprechung gewährleistete Auflösung von Tarifpluralität und Tarifkonkurrenz durch den Grundsatz der Tarifeinheit ist zukünftig Aufgabe des Klauselverwenders. Dieser könnte z.B. im Rahmen einer Bezugnahmeklausel für die Fälle der Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität eine Lösung nach dem Grundsatz der Tarifeinheit vorsehen und den speziellsten Tarifvertrag für anwendbar erklären.
6.387
Eine dynamische Bezugnahmeklausel verstößt auch nicht gegen die negative Koalitionsfreiheit des Erwerbers.1191 Allerdings muss eine Bezugnahmeklausel nach einem Betriebsübergang nicht unabhängig vom übereinstimmend gebildeten Parteiwillen zwingend dynamisch gelten. Dies würde einen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit darstellen.1192
6.388
Eine Änderung der durch eine Tarifwechselklausel geschaffenen Tarifsituation beim Erwerber ist vor Ablauf der Jahresfrist auch dann zulässig, „wenn bei fehlender beiderseitiger Tarifgebundenheit im Geltungsbereich eines anderen Tarifvertrags dessen Anwendung zwi-
6.389
1185 1186 1187 1188 1189
Bauer/Haußmann, DB 2003, 610 (613 f.). Vgl. nur BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390. Bauer/Günther, NZA 2008, 6 (12). Bauer/Haußmann, DB 2003, 610 (613). Reinecke, BB 2006, 2637 (2644); Jordan/Bissels, NZA 2010, 71 (72 ff.); Bauer/Günther, NZA 2008, 6 (11). 1190 Vgl. BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 3/10, ZIP 2010, 1309; BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08 (A), BB 2010, 1988. 1191 BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 331/08. 1192 EuGH v. 9.3.2006 – C-499/04 – Werhof, NZA 2006, 376.
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Kap. 6 Rz. 6.390
Arbeitsrecht
schen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer vereinbart wird“ (§ 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 BGB). Wegen des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift („vereinbart“) ist eine Änderungskündigung hier nicht möglich.1193 Von dieser Regelung werden nur die beim Veräußerer tarifgebundenen Arbeitnehmer erfasst, für die § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB gilt. 6. Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung gelten nicht mehr (§ 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 BGB)
6.390 Ausnahmsweise entfällt die einjährige Änderungssperre bereits vor Ablauf der Jahresfrist, wenn „der Tarifvertrag oder die Betriebsvereinbarung nicht mehr gilt“ (§ 613a Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 BGB). Individualvertragliche Änderungen transformierter Normen sind ab dem Zeitpunkt zulässig, ab dem die vormals kollektive Norm ihren zwingenden Charakter verliert.1194 „Nicht mehr gilt“ bedeutet „nicht mehr zwingend gilt“ (§ 4 Abs. 1 TVG, § 77 Abs. 4 BetrVG). Damit sind die Fälle gemeint, in denen der Tarifvertrag oder die Betriebsvereinbarung im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bereits gekündigt war und die Kündigungsfrist innerhalb eines Jahres nach Betriebsübergang ausläuft oder in denen die Kollektivnorm von vornherein befristet war. In diesen Fällen dauert die Änderungssperre des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nur bis zum Ablauf der Kündigungsfrist bzw. der Befristung. Sinn und Zweck dieser Regelung sind klar: Durch den Betriebsübergang sollen die auf Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung beruhenden Rechte der Arbeitnehmer im Sinne eines Bestandsschutzes gewahrt werden. Sie sollen sich weder verbessern noch verschlechtern.1195 Die Änderung (kein gesetzlicher Automatismus!) kann durch Vereinbarung mit den betroffenen Arbeitnehmern oder durch Änderungskündigung erfolgen. 7. Fortgeltung anderer Kollektivvereinbarungen
6.391 Nicht von § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB erfasst werden sog. Regelungsabreden, die keine Betriebsvereinbarungen sind. Regelungsabreden haben keine normative Wirkung und greifen deshalb nicht in einzelne Arbeitsverhältnisse ein. Sie können jederzeit durch eine für den Arbeitnehmer ungünstigere einzelvertragliche Abmachung ersetzt werden. Deshalb binden Regelungsabreden zwischen bisherigem Arbeitgeber und Betriebsrat den Erwerber nicht kraft Gesetzes.1196 Allerdings können sie kollektivrechtlich weitergelten, wenn die Identität des Betriebs erhalten bleibt und eigene Rechte des Betriebsrats geregelt sind.1197
6.392 Die Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf Richtlinien eines Sprecherausschusses gem. § 28 SprAuG werden verschiedentlich betrachtet. Eine Richtlinie nach § 28 Abs. 1 SprAuG bedarf der Umsetzung durch den Arbeitgeber. Sie endet mit Betriebsübergang, wenn sie aufgrund fehlender Umsetzung (nur) schuldrechtliche Wirkung zwischen dem Arbeitgeber und dem Sprecherausschuss entfaltet. Nach erfolgter einzelvertraglicher Umsetzung hat der neue Arbeitgeber die getroffenen Regelungen nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB zu beachten.1198 Entsprechende Anwendung findet § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB bei Richtlinien i.S.v. § 28 Abs. 2
1193 1194 1195 1196
Röder, DB 1981, 1982; Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 111; a.A. Seiter, S. 96. Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 137. BAG v. 13.11.1985 – 4 AZR 309/84, NZA 1986, 422. Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 153; Bauer, Unternehmensveräußerung, S. 109. 1197 Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 120. 1198 Nicht umumstritten, vgl. Gaul, NZA 1995, 717; Oetker, ZfA 1990, 43.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.395 Kap. 6
SprAuG (auch bei Gesamt- und Unternehmenssprecherausschussvereinbarungen);1199 gleiches gilt für die kollektivrechtliche Fortgeltung, wenn die betriebliche Einheit erhalten bleibt. Sie gelten als Kollektivverträge i.S.d. Richtlinie 2001/23/EG, § 613a BGB bedarf daher einer richtlinienkonformen Auslegung. Auch Dienstvereinbarungen nach dem BPersVG werden von § 613a BGB nicht erwähnt; Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2001/23/EG verlangt jedoch, dass § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB im Wege der richtlinienkonformen Auslegung auch auf Dienstvereinbarungen erstreckt wird. Danach gelten Dienstvereinbarungen dann kollektivrechtlich weiter, wenn ein Betrieb (Dienststelle) von einem öffentlich-rechtlichen Träger auf einen anderen übergeht und der Personalrat im Amt bleibt.1200 Geht der Betrieb von einem öffentlich-rechtlichen auf einen privatrechtlichen Träger über oder umgekehrt, gelten die Dienstvereinbarungen nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fort, da das Gesetz einen Rechtsformwechsel der Dienst- zur Betriebsvereinbarung nicht kennt.1201
6.393
Die Analogiefähigkeit von § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB auf kirchliche Arbeitsbedingungen, die auf dem Dritten Weg zustande kommen, ist umstritten. Teilweise wird argumentiert, ihnen fehle die normative Wirkung, eine analoge Anwendung scheide damit von vornherein aus. Andererseits besitzen kirchliche Arbeitsbedingungen den Charakter eines „Tarifsurrogats“.1202 Dahingehend entschied das BAG mit Urteil vom 23.11.2017.1203 Im konkreten Fall konnte der Wegfall der kirchlichen Trägerschaft der dynamischen Geltung der AVR kein Ende setzen. Auch nicht auf der Grundlage der Argumentation, dass der Geltungsgrund für die Dynamik einzig die Qualität des Arbeitgebers als kirchlicher Arbeitgeber ist. Geht also ein Betrieb oder Betriebsteil im Wege des Betriebsübergangs auf einen weltlichen Erwerber über, behält gem. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB die mit einem kirchlichen Arbeitgeber vereinbarte dynamische Inbezugnahme kirchlicher Arbeitsrechtsregelungen auch gegenüber dem Erwerber ihre Wirkung.
6.394
8. Ausgründungsmodelle Eine Reihe von Unternehmen versucht der Tarifbindung dadurch zu entgehen, dass sie wesentliche Teile des Unternehmens auf neu gegründete Tochtergesellschaften übertragen, die ihrerseits keinem Arbeitgeberverband angehören.1204 Bei solchen Gestaltungen gehen die Arbeitsverhältnisse der bei der Muttergesellschaft beschäftigten Arbeitnehmer automatisch nach § 613a BGB auf die Tochtergesellschaften über. Gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB werden die im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bei der Muttergesellschaft geltenden Tarifverträge für die übergehenden Arbeitsverhältnisse transformiert und gelten beim Erwerber kollektiv-rechtlich fort. Dies gilt auch für Ausgründungen im Wege der Spaltung nach dem Umwandlungsgesetz.1205 Vor Ablauf der Jahresfrist werden die ehemaligen Tarifnormen hin1199 1200 1201 1202
ErfK/Oetker, § 28 SprAuG Rz. 19 m.w.N. Steffan in APS, § 613a BGB Rz. 119. Schipp, NZA 1994, 865. Zu diesem Streitstand vgl. von Tiling, NZA 2007, 78 und Thüsing, NZA 2002, 306; s.a. BAG v. 20.3.2002 – 4 AZR 101/01, NZA 2002, 1402; BAG v. 25.3.2009 – 7 AZR 710/07, MDR 2009, 1174 = NZA 2009, 1417. 1203 BAG v. 23.11.2017 – 6 AZR 683/16, NZA 2018, 311. 1204 Vgl. dazu Bauer, NZA 1999, 957 (961); Bauer/Diller, DB 1993, 1085; Henssler, NZA 1994, 294 (300). 1205 Däubler, RdA 1995, 141; Kania, DB 1995, 625.
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6.395
Kap. 6 Rz. 6.396
Arbeitsrecht
fällig, wenn für das betreffende Arbeitsverhältnis ein neuer Tarifvertrag mit entsprechendem Regelungsgegenstand abgeschlossen wird.1206 Jede Änderung der Tarifnormen während der Sperrfrist im Veräußererbetrieb führt ebenfalls zu einem vorzeitigen Wegfall der Sperrfrist für den Erwerber.1207 Werden vor Ablauf eines Jahres nach dem Betriebsübergang mit den betroffenen Arbeitnehmern untertarifliche Vereinbarungen getroffen, wird zwar gegen § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB verstoßen, nicht jedoch gegen die normative Ordnung des Tarifvertrags. Den Verstoß kann jeder Arbeitnehmer im Individualprozess geltend machen. Grundrechte der tarifschließenden Gewerkschaft sind aber nicht berührt, da dem Tarifvertrag nach einem Betriebsübergang schon kraft Gesetzes kein normativer Geltungsanspruch mehr zukommt, der durch tarifwidrige betriebseinheitliche Regelungen vereitelt werden könnte; ein Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft1208 besteht daher in diesem Fall nicht. Anders liegt dies allerdings, wenn sich der Arbeitgeber im schuldrechtlichen Teil eines Standort- und Beschäftigungssicherungstarifvertrags zur Vornahme von Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen in einem neu aufzubauenden Betriebsteil verpflichtet hat. Die tarifschließende Gewerkschaft hat für die Dauer der Laufzeit des Tarifvertrags einen Anspruch auf Unterlassung einer beabsichtigten Übertragung dieses Betriebsteils auf eine neu gegründete Tochtergesellschaft im Wege des § 613a BGB.1209
6.396 Ist dagegen der Veräußerer nicht tarifgebunden, der Erwerber jedoch an einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag gebunden, gilt das Günstigkeitsprinzip.
XIII. Prozessuale Fragen 1. Kündigungsrechtsstreit
6.397 Kommt es im zeitlichen Zusammenhang mit einem Betriebs(teil)übergang zu Kündigungen, stehen die betroffenen Arbeitnehmer vor der Frage, wie sie prozessual dagegen vorgehen sollen, vor allem, gegen wen Klage zu erheben ist. Die Unwirksamkeit einer Kündigung nach § 613a Abs. 4 BGB kann unabhängig von den Beschränkungen des Kündigungsschutzgesetzes durch allgemeine Feststellungsklage nach § 256 ZPO1210 geltend gemacht werden. Bei Geltendmachung von Entgeltansprüchen sind aber ggf. tarifliche Ausschlussfristen zu beachten.1211 Zusätzlich kann der Arbeitnehmer unter den Voraussetzungen des Kündigungsschutzgesetzes Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG erheben.
6.398 Gegen wen die Klage zu erheben ist, richtet sich danach, wann die Kündigung zugegangen ist, d.h. vor oder nach dem Betriebsübergang: Bei Zugang vor Betriebsübergang ist die Kündigungsschutzklage gegen den Veräußerer zu richten, dabei ist es unerheblich, ob sie vor oder nach dem Betriebsübergang rechtshängig geworden ist.1212 Der Veräußerer, der das Arbeitsverhältnis vor dem Betriebsübergang gekündigt hat, ist für die gerichtliche Klärung 1206 1207 1208 1209 1210
Vgl. Däubler, NZA 1996, 225 (233). BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41. Vgl. „Burda“-Beschluss des BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. So LAG Niedersachsen v. 18.5.2011 – 17 SaGa 1939/10, BeckRS 2011, 74667. Das erforderliche Feststellungsinteresse wird von der Rechtsprechung auch während der Elternzeit bejaht, vgl. BAG v. 2.12.1999 – 8 AZR 796/98, NZA 2000, 369. 1211 Vgl. BAG v. 12.12.2000 – 9 AZR 1/00, n.v. 1212 BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 306/98, NZA 1999, 706; BAG v. 20.3.1997 – 8 AZR 769/95, EzA § 613a BGB Nr. 148; BAG v. 20.4.1989 – 2 AZR 431/88, DB 1989, 2334; BAG v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, MDR 1984, 171 = AP Nr. 34 zu § 613a BGB; a.A. LAG Hamm v. 2.12.1999 – 4
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.399 Kap. 6
der Wirksamkeit der Kündigung auch nach dem Betriebsübergang jedenfalls passiv legitimiert,1213 weil er im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs materiell-rechtlich Arbeitgeber war.1214 Er bleibt in entsprechender Anwendung von § 265 Abs. 2 ZPO prozessführungsbefugt. Der Veräußerer bleibt auch befugt, einen Beendigungsvergleich zu schließen, der auch für und gegen den Erwerber wirkt, wenn dieser ihn zumindest konkludent genehmigt (vgl. zu Gestaltungsmöglichkeiten Rz. 6.254).1215 Die Rechtskraft des Urteils gegen und für den Veräußerer wirkt nach § 325 ZPO auch für und gegen den Erwerber. Allerdings entfaltet ein obsiegendes Urteil im Kündigungsschutzprozess keine den Erwerber bindende Wirkung hinsichtlich der Frage des Betriebsübergangs. Diese Frage kann nur durch Erhebung einer Klage auf Feststellung des Bestands des Arbeitsverhältnisses gegenüber dem Erwerber nach § 256 Abs. 1 ZPO geklärt werden. Die Wirksamkeit der Kündigung ist dann als Vorfrage zu klären, wobei dem Veräußerer gem. § 72 ZPO der Streit verkündet werden kann.1216 Begehrt der Arbeitnehmer Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch betriebsbedingte Kündigung des Veräußerers nicht aufgelöst wurde und dass es auf den Erwerber übergegangen ist, muss er die Kündigungsschutzklage gegen den Veräußerer mit der Feststellungsklage gegen den Erwerber als einfache Streitgenossen (§ 59 ZPO) verbinden (subjektive Klagehäufung).1217 In einem möglichen Folgeprozess, den der Arbeitnehmer beispielsweise gegen der Erwerber auf Zahlung von Annahmeverzugslohn gem. § 615 BGB anstrengt, kann er so dem Einwand des Erwerbers begegnen, dass gar kein Betriebsübergang stattgefunden habe, da die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst wurde, auch gegen den Erwerber wirkt. Dieser kann ein Interesse daran haben, die sich in Rechtskraft erstreckende Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung zu verhindern, die der Arbeitnehmer geltend macht. Das ist ihm insoweit möglich, als dass er als einfacher Nebenintervenient nach § 66 ZPO im Kündigungsschutzprozess auftritt. So kann er auf einen in seinem Sinne geführten Prozess achten. Die analoge Anwendung des § 265 Abs. 2 Satz 3 ZPO verbietet indes die Annahme einer streitgenössischen Nebenintervention.1218 Ist das Vorliegen eines Betriebsübergangs zweifelhaft, möchte in der Regel der Veräußerer festgestellt wissen, dass für den Fall seines Unterliegens im Kündigungsschutzprozess das Arbeitsverhältnis auf den Erwerber übergegangen ist. Eine Steitverkündung im Kündigungsschutzprozess ist ihm aber nicht möglich. Der Streitgegenstand ist kein Streitverkündungsgrund nach § 72 Abs. 1 ZPO. Tritt allerdings wie oben beschrieben der Erwerber als Nebenintervenient auf, steht im Verhältnis Veräußerer zu Erwerber bei einer Unwirksamkeit der Kündigung nach § 613a Abs. 4 BGB fest, dass ein Betriebsübergang stattgefunden hat. Dies bewirkt die Interventionswirkung gem. § 68 ZPO. Ihre Bindungswirkung erstreckt
1213
1214 1215 1216 1217 1218
Sa 1153/99, NZA-RR 2000, 265, danach ist die Klage nach Betriebsübergang immer gegen den Erwerber zu richten. Kritisch Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 205. BAG v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465 (Rz. 33); BAG v. 11.8.2011 – 9 AZN 806/11, NZA 2011, 1445; BAG v. 24.5.2005 – 8 AZR 246/04, MDR 2005, 1232 = NZA 2005, 1178; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 174; a.A. Löwisch/Neumann, DB 1996, 474. Vgl. dazu auch LAG Hamm v. 22.3.2001 – 4 Sa 579/00, NZA-RR 2002, 82. Hattesen in Kasseler Hdb., 6.7 Rz. 235; LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 20.9.2011 – 5 Sa 333/10, BeckRS 2011, 77102; Bedenken bei LAG Köln v. 10.2.2012 – 10 Sa 1144/11, ZIP 2012, 1778. BAG v. 24.8.2006 – 8 AZR 574/05, NZA 2007, 328. Ascheid in Schliemann, ArbR im BGB, Rz. 149 f. Vgl. BAG v. 25.4.1996 – 5 AS 1/96, NZA 1996, 1062; vgl. zur entsprechenden Klageerweiterung in der Berufungsinstanz BAG v. 27.9.2007 – 8 AZR 941/06, NZA 2008, 1130; vgl. auch MüllerGlöge, NZA 1999, 449 (456); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 174. LAG Köln v. 22.12.2009 – 9 Sa 383/09, NZA-RR 2010, 210 (211).
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6.399
Kap. 6 Rz. 6.400
Arbeitsrecht
sich objektiv auf die tragenden Feststellungen des Ersturteils und subjektiv auf das Verhältnis von Nebenintervenient (Erwerber) zu der von ihm unterstützten Hauptpartei (Veräußerer). Bei zweifelhaftem Betriebsübergang kann der Arbeitnehmer seine Klage gegen den Veräußerer mangels Schlüssigkeit nicht allein darauf stützen, dass der Betrieb bereits vor der Kündigung auf den Erwerber übergegangen sei.1219 Eine subjektive Klagehäufung (Anspruchshäufung nach § 260 ZPO) durch Kündigungsschutzklage gegen den bisherigen Arbeitgeber und Feststellungsklage gegen den potentiellen Betriebserwerber ist, wenn unbedingt, möglich, wenn der Arbeitnehmer nicht erkennen kann, ob ein Betriebsübergang stattgefunden hat.1220
6.400 Haben Veräußerer und Erwerber verschiedene allgemeine Gerichtsstände, ist das zuständige Gericht nach § 36 Nr. 3 ZPO zu bestimmen,1221 es sei denn, der Rechtsstreit gegen einen der Beteiligten wurde bereits durch bindenden Beschluss an ein anderes Gericht verwiesen.1222 Gibt das ArbG beiden Klagen statt und legt nur der Erwerber Berufung ein, wird die Kündigungsschutzklage gegen den Veräußerer nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens.1223
6.401 Erhebt der Arbeitnehmer erst nach Betriebsübergang Kündigungsschutzklage gegen den Veräußerer, tritt keine Rechtskrafterstreckung nach § 325 ZPO ein.1224 Nach Auffassung des BAG muss die nach Betriebsübergang erhobene Kündigungsschutzklage gegen eine vor Betriebsübergang zugegangene Kündigung jedoch gegen den Veräußerer gerichtet werden.1225 Einer allein gegen den Veräußerer erhobenen Festellungsklage zur Unwirksamkeit der von ihm ausgesprochenen Kündigung fehlt es dann jedoch regelmäßig am notwendigen Festellungsinteresse; der Festellungsantrag ist unzulässig.1226
6.402 Für Kündigungen, die nach Betriebsübergang zugegangen sind, gilt Folgendes: Hat der Veräußerer gekündigt, ist eine gegen ihn gerichtete Kündigungsschutzklage nur begründet, wenn der Arbeitnehmer dem Betriebsübergang widersprochen hat. Allein die Behauptung, der Betrieb sei bereits vor der Kündigung auf einen Erwerber übergegangen, macht die Klage unschlüssig, da im Zeitpunkt des Kündigungszugangs kein Arbeitsverhältnis mehr zwischen den Parteien bestanden hat.1227 Ohne Widerspruch geht die Kündigung eines Betriebsveräußerers nach der Betriebsübertragung damit ins Leere. Eine gleichwohl erhobene Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung ist unbegründet.1228 Entsprechen1219 BAG v. 15.12.2005 – 8 AZR 202/05, NZA 2006, 597 (600). 1220 BAG v. 11.12.1997 – 8 AZR 729/96, MDR 1998, 722 = NZA 1998, 534. Der Arbeitnehmer muss hierbei in Kauf nehmen, dass er eine der beiden Klagen verliert bzw. bei Nichtvorliegen eines Betriebsübergangs beide. 1221 BAG v. 25.4.1996 – 5 AS 1/96, NZA 1996, 1062. 1222 Vgl. BAG v. 13.11.1996 – 5 AS 11/96, EzA § 36 ZPO Nr. 24. 1223 BAG v. 4.3.1993 – 1 AZR 507/92, AP Nr. 101 zu § 613a BGB. 1224 BAG v. 18.2.1999 – 8 AZR 485/97, NZA 1999, 648 (650). 1225 BAG v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, MDR 1984, 171 = AP Nr. 34 zu § 613a BGB; BAG v. 27.9.1984 – 2 AZR 309/83, MDR 1985, 699 = NZA 1985, 493; ebenso herrschende Meinung in der Literatur, statt vieler Hesse in APS, § 4 KSchG Rz. 48 m.w.N. 1226 BAG v. 18.5.2010 – 1 AZR 864/08, NZA 2010, 1198 (1198 f.); Müller-Glöge in MünchKomm/ BGB, § 613a BGB Rz. 215. 1227 BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 312/02, NZA 2003, 1338; LAG Köln v. 18.3.1994 – 13 Sa 924/93, NZA 1994, 815; Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 209. 1228 BAG v. 20.3.2014 – 8 AZR 1/13, NZA 2014, 1095. In diesem Urteil bestätigte das BAG außerdem den zwingenden Charakter von § 613a BGB, dem auch nicht durch anderslautende Ab-
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.405 Kap. 6
des gilt, wenn sich die Klage gegen den Erwerber richtet: Behauptet der Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess, dass ein Betriebsübergang vor Zugang der vom Erwerber ausgesprochenen Kündigung stattgefunden und er dem Übergang des Arbeitsverhältnisses nach § 613a Abs. 6 BGB rechtzeitig widersprochen habe, so ist die gegen den Erwerber erhobene Kündigungsschutzklage unschlüssig, da der Arbeitnehmer damit gleichzeitig behauptet, dass ein Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung mit dem Erwerber nicht bestanden habe.1229 In diesem Fall ist der Veräußerer passivlegitimiert.1230 Geht im Laufe des Verfahrens der Betrieb auf einen Erwerber über, nimmt dieser als neuer Inhaber auch ohne eine entsprechende Prozesserklärung der Verfahrensbeteiligten automatisch die verfahrensrechtliche Stellung des bisherigen Rechtsträgers ein.1231 Unter Umständen kann der Klageantrag allerdings ausgelegt werden.1232 Soweit die Unwirksamkeit der Kündigung allein oder in erster Linie auf § 613a Abs. 4 BGB gestützt wird, fehlt das erforderliche (§ 256 ZPO) Feststellungsinteresse.1233 Hatte der Arbeitnehmer keine Kenntnis vom Betriebsübergang und deshalb die Kündigung gegen den Veräußerer gerichtet, kommt eine nachträgliche Zulassung der Klage in Betracht (§ 5 KSchG). Hat der Erwerber gekündigt, ist die Kündigungsschutzklage selbstverständlich gegen ihn zu richten. Dem Arbeitnehmer kann nur empfohlen werden, jedenfalls die Kündigungsschutzklage innerhalb der Drei-Wochen-Frist (§ 4 KSchG) vorsichtshalber immer sowohl gegen Veräußerer als auch Erwerber zu richten. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die Frist gegenüber keinem der beiden möglichen Arbeitgeber abgelaufen ist. Sollte hierbei eine Parteibezeichnung ungenau oder erkennbar falsch sein, kann diese jederzeit von Amts wegen berichtigt werden, solange damit keine Parteiänderung einhergeht.1234
6.403
Für Betriebsübergänge in der Insolvenz gilt ebenfalls die Klagefrist des § 4 Abs. 1 KSchG. Ist also das Insolvenzverfahren eröffnet, ist die Klage gegen den Insolvenzverwalter zu richten, der gem. § 80 InsO Partei kraft Amtes ist.1235 Erhebt der Arbeitnehmer nach Insolvenzeröffnung gegen die Insolvenzschuldnerin Klage, ist die Klagefrist des § 4 KSchG nicht gewahrt, da dies den Insolvenzverwalter nicht zur Partei macht.1236
6.404
Einen Auflösungsantrag nach § 9 KSchG kann der Arbeitnehmer nach Betriebs(teil)übergang auch in einem Kündigungsschutzprozess gegen den Veräußerer richtigerweise nur noch gegen den Erwerber stellen.1237 Zwar richtet sich der Auflösungsantrag gegen den Arbeitgeber, der die Kündigung ausgesprochen hat. Allerdings ist der Auflösungsantrag ein selbständiger Antrag und eigenständiges prozessuales Institut des Kündigungssrechtsstreites.1238 Daher ist zweifelhaft, ob die Passivlegitimation automatisch dem bereits gestellten Kündigungsschutzantrag folgt. Maßgeblicher Grund für eine gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses ist
6.405
1229 1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236 1237 1238
sprachen zwischen Veräußerer und Erwerber – beispielsweise in einem Betreiber- und/oder in einem Personalgestellungsvertrag – beigekommen werden kann. LAG Nürnberg v. 5.10.2011 – 2 Sa 765/10, BeckRS 2011, 78103. LAG Düsseldorf v. 29.4.2009 – 12 Sa 1551/08, NZA-RR 2009, 637. BAG v. 20.8.2014 – 7 ABR 60/12, NZA 2015, 1530. LAG Hamm v. 28.5.1998 – 8 Sa 2257/97, NZA-RR 1999, 71. Vgl. LAG Hamm v. 2.12.1999 – 4 Sa 1153/99, NZA-RR 2000, 265. BAG v. 13.12.2012 – 6 AZR 608/11, AP BGB § 620 Kündigungserklärung Nr. 23. BAG v. 21.9.2006 – 2 AZR 573/05, NJW 2007, 458. S. hierzu bereits Rz. 6.294. LAG Köln v. 17.8.2005 – 3 (8) Sa 486/05, BeckRS 2006, 41029. BAG v. 20.3.1997 – 8 AZR 769/95, NZA 1997, 937; Müller-Glöge, NZA 1999, 449 (456); ErfK/ Preis, § 613a BGB Rz. 176. BAG v. 26.10.1979 – 7 AZR 752/77, AP Nr. 5 zu § 9 KSchG 1969.
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Kap. 6 Rz. 6.406
Arbeitsrecht
auch nicht die Sozialwidrigkeit der Kündigung, sondern die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit einem bestimmten Arbeitgeber. Dabei ergeben sich die Gründe für die Unzumutbarkeit oft erst während des Prozesses. Eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses mit dem Veräußerer käme ohnehin nicht in Betracht, da er wegen § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB im Zeitpunkt der Auflösungsentscheidung nicht mehr Arbeitgeber ist. Schließlich könnte eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses mit dem Erwerber offensichtlich nicht auf eine Unzumutbarkeit seiner Fortsetzung mit dem Veräußerer gestützt werden. Offengelassen hat das BAG, ob die §§ 265, 325 ZPO auf einen vor Betriebs(teil)übergang gestellten Auflösungsantrag entsprechend anwendbar sind.1239 Lediglich im Falle, dass der bisherige Arbeitgeber den geltend gemachten Anspruch nicht mehr erfüllen konnte, kann § 265 Abs. 2 ZPO entsprechend angewendet werden.1240
6.406 Der Anspruch auf tatsächliche Beschäftigung kann – wenn die Unwirksamkeit der Kündigung allein auf den Verstoß gegen § 613a Abs. 4 BGB gestützt wird – allein gegen den (vermeintlichen) Erwerber als neuen Arbeitgeber geltend gemacht werden.1241 Im einstweiligen Verfügungsverfahren hat der Arbeitnehmer gegen den Betriebserwerber einen durchsetzbaren vorläufigen Beschäftigungsanspruch, wenn er im arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutzverfahren gegen den Betriebsveräußerer obsiegt und er (wegen Unkenntnis über den Betriebsübergang) keine Möglichkeit hatte, den Beschäftigungsanspruch zeitgleich mit der arbeitsgerichtlichen Klärung der vor dem Betriebsübergang ausgesprochenen Kündigung durchzusetzen.1242
6.407 Eine einheitliche Verteilung der Darlegungs- und Beweislast gibt es bei § 613a BGB nicht. Es kommt vielmehr darauf an, ob der Betriebs(teil)übergang zu den anspruchsbegründenden Tatsachen gehört (Beispiel: Der klagende Arbeitnehmer beruft sich auf die Unwirksamkeit der Kündigung gem. § 613a Abs. 4 BGB) oder zu den rechtsvernichtenden (Beispiel: Der beklagte Arbeitgeber wendet ein, nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB sei das Arbeitsverhältnis auf den Erwerber übergegangen). Im ersten Fall trägt der Arbeitnehmer die Darlegungslast (und ggf. Beweislast), d.h. er muss darlegen und beweisen, dass ihm wegen eines rechtsgeschäftlichen Betriebsübergangs gekündigt worden ist, der Betriebsübergang also der Beweggrund, das Motiv der Kündigung war.1243 Der Arbeitnehmer muss auch vortragen, dass die tatsächlichen Voraussetzungen eines Betriebsübergangs erfüllt sind.1244 Im zweiten Fall trägt der Arbeitgeber die Darlegungslast (und ggf. Beweislast).1245 Klagt der Arbeitnehmer auf Wiedereinstellung, ist er in der Beweispflicht.1246
1239 BAG v. 20.3.1997 – 8 AZR 769/95, NZA 1997, 937; dagegen Löwisch/Neumann, DB 1996, 474; dafür Pfeiffer in KR, § 613a BGB Rz. 208. Zum Auflösungsantrag des Arbeitgebers s. Rz. 6.95. 1240 BAG v. 15.12.1976 – 5 AZR 600/75, DB 1977, 680. 1241 So LAG Hamm v. 24.2.2000 – 4 Sa 1731/99, ZInsO 2000, 467; s. aber ArbG Dortmund v. 15.2.2007 – 9 Ga 10/07, BeckRS 2008, 56052. 1242 LAG Hamm v. 9.6.2006 – 19 Sa 880/06, NZA-RR 2007, 17. 1243 BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, DB 2011, 2323; BAG v. 5.12.1985 – 2 AZR 3/85, NZA 1986, 522. 1244 BAG v. 22.6.2011 – 8 AZR 107/10, NZA-RR 2012, 119. 1245 BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06, NZA-RR 2008, 367; vgl. auch Müller-Glöge, NZA 1999, 449 (456 f.). 1246 BAG v. 15.12.2011 – 8 AZR 197/11, NZA-RR 2013, 179.
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B. Betriebsübergang nach § 613a BGB
Rz. 6.410 Kap. 6
2. Durchsetzung übergegangener Rechte und Pflichten Nach dem Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils müssen gerichtliche Auseinandersetzun- 6.408 gen um nach § 613a BGB übergegangene Rechte und Pflichten grundsätzlich zwischen dem Erwerber und den betroffenen Arbeitnehmern ausgetragen werden. Dabei kommen Leistungs- und Feststellungsklagen in Betracht. Handelt es sich um fällige Ansprüche, fehlt Feststellungsklagen regelmäßig das Interesse nach § 256 Abs. 1 ZPO. Bei noch nicht fälligen Ansprüchen, z.B. Versorgungsanwartschaften, werden dagegen Feststellungsklagen zugelassen. Gegen den Erwerber kann eine Klage mit dem Petitum erhoben werden, global festzustellen, dass alle Verpflichtungen des Veräußerers gem. § 613a BGB übergegangen sind.1247 Dagegen ist eine Feststellungsklage gegen den Erwerber zu erheben, wenn dieser den Betriebs(teil)übergang als solchen oder den Übergang des Arbeitsverhältnisses eines bestimmten Arbeitnehmers bestreitet. Hierbei gilt zu beachten, dass der „Übergang“ des Arbeitsverhältnisses als solcher kein Rechtsverhältnis i.S.v. § 256 Abs. 1 ZPO ist und nicht Gegenstand einer Feststellungsklage sein kann.1248 Der Antrag muss deshalb auf Feststellung eines zum Betriebserwerber bestehenden Arbeitsverhältnisses lauten.1249 Dann steht es dem betroffenen Arbeitnehmer auch frei, daneben noch zusätzlich Leistungsklage auf Entgeltzahlung zu erheben.1250 Sein Fortsetzungsverlangen muss der (wirksam) gekündigte Arbeitnehmer „unverzüglich“ nach Kenntnis von den Umständen, die den Betriebsübergang ausmachen, gegenüber dem Erwerber geltend machen. Andernfalls droht ihm Verwirkung.1251 Verzugslohnansprüche treten bis zur Rechtskraft mangels Arbeitsverhältnisses nicht ein, allerdings sind Schadensersatzansprüche denkbar.1252 Der vom Veräußerer bloß freigestellte Arbeitnehmer kann sich mit seinem Fortsetzungsverlangen dagegen Zeit lassen, nach Auffassung des BAG tritt hier auch nach einem Zeitraum von mehr als vier Monaten keine Verwirkung ein. Eine Kündigung ist in diesem Fall eben nicht ausgesprochen, daher fehlt es nach seiner Auffassung an dem für die Verwirkung erforderlichen Umstandsmoment.1253
6.409
3. Streitverkündung gegenüber dem Pensions-Sicherungs-Verein In einem Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und dem (vermeintlichen) neuen Ar- 6.410 beitgeber aufgrund eines Betriebs(teil)übergangs nach § 613a BGB über das Bestehen einer Versorgungsanwartschaft kann der Arbeitnehmer dem Pensions-Sicherungs-Verein den Streit nach § 72 Abs. 1 ZPO verkünden.1254 Stellt das ArbG rechtskräftig fest, dass der neue Arbeitgeber (Erwerber) für die Versorgungsanwartschaft nicht einzustehen hat, weil der Pensions-Sicherungs-Verein für die beim früheren Arbeitgeber begründete Versorgungsanwartschaft wegen eines bei diesem Arbeitgeber vor dem Betriebs(teil)übergang eingetretenen Sicherungsfalles haftet (Rz. 6.287 ff.), kann der Pensions-Sicherungs-Verein in einem gegen ihn gerichteten weiteren Verfahren nicht mehr geltend machen, die erste Entscheidung sei
1247 Schreiber, RdA 1982, 137; Bauer, Unternehmensveräußerungen, S. 113; a.A. Willemsen, Anm. zu BAG, AP Nr. 14, 15 zu § 613a BGB. 1248 BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 320/01, DB 2002, 2601. 1249 Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 206. 1250 BAG v. 10.5.2012 – 8 AZR 434/11, NZA 2012, 1161. 1251 BAG v. 12.11.1998 – 8 AZR 265/97, BAGE 90, 153 = MDR 1999, 551. 1252 Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, § 613a BGB Rz. 209 m.w.N. 1253 BAG v. 18.12.2003 – 8 AZR 621/02, ZIP 2004, 1068. 1254 BAG v. 13.3.1990 – 3 AZR 245/88, NZA 1990, 690.
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Kap. 6 Rz. 6.411
Arbeitsrecht
falsch. Die Entscheidung im Vorprozess bindet den Pensions-Sicherungs-Verein nach § 68 ZPO in den Elementen, auf denen das Urteil des Vorprozesses beruht.1255 4. Fortsetzung anhängiger Verfahren, Rechtskraftwirkung gegenüber Erwerber
6.411 Geht nach Rechtshängigkeit einer gegen den Veräußerer gerichteten Klage der Betrieb oder Betriebsteil nach § 613a BGB auf den Erwerber über, kann der Rechtsstreit unverändert fortgesetzt,1256 aber auch auf den Erwerber erstreckt werden.1257 Um der Regelung des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB gerecht zu werden, ist eine Rechtskrafterstreckung auf den Betriebserwerber grundsätzlich möglich.1258 Ergeht ein Urteil gegen den Veräußerer, so wirkt es also für und gegen den Erwerber (§ 325 Abs. 1 ZPO), auch dann, wenn der Betriebsübergang während des anhängigen Rechtsstreits eintritt.1259 Wird der Erwerber auf Zahlung von Arbeitsentgelt nach §§ 611, 615 Satz 1 BGB in Anspruch genommen, muss er die rechtskräftig getroffene Feststellung, dass eine Kündigung durch den früheren Betriebsinhaber unwirksam war und das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst hat, gegen sich gelten lassen. Will der obsiegende Arbeitnehmer die Zwangsvollstreckung gegen den Erwerber betreiben, muss er sich über §§ 727, 731 ZPO eine entsprechende vollstreckbare Ausfertigung des Urteils besorgen. Eine solche Titelumschreibung vom früheren Arbeitgeber auf den Erwerber gem. §§ 325, 727, 731 ZPO kommt in Betracht,1260 dies jedoch dann nicht, wenn der Betriebsübergang vor der Rechtshängigkeit der Kündigungsschutzklage eingetreten ist.1261 In diesem Verfahren ist dann u.U. zu klären, ob der Anspruch überhaupt auf den Erwerber nach § 613a BGB übergegangen ist.1262 Ist gegenüber dem Betriebsrat eine Verpflichtung des Veräußerers rechtskräftig festgestellt worden, wirkt die Rechtskraft dieser Entscheidung jedenfalls dann gegenüber dem Erwerber, wenn die Identität des übernommenen Betriebes erhalten bleibt.1263 5. Beteiligtenwechsel
6.412 In der Rechtsmittelinstanz kann eine beklagte Partei nur ausgewechselt werden, wenn der bisherige Beklagte zustimmt oder sich dessen verweigerte Zustimmung als rechtsmissbräuchlich erweist.1264 Geht im Laufe eines Beschlussverfahrens der Betrieb des Veräußerers auf den Erwerber über, so wird er anstelle des Veräußerers Beteiligter des anhängigen Verfahrens. Ein sol-
1255 BAG v. 13.3.1990 – 3 AZR 245/88, NZA 1990, 690; Weth in Musielak, ZPO, § 68 ZPO Rz. 4. 1256 BAG v. 15.12.1976 – 5 AZR 600/75, BB 1977, 395 = AP Nr. 1 zu § 325 ZPO (Leipold) unter Berufung auf analoge Anwendung des § 265 Abs. 2 Satz 1 ZPO. Der neue Inhaber kann sich aber als Nebenintervenient am Rechtsstreit beteiligen (§ 265 Abs. 2 Satz 3 ZPO, vgl. BAG ebenda). 1257 Vgl. Hattesen in Kasseler Hdb., 6.7 Rz. 243. 1258 BAG v. 5.2.1991 – 1 ABR 32/90, MDR 1991, 648 = NZA 1991, 639; BAG v. 18.5.2010 – 1 AZR 864/08, NZA 2010, 1198. 1259 BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 342/10, ZInsO 2012, 450; BAG v. 18.5.2010 – 1 AZR 864/08, NZA 2010, 1198; BAG v. 9.7.2003 – 5 AZR 595/02, NZA-RR 2004, 9. 1260 LAG Hessen v. 30.10.2012 – 13 Sa 928/12, BeckRS 2013, 65743. 1261 BAG v. 18.2.1999 – 8 AZR 485/97, NZA 1999, 648; BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 306/98, NZA 1999, 706. 1262 Seiter, S. 132. 1263 BAG v. 5.2.1991 – 1 ABR 32/90, MDR 1991, 648 = NZA 1991, 639. 1264 BGH v. 26.2.1987 – VII ZR 58/86, MDR 1987, 752 = NJW 1987, 1946; BAG v. 18.5.2010 – 1 AZR 864/08, NZA 2010, 1198.
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C. Arbeitsrechtliche Due Diligence
Rz. 6.415 Kap. 6
cher Inhaberwechsel ist auch noch in der Rechtsbeschwerdeinstanz von Amts wegen zu beachten.1265 6. Lohnpfändungen Lohnpfändungen bleiben auch nach dem Betriebs(teil)übergang wirksam. Der Gläubiger muss keine neuen Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse gegen den Erwerber als neuen Drittschuldner erwirken. Der Übergang erfasst die Arbeitsverhältnisse mit allen Belastungen einschließlich der Rangfolge der Pfändungen.1266
6.413
C. Arbeitsrechtliche Due Diligence I. Einführung Regelmäßig geht Unternehmenskäufen eine Due Diligence1267 voraus.1268 Sie dient der vorbereitenden Prüfung des Kaufobjekts beim Unternehmenskauf.1269 Der amerikanische Begriff bedeutet eigentlich nur „erforderliche Sorgfalt“. Er bezeichnet den Sorgfaltsmaßstab, der für das Management des Erwerbers und die von ihm eingeschalteten Berater gilt.1270 Die Due Diligence ist in gleicher Weise bei allen drei Varianten des Unternehmenskaufs (Asset Deal, Share Deal, Umwandlung) durchzuführen.
6.414
Die Due Diligence erfasst üblicherweise die rechtlichen, organisatorischen und finanziellen 6.415 Grundlagen des Zielunternehmens. Sie zerfällt oft in Untersparten, wie „legal due diligence“, „commercial due diligence“, „financial due diligence“, „environmental due diligence“ etc. Der Rechtsanwalt ist naturgemäß mit der „legal due diligence“ befasst. Ihre wesentliche Funktion1271 besteht zum einen in der Beschaffung und Dokumentation von Informationen über das Zielunternehmen. Dies ist für die Kaufentscheidung selbst gleichermaßen wie für die Kaufpreisermittlung wesentlich. Zum anderen soll die Due Diligence mögliche Risiken des Zielunternehmens aufdecken, um die erforderlichen Gewährleistungen und Garantien im Unternehmenskaufvertrag verhandeln zu können. Etwaige Risiken wirken sich natürlich auch auf den Kaufpreis aus. Erfahrungsgemäß dient die Due Diligence aber auch der Absicherung der Verantwortlichen des Verkäufers. Im Rahmen einer Börsenemission liefert die Due Diligence wichtige Informationen für die Erstellung des Börsenprospektes bzw. des Unternehmensberichtes.
1265 BAG v. 23.6.2010 – 7 ABR 3/09, NZA 2010, 1361; BAG v. 28.4.2009 – 1 ABR 97/07, MDR 2010, 35 = NZA 2009, 1102; BAG v. 28.9.1988 – 1 ABR 37/87, NZA 1989, 188. 1266 LAG Hessen v. 22.7.1999 – 5 Sa 13/99, NZA 2000, 615. 1267 Checklisten zur arbeitsrechtlichen Due Diligence in deutscher und englischer Sprache s. unter Anhang B. III. 1268 Die Geschäftsleitung eines Erwerbers kann sogar eine Sorgfaltspflicht zur Durchführung einer solchen Due Diligence haben: OLG Oldenburg v. 22.6.2006 – 1 U 34/03, GmbHR 2006, 1263 = NZG 2007, 434. 1269 Vgl. dazu Loges, DB 1997, 965 Holzapfel/Pöllath, Rz. 404 ff.; Berens/Brauner/Strauch, S. 73 ff.; Picot, Handbuch, S. 166 ff.; Götze, ZGR 1999, 202; Seibt/Hohenstatt in Willemsen/Hohenstatt/ Schweibert/Seibt, K Rz. 11 ff.; Lutter, ZIP 1997, 613; Schroeder, DB 1997, 2161; Fuhlrott/Fabritius, BB 2013, 1592. 1270 Vgl. Wegen, WiB 1994, 291. 1271 Vgl. dazu auch Picot, Handbuch, S. 166 ff.
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Kap. 6 Rz. 6.416
Arbeitsrecht
6.416 Bei Unternehmenskäufen geht der Due Diligence meist eine erste Annäherungsphase zwischen Verkaufs- und Erwerbsinteressenten voraus, in der es zum Abschluss rahmensetzender Vereinbarungen kommt („letter of intent“). In solchen Vereinbarungen werden meist grundsätzliche Regelungen über den Ablauf der Due Diligence getroffen. Die Praxis orientiert sich üblicherweise an Checklisten1272, die aber immer auf die konkreten Erfordernisse und Besonderheiten des jeweiligen Zielunternehmens zugeschnitten werden müssen und nicht pauschal eingesetzt werden dürfen.
II. Gegenstand der Prüfung 6.417 Aus den beschriebenen Funktionen erschließt sich der Gegenstand der Prüfung im Arbeitsrecht. Dem Erwerber geht es regelmäßig um Informationen über alle relevanten arbeitsrechtlichen Verpflichtungen des Zielunternehmens. Dem dient die Prüfung der Standardarbeitsverträge sowie aller geltenden kollektiven Vereinbarungen. Dazu zählen betriebliche Übungen, Gesamtzusagen, Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge (vgl. dazu Rz. 6.348 ff.). Bei größeren Unternehmen ist der Erwerber häufig auch an der Altersstruktur und dem Gehaltsniveau interessiert. Datenschutzrechtliche Fragestellungen ergeben sich bei Unternehmenstransaktionen als Anteilserwerb (Share Deal) oder Vermögenserwerb (Asset Deal). Grundsätzlich ist hierbei für die Vorbereitung und Umsetzung des Übergangs von Arbeitnehmern bei einem Betriebsübergang die Datenverarbeitung von Arbeitnehmerdaten gestattet.1273 Der Veräußerer kann jedoch aus datenschutzrechtlichen Gründen die Weitergabe personenbezogener Daten bei Großunternehmen unter Umständen verweigern. In diesem Fall kann der Erwerber aber die Herausgabe anonymisierter Listen verlangen.1274 Existiert eine betriebliche Altersversorgung,1275 müssen Informationen über etwaige Direktzusagen, Direktversicherungen, Unterstützungs- oder Pensionskassen gegeben werden. Im Hinblick auf mögliche Umstrukturierungen in der Zukunft ist das Verhältnis mit Gewerkschaften und Betriebsrat ebenfalls von Interesse. Z.B. kann eine Vielzahl arbeitsgerichtlicher Beschlussverfahren Indiz für ein eher gespanntes Verhältnis mit Betriebsrat oder Gewerkschaften sein.
6.418 Häufig soll die arbeitsrechtliche Due Diligence dazu dienen, Kosten und Möglichkeiten eines Personalabbaus zu ermitteln. Zu diesem Zweck müssen die auf die Arbeitsverhältnisse anwendbaren Kündigungsklauseln geprüft werden. Aus Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen kann sich die Unkündbarkeit einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen ergeben (Standortsicherung, Alterssicherung). Die bislang abgeschlossenen Sozialpläne geben Aufschluss über das Volumen möglicher künftiger Sozialplankosten. Erfahrungsgemäß wird dabei auch nach den Möglichkeiten der Auswechslung leitender Angestellter bis hin zu Organmitgliedern gefragt. Dazu müssen die entsprechenden Kündigungsklauseln, einschließlich etwaiger nachvertraglicher Wettbewerbsverbote, geprüft werden. Nicht selten enthalten die Verträge von Führungskräften besondere Kündigungs- und Abfindungsklauseln für den Fall der (feindlichen) Übernahme des Unternehmens („golden parachute“).1276
1272 Vgl. Wegen, WiB 1994, 532; Holzapfel/Pöllath, Rz. 399 ff.; Seibt/Hohenstatt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, K Rz. 22. 1273 Vgl. hierzu ausführlich Göpfert/Meyer, NZA 2011, 486. 1274 Vgl. im Einzelnen zu den datenschutzrechtlichen Problemen Braun/Wybitul, BB 2008, 782; Diller/Deutsch, K&R 1998, 16 ff. 1275 S. hierzu Klemm/Frank, BB 2013, 2741 sowie Burg/Jungblut, BB 2011, 491. 1276 Vgl. Michalski, AG 1997, 152 (161).
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von Steinau-Steinrück/Thees
C. Arbeitsrechtliche Due Diligence
Rz. 6.422 Kap. 6
Speziell arbeitsrechtliche Risiken sind in vielfacher Weise denkbar. Hier kommt es auf die Besonderheiten des jeweiligen Unternehmens an. Die Beschäftigung freier Mitarbeiter, die arbeits- oder sozialversicherungsrechtlich als Arbeitnehmer einzustufen sind, kann ebenso zu erheblichen finanziellen Belastungen führen1277 wie die Unwirksamkeit befristeter Arbeitsverträge, Verstöße des Arbeitgebers gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz bei kollektiven Regelungen, die Unwirksamkeit von Arbeitnehmerüberlassungen oder schließlich laufende Kündigungsschutzprozesse. Die Ermittlung etwaiger Risiken muss sich an den Besonderheiten des jeweils zu prüfenden Unternehmens orientieren. Vielfach – wie etwa bei freien Mitarbeitern – lassen sich mögliche Risiken nicht nur aus vorgelegten Unterlagen ermitteln. Gespräche mit den Mitarbeitern der Personalabteilung über die tatsächliche Handhabung solcher Verträge oder etwa darüber, mit wie vielen Arbeitnehmern ein vorgelegter Standardarbeitsvertrag überhaupt geschlossen wurde, sind daher unerlässlich.
6.419
Erfahrungsgemäß muss bei der Ermittlung von Risiken die betriebliche Altersversorgung im Zentrum der Prüfung stehen. Risiken aus diesem Bereich müssen sehr ernst genommen werden, da sie schnell ein finanzielles Volumen erreichen können, das zum „deal breaker“ werden kann.1278 Vor allem bei Großunternehmen können etwa aus der Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes bei Gesamtzusagen oder betrieblichen Übungen Versorgungsansprüche bislang nicht berücksichtigter Arbeitnehmer in erheblichem Ausmaß entstehen (z.B. zu Unrecht nicht begünstigte Teilzeitkräfte).1279 Besonderes Augenmerk ist auch auf etwaige Ablösungsvereinbarungen zu richten, mit denen betriebliche Versorgungswerke des Veräußerers in der Vergangenheit abgelöst wurden. Wirksame Eingriffe in Versorgungsrechte der Arbeitnehmer sind nur sehr eingeschränkt möglich (vgl. dazu Rz. 6.219 ff., 6.375 ff.). Schließlich können bilanziell nicht berücksichtigte Nachzahlungsansprüche gegenüber Betriebsrentnern aus unzulässigerweise unterlassenen Anpassungsentscheidungen nach § 16 BetrAVG resultieren. Eine u.U. erforderliche „nachholende“ Anpassung kann ebenfalls erhebliche Nachzahlungsansprüche auslösen.1280
6.420
Ein weiteres Augenmerk ist auf im Veräußererbetrieb geltende betriebliche Vergütungsordnungen zu legen. So hat das BAG zuletzt wiederholt entschieden, dass betriebliche Vergütungsordnungen nach einem Betriebs(teil)übergang bei Wahrung der Betriebsidentität bis zu einer mitbestimmungskonformen Ablösung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG im Erwerberbetrieb weitergelten.1281
6.421
III. Datenschutzrechtliche Grenzen nach DSGVO und BDSG Mit der Due Diligence (s. hierzu auch Rz. 8.67 ff.) werden Informationen ermittelt, um die arbeitsrechtlichen Risiken einschätzen zu können. Mit den Informationen werden auch personenbezogene Daten der Arbeitnehmer (vgl. dazu Rz. 6.417 ff.) weitergegeben. Damit stellt sich die Frage der datenschutzrechtlichen Grenzen. Hierbei sind die Normen der DSGVO und des BDSG zu beachten.1282 Verstöße gegen datenschutzrechtliche Vorgaben können 1277 1278 1279 1280 1281
Vgl. dazu Bauer/Diller/Schuster, NZA 1999, 1297 ff.; Bauer/Baeck/Schuster, S. 1 ff. Vgl. dazu Höfer/Küpper, DB 1997, 1317 (1318 ff.). Vgl. dazu BAG v. 12.3.1996 – 3 AZR 993/94, DB 1996, 2085. Vgl. Höfer/Küpper, DB 1997, 1317 (1318 ff.). BAG v. 14.8.2013 – 7 ABR 56/11, DB 2014, 308; BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NJW 2010, 1990. 1282 Vgl. dazu ausführlich Sander/Schumacher/Kühne, ZD 2017, 105.
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637
6.422
Kap. 6 Rz. 6.423
Arbeitsrecht
hierbei Geldbußen bis zu 20 000 000 Euro oder im Fall eines Unternehmens von bis zu 4 % des gesamten weltweit erzielten Jahresumsatzes des vorangegangenen Geschäftsjahrs betragen, Art. 83 DSGVO.
6.423 Durch die DSGVO und das BDSG werden allerdings nur solche Daten geschützt, die Rückschlüsse auf einen konkreten Arbeitnehmer zulassen. Insofern ist die Bereitstellung von anonymisierten Daten daher unbedenklich. Können Daten keiner identifizierbaren Person zugeordnet werden, fallen sie nicht in den Schutzbereich der DSGVO bzw. des BDSG. Abseits dessen ist die Datenverarbeitung nur zulässig, soweit eine gesetzliche Erlaubnis besteht.1283 Als solche kommt insbesondere der Tatbestand der Interessenwahrnehmung nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. f DSGVO in Betracht.1284 Bei asset deals werden mit der Offenlegung von Daten nicht nur grundsätzlich berechtigte Interessen im Rahmen der Transaktion verfolgt; die Offenlegung ist je nach den Umständen des Einzelfalls oftmals auch zu deren Durchsetzung erforderlich.1285 Die Voraussetzungen dieser Erlaubnisnorm werden daher im Rahmen von Due-Diligence-Prüfungen häufig erfüllt sein, müssen aber für den jeweiligen Einzelfall geprüft werden.
1283 Plath in Plath, DSGVO/BDSG, Art. 6 DSGVO Rz. 109. 1284 Plath in Plath, DSGVO/BDSG, Art. 6 DSGVO Rz. 110. 1285 Plath in Plath, DSGVO/BDSG, Art. 6 DSGVO Rz. 111.
638
von Steinau-Steinrück/Thees
Kapitel 7 Kartellrecht Frank Röhling1
Überblick A. Deutsche Fusionskontrolle . . . . . .
7.1
I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschichte und Bedeutung der Fusionskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.1 7.1 7.3
II. Verhältnis zur Fusionskontrolle des EU-Rechtes . . . . . . . . . . . . . . . .
7.8
III. Anwendbarkeit der deutschen Fusionskontrolle aufgrund der Umsatz- und Transaktionsschwellenwerte . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendbarkeit nach § 35 Abs. 1 und Abs. 1a GWB . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Anschlussklausel (de-minimisKlausel) nach § 35 Abs. 2 Satz 1 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Berechnung der relevanten Umsatzund Transaktionswerte . . . . . . . . . . a) Umsatzerlöse . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Verbundklausel des § 36 Abs. 2 Satz 1 GWB . . . . . . . . . . . c) Die Mehrmütter-Klausel des § 36 Abs. 2 Satz 2 GWB . . . . . . . d) Wert der Gegenleistung und Inlandstätigkeit nach § 35 Abs. 1a GWB . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 1. 2. 3.
Der Zusammenschlussbegriff . . . . Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Unternehmensbegriff . . . . . . . . Die Zusammenschlusstatbestände des § 37 Abs. 1 GWB . . . . . . . . . . . . a) Vermögenserwerb nach § 37 Abs. 1 Nr. 1 GWB . . . . . . . . . . . . b) Kontrollerwerb nach § 37 Abs. 1 Nr. 2 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kapitalanteils- oder Stimmrechtserwerb nach § 37 Abs. 1 Nr. 3 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erwerb eines wettbewerblich erheblichen Einflusses nach § 37 Abs. 1 Nr. 4 GWB . . . . . . . .
7.11 7.11 7.13 7.17 7.17 7.21 7.25 7.30 7.43 7.43 7.46 7.50 7.50 7.53 7.68 7.72
4. Einschränkungen des Zusammenschlussbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fehlende wesentliche Verstärkung einer schon bestehenden Unternehmensverbindung . . . . . b) Bankenklausel nach § 37 Abs. 3 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Erweiterungen des Zusammenschlussbegriffs: Gemeinschaftsunternehmen (§ 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 GWB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Am Zusammenschluss beteiligte Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Materielle Untersagungsvoraussetzungen (§ 36 Abs. 1 GWB) . . . . 1. Kein Ausschluss der Untersagungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Bagatellmarktklausel nach § 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 GWB . . b) Die Presseklausel nach § 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 GWB . . . . . . 2. Erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . 3. Marktbeherrschende Stellung . . . . . a) Relevanter Markt . . . . . . . . . . . . aa) Sachlich relevanter Markt . . bb) Räumlich relevanter Markt . cc) Zeitlich relevanter Markt . . . b) Marktbeherrschung . . . . . . . . . . aa) Begriff der Marktbeherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) (Einzel-)Marktbeherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Oligopolklausel des § 18 Abs. 5 GWB . . . . . . . . . c) Gesetzliche Vermutungen der Marktbeherrschung . . . . . . . . . . aa) Vermutung der Einzelmarktbeherrschung gem. § 18 Abs. 4 GWB . . . . . . . . . . . . . bb) Oligopol-Marktbeherrschungsvermutung . . . . . . . . 4. Begründung und Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung . . . .
7.77 7.77 7.80
7.81 7.84 7.86 7.90 7.91 7.94 7.95 7.96 7.97 7.99 7.107 7.110 7.111 7.114 7.115 7.125 7.131 7.134 7.135 7.145
1 Unter Mitarbeit von Stephan Purps und Arend Liese.
Röhling 639
Kap. 7
Kartellrecht
a) Differenzierung nach Zusammenschlusstatbeständen . . . . . . . b) Horizontale Zusammenschlüsse c) Vertikale Zusammenschlüsse . . . d) Konglomerate Zusammenschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Oligopol-Zusammenschlüsse (Oligopolmarktbeherrschung) . . 5. Abwägungsklausel des § 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 GWB . . . . . . . . . . . . . . VI. Fusionskontrollverfahren . . . . . . . 1. Präventive Anmeldepflicht nach § 39 Abs. 1 GWB und Vollzugsverbot nach § 41 Abs. 1 GWB . . . . a) Verpflichteter Personenkreis (§ 39 Abs. 2 GWB) . . . . . . . . . . . b) Inhalt der Anmeldung (§ 39 Abs. 3 GWB) . . . . . . . . . . . c) Vollzugsverbot und „Gun Jumping“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prüfungsverfahren (§ 40 GWB) . . . a) Vorverfahren und Hauptprüfverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorverfahren (Phase 1) . . . . bb) Hauptprüfverfahren (Phase 2) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Informelle Vorgespräche mit dem BKartA . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ermittlungsbefugnisse des BKartA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Untersagungsabwendende Zusagen, Auflagen und Bedingungen . . . 4. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechte Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beiladung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsmittel Dritter . . . . . . . . . . 6. (Nachträgliche) Anzeigepflicht nach § 39 Abs. 6 GWB . . . . . . . . . . 7. Auflösung vollzogener Zusammenschlüsse (§ 41 Abs. 3 und 4 GWB) .
7.148 7.153 7.154 7.155 7.156
Röhling
7.232 7.235
II. Wettbewerbsverbote . . . . . . . . . . . 7.239 C. Europäische Fusionskontrolle . . . 7.240 I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.240
7.165
II. Verhältnis zur nationalen Fusionskontrolle . . . . . . . . . . . . . . 7.242
7.165 7.166 7.168 7.174 7.180 7.180 7.181 7.183 7.185 7.186 7.189 7.194 7.198 7.198 7.200 7.203 7.204
7.214 7.217 7.223 7.225
B. Anwendung des Kartellverbots nach § 1 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.229
640
7.229 7.229
7.157
VII. Ministererlaubnis nach § 42 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.210 1. Materielle Voraussetzungen . . . . . . 7.210 2. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.211 VIII. Auslandszusammenschlüsse . . . . . 1. Extraterritoriale Anwendung des GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anmeldepflicht für Auslandszusammenschlüsse . . . . . . . . . . . . . 3. Untersagung und Entflechtung . . .
I. Gemeinschaftsunternehmen . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konzentrative Gemeinschaftsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kooperative Gemeinschaftsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . 1. Umsatzschwellenwerte des Art. 1 Abs. 2 und 3 FKVO . . . . . . . . . . . . . 2. Beteiligte Unternehmen . . . . . . . . . 3. Umsatzberechnung . . . . . . . . . . . . . 4. Extraterritoriale Anwendung . . . . . IV. 1. 2. 3.
Zusammenschlussbegriff . . . . . . . . Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unternehmensbegriff . . . . . . . . . . . Zusammenschlusstatbestände . . . . a) Fusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kontrollerwerb . . . . . . . . . . . . . . aa) Erwerb alleiniger Kontrolle . bb) Erwerb gemeinsamer Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gemeinschaftsunternehmen . . . 4. Einschränkungen des Zusammenschlussbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . .
V. Materielle Untersagungsvoraussetzungen (Art. 2 Abs. 1–3 FKVO) . . 1. Marktstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Relevanter Markt . . . . . . . . . . . . aa) Sachlich relevanter Markt . . bb) Räumlich relevanter Markt . b) Marktanteile als Ausgangspunkt der Würdigung . . . . . . . . . . . . . . 2. Wettbewerbswidrige Wirkungen . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Horizontale Zusammenschlüsse c) Vertikale Zusammenschlüsse . . . d) Konglomerate Zusammenschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Kollektive Marktbeherrschung . . 3. Wesentlicher Teil des Binnenmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sanierungsfusion/Kausalität . . . . . . 5. Nebenabreden (insb. Wettbewerbsverbote) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.247 7.247 7.251 7.252 7.255 7.257 7.257 7.261 7.262 7.263 7.264 7.266 7.269 7.271 7.277 7.281 7.283 7.284 7.284 7.286 7.287 7.289 7.289 7.296 7.299 7.300 7.301 7.303 7.304 7.306
VI. Fusionskontrollverfahren . . . . . . . 7.309
Kartellrecht
1. Präventive Anmeldepflicht nach Art. 4 Abs. 1 FKVO . . . . . . . . . . . . . a) Verpflichteter Personenkreis . . . b) Inhalt und Form der Anmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wirkung der Anmeldung . . . . . . d) Vollzugsverbot und „Gun Jumping“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ausnahmen und Befreiung vom Vollzugsverbot (Art. 7 Abs. 2 und 3 FKVO) . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prüfverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorprüfungsverfahren (Phase 1) b) Hauptverfahren (Phase 2) . . . . . c) Ermittlungsbefugnisse der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Untersagungsabwendende Zusagen, Auflagen und Bedingungen . . . . . . 4. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechte Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechte im Verfahren vor der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Entflechtung bzw. Maßnahmen nach Art. 8 Abs. 4 und Abs. 5 FKVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.309 7.311 7.312 7.315 7.316 7.326 7.327 7.328 7.331 7.334 7.338 7.342 7.343 7.343 7.345
Kap. 7
D. Anwendbarkeit des Art. 101 AEUV auf Gemeinschaftsunternehmen . 7.348 I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.348 II. Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vollfunktions-Gemeinschaftsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Teilfunktions-Gemeinschaftsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verfahrensrechtliche Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vollfunktions-Gemeinschaftsunternehmen ohne unionsweite Bedeutung und Teilfunktions-Gemeinschaftsunternehmen . . . . . . . . . . . . 2. Vollfunktions-Gemeinschaftsunternehmen mit unionsweiter Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nebenabreden . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.353 7.353 7.356 7.359 7.362
7.363 7.364 7.365
IV. Kollision zwischen Entscheidungen der Kommission und des BKartA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.369
7.346
Literatur: Zum deutschen Recht: Bach, Deutsche Fusionskontrolle bei inlandswirksamen Auslandszusammenschlüssen, WuW 1997, 291; Barthelmeß/Rudolf, Extraterritoriale Anwendbarkeit der deutschen Fusionskontrolle und das völkerrechtliche Abwägungsgebot, WuW 2003, 1176; Barth/dos Santos Goncalves, Die neue Transaktionswert-Schwelle in der deutschen Fusionskontrolle, GWR 2017, 289; Bechtold/Bosch, Kartellgesetz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, Kommentar, 8. Aufl. 2015; Bechtold, Erweiterung der Beschwerdebefugnis im Kartellverfahren, NJW 2007, 562; Bechtold, Das neue Kartellgesetz, NJW 1998, 2769; Beck, Zum Verstoß gegen das Vollzugsverbot durch Teilvollzug, NZKart 2017, 426; Becker, Anmerkung zu BGH v. 21.12.2004, KVR 26/03, EWiR 2005, 393; Becker, Greenpeace und andere Beiladungsentscheidungen des OLG Düsseldorf, ZWeR 2003, 199; Becker/Zapfe, Energiekartellrechtsanwendung in Zeiten der Regulierung, ZWeR 2007, 419; Bergmann, Nachfragemacht in der Fusionskontrolle, 1989; Bien Kartellrechtskontrolle von Gemeinschaftsunternehmen ex ante und ex post – Teil 2: Die Anforderungen an den Nachweis von Spill-over-Effekten, NZKart 2014, 247; Braun/Rieske, Nebenbestimmungen einer kartellrechtlichen Ministererlaubnis, WM 2009, 1265; Burholt, Auswirkungen des BGH-Beschlusses „Staubsaugerbeutelmarkt“ auf die Bagatellmarktklausel, WuW 2005, 889; Canenbley/Moosecker, Fusionskontrolle, 1982; Deringer, Fragen zur „Gemeinsamen Beherrschung“, in Festschrift für von Gamm, 1990, S. 559; Dreher/Thomas, Die Angebotssubstituierbarkeit in der Marktabgrenzung, ZWeR 2014, 366; Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl. 2014; Emmerich, Fusionskontrolle 1981/1982, AG 1982, 289; Emmerich, Fusionskontrolle 1985/1986, AG 1986, 345; Esser/Höft, Die Einführung des SIEC-Tests durch die 8. GWB-Novelle – Folgen für die Praxis, NZKart 2013, 447; Fischer, 40 Jahre Zusagenpraxis des Bundeskartellamtes – Verfahrensrechtliche Aspekte eines konsensual praktizierten Verwaltungsverfahrens, NZKart 2016, 568; Fuchs, Grundlagen und Grenzen der „Bündeltheorie“ im Rahmen der fusionskontrollrechtlichen Bagatellmarktklausel, WuW 2008, 774; Gemeinschaftskommentar, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Europäisches Kartellrecht (hrsg. von Hootz), 5. Aufl. 2005; Hahn, Die Kontrolle von Zusammenschlüssen nach ihrem Vollzug, WuW 2007, 1084; Haucap/Heimeshoff/Klein/Rickert/Wey, Die Bestimmung von Nachfragemacht im Lebensmitteleinzelhandel: Theoretische Grundlagen und empirischer Nachweis, WuW 2014, 946;
Röhling 641
Kap. 7
Kartellrecht
Herrmann, Die gemeinsame Beherrschung im Kartellrecht, in Festschrift für Deringer, 1993, S. 263; Huber, Der Mischwerke-Beschluss des BGH, in FIW-Schriftenreihe Heft 122, 1987, S. 1; Huerkamp/ Maack, „Was erlaube Minister?!“ – Der Beschluss des OLG Düsseldorf im Ministererlaubnisverfahren Edeka/Kaiser’s Tengelmann und die Auswirkungen der 9. GWB-Novelle, NZKart 2017, 294; Immenga, Der SIEC-Test im GWB – eine Europäisierung der Fusionskontrolle?, EuZW 2013, 761; Immenga/ Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, GWB, Kommentar zum deutschen Kartellrecht, 5. Aufl. 2014; Kahlenberg, Novelliertes deutsches Kartellrecht, BB 1998, 1593; Kapp, Kartellrecht in der Unternehmenspraxis, 2. Aufl. 2013; Kersting/Podszun, Die 9. GWB-Novelle, 2017; Kuchinke/Schubert, Der Beschluss des Bundeskartellamts in Sachen Springer – ProSiebenSat.1, WuW 2006, 477; Kühnen, Der SIEC-Test in der deutschen Fusionskontrolle, WuW 2012, 458; Langen/Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Band 1, Deutsches Kartellrecht, 13. Aufl. 2018; Lentfer, Verstöße gegen Auflagen von Genehmigungen gemäß § 24 Abs. 3 GWB, WuW 1998, 227; Lettl, Unwirksamkeit von Rechtsgeschäften nach § 41 Abs. 1 Satz 2 GWB bei Verstoß gegen das Vollzugsverbot, WuW 2009, 249; Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016; Mayer/ Miege, Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das zusammenschlussrechtliche Vollzugsverbot – Nichtigkeit der den Verstoß begründenden Rechtsgeschäfte?, BB 2008, 2031; Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1983; Müller-Feldhammer, Das Gemeinschaftsunternehmen auf dem Prüfstand, WuW 2015, 133; Münchener Kommentar zum europäischen und deutschen Wettbewerbsrecht (hrsg. von Hirsch/Montag/Säcker), Band 2 (GWB), 2. Aufl. 2015; Neef, Drittbeschwerde nicht beigeladener Unternehmen in der Fusionskontrolle, GRUR 2008, 30; Podszun, Die Bagatellmarktklausel in der deutschen Fusionskontrolle: Stolperstein für internationale Zusammenschlussvorhaben? Zugleich eine Anmerkung zum Beschluss des BGH in der Sache KVR 19/07 vom 25.9.2007 – Sulzer/Kelmix, GRUR Int. 2008, 204; Podszun, Update für das Kartellrecht: Auswirkungen der 9. GWB-Novelle auf die IT- und Medienbranche, K&R 2017, Heft 07-08, Beilage 39; Purps/Beaumunier, „Gun Jumping“ nach Altice: Im Westen was Neues?, NZKart 2017, 224; Quack, Unternehmerisches Handeln und private Vermögensverwaltung natürlicher Personen im Rahmen des § 23 Abs. 2 GWB, GRUR 1980, 449; Schnelle/Denzel, Einstweiliger Rechtsschutz im Verfahren der Beschwerde gegen fusionsrechtliche Untersagungsentscheidungen, WuW 2009, 632; Schubert, Informationsaustausch im Rahmen von Zusammenschlussvorhaben, ZWeR 2013, 54; Schulte, Änderungen der Fusionskontrolle durch die 6. GWB-Novelle, AG 1998, 297; Schulte/Just, Kartellrecht, 2. Aufl. 2016; Schultz/Wagemann, Kartellrechtspraxis und Kartellrechtsprechung 1998/99; Schwarz, Zusammenschlussverbot Deutsche Post/ trans-o-flex – Wettbewerblich erheblicher Einfluss auf potenziellen zukünftigen Wettbewerber, NJW 2005, 2124; Stauber, Neues zur Kontrolle von Zusammenschlüssen nach ihrem Vollzug, WuW 2009, 20; Strassmair/Christiansen, Die Anwendung des SIEC-Tests in der deutschen Fusionskontrolle am Beispiel des Falls Edeka/Kaiser’s Tengelmann, WuW 2016, 564; Traub, Geltungserhaltende Reduktion bei nichtigem vertraglichen Wettbewerbsverboten?, WRP 1994, 802; Traugott, Zur Abgrenzung von Märkten, WuW 1998, 929; Ulshöfer, Die Auflösung von Gemeinschaftsunternehmen im Lichte der Nord-KS-Entscheidung des BGH, WuW 2011, 820; Wazel, Der neue Umsatzbegriff des § 277 HGB – Folgen für die Fusionskontrolle, WuW 2016, 523; Weiß, Begründung und Grenzen internationaler Fusionskontrollzuständigkeiten – Teil 1, NZKart 2016, 202; Weiß, Begründung und Grenzen internationaler Fusionskontrollzuständigkeiten – Teil 2, NZKart 2016, 265; Wertenbruch, Die Phonak-Entscheidung des BKartA – Untersagung eines Auslandszusammenschlusses wegen oligopolistischer Marktbeherrschung (Phonak/ReSound), ZWeR 2008, 109; Westermann/Bergmann, Die Staubsaugerbeutelmarkt-Entscheidung des Bundesgerichtshofs, ZWeR 2006, 216; Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016. Zum Europäischen Recht: Alfter, Untersagungskriterien in der Fusionskontrolle, WuW 2003, 20; Alonso, Market Definition in the Community’s Merger Control Policy, ECLR 1994, 195; Bechtold/ Bosch/Brinker, Kommentar zum EU-Kartellrecht, 3. Aufl. 2014; Bergmann, Nachfragemacht in der Fusionskontrolle, 1989; Fiedler, EG-Kommission erleichtert Voraussetzungen für Sanierungsfusionen, EuZW 2001, 585; von der Groeben/Schwarze/Hatje, Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Kommentar, 7. Aufl. 2015; Hirsbrunner, Die Entwicklung der Europäischen Fusionskontrolle in den Jahren 1997 und 1998, EuZW 1999, 389; Hirsbrunner, Die Entwicklung der europäischen Fusionskontrolle im Jahr 2012, EuZW 2013, 657; Hirsbrunner, Die Entwicklung der europäischen Fusionskontrolle im Jahr 2013, EuZW 2014, 658;
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Kartellrecht
Kap. 7
Hirsbrunner, Die Entwicklung der europäischen Fusionskontrolle im Jahr 2015, EuZW 2016, 610; Hirsbrunner/Köckritz, Da capo senza fine – Das Sony/BMG-Urteil des EuGH, EuZW 2008, 591; Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Kommentar zum Europäischen Kartellrecht, 5. Aufl. 2012; Kling/Thomas, Kartellrecht, 2. Aufl. 2016; Langen/Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Band 2, Europäisches Kartellrecht, 13. Aufl. 2018; Levy/Cook, European Merger Control Law, Stand 10/2016; Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016; Montag, EU-Fusionskontrolle für Minderheitsbeteiligungen, NZKart 2015, 410; Motyka, Aktuelle Fragen des Konkurrentenschutzes in der Europäischen Fusionskontrolle, EuZW 2007, 463; Münchener Kommentar zum europäischen und deutschen Wettbewerbsrecht (hrsg. von Hirsch/Montag/Säcker), Band 1 (Europäisches Wettbewerbsrecht), 2. Aufl. 2015; Schröter/Jakob/Klotz/ Mederer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2014; Sedemund in Festschrift für Deringer, Zwei Jahre europäische Fusionskontrolle: Ausgewählte Fragen und Ausblick, S. 379; Seitz, Schadenersatzanspruch eines Unternehmens wegen der rechtswidrigen Untersagung eines Zusammenschlusses durch die Europäische Kommission, EuZW 2007, 659; Steinle/Schwartz, Schadensersatz wegen Fehlern im Fusionskontrollverfahren: das Urteil Schneider III, BB 2007, 1741; Traugott, Zur Abgrenzung von Märkten, WuW 1998, 929; Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016; Wilson, Legal Professional Privilege in der EU-Fusionskontrolle, NZKart 2017, 352.
Überblick Bei Unternehmens- und Beteiligungskäufen sollten kartellrechtliche Überlegungen schon in einer sehr frühen Planungsphase berücksichtigt werden. Die Durchführbarkeit einer Transaktion kann bei Vorliegen einer gewichtigen Marktstellung von diesem Rechtsbereich abhängen. Dabei bieten sich dem Kartellanwalt häufig Gestaltungsmöglichkeiten, um eine (weitgehende) Zulässigkeit des Zusammenschlusses zu erreichen. Zudem sind die Verfahrensvorschriften, insbesondere das Verbot des Vollzugs vor der fusionskontrollrechtlichen Freigabe, zu beachten. In dem folgenden Abschnitt sollen die Grundzüge der kartellrechtlichen Regelungen dargestellt werden, die einen Unternehmens- und Beteiligungskauf beeinflussen können. Die Darstellung beginnt mit den nationalen Fusionskontrollvorschriften und dem Kartellverbot des GWB. Im Anschluss hieran werden die EU-Fusionskontrollverordnung und die einschlägigen Wettbewerbsvorschriften des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union skizziert. Wesentliche Neuerungen im Vergleich zur vorherigen Auflage stellen dabei vor allem die Einarbeitung der Änderungen durch die 9. GWB-Novelle aus dem Jahr 2017 dar. Besonders erwähnenswert ist hierbei die Darstellung der für die Praxis relevanten Einführung des Transaktionsschwellenwertes in der deutschen Fusionskontrolle und des dazugehörigen Leitfadens des BKartA vom Juli 2018 sowie die Darstellung der neueren für die Kaufvertragsgestaltung und -durchführung wichtigen Entscheidungen des BGH und des OLG Düsseldorf zum Vollzugsverbot bzw. „Gun Jumping“. Im Bereich der europäischen Fusionskontrolle wurde insbesondere der Abschnitt zur materiellen Fusionskontrolle an die neuere Praxis der Europäischen Kommission bei der Prüfung von Zusammenschlüssen mit unionsweiter Bedeutung angepasst. Daneben berücksichtigt ein neuer Abschnitt die jüngsten Entscheidungen der Kommission und des EuGH zum Vollzugsverbot.
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Kap. 7 Rz. 7.1
Kartellrecht
A. Deutsche Fusionskontrolle I. Überblick 1. Geschichte und Bedeutung der Fusionskontrolle
7.1 Die Fusionskontrolle hat seit ihrer Einführung in das GWB im Jahre 1973 zunehmend an Bedeutung gewonnen. Derzeit werden jährlich im Durchschnitt mehr als 1.000 Zusammenschlussvorhaben angemeldet.2 Nur ein sehr geringer Teil – bis Ende 2017 insgesamt 189 Zusammenschlüsse3 – wurden untersagt. Allerdings ist bei der Beurteilung der praktischen Effizienz der Fusionskontrolle neben den Untersagungsfällen auch zu berücksichtigen, dass einige Fälle nur unter Auflagen oder Bedingungen freigegeben werden oder Vorhaben ohne formelle Untersagung durch das BKartA aufgegeben oder modifiziert werden,4 weil nach ersten Kontakten mit dem BKartA erkennbar wird, dass mit einer Freigabe nicht gerechnet werden kann.5 Zudem hat die Fusionskontrolle auch vorbeugende Wirkung, da viele Zusammenschlussvorhaben nach Prüfung durch die Unternehmen erst gar nicht weiter verfolgt werden.
7.2 Am 9.6.2017 trat die 9. GWB-Novelle in Kraft. Ein Schwerpunkt war die Anpassung der deutschen Zusammenschlusskontrolle an das digitale Zeitalter.6 Im Bereich der Zusammenschlusskontrolle beinhaltete die 9. GWB-Novelle eine zusätzliche Aufgreifschwelle, die Schließung von Lücken im Bußgeldrecht und die gesetzliche Feststellung, dass eine Marktleistung und damit ein Markt, auch bei Unentgeltlichkeit einer Leistung vorliegen kann.7 2. Systematik
7.3 Die Zusammenschlusskontrolle findet sich seit der 6. GWB-Novelle im siebenten Abschnitt des ersten Teils des Gesetzes (§§ 35–43a GWB): § 35 GWB bestimmt den Geltungsbereich der Fusionskontrolle, § 36 GWB regelt die materielle Beurteilung von Zusammenschlüssen, § 37 GWB listet die Zusammenschlusstatbestände auf, § 39 GWB postuliert die Anmeldepflicht und § 40 GWB schließlich bestimmt das Verfahren der Fusionskontrolle. Im Überblick lassen sich folgende Grundsätze herausstellen:
7.4 Vorhaben von Unternehmenszusammenschlüssen müssen bei einer bestimmten Größenordnung dem BKartA präventiv angemeldet werden. Bis zur Freigabe besteht grundsätzlich ein Vollzugsverbot. Der Zusammenschluss wird vom BKartA untersagt, wenn durch ihn wirksamer Wettbewerb erheblich behindert würde, insbesondere wenn zu erwarten ist, dass er eine marktbeherrschende Stellung begründet oder verstärkt. Ein Verbot wird ausnahmsweise 2 Im Jahr 2007 war ein bemerkenswerter Höchststand von 2.242 Anmeldungen zu verzeichnen; vgl. BKartA, Tätigkeitsbericht 2007/2008, BT-Drucks. 16/135000, 12. Im Vergleich dazu kam es in 2016 zu 1.229 Anmeldungen, BKartA, Tätigkeitsbericht 2015/2016, BT-Drucks. 18/12760, 25. Wesentlicher Grund für die Abnahme war die Einführung der zweiten Inlandsumsatzschwelle im Jahr 2009. 3 Vgl. BKartA, Tätigkeitsbericht 2015/2016, BT-Drucks. 18/12760, 25 sowie den Jahresrückblick 2017 des BKartA vom 21.12.2017 (abrufbar unter www.bundeskartellamt.de). Die einzige Untersagung in 2017 erließ das BKartA im Fall CTS Eventim/Four Artists – B6-35/17. 4 BKartA, Tätigkeitsbericht 2011/2012, BT-Drucks. 17/13675, 24. 5 Für die Jahre 2015 und 2016 beziffert das BKartA die Zahl solcher sog. „Vorfeldfälle“ auf 14, BKartA, Tätigkeitsbericht 2015/2016, BT-Drucks. 18/12760, 28. 6 Begr. RegE 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, 39. 7 BKartA, Tätigkeitsbericht 2015/2016, BT-Drucks. 18/12760, 17 ff.
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A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.8 Kap. 7
nicht ausgesprochen, wenn die Unternehmen nachweisen, dass durch den Zusammenschluss auch Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen eintreten und dass diese Verbesserungen die Nachteile der Marktbeherrschung überwiegen. Der Bundeswirtschaftsminister kann im Einzelfall eine wettbewerbsschädliche Fusion erlauben, wenn die Nachteile durch gesamtwirtschaftliche Vorteile aufgewogen werden oder die Fusion durch ein überragendes Interesse der Allgemeinheit gerechtfertigt wird. Wird die Erlaubnis nicht erteilt, so hat das BKartA einen ausnahmsweise schon vollzogenen Zusammenschluss grundsätzlich aufzulösen. Die Grundzüge des Fusionskontrollverfahrens in Deutschland ebenso wie Erklärungen zentraler Begriffe mit wichtigen Hinweisen für betroffene Unternehmen finden sich in einem Merkblatt zur Fusionskontrolle des BKartA.8 Für die Prüfung der Zulässigkeit von Zusammenschlüssen hat sich in der Praxis folgende systematische „Checkliste“ bewährt, bei deren Anwendung die problematischen Punkte des zu prüfenden Zusammenschlusses schnell deutlich werden.9
7.5
Checkliste: l Finden die Vorschriften der Fusionskontrolle im Hinblick auf die Umsatzschwellenwerte des § 35 Abs. 1 GWB oder den Transaktionsschwellenwert nach § 35 Abs. 1a GWB und des Anwendungsvorranges der EU-Fusionskontrolle gem. § 35 Abs. 3 GWB10 Anwendung?
7.6
l Greift als Ausnahmen von der Anwendbarkeit der Fusionskontrollvorschriften die Anschlussklausel des § 35 Abs. 2 ein? l Ist die geplante Transaktion überhaupt ein Zusammenschluss im Sinne des Gesetzes (§ 37 GWB)? l Kann der Zusammenschluss wegen einer Verschlechterung der Wettbewerbsstrukturen nach § 36 Abs. 1 GWB untersagt werden? l Kann eine drohende Untersagung durch Zusagen, Auflagen oder Bedingungen abgewendet werden (§ 40 Abs. 3 GWB)? l Soll bei Untersagung ein Antrag auf Ministererlaubnis gestellt werden (§ 42 GWB)? Diese systematische Gliederung wird auch der folgenden Darstellung zugrunde gelegt. Zusätz- 7.7 lich werden an geeigneter Stelle die fusionskontrollrechtlichen Verfahrensregeln und Sonderprobleme bei Auslandszusammenschlüssen behandelt.
II. Verhältnis zur Fusionskontrolle des EU-Rechtes Die europäische Fusionskontrolle nach der FKVO11 genießt Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht.12 Sind die Umsatzschwellen der EU-Fusionskontrolle erreicht (Art. 1 FKVO) und ist ein Zusammenschlusstatbestand i.S.d. Art. 3 FKVO erfüllt (zu den Voraus8 BKartA, Merkblatt zur deutschen Fusionskontrolle, Stand Juli 2005, abrufbar unter www.bundes kartellamt.de. 9 Basierend auf Kapp, S. 257, jedoch dort noch ohne Anpassung an die 9. GWB-Novelle. 10 § 35 Abs. 3 GWB steht insoweit im Einklang mit Art. 21 Abs. 3 FKVO. 11 FKVO = Verordnung VO (EG) Nr. 139/2004 (EU-Fusionskontrollverordnung), ABl. EG 2004 Nr. L 24, 1. 12 Vgl. zum Verhältnis zur Fusionskontrolle des EU-Rechtes Bechtold/Bosch, Vor § 35 GWB Rz. 3.
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7.8
Kap. 7 Rz. 7.9
Kartellrecht
setzungen s.u. Rz. 7.257 ff.), so ist gem. Art. 21 Abs. 2 und 3 FKVO i.V.m. § 35 Abs. 3 GWB die deutsche Fusionskontrolle nicht anwendbar. Dagegen ist das nationale Recht grundsätzlich uneingeschränkt anwendbar, wenn die in Art. 1 Abs. 2 oder Abs. 3 FKVO aufgeführten Umsatzwerte nicht erreicht werden oder ein Zusammenschlusstatbestand im Sinne der EUFusionskontrollverordnung nicht gegeben ist.13
7.9 Nicht anwendbar ist die FKVO jedoch, wenn die am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen mehr als zwei Drittel ihres unionsweiten Umsatzes in einem Mitgliedsland erzielen (sog. Zwei-Drittel-Klausel), Art. 1 Abs. 2 lit. b Halbs. 2 und Abs. 3 Halbs. 2 FKVO. Zudem kann das BKartA für einen Zusammenschluss wieder zuständig werden, wenn die Kommission auf Antrag des BKartA nach Art. 9 Abs. 3 Satz 1 lit. b FKVO oder nach Art. 4 Abs. 4 FKVO auf Antrag der Parteien den Fall an dieses verweist.14
7.10 Um die nationale oder europäische Zuständigkeit bewerten zu können, sind gem. § 39 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 GWB bei nationalen Anmeldungen neben den Umsatzerlösen weltweit und den im Inland erzielten Beträgen auch Angaben für die Europäische Union erforderlich.
III. Anwendbarkeit der deutschen Fusionskontrolle aufgrund der Umsatzund Transaktionsschwellenwerte 1. Anwendbarkeit nach § 35 Abs. 1 und Abs. 1a GWB
7.11 Die Zusammenschlusskontrolle ist nach § 35 Abs. 1 GWB nur anwendbar, wenn die beteiligten Unternehmen (zum Begriff vgl. Rz. 7.84 f.) im letzten Geschäftsjahr vor dem Zusammenschluss insgesamt einen weltweiten Umsatz von mehr als 500 Mio. Euro erzielt haben (Nr. 1) sowie mindestens einer der Beteiligten im Inland Umsatzerlöse von mehr als 25 Mio. Euro und ein weiterer Beteiligter im Inland Umsatzerlöse von mehr als 5 Mio. Euro erzielt hat (Nr. 2). Die Inlandsumsatzschwellen sollen sicherstellen, dass Auslandszusammenschlüsse mit nur geringer Inlandsauswirkung sowie weniger bedeutende Zusammenschlüsse unter Beteiligung kleinerer Unternehmen aus der Fusionskontrolle ausgeschlossen werden. Ausnahmen von § 35 Abs. 1 GWB gelten aufgrund der sog. Anschlussklausel des § 35 Abs. 2 GWB.
7.12 Mit Einführung des § 35 Abs. 1a GWB durch die 9. GWB Novelle wurde der Transaktionswert als zusätzliche Aufgreifschwelle für die Fusionskontrolle in das GWB integriert. Demnach ist die deutsche Fusionskontrolle nun auch auf Zusammenschlüsse anwendbar, bei denen ein beteiligtes Unternehmen weltweit Umsatzerlöse von mehr als 500 Mio. Euro erzielt hat (Nr. 1), ein Beteiligter im Inland Umsatzerlöse von mehr als 25 Mio. Euro erzielt hat (Nr. 2), der Wert der Transaktion mehr als 400 Mio. Euro beträgt (Nr. 3) und das zu erwerbende Unternehmen „in erheblichem Umfang im Inland tätig ist“ (Nr. 4). Die Regelung zielt auf Fälle, in denen das Marktpotential des zu erwerbenden Unternehmens sich noch nicht in Umsätzen niedergeschlagen hat (z.B. in der Digitalwirtschaft oder im Pharmabereich).15
13 BGH v. 24.10.1995 – KVR 17/94 – Backofenmarkt, WuW/E BGH 3026 (3033 ff.) = AG 1996, 171; BGH v. 8.12.1998 – KVR 31/97 – Pirmasenser Zeitung, WuW/E DE-R 243 = AG 1999, 181; KG v. 16.4.1997 – Kart 2/96, WMF/Auerhahn, WuW/E OLG 5879 (5886 f.) = AG 1998, 234, zur Rechtfertigung der materiellen Ungleichbehandlung (strengeres nationales Recht); vgl. Bechtold/ Bosch, Vorbm. zum 7. Abschnitt Rz. 6 f. 14 Zu verfahrensrechtlichen Aspekten vgl. Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 3. 15 Podszun, K&R 2017, Heft 07-08, Beilage 39 (44); Barth/dos Santos Goncalves, GWR 2017, 289.
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A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.17 Kap. 7
2. Die Anschlussklausel (de-minimis-Klausel) nach § 35 Abs. 2 Satz 1 GWB Die Anschlussklausel des § 35 Abs. 2 Satz 1 GWB schließt die Anwendbarkeit der Fusionskontrolle nach § 35 Abs. 1 GWB für Sachverhalte aus, die als Bagatellfälle zu bezeichnen sind, weil ein sich anschließendes Unternehmen wirtschaftlich von untergeordneter Bedeutung ist (Fall der Anschluss- oder de-minimis-Klausel). Unabhängige Unternehmen i.S.d. § 36 Abs. 2 GWB mit Umsatzerlösen unter 10 Mio. Euro können sich mit einem anderen Unternehmen zusammenschließen, ohne dass eine fusionskontrollrechtliche Untersagung möglich ist. Gesetzgeberischer Zweck dieser Vorschrift ist es, kleinen und mittelständischen Unternehmen eine volle Verwertung der in ihren Unternehmen steckenden Vermögenswerte zu ermöglichen.16
7.13
Das Tatbestandserfordernis der fehlenden Abhängigkeit wird von der herrschenden Meinung vom Gesetzeszweck her berichtigend ausgelegt, so dass eine Abhängigkeit von Unternehmen i.S.d. § 35 Abs. 2 Satz 1 GWB auch dann nicht vorliegt, wenn ein „herrschender Kleinkonzern“ Umsatzerlöse von insgesamt weniger als 10 Mio. Euro tätigt.17
7.14
Die Anschlussklausel ist auch auf Gründungen von Gemeinschaftsunternehmen anwendbar, wenn der kleinere Beteiligte Umsätze von weniger als 10 Mio. Euro tätigt und er die Substanz seines Betriebsvermögens ganz oder teilweise in das Gemeinschaftsunternehmen überträgt.18 Eine Ausnahme liegt aber dann vor, wenn bei der Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens die „kleinere Mutter“ keine unternehmerischen Aktivitäten in dieses einbringt, sondern lediglich neue Aktivitäten aufnimmt.19
7.15
Bei Vorliegen der Voraussetzungen der Anschlussklausel findet die Fusionskontrolle nach 7.16 § 35 Abs. 1 GWB keine Anwendung. Damit entfällt, sofern nicht § 35 Abs. 1a GWB einschlägig ist, sowohl die präventive Anmeldepflicht als auch die Anzeigepflicht nach Vollzug eines Zusammenschlussvorhabens. Bei Ungewissheit, ob diese Voraussetzungen tatsächlich erfüllt sind, ist aber Vorsicht geboten und gegebenenfalls eine rechtzeitige informelle Einbeziehung des BKartA zu empfehlen. Auf diese Weise lässt sich auch das Bußgeldrisiko wegen eines Verstoßes gegen das Vollzugsverbot (§ 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB) ausschließen. Durch die 9. GWBNovelle wurde mit § 35 Abs. 2 Satz 3 GWB eine weitere Ausnahme von § 35 Abs. 1 sowie von § 35 Abs. 1a GWB eingefügt. Demnach können kreditwirtschaftliche Verbundgruppen i.S.d. § 8b Abs. 4 Satz 8 Körperschaftsteuergesetz von einer Zusammenschlusskontrolle befreit sein. 3. Berechnung der relevanten Umsatz- und Transaktionswerte a) Umsatzerlöse Maßgeblicher Zeitpunkt für die Umsatzberechnung ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Anmeldung, nicht der des Vollzugs.20 Die Umsatzerlöse ergeben sich in der Praxis zumeist aus 16 Begr. RegE 3. GWB-Novelle, BT-Drucks. 6/2520, 32. 17 KG v. 16.6.1981 – Kart15/80 – Stadtwerke Wolfenbüttel, WuW/E OLG 2507 (2511); Kallfaß in Langen/Bunte, § 35 GWB Rz. 39; Wessely in MünchKomm/GWB, § 35 GWB Rz. 34. 18 KG v. 16.6.1981 – Kart15/80 – VEBA/Stadtwerke Wolfenbüttel, WuW/E OLG 2507 (2513); Neuhaus in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 35 GWB Rz. 27. 19 KG v. 16.6.1981 – Kart 15/80, WuW/E OLG 2507 (2513) = AG 1982, 74; vgl. auch KG v. 18.2.1985 – Kart 24/83 – Thüga/Stadtwerke Westerland, AG 1985, 307 (308). 20 Vgl. BKartA, Merkblatt zur deutschen Fusionskontrolle (Juni 2005), S. 13; so auch Mäger in MünchKomm/GWB, § 38 GWB Rz. 22; andere Ansicht Neuhaus in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 35 GWB Rz. 23 m.w.N.; bis zur 6. GWB-Novelle bestimmte der § 24a Abs. 1 Satz 3 GWB a.F. die Anmeldung als maßgeblichen Zeitpunkt.
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7.17
Kap. 7 Rz. 7.18
Kartellrecht
dem Jahresabschluss des vorausgegangenen Geschäftsjahres, also des nach § 35 Abs. 1 GWB maßgeblichen Bezugszeitraums. Zugrunde zu legen ist der weltweit erzielte Konzernumsatz. Bei Gemeinschaftsunternehmen sind die Gesamtumsätze in die Berechnung mit einzubeziehen.21 Bei der Berechnung ist grundsätzlich § 277 Abs. 1 HGB anzuwenden. Seit Juli 2015 sind gem. § 277 Abs. 1 HGB n.F. auch atypische Erlöse als Teil der Umsatzerlöse anzusehen.
7.18 Daneben sind die Sonderregeln des § 38 GWB zu beachten. Hiernach bleiben Innenumsatzerlöse zwischen verbundenen Unternehmen ebenso wie die Verbrauchsteuern außer Betracht (§ 38 Abs. 1 Satz 2 GWB). Umsatzerlöse in fremder Währung sind nach dem Jahresmittelkurs der Europäischen Zentralbank in Euro umzurechnen.22 Handelsumsätze sind nur mit 75 % der Umsatzerlöse in Ansatz zu bringen (§ 38 Abs. 2 GWB).23 Bei Kreditinstituten, Finanzinstituten und Bausparkassen wird in § 38 Abs. 4 Satz 1 GWB auf § 34 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 lit. a-e der Verordnung über die Rechnungslegung der Kreditinstitute Bezug genommen. Als Umsatzerlöse sind damit folgende Positionen erfasst: Zinserträge, laufende Erträge aus Aktien und anderen nicht fest verzinslichen Wertpapieren, Beteiligungen sowie Anteile an verbundenen Unternehmen, Provisionserträge, Nettoerträge aus Finanzgeschäften und sonstige betriebliche Erträge. Umsatzsteuern und andere direkt auf diese Beträge erhobene Steuern sind in Abzug zu bringen. Bei Versicherungsunternehmen werden nach § 38 Abs. 4 Satz 2 und 3 GWB die Prämieneinnahmen des letzten Geschäftsjahres zugrunde gelegt. Bei Rundfunkund Presseunternehmen ist nach § 38 Abs. 3 GWB das Achtfache der Umsatzerlöse in Ansatz zu bringen. Somit sind einheitlich Unternehmen dieser Branchen ab 62,5 Mio. Euro Umsatz in die Fusionskontrolle einzubeziehen.
7.19 Es besteht Einigkeit darüber, dass bei der Ermittlung der Umsätze zur Prüfung der Anmeldepflicht auch Auslandsumsätze der Unternehmen einbezogen werden müssen, so dass diese Zahlen auf Weltbasis zu errechnen sind.24 Auch bei Gemeinschaftsunternehmen sind die Gesamtumsätze in die Berechnung mit einzubeziehen, obwohl nach § 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 GWB zwischen den Müttern ein Zusammenschluss nur hinsichtlich des Marktes fingiert wird, auf dem das Gemeinschaftsunternehmen tätig wird.25 Gerechtfertigt wird diese Praxis mit dem Hinweis, es handele sich bei diesen Werten nicht um marktbezogene, sondern um absolute Größenkriterien.26 Die wirtschaftliche Stärke eines Unternehmens beruht demnach in erster Linie auf der Höhe der Umsätze, unabhängig davon, ob sie im Inland oder Ausland erzielt werden.
7.20 Durch § 38 Abs. 5 Satz 3 GWB wurde in Angleichung an die EU-Fusionskontrolle eine Zusammenrechnungsvorschrift für hintereinandergeschaltete Erwerbsvorgänge eingeführt, durch die eine künstliche Aufspaltung von Transaktionen mit dem Ziel der Umgehung der Fusionskontrolle verhindert werden soll.
21 Ständige Praxis des BKartA; s. auch KG v. 23.3.1977 – Kart11/76 – Erdgas Schwaben, WuW/E OLG 1895. 22 BKartA, Merkblatt zur deutschen Fusionskontrolle (Juni 2005), S. 13. 23 S. zu dieser und den folgenden Umsatzmodifikationen bereits Rz. 7.17. 24 Ganz herrschende Meinung: BGH v. 23.10.1997 – KVR 3/78 – Zementmahlanlage II, WuW/E BGH 1655 = AG 1980, 221 = MDR 1980, 283; Bechtold/Bosch, § 38 GWB Rz. 5; Kallfaß in Langen/Bunte, § 38 GWB Rz. 4; Canenbley/Moosecker, S. 36. 25 Ständige Praxis des BKartA; s. auch KG v. 23.3.1977 – Kart11/76 – Erdgas Schwaben, WuW/E OLG 1895; Neuhaus in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 38 GWB Rz. 8. 26 Möschel, S. 503; Bechtold/Bosch, § 38 GWB Rz. 2 f.
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A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.28 Kap. 7
b) Die Verbundklausel des § 36 Abs. 2 Satz 1 GWB Für die Berechnung der Umsatzerlöse (sowie von Marktanteilen) sind verbundene Unternehmen als ein einheitliches Unternehmen anzusehen. Die Einbeziehung abhängiger und beherrschender Unternehmen soll sicherstellen, dass Unternehmensgruppen, die wegen gegenseitiger Verflechtungen oder Einflussmöglichkeiten trotz rechtlicher Selbständigkeit eine wettbewerbliche Einheit bilden, auch als Einheit behandelt werden.27
7.21
Beispiel: Die Y-AG ist an der X-AG mit Mehrheit beteiligt. Die X-AG hat wiederum eine Toch-
7.22
ter Z-GmbH. Die X-AG erwirbt 25 % der A-AG. In diesem Falle werden Umsatzerlöse und Marktanteile der Y-AG, X-AG und Z-GmbH auf Erwerberseite addiert (zur „Ausweitung“ der Verbundklausel auf das gesamte GWB vgl. Rz. 7.145).28
7.23
Die Verbundklausel greift aber dann nicht ein, wenn die Abhängigkeitsvermutung des § 17 Abs. 2 AktG widerlegt werden kann. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang insbesondere Bestimmungen in Gesellschaftsverträgen, Stimmrechtsbeschränkungen, Mehrstimmrechte etc., die im Ergebnis dazu führen, dass einer Kapitalmehrheit keine Stimmenmehrheit entspricht.29
7.24
c) Die Mehrmütter-Klausel des § 36 Abs. 2 Satz 2 GWB Wird ein Tochterunternehmen von mehreren Mutterunternehmen gemeinsam beherrscht, so müssen die Ressourcen aller beteiligten Unternehmen zusammengezählt werden.
7.25
Beispiel: Steht A unter der gemeinsamen Beherrschung von X, Y und Z und schließen sich A
7.26
und B zusammen, so sind die Marktanteile und der Umsatz von allen fünf Unternehmen bei den relevanten Berechnungen zu berücksichtigen. Das BKartA wendet die Vorschrift über ihren Wortlaut hinaus auch auf Zusammenschlüsse an, bei denen nur ein Mutterunternehmen direkt beteiligt ist.30 Erwirbt also in dem oben genannten Beispiel X das Unternehmen B, so wird die gemeinsame Tochter A dem X voll zugerechnet, nicht aber die anderen Mütter Y und Z (vgl. zur unterschiedlichen pro-Kopf-Zurechnung nach europäischem Recht Rz. 7.253).31
7.27
Die eigentliche Problematik der Mehrmütter-Klausel besteht in der Frage, wann bei mehreren Unternehmen von einer gemeinsamen Beherrschung ausgegangen werden kann.32 Bestehen zwischen den Mutterunternehmen Pool-, Konsortial- oder Stimmbindungsverträge, die
7.28
27 BGH v. 8.5.1979 – KVR 1/78 – WAZ, WuW/E BGH 1608 (1610) = AG 1980, 50 = MDR 1980, 31; BGH v. 8.12.1998 – KVR 31/97 – Pirmasenser Zeitung, WuW/E DE-R 243 = AG 1999, 181: Verbundklausel bei faktischem Gleichordnungskonzern wegen personeller Verflechtung, einheitlicher Zielvorgaben und gleichgerichteten Verhaltens der Unternehmen; vgl. Neuhaus in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 36 GWB Rz. 215. 28 Zur „Ausweitung“ der Verbundklausel vgl. auch Schulte, AG 1998, 297 (308). 29 Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 31. 30 Vgl. Bechtold/Bosch, § 36 GWB Rz. 69. 31 Neuhaus in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 36 GWB Rz. 237. 32 Dazu Neuhaus in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 36 GWB Rz. 234 ff.; Deringer in FS von Gamm, S. 559 ff.; Herrmann in FS Deringer, S. 263 ff.; Becker/Knebel/Christiansen in MünchKomm/GWB, § 36 GWB Rz. 323 f.
Röhling 649
Kap. 7 Rz. 7.29
Kartellrecht
zu einer einheitlichen Stimmabgabe oder zu einer einheitlichen Leitungsmacht führen, so ist eine gemeinsame Beherrschung anzunehmen.33
7.29 Abgrenzungsschwierigkeiten bereitet dagegen die Möglichkeit der gemeinsamen Beherrschung aufgrund eines tatsächlichen Zusammenwirkens (das Problem stellt sich vergleichbar im Rahmen der gemeinsamen Kontrolle beim Zusammenschlussbegriff des § 37 Abs. 1 Nr. 2 GWB, vgl. unten Rz. 7.64 ff.). Bei paritätischen Gemeinschaftsunternehmen im Verhältnis 50:50 soll nach der Auffassung des BGH das „Aufeinander-Angewiesen-Sein“ der Gesellschaften nicht ausreichen, um eine gemeinsame Beherrschung zu bejahen. Hinzukommen müssen vielmehr noch weitere Umstände, die eine sichere Grundlage für die Ausübung gemeinsamer Herrschaft bilden.34 Das BKartA und das KG haben hierfür eine weitgehende Interessenübereinstimmung der Gesellschaften und einen Einigungszwang in allen wichtigen Fragen der Geschäftsführung im Zusammenhang mit der paritätischen Beteiligung ausreichen lassen.35 Einen Einigungszwang sieht das KG als gegeben an, wenn nach der Satzung des Gemeinschaftsunternehmens oder nach ergänzenden Abreden der Gesellschafter die meisten, wichtigen Maßnahmen der Geschäftsführer der Zustimmung der Gesellschafterversammlung bedürfen.36 Auf der anderen Seite kann ein bestehendes Spannungsverhältnis zwischen den Gesellschaften den gemeinsamen Einfluss neutralisieren.37 Im Einzelfall ist immer eine Gesamtbeurteilung aller vertraglichen und faktischen Elemente notwendig, aufgrund derer eine gesicherte einheitliche Einflussnahme mehrerer Unternehmen auf der Grundlage einer auf Dauer angelegten Interessengleichheit zu erwarten ist.38 d) Wert der Gegenleistung und Inlandstätigkeit nach § 35 Abs. 1a GWB
7.30 Sofern nicht § 35 Abs. 1 GWB einschlägig ist, ist es durch den neu eingeführten § 35 Abs. 1a GWB nun notwendig, den Wert der Gegenleistung sowie den Umfang der Inlandstätigkeit des zu erwerbenden Unternehmens zu bestimmen.
7.31 Das BKartA und die Österreichische Wettbewerbsbehörde haben im Juli 2018 zur Auslegung der neuen gesetzlichen Vorschrift einen gemeinsamen Leitfaden zur Anwendung der neuen Transaktionswert-Schwelle in der Fusionskontrolle veröffentlicht.39 Der Leitfaden basiert auf den ersten Erfahrungen beider Wettbewerbsbehörden sowie auf Rückmeldungen aus der
33 Vgl. Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 39; enger Canenbley/Moosecker, S. 215, die zusätzlich noch eine im Voraus erfolgte inhaltliche Bestimmung der Leitungsmacht fordern. 34 BGH v. 8.5.1979 – KVR 1/78 – WAZ, WuW/E BGH 1608 (1611) = AG 1980, 50 = MDR 1980, 31; vgl. Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 41 m.w.N. 35 BKartA v. 30.1.1981 – B6-711078-U-44/80 – REWE/Florimex, WuW/E BKartA 1876 (1879); BKartA v. 29.6.1981 – B8-712046-U-159/80 – Hussel/Mara, WuW/E BKartA 1897 (1900); BKartA v. 1.10.1990 – B1-252300-U-104/88 – Bayerische Asphalt-Mischwerke, WuW/E BKartA 2488 (2489); KG v. 24.4.1985 – Kart 34/81 – Hussel/Mara, WuW/E OLG 3577 (3582 f.). 36 KG v. 24.4.1985 – Kart 34/81 – Hussel/Mara, WuW/E OLG 3577 (3582 f.). 37 BGH v. 8.5.1979 – KVR 1/78 – WAZ, WuW/E BGH 1608 (1612) = AG 1980, 50 = MDR 1980, 31. 38 BGH v. 22.6.1981 – KVR 7/80 – Transportbeton Sauerland, WuW/E BGH 2810 (2811) = AG 1981, 310 = MDR 1981, 908; BGH v. 7.11.2006 – KVR 39/05 – Radio TON, WuW/E DE-R 1890 Rz. 11 = AG 2007, 204; OLG Düsseldorf v. 13.6.2013 – I-6 U 148/12 Rz. 121. 39 Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und 9 Abs. 4 KartG), Stand Juli 2018, abrufbar unter www.bundeskartellamt. de.
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Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.34 Kap. 7
öffentlichen Konsultation des zuvor vorgelegten Entwurfs und kann demnach als Richtschnur zur Interpretation und Anwendung der neuen Vorschrift herangezogen werden. Die neue Aufgreifschwelle zielt insbesondere auf Startups der Digitalwirtschaft sowie Forschungs- und Entwicklungsunternehmen der Pharma- und der Technologiebranche.40 Diese Unternehmen werden oftmals aufgrund „innovativer Geschäftsideen mit einem hohen wettbewerblichen Marktpotential“ übernommen ohne dass sie bereits Umsätze erzielen, die die Schwellenwerte des § 35 Abs. 1 GWB erreichen.41 Die neue Aufgreifschwelle soll vor potentiellen Wettbewerbsbeeinträchtigungen in „gesamtwirtschaftlich bedeutsamen Fällen“ schützen.42 Da der Gesetzeswortlaut bezüglich der Art der Zielunternehmen keine Einschränkungen macht, ist eine Anwendbarkeit der neuen Aufgreifschwelle jedoch grundsätzlich bei sämtlichen Zusammenschlüssen zu prüfen.
7.32
Gemäß § 35 Abs. 1a Nr. 3 GWB muss der Wert der Gegenleistung 400 Millionen Euro übersteigen. Der Gesetzgeber hat sich damit gegen die in den USA maßgebliche Transaktionsgröße, also das wirtschaftliche Ergebnis des Zusammenschlusses, entschieden.43 Die Bundesregierung begründet das Anknüpfen an den Wert der Gegenleistung mit seiner (vermeintlich) einfachen Ermittelbarkeit.44 Zur Bestimmung des Wertes der Gegenleistung gibt § 38 Abs. 4a GWB Anhaltspunkte. Danach sind der Kaufpreis, bestehend aus allen Vermögensgegenständen und sonstigen geldwerten Leistungen, (Nr. 1) und der Wert übernommener Verbindlichkeiten (Nr. 2) einzubeziehen. Schwierigkeiten entstehen immer dann, wenn die Parteien keinen festen Kaufpreis vereinbaren oder den Erwerb mit einem Tausch kombinieren. Gerade in den Fällen, auf die die Aufgreifschwelle zielt, wird aber oftmals ein variabler Kaufpreis vereinbart, der z.B. vom künftigen Markterfolg abhängig ist.45
7.33
Im Leitfaden geht das BKartA von einem weiten Begriff des Vermögensgegenstandes aus, so dass auch zukünftige und variable Kaufpreisbestandteile erfasst sein sollen, die z.B. an den Eintritt bestimmter Bedingungen (z.B. sog. Earn-out-Klauseln) oder an zukünftige Umsatzoder Gewinnziele geknüpft sind. Der Wert künftiger Zahlungen zum Zeitpunkt des Vollzugs soll nach finanzwirtschaftlich gängigen Abzinsungsmethoden gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts ermittelt werden. Die dabei zugrunde gelegten Annahmen müssen von den betroffenen Unternehmen im Rahmen einer Anmeldung transparent dargelegt werden. Eine Unterscheidung zwischen inländischem und auslän-
7.34
40 Podszun, K&R 2017, Heft 07-08, Beilage 39 (44); Barth/dos Santos Goncalves, GWR 2017, 289. 41 Begr. RegE 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, 71; Meyer-Lindemann in Kersting/Podszun, Kap. 12 Rz. 5. 42 Begr. RegE 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, 73 f. – Dabei wird von einer geringen einstelligen Fallzahl pro Jahr ausgegangen – tatsächlich wurden aber allein in der zweiten Jahreshälfte von 2017 über 10 entsprechende Anmeldungen eingereicht. 43 Begr. RegE 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, 73. 44 Begr. RegE 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, 73. 45 Ausführlich zu der Problematik Meyer-Lindemann in Kersting/Podszun, Kap. 12 Rz. 30 ff.; Barth/ dos Santos Goncalves, GWR 2017, 289 (291 f.). Ein Wertungswiderspruch ergibt sich durch die Anwendung der „de minimis“-Ausnahme des § 35 Abs. 2 S. 1 GWB allein auf Zusammenschlüsse nach § 35 Abs. 1 GWB. Demnach kann es vorkommen, dass Zusammenschlüsse, bei denen beide Inlandsumsatzschwellen erfüllt werden, nach § 35 Abs. 2 S. 1 GWB von der Zusammenschlusskontrolle ausgenommen sind, wohingegen Zusammenschlüsse, bei denen die zweite Inlandsumsatzschwelle nicht erfüllt wurde, weiterhin der Kontrolle unterliegen können. Vgl. dazu Meyer-Lindemann in Kersting/Podszun, Kap. 12 Rz. 21 ff.
Röhling 651
Kap. 7 Rz. 7.35
Kartellrecht
dischem Teil bei der Ermittlung des Transaktionswertes wird nicht vorgenommen.46 Nach Auffassung des BKartA sind vom Begriff der Gegenleistung ebenfalls Zahlungen für einen Wettbewerbsverzicht erfasst, der mit der Durchführung des Zusammenschlussvorhabens zusammenhängt.47
7.35 Werden Anteile von verschiedenen Veräußerern erworben, soll ebenfalls der Fall erfasst werden, in dem der Wert der Gegenleistung – sofern die einzelnen Erwerbsvorgänge bei einer wirtschaftlichen Betrachtung einen einheitlichen Vorgang bilden – erst unter Zusammenrechnung der einzelnen Teilleistungen 400 Millionen Euro übersteigt.48 Bei der Neugründung eines Gemeinschaftsunternehmens durch Gründung einer bislang nicht existierenden Gesellschaft soll es sich bei dem von den neuen Gesellschaftern eingebrachten Kapital und den jeweils eingebrachten Vermögenswerten um die Gegenleistung der jeweiligen Partei handeln. Gegenleistung i.S.d. § 35 Abs. 1a Nr. 3 GWB stellt dabei aber dann die Gesamtsumme dieser einzelnen Gegenleistungen dar.49
7.36 Bei der Berücksichtigung von Verbindlichkeiten sind nach Auffassung des BKartA grundsätzlich allein die verzinslichen Anteile der Verbindlichkeiten, wie sie in der Bilanz des Zielunternehmens ausgewiesen sind, maßgeblich, so dass nicht verzinsliche Verbindlichkeiten, wie z.B. solche aus Lieferungen und Leistungen, unberücksichtigt bleiben.50
7.37 Zur Plausibilisierung der jeweiligen Wertermittlungen können schriftliche Bestätigungen des Wertes und der Wertermittlung der betroffenen Unternehmensleitungen oder auch Wertgutachten dienen.51 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Wertermittlung soll der Vollzug des Zusammenschlusses sein, so dass sich in Fällen, in denen ein Überschreiten der Schwelle zum Vollzugszeitpunkt nicht ausschließen lässt, eine vorsorgliche Anmeldung anbietet.
7.38 Nach § 35 Abs. 1a Nr. 4 GWB muss das zu erwerbende Unternehmen zudem im Inland tätig sein. Als Beispiele für eine Inlandstätigkeit werden das Anbieten einer Leistung für Nutzer im Inland oder auch die Durchführung von Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten im Inland aufgeführt.52 Im Gesetzentwurf der Bundesregierung wird darauf hingewiesen, dass die Inlandstätigkeit zudem marktbezogen sein muss.53 Der Leitfaden stellt zur Bestimmung der Marktbezogenheit auf vier Fallgruppen ab, bei denen ein Marktbezug regelmäßig gegeben sein soll:
46 Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und 9 Abs. 4 KartG), Stand Juli 2018, Rz. 29 ff. 47 Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und 9 Abs. 4 KartG), Stand Juli 2018, Rz. 60 ff. 48 Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und 9 Abs. 4 KartG), Stand Juli 2018, Rz. 13. 49 Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und 9 Abs. 4 KartG), Stand Juli 2018, Rz. 55 ff. 50 Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und 9 Abs. 4 KartG), Stand Juli 2018, Rz. 53. 51 Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und 9 Abs. 4 KartG), Stand Juli 2018, Rz. 20 ff. 52 Begr. RegE 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, 75; Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und 9 Abs. 4 KartG), Stand Juli 2018, Rz. 71 ff. 53 Begr. RegE 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, 76.
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Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.41 Kap. 7
1. Eine Leistung des Zielunternehmens wird auf einem bestehenden Markt gegen Geld angeboten. 2. Eine Leistung wird auf andere Art und Weise als durch Geldzahlungen entgolten (z.B. durch Erhebung von Daten oder Schaltung von Werbung). 3. Trotz Unentgeltlichkeit der angebotenen Leistung findet eine Monetarisierung auf andere Weise statt oder es ist zu erwarten, dass in Zukunft Entgelte verlangt werden oder zukünftig eine Monetarisierung auf andere Weise stattfindet (z.B. wird eine zunächst kostenfreie App ab einer bestimmten Reichweite ganz oder teilweise entgeltlich angeboten oder durch Werbung finanziert). 4. Das Zielunternehmen betreibt Forschung und Entwicklung von (zukünftigen) Produkten oder Dienstleistungen.54 Die vierte Fallgruppe ist nach dem Leitfaden von einer reinen Grundlagenforschung ab- 7.39 zugrenzen und soll jedenfalls solche Fälle erfassen, in denen z.B. Rechte an Substanzen erworben werden sollen, die sich bereits in der klinischen Prüfung befinden oder im Bereich der medizinischen oder medizintechnischen Forschung Schutzrechte erworben werden, die z.B. zur Entwicklung neuer diagnostischer Verfahren, neuer Bildgebungsverfahren, orthopädischen Hilfsmitteln oder chirurgischen Instrumenten erforderlich sind. Im Bereich des Pflanzenschutzes kann z.B. der Erwerb von Rechten an Molekülen erfasst sein, die sich nach ihrer Entdeckung bereits in der Phase der Produktentwicklung befinden. In anderen Bereichen der Forschung und Entwicklung soll eine analoge abgestufte Betrachtung nach „discovery“ bzw. „development“ angewendet werden.55 Nach § 35 Abs. 1a Nr. 4 GWB muss das zu erwerbende Unternehmen zudem in erheblichem Umfang im Inland tätig sein. Durch dieses äußerst unscharfe Kriterium soll sichergestellt werden, dass Übernahmen von im Wesentlichen nur im Ausland tätigen Unternehmen mit nur „marginalen Tätigkeiten“ im Inland keiner deutschen Fusionskontrolle unterworfen werden.56 Zur Bestimmung der Erheblichkeit der Inlandstätigkeit können z.B. Kriterien wie die monatliche Anzahl der Nutzer, Niederlassungen im Inland sowie die Bedeutung der Inlandsaktivitäten für das globale Geschäft sein.57 Die Bestimmung der Erheblichkeit soll sich u.a. nach der konkret betroffenen Branche und der Marktreife richten.58
7.40
Für Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten sollen nach dem Leitfaden für die Bestimmung der Erheblichkeit z.B. die Anzahl der betrauten Mitarbeiter, das Forschungs- und Entwicklungsbudget, die Anzahl der Patente oder Patentzitate bzw. das gegebenenfalls vorhandene Umsatzwachstum herangezogen werden.59 Im Falle von Anwendungen für Smartphones (sog.
7.41
54 Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und 9 Abs. 4 KartG), Stand Juli 2018, Rz. 76. 55 Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und 9 Abs. 4 KartG), Stand Juli 2018, Rz. 79. 56 Begr. RegE 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, 75. 57 Meyer-Lindemann in Kersting/Podszun, Kap. 12 Rz. 46. 58 Begr. RegE 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207, 75. 59 Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und 9 Abs. 4 KartG), Stand Juli 2018, Rz. 84 und 103.
Röhling 653
Kap. 7 Rz. 7.42
Kartellrecht
Apps) soll z.B. die Anzahl von monatlich einer Million aktiven Nutzern ausreichend sein, wenn sich die App grundsätzlich an alle Verbraucher in Deutschland richtet.60
7.42 Nach dem Leitfaden wird das BKartA vor dem Hintergrund der gesetzgeberischen Intention, Erwerbe von Zielunternehmen zu erfassen, die noch keine nennenswerten Umsätze erzielt haben, aber dennoch ein hohes wirtschaftliches und wettbewerblichen Potential aufweisen, dann die Erheblichkeit verneinen, wenn das Zielunternehmen im Inland bereits Umsatzerlöse erzielte, die unterhalb der zweiten Inlandsumsatzschwelle von 5 Mio. Euro lagen, und diese Umsatzerlöse die Marktposition und das Wettbewerbsverhalten angemessen widerspiegeln.61
IV. Der Zusammenschlussbegriff 1. Übersicht
7.43 Der Zusammenschlussbegriff ist abschließend in § 37 GWB geregelt. Hierbei enthält § 37 Abs. 1 GWB einen vollständigen Katalog der Zusammenschlusstatbestände. Zwischen folgenden, nach der Intensität des Zusammenschlusses absteigend angeordneten Tatbeständen wird unterschieden: – Vermögenserwerb (§ 37 Abs. 1 Nr. 1 GWB); – Kontrollerwerb (§ 37 Abs. 1 Nr. 2 GWB); – Kapitalanteils- oder Stimmrechtserwerb (§ 37 Abs. 1 Nr. 3 GWB); – Erwerb eines wettbewerblich erheblichen Einflusses (§ 37 Abs. 1 Nr. 4 GWB).
7.44 Die neuen § 37 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 und Nr. 2 Satz 2 Halbs. 2 GWB stellen klar, dass es einem Zusammenschluss im Sinne eines Vermögens- oder Kontrollerwerbs nicht entgegensteht, wenn ein im Inland tätiges Unternehmen noch keine Umsatzerlöse erzielt hat.
7.45 Einschränkungen des Zusammenschlussbegriffes ergeben sich aus § 37 Abs. 2 GWB (keine wesentliche Verstärkung der bereits bestehenden Unternehmensverbindungen) und § 37 Abs. 3 Satz 1 GWB (Bankenklausel). Erweiterungen gelten bei Gemeinschaftsunternehmen (§ 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 GWB). 2. Der Unternehmensbegriff
7.46 Nach den §§ 35 ff. GWB muss es sich um einen Zusammenschluss zwischen Unternehmen handeln. Für die Erfüllung dieses Begriffes reicht jede Tätigkeit einer natürlichen oder juristischen Person, soweit sie nicht der rein privaten Lebensführung oder abhängiger Arbeit zuzurechnen ist oder ein hoheitliches Handeln der öffentlichen Hand darstellt.62 60 Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und 9 Abs. 4 KartG), Stand Juli 2018, Rz. 88. 61 Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und 9 Abs. 4 KartG), Stand Juli 2018, Rz. 97 ff. 62 KG v. 13.10.1982 – Kart 51/81 – Holtzbrinck/Rowohlt, AG 1983, 160 (161); BGH v. 7.7.1992 – KZR 15/91 – Selbstzahler, WuW/E BGH 2813 (2818) = MDR 1993, 525; OLG Düsseldorf v. 17.9.2008 – VI-Kart 19/07 (V)- Land Rheinland-Pfalz/Lotto Rheinland Pfalz, WuW/E DE-R 2436; Emmerich, § 3 Rz. 37; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 17 ff.
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Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.49 Kap. 7
Nach dieser Definition erfüllen Handelsgesellschaften praktisch immer den Unternehmensbegriff. BGB-Gesellschaften, Vereine und Verbände können Unternehmen sein, soweit sie am marktwirtschaftlichen Leistungsaustausch teilnehmen. Hierbei ist auf den Gesamtcharakter ihrer Tätigkeit abzustellen.63 In der gleichen Weise sind freiberufliche Tätigkeiten von Architekten, Wirtschaftsprüfern, Rechtsanwälten und Ärzten als unternehmerisch einzustufen.64 Mit § 185 Abs. 1 Satz 1 GWB ist klargestellt, dass auch Unternehmen der öffentlichen Hand der Fusionskontrolle unterworfen sind. Die öffentliche Hand erfüllt die Unternehmenseigenschaft immer dann, wenn sie am marktwirtschaftlichen Leistungsaustausch teilnimmt, ohne hoheitliche Tätigkeiten auszuüben.65 Auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, die sich an anderen Unternehmen beteiligen, handeln nach Auffassung des BKartA unternehmerisch und unterliegen deshalb der Fusionskontrolle.66 Gleiches gilt für Krankenhäuser in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft.67 Lange Zeit umstritten war die Anwendung der Fusionskontrolle auf Zusammenschlüsse zwischen gesetzlichen Krankenkassen.68 Durch die 8. GWB-Novelle wurde die Anwendung der Fusionskontrolle auf solche Zusammenschlüsse nunmehr in § 172a SGB V festgeschrieben.
7.47
Problematisch ist die Behandlung von Privatpersonen, wenn diese „maßgebliche Beteiligungen“ unterhalb einer Mehrheitsbeteiligung an einem Unternehmen halten, die zu gemeinsamen marktstrategischen Planungen und Entscheidungen sowie zu einer wirtschaftlichen Interessenbindung führt.69 M.E. ist Zurückhaltung zu fordern, da die eingeschränkten Einflussmöglichkeiten einer Minderheitsbeteiligung es in der Regel nicht rechtfertigen, das Unternehmen der beteiligten Privatperson zuzurechnen.70
7.48
Im Rahmen von Mehrheitsbeteiligungen kommt die sog. „Flick-Klausel“ (§ 36 Abs. 3 GWB) zur Anwendung. Hiernach gelten Personen und Personenvereinigungen, die eine Mehrheitsbeteiligung an einem Unternehmen halten, als Unternehmen im Rahmen der Fusionskontrol-
7.49
63 Möschel, S. 484; vgl. Kallfaß in Langen/Bunte, § 35 GWB Rz. 14. 64 Zimmer in Immenga/Mestmäcker, § 1 GWB Rz. 65 ff.; Emmerich, § 3 Rz. 33; Canenbley/Moosecker, S. 260. 65 BGH v. 23.10.1979 – KZR 22/78 – Berliner Musikschulen, WuW/E BGH 1661 (1662 f.) = MDR 1980, 553; BGH v. 7.7.1992 – KZR 15/91 – Selbstzahler, WuW/E BGH 2813 (2818) = MDR 1993, 525; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 27; vgl. EuGH v. 19.1.1994 – C-364/92 Rz. 27 ff. – SAT Fluggesellschaft/Eurocontrol, Slg. 1994, I-43; EuGH v. 18.3.1997 – C-343/95 Rz. 22 ff. – Diego Calì & Figli, Slg. 1997, I-1547. 66 BKartA v. 18.7.1989 – B6-743100-U-71/88 – Westdeutscher Rundfunk/Radio NRW, WuW/E BKartA 2396 (2397 f.). 67 BKartA v. 18.6.2009 – B3-215/08 – Gesundheit Nordhessen/Gesundheitsholding Werra/Meißner, WuW/E DE-V 1734; BKartA v. 10.3.2005 – B10-123/04 – Rhön-Grabfeld, WuW/E DE-V 1087 (1089 ff.), bestätigt durch BGH v. 16.1.2008 – KVR 26/07 – Rhön AG/Landkreis Rhön/Grabfeld, WuW/E DE-R 2327; BKartA v. 8.3.2006 – B10-90/05 – AKK/UKE, WuW/E DE-V 1297 (1298); BKartA v. 13.12.2006 – B3-1003/06 – Enzkreis-Kliniken, WuW/E DE-V 1335. Vgl. auch Monopolkommission, Sondergutachten 45, Rz. 88 ff. 68 Vgl. BKartA v. 18.6.2009 – B3-215/08 – Gesundheit Nordhessen/Gesundheitsholding Werra/Meißner, WuW/E DE-V 1734; BKartA v. 10.3.2005 – B10-123/04 – Rhön-Grabfeld, WuW/E DE-V 1087 (1089 ff.), bestätigt durch BGH v. 16.1.2008 – KVR 26/07 – Rhön AG/Landkreis Rhön/Grabfeld, WuW/E DE-R 2327; BKartA v. 8.3.2006 – B10-90/05 – AKK/UKE, WuW/E DE-V 1297 (1298); BKartA v. 13.12.2006 – B3-1003/06, – Enzkreis-Kliniken WuW/E DE-V 1335. Vgl. auch Monopolkommission, Sondergutachten 45, Rz. 88 ff.; BKartA, Tätigkeitsbericht 2011/2012, BT-Drucks. 17/13675, 76. S. auch BSG v. 22.6.2010 – B1 A 1/09 R, BSGE 106, 199 = NZS 2011, 426. 69 Bechtold/Bosch, § 35 GWB Rz. 26; Möschel, S. 484; Canenbley/Moosecker, S. 261. 70 Quack, GRUR 1980, 449; Canenbley/Moosecker, S. 261; a.A. Bechtold/Bosch, § 35 GWB Rz. 26.
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Kap. 7 Rz. 7.50
Kartellrecht
le. Diese Fiktion wird damit begründet, dass alle Unternehmen im Mehrheitsbesitz einer Person oder Personenvereinigung nach der Verbundklausel des § 36 Abs. 2 Satz 1 GWB als Einheit betrachtet werden müssen.71 Die „Flick-Klausel“ hat über die Zurechnung der Unternehmensbeteiligung hinaus Auswirkung auf die Anmeldepflicht (§ 39 Abs. 2 GWB) und auf die Bagatellklausel (§ 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 GWB). 3. Die Zusammenschlusstatbestände des § 37 Abs. 1 GWB a) Vermögenserwerb nach § 37 Abs. 1 Nr. 1 GWB
7.50 Gemäß § 37 Abs. 1 Nr. 1 GWB gilt der Erwerb des Vermögens eines anderen Unternehmens ganz oder zu einem wesentlichen Teil als Zusammenschluss. Dieser Tatbestand soll die Fälle erfassen, in denen ein Unternehmen lediglich das Betriebsvermögen oder Teile davon übernimmt, ohne den dazugehörenden Geschäftsmantel zu erwerben. Erwerbssubstrat können alle geldwerten, unternehmerisch genutzten Vermögensgegenstände eines Unternehmens sein wie beispielsweise Produktionsstätten, Kundenkarteien, der Goodwill eines Unternehmens, Betriebsgeheimnisse, gewerbliche Schutzrechte oder die Absatzorganisation.72
7.51 Die Vorschrift erfasst nicht nur den Erwerb des ganzen Vermögens eines Unternehmens, sondern auch den Erwerb eines wesentlichen Teils desselben. Die Auslegung der Rechtsprechung ist hierbei über die rein quantitative Betrachtung der Größenanteile hinausgegangen und beurteilt die „Wesentlichkeit“ eines Betriebsteils in erster Linie danach, ob es sich um selbständige betriebliche Teileinheiten handelt, die eigenständige Bedeutung haben und deren Erwerb geeignet ist, die Stellung des Erwerbers auf dem betroffenen Markt zu verändern.73 Im Fall „Melitta/Kraft“ hat der BGH darauf abgestellt, ob der Vermögensteil in gleicher Weise wie das Vermögen eines Unternehmens als Ganzes tragende Grundlage (Substrat) der Stellung auf dem relevanten Markt ist und geeignet ist, diese Marktstellung von dem Veräußerer auf den Erwerber zu übertragen.74
7.52 Entscheidend für die Beurteilung der Wesentlichkeit ist somit die Frage, ob sich der Vermögensübergang auf die Stellung des Erwerbers auswirkt und geeignet ist, die Marktverhältnisse zu beeinflussen.75 Der BGH hat beispielsweise ein Zementwerk, das durch ein Hüttenunternehmen an einen Zementhersteller veräußert wurde, als wesentlichen Vermögensteil angesehen, da sich der Verkäufer hierdurch von einem lokalen Markt zurückzog und dadurch 71 Vgl. die Regierungsbegründung zur Vierten GWB-Novelle, WuW 1980, 346; Bericht des Wirtschaftsausschusses, WuW 1980, 371. 72 BKartA v. 16.12.1985 – B6-745100-U-71/84 – Weiss-Druck/S-W Verlag, AG 1986, 371 (372); BGH v. 7.1.1992 – KVR 14/91 – Warenzeichenerwerb, WuW/E BGH 2783 = AG 1993, 36 = MDR 1993, 35; BKartA v. 20.12.2001 – B2-75/01 – Marzipanrohmasse, WuW/E DE-V 527; Kallfaß in Langen/Bunte, § 37 GWB Rz. 9; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 52. 73 BGH v. 13.3.1979 – KVR 8/77 – Kettenstichnähmaschinen, WuW/E BGH 1570 (1573); BGH v. 23.10.1979 – Zementmahlanlage II, WuW/E BGH 1655; KG v. 22.5.1985 – Kart 21/83 – Coop Schleswig Holstein/Deutscher Supermarkt, WuW/E OLG 3591 (3593); BKartA v. 20.12.2001 – B2-75/01 – Marzipanrohmasse, WuW/E DE-V 527; Kallfaß in Langen/Bunte, § 37 GWB Rz. 8; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 51. 74 BKartA v. 14.4.1989 – B3-581100-U-137/88 – Melitta/Kraft, WuW/E BKartA 2377 (2378); BGH v. 7.7.1992 – KVR 14/91 – Warenzeichenerwerb, WuW/E BGH 2783 (2786) = AG 1993, 36 = MDR 1993, 35. 75 BGH v. 12.2.1980 – KVR 4/79 – Bituminöses Mischgut, WuW/E BGH 1763 (1771) = AG 1981, 219; BKartA v. 14.4.1989 – B3-581100-U-137/88, WuW/E BKartA 2377 (2378) – Melitta/Kraft.
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Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.54 Kap. 7
die ohnehin schon bedeutende Marktposition des Erwerbers verstärkte.76 Zu dem gleichen Ergebnis kam der BGH beim Verkauf eines Kettenstichnähmaschinenprogramms, obwohl diese Transaktion weniger als 0,5 % des Vermögens und nur 1,4 % des Umsatzes des verkaufenden Unternehmens ausmachte.77 Kein Erwerb eines wesentlichen Vermögensteils liegt nach BGH dagegen bei bloßen Lizenzverträgen, also beim Erwerb von Nutzungsrechten in Abgrenzung zum Vollrechtserwerb, vor.78 Das Merkmal der Wesentlichkeit diene vor allem zur Unterscheidung zwischen kontrollbedürftigem externen Wachstum und internem Wachstum.79 Der Erwerb eines wesentlichen Vermögensteils sei nur dann anzunehmen, wenn der Erwerber, anders als bei bloßen Nutzungsrechten, in eine bereits vorhandene Marktposition des Veräußerers einrücke. b) Kontrollerwerb nach § 37 Abs. 1 Nr. 2 GWB Der Tatbestand des „Kontrollerwerbs“ wurde aus der EU-Fusionskontrollverordnung übernommen und ging mit einer Straffung der übrigen Zusammenschlusstatbestände einher.80 Die Bundesregierung ging in ihrer Gesetzesbegründung davon aus, dass das BKartA und die deutschen Gerichte die Auslegungspraxis der Kommission und des Europäischen Gerichtshofes übernehmen würden.81 Da zudem der Anwendungsbereich des Zusammenschlussbegriffs nicht eingeengt werden sollte und insbesondere die von § 23 Abs. 2 Nr. 3 bis 5 GWB a.F. erfassten Sachverhalte in dem Kontrollbegriff aufgehen sollten, kann man sich an der Auslegung zu diesen Tatbeständen zumindest insoweit orientieren, als danach ein Zusammenschluss anzunehmen war.82
7.53
Der Tatbestand umfasst sowohl den Erwerb der Einzelkontrolle als auch den Erwerb der gemeinsamen Kontrolle durch mehrere Unternehmen. Kontrolle bedeutet dabei die Möglichkeit, einen bestimmenden Einfluss auf die Tätigkeit eines anderen Unternehmens ausüben zu können.83 Das BKartA muss daher im Einzelfall nicht nachweisen, dass der Einfluss auch tatsächlich ausgeübt wird.84 Nach der Definition des § 37 Abs. 1 Nr. 2 GWB wird diese Möglichkeit der Leitungsmacht durch „Rechte, Verträge oder andere Mittel begründet.“ Erfasst werden alle Transaktionen, durch die unternehmerisch genutzte Ressourcen unter den bestimmenden Einfluss eines anderen oder mehrerer anderer Unternehmen gelangen und aufgrund
7.54
76 BGH v. 12.2.1980 – KVR 4/79 – Bituminöses Mischgut, WuW/E BGH 176 = AG 1981, 219 3; vgl. auch BKartA v. 21.2.1983 – B1-252300-A34/82 – OAM/Deutag, AG 1983, 197. 77 BGH v. 13.3.1979 – KVR 8/77 – Kettenstichnähmaschinen, WuW/E BGH 1570 (1573). 78 BGH v. 10.10.2006 – KVR 32/05 – National Geographic I, WuW/E DE-R 1979 ff. = AG 2007, 498, in Bestätigung von OLG Düsseldorf v. 15.6.2005 – VI-Kart 24/04 (V) – National Geographic WuW/E DE-R 1504 f., und entgegen BKartA v. 2.8.2004 – B6-26/04 – National Geographic, WuW/E DE-V 947 ff. 79 BGH v. 10.10.2006 – KVR 32/05 – National Geographic I, WuW/E DE-R 1979 (1980 f.) = AG 2007, 498. 80 Der Kontrollerwerb der Nr. 2 umfasst Fälle, die ehemals den Tatbeständen der §§ 23 Abs. 2 Nr. 2 lit. c (Mehrheitsbeteiligung), Nr. 2 Satz 4 (Sperrminorität), Nr. 3 (Unternehmensverträge), Nr. 4 (personelle Verflechtung) und Nr. 5 (sonstige Verbindung mit beherrschendem Einfluss) GWB a.F. unterfielen, vgl. zu diesen Tatbeständen die 4. Aufl., Teil VII, Rz. 22–43. 81 Begründung der Bundesregierung zu § 37, BT-Drucks. 13/9720, 57; vgl. unten Rz. 7.264; entsprechend etwa OLG Düsseldorf v. 15.6.2005 – VI-Kart 24/04 (V) – National Geographic, WuW/E DE-R 1504 (1507). 82 Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 57. 83 „Seinem Willen unterwerfen und diesen bei ihm durchsetzen“, so RGZ 147, 40 (49). 84 KG v. 1.7.1983 – Kart 16/82 – Morris/Rothmans, WuW/E OLG 3051 (3066) = AG 1984, 130.
Röhling 657
Kap. 7 Rz. 7.55
Kartellrecht
derer die Erwerberseite über Ressourcen im Wettbewerb verfügen kann, über die vorher eine von ihr unabhängige Unternehmenseinheit verfügen konnte. Dabei kommt sowohl ein unmittelbarer Erwerb von Ressourcen (§ 37 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 lit. a GWB, sog. Asset Deal), als auch mittelbar der Erwerb von Einfluss auf die Willensbildung (§ 37 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 lit. b GWB, sog. Share Deal) in Betracht. Der Tatbestand des Kontrollerwerbs ermöglicht die fusionskontrollrechtliche Erfassung von Beteiligungsaufstockungen, wenn sie sich unterhalb oder zwischen den Stufen des Beteiligungserwerbs des § 37 Abs. 1 Nr. 3 GWB bewegen. Stockt ein Unternehmen beispielsweise seine Beteiligung an einer Aktiengesellschaft von 25 % auf 45 % auf und bedeutet diese Beteiligung aufgrund einer geringen Hauptversammlungspräsenz die tatsächliche Leitungsmacht, so ist dieser Vorgang kontrollpflichtig.85 Gleiches gilt für die Umwandlung von gemeinsamer Kontrolle in Alleinkontrolle, auch wenn damit kein Schwellenwert von 25 % oder 50 % passiert wird.86
7.55 Die Einflussmöglichkeiten müssen durch eine Beteiligung flankiert, also grundsätzlich gesellschaftsrechtlich durch eine dauerhafte Strukturveränderung abgesichert sein. Lediglich wirtschaftliche Abhängigkeiten, beispielsweise im Bereich enger Zulieferbeziehungen, erfüllen den Tatbestand des Kontrollerwerbs regelmäßig nicht. Dem steht insbesondere die Kündbarkeit solcher Beziehungen und damit das Fehlen einer strukturell verankerten, dauerhaften Einflussmöglichkeit entgegen.87 In Betracht kommt in solchen Fällen allenfalls ein Zusammenschluss nach Nr. 4 („wettbewerblich erheblicher Einfluss“); vgl. hierzu aber Rz. 7.72 ff.
7.56 § 37 Abs. 1 Nr. 2 GWB umfasst lediglich den Erwerb von Kontrolle; eine Verstärkung bereits bestehender Kontrolle stellt dagegen, mit Ausnahme des Übergangs von gemeinsamer zu alleiniger Kontrolle oder eines umgekehrten Vorgangs,88 keinen Zusammenschluss i.S.d. Nr. 2 dar.89
7.57 Der Erwerb der Mehrheit der Kapitalanteile oder Stimmrechte als Mehrheitsbeteiligung i.S.d. § 16 Abs. 1 AktG90 ist der praktisch wichtigste Fall des Kontrollerwerbs.91 Der Kontrollerwerb im Wege des Anteilserwerbes wird zwar in vielen Fällen zugleich die Voraussetzungen des Zusammenschlusstatbestandes gem. § 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 lit. a GWB erfüllen.92 Allerdings bleibt ein eigenständiger Anwendungsbereich insbesondere bei Aufstockungen von be-
85 Vgl. Komm.E. v. 10.12.1990 – IV/M.025 Arjomari-Prioux SA/Wiggins Teaple Appleton plc, ABl. EG 1990 Nr. C 321, 16; BKartA, Beschl. v. 7.12.2001 – B9-114/01 – Krieger/Möbel Walther; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 63 ff.; vgl. EuG v. 26.10.2017 – T-704/14 Rz. 52 ff. 63, ECLI:EU:T:2017:753 – Marine Harvest v Commission. 86 Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 62; Bechtold, NJW 1998, 2769 (2772); Schütz in Gemeinschaftskommentar, § 37 GWB Rz. 42. 87 Streitig, vgl. Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 61; Bach in MünchKomm/GWB, § 37 GWB Rz. 39; Canenbley/Moosecker, S. 21; Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 37 GWB Rz. 163; weiter etwa Bechtold/Bosch, § 37 GWB Rz. 12; Kallfaß in Langen/Bunte, § 37 GWB Rz. 31. 88 Vgl. etwa BKartA v. 3.8.2004 – B6-45/04 – G+J/RBA, WuW/E DE-V 955, 957, bestätigt durch OLG Düsseldorf v. 15.6.2005 – VI-Kart 25/04 (V) – G+J/RBA, WuW/E DE-R 1501; außerdem BKartA v. 11.4.2006 – B6-142/05 – RTL/n-tv, WuW/E DE-V 1226 (1228); Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 62. 89 Bechtold/Bosch, § 37 GWB Rz. 20. 90 Diese Variante entspricht dem § 23 Abs. 2 Nr. 2 lit. c GWB a.F. 91 Vgl. BKartA, Tätigkeitsbericht 2015/2016, BT-Drucks. 18/12760, 143: An die 70 % der angemeldeten Kontrollerwerbe waren Anteilserwerbe. 92 Kallfaß in Langen/Bunte, § 37 GWB Rz. 21, 44.
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Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.60 Kap. 7
reits gehaltenen 25 % auf unter 50 % bestehen,93 soweit aufgrund besonderer Umstände trotz fehlender Mehrheitsbeteiligung von einem Kontrollerwerb auszugehen ist. Beteiligungen unterhalb der 50 %-Schwelle können etwa zu einem Kontrollerwerb führen, wenn dem Erwerber eine faktisch dauerhafte Hauptversammlungsmehrheit zukommt.94 Dies wird insbesondere der Fall sein, wenn sich bei einer Aktiengesellschaft die Anteile zu einem gewissen Teil im Streubesitz befinden und eine empirisch niedrige Hauptversammlungspräsenz festgestellt werden kann.95 Vorbehaltlich einer Änderung in der Aktionärsstruktur96 ist dies anzunehmen, wenn in der Vergangenheit ein Gesellschafter beständig die Mehrheit der Stimmrechte in der Hauptversammlung innegehabt hat.97
7.58
Der Kontrollbegriff umfasst dabei auch das bloße Erlangen von bestimmten Sperr- bzw. Veto- 7.59 rechten, die es dem begünstigten Unternehmen ermöglichen wichtige Entscheidungen z.B. über das Budget, den Geschäftsplan, größere Investitionen oder die Besetzung der Unternehmensleitung zu verhindern. Ein bestimmender Einfluss auf das Tagesgeschäft ist für die Erlangung der Kontrolle hierbei nicht erforderlich, entscheidend ist lediglich, dass die Sperr- bzw. Vetorechte ausreichen, um das strategische Wirtschaftsverhalten eines anderen Unternehmens zu beeinflussen.98 § 37 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 lit. a GWB nennt den Kontrollerwerb durch Eigentums- oder Nutzungsrechte an der Gesamtheit oder einem Teil des Unternehmensvermögens. Während der Eigentumserwerb bereits durch den Tatbestand der Nr. 1 (Vermögenserwerb) erfasst wird, sind mit Nutzungsrechten vor allem Betriebspacht- und Betriebsüberlassungsverträge i.S.v. § 292 Abs. 1 Nr. 3 AktG gemeint.99 Sofern lediglich ein Unternehmensteil von der Transaktion betroffen ist, muss diesem eine selbständige Marktbedeutung zukommen; vgl. insoweit bereits die Ausführungen zum Vermögenserwerb, oben Rz. 7.50 ff. Die praktische Bedeutung dieser Zusammenschlussform ist gering, da solche Verbindungen ohne eine beteiligungsmäßige Unterlegung kaum vorkommen.100 Auch durch Einräumung von Lizenzrechten kann der Kon-
93 Bach in MünchKomm/GWB, § 37 GWB Rz. 42. 94 So die Regierungsbegründung zu § 37, BT-Drucks. 13/9720, 57; BKartA v. 7.12.2001 – B9-114/01 – Krieger/Möbel Walther; Kallfaß in Langen/Bunte, § 37 GWB Rz. 21; Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 37 GWB Rz. 122. 95 So in der Komm.E. v. 10.12.1990 – IV/M.025 – Arjomari-Prioux SA/Wiggins Teaple Appleton plc, ABl. EG 1990 Nr. C 321, 16: Arjomari erwarb 39 % der Anteile an Wiggins, die übrigen Anteile waren unter mehr als 100 000 Anteilseignern gestreut, von denen keiner mehr als 4 % der Anteile besaß; sowie Komm.E. v. 31.7.1995 – IV/M.613 – Jefferson Smurfit/Munskjo AB, ABl. EG 1995 Nr. C 252, 3, wo bereits der Erwerb von 29 % der Anteile genügte; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 65. 96 Vgl. dazu Komm.E. v. 20.12.2006 – COMP/M.4336 Rz. 9 – MAN/Scania. 97 Vgl. BKartA, Beschl. v. 7.12.2001 – B9-114/01 – Krieger/Möbel Walther; Kallfaß in Langen/Bunte, § 37 GWB Rz. 23; Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 37 GWB Rz. 21. 98 Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 37 GWB Rz. 159; Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 37 GWB Rz. 12 bzw. 16. 99 Diese Sachverhalte wurden vor der 6. GWB-Novelle von § 23 Abs. 2 Nr. 3 lit. c GWB a.F. erfasst. 100 Ein bekannter Fall war die Vermietung der Lebensmittelabteilung von Horten an Edeka; Pressemitteilung BKartA, WuW 1979, 739; vgl. auch BKartA v. 16.12.1985 – B6-745100-U-71/84 – Weiss KG/S-W Verlag, AG 1986, 371 (372), bejahend für die Nutzungsüberlassung der Herausgeber- und Titelrechte von Anzeigenblättern.
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7.60
Kap. 7 Rz. 7.61
Kartellrecht
trollerwerb an einem Unternehmensteil erfolgen, allerdings ist in Übereinstimmung mit § 37 Abs. 1 Nr. 1 GWB zu fordern, dass es sich dabei um einen wesentlichen Teil des Unternehmensvermögens handelt (zur „Wesentlichkeit“ vgl. zuvor Rz. 7.51).101
7.61 Nach § 37 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 lit. b GWB wird Kontrolle auch durch Rechte oder Verträge vermittelt, die einen bestimmenden Einfluss auf die Zusammensetzung, die Beratungen oder die Beschlüsse der Unternehmensorgane gewähren. In Anlehnung an die im Aktiengesetz vorgefundenen Vertragstypen erfasst der Tatbestand zum einen Konzernverträge, durch die ein Über-/Unterordnungskonzern gebildet oder erweitert wird. Zum anderen werden auch Unternehmensverträge zwischen Nichtaktiengesellschaften und damit zwischen Unternehmen beliebiger Rechtsform erfasst. Weiterhin erfasst der Tatbestand des Kontrollerwerbs Geschäftsführungs- und Gewinnabführungsverträge. Die Bildung eines Gleichordnungskonzerns102 hingegen unterfällt mangels bestimmenden Einflusses auf ein anderes Unternehmen nicht dem Zusammenschlusstatbestand des Kontrollerwerbes nach § 37 Abs. 1 Nr. 2 GWB.103
7.62 Um der Lückenlosigkeit des Kontrollbegriffs und damit dem Wesen einer Generalklausel gerecht zu werden, erfasst § 37 Abs. 1 Nr. 2 GWB schließlich noch den Kontrollerwerb durch andere Mittel. So erfüllen personelle Verflechtungen zwischen verschiedenen Unternehmen den Zusammenschlusstatbestand des Kontrollerwerbs dann, wenn eine Personengleichheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder des Aufsichtsrates, des Vorstandes oder eines sonstigen zur Unternehmenslenkung oder Aufsicht berufenen Organs herbeigeführt wird.104 Es ist nicht erforderlich, dass die Personengleichheit zwischen funktionsgleichen Organen besteht, sondern es genügt, wenn die Identität z.B. zwischen dem Vorstand eines Unternehmens und dem Aufsichtsrat eines anderen vorliegt.
7.63 Strittig ist die Behandlung der Fälle, in denen die Organe der beteiligten Unternehmen eine unterschiedliche Anzahl von Mitgliedern haben und nur bei einem Unternehmen die Personengleichheit in Höhe der Hälfte der Mitglieder eines Organs erreicht wird.105 Nach der Auffassung des BKartA reicht diese einseitige Personenidentität aus, da diese Verflechtung innerhalb von Abhängigkeitsbeziehungen bereits ein wichtiges Mittel einheitlicher Leitung darstellt.106
101 OLG Düsseldorf v. 15.6.2005 – VI-Kart 24/04 (V) – National Geographic, WuW/E DE-R 1504 (1505); s. auch BGH v. 10.10.2006 – KVR 32/05 – National Geographic I, WuW/E DE-R 1979 ff. = AG 2007, 498. 102 Hierzu BGH v. 8.12.1998 – KVR 31/97 – Pirmasenser Zeitung, WuW/E DE-R 243 (244) = AG 1999, 181. 103 Bach in MünchKomm/GWB, § 37 GWB Rz. 45; a.A. Kallfaß in Langen/Bunte, § 37 GWB Rz. 25. 104 Dass anders als die entsprechende Regelung der FKVO (Art. 5 Abs. 4 lit. b Nr. iii) bereits genau die Hälfte der Mitglieder ausreicht, ergibt sich aus der Tatsache, dass der § 23 Abs. 2 Nr. 4 GWB a.F., der diesen Zusammenschluss ausdrücklich erwähnte, gerade vom Kontrollerwerb der Nr. 2 mitumfasst sein sollte (so die Regierungsbegründung, BT-Drucks. 13/9720, 43). 105 Beispiel: A-AG hat 10 Vorstandsmitglieder, B-AG nur 8. 4 der 10 Vorstandsmitglieder der A-AG sitzen gleichzeitig im Vorstand der B-AG, so dass die Personengleichheit in Höhe der Hälfte der Organmitglieder nur bei der B-AG erreicht wird. 106 BKartA v. 4.2.1974 – B6–553000-U-46/73 – Haindl/Holtzmann, WuW/E BKartA 1475, insoweit n.v.; vgl. Kallfaß in Langen/Bunte, § 37 GWB Rz. 27.
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Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.68 Kap. 7
Schließlich kann der Erwerb der unmittelbaren oder mittelbaren Kontrolle – wie erwähnt – auch durch mehrere Unternehmen gemeinsam erfolgen, wenn sie ihr Verhalten i.S.d. Mehrmütterklausel des § 36 Abs. 2 Satz 2 GWB koordinieren.107
7.64
Dieser Tatbestand wird vor allem bei der Beteiligung an Gemeinschaftsunternehmen relevant, wenn hieran mehr als zwei Unternehmen beteiligt sind, die jeweils einen geringeren Anteil am Gemeinschaftsunternehmen als 25 % erwerben.108 Eine Addition der einzelnen Anteile reicht für die Annahme einer gemeinsamen Beherrschung nicht aus, vielmehr müssen zusätzliche Anforderungen erfüllt sein.109
7.65
Entscheidend ist dabei, dass ein dauerhafter Interessengleichklang der gemeinsam Herr- 7.66 schenden besteht, der im Sinne eines Einigungszwanges eine stets gleich gerichtete Einflussnahme mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwarten lässt und über die allgemeine gemeinsame Interessenlage hinausreicht. Die Koordination kann sich dabei sowohl aufgrund einer Vereinbarung als auch aufgrund tatsächlicher Umstände ergeben.110 Als Anhaltspunkte für eine gesicherte einheitliche Einflussnahme wertete der BGH das Verbot der Abtretung von Geschäftsanteilen an Dritte, die Verpflichtung zur Leistung aktiver Beiträge und die Zugehörigkeit der Gesellschafter zur gleichen Branche.111 Die Möglichkeit wechselnder Mehrheitsbildungen reicht für die Widerlegung einer gemeinsamen Beherrschung allein nicht aus, vielmehr wird man hierfür nachweisen müssen, dass auch tatsächlich mit wechselnden Mehrheiten abgestimmt wird.112 Ist die gemeinsame Beherrschung eines Unternehmens durch mehrere „Mütter“ gegeben, so liegen – anders als nach § 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 GWB – nur getrennte Zusammenschlüsse zwischen den einzelnen beherrschenden Unternehmen und der beherrschten Tochter vor, nicht aber die Fiktion eines horizontalen Zusammenschlusses der beherrschenden Unternehmen miteinander.113
7.67
c) Kapitalanteils- oder Stimmrechtserwerb nach § 37 Abs. 1 Nr. 3 GWB Erwirbt ein Unternehmen Anteile an einem anderen Unternehmen und erreicht der Anteilsbesitz des Erwerbers bei Berücksichtigung der ihm schon gehörenden Anteile 25 oder 50 % des Kapitals oder der Stimmrechte, so liegt ein Zusammenschluss nach § 37 Abs. 1 Nr. 3 107 Zur gemeinsamen Beherrschung: Deringer in FS von Gamm, S. 559 ff.; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 77 f. 108 Sonst liegt jedenfalls ein Fall des § 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 GWB vor. 109 BGH v. 7.11.2006 – KVR 39/05 – Radio TON, WuW/E DE-R 1890 Rz. 11 = AG 2007, 204; KG v. 12.6.1981 – Kart 18/81 – Metro/Kaufhof, WuW/E OLG 2517 (2519); KG v. 12.3.1982 – Kart 33/81 – Transportbeton Sauerland IV; WuW/E OLG 2655; BGH v. 19.12.1989 – KVR 2/88 – Springer/Kieler Zeitung, WuW/E BGH 2620 (2623); vgl. Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 37 GWB Rz. 16. 110 BGH v. 7.11.2006 – KVR 39/05 – Radio TON, WuW/E DE-R 1890 Rz. 11 = AG 2007, 204; BGH v. 22.6.1981 – KVR 7/80 – Transportbeton Sauerland, WuW/E BGH 1810 (1811); KG v. 4.12.1987 – Kart 32/87 – Springer/Kieler Zeitung, WuW/E OLG 4075 (4076); BKartA v. 9.7.1985 – B6-691100-U-71/85 – Morris/Rothmans II, WuW/E BKartA 2204 (2208). 111 BGH v. 22.6.1981 – KVR 7/80 – Transportbeton Sauerland, WuW/E BGH 1810 (1811); BKartA v. 9.7.1985 – B6-691100-U-71/85 – Morris/Rothmans II, WuW/E BKartA 2204 (2208). 112 Canenbley/Moosecker, S. 23; vgl. dazu auch KG v. 4.12.1987 – Kart 32/87 – Springer/Kieler Zeitung, WuW/E OLG 4075. 113 Kallfaß in Langen/Bunte, § 37 GWB Rz. 36.
Röhling 661
7.68
Kap. 7 Rz. 7.69
Kartellrecht
GWB vor. Dabei stellt jeder Erwerb, durch den einer der beiden Schwellenwerte erreicht wird, einen selbständigen Zusammenschlusstatbestand dar.114 Nach dem Wortlaut fällt zwar auch ein Erwerb von über 50 % unter diese Alternative; regelmäßig wird dann aber bereits der Tatbestand des Kontrollerwerbs erfüllt sein.115
7.69 Nach der Regelung führt jeder Erwerb von 25 oder 50 % des Kapitals, unabhängig von dem Erwerb von Stimmrechten, zu einem Zusammenschluss. Auf der anderen Seite reicht der bloße Erwerb von 25 % der Stimmrechte bei niedriger Kapitalbeteiligung für den Anteilserwerb nach § 37 Abs. 1 Nr. 3 GWB aus.116 Auch Personengesellschaften, bei denen es in der Regel kein „stimmberechtigtes“ Kapital gibt, sind damit von § 37 Abs. 1 Nr. 3 GWB erfasst.
7.70 Bei der Berechnung der Höhe der Anteile werden nach § 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 GWB die bereits durch den Erwerber gehaltenen Anteile zu den neuen Anteilen addiert. Ebenso werden Anteile eines mit dem Erwerber verbundenen (herrschenden oder abhängigen) Unternehmens sowie die durch einen Treuhänder gehaltenen Anteile berücksichtigt (§ 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 GWB, Zurechnungsklausel).117
7.71 Ehemals problematische Umgehungsversuche, bei denen stimmberechtigtes Kapital knapp unter den genannten Schwellenwerten erworben wird und weitere Einflussmöglichkeiten durch zusätzliche gesellschaftsvertragliche Konstruktionen abgesichert werden, werden – abhängig vom Grad der Einflussmöglichkeiten – lückenlos vom Tatbestand des Kontrollerwerbs (Nr. 2) oder des Erwerbs eines wettbewerblich erheblichen Einflusses (Nr. 4) erfasst. Der Tatbestand des Anteilserwerbs hat damit an eigenständiger Bedeutung verloren. d) Erwerb eines wettbewerblich erheblichen Einflusses nach § 37 Abs. 1 Nr. 4 GWB
7.72 Der mit der 5. GWB-Novelle eingeführte und im Rahmen der 6. GWB-Novelle neu formulierte Tatbestand des „wettbewerblich erheblichen Einflusses“ ermöglicht in erster Linie die Erfassung von Minderheitsbeteiligungen vor allem – ohne sich hierauf zu beschränken118 – an Wettbewerbern unterhalb der 25 %-Schwelle. Es werden also nur Sachverhalte erfasst, denen gesellschaftsrechtlich vermittelte Unternehmensverbindungen zugrunde liegen, nicht dagegen bloße wirtschaftliche Abhängigkeiten (z.B. reine Austauschbeziehungen etwa aufgrund langfristiger Lieferverträge oder bloßer Kreditvereinbarungen ohne besondere Zusatzvorkehrungen).119 Nicht erforderlich ist allerdings, dass die gesellschaftsrechtliche Stellung 114 Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 37 GWB Rz. 257; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 80. 115 Bechtold/Bosch, § 37 GWB Rz. 29. 116 Dazu BGH v. 2.10.1984 – KVR 5/83 – Gruner + Jahr/Zeit, WuW/E BGH 2112 (2113); Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 37 GWB Rz. 20. 117 KG v. 16.12.1998 – Kart 14/98 – WAZ/IKZ, WuW/E DE-R 336 = AG 2000, 81, bestätigt durch BGH v. 21.11.2000 – KVR 21/99 – Treuhanderwerb, WuW/E DE-R 613; BKartA v. 2.2.2004 – B6-120/03 – Tagesspiegel/Berliner Verlag II, WuW/E DE-V 871; ausführlich hierzu Richter/ Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 87 ff. 118 BGH v. 21.11.2000 – KVR 16/99 – Minderheitenbeteiligung im Zeitschriftenhandel, AG 2001, 411; BKartA v. 6.11.1997 – B6-52473-U-136/96 – ASV/Stilke, WuW/E DE-V 1, 3 f.; Schulte in Schulte/Just, § 37 GWB Rz. 38. 119 So die Gesetzesbegründung zu § 37 Abs. 1, BT-Drucks. 13/9720, 57; entsprechend etwa OLG Düsseldorf v. 24.11.2004 – VI-2 Kart 10/04 (V) – KG Wochenkurier, WuW/E DE-R 1390 (1395); zustimmend Kallfaß in Langen/Bunte, § 37 GWB Rz. 51; Bechtold/Bosch, § 37 GWB Rz. 38.
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Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.73 Kap. 7
einem Unternehmen die rechtliche Position eröffnet, seine Vorstellungen in einem anderen Unternehmen durchzusetzen. Es genügt vielmehr, dass ein Unternehmen die tatsächliche Möglichkeit erlangt, über seine gesellschaftsrechtliche Stellung in seinem Sinne auf das Wettbewerbsgeschehen einzuwirken.120 Nach der Regierungsbegründung zur 5. GWB-Novelle vermittelt eine Unternehmensverbindung einen wettbewerblich erheblichen Einfluss immer dann, wenn aufgrund des zwischen den Unternehmen bestehenden gesamten Beziehungsgeflechts zu erwarten ist, dass der Wettbewerb zwischen den beteiligten Unternehmen so wesentlich eingeschränkt wird, dass die Unternehmen nicht mehr unabhängig am Markt auftreten.121 Die Auslegung wirft in der Praxis zwar immer wieder Schwierigkeiten auf, hat aber inzwischen durch BKartA und Rechtsprechung bereits deutliche Konkretisierung erfahren.122 Demnach müssen bei einer Minderheitsbeteiligung weitere sog. „Plusfaktoren“ hinzutreten, damit angenommen werden kann, dass der Erwerber die Möglichkeit hat, die Willensbildung und somit das Marktverhalten des Beteiligungsunternehmens zu beeinflussen.123 Relevante „Plusfaktoren“ sind insbesondere: – Entsenderechte in geschäftsführende Organe des Beteiligungsunternehmens; – Gesellschaftsvereinbarungen, die sicherstellen, dass die Interessen des Erwerbers bei der Willensbildung berücksichtigt werden; – Überlegene Markt- und Branchenkenntnisse im Vergleich zu den anderen Mitgesellschaftern; – Rechte, die einer Sperrminorität gleichen; – Wichtige Geschäftsbeziehungen zwischen Erwerber und Beteiligungsunternehmen, die das Beteiligungsunternehmen nicht riskieren möchte; 120 BGH v. 21.11.2000 – KVR 16/99 – Minderheitenbeteiligung im Zeitschriftenhandel, AG 2001, 411; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 101 ff. 121 WuW 1990, 332 (344); Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 106 f. 122 S. etwa BGH v. 21.11.2000 – Minderheitenbeteiligung im Zeitschriftenhandel, WuW/E DE-R 607 (609 f.); Vorinstanz: KG v. 28.10.1998 – Kart 26/97 – ASV/Stilke, WuW/E DE-R 270 = AG 1999, 524; BGH v. 21.12.2004 – KVR 26/03 – Trans-o-flex, WuW/E DE-R 1419 (1420) = AG 2005, 198, hierzu auch Schwarz, NJW 2005, 2124; OLG Düsseldorf v. 24.11.2004 – Vi-2 Kart 10/04 (V) – KG Wochenkurier, WuW/E DE-R 1390; OLG Düsseldorf v. 6.7.2005 – VI-Kart 26/04 (V)- Bonner Zeitungsdruckerei, WuW/E DE-R 1581; OLG Düsseldorf v. 23.11.2005 – VI-2 Kart 14/04 (V) – Mainova/AschaffenburgerVersorgungsGmbH, WuW/E DE-R 1639; BKartA v. 6.11.1997 – B6-52473-U-136/96 – ASV/Stilke, WuW/E DE-V 1; BKartA v. 23.7.1992 – B 5 – 38 71 00-U 42/90 – Gillette/Wilkinson, AG 1992, 363 (365); BKartA v. 6.7.1995 – B5-34302U-25/95 – Kolbenschmidt, WuW/E BKartA 2829 (2835); BKartA v. 29.5.1996 – B8-40000U148/95 – Veba/Stadtwerke Bremen; BKartA v. 17.1.2002 – B8-109/01 – E.ON/Gelsenberg, WuW/E DE-V 511; BKartA v. 3.7.2000 – B8-40200-U-29/00 – Stadtwerke Neuss, WuW/E DE-V 325; BKartA v. 26.8.2003 – B8-83/03 – RWE/Wuppertaler Stadtwerke, WuW/E DE-V 831 und Tätigkeitsbericht 1997/1998, BT-Drucks. 14/1139, 19 f.; BKartA v. 22.7.2004 – B8-27/04 – Mainova/AschaffenburgerVersorgungsGmbH, WuW/E DE-V 983; BKartA v. 30.3.2010 – B6-98/09, Rz. 48 ff. – Roth + Horsch Pressevertrieb und Presse-Vertrieb Pfalz; Monopolkommission, 18. Hauptgutachten 2008/2009, BT-Drucks. 17/2600, Rz. 530; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 96, die von einem hohen Prognoserisiko bzgl. der Einschätzung, ob wettbewerblich erheblicher Einfluss vorliegt, sprechen. 123 Bechtold/Bosch, § 37 GWB Rz. 42; Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 37 GWB Rz. 308; Richter/ Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 102.
Röhling 663
7.73
Kap. 7 Rz. 7.74
Kartellrecht
– Verkaufs- oder Optionsrechte, oder mit diesen vergleichbare Rechte, die dem Erwerber ermöglichen eine Veräußerung von Geschäftsanteilen an Dritte zu verhindern, sofern diese einen Interessengleichklang zwischen Erwerber und eingeschränkten Mitgesellschaftern nahe legen; – Informationsrechte können zur Absicherung und Verstärkung bestehender Einflussmöglichkeiten relevant werden.124
7.74 Die genannten „Plusfaktoren“ sind Indizien für die Annahme der Möglichkeit einer Einflussnahme. Eine Einzelfallprüfung bleibt jedoch stets notwendig.125
7.75 Im Fall „Mainova/Aschaffenburger Versorgungs GmbH“ etwa wandte das BKartA, bestätigt durch das OLG Düsseldorf, den Tatbestand auf einen Anteilserwerb von 17,5 % in Verbindung mit „Plusfaktoren“, die eine dauerhafte Einflussnahme sicherten, an.126 Und im Zusammenschlussfall A-TEC/NA hielten BKartA wie auch OLG Düsseldorf vor dem Hintergrund einer stark zersplitterten Aktionärsstruktur und überlegenen Branchenkenntnissen sogar einen Anteilserwerb von nur 13,75 % für ausreichend.127 Im Einzelfall kann ein wettbewerblich erheblicher Einfluss also auch bei Beteiligungen von weniger als 20 % oder sogar unter 10 % angenommen werden.128 Die „Plusfaktoren“ müssen dabei nicht unbedingt rechtlich abgesichert sein. Es genügt, wenn dauerhaft die Möglichkeit129 tatsächlicher Einflussnahme vermittelt wird.130 Das BKartA entscheidet aufgrund einer Gesamtschau, ob ein konkreter Beteiligungserwerb den Zusammenschlusstatbestand des § 37 Abs. 1 Nr. 4 GWB erfüllt.131
7.76 Erfasst werden zudem Transaktionen, die dem Erwerber – neben einer gesellschaftsrechtlichen Beteiligung – durch Vertrag, Satzung, Gesellschaftsvertrag oder Beschluss eine Rechtsstellung verschaffen, die bei einer Aktiengesellschaft ein Aktionär mit einer Sperrminorität
124 Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 103; Bach in MünchKomm/GWB, § 37 GWB Rz. 116 ff.; Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/MeyerLindemann, § 37 GWB Rz. 31. 125 OLG Düsseldorf v. 6.7.2005 – VI-Kart 26/04 (V), WuW/E DE-R 1581 (1584 f.); BKartA v. 27.2.2008 – B5-198/07 – A-TEC/Norddeutsche Affinerie, WuW/E DE-V 1553 (1555); Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 37 GWB Rz. 31; Bach in MünchKomm/GWB, § 37GWB Rz. 116. 126 BKartA v. 22.7.2004 – B8-27/04 – Mainova/Aschaffenburger Versorgungs GmbH, WuW/E DE-V 983; OLG Düsseldorf v. 23.11.2005 – VI-2 Kart 14/04 (V) – Mainova/Aschaffenburger Versorgungs GmbH, WuW/E DE-R 1639. 127 BKartA v. 27.2.2008 – B5-198/07 – A-TEC/Norddeutsche Affinerie, WuW/E DE-V 1553; OLG Düsseldorf v. 12.11.2008 – VI-Kart 5/08(V)- A-TEC/Norddeutsche Affinerie, WuW/E DE-R 2462. 128 Jedoch nicht bei einem Anteilserwerb von nur 9,015 % ohne weitere „Plusfaktoren“, vgl. OLG Düsseldorf v. 6.7.2005 – VI-Kart 26/04 (V) – Bonner Zeitungsdruckerei WuW/E DE-R 1581 (1582 ff.). 129 BGH v. 21.11.2000 – KVR 16/99 – Minderheitenbeteiligung im Zeitschriftenhandel, AG 2001, 411. 130 OLG Düsseldorf v. 24.11.2004 – VI-2 Kart 10/04 (V), – KG Wochenkurier, WuW/E DE-R 1390 (1395); Monopolkommission, Hauptgutachten X Rz. 652 – RTL 2; Rz. 654 – DSF; Rz. 655 – VIVA; BKartA v. 21.3.2003 – B8-24/02 – VNG/EMB/Gasmarkt, WuW/E DE-V 786: angenommen trotz Konzentration von 75,1 % auf einen Mehrheitsgesellschafter bei Erwerb von 24,9 % der Anteile durch den wichtigsten Lieferanten; Bechtold/Bosch, § 37 GWB Rz. 42. 131 BKartA, Tätigkeitsbericht 2001/2002, BT-Drucks. 15/1226, 17.
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Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.79 Kap. 7
von 25 % innehat.132 Dies ist nach der Praxis des BKartA jedenfalls dann der Fall, wenn neben einer Beteiligung von unter 25 % bestimmte Entsendungsrechte, Mitwirkungsrechte bei wichtigen geschäftspolitischen Entscheidungen oder die Übernahme der Leitung einzelner Werke des Beteiligungsunternehmens hinzukommen.133 4. Einschränkungen des Zusammenschlussbegriffs a) Fehlende wesentliche Verstärkung einer schon bestehenden Unternehmensverbindung § 37 Abs. 2 GWB stellt zunächst klar, dass auch bereits zusammengeschlossene Unternehmen erneut Zusammenschlusstatbestände verwirklichen können (z.B. Erhöhung des Anteilsbesitzes, Abschluss zusätzlicher Unternehmensverträge). Allerdings, und hierin liegt die Bedeutung von § 37 Abs. 2 GWB, wird ein Zusammenschluss verneint, wenn die Transaktion nicht zu einer wesentlichen Verstärkung der bereits bestehenden Unternehmensverbindung führt.
7.77
Eine Aufstockung einer Minderheitsbeteiligung auf eine Mehrheitsbeteiligung wird in aller Regel als wesentliche Verstärkung der bestehenden Verbindung gewertet. Die Auffassung, beim Zusammenschluss bereits verbundener Unternehmen durch Anteilserwerb nach § 37 Abs. 1 Nr. 3 GWB sei in dem Erreichen einer der gesetzlichen Beteiligungsschwellen für sich allein eine wesentliche Verstärkung i.S.d. § 37 Abs. 2 GWB zu erblicken, erscheint überholt.134 Es bedarf vielmehr einer Einzelfallprüfung.135 Die verstärkende Wirkung braucht aber auch nicht allein darin zu bestehen, dass Wettbewerbshandlungen der zusammengeschlossenen Unternehmen gegeneinander unterbleiben. Bei der Prüfung sind vielmehr auch die Wirkungen zu berücksichtigen, die der Zusammenschluss für die Stellung der zusammengeschlossenen Unternehmen gegenüber dritten Wettbewerbern hat.136 Waren die beteiligten Unternehmen schon vor dem Zusammenschluss gesellschaftlich, vertraglich und personell so stark miteinander verflochten, dass das Beteiligungsunternehmen bereits vor dem Mehrheitserwerb des anderen Unternehmens über keine selbständigen wettbewerblichen Verhaltensspielräume mehr verfügte, so scheidet eine wesentliche Verstärkung aus.137
7.78
Eine wesentliche Verstärkung der Unternehmensverbindung scheidet auch dann aus, wenn eine Gesellschaft, die bereits eine Mehrheitsbeteiligung an einem anderen Unternehmen
7.79
132 Sperrminorität bei Satzungsänderungen, Kapitalveränderungen, Unternehmensverträgen, Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern; vgl. auch Bechtold/Bosch, § 37 GWB Rz. 42. 133 BKartA v. 25.4.2002 – B6-159/01 – Radio L 12, WuW/E DE-V 599 (601); BKartA v. 13.7.1990 – B5-331300 – U-271/89 – Daimler-Benz/MAN/ENASA, WuW/E BKartA 2445 (2446); BKartA v. 9.8.1990 – B6-745100 – U-116/89 – GfB/Zeitungsverlag Iserlohn, WuW/E BKartA 2471; vgl. auch BKartA v. 18.7.1989 – B6-743100 – U-71/88 – Westdeutscher Rundfunk/Radio NRW, WuW/E BKartA 2396 (2399); vgl. auch KG v. 23.4.1986 – 1 Kart 8/84 – Südkurier/Singener Wochenblatt, AG 1987, 206, wo das KG es für § 23 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 GWB a.F. genügen ließ, dass der Gesellschafter sog. Grundlagenbeschlüsse verhindern könne. 134 So nun Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 37 GWB Rz. 376. 135 BGH v. 27.5.1986 – KVR 7/84 – SZ/Donaukurier, AG 1986, 362 (364); Bach in MünchKomm/ GWB, § 37 GWB Rz. 144. 136 BGH v. 27.5.1986 – KVR 7/84 – SZ/Donaukurier, AG 1986, 362 (364); hierzu kritisch Richter/ Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 110. 137 BKartA, Tätigkeitsbericht 1981/82, BT-Drucks. 10/243, 76 – Saarbrücker Zeitung/Zweibrücker Verlag; Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 37 GWB Rz. 35 ff.
Röhling 665
Kap. 7 Rz. 7.80
Kartellrecht
hält, noch die restlichen Anteile hinzuerwirbt.138 Auch der Abschluss eines Beherrschungsvertrages ist nach § 37 Abs. 2 GWB irrelevant, wenn das herrschende Unternehmen bereits vorher eine qualifizierte Mehrheitsbeteiligung von über 75 % hatte.139 b) Bankenklausel nach § 37 Abs. 3 GWB
7.80 Eine weitere Ausnahme der Fusionskontrolle, diesmal als Ausnahme zum Zusammenschlusstatbestand, ist unter engen Voraussetzungen für Kreditinstitute, Finanzinstitute und Versicherungsunternehmen in § 37 Abs. 3 GWB vorgesehen.140 Privilegiert sind insbesondere das Emissionsgeschäft und der Pakethandel der bezeichneten Institute. So begründet der Erwerb von Anteilen an einem Unternehmen durch eines der privilegierten Unternehmen keinen Zusammenschluss, wenn diese Anteile zum Zwecke der Veräußerung erworben werden, die Veräußerung innerhalb eines Jahres erfolgt und das Institut die Stimmrechte aus diesen Anteilen nicht ausübt. Die Jahresfrist kann auf Antrag nach § 37 Abs. 3 Satz 2 GWB vom BKartA verlängert werden.141 Das Gesetz trägt mit dieser Vorschrift den Besonderheiten der Unternehmen der Vermögensverwaltung und deren Aufgaben Rechnung. 5. Erweiterungen des Zusammenschlussbegriffs: Gemeinschaftsunternehmen (§ 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 GWB)
7.81 Erwerben mehrere Unternehmen gleichzeitig oder nacheinander an einem anderen Unternehmen Anteile von je mindestens 25 %,142 so liegt in erster Linie ein vertikaler Zusammenschluss zwischen den Mutterunternehmen und ihrer Tochter vor. Darüber hinaus fingiert § 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 GWB einen weiteren horizontalen Zusammenschlusstatbestand zwischen den Mutterunternehmen. Erwirbt eine der Gesellschaften weniger als 25 %, so beschränkt sich die Fiktion auf die restlichen Mütter.143 Die Fiktion des § 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 GWB wird ferner dadurch begrenzt, dass sich der fingierte Zusammenschluss auf den Tätigkeitsbereich und die Märkte des Gemeinschaftsunternehmens beschränkt, nicht aber auf sonstige Tätigkeitsbereiche der Mutterunternehmen (fingierte Teilfusion).144
7.82 Beispiele: An dem Maschinenbauunternehmen G sind die Textilhersteller A, B, C und D mit je 25 % beteiligt. Veräußert A seinen Anteil an den Chemiekonzern E, liegt ein vertikaler Zusammenschluss aufgrund des Anteilserwerbs zwischen dem Erwerber E und dem Maschinenbauunternehmen G gemäß § 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 lit. b GWB vor. Gleichzeitig wird über § 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 GWB aber auch ein horizontaler Zusammenschluss zwischen B, C, D und E fingiert. Dieser bezieht sich allerdings nur auf den Maschinenbausektor, also auf den Tätigkeitsbereich des Gemeinschaftsunternehmens G, nicht aber auf den Textilmarkt.
138 BKartA, Tätigkeitsbericht 1981/82, BT-Drucks. 10/243, 64 – Dunlop/Pirelli; Kallfaß in Langen/ Bunte, § 37 GWB Rz. 65; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 114. 139 Möschel, S. 482. 140 Die frühere „Bankenklausel“ des § 23 Abs. 3 Satz 2 GWB a.F. beschränkte die Ausnahme auf Kreditinstitute; seit der 6. GWB-Novelle ist der Begriff „Bankenklausel“ eigentlich zu eng, wurde aus Verständnisgründen aber beibehalten. 141 Wie nach Art. 3 Abs. 5 lit. a FKVO im Rahmen der europäischen Fusionskontrolle. 142 Die genannten Anteilsschwellen sollten als Mindestwerte verstanden werden, vgl. Bach in MünchKomm/GWB, § 37 GWB Rz. 93. 143 Möschel, S. 480; Mestmäcker/Veelken in Immenga/Mestmäcker, 4. Aufl. 2007, § 37 GWB Rz. 68; Bach in MünchKomm/GWB, § 37 GWB Rz. 94. 144 Bach in MünchKomm/GWB, § 37 GWB Rz. 94.
666
Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.85 Kap. 7
Durch die Regelung wird in materieller Hinsicht der sog. „Gruppeneffekt“ (spill-over-effect) mit seinen Auswirkungen auf den Wettbewerb zwischen den Müttern eines Gemeinschaftsunternehmens erfasst.145 Praktisch bedeutsam wird diese Vorschrift zudem insbesondere bei der Ermittlung der Umsatzschwellen des § 35 Abs. 1 Nr. 1 GWB, da die dort normierte 500-Millionen-Euro-Grenze oft nur durch den fingierten Horizontalzusammenschluss der Mütter erreicht wird.146 In Anlehnung an den Kommissionsbegriff des beteiligten Unternehmens ist die Vorschrift des Nr. 3 Satz 3 entsprechend auf die Fälle der gemeinsamen Kontrolle nach dem Zusammenschlusstatbestand der Nr. 2 (beispielsweise fünf Mütter mit einer Beteiligungsquote von je 20 %) anzuwenden.147
7.83
6. Am Zusammenschluss beteiligte Unternehmen Nach § 35 Abs. 1 GWB und § 36 Abs. 1 GWB ist bei der Erfassung der maßgeblichen Unternehmensdaten (Umsatzerlöse148, Marktanteile) auf die am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen abzustellen.149 Dieser Begriff spielt ferner eine Rolle bei der Bestimmung der zur Anmeldung verpflichteten Personen (§ 39 Abs. 2 GWB) und bei der Ermittlung der Unternehmen, über die Angaben gemacht werden müssen (§ 39 Abs. 3 GWB).150 Der Begriff des beteiligten Unternehmens ist im Gesetz nicht definiert. Vielmehr ist er normzweckspezifisch für jede Norm und sogar für jeden Zusammenschlusstatbestand (dazu oben Rz. 7.43 ff.) differenziert zu bestimmen.151
7.84
Beim Vermögenserwerb nach § 37 Abs. 1 Nr. 1 GWB sind der Erwerber und der veräußerte Vermögensteil, vgl. § 38 Abs. 5 GWB, nicht aber der Veräußerer selbst beteiligt.152 Da der gedanklich als selbständiges Unternehmen zu bewertende Vermögensanteil nicht selbst handlungsfähig ist, treffen die verfahrensrechtlichen Pflichten allerdings den Veräußerer. Beim Kontrollerwerb nach § 37 Abs. 1 Nr. 2 GWB sind das kontrollierte Unternehmen und das kontrollierende (bei Alleinkontrolle) bzw. die kontrollierenden (bei gemeinsamer Kontrolle) Unternehmen beteiligt. Beim Anteilserwerb nach § 37 Abs. 1 Nr. 3 GWB sind sowohl der Erwerber als auch das Unternehmen, dessen Anteile erworben werden, beteiligt.153 Der Veräußerer ist dagegen grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn beim Veräußerer 25 % oder mehr Anteile verbleiben. In diesem Fall liegt nach der Fiktion des § 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 GWB auch ein horizontaler Zusammenschluss zwischen den Mutter-
7.85
145 Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 19 Rz. 93; Kallfaß in Langen/Bunte, § 37 GWB Rz. 45. 146 Bechtold/Bosch, § 37 GWB Rz. 33; Möschel, S. 480. 147 Bechtold/Bosch, § 37 GWB Rz. 16 f.; i.E. so auch. Kallfaß in Langen/Bunte, § 37 GWB Rz. 36, jedoch ohne eine Analogie, da es sich um einen einheitlichen Vorgang handele. 148 Diese sind insbesondere für die Frage des Erreichens der Umsatzschwellenwerte und damit für die Anwendbarkeit der Fusionskontrolle relevant, vgl. bereits oben Rz. 7.11 ff. 149 Im Fusionskontrollrecht sind folgende Beteiligten-Begriffe zu unterscheiden: Am Zusammenschluss Beteiligte, Beteiligte des Fusionskontrollverfahrens nach § 54 Abs. 2 GWB und Beteiligte des Auflösungsverfahrens nach §§ 41 Abs. 4, 42 GWB. 150 Weiterhin ist dieser Beteiligten-Begriff relevant bei § 39 Abs. 5 GWB (Adressat von Auskunftspflichten), § 35 Abs. 1 GWB (Umsatzschwellen) und 36 Abs. 1 GWB (Abwägungsklausel). 151 Vgl. Bechtold/Bosch, § 35 GWB Rz. 30 f.; Kallfaß in Langen/Bunte, § 35 GWB Rz. 20; BKartA, Merkblatt zur deutschen Fusionskontrolle, Stand Juli 2005, im Internet unter www.bundeskartell amt.de abrufbar. 152 BGH v. 13.3.1979 – KVR 8/77 – Kettenstichnähmaschinen, WuW/E 1570 (1571); Bechtold/ Bosch, § 35 GWB Rz. 31. 153 S. etwa OLG Düsseldorf v. 23.12.2002 – Kart 40/01 (V) – Sanacorp/ANZAG, WuW/E DE-R 1033 (1034).
Röhling 667
Kap. 7 Rz. 7.86
Kartellrecht
gesellschaften vor. Der Veräußerer ist damit genauso wie etwaige bisherige Muttergesellschaften, die mit mindestens 25 % beteiligt bleiben, Beteiligter. Bei sonstigen Unternehmensverbindungen (§ 37 Abs. 1 Nr. 4 GWB) sind die Fälle des alleinigen und des gemeinsamen wettbewerblich erheblichen Einflusses zu unterscheiden. Bei wettbewerblich erheblichem Einfluss durch ein Unternehmen sind dieses und das beeinflusste Unternehmen beteiligt. Üben mehrere Unternehmen den wettbewerblich erheblichen Einfluss aus, so liegen verschiedene Vertikalzusammenschlüsse vor, an denen jeweils ein Einfluss nehmendes sowie das beeinflusste Unternehmen beteiligt sind. Anders als im Fall des § 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 GWB ist von keinem Horizontalzusammenschluss der Mütter auszugehen; eine Ausweitung des Beteiligtenbegriffs verbietet sich daher.154
V. Materielle Untersagungsvoraussetzungen (§ 36 Abs. 1 GWB) 7.86 Ein Zusammenschluss wird nach § 36 Abs. 1 GWB untersagt, wenn durch ihn wirksamer Wettbewerb erheblich behindert werden würde, es sei denn, die beteiligten Unternehmen weisen nach, dass der Zusammenschluss überwiegende Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen mit sich bringt.
7.87 Durch die 8. GWB-Novelle wurde das bisher alleinige Untersagungskriterium der Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung durch die Einfügung eines neuen Oberbegriffs „erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs“ ergänzt. Zweck der Ergänzung ist eine Angleichung an den gleichlautenden Text von Art. 2 Abs. 2 FKVO, der diesen sog. „SIEC“-Test („significant impediment to effective competition“) nach amerikanischem Vorbild schon durch die FKVO 139/2004 eingeführt hatte. Nach der Gesetzesbegründung soll die Ergänzung einen einheitlichen materiellen Prüfmaßstab („level playing field“) für die nationale und europäische Fusionskontrolle herstellen.155 Das BKartA hat sich allerdings im Gesetzgebungsverfahren zwar für die Übernahme des SIEC-Tests, jedoch unter Hinweis auf abweichende Regelungen der deutschen Fusionskontrolle (insbesondere im Hinblick auf die Abwägungsklausel und die Ministererlaubnis) gegen eine identische Anwendung ausgesprochen.156 Ebenso ist nach Auffassung des BKartA die Vorlagefähigkeit von Auslegungsfragen des § 36 Abs. 1 GWB zum EuGH nach Art. 267 EUV zu verneinen.157
7.88 Die Erweiterung von § 36 Abs. 1 GWB um den „SIEC“-Test zielt im Wesentlichen auf die Erfassung von „komplexen Oligopolsachverhalten oder nicht koordinierten bzw. unilateralen Verhaltens einzelner Unternehmen“.158 Durch seine Einführung gewinnen „ökonomisch fundierte Schadenstheorien“ sowie „empirische Analysen zur Erfassung des tatsächlichen Wettbewerbsgeschehens“ an Bedeutung.159 In den Jahren 2015 und 2016 wendete das BKartA in drei von fünf Fällen (die untersagt, mit Nebenbestimmungen freigegeben oder aufgegeben wurden) den SIEC-Test an und verzichtete dabei darauf, eine „Marktbeherrschung näher zu prüfen bzw. darzulegen“.160 In den beiden übrigen Fällen begründete das BKartA seine Ent154 155 156 157 158 159
Bechtold/Bosch, § 35 GWB Rz. 31. BT-Drucks. 17/9852, 28. Stellungnahme des BKartA zum Referentenentwurf zur 8. GWB-Novelle v. 30.11.2011, S. 4. Stellungnahme des BKartA zum Referentenentwurf zur 8. GWB-Novelle v. 30.11.2011, S. 4. BT-Drucks. 17/9852, 28. BKartA, Tätigkeitsbericht 2015/2016, BT-Drucks. 18/12760, 20; a.A. Kallfaß in Langen/Bunte, § 36 GWB Rz. 35 sowie Becker/Knebel/Christiansen in MünchKomm/GWB, § 36 GWB Rz. 64. 160 BKartA, Beschl. v. 31.3.2015 – B2-96/14 – EDEKA/Kaiser’s Tengelmann; BKartA Beschl. v. 28.10.2016 – B2-51/16 – REWE/Coop; BKartA v 23.9.2016 – B3-37/16, B2-58/16 – Ahlstrom
668
Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.90 Kap. 7
scheidung mit dem Entstehen oder Verstärken einer marktbeherrschenden Stellung.161 In einem sich (an eine auf einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs basierenden Entscheidung) anschließenden Beschwerdeverfahren berief sich das BKartA allerdings hilfsweise auf das Entstehen oder Verstärken einer marktbeherrschenden Stellung.162 Dem folgend entschied das OLG Düsseldorf, dass die Untersagungsverfügung aufgrund des Entstehens einer marktbeherrschenden Stellung rechtmäßig war.163 Die Anwendung des SIEC-Tests ließ das OLG Düsseldorf dabei ungeprüft. Sofern die Voraussetzungen des Regelbeispiels erfüllt sind und keine Umstände vorliegen, aus denen sich eine „gegenläufige Auswirkung“ ergeben könnte, bedarf es keiner zusätzlichen Feststellung einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs.164 Mit der Einführung des SIEC-Tests wurde die Ökonomisierung, der sog. „More-EconomicApproach“, der deutschen Fusionskontrolle weiter vorangetrieben.165 Diese Ökonomisierung der Fusionskontrolle kann eine intensivere Prüfung und länger andauernde Verfahren bedeuten.166 Sie kann aber bestenfalls auch zu einer höheren Entscheidungsgenauigkeit führen und so die Gefahr eines „over-“ oder „under-enforcement“ verringern.167 Dabei ist auch zu fordern, dass die ökonomische Auswirkungsanalyse im Rahmen des SIEC-Tests verlangt, dass das BKartA von einer konkreten Wahrscheinlichkeit hinsichtlich einer Wettbewerbsbehinderung ausgehen muss.168 Damit führt die Einführung des SIEC-Tests zu höheren Beweisanforderungen für die Untersagung eines Zusammenschlusses.169
7.89
1. Kein Ausschluss der Untersagungsbefugnis Im Einzelfall kann ein Zusammenschluss der materiellen Fusionskontrolle entzogen sein. Soweit nämlich der betroffene Markt von untergeordneter Bedeutung ist und kein Fall des § 18 Abs. 2a oder des § 35 Abs. 1a GWB vorliegt oder im Fall pressespezifischer Sanierungsfusionen, bleiben die §§ 35 ff. GWB zwar anwendbar (insbesondere die Anmeldepflicht), es entfällt jedoch die Untersagungsbefugnis des BKartA nach § 36 GWB.
161 162 163 164
165 166 167 168 169
Glassfibre/Owens Corning (Fallbericht); BKartA, Tätigkeitsbericht 2015/2016, BT-Drucks. 18/12760, 20 f. Dieses Vorgehen wurde von der Bundesregierung gutgeheißen, BReg, Tätigkeitsbericht 2015/2016, BT-Drucks. 18/12760 Rz. 58. BKartA, Tätigkeitsbericht 2015/2016, BT-Drucks. 18/12760, 21. OLG Düsseldorf v. 23.8.2017 – VI-Kart 5/16 (V) Rz. 49, – Edeka/Kaiser’s Tengelmann, NZKart 2017, 542. OLG Düsseldorf v. 23.8.2017 – VI-Kart 5/16 (V) Rz. 91 – Edeka/Kaiser’s Tengelmann, NZKart 2017, 542. BGH. v. 23.9.2014 – KVZ 82/13, AG 2015, 124 = NZKart 2015, 56, 57; OLG Düsseldorf v. 23.8.2017 – VI-Kart 5/16 (V) Rz. 51 – Edeka/Kaiser’s Tengelmann; so auch schon OLG Düsseldorf v. 14.8.2013 – VI-Kart 1/12 (V) – Netcologne, WuW/E DE-R 4050 (4060) = AG 2014, 50. Immenga, EuZW 2013, 761 (761); Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 36 GWB Rz. 47. Kühnen, WuW 2012, 458 (465); Esser/Höft, NZKart 2013, 447 (457); Becker/Knebel/Christiansen in MünchKomm/GWB, § 36 GWB Rz. 74. Becker/Knebel/Christiansen in MünchKomm/GWB, § 36 GWB Rz. 74; Ewald in Wiedemann, § 7 Rz. 18. Esser/Höft, NZKart 2013, 447 (454); a.A. Strassmair/Christiansen, WuW 2016, 564 (564), m.w.N. Esser/Höft, NZKart 2013, 447 (454).
Röhling 669
7.90
Kap. 7 Rz. 7.91
Kartellrecht
a) Die Bagatellmarktklausel nach § 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 GWB
7.91 Zusammenschlüsse unterliegen zwar der Anmelde- und Anzeigepflicht, können aber dann nicht untersagt werden, wenn sie einen Markt betreffen, auf dem seit mindestens fünf Jahren Waren oder gewerbliche Leistungen angeboten werden und auf dem im letzten Kalenderjahr ein Umsatz von weniger als 15 Mio. Euro erzielt wurde.170 Dies gilt nach dem neuen § 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Halbs. 2 GWB nicht, wenn es sich um einen Markt i.S.d. § 18 Abs. 2a GWB handelt oder der Anwendungsbereich des § 35 Abs. 1a GWB eröffnet ist.
7.92 Das BKartA fasst regelmäßig verschiedene Märkte mit Umsätzen jeweils unter 15 Mio. Euro zusammen (sog. „Marktbündelung“ oder „Bündeltheorie“),171 wenn sich die dort angebotenen Produkte nach Herstellungstechnik und Verwendungszweck nahe stehen. Im Fall Sulzer/ Kelmix bestätigten das OLG Düsseldorf172 sowie der BGH173 grundsätzlich die Praxis, auch bei sachlich und im Hinblick auf die Marktstruktur gleichartigen Märkten eine Bündelung der Umsatzerlöse vorzunehmen, um die Anwendbarkeit der Bagatellmarktklausel auszuschließen.174 Indizien für das Vorliegen von strukturell gleichartigen Märkten sind u.a. eine Angebotsumstellungsflexibilität, Identität der wesentlichen Anbieter und Nachfrager sowie einheitliche Vertriebswege.175
7.93 Der BGH sowie das BKartA wenden die Bagatellmarktklausel jedoch nur an, wenn der Schwellenwert von 15 Mio. Euro bezogen auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht überschritten wird, da in solchen Fällen entsprechend dem Normzweck nicht von einer volkswirtschaftlichen Relevanz auszugehen sei.176
170 BGH v. 22.6.1981 – KVR 7/80 – Transportbeton Sauerland, WuW/E BGH 1810; KG v. 24.10.1979 – Kart 24/78 – Siegerländer Transportbeton, WuW/E OLG 2259; vgl. Kahlenberg in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 35 GWB Rz. 200 ff. 171 BKartA v. 25.3.1976 – B7-326500-U-127/75 – Babcock/Artos, WuW/E BKartA 1653 (1656); BKartA v. 20.12.2001 – B 2 – 75/01 – Marzipanrohmasse, WuW/E DE-V 527; BKartA v. 30.11.2000 – B3 – 24410 – U – 91/00 – BASF/Takeda, WuW 2001, 146; BKartA v. 9.12.1999 – B 4 – 33206 – U – 106/99 – Krautkrämer/NUKEM, WuW/E DE-V 203; BKartA v. 14.2.2003 – B2-93/02 – Schwartau/Zentis, WuW/E DE-V 717 (718 f.); BKartA v. 24.9.2003 – B4 – 136/01 – Homag, WuW/E DE-V 864 (869); BKartA v. 31.5.2017 – B1-34/17 S. 3 – Sovitec Mondial S.A./ Potters Industries LLC (Fallbericht); BKartA v. 12.11.2014 – B5–138/13 – Tokyo Electron/Applied Materials/Intel; vgl. auch Monopolkommission, Sondergutachten 14, Rz. 96; ausführlich zur Bündeltheorie Fuchs, WuW 2008, 774 ff. 172 OLG Düsseldorf v. 5.3.2007 – VI-Kart 3/07 (V) – Sulzer/Kelmix, WuW/E DE-R 1931 (1933 f.). 173 BGH v. 25.9.2007 – KVR 19/07 – Sulzer/Kelmix, WuW/E DE-R 2133 (2138) = AG 2008, 122; s. vorgehend bereits BGH v. 11.7.2006 – KVR 28/05 – Deutsche Bahn/KVS Saarlouis, WuW/E DE-R 1797 = AG 2007, 86, zur Bündelung vor- und nachgelagerter Märkte und BGH v. 19.12.1995 – KVR 6/95 – Raiffeisen, WuW/E BGH 3037 (3042). 174 Befürwortend etwa Kallfaß in Langen/Bunte, § 36 GWB Rz. 137; kritisch Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 219 f.; vgl. auch Podszun, GRUR-Int. 2008, 204 (207 f.). 175 BKartA v. 21.12.2012 – B3-113/12 Rz. 51 ff. – Becton Dickinson/Safety Syringes; BKartA v. 31.5.2017 – B1-34/17 S. 3 – Sovitec Mondial S.A./Potters Industries LLC; BKartA v. 17.3.2010 – B2-137/09 S. 11 f. – Pelikan/Herlitz; Fuchs, WuW 2008, 774 (785 f.); Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 220. 176 BGH v. 25.9.2007 – KVR 19/07 – Sulzer/Kelmix, WuW/E DE-R 2133 = AG 2008, 122; BKartA, v. 12.11.2014 – B5-138/13 Rz. 168 – Tokyo Electron Limited/Applied Materials; hierzu auch Podszun, GRUR-Int. 2008, 204; Kallfaß in Langen/Bunte, § 36 GWB Rz. 133.
670
Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.95 Kap. 7
b) Die Presseklausel nach § 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 GWB Nach der pressespezifischen Sanierungsklausel entfällt die Untersagungsbefugnis des BKartA, wenn bei Übernahme eines kleineren oder mittleren Zeitungs- oder Zeitschriftenverlages trotz marktbeherrschender Stellung des übernehmenden Verlages nachgewiesen wird, dass der übernommene Verlag in den letzten drei Jahren einen erheblichen Jahresfehlbetrag hatte oder ohne den Zusammenschluss in seiner Existenz gefährdet wäre. Ferner muss nachgewiesen werden, dass vor dem Zusammenschluss kein anderer Erwerber gefunden wurde, der eine wettbewerbskonformere Lösung sichergestellt hätte. Nach der Gesetzesbegründung177 soll diese Regelung kleineren und mittleren Presseunternehmen die Möglichkeit zu einer Fusion mit stärkeren Marktpartnern geben, bevor sie gezwungen sind, einen Insolvenzantrag zu stellen und damit als Teil der Pressevielfalt und des publizistischen Wettbewerbs gänzlich aus dem Markt auszuscheiden. Dabei sollen die Anforderungen an den Nachweis eines Sanierungsfalls im Pressebereich nicht zu hoch angesetzt werden. Der Nachweis für die Notwendigkeit einer Fusion kann insbesondere durch ein Gutachten eines unabhängigen Wirtschaftsprüfers erbracht werden. Ein neueres Beispiel für die Anwendung der Presseklausel ist der Erwerb der Frankfurter Rundschau durch die Frankfurter Allgemeine Zeitung.178
7.94
2. Erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs Das Untersagungskriterium der erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs soll nach der Gesetzesbegründung vor allem die Erfassung „komplexer Oligopolsachverhalte“ ermöglichen und die Kontrolle nicht koordinierten bzw. unilateralen Verhaltens einzelner Unternehmen erlauben.179 Als Beispiel nennt die Gesetzesbegründung ausdrücklich Preissetzungsmöglichkeiten eines Unternehmens nach einem Zusammenschluss, ohne dass es zugleich eine marktbeherrschende Position innehat. Gemeint seien damit Fälle vertikaler Integration oder konglomerater Zusammenschlüsse, bei denen eine Verschlechterung der Marktstruktur nicht unmittelbar mit dem Zusammenschluss eintritt, sondern erst in Folge geänderter Möglichkeiten und Anreize zu einem wettbewerbsschädlichen Verhalten der Unternehmen.180 Konkret soll der „SIEC“-Test offenbar vor allem Fälle erfassen, bei denen der dominante Marktführer nicht am Zusammenschluss beteiligt ist, die Fusion seiner kleineren Konkurrenten aber eine weitere Beeinträchtigung des Wettbewerbs im Markt erwarten lässt. Als Beispiel wird der Fall genannt, in dem der Zusammenschluss des zweit- und drittstärksten Wettbewerbers zwar nur zur Hälfte des Marktanteils des dominanten Marktführers führt, gleichwohl aber wegen der Marktpraxis der Abnehmer, neben der Marke des Marktführers nur eine weitere Marke zu listen, der bisherige „Regalwettbewerb“ zwischen den beiden kleineren Anbietern entfällt.181 Vergleichbare Fallkonstellationen hat das BKartA allerdings in der Vergangenheit auch schon aufgrund des § 36 GWB a.F. behandelt.182 Letztlich bringt der SIEC-Test mehr Flexibilität mit sich. Dies gilt sowohl für die Anwendung ökonomischer Konzepte,183 als auch – jedenfalls nach Auffassung des BKartA – im Hinblick auf die Not-
177 BT-Drucks. 17/11053, 25. 178 BKartA v. 27.2.2013 – B6-9/13 S. 2 ff. – „Frankfurter Rundschau“/Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH u.a. 179 BT-Drucks. 17/9825, 28. 180 Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 17/9825, 28. 181 Vgl. Thomas in Langen/Bunte, § 36 GWB Rz. 14. 182 Z.B. BKartA v. 1.12.2010 – B5-124/10; BKartA v. 30.1.2012 – B9-125/11. 183 Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 4.
Röhling 671
7.95
Kap. 7 Rz. 7.96
Kartellrecht
wendigkeit einer definitiven und abschließenden Marktabgrenzung, da es auf den „Wettbewerbsdruck zwischen den Beteiligten und ihren engen Wettbewerbern“ ankomme.184 3. Marktbeherrschende Stellung
7.96 Aufgrund der umfangreichen bestehenden Fallpraxis spielt das Regelbeispiel des Entstehens oder Verstärkens einer marktbeherrschenden Stellung185 weiterhin eine gewichtige Rolle. In der Praxis wird die Frage der Marktbeherrschung aufgrund einer umfassenden Würdigung aller für den Markt relevanten Faktoren entschieden (Gesamtbetrachtungsweise).186 Aufgrund des Gesamtbildes des Marktes, zu dem neben Marktstrukturelementen auch das Wettbewerbsverhalten der Unternehmen herangezogen wird, ist zu prüfen, ob ein Unternehmen über einen „überragenden Verhaltensspielraum“ verfügt.187 Üblicherweise wird diese Bestimmung in zwei Schritten vorgenommen. Zuerst wird der relevante Markt in sachlicher, örtlicher und zeitlicher Hinsicht abgegrenzt, sodann wird der Beherrschungsgrad des Unternehmens auf dem Markt ermittelt. a) Relevanter Markt
7.97 Da die Marktabgrenzung gleichzeitig auch den Beherrschungsgrad der beteiligten Unternehmen impliziert, entscheidet sich oft der Ausgang eines Fusionskontrollverfahrens schon bei der Frage der richtigen Marktabgrenzung.188 Je enger und kleiner der relevante Markt ist, desto leichter ist es, über den sich hieraus ergebenden höheren Marktanteil eine marktbeherrschende Stellung des betreffenden Unternehmens herzuleiten. Aus diesem Grunde ist die Ermittlung des relevanten Marktes zwischen den beteiligten Unternehmen und dem BKartA häufig umstritten. Probleme der Marktabgrenzung stehen regelmäßig im Mittelpunkt der Praxis der Fusionskontrolle.
7.98 Zu bedenken ist aber immer, dass die Abgrenzung des relevanten Marktes und die Bestimmung des Marktbeherrschungsgrades nur zwei Schritte eines einheitlichen analytischen Vorganges sind, nämlich der Feststellung, ob ein Unternehmen marktbeherrschend ist oder nicht.189 Marktabgrenzung und Bestimmung des Grades der Marktbeherrschung dürfen also nicht völlig isoliert voneinander erfolgen. aa) Sachlich relevanter Markt
7.99 Nach dem herrschenden Bedarfsmarktkonzept190 ist hierbei auf die Austauschbarkeit der Produkte aus der Sicht der Abnehmer abzustellen: „Sämtliche Erzeugnisse, die sich nach ihren Eigenschaften, ihrem wirtschaftlichen Verwendungszweck und ihrer Preislage so nahe stehen, dass der verständige Verbraucher sie als für die Deckung eines bestimmten Bedarfs geeignet in 184 BKartA v. 31.3.2015 – B 2-96/14 Rz. 145 – Edeka/Kaiser’s Tengelmann. 185 BKartA, Leitfaden zur Marktbeherrschung in der Fusionskontrolle v. 29.3.2012, abrufbar auf der Homepage des BKartA unter www.bundeskartellamt.de. 186 BGH v. 24.6.1980 – KVR 5/79, BGHZ 77, 279 (291 f.); BGH v. 2.12.1980 – KVR 1/80, BGHZ 79, 62 (66); Becker/Knebel/Christiansen in MünchKomm/GWB, § 36 GWB Rz. 79. 187 Becker/Knebel/Christiansen in MünchKomm/GWB, § 36 GWB Rz. 79. 188 Kahlenberg in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 36 GWB Rz. 3. 189 Bardong in Langen/Bunte, § 18 GWB Rz. 12; Bergmann, Nachfragemacht, S. 45. 190 Zum sachlich relevanten Markt vgl. die alphabetische Auflistung bei Fuchs/Möschel in Immenga/ Mestmäcker, § 18 GWB Rz. 73.
672
Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.101 Kap. 7
berechtigter Weise abwägend miteinander vergleicht und als gegeneinander austauschbar ansieht, sind marktgleichwertig.“191 Bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln kommt es nicht auf die Sicht des Patienten, sondern auf die Sicht des verschreibenden Arztes als Verbrauchsdisponent an.192 In Anlehnung an die Praxis der EU-Kommission193 stellen BKartA und BGH in bestimmten Fällen auch auf die Produktionsflexibilität, insbesondere die Angebotsumstellungsflexibilität ab.194 Das Kriterium der funktionellen Austauschbarkeit ist nicht in einem übersteigerten Sinne dahingehend zu verstehen, dass nur Produkte miteinander vergleichbar und damit austauschbar sind, die technisch-physikalisch oder chemisch in ihrer Zusammensetzung identisch sind. Unter dem Gesichtspunkt der Marktgleichwertigkeit ist stets die Deckung eines typischen Bedarfs ausschlaggebend. Insbesondere im Arzneimittelsektor wurden daher Medikamente mit gleicher Indikation, aber unterschiedlichen Wirkstoffen bisher im Ausgangspunkt einem einheitlichen Markt zugerechnet.195 Dies entspricht der Praxis der Kommission.196 Allerdings tendiert die Kommission auf Märkten, in denen mittlerweile Generika erhältlich sind, zu einer engeren Marktabgrenzung anhand einzelner Wirkstoffe.197 Eine zu weit gehende Differenzierung führt letztlich zu unzähligen Ein-Produkt-Märkten.
7.100
Insgesamt kommt den Kriterien des Verwendungszwecks und der Eigenschaft im Rahmen des Bedarfsmarktkonzeptes die bedeutendste Rolle zu.198 Zwar ist der Preis grundsätzlich kein selbständiges Kriterium der Austauschbarkeit.199 Anders ist es, wenn Preisunterschiede im Rahmen einer Vermarktungsstrategie beim Abnehmer den Eindruck objektiver Qualitätsunterschiede vermitteln: Zwei Produkte, die an sich ohne weiteres als austauschbar ange-
7.101
191 So grundlegend KG v. 18.2.1969 – Kart (V) 34/67 – Handpreisauszeichner, WuW/E OLG 995 (996); aus der jüngeren Rechtsprechung s. BGH v. 24.1.2017 – KZR 2/15, WuW 2017, 286 Rz. 20 – Kabelkanalanlagen m.w.N.; aus der jüngeren Praxis des BKartA s. BKartA v. 4.7.2016 – B4 – 31/16 Rz. 41 – Remondis/Bördner. 192 BKartA v. 30.6.2012 – B3-59/10 – Medco Health Solutions/Celesio; gleiches gilt hinsichtlich der Auswahl bei Krankentransporten: BGH v. 27.4.1999 – KZR 54/97 – Taxikrankentransporte, WuW/E DE-R 303 (305). 193 Vgl. Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft, ABl. EG 1997 Nr. C 372, 5 Rz. 20-23. 194 Im Fall „Remondis/Bördner“ hat das BKartA etwa ausdrücklich das „auf das Nachfrageverhalten der Marktgegenseite abstellende Bedarfsmarktkonzept um den Gesichtspunkt der Angebotsumstellungsflexibilität ergänzt“ und nahm deshalb einen einheitlichen Markt an Erfassungsleistungen für gefährliche Abfälle an, BKartA v. 4.7.2016 – B4 – 31/16 Rz. 41, 110.; s. ferner BGH v. 21.2.1978 – KVR 4/77 – Kfz-Kupplungen, WuW/E BGH 1501 (1502); BGH v. 16.1.2007 – KVR 12/06 – National Geographic II, WuW/E DE-R 1925 (1928) = AG 2007, 490; vgl. Dreher/ Thomas, ZWeR 2014, 366; einschränkend hinsichtlich der Marktabgrenzung im Rahmen des Missbrauchsverbotes hingegen BGH v. 24.1.2017 – KZR 47/14 – VBL-Gegenwert II, WuW 2017, 283 Rz. 25 mit dem Hinweis darauf, dass es hier anders als bei der Fusionskontrolle um die gegenwärtige und nicht um die zukünftige Marktstruktur gehe. 195 Hierfür orientiert sich die Marktabgrenzung an den ATC-Klassen der European Pharmaceutical Market Research Association, s. BKartA v. 13.8.2003 – B3-11/03 Rz. 11 – Novartis AG/Roche Holding AG; KG v. 18.10.1985 – Kart 18/93 – Fresenius/Schiwa, WuW/E OLG 5549. 196 Komm.E. v. 20.12.2017 – COMP/M.8675 Rz. 10 ff. – CVC/TEVA’S WOMEN’S HEALTH BUSINESS. 197 Komm.E. v. 20.12.2017 – COMP/M.8675 Rz. 13 – CVC/TEVA’S WOMEN’S HEALTH BUSINESS. 198 Bechtold/Bosch, § 18 GWB Rz. 7; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 28. 199 Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 28.
Röhling 673
Kap. 7 Rz. 7.102
Kartellrecht
sehen werden könnten, können danach im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Preisklassen unterschiedlichen Märkten zugeordnet werden.200 So bildeten nach Ansicht des KG etwa hochpreisige exklusive Kosmetik und Duftwasserprodukte gegenüber identischen Kosmetika als Billigmarken einen eigenen sachlich relevanten Markt, da der Verbraucher sie trotz gleichwertiger chemischer Zusammensetzung nicht als austauschbar ansehe.201
7.102 Neben objektiven Kriterien sind bei der Prüfung also auch subjektive Elemente heranzuziehen, so dass es vorkommen kann, dass Produkte, die nach objektiven Merkmalen austauschbar sind, aufgrund von Verbrauchergewohnheiten als nicht austauschbar angesehen werden. Auf der anderen Seite können objektiv ungleichwertige Produkte für die Verbraucher subjektiv gleichwertig sein.202 Bei der Berücksichtigung dieser subjektiven Elemente ist allerdings nicht auf oberflächliche Abnehmeranschauungen abzustellen, sondern es entscheidet die Sicht eines „verständigen“ Verbrauchers.203
7.103 Schwierigkeiten bereiten die Fälle, bei denen Produkte mehrere Verwendungszwecke haben und nur hinsichtlich einzelner Verwendungszwecke mit anderen Produkten austauschbar sind. Es fragt sich hier, ob für jeden Verwendungszweck ein Teilmarkt gebildet werden soll oder ob von einem einheitlichen Markt unter Ausklammerung der Substitutionsprodukte für einzelne Verwendungszwecke auszugehen ist.
7.104 Beispiel: Ölhydraulische Antriebe werden bei unterschiedlichen Maschinen eingesetzt und stehen je nach Maschinenart mit anderen Antrieben im Wettbewerb. Würde man hier einen Teilmarkt für jede Maschinenart bilden, so können in einzelnen Bereichen mehrere marktbeherrschende Stellungen entstehen. Stellt man auf einen umfassenden Markt aller Verwendungszwecke ab, so ist eine marktbeherrschende Stellung leichter abzulehnen.204
7.105 Der BGH und ihm folgend das BKartA205 vernachlässigen in diesen Fällen die möglichen Teilmärkte und nehmen einen einheitlichen Markt an, wenn die Anbieter keine Möglichkeit besitzen, auf den verschiedenen Marktsegmenten unterschiedliche Strategien (Produkt-, Preisund Rabattdifferenzierung) zu verfolgen.
7.106 Zudem stellen Produkte, die sich von anderen Produkten nach Leistungsumfang und Preis wesentlich unterscheiden, dann keine eigenen sachlich relevanten Märkte dar, wenn sie im Rahmen eines Sortiments von Waren oder Leistungen mit differenzierten Preisen angeboten und im Wesentlichen von den gleichen Kunden nachgefragt werden. In diesen Fällen wird das gesamte typische Sortiment als „bestimmte Art von Waren“ i.S.d. § 19 Abs. 2 200 KG v. 9.9.1983 – Kart 19/81 – Rheinmetall/WMF, WuW/E OLG 3137 (3142); KG v. 24.4.1985 – Kart 34/81 – Hussel/Mara, WuW/E OLG 3577 (3584 f.). 201 KG v. 24.4.1985 – Kart 34/81 – Hussel/Mara, WuW/E OLG 3577 (3585), offengelassen in OLG Düsseldorf v. 26.2.2009 – VI-Kart 7/07 (V) – Douglas/Hela Kosmetik. 202 BGH v. 3.7.1976 – KVR 4/75 – Vitamin B 12, WuW/E BGH 1435. 203 BGH v. 3.7.1976 – KVR 4/75 – Vitamin B 12, WuW/E 1435; KG v. 18.2.1969 – Kart V 34/67 – Handpreisauszeichner, WuW/E OLG 966; ebenso Bardong in Langen/Bunte, § 18 GWB Rz. 21; Kühnen in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 18 GWB Rz. 20. 204 BGH v. 24.6.1980 – KVR 5/79 – Mannesmann/Brueninghaus, WuW/E BGH 1711; vgl. auch Canenbley/Moosecker, S. 74. 205 BKartA AG 1983, 197 (200) – OAM/Deutag; Aufteilbarkeit in Teilmärkte etwa angenommen für Reisevermittlung an Touristen und Firmenkunden, BKartA v. 9.4.1999 – B9-63300-U-220/98 – HTU/First, WuW/E DE-V 113 (114); vgl. auch BKartA v. 23.12.2005 – B7-162/05 Rz. 17 – Adobe Systems Inc./Macromedia Inc.
674
Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.107 Kap. 7
GWB angesehen und bildet einen einheitlichen sachlich relevanten Markt.206 Im Fall des Lebensmitteleinzelhandels führt das KG aus, dass die Sortimente der verschiedenen Anbieter zwar nicht deckungsgleich seien, im Großen und Ganzen aber dennoch vergleichbar. Sie seien jeweils darauf ausgerichtet, dem Verbraucher die für den täglichen Bedarf benötigten Grundnahrungsmittel im Rahmen des Einkaufs „unter einem Dach“ zu verschaffen.207 Für die Nachfrageseite, also für die Abgrenzung sachlich relevanter Beschaffungsmärkte,208 nimmt das BKartA demgegenüber eine Abgrenzung des sachlich relevanten Beschaffungsmarktes in einem ersten Schritt nach Produktgruppen209 und – wenn es darauf ankommt – nach einzelnen Produkten vor.210 Insgesamt ist die Marktabgrenzung auf der Nachfrageseite in der Praxis nach wie vor durchaus umstritten.211 bb) Räumlich relevanter Markt Der räumlich relevante Markt wird grundsätzlich nach den gleichen Kriterien wie der sachlich relevante bestimmt. Nach 18 Abs. 2 GWB kann der für die deutsche Fusionskontrolle räumlich relevante Markt größer sein als das Bundesgebiet.212 Auf der anderen Seite sind bei bestimmten Produkten regionale und lokale Märkte anzunehmen, falls das betreffende Unternehmen gehindert ist, in anderen Regionen tätig zu werden. Dies kann aufgrund gesetzlicher Bestimmungen vorgegeben sein (z.B. Gesetz über die technischen Überwachungsvereine213), sich aufgrund tatsächlicher Umstände ergeben (z.B. Streckenmonopole für Autobahntankstellen,214 Leitungsnetze der Stromversorger bei Kleinkunden215 bzw. Netz206 Vgl. Bergmann, Nachfragemacht, S. 46 ff.; Bechtold/Bosch, § 18 GWB Rz. 11; BKartA v. 30.6.2008 – B2-333/07 – Edeka/Tengelmann, WuW/E DE-V 1607 (1612); im Rahmen der EU-Fusionskontrolle vgl. Komm.E. v. 15.10.1997 – IV/M.938 – Guinness/Grand Metropolitan, ABl. EG 1998 Nr. L 288, 24. 207 KG v. 22.5.1985 – Kart 21/83 – Coop Schleswig Holstein/Deutscher Supermarkt, WuW/E OLG 3591 (3595 ff.); s. ferner BKartA v. 31.3.2015 – B 2-96/14 Rz. 160 ff. – Edeka/Kaiser’s Tengelmann; vgl. für die Großhandelsstufe: KG v. 16.10.1984 – Kart 14/83 – Metro/Kaufhof, WuW/E OLG 3367 (3369), insoweit bestätigt von BGH v. 11.3.1986 – KVR 2/85, AG 1986, 288 = MDR 1986, 1000 = WuW/E BGH 2231 (2234); außerhalb des Lebensmittelhandels KG v. 18.10.1995 – Kart 18/93 – Fresenius/Schiwa, WuW/E OLG 5549 (5557). 208 Angebotsmärkte mit entsprechender Angebotsmacht stellen den Regelfall der fusionskontrollrechtlichen Bewertung dar; Beschaffungsmärkte korrespondieren dagegen mit Nachfragemacht, wie sie vor allem im Lebensmitteleinzelhandel vorzufinden ist. 209 BKartA v. 30.6.2008 – B2-333/07 – Edeka/Tengelmann, WuW/E DE-V 1607 (1612). Ebenso schon KG v. 5.11.1986 – Kart 15/84 – Coop/Wandmaker, WuW/E OLG 3917 (3927 ff.). 210 S. die Zusammenfassung der bisherigen Entscheidungspraxis in BKartA, Abschlussbericht zur Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel v. September 2014, B2-15/11, S. 118 ff.; BKartA v. 31.3.2015 – B2-96/14 Rz. 651 – Edeka/Kaiser’s Tengelmann. 211 Vgl. Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 55 ff.; ausführlich Bergmann, Nachfragemacht, S. 44 ff.; Haucap/Heimeshoff/Klein/Rickert/Wey, WuW 2014, 946. 212 Schon vor Einfügung der Regelung mit der 7. GWB-Novelle hatte der BGH seine vorherige Rechtsprechung zur Begrenzung des relevanten Marktes auf das Bundesgebiet aufgegeben, BGH v. 5.10.2004 – KVR 14/03, AG 2005, 36 – Staubsaugerbeutelmarkt, WuW/E DE-R 1355 (1359 ff.); dazu Westermann/Bergmann, ZWeR 2006, 216; Burholt, WuW 2005, 889. Ein Beispiel für einen weltweiten Markt ist der Markt für Herstellung und Vertrieb von Flüssigkeitsarmaturen für Flugzeuge, s. BKartA v. 23.10.2013 – B9-92/13 – Precision Castparts/Permaswage. 213 Vgl. Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 40. 214 OLG Düsseldorf v. 26.6.1979 – Kart 1/79 – BAB Tankstelle Bottrop-Süd, WuW/E OLG 3135. 215 BGH v. 4.11.2003 – KZR 16/02 – Strom und Telefon I, WuW/E DE-R 1206 (1208); hierzu auch Becker/Zapfe, ZWeR 2007, 419 (428 ff.).
Röhling 675
7.107
Kap. 7 Rz. 7.108
Kartellrecht
gebiete der Gasunternehmen216) oder aber auf wirtschaftlichen Gründen beruhen. Infolge hoher Transportkosten wurde beispielsweise bei bituminösem Mischgut und bei Transportbeton die Region innerhalb eines bestimmten Radius bzw. einer bestimmten Fahrstrecke um das einzelne Werk als örtlich relevanter Markt angesehen.217 Auf nach Dichte der Bevölkerung und Infrastruktur gestaffelte Erreichbarkeits-Radien ist für den räumlich relevanten Markt bei Tankstellen abzustellen.218 Allerdings revidierte das BKartA seine Auffassung, für Verarbeitungszucker sei eine regionale Marktabgrenzung mit einem Radius von 220 km um jede Zuckerfabrik vorzunehmen, und geht nunmehr von einem bundesweiten räumlich relevanten Markt aus.219
7.108 Eine regionale Marktabgrenzung legt die Praxis grundsätzlich auch im Bereich des Lebensmittelhandels zugrunde. Hier könne aufgrund der Verbrauchergewohnheiten (nicht mehr als 20 Minuten Fahrzeit) ein Stadtgebiet mit seinen unmittelbar angrenzenden Vorortsiedlungen und Umlandgemeinden einen abgeschlossenen Markt bilden.220 Die Abgrenzung weiterer sublokaler Märkte innerhalb einer mittelgroßen Stadt wurde abgelehnt.221 Für Städte mit einer Einwohnerzahl von über 500.000 hat das BKartA im Beschluss zu Edeka/ Kaiser’s Tengelmann festgestellt, dass der räumliche Markt anhand engerer Stadtbezirke zu bestimmen sei.222 Das BKartA bestimmte aufgrund der sich grundsätzlich unterscheidenden topographischen Faktoren keinen maßgeblichen Grenzwert, sondern erklärte, dass die Marktabgrenzung nach Stadtbezirken „im Rahmen der Analyse von Ortsteilen zu plausibilisieren“ sei.223 Demgegenüber weist das OLG Düsseldorf in seiner Entscheidung darauf hin, dass es eine noch engere Abgrenzung nach Ortsteilen in dichtbesiedelten Städten für plausibler halte.224 Dies gelte zumindest für „Ortsteile, in denen mehr als 40.000 Menschen leben und die über mindestens zehn LEH-Filialen verfügen“.225
7.109 In der Strom- und Gaswirtschaft hat das BKartA seine ursprüngliche Auffassung über die geographische Marktabgrenzung nach den jeweiligen Leitungsnetzen aufgegeben und grenzt nunmehr wegen des funktionierenden Durchleitungswettbewerbs nationale oder darüber hinausgehende Märkte ab.226 Nur im Bereich der Grund-/Ersatzversorgung und beim Heizstrom werden die Märkte weiterhin entsprechend dem Leitungsnetz abgegrenzt. Der zuletzt 216 BGH v. 13.12.2005 – KVR 13/05 – Stadtwerke Dachau, WuW/E DE-R 1726 (1729); OLG Düsseldorf v. 6.6.2007 – VI-2 Kart 7/04 (V)- E.ON/Eschwege, WuW/E DE-R 2094 (2108). 217 BKartA, Sektoruntersuchung Zement und Transportbeton v. Juli 2017 – B1-73/13 Rz. 112 ff.; BKartA, Sektoruntersuchung Walzasphalt v. September 2012 – B1-33/10 Rz. 131. 218 BKartA v. 7.3.2008 – B8 – 134/07 – Shell/HPV, WuW/E DE-V 1584 (1586); BKartA v. 29.4.2009 – B8-175/08 – Total Deutschland/OMV Deutschland, WuW/E DE-V 1719. 219 BKartA v. 17.2.2009 – B-2 46/08 Rz. 4 – Nordzucker/Danisco Sugar. 220 KG v. 22.5.1985 – Kart 21/83 – Coop Schleswig-Holstein/Deutscher Supermarkt, WuW/E OLG 3591 (3596 f.); vgl. auch BKartA v. 31.3.2015 – B 2-96/14, Rz. 217 – Edeka/Kaiser’s Tengelmann. S. die Zusammenfassung der bisherigen Entscheidungspraxis in BKartA, Abschlussbericht zur Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel v. September 2014, B2-15/11, S. 123 ff. 221 KG v. 22.5.1985 – Kart 21/83, WuW/E OLG 3591 (3596 f.) für die Stadt Kiel. 222 BKartA v. 31.3.2015 – B 2-96/14 Rz. 217 – Edeka/Kaiser’s Tengelmann. 223 BKartA v. 31.3.2015 – B 2-96/14 Rz. 217 – Edeka/Kaiser’s Tengelmann. 224 OLG Düsseldorf v. 23.8.2017 – VI-Kart 5/16 (V) Rz. 75 – Fusionsuntersagung EDEKA/Tengelmann. 225 OLG Düsseldorf v. 23.8.2017 – VI-Kart 5/16 (V) Rz. 75 – Fusionsuntersagung EDEKA/Tengelmann. 226 Für die Gasversorgung: BKartA v. 23.10.2014 – B8-69/14 Rz. 74 ff. – EWE/VNG; für die Stromversorgung: BKartA v. 8.12.2011 – B8-94/11 Rz. 22 ff. – RWE/Stadtwerke Unna.
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Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.111 Kap. 7
Deutschland und Österreich umfassende Markt für den Stromerstabsatz mag bei Einführung von Engpassbewirtschaftungsmaßnahmen an der Grenze wieder enger abgegrenzt werden.227 Von lokalen Märkten geht das BKartA auch bei Regionalzeitungen und Anzeigenblättern aus, wobei es i.d.R. auf das jeweilige Stadtgebiet mit seinem Umland als tatsächliches Verbreitungsgebiet abstellt.228 Allerdings ist bei der Abgrenzung regionaler Märkte auch Vorsicht geboten. So wird zwar bei Flugverkehrsleistungen der räumliche Markt anhand einer Einzelstreckenbetrachtung bestimmt.229 Zusätzlich dazu wird jedoch auch eine Betrachtung des Gesamtangebotes von Flugdienstleistungen vom Abflugland Deutschland in einzelne Zielregionen vorgenommen.230 cc) Zeitlich relevanter Markt Die zeitliche Dimension der Marktabgrenzung ist für die Fusionskontrolle – anders als in der Missbrauchsaufsicht – regelmäßig ohne Bedeutung.231
7.110
b) Marktbeherrschung Die Untersagung eines Zusammenschlusses hängt davon ab, ob eine marktbeherrschende 7.111 Stellung entsteht oder verstärkt wird. Hierbei macht § 36 Abs. 1 GWB eine Prognose erforderlich, bei der die strukturellen Wettbewerbsbedingungen vor dem Zusammenschluss und in ihrer Veränderung durch den Zusammenschluss verglichen werden müssen.232 Mögliche zukünftige Veränderungen des Marktes (z.B. Marktzutritte, Änderung von Gesellschaftsverträgen, Gesetzesänderungen) sind innerhalb der Prognose nur zu berücksichtigen, wenn es sich um konkrete Umstände handelt und wenn alsbald für eine Veränderung der Marktsituation eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht.233 Ein angemessener Prognosezeitraum wird
227 Monitoringbericht des BKartA und der Bundesnetzagentur gem. § 63 Abs. 3 i.V.m. § 35 EnWG und § 48 Abs. 3 i.V.m. § 53 Abs. 3 GWB, 13.12.2017, Rz. 20. 228 BKartA v. 17.1.1994 – B6-745100-U-153/92 – Sarstedter Kurier/Kreisanzeiger, WuW/E BKartA 2641 (Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung einer Tageszeitung durch Erwerb einer Heimatzeitung); BGH v. 18.12.1979 – KVR 2/79 – Springer/Elbe Wochenblatt, WuW/E BGH 1685 (1691); BKartA v. 18.12.1979 – KVR 2/79 – Tagesspiegel/Berliner Verlag, WuW/E DE-V 695. 229 BKartA v. 4.9.2009 – B9-56/09 – TUIfly/Air Berlin, WuW/E DE-V 1867 (1869); BKartA v. 19.7.1984 – B6-717100-U-89/83 – TUI/Air-Conti, WuW/E BKartA 2169 (2173); Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 36 GWB Rz. 133. 230 BKartA v. 4.9.2009 – B9-56/09 – TUIfly/Air Berlin, WuW/E DE-V 1867 (1869); BKartA, AG 1986, 377 (378) – NUR/ITS; Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 36 GWB Rz. 133; für Touristenflüge zu Sondertarifen nahm das KG noch die Bundesrepublik als einzigen räumlich relevanten Markt an und das unabhängig von Zielort und Länge der Flugstrecke, KG v. 8.12.1982 – Kart. 42/81 – Lufthansa – f. i. r. s.t Reisebüro, WuW/E OLG 2849, 2854. 231 Vgl. Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 54. 232 BGH v. 6.10.1992 – KVR 24/91 – Pinneberger Tageblatt, WuW/E BGH 2795 (2804); BGH v. 21.2.1978 – KVR 4/77 – Kfz-Kupplungen, WuW/E BGH 1501 (1508); BGH v. 18.12.1979 – KVR 2/79 – Springer/Elbe Wochenblatt, WuW/E BGH 1685 (1691); Kahlenberg in Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 36 GWB Rz. 9 ff. 233 BGH v. 19.6.2012 – KVR 15/11, AG 2012, 835 = WuW/E BGH DE-R 3995, 3998 – Haller Tagblatt; BGH v. 15.7.1997 – KVR 33/96 – Stromversorgung Aggertal, WuW/E DE-R 24 (27 ff.) m.w.N.; BGH v. 12.2.1980 – KVR 4/79 – Bituminöses Mischgut, WuW/E BGH 1763, 1766; BGH v. 21.2.1978 – KVR 4/77 – Kfz-Kupplungen, WuW/E BGH 1501 (1507 f.); vgl. Bechtold/ Bosch, § 36 GWB Rz. 10.
Röhling 677
Kap. 7 Rz. 7.112
Kartellrecht
meist in den folgenden drei bis fünf Jahren erblickt,234 Besonderheiten des betroffenen Marktes können jedoch eine kürzere Zeitspanne nahe legen.235
7.112 Der zu prüfende Zusammenschluss muss ferner kausal für die Verschlechterung der Marktstruktur sein, wobei Mitursächlichkeit genügt. Auf eine „spürbare“ Vergrößerung des Verhaltensspielraums der beteiligten Unternehmen und damit auf eine wesentliche Verstärkung der Marktbeherrschung kommt es dagegen nicht an.236
7.113 Das BKartA hat seinen analytischen Ansatz zur Beurteilung, ob ein Zusammenschluss eine marktbeherrschende Stellung begründet oder verstärkt, in einem umfassenden Leitfaden veröffentlicht.237 In dem Leitfaden sind insbesondere die Fallpraxis und die Erfahrung des BKartA sowie die Rechtsprechung des OLG Düsseldorf und des BGH bis zur Veröffentlichung im Jahr 2012 eingeflossen. aa) Begriff der Marktbeherrschung
7.114 Der Begriff der Marktbeherrschung ist in § 18 Abs. 1 GWB definiert. Nach diesem gestuften Marktbeherrschungsbegriff liegt Marktbeherrschung vor, – wenn ein Unternehmen ohne Wettbewerber oder keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 und 2 GWB). Diese echten Monopolstellungen sind in der Praxis selten und spielen bei der Fusionskontrolle kaum eine Rolle;238 – wenn ein Unternehmen im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern eine überragende Marktstellung hat (§ 18 Abs. 1 Nr. 3 GWB). Dies ist die für die Fusionskontrolle praktisch wichtigste Fallgruppe; – wenn zwischen mehreren Unternehmen aus tatsächlichen Gründen kein wesentlicher Wettbewerb stattfindet (Oligopolsituation) und das Oligopol in seiner Gesamtheit keinem wesentlichen Außenwettbewerb ausgesetzt ist oder im Verhältnis zu den restlichen Wettbewerbern eine überragende Marktstellung innehat (§ 18 Abs. 5 GWB).
234 BGH v. 19.6.2012 – KVR 15/11, AG 2012, 835 = WuW/E BGH DE-R 3995, 3998 – Haller Tagblatt. 235 S. etwa OLG Düsseldorf v. 6.9.2006 – VI-Kart 13/05 (V)- Deutsche Börse/London Stock Exchange, WuW/E DE-R 1835 (1836). 236 Vgl. BGH v. 16.1.2007 – KVR 12/06, AG 2007, 490 = WuW/E DE-R 1925, 1930 – National Geographic II; BGH v. 10.12.1991 – KVR 2/90, AG 1992, 120 = MDR 1992, 569 = WuW/E BGH 2731 (2737) – Inlandstochter m.w.N.; BKartA, Leitfaden zur Marktbeherrschung in der Fusionskontrolle – 29.3.2012 Rz. 15, 182 ff., abrufbar auf der Internetseite des BKartA unter www.bundeskartellamt.de; Kallfaß in Langen/Bunte, § 36 GWB Rz. 37; grundlegend BGH v. 29.9.1981 – KVR 2/80 – Springer/MZV, AG 1982, 133. 237 Leitfaden zur Marktbeherrschung in der Fusionskontrolle – 29.3.2012, abrufbar auf der Internetseite des BKartA unter www.bundeskartellamt.de. 238 Neuere Fälle betrafen z.B. die Luftverkehrsstrecke Berlin-Frankfurt auf der die DHL aufgrund von Kapazitätsbeschränkungen ohne Wettbewerber war, WuW/E BKartA 2875 (2879 f.) – Flugpreis Berlin-Frankfurt/M, oder die Anbieter von Liveübertragungen deutscher Pferderennen, BGH v 10.2.2004 – KZR 14/02, WuW/E BGH DE-R 1251, 1252 – Galopprennübertragung. Ältere Fälle betrafen vor allem den Pressebereich oder die leitungsgebundene Energieversorgung, vgl. KG v. 12.6.1991 – Kart16/90 – WAZ/Iserlohner Kreisanzeiger, WuW/E OLG 4835 (4855); BKartA v. 30.9.1994 – B8-820000 – U-111/94 – Stadtwerke Garbsen, WuW/E BKartA 2701 (2707).
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Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.116 Kap. 7
bb) (Einzel-)Marktbeherrschung Die Prüfung und Messung der Marktbeherrschung wird von der Praxis in einer Gesamtbetrachtungsweise aller maßgeblichen Umstände, insbesondere auch unter Berücksichtigung der auf dem relevanten Markt herrschenden Wettbewerbsverhältnisse vorgenommen.239 Hierbei kann nach Auffassung der Rechtsprechung neben Marktstrukturelementen auch das aktuelle Wettbewerbsverhalten der Unternehmen auf dem Markt eine Rolle spielen.240 Entscheidend ist, ob nach dem Gesamtbild des Marktes ein Unternehmen über einen überragenden und damit nicht hinreichend kontrollierten Verhaltensspielraum gegenüber Wettbewerbern und Abnehmern verfügt oder ob noch funktionsfähiger Wettbewerb fortbesteht.241
7.115
An strukturellen Marktfaktoren nennt das Gesetz in § 18 Abs. 3 Nr. 1–8 GWB beispielsweise Marktanteil, Finanzkraft,242 Zugang zu den Beschaffungs- und Absatzmärkten,243 Verflechtungen,244 Marktzutrittsschranken,245 tatsächlichen oder potentiellen Wettbewerb durch inoder ausländische Unternehmen, Umstellungsflexibilität hinsichtlich Angebot oder Nachfrage und Ausweichmöglichkeiten der Marktgegenseite. Durch die 9. GWB-Novelle wurden mit § 18 Abs. 3a GWB weitere zu berücksichtigende strukturelle Marktfaktoren eingefügt. Demnach sind „insbesondere bei mehrseitigen Märkten und Netzwerken“ Netzwerkeffekte, die parallele Nutzung mehrerer Dienste sowie der Wechselaufwand, Größenvorteile, Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten und innovationsgetriebener Wettbewerbsdruck bei der Bewertung der Marktstellung zu berücksichtigen. Weitere ungenannte Kriterien können der Wachstumsgrad oder die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens sein.246
7.116
239 BGH v. 16.2.1982 – KVR 1/81 – Münchner Wochenblatt, WuW/E BGH 1905 (1908); BKartA, Leitfaden zur Marktbeherrschung in der Fusionskontrolle – 29.3.2012 Rz. 23, abrufbar auf der Internetseite des BKartA unter www.bundeskartellamt.de. 240 BGH v. 2.12.1980 – KVR 1/80 – Klöckner/Becorit, WuW/E BGH 1749 (1755): „Es handelt sich bei der Beurteilung nach Marktstrukturen und nach dem Marktverhalten um zwei verschiedene Betrachtungsweisen des Marktgeschehens, die sich in gewissem Maße ergänzen und gegenseitig beeinflussen; jedoch dienen beide der Prüfung, ob die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs ernstlich gefährdet wird“; zum Spannungsfeld zwischen Struktur- und Verhaltensbetrachtung s. insb.: Becker/Knebel/Christiansen in MünchKomm/GWB, § 36 GWB Rz. 80; Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 36 GWB Rz. 17; Kahlenberg in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 36 GWB Rz. 18; Bechtold/Bosch, § 18 GWB Rz. 54. 241 BGH v. 12.12.1978 – KVR 6/77 – Erdgas Schwaben, WuW/E BGH 1533 (1536); BGH v. 6.12.2011 – KVR 95/10 – Total/OMV, WuW/E DE-R 3591 (3599 ff.) = AG 2012, 502; Richter/ Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 70; Bechtold/Bosch, § 18 GWB Rz. 54; Kallfaß in Langen/ Bunte, § 18 GWB Rz. 194 ff. 242 U.a. hierauf stützt sich die Entscheidung BKartA v. 18.7.2013 – B4 18/13 Rz. 210; s. zur Berechnung etwa OLG Düsseldorf v. 25.9.2013 – VI Kart 4/12 (V) Rz. 77 ff. – Porenbetonsteine. 243 Vgl. BKartA, Sektoruntersuchung Submetering v. Mai 2017 – B8-51/15, S. 51 ff.; sowie Leitfaden zur Marktbeherrschung in der Fusionskontrolle v. 29.3.2012, Rz. 49 ff. m.w.N.; OLG Düsseldorf v. 29.4.2009 – VI-Kart 18/07 (V) – Asphaltmischwerke Langenthal – Rz. 41; OLG Düsseldorf v. 1.7.2015 – VI-Kart 8/11 (V), AG 2016, 405 Rz. 161 ff. 244 Vgl. BKartA v. 8.3.2011 Rz. 515 – B1-30/11 – Xella/H+H; OLG Düsseldorf v. 22.12.2010 – VIKart 4/09(V) Rz. 91 – Anzeigengemeinschaft; BGH v. 19.12.1995 – KVR 6/95 – Raiffeisen, WuW/E BGH 3037 (3040). 245 Vgl. Leitfaden zur Marktbeherrschung in der Fusionskontrolle v. 29.3.2012, Rz. 58 ff.; BGH v. 19.6.2012 – KVR 15/11, Rz. 42 ff. – Haller Tagblatt, AG 2012, 835. 246 Becker/Knebel/Christiansen in MünchKomm/GWB, § 36 GWB Rz. 84.
Röhling 679
Kap. 7 Rz. 7.117
Kartellrecht
7.117 Hierbei bildet der Marktanteil traditionell das wichtigste Indiz für eine Marktbeherrschung; so zumindest bei horizontalen Zusammenschlüssen, vgl. Rz. 7.153. Seine Aussagekraft wird dann als besonders groß angesehen, wenn der Marktanteil über lange Zeit konstant bleibt,247 obwohl die Nachfrage sehr zersplittert ist oder wenn er über mehrere Jahre hinweg erheblich und kontinuierlich angestiegen ist.248
7.118 Relativ unbedeutend ist das Marktanteilskriterium aber in Fällen, in denen der Marktanteil absolut niedrig und der Marktanteilsabstand zu gleichwertigen Konkurrenten, die auch über erhebliche Ressourcen verfügen, gering ist.249 Soweit das BKartA in einem früheren Fall selbst bei einem Anteil von lediglich 12 % eine marktbeherrschende Stellung angenommen hatte, da der Abstand zu den Konkurrenten groß und das restliche Angebot stark zersplittert war und das fragliche Unternehmen über die mit Abstand größten Ressourcen verfügte,250 dürften inzwischen auch mit Blick auf die Anhebung der Vermutungsschwelle für Marktbeherrschung deutlich höhere Marktanteile erforderlich sein.251
7.119 Umgekehrt kann selbst bei relativ hohen Marktanteilen eine marktbeherrschende Stellung dann zu verneinen sein, wenn der Verhaltensspielraum des betreffenden Unternehmens aufgrund potentiellen Wettbewerbs einer hinreichenden wettbewerblichen Kontrolle unterliegt.252 Das ist etwa dann der Fall, wenn keine oder nur sehr niedrige Marktzutrittsschranken feststellbar sind. Auch ein innovatives Pionierunternehmen mit lediglich temporär hohem Marktanteil (sog. vorstoßender Wettbewerb) ist nicht als marktbeherrschend im Sinne der Norm zu verstehen.253 Ein hoher Marktanteil weist also nur auf das mögliche Vorliegen von Marktbeherrschung hin.254
7.120 Der Marktanteil wird grundsätzlich nach dem Anteil an den Gesamtumsätzen eines Marktes berechnet.255 Die Exporte und die Eigenfertigung sind vom Marktvolumen abzuziehen, während die Importe hinzuzurechnen sind.256 247 Vgl. BGH v. 7.7.1992 – KVR 14/91 – Warenzeichenwettbewerb, WuW/E BGH 2783 (2790 f.); s. auch BGH v. 13.7.2004 – KVR 2/03 – Sanacorp/ANZAG, WuW/E DE-R.1301 (1303) = AG 2004, 674; Kühnen in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 18 GWB Rz. 72. 248 Vgl. BKartA, AG 1982, 79 (81) – Holtzbrinck/Rowohlt; BGH v. 7.3.1989 – KVR 3/88 – Kampffmeyer-Plange, WuW/E BGH 2575. 249 KG v. 22.3.1983 – Kart 17/81 – REWE/Florimex, WuW/E OLG 2862; Kühnen in Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 18 GWB Rz. 73. 250 KG v. 22.3.1983 – Kart 17/81 – Rewe/Florimex, WuW/E OLG 2862. 251 So schon vor Erhöhung der Vermutungsschwelle KG v. 26.10.1990 – Kart 29/89 – Kaufhof/Saturn, WuW/E OLG 4657 (4663); OLG Düsseldorf v. 15.7.2009 – VI-2 U (Kart) 6/07 – Flüssiggas, WuW/E DE-R 2818 (2820): 13 % Marktanteil nicht ausreichend für überragende Marktstellung. 252 BGH v. 26.6.1979 – KZR 7/78 – Revell Plastics, WuW/E BGH 1620 (1621): keine Marktbeherrschung trotz 35 bis 40 % Marktanteil; KG v. 18.3.1998 – Kart 3/95, AG 1998, 483 = WuW/E DE-R 94, 99 ff. – Hochtief-Philipp-Holzmann; BKartA v. 20.12.2001 – B2-75/01 – Marzipanrohmasse, WuW/E DE V 527: keine Marktbeherrschung trotz . 30 % Marktanteil; BKartA v. 1.6.1999 – B1-45210-U-12/99, WuW/E DE-V 135, 138 ff. – Heitkamp; Kühnen in Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 18 GWB Rz. 73. 253 Vgl. Bardong in Langen/Bunte, § 18 GWB Rz. 93; Kühnen in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 18 GWB Rz. 76. 254 Bergmann, Nachfragemacht, S. 89; Wolf in MünchKomm/GWB, § 18 GWB Rz. 17. 255 BGH v. 16.2.1982 – KVR 1/81 – Münchener Wochenblatt, AG 1982, 255; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 93. 256 BGH v. 21.2.1978 – KVR 4/77 – Kfz-Kupplungen, WuW/E BGH 1501 (1503); KG v. 18.10.1995 – Kart 18/93 – Fresenius/Schiwa, WuW/E OLG 5549 (5551): zur Eigenfertigung.
680
Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.126 Kap. 7
Da es keine wissenschaftlich fundierten Erfahrungssätze gibt, die festlegen, ab welchem Marktanteil oder bei welcher Marktstruktur funktionsfähiger Wettbewerb nicht mehr möglich ist, ist das aktuelle Wettbewerbsverhalten in die Betrachtung mit einzubeziehen.257 Bei dieser Beurteilung kommt es vor allem auf die Hauptformen des Wettbewerbs an, insbesondere den Preiswettbewerb.
7.121
Allerdings kann bei bloßem Fehlen des Preiswettbewerbs noch nicht auf das Vorliegen einer marktbeherrschenden Position geschlossen werden. Der BGH hat ausdrücklich entschieden, dass wesentlicher Wettbewerb auch bei der Summation untergeordneter Wettbewerbsformen (Produkt-, Qualitäts-, Service- und Konditionenwettbewerb) vorliegen kann, wenn der Wettbewerb in seiner Gesamtheit die wesentlichen Wettbewerbsfunktionen erfüllt und die Preissetzungsspielräume der Unternehmen begrenzt.258
7.122
Hat allerdings das fragliche Unternehmen einen großen Abstand vor seinen Konkurrenten, so ist nach Auffassung des KG selbst bei lebhaftem Wettbewerb auf dem Markt grundsätzlich von einer marktbeherrschenden Stellung auszugehen.259
7.123
An den gezeigten Beispielen wird deutlich, dass es bei der Beurteilung der Marktbeherrschung immer auf den konkreten Einzelfall ankommt. Auf jeden Fall sollte das aktuelle Wettbewerbsverhalten (Preisentwicklung, Nebenleistungswettbewerb etc.) so detailliert wie möglich geschildert werden.
7.124
cc) Die Oligopolklausel des § 18 Abs. 5 GWB Innerhalb der Oligopolklausel des § 18 Abs. 5 GWB muss zwischen dem Innen- und Außen- 7.125 verhältnis einer Oligopol-Gruppe differenziert werden. Nach § 36 Abs. 1 GWB können Zusammenschlüsse nur dann verboten werden, wenn im Innenverhältnis kein wesentlicher Wettbewerb zwischen den Mitgliedern der Gruppe besteht und im Außenverhältnis die Gruppe entweder eine überragende Marktstellung innehat oder kein wesentlicher Wettbewerb mit Dritten festgestellt werden kann.260 Bei der Beurteilung des Innenverhältnisses ist eine Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände maßgeblich.261 Wesentlicher Wettbewerb im Innenverhältnis wird dann verneint, wenn ein dauerhaft einheitliches Verhalten wirtschaftlich vernünftig und deswegen eine enge Reaktionsverbundenheit der beteiligten Unternehmen zu erwarten ist.262 Eine solche Reaktionsverbundenheit kann etwa aufgrund der Homogenität der betroffenen Produkte, eingeschränkten Innovationspotentials und stagnierender Marktverhältnisse, aufgrund der Markttransparenz hinsichtlich Herstellungskosten und Verkaufspreisen263 sowie wegen be257 Canenbley/Moosecker, S. 208. 258 BGH v. 22.6.1981 – KVR 5/80 – Tonolli/Blei- und Silberhütte Braubach, WuW/E BGH 1824 (1826) mit einer Richtpreisvorgabe durch die Metallbörse. 259 BGH v. 16.12.1976 – KVR 2/76 – Valium l, WuW/E BGH 1445; KG v. 8.12.1982 – Kart 42/81 – Lufthansa/f.i.r.s.t. – Reisebüro, AG 1983, 191. 260 Bechtold/Bosch, § 18 GWB Rz. 77 ff. 261 BGH v. 6.12.2011 – KVR 95/10 – Total/OMV, WuW/E DE-R 3591 Rz. 48 = AG 2012, 502. 262 BGH v. 6.12.2011 – KVR 95/10 – Total/OMV, WuW/E DE-R 3591 Rz. 48 = AG 2012, 502; KG v. 12.3.1997 – Kart 5/96 – Rheinpfalz/Medien Union, WuW/E OLG 5907 (5914) sprach von einem „Gruppenbewusstsein“. 263 Vgl. etwa BGH v. 11.11.2008 – KVR 60/07 – E.ON/Stadtwerke Eschwege, WuW/E DE-R 2451 = AG 2009, 503; BKartA v. 12.9.2003 – B8-21/03 – Agrana/Atys, WuW/E DE-V 823 (830); BKartA v. 19.1.2006 – B6-103/05 – Springer/Pro Sieben Sat 1, WuW/E DE-V 1163 (1169), bestätigt
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7.126
Kap. 7 Rz. 7.127
Kartellrecht
stehender Sanktionierungsmöglichkeiten bei wettbewerbsaktivem Verhalten oder wechselseitiger struktureller oder kooperativer Verbindungen anzunehmen sein.264 Soweit Wettbewerb objektiv nicht möglich ist (z.B. bei homogenen Massengütern, bei Preisvorgabe durch Börsenkurse), kommt es auf die Betrachtung der noch möglichen Wettbewerbsparameter an.265 Da wesentlicher Binnenwettbewerb hiernach selbst bei Ausschaltung zahlreicher Wettbewerbsfaktoren (z.B. Preis und Qualität) angenommen werden kann, wenn die Summation der verbleibenden untergeordneten Wettbewerbsformen die wesentlichen Wettbewerbsfunktionen erfüllt, war das BKartA in der Vergangenheit häufig mit erheblichen Beweisschwierigkeiten konfrontiert.
7.127 So wurde aufgrund der Annahme des Bestehens eines noch erheblichen Binnenwettbewerbs in der Vergangenheit eine marktbeherrschende Stellung regelmäßig verneint.266 In den letzten Jahren hat das BKartA dagegen vermehrt das Vorliegen eines ausreichenden Innenwettbewerbs verneint und die entsprechenden Zusammenschlussvorhaben nur unter Auflagen freigegeben oder gar untersagt, etwa auf dem Strommarkt,267 dem Stromverbrauchserfassungsmarkt,268 dem Tankstellenmarkt269 und dem Fernsehwerbemarkt.270
7.128 Für das Außenverhältnis wird auf die Grundsätze der Einzelmarktbeherrschung nach § 18 Abs. 1 GWB verwiesen. Keinesfalls ist ein automatischer Schluss von fehlendem Binnenwettbewerb auf fehlenden Außenwettbewerb zulässig.271 Auch genügt die formale Addition der Marktanteile und der Ressourcen für die Bejahung der überragenden Marktstellung (Nr. 2) nicht. Allerdings bildet die Gegenüberstellung der gemeinsamen Marktanteile der Oligopolmitglieder mit den individuellen Marktanteilen der Nicht-Mitglieder wiederum einen geeig-
264
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268 269 270 271
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durch OLG Düsseldorf v. 29.9.2006 – Kart 7/06 – Springer/Pro SiebenSat 1, WuW/E DE-R 2593; BKartA v. 11.4.2007 – B3-578/06 – Phonak/GN ReSound, WuW/E DE-V 1365; BKartA v. 29.4.2009 – B8-175/08 – Total Deutschland/OMV Deutschland, WuW/E DE-V 1719. BGH v. 6.12.2011 – KVR 95/10 – Total/OMV, WuW/E DE-R 3591 Rz. 48 ff. = AG 2012, 502; OLG Düsseldorf v. 2.11.2005 – VI-Kart 30/04 (V) – Rethmann/GfA, WuW/E DE-R 1625 (1629); OLG Düsseldorf v. 6.6.2007 – VI-2 Kart 7/04 (V)- E.ON/Stadtwerke Eschwege, WuW/E DE-R 2094 (2099). BGH v. 22.6.1981 – KVR 5/80 – Tonolli/Blei- und Silberhütte Braubach, WuW/E BGH 1824 (1826 ff.). KG v. 2.7.1982 – Kart 21/80 – Texaco/Zerssen, AG 1982, 311: Oligopol der sieben führenden Anbieter auf dem Mineralölmarkt; BGH v. 22.6.1981 – KVR 5/80 – Tonolli/Blei- und Silberhütte Braubach, WuW/E BGH 1824 (1826 ff.): Duopol auf dem Bleimarkt; BKartA, Tätigkeitsbericht 1981/1982, S. 66 – Jacobs/Interfood. BKartA v. 2.5.2002 – B 10-197/0 – Avery Dennison/Jackstädt, WuW/E DE-V 640: Duopol der verbliebenen Unternehmen auf dem Markt für Selbstklebematerialien; vgl. auch BKartA, Tätigkeitsbericht 1981/1982, S. 66 – Jacobs/Interfood: Oligopol der drei führenden Unternehmen auf dem Kaffeemarkt. BKartA v. 3.7.2000 – B8 U-309/99 – RWE/VEW, WuW/E DE-V 301; BKartA v. 17.1.2002 – B 8-109/01 – E.ON/Ruhrgas I, WuW/E DE-V 511; BKartA v. 26.2.2002 – B 8-149/01 – E.ON/ Ruhrgas II, WuW/E DE-V 533; BKartA v. 12.9.2003 – B8-21/03 – E.ON/Stadtwerke Eschwege, WuW/E DE-V 823. BKartA v. 23.5.2002 – B 10-177/01 – Viterra/Brunata, WuW/E DE-V 618. BKartA v. 29.4.2009 – B8-175/08 – Total Deutschland/OMV Deutschland, WuW/E DE-V 1719; BKartA v. 19.12.2001 – B8-120/01 – Shell/Dea sowie BKartA v. 19.12.2001 – B8-130/01 -BP/Veba Oel, jeweils zusammengefasst in WuW 2002, 252. BKartA v. 19.1.2006 – B 6-103/05 – Springer/Pro Sieben-Sat 1, WuW/E DE-V 1163 (1169). S. auch BKartA, Tätigkeitsbericht 2007/2008, BT-Drucks. 16/13500, 17 f.; BKartA, Sektoruntersuchung Submetering v. Mai 2017 – B8-51/15, S. 65. Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 161.
Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.132 Kap. 7
neten Ausgangspunkt für die Beurteilung einer marktbeherrschenden Stellung.272 Zu prüfen bleibt dann aber, ob gegebenenfalls ein kleinerer Wettbewerber durch z.B. Kostenvorteile und freie Kapazitäten oder ein potentieller Wettbewerber aufgrund geringer Marktzutrittsschranken Wettbewerbsdruck auf das Oligopol ausüben und dieses destabilisieren kann.273 Im Bereich des Getränkehandels stellte das BKartA fest, dass die Spitzengruppe des Lebensmitteleinzelhandels, bestehend aus Edeka, Rewe und der Schwarz-Gruppe, keinem begrenzenden Außenwettbewerb ausgesetzt sei, da die weiteren Wettbewerber nur über geringe Marktanteile verfügen.274 Im Vergleich dazu ging das OLG Düsseldorf im Bereich des Lebensmitteleinzelhandels in seinem Beschluss zur Übernahme Kaiser’s Tengelmann durch Edeka von einer drohenden Einzelmarktbeherrschung betroffener Absatzmärkte des Lebensmitteleinzelhandels durch Edeka aus.275 Auf eine gemeinsame Marktbeherrschung durch die Spitzengruppe des Lebensmitteleinzelhandels ging das Gericht nicht ein.276
7.129
Auch das BKartA stützte im Jahr 2008 seine Bedenken hinsichtlich einer Fusion im Bereich des Lebensmitteleinzelhandels allein auf eine u.U. entstehende Einzelmarktbeherrschung, vor allem wegen zu befürchtender Marktmacht auf den Beschaffungsmärkten, der Fähigkeit zur unabhängigen Preisgestaltung sowie aufgrund hoher Marktzutrittsschranken.277
7.130
c) Gesetzliche Vermutungen der Marktbeherrschung Zur Erleichterung der Feststellung, ob ein Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung besitzt, enthält das GWB zwei widerlegbare Vermutungstatbestände:
7.131
– die Grundvermutung für Einzelmarktbeherrschung bei mindestens 40 % Marktanteil (§ 18 Abs. 4 GWB)278 sowie – die Vermutung für Oligopolmarktbeherrschung von bis zu drei Unternehmen mit zusammen 50 % Marktanteil und von bis zu fünf Unternehmen mit zwei Drittel Marktanteil (§ 18 Abs. 6 GWB). In der Fusionskontrolle haben die Vermutungen nur geringe praktische Bedeutung erlangt. Dies hängt vor allem mit der beschränkten rechtlichen Wirkung der Vermutungen sowie damit zusammen, dass der Marktanteil nur ein Kriterium – wenn auch das wichtigste – für die wettbewerbliche Beurteilung darstellt. Das BKartA ist selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen der Vermutung nicht von der umfassenden Prüfung der Untersagungsvoraussetzun272 Leitfaden zur Marktbeherrschung in der Fusionskontrolle v. 29.3.2012, Rz. 114. 273 Vgl. BKartA v. 16.12.2009 – B3-91/09 – Celanese (Ticona)/FACT, Rz. 113 f.; Leitfaden zur Marktbeherrschung in der Fusionskontrolle v. 29.3.2012, Rz. 115 f. 274 BKartA v. 29.10.2010 – B2-47250 – Fa -52/10 – Edeka/Trinkgut, S. 140 f., es verneinte jedoch eine gemeinsame marktbeherrschende Stellung wegen eines möglichen Innenwettbewerbs. 275 OLG Düsseldorf v. 23.8.2017 – VI- Kart 5/16 (V) Rz. 77 ff. 276 Das BKartA hingegen ging in seinem Beschluss auch auf die Schwächung des Wettbewerbs durch Zweitrundeneffekte (Effekte des Zusammenschlusses auf Wettbewerber) ein und kam zu einer erheblichen Behinderung des Wettbewerbs aufgrund der mit der Übernahme des bisher unabhängigen Wettbewerbers Kaiser’s Tengelmann ausgelösten Stärkung der Position der anderen führenden Einzelhändler, BKartA v. 31.3.2015 – B2-96/14, Rz. 894 – Edeka/Kaiser’s Tengelmann. 277 BKartA v. 30.6.2008 – B2-333/07 – Edeka/Tengelmann, WuW/E DE-V 1607, freigegeben mit Veräußerungsauflagen. 278 Bis zur 8. GWB-Novelle lag die Vermutung bei einem Drittel.
Röhling 683
7.132
Kap. 7 Rz. 7.133
Kartellrecht
gen entbunden.279 Die Praxis stuft die Vermutungen damit in der Regel zunächst als „Aufgreifkriterien“ ein, die eine eingehende Überprüfung des Zusammenschlusses auslösen. Das BKartA und die Gerichte haben auch bei Eingreifen der Vermutungen die Untersuchungsmaxime der §§ 57 Abs. 1, 70 Abs. 1 GWB anzuwenden und die marktbeherrschende Stellung der beteiligten Unternehmen im Einzelnen darzulegen.280 Allerdings ist die Intensität der amtlichen Aufklärungspflicht, also die Verteilung der formellen Beweislast, bei Einzel- und Oligopolmarktbeherrschungsvermutung unterschiedlich zu beurteilen.281
7.133 In der Situation eines „non liquet“, d.h. wenn nach dem Ergebnis der Prüfung eine marktbeherrschende Stellung weder nachgewiesen noch auszuschließen ist, kann eine Untersagung jedenfalls auf die Marktbeherrschungsvermutungen gestützt werden, da die beteiligten Unternehmen bei der Einzel- wie auch bei der Oligopolmarktbeherrschungsvermutung die materielle Beweiskraft trifft.282 aa) Vermutung der Einzelmarktbeherrschung gem. § 18 Abs. 4 GWB
7.134 Bei einem Marktanteil von 40 % in dem als relevant bestimmten Markt ist die Vermutung der Einzelmarktbeherrschung erfüllt; die Kartellbehörden haben jedoch die Voraussetzungen der Vermutung nachzuweisen. Die Ermittlung der Marktanteile ist, außer für den Sonderfall des Vermögenserwerbs (§ 38 Abs. 5 GWB), im Gesetz nicht speziell geregelt. Da das Marktanteilskriterium für sich allein nur eine beschränkte Aussagekraft hat, kann diese Vermutung durch den Nachweis wesentlichen Wettbewerbs und durch das Fehlen einer überragenden Marktstellung widerlegt werden.283 Auch das Bestehen der Einzelmarktbeherrschung durch ein anderes Unternehmen oder die Beherrschung durch ein Oligopol widerlegt die Vermutung.284 bb) Oligopol-Marktbeherrschungsvermutung
7.135 Für enge Oligopole mit bis zu fünf Unternehmen wurden spezielle Vermutungsregelungen geschaffen. Eine marktbeherrschende Stellung liegt hiernach vor, – wenn eine Gruppe von bis zu drei Unternehmen einen Marktanteil von zusammen 50 % oder mehr hat, oder – wenn eine Gruppe von bis zu fünf Unternehmen einen Marktanteil von zwei Dritteln oder mehr erreicht.
279 BGH v. 19.12.1995 – KVR 6/95, AG 1996, 266 = WuW/E BGH 3037 (3039) – Raiffeisen; KG v. 26.5.1981 – Kart 14/80 – Braun/Almo, WuW/W OLG 2539 (2541): „Aus dem Vermutungstatbestand des § 22 Abs. 3 Nr. 1 GWB (§ 19 Abs. 3 Satz 1 GWB n.F.) ist in diesem Zusammenhang von vornherein nichts herzuleiten; denn auf diese Bestimmungen darf erst dann zurückgegriffen werden, wenn die in Betracht kommenden Feststellungen zur Frage der marktbeherrschenden Stellung getroffen worden sind und ihre Würdigung zu keinem Ergebnis führt.“ 280 BGH v. 21.2.1978 – KVR 4/77 – Kfz-Kupplungen, WuW/E BGH 1501; OLG Düsseldorf v. 3.12.2008 – Kart 7/06 – Springer/ProSiebenSat1, WuW/E DE-R 2593 (2596). 281 OLG Düsseldorf v. 3.12.2008 – Kart 7/06 – Springer/ProSiebenSat1, WuW/E DE-R 2593 (2596). 282 BGH v. 2.12.1980 – KVR 1/80 – Klöckner/Becorit, WuW/E BGH 1749; OLG Düsseldorf v. 7.5.2008 – VI (Kart) 13/07 V – Cargotec; vgl. auch Bardong in Langen/Bunte, § 19 GWB Rz. 316 f. 283 BKartA, Tätigkeitsbericht 1979/1980, BT-Drucks. 9/565, 69 – BASF/ACC; Wolf in MünchKomm/GWB, § 18 GWB Rz. 50. 284 Bechtold/Bosch, § 18 GWB Rz. 56.
684
Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.138 Kap. 7
Nach allgemeiner Auffassung muss die Gruppe aus den drei bzw. fünf nach Marktanteilen führenden Unternehmen gebildet werden.285
7.136
Ein entscheidender Unterschied der Oligopolvermutung gegenüber der Monopolvermutung 7.137 des § 18 Abs. 4 GWB besteht in einer echten Beweislastumkehr zu Lasten der beteiligten Unternehmen. Die am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen müssen bei Vorliegen der Voraussetzungen nachweisen, dass die Wettbewerbsbedingungen auch nach dem Zusammenschluss zwischen ihnen wesentlichen Wettbewerb erwarten lassen oder das Oligopol im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern keine überragende Marktstellung hat.286 Die formelle Beweislast liegt also zunächst bei den beteiligten Unternehmen, eine behördliche Aufklärungspflicht setzt erst dann ein, wenn Tatsachen den Unternehmen nicht zugänglich sind oder Ermittlungen sich aufgrund besonderer Kenntnisse des Amtes aufdrängen.287 Diese Vermutung kann nach § 18 Abs. 7 GWB widerlegt werden, wenn die Unternehmen nachweisen, dass die Wettbewerbsbedingungen im Innenverhältnis wesentlichen Wettbewerb erwarten lassen (Nr. 1) oder im Hinblick auf Wettbewerber im Außenverhältnis keine Marktbeherrschung besteht (Nr. 2). Die Widerlegung der Vermutung ist den Unternehmen bisher häufig gelungen,288 so dass das BKartA bisher nur wenige Untersagungen auf diese Vorschrift stützen konnte.289 Für die Widerlegung fordert das BKartA grundsätzlich strukturelle und langfristig bestehende Bedingungen, wie z.B. niedrige Marktzutrittsschranken, potentiellen Wettbewerb, besondere Absatzbedingungen, dauerhafte Überkapazitäten, Innovationen bzw. zu erwartender Technologiewandel, gegengewichtige Marktmacht etc.290 Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung sollte m.E. die Feststellung wesentlichen Wettbewerbs – trotz einer anscheinend schwierigen Marktstruktur – für die Widerlegung der qualifizierten Oligopolvermutung ausreichen.
285 Bechtold/Bosch, § 18 GWB Rz. 75 f.; differenzierend Bardong in Langen/Bunte, § 18 GWB Rz. 225. 286 OLG Düsseldorf v. 2.11.2005 – VI-Kart 30/04 (V)- Rethmann/GfA, WuW/E DE-R 1625 (1628 f.); vgl. auch BKartA v. 7.3.2008 – B8 – 134/07 – Shell/HPV, WuW/E DE-V 1584; BKartA v. 31.7.2002 – B3-27/02 – BASF/NPEG, WuW/E DE-V 653, 658. 287 OLG Düsseldorf v. 3.12.2008 – Kart 7/06 – Springer/ProSiebenSat1, WuW/E DE-R 2593 (2596). 288 S. etwa BKartA v. 31.1.2012 – B8-116/11 Rz. 127 ff. u. 165 ff. – Gazprom/VNG; BKartA v. 3.2.2004 – B3-112/03, II. A. 2.b)(1)(b) – Freudenberg/Burgmann; BKartA v. 2.5.2002 – B10-197/01 – Avery Dennison/Jackstädt, WuW/E DE-V 640; BKartA v. 20.11.2000 – B 4 – 96/00 – Novartis/Wesley Jensen, WuW/E DE-V 337; BKartA v. 11.2.2000 – B4-29240 – U-138/99 – Dürr/Alstom, WuW/E DE-V 235; BKartA v. 28.4.1999 – B3-24171 – U-6/99 – Dow Chemical/ Shell, WuW/E DE-V 109 ff.; vgl. auch OLG München 30.1.2003 WuW/E DE-R 1106, 1107 – Kleinstadtkino sowie Wolf in MünchKomm/GWB, § 18 GWB Rz. 64 m.w.N. 289 Z.B. BKartA v. 24.2.1982 – B6-691100 – U-49/81 – Morris/Rothmans, WuW/E BKartA 1943; BKartA v. 23.10.1981 – B6-745100 – U-47/81 – Burda/Springer, WuW/E BKartA 1921; BKartA v. 23.3.1982 – B9-712068 – U-2002/82 – Coop/Supermagazin, WuW/E BKartA 1970; BKartA v. 23.9.1985 – B6-717100 – U-26/85, AG 1986, 377 – NUR/ITS, AG 1986, 377; BKartA v. 8.12.1986 – B3-429630 – U-58/86 – Hüls/Condea, WuW/E 2247; BKartA v. 21.4.2004 – B 2 – 15130 – FA -160/03 – Agrana Zucker/Atys; BKartA v. 19.1.2006 – B6-103/05 – Springer/ProSiebenSat1, WuW/E DE-V 1163 sowie BKartA v. 11.4.2007 – B3-578/06 – Phonak/GN ReSound, WuW/E DE-V 1365. 290 Bechtold/Bosch, § 18 GWB Rz. 79; BKartA, Tätigkeitsbericht 1981/1982, BT-Drucks. 10/243, 23; BKartA v. 23.9.1985 – B6-717100 – U-26/85 – NUR/ITS, AG 1986, 377 (379 f.); BKartA v. 25.8.2016 – B9-50/16 Rz. 148 ff. – Nagel Group/MUK Transthermos.
Röhling 685
7.138
Kap. 7 Rz. 7.139
Kartellrecht
7.139 Im Fall „Nagel/Transthermo“291 sah beispielsweise das BKartA die qualifizierte Oligopolvermutung als widerlegt an, weil sich die dort relevanten Dienstleistungen nicht für ein oligopolistisches Parallelverhalten anbieten.
7.140 Bei sog. asymmetrischen Oligopolen mit einem unausgeglichenen Kräfteverhältnis zwischen den Oligopolmitgliedern sind sog. Aufholfusionen der kleineren Oligopolisten zuzulassen, wenn die Machtverteilung dadurch im Oligopol ausgeglichen (d.h. „symmetrischer“) wird, ohne dass sich das Oligopol wesentlich verengt.292
7.141 Im Übrigen ist bei der Anwendung des § 18 Abs. 6 GWB noch nicht höchstrichterlich geklärt, ob diese Vermutung lediglich auf die Alternative des Entstehens einer marktbeherrschenden Stellung anzuwenden ist oder auch auf die Fälle der Verstärkung.293 Das KG hat in der Sache „Morris/Rothmans“ entschieden, die Vermutung beziehe sich lediglich auf das Entstehen einer marktbeherrschenden Stellung.294 In der Literatur wird diese Ansicht geteilt.295
7.142 Umstritten ist zudem das Zusammenwirken von Monopolvermutungen und Oligopolvermutung.296 So ist fraglich, ob beide Vorschriften gleichzeitig angewendet werden können, wenn ein Unternehmen die jeweiligen Tatbestandsmerkmale beider Vermutungen gleichzeitig erfüllt.
7.143 Beispiel: Auf einem Markt konkurrieren ein Unternehmen mit 41 % und zwei Wettbewerber mit je 15 % Marktanteil.
7.144 Während das BKartA beide Vermutungen nebeneinander angewandt hat, vertritt das KG die Auffassung, es sei denkgesetzlich ausgeschlossen, dass ein Markt zur selben Zeit von einem Monopol und einem Oligopol beherrscht werden könne.297 Das heiße allerdings nicht, dass die Monopolvermutung durch die gleichzeitig vorliegende Oligopolvermutung ausgeschlossen wird.298 Entscheidend für die Anwendung der einen oder anderen Vermutung sei das Innenverhältnis der betreffenden Unternehmen. Bei wesentlichem Binnenwettbewerb im Oligopol greife danach die Monopolvermutung ein.299
291 BKartA v. 25.8.2016 – B 9 – 50/16 Rz. 148 ff. – Nagel Group/MUK Transthermos. 292 KG v. 2.7.1982 – Kart 21/80 – Texaco/Zerssen, WuW/E OLG 2663 (2675); Bechtold/Bosch, § 18 GWB Rz. 79; etwas enger BKartA, Tätigkeitsbericht 1981/1982, BT-Drucks. 10/243, 23. 293 Bechtold/Bosch, § 18 GWB Rz. 76; Canenbley/Moosecker, S. 227. 294 KG v. 1.7.1983 – Kart 16/82 – Philip Morris/Rothmans, WuW/E OLG 3051 (3080 f.); Bechtold/ Bosch, § 18 GWB Rz. 76. 295 Fuchs/Möschel in Immenga/Mestmäcker, § 18 GWB Rz. 161; Kühnen in Loewenheim/Meessen/ Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 18 GWB Rz. 105; Bechtold/Bosch, § 18 GWB Rz. 76; Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 36 GWB Rz. 267; noch anderer Ansicht: Mestmäcker/Veelken in Immenga/Mestmäcker, 4. Aufl. 2007, § 36 GWB Rz. 177; Möschel, S. 559. 296 Ausführlich und m.w.N. hierzu Wolf in MünchKomm/GWB, § 18 GWB Rz. 65 ff. 297 KG v. 16.1.1980 – Kart 14/79 – Tonolli/Blei- und Silberhütte Braubach, WuW/E OLG 2234; einschränkend für eine Vermutung zu Lasten des Unternehmens, für das beide Vermutungen erfüllt sind Bechtold/Bosch, § 18 GWB Rz. 71; gegen das KG Emmerich, AG 1982, 289 (296); der BGH hat sich mit dieser Frage in der Revisionsinstanz nicht mehr befasst, BGH v. 22.6.1981 – KVR 5/80, AG 1982, 44 – Tonolli/Blei- und Silberhütte Braubach, WuW/E BGH 1824. 298 KG v. 7.11.1985 – Kart 6/85 – Pillsbury/Sonnen-Bassermann, AG 1986, 226 (229). 299 KG v. 7.11.1985 – Kart 6/85 – Pillsbury/Sonnen-Bassermann, AG 1986, 226 (229); s. auch BKartA v. 1.2.2001 – B3-113/00 – 3 M/ESPE, WuW/E DE-V 427, 428.
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Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.146 Kap. 7
4. Begründung und Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung Ob eine marktbeherrschende Stellung durch den Zusammenschluss entsteht oder verstärkt wird, ist aufgrund einer Zukunftsprognose zu ermitteln.300 Das Gesetz verlangt einen Kausalzusammenhang, der zu verneinen ist, wenn die hypothetische Entwicklung ohne den Zusammenschluss zu der gleichen oder einer schlechteren Marktstruktur führt.301 Erforderlich ist eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ künftiger Behinderungen des Wettbewerbs durch Veränderungen seiner Rahmenbedingungen.302 Die Prognose erfolgt durch einen Vergleich der Wettbewerbsbedingungen vor und nach dem Zusammenschluss und erfordert eine Saldierung von positiven und negativen Wettbewerbseffekten.303 Veränderungen bei Dritten reichen für eine Untersagung grundsätzlich nicht aus.304 Allerdings dürfte die Verbundklausel des § 36 Abs. 2 GWB, die im gesamten Anwendungsbereich des Gesetzes gilt,305 dazu führen, dass Wettbewerbswirkungen bei in diesem Sinne verbundenen Unternehmen eine Untersagung rechtfertigen. Auch auf oligopolistisch geprägten Märkten können Veränderungen bei Dritten eine Untersagung rechtfertigen, vgl. unten Rz. 7.156.
7.145
Bestand vor dem Zusammenschluss bereits eine marktbeherrschende Stellung eines beteiligten Unternehmens, so ist die Alternative der „Verstärkung“ zu prüfen. Diese Fallgruppe stand bei den Untersagungen durch das BKartA in der Vergangenheit im Vordergrund der Entscheidungen. Eine Verstärkung setzt nach ständiger Rechtsprechung des BGH nicht notwendigerweise die Erhöhung der Marktanteile oder gar eine wesentliche oder auch nur spürbare Verstärkung voraus.306 Sie ist vielmehr auch schon dann gegeben, wenn die Unternehmen durch den Zusammenschluss den nachstoßenden Wettbewerb der Konkurrenten abmindern können, indem sie die aktuellen Wettbewerber durch den Ressourcenzuwachs von aggressiven Wettbewerbspraktiken abschrecken oder potentielle Konkurrenten von ei-
7.146
300 Dazu Bechtold/Bosch, § 36 GWB Rz. 9 f.; Kallfaß in Langen/Bunte, § 36 GWB Rz. 49; Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 36 GWB Rz. 611 ff.; grundlegend KG v. 14.4.1982 – Kart 23/80 – VEW/Gelsenwasser, WuW/E OLG 2677. 301 Sanierungsfälle, wenn der Marktanteil des erworbenen Unternehmens auch im Falle des Ausscheidens dem Erwerber zugefallen wäre, vgl. BGH v. 23.10.1979 – KVR 3/78 – Zementmahlanlage II, WuW/E BGH 1655 (1660); BKartA v. 21.10.2003 – B7-100/03 – Imation/EMTEC; BKartA v. 11.4.2006 – B6-42-/05 – RTL/n-tv, WuW/E DE-V 1226 (1234); BKartA v. 10.3.2005 – B10-123/04 – Rhön-Grabfeld, WuW/E DE-V 1087 (1102); Bechtold/Bosch, § 36 GWB Rz. 10. 302 BGH v. 19.6.2012 – KVR 15/11 – Haller Tagblatt, WuW 2012, 1189 Rz. 19 = AG 2012, 835. 303 Bechtold/Bosch, § 36 GWB Rz. 10 f. 304 KG v. 24.10.1979 – Kart 24/78 – Siegerländer Transportbeton, WuW/E OLG 2259 (2261); a.A. häufig BKartA, wonach die Fusionskontrolle marktbeherrschende Stellungen generell verhindern will (weshalb das Amt den Marktbeherrschungstest auch in der europäischen Fusionskontrolle für ausreichend hielt); vermittelnd Mestmäcker/Veelken in Immenga/Mestmäcker, 4. Aufl. 2007, § 36 GWB Rz. 137 f., wonach für eine Untersagung Marktbeherrschungseffekte bei i.S.v. § 37 Abs. 1 GWB beteiligten Unternehmen ausreichen; vgl. auch OLG Düsseldorf v. 6.6.2007 – VI-2 Kart 7/04 (V)- E.ON/Stadtwerke Eschwege, WuW/E DE-R 2094 (2106 f.). 305 BR-Drucks. 852/97, 57; Schulte, AG 1998, 297 (308); vgl. noch BGH v. 19.12.1995 – KVR 6/95 – Raiffeisen, WuW/E BGH 3037. 306 Etwa BGH v. 21.12.2004 – KVR 26/03 – Trans-o-flex, WuW/E DE-R 1419 (1424) = AG 2005, 198; OLG Düsseldorf v. 15.6.2005 – VI-Kart 25/04 (V) – G+J/RBA, WuW/E DE-R 1501 (1502); OLG Düsseldorf v. 2.11.2005 – VI-Kart 30/04 (V) – Rethmann/GfA, WuW/E DE-R 1625 (1629); s. auch BKartA v. 11.4.2006 – B6-142/05 – RTL/n-tv, WuW/E DE-V 1226 (1232); zustimmend Becker, EWiR 2005, 393 (394).
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Kap. 7 Rz. 7.147
Kartellrecht
nem Marktzutritt abhalten.307 Hierbei ist der Restwettbewerb umso schutzwürdiger und sind die Anforderungen an die Verstärkung umso geringer, je stärker die Marktstellung der beteiligten Unternehmen ist.308 So reichte in einem Fall der Erwerb eines Marktanteils von 1,3 % auf dem Hamburger Anzeigenmarkt durch den Springer-Verlag aus, um eine Untersagung zu rechtfertigen.309 In einem weiteren Fall wurde gar ein betroffener Marktanteil von weniger als 1 % als ausreichend angesehen.310 Der Erwerb von nur sechs Tankstellen durch Shell genügte dem BKartA im Jahr 2008 jedoch nicht, um eine untersagungsfähige Stärkung des marktbeherrschenden Oligopols auf den Tankstellenmärkten anzunehmen: Marktanteilszuwächse waren hier nur marginal und betrugen in wenigen Regionen maximal 0,7 %.311 Insgesamt soll einer weiteren Verkrustung der Märkte im Sinne einer Absicherung der marktbeherrschenden Stellung durch eine Verstärkung der Fähigkeit zur Abwehr des nachstoßenden Wettbewerbs entgegengewirkt werden.312 Im Fall „Melitta/Kraft“ bestätigte der BGH die Untersagung des BKartA, da der Erwerb eines bekannten Warenzeichens zur Verstärkung einer bereits bestehenden marktbeherrschenden Stellung des Erwerbers führte. Der BGH stellte dabei insbesondere auf die hohen Marktanteile (44,5 % bzw. 72 %), den erheblichen Abstand zu den Wettbewerbern und darauf ab, dass der Erwerb des Warenzeichens die Wettbewerber daran hinderte, dieses Zeichen ihrerseits zu nutzen, um die eigene Marktposition auszubauen.313
7.147 Gegenüber einer zu formelhaften Anwendung der sog. Abschreckungstheorie, die vor allem bei dem Zuwachs von Ressourcen und Finanzkraft Anwendung findet314 und auch bei der Begründung einer marktbeherrschenden Stellung herangezogen wird,315 erscheint jedoch Vorsicht geboten.316 Insbesondere verbietet sich die Gleichstellung hoher Umsatzanteile mit großer Finanzkraft. a) Differenzierung nach Zusammenschlusstatbeständen
7.148 § 36 Abs. 1 GWB spricht allgemein vom „Zusammenschluss“ und behandelt damit die vier Tatbestände des § 37 Abs. 1 GWB grundsätzlich gleich. In jedem Einzelfall sind deshalb die 307 Sog. Abschreckungstheorie; BGH v. 28.9.1982 – KVR 8/81 – Springer/AZ, AG 1983, 157 (159); BGH v. 25.6.1985 – KVR 3/84 – Rheinmetall/WMF, WuW/E BGH 2150; vgl. auch BGH v. 27.5.1986 – KVR 7/84 – SZ/Donaukurier, AG 1986, 362 (364 f.); KG v. 22.3.1990 – Kart 6/89 – Linde/Lansing, WuW/E OLG 4537 (4544 f.); BKartA v. 30.11.1989 – B2-685300 – U – 75/89 – Nordfleisch/CG Hannover, WuW/E BKartA 2428 (2433); BKartA v. 27.3.2013 – B2-113/12 Rz. 161. 308 BGH v. 21.12.2004 – KVR 26/03 – Trans-o-flex, WuW/E DE-R 1419 (1424) = AG 2005, 198; Becker/Knebel/Christiansen in MünchKomm/GWB, § 36 GWB Rz. 91 m.w.N. 309 BGH v. 18.12.1979 – KVR 2/79 – Springer/Elbe Wochenblatt, WuW/E BGH 1685; s. auch BGH v. 29.9.1981 – KVR 2/80 – Springer/MZV, AG 1982, 133; BGH v. 6.3.2001 – KVR 18/99 – Werra Rundschau, WuW/E DE-R 668 = MDR 2001, 886 = AG 2001, 414. 310 BKartA v. 12.9.2003 – B8-21/03 – E.ON/Stadtwerke Eschwege, WuW/E DE-V 823. 311 BKartA v. 7.3.2008 – B8-134/07 – Shell/HPV, WuW/E DE-V 1584. 312 BGH v. 29.9.1981 – KVR 2/80 – Zeitungsmarkt München, WuW/E BGH 1854 (1859 f.); BGH v. 10.12.1991 – KVR 2/90 – Inlandstochter, WuW/E BGH 2731 (2737). 313 BGH v. 7.7.1992 – KVR 14/91 – Warenzeichenerwerb, WuW/E BGH 2783 (2792 f.). 314 BGH v. 25.6.1985 – KVR 3/84 – Rheinmetall/WMF, WuW/E BGH 2150 (2157); BKartA v. 27.3.2013 – B2-113/12 Rz. 161. 315 KG v. 7.11.1985 – Kart 6/85 – Pillsbury/Sonnen-Bassermann, AG 1986, 226 (227 f.). 316 Fuchs/Möschel in Immenga/Mestmäcker, § 18 GWB Rz. 10; vgl. auch Monopolkommission, Hauptgutachten VI Rz. 443 ff., insb. Rz. 458; eingehend Möschel, Abschreckungstheorie und Fusionskontrolle; Bechtold/Bosch, § 36 GWB Rz. 22.
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A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.152 Kap. 7
konkreten Einflussmöglichkeiten der beteiligten Unternehmen aufeinander zu untersuchen.317 Allerdings ist in der Praxis nicht zu verkennen, dass die Entstehung einer neuen wettbewerblichen Einheit, die zur uneingeschränkten Addition von Marktanteilen, Potential und Ressourcen im Rahmen der Prüfung des § 36 Abs. 1 GWB führt, von der Art des Zusammenschlusstatbestandes abhängig ist.318 Beim Tatbestand des Vermögenserwerbs (§ 37 Abs. 1 Nr. 1 GWB) bilden Erwerber und das erworbene Vermögen bzw. der erworbene Vermögensteil eine wirtschaftliche Einheit. Sämtliche Potentiale sind zusammenzurechnen.
7.149
Beim Kontrollerwerb (§ 37 Abs. 1 Nr. 2 GWB) ist zu differenzieren. Wird die Alleinkontrolle erworben, ist eine Zusammenrechnung der Ressourcen zu einer wirtschaftlichen Einheit naturgemäß gerechtfertigt. Bei gemeinsamer Kontrolle dagegen ist diese Annahme im Verhältnis der einzelnen mitkontrollierenden Unternehmen zum kontrollierten Unternehmen319 davon abhängig, inwieweit positive Einflussmöglichkeiten und nicht bloße „Vetorechte“ die Mitkontrolle prägen.320 Umstritten ist, ob in der Umwandlung von gemeinsamer zu alleiniger Kontrolle ein marktstrukturrelevanter Vorgang zu erblicken ist.321
7.150
Wird beim Anteilserwerb nicht die Kontrolle übernommen, werden aber die Schwellenwerte des § 37 Abs. 1 Nr. 3 GWB erreicht, ist gleichfalls zu prüfen, wie die Einflussnahme konkret ausgestaltet ist. Horizontale Zusammenschlüsse begründen dabei eher marktbeherrschende Effekte als vertikale oder konglomerate Zusammenschlüsse; vgl. nachfolgend Rz. 7.153 ff. Keinesfalls ist die Fiktion des § 37 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3 GWB bei dieser materiell-rechtlichen Bewertung zur Begründung einer wirtschaftlichen Einheit heranzuziehen.322
7.151
Im Fall der sonstigen Verbindung mit wettbewerblich erheblichem Einfluss (§ 37 Abs. 1 Nr. 4 GWB) entsteht grundsätzlich keine neue wettbewerbliche Einheit. Im Einzelfall kann jedoch die Zurechnung bestimmter Ressourcen möglich sein.323 Die konkrete Feststellung der Untersagungsvoraussetzungen dürfte denn auch die Ausnahme bleiben und dann die Verstärkung einer bereits bestehenden marktbeherrschenden Stellung betreffen.
7.152
317 Vgl. BGH v. 2.10.1984 – KVR 5/83 – Gruner+Jahr/Zeit, WuW/E BGH 2112 (2114 ff.) = MDR 1985, 295. 318 Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 36 GWB Rz. 50; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 180 ff. 319 Die mitkontrollierenden Unternehmen untereinander bilden keine wettbewerbliche Einheit. 320 An dieser Stelle ist relevant, ob man das Kartellverbot (§ 1 GWB) auf das Verhältnis der einzelnen mitkontrollierenden Unternehmen zum kontrollierten Unternehmen anwendet. Bejaht man dies, stuft man die Unternehmen als wirtschaftlich unabhängig ein und muss folglich eine wettbewerbliche Einheit ablehnen (vgl. zur Abgrenzung BKartA v. 21.8.1997 – B2-15111 – U – 13/97, WuW/E DE-V 9, 13 ff.; BGH v. 8.5.2001 – KVR 12/99 – Ostfleisch, WuW/E DE-R 711 = AG 2002, 82). 321 Skeptisch Bechtold/Bosch, § 36 GWB Rz. 15; bejahend etwa Becker/Knebe/Christiansen in MünchKomm/GWB, § 36 GWB Rz. 92, sowie die Praxis, s. etwa BGH v. 16.1.2007 – KVR 12/06 – National Geographic II, WuW/E DE-R 1925 (1930) = AG 2007, 490. 322 BGH v. 12.12.1978 – KVR 6/77 – Erdgas Schwaben, WuW/E BGH 1533 (1538); s. auch BKartA v. 22.5.2001 – B3-11/01 – Burgmann/Freudenberg, WuW/E DE-V 473; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 190. 323 BKartA v. 29.5.1996 – B8-40000 – U148/95 – Veba/Stadtwerke Bremen.
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Kap. 7 Rz. 7.153
Kartellrecht
b) Horizontale Zusammenschlüsse
7.153 Eine Verschlechterung der Wettbewerbssituation aufgrund des Zusammenschlusses von Unternehmen, die auf denselben Märkten agieren, ergibt sich fast zwangsläufig324 und lässt sich zumeist anhand der Marktanteilsauswirkung bestimmen. Bildet sich eine hinreichend qualifizierte Verbindung der Unternehmen und damit eine neue wettbewerbliche Einheit, sind die Marktanteile zu addieren.325 Allerdings sind Marktreaktionen und Abschmelzungseffekte zu berücksichtigen, die beispielsweise die Marktgegenseite zur Vermeidung von Abhängigkeiten hervorrufen wird.326 Andererseits ergibt sich eine Verschlechterung der Wettbewerbssituation aufgrund des Fortfalls aktueller oder potentieller Wettbewerber.327 Letzterer Aspekt steht bei bloßen Minderheitsbeteiligungen, bei denen sich eine Addition der Marktanteile zumeist verbietet, im Mittelpunkt. Den analytischen Ansatz, nach dem das BKartA beurteilt, ob durch einen horizontalen Zusammenschluss eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird, hat das BKartA in einem Leitfaden zusammengefasst.328 c) Vertikale Zusammenschlüsse
7.154 Zusammenschlüsse zwischen Unternehmen unterschiedlicher Marktstufen329 können Marktbeherrschungseffekte vor allem hinsichtlich des Kriteriums „Zugang zu den Beschaffungsoder Absatzmärkten“ bewirken. Dabei sind Ausschlusseffekte zu Lasten von Wettbewerbern durch eine langfristige Absicherung der Lieferbeziehung und damit eine nachhaltige Beeinträchtigung der Wettbewerbsstruktur zu befürchten.330 Den analytischen Ansatz, nach dem das BKartA beurteilt, ob durch einen vertikalen Zusammenschluss eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird, hat das BKartA ebenfalls in seinem Leitfaden zusammengefasst.331 d) Konglomerate Zusammenschlüsse
7.155 Bei sonstigen Zusammenschlüssen von Unternehmen ist die Nähe der Tätigkeitsbereiche von entscheidender Bedeutung, da möglicherweise Substitutionswettbewerb oder potentiel-
324 325 326 327 328 329 330
331
690
Schultz/Wagemann, Rz. 318; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 90. KG v. 16.4.1997 – Kart 2/96, WMF/Auerhahn, WuW/E OLG 5879 (5885) = AG 1998, 234. Etwa BKartA v. 11.5.2007 – B7-13/07 – KLA-Tencor/Therme-Wave, WuW/E DE-V 1425. BGH v. 7.7.1992 – KVR 14/91 – Warenzeichenerwerb, WuW/E BGH 2783 (2793) = AG 1993, 36 = MDR 1993, 35; BKartA v. 27.2.1997 – Kali+Salz/Potash; Tätigkeitsbericht 1997/98, BTDrucks. 14/1139. BKartA, Leitfaden zur Marktbeherrschung in der Fusionskontrolle v. 29.3.2012 Rz. 21 ff., abrufbar auf der Homepage des BKartA unter www.bundeskartellamt.de. Beispielsweise Hersteller und Händler, Zulieferer und Hersteller. Für den Presseeinzelhandel: BKartA v. 3.1.1997 – B6-52613 – U108/96 – ASV/Postdienst-Service, WuW/E BKartA 2909 (2911 ff.); BKartA v. 6.11.1997 – B6-52473 – U-136/96 – ASV/Stilke, WuW/E DE-V 1 (5 ff.); im Energiebereich BGH v. 15.7.1997 – KVR 33/96 – Stromversorgung Aggertal, WuW/E DE-R 24 (29 f.) = AG 1998, 338; BGH v. 15.7.1997 – KVR 21/96 – Stadtwerke Garbsen, WuW/E DE-R 32 = AG 1998, 335; OLG Düsseldorf v. 23.11.2005 – VI-2 Kart 14/04 (V) – Mainova/AschaffenburgerVersorgungsGmbH WuW/E DE-R 1639 (1642 ff.); BKartA v. 12.9.2003 – B8-21/03 – E.ON/Stadtwerke Eschwege, WuW/E DE-V 823 (826 ff.); hierzu ausführlich Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 125 ff. BKartA, Leitfaden zur Marktbeherrschung in der Fusionskontrolle v. 29.3.2012 Rz. 129 ff., abrufbar auf der Homepage des BKartA unter www.bundeskartellamt.de.
Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.157 Kap. 7
ler Wettbewerb gemindert wird.332 Bei reinen konglomeraten Zusammenschlüssen ohne jegliche Marktnähe rückt nach der Rechtsprechung der Zuwachs an Finanzkraft und damit einhergehend die „Abschreckung“ von Wettbewerbern in den Mittelpunkt.333 Dieses Kriterium läuft allerdings in der Regel auf eine nach dem Gesetz nicht vorgesehene und damit unzulässige bloße „Größenkontrolle“ unter Vernachlässigung des Marktmachtkonzeptes hinaus. Auch für konglomerate Zusammenschlüsse334 hat das BKartA seinen analytischen Ansatz zur Ermittlung, ob eine marktbeherrschende Stellung durch den Zusammenschluss entsteht oder verstärkt wird, in seinem Leitfaden zusammengefasst.335 e) Oligopol-Zusammenschlüsse (Oligopolmarktbeherrschung) Zusammenschlüsse von Oligopolmitgliedern rufen dann Marktbeherrschungseffekte hervor, 7.156 wenn mit der neuen Stellung der Oligopolgruppe eine Verschlechterung der Wettbewerbsstruktur nach außen, d.h. im Verhältnis zu den restlichen Wettbewerbern einhergeht oder der Innenwettbewerb der Oligopolmitglieder untereinander weiter erlahmt. Die Stärkung nur eines Oligopolmitglieds kann so durchaus ambivalent bewertet werden:336 Nach außen erscheint das Oligopol zunächst schlagkräftiger, im Innenwettbewerb kann es aber durchaus zu einer Belebung des Wettbewerbs und damit einer Verminderung der Reaktionsverbundenheit kommen, wenn ein kleineres Mitglied an Stärke gewinnt (sog. Aufholfusion im Oligopol).337 5. Abwägungsklausel des § 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 GWB Ein Zusammenschluss darf nicht untersagt werden, wenn die beteiligten Unternehmen nachweisen, dass durch den Zusammenschluss auch Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen eintreten und dass diese die Nachteile der Marktbeherrschung überwiegen.338 332 So insbesondere, wenn die Märkte sachlich identisch, aber räumlich getrennt sind. Vgl. ferner etwa BKartA v. 19.1.2006 – B6-103/05 – Springer/ProSiebenSat1, WuW/E DE-V 1163 (1170 f.), zu möglichen marktübergreifenden Effekten durch Cross-Promotion; hierzu auch Kuchinke/ Schubert, WuW 2006, 477. 333 BGH v. 25.6.1985 – KVR 3/84 – Rheinmetall/WMF, WuW/E BGH 2150 (2157) = AG 1985, 334 = MDR 1986, 470; BGH v. 21.2.1978 – KVR 4/77 – Kfz Kupplungen, WuW/E BGH 1501 (1506 f.). 334 Das BKartA prüft, ebenso wie die Kommission, auch diese Zusammenschlussform. Dagegen hat das US Department of Justice in seinen Richtlinien konglomerate Zusammenschlüsse für grundsätzlich unbedenklich erklärt. 335 BKartA, Leitfaden zur Marktbeherrschung in der Fusionskontrolle v. 29.3.2012 Rz. 160 ff., abrufbar auf der Homepage des BKartA unter www.bundeskartellamt.de. 336 Str., einerseits BGH v. 12.2.1980 – KVR 4/79 – Bituminöses Mischgut, WuW/E BGH 1763 = AG 1981, 219; offengelassen BGH v. 22.6.1981 – KVR 5/80 – Tonolli/Blei- und Silberhütte Braubach, WuW/E BGH 1824 (1828) = AG 1982, 44, andererseits Vorinstanz KG v. 16.1.1980 – Kart 14/79 – Tonolli/Blei- und Silberhütte Braubach, WuW/E 2234 (2238) = AG 1980, 228; Richter/ Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 163 m.w.N. 337 Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 163; vgl. etwa BKartA v. 11.4.2007 – B3-578/06 – Phonak/GN ReSound, WuW/E DE-V 1365: Entstehung eines marktbeherrschenden Oligopols durch Zunahme der marktanteilsbezogenen Symmetrie; BGH v. 8.6.2010 – KVR 4/09 Rz. 45 – Springer/Pro Sieben II = AG 2010, 832. 338 Über die umstrittene Beibehaltung der Abwägungsklausel nach der 6. GWB-Novelle vgl. Bechtold/Bosch, § 36 GWB Rz. 36 f.; zur Entstehungsgeschichte und Zweck der Abwägungsklausel Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 36 GWB Rz. 707 ff.
Röhling 691
7.157
Kap. 7 Rz. 7.158
Kartellrecht
Für diesen Nachweis liegt die volle Beweislast bei den beteiligten Unternehmen.339 In erster Linie werden in diesem Zusammenhang nur marktstrukturelle Gesichtspunkte berücksichtigt.340 Vorteile, die lediglich bei den beteiligten Unternehmen eintreten (Rationalisierung, Zuwachs an Finanzmitteln), sind nach der Auffassung des BKartA und der Rechtsprechung deshalb nur relevant, soweit sie sich auch strukturell auf einem Markt auswirken.341 In der Entscheidung „Anzeigenblätter II“ hat der BGH verlangt, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem Markt, auf dem die Wettbewerbsvorteile auftreten sollen, es dem Unternehmen derart nahe legen, zusätzliche Finanzmittel, die aus dem Zusammenschluss stammen, für die weitere Wettbewerbstätigkeit auf diesem Markt einzusetzen, dass dieses Verhalten mit ausreichender Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann. Zugrunde gelegt werden können allgemeine Erfahrungen zu wirtschaftlich rationalem Unternehmerverhalten.342 An die Voraussetzungen einer solchen Erwartung seien dabei keine geringen Anforderungen zu stellen.343 Zu bedenken ist außerdem, dass zusammenschlussbedingte, positive und negative Aspekte der Marktstrukturveränderung auf dem Markt, für den das Entstehen oder die Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung geprüft wird, grundsätzlich bereits im Rahmen der nach § 36 Abs. 1 Satz 1 GWB gebotenen Gesamtbetrachtung zu berücksichtigen sind.344
7.158 In der gleichen Weise sind gesamtwirtschaftliche Vorteile, wie z.B. Verbesserung der Arbeitsmärkte oder der Regionalstruktur, im Rahmen der Fusionskontrolle des BKartA nicht berücksichtigungsfähig.345 Diese volkswirtschaftlichen Gesichtspunkte können höchstens im ministeriellen Erlaubnisverfahren berücksichtigt werden.
7.159 Typische Anwendungsfälle der Abwägungsklausel sind Zusammenschlüsse, die sich auf mehreren Märkten auswirken, wobei auf einem relativ unbedeutenden Markt eine marktbeherrschende Stellung entsteht, während auf einem anderen, bedeutsameren Markt die Marktstruktur durch Stärkung der Wettbewerber gegenüber einem mächtigen, jedoch nicht zwingend marktbeherrschenden346 Konkurrenten verbessert wird.347 339 Allerdings muss das BKartA von Amts wegen ermitteln, wenn die Beteiligten entlastende Tatsachen substantiiert vortragen und die Unterlagen nur von der Kartellbehörde beigebracht werden können; Kallfaß in Langen/Bunte, § 36 GWB Rz. 131. Vgl. OLG Düsseldorf v. 18.10.2006 – VIKart 2/05 (V) – SES/DPC, WuW/E DE-R 1845. 340 Kallfaß in Langen/Bunte, § 36 GWB Rz. 123; s. dazu auch Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 36 GWB Rz. 716. 341 BKartA v. 29.5.1974 – B8–221831-U-95/73 – Bitumen Verkaufsgesellschaft, WuW/E BKartA 1517 (1520); BKartA v. 23.12.1974-B8–281100-U-251/74 – Kaiser/VAW, WuW/E BKartA 1571; KG v. 15.12.1993 – Kart 15/92 – Krupp/Daub (Großbacköfen), WuW/E OLG 5271 (5285) = AG 1994, 513. 342 OLG Düsseldorf v. 18.10.2006 – VI-Kart 2/05 (V) – SES/DPC, WuW/E DE-R 1845 (1853 f.). 343 BGH v. 8.2.1994 – KVR 8/93 – Anzeigenblätter II, WuW/E BGH 2899 (2903) = MDR 1994, 1201. 344 BKartA v. 23.9.1985 – B6-717100 – U-26/85 – NUR/ITS, AG 1986, 377 (382). 345 BKartA, Leitfaden Fusionskontrolle Rz. 187; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 206; BKartA v. 17.12.1976 – B7-32110-U-36/76 – Rheinstahl/Hüller, WuW/E BKartA 1657 (1666); Tätigkeitsbericht 1976, BT-Drucks. 8/704, 80 – Karstadt/Neckermann; Becker/Knebel/Christiansen in MünchKomm/GWB, § 36 GWB Rz. 206. 346 Wie hier OLG Düsseldorf v. 18.10.2006 – VI-Kart 2/05 (V)- SES/DPC WuW/E DE-R 1845 (1848 ff.); Mestmäcker/Veelken in Immenga/Mestmäcker, 4. Aufl. 2007, § 36 GWB Rz. 333; dagegen einen Abbau von Marktbeherrschung fordernd BKartA v. 28.12.2004 – B7-150/04 – SES/ DPC, WuW/E DE-V 1039 (1042); BKartA v. 3.4.2008 – B7-200/07 – Kabel Deutschland, WuW/E DE-V 1567. 347 Regierungsbegründung 1971, BT-Drucks. VI/2520, 29; etwa BKartA v. 12.10.2007 – B8-59/07 – trac-x, WuW/E DE-V 1500 (1506).
692
Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.164 Kap. 7
Beispiel: Im Fall „NetCologne“ wurde ein Zusammenschluss deshalb nicht untersagt, weil
7.160
die Verschlechterung der Wettbewerbsbedingungen im Bereich von Einspeisung und Durchleitung von Fernsehsignalen im Breitbandkabelnetz durch eine Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen auf dem Markt für Festnetztelefonie und Internetzugang kompensiert wurden.348 Neben dem Regelfall von Vorteilen auf Drittmärkten können ausnahmsweise auch auf dem beherrschten Markt relevante Verbesserungen entstehen, wenn z.B. ein Anteilserwerb zu einer Konzentration beim Erwerber und zu einer bedeutenden Dekonzentration bei einem bisher marktbeherrschenden Veräußerer führt.
7.161
Diese Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen müssen die Nachteile der marktbeherr- 7.162 schenden Stellung nicht nur aufwiegen, sondern überwiegen.349 Weiterhin muss festgestellt werden, dass die Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen kausal durch den Zusammenschluss ausgelöst werden. Dies ist ausgeschlossen, wenn die Veränderung auch ohne den Zusammenschluss eintreten würde.350 Das BKartA sieht die Abwägungsklausel auch dann nicht als erfüllt an, wenn die Verbesserung der Marktstruktur mit weniger wettbewerbsbeschränkenden Mitteln erreichbar ist.351 Ein besonderes Problem stellen sog. Sanierungsfusionen dar, also Zusammenschlüsse zur 7.163 Rettung eines in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens.352 Das BKartA sah bisher in der Übernahme eines insolvenzreifen Unternehmens durch einen marktmächtigen Konkurrenten keine Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen, da die freiwerdenden Marktanteile im Falle des Zusammenschlusses ausschließlich dem Marktbeherrscher zugutekommen, während sie sich im Falle der Insolvenz auf alle Wettbewerber verteilten.353 Sind auf einem Markt nur zwei Unternehmen tätig und wird der eine Wettbewerber von dem anderen erworben, dann kann es bereits an der Kausalität des Zusammenschlusses für das Entstehen oder Verstärken einer marktbeherrschenden Stellung fehlen, da die Marktanteile des erworbenen Unternehmens dem Erwerber ohnehin zugefallen wären.354 Zusätzlich wird aber zumeist gefordert, dass keine weniger wettbewerbsschädliche Erwerbsalternative in Betracht kommt.355 Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Abwägungsklausel des § 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 7.164 GWB, nachdem sie zunächst sehr restriktiv gehandhabt worden war und daher in der Praxis 348 BKartA v. 4.4.2001 – B7-205/00 – NetCologne, WuW/E DE-V 413 (416 ff.). 349 A.A. Bechtold/Bosch, § 36 GWB Rz. 38. 350 BGH v. 12.12.1978 – KVR 6/77 – Erdgas Schwaben, WuW/E BGH 1533; BKartA v. 28.12.2004 – B7-150/04 – SES/DPC, WuW/E DE-V 1039 (1045 f.); OLG Düsseldorf v. 18.10.2006 – VI-Kart 2/05 (V) – SES/DPC, WuW/E DE-R 1845 (1848 ff.). 351 BKartA v. 23.12.1974 – B8–281100-U-251/74 – Kaiser/VAW, WuW/E BKartA 1571 (1582). 352 Ausführlich zu dieser Problematik der Fall Münsteraner Zeitungsmarkt, BKartA v. 1.12.2014 – B6-97/14 – Fallbericht; sowie BKartA v. 10.12.2002 – B6-22121-U-98/02 – Holtzbrinck/Berliner Verlag, WuW/E DE-V 695; BKartA v. 21.10.2003 – B7–100/03 – Imation/EMTEC; BKartA v. 27.2.2013 – B6-9/13 – Frankfurter Rundschau/Frankfurter Allgemeine Zeitung; s. auch Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 36 GWB Rz. 733, sowie Becker/Knebel/Christiansen in MünchKomm/GWB, § 36 GWB Rz. 211. 353 BKartA v. 25.3.1976 – Babcock/Artos, WuW/E BKartA 1653. 354 BKartA, Tätigkeitsbericht 1985/1986, BT-Drucks. 11/554, 87 – Darmstädter Echo/Darmstädter Tageblatt. 355 Ebenso BKartA v. 21.10.2003 – B7-100/03 – Imation/EMTEC.
Röhling 693
Kap. 7 Rz. 7.165
Kartellrecht
eine eher untergeordnete Rolle gespielt hatte,356 in den letzten Jahren vermehrt Gegenstand der Prüfung durch das BKartA gewesen ist.357
VI. Fusionskontrollverfahren 1. Präventive Anmeldepflicht nach § 39 Abs. 1 GWB und Vollzugsverbot nach § 41 Abs. 1 GWB
7.165 Im Anwendungsbereich der Fusionskontrolle sind sämtliche Zusammenschlussvorhaben präventiv beim BKartA anzumelden. Das gilt auch für Zusammenschlüsse auf Bagatellmärkten (§ 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 GWB) oder Sanierungsfusionen im Pressebereich (§ 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 GWB), die vom BKartA nicht untersagt werden können. Vor Erlass einer Freigabeentscheidung durch das BKartA besteht ein bußgeldbewährtes Vollzugsverbot (§§ 41 Abs. 1, 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB). Zivilrechtlich sind alle Rechtsgeschäfte, die gegen das Vollzugsverbot verstoßen, schwebend unwirksam.358 Wirksam werden sie erst durch eine Freigabeentscheidung des BKartA, die trotz Bekundung der Unmöglichkeit einer nachträglichen Anmeldung vollzogener Zusammenschlüsse durch das BKartA359 zumindest konkludent in der Einstellung des Entflechtungsverfahrens zu erblicken ist,360 oder ausnahmsweise durch Fristablauf (dazu nachfolgend Rz. 7.182).361 Zu beachten ist, dass beim Anteilserwerb nach § 37 Abs. 1 Nr. 3 GWB erst der Übergang der Anteile den Vollzug darstellt, der bloße Bestand eines Optionsrechts genügt dagegen nicht.362 a) Verpflichteter Personenkreis (§ 39 Abs. 2 GWB)
7.166 Anmeldepflichtig sind alle am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen.363 Hierdurch wird theoretisch eine Vielzahl von Anzeigen und Anmeldungen in einem einzigen Zusam356 Emmerich, AG 1986, 345 (357 ff.). 357 Das Überwiegen der Verbesserungen bejahend: BKartA v. 3.7.2000 – B8-40000-U-309/99 – RWE/ VEW, WuW/E DE-V 301; BKartA v. 4.9.2000 – B8-132/00 – HeinGas, WuW/E DE-V 360; BKartA v. 4.4.2001 – B7-205/00 – NetCologne, WuW/E DE-V 413; BKartA v. 29.7.2002 – B8–23/02 – EnBW/ZEAG, WuW/E DE-V 685; ablehnend: BKartA v. 22.2.2002 – B7-168-01 – Liberty/KDG, WuW/E DE-V 558; BKartA v. 10.12.2002 – B 6 – 22121 – U 98/02 – Holtzbrinck/Berliner Verlag, AG 2003, 495; BKartA v. 3.4.2008 – B7-200/07 – Kabel Deutschland, WuW/E DE-V 1567; BKartA, Tätigkeitsbericht 2007/2008, BT-Drucks. 16/13500, 20; s. auch OLG Düsseldorf, WuW/E DE-V 665 – NetCologne; BKartA v. 9.7.2009 – B6-38/09 Rz. 104 ff. – sh.z/Elmshorner Nachrichten; eine überwiegende Verbesserung jedoch verneinend: BKartA v. 13.8.2015 – B9 – 48/15 Rz. 286; BKartA v. 13.7.2013 – B4-18/13 Rz. 314 – Prosegur SA/Brink’s; BKartA v. 22.11.2012 – B3-64/12 Rz. 49 – Lenzing/Kelheim; BKartA v. 15.12.2011 – B7-66-11 Rz. 275 ff. – Liberty Global/Kabel B-W. 358 BGH v. 31.10.1978 – KVR 3/77 – Weichschaum III, WuW/E BGH 1556. 359 BKartA, Mitteilung zur Behandlung von nachträglich angemeldeten Zusammenschlüssen v. 13.5.2008, abrufbar auf der Homepage des BKartA unter www.bundeskartellamt.de; kritisch Hahn, WuW 2007, 1084 (1095); Mayer/Miege, BB 2008, 2031 (2033 ff.); befürwortend Stauber, WuW 2009, 20. 360 So auch Hahn, WuW 2007, 1084 (1095); Mayer/Miege, BB 2008, 2031 (2034); entsprechend auch BKartA, Tätigkeitsbericht 2007/2008, BT-Drucks. 16/13500, 21. 361 Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 40 GWB Rz. 17. 362 BGH v. 27.5.1986 – KVR 7/84 – SZ/Donaukurier, AG 1986, 362 (364) = MDR 1986, 913. 363 Betroffen sind die gesetzlich oder satzungsmäßig zur Vertretung berufenen Personen, bei Einzelunternehmen also die Inhaber, bei einer AG der Vorstand und bei einer GmbH der oder die Geschäftsführer.
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Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.171 Kap. 7
menhang erforderlich. Da dies unpraktikabel ist, wird die Anmeldung in aller Regel von einem einzigen Unternehmen für alle Zusammenschlussbeteiligten abgegeben, die sich dieser formlos anschließen. Alle Beteiligten haften aber gemeinsam für die Richtigkeit und Vollständigkeit der gemeinsamen Anzeige. Wird der Zusammenschluss im Wege des Vermögens- oder Anteilserwerbs vollzogen (§ 37 Abs. 1 Nr. 1 und 3 GWB), so ist auch der Veräußerer anmeldepflichtig (§ 39 Abs. 2 Nr. 2 GWB). Bei beteiligten Unternehmen, die außerhalb der Bundesrepublik ihren Sitz haben, insbesondere auch bei Auslandszusammenschlüssen, bei denen zwei ausländische Mütter fusionieren und Inlandswirkungen über Tochterunternehmen zu erwarten sind, ist gem. § 39 Abs. 3 Nr. 6 GWB ein inländischer Bevollmächtigter zu benennen.
7.167
b) Inhalt der Anmeldung (§ 39 Abs. 3 GWB) Die Anmeldung ist – anders als die Formblatt-CO-Anmeldung nach der FKVO (unten Rz. 7.312) – nicht an bestimmte Formvorgaben gebunden. Gemäß § 39 Abs. 3 GWB sind folgende Angaben erforderlich:
7.168
– Form des Zusammenschlusses; – Firma oder sonstige Bezeichnung; – Ort der Niederlassung oder Sitz der Gesellschaft; – Art des Geschäftsbetriebes; – Umsatzerlöse in Deutschland, der EU und weltweit; – im Falle des § 35 Abs. 1a GWB zusätzlich der Wert Gegenleistung sowie Art und Umfang der Inlandstätigkeit; – Marktanteile, sofern sie im Inland zusammen mindestens 20 % erreichen; – im Falle des Anteilserwerbs die Höhe der erworbenen und der insgesamt gehaltenen Beteiligung; – ggf. eine zustellungsbevollmächtigte Person im Inland. Diese Angaben müssen sich auf alle Beteiligten und die mit ihnen verbundenen Unternehmen, teilweise auch auf den Veräußerer (§ 39 Abs. 3 Satz 3 GWB) beziehen. Hierdurch sind auch Konzernbeziehungen sowie Abhängigkeits- und Beteiligungsverhältnisse zwischen den verbundenen Unternehmen mitzuteilen.
7.169
In der Praxis hat das BKartA die Anforderungen an die Angabe der quantitativen Daten erleichtert. So ist es nicht nötig, die Umsätze und den Marktanteil für jedes verbundene Unternehmen gesondert auszuweisen, sondern es ist möglich, diese Zahlen für jede Gruppe insgesamt anzugeben.364
7.170
Das BKartA kann die Abgabe der erforderlichen Anmeldung mit Verwaltungszwang durchsetzen.365 Es hat nach § 39 Abs. 5 GWB ein Auskunftsrecht über Marktanteile, deren Be-
7.171
364 Merkblatt des BKartA zur deutschen Fusionskontrolle, Stand Juli 2005, verfügbar auf der Homepage des BKartA unter www.bundeskartellamt.de. 365 §§ 6 ff. Verwaltungsvollstreckungsgesetz gelten; BGH v. 1.10.1970 – KVR 2/70 – Schaumstoff II, WuW/E BGH 1126 (1127); BKartA v. 21.7.1986 – B9-2017/85 – REWE, WuW/E BKartA 2241
Röhling 695
Kap. 7 Rz. 7.172
Kartellrecht
rechnungsgrundlagen sowie über Umsatzerlöse. Dieses Auskunftsrecht erstreckt sich seit der 9. GWB-Novelle auch auf die Inlandstätigkeit beteiligter Unternehmen. Weiterhin kann es gem. § 81 Abs. 2 Nr. 3 und Abs. 4 Satz 5 GWB ein Bußgeld bis zu 100 000 Euro verhängen, wenn eine Anmeldung nicht richtig oder nicht vollständig eingegangen ist. Bußgelder bis zu 1 000 000 Euro sind möglich, falls ein der Anmeldepflicht unterliegender Zusammenschluss vorzeitig vollzogen wird (§ 81 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 GWB). Für Unternehmen und Unternehmensvereinigungen kann abweichend von § 81 Abs. 4 Satz 1 GWB ein Bußgeld mit einer maximalen Höhe von 10 % des Gesamtumsatzes des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung verhängt werden (§ 81 Abs. 4 Satz 2 GWB).
7.172 Die Berücksichtigung der in § 39 Abs. 3 GWB bezeichneten Angaben ist zudem bedeutsam, da nur eine vollständige Anmeldung die Prüfungsfristen der Zusammenschlusskontrolle für das BKartA in Gang setzt (§ 40 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 GWB).
7.173 Die Anmeldung ist gem. § 39 Abs. 4 GWB ausnahmsweise entbehrlich, wenn ein Zusammenschluss zuvor bei der EU-Kommission angemeldet wurde und an das BKartA unter Beilegung der für eine Anmeldung in Deutschland erforderlichen Angaben in deutscher Sprache verwiesen wurde. Läuft das Verfahren vor der Kommission nicht in deutscher Sprache, ist eine separate Anmeldung gemäß den Vorgaben des GWB erforderlich und unverzüglich beim BKartA einzureichen, da nur so die Fristen der deutschen Fusionskontrolle in Gang gesetzt werden (§§ 40 Abs. 5, 39 Abs. 4 Satz 1 GWB). c) Vollzugsverbot und „Gun Jumping“
7.174 Vor Freigabe eines anmeldepflichtigen Zusammenschlussverfahrens darf dieses nicht vollzogen werden. Nur in Ausnahmefällen, insbesondere bei drohender Insolvenz eines beteiligten Unternehmens, kann das BKartA nach § 41 Abs. 2 GWB auf Antrag das Vollzugsverbot aufheben.366 Verstöße gegen das Vollzugsverbot werden regelmäßig unter dem Begriff „Gun Jumping“ diskutiert. Relativ klar liegt Gun Jumping vor, wenn ein Zusammenschluss überhaupt nicht angemeldet oder noch vor Freigabe vollständig dinglich vollzogen wird. Besondere Vorsicht ist in Fällen gestaffelter Erwerbsvorgänge sowie bei Handlungen geboten, die sich als Teilakte des anmeldepflichtigen Zusammenschlussvorhabens darstellen können, ohne dass dieser bereits vollständig vollzogen wäre.367 Reine Vorbereitungsmaßnahmen fallen hingegen nicht unter das Vollzugsverbot.368 Zur Abgrenzung zwischen bloßen Vorbereitungsmaßnahmen und faktischem Vollzug ist zu prüfen, ob der Erwerber bereits eine faktische Inhaberposition hält, z.B. durch Einwirkung auf die Unternehmensführung, die Besetzung des Führungspersonals oder Übernahme der Managementverantwortung, oder bereits faktisch eine Integration der Unternehmen stattgefunden hat, z.B. durch gemeinsame Marketingmaßnah(2246); BKartA v. 13.6.1983 – B7-324610-U-161/82 – Klöckner/Seitz, WuW/E BKartA 2087 (2091). 366 Entscheidend ist eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung des Vollzugsverbots und dem drohenden Schaden der beteiligten Unternehmen oder eines Dritten im Falle der Versagung des Vollzugs, vgl. BKartA v. 6.5.2003 – B1-80/02 – Werhahn: Insolvenz, WuW/E DE-V 772 (773). 367 BGH v. 14.11.2017 – KVR 57/16, AG 2018, 233 Rz. 55 ff. – EDEKA/Kaiser’s Tengelmann; OLG Düsseldorf v. 26.10.2016 – VI-Kart 5/15 (V), AG 2017, 278 – Vollzugsverbot III, NZKart 2017, 38 (40). 368 OLG Düsseldorf v. 9.12.2015 – VI Kart 1/15 (V) – Vollzugsverbot I, NZKart 2016, 30 (34, 36); OLG Düsseldorf v. 26.10.2016 – VI-Kart 5/15 (V), AG 2017, 278 – Vollzugsverbot III, NZKart 2017, 38 (41 f.).
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A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.178 Kap. 7
men, die Zusammenlegung/Abstimmung der Produktion, die Integration der EDV-Systeme oder die Zusammenlegung oder den Austausch von (personellen) Ressourcen (vgl. dazu die europäischen Regeln unter Rz. 7.317 ff.).369 Vor diesem Hintergrund sind insbesondere drei Themenbereiche für das Gun Jumping relevant: Bestimmungen im Unternehmenskaufvertrag, die die Führung der Geschäfte der Zielgesellschaft in der Zeit zwischen Vertragsschluss und Vollzug regeln, die gemeinsame Planung der Integration des Zielunternehmens sowie – in Fällen, in denen die beteiligten Unternehmen Wettbewerber sind – der Austausch von Informationen zwischen den beteiligten Unternehmen.370
7.175
Bestimmungen im Unternehmenskaufvertrag, die die Führung der Geschäfte der Zielgesell- 7.176 schaft in der Zeit zwischen Vertragsschluss und Vollzug regeln („Ordinary Course Klausel“), sind gerechtfertigt, wenn sie dem Werterhalt zugunsten des Erwerbers dienen.371 Dabei ist zu beachten, dass dem Erwerber nicht so weitgehende Mitspracherechte eingeräumt werden, dass er de facto bereits einen wettbewerblich erheblichen Einfluss auf die Zielgesellschaft ausüben kann. Insbesondere im Tagesgeschäft muss die Zielgesellschaft vollständig frei agieren können; entsprechend sind Schwellenwerte, über denen der Erwerber bestimmten Geschäften zustimmen muss, hinreichend hoch auszugestalten. Andererseits können Geschäfte, die üblicherweise unter dem Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats stehen, auch unter einen Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Erwerbers gestellt werden.372 In seinem Beschluss vom 14.11.2017 hat der BGH klargestellt, dass Maßnahmen, die in das Tagesgeschäft der Zielgesellschaft eingreifen und dabei der Existenzsicherung der Zielgesellschaft dienen, auch unter das Vollzugsverbot fallen.373 Die bedrohte Existenz der Zielgesellschaft und ihr Schutz durch die Maßnahmen sind nur im Rahmen einer Befreiung vom Vollzugsverbot durch das BKartA von Bedeutung.374 Oftmals werden Unternehmen den Zeitraum zwischen Vertragsschluss und Vollzug zur Planung der Zusammenlegung der Geschäfte nutzen wollen. Auch bei der Integrationsplanung ist darauf zu achten, dass der Erwerber nicht de facto einen wettbewerblich erheblichen Einfluss über die Zielgesellschaft ausübt.375 Ob ein vorbereitender Austausch z.B. über die Schnittstellen in den IT-Systemen, Reporting-Vorgaben oder die Personalstruktur der zusammengelegten Einheit zulässig ist, sollte im Einzelfall genau geprüft werden. Umsetzungsmaßnahmen dürfen hingegen erst nach Freigabe durch das BKartA ergriffen werden.
7.177
Insgesamt ist zu beachten, dass einige europäische Kartellbehörden ihre bisherige Zurückhaltung bei der Überprüfung solcher Bestimmungen im Kaufvertrag oder von Integrationsmaßnahmen zwischen Vertragsschluss und Vollzug aufgegeben haben und diese nunmehr einem deutlich strengeren Prüfungsmaßstab unterwerfen, als er in der M&A Praxis üblicher-
7.178
369 BGH v. 14.11.2017 – KVR 57/16, AG 2018, 233 Rz. 61 – EDEKA/Kaiser’s Tengelmann; vgl. dazu Beck, NZKart 2017, 426. 370 Vgl. dazu Purps/Beaumunier, NZKart 2017, 224; BGH v. 14.11.2017 – KVR 57/16, AG 2018, 233 Rz. 73, 77 f. – EDEKA/Kaiser’s Tengelmann. 371 Bekanntmachung der Komm. v. 5.3.2005 über Einschränkungen des Wettbewerbs, die mit der Durchführung von Unternehmenszusammenschlüssen unmittelbar verbunden und für diese notwendig sind, Rz. 14. 372 Komm.E. v. 18.12.1996 – IV/M.861 Rz. 19-22 – Textron/Kautex. 373 BGH v. 14.11.2017 – KVR 57/16, AG 2018, 233 Rz. 82 – EDEKA/Kaiser’s Tengelmann. 374 BGH v. 14.11.2017 – KVR 57/16, AG 2018, 233 Rz. 82 – EDEKA/Kaiser’s Tengelmann. 375 BGH v. 14.11.2017 – KVR 57/16, AG 2018, 233 Rz. 61 – EDEKA/Kaiser’s Tengelmann.
Röhling 697
Kap. 7 Rz. 7.179
Kartellrecht
weise angewandt wird. Die französische Kartellbehörde und die Europäische Kommission haben in diesem Zusammenhang jüngst sehr hohe Bußgelder verhängt. Es ist daher empfehlenswert, sowohl die entsprechenden Bestimmungen im Kaufvertrag als auch die Integrationsplannung einer genauen kartellrechtlichen Überprüfung zu unterziehen. Beispielsweise ist der Entscheidungspraxis der französischen Kartellbehörde zu entnehmen, dass Zustimmungsvorbehalte des Käufers im Kaufvertrag, unabhängig von den angesetzten Schwellenwerten, zwischen den Parteien generell verboten sind.
7.179 Soweit es sich bei den beteiligten Unternehmen um Wettbewerber handelt, ist neben den fusionskontrollrechtlichen Vorgaben auch das allgemeine Kartellverbot zu beachten. Hiervon betroffen ist insbesondere der Informationsaustausch, z.B. im Rahmen der Integrationsplanung oder auch schon vor Vertragsschluss im Rahmen der Due Diligence. Aber auch die (faktische) Einräumung von Einflussnahmemöglichkeiten ist zwischen Wettbewerbern besonders kritisch zu sehen. Deshalb muss der Austausch wettbewerblich sensibler Informationen so beschränkt bzw. gestaltet werden, dass dem anderen Unternehmen keine Anpassung seines Marktverhaltens ermöglicht wird.376 Hier ist insbesondere der Einsatz von „Clean Teams“ hervorzuheben, die besonderen Vertraulichkeitsverpflichtungen unterliegen und deren Mitglieder nicht in das Tagesgeschäft der Unternehmen involviert sind, z.B. als Angestellte der M&A-Abteilung oder da es sich um externe Berater handelt. Zu beachten ist weiter, dass die Vorgaben des allgemeinen Kartellverbots auch nach Freigabe des Zusammenschlusses gelten, bis mit Vollzug das Zielunternehmen als eigenständiger Teilnehmer vom Markt verschwindet. 2. Prüfungsverfahren (§ 40 GWB) a) Vorverfahren und Hauptprüfverfahren
7.180 Das Fusionskontrollverfahren trennt strikt das Vorverfahren (sog. Phase 1) von dem Hauptprüfverfahren (sog. Phase 2). aa) Vorverfahren (Phase 1)
7.181 Zunächst hat das BKartA innerhalb eines Monats nach Einreichen der vollständigen Anmeldung zu prüfen, ob es eine eingehende Untersuchung des Falles in einem Hauptprüfverfahren für erforderlich hält. Ergeben sich im Rahmen dieser Vorprüfung keine Anhaltspunkte für eine Untersagungsbefugnis nach § 36 Abs. 1 GWB, gibt das BKartA den Zusammenschluss durch Verwaltungsmitteilung frei (§ 61 Abs. 2 GWB). Die Entscheidung ist unanfechtbar.377
7.182 Hat das BKartA dagegen Bedenken gegen den Zusammenschluss, muss die Behörde vor Ablauf der Monatsfrist den beteiligten Unternehmen mitteilen, dass es in das Hauptprüfverfahren eintreten wird (§ 40 Abs. 1 GWB – sog. Monatsbrief). Die Mitteilung muss nicht begründet werden und ist unanfechtbar. Verstreicht allerdings die Monatsfrist nach Einreichung einer vollständigen Anmeldung, ohne dass eine Mitteilung ergangen ist, gilt der Zusammenschluss als freigegeben.
376 Dazu ausführlich Schubert, ZWeR 2013, 54. 377 BGH v. 28.6.2005 – KVZ 34/04, AG 2006, 159 – Ampère, WuW/E DE-R 1571.
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Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.186 Kap. 7
bb) Hauptprüfverfahren (Phase 2) Im Hauptprüfverfahren kann eine Untersagungsverfügung nur innerhalb von vier Monaten nach Eingang der vollständigen Anmeldung erfolgen (§ 40 Abs. 2 Satz 2 GWB). Sie muss innerhalb dieser Frist allen am Verfahren Beteiligten zugestellt werden, da ansonsten die Untersagungsverfügung rechtswidrig ist und aufgehoben werden muss.378 In schwierigen Fällen mit umfangreichen Prüfungen ist es deshalb üblich, die Untersagungsfrist mit Zustimmung aller beteiligten Unternehmen zu verlängern (§ 40 Abs. 2 Satz 4 Nr. 1 GWB). Über diese Frage stimmen sich die beteiligten Unternehmen in aller Regel mit dem BKartA ab, da anderenfalls die Gefahr einer voreiligen und ungerechtfertigten Untersagung bestünde. Bei der Einholung der Zustimmung zur Fristverlängerung muss das BKartA wiederum darauf achten, dass alle beteiligten Unternehmen der Verlängerung zustimmen.379 Die Untersagungsfrist wird gehemmt, wenn ein Zusammenschlussbeteiligter eine nach § 59 GWB angeforderte Auskunft nicht rechtzeitig oder nicht vollständig beantwortet (§ 40 Abs. 2 Satz 4 und 5 GWB). Die Frist verlängert sich nach § 40 Abs. 2 Satz 6 GWB um einen Monat, wenn die anmeldenden Unternehmen Vorschläge für Bedingungen und Auflagen unterbreiten, um eine Untersagung abzuwenden.
7.183
Nach § 40 Abs. 2 Satz 1 GWB ergeht sowohl eine Untersagung als auch eine Freigabe durch das BKartA als anfechtbarer Verwaltungsakt. Gemäß § 61 GWB ist die Verfügung zu begründen, den Beteiligten zuzustellen und gem. § 43 Abs. 2 Nr. 1 GWB im Bundesanzeiger bekannt zu machen. Neben der Eröffnung einer Klagebefugnis für Dritte (dazu Rz. 7.200 ff.) wird hierdurch auch die Transparenz der Amtsentscheidungen des BKartA deutlich erhöht.380
7.184
b) Informelle Vorgespräche mit dem BKartA Es kann vorteilhaft sein, vor Einreichen der Anmeldung und dem damit verbundenen „formellen“ Verfahren von der Möglichkeit informeller Gespräche mit dem BKartA Gebrauch zu machen. Dabei können die Erfolgsaussichten des Vorhabens und die Möglichkeit etwaig gebotener Modifikationen abgeklärt werden. Dieses Verfahren kann sowohl für die beteiligten Unternehmen als auch für das BKartA Vorteile haben, da zum einen im informellen Verfahren keine Auskünfte von dritten Unternehmen gem. § 59 GWB eingeholt werden können und zum anderen die Fristen für das BKartA noch nicht laufen.
7.185
c) Ermittlungsbefugnisse des BKartA Bei der Prüfung der Frage, ob im konkreten Fall ein Zusammenschluss vorliegt und ob dieser eine marktbeherrschende Stellung entstehen lässt oder verstärkt, hat das BKartA weit gehende Ermittlungsbefugnisse. So kann es gem. § 39 Abs. 5 GWB von den beteiligten Un378 Der Regierungsentwurf zur 7. GWB-Novelle v. 7.6.2004, BT-Drucks. 15/3640, sieht ausdrücklich eine Zustellung an die anmeldenden Unternehmen sowie eine Bekanntgabe des Zeitpunktes der Zustellung gegenüber den Verfahrensbeteiligten vor. Vgl. KG v. 19.9.1979 – Kart 20/78, AG 1980, 259 – Stadtwerke Leverkusen, WuW/E OLG 2202 (2203); KG v. 16.2.1976 – Kart 4/75 – Hygieneartikel, WuW/E OLG 1712. 379 KG v. 19.9.1979 – Kart 20/78, AG 1980, 259 – Stadtwerke Leverkusen, WuW/E OLG 2202. 380 Das BKartA ist gem. § 43 Abs. 1 GWB auch verpflichtet, die Einleitung des Hauptprüfverfahrens bekannt zu machen. Die Anzeige eines Vollzuges ist hingegen nicht mehr notwendig. Obwohl das BKartA dazu nicht verpflichtet ist, veröffentlicht es die angemeldeten Zusammenschlüsse auf seiner Website.
Röhling 699
7.186
Kap. 7 Rz. 7.187
Kartellrecht
ternehmen Auskünfte über Marktanteile, Umsatzerlöse und Inlandstätigkeit verlangen. Darüber hinaus steht ihm nach § 59 GWB auch die Befugnis zu, von dritten Unternehmen Auskünfte über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse zu verlangen.381 Diese Auskünfte werden in der Praxis häufig von Wettbewerbern, Kunden und Lieferanten der am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen gefordert. Die Ermittlungsbefugnisse des BKartA umfassen auch das Verlangen nach Herausgabe von allgemeinen Marktstudien oder Auskünften über die wirtschaftlichen Verhältnisse verbundener Unternehmen, die auch im Ausland ansässig sein können.382 Das BKartA kann ferner die geschäftlichen Unterlagen dieser Unternehmen einsehen, prüfen und die Herausgabe verlangen (§ 59 Abs. 1 GWB), Beweise durch Augenschein, Zeugen und Sachverständige erheben (§ 57 GWB) sowie Durchsuchungen (§ 59 Abs. 4 GWB) und Beschlagnahmen durchführen (§ 58 GWB). In Anlehnung an die Praxis der Kommission greift mittlerweile auch das BKartA mehr und mehr auf interne Unternehmensunterlagen, insbesondere auf Vorstands- und Aufsichtsratsvorlagen sowie auf intern verwandte Marktstudien zurück, um Informationen über die betroffenen Märkte und Marktteilnehmer zu erlangen.383
7.187 Nach § 60 GWB hat das BKartA ferner die Möglichkeit, im Laufe des Verfahrens einstweilige Anordnungen zu treffen, um die negativen Auswirkungen eines Zusammenschlusses bis zur Entscheidung in der Hauptsache so gering wie möglich zu halten.384
7.188 Im Untersagungsverfahren ist den Beteiligten (§ 54 Abs. 2 GWB) Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; auf ihren Antrag kann das BKartA eine öffentliche mündliche Verhandlung durchführen, nur im Verfahren der Ministererlaubnis ist diese obligatorisch (§ 56 Abs. 1, 3 GWB). Eine Untersuchungsverfügung muss begründet und allen Verfahrensbeteiligten zugestellt werden (§ 61 Abs. 1 GWB). 3. Untersagungsabwendende Zusagen, Auflagen und Bedingungen
7.189 Da die Freigabe nach dem Hauptprüfverfahren (Phase 2) gem. § 40 Abs. 2 GWB als Verwaltungsakt ergeht (vgl. bereits Rz. 7.184), kann sie mit Nebenbestimmungen – das Gesetz nennt Auflagen und Bedingungen (§ 40 Abs. 3 GWB) – verbunden werden. Nach eigenem Bekunden will das BKartA aufgrund negativer Erfahrungen hinsichtlich der unternehmerischen Umsetzungsfreudigkeit bei erteilten Auflagen vermehrt und vor allem bei wettbewerbswesentlichen Regelungsgegenständen auf das Instrument der aufschiebenden Bedingung zurückgreifen.385
7.190 Um echte Zusagen handelt es sich, wenn die Unternehmen die Maßnahme innerhalb der Entscheidungsfrist mit dem BKartA vereinbaren, die Verwirklichung hingegen erst nach de381 KG v. 3.9.1985 – Kart 22/85 – Kathreiner, WuW/E OLG 3541. 382 Vgl. Bechtold/Bosch, § 59 GWB Rz. 12. 383 Bsp. für Durchsuchungen: BKartA v. 17.2.2017 – B2-46/08 Rz. 46 – Nordzucker/Danisco Sugar; BKartA, Meldung v. 8.11.2006 – Mariahilf/LBK Hamburg; KG – Metro/Kaufhof, WuW/E OLG 2433. 384 Vgl. BKartA, Tätigkeitsbericht 2013/2014, Zusammenstellung der veröffentlichten Entscheidungen, Fallberichte und Pressemitteilungen, S. 30 f. sowie BKartA v. 31.3.2015 – B2-96/14 Rz. 944 – Edeka/Kaiser’s Tengelmann. Der Entscheidung des BKartA teilweise widersprechend: OLG Düsseldorf v. 9.12.2015 – VI Kart 1/15 (V) – Vollzugsverbot I; Bechtold/Bosch, § 60 GWB Rz. 2. 385 BKartA, Leitfaden – Zusagen in der Fusionskontrolle, Mai 2017 – abrufbar auf der Internetseite des BKartA unter www.bundeskartellamt.de, Rz. 30.
700
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A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.193 Kap. 7
ren Ablauf vorgenommen werden soll.386 Inhaltlich können folgende Formen unterschieden werden: Entflechtungs- bzw. Veräußerungszusagen387, in denen sich ein Unternehmen verpflichtet, Betriebsstätten oder Beteiligungen an Dritte zu veräußern,388 Öffnungszusagen, nach denen Dritten Zugang zu bestimmten Märkten verschafft wird (Lizenzen oder Beteiligungen), sowie Einflussbegrenzungszusagen, z.B. Stimmrechtsbeschränkungen.389 Zweckmäßig ist eine derartige Zusagenpraxis insbesondere bei Unternehmen, die auf mehreren Märkten tätig sind und bei denen sich Bedenken nur bei bestimmten Einzelmärkten ergeben. Entsprechende Zusagen verhindern dann die Annahme einer marktbeherrschenden Stellung oder lassen im Sinne der Abwägungsklausel überwiegende Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen erwarten. Es ist anerkannt, dass sich Zusagen nur auf strukturelle Maßnahmen beziehen dürfen. Verhaltenszusagen über zukünftiges Marktverhalten, die zu einer laufenden Verhaltenskontrolle führen würden, darf das BKartA nicht entgegennehmen.390
7.191
Beispiele: Die Freigabe des indirekten Erwerbs der Kabel BW GmbH & Co KG durch die Liberty Global Europe Holding B.V. wurde durch das BKartA nur mit Nebenbestimmungen hinsichtlich der Einräumung von Sonderkündigungsrechten, dem Verzicht auf Exklusivitätsrechte sowie von Rückbaurechten am Hausverteilnetz und der Verpflichtung zur Einspeisung unverschlüsselter Free-TV-Signale erklärt.391 Als nicht ausreichend bewertete das BKartA die von Edeka im Rahmen der Übernahme von Kaiser’s Tengelmann angebotenen Zusagen. Die angebotene Abgabequote an Filialen in den betroffenen Berliner Bezirken betrug nur rund 3,5 % des Marktanteils, obwohl Kaiser’s Tengelmann über ca. 14 % Marktanteil verfügte.392
7.192
Das BKartA ist nicht verpflichtet, Bedingungen oder Auflagen vorzuschlagen.393 Vielmehr ist es die Aufgabe der beteiligten Unternehmen, Vorschläge zu unterbreiten, die dann ggf. in Absprache mit dem BKartA modifiziert werden müssen. Im Fall „Edeka/Trinkgut“ genügte die von den Parteien zu Beginn vorgeschlagene Zusage, die die Veräußerung von insgesamt 14 Standorten zum Gegenstand hatte, dem BKartA nicht.394 Daraufhin unterbreiteten die Zusammenschlussbeteiligten sukzessive modifizierte Zusagenvorschläge, wie bspw. die Kündigung von Lieferbeziehungen, die jedoch weiterhin vom BKartA als unzureichend bewertet wurden. Erst zwei Monate nach Einreichen des ersten Zusagenangebots führte das BKartA nach einem erneuten Zusagenangebot – Veräußerung von 31 Standorten – einen Markttest durch.395 Die Zusagen werden durch entsprechende Nebenbestimmungen mit der Freigabe
7.193
386 Sog. Nachfristzusagen; sog. Vorfristzusagen, bei denen das Unternehmen vor Ablauf der Untersagungsfrist bestimmte Maßnahmen auf „Anraten“ des BKartA trifft, sind unproblematisch, wegen der kurzen Monatsfrist aber kaum realisierbar. 387 Karstadt/Hertie, Bundesanzeiger v. 7.4.1994; Federal Mogul/T&N, Bundesanzeiger Nr. 57 v. 24.3.1998; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 21 Rz. 113. 388 BKartA v. 25.4.2014 – B6-98/13 – Axel Springer/Funke Mediengruppe. 389 Vgl. BKartA, Leitfaden – Zusagen in der Fusionskontrolle, Mai 2017, S. 19 ff. 390 Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 21 Rz. 113, 118; hinsichtlich der Nebenbestimmungen in § 40 Abs. 3 Satz 2 GWB ausdrücklich geregelt. 391 BKartA v. 15.12.2011 – B7-66-11-Fa-52/10 – Kabel BW/Liberty. 392 BKartA v. 31.3.2015 – B2-96/14 Rz. 902 ff. – Edeka/Kaiser’s Tengelmann. 393 Bechtold/Bosch, § 40 GWB Rz. 30; Dubberstein in MünchKomm/GWB, § 40 GWB Rz. 70. 394 BKartA v. 29.10.2010 – B252/10 S. 33 f – Edeka/Trinkgut. 395 BKartA v. 29.10.2010 – B2–52/10 S. 2 Anlage 2 – Edeka/Trinkgut.
Röhling 701
Kap. 7 Rz. 7.194
Kartellrecht
verbindlich (§ 40 Abs. 3 Satz 1 GWB). Der Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages ist somit nicht mehr notwendig.396 4. Rechtsmittel
7.194 Gegen eine Untersagungsverfügung des BKartA kann Beschwerde beim OLG Düsseldorf eingelegt werden (§ 63 Abs. 1 und Abs. 4 Satz 1 GWB).397 Diese ist innerhalb eines Monats nach Zustellung der Untersagungsverfügung durch einen Anwalt zu erheben. Das OLG ist sowohl Tatsachen- als auch Rechtsinstanz. Eine Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung, so dass im Rahmen der präventiven Fusionskontrolle die Unternehmen weiterhin gehindert sind, ihr Vorhaben zu vollziehen. Allerdings besteht die Möglichkeit, eine einstweilige Anordnung auf Gestattung des Vollzuges des Zusammenschlussvorhabens zu beantragen.398
7.195 Im Rahmen unzulässigerweise bereits vollzogener Zusammenschlüsse hätte die fehlende aufschiebende Wirkung der Beschwerde dann unmittelbare Konsequenzen, wenn die Durchsetzung einer Auflösung trotz fehlender Bestandskraft der Untersagungsverfügung in Betracht käme.399 Tatsächlich legt das BKartA entsprechend seiner bisherigen Entscheidungspraxis400 in einer Mitteilung aus dem Jahr 2008 dar, dass eine nachträgliche Anmeldung rechtswidrig vollzogener Zusammenschlüsse nicht akzeptiert und stattdessen unmittelbar ein Entflechtungsverfahren ohne vorherige Untersagung durchgeführt werde.401 Losgelöst von der Frage der grundsätzlichen Erforderlichkeit einer Untersagungsverfügung für die Auflösung unzulässigerweise bereits vollzogener Zusammenschlüsse (s. Rz. 7.204) muss jedoch zumindest in jenen Fällen, in denen ein Untersagungsverfahren bereits durchgeführt wurde, aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes und aufgrund des Umstandes eines dem Gesetzestext nach „zwischengeschalteten“ Ministererlaubnisverfahrens402 die Bestandskraft der Verfügung und damit der Ausgang der Beschwerde abgewartet werden. Die Frage der Sinnhaftigkeit eines Untersagungsverfahrens stellt sich hier nicht.403 Jedenfalls bei Vorliegen einer Untersagungsverfügung ist deren Bestandskraft also Voraussetzung für eine Entflechtungsanordnung. 396 Fischer, NZKart 2016, 568 (569); Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 40 GWB Rz. 28. 397 Nach der Sitzverlegung des BKartA nach Bonn ist nicht mehr das KG in Berlin zuständig. 398 KG v. 26.11.1980 – Kart 18/80, AG 1981, 285 – Bayer/Firestone, WuW/E OLG 2419; eine Befugnis zum Erlass einstweiliger Anordnungen kommt auch dem Beschwerdegericht zu: BGH v. 14.10.2008 – KVR 30/08 – Faber/Basalt, WuW/E DE-R 2507 (2511); vgl. auch Schnelle/Denzel, WuW 2009, 632. 399 Zu den erheblichen Unklarheiten der Regelung des § 41 Abs. 3 Satz 1 GWB vgl. nur Richter/ Steinvorth in Wiedemann, § 21 Rz. 162 ff. 400 BKartA v. 27.2.2008 – B5-198/07 – A-TEC/Norddeutsche Affinerie, WuW/E DE-V 1553; BKartA, v. 9.8.2006 – B1-116/04 – Nord-KS/Xella, WuW/E DE-V 1277. 401 BKartA, Mitteilung zur Behandlung von nachträglich angemeldeten Zusammenschlüssen v. 13.5.2008, abrufbar auf der Homepage des BKartA unter www.bundeskartellamt.de; kritisch Hahn, WuW 2007, 1084 (1095); befürwortend Stauber, WuW 2009, 20.; Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 41 GWB Rz. 13; vgl. auch Lettl, WuW 2009, 249; Begr. RegE 8. GWB-Novelle, BT-Drucks. 17/9852, 31. 402 So das OLG Düsseldorf v. 12.11.2008 – VI-Kart 5/08 (V) – A-TEC/Norddeutsche Affinerie, WuW/E DE-R 2462, in einem obiter dictum. 403 Auf die fehlende Sinnhaftigkeit eines vorgeschalteten Untersagungsverfahrens stellt das BKartA in seiner Mitteilung zur Behandlung von nachträglich angemeldeten Zusammenschlüssen v. 13.5.2008 ab; vgl. die Rechtsstaatlichkeitserwägungen bei Richter in Wiedemann, 2. Aufl. 2008, § 21 Rz. 144 ff.
702
Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.198 Kap. 7
Für alle Entscheidungen, die nicht in der Hauptsache ergehen (z.B. Erlass einstweiliger Anordnungen, Beschwerde gegen Beiladungsbeschlüsse, Gebührenbescheide etc.), ist das OLG Düsseldorf einzige und letzte Instanz. Gegen Hauptsacheentscheidungen des Gerichts kann Rechtsbeschwerde beim BGH eingelegt werden (§ 74 Abs. 1 GWB), sofern sie vom OLG zugelassen wird oder einer der Verfahrensmängel des § 74 Abs. 4 GWB vorliegt.404 Der BGH ist wie üblich reine Rechtsinstanz und daher an die Tatsachenfeststellungen des OLG gebunden, es sei denn, es liegen bezüglich dieser Feststellungen Verfahrensverstöße vor. Die Einlegungsfrist einer Rechtsbeschwerde beträgt einen Monat (§ 66 Abs. 1 Satz 1 und 2 GWB).
7.196
Wie gegen eine Untersagungsverfügung des BKartA kann auch gegen die Versagung einer Erlaubnis durch den Bundeswirtschaftsminister (vgl. Rz. 7.212) Beschwerde beim OLG Düsseldorf eingelegt werden.405 Die Gerichte sind allerdings gem. § 71 Abs. 5 Satz 2 GWB daran gehindert, die Würdigung der gesamtwirtschaftlichen Lage und Entwicklung durch den Bundeswirtschaftsminister zu überprüfen.
7.197
5. Rechte Dritter a) Beiladung Auf Antrag kann das BKartA auch dritte Unternehmen406, deren Interessen durch die Entscheidung in einem Fusionskontrollverfahren erheblich berührt werden, seit 2005 ausdrücklich auch Verbraucherverbände, solange nur die Interessen der Verbraucher insgesamt erheblich berührt werden,407 dem Verfahren beiladen (§ 54 Abs. 2 Nr. 3 GWB).408 Die beigeladenen Unternehmen haben dieselben Verfahrensrechte wie die am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen, einschließlich der Beschwerdemöglichkeit beim OLG Düsseldorf. Voraussetzung ist, dass der Dritte in seinen Interessen erheblich berührt ist, wobei neben rechtlichen auch wirtschaftliche Aspekte Berücksichtigung finden.409 Auch die erhebliche mittelbare Betroffenheit aufgrund von Auswirkungen auf einem benachbarten Markt kann ausreichen.410 Das BKartA entscheidet über den Antrag nach pflichtgemäßem Ermessen durch anfechtbare Verfügung.411 Die Beiladungsbefugnis liegt allein beim BKartA, Beschwerde- oder Rechtsbeschwerdegericht sind hierzu nicht berechtigt, weswegen eine entsprechende Antrag404 Vgl. Bechtold/Bosch, § 74 GWB Rz. 2–7. 405 S. etwa die Beschwerdeverfahren gegen die umstrittene Ministererlaubnis v. 18.9.2002 im Fall E.ON/Ruhrgas, WuW/E DE-V 643; bzgl. eines Antrags auf aufschiebende Wirkung der Beschwerde: OLG Düsseldorf v. 12.7.2016 – VI – Kart 3/16 (V) – Edeka/Kaiser’s Tengelmann, die Wettbewerber haben jedoch ihre gegen die Ministererlaubnis eingereichten Beschwerden wieder zurückgenommen (OLG Düsseldorf v. 15.3.2017 – VI – Kart 4/16 (V)). 406 Zu den Rechten Dritter vgl. Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 21 Rz. 125 ff. 407 Hierzu Bechtold/Bosch, § 54 GWB Rz. 11. 408 OLG Düsseldorf v. 2.10.2002 – Greenpeace, WuW/E DE-R 1029; KG v. 3.7.1981 – Kart 22/80 – Springer/AZ-Anzeigenblatt, WuW/E OLG 2527; KG v. 14.4.1982 – Kart. 23/80 – VEW/Gelsenwasser, WuW/E OLG 2677; BKartA v. 7.9.1981 – B6-691100-U-49/81 – Philip Morris/Rothmans, WuW/E BKartA 1915; vgl. Bechtold/Bosch, § 54 GWB Rz. 6–15. 409 Allgemeininteressen können allerdings nur berücksichtigt werden, wenn ein gewisser Zusammenhang mit der Freiheit des Wettbewerbs oder der Wettbewerbsstruktur besteht; OLG Düsseldorf v. 2.10.2002 – Kart 24/02 (V) – Greenpeace, WuW/E DE-R 1029; vgl. Becker, ZWeR 2003, 199; Bechtold/Bosch, § 54 GWB Rz. 10. 410 OLG Düsseldorf v. 16.2.2004 – VI-Kart 2/04 (V) – VDZ-Wettbewerbsregeln, WuW/E DE-R 1545 (1547). 411 BGH v. 7.11.2006 – KVR 37/05, AG 2007, 280 – pepcom, WuW/E DE-R 1857 (1858).
Röhling 703
7.198
Kap. 7 Rz. 7.199
Kartellrecht
stellung allein bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens, regelmäßig also bis zum Erlass einer Entscheidung oder der Verfahrenseinstellung, möglich ist.412
7.199 Nach § 43 Abs. 1 GWB ist das BKartA zur Bekanntmachung der Einleitung eines Hauptprüfverfahrens im Bundesanzeiger verpflichtet. Zusätzlich dazu veröffentlicht das BKartA auf seiner Internetseite die laufenden Hauptprüfverfahren. b) Rechtsmittel Dritter
7.200 Nach dem Hauptprüfverfahren (Phase 2) ergeht auch die Freigabeentscheidung als Verfügung (§ 40 Abs. 2 GWB) und kann somit mit dem Rechtsmittel der Beschwerde nach § 63 Abs. 1 GWB angegriffen werden kann.
7.201 Die Beschwerdemöglichkeit steht gem. § 63 Abs. 2 GWB den am Verfahren vor der Kartellbehörde Beteiligten, also insbesondere auch einem auf Antrag beigeladenen Wettbewerber, Lieferanten, Abnehmer oder Zielunternehmen einer feindlichen Übernahme (§ 54 Abs. 2 GWB) zu.413 Voraussetzung ist allerdings neben der Beiladung, dass die Freigabe den beigeladenen Wettbewerber rechtswidrig in seinen wettbewerblichen Möglichkeiten beschränkt (materielle Beschwer).414 Ein potentielles Wettbewerbsverhältnis kann hierfür ausreichen.415 Verbände müssen eine Beeinträchtigung ihrer Verbandsinteressen geltend machen. Eine Geltendmachung der Berührung der Interessen der Verbandsmitglieder genügt für die Begründung der Beschwerdebefugnis eines Verbandes insoweit nicht aus.416 Unklar war früher, ob darüber hinaus auch nicht im Hauptprüfverfahren Beigeladene beschwerdebefugt sein können. Das KG sprach Dritten eine Beschwerdebefugnis unter Hinweis auf Art. 19 Abs. 4 GG zu, soweit diese durch die Verfügung in ihren Rechten verletzt waren.417 Auch der BGH erkennt mittlerweile an, dass unabhängig vom Beigeladenenstatus entgegen dem Wortlaut des § 63 Abs. 2 GWB ein Beschwerderecht zugesprochen werden muss.418 Auch als Reaktion auf die großzügige Gewährung einstweiligen Rechtschutzes durch das OLG Düsseldorf im Fall „E.ON/Ruhrgas“419 wird einem Dritten einstweiliger Rechtschutz gem. § 65 Abs. 3 Satz 4 412 OLG Düsseldorf v. 25.3.2008 – VI-Kart 16/07 (V) – Wirtschaftsprüferhaftpflicht, WuW/E DE-R 2283. 413 Die Konstellation der feindlichen Übernahme und der Konkurrentenklage wird bei Schulte, AG 1998, 297 (302 f.) dargestellt: Das OLG Düsseldorf weist in seinem Beschluss v. 5.2.2014, WuW 2014, 417 Rz. 15, darauf hin, dass es für die materielle Beschwer allein um Nachteile geht, die aus dem „Zusammenschlussvorhaben resultieren“ und daher nicht um die Frage, ob die Fusionsfreigabe zu Nachteilen führt. 414 BGH v. 24.6.2003 – KVR 14/01, AG 2004, 31 – HABET/Lekkerland, WuW/E DE-R 1163 (1164 f.); OLG Düsseldorf v. 6.9.2006 – VI-Kart 13/05 (V) – Deutsche Börse/London Stock Exchange, WuW/E DE-R 1835 (1838); OLG Düsseldorf v. 19.9.2991 – Kart 22/01 (V), AG 2002, 515 – NetCologne, WuW/E DE-R 759 (761 ff.). 415 BGH v. 7.2.2006 – KVR 5/05, AG 2006, 369 = DB Regio/üstra, WuW/E DE-R 1681 (1683). 416 BGH v. 30.3.2011 – KVZ 100/10, WuW/E DE-R 3284 (3285) – Presse-Grossisten. 417 KG v. 12.1.1982 – Kart 14/81 – Gepäckstreifenanhänger, WuW/E 2720 (2722); KG v. 26.6.1991 – Kart 23/89, AG 1992, 360 – Radio NRW, WuW/E 4811 (4820). 418 So BGH v. 25.9.2007 – KVR 25/06, AG 2007, 906 – Anteilsveräußerung, WuW/E DE-R 2138 (2141 f.); BGH v. 7.11.2006 – KVR 37/05, AG 2007, 280 – pepcom, WuW/E DE-R 1857 (1858); BGH v. 5.10.2010 – EnVR 52/09 – GABi Gas, WuW/E DE-R 3103, 3106; ausführlich hierzu Neef, GRUR 2008, 30; Bechtold, NJW 2007, 562. 419 OLG Düsseldorf v. 11.2.2002 – Kart 25/02 (V) – E.ON/Ruhrgas, WuW/E DE-R 885; OLG Düsseldorf v. 25.7.2002 – Kart 25/02 (V) – E.ON/Ruhrgas, WuW/E DE-R 926.
704
Röhling
A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.204 Kap. 7
GWB seit 2005 nur noch dann gewährt, wenn eine Verletzung seiner Rechte droht. Damit werden im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes gegen kartellbehördliche Verfügungen höhere Anforderungen an die Zulässigkeit eines Antrages gestellt als im Hauptsacheverfahren oder – entgegen ursprünglicher Reformpläne auch insoweit420 – im Beschwerdeverfahren gegen die Ministererlaubnis: Dort muss weiterhin nur die Verletzung wettbewerblicher Interessen vorgetragen werden. Diese dem allgemeinen Verwaltungsrecht entlehnte Einschränkung ist eine erhebliche Hürde, da sich ein Zusammenschluss regelmäßig nur auf die wirtschaftliche bzw. wettbewerbliche Stellung der Wettbewerber, Kunden, Lieferanten oder Verbraucher, nicht aber auf geschützte Rechtspositionen auswirken dürfte. Es erscheint sehr fraglich, ob die Fusionskontrolle drittschützende Wirkung hat.421 Ein Rechtsanspruch auf Einschreiten des BKartA gegen einen Zusammenschluss besteht nicht. Da § 36 GWB ausschließlich im öffentlichen Interesse steht, kann das BKartA also nicht gezwungen werden, von seiner Prüfungspflicht in bestimmter Form Gebrauch zu machen.422
7.202
6. (Nachträgliche) Anzeigepflicht nach § 39 Abs. 6 GWB Der tatsächliche Vollzug des Zusammenschlusses ist dem BKartA mitzuteilen. Dabei genügt die Erstattung der Anzeige durch eines der (materiell) beteiligten Unternehmen. Eine inhaltliche Anforderung oder gar die Notwendigkeit der Aktualisierung der Daten besteht nicht. In zeitlicher Hinsicht sollte die Mitteilung innerhalb von wenigen Tagen erfolgen.423 Eine Zuwiderhandlung stellt eine Ordnungswidrigkeit gem. § 81 Abs. 2 Nr. 4 GWB dar.
7.203
7. Auflösung vollzogener Zusammenschlüsse (§ 41 Abs. 3 und 4 GWB) Ein vollzogener Zusammenschluss, der die Untersagungsvoraussetzungen erfüllt und vom 7.204 Bundeswirtschaftsminister nicht erlaubt wurde, ist aufzulösen (§ 41 Abs. 3 Satz 1 GWB). Dabei ist es unerheblich, ob der Vollzug unter Verstoß gegen § 41 Abs. 1 GWB, mit ausdrücklicher Billigung des Amtes gem. § 41 Abs. 2 GWB oder nach zunächst erteilter, später aber widerrufener Freigabe erfolgte. Umstritten war, ob eine Entflechtungsverfügung eine bestandskräftige Untersagungsverfügung voraussetzt.424 Mit seiner Mitteilung zur Behandlung von nachträglich angemeldeten Zusammenschlüssen aus dem Jahr 2008 stellte das BKartA klar, dass es die Möglichkeit einer nachträglichen Anmeldung rechtswidrig vollzogener Zusammenschlüsse ablehnt.425 Das hat zur Konsequenz, dass eine Prüfung der Untersagungskriterien des § 36 Abs. 1 GWB im Entflechtungsverfahren stattfindet und kein vorran420 So sah der Regierungsentwurf noch eine entsprechende Änderung der Zulässigkeitsvoraussetzungen auch für das Beschwerdeverfahren gegen die Ministererlaubnis vor: Regierungsentwurf zur 7. GWB-Novelle v. 7.6.2004, BT-Drucks. 15/3640, 16. 421 Dubberstein in MünchKomm/GWB, § 40 GWB Rz. 95; ablehnend KG v. 6.10.1976 – Kart 2/76 – Weichschaum II, WuW/E OLG 1758 f. Der BGH hat sich zu dieser Frage nicht abschließend geäußert, spricht jedoch in seiner Ampère-Entscheidung (BGH v. 28.6.2005 – KVZ 34/04, AG 2006, 159, WuW/E DE-R 1571 [1572]) davon, dass dies „eher selten“ anzunehmen sei. 422 BGH v. 31.10.1978 – KVR 3/77 – Weichschaum III, WuW/E BGH 1556 (1561); vgl. auch Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 21 Rz. 137. 423 Vgl. Bechtold/Bosch, § 39 GWB Rz. 26, der eine Anzeige bis maximal sechs bis acht Wochen nach dem Vollzug für ausreichend erachtet. 424 Ausführlich dazu: Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 41 GWB Rz. 125. 425 BKartA, Mitteilung zur Behandlung von nachträglich angemeldeten Zusammenschlüssen v. 13.5.2008, abrufbar auf der Homepage des BKartA unter www.bundeskartellamt.de; kritisch da-
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Kap. 7 Rz. 7.205
Kartellrecht
giges Untersagungsverfahren notwendig ist. Diese Ansicht des BKartA wurde durch den Gesetzgeber im Rahmen der 8. GWB-Novelle ausdrücklich gebilligt.426 Sofern der Zusammenschluss nachträglich angemeldet wurde, kommt als Resultat eines Entflechtungsverfahrens eine Entflechtungsanordnung nach § 41 Abs. 3 GWB oder aber eine – formlose oder förmliche – Mitteilung darüber in Betracht, dass keine wettbewerblichen Bedenken bestehen. Im Falle einer Einstellungsentscheidung handelt es sich bei dieser Mitteilung des BKartA um eine Verfügung. Durch diese Mitteilung wird nämlich festgestellt, dass die Untersagungsvoraussetzungen nicht vorliegen und deshalb die Heilungswirkung des § 41 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GWB eintritt.427
7.205 Allerdings kann das BKartA einstweilige Anordnungen treffen, um vorübergehend die negativen Auswirkungen des Zusammenschlusses zu suspendieren oder um die beteiligten Unternehmen daran zu hindern, eine spätere Entflechtung unmöglich zu machen (§§ 60 Nr. 1, 64 Abs. 3 GWB). So wurde im Zusammenschlussfall „BBC/Ceag-LuS“ den beteiligten Unternehmen untersagt, nach Vollzug des Zusammenschlusses bis zur Entscheidung in der Hauptsache konzerninterne Rechtsgeschäfte durchzuführen.428
7.206 Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung, der mittlerweile auch der Wortlaut des § 41 Abs. 3 Satz 1 GWB entspricht, kommt eine Auflösung nach § 41 Abs. 3 GWB nicht mehr in Betracht, wenn die materiellen oder formellen Untersagungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen.429 Dies ist etwa dann der Fall, wenn die betroffenen Unternehmen einen Anteilserwerb freiwillig auf ein zulässiges Maß zurückführen oder den Zusammenschluss, der Gegenstand der Untersagungsverfügung war, in seinem Wesen verändern, so dass er von der Verfügung nicht mehr ergriffen wird.430 Das kann etwa durch die Erfüllung eines neuen Zusammenschlusstatbestandes geschehen. Notwendige Folge davon ist, dass das BKartA den neuen Zusammenschluss prüfen und u.U. untersagen kann.431
7.207 Da Primärziel der Auflösung nicht die Wiederherstellung der alten Marktstrukturen, sondern die Beseitigung der Wettbewerbsbeschränkung ist,432 kommen als Gegenstand der Auflösungsmaßnahmen Teilentflechtungen in Betracht, bei denen nur bestimmte Betriebsteile an Dritte verkauft oder an Treuhänder zum weiteren Verkauf übertragen werden.
426
427 428 429 430 431 432
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zu Hahn, WuW 2007, 1084 (1095); Mayer/Miege, BB 2008, 2031 (2033 ff.); befürwortend Stauber, WuW 2009, 20. Begr. RegE 8. GWB-Novelle, BT-Drucks. 17/9852, 31; Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 21 Rz. 164 ff.; Bechtold/Bosch, § 41 GWB Rz. 26; die Entscheidung des Gesetzgebers ablehnend: Mäger in MünchKomm/GWB, § 41 GWB Rz. 67, der aus Rechtsschutzgründen weiterhin eine Untersagungsverfügung verlangt; sowie Thomas in Immenga/Mestmäcker, § 41 GWB Rz. 143 ff. Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 21 Rz. 174. Vgl. BKartA, Tätigkeitsbericht 1978, BT-Drucks. 8/2980, 58 – BBC/Ceag-LuS. BGH v. 4.10.1983 – KVR 2/82 – Springer/Elbe Wochenblatt, BGHZ 88, 273 = MDR 1984, 119 = AG 1984, 106. BGH v. 29.10.1985 – KVR 1/84, AG 1986, 223 = MDR 1986, 580 – Morris/Rothmans, WuW/E BGH 2211 (2213 f.); OLG Düsseldorf v. 17.11.2004 – VI-Kart 13/04 (V) – Agrana/Atys, WuW/E DE-R 1435 (1436). Vgl. BKartA v. 9.7.1985 – B6-691100-U-71/85 – Morris/Rothmans II, WuW/E BKartA 2204 ff. KG, WuW/E OLG 1989 (1993) – Zementmahlanlage; Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 41 Rz. 20.
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A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.211 Kap. 7
Bei der Entflechtung ist immer der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten; es dürfen nur die Maßnahmen angeordnet werden, die mit dem geringsten Aufwand und der geringsten Belastung für die beteiligten Unternehmen verbunden sind.433
7.208
Zur Durchsetzung seiner Anordnung hat das BKartA die Befugnisse des § 41 Abs. 4 GWB, insbesondere kann also die Stimmrechtsausübung verboten oder ein Treuhänder bestellt werden. § 41 Abs. 4 GWB regelt diese Befugnisse jedoch nicht abschließend, so dass das BKartA letztlich alle ihm erforderlich erscheinenden Maßnahmen treffen kann.434
7.209
VII. Ministererlaubnis nach § 42 GWB 1. Materielle Voraussetzungen Bei einer Untersagung durch das BKartA kann der Bundeswirtschaftsminister auf Antrag die Erlaubnis zu einem Zusammenschluss erteilen. Da das Gesetz und die ministerielle Praxis hohe Anforderungen an diese Erlaubnis stellen, wurde bisher von dieser Möglichkeit nur selten Gebrauch gemacht.435 Die Erlaubnis wird im Einzelfall erteilt, wenn die mit einem Zusammenschluss einhergehenden Wettbewerbsbeschränkungen von gesamtwirtschaftlichen Vorteilen aufgewogen werden oder der Zusammenschluss durch ein überragendes Interesse der Allgemeinheit gerechtfertigt ist. Zusätzlich darf das Ausmaß der Wettbewerbsbeschränkung die marktwirtschaftliche Ordnung nicht gefährden. In den bislang bedeutendsten Fällen „Edeka/Kaiser’s Tengelmann“, „E.ON/Ruhrgas“ und „Daimler-Benz/MBB“ wurde die Ministererlaubnis jeweils gem. § 42 Abs. 2 Satz 1 GWB unter Auflagen und Bedingungen erteilt.436
7.210
2. Verfahren Der Antrag auf eine Erlaubnis ist innerhalb eines Monats nach Zustellung der Untersagungsverfügung durch das BKartA zu stellen (§ 42 Abs. 3 Satz 1 GWB). Allerdings beginnt diese Frist im Fall der Einlegung von Rechtsmitteln erst mit Abschluss des Rechtsmittelverfahrens (§ 42 Abs. 3 Satz 2 GWB). Der Bundeswirtschaftsminister soll gem. § 42 Abs. 4 Satz 1 GWB innerhalb von vier Monaten nach Stellung des Antrages entscheiden. Er ist allerdings verpflichtet, zuvor ein Sondergutachten der Monopolkommission sowie die Stellungnahme der obersten Landesbehörden einzuholen (§ 42 Abs. 4 Satz 2 GWB). Weicht der 433 Das folgte früher unmittelbar aus § 24 Abs. 6 Satz 3 GWB a.F., ergibt sich aber weiterhin aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, vgl. Begr. RegE, BR-Drucks. 852/97, 61. 434 Vgl. Harms in Gemeinschaftskommentar, § 24 GWB Rz. 1440–1499; Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 42 Rz. 23. 435 Bis 2017 wurde bei 15 Entscheidungen zu 22 Fällen (i.Ü. Rücknahme des Antrags vor Entscheidung) in nur neun Fällen dem Antrag stattgegeben, davon sechsmal mit Auflagen und Bedingungen: BMWi, WuW/E DE-V 1691 – Universitätsklinikum Greifswald; BMWA, WuW/E DE-V 643 und DE-V 753 – E.ON/Ruhrgas; BMWi, WuW/E BWM 147 – Veba/Gelsenberg; WuW/E BWM 155 – Babcock/Artos, WuW/E BWM 159 – Rheinstahl/Hüller; WuW/E BWM 165 – BP/ Gelsenberg; WuW/E BWM 177 – IBH/Wibau; WuW/E BWM 191 – Daimler/MBB; BWM – I B2-22 08 50/01 – Edeka/Kaiser’s Tengelmann; vgl. Schultz/Wagemann, Rz. 389–394 und Richter/ Steinvorth in Wiedemann, § 21 Rz. 147. 436 Lentfer, WuW 1998, 227; vgl. Braun/Rieske, WM 2009, 1265; s. auch BKartA, Tätigkeitsbericht 2001/2002, BT-Drucks. 15/1226, 15 ff. und 1989/90, BT-Drucks. 12/847, 17 f.; BWM – I B2-22 08 50/01 Edeka/Kaiser’s Tengelmann.
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7.211
Kap. 7 Rz. 7.212
Kartellrecht
Minister in seiner Entscheidung von dem Votum der Monopolkommission ab, so muss er dies gem. § 42 Abs. 1 Satz 4 GWB n.F. gesondert begründen.437
7.212 Bei der Prüfung des Falles hat der Bundeswirtschaftsminister kein Ermessen, sondern lediglich einen weiten Beurteilungsspielraum.438 Gegen seine Entscheidung ist Beschwerde beim OLG Düsseldorf möglich (§ 63 Abs. 4 GWB).439 Der neue § 63 Abs. 2 Satz 2 GWB setzt für die Beschwerdefähigkeit eines Dritten die Geltendmachung der Verletzung eigener Rechte voraus. Im Rahmen der Beschwerde kann die Würdigung der gesamtwirtschaftlichen Lage vom Gericht nicht nachgeprüft werden (§ 71 Abs. 5 Satz 2 GWB). In seinem Beschluss zu Edeka/Kaiser’s Tengelmann führte das OLG Düsseldorf jedoch aus, dass die „Auslegung der Rechtsbegriffe ‚gesamtwirtschaftliche Vorteile‘; und ‚überragendes Interesse der Allgemeinheit‘“ einer gerichtlichen Prüfung zugänglich sei.440
7.213 Schließlich hat der Bundeswirtschaftsminister die Möglichkeit, die Erlaubnis mit Bedingungen und Auflagen zu versehen sowie eine von ihm erteilte Erlaubnis zu widerrufen oder abzuändern, wenn die beteiligten Unternehmen einer mit der Erlaubnis verbundenen Auflage zuwiderhandeln oder die Erlaubnis auf unrichtigen Angaben beruht oder arglistig herbeigeführt wurde (§§ 42 Abs. 2 Satz 2, 40 Abs. 3 und 3a GWB).441
VIII. Auslandszusammenschlüsse 7.214 In den Jahren 2015/2016 waren in etwa 25 % der angemeldeten Zusammenschlüsse ausländische Unternehmen das Zielunternehmen eines Erwerbsvorgangs; auf Erwerberseite lag der Anteil ausländischer Unternehmen bei über 50 %.442
7.215 Grundsätzlich sind bei der Behandlung folgende Problemkreise zu unterscheiden: – die Anmeldepflicht und das Vollzugsverbot, – die Untersagung und Entflechtung.
7.216 Zunächst ist aber zu klären, in welchen Fällen überhaupt ein für das GWB relevanter Auslandszusammenschluss vorliegt. 1. Extraterritoriale Anwendung des GWB
7.217 Die Anwendung des GWB außerhalb der Bundesrepublik wird durch die völkerrechtlichen Prinzipien des Einmischungsverbotes und des Territorialitätsprinzips eingeschränkt. Hiernach kann ein deutsches Gesetz im Ausland keine Wirkung auf Verträge haben, die insbesondere ausländische Unternehmen, die nicht von inländischen Unternehmen abhängig
437 438 439 440
Nach § 32 Abs. 6 GWB hat das Ministerium weitergehende Verfahrensleitlinien zu erlassen. KG v. 7.2.1978 – Kart 15/77 – Thyssen/Hüller, WuW/E OLG 1937. Vgl. OLG Düsseldorf v. 11.7.2002 – Kart 25/02 (V) – E.ON/Ruhrgas, WuW/E DE-R 885. OLG Düsseldorf v. 12.7.2016 – VI-Kart 3/16 (V) Rz. 88, NZKart 2016, 380; Huerkamp/Maack, NZKart 2017, 294 (296), kritisch zu der Anwendung des § 71 Abs. 5 Satz 1 GWB, da es sich eben nicht um eine Ermessensentscheidung handele. 441 Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 42 GWB Rz. 23. 442 BKartA, Tätigkeitsbericht 2015/2016, BT-Drucks. 18/12760, 144 f.
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A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.221 Kap. 7
sind, im Ausland vollziehen und die grundsätzlich ausländischem Recht unterstehen.443 Gemäß § 185 Abs. 2 GWB ist das GWB auf alle Wettbewerbsbeschränkungen anwendbar, die sich auf dem Inlandsmarkt auswirken (sog. „effects doctrine“ oder Auswirkungsprinzip). Der Wortlaut dieser Vorschrift zeigt, dass es bei der Beurteilung des Zusammenschlusses nicht darauf ankommt, ob die Fusion im In- oder Ausland durchgeführt wird oder ob inoder ausländische Unternehmen an ihr beteiligt sind, sondern allein auf seine Auswirkungen. Diese Regelung entspricht dem allgemeinen Grundsatz, nach dem es dem nationalen Gesetzgeber erlaubt ist, alle Angelegenheiten auf seinem Territorium zu regeln (Territorialitätsprinzip). Bei dieser weiten Fassung des Auswirkungsprinzips und der Vielfalt der denkbaren Rückwirkungen auf den deutschen Markt hat die Rechtsprechung des BGH das Kriterium der „Auswirkung“ eingegrenzt und das Vorliegen allgemeiner und spürbarer Inlandsauswirkungen gefordert, die insbesondere dann entstünden, wenn eines der beteiligten Unternehmen direkt oder indirekt auf dem Inlandsmarkt in Erscheinung getreten sei.444 Hohe Anforderungen werden an die Spürbarkeit der Inlandsauswirkungen nicht gestellt. Das BKartA hat zur Reichweite der Inlandsauswirkung im September 2014 ein überarbeitetes Merkblatt veröffentlicht.445
7.218
Danach liegen immer dann ausreichende Inlandsauswirkungen vor, wenn das Zielunternehmen im Inland die zweite Umsatzschwelle von 5 Mio. Euro überschreitet. Denn durch die Inlandsumsatzschwellen habe der Gesetzgeber das Merkmal der Inlandsauswirkungen realisiert.446 Zusammenschlüsse mit nur zwei beteiligten Unternehmen, die die Umsatzschwellen des § 35 GWB erfüllen, erfüllen daher auch immer die Voraussetzungen des § 185 Abs. 2 GWB. Eine weitergehende Prüfung nach § 185 Abs. 2 GWB erübrigt sich daher in solchen Konstellationen.
7.219
Einstweilen frei.
7.220
Bei Gemeinschaftsunternehmen, also für den Fall, dass der Zusammenschluss mehr als zwei 7.221 beteiligte Unternehmen betrifft, ist demgegenüber eine Einzelfallprüfung geboten. Erfüllt das Gemeinschaftsunternehmen die zweite Inlandsumsatzschwelle (5 Mio. Euro), wird ebenfalls von Inlandsauswirkungen auszugehen sein. Dasselbe soll nach Auffassung des BKartA auch dann gelten, wenn der Umsatz des Gemeinschaftsunternehmens dahinter zurück bleibt, jedoch sein Marktanteil mehr als 5 % beträgt auf einem Markt, der das Inland ganz oder teilweise umfasst.447 Werden Gemeinschaftsunternehmen im Ausland gegründet, so richtet sich die Inlandsauswirkung primär nach dem sachlichen und örtlichen Tätigkeitsbereich des Gemein-
443 Vgl. auch Bach, WuW 1997, 291. 444 BGH v. 12.7.1973 – KRB 2/72 – Ölfeldrohre, WuW/E BGH 1276 (1279); BGH v. 20.6.1989 – KZR 13/88, MDR 1990, 136 – Eisenbahnschwellen, WuW/E BGH 2596 (2597); BGH v. 29.5.1979 – KZR 2/78 – Organische Pigmente, WuW/E BGH 1613 (1615), wobei an das Merkmal der Spürbarkeit nur geringe Anforderungen gestellt wurden: Erhöhung des Inlandmarktanteils um 0,14 % bzw. 0,23 % auf 5,54 % bzw. 3,73 % verbunden mit einem Know-how Zuwachs sollen ausreichen; so auch BGH v. 25.9.2007 – KVR 19/07, AG 2008, 122 – Sulzer/ Kelmix, WuW/E DE-R 2133 (2136). 445 BKartA, Merkblatt Inlandsauswirkungen in der Fusionskontrolle v. 30.9.2014, abrufbar auf der Homepage des BKartA unter www.bundeskartellamt.de. 446 BKartA, Merkblatt Inlandsauswirkungen in der Fusionskontrolle v. 30.9.2014, Rz. 12. 447 BKartA, Merkblatt Inlandsauswirkungen in der Fusionskontrolle v. 30.9.2014, Rz. 13.
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Kap. 7 Rz. 7.222
Kartellrecht
schaftsunternehmens. Ist wahrscheinlich, dass zukünftige Lieferungen in das Inland erfolgen, so kann eine Inlandswirkung ebenso bejaht werden wie bei einem erheblichen Zuwachs der Produktionskapazität des inländischen Unternehmens. Das BKartA berücksichtigt auf der Grundlage des „Gruppeneffekts“ daneben Auswirkungen auf das Verhältnis der Muttergesellschaften.448 Nach dem Merkblatt des BKartA können im Sinne eines „Safe Harbour“ Inlandsauswirkungen eines Auslandsgemeinschaftsunternehmens jedenfalls dann ausgeschlossen werden, wenn die folgenden – sehr engen – Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:449 (1) Das Gemeinschaftsunternehmen ist weder aktuell noch potentiell auf einem Markt tätig, der Deutschland umfasst, wobei es bei Neugründungen von Gemeinschaftsunternehmen auf die beabsichtigte Tätigkeit ankommen soll. (2) Die Muttergesellschaften, oder mit ihnen nach § 36 Abs. 2 GWB verbundene Unternehmen, sind im Inland nicht auf demselben sachlichen Markt oder auf vor- oder nachgelagerten Märkten tätig wie das Gemeinschaftsunternehmen im Ausland. Die Muttergesellschaften sind auch keine potentiellen Wettbewerber auf dem sachlich relevanten Markt, auf dem das Gemeinschaftsunternehmens im Ausland tätig ist.
7.222 Im Übrigen kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an, ob Inlandsauswirkungen zu bejahen sind, was das BKartA daran festmacht, ob das Gemeinschaftsunternehmen eine mehr als marginale Marktposition im Inland haben wird. Hierfür kann es insbesondere bei neu gegründeten Gemeinschaftsunternehmen auf eine Prognose der zukünftigen Entwicklung des Gemeinschaftsunternehmens ankommen (Prognosezeitraum: drei bis fünf Jahre). Inlandsauswirkungen liegen danach vor, wenn nach dem Zusammenschluss Lieferungen ausländischer Beteiligter in das Inland aufgrund der Beziehungen zu inländischen Beteiligten wahrscheinlich sind oder durch den Zusammenschluss das Know-how eines inländischen Unternehmens spürbar vergrößert wird bzw. diesem gewerbliche Schutzrechte zufließen.450 Für die Prüfung der Spillover-Effekte kommt es vor allen Dingen auf den Umfang der Tätigkeiten der Mütter auf einem Markt des Gemeinschaftsunternehmens oder auf hierzu voroder nachgelagerten Märkten an. Nach dem Merkblatt des BKartA sind wegen der begrenzten Marktposition der Muttergesellschaften nur marginale wettbewerbliche Auswirkungen zu erwarten, mit der Folge, dass Inlandsauswirkungen tendenziell auszuschließen sind, wenn der gemeinsame Marktanteil 20 % nicht überschreitet.451 2. Anmeldepflicht für Auslandszusammenschlüsse
7.223 Die Anmeldepflicht nach § 39 Abs. 1 GWB greift für Auslandszusammenschlüsse ein, wenn die Kriterien der §§ 35, 37 GWB erfüllt sind und der Zusammenschluss sich gemäß den oben geschilderten Kriterien spürbar auf den Inlandsmarkt auswirkt. Das BKartA bemüht sich allerdings, Auslandszusammenschlüsse schnell zu erledigen.452 Unproblematische Auslandszusammenschlüsse werden hiernach unverzüglich nach Eingang der Anmeldung als unbedenklich erklärt. Fragen der Inlandsauswirkung können mit dem BKartA erforderli448 BKartA v. 13.7.1990 – B5-331300-U-271/89 – Daimler-Benz-MAN/ENASA, WuW/E BKartA 2445 ff. 449 BKartA, Merkblatt Inlandsauswirkungen in der Fusionskontrolle v. 30.9.2014, Rz. 14 ff. 450 Vgl. Schwensfeier/Knauff/Stockmann in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/MeyerLindemann, § 130 GWB Rz. 36. 451 BKartA, Merkblatt Inlandsauswirkungen in der Fusionskontrolle v. 30.9.2014, Rz. 21. 452 Weisung des Bundeswirtschaftsministers v. 3.5.1980, BAnz. Nr. 103/80 v. 7.6.1980, S. 2, auf die das BKartA auch in seinem aktuellen Merkblatt Bezug nimmt.
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A. Deutsche Fusionskontrolle
Rz. 7.227 Kap. 7
chenfalls informell erörtert werden. In wettbewerblich unproblematischen Fällen empfiehlt das BKartA, Zusammenschlüsse anzumelden und die gegebenenfalls komplexe Frage der möglichen Inlandsauswirkungen offen zu lassen.453 Liegen keine Inlandsauswirkungen vor, ist das GWB gem. § 185 Abs. 2 GWB nicht anwendbar. Eine Anmeldepflicht besteht auch dann nicht, wenn die Umsatzschwellen des § 35 Abs. 1 GWB erreicht sein sollten. Das Vollzugsverbot greift – mangels Anmeldepflicht – ebenfalls nicht ein.454 Schließlich entfällt mit der Anmeldepflicht die Pflicht gem. § 39 Abs. 6 GWB, den Vollzug des Zusammenschlusses beim BKartA anzuzeigen.
7.224
3. Untersagung und Entflechtung Die schwierigen Rechtsfragen der Untersagung und Entflechtung von Auslandszusammenschlüssen sind durch die „Morris/Rothmans“-Entscheidung des KG455 der Lösung einen Schritt näher gebracht worden, obwohl über eine Reihe von Zweifelsfragen noch nicht entschieden wurde.456 Der Entscheidung lag ein im Ausland vollzogener Zusammenschluss zwischen der Philip Morris Inc. (New York) und der Rothmans Tobacco Holding Ltd. (London) zugrunde. Beide Gesellschaften verfügten über die inländischen Tochterunternehmen Philip Morris GmbH (München) bzw. Martin Brinkmann AG (Bremen), die ihrerseits zu den fünf größten Zigarettenherstellern auf dem deutschen Markt gehörten.
7.225
Das BKartA war der Auffassung, dass dieser Zusammenschluss die marktbeherrschende Stel- 7.226 lung des Zigarettenoligopols verstärke und untersagte den gesamten Auslandszusammenschluss, da es glaubte, nach § 36 Abs. 1 GWB keine Teiluntersagung aussprechen zu können. Auf Beschwerde der beteiligten Unternehmen hat das KG den Beschluss des BKartA teilweise aufgehoben und lediglich den Zusammenschluss zwischen den deutschen Töchtern verboten. Es führte aus, dass § 98 Abs. 2 Satz 1 GWB a.F. (jetzt: § 185 Abs. 2 GWB), unabhängig von völkerrechtlichen Schranken, eine Untersagung des im Ausland vollzogenen Zusammenschlusses nicht zulasse, sondern die Untersagungsmöglichkeit auf die Inlandsauswirkungen beschränke. Weiterhin werde die Einschränkung der Untersagung auf die Verbindung der Inlandstöchter aber auch durch das völkerrechtliche Gebot der Nichteinmischung getragen. Im Gegensatz zum BKartA genügt nach Ansicht des KG für die Erstreckung eines innerstaatlichen Hoheitsaktes auf den Auslandssachverhalt ein konkreter sinnvoller Inlandsbezug nicht, vielmehr müsse sich der Inlandssachverhalt nicht sinnvoll ohne Einbeziehung des Auslandssachverhalts regeln lassen. Im vorliegenden Fall sei es aber nicht notwendig, den ge453 BKartA, Merkblatt Inlandsauswirkungen in der Fusionskontrolle v. 30.9.2014, Rz. 3. 454 Fraglich ist allerdings die Reichweite des Vollzugsverbotes bei einem anmeldepflichtigen Zusammenschluss insoweit, als der Zusammenschluss auch im Ausland vollzogen wird. Insoweit kommt möglicherweise eine teilweise Unzulässigkeit des Vollzugs im Inland in Betracht, wenn sich ein inländischer Teil von dem ausländischen trennen lässt, KG v. 1.7.1983 – Kart 16/82, AG 1984, 130 – Morris/Rothmans, WuW/E OLG 3051 (3058 f.); vgl. auch Bechtold/Bosch, § 39 GWB Rz. 30. 455 KG v. 1.7.1983 – Kart 16/82, AG 1984, 130 – Morris/Rothmans, WuW/E OLG 3051; vom BGH wurde nur die Erledigung in der Hauptsache festgestellt, ohne dass auf die relevanten Rechtsfragen eingegangen wurde, BGH v. 29.10.1985 – KVR 1/84, AG 1986, 223 = MDR 1986, 580 – Morris/Rothmans, WuW/E BGH 2211 ff. 456 Vgl. auch KG v. 22.3.1990 – Kart 6/89, AG 1990, 545 – Linde/Lansing, WuW/E OLG 4537; BKartA v. 23.8.1989 – B4-322300-U-64/89 – MAN/Sulzer, WuW/E BKartA 2405; BKartA v. 15.4.1993 – B5–333330-U-117/92 – Zahnradfabrik Friedrichshafen/Allison, WuW/E BKartA 2521.
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7.227
Kap. 7 Rz. 7.228
Kartellrecht
samten Zusammenschluss einheitlich zu bewerten, da sich die Verbindung der Inlandstöchter abspalten und isoliert betrachten lasse.
7.228 Nach der Entscheidung des KG im Fall „Linde/Lansing“ kommt es auf die tatsächliche wirtschaftliche Teilbarkeit des Zusammenschlusses für die Möglichkeit einer Teiluntersagung nicht an.457 Bei einheitlichen Auslandssachverhalten, die sich nicht in einen Inlands- und Auslandsteil aufspalten lassen, hat eine solche Auffassung zur Folge, dass auch bei einer „Teiluntersagung“ der Zusammenschluss wirtschaftlich insgesamt betroffen ist. Im Fall „MAN/Sulzer“ hat das BKartA den Zusammenschluss insgesamt untersagt, da nach seiner Auffassung eine sinnvolle Abtrennung eines Inlandsteiles, durch dessen Untersagung die maßgeblichen Ursachen für die Entstehung einer marktbeherrschenden Stellung von MAN hätten verhindert werden können, nicht möglich war.458 Insgesamt tendiert das BKartA weiterhin dazu, die inländischen Bestandteile eines Zusammenschlusses als nicht von dem ausländischen Vorgang trennbar anzusehen und folglich das Vorhaben insgesamt zu untersagen.459 M.E. ist bei mangelnder Trennbarkeit eine Untersagung aus völkerrechtlichen Gründen generell unzulässig, wenn der Schwerpunkt des Zusammenschlusses im Ausland liegt.460 Das inländische Regelungsinteresse muss in diesem Fall zurücktreten.
B. Anwendung des Kartellverbots nach § 1 GWB I. Gemeinschaftsunternehmen 1. Überblick
7.229 Auf Gemeinschaftsunternehmen kann neben den Vorschriften der Fusionskontrolle u.U. auch das Kartellverbot des § 1 GWB Anwendung finden.461 In diesem Zusammenhang überprüft die Kartellbehörde nicht den Zuwachs an Marktmacht, sondern eine mögliche
457 KG v. 22.3.1990 – Kart 6/89, AG 1990, 545 – Linde/Lansing, WuW/E OLG 4537 (4539). 458 BKartA v. 23.8.1989 – B4-322300-U 64/89 – MAN/Sulzer, WuW/E BKartA 2405 (2412 f.); vgl. auch BKartA v. 15.4.1993 – B5–333330-U-117/92 – Zahnradfabrik Friedrichshafen/Allison, WuW/E BKartA 2521 (2540 f.). 459 So etwa BKartA v. 11.4.2007 – B3–33101-Fa-578/06 – Phonak/GN ReSound, WuW/E DE-V 1965, später aus anderen Gründen aufgehoben, BGH, v. 20.4.2010 – KVR 1/09, AG 2010, 544 – Phonak/GN Store, WuW/E DE-R 2905; BKartA v. 14.2.2007 – B5-10/07 – Sulzer/Kelmix, WuW/E DE-V 1340; bestätigt durch BGH v. 25.9.2007 – KVR 19/07, AG 2008, 122 – Sulzer/Kelmix, WuW/E DE-R 2133, ohne auf die Frage der Reichweite der Untersagungsbefugnisse einzugehen; vgl. auch Wertenbruch, ZWeR 2008, 109. 460 So im Ergebnis BKartA v. 23.7.1992 – B 5–38 71 00 – U-42/90 – Gillette/Wilkinson, AG 1992, 363 (367); BKartA v. 23.8.1989 – B4-322300-U 64/89 – MAN/Sulzer, WuW/E BKartA 2405; BKartA v. 14.2.2007 – B5-10/07 – Sulzer/Kelmix, WuW/E DE-V 1340 Rz. 26; vgl. Wiedemann in Wiedemann, § 5 Rz. 46; zu Recht kritisch zu den niedrigen Anforderungen des BKartA an das Vorliegen eines wirtschaftlichen Schwerpunkts im Inland: Barthelmeß/Rudolf, WuW 2003, 1176 (1181). 461 Eingehend zur Beurteilung von Gemeinschaftsunternehmen: Müller-Feldhammer, WuW 2015, 133; Huber, FIW-Heft 122, 1987, S. 1 ff.; s. auch BKartA v. 21.8.1997 – B2-15111-U-13/97 – Ostfleisch, WuW/E DE-V 9; und BGH v. 8.5.2001 – KVR 12/99, AG 2002, 82 – Ostfleisch, WuW/E DE-R 711.
712
Röhling
B. Anwendung des Kartellverbots nach § 1 GWB
Rz. 7.232 Kap. 7
wettbewerbsbeschränkende Verhaltenskonzertierung zwischen den Muttergesellschaften (Gruppeneffekt).462 Da die zu überwindenden rechtlichen Barrieren des § 1 GWB bzw. der §§ 35 ff. GWB unterschiedlich hoch sind, ist es für die Genehmigung eines Gemeinschaftsunternehmens oft entscheidend, dem Anwendungsbereich des unnachgiebigeren Kartellverbots auszuweichen.463 Im Rahmen der Fusionskontrolle gibt es für die beteiligten Unternehmen mehr Möglichkeiten, einer Untersagung zu entgehen (z.B. Schwellenwerte des § 35 Abs. 1 und 2 GWB, Widerlegung einer marktbeherrschenden Stellung etc.).
7.230
Das BKartA geht bei der Prüfung von Gemeinschaftsunternehmen grundsätzlich von einer Doppelkontrolle aus, d.h. es wendet das Kartellverbot und die Fusionskontrollvorschriften nebeneinander an (Zwei-Schranken-Theorie).464 Dabei unterfallen rein oder überwiegend konzentrative Gemeinschaftsunternehmen, die keinerlei Verhaltenskoordination der Beteiligten bewirken, ausschließlich der Fusionskontrolle, während sog. kooperative Gemeinschaftsunternehmen der Doppelkontrolle unterliegen.465 Für die beteiligten Unternehmen ist problematisch, dass die Prüfung des § 1 GWB nicht an die strengen Fristen der Fusionskontrolle gebunden ist und das BKartA auch Jahre später noch die weitere Durchführung eines fusionskontrollrechtlich freigegebenen Gemeinschaftsunternehmens untersagen kann. Insoweit müssen die Unternehmen sich auf ihre Selbsteinschätzung zur Zulässigkeit verlassen.
7.231
2. Konzentrative Gemeinschaftsunternehmen Nach den Grundsätzen des BKartA466 hat ein Gemeinschaftsunternehmen rein konzentrativen Charakter, wenn – es sich um ein funktionsfähiges Unternehmen mit den wesentlichen Unternehmensfunktionen handelt; – es marktbezogene Leistungen erbringt und nicht ausschließlich auf einer vor- oder nachgelagerten Stufe für die Muttergesellschaften tätig ist;467 – die Muttergesellschaften selbst auf dem sachlichen Markt des Gemeinschaftsunternehmens nicht oder nicht mehr tätig sind.468 462 Die Bewertung des Gruppeneffekt ist str., vgl. Bechtold/Bosch, § 1 GWB Rz. 88 einerseits, Krauß in Langen/Bunte, § 1 GWB Rz. 315 andererseits. 463 Bei § 1 GWB genügt eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung, § 36 Abs. 1 GWB fordert eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs. 464 BKartA v 21.9.1978 – B6-253600-U-184/77 – Transportbeton Sauerland, WuW/E BKartA 1771; BKartA, WuW/E 1779 BKartA – Transportbeton Siegerland; zuletzt BGH v. 13.1.1989 – KVR 40/96 – Car-Partner, WuW/E DE-R 115 (116). 465 BGH v. 8.5.2001 – KVR 12/99, AG 2002, 82 – Ostfleisch, WuW/E DE-R 711; BKartA, Tätigkeitsbericht 2001/2002, BT-Drucks. 15/1226, 219 – Bremerhavener Entsorgungsgesellschaft; MüllerFeldhammer, WuW 2015, 133 (134). 466 BKartA, Tätigkeitsbericht 1978, BT-Drucks. 8/2980, 24; vgl. auch: Grundsätze des BKartA zur kartellrechtlichen Behandlung konzentrativer Gemeinschaftsunternehmen (Entwurf Oktober 1986), FIW-Heft 122, 1987, S. 54 f.; BKartA v. 9.9.2006 – B1-116/04 Rz. 72 – Nord-KS/Xella; BKartA, Sektoruntersuchung Zement und Transportbeton v. 24.7.2017 – B1-73/13 Rz. 492. 467 Vgl. OLG Düsseldorf v. 9.11.1993 – U Kart 2/93 – Gemischtwirtschaftliche Abfallverwertung, WuW/E 5213 (5221 f.); Richter/Steinvorth in Wiedemann, § 20 Rz. 192. 468 BGH v. 8.5.2001 – KVR 12/99, AG 2002, 82 – Ostfleisch, WuW/E DE-R 711.
Röhling 713
7.232
Kap. 7 Rz. 7.233
Kartellrecht
7.233 Lässt sich ein Gemeinschaftsunternehmen nach diesen Kriterien dem konzentrativen Bereich zuordnen, so ist § 1 GWB auf die Gründung bzw. auf den Erwerb von Anteilen, auf Wettbewerbsverbote im angemessenen Rahmen und auf funktionsnotwendige wettbewerbsbeschränkende Nebenabreden nicht anwendbar. So genannte „überschießende“ Wettbewerbsbeschränkungen, die für das Funktionieren des Gemeinschaftsunternehmens nicht erforderlich sind, können allerdings weiter an § 1 GWB gemessen werden.469
7.234 Im „Mischwerke“-Beschluss470 geht auch der BGH davon aus, dass es sich bei den §§ 1 und 35 ff. GWB um zwei verschiedene Regelungsfelder handelt. Den vom BKartA in den Verwaltungsgrundsätzen entwickelten Entscheidungskriterien zwischen kooperativen und konzentrativen Gemeinschaftsunternehmen komme lediglich die Funktion einer Abgrenzungshilfe zu.471 Ein konzentratives Gemeinschaftsunternehmen setze insbesondere voraus, dass es sich um ein Unternehmen mit Vollfunktionen handele, das am Markt als neue selbständige Planungseinheit (Vollfunktions-Gemeinschaftsunternehmen) auftritt. Im Ergebnis greift aber auch der BGH auf die vom BKartA entwickelten Verwaltungsgrundsätze zurück. 3. Kooperative Gemeinschaftsunternehmen
7.235 Liegen die oben genannten Voraussetzungen nicht vor, so ist ein kooperatives Gemeinschaftsunternehmen gegeben, das der Doppelkontrolle unterfällt. Dies impliziert aber nicht notwendigerweise die Untersagung nach § 1 GWB; vielmehr ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 GWB vorliegen, ob also zwischen den Muttergesellschaften eine spürbare wettbewerbsbeschränkende horizontale Verhaltenskonzertierung stattfindet.472 Diese Abgrenzung ist im Einzelfall schwierig.
7.236 Dabei ist nach der Rechtsprechung des BGH eine Wettbewerbsbeschränkung regelmäßig dann zu vermuten, wenn mindestens zwei Gesellschafter weiterhin auf demselben räumlichen und sachlichen Markt wie das Gemeinschaftsunternehmen tätig sind. Es entspreche der kaufmännischen Vernunft, dass die Gesellschafter nicht zu dem Gemeinschaftsunternehmen in Preiswettbewerb treten, da daraus resultierende Verluste letztlich die Gesellschafter selbst träfen. Dadurch werde aber indirekt auch der Preiswettbewerb zwischen den Müttern eingeschränkt, ohne dass es dazu einer ausdrücklichen Regelung bedürfe. Darauf aufbauend hat das BKartA in seinen Sektoruntersuchungen Walzasphalt und Transportbeton diese Regelvermutung deutlich ausgeweitet.473 Entsprechend sei eine Wettbewerbsbeschränkung regelmäßig bereits dann anzunehmen, wenn nur ein Gesellschafter auf demselben Markt wie 469 BKartA, Tätigkeitsbericht 1978, BT-Drucks. 8/2980, 24. 470 BGH v. 1.10.1985 – KVR 6/84, AG 1986, 194 = MDR 1986, 204 – Mischwerke oder Asphaltmischwerke, WuW/E BGH 2169; vgl. auch BGH v. 13.11.1990 – KZR 2/89, AG 1991, 274 = MDR 1991, 617 – Nassauische Landeszeitung, WuW/E BGH 2675; BKartA v. 21.8.1997 – B215111-U-13/97, WuW/E DE-V 9 und KG v. 14.10.1998 – Kart 23/97, AG 1999, 522 – Ostfleisch, WuW/E DE-R 277. 471 BGH v. 1.10.1985 – KVR 6/84, AG 1986, 194 = MDR 1986, 204 – Mischwerke oder Asphaltmischwerke, WuW/E BGH 2170. 472 BGH v. 1.10.1985 – KVR 6/84, AG 1986, 194 = MDR 1986, 204 – Mischwerke oder Asphaltmischwerke, WuW/E BGH 2169 (2171); KG v. 14.10.1998 – Kart 23/97, AG 1999, 522 – Ostfleisch, WuW/E DE-R 277 (279); BGH v. 4.3.2008 – KVZ 55/07 Rz. 14 – Nord-KS. Dazu Ulshöfer, WuW 2011,820. 473 BKartA, Sektoruntersuchung Walzasphalt v. 1.9.2012 – B1-33/10 Rz. 145 ff.; Sektoruntersuchung Zement und Transportbeton v. 24.7.2017 – B1-73/13 Rz. 506. Zur Kritik an dieser Ausweitung s. u.a. Müller-Feldhammer, WuW 2015, 133; Bien, NZKart 2014, 247.
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Röhling
B. Anwendung des Kartellverbots nach § 1 GWB
Rz. 7.239 Kap. 7
das Gemeinschaftsunternehmen tätig ist und ein anderer Gesellschafter dort nur über eine nicht beherrschte Beteiligung (wobei unklar bleibt, welcher Höhe diese sein muss) oder auch nur in einem räumlich nahe gelegenen Markt aktiv ist. Weiterhin seien auch „Spillover Effekte“ denkbar, wenn sich die Gesellschafter auf einem anderen räumlichen Markt gegenüber stünden. Auf Grundlage dieser Regelvermutungen ist sodann eine Einzelfallbetrachtung vorzunehmen, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, welche Bedeutung das Gemeinschaftsunternehmen auf dem Markt haben wird und wie hoch die Kapitalbeteiligungen der Gesellschafter sind, welches strategische Interesse die Gesellschafter am Gemeinschaftsunternehmen haben und wie das tatsächliche Verhalten der Gesellschafter bislang erscheint. Hierbei ist die Entscheidung des OLG Düsseldorf in der Sache CVH474 von Relevanz, in der das OLG davon ausgeht, dass bei einer gemeinsamen Beherrschung des Gemeinschaftsunternehmens durch die Gesellschafter die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht ein Wettbewerbsverbot zugunsten des Gemeinschaftsunternehmens rechtfertigen könne. Daraus ließe sich folgern, dass auch eine Wettbewerbsbeschränkung zwischen den Gesellschaftern über das „Scharnier“ des Gemeinschaftsunternehmens ausscheiden müsse – was nicht ausschließt, dass eine solche sich aus anderen Umständen ergibt.
7.237
Dagegen liegt kein Verstoß gegen § 1 GWB vor, wenn das Gemeinschaftsunternehmen in 7.238 seinem Wettbewerbsverhalten gegenüber den Gründerunternehmen beschränkt wird (Bezugsverpflichtung gegenüber den Müttern, Regelungen, die verhindern, dass das Gemeinschaftsunternehmen zu den Müttern in Konkurrenz tritt).475 Diese Vereinbarungen werden lediglich als autonome Selbstbeschränkung der abhängigen Unternehmen gesehen,476 die den Aufgabenkreis des Gemeinschaftsunternehmens festlegen und deshalb kartellrechtlich irrelevant sind, solange nicht zugleich das Verhältnis der Mutterunternehmen zueinander geregelt wird.
II. Wettbewerbsverbote Im Rahmen von Unternehmenskaufverträgen werden dem Veräußerer häufig Wettbewerbsverbote auferlegt.477 Diese sollen die Übertragung des Unternehmens auf den Käufer einschließlich der mit ihm verbundenen immateriellen Werte, insbesondere des Kundenkreises, sicherstellen. Da derartige Absprachen für den Verkäufer unstreitig aktuellen oder potentiellen Wettbewerb beschränken, müssen sie am Kartellverbot gemessen werden.478 Bei dieser Prüfung wird im Einzelfall untersucht, ob die konkrete Abrede für den Vertragszweck erforderlich ist. Ein Verstoß gegen § 1 GWB liegt immer dann vor, wenn das Wettbewerbsverbot in gegenständlicher, örtlicher und zeitlicher Hinsicht nicht angemessen begrenzt wird (überschießende Wettbewerbsbeschränkung).479 Allgemeine Aussagen über die Begrenzung sind hierbei nicht möglich, da für die Beurteilung der Zulässigkeit der zu sichernde Vertrags474 OLG Düsseldorf v. 15.7.2013 – VI-Kart 9/12 (V) – Chemikalienhandel II, WuW/E DE-R 3993. 475 OLG Düsseldorf v. 15.7.2013 – VI-Kart 9/12 (V) Rz. 19, WuW/E DE-R 3993; Müller-Feldhammer, WuW 2015, 133 (137). 476 Zimmer in Immenga/Mestmäcker, § 1 GWB Rz. 305; KG, WuW/E OLG 1383 – Starkstromkabel. 477 Vgl. Bechtold/Bosch, § 1 GWB Rz. 59. 478 BGH v. 13.3.1979 – KZR 23/77 – Frischbeton, WuW/E BGH 1600. 479 BGH v. 3.11.1981 – KZR 33/80 – Holzpaneele, WuW/E BGH 1898 (1899); Möschel, S. 135.
Röhling 715
7.239
Kap. 7 Rz. 7.240
Kartellrecht
zweck entscheidend ist. In der Rechtsprechung wurden überwiegend Fristen bis zu fünf Jahren als zulässig angesehen,480 wobei auch ein zeitlich unbeschränktes Wettbewerbsverbot hingenommen wurde, als der Veräußerer in einem gegenständlich nahe liegenden Bereich weiter tätig blieb. Wettbewerbsverbote können ferner bei der Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens notwendig, da im Sinne des Vertragszwecks erforderlich, sein. Dies gilt jedoch nicht im Verhältnis zu einer das Gemeinschaftsunternehmen nicht (mit-)kontrollierenden Muttergesellschaft ohne bestimmenden Einfluss auf das Unternehmen.481 In der Praxis spielt bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Nebenabreden die Nebenabreden-Bekanntmachung der Kommission eine bedeutende Rolle.482
C. Europäische Fusionskontrolle I. Allgemeines 7.240 Die derzeit geltende FKVO ist seit dem 1.5.2004 als VO (EG) Nr. 139/2004 in Kraft.483 Ohne materielle Änderungen hat die Kommission Ende 2013 eine Verfahrensreform mit dem Ziel der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens angenommen. Hierdurch wurden u.a. der Anwendungsbereich des sog. vereinfachten Verfahrens erweitert und die Anmeldeformblätter überarbeitet. Zudem hat die Kommission Mitteilungen veröffentlicht, in denen sie erläutert, wie sie die FKVO anzuwenden gedenkt.484 Eine wesentliche Erweiterung des Anwendungsbereichs der FKVO wäre mit der Umsetzung der Vorschläge der Kommission aus ihrem Weißbuch „Eine wirksamere EU-Fusionskontrolle“485 verbunden. Das Weißbuch sieht insbesondere vor, dass – vergleichbar der deutschen Rechtslage – unter bestimmten Voraussetzungen auch nichtkontrollierende Minderheitsbeteiligungen der EU-Fusionskontrolle unterliegen, soweit durch sie eine „wettbewerbsrelevante Verbindung“ entsteht. Nach Kritik aus der Praxis nahm die Kommission jedoch von einer Umsetzung der im Weißbuch enthaltenen Vorschläge Abstand.486 Derzeit gibt es weiter Diskussionen über mögliche Reformen, insbesondere über die Einführung eines Transaktionsschwellenwertes wie in Deutschland und Österreich; ein Zeitplan hierfür existiert jedoch nicht.
7.241 Wie Art. 2 Abs. 1 lit. a FKVO verdeutlicht, dient die EU-Fusionskontrolle in erster Linie der Marktstrukturkontrolle.487 In der Praxis wird nur ein sehr geringer Bruchteil der Zusammenschlussvorhaben untersagt. Bis Ende 2017 hat sie über 6805 Anmeldungen nach der
480 OLG Stuttgart v. 16.3.1973 – 2 U 8/73 – Detektivbüro, WuW/E OLG 1392; zur Frage, ob ein unwirksames Wettbewerbsverbot auf ein zulässiges Maß reduziert werden kann, vgl. Traub, WRP 1994, 802. 481 S. OLG Düsseldorf v. 15.8.2007 – VI-U (Kart) 11/07 – AnzeigenblattGU, WuW/E DE-R 2166; OLG Frankfurt/M. v. 17.3.2009 – 11 U 61/08 – Musikalienhandel, WuW/E DE-R 2603 (2605). 482 Bekanntmachung der Kommission über Einschränkungen des Wettbewerbs, die mit der Durchführung von Unternehmenszusammenschlüssen unmittelbar verbunden und für diese notwendig sind, ABl. EG 2005 Nr. C 56, 24. 483 ABl. EG 2004 Nr. L 24, 1. 484 ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10. 485 Weißbuch – Eine wirksamere EU-Fusionskontrolle v. 9.7.2014, COM(2014) 449 final, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=COM:2014:0449:FIN. 486 Simon in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Einf. FKVO Rz. 18. 487 Auf primärrechtlicher Ebene stützt Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb, ABl. EU 2008 Nr. C 115, 309 (früher Art. 3g EG) diesen strukturorientierten Ansatz.
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Röhling
C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.243 Kap. 7
FKVO entschieden.488 In den meisten Fällen ergingen dabei Vereinbarkeitsentscheidungen in der ersten Phase (6012, davon 291 mit Bedingungen oder Auflagen). In 253 Fällen wurde die zweite Prüfungsphase eingeleitet, davon endeten 58 Fälle mit einer Freigabe ohne Auflagen, in 122 Fällen kam es zu einer Freigabe mit Auflagen. In lediglich 27 Fällen hat die Kommission den Zusammenschluss wegen der Unvereinbarkeit mit dem Binnenmarkt vollständig untersagt, seit 2004 nur neun Zusammenschlüsse, zuletzt in den Fällen „Deutsche Börse/London Stock Exchange Group“ und „HeidelbergCement/Schwenk/Cemex Hungary/ Cemex Croatia“.489 In insgesamt 183 Fällen zogen die beteiligten Unternehmen ihre Anmeldung aufgrund der Aufgabe oder Änderung eines Vorhabens während des Verfahrens zurück. Darüber hinaus entfaltet die FKVO jedoch, insbesondere auch anlässlich in der Praxis häufiger Vorgespräche zwischen der Kommission und zusammenschlusswilligen Unternehmen, schon vor Anmeldung erhebliche präventive Wirkung.490
II. Verhältnis zur nationalen Fusionskontrolle Nach Art. 21 Abs. 2 und 3 der FKVO wenden die Mitgliedstaaten ihr innerstaatliches Wettbewerbsrecht nicht auf Zusammenschlüsse von unionsweiter Bedeutung, also auf die unter die FKVO fallenden Zusammenschlüsse, an. Zusammenschlüsse von unionsweiter Bedeutung müssen daher beim BKartA weder angezeigt noch angemeldet werden. Dabei ist zu beachten, dass trotz des Erreichens der erforderlichen Umsatzschwellen nach der FKVO das nationale Recht Anwendung findet, sofern kein Zusammenschlusstatbestand nach der FKVO, jedoch ein Zusammenschluss nach dem GWB gegeben ist.491 – Vgl. zur Abgrenzung aus nationaler Sicht bereits Rz. 7.8 ff.
7.242
Ein gewisses Einfallstor für mitgliedstaatliche Kompetenzen ist die Regelung, dass die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen zum Schutz anderer berechtigter Interessen als derjenigen treffen können, welche in der FKVO berücksichtigt werden (öffentliche Sicherheit, Medienvielfalt und Aufsichtsregeln, unter erhöhten Voraussetzungen auch andere Interessen), sofern diese Interessen mit den allgemeinen Grundsätzen und den übrigen Bestimmungen des Unionsrechts vereinbar sind (Art. 21 Abs. 4 FKVO). Derartige Eingriffe unterliegen jedoch der Kontrolle durch die Kommission.492
7.243
488 Die Zahl der Anmeldungen ist dabei von 64 im Jahre 1991 über 330 im Jahr 2000 auf bis zu 402 im Rekordjahr 2007 gestiegen, danach jedoch krisenbedingt leicht rückläufig und nun wieder ansteigend; diese und alle folgenden Zahlen entstammen der von der Kommission geführten Statistik, abrufbar auf der Homepage der Kommission unter http://ec.europa.eu/competition/ mergers/statistics.pdf. 489 Komm.E. v. 29.3.2017 – COMP/M.7995 – Deutsche Börse/London Stock Exchange; Komm.E. v. 5.4.2017 – COMP/M.7878 – HeidelbergCement/Schwenk/Cemex Hungary/Cemex Croatia. 490 S. schon Kommission, Wettbewerbsbericht 1993 Rz. 55. 491 Wiedemann in Wiedemann, § 15 Rz. 43; in Betracht kommen insbesondere die Fälle des § 37 Abs. 1 Nr. 3 lit. b und Nr. 4 GWB. § 37 Abs. 1 Nr. 3 lit. b GWB ermöglicht die Kontrolle von Minderheitsbeteiligungen, die im europäischen Recht nicht vorgesehen ist. § 37 Abs. 1 Nr. 4 GWB bietet einen Auffangtatbestand, der in dieser Form in der FKVO ebenfalls nicht enthalten ist. 492 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 21 FKVO Rz. 12; so wurde Art. 21 Abs. 4 FKVO etwa für die Beurteilung spanischer „Abwehrmaßnahmen“ gegen die von der Kommission freigegebene Übernahme des Energieversorgungsunternehmens Endesa durch E.ON virulent, die sogar ein Vertragsverletzungsverfahren zur Folge hatten, EuGH v. 6.3.2008 – C-196/07, ECLI:EU:C:2008:146 – Spanien/Kommission.
Röhling 717
Kap. 7 Rz. 7.244
Kartellrecht
7.244 Ferner sieht die FKVO in Art. 9 (sog. „deutsche Klausel“) die Möglichkeit der Verweisung eines Zusammenschlussvorhabens auf Antrag eines Mitgliedstaates von der Kommission an die nationale Wettbewerbsbehörde dieses Mitgliedstaates vor, wenn der Zusammenschluss den Wettbewerb auf einem gesonderten Markt in diesem Mitgliedstaat erheblich zu beeinträchtigen droht. Die Kommission wird vor allem dann einen Fall an eine nationale Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaates verweisen, wenn sie diese als die besser geeignete Wettbewerbsbehörde ansieht. Dies ist häufig der Fall, wenn es sich um regionale Märkte handelt, die allein das Hoheitsgebiet des antragsstellenden Mitgliedsstaates betrifft bzw. die nationale Wettbewerbsbehörde aufgrund einer Vorbefassung mit den in Frage stehenden Märkten bereits eine gewisse Expertise erworben hat. Bis Ende 2017 erhielt die Kommission 113 solcher Anträge, einen erheblichen Teil davon vom BKartA.493 In 85 Fällen gab sie dem Begehren der Mitgliedstaaten ganz oder teilweise statt.494 Erwähnenswerte Verweisungsentscheidungen waren etwa der Fall „Southern Energy Holding Beteiligungs-GmbH/VIAG/ PreussenElektra/BEWAG“, der den Erwerb der gemeinsamen Kontrolle über das Berliner Elektrizitätsunternehmen BEWAG betraf.495 Zwei weitere Fälle, „Rheinmetall/BritishAerospace/STN Atlas“496 und „Krauss-Maffei/Wegmann“497 betrafen die Rüstungsindustrie. Obwohl der relevante Markt ganz Deutschland umfasste und die Kommission in diesen Fällen bisher eine Verweisung ablehnte, gab sie den Anträgen statt. Dies wurde u.a. damit begründet, dass ausländische Anbieter traditionell nur in geringem Maße auf dem deutschen Markt tätig gewesen seien.498 In der Sache „Kabel Deutschland/Ish“ wurde eine Abgabe an das BKartA u.a. deshalb genehmigt, weil dieses bereits zwei vergleichbare Fälle vorliegen hatte und sich daher eine Konzentration der Verfahren aus Sicht der Kommission anbot.499 Regionale Märkte betraf eine Verweisungsentscheidung für ein Vorhaben, dessen Beteiligte im Bereich der Sammlung von Kohlestaubabfällen im Ruhrgebiet und von Schrott im Raum Stuttgart aktiv waren.500 Abgelehnt hat die Kommission eine Verweisung im Fall „Telefónica/E-Plus“ unter Verweis auf das ihr zustehende Ermessen und ihre Eignung zur Beurteilung des Zusammenschlusses.501 Erstmals verwies die Kommission im Jahr 2001 einen Fall auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 2 lit. b FKVO. Das Vereinigte Königreich hatte die Prüfung des Vorhabens Govia/Connex South Central erstmals darauf gestützt, dass der betroffene Markt keinen wesentlichen Teil des Binnenmarktes ausmacht.
7.245 Als Spiegelbild zur „deutschen Klausel“ des Art. 9 FKVO sieht Art. 22 FKVO die Möglichkeit vor, auf Antrag eines oder mehrerer Mitgliedstaaten einen Zusammenschluss unterhalb der Schwellenwerte des Art. 1 FKVO durch die Kommission prüfen zu lassen, sofern der Zusammenschluss den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt. Diese Option (sog. „niederländische Klausel“) war ursprünglich für Mitgliedstaaten ohne eigene Fusionskon493 Wagemann in Wiedemann, § 17 Rz. 150. 494 Vgl. Statistik der Kommission, abrufbar auf der Homepage der Kommission unter http://ec.eu ropa.eu/competition/mergers/statistics.pdf; zur Anfechtung von Verweisungsentscheidungen s. EuG v. 3.4.2003 – T-119/02 – Philips, Slg. 2003, II-1433, und EuG v. 30.9.2003 – T-346/02 u. T-347/02 – Cableuropa, Slg. 2003, II-4251. 495 Komm.E. v. 25.7.1997 – IV/M.932 – SEHB/VIAG/PE-BEWAG, WuW 1997, 701. 496 Komm.E. v. 24.4.1997 – IV/M.894 – Rheinmetall/British Aerospace/STN ATLAS, WuW 1997, 598. 497 Komm.E. v. 19.6.1998 – IV/M.1153 – Krauss-Maffei/Wegmann, WuW 1998, 967. 498 Vgl. Hirsbrunner, EuZW 1999, 389 (394). 499 Komm.E. v. 7.6.2004 – COMP/M.3271 – Kabel Deutschland/Ish. 500 Komm.E. v. 7.2.2007 – COMP/M.4495 – Alfa Acciai/Cronimet/Remondis/TSR Group, WuW/E EU-V 1233. 501 Komm.E. v. 30.1.2014 – COMP/M.7018 – Telefónica/E-Plus.
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Röhling
C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.247 Kap. 7
trolle gedacht. Sie kommt nunmehr vor allem dann in Betracht, wenn ein Zusammenschluss erhebliche grenzüberschreitende Wettbewerbsprobleme mit sich bringt, ohne unter die Aufgreifschwellen zu fallen oder Wettbewerbsbedenken auf mehreren nationalen, regionalen oder gar lokalen Märkten in verschiedenen Mitgliedsstaaten bestehen und eine einheitliche Bearbeitung des Falles auch im Hinblick auf mögliche Abhilfen wünschenswert erscheint.502 Während die Kommission Verweisungsanträgen regelmäßig entspricht, lehnte sie die Verweisung beispielsweise im Fall „London Stock Exchange Group/LCH Clearnet“ ab, obwohl gleich drei nationale Behörden einen entsprechenden Antrag gestellt hatten.503 Auch die beteiligten Unternehmen können beantragen, dass ein Zusammenschluss von 7.246 unionsweiter Bedeutung anstelle der Kommission durch einen Mitgliedstaat geprüft wird. Voraussetzung ist allerdings, dass die Parteien vortragen, der Zusammenschluss könne den Wettbewerb auf einem gesonderten Markt innerhalb dieses Mitgliedstaates erheblich beeinträchtigen (Art. 4 Abs. 4 FKVO). Damit ist jedoch kein Nachweis tatsächlicher Wettbewerbsschädlichkeit gemeint, sondern lediglich die (neutrale) Darlegung von Auswirkungen auf den nationalen Markt.504 Von dieser Möglichkeit wurde bisher nicht allzu häufig Gebrauch gemacht.505 Wesentlich häufiger greifen Unternehmen auf die Regelung des Art. 4 Abs. 5 FKVO zurück, nach der ein Zusammenschluss, der keine unionsweite Bedeutung hat, auf Antrag der beteiligten Unternehmen durch die Kommission geprüft werden kann, wenn er in mindestens drei Mitgliedstaaten anmeldepflichtig ist (Art. 4 Abs. 5 FKVO).506 Sofern keiner der betroffenen Mitgliedstaaten widerspricht, wird die unionsweite Bedeutung des Zusammenschlusses vermutet und die Mitgliedstaaten verlieren ihre Prüfungskompetenz. Auf diese Weise können Mehrfachnotifizierungen jedenfalls innerhalb der Europäischen Union vermieden werden. Prominente Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit war der Kauf von WhatsApp durch Facebook sowie RHI/Magnesita Refratarios.507
III. Anwendungsbereich 1. Umsatzschwellenwerte des Art. 1 Abs. 2 und 3 FKVO Gemäß Art. 1 Abs. 1 FKVO hängt die Anwendung der VO von zwei Voraussetzungen ab. Es muss zum einen ein Zusammenschluss i.S.v. Art. 3 FKVO vorliegen (dazu unten Rz. 7.257 ff.). Außerdem muss dem Zusammenschluss hinsichtlich des Umsatzes der beteiligten Unternehmen „unionsweite Bedeutung“ zukommen. Stichtag ist das Datum des zuerst eintretenden der folgenden Ereignisse: Abschluss des rechtsverbindlichen Vertrags, Veröffentlichung des 502 Bis Ende 2017 wurde der Antrag nach Art. 22 FKVO 34 mal gestellt, eine Verweisung erfolgte in fast allen, nämlich in 30 Fällen; vgl. Statistik der Kommission, abrufbar auf der Homepage der Kommission unter http://ec.europa.eu/competition/mergers/statistics.pdf. 503 S. hierzu Hirsbrunner, EuZW 2013, 657 (660). 504 Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10), Rz. 17. Ähnl. auch der 16. Erwägungsgrund der FKVO. 505 Bis Ende 2017 wurden 149 Anträge nach Art. 4 Abs. 4 FKVO gestellt, in 135 Fällen erfolgte eine vollständige oder teilweise Verweisung, vgl. Statistik der Kommission, abrufbar auf der Homepage der Kommission unter http://ec.europa.eu/competition/mergers/statistics.pdf. 506 Bis Ende 2017 ergingen 339 Anträge nach Art. 4 Abs. 5 FKVO, 325 hiervon waren erfolgreich; vgl. Statistik der Kommission, abrufbar auf der Homepage der Kommission unter http://ec.euro pa.eu/competition/mergers/statistics.pdf. 507 Komm.E. v. 3.10.2014 – COMP/M.7217 – Facebook/WhatsApp; Komm.E. v. 28.6.2017 – COMP/M.8286 – RHI/Magnesita Refratarios.
Röhling 719
7.247
Kap. 7 Rz. 7.248
Kartellrecht
Übernahmeangebots, Erwerb einer Kontrollbeteiligung oder die erste Anmeldung des Vorhabens.508 Art. 1 Abs. 2 und 3 FKVO legen hierfür bestimmte Schwellen fest:
7.248 Gemäß Art. 1 Abs. 2 lit. a, b FKVO fällt ein Zusammenschluss in den Anwendungsbereich der VO, wenn folgende Umsätze erzielt werden: – weltweiter Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen von mehr als 5 Mrd. Euro; – unionsweiter Gesamtumsatz von mindestens zwei der beteiligten Unternehmen von jeweils mehr als 250 Mio. Euro (sog. „de-minimis-Schwelle“).
7.249 Um Mehrfachnotifizierungen auf mitgliedstaatlicher Ebene zu reduzieren, findet das Kontrollregime der FKVO darüber hinaus Anwendung, wenn bei Erreichen bestimmter Umsatzwerte, die nicht bereits nach Art. 1 Abs. 2 lit. a, b FKVO die Zuständigkeit der Kommission eröffnen, in mindestens drei Mitgliedstaaten wettbewerbliche Wirkungen von dem Zusammenschlussvorhaben ausgehen. Folgende Umsatzschwellen sind hierfür kennzeichnend (Art. 1 Abs. 3 lit. a-d FKVO): – weltweiter Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen von mehr als 2,5 Mrd. Euro; – Gesamtumsatz der beteiligten Unternehmen in drei Mitgliedstaaten mindestens je 100 Mio. Euro; – Gesamtumsatz von jeweils zwei beteiligten Unternehmen in den drei Mitgliedstaaten von mindestens je 25 Mio. Euro; – unionsweiter Umsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen von mindestens je 100 Mio. Euro.
7.250 Unabhängig von diesen Schwellenwerten ist allerdings einem Zusammenschlussvorhaben dann keine unionsweite Bedeutung beizumessen, wenn die beteiligten Unternehmen jeweils mehr als zwei Drittel ihres unionsweiten Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat erzielen (Art. 1 Abs. 2 und 3 jeweils Halbs. 2 FKVO, sog. „Zwei-Drittel-Klausel“). Sinn dieser Regelung ist es, Zusammenschlüsse, die im Wesentlichen nur einen Mitgliedstaat betreffen, weiterhin dem sachnäheren nationalen Recht zu unterstellen. 2. Beteiligte Unternehmen
7.251 Der Begriff der beteiligten Unternehmen, an den die Aufgreifkriterien anknüpfen, wird in Art. 4 Abs. 2 FKVO nicht näher definiert. Allerdings hat sich in der Praxis der Kommission mittlerweile eine Begriffsbestimmung entwickelt, die in der Konsolidierten Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen zusammengefasst ist.509 Danach sind der Erwerber und das erworbene Unternehmen an dem Zusammenschluss beteiligt, während der Veräußerer kein beteiligtes Unternehmen ist. Beim Erwerb der gemeinsamen Kontrolle über ein anderes Unternehmen sind sämtliche Erwerber Beteiligte im Sinne der FKVO. Bei der Gründung von Gemeinschaftsunternehmen sind also grundsätzlich alle Mütter, die gemeinsame 508 Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10), Rz. 156. 509 Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 2009 Nr. C 43, 10), Rz. 129 ff.
720
Röhling
C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.254 Kap. 7
Kontrolle erwerben, nicht jedoch das noch nicht bestehende Gemeinschaftsunternehmen beteiligte Unternehmen. Aus Art. 5 Abs. 4 FKVO ergibt sich, dass die mit diesen Beteiligten verbundenen Unternehmen, also Mutter- und Tochtergesellschaften, nicht Beteiligte sind.510 3. Umsatzberechnung Nach Art. 5 Abs. 1 FKVO sind für die Berechnung des Gesamtumsatzes die Umsätze aufzuaddieren, welche die beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr mit Waren und Dienstleistungen erzielt haben und die dem normalen geschäftlichen Tätigkeitsbereich der Unternehmen zuzuordnen sind. In erster Linie kommt es dabei auf den Geschäftszweck des Unternehmens an. Von den in der Gewinn- und Verlustrechnung ausgewiesenen Umsätzen sind Erlösschmälerungen, die Umsatz- bzw. Mehrwertsteuer und andere unmittelbar auf den Umsatz bezogene Steuern in Abzug zu bringen (d.h. zu berücksichtigen ist der Nettoumsatz). Die Auffassung der Kommission zur Auslegung des Art. 5 FKVO findet sich mittlerweile ebenfalls in ihrer Konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen.511
7.252
Da Art. 1 FKVO auf den unionsweiten Umsatz der beteiligten Unternehmen und im Rah- 7.253 men der Zwei-Drittel-Regelung auf die Verteilung des unionsweiten Umsatzes zwischen den Mitgliedstaaten abstellt, ist eine gebietsmäßige Zuordnung des Umsatzes erforderlich. Nach Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 2 FKVO kommt es bei der gebietsmäßigen Zuordnung des Umsatzes darauf an, wo der Verbraucher oder Kunde seinen Sitz hat bzw. wo der Erwerb der Ware oder Dienstleistung erfolgt.512 Gehört ein an einem Zusammenschluss i.S.v. Art. 1 FKVO beteiligtes Unternehmen einem Konzern an, so ist bei der Untersuchung, ob die Schwellenwerte des Art. 1 der FKVO erreicht sind, nach Art. 5 Abs. 4 der FKVO der Umsatz des Gesamtkonzerns unter Ausschluss der konzerninternen Umsätze zugrunde zu legen. Im Einzelnen werden jedem beteiligten Unternehmen auch die Umsätze seiner Töchter-, Mutterund Schwestergesellschaften zugerechnet sowie die Umsätze von Gemeinschaftsunternehmen, die von mehreren Konzernunternehmen gemeinschaftlich kontrolliert werden. Wird eine Konzerngesellschaft gemeinsam von einer anderen Konzerngesellschaft und einem Dritten kontrolliert, hat die Kommission bisher den Umsatz des Gemeinschaftsunternehmens jedoch lediglich pro Kopf zugerechnet. Die Einzelheiten sind in Art. 5 Abs. 4 FKVO geregelt, der den sog. Verbundklauseln der Gruppenfreistellungs-Verordnungen nachgebildet ist.513 Wie im deutschen Recht (vgl. Rz. 7.18) bestehen auch nach der FKVO Sonderregelungen 7.254 für bestimmte Sektoren.514 So werden gem. Art. 5 Abs. 3 lit. a FKVO bei Kredit- und sonstigen Finanzinstituten die sich aus der Richtlinie 86/635 EWG des Rates vom 8.12.1986515 definierten Ertragsposten als Bruttogesamterträge herangezogen. Bei Versicherungen wird gem. Art. 5 Abs. 3 lit. b FKVO anstatt des Umsatzes die Bruttoprämie in Ansatz gebracht. 510 Eine andere Frage ist die Umsatzzurechnung. 511 Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10, Rz. 157 ff. 512 Komm.E. v. 21.5.1992 – IV/M.213 – Hong Kong und Shanghai Bank/Midland, WuW/E EV 1863; Ablasser-Neuhuber in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Art. 5 FKVO Rz. 12. 513 Wagemann in Wiedemann, § 15 Rz. 98. 514 Vgl. Wagemann in Wiedemann, § 15 Rz. 101–109. 515 Richtlinie 86/635 EWG des Rates v. 8.12.1986 über den Jahresabschluss von Banken und anderen Finanzinstituten, ABl. EG 1986 Nr. L 372, 1, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2006/46/EG, ABl. EU 2006 Nr. L 224, 1.
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Kap. 7 Rz. 7.255
Kartellrecht
Für öffentliche Unternehmen ist bei der Umsatzermittlung nur auf die mit einer autonomen Entscheidungsbefugnis ausgestattete wirtschaftliche Einheit abzustellen.516 4. Extraterritoriale Anwendung
7.255 Der extraterritoriale Anwendungsbereich der FKVO wird zunächst dadurch bestimmt, dass zur Erfassung eines Vorhabens, auch bei einem außerhalb der EU vollzogenen Zusammenschluss, mindestens zwei der beteiligten Unternehmen, ggf. über verbundene Unternehmen, einen unionsweiten Gesamtumsatz von jeweils mehr als 250 Mio. Euro aufweisen müssen. Die FKVO enthält insoweit bereits eine Konkretisierung des vom EuG für den Bereich der FKVO ausdrücklich anerkannten Auswirkungsprinzips.517 Wie im deutschen Recht treten auch im Rahmen der FKVO im Hinblick auf Drittlands-Zusammenschlüsse Probleme insbesondere dann auf, wenn der Schwerpunkt des Zusammenschlusses z.B. im Falle von Gemeinschaftsunternehmen außerhalb der EU liegt.518 Unproblematische Fälle werden von der Kommission bei Anmeldung und Prüfung häufig durch Verzicht auf bestimmte Angaben bevorzugt behandelt519 und bei keiner oder nur einer geringfügigen Tätigkeit des Gemeinschaftsunternehmens bzw. der zusammengeschlossenen Unternehmen in der EU oft im vereinfachten Verfahren beschleunigt geprüft.
7.256 Um eine möglichst reibungslose Bearbeitung internationaler Fälle zu erreichen, hat die Kommission mit vielen Wettbewerbsbehörden (u.a. Kanada, Japan, Schweiz, USA) sog. Best-Practice-Prinzipien für die Behandlung parallel behandelter Zusammenschlussvorhaben vereinbart.520 Gleichwohl kamen trotz weitestgehend gleicher Fakten die US-amerikanischen Behörden und die Kommission im Fall „General Electric/Honeywell“521 zu unterschiedlichen Ergebnissen. Der zuvor von den US-amerikanischen und anderen Wettbewerbsbehörden freigegebene Zusammenschluss ist von der Kommission untersagt worden. Das EuG hat diese Entscheidung bestätigt.522
IV. Zusammenschlussbegriff 1. Übersicht
7.257 Gemäß Art. 3 Abs. 1 der FKVO liegt ein Zusammenschluss vor, wenn: – zwei oder mehr bisher voneinander unabhängige Unternehmen fusionieren (Fusion), oder – Unternehmen oder die sie kontrollierenden Personen durch den Erwerb von Anteilsrechten oder Vermögenswerten, durch Vertrag oder in sonstiger Weise die unmittelbare oder 516 Erwägungsgrund 22 FKVO; vgl. Komm.E. v. 28.7.1992 – IV/M.117 – Koipe/Tabacalera/Elosua, WuW 1992, 834. 517 EuG v. 25.3.1999 – T-102/96 – Gencor/Kommission, WuW/E EU-R 213; vorher bereits angedeutet in EuGH v. 27.9.1988 – 89/85 – Zellstoffhersteller, WuW/E EWG/MUV 829; anders als § 185 Abs. 2 GWB im deutschen Recht enthält die FKVO keine ausdrückliche Regelung. Vgl. Weiß, NZKart 2016, 202; Weiß, NZKart 2016, 265. 518 Vgl. Körber in Immenga/Mestmäcker, Art. 1 FKVO Rz. 59 f. 519 Vgl. Körber in Immenga/Mestmäcker, Art. 1 FKVO Rz. 61 und Art. 4 FKVO Rz. 31. 520 Ein Überblick über bilaterale Vereinbarungen findet sich auf der Homepage der Kommission unter http://ec.europa.eu/competition/international/bilateral/index.html. 521 Komm.E. v. 3.7.2001 – IV/M.2220 – General Electric/Honeywell, WuW/E EU-V 631. 522 EuG v. 14.12.2005 – T-210/01 – General Electric/Kommission, Slg. 2005, II-5527.
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Röhling
C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.262 Kap. 7
mittelbare Kontrolle über die Gesamtheit oder über Teile eines oder mehrerer anderer Unternehmen erwerben (Kontrollerwerb). Der Zusammenschlussbegriff der FKVO ist also von der Rechts- oder Gesellschaftsform unabhängig. Anders als im deutschen Recht sollen nur Handlungen erfasst werden, die zu einer dauerhaften Veränderung der Kontrolle an den beteiligten Unternehmen führen.523
7.258
Einzelheiten zu den bisherigen Erfahrungen der Kommission mit dem Zusammenschlussbegriff enthält die Konsolidierte Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen.524
7.259
Anders als nach dem GWB unterliegen nichtkontrollierende Minderheitsbeteiligungen bisher nicht der EU-Fusionskontrolle. Die Kommission sieht hierin eine Schutzlücke und hat deshalb in ihrem Weißbuch „Eine wirksamere EU-Fusionskontrolle“ eine Erstreckung auf Minderheitsbeteiligungen vorgeschlagen, soweit durch sie eine „wettbewerbsrelevante Verbindung“ entsteht.525 Eine baldige Umsetzung ist jedoch angesichts von Widerständen gegen die dortigen Reformvorschläge nicht zu erwarten.
7.260
2. Unternehmensbegriff Der Unternehmensbegriff wird weder in der FKVO noch in der Konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen definiert, sondern vorausgesetzt. Der Begriff wird weit und funktionell verstanden526 und umfasst jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit – unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.527 Hierunter fallen auch Staatskonzerne, die wie ein privates Unternehmen geführt werden.528
7.261
3. Zusammenschlusstatbestände Im Recht der FKVO bestehen – anders als nach dem GWB (vgl. Rz. 7.43 ff.) – bislang grundsätzlich nur zwei Zusammenschlusstatbestände: die Fusion und der Kontrollerwerb. Mehrere Transaktionen zwischen denselben Parteien sind als ein einziger Zusammenschluss anzusehen, wenn sie einen einheitlichen Charakter aufweisen, einem einheitlichen wirtschaftlichen Ziel dienen und so voneinander abhängig sind, dass die eine Transaktion nicht ohne die andere(n) durchgeführt worden wäre.529
523 Erwägungsgrund 20 FKVO. 524 Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10), Rz. 7 ff. 525 Weißbuch – Eine wirksamere EU-Fusionskontrolle v. 9.7.2014, COM(2014) 449 final, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=COM:2014:0449:FIN; dem grundsätzlich zustimmend Montag, NZKart 2015, 410. 526 Hirsbrunner/Rating in von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 3 FKVO Rz. 8. 527 EuGH v. 19.1.1994 – C-364/92 – Eurocontrol, EuGHE 1994, 43 (61). 528 Komm.E. v. 14.12.1993 – IV/M.308 – Kali und Salz/MDK/Treuhand. 529 EuG v. 23.2.2006 – T-282/02 – Cementbouw/Kommission, Slg. 2006, II-319 Rz. 58; Komm.E. v. 13.5.2011 – COMP/M.6151 – Petrochina/Ineos/JV, Rz. 17; Komm.E. v. 19.12.2011 – COMP/M.6403 – Volkswagen/KPI Polska/Skoda Auto Polska/VW Bank Polska/VW Leasing Polska, Rz. 12; vgl. auch Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10), Rz. 38 ff.
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7.262
Kap. 7 Rz. 7.263
Kartellrecht
a) Fusion
7.263 Unter den Zusammenschlusstatbestand der Fusion fällt die Verschmelzung zweier bisher voneinander unabhängiger Unternehmen.530 Diese kann sich durch Aufnahme oder durch Neugründung vollziehen (sog. rechtliche Fusion). Nach Auffassung der Kommission kann eine Fusion i.S.d. FKVO auch dadurch bewirkt werden, dass vorher unabhängige Unternehmen ihre Aktivitäten zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammenlegen, ohne dass gesellschaftsrechtlich eine Fusion vorliegt. Dies soll etwa dann der Fall sein, wenn zwei oder mehr Unternehmen vereinbaren, sich einer gemeinsamen wirtschaftlichen Leitung zu unterstellen, ohne ihre Rechtspersönlichkeit aufzugeben (sog. wirtschaftliche oder faktische Fusion).531 Nach deutschem Recht ist dies im Fall der Gründung eines Gleichordnungskonzerns (§ 18 Abs. 2 AktG) anzunehmen. Kriterien können ein interner Gewinn- und Verlustausgleich sowie eine gesamtschuldnerische Haftung aller Konzernmitglieder nach außen sein.532 b) Kontrollerwerb
7.264 Der in der Praxis wichtigere Fall ist der Zusammenschlusstatbestand des Kontrollerwerbs. Nach der Definition des Art. 3 Abs. 3 der FKVO wird die Kontrolle durch Rechte, Verträge oder andere Mittel begründet, „die einzeln oder zusammen unter Berücksichtigung aller tatsächlichen oder rechtlichen Umstände die Möglichkeit gewähren, einen bestimmenden Einfluss auf die Tätigkeit eines Unternehmens auszuüben“. Das Merkmal des bestimmenden Einflusses ist der Entscheidung Nr. 24/54 der Hohen Behörde zu den Kontrollmerkmalen i.S.d. Art. 66 § 1 EGKSV entlehnt.533 Der Tatbestand des Kontrollerwerbs umfasst alternativ: – Erlangung der alleinigen Kontrolle über ein Unternehmen, einschließlich des Übergangs von gemeinsamer zu alleiniger Kontrolle. – Erlangung der gemeinsamen Kontrolle, einschließlich des Übergangs von alleiniger zu gemeinsamer Kontrolle.
7.265 Kontrolle kann dabei entweder durch einen Stimmrechtserwerb erfolgen (Share Deal) oder durch den Erwerb von Vermögenswerten (Asset Deal), denen eine marktmäßige Bedeutung im Sinne einer konkreten Umsatzzurechnung zukommt, die also einen Geschäftsbereich mit eigener Marktpräsenz darstellen (vgl. für die deutsche Fusionskontrolle oben Rz. 7.53 ff.).534 Sie kann zudem rechtlich oder faktisch begründet sein. Außerdem ist es unerheblich, ob
530 Bestand bereits eine Abhängigkeit der Unternehmen, liegt keine Fusion i.S.d. Art. 3 Abs. 1 FKVO vor, vgl. Komm.E. v. 1.10.1993 – IV/M.354 – American Cyanamid/Shell, WuW/E EV 2099; vgl. auch Wiedemann in Wiedemann, § 15 Rz. 31. 531 S. etwa Komm.E. v. 10.2.2003 – COMP/M.3071 – Carnival Corporation/P&O Princess (II); vgl. auch Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10), Rz. 10. 532 Vgl. Komm.E. v. 7.12.1996 – IV/M.660 – RTZ/CRA, WuW 1996, 381; Komm.E. v. 6.11.1990 – IV/M.004 – Renault/Volvo, WuW/E EV 1542; Komm.E. v. 27.8.1996 – IV/M.803 – Rewe/Billa, dort Annahme eines Gleichordnungskonzerns bezüglich der Umsatzberechnung; insgesamt str. vgl. Körber in Immenga/Mestmäcker, Art. 3 FKVO Rz. 21. 533 ABl. EG 1954 Nr. 9, 345. 534 Wiedemann in Wiedemann, § 15 Rz. 36; Komm.E. v. 22.12.2005 – COMP/M.3867 – Vattenfall/ Elsam.
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Röhling
C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.268 Kap. 7
ein bestimmender Einfluss tatsächlich ausgeübt wird oder nur eine entsprechende Möglichkeit besteht.535 aa) Erwerb alleiniger Kontrolle Auch wenn sich die Bewertung eher anhand qualitativer als quantitativer Kriterien bemisst, ist jedenfalls bei Mehrheitsbeteiligungen in der Regel der Erwerb eines bestimmenden Einflusses in diesem Sinne anzunehmen.536 Eine bloße Minderheitsbeteiligung stellt dagegen grundsätzlich keinen Zusammenschluss dar, da in aller Regel nicht die Möglichkeit erlangt wird, einen bestimmenden Einfluss auszuüben. In Ausnahmefällen kann jedoch auch eine Minderheitsbeteiligung den Kontrollbegriff erfüllen, wenn zum Erwerb der Anteile besondere Umstände hinzukommen.537 Ein Zusammenschluss kann etwa dann vorliegen, wenn die restlichen Anteile breit gestreut sind und die übliche Präsenz in der Gesellschaftsversammlung gering ist, so dass der Erwerber der Minderheitsbeteiligung über eine gesicherte faktische Hauptversammlungsmehrheit verfügt.538 Auch negative Kontrolle in Form einer Blockademöglichkeit bei strategischen Entscheidungen vermag alleinige Kontrolle zu vermitteln.539
7.266
Geht gemeinsame Kontrolle in alleinige Kontrolle über, ist ebenfalls ein Zusammenschlusstatbestand erfüllt.540 Dies kann einerseits durch Übertragung von Anteilen auf den anderen Partner erfolgen, andererseits durch Aufspaltung eines Gemeinschaftsunternehmens mit der Folge, dass jeder Partner nunmehr über voneinander unabhängige Teile im Sinne einer Kontrolle verfügen kann.541
7.267
Besteht eine wirtschaftlich einheitliche Transaktion aus mehreren Zusammenschlüssen, teilt die Kommission bei wechselseitigen oder komplexen Transaktionen den Sachverhalt auf und prüft hinsichtlich der Einzelvorgänge, ob jeweils ein Zusammenschluss mit unionswei-
7.268
535 EuG v. 23.2.2006 – T-282/02 – Cementbouw/Kommission, Slg. 2006, II-319 Rz. 58. 536 Komm.E. v. 25.11.1993 – IV/M.391 – BAI/Banca Populare di Lecco; Komm.E. v. 9.8.1993 – IV/M.357 – Commerzbank/CCR; Wiedemann in Wiedemann, § 15 Rz. 40. 537 Komm.E. v. 25.9.1992 – IV/M.258 – CCIE/GTE: bei 19 % der Stimmrechte zusätzlich ständiger Sitz im Vorstand sowie das Recht, den Vorsitzenden zu ernennen, der zudem über ein umfassendes Vetorecht verfügt; Komm.E. v. 14.4.1992 – IV/M.192 – Banesto/Totta: Übertragung von Stimmrechten; Komm.E. v. 19.12.2013 – COMP/M.7107 Rz. 8 ff. – Cordes & Graefe/Pompac Comafranc: Einräumung besonderer Einflussrechte des Minderheitsaktionärs auf Vorstand und Aufsichtsrat. 538 Komm.E. v. 18.11.1997 – IV/M.913 – Siemens/Elektrowatt, WuW/E EU-V 295, 296; Komm.E. v. 23.4.1997 – IV/M.754 – Anglo American Corporation/Lonhro, ABl. EG 1998 Nr. L 149, 21; Komm.E. v. 28.3.2006 – COMP/M.4155 – BNP Paribas/BNL (48 % der Stimmrechte); Komm.E. v. 23.9.2013 – COMP/M.6957 Rz. 5 ff. – IF P&C/Topdanmark (26,51 % der Stimmrechte); Komm.E. v. 19.12.2013 – COMP/M.6962 Rz. 6 – Renova Industries/Schmolz & Bickenbach (40,68 % der Anteile); Wiedemann in Wiedemann, § 15 Rz. 42. 539 Komm.E. v. 30.9.2005 – COMP/M.3876 – Diester Industrie/Bunge/JV. 540 Vgl. nur Komm.E. v. 2.2.1999 – IV/M.1375 – VW/Ford/Autoeuropa, WuW/E EU-V 249; Komm.E. v. 29.7.2003 – COMP/M.3198 – VW-Audi/Vertriebszentren, WuW/E EU-V 885; s.a. Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10), Rz. 89. 541 Vgl. Komm.E. v. 22.1.1997 – IV/M.794 – Coca-Cola Enterprise/Amalgamated Beverages Great Britain, ABl. EG 1997 Nr. L 218, 15; Komm.E. v. 3.12.1993 – IV/M.382 – Philips/Grundig, WuW/E EV 2113; Komm.E. v. 30.6.1993 – IV/M.350 – West LB/Thomas Cook, WuW/E EV 2087.
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Kap. 7 Rz. 7.269
Kartellrecht
ter Bedeutung vorliegt. Dabei kann sich die Situation ergeben, dass für einen Teil die FKVO und für einen anderen die nationale Fusionskontrolle oder aber auch gar keine Kontrolle Anwendung findet.542 Wird dagegen die Kontrolle über einen aus mehreren Schwesterunternehmen bestehenden Konzern erworben, so behandelt die Kommission diesen Vorgang als einen Zusammenschluss.543 bb) Erwerb gemeinsamer Kontrolle
7.269 Gemeinsame Kontrolle544 liegt vor, wenn die Anteilsinhaber bei allen wichtigen Entscheidungen, die das beherrschte Unternehmen betreffen, Übereinstimmung erzielen müssen. Der entscheidende Einfluss besteht in der Regel in der Macht, Aktionen blockieren zu können, die das strategische Wirtschaftsverhalten des Unternehmens – unabhängig von der Regelung des Alltagsgeschäfts545 – betreffen. Das kann in Form eines Vetorechts hinsichtlich strategischer geschäftspolitischer Entscheidungen, aber auch bei sonst disparitätischen Rechtsstellungen der kontrollierenden Unternehmen der Fall sein.546 Bedeutsam sind dabei insbesondere Vetorechte,547 die die Besetzung der Unternehmensleitung,548 den strategischen Geschäftsplan549, die
542 Vgl. Komm.E. v. 10.6.1997 – IV/M.911 – Hoechst/Clariant; Komm.E. v. 21.12.1994 – IV/M.535 – Mannesmann Demag/Delaval Stork, WuW 1995, 485. 543 Komm.E. v. 19.5.1998 – IV/M.1110 – VAW/Reynolds Metals; Komm.E. v. 29.4.1998 – IV/M.1167 – ICI/Williams; Komm.E. v. 18.12.1996 – IV/M.861 – Textron/Kautex; Komm.E. v. 29.7.2003 – COMP/M.3198 – VW-Audi/VW-Audi-Vertriebszentren; Komm.E. v. 16.2.2004 – COMP/M.3352 – VW/Hahn+Lang. 544 Vgl. zum Erwerb gemeinsamer Kontrolle insbesondere Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EUG 2009 Nr. C 43, 10), Rz. 62 ff. 545 Komm.E. v. 23.5.1996 – IV/M.605, Rz. 7 ff. – Hoechst/Klöckner-Werke/Hartfolien; Komm.E. v. 26.6.2002 – COMP/M. 2650 – Haniel/Cementbouw/JV, ABl. EU Nr. L 282,1; Komm.E. v. 18.2.2014 – COMP/M.7075 – Cintra/Abertis/Itinere/Bip & Drive JV; s.a. Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10), Rz. 67. 546 EuG v. 19.5.1994 – T-2/93 – Air France/Kommission, Slg. 1994, II-323 (325, 347 f.); Komm.E. v. 21.12.1998 – IV/M.1354 – SAirGroup/LTU: Recht zur alleinigen Beschlussfassung eines Gründers kompensiert durch alleiniges Vorschlagsrecht zur Stellenbesetzung des anderen Gründers; Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Art. 3 FKVO Rz. 35. 547 Komm.E. v. 20.7.2005 – COMP/M.3858 – Lehman Brothers/SCG/Starwood/Le Meridien: Einräumung von Nutzungsrechten am Vermögen eines Unternehmens i.V.m. beiderseitigem Vetorecht bei strategischen Unternehmensentscheidungen. Zu Vetorechten s.a. Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10), Rz. 65 ff. 548 Komm.E. v. 3.10.2011 – COMP/M.6141 Rz. 10 f. – China National Agrochemical Corporation/ Koor Industries/Makhteshim Agan Industries; Komm.E. v. 24.4.1996 – IV/M.619 Rz. 8 – Gencor/Lonrho, ABl. EG 1997 Nr. L 11, 30; Komm.E. v. 29.3.1996 – IV/M.705 Rz. 7 – Deutsche Telekom/SAP-S; Komm.E. v. 31.7.1991 – IV/M.012 Rz. 3 – Varta/Bosch, ABl. EG 1991 Nr. L 320, 26. 549 Komm.E. v. 7.3.2013 – COMP/M.6739 Rz. 7 – Allianz/VW Financial Services/JV; Komm.E. v. 27.11.1992 – IV/M.259 Rz. 8 – British Airways/TAT; EuG v. 19.5.1994 – T-2/93 – Air France/ Kommission, Slg. 1994, II-323 (347 f.).
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C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.272 Kap. 7
Finanzplanung550 und Investitionen551 betreffen. Zu untersuchen sind dabei allerdings sämtliche Einflussebenen. Beispiel: Im Fall „DEO“552 wurde eine gemeinsame Kontrolle durch vier Gesellschafter ver-
7.270
neint, obwohl eine Mehrheit in der Gesellschafterversammlung für Budget- und Geschäftsplan-Beschlüsse erforderlich war (d.h. es bestand ein Vetorecht jedes Gesellschafters, das insoweit das Bestehen eines bestimmenden Einflusses nahe legt). Hintergrund war, dass der anteilsmäßig mit insgesamt acht Mitgliedern besetzte Aufsichtsrat mit einer 2/3-Mehrheit über die Jahresplanung hinsichtlich Finanzplan und Investitionsvorhaben entscheiden konnte, womit sich die Möglichkeit wechselnder Mehrheiten ergab. Ein alleiniger oder gemeinsamer bestimmender Einfluss wurde damit letztendlich keinem Gesellschafter eingeräumt.553 c) Gemeinschaftsunternehmen Nach Art. 3 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 4 FKVO kann auch die Gründung eines Gemeinschafts- 7.271 unternehmens (GU)554 den Tatbestand eines (gemeinsamen) Kontrollerwerbs erfüllen. Art. 3 Abs. 4 FKVO begrenzt dabei die Anwendung der FKVO auf solche Vorhaben, die die Gründung eines GU betreffen, das „Vollfunktion“ besitzt, das heißt „auf Dauer alle Funktionen einer selbständigen wirtschaftlichen Einheit erfüllt“. Es werden grundsätzlich aber sämtliche GU mit Vollfunktion von der FKVO erfasst, unabhängig davon, ob sie auch zu einer Koordinierung des Verhaltens der Mütter führen. In seiner Entscheidung Austria Asphalt stellte der EuGH klar, dass die Vollfunktion des Gemeinschaftsunternehmens für eine Anwendung der Fusionskontrolle auch dann vorliegen muss, wenn es sich nicht um eine Neugründung unter gemeinsamer Kontrolle handelt, sondern ein bereits bestehendes Unternehmen zukünftig unter gemeinsamer Kontrolle geführt werden soll.555 Somit bedarf es für die Anwendbarkeit der FKVO auch bei dem Wechsel von Alleinkontrolle zu gemeinsamer Kontrolle der Vollfunktionalität des Gemeinschaftsunternehmens. Die FKVO legt hinsichtlich der Rechtsfolgen eine Unterteilung der GU in drei Gruppen nahe: – ausschließlich konzentrative GU (sog. konzentrative Vollfunktions-GU), die nur der materiellen Fusionskontrolle nach Art. 2 Abs. 1–3 FKVO unterliegen; – GU, die zwar den Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 4 FKVO entsprechen und insoweit konzentrativ sind, aber zugleich die „Koordinierung des Wettbewerbsverhaltens unabhängig bleibender Unternehmen“ (der Mütter) bezwecken oder bewirken (sog. kooperative Vollfunktions-GU). Sie unterliegen sowohl der materiellen Fusionskontrolle nach Art. 2 Abs. 1 550 Komm.E. v. 5.5.2000 – COMP/M.1920 Rz. 5 – Nabisco/United Biscuits (Veto in Bezug auf Geschäftsführung, Geschäfts- und Finanzplan); Komm.E. v. 6.4.1995 – IV/M.557 Rz. 6 – Alfred C. Toepfer/Champagne Céréales. 551 Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10), Rz. 67 und Rz. 71. 552 Komm.E. v. 11.12.1998 – IV/JV.13 – DEO, WuW/E EU-V 215. 553 Ebenso Komm.E. v. 22.12.1998 – IV/JV.12 Rz. 17 – Symbian II, WuW/E EU-V 312. 554 Gemeinschaftsunternehmen im EU-rechtlichen Sinn sind Unternehmen, die von mindestens zwei anderen Unternehmen gemeinsam beherrscht werden. Vgl. auch Wiedemann in Wiedemann, § 15 Rz. 60 ff. 555 EuGH v. 7.9.2017 – C-248/16 Rz. 28, ECLI:EU:C:2017:643 – Austria Asphalts = AG 2018, 272.
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7.272
Kap. 7 Rz. 7.273
Kartellrecht
bis 3 FKVO als auch der Prüfung anhand des Maßstabs des Art. 101 AEUV, vgl. Art. 2 Abs. 4 FKVO. Dabei findet aber einheitlich ausschließlich das Verfahrens- und Fristenregime der FKVO Anwendung; – rein kooperative GU – sog. (kooperative) Teilfunktions-GU –, die ausschließlich nach Art. 101 AEUV und der hierzu ergangenen Durchführungsverordnung Nr. 1/2003 EG des Rates (KartellVO) behandelt werden.
7.273 Die für die Abgrenzung eines Vollfunktions-GU maßgeblichen Kriterien und damit die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der FKVO sind ebenfalls in der Konsolidierten Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen niedergelegt.556 Entscheidend ist danach, ob das GU auf Dauer alle Funktionen einer wirtschaftlichen Einheit erfüllt, die auch von den anderen Unternehmen auf dem jeweiligen Markt wahrgenommen werden. Um seine Tätigkeit langfristig ausüben zu können, muss das GU über ausreichende finanzielle Ressourcen, Personal, materielle und immaterielle Vermögenswerte sowie über ein sich dem Tagesgeschäft widmendes Management mit operativer Unabhängigkeit verfügen, ohne dass auch strategische Selbständigkeit vorliegen muss.557 In Bezug auf geistige Eigentumsrechte genügt es, dass dem GU für seine Bestandsdauer eine Lizenz für die Rechte erteilt wird.558
7.274 Übernimmt dagegen ein GU nur eine bestimmte Funktion innerhalb der Geschäftstätigkeiten der Gründer und hat dabei keinen Zugang zum Markt, so handelt es sich nicht um ein Vollfunktions-GU. Dies ist nach Auffassung der Kommission z.B. bei GU der Fall, die auf Forschung und Entwicklung oder auf Produktion beschränkt sind. Entsprechendes gilt für GU, die im Bereich des gemeinsamen Einkaufs559 oder des gemeinsamen Vertriebs560 für die Muttergesellschaften tätig sind. Derartige GU, die lediglich Hilfsfunktionen für die Gründerunternehmen wahrnehmen, bezeichnet die Kommission als Teilfunktions-GU. Sie sollen grundsätzlich kooperativen Charakter haben und ausschließlich der Kontrolle anhand des Art. 101 AEUV unterliegen561 (vgl. auch nachfolgend Rz. 7.348, 7.353 ff.).
7.275 Bleibt eines oder bleiben mehrere der Mutterunternehmen in vorgelagerten oder nachgeordneten Märkten des GU in starkem Maße präsent, so dass sich ein umfangreicher vertikaler Waren- oder Dienstleistungsaustausch zwischen den Mutterunternehmen und dem GU ergeben, so beeinträchtigt dies den Vollfunktionscharakter nach Ansicht der Kommission dann nicht, wenn sich diese Abhängigkeit auf eine Anlaufphase beschränkt.562 Je nach den Bedingungen des konkreten Marktes darf dabei regelmäßig ein Zeitraum von drei Jahren nicht überschritten werden.563 Verbleiben dauerhafte Geschäftsbeziehungen, so ist maßgebend, ob das GU eine aktive Rolle im Markt behält. Dabei ist insbesondere der mit den Mutterunterneh556 Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10), Rz. 91 ff. 557 EuG v. 23.2.2006 – T-282/02 – Cementbouw/Kommission, Slg. 2006, II-319 Rz. 62. 558 Komm.E. v. 11.1.1994 – IV/M.527 Rz. 10 – Thomson CSF/Deutsche Aerospace. 559 Komm.E. v. 12.10.1992 – IV/M.265 Rz. 4 ff. – VGT/BPTL, WuW 1992, 1014. 560 Komm.E. v. 25.7.1995 – IV/M.551 – ATR/BAe, WuW 1996, 215. 561 Vgl. etwa Komm.E. v. 31.8.2006 – COMP/M.4288 Rz. 10 – Saab/EMW; Komm.E. v. 23.12.2002 – COMP/M.3003 – Electrabel/Energia Italiana/Interpower: Verneinung der „operationellen Autonomie“ eines italienischen Stromproduzenten. 562 Komm.E. v. 11.5.1995 – IV/M.560 – EDS/Lufthansa, WuW 1995, 820; Komm.E. v. 5.2.1996 – IV/M.686 – Nokia/Autoliv, WuW 1996, 584. 563 Vgl. Komm.E. v. 23.10.1996 – IV/M.827 Rz. 10 – DB/Kommission.
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C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.277 Kap. 7
men abgewickelte Umsatzanteil sowie die Frage entscheidend, ob marktübliche Geschäftsbedingungen Anwendung finden.564 Die Entscheidungspraxis der Kommission erwies sich bisher hinsichtlich der Bewertung von vertikalen Beziehungen als recht großzügig.565 Nach Ansicht der Kommission verliert ein GU, das Vertriebseinrichtungen der Muttergesellschaften nutzt, nicht den Vollfunktionscharakter, solange die Mütter nur als Verkaufsvertreter des unternehmerisch allein verantwortlichen GU agieren.566 Unentbehrlich ist dagegen, dass das GU auf Dauer angelegt ist. Ausreichend hierfür ist die unwiderrufliche Übertragung der Ressourcen, wobei allerdings Regelungen für unvorhersehbare Entwicklungen unerheblich sind.567 Auch einer Begrenzung der Geltungsdauer steht dies nicht entgegen. Als ausreichend lang hat die Kommission bereits Fristen von 6 1/2 oder 7 Jahren bewertet.568
7.276
4. Einschränkungen des Zusammenschlussbegriffs Gemäß Art. 3 Abs. 5 FKVO gelten bestimmte Transaktionen nicht als Zusammenschluss i.S.d. FKVO. Unter engen Voraussetzungen ist dies für Kreditinstitute, Finanzinstitute und Versicherungsunternehmen in Art. 3 Abs. 5 lit. a FKVO vorgesehen (vgl. im deutschen Recht Rz. 7.80, sog. Bankenklausel). Hiernach begründet der Erwerb von Anteilen an einem Unternehmen durch eines der privilegierten Unternehmen keinen Zusammenschluss, wenn diese Anteile zum Zwecke der Veräußerung erworben werden, die Veräußerung innerhalb eines Jahres erfolgt und das Institut das Stimmrecht aus diesen Anteilen nicht ausübt.569 Die Jahresfrist kann auf Antrag verlängert werden.
564 Komm.E. v. 9.4.1996 – IV/M.556 Rz. 8 – Zeneca/Vanderhave; Komm.E. v. 13.4.1992 – IV/M.168 – Flachglas/VEGLA, WuW/E EV EV 1832. 565 Komm.E. v. 11.4.1995 – IV/M.578 – Hoogovens/Klöckner & Co., WuW 1995, 817: Zulieferung von mehr als 60 % des vom GU abgesetzten Aluminiums i.E. unerheblich; Komm.E. v. 28.8.1995 – IV/M.581 – Frantschach/Bischof-Klein, WuW 1995, 1009: Abnahmepflicht von 40 % Sackpapier sowie 10 % sonstiger Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe von einer Mutter bei einem GU der Verpackungswirtschaft unerheblich; Komm.E. v. 12.11.1992 – IV/M.222 – Mannesmann/Hoesch, ABl. EG 1993 Nr. L 114, 34: fast vollständige Stahlvorproduktlieferung der Mütter an ein GU des Stahlrohrfertigungsbereichs unerheblich, obwohl zugleich 40 % der Fertigprodukte über den Vertrieb der Mütter abgesetzt wurde. 566 Komm.E. v. 12.6.2006 – COMP/M.4048 Rz. 9 – Sonae Industrial/Tarkett/JV; Komm.E. v. 2.12.1991 – IV/M.102 – TNT/Canada Post; Komm.E. v. 9.12.1991 – IV/M.149 – Lucas/EATON, WuW/E EV 1783; Komm.E. v. 10.2.1995 – IV/M.533 – Akzo Nobel-Kuagtextil/TWD, WuW 1995 584. 567 Z.B. Konkursvorsorge oder Bestimmungen für den Fall unüberwindbarer Meinungsstreitigkeiten zwischen den Müttern, vgl. Komm.E. v. 23.4.1997 – IV/M.891 – Deutsche Bank/Commerzbank/I.M. Voith. 568 Komm.E. v. 27.11.1992 – IV/M.259 – British Airways/TAT, WuW 1993, 37; Komm.E. v. 17.2.1992 – IV/M.090 – BSN-Nestlé/Chocoladovny, WuW 1992, 497; s. auch Komm.E. v. 20.7.2005 – COMP/M.3858 – Lehman Brothers/SCG/Starwood/Le Meridien: Zeitraum von 10–15 Jahren genügt, drei Jahre sind zu kurz. 569 Die Bankenklausel erfasst grundsätzlich auch Fälle, in denen der Letzterwerber bereits feststeht. Trägt der Letzterwerber aber das wesentliche wirtschaftliche Risiko (so z.B. bei bestimmten Warehousing-Strukturen), nimmt die Kommission grundsätzlich einen einheitlichen Erwerb durch den Letzterwerber mit der Folge an, dass die Ausnahme in Art. 3 Abs. 5 lit. a. nicht anwendbar ist, vgl. Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Art. 3 FKVO Rz. 83.
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7.277
Kap. 7 Rz. 7.278
Kartellrecht
7.278 Nach der sog. Insolvenzklausel des Art. 3 Abs. 5 lit. b FKVO findet das Kontrollregime keine Anwendung, wenn ein Träger eines öffentlichen Mandates aufgrund mitgliedstaatlicher Regelung im Falle der Insolvenz, der Zahlungseinstellung oder ähnlicher Ereignisse die Kontrolle erwirbt. Die Übertragung des Unternehmens vom öffentlichen Erwerbsträger auf einen Dritten wird von der Ausnahmeregelung allerdings nicht mehr erfasst.570
7.279 Gemäß Art. 3 Abs. 5 lit. c FKVO liegt zudem kein Zusammenschluss vor, wenn bestimmte Beteiligungsgesellschaften Kontrolle über ein Unternehmen erwerben, sofern sie ihre Stimmrechte nur zur Erhaltung des Wertes der getätigten Investition ausüben und nicht auf das strategische Wettbewerbsverhalten des Zielunternehmens Einfluss nehmen.571 Die Einhaltung dieser Beschränkungen muss zudem durch eine Verwaltungs-oder Justizbehörde überwacht werden können.572 Aufgrund des engen Anwendungsbereiches hat diese Ausnahme bisher keine praktische Relevanz erlangt.
7.280 Schließlich bestimmt das Primärrecht mit Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV eine weitere Ausnahme für den Bereich Militärprodukte.573 Im Rüstungsbereich können danach Maßnahmen getroffen werden, die die nationalen Autoritäten der Mitgliedstaaten zur Wahrung der wesentlichen Sicherheitsinteressen für erforderlich halten.574 Sofern die Transaktion allerdings auch zivile Märkte betrifft, unterliegen diese der FKVO.575
V. Materielle Untersagungsvoraussetzungen (Art. 2 Abs. 1–3 FKVO) 7.281 Art. 2 Abs. 1–3 FKVO enthält die materiellen Beurteilungskriterien für die Prüfung von Zusammenschlüssen durch die Kommission. Nach Art. 2 Abs. 3 FKVO erklärt die Kommission Zusammenschlüsse, durch die wirksamer Wettbewerb im Binnenmarkt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich behindert würde, für unvereinbar mit dem Binnenmarkt (nach dem englischen Wortlaut „significant impediment to effective competition“ sog. „SIEC-Test“, der durch die 8. GWB-Novelle auch Einzug in das deutsche Recht gefunden hat). Diese Formel ist der Sache nach dem aus dem US-Recht stammenden sog. „Substantial Lessening of Competition-Test“ („SLC“) entlehnt, der auf eine „erhebliche Verminderung des Wettbewerbs“ als Untersagungsgrund abstellt.
7.282 Neben den bereits vor Einführung des SIEC-Tests geltenden Fallgruppen der Einzelmarktbeherrschung und der oligopolistischen Marktbeherrschung („koordinierte Effekte“) sind nunmehr auch die sog. nicht-koordinierten Effekte ein möglicher Untersagungsgrund. Letztere können in oligopolistisch geprägten Märkten entstehen, selbst wenn das zusammengeschlossene Unternehmen nicht marktbeherrschend sein sollte und eine Koordinierung der
570 Komm.E. v. 11.4.1995 – IV/M.573 – ING/Barings, WuW/E EV 2322. 571 Vgl. Komm.E. v. 11.12.1995 – IV/M.669 – Charterhouse/Porterbrook, WuW 1996, 381. 572 Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10), Rz. 113. 573 Die Sonderregelung gilt für das gesamte Unionsrecht, nicht nur hinsichtlich der FKVO. 574 Komm.E. v. 24.11.1994 – IV/M.528 – British Aerospace/VSEL, WuW 1995, 391; Komm.E. v. 7.12.1994 – IV/M.529 – GEC/VSEL. 575 Wiedemann in Wiedemann, § 15 Rz. 84; s. auch Komm.E. v. 10.5.2006 – COMP/M.4106 – TKT/ EADS-D/Atlas Elektronik.
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C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.284 Kap. 7
verbleibenden Marktteilnehmer nicht zu befürchten ist. Laut Erwägungsgrund 25 der FKVO soll eine auf Art. 2 Abs. 3 FKVO gestützte Untersagung in einem solchen Fall möglich sein. Nach Ansicht der Kommission besteht die Gefahr nicht-koordinierter Effekte u.a. dann, wenn die fusionierenden Unternehmen nahe Wettbewerber sind, bei fehlenden Substitutionsmöglichkeiten der Kunden, wenn die betreffenden Unternehmen ihre Wettbewerber am Wachstum hindern können (etwa durch die Ausübung gewerblicher Schutzrechte) oder dann, wenn der Zusammenschluss einen anderen wichtigen Wettbewerbsfaktor beseitigt.576 Auch die Übernahme eines neu hinzugetretenen, aktiven Unternehmens kann entsprechend negativ für den Wettbewerb gewertet werden, sofern in der Folge der Fusion der Anreiz für weitere Expansionen gemindert würde.577 Jedenfalls zeigt die neuere Praxis der Kommission, dass die Frage der – gemeinsamen oder alleinigen – marktbeherrschenden Stellung zumindest nicht mehr abschließend geklärt werden muss, um wettbewerbliche Bedenken gegen Zusammenschlussvorhaben auf oligopolistisch geprägten Märkten geltend zu machen.578 Die Kommission hat weiterhin sie selbst als Verwaltungsgrundsätze bindende Leitlinien veröffentlicht, die neben der Marktstruktur weitere Kriterien für die Prüfung des Vorliegens koordinierter oder nicht-koordinierter Effekte erläutern, sowie einer Wettbewerbsbeschränkung entgegen wirkender Ausgleichsfaktoren, wie z.B. entgegenstehende Nachfragemacht, die Relevanz von Markteintrittsszenarien oder die Wirkung von Effizienzen.579 1. Marktstruktur Die Marktstruktur ist auch nach dem SIEC-Test Ausgangspunkt der wettbewerblichen Beurteilung der Kommission. Ebenso wie das BKartA im Rahmen der deutschen Fusionskontrolle prüft auch die Kommission Zusammenschlüsse in einem zweistufigen Verfahren, d.h., sie grenzt zuerst den sachlich sowie räumlich relevanten Markt ab und prüft dann in einem zweiten Schritt die Marktmachtverhältnisse und ob durch den Zusammenschluss ein wirksamer Wettbewerb auf diesem erheblich behindert würde.
7.283
a) Relevanter Markt aa) Sachlich relevanter Markt Die Kommission und die Gerichte wenden bei der Abgrenzung des sachlich relevanten 7.284 Marktes580 – ähnlich wie die deutsche Praxis – das Bedarfsmarktkonzept an.581 Danach umfasst der sachlich relevante Produktmarkt sämtliche Erzeugnisse und/oder Dienstleistungen, die zur Befriedigung eines gleich bleibenden Bedarfs von den Verbrauchern hinsichtlich ihrer
576 Komm. Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2004 Nr. C 31, 5 Rz. 24 ff. 577 Komm.E. v. 12.11.2009 – COMP/M.5549 – EDF/Segebel. 578 Vgl. etwa Komm.E. v. 26.4.2006 – COMP/M.3916 – T-Mobile Austria/Telering, WuW/E EU-V 1153; Komm.E. v. 12.12.2006 – COMP/M.4187 – Metso/AkerKvaerner. 579 Komm. Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2004 Nr. C 31, 5; Komm. Leitlinien zur Bewertung nichthorizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2018 Nr. C 265, 6. 580 Traugott, WuW 1998, 929; zur Wechselwirkung von Beherrschungsgrad und Ergebnis der Marktabgrenzung vgl. Rz. 7.97. 581 Ausführlich zur Produktmarktabgrenzung Körber in Immenga/Mestmäcker, Art. 2 FKVO Rz. 22 ff.; sowie Alonso, ECLR 1994, 195.
Röhling 731
Kap. 7 Rz. 7.285
Kartellrecht
Eigenschaften, Preise und ihres vorgesehenen Verwendungszwecks als austauschbar angesehen werden.582 Im Einzelnen untersucht die Kommission im Rahmen der sachlichen Marktabgrenzung also insbesondere die Substituierbarkeit aus der Nachfragesicht,583 die Wettbewerbsbedingungen, die Preise584 sowie die Kreuz-Preis-Elastizität der Nachfrage.585 Ergänzend berücksichtigt die Kommission auch die sog. angebotsseitige Austauschbarkeit (Angebotsumstellungsflexibilität). Danach können auch solche Produkte zu einem Markt gehören, die zwar aus der Sicht der Nachfrager nicht austauschbar sind, auf die die Anbieter ihre Produktion aber schnell und verhältnismäßig leicht (ohne größere Kosten und Zeitaufwand) umstellen könnten.586
7.285 Beispiele: Von einem sachlich selbständigen Markt für Orangensaft ging die Kommission in Abgrenzung zu anderen Fruchtsäften aus;587 eigene sachlich relevante Märkte bilden Regionalflugzeuge mit 20–39 Sitzen, mit 40–59 Sitzen, mit 60–100 Sitzen sowie große Verkehrsflugzeuge mit mehr als 100 Sitzen und Militär- und Frachtflugzeuge;588 Mineralwasser (abgefülltes Brunnenwasser) im Verhältnis zu anderen Erfrischungsgetränken (wobei weiterhin offen bleibt, ob zwischen Wassern mit und solchen ohne Kohlensäure zu unterscheiden ist);589 bei Eiskrem grenzt die Kommission die folgenden Märkte ab: Haushaltseis, Eis, das als Teil gastronomischer Dienstleistungen angeboten wird und Kleineis („Impulseis“) sowie den Herstellungsmarkt für Handelsmarken;590 bei Kartoffelprodukten hat die Kommission zwischen einem Markt für gefrorene und einem für gekühlte Waren unterschieden;591 im Bereich der Kfz-Zulieferindustrie unterscheidet die Kommission zwischen dem Erstausrüstungsmarkt, einschließlich der Lieferung von Originalersatzteilen an Hersteller (OEM/OES), und einen unabhängigen Handelsmarkt für Ersatzteile;592 im Energiebereich hat die Kommission die
582 Vgl. die Definition im Formblatt CO, Abschnitt 6 I; EuGH v. 11.12.1980 – 31/80 – L’Oréal, Slg. 1980, 3775 (3793); EuGH v. 26.11.1998 – C-7/97 – Oscar Bronner/Mediaprint, EuZW 1999, 86. 583 Komm.E. v. 22.7.1992 – IV/M.190 Rz. 10 ff. – Nestlé/Perrier. 584 Komm.E. v. 2.10.1997 – IV/M.984 Rz. 14 f. – Du Pont/ICI; Komm.E. v. 19.12.1991 – IV/M.113 – Courtaulds/Snia. 585 Komm.E. v. 21.6.1994 – IV/M.430 – Procter & Gamble/VP Schickedanz II, ABl. EG 1994 Nr. L 354, 32; Komm.E. v. 22.1.1997 – IV/M.794 – Coca-Cola Enterprise/Amalgamated Beverages Great Britain, ABl. EG 1997 Nr. L 218, 15; Komm.E. v. 30.10.2001 – COMP/M.2416 – Tetra Laval/Sidel, WuW 2002, 40; Komm.E. v. 9.6.2004 – COMP/M.3397 – Owens Illinois/BSN Glaspack. 586 Vgl. Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. EG 1997 Nr. C 372, 5, Rz. 20–23; vgl. Komm.E. v. 24.2.1992 – IV/M.166 – Torras/Sarrio, WuW/E EV 1817, 1819; Komm.E. v. 12.11.1992 – IV/M.222 – Mannesmann/Hoesch, ABl. EG 1993 Nr. L 114, 34 (41); Komm.E. v. 29.10.1993 – IV/M.330 Rz. 33 – McCormick/CPC/Rabobank/Ostmann; Komm.E v. 6.5.1998 – IV/M.970 – TKS/ITW Signode/Titan, ABl. EG 1998 Nr. L 316, 33; Wagemann in Wiedemann, § 16 Rz. 30. 587 Komm.E. v. 4.5.2011 – COMP/M.5907 Rz. 68 – 104 – Votorantim/Fischer/JV. 588 Komm.E. v. 18.10.2000 – COMP/M.2061 – Airbus, ABl. EG 2000 Nr. C 357, 5; Komm.E. v. 2.10.1991 – IV/M.053 – Aerospatiale-Alenia/de Havilland, WuW/E EV 1675 (1677). 589 Komm.E. v. 16.2.1998 – IV/M.1065 – Nestlé/San Pellegrino, ABl. EG 1998 Nr. C 81, 5, die Kommission neigt dort einem einheitlichen Mineralwassermarkt zu; Komm.E. v. 22.7.1992 – IV/M.190 – Nestlé/Perrier, WuW/E EV 1903 (1911). 590 Komm.E. v. 25.2.2002 – IV/M.2640 – Nestle/Schoeller, ABl. EG 2002 Nr. C 155, 15; Komm.E. v. 15.3.1994 – IV/M.422 – Unilever/Ortiz Miko II; vgl. auch Komm.E. v. 15.9.1993 – IV/M.362 – Nestlé/Italgel. 591 Komm.E. v. 28.5.2013 – COMP/M.6813 – McCain Foods Group/Lutosa business. 592 Komm.E. v. 18.10.2002 – COMP/M.2939 – JCI/Bosch/VB Autobatterien, ABl. EG 2002 Nr. C 284, 4.
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Röhling
C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.286 Kap. 7
Märkte für die Erzeugung von Strom, für die Verteilung von Strom und für die Verteilung von Gas abgegrenzt;593 im Spirituosenbereich bildet die Kommission keinen einheitlichen Sortimentsmarkt für hochprozentige Alkoholika,594 sondern unterscheidet eigene Märkte für die verschiedenen Spirituosentypen: Gin, Whiskey, Rum, Brandy, Wodka usw.595 Im Bereich der Einspeisung von Rundfunksignalen sieht die Kommission den Betrieb von Kabelnetzen wegen der im Vergleich zu Satellitenübertragungen größeren Ausdehnung und der geringeren Kosten pro Haushalt als eigenen sachlich relevanten Markt an.596
bb) Räumlich relevanter Markt Der räumlichen Marktabgrenzung kommt in der europäischen Fusionskontrolle eine ent- 7.286 scheidende Bedeutung zu.597 Hier fällt in den meisten Fällen die Vorentscheidung, ob ein Zusammenschluss genehmigt wird. Nach Auffassung der Kommission umfasst der geographisch relevante Markt das Gebiet, in dem die beteiligten Unternehmen die relevanten Produkte oder Dienstleistungen anbieten, in dem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von benachbarten Gebieten durch spürbar unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unterscheidet.598 Maßgebliche Faktoren für die Bestimmung des räumlich relevanten Marktes sind die Art und Eigenschaften der betroffenen Produkte und Dienstleistungen, die Existenz von rechtlichen, wirtschaftlichen oder andersartigen Marktzutrittsschranken599 oder Verbraucherpräferenzen,600 deutlich unterschiedliche Marktanteile der Unternehmen zwischen räumlich benachbarten Gebieten oder wesentliche Preisunterschiede.601 In ihrer
593 Komm.E v. 16.12.2003 – COMP/M.3306 – E.ON/Midlands, ABl. EU 2004 Nr. C 14, 5; vgl. Komm.E. v. 5.5.1994 – IV/M.417 – VIAG/Bayernwerk, WuW/E EV 2139 (2140 f.). 594 Sortimentsmärkte im Europäischen Recht, vgl. Komm.E. v. 3.2.1999 – IV/M.1221 – Rewe/ Meinl, WuW 1999, 369; zur Bildung von Sortimentsmärkten im deutschen Recht vgl. Bergmann, Nachfragemacht, S. 46 ff. 595 Komm.E. v. 8.5.2001 – IV/M.2268 – Pernod Ricard/Diageo/Seagram Spirits, ABl. EG 2002 Nr. C 16, 13; Komm.E. v. 15.10.1997 – IV/M.938 Rz. 23 – Guinness/Grand Metropolitan, ABl. EG 1998 Nr. L 288, 24. 596 Komm.E. v. 27.5.1998 – IV/M.1027 Rz. 19 ff. – Deutsche Telekom/BetaResearch, WuW/E EU-V 237 (239). Eine Übersicht von Marktabgrenzungen in der Entscheidungspraxis der Kommission findet sich bei Körber in Immenga/Mestmäcker, Art. 2 FKVO Rz. 76 ff. 597 Ausführlich Sedemund in FS Deringer, S. 379 (385 ff.); Montag/von Bonin in MünchKomm/EUWettbR, Art. 2 FKVO Rz. 96 ff. 598 Vgl. Formblatt CO, Abschnitt 6 II sowie Art. 9 Abs. 7 FKVO. 599 Z.B. rechtliche: Komm.E. v. 21.10.2009 – COMP/M.5649 Rz. 17 – RREEF Fund/ENDESA/UFG/ SAGGAS; Komm.E. v. 8.10.1995 – IV/M.580 Rz. 27 ff.- ABB/Daimler Benz, ABl. EG 1997 Nr. L 11, 1; wirtschaftliche: Komm.E. v. 19.9.2007 – COMP/M.4525 Rz. 71 f. – Kronospan/Constantia; Komm.E. v. 29.10.1993 – IV/M.330 Rz. 33 – McCormick/CPC/Rabobank/Ostmann; immaterielle: Komm.E. v. 26.10.2004 – COMP/M.3436 Rz. 182 – Continental/Phoenix; Komm.E. v. 14.2.1995 – IV/M.477 Rz. 35 f. – Mercedes-Benz/Kässbohrer, ABl. EG 1995 Nr. L 211, 1. 600 Komm.E. v. 29.3.2006 – COMP/E-1/38.113 Rz. 47 ff. – Prokent/Tomra; Komm.E. v. 21.6.1994 – IV/M.430 Rz. 78 – Procter & Gamble/VP Schickedanz II, ABl. EG 1994 Nr. L 354, 32; Komm.E. v. 22.1.1997 – IV/M.794 Rz. 99 – Coca-Cola Enterprise/Amalgamated Beverages Great Britain, ABl. EG 1997 Nr. L 218, 15. 601 Komm.E. v. 18.4.2012 – COMP/M.6266 Rz. 36 – J&J/Synthes, ABl. EU 2013 Nr. C 206, 11; Komm.E. v. 21.6.1994 – IV/M.430 Rz. 79 – Procter & Gamble/VP Schickedanz II, ABl. EG 1994 Nr. L 354, 32; Komm.E. v. 22.7.1992 – IV/M.190 Rz. 28 – Nestlé/Perrier.
Röhling 733
Kap. 7 Rz. 7.287
Kartellrecht
Entscheidungspraxis führte dies im Ergebnis zur Abgrenzung von regionalen,602 nationalen603 und unionsweiten604 Märkten sowie von Weltmärkten.605 b) Marktanteile als Ausgangspunkt der Würdigung
7.287 Obwohl die einzelnen Kriterien in der FKVO scheinbar „gleichberechtigt“ aufgelistet werden, kommt dem Marktanteil – ähnlich wie im deutschen Recht – auch in der europäischen Fusionskontrolle eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung von Marktmacht zu. Dabei wird in der Regel auf die getätigten Umsätze und nur subsidiär auf Stückzahlen oder andere Größen abgestellt.606 Die FKVO enthält – anders als das GWB – keine Vermutungstatbestände für das Vorliegen von Marktbeherrschung; gemäß Erwägungsgrund 32 der FKVO entfaltet ein Marktanteil von weniger als 25 % allerdings eine Indizwirkung für die Vereinbarkeit des Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt. Bei vertikalen oder konglomeraten Zusammenschlüssen werden sogar Marktanteile unterhalb von 30 % als regelmäßig unbedenklich angesehen.607 Unterhalb von 20 % liegt nach Auffassung der Kommission zudem kein betroffener Markt im Sinne der FKVO vor, so dass die Unternehmen diesbezüglich keine detaillierten Angaben in
602 Etwa im Lebensmittelhandel: Komm.E. v. 20.11.1996 – IV/M.784 Rz. 21 – Kesko/Tuko, ABl. EG 1997 Nr. L 110, 53; ferner für Glasbehälter aufgrund eines Transportradius von 300 bis 400 km: Komm.E. v. 9.6.2004 – COMP/M.3397 – Owens Illinois/BSN Glaspack; und auch für Bodenabfertigungsdienste: Komm.E. v. 21.4.2015 – COMP/M.7537 Rz. 22 – Ardian France/F2i SGR/F2i Aeroprti. 603 Beispielsweise bei pharmazeutischen Produkten und Arzneimitteln: Komm.E. v. 25.8.2005 – COMP/M.3687 Rz. 67 ff. – Johnson & Johnson/Guidant, ABl. EU 2006 Nr. L 173, 16; Komm.E. v. 19.11.2004 – COMP/M.3544 – Bayer Healthcare/Roche; Komm.E. v. 28.9.1998 – IV/M.1229 – American Home Products/Monsanto, WuW/E EU-V 291; Komm.E. v. 17.7.1996 – IV/M.737 – Ciba-Geigy/Sandoz, ABl. EG 1997 Nr. L 201, 1; bei sonstigen Medizinprodukten: Komm.E. v. 18.4.2012 – COMP/M.6266 Rz. 35 ff. – J&J/Synthes, ABl. EU 2013 Nr. C 206, 11; im Postsektor: Komm.E. v. 2.12.1991 – IV/M.102 – TNT/GD Net, WuW/E EV 1754; Komm.E. v. 11.5.1998 – IV/M.1168 Rz. 19 – Deutsche Post/DHL; Komm.E. v. 15.2.1999 – IV/M.1405 Rz. 31 – TNT Post Group/Jet Services; Leser- und Anzeigenmärkte bei Tageszeitungen: Komm.E. v. 16.6.2004 – COMP/M. 3421 – GIMD/Socpresse; Anzeigenmärkte im TV: Komm.E. v. 14.6.2013 – COMP/M.6866 – Time Warner/CME; Komm.E. v. 29.4.2014 – COMP/M.7115 – Kuraray/GLSV. 604 Beispielsweise im Kfz-Zulieferbereich: Komm.E. v. 5.12.1995 – IV/M.666 – Johnson Controls/ Roths Frères, WuW 1996, 350; Komm.E. v. 22.7.1997 – IV/M.937 – Lear/Keiper, WuW 1997, 807; Komm.E. v. 19.7.2000 – IV/M.1882 – Pirelli/BICC, WuW 2000, 869; ferner bei Lizenzrechten an Musikwerken: Komm.E. v. 16.6.2015, COMP/M.6800 Rz. 122-125 – PRSfM/STIM/GEMA/JV. 605 Z.B. für Zellstoffanlagen: Komm.E. v. 2.12.2006 – COMP/M.4187 – Metso/Aker Kvaerner; für die börsennotierten Rohstoffe Platin und Aluminium: Komm.E. v. 24.4.1996 – IV/M.619 – Gencor/Lonrho, ABl. EG 1997 Nr. L 11, 30; Komm.E. v. 6.8.1997 – IV/M.723 Rz. 16 – Norsk Alcoa/ Elkem; für Flugzeug-Kontrollinstrumente: Komm.E. v. 21.12.1992 – IV/M.290 Rz. 9 – Sextant/ BGT-VDO; für Rückversicherungen: Komm.E. v. 14.1.1992 – IV/M.183 Rz. 9 – Schweizer Rück/Elvia; für Handelsschiffe: Komm.E. v. 10.12.2004 – COMP/M.3596 Rz. 23 – ThyssenKrupp AG/HDW, ABl. EU 2006 Nr. C 103, 30; sowie den Markt für Flugzeugtriebwerke, Komm.E. v. 1.7.2013 – COMP/M.6844 Rz. 75 – General Electric/Avio. 606 Zusätzlich anhand der Kundenzahl in: Komm.E. v. 26.4.2006 – COMP/M.3916 – T-Mobile/Austria/Telering und Komm.E. v. 1.3.2010 – COMP/M.5650 – T-Mobile/Orange, oder nach Auftragseingängen, Komm.E. v. 18.4.2013 – COMP/M.6843 Rz. 33 – Siemens/Invensys Rail. 607 Kommission, Leitlinien zur Bewertung nichthorizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2008 Nr. C 265, 6 Rz. 25.
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Röhling
C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.289 Kap. 7
ihrer Anmeldung zu tätigen haben608 (dazu auch Rz. 7.312 ff.). Der Entscheidungspraxis lässt sich zudem entnehmen, dass die Kommission einen Marktanteil von bis zu 40 – 45 % – etwas strenger zum Teil das BKartA – noch für unbedenklich hält.609 Zur Bewertung der Marktanteilsadditionen zieht die Kommission außerdem den HHI-Index zur Bestimmung des Konzentrationsgrades eines Marktes heran.610 In einer ganzen Reihe von Fällen war die Kommission sogar bereit, deutlich höhere Markt- 7.288 anteile zu akzeptieren, wenn aufgrund besonderer Umstände feststand, dass die beteiligten Unternehmen auch weiterhin wesentlichem Wettbewerb ausgesetzt sein werden.611 So hat sie etwa im Fall „CMA CGM/OPDR“ den Zusammenschluss trotz Marktanteilen von 80 – 90 % auf dem Markt für Containertransport per Schiff von den britischen Inseln zu der iberischen Halbinsel genehmigt, da es sich um einen Markt mit bedeutender Überkapazität handelte, potentielle Wettbewerber vorhanden waren und keine erheblichen Marktzutrittsschranken bestanden.612 Im Fall „Syniverse/MACH“ akzeptierte die Kommission Marktanteile von 60 – 90 % auf dem europäischen Markt für Finanzclearing-Dienste im Bereich Roaming, insbesondere unter Hinweis auf die für Mobilfunkbetreiber bestehende Möglichkeit diese Dienste selbst zu übernehmen.613 In der Entscheidung „REWE/Meinl“ waren dagegen – ausnahmsweise – bereits Marktanteile von 25 – 30 % auf Beschaffungsmärkten für die Annahme einer Marktbeherrschung ausreichend.614 2. Wettbewerbswidrige Wirkungen a) Allgemeines Bei der Prüfung der Untersagungskriterien hat die Kommission unter Zugrundelegung eines 7.289 branchenabhängigen Zeitraumes eine Prognoseentscheidung zu treffen.615 Dabei wird eine Gesamtwürdigung der zu erwartenden Auswirkungen des Zusammenschlussvorhabens vorgenommen; Marktstrukturveränderungen allein vermögen eine Untersagungsentscheidung nicht mehr zu tragen. Der von der Kommission propagierte „more economic apporach“ hat dazu geführt, dass inzwischen die wirtschaftlichen Auswirkungen von kritischen Zusammenschlussvorhaben mit Hilfe spezialisierter Ökonomen in erheblichem Umfang und großer Tiefe analysiert werden, sowohl auf Seiten der Parteien als auch der Kommission. 608 Vgl. Formblatt CO, Abschnitt 6 III lit. A. 609 Wagemann in Wiedemann, § 16 Rz. 59. 610 Vgl. Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2004 Nr. C 31, 5 Rz. 19 ff.; Leitlinien zur Bewertung nichthorizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2008 Nr. C 265, 6 Rz. 25; s. auch Komm.E. v. 12.12.2006 – COMP/M.4187 Rz. 79 – Metso/Aker Kvaerner. 611 Vgl. Levy/Cook, Rz. 9-57 ff. 612 Komm.E. v. 29.6.2015 – COMP/M.7523 Rz. 128–133. 613 Komm.E. v. 29.5.2013 – COMP/M.6690 Rz. 597–630. Trotz eines Marktanteils von 35–50 % erteilte die Kommission eine Genehmigung mit dem Hinweis auf potentielle Konkurrenz aus dem Fernen Osten und die Nachfragemacht der Abnehmer; Komm.E. v. 2.3.1994 – IV/M.401 – Rütgerswerke AG/Hüls Troisdorf AG. Freigabe aufgrund einer ähnlichen Marktsituation auch durch Komm.E. v. 24.7.2002 – COMP/M.2706 – Carnival Corporation/P & Q Cruises. 614 Komm.E. v. 3.2.1999 – IV/M.1221 – Rewe/Meinl, WuW 1999, 369. 615 Vgl. Komm.E. v. 8.5.2014 – COMP/M.6905 Rz. 1033 – Ineos/Solvay/JV (fünf Jahre im Bereich der PVC-Industrie); Komm.E. v. 13.2.2012 – COMP/M.6381 Rz. 76 – Google/Motorola Mobility (drei Jahre); Horizontalleitlinien Rz. 9; Nichthorizontalleitlinien Rz. 20; Hirsbrunner/Hacker in von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 2 FKVO Rz. 138.
Röhling 735
Kap. 7 Rz. 7.290
Kartellrecht
7.290 Relevante Wettbewerbsparameter zur Feststellung einer erheblichen Wettbewerbsbehinderung, also regelmäßig zur Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung, listet die FKVO in Art. 2 Abs. 1 Satz 2 lit. a und b auf. Hiernach berücksichtigt die Kommission insbesondere die folgenden Kriterien, die weitgehend identisch mit den auch im deutschen Recht berücksichtigungsfähigen Aspekten sind (vgl. Rz. 7.114 ff.): – die Notwendigkeit, im Binnenmarkt wirksamen Wettbewerb aufrechtzuerhalten und zu entwickeln, insbesondere im Hinblick auf die Struktur aller betroffenen Märkte und den tatsächlichen oder potentiellen Wettbewerb durch innerhalb oder außerhalb der Union ansässige Unternehmen;616 – die Marktstellung – auch auf benachbarten Märkten617 – sowie die wirtschaftliche Macht und die Finanzkraft der beteiligten Unternehmen,618 die Wahlmöglichkeiten der Lieferanten und Abnehmer, insbesondere bei diesen bestehende entgegenstehende Marktmacht,619 ihren Zugang zu den Beschaffungs- und Absatzmärkten,620 rechtliche oder tatsächliche Marktzutrittsschranken,621 die Entwicklung des Angebots und der Nachfrage bei den jeweiligen Erzeugnissen und Dienstleistungen,622 die Interessen der Zwischenund Endverbraucher623 sowie die Entwicklung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts, sofern diese dem Verbraucher dient und den Wettbewerb nicht behindert.624
7.291 Wichtigster Fall und Regelbeispiel für wettbewerbswidrige Wirkungen ist das Entstehen oder die Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung. Anders als im deutschen Recht (§ 18 Abs. 1 GWB) ist der Begriff der marktbeherrschenden Stellung im europäischen Wettbewerbsrecht nicht im Gesetz definiert. Auch bestehen keine gesetzlichen Vermutungstat616 Relevant in: Komm.E. v 2.9.2013 – COMP/M.6360 Rz. 307 ff. – Nynas/Shell; Komm.E. v. 19.7.2006 – COMP/M.3796 – Omya/J.M. Huber PC. 617 Komm.E. v. 25.2.2016 – COMP/M.7822 Rz. 9, 130 – Dentsply/Sirona; vgl. Bardong in Langen/ Bunte, Art. 2 FKVO Rz. 167 ff.; Kommission, Wettbewerbsbericht 1998 Rz. 154 – Wolters Kluwer/Reed Elsevier. 618 Komm.E. v. 24.5.2016 – COMP/M.7881 Rz. 48, 334 ff. – AB Inbev/Sabmiller.; Komm.E. v. 12.6.2009 – COMP/M.5480 Rz. 52 – Deutsche Bahn/Pcc Logistics; EuG v. 14.12.2005 – T-210/01 Rz. 201 ff., Slg. 2005, II-5575; vgl. bezüglich der geringen eigenständigen Bedeutung des Begriffs Montag/von Bonin in MünchKomm/EuWettbR Art. 2 FKVO Rz. 471. 619 Komm.E. v. 8.9.2015 – COMP/M.7278 Rz. 892 ff. – General Electric/Alstom; Komm.E. v. 19.7.2017 – COMP/M.8452 Rz. 78 – Suez/GE Water And Process Technologies; Komm.E.v. 3.10.2007 – COMP/M.4844 Rz. 114 ff. – Fortis/ABN Amro Assets; Komm.E. v. 25.11.1998 – IV/M.1225 – Enso/Stora; Komm.E. v. 14.7.2016 – COMP/M.7946 Rz. 91 – Pai/Nestle/Froneri. 620 Komm.E. v. 30.9.2010 – COMP/M.5975, Rz. 45 ff. – Lion Capital/Picard Groupe; Komm.E. v. 19.10.2011 – COMP/M.6106 Rz. 216 ff. – Caterpillar/MWM; Komm.E. v. 20.3.2015 – COMP/M.7461 Rz. 73 ff. – AMDS Italia/CLN/JV. 621 Komm.E. v. 9.1.2014 – COMP/M.7023 Rz. 611 ff. – Publicis/Omnicom; Komm.E. v. 18.12.2013 – COMP/M.7021 – Swissport/Servisair; Komm.E. v. 18.2.2010 – COMP/M.5727 – Microsoft/ Yahoo! Earch Business; Komm.E. v. 4.12.2007 – COMP/M.4662 – Syniverse/BSG: Verfügbarkeit von unverzichtbarer Technologie; Komm.E. v. 12.12.2006 – COMP/M.4187 Rz. 86 ff. – Metso/ Aker Kvaerner; zu den verschiedenen Erscheinungsformen vgl. Wagemann in Wiedemann, § 16 Rz. 73. 622 Komm. E. v. 5.4.2017 – COMP/M.7962 Rz. 187 ff. – Chemchina/Syngenta; Komm.E. v. 3.10.2014 – COMP/M.7217 – Facebook/WhatsApp; Komm.E. v. 19.10.2011 – COMP/M.6214 Rz. 66 ff. – Seagate/HDD Business of Samsung. 623 Angedeutet in: Komm.E. v. 21.5.2014 – COMP/M.7232 Rz. 24 – Charterhouse/Nuova Castelli. 624 Komm.E. v. 1.2.2012 – COMP/M.6166 Rz. 1133 ff. – Deutsche Börse/Nyse Euronext; Komm.E. v. 30.1.2013 – COMP/M.6570 Rz. 807–922 – UPS/TNT Express.
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C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.292 Kap. 7
bestände. Die Ausformung des Begriffs erfolgt(e) vielmehr durch die Entscheidungspraxis, insbesondere des EuGH, zu Art. 102 AEUV. Danach korreliert eine marktbeherrschende Stellung mit der Fähigkeit eines Unternehmens, sich in spürbarem Maße unabhängig von den Wettbewerbern und letztlich von den Abnehmern zu verhalten. Es besteht ein nicht hinreichend kontrollierter Verhaltensspielraum.625 In erster Linie wird die Preisbestimmungsmacht relevant sein,626 aber auch Handlungsspielräume beim Qualitäts- und Innovationswettbewerb können die Marktbeherrschung tragen.627 Der EuGH entwickelte auf dieser Basis die Vermutung des Vorliegens einer marktbeherrschenden Stellung bei einem Marktanteil von über 50 %.628 Bestand vor dem Zusammenschluss bereits eine marktbeherrschende Stellung eines beteilig- 7.292 ten Unternehmens, so ist die Alternative der „Verstärkung“ zu prüfen. Dabei wird das Ausmaß der Beschränkung des noch möglichen Restwettbewerbes auf dem betroffenen Markt im Vordergrund der Bewertung stehen.629 Anders als im deutschen Recht (vgl. Rz. 7.112) lässt sich der Entscheidungspraxis der Kommission nicht eindeutig entnehmen, ob bereits eine geringfügige Verschlechterung der Marktstruktur ausreicht, um eine Verstärkung anzunehmen.630 So bewertete die Kommission einen Zuwachs des Marktanteils im Fall „Worldline/ Equens/Paysquare“631 Markt von min. 90 % um max. 5 % und im Fall „Dupont/FMC“632 auf dem Markt für Alginsäure zur Anwendung als pharmazeutische Hilfsstoffe von ca. 80 bis max. 90 % als ausreichend, während im Fall „Sime Darby/New Britain Palm Oil“633 ein Zuwachs von weniger als 5 % im britischen Palmölmarkt bei einem Marktanteil von 50 bis 60 % und im Fall „Cargill/Degussa Food Ingredients“634 ein Marktanteilszuwachs von 58 auf 61 % nach Ansicht der Behörde zu keiner Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung führten. Für die Frage nach der Erheblichkeit eines Zuwachses von Marktmacht ist insbesondere auch die Ausgeprägtheit der Marktbeherrschung bereits vor der Transaktion entscheidend.635 Bei der insoweit relevanten Berücksichtigung weiterer Wettbewerbsparameter misst die Kommission der Finanzkraft insgesamt eine geringere Bedeutung bei als das BKartA. In der Entscheidung „Guinness/Grand Metropolitan“636 nahm die Kommission eine Verstär625 EuGH v. 13.2.1979 – 85/86 – Hoffmann-La Roche, Slg. 1979, 461 (520); Komm.E. v. 2.10.1991 – IV/M.053 Rz. 72 – Aérospatiale-Alenia/de Havilland, ABl. EG 1991 Nr. L 334, 42; Komm.E. v. 21.6.1994 – IV/M.430 – Procter & Gamble/VP Schickedanz II, ABl. EG 1994 Nr. L 354, 32; Komm.E. v. 14.2.1995 – IV/M.477 – Mercedes/Kässbohrer, ABl. EG 1995 Nr. L 211, 1; EuG v. 7.6.2013 – T-405/08 Rz. 50 – Spar, EU:T:2013:306. 626 Komm.E. v. 27.2.2013 – COMP/M.6663 – Ryanair/Aer Lingus III. 627 Komm.E. v. 25.2.2016 – COMP/M.7822 Rz. 67 – Dentsply/Sirona; Komm.E. v. 12.5.2017 – COMP/M.8059 Rz. 104 – Investindustrial/Black Diamond/Polynt/Reichhold. 628 EuGH v. 3.7.1991 – C-62/86 – AKZO, Slg. 1991, I-3359; vgl. Kling in Kling/Thomas, § 6 Rz. 58 ff. 629 S. etwa Komm.E. v. 9.12.2004 – COMP/M.3440 – GDP/EDP/ENI, WuW 2005, 168; in der Komm.E. v. 14.11.2006 – COMP/M.4180 – Gaz de France/Suez konnte eine Untersagung nur durch Veräußerungszusagen verhindert werden. 630 Grundsätzlich bejaht in Komm.E. v. 19.7.1991 – IV/M.068 Anm. IV B 4 – Tetra Pak/Alfa-Laval, ABl. EG 1991 Nr. L 290, 35; vgl. Wagemann in Wiedemann, § 16 Rz. 96. 631 Komm.E. v. 20.4.2016 – COMP/M.7873 – Worldline/Equens/Paysquare. 632 Komm.E. v. 27.7.2017 – COMP/M.8440 Rz. 64 – DuPont/FMC (Health and Nutrition Business). 633 Komm.E. v. 13.1.2015 – COMP/M.7417 Rz. 37 -38 – Sime Darby/New Britain Palm Oil. 634 Komm.E. v. 29.3.2006 – COMP/M.3975 – Cargill/Degussa. 635 EuG v. 14.12.2005 – T-210/01 – General Electric, Slg. 2005, II-5575 Rz. 550; Komm.E. v. 21.12.2015 – COMP/M.7737 Rz. 168 – Honeywell/Elster. 636 Komm.E. v. 15.10.1997 – IV/M.938 Rz. 91 ff., 118 – Guinness/Grand Metropolitan, ABl. EG 1998 Nr. L 288, 24.
Röhling 737
Kap. 7 Rz. 7.293
Kartellrecht
kung der marktbeherrschenden Stellung auf dem griechischen Markt für Gin, Rum und Brandy aufgrund von sog. Portfolioeffekten oder Sortimentseffekten an, ohne dass ein Zuwachs von Marktanteilen zu verzeichnen war (zur Marktabgrenzung in dieser Entscheidung vgl. Rz. 7.285).637
7.293 Nach der FKVO ist es jedenfalls theoretisch auch möglich, die Auswirkungen des Zusammenschlusses auf den Wettbewerb sowie mögliche Nachteile für die Verbraucher durch einen Hinweis auf die durch die Fusion entstehenden Effizienzvorteile auszugleichen (Erwägungsgrund 29). Die Kommission berücksichtigt alle nachgewiesenen Effizienzvorteile, z.B. Kostensenkungen oder die Vorteile gemeinsamer Forschung und Entwicklung, die die Fähigkeit und den Anreiz des fusionierten Unternehmens verstärken, den Wettbewerb zum Vorteil für die Verbraucher zu beleben und so etwaige Nachteile der Fusion auszugleichen.638 Allerdings scheidet nach Ansicht der Kommission, die durch das EuG bestätigt wurde,639 der Effizienzeinwand aus, wenn die möglichen Vorteile unmittelbar durch spätere Preiserhöhungen eingezogen werden können („claw back“).640 Weiterhin verneint die Kommission die Möglichkeit einer wettbewerblichen Abwägung von negativen Auswirkungen eines Zusammenschlusses auf dem relevanten Markt A einerseits und positiven Auswirkungen auf dem relevanten Drittmarkt B andererseits, anders als gem. § 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 GWB nach deutschem Recht.641 Faktisch ist es aber extrem schwierig, mit Effizienzargumenten bei der Kommission durchzudringen.
7.294 Beispiele: In der Entscheidung „TomTom/Tele Atlas“642 bejahte die Kommission das Vorliegen spezifisch zusammenschlussbedingter Effizienzgewinne durch die Internalisierung bisheriger Margenaufschläge im Zuge des (vertikalen) Zusammenschlusses eines Produzenten elektronischer Navigationskarten und eines Herstellers von Navigationsgeräten, von der auch die Verbraucher profitieren würden. In der Untersagungsentscheidung im Fall „UPS/ TNT Express“643 sah die Kommission die nach den Ermittlungen der Kommission schädlichen Auswirkungen auf Wettbewerb und Verbraucher für einige Mitgliedstaaten (aber eben nicht alle) durch Effizienzerwägungen ausgeräumt.
637 Weitere Entscheidungen, die sich mit Portfolioeffekten auseinander setzen: EuGH v. 6.11.2012 – C-551/10 P Rz. 62, ECLI:EU:C:2012:681 – Éditions Odile Jacob/Kommission; EuG v. 14.12.2005 – T-210/01 und T-209/01 – General Electric/Kommission und Honeywell/Kommission, Slg. 2005, II-5527; EuG v. 3.4.2003 – T-114/02 – BaByliss, WuW/E EU-R 647; Komm.E. v. 17.7.2009 – COMP/M.5547 – Philips/Saeco; Komm.E. v. 27.7.2007 – COMP/M.4688 Rz. 33 ff. – Nestle/Gerber; Komm.E. v. 15.7.2005 – COMP/M.3732 Rz. 110, 131 – Procter & Gamble/Gillette; vgl. Thomas in Kling/Thomas, § 8 Rz. 273. 638 Vgl. Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2004 Nr. C 31, 5 Rz. 76 ff.; Leitlinien zur Bewertung nichthorizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2008 Nr. C 265, 6 Rz. 13 f. 639 EuG v. 9.3.2015 – T-175/12, ECLI:EU:T:2015:148 – Deutsche Börse/Kommission; kritisch hierzu: Hirsbrunner, EuZW 2016, 610 (611). 640 Komm.E. v. 1.2.2012 – COMP/M.6166 Rz. 1179 ff. – Deutsche Börse/NYSE EURONEXT. 641 Vgl. Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2004 Nr. C 31, 5 Rz. 79; zu Recht kritisiert u.a. von Körber in Immenga/Mestmäcker, Art. 2 FKVO Rz. 373 m.w.N. 642 Komm.E. v. 14.5.2008 – COMP/M.4858 – TomTom/Tele Atlas. 643 Komm.E. v. 30.1.2013 – COMP/M.6570 – UPS/TNT Express.
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Röhling
C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.298 Kap. 7
Der Schwerpunkt der Prüfung einer Wettbewerbsbehinderung ist aufgrund der unterschiedlichen Wettbewerbswirkung von horizontalen, vertikalen und konglomeraten644 Zusammenschlüssen nicht einheitlich (vgl. auch Rz. 7.153 ff. zum deutschen Recht). Im Folgenden soll deshalb die Kontrollpraxis der europäischen Organe in Abhängigkeit von der Zusammenschlussform dargestellt werden.
7.295
b) Horizontale Zusammenschlüsse Bei horizontalen Zusammenschlussvorhaben645 zwischen Wettbewerbern steht naturgemäß der Marktanteilszuwachs im Vordergrund der Betrachtung.646 Die Kommission nimmt die Entstehung einer marktbeherrschenden Stellung regelmäßig an, wenn es zu einer Addition gewichtiger Marktanteile kommt. Die nicht-koordinierten Effekte der Einzelmarktbeherrschung werden noch verstärkt, wenn es sich zudem um einen hochgradig konzentrierten Markt handelt sowie hohe Marktzutrittsschranken und/oder fehlende Nachfragemacht bestehen. Neben den aktuellen Marktanteilen auf den betroffenen Produktmärkten spielen so z.B. in mehreren jüngeren Entscheidungen die Verhältnisse auf den Innovationsmärkten eine große Rolle.647
7.296
Beispiel: Den geplanten Zusammenschluss von Hutchison 3G UK und Telefonica UK648 auf dem britischen Markt für Telekommunikationsdienste untersagte die Kommission gerade auch mit dem Verweis auf die hochgradige Marktkonzentration. In der Sache „Friesland/ Campina“ bejahte die Kommission ebenfalls die Begründung einer marktbeherrschenden Stellung. Sie verneinte jedoch eine erhebliche Wettbewerbsbeeinträchtigung, da es aufgrund des genossenschaftlichen Charakters der Beteiligten zu keiner durchgreifenden Nachfragemacht kommen werde.649 Dass selbst ein Marktanteil von 70-80 % unbedenklich sein kann, stellte die Kommission im Fall „Outokumpu/Inoxum“650 fest. Aufgrund der hohen Eigenbedarfsproduktion einzelner Hersteller und der damit verbundenen geringen Volumina des Produkts auf dem freien Markt könnten die Wettbewerber einer Preiserhöhung der Zusammenschlussbeteiligten durch die Steigerung ihrer Eigenproduktion entgegenwirken.
7.297
Mit dem Binnenmarkt unvereinbare Marktstärke kann sich insbesondere auch bei Zusammenschlüssen zu nationalen Champions ergeben. Die unionsfeindliche Bedeutung derartiger Transaktionen ist in erster Linie darin begründet, dass nationale Champions den Zugang
7.298
644 Die Kommission prüft, ebenso wie das BKartA, auch diese Zusammenschlussform. Dagegen hat das US Department of Justice in seinen Richtlinien konglomerate Zusammenschlüsse für grundsätzlich unbedenklich erklärt. 645 Hierzu umfassend: Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2004 Nr. C 31, 5. 646 Vgl. Leitlinien der Kommission zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2004 Nr. C 31, 5 Rz. 17 f., 27; Komm.E. v. 18.4.2012 – COMP/M.6266 Rz. 139, 140 – Johnson & Johnson/ Synthes; Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Art. 2 FKVO Rz. 119. 647 Komm.E. v. 28.1.2015 – COMP/M.7276 – GlaxoSmithKline/Novartis Vaccines Business/Novartis Consumer Health Business; Komm.E. v. 27.3.2017 – COMP/M.7932 Rz. 1987 ff. – Dow/DuPont. 648 Komm.E. v. 11.5.2016 – COMP/M.7612 – Hutchison 3G UK/Telefonica UK. 649 Komm.E. v. 17.12.2008 – COMP/M.5046 – Friesland Foods/Campina. 650 Komm.E. v. 7.11.2012 – COMP/M.6471 – Outokumpu/Inoxum.
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Kap. 7 Rz. 7.299
Kartellrecht
zu nationalen Vertriebsnetzen blockieren, zumeist über die bekanntesten Marken verfügen und damit letztlich dort private Marktschranken errichten, wo das Ziel des Binnenmarktes diese zu überwinden sucht und eine wechselseitige Durchdringung der nationalen Märkte anstrebt.651 c) Vertikale Zusammenschlüsse
7.299 Bei vertikalen Zusammenschlüssen652 zwischen Hersteller und Händler oder Hersteller und Lieferanten besteht in erster Linie die Gefahr vertikaler Marktmacht mit Marktausschlusseffekten auf bedeutenden Beschaffungs-653 oder Absatzmärkten654 zu Lasten aktueller oder potentieller Wettbewerber. Diese treten nach den Leitlinien der Kommission vor allem dann auf, wenn die marktmachtbedingte Fähigkeit zur Marktabschottung mit einem entsprechenden Anreiz, nämlich einer Gewinnerwartung, zusammentrifft und die wahrscheinlichen Gesamtauswirkungen auf den Wettbewerb, etwa aufgrund von Preissteigerungen und fehlenden Effizienzen, negativ zu bewerten sind.655 Die Kommission hat dieses Kriterium beispielsweise bei Zusammenschlüssen von Navigationsherstellern und Anbietern von digitalen Kartendatenbanken656 bei Anbietern von Motorsteuerungen und Flugzeugmotorherstellern,657 bei Herstellern von Zügen und Lieferanten von Bremssystemen,658 bei Herstellern von Patientenüberwachungsgeräten und deren Verwendern659 sowie bei verschiedenen Märkten für Flugzeugteile660 berücksichtigt. Im Fall „RTL/Veronica/Endemol“661 untersagte die Kommission die Beteiligung des führenden niederländischen Fernsehproduzenten Endemol an einem neuen Sender wegen der zu befürchtenden Abschottung des Zugangs zu diesem wichtigen, zuwachsstarken Nachfrager von Fernsehproduktionen auf dem niederländischen Markt.662 In 651 Tranholm-Schwarz/Ohrlander/Zanettin/Compo/Siotis, Competition Policy Newsletter No 1 – 2009, 3; Rodriguez-Galindo (Competition Directorate-General der Kommission) am 13.11.2007 auf dem Competition Day in Zagreb – ‚Current developments in EU Competition Policy and Croatia’s accession process‘, abrufbar auf der Internetseite der Kommission. 652 Hierzu sowie zu konglomeraten Zusammenschlüssen umfassend: Leitlinien der Kommission zur Bewertung nichthorizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2008 Nr. C 265, 6 Rz. 33 ff. 653 S. etwa Komm.E. v. 23.4.2007 – COMP/M.4561 Rz. 48 ff. – GE/Smiths Aerospace; Komm.E. v. 20.2.2007 – COMP/M.4494 – Evraz/Highveld; Komm.E. v. 26.7.2012 – COMP/M.6410 – UTC/ Goodrich Rz. 498-629. 654 S. etwa Komm.E. v. 5.12.2006 – COMP/M.4389 – WLR/BST; Komm.E. v. 4.9.2012 – COMP/M.6314 Rz. 246 ff. – Telefónica UK/Vodafone UK/Everything Everywhere/JV. 655 Leitlinien der Kommission zur Bewertung nichthorizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2008 Nr. C 265, 6 Rz. 29 ff.; vgl. Komm.E. v. 18.7.2007 – COMP/M.4504 – SFRTélé 2 France; Riesenkampff/ Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Art. 2 FKVO Rz. 124 ff. 656 Komm.E. v. 14.5.2008 – COMP/M.4854 Rz. 211–230 – TomTom/Tele Atlas; ebenso Komm.E. v. 2.7.2008 – COMP/M.4942 Rz. 331–354 – Nokia/Navateq. 657 Komm.E. v. 26.7.2012 – COMP/M.6410 Rz. 498 – 558 – UTC/Goodrich. 658 Komm.E. v. 14.9.2015 – COMP/M.7538 Rz. 73–108 – Knorr Bremse/Vossloh. 659 Komm.E. v. 2.9.2003 – COMP/M.3083 – GE/Instrumentarium, WuW 2003, 1046. 660 Komm.E. v. 3.7.2001 – IV/M.2220 – General Electric/Honeywell, WuW/E EU-V 631. 661 Komm.E. v. 20.9.1995 – IV/M.553 Rz. 98 – RTL/Veronica/Endemol, ABl. EG 1996 Nr. L 134, 32; bestätigt durch EuG v. 28.4.1999 – T-221/95 Rz. 167 – Endemol/Kommission = AG 2000, 558. 662 In modifizierter Form wurde das Vorhaben freigegeben: Komm.E. v. 17.7.1996 – IV/M.553 – RTL/Veronica/Endemol, ABl. EG 1996 Nr. L 294, 14.
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Röhling
C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.300 Kap. 7
der Entscheidung „SFR/Télé2 France“663 führte der Umstand, dass die hinter SFR stehende S.A. ihre Pay-TV-Produkte im Falle einer Übernahme von Télé2 France bevorzugt über deren DSL-Kanäle verbreiten könnte, zu einer negativen Beurteilung. Hier bestand die Gefahr, dass der Wettbewerb auf dem Markt für Pay-TV-Vertrieb beeinträchtigt würde. Sofern allerdings vertikal integrierte Wettbewerber vorhanden sind, führen selbst hohe Marktanteile nicht zwangsläufig zu einer Marktbeherrschung.664 d) Konglomerate Zusammenschlüsse Bei rein konglomeraten Zusammenschlüssen, die in der Mehrzahl aller Fälle nicht zu Wettbewerbsproblemen, sondern zu wirtschaftlicher Effizienz führen,665 können sich wettbewerbliche Bedenken ergeben, wenn das Vorhaben zu einer beträchtlichen Ressourcenstärkung führt und zu erwarten ist, dass diese Mittel auf dem betroffenen Markt zum Einsatz kommen. Abschreckungs- und Entmutigungseffekte bei aktuellen oder potentiellen Konkurrenten können nach Ansicht der Kommission die Folge sein. Als eigenständige Ursache für Marktmacht kommt dem Kriterium des Ressourcenzuwachses selten Bedeutung zu.666 Die Kommission hat den Aspekt zumeist nur zur Stützung gleichzeitig erfolgender horizontaler oder vertikaler Marktmachteffekte herangezogen.667 Etwas anderes kann sich im Fall von Produkterweiterungszusammenschlüssen ergeben, wenn ein Unternehmen seine Produktpalette hinsichtlich sich ergänzender Waren- oder Dienstleistungsmärkte vervollständigt und z.B. Nachfrager ein Interesse daran haben, komplementäre Waren aus einer Hand zu beziehen.668 Im Binden und Koppeln von Produkten erblickt die Kommission aufgrund der Abschottungswirkung einen möglichen Hebel zur Erweiterung einer marktbeherrschenden Stellung auf bisher nicht beherrschte Märkte.669 Auch Netzwerkeffekte können konglomerate Ausschlusseffekte verstär-
663 Komm.E. v. 18.7.2007 – COMP/M.4504 – SFRTélé 2 France, das Vorhaben wurde unter Verpflichtungszusagen freigegeben. 664 Komm.E. v. 22.6.2012 – COMP/M.6603 Rz. 46 – Hon Hai/Sharp; Komm.E. v. 21.6.1999 – IV/M.1512 – DuPont/Pioneer, WuW/E EU-V 299. 665 Leitlinien der Kommission zur Bewertung nichthorizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2008 Nr. C 265, 6 Rz. 92; worauf die Kommission auch in ihren Entscheidungen regelmäßig hinweist, vgl. Komm.E. v. 4.2.2016 – COMP/M.7637 Rz. 355. – Liberty Global/BASE. 666 Vgl. Komm.E. v. 28.11.1990 – IV/M.023 Rz. 13 – ICI/Tioxide; Komm.E. v. 13.12.1991 – IV/M.164 Rz. 28 – Mannesmann/VDO; Komm.E. v. 4.9.1992 – IV/M.235 Rz. 12 – Elf/Thyssen/ Minol. 667 Komm.E. v. 29.5.1991 – IV/M.043 Rz. 16 – Magneti Marelli/CEAC, WuW/E EV 1735; Komm.E. v. 2.12.1991 – IV/M.102 Rz. 49 f. – TNT/GD Net. 668 Komm.E. v. 13.2.2012 – COMP/M.6381 Rz. 161 ff. – Google/Motorola, die Kunden könnten jedoch leicht auf andere Anbieter ausweichen, daher stehe der Zusammenschluss in Einklang mit dem Binnenmarkt; Komm.E. v. 16.12.2016 – COMP/M.8150 Rz. 127, 135 ff. – Danone/ WhiteWave, im Ergebnis aber ablehnend; ebenso im Ergebnis eine Konglomeratwirkung verneinend: Komm.E. v. 4.2.2016 – COMP/M.7637 Rz. 355 ff. – Liberty Global/BASE. 669 Leitlinien der Kommission zur Bewertung nichthorizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2008 Nr. C 265, 6 Rz. 93; vgl. EuG v. 14.12.2005 – T-210/01 – General Electric, Slg. 2005, II-5575 Rz. 339; Komm.E. v. 7.10.2011 – COMP/M.6281 Rz. 133 ff. und Rz. 203 ff. – Microsoft/Skype; zu den Voraussetzungen für einen Nachweis Konglomeratwirkung: EuG v. 11.12.2013 – T-79/12 Rz. 115 ff., ECLI:EU:T:2013:635 – Cisco/Kommission.
Röhling 741
7.300
Kap. 7 Rz. 7.301
Kartellrecht
ken.670 Im Fall „Tetra Laval/Sidel“671 hatte die Kommission einen Zusammenschluss untersagt, weil neben leichten horizontalen Überschneidungen insbesondere eine Übertragung bestehender marktbeherrschender Positionen auf eng benachbarte Märkte drohte. Das EuG hat – ohne die zugrunde liegenden wirtschaftlichen Erwägungen anzugreifen – die Entscheidung aufgehoben: zwar könnte ein Zusammenschluss von auf benachbarten Märkten positionierten Unternehmen tatsächlich die besagten negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb haben. Wegen der grundsätzlichen Vermutung, dass konglomerate Zusammenschlüsse in der Regel wettbewerblich neutral oder sogar positiv sind, seien an die Kommission bezüglich des Beweismaßes für eine Untersagung jedoch erhöhte Anforderungen zu stellen, denen die Kommission aus Sicht des EuG in diesem Fall nicht nachgekommen war.672 e) Kollektive Marktbeherrschung
7.301 Obwohl die FKVO, anders als das deutsche Recht (vgl. Rz. 7.125 ff. und § 18 Abs. 5 GWB), keine „Oligopolklausel“ enthält, greift Art. 2 Abs. 3 FKVO nach gefestigter Entscheidungspraxis der Kommission673 und Bestätigung durch den EuGH und das EuG674 grundsätzlich auch im Falle oligopolistischer Marktbeherrschung ein,675 ohne dass es nach Einführung des „SIEC“-Tests noch der ausdrücklichen Feststellung gemeinsamer Marktbeherrschung bedarf
670 Komm.E. v. 11.3.2008 – COMP/M.4731 Rz. 302 – Google/DoubleClick; Komm.E. v. 12.5.2017 – COMP/M.8314 Rz. 148 ff. – Broadcom/Brocade, Freigabe mit Auflagen; Komm.E. v. 7.10.2011 – COMP/M.6281 Rz. 133 ff. und Rz. 203 ff. – Microsoft/Skype; zu den Voraussetzungen für einen Nachweis von Konglomeratwirkung: EuG v. 11.12.2013 – T-79/12 Rz. 115 ff., ECLI:EU:T:2013:635 – Cisco/Kommission. 671 Komm.E. v. 30.10.2001 – COMP/M.2416 – Tetra Laval/Sidel, WuW 2002, 40. 672 EuG v. 25.10.2002 – T-05/02 – Tetra Laval/Kommission, Slg. 2002, II-04381. Der EuGH hat das gegen das Urteil eingelegte Rechtsmittel der Kommission zurückgewiesen, die Entscheidung sei trotz einer Reihe von Rechtsfehlern im Ergebnis richtig: EuGH v. 15.2.2005 – C-12/03 P – Tetra Laval/Kommission, Slg. 2005, I-987. 673 Angedeutet in Komm.E. v. 27.4.1992 – IV/M.202 – Thorn EMI/Virgin Music, WuW 1992, 500; ausdrücklich erstmals in Komm.E. v. 22.7.1992 – IV/M.190 – Nestlé/Perrier; danach etwa: Komm.E. v. 23.10.1998 – IV/M.1298 Rz. 58 – Kodak/Imation, WuW/E EU-V 290; Komm.E. v. 25.11.1998 – IV/M.1225 – Enso/Stora; Komm.E. v. 20.5.1998 – IV/M.1016 – Price Waterhouse/ Coopers & Lybrand, ABl. EG 1999 Nr. L 50, 27; Komm.E. v. 13.6.2000 – IV/M.1673 – VEBA/ VIAG, ABl. EG 2001 Nr. L 188, 1; Komm.E. v. 20.12.2001 – IV/M.2533 – BP/E.ON und COMP/M.2389 – Shell/DEA, WuW 2002, 144; Komm.E. v. 12.12.2012 – COMP/M.6497 – Hutchison 3G Austria/Orange Austria; Komm.E. v. 23.9.2008 – COMP/M.4980 – ABF/GBI; Komm.E. v. 19.1.2009 – COMP/M.5385 – Avnet/Abacus. 674 EuGH v. 31.3.1998 – C-68/94 und C-30/95 Rz. 165 ff.- Französische Republik/Kommission und SCPA u. EMC/Kommission, Slg. 1998, I-1453, zu Komm.E. v. 14.12.1993 – IV/M.308 – Kali+Salz/MdK/Treuhandanstalt; EuG v. 25.3.1999 – T-102/96 Rz. 124 ff. – Gencor/Kommission und EuG v. 6.6.2002 – T-342/99 – Airtours, Slg. 2002, II-2585; EuGH v. 10.7.2008 – C-413/06P Rz. 122 f., ECLI:EU:C:2008:392 – Bertelsmann und Sony Corporation of America/Impala, WuW/EU-R 1498 (1505); vgl. zusammenfassend Komm. Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2004 Nr. C 31, 5 Rz. 39 ff. 675 Die Zielsetzung des AEU-Vertrages im Protokoll Nr. 27 „Über den Binnenmarkt und den Wettbewerb“, ABl. EU 2008 Nr. C 115, 309 (früher Art. 3g EG), den Schutz des Binnenmarktes vor Wettbewerbsverfälschung zu gewährleisten, wird durch individuelle und kollektive Marktbeherrschung gleichermaßen beeinträchtigt.
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C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.302 Kap. 7
(oben Rz. 7.282).676 Erforderlich ist, dass zwischen zwei oder mehr Mitgliedern der Oligopolgruppe kein wirksamer Wettbewerb besteht (fehlender Binnenwettbewerb) und dass die Gruppe im Außenverhältnis keinem wirksamen Wettbewerb mehr ausgesetzt ist.677 Der EuGH misst dabei den die Oligopolmitglieder verbindenden Faktoren ein besonderes Gewicht bei, sofern diese den Marktteilnehmern ein einheitliches Vorgehen im Sinne eines kollektiven Parallelverhaltens auf dem Markt ermöglichen und dadurch ein nicht hinreichend kontrollierbarer Verhaltensspielraum gegenüber Wettbewerbern und Abnehmern entsteht. Kritisch zu bewerten sei vor diesem Hintergrund vor allem eine zunehmende Verengung des Oligopols.678 Daneben sind insbesondere die Produkthomogenität, die Ausgereiftheit der Märkte, die Preiselastizität, die Markttransparenz, bestehende Marktzutrittsschranken, die Stellung der Marktgegenseite und der Oligopolaußenseiter sowie das Ausmaß der Konzentration der Anbieterseite zu untersuchen.679 Letztendlich lässt sich aber feststellen, dass die Kommission ihre Entscheidung nur noch selten auf koordinierte Effekte stützt.680 Vielmehr ist sie im Rahmen einer vertieften Untersuchung dazu übergegangen, das Vorliegen unilateraler Effekte zu prüfen.681 Beispiele für neuere Fälle, in denen die Kommission den Zusammenschluss nur mit Nebenbestimmungen aufgrund koordinierter Effekte freigegeben hat, sind „ABF/GBI“682 und „AB InBev/SABMiller“683. In der Entscheidung „Airtours“ hat das EuG die Voraussetzung für das Vorliegen einer kollektiv beherrschenden Stellung weiter konkretisiert: Die gemeinsame Marktbeherrschung sei nur denkbar, wenn aufgrund von Markttransparenz jedes Oligopolmitglied jederzeit überprüfen könne, ob die anderen Oligopolmitglieder dieselbe Strategie verfolgen. Dabei müssten genug Abschreckungsmittel bestehen, um das Abweichen eines Unternehmens von dem gemeinsamen Vorgehen zu verhindern. Zudem sei die Koordinierung nur stabil, wenn die voraussichtliche Reaktion der aktuellen und potentiellen Wettbewerber und Verbraucher nicht in der Lage sei, die zu erwartenden Ergebnisse des gemeinsamen Vorgehens in Frage zu stellen.684 Ein Zusammenschluss begründet eine gemeinsame marktbeherrschende Stel676 S. etwa: Komm.E. v. 26.4.2006 – COMP/M.3916 – T-Mobile Austria/Telering, WuW/E EU-V 1153; Komm.E. v. 12.12.2006 – COMP/M.4187 – Metso/AkerKvaerner. 677 In der Entscheidung „Price Waterhouse/Coopers & Lybrand“ hat die Kommission die Möglichkeit einer kollektiven Marktbeherrschung durch mehr als drei oder vier Anbieter angesichts des komplexen Beziehungsgeflechts zwar als unwahrscheinlich eingestuft, aber damit gleichzeitig erstmals zum Ausdruck gebracht, dass eine Marktbeherrschung durch mehr als zwei Unternehmen durchaus möglich ist, vgl. Komm.E. v. 20.5.1998 – IV/M.1016 – Price Waterhouse/ Coopers & Lybrand, ABl. EG 1999 Nr. L 50, 27 (41 f.). 678 EuGH v. 31.3.1998 – v C-68/94 und C-30/95 Rz. 221 – Französische Republik/Kommission und SCPA u. EMC/Kommission, Slg. 1998, I-1453. 679 Vgl. Komm. Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2004 Nr. C 31, 5; Komm.E v 23.9.2008 – COMP/M.4980 – ABF/GBI; s. Wagemann in Wiedemann, § 16 Rz. 100 ff., 105 m.w.N. sowie Riesenkampff/Steinbarth in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/ Kersting/Meyer-Lindemann, Art. 2 FKVO Rz. 145 ff. 680 Wagemann in Wiedemann, § 16 Rz. 113; Bardong in Langen/Bunte, Art. 2 FKVO Rz. 273; Levy/ Cook, Rz. 14-3: vgl. auch Komm.E. v. 5.6.2014, COMP/M.7009 Rz. 126 ff., 253, 283 – Holcim/ cemex West. 681 Wagemann in Wiedemann, § 16 Rz. 113; Bardong in Langen/Bunte, Art. 2 FKVO Rz. 273. 682 Komm.E v 23.9.2008 – COMP/M.4980 – ABF/GBI Business. 683 Komm.E v 24.5.2016 – COMP/M.7881 – AB InBev/SABMiller. 684 EuG v. 6.6.2002 – T-342/99 – Airtours plc/Kommission, Slg. 2002, II-02585; Aufhebung der Komm.E. v. 22.9.1999 – IV/M.1524 – Airtours/First Choice, ABl. EG 2000 Nr. L 93, 1. Diese
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7.302
Kap. 7 Rz. 7.303
Kartellrecht
lung, wenn die Mitglieder eines Oligopols es in Wahrnehmung gemeinsamer Interessen für möglich, wirtschaftlich vernünftig und daher ratsam halten, dauerhaft gleichartig auf einem Markt zu agieren, ohne dass Wettbewerber oder Abnehmer hierauf reagieren könnten.685 3. Wesentlicher Teil des Binnenmarktes
7.303 Der Zusammenschluss muss wirksamen „Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben“ erheblich behindern. Als wesentlicher Teil kann dabei auch ein kleiner Mitgliedstaat, ein Teilgebiet eines Mitgliedstaates oder gar einzelne Städte angesehen werden.686 4. Sanierungsfusion/Kausalität
7.304 Die erhebliche Beeinträchtigung des wirksamen Wettbewerbs muss ferner gerade Folge des Zusammenschlusses sein (Kausalitätserfordernis); vgl. im deutschen Recht bereits Rz. 7.112 und 7.145.
7.305 Beispiel: In der Sache „Kali+Salz/MdK/Treuhandanstalt“ war die Kausalität ausnahmsweise zu verneinen und der Zusammenschluss als Sanierungsfusion („failing company defence“) für vereinbar mit dem Binnenmarkt erklärt worden. EuGH und Kommission sahen dafür drei Voraussetzungen als erforderlich an: Ohne Übernahme würde das eine Unternehmen kurzfristig aus dem Markt ausscheiden, die Marktposition würde ohnehin dem Erwerber zufallen, und es gibt keine weniger wettbewerbsschädliche Erwerbsalternative.687 An diesem Maßstab gemessen bejahte die Kommission das Vorliegen einer Sanierungsfusion im Fall „Aegean Airlines/Olympic Air“, obwohl diese noch im Jahr 2011 blockiert worden war.688 In der Sache „BASF/Eurodiol/Pantochim“689 hat die Kommission das so sehr restriktive Konzept der Sanierungsfusion vorsichtig weiterentwickelt: Auch ohne dass die Marktanteile zwangsläufig dem Erwerber ohnehin zufallen, kann ein Zusammenschluss ausnahmsweise für vereinbar mit dem Binnenmarkt erklärt werden, wenn die durch die Fusion herbeigeführte Marktsituation positiver zu bewerten ist als die Situation im Fall eines einfachen Ausscheidens eines Unternehmens aus dem Markt. Im konkreten Fall etwa konnten drohende Kapazitätsengpässe vermieden werden, die von den Wettbewerbern nicht hätten aufgefangen werden können. Im Fall „Deutsche Bahn/EWS“690 bekräftigte die Kommission, dass ein Zusammenschluss auch dann kausal für eine Wettbewerbsbehinderung sein kann, wenn sie zur
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Grundsätze finden sich nunmehr auch in den Leitlinien der Kommission zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2004 Nr. C 31, 5 Rz. 39 ff. EuGH v. 10.7.2008 – C-413/06 P – Bertelsmann und Sony/Impala, Slg. 2008, I-4951 Rz. 122. Vgl. EuGH v. 10.12.1991 – C-179/90 – Merci Conventionali Porto di Genova/Siderurgica Gabrielli, Slg. 1991 I-5923 Rz. 15. Im Einzelnen dazu Komm. Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU 2004 Nr. C 31, 5 Rz. 89 ff.; vgl. Komm.E. v. 14.12.1993 – IV/M.308 Rz. 70 ff., ABl. EG 1994 Nr. L 136, 38; bestätigt insoweit durch EuGH v. 31.3.1998 – C-68/94, C-30/95 Rz. 114 ff. – Französische Republik/Kommission und SCPA und EMC/Kommission, Slg. 1998, I-1375. Komm.E. v. 9.10.2013 – COMP/M. 6796 – Aegean Airlines/Olympic Air II; Komm.E. v. 26.1.2011 – COMP/M. 5830 – Aegean Airlines/Olympic Air I; dazu Hirsbrunner EuZW 2014, 658 (661). Komm.E. v. 11.7.2001 – IV/M.2314 – BASF/Pantochim; dazu Fiedler, EuZW 2001, 585. Komm.E. v. 6.11.2007 – COMP/M.4746 – Deutsche Bahn/EWS.
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C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.308 Kap. 7
Verstärkung der Marktmacht eines Dritten führt. Die Bedenken konnten allein durch Verhaltensverpflichtungen ausgeräumt werden. 5. Nebenabreden (insb. Wettbewerbsverbote) Gemäß Art. 8 Abs. 1 Unterabs. 1 und Abs. 2 Unterabs. 3 FKVO (i.R.d. Hauptprüfverfahrens) bzw. Art. 6 Abs. 1 lit. b Unterabs. 2 FKVO (i.R.d. Vorprüfverfahrens) erstreckt sich die Entscheidung, mit der ein Zusammenschluss für vereinbar mit dem Binnenmarkt erklärt wird, auch auf die mit seiner Durchführung unmittelbar verbundenen und für sie notwendigen Einschränkungen (sog. „ancillary restraints“). Diese gelten mit der Freigabeentscheidung als genehmigt, ohne dass die Kommission dies im Einzelnen zu prüfen hätte.691 Erfasst werden hiervon Abreden, die grundsätzlich im Rahmen der Verfahrensregeln der VO 1/2003 am Maßstab des Art. 101 AEUV zu prüfen wären, durch diese Regelungen aber im Sinne der Wahrung des „one stop shop“-Prinzips einer umständlichen Doppelkontrolle entzogen werden.692 Die Kommission hat in ihrer Bekanntmachung über Nebenabreden zu Zusammenschlüssen693 dargelegt, wie sie den Begriff „mit der Durchführung des Zusammenschlusses unmittelbar verbundene und für diese notwendige Einschränkungen“ versteht.694
7.306
Für die Praxis am wichtigsten ist die Beurteilung von vertraglichen Wettbewerbsverboten, die dem Veräußerer im Rahmen einer Unternehmensübertragung auferlegt werden. Sie sollen gewährleisten, dass der Erwerber den vollständigen Wert des übertragenen Vermögens erhält, zu dem im Allgemeinen sowohl materielle als auch immaterielle Werte, wie der Kundenstamm oder das Know-how des Veräußerers zählen.695
7.307
Ein Wettbewerbsverbot ist nach Auffassung der Kommission durch das mit der Herbeifüh- 7.308 rung des Zusammenschlusses verfolgte rechtmäßige Ziel dann gerechtfertigt, wenn es im Hinblick auf seinen Gegenstand, seine Dauer und seinen räumlichen Anwendungsbereich nicht die Grenzen dessen überschreitet, was vernünftigerweise als notwendig angesehen werden kann. Hinsichtlich der Dauer hält die Kommission einen Zeitraum von drei Jahren für angemessen, wenn die Übertragung des Unternehmens den Geschäftswert („Goodwill“) und das Know-how mit einschließt.696 Erstreckt sich die Übertragung nur auf den Geschäftswert, so soll ein Zeitraum von zwei Jahren ausreichend sein.697 Die zulässige Dauer eines Wettbewerbsverbots ist jedoch stets Einzelfallfrage; bei Vorliegen besonderer Umstände kann 691 Erwägungsgrund 21 FKVO. Auf Antrag der Parteien soll die Kommission allerdings „neue und ungelöste Fragen“ gesondert prüfen und formell darüber entscheiden. 692 In die gleiche Richtung zielt die allerdings noch weiterreichende Regelung der Art. 3 Abs. 4 i.V.m. Art. 2 Abs. 4 FKVO, wonach kooperative Wettbewerbsabsprachen bei der Gründung eines Vollfunktions-GU zwar materiell-rechtlich an Art. 101 AEUV gemessen werden, verfahrensrechtlich aber der FKVO unterfallen (vgl. Rz. 7.348 ff.). 693 ABl. EU 2005 Nr. C 56 24. 694 Zu Nebenabreden ausführlich Wagemann in Wiedemann, § 16 Rz. 203-218. 695 Vgl. Komm.E. v. 24.8.1998 – IV/M.1283 Rz. 17, 19 – Volkswagen/Rolls-Royce/Cosworth, WuW/E EU-V 97. 696 Kommissionsbekanntmachung, ABl. EU 2005 Nr. C 56, 24 Rz. 20; anders noch die vorletzte Mitteilung (dort fünf Jahre); Komm.E. v. 3.2.1999 – IV/M.1376 Rz. 22 – Cargill/Continental Grain, WuW/E EU-V 248; Komm.E. v. 20.2.1995 – IV/M.540 Rz. 20 f. – Cegelec/AEG; Komm.E. v. 21.12.1994 – IV/M.521 Anm. IV – VIAG/Sanofi; Komm.E. v. 14.12.1993 – IV/M.308 Rz. 91 ff. – Kali-Salz/MdK/Treuhandanstalt. 697 Kommissionsbekanntmachung, ABl. EU 2005 Nr. C 56, 24 Rz. 20; Komm.E. v. 18.6.1998 – IV/M.1188 Rz. 18 – Kingfisher/Wegert/ProMarkt.
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Kap. 7 Rz. 7.309
Kartellrecht
durchaus auch ein längerfristiges Verbot als zwingend notwendig anerkannt werden.698 Der räumliche Anwendungsbereich des Wettbewerbsverbots ist nach der Bekanntmachung auf das Gebiet zu begrenzen, in dem der Veräußerer seine Erzeugnisse oder Dienstleistungen schon vor der Übertragung am Markt eingeführt hatte. Ähnliches gilt für die Begrenzung in sachlicher Hinsicht. Danach ist das Wettbewerbsverbot auf diejenigen Erzeugnisse und Dienstleistungen zu beschränken, welche Gegenstand der Wirtschaftstätigkeit des übernommenen Unternehmens oder Unternehmensteiles waren.699 Daneben enthält die Bekanntmachung der Kommission über Nebenabreden Bestimmungen über Lizenzen für gewerbliche und kommerzielle Eigentumsrechte und Know-how sowie über Liefer-, Bezugs- und Dienstleistungspflichten.700 Bei der Gründung von GU können Wettbewerbsverbote im Verhältnis der Gründerunternehmen zu dem GU für die Dauer des GU gerechtfertigt sein, wenn sich diese Verpflichtungen auf die Waren, Dienstleistungen und Gebiete beziehen, die in der betreffenden Gründungsvereinbarung oder in der Satzung vorgesehen sind. Der räumliche Anwendungsbereich muss sich dabei auf das Gebiet beschränken, in dem die Gründer die betreffenden Waren oder Dienstleistungen vor der Gründung des GU abgesetzt bzw. erbracht haben oder in denen die Gründerunternehmen zum Zeitpunkt der GU-Gründung beabsichtigten geschäftlich tätig zu werden, sofern sie bereits entsprechende Investitionen getätigt haben.701
VI. Fusionskontrollverfahren 1. Präventive Anmeldepflicht nach Art. 4 Abs. 1 FKVO
7.309 Ein Zusammenschlussvorhaben, das in den Anwendungsbereich der FKVO fällt, ist grundsätzlich nach Vertragsabschluss, der Veröffentlichung des Kauf- oder Tauschangebots oder des Erwerbs einer die Kontrolle begründenden Beteiligung bei der Kommission anzumelden (Art. 4 Abs. 1 FKVO). Die FKVO sieht keine Frist für die Anmeldung vor. Vielmehr kann der Zusammenschluss auch, wie im deutschen Recht, bereits vor dem Vertragsschluss bei der Kommission angemeldet werden. Die Parteien müssen gegenüber der Kommission lediglich ihren Willen glaubhaft machen, einen Vertrag zu schließen oder öffentlich bekundet haben, ein Übernahmeangebot abgeben zu wollen (Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 FKVO). Es besteht damit, wie auch im deutschen Recht (vgl. Rz. 7.165), eine rein präventive Meldepflicht. Unterbleibt die Anmeldung oder machen die Parteien bei der Anmeldung unrichtige oder irreführende Angaben, kann die Kommission ein Bußgeld von bis zu 10 % bzw. 1 % des von den beteiligten Unternehmen erzielten Gesamtumsatzes verhängen (Art. 14 Abs. 2 lit. a bzw. Abs. 1 lit. a FKVO). 698 Kommissionsbekanntmachung, ABl. EU 2005 Nr. C 56, 24 Rz. 5; Komm.E. v. 18.6.2012 – 39736 Rz. 72 ff. – Siemens/Areva, demnach kann ein zur Gründung eines GU vereinbartes Wettbewerbsverbot zwischen den Muttergesellschaften bis zu drei Jahre nach Wechsel von gemeinsamer Kontrolle zu alleiniger Kontrolle zulässig sein; Komm.E. v. 24.10.1997 – IV/M.1011 Rz. 20 f. – Ingersoll-Rand/Thermo King; EuGH v. 11.7.1985 – 42/84 – Remia/Nutricia, Slg. 1985, 2545; Komm.E. v. 21.5.1999 – IV/M.1255 Rz. 30 ff. – Flughafen Berlin, WuW/E EU-V 302: Wettbewerbsverbot von fast 28 Jahren unzulässig; vgl. Dittert in Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Art. 8 FKVO Rz. 73 ff. 699 Kommissionsbekanntmachung, ABl. EU 2005 Nr. C 56, 24 Rz. 22 f.; Komm.E. v. 18.6.2012 – 39736 Rz. 67 ff. – Siemens/Areva. 700 Kommissionsbekanntmachung, ABl. EU 2005 Nr. C 56, 24 Rz. 27 ff., 32 ff. Vgl. auch Wagemann in Wiedemann, § 16 Rz. 214 ff. 701 Kommissionsbekanntmachung, ABl. EU 2005 Nr. C 56, 24 Rz. 36 ff.
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C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.312 Kap. 7
Vor Anmeldung und einer Freigabeentscheidung der Kommission nach Art. 6 Abs. 1 lit. b oder 7.310 Art. 8 Abs. 1 oder Abs. 2 FKVO bzw. bis zum Eintritt der Vereinbarkeitsfiktion nach Art. 10 Abs. 6 FKVO besteht grundsätzlich ein Vollzugsverbot (Art. 7 Abs. 1, 14 Abs. 2 lit. b FKVO). Bei Verstößen drohen empfindliche Bußgelder.702 Jüngst haben der EuGH und die Kommission erste richtungsweisende Entscheidungen erlassen (dazu unten unter Rz. 7.317 ff.). Als weitere grundsätzliche Leitlinien können zudem die Ausführungen zur deutschen Fusionskontrolle (s. Rz. 7.174) dienen. Zivilrechtlich sind Rechtsgeschäfte, die gegen das Vollzugsverbot verstoßen, schwebend unwirksam (Art. 7 Abs. 4 FKVO). Wirksam werden sie erst durch eine Freigabeentscheidung der Kommission nach Art. 6 Abs. 1 lit. b oder Art. 8 Abs. 1 oder Abs. 2 FKVO oder ausnahmsweise durch Fristablauf gem. Art. 10 Abs. 6 FKVO bei „Untätigkeit“ der Kommission.703. a) Verpflichteter Personenkreis Anmeldepflichtig sind die an einer Fusion oder der Begründung einer gemeinschaftlichen Kontrolle beteiligten Unternehmen jeweils gemeinsam und in allen anderen Fällen der Erwerber der Kontrolle (Art. 4 Abs. 2 FKVO). Der Veräußerer unterliegt nicht der Anmeldepflicht. Die Verpflichteten können einen gemeinsamen Vertreter ermächtigen, der im Namen aller die gesamte oder Teile der Anmeldung mit der Kommission abwickelt.
7.311
b) Inhalt und Form der Anmeldung Die Einzelheiten der Anmeldung, der Fristen und der Anhörung hat die Kommission – ermächtigt durch Art. 23 FKVO – in der Verordnung (EG) Nr. 802/2004 vom 7.4.2004 (sog. Durchführungsverordnung – DVO) niedergelegt.704 Die DVO wurde mit Wirkung zum 1.1.2014 mit dem Ziel der Vereinfachung und Beschleunigung des Fusionskontrollprozesses reformiert. Die durchweg technischen Änderungen betreffen u.a. die Marktanteilsschwelle, unterhalb derer ein Vorhaben in einem vereinfachten Verfahren anzumelden ist. Die wesentlichen Anforderungen an Inhalt und Form der Anmeldung sind gleich geblieben. Nach Art. 3 Abs. 1 DVO ist für Anmeldungen das Formblatt CO in der darin beschriebenen Art und Weise zu verwenden. Das Muster dieses Formblattes ist im Anhang I zur DVO abgedruckt.705 Das Formblatt CO enthält im Anschluss an eine Einleitung mit Erläuterungen und Begriffsbestimmungen in elf Abschnitten einen exzessiven Katalog von erforderlichen Angaben zu den beteiligten Unternehmen sowie zu den von dem Zusammenschluss betroffenen Märkten, der nachfolgend zusammenfassend dargestellt ist: – Angaben zum Zusammenschlussvorhaben und den beteiligten Unternehmen (Abschnitt 1, 2 und 3);
702 Vgl. Komm.E. v. 10.6.2009 – COMP/M.4994 – Electrabel/Compagnie Nationale du Rhône; Komm.E. v. 23.7.2014 – COMP/M.7184 – Marine Harvest/MORPOL Gesamtstrafen jeweils i.H.v. 20 Mio. Euro. 703 Komm.E. v. 29.10.1993 – IV/M.330 – McCormick/CPC/Rabobank/Ostmann (unfreiwilliger Fehler bei der Fristberechnung durch die Kommission); Sachen IV/M.841 und 854 – Thomson Multimedia und Thomson-CSF/Lagardère. 704 ABl. EU 2004 Nr. L 133, 1; in Kraft seit dem 1.5.2004, geändert durch VO 1033/2008, ABl. EU 2008 Nr. L 279, 3 und zuletzt durch VO 1269/2013, ABl. EU 2013 Nr. L 336, 1. 705 Das Formblatt CO ist ebenso auf der Homepage der Kommission verfügbar: http://ec.euro pa.eu/competition/mergers/legislation/regulations.html.
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7.312
Kap. 7 Rz. 7.313
Kartellrecht
– Eigentums- und Kontrollverhältnisse sowie Verflechtungen der beteiligten Unternehmen (Abschnitt 4); – einzureichende Unterlagen (Abschnitt 5); – die betroffenen Märkte (Abschnitt 6 bis 8); – Angaben zu Effizienzgewinnen (Abschnitt 9); – Angaben zu kooperativen Wirkungen eines Gemeinschaftsunternehmens (Abschnitt 10); – Erklärung über die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben (Abschnitt 11).
7.313 Es ist in praktischer Hinsicht unabdingbar, im Vorfeld des bereits hinreichend konkreten Zusammenschlussvorhabens mit der Kommission ein informelles Vorverfahren durchzuführen. Neben materiellen Aspekten dient dieses Vorverfahren dazu abzuklären, in welchem Detailgrad die Fragen des Formblattes für den jeweiligen Zusammenschluss zu beantworten sind und so die Vollständigkeit der Anmeldung zu gewährleisten. In Bezug auf bestimmte im Formblatt gekennzeichnete Fragen kann hierfür eine Befreiung von der Pflicht zu Angaben erreicht werden (sog. „Waiver-Praxis“), wobei in einem Waiver-Antrag jeweils dargelegt werden muss, warum die Angaben für die Beurteilung des Vorhabens nicht von Relevanz sind.706 In ihrer bisherigen Praxis hat sich die Kommission hinsichtlich solcher Befreiungen von einzelnen im Formblatt enthaltenen Fragen durchaus aufgeschlossen gezeigt.
7.314 Unter bestimmten quantitativen Voraussetzungen kommt u.a. für Gemeinschaftsunternehmen mit kleinen oder nur geringen Tätigkeiten in Europa oder bei Unterschreiten bestimmter Marktanteilsschwellen eine Anmeldung in Kurzform in Betracht (sog. „short form notification“ für de minimis-GU).707 c) Wirkung der Anmeldung
7.315 Nur die vollständige Anmeldung wird mit dem Tag des Eingangs bei der Kommission wirksam (Art. 5 Abs. 1 DVO). Dabei ist eine Unvollständigkeit hinsichtlich nachrangiger, unwesentlicher Aspekte allerdings unbeachtlich.708 Wichtigste Wirkung ist der Beginn der Prüfungsfrist von 25 Arbeitstagen, innerhalb derer die Entscheidung der Kommission zum Abschluss der ersten Phase (Vorprüfung) zu treffen ist (Art. 10 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 FKVO).
706 Vgl. Annex 1 DVO, Anhang I, Abschnitt 1g. 707 Vgl. Art. 3 Abs. 1 DVO, Anhang II (EWR-Umsatz und Wert der Vermögensgegenstände des GU geringer als 100 Mio. Euro; Marktanteil bei horizontalen Zusammenschlüssen kleiner 20 %); vgl. hierzu auch Bekanntmachung der Kommission über ein vereinfachtes Verfahren für bestimmte Zusammenschlüsse gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates, ABl. EU 2014 Nr. C 366, 5. 708 Annahme einer beachtlichen Unvollständigkeit in Komm.E. v. 30.3.2015 – COMP/M.7265 – Zimmer/Biomet; Komm.E. v. 21.3.2011 – COMP/M.6059 – Norbert Dentressangle/Laxey Logistics; Komm.E. v 17.8.2010 – COMP/M.5944 – Osaka/UFG/Infrastructurearzak/Saggas. In all diesen Fällen informierte die Kommission die Parteien hierüber, so dass die Parteien die notwendigen Unterlagen nachreichen konnten und es zu einer späteren, aber wirksamen Anmeldung kam.
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C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.320 Kap. 7
d) Vollzugsverbot und „Gun Jumping“ Wie bereits eingangs erwähnt, darf ein Zusammenschluss vor einer Anmeldung und Freiga- 7.316 beentscheidung der Kommission nach Art. 6 Abs. 1 lit. b oder Art. 8 Abs. 1 oder Abs. 2 FKVO bzw. bis zum Eintritt der Vereinbarkeitsfiktion nach Art. 10 Abs. 6 FKVO nicht vollzogen werden (Art. 7 Abs. 1, 14 Abs. 2 lit. b FKVO). Neben den klaren Fällen, in denen Zusammenschlüsse vor dinglichem Vollzug von den Parteien überhaupt nicht angemeldet wurden, können vom Vollzugsverbot aber auch bestimmte Teilakte eines anmeldepflichtigen Zusammenschlusses erfasst sein, die selbst noch keinen dinglichen Vollzug darstellen. Bei Verstößen, die auch als „Gun Jumping“ bezeichnet werden, drohen empfindliche Bußgelder. Sowohl im Hinblick auf die Anmeldepflichtigkeit als auch betreffend einen potentiellen faktischen Vollzug, z.B. durch Maßnahmen der Integrationsplanung, bestehen mangels ausreichender Fallpraxis auch im Rahmen der europäischen Fusionskontrolle offene Fragen (vgl. die Ausführungen zur deutschen Fusionskontrolle oben unter Rz. 7.174). Durch die jüngsten Entscheidungen der Kommission in Altice/PT Portugal709 sowie, kurz darauffolgend, des EuGH in EY/KPMG710, hat das Vollzugsverbot jedoch etwas mehr Konturen erhalten, die im Folgenden kurz dargestellt werden. Zusätzliche Konkretisierungen dürften durch weitere anhängige Verfahren vor der Kommission bzw. dem EuGH zu erwarten sein.711
7.317
In Altice/PT Portugal hat die Kommission eine Rekordstrafe gegen Altice i.H.v. 124,5 Mio. Euro für einen Verstoß gegen das Vollzugsverbot verhängt.712 In Ihrer Entscheidung führt die Kommission aus, dass die entscheidende Frage bei der Prüfung der Verletzung des Vollzugsverbotes sei, ob der Erwerber bereits vor Freigabe die Möglichkeit eines bestimmenden Einflusses auf die Zielgesellschaft erlangt hat. Nicht erforderlich für die Feststellung eines Verstoßes sei hingegen, dass von dieser Möglichkeit tatsächlich Gebrauch gemacht wurde.713 Durch entsprechende Klauseln im Kaufvertrag, habe Altice diese Möglichkeit erlangt und zudem durch eine tatsächliche Einflussnahme auf PT Portugal auch außerhalb der kaufvertraglichen Regelungen und einen extensiven Informationsaustausch zwischen Altice und PT Portugal letztlich sogar bestimmenden Einfluss ausgeübt.714
7.318
Der Kaufvertrag enthielt bestimmte positive Verpflichtungen der Verkäuferin die Geschäfte weiterhin wie bisher zu führen („Ordinary Course Klauseln“) sowie negative Verpflichtungen bestimmte Handlungen nicht ohne Zustimmung von Altice („Reserved Matters Klausel“ bzw. „Material Contract Klauseln“) im Zeitraum zwischen Vertragsunterzeichnung und Vollzug vorzunehmen.715
7.319
Die Kommission stellt in ihrer Entscheidung ausdrücklich klar, dass derartige Klauseln grundsätzlich gerechtfertigt sein können, soweit sie sich als notwendig für den Werterhalt der Zielgesellschaft erweisen. Eine Rechtfertigung greife jedoch z.B. dann nicht mehr, wenn jene Klauseln einen Eingriff in das Tagesgeschäft oder die Geschäftspolitik des Zielunternehmens ermöglichen. Durch den inhaltlichen Umfang der Klauseln und der niedrigen mo-
7.320
709 Komm.E v. 24.4.2018 – COMP/M.7993 – Altice/PT Portugal. 710 EuGH v. 31.5.2018 – C-633/16 – Ernst & Young. 711 Kommission, Verfahren COMP/M.8179 – Canon/Toshiba Medical Systems Corporation; EuGH, Verfahren C-10/18 P – Marine Harvest. 712 Komm.E v. 24.4.2018 – COMP/M.7993 – Altice/PT Portugal. 713 Komm.E v. 24.4.2018 – COMP/M.7993 – Altice/PT Portugal Rz. 173. 714 Komm.E v. 24.4.2018 – COMP/M.7993 – Altice/PT Portugal Rz. 55. 715 Komm.E v. 24.4.2018 – COMP/M.7993 – Altice/PT Portugal Rz. 47.
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Kap. 7 Rz. 7.321
Kartellrecht
netären Schwellenwerte, ab denen Altices Zustimmung erforderlich war, sei diese Grenze in Altice/PT Portugal jedenfalls überschritten worden.716
7.321 Als ein weiterer Verstoß trat in dem Fall hinzu, dass Altice auch außerhalb der vorgesehenen Klauseln im Kaufvertrag auf das Tagesgeschäft von PT Portugal Einfluss z.B. durch Anweisungen zur Durchführung verkaufsfördernder Maßnahmen genommen hat. Schließlich bewertete die Kommission den Austausch wettbewerblich sensibler Daten zwischen den direkten Wettbewerbern Altice und PT Portugal als weiteren Beleg dafür, dass Altice einen bestimmenden Einfluss über PT Portugal erlangt hat. Denn durch den Austausch wettbewerblich sensibler Informationen außerhalb von sog. Clean Teams oder anderen zureichenden Vertraulichkeitsvereinbarungen, habe Altice bereits so gehandelt, als übe es bereits Kontrolle über PT Portugal aus und sei daher berechtigt entsprechende Informationen zu erhalten.717 Als wettbewerblich sensibel gelten v.a. strategische Daten wie Preise (zum Beispiel aktuelle Preise, Preisnachlässe, -erhöhungen, -senkungen und Rabatte), Kundenlisten, Produktionskosten, Mengen, Umsätze, Verkaufszahlen, Kapazitäten, Qualität, Marketingpläne, Risiken, Investitionen, Technologien sowie Forschungs- und Entwicklungsprogramme und deren Ergebnisse.718
7.322 In EY/KPMG hat der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren geurteilt, dass ein Verstoß gegen das Vollzugsverbot in Art. 7 Abs. 1 FKVO nur dann vorliegt, wenn die den Verstoß begründende Handlung ganz oder teilweise, tatsächlich oder rechtlich zu einem Kontrollwechsel beiträgt.719 Handlungen, die lediglich im Zusammenhang mit dem beabsichtigten Zusammenschluss stehen, ohne dass diese für einen Kontrollwechsel erforderlich wären, verstoßen hingegen nicht gegen das in Art. 7 Abs. 1 FKVO niedergelegte Vollzugsverbot. Jene Handlungen sind dann allenfalls an Art. 101 bzw. Art. 102 AEUV zu messen.
7.323 Diesen Maßstab zugrunde gelegt, entschied der EuGH, dass eine Kündigung des Kooperationsvertrages mit KPMG International Cooperative durch die an der Fusion beteiligte dänische Einheit von KPMG in Vorbereitung auf die spätere Fusion mit EY nicht gegen das Vollzugsverbot verstieß. Anders als die dänische Behörde, hielt der EuGH es für nicht ausreichend, dass die Kündigung im Zusammenhang mit der Fusion stand, unumkehrbar war und es wahrscheinlich war, dass die Kündigung sich schon vor Freigabe auf den Markt auswirkt.720
7.324 Ob zwischen dem Test der Kommission (Möglichkeit eines bestimmenden Einflusses) und dem des EuGH (wenigstens teilweiser Beitrag zu einem Kontrollwechsel) in der Praxis ein Unterschied bestehen wird, bleibt abzuwarten. Fraglich ist dabei insbesondere, ob ein Informationsaustausch nach dem Test des EuGH an dem Vollzugsverbot des Art. 7 Abs. 1 FKVO oder allein an Art. 101 AEUV und den dazu aufgestellten Grundsätzen zu messen ist. Altice hat angekündigt gegen die Entscheidung der Kommission in Altice/PT Portugal Nichtig-
716 Komm.E v. 24.4.2018 – COMP/M.7993 – Altice/PT Portugal Rz. 70 ff. 717 Komm.E v. 24.4.2018 – COMP/M.7993 – Altice/PT Portugal Rz. 423. 718 Vgl. Komm. Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. EU 2011 Nr. C 11, 1 Rz. 86. 719 EuGH v. 31.5.2018 – C-633/16 – Ernst & Young Rz. 62. 720 EuGH v. 31.5.2018 – C-633/16 – Ernst & Young Rz. 23 und 50 f.
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C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.327 Kap. 7
keitsklage zu erheben, sodass zukünftig eine weitere Schärfung der Konturen des Vollzugsverbotes nach Art. 7 Abs. 1 FKVO zu erwarten ist.721 Diese beiden Fälle unterstreichen jedenfalls einmal mehr, dass kartellrechtliche Überlegun- 7.325 gen schon in einer sehr frühen Planungsphase einer Transaktion berücksichtigt werden müssen und Handlungen der beteiligten Unternehmen von der ersten Due Diligence bzw. dem ersten Informationsaustausch bis hin zum Kaufvertragsentwurf, der Integrationsplanung und schließlich dem Vollzug kartellrechtlichen Beschränkungen unterliegen. e) Ausnahmen und Befreiung vom Vollzugsverbot (Art. 7 Abs. 2 und 3 FKVO) Eine Ausnahme vom Vollzugsverbot des Art. 7 Abs. 1 FKVO gilt gem. Abs. 2 für öffentliche Übernahme- oder Tauschangebote, sofern der Erwerber die mit den Anteilen verbundenen Stimmrechte nicht oder nur zur Erhaltung des vollen Wertes seiner Investition und aufgrund einer von der Kommission erteilten Befreiung ausübt. Die Kommission kann zudem auf Antrag vom Vollzugsverbot Befreiungen erteilen, um schweren Schaden von einem oder mehreren der beteiligten Unternehmen oder von Dritten abzuwenden. Dabei verfolgte die Kommission zunächst eine eher restriktive Praxis; inzwischen macht die Kommission jedoch zunehmend zumindest für einzelne, besonders dringliche Maßnahmen von dieser Möglichkeit Gebrauch, wenn es zur Vermeidung erheblicher Nachteile für die Beteiligten geboten scheint.722 Die Befreiung kann jederzeit sowie mit Bedingungen und Auflagen ergehen (Art. 7 Abs. 3 S. 4, 5 FKVO).
7.326
2. Prüfverfahren Ebenso wie im deutschen Recht gliedert sich das Fusionskontrollverfahren der FKVO in Ab- 7.327 hängigkeit vom Ausmaß der wettbewerblichen Bedenken in ein oder zwei Phasen. Die zweite und intensivere Prüfungsstufe hielt die Kommission bisher nur in weniger als 5 % der Anmeldungen für erforderlich.723 Anders als im deutschen Fusionskontrollverfahren gehen der formellen Anmeldung nach der FKVO regelmäßig informelle Kontakte mit der Kommission voraus (sog. „pre-notification“). In ihren Leitlinien empfiehlt die Kommission in jedem Fall vor formeller Einreichung einer Anmeldung derartige informelle Kontakte, die mit einem eigens eingerichteten Formular, dem „Case Team Allocation Request“, eingelei-
721 Pressemitteilung von Altice v. 24.4.2018, abrufbar unter http://altice.net/sites/default/files/pdf/ 20180424-alt-pr-altice-NV-File-Appeal-Against-European-Commission-Decision.pdf; EuG, Verfahren T-425/18 – Altice. 722 Ergingen zwischen 1990 und 1997 nur 21 Befreiungen (vgl. etwa Komm.E. v. 13.11.1997 – IV/M.1025 – Mannesmann/Olivetti/Infostrada (ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten des Zielunternehmens als drohender Schaden); weitere Befreiungen in Komm.E. v. 11.2.1997 – IV/M.857 – British Airways/Air Liberté; Komm.E. v. 28.10.1998 – IV/M.1305 – Eurostar; Komm.E. v. 27.11.1998 – IV/M.1358 – Philips/Lucent Technologies (II)), so waren es seit 1998 bis Ende 2017 99 Befreiungsentscheidungen, vgl. Statistik der Kommission, abrufbar auf der Homepage der Kommission unter http://ec.europa.eu/competition/mergers/statistics.pdf; Ablasser-Neuhuber in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Art. 7 FKVO Rz. 16 ff. m.w.N. 723 Bis Ende 2017 wurde das Hauptverfahren in insgesamt 253 Fällen eröffnet, 27 Zusammenschlüsse wurden untersagt, 122 unter Auflagen freigegeben; vgl. Statistik der Kommission, abrufbar auf der Homepage der Kommission unter http://ec.europa.eu/competition/mergers/statis tics.pdf.
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Kap. 7 Rz. 7.328
Kartellrecht
tet werden.724 Abhängig von der Komplexität der aufgeworfenen Zuständigkeitsfragen oder der materiellen Probleme kann diese informelle Phase von einigen wenigen Wochen bis hin zu mehreren Monaten dauern und mit mehreren Fragerunden der Kommission und zu entwerfenden Anmeldungsentwürfen einhergehen. a) Vorprüfungsverfahren (Phase 1)
7.328 Die Kommission beginnt unmittelbar nach Eingang der Anmeldung mit deren Prüfung. Zugleich übermittelt sie den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten binnen dreier Arbeitstage eine (elektronische) Kopie der Anmeldungen. Die Kommission prüft zunächst, ob der Zusammenschluss überhaupt unter die FKVO fällt. Sofern dieses nicht der Fall ist, wird die Kommission dies den anmeldenden Parteien bereits im informellen Vorprüfverfahren mitteilen oder in seltenen Fällen dies durch Entscheidung feststellen (Art. 6 Abs. 1 lit. a FKVO).
7.329 Fällt der Zusammenschluss unter die FKVO, so veröffentlicht die Kommission die Tatsache der Anmeldung unter Angabe der Namen der Beteiligten, der Art des Zusammenschlusses sowie der betroffenen Wirtschaftszweige im Amtsblatt der Europäischen Union, Teil C (Art. 4 Abs. 3 Satz 1 FKVO).725 Weiter muss sie entscheiden, ob Anlass zu ernsthaften Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit des Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt besteht. Verneint die Kommission dies, so erklärt sie den Zusammenschluss, ggf. unter Bedingungen und Auflagen, für vereinbar mit dem Binnenmarkt (Art. 6 Abs. 1 lit. b FKVO). Gelangt die Kommission dagegen zu dem Schluss, dass der Zusammenschluss Anlass zu ernsthaften Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt gibt, trifft sie die Entscheidung, das Hauptverfahren (Phase 2) einzuleiten (Art. 6 Abs. 1 lit. c FKVO). Ernsthafte Bedenken bestehen, wenn eine erste Analyse des Vorhabens deutliche Hinweise auf eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs auf mindestens einem Markt offen legt und damit weitere Ermittlungen notwendig sind.
7.330 Sämtliche nach Art. 6 Abs. 1 FKVO im Rahmen der Vorprüfung zu treffenden Entscheidungen sind innerhalb einer Frist von 25 Arbeitstagen nach Eingang der Anmeldung zu fällen (Art. 10 Abs. 1 FKVO). Hat die Kommission innerhalb dieser Frist keine Entscheidung erlassen, so gilt der Zusammenschluss als mit dem Binnenmarkt für vereinbar erklärt (sog. Vereinbarkeitsfiktion nach Art. 10 Abs. 6 FKVO). Die Frist beträgt im Falle eines Verweisungsantrages eines Mitgliedstaates nach Art. 9 Abs. 2 FKVO oder des Angebots einer Zusage der beteiligten Unternehmen allerdings ausnahmsweise 35 Arbeitstage (Art. 10 Abs. 1 Unterabs. 2 FKVO). Im zweiten Fall müssen die Zusagen allerdings spätestens 20 Tage nach der Anmeldung vorgelegt werden (Art. 19 Abs. 1 DVO).
724 S. hierzu die Best Practices der Generaldirektion Wettbewerb v. 20.1.2004 („Best Practices on the conduct of EC merger control proceedings“), nur auf Englisch verfügbar auf der Homepage der Generaldirektion Wettbewerb. Das Formular „Case Team Allocation Request“ ist ebenfalls nur auf Englisch verfügbar auf der Homepage der Generaldirektion Wettbewerb. 725 Grundsätzlich besteht dagegen für Entscheidungen, die die Phase 1 abschließen, keine Pflicht zur Veröffentlichung, gleichwohl ergeht eine Mitteilung im Amtsblatt der EU, Ausgabe C, sowie in der Regel als Veröffentlichung im Internet.
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Rz. 7.332 Kap. 7
b) Hauptverfahren (Phase 2) Nach Eröffnung des Hauptverfahrens, die im Amtsblatt der EU, Ausgabe C, veröffentlicht wird,726 hat die Kommission weitere 90 Arbeitstage Zeit (Art. 10 Abs. 2 und 3 FKVO), um das Zusammenschlussvorhaben in vollem Umfang zu prüfen und seine Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit mit dem Binnenmarkt festzustellen.727 Sofern die Parteien der Kommission Zusagen nach Arbeitstag 55 anbieten oder diese Zusagen nachträglich modifizieren, erhöht sich die Frist sogar auf insgesamt 105 Arbeitstage, also insgesamt auf rund ein halbes Jahr.728 Dieses Verfahren ist grundsätzlich durch eine Entscheidung abzuschließen (Art. 6 Abs. 1 lit. c Satz 2 FKVO); die Überschreitung der Prüfungsfrist wird – wie bereits die Überschreitung der 25-tägigen Frist in Phase 1 – als positive Vereinbarkeitsentscheidung fingiert (Art. 10 Abs. 6 FKVO). Ähnlich wie im deutschen Recht (vgl. § 40 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 GWB) kann die Verfahrensfrist nochmals um insgesamt 20 Arbeitstage verlängert werden (Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2 FKVO). In den in Art. 10 Abs. 4 FKVO genannten Fällen kann zudem ausnahmsweise eine Hemmung der Frist eintreten (sog. „stop-the-clock“). Dies betrifft Fälle, in denen die Kommission eine Auskunft gem. Art. 11 FKVO anfordern oder gem. Art. 13 FKVO eine Nachprüfung anordnen musste, sofern dies von einem an dem Zusammenschluss beteiligten Unternehmen – erfasst wird also nicht nur der Anmelder – zu vertreten ist.
7.331
Bestätigen sich die ernsthaften wettbewerblichen Bedenken, so formuliert die Kommission ih- 7.332 re Einwände (sog. „Beschwerdepunkte“ oder englisch „Statement of Objections“) und übermittelt diese den beteiligten Unternehmen zur Stellungnahme (Art. 18 Abs. 1 FKVO; als beteiligte Unternehmen gelten hier neben den Anmeldern auch ein möglicher Veräußerer und das Zielunternehmen, vgl. Art. 14 Abs. 2 DVO). Die Einwände sind insoweit von Bedeutung, als dass die Kommission ihre spätere Entscheidung nur hierauf stützen darf (Art. 18 Abs. 3 Satz 1 FKVO).729 Allerdings hat auch die Mitteilung der Beschwerdepunkte nur vorläufigen Charakter – die Kommission ist frei, ihre Meinung zugunsten der beteiligten Unternehmen zu ändern.730 Zur Wahrung der Verteidigungsinteressen wird den unmittelbar beteiligten Unternehmen auf Antrag zudem – unter Berücksichtigung geheimhaltungsbedürftiger Interessen der Unternehmen – Akteneinsicht gewährt (Art. 18 Abs. 3 Satz 3 FKVO). Neben schriftlichen Äußerungen der Betroffenen besteht auf Antrag darüber hinaus die Möglichkeit einer mündlichen Anhörung (sog. „Oral Hearing“) der beteiligten Unternehmen (vgl. Art. 14 bis 16 DVO). Den beteiligten Unternehmen darf nicht vorgeworfen werden, Beweismittel und Argumente erst in ihrer Stellungnahme zu den Beschwerdepunkten vorzubringen.731 Bei Nachweis eines hinreichenden Interesses an der Sache können hierzu auch dritte Unternehmen, z.B. Wettbewerber oder Abnehmer, beigeladen werden. 726 Hierbei werden Dritte um Stellungnahme binnen zehn Tagen gebeten. Die Kommission erlangt auf diese Weise zusätzliche Marktdaten. 727 Nach deutschem Recht hat das BKartA im Regelfall nur insgesamt vier Monate Zeit, vgl. § 40 Abs. 2 Satz 2 GWB. 728 Die genaue Verfahrensdauer ist von den offiziellen Kommissionsfeiertagen abhängig und kann erst mit dem Zeitpunkt der Anmeldung endgültig bestimmt werden. Die Kommissionsfeiertage werden jeweils zu Jahresbeginn im EU-Amtsblatt bekannt gegeben. 729 Das Recht auf rechtliches Gehör der Betroffenen wird auch verletzt, wenn die Kommission in ihrer Entscheidung ein ökonometrisches Modell zur Analyse der Auswirkungen anwendet, das zuvor im Verfahren nicht präsentiert wurde, EuG v. 7.3.2017 – T-194/13 – UPS/TNT, WuW 2017, 281. 730 EuGH v. 10.7.2008 – C-413/06 P – Bertelsmann und Sony, Slg. 2008, I-4951 Rz. 63, hierzu ausführlich Hirsbrunner/Köckritz, EuZW 2008, 591. 731 EuGH v. 10.7.2008 – C-413/06 P – Bertelsmann und Sony, Slg. 2008, I-4951 Rz. 89.
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Kap. 7 Rz. 7.333
Kartellrecht
7.333 Die Entscheidung ergeht, nachdem die Generaldirektion Wettbewerb einen vorläufigen Entscheidungsentwurf erstellt hat und der beratende Ausschuss, ein aus Vertretern der Behörden der Mitgliedstaaten bestehendes Gremium, seine Empfehlung abgegeben hat (vgl. Art. 19 Abs. 3 bis 7 FKVO). Dabei entscheidet die Kommission als Kollegialorgan durch die Mehrheit ihrer gesetzlichen Mitglieder. c) Ermittlungsbefugnisse der Kommission
7.334 Der Kommission stehen im Fusionskontrollverfahren zwei Arten von Ermittlungsbefugnissen zu: – formelle und informelle Auskunftsverlangen (Art. 11 FKVO); – Nachprüfungen bei Unternehmen (Art. 12 und 13 FKVO).
7.335 Nach Art. 11 Abs. 1 und 6 FKVO ist die Kommission berechtigt, von den Regierungen und zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten sowie von Unternehmen alle erforderlichen Auskünfte einzuholen. Ferner ist sie berechtigt, eine Auskunft durch Entscheidung anzufordern (Art. 11 Abs. 1 und 3 FKVO). In der entsprechenden Mitteilung an den Adressaten müssen die Rechtsgrundlage, die Art und der Zweck der geforderten Auskünfte und Frist für die Auskunftserteilung sowie die Sanktionsmöglichkeiten nach Art. 14 und Art. 15 Abs. 1 lit. a FKVO bezeichnet werden. Die Kommission darf Informationen weiter auch informell, etwa per E-Mail oder durch ein Telefonat, einholen, sofern die Befragten dem zustimmen (Art. 11 Abs. 7 FKVO). Die Kommission kann für die Erteilung unrichtiger oder irreführender Angaben und im Falle eines Auskunftsersuchens durch Entscheidung auch bei unvollständigen Angaben eine Geldbuße von bis zu 1 % des Gesamtumsatzes der beteiligten Unternehmen verhängen. Dies gilt allerdings nicht für falsche Auskünfte bei einer informellen Befragung nach Art. 11 Abs. 7 FKVO.732 Für jeden Tag des Verzuges kann die Kommission zudem ein Zwangsgeld bis zu 5 % des durchschnittlichen täglichen Gesamtumsatzes festsetzen. Zuletzt wurde im Rahmen der Übernahme des Instant-Messaging-Dienstes WhatsApp durch Facebook vom 17.5.2017 eine Verletzung der Wahrheitspflicht im Fusionskontrollverfahren mit einem Bußgeld geahndet.733 Die Strafe belief sich auf 110 Mio. Euro und fiel allein wegen der Kooperation von Facebook mit der Kommission nicht höher aus.734 Facebook hatte gegenüber der Kommission im Kontrollverfahren angegeben, aufgrund technischer Hürden keine Pläne für eine Verknüpfung der Dienste bzw. Nutzerprofile seines sozialen Netzwerks und der WhatsApp-Software zu verfolgen. Tatsächlich war sich Facebook der technischen Umsetzbarkeit einer automatischen Verknüpfung zum Zeitpunkt der Anmeldung bewusst.735
7.336 Nach Art 13 Abs. 1 FKVO kann die Kommission bei Unternehmen Nachprüfungen selbst vornehmen oder gem. Art. 12 FKVO durch Behörden der Mitgliedsländer vornehmen lassen. Zu diesem Zweck ist die Kommission berechtigt, sämtliche Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel zu betreten, Bücher und sonstige Geschäftsunterlagen zu prüfen, Kopien anzufertigen oder anzufordern sowie Erklärungen zu den mit der Nachprüfung im Zusammenhang stehenden Sachverhalten und Unterlagen zu verlangen. Auch von elektronischen Daten, unabhängig ob auf einem Zentralspeicher oder lokal gesichert, können ent732 733 734 735
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Art. 14 Abs. 1 lit. b und c verweisen nicht auf Art. 11 Abs. 7 FKVO. Komm.E. v. 17.5.2017 – COMP/M.8228 – Facebook/WhatsApp. Komm.E. v. 17.5.2017 – COMP/M.8228 Rz. 102 – Facebook/WhatsApp. Allgemein zur Fallpraxis zu Art. 14 FKVO vgl. Hacker in von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 14 FKVO Rz. 6.
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C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.338 Kap. 7
sprechende Kopien auf Datenträgern angelegt werden. Anders als im deutschen Recht hat die Behörde allerdings kein Beschlagnahmerecht für Originalunterlagen, allein das Anfertigen von Kopien ist zulässig. Das Betreten von Privatwohnungen ist der Kommission, anders als bei Nachprüfungen im Rahmen der KartellVO (Art. 21 KartellVO), weiterhin nicht gestattet. Die Nachprüfungsbefugnis erstreckt sich nicht auf die mit externen Anwälten geführte Korrespondenz (sog. Anwaltsprivileg).736 Für Syndikusanwälte gilt das Anwaltsprivileg entsprechend der Rechtslage in Deutschland und anders als etwa in Großbritannien nicht.737 Auch für Anwälte aus Drittstaaten, zu denen nach dem Brexit auch Großbritannien zählen wird, gilt das Anwaltsprivileg nicht.738 Grundlage der Maßnahmen muss ein schriftlicher Prüfungsauftrag sein, in dem der Gegenstand und der Zweck der Nachprüfung bezeichnet ist. Die zuständige Behörde des Mitgliedstaates ist gem. Art. 13 Abs. 3 Satz 2 FKVO rechtzeitig von der Nachprüfung zu unterrichten. Die Unternehmen sind zur Duldung der angeordneten Maßnahmen verpflichtet, notfalls gewähren die Mitgliedstaaten die zur Durchsetzung erforderliche Hilfe (Art. 13 Abs. 6 FKVO). Gemäß Art. 10 Abs. 4 FKVO sind die Prüffristen der Kommission für die Zeit eines förmlichen Auskunfts- oder Nachprüfverfahrens gehemmt.
7.337
3. Untersagungsabwendende Zusagen, Auflagen und Bedingungen Obwohl die Kommission bis Ende 2017 erst 27 Zusammenschlussvorhaben untersagt hat, gab 7.338 es eine Vielzahl von Fällen, in denen die Beteiligten eine Untersagung nur durch die Abgabe bestimmter Zusagen abwenden konnten. Für das Hauptprüfverfahren bestimmt Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 FKVO, dass die Kommission ihre Genehmigungsentscheidung mit Bedingungen und Auflagen verbinden kann, um sicherzustellen, dass die beteiligten Unternehmen den Verpflichtungen nachkommen, die sie gegenüber der Kommission hinsichtlich der Änderung des ursprünglichen Zusammenschlussvorhabens eingegangen sind. Das Gleiche sieht Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 2 FKVO für das Vorprüfverfahren vor.739 Zusagenangebote sind der Kommission dabei nicht später als 20 Tage nach der Anmeldung (Vorprüfverfahren) bzw. 65 Tage nach Einleitung des Hauptverfahrens vorzulegen.740 Die früher gelegentlich praktizierte Möglichkeit, zum Zeitgewinn anstelle von Zusagen eine Anmeldung zurückzunehmen und ein geändertes Vorhaben anzumelden, besteht heute regelmäßig nicht.741 736 EuGH v. 14.9.2010 – C-550/07 P – Akzo Nobel/Akros, Slg. 2010 I-8301; EuGH v. 18.5.1982 – 155/79 – AM&S, Slg. 1982, 1575; vgl. auch EuG v. 4.4.1990 – T-30/89 – Hilti, Slg. 1990, II-163. Dazu ausführlich Wilson, NZKart 2017, 352. Insoweit ist das Unionsrecht großzügiger als das deutsche Recht, welches allein solche Dokumente privilegiert, die sich im Besitz eines externen Anwaltes befinden vgl. § 97 Abs. 2 Satz 1 StPO. 737 EuG v. 17.9.2007 – T-125/03 R und T-253/03 R – Akzo Nobel/Akros, Slg. 2007, II-3523; bestätigt durch EuGH v. 14.9.2010 – C-550/07 P – Akzo Nobel/Akros, Slg. 2010, I-8301. 738 v. Wartenburg in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Art. 13 FKVO Rz. 7; Wilson, NZKart 2017, 352 (356). 739 Wertvolle Hinweise zu möglichen Verpflichtungen finden sich in der Mitteilung der Kommission über nach der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 802/2004 der Kommission zulässige Abhilfemaßnahmen, ABl. EU 2008 Nr. C 267, 1. 740 Art. 19 DVO, ABl. EG Nr. 133 v. 30.4.2004, 1. Die Kommission kann als Herrin des Verfahrens allerdings auch verspätete Zusagen entgegennehmen, solange nur ausreichend Zeit besteht, diese noch zu prüfen, vgl. EuG v. 3.4.2003 – T-114/02 – BaByliss, Slg. 2003, II-1279. 741 Die FKVO enthält in Art. 6 Abs. 1 lit. c Satz 2 eine ausdrückliche Regelung zur Rücknahme von Anmeldungen. Danach ist es erforderlich, dass die Parteien glaubhaft machen, dass sie den Zusammenschluss endgültig aufgegeben haben. Eine einfache Rücknahme ist danach also nicht
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Kap. 7 Rz. 7.339
Kartellrecht
7.339 Als geeignete Zusagen kommen bevorzugt strukturelle Maßnahmen wie Veräußerungszusagen742 oder Entflechtungszusagen, die rechtliche, sachliche oder personelle Verbindungen zu Wettbewerbern beseitigen, in Betracht. Eine Zusammenfassung der Position der EU-Kommission zu möglichen Zusagen findet sich in der Mitteilung zu zulässigen Abhilfemaßnahmen.743 Verpflichtungen hinsichtlich des zukünftigen Verhaltens (z.B. die Zusage, auf ein bestimmtes Geschäftsverhalten zu verzichten) werden nur in Ausnahmefällen zugelassen, insbesondere in Vertikalfällen oder wenn Maßnahmen struktureller Art nicht möglich sind.744 Zusagenvorschläge sind der EU-Kommission anhand des Formblatts RM zu übermitteln, das im Einzelnen regelt, welche Informationen und Unterlagen der EU-Kommission vorzulegen sind.745 Das Formblatt RM wird durch Mustertexte für Veräußerungsverpflichtungen und Mandate für Treuhänder ergänzt.746
7.340 In materieller Hinsicht müssen die Zusagen geeignet sein, „ernsthafte Bedenken“ der Kommission i.S.v. Art. 6 Abs. 1 lit. c FKVO gegen den Zusammenschluss auszuräumen (Phase I). In Phase II müssen sie ausreichen, die ggf. schon in den Beschwerdepunkten konkretisierte „erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs“ auszuräumen.747 Phase-I-Zusagen können mitunter strenger sein als ggf. nach Phase II erforderliche Zusagen, da ein umfassender Markttest und eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Argumenten der Beteiligten schon aus Zeitgründen erst in Phase II stattfindet.748 Tatsächlich zeichnet sich die Praxis der Kommission durch häufig strenge Anforderungen aus.749 Hat die Kommission Zweifel, dass ein geeigneter Erwerber für das zu veräußernde Geschäft innerhalb der vorgegebenen Frist gefunden werden kann, verpflichtet sie die Unternehmen, erst zu vollziehen, wenn der Erwerber von ihr genehmigt wurde (sog. Up-front Buyer) oder genehmigt den Zusammenschluss überhaupt nur, wenn ihr ein Erwerber noch während des laufenden Verfahrens prä-
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745 746 747 748 749
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möglich, vgl. Komm.E. v. 28.6.2000 – COMP/M.1741 – MCI WorldCom/Sprint sowie die Orientierungshilfe der Generaldirektion Wettbewerb zur Auslegung von Art. 6 Abs. 1 lit. c, S. 2. Komm.E. v. 22.7.2013 – COMP/M.6851 – Baxter International/Gambro; Komm.E. v. 18.11.1997 – IV/M.913 – Siemens/Elektrowatt, WuW/E EU-V 295 (296); vgl. auch die Analysen in den Untersagungsentscheidungen Komm.E. v. 27.2.2013 – COMP/M.6663 – Ryanair/Air Lingus III; Komm.E. v. 30.1.2013 – COMP/M.6570 – UPS/TNT Express; Komm.E. v. 24.5.2013 – COMP/M.6576 – Munskjö/Ahlstrom. Mitteilung der Kommission über nach der Verordnung (EG) 139/2004 des Rates und der Verordnung (EG) 802/2004 der Kommission zulässige Abhilfemaßnahmen, ABl. EU 2008 Nr. C 267, 1. Mitteilung der Kommission über nach der Verordnung (EG) 139/2004 des Rates und der Verordnung (EG) 802/2004 der Kommission zulässige Abhilfemaßnahmen, ABl. EU 2008 Nr. C 267, 1 Rz. 69. Beispiele für Fälle, in dem Verhaltenszusagen akzeptiert wurden: Komm.E. v. 30.7.1997 – IV/M.877 – Boeing/McDonnell-Douglas, ABl. EG 1997 Nr. L 336, 32; Komm.E. v. 28.4.2005 – COMP/M.3680 Rz. 120 ff. – Alcatel/Finmeccanica. Formblatt RM Informationen zu nach Art. 6 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 2 der VO (EG) 139/2004 angebotenen Verpflichtungen. S. hierzu die Best Practices der Generaldirektion Wettbewerb v. 5.12.2013 („The Commmission’s Model Texts for Divestiture Commitments and the Trustee Mandate under the EU Merger Regulation“), nur auf Englisch verfügbar auf der Homepage der Generaldirektion Wettbewerb. Mitteilung der Kommission über nach der Verordnung (EG) 139/2004 des Rates und der Verordnung (EG) 802/2004 der Kommission zulässige Abhilfemaßnahmen, ABl. EU 2008 Nr. C 267, 1 Rz. 18. Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 6 FKVO Rz. 12. S. zu Beispielen aus der jüngeren Praxis Hirsbrunner, EuZW 2014, 658 (661).
Röhling
C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.342 Kap. 7
sentiert wird (sog. Fix-it-first).750 Die Auswahl aus verschiedenen möglichen Zusagen und in diesem Zusammenhang auch die Auswahl eines bestimmten Erwerbers durch die Kommission wird durch die Rechtsprechung nicht überprüft.751 In der Entscheidung Zimmer/ Biomet erstreckte die Kommission die Veräußerungszusagen auch auf Märkte, in denen der Wettbewerb durch die Fusion nicht erheblich behindert werden würde.752 Dies könne notwendig sein, um einen ernstzunehmenden Wettbewerber zu schaffen.753 Handeln die Beteiligten einer in der Entscheidung vorgesehenen Auflage zuwider, so kann die Kommission versuchen, diese durch Zwangsgelder oder Geldbußen durchzusetzen. Außerdem kann die Genehmigung widerrufen werden (Art. 6 Abs. 3 lit. b und Art. 8 Abs. 6 lit. b FKVO). Der generell zu beachtende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz schließt jedoch nach Ansicht des EuG im Einzelfall keine überschießende Änderungsverpflichtung aus.754 Hat die Kommission ihre Entscheidung mit einer Bedingung versehen, so gilt bei einer aufschiebenden Bedingung die Freigabe als endgültig nicht erteilt bzw. entfällt deren Wirkung im Falle einer auflösenden Bedingung, wenn die Beteiligten hiergegen verstoßen. Die Kommission kann dann nach Art. 8 Abs. 5 lit. b FKVO einstweilige Maßnahmen und nach Art. 8 Abs. 4 lit. b FKVO u.a. die Entflechtung des Zusammenschlusses anordnen.
7.341
4. Rechtsmittel Erklärt die Kommission ein Zusammenschlussvorhaben nach Art. 8 Abs. 3 FKVO für unvereinbar mit dem Binnenmarkt oder ergeht eine Freigabeentscheidung unter Auflagen und Bedingungen, so steht den beteiligten Unternehmen gem. Art. 263 Abs. 2 und 5 AEUV binnen zwei Monaten (zzgl. einer pauschalen Entfernungsfrist von zehn Tagen gem. Art. 60 der Verfahrensordnung EuG) der Rechtsweg zum EuG offen (sog. Nichtigkeitsklage755). Art. 16, Art. 11 Abs. 3 und Art. 13 Abs. 4 FKVO eröffnen zudem den Rechtsweg ausdrücklich gegen förmliche Auskunftsentscheidungen, Nachprüfungsanordnungen sowie Geldbußund Zwangsgeldfestsetzungen der Kommission. Nach Art. 263 Abs. 4 AEUV ist aber auch gegen jede andere Maßnahme, die ein beteiligtes Unternehmen individuell und unmittelbar 750 Mitteilung der Kommission über nach der Verordnung (EG) 139/2004 des Rates und der Verordnung (EG) 802/2004 der Kommission zulässige Abhilfemaßnahmen, ABl. EU 2008 Nr. C 267, 1 Rz. 18. 751 EuG v. 5.9.2014 – T-471/11 – Odile Jacob/Lagardère, NZKart 2015, 315. 752 Komm.E. v. 30.2.2015 – COMP/M.7265 – Zimmer/Biomet, ABl. EU 2016 Nr. C 74, 14. 753 Komm.E. v. 30.2.2015 – COMP/M.7265 – Zimmer/Biomet, ABl. EU 2016 Nr. C 74, 14 Rz. 1874 ff. 754 EuG v. 23.2.2006 – T-282/02 – Cementbouw/Kommission, Slg. 2006, II-319 Rz. 308. 755 Nachdem zunächst nur wenige Nichtigkeitsklagen gegen Entscheidungen der Kommission im Fusionskontrollverfahren erhoben wurden und die daraufhin ergangenen Entscheidungen nur selten materiell-rechtliche Aspekte enthielten, hat das EuG in einer Reihe Aufsehen erregender Urteile mehrere Untersagungsentscheidungen aus materiell-rechtlichen Gründen aufgehoben (EuG v. 6.6.2002 – T-342/99 – Airtours plc/Kommission, Slg. 2002, II-2585; EuG v. 22.10.2002 – T-310/01 – Schneider Electric SA/Kommission, Slg. 2002, II-4381; EuG v. 25.10.2002 – T-05/02 – Tetra Laval/Kommission). Dabei warf das EuG der Kommission vor allem eine mangelhafte Prüfung der Zusammenschlüsse vor. Als unmittelbare Reaktion auf diese Entscheidungen hat die Kommission die Generaldirektion Wettbewerb umstrukturiert und die Merger Task Force aufgelöst. Zusammenschlüsse werden künftig innerhalb der für die jeweiligen Wirtschaftsbereiche zuständigen Direktorien der Generaldirektion Wettbewerb geprüft. Zudem wurde in eine eigene Abteilung mit Wettbewerbsökonomen unter Leitung des Chief Economists gegründet.
Röhling 757
7.342
Kap. 7 Rz. 7.343
Kartellrecht
trifft,756 die Klagebefugnis gegeben.757 Hierzu stellte der EuGH Anfang 2017 fest, dass es sich bei dem Verfahren um ein streitiges handelt und es deshalb nicht zu einer Ermittlung von Amts wegen kommt. Entsprechend obliegt es dem Kläger, sämtliche Klagegründe substantiiert darzustellen und entsprechende Beweise zu erbringen.758 Seit 2001 sehen die Verfahrensordnungen des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz neben dem einstweiligen Rechtschutz die Möglichkeit eines sog. beschleunigten Verfahrens vor.759 Dieses Verfahren soll die aufgrund der erheblichen Verfahrensdauer in Luxemburg (weit über ein Jahr) bestehende Rechtsschutzlücke schließen, die gerade bei Klagen gegen Untersagungsentscheidungen besteht, weil die Parteien den Zusammenschluss in aller Regel nicht bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache aufschieben können.760 Zusätzlich besteht die mittlerweile gerichtlich anerkannte Möglichkeit, bei fehlerhaften Untersagungsentscheidungen eine Schadensersatzpflicht der Kommission gem. Art. 340 Abs. 2 AEUV vor dem EuG geltend zu machen, sofern eine Schutznorm verletzt wurde.761 Allerdings ist dies nur unter sehr engen Voraussetzungen möglich, vor allem wird der Kommission ein weiter Ermessensspielraum bei ökonomischen Erwägungen zugestanden, so dass ein hinreichend qualifizierter Verstoß nicht ohne Weiteres anzunehmen ist.762 5. Rechte Dritter a) Rechte im Verfahren vor der Kommission
7.343 Dritte im Fusionskontrollverfahren sind neben natürlichen oder juristischen Personen, die ein hinreichendes Interesse an dem Verfahrensausgang darlegen können (z.B. Wettbewerber, Lieferanten oder Abnehmer; ein wirtschaftliches Interesse wird als ausreichend gewertet) auch Mitglieder der Leitungsorgane der am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen sowie rechtlich anerkannte Arbeitnehmervertreter (Art. 18 Abs. 4 FKVO).
7.344 Im Hauptverfahren (Phase 2) haben Dritte auf Antrag Informationsrechte, wobei in der Regel von der Kommission eine um Geschäftsgeheimnisse bereinigte Fassung der Beschwerdepunkte übermittelt wird. Zudem besteht ein Recht auf Teilnahme an der förmlichen Anhörung vor der Kommission. Ein Recht auf Akteneinsicht wird Dritten dagegen – anders als nach deutschem Recht – nicht gewährt. Im Vorverfahren (Phase 1) wird Dritten – ohne dass es ausdrücklich geregelt ist – ebenfalls ein Recht auf informelle Anhörung zugesprochen,
756 Dies ist bei belastenden Maßnahmen gegenüber den beteiligten Unternehmen grundsätzlich zu bejahen. 757 Z.B. Entflechtungs- und Widerrufsentscheidungen; weitere Einzelheiten bei Wagemann sowie Schütte in Wiedemann, § 17 Rz. 211 ff. und § 49. 758 EuGH v. 26.1.2017 – C-609/13 P Rz. 30 ff., ECLI:EU:C:2017:46 – Badezimmerkartell. 759 Art. 151 ff. VerfahrensO EuG und Art. 133 ff. VerfahrensO EuGH. Art. 105 VerfahrensO EuGH trifft eine Sonderregelung für Vorlageverfahren. 760 Die durchschnittliche Verfahrensdauer vor dem EuG in Wettbewerbssachen betrug 2015 47,8 Monate. Für ein sich anschließendes Rechtsmittel zum EuGH beträgt die durchschnittliche Verfahrensdauer rund 14 Monate, vgl. Jahresbericht 2015 – Rechtsprechungstätigkeit, S. 92 (EuGH) und S. 181 (EuG). 761 EuGH v. 16.7.2009 – C-440/07 P – Kommission/Schneider Electric; Urteil des EuG mangels Kausalität des Schadens aufgehoben; EuG v. 9.9.2008 – T-212/03 – My Travel (abgewiesen). 762 Zu Schadensersatzansprüchen wegen Fehlern im Fusionskontrollverfahren s. Steinle/Schwartz, BB 2007, 1741; Seitz, EuZW 2007, 659; Körber in Immenga/Mestmäcker, Art. 16 FKVO Rz. 105 ff.
758
Röhling
C. Europäische Fusionskontrolle
Rz. 7.346 Kap. 7
nachdem die Kommission mittels Veröffentlichung der wesentlichen Daten der Anmeldung im Amtsblatt, Ausgabe C, zu Stellungnahmen innerhalb bestimmter Frist eingeladen hat. b) Rechtsmittel Klagebefugte Dritte, insbesondere also wirtschaftlich betroffene Wettbewerber, Abnehmer oder Lieferanten, können Freigabeentscheidungen mit oder ohne Bedingungen und Auflagen vor dem EuG anfechten.763 Die Klageerhebung entfaltet allerdings keine aufschiebende Wirkung. Insoweit besteht die Möglichkeit der Verfahrensbeschleunigung durch einstweiligen Rechtsschutz nach Art. 278 und 279 AEUV oder die Stellung eines Antrags auf Anordnung der Aussetzung des Vollzuges des Zusammenschlusses.764 Für den Fall der Befreiung vom Vollzugsverbot wird dagegen regelmäßig keine Klage Dritter in Betracht kommen, da die Kommission bei ihrer Entscheidung bereits die mögliche Gefährdung des Wettbewerbs durch den Zusammenschluss und damit die Interessen betroffener Dritter besonders berücksichtigt hat (Art. 7 Abs. 3 Satz 3 FKVO).
7.345
6. Entflechtung bzw. Maßnahmen nach Art. 8 Abs. 4 und Abs. 5 FKVO Hinsichtlich eines vollzogenen Zusammenschlusses kann die Kommission, sofern die Untersagungsvoraussetzungen vorliegen765 oder beim Vollzug gegen eine Freigabebedingung verstoßen wurde, nach Art. 8 Abs. 4 FKVO die Entflechtung anordnen. Dabei ist zu beachten, dass das Primärziel der Anordnung ausdrücklich die Wiederherstellung der alten Marktstruktur und nicht wie nach der alten FKVO lediglich die Wiederherstellung wirksamen Wettbewerbs ist. Für Verhältnismäßigkeitserwägungen bleibt kaum Raum. Die Durchsetzung der Entflechtung erfolgt erforderlichenfalls mittels Verhängung von Geldbußen (Art. 14 Abs. 2 lit. c FKVO) und Zwangsgeldern (Art. 15 Abs. 1 lit. d FKVO). Aufgrund des grundsätzlichen Vollzugsverbotes hat die Vorschrift bisher nur geringe Bedeutung erlangt.766
763 Dies gilt sowohl für Entscheidungen nach der ersten Phase als auch für Entscheidungen nach dem Hauptverfahren; EuG v. 13.5.2015 – T-162/10, ECLI:EU:T:2015:283 – Niki Luftfahrt/Kommission (betreffend die Sache: „Lufthansa/Austrian Airlines“); EuG v. 11.12.2013 – T-79/12, ECLI:EU:T:2013:635 – Cisco/Kommission (betreffend die Sache „Microsoft/Skype“); EuG v. 19.6.2009 – T-48/04, ECLI:EU:T:2009:212 – Qualcomm/Kommission. Vgl. auch EuG v. 17.1.2001 – T-342/00 R – Petrolessence, Slg. 2001, II-69, Klage gegen Zustimmung der Kommission zur Veräußerung von Vermögensteilen im Rahmen einer Zusage; vgl. zum Konkurrentenschutz in der Europäischen Fusionskontrolle auch Motyka, EuZW 2007, 463; von Koppenfels in MünchKomm/EuWettbR, Art. 8 FKVO Rz. 172 f. 764 EuG v. 15.6.1994 – C-30/95 (T-88/94) – SCPA/Kommission, Slg. 1994, II-401; EuG v. 2.12.1994 – T-322/94R – Union Carbide Corporation/Kommission, Slg. 1994, II-1159 (Antrag von Wettbewerbern); EuGH v. 15.12.1992 – T-96/92R – Perrier u.a./Kommission, Slg. 1992, II-2579 (Antrag von Arbeitnehmervertretern). 765 Dazu auch EuG v. 22.10.2002 – T-77/02 – Schneider Electric/Kommission, WuW/E EU-R 643: Die Rechtmäßigkeit der Trennungsentscheidung setzt die Rechtmäßigkeit der Unvereinbarkeitsentscheidung, deren Durchführung sie diente, voraus. 766 Komm.E. v. 26.6.1997 – IV/M.890 – Blokker/Toys ‚R‘ Us, ABl. EG 1997 Nr. L 316, 1; Komm.E. v. 20.11.1996 und v. 19.2.1997 – IV/M.784 – Kesko/Tuko, ABl. EG 1997 Nr. L 110, 53 bzw. ABl. EG 1997 Nr. L 174, 47; s. auch die Trennungsentscheidungen der Kommission in den beiden vom EuG aufgehobenen Entscheidungen „Schneider/Legrand“ (Komm.E. v. 30.1.2002 – COMP/M.2283, ABl. EG 2004 Nr. L 101, 134) und „Tetra Laval/Sidel“ (Komm.E. v. 30.1.2002 – COMP/M.2416, ABl. EG 2004 Nr. L 38, 1). Beide Zusammenschlüsse waren im Wege öffent-
Röhling 759
7.346
Kap. 7 Rz. 7.347
Kartellrecht
7.347 Nach Art. 8 Abs. 5 FKVO darf die Kommission bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache geeignete einstweilige Maßnahmen ergreifen, um wirksamen Wettbewerb aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Dabei kann sie z.B. die sofortige Trennung bereits zusammengelegter Unternehmensteile anordnen oder einen Treuhänder zur Überwachung bestellen.
D. Anwendbarkeit des Art. 101 AEUV auf Gemeinschaftsunternehmen I. Allgemeines 7.348 GU, d.h. Unternehmen, die unter der gemeinsamen Kontrolle von mindestens zwei anderen Unternehmen stehen, können nicht nur der Fusionskontrolle unterliegen (dazu Rz. 7.271 ff.), sondern auch in den Anwendungsbereich des Art. 101 AEUV fallen. Art. 21 Abs. 1 FKVO stellt dabei klar, dass für Zusammenschlüsse nach Art. 3 FKVO, d.h. u.a. auch für Vollfunktions-GU (vgl. Rz. 7.273 f.), im Verhältnis zu sonstigen Bereichen des Wettbewerbsrechts der EU ausschließlich die FKVO Anwendung findet. Eine Ausnahme gilt nach Art. 21 Abs. 1 Halbs. 2 FKVO allerdings für (kooperative) GU,767 die keine unionsweite Bedeutung haben und die Koordinierung des Wettbewerbsverhaltens unabhängig bleibender Unternehmen bezwecken oder bewirken. Diese Sachverhalte unterliegen weiterhin dem Maßstab des Art. 101 AEUV und der verfahrensrechtlichen Kontrolle nach den zu dieser Norm ergangenen Verordnungen.
7.349 Hinsichtlich der rechtlichen Behandlung von kooperativen GU, d.h. Unternehmen, die keinen Vollfunktionscharakter haben und/oder eine Koordinierung des Wettbewerbsverhaltens unabhängig bleibender Mütterunternehmen bezwecken oder bewirken, bietet sich demnach folgende Differenzierung an (vgl. bereits oben Rz. 7.272): – Kooperative Vollfunktions-GU mit unionsweiter Bedeutung; sie unterliegen der Zusammenschlusskontrolle nach der FKVO und der Kontrolle anhand des Art. 101 AEUV im Rahmen des Verfahrens der FKVO; – kooperative Vollfunktions-GU ohne unionsweite Bedeutung; sie unterliegen nicht der Zusammenschlusskontrolle nach der FKVO; Art. 101 AEUV findet im Rahmen des Verfahrens der VO 1/2003 Anwendung (zusätzlich ist die nationale Fusionskontrolle anwendbar, s. jedoch unten Rz. 7.369 ff.); – (kooperative) Teilfunktions-GU mit unionsweiter Bedeutung; sie unterliegen nicht der Zusammenschlusskontrolle nach der FKVO; Art. 101 AEUV findet im Rahmen des Verfahrens der VO 1/2003 Anwendung (zusätzlich ist die nationale Fusionskontrolle anwendbar, s. jedoch unten Rz. 7.369 ff.); – (kooperative) Teilfunktions-GU ohne unionsweite Bedeutung; sie unterliegen nicht der Zusammenschlusskontrolle nach der FKVO; Art. 101 AEUV findet im Rahmen des Verfahrens der VO 1/2003 Anwendung (zusätzlich ist die nationale Fusionskontrolle anwendbar, s. jedoch unten Rz. 7.369 ff.).
licher Übernahmeangebote erfolgt und konnten daher gem. Art. 7 Abs. 3 der alten FKVO (jetzt Art. 7 Abs. 2 FKVO) unter Befreiung vom Vollzugsverbot vorläufig vollzogen werden. 767 Kooperative GU sind Unternehmen, die eine Koordinierung des Wettbewerbsverhaltens der Gründerunternehmen bezwecken oder bewirken z.B. weil sie in demselben Markt wie das GU tätig sind.
760
Röhling
D. Anwendbarkeit des Art. 101 AEUV auf Gemeinschaftsunternehmen
Rz. 7.353 Kap. 7
Anwendungsvoraussetzung für eine materiell-rechtliche Prüfung anhand des Art. 101 AEUV (separat oder im Verfahren der FKVO) ist in jedem Fall der kooperative Charakter eines GU. In ihrer Praxis ermittelt die Kommission, ob ein Koordinierungsrisiko zwischen den Gründern in Bezug auf Preise, Märkte, Produktion oder Innovation besteht. Zu betonen ist, dass es insoweit nur auf die Wahrscheinlichkeit einer Verhaltenskoordinierung zwischen den Gründerunternehmen ankommt.
7.350
In folgenden Fällen verneint die Kommission in der Regel das Risiko einer Koordinierung des Wettbewerbsverhaltens und nimmt einen rein konzentrativen Sachverhalt an:
7.351
– wenn die Gründer im Markt des GU nicht tätig sind oder ihre sämtlichen Tätigkeiten dem GU übertragen haben, oder – wenn nur eine Muttergesellschaft im selben Markt wie das GU tätig bleibt.768 Das Gleiche gilt, wenn die Mütter im Markt des GU nur noch geringfügige Aktivitäten behalten.769 Dagegen ist ein GU als kooperativ einzustufen – vgl. auch Art. 2 Abs. 5 Spiegelstrich 1 FKVO –, wenn:
7.352
– zwei oder mehr Gründer ihre Tätigkeiten in nennenswertem Umfang in demselben sachlichen und räumlichen Markt wie das GU fortführen;770 – auf vor- oder nachgelagerten bzw. benachbarten Märkten relativ zum Markt des GU eine nennenswerte Präsenz von mindestens zwei Gründern bestehen bleibt.771
II. Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV 1. Allgemeines GU, die als kooperativ eingestuft werden, fallen nur dann unter das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV, wenn sie sämtliche Voraussetzungen dieser Norm erfüllen, d.h. allgemein, wenn sie eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung oder Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels auf dem Markt der Mütter bezwecken oder bewirken. Die Kommission hatte ursprünglich in einer Bekanntmachung dargelegt, wie sie kooperative GU nach Art. 101 AEUV im Einzelnen beurteilt. Die Kernaussagen der Bekanntmachung haben weiterhin Gültigkeit.772
768 Komm.E. v. 23.10.1996 – IV/M.827 – DBKom; Komm.E. v. 3.1.2011 – COMP/M.5846 Rz. 30 f. – Shell/Cosan/JV. 769 Komm.E. v. 15.4.2013 – COMP/M.6854 Rz. 66 ff. – Cameron/Schlumberger/Onesubsea; Komm.E. v. 20.7.2011 – COMP/M.6150 Rz. 63 – Veolia Transport/Trenitalia/JV; vgl. Kersting in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Art. 2 FKVO Rz. 194. 770 Komm.E. v. 20.1.2015 – COMP/M.7464 Rz. 61 ff. – Bladt/Eew/Tag, in der die Kommission kooperative Effekte aufgrund der geringen wirtschaftlichen Bedeutung des GU ablehnte; vgl. Kersting in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Art. 2 FKVO Rz. 194. 771 Komm.E. v. 18.7.2017 – COMP/M.8251 Rz. 146-148, 152-156 – Bite/Tele2 Telia Lietuva, die Kommission verneinte jedoch eine Koordinierungswirkung; Komm.E. v. 2.4.2012 – COMP/ M.6305 Rz. 50 ff. – DFDS/C.Ro Ports/Älvsborg, auch hier verneinte die Kommission koordinierende Effekte; vgl. Hirsbrunner in von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 2 FKVO Rz. 518. 772 Bekanntmachung der Kommission über die Beurteilung kooperativer Gemeinschaftsunternehmen nach Art. 85 EGV (jetzt Art. 101 AEUV), ABl. EG 1993 Nr. C 43, 2; vgl. Kersting in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Gemeinschaftsunternehmen Rz. 18.
Röhling 761
7.353
Kap. 7 Rz. 7.354
Kartellrecht
7.354 Danach fallen die folgenden Fälle von Gemeinschaftsunternehmen regelmäßig nicht unter das Kartellverbot des AEU-Vertrages: – GU zwischen Unternehmen, die einem Konzern angehören; – GU von geringer wirtschaftlicher Bedeutung im Sinne der De-minimis-Bekanntmachung, d.h., wenn die beteiligten Unternehmen einen Marktanteil von nicht mehr als 10 % bzw., sollten sie keine Wettbewerber sein, von nicht mehr als 15 % haben;773 – GU mit wettbewerbsneutralen Aufgaben, z.B. GU, die ausschließlich der Beschaffung von Informationen nicht vertraulicher Art dienen oder ausschließlich marktferne Tätigkeiten betreffen.774 – GU zwischen Wettbewerbern, wenn die Zusammenarbeit in dem GU für die Gründer bei objektiver wirtschaftlicher Betrachtungsweise die einzige Möglichkeit darstellt, um in einen neuen Markt einzudringen oder sich in ihrem bisherigen Markt zu behaupten und ihre dortige Präsenz den Wettbewerb verstärkt oder dessen Abschwächung verhindert.775 In diese Kategorie gehört auch die Gründung von Arbeitsgemeinschaften zur Ausführung von Aufträgen, zu der die Unternehmen alleine nicht in Lage sind.776
7.355 In anderen Fällen kommt es im Einzelfall darauf an, ob die Errichtung oder die Tätigkeit des GU geeignet ist, den Wettbewerb zwischen den Gründern zu verhindern, einzuschränken oder zu verfälschen. 2. Vollfunktions-Gemeinschaftsunternehmen
7.356 Der mit der fusionskontrollrechtlich relevanten Gründung eines Vollfunktions-GU verbundene Rückzug des oder der anderen Gründer vom Markt des GU und der Verzicht darauf, vom potentiellen Wettbewerber zum aktuellen zu werden, sind Strukturänderungen, die nicht im Rahmen des Art. 101 AEUV, sondern nur in der materiell-rechtlichen Fusionskontrolle geprüft werden. Gleiches gilt für den Wettbewerb zwischen den Gründern und ihrem GU und die Auswirkung des GU auf die Stellung Dritter.
7.357 Inwieweit danach eine nach Art. 101 AEUV unzulässige Verhaltenskoordinierung der beteiligten Mütter außerhalb des GU (sog. spill-over oder Gruppeneffekte) gegeben ist, hängt in erster Linie von der Art der betroffenen Güter ab. Bei homogenen Gütern wird es eher zu entsprechenden Effekten kommen als bei heterogenen Gütern. So wird Art. 101 Abs. 1 773 Bekanntmachung der Kommission über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, ABl. EU 2014 Nr. C, 1 Rz. 8. Im Fall Komm.E. v. 26.11.1998 – IV/JV.14 – PanAgora/DG Bank, WuW/E EU-V 217 bestimmte die Kommission, dass niedrige Marktanteile der Mütter auf Wettbewerbsmärkten darauf schließen lassen, dass die Errichtung eines GU für die Mütter keinen Anreiz zur Verhaltenskoordinierung bildet. 774 So schon Bekanntmachung der Kommission über Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine zwischenbetriebliche Vereinbarung betreffen, ABl. EG 1968 Nr. C 75, 3; berichtigt in ABl. EG 1968 Nr. C 93, 14; vgl. Zimmer in Immenga/Mestmäcker, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rz. 337. 775 Komm.E. v. 26.6.1990 – IV/32 846 – Metaleurop SA, ABl. EG 1990 Nr. L 179, 41; Komm.E. v. 13.7.1990 – IV/32 009 – Elopak/Metal Box-Odin, ABl. 1990 Nr. L 209, 15; Komm.E. v. 27.7.1990 – IV/32 688 – Konsortium ECR 900, ABl. EG 1990 Nr. L 228, 31. 776 Vgl. Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien zur Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. EU 2011 Nr. C, 1 Rz. 30; vgl. Schröder in Wiedemann, § 9 Rz. 40.
762
Röhling
D. Anwendbarkeit des Art. 101 AEUV auf Gemeinschaftsunternehmen
Rz. 7.361 Kap. 7
AEUV am ehesten bei Vollfunktions-GU gegeben sein, die auf benachbarten oder demselben Markt wie die Gründer oder auf einem vor- oder nachgelagerten Markt auftreten. Nach Schroeder777 sind möglicherweise die Kriterien für das Fehlen von Binnenwettbewerb bei Oligopolen für die Bewertung des Verhaltens der Gründer heranzuziehen (vgl. Rz. 7.301).778 Vor allem muss es für eine Koordinierung einen wirtschaftlichen Anreiz geben.779 In der bisherigen Praxis zu Art. 2 Abs. 4 FKVO, d.h. der Bewertung kooperativer Effekte bei Vollfunktions-GU, hat die Kommission ein durch die GU-Gründung bewirktes Koordinierungsrisiko, teilweise nach Zusagen der Unternehmen, regelmäßig verneint.780
7.358
3. Teilfunktions-Gemeinschaftsunternehmen Bei Teilfunktions-GU, die per definitionem nicht unter die europäische Fusionskontrolle fallen,781 gilt der Grundsatz, dass der Wettbewerb zwischen den Gründern durch die Zusammenarbeit im GU nur insoweit verhindert, eingeschränkt oder verfälscht werden kann, als diese aktuelle oder potentielle Wettbewerber auf dem Markt des GU sind. Die Annahme eines potentiellen Wettbewerbsverhältnisses setzt dabei voraus, dass jeder der Gründer allein in der Lage wäre, die dem GU übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Dabei stellt die Kommission insbesondere auf die einzelnen Stufen unternehmerischer Tätigkeit ab.
7.359
Anders als bei Vollfunktions-GU kann bei Teilfunktions-GU im Rahmen der umfassenden Gesamtschau auch das Verhältnis zwischen den Gründern und ihrem GU sowie die Auswirkung des GU auf die Stellung Dritter, insbesondere auf Lieferanten oder Kunden der beteiligten Unternehmen, Berücksichtigung finden.782 Weiterhin spielt auch die Marktmacht der Beteiligten bei der Beurteilung des GU nach Art. 101 Abs. 1 AEUV eine große Rolle. Soweit allerdings ein Teilfunktions-GU bereits nach nationalen Vorschriften geprüft und genehmigt wurde, sollte die Kommission – in Annäherung an die Prüfung von Vollfunktions-GU – die bereits geprüften (strukturellen) Gesichtspunkte vernachlässigen und sich bei der Bewertung auf die durch die GU-Gründung bedingte Verhaltenskoordination der Mütter beschränken.
7.360
Teilfunktions-GU zwischen Wettbewerbern gehen nach Ansicht der Kommission in den meisten Fällen mit einem Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV einher. Begründet wird dies entweder mit der Gründung des GU selbst oder mit den im Zusammenhang mit der Gründung zusätzlich abgeschlossenen Vereinbarungen (z.B. Marktaufteilung, Wettbewerbsver-
7.361
777 Schroeder in Wiedemann, § 9 Rz. 52, 55-57. 778 Vgl. Wagemann in Wiedemann, § 16 Rz. 100 ff.; Komm.E. v. 30.9.1999 – IV/JV.22 Rz. 63 f. – Fujitsu/Siemens. 779 Komm.E. v. 3.5.2005 – COMP/M.3178 Rz. 167 ff. – Bertelsmann/Springer/JV. 780 Käseberg in Langen/Bunte, Art. 2 FKVO Rz. 358; vgl. Komm.E. v. 18.7.2017 – COMP/M.8251 Rz. 8-13, 152-156 – Bite/Tele2 Telia Lietuva; Komm.E. v. 20.1.2015 – COMP/M.7464 Rz. 61 ff. – Bladt/Eew/Tag; Komm.E. v. 15.4.2013 – COMP/M.6854 Rz. 9-11, 66 ff. – Cameron/Schlumberger/Onesubsea. 781 Die aufgrund der unterschiedlichen Zusammenschlusstatbestände aber der nationalen Fusionskontrolle unterfallen können. 782 Schroeder in Wiedemann, § 9 Rz. 62; Bekanntmachung der Kommission über die Beurteilung kooperativer Gemeinschaftsunternehmen nach Art. 85 EGV (jetzt Art. 101 AEUV), ABl. EG 1993 Nr. C 43, 2 Rz. 21 ff.
Röhling 763
Kap. 7 Rz. 7.362
Kartellrecht
bote).783 Die folgenden Typen von GU fallen nach Auffassung der Kommission daher regelmäßig unter Art. 101 Abs. 1 AEUV: – Verkaufs-GU konkurrierender Hersteller, wenn die Partner einen gemeinsamen Marktanteil von mehr als 15 % halten oder sich das GU (wie häufig) auch auf die gemeinsame Preisfestsetzung erstreckt;784 – Produktions-GU konkurrierender Hersteller, wenn die Wettbewerber die Produktion auch jeweils selbst durchführen könnten; bei der Herstellung von Vor- oder Zwischenprodukten, die von den Müttern zu Endprodukten weiterverarbeitet werden, insbesondere wenn in dem GU die gesamte Produktionstätigkeit der Gründer vereinigt wird und zu einer erheblichen Kostenangleichung der Mütter führt;785 – Einkaufs-GU, wenn durch sie der Wettbewerb auf der Bezugsebene unbillig beschränkt wird.786
III. Verfahrensrechtliche Besonderheiten 7.362 Während der materiell-rechtliche Kontrollmaßstab für die kooperativen Elemente der GU mit Art. 101 AEUV identisch ist, finden verfahrensrechtlich zwei verschiedene Verordnungen Anwendung: – Vollfunktions-GU ohne unionsweite Bedeutung und Teilfunktions-GU unterfallen in erster Linie der Kartellrechtsverordnung VO 1/2003. – Vollfunktions-GU mit unionsweiter Bedeutung unterfallen der FKVO.
783 Vgl. etwa Komm.E. v. 18.5.1994 – Exxon/Shell, ABl. EG 1994 Nr. L 144, 20; Komm.E. v. 5.7.1993 – IV/M.285 – Pasteur Mérieux/Merck, ABl. EG 1994 Nr. L 309, 1; Komm.E. v. 12.12.1994 – Fujitsu/AMD Semiconductor, ABl. EG 1994 Nr. L 341, 66; vgl. Pohlmann in MünchKomm/EUWettbR, Art. 101 AEUV Rz. 448. 784 S. schon Bekanntmachung der Kommission über Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine zwischenbetriebliche Zusammenarbeit betreffen, ABl. EG 1968 Nr. C 93,14 Abschn. II, Ziff. 6; vgl. auch die Leitlinien der Kommission zur Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. EU 2011 Nr. C 11., 1 Rz. 234, 240. 785 Komm.E. v. 23.12.1992 – IV/33.814 Rz. 19 f. – Ford/Volkswagen, ABl. EG 1993 Nr. L 20, 14; Komm.E. v. 12.12.1994 – Fujitsu/AMD Semiconductor, ABl. EG 1994 Nr. L 341, 66 Rz. 29; Komm.E. v. 21.12.1994 – Philips/Osram, ABl. EG 1994 Nr. L. 378, 37 Rz. 18; s. hierzu auch die Leitlinien der Kommission zur Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. EU 2011 Nr. C 11, 1 Rz. 175 ff. 786 Komm.E. v. 11.6.1993 – IV/32.150 Rz. 21 ff. – EBU/Eurovisions-System, ABl. EG 1993 Nr. L 179, 23 (wegen Mängel in der Freistellungsbegründung aufgehoben durch EuG v. 11.7.1996 – T-528/93 u.a. – Metropole télévision SA u.a., Slg. 1996, II-649. Enger (einen Bezugszwang fordernd) noch Komm.E. v. 5.12.1979 – IV/29.011 – Lab, ABl. EG 1980 Nr. L 51, 19 Rz. 21 ff.; bestätigt durch EuGH v. 25.3.1981 – 61/80. – Coöperatieve Stremselen Kleurselfabriek/Kommission, Slg. 1981, 851 Rz. 12 f.; vgl. Pohlmann in MünchKomm/EUWettbR, Art. 101 AEUV Rz. 448 f.
764
Röhling
D. Anwendbarkeit des Art. 101 AEUV auf Gemeinschaftsunternehmen
Rz. 7.366 Kap. 7
1. Vollfunktions-Gemeinschaftsunternehmen ohne unionsweite Bedeutung und Teilfunktions-Gemeinschaftsunternehmen Vollfunktions-GU ohne unionsweite Bedeutung und Teilfunktions-GU unterliegen dem Legalausnahmesystem der VO Nr. 1/2003 (KartellVO). Lediglich in einigen eng umgrenzten Ausnahmefällen kann die Kommission von Amts wegen feststellen, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV keine Anwendung auf einen bestimmten Sachverhalt findet (Art. 10 KartellVO). Daneben besteht lediglich die Möglichkeit, dass die nationalen Kartellbehörden feststellen, dass für sie kein Anlass besteht, gegen einen bestimmten Sachverhalt einzuschreiten (Art. 5 KartellVO). Eine Feststellung über die Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV ist damit allerdings nicht verbunden.
7.363
2. Vollfunktions-Gemeinschaftsunternehmen mit unionsweiter Bedeutung GU mit Vollfunktionscharakter und unionsweiter Bedeutung werden dagegen allein nach dem Verfahren der FKVO geprüft (vgl. Rz. 7.348 f.).787 In dem Anmeldeformular, dem Formblatt CO (vgl. Rz. 7.312), findet sich hierzu ein entsprechender Abschnitt, in dem Angaben zu den kooperativen Wirkungen eines Gemeinschaftsunternehmens zu machen sind.
7.364
3. Nebenabreden In der Fusionskontrolle, vor allem auch bei der Prüfung von Vollfunktions-GU, umfasst die 7.365 Freigabe eines Zusammenschlusses nach Art. 6 Abs. 1 lit. b Unterabs. 2 und Art. 8 Abs. 1 Unterabs. 2 und Abs. 2 Unterabs. 2 FKVO auch die sog. Nebenabreden (grundsätzlich dazu bereits oben Rz. 7.306), d.h. die mit der Durchführung des Zusammenschlusses unmittelbar verbundenen und für sie notwendigen Einschränkungen (sog. „ancillary restraints“).788 Bei der Prüfung der „Notwendigkeit“ der Beschränkung berücksichtigt die Kommission nicht nur deren Art, sondern stellt auch darauf ab, ob ihre Dauer sowie ihr sachlicher und räumlicher Anwendungsbereich nicht über das für die Errichtung und die Tätigkeit des GU notwendige Maß hinausgehen. Die in der Praxis wichtigsten Abreden, die im Zusammenhang mit der Gründung von GU getroffen werden, sind Wettbewerbsverbote. Als typische Nebenabreden werden sie von der Kommission regelmäßig für die Dauer des GU mit freigestellt (vgl. Rz. 7.308).789 Dagegen hatte die Kommission zusätzliche Beschränkungen betreffend die Mengen, die Preise oder die Kunden sowie für Ausfuhrverbote nur in Ausnahmefällen vom Kartellverbot freigestellt.790 Im genannten Sinn nicht akzessorische Abreden, d.h. Einschränkungen, die mit der Gründung eines GU nicht unmittelbar verbunden oder für sie nicht notwendig sind, werden als kooperative Elemente von der Fusionskontrolle über Art. 2 Abs. 4 FKVO i.V.m. Art. 101 787 Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (berichtigte Version im ABl. EU 2009 Nr. C 43, 10), S. 32 ff. 788 Bekanntmachung der Kommission über Einschränkungen des Wettbewerbs, die mit der Durchführung von Unternehmenszusammenschlüssen unmittelbar verbunden und für diese notwendig sind, ABl. EG 2005 Nr. C 56, 24. 789 Kommissionsbekanntmachung, ABl. EU 2005 Nr. C 56, 24 Rz. 36 ff. 790 Vgl. Komm.E. v. 17.12.1986 – IV/31 340 – Mitchell Cotts/Sofiltra, ABl. EG 1987 Nr. L 41, 31: Freistellung einer Gebietsbeschränkung für eine Mutter für die Anlaufperiode; Komm.E. v. 12.12.1994 – Fujitsu, ABl. EG 1994 Nr. L 341, 66 (74): Gebietsbeschränkungen für die Anlaufphase.
Röhling 765
7.366
Kap. 7 Rz. 7.367
Kartellrecht
AEUV erfasst, wenn sie als direkte Folge des Zusammenschlusses einzustufen sind (sog. „direct consequences“).791
7.367 Lediglich sonstige Absprachen, die nur anlässlich der Errichtung eines GU zwischen den Gründern getroffen werden, aber mit diesem sonst nicht im Zusammenhang stehen, werden von den Parteien auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 101 AEUV zu überprüfen sein.
7.368 Auch bei der Errichtung von Teilfunktions-GU und (kooperativen) Vollfunktions-GU ohne unionsweite Bedeutung, die früher im Rahmen der alten KartellVO Nr. 17 auf die Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt geprüft wurden, hatte die Kommission anerkannt, dass es unmittelbar verbundene und für die Existenz notwendige Nebenabreden gibt.792 Solche akzessorischen Nebenabreden teilen das Schicksal des GU: Fällt das GU als solches nicht unter Art. 101 Abs. 1 AEUV, werden grundsätzlich auch die Nebenabreden nicht vom Kartellverbot erfasst. Umgekehrt war die Kommission bislang der Auffassung, dass in den Fällen, in denen Art. 101 Abs. 1 AEUV auf ein GU anwendbar ist, dies auch für die Nebenabreden zutrifft.
IV. Kollision zwischen Entscheidungen der Kommission und des BKartA 7.369 Mögliche Konflikte zwischen den Entscheidungen der EU-Kommission nach Art. 101 AEUV und dem BKartA werden wie folgt gelöst:
7.370 Verbietet die EU-Kommission aufgrund von Art. 101 Abs. 1 AEUV ein GU, so hat dieses Verbot Vorrang vor jeder entgegengesetzten Entscheidung des BKartA.
7.371 Art. 3 Abs. 2 der KartellVO stellt klar, dass die nationalen Kartellbehörden das einzelstaatliche Kartellrecht nicht auf Sachverhalte anwenden dürfen, die entweder Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht verletzen oder die die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllen. Das BKartA kann ein GU dann folglich auch nicht insofern verbieten, als es den deutschen Markt betrifft.
791 Str., Schroeder in Wiedemann, § 9 Rz. 71, will Art. 2 Abs. 4 FKVO i.V.m. Art. 101 AEUV nur auf akzessorische Nebenbestimmungen anwenden. M.E. ist der Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV bei akzessorischen Nebenbestimmungen aber noch nicht einmal eröffnet (sog. rule of reason oder Immanenzgedanke), so dass Art. 2 Abs. 4 FKVO in diesem Fall leer liefe. 792 Bekanntmachung der Kommission über die Beurteilung kooperativer Gemeinschaftsunternehmen nach Art. 85 EGV (jetzt Art. 101 AEUV), ABl. EG 1993 Nr. C 43, 2 Rz. 65 ff.; vgl. Pohlmann in MünchKomm/EUWettbR, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rz. 336.
766
Röhling
Kapitel 8 IT und Datenschutz Lars Lensdorf und Henning Bloß
Überblick
bb) Besonderheit Volumenlizenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Befristete Softwareüberlassung . . .
8.32 8.34
A. Die wesentlichen IT-Verträge . . . . .
8.1
I. Software-Lizenzverträge . . . . . . . . . . 1. Urheberrechtlicher Schutz von Software . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arten von Software-Lizenzverträgen . a) Auf Dauer überlassene StandardSoftware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Befristet überlassene StandardSoftware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konzernlizenzen . . . . . . . . . . . . . . d) Eigenentwicklungen (selbst entwickelte Individualsoftware) . . . . . e) Auftragsentwicklungen . . . . . . . . . f) Mischformen . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.2
8.7 8.10 8.11
II. Software-Pflegeverträge . . . . . . . . . .
8.12
III. Hardware-Beschaffungsverträge . . .
8.13
IV. Übertragung bzw. Teilung von ITLizenzen/Dienstleistungsverträgen und IT-Hardware . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einzelrechtsnachfolge . . . . . . . . . . . . . 2. Gesamtrechtsnachfolge . . . . . . . . . . . a) Software-Lizenzen und IT-Dienstleistungsverträge . . . . . . . . . . . . . . b) IT-Hardware . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV. Hardware-Wartungsverträge . . . . . .
8.14
V. Transitional Service Agreements . . .
8.53
V. Cloud-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.15
B. IT-Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . .
8.17
E. IT-Garantien im Unternehmenskaufvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.54
I. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.17
F. Datenschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . .
8.56
II. Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die technische/kaufmännische Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die rechtliche Due Diligence . . . . . . .
8.19
I. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung des Datenschutzes . . . . . . 2. Grundprinzipien des Datenschutzes . a) Personenbezogene Daten . . . . . . . b) Verarbeitung von Daten . . . . . . . . c) Zentrale Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.56 8.56 8.58 8.59 8.64
8.3 8.4 8.4 8.5 8.6
8.20 8.21
C. Formen des Unternehmenskaufs und ihre Folgen für IT-Aspekte . . . .
8.22
I. Share Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.22
II. Asset Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besonderheit: Die Übertragung von Software-Lizenzverträgen beim Asset Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . b) Die gesetzliche Ausgangsregelung: § 34 Abs. 1, 3, 5 UrhG . . . . . . . . . . c) Softwareüberlassung auf Dauer gegen Einmalvergütung – der Erschöpfungsgrundsatz gem. § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG . . . . . . . . aa) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . .
8.24 8.24 8.25 8.25 8.26
8.29 8.29
D. Trennung bzw. Herauslösung der IT-Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.35
I. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.35
II. Besonderheiten bei Carve-outTransaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.38
III. Zeitpunkt für IT-Trennung . . . . . . .
8.43
II. Offenlegung personenbezogener Daten im Rahmen der Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einrichten des Datenraums durch den Verkäufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . b) Vorliegen berechtigter Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten; Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . aa) Berechtigte Interessen . . . . . . . bb) Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung . . .
Lensdorf/Bloß
8.46 8.46 8.49 8.50 8.52
8.65
8.67 8.67 8.68 8.69
8.72 8.72 8.73
767
Kap. 8
IT und Datenschutz
III. Übertragung von Kundendaten . . . . 1. Grundsätzliches – Differenzierung Share Deal, Asset Deal und Umwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Übertragung von Kundendaten beim Asset Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Übertragung auf Basis einer entsprechenden Einwilligung . . . . . . .
8.75 8.75 8.80
b) Übertragung gem. Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO (Vertragsübernahme) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Übertragung gem. Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO (berechtigtes Interesse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.81 8.84
8.80
Literatur: Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 2. Aufl., 2016; Bungert/Rogier, Der Carve-out von Unternehmensteilen in der gesellschaftsrechtlichen Praxis, DB, 2017, 297; Buss, Standard-Software in der M&A Transaktion – Übertragung von Nutzungsrechten beim Asset Deal im Lichte der UsedSoft-Entscheidung, CR 2018, 78; Gola/Schomerus, Bundesdatenschutzgesetz, 12. Aufl. 2015; Göpfert/Meyer, Datenschutz bei Unternehmenskauf: Due Diligence und Betriebsübergang, NZA 2011, 486; Grützmacher, IT-Garantien im Unternehmenskaufvertrag – Problemfelder und Herausforderungen, CR 2017, 701; Härting, Kundendaten beim Unternehmenskauf nach DSGVO – Die Notwendigkeit einer Einwilligung des Kunden bei Asset Deals, CR 2017, 724; Heymann/Lensdorf in Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Kapitel 1.12 (Softwarepflege); Koch/Menke in Berens/Braun/ Strauch, Due Diligence bei Unternehmensakquisitionen, 7. Aufl. 2013; Kühling/Buchner, DSGVO BDSG, 2. Aufl. 2018; Lappe/Gattringer, Carve-out-Transaktionen, 2016; Lensdorf in Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Kapitel 1.10 (Hardware-Wartung); Lüttge, Unternehmensumwandlungen und Datenschutz, NJW 2000, 2463; Nebel, Die Zulässigkeit der Übermittlung personenbezogener Kundenstammdaten zum Vollzug eines Asset Deals, CR 2016, 417; Plath, Hardware, Software und ITVerträge in der M&A Transaktion, CR 2007, 345; Punte/Rhode, Bußgeldrisiken nach der DSGVO im Rahmen von M&A-Transaktionen, DB 2018, 2161; Redeker, Nutzungsrechtsregelungen in Softwarekaufverträgen, ITRB 2013, 68; Schaffland, Datenschutz und Bankgeheimnis bei Fusion – (k)ein Thema?, NJW 2002, 1539; Schneider, Handbuch EDV-Recht, 5. Aufl. 2017; Schneider, Software als handelbares verkehrsfähiges Gut – „Volumen-Lizenzen“ nach BGH, CR 2015, 413; Schreier/Leicht, Übertragung von Verträgen bei Carve-Outs, NZG 2011, 121; Schröder in Forgó/Helfrich/Schneider, Betrieblicher Datenschutz, Rechtshandbuch, 2. Aufl., 2017, Teil V, Kapitel 4, Datenschutz in Unternehmenstransaktionen); Servais, Der Softwarepflegevertrag, 2014; Söbbing, IT/IP-Rechte im Unternehmenskauf, 2010; Söbbing, IT Rechtliche Aspekte bei M&A, M&A Report 2007, 166; Taeger/Gabel, Kommentar zum BDSG, 2. Aufl. 2013; Uwer/Jungkid in Beck’sches M&A-Handbuch, 2017, § 77 Datenschutz in Unternehmenstransaktionen, 1787; van de Sande/Asendorf in Beck’sches M&A-Handbuch, 2017, § 71 Informationstechnologie, 1628; Wandtke/Bullinger, Praxiskommentar zum Urheberrecht, 4. Aufl. 2014; Wehmeyer, Datenschutz-Grundverordnung und Unternehmenstransaktionen – Was gilt zukünftig für den Umgang mit Kundendaten?, PinG 2016, 215; Wolff-Rojczyk, Anmerkung zu einer Entscheidung des BGH, Urt. v. 17.7.2013 – I ZR 129/08 – Zur Frage der Grenzen des Handels mit gebrauchten Softwarelizenzen, ITRB 2014, 75
Überblick Für den Betrieb eines jeden Unternehmens ist die Informationstechnologie („IT“) heutzutage von wesentlicher Bedeutung. Aufgrund der immer stärker zunehmenden „Digitalisierung“ der unternehmensinternen Prozesse hat diese Bedeutung in der jüngsten Vergangenheit noch einmal signifikant zugenommen. Dies liegt auf der Hand bei Banken, Versicherungen, FinTech-Unternehmen oder Handelsunternehmen, deren Geschäftsbetriebe und -modelle ganz überwiegend auf IT-gestützten Prozessen beruhen. Aber auch bei rein produzierenden Unternehmen, in denen die IT eher unterstützende Funktion hat, setzen die reibungslosen Prozesse eine funktionierende IT voraus.
768
Lensdorf/Bloß
IT und Datenschutz
Kap. 8
Die Unternehmens-IT umfasst primär die Hard- und Software und die entsprechenden Nutzungs- und Überlassungsverträge sowie alle sonstigen technischen Mittel und Verträge, wie z.B. Pflege-, Wartungs-, Support- und sonstige Dienstleistungsverträge mit Dritten, die die Funktionsfähigkeit der IT gewährleisten. Einen Überblick über die in diesem Zusammenhang zu berücksichtigenden wesentlichen Verträge und vertraglichen Grundsätze vermittelt nachfolgend Abschnitt A. Trotz ihrer großen Bedeutung für den operativen Betrieb eines Unternehmens, wird der IT bei Unternehmenskäufen häufig keine ausreichende Berücksichtigung beigemessen. IT-Experten werden nicht selten entweder gar nicht oder zu spät in den Transaktionsprozess involviert1. Dabei stellen sich bei Unternehmensübernahmen regelmäßig nicht zu unterschätzende IT-Probleme. Neben rechtlichen Fragen gibt es zahlreiche rein faktische, technische Themen, die es zu berücksichtigen und im Rahmen einer Transaktion zu regeln gilt. Eines dieser Themen ist beispielsweise die Datenmigration, insbesondere bei unterschiedlichen Datenformaten, von den IT-Systemen auf Verkäuferseite bzw. des Zielunternehmens hin zu den IT-Systemen auf Käuferseite. Abschnitt B widmet sich den hierbei im Rahmen der ITDue Diligence zu beachtenden Aspekten. Eine wesentliche Bedeutung im Hinblick auf IT-Fragestellungen kommt der jeweiligen Form des Unternehmenskaufs zu, also ob dieser in Form eines Share oder Asset Deals erfolgt, wie unter Abschnitt C weiter ausgeführt. Im Fall des Asset Deals sind bei der Übertragung von Softwarelizenzen die vom EuGH2 und BGH3 im Zusammenhang mit dem Erwerb von sog. Gebrauchtsoftware entgangenen (UsedSoft-)Entscheidungen zu berücksichtigen. Abschnitt D behandelt die in der Praxis häufig anzutreffende Problematik, dass das Zielunternehmen oftmals in die IT-Landschaft der Verkäufergruppe eingebunden ist und aus den IT-Systemen der Verkäufergruppe herausgelöst oder die unterschiedlichen IT-Systeme von Zielunternehmen und Käufergruppe zusammengeführt werden müssen. Häufig ist bei einer derartigen Konstellation zum Closing noch keine vollständige Trennung der IT-Systeme des Zielunternehmens von der Verkäuferseite erfolgt. In diesem Fall ist eine weitere Nutzung der IT-Systeme der Verkäuferseite durch das Zielunternehmen für einen Übergangszeitraum – der in der Regel als „Transition“ bezeichnet wird – erforderlich. Damit verbunden sind zum einen komplexe vertragsrechtliche Fragen, beispielsweise ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen in Bezug auf die IT-Systeme des Zielunternehmens bestehende Verträge auf den Käufer übertragen bzw. vom Zielunternehmen auch nach dem Closing noch genutzt werden können. Aufgrund der wachsenden Bedeutung der IT, hat das Thema IT-Garantien im Unternehmenskaufvertrag inzwischen eine selbständige Bedeutung erlangt. Hierauf wird im Abschnitt E weiter eingegangen. Auch dem Datenschutz kommt, wie in Abschnitt F weiter aufgezeigt, bei Unternehmenskäufen eine immer größere Bedeutung zu. Das wird insbesondere daran deutlich, dass die ersten datenschutzrechtlichen Aufsichtsbehörden Bußgelder wegen Verstößen gegen datenschutz-
1 So auch van de Sande/Asendorf in Beck’sches M&A Handbuch, § 71 Rz. 4 m.w.N.; Buss, CR 2018, 78 m.w.N. 2 EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, NJW 2012, 2565. 3 BGH v. 17.7.2013 – I ZR 129/08, CR 2014, 168 („UsedSoft II“); BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/12 („UsedSoft III“).
Lensdorf/Bloß
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Kap. 8 Rz. 8.1
IT und Datenschutz
rechtliche Bestimmungen bei Unternehmenstransaktionen verhängt haben4. Seit der Anwendbarkeit der europäischen Datenschutzgrundverordnung5 (DSGVO) am 25.5.2018 können Bußgelder zudem einen existenzbedrohenden Umfang einnehmen6. Die datenschutzrechtlichen Themen, die sich im Rahmen einer Transaktion stellen können, sind vielschichtig. Sie beginnen mit der Due Diligence und der Erstellung eines Datenraums. Hier stellt sich die Frage, welche Daten als personenbezogene Daten dem Datenschutz unterfallen und ob bzw. unter welchen Voraussetzungen sie im Rahmen der Due Diligence Bietern und potentiellen Käufern offengelegt werden können. Eine weitere zentrale Fragestellung ist, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen personenbezogene Daten – beispielsweise Kundendaten – im Rahmen einer Transaktion übertragen werden können7.
A. Die wesentlichen IT-Verträge 8.1 Die im Rahmen eines Unternehmenskaufs zu beachtenden IT-Verträge sind sehr vielschichtig und hängen sehr stark vom jeweiligen Gegenstand des Zielunternehmens ab. Im Großen und Ganzen lassen sich folgende Kategorien bilden:
I. Software-Lizenzverträge 8.2 Die häufig als Software-Lizenzverträge bezeichneten Verträge regeln die Überlassung der vom Zielunternehmen eingesetzten Software. In diesem Zusammenhang sind beim Unternehmenskauf insbesondere zwei Aspekte zu beachten: zum einen ist Software in der Regel urheberrechtlich geschützt, was sowohl hinsichtlich des zulässigen Einsatzes und Nutzungsumfangs der Software im Rahmen der Transaktion von Bedeutung ist, als auch hinsichtlich der Frage der Übertragbarkeit der jeweiligen Software. Zum anderen können die der Überlassung der Software zugrunde liegenden Verträge ganz unterschiedlicher Rechtsnatur und ganz unterschiedlichen Inhalts sein. Auch wenn der Begriff „Software-Lizenzvertrag“ suggeriert, dass es einen Standardlizenzvertrag gibt, ist dies mitnichten der Fall. Rechtsnatur und vertragstypologische Einordnung der jeweiligen Softwareüberlassung können gerade für die Frage der Übertragbarkeit der Software im Rahmen eines Assets Deals von zentraler Bedeutung sein.
4 Im Juli 2015 hat das Bayerische Landesamt für Datenschutzaufsicht (BayLDA) gegen den Verkäufer und den Käufer von Kundendaten im Rahmen eines Asset Deals Bußgelder verhängt; s. Pressemitteilung des BayLDA v. 30.7.2015, https://www.lda.bayern.de/media/pm2015_10.pdf; zu den Bußgeldrisiken der DSGVO im Rahmen von M&A Transaktionen s. auch Punte/Rhode, DB 2018, 2161. 5 Verordnung (EU) 20116/679; s. hierzu insbesondere die umfangreichen Informationen auf www.eugdpr.org. 6 Nach Art. 83 Abs. 5 DSGVO können Geldbußen von bis zu 20 000 000 Euro oder im Fall eines Unternehmens von bis zu 4 % seines gesamten weltweit erzielten Jahresumsatzes des vorangegangenen Geschäftsjahrs verhängt werden. 7 Hierzu ausführlich Nebel, CR 2016, 417.
770
Lensdorf/Bloß
A. Die wesentlichen IT-Verträge
Rz. 8.4 Kap. 8
1. Urheberrechtlicher Schutz von Software Der urheberrechtliche Schutz von Software ist in Deutschland in den §§ 69a ff. UrhG ge- 8.3 regelt8. Dieser Gesetzesabschnitt muss im Kontext mit § 2 Abs. 1 Nr. 1 UrhG gelesen werden. Computerprogramme werden dort als Beispiel der Werkkategorie der Sprachwerke genannt und sind einschließlich ihres Entwurfsmaterials, das Materialien zur Entwicklung und Vorbereitung umfasst, geschützt. „Urheber“ der Programme können ausweislich der Werkdefinition des § 2 Abs. 2 UrhG nur natürliche Personen sein. Diese bleiben stets Inhaber ihrer nicht übertragbaren Urheberrechte. Davon zu trennen sind die gemäß den §§ 31 ff. UrhG übertragbaren Nutzungs- und Verwertungsrechte an dem Werk, die auch juristischen Personen zustehen können. Die Befugnis, das Werk aufgrund übertragener Rechte zu nutzen, stellt im allgemeinen Sprachgebrauch die „Lizenz“ dar. Soweit dieser Befugnis keine ausdrückliche Vereinbarung über den konkreten Nutzungsumfang zugrunde liegt, wird der Umfang gem. § 31 Abs. 5 UrhG durch den Zweck der Nutzungseinräumung begrenzt (sog. Zweckübertragungstheorie).9 Gegenstand des Schutzes sind die persönliche schöpferische Leistung des Programmierers und die zur Herstellung des Computerprogramms erforderlichen Investitionen.10 Darüber hinaus ist Software durch eine Reihe von internationalen Abkommen geschützt, wie beispielsweise durch die Vorgaben von Art. 4 WIPO Copyright Treaty (WCT) und Art. 10 Abs. 1 Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS).11 2. Arten von Software-Lizenzverträgen a) Auf Dauer überlassene Standard-Software Standard-Software (in Abgrenzung zu Individualsoftware) zeichnet sich dadurch aus, dass diese für eine Vielzahl von Anwendern entwickelt wurde. Sie wird dem Anwender dauerhaft oder befristet überlassen. Das Zeitmoment ist insbesondere zur vertraglichen Einordung der Softwareüberlassung sowie der Frage der Übertragbarkeit der Software im Rahmen eines Asset Deals von Bedeutung. Rechtsprechung und herrschende Lehre ordnen Softwareüberlassungsverträge dem Kaufrecht zu, wenn die Software auf Dauer überlassen wird12. Die jüngste Rechtsprechung sieht das früher oft zitierte Kriterium einer Einmalzahlung nicht mehr als maßgeblich für eine kaufrechtlich zu qualifizierende Überlassung an13. Somit stehen individualvertragliche Zahlungsvereinbarungen wie „gestreckte“ oder aufschiebend bedingte Zahlungen einer kaufrechtlich zu beurteilenden Überlassung der Software nicht entgegen. Letztlich kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an, ob der wirtschaftliche Zweck des Vertrags auf die dauerhafte Nutzungseinräumung gerichtet ist14.
8 Die Regelungen sind das Ergebnis diverser Initiativen der EU, vor allem der Computerprogramm Richtlinie 91/250/EWG, weshalb die Vorschriften richtlinienkonform auszulegen sind; s. hierzu Witte/Auer-Reinsdorff in Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 5 Rz. 36 ff. 9 Hierzu ausführlich Wandtke/Grunert in Wandtke/Bullinger, UrhG, § 31 ff. Rz. 39 ff. 10 Witte/Auer-Reinsdorff in Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 5 Rz. 36 ff. 11 Hierzu ausführlich Grützmacher in Wandtke/Bullinger, UrhG, vor § 69a ff. Rz. 10 ff. 12 Kast in Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 12 Rz. 42. 13 Brandi Dohrn in Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Teil 1, II (Vertragstypologische Einordnung) Rz. 2 ff. 14 Brandi-Dohrn in Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Kapitel 1, II.3, Rz. 9 ff.
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8.4
Kap. 8 Rz. 8.5
IT und Datenschutz
b) Befristet überlassene Standard-Software
8.5 Die befristete Überlassung von Standard-Software gegen laufende Zahlungen wird dagegen als Miete qualifiziert15. Nach Ende der Mietzeit soll die Software zurückgegeben oder gelöscht werden. Wesentliches Indiz für diesen Vertragstyp ist somit die Festlegung einer konkreten Vertragsdauer. Der Unterscheidung der Überlassung als Miet- oder Kaufvertrag kommt letztlich bei der Frage der Übertragbarkeit des jeweiligen Softwareüberlassungsvertrags im Rahmen eines Asset Deals, im Gewährleistungsrecht sowie im Verhältnis zu den sich an den Überlassungsakt anschließenden Pflege- und Wartungsverpflichtungen eine entscheidende Bedeutung zu. c) Konzernlizenzen
8.6 Eine weitere Ausprägung der Einräumung von Nutzungsrechten ist die Konzernlizenz. Der Begriff „Konzernlizenz“ ist kein terminus technicus. Die Konzernlizenz zeichnet sich dadurch aus, dass die Nutzungsrechtseinräumung an die Zugehörigkeit zu einem Konzern anknüpft. Vertraglich können Konzernlizenzen – je nach Vertragsgestaltung – kauf- oder mietrechtlich geregelt sein16. Auch die Ausgestaltung der Nutzungsrechtseinräumung kann ganz unterschiedlich sein. Sie kann beispielweise in der Form einer Mehrfachlizenz erfolgen, bei der die Software von allen Mitarbeitern eines Konzerns genutzt werden kann, unabhängig davon, wie sich diese Zahl entwickelt. Denkbar ist auch eine Volumenlizenz, bei der die Software von allen Mitarbeitern eines Konzerns im Rahmen der erworbenen Lizenzanzahl genutzt werden kann. Bedeutung erlangen Konzernlizenzen bei Unternehmensverkäufen regelmäßig insbesondere dann, wenn ein Unternehmen im Rahmen des Unternehmensverkaufs aus dem Konzern ausscheidet und mit dem Closing die Berechtigung entfällt, die zuvor auf der Grundlage von Konzernlizenzen genutzte Software weiter zu nutzen. d) Eigenentwicklungen (selbst entwickelte Individualsoftware)
8.7 Im Unterschied zu den zuvor beschriebenen Standard-Software Lösungen steht die durch die eigenen Mitarbeiter eines Unternehmens entsprechend den Anforderungen dieses Unternehmens entwickelte Software, die gemeinhin als Individualsoftware bezeichnet wird. Zu unterscheiden ist die Eigenentwicklung von Individualsoftware von der Auftragsentwicklung, bei der externe Dritte (Softwareentwickler) beauftragt werden. Die Gründe eines Unternehmens, sich für eine eigenentwickelte oder im Wege der Auftragsentwicklung entwickelte Softwarelösung zu entscheiden, sind in der Regel vielschichtig. Hauptgrund ist häufig, dass im Unternehmen zahlreiche spezielle Anforderungen bestehen, die durch Standard-Software Lösungen nicht oder nur unzureichend abgedeckt werden. Unternehmen versprechen sich durch den Einsatz von Individualsoftware zudem eine schnellere Realisierung von einzelnen Anpassungen der Software, da diese häufig durch die interne IT-Abteilung sofort umgesetzt werden können. Generell ist jedoch zu beobachten, dass der Anteil der eingesetzten Individualsoftware bei den Unternehmen deutlich zurückgeht. Zunehmend werden Standard Lösungen eingesetzt, die entweder bereits verschiedene Einstellungsmöglichkeiten (Parametrisierungen) und somit Anpassungsmöglichkeiten an die speziellen Anforderungen der Unternehmen vorsehen oder die mittels entsprechender Zusatzentwicklungen (Customizing/ Add Ons) an die Bedürfnisse eines Unternehmens angepasst werden (können). 15 Roth-Neuschild in Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 6 ff. 16 Ausführlich hierzu Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kapitel R.
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A. Die wesentlichen IT-Verträge
Rz. 8.11 Kap. 8
Steht bei den Standard-Software Lösungen in rechtlicher Hinsicht häufig die vertragstypologische Einordnung der Überlassung im Vordergrund, ist bei der Individualsoftware (sowie bei speziellen Zusatzentwicklungen für Standard Lösungen) von zentraler Bedeutung, dass dem Unternehmen an der jeweiligen Entwicklung alle erforderlichen Nutzungs- und Verwertungsrechte zustehen. Dies sollte bei Eigenentwicklungen, die durch Mitarbeiter des Zielunternehmens vorgenommen werden, durch entsprechende vertragliche Regelungen in den Arbeitsverträgen der Mitarbeiter gewährleistet sein. Zudem sieht § 69b UrhG gesetzlich vor, dass an einem Computerprogramm, das von einem Arbeitnehmer in Wahrnehmung seiner Aufgaben oder nach den Anweisungen seines Arbeitgebers geschaffen wurde, ausschließlich der Arbeitgeber zur Ausübung aller vermögensrechtlichen Befugnisse an diesem Computerprogramm berechtigt ist, sofern nichts anderes vereinbart ist. § 69b UrhG bezweckt und bewirkt die Übertragung aller nach dem Schöpferprinzip (§ 7 UrhG) beim Arbeitnehmer liegenden vermögensrechtlichen Befugnisse auf den Arbeitgeber. Nach h.M. handelt es sich insoweit um eine Rechtseinräumung im Wege einer gesetzlichen Lizenz.17
8.8
Von dieser gesetzlichen Lizenz sind Konstellationen, in denen freie Mitarbeiter für ein Unternehmen tätig werden, nicht erfasst. Hier bedarf es eindeutiger vertraglicher Regelungen. Unberührt von § 69b UrhG bleiben zudem möglicherweise parallel bestehende patent- und gebrauchsmusterrechtliche Befugnisse und Vergütungsansprüche nach dem ArbnErfG sowie die grundsätzlich unübertragbaren Urheberpersönlichkeitsrechte.18
8.9
e) Auftragsentwicklungen Nach überwiegender Meinung werden diese Software-Erstellungsverträge rechtlich als Werk- 8.10 verträge eingeordnet19. Typischerweise sehen Software-Erstellungsverträge Regelungen zu Nutzung- und Verwertungsrechten an der zu erstellenden Software vor. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass gesetzliche Nutzungs- und Verwertungsrechte – wie beispielsweise in Form des § 69b UrhG – für Auftragsentwicklungen durch externe Dritte nicht existieren.20 Mangels gesetzlicher Auffangregelung kommt es daher ausschließlich auf die zwischen den Parteien getroffenen vertraglichen Vereinbarungen an, auf die im Rahmen der Due Diligence seitens des Käufers daher ein besonderes Augenmerk zu richten ist. f) Mischformen In den letzten Jahren haben sich neben der klassischen Standard-Software Überlassung zu- 8.11 nehmend andere Softwareüberlassungsmodelle etabliert, wie beispielsweise „Application Service Providing“ (ASP) sowie „Software as a Service“ (SaaS). Bei ASP greift der Anwender im Wege der Fernnutzung auf die im fremden Rechenzentrum installierte Software zu. Abgerechnet wird pro Zeiteinheit der tatsächlichen Nutzung21. Ähnlich wie bei ASP wird auch bei SaaS die Software online zur Verfügung gestellt und bedarfsabhängig genutzt. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu ASP ist, dass bei SaaS die feste Zuordnung von
17 Grützmacher in Wandtke/Bullinger, UrhG, § 69b Rz. 1. 18 Grützmacher in Wandtke/Bullinger, UrhG, § 69b Rz. 2 ff. 19 Conrad/Schneider in Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 11 Rz. 10. 20 Grützmacher in Wandtke/Bullinger, UrhG, § 69b Rz. 3. 21 Hierzu ausführlich Roth-Neuschild in Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 37 ff.
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Kap. 8 Rz. 8.12
IT und Datenschutz
Hard- und Software für den einzelnen Kunden fehlt. Vielmehr werden virtuelle Servereinheiten gebildet, die zwischen mehreren Rechenzentren verteilt werden können.
II. Software-Pflegeverträge 8.12 Software-Pflegeverträge22 haben höchst unterschiedliche Leistungsversprechen, es existiert weder ein einheitliches Leistungsbild noch eine einheitliche Einordnung des Vertragstyps23. Hauptzweck des Softwarepflegevertrags ist aus Sicht des Auftraggebers in der Regel, die Betriebs-/Funktionsfähigkeit der jeweils vertragsgegenständlichen Software aufrechtzuerhalten24. Der Hersteller eines Softwareprodukts hat seinerseits ein Interesse daran, das jeweilige Softwareprodukt langfristig auf dem Markt zu platzieren und es möglichst, jeweils orientiert an den Marktbedürfnissen, aktuell zu halten25. Vor diesem Hintergrund sind in Bezug auf Software-Pflegeverträge folgende Leistungsversprechen von Bedeutung26: a) die Aufrechterhaltung der Betriebs-/Funktionsfähigkeit der vertragsgegenständlichen Software sowie Beseitigung vom Auftraggeber gemeldeter Mängel bzw. Störungen; b) die Erbringung von Informations- und Beratungsleistungen (z.B. Helpdesk-/HotlineServices) gegenüber dem Auftraggeber27; c) die Bereitstellung von Weiterentwicklungen28 in Form von neuen Programmständen, z.B. Updates und Upgrades, Releases und Versionen29.
III. Hardware-Beschaffungsverträge 8.13 Ähnlich wie bei den Software-Lizenzverträgen bestehen auch für die Beschaffung und Überlassung der Hardware unterschiedliche Vertragsarten30. Die wichtigsten Vertragsarten sind der Hardware-Kauf, die Hardware-Miete sowie das Hardware-Leasing. 22 In Literatur und Praxis wird sowohl der Terminus „Software-Pflege“ als auch der Terminus „Software-Wartung“ verwendet (ausführlich zu der Uneinheitlichkeit und der Vielfalt der Terminologie Servais, Der Softwarepflegevertrag, S. 52 f.). Den EVB-IT Pflege S (Ergänzenden Vertragsbedingungen für die Pflege von Standard-Software, Version 2.0 vom 16.7.2015, abrufbar unter: http://www.cio.bund.de/DE/IT-Beschaffung/EVB-IT-und-BVB/Aktuelle_EVB-IT/aktuelle_evb_it_ node.html#doc2148996bodyText8) folgend, wird nachstehend für softwarebezogene Leistungen ausschließlich der Terminus „Pflege“ verwendet, während der Terminus „Wartung“ hardwarebezogenen Leistungen vorbehalten bleibt. 23 Heymann/Lensdorf in Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Kapitel 1.12 Rz. 2 ff. m.w.N. 24 Redeker, IT-Recht, Rz. 631. 25 Servais, Der Softwarepflegevertrag, S. 51, mit weiteren Aspekten, die aus Auftraggeber- und Herstellersicht die Notwendigkeit des Abschlusses eines Softwarepflegevertrags begründen können. 26 Zu den verschiedenen Elementen des Softwarepflegevertrags s. auch Servais, Der Softwarepflegevertrag, 52 ff.; Conrad/Schneider/Schweinoch in Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 14 Rz. 67 ff. 27 S. hierzu Servais, Der Softwarepflegevertrag, S. 63. 28 S. hierzu Servais, Der Softwarepflegevertrag, S. 62. 29 Ähnlich wie die Begriffe Pflege, Wartung, Maintenance, Support sind auch die Begriffe Update, Upgrade, Release, Version nicht mit einer einheitlichen Bedeutung belegt, vgl. Servais, Der Softwarepflegevertrag, S. 62; Conrad/Schneider/Schweinoch in Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 14 Rz. 21 ff. 30 Ausführlich hierzu Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, Kapitel O.
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A. Die wesentlichen IT-Verträge
Rz. 8.16 Kap. 8
IV. Hardware-Wartungsverträge Während es sich für den Bereich der Software eingebürgert hat, Maßnahmen, die – ganz allgemein gesprochen – der Erhaltung der Betriebs- und Funktionsbereitschaft der Software dienen, unter dem Begriff „Pflege“ zusammenzufassen, werden im Bereich der Hardware diese Tätigkeiten häufig als „Wartung“ bezeichnet31. Entsprechend diesem sehr allgemeinen Verständnis sind die als „Wartung“ angebotenen und bezogenen Leistungen je nach Dienstleister sehr unterschiedlich. Im Allgemeinen hat sich jedoch eine Unterscheidung etabliert zwischen Leistungen, die Maßnahmen zur vorbeugenden Störungsvermeidung (Instandhaltung) zum Gegenstand haben, und solchen Leistungen, die auf die Beseitigung auftretender Störungen (Instandsetzung) ausgerichtet sind32.
8.14
V. Cloud-Verträge Der Begriff „Cloud Computing“ ist ein Oberbegriff für verschiedene Überlassungsformen von IT. IT-Infrastruktur wie beispielsweise Speicherplatz, Rechenleistung oder Anwendungssoftware werden durch Einsatz von Virtualisierungsoftware zu einer Einheit zusammengefasst und als Dienstleistung über ein Rechnernetz zur Verfügung gestellt, ohne dass diese auf einem lokalen Rechner installiert sein müssen33. Die Nutzung erfolgt ausschließlich durch technische Schnittstellen, wie etwa einem Webbrowser. In der Virtualisierung liegt der Unterschied zum klassischen Outsourcing und den ASP-Angeboten. Typisches Merkmal von Cloud-Diensten ist die Vielzahl der Vertragsverhältnisse. Der Cloud Anbieter tritt gegenüber dem Anwender als Hauptunternehmer auf, schaltet für die Erbringung der einzelnen Leistungen aber zahlreiche Subunternehmer ein.
8.15
Die rechtliche Einordnung von Cloud-Verträgen wird in der Literatur unterschiedlich bewertet. Einschlägige Rechtsprechung hierzu gibt es noch nicht. Im Hinblick auf die Parallelen zu ASP-Verträgen scheint eine mietvertragsrechtliche Einordnung zumindest hinsichtlich der Hauptleistungspflichten konsequent. Auch beim Cloud Computing geht es um die zeitweise Nutzungsmöglichkeit von IT-Infrastruktur wie beispielsweise Speicherplatz, Rechenkapazitäten sowie Software. Bezüglich der Nebenpflichten passen einzelne Nebenpflichten jedoch nicht zum mietvertragsrechtlichen Regime. Cloud-Verträge wird man daher als typengemischte Verträge einordnen müssen.34
8.16
31 S. zu der Terminologie bereits vorstehend Fn. 22. 32 S. hierzu Lensdorf in Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Kapitel 1.10 (Hardware-Wartung) Rz. 2 ff. m.w.N. 33 Die „Orientierungshilfe – Cloud Computing“ der Arbeitskreise Technik und Medien der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder sowie der Arbeitsgruppe Internationaler Datenverkehr des Düsseldorfer Kreises in der Version 2.0 v. 9.10.2014 (abrufbar unter: https://www.bfdi.bund.de/DE/Infothek/Orientierungshilfen/Artikel/OHCloudComputing.html? cms_templateQueryString=orientierungshilfe+cloud+computing&cms_sortOrder=score+desc) beschreibt Cloud Computing (s. S. 4, Ziff. 1 Einführung – Nutzen) als „bedarfsgerechte und flexible Anwendung von IT-Dienstleistungen, die in Echtzeit als Service über das Internet bereitgestellt und nach Verbrauch abgerechnet werden“. 34 Strittmatter in Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 22 Rz. 29 ff.
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Kap. 8 Rz. 8.17
IT und Datenschutz
B. IT-Due Diligence I. Bedeutung 8.17 Angesichts der Bedeutung der IT für den Geschäftsbetrieb eines Unternehmens und der bei einem Unternehmenskauf regelmäßig auftretenden transaktionsbedingten IT-Fragestellungen muss bei der Due Diligence ein besonderer Fokus auf die IT-Themen gelegt werden.
8.18 Der Sinn und Zweck der IT-Due Diligence besteht für den Käufer in erster Linie darin, sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob das Zielunternehmen über die zur Aufrechterhaltung seines Geschäftsbetriebs erforderlichen IT-Systeme verfügt, ob es über die erforderlichen Rechte an diesen IT-Systemen (insbesondere der eingesetzten Software) verfügt, welche Kosten im IT-Bereich anfallen und ob bzw. unter welchen Voraussetzungen eine reibungslose Integration der IT-Systeme des Zielunternehmens in die Systemlandschaft des Käufers möglich ist35. In der Praxis ist allerdings oft festzustellen, dass sich Art und Umfang sowie die Bedeutung der jeweils genutzten IT-Systeme allein anhand der vorgelegten Vertragsdokumente und ggf. sonstigen Doukmentation nicht verlässlich beurteilen lässt und damit für den Käufer nicht immer ersichtlich ist, welche Grundlagen und Risiken in Bezug auf die IT existieren36. Nicht selten werden im Rahmen einer Due Diligence – zumindest in einem ersten frühen Stadium – primär Inventarlisten vorgelegt, aus denen sich lediglich die IT-Infrastruktur sowie die genutzten Softwareprogramme des Zielunternehmens ergeben – mehr aber auch nicht.
II. Gegenstand 8.19 Gegenstand der IT-Due Diligence ist eine technische, kaufmännische sowie eine rechtliche Prüfung des Zielunternehmens. Die Abgrenzung zwischen technischer und kaufmännischer sowie rechtlicher Due Diligence ist dabei teilweise fließend37. Vor dem Hintergrund der Überschneidungen zwischen technischer, kaufmännischer und rechtlicher Due Diligence ist es unabdingbar, dass technische, kaufmännische sowie juristische Berater in enger Abstimmung miteinander Hand in Hand zusammenarbeiten, um eine gezielte Prüfung der vorgelegten Unterlagen durchführen und ggf. weitere benötigte Unterlagen und Informationen identifizieren zu können38. 1. Die technische/kaufmännische Due Diligence
8.20 In Bezug auf die technische/kaufmännische Due Diligence sind insbesondere folgende Prüfungsfelder zu nennen39: a) Evaluierung der vorhandenen IT-Infrastruktur sowie der sich im Einsatz befindlichen Applikationen und sonstigen Softwareprogramme (Kernfrage: Was ist in welchem Umfang wofür im Einsatz?).
35 Plath, CR 2007, 347. 36 Plath, CR 2007, 346. 37 S. zur IT-Due Diligence aus technischer und kommerzieller Sicht Koch/Menke in Berens/Braun/ Strauch, Due Diligence, S. 615. 38 So auch Plath CR 2007, 347. 39 S. hierzu auch Plath CR 2007, 347.
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B. IT-Due Diligence
Rz. 8.21 Kap. 8
b) Konformität der vorhandenen IT-Infrastruktur sowie der sich im Einsatz befindlichen Applikationen und sonstigen Softwareprogramme mit gesetzlichen oder aufsichtsrechtlichen Anforderungen technischer Art. Zu denken ist in diesem Zusammenhang beispielsweise an Anforderungen nach §§ 8a, 10 BSI-Gesetz40 für die Betreiber kritischer Infrastrukturen gemäß der hierzu ergangenen Rechtsverordnung(en)41 sowie die „Bankaufsichtlichen Anforderungen an die IT“ (BAIT)42. c) Abhängigkeit der Geschäftstätigkeit des Zielunternehmens insgesamt oder einzelner Geschäftsbereiche des Zielunternehmens von der IT und damit verbunden die Evaluierung von IT-Security und Business Continuity-Maßnahmen. IT-Security, d.h. der ausreichende Schutz gegen Cyber-Attacken und die Implementierung von entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen sowie Auffanglösungen nimmt in jüngerer Zeit eine immer größer werdende Bedeutung ein. d) In operativer Hinsicht ist zu prüfen, inwieweit der Käuferseite nach dem Closing ausreichendes Know-how zum Betrieb der IT-Systeme des Zielunternehmens zur Verfügung steht. Insbesondere ist zu klären, inwieweit die Pflege und Wartung der im Einsatz befindlichen Applikationen und IT-Infrastruktur von Dritten abhängig ist und die Möglichkeit eines Know-how Transfers sowie die Bereitstellung des Know-hows durch entsprechende Verträge – womit eine Schnittstelle zur rechtlichen Due Diligence betroffen ist – abgesichert werden kann. e) Prüfung, ob das Zielunternehmen über eine eigenständige IT-Struktur verfügt oder die Unternehmenssoftware/IT-Infrastruktur zentral über die Verkäufergruppe bereit gestellt wird. Im letzteren Fall ist zu überlegen, ob bzw. inwieweit die IT vor dem Closing im Wege einer Spiegelung auf das Zielunternehmen übertragen werden kann. Soweit dies insbesondere aus Zeitgründen nicht möglich ist, muss mit dem Verkäufer ein „Transitional Services Agreement“ über eine zeitlich begrenzte Weiternutzung der IT-Systeme der Verkäufergruppe nach Closing abgeschlossen werden. f) Kompatibilität der IT-Systeme zwischen Ziel- und Käuferunternehmen. g) Kostenstrukturen der beim Zielunternehmen im Einsatz befindlichen IT-Systeme. 2. Die rechtliche Due Diligence Die rechtliche Due Diligence umfasst insbesondere folgende Prüfungsfelder43:
8.21
a) Die Frage, ob und in welchem Umfang das Zielunternehmen die für seinen Geschäftsbetrieb erforderlichen Nutzungs- und Verwertungsrechte an den von ihm genutzten Softwareprogrammen hält. Insbesondere bei Eigenentwicklungen, bei denen häufig (auch) freie Mitarbeiter zum Einsatz kommen sowie bei Auftragsentwicklungen, die Dritte für das Zielunternehmen vorgenommen haben, ist zu prüfen, inwieweit die diesen Tätigkeiten
40 Gesetz über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnologie. 41 S. „Verordnung zur Bestimmung Kritischer Infrastrukturen nach dem BSI-Gesetz (BSI-Kritisverordnung – BSI-KritisV)“, abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/bsi-kritisv/BJNR09 5800016.html. 42 Rundschreiben 10/2017 (BA) der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht; abrufbar unter: https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Meldung/2017/meldung_171106_ BAIT.html. 43 S. hierzu auch Plath, CR 2007, 347.
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Kap. 8 Rz. 8.22
IT und Datenschutz
zugrunde liegenden Verträge über entsprechende Rechteübertragungs- bzw. Rechteeinräumungsklauseln verfügen. b) Evaluierung, ob eine ausreichende Anzahl von Lizenzen im für die Fortführung des Geschäftsbetriebs erforderlichen Umfang besteht und ob bzw. inwieweit diese Lizenzen auch nach dem Closing vom Zielunternehmen noch genutzt werden können. Zu differenzieren ist hierbei in der Regel zwischen folgenden Arten von Lizenzen44: – Lizenzen, die dem Zielunternehmen direkt von Dritten unbefristet und in der Regel gegen eine Einmalvergütung (Softwareüberlassung auf kaufrechtlicher Basis) eingeräumt wurden; – Lizenzen, die dem Zielunternehmen direkt von Dritten befristet und gegen eine wiederkehrende Vergütung (Softwareüberlassung auf mietrechtlicher Basis) eingeräumt wurden; – Konzernlizenzen, d.h. Lizenzen, die einem anderen Unternehmen des Konzerns, zu dem das Zielunternehmen gehört, eingeräumt wurden und von dem das Zielunternehmen seine Nutzungsberechtigung ableitet. – Im Rahmen der rechtlichen Due Diligence ist zudem der Umfang der Nutzungsrechte und damit die Möglichkeit der Einräumung von weiteren Nutzungsrechten, z.B. bei Volumenlizenzen zu analysieren. c) Sofern es sich bei dem Unternehmenskauf um einen Asset Deal handelt, ist zu prüfen, inwieweit es zur Übertragung der einzelnen Verträge einer Zustimmung des jeweiligen Vertragspartners bedarf. d) Für die Frage nach der Aufrechterhaltung des IT-Systems nach Closing sind die Prüfung der Restlaufzeiten sowie Kündigungsmöglichkeiten, einschließlich der Existenz von Change-of-Control Klauseln in den Lizenz- und Leasingverträgen sowie Wartungs- und Pflegevereinbarungen von Bedeutung. Change-of-Control Klauseln kommen beim Share Deal eine besondere Bedeutung zu45. e) Sofern bei dem Unternehmenskauf auf Verkäuferseite ein Carve-Out stattgefunden hat bzw. noch stattfinden soll, stellt sich oftmals die Frage, ob und in welchem Umfang eine rechtliche Trennung der IT-Verträge zulässig ist.
C. Formen des Unternehmenskaufs und ihre Folgen für IT-Aspekte I. Share Deal 8.22 Im Rahmen eines Share Deals bleiben die IT und die zugrunde liegenden Verträge beim Zielunternehmen, d.h. es findet diesbzgl. keine gesonderte Übertragung auf den Käufer statt. Bei einem Share Deal stellt sich allerdings die sehr bedeutende Frage, ob die IT-Verträge des Zielunternehmens aufgrund der Existenz sog. Change-of-Control Klauseln gekündigt werden können.
44 S. hierzu oben unter Rz. 8.4. die Ausführungen zu den unterschiedlichen Arten der Software-Lizenzverträge. 45 S. hierzu nachfolgend das Kapitel „Formen des Unternehmenskaufs und ihre Folgen für IT-Aspekte“ (Share Deal), Rz. 8.22 ff.
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C. Formen des Unternehmenskaufs und ihre Folgen für IT-Aspekte
Rz. 8.25 Kap. 8
Soweit der Käufer entsprechende Kündigungsrechte im Rahmen der Due Diligence identifiziert hat, ist zu überlegen, ob es sinnvoll ist, den jeweiligen Vertragspartner im Vorfeld des Abschlusses des Unternehmenskaufvertrags zu einem Verzicht auf sein Kündigungsrecht zu bewegen. Soweit dies aus Geheimhaltungs- oder sonstigen Gründen nicht gewünscht oder nicht möglich ist, muss im Unternehmenskaufvertrag geregelt werden, wer das Risiko einer solchen Kündigung tragen soll. Soweit nicht anderweitig geregelt, wird dies regelmäßig der Käufer sein.
8.23
II. Asset Deal 1. Grundsätzliches Gegenüber dem Share Deal stellt sich die Situation beim Asset Deal wesentlich komplizierter und komplexer dar. Der Asset Deal zeichnet sich dadurch aus, dass die Parteien einen Kaufund Übertragungsvertrag über die dem Zielunternehmen zugeordneten und auf den Käufer zu übertragenden Wirtschaftsgüter (Sachen, Rechte, Arbeitsverhältnisse, Verträge und ggf. Verbindlichkeiten) im Wege der Einzelrechtsnachfolge schließen. Die Einzelrechtsnachfolge bedeutet im Hinblick auf IT-relevante Sachverhalte, dass jede Hardware-Komponente, jeder Software-Lizenzvertrag, jeder Wartungs-/Pflegevertrag sowie sonstige Dienstleistungsverhältnisse und ggf. die Arbeitsverhältnisse der IT-Mitarbeiter des Zielunternehmens46 gesondert übertragen werden müssen. Nicht selten bedarf es für diese Übertragung, wie erwähnt, der Zustimmung der jeweiligen Vertragspartner.
8.24
2. Besonderheit: Die Übertragung von Software-Lizenzverträgen beim Asset Deal a) Grundsätzliches Unter welchen Voraussetzungen Software-Lizenzverträge bei einem Asset Deal vom Verkäuferunternehmen auf das Käuferunternehmen übertragen werden können, ist eine vielschichtige Thematik, die intensiv diskutiert wird und insbesondere in den letzten Jahren durch die vom EuGH47 und BGH48 im Zusammenhang mit dem Erwerb von sog. Gebrauchtsoftware entgangenen (UsedSoft-)Entscheidungen eine neue Dynamik und Entscheidungsparameter erhalten hat. Im Wesentlichen hat man bei der Übertragung von Software-Lizenzverträgen im Rahmen eines Asset Deals zu differenzieren zwischen a) Software-Lizenzverträgen, bei denen Software gegen Einmalvergütung unbefristet und b) Software-Lizenzverträgen, bei denen Software gegen eine wiederkehrende Vergütung befristet überlassen wird49. Während die Übertragung von ersteren in der Regel – insbesondere nach den zur Gebrauchtsoftware ergangenen Entscheidungen – relativ unproblematisch möglich ist, unterliegt die Übertragung von befristet überlassenen Software-Lizenzen gegen eine wiederkehrende Vergütung in der Regel zahlreichen Restriktionen.
46 Ggf. gehen die Arbeitsverhältnisse im Rahmen eines Betriebsübergangs gem. § 613a BGB automatisch über, soweit die betreffenden Mitarbeiter dem Übergang nicht widersprechen. 47 EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, NJW 2012, 2565. 48 BGH v. 17.7.2013 – I ZR 129/08, CR 2014, 168 („UsedSoft II“); BGH V. 11.12.2014 – I ZR 8/12 („UsedSoft III“). 49 S. zu den verschiedenen Formen der Softwareüberlassung und der Software-Lizenzverträge oben Rz. 8.4.
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8.25
Kap. 8 Rz. 8.26
IT und Datenschutz
b) Die gesetzliche Ausgangsregelung: § 34 Abs. 1, 3, 5 UrhG
8.26 Wie oben unter Rz. 8.3 bereits dargestellt, sind Software-Lizenzen urheberrechtlich eingeräumte Nutzungsrechte. Sowohl ein ausschließliches wie ein einfaches Nutzungsrecht kann gem. § 34 Abs. 1 UrhG grundsätzlich nur mit Zustimmung des Urhebers übertragen werden50. Der Urheber darf dabei gem. § 34 Abs. 1 Satz 2 UrhG die Zustimmung zwar nicht wider Treu und Glauben verweigern. De facto bedeutet dies jedoch eine wesentliche Einschränkung des Lizenzgebers. Als Grundsatz gilt, dass der Urheber der Übertragung nicht zustimmen muss, es sei denn, eine Verweigerung ist willkürlich. Die Verweigerung verstößt nur dann gegen Treu und Glauben, wenn der Urheber keinen sachlichen Grund hat, wenn also weder seine urheberpersönlichkeitsrechtlichen Belange noch sein Verwertungsinteresse einer Weiterübertragung entgegenstehen51.
8.27 Eine für den Unternehmenskauf im Wege des Asset Deals wichtige Ausnahme vom Zustimmungserfordernis des § 34 Abs. 1 UrhG ergibt sich aus § 34 Abs. 3 Satz 1 UrhG. Danach kann ein Nutzungsrecht auch ohne Zustimmung des Urhebers übertragen werden, wenn die Übertragung im Rahmen der Gesamtveräußerung eines Unternehmens oder der Veräußerung von Teilen eines Unternehmens geschieht. Dies entspringt dem praktischen Bedürfnis, bei derartigen umfangreichen Geschäften nicht von allen Urhebern die erforderliche Zustimmung einholen zu müssen52. Unternehmen i.S.d. § 34 Abs. 3 Satz 1 UrhG ist jede auf Dauer angelegte Zusammenfassung wirtschaftlicher und finanzieller Mittel, welche als Einheit am Wirtschaftsleben teilnimmt. Gleichgültig ist, in welcher Rechtsform das Unternehmen organisiert ist und auftritt, auch das Handelsgeschäft eines Einzelkaufmanns und eine GbR (§§ 705 ff. BGB) kommen als Unternehmen in Frage53. Als Teil eines Unternehmens gilt im Rahmen dieser Norm nicht nur der rechtlich, sondern auch der bloß fachlich abgrenzbare Teil. Dieser kann sich aus dem Gegenstand, dem Inhalt, der Tendenz oder der Richtung der zur verwerteten Werke, aus ihrer Verwertungsform oder aus sonstigen Gesichtspunkten ergeben54. Zwar kann der Urheber das Nutzungsrecht auch beim Asset Deal zurückrufen, wenn ihm die Ausübung des Nutzungsrechts durch den Erwerber nach Treu und Glauben nicht zuzumuten ist, § 34 Abs. 3 Satz 2 UrhG. Unzumutbarkeit wird im Fall der Übertragung von Standard-Software aber grundsätzlich nicht vorliegen55.
8.28 Allerdings ist § 34 Abs. 3 Satz 1 UrhG gem. § 34 Abs. 5 Satz 2 UrhG dispositiv56. Daher muss es nicht verwundern, wenn in zahlreichen Lizenzbedingungen der Softwarehersteller die Möglichkeit der Übertragung des Nutzungsrechts ohne Zustimmung des Lizenzgebers typischerweise ausgeschlossen wird. Die Zustimmung des Lizenzgebers wäre damit wieder erforderlich57. Fraglich ist allerdings, ob derartige vertragliche Übertragungsverbote wirksam sind. Für die Antwort kommt es darauf an, ob die Software gegen Einmalvergütung auf Dauer oder gegen wiederkehrende Vergütung befristet überlassen wurde58.
50 51 52 53 54 55 56 57 58
S. hierzu auch Buss, CR 2018, 78. Wandtke/Grunert in Wandtke/Bullinger, UrhG, § 34 Rz. 11-1. Wandtke/Grunert in Wandtke/Bullinger, UrhG, § 34 Rz. 17; s. hierzu auch Buss, CR 2018, 78. Wandtke/Grunert in Wandtke/Bullinger, UrhG, § 34 Rz. 18-19. Wandtke/Grunert in Wandtke/Bullinger, UrhG, § 34 Rz. 18-19. Buss, CR 2018, 78. S. hierzu im Einzelnen Wandtke/Grunert in Wandtke/Bullinger, UrhG, § 34 Rz. 37 ff. Buss, CR 2018, 78. So auch Buss, CR 2018, 78, der zwischen Software-Kauf und Software-Miete differenziert.
780
Lensdorf/Bloß
C. Formen des Unternehmenskaufs und ihre Folgen für IT-Aspekte
Rz. 8.31 Kap. 8
c) Softwareüberlassung auf Dauer gegen Einmalvergütung – der Erschöpfungsgrundsatz gem. § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG aa) Grundsatz Gemäß § 69c Nr. 3 Satz 1 UrhG hat der Rechtsinhaber u.a. das ausschließliche Recht, jede Form der Verbreitung des Originals eines Computerprogramms oder von Vervielfältigungsstücken, einschließlich der Vermietung vorzunehmen oder zu gestatten. Wird allerdings ein Vervielfältigungsstück eines Computerprogramms mit Zustimmung des Rechtsinhabers im Gebiet der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum im Wege der Veräußerung in Verkehr gebracht, so erschöpft sich das Verbreitungsrecht in Bezug auf dieses Vervielfältigungsstück mit Ausnahme des Vermietrechts, § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG (sog. „Erschöpfungsgrundsatz“).
8.29
Nach der UsedSoft-Entscheidung des EuGH59 sowie den im Nachgang dazu ergangenen Entscheidungen des BGH60 steht fest, dass der Erwerber nach § 69d Abs. 1 UrhG ein gesetzliches Nutzungsrecht erlangt, wenn sich das Verbreitungsrecht des Urhebers an der überlassenen Kopie nach § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG erschöpft hat. Die Ausübung dieses gesetzlichen Nutzungsrechts kann der Software-Lizenzgeber nicht durch vertragliche Regelungen im Software-Lizenzvertrag ausschließen61. Dies gilt nicht nur dann, wenn der Urheberrechtsinhaber die Kopien seiner Software auf einem Datenträger (CD-ROM oder DVD) vermarktet, sondern auch dann, wenn er sie durch Herunterladen von seiner Internetseite verbreitet62.
8.30
Erforderlich für das Eingreifen des Erschöpfungsgrundsatzes und die Übertragung einer Software-Lizenz im Rahmen eines Asset Deals ist danach das Vorliegen folgender Voraussetzungen63:
8.31
– Die Software muss rechtmäßig im Gebiet der Europäischen Gemeinschaft oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum mit Zustimmung des Berechtigten in Verkehr gebracht worden sein. – Die Überlassung muss als Veräußerung auf unbestimmte bzw. unbeschränkte Zeit erfolgt sein. Als Veräußerung in diesem urheberrechtlichen Sinne und Überlassung auf unbestimmte Zeit reicht es, das Recht zur Nutzung für die gesamte Zeit der Funktionsfähigkeit des Computerprogramms einzuräumen. Ist diese Zeit begrenzt, ist dies unschädlich für die Erschöpfung64.
59 EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, CR 2012, 498. 60 BGH v. 17.7.2013 – I ZR 129/08, CR 2014, 168 („UsedSoft II“); BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/12 („UsedSoft III“). 61 Wolff-Rojczyk, ITRB 2014, 75; zu häufig anzutreffenden Klauseln und deren rechtlicher Einordnung s. Redeker, ITRB 2013, 68. 62 Schneider in Schneider, Handbuch EDV-Recht, 5. Aufl. 2017, G. Urheberrechtsschutz für Software, Rz. 220: „Mit der Rspr. des EuGH und des BGH zu Oracle/UsedSoft bzw. adobe/UsedSoft ist die Frage nun geklärt: Erschöpfung tritt auch bei Online-Bezug ein, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, insb. die Überlassung ohne zeitliche Begrenzung erfolgt …“. 63 S. hierzu im Einzelnen Schneider in Schneider, Handbuch EDV-Recht, 5. Aufl. 2017, G. Urheberrechtsschutz für Software, Rz. 218. 64 BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, MDR 2016, 227 = NJW 2015, 3576.
Lensdorf/Bloß
781
Kap. 8 Rz. 8.32
IT und Datenschutz
bb) Besonderheit Volumenlizenzen
8.32 Erleichtert somit der Erschöpfungsgrundsatz gem. § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG zumindest die Übertragung von unbefristeten, gegen Einmalvergütung eingeräumten Software-Lizenzen im Rahmen des Unternehmenskaufs erheblich, so sind gleichwohl einige Besonderheiten zu beachten. Eine dieser Besonderheiten, die für den Unternehmenskauf von großer Bedeutung sein können, ist die Frage ob bzw. unter welchen Voraussetzungen sog. „Volumenlizenzen“ aufgespalten werden können. Volumenlizenzen sind Lizenzen, die die Nutzung mehrerer eigenständiger Kopien des Computerprogramms erlauben65. Dabei geht es vorrangig um die Frage, ob eine Aufspaltung einzelner Lizenzen in der Weise vorgenommen werden kann, dass ein Teil der Lizenzen bei der veräußernden Einheit verbleibt, während ein anderer Teil der Lizenzen auf den Erwerber übertragen wird.
8.33 Dem BGH66 folgend ist bei der Beantwortung dieser Frage zwischen a) unselbständigen Lizenzen, insbesondere Client/Server-Lizenzen, bei der die Software auf einem Server gespeichert wird, auf den eine bestimmte Zahl von Nutzern Zugriff erhält und b) Lizenzen mit selbständigen Kopien, zu unterscheiden. Während erstere grundsätzlich nicht aufspaltbar sind67, sind letztere in der Regel durchaus aufspaltbar68. Dass eine Client/Server-Lizenz nicht aufgespalten werden kann, ist schon deshalb überzeugend, weil die Software auch auf dem Server des Ersterwerbers verbleiben muss, damit dieser sie weiter nutzen kann. Das wiederum führte – bei gleichzeitiger und dauerhafter Speicherung der Software auf einem Server des Zweiterwerbers – zu einer in jedem Fall urheberrechtswidrigen Lizenzvermehrung69. Anders ist die Situation hingegen bei nicht server-basierten Volumenlizenzen. Hier handelt es sich entsprechend der „UsedSoft III“-Entscheidung des BGH70 um jeweils selbständige Nutzungsrechte, die eigenständig übertragen werden können71. d) Befristete Softwareüberlassung
8.34 Die vorstehend unter Rz. 8.29 dargestellten Grundsätze, insbesondere die Auswirkungen des Erschöpfungsgrundsatzes gem. § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG gelten nur für die dauerhafte Softwareüberlassung. Bei der befristeten Softwareüberlassung findet der Erschöpfungsgrundsatz aufgrund der fehlenden Veräußerung keine Anwendung. Konsequenterweise ist bei einem Asset Deal die Übertragung befristeter Softwareüberlassungsverträge in der Regel immer von einer entsprechenden Zustimmung des Lizenzgebers abhängig.
65 Buss, CR 2018, 78 m.w.N. 66 BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, MDR 2015, 847 = CR 2015, 429 – UsedSoft III, Rz. 44 und 45. 67 So bereits EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, CR 2012, 498 – Oracle/UsedSoft, (Ls. 1, Rz. 69 und „Erinnerung“ in Rz. 86) in Bezug auf ein Client/Server-Modell: „Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Erschöpfung des Verbreitungsrechts nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2009/24 den Ersterwerber nicht dazu berechtigt, die von ihm erworbene Lizenz, falls sie, wie in den Rz. 22 und 24 des vorliegenden Urteils ausgeführt, für eine seinen Bedarf übersteigende Zahl von Nutzern gilt, aufzuspalten und das Recht zur Nutzung des betreffenden Computerprogramms nur für eine von ihm bestimmte Nutzerzahl weiterzuverkaufen.“ 68 Ausführlich zu dieser Problematik Schneider in Schneider, Handbuch EDV-Recht, 5. Aufl. 2017, G. Urheberrechtsschutz für Software, Rz. 225 sowie Rz. 432 ff. 69 Buss, CR 2018, 78. 70 BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, MDR 2015, 847 = CR 2015, 429. 71 Schneider, CR 2015, 413.
782
Lensdorf/Bloß
D. Trennung bzw. Herauslösung der IT-Systeme
Rz. 8.39 Kap. 8
D. Trennung bzw. Herauslösung der IT-Systeme I. Ausgangslage In einem Unternehmenskonzern wird die IT oftmals zentral für sämtliche Konzerngesellschaften bzw. Geschäftsbereiche gebündelt durch eine Konzerngesellschaft bzw. einen Geschäftsbereich erbracht. Soll im Rahmen des Unternehmensverkaufs eine Gesellschaft oder ein Geschäftsbereich veräußert werden, erfordert dies eine Trennung und Herauslösung der IT-Systeme aus dem Unternehmeskonzern.
8.35
Eine Separierung der IT-Systeme erfordert neben der technischen insbesondere auch eine rechtliche Trennung der IT-Systeme. Dazu sind in einem ersten Schritt sämtliche IT-Assets und IT-Rechte daraufhin zu untersuchen, ob und wenn ja, welchem Unternehmen bzw. Geschäftsbereich sie zuzuweisen sind. Oft wird eine klare Zuweisung auf das Zielunternehmen nicht möglich sein, da die Verkäufergruppe auf die Weiternutzung der IT nach Closing ebenfalls – zumindest teilweise – angewiesen ist. Sofern rechtlich möglich (was im Einzelfall jeweils zu prüfen ist), behelfen sich die Parteien eines Unternehmenskaufs in einem solchen Fall oftmals dadurch, dass sie sich bloße Nutzungsrechte einräumen, z.B. als zeitlich beschränkte Unterlizenzen.
8.36
Der erforderliche Umfang der Trennung der IT hängt grundsätzlich nicht davon ab, ob der Unternehmenskauf im Wege eines Asset Deals oder Share Deals erfolgt. Allerdings gestaltet sich die Trennung der IT bei einem Asset Deal regelmäßig komplizierter, da die IT bei einem rechtlich selbständigen Konzernunternehmens oftmals jedenfalls schon teilweise separiert ist.
8.37
II. Besonderheiten bei Carve-out-Transaktionen Die Trennung der IT ist insbesondere im Rahmen einer „Carve-out“ Transaktion als vorbereitende Maßnahme des Unternehmenskaufs ein Thema. Beim Carve-out wird ein Geschäftsbereich aus dem Verkäuferunternehmen herausgelöst unter gleichzeitiger Übertragung auf einen rechtlich selbständigen Unternehmensträger, dessen Anteile dann an den Käufer veräußert werden72.
8.38
In der Praxis bringt der Verkäufer den Geschäftsbereich (bestehend aus Assets, Verträgen und sonstigen Rechten und Pflichten) oftmals zunächst in eine neu gegründete Tochtergesellschaft ein, und zwar entweder im Wege der Einzelrechtsnachfolge oder im Wege der Gesamtrechtsnachfolge. Dabei wird die Frage der rechtlichen Strukturierung des Carve-outs insbesondere durch steuerliche Gesichtspunkte, nämlich dem Ziel der Sicherung der Steuerneutralität der Vermögensübertragung, bestimmt. Aus zivil- bzw. gesellschaftsrechtlicher Sicht ist bei der Wahl zwischen der Einzel- oder Gesamtrechtsnachfolge nach dem Umwandlungsgesetz (UmwG) zu berücksichtigen, dass bestimmte Vermögensgegenstände, insbesondere Verträge, wie ausgeführt, nur mit Zustimmung Dritter übertragen werden können73. Dies spricht für eine Übertragung im Wege der Gesamtrechtsnachfolge. Nachteil einer umwandlungsrechtlichen Übertragung ist allerdings die fünfjährige gesamtschuldnerische Nachhaftung der an der Spaltung beteiligten Rechtsträger (§ 133 UmwG).
8.39
72 Vgl. Bungert/Rogier, DB 2017, 2977. 73 S. dazu Schreier/Leicht, NZG 2011, 121 ff.
Lensdorf/Bloß
783
Kap. 8 Rz. 8.40
IT und Datenschutz
8.40 Bei komplexeren Unternehmen umfasst der vom Carve-out betroffene Geschäftsbereich oftmals eine Vielzahl von Ländern sowie verschiedene in- und ausländische Konzerngesellschaften. Dann müssen ggf. aus jeder ausländischen Konzerngesellschaft die zu dem Geschäftsbereich gehörenden Vermögensgegenstände bzw. IT-Rechtsverhältnisse aus den einzelnen ausländischen Konzerngesellschaften herausgelöst und auf eine neu zu gründende ausländische Tochtergesellschaft der Zielgesellschaft unter Beachtung des jeweiligen ausländischen Rechts übertragen werden.
8.41 Nach Implementierung des Carve-outs veräußert der Verkäufer dann die Anteile an der Tochtergesellschaft an den Käufer. Dies bringt für den Verkäufer den nicht zu unterschätzenden Vorteil mit sich, dass der Käufer auf die Zusammenstellung des Geschäftsbereichs keinen Einfluss nehmen kann. Zudem gestaltet sich die anschließende Veräußerung als Share Deal ungleich einfacher als ein Asset Deal. Ein weiterer Vorteil einer zeitlich vorangehenden Einbringung des Geschäftsbereichs in eine neu gegründete Tochtergesellschaft ist der Umstand, dass dadurch die mit einer Trennung von Geschäftsbereichen unvermeidlich verbundenen und oftmals nicht unproblematischen Abstimmungsprozesse mit den Mitarbeitern leichter umgesetzt werden können.
8.42 Erfolgt die Veräußerung des Geschäftsbereichs an den Käufer im Wege eines Asset Deals liegt dies oftmals darin begründet, dass für die Durchführung eines zeitlich vorgelagerten Carveouts in eine 100%ige Tochtergesellschaft nicht mehr ausreichend Zeit ist. Allerdings wird bei einer verhältnismäßig überschaubaren Transaktionsgröße ein direkter Asset Deal gegenüber einem separat vorgeschaltetem Carve-out regelmäßig vorzugswürdig sein, zumal auf diese Weise ein steuerliches Abschreibungspotential für den Käufer geschaffen werden kann.
III. Zeitpunkt für IT-Trennung 8.43 Von besonderer Bedeutung bei der Trennung der IT ist die Frage, in welcher zeitlichen Phase der Unternehmenstransaktion die Trennung der IT erfolgen soll, also vor Unterzeichnung des Kaufvertrages, zwischen Signing und Closing des Kaufvertrages oder nach Closing.
8.44 Wenn die IT-Trennung im Rahmen eines Carve-Outs erfolgt, sollte die Herauslösung unbedingt vor dem Eintritt in die Verkaufsphase durchgeführt werden. Dadurch wird vermieden, dass der Käufer auf die konkrete Ausstattung des Carve-Out Geschäftsbereichs Einfluss nimmt74. Wenn der Carve-out nicht mehr vor dem Signing ausgeführt werden kann, wird die Trennung regelmäßig bis zum Closing vollzogen und der Verkäufer versuchen, durch entsprechende Regelungen im Kaufvertrag die Einflussnahme des Käufers weitestgehend auf bloße Informations- und Konsultationspflichten zu beschränken.
8.45 Erfolgt die Trennung der IT außerhalb eines Carve-outs wird sie oftmals erst nach Closing erfolgen können, da das Verkäuferunternehmen die vom Zielunternehmen genutzte IT für die Fortführung des eigenen Geschäftsbetriebs benötigt. Daher werden Verkäufer und Käufer vereinbaren, dass das Zielunternehmen für einen gewissen Zeitraum nach Closing auf der Grundlage eines Transitional Services Agreements die IT weiter nutzen kann.
74 Bungert/Rogier, DB 2017, 2977.
784
Lensdorf/Bloß
D. Trennung bzw. Herauslösung der IT-Systeme
Rz. 8.50 Kap. 8
IV. Übertragung bzw. Teilung von IT-Lizenzen/Dienstleistungsverträgen und IT-Hardware 1. Einzelrechtsnachfolge Erfolgt die Trennung der IT bzw. der Carve-out im Wege der Einzelrechtsnachfolge, d.h. als Asset Deal, erfordert die Übertragung (sofern nicht eine freie Übertragung aufgrund eingetretener Erschöpfung möglich ist; s. hierzu oben Rz. 8.29) der relevanten Verträge Nutzungs- (Software-Lizenz) und Dienstleistungsverträge (z.B. Pflege-/Wartungsverträge) bzw. deren Teilung die Zustimmung der dritten Vertragspartei. Wird diese Zustimmung nicht erteilt, einigen sich die Parteien regelmäßig darauf, dass sie sich weiter um die Zustimmungserteilung bemühen müssen und sich im Innenverhältnis wirtschaftlich so behandeln, als ob eine Übertragung bzw. Teilung des relevanten Vertrags erfolgt ist.
8.46
Dagegen kann eine Trennung bzw. Teilung der IT-Hardware einfach durch Übertragung des Eigentums an den einzelnen Geräten nach §§ 929 ff. BGB erfolgen. Hierbei muss der sachenrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz beachtet werden. Dies erfolgt regelmäßig durch eine Zuordnung in Listen. Da eine Auflistung aller Assets aber rein tatsächlich nicht immer möglich ist, muss man sich oftmals mit Auffangklauseln behelfen, wonach auch alle sonstigen dem Geschäftsbereich zuzuordnenden Gegenstände übertragen werden.
8.47
Schließlich kommt als Alternative zur Vollrechtsübertragung, z.B. im Fall des fehlenden Eigentums, die Einräumung eines Nutzungsrechts in Betracht, wobei dies regelmäßig nur zeitlich befristet für eine Transition Period erfolgt.
8.48
2. Gesamtrechtsnachfolge Im Vergleich zur Einzelrechtsnachfolge bietet eine Trennung der IT bzw. ein Carve-out im Wege der Gesamtrechtsnachfolge den nicht zu unterschätzenden Vorteil bei Übertragungen von Vertragsverhältnissen, dass die Zustimmung der anderen Vertragspartei nicht erforderlich ist. Vertragsverhältnisse können demnach im umwandlungsrechtlichen Spaltungsvertrag einem übernehmenden Rechtsträger zugewiesen werden mit der Folge, dass sie als solche inklusive all ihrer Rechtspositionen und Verpflichtungen übergehen. Der Schutz des Vertragspartners ist dadurch sichergestellt, dass ihm gegebenenfalls ein außerordentliches Kündigungsrecht zusteht75, wenn er nicht schon aufgrund einer Change-of-Control Klausel den Vertrag wegen der Änderung der Kontrollverhältnisse kündigen kann76.
8.49
a) Software-Lizenzen und IT-Dienstleistungsverträge Software-Lizenzen und andere IT-Dienstleistungsverträge können im Zuge der (partiellen) Gesamtrechtsnachfolge grundsätzlich auf verschiedene Rechtsträger aufgeteilt werden. Das gilt zweifelsfrei für die Aufteilung von Leistung und Gegenleistung sowie die Aufteilung einzelner Ansprüche und Verbindlichkeiten, soweit die Aufteilung keine Leistungsänderung des Vertragsanspruches zur Folge hat77. Aber auch eine reale Vertragsaufteilung auf verschiedene 75 Bungert/Rogier, DB 2017, 2977. 76 Sofern die Vertragsauslegung ergibt, dass konzerninterne Übertragungen noch keinen Kontrollwechsel auslösen, ist zu berücksichtigen, dass die Anteile an der Zielgesellschaft zeitnah veräußert werden sollen; vgl. Schreier/Leicht, NZG 2011, 121 (124). 77 S. Hörtnagl in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 7. Aufl. 2017 § 131 Rz. 52 f.
Lensdorf/Bloß
785
8.50
Kap. 8 Rz. 8.51
IT und Datenschutz
Rechtsträger ohne Zustimmung der dritten Vertragspartei ist nach zutreffender Auffassung grundsätzlich möglich78.
8.51 Ist die Aufteilung eines Vertrages tatsächlich oder rechtlich nicht möglich, kommen neben einem Vertragsbeitritt der Zielgesellschaft insbesondere vertragliche Auffanglösungen in Betracht. Danach stellen sich die Parteien im Innenverhältnis (soweit das rechtlich, insbesondere nach den Bedingungen des jeweiligen Vertrages, zulässig ist) wirtschaftlich so, wie sie stehen würden, wenn die Teilung des Vertrages erfolgt wäre, einschließlich des Abschlusses von Unterverträgen oder Unterlizenzverträgen. b) IT-Hardware
8.52 Der Vorteil der Gesamtrechtsnachfolge bei der Hardware besteht insbesondere darin, dass die zu übertragenden Vermögensgegenstände nicht näher bezeichnet werden müssen. Diese Erleichterung hat bei einer Spaltung allerdings keine wesentliche Bedeutung. Denn die Anforderungen an die Bestimmtheit der Angaben zur Vermögensaufteilung im Spaltungsvertrag unterscheiden sich nicht wesentlich von den Anforderungen des sachenrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes79. Ausreichend ist die Bestimmbarkeit der übergehenden Vermögensgegenstände. Dafür wird zum einen auf eine gesondert erstellte Spaltungsbilanz verwiesen, in der die übergehenden Vermögensgegenstände als Sammelposten aufgeführt sind. Diese müssen dann zusammen mit den Buchungsunterlagen eine Zuweisung ergeben können. Zudem sollten ergänzend auch Listen bzw. sog. Allklauseln80 verwendet, wonach eventuell vergessene Gegenstände einem der beteiligten Rechtsträger zugewiesen werden81.
V. Transitional Service Agreements 8.53 Die IT-Infrastruktur, die Applikationen sowie die damit verbundenen Dienstleistungen (Wartung, Pflege und sonstiger Support) werden in Konzernen häufig durch eine Konzerngesellschaft zentral bereitgestellt. Nach einem Unternehmensverkauf müssen diese Funktionen durch eine Konzerngesellschaft der Käuferin oder die Zielgesellschaft übernommen werden. Eine solche Übernahme nimmt aber in der Praxis viel Zeit in Anspruch. Um sicherzustellen, dass die Zielgesellschaft ihren Geschäftsbetrieb aufrechterhalten kann, wird daher häufig in einem sog. Transitional Service Agreement (TSA) vereinbart, dass insbesondere bestimmte ITLeistungen für einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren noch von dem Verkäuferunternehmen erbracht werden.
E. IT-Garantien im Unternehmenskaufvertrag 8.54 Angesichts der zunehmenden Bedeutung der IT für den Geschäftsbetrieb eines Unternehmens sollten die Garantien dazu im Unternehmenskaufvertrag sorgfältig ausgestaltet werden. 78 S. Simon in KK UmwG, 2009, § 131 Rz. 31 m.w.N. Die ablehnende Auffassung, s. Hörtnagl in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 7. Aufl. 2017 § 131 Rz. 57 m.w.N. argumentiert, eine Aufteilung einheitlicher vertraglicher Leistungspflichten verändere diese derart stark, dass von einer unzulässigen Inhaltsänderung auszugehen sei. 79 S. Hörtnagl in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 6. Aufl. 2015 § 126 Rz. 76 ff. 80 S. Hörtnagl in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG, 6. Aufl. 2015 § 126 Rz. 76 ff. 81 S. BGH v. 8.10.2003 – XII ZR 50/02, AG 2004, 98 = NZG 2003, 1172 (1174).
786
Lensdorf/Bloß
F. Datenschutzrecht
Rz. 8.56 Kap. 8
Dabei sollten die IT-Garantien folgende Bereiche erfassen82: (i) Vollständigkeit der benötig- 8.55 ten IT-Systeme (Hardware und Software) sowie Rechtsinhaberschaft, (ii) Abgrenzung zu den übrigen Garantien im Unternehmenskaufvertrag, insbesondere zu den IP-Garantien mit Blick auf Software sowie (iii) Fortbestand der IT-Verträge sowie die Behandlung von Change-ofControl Klauseln. Oftmals werden auch besondere Garantien für konkrete Individualsoftware in dem Unternehmenskaufvertrag aufgenommen.
F. Datenschutzrecht I. Grundsätzliches 1. Bedeutung des Datenschutzes Das Datenschutzrecht hat in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Ein Umstand, der auch bei Unternehmenskäufen nicht ohne Folgen geblieben ist. Dies gilt auch und insbesondere vor dem Hintergrund der seit dem 25.5.2018 anwendbaren Datenschutzgrundverordnung („DSGVO“), die für den Fall der Verletzung datenschutzrechtlicher Pflichten teilweise drakonische Sanktionen vorsieht83. So bestimmt Art. 83 Abs. 5 DSGVO, dass bei der Verletzung bestimmter datenschutzrechtlicher Bestimmungen Geldbußen von bis zu 20 000 000 Euro oder im Fall eines Unternehmens84 von bis zu 4 % seines gesamten weltweit erzielten Jahresumsatzes des vorangegangenen Geschäftsjahrs verhängt werden können85. Art. 83 Abs. 1 DSGVO legt darüber hinaus fest, dass die von den Aufsichtsbehörden im Fall von Verstößen gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen festzulegenden Geldbußen u.a. auch eine abschreckende Wirkung zu sein haben86. Neben der Gefahr einer Sanktion in Form einer Geldbuße sind gerade vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung des Datenschutzes und der diesbzgl. gestiegenen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit immer auch monetär weniger bzw. schwieriger zu fassende Konsequenzen wie z.B. Reputationsschäden oder Vertrauensverlust zu berücksichtigen, die ein datenschutzwidriges Handeln zur Folge haben kann. 82 S. hierzu auch Grützmacher, IT-Garantien im Unternehmenskaufvertrag – Problemfelder und Herausforderungen, CR 2017, 701; zu Garantien mit Bezug auf den Datenschutz s. Punte/Rhode, DB 2018, 2161. 83 S. hierzu auch die Pressemitteilung des Bayerischen Landesamts für Datenschutzaufsicht vom 30.7.2015, abrufbar unter: https://www.lda.bayern.de/media/pm2015_10.pdf. Das Bayerische Landesamt für Datenschutzaufsicht hatte danach Verkäufer und Käufer eines Unternehmens wegen eines Verstoßes gegen die datenschutzrechtlichen Vorschriften im Umgang mit Kundendaten mit einem erheblichen Bußgeld belegt. 84 Zur Frage, wie der Unternehmensbegriff der DSGVO zu verstehen ist, insbesondere im Hinblick auf den kartellrechtlichen Unternehmensbegriff der Art. 101, 102 AEUV, s. Punte/Rhode, DB 2018, 2161. 85 Die Höhe der zu verhängenden Geldbuße hängt wesentlich davon ab, gegen welche datenschutzrechtlichen Pflichten verstoßen wurde. So sieht Art. 83 Abs. 4 DSGVO – abweichend von den Bestimmungen, die gem. Art. 83 Abs. 5 DSGVO im Fall einer Verletzung Geldbußen von bis zu 20 000 000 Euro oder im Fall eines Unternehmens von bis zu 4 % seines gesamten weltweit erzielten Jahresumsatzes des vorangegangenen Geschäftsjahrs nach sich ziehen können – Geldbußen von bis zu 10 000 000 Euro oder im Fall eines Unternehmens von bis zu 2 % seines gesamten weltweit erzielten Jahresumsatzes des vorangegangenen Geschäftsjahrs vor. 86 Art. 83 Abs. 1 DSGVO: „Jede Aufsichtsbehörde stellt sicher, dass die Verhängung von Geldbußen gemäß diesem Artikel für Verstöße gegen diese Verordnung gemäß den Abs. 5 und 6 in jedem Einzelfall wirksam, verhältnismäßig und abschreckend ist.“
Lensdorf/Bloß
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8.56
Kap. 8 Rz. 8.57
IT und Datenschutz
8.57 Datenschutzrechtliche Themen treten im Rahmen eines Unternehmenskaufs typischerweise insbesondere an zwei Stellen auf87: zum einen im Rahmen der Due Diligence, wenn es darum geht, ob bzw. inwieweit Informationen des Zielunternehmens, die personenbezogene Daten umfassen bzw. beinhalten, Bietern und Interessenten offengelegt werden können. Zum anderen spielt der Datenschutz insbesondere im Rahmen des Vollzugs einer Transaktion eine sehr große Bedeutung, wenn es darum geht, dass personenbezogene Daten Dritten, in der Regel dem Erwerber, offengelegt werden. Zu denken ist diesbzgl. insbesondere an Mitarbeiterdaten, vor allem aber an Kundenverträge und entsprechende Kundendaten. Ein dritter Themenkomplex, auf den an dieser Stelle jedoch nicht weiter im Detail eingegangen werden soll, ist die Frage, inwieweit der Geschäftsbetrieb des Zielunternehmens insgesamt den datenschutzrechtlichen Anforderungen entspricht und mit diesen „compliant“ ist. 2. Grundprinzipien des Datenschutzes
8.58 Bei der Beurteilung datenschutzrechtlicher Themen im Zusammenhang mit einem Unternehmenskauf sind die zunächst zu klärenden Kernfragen, bei welchen Informationen es sich um personenbezogene Daten handelt, die datenschutzrechtlichen Anforderungen unterliegen sowie ob und wenn ja, in welcher Form, den im Rahmen eines Unternehmenskaufs durchgeführten Tätigkeiten eine datenschutzrechtliche Relevanz zukommt. Sind diese Kernfragen geklärt und geht es auf der nächsten Stufe darum, die datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen für die identifizierten Tätigkeiten zu bestimmen, so gilt es – unabhängig von möglichen datenschutzrechtlichen Detailregelungen – bestimmte datenschutzrechtliche Grundprinzipien zu beachten. a) Personenbezogene Daten
8.59 Der Begriff „Personenbezogene Daten“ ist in 4 Nr. 1 DSGVO legaldefiniert. Danach sind personenbezogene Daten alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen. Als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen identifiziert werden kann, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind. Um festzustellen, ob eine natürliche Person identifizierbar ist, sind alle Mittel zu berücksichtigen, die von dem Verantwortlichen oder einer anderen Person nach allgemeinem Ermessen wahrscheinlich genutzt werden, um die natürliche Person direkt oder indirekt zu identifizieren. Bei der Feststellung, ob Mittel nach allgemeinem Ermessen wahrscheinlich zur Identifizierung der natürlichen Person genutzt werden, sind alle objektiven Faktoren, wie die Kosten der Identifizierung und der dafür erforderliche Zeitaufwand, heranzuziehen, wobei die zum Zeitpunkt der Verarbeitung verfügbare Technologie und technologische Entwicklungen zu berücksichtigen sind88.
8.60 Vor dem Hintergrund des weiten Verständnisses des Begriffs der personenbezogenen Daten sind somit grds. auch pseudonymisierte Daten als personenbezogene Daten zu betrachten89. Eine Pseudonymisierung ist nach Art. 4 Nr. 5 DSGVO die „Verarbeitung personenbe87 S. auch BeckHdB M&A/Uwer/Jungkind, § 77 Rz. 1, 2. 88 S. ErwGr 26 DSGVO. 89 S. ErwGr 26 DSGVO, Satz 2: Einer Pseudonymisierung unterzogene personenbezogene Daten, die durch Heranziehung zusätzlicher Informationen einer natürlichen Person zugeordnet werden
788
Lensdorf/Bloß
F. Datenschutzrecht
Rz. 8.64 Kap. 8
zogener Daten in einer Weise, dass die personenbezogenen Daten ohne Hinzuziehung zusätzlicher Informationen nicht mehr einer spezifischen betroffenen Person zugeordnet werden können, sofern diese zusätzlichen Informationen gesondert aufbewahrt werden und technischen und organisatorischen Maßnahmen unterliegen, die gewährleisten, dass die personenbezogenen Daten nicht einer identifizierten oder identifizierbaren natürlichen Person zugewiesen werden“90. Keine personenbezogenen Daten, die dem Anwendungsbereich der DSGVO und dem seit dem 25.5.2018 ebenfalls geltenden neuen Bundesdatenschutzgesetz („BDSG n. F.“) unterfallen, sind Daten juristischer Personen sowie anonymisierte Daten natürlicher Personen, d.h. für Informationen, die sich nicht auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen, oder personenbezogene Daten, die in einer Weise anonymisiert worden sind, dass die betroffene Person nicht oder nicht mehr identifiziert werden kann91. Auch wenn Daten juristischer Personen vom Anwendungsbereich des Datenschutzrechts ausgenommen und somit beim Unternehmenskauf datenschutzrechtlich irrelevant sind, so darf nicht übersehen werden, dass Daten von juristischen Personen vielfach in Kombination mit Daten über natürliche Personen, personenbezogenen Daten, geführt werden, was dann wiederum die Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Anforderungen erfordert. Zu denken ist in diesem Zusammenhang beispielsweise an Kundendatenbanken, die regelmäßig Angaben zu den Ansprechpartnern, die es in den einzelnen Unternehmen gibt, enthalten92.
8.61
Von den „normalen“ personenbezogenen Daten zu differenzieren sind die sog. besonderen Kategorien personenbezogener Daten nach Art. 9 Abs. 1 DSGVO. Hierbei handelt es sich um Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie genetische Daten, biometrische Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung.
8.62
Die Bedeutung der Differenzierung zwischen „normalen“ personenbezogenen Daten einerseits und den besonderen Kategorien personenbezogener Daten andererseits besteht darin, dass die Anforderungen an die Verarbeitung von besonderen Kategorien personenbezogener Daten gem. § 9 DSGVO höher sind. So unterfällt die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten beispielsweise nicht den Erlaubnisnormen nach Art. 6 Abs. 1 lit. b bis f DSGVO, sondern den Erlaubnisnormen gem. Art. 9 Abs. 2 lit. a bis j DSGVO.
8.63
b) Verarbeitung von Daten Die maßgebliche datenschutzrechtlich relevante Tätigkeit besteht bei einem Unternehmenskauf im Wesentlichen darin, dass personenbezogene Daten Dritten, beispielsweise Bietern und Interessenten, offengelegt bzw. an diese weitergegeben werden (so insbesondere an den späteren Erwerber). Der in diesem Zusammenhang datenschutzrechtlich maßgebliche Ankönnten, sollten als Informationen über eine identifizierbare natürliche Person betrachtet werden. Etwas unklar in Bezug auf pseidonymisierte Daten BeckHdB M&A/Uwer/Jungkind, § 77 Rz. 5. 90 S. hierzu auch § 3 Abs. 6a BDSG a.F.: Pseudonymisieren ist das Ersetzen des Namens und anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen zu dem Zweck, die Bestimmung des Betroffenen auszuschließen oder wesentlich zu erschweren. 91 S. ErwGr 26 DSGVO, Satz 6: Diese Verordnung betrifft somit nicht die Verarbeitung solcher anonymer Daten, auch für statistische oder für Forschungszwecke. 92 S. Härting, CR 2017, 724.
Lensdorf/Bloß
789
8.64
Kap. 8 Rz. 8.65
IT und Datenschutz
knüpfungspunkt ist der Begriff der Verarbeitung. Die Verarbeitung bezeichnet nach Art. 4 Nr. 2 DSGVO jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung. c) Zentrale Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten
8.65 Die zentralen Grundsätze für die Verarbeitung und damit auch für die Offenlegung personenbezogener Daten im Zusammenhang mit einem Unternehmenskauf ergeben sich aus Art. 5 DSGVO: a) Rechtmäßigkeit, Verarbeitung nach Treu und Glauben, Transparenz (Art. 5 Abs. 1 lit. a): Personenbezogene Daten müssen auf rechtmäßige Weise, nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person nachvollziehbaren Weise verarbeitet werden. b) Zweckbindung (Art. 5 Abs. 1 lit. b): Personenbezogene Daten müssen für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden und dürfen nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden; eine Weiterverarbeitung für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke, für wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke gilt gem. Art. 89 Abs. 1 DSGVO nicht als unvereinbar mit den ursprünglichen Zwecken. c) Datenminimierung (Art. 5 Abs. 1 lit. c): Personenbezogene Daten müssen dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein. d) Richtigkeit (Art. 5 Abs. 1 lit. d): Personenbezogene Daten müssen sachlich richtig und erforderlichenfalls auf dem neuesten Stand sein; es sind alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit personenbezogene Daten, die im Hinblick auf die Zwecke ihrer Verarbeitung unrichtig sind, unverzüglich gelöscht oder berichtigt werden. e) Speicherbegrenzung (Art. 5 Abs. 1 lit. e): Personenbezogene Daten müssen in einer Form gespeichert werden, die die Identifizierung der betroffenen Personen nur so lange ermöglicht, wie es für die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, erforderlich ist; personenbezogene Daten dürfen länger gespeichert werden, soweit die personenbezogenen Daten vorbehaltlich der Durchführung geeigneter technischer und organisatorischer Maßnahmen, die von dieser Verordnung zum Schutz der Rechte und Freiheiten der betroffenen Person gefordert werden, ausschließlich für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke oder für wissenschaftliche und historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke gem. Art. 89 Abs. 1 DSGVO verarbeitet werden. f) Integrität und Vertraulichkeit (Art. 5 Abs. 1 lit. f)): Personenbezogene Daten müssen in einer Weise verarbeitet werden, die eine angemessene Sicherheit der personenbezogenen Daten gewährleistet, einschließlich Schutz vor unbefugter oder unrechtmäßiger Verarbeitung und vor unbeabsichtigtem Verlust, unbeabsichtigter Zerstörung oder unbeabsichtigter Schädigung durch geeignete technische und organisatorische Maßnahmen.
8.66 Für den Unternehmenskauf (sowohl für die Due Diligence als auch eine mögliche Übermittlung im Rahmen des Vollzugs) sind insbesondere die vorstehenden Grundsätze der Recht790
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F. Datenschutzrecht
Rz. 8.70 Kap. 8
mäßigkeit der Verarbeitung und Transparenz (Art. 5 Abs. 1 lit. a) sowie der Datenminimierung (Art. 5 Abs. 1 lit. c) von Bedeutung. Der Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Verarbeitung ist in Erwägungsgrund 40 der DSGVO und insbesondere Art. 6 DSGVO weiter spezifiziert. Damit die Verarbeitung rechtmäßig ist, müssen personenbezogene Daten mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen zulässigen Rechtsgrundlage verarbeitet werden, die sich aus der DSGVO oder – wann immer in der DSGVO darauf Bezug genommen wird – aus dem sonstigen Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten ergibt (Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt).
II. Offenlegung personenbezogener Daten im Rahmen der Due Diligence 1. Ausgangslage Im Rahmen einer Unternehmenstransaktion treten datenschutzrechtliche Aspekte im größe- 8.67 ren Umfang erstmalig im Zusammenhang mit der Due Diligence auf. Bei der Vorbereitung und Durchführung eines Unternehmenskaufs hat der Kaufinteressent ein zentrales Interesse u.a. daran, möglichst detaillierte Informationen über die Kunden und Mitarbeiter des Zielunternehmens zu erhalten. Dies gilt in besonderem Maße, wenn für das Geschäftsmodell des Zielunternehmens – wie in den meisten Fällen – der Bestand einzelner Kundenverhältnisse (soweit es sich hierbei um natürliche Personen handelt) sowie einzelne Mitarbeiter von besonderer Bedeutung sind (wie z.B. Geschäftsführer, Entwickler, Einkaufs- oder Vertriebsleiter). Bei diesen Informationen handelt es sich sehr häufig um personenbezogene Daten, deren Offenlegung datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen unterfällt. 2. Einrichten des Datenraums durch den Verkäufer Entsprechend den datenschutzrechtlichen Grundsätzen, insbesondere der Grundsätze der Rechtmäßigkeit, Zweckbindung und Datenminimierung, hängt die Beantwortung der Frage, welche personenbezogenen Daten in welchem Umfang zu welchem Zeitpunkt bei der Einrichtung des Datenraums offengelegt werden können, insbesondere von folgenden Aspekten ab:
8.68
a) Rechtsgrundlage Als Rechtsgrundlage wird in der Regel Art. 6 lit. f DSGVO in Betracht kommen93. Danach ist die Offenlegung als eine Form der Verarbeitung zulässig, wenn sie zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich ist und nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen (was insbesondere dann der Fall ist, wenn es sich bei der betroffenen Person um ein Kind handelt).
8.69
Dazu muss das Zielunternehmen als Verantwortlicher oder der Kaufinteressent (als Dritter) bei vernünftiger Betrachtungsweise auf die Offenlegung der Daten angewiesen sein. Das Interesse an der Offenlegung darf auf andere Weise nicht oder nicht angemessen gewahrt wer-
8.70
93 S. auch Taeger in Taeger/Gabel, Kommentar zum BDSG, § 28 Rz. 69, der in Bezug auf das bis zum 25.5.2018 geltende BDSG auf die mit Art. 6 lit. f DSGVO vergleichbare Rechtsgrundlage § 28 Abs. 1 Nr. 2 BDSG a.F. verweist; so auch Göpfert/Meyer, NZA 2011, 486 sowie BeckHdB M&A/ Uwer/Jungkind, § 77 Rz. 11.
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Kap. 8 Rz. 8.71
IT und Datenschutz
den können, wobei die Erforderlichkeit für jedes offen zu legende Datum gesondert zu prüfen ist94.
8.71 Besondere Sorgfalt und Aufmerksamkeit ist geboten, soweit es sich bei den offenzulegenden Daten um besondere Kategorien personenbezogener Daten nach Art. 9 Abs. 1 DSGVO handelt. In Bezug auf diese Daten ist Art. 6 lit. f DSGVO als Rechtsgrundlage für die Offenlegung nicht anwendbar. Für die Offenlegung besonderer Kategorien personenbezogener Daten finden ausschließlich die Erlaubnistatbestände nach Art. 9 Abs. 2 DSGVO Anwendung95. b) Vorliegen berechtigter Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten; Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung aa) Berechtigte Interessen
8.72 Zu den „berechtigten Interessen“ zählen nicht nur rechtliche, sondern auch tatsächliche, wirtschaftliche oder ideelle Interessen. Anders als noch nach dem Kommissionsentwurf für die DSGVO – und in Fortschreibung des Art. 7 lit. f DSRL – können auch Drittinteressen eine Datenverarbeitung legitimieren; Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO spricht ausdrücklich von „berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten“96. Das Bedürfnis des Zielunternehmens, im Rahmen einer Unternehmenstransaktion die für die Transaktion maßgeblichen Grundlagen gegenüber Kaufinteressenten offenzulegen und insoweit für Transparenz zu sorgen, ist inzwischen grundsätzlich üblich und Marktstandard. Dies gilt auch bzw. erst recht aus Sicht des/der Kaufinteressenten (dessen/deren Interessen im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO berücksichtigt werden können), für den/die ggf. sogar eine Pflicht zur Durchführung einer Due Diligence bestehen kann. Auch wenn das Vorliegen berechtigter Interessen stets im jeweiligen Einzelfall zu prüfen ist und sich eine generelle Bejahung des Vorliegens berechtigter Interessen des Zielunternehmens bzw. des/der Kaufinteressenten verbietet, so sprechen in der Regel gewichtige Gründe für das Vorliegen eines berechtigten Interesses. bb) Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung
8.73 Ausgangspunkt jeder Interessenabwägung im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 lit. f sind einerseits das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen sowie die Auswirkungen, die eine Verarbeitung der betreffenden Daten für diesen mit sich bringt, und andererseits die Interessen des Verantwortlichen oder Dritten. In diesem Zusammenhang sind Art, Inhalt und Aussagekraft der betroffenen Daten an dem mit der Datenverarbeitung verfolgten Zweck zu messen97.
8.74 Vor diesem Hintergrund sind im Rahmen der Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung insbesondere folgende Kriterien zu berücksichtigen: – Zeitpunkt der Offenlegung und Status der Transaktion: Zu einem frühen Zeitpunkt der Transaktion, zu dem ggf. noch mehrere Kaufinteressenten beteiligt sind und es zunächst primär darum geht, erste indikative Angebote zu erhalten und den Kreis der Kaufinteressenten zu verkleinern, wird man die Interessen der betroffenen Personen, deren Daten offengelegt werden sollen, in der Regel höher bewerten müssen, als zu einem spä94 S. Buchner/Petri in Kühling/Buchner, DSGVO Art. 6 Rz. 147: „Auch insoweit bedarf es für die Frage der Zulässigkeit einer Datenverarbeitung jedoch stets einer Entscheidung im Einzelfall.“ 95 So auch schon unter dem BDSG a.F., s. hierzu BeckHdB M&A/Uwer/Jungkind, § 77 Rz. 14. 96 Buchner/Petri in Kühling/Buchner, DSGVO Art. 6 Rz. 149-154. 97 Buchner/Petri in Kühling/Buchner, DSGVO Art. 6 Rz. 149-154.
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F. Datenschutzrecht
Rz. 8.74 Kap. 8
teren Zeitpunkt, zu dem beispielsweise nur noch mit einem oder zwei ernsthaften Kaufinteressenten verhandelt wird. In Bezug auf die Offenlegung von Mitarbeiterdaten kann es zudem beispielsweise von erheblicher Bedeutung sein, ob ein Betriebsübergang nach § 613a BGB stattfindet, der im Zusammenhang mit der Erstellung der Informationsschreiben nach § 613a Abs. 5 BGB die Offenlegung von Mitarbeiterdaten vor dem Vollzug des Erwerbs erfordert98. – Art und Detaillierungsgrad der offengelegten Daten: Wie eingangs dargestellt, ist besondere Aufmerksamkeit geboten, soweit besondere Kategorien von personenbezogenen Daten von der Offenlegung betroffen sind, für die die Restriktionen nach Art. 9 DSGVO gelten und Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO nicht anwendbar ist. Aber auch bei „normalen“ personenbezogenen Daten ist stets zu hinterfragen, auf welcher Detailebene die den personenbezogenen Daten immanenten Informationen offengelegt werden müssen, um dem/den Kaufinteressenten eine belastbare Grundlage für das jeweilige Angebot und die weiteren Verhandlungen zu geben. So ist es zu einem frühen Zeitpunkt der Transaktion beispielsweise grundsätzlich nicht erforderlich, die Gehälter der einzelnen Mitarbeiter des Zielunternehmens offenzulegen. Vielmehr ist es – zumindest in einem frühen Stadium einer Transaktion – in der Regel ausreichend, wenn Angaben zu den Gehältern ohne Personenbezug beispielsweise in Form der Angabe von Durchschnittsgehältern zur Verfügung gestellt werden. Entsprechendes gilt für Informationen in Bezug auf das Alter und die Betriebszugehörigkeit der einzelnen Mitarbeiter99. Die Übermittlung oder Offenlegung von Beschäftigtendaten beim Unternehmenskauf ist unkritisch, sofern lediglich Daten ohne Personenbezug übermittelt werden. In vielen Fällen werden einem Käufer diese Informationen für die regulären Beschäftigten, bei denen es sich nicht um das Management oder um Schlüsselmitarbeiter handelt, ausreichen. In diesem Fall findet das Datenschutzrecht keine Anwendung. – Anonymisierung/Pseudonymisierung der offengelegten Daten100: Soweit die Bereitstellung statistischer Durchschnittsdaten für die Informationsvermittlung und -gewinnung nicht ausreichend sind, besteht außerdem die Möglichkeit, den Personenbezug der Daten durch eine Anonymisierung aufzuheben. Dies kann im Falle der Übermittlung einer Personalliste z.B. durch Schwärzung oder Weglassen aller Angaben, die einen Personenbezug ermöglichen, erfolgen. Wie oben unter Rz. 8.61 (Grundprinzipien des Datenschutzes/Begriff der personenbezogenen Daten) bereits dargestellt, ist hierbei zu beachten, dass eine Anonymisierung im datenschutzrechtlichen Sinne nur vorliegt, wenn eine Re-Individualisierung, d.h. eine Zuordnung der Datensätze zu einzelnen Personen, für den/die Kaufinteressenten nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich ist. Eine Re-Individualisierung ist beispielsweise möglich, wenn aufgrund der Zusammenschau mehrerer Informationen erkennbar ist, auf wen sich die Daten beziehen.
98 S. hierzu den entsprechenden Beispielsfall bei Göpfert/Meyer, NZA 2011, 486 m.w.N.; ferner BeckHdB M&A/Uwer/Jungkind, § 77 Rz. 12. 99 So Göpfert/Meyer, NZA 2011, 486 in Bezug auf Mitarbeiterdaten zu einem frühen Zeitpunkt einer Transaktion, die aber auch deutlich machen, dass dies in Bezug auf Mitarbeiterdaten der Führungsebene oder Daten einzelner Experten durchaus anders sein kann. 100 S. auch Taeger in Taeger/Gabel, Kommentar zum BDSG, § 28 Rz. 69, in Bezug auf das bis zum 25.5.2018 geltende BDSG a.F., der in Bezug auf die Offenlegung von personenbezogenen Daten im Rahmen einer Due Diligence fordert und feststellt, dass die Anonymisierung oder Pseudonymisierung der Daten dem mit der Due Diligence verfolgten Zweck zuwiderlaufen müsse.
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Kap. 8 Rz. 8.74
IT und Datenschutz
Ist eine Anonymisierung nicht möglich, so besteht als weiterer weniger intensiver Eingriff in das Persönlichkeitsrecht/informationelle Selbstbestimmungsrecht der von der Offenlegung betroffenen Personen die Möglichkeit einer Pseudonymisierung. Eine Pseudonymisierung lag nach dem bis zum 25.5.2018 geltenden § 3 Abs. 6a BDSG a.F. vor beim „Ersetzen des Namens und anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen zu dem Zweck, die Bestimmung des Betroffenen auszuschließen oder wesentlich zu erschweren“. Nach Art. 4 Nr. 5 DSGVO ist die Pseudonymisierung die „Verarbeitung personenbezogener Daten in einer Weise, dass die personenbezogenen Daten ohne Hinzuziehung zusätzlicher Informationen nicht mehr einer spezifischen betroffenen Person zugeordnet werden können, sofern diese zusätzlichen Informationen gesondert aufbewahrt werden und technischen und organisatorischen Maßnahmen unterliegen, die gewährleisten, dass die personenbezogenen Daten nicht einer identifizierten oder identifizierbaren natürlichen Person zugewiesen werden“101. Wesentliches Kennzeichen der Pseudonymisierung ist somit sowohl nach § 3 Abs. 6a BDSG a.F. als auch nach Art. 4 Nr. 5 DSGVO, dass hierdurch der Personenbezug – anders als bei der Anonymisierung – nicht aufgehoben, jedoch wesentlich erschwert wird. Die Pseudonymisierung hat das Ziel, die unmittelbare Kenntnis der vollen Identität der Betroffenen während solcher Verarbeitungsvorgänge, bei denen der Personenbezug nicht zwingend erforderlich ist, auszuschließen. Die Daten werden durch eine Zuordnungsvorschrift derart verändert, dass die Einzelangaben ohne Kenntnis oder Nutzung der Zuordnungsvorschrift nicht mehr einer natürlichen Person zugeordnet werden können. Pseudonymisieren oder Handeln unter Pseudonym stellt nicht zwingend Anonymität her. Die verantwortliche Stelle bzw. – nach der Terminologie der DSGVO – der Verantwortliche verfügt ggf. über eine Referenzdatei, mit deren Hilfe das Pseudonym aufgelöst werden kann102. Hinsichtlich der verschiedenen Arten und Verfahren der Pseudonymisierung kann danach unterschieden werden, ob der Personenbezug nur vom Betroffenen (selbstgenerierte Pseudonyme), nur über eine Referenzliste (ReferenzPseudonyme) oder nur unter Verwendung einer sog. Einweg-Funktion mit geheimen Parametern (Einweg-Pseudonyme) wiederhergestellt werden kann103. Zwar finden sich in der DSGVO außer der Definition in Art. 4 Nr. DSGVO keine ausdrücklichen Regelungen in Bezug auf die Pseudonymisierung104. Das ändert allerdings nichts daran, dass die in Bezug auf die Pseudonymisierung unter dem BDSG a.F. maßgeblichen Grundgedanken auch unter der DSGVO weiterhin Anwendung finden. Deutlich wird dies beispielsweise durch Erwägungsgrund 28 DSGVO, der u.a. ausdrücklich klarstellt, dass die Anwendung der Pseudonymisierung auf personenbezogene Daten die Risiken für die betroffenen Personen senken und die Verantwortlichen und die Auftragsverarbeiter bei der Einhaltung ihrer Datenschutzpflichten unterstützen kann. – Empfängerkreis: Ein weiterer Aspekt, der zu berücksichtigen ist, ist der Kreis der zugangsberechtigten Personen. So können die Interessen der von der Offenlegung betroffenen Personen beispielsweise auch dadurch angemessen berücksichtigt werden, dass bestimmte sensible Informationen nur einem eingeschränkten Personenkreis, der gesondert zur Ver101 Fast identisch ist die Definition nach § 46 Nr. 5 BDSG n.F., die gem. § 45 BDSG n.F. allerdings nur für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die für die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung, Verfolgung oder Ahndung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten zuständigen öffentlichen Stellen gilt, soweit diese Stellen Daten zum Zweck der Erfüllung dieser Aufgaben verarbeiten. 102 Gola/Schomerus, BDSG, § 3 Rz. 45-47. 103 S. zum Ganzen Gola/Schomerus, BDSG, § 3 Rz. 45-47. 104 S. aber ErwGr 26, 28, 29 DSGVO.
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Lensdorf/Bloß
F. Datenschutzrecht
Rz. 8.78 Kap. 8
traulichkeit zu verpflichten ist bzw. ggf. sogar von Berufs wegen der Verschwiegenheit unterliegt (z.B. Notar, Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer), gegenüber offengelegt werden105.
III. Übertragung von Kundendaten 1. Grundsätzliches – Differenzierung Share Deal, Asset Deal und Umwandlung Kundendaten sind ein wichtiger Bestandteil des Vermögens eines Unternehmens. Sie verkör- 8.75 pern den Kundenstamm und sind oft das Ergebnis einer langjährigen, intensiven Pflege von Kundenbeziehungen. Wer ein Unternehmen kauft, hat daher ein hohes Interesse an einem rechtswirksamen Erwerb dieser Daten106. Kundendaten sind, soweit sie sich auf natürliche Personen beziehen, personenbezogene Daten i.S.v. Art. 4 Nr. 1 DSGVO und dürfen gemäß dem Rechtmäßigkeitsprinzip (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, s. Art. 5 Abs. 1 lit. a, Art. 6 Abs. 1 DSGVO) nur dann im Rahmen der Übertragung offengelegt bzw. bereitgestellt werden, soweit dies entweder jeweils durch eine Einwilligung des Betroffenen oder durch einen gesetzlichen Erlaubnistatbestand gedeckt ist107. Ähnlich wie bei der Übertragung von Softwarelizenzen und anderen IT-Verträgen sind die Voraussetzungen für eine zulässige und wirksame Übertragung von Kundendaten sehr stark von der Art der Transaktion, d.h. von der Frage, ob es sich um einen Share Deal, eine Umwandlung oder einen Asset Deal handelt, abhängig108.
8.76
Wie bereits vorstehend (s. Rz. 8.22 ff.) ausgeführt, ändern sich bei einem Share Deal lediglich der/die Anteilseigner, der Unternehmensträger bzw. in der datenschutzrechtlichen Terminologie der „Verantwortliche“ als solcher bleibt unverändert bestehen. Es kommt daher zu keiner Rechtsnachfolge. Mit dem Share Deal ist daher kein Akt der Datenverarbeitung, insbesondere der Weitergabe von Daten an einen Dritten, verbunden109. Der Vorgang entfaltet für sich betrachtet keine datenschutzrechtliche Relevanz110.
8.77
Ähnliches gilt grundsätzlich für die Umwandlungsmaßnahmen nach dem Umwandlungsgesetz (UmwG), etwa bei einer Abspaltung oder Verschmelzung. Hier wird von weiten Teilen der Literatur111 sowie einzelnen Aufsichtsbehörden112 aufgrund der bei einer Umwandlung vom Umwandlungsgesetz angeordneten Gesamtrechtsnachfolge gem. §§ 20, 21 UmwG eine
8.78
105 S. auch Taeger in Taeger/Gabel, Kommentar zum BDSG, § 28 Rz. 69, in Bezug auf die Interessenabwägung nach dem bis zum 25.5.2018 geltenden § 28 Abs. 1 Nr. 2 BDSG a.F. 106 Härting, CR 2017, 724; Nebel, CR 2016, 417. 107 Nebel, CR 2016, 417. 108 Nebel, CR 2016, 417. 109 Härting, CR 2017, 724; Nebel, CR 2016, 417 m.w.N. in Bezugnahme auf die Rechtslage unter dem BDSG a.F. 110 Nebel, CR 2016, 417; s. auch BeckHdB M&A/Uwer/Jungkind, § 77 Rz. 27 ff. 111 Lüttge, NJW 2000, 2463; Schaffland, NJW 2002, 1539. 112 S. beispielsweise Innenministerium Baden-Württemberg, Hinweise zum Datenschutz für die private Wirtschaft Nr. 38 vom 18.1.2000. Bayerisches Landesamt für Datenschutzaufsicht (Kranig), Datenschutz und Unternehmenskauf, VID-Mitgliedertagung vom 21. bis 23.4.2016 in Regensburg, abrufbar unter: https://www.vid.de/wp-content/uploads/2016/09/kranig-vid-mitglie dertagung-regensburg-2016.pdf.
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Kap. 8 Rz. 8.79
IT und Datenschutz
datenschutzrechtlich relevante Verarbeitung, insbesondere Weitergabe, verneint113. Teilweise wurde unter Geltung des BDSG a.F. zwar auch bei der Umwandlung eine datenschutzrechtlich relevante Weitergabe in Form der Übermittlung angenommen. Zugleich wurde dies aber aufgrund einer Erlaubnis nach § 28 Abs. 1 S. 1 BDSG a.F. als zulässig angesehen, weil ohne eine Überlassung der Daten an den Nachfolger das Schuldverhältnis, dem die Datenverarbeitung diene, sonst nicht weiter bestünde. Der Dritte als übernehmendes Unternehmen trete für den bis dato Verantwortlichen (verantwortliche Stelle) in das Schuldverhältnis ein und setze dieses fort. Die Datenverarbeitung diene deshalb dem mit der betroffenen Person bestehenden und fortgesetzten Vertragsverhältnis114. Folgt man dieser Ansicht, so hat sich durch die Anwendung der DSGVO inhaltlich an der datenschutzrechtlichen Zulässigkeit der „Weitergabe“ von Kundendaten im Rahmen einer Umwandlung nichts geändert: an die Stelle des § 28 Abs. 1 S. 1 BDSG a.F. ist seit dem 25.5.2018 Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO getreten115.
8.79 Völlig anders ist die Situation hingegen beim Asset Deal: wie bei den anderen Vermögensgegenständen bedarf es auch in Bezug auf die Kundendaten einer gesonderten Übertragung auf den Käufer im Wege der Einzelrechtsnachfolge. In einer solchen Übertragung liegt eine Verarbeitung gem. Art. 4 Nr. 2 DSGVO in Form der Übermittlung vor, die nach dem Prinzip der Rechtmäßigkeit entweder einer Einwilligung der Betroffenen oder einer sonstigen Erlaubnisnorm bedarf116. 2. Die Übertragung von Kundendaten beim Asset Deal a) Übertragung auf Basis einer entsprechenden Einwilligung
8.80 Denkbar ist zunächst die Übertragung von Kundendaten auf Basis einer entsprechenden Einwilligung gem. Art. 6 Abs. 1 lit. a DSGVO. Dieser Weg wird aber nicht selten mit zahlreichen praktischen Schwierigkeiten verbunden sein. Das fängt bereits damit an, dass von den jeweiligen Kunden aktuelle Kontaktdaten vorliegen müssen, über die man die jeweiligen Kunden erreichen kann. Darüber hinaus muss die Einwilligung den Anforderungen gem. Art. 7 DSGVO sowie den Anforderungen an die Informationspflichten gem. Art. 13 DSGVO entsprechen, was – je nach Sachlage – eine erhebliche Sorgfalt bei der Erstellung des entsprechenden Einwilligungstextes erfordern kann. Ferner stellt sich die Frage, wie mit den Betroffenen umzugehen ist, von denen man keine Rückmeldung erhalten hat. Schließlich stellt 113 S. hierzu auch Nebel, CR 2016, CR 2016, 417 m.w.N. in Bezugnahme auf die Rechtslage unter dem BDSG a.F. sowie BeckHdB M&A/Uwer/Jungkind, § 77 Rz. 30 ff. 114 Taeger in Taeger/Gabel, Kommentar zum BDSG, § 28 Rz. 71 m.w.N., der hieran gleichzeitig Kritik übt und darauf hinweist, dass das Schuldverhältnis möglicherweise gar nicht zustande gekommen wäre, wenn dem Betroffenen bekannt gewesen wäre, wer einmal die andere Seite des Schuldverhältnisses sein könnte. Taeger stellt daher unter dem BDSG a.F. auf § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BDSG a.F. ab und fordert eine pauschale Abwägung mit den schutzwürdigen Interessen der Betroffenen in toto. Nur dann, wenn Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass im Einzelfall die Belange eines einzelnen Betroffenen gegenüber den Interessen der verantwortlichen Stelle überwiegen könnten, könne das Abwägungsergebnis anders ausfallen und eine Übermittlung von Daten ausschließen bzw. von einer Einwilligung des Betroffenen abhängig gemacht werden. 115 Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO lautet: „Die Verarbeitung ist nur rechtmäßig, wenn mindestens eine der nachstehenden Bedingungen erfüllt ist: … die Verarbeitung ist für die Erfüllung eines Vertrags, dessen Vertragspartei die betroffene Person ist, oder zur Durchführung vorvertraglicher Maßnahmen erforderlich, die auf Anfrage der betroffenen Person erfolgen.“ 116 Härting, CR 2017, 724; Nebel, CR 2016, 417; s. auch BeckHdB M&A/Uwer/Jungkind, § 77 Rz. 64 ff.
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F. Datenschutzrecht
Rz. 8.83 Kap. 8
sich die Frage, inwieweit eine Einwilligung freiwillig erteilt werden kann, wenn die Verarbeitung auf einen gesetzlichen Erlaubnistatbestand gestützt werden kann. In diesem Fall wird dem Betroffenen (fälschlicherweise) suggeriert, er hätten mit der Erteilung bzw. Verweigerung seiner Einwilligung die Datenverarbeitung in seinen Händen und könnte frei über die Datenverarbeitung entscheiden. Vor dem Hintergrund dieser praktischen und rechtlichen Erwägungen ist zu überlegen, inwieweit die Übertragung von Kundendaten ohne Einwilligung auf Basis einer sonstigen Erlaubnisnorm vorgenommen werden kann. b) Übertragung gem. Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO (Vertragsübernahme) Gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO ist die Verarbeitung rechtmäßig, wenn sie für die Erfüllung eines Vertrags, dessen Vertragspartei die betroffene Person ist, oder zur Durchführung vorvertraglicher Maßnahmen erforderlich ist, die auf Anfrage der betroffenen Person erfolgen. Übernimmt ein Unternehmenskäufer im Wege der Vertragsübernahme Kundenverträge, ist die Verarbeitung der Kundendaten für den Vollzug der Übernahme erforderlich und somit durch Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO gedeckt117. Kernfrage ist somit, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen eine Vertragsübernahme zulässig und wirksam ist, was nach den einschlägigen zivilrechtlichen Bestimmungen zu beurteilen ist. Eine dreiseitige Vereinbarung zur Vertragsübernahme zwischen dem Zielunternehmen, dem Käufer sowie dem jeweils Betroffenen ist in der Regel zwar der sicherste Weg. Auf der anderen Seite stellen sich hier häufig viele praktische Probleme. Ggf. ist eine Zustimmung des Betroffenen zur Vertragsübertragung auch schon bei Vertragsabschluss erteilt worden, deren Wirksamkeit dann insbesondere unter Berücksichtigung der für Allgemeine Geschäftsbedingungen geltenden Rahmenbedingungen zu prüfen ist.
8.81
Zu beachten ist, dass eine Übertragung von Kundendaten nach Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO nicht möglich ist, soweit es sich bei den zu übertragenden Daten um besondere Kategorien personenbezogener Daten nach Art. 9 Abs. 1 DSGVO handelt, da Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO nach Art. 9 Abs. 2 DSGVO bei besonderen Kategorien personenbezogener Daten keine Anwendung findet. Sollen beispielsweise Kundendaten übertragen werden, die Gesundheitsinformationen umfassen, ist für die Weitergabe an einen neuen Eigentümer eine Einwilligung der betroffenen Kunden erforderlich (Art. 9 Abs. 2 lit. a DSGVO)118.
8.82
Von der Frage der Erlaubnisnorm für die Übertragung ist die Pflicht zur Information des betreffenden Kunden über die Übertragung der Kundendaten an den Erwerber und damit zusammenhängende Umstände gem. Art. 14 DSGVO zu trennen. Die Informationspflichten gem. Art. 13, 14 DSGVO sind Ausdruck der Transparenzprinzips nach Art. 5 Abs. 1 lit. a DSGVO. Hinsichtlich des Umfangs der Informationspflicht differenzieren Art. 13 und Art. 14 DSGVO zwischen der Konstellation, bei der die personenbezogenen Daten bei der betroffenen Person erhoben werden (Art. 13 DSGVO) und der Konstellation, bei der die personenbezogenen Daten nicht bei der betroffenen Person erhoben wurden (Art. 14 DSGVO).
8.83
117 Härting, CR 2017, 724 sowohl für die alte Rechtslage unter § 28 Abs. 1 Nr. BDSG a.F., als auch im Hinblick auf die Rechtslage unter der DSGVO; a.A. Nebel, CR 2016, 417 sowohl für die Rechtslage unter dem BDSG a.F, als auch für die Rechtslage unter der der DSGVO. 118 Härting, CR 2017, 724; Nebel, CR 2016, 417.
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Kap. 8 Rz. 8.84
IT und Datenschutz
c) Übertragung gem. Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO (berechtigtes Interesse)
8.84 Neben der Einwilligung und der Übertragung im Zuge der Vertragsübernahme gem. Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO ist auch eine Übertragung auf Basis von Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO denkbar. Nach Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO ist eine Verarbeitung personenbezogener Daten zulässig, wenn diese zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich ist, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen, insbesondere dann, wenn es sich bei der betroffenen Person um ein Kind handelt. Entscheidend ist demnach die Interessenabwägung zwischen Veräußerer bzw. Erwerber einerseits und betroffenem Kunden andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung wird man grundsätzlich auf Grundlage folgender Überlegungen von einer Zulässigkeit der Übertragung von Kundendaten ausgehen können:
8.85 Der Kunde, der verhindern möchte, dass der neue Eigentümer Daten über ihn nutzt, die in der Kundendatenbank vorhanden sind, kann von seinem Widerspruchsrecht gem. Art. 21 Abs. 1 DSGVO jederzeit Gebrauch machen. Übt er den Widerspruch aus, so darf der Erwerber die personenbezogenen Daten gem. Art. 21 Abs. 1 S. 2 DSGVO grds. nicht mehr verarbeiten, es sei denn, er kann zwingende schutzwürdige Gründe für die Verarbeitung nachweisen, die die Interessen, Rechte und Freiheiten der betroffenen Person überwiegen, oder die Verarbeitung dient der Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen. Weshalb der Kunde, dessen Daten übertragen werden sollen, daneben noch ein schutzwürdiges Interesse an einem Übergang der Daten in den Besitz des neuen Eigentümers haben sollte, der die berechtigten Interessen von Veräußerer und Erwerber gem. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. f DSGVO überwiegt, ist nicht ersichtlich119.
8.86 Beruht die Verarbeitung der Kundendaten auf einer Einwilligung, die der Kunde dem früheren Eigentümer des Unternehmens gegeben hat, so ist zudem zu beachten, dass der Kunde diese Einwilligung jederzeit nach Art. 7 Abs. 4 S. 1 DSGVO widerrufen kann, ohne dass es hierfür eines wichtiges Grundes bedarf. Ein solcher Widerruf führt nach Art. 7 Abs. 4 DSGVO dazu, dass die Daten sofort zu löschen sind (Art. 17 Abs. 1 lit. b DSGVO). Der Kunde hat bei einer Verarbeitung kraft Einwilligung also noch ein weiteres Instrument, um eine weitere Ver-
119 So auch Härting, CR 2017, 724; Wehmeyer, PinG 2016, 215; a.A. Nebel, CR 2016, 417 sowohl für die Rechtslage unter dem BDSG a.F., als auch für die Rechtslage unter der der DSGVO. Vor dem Hintergrund der von ihm abgelehnten Anwendung der Erlaubnistatbestände Art. 6 Abs. 1 lit. b und lit. f DSGVO schlägt Nebel zunächst den Abschluss einer Vereinbarung über eine Auftragsverarbeitung (noch unter Bezugnahme auf § 11 BDSG a.F.; jetzt gem. Art. 28 DSGVO) vor, um dem Erwerber zunächst den Zugriff auf die Kundendaten zu ermöglichen. Während einer Übergangsphase soll dann der Erwerber die aus Sicht von Nebel erforderliche Einwilligung von den betroffenen Kunden einholen. Diese Lösung erscheint aus zwei Gründen wenig praktikabel: Zum einen entspricht und berücksichtigt sie nicht die tatsächliche Situation. Der Erwerber will in Bezug auf die Kundendaten gerade nicht der verlängerte Arm des Verkäufers sein und sich seinen Vorgaben und Weisungen unterwerfen, sondern vielmehr frei agieren können. Dies steht der Annahme einer Auftragsverarbeitung jedoch gerade entgegen; ein Problem, das Nebel selbst erkennt und benennt. Zum anderen kann diese Lösung, wie Nebel richtig darstellt, allenfalls eine Übergangslösung darstellen. Am Ende des Tages muss nach der von Nebel vorgeschlagenen Lösung von jedem Kunden eine Einwilligung eingeholt werden; ein Vorgang, an den sich die oben dargestellten praktischen Probleme anknüpfen, die durch die – nach der hier vertretenen Auffassung grds. zulässigen – Anwendung der Erlaubnistatbestände nach Art. 6 Abs. 1 lit. b und lit. f DSGVO gerade verhindert werden sollen.
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F. Datenschutzrecht
Rz. 8.89 Kap. 8
arbeitung seiner Daten zu verhindern, ohne dass es noch eines ergänzenden Schutzes durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. f DSGVO bedarf120. Bei den vorstehenden Erwägungen handelt es sich um grds. Erwägungen, die immer einer speziellen Betrachtung und Überlegung im jeweiligen Einzelfall bedürfen. Wie bei einer Übertragung nach Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO ist insbesondere dann Vorsicht geboten, wenn von der Übertragung besondere Kategorien personenbezogener Daten gem. Art. 9 Abs. 1 DSGVO betroffen sind, da Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. f DSGVO, wie Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO, auf besondere Kategorien personenbezogener Daten nicht anwendbar ist. Hier gilt das bereits zu Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO Gesagte: Sofern Kundendaten beispielsweise Gesundheitsinformationen umfassen, führt bei der beabsichtigten Weitergabe an einen neuen Eigentümer kein Weg an Einwilligungen der Kunden vorbei (Art. 9 Abs. 2 lit. a DSGVO)121.
8.87
Zu beachten ist, dass eine Übertragung nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. f DSGVO genauso wie die Übertragung gem. Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO im Zuge der Vertragsübernahme die Käufer nicht von den Informationspflichten gem. Art. 14 DSGVO entbindet. Vielmehr noch: die Information des betreffenden Kunden nach Art. 14 DSGVO ist Voraussetzung dafür, dass der Kunde in die Lage versetzt wird, sein Widerspruchsrecht nach Art. 21 DSGVO bzw. den Widerruf einer erteilten Einwilligung nach Art. 7 Abs. 4 DSGVO auszuüben. Wenn mithin bei der Interessenabwägung im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO den Interessen des Erwerbers aufgrund des Widerspruchsrechts des Kunden und dessen Möglichkeit, eine erteilte Einwilligung zu widerrufen grds. eine größere Bedeutung eingeräumt wird, dann setzt dies eine ordnungsgemäße Information gem. Art. 14 DSGVO zwingend voraus.
8.88
Ein wichtiger Tipp für die Praxis: Aufgrund der in Art. 5 Abs. 2 DSGVO verankerten Rechenschaftspflicht122 empfiehlt es sich im Fall einer Übertragung von Kundendaten auf Basis von Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO die Vornahme der entsprechenden Abwägung sowie die in diesem Zusammenhang berücksichtigten Interessen und Argumente zu dokumentieren.
8.89
120 Härting, CR 2017, 724. 121 Härting, CR 2017, 724; Nebel, CR 2016, 417. 122 Gemäß Art. 5 Abs. 2 DSGVO ist der Verantwortliche „für die Einhaltung des Abs. 1 verantwortlich und muss dessen Einhaltung nachweisen können („Rechenschaftspflicht“)“.
Lensdorf/Bloß
799
Kapitel 9 Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag Markus Weber
Überblick A. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.1
I. Unternehmen und Unternehmensträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unternehmensträger . . . . . . . . . . . . .
9.1 9.1 9.3
II. 1. 2. 3.
Anwendbare Vorschriften . . . . . . . . Kauf und verwandte Rechtsinstitute . Asset Deal – Share Deal . . . . . . . . . . . Transaktionsstrukturen . . . . . . . . . . .
9.4 9.4 9.6 9.9
III. Zielsetzungen beim Unternehmensund Beteiligungskauf . . . . . . . . . . . .
9.10
B. Vorvertragliches Stadium . . . . . . . . .
9.11
I. Pflichten während der Vertragsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Redliche Verhandlungsführung . . . . . 2. Geheimhaltungspflichten . . . . . . . . . . 3. Schadensersatzanspruch bei Verstoß gegen vorvertragliche Pflichten . . . . . 4. Persönliche Haftung der Verhandlungsführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Haftung für Abschlüsse, Testate und Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorbereitende Festlegungen ohne vertragliche Bindung . . . . . . . . . . . . 1. Punktation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Letter of Intent; Term Sheet; Heads of Agreement . . . . . . . . . . . . . . III. 1. 2. 3. 4.
9.11 9.12 9.14 9.15 9.19 9.23 9.26 9.26 9.28
Vorbereitende Vereinbarungen . . . . Option, Vorkaufsrecht . . . . . . . . . . . . Vorvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmenvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exklusivitätsvereinbarung; Geheimhaltungsabrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. „Break-up Fee“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.31 9.31 9.36 9.38 9.39 9.41 9.42
C. Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.43
I. Begriff und Gegenstand der Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.43
II. Verhältnis zu Gewährleistung und Verschulden bei Vertragsanbahnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.46 9.46
2. Kenntnis des Käufers . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsfolgen der Kenntnis . . . . . . b) Relevanter Personenkreis . . . . . . . c) Relevanter Zeitpunkt . . . . . . . . . . . 3. Keine Kenntnis des Käufers . . . . . . . . a) Rechtsfolgen fehlender Kenntnis . b) Relevanter Personenkreis . . . . . . . 4. Vertragliche Regelungen zur Kenntnis des Käufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verpflichtungen des Kaufinteressenten aufgrund der Due Diligence . . . 1. Redliches Verhalten bei der Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Absicherung des Verkäufers . . . . . . . . a) Rechtliche Absicherung . . . . . . . . . b) Faktische Absicherung . . . . . . . . . IV. Rechtliche Schranken der Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertraulichkeitsabreden des Zielunternehmens oder des Verkäufers mit Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesellschaftsrechtliche Schranken der Informationserteilung . . . . . . . . . a) GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Insiderinformationen . . . . . . . . . . . . . a) Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . b) Eingeschränkte Anwendung des WpHG beim Pakethandel . . . . . . . aa) Eingeschränkte Anwendung des WpHG a.F. . . . . . . . . . . . . bb) Eingeschränkte Anwendung der Marktmissbrauchsverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gesetzliche Einschränkungen beim Kontrollerwerb . . . . . . . (2) Teleologische Einschränkungen beim Paketerwerb unterhalb der Kontrollschwelle . . . . c) Praxishinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wettbewerbsrechtliche Schranken der Informationserteilung . . . . . . . . . 5. Datenschutzrechtliche Schranken . . .
9.48 9.48 9.50 9.53 9.54 9.54 9.59 9.60 9.63 9.63 9.65 9.65 9.68 9.69 9.69 9.70 9.71 9.73 9.75 9.75 9.76 9.77 9.78 9.81 9.83 9.85 9.86 9.87
D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug . . . . . .
9.88
I. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.88
Weber 801
Kap. 9
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
II. Asset Deal – Ausgewählte Fragen . . 1. Sachen und Forderungen . . . . . . . . . . a) Vertragliche Erfassung . . . . . . . . . . b) Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertragliche Erfassung und Form . b) Auslandsberührung . . . . . . . . . . . . 3. Immaterielle Vermögensgegenstände (§ 266 Abs. 2 A.I. HGB) . . . . . . . . . . . 4. Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Komplexe Rechtsverhältnisse . . . . . . . 6. Sonstige Vermögenswerte . . . . . . . . . 7. Übergangsstichtag/Closing . . . . . . . . III. Share Deal – Ausgewählte Fragen . . 1. Übergang von Beteiligungsrechten sowie von Vermögensgegenständen und -werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Personengesellschaften – Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kommanditanteile . . . . . . . . . . . . . . . a) Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erwerb durch Gesellschaft bürgerlichen Rechts; Zustimmung der anderen Gesellschafter . . . . . . . . . c) Minderheitenrechte . . . . . . . . . . . . 4. GmbH-Anteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Form des Kaufvertrages und der Abtretung . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abtretungsbeschränkungen . . . . . c) Änderung der Gesellschafterliste . d) Schutz des guten Glaubens . . . . . . e) Auslandsberührung . . . . . . . . . . . . 5. Aktien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Überleitung von Gewinn- und Verlustanteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zeitanteilige Beteiligung . . . . . . . . b) Stichtagsbeteiligung . . . . . . . . . . . 7. Überleitung sonstiger Wirtschaftsgüter, Fortführung der Firma, Wechsel des Managements . . . . . . . . IV. Ausgewählte Form-, Zustimmungsund Genehmigungserfordernisse . . 1. § 311b Abs. 3 BGB (Vermögensübertragung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Familien- und erbrechtliche Erfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) § 1365 BGB (Verfügung über Vermögen im Ganzen) . . . . . . . . . b) §§ 1821 ff. BGB (vormundschaftsgerichtliche Genehmigungen) . . . c) Erbrechtliche Zustimmungserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . .
802
Weber
9.91 9.91 9.91 9.92 9.94 9.94 9.98 9.100 9.103 9.107 9.108 9.110 9.112 9.112 9.117 9.119 9.119 9.121 9.123 9.124 9.124 9.129 9.130 9.133 9.138 9.146 9.148 9.149 9.150 9.151
3. Personengesellschaften; GmbH; AG – Zustimmung der Gesellschafter a) OHG und KG . . . . . . . . . . . . . . . . b) GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. „Change-of-Control“-Klauseln . . . . . 5. Öffentlich-rechtliche Erfordernisse (ohne Kartellrecht) . . . . . . . . . . . . . . . a) Datenübermittlung an das Transparenzregister . . . . . . . . . . . . aa) Begriff des wirtschaftlich Berechtigten . . . . . . . . . . . . . . bb) Inhalt der Transparenzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Folgen der Nichteinhaltung der Transparenzpflichten . . . . b) Beschränkungen und Genehmigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.164 9.164 9.165 9.166 9.168 9.169 9.169 9.169a 9.169b 9.169c 9.170
E. Kaufpreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.171 I. Modalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorläufige und endgültige Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Endgültige Bestimmung anhand einer Abrechnungsbilanz . . . . . . . c) Aufstellung und Korrektur der Abrechnungsbilanz . . . . . . . . . . . . d) Sonstige Preisbestimmungen . . . . 2. Aufteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zahlungsweise, Verzinsung, Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.171 9.171
II. Sicherung des Verkäufers . . . . . . . . . 1. Finanzierungszusage, Wertsicherung, Währungsrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bürgschaften, Patronatserklärungen . 3. Ausschluss von Aufrechnung und Zurückbehaltungsrecht . . . . . . . . . . . 4. Rechtsvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . .
9.193
9.171 9.175 9.181 9.185 9.188 9.190
9.193 9.194 9.195 9.196
9.154
III. Sicherung des Käufers . . . . . . . . . . . 9.197 1. Sicherungsbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . 9.197 2. Sicherungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . 9.200
9.154
F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte . . . . . . . . . . . . . . . 9.204
9.156 9.156 9.157 9.162
I. Gesetzliche Regelung der Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gegenstand der Mängelrechte beim Asset Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gegenstand der Mängelrechte beim Share Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mangelhaftigkeit des Zielunternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.204 9.205 9.206 9.211
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
a) Die Beschaffenheit des Zielunternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschaffenheitsvereinbarung und nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung (§ 434 Abs. 1 BGB) . 4. Die Gewährleistungsansprüche . . . . . a) Nacherfüllung (§§ 437 Nr. 1; 439 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rücktritt und Minderung (§§ 437 Nr. 2, 440, 441 BGB) . . . . . . . . . . . c) Schadensersatz (§ 437 Nr. 3 BGB) d) Aufwendungsersatz . . . . . . . . . . . . 5. Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verschulden bei Vertragsanbahnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gewährleistung und Haftung für Verschulden bei Vertragsanbahnung . a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Informationsmemoranden; Datenräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Offenbarungspflichten . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unternehmenskennzahlen . . . . . . c) Sonstige Einzelfälle . . . . . . . . . . . . d) Relevanter Personenkreis . . . . . . . e) Erfüllung der Offenbarungspflicht 3. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vertragliche Regelungen . . . . . . . . . 1. Garantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beschaffenheitsgarantie . . . . . . . . . b) Garantie hinsichtlich anderer Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.211 9.216 9.218 9.219 9.220 9.223 9.226 9.227 9.229 9.233 9.233 9.233 9.235 9.238 9.240 9.240 9.241 9.242 9.243 9.246 9.247 9.249 9.252 9.252
2. Insbesondere die Bilanzgarantie . . . . 3. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nacherfüllung, Schadensersatz in Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausschluss von Rückgewähransprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kap. 9 9.257 9.262 9.262 9.267 9.268
IV. Sonstige Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . 9.270 V. 1. 2. 3.
W&I-Insurance . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkäufer- und Käuferpolicen . . . . . . Typische Ausgestaltung . . . . . . . . . . . a) Umfang des Versicherungsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Selbstbehalt (Retention) . . . . . . . . c) Deckungssumme . . . . . . . . . . . . . . d) Prämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Dauer des Versicherungsschutzes . 4. Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.272 9.272 9.273 9.275 9.275 9.280 9.281 9.282 9.283 9.284
G. Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.287 I. Haftung des Erwerbers beim Asset Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.287 1. § 25 HGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.287 2. § 75 AO; § 613a BGB . . . . . . . . . . . . . 9.289 II. Haftung des Erwerbers beim Share Deal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.290 1. Erwerb von Gesellschaftsanteilen an Personengesellschaften . . . . . . . . . 9.290 2. Erwerb von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften . . . . . . . . . . . . . 9.292 III. Haftung des Veräußerers . . . . . . . . . 9.293
9.255
Literatur: Kommentare zum BGB und zum HGB: Bamberger/Roth, Bearb. Faust, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch 3. Aufl. 2012, §§ 433 ff.; Baumbach/Hopt, Bearb. Hopt, Handelsgesetzbuch, 37. Aufl. 2016, Einl. vor § 1, Rz. 44 ff.; Erman, Bearb. Grunewald, BGB, 15. Aufl. 2017, §§ 433 ff.; Münchener Kommentar zum BGB, Bearb. Westermann, 7. Aufl. 2016, §§ 433 ff.; Münchener Kommentar zum HGB, Bearb. Thiessen, 4. Aufl. 2016, Anhang zu § 25 HGB; Palandt, Bearb. Weidenkaff, Bürgerliches Gesetzbuch, 76. Aufl. 2017, §§ 433 ff.; Staudinger, Bearb. Beckmann, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, §§ 433 ff., Neubearbeitung 2014. Allgemeine Darstellungen: Beisel/Klumpp, Der Unternehmenskauf, 7. Aufl. 2016; Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity: Unternehmenskauf, Finanzierung, Restrukturierung, Exitstrategien, 3. Aufl. 2018; Gaul, Schuldrechtsmodernisierung und Unternehmenskauf, ZHR 166 (2003), 35; Göthel (Hrsg.), Grenzüberschreitende M&A-Transaktionen, 4. Aufl. 2015; Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, 15. Aufl. 2017; Huber, Die Praxis des Unternehmenskaufs im System des Kaufrechts, AcP 202 (2002), 179; Kallmeyer, Umwandlung nach UmwG und Unternehmensakquisitionen, DB 2003, 568; Klein-Blenkers, Die Entwicklung des Unternehmenskaufrechts, NZG 2006, 245; (im Anschluss an NZG 2003, 903) Knott, Unternehmenskauf nach der Schuldrechtsreform, NZG 2002, 249; Knott, Unternehmenskauf, 5. Aufl. 2016; Krause/Albien, BB-Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsreport zu Mergers & Acquisitions und Corporate Finance, BB 2015, 194–198; Maier, Aufklä-
Weber 803
Kap. 9
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
rungspflichten und Wissenszurechnung beim Unternehmenskauf, Diss. Münster, 2016; Merkt/Göthel, Internationaler Unternehmenskauf, 3. Aufl. 2011; Meyer-Sparenberg/Jäckle, Beck’sches M&A-Handbuch, 2017, Kapitel 9; Picot (Hrsg.) Unternehmenskauf und Restrukturierung, 4. Aufl. 2013; Picot, Handbuch Mergers & Acquisitions, 5. Aufl. 2012; Pöllath/Greitemann/Viskauf, Verkauf von Familienunternehmen, in Festschrift für Rödl, 2008, S. 301; Karsten Schmidt, Handelsrecht Unternehmensrecht I, 6. Aufl. 2014, §§ 4–8, § 5: Das Unternehmen als Rechtsgegenstand; Seibt/Reiche, Unternehmensund Beteiligungskauf nach der Schuldrechtsreform (Teil I), DStR 2002, 1135, (Teil II), DStR 2003, 1181; Staudinger/Beckmann, § 453 Rz. 83–204; Stoth, Unternehmenskauf nach der Schuldrechtsreform, NZG 2002, 249; Triebel/Hölzle, Schuldrechtsreform und Unternehmenskaufverträge, BB 2002, 521; Wagner, Informationspflichten des Verkäufers bei M&A-Transaktionen nach neuerer BGHRechtsprechung unter Berücksichtigung von altem und neuem Schuldrecht, DStR 2002, 958; Wagner, Umfang der Aufklärungspflicht beim Unternehmenskauf, NZG 2001, 844; Wagner, Zu den Aufklärungspflichten des Verkäufers beim Unternehmenskauf, EWiR 2002, 327; Weigl, Die Auswirkungen der Schuldrechtsreform auf den Unternehmenskauf, DNotZ 2005, 45; Weitnauer, Der Unternehmenskauf nach neuem Kaufrecht, NJW 2002, 2511; Whalley/Kurney (editors), International Business Acquisitions, 4th ed. 2014. Zur Vertragsgestaltung: von Drygalski, BGB und Unternehmenskauf oder die Möglichkeit eines kurzen Unternehmenskaufvertrages, in Festschrift für Pöllath, 2008, S. 51; King/Segain, Cross Border Negotiated Deals: Why Culture Matters, ECFG 2007, 126; Knöfel, Die Präambel des Unternehmenskaufvertrages, JA 2002, 810; Merkt, Angloamerikanisierung und Privatisierung der Vertragspraxis versus Europäisches Vertragsrecht, ZHR 171 (2007), 490; Pilger, Präambel im Unternehmenskaufvertrag – ein unterschätztes Gestaltungsmittel, BB 2000, 368; Rasner, Die Bedeutung von Parteiwissen für die Gestaltung von Unternehmenskaufverträgen, WM 2006, 1425; Seibt (Hrsg.), Beck’sches Formularbuch Mergers & Acquisitions, 2. Aufl. 2011; Triebel, Auslegung englischer Vertragstexte unter deutschem Vertragsstatut – Fallstricke des Art. 32 I Nr. 1 EGBGB, NJW 2004, 2189. Steuerklauseln: Stümper/Walter, Erfordernis von Steuerklauseln im Anteilskauf- und anderen Übertragungsverträgen, GmbHR 2008, 31.
Überblick Der Abschluss des Unternehmens- bzw. Beteiligungskaufvertrags stellt die rechtsverbindliche Einigung von Verkäufer und Käufer dar, die Unternehmenstransaktion zu den dort im Einzelnen niedergelegten Bedingungen durchzuführen. Dies gilt gleichermaßen für Kaufverträge über Gesellschaftsanteile an dem Unternehmensträger („Share Deal“) und Kaufverträge über die einzelnen Sachen, Rechte und sonstigen Wirtschaftsgüter, aus denen sich das Unternehmen zusammensetzt („Asset Deal“). Kernelement ist jeweils die Verpflichtung des Verkäufers, die verkauften Gesellschaftsanteile (Share Deal) oder Wirtschaftsgüter (Asset Deal) an den Käufer zu übertragen und die Pflicht des Käufers, den hierfür vereinbarten Kaufpreis zu zahlen. Mit diesen Kernelementen wird es jedoch kaum jemals sein Bewenden haben. Wegen der Komplexität eines Unternehmenskaufs enthalten Unternehmenskaufverträge im Normalfall eine Fülle detaillierter Regelungen zu den unterschiedlichen jeweils relevanten Regelungskomplexen, die einen Rückgriff auf die gesetzlichen Bestimmungen des BGB weitgehend überflüssig machen und im Hinblick auf einzelne Regelungsgegenstände, insbesondere die Haftung des Verkäufers für den Zustand des Zielunternehmens, in aller Regel sogar ausdrücklich ausschließen. Im Laufe der Zeit hat sich eine eigene, den besonderen Anforderungen eines Unternehmenskaufvertrags entsprechende Vertragspraxis mit eigenen Usancen entwickelt, die sich mittlerweile auch bei rein nationalen Transaktionen stark an internationalen, insbesondere anglo-amerikanischen Gepflogenheiten orientiert. Aufgrund der Vielzahl und Komplexität 804
Weber
A. Grundlagen
Rz. 9.2 Kap. 9
der Regelungskomplexe sind die Vertragswerke typischerweise recht umfangreich. Kaum ein Unternehmenskaufvertrag kommt mit weniger als 25 Seiten aus, und bei größeren Transaktionen sind Verträge mit 100 und mehr Seiten zzgl. einer Vielzahl von umfangreichen Vertragsanlagen keine Seltenheit. Rechtliche Themen, die Einfluss auf die Gestaltung des Unternehmenskaufvertrags und insbesondere die Haftung von Verkäufer und Käufer haben können, ergeben sich aber auch bereits im Vorfeld des eigentlichen Vertragsabschlusses, insbesondere im Zusammenhang mit der Durchführung der mittlerweile fast obligatorischen Due Diligence durch den Käufer und deren Vorbereitung und Begleitung durch den Verkäufer sowie Vereinbarungen der Parteien im Vorfeld des Abschlusses des eigentlichen Kaufvertrags. Im 9. Kapitel werden daher im Anschluss an eine Darstellung der Grundlagen des Unternehmenskaufvertrags zunächst das vorvertragliche Stadium und die Pflichten der Parteien während der Vertragsverhandlungen dargestellt, bevor auf ausgewählte Fragen zu Asset Deal- und Share Deal-Verträgen eingegangen wird. Die restlichen Abschnitte des Kapitels widmen sich mit den Themen Kaufpreis, Gewährleistungsansprüche und Haftung Regelungskomplexen, die für Asset- und Share Deals gleichermaßen von Relevanz sind.
A. Grundlagen I. Unternehmen und Unternehmensträger 1. Unternehmen Das deutsche Recht kennt keinen einheitlichen Rechtsbegriff des Unternehmens. Im Sinne 9.1 des Unternehmenskaufrechts kann das Unternehmen als Gesamtheit von Menschen sowie von materiellen und immateriellen Rechtsgütern und Geschäftswerten verstanden werden, die in einer Organisation zusammengefasst und einem einheitlichen wirtschaftlichen Zweck dienstbar gemacht werden1 (vgl. dazu auch Rz. 1.2 und zum kartellrechtlichen Unternehmensbegriff Rz. 7.46). Das Unternehmen besteht insbesondere aus – Personen; – Sachen; – Rechten (dinglichen Rechten, obligatorischen Rechten, Immaterialgüterrechten) und Verpflichtungen; – technischen, kaufmännischen und sonstigen dem wirtschaftlichen Zweck dienlichen Kenntnissen; – organisatorischen Gestaltungen; – Beziehungen, die die Organisation zu ihrer Umwelt unterhält, insbesondere zu Kunden und Lieferanten. Der Unternehmensbegriff im hier verwandten Sinne geht weiter als der des „Handelsgewerbes“ i.S.v. § 1 HGB, insofern er auch freiberufliche Praxen umfasst. Auch diese können Ge1 K. Schmidt, Handelsrecht Unternehmensrecht I, § 3.I; BGH v. 28.11.2001 – VIII ZR 37/01, MDR 2002, 467 (II 1a), NJW 2002, 1042 bezeichnet das Unternehmen als „Inbegriff von Sachen, Rechten und sonstigen Vermögenswerten“.
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9.2
Kap. 9 Rz. 9.3
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
genstand eines Kaufvertrages sein.2 Das Schwergewicht der folgenden Ausführungen liegt allerdings bei kaufmännisch geführten Unternehmen. 2. Unternehmensträger
9.3 Unternehmensträger ist das Rechtssubjekt, das Eigentümer der dem Unternehmen zugeordneten Sachen, Inhaber der Rechte und Geschäftswerte sowie Träger der Verpflichtungen des Unternehmens ist. Mit gewissen Einschränkungen bei den freien Berufen kann jede natürliche oder juristische Person Unternehmensträger sein, auch eine der Personenvereinigungen oder Handelsgesellschaften, die nicht juristische Personen sind (BGB-Gesellschaft, Erbengemeinschaft, OHG, KG, Partnerschaftsgesellschaft). So weit juristische Personen Unternehmensträger sind, kann es sich um solche des Privatrechtes ebenso wie um solche des öffentlichen Rechtes handeln. Die häufigsten Unternehmensträger sind Einzelpersonen und Handelsgesellschaften. Ein Unternehmensträger kann auch mehrere Unternehmen betreiben (z.B. eine GmbH betreibt eine Maschinenfabrik und ein Handelsunternehmen). Innerhalb eines Unternehmens können verschiedene Betriebe und Teilbetriebe sowie Sparten oder Geschäftsbereiche („Divisions“) bestehen.
II. Anwendbare Vorschriften 1. Kauf und verwandte Rechtsinstitute
9.4 Unternehmen sind „sonstige Gegenstände“ i.S.v. § 453 Abs. 1 Alt. 2 BGB und Unternehmensbeteiligungen Rechte i.S.v. § 453 Abs. 1 Alt. 1 BGB, so dass die Vorschriften über den Kauf von Sachen entsprechende Anwendung finden.3 Der Unternehmenskauf kann beiderseitiges Handelsgeschäft gem. §§ 343 ff. HGB sein, dagegen nicht Handelskauf nach §§ 373 ff. HGB.4 Unanwendbar ist das UN-Kaufrecht.5 Die §§ 433 ff. BGB erfassen nur die schuldrechtliche Seite des Erwerbes. In Vollziehung des Kaufvertrages erfolgt die dingliche Übertragung der Vermögenswerte nach den für diese jeweils geltenden Vorschriften, vor allem durch die Übertragung des Eigentums an Sachen, die Abtretung von Rechten und die Überleitung von immateriellen Wirtschaftsgütern sowie die Übertragung der Verbindlichkeiten. Mit den Begriffen „Unternehmenskauf“ und „Beteiligungskauf“ wird freilich häufig auch der gesamte wirtschaftliche Sachverhalt des käuflichen Erwerbs im Ganzen bezeichnet, also unter Zusammenfassung der schuldrechtlichen und der dinglichen Seite des Geschäftes. Für das Geschäft im Ganzen hat sich auch der Ausdruck „Unternehmensakquisition“ eingebürgert. Rechtspraxis und Terminologie sind erheblich von anglo-amerikanischen Vorstellungen beeinflusst.6 Falls 2 BGH v. 10.8.1995 – IX ZR 220/94, MDR 1995, 1169 = DB 1995, 2157 (Rechtsanwaltspraxis); BGH v. 11.10.1995 – VIII ZR 25/94, MDR 1996, 459 = NJW 1996, 773 (Arztpraxis); BGH v. 22.5.1996 – VIII ZR 194/95, MDR 1996, 778 = DB 1996, 1513 (Steuerberaterpraxis), jeweils unter besonderer Berücksichtigung der diesen Berufen obliegenden Geheimhaltungsverpflichtungen. 3 Vgl. die Regierungsbegründung zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (SMG), BT-Drucks. 14/6040 v. 14.5.2001, 209 (212). 4 Wagner in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas, 4. Aufl. 2014, Vorbem. vor §§ 373–382 HGB, Rz. 2 m.w.N. 5 Schlechtriem/Schwenzer, Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht, 6. Aufl. 2013, Art. 1 Rz. 36; Merkt, Internationaler Unternehmenskauf, Rz. 875. 6 Hanke/Socher, Fachbegriffe aus M&A und Corporate Finance, NJW 2010, 664 (Planungs-und Bieterphase); 829 (Due Diligence Phase); 1261 (Verhandlungsphase); 1576 (Unternehmenskaufvertrag); 2024 (Akquisitionsfinanzierung).
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A. Grundlagen
Rz. 9.6 Kap. 9
an einer Transaktion, die ein deutsches Zielunternehmen betrifft, englische oder US-amerikanische Parteien beteiligt sind, kann es sich empfehlen, die regelmäßig von der American Bar Association (ABA) veröffentlichten „Private Target Mergers & Acquisitions Deal Points Studies“ zu konsultieren, um den Erwartungshorizont dieser Parteien gut zu verstehen.7 Unternehmen werden nicht nur durch Kauf erworben und veräußert. Auch die Einbringung eines Unternehmens in eine Gesellschaft oder die Verschmelzung und die Vermögensübertragung (§§ 2 ff., 174 ff. UmwG) je gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten können als Unternehmensveräußerungen verstanden werden. Unternehmen können ferner gepachtet werden oder Gegenstand eines Nießbrauchs sein. Gegenstand dieser Abhandlung ist jedoch die Unternehmensakquisition im Wege des Kaufes. Ausgeklammert bleiben auch die besonderen Probleme des Unternehmenskaufes im Wege eines öffentlichen Übernahmeangebotes nach dem WpÜG (vgl. dazu unten Kap. 13).
9.5
2. Asset Deal – Share Deal Ist eine Handelsgesellschaft Träger eines Unternehmens, so kann der Käufer unmittelbar die einzelnen Sachen, Rechte und sonstigen Wirtschaftsgüter erwerben, aus denen sich das Unternehmen zusammensetzt. Hierfür hat sich der Begriff Asset Deal8 durchgesetzt. Ob es sich um die Akquisition des Unternehmens im Ganzen oder nur um den Erwerb einzelner Wirtschaftsgüter handelt, ist auf Grund einer wirtschaftlichen Gesamtbetrachtung zu beurteilen. Wesentlich ist, ob der Erwerber in die Lage versetzt werden soll, das Unternehmen als solches weiterzuführen.9 Die Abgrenzung spielt eine Rolle, wenn Gewährleistungsansprüche in Rede stehen und einzelne der erworbenen Wirtschaftsgüter mangelhaft sind. Das macht nicht notwendigerweise das Unternehmen mangelhaft, dem sie zugeordnet sind (s. dazu Rz. 9.205 ff.). Der Käufer kann aber auch die Beteiligungsrechte an dem Unternehmensträger erwerben,10 also die Gesellschaftsanteile einer Personengesellschaft, die Geschäftsanteile einer GmbH oder Aktien. Diese Gestaltung wird inzwischen allgemein als Share Deal11 bezeichnet, der Vertrag über den Erwerb von Beteiligungsrechten als „Share Purchase Agreement“ (SPA). Im Falle eines Share Deal ändert sich an der Zuordnung der aktiven und passiven Vermögenswerte des Unternehmens nichts. Sie bleiben unverändert bei der Gesellschaft. Es ändert sich lediglich die Inhaberschaft an den Gesellschafterrechten. Betreibt die Gesellschaft mehrere Unternehmen, so erfolgt der Erwerb eines derselben notwendigerweise im We-
7 Zugänglich für Mitglieder der ABA über deren Internetseite http://americanbar.org Section on Business Law – Committee Mergers & Acquisitions – Subcommittee Market Trends; teilweise auch über andere Internetadressen frei zugänglich. 8 Zu Asset Deal und Share Deal näher Beck/Klar, Asset Deal vs. Share Deal, eine Gesamtbetrachtung unter expliziter Berücksichtigung des Risikoaspekts, DB 2007, 2819. Die Begriffe haben auch in die Rechtsprechung Eingang gefunden, vgl. BGH v. 30.1.2013 – XII ZR 38/12, MDR 2013, 394 (II.1 – Rz. 16), NJW 2013, 1083; auch bereits BGH v. 16.12.2004 – III ZR 119/04 (II.1 – Rz. 15) BGHZ 161, 349 = MDR 2005, 517 = NJW 2005, 753; EuGH v. 29.4.2004 – C-277/00, Rz. 65 ff.; EuG v. 1.7.2009 – T-273/06, Rz. 111 ff. 9 St. Rspr., vgl. BGH v. 28.11.2001 – VIII ZR 37/01, MDR 2002, 467 (II 1a), NJW 2002, 1042 m.w.N. 10 Grundlegend BGH v. 12.11.1975 – VIII ZR 142/74, BGHZ 65, 246 = NJW 1976, 236; jüngeres Beispiel BGH v. 16.12.2004 – III ZR 118/04 Rz. 15, BGH v. 16.12.2004 – III ZR 119/04, BGHZ 161, 349 = MDR 2005, 517. 11 Jüngeres Beispiel OLG Brandenburg v. 16.4.2014 – 4 U 54/12.
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9.6
Kap. 9 Rz. 9.7
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
ge eines Asset Deal, es sei denn, das zu veräußernde Unternehmen würde zuvor ausgegliedert und rechtlich verselbständigt. Im letzteren Fall ist auch ein Share Deal möglich. Entsprechendes gilt für den Erwerb von Betrieben und Teilbetrieben oder von Geschäftsbereichen. Der Veräußerer kann auch an Stelle der Ausgliederung der zu veräußernden Unternehmensteile die Unternehmensteile ausgliedern, die er zurückbehalten will und dann die Beteiligungsrechte an der um die ausgegliederten Unternehmensteile verminderten Gesellschaft veräußern. Bei der Wahl des Ausgliederungswegs spielen aus Verkäufersicht neben steuer- und arbeitsrechtlichen Aspekten aus rechtlicher Sicht typischerweise auch Überlegungen zu Risiken des Verkäufers im Zusammenhang mit der Verselbständigung („Carve Out“) des zu veräußernden Unternehmens oder Geschäftsbereichs eine Rolle. Diese können sich insbesondere aus einer umwandlungsrechtlichen Nachhaftung (vgl. § 133 UmwG) oder einer insolvenzrechtlichen Anfechtung (im Falle einer Separierung von zu veräußernden und nicht zu veräußernden Unternehmensteilen im Wege eines „internen“ Asset Deals) ergeben.
9.7 Ist Unternehmensträger ein einzelkaufmännisches Unternehmen, so sind notwendigerweise die einzelnen Wirtschaftsgüter, die das Unternehmen ausmachen, Gegenstand des Unternehmenskaufvertrages. Ein Asset Deal ist auch geboten, wenn Unternehmensträger eine juristische Person des öffentlichen Rechtes ist, etwa im Falle der Veräußerung eines gemeindlichen Schlachthofes, gemeindlicher Verkehrsbetriebe und ähnlicher Einrichtungen, oder wenn das Unternehmen von einer Stiftung oder einem Verein gehalten wird. Freilich kann auch in diesen Fällen die Transaktion so gestaltet werden, dass das zu verkaufende Unternehmen zunächst in eine von dem Veräußerer zu gründende Gesellschaft eingebracht wird und dass alsdann die Beteiligungsrechte an dieser Gesellschaft veräußert werden.
9.8 Beim Unternehmenserwerb durch Erwerb der Beteiligungsrechte (Share Deal) ist der dingliche Vollzug des Geschäftes verhältnismäßig einfach. Bei größeren Akquisitionen kommt häufig praktisch nur ein Share Deal in Betracht. Es brauchen lediglich die Beteiligungsrechte abgetreten zu werden. Alle Wirtschaftsgüter und alle Beziehungen rechtlicher und tatsächlicher Art, insbesondere auch die Vertragsverhältnisse, die das Unternehmen mit Dritten verbinden, bleiben unverändert bei der Gesellschaft. Es kann allerdings sein, dass bestimmte öffentlich-rechtliche Erlaubnisse an den Inhaber des Unternehmens geknüpft sind. Auch sehen Verträge verschiedentlich vor, dass ein Vertragspartner den Vertrag kündigen kann, wenn bei der anderen Seite die Mehrheit der Stimmrechte auf einen Dritten übergeht (Change of Control). Demgegenüber müssen im Falle des Asset Deal sämtliche einzelnen Wirtschaftsgüter, aus denen das Unternehmen besteht, unter Beachtung der jeweiligen Formvorschriften auf den Erwerber übertragen werden. Angesichts des für die dinglichen Übertragungen geltenden Bestimmtheitsgrundsatzes bedarf es einer hinreichend genauen Bezeichnung aller übergehenden Wirtschaftsgüter. Es können Notar- und Grundbuchkosten anfallen, wenn Grundstücke zu übertragen sind. Für die Übertragung von Vertragsverhältnissen bedarf es regelmäßig der Zustimmung des Vertragspartners (zum Ganzen näher Rz. 9.107 ff.). Während trotz dieser bedeutsamen formalen Unterschiede die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Asset Deal einerseits und eines Share Deal andererseits im Ergebnis im Wesentlichen gleichwertig sind, ergeben sich erhebliche steuerliche Unterschiede zwischen den beiden Gestaltungen (s. dazu Teil 5). Es bedarf daher sorgfältiger Abwägung im Einzelfall, welcher Gestaltungsmöglichkeit der Vorzug zu geben ist. Die Interessen des Verkäufers und des Käufers können unterschiedlich sein.
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A. Grundlagen
Rz. 9.10 Kap. 9
3. Transaktionsstrukturen An die Stelle der früher häufig informellen Transaktionsstrukturen12 sind inzwischen vielfach 9.9 professionell gesteuerte Verfahren getreten. Auf der Verkäuferseite beginnen solche Transaktionen oftmals damit, dass das zu veräußernde Unternehmen für einen Verkauf vorbereitet wird, z.B. durch die Entnahme von nicht betriebsnotwendigem Vermögen, durch Maßnahmen zur Verbesserung der Bilanzstruktur und die rechtliche Verselbständigung von zur Veräußerung bestimmten Unternehmensteilen („Carve-Out“, s. oben Rz. 9.6). Sodann werden systematisch Käufer gesucht, die in einem Informationsmemorandum erste Informationen erhalten. Dazu werden oftmals Investmentbanken eingeschaltet. In einem gegebenenfalls mehrstufigen Prozess wird bestimmten Interessenten nach Abschluss von Vertraulichkeitsvereinbarungen Gelegenheit gegeben, das Unternehmen zu untersuchen („Due Diligence“, s. unten Rz. 9.43 ff.). Daran schließen sich die Verhandlungen zum eigentlichen Unternehmenskaufvertrag an. Eine Sonderform der vom Verkäufer initiierten strukturierten Veräußerung stellen Auktionsverfahren13 dar, bei denen identifizierten Erwerbsinteressenten anheim gegeben wird, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zunächst unverbindliche Angebote zu unterbreiten, woraufhin das Verfahren mit einzelnen Bietern fortgesetzt wird. Wirtschaftlich geht es zumeist darum, einen Wettbewerb zwischen potentiellen Käufern zu entfachen, um möglichst vorteilhafte Bedingungen für den Veräußerer zu erzielen. Rechtlich ergeben sich Fragen, weil dem Interessenten durch die Teilnahme an einem strukturierten Veräußerungsprozess beträchtliche Aufwendungen entstehen können, die vergeblich sind, wenn das Unternehmen an einen anderen veräußert wird oder wenn der Veräußerer das Verfahren abbricht, s. dazu nachstehend Rz. 9.12.
III. Zielsetzungen beim Unternehmens- und Beteiligungskauf Der Erwerber eines Unternehmens oder einer Unternehmensbeteiligung kann verschiedene 9.10 Ziele verfolgen. Auf die Unterscheidung zwischen unternehmerischen Beteiligungen und reinen Finanzbeteiligungen wurde bereits eingegangen (s. Kapitel 1). Für die Vertragsgestaltung ist zu unterscheiden: Vielfach steht das Interesse am Erwerb der in dem Zielunternehmen verkörperten Ertragskraft im Vordergrund. Der Erwerber will die vom bisherigen Inhaber entfaltete unternehmerische Aktivität fortsetzen, häufig in Zusammenführung mit seiner eigenen Geschäftstätigkeit, um Synergieeffekte zu erzielen oder um seine Geschäftsfelder zu erweitern oder zu stärken. Der wirtschaftliche Erfolg solcher Transaktionen hängt entscheidend davon ab, wie die Zusammenführung gelingt (sog. Post Merger Integration, s. dazu Teil 2). Die angemessene rechtliche Struktur ist dabei nur einer der Erfolgsfaktoren.14 Es ist aber auch möglich, dass der Erwerber nur an einzelnen Vermögenswerten interessiert ist,15 auch solchen immaterieller Art wie bestimmten Schutzrechten und Know-how, oder dass es ihm im Wesentlichen auf die Kunden- oder Lieferantenbeziehungen ankommt, über die das Unternehmen verfügt.16 Zuweilen liegt dem Erwerber auch lediglich daran, eine eingerichtete Produktionsstätte zu erlangen, ohne dass er für die organisatorischen und sonstigen Ver12 Dazu näher Gran, Abläufe bei Mergers & Acquisitions, NJW 2008, 1409; zu Besonderheiten beim Verkauf von Familienunternehmen Pöllath/Greitemann/Viskorf in FS Rödl, 2008, S. 301. 13 Zu den dabei auftretenden AGB-rechtlichen Fragen Habersack/Schürnbrand in FS Canaris, 2007, S. 359. 14 Hierzu auch aus wirtschaftlicher Sicht und unter besonderer Berücksichtigung der Anforderungen an das Management und dessen Haftungsrisiken Seibt/Wollenschläger, DB 2009, 1579. 15 Z.B. Grundstücken, vgl. BGH v. 7.5.1998 – III ZR 18/97, DB 1998, 1958. 16 Beispiel: BGH v. 26.5.1972 – I ZR 44/71, NJW 1972, 2123.
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Kap. 9 Rz. 9.11
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
hältnisse des erworbenen Unternehmens Verwendung hat.17 Ertragsschwache Unternehmen mit beträchtlicher Substanz z.B. an Grundstücken werden auch zur Verwertung dieser Substanz gekauft. Ferner kann ein Unternehmen unter Umständen zum Zwecke der Stilllegung und Verringerung von Überkapazitäten erworben werden. Diese ganz unterschiedlichen Ziele des Erwerbers erfordern jeweils angepasste Schwerpunktsetzungen in der Due Diligence (s. Rz. 9.43 ff.) sowie (an die Ergebnisse der Due Diligence anknüpfende) Vertragsgestaltungen. Beim Erwerb der Kundschaft ist überdies die Abgrenzung zu bloßen Wettbewerbsbeschränkungen nicht immer zweifelsfrei.18
B. Vorvertragliches Stadium I. Pflichten während der Vertragsverhandlungen 9.11 Schon der Eintritt in die Kaufverhandlungen19 begründet für die Beteiligten Verpflichtungen, deren Verletzung – unabhängig vom eventuellen Abschluss des Vertrages und zusätzlich zu etwaigen anderen vertraglichen Ansprüchen – Schadensersatzansprüche aus dem Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsanbahnung (culpa in contrahendo – c.i.c.) begründen können. Das seit langem gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtsinstitut hat seit 2002 eine gesetzliche Grundlage in § 311 Abs. 2 BGB, ohne dass sich inhaltlich am früheren Rechtszustand etwas geändert hätte. Im Rahmen von Unternehmensakquisitionen kommen im Einzelnen insbesondere die folgenden Pflichten in Betracht. 1. Redliche Verhandlungsführung
9.12 Der Eintritt in Vertragsverhandlungen verpflichtet keine Partei zum Vertragsschluss. Unredlich ist es aber, Vertragsverhandlungen nur zum Schein und ohne Abschlussabsicht zu führen, z.B. um Informationen über die gegnerische Partei zu gewinnen.20 Ebenso ist es unredlich, wenn jemand als Kaufinteressent verhandelt, ohne in der Lage zu sein, den Kaufpreis zu entrichten (falls er nicht einen Finanzierungsvorbehalt erklärt). Dagegen begründet auch der willkürliche Abbruch von Vertragsverhandlungen in der Regel keine Ansprüche der jeweils anderen Partei.21 Das gilt auch dann, wenn diese im Hinblick auf die Verhandlungen erhebliche Aufwendungen gemacht hat, z.B. für Bewertungsgutachten, Marktuntersuchungen oder rechtliche und steuerliche Beratung. Etwas anderes kann jedoch gelten, wenn derjenige, der die Verhandlungen ohne triftigen Grund abbricht, bei der anderen Partei in zurechenbarer Weise das aus deren Sicht berechtigte Vertrauen erweckt hat, der Vertrag werde
17 Abgrenzung eines Unternehmenskaufes vom Kauf von Maschinen (chemische Reinigung) BGH v. 8.2.1995 – VIII ZR 8/94, MDR 1995, 682 = DB 1995, 972; Abgrenzung zum Inventarkauf BGH v. 11.11.1992 – VIII ZR 211/91, WM 1993, 249. 18 Vgl. BGH v. 20.3.1984 – KZR 11/83, WuW/E BGH 2085 – Strohgäu – Wochenjournal; Mäger/ Ringe, WuW 2007, 18. 19 Zur Abgrenzung von rechtlich ganz unverbindlichen Gesprächskontakten LG München I v. 31.3.2009 – 33 O 25598/05, Rz. 221, BB 2009, 729. 20 BGH v. 29.3.1996 – V ZR 332/94 (II 1c), DB 1996, 1916 = MDR 1996, 672. 21 St. Rspr. vgl. BGH v. 7.12.2000 – VII ZR 360/98 (II 2c – Rz. 16), WM 2001, 684 = MDR 2001, 327; OLG Schleswig-Holstein v. 4.7.2014 – 17 U 24/14, Rz. 28 = GmbHR 2014, 1317 =; Palandt/ Grüneberg, § 311 Rz. 30 ff., je m.w.N.
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B. Vorvertragliches Stadium
Rz. 9.14 Kap. 9
mit Sicherheit zustande kommen, sein Abschluss sei eine bloße Förmlichkeit.22 Bei Veräußerungen im Auktionsverfahren darf der Bieter erwarten, dass der Veräußerer das Verfahren nicht ohne triftigen Grund abbricht. Allerdings dürfte in der Praxis kaum eine Konstellation denkbar sein, in welcher der Verkäufer keinen triftigen Grund für die Beendigung des Transaktionsverfahrens vorweisen kann.23 Bei formbedürftigen Verträgen, insbesondere bei Grundstückskaufverträgen, kann die Weigerung, den Vertrag abzuschließen, Ansprüche der anderen Partei nur im Falle eines schweren, in der Regel vorsätzlichen Verstoßes gegen die Verpflichtung zu redlicher Verhandlungsführung begründen.24 Eine besondere Rolle spielen im Unternehmenskaufrecht Auskunfts- und Offenbarungspflichten des Verkäufers. Deren Verletzung steht häufig im Zentrum von Auseinandersetzungen zwischen den Parteien eines Unternehmenskaufvertrages. Auf sie wird im Zusammenhang mit den sonstigen Rechten des enttäuschten Käufers eingegangen (s. dazu nachstehend Rz. 9.239 ff.).
9.13
2. Geheimhaltungspflichten Der Verkäufer eines Unternehmens ist häufig bemüht, seine Verkaufsabsichten nicht über 9.14 einen begrenzten Personenkreis hinaus bekannt werden zu lassen. Er mag befürchten, dass Kunden, Lieferanten und Kreditgeber möglicherweise aus der Verkaufsabsicht ungünstige Rückschlüsse auf den wirtschaftlichen Zustand des Unternehmens ziehen, und selbst wenn dies nicht der Fall ist, entsteht doch Ungewissheit über dessen weiteres Schicksal. Auch kann die Motivation der Belegschaft leiden, wenn sie erfährt, dass „ihr“ Unternehmen verkauft werden soll. Das muss aber nicht so sein. Es kann auch umgekehrt für die Organisation eines Bieterwettbewerbes vorteilhaft sein, wenn eine Verkaufsabsicht bekannt wird. Das Bekanntwerden von Kaufabsichten kann andererseits Rückschlüsse auf die beabsichtigte künftige Orientierung des Käufers ermöglichen, die diesem unerwünscht sein mögen. Ferner kann der Kaufinteressent im Verlauf der Verhandlungen erhebliche Einblicke in die geschäftlichen Verhältnisse des Veräußerers gewinnen. Unter diesen Umständen ist aus der Anbahnung von Verhandlungen für beide Seiten die Verpflichtung abzuleiten, die Kaufverhandlungen vertraulich zu behandeln und die gewonnenen Erkenntnisse nicht zum Nachteil der Gegenpartei zu verwenden.25 Darauf wird nachstehend im Rahmen der Erörterung der Due Diligence näher eingegangen (s. Rz. 9.63 f.).
22 BGH v. 22.2.1989 – VIII ZR 4/88, MDR 1989, 731 = DB 1989, 1022 den Abbruch von Beteiligungsverhandlungen betreffend m.w.N.; bestätigt durch BGH v. 29.3.1996 – V ZR 332/94 (II 1a), DB 1996, 1916 = MDR 1996, 672; OLG Stuttgart v. 7.7.1989 – 9 U 13/89, DB 1989, 1817 zu Verhandlungen über einen Share Deal. 23 Vgl. Hilgard, BB 2008, 286, 288; Geyrhalter/Zirngibl/Strehle, DStR 2006, 1559 (1562). 24 BGH v. 29.3.1996 – V ZR 332/94, MDR 1996, 672 = DB 1996, 1916; OLG Stuttgart v. 2.4.2007 – 5 U 177/06, WM 2007, 1743 für Verhandlungen über einen Share Deal. 25 Sog. „Diskretionsfälle“ vgl. Larenz in FS Ballerstedt, 1975, S. 397 ff. (415); Lutter, Der Letter of Intent, S. 48, leitet aus der widerspruchslosen Annahme von Informationen, die mit dem Hinweis auf deren Vertraulichkeit erteilt werden, die konkludente Verpflichtung des Informationsempfängers zur Wahrung der Vertraulichkeit ab. Angesichts der weit verbreiteten ausdrücklichen Geheimhaltungs- und Vertraulichkeitsvereinbarungen spielt die Frage, ob und inwieweit eine gesetzliche Pflicht aus c.i.c. zur Wahrung der Geheimhaltung oder Vertraulichkeit besteht, praktisch allerdings keine besondere Rolle.
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Kap. 9 Rz. 9.15
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
3. Schadensersatzanspruch bei Verstoß gegen vorvertragliche Pflichten
9.15 Ein schuldhafter Verstoß gegen vorvertragliche Pflichten begründet Schadensersatzansprüche der verletzten Partei (§§ 311, 241 Abs. 2, 280 BGB). Die verletzte Partei muss so gestellt werden, wie sie ohne die ihr gegenüber begangene Pflichtverletzung stünde (sog. „negatives“ oder „Vertrauensinteresse“), und zwar ohne Beschränkung auf das Erfüllungsinteresse.26 Im Einzelnen kommen in Betracht Ansprüche auf Erstattung fehlgeschlagener Aufwendungen27 und Ersatzansprüche wegen Verletzung der Verpflichtung zur Vertraulichkeit. Denkbar ist auch ein Anspruch auf Ersatz des Schadens, den der Geschädigte dadurch erleidet, dass er im Vertrauen auf den Abschluss des verhandelten Geschäftes von einem anderen Geschäft Abstand nimmt.28 Zur Frage, ob bei Verletzung von Auskunfts- und Offenbarungspflichten Ansprüche auf Rückgängigmachung des Kaufvertrages oder Herabsetzung des Kaufpreises bestehen, s. Rz. 9.247 f.
9.16 Schadensersatzansprüche wegen unberechtigten Abbruchs von Vertragsverhandlungen setzen nicht voraus, dass derjenige, der die Verhandlungen abbricht, im anderen schuldhaft das Vertrauen auf einen erfolgreichen Verhandlungsabschluss geweckt hat. Es genügt, dass dieses Vertrauen durch ein zurechenbares Verhalten geschaffen wurde.29
9.17 Der Geschäftsherr haftet für seine gesetzlichen und rechtsgeschäftlichen Vertreter sowie für sonstige Personen, deren er sich als Verhandlungsgehilfen bedient, gem. § 278 BGB,30 also ohne die Möglichkeit eines Entlastungsbeweises für sorgfältige Auswahl und Überwachung. § 278 BGB kann auch dann eingreifen, wenn der Verhandlungsführer gegenüber dem Geschäftsherrn nicht weisungsgebunden ist, beispielsweise für einen vom Geschäftsherrn mandatierten Rechtsanwalt,31 Notar32 oder Wirtschaftsprüfer. Die Haftung nach § 278 BGB kann allerdings vertraglich grundsätzlich vollständig ausgeschlossen werden, auch für Vorsatz des Erfüllungsgehilfen.33 Ob und inwieweit dies in der Praxis tatsächlich gelingen wird, ist abhängig von Verhandlungssituation und Verhandlungsgeschick.
9.18 Im Einzelfall ist es schwierig zu entscheiden, ob und zu welchem Zeitpunkt eine Partei der anderen den Vertragsabschluss als sicher hingestellt hat, so dass sie nicht mehr ohne triftigen Grund vom Vertragsschluss Abstand nehmen dürfte. Entsprechendes gilt für die Frage, ob ein bestimmter Umstand den Abbruch der Vertragsverhandlungen tatsächlich rechtfertigt. Zur Vermeidung dieser Unsicherheiten schließen die Parteien zuweilen Ansprüche auf Aufwendungsersatz oder Ersatz sonstiger Schäden aus oder regeln sie durch Vereinbarung einer sog. „Break-up Fee“ (s. Rz. 9.41). 26 Vgl. BGH v. 29.3.1996 – V ZR 322/94 (II 1a), MDR 1996, 672 = DB 1996, 1916. 27 BGH v. 25.5.1977 – VIII ZR 186/75 (II 2a), BGHZ 69, 53 = DB 1977, 1451; BGH v. 28.10.1971 – VII ZR 15/70 (I 1), BGHZ 57, 191 = NJW 1972, 95. 28 Beispiel: BGH v. 17.4.1984 – VI ZR 191/82 (II 2), DB 1984, 2137 = MDR 1984, 1015. 29 BGH v. 22.2.1989 – VIII ZR 4/88, MDR 1989, 731 = DB 1989, 1022; BGH v. 7.12.2000 – VII ZR 360/98 (II 2a), WM 2001, 684 bestr., vgl. Gehrlein, MDR 1998, 445 m.w.N.; in der Praxis wird freilich kaum ein Fall zurechenbaren Verhaltens vorkommen, der nicht zugleich auch einen Verschuldensvorwurf begründet. 30 Allg. Auffassung, vgl. Palandt/Grüneberg, § 311 BGB Rz. 28; BGH v. 26.4.1991 – V ZR 165/89 (II 3), BGHZ 114, 263 = MDR 1991, 966 = DB 1991, 1617; BGH v. 15.6.1988 – VIII ZR 316/87 (II 2d), BGHZ 104, 392 = MDR 1988, 954 = NJW 1988, 2463. 31 BGH v. 7.3.1972 – VI ZR 158/70 (3a), BGHZ 58, 207 = NJW 1972, 1048. 32 BGH v. 8.2.1974 – V ZR 21/72, BGHZ 62, 119 = NJW 1974, 692. 33 MünchKomm/BGB/Grundmann, § 278 BGB Rz. 51.
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B. Vorvertragliches Stadium
Rz. 9.23 Kap. 9
4. Persönliche Haftung der Verhandlungsführer Vertreter und Berater, die auf Seiten eines Vertragspartners am Zustandekommen eines Vertrages mitwirken, haften grundsätzlich nur ihrem Auftraggeber sowie Dritten, soweit sich die Schutzwirkung des Vertrages auf diese erstreckt.34 Gegenüber dem Gegner haften sie grundsätzlich weder vertraglich noch quasi-vertraglich aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen (§ 311 Abs. 2 BGB). Ausnahmsweise kommt aber auch für sie eine Haftung aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen in Betracht. Die Rechtsprechung hat dies namentlich bejaht, wenn diese Personen
9.19
– selbst ein starkes unmittelbares Eigeninteresse35 an dem angestrebten Geschäft haben und daraus persönlichen Nutzen zu ziehen hoffen; oder
9.20
– gegenüber dem anderen Teil besonderes Vertrauen für sich in Anspruch genommen haben, z.B. indem sie besondere Sachkunde oder Zuverlässigkeit ins Feld führten (sog. „Sachwalter“).36
9.21
In diesen Fällen treffen sie die gleichen Verpflichtungen zur redlichen Verhandlungsführung wie die Partei selbst einschließlich der Haftung auf das negative Interesse des Gegners im Falle einer Pflichtverletzung. Diese von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze sind seit 2002 in § 311 Abs. 3 BGB kodifiziert. Die wenn auch maßgebliche Beteiligung des Geschäftsführers an der von ihm vertretenen GmbH reicht allerdings noch nicht aus, um für ihn eine Vertreterhaftung wegen Eigeninteresses zu begründen.37 Der Rechtsanwalt, den eine Partei zur Vertragsverhandlung und Vertragsformulierung heranzieht, haftet in der Regel nicht gegenüber der anderen Partei als Sachwalter.38 Zur Beurteilung sog. „Legal Opinions“ und einer Haftung für Due Diligence Berichte s. sogleich Rz. 9.24 f.
9.22
5. Haftung für Abschlüsse, Testate und Gutachten Häufig legt der Unternehmensverkäufer dem Käufer Zahlenmaterial vor, insbesondere Ab- 9.23 schlüsse oder Zwischenabschlüsse, deren Richtigkeit und Vollständigkeit von einem Sachverständigen (Wirtschaftsprüfer, Steuerberater) testiert sind. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung kann in solchen Fällen der Testierende für die Richtigkeit eines Testates nicht nur gegenüber dem Auftraggeber (Unternehmensverkäufer), sondern auch gegenüber Dritten haften, die auf der Grundlage der testierten Unterlagen nachteilige Entscheidungen getroffen haben. Der BGH nimmt eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung Dritter mit der Haftungsfolge des § 826 BGB schon dann an, wenn der Testierende damit rechnet, dass 34 BGH v. 15.6.1971 – VI ZR 262/69 (II 2b aa), BGHZ 56, 269; BGH v. 2.11.1983 – IVa ZR 20/82, MDR 1984, 296 = NJW 1984, 355. 35 Vgl. BGH v. 17.6.1991 – II ZR 171/90, MDR 1992, 232 = DB 1991, 2182. 36 St. Rspr., vgl. BGH v. 2.6.2008 – II ZR 210/06 (II 1), BGHZ 177, 25 = AG 2008, 662 = MDR 2008, 1224 = BB 2008, 1978 für organschaftliche Vertreter einer kapitalsuchenden Gesellschaft; dazu Mülbert, JZ 2009, 158 m.w.N.; BGH v. 17.1.2001 – IV ZR 282/99, NJW-RR 2001, 593 in casu verneinend; OLG Nürnberg v. 21.1.2008 – 6 U 2208/07, MDR 2008, 715 = AnwBl. 2008, 468 den Geschäftsführer einer Anwalts-GmbH betreffend; zur Rolle der Banken und daraus resultierender Haftungsprobleme Peltzer, ZIP 1991, 485; zur entsprechenden Situation sonstiger M&A-Berater Steiner, ZfK 1993, 172; weitere Fälle bei Baumbach/Hopt, Überbl. 9 vor § 48 HGB. 37 BGH v. 7.11.1994 – II ZR 138/92, GmbHR 1995, 130 = WM 1995, 108 mit Anm. Goette, DStR 1994, 1784; BGH v. 6.6.1994 – II ZR 292/91 (I 2a), BGHZ 126, 181 = DB 1994, 1608. 38 BGH v. 11.7.1988 – II ZR 232/87, MDR 1989, 41 = DB 1988, 2398.
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Kap. 9 Rz. 9.23
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
ein von ihm vorsätzlich oder auch nur leichtfertig falsch aufgestellter oder testierter Abschluss an den Käufer oder an eine diesen finanzierende Bank gelangt und dort zur Grundlage einer Kauf- oder Kreditentscheidung wird.39 Neben der deliktsrechtlichen Haftung kommt auch eine vertragliche Haftung in Betracht, wenn der Vertrag über die Erstellung z.B. eines Jahresabschlusses als Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte, eben für den Unternehmenskäufer und seinen Kreditgeber, gegebenenfalls auch für die verkaufenden Gesellschafter, anzusehen ist (§§ 328, 675 BGB). Ob dies der Fall ist, muss zwar erst durch Auslegung ermittelt werden. Jedoch neigt die höchstrichterliche Rechtsprechung dazu, solche Schutzwirkungen in verhältnismäßig weitem Umfang anzunehmen,40 so wenn ein Wirtschaftsprüfer eine Pflichtprüfung bei einer Kapitalgesellschaft durchführt und sich für ihn hinreichend deutlich ergibt, dass von deren Ergebnis gegenüber einem Dritten Gebrauch gemacht werden soll.41 Erteilt eine Bank eine Finanzierungsbestätigung, die ihr Kunde einem Dritten vorzulegen hat, haftet sie für deren Richtigkeit.42 Entsprechendes muss auch gelten, wenn ein Rechtsanwalt im Auftrag seines Mandanten dem Gegner eine rechtliche Erläuterung oder Bestätigung erteilt („Legal Opinion“).43 Das kommt z.B. vor, wenn die rechtlichen Verhältnisse beim Zielunternehmen für den Erwerber und seinen eigenen rechtlichen Berater unübersichtlich sind, auch bei Akquisitionen in einer fremden Rechtsordnung. Dagegen begründet es keine Haftung nach diesen Regeln, wenn der Rechtsanwalt lediglich im Auftrag seines Mandanten einen Vertragsentwurf fertigt.44 Jeder mag selbst prüfen, ob ein ihm vorgelegter Entwurf seinen Interessen Rechnung trägt. Die Bedeutung der vertraglichen Haftung zusätzlich zur deliktischen ist auch deshalb groß, weil damit eine gesamtschuldnerische Haftung auch der Sozien der testierenden Person begründet wird, soweit sich diese Haftung nicht schon über § 31 BGB ergibt.45 39 BGH v. 26.11.1986 – IVa ZR 86/85, MDR 1987, 477 = DB 1987, 828 m.w.N. und Anm. Hopt, NJW 1987, 1745; weitere Beispiele: BGH v. 18.10.1988 – XI ZR 12/88, NJW-RR 1989, 696 unter Hinweis auf mögliche Einschränkungen des Testates; BGH v. 26.11.1986 – IVa ZR 86/85, MDR 1987, 477 = DB 1987, 828 betr. Erstellung einer Zwischenbilanz durch steuerlichen Berater; BGH v. 5.12.1972 – VI ZR 120/71, NJW 1973, 321 betr. Erstellung einer Bilanz durch Wirtschaftsprüfer; Baumbach/Hopt, § 347 HGB Rz. 18. 40 Vgl. BGH v. 13.2.2003 – IX ZR 62/02, MDR 2003, 687 = BB 2003, 924 (Kapitalanlagebewertung durch Steuerbewertungsgesellschaft); BGH v. 7.2.2002 – III ZR 1/01, MDR 2002, 945 = NJW 2002, 1196 (Architektenhaftung für Prüfvermerk); BGH v. 2.12.1999 – IX ZR 415/98, MDR 2000, 358 = GmbHR 2000, 131 m. Anm. Schick = AG 2000, 179 = NJW 2000, 725 (Rechtsanwalt, der mit Vorbereitung einer Kapitalerhöhung beauftragt ist); BGH v. 28.5.1997 – III ZR 277/95, BB 1997, 1685 (Wirtschaftsprüfer der Gesellschaft im Verhältnis zu den Gesellschaftern). 41 BGH v. 2.4.1998 – III ZR 245/96 (I 1b aa), BGHZ 138, 257 = GmbHR 1998, 600 = MDR 1998, 993 = MDR 1998, 1124 = AG 1998, 424 = DB 1998, 1073; BGH v. 26.11.1986 – IVa ZR 86/85, MDR 1987, 477 = DB 1987, 828 betr. einen Steuerberater, dem erkennbar war, dass die von ihm testierte Zwischenbilanz als Entscheidungsgrundlage für einen Dritten (Käufer oder Kreditgeber) dienen sollte. 42 BGH v. 7.7.1998 – XI ZR 375/97, MDR 1998, 1235 = DB 1998, 1858. 43 BGH v. 29.9.1982 – IVa ZR 309/80, MDR 1983, 382 = DB 1983, 279 für steuerrechtliches Gutachten eines Wirtschaftsprüfers; Bosch, ZHR 163 (1999), 274; besonders kritisch im Verkehr mit den USA, vgl. Gruson, RIW 2002, 596; Louven, VersR 1997, 1050; umfassend Gruson/Hutter/Kutschera, Legal Opinions in International Transactions, Report of the Subcommittee on Legal Opinions of the Committee on Banking Law of the Section on Business Law of the International Bar Association, 4th ed. 2003. Allgemein zur Haftung von Gutachtern bei der Vorbereitung von Beteiligungserwerben J. Semler in FS Quack, 1991, S. 545. 44 BGH v. 11.7.1988 – II ZR 232/87, MDR 1989, 41 = ZIP 1988, 1581. 45 Zur Anwendbarkeit von § 31 BGB auf Gesellschaften bürgerlichen Rechtes BGH v. 24.2.2003 – II ZR 385/99, BGHZ 154, 88 = MDR 2003, 639 mit Anm. K. Schmidt, NJW 2003, 1897.
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B. Vorvertragliches Stadium
Rz. 9.26 Kap. 9
Haftungsausschlüsse oder Haftungsbegrenzungen durch allgemeine Auftragsbedingungen von Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern greifen gegenüber dem Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB nicht durch.46 Sie werden im Falle vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Handelns auch gegenüber dem vertraglichen Anspruch versagen (vgl. § 276 Abs. 2 BGB; § 309 Nr. 7 lit. b BGB). In diesen Fällen ist überdies auch der Versicherungsschutz des Testierenden aus seiner Berufshaftpflichtversicherung gefährdet.
9.24
In Due Diligence Berichten wird in aller Regel bereits in der Einleitung ausdrücklich darauf 9.25 hingewiesen, dass ausschließlich der konkrete Mandant Adressat des Berichts ist und im Rahmen der im Weiteren definierten Annahmen und Beschränkungen auf den Inhalt des Berichts vertrauen darf. Die Weitergabe an Dritte wird an die ausdrückliche Zustimmung des Beraters geknüpft. Häufig gibt es jedoch Konstellationen, in denen der Auftraggeber den Bericht Dritten (beispielsweise einem W&I-Versicherer), mit denen gerade kein Mandatsverhältnis besteht, zur Verfügung stellen möchte. Jedenfalls wenn die Weiterleitung an solche Dritte mit Zustimmung des Beraters erfolgt, entsteht für diesen auch ein Haftungsrisiko gegenüber dem Dritten, für dessen dogmatische Herleitung neben den Prinzipien des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte verschiedene weitere Ansätze diskutiert werden.47 In der Praxis knüpft der Berichtersteller seine Zustimmung zur Weitergabe an den Dritten daher regelmäßig an die vorherige Unterzeichnung eines sog. „Non-Reliance Letters“ mit dem Dritten, in dem festgehalten wird, dass die Weitergabe lediglich zu Informationszwecken erfolgt und eine Haftung des Beraters (und in der Regel auch des Mandanten) gegenüber dem Dritten ausdrücklich und (abgesehen von der zwingenden Vorsatzhaftung) vollumfänglich ausgeschlossen wird. Es gibt jedoch auch die umgekehrte Situation, dass ein Dritter (z.B. eine den geplanten Erwerb finanzierende Bank oder – sofern es sich um einen im Auftrag des Verkäufers erstellten „Vendor Due Diligence Report“ handelt – ein Bieter) sich auf den Inhalt und die sorgfältige Erstellung des Due Diligence Berichts verlassen und den Berichtersteller gegebenenfalls wegen Sorgfaltspflichtverstößen in Anspruch nehmen können soll. In diesem Fall werden die Grundlagen und insbesondere die inhaltlichen und betragsmäßigen Grenzen der Haftung des Berichterstellers in einem sog. „Reliance Letter“ festgeschrieben.48
II. Vorbereitende Festlegungen ohne vertragliche Bindung 1. Punktation Bei komplexen Transaktionen kann es zweckmäßig sein, dass die Parteien Zwischenergebnisse der Verhandlungen einvernehmlich niederlegen. Dies gilt etwa, wenn eine grundsätzliche Übereinkunft über Inhalt und Struktur des Geschäftes erzielt ist, aber die Regelung der Detailfragen noch aussteht. Unter Übernahme der angelsächsischen Terminologie werden solche Festschreibungen auch „Memorandum of Understanding“ (MoU) genannt. Ferner kommen gemeinsame Niederschriften in Betracht, wenn abgrenzbare Teilkomplexe abschließend verhandelt sind, z.B. die Gestaltung von Lieferbeziehungen oder Lizenzen in Verbindung mit dem Unternehmenserwerb.
46 BGH v. 15.2.1995 – VIII ZR 93/94 (IV 2), NJW 1995, 1489 = MDR 1995, 1109. 47 Vgl. hierzu ausführlich Krebs/Kemmerer, NZG 2012, 847. 48 Vgl. Cannivé, ZIP 2009, 254, 259 ff.
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9.26
Kap. 9 Rz. 9.27
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
9.27 Solche Niederschriften, die in deutscher Rechtsterminologie herkömmlich als „Punktation“49 bezeichnet werden, binden die Parteien im Zweifel rechtlich nicht (§ 154 Abs. 1 Satz 2 BGB). Es besteht auch keine Vermutung dafür, dass mit der Einigung über die wesentlichen Punkte des Geschäftes der Kaufvertrag zustande gekommen ist.50 § 154 BGB ist aber nur eine Auslegungsregel; die Parteien können auch eine Bindung wollen, was insbesondere anzunehmen ist, wenn mit der tatsächlichen Durchführung des Vertrages begonnen wird.51 Lücken der getroffenen Teileinigung können im Wege der Auslegung geschlossen, eine etwa offen gebliebene Preisbestimmung kann über § 315 BGB vom Richter getroffen werden.52 Bei der Niederschrift einer Verständigung über einzelne Punkte ist also darauf zu achten, dass der vorhandene oder fehlende Bindungswille richtig zum Ausdruck gebracht – oder bewusst im Dunkeln gelassen – wird. Auch wenn die Punktation entsprechend der gesetzlichen Vermutung nicht bindend ist, kann sie doch rechtliche Bedeutung dadurch gewinnen, dass sie das Vertrauen in den Abschlusswillen der anderen Partei stärkt und damit Schadensersatzpflichten im Falle grundlosen Abbruchs von Vertragsverhandlungen begründen kann (s. Rz. 9.12, Rz. 9.17). Darüber hinaus ist es verhandlungstaktisch schwierig, von einer einmal festgeschriebenen Position wieder abzurücken und den Punkt neu zu verhandeln. 2. Letter of Intent; Term Sheet; Heads of Agreement
9.28 Aus dem angelsächsischen Rechtsbereich kommend hat sich auch im deutschen Rechts- und Wirtschaftsleben der sog. „Letter of Intent“ (LoI – Absichtserklärung)53 eingebürgert. Es handelt sich dabei typischerweise um einseitige Erklärungen, in denen eine Partei ihre Absicht bekundet, auf der Grundlage bereits erzielter Verhandlungsergebnisse jedoch unter Vorbehalt weiterer Ereignisse (insbesondere Einigung über noch offene Punkte wie Preis; Entwicklung bestimmter Rahmenbedingungen; Zustimmung Dritter) einen Vertrag abzuschließen.
9.29 In der Regel wollen die Parteien durch einen Letter of Intent keine rechtliche Bindung in Bezug auf das Hauptgeschäft eingehen, sondern beim Gegner Vertrauen in die Ernstlichkeit der eigenen Verhandlungsabsichten wecken oder bekräftigen.54 Das gilt auch, wenn der Letter of Intent von beiden Parteien unterzeichnet wird; freilich kann dabei die Abgrenzung zum Vorvertrag fließend werden (s. Rz. 9.36). Rechtliche Wirkungen kann der Letter of Intent aufgrund des Rechtsinstituts des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen entfalten (s. Rz. 9.12),55 indem er für den Fall willkürlicher Beendigung der Verhandlungen einen Schadensersatzanspruch eröffnet. Ob der Empfänger eines Letter of Intent Ersatzansprüche für Aufwendungen hat, die er aufgrund des Letter of Intent macht, hängt von dessen Inhalt
49 Vgl. OLG Koblenz v. 12.6.2002 – 1 U 1103/01, OLGReport Koblenz 2002, 359; demgegenüber ist eine Punktation nach österreichischem Recht eine verbindliche Regelung (§ 885 ABGB). 50 OLG Oldenburg v. 8.3.1996 – 11 U 82/95, DB 1996, 2534 (Parteien wollten sich noch über Firmenfortführung einigen). 51 BGH v. 24.2.1983 – I ZR 14/81, MDR 1983, 727 = NJW 1983, 1727. 52 BGH v. 1.7.1971 – KZR 16/70, LM Nr. 12 zu § 315 BGB; BGH v. 2.4.1964 – KZR 10/62, BGHZ 41, 271; BGH v. 19.1.1983 – VIII ZR 81/82, MDR 1983, 659 = NJW 1983, 1777. 53 Grundlegend Lutter, Der Letter of Intent, unter Einbeziehung des deutschen IPR und verschiedener ausländischer Rechte; vgl. auch Hertel, BB 1983, 1824, der darin die „Instruction to Proceed“ (ITP) vorstellt; Beispiel: OLG Frankfurt v. 31.10.1996 – 3 U 184/94, OLGReport Frankfurt 1997, 49. 54 Vgl. Palandt/Ellenberger, vor § 145 BGB Rz. 18; Busche in MünchKomm/BGB, vor § 145 BGB Rz. 58; K. Schmidt, Handelsrecht Unternehmensrecht I, I.2.a Rz. 11, § 20 I 2. 55 Lutter, Der Letter of Intent, S. 75.
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B. Vorvertragliches Stadium
Rz. 9.32 Kap. 9
und dem Maß an Vertrauen ab, das der Empfänger in den Abschlusswillen setzen durfte.56 Zuweilen werden aber in einem Letter of Intent gleichzeitig auch bindende Vorfeldvereinbarungen getroffen (s. dazu Rz. 9.31 ff.). Im Übrigen kann ein Letter of Intent als Auslegungshilfe für den Hauptvertrag dienen. Dem Letter of Intent ähnlich sind die sog. „Term Sheets“. Dabei handelt es sich um die stichpunktartige Zusammenfassung der für eine Partei wesentlichen Vertragspunkte, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne dass die vorlegende Partei dadurch eine Verpflichtung zu einem entsprechenden Vertragsschluss eingeht. Unter „Heads of Agreement“ versteht man einen von einer Partei vorgelegten, zumeist schon in Vertragsform gekleideten Text, der jedoch nicht als bindendes Vertragsangebot sondern als Diskussionsentwurf zu verstehen ist. Der Empfänger kann also nicht etwa durch Annahme der Heads of Agreement einen Vertragsabschluss herbeiführen. Die rechtliche Bedeutung der genannten Erklärungen ist stets durch Auslegung unter Berücksichtigung aller Umstände aus dem Empfängerhorizont zu ermitteln (§§ 133, 157 BGB). Die Bezeichnung als Letter of Intent, Heads of Agreement oder Ähnliches (Memorandum of Intent, Principles of Agreement) ist dabei nur ein widerlegliches Indiz dafür, dass eine vertragliche Bindung jedenfalls in Bezug auf den Abschluss des Hauptvertrages nicht gewollt ist.57
9.30
III. Vorbereitende Vereinbarungen 1. Option, Vorkaufsrecht Die Parteien können sich Optionen auf Erwerb oder Veräußerung eines Unternehmens oder 9.31 von Beteiligungsrechten einräumen. Das Gesetz verwendet diesen Begriff nicht. Der rechtliche Gehalt einer Option bestimmt sich nach dem Parteiwillen. Im engeren Sinn versteht man unter einer Option die rechtsgeschäftlich eingeräumte Gestaltungsbefugnis, kraft derer die begünstigte Partei einseitig eine Rechtswirkung, namentlich den Abschluss eines Vertrages herbeiführen kann. Zuweilen wird aber auch das Recht, von einem anderen den Abschluss eines Vertrages zu verlangen, als „Option“ bezeichnet; der „Optionsberechtigte“ hat in diesen letzteren Fällen kein Gestaltungsrecht, sondern einen Anspruch auf Abgabe einer Willenserklärung, der gem. § 894 ZPO zu vollstrecken ist. Im weitesten Sinne versteht man unter „Option“ irgendein Wahlrecht.58 Die Option kann sowohl zugunsten des Käufers (Call-Option) als auch zugunsten des Verkäufers (Put-Option) vereinbart werden. Von einer Überkreuz-Option spricht man, wenn sich beide Seiten wechselseitig eine Option einräumen.59 Die Einräumung einer Option im engeren Sinne (Gestaltungsrecht) kann durch Abschluss eines aufschiebend bedingten Vertrages erfolgen, wobei (nur) der Optionsberechtigte den Schwebezustand beenden kann. Eine ähnliche Rechtswirkung entsteht durch Abgabe eines Angebots, an das sich der Anbietende für eine gewisse Zeit gebunden hält (§ 148 BGB). Durch einen aufschiebend bedingten Vertrag erlangt der Optionsberechtigte in gewissen Fällen eine stärkere Rechtsstellung, als er sie durch ein unwiderrufliches Angebot bekommt: Wird eine dingliche Verfügung aufschiebend bedingt getroffen, so sind weitere Verfügungen 56 Lutter, Der Letter of Intent, S. 104. 57 S. dazu OLG Köln v. 21.1.1994 – 19 U 73/93, EWiR 1994, 533 mit Anm. Weber. 58 Z.B. „Barabfindungsoption“ BGH v. 16.9.2002 – II ZR 284/01 (I), BGHZ 152, 29 = GmbHR 2002, 1120 m. Anm. Kallmeyer = AG 2003, 40 = NJW 2002, 3467. 59 Georgiades, Optionsvertrag und Optionsrecht, in FS Larenz, 1973, S. 409 ff.; zuweilen wird von einer Option auch im Falle eines einseitig bindenden Vorvertrages gesprochen, vgl. Busche in MünchKomm/BGB, vor § 145 BGB Rz. 70 m.w.N.
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9.32
Kap. 9 Rz. 9.33
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
des Optionsgebers, auch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in die Gegenstände, über die verfügt wurde, insoweit grundsätzlich unwirksam, als sie die Stellung des Berechtigten beeinträchtigen würden (§ 161 BGB). Der Dritterwerber genießt zwar in gewissem Umfang Gutglaubensschutz (§ 161 Abs. 3 BGB). Im Übrigen braucht aber der Optionsberechtigte Zwischenveräußerungen nicht gegen sich gelten lassen. Im Falle eines Angebots sind hingegen Zwischenverfügungen während der Angebotsfrist (§ 148 BGB) auch gegenüber dem Angebotsempfänger wirksam. Er ist auf Schadensersatzansprüche wegen der Vereitelung seiner Rechtsstellung beschränkt. Im Verhältnis zum Anbietenden kommen Schadensersatzansprüche aus der Aufnahme von Vertragsbeziehungen (§ 311 Abs. 2 BGB) in Betracht. Im Verhältnis zu Dritten kommt nur ein Anspruch aus § 826 BGB in Betracht.60 § 161 BGB schützt den Optionsberechtigten nur, wenn zu seinen Gunsten nicht bloß ein schuldrechtliches Geschäft, z.B. ein Kaufvertrag geschlossen, sondern auch bereits eine bedingte Verfügung getroffen wurde. Zur bedingten Abtretung von GmbH-Anteilen s. nachstehend Rz. 9.127.
9.33 Im Zusammenhang mit Unternehmensverkäufen verlangt der Kaufinteressent zuweilen die Einräumung einer Erwerbsoption, bevor er eine kostspielige Due Diligence durchführt. Der Erwerber eines Teiles der Beteiligungsrechte kann ein Interesse daran haben, sich die rechtlich gesicherte Möglichkeit zur späteren Aufstockung seiner Beteiligung zu verschaffen. Es finden sich auch Optionen zum Rückerwerb von Beteiligungsrechten. In den beiden letzteren Fällen wird das Recht zur Ausübung der Option üblicherweise an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. So kann das Recht zur Aufstockung davon abhängig gemacht werden, dass der Verkäufer den ihm verbliebenen Anteil an einen Dritten zu veräußern beabsichtigt oder aus der Geschäftsführung des Zielunternehmens ausscheidet. In dieser Konstellation findet sich auch die Einräumung einer (Put-)Option des Verkäufers zur Andienung seiner Restbeteiligung. Eine Rückerwerbsoption mag für den Fall eingeräumt werden, dass der Erwerber die Beteiligung seinerseits weiter veräußern will. Hat sich der Käufer das Recht zur Aufstockung der erworbenen Beteiligung gegenüber mehreren verbliebenen Altgesellschaftern einräumen lassen, mögen diese die (Put-)Option wünschen, dem Erwerber ihre sämtlichen verbliebenen Beteiligungen anzudienen, falls der Käufer von seinem Erwerbsrecht gegenüber einem der Altgesellschafter Gebrauch macht. In allen Optionsfällen stellt sich die Schwierigkeit, bereits bei der Vereinbarung der Option den Preis für den zukünftigen Verkaufsfall zu bestimmen sowie die (zukünftige) Zahlungsfähigkeit des Erwerbers im Zeitpunkt der Optionsausübung abzusichern.
9.34 Die Einräumung einer Option belastet den Verpflichteten. Er wird bemüht sein, dafür eine Gegenleistung zu erlangen. Diese kann in einer Geldleistung bestehen oder auch in einem Zuschlag zum ursprünglichen Kaufpreis (bei Aufstockungsoptionen). Als Gegenleistung für eine Kaufoption vor Einleitung einer Due Diligence kommt auch die Beschränkung von Gewährleistungsrechten in Betracht. Im Übrigen müssen die Parteien bei der Bewertung des Verhandlungsergebnisses eine Gesamtabwägung vornehmen, in die die Vor- und Nachteile der verhandelten Optionsrechte einzubeziehen sind.
9.35 Der Einräumung einer Kaufoption steht die Einräumung eines Vorkaufsrechtes nahe (§§ 463 ff. BGB). Im Unterschied zur Option liegt es dabei jedoch nicht in der alleinigen Befugnis des Berechtigten, den Vertragsschluss herbeizuführen. Er bleibt vielmehr darauf angewiesen, dass sich der Veräußerer überhaupt zum Verkauf entscheidet und kann dann in die von diesem mit einem Dritten vereinbarten Bedingungen eintreten. Da das Vorkaufsrecht 60 Staudinger/Bork, (2015), § 145 BGB Rz. 36.
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B. Vorvertragliches Stadium
Rz. 9.38 Kap. 9
nur für den Verkaufsfall gilt, nicht aber z.B. bei Einbringungsvorgängen, bei Tausch oder Schenkung, finden sich immer wieder Umgehungsversuche des Vorkaufsverpflichteten, gegen die der Vorkaufsberechtigte nur in begrenztem Umfang geschützt ist.61 Seine Rechtsstellung lässt sich verbessern, indem ihm über das Vorkaufsrecht hinaus ein Erwerbsrecht eingeräumt wird, das ihm beim Eintritt bestimmter Umstände das Recht gibt, den Abschluss eines Kauf- und Übertragungsvertrages zu verlangen. Das Erwerbsrecht ist gesetzlich nicht geregelt. Es wird von den Parteien vertraglich frei gestaltet. 2. Vorvertrag Möglich ist auch der Abschluss eines Vorvertrages, durch den sich die Parteien zum Ab- 9.36 schluss des späteren Hauptvertrages verpflichten. Im Gegensatz zur Punktation bewirkt der Vorvertrag bereits eine vertragliche Bindung. Von der Option (im engeren Sinn) unterscheidet er sich dadurch, dass nicht ein Gestaltungsrecht eingeräumt, sondern eine einseitige oder auch gegenseitige Verpflichtung zum Abschluss des Hauptvertrages begründet wird. Vorverträge werden abgeschlossen, wenn dem Hauptvertrag noch Hindernisse entgegenstehen, insbesondere, wenn noch nicht über alle Punkte des Hauptvertrages Einigkeit erzielt worden ist.62 Damit eine Verständigung als bindender Vorvertrag zu einem Kaufvertrag angesehen werden kann, müssen sich die Parteien aber jedenfalls über Kaufgegenstand und Kaufpreis sowie über die wesentlichen Nebenpunkte des abzuschließenden Hauptvertrages so weit geeinigt haben, dass dessen Inhalt hinreichend deutlich bestimmt ist und im Streitfall richterlich festgestellt werden kann (möglicherweise unter Anwendung von §§ 315, 316 BGB).63 Die prozessuale Durchsetzung des Erfüllungsanspruchs erfolgt durch Klage auf Annahme eines vom Kläger zu machenden Vertragsangebots. Der Klageantrag muss grundsätzlich den gesamten Vertragsinhalt umfassen.64 Der Vorvertrag konfrontiert die Parteien mit zwei gegenläufigen Risiken. Das Offenlassen regelungsbedürftiger Punkte kann einerseits dazu führen, dass die Verständigung mangels hinreichender Bestimmtheit überhaupt keine rechtsgeschäftliche Bindungswirkung entfaltet. In diesem Fall ist der beabsichtigte Abschluss des Vorvertrages gescheitert. Andererseits kann es sein, dass die offen gebliebenen Punkte über §§ 315, 316 BGB durch Bestimmung des jeweils anderen Teils oder des Gerichts oder Dritter ausgefüllt werden, so dass beiden Parteien die Freiheit zur Gestaltung des Hauptvertrages beschnitten wird. Will man beide Risiken vermeiden, muss eine so weit gehende Durcharbeitung des Vertrages im Detail stattfinden, dass häufig ebenso gut der Hauptvertrag selbst – gegebenenfalls unter einer Bedingung – abgeschlossen werden könnte.
9.37
3. Rahmenvertrag Beabsichtigen die Parteien den Abschluss mehrerer sachlich miteinander in Beziehung stehender Verträge, können sie einen Rahmenvertrag abschließen. Dieser kann gemeinsame Bestimmungen für alle Geschäfte enthalten oder die Art und Weise regeln, in der sie voneinander
61 Vgl. BGH v. 11.10.1991 – V ZR 127/90, BGHZ 115, 335 = MDR 1992, 256 = NJW 1992, 236. 62 Vgl. Busche in MünchKomm/BGB, vor § 145 BGB Rz. 60. 63 Vgl. BFH v. 13.12.1983 – VIII R 16/83, NJW 1984, 1655; BGH v. 20.9.1989 – VIII ZR 143/88, MDR 1990, 236 = NJW 1990, 1234 betreffend Vorvertrag zu einem Unternehmenskaufvertrag. 64 BGH v. 18.11.1993 – IX ZR 256/92, MDR 1994, 827 = DB 1994, 881.
Weber 819
9.38
Kap. 9 Rz. 9.39
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
abhängig sein sollen. Im Unternehmenskaufrecht kommen Rahmenverträge auch vor, wenn der sukzessive Erwerb von Anteilen vorgesehen ist.65 4. Exklusivitätsvereinbarung; Geheimhaltungsabrede
9.39 Mit einer Exklusivitätsvereinbarung suchen sich die Parteien dagegen zu sichern, dass die jeweils andere Seite zugleich mit Dritten verhandelt. Zumeist wird der Kaufinteressent den Abschluss einer solchen Vereinbarung anstreben. Er kann dadurch das Risiko verringern, Aufwendungen für Akquisitionsverhandlungen zu machen, die nutzlos werden, weil der Verkäufer einem anderen Interessenten den Zuschlag erteilt. Außerdem verhindert eine Exklusivitätsvereinbarung, dass der Verkäufer mehrere Kaufinteressenten gegeneinander ausspielt und damit den Verkaufspreis in die Höhe treibt. Für den Verkäufer ist eine solche Vereinbarung nachteilig. Er wird sich daher typischerweise nur dann darauf einlassen, wenn der Kaufinteressent anderenfalls nicht zur Aufnahme oder Fortsetzung von Kaufverhandlungen bereit ist. Jedenfalls aber wird er Exklusivität nur für den Zeitraum zubilligen, der voraussichtlich gebraucht wird, um zum Abschluss zu gelangen.66
9.40 Verstößt eine Partei gegen die Exklusivitätsvereinbarung, so können sich daraus Schadensersatzansprüche der anderen Seite ergeben (§ 280 BGB). Um den mitunter schwierig zu führenden Kausalitäts- und Schadensnachweis zu vermeiden, der insbesondere dann erforderlich wäre, falls sich der Schuldner darauf beruft, dass er mit dem Berechtigten den Vertrag auch dann nicht abgeschlossen hätte, wenn er die Exklusivitätsvereinbarung respektiert hätte,67 kann eine Vertragsstrafe i.S.d. § 339 BGB vereinbart werden. Die Wirksamkeit einer solchen Vertragsstrafenabrede setzt einerseits die hinreichende Bestimmtheit der die Vertragsstrafe auslösenden Pflichtwidrigkeit voraus. Andererseits ist die Klausel an §§ 134, 138 BGB zu messen.68 Außerdem kann sich die verletzte Partei wegen des Verstoßes gegen die Exklusivitätsvereinbarung veranlasst sehen, die Vertragsverhandlungen abzubrechen und Erstattung der Aufwendungen zu verlangen, die ihr für die Verfolgung des gescheiterten Akquisitionsprojekts entstanden sind. Somit können auch Exklusivitätsvereinbarungen im Rahmen eines Transaktionsprozesses eigenständige Bedeutung erlangen. Entsprechendes gilt für Geheimhaltungsvereinbarungen und deren Verletzung, s. dazu näher im Zusammenhang mit der Due Diligence nachstehend Rz. 9.43 ff. 5. „Break-up Fee“
9.41 Unternehmensakquistionen sind zumeist mit beträchtlichen Transaktionskosten verbunden. Sie entstehen sowohl auf der Verkäufer- als auch auf der Käuferseite. Konzepte und Wirtschaftlichkeitsberechnungen müssen erstellt werden, Verhandlungen sind zu führen, Vertragstexte vorzubereiten. Es entstehen Kosten im Rahmen einer Due Diligence, s. dazu nachstehend Rz. 9.43 ff. Häufig werden externe Berater hinzugezogen. Aber auch der Einsatz eigener Mitarbeiter des Verkäufers kostet Geld. Viele dieser Aufwendungen sind verloren, wenn es letztlich nicht zum Abschluss der Transaktion kommt. Da jede Partei grundsätzlich von ihrem 65 Vgl. BGH v. 23.11.1979 – I ZR 161/77, WM 1980, 284 (287). 66 Zu Sonderfragen beim Unternehmenskauf vom Insolvenzverwalter Krüger/Kaufmann, ZIP 2009, 1095. 67 Dazu Tophoven, Anspruch auf Ersatz der Kosten einer Due Diligence wegen Verstoßes gegen eine Exklusivitätsvereinbarung, BB 2010, 2919. 68 Vgl. zu einer unverhältnismäßig hohen und daher sittenwidrigen Vertragsstrafe etwa OLG Nürnberg v. 25.11.2009 – 12 U 681/09, MDR 2010, 277 = GmbHR 2010, 141 = GWR 2010, 58.
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B. Vorvertragliches Stadium
Rz. 9.42 Kap. 9
Recht Gebrauch machen kann, Vertragsverhandlungen jederzeit abzubrechen,69 wird gelegentlich für den Fall des Scheiterns der Transaktion bzw. des Abbruchs der Verhandlungen ein vertraglicher Ersatzanspruch vereinbart („Break-up Fee“70). Die Auslösung eines solchen Ersatzanspruches wird dabei entweder verschuldensunabhängig ausgestaltet, an Risikosphären oder an sonstige vertraglich vereinbarte Kriterien geknüpft.71. Eine verschuldensunabhängige Break-up Fee kann etwa dann ausgelöst werden, wenn die Transaktion nicht bis zu einem festgelegten Datum abgeschlossen wird. Eine Anknüpfung an Risikosphären birgt demgegenüber die Gefahr mitunter langwieriger Diskussionen über die genaue Zuordnung eines Ereignisses in die eine oder andere Sphäre. Problematisch ist es auch, den Erstattungsanspruch daran zu knüpfen, dass die andere Seite den Abschluss des Hauptvertrages (Unternehmenskaufvertrag) ohne triftigen Grund verweigert, da auch hier zu befürchten ist, dass bei einer solchen Ausgestaltung jede Seite der anderen die Schuld am Scheitern der Vertragsverhandlungen zuzuschieben sucht und sich daraus langwierige Streitereien mit ungewissem Ausgang entwickeln können. Praktikabler dürften dagegen Fälle sein, in denen eine Partei die Verhandlungen abbricht, weil die andere gegen Verpflichtungen aus vertraglichen Vorfeldvereinbarungen verstößt, z.B. gegen Exklusivitäts- oder Geheimhaltungspflichten. Im Rahmen der Vertragsgestaltung ist folglich dafür Sorge zu tragen, klare Bestimmungen für die Auslösung einer Break-up Fee festzulegen, die im Falle ihres Eintritts eine einfache Durchsetzung der daraus entstehenden Ansprüche ermöglichen. Hinsichtlich der Rechtsnatur einer Break-up Fee ist danach zu differenzieren, ob die Erstattung des Aufwands einer Partei im Vordergrund steht oder die Vereinbarung die Parteien an die Transaktion binden und deren Durchführung sicherstellen soll. Im erstgenannten Fall handelt es sich um einen pauschalierten Schadensersatz, im letztgenannten Fall, in dem nicht nur tatsächlich entstandene Transaktionskosten erstattet, sondern der Break-up Fee darüber hinaus ein (überwiegender) Straf- und Sanktionscharakter zukommen soll, um ein selbständiges Strafversprechen (zu Auswirkungen im Hinblick auf ein eventuelles Beurkundungserfordernis s. nachfolgend Rz. 9.42).72 Eine Ausgestaltung als Vertragsstrafe bzw. Konventionalstrafe i.S.d. § 339 BGB wird hingegen typischerweise nicht gewünscht sein. 6. Form Die Einräumung der Option durch Optionsvertrag oder bindendes Angebot an den Opti- 9.42 onsberechtigten bedarf der für den Vertrag selbst vorgeschriebenen Form, insbesondere also notarieller Form bei Grundstücken und Geschäftsanteilen an GmbH.73 Bei der Ausübung der Option (Optionserklärung) ist dagegen zu unterscheiden: Ist die Option durch Abschluss eines aufschiebend bedingten Vertrages eingeräumt und besteht die Bedingung in der Abgabe einer Erklärung des Optionsberechtigten, so bedarf letztere keiner besonderen
69 Eine Haftung wegen vorvertraglicher Pflichtverletzung nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB kommt insofern nur ausnahmsweise in Betracht, wenn eine Partei die Verhandlungen ohne triftigen Grund abbricht, nachdem sie zuvor zurechenbar Vertrauen auf das Zustandekommen des Vertrages erweckt hat, vgl. BGH v. 7.2.1980 – III ZR 23/78, MDR 1980, 653 = NJW 1980, 1683. 70 Hilgard, BB 2008, 286; Fleischer, AG 2009, 345 (vornehmlich unter aktien- und kapitalmarktrechtlichen Aspekten). 71 Im Überblick hierzu Hilgard, BB 2008, 286. 72 Vgl. Hilgard, BB 2008, 286 (287 f.). 73 BGH v. 7.6.1973 – III ZR 71/71, BGHZ 61, 48.
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Kap. 9 Rz. 9.42
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
Form.74 Besteht die Option hingegen darin, dass dem Optionsberechtigten ein Angebot unterbreitet wird, an das der andere Teil für eine bestimmte Zeit gebunden bleibt, so stellt die Annahme des Angebotes die Vertragserklärung des Optionsberechtigten dar und unterliegt demgemäß der für den Vertrag geltenden Form.75 Auch die Einräumung eines Vorkaufsrechtes ist im selben Umfang formbedürftig, wie es der Kaufvertrag selbst ist. Dies hat namentlich bei Vorkaufsrechten über Grundstücke und GmbH-Anteile Bedeutung.76 Ebenso bedürfen Vorverträge der Form des Hauptvertrages, wenn dies der Schutzzweck der für den Hauptvertrag vorgeschriebenen Form gebietet, insbesondere wenn die Formvorschrift die Beteiligten (auch) vor Übereilung schützen soll. Notarieller Form bedürfen daher Vorverträge über den Erwerb von Grundstücken.77 Nichts anderes kann für den Vorvertrag bezüglich eines GmbH-Anteils gelten.78 Auch für Break-up Fee-Vereinbarungen kann unter Umständen das Erfordernis notarieller Beurkundung bestehen. So ist eine Formbedürftigkeit zu bejahen, wenn die Klausel letztlich einen faktischen Zwang zur Durchführung der Transaktion auslöst.79 Dies kann insbesondere bei der Ausgestaltung in Form eines Vorvertrages oder eines selbständigen Strafversprechens anzunehmen sein. Exklusivitäts- und Geheimhaltungsvereinbarungen bedürfen hingegen grundsätzlich keiner besonderen Form, auch wenn der Hauptvertrag formbedürftig ist.
C. Due Diligence Literatur (Auswahl): Banerjea, Due Diligence beim Erwerb von Aktien über die Börse, ZIP 2003, 1730; Beisel/Klumpp, Der Unternehmenskauf, 7. Aufl. 2016, § 2; Beisel/Andreas, Beck’sches Mandatshandbuch Due Diligence, 3. Aufl. 2017; Berens/Brauner/Strauch/Knauer (Hrsg.), Due Diligence bei Unternehmensakquisitionen, 7. Aufl. 2013; Ettinger/Jaques, Beck’sches Handbuch Unternehmenskauf im Mittelstand, 2. Aufl. 2017, S. 190 ff.; Ewer, Environmental due diligence als anwaltliches Betätigungsfeld, AnwBl. 2002, 309; Fatemi, Die Obliegenheit zur Due Diligence beim Unternehmenskauf (Diss.), 2009; Fleischer, Konkurrenzangebote und Due Diligence, ZIP 2002, 651; Fleischer/Körber, Due diligence und Gewährleistung beim Unternehmenskauf, BB 2001, 841; Grimm/Böker, Die arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Due Diligence, NZA 2002, 193; Hemeling, Gesellschaftsrechtliche Fragen der Due Diligence beim Unternehmenskauf, ZHR 169 (2005), 274; Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, 15. Aufl. 2017; Hölters, Aktiengesellschaft, 3. Aufl. 2017, § 93 Rz. 176–195 in erster Linie im Zusammenhang mit den Pflichten eines Vorstands in der AG, jedoch auch zur Due Diligence im Allgemeinen; Hörmann, Die Due Diligence beim Unternehmenskauf, in Festschrift für Pöllath, 2008, S. 135; Körber, Geschäftsleitung der Zielgesellschaft und due diligence bei Paketerwerb und Unternehmenskauf, NZG 2002, 263; Krömker, Der Anspruch des Paketaktionärs auf Informationsoffenbarung zum Zwecke der Due Diligence, NZG 2003, 418; Krüger/Kalbfleisch, Due Diligence bei Kauf und Verkauf von Unternehmen, DStR 1999, 174; Linker/Zinger, Rechte und Pflichten der Organe bei der Weitergabe vertraulicher Unternehmensinformationen, 74 St. Rspr., BGH v. 28.6.1996 – V ZR 136/95 (II 2 m.w.N.), BB 1996, 2379; Palandt/Grüneberg, § 311b BGB Rz. 11. 75 Palandt/Ellenberger, Einf. § 145 BGB Rz. 23; Palandt/Grüneberg, § 311b BGB Rz. 11. 76 H.L. vgl. Palandt/Weidenkaff, § 463 BGB Rz. 2; für Grundstücke BGH v. 7.11.1990 – XII ZR 11/89 (Ls. 1), BGHZ 97, 147 = NJW-RR 1991, 205; für GmbH-Anteile Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 15 GmbHG Rz. 33 m.w.N. 77 BGH v. 7.2.1986 – V ZR 176/84, BGHZ 97, 147 = MDR 1986, 742 = NJW 1986, 1983. 78 Bayer in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 15 GmbHG Rz. 54; BGH v. 21.9.1987 – II ZR 16/87 (Ls. 1), WM 1988, 163 (Vorvertrag zur Gründung einer GmbH) = GmbHR 1988, 98 = MDR 1988, 382. 79 Heckschen in Beck’sches Notar-Handbuch A.I. Rz. 513B; Hilgard, BB 2008, 286, 289; Geyrhalter/ Zirngibl/Strehle, DStR 2006, 1559, 1563.
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C. Due Diligence
Rz. 9.43 Kap. 9
NZG 2002, 497; Marsch-Barner/Schäfer, Bearb. Krämer/Gillessen, Handbuch der börsennotierten AG, 4. Aufl. 2018, § 10 Due Diligence; Meyer-Sparenberg/Jäckle, Beck’sches M&A-Handbuch, 2017, Kapitel 2; Müller, Einfluss der due diligence auf die Gewährleistungsrechte des Käufers beim Unternehmenskauf, NJW 2004, 2196; Schoberth/Wittmann, Financial und Tax Due Diligence bei der Akquisition von Familienunternehmen, BB 2012, 759; Seibt (Hrsg.), Beck’sches Formularbuch Mergers & Acquisitions, 2. Aufl. 2011, Teil B VI (Due Diligence Dokumente); Socher/Hanke, Fachbegriffe aus M&A und Corporate Finance (Due Diligence), NJW 2010, 829; Stoffels, Grenzen der Informationsweitergabe durch den Vorstand einer Aktiengesellschaft im Rahmen einer „Due Diligence“, ZHR 165 (2001), 362; Vogt, Die „Due Diligence“ – ein zentrales Element bei der Durchführung von Mergers Acquisitions, DStR 2001, 2027; Westermann, Due Diligence beim Unternehmenskauf, ZHR 169 (2005), 248.
I. Begriff und Gegenstand der Due Diligence Dieser Abschnitt befasst sich mit den rechtlichen Aspekten der Due Diligence. Man versteht unter „Due Diligence“ im Zusammenhang mit dem Recht des Unternehmens- und Beteiligungskaufes die systematische Untersuchung des Zielunternehmens durch den Kaufinteressenten.80 Der Ausdruck lässt die Herkunft des Institutes aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis erkennen.81 Seinem Wortsinn nach bezeichnet er die allgemein dem Käufer zuzumutende angemessene Sorgfalt bei der Prüfung der Kaufsache. In der Praxis meint er das Verfahren, mit welchem das Zielunternehmen untersucht wird. In der rechtlichen und wirtschaftlichen Praxis und Literatur erscheint der Ausdruck häufig. Er hat inzwischen auch Eingang in die Rechtsprechung gefunden.82 Die Due Diligence kann sich auf alle Bereiche des Zielunternehmens erstrecken, insbesondere auf seine rechtlichen, steuerlichen, finanziellen, wirtschaftlichen und technischen Verhältnisse.83 Als gesonderte, die genannten Kategorien zum Teil überschneidende Gegenstände der Due Diligence können das Personalwesen84 unter besonderer Berücksichtigung der Ruhegeldzusagen85 genannt werden sowie die technischen und rechtlichen Aspekte der Umweltverträglichkeit des Zielunternehmens („Environmental Due Diligence“).86 An Bedeutung gewinnt die Untersuchung des Zielunternehmens im Hinblick auf Compliance-Strukturen und Rechtsverstöße („Compliance Due Diligence“). Herkömmlich stellt der Verkäufer Unterlagen zum Zielunternehmen systematisch aufbereitet dem Käufer in einem besonderen Raum zur Verfügung („Data Room“). Daraus abgeleitet wird mit dem Begriff „Data Room“ auch die Gesamtheit dieser Unterlagen bezeichnet. Mittlerweile werden die Unterlagen dem Kaufinteressenten (zumindest bei Transaktionen einer gewissen Größenordnung) in aller Regel (ausschließlich) elektronisch 80 Daten zur Durchführung solcher Untersuchungen in Deutschland: Knauer/Herrmann/Wagener, WPg 2017, 1274. 81 Zur US-amerikanischen Praxis vgl. Merkt, BB 1995, 1041; umfassend Vogt, DStR 2001, 2027. 82 Z.B. EuG v. 12.10.2007 – T-474/04, Rz. 15; BGH v. 5.11.2013 – II ZB 28/12 (C I c – Rz. 43) BGHZ 198, 354 = MDR 2014, 169 = AG 2014, 87 = NJW 2014, 27; BGH v. 6.4.2006 – III ZR 256/04 (II.3 – Rz. 16), BGHZ 167, 155 = MDR 2006, 881 = AG 2006, 453; OLG Stuttgart v. 5.5.2009 – 20 W 13/08, AG 2009, 707 (II.3.d – Rz. 233), DB 2009, 1583; OLG Oldenburg v. 22.6.2006 – 1 U 34/03 (Ls. 2), GmbHR 2006, 1263. 83 Speziell zur grundstücksrechtlichen Due Diligence Scheel, DB 2005, 2799; zu bestimmten Fragen der Financial Due Diligence Peemöller/Gehlen, BB 2010, 1139. 84 Vgl. Grimm/Böker, NZA 2002, 193; im Zusammenhang mit der Weitergabe von Beschäftigtendaten sind die neuen Regelungen der DSGVO zu beachten, welche im Mai 2018 in Kraft getreten ist. 85 Vgl. dazu Höfer/Küpper, DB 1997, 1317. 86 Dazu näher Ewer, AnwBl. 2002, 309.
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9.43
Kap. 9 Rz. 9.44
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
zugänglich gemacht.87 Die Due Diligence bezieht sich notwendigerweise auf einen in der Vergangenheit liegenden Stichtag. Von „Confirmatory Due Diligence“ spricht man, wenn die aus der ursprünglichen Due Diligence gewonnenen Informationen bis zur Unterzeichnung oder auch zum Vollzug des Kaufvertrages fortgeschrieben und ggf. detailliert werden. Die bei der Due Diligence festgestellten Umstände werden üblicherweise im „Due Diligence Report“ festgehalten. „Vendor’s Due Diligence“ ist die systematische Untersuchung des Zielunternehmens durch den Verkäufer zur Vorbereitung eines Verkaufs.88 Auch der Verkäufer hat ein Interesse daran, dass die Verhältnisse des Zielunternehmens erkannt und offen gelegt werden. Das ist schon zur Vermeidung von Haftungsrisiken angezeigt.
9.44 Durch die Due Diligence will sich der Käufer Kenntnisse verschaffen, die für die Bewertung des Zielunternehmens erforderlich sind, insbesondere auch Risiken aufdecken, hinsichtlich derer er Absicherungen durch den Verkäufer erstrebt89. Rein rechtlich könnte die Absicherung weitgehend auch ohne eine aufwendige Due Diligence erfolgen, indem sich der Käufer im Unternehmenskaufvertrag entsprechende Garantien und Gewährleistungsrechte einräumen lässt. Deren praktische Durchsetzung kann aber schwierig sein, so dass sich der Käufer sinnvollerweise über etwaige Schwachstellen des Zielunternehmens vor Abschluss des Kaufvertrages Gewissheit verschafft. Die erkannten Schwachstellen können bei der Bemessung des Kaufpreises berücksichtigt werden. Die Bonität des Verkäufers ist dann von geringerer Bedeutung.
9.45 Denkbar ist darüber hinaus eine Untersuchung der Zielgesellschaft nach dem Erwerb (sog. Post-M&A Due Diligence oder Post-Acquisition Due Diligence) im Hinblick auf mögliche Ansprüche gegen den Verkäufer und die Minimierung von Risiken, die bereits in der Zielgesellschaft angelegt sind (beispielsweise Fehlen bestimmter Genehmigungen, Complianceverstöße).90
II. Verhältnis zu Gewährleistung und Verschulden bei Vertragsanbahnung 1. Problemstellung
9.46 Dem Käufer können im Rahmen der Due Diligence Mängel des Zielunternehmens bekannt werden sowie sonstige Umstände, die sich auf die Bewertung des Zielunternehmens negativ auswirken. Umgekehrt können dem Käufer wegen Unterbleibens einer Due Diligence oder trotz Durchführung einer Due Diligence Mängel des Zielunternehmens und sonstige negative Umstände unbekannt bleiben.91
9.47 Aus diesen Situationen können sich die nachstehend dargestellten Rechtsfolgen für die Gewährleistungsansprüche des Käufers und für seine Ansprüche auf Grund Verschuldens des Verkäufers bei den Vertragsverhandlungen ergeben. Ob und mit welchem Inhalt solche Ansprüche entstehen, wird unter Rz. 9.205 ff. erörtert. 87 Zu datenschutzrechtlichen Fragen im allgemeinen Trybus/Uitz, Medien und Recht 2007, 341; speziell zur Behandlung von Arbeitnehmerdaten Göpfert/Meyer, NZA 2011, 486. 88 Instruktiv und kritisch Cannive, ZIP 2009, 254. 89 Überblick zu den einelnen Schritten einer Due Diligence: Ettinger/Jaques, Beck’sches Handbuch Unternehmenskauf im Mittelstand, S. 190 ff. 90 Frhr. von Falkenhausen, NZG 2015, 1209. 91 Eingehend und mit Empfehlungen zur Vertragsgestaltung Weißhaupt, WM 2013, 782; Rasner, WM 2006, 1425.
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C. Due Diligence
Rz. 9.50 Kap. 9
2. Kenntnis des Käufers a) Rechtsfolgen der Kenntnis Von Gesetzes wegen richtet sich die Gewährleistung des Verkäufers für Mängel des verkauften Unternehmens nach §§ 453, 434 ff. BGB; s. dazu näher Rz. 9.205 ff. Gemäß § 442 Abs. 1 BGB stehen dem Käufer keine Gewährleistungsansprüche wegen Mängeln der Kaufsache (des Zielunternehmens oder der Beteiligungsrechte) zu, die ihm bei Abschluss des Kaufvertrages bekannt sind. Es kommt nicht darauf an, ob der Käufer die Kenntnis im Rahmen einer Due Diligence oder in anderer Weise erlangt hat. Das Gleiche gilt bei grob fahrlässiger Unkenntnis von einem Mangel, falls nicht der Verkäufer den Mangel arglistig verschwiegen oder eine Garantie für die Beschaffenheit des Zielunternehmens übernommen hat.
9.48
Soweit der Verkäufer für seine Erklärungen nach den Grundsätzen des Verschuldens bei Vertragsanbahnung auf Schadensersatz haftet (s. dazu nachstehend Rz. 9.234 ff.), findet § 442 BGB zwar keine Anwendung. Jedoch führen die allgemeinen Grundsätze des Schadensersatzrechtes zu ähnlichen Ergebnissen. Wenn der Käufer den Unternehmenskaufvertrag in Kenntnis von Umständen abschließt, die den Wert des Zielunternehmens beeinträchtigen, kann es nicht ursächlich für den Vertragsschluss zu den vereinbarten Bedingungen gewesen sein, dass der Verkäufer diese Umstände pflichtwidrig nicht offenbart hat. Damit fehlt in solchen Fällen der Zurechnungszusammenhang zwischen der pflichtwidrigen Handlung des Verkäufers (Unterlassung der Offenbarung) und dem für den Käufer nachteiligen Vertragsschluss. Hat der Käufer fahrlässig keine Kenntnis, greift § 254 BGB ein.
9.49
b) Relevanter Personenkreis Bei größeren Akquisitionen wirken im Rahmen der Due Diligence zahlreiche Personen mit92. Schließlich steht der Käufer vor der Herausforderung, in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum ein möglichst umfassendes Bild der Zielgesellschaft bzw. des Unternehmens zu erlangen. Ohne Zweifel muss sich der Käufer dabei die Kenntnis seiner gesetzlichen und rechtsgeschäftlichen Vertreter zurechnen lassen (§ 166 BGB), und zwar ohne Rücksicht auf die Kenntnisse der unmittelbar handelnden Personen.93 Kauft z.B. eine AG ein Unternehmen, so muss sie sich Kenntnisse eines jeden ihrer Vorstandsmitglieder zurechnen lassen; es kommt nicht darauf an, welches Vorstandmitglied an der Transaktion beteiligt war. Bei rechtsgeschäftlicher Gesamtvertretung genügt es zum Ausschluss von Gewährleistungsansprüchen infolge käuferseitiger Kenntnis, wenn eine der zur Gesamtvertretung des Käufers berechtigten Personen anspruchsschädliche Kenntnis hat. Darüber hinaus muss sich der Käufer aber auch die Kenntnis der Personen zurechnen lassen, die für ihn als „Verhandlungsgehilfen“ oder „Wissensvertreter“ aufgetreten sind. Wissensvertreter ist jeder, der nach der Arbeitsorganisation des Geschäftsherrn dazu berufen ist, als dessen Repräsentant bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei angefallenen Informationen zur Kenntnis zu nehmen sowie gegebenenfalls weiterzuleiten.94 Eine Zurechnung erfolgt hier analog § 166 BGB. Ferner kann sich eine Wissensfiktion auch über die bloße Verfügbarkeit von Informationen
92 Vgl. zum relevanten Personenkreis Hartung, NZG 1999, 524; Beisel/Klumpp, Unternehmenskauf, § 17 Rz. 1 ff. 93 BGH v. 17.5.1995 – VIII ZR 70/94 (II 2b aa), DB 1995, 1556. 94 St. Rspr., vgl. BGH v. 24.1.1992 – V ZR 262/90 (II 3a), BGHZ 117, 104 = MDR 1992, 480 = NJW 1992, 1099 in casu die Wissenszurechnung bei einem Verkäufer betreffend; OLG Düsseldorf v. 27.6.2014 – I-7 U 247/12 Rz. 25 ff. (Mitarbeiter einer Sparkasse).
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9.50
Kap. 9 Rz. 9.51
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
bei einer juristischen Person ergeben, die typischerweise aktenmäßig festgehalten werden.95 Die Kenntnis solcher Wissensvertreter wird dem Geschäftsherrn analog § 166 BGB zugerechnet. Somit kann auch Beratern, denen sich der Käufer im Rahmen des Transaktionsprozesses zur Wahrnehmung seiner Interessen (insbesondere zur Durchführung einer Due Diligence) bedient, die Eigenschaft als Wissensvertreter zukommen.96
9.51 „Verhandlungsgehilfen“ oder „Wissensvertreter“ des Käufers können nur solche Personen sein, die für ihn in hervorgehobener Funktion tätig sind, also jedenfalls nicht lediglich in ganz untergeordneter Rolle mit bloß mechanischen Tätigkeiten befasst sind. Eine Zweifelsfragen ausschließende allgemeine Definition des relevanten Personenkreises lässt sich freilich nicht geben. Es kommt auf die Verhältnisse des Einzelfalles an. Je umfassender die Funktion der an einem Unternehmenskauf mitwirkenden Personen ist, desto eher wird man ihre Kenntnis als Kenntnis des Auftraggebers anzusehen haben. In Abgrenzung zur Stellvertretung kommt es dabei nicht auf ein Auftreten gegenüber dem Verkäufer an. Wer im Auftrag eines Kaufinteressenten an einer Due Diligence mitwirkt, hat gerade die Aufgabe, für den Auftraggeber Wissen zu beschaffen. Das Wissen, das er erlangt, muss daher auch dem Auftraggeber zugerechnet werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn die in Frage stehenden Umstände zu dem Bereich gehören, in dem der Betreffende das Zielunternehmen untersuchen soll. Anderenfalls kann seine Kenntnis dem Auftraggeber nur zugerechnet werden, wenn nach den Umständen zu erwarten ist, dass er dieses Wissen an den Auftraggeber weiterleitet. Es erfolgt somit eine Anknüpfung der Zurechnung an die Pflicht zur Wissensorganisation.97 Von einem bei einer Due Diligence eingeschalteten Rechtsanwalt oder Wirtschaftsprüfer, die typischerweise eine umfassende Interessenwahrnehmungspflicht haben, wird dies in der Regel zu erwarten sein.
9.52 Nicht als „Verhandlungsgehilfen“ oder „Wissensvertreter“, deren Kenntnis von bestimmten Mängeln dem Käufer zuzurechnen ist, hat die Rechtsprechung Makler angesehen.98 c) Relevanter Zeitpunkt
9.53 Maßgeblicher zeitlicher Anknüpfungspunkt der Wissenszurechnung auf Käuferseite ist grundsätzlich der Abschluss des Kaufvertrages (§ 442 Abs. 1 BGB), also des schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäftes. Umstände, die dem Käufer zu diesem Zeitpunkt bekannt sind, können ohne abweichende vertragliche Regelung keine Gewährleistungsansprüche begründen.99 Mängel der Kaufsache, von denen der Käufer nach Abschluss des Kaufvertrages erfährt, beeinträchtigen seine Gewährleistungsansprüche von Gesetzes wegen nicht.
95 BGH v. 2.2.1996 – V ZR 239/94, GmbHR 1996, 373 = AG 1996, 220 = MDR 1996, 1003 = NJW 1996, 1339 (1340 f.); zur Frage der Zurechnung von Wissen einzelner Aufsichtsratsmitglieder gegenüber der eigenen Gesellschaft: Rickert/Heinrichs, GWR 2017, 112. 96 Vgl. hierzu Maier, Aufklärungspflichten und Wissenszurechnung beim Unternehmenskauf, S. 159 ff. 97 Vgl. BGH v. 12.11.1998 – IX ZR 145/98, NJW 1999, 284; BGH v. 30.6.2011 – IX ZR 155/08, MDR 2011, 1204 = NJW 2011, 2791 m.w.N. 98 OLG Koblenz v. 23.1.1992 – 5 U 901/91, NJW-RR 1993, 180, es sei denn, der Makler wäre vom Kaufinteressenten gerade mit der Verhandlungsführung betraut. 99 Zu den Besonderheiten beim Abschluss aufschiebend bedingter Verträge oder bei Heilung von Formmängeln vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann (2014), § 442 BGB Rz. 15 ff.
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C. Due Diligence
Rz. 9.56 Kap. 9
3. Keine Kenntnis des Käufers a) Rechtsfolgen fehlender Kenntnis Grundsätzlich trifft den Käufer im allgemeinen Kaufrecht keine Obliegenheit zur Untersu- 9.54 chung des Kaufgegenstandes (anders bei beiderseitigem Handelskauf über Waren, § 377 HGB). Seine Gewährleistungsansprüche sind nicht davon abhängig, dass er sich über den Kaufgegenstand kundig gemacht hat. Jedoch hat der Verkäufer Mängel, die dem Käufer in Folge grober Fahrlässigkeit unbekannt geblieben sind, nicht zu vertreten (soweit nicht der Verkäufer eine entsprechende Garantie übernommen oder einen Mangel arglistig verschwiegen hat, § 442 Abs. 1 Satz 2 BGB). Im Zusammenhang mit Unternehmensakquisitionen stellt sich die Frage, ob der Käufer im Verhältnis zum Veräußerer seine Gewährleistungsansprüche gefährdet, wenn er eine Due Diligence nicht oder nur unsachgemäß ausführt.100 Dass das Management des Erwerbers gegebenenfalls seine Verpflichtungen gegenüber der eigenen Gesellschaft verletzt und sich dadurch schadensersatzpflichtig und sogar wegen Untreue (§ 266 StGB) strafbar machen kann, wenn es keine Due Diligence durchführt, ist anerkannt.101 Das Maß der dem Käufer zuzumutenden, Sorgfalt hängt von den Umständen ab. Dabei spielt 9.55 das Schutzbedürfnis der Beteiligten eine Rolle. So hat die Rechtsprechung z.B. im Gebrauchtwagenhandel ein starkes Schutzbedürfnis des privaten Käufers angenommen und grob fahrlässige Unkenntnis des Käufers nur unter strengen Voraussetzungen bejaht. Dagegen treten bei Unternehmensakquisitionen häufig geschäftsgewandte Käufer auf, die eines besonderen Schutzes nicht bedürfen. Die Frage, ob ein Unternehmenskäufer in Folge grober Fahrlässigkeit einen Mangel des Zielunternehmens nicht kannte, kann daher richtigerweise nicht ohne Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Käufers beantwortet werden. Je geschäftsgewandter der Käufer ist, desto eher wird ihm zuzumuten sein, sich der üblich gewordenen Techniken der Due Diligence zu bedienen oder sich vertraglich durch den Ausschluss von § 442 BGB zu sichern, und desto eher wird man bei Unterbleiben solcher zumutbarer und üblicher Schutzvorkehrungen grobe Fahrlässigkeit anzunehmen haben. Zu einem ähnlichen Ergebnis führt es, wenn man darauf abstellt, ob eine Verkehrssitte besteht, im Zusammenhang mit einem Unternehmenserwerb eine Due Diligence durchzuführen: Im Bereich des professionellen Unternehmenserwerbes durch geschäftsgewandte Käufer wird man eine solche Verkehrssitte zu bejahen haben, bei Kleinunternehmen oder dem Erwerb einer freiberuflichen Praxis nicht. Im ersteren Fall ist es in der Regel grob fahrlässig, wenn der Kaufinteressent auf eine Due Diligence verzichtet, im letzteren Fall nicht.102 Das OLG Oldenburg hat es für fahrlässig gehalten, dass der Geschäftsführer einer GmbH beim Erwerb eines Unternehmens keine Due Diligence durchführte und daraus eine Haftung des Geschäftsführers gegenüber seiner Gesellschaft abgeleitet (§ 43 GmbHG).103 Daraus ergibt sich freilich noch nicht, dass der Käu100 Vgl. näher Müller, NJW 2004, 2196; Schiffer/Mayer, BB 2016, 2627. 101 Vgl. Werner, ZWH 2014, 169 (Teil 1); 209 (Teil 2) Paefgen, AG 2014, 554 (560); Böttcher, NZG 2005, 49; OLG Oldenburg v. 22.6.2006 – 1 U 34/03 (Ls. 2) GmbHR 2006, 1263 mit Anm. Himmelsbach/Krüger, NZI 2007, 309. 102 Eine Verkehrssitte, nach der die Durchführung einer Due Diligence üblich ist, verneint generell Loges, DB 1997, 965 (967); ebenso Fleischer/Körber, BB 2001, 841/846; Beisel/Klumpp, Unternehmenskauf, § 2 Rz. 9; Holzapfel/Pöllath, Rz. 15; Müller, NJW 2004, 2196; Picot in Berens/Brauner/ Strauch/Knauer, 7. Aufl. 2013, 351; a.A. Böttcher, NZG 2005, 49. 103 OLG Oldenburg v. 22.6.2006 – 1 U 34/03 (Ls. 2), GmbHR 2006, 1263 mit Anm. Himmelsbach/ Krüger, NZI 2007, 309.
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9.56
Kap. 9 Rz. 9.57
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
fer auch im Verhältnis zum Verkäufer fahrlässig oder gar grob fahrlässig handelt, wenn er auf eine Due Diligence verzichtet. Gleichwohl wird es für den Käufer zunehmend riskanter, von einer Due Diligence abzusehen.104 Auch eine mangelhafte oder unvollständige Due Diligence kann grob fahrlässig sein.105 Dies führt zu einem erhöhten Risiko für den Käufer bei Durchführung einer sog. Red Flag Due Diligence, bei der sich die Prüfung und Auswertung auf wesentliche Risiken beschränkt, deren Vorliegen zum Abbruch der Vertragsverhandlungen führen kann.106 Auch insoweit kommt es allerdings auf die Umstände des Einzelfalls an, wobei richtigerweise z.B. im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller Umstände u.a. auch zu berücksichtigen sein dürfte, welcher zeitliche Rahmen dem Käufer zur Durchführung seiner Due Diligence Prüfung zur Verfügung stand, etwa aufgrund eines vom Verkäufer im Rahmen eines Auktionsverfahrens verbindlich vorgegebenen engen Zeitrahmens. Ein Ausschluss der Gewährleistungsrechte aufgrund von grober Fahrlässigkeit nach § 442 Abs. 1 S. 2 BGB kommt aber jedenfalls dann in Betracht, wenn der Käufer im Rahmen einer durchgeführten Due Diligence konkreten Anhaltspunkten auf das Vorliegen eines Mangels nicht nachgeht.107
9.57 Auch grob fahrlässige Unkenntnis von einem Mangel des Unternehmens kann die Gewährleistungsrechte des Käufers nicht beeinträchtigen, wenn der Verkäufer arglistig gehandelt hat (§ 442 Abs. 1 BGB). Die Rechtsprechung bejaht Arglist unter recht weiten Voraussetzungen. Erforderlich ist, dass der Verkäufer den Fehler kennt oder zumindest für möglich hält. Dafür reicht es, dass er die tatsächlichen Umstände kennt (oder ihr Vorliegen für möglich hält), die rechtlich als Fehler der Kaufsache (hier: des Zielunternehmens) zu qualifizieren sind. Es kommt nicht darauf an, ob er diese Umstände zutreffend würdigt. Hierunter fallen auch sog. „Angaben ins Blaue hinein“, bei denen der Verkäufer die Unrichtigkeit seiner Angaben bewusst in Kauf nimmt.108 Erforderlich ist weiter, dass der Verkäufer weiß oder doch damit rechnet und es billigend in Kauf nimmt, dass der Käufer diese Umstände nicht kennt und bei deren Offenbarung den Vertrag nicht oder nicht mit diesem Inhalt abgeschlossen hätte.109
9.58 Die Rechtsfolgen schuldhafter Unkenntnis des Käufers von einem Sachmangel beurteilen sich nur nach § 442 BGB. Für eine Heranziehung von § 254 BGB (Mitverschulden) ist daneben im Rahmen des Gewährleistungsrechts kein Raum.110 Etwas anderes gilt allerdings für Schadensersatzansprüche des Käufers, die darauf gründen, dass dem Verkäufer Verschulden bei Vertragsanbahnung durch Verletzung seiner Offenbarungspflichten zur Last fällt. Diese Schadensersatzansprüche unterliegen grundsätzlich den Einschränkungen des § 254 BGB;111 doch darf die Berücksichtigung des Mitverschuldens des Käufers nicht dazu führen, die Offen104 Zur Frage, ob die Geschäftsleitung auf Käuferseite im Rahmen ihrer Sorgfaltspflichten zur Durchführung einer Post-Acquisition Due Diligence verpflichtet sein kann: Frhr. von Falkenhausen, NZG 2015, 1209; s.a. Beisel/Klumpp, Unternehmenskauf, § 2 Rz. 30, wonach der Vorstand einer AG zumindest auf die Durchführung hinzuwirken hat, wenn das Zielunternehmen die Durchführung einer Due Diligence vor Vertragsabschluss verweigert. 105 Vgl. LG Hamburg v. 13.3.2015 – 315 O 89/13, GWR 2015, 279. 106 Findeisen, BB 2015, 2700 (2702). 107 LG Hamburg v. 13.3.2015 – 315 O 89/13, GWR 2015, 279. 108 St. Rspr., vgl. BGH v. 1.7.2008 – XI ZR 411/06, MDR 2008, 1226 = NJW 2008, 2912; BGH v. 6.11.2007 – XI ZR 322/03, MDR 2008, 277 jeweils m.w.N. 109 BGH v. 8.12.2006 – V ZR 249/05 (II 3a) m.w.N., NJW 2007, 216 (für Grundstücksgeschäft). 110 BGH v. 28.6.1978 – VIII ZR 112/77, DB 1978, 1779 zum Verhältnis von § 460 BGB a.F. zu § 254 BGB Zusicherungen bezüglich eines Tanklagers betreffend. 111 Vgl. BGH v. 8.4.1994 – VIII ZR 228/96, NJW-RR 1998, 948 für einen Käufer, der im Rahmen eines Sale-and-lease-back-Geschäftes ein Grundstück erworben und es sogleich dem Veräußerer
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C. Due Diligence
Rz. 9.60 Kap. 9
barungspflicht im Ergebnis bedeutungslos werden zu lassen. Insbesondere kann es einem arglistig handelnden Verkäufer nicht zugutekommen, wenn dem Käufer ein wertmindernder Umstand verborgen geblieben ist, mag der Käufer auch die im Verkehr übliche Sorgfalt außer Acht gelassen haben. b) Relevanter Personenkreis Spiegelbildlich zu der Frage, wessen Kenntnis der Käufer gegen sich gelten lassen muss (s. Rz. 9.50 ff.), stellt sich die Frage, für wessen Auskünfte der Verkäufer haftet. Der Verkäufer schaltet bei der Auskunftserteilung im Rahmen einer Due Diligence in der Regel eine Mehrzahl von Personen ein. Verkauft er z.B. Beteiligungen, so werden die dem Käufer überlassenen Informationen üblicherweise vom Management oder von Mitarbeitern der Zielgesellschaft beschafft. In vielen Fällen wirken außen stehende Berater an der Aufbereitung der Informationen mit, z.B. Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte, Investmentbanken. Für Verschulden dieser Personen haftet der Verkäufer, wenn sie seine Erfüllungsgehilfen i.S.v. § 278 BGB sind, sofern die Haftung für Erfüllungsgehilfen nicht vertraglich ausgeschlossen wurde. Erfüllungsgehilfe ist, wer mit dem Willen des Schuldners bei der Erfüllung einer diesem obliegenden Verbindlichkeit als dessen Hilfsperson tätig wird.112 Regelmäßig wird man Personen wie die hier beispielhaft genannten als Erfüllungsgehilfen zu qualifizieren haben.113 Soweit eine solche Person eine falsche Auskunft erteilt, haftet der Verkäufer, wie wenn er die Auskunft selbst erteilt hätte.
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4. Vertragliche Regelungen zur Kenntnis des Käufers § 442 BGB gilt zwar auch für Unternehmenskäufe, ist aber im Grunde auf den Kauf einzelner Sachen und Rechte zugeschnitten.114 Beim Kauf sehr komplexer Gegenstände, wie insbesondere von Unternehmen, lässt die Vorschrift erhebliche Zweifelsfragen offen. § 442 BGB ist dispositiv.115 Rechtlich können die Vertragsparteien daher § 442 BGB ausschließen und vereinbaren, dass die Gewährleistungsrechte des Käufers generell unabhängig davon sind, ob ihm Mängel des Zielunternehmens bekannt sind oder ob er sie hätte kennen können.116 Solche Regelungen werden als „Sandbagging-Klauseln“ bezeichnet und entstammen der US-amerikanischen Transaktionspraxis.117 In Deutschland werden solche Regelungen vom Verkäufer in
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zurückvermietet hatte, ohne sich über dessen Bonität zu vergewissern; der Verkäufer/Mieter war insolvent. St. Rspr., vgl. BGH v. 1.10.1991 – X ZR 128/89 (2b), BGH v. 1.10.1991 – X ZR 128/91, ZfBR 1992, 31 m.w.N. Vgl. OLG Düsseldorf v. 16.6.2016 – I-6 U 20/15, AG 2017, 124 = NZG 2017, 152 (155); zutreffend Hartung, NZG 1999, 524 (527). Für eine Mitarbeiterin, die fehlerhafte Gewinn- und Verlustrechnungen erstellt hatte, BGH v. 4.6.2003 – VIII ZR 91/02 (III 2a aa), NJW-RR 2003, 1192. Zu den vertraglichen Regelungen zur Kenntnis des Käufers: Hilgard, BB 2013, 963; Möller, Offenlegungen und Aufklärungspflichten beim Unternehmenskauf, NZG 2012, 841. Palandt/Weidenkaff, § 442 Rz. 4, arg. § 475 BGB a.F. bzw. § 476 BGB n.F. Ein Ausschluss von § 442 BGB ist nach dem OLG Frankfurt anzunehmen, wenn die Parteien die dem Käufer zustehenden Ansprüche ausdrücklich und abschließend geregelt und weitergehende gesetzliche Ansprüche ausgeschlossen haben, mit Ausnahme solcher, denen ein vorsätzliches oder arglistiges Verhalten des Verkäufers zugrunde gelegen haben, OLG Frankfurt v. 7.5.2015 – 26 U 35/12, GmbHR 2016, 116 m. Anm. Bormann/Trautmann = NZG 2016, 435 (438). Weißhaupt, WM 2013, 782 (783).
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Kap. 9 Rz. 9.61
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
der Regel nicht akzeptiert. Häufig werden stattdessen sog. „Anti-Sandbagging-Klauseln“ vereinbart, durch die eine Haftung des Verkäufers für dem Käufer bekannte (und zuweilen auch fahrlässig unbekannte) Tatsachen und Umstände ausgeschlossen bzw. beschränkt wird. In der Praxis stellen sich insbesondere folgende Fragen, für die individuelle Lösungen vereinbart werden:
9.61 – Welche Umstände gelten als dem Käufer bekannt, so dass er darauf keine Gewährleistungs- oder Schadensersatzansprüche stützen kann? Bei Unternehmensakquisitionen werden viele Umstände zwischen einer größeren Anzahl von Personen erörtert oder auch mehr oder weniger deutlich schriftlich dargestellt. Am Schluss ist keineswegs immer klar, was dem Käufer mitgeteilt oder ihm sonst bekannt geworden ist. Es liegt daher nahe, § 442 BGB dahin einzuschränken, dass der Käufer nur solche Umstände gegen sich gelten lassen muss, die entweder für jedermann offenkundig sind („Public Knowledge“) oder die der Verkäufer durch autorisierte Personen in schriftlicher Form, die die Bedeutung der Mitteilung erkennen lässt, an autorisierte Personen des Käufers in einem dafür vorgesehenen Verfahren (etwa über eine im Data Room zur Verfügung gestellte Frage-Antwort-Applikation [„Q&A Tracker“]) mitgeteilt hat. Regelungsbedürftig ist insbesondere, inwieweit dem Käufer Umstände als bekannt zuzurechnen sind, welche sich aus offen gelegten Dokumenten ergeben. Die Vereinbarung, dass das gesamte im Data Room zur Verfügung gestellte Material als dem Käufer bekannt gilt, ist für ihn problematisch: Bei der Fülle von Unterlagen, die der Data Room häufig enthält, kann mancher Umstand übersehen werden, möglicherweise auch weil Dokumente fehlerhaft in die Datenraumstruktur einsortiert sind, z.B. eine Information betreffend umweltrechtlicher Altlasten bei den arbeitsrechtlichen Unterlagen versteckt ist. In der Praxis verständigt man sich oftmals darauf, dass nur solche im Data Room offengelegten Tatsachen und Umstände als dem Käufer bekannt gelten, die in angemessener, hinreichend klarer Weise so dargestellt worden sind, dass sich hieraus ohne Weiteres eine konkrete Garantieverletzung erkennen lässt („Fair Disclosure“).
9.62 – Unter welchen Voraussetzungen muss sich der Käufer Kenntnisse von Personen zurechnen lassen, die auf seiner Seite an der Transaktion mitwirken? Die allgemeinen Grundsätze sind vorstehend dargelegt (Rz. 9.50 ff.). Wird auf schriftlich zur Verfügung gestellte Informationen abgestellt, kommt es nach deutschem Recht darauf an, ob das betreffende Schriftstück dem Käufer zugegangen ist. Zur Frage des Zugangs gibt es reichlich Rechtsprechung; eine nähere vertragliche Festlegung mag zunächst verlockend erscheinen, birgt aber Fehlerquellen. Sollen mündliche Erklärungen ausreichen, ist tunlichst zu vereinbaren, wer auf der Käuferseite zum Empfang der Erklärung befugt ist.
III. Verpflichtungen des Kaufinteressenten aufgrund der Due Diligence 1. Redliches Verhalten bei der Due Diligence
9.63 Durch die Due Diligence gewinnt der Kaufinteressent oft tiefen Einblick in die Verhältnisse des Zielunternehmens, auch in dessen Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse, z.B. Lieferantenund Kundenbeziehungen, strategische Überlegungen, Kalkulationsmethoden, Profitabilität einzelner Produkte und Geschäftszweige, Fertigungsmethoden, Forschungs- und Entwicklungsvorhaben. Kommt es nicht zum Abschluss des Kaufvertrages, kann der Kaufinteressent diese Kenntnisse faktisch zum Nachteil des Zielunternehmens verwenden. Das gilt nament-
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C. Due Diligence
Rz. 9.67 Kap. 9
lich in den praktisch häufigen Fällen, in denen der Kaufinteressent Wettbewerber des Zielunternehmens ist. Geschäftsgeheimnisse sind über § 17 UWG gegen Verrat geschützt (nicht aber im Falle freiwilliger Mitteilung durch den Verkäufer). Es ist darüber hinaus anerkannt, dass den Kaufinteressenten gem. § 311 Abs. 2 BGB (Pflichten bei Vertragsanbahnung – culpa in contrahendo) in gewissem Umfange die Verpflichtung trifft, Kenntnisse, die er während der Kaufverhandlungen über das Zielunternehmen gewonnen hat, nicht zum Nachteil des Zielunternehmens zu verwenden.118 Wie weit diese Verpflichtung im Einzelnen reicht, ist jedoch ungeklärt. Des Weiteren ergibt sich für den Verkäufer ein Risiko aus dem Umstand, dass der Kaufinteressent während der Due Diligence in Kontakt zu maßgeblichen Mitarbeitern und Know-how-Trägern des Zielunternehmens gelangen kann und diese Kontakte dazu nutzen mag, solche Mitarbeiter abzuwerben. Auch das verbietet das Gesetz zwar im Grundsatz (§ 1 UWG),119 doch bleiben im Einzelfall viele Zweifel offen.
9.64
2. Absicherung des Verkäufers a) Rechtliche Absicherung Der Verkäufer sucht den vorstehend skizzierten Risiken Rechnung zu tragen durch Vertraulichkeits- oder Geheimhaltungsabreden,120 die das Verbot einschließen, Erkenntnisse aus der Due Diligence zu anderen Zwecken als zur Beurteilung der Transaktion zu verwenden. Sie bedürfen nicht der für den Hauptvertrag erforderlichen Form, was besonders bei Transaktionen bedeutsam ist, die Geschäftsanteile an GmbH betreffen. Die Praxis kennt umfangreiche Vertragsgestaltungen. Sie bieten dem Verkäufer freilich nur begrenzten Schutz.
9.65
Die Schwäche von Geheimhaltungsabreden liegt vor allem darin, dass häufig nur schwer zu bestimmen ist, ob der Kaufinteressent bestimmte Kenntnisse aus der Due Diligence erlangt hat und, falls dies so ist, ob er sie zum Nachteil des Zielunternehmens verwandt hat. Selbst wenn die unerlaubte Verwendung von Kenntnissen festgestellt werden kann, ist der sich daraus ergebende Schaden des Verkäufers oft nicht hinreichend sicher zu ermitteln. Diesem letzteren Problem kann allerdings bis zu einem gewissen Grad abgeholfen werden, indem für nachgewiesene Verletzungsfälle eine Vertragsstrafe vereinbart wird.
9.66
In Betracht kommen auch Abwerbungsverbote. Diese können im Gegensatz zu Beschäftigungsverboten rechtswirksam vereinbart werden.121 Jedoch steht der Verkäufer vor der Schwierigkeit nachweisen zu müssen, dass ein vom Zielunternehmen zum Kaufinteressenten übergewechselter Mitarbeiter den Wechsel aufgrund einer Abwerbung durch den Kaufinteressenten und nicht aus eigener Initiative vollzogen hat.
9.67
118 Sog. „Diskretionsfälle“, vgl. schon Larenz in FS Ballerstedt, 1975, S. 397 (415). 119 Vgl. BGH v. 17.3.1961 – I ZR 26/60, DB 1961, 745 für den Fall, dass die besonderes Vertrauen voraussetzenden Verhandlungen über die Begründung eines Gesellschaftsverhältnisses unter Wettbewerbern zur Abwerbung von Angestellten des Verhandlungspartners genutzt werden; zustimmend Stengel/Scholderer, NJW 1994, 158 (161). 120 von Werder/Kost, BB 2010, 2903 (mit Formulierungsbeispielen). 121 Beispiel aus der Rechtsprechung OLG Schleswig v. 10.11.2005 – 7 U 172/03; Schmeding, Wettbewerbsrechtliche Grenzen der Abwerbung von Arbeitnehmern (Diss.), 2006 passim.
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Kap. 9 Rz. 9.68
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
b) Faktische Absicherung
9.68 Angesichts des nur beschränkt wirksamen vertraglichen Schutzes wird der Verkäufer bestrebt sein, sensible Informationen tunlichst geheim zu halten. Er wird ferner den Zugang des Erwerbsinteressenten zum Management und Mitarbeitern des Zielunternehmens zu verhindern oder zumindest zu kanalisieren suchen. Jedoch sieht er sich oft mit dem gegenläufigen Interesse des potentiellen Käufers konfrontiert, in einer Management – Presentation einen unmittelbaren Eindruck in die Geschäftstätigkeit des Zielunternehmens zu erhalten. Ferner kommt in Betracht, die Due Diligence in mehreren Stufen durchzuführen und nur ausgesuchten Kaufinteressenten den Zugang zu jeweils weiteren Informationen über das Zielunternehmen zu gewähren. Auch das schützt den Verkäufer freilich nur in gewissem Umfang. Lässt der Verkäufer mehrere Kaufinteressenten zur letzten Stufe der Due Diligence zu, um einen Nachfragewettbewerb aufrechtzuerhalten, so gelangen notwendigerweise zum Teil höchst vertrauliche Informationen an Kaufinteressenten, die letztlich nicht den Zuschlag erhalten.
IV. Rechtliche Schranken der Due Diligence 1. Vertraulichkeitsabreden des Zielunternehmens oder des Verkäufers mit Dritten
9.69 In einer Reihe von Fällen haben das Zielunternehmen oder der Verkäufer Vertraulichkeitsabreden mit Dritten122 abgeschlossen, die der Weitergabe von Informationen entgegenstehen, auch an Erwerbsinteressenten im Rahmen einer Due Diligence. Solche Verpflichtungen kollidieren mit dem Interesse an umfassender Information über das Zielunternehmen, dessentwegen der Erwerbsinteressent die Due Diligence veranstaltet. Der Konflikt lässt sich nicht generell lösen, sondern nur unter Berücksichtigung der konkreten Situation. Zuweilen ist der Dritte mit der zumindest teilweisen Weitergabe der zu seinen Gunsten geschützten Informationen einverstanden. Dies kann sich im Einzelfall aus einer einschränkenden Auslegung der mit dem Dritten geschlossenen Vertraulichkeitsabrede ergeben. Gegebenenfalls vermag der Verkäufer Auskünfte zu den geschützten Sachverhalten zu erteilen, die nicht unter die Vertraulichkeitsabrede fallen (etwa in Form anonymisierter Zusammenfassungen oder durch Schwärzung vertraulicher Angaben in den betreffenden Dokumenten), aber dennoch das Informationsinteresse des potentiellen Erwerbers (zumindest teilweise) befriedigen. Es kommt auch in Betracht, dass der Erwerbsinteressent dem wegen der Informationsbeschränkung erhöhten Risiko der Transaktion durch eine Reduzierung des Kaufpreises Rechnung trägt. 2. Gesellschaftsrechtliche Schranken der Informationserteilung
9.70 Eine andere Frage ist es, inwieweit Organe der Zielgesellschaft dem Erwerbsinteressenten Auskünfte über die Verhältnisse der Zielgesellschaft erteilen dürfen oder müssen. Für die GmbH und die AG gelten unterschiedliche Regelungen. a) GmbH
9.71 Geschäftsführer einer GmbH müssen zwar im Rahmen ihrer allgemeinen Treuepflicht Verschwiegenheit über die Verhältnisse der Gesellschaft wahren.123 Jedoch dürfen die Gesellschafter einer GmbH die Geschäftsführung anweisen, Auskünfte an einen Kaufinteressenten 122 Schiffer/Bruß, BB 2012, 847. 123 Vgl. statt aller, Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 35 Rz. 40 m.w.N.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 43 GmbHG Rz. 20 f.
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C. Due Diligence
Rz. 9.73 Kap. 9
zu erteilen. Dazu bedarf es eines Gesellschafterbeschlusses, der nach überwiegender Meinung einstimmig gefasst werden muss.124 Blockaden einzelner Gesellschafter können nur überwunden werden, wenn deren Abstimmungsverhalten nach den Grundsätzen über treuwidrige Stimmabgaben rechtswidrig ist. Jeder einzelne Gesellschafter kann sich zwar auf Grund seines allgemeinen Auskunfts- und Einsichtsrechtes gem. § 51a GmbHG Informationen beschaffen, die für den potentiellen Erwerber von Interesse sind. Er unterliegt aber bei der Weitergabe dieser Informationen der allgemeinen gesellschafterlichen Treuepflicht. Die Ausübung seines Informationsrechtes kann ihm versagt werden, wenn zu besorgen ist, dass er es für gesellschaftsfremde Zwecke benutzt (§ 51a Abs. 2 GmbHG). Wenn die Gesellschaft Unternehmensbereiche oder Beteiligungsgesellschaften veräußern will, gehört es in der Regel zu den Geschäftsführungsaufgaben des Geschäftsführers, dem Erwerbsinteressenten eine Due Diligence in angemessenem Umfang zu ermöglichen. Was der „angemessene Umfang“ ist, muss der Geschäftsführer unter Anwendung pflichtmäßigen Ermessens bestimmen. Ob und inwieweit er dazu die Zustimmung des Aufsichtsrates oder der Gesellschafterversammlung benötigt, richtet sich nach dem Umfang seiner Geschäftsführungsbefugnis. In jedem Fall wird er gut daran tun, Informationen nur dann herauszugeben, wenn der Kaufinteressent eine Verschwiegenheitsverpflichtung eingegangen ist und sich verpflichtet hat, die Informationen nicht zum Nachteil der veräußernden GmbH zu verwenden.125
9.72
b) AG Der Vorstand einer AG126 muss nach ausdrücklicher Bestimmung des § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG Stillschweigen über „vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft wahren“. Diese Verpflichtung ist allerdings eingebettet in die allgemeine Verpflichtung, „die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden“ (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG). Weder die Hauptversammlung noch der Alleinaktionär haben die rechtliche Befugnis, dem Vorstand Weisungen zur Erteilung von Informationen an einen Kaufinteressenten zu geben, insbesondere diesem eine Due Diligence zu gestatten.127 Er kann den Vorstand lediglich darum ersuchen. Dem Ersuchen eines Alleinaktionärs – oder dem Ersuchen aller Aktionäre – wird der Vorstand in der Regel folgen. Probleme ergeben sich aber, wenn sich einzelne Ak124 Aus der Rechtsprechung LG Köln v. 26.3.2008 – 90 O 11/08, GmbHR 2009, 261 mit Besprechung Engelhardt, GmbHR 2009, 237; Frage offengelassen, da Entscheidung zu einer Sonderkonstellation: OLG Köln v. 31.10.2013 – 18 W 66/13, EWiR 2014, 415; aus der Literatur: Haas/ Ziemons in Beck’scher Online-Kommentar GmbHG § 43 Rz. 200.1; Roth/Altmeppen, 8. Aufl. 2015, § 43 GmbHG Rz. 25; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 35 GmbHG Rz. 40, je m.w.N. auch zur Gegenmeinung (3/4-Mehrheit); ob dies letztlich überzeugt, wenn berücksichtigt wird, dass es zur Auflösung der Gesellschaft lediglich einer 3/4-Mehrheit bedarf (§ 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG), kann in diesem Rahmen nicht näher erörtert werden. 125 Vgl. Haas/Ziemons in Beck’scher Online-Kommentar GmbHG § 43 Rz. 200.1 m.w.N. 126 Zu den Rechten und Pflichten der Organmitglieder bei der Weitergabe von Informationen umfassend Linker/Zinger, NZG 2002, 497; Hermeling, ZHR 169 (2005), 274; Zumbansen/Lachner, ZVglRWiss 105 (2006), 1. 127 Anders im Falle der Eingliederung (§ 319 AktG) oder wenn ein Beherrschungsvertrag (§ 308 AktG) abgeschlossen ist; einschränkend hierzu Lutter, ZIP 1997, 613 (616); auch im faktischen Konzern vgl. Hüffer/Koch, 12. Aufl. 2016, § 93 AktG Rz. 31; Krömker, NZG 2003, 418 postuliert ein Recht des mit jedenfalls 25 %, möglicherweise aber auch mit nur 5 % am Grundkapital beteiligten Paketaktionärs, zum Zwecke des Verkaufs seiner Beteiligung eine Due Diligence durchführen zu lassen; das ist aber nicht geltendes Recht.
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Kap. 9 Rz. 9.74
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
tionäre dem Ersuchen nicht anschließen, z.B. weil sie wünschen, dass die Beteiligung überhaupt nicht oder jedenfalls nicht an den konkreten Kaufinteressenten veräußert wird. Der Wunsch kann von der Sorge um das Interesse der Gesellschaft getragen sein, aber auch von eigensüchtigen Interessen, z.B. von dem Bestreben, auch die eigene Beteiligung zu veräußern und dafür einen möglichst hohen Kaufpreis zu erzielen. Der Vorstand muss dann in eigener Verantwortung entscheiden, ob er dem Kaufinteressenten eine Due Diligence ermöglicht. Richtschnur ist das Interesse des Unternehmens.128 Im Zweifel hat der Vorstand im Hinblick auf die strafbewehrte Geheimhaltungsverpflichtung (§§ 93 Abs. 1, 404 AktG) Zurückhaltung zu üben. Anders als der Gesellschafter einer GmbH hat der Aktionär kein umfassendes Auskunfts- und Einsichtsrecht, sondern nur das in der Hauptversammlung auszuübende Fragerecht (§ 131 AktG).129 Der verkaufswillige Aktionär kann daher die vom Kaufinteressenten verlangten Informationen auch nicht etwa selbst beschaffen und an den Kaufinteressenten weitergeben.
9.74 Ist der Kaufinteressent bereits Aktionär und gestattet ihm der Vorstand eine Due Diligence, so fragt sich, ob die anderen Aktionäre Anspruch darauf haben, dass ihnen in der nächsten Hauptversammlung die gleichen Auskünfte erteilt werden (vgl. § 131 Abs. 4 AktG). Die Frage ist zu verneinen, weil es sich bei der Gestattung einer Due Diligence nicht um die Erteilung von Auskünften handelt, die der am Kauf interessierte Aktionär „wegen seiner Eigenschaft als Aktionär“ erhält, sondern als Kaufinteressent. § 131 Abs. 4 AktG gibt in solchen Fällen den anderen Aktionären keinen Auskunftsanspruch.130 3. Insiderinformationen a) Problemstellung
9.75 Wenn die Due Diligence eine Gesellschaft betrifft, deren Aktien zum Handel an einem geregelten Markt131 oder in einem multilateralen Handelssystem (MTF)132 zugelassen sind oder in einem multilateralen oder organisierten Handelssystem (OTF)133 gehandelt werden (Art. 2 Abs. 1 MAR134), müssen die für Insider geltenden Beschränkungen135 beachtet werden.136
128 S. dazu näher Wiesner in MünchHdb/AG, 4. Aufl. 2015, § 19 Rz. 20 ff.; Hüffer/Koch, 12. Aufl. 2016, § 93 AktG Rz. 32.; Hölters, § 93 AktG Rz. 183 ff. m.w.N.; Linker/Zinger, NZG 2002, 497 (499). 129 Erweiternd allerdings Leuering/Simon, NJW-Spezial 2006, 507. 130 So wohl auch Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 131 AktG Rz. 98; a.A. Kubis in MünchKomm/AktG, 3. Aufl. 2013, § 131 AktG Rz. 145. 131 Begriffsdefinition in Art. 4 Abs. 1 Nr. 21 der Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU. 132 Begriffsdefinition in Art. 4 Abs. 1 Nr. 22 der Richtlinie 2014/65/EU. 133 Begriffsdefinition in Art. 4 Abs. 1 Nr. 23 der Richtlinie 2014/65/EU. 134 Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.4.2014 über Marktmissbrauch und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission (Market Abuse Regulation – MAR). 135 Insbesondere gem. Art. 14 ff. MAR; generell zu Besonderheiten für börsennotierten AGs im Zusammenhang mit insiderrechtlichen Vorschriften: Becker/Voß/Labudda in Knott, Unternehmenskauf, Rz. 95 ff. 136 Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Bußgeld- und Strafvorschriften gem. §§ 38, 39 WpHG (WpHG-Bußgeldleitlinien II der BaFin, Stand Februar 2017, abrufbar unter https://
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C. Due Diligence
Rz. 9.77 Kap. 9
Das Insiderrecht findet grundsätzlich auch Anwendung auf außerbörsliche Geschäfte (sog. „Face-to-Face-Geschäfte“).137 b) Eingeschränkte Anwendung des WpHG beim Pakethandel Einschränkungen gelten für den Pakethandel138, wobei der Paketerwerb unterhalb und oberhalb der Kontrollschwelle des § 29 Abs. 2 WpÜG (mindestens 30 % der Stimmrechte an der Zielgesellschaft) zu unterscheiden sind.
9.76
aa) Eingeschränkte Anwendung des WpHG a.F. Die früheren insiderrechtlichen Bestimmungen gem. §§ 12 ff. WpHG a.F. fanden nur eingeschränkte Anwendung auf den Pakethandel.139. Sie waren nicht anzuwenden, wenn der Erwerber des Aktienpakets einen Kontrollerwerb i.S.v. § 29 Abs. 2 WpÜG durch ein öffentliches Übernahmeangebot anstrebte.140 Zweifel bestanden in Bezug auf Paketerwerbe unterhalb der Kontrollschwelle. Auch wenn der Wortlaut des § 14 Abs. 1 Nr. 1 WpHG keinen Anhaltspunkt dafür bot, dass ein solcher nicht vom Insiderrecht erfasst werden sollte, vertrat die BaFin in ihrem Emittentenleitfaden141 die Auffassung, dass auch der Erwerber eines Paketes, das weniger als 30 % der Stimmrechte umfasst, eine umfassende Due-Diligence-Prüfung durchführen dürfe, ohne dass dadurch gegen das Insiderverbot verstoßen würde. Soweit der Erwerbsinteressent hiernach eine Due Diligence bei der Ziel-AG durchführen durfte, durfte sie deren Vorstand auch gestatten (sofern und soweit im Interesse der Gesellschaft). Wenn der Kaufinteressent allerdings auf Grund der Due Diligence über seinen ursprünglich gefassten Plan hinaus zusätzliche Wertpapiere erwarb (sog. „alongside purchases“), konnte darin ein strafbares „Verwenden“ der bei der Due Diligence gewonnenen Insiderinformationen liegen.142 Dies gilt natürlich auch für bereits im Vorfeld der Due Diligence aufgebaute Beteiligungen. Insoweit kann sich daher z.B. aus im Rahmen der Due Diligence erworbenen (negativen) Insiderinformationen über das Zielunternehmen ein Ver-
137 138
139
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141 142
www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Leitfaden/WA/dl_bussgeldleitlinien_2016.html) sowie auf Sanktionsmöglichkeiten der BaFin. A.A.: Beisel/Andreas, Beck’sches Mandatshandbuch Due Diligence, § 7 Rz. 22 m.w.N. Pakethandel meint den Handel mit größeren Aktienpaketen, welche gewöhnlich unterhalb der 30 %-Schwelle des § 29 Abs. 2 WpÜG und nicht wesentlich unter 5 % des Grundkapitals liegen. Dieser Handel findet außerhalb der Börse statt und führt häufig zu Preisen, die vom Börsenwert abweichen. Unter „Paket“ wird allgemein eine namhafte Beteiligung unterhalb der 30 %-Schwelle des § 29 Abs. 2 WpÜG und nicht wesentlich unter 5 % des Grundkapitals verstanden. Der Pakethandel wird gewöhnlich außerbörslich abgewickelt. Zu beachten ist, dass die §§ 12 ff. WpHG nur relevant waren, wenn die Due Diligence eine Gesellschaft betraf, deren Aktien im Inland oder in einem Mitgliedstaat der EU oder des EWR börsennotiert waren. Vgl. Emittentenleitfaden der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (4. Aufl. v. 8.11.2013) Abschnitt III.2.2.1.4.2f, zugänglich über www.bafin.de „Veröffentlichungssuche“; Richtlinie 2003/6/EG des europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003, ABl. EG Nr. L 96 v. 12.4.2003, S. 16 (Marktmissbrauchsrichtlinie), Erwägungsgründe 29 f.; allg. Auffassung, vgl. Pawlik in KölnKomm/WpHG, 2. Aufl. 2007, § 14 WpHG Rz. 30. Emittentenleitfaden der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (8.11.2013). Pawlik in KölnKomm/WpHG, 2. Aufl. 2007, § 14 WpHG Rz. 34; Assmann/Schneider, 6. Aufl. 2012, § 14 WpHG Rz. 165; zum Begriff „Verwenden“ s. EuGH v. 23.12.2009 – C-45/08 – Spector, WM 2010, 65; zum „Ausnutzen einer Insidertatsache“ BGH v. 27.1.2010 – 5 StR 224/09 – freenet, WM 2010, 399 = AG 2010, 249.
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9.77
Kap. 9 Rz. 9.78
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
äußerungsverbot hinsichtlich der bereits vorhandenen Aktien ergeben, soweit die Veräußerung unter Ausnutzung der erlangten Insiderinformationen erfolgen würde. bb) Eingeschränkte Anwendung der Marktmissbrauchsverordnung
9.78 Infolge der Neuregelung des Insiderrechts durch die Marktmissbrauchsverordnung (MAR)143 stellt sich die Frage, ob die insiderrechtlichen Bestimmungen weiterhin nur eingeschränkt auf den Pakethandel anzuwenden sind. Dies ist angesichts der gesetzlichen Regelungen und unveränderten Interessenlage anzunehmen.
9.79 In Reaktion auf neue rechtliche, kommerzielle und technologische Entwicklungen nach Erlass der alten Marktmissbrauchsrichtlinie144, insbesondere auch auf die Finanzkrise, wollte der europäische Gesetzgeber einen einheitlicheren und stärkeren Rahmen zum Schutze der Marktintegrität schaffen.145 Insiderhandel und Marktmanipulation werden nunmehr in erster Linie durch die unmittelbar geltende MAR geregelt, welche durch die neue Marktmissbrauchsrichtlinie146 ergänzt wird.147 Entsprechend wurden die bis dahin geltenden nationalen Vorschriften des WpHG durch das Erste Finanzmarktnovellierungsgesetz angepasst bzw. aufgehoben. Das Insiderhandelsverbot ist nunmehr in Art. 14 i.V.m. Art. 8 MAR geregelt. Verboten sind danach das Tätigen von Insidergeschäften148 und der Versuch hierzu, die Empfehlung oder Anstiftung von Dritten zur Tätigung solcher Geschäfte.149
9.80 Im Zusammenhang mit einer Due Diligence können sich Verstöße gegen dieses Insiderhandelsverbot insbesondere daraus ergeben, dass der Vorstand der Zielgesellschaft eine Insiderinformation entgegen Art. 17 MAR nicht rechtzeitig veröffentlicht hat und diese im Rahmen einer dem Erwerbsinteressenten ermöglichten Due Diligence aufgedeckt wird oder der Erwerber die bei einer Due Diligence gewonnenen Insiderinformationen bei seiner Entscheidung über den Kauf oder für die Bemessung des Kaufpreises berücksichtigt.150 Für einen Kontrollerwerb sowie den Pakethandel gelten gewisse Einschränkungen im Hinblick auf die Anwendbarkeit des Insiderhandelsverbots:
143 Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.4.2014 über Marktmissbrauch und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission (Market Abuse Regulation – MAR). 144 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.1.2003 über InsiderGeschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch). 145 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 2 bis 4 der Verordnung (EU) Nr. 596/2014. 146 Richtlinie 2014/57/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.4.2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation. 147 Änderungen ergaben sich insbesondere hinsichtlich des Anwendungsbereichs des Marktmissbrauchsrechts und im Hinblick auf Sanktionsmöglichkeiten sowie aufsichtsrechtliche Befugnisse. 148 Ein Insidergeschäft liegt vor, wenn eine Person über Insiderinformationen verfügt und unter Nutzung derselben für eigene oder fremde Rechnung direkt oder indirekt Finanzinstrumente, auf die sich die Informationen beziehen, erwirbt oder veräußert. Zu beachten ist, dass der Begriff der Nutzung nunmehr auch die Stornierung oder Änderung des Auftrages in Bezug auf ein solches Finanzinstrument erfasst, wenn der Auftrag vor Erlangen der Insiderinformation erteilt wurde. 149 Zum Begriff der Insiderinformation: Art. 7 der MAR. 150 Differenzierend Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765, 811 f.
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C. Due Diligence
Rz. 9.83 Kap. 9
(1) Gesetzliche Einschränkungen beim Kontrollerwerb Im Falle eines Unternehmenskaufs bzw. Kontrollerwerbs führt die Kenntnis von Insiderinformationen aus einer Due Diligence für ein nachfolgendes Übernahmeangebot nicht automatisch zu einem Verstoß gegen das Insiderhandelsverbot. Dabei gilt es zwischen der Weiterführung und dem Abstand nehmen von einer Erwerbsabsicht zu unterscheiden.
9.81
Hinsichtlich der Weiterführung einer Erwerbsabsicht ist Ausgangspunkt, dass die Nutzung einer Insiderinformation grundsätzlich (widerleglich) vermutet wird, wenn eine Person über eine solche Kenntnis verfügt.151 Ausdrückliche Ausnahmen von dieser Vermutung ergeben sich aus Art. 9 MAR. Nach Art. 9 Abs. 4 Satz 1 MAR wird die Nutzung der Insiderinformation nicht wegen deren bloßen Besitzes unterstellt, wenn die betreffende Person die Insiderinformation im Zuge der Übernahme eines Unternehmens oder eines Unternehmenszusammenschlusses auf der Grundlage eines öffentlichen Angebots erworben hat und diese Insiderinformationen ausschließlich nutzt, um den Unternehmenszusammenschluss oder die Übernahme auf der Grundlage eines öffentlichen Angebots weiterzuführen. Dies setzt allerdings voraus, dass zum Zeitpunkt der Genehmigung des Unternehmenszusammenschlusses oder der Annahme des Angebotes durch die Anteilseigner des betreffenden Unternehmens sämtliche Insiderinformationen öffentlich gemacht worden sind oder auf andere Weise ihren Charakter als Insiderinformationen verloren haben. Diese Ausnahme ist im Falle eines bloßen Beteiligungsaufbaus152 nicht anwendbar.153 Nimmt eine Person dagegen nach Durchführung einer Due Diligence von ihrer Erwerbsabsicht Abstand, ergibt sich bereits aus Art. 8 Abs. 1 Satz 2 MAR, dass die Kenntnis von Insiderinformation nur dann zur Vermutung einer Nutzung und damit ggf. Zweifel zu einem Verstoß gegen das Insiderhandelsverbot führt, wenn die Person einen zuvor festgelegten Erwerbsauftrag storniert oder ändert.154 Trifft dies allerdings zu, kann die Ausnahme gem. Art. 9 Abs. 4 Satz 1 MAR nicht abhelfen, weil diese dem Wortlaut nach nur die Weiterführung eines Unternehmenszusammenschlusses oder der Übernahme betrifft.
9.82
(2) Teleologische Einschränkungen beim Paketerwerb unterhalb der Kontrollschwelle Für den außerbörslichen Aktienerwerb im Umfang von weniger als 30 % der Stimmrechte sehen die insiderrechtlichen Bestimmungen dem Wortlaut nach keine Einschränkung vor. Allerdings ist hier eine teleologische Reduktion des Insiderhandelsverbots geboten:155
151 Erwägungsgrund Nr. 24 der MAR; zu beachten ist, dass der Zugang zu Insiderinformationen über ein anderes Unternehmen und die Nutzung dieser Informationen bei einem öffentlichen Übernahmeangebot mit dem Ziel, die Kontrolle über dieses Unternehmen zu gewinnen oder einen Zusammenschluss mit ihm vorzuschlagen, als solche nicht als Insidergeschäft gelten sollen, vgl. Erwägungsgrund Nr. 31 der MAR. 152 Beteiligungsaufbau meint nach Art. 3 Abs. 1 Nr. 31 MAR den „Erwerb von Unternehmensanteilen, durch den keine rechtliche oder regulatorische Verpflichtung entsteht, in Bezug auf das Unternehmen ein öffentliches Übernahmeangebot abzugeben“. 153 Vgl. Apfelbacher in Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, S. 75 f. 154 Bühren, NZG 2017, 1172 (1176 f.). 155 Vgl. Bühren, NZG 2017, 1172 (1175); eine solche Einschränkung ist nicht durch Art. 9 MAR ausgeschlossen, der in Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH (EuGH v. 23.12.2009 – C-45/08 – Spector Photo Group EV, Slg. 2009, I-12100) nur beispielhaft einige ausdrückliche Ausnahmen normiert.
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9.83
Kap. 9 Rz. 9.84
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
9.84 Zweck der MAR sind der Schutz der Integrität des Finanzmarkts und die Stärkung des Vertrauens der Investoren, das wiederum auf der Gewissheit beruht, dass die Investoren gleichbehandelt und vor der missbräuchlichen Verwendung von Insiderinformationen geschützt werden.156 Dies war bereits Ziel der alten Marktmissbrauchsrichtlinie, welche die §§ 12 ff. WpHG a.F. geprägt hatte.157 Insiderrechtliche Bestimmungen sollen Informationsasymmetrien von Teilnehmern an geregelten Märkten, MTF und OTF vorbeugen und dadurch die Gleichbehandlung von Investoren sicherstellen. Verfügen nur einzelne Teilnehmer über bestimmte Informationen, führt dies zu einer ungerechtfertigten Privilegierung dieser Investoren. Im Falle des außerbörslichen Paketerwerbs unterhalb der Kontrollschwelle besteht die Gefahr eines solchen ungerechtfertigten Sondervorteils nicht, wenn die Insiderinformation nach Durchführung der Due Diligence beiden Vertragsparteien bekannt sind und dadurch alle Beteiligten über denselben Kenntnisstand verfügen.158 Die Chancengleichheit und das zu stärkende Vertrauen der Investoren in den Finanzmarkt bleiben hier gewahrt.159 Ein Verstoß gegen das Insiderhandelsverbot ergibt sich nur, wenn der Käufer zusätzlich zu dem Paketerwerb unter Nutzung der Insiderinformation weitere Aktien auf einem geregelten Markt, einem MTF oder OTF erwirbt oder von einem solchen Erwerb trotz eines bereits erteilten Erwerbsauftrags Abstand nimmt. Es ergeben sich demnach letztlich keine Änderungen im Vergleich zur früheren Wertungslage. c) Praxishinweis
9.85 Festzuhalten ist, dass das Insiderhandelsverbot auch weiterhin nur eingeschränkt den Pakethandel betrifft. Allerdings handelt es sich im Hinblick auf den Paketerwerb unterhalb der Kontrollschwelle um keine gesicherte Rechtslage, zumal die BaFin den in der Praxis bedeutsamen Emittentenleitfaden seit Geltung der neuen insiderrechtlichen Vorschriften bislang nicht aktualisiert hat. Der Vorstand der Zielgesellschaft sollte bei der Due Diligence möglichst keine Insiderinformationen zugänglich machen und darauf achten, dass eine während der Due Diligence etwa zu Tage tretende Insidertatsache pflichtgemäß bekannt gemacht wird (Art. 17 MAR). Wird dem Erwerber im Zuge der Due Diligence eine solche Information bekannt, sollte er seinerseits auf deren Veröffentlichung hinwirken. 4. Wettbewerbsrechtliche Schranken der Informationserteilung
9.86 Besonderheiten ergeben sich auch dann, wenn es sich bei dem Kaufinteressenten um einen (potentiellen) Wettbewerber des Zielunternehmens handelt. Dann bedarf die Offenlegung wettbewerbsrechtlich sensibler Informationen (etwa Angaben zur Preisgestaltung oder kundenbezogene Informationen) besonderer Vorkehrungen. Um möglichen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht (Art. 101 AEUV, § 1 GWG) vorzubeugen, verpflichten Vertraulichkeitsvereinbarungen den Kaufinteressenten regelmäßig, ein sog. Clean Team zu bilden, welches streng vom operativen Geschäft des Käufers getrennt ist und als solches Zugang zu den sensiblen Informationen erhält.160 Verbreitet ist es auch, die wettbewerbsrechtlich relevanten 156 157 158 159
Vgl. Erwägungsgrund Nr. 23 und 24 der MAR. Vgl. Erwägungsgrund Nr. 2 und 12 der Richtlinie 2003/6/EG. Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765, 805 f. Bühren, NZG 2017, 1172 (1175); Poelzig, NZG 2016, 528 (533); Viciano-Gofferje/Cascante, NZG 2012, 968 (976). 160 Linke/Fröhlich, GWR 2014, 449 (451); Besen/Gronemeyer, CCZ 2013, 137 (143 f.).
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Weber
D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.90 Kap. 9
Daten zunächst nur den zur Verschwiegenheit verpflichteten Beratern (in der Regel Rechtsberatern) des Kaufinteressenten in einem separaten Datenraum („Red Data Room“/„Clean Room“) zugänglich zu machen, welche sodann auf Grundlage einer besonderen Vertraulichkeitsvereinbarung („Clean Team Agreement“) nur aggregiert und anonymisiert (ggf. nach vorheriger Freigabe des Berichtsentwurfs durch den Verkäufer) an ihren Mandanten berichten. 5. Datenschutzrechtliche Schranken Die im Data Room zur Verfügung gestellten Unterlagen dürfen keine personenbezogenen Daten (vgl. Art. 4 DSGVO) enthalten; diese sind ggf. zu schwärzen. Eine Offenlegung personenbezogener Daten an den Käufer darf nur mit Zustimmung der betroffenen Personen oder bei Vorliegen eines berechtigten Interesses an der Offenlegung erfolgen (Art. 6 DSGVO Abs. 1 lit. f).
9.87
Bei der hiernach vorzunehmenden Interessenabwägung ist u.a. zu berücksichtigen, dass das legitime Interesse von Verkäufer und Käufer an einer Zurverfügungstellung bzw. am Erhalt personenbezogener Informationen unmittelbar vor Vertragsunterzeichnung sicherlich deutlich geringer als am Beginn eines Verkaufsprozesses sein wird.
D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug I. Übersicht Das Unternehmen umfasst eine Vielzahl von materiellen und immateriellen Vermögensgegenständen (vgl. § 266 Abs. 2 HGB), aber auch immaterielle Vermögenswerte wie organisatorische Gestaltungen, Kunden-, Lieferanten- und sonstige wirtschaftliche und soziale Beziehungen und vor allem die in dem Unternehmen tätigen Menschen. Je nach den von den Parteien verfolgten Vertragszielen sollen diese Gegenstände oder einzelne davon sowie Mitarbeiter des Unternehmens auf den Erwerber übergehen. Die schuldrechtlichen Bestimmungen regeln, was übergehen soll, das dingliche Vollzugsgeschäft bewirkt den Übergang (soweit rechtsgeschäftlich übertragbar). Ungeachtet der rechtlich bedeutsamen Trennung zwischen diesen beiden Akten können die rechtsgeschäftlichen Erklärungen häufig in einer einheitlichen Urkunde abgegeben werden.
9.88
Beim Asset Deal werden einzelne Vermögensgegenstände übertragen.161 Dazu ist regelmäßig eine detaillierte Regelung erforderlich. Dem gegenüber geht es beim Share Deal um die Übertragung der Beteiligungsrechte an der Zielgesellschaft. Der Übertragung einzelner Vermögensgegenstände bedarf es nicht.
9.89
Zusätzlich ist in beiden Fällen die Übertragung der sonstigen, rechtsgeschäftlich nicht ohne Weiteres übertragbaren Vermögenswerte erforderlich, die zum Unternehmen gehören.
9.90
161 Zur Masseverwertung durch Verkauf des vom Insolvenzschuldner betriebenen Unternehmens Kuhn, ZNotP 2008, 308.
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Kap. 9 Rz. 9.91
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
II. Asset Deal – Ausgewählte Fragen 1. Sachen und Forderungen a) Vertragliche Erfassung
9.91 Die zu übertragenden Sachen und Forderungen ergeben sich zum größten Teil aus der Bilanz des Zielunternehmens in Verbindung mit Inventarverzeichnissen. Allerdings sind häufig erhebliche Vermögensgegenstände, deren Übergang von den Parteien gewünscht wird, in rechtlich nicht zu beanstandender Weise nicht bilanziert (z.B. die sofort abgeschriebenen geringwertigen Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens, § 6 Abs. 2 EStG; sonstige voll abgeschriebene Wirtschaftsgüter). Umgekehrt kann es sein, dass bilanzierte Vermögensgegenstände nicht dem Zielunternehmen gehören, sondern Sonderbetriebsvermögen von Gesellschaftern sind. Das kommt namentlich bei Betriebsgrundstücken vor und bei bestimmten gewerblichen Schutzrechten. Sollen solche Vermögensgegenstände übertragen werden, bedarf es der Mitwirkung des betreffenden Gesellschafters. b) Übertragung
9.92 Beim dinglichen Vollzug sind die für die einzelnen Vermögensgegenstände geltenden unterschiedlichen Anforderungen zu beachten. Die Übertragung eines Unternehmens durch einen einheitlichen Übertragungsakt ist nicht möglich. Der sachenrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz verlangt, dass die Sachen gegenständlich hinreichend bestimmt sind.162 Schwierigkeiten können auftreten, wenn nur eine Teilübertragung beabsichtigt ist, z.B. wenn nur ein bestimmter Teil des Umlaufvermögens übergehen soll. Die bloß anteilige Bestimmung des übergehenden Teilbestandes (z.B. „80 % des Vorratsvermögens“) erfüllt das Bestimmtheitserfordernis nicht und führt zur Unwirksamkeit des dinglichen Vollzugsgeschäftes.163 Die gegenständliche Bestimmbarkeit bei Teilübertragungen kann dadurch gewahrt werden, dass alle Sachen einer bestimmten Art übereignet werden und die Sachen, die beim Veräußerer zurückbleiben sollen, einzeln aufgeführt werden (sog. „All-Formel“).164 Ausreichend ist eine räumliche Abgrenzung (z.B. „die Vorräte im Lagerraum B“). Entscheidend ist, dass für jeden, der die Parteiabreden kennt, aufgrund einfacher äußerer Abgrenzungskriterien ohne Weiteres ersichtlich ist, welche individuell bestimmten Sachen übereignet sind.165 Eine Anknüpfung an rein rechtliche Kriterien („alle Sachen, die im Eigentum des Verkäufers stehen oder an denen ein Anwartschaftsrecht des Verkäufers besteht“) genügt dem Bestimmtheitserfordernis daher nicht. Zur Übereignung von Sachen, an denen ein Eigentumsvorbehalt des Lieferanten besteht oder die sicherungsweise einem Dritten übereignet sind, bedarf es grundsätzlich der Zustimmung dieses Eigentümers. Seine generelle Zustimmung zur Veräußerung im normalen Geschäftsgang deckt den Fall der Unternehmensveräußerung nicht. Dem Erwerber hilft guter Glaube an das Eigentum des Veräußerers insoweit nicht, als ihm infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt ist, dass die Sache nicht dem Veräußerer gehört (§ 932 Abs. 2 BGB). Angesichts der weiten Verbreitung von Eigentumsvorbehalten und Sicherungsüber162 Keine Sicherungsübereignung eines Zeitschriftenunternehmens als Ganzes durch bloße Einigung, BGH v. 11.10.1967 – Ib ZR 144/65, NJW 1968, 392; einer „Handbibliothek Kunst“, BGH v. 19.9.1994 – II ZR 161/93, NJW-RR 1994, 1537. 163 Vgl. Oechsler in MünchKomm/BGB, Anhang zu §§ 929–936 Rz. 7; BGH v. 15.3.1978 – VIII ZR 180/76, BGHZ 71, 75 = NJW 1978, 1050 (Abtretung bis zu einem Höchstbetrag). 164 Beispiel: BGH v. 4.10.1993 – II ZR 156/92, MDR 1994, 886 = DB 1993, 2582 mit Anm. Ott in WuB I F5 Sicherungsübereignung 5.94. 165 BGH v. 3.7.2000 – II ZR 314/98, MDR 2000, 1256.
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.94 Kap. 9
eignungen hat der Erwerber in der Regel Anlass, sich über die Eigentumsverhältnisse kundig zu machen.166 Für die Abtretung von Forderungen (§ 398 BGB) ist erforderlich, dass diese in bestimmbarer Form (etwa durch Bezugnahme auf eine Bilanz, Aufstellung oder eine bestimmte Kategorie von Forderungen) bezeichnet sind. Bei beabsichtigter Teilübertragung eines Forderungsbestandes reicht die wertmäßige Bestimmung nicht aus (z.B. „Forderungen bis zum Gesamtwert von 100 000 Euro“). Auch hier kann aber die oben genannte „All-Formel“Abhilfe schaffen. Gutgläubiger Erwerb von Forderungen ist in der Regel ausgeschlossen (Ausnahmen: Inhaberpapiere, § 935 Abs. 2 BGB; Scheck- und Wechselforderungen, Art. 16 Abs. 2 WG, Art. 21 ScheckG; kaufmännische Orderpapiere, § 365 HGB). Außer in den bezeichneten Fällen kann die Abtretung von Forderungen durch Vertrag zwischen Gläubiger (hier: Inhaber des Zielunternehmens) und Schuldner ausgeschlossen sein. Guter Glaube an die Abtretbarkeit hilft dem Erwerber nicht.
9.93
2. Grundstücke a) Vertragliche Erfassung und Form Betriebsgrundstücke stehen häufig im Sonderbetriebsvermögen von Gesellschaftern. Der Erwerber muss darauf achten, dass sich der Kaufvertrag auf diese Grundstücke tatsächlich erstreckt. Kaufverträge über Grundstücke oder Erbbaurechte bedürfen notarieller Beurkundung (§ 311b Abs. 1 BGB; § 11 ErbbauRG). Die Formbedürftigkeit gilt für das Geschäft als Ganzes, also auch für Abreden, die für sich genommen formlos getroffen werden könnten, soweit nach dem Willen der Parteien der Verkauf von Grundstücken und die übrigen auf die Übertragung des Unternehmens gerichteten Vereinbarungen rechtlich voneinander abhängig sind und ein einheitliches Geschäft bilden, also „miteinander stehen oder fallen“ sollen.167 Die Aufspaltung eines wirtschaftlich einheitlichen Geschäftes (z.B. Erwerb des Umlaufvermögens, der Maschinen, der Grundstücke, Übernahme von Miet- und Lieferverträgen, Arbeitsverhältnissen) führt daher nicht dazu, dass lediglich die die Grundstücke betreffenden Geschäfte dem Formzwang des § 311b Abs. 1 BGB unterliegen. Ohne notarielle Beurkundung können nur solche Geschäfte gesondert abgeschlossen werden, von denen anzunehmen ist, dass sie auch ohne die Grundstücksgeschäfte abgeschlossen worden wären. Das mag etwa dann gelten, wenn der Wert des mit zu übertragenen Grundstücks im Verhältnis zu dem des veräußerten Unternehmens von ganz untergeordneter Bedeutung ist.168 Für die Abgrenzung können im Übrigen die zu § 139 BGB entwickelten Grundsätze herangezogen werden. Die Abgrenzung ist vielfach unsicher, so dass es sich im Zweifel empfiehlt, alle Abreden beurkunden zu lassen.
166 § 366 HGB schützt den guten Glauben an die Verfügungsmacht des Verfügenden bei Kenntnis von der fehlenden Eigentümerstellung. Dies setzt voraus, dass der Verfügende Kaufmann ist und dass die Verfügung über eine bewegliche Sache im Rahmen des Betriebs seines Handelsgewerbes erfolgt. 167 BGH v. 24.9.1987 – VII ZR 306/86, BGHZ 101, 393 = MDR 1988, 134 = DB 1987, 2455; fortgeführt durch BGH v. 7.12.1989 – VII ZR 343/88, MDR 1990, 615 = NJW-RR 1990, 340; s. dazu Wiesner, NJW 1984, 95; Sigle/Maurer, NJW 1984, 2657 (2658), die aber Formbedürftigkeit verneinen, wenn ein an sich nicht formbedürftiger Vertrag unter der Bedingung der Wirksamkeit eines Grundstücksvertrages abgeschlossen wird (NJW 1984, 2660, str.). 168 BGH v. 19.1.1979 – I ZR 172/76 (I 2), DB 1979, 741; BGH v. 24.11.1983 – VII ZR 34/83 (II 2), DB 1984, 451.
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9.94
Kap. 9 Rz. 9.95
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
9.95 Nicht beurkundete Nebengeschäfte, die nicht als vom Hauptgeschäft unabhängig angesehen werden können, führen zur Unwirksamkeit des gesamten Geschäftes, also auch des notariell beurkundeten Grundstückkaufvertrages (§ 125 BGB). Dies ist von besonderer Bedeutung angesichts einer gewissen Neigung, durch sog. „Side-Letters“ Nebenabreden zu treffen (vgl. hierzu auch Parallelproblematik bei Übertragung von GmbH-Anteilen, Rz. 9.125).169 Man riskiert dadurch die Formnichtigkeit des gesamten Geschäftes, wenn es Grundstücke mit umfasst.
9.96 Der Formmangel wird jedoch durch Auflassung und Eintragung im Grundbuch geheilt (§ 311b Abs. 1 Satz 2 BGB). Die Heilungswirkung erstreckt sich auch auf die Nebengeschäfte.170 Bis zur Eintragung kann sich aber jede Seite auf den Formmangel berufen und ihn auch als willkommene Begründung dafür verwenden, das aus anderen Gründen nicht mehr gewünschte Geschäft zum Scheitern zu bringen. Ein Verstoß gegen Treu und Glauben liegt darin in aller Regel nicht.171
9.97 Der Verkauf von Gesellschaftsanteilen an Personengesellschaften fällt auch dann nicht unter § 311b Abs. 1 BGB, wenn zum Vermögen der Gesellschaft Grundstücke gehören. Das gilt sogar dann, wenn alle Anteile übertragen werden und das Vermögen der Gesellschaft ganz oder überwiegend aus Grundstücken besteht. Eine Ausnahme kommt allenfalls für bewusste Umgehungsfälle in Betracht.172 b) Auslandsberührung
9.98 Nach Art. 1 Nr. 1 lit. b EGBGB i.d.F. vom 25.8.2009173 i.V.m. Art. 3 Rom I-VO174 können die Parteien das auf den schuldrechtlichen Kaufvertrag über Grundstücke maßgebliche Sachrecht frei wählen. Das gilt sowohl für im Ausland belegene Grundstücke als auch für inländische. Grundstückskaufverträge sind formgültig, wenn entweder die Vorschriften des Wirkungsstatutes oder die Ortsform eingehalten werden (Art. 11 Abs. 1 EGBGB). Die Eigentumsübertragung muss dagegen die Form erfüllen, die nach dem Wirkungsstatut vorgeschrieben ist (Art. 11 Abs. 4 EGBGB). Da die Übertragung eines in Deutschland belegenen Grundstückes deutschem Recht unterliegt (Art. 43 EGBGB), ist also für die Auflassung zwingend öffentliche Beurkundung erforderlich. Diese kann durch einen deutschen Notar erfolgen oder – in der Praxis selten – gem. § 12 Nr. 1 KonsularG auch durch deutsche Konsularbeamte. Von einem ausländischen Notar kann die Auflassung nicht beurkundet werden und zwar auch dann 169 Z.B. den Abschluss eines Beratervertrages, vgl. BGH v. 23.2.1983 – IVa ZR 187/81, GmbHR 1983, 268 = MDR 1983, 734 = DB 1983, 1141; für die insoweit gleich gelagerte Problematik beim Verkauf von GmbH-Anteilen Duhnkrack/Hellmann, ZIP 2003, 1425. 170 Vgl. BGH v. 2.11.1973 – V ZR 201/71, NJW 1974, 136; Palandt/Grüneberg, § 311b BGB Rz. 55. Die Heilung tritt nur ein, wenn die Willensübereinstimmung mindestens bis zur Auflassung besteht, BGH v. 21.9.1994 – VIII ZR 257/93 (II 2 bb), BGHZ 127, 136 = GmbHR 1994, 869 = MDR 1995, 678 = NJW 1994, 3227. 171 Unzulässigkeit der Berufung auf Formmangel nur, wenn dies „für den Vertragsgegner zu schlechthin unerträglichen Ergebnissen führen würde“, BGH v. 14.6.1996 – V ZR 85/95 (II 3), DB 1996, 2222, st. Rspr. 172 BGH v. 31.1.1983 – II ZR 288/81 (2b), BGHZ 86, 367 = MDR 1983, 467 = DB 1983, 873; K. Schmidt, AcP 182 (1982), 482 (510 ff.); Kanzleiter in MünchKomm/BGB, § 311b BGB Rz. 14 m.w.N. 173 BGBl. I 2009, 1574. 174 VO (EG) Nr. 593/2008 v. 17.6.2008, ABl. (EU) Nr. L 177 v. 4.7.2008, S. 6, ber. ABl. (EU) Nr. L 309 v. 24.11.2009, S. 87.
842
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.101 Kap. 9
nicht, wenn der ausländische Notar dem deutschen Notar funktional gleich zu achten ist.175 Dies wird einhellig aus der Entstehungsgeschichte von § 925 BGB gefolgert.176 Die Rechtslage ist insoweit anders als bei der Abtretung von Geschäftsanteilen, welche jedenfalls auch von einem ausländischen Notar beurkundet werden kann, falls dieser dem deutschen Notar funktional gleichwertig ist (s. dazu nachstehend Rz. 9.140 ff.). Die Kosten für die notarielle Beurkundung eines Kaufvertrages unter Einschluss der Auflassung sind die gleichen wie die der Auflassung allein (§ 109 Abs. 1 GNotKG i.V.m. Nr. 21100 KV). Die rechtlich mögliche Aufspaltung des Grundstücksgeschäftes in einen im Ausland vielleicht billiger abzuschließenden Kaufvertrag und eine in Deutschland beurkundete Auflassung hat also in der Regel keine Kostenersparnis zur Folge. Anders mag es sein, wenn der Kaufvertrag umfangreiche Nebengeschäfte umfassen soll, die wegen der Verbindung mit dem Grundstücksgeschäft ebenfalls beurkundungspflichtig sind.
9.99
3. Immaterielle Vermögensgegenstände (§ 266 Abs. 2 A.I. HGB) Besondere Vorschriften gelten für die Übertragung von Patenten (§ 30 Abs. 3 PatG)177 sowie von Marken (§ 27 Abs. 3 MarkenG; Art. 9 Madrider Markenabkommen). Im Zweifel gehen die Rechte an einer zu einem Geschäftsbetrieb gehörenden Marke auf den Erwerber des Geschäftsbetriebes über (§ 27 Abs. 2 MarkenG). Urheberrechtliche Nutzungsrechte können im Rahmen der Gesamtveräußerung eines Unternehmens oder von Teilen eines Unternehmens auch ohne Zustimmung des Urhebers übertragen werden. Jedoch kann der Urheber das Nutzungsrecht zurückrufen, wenn ihm die Ausübung desselben durch den Erwerber nicht zuzumuten ist (§ 34 Abs. 3 Satz 2 UrhG).178
9.100
Die Firma kann nur zusammen mit der Übertragung des Geschäftsbetriebs übertragen werden (§ 23 HGB).179 Die Fortführung der Firma bedarf der ausdrücklichen Einwilligung des bisherigen Geschäftsinhabers (§ 22 HGB), welche nicht schon allein aus der Übertragung des Handelsgeschäfts entnommen werden kann.180 Überträgt eine Personengesellschaft ihr Handelsgeschäft, so bedarf die Übertragung der Firma der Zustimmung desjenigen Gesellschafters, dessen Name in der Firma geführt wird. Demgegenüber kann eine Kapitalgesellschaft zusammen mit ihrem Geschäftsbetrieb auch ihre Firma ohne die Zustimmung des namengebenden Gesellschafters veräußern.181 Der Firmenteil „… & Partner“ kann nicht
9.101
175 OLG Köln v. 29.11.1971 – 2 Wx 78/71, OLGZ 1972, 321; KG v. 27.5.1986 – 1 W 2627/85, MDR 1987, 56 = DNotZ 1987, 44 (46); inzidenter BGH v. 10.6.1968 – III ZR 15/66, WM 1968, 1170 (1171); Palandt/Thorn, Art. 11 EGBGB Rz. 10. 176 OLG Köln v. 29.11.1971 – 2 Wx 78/71, OLGZ 1972, 321; KG v. 27.5.1986 – 1 W 2627/85, MDR 1987, 56 = DNotZ 1987, 44 (46). 177 Dazu näher Kühl/Sasse, MittdtschPatAnw 2007, 121 (auch zur schuldrechtlichen Seite). 178 Zur Rechtsstellung des Autors bei Veräußerung des Verlages Ullmann in FS Käfer, 2009, S. 413; allgemein zur Rechtsstellung des Urhebers insbesondere von Computerprogrammen beim Unternehmenskauf Royla/Gramer, CR 2005, 154. 179 Dazu näher Lettl, WM 2006, 1841; zu den Anforderungen, die an die „Übertragung des Geschäftsbetriebs“ i.S.v. § 23 HGB gestellt werden, vgl. Baumbach/Hopt, § 23 HGB Rz. 1; BGH v. 22.11.1990 – I ZR 14/89, MDR 1991, 958 (IV 2), DB 1991, 591. 180 BGH v. 27.4.1994 – VIII ZR 34/93, MDR 1994, 783 = DB 1994, 1614. 181 BGH v. 27.9.1982 – II ZR 51/82, BGHZ 85, 221 = GmbHR 1983, 195 = MDR 1983, 379 = DB 1983, 489 (für GmbH); BGH v. 14.12.1989 – I ZR 17/88, BGHZ 109, 364 = DB 1990, 779; Hüffer in Staub, Großkomm/HGB, 5. Aufl. 2009, § 22 HGB Rz. 33; Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 4 GmbHG Rz. 27, 12.
Weber 843
Kap. 9 Rz. 9.102
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
übertragen werden, wenn das Unternehmen in einer anderen Rechtsform als der der Partnerschaftsgesellschaft weitergeführt wird. Das gilt auch dann, wenn das Unternehmen den schon vor Inkrafttreten des PartGG am 1.7.1995 rechtmäßig geführten Partner-Zusatz weiterführen durfte.182
9.102 Zu den bei einem Asset Deal zu übertragenden Vermögensgegenständen können auch Beteiligungsrechte gehören. Das kommt z.B. vor, wenn ein rechtlich unselbständiger Unternehmensbereich (Division) im Wege eines Asset Deals veräußert wird und in diesem Unternehmensbereich einzelne Aktivitäten in besonderen rechtlich selbständigen Gesellschaften geführt werden. Insoweit gelten die allgemeinen Regeln über Share Deals (s. unten Rz. 9.112 ff.). 4. Verbindlichkeiten
9.103 Regelmäßig wollen die Parteien, dass die das verkaufte Unternehmen betreffenden Verpflichtungen in weitem Umfange auf den Erwerber übergehen. Dem entspricht § 25 HGB, wonach bei der Übertragung eines Handelsgewerbes und Fortsetzung desselben unter der bisherigen Firma der Erwerber für die darin begründeten Verbindlichkeiten haftet, während der bisherige Inhaber durch die Nachhaftungsbegrenzung des § 26 HGB entlastet wird, falls die Forderung nicht innerhalb von fünf Jahren geltend gemacht wird. Die Verpflichtungen können gegenwärtig oder künftig, gewiss oder ungewiss, bedingt oder unbedingt sein.
9.104 Nicht immer ist den Parteien der Umfang der in Rede stehenden Verpflichtungen klar; denn nicht alle Verpflichtungen des Verkäufers in Bezug auf das verkaufte Unternehmen sind aus dessen Rechenwerk ersichtlich. Forderungen Dritter können beispielsweise unbekannt sein, weil sie noch nicht geltend gemacht sind. Sie können auch in der Weise latent sein, dass das verkaufte Unternehmen eine Gefahrenlage geschaffen hat, z.B. indem es ein mit Mängeln behaftetes Produkt vertrieben hat, woraus sich Gewährleistungs- und Produkthaftpflichtansprüche entwickeln mögen. Viele gewerbliche Grundstücke sind durch Industrieabfälle verseucht und bedürfen der Sanierung. Nach deutschem Bilanzrecht brauchen nicht alle bei wirtschaftlicher Betrachtung an sich gebotenen Rückstellungen für Ruhegeldverpflichtungen und für die subsidiäre Haftung des Trägerunternehmens aus Versorgungszusagen ihrer rechtlich selbständigen Unterstützungskassen passiviert oder im Anhang zum Jahresabschluss ausgewiesen zu werden.183 Art. 28 EGHGB gewährt gewisse Passivierungswahlrechte. Die gem. § 6a EStG erlaubten Pensionsrückstellungen erreichen häufig nicht die unter wirtschaftlichen Aspekten an sich gebotene Höhe, weil das Gesetz für die Ermittlung des Teilwertes von Pensionsverpflichtungen einen Abzinsungssatz von 6 % vorschreibt (§ 6a Abs. 3 Satz 3 EStG).184 Erhebliche noch nicht bilanzierte Belastungen können in drohenden Ausgleichsansprüchen von Handelsvertretern liegen (§ 89b HGB).185 Auch Eigenhändler können in
182 OLG Karlsruhe v. 5.12.1997 – 11 Wx 83/97, MDR 1998, 608 = DB 1998, 127. 183 Vgl. dazu näher Grottel/Riehl in BeckBilKomm, 10. Aufl. 2016, § 249 HGB Rz. 151–290; Merkt in Baumbach/Hopt, § 249 HGB Rz. 5 ff. m.w.N.; Ballwieser in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2016, § 249 Rz. 26–40. 184 Vgl. dazu Weber-Grellet in Schmidt, EStG, 36. Aufl. 2017, § 6a. 185 Zur ausgleichsrechtlichen Stellung des Handelsvertreters, wenn dieser einen Handelsvertretervertrag mit dem Erwerber abschließt: Florian Schmitz, ZIP 2003, 59; BGH v. 26.11.2011 – VIII ZR 222/10, MDR 2012, 40 mit Anm. Semler in ZVertriebsR 2012, 48.
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.105 Kap. 9
analoger Anwendung von § 89b HGB Ausgleichsansprüche haben.186 Aus Bilanzen oder dem sonstigen Rechenwerk des verkauften Unternehmens nicht ersichtliche Verpflichtungen aus ungünstigen namentlich langfristigen Verträgen können bestehen (Liefer- und Bezugsverpflichtungen, Mietverträge, Alleinvertriebsbindungen). Der Kaufvertrag sollte eine Regelung für derartige Risiken enthalten.187 In Ermangelung einer solchen fallen diese Verbindlichkeiten demjenigen zur Last, der im Zeitpunkt der Fälligkeit Inhaber des Unternehmens ist (§§ 446 Satz 2, 103 BGB); ein Ausgleich kann nur nach den allgemeinen Regeln über Leistungsstörungen erfolgen (vgl. Rz. 9.204 ff.).188 Soweit der wirtschaftliche Übergang solcher Verpflichtungen nicht gewünscht wird, kommt die Übernahme einer Freistellungsverpflichtung durch den Verkäufer in Betracht.189 Eine Freistellungsverpflichtung beinhaltet nach der Rechtsprechung des BGH grundsätzlich sowohl die Pflicht zur Befreiung des Berechtigten von begründeten Forderungen Dritter als auch zur Abwehr unbegründeter Forderungen Dritter.190 Die Werthaltigkeit eines solchen Freistellungsanspruchs für den Begünstigten ist ganz maßgeblich von der Solvenz des Freistellungsschuldners abhängig; ggf. ist an die Übernahme einer Garantie durch einen solventen Dritten, etwa eine Konzernuntergesellschaft, zu denken. Es wird nicht immer bedacht, dass ein vertraglicher Freistellungsanspruch sofort fällig ist (§ 271 Abs. 1 BGB), sofern sich nicht aus der Parteivereinbarung oder den Umständen des Einzelfalles etwas anderes ergibt.191 Ist dessen Erfüllung nicht sofort möglich, insbesondere weil die Forderung noch nicht fällig oder weil sie ungewiss ist, kann dem Freistellungsgläubiger ein Anspruch auf Sicherheitsleistung in analoger Anwendung der §§ 257 Satz 2, 738 Abs. 1 Satz 3, 775 Abs. 2 BGB zustehen. Für den Freistellungsschuldner kann dies bedeuten, dass er unter Umständen für einen sehr langen Zeitraum Mittel bereitstellen muss.192 Eine vertragliche Klarstellung zur Fälligkeit des Freistellungsanspruches (z.B. erst bei Fälligkeit der Forderung) oder zum Ausschluss des Anspruchs auf Sicherheitsleistung liegt daher im Interesse des Freistellungsschuldners. Wann die Verjährung des Freistellungsanspruchs beginnt, ist umstritten.193 Teilweise wird der ver-
186 St. Rspr., vgl. BGH v. 12.1.2000 – VIII ZR 19/99, MDR 2000, 592 = NJW 2000, 1413; weitere Nachweise bei Baumbach/Hopt, § 84 HGB Rz. 12. 187 Zur Auslegung einer Schuldübernahmeerklärung in einem Unternehmenskaufvertrag: BGH v. 17.4.2002 – VIII ZR 297/01, NJW 2002, 2310 mit Anm. Kohte, EWiR 2002, 659. 188 Grunewald, ZGR 1982, 452. 189 Zur Auslegung einer Freistellungsverpflichtung KG v. 31.8.1995 – 2 U 8471/94, WM 1996, 367; Schadensersatzanspruch bei Nichterfüllung und Leistungsklage BGH v. 12.9.2001 – VIII ZR 67/00, ZIP 2002, 125; allgemein zum Freistellungsanspruch beim Unternehmenskauf: Hilgard, BB 2016, 1218. 190 Vgl. BGH v. 15.10.2007 – II ZR 136/06, MDR 2008, 92 = DStR 2007, 2268 (2269); BGH v. 19.4.2002 – V ZR 3/01, MDR 2002, 1107 = NJW 2002, 2382; BGH v. 19.1.1983 – IVa ZR 116/81, MDR 1983, 563 = NJW 1983, 1729 (1730); Hilgard, BB 2016, 1218 (1223); s.a. Schütt, NJW 2016, 980, welcher die Übertragbarkeit der Rechtsprechung des BGH auf Freistellungsvereinbarungen in Unternehmenskaufverträgen aufgrund der besonderen Interessenlage bezweifelt. 191 BGH v. 11.4.1984 – VIII ZR 302/82, MDR 1984, 1018 = NJW 1984, 2151 (2153). 192 Vgl. BGH v. 11.4.1984 – VIII ZR 302/82, MDR 1984, 1018 = NJW 1984, 2151 (2153); zur Freistellung von künftigen Verbindlichkeiten aus der Altersversorgungsregelung des verkauften Unternehmens; der Freistellungsanspruch des Gesamtschuldners gem. § 426 BGB soll allerdings in der Regel die Fälligkeit der Drittforderung voraussetzen, BGH v. 20.7.2006 – IX ZR 44/05, MDR 2007, 300 = WM 2006, 1637. 193 Hilgard, BB 2016, 1218 (1231 ff.) mit Anmerkungen zu in der Praxis typischen Vereinbarungen zur Verjährung.
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9.105
Kap. 9 Rz. 9.106
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
treten, sie beginne erst mit der Fälligkeit der Drittforderung.194 Eine vertragliche Festlegung von Verjährungsbeginn und -dauer ist daher sinnvoll.
9.106 Die im Zusammenhang mit dem Unternehmen stehenden Verpflichtungen kann der Käufer durch Vereinbarung mit dem Verkäufer übernehmen. Das regelmäßig zugleich gewollte Ausscheiden des Verkäufers aus der Verpflichtung bedarf jedoch der Zustimmung des Gläubigers (§ 415 BGB), die (vor allem aus praktischen Gründen) nur selten zu erlangen sein wird. Typischerweise wird eine vereinbarte „Übernahme von Verbindlichkeiten“ daher als Erfüllungsübernahme (§ 329 BGB) auszulegen sein, die mit einer korrespondierenden Freistellungsverpflichtung des Käufers zugunsten des Verkäufers einhergeht. Es ist auch möglich, dass der Käufer dem Verkäufer einen Betrag zur Verfügung stellt, aus dem dieser die vom Käufer „zu übernehmenden Verbindlichkeiten“ tilgt.195 Mitunter wird vereinbart, dass der Käufer bestimmte „Rückstellungen übernimmt“. Der rechtliche Gehalt dieser Regelung ist durch Auslegung zu ermitteln. In der Regel wollen die Parteien, dass der Käufer den Verkäufer von den Risiken entlastet, derentwegen die Rückstellungen gebildet worden sind; dabei mag mangels klarer vertraglicher Regelung zweifelhaft sein, ob die Risikoübernahme vollständig oder nur bis zur Höhe der Rückstellungen erfolgen soll. 5. Komplexe Rechtsverhältnisse
9.107 Die Vorschriften über die Abtretung von Forderungen und Rechten (§§ 398 ff. BGB) sind auf den Übergang einzelner Forderungen und Rechte zugeschnitten, nicht aber auf den Eintritt eines neuen Schuldners in komplexe Rechtsverhältnisse, die aus einer Mehrzahl gegenseitiger Haupt- und Nebenansprüche bestehen können. Nur vereinzelt enthält das Gesetz Regelungen über den Übergang ganzer Schuldverhältnisse (Mietverhältnisse, § 566 BGB; Arbeitsverhältnisse, § 613a BGB; Versicherungsverhältnisse, bei Übertragung der versicherten oder von der Versicherung erfassten Sache, §§ 95, 122 VVG). Im Übrigen erfolgt der Übergang durch ein drei- oder mehrseitiges Rechtsgeschäft eigener Art, das der Zustimmung aller Beteiligter bedarf.196 Das betrifft auch die Übertragung des Auftragsbestandes. Besondere Fragen stellen sich bei der Übertragung von Unterstützungskassen.197 Auch die Übernahme gesellschaftsrechtlicher oder ähnlicher Rechtsstellungen des Veräußerers aus Personengesellschaften (z.B. in Arbeitsgemeinschaften, Poolverträgen oder Kartellen) bedarf in der Regel der Zustimmung der anderen Beteiligten. 6. Sonstige Vermögenswerte
9.108 Wenn ein Unternehmen mit dem Ziel gekauft wird, die darin verkörperte Ertragskraft zu erwerben, ist es von entscheidender Bedeutung, nicht nur die einzelnen Vermögensgegenstände überzuleiten, sondern auch eine Vielzahl faktischer Verhältnisse für den Erwerber nutzbar zu 194 Link, BB 2012, 856 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BGH (mit Formulierungsvorschlägen); s. auch Liekefett, DB 2005, 2398. 195 Zur Auslegung der Vertragsbestimmung „Gegenstand des Kaufvertrages sind … die bis zum 30.6.1987 begründeten Außenstände und Verbindlichkeiten“, wenn der Gläubiger dem Vertrag zustimmt, vgl. BGH v. 13.12.1990 – IX ZR 79/90, NJW-RR 1991, 877. 196 K. Schmidt, Handelsrecht Unternehmensrecht I, setzt sich in § 7.IV.3 für eine Neubestimmung im Sinne des Übergangs auch ganzer Rechtsverhältnisse auf den neuen Unternehmensträger ein. Geltendes Recht ist dies jedoch nicht. Zur Übernahme von EDV-Verträgen Plath, CR 2007, 345. 197 Dazu Powietzka, DB 2008, 2593.
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.110 Kap. 9
machen. Das geschäftliche Know-how, das in Geschäftsunterlagen gespeichert, vielleicht aber auch nur in der Person einzelner Mitarbeiter vorhanden sein mag, tatsächliche Beziehungen zu Kunden und Lieferanten sowie die Kenntnisse und Fähigkeiten des Personals sind Umstände, die die Ertragskraft eines Unternehmens wesentlich bestimmen. Andererseits spielen diese Aspekte eine geringere Rolle, wenn der Erwerber nur an einzelnen Vermögensgegenständen, bestimmten Teilen der Substanz oder gar lediglich an einer Stilllegung des Zielunternehmens interessiert ist. Die konkrete Zielsetzung der Unternehmensakquisition ist daher gerade im Zusammenhang mit der Überleitung von solchen immateriellen Vermögenswerten im Auge zu behalten. Ist eine ausdrückliche Regelung versäumt worden, muss der Inhalt der Überleitungspflichten nach den allgemeinen Regeln der Vertragsauslegung aus den gemeinsamen Vorstellungen der Parteien erschlossen werden.198 Soll nach dem Unternehmenskaufvertrag die Ertragskraft auf den Erwerber übertragen werden, ist der Verkäufer auch ohne besondere Abrede verpflichtet, dem Käufer die zum Betrieb des Unternehmens erforderlichen Geschäftsunterlagen, wie Geschäftsbücher, Karteien, Dateien, EDV-Programme u.Ä. auszuhändigen.199 Über den Umfang dieser Verpflichtung im Einzelnen können aber leicht Meinungsverschiedenheiten aufkommen. Wollen die Parteien auch die Überlassung der Kundschaft, so ergibt sich daraus ein befristetes Wettbewerbsverbot für den Veräußerer zugunsten des Erwerbers.200 Es ist allerdings anzuraten, das Wettbewerbsverbot nach Zeit und Inhalt einzugrenzen.201 Zur Übertragung der Kundenund Lieferantenbeziehungen sind häufig Einführungsbesuche zusammen mit dem Verkäufer zweckmäßig. Ob allerdings eine Verpflichtung des Verkäufers zur Mitwirkung besteht, hängt vom Einzelfall ab. Letztlich ist zu prüfen, ob der Geschäftsbetrieb behördlicher Konzessionen202 bedarf oder Auflagen unterliegt, die nicht ohne weiteres auf den Nachfolger übertragen oder von ihm erfüllt werden können.
9.109
7. Übergangsstichtag/Closing Das Unternehmen als lebender Organismus ist ständigen Veränderungen unterworfen. Laufend werden Sachen erworben und veräußert, Forderungen und Verpflichtungen begründet und erfüllt. In der Zeit zwischen dem Abschluss des Kaufvertrages und dessen dinglichem Vollzug kann das Vermögen des Zielunternehmens erhebliche Veränderungen erfahren. Wenn die Akquisition der Zusammenschlusskontrolle durch Kartellbehörden unterliegt, können zwischen der Anmeldung und der Freigabe mehrere Monate verstreichen. Es ist daher im Kaufvertrag der Übergangsstichtag zu bestimmen. Mit Wirkung auf diesen Zeitpunkt soll der Übergang des Unternehmens auf den Käufer mit Nutzungen und Lasten stattfinden. Der dingliche Vollzug des Unternehmenskaufes wird überwiegend als „Closing“ bezeich198 S. dazu Hommelhoff, ZHR 150 (1986), 254 (260); Hüffer in Staub, Großkomm/HGB, 5. Aufl. 2009, vor § 22 HGB Rz. 15 f. 199 BGH v. 11.10.1967 – I b ZR 144/65, NJW 1968, 392. 200 So schon RGZ 117, 176 (178); BGH v. 18.12.1954 – II ZR 76/54, BGHZ 16, 71; zustimmend Palandt/Grüneberg, § 242 BGB Rz. 29; Hüffer in Staub, Großkomm/HGB, 5. Aufl. 2009, vor § 22 HGB Rz. 30; Renner, DB 2002, 1143; Wagener/Schultze plädieren für eine Höchstdauer von zwei Jahren, NZG 2001, 157. 201 Zur Zulässigkeit im Hinblick auf § 1 GWB und § 138 BGB vgl. BGH v. 3.11.1981 – KZR 33/80, „Holzpaneele“ WuW/E BGH 1989; OLG München v. 17.11.1994 – U (K) 2553/94, NJW-RR 1995, 1191; Bechtold/Bosch, Kartellgesetz, 8. Aufl. 2015, § 1 GWB Rz. 59 m.w.N. 202 Vgl. BGH v. 13.8.1997 – VIII ZR 246/96, NJW-RR 1998, 712 (Übertragung einer Taxi-Konzession, § 2 PBefG).
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9.110
Kap. 9 Rz. 9.111
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
net.203 Allerdings wird unter „Closing“ manchmal auch der Akt des Vertragsschlusses nach Beendigung der Verhandlungen und Beibringung aller Unterlagen, Erklärungen usw. verstanden oder auch der Zeitpunkt, an welchem aufschiebende Bedingungen für die Wirksamkeit des Kaufvertrages eintreten oder deren Eintritt festgestellt wird.204 Soweit die Parteien Rechtsfolgen an das „Closing“ knüpfen, z.B. den Beginn von Fristen, empfiehlt sich begriffliche Klarstellung. Auch sollten sich die Parteien darüber im Klaren sein, ob und unter welchen Voraussetzungen („Closing Conditions“) sie zum Vollzug des schuldrechtlichen Vertrages verpflichtet sind. Das ist z.B. relevant, wenn der Vollzug erst nach Erfüllung bestimmter Voraussetzungen erfolgen soll, etwa nach Beibringung von Finanzierungsnachweisen oder Bürgschaften, oder wenn bestimmte unternehmerische Maßnahmen wie Abspaltung von Unternehmensteilen oder sonstige Veräußerungen von Vermögen des Zielunternehmens erfolgt sind. Zivilrechtlich sind die Parteien in der Festlegung des Übergangsstichtages frei. Eine rückwirkende Festlegung kann freilich keine dingliche Wirkung haben, sondern die Parteien nur verpflichten, einander so zu stellen, wie sie stünden, wenn der Rechtsübergang zu dem festgelegten Übergangsstichtag erfolgt wäre. Zum Schutzbedürfnis des Käufers in der Zeit zwischen dem Abschluss des Kaufvertrages und dem Übergang des Zielunternehmens s. nachstehend Rz. 9.197 f.
9.111 Häufig wird das Unternehmen mit all den aktiven und passiven Vermögensgegenständen, insbesondere auch allen Forderungen und Verbindlichkeiten, gekauft, die zum Übergangsstichtag vorhanden sind. Legt der Käufer Wert auf eine bestimmte Zusammensetzung des Vermögensbestandes, bedarf es vertraglicher Festlegung. Bei Forderungen kann es auf die Person des Schuldners ankommen; auch bei Verbindlichkeiten ist die Fälligkeit von Bedeutung. Bei Vorräten und Waren spielt deren Alter eine wesentliche Rolle.
III. Share Deal – Ausgewählte Fragen 1. Übergang von Beteiligungsrechten sowie von Vermögensgegenständen und -werten
9.112 Beim Share Deal gehen Beteiligungsrechte auf den Erwerber über. Träger aller Vermögensgegenstände des Zielunternehmens, einschließlich aller Forderungen und Rechte, bleibt unverändert die Gesellschaft, die das Zielunternehmen betreibt („Zielgesellschaft“). Daraus ergibt sich eine wesentliche Vereinfachung und häufig auch Kostenersparnis gegenüber dem Asset Deal. Bei Share Deals fallen keine Notariats- und Grundbuchkosten für die beim Asset Deal erforderliche Übertragung der der Gesellschaft gehörenden Grundstücke an, soweit diese nicht zum Sonderbetriebsvermögen von Gesellschaftern gehören. Zur Grunderwerbsteuerpflicht s. Rz. 9.151. Das Problem, die zu übertragenden Sachen und Rechte hinreichend genau zu bestimmen, stellt sich nicht, soweit es sich nicht um Sonderbetriebsvermögen handelt.
9.113 Ein Übergangsstichtag („Closing“, s. Rz. 9.110) braucht beim Share Deal zwar in der Regel nicht für einzelne Vermögensgegenstände festgelegt zu werden, ist aber zumeist hinsichtlich der zu übertragenden Anteilsrechte erforderlich, z.B. wenn der Übergang der Anteilsrechte 203 BGH v. 29.7.2014 – II ZR 353/12, AG 2014, 662 = MDR 2014, 1096 = Rz. 4; Socher/Hanke NJW 2010, 1261(1262); Schönhaar, GWR 2014, 277; BFH v. 11.2.2014 – IX R 46/12, Rz. 2 übernimmt die von den Parteien verwandte Bezeichnung „closing“ für die Schließung von Optionen; EuGH v. 24.10.2013 – C-214/12, Rz. 10 versteht unter Closing den Vertragsschluss mit einem Bieter, der ein verbindliches Erwerbsangebot gemacht hatte. 204 Holzapfel/Pöllath, Rz. 17 ff.; Lappe/Schmitt, DB 2007, 153.
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.117 Kap. 9
von bestimmten Erfordernissen abhängig gemacht werden soll, wie Beibringung von Bürgschaften bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, Zustimmungserklärungen und Organisationsmaßnahmen. Gleiches gilt, wenn Kaufpreisanpassungen nach Maßgabe einer auf den Zeitpunkt des Anteilsüberganges zu erstellenden Abrechnungsbilanz vereinbart werden. Dingliche Belastungen (Pfandrechte; Nießbrauch) der übergehenden Beteiligungsrechte bleiben bestehen. Das gilt auch für GmbH-Anteile, s. Rz. 9.137. Unterbeteiligungen haben dagegen lediglich schuldrechtliche Wirkung im Verhältnis zwischen dem Hauptbeteiligten (Veräußerer) und dem Unterbeteiligten, häufig in der Rechtsform einer Innengesellschaft.205 Stille Beteiligungen am Handelsgewerbe der Zielgesellschaft werden von der Veräußerung von Beteiligungsrechten nicht betroffen und bestehen wie deren sonstige schuldrechtliche Verpflichtungen unverändert fort.
9.114
Ungeachtet der fortbestehenden Rechtsträgerschaft gilt allerdings:
9.115
(1) Enthält die Firma, unter der eine Personengesellschaft ihre Geschäfte betreibt, den Namen eines ausscheidenden Gesellschafters, so darf die Gesellschaft die Firma nur mit Zustimmung dieses Gesellschafters weiterführen.206 (2) Urheberrechtliche Nutzungsrechte bleiben bei der Gesellschaft, doch kann dem Urheber ein Rückrufsrecht erwachsen (§ 34 Abs. 3 Satz 2 UrhG). (3) Der Übergang der Beteiligungsrechte hat häufig beträchtliche wirtschaftliche Auswirkungen auf die Gesellschaft: In vielen Fällen können Vertragspartner der Gesellschaft die mit ihnen bestehenden Verträge im Falle einer wesentlichen Änderung der Beteiligungsverhältnisse kündigen (sog. „Change-of-Control“-Klauseln, s. Rz. 9.168). (4) Rechtlich bestehen die Arbeitsverhältnisse zwischen der Zielgesellschaft und ihren Arbeitnehmern unverändert fort. Faktisch wird sich aber für eine Reihe von Arbeitnehmern die Frage stellen, ob sie im Falle einer Übernahme bei der Zielgesellschaft bleiben wollen und können. Wünscht die Zielgesellschaft Mitarbeiter zu halten, muss sie u.U. an Halteprämien denken. Gesellschaftsvermögen im Sonderbetriebsvermögen von Gesellschaftern, praktisch insbesondere für Grundstücke und gewerbliche Schutzrechte, muss gesondert auf den Erwerber übertragen oder (zum Closing) in die Zielgesellschaft eingebracht werden. Insoweit ist die Rechtslage nicht anders als beim Asset Deal. Entsprechendes gilt für immaterielle Vermögenswerte wie Kunden- und Lieferantenbeziehungen: Sie müssen wie beim Asset Deal faktisch durch entsprechende Einweisung des Erwerbers auf diesen übertragen werden.
9.116
2. Personengesellschaften – Allgemeines Die Gesellschafterstellung besteht aus einem Komplex von Rechten und Pflichten. Sie gehen mit der Veräußerung der Beteiligung auf den Erwerber über. Vor allem bei Personengesellschaften gibt es neben dem Kapitalkonto der Gesellschafter, das im Wesentlichen die Beteiligung am Vermögen, dem Ertrag und an der Willensbildung der Gesellschaft bezeichnet, häufig weitere Gesellschafterkonten. Sie können ganz oder zum Teil eines gesonderten 205 Vgl. BGH v. 13.6.1994 – II ZR 259/92, MDR 1995, 55 = DB 1994, 1669; BGH v. 11.7.1968 – II ZR 179/66, BGHZ 50, 316 = NJW 1968, 2003. 206 § 24 Abs. 2 HGB; Einwilligungserfordernis besteht nicht bei GmbH, GmbH & Co. KG sowie bei AG und KGaA, s. Rz. 7.139.
Weber 849
9.117
Kap. 9 Rz. 9.118
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
Rechtsüberganges oder -verbleibes fähig sein (z.B. Rücklagekonten; Darlehenskonten; Auszahlungskonten). Die Terminologie ist insoweit nicht einheitlich. Insbesondere können die Ausdrücke „Privatkonto“ oder „Darlehenskonto“ ganz unterschiedliche Rechtsverhältnisse bezeichnen.207 Praktisch bedeutsam ist vor allem, ob solche Konten als Eigenkapitalkonten oder als Fremdkapitalkonten zu bezeichnen und ob sie im letzteren Fall als Darlehen im Rechtssinne aufzufassen sind und damit grundsätzlich einen Zahlungsanspruch des Gesellschafters widerspiegeln. Entscheidend ist der wirkliche Wille der Gesellschafter, doch sind im Zweifel die von den Gesellschaftern gewählten Bezeichnungen auch für die rechtliche Qualifikation maßgeblich. Mangels abweichender Vereinbarung gilt die aus dem Rechenwerk der Gesellschaft ersichtliche Rechts- und Pflichtenstellung als mit der Beteiligung verkauft und übertragen, und zwar in dem Umfange, den sie bei der Abtretung hat.208 Eine vertragliche Aufzählung der Konten unter Übernahme der in der Bilanz verwandten Bezeichnungen und gegebenenfalls unter Klarstellung ihrer rechtlichen Qualifizierung und Fixierung der Kontenstände ist empfehlenswert. In diesem Rahmen ist auch zu bedenken, ob der Verkäufer etwaige Überentnahmen, die er in der Vergangenheit getätigt hat, an die Gesellschaft zurückerstatten soll. Von Gesetzes wegen ist er dazu verpflichtet209 und hat mangels vertraglicher Abrede keinen Erstattungsanspruch gegen den Käufer.
9.118 Gutgläubiger Erwerb von Anteilen an Personengesellschaften ist nicht möglich. § 15 HGB führt nicht dazu, dass der Inhaber eine von einem Nichtberechtigten vorgenommene Verfügung über den Gesellschaftsanteil gegen sich gelten lassen muss. Die Eintragung kann von Anfang an unrichtig gewesen sein. Sie kann auch nachträglich unrichtig geworden sein. Zum begrenzten Gutglaubensschutz bei der GmbH s. nachstehend Rz. 9.133 ff. 3. Kommanditanteile a) Form
9.119 Verkauf und Übertragung von Kommanditanteilen bedürfen keiner besonderen Form. Die Eintragung im Handelsregister (§ 107 HGB) hat keine konstitutive Wirkung. Ist die Kommanditgesellschaft als GmbH & Co. KG organisiert, so wird in der Regel zusammen mit dem Kommanditanteil auch ein Geschäftsanteil an der geschäftsführenden persönlich haftenden GmbH verkauft und übertragen.210 Für den Verkauf von Geschäftsanteilen ist öffentliche Beurkundung erforderlich (§ 15 Abs. 4 GmbHG, s. dazu näher Rz. 9.124 ff.). Der insoweit geltende Formzwang schlägt auch auf den Kommanditanteil durch, so dass der Verkauf des Kommanditanteils und des Geschäftsanteils an der Komplementär-GmbH insgesamt öf-
207 Vgl. Sassenrath in Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, 68. Aufl. 2017 (Loseblatt), § 26 Kapitalanteil und Gesellschafterkonten; grundlegend Huber, ZGR 1988, 1; ein Guthaben auf einem als „Darlehenskonto“ bezeichneten Konto bekundet im Zweifel eine Forderung des Gesellschafters gegenüber der Gesellschaft; BGH v. 23.2.1978 – II ZR 145/76, BB 1978, 630; s. auch BFH v. 26.6.2007 – IV R 29/06, BFHE 218, 291 = GmbHR 2008, 162 = DB 2008, 27. 208 BGH v. 2.11.1987 – II ZR 50/87, MDR 1988, 382 = DB 1988, 281 mit Anm. Reimer, EWiR 1988, 173. 209 BGH v. 9.5.1974 – II ZR 84/72, BB 1974, 996; anders in sonstigen Fällen negativer Kapitalkonten, BGH v. 3.5.1999 – II ZR 32/98, MDR 1999, 1076 = NJW 1999, 2438; Baumbach/Hopt, § 120 HGB Rz. 22. 210 Kraft/Ulrich, DB 2006, 711 zu Gestaltungsmöglichkeiten beim Erwerb einer GmbH & Co. KG.
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.122 Kap. 9
fentlicher Beurkundung bedarf.211 Die wirksame, insbesondere formwirksame Abtretung des Geschäftsanteils heilt indessen auch die formunwirksamen Verpflichtungsgeschäfte (z.B. den Verkauf des Kommanditanteils und sonstiger Nebengeschäfte) gem. § 15 Abs. 4 Satz 2 GmbHG. Im Falle einer aufschiebend bedingten Abtretung des Geschäftsanteils tritt die Heilungswirkung aber nur ein, wenn die Willensübereinstimmung der Parteien bezüglich des schuldrechtlichen Geschäfts (hier Verkauf auch des Kommanditanteils) noch im Zeitpunkt der Abtretung (nicht zwingend noch im Zeitpunkt des Bedingungseintritts) besteht.212 Die Heilung wirkt nicht auf den Zeitpunkt zurück, in dem der formunwirksame Kaufvertrag abgeschlossen wurde. Vielmehr wird der Kaufvertrag erst mit der Abtretung wirksam.213 Nur die Abtretung des Geschäftsanteils an der GmbH bedarf der Form des § 15 Abs. 3 9.120 GmbHG, nicht aber damit in Zusammenhang stehende sonstige Geschäfte, insbesondere nicht die Abtretung des Kommanditanteils.214 Der Kommanditanteil kann also auch im Falle der gleichzeitigen Abtretung des korrespondierenden Geschäftsanteils an der KomplementärGmbH ohne Beachtung der notariellen Form wirksam abgetreten werden.215 b) Erwerb durch Gesellschaft bürgerlichen Rechts; Zustimmung der anderen Gesellschafter Unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung hat der BGH im Jahre 2001 entschieden, dass eine BGB-Gesellschaft (Außengesellschaft) Kommanditistin einer Kommanditgesellschaft sein könne. Die der BGB-Gesellschaft zum Zeitpunkt ihres Beitritts zu der KG angehörenden Gesellschafter sowie alle späteren Wechsel sind zum Handelsregister anzumelden.216 Dass die BGB-Gesellschaft eine Gesamthandsgemeinschaft ist, steht dem Erwerb einer Kommanditbeteiligung nach jetzigem Verständnis der BGB-Gesellschaft217 nicht mehr entgegen.
9.121
Die Abtretung von Gesellschaftsanteilen an Personengesellschaften ist nur kraft genereller oder im Einzelfall erteilter Zustimmung der anderen Gesellschafter möglich (§ 719 BGB; §§ 105, 161 HGB). Solange die Zustimmung nicht erteilt ist, ist die Abtretung schwebend, im Falle der Verweigerung endgültig unwirksam.218
9.122
211 Vgl. Gummert in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 2, 4. Aufl. 2014, § 50 Rz. 56; Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG im Gesellschafts- und Steuerrecht; Handbuch für Familienunternehmen, 11. Aufl. 2010, § 6 Rz. 9 ff.; Binz/Mayer, NJW 2002, 3054; Witt, ZIP 2000, 1033; kritisch Heidenhain, NJW 1999, 3073 und ZIP 2001, 2113. 212 BGH v. 21.9.1994 – VIII ZR 257/93, BGHZ 127, 129 = GmbHR 1994, 869 = MDR 1995, 678 = NJW 1994, 3227 (3228), dort auch zum Verzicht auf Bedingung durch Begünstigten; Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 15 GmbHG Rz. 36. 213 BGH v. 25.3.1998 – VIII ZR 185/96 (II 2b aa), BGHZ 138, 195 = GmbHR 1998, 635 mit Anm. Goette, DStR 1998, 1028. 214 Winter/Löbbe in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Aufl. 2013, § 15 GmbHG Rz. 132; Gummert in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 2, 4. Aufl. 2014, § 50 Rz. 56 f. 215 Kritisch Heckschen/Heidinger, Die GmbH in der Gestaltungs- und Beratungspraxis, 3. Aufl. 2013, § 13 Rz. 34 ff. 216 BGH v. 16.7.2001 – II ZB 23/00, BGHZ 148, 291 = MDR 2001, 1248 = NJW 2001, 3121. 217 BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341 = NJW 2001, 1056; bestätigt durch BGH v. 18.2.2002 – II ZR 331/00, NJW 2002, 1207. 218 BGH v. 28.4.1954 – II ZR 8/53, BGHZ 13, 179; falls andere Gesellschafter zur Erteilung der Zustimmung verpflichtet sind, wird Übertragung nach rechtskräftiger Verurteilung des verpflichte-
Weber 851
Kap. 9 Rz. 9.123
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
c) Minderheitenrechte
9.123 Beim Erwerb einer Mehrheitsbeteiligung an einer Kommanditgesellschaft ist zu beachten, dass mangels abweichender gesellschaftsvertraglicher Regelungen auch Kommanditisten mit Zwergbeteiligungen das Recht haben, Geschäftsführungsmaßnahmen persönlich haftender Gesellschafter zu widersprechen, wenn diese Handlungen über den gewöhnlichen Betrieb des Handelsgewerbes der Gesellschaft hinausgehen (§ 164 HGB). Im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Kommanditanteils ist daher gegebenenfalls auf eine den Belangen des Käufers Rechnung tragende Änderung des Gesellschaftsvertrages hinzuwirken. Gesellschaftsvertragsänderungen durch Mehrheitsbeschluss sind nur kraft besonderer Zulassung im Gesellschaftsvertrag möglich. Auch wenn der Gesellschaftsvertrag generell erlaubt, vertragsändernde Beschlüsse mehrheitlich zu fassen, gilt dies noch nicht ohne weiteres für grundlegende Änderungen. Schranken liegen insbesondere darin, dass sich die mehrheitlicher Bestimmung unterliegenden Beschlussgegenstände unzweideutig – wenn auch nicht im Sinne einer minutiösen Auflistung – aus dem Gesellschaftsvertrag ergeben müssen. Außerdem können Beschlüsse in bestimmten Kernbereichen der Gesellschafterrechte ungeachtet entgegenstehender Regelung im Gesellschaftsvertrag nur mit Zustimmung des betroffenen Gesellschafters gefasst werden. Im Übrigen darf die Mehrheitsmacht generell nur in den Grenzen gesellschafterlicher Treuepflicht ausgeübt werden.219 4. GmbH-Anteile a) Form des Kaufvertrages und der Abtretung
9.124 Verträge über den Verkauf von Geschäftsanteilen220 bedürfen notarieller Beurkundung (§ 15 Abs. 4 GmbHG). Gemäß § 128 BGB können die Erklärungen der Parteien in getrennten Urkunden protokolliert werden. Der Formvorschrift wird auch Genüge getan, wenn die Erklärungen der Parteien in einen gerichtlichen Vergleich aufgenommen werden, der nach den Vorschriften der ZPO protokolliert wird (§ 127a BGB). Wird der Vergleich im Rahmen eines Schiedsverfahrens abgeschlossen, so ist das Formerfordernis erfüllt, wenn der Vergleich in einem Schiedsspruch mit vereinbartem Wortlaut enthalten ist (§ 1053 Abs. 3 ZPO). Das Formerfordernis gilt nicht für den Verkauf von Gesellschaftsanteilen an einer GbR, selbst wenn deren Gesellschaftsvermögen im Wesentlichen nur aus einem GmbH-Anteil besteht. Anders ist es allerdings, wenn die Errichtung der GbR gerade dazu dienen sollte, die Formvorschrift des § 15 Abs. 4 GmbHG zu umgehen.221 ten Gesellschafters trotz vorhergehender Verweigerung wirksam, OLG Bremen v. 7.6.2007 – 2 U 78/06, DStR 2007, 1267. 219 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht Unternehmensrecht II, 4. Aufl. 2002, § 16 III. 3; BGH v. 24.11.2008 – II ZR 116/08, BGHZ 179, 13 = GmbHR 2009, 306 m. Anm. Gottschalk = AG 2009, 163 = NJW 2009, 669 (Mehrheitsentscheidung in Stimmbindungsvertrag); BGH v. 29.3.1996 – II ZR 263/94, BGHZ 132, 362 = NJW 1996, 1678 (Bilanzfeststellung); Goette, DStR 2009, 2602; K. Schmidt, ZIP 2009, 737; allgemein zum Minderheitenschutz bei Personengesellschaften Bohlken/Sprenger, DB 2010, 263; weitere Nachweise bei Roth in Baumbach/Hopt, § 119 HGB Rz. 36 ff. 220 Zu GmbH-Anteilen umfassend neben der Kommentarliteratur Rodewald in Kallmeyer u.a., GmbH-Handbuch, 161. Aufl. 2017 (Loseblatt), Teil I, 6. Abschnitt „Der Geschäftsanteil“, passim. 221 BGH v. 10.3.2008 – II ZR 312/06, MDR 2008, 810 = GmbHR 2008, 589 unter Bezugnahme auf die Senatsrechtsprechung zur Übertragung von Gesellschaftsanteilen an GbR mit Grundbesitz (s. Rz. 7.85).
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.127 Kap. 9
Notarieller Form bedürfen auch schuldrechtliche Nebengeschäfte, wenn sie in engem Zusammenhang mit dem Kaufvertrag stehen.222 Das gilt z.B. für Lizenzverträge, Beratungsverträge, Vertriebsverträge oder Serviceverträge, die im Zusammenhang mit der Transaktion abgeschlossen werden.223 Das Problem stellt sich insbesondere im Zusammenhang mit sog. „Side Letters“ (vgl. hierzu auch Rz. 9.95).
9.125
Das Formerfordernis des § 15 Abs. 4 GmbHG erfasst ferner die Einräumung eines Vorkaufs- oder sonstigen Vorerwerbsrechtes („Option“), s. Rz. 9.42, sowie die Vereinbarung eines Rückkaufsrechtes zugunsten des Verkäufers. Letzteres findet sich z.B. in Sanierungsfällen oder wenn Geschäftsführern für die Dauer ihrer Organstellung Geschäftsanteile auf Zeit überlassen werden sollen.224
9.126
Gemäß § 15 Abs. 3 GmbHG muss auch die Abtretung des verkauften Geschäftsanteils nota- 9.127 riell beurkundet werden, und zwar einschließlich solcher Nebenabreden, die sich auf die Abtretung selbst beziehen, z.B. Bedingungen, nicht aber auch sonstiger, lediglich schuldrechtlicher Nebenabreden.225 Die formgültige Abtretung heilt Formmängel des schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäftes (§ 15 Abs. 4 Satz 2 GmbHG). Da die kaufvertraglichen Abreden und die Abtretung häufig in einer einzigen Urkunde beurkundet werden, werden auch die Formmängel beurkundungsbedürftiger, aber nicht beurkundeter Nebengeschäfte in vielen Fällen sofort geheilt.226 Schwierigkeiten ergeben sich, wenn die Abtretung unter einer aufschiebenden Bedingung erfolgt, z.B. unter der Bedingung vollständiger Kaufpreiszahlung oder einer Freigabe im kartellrechtlichen Zusammenschlussverfahren. Die Heilung erfolgt ex nunc mit dem Eintritt der Bedingung. Dem Eintritt der Bedingung steht der Verzicht auf die Bedingung durch den Begünstigten gleich.227 Die Heilung setzt aber voraus, dass beide Parteien bei Eintritt der Bedingung übereinstimmend am Kaufvertrag festhalten.228 Bis zu diesem Zeitpunkt kann somit jede Partei die Heilung des Kaufvertrages vereiteln. Besteht die Willensübereinstimmung nicht mehr, fehlt der Abtretung der Rechtsgrund. Sie ist nach den Regeln über die ungerechtfertigte Bereicherung rückgängig zu machen. Die Frage, in welchem Umfange Nebengeschäfte formbedürftig nach § 15 Abs. 4 GmbHG sind, hat nach all dem geringere praktische Bedeutung als die entsprechende Frage beim Grundstückskauf, wo die Heilung durch Auflassung und Eintragung oft erst in erheblichem zeitlichem Abstand zum Verpflichtungsgeschäft eintritt und demgemäß viel häufiger Anlass bestehen mag, in der Zwischenzeit die Formnichtigkeit des Verpflichtungsgeschäftes geltend zu machen.
222 Sog. „Vollständigkeitsgrundsatz“, vgl. BGH v. 27.6.2001 – VIII ZR 329/99, MDR 2001, 1177 = GmbHR 2001, 815 = NJW 2002, 142 (143); BGH v. 14.4.1986 – II ZR 155/85, GmbHR 1986, 258 = MDR 1986, 1001 = DB 1986, 1513; BGH v. 27.6.2001 – VIII ZR 329/99 (II 1), GmbHR 2001, 815; und die h.L., vgl. Bayer in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 15 GmbHG Rz. 57; sehr kritisch Heidenhain, NJW 1999, 3073 und ZIP 2001, 2113. 223 Zur Behandlung von Finanzierungszusagen Herrmann, GmbHR 2009, 625. 224 BGH v. 19.9.2005 – II ZR 173/04, BGHZ 164, 98 = MDR 2006, 99 = GmbHR 2005, 1558; Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 15 GmbHG Rz. 65; Peltzer, ZGR 2006, 702. 225 OLG Frankfurt v. 21.2.2012 – 11 U 97/11, Rz. 25 ff., GmbHR 2012, 513 betreffend die Nichtverlesung eines Sanierungsplanes, der die Abtretungsurkunde als Anlage hätte beigefügt werden müssen, mit Anm. Schwerdtfeger in BB 2012, 1186. 226 BGH v. 29.1.1992 – VIII ZR 95/91, GmbHR 1993, 106. 227 BGH v. 25.3.1998 – VIII ZR 185/96 (Ls. 1), BGHZ 138, 195 = GmbHR 1998, 635. 228 BGH v. 21.9.1994 – VIII ZR 257/93 (II 2), BGHZ 127, 129 = GmbHR 1994, 869 = MDR 1995, 678 = NJW 1994, 3227 mit Anm. Tiedtke, DNotZ 1999, 429.
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Kap. 9 Rz. 9.128
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
9.128 Bei der Vertragsgestaltung sollte bedacht werden, dass Anlagen bei der Protokollierung mit verlesen werden müssen, wenn sie nicht nur zu Identifikationszwecken beigefügt sind. Wollen die Parteien im Kauf- und Übertragungsvertrag auf umfangreiche andere Schriftstücke, z.B. Verträge, Bezug nehmen, ist es häufig zweckmäßig, sie nicht zu Anlagen des Vertrages zu machen, sondern sie lediglich zur Identifizierung in einer der Urkunde beizufügenden Liste aufzuführen. Bei der Beurkundung kann sogar auf die Verlesung der Liste verzichtet werden, wenn die Beteiligten damit einverstanden sind (§ 14 BeurkG).229 Häufig behilft man sich mit der Auslagerung der Vertragsanlagen in Bezugsurkunden (§ 13 BeurkG), die zeitlich vor Beurkundung des Hauptvertrages vom Notar einem Notarangestellten verlesen werden. Dies setzt die rechtzeitige Fertigstellung und Übermittlung der in größeren Transaktionen häufig sehr umfangreichen Anlagen an den Notar voraus, was in organisatorischer Sicht mitunter eine Herausforderung darstellt. b) Abtretungsbeschränkungen
9.129 Von Gesetzes wegen sind Geschäftsanteile frei veräußerlich, jedoch kann ihre Abtretbarkeit durch den Gesellschaftsvertrag beschränkt werden (§ 15 Abs. 5 GmbHG). So kann die Abtretbarkeit eines Geschäftsanteils von der Zustimmung jedes einzelnen der übrigen Gesellschafter, der Mehrheit der Gesellschafter oder der Gesellschaft selbst abhängig gemacht werden. Es kann auch die Zustimmung durch ein anderes Organ, z.B. den Aufsichtsrat vorgesehen sein.230 Der abtretungswillige Gesellschafter kann bei der Beschlussfassung der Gesellschafter mitwirken.231 Es gibt kein allgemeines Stimmverbot wegen eigener Betroffenheit.232 Ist die Zustimmung der Gesellschaft erforderlich, so ist es Sache des Geschäftsführers, die Zustimmung zu erklären. Ob er dazu im Innenverhältnis eines Gesellschafterbeschlusses bedarf, hängt von der Ausgestaltung seiner Befugnisse in der jeweiligen Gesellschaft ab. Die vom Geschäftsführer unter Überschreitung seiner Befugnisse erteilte Zustimmung ist im Außenverhältnis nicht zwingend unwirksam.233 Der Erwerber wird sich tunlichst nachweisen lassen, dass das im Innenverhältnis zuständige Organ die Zustimmung erteilt hat. c) Änderung der Gesellschafterliste
9.130 Der durch die Abtretung eintretende Gesellschafterwechsel braucht in Abweichung vom früheren Recht seit dem 1.11.2008234 nicht mehr bei der Gesellschaft angemeldet zu werden. Vielmehr muss der Notar, der die Abtretung beurkundet hat, gem. § 40 Abs. 2 GmbHG eine neue Gesellschafterliste erstellen, sie zum Handelsregister einreichen und eine Abschrift der geänderten Liste an die Gesellschaft übermitteln. Eine einmal vergebene Nummerierung der Geschäftsanteile kann geändert werden, wenn jeder abgetretene Geschäftsanteil durch die Angabe der bisherigen Nummerierung zweifelsfrei zu identifizieren bleibt.235 Die Änderung der Gesellschafterliste ist zwar nicht Voraussetzung für die Wirksamkeit der Abtretung, doch gilt der Erwerber im Verhältnis zur Gesellschaft nur dann als Gesellschafter, wenn er in die 229 230 231 232
Vgl. Winkler, 18. Aufl. 2017, § 14 BeurkG Rz. 8 ff. m.w.N. Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 15 GmbHG Rz. 38 m.w.N. Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 15 GmbHG Rz. 43. Zu den Besonderheiten, wenn die Zustimmung durch den Aufsichtsrat der GmbH zu erteilen ist, s. Falkner, GmbHR 2008, 458. 233 Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 15 GmbHG Rz. 42 m.w.N.; BGH v. 9.6.1954 – II ZR 70/53, BGHZ 14, 25 (für Teilungsgenehmigung). 234 MoMiG v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. 235 BGH v. 1.3.2011 – II ZB 6/10 (Ls. 2), MDR 2011, 550 = GmbHR 2011, 474.
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.134 Kap. 9
in das Handelsregister aufgenommene Gesellschafterliste eingetragen ist (§ 16 Abs. 1 GmbHG). Ist die Abtretung unter einer aufschiebenden Bedingung erfolgt, muss sich der Notar den 9.131 Eintritt der Bedingung nachweisen lassen. Der Notar darf in diesem Fall die geänderte Gesellschafterliste erst nach Eintritt der Bedingung zum Handelsregister einreichen.236 Falls die Abtretung der Zustimmung Dritter bedarf, muss sich der Notar vergewissern, dass die Zustimmung erteilt ist.237 In diesem Zusammenhang ist auf § 40 GmbHG n.F.238 hinzuweisen, wonach in der Gesellschafterliste insbesondere die durch den jeweiligen Nennbetrag eines Geschäftsanteils vermittelte jeweilige prozentuale Beteiligung am Stammkapital und, falls ein Gesellschafter mehr als einen Geschäftsanteil hält, der Gesamtumfang der Beteiligung am Stammkapital als Prozentsatz gesondert anzugeben sind. Diese neuen Anforderungen gelten für Eintragungen bzw. Veränderungen seit dem 26.6.2017.239
9.132
Ergibt sich aus der eingereichten Gesellschafterliste der wirtschaftlich Berechtigte i.S.v. § 3 GwG240, entfällt die Pflicht zur Datenübermittlung an das Transparenzregister aufgrund der Mitteilungsfiktion nach § 20 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 GwG (s.a. Rz. 9.169). Ob für das Eingreifen dieser Mitteilungsfiktion eine Gesellschafterliste nach § 40 GmbHG a.F. genügt, ist zweifelhaft.241 d) Schutz des guten Glaubens Bis zum Inkrafttreten des MoMiG gewährte das Gesetz dem Abtretungsempfänger keinen Schutz seines guten Glaubens242 an die Rechtsinhaberschaft des Abtretenden. Der Erwerber musste sich also zu vergewissern suchen, dass der Veräußerer tatsächlich Inhaber des abgetretenen Geschäftsanteils war. Um sicher zu gehen war es erforderlich, die Inhaberschaft bis zur Entstehung des Geschäftsanteils bei der Gründung der Gesellschaft oder einer Kapitalerhöhung zurück zu verfolgen. Selbst wenn die Inhaberkette vermeintlich festgestellt war, konnten unerkannte zwischenzeitliche Abtretungen oder Rechtsübergänge, z.B. in Erbfällen, den Erwerb ebenso scheitern lassen wie unerkannte Mängel der Zwischenerwerbe.
9.133
Diesen Unzuträglichkeiten hilft § 16 Abs. 3 GmbHG in der seit dem 1.11.2008 geltenden Fassung in gewissem Umfange ab: Danach kann ein Erwerb vom Nichtberechtigten erfolgen, wenn dieser als Inhaber des abgetretenen Geschäftsanteils in der im Handelsregister
9.134
236 BGH v. 20.9.2011 – II ZB 17/10, Rz. 11 ff., BGHZ 191, 84 = MDR 2012, 169 = GmbHR 2011, 1269. 237 Noack in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 40 GmbHG Rz. 59 f. 238 Geändert durch Art. 14 des Gesetzes zur Umsetzung der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie, zur Ausführung der EU-Geldtransferverordnung und zur Neuorganisation der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen v. 23.6.2017, BGBl. I 2017, 1822 (1864); in Kraft seit 26.6.2017. 239 § 8 EGGmbHG. 240 Außerkraftreten des GwG v. 13.8.2008 am 26.6.2017, gleichzeitig mit Inkrafttreten des GwG v. 23.6.2017 bzw. von Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie, zur Ausführung der EU-Geldtransferverordnung und zur Neuorganisation der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen v. 23.6.2017, BGBl. I 2017, 1822. 241 Bejahend: Longrée/Pesch, NZG 2017, 1081 (1085). 242 Zu den Grundlagen Seibt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2012, § 16 Rz. 27 ff.; Omlor, Verkehrsschutz im Kapitalgesellschaftsrecht (Diss.), 2009.
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Kap. 9 Rz. 9.135
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
aufgenommenen Gesellschafterliste eingetragen ist. Dies gilt jedoch nicht, wenn (1) die unrichtige Eintragung seit weniger als drei Jahren besteht und (2) die Unrichtigkeit dem wirklichen Inhaber des Geschäftsanteils nicht zuzurechnen ist.243
9.135 Ferner ist der Erwerb ausgeschlossen, wenn (3) der Erwerber nicht gutgläubig ist, also die Unrichtigkeit der Gesellschafterliste kennt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kennt. Nachforschungen braucht der Erwerber allerdings nicht anzustellen, falls nicht konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Veräußerer nicht Inhaber des Geschäftsanteils ist.244 § 16 Abs. 3 GmbHG soll den Erwerber von GmbH-Anteilen von der Notwendigkeit teurer Nachforschungen zur Rechtsinhaberschaft entlasten245 und ihm zu diesem Punkt eine aufwendige Due Diligence ersparen. Maßgebender Zeitpunkt für die Gut- oder Bösgläubigkeit des Erwerbers ist grundsätzlich das Wirksamwerden der Abtretung. Erfolgt die Abtretung unter einer aufschiebenden Bedingung, kommt es wie beim gutgläubigen Erwerb beweglicher Sachen auf den Erwerbsakt an, nicht auf den Eintritt der Bedingung.246 Die Beweislast für die Bösgläubigkeit liegt beim wahren Rechtsinhaber. Des Weiteren ist gutgläubiger Erwerb nicht möglich, wenn (4) dem Eintrag des Veräußerers ein Widerspruch zugeordnet ist. Ist die Gesellschafterliste seit mindestens drei Jahren unrichtig, kommt es gem. § 16 Abs. 3 GmbHG nicht darauf an, ob die Unrichtigkeit dem Berechtigten zuzurechnen ist oder nicht. Bösgläubigkeit des Erwerbers oder ein Widerspruch schließen aber auch nach Ablauf der dreijährigen Frist den Erwerb vom Nichtberechtigten aus.
9.136 § 16 Abs. 3 GmbHG hat nicht die Aufgabe, denjenigen zu schützen, der einen Geschäftsanteil unter einer aufschiebenden Bedingung erwirbt („Ersterwerber“). Er bedarf keines Schutzes: Wenn der Veräußerer den Geschäftsanteil während der Schwebezeit an einen anderen veräußert („Zweiterwerber“), ist die zwischenzeitliche Veräußerung bei Eintritt der Bedingung nach den allgemeinen Regeln insoweit unwirksam, als sie die Rechtsstellung des Ersterwerbers beeinträchtigen würde (§ 161 BGB). Umgekehrt hilft § 16 Abs. 3 GmbHG dem Zweiterwerber nichts, wenn die aufschiebende Bedingung zugunsten des Ersterwerbers eintritt.247
9.137 Somit verbessert § 16 Abs. 3 GmbHG zwar den Verkehrsschutz beim Erwerb von Geschäftsanteilen erheblich. Umfassend ist der Schutz aber nicht. Keinen Schutz genießt der gute Glaube daran, dass der Veräußerer nicht bereits eine aufschiebend bedingte Verfügung über 243 Zur Frage, wann die Unrichtigkeit dem Rechtsinhaber zuzurechnen ist, s. Fastrich in Baumbach/ Hueck, 21. Aufl. 2017, § 16 GmbHG Rz. 33 ff. mit Nachweisen zum Streitstand. 244 Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 16 GmbHG Rz. 38; Roth/Altmeppen, 8. Aufl. 2015, § 16 GmbHG Rz. 79; Seibt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2012, § 16 GmbHG Rz. 86 (im Regelfall keine Obliegenheit zu einer Due Diligence-Prüfung); strenger aber z.B. Rodewald, GmbHR 2009, 196 (198), der weitere Prüfungsanforderungen stellt. 245 Vgl. Begr. RegE in BT-Drucks. 16/6140, 3. 246 Str., vgl. Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 16 GmbHG Rz. 38; ebenso Roth/Altmeppen, 8. Aufl. 2015, § 16 GmbHG Rz. 80; Seibt in Scholz, 11. Aufl. 2012, § 16 GmbHG Rz. 87: Bei Bedingungen, deren Eintritt nicht allein vom Willen der Beteiligten abhängt (z.B. fusionskontrollrechtliche Freigabe; Aufhebung einer Vinkulierung, sog. „heteronome Rechtsbedingungen“); ferner, wenn Eintritt der Bedingung nur vom Willen des Berechtigten abhängt, ist guter Glaube außerdem bei Bedingungseintritt erforderlich; ebenso Bayer in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 16 GmbHG Rz. 89; zu § 932 BGB s. BGH v. 21.5.1953 – IV ZR 192/52, BGHZ 10, 69. 247 BGH v. 20.9.2011 – II ZB 17/10, Rz. 14 ff., BGHZ 191, 84 = MDR 2012, 169 = GmbHR 201, 1269 mit umfassenden Nachweisen zum Meinungsstand.
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.141 Kap. 9
den Geschäftsanteil getroffen hat oder dass der Verkäufer nach Abschluss des Kaufvertrages, aber vor der Abtretung des Geschäftsanteils diesen an einen Dritten abtritt. Ungeschützt bleibt auch der gute Glaube an die Lastenfreiheit des abgetretenen Geschäftsanteils (Freiheit von Pfandrechten; Nießbrauch) sowie an die Existenz des Geschäftsanteils.248 Insoweit muss sich der Erwerber unverändert durch eigene Nachforschungen abzusichern suchen. e) Auslandsberührung Die Parteien können die schuldrechtlichen Regeln eines Kauf- und Übertragungsvertrages über Geschäftsanteile an einer deutschen GmbH einem beliebigen ausländischen Recht249 unterstellen (Art. 1 Nr. 1 lit. b EGBGB i.V.m. Art. 3 der Rom I-VO250). In Ermangelung einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Rechtswahl unterliegt der Kaufvertrag dem Recht des Staates, in dem der Verkäufer seinen gewöhnlichen Wohnsitz hat (Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO).
9.138
Die Übertragung von Geschäftsanteilen richtet sich hingegen zwingend nach dem Gesellschaftsstatut, bei einer in Deutschland gegründeten GmbH, die ihren Verwaltungssitz in Deutschland hat, nach deutschem Recht.251 Die schuldrechtlichen Vereinbarungen zur Veräußerung eines Geschäftsanteils und der dingliche Vollzug (Abtretung) können also unterschiedlichen Rechtsordnungen unterworfen werden. Das wird allerdings nur in seltenen Fällen zweckmäßig sein. In der Regel wird es sich empfehlen, auch die schuldrechtlichen Vereinbarungen deutschem Recht zu unterstellen.
9.139
Von erheblicher praktischer Bedeutung ist die Frage, ob Verträge über den Verkauf und die Übertragung von Geschäftsanteilen an einer deutschen GmbH, die deutschem Recht unterliegen, auch im Ausland formgültig abgeschlossen werden können. Daran besteht auch aus Kostengründen praktisches Interesse. Zwar beträgt der Geschäftswert für die Beurkundung solcher Verträge nur noch höchstens 60 Millionen Euro (§ 35 Abs. 2 GNotKG). Aber auch unter Berücksichtigung dieser Deckelung liegen die Beurkundungskosten im Ausland zum Teil unter den in Deutschland anfallenden Kosten.
9.140
Nach Art. 11 Abs. 1 Alt. 1 EGBGB ist ein Rechtsgeschäft formgültig, wenn die Formvorschriften derjenigen Rechtsordnung eingehalten werden, die auf das betreffende Rechtsgeschäft anzuwenden ist („Wirkungsstatut“). Soweit ein Geschäftsanteilkauf- und Übertragungsvertrag deutschem Recht unterliegt, ist er also formgültig, wenn er notariell beurkundet wird. Damit ist allerdings noch nicht entschieden, ob die Beurkundung nur durch einen deutschen Notar erfolgen kann. Grundsätzlich erfüllt eine Auslandsbeurkundung die nach deutschem Recht
9.141
248 BGH v. 20.9.2011 – II ZB 17/10, Rz. 14 ff., BGHZ 191, 84 = MDR 2012, 169 = GmbHR 201, 1269; Begr. RegE in BT-Drucks. 16/6140, 39 zu Nr. 15. 249 Zur Auslandsberührung grundlegend Göthe in Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, S. 1354 ff.; Weller in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 2, 4. Aufl. 2014, § 8; Ulrich/Böhle, GmbHR 2007, 566; Fetsch, RNotZ 2007, 532. 250 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. Nr. L 177 v. 4.7.2008, S. 6, ber. ABl. (EU) Nr. L 309 v. 24.11.2009, S. 87. 251 OLG Stuttgart v. 17.5.2000 – 20 U 68/99 (Ls.), GmbHR 2000, 721 m. Anm. Emde = DB 2000, 1218; OLG Karlsruhe v. 18.11.1983 – 15 U 110/81, IPRspr. 1983, Nr. 20 (Ls.) (französische Aktiengesellschaft); Bayer in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 15 GmbHG Rz. 27; die Besonderheiten, die sich für eine in Deutschland gegründete GmbH ergeben, die ihren Sitz ins Ausland verlegt hat, können hier nicht näher behandelt werden, s. dazu näher Göthel in Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, Rz. 6.2504 ff.
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Kap. 9 Rz. 9.142
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
vorgeschriebene notarielle Beurkundung, wenn der ausländische Beurkundungsakt einer deutschen Beurkundung gleichwertig ist. Das setzt insbesondere voraus, dass die ausländische Urkundsperson einem deutschen Notar nach Funktion und Stellung entspricht.252 Im Zusammenhang mit der Beurkundung von Geschäftsanteilskauf- und Übertragungsverträgen hatte sich bis zum Inkrafttreten des MoMiG (1.11.2008) nach kontroverser Diskussion die Auffassung durchgesetzt, dass jedenfalls Beurkundungsakte von Notaren in Zürich Altstadt,253 Basel-Stadt254 und Zug255 deutschen notariellen Beurkundungen gleichwertig seien. Das Gleiche wurde für österreichische Notare entschieden256 und für spanische257 sowie französische und weitere Notare des sog. „lateinischen Notariats“258 vertreten. Verneint wurde und wird die Gleichwertigkeit namentlich für den US-amerikanischen notary public.259
9.142 An dieser Auffassung ist auch weiterhin festzuhalten.260 § 40 Abs. 2 GmbHG ändert daran nichts. Zwar trifft den Notar, der eine Geschäftsanteilsübertragung beurkundet hat, nunmehr die Verpflichtung, die neue Gesellschafterliste beim Handelsregister einzureichen. Diese Einreichungspflicht trifft nur deutsche Notare, da der deutsche Gesetzgeber nur deutschen Notaren Verpflichtungen auferlegen kann. Daraus folgt aber nicht, dass ein ausländischer Notar nicht berechtigt wäre, die Gesellschafterliste einzureichen. Sollte er dies nicht tun, bleibt es bei der Verpflichtung der Geschäftsführer gem. § 40 Abs. 1 GmbHG. Dies gilt auch, soweit der ausländische Notar etwa aus technischen Gründen nicht in der Lage sein sollte, am elektronischen Rechtsverkehr mit dem Handelsregister teilzunehmen. Weder der Wortlaut des Gesetzes noch die Materialien legen es nahe, dass mit § 40 Abs. 2 GmbHG eine Abkehr von der seit langem etablierten Rechtspraxis vorgenommen werden sollte. Für praktische Zwecke dürfte die Streitfrage damit entschieden sein, auch wenn nach wie vor Zweifel geäußert werden.261
9.143 Außerdem ist ein Rechtsgeschäft gem. Art. 11 Abs. 1 Alt. 2 EGBGB formgültig, wenn es die Formerfordernisse des am Ort seiner Vornahme geltenden Rechts erfüllt („Ortsstatut“). Das gilt freilich nur, wenn das Recht dieses Staates ein dem deutschen Recht ähnliches Rechtsinstitut kennt. Diverse ausländische Rechte kennen Gesellschaften, die der deutschen GmbH entsprechen. Es liegt daher nicht fern, für Geschäftsanteilskauf- und Übertragungsverträge bei einer deutschen GmbH, die in solchen Staaten vorgenommen werden, die Einhaltung dieses Ortsrechts genügen zu lassen. Das hat besondere Bedeutung, wenn in diesen Staaten geringere Formerfordernisse als die notarielle Beurkundung gelten oder wenn die Beurkundung durch einen dortigen Notar der Beurkundung durch einen deutschen Notar nicht gleichwertig ist.
252 Allg. Auffasssung, vgl. Palandt/Thorn, Art. 11 EGBGB Rz. 9; Spellenberg in MünchKomm/BGB, Art. 11 EGBGB Rz. 101; Seibt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2012, § 15 GmbHG Rz. 81 ff. 253 BGH v. 16.2.1981 – II ZB 8/80, BGHZ 80, 76 = GmbHR 1981, 238 = MDR 1981, 650 = DB 1981, 983; bestätigt durch BGH v. 22.5.1989 – II ZR 211/88 (II 1), GmbHR 1990, 25 = MDR 1989, 972 = DB 1989, 1718; im vorliegenden Zusammenhang kann dahingestellt bleiben, was für die Beurkundung sonstiger gesellschaftsrechtlicher Vorgänge gilt, vgl. dazu näher Spellenberg in MünchKomm/BGB, Art. 11 EGBGB Rz. 97 ff. 254 OLG München v. 19.11.1997 – 7 U 2511/97, GmbHR 1998, 46 = NJW-RR 1998, 758. 255 LG Stuttgart, IPRspr. 1976, Nr. 5 a. 256 BayObLG v. 18.10.1977 – 3 Z 68/76, GmbHR 1978, 39. 257 Löber, RIW 1989, 94. 258 Ablehnend: Bayer in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 15 GmbHG Rz. 33 f. 259 OLG Stuttgart v. 17.5.2000 – 20 U 68/99, GmbHR 2000, 721. 260 Umfassend und in erschöpfender Erörterung des Meinungsstandes BGH v. 17.12.2013 – II ZB 6/13, Ls. 2 und Rz. 14, BGHZ 199, 270 = MDR 2014, 481 = GmbHR 2014, 248. 261 BeckOK GmbHG/Wilhelmi, GmbHG, § 15 Rz. 96.
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.147 Kap. 9
In der Schweiz genügt für die Abtretung eines Geschäftsanteils an einer schweizerischen 9.144 GmbH die Wahrung der Schriftform (Art. 785 Abs. 1 OR).262 Ebenso reicht z.B. in Frankreich für die Abtretung von Anteilen an einer société à responsabilité limitée (s.a.r.l.) Schriftform aus (Art. L 221.14 Code de Commerce). Auch nach englischem Recht ist für die Abtretung („transfer“) eines Geschäftsanteils an einer Private Company Limited by Shares (Ltd.) lediglich eine modifizierte Schriftform erforderlich263. Allerdings machen diese nur beispielhaft genannten Rechtsordnungen den Übergang von Beteiligungsrechten von weiteren Erfordernissen abhängig (Zustimmung der Gesellschaft; der Mehrheit der übrigen Gesellschafter; der Eintragung im Gesellschafterbuch). Im Hinblick hierauf wird mit beachtlichen Gründen die Auffassung vertreten, dass die Wahrung der Ortsform jedenfalls für die Abtretung eines GmbH-Anteils nach deutschem Recht nicht ausreicht, wenn nach der am Ort des Rechtsgeschäfts geltenden Rechtsordnung für den Übergang von Geschäftsanteilen weitere gesellschaftsrechtliche Erfordernisse erfüllt sein müssen.264 Jedenfalls reicht die Beglaubigung durch einen US-amerikanischen notary public nicht.265 Die Diskussionen zu der Frage, ob und inwieweit die Wahrung der Ortsform für Geschäftsanteilskauf- und Übertragungsverträge ausreicht, ist noch im Fluss.266 Der Praktiker hat sich darauf einzustellen, dass nach derzeitigem Rechtszustand bei einem im Ausland abgeschlossenen Geschäftsanteilskauf- und Übertragungsvertrag unsicher ist, ob die Einhaltung der Ortsform ohne einen Beurkundungsakt, der einer deutschen Beurkundung gleichwertig ist, ausreicht.267
9.145
5. Aktien Kaufverträge über Aktien268 bedürfen keiner besonderen Form. Für die Übertragung gilt: In- 9.146 haberaktien können nach wertpapierrechtlichen Grundsätzen durch Übereignung der Aktienurkunde nach Maßgabe der §§ 929 ff. BGB übertragen werden.269 Ferner ist die Abtretung der durch die Aktien verkörperten Mitgliedschaftsrechte gem. §§ 398, 413 BGB möglich. Gutgläubiger Erwerb kommt freilich nur bei wertpapiermäßiger Übertragung in Betracht. Namensaktien können durch Indossament nach näherer Maßgabe von § 68 Abs. 1 AktG übertragen werden. Zusätzlich ist die Übertragung des Eigentums an der Aktienurkunde erforderlich. Das Indossament kann sowohl als Vollindossament unter Nennung des Zessionars ausgestellt werden als auch als Blanko-Indossament. Gutgläubiger Erwerb ist nach näherer Maßgabe von § 68 Abs. 1 AktG i.V.m. Art. 16 WG möglich. Die Übertragung ist in 262 263 264 265 266
267 268 269
Dazu näher Trendelenburg, GmbHR 2008, 644. Näher Heinz/Hartung, Die englische Limited, 3. Aufl. 2011, § 9 Rz. 91. Vgl. Kindler, DB 2010, 74 m.w.N. OLG Stuttgart v. 17.5.2000 – 20 U 68/99, GmbHR 2000, 721 m. Anm. Emde = DB 2000, 1218 für kalifornischen notary public. Der BGH hat hierüber bis Ende 2014 noch nicht entschieden. BGH v. 17.12.2013 – II ZB 6/13, BGHZ 199, 270 = MDR 2014, 481 = GmbHR 2014, 248 betrifft nur die Frage, ob eine Beurkundung durch einen ausländischen Notar ausreicht, sofern die ausländische Beurkundung einer deutschen gleichwertig ist. Zu den praktischen Konsequenzen auch Roth/Altmeppen, 8. Aufl. 2015, § 15 GmbHG Rz. 91 ff. Im Rahmen der vorliegenden Abhandlung können insoweit nur Hinweise gegeben werden. Weiterführend: Mentz/Fröhling, NZG 2003, 201; Mirow, NZG 2008, 52; Wiesner in MünchHdb/AG, 4. Aufl. 2015, § 14 (Verfügungen über Aktien). Dazu näher Heider in MünchKomm/AktG, 4. Aufl. 2016, § 10 AktG Rz. 39.
Weber 859
9.147
Kap. 9 Rz. 9.148
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
das Aktienregister der Gesellschaft einzutragen. Die Eintragung ist für den Rechtsübergang zwar nicht konstitutiv. Sie hat jedoch die Legitimationswirkung gem. § 67 Abs. 2 AktG im Verhältnis zwischen Aktionär und Gesellschaft. Grundsätzlich sind auch Namensaktien frei übertragbar, doch gibt § 68 Abs. 2 AktG die Möglichkeit, durch die Satzung die Übertragung von Namensaktien an die Zustimmung der Gesellschaft zu binden („Vinkulierung“). Schuldrechtliche Abreden sind hiervon nicht betroffen. 6. Überleitung von Gewinn- und Verlustanteil
9.148 Mit dem Gesellschaftsanteil an einer Personengesellschaft oder der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft hängen entsprechende Gewinnbezugsrechte zusammen. Die Gewinnanteile sind Rechtsfrüchte gem. § 99 Abs. 2 BGB. a) Zeitanteilige Beteiligung
9.149 Treffen die Parteien keine Regelung über den Übergang des Gewinnbezugsrechtes, so gebührt dem Veräußerer der Gewinnanteil entsprechend der Dauer seiner Berechtigung (§ 101 Nr. 2 BGB), regelmäßig also bis zum Zeitpunkt des dinglichen Wirksamwerdens der Veräußerung. Das gilt auch bei Beteiligungen an Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Aktiengesellschaften,270 obwohl der Gewinnanspruch dort erst mit dem Gewinnverteilungsbeschluss der Gesellschafter (§ 46 Nr. 1 GmbHG) bzw. dem Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung (§ 174 Abs. 1 AktG) entsteht. Der Käufer, der im Zeitpunkt des Gewinnverteilungsbeschlusses Inhaber der Beteiligungsrechte ist, erwirbt zwar im Verhältnis zur Gesellschaft den Gewinnauszahlungsanspruch; jedoch hat der Verkäufer mangels anderer vertraglicher Abrede gegen den Käufer einen schuldrechtlichen Anspruch auf den anteiligen Jahresgewinn.271 Die Gewinnbeteiligung ist von Gesetzes wegen eine zeitanteilige (§ 101 Nr. 2 BGB) für das betreffende Geschäftsjahr (sofern der Gewinn ausgeschüttet wird).272 Es kommt also nicht auf das bis zum Übergangsstichtag erwirtschaftete Ergebnis an. Da der Veräußerer ab dem Übergang des Geschäftsanteils keinen Einfluss mehr auf das Geschäftsergebnis hat, dieses auch manipulierbar ist, birgt die gesetzliche Regelung ein erhebliches Risiko für ihn. Für den Veräußerer von Geschäftsanteilen an einer GmbH oder von Aktien kommt hinzu, dass der veräußernde Gesellschafter an dem nach seinem Ausscheiden zu fassenden Gewinnverteilungsbeschluss nicht mehr mitwirkt. Beschließt die Gesellschaft keine Ausschüttung, gibt es auch keine zeitanteilige Beteiligung an ihr. Der veräußernde Gesellschafter wird daher bestrebt sein, entweder die Beteiligung am Gewinn des laufenden Geschäftsjahres über den Kaufpreis zu erfassen oder im Kaufvertrag eine Regelung zu treffen, die zu einer möglichst hohen Gewinnausschüttung führt (z.B. Verpflichtung des Erwerbers,
270 Vgl. Stieper in Staudinger (2017), § 101 BGB Rz. 6 f.; Mildner, NZG 2004, 1025. 271 BGH v. 30.1.1995 – II ZR 45/94 Rz. 8 (Ls. 3), GmbHR 1995, 291 = MDR 1995, 703, DB 1995, 619. 272 Bestimmt die Satzung einer AG die Ausgabe von Gewinnanteilscheinen (Dividendenscheinen), so verkörpern diese den Dividendenzahlungsanspruch. Der Verkäufer einer Aktie ist im Zweifel auch zur Übertragung des Dividendenscheines für noch nicht fällige Dividenden verpflichtet (vgl. Henze in Großkomm/AktG, § 58 AktG Rz. 111; Lutter in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 58 AktG Rz. 117), so dass insoweit die gesetzliche Regelung des § 101 Nr. 2 BGB praktisch nicht zur Geltung kommt. Beim Erwerb über die Börse gilt dies allgemein.
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.151 Kap. 9
für die Vollausschüttung des ausschüttbaren Jahresüberschusses zu sorgen).273 Bei Kapitalgesellschaften können sich unterschiedliche steuerliche Auswirkungen ergeben, je nachdem ob der auf die veräußerte Beteiligung entfallende Gewinnanteil des laufenden Geschäftsjahres sowie etwaige Gewinnvorträge mitveräußert und im Kaufpreis mit berücksichtigt werden oder ob vor der Veräußerung eine Ausschüttung an den Verkäufer erfolgt. b) Stichtagsbeteiligung Häufig wird anstelle einer zeitanteiligen Gewinnverteilung die Regelung getroffen, dass dem Veräußerer im Falle eines unterjährigen Überganges der Beteiligung der bis dahin anfallende Gewinn(anteil) verbleiben soll. Dem Verkäufer kommt auf diese Weise der während der Dauer seiner Beteiligung erwirtschaftete Gewinn zu; vor den Risiken eines ohne seine Mitwirkung erfolgenden Gewinnverwendungsbeschlusses ist er geschützt. Bei dieser Gestaltung bedarf es der Ermittlung des bis zum Übergangsstichtag erwirtschafteten Ergebnisses. Das ist beim Erwerb von Personengesellschaftsanteilen freilich aus steuerlichen Gründen ohnehin erforderlich. In den meisten Fällen wird im Übrigen schon zu Abrechnungszwecken eine Zwischenbilanz auf den Stichtag des Übergangs der Beteiligungsrechte gefertigt. Auch wenn die Abrechnungsbilanz nicht der Ergebnisermittlung dient, kann daraus doch zumeist ohne großen zusätzlichen Aufwand das Ergebnis zum Stichtag abgeleitet werden.
9.150
7. Überleitung sonstiger Wirtschaftsgüter, Fortführung der Firma, Wechsel des Managements Neben der Übertragung der Beteiligungsrechte bedarf es keiner Einzelübertragung der der Ge- 9.151 sellschaft gehörenden materiellen und der meisten immateriellen Vermögenswerte mehr. Daraus ergibt sich eine wesentliche Vereinfachung und häufig auch Kostenersparnis gegenüber einer Einzelrechtsnachfolge. Insbesondere fallen keine Notariats- und Grundbuchkosten für die Übertragung der Grundstücke an. Auch entsteht keine Grunderwerbsteuerpflicht, es sei denn, 95 % oder mehr der Anteile an einer grundbesitzenden Gesellschaft vereinigten sich in einer Hand (§ 1 Abs. 3 GrEStG). Eine Änderung der Anstellungsverhältnisse der Mitarbeiter ist nicht erforderlich; die Gesellschaft bleibt Arbeitgeberin. Auch die urheberrechtlichen Nutzungsrechte bleiben unverändert bei der Gesellschaft, doch kann dem Urheber ein Rückrufsrecht erwachsen (§ 34 Abs. 3 Satz 2 UrhG). Hingegen besteht die Notwendigkeit zur Überleitung bestimmter immaterieller Vermögenswerte in vergleichbarer Weise wie beim Unternehmenserwerb im Wege der Einzelrechtsnachfolge (s. Rz. 9.108). Soweit Know-how und Marktbeziehungen in Unterlagen der Gesellschaft verkörpert sind, verbleiben sie bei der Gesellschaft und kommen dem Erwerber auf diese Weise zugute. Das Gleiche gilt für Kenntnisse und Fertigkeiten der Mitarbeiter, deren Anstellungsverhältnisse ja durch den Gesellschafterwechsel nicht berührt werden. Häufig wird aber das Management aus Anlass des Gesellschafterwechsels ebenfalls wechseln, so dass für Wissensvermittlung und Einführung des Erwerbers Sorge zu tragen ist. Der Gesellschafterwechsel als solcher wird in der Regel eine außerordentliche Kündigung des Anstellungsvertrages von Geschäftsführern nicht tragen, jedoch ist Einzelfallprüfung erforderlich.274
273 Vgl. BGH v. 30.6.2004 – VIII ZR 349/03, GmbHR 2004, 1223 = MDR 2004, 1125 = ZIP 2004, 1551, wonach sich diese Verpflichtung in der Regel schon aus der Vereinbarung ergibt, dem Verkäufer den bis zum Stichtag angefallenen Gewinn zukommen zu lassen. 274 BGH v. 28.10.2002 – II ZR 353/00 Rz. 15, MDR 2003, 161 = GmbHR 2003, 33; zu den Beendigungsmöglichkeiten der Anstellungsverträge von Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern
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Kap. 9 Rz. 9.152
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
9.152 Soll der Name eines ausscheidenden Gesellschafters in der Firma einer Personengesellschaft fortgeführt werden,275 bedarf es dazu seiner Zustimmung (§ 24 Abs. 2 HGB).276 Bei Kapitalgesellschaften ist dagegen die Zustimmung des ausscheidenden Namen gebenden Gesellschafters nicht erforderlich.277
9.153 Einzelrechtsübertragungen sind insofern erforderlich, als bestimmte Wirtschaftsgüter, die für den Betrieb des Unternehmens genutzt werden, nicht der Gesellschaft, sondern einzelnen Gesellschaftern oder deren Angehörigen gehören (Sonderbetriebsvermögen). Praktisch wichtig sind namentlich Betriebsgrundstücke sowie (Patente, Gebrauchsmuster und sonstige Erfinderrechte). Insoweit bedarf es also zunächst der Erfassung dieser Gegenstände im Kaufvertrag und anschließend der dinglichen Übertragung im Erfüllungsgeschäft.
IV. Ausgewählte Form-, Zustimmungs- und Genehmigungserfordernisse 1. § 311b Abs. 3 BGB (Vermögensübertragung)
9.154 Zuweilen stellt das Unternehmen das gesamte Vermögen des Verkäufers dar. Der Kaufvertrag bedarf dann notarieller Beurkundung gem. § 311b Abs. 3 BGB.278 Als Verkauf des Vermögens gilt das Geschäft auch dann, wenn der Veräußerer gewisse Vermögensbestandteile zurückbehält.279 § 311b Abs. 3 BGB gilt auch für Kapitalgesellschaften.280 Bei der AG ist zusätzlich ein Beschluss der Hauptversammlung erforderlich (§ 179a AktG, s.u. Rz. 9.153). Keine Anwendung findet § 311b Abs. 3 BGB, wenn die Parteien im Kaufvertrag die einzelnen zu veräußernden Gegenstände konkret bestimmen. Es kommt nicht darauf an, ob die Gesamtheit der so bezeichneten Vermögensgegenstände praktisch das gesamte Vermögen ausmacht.281 Durch eine zusätzliche Auffangklausel („Catch-all-Clause“) für nicht im Einzelnen bezeichnete Vermögensgegenstände kann es aber zu unerwarteter Anwendung von § 311b Abs. 3 BGB kommen.282 Andererseits kann durch die Bezeichnung einzelner Vermögensgegenstände oder Gruppen von Vermögensgegenständen die Formvorschrift des § 311b Abs. 3 BGB nicht unterlaufen werden, wenn die Vermögenswerte zu pauschal aufgeführt werden. Die Abgrenzung ist im Einzelnen unter Berücksichtigung des Schutzzweckes von § 311b Abs. 3 BGB vorzunehmen. Dieser geht vornehmlich dahin, den Veräußerer wegen der Unbestimmtheit der umfassenden Verpflichtung zur Veräußerung seines Vermögens zu warnen. Im Zweifel empfiehlt sich notarielle Beurkundung, insbesondere auch deshalb, weil bei der Veräußerung des Vermögens im Ganzen der Mangel des Verpflichtungsgeschäfts durch den Vollzug nicht geheilt werden kann.283
275 276 277 278 279 280 281 282 283
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vgl. Röder/Lingemann, DB 1993, 1341. Zu deren D&O Versicherungen Bastuck/Stelmaszczyk, NZG 2011, 241. Dazu näher Lettl, WM 2006, 1841. OLG Köln v. 16.11.1987 – 2 Wx 45/87, GmbHR 1988, 69 = DB 1988, 39. BGH v. 20.4.1972 – II ZR 17/70, BGHZ 58, 322 = NJW 1972, 1419; Baumbach/Hopt, § 24 HGB Rz. 12 (für GmbH & Co. KG). Zur Vermögensübertragung Morshäuser, WM 2007, 337; Heckschen, NZG 2006, 772. Palandt/Grüneberg, § 311b BGB Rz. 66. So schon RGZ 137, 324 (348); Böttcher/Grewe, NZG 2005, 950; a.A. Kiem, NJW 2006, 2363; Werner, GmbHR 2008, 1135. BGH v. 5.5.1958 – VII ZR 102/57, BB 1958, 648; Glöckner, DB 2008, 1083; s. allerdings Heckschen, NZG 2006, 772. Dazu näher Eickelberg/Mühlen, NJW 2011, 2476. BGH v. 29.6.1970 – III ZR 21/68, DNotZ 1971, 38; Wufka in Staudinger (2012), § 311 BGB Rz. 1.
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.157 Kap. 9
Personengesellschaften (OHG, KG, GbR) haben keine eigene Rechtspersönlichkeit, sondern stellen nur eine gesamthänderische Vermögensbindung ihrer Gesellschafter dar. Die Veräußerung des von einer Personengesellschaft betriebenen Unternehmens wird daher herkömmlich nicht als die Veräußerung von Vermögen der Gesellschaft, sondern nur als die Veräußerung gesamthänderisch gebundener Teilvermögen der Gesellschafter verstanden. § 311b Abs. 3 BGB findet daher nach dieser Auffassung insoweit keine Anwendung. Eine Gegenauffassung betont demgegenüber, dass zumindest OHG und KG eine einer eigenen Rechtspersönlichkeit stark angenäherte Struktur haben und leitet daraus die Gleichbehandlung mit Kapitalgesellschaften ab.284 Folgt man dieser Auffassung, so ist es folgerichtig, für die GbR Gleiches gelten zu lassen, da sie nach heutigem Verständnis der OHG weitgehend angenähert ist.285 Vorsorglich ist daher die notarielle Beurkundung auch von Verträgen zu empfehlen, durch die sich eine Personengesellschaft zur Veräußerung ihres gesamten Vermögens verpflichtet.
9.155
2. Familien- und erbrechtliche Erfordernisse a) § 1365 BGB (Verfügung über Vermögen im Ganzen) Stellt das zu veräußernde Unternehmen das gesamte Vermögen des Veräußerers dar, so ist 9.156 die Zustimmung des Ehegatten erforderlich, falls der Veräußerer im gesetzlichen Güterstand lebt (§ 1365 Abs. 1 BGB). Unter den Voraussetzungen des § 1365 Abs. 2 BGB kann die Zustimmung durch das Vormundschaftsgericht ersetzt werden. § 1365 BGB bezweckt den Schutz der Familie, insbesondere des anderen Ehegatten, vor dem Verlust des Vermögens eines Ehegatten. Es geht nicht um den Schutz vor einer unbestimmt weiten Verpflichtung des Veräußerers. Eine zur Vermeidung der Formbedürftigkeit gem. § 311b Abs. 3 BGB ausreichende Konkretisierung der zu veräußernden Vermögensgegenstände hat daher keinen Einfluss auf die Zustimmungsbedürftigkeit gem. § 1365 Abs. 1 BGB. Das Zustimmungserfordernis kann auch dann bestehen, wenn das Unternehmen nur nahezu das gesamte Vermögen des Veräußerers darstellt; auch solche Geschäfte unterliegen § 1365 BGB, wenn der Vertragspartner die Vermögensverhältnisse der Ehegatten kennt.286 Wann das zu veräußernde Unternehmen als das gesamte oder nahezu gesamte Vermögen des Veräußerers anzusehen ist, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalles. Je nach der Größe des Vermögens wird die kritische Grenze erreicht, wenn das verbleibende Vermögen nicht mehr als 10 % bis 15 % des ursprünglichen Vermögens ausmacht.287 b) §§ 1821 ff. BGB (vormundschaftsgerichtliche Genehmigungen) Ist an einem Unternehmenskaufvertrag ein Minderjähriger oder eine unter Vormundschaft oder Betreuung (vgl. §§ 1896, 1908i BGB) stehende Person beteiligt, so sind die vormundschaftsgerichtlichen Genehmigungserfordernisse der §§ 1821 bis 1823 BGB zu beachten288 (Grundstücksgeschäfte: § 1821 BGB; Verfügungen über Vermögen im Ganzen: § 1822 Nr. 1 BGB; entgeltlicher Erwerb oder Veräußerung eines Erwerbsgeschäftes, Abschluss eines Ge284 Vgl. Wufka in Staudinger (2012), § 311b BGB Rz. 7; eingehend Morshäuser, WM 2007, 337. 285 BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341 = DB 2001, 423. 286 BGH v. 21.3.1996 – III ZR 106/95, BGHZ 132, 218 = GmbHR 1996, 612 = MDR 1996, 919 = DB 1996, 1227. 287 BGH v. 25.6.1980 – IVb ZR 516/80, BGHZ 77, 293 = MDR 1980, 916 = NJW 1980, 2350 für „kleine Vermögen“; vgl. im Übrigen die Nachweise bei Palandt/Brudermüller, § 1365 BGB Rz. 6. 288 Dazu näher Fortun, NJW 1999, 754.
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9.157
Kap. 9 Rz. 9.158
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
sellschaftsvertrages zum Betrieb eines Erwerbsgeschäftes: § 1822 Nr. 3 BGB; Pachtverträge: § 1822 Nr. 4, 5 BGB; Übernahme einer fremden Verbindlichkeit: § 1822 Nr. 10 BGB; Schiedsvertrag: § 1822 Nr. 12 BGB; Auflösung eines Erwerbsgeschäftes: § 1823 BGB). Im Einzelnen:
9.158 Kauf oder Verkauf von Aktien oder GmbH-Anteilen gelten nicht als Erwerb oder Veräußerung eines Erwerbsgeschäftes (§ 1822 Nr. 3 BGB), wenn es sich um bloß kapitalmäßige Beteiligungen handelt.289 Jedoch kann ein Geschäft über solche Beteiligungsrechte ab einer bestimmten Beteiligungsqualifikation „umschlagen“ und als Vertrag über den Erwerb oder die Veräußerung eines Erwerbsgeschäftes angesehen werden. Kriterien für das „Umschlagen“ sind – unter Abstellen auf wirtschaftliche Betrachtungsweise – das Maß der Beteiligung, die Zahl der außerdem noch vorhandenen Gesellschafter und das persönliche Verhältnis des Erwerbers oder Veräußerers zum Geschäftsbetrieb.290 Jedenfalls bei Geschäften über sämtliche Anteile, aber auch in den Fällen, in denen ein Vertrag zum Erwerb von Beteiligungsrechten einem Unternehmenserwerb gleichgestellt ist (s. Rz. 9.208 ff.), ist ein Geschäft auch genehmigungsbedürftig gem. § 1822 Nr. 3 BGB. In Zweifelsfällen wird eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung oder aber einer Erklärung des Vormundschaftsgerichts eingeholt werden, dass eine Genehmigung nicht erforderlich sei (Negativattest). Das Negativattest ist allerdings rechtlich unverbindlich, ersetzt also nicht eine etwa doch erforderliche Genehmigung.291
9.159 Die Veräußerung eines Gesellschaftsanteils an einer Personengesellschaft, die ein Handelsgewerbe betreibt, ist rechtlich stets als Veräußerung eines Erwerbsgeschäftes zu bewerten. Die Veräußerung durch einen Minderjährigen bedarf also unabhängig von der Beteiligungshöhe immer vormundschaftsgerichtlicher Genehmigung gem. § 1822 Nr. 3 BGB.292
9.160 Der Erwerb eines Gesellschaftsanteils an einer Personengesellschaft (nicht: der Erwerb einer Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft) ist zugleich Abschluss eines Gesellschaftsvertrages des Erwerbers mit den übrigen Gesellschaftern. Vormundschaftsgerichtliche Genehmigung gem. § 1822 Nr. 3 BGB („Eingehung eines Gesellschaftsvertrages zum Betrieb eines Erwerbsgeschäfts“) ist daher erforderlich, wenn ein Minderjähriger eine Beteiligung an einer Personengesellschaft erwirbt, die ein Erwerbsgeschäft betreibt.293 Genehmigungsbedürftig ist nur der erste Erwerb eines Gesellschaftsanteils, nicht aber der Hinzuerwerb weiterer Gesellschaftsanteile. Letzteres stellt lediglich eine Änderung der gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse in Bezug auf die Beteiligungshöhe des Erwerbers dar, die nicht der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bedarf. Hinsichtlich der Altgesellschafter wird der Erwerb eines Gesellschaftsanteils an einer Personengesellschaft nicht als Abschluss eines Gesellschaftsvertrages angesehen. Vormundschaftsgerichtliche Genehmigung des Erwerbes eines KG- oder
289 BGH v. 20.2.1989 – II ZR 148/88, BGHZ 107, 24 = GmbHR 1989, 327 = MDR 1989, 610 = DB 1989, 918; Palandt/Götz, § 1822 BGB Rz. 6. 290 Vgl. KG v. 20.1.1976 – 1 W 1341/75, NJW 1976, 1946, im konkreten Fall einer 50 %-Beteiligung, die Genehmigungsbedürftigkeit verneinend; s. dazu näher Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 15 GmbHG Rz. 4. 291 BGH v. 30.11.1965 – V ZR 58/63, BGHZ 44, 325 = NJW 1966, 652; Palandt/Götz, § 1828 BGB Rz. 16. 292 BGH v. 30.4.1955 – II ZR 202/53, BGHZ 17, 160 (164) = LM Nr. 3 zu § 1822 Nr. 3 mit Anmerkung Fischer; fortgeführt durch BGH v. 17.2.1992 – II ZR 100/91, MDR 1992, 857 = DB 1992, 988; OLG Karlsruhe v. 9.7.1973 – 11 W 87/72, NJW 1973, 1977 für die Veräußerung einer Kommanditbeteiligung i.H.v. lediglich 500 DM bei einem Kommanditkapital von 22 Mio. DM; Palandt/Götz, § 1822 BGB Rz. 8 f. 293 Vgl. Veit in Staudinger (2013), § 1822 BGB Rz. 50.
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.163 Kap. 9
OHG-Anteils gem. § 1822 Nr. 3 BGB ist also nicht etwa deswegen erforderlich, weil einer der Altgesellschafter minderjährig ist.294 Der Erwerb eines GmbH-Anteils kann ohne Rücksicht auf die unternehmerische Bedeutung des Anteils gem. § 1822 Nr. 10 BGB genehmigungsbedürftig sein, wenn die auf den erworbenen Geschäftsanteil entfallende Einlage oder die Einlagen der übrigen Gesellschafter noch nicht voll erbracht sind und daher für den Minderjährigen die Gefahr besteht, wegen dieser Fehlbeträge in Anspruch genommen zu werden (§§ 19; 24 GmbHG).295 Der BGH hat die Genehmigungspflicht jedoch auf die Fälle beschränkt, in denen der minderjährige Anteilserwerber die rechtliche Möglichkeit hat, nach seiner Inanspruchnahme beim Veräußerer oder bei einem Dritten Regress zu nehmen, so dass die gesetzliche Schuldmitübernahme für ihn vermeintlich risikolos ist. Eine solche Fehleinschätzung ist ausgeschlossen, wenn eine Regressmöglichkeit nicht besteht; § 1822 Nr. 10 BGB, der nur vor dem Risiko einer solchen Fehleinschätzung, nicht aber vor riskanten Geschäften schlechthin schützen soll, greift dann nicht ein. Das theoretische Risiko, für etwaige künftige verbotene Rückzahlungen an andere Gesellschafter haften zu müssen (§ 31 Abs. 3 GmbHG) macht den Geschäftsanteilserwerb ebenfalls nicht genehmigungsbedürftig gem. § 1822 Nr. 10 BGB.296
9.161
c) Erbrechtliche Zustimmungserfordernisse Wird ein Unternehmen aus einem Nachlass verkauft, so kommen vielfache erbrechtliche Beschränkungen in Betracht. Vorerben können nicht zum Nachteil ihrer Nachberechtigten über Grundstücke oder Rechte an Grundstücken verfügen, falls sie nicht befreit sind (§§ 2113, 2136 BGB). Für Vorvermächtnisnehmer können ähnliche, allerdings nur schuldrechtlich wirkende Beschränkungen gelten (§ 2191 BGB). Eine quasi dingliche Wirkung kommt der Nachvermächtnisanordnung aber zu, wenn der Anspruch des Nachvermächtnisnehmers auf Übereignung von Grundstücken durch Vormerkung gesichert worden ist.
9.162
Das im Nachlass befindliche Unternehmen kann auch der Testamentsvollstreckung unterlie- 9.163 gen.297 Das gilt mit gewissen Einschränkungen auch für Gesellschaftsanteile an einer Personengesellschaft.298 Soweit eine Testamentsvollstreckung in Frage kommt, ist stets zu prüfen, inwieweit der Testamentsvollstrecker oder die Erben jeweils allein oder nur zusammen befugt sind, das zum Nachlass gehörende Unternehmen und etwaige Beteiligungsrechte zu veräußern (vgl. §§ 2203 ff. BGB). Der Nachlassverwalter bedarf der Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht, wenn er ein zum Nachlass gehörendes Erwerbsgeschäft oder Anteile an einer Personengesellschaft veräußert (§ 1975 i.V.m. §§ 1915 Abs. 1; 1822 Nr. 3 BGB).299 Entsprechendes gilt bei der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften, wenn diese entsprechend den in Rz. 9.158 für den Erwerb dargestellten Regeln der Veräußerung eines Erwerbsgeschäftes gleich zu achten sind. 294 BGH v. 20.9.1962 – II ZR 209/61, BGHZ 38, 26 = WM 1962, 1260; Palandt/Götz, § 1822 BGB Rz. 10. 295 Palandt/Götz, § 1822 BGB Rz. 21; Veit in Staudinger, § 1822 Rz. 57, 183. 296 BGH v. 20.2.1989 – II ZR 148/88 (2), BGHZ 107, 24 = GmbHR 1989, 327 = MDR 1989, 610 = DB 1989, 918. 297 Vgl. Palandt/Weidlich, § 2205 BGB Rz. 7 ff., dort auch zu den verschiedenen rechtlichen Konstruktionen. 298 BGH v. 1.7.1989 – II ZB 1/89, BGHZ 108, 187 = DB 1989, 1915 mit Besprechung Brandner in FS Kellermann, 1991, S. 37; BGH v. 12.1.1998 – II ZR 23/97, MDR 1998, 423 = NJW 1998, 1313. 299 Zum Ganzen Grziwotz, DB 1990, 924.
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Kap. 9 Rz. 9.164
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
3. Personengesellschaften; GmbH; AG – Zustimmung der Gesellschafter a) OHG und KG
9.164 Die Veräußerung des von einer OHG oder KG betriebenen Unternehmens ist ein Grundlagengeschäft, jedenfalls aber eine ungewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahme, das eines zustimmenden Beschlusses der Gesellschafter bedarf.300 Die Mehrheitserfordernisse richten sich nach dem Gesellschaftsvertrag. Enthält dieser keine Regelung, ist ein einstimmiger Beschluss erforderlich (§§ 119 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB). Entgegen dem Wortlaut von § 164 HGB haben auch die Kommanditisten nicht nur ein Widerspruchsrecht; vielmehr ist ihre Zustimmung erforderlich,301 und zwar unabhängig von der Höhe ihrer Beteiligung. Erfüllungsgeschäfte sind allerdings aus Gründen des Verkehrsschutzes auch dann wirksam, wenn es an einem zustimmenden Gesellschafterbeschluss fehlt.302 Sie unterliegen aber der Rückabwicklung nach Bereicherungsrecht. Wenn die Gesellschaft mehrere Unternehmen betreibt, stellt die Veräußerung eines derselben in aller Regel eine Handlung dar, die über den gewöhnlichen Betrieb des Handelsgewerbes dieser Gesellschaft hinausgeht. Die geschäftsführenden Gesellschafter dürfen die Handlung nur vornehmen, wenn sie dazu durch die Satzung oder einen Gesellschafterbeschluss legitimiert sind. Die Wirksamkeit des Geschäftes wird jedoch durch das Fehlen der Zustimmung grundsätzlich ebenfalls nicht berührt. Ausnahmen gelten für die Fälle kollusiven Zusammenwirkens,303 aber auch dann, wenn der Dritte den Mangel der Vertretungsmacht im konkreten Fall kennt oder er sich ihm „geradezu aufdrängt“.304 b) GmbH
9.165 Ein Vertrag, durch den sich eine GmbH verpflichtet, ihr wesentliches Vermögen im Ganzen zu veräußern, bedarf nach überwiegender Auffassung zu seiner Wirksamkeit in entsprechender Anwendung von § 179a AktG der Zustimmung der Gesellschafter.305 Erfüllungsgeschäfte sind zwar wirksam, unterliegen aber wegen fehlenden Rechtsgrundes der Rückabwicklung nach Bereicherungsrecht. In anderen Fällen ist eine Unternehmensveräußerung regelmäßig ein außergewöhnliches, nach Gesetz oder kraft Satzung zustimmungsbedürftiges Geschäft. Fehlt die Zustimmung, so wird dadurch zwar die Wirksamkeit des Geschäfts im Außenverhältnis – abgesehen von Missbrauchsfällen – nicht berührt. Der Erwerber sollte sich gleichwohl tunlichst vergewissern, dass der Geschäftsführer durch einen entsprechenden Gesellschafterbeschluss gedeckt ist.
300 BGH v. 9.1.1995 – II ZR 24/94, GmbHR 1995, 306 = MDR 1995, 272 = DB 1995, 621; es kann jedoch eine Verpflichtung der Gesellschafter bestehen, ihre Zustimmung zu erteilen, vgl. Roth in Baumbach/Hopt, § 126 HGB Rz. 3 m.w.N. 301 H.L., vgl. OLG Stuttgart v. 11.3.2009 – 14 U 7/08 Rz. 276; Roth in Baumbach/Hopt, § 164 HGB Rz. 2 unter Bezugnahme auf RGZ 158, 305. 302 BGH v. 8.7.1991 – II ZR 246/90, MDR 1992, 140 = DB 1991, 826; bestätigt durch BGH v. 9.1.1995 – II ZR 24/94, GmbHR 1995, 306 = MDR 1995, 272 = DB 1995, 621. 303 Roth in Baumbach/Hopt, § 126 HGB Rz. 11; Stengel in Prinz/Hoffmann (Hrsg.), Beck’sches Handbuch der Personengesellschaften, 4. Aufl. 2014, § 3 Rz. 326 f. 304 BGH v. 5.12.1983 – II ZR 56/82 (2b), GmbHR 1984, 96 = MDR 1984, 646 = DB 1984, 661 (zur GmbH). 305 Vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 37 GmbHG Rz. 11.
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.167 Kap. 9
c) AG Ein Vertrag, durch den sich eine AG oder KGaA zur Übertragung des ganzen Gesellschafts- 9.166 vermögens verpflichtet, ist nur mit Zustimmung der Hauptversammlung wirksam (§ 179a AktG). § 179a AktG greift auch dann ein, wenn nur unwesentliches Vermögen bei der AG zurückbleiben soll. Ob der Vertrag das wesentliche Vermögen betrifft, beurteilt sich danach, ob die AG mit dem zurückbehaltenen Betriebsvermögen noch ausreichend in der Lage bleibt, ihre in der Satzung festgelegten unternehmerischen Ziele zu verwirklichen. Dass dies nach der Veräußerung gegebenenfalls nur in eingeschränktem Umfang möglich ist, führt noch nicht zur Zustimmungsbedürftigkeit des Geschäfts gem. § 179a AktG.306 Die Zustimmung kann sowohl vorab als auch nachträglich erfolgen.307 Der Zustimmungsbeschluss bedarf einfacher Stimmenmehrheit und einer Mehrheit von mindestens drei Viertel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals, soweit nicht die Satzung Erschwernisse vorsieht (§ 179a Abs. 1 Satz 2 AktG).308 Fehlt die erforderliche Zustimmung, so sind die dinglichen Vollzugsgeschäfte gleichwohl wirksam.309 Die Rückabwicklung erfolgt nach Bereicherungsrecht. Ein Hauptversammlungsbeschluss ist außerdem erforderlich, wenn eine AG oder KGaA ein Unternehmen oder einen Betrieb veräußert und dies eine strukturverändernde Maßnahme darstellt, die an die Kernkompetenz der Hauptversammlung rührt und den vom Gesetz der Hauptversammlung zugewiesenen Fällen gleichkommt.310 Das kann auch der Fall sein, wenn eine AG oder KGaA Beteiligungsgesellschaften veräußert, die den Kernbereich des Konzerns ausmachen.311 Wird die Zustimmung der Hauptversammlung nicht eingeholt, sind zwar der Kaufvertrag und die Vollzugsgeschäfte wirksam. Jeder Aktionär kann aber von der Gesellschaft verlangen, dass diese die Rückgängigmachung dieser Rechtsakte betreibe.312 Der Vorstand der veräußernden AG setzt sich außerdem erheblichen Haftungsrisiken aus, wenn die erforderliche Zustimmung der Hauptversammlung fehlt. Für den Käufer entsteht jedenfalls Unruhe, wenn er sich mit dem Bemühen von Aktionären konfrontiert sieht, die Veräußerung rückgängig zu machen. Umstritten und nicht geklärt ist, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen auch der Erwerb eines Unternehmens der Zustimmung der Hauptversammlung bedarf.313
306 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 = AG 1982, 158 = MDR 1982, 554 = DB 1982, 795 – Holzmüller. 307 BGH v. 16.11.1981 – II ZR 150/80, BGHZ 82, 188 = AG 1982, 129 = MDR 1982, 383 = DB 1982, 421; Hüffer/Koch, 12. Aufl. 2016, § 179a AktG Rz. 7. 308 Vgl. Hüffer/Koch, 12. Aufl. 2016, § 179a AktG Rz. 11 zu dem hinsichtlich der Stimmenmehrheit nicht eindeutigen Wortlaut des Gesetzes. 309 Hüffer/Koch, 12. Aufl. 2016, § 179a AktG Rz. 13, 18. 310 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 150, 30 = AG 2004, 384 = NJW 2004, 1860 – Gelatine I mit Anm. Goette, DStR 2004, 927; Goette, DStR 2005, 603. 311 Beispiel: LG Duisburg v. 22.5.2002 – 21 O 106/02, DB 2003, 441 – Babcock/HDW (vor der Gelatine-Entscheidung des BGH ergangen). 312 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 = AG 2004, 384 = NJW 2004, 1860 – Gelatine I. 313 BGH v. 7.2.2012 – II ZR 253/10, AG 2012, 248; Vorinstanz OLG Frankfurt v. 7.12.2010 – 5 U 29/10, AG 2011, 173: Keine Zustimmungsbedürftigkeit nach der „Holzmüller-“ bzw. „Gelatine“Rechtsprechung, wenn generell von der Satzung gedeckt; differenzierend Priester, AG 2011, 654.
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9.167
Kap. 9 Rz. 9.168
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
4. „Change-of-Control“-Klauseln
9.168 Einer Abtretungsbeschränkung kommt es wirtschaftlich nahe, wenn eine Gesellschaft einem Geschäftspartner das Recht zur außerordentlichen Kündigung wichtiger Verträge für den Fall eingeräumt hat, dass ihre Gesellschafter wechseln. Solche Vereinbarungen („Change-ofControl“-Klauseln) finden sich typischerweise häufig bei stark personalisierten Geschäftsbeziehungen, z.B. zwischen einem Hersteller und einer in Form einer Handelsgesellschaft betriebenen Handelsvertretung, Werbeagenturen, auch bei Eigenhändlern.314 Auch Darlehensverträge mit Banken enthalten regelmäßig solche Klauseln. Eine vergleichbare Wirkung hat das gesetzliche Rückrufsrecht des Urhebers (§ 34 Abs. 3 Satz 2 UrhG), wonach bei wesentlichen Veränderungen der Beteiligungsverhältnisse am Unternehmen des zur Nutzung Berechtigten dem Urheber ein Rückrufsrecht zustehen kann. 5. Öffentlich-rechtliche Erfordernisse (ohne Kartellrecht) a) Datenübermittlung an das Transparenzregister
9.169 Der Erwerb eines Unternehmens oder einer Unternehmensbeteiligung kann eine Pflicht zur Datenübermittlung an das Transparenzregister315 auslösen.316 Dieses zentrale elektronische Register dient der Erfassung und Zugänglichmachung von Angaben über den wirtschaftlich Berechtigten für Behörden und Personen mit einem berechtigten Interesse. Erstmals zum 1.10.2018 sollten entsprechende Mitteilungen an das Transparenzregister erfolgen, Einsichtnahmen sind seit dem 27.12.2017 möglich.317 aa) Begriff des wirtschaftlich Berechtigten
9.169a Der Begriff des „wirtschaftlich Berechtigten“ ist in § 3 GwG definiert und meint zwingend eine natürliche Person. Hintergrund ist der Zweck des Gesetzes, Finanzkriminalität und Geldwäsche zu bekämpfen. In diesem Zusammenhang soll das Transparenzregister einem Missbrauch von Gesellschaften und Trusts mittels undurchsichtiger Gesellschaftsstrukturen vorbeugen.318 Dies soll erreicht werden, indem die hinter den jeweiligen Vereinigungen stehende kontrollierende natürliche Person identifiziert wird. Dementsprechend ist nur ausnahmsweise, wenn trotz umfassender Prüfungen keine natürliche Person ermittelt werden kann, unter bestimmten Voraussetzungen der gesetzliche Vertreter, geschäftsführende Gesellschafter oder Partner des Vertragspartners als wirtschaftlich Berechtigter anzusehen.319 Allerdings ist im Hinblick auf die Bußgeldvorschrift des § 57 GwG besondere Sorgfalt bei der Prüfung geboten. 314 Beispiel: BGH v. 26.11.1984 – VIII ZR 214/83, BGHZ 93, 29 = MDR 1985, 837 = DB 1985, 1067 (Inhaberwechsel bei Vertragshändlerunternehmen). 315 Zugänglich unter www.transparenzregister.de; Praxishinweise unter „Über uns“ sowie unter „Fragen und Antworten“; s.a. FAQ zum Transparenzregister auf der Internetseite des Bundesverwaltungsamts (abrufbar unter http://www.bva.bund.de/DE/Organisation/Abteilungen/Abtei lung_ZMV/Transparenzregister/FAQ/faq_node.html;jsessionid= 69993903796715E972437306D 2CFCCC2.2_cid393). 316 Regelung des Transparenzregisters durch §§ 19 ff. GwG v. 23.6.2017, BGBl. I 2017, 1822; umfassend hierzu: Longrée/Pesch, NZG 2017, 1081. 317 § 59 Abs. 1 und 3 GwG. 318 Vgl. Pressemitteilung des Bundesfinanzministeriums v. 22.2.2017, abrufbar unter http://www. bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2017/02/2017-02-22pm-eu-geldwaescherichtlinie.html. 319 § 5 Abs. 2 Satz 5 GwG.
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D. Gegenstand der Akquisition – Vertragsschluss und Vollzug
Rz. 9.170 Kap. 9
bb) Inhalt der Transparenzpflichten Die Transparenzpflichten treffen die gesetzlichen Vertreter von juristischen Personen des Privatrechts, rechtsfähigen Personengesellschaften, Verwalter von Trusts sowie Treuhänder. Sie umfassen die Einholung, Aufbewahrung, laufende Aktualisierung und Datenübermittlung an die registerführende Stelle. Die Pflicht zur unverzüglichen Mitteilung der wirtschaftlichen Berechtigten der jeweiligen Vereinigung besteht nicht, wenn sich diese Informationen bereits vollständig aus bestimmten anderen öffentlichen elektronischen Registern (z.B. Handelsregister, Partnerschaftsregister, Unternehmensregister) ergeben (s.a. Rz. 9.132).320 Ob dies der Fall ist, gilt es im Einzelfall zu prüfen. Von der Mitteilungspflicht ausgenommen sind zudem börsennotierte Unternehmen, wenn sich die kontrollierende Stellung bereits aus entsprechenden Stimmrechtsmitteilungen ergibt.
9.169b
cc) Folgen der Nichteinhaltung der Transparenzpflichten Eine Zuwiderhandlung kann ein Bußgeld321 und eine Bekanntmachung nach § 59 GwG nach sich ziehen.322
9.169c
b) Beschränkungen und Genehmigungen In zahlreichen Fällen bedarf es zum Betrieb eines Unternehmens besonderer persönlicher 9.170 Voraussetzungen des Inhabers (§ 2 ApoG) oder besonderer Konzessionen (Güterkraftverkehr gem. § 3 Güterkraftverkehrsgesetz [GüKG]; Bewachungsgewerbe § 34a GewO; Makler, Bauträger, Baubetreuer § 34c GewO; Gaststättenbetriebe §§ 2, 11 GaststättenG; Abbau von Bodenschätzen §§ 6, 11, 22 BundesbergG; Personenbeförderung §§ 2, 9, 13 PBefG; Privatkrankenanstalten § 30 GewO; genehmigungsbedürftige Anlagen nach § 4 BImSchG; Handwerksbetriebe §§ 1, 7 HandwO). Frequenzzuteilungen nach dem Telekommunikationsgesetz (TKG), bei Änderungen der Eigentümerverhältnisse am Lizenznehmer können unter bestimmten Voraussetzungen widerrufen werden (§§ 55, 63 TKG). Aus der Außenwirtschaftsverordnung (AWV)323 ergeben sich Möglichkeiten zur Untersagung bzw. Beschränkung des Erwerbs inländischer Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen durch ausländische Investoren(sog. Investitionsprüfung324). Letztlich sind auch die gemeindlichen Vorkaufsrechte gem. §§ 24 ff. BauGB zu beachten.
320 Sog. Mitteilungsfiktion gem. § 20 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 22 Abs. 1 GwG. 321 Beim Bußgeld sind drei Stufen mit unterschiedlichem Bußgeldrahmen zu unterscheiden, vgl. § 57 Abs. 3 GwG, § 57 Abs. 2 Satz 1 und 2 GwG (schwerwiegende, wiederholte oder systematische Verstöße), § 57 Abs. 2 Satz 3 bis 5 GwG (Verstöße seitens bestimmter Verpflichtete). 322 Vgl. Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 56 Abs. 1 Nr. 53 bis 55 GwG und Regelung des § 57 GwG. 323 Zuletzt geändert durch die Neunte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung (in Kraft seit 18.7.2017; näher hierzu Boewe/Johnen, NZG 2017, 1095; Becker/Sachs, NZG 2017, 1336. 324 Zu unterscheiden sind die sektorspezifische Investitionsprüfung, welche den ausländischen Erwerb von Unternehmen bzw. Unternehmensbeteiligungen in besonders sicherheitsrelevanten Bereichen betrifft, und die sektorübergreifende Prüfung, die grundsätzlich nur bei einem Erwerb durch Investoren mit Sitz außerhalb der EU bzw. des EFTA-Raums droht, aber nicht auf Unternehmen aus bestimmten Branchen beschränkt ist.
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Kap. 9 Rz. 9.171
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
E. Kaufpreis I. Modalitäten 1. Bestimmung a) Vorläufige und endgültige Bestimmung
9.171 Die Bestimmung des Kaufpreises325 erfolgt durch die Parteien auf der Grundlage der beiderseitigen Wertvorstellung, die nach den bei Vertragsschluss vorhandenen Erkenntnissen gebildet werden.326
9.172 In besonders gelagerten Fällen kann der Kaufpreis negativ327 sein, etwa dann, wenn das Zielunternehmen erst unter erheblichem Sanierungsaufwand rentabel gemacht werden kann (z.B. Betriebsstilllegungen, Sozialpläne gem. § 112 BetrVG, Ablösung ungünstiger Dauerschuldverhältnisse). Das Interesse des Verkäufers an einem solchen Geschäft kann in der vom Käufer gewährten Freistellung von Unternehmensverbindlichkeiten liegen, für die der Verkäufer haftet, oder darin, dass das Entstehen solcher Verbindlichkeiten vermieden wird. Die Fortführung des Unternehmens kann beispielsweise einen kostspieligen Sozialplan vermeiden oder ihn jedenfalls verbilligen. Auch wenn das Zielunternehmen in einer haftungsbeschränkenden Rechtsform (KG, GmbH, AG) betrieben wird, haben die Gesellschafter nicht selten Bürgschaften übernommen oder sonstige Sicherheiten in ihrem Privatvermögen gestellt, aus denen sie im Insolvenzfall in Anspruch genommen werden würden. Möglicherweise droht ihnen auch eine Inanspruchnahme unter dem Gesichtspunkt der §§ 30, 31 GmbHG, § 135 InsO oder des rechtsmissbräuchlichen Eingriffs in das Gesellschaftsvermögen.328 Ferner kann es sein, dass der Erwerber die Haftung für Gesellschafterdarlehen übernimmt, die anderenfalls verloren wären. Letztlich mag ein Konzern einen Imageverlust befürchten, wenn er ein Konzernunternehmen in die Insolvenz gehen lässt und zieht die Veräußerung mit negativem Kaufpreis einer für die Muttergesellschaft vielleicht billigeren Insolvenz der Tochter vor.
9.173 Häufig wird der Kaufpreis beim Vertragsschluss nur vorläufig bestimmt, weil zu diesem Zeitpunkt nicht genau bekannt ist, welche Vermögenswerte auf den Käufer übergehen werden.329 Wenn der Übergangsstichtag auf einen künftigen Zeitpunkt, z.B. auf das Ende des laufenden Geschäftsjahres festgesetzt wird, können sich bis dahin noch erhebliche Veränderungen ergeben. Aber auch im Falle eines sofortigen Überganges besteht bei Abschluss des Kaufvertrages häufig keine vollständige Klarheit, z.B. weil aktuelle Zahlen nicht vorliegen oder weil der Wert bestimmter Vermögensgegenstände erst durch zeitaufwendige Gutachten 325 Dieser Abschnitt behandelt nur die Preisfestsetzung in Geld. Auf die Besonderheiten der Verwendung von Beteiligungsrechten an der Erwerbergesellschaft zur Akquisitionsfinanzierung kann hier nicht eingegangen werden, vgl. dazu Loges/Zimmermann, WM 2005, 349; Wieneke, NZG 2004, 61; Wüstemann, BB 2014, 1707 in Fortsetzung vorangegangener Rechtsprechungsreports. 326 Stehen der Unternehmens- bzw. Beteiligungswert in einem auffälligen Missverhältnis zum Preis, kann der Kaufvertrag gem. § 138 BGB nichtig sein, falls zusätzlich eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten festgestellt wird, OLG Hamm v. 15.7.1998 – 8 U 200/97, GmbHR 1998, 984. 327 Zur Bilanzierung eines negativen Kaufpreises Ernsting, GmbHR 2007, 135. 328 Vgl. BGH v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, BGHZ 173, 246 = MDR 2007, 1266 = AG 2007, 657 = GmbHR 2007, 927 – TRIHOTEL; BGH v. 24.6.2002 – II ZR 300/00, BGHZ 151, 181 = GmbHR 2002, 902. 329 Zu verschiedenen Kaufpreisanpassungsregelungen Bruski, BB-Special 2005, Nr. 7, 19.
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E. Kaufpreis
Rz. 9.175 Kap. 9
ermittelt werden kann (z.B. Grundstücke, Maschinen, Schutzrechte). In diesen Fällen kann es zweckmäßig sein, im Kaufvertrag nur einen vorläufigen Kaufpreis zu vereinbaren und ein Verfahren festzulegen, nach welchem der endgültige Kaufpreis zu bestimmen ist. Häufig wird der Kaufpreis „cash and debt free“ vereinbart. Die Formel bringt das wirtschaftliche Ziel – vorläufiger Kaufpreis, bereinigt um den Saldo aus Kassenbestand und gewissen Verbindlichkeiten – recht gut zum Ausdruck, hat aber keine präzise rechtliche Bedeutung, so dass die Parteien das Gemeinte sorgfältig formulieren sollten. Die in die Saldierung einzubeziehenden Verbindlichkeiten müssen genau bestimmt werden. Manipulationsmöglichkeiten sind im Auge zu behalten. Liegt der Stichtag für die Kaufpreisbemessung in der Zukunft, ist zu berücksichtigen, dass zuweilen erhebliche Gestaltungsspielräume bestehen, die der Verkäufer zu seinen Gunsten ausschöpfen kann.330 Wenn der Kassenbestand ohne Einfluss auf den Kaufpreis sein soll, mag es der Verkäufer als vorteilhaft ansehen, bis zum Stichtag möglichst viel Liquidität zu entnehmen. Auf der Passivseite der Bilanz kann er versuchen, Verbindlichkeiten abzubauen, die den Kaufpreis mindern, indem er Verbindlichkeiten, die keinen Einfluss auf den Kaufpreis haben, aufbaut. Zur Definition der Begriffe „Cash“ und „Debt“ kann man auf die Terminologie des HGB zurückgreifen und als „cash and debt free“ einen Kaufpreis bestimmen, der um gewisse Wertpapiere und den Kassenbestand (vgl. § 266 Abs. 2 B. III. 2, IV. HGB) und um die Verbindlichkeiten gem. § 266 Abs. 3 C. HGB bereinigt wird. Zusätzlich zu einer „cash and debt free“-Anpassung des Kaufpreises wird regelmäßig auch eine Anpassung im Hinblick auf das Working Capital (Nettoumlaufvermögen) vereinbart. Auch insoweit ist Beweggrund in erster Linie, Manipulations- bzw. Gestaltungsspielräume des Verkäufers zu eliminieren, beispielsweise eine „künstliche“ Erhöhung der kaufpreisrelevanten Cash-Position durch eine verzögerte Begleichung fälliger Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen.
9.174
b) Endgültige Bestimmung anhand einer Abrechnungsbilanz Häufig vereinbaren die Parteien, dass der endgültige Kaufpreis anhand einer Abrechnungs- 9.175 bilanz ermittelt wird, die auf den Übergangsstichtag aufzustellen ist. Die Abrechnungsbilanz soll das gesamte bilanzierbare Vermögen erfassen, das dem verkauften Unternehmen am Übergangsstichtag zugeordnet ist. Welche Bilanzierungsgrundsätze (HGB; IAS/IFRS – International Accounting Standards/International Financial Reporting Standards;331 sonstige) für die Abrechnungsbilanz gelten, bemisst sich nach dem Parteiwillen. Dieser kann dahin gehen, dass Wirtschaftsgüter nicht mit ihrem Buchwert, sondern mit ihrem „wirklichen“ (Verkehrs- oder Teil-)Wert zu berücksichtigen sind. Sie kann dann nach denselben Grundsätzen aufgestellt werden, nach denen der Netto-Substanzwert eines Unternehmens ermittelt wird. Möglich ist auch, dass ein selbstgeschaffener Firmenwert mit angesetzt werden soll.332 330 Zum Ganzen Hilgard, DB 2007, 559 mit Formulierungsvorschlägen; s. auch Schön, BB 2004, 763, Kiem, Kaufpreisregelungen beim Unternehmenskauf, 2015. 331 VO (EG) Nr. 1126 der Kommission vom 3.11.2008 zur Übernahme bestimmter internationaler Rechnungslegungsstandards gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. Nr. L 320 v. 29.11.2008, S. 1 (inzwischen vielfach ergänzt; jeweils aktuelle konsolidierte Fassung zugänglich über CELEX 02008R1126); Näheres, auch zu Übernahmen seit 2008 („Endorsements“) in Bohl/Riese/Schlüter (Hrsg.), Beck’sches IFRS Handbuch, 5. Aufl. 2016. 332 Vgl. BGH v. 9.11.1998 – II ZR 190/97, BGHZ 140, 35 = MDR 1999, 171 = GmbHR 1999, 31 = AG 1999, 122 = NJW 1999, 283 zur Berücksichtigung des Firmenwertes in der Unterbilanzhaftung gem. § 11 Abs. 2 GmbHG; dazu Habersack/Lüssow, NZG 1999, 629.
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Kap. 9 Rz. 9.176
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
9.176 Der „wirkliche“ Wert der einzelnen Vermögensgegenstände einschließlich der Verbindlichkeiten und Rückstellungen ist oft nur innerhalb großer Bewertungsspielräume zu ermitteln. Die Parteien können daher ein Interesse daran haben, Bilanzierungs- und Bewertungsgrundsätze bezüglich bestimmter Wirtschaftsgüter festzulegen, auch hinsichtlich der Rückstellungen für Pensionsverbindlichkeiten. Für den Käufer liegt es nahe zu vereinbaren, dass im Falle eines Aktivierungswahlrechts die Aktivierung zu unterbleiben, im Falle eines Passivierungswahlrechts die Passivierung zu erfolgen hat. Wichtig ist für ihn ferner, dass nicht etwa zu seinem Nachteil die Bilanzierungs- und Bewertungsgrundsätze im Vergleich zu den Bilanzen geändert werden, auf deren Grundlage er seine Kaufpreisvorstellungen gebildet hat, dass also insoweit der Grundsatz der Bilanzkontinuität gewahrt wird. Er kann auch umgekehrt ein Interesse daran haben, dass seine eigenen Bilanzierungsgrundsätze – und nicht die der Zielgesellschaft – angewandt werden.
9.177 Die Abrechnungsbilanz zum Übergangsstichtag kann erst nach diesem Zeitpunkt und daher in der Regel nur vom Käufer erstellt werden. Der Verkäufer hat ein berechtigtes Interesse daran, sich vertraglich ein Mitwirkungsrecht bei der Bilanzerstellung einräumen zu lassen, zumindest aber das Recht zur Überprüfung durch einen Wirtschaftsprüfer seiner Wahl. Er sollte auch das Recht haben, die der Bilanzerstellung zugrunde liegenden Aufzeichnungen und sonstigen Unterlagen einzusehen.
9.178 Die Bedeutung des durch die Abrechnungsbilanz zu ermittelnden Wertes ist verschieden, je nachdem, ob es dem Käufer um den Erwerb der in dem Unternehmen verkörperten Substanz oder aber um die Ertragskraft des Unternehmens geht. Wenn der Käufer den Erwerb der Ertragskraft anstrebt, orientiert sich der Kaufpreis in der Regel am Ertragswert. Demgemäß entspricht das sich aus der Abrechnungsbilanz ergebende Eigenkapital nur in Ausnahmefällen zufällig dem letztlich maßgeblichen Ertragswert. Das Abstellen auf eine Abrechnungsbilanz zur endgültigen Kaufpreisfestsetzung sollte deshalb auch nicht darauf hinauslaufen, überholten Vorstellungen der Bewertung lebender Unternehmen nach dem Substanzwert wieder zur Geltung zu verhelfen.
9.179 Die Frage, welchen Einfluss die Abrechnungsbilanz auf den Kaufpreis im Einzelnen haben soll, kann unterschiedlich gelöst werden und bedarf vertraglicher Regelung: Zunächst wird gelegentlich eine Bagatellgrenze vereinbart, so dass Abweichungen des Eigenkapitals überhaupt nur dann zu einer Änderung des Kaufpreises führen, wenn diese Grenze überschritten wird. Die Bagatellgrenze kann als Freibetrag oder als Freigrenze vereinbart werden.333 Im Übrigen gilt: Der Kaufpreis kann z.B. um den Betrag geändert werden, um den das Eigenkapital gemäß der Abrechnungsbilanz von dem Eigenkapital gemäß den beim Kaufvertragsabschluss zugrunde gelegten Gegebenheiten abweicht. Es kann aber auch der Unternehmenswert rechnerisch in ein bestimmtes Verhältnis zum Eigenkapital gesetzt werden, so dass eine Eigenkapitalabweichung mit einem bestimmten Faktor entsprechend dem Verhältnis von Eigenkapital zu Unternehmenswert auf den Kaufpreis durchschlägt. Gehen die Parteien etwa davon aus, dass der Kaufpreis dem 11/2fachen des Eigenkapitals entspricht, so kann vereinbart werden, dass Änderungen des Eigenkapitals zu einer Kaufpreisanpassung in Höhe des 11/2fachen dieser Änderung führen sollen. Eine weitere Gestaltungsmöglichkeit besteht darin, dass der Verkäufer ein bestimmtes Eigenkapital garantiert334 und Änderungen des vorläufig vereinbarten Kaufpreises eintreten sollen, wenn dieses Eigenkapital unterschritten wird. Für die Frage, in welcher Höhe die Unterschreitung des garantierten Eigenkapitals auf den Kaufpreis 333 Vgl. Hilgard, BB 2004, 1233 (auch zur Bedeutung bei Leistungsstörungen s. Rz. 9.249). 334 Vgl. Hilgard, BB 2013, 942.
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E. Kaufpreis
Rz. 9.182 Kap. 9
durchschlägt, gilt das vorstehend Gesagte entsprechend. Die Parteien sollten vertraglich klären, ob die vereinbarte Anpassungsregelung zu einem negativen Kaufpreis führen kann. Soweit Wertminderungen in der Abrechnungsbilanz erfasst sind und zu einer Kaufpreisminderung führen, können sie nicht zusätzlich Gewährleistungsansprüche des Käufers begründen.
9.180
c) Aufstellung und Korrektur der Abrechnungsbilanz Die Abrechnungsbilanz kann entweder vom Käufer allein oder vom Verkäufer und Käufer gemeinsam aufgestellt werden. In jedem Fall sollte für Meinungsverschiedenheiten über die „richtigen“ Ansätze der Abrechnungsbilanz eine rasche Streitentscheidung vorgesehen werden. Es liegt nahe, hierfür einen Einigungsversuch unter den Parteien vorzusehen und, falls dieser nicht innerhalb einer bestimmten Frist erfolgreich ist, einen Dritten mit der Erstellung der Abrechnungsbilanz zu betrauen. Nicht selten beauftragen die Parteien auch von vorneherein einen Dritten. Der Dritte kann als Schiedsgutachter335 i.S.d. §§ 317 ff. BGB (analog) oder – selten – als Schiedsrichter tätig werden. Die Rolle des Schiedsgutachters beschränkt sich im Grundsatz auf die Feststellung von Tatsachen. Das schließt aber nicht aus, ihm auch rechtliche Beurteilungen zu übertragen, die für die Feststellung der Tatsachen vorgreiflich sind.336 Die Bestimmung von Bilanzansätzen unter Anwendung der jetzt weitgehend im HGB kodifizierten Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) oder der IAS/IFRS ist eine typisch schiedsgutachterliche Tätigkeit. Das Schiedsgutachten ist für die Parteien verbindlich, jedoch kann daraus noch nicht vollstreckt werden. Vielmehr muss auf der Grundlage der verbindlichen Ergebnisse ein Vollstreckungstitel erwirkt werden.337 Ist das Schiedsgutachten offenbar unrichtig, verbleibt den Parteien die Möglichkeit, eine gerichtliche Überprüfung herbeizuführen.338 Der Schiedsrichter entscheidet hingegen unter grundsätzlichem Ausschluss der staatlichen Gerichtsbarkeit über ein zwischen den Parteien streitiges Rechtsverhältnis. Aus dem Schiedsspruch kann die Vollstreckung betrieben werden, sobald er vom staatlichen Gericht für vollstreckbar erklärt worden ist (§§ 1060, 1061 ZPO). Eine inhaltliche Überprüfung findet hierbei nur in ganz engem Rahmen statt (vgl. §§ 1060 Abs. 2, 1059 Abs. 2 ZPO). Die Abgrenzung ist nicht immer leicht zu treffen; auf den von den Parteien gewählten Wortlaut kommt es nicht an, doch ist eine Bezugnahme auf die einschlägigen Bestimmungen (§§ 315 ff. BGB oder §§ 1025 ff. ZPO) ein gewichtiges Indiz für den Parteiwillen.339
9.181
Es kann sich erweisen, dass die Ansätze der Abrechnungsbilanz der Wirklichkeit nicht entsprechen. Dabei ist zu unterscheiden:
9.182
335 Zur Preisfeststellung durch Schiedsgutachter Habersack/Tröger, DB 2009, 44. 336 Witte/Mehrbrey, NZG 2006, 241; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 75. Aufl. 2017, Grundz. § 1025 ZPO Rz. 14. 337 BGH v. 18.12.2013 – IV ZR 207/13 Rz. 8, FamRZ 2014, 311. 338 BGH v. 20.11.1975 – III ZR 112/73, WM 1976, 251 (zur Bewertung eines Gesellschaftsanteils); zur offenbaren Unrichtigkeit eines Schiedsgutachtens über einen Bilanzansatz („außerordentlicher Ertrag“) BGH v. 21.1.2004 – VIII ZR 74/03, MDR 2004, 518 = DB 2004, 475. Offenbare Unrichtigkeit liegt dann vor, wenn sie sich einem sachkundigen Beobachter sofort aufdrängt; hierzu muss gegebenenfalls durch Sachverständigengutachten Beweis erhoben werden; st. Rspr., vgl. BGH v. 21.1.2004 – VIII ZR 74/03 (II 2), MDR 2004, 518 = DB 2004, 475; BGH v. 27.6.2001 – VIII ZR 235/00, MDR 2001, 1281 = NJW 2001, 3775, dort auch zum Wegfall des namentlich benannten Schiedsgutachters; „offenkundige Unrichtigkeit“ auch bei grober Lückenhaftigkeit des Schiedsgutachtens, BGH v. 20.11.1975 – III ZR 112/73, WM 1976, 251. 339 So schon BGH v. 17.5.1967 – VIII ZR 58/66, BGHZ 48, 25 (30).
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Kap. 9 Rz. 9.183
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
(1) Es ist möglich, dass die Abrechnungsbilanz zwar entsprechend den anzuwendenden Bilanzierungsgrundsätzen, also „richtig“ aufgestellt ist, dass jedoch nachträglich Umstände eintreten oder bekannt werden, aus denen sich ergibt, dass die Vermögenslage des verkauften Unternehmens von den zugrunde gelegten Ansätzen abweicht. So können sich Rückstellungen für Gewährleistungen oder drohende Verluste aus schwebenden Geschäften als unnötig oder, im Gegenteil, als unzureichend erweisen. Forderungen können uneinbringlich werden oder als uneinbringlich wertberichtigte Forderungen nachträglich doch noch bezahlt werden. (2) Die Abrechnungsbilanz kann aber auch fehlerhaft sein, also unter Verletzung der anwendbaren Bilanzierungsgrundsätze erstellt sein.
9.183 Die Parteien können vereinbaren, dass eine an sich „richtige“ Abrechnungsbilanz ungeachtet späterer Entwicklungen und Erkenntnisse maßgeblich bleiben soll. Das ist die Regel; der kaufmännische Geschäftsverkehr ist üblicherweise an einer schnellen Klärung von Zweifelsfällen interessiert. Es kommt aber auch in Betracht, die Abrechnungsbilanz anzupassen, wobei sowohl eine einmalige als auch – selten – eine mehrmalige Anpassung vereinbart werden kann. Ist nichts über eine spätere Änderung vereinbart, so ist eine Anpassung nur nach den strengen Grundsätzen über die Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) möglich.
9.184 Ist die Abrechnungsbilanz hingegen fehlerhaft im Sinne der Verletzung der Bilanzierungsregeln, so hat jede Partei das Recht auf Berichtigung und gegebenenfalls entsprechende Änderung des Kaufpreises, es sei denn, die Parteien wären an sie im Sinne eines Schiedsgutachtens gebunden. Denn die Vereinbarung einer Preisfestsetzung entsprechend einer zu erstellenden Abrechnungsbilanz ist nach § 157 BGB dahin zu verstehen, dass eine „richtige“ Abrechnungsbilanz gemeint ist, also eine solche, die den zwischen den Parteien maßgeblichen Bilanzierungsregeln entspricht. Fällt einer Partei Verschulden bei der Erstellung der Abrechnungsbilanz zur Last, so können der anderen Partei überdies Schadenersatzansprüche nach den allgemeinen Grundsätzen (§ 280 Abs. 1 BGB) zustehen. d) Sonstige Preisbestimmungen
9.185 Die Parteien können sich darauf beschränken, im Kaufvertrag nur die Kaufpreisbestimmungskriterien zu regeln.340 Es ist dann Sache des die Kaufpreisforderung stellenden Verkäufers, seine Forderung zu beziffern. Das Gericht ermittelt gegebenenfalls den Kaufpreis im Wege der Vertragsauslegung. In der Praxis finden sich solche Regelungen vor allem im Zusammenhang mit Optionsvereinbarungen (s. Rz. 9.31 ff.).
9.186 Zuweilen machen die Parteien den endgültigen Kaufpreis von der künftigen Geschäftsentwicklung des verkauften Unternehmens abhängig.341 Dafür wird auch die Bezeichnung „Earn-out“ verwandt.342 Typischerweise wird dabei der Kaufpreis in einen festen und in einen variablen Teil aufgespaltet. Der variable Teil kann sich an diversen Größen orientieren, z.B. am Umsatz, am Jahresüberschuss oder am EBITDA (Earnings before Interest Tax Depreciation and Amortisation). Der Kaufpreis kann als Prozentsatz solcher Größen ausgedrückt oder auch 340 Vgl. von Braunschweig, DB 2002, 1815. 341 Gestaltungsmöglichkeiten und ein Modell zur Bewertung und Bilanzierung erwarteter Erträge stellen vor Ihlau/Gödecke, BB 2010, 687; von Braunschweig, DB 2010, 712 (716 f.); Hilgard, BB 2010, 2912 mit hilfreichen Praxistipps; Meyding/Grau, NZG 2011, 41; Vischer, SJZ 2002, 509. 342 Auch in der Rechtsprechung, vgl. z.B. FG Münster v. 29.8.2012 – 8 K 4732/10 E, passim (zitiert nach juris).
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E. Kaufpreis
Rz. 9.189 Kap. 9
bei Erreichung bestimmter Schwellen jeweils in Stufen geändert werden. Der Begriff „EBITDA“ hat inzwischen auch Eingang in die deutsche Rechtssprache gefunden343 (vgl. § 4h Abs. 1 EStG). Die Geschäftsentwicklung ist freilich stark von Umständen im Einwirkungsbereich des Käufers abhängig, auch manipulierbar. Manipulationen können namentlich an der Bemessungsgrundlage und an der Bemessungsperiode ansetzen. Sie mögen geringer sein, wenn an die Ergebnisse mehrerer Geschäftsjahre angeknüpft wird. Jedenfalls erfordert eine solche Kaufpreisbestimmung klare Regelungen zur Kontrolle der Kriterien, von denen der endgültige Kaufpreis abhängen soll. Angemessen mag sie dann sein, wenn aufgrund besonderer Umstände die Geschäftsentwicklung ungewöhnlich schwer vorhersehbar ist, z.B. wenn das verkaufte Unternehmen über viel Know-how oder Schutzrechte mit ungewissen Marktchancen verfügt. Sie kommt auch in Betracht, wenn der Veräußerer dem Unternehmen z.B. als Geschäftsführer verbunden bleibt, oder wenn die Geschäftsentwicklung stark davon abhängig ist, in welchem Umfang der Verkäufer weiterhin von dem verkauften Unternehmen Waren bezieht. Ungewissheiten bei der Bewertung von Forderungen kann in der Weise Rechnung getragen werden, dass sich der Veräußerer verpflichtet, bestimmte Forderungen auf Verlangen des Erwerbers anzukaufen bzw. zurückzukaufen, z.B. solche, die trotz Mahnung nicht innerhalb von 60 Tagen nach Fälligkeit beglichen worden sind.
9.187
2. Aufteilung In den Kaufvertrag kann ein einheitlicher Kaufpreis für das gesamte Unternehmen eingesetzt werden. Möglich ist aber im Falle des Asset Deal auch die getrennte Ausweisung des auf die einzelnen Wirtschaftsgüter jeweils entfallenden Kaufpreisanteils. Die getrennte Ausweisung hat erhebliche steuerliche Bedeutung (vgl. dazu im Einzelnen Rz. 5.108 ff.). Der Erwerber wird daran interessiert sein, im Rahmen des Gesamtpreises eine möglichst hohe Bewertung der schnell oder zumindest überhaupt abnutzbaren Wirtschaftsgüter unter Einschluss des Firmenwertes zu erreichen (zu Letzterem § 7 Abs. 1 Satz 3 EStG). Umgekehrt kann der Veräußerer daran interessiert sein, wegen der gem. § 6b EStG möglichen teilweisen Übertragung stiller Reserven in Grundstücken letztere möglichst hoch zu bewerten. Im Rahmen dessen, was ernstlich gewollt ist und den wirtschaftlichen Gegebenheiten entspricht, ist die Finanzverwaltung an die von den Parteien festgelegte Bewertung gebunden (Rz. 5.108, 5.172 ff.).
9.188
Eine zivilrechtliche Bedeutung kommt der Aufteilung des Kaufpreises nicht ohne weiteres 9.189 zu. Da ein Unternehmen eine Funktionseinheit darstellt, kann ein Mangel an einzelnen Wirtschaftsgütern je nach den Umständen des Falles eine über deren Wert hinausgehende Wertminderung des gesamten Unternehmens zur Folge haben oder auch für den Gesamtwert ohne Bedeutung sein. Zur Frage, inwieweit der Mangel eines Einzelgegenstandes einen Mangel des Unternehmens begründen kann, s. nachstehend Rz. 9.205. Aus der getrennten Aufführung von Kaufpreisteilen, die auf die einzelnen Wirtschaftsgüter entfallen, kann daher grundsätzlich nicht der Schluss gezogen werden, dass Mängel eines Wirtschaftsgutes eine Minderung des Gesamtpreises um den Minderwert dieses Wirtschaftsgutes bewirken. Maßgebend ist die Auswirkung des Mangels auf das gesamte Unternehmen. Jedoch können die Parteien Abweichendes vereinbaren. 343 Vgl. § 4h Abs. 1 EStG i.d.F. des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes v. 22.12.2009, BGBl. I 2009, 3950 mit Begr. RegE, BT-Drucks. 17/15, 17 (steuerliches EBITDA entspricht Summe aus Gewinn, Zinssaldo und Abschreibungen). Beachte, dass unter den so verstandenen EBITDA-Begriff nicht nur Abschreibungen auf immaterielle Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens fallen (§ 275 Abs. 2 Nr. 7 HGB).
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Kap. 9 Rz. 9.190
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
3. Zahlungsweise, Verzinsung, Verjährung
9.190 Mangels abweichender Bestimmung ist der Kaufpreis in einem einzigen Betrag zu zahlen (§ 266 BGB) und sofort fällig (§ 271 BGB). Dem Käufer steht jedoch ein Zurückbehaltungsrecht gem. § 320 BGB zu, solange der Verkäufer seine Verpflichtung nicht erfüllt. Ist der Unternehmenskauf ein beiderseitiges Handelsgeschäft, so können gem. § 353 HGB Fälligkeitszinsen verlangt werden.
9.191 In aller Regel wird der Verkäufer nur bereit sein, die Geschäftsanteile (Share Deal) bzw. Wirtschaftsgüter (Asset Deal) Zug-um-Zug gegen bzw. aufschiebend bedingt auf die vollständige Kaufpreiszahlung am Closing zu übertragen. Insbesondere bei kleineren Transaktionen vereinbaren die Parteien allerdings mitunter, dass der Kaufpreis in mehreren Raten zu zahlen ist. Ratenzahlung erleichtert dem Käufer auch die Durchsetzung von Gewährleistungsansprüchen, wenn sich vor Zahlung der letzten Rate Mängel des Unternehmens herausstellen. Allerdings gelten für Gewährleistungs- und Garantieansprüche des Käufers häufig kurze Verjährungsfristen. Ob der Käufer dann noch mit diesen Ansprüchen gegen die fällig werdenden Raten aufrechnen kann, richtet sich nach § 215 BGB oder einer abweichenden vertraglichen Regelung.344 Wirtschaftlich entspricht es einer Stundung, wenn der Verkäufer dem Erwerber ein Darlehen zur teilweisen Finanzierung des Kaufpreises gewährt („Vendor Loan“).345 Ferner finden sich bei kleineren Transaktionen gelegentlich Rentenvereinbarungen zugunsten des Veräußerers. Die Rente kann unter Umständen als betriebliche Versorgungsrente zu Lasten des übernommenen Betriebsvermögens gestaltet werden. Ebenso ist die Vereinbarung einer Kaufpreisrente möglich. Die Verrentung der Ansprüche des Verkäufers kommt namentlich dann vor, wenn sich der Verkäufer aus dem Wirtschaftsleben zurückziehen will.
9.192 Der Kaufpreisanspruch verjährt gem. §§ 194 ff. BGB, also regelmäßig in drei Jahren (§ 195 BGB), beginnend mit dem Schluss des Jahres, in dem der Kaufpreis, gegebenenfalls die jeweilige Kaufpreisrate, „entstanden“, d.h. fällig geworden ist (§ 199 BGB).346
II. Sicherung des Verkäufers 1. Finanzierungszusage, Wertsicherung, Währungsrisiko
9.193 Der Verkäufer wird sich in manchen Fällen vergewissern wollen, dass der Kaufinteressent in der Lage ist, den Kaufpreis aufzubringen. Zu diesem Zweck kann der Kaufinteressent bei fremdfinanzierten Akquisitionen die Finanzierungszusage347 eines Kreditinstitutes beibringen („Commitment Letter“). Sie steht in der Regel unter verschiedenen Vorbehalten, insbesondere unter dem Vorbehalt, dass in den Verhältnissen des Kaufinteressenten oder des Zielunternehmens zuweilen sogar in den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen bis zum Vollzug der Akquisition keine wesentlichen Verschlechterungen eintreten (sog. MAC-Klauseln, s. dazu Rz. 9.202). Sie ist regelmäßig befristet und wird häufig nur gegen eine besondere Gebühr erteilt. Soweit der Käufer eigene Mittel einsetzen will, kann sich der Verkäufer zu vergewissern suchen, dass diese vorhanden sind („Equity Commitment“). Zuweilen mag auch für den Verkäufer und seine Berater Anlass bestehen, sich zu vergewissern, aus welchen
344 345 346 347
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Siehe dazu näher Hilgard, BB 2012, 852. Dazu und zu weiteren Finanzierungsgestaltungen von Braunschweig, DB 2010, 713 (714 f.). St. Rspr., vgl. BGH v. 8.7.2008 – XI ZR 230/07 (II 2b aa), MDR 2008, 1287 = ZIP 2008, 1762. Dazu näher Jansen, GWR 2009, 361.
Weber
E. Kaufpreis
Rz. 9.194 Kap. 9
Quellen die Mittel stammen.348 Im Übrigen besteht für den Verkäufer ein Sicherungsbedürfnis hinsichtlich der Kaufpreisforderung besonders dann, wenn der Kaufpreis in mehreren, zeitlich länger gestreckten Raten zu zahlen ist oder wenn die Veräußerung gegen eine Rentenzusage erfolgt. Gegen den allgemeinen Währungsverfall kann sich der Verkäufer in gewissem Umfang durch eine Wertsicherungsklausel schützen. Deren Zulässigkeit bestimmt sich nach dem Preisklauselgesetz (PrKG).349 Wechselkursrisiken können auftreten, wenn der Kaufpreis in ausländischer Währung gezahlt werden kann (Valutaschuld, vgl. § 244 BGB).350 2. Bürgschaften, Patronatserklärungen Gegen Bonitätsrisiken aus der Person des Käufers kann sich der Verkäufer durch eine Bürg- 9.194 schaft, insbesondere eine Bankbürgschaft für den Restkaufpreis, schützen. Aus der Sicht des Verkäufers ist es wünschenswert, wenn die Bankbürgschaft selbstschuldnerisch, d.h. unter Verzicht auf die Einrede der Vorausklage (§ 773 BGB), und „auf erstes Anfordern“ ausgestellt ist. Dadurch werden für den in Anspruch genommenen Bürgen zunächst alle Einwände aus dem Grundverhältnis zwischen Verkäufer und Käufer ausgeschlossen; es sei denn, der Gläubiger missbrauche seine formale Rechtsstellung, insbesondere weil klar auf der Hand liegt, dass dem Verkäufer kein Anspruch gegen den Käufer zusteht.351 Der Bürge muss sofort zahlen und ist darauf beschränkt, nach erfolgter Leistung Mängel des Grundverhältnisses durch Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung (§ 812 BGB) geltend zu machen.352 Insbesondere läuft also der Verkäufer nicht Gefahr, dass der Bürge seinem Anspruch auf Zahlung der restlichen Raten Einwände des Käufers aufgrund wirklicher oder behaupteter Leistungsstörungen entgegensetzt (Minderung, Rücktritt, Schadensersatz, Zurückbehaltungsrecht wegen teilweiser Nichterfüllung des Kaufvertrages). Entsprechend gefährlich ist die Bürgschaft auf erstes Anfordern für den Bürgen und für den Hauptschuldner (Käufer); letzteres vor allem dann, wenn sich der Bürge für seinen Rückgriffsanspruch gegen den Hauptschuldner abgesichert hat. Das ist bei Bankbürgschaften regelmäßig der Fall. Auch mag eine Bank im Interesse ihrer Akzeptanz im Geschäftsverkehr mit Bankbürgschaften die Forderungen des Gläubigers bereitwilliger als sonstige Bürgen erfüllen. Anstelle von Bankbürgschaften werden auch Bürgschaften von Ober- oder Schwestergesellschaften des Konzerns gegeben, dem die Erwerberin angehört. Zuweilen wird von den mit der Erwerberin verbundenen Unternehmen auch nur eine sog. „Patronatserklärung“ („letter of comfort“) zu erlangen sein. Der rechtliche Gehalt dieser international verbreiteten, jedoch zumindest in Deutschland zwar gesetzlich nicht geregelten, wohl aber gebräuchlichen Kreditsicherung ist je nach der Ausgestaltung im Einzelfall durchaus unterschiedlich. Er reicht von der lediglich mora-
348 Gesetz über das Aufspüren von Gewinnen aus schweren Straftaten (Geldwäschegesetz – GwG) v. 23.7.2017, BGBl. I 2017, 1822. 349 BGBl. I 2007, 2248; abgedruckt und kommentiert bei Palandt/Grüneberg, Anhang zu § 245 BGB. 350 Einer Genehmigung bedarf es dazu wegen der Streichung von § 3 WährG durch das EuroEG v. 9.6.1998, BGBl. I 1998, 1242 nicht mehr. 351 BGH v. 5.3.2002 – XI ZR 113/01 (Ls. 1, 2), MDR 2002, 653 = NJW 2002, 1493. 352 BGH v. 24.10.2002 – IX ZR 355/00, BGHZ 152, 246 m.w.N. = MDR 2003, 280 = NJW 2003, 352; BGH v. 19.9.1985 – IX ZR 16/85, BGHZ 95, 375 = MDR 1986, 229 = DB 1986, 323; zur Unwirksamkeit einer AGB-mäßig vereinbarten Bürgschaft auf erstes Anfordern BGH v. 8.3.2001 – IX ZR 236/00, BGHZ 147, 99 = MDR 2001, 1003 = NJW 2001, 1857; Rechtsprechungsübersicht bei Tiedtke, NJW 2003, 1359 = NJW 2005, 2498.
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Kap. 9 Rz. 9.195
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
lischen Bindung „weicher“ bis zu der garantieähnlichen Wirkung „harter“ Patronatserklärungen.353 3. Ausschluss von Aufrechnung und Zurückbehaltungsrecht
9.195 Der Verkäufer kann sich die Durchsetzung seines Kaufpreisanspruches erleichtern, wenn bezüglich etwaiger Gegenansprüche des Käufers ein Aufrechnungsverbot vereinbart oder das gesetzliche Zurückbehaltungsrecht ausgeschlossen wird. Solche Gegenansprüche können sich für den Käufer insbesondere aus Gewährleistungsrechten und verwandten Instituten ergeben. Die Geltendmachung der Aufrechnung oder eines Zurückbehaltungsrechts ist allerdings trotz entgegenstehender Abrede gem. § 242 BGB in der Regel dann nicht ausgeschlossen, wenn diese Rechte entweder vom Verkäufer anerkannt sind oder wenn bei prozessualer Geltendmachung des Kaufpreisanspruches im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zugleich über sie mit entschieden werden kann.354 Das ist praktisch häufig der Fall. Die Berufung auf einen vertraglichen Aufrechnungsausschluss kann ferner treuwidrig sein, wenn ohne die Aufrechnung die Durchsetzung des Gegenanspruches vereitelt würde, namentlich wegen Insolvenz oder Vermögensverfalls der Gegenpartei.355 4. Rechtsvorbehalte
9.196 Der Verkäufer kann sich im Falle eines Asset Deal Rechte an den zu übertragenden Wirtschaftsgütern bis zur Bezahlung des Kaufpreises vorbehalten, bei Grundstücken durch Hinausschieben der Auflassung oder zumindest der Eigentumsumschreibung. Auch beim Share Deal sind Rechtsvorbehalte bis zur Erfüllung des Kaufpreisanspruchs möglich und auch die Regel.356 Zur Frage des gutgläubigen Zwischenerwerbs von GmbH-Anteilen nach § 16 Abs. 3 GmbHG s. vorstehend Rz. 9.136. Freilich sind Probleme und Grenzen dieser Sicherungsmöglichkeiten zu beachten. Beim Asset Deal muss der Käufer die Möglichkeit zur Veräußerung der Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens erhalten. Ein verlängerter Eigentumsvorbehalt durch Vorausabtretung der Kaufpreisforderungen, die dem Käufer aus der Weiterveräußerung dieser Wirtschaftsgüter zustehen, wird kaum praktikabel sein. Die beweglichen Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens verlieren bei Herauslösung aus dem Funktionszusammenhang des Unternehmens häufig erheblich an Wert. Beim Share Deal müssen Regelungen für die Ausübung der Verwaltungsrechte und für die Gewinnbezugsrechte in der Schwebezeit getroffen werden. Gegebenenfalls ist durch Stimmbindungsvereinbarungen dafür 353 BGH v. 19.5.2011 – IX ZR 9/10, Rz. 17 ff., AG 2011, 512 = MDR 2011, 885 = GmbHR 2011, 769; s.a. OLG Frankfurt v. 30.10.2012 – 14 U 141/11, GmbHR 2013, 138, Rz. 95 ff.; Rosenberg/ Kruse, BB 2003, 641; Wittig, WM 2003, 1981; Muster bei Schütze in Münchener Vertragshandbuch, Bd. 2, Wirtschaftsrecht I, 7. Aufl. 2015, V.19; Fuhrmann/Wälzholz, Formularbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2015, Muster M 13.64, M 13.65; zum Widerruf einer Patronatserklärung BGH v. 20.9.2010 – II ZR 296/08, MDR 2010, 1403 = AG 2010, 870 = GmbHR 2010, 1204; Heeg, BB 2011, 1160. 354 Grundlegend BGH v. 15.2.1978 – VIII ZR 242/76 Rz. 11 (zitiert nach juris); im Einzelnen wird dazu auf Palandt/Grüneberg, § 387 BGB Rz. 14 ff. verwiesen. 355 BGH v. 12.12.1990 – VIII ZR 355/89, NJW-RR 1991, 971 m.w.N. 356 Zur Zulässigkeit bei der GmbH BGH v. 21.9.1994 – VIII ZR 257/93, BGHZ 127, 129 = GmbHR 1994, 869 = MDR 1995, 678 = NJW 1996, 1740; zur aufschiebend bedingten Abtretung von Kommanditanteilen vgl. BGH v. 21.3.1983 – II ZR 113/82 (2), GmbHR 1983, 238 = MDR 1983, 999 = DB 1983, 1419; zu den auf Grund des MoMiG v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026 gegebenen Besonderheiten Schreinert/Berresheimer, DStR 2009, 126. Formulierungsvorschlag bei Weigl, MittBayNot 2009, 116 (120).
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Weber
E. Kaufpreis
Rz. 9.199 Kap. 9
zu sorgen, dass die Gesellschafterrechte im Sinne des Käufers ausgeübt werden.357 Ist das Unternehmen faktisch übertragen, so entstehen bei der Rückübertragung ähnliche Schwierigkeiten, wie sie dem Rücktritt vom Kaufvertrag nach rechtlicher Übertragung des Unternehmens entgegen stehen. Eine faktische Rückübertragung des Unternehmens bei Ausfall der aufschiebenden Bedingung kommt wirtschaftlich wohl nur bei rein vermögensverwaltenden Gesellschaften in Betracht. Sie ist mit ähnlichen Schwierigkeiten verbunden, wie sie dem Rücktritt nach Übertragung des Unternehmens entgegenstehen. Ein operatives Unternehmen hat in der Hand des Erwerbers in aller Regel im Zeitpunkt des Ausfalls der Bedingung bereits mehr oder weniger große Veränderungen erfahren, deren Rückgängigmachung problematisch ist (s. dazu Rz. 9.221 ff.).
III. Sicherung des Käufers 1. Sicherungsbedürfnis Der Käufer hat ein Sicherungsbedürfnis, falls er Zahlungen auf den Kaufpreis leistet, bevor das Unternehmen auch rechtlich auf ihn übergegangen ist (was in der Praxis kaum relevant sein dürfte). In der Regel wird aber im Vordergrund das Interesse des Käufers an einer Absicherung seiner Rechte auf Herabsetzung des Kaufpreises im Rahmen einer Kaufpreisanpassung stehen sowie aus Gewährleistung, aus Garantieabsprachen und aus Verschulden bei Vertragsschluss. Ein Sicherungsbedürfnis besteht außerdem, weil der Verkäufer zwischen dem Abschluss des Kaufvertrages und dem Übergang des Unternehmens auf den Käufer das Unternehmen führt und demgemäß längerfristige Geschäfte abschließen, sonstige Verbindlichkeiten eingehen oder Vermögenswerte veräußern kann. All diese Maßnahmen können wirtschaftliche Fehlschläge sein und den Wert des Unternehmens zum Übergangsstichtag beeinträchtigen. Auch kann der Verkäufer Entnahmen tätigen. Zu den Besonderheiten beim Erwerb von Assets im Vorfeld einer möglichen Insolvenz des Verkäufers s. Rz. 16.31 ff.
9.197
Ferner besteht ein Sicherungsbedürfnis, falls sich die wirtschaftlichen Umstände, auf deren 9.198 Grundlage der Kaufpreis vereinbart wurde, erheblich verändern (sog. „Material Adverse Changes“ – MAC), s. dazu nachstehend Rz. 9.202. GmbH-Anteile werden häufig aufschiebend bedingt abgetreten. Aufschiebende Bedingung kann insbesondere die Zahlung des Kaufpreises sein. Veräußert der Inhaber des aufschiebend bedingt abgetretenen Anteils diesen während der Schwebezeit unbedingt an einen anderen (Zweiterwerber), der von der aufschiebend bedingten Veräußerung nichts weiß, so fragte sich nach Einführung von § 16 Abs. 3 GmbHG durch das MoMiG, ob bei Eintritt der Bedingung der Ersterwerber den Geschäftsanteil endgültig erlangt oder ob der gutgläubige Zweiterwerber
357 Zulässigkeit grundsätzlich anerkannt; vgl. BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94 (Ls. D), BGHZ 129, 136 = GmbHR 1995, 665 = AG 1995, 368 = DB 1995, 1064 (AG); BGH v. 20.1.1983 – II ZR 243/81, AG 1983, 249 = GmbHR 1983, 196 = GmbHR 1984, 180 = MDR 1983, 732 = NJW 1983, 1910; jüngere Beispiele OLG Hamm v. 1.9.2010 – I-8 U 118/09 (für AG), AG 2011, 90; OLG Köln v. 1.6.2010 – 18 U 72/09 (für GmbH), GmbHR 2011, 135; der Stimmbindungsvertrag gewährt einen Erfüllungsanspruch, allg. Auffassung, vgl. OLG Köln v. 25.7.2002 – 18 U 60/02, GmbHR 2003, 416; s.a. Bayer in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 47 GmbHG Rz. 19 ff.; zur Durchsetzung von Rechten aus einem Stimmbindungsvertrag im e.V.-Verfahren OLG Koblenz v. 27.2.1986 – 6 U 261/86, GmbHR 1986, 428; OLG Stuttgart v. 20.2.1987 – 2 U 202/86, GmbHR 1987, 482; OLG Hamburg v. 28.6.1991 – 11 U 65/91, GmbHR 1991, 467.
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9.199
Kap. 9 Rz. 9.200
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
Inhaber des Geschäftsanteils wird. Die Frage ist für die Praxis durch den BGH auf der Grundlage von § 161 BGB zugunsten des Ersterwerbers entschieden.358 2. Sicherungsmittel
9.200 Als Sicherungsmittel kommen für den Käufer namentlich in Betracht: (1) Streckung der Kaufpreiszahlung auf mehrere Raten in der Erwartung, dass die jeweils noch ausstehenden Raten ausreichen werden, um erkennbar werdende Gegenansprüche des Käufers zu decken; freilich wird dieses Sicherungsmittel beeinträchtigt, wenn der Verkäufer in kollidierendem Sicherungsinteresse einen Ausschluss von Zurückbehaltungs- und Aufrechnungsrechten durchgesetzt hat (s.o. Rz. 9.191); (2) Absicherung von Zahlungsansprüchen auf Grund einer Kaufpreisanpassung oder von Ansprüchen wegen Vertragsverletzung insbesondere durch Bürgschaft oder Patronatserklärung; hierfür gilt das Gleiche wie vorstehend zu Rz. 9.194 ausgeführt; zur Sicherung solcher Ansprüche kann auch ein Teilbetrag des Kaufpreises auf ein Treuhandkonto eingezahlt werden;359 es ist darauf zu achten, dass dieses Treuhandkonto insolvenzfest gestaltet wird;360 Rechtsanwälte dürfen nicht als Treuhänder zugleich für die von ihnen vertretene und für die Gegenpartei agieren (Verbot der „doppelten Treuhand“).361 (3) Vereinbarung eines Zustimmungserfordernisses für bestimmte über den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb hinausgehende Geschäfte, die das Zielunternehmen zwischen dem Abschluss des Kaufvertrages und dem Übergangsstichtag abschließt, gegebenenfalls auch für Geschäfte des Zielunternehmens mit dem Verkäufer oder ihm nahe stehenden Dritten sowie für wichtige Anstellungsverträge; (4) Abschluss einer Gewährleistungsversicherung (Warranty & Indemnity – Versicherung – W&I-Versicherung), durch die Ansprüche des Käufers aus Gewährleistungszusagen des Verkäufers abgesichert werden (vgl. dazu ausführlich Rz. 9.272 ff.).
9.201 Eine Absicherung gegen eine für den Käufer nachteilige Änderung der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse oder der Verhältnisse des Zielunternehmens kommt vor allem in Betracht, wenn zwischen dem Abschluss des Kaufvertrages und dem Übergang des Zielunternehmens ein längerer Zeitraum liegt. Das kann z.B. der Fall sein, wenn ein Zusammenschlusskontrollverfahren durchgeführt werden muss. Der Erwerber möchte sich dagegen schützen, dass er einen Kaufpreis zu bezahlen hat, der beim Vollzug des Unternehmenskaufvertrages nicht mehr gerechtfertigt ist. So mag das Zielunternehmen in der Zwischenzeit insolvent geworden sein. Möglicherweise ist wegen solcher Veränderungen auch das Interesse des Erwerbers an dem Zielunternehmen überhaupt weggefallen. Für die Zeit nach dem Übergang des Zielunternehmens wird dagegen eine Kaufpreisanpassung wegen Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse nur ganz ausnahmsweise in Betracht kommen, z.B. wenn die Kaufpreis358 BGH v. 20.9.2011 – II ZB 17/10, Rz. 14 ff., BGHZ 191, 84 = MDR 2012, 169 = GmbHR 2011, 1269 mit umfassenden Nachweisen zum Meinungsstand; für Vorrang des Ersterwerbers bereits Weigel, NZG 2009, 1173 m.w.N.; Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 16 GmbHG Rz. 29a; Weigl, MittBayNot 2009, 116 (mit Vorschlägen zur Vertragsgestaltung). 359 Meyding/Grau, NZG 2011, 41; Witte/Bultmann, BB 2005, 1121. 360 Zur insolvenzfesten Ausgestaltung sog. Doppeltreuhand-Verhältnisse (Contractual Trust Arrangements – CTA) BAG v. 18.7.2013 – 6 AZR 47/12, BAGE 146, 1 mit Anm. Klemm, BetrAV 2014, 15 = MDR 2013, 1410; Rößler, DB 2013, 1607. 361 § 3 Abs. 1 Satz 2 BORA m.W. vom 1.1.2015.
880
Weber
F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
Rz. 9.203 Kap. 9
bemessung im Hinblick auf die erwartete Erteilung eines Patentes oder einer arzneimittelrechtlichen Zulassung erfolgte und diese versagt wird. In aller Regel geht das mit dem Zielunternehmen verbundene unternehmerische Risiko ab dessen Übergang voll auf den Erwerber über. Die Absicherung wird in gewissem Umfang von Gesetzes wegen durch das Rechtsinstitut der Störung der Geschäftsgrundlage bewirkt (§ 313 BGB). Wegen der generalklauselartigen Weite dieser Bestimmung ist aber eine vertragliche Konkretisierung ratsam. Ausländische Vertragsparteien, deren Rechtsordnungen dieses Rechtsinstitut nicht kennen, werden ohnehin auf einer Konkretisierung bestehen. Die Umstände, die eine Anpassung rechtfertigen sollen, werden gelegentlich in sog. Material Adverse Change Clauses („MAC“)362 vereinbart. Die Schwierigkeit besteht in der hinreichend konkreten Erfassung von zukünftigen, nicht vorhergesehenen Umständen. Soweit die Parteien über die Berücksichtigung möglichst genau bezeichneter Änderungen der Verhältnisse hinaus eine Auffangklausel wünschen, kann auf Umstände abgestellt werden, die gem. Art. 17 VO 596/2014 (MAR) veröffentlichungspflichtig wären, wenn das Zielunternehmen Emittent im Sinne des WpHG wäre. Einige Hinweise geben die veröffentlichten Übernahmeangebote.363
9.202
Wenn der Käufer den Kaufpreis über ein noch aufzunehmendes Darlehen oder über erst 9.203 noch einzuwerbende eigene Mittel finanzieren will, mag er ein Interesse daran haben, die Verpflichtung zur Zahlung des Kaufpreises unter einen Finanzierungsvorbehalt zu stellen. Eine solche Regelung ist für den Verkäufer problematisch. Er kann nur schwer überprüfen, ob der Käufer angemessene Anstrengungen unternimmt, die Finanzierung zustande zu bringen oder ob er aus anderen Gründen die Transaktion nicht zu Ende bringen will. Generell wird es jede Partei vermeiden wollen, die Bindungswirkung eines Vertrages von Umständen abhängig zu machen, auf welche die andere Seite Einfluss hat. Wenn der Verkäufer einen Finanzierungsvorbehalt überhaupt akzeptiert, wird er bestrebt sein, eine Vertragsstrafe oder einen pauschalierten Schadensersatzanspruch für den Fall zu vereinbaren, dass sich der Käufer darauf beruft.
F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte Literatur: Bisle, Gewährleistungs- und Garantieklauseln in Unternehmenskaufverträgen, DStR 2013, 364; von Gierke/Paschen, Mängelgewährleistung beim Unternehmenskauf, GmbHR 2002, 457; Gronstedt/Jörgens, Die Gewährleistungshaftung bei Unternehmensverkäufen nach dem neuen Schuldrecht, ZIP 2002, 52; Gruber, Neues Kaufrecht – Umsatz- und Ertragsangaben beim Unternehmenskauf, MDR 2002, 433; Jaques, Haftung des Verkäufers für arglistiges Verhalten bei Unternehmenskauf – zugleich eine Stellungnahme zu § 444 BGB n.F., BB 2002, 417; Larisch, Gewährleistungshaftung beim Unternehmens- und Beteiligungskauf, Diss. 2004; Matusche-Beckmann in Staudinger, BGB, 2014, § 434 Rz. 183 ff.; Raschke/Reiche/Seibt, Rechtsfragen der Haftungsbegrenzung bei Garantien (§ 444 BGB n.F.) und M + A-Transaktionen, NZG 2002, 256; Schröcker, Unternehmenskauf und Anteilskauf nach der Schuldrechtsreform, ZGR 2005, 63; Weigl, Auswirkungen der Schuldrechtsreform auf den Unternehmenskauf, DNotZ 2005, 246; Wolf/Kaiser, die Mängelhaftung beim Unternehmenskauf 362 Rechtstatsächliche Untersuchung von MAC-Klauseln in deutschen Übernahmeangeboten durch Hornung/Zanconato, ZBB 2011, 412; Hopt, MAC-Klauseln im Finanz- und Übernahmerecht, in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 681; Picot/Duggal, DB 2003, 2365; zur Auslegung Kuntz, DStR 2009, 377; zum US-amerikanischen Recht Schlößer, RIW 2006, 889; Lange, NZG 2005, 454; zur Streiterledigung Borris, BB 2008, 294. 363 Zugänglich über www.bafin.de („Publikationen & Daten“/„Datenbanken“).
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Kap. 9 Rz. 9.204
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
nach neuem Recht, DB 2002, 411; Wunderlich, Die kaufrechtliche Haftung beim Asset Deal nach dem SchuldRModG, WM 2002, 981.
I. Gesetzliche Regelung der Gewährleistung 9.204 Früher war umstritten, ob und inwieweit Leistungsstörungen beim Unternehmenskauf dem kaufrechtlichen Gewährleistungsrecht unterfallen. Die Rechtsprechung war seit langem der Auffassung, dass das Recht der Sachmängelhaftung (§§ 459 ff. BGB a.F.) grundsätzlich anwendbar sei.364 Das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz vom 26.11.2001 (SMG)365 hat dies bekräftigt: Unternehmen sind „sonstige Gegenstände“ i.S.v. § 453 Abs. 1 BGB, auf die die allgemeinen Vorschriften über Mängel des Kaufgegenstandes entsprechende Anwendung finden.366 Vertragliche Regelungen gehen jedoch vor. Namentlich bei bedeutenderen Akquisitionen ersetzen sie praktisch stets die gesetzlichen Regeln. Dessen ungeachtet bilden die gesetzlichen Bestimmungen die Grundlage, auf der die Unternehmenskaufverträge aufbauen. 1. Gegenstand der Mängelrechte beim Asset Deal
9.205 Kaufgegenstand und damit Gegenstand der Mängelrechte des Käufers ist das Zielunternehmen als ein „Inbegriff von Sachen, Rechten und sonstigen Vermögenswerten“.367 Der Verkäufer ist verpflichtet, dem Käufer das Zielunternehmen frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen (§ 433 Abs. 1 BGB). Das Zielunternehmen umfasst regelmäßig eine Vielzahl von Wirtschaftsgütern, ist aber nicht identisch mit deren Summe. Die Wirtschaftsgüter können in sehr unterschiedlichem Zustand sein. Maschinen oder Fahrzeuge mögen mehr oder weniger abgenutzt sein. Sie können von Dritten geleast oder mit Rechten Dritter belastet sein. Das macht aber noch nicht das Zielunternehmen selbst mangelhaft. Mängel einzelner Wirtschaftsgüter sind vielmehr nur dann gewährleistungsrechtlich relevant, wenn sie so schwer wiegend sind, dass sie das Zielunternehmen im Ganzen beeinträchtigen.368 Der Käufer eines Unternehmens hat Gewährleistungsansprüche nur in Bezug auf das Zielunternehmen, nicht aber stattdessen oder außerdem in Bezug auf die einzelnen Wirtschaftsgüter, die das Unternehmen umfasst.369 Zur Mangelhaftigkeit des Zielunternehmens s. Rz. 9.211 ff. 364 St. Rspr., vgl. BGH v. 25.3.1998 – VIII ZR 185/96 (II 2b bb), BGHZ 138, 195 = GmbHR 1998, 635 m.w.N.; Hiddemann, ZGR 1982, 435 (441). 365 BGBl. I 2001, 3137. 366 Reg. Begr. BT-Drucks. 14/6040, 242; allg. Auffassung, vgl. Palandt/Weidenkaff, § 453 BGB Rz. 7; Grunewald in Erman, § 453 BGB Rz. 20 ff. 367 BGH v. 28.11.2001 – VIII ZR 37/01 (II 1a), MDR 2002, 467 = NJW 2002, 1042 mit Abgrenzung zum Erwerb nur einzelner Wirtschaftsgüter unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Senats. 368 BGH v. 7.1.1970 – I ZR 99/68 (II 3a), NJW 1970, 556: „Fehler an einzelnen Gegenständen der veräußerten Vermögensmasse machen keineswegs zwangsläufig das ganze Unternehmen mangelhaft“, OLG Köln v. 29.1.2009 – 12 U 20/08, Ls. 1 und Rz. 33 ff., DB 2009, 2259 mit umfangreichen Nachweisen; dazu Picot, DB 2009, 2587 m.w.N. 369 BGH v. 7.1.1970 – I ZR 99/68, NJW 1970, 556 gewährte allerdings Rechtsmängelansprüche für Rechtsmängel bei einzelnen mitübertragenen Mietrechten, weil nicht einzusehen sei, dass derjenige, der ein Recht isoliert verkaufe, der strengen Rechtsmängelhaftung des § 437 BGB a.F. unterliege, während derjenige, der das Recht im Rahmen einer Unternehmensveräußerung verkaufe, die Privilegierung der Haftung für Sachmängel genieße; die damaligen Überlegungen des BGH sind unter dem neuen Recht wegen der Gleichbehandlung von Rechts- und Sachmängeln (vgl. § 435 BGB) gegenstandslos.
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Weber
F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
Rz. 9.209 Kap. 9
2. Gegenstand der Mängelrechte beim Share Deal Beim Share Deal erwirbt der Käufer unmittelbar lediglich Beteiligungsrechte. Diese können Rechtsmängel haben, vor allem nicht dem Verkäufer, sondern einem Dritten gehören, aber auch z.B. mit einem Pfandrecht oder einem Nießbrauch belastet sein. Ein Rechtsmangel des Beteiligungsrechts ist es auch, wenn die Gewinnbeteiligung oder das Stimmrecht nicht in vollem Umfang bestehen370 oder wenn sich die Gesellschaft in Liquidation befindet,371 anders aber, wenn die Gesellschaft „bloß überschuldet“ ist.372 Das Gleiche gilt für offene Einlageschulden.373 Für Mängel der Beteiligungsrechte haftet der Verkäufer gem. § 435 BGB.
9.206
Dagegen haftet der Verkäufer nicht ohne weiteres für Mängel des Unternehmens, welches von der Gesellschaft betrieben wird, an der der Käufer Beteiligungsrechte erwirbt. Jedoch hat schon das Reichsgericht entschieden, dass jedenfalls der Erwerber sämtlicher Beteiligungsrechte der Zielgesellschaft Gewährleistungsansprüche auch wegen Mängeln des von der Zielgesellschaft betriebenen Unternehmens haben kann.374 Diese Auffassung hat sich allgemein durchgesetzt.375 Hinsichtlich der Mangelhaftigkeit einzelner zum Unternehmen gehörender Sachen gilt vorstehend Rz. 9.205.
9.207
Das Gleiche gilt, wenn „nahezu sämtliche“ Beteiligungsrechte erworben werden.376 Das ist der Fall, wenn lediglich Zwerganteile377 beim Veräußerer bleiben oder an Dritte veräußert werden. Dagegen wurde nur ein Rechtskauf beim Erwerb von 40 %, 49 % und von 60 %378 der Beteiligungsrechte angenommen. Für etwaige Mängel des Unternehmens haftet der Verkäufer nach dieser Rechtsprechung in solchen Fällen jedenfalls nicht nach Gewährleistungsrecht.
9.208
Eine abschließende Klärung der Frage, ab welcher Mehrheit der Beteiligungskauf in einen Unternehmenskauf „umschlägt“, bei dem der Verkäufer für Mängel des Unternehmens – und nicht nur für Mängel der Beteiligungsrechte – haftet, ist bisher nicht erfolgt.379 Das OLG München hat den Erwerb von 75 % der Geschäftsanteile an einer GmbH für ausreichend erachtet.380 Der BGH neigt dazu, dem Käufer Gewährleistungsansprüche wegen Mängeln des
9.209
370 Vgl. Huber, ZGR 1972, 395. 371 RGZ 92, 73 (76). 372 BGH v. 2.6.1980 – VIII ZR 64/79 (I 3), GmbHR 1980, 204 = MDR 1980, 1015 = NJW 1980, 2408; OLG München v. 7.5.2008 – 20 U 5630/07. 373 RGZ 96, 227 (230); Prölss, ZIP 1991, 337 Fn. 5; Wälzholz, DStR 2002, 500 (501); a.A. Grunewald, NZG 2003, 372 (373). 374 RGZ 86, 146; RGZ 120, 283. 375 Vgl. BGH v. 24.11.1982 – VIII ZR 263/81 (II 1), BGHZ 85, 367 = MDR 1983, 394 = WM 1983, 93; BGH v. 25.3.1998 – VIII ZR 185/96 (II 2b aa), BGHZ 138, 204 = BB 1998, 1171 betraf ebenfalls den Verkauf von 100 % der Beteiligungsrechte, doch stellte der BGH vor allem darauf ab, dass der Vertrag detaillierte Regelungen zur Übergabe und Überleitung des Unternehmens enthielt. 376 BGH v. 4.4.2001 – VIII ZR 32/00 Rz. 14, MDR 2001, 1002 = GmbHR 2001, 516. 377 BGH v. 27.2.1970 – I ZR 103/68, WM 1970, 819 die Zurückhaltung von 0,25 % betreffend. 378 BGH v. 4.4.2001 – VIII ZR 32/00 (II 1), MDR 2001, 1002 = GmbHR 2001, 516 m. Anm. Bärwaldt = DB 2001, 1298 (40 %); BGH v. 12.11.1975 – VIII ZR 142/74 (II 1), BGHZ 65, 246 = BB 1976, 11 (49 %); BGH v. 2.6.1980 – VIII ZR 64/79 (II 2f), GmbHR 1980, 204 = MDR 1980, 1015 = DB 1980, 1786 (60 %). 379 Vgl. Grunewald, NZG 2003, 372; Hilgard, BB 2016, 1218 (1220). 380 OLG München v. 25.3.1998 – 7 U 4926/97 Rz. 47, GmbHR 1998, 934 = GmbHR 1999, 35 = DB 1998, 1321.
Weber 883
Kap. 9 Rz. 9.210
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
von der Zielgesellschaft betriebenen Unternehmens erst dann zuzubilligen, wenn der Käufer wirtschaftlich im Wesentlichen die Stellung eines Alleinunternehmers erlangt hat. Das dürfte überall dort nicht der Fall sein, wo aufgrund des Gesellschaftsvertrages oder von Gesetzes wegen Minderheitenrechte bestehen.381 In der Literatur bestehen unterschiedliche Auffassungen, ab welcher Beteiligungshöhe der Beteiligungskauf zum Unternehmenskauf wird und demgemäß Gewährleistungsansprüche des Käufers für Mängel des Unternehmens entstehen können.382 Für die M&A-Praxis ist von Bedeutung, dass bei Share Deals, die weniger als ca. 95 % der Beteiligungsrechte an der Zielgesellschaft umfassen, nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung wohl kein Unternehmens-, sondern lediglich ein Beteiligungskauf angenommen wird. In all diesen Fällen besteht für den Käufer die Gefahr, dass er durch das gesetzliche Gewährleistungsrecht bei Mängeln des Zielunternehmens nicht geschützt wird. Er kann aber vertraglich Vorsorge treffen.
9.210 Ein Sonderproblem stellt sich, wenn eine Kapitalbeteiligung aufgestockt wird. Der BGH nahm einen Unternehmenskauf an, als ein Erwerber, der zunächst 50 % des Grundkapitals erworben hatte, die restlichen 50 % erwarb. Allerdings wies der Sachverhalt die Besonderheit auf, dass der Erwerb in mehreren Akten aufgrund eines Rahmenvertrages erfolgte, in dem die etappenweise Übernahme des gesamten Grundkapitals vorgesehen war.383 Anderenfalls dürfte im Falle der Aufstockung einer Beteiligung lediglich ein Rechtskauf vorliegen.384 3. Mangelhaftigkeit des Zielunternehmens a) Die Beschaffenheit des Zielunternehmens
9.211 Wenn ein Unternehmen Gegenstand des Kaufvertrages ist, bestimmen sich die gesetzlichen Gewährleistungsansprüche nach §§ 434 ff. BGB. Gemäß § 434 Abs. 1 Satz 1 BGB ist die Kaufsache (das Unternehmen) mangelhaft, wenn sie bei Gefahrübergang nicht die vereinbarte Beschaffenheit hat. Falls eine Beschaffenheitsvereinbarung nicht getroffen wurde, kommt es darauf an, ob die Kaufsache zu der „nach dem Vertrag vorausgesetzten Verwendung“ geeignet ist. Falls es an einer vertraglich vorausgesetzten Verwendung fehlt, kommt es darauf an, ob sich die Kaufsache für die gewöhnliche Verwendung eignet und eine Beschaffenheit aufweist, die bei „Sachen der gleichen Art“ üblich ist (§ 434 Abs. 1 Satz 2 BGB). All dies gilt entsprechend auch für den Unternehmenskauf (§ 453 Abs. 1 BGB). Da Unternehmen typischerweise individuelle Gebilde sind, wird man selten auf den Vergleichsmaßstab „Sachen gleicher Art“ zurückgreifen können.385 Vorrangig geht es um die „vereinbarte Beschaffenheit“, allenfalls um die „nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung“. 381 Vgl. Hiddemann, ZGR 1982, 435 (441); 10 % Beteiligung am Stammkapital einer GmbH berechtigen, die Einberufung einer Gesellschafterversammlung zu verlangen und die Aufnahme von Tagesordnungspunkten (§ 50 GmbHG). Im Aktienrecht knüpfen verschiedene Minderheitenrechte an eine Beteiligung von 5 % bzw. an einen anteiligen Betrag von 500 000 Euro an (§§ 122, 258 Abs. 1, 265 Abs. 3 AktG); vgl. auch die Sperre gegen Eingliederung oder Squeezeout (5 % zzgl. eine Aktie, vgl. §§ 320, 327a AktG). 382 Palandt/Weidenkaff, § 453 BGB Rz. 23 verlangt eine Beteiligung von mindestens 80 %; Gaul, ZHR 166 (2002), 35 (39) will anscheinend unter dem seit 1.1.2002 geltenden Kaufrecht auch geringere Beteiligungen genügen lassen. 383 BGH v. 23.11.1979 – I ZR 161/77, DB 1980, 679. 384 Vgl. Hiddemann, ZGR 1982, 435 (441). 385 Etwas anderes mag für sog. Vorratsgesellschaften gelten, also Gesellschaften, die ohne eigenen Geschäftszweck ausgestaltet sind und von ihren Inhabern vorgehalten werden, um als schnell verfügbare Vehikel für beliebige Zwecke zu dienen.
884
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F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
Rz. 9.213 Kap. 9
Das Gesetz definiert den in § 434 Abs. 1 Satz 1 BGB verwandten grundlegenden Begriff der 9.212 „Beschaffenheit“ bewusst nicht.386 Klar ist, dass der Begriff „Beschaffenheit“ keine engere Bedeutung haben soll als der Eigenschaftsbegriff des alten Rechts, das bis zum 31.12.2001 gegolten hat. Jedenfalls in all den Fällen, in denen die Rechtsprechung in der Vergangenheit annahm, dass das Zielunternehmen fehlerhaft war oder zugesicherte Eigenschaften nicht hatte, ist nach dem seit dem 1.1.2002 geltenden Kaufrecht anzunehmen, dass das Zielunternehmen die vertragsmäßige Beschaffenheit nicht hat und damit einen Mangel i.S.v. § 434 BGB aufweist.387 Zur Beschaffenheit des Zielunternehmens gehören somit weiterhin die physischen Umstände, die dem Zielunternehmen für eine gewisse Dauer „anhaften“.388 Auf die Beispiele aus der Rechtsprechung sei verwiesen.389 Aber auch bestimmte Beziehungen tatsächlicher, wirtschaftlicher oder rechtlicher Natur wurden als Eigenschaften des Zielunternehmens aufgefasst und konnten im Falle einer für den Käufer ungünstigen Abweichung von dem vertraglich geschuldeten Zustand des Unternehmens von Gesetzes wegen zu einem Gewährleistungsanspruch führen. Dies gilt etwa für die Ertragsfähigkeit des Zielunternehmens.390 Das OLG Koblenz hat auch die Freiheit der das Zielunternehmen tragenden GmbH von Gesellschaftsschulden als (zusicherungsfähige) Eigenschaft des Zielunternehmens angesehen.391 All diese Umstände gehören auch zur „Beschaffenheit“ des Zielunternehmens i.S.v. § 434 BGB.392 Es fragt sich jedoch, ob der neue Beschaffenheitsbegriff in einem weiteren Sinn zu verstehen ist. Tatsächlich wollte der Gesetzgeber mit der Neuregelung des Gewährleistungsrechtes u.a. die Unterscheidungen überflüssig machen, mit denen unter dem alten Recht Eigenschaften und Fehler des Zielunternehmens von sonstigen Umständen abgegrenzt wurden, die das Zielunternehmen betrafen.393 Die Unterscheidung hatte praktische Bedeutung vor allem für Unternehmenskennzahlen wie Umsatz und Ertrag des Zielunternehmens394 (soweit sie sich nicht auf einen längeren Zeitraum bezogen und deshalb die Ertragsfähigkeit des Zielunter386 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 213. 387 Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 12; Roth, NJW 2004, 330; Schmidt-Räntsch, AnwBl. 2003, 529 (531). 388 So die etwas metaphorische Formulierung in BGH v. 12.11.1969 – I ZR 93/67 (II 1a), NJW 1970, 653. 389 Schwerwiegende Fehlbestände an Gegenständen, die für den Betrieb des Unternehmens von grundlegender Bedeutung sind (Gerüste), BGH v. 14.7.1978 – I ZR 154/76, DB 1978, 2376; fehlendes Leergut bei Getränkegroßhandel, BGH v. 18.1.1974 – I ZR 17/73, WM 1974, 312; technische Unbrauchbarkeit des Hauptproduktes, BGH v. 9.11.1977 – VIII ZR 40/76, WM 1978, 59; mängelbehafteter Maschinenpark, BGH v. 8.2.1995 – VIII ZR 8/94, MDR 1995, 682 = NJW 1995, 547; der Ruf eines verkauften Beherbergungsbetriebes, BGH v. 3.7.1992 – V ZR 97/91 (II 2), MDR 1992, 936 = NJW 1992, 2564 in Fortführung der RG-Rechtsprechung RGZ 67, 86. 390 BGH v. 8.2.1995 – VIII ZR 8/94 (I 2c), MDR 1995, 682 = NJW 1995, 547; BGH v. 5.2.1998 – VIII ZR 222/87 (II 2), NJW-RR 1989, 306; BGH v. 11.11.1987 – VIII ZR 304/86, NJW-RR 1998, 744; nicht aber das Vorhandensein bestimmter Charaktereigenschaften des wesentlichen Mitarbeiters einer verkauften Steuerberaterpraxis, BGH v. 16.1.1991 – VIII ZR 335/89, MDR 1991, 689 = NJW 1991, 1223. 391 OLG Koblenz v. 22.1.1991 – 3 U 1859/90, GmbHR 1992, 49 (zweifelhaft). 392 Anders Faust in Bamberger/Roth, § 434 BGB Rz. 23, der nur physische Umstände zur Beschaffenheit des Zielunternehmens rechnen will. 393 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 212. 394 Vgl. BGH v. 6.12.1995 – VIII ZR 192/94, NJW-RR 1996, 313; bestätigt durch BGH v. 4.4.2001 – VIII ZR 33/00 (II 1a), NJW 2001, 483 (Vorlage einer unrichtigen betriebswirtschaftlichen Auswertung).
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9.213
Kap. 9 Rz. 9.214
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
nehmens und damit doch eine Eigenschaft desselben betrafen395) oder für die Zusammensetzung der Umsätze des Zielunternehmens oder die Gesellschaftsschulden.396 All diese Umstände wurden nicht zu den Eigenschaften des Zielunternehmens im Sinne des kaufrechtlichen Gewährleistungsrechts gerechnet. Hatte der Verkäufer hierzu falsche Angaben gemacht, standen dem Käufer daher nicht die Gewährleistungsansprüche der §§ 459 ff. BGB a.F. zu, sondern gegebenenfalls Ansprüche aus dem Rechtsinstitut des Verschuldens bei Vertragsanbahnung (culpa in contrahendo – c.i.c.; seit 2002: § 311 Abs. 2 BGB). Hätte man sie als Eigenschaften i.S.v. § 459 BGB a.F. aufgefasst, so hätte dem Käufer bei fahrlässigen Falschangaben hierzu ein Schadensersatzanspruch versagt werden müssen. Denn das Gewährleistungsrecht ist nach gefestigter und auch weiterhin geltender Rechtsprechung eine Sonderregelung, die es ausschließt, dass fahrlässige Falschangaben des Verkäufers zu Eigenschaften der Kaufsache Schadensersatzansprüche aus c.i.c. begründen können, s. Rz. 9.233. Der Käufer war daher nach altem Recht bei Fehlern des Zielunternehmens grundsätzlich auf die Rechtsbehelfe der Wandelung und Minderung beschränkt. Nur wenn der Verkäufer Eigenschaften zugesichert oder arglistig gehandelt hatte, konnte der Käufer außerdem Schadensersatz gem. § 463 BGB a.F. verlangen. Die Ansprüche verjährten in sechs Monaten ab Gefahrübergang (§ 477 BGB a.F.). Mit einem engen Eigenschafts- bzw. Fehlerbegriff suchte die Rechtsprechung den Anwendungsbereich des kaufrechtlichen Gewährleistungsrechts zu beschränken, um den Anwendungsbereich des Rechtsinstituts der c.i.c. zu erweitern.
9.214 Nach dem seit 1.1.2002 geltenden Gewährleistungsrecht kann demgegenüber der Käufer eines Unternehmens, das die vertragsmäßige Beschaffenheit nicht hat, nicht nur dann einen Schadensersatzanspruch haben, wenn der Verkäufer eine besondere Zusicherung gemacht oder arglistig gehandelt hat. Vielmehr genügt einfaches Verschulden des Verkäufers, wenn er den Mangel nicht rechtzeitig beseitigt (vgl. §§ 437 Nr. 3; 440 BGB und nachstehend Rz. 9.227 ff.). Überdies gilt für Gewährleistungsansprüche nunmehr immerhin regelmäßig die zweijährige Verjährungsfrist gem. § 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB (s. Rz. 9.229 f.) und nicht mehr die für den Unternehmenskauf ganz ungeeignete kurze Frist von sechs Monaten.
9.215 Es darf vermutet werden, dass sich die Rechtsprechung anders entwickelt hätte, wenn das alte Gewährleistungsrecht dem Käufer bei Sachmängeln des Zielunternehmens die Rechte eingeräumt hätte, die ihm nach neuem Recht zustehen.397 Andererseits hat die bisherige Rechtsprechung zum Unternehmenskaufrecht, die durch einen engen Eigenschafts- und Fehlerbegriff und einen weiten Anwendungsbereich der c.i.c. gekennzeichnet war, insgesamt zu befriedigenden Ergebnissen geführt. Es mag sein, dass die Begründung, mit der Unternehmenskennzahlen von Unternehmenseigenschaften abgegrenzt wurden, nicht überzeugen konnte. Gegen die Ergebnisse ist aber nichts einzuwenden. Es besteht daher keine Veranlassung, von dieser bewährten Rechtsprechung abzugehen und durch eine weite Auslegung des Beschaffenheitsbegriffes i.S.v. § 434 BGB den Anwendungsbereich des Gewährleistungsrechtes
395 BGH v. 5.10.1988 – VIII ZR 222/87, NJW-RR 1989, 306; BGH v. 25.5.1977 – VIII ZR 186/75, BGHZ 69, 53 = NJW 1977, 1536; dass die Ertragsfähigkeit eine Eigenschaft des Zielunternehmens sein kann, ist ausgesprochen in BGH v. 8.2.1995 – VIII ZR 8/94 (I 2c), MDR 1995, 682 = DB 1995, 972; BGH v. 11.11.1987 – VIII ZR 304/86, NJW 1988, 744. 396 Zutreffend Grunewald, ZGR 1981, 622 (625). 397 Nach der Gesetzesbegründung zum SMG sollen die Gründe, die den BGH zu einer weiten Anwendung des Rechtes der c.i.c. veranlasst haben, durch das seit 1.1.2002 geltende Kaufrecht „weithin entfallen“, BT-Drucks. 14/6040, 242.
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Rz. 9.218 Kap. 9
gegenüber dem früheren Rechtszustand zu Lasten des Anwendungsbereiches der c.i.c. zu erweitern. Der Gesetzeswortlaut zwingt zu einer solchen Änderung nicht. Es sollte daher bei der bisherigen Abgrenzung der Anwendungsbereiche des Gewährleistungsrechts einerseits und des Rechtsinstituts der c.i.c. andererseits bleiben. Ob die Rechtsprechung zum Unternehmenskaufrecht dabei bleibt oder ob sie insoweit einen „Paradigmenwechsel“398 vollzieht, muss abgewartet werden. Für die Praxis bei größeren Unternehmensakquisitionen hat diese Problematik ohnehin nur geringe Bedeutung, weil die Vertragsparteien die Umstände, für die der Verkäufer einzustehen hat, in umfangreichen Garantiekatalogen zu vereinbaren und auch die Rechtsfolgen bei Verletzung der Garantien vertraglich festzulegen pflegen. b) Beschaffenheitsvereinbarung und nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung (§ 434 Abs. 1 BGB) Eine Beschaffenheitsvereinbarung ist ein Vertrag. Sie kann grundsätzlich auch konkludent 9.216 getroffen werden. Bedarf allerdings der Unternehmenskaufvertrag einer besonderen Form, so erstreckt sich das Formerfordernis auch auf die Beschaffenheitsvereinbarung.399 Das ist insbesondere der Fall, wenn ein Asset Deal auch Grundstücke umfasst (§ 311b BGB) oder wenn ein Share Deal Geschäftsanteile an einer GmbH betrifft (§ 15 Abs. 3 und 4 GmbHG). Allerdings wird das Formerfordernis schon dann erfüllt, wenn die Beschaffenheitsvereinbarung im beurkundeten Vertrag einigermaßen deutlich anklingt („Andeutungstheorie“). Eine ausführliche Niederlegung ist nicht erforderlich.400 Überdies werden Formmängel von Grundstücks- und Geschäftsanteilskaufverträgen durch Auflassung und Eintragung im Grundbuch geheilt (§ 311b Abs. 1 Satz 2 BGB) bzw. durch die Abtretung der Geschäftsanteile (§ 15 Abs. 4 Satz 2 GmbHG). Haben die Parteien keine Beschaffenheitsvereinbarung getroffen, kommt es für die Bestimmung der eventuellen Mangelhaftigkeit des Zielunternehmens darauf an, ob es sich für die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung eignet. Auch insoweit ist eine vertragliche Regelung erforderlich, durch die ausdrücklich oder konkludent die von den Vertragsparteien gemeinsam vorgestellte Verwendung festgelegt wird. Nach der Regierungsbegründung sollte mit dieser Formulierung ohne inhaltliche Veränderung an die Fassung des § 459 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. angeknüpft werden.401 Auch die Verwendungsabrede402 bedarf daher der Vertragsform im vorerwähnten Sinne.
9.217
4. Die Gewährleistungsansprüche Die Gewährleistungsansprüche des Käufers bei Sachmängeln sind in § 437 BGB übersichtsartig aufgeführt und in den folgenden Bestimmungen im Einzelnen geregelt. Sie umfassen das Recht des Käufers (1) auf Nacherfüllung (§ 437 Nr. 1 BGB); (2) auf Rücktritt vom Vertrag und Minderung des Kaufpreises (§ 437 Nr. 2 BGB); (3) auf Schadensersatz sowie auf Ersatz vergeblicher Aufwendung (§ 437 Nr. 3 BGB).
398 399 400 401 402
Schmidt-Räntsch, AnwBl. 2003, 529 (530). Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 18; Grigoleit/Herresthal, JZ 2003, 233 (239). BGH v. 23.3.1979 – V ZR 24/77, BGHZ 74, 116 = NJW 1979, 1350. Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 213. Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 22; Grigoleit/Herresthal, JZ 2003, 233 (239).
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9.218
Kap. 9 Rz. 9.219
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
a) Nacherfüllung (§§ 437 Nr. 1; 439 BGB)
9.219 In einer Reihe von Fällen kommt bei Unternehmenskaufverträgen ein Anspruch des Käufers auf Nacherfüllung in Betracht, z.B. bei einem Fehlbestand des Inventars403, soweit darin ein Unternehmensmangel liegt (s. Rz. 9.211 ff.), oder wenn das Zielunternehmen über bestimmte gewerbliche Schutzrechte, Konzessionen oder sonstige Rechtspositionen wie Bezugs- oder Lieferverträge nicht verfügt. Der Verkäufer muss diese Rechtspositionen im Wege der Nacherfüllung beschaffen. Er kann sich schadensersatzpflichtig machen, wenn er dies nicht tut. Ebenso verhält es sich beispielsweise, wenn das Zielunternehmen das vertraglich vereinbarte oder vorausgesetzte Eigenkapital nicht hat. Als Nacherfüllung kann der Käufer die Beseitigung des Mangels verlangen (§ 439 Abs. 1 Alt. 1 BGB). Ein Anspruch auf Lieferung einer mangelfreien Sache (§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB) scheidet beim Unternehmenskauf allerdings in aller Regel aus, weil das Unternehmen keine vertretbare Sache ist und deshalb eine Ersatzlieferung regelmäßig nicht in Betracht kommt. Eine Ausnahme mag für Vorratsgesellschaften gelten. b) Rücktritt und Minderung (§§ 437 Nr. 2, 440, 441 BGB)
9.220 Der Käufer kann vom Kaufvertrag nach näherer Maßgabe des § 440 BGB zurücktreten, wenn die Nacherfüllung unmöglich ist, vom Verkäufer zu Unrecht verweigert wird oder wenn sie fehlgeschlagen oder dem Käufer unzumutbar ist, es sei denn der Mangel wäre unerheblich (§ 437 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB). Dem kann der Fall gleichgestellt werden, dass der Rücktritt den Verkäufer unangemessen belasten würde.404 Im Fall des Rücktritts haben sich die Parteien gem. § 346 BGB die jeweils erlangten Leistungen zurückzugewähren oder, soweit die Rückgewähr ausgeschlossen ist, Wertersatz zu leisten. Der Käufer hat dabei aber nur für die von ihm in eigenen Angelegenheiten üblicherweise angewandte Sorgfalt einzustehen (§ 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BGB). Es sind also insbesondere (1) die Nutzungen, die der Käufer gezogen hat, herauszugeben; dies gilt jedoch nur insoweit, als es sich dabei nicht um das Ergebnis persönlicher Leistungen und Fähigkeiten des Betriebsinhabers handelt, wobei dieser Anteil notfalls gem. § 287 ZPO zu schätzen ist;405 (2) die Verwendungen, die der Käufer gemacht hat, nach näherer Maßgabe von § 347 BGB vom Verkäufer zu erstatten.
9.221 Wenn das Zielunternehmen auf den Käufer übergegangen ist, wird die Rückgängigmachung des Unternehmenskaufes für den Käufer problematisch und für den Verkäufer sehr belastend. Der Käufer trifft oft unmittelbar nach dem Unternehmensübergang geschäftliche Maßnahmen zur Integration des Zielunternehmens und dessen Neuausrichtung, die nur schwer und nur unter materiellen und immateriellen Einbußen rückgängig zu machen sind. Entsprechendes gilt für den Verkäufer. Ein einmal an den Käufer übertragener Kundenstamm kann häufig gar nicht zurück übertragen werden, weil die Kunden nicht bereit sind, den Wechsel zurück zum Verkäufer mit zu vollziehen.406 Die praktischen Schwierigkeiten, den vollzogenen Unternehmenskauf rückgängig zu machen, sind so groß, dass Käufer nur selten Rückgängig403 Vgl. die Fälle BGH v. 18.1.1974 – I ZR 17/73, WM 1974, 312 (fehlendes Leergut); BGH v. 14.7.1978 – I ZR 154/76, DB 1978, 2376 (Fehlbestand an Gerüsten). 404 So auch Grunewald in Erman, BGB, § 437 BGB Rz. 7. 405 BGH v. 12.5.1978 – V ZR 67/77, DB 1978, 1831 (Tankstellenbetrieb). 406 Vgl. den Fall BGH v. 14.1.2002 – II ZR 354/99, NJW 2002, 1340 m. Anm. Westermann, EWiR 2002, 515.
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Rz. 9.224 Kap. 9
machung begehren. In der Rechtsprechung zum Gewährleistungsrecht beim Unternehmenskauf finden sich nur wenige Fälle, in denen der Käufer den Unternehmenskaufvertrag gewandelt hat.407 Rückabwicklungsprobleme sind aber von der Rechtsprechung in Fällen behandelt worden, in denen die Erwerbsverträge fehlerhaft waren, sowie in einigen wenigen Rücktrittsfällen.408 Es bleibt freilich dabei, dass das Gesetz dem Käufer bei Mängeln des Unternehmens die, wenn auch eingeschränkte, Möglichkeit eröffnet, den Kaufvertrag rückgängig zu machen, wenn sich der Verkäufer dagegen nicht vertraglich schützt, s. dazu Rz. 9.267. § 441 BGB gewährt dem Käufer unter den dort näher bezeichneten Voraussetzungen einen 9.222 Anspruch auf Minderung. Das ist ein im Grundsatz sachgemäßer Rechtsbehelf. Freilich wird die Höhe des Minderungsbetrages häufig streitig sein. Im Interesse einer raschen Erledigung des Streites kommt die Vereinbarung einer Schieds- oder Schiedsgutachtervereinbarung in Betracht, wie sie auch für den Fall von Meinungsverschiedenheiten über die Ansätze der Abrechnungsbilanz getroffen werden kann (s.o. Rz. 9.181). c) Schadensersatz (§ 437 Nr. 3 BGB) Ist das Zielunternehmen mangelhaft, so steht dem Käufer auch das Recht auf Schadensersatz zu, wenn die Nacherfüllung nach näherer Maßgabe von § 440 BGB unterblieben ist und den Verkäufer ein Verschulden trifft oder wenn der Verkäufer eine Garantie für die Beschaffenheit der Kaufsache übernommen hat (§ 443 BGB). Zu unterscheiden sind
9.223
(1) der Anspruch auf Ersatz des Mangelschadens (§ 280 Abs. 1 BGB; sog. „kleiner“ Schadensersatz) und (2) der Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung (§ 281 BGB; sog. „großer“ Schadensersatz). Der Anspruch auf Ersatz des Mangelschadens schützt den Käufer, der am Vertrag festhält. Der Anspruch erstreckt sich auf alle Nachteile, die der Käufer in Folge der Mangelhaftigkeit des Zielunternehmens erleidet, auch auf den entgangenen Gewinn (§ 252 BGB) oder auf negative Auswirkungen, die das mangelhafte Zielunternehmen auf das Vermögen des Käufers im Übrigen haben mag. Der Anspruch umfasst ferner den Schaden, der dem Käufer dadurch entsteht, dass ihm das Zielunternehmen zwischen der Übergabe und der Erfüllung der Nachbesserungspflicht wegen des Mangels nicht den Nutzen gebracht hat, den es ihm
407 RGZ 67, 86 (88) (Absteigerquartier); BGH v. 11.11.1987 – VIII ZR 304/86, NJW-RR 1988, 744; BGH v. 18.4.1984 – VIII ZR 46/83, DB 1984, 2292; der Entscheidung BGH v. 4.4.2001 – VIII ZR 32/00, MDR 2001, 1002 = GmbHR 2001, 516 m. Anm. Bärwaldt = DB 2001, 1298, lag der Erwerb von 40 % des Stammkapitals einer GmbH zugrunde, ohne dass das Unternehmen auf den Käufer übertragen worden wäre. 408 BGH v. 4.5.1994 – VIII ZR 309/93, MDR 1994, 660 = DB 1994, 2392 (Rückabwicklung eines Vertrages über ein Sonnenstudio nach Bereicherungsrecht); BGH v. 5.7.2006 – VIII ZR 172/05, MDR 2006, 1155 = ZIP 2006, 1871 (bereicherungsrechtliche Rückabwicklung eines Praxiskaufvertrages) m. Anm. Buck-Heeb, BGHReport 2006, 1213 und Lorenz, LMK 2006, 189641; OLG Karlsruhe v. 4.7.1996 – 4 U 66/95, DB 1998, 717 (Rückabwicklung eines gescheiterten Unternehmenskaufs über ein Einzelhandelsgeschäft); OLG Frankfurt v. 1.12.1988 – 6 U (Kart) 36/87, WuW/E OLG 4323 (Rückabwicklung eines aus kartellrechtlichen Gründen nichtigen Gemeinschaftsunternehmens); K. Schmidt, Handelsrecht Unternehmensrecht I, § 5 Rz. 77 ff.; Schwintowski, JZ 1987, 588; Wiedemann/Heinemann, DB 1990, 1649.
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9.224
Kap. 9 Rz. 9.225
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
im Falle mangelfreier Beschaffenheit gebracht hätte (Betriebsausfallschaden).409 Darüber hinaus steht dem Käufer ein Schadensersatzanspruch wegen Verzuges zu, wenn der Verkäufer mit der Nacherfüllung in Verzug gerät. Der Mangelschaden schließt den Mangelfolgeschaden des bis 31.12.2001 alten Rechts ein. Die Unterscheidung ist durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz überflüssig geworden.410 Der Schadensersatzanspruch besteht auch bei unerheblichen Pflichtverletzungen des Verkäufers.
9.225 Der Käufer kann auch anstelle der Geltendmachung des Mangelschadens vom Kaufvertrag zurücktreten und Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen (sog. „großer“ Schadensersatz), wenn die Voraussetzungen der §§ 281, 283 oder 311a Abs. 2 BGB erfüllt sind. Das betrifft im Wesentlichen die Fälle, in denen der Verkäufer die Nacherfüllung zu Unrecht verweigert oder in denen die Nacherfüllung scheitert oder unmöglich oder dem Verkäufer unzumutbar ist, oder wenn der Verkäufer aus objektiven oder subjektiven Gründen von Anfang an nicht in der Lage war, das Zielunternehmen mangelfrei zu liefern. d) Aufwendungsersatz
9.226 Letztlich kann der Käufer anstelle des „großen“ Schadensersatzes Ersatz der von ihm im Vertrauen auf die Vertragserfüllung gemachten Aufwendungen verlangen (§§ 437 Nr. 3, 284 BGB). Das schließt die Transaktionskosten ein wie Kosten für Planung, Due Diligence, Vertragsverhandlungen und Vertragsabschluss. 5. Verschulden
9.227 Der Verkäufer eines mangelhaften Unternehmens hat allerdings nur dann Schadensersatz zu leisten, wenn er den Mangel zu vertreten hat (§ 437 Nr. 3 i.V.m. §§ 380, 311a BGB). Das Gesetz stellt eine Vermutung auf, dass der Schuldner eine Pflichtverletzung zu vertreten hat; dies gilt auch für den Verkäufer eines mangelhaften Unternehmens. Die Vermutung kann aber widerlegt werden (§ 280 Abs. 1 BGB).
9.228 Das Verschulden des Verkäufers kann darin liegen, dass er einen Mangel des Unternehmens herbeigeführt hat (z.B. dem Unternehmen zwischen Abschluss des Kaufvertrages und Übergabe an den Käufer Vermögenswerte entzogen hat, so dass es die vertraglich geschuldete Beschaffenheit bei der Übergabe nicht mehr aufweist). Das werden aber die selteneren Fälle sein. Zumeist wird das Verschulden des Verkäufers darin liegen, dass er eine bestimmte Beschaffenheit des Zielunternehmens zum Gegenstand des Kaufvertrags gemacht hat, obwohl er wusste oder wissen konnte, dass das Zielunternehmen die geschuldete Beschaffenheit nicht hat.411 Der Verkäufer muss sich dabei nicht nur eigene Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis zurechnen lassen, sondern auch für Dritte einstehen, derer er sich bei den Verkaufsverhandlungen bedient. So hat der BGH den Verkäufer eines Geschäftsanteils auch für das Fehlverhalten einer Person haften lassen, die durch Buchungsfehler überhöhte Gewinn-
409 Zutreffend Grunewald in Erman, BGB, § 437 BGB Rz. 13 m.w.N.; a.A. Dauner-Lieb/Dötsch, DB 2001, 2535 (2537). 410 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 224 (zu § 437 Nr. 3 RegE). 411 Palandt/Weidenkaff, § 437 BGB Rz. 37; Lorenz, NJW 2002, 2497 (2501); Grunewald in Erman, BGB, § 437 BGB Rz. 24.
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F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
Rz. 9.232 Kap. 9
ausweisungen verursacht hatte, welche in die Gewinn- und Verlustrechnung eingeflossen waren, die zum Gegenstand der Vertragsverhandlungen geworden war.412 6. Verjährung Ansprüche des Käufers auf Nacherfüllung oder Schadensersatz wegen Mängeln der Kaufsache verjähren nach näherer Maßgabe von § 438 Abs. 1 bis 3 BGB. Das Recht auf Rücktritt oder Minderung (§ 437 Nr. 2 BGB) kann grundsätzlich nur ausgeübt werden, solange der Nacherfüllungs- oder Schadensersatzanspruch nicht verjährt ist (§ 438 Abs. 4, 5 i.V.m. § 218 BGB). Diese Regeln gelten auch für den Unternehmenskauf.413
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§ 438 BGB sieht neben der zweijährigen Regelfrist verschiedene Verjährungsfristen für un- 9.230 terschiedliche Mängel vor: Bei Bauwerken gilt eine fünfjährige Frist; bei Rechtsmängeln, aufgrund derer ein Dritter die Herausgabe der Kaufsache verlangen kann, beträgt die Verjährungsfrist 30 Jahre. Für Mängel eines Unternehmens ist die zweijährige Regelfrist anzuwenden, und zwar auch hinsichtlich der zu dem Unternehmen gehörenden Bauwerke. Kaufgegenstand ist nicht das Bauwerk, sondern das Unternehmen als eine Sachgesamtheit. Die Gewährleistungsrechte knüpfen an Mängel des Unternehmens an, nicht an Mängel einzelner Sachen, die zu dem Unternehmen gehören (s. Rz. 9.192) Die Verjährungsfrist beginnt „mit der Ablieferung der Sache“ (§ 438 Abs. 2 BGB). Bei einem 9.231 Unternehmen entspricht dies der Übergabe des Unternehmens an den Käufer. Daraus ergeben sich Schwierigkeiten, wenn das Unternehmen in mehreren Teilakten übergeben wird. In diesen Fällen beginnt die Verjährungsfrist mit der Übergabe des letzten Teils der Sachgesamtheit.414 Beim Share Deal ist zu unterscheiden: Soweit Gewährleistungsrechte auf Mängel des Unternehmens gestützt werden (und nicht etwa auf Mängel der Beteiligungsrechte), ist konsequenterweise ebenfalls auf die Übergabe des Unternehmens an den Käufer abzustellen.415 Die Abtretung der Beteiligungsrechte spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Darauf kommt es allerdings dann an, wenn die Beteiligungsrechte selbst mangelhaft sind, z.B. mit Rechten Dritter belastet. In diesem Fall muss die von § 453 Abs. 1 BGB gebotene entsprechende Anwendung von § 438 BGB dazu führen, dass die Verjährung mit der Abtretung der 412 BGH v. 4.6.2003 – VIII ZR 91/02 (III 2b bb), MDR 2003, 1248 = BB 2003, 1695 in einer auf c.i.c. gestützten Entscheidung. 413 Zum alten Recht folgerte BGH v. 12.11.1975 – VIII ZR 142/74 (II 1), BGHZ 65, 246 = NJW 1976, 236 aus der Anwendbarkeit von §§ 459 ff. BGB a.F. als selbstverständlich, dass dann auch die sechsmonatige Verjährungsfrist gem. § 477 BGB a.F. gelte; so auch zuletzt Palandt/Putzo, 61. Aufl. 2002, § 477 BGB Rz. 2 und vor § 459 BGB Rz. 20, umstritten; hiervon abzugehen besteht unter neuem Recht keine Veranlassung, zumal der Hauptgrund für die Kritik an der alten Auffassung, nämlich die lediglich sechsmonatige Verjährungsfrist für Gewährleistungsansprüche gem. § 477 BGB wegen der neuen regelmäßigen Frist von zwei Jahren nicht mehr greift; ablehnend allerdings auch zum neuen Recht Canaris, Schuldrechtsmodernisierung 2002, Einführung S. XXVIII f., wonach die regelmäßige Verjährungsfrist gem. §§ 195 ff. BGB anzuwenden sein soll. 414 So BGH v. 27.4.1994 – VIII ZR 154/93, MDR 1994, 769 = NJW 1994, 1720 für den Kauf eines aus mehreren Teilstücken bestehenden Computersystems zu § 477 BGB a.F. 415 BGH v. 25.3.1998 – VIII ZR 185/96 (Ls. 2: „Ist der Kauf von GmbH-Geschäftsanteilen als Unternehmenskauf zu behandeln, so tritt der Gefahrübergang (§ 446 BGB) erst mit der Übergabe des Unternehmens ein.“), BGHZ 138, 195.
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Kap. 9 Rz. 9.233
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
Beteiligungsrechte (§ 398 BGB) beginnt, da die Abtretung des verkauften Rechtes am ehesten der Ablieferung einer verkauften Sache entspricht.416
II. Verschulden bei Vertragsanbahnung 1. Gewährleistung und Haftung für Verschulden bei Vertragsanbahnung a) Grundlagen
9.233 Gewährleistungsrecht und c.i.c. (§ 311 Abs. 2 i.V.m. §§ 280 ff. BGB) unterscheiden sich nach Voraussetzungen und Rechtsfolgen insbesondere in folgenden Punkten: (1) Das Gewährleistungsrecht gibt die verschuldensunabhängigen Ansprüche auf Rücktritt und Minderung bei unmöglicher, gescheiterter oder vom Verkäufer verweigerter Nacherfüllung (§ 437 Nr. 2 BGB), während das Institut der c.i.c. nur verschuldensabhängige Schadensersatzansprüche gem. §§ 280 ff. BGB kennt. (2) Der gewährleistungsrechtliche Schadensersatzanspruch ist an die besonderen Voraussetzungen des § 440 BGB geknüpft (in der Regel verweigerte oder gescheiterte Nacherfüllung), während für Ansprüche aus c. i c. diese Voraussetzung nicht gilt; allerdings wird die im Rahmen der c.i.c. geltende Schadensminderungsobliegenheit des Käufers gem. § 254 BGB häufig zu ähnlichen Anforderungen führen, wie sie § 440 BGB aufstellt. (3) Ansprüche aus Gewährleistung für Mängel des Zielunternehmens verjähren in zwei Jahren beginnend mit der Übergabe des Zielunternehmens (§ 438 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 453 Abs. 1 BGB), während für Ansprüche aus c.i.c. die allgemeinen Vorschriften gelten, insbesondere also die Regelverjährung von drei Jahren gem. § 195 BGB; sie beginnt nach näherer Maßgabe von § 199 BGB mit dem Ende des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger davon Kenntnis erlangt hat.
9.234 Trotz aller Unterschiede wird die Anwendung des Gewährleistungsrechts und des Institutes der c.i.c. auf denselben Sachverhalt regelmäßig zum gleichen Ergebnis führen. Schließlich setzen Schadensersatzansprüche aus kaufrechtlicher Gewährleistung bei Sachmängeln des Zielunternehmens ebenso wie Schadensersatzansprüche aus c.i.c. jeweils ein Verschulden des anderen Teils voraus. Dessen ungeachtet besteht aber weiterhin die grundsätzliche Notwendigkeit, den Anwendungsbereich des Gewährleistungsrechtes einerseits und den der c.i.c. andererseits voneinander abzugrenzen. In manchen Fällen wird auch das Ergebnis unterschiedlich sein, je nachdem, ob man den Sachverhalt gewährleistungsrechtlich würdigt oder als einen Fall der c.i.c. b) Abgrenzung
9.235 Der Verkäufer kann unter gewissen Voraussetzungen verpflichtet sein, dem Käufer Mängel des Zielunternehmens zu offenbaren, s. dazu näher sogleich Rz. 9.240 ff. Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach, können dem Käufer Ansprüche aus Verschulden bei Vertragsanbahnung (§ 311 Abs. 2 BGB) erwachsen. Eine solche Haftung kommt erst recht in Betracht, wenn der Verkäufer fehlerhafte Informationen zur Verfügung stellt oder Fragen des Käufers unrichtig beantwortet. Es kommt insoweit nicht darauf an, ob er verpflichtet gewesen wäre, den Umstand von sich aus zu offenbaren, da die Pflichtverletzung insofern in der fehlerhaften oder 416 So auch Palandt/Weidenkaff, § 438 BGB Rz. 16.
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F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
Rz. 9.238 Kap. 9
unrichtigen Offenlegung selbst liegt. Ob und wie diese Ansprüche nach der Übergabe des Zielunternehmens mit den Gewährleistungsansprüchen des Käufers konkurrieren417, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Der BGH hat sich dafür entschieden, dass Ansprüche wegen Verschuldens bei Vertragsschluss nach Übergabe der Kaufsache (Zielunternehmen) grundsätzlich durch die Gewährleistungsansprüche wegen Sachmängeln ausgeschlossen werden. Der Vorrang des Gewährleistungsrechts gilt jedoch jedenfalls nicht, soweit der Verkäufer den Käufer arglistig über die Beschaffenheit der Kaufsache getäuscht hat.418 Von dieser Rechtsprechung ist für die Praxis nunmehr auszugehen. Sie entspricht auch der h.M.419
9.236
Arglistig handelt der Verkäufer bereits dann, wenn er die Unrichtigkeit seiner Erklärung kennt oder sie zumindest für möglich hält und wenn er außerdem weiß oder doch damit rechnet und billigend in Kauf nimmt, dass der Käufer die Unrichtigkeit der Erklärung nicht kennt und den Kaufvertrag bei Kenntnis der wahren Umstände nicht oder nicht mit dem vereinbarten Inhalt abgeschlossen hätte.420 Die Arglistschwelle wird also eher niedrig angesetzt. Damit genießt der Käufer auch in den Fällen Schutz, in denen ihn der Verkäufer arglistig vom Abschluss einer Beschaffenheitsvereinbarung abgehalten hat.
9.237
c) Informationsmemoranden; Datenräume Für Informationen, die dem Käufer in Memoranden oder Datenräumen zur Verfügung gestellt werden, ergibt sich aus dem Gesagten: (1) Soweit die Informationen nicht die Beschaffenheit des Zielunternehmens betreffen, haftet der Verkäufer nach den Regeln der c.i.c. bei Verschulden (§§ 311 Abs. 2, 280 BGB); wenn der Verkäufer Angaben macht, müssen diese richtig sein, gleichgültig ob der Verkäufer verpflichtet war, überhaupt Angaben zu machen.421 Andernfalls stellt die Falschinformation eine Pflichtverletzung des Verkäufers dar. (2) Soweit die Informationen die Beschaffenheit des Zielunternehmens betreffen (und nicht vorsätzlich falsch sind), haftet der Verkäufer nach Übergang des Zielunternehmens nur nach Gewährleistungsrecht. Das setzt in der Regel insbesondere voraus, dass die betreffenden Umstände zum Gegenstand einer Beschaffenheitsvereinbarung gemacht werden. Ist dies unterblieben, haftet der Verkäufer weder aus c.i.c. noch nach Gewährleistungsrecht. Dies ist dem Käufer zuzumuten, da er die Möglichkeit hat, seine Interessen 417 Zur Abgrenzung auch Krämer/Gillessen in Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 10 Due Diligence und Prospekthaftung. 418 BGH v. 27.3.2009 – V ZR 30/08 (BGHZ 180, 205 = MDR 2009, 742) Ls. 2 und Rz. 19 ff. = NJW 2009, 2120 (Verschweigen einer Asbestkontamination) mit umfangreichen Nachweisen zum Streitstand. 419 Kritisch aber noch immer BeckOK/BGB/Faust, BGB, § 437 Rz. 190 m.w.N. 420 BGH v. 8.12.2006 – V ZR 249/05 (II 3a), MDR 2007, 644 = NJW 2007, 835 unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung des BGH auch aus der Zeit vor 2002 (arglistiges Verschweigen des Umstandes, dass bei starken Regenfällen Oberflächen- und Grundwasser in Garage und Keller der gekauften Immobilie eindrang). 421 BGH v. 27.3.2009 – V ZR 30/08, Ls. 1, BGHZ 180, 205 = MDR 2009, 742 = NJW 2009, 2120; BGH v. 20.9.1996 – V ZR 173/95, NJW-RR 1997 (Ls. 1: „Macht der Verkäufer eines Grundstücks tatsächliche Angaben, die für den Kaufentschluss des anderen Teiles von Bedeutung sein können, so müssen diese richtig sein, und zwar auch dann, wenn eine Offenbarungspflicht nicht bestand.“); OLG Düsseldorf v. 25.10.2013 – I-22 U 27/13.
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9.238
Kap. 9 Rz. 9.239
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
durch eine Beschaffenheitsvereinbarung zu wahren. Das mag schwierig sein, wenn es sich um große Mengen von Informationen handelt; unmöglich oder unzumutbar ist es nicht.
9.239 Hiervon ist der Fall zu unterscheiden, dass eine Beschaffenheitsvereinbarung zwar getroffen wird, aber formunwirksam ist, insbesondere weil sie in den Fällen des § 311b BGB und § 15 GmbHG nicht protokolliert wird. Die Auswirkungen auf den Unternehmenskaufvertrag sind nach allgemeinen Regeln zu beurteilen: Im Zweifel ist der Vertrag insgesamt nichtig (§ 139 BGB), allerdings mit der Heilungsmöglichkeit gem. § 311b Abs. 1 Satz 2 BGB (Auflassung des Grundstücks und Eintragung im Grundbuch) und § 15 Abs. 4 GmbHG (formwirksame Abtretung der Geschäftsanteile). 2. Offenbarungspflichten a) Grundlagen
9.240 Aus dem Grundsatz der Privatautonomie folgt, dass keine Partei von Gesetzes wegen verpflichtet ist, die andere vollständig über alle für die Beurteilung des Geschäftes relevanten Gesichtspunkte zu unterrichten. Wer einen Vertrag schließt, muss sich grundsätzlich selbst vergewissern, ob er für ihn von Vorteil ist. Insbesondere braucht ein Vertragsteil den anderen nicht auf Umstände hinzuweisen, von denen er annehmen darf, dass der andere ihn danach fragen würde, falls er auf diese Umstände Wert legte.422 Als Ausnahme dieses Grundsatzes besteht aber nach ständiger Rechtsprechung eine Offenbarungspflicht423 dann, „wenn das Verschweigen der Tatsache gegen Treu und Glauben verstoßen würde“.424 Das gilt insbesondere bezüglich solcher Umstände, die den Vertragszweck gefährden und für die Entschließung des anderen Teils von wesentlicher Bedeutung sein können, wenn „der andere Teil die Mitteilung nach der Verkehrsauffassung erwarten durfte“.425 Ein Belang von wesentlicher Bedeutung kann dabei etwa in der Überlebensfähigkeit des Unternehmens liegen, wenn es dem Käufer beim Erwerb erkennbar auf diesen Umstand ankam. Auch für den Fall, dass der Verkäufer eine öffentlich-rechtliche Körperschaft ist, wurde eine besondere Aufklärungspflicht bejaht.426 Erkennt ein Verhandlungspartner, dass der andere in einem wesentlichen Punkt irrt, muss er ihn auf den Irrtum hinweisen.427 Eine Offenbarungspflicht liegt auch nahe, wenn sich die Verhältnisse der Zielgesellschaft in der Zeit zwischen dem Stichtag des vom Verkäufer vorgelegten Status und dem Vertragsschluss wesentlich verschlechtert haben.428 Maßgebend sind die Umstände des Einzelfalles unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung.429 Im Rahmen des Unternehmenskaufs geht der BGH von einer gesteigerten 422 BGH v. 13.7.1988 – VIII ZR 224/87 (II 2b), MDR 1989, 57 = DB 1988, 2401, den Verkauf einer Arztpraxis betreffend. 423 Möller, NZG 2012, 841. 424 BGH v. 27.11.1985 – VIII ZR 316/84 (II 4b), BGHZ 96, 302 = MDR 1986, 401 = DB 1986, 475. 425 St. Rspr. BGH v. 14.3.1991 – VII ZR 342/89 (II 2a), BGHZ 114, 87 = MDR 1991, 764 = DB 1991, 1322; BGH v. 4.4.2001 – VIII ZR 33/00 Rz. 18; BGH v. 16.12.2009 – VIII ZR 38/09 (II 2a aa), MDR 2010, 309 = BB 2010, 1 m.w.N. 426 BGH v. 27.6.1991 – IX ZR 84/90, WM 1991, 1731. 427 BGH v. 4.10.1979 – VII ZR 11/79, MDR 1980, 223 = NJW 1980, 180 (vom Gegner erkannter Kalkulationsirrtum). 428 BGH v. 25.5.1977 – VIII ZR 186/75 (I 2b), BGHZ 69, 53 = DB 1977, 1451. 429 BGH v. 28.11.2001 – VIII ZR 37/01 (II 2a), MDR 2002, 467 = NJW 2002. 1042 (beschränkte Offenbarungspflicht, weil Erwerber das gekaufte Unternehmen nicht als selbständiges weiterführen wollte) mit Anm. Wagner, EWiR 2002, 327: OLG Brandenburg v. 24.11.2010 – 7 U 36/09 (Auf-
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F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
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Aufklärungspflicht aus, da es hier für den Käufer besonders schwierig sei, sich ein zutreffendes Bild vom Kaufgegenstand zu machen.430 Die Informationsasymmetrie zwischen Verkäufer und Käufer führe zu einer besonderen Schutzbedürftigkeit des Käufers. Allerdings betont der BGH, dass sich die Pflichten des Verkäufers unter gewissen Umständen auch reduzieren können. So bestehen gegenüber einem geschäftsgewandten Vertragspartner geringere Offenbarungspflichten als gegenüber einem unerfahrenen.431 Angesichts der verbreiteten Durchführung einer Due Diligence wird sich jedenfalls ein geschäftserfahrener Unternehmenskäufer immer seltener auf eine Verpflichtung des Verkäufers berufen können, ungefragt nachteilige Umstände zu offenbaren, die der Käufer mit einer üblichen Due Diligence bemerkt hätte. Vielmehr kann gerade von derartigen Käufern erwartet werden, konkreten Anhaltspunkten im Rahmen einer Überprüfung der Zielgesellschaft nachzugehen, um sich nicht selbst dem Vorwurf grober Fahrlässigkeit und dem damit einhergehenden Verlust der Gewährleistungsrechte nach § 442 BGB auszusetzen.432 Behauptet der offenbarungspflichtige Verkäufer, er habe den Käufer über bestimmte Tatsachen aufgeklärt, so trägt der Käufer die Beweislast für das von ihm behauptete Unterbleiben der Aufklärung, wobei ihm Erleichterungen nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast zu Gute kommen.433 Zumeist treffen die Offenbarungspflichten den Verkäufer. Ausnahmsweise kann jedoch auch der Käufer offenbarungspflichtig sein.434 b) Unternehmenskennzahlen Als Verletzung vertraglicher Aufklärungspflichten, die Ansprüche aus c.i.c. begründen kann, sind nach der hier vertretenen Auffassung insbesondere falsche Angaben zu den Unternehmenskennzahlen des Zielunternehmens anzusehen. Von der Rechtsprechung entschiedene Fälle betreffen (1) Umsatz und Ertrag des Zielunternehmens435 (im Gegensatz zu Umständen, die die Ertragsfähigkeit des Zielunternehmens betreffen);436
430
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klärungspflicht bezüglich Verschuldung der Zielgesellschaft) GmbHR 2011, 375; ebenso schon BGH v. 8.3.1998 – VIII ZR 378/96, NZG 1998, 506. Grundsätzliche Ausführungen im Zusammenhang mit vorvertraglichen Aufklärungspflichten bei einem Projektübernahmevertrag BGH v. 19.5.2006 – V ZR 264/05, BGHZ 168, 35 = MDR 2007, 74 = NJW 2006, 3139. BGH v. 4.4.2001 – VIII ZR 33/00 (II 1b), NJW 2002, 1042; eine gesteigerte Aufklärungspflicht ist auch anzunehmen, wenn der Käufer neben den Geschäftsanteilen Darlehensforderungen des Verkäufers gegenüber der (Tochter-)Gesellschaft erwirbt, vgl. OLG Düsseldorf v. 16.6.2016 – I-6 U 20/15, AG 2017, 124 = NZG 2017, 152 (155). BGH v. 6.7.1993 – XI ZR 12/93, BGHZ 123, 126 = MDR 1993, 861 = DB 1993, 1869 (Aufklärungsbedarf eines Kapitalanlegers); BGH v. 23.11.1979 – I ZR 161/77 (II 4), DB 1980, 679 (Aufklärungspflicht beim Aktienkauf, wenn Käufer selbst Aktionär ist). LG Hamburg v. 13.3.2015 – 315 O 89/13. BGH v. 2.2.1996 – V ZR 239/94, GmbHR 1996, 373 = AG 1996, 220 = MDR 1996, 1003 = NJW 1996, 1339 für den Fall streitigen Verschweigens von Grundstücksverunreinigungen mit Teerrückständen; BGH v. 12.11.2010 – VZR 181/09, Ls. 1, 2 mit Rz. 12, BGHZ 188, 43 = NJW 2011, 1280. Beispiel: OLG Hamm v. 9.1.1991 – 8 U 122/90, DB 1991, 799 die konkrete Absicht des Käufers zum Weiterverkauf der erworbenen Beteiligung betreffend. BGH v. 6.12.1995 – VIII ZR 192/94, NJW-RR 1996, 429; OLG München v. 26.7.2006 – 7 U 2128/06 Rz. 56 f. (falsche Angaben zum EBIT des Zielunternehmens) mit Anm. Weigl, DNotZ 2007, 713. BGH v. 8.2.1995 – VIII ZR 8/94 (I 2c), MDR 1995, 682 =NJW 1995, 1547 mit Anm. Schaetze, WiB 1995, 598.
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Kap. 9 Rz. 9.242
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
(2) sämtliche Verbindlichkeiten des Zielunternehmens, wenn diese dazu führen können, dass das Zielunternehmen insolvent oder überschuldet ist;437 (3) die Zusammensetzung der Umsätze.438 c) Sonstige Einzelfälle
9.242 Die Rechtsprechung hat es unter den konkreten Umständen des jeweiligen Falles als offenbarungspflichtigen Umstand angesehen, wenn die Durchführung eines Vertrages wegen schlechter eigener Vermögensverhältnisse gefährdet ist;439 dass das mit dem Verkauf einer chemischen Reinigung gleichzeitig vermietete Geschäftslokal den Unfallverhütungsvorschriften nicht entspricht;440 dass kurz vor Vertragsschluss 40 % des Wartungsumsatzes entfallen sind;441 dass der Ehegatte des Verkäufers beabsichtigt, ein Konkurrenzunternehmen zu eröffnen,442 dass mit einer unternehmerischen Beteiligung nicht nur (wie ausschließlich dargestellt) Chancen, sondern auch gewisse konkrete Risiken bis hin zur Insolvenzreife verbunden sind.443 d) Relevanter Personenkreis
9.243 Eine Offenbarungspflicht kann nur verletzen, wer den zu offenbarenden Umstand kennt oder mindestens für möglich hält, dass ein solcher Umstand vorliegt.444 Bei größeren Transaktionen ist nicht zweifelsfrei, auf wessen Kenntnis abzustellen ist. Verkauft beispielsweise eine Gesellschaft ihre Beteiligungsrechte an einer Tochtergesellschaft (Zielgesellschaft), mag es ihrer Art nach offenbarungspflichtige Umstände geben, die den an der Transaktion unmittelbar beteiligten Personen unbekannt sind, aber z.B. – gesetzlichen Vertretern oder Mitarbeitern der Zielgesellschaft; oder – gesetzlichen Vertretern oder Mitarbeitern der Verkäuferin bekannt sind. Außerdem kann es sein, dass von bestimmten Umständen nur einzelne externe Berater der Verkäuferin Kenntnis haben, z.B. die Investmentbank oder der Wirtschaftsprüfer, die den Datenraum eingerichtet haben.
9.244 Eine Offenbarungspflicht besteht jedenfalls insoweit, als gesetzliche Vertreter des Verkäufers oder rechtsgeschäftliche Vertreter, die den Verkäufer beim Abschluss der Transaktion vertreten, Kenntnis haben (§ 166 BGB). Im Übrigen kommt es darauf an, ob derjenige, der die
437 BGH v. 6.2.2002 – VIII ZR 185/00, MDR 2002, 832 Rz. 23. 438 BGH v. 13.7.1988 – VIII ZR 224/87, MDR 1989, 57 = DB 1988, 2401, eine Arztpraxis betreffend. 439 BGH v. 25.1.1984 – VIII ZR 227/82, GmbHR 1985, 51 = MDR 1984, 929 = NJW 1984, 2284. 440 BGH v. 16.1.1985 – VIII ZR 317/83, MDR 1985, 488 III, DB 1985, 1385. 441 BGH v. 6.12.1995 – VIII ZR 192/94, NJW-RR 1996, 429. 442 BGH v. 26.11.1986 – VIII ZR 260/85, MDR 1987, 401 = DB 1987, 783 mit Anm. Heinrichs, EWiR 1987, 347 (in casu verneinend). 443 Mit der Besonderheit des zugerechneten Verschuldens des Verhandlungsführers als Erfüllungsgehilfe des Verkäufers: BGH v. 4.7.2017 – II ZR 358/16 (II. 3,), MDR 2017, 1254 = NJW-RR 2017, 1117. 444 St. Rspr., vgl. BGH v. 30.4.2003 – V ZR 100/02 (II 2c), NJW 2003, 2380 für arglistiges Verschweigen i.S.v. § 463 Satz 2 BGB a.F.
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F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
Rz. 9.245 Kap. 9
Kenntnis hat, als „Wissensvertreter“ des Verkäufers anzusehen ist.445 Es gilt Ähnliches wie bei der Frage, welche Kenntnisse dem Käufer im Sinne des Ausschlusses von Gewährleistungsrechten zuzurechnen sind (vgl. Rz. 9.50 ff.). Wissensvertreter ist, wer nach der Arbeitsorganisation des Geschäftsherrn dazu berufen ist, im Rechtsverkehr als dessen Repräsentant bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung wahrzunehmen und die dabei gewonnenen Informationen an den Geschäftsherrn weiterzuleiten.446 Wissen von Organmitgliedern der Zielgesellschaft, die im Auftrag des veräußerungswilligen Gesellschafters dem Käufer Auskünfte über die Zielgesellschaft erteilen („Management Presentation“), muss sich der Veräußerer zurechnen lassen.447 Dagegen sind andere Personen, die zwar von einem an sich offenbarungspflichtigen Umstand Kenntnis haben, aber mit der Transaktion nicht befasst sind, nicht Wissensvertreter des Veräußerers.448 Sonstige Einzelfälle: Im Übrigen kommt es aber auf die Umstände des Einzelfalls an. Maß- 9.245 geblich ist dabei, inwieweit bei einer üblichen Anforderungen entsprechenden Organisation damit gerechnet werden kann, dass relevante Informationen den gesetzlichen oder den handelnden rechtsgeschäftlichen Vertretern bekannt sind. Insoweit kommt es darauf an, ob die in Frage stehende Information über den jeweiligen Umstand überhaupt gespeichert werden musste. Dies hängt davon ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie später rechtserheblich werden konnte, wobei auf den Zeitpunkt ihrer Wahrnehmung und nicht ihrer späteren Abrufung abzustellen ist. Jeder Organisationseinheit kommt daher eine Pflicht zur Wissensorganisation zu.449 Die Rechtsprechung hat eine Wissenszurechnung verneint beim Verkauf eines Grundstückes durch eine Gemeinde, dessen Baugrund teilweise aus Knollenmergel bestand. Dieser Umstand war zwar einem Sachbearbeiter im Baurechtsamt bekannt gewesen, nicht aber den mit der privatrechtlichen Veräußerung des Grundstückes befassten Mitarbeitern der Gemeindeverwaltung.450 Hingegen wurde das Wissen des Kassierers und des Leiters einer Bankzweigstelle, das diese in Wahrnehmung ihrer Aufgaben im Geschäftsverkehr erlangt hatten, der Bank zugerechnet.451 Weiter gehend wurde für eine GmbH & Co. KG entschieden, dass diejenigen Umstände dem Wissen des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH zuzurechnen seien, die in der Gesellschaft aufgezeichnet worden sind und nach Lage der Dinge aufgezeichnet werden mussten, soweit für den Geschäftsführer Anlass bestand, sich in der
445 Vgl. zur Wissenszurechnung im Rahmen von M&A-Transaktionen ausführlich Maier, Aufklärungspflichten und Wissenszurechnung beim Unternehmenskauf, S. 152 ff. 446 BGH v. 24.1.1992 – V ZR 262/90 (II 3a), BGHZ 117, 104 = MDR 1992, 480 = NJW 1992, 1099. 447 Der Veräußerer kann in solchen Fällen einen Ersatzanspruch gegen Geschäftsführer oder Vorstandsmitglieder der Zielgesellschaft haben, die falsche Auskünfte erteilen und dadurch Schadensersatzansprüche des Käufers gegen den Verkäufer begründen, s. dazu Berg, Der Direktanspruch des Veräußerers gegen den Geschäftsführer im Rahmen von M & A Transaktionen, NZG 2008, 641. Wegen direkter Ansprüche des Käufers gegen das die Auskunft erteilende Management der Zielgesellschaft s.u. Rz. 7.240. 448 BGH v. 23.10.1963 – V ZR 256/62, Ls. 2, zitiert nach juris. 449 BGH v. 12.11.1998 – IX ZR 145/98, NJW 1999, 284; BGH v. 15.1.2004 – IX ZR 152/00, MDR 2004, 891 = WM 2004, 720; BGH v. 15.12.2005 – IX ZR 227/04, MDR 2006, 951 = WM 2006, 194; BGH. v. 30.6.2011 – IX ZR 155/08, MDR 2011, 1204 = NJW 2011, 2791. 450 BGH v. 24.1.1992 – V ZR 262/90, BGHZ 117, 104 = MDR 1992, 480 = NJW 1992, 1099. 451 BGH v. 1.3.1984 – IX ZR 34/83, MDR 1984, 934 = NJW 1984, 1953; BGH v. 1.6.1989 – III ZR 261/87, MDR 1990, 29 = NJW 1989, 2879; BGH v. 1.6.1989 – III ZR 277/87, MDR 1990, 30 = NJW 1989, 2881.
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Kap. 9 Rz. 9.246
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
konkreten Verkaufssituation dieser Umstände zu vergewissern.452 Je gewichtiger die ihrer Art nach offenbarungspflichtigen Umstände sind, desto eher wird eine Wissenszurechnung stattzufinden haben. Ferner kommt es darauf an, wie nahe die Verkäuferin dem operativen Geschäft der Zielgesellschaft steht. Ist sie geschäftsführende Holding, so ist ihr das Wissen der Mitarbeiter im Konzern in weiterem Umfange zuzurechnen, als wenn sie sich auf die Beteiligungsverwaltung beschränkt oder wenn es sich um eine lediglich vermögensmäßig beteiligte Privatperson handelt. Ferner sind einer Wissenszurechnung auch in zeitlicher Hinsicht Grenzen zu setzen. Die Frage, wie lange Wissen nach seiner ursprünglichen Entstehung innerhalb eines Unternehmens noch zuzurechnen ist, bestimmt sich insofern im Rahmen des Einzelfalles mit Blick auf den Anlass seiner ursprünglichen Speicherung und einer möglichen erneuten Verwendung.453 Diese Einschränkung der Offenbarungspflichten belastet den Käufer nicht unangemessen, weil er die Möglichkeit hat, sich entsprechend vertraglich abzusichern. e) Erfüllung der Offenbarungspflicht
9.246 Welche Anforderungen der Veräußerer erfüllen muss, um seiner Offenbarungspflicht zu genügen, lässt sich nur im Einzelfall bestimmen. Die Aufklärung muss in angemessener Weise erfolgen. Negativ bedeutet dies, dass die offen zu legenden Umstände nicht in einem Wust von Informationen untergehen dürfen. Im Rahmen des vom Verkäufer eingerichteten Datenraumes müssen die Informationen im richtigen systematischen Zusammenhang stehen. Die relevanten Gesichtspunkte müssen hinreichend deutlich herausgestellt werden und dürfen nicht in beschönigenden Worten verborgen sein. Ob auf Informationen darüber hinaus gesondert hinzuweisen ist oder ob die Offenlegung im Rahmen eines Datenraumes genügt, hängt von der Bedeutung der Tatsachen für das konkrete Rechtsgeschäft ab. Die Anforderungen, die an Ad-hoc-Mitteilungen gem. Art. 17 VO 596/2014 (MAR) gestellt werden, können eine Richtschnur bilden. Der Verkäufer trägt die Beweislast dafür, dass er offenbarungspflichtige Umstände offen gelegt hat oder dass es einer Offenbarung nicht bedurfte, weil der Käufer die strittigen Umstände bereits kannte. Es gelten die Regeln über die sekundäre Beweislast.454 3. Rechtsfolgen
9.247 Verletzt der Verkäufer schuldhaft seine Verpflichtungen, indem er vorsätzlich oder fahrlässig falsche Angaben macht oder gebotene Offenbarungen unterlässt, steht dem Käufer ein Schadensersatzanspruch wegen Verletzung der Pflichten bei Vertragsanbahnung zu (soweit nicht die Beschaffenheit des Zielunternehmens betroffen ist und deshalb bei Fahrlässigkeit nach Gefahrübergang nur Gewährleistungsrecht statt c.i.c. anzuwenden ist). Der Käufer ist so zu stellen, wie er bei vollständiger und richtiger Offenbarung der für seinen Kaufentschluss erheblichen Umstände stünde.455 Der Verkäufer trägt die Beweislast dafür, dass der Schaden des Käufers auch bei pflichtgemäßer Aufklärung entstanden wäre.456 Für Verschulden der Personen, deren er sich zur Erfüllung seiner Aufklärungspflicht bedient, haftet er nach § 278 452 BGH v. 2.2.1996 – V ZR 239/94 (II C 2b), BGHZ 132, 30 = GmbHR 1996, 373 = AG 1996, 220 = MDR 1996, 1003 = NJW 1996, 1339 Aufklärungspflicht hinsichtlich Bodenkontaminierung bei Grundstücksverkauf. 453 Maier, Aufklärungspflichten und Wissenszurechnung beim Unternehmenskauf, S. 150 f. 454 BGH v. 12.11.2010 – V ZR 181/09, Ls. 2, 3, BGHZ 188, 43 = NJW 2011, 1280; dazu Krüger, ZNotP 2011, 442. 455 Vgl. BGH v. 5.10.1988 – VIII ZR 222/87, NJW-RR 1989, 306. 456 BGH v. 4.4.2001 – VIII ZR 33/00, Rz. 24 m.w.N.
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F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
Rz. 9.249 Kap. 9
BGB, insbesondere also auch für Fehler, die die von ihm mit der Bilanzerstellung beauftragten Personen begehen.457 Führt die dem Verkäufer zuzurechnende Pflichtverletzung dazu, dass der Käufer einen Vertrag abschließt, den er bei der gebotenen Aufklärung überhaupt nicht abgeschlossen hätte, so kann er Rückgängigmachung des Vertrages und darüber hinaus Ersatz für die fehlgeschlagenen Aufwendungen verlangen.458 Es ist Sache des Verkäufers, die Behauptung des Käufers zu widerlegen, er hätte bei zutreffenden Angaben des Verkäufers vom Vertragsschluss Abstand genommen.459 Der Käufer kann aber auch am Vertrag festhalten und als Schadensersatz den Betrag geltend 9.248 machen, um den er im Vertrauen auf die Richtigkeit der Angaben des Verkäufers „zu teuer gekauft hat“.460 Inhaltlich entspricht dies einem Minderungsanspruch. Nach den allgemeinen Regeln des Verschuldens bei Vertragsanbahnung kann Herabsetzung des Kaufpreises allerdings an sich nur begehrt werden, wenn der Käufer beweist, dass der Kaufvertrag bei pflichtgemäßem Verhalten des Verkäufers zu einem für den Käufer günstigeren Preis zustande gekommen wäre. Insbesondere gehört dazu eigentlich der Nachweis, dass der Verkäufer auch zu dem geringeren Preis abgeschlossen hätte. Dieser Nachweis ist vom Käufer nur schwer zu erbringen. Man würde daher mit dieser Anforderung entweder die Verletzung der Offenbarungspflicht in vielen Fällen sanktionslos machen oder aber den Käufer auf den praktisch unerfreulichen Weg der Rückgängigmachung des Kaufvertrages drängen. Es ist daher zu begrüßen, dass die Rechtsprechung den Verkäufer insoweit nicht für schutzwürdig erklärt und dem Käufer den Anspruch auf Herabsetzung des Kaufpreises im Wege des Schadensersatzes auch ohne den Nachweis gestattet, dass sich der Verkäufer auf einen niedrigeren Preis eingelassen hätte.461 Der Kaufpreis ist auf den Betrag herabzusetzen, der bei Zugrundelegung der wirklichen Verhältnisse unter Berücksichtigung der von den Vertragsparteien vorgenommenen Bewertungen „angemessen“ gewesen wäre.462 Eine Vorteilsausgleichung mit späteren Gewinnen, die dem Käufer aus dem Unternehmenserwerb zugeflossen sind, findet nicht statt, weil kein innerer Zusammenhang zwischen dem Schaden stiftenden Umstand (Verletzung der Wahrheits- und Offenbarungspflicht) und dem Umstand besteht, der den Vorteil bewirkt (günstige Geschäftsentwicklung).
III. Vertragliche Regelungen In der Praxis treffen die Vertragsparteien auch unter dem Einfluss anglo-amerikanischer Vertragstechnik in aller Regel unter Ausschluss der gesetzlichen Bestimmungen eine umfas457 So auch Buchwaldt, NJW 1994, 153 (155). 458 BGH v. 11.11.1987 – VIII ZR 304/86, NJW 1988, 1907. 459 St. Rspr., vgl. BGH v. 18.6.1996 – VI ZR 121/95, MDR 1996, 1107 = DB 1996, 2123 falsche Umsatzzahlen betreffend; BGH v. 20.9.1996 – V ZR 173/95, NJW-RR 1997, 144 für einen Grundstückskauf; BGH v. 4.4.2001 – VIII ZR 33/00, Rz. 24. 460 BGH v. 8.12.1988 – VII ZR 83/88, MDR 1989, 441 = DB 1989, 1406; BGH v. 5.10.1988 – VIII ZR 222/87 (II 3b), WM 1988, 1700; BGH v. 25.5.1977 – VIII ZR 186/75, BGHZ 69, 53 = DB 1977, 1451. 461 Vom BGH v. 14.1.1993 – IX ZR 206/91 Rz. 18 (II 2b aa), MDR 1993, 691 = NJW 1993, 1323 als st. Rspr. herausgestellt; aber kritisch Kersting, JZ 2008, 714. 462 BGH v. 5.10.1988 – VIII ZR 222/87 (II 3), WM 1988, 1700 (Erwerb einer Rechtsbeistandspraxis); BGH v. 8.12.1988 – VII ZR 83/88, MDR 1989, 441 = DB 1989, 1406 (Erwerb einer Eigentumswohnung); vgl. dazu Entscheidungsbesprechung Tiedtke, JZ 1989, 569; Beibehaltung BGH v. 12.10.1993 – X ZR 65/92, MDR 1994, 250 = DB 1994, 422; OLG München v. 26.7.2006 – 7 U 2128/06, DNotZ 2007, 712 mit kritischer Anmerkung Kersting, JZ 2008, 714.
Weber 899
9.249
Kap. 9 Rz. 9.250
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
sende vertragliche Regelung über Gegenstand, Rechtsfolgen und Verjährung der Käuferrechte. Insbesondere vereinbaren sie auch umfangreiche Kataloge selbständiger Garantien,463 die die Unterscheidung zwischen Beschaffenheitsvereinbarungen, Beschaffenheitsgarantien und sonstigen Garantien im Sinne des BGB überflüssig machen. Der Inhalt solcher Vereinbarungen ist durch Auslegung zu ermitteln. Streitigkeiten sind häufig. Gewährleistungs- und Schadensersatzansprüche werden mitunter gänzlich abbedungen. Das kommt namentlich bei Verkäufen aus der Insolvenz vor oder bei Verkäufen durch Beteiligungsgesellschaften, wo die Verkäufer daran interessiert sind, solche Transaktionen alsbald endgültig abzuschließen und nicht noch längere Zeit Risiken ausgesetzt zu sein. Auch in solchen Fällen kommt der Abschluss einer Gewährleistungsversicherung in Betracht (s. Rz. 9.272). Der Ausschluss von Gewährleistungsansprüchen hilft dem Verkäufer aber nicht, wenn er arglistig gehandelt hat (§ 444 BGB).464 Inwieweit Garantieansprüche des Käufers ausgeschlossen sind, wenn er bei Vertragsschluss davon Kenntnis hat, dass eine Garantie nicht zutrifft (vgl. § 442 BGB), ist durch Vertragsauslegung im Einzelfall zu ermitteln.465 Schadensersatzansprüche aus c.i.c. können nicht ausgeschlossen werden, soweit dem Verkäufer Vorsatz zur Last fällt (§ 276 Abs. 3 BGB). Ob ein Haftungsausschluss auf Gewährleistungsansprüche beschränkt ist oder auch die Ansprüche aus c.i.c. umfasst, hängt vom Parteiwillen ab und muss durch Auslegung der Vereinbarung ermittelt werden.466 Sind auch Ansprüche aus c.i.c. ausgeschlossen, fragt sich, inwieweit dies auch für die Verletzung von Offenbarungsverpflichtungen des Verkäufers gilt.
9.250 Im Interesse des Käufers liegt es, dass der Verkäufer für das objektive Vorhandensein des garantierten Umstandes bzw. bei negativen Garantien das objektive Fehlen der Umstände, deren Abwesenheit garantiert wird (z.B. einer Bodenkontamination) einzustehen hat. Demgegenüber wird der Verkäufer häufig versuchen, die Garantie darauf zu beschränken, dass ihm keine dem Käufer nachteiligen Umstände bekannt sind (sog. „Best-Knowledge-Klausel“).
9.251 Die Vertragsgestaltung muss sich unter Umständen an den Maßstäben des AGB-Rechts messen lassen:467 Als „für eine Vielzahl von Verträgen“ vorformuliert können Bedingungen schon dann anzusehen sein, wenn der Verwender drei bis fünf Anwendungen vorsieht468 oder wenn er ein gebräuchliches Vertragsmuster benutzt.469 Die Verwendung für eine „Vielzahl“ von Ver463 Umfassend Mellert, BB 2011, 1667. 464 BGH v. 10.7.1987 – V ZR 236/85 (Ls.), NJW-RR 1977, 10; kein Ausschluss der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung außer bei Täuschung durch „Dritten“ (§ 123 Abs. 2 BGB) BGH v. 17.1.2007 – VIII ZR 37/06, MDR 2007, 576 = GmbHR 2007, 375 mit Anm. Liese, BB 2007, 1076. 465 Dazu näher Hilgard, BB 2013, 963. 466 Dazu näher Weigl, DNotZ 2007, 713 in seiner Besprechung zu OLG München v. 26.7.2006 – 7 U 2128/06, DNotZ 2007, 712 (Vorlage einer betriebswirtschaftlichen Auswertung, die mangels Abgrenzungsbuchungen Ergebnis falsch darstellt). 467 Beispiel: BGH v. 19.6.1996 – VIII ZR 189/95, WM 1996, 2025; BGH v. 1.3.2000 – VIII ZR 77/99, MDR 2000, 690 = BB 2000, 1262, jeweils Unternehmensverkäufe durch Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben im Rahmen der Privatisierung betreffend; Kiethe, NZG 1999, 919; ablehnend zur AGB-Kontrolle von Unternehmenskaufverträgen Larschner, AcP 207 (2007), 491. 468 BGH v. 27.9.2001 – VII ZR 388/00 Ls. 1, MDR 2002, 27 = NJW 2002, 138. 469 Vgl. Wolf/Lindacher/Pfeiffer, 6. Aufl. 2013, AGB-Recht, § 305 BGB Rz. 15 (Mietvertrag, der von Verband oder Ministerium als Muster vorformuliert ist). Zur Abgrenzung von den Fällen, in denen eine Vertragspartei Vertragsmuster (eigene oder Dritter) als Arbeitshilfe heranzieht, vgl. Ulmer/Habersack in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 12. Aufl. 2016, § 305 BGB Rz. 31 ff.
900
Weber
F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
Rz. 9.254 Kap. 9
tragsabschlüssen betrifft nicht nur das Vertragswerk im Ganzen, sondern auch einzelne Klauseln.470 1. Garantie a) Beschaffenheitsgarantie Üblicherweise gibt der Verkäufer im Unternehmenskaufvertrag eine Reihe von Garantien 9.252 zum Zielunternehmen ab. Daneben finden sich gelegentlich auch garantieähnliche Erklärungen des Managements der Zielgesellschaft (Management Warranty Deeds – MWD). Das kommt z.B. vor, wenn der Verkäufer eine Private Equity Gesellschaft ist, die keine Gewährleistung für das zu veräußernde Unternehmen übernehmen will, oder wenn der Käufer in besonderem Maße auf Auskünfte des Managements angewiesen ist und sich hinsichtlich deren Richtigkeit auch gegenüber dem Management absichern will.471 Inwieweit das Management auf eine solche Anforderung des Käufers einzugehen bereit ist, ist eine andere Frage. Die rechtliche Bedeutung der Erklärungen ist im Einzelfall durch Auslegung zu ermitteln, namentlich auch dann, wenn in unkritischer Übernahme anglo-amerikanischer Terminologie der Ausdruck „Representations and Warranties“ einfach durch „Garantie“ ersetzt wird, ohne dass die rechtliche Einordnung in das deutsche Recht hinreichend bedacht wird.472 Wenn der Verkäufer eine „Garantie“ gewährt, übernimmt er damit regelmäßig eine verschuldensunabhängige Einstandspflicht für den Fall, dass die Garantie nicht zutrifft (s. zu den Rechtsfolgen näher Rz. 9.262 ff.). Hierin liegt die Bedeutung von Garantien zur „Beschaffenheit“ des Zielunternehmens im Gegensatz zu bloßen Beschaffenheitsvereinbarungen gem. § 434 Abs. 1 Satz 1 BGB.473 Eine Beschaffenheitsgarantie kann sich begrifflich nur auf die Beschaffenheit des Zielunternehmens beziehen. Für andere Umstände sind selbständige Garantien erforderlich, die die Parteien im Rahmen der rechtlichen Vertragsfreiheit vereinbaren können (§ 311 Abs. 2 BGB). Auslegungsfrage ist, ob der Verkäufer durch die Übernahme einer Beschaffenheitsgarantie dem Käufer den Schadensersatzanspruch auch unabhängig von den objektiven Voraussetzungen des § 437 Nr. 3 BGB mit der Verweisung auf § 440 BGB und die allgemeinen Regeln zum Leistungsstörungsrecht verschaffen will und ob der Garantieanspruch der zweijährigen Verjährung gem. § 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB unterliegt oder den allgemeinen Regeln der §§ 195 ff. BGB mit der dreijährigen Regelverjährung. Ohne besondere Anhaltspunkte kann man einer Beschaffenheitsgarantie nur die Bedeutung zumessen, dass sie das Verschuldenserfordernis aufhebt.
9.253
Zur Beschränkung der Garantie auf einen bestimmten Höchstbetrag s. Rz. 9.262.
9.254
470 BGH v. 26.9.1996 – VII ZR 318/95 (I 2a), DB 1997, 89. 471 Dazu näher Berg, NZG 2008, 641 (auch zu Rückgriffsansprüchen des Verkäufers gegen das Management der verkauften Gesellschaft); Rodewald/Unger, DB 2007, 1629; Seibt/Wunsch, ZIP 2008, 1093. 472 Vgl. dazu Voß, Warranties in Unternehmenskaufverträgen, Struktur und Wirkungsweise angloamerikanischer Gewährleistungskataloge in Unternehmenskaufverträgen, die deutschem Recht unterliegen, Diss., 2002, passim. 473 So auch Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 132; Vollkommer in Dauner-Lieb/Konzen/K. Schmidt, Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2002, S. 123 (126).
Weber 901
Kap. 9 Rz. 9.255
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
b) Garantie hinsichtlich anderer Umstände
9.255 Besondere Bedeutung gewinnt die Garantieabrede, wenn sie sich im Sinne einer selbständigen Garantie474 auf Umstände bezieht, die nicht die Beschaffenheit des Zielunternehmens i.S.v. § 434 BGB betreffen. Das gilt namentlich für Abschlussangaben bezüglich Umsatz und Ertrag, die nur beschränkt der Beschaffenheit des Zielunternehmens zuzurechnen sind.
9.256 In Betracht kommen ferner insbesondere Garantien zu folgenden Umständen: (1) Gesellschaftsrechtliche Verhältnisse (gesellschaftsrechtliche Bindungen der Anteile, Verträge mit dem Inhaber, mit Gesellschaftern oder mit ihnen nahe stehenden Dritten, Verträge mit Organmitgliedern); (2) sonstige Rechtsverhältnisse, die zum Teil nicht bilanzierungsfähig sind, aber unter Umständen erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen haben können (Bestand und Inhalt von Arbeits-, Liefer- und Vertriebsverträgen, von gewerblichen Schutzrechten475 und Lizenzverträgen, Wettbewerbsverboten, Ausschließlichkeitsbindungen), Abwesenheit von Verfügungsbeschränkungen oder öffentlich-rechtlichen Einschränkungen, namentlich solchen des Umweltschutzes und des Baurechts; Angaben über anhängige oder drohende Rechtsstreitigkeiten; Verpflichtung zur Rückgewähr von Beihilfen;476 Verfall von Schmiergeldzahlungen477; (3) künftige Umstände in Bezug auf das verkaufte Unternehmen; diese haben typischerweise den Zweck, den Verkäufer dafür einstehen zu lassen, dass bis zu einem bestimmten Zeitpunkt – häufig dem Übergabestichtag – bestimmte Verhältnisse des Unternehmens zu erhalten oder herzustellen sind (z.B. Schließung eines unrentablen Teilbetriebes, Herstellung eines bestimmten Personalbestandes, Abschluss von wichtigen Verträgen, Erteilung oder Fortbestand behördlicher Konzessionen). Sie können auch den künftigen Gewinn betreffen.478 2. Insbesondere die Bilanzgarantie
9.257 Die Bilanzgarantie479 stellt eine der ganz zentralen unternehmensbezogenen Garantien dar, da die Bewertung des Zielunternehmens und damit die Plausibilisierung des vom Käufer zu leistenden Kaufpreises typischerweise maßgeblich auf dem letzten zum Transaktionszeitpunkt verfügbaren Jahresabschluss des Zielunternehmens basiert. Sie wird daher in kaum einem Unternehmenskaufvertrag fehlen. Besondere Bedeutung kommt der Bilanzgarantie aus Käufersicht bei der Vereinbarung eines Festkaufpreises zu, da Fehler in den der Kaufpreiser474 Zur Begrifflichkeit BGH v. 10.2.1999 – VIII ZR 70/98, MDR 1999, 688 = NJW 1999, 1542; BGH v. 18.6.2001 – II ZR 248/99 Rz. 4, MDR 2001, 1067 = GmbHR 2001, 819 = DB 2001, 1825, insbesondere die selbständige Garantie für künftige Umstände betreffend. 475 LG Hamburg v. 13.3.2015 – 315 O 89/13; das LG Hamburg lehnte das Bestehen einer Garantie in Bezug auf Patentrechte ab, da die Garantieklausel für „permits and authorisations“ auf behördliche Erlaubnisse bzw. Genehmigungen bezogen sei, während eine andere Klausel mit der Überschrift „Intellectual Property Rights“ nur Garantien in Bezug auf Markenrechte regelte. 476 Beispiel: EuGH v. 29.4.2004 – C-277/00, ZIP 2004, 1013 – SMI. 477 Sedemund, DB 2004, 2256. Zu beachten ist, dass das Bestehen bestimmter Rechtsverhältnisse im Falle einer vertraglichen Stichtagsregelung zu diesem Zeitpunkt, nicht aber für die Vergangenheit garantiert wird, vgl. LG Hamburg v. 13.3.2015 – 315 O 89/13. 478 Vgl. BGH v. 24.5.2000 – VIII ZR 329/98, ZIP 2000, 1385; dazu Mennicke, NZG 2000, 995. 479 Kleissler, NZG 2017, 531; King, Die Bilanzgarantie beim Unternehmenskauf, 2010, mit Leitfaden für die Kautelarpraxis.
902
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F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
Rz. 9.260 Kap. 9
mittlung zugrunde liegenden Jahresabschlüssen hier nicht nachträglich im Wege einer Kaufpreisanpassung auf Grundlage einer noch zu erstellenden Stichtagsbilanz korrigiert werden können. Aus der Sicht des Käufers ist eine Garantieübernahme des Verkäufers für die objektive Richtigkeit der dem Unternehmenskauf zugrunde liegenden Jahresabschlüsse anzustreben. Im entgegengesetzten Interesse wird der Verkäufer versuchen, seine Garantie darauf zu beschränken, dass ihm keine Umstände bekannt sind, die der „Richtigkeit“ der Abschlussangaben entgegenstehen. Typischerweise enthält die Bilanzgarantie eine Formulierung, die sich eng an den in der Generalklausel des § 266 Abs. 2 Satz 1 HGB niedergelegten Aufstellungsgrundsätzen sowie der Regelung des gesetzlichen Bestätigungsvermerks des Wirtschaftsprüfers in § 322 Abs. 3 HGB orientiert. Die Formulierung enthält oftmals die beiden folgenden Kernaussagen:
9.258
(1) der Jahresabschluss ist [mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns] in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften des HGB und den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung unter Wahrung der Bewertungs- und Bilanzkontinuität aufgestellt worden; und (2) vermittelt [unter Beachtung der vorgenannten Grundsätze] ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zum Bilanzstichtag („true and fair view“)480. Von entscheidender Bedeutung für die Reichweite der Bilanzgarantie ist, ob den Garantieaussagen ein objektiver oder ein subjektiver Charakter beizumessen ist, d.h. ob die uneingeschränkte, objektive Richtigkeit des Abschlusses garantiert werden soll oder nur dessen sorgfältige Aufstellung unter Beachtung der einschlägigen Rechnungslegungsvorschriften und Berücksichtigung der Risiken, die im Aufstellungszeitpunkt erkennbar waren. Die Unterschiede in der Reichweite der Garantie und des damit einhergehenden Haftungsrisikos für den Verkäufer sind gravierend, da der Verkäufer bei objektiver Lesart der Garantie auch dann haftet, wenn bei Aufstellung des Jahresabschlusses aus buchhalterischer Sicht vollständig korrekt verfahren wurde und alle Bilanzierungsregeln eingehalten worden sind, zu einem späteren Zeitpunkt allerdings Umstände bekannt werden, die auch ein ordentlicher Kaufmann unter Beachtung aller gebotenen Sorgfalt im Zeitpunkt der Aufstellung des Abschlusses nicht erkennen konnte. Die (zu Recht) unterlassene Bildung einer Rückstellung für Kosten der Beseitigung einer im Aufstellungszeitpunkt nicht bekannten (und unter Anwendung der gebotenen Sorgfalt auch nicht erkennbaren) Altlast (z.B. der Fliegerbombe unter dem Fabrikgebäude) führt bei objektivem Charakter der Garantie daher zu einer Haftung des Verkäufers.
9.259
Da ein objektives Garantieverständnis das üblicherweise fein austarierte und im einzelnen 9.260 ausgehandelte System von Einzelgarantien und besonderen Kaufpreisanpassungsregelungen im Unternehmenskaufvertrag unterlaufen und für den Verkäufer zu unkontrollierbaren Haftungsrisiken führen würde, wird in aller Regel ein subjektives Garantieverständnis gewollt sein. Garantiert werden soll (lediglich) die sorgfältige Aufstellung des Abschlusses unter Berücksichtigung von Risiken, die im Aufstellungszeitpunkt für die verantwortlichen Organe bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt erkennbar waren.
480 Vgl. dazu Hennrichs, NZG 2014, 1001 (1002), der auf Redundanzen und damit einhergehende Auslegungsfragen in den Formulierungen hinweist.
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Kap. 9 Rz. 9.261
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
9.261 Wichtig ist, dieses subjektive Garantieverständnis (so es denn gewollt ist) bei der Formulierung der Bilanzgarantie deutlich zum Ausdruck zu bringen, um Auslegungsstreitigkeiten vorzubeugen. So haben einige OLG die Auffassung vertreten, eine Garantieaussage, dass der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft („true and fair view“) vermittle, sei für sich genommen als Garantie der objektiven Richtigkeit des entsprechenden Abschlusses auszulegen.481 Es ist daher dringend anzuraten, ein subjektives Verständnis der Aussage zum „true and fair view“ durch eine entsprechende Formulierung klarzustellen, etwa durch einen Verweis auf die vorstehend unter (1) formulierten Aufstellungsgrundsätze durch Aufnahme des Zusatzes „unter Beachtung der vorgenannten Grundsätze“ sowie (gegebenenfalls) der zusätzlichen Klarstellung „und unter Berücksichtigung der im Zeitpunkt der Aufstellung vorliegenden Kenntnisse der Geschäftsführung der Gesellschaft“.482 Letztlich kommt es bei der Formulierung darauf an, den tatsächlichen Willen der Parteien des Unternehmenskaufvertrags möglichst präzise und eindeutig wiederzugeben. Dies gilt selbstverständlich auch für den umgekehrten Fall, dass ausnahmsweise die objektive Richtigkeit des (gesamten) Jahresabschlusses oder einzelner Bilanzpositionen garantiert werden soll. 3. Rechtsfolgen a) Nacherfüllung, Schadensersatz in Geld
9.262 Im Falle einer Garantieübernahme trifft den Verkäufer mangels anderweitiger Vertragsbestimmung primär eine Erfüllungspflicht und, falls er dieser nicht nachkommt, die verschuldensunabhängige Verpflichtung, den durch das Nichtvorhandensein oder den Nichteintritt des garantierten Umstandes verursachten Nachteil in Geld auszugleichen (Schadloshaltung).483 Aus diesem Grundsatz allein werden sich aber häufig die Rechtsfolgen noch nicht mit hinreichender Sicherheit ableiten lassen, die im Garantiefall gelten sollen. Interessengerecht wird es in der Regel sein, dem Verkäufer ausdrücklich das Recht zur Herstellung des garantierten Zustandes zuzubilligen und dem Käufer das Recht, Schadensersatz zu fordern, wenn dies nicht innerhalb einer bestimmten Frist erfolgt ist. Ferner bedarf der Schadensersatzanspruch näherer vertraglicher Konkretisierung. In aller Regel ist es interessengerecht, den Käufer auf einen Ersatzanspruch in Geld zu beschränken, also den Rücktritt vom Kaufvertrag („großer Schadensersatz“ § 281 BGB) auszuschließen. Im Interesse des Verkäufers liegt es, den Schadensersatzanspruch zu beschränken („cap“), z.B. auf einen bestimmten Prozentsatz des Kaufpreises. Damit verbleibt dem Verkäufer jedenfalls ein Sockelbetrag. Es finden sich auch Begrenzungen auf die Höhe des Kaufpreises. Derartige Einschränkungen können trotz des insoweit nicht ganz eindeutigen Wortlauts von § 444 BGB auch für Beschaffenheitsgarantien gemacht werden.484 Häufig wird vereinbart, dass der Käufer Schadensersatzansprüche nur geltend machen kann, wenn oder soweit sie einen bestimmten Mindestbetrag überstei481 OLG Frankfurt v. 7.5.2015 – 26 U 35/12, GmbHR 2016, 116 m. Anm. Bormann/Trautmann = NZG 2016, 435 (436); trotz erkennbarer Anlehnung an den Wortlaut der §§ 264 Abs. 2, 297 Abs. 2 Satz 2 HGB nahm das OLG Frankfurt eine harte Bilanzgarantie mit einer sehr weitgehenden inhaltlichen Reichweite an; vgl. auch OLG München v. 30.3.2011 – 7 U 4226/10. Kritisch zu dieser Auslegung insbesondere Kleissler, NZG 2017, 531 (534 f.); Wächter, BB 2016, 711 (712). 482 Vgl. auch Schulz, NZG 2018, 50 (52); König/Gießelmann, GWR 2016, 155 (157). 483 BGH v. 10.2.1999 – VIII ZR 70/98 (II 3), MDR 1999, 688 = NJW 1999, 1542; Hilgard, ZIP 2005, 1813 m.w.N. 484 Art. I Nr. 6 des Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über Fernabsatzverträge bei Finanzdienstleistungen vom 2.12.2004, BGBl. I 2004, 3102; vgl. dazu Beschlussempfehlung und Bericht
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F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
Rz. 9.264 Kap. 9
gen (Freigrenze/Freibetrag), z.B. 1 % vom Kaufpreis.485 Klarstellungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang auch, ob das vereinbarte cap für jeden einzelnen Garantiefall gelten soll, oder ob mehrere Garantiefälle für die Erreichung des cap zusammengerechnet werden können. Wird an den „Kaufpreis“ angeknüpft, ist zu berücksichtigen, dass häufig Preisanpassungen vereinbart werden, so dass im Wege der Auslegung zu ermitteln ist, ob der ursprüngliche oder der angepasste Kaufpreis gemeint ist („adjusted – unadjusted“). Die Höhe des Schadens ist in manchen Fällen schwer bezifferbar. Dies gilt nicht so sehr, 9.263 wenn bestimmte Vermögensgegenstände fehlen, hinsichtlich derer eine Ersatzbeschaffung möglich ist; wohl aber, wenn andere Garantiefälle eintreten, z.B. Verträge mit Geschäftspartnern nicht fortbestehen, gewerbliche Schutzrechte keinen Bestand haben, besonders qualifizierte Mitarbeiter nicht im Unternehmen verbleiben. In diesen Fällen muss die Auswirkung des jeweiligen Vorganges auf den Wert des Unternehmens ermittelt werden.486 Da der Wert von der anzuwendenden Bewertungsmethode und diese wiederum von den Zielen abhängt, die die Parteien mit dem Unternehmenskauf verfolgen, entstehen mangels einer vertraglichen Schadensbemessungsregel weitere Unsicherheiten. Es sollte daher vereinbart werden, ob sich der Schaden nach dem Einfluss bemisst, den der zum Ersatz verpflichtende Umstand auf den Ertragswert oder einen in anderer Weise zu ermittelnden Unternehmenswert hat. Ist bei Vertragsschluss abzusehen, dass der Schaden kaum oder nur mit großen Unsicherheiten bestimmbar sein wird, kommt die Vereinbarung eines Pauschalbetrages in Betracht. Umstritten ist die Schadensberechnung insbesondere bei Verletzung einer Bilanzgarantie. In der Literatur wird vielfach der sog. Bilanzauffüllungsansatz diskutiert.487 Die Bilanzauffüllung bezeichnet einen Schadensersatzanspruch, welcher auf das wertmäßige Auffüllen der Bilanz durch Geldzahlung seitens des Verkäufers gerichtet ist. Eine solche Schadensberechnung hat das OLG Frankfurt in seiner Entscheidung vom 7.5.2015 abgelehnt.488 Vielmehr hat das OLG Frankfurt im entschiedenen Fall angenommen, der Schaden bestehe „in der Wertdifferenz zu dem hypothetisch erzielten niedrigeren Kaufpreis“.489 Dies führt zu dem Folgeproblem der Bezifferung dieses hypothetischen Kaufpreises, der nach Auffassung des OLG Frankfurt notfalls nach § 287 ZPO zu schätzen ist. Richtigerweise kann es eine für alle denkbaren Konstellationen einer fehlerhaften Bilanz gültige Berechnungsformel nicht geben, so dass durchaus auch Fallgestaltungen denkbar sind, in denen eine Bilanzauffüllung zu einer vollständigen Schadensliquidation führt.490
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489 490
des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über Fernabsatzverträge, BT-Drucks. 15/3483, 50 f. Näher zu Cap- und Bagatellklauseln Hilgard, BB 2004, 1233. BGH v. 15.3.2006 – VIII ZR 120/04, MDR 2006, 1156 = GmbHR 2006, 1042 mit Anm. Schulze in BGHReport 2006, 887; Hilgard, ZIP 2005, 1813. Vgl. Wächter, BB 2016, 711 (713) m.w.N. OLG Frankfurt v. 7.5.2015 – 26 U 35/12, GmbHR 2016, 116 m. Anm. Bormann/Trautmann = NZG 2016, 435 (438); zustimmend: Kleissler, NZG 2017, 531 (535 ff.); König/Gießelmann, GWR 2016, 155 (158); Wächter, BB 2016, 711 (713 f.); kritisch: Mehrbrey/Hofmeister, NZG 2016, 419 (421); ausführlich zum Bilanzauffüllungsansatz und dessen Schwächen: Wächter, M&A Litigation, 3. Aufl. 2017, Rz. 12.355 ff. OLG Frankfurt v. 7.5.2015 – 26 U 35/12, GmbHR 2016, 116 m. Anm. Bormann/Trautmann = NZG 2016, 435 (438). Vgl. etwa OLG München v. 30.3.2011 – 7 U 4226/10; s. auch Schulz, NZG 2018, 50 (53) m.w.N.
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9.264
Kap. 9 Rz. 9.265
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
9.265 Etwas anderes gilt möglicherweise im Falle einer Eigenkapitalgarantie.491 Liegt das Eigenkapital unterhalb des garantierten Betrages, so wird dieser Umstand ohne Weiteres bei der Kaufpreisbemessung berücksichtigt, falls vereinbart ist, dass und wie sich der endgültige Kaufpreis aus der Abrechnungsbilanz ableitet. Fehlt es an einer solchen Vereinbarung, so steht dem Käufer in erster Linie ein Erfüllungsanspruch auf Herstellung des garantierten Eigenkapitals zu („Eigenkapitalauffüllung“). In einzelnen Fällen mag fehlendes Eigenkapital beim Käufer zu einem Schaden führen, der nicht durch die Eigenkapitalauffüllung behoben wird. Ob dieser Schaden zu ersetzen ist, muss durch Auslegung des Kaufvertrages ermittelt werden.492
9.266 Verkaufen mehrere Gesellschafter ihre Beteiligungen in einem einheitlichen Vertrag an einen oder mehrere Erwerber, so haften sie von Gesetzes wegen im Zweifelsfall gesamtschuldnerisch für die vertraglichen Ansprüche des Erwerbers (§ 427 BGB). Das mag unangemessen sein und vertraglicher Korrektur bedürfen, wenn die Veräußerer ungleich beteiligt sind.493 b) Ausschluss von Rückgewähransprüchen
9.267 Die Rückgängigmachung eines Unternehmenskaufs liegt in aller Regel weder im Interesse des Käufers noch des Verkäufers (s. Rz. 9.221). In der Praxis werden daher Rechte des Käufers auf Rückgängigmachung des Geschäfts praktisch immer ausgeschlossen. 4. Verjährung
9.268 Für Gewährleistungsansprüche und für Ansprüche aus c.i.c. gelten unterschiedliche Verjährungsfristen494. Sie laufen zu unterschiedlichen Zeitpunkten an (s. Rz. 9.229 ff., 9.233) Es liegt nahe, vertraglich ein eigenständiges und einheitliches Verjährungssystem zu schaffen. In der Praxis sind folgende Regelungen häufig:
9.269 (1) Grundsätzlich wird eine einheitliche Verjährungsfrist vereinbart; für den Käufer ist wichtig, dass er jedenfalls genug Zeit hat, um nach dem ersten vollen Geschäftsjahr unter seiner Führung den Jahresabschluss zu erstellen und zu prüfen, ob dabei Garantieverletzungen erkennbar werden. Für die Verjährung sollten die Dauer der Verjährungsfrist und der Beginn des Fristenlaufes vereinbart werden. Vereinbaren die Parteien, dass Ansprüche zu einem bestimmten Datum verjähren, steht nicht fest, ob die Vorschriften über die Hemmung und den Neubeginn der Verjährung (§§ 203, 210–213 BGB) gelten sollen. (2) Für Ansprüche aus steuerlichen, sozialrechtlichen oder beihilferechtlichen Sachverhalten wird für den Beginn der Verjährung zweckmäßigerweise auf den Zeitpunkt abgestellt, zu dem entsprechende Bescheide bestandskräftig und dem Käufer bekannt geworden sind. Das kann durchaus auch erst mehrere Jahre nach dem Erwerb des Zielunternehmens der Fall sein; die Verjährungsfrist selbst mag dann relativ kurz bemessen werden, z.B. sechs Monate. Entsprechendes wird für Umweltrisiken vereinbart. (3) Besteht das verkaufte Beteiligungsrecht nicht, so gilt von Gesetzes wegen die regelmäßige Verjährungsfrist, die im Falle des § 199 Abs. 4 BGB zehn Jahre betragen kann; steht das Beteiligungsrecht einem Dritten zu und genießt der Erwerber keinen Gutglaubens491 492 493 494
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Kleissler, NZG 2017, 531 (536). Dazu näher Hilgard, BB 2013, 937. Martin, NZG 1999, 583. Hilgard, BB 2012, 852.
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F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
Rz. 9.272 Kap. 9
schutz oder bleiben nach dem Übergang des Beteiligungsrechtes Rechte Dritter bestehen (Pfandrechte; Nießbrauch), gilt § 438 Abs. 1 BGB entsprechend.495 Angesichts der bei Rechtsmängeln bestehenden Unsicherheiten empfiehlt sich eine vertragliche Regelung, z.B. eine Verjährungsfrist von vier Jahren.
IV. Sonstige Rechtsbehelfe Schadensersatzansprüche des Käufers aus dem allgemeinen Leistungsstörungsrecht werden 9.270 in der Praxis des Unternehmenskaufrechts kaum geltend gemacht (und regelmäßig zugunsten des vertraglich vereinbarten Garantie- und Haftungskonzepts ausgeschlossen). Wegen des gewährleistungsrechtlichen Schadensersatzanspruches (§ 437 Nr. 3 BGB) oder umfassender vertraglicher Garantieabreden ist kein praktisch relevanter Anwendungsfall verblieben. Die Regeln über die Anfechtung wegen Irrtums sind (soweit nicht vertraglich ausgeschlossen) neben denjenigen über die Gewährleistungshaftung nur insoweit anwendbar, als sich der Irrtum nicht gerade auf einen Mangel der Kaufsache beziehen darf. Ausgeschlossen ist daher eine Anfechtung wegen Irrtums über verkehrswesentliche Eigenschaften der Kaufsache (§ 119 Abs. 2 BGB) insoweit, als es sich dabei um solche Eigenschaften handelt, die zugleich Gewährleistungsansprüche des Käufers begründen können.496 Im Einklang mit diesen anerkannten Grundsätzen hatte der BGH die Anfechtung gem. § 119 Abs. 2 BGB für die Fälle unrichtiger Abschlussangaben eröffnet, die wegen des im Unternehmenskaufrecht geltenden engen Fehlerbegriffes nicht unter § 459 BGB a.F. subsumiert werden konnten.497 Große praktische Bedeutung hat die Irrtumsanfechtung allerdings nicht erlangt, weil die Ausübung des Anfechtungsrechtes zur regelmäßig nicht gewünschten Rückabwicklung des Geschäftes führt und überdies eine Schadensersatzverpflichtung des Käufers gem. § 122 BGB begründet. Unbeschränkt anwendbar neben den sonstigen Rechtsbehelfen ist § 123 BGB (Anfechtung wegen arglistiger Täuschung). Dieser Rechtsbehelf konkurriert regelmäßig mit dem den Schadensersatz einschließenden Anspruch aus Verschulden bei Vertragsschluss498 oder mit dem Schadensersatzanspruch gem. § 823 Abs. 2 BGB, § 263 StGB (Betrug). Das Recht zur Anfechtung wegen arglistiger Täuschung kann im Voraus vertraglich nicht ausgeschlossen werden.499
9.271
V. W&I-Insurance 1. Überblick Garantieversicherungen (engl. Warranty & Indemnity- oder (kurz) W& I-Insurance) sind spezielle, auf die jeweilige Transaktion zugeschnittene Versicherungen, mit denen im Rahmen von Unternehmenskaufverträgen vom Verkäufer zugunsten des Käufers abgegebene Gewährleistungen bzw. Garantien versichert, d.h. die aus diesen Garantien resultierenden 495 S. dazu näher Palandt/Weidenkaff, § 453 BGB Rz. 31 ff.; Grunewald, NZG 2003, 372; Heerstraßen/Reinhard, BB 2002, 1429 (1432). 496 BGH v. 26.10.1978 – VII ZR 202/76 (I 2a), BGHZ 72, 252 = DB 1979, 253; kritisch Flume, DB 1979, 1637. 497 BGH v. 12.11.1975 – VIII ZR 142/74 (II 2c), BGHZ 65, 246 = BB 1976, 11. 498 BGH v. 11.11.1987 – VIII ZR 304/86, WM 1988, 124. 499 BGH v. 17.1.2007 – VIII ZR 37/06, GmbHR 2007, 375 = MDR 2007, 576 = NJW 2007, 1058; dazu Liese/Theusinger, BB 2007, 1076.
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9.272
Kap. 9 Rz. 9.273
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
Haftungsrisiken gegen eine entsprechende Prämie in einem gewissen Umfang zugunsten des Käufers auf einen solventen Versicherer verlagert werden können. Das ursprünglich aus dem anglo-amerikanischen Rechtsraum stammende Instrument hat sich in den letzten Jahren zunehmend auch im deutschen Transaktionsmarkt etabliert. Dazu beigetragen hat insbesondere die inzwischen erheblich gestiegene Professionalisierung der Versicherungen und Makler, die in den letzten Jahren hochspezialisierte Teams mit erfahrenen Transaktionsspezialisten aufgebaut haben, und die damit einhergehende Beschleunigung und Professionalisierung des Underwriting-Prozesses. Hinzu kommt ein in den letzten Jahren verkäuferfreundliches Marktumfeld, in dem Verkäufer tendenziell eher in der Lage sind, ihre persönliche Haftung durch die Abgabe eines auf wesentliche Garantien beschränkten, eng gefassten Garantiekatalogs und die Durchsetzung relativ niedriger Haftungsgrenzen zu begrenzen. 2. Verkäufer- und Käuferpolicen
9.273 W&I-Versicherungen können als Verkäufer- oder Käuferpolice abgeschlossen werden: Bei der Verkäuferpolice ist der Verkäufer Versicherungsnehmer. Versichert ist – vergleichbar einer Haftpflichtversicherung – das Haftungsrisiko des Verkäufers aus einer Inanspruchnahme aus den im Unternehmenskaufvertrag abgegebenen Garantien sowie u.U. auch einer Steuerfreistellung. Der Verkäufer haftet nach wie vor aus dem Unternehmenskaufvertrag gegenüber dem Käufer. Der Käufer kann Ansprüche aus einer (tatsächlichen oder angeblichen) Garantieverletzung nur gegenüber dem Verkäufer, nicht jedoch unmittelbar gegen den Versicherer geltend machen. Im Fall einer Inanspruchnahme durch den Käufer ist der Verkäufer auf die Geltendmachung und Durchsetzung von Regress- bzw. Freistellungsansprüchen gegenüber dem Versicherer (nach Vorliegen eines rechtskräftigen Urteils oder verbindlichen Schiedsspruches bzw. eines mit Zustimmung des Versicherers geschlossenen Vergleichs) verwiesen. Das Risiko, dass für bestimmte Haftungsfälle kein Versicherungsschutz besteht oder gegenüber dem Versicherer durchgesetzt werden kann, trägt der Verkäufer. Da für grob fahrlässige oder vorsätzliche Garantieverletzungen der Versicherungsschutz in der Praxis ausgeschlossen ist, entfällt in diesen Fällen zudem für den Käufer der Vorteil eines solventen Schuldners.500
9.274 Aus den genannten Gründen ist die Käuferpolice in der Praxis mittlerweile der absolute Regelfall, der den nachfolgenden Ausführungen zugrunde gelegt wird.501 Hier ist der Käufer Versicherungsnehmer und verhandelt die Versicherungspolice unmittelbar mit dem Versicherer. Im Versicherungsfall, d.h. bei einer Verletzung der versicherten Garantien aus dem Unternehmenskaufvertrag, kann der Käufer damit unmittelbar den Versicherer aus der Police in Anspruch nehmen, ohne (zusätzlich oder vorrangig) gegen den Verkäufer vorgehen zu müssen. Ansprüche des Käufers gegen den Verkäufer aus dem Unternehmenskaufvertrag bleiben zwar grundsätzlich bestehen. In der Regel wird die Haftung des Verkäufers aus dem Unternehmenskauf in diesen Fällen allerdings auf eine sehr niedrige Haftungsobergrenze (bislang i.d.R. 0,5 – 1 % des Kaufpreises) beschränkt.502 Mittlerweile sind – insbesondere bei Verkäufen durch Private Equity Investoren und kompetitiven Auktionsverfahren – aber auch Haftungsgrenzen in Höhe eines symbolischen Betrags von 1 Euro für operative Garan500 Dagjles/Haßler, GWR 2016, 455; Kränzlin/Otte/Fassbach, BB 2013, 2314 (2315). 501 Vgl. etwa Hoenig/Klingen, 1244 (1245), die von einem Marktanteil der Käuferpolice von über 75 % ausgehen; im Sinne eines deutlichen Überwiegens der Käuferpolice auch Hoger/Baumann, NZG 2017, 811; Daghles/Haßler, GWR 2015, 455. 502 Hoger/Baumann, NZG 2017, 811 (814); Kaufhold, BB 2016, 394 (396).
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F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
Rz. 9.276 Kap. 9
tien keine Seltenheit mehr.503 Da bei der Käuferpolice Versicherungsnehmer und Begünstigter der Käufer ist, bleibt der Versicherungsschutz auch dann bestehen, wenn der Verkäufer vorsätzlich oder grob fahrlässig fehlerhafte Garantien gegeben hat.504 Im Falle einer vorsätzlichen Garantieverletzung kann der Versicherer allerdings den Verkäufer aus abgetretenem Recht (§ 86 VVG) in Regress nehmen. Außerhalb der Vorsatzhaftung müssen sowohl der gesetzliche Forderungsübergang als auch die vertragliche Abtretungspflicht ausgeschlossen sein bzw. werden, da ansonsten der Sinn und Zweck der W&I-Insurance, das Haftungsrisiko auf den Versicherer zu verlagern, konterkariert würde. Der Verkäufer wird sich daher typischerweise bemühen, eine Verpflichtung des Käufers zur Aufnahme entsprechender Regelungen in die Versicherungspolice sowie idealerweise zusätzlich zur Freistellung des Verkäufers von Regressansprüchen des Versicherers zu erlangen. In den gängigen Policenentwürfen sind entsprechende Regelungen standardmäßig bereits enthalten. 3. Typische Ausgestaltung a) Umfang des Versicherungsschutzes Aus dem Zweck der W&I-Versicherung, Ansprüche des Käufers aus Garantieverletzungen des Verkäufers abzusichern bzw. auf den Versicherer zu verlagern folgt, dass der Versicherungsschutz möglichst umfassend das vertragliche Haftungsregime des Unternehmenskaufvertrags widerspiegeln, d.h. sowohl die versicherten Garantien bzw. Garantieverletzungen als auch der ersatzfähige Schaden möglichst deckungsgleich mit dem Unternehmenskaufvertrag definiert sein sollten („back-to-back“) – was in der Praxis (bereits aufgrund von Deckungs-/Haftungsausschlüssen der W&I-Versicherer) allerdings kaum jemals der Fall ist.505
9.275
Ausgeschlossen ist der Versicherungsschutz zunächst für dem Käufer bei Vertragsschluss bekannte Garantieverletzungen. Nach § 19 Abs. 1 VVG ist der Versicherungsnehmer verpflichtet, dem Versicherer alle ihm bei Abgabe seiner Vertragserklärung bekannten Gefahrenumstände, die für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, erheblich sind und nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat, dem Versicherer anzuzeigen. Die Versicherer verlangen hier die Abgabe einer sog. „No Claims Declaration“.506 Oftmals sehen die vom Versicherer vorgelegten Vertragsentwürfe insoweit standardmäßig vor, dass der Versicherungsnehmer nicht nur tatsächlich bekannte Garantieverletzungen, sondern auch Tatsachen, von denen der Versicherungsnehmer erwarten kann, dass sie zukünftig zu einer Garantieverletzung führen können, offenzulegen hat und dass diese vom Versicherungsschutz ausgenommen sind. Derartig weite Formulierungen können – und sollten – in der Regel eingeschränkt und präzisiert werden. In der Praxis einigt man sich häufig auf Regelungen, wonach nach Kenntnis der die No-Claims-Declaration abgebenden Team-Mitglieder zum Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung keine Umstände vorliegen, die einen versicherten Schaden begründen oder nach der persönlichen Einschätzung des betreffenden Team-Mitglieds mit ziemlicher Sicherheit („almost certainly“) zu einem Schaden führen werden; Umstände, die bereits im Due Diligence Report oder den Disclosure Schedules offengelegt sind, müssen im Rahmen der No-Claims-Declaration üblicherweise nicht (nochmals) offengelegt werden. In den von den Versicherern vorgelegten Police-Entwürfen
9.276
503 Vgl. auch Doll/Mackensen in Eilers/Koffka/Mackensen/Paul, Private Equity, 3. Aufl. 2018, Kapitel VIII, Rz. 10. 504 Gaudig, KSzW 2017, 42 (43). 505 Kränzlin/Otte/Fassbach, BB 2013, 2314 (2316). 506 Hierzu Risse/Kästle/M&A und Corporate Finance von A-Z, No-claims Declaration.
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Kap. 9 Rz. 9.277
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
ist teilweise auch ein Haftungsausschluss vorgesehen für Garantieverletzungen, die dem Käufer zwar nicht tatsächlich bekannt waren, die aufgrund von im Datenraum offengelegten Umständen oder aus anderen Gründen für Zwecke der Versicherungspolice aber als bekannt fingiert werden. Insoweit besteht Abstimmungsbedarf zwischen Unternehmenskaufvertrag und Versicherungspolice. Aufgrund des in deutschen Unternehmenskaufverträgen regelmäßig vereinbarten „Anti-Sandbagging Konzepts“. (vgl. dazu auch Rz. 1.141 und Rz. 9.60) ist dies allerdings selten problematisch. Vom Versicherungsschutz ausgenommen sind typischerweise Garantien im Hinblick auf Pensionsverpflichtungen, Umweltaltlasten, steuerliche Verrechnungspreise, Verstöße gegen Wirtschaftssanktionen der USA und der EU sowie Sachverhalte, die bereits durch andere Versicherungen (z.B. eine Produkthaftungsversicherung) abgedeckt sind. Generell nicht versicherbar sind zudem zukunftsbezogene Garantien (forward looking statements).
9.277 Neben diesen (und oftmals weiteren) generellen Haftungsausschlüssen enthält die Versicherungspolice typischerweise ein sog. Warranty Spreadsheet, in dem sämtliche Garantien des Unternehmenskaufvertrages einzeln aufgelistet sind und jeweils angegeben ist, ob und ggf. mit welchen Modifikationen oder Einschränkungen die dort enthaltenen Garantieaussagen versichert oder von einer Haftung des Versicherers ausgenommen sind.507 Problematisch stellen sich hier oft Compliance-Garantien sowie Garantien auf nicht von einem Wirtschaftsprüfer geprüfte finanzielle Kennzahlen dar.
9.278 Im Hinblick auf den ersatzfähigen Schaden einer Garantieverletzung versuchen die Versicherer mitunter ihre Haftung für Mangelfolgeschäden und andere indirekte Schäden, insbesondere entgangenen Gewinn, vollständig auszuschließen. Eine etwaig mühsam verhandelte weitergehende Definition des ersatzfähigen Schadens im Unternehmenskaufvertrag ist in diesem Fall nur dann bzw. insoweit tatsächlich von Vorteil für den Käufer, als der Verkäufer neben der W&I-Versicherung weiterhin persönlich haftet. Umgekehrt ist es allerdings oftmals auch möglich, mit den W&I-Versicherern (ggfs. gegen entsprechende Prämienerhöhung) abweichend von einem enger definierten Schadensbegriff im Unternehmenskaufvertrag eine weitergehende Schadensdefinition zu vereinbaren, die insbesondere auch Folgeschäden, entgangenen Gewinn sowie u.U. auch einen Minderwert der Zielgesellschaft umfasst.
9.279 Insgesamt gilt, dass die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit einer W&I-Versicherung aus der Sicht der Parteien des Unternehmenskaufvertrags ganz wesentlich davon abhängt, in welchem Umfang durch die verhandelte Versicherungspolice das Haftungsregime des Unternehmenskaufvertrags widergespiegelt und damit das Ziel einer W&I-Versicherung, nämlich der Verlagerung von Haftungsrisiken auf den W&I-Versicherer, tatsächlich erreicht werden kann. In der Praxis zeigt sich leider mitunter, dass W&I-Versicherer zum Teil nicht bereit sind, im Rahmen der Due Diligence identifizierte und im Due Diligence Report adressierte abstrakte Risiken (auch ohne dass eine konkrete Eintrittswahrscheinlichkeit besteht) oder auch typische allgemeine Branchenrisiken, die im Falle ihrer Verwirklichung einen substantiellen Schaden nach sich ziehen können (wie etwa abstrakte Compliance-Risiken) zu versichern bzw. eine grundsätzliche Haftungsübernahme durch umfangreiche Einschränkungen oder Qualifikationen der betreffenden Garantien (etwa auf bestes Wissen des Verkäufers) derart einschränken, dass de facto von einer Verlagerung von Haftungsrisiken nicht mehr die Rede sein kann. Wenn aber im konkreten Einzelfall neben bekannten Risiken, bei denen eine konkrete Eintrittswahrscheinlichkeit besteht (und für die im Unternehmenskaufvertrag üblicherweise ohnehin Freistellungen zugunsten des Käufers durch den Verkäufer vereinbart 507 Zu dieser Praxis Hoger/Baumann, NZG 2017, 811 (812).
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F. Gewährleistungsansprüche und verwandte Rechte
Rz. 9.281 Kap. 9
werden) auch im Rahmen der Due Diligence identifizierte abstrakten Risiken (bei denen keine konkrete Eintrittswahrscheinlichkeit besteht) nicht oder nur mit erheblichen Einschränkungen versicherbar sind, stellt sich die Frage nach der wirtschaftlichen Sinnhaftigkeit des Abschlusses einer W&I-Versicherung für die betreffende Transaktion. Ist der Verkäufer in diesen Fällen nicht zu einer persönlichen Haftungsübernahme für identifizierte aber nicht versicherbare Risiken bereit, verbleibt die Einpreisung solcher Risiken im Rahmen der Verhandlung des Kaufpreises. Dies wird ohnehin oftmals der bessere Weg zum Umgang mit identifizierten Risiken sein. Umgekehrt besteht aber oftmals auch die Möglichkeit, den Haftungsumfang der W&I-Versicherung gegenüber dem im Unternehmenskaufvertrag vereinbarten Garantieumfang zu erweitern („Policy Enhancements“.) In Betracht kommen insbesondere sogenannte „Knowledge Scrapes“ hinsichtlich solcher Garantien, die der Verkäufer im Unternehmenskaufvertrag nur nach eigener Kenntnis abgibt, durch die also nur die subjektive Richtigkeit der betreffenden Garantiezusage garantiert wird. Hier kann das entsprechende Garantieversprechen (ggfs. gegen entsprechenden Aufpreis) u.U. objektiv versichert werden. b) Selbstbehalt (Retention) Standardmäßig wird ein Selbstbehalt des Versicherungsnehmers vereinbart, der üblicherweise als Freibetrag ausgestaltet ist und sich bis in jüngere Zeit meist zwischen 0,5–1 % des Unternehmenswerts bewegte.508 Aus Sicht des W&I-Versicherers ist ein solcher Selbstbehalt ein wichtiges Instrument, um einen Anreiz für den Verkäufer an der Richtigkeit der abgegebenen Garantieerklärungen, insbesondere der sorgfältigen Erstellung der Disclosure Schedules zu schaffen und so das Risiko des Versicherers zu mindern. Die gewünschte Anreizwirkung setzt allerdings voraus, dass eine im Unternehmenskaufvertrag vereinbarte Haftungsobergrenze des Verkäufers diesem Selbstbehalt entspricht oder darüber hinausgeht, d.h. das Risiko des Selbstbehalts ökonomisch vom Verkäufer getragen wird. Der Trend zu immer niedrigeren und oftmals lediglich symbolischen Haftungsbeträgen der Verkäufer (vgl. Rz. 9.274) resultiert in immer niedrigeren Selbstbehalten, die sich für operative Garantien mittlerweile eher im Rahmen von 0,25–0,75 % des Unternehmenswerts bewegen.509 Eine Anreizwirkung für Verkäufer und Käufer für die Sicherstellung der Richtigkeit der abgegebenen Garantien und Vollständigkeit der Disclosure Schedules ergibt sich aber zum einen auch aus dem Eigeninteresse des Käufers, der ökonomisch das Risiko einer Lücke zwischen Haftungshöchstbetrag des Verkäufers und Selbstbehalt trägt, und zum anderen aus der verbleibenden Arglisthaftung des Verkäufers für vorsätzlich falsche Garantieaussagen oder Garantien „ins Blaue hinein“.
9.280
c) Deckungssumme Die üblichen Deckungssummen entsprechen im Grundsatz den bei Transaktionen ohne W&I-Versicherung üblichen Haftungssummen, d.h. betragen in der Regel zwischen etwa 10–30 % des Unternehmenswerts. Bei größeren Deckungssummen (jedenfalls im dreistelligen Millionenbereich) wird das Risiko typischerweise syndiziert.
508 Vgl. Franz/Keune, VersR 2013, 1371 (1376); Hoger/Baumann, NZG 2017, 811, 814; Kaufhold, BB 2016, 394 (396). 509 Vgl. Howden M&A Insights 2017, 5.
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9.281
Kap. 9 Rz. 9.282
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
d) Prämie
9.282 In Abhängigkeit von der sich insbesondere aus der vereinbarten Deckungssumme, dem vereinbarten Selbstbehalt, der Dauer des Versicherungsschutzes, dem Umfang der versicherten Garantien sowie der in der Due Diligence identifizierten und allgemeinen Branchenrisiken ergebenden Risikoeinschätzung des W&I-Versicherers bewegt sich die Versicherungsprämie in der Regel zwischen etwa 1–2 % der vereinbarten Deckungssumme.510 Laut einer Marktstudie des Versicherungsmaklers Howden lag die durchschnittliche Prämie für operativ tätige Unternehmen in der DACH-Region in 2017 bei 1,42 %.511 e) Dauer des Versicherungsschutzes
9.283 Die Laufzeit des Versicherungsschutzes entspricht in der Regel den im Unternehmenskaufvertrag vorgesehenen Verjährungsfristen, wobei allerdings auch längere oder gestufte Laufzeiten für unterschiedliche (Arten) von Garantien denkbar sind. 4. Prozess
9.284 Der Prozess zu Abstimmung und Abschluss einer W&I-Versicherung wird häufig durch den Verkäufer initiiert, der mit Hilfe eines entsprechend qualifizierten Versicherungsmaklers auf Basis eines Entwurfs des Unternehmenskaufvertrags (insbesondere des vorgesehenen Garantiekatalogs) erste unverbindliche, indikative Angebote von verschiedenen Versicherern einholt und auf dieser Grundlage möglicherweise auch bereits einen konkreten Versicherer auswählt, mit dem sodann Eckpunkte des Versicherungsumfangs und der Versicherungskonditionen abgestimmt werden. Das Verfahren wird – bei der üblichen Käuferpolice – dann später auf den Käufer übergeleitet (sog. Seller Buyer Flip), der dann die Einzelheiten der Police und des Deckungsumfangs direkt mit dem W&I-Versicherer und dessen Beratern (end-)verhandelt.512
9.285 Ganz wesentliche Bedeutung kommt dabei den von der Verkäuferseite bzw. deren Beratern erstellten Due Diligence Berichten zu, die der W&I-Versicherung auf Grundlage von Non-Reliance-Letters zur Auswertung Verfügung zu stellen sind. Der Versicherung und ihren Beratern ist darüber hinaus Zugang zum Datenraum zu gewähren. Auf Grundlage der Auswertung dieser Informationen findet dann ein sog. Underwriting Call statt. In dieser ausführlichen, üblicherweise durch Fragelisten vorbereiteten Telefonkonferenz werden seitens der Versicherung und ihrer Berater weitere Fragen zu den Hintergründen der geplanten Transaktion, den an der Vorbereitung der Transaktion beteiligten Personen und deren fachlicher Qualifikation sowie zu Umfang, Ausgestaltung und Durchführung der Due Diligence und deren Ergebnissen gestellt.513 Ziel der W&I-Versicherung ist es dabei, sich ein möglichst gutes und vollständiges Bild über das Risikoprofil der geplanten Transaktion zu machen. Insbesondere soll sichergestellt werden, dass der Käufer im Hinblick auf die beabsichtigte Verlagerung von Trans-
510 Mit geringfügigen Abweichungen Daghles/Haßler, GWR 2015, 455 (456); Hoenig/Klingen, 1244 (1248); Doll/Mackensen in Eilers/Koffka/Mackensen/Paul, Private Equity, 3. Aufl. 2018, Kapitel VIII, Rz. 26. 511 Vgl. Howden M&A Insights 2017, 4. 512 Hoger/Baumann, NZG 2017, 811. 513 Känzlin/Otte/Fassbach, BB 2013, 2314, 2317.
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G. Haftung
Rz. 9.288 Kap. 9
aktionsrisiken auf die W&I-Versicherung nicht nachlässig agiert, sondern die Due Diligence so sorgfältig durchgeführt hat, wie ein professioneller Käufer dies ohne den in Aussicht gestellten Versicherungsschutz getan hätte. Der Abschluss der Versicherungspolice erfolgt üblicherweise gleichzeitig oder im unmittelbaren Anschluss an das Signing, d.h. die Unterzeichnung des Unternehmenskaufvertrags.
9.286
G. Haftung I. Haftung des Erwerbers beim Asset Deal 1. § 25 HGB Nach § 25 Abs. 1 HGB514 haftet der Erwerber eines Handelsgeschäfts für die im Betrieb des 9.287 übernommenen Unternehmens begründeten Verbindlichkeiten des früheren Inhabers, wenn er das Handelsgeschäft unter der bisherigen Firma fortführt. Das kann auch gelten, wenn ein Handelsgeschäft in mehreren Teilakten übernommen wird.515 Zu Besonderheiten beim Erwerb vom Insolvenzverwalter s. unten Rz. 16.31 ff. § 25 HGB eröffnet nicht die Möglichkeit, die Haftung auf das übernommene Vermögen zu beschränken. Der Käufer kann die Haftung aber durch Vereinbarung mit dem Veräußerer ausschließen (§ 25 Abs. 2 HGB). Diese Möglichkeit wird in der Praxis nicht immer hinreichend genutzt. Die Vereinbarung hat Wirkung gegenüber den Gläubigern, wenn sie unverzüglich nach Geschäftsübernahme zum Handelsregister angemeldet und alsbald eingetragen und bekannt gemacht wird. Die Eintragung hat zu erfolgen, wenn eine Haftung ernsthaft in Betracht kommt.516 Der vereinbarte Haftungsausschluss kann auch einzelnen Gläubigern mitgeteilt werden. Der Übernehmer haftet dann für Altverbindlichkeiten gegenüber diesen Gläubigern nicht. Der Weg individueller Benachrichtigung kommt namentlich gegenüber Großgläubigern in Betracht und vermeidet die im Geschäftsverkehr vielleicht unerwünschte generelle Bekanntmachung des Haftungsausschlusses. Freilich ist der Käufer damit nicht gegen unbekannte Altschulden abgesichert. Obwohl die Anknüpfung an die Firmenfortführung zum Teil als verfehlt angesehen wird,517 haftet der Erwerber de lege lata nur dann für Altverbindlichkeiten, wenn er das Unternehmen unter der bisherigen Firma weiterführt. Erforderlich ist allerdings nicht die Fortführung der identischen Firma. Die Beifügung eines das Nachfolgeverhältnis andeutenden Zusatzes hindert den Haftungseintritt schon nach dem Gesetzeswortlaut nicht. Das Gleiche gilt auch für sonstige Abweichungen, wenn zumindest der Firmenkern erhalten bleibt.518 Maß514 S. dazu die umfassende Darstellung bei K. Schmidt, Handelsrecht Unternehmensrecht I, § 8; Lettl, WM 2006, 2336. Zur Vereinbarung eines Haftungsausschlusses vgl. BGH v. 1.12.1958 – II ZR 238/57, BGHZ 29, 1; BayObLG v. 19.6.1984 – BReg.3 Z 143/84, MDR 1984, 850 = BB 1984, 1385. 515 BGH v. 24.9.2008 – VIII ZR 192/06, MDR 2008, 1404 = DB 2008, 2475. 516 OLG Stuttgart v. 23.3.2010 – 8 W 139/10, GmbHR 2010, 1041 = MDR 2010, 822 = NZG 2010, 628 m.w.N.; zur Haftungsvermeidung im Übrigen Leibner/Pump, DStR 2002, 1689. 517 Vgl. K. Schmidt, Handelsrecht Unternehmensrecht I, § 8 Rz. 14 ff. sowie schon in der Anm. zu BGH v. 1.12.1986 – II ZR 303/85, GmbHR 1987, 186 = MDR 1987, 474 = NJW 1987, 1633. 518 Vgl. BGH v. 16.9.1981 – VIII ZR 111/80, NJW 1982, 577 „D.v.A.“ fortgeführt durch „v.A. Gesellschaft mit beschränkter Haftung & Co. Gaststättenbetriebs- und Vertriebskommanditgesellschaft“; BGH v. 5.2.1979 – II ZR 117/78, DB 1979, 1124 „Grundag“ fortgeführt durch „Grunda“; BGH v. 10.10.1985 – IX ZR 153/84, DB 1986, 263 „Elektro-S, Alfred S.“ fortgeführt durch
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9.288
Kap. 9 Rz. 9.289
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
geblich ist, ob der Verkehr die neue Firma noch mit der alten identifiziert.519 Die Haftung nach § 25 HGB tritt auch beim Erwerb einer Zweigniederlassung für die dort begründeten Verbindlichkeiten ein, wenn die Zweigniederlassung im Geschäftsverkehr „im Großen und Ganzen“ wie ein eigenständiges Unternehmen in Erscheinung tritt.520 Ebenso haftet der Erwerber, wenn er zwar einzelne Filialen nicht übernimmt, wohl aber den „wesentlichen Kern“ eines Geschäftsbetriebes.521 Der „wesentliche Kern“ eines Unternehmens kann auch ein Unternehmensbereich sein, wenn ihn der Rechtsverkehr dafür ansieht.522 2. § 75 AO; § 613a BGB
9.289 Eine vergleichbare Haftung trifft denjenigen, der ein Unternehmen oder einen gesondert geführten Betrieb im Ganzen erwirbt, nach näherer Maßgabe des § 75 AO für Steuerverbindlichkeiten, die seit dem Beginn des letzten vor der Übernahme liegenden Kalenderjahres entstanden sind.523 Wegen der Haftung für Verbindlichkeiten aus Arbeitsverhältnissen (§ 613a BGB) wird auf Rz. 6.261 ff. verwiesen.
II. Haftung des Erwerbers beim Share Deal 1. Erwerb von Gesellschaftsanteilen an Personengesellschaften
9.290 Der Erwerber von Gesellschaftsanteilen an einer OHG oder von Komplementäranteilen an einer KG tritt ohne weiteres in die gesamtschuldnerische Haftung im Außenverhältnis ein (§§ 128, 130, 161 BGB). Das gilt auch beim Eintritt in eine BGB-Gesellschaft.524 Er haftet ferner für eine etwa noch offen stehenden Einlageschuld des Veräußerers (§ 105 HGB, § 705 BGB).525
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525
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„Elektro-S.-GmbH“; BGH v. 25.4.1996 – I ZR 58/94, MDR 1996, 1250 = NJW 1996, 2866 „Autohaus Manfred P.“ fortgeführt durch „Autohaus P. GmbH“; Zusammenfassung der geltenden Grundsätze zur Firmenfortführung in BGH v. 7.10.2009 – Xa ZR 131/04 (I 1a), GWR 2009, 463. BGH v. 4.11.1991 – II ZR 85/91, MDR 1992, 564 = DB 1992, 314 „K.R. Metallwarenfabrik GmbH“ fortgeführt durch „K.R. KG Metallwarenfabrik“; BGH v. 15.3.2004 – II ZR 324/01, MDR 2004, 949 = DB 2004, 1204 „Kfz-Küpper Internationale Transporte, Handel mit Kfz-Teilen und Zubehör aller Art“ fortgeführt durch „Kfz-Küpper Transport & Logistik GmbH“. BGH v. 5.2.1979 – II ZR 117/78, DB 1979, 1124. BGH v. 29.3.1982 – II ZR 166/81, MDR 1982, 908 = DB 1982, 1106 = NJW 1982, 1647 (1648) mit Anm. K. Schmidt; BGH v. 4.11.1991 – II ZR 85/91 (III 1), MDR 1992, 564 = DB 1982, 314: Fortführung des „den Schwerpunkt des Unternehmens bildenden wesentlichen Kerns desselben“. BGH v. 7.12.2009 – II ZR 229/08 Rz. 2, MDR 2010, 333 = DB 2009, 50; BGH v. 16.9.2009 – VIII ZR 321/08 (II), MDR 2010, 36 = DB 2009, 2429. Vgl. dazu im Einzelnen Leibner/Pump, DStR 2000, 1689. BGH v. 7.4.2003 – II ZR 56/02, BGHZ 154, 370 = MDR 2003, 756 unter Aufgabe früherer entgegenstehender Rechtsprechung, dazu K. Schmidt, NJW 2003, 1897; Festhaltung BGH v. 12.12.2005 – II ZR 283/03, MDR 2006, 644 = NJW 2006, 765 und BGH v. 9.10.2006 – II ZR 193/05, MDR 2007, 535 = DB 2007, 51. Vgl. Schäfer in MünchKomm/BGB, § 719 BGB Rz. 39.
Weber
G. Haftung
Rz. 9.292 Kap. 9
Für den Erwerber eines Kommanditanteils gilt:526
9.291
(1) Soweit die auf den erworbenen Kommanditanteil entfallende Einlage nicht erbracht oder zurückgewährt wurde, haftet der Erwerber sowohl gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft (§§ 171 Abs. 1, 172 Abs. 4 HGB) als auch gegenüber der Gesellschaft (§§ 161 Abs. 2, 105 HGB; § 705 BGB). (2) Ist die Einlage vom Veräußerer erbracht und wurde sie nicht zurückgewährt, so haftet der Erwerber weder gegenüber der Gesellschaft noch gegenüber deren Gläubigern. Da durch die Übertragung des Kommanditanteils die ganze Rechtsstellung des Veräußerers auf den Erwerber übergeht, kann sich letzterer auch auf die Erbringung der Einlage durch den Veräußerer berufen. Dies gilt auch dann, wenn im Handelsregister nicht eingetragen ist, dass der neue Kommanditist den Gesellschaftsanteil im Wege der Sonderrechtsnachfolge erlangt hat. Der Sondernachfolge-Vermerk hat aber Bedeutung für die Haftung des Veräußerers, vgl. Rz. 9.295. Gewohnheitsrechtlich ist weiterhin Voraussetzung für die Eintragung der Rechtsnachfolge, dass der ausscheidende Kommanditist und der Komplementär gegenüber dem Handelsregister versichern, der Kommanditist habe keine Abfindung von der Gesellschaft erhalten (sog. „Abfindungsversicherung“).527 (3) Der Erwerber haftet unbeschränkt für Verbindlichkeiten, die zwischen dem dinglichen Erwerb des Kommanditanteils und der Eintragung als Kommanditist im Handelsregister entstanden sind, es sei denn, dem Gläubiger wäre die Beteiligung des Erwerbers als (bloßer) Kommanditist bekannt gewesen.528 Zur Vermeidung dieses Risikos kann der Erwerb aufschiebend auf den Zeitpunkt der Handelsregistereintragung gestaltet werden.529 2. Erwerb von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften Der Erwerber von GmbH-Anteilen haftet gegenüber der Gesellschaft mit dem Veräußerer gesamtschuldnerisch530 für die rückständigen Einlagen (§ 16 Abs. 2 GmbHG). Er haftet nicht für unzulässige Rückzahlungen an den Veräußerer, wohl aber trifft ihn, wie alle anderen Gesellschafter, insoweit eine anteilige subsidiäre Haftung (§ 31 Abs. 3 GmbHG).531 Bei der AG haftet der Erwerber ebenfalls grundsätzlich für rückständige Einlagen (§ 54 Abs. 2 AktG), nicht aber für Rückzahlungen an den Veräußerer.532 Rückständig sind Einlagen auch, wenn darauf zwar eine Einzahlung geleistet worden ist, welche jedoch nach den Grundsätzen der verdeckten Sacheinlage oder wegen Nichtbeachtung der Nachgründungsvorschriften die Einlageschuld nicht zum Erlöschen gebracht hat.533 Der Erwerber kann sich durch eine Anfechtung des Erwerbs von der Haftung für rückständige Einlagen regelmäßig nicht befreien.534 526 BGH v. 29.6.1981 – II ZR 142/80, BGHZ 81, 82 = MDR 1981, 911 = DB 1981, 2019 mit Besprechung von K. Schmidt, GmbHR 1981, 253; Eckert, ZHR 147 (1983), 565; Huber, ZGR 1984, 146. 527 BGH v. 19.9.2005 – II ZB 11/04, MDR 2006, 342 = DB 2005, 2811 mit Anm. Goette, DStR 2006, 52; gegen KG v. 8.6.2004 – 1 W 685/03, BB 2004, 1521 (Vorlagebeschluss). 528 BGH v. 28.10.1981 – II ZR 129/80, BGHZ 82, 209 = MDR 1982, 383 = DB 1982, 424. 529 BGH v. 21.3.1983 – II ZR 113/82, GmbHR 1983, 238 = MDR 1983, 999 = DB 1983, 1419. 530 BGH v. 26.9.1994 – II ZR 166/93 (Ls. 1), GmbHR 1995, 119 = MDR 1995, 591 = DB 1994, 2543. 531 Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 31 GmbHG Rz. 23; s. im Übrigen Fembacher/ Walz, BB 2004, 680. 532 Vgl. im Einzelnen Lutter und Zöllner in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 54 AktG Rz. 6 f.; § 62 AktG Anm. 9. 533 Vgl. Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 16 GmbHG Rz. 23. 534 OLG Hamburg v. 20.2.1998 – 11 U 235/96, GmbHR 1998, 591 = BB 1998, 658; BGH v. 10.5.1982 – II ZR 89/81 (Ls.), BGHZ 84, 47 = GmbHR 1983, 42 = MDR 1982, 910 = NJW 1982,
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9.292
Kap. 9 Rz. 9.293
Der Unternehmens- und Beteiligungskaufvertrag
III. Haftung des Veräußerers 9.293 Soweit nicht eine besondere Vereinbarung mit dem Gläubiger getroffen ist, haftet der Veräußerer grundsätzlich unbeschränkt für die in seiner Person im Zeitpunkt der Veräußerung begründeten Verbindlichkeiten fort (vgl. §§ 414, 415 BGB). Er kann sich durch die Veräußerung seines Unternehmens oder seiner Beteiligung nicht seinen Verbindlichkeiten entziehen.
9.294 Der Veräußerer eines Handelsgeschäfts haftet allerdings nur für Verbindlichkeiten, die vor Ablauf von fünf Jahren nach seinem Ausscheiden fällig geworden und gegen ihn geltend gemacht worden sind, wenn der Erwerber für die früheren Geschäftsverbindlichkeiten haftet (§ 26 Abs. 1 HGB). Wegen der Einzelheiten zum Fristenlauf und zur Geltendmachung der Forderung sei auf § 26 HGB verwiesen. In ähnlicher Weise ist auch die Haftung ausscheidender Gesellschafter von Personengesellschaften beschränkt (§ 160 HGB, § 736 Abs. 2 BGB). Die Regelung hat namentlich bei Dauerschuldverhältnissen und Versorgungsansprüchen Bedeutung.
9.295 Die Haftung ausscheidender Kommanditisten ist überdies grundsätzlich beschränkt auf ihre noch nicht erbrachte oder zurückgezahlte Einlage. Allerdings kann sich der ausscheidende Kommanditist auf die Erbringung seiner Einlage nur berufen, wenn ein Sonderrechtsnachfolgevermerk im Handelsregister eingetragen ist, gegebenenfalls nach Zwischeneintragung des nicht eingetragenen und wieder ausgeschiedenen Rechtsvorgängers.535
9.296 Im Falle der Veräußerung von GmbH-Anteilen oder Aktien bleibt der Veräußerer neben dem Erwerber zur Erbringung rückständiger oder zurückgezahlter Einlagen verpflichtet.536
2822; zustimmend Knobbe-Keuk, ZIP 1983, 274; abweichend OLG Hamm v. 13.12.2005 – 27 U 43/05, GmbHR 2006, 252 mit zustimmender Anmerkung Müller, GmbHR 2006, 254; differenzierend Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 16 GmbHG Rz. 24 m.w.N. 535 OLG Hamm v. 7.1.1993 – 15 W 103/92, DB 1993, 876. 536 Dazu näher Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 16 GmbHG Rz. 22.
916
Weber
Kapitel 10 Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik Kerstin Henrich
F. Gewährleistungen des Verkäufers . . 10.104
Überblick A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.1
B. Die Erwartungen US-amerikanischer Käufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.10 I. Standardregelungen bei Unternehmenskäufen in den USA . . . . . . 10.12 II. Wichtige Themen aus Sicht eines US-Käufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.15 C. Die Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.19 D. Kaufgegenstand und Übertragung . 10.26 I. Das dingliche Vollzugsgeschäft unter aufschiebender Bedingung . . 10.29 II. Das auf das dingliche Vollzugsgeschäft anwendbare Recht . . . . . . . 10.35 E. Der Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.51 I. Vollzugsvoraussetzungen . . . . . . . . . 1. Fusionskontrollrechtliche Freigabe . . a) Deutsche Fusionskontrolle . . . . . . b) Fusionskontrolle in Drittstaaten . . 2. Sonstige regulatorische Erfordernisse 3. Kein Material Adverse Change (MAC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rücktrittsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.51 10.55 10.58 10.70 10.72
I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.104 II. Typische Gewährleistungen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgewährleistungen . . . . . . . . . . . 2. Vermögensgegenstände . . . . . . . . . . . 3. Immaterialgüterrechte . . . . . . . . . . . . 4. Einhaltung von Rechtsvorschriften . . 5. Bilanzgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Weitere Gewährleistungen . . . . . . . . . III. Haftung des Verkäufers bei Verletzung der Verkäufergarantien . . . . 1. Schäden der Zielgesellschaft . . . . . . . 2. Begrenzungen der Haftung des Verkäufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prozedere im Gewährleistungsfall . . . 4. Bagatellschäden; Haftungshöchstgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Inanspruchnahme durch Dritte . . . . 6. Haftungsausschluss im Übrigen . . . . 7. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.117 10.118 10.119 10.120 10.121 10.130 10.143 10.145 10.147 10.148 10.157 10.158 10.163 10.165 10.169
IV. Freistellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.174 G. Sonstige Vorschriften . . . . . . . . . . . . 10.177
10.81 10.99
I. Verhalten zwischen Signing und Closing (Covenants) . . . . . . . . . . . . . 10.178
II. Streitigkeiten über das Vorliegen der Vollzugsvoraussetzungen – Fast Track Arbitration . . . . . . . . . . . 10.100
II. Wettbewerbsverbot . . . . . . . . . . . . . . 10.182
Literatur: Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 38. Aufl. 2018; Bechtold/Bosch, Kartellgesetz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, 8. Aufl. 2015; Beisel/Klumpp, Der Unternehmenskauf, 7. Aufl. 2016; Blackaby/Partasides/Redfern/Hunter, Redfern and Hunter on International Arbitration, 6. Aufl. 2015; Blunk/Rabe, Bilanz- und Eigenkapitalgarantien beim GmbH-Geschäftsanteilskauf, GmbHR 2011, 408; Boewe/Johnen, Die Änderung der Außenwirtschaftsverordnung und deren Relevanz für Unternehmenskäufe, NZG 2017, 1095; Bormann/Trautmann, Geschäftsanteil: Zur Auslegung einer sog. „harten“ Bilanzgarantie in Anteilskaufvertrag, GmbHR 2016, 122; Davis/Dodoo/Schubert/Zampa, Getting the Deal Through: Merger Control 2018; von Drygalski, BGB und Unternehmenskauf oder die Möglichkeit eines kurzen deutschen Unternehmenskaufvertrages, in Festschrift für Pöllath, 2008, S. 51; Elsing, Probleme bei M&A-Schiedsverfahren, in Festschrift für Hans-Jochem Lüer, 2008, 517; Ferrari/Kieninger/Mankowski u.a., Internationales Vertragsrecht, 3. Aufl. 2018; Grau/Meshulam/Blechschmidt, Der „lange Arm“ des US-Foreign Corrupt Practices Act: unerkannte Strafbarkeitsrisiken aus jenseits der eigentlichen Korruptionsdelikte, BB 2010, 652; Hilgard, Der Freistellungsanspruch beim Unternehmenskauf, BB 2016, 1218; Hindelang/Hagemeyer, Enemy at the Gates? – Die aktuellen Änderungen der Investitionsprüfvorschriften in der Außenwirtschaftsverordnung im Lichte des Unions-
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Kap. 10
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
rechts, EuZW 2017, 882; Hoffmann-Becking Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 4, 4. Aufl. 2014; Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, 15. Aufl. 2017; Immenga/ Mestmäcker, Wettbewerbsrecht: EUG, 5. Aufl. 2012; Jauernig, BGB, 17. Aufl. 2018; Kasolowsky/Schnabl, Schiedsgutachten als Alternative zu Schiedsverfahren bei Streit über Rechtsfragen, SchiedsVZ 2012, 84; Kästle/Haller, Schieds- oder Schiedsgutachterverfahren zur Feststellung eines Material Adverse Change (MAC) beim Unternehmenskauf, NZG 2016, 926; Kleinheisterkamp/Schell, Der Übergang des wirtschaftlichen Eigentums an Kapitalgesellschaftsanteilen beim Unternehmenskauf, DStR 2010, 833; Kuntz, Die Auslegung von Material Adverse Change (MAC)-Klauseln in Unternehmenskaufverträgen, DStR 2009, 377; Land, Rechtsfragen des internationalen Unternehmenskaufs, BB 2013, 2697; Lange, „Material Adverse Effect“ und „Material Adverse Change“-Klauseln in amerikanischen Unternehmenskaufverträgen, NZG 2005, 454; Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016; Marquardt/Kurcab/Green, Getting the Deal Through: Foreign Investment Review 2018 – United States, Januar 2018; Mellert, Selbständige Garantien beim Unternehmenskauf – Auslegungs- und Abstimmungsprobleme, BB 2011, 1667; Mielke/Welling, Kartellrechtliche Zulässigkeit von Conduct of Business-Klauseln in Unternehmenskaufverträgen, BB 2007, 277; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 77. Aufl. 2018; Picot, Unternehmenskauf und Sachmängelhaftung, DB 2009, 2587; Picot/Duggal, Unternehmenskauf: Schutz vor wesentlich nachteiligen Veränderungen der Grundlage der Transaktion durch sog. MAC-Klauseln, DB 2003, 2635; Pilger, Präambel im Unternehmenskaufvertrag – ein unterschätztes Gestaltungsmittel, BB 2000, 368; Rödder/Hötzel/Mueller-Thuns, Unternehmenskauf, Unternehmensverkauf, 2003; Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, ab 7. Aufl. 2015; Saenger/Klockenbrink, Das neue Kaufrecht in der Rechtsprechung 2002 – 2005, ZGS 2006, 61; Schlitt/Schäfer, Quick to Market – Aktuelle Rechtsfragen im Zusammenhang mit Block-Trade-Transaktionen, AG 2004, 346; Schmidt, Münchener Kommentar zum Handelsgesetzbuch, Band 1, 4. Aufl. 2016; Schmitz, Mängelhaftung beim Unternehmenskauf nach der Schuldrechtsreform, RNotZ 2006, 561; Seibt/Kulenkamp, CFIUS-Verfahren und Folgen für M&A-Transaktionen mit Beteiligung deutscher Unternehmen – und als Modell für die Weiterentwicklung des deutschen Außenwirtschaftsrechts?, ZIP 2017, 1345; Spehl/Grützner, „Resource Guide to the U.S. Foreign Corrupt Practices Act“ („FCPA-Guide“) – Eine Hilfe für Unternehmen im Umgang mit dem FCPA, CCZ 2013, 198; Spies, USA: Falscher Griff in die Tasche – Foreign Corrupt Practices Act, MMR 2009, XIII; von Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Neubearb. 2015; Triebel, Anglo-amerikanischer Einfluß auf Unternehmenskaufverträge in Deutschland – eine Gefahr für die Rechtsklarheit?, RIW 1998, 1; Triebel/Balthasar, Auslegung englischer Vertragstexte unter deutschem Vertragsstatut – Fallstricke des Art. 32 I Nr. 1 EGBGB, NJW 2004, 2189; Weitnauer, Der Unternehmenskauf nach neuem Kaufrecht, NJW 2002, 2511; Wolf/Kaiser, Die Mängelhaftung beim Unternehmenskauf nach neuem Recht, DB 2002, 411.
Überblick Die Praxis des Unternehmenskaufs in Deutschland wird in hohem Maße durch Englisch als Verhandlungs- und Vertragssprache und anglo-amerikanische Einflüsse auf die Vertragsgestaltung geprägt. Im folgenden Kapitel werden Vertragsklauseln und Gestaltungsvarianten erläutert, die sich typischerweise in Unternehmenskaufverträgen finden, die deutschem Recht unterliegen, aber nach anglo-amerikanischem Muster gestaltet sind. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den aktuell in den USA und Europa gängigen Vertragsstandards, die sich etwa anhand der unterschiedlich weiten Verbreitung von MAC-Klauseln illustrieren lassen, bilden einen Schwerpunkt der Darstellung. Typische Vollzugsbedingungen und -voraussetzungen, Verkäufergarantien und -freistellungen werden ausführlich und unter Bezugnahme auf zahlreiche Formulierungsbeispiele in englischer Sprache erläutert. Darüber hinaus wird auf die Erwartungshaltung vieler US-amerikanischer Käufer eingegangen.
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A. Einleitung
Rz. 10.4 Kap. 10
Des Weiteren bietet das Kapitel eine kurze Einführung in US-amerikanische Rechtsvorschriften, die einen praktischen Einfluss auf die Gestaltung von Unternehmenskaufverträgen mit internationalem Bezug haben, wie die Prüfung ausländischer Investitionen in den USA durch das CFIUS, der Foreign Corrupt Practices Act (FCPA) sowie diverse US-Embargovorschriften. Das Kapitel hat dabei nicht den Anspruch, eine allgemeine Einführung in den Unternehmenskauf zu bieten, sondern will dem Praktiker Gestaltungs- und Formulierungshilfen bieten.
A. Einleitung Die Praxis des Unternehmenskaufs in Deutschland wird in hohem Maße durch Englisch als Verhandlungs- und Vertragssprache und anglo-amerikanische Einflüsse auf die Vertragsgestaltung geprägt. Begriffe wie Asset Deal, Share Deal und Due Diligence haben Eingang in die deutsche Rechtsterminologie gefunden und sich dort durchgesetzt. Diese Entwicklung wird mitunter kritisch gesehen und in Dinner Speeches der „Niedergang der deutschen Sprache im Transaktionsprozess“ ausgerufen (wobei der Begriff „Dinner Speech“ aber offenbar nicht als potentiell schädlicher Anglizismus eingeordnet wird, der zum Niedergang der deutschen Sprache beitragen könnte).1 Selbst dann, wenn Käufer und Verkäufer deutsche Unternehmen sind, werden Unternehmenskaufverträge, die deutschem Recht unterliegen, häufig in englischer Sprache verfasst.
10.1
Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Zum einen ist das Interesse ausländischer Investoren am Erwerb deutscher Unternehmen nach wie vor groß. Kaufinteressenten aus englischsprachigen Ländern gehen oftmals von vornherein davon aus, dass die Verträge auf Englisch verhandelt und verfasst werden oder verlangen dies mit Verweis auf notwendige Abstimmungen mit der Unternehmensleitung. Aber auch in Fällen, in denen weder Käufer noch Verkäufer aus dem englischen Sprachraum stammen, wird Englisch als gemeinsame Sprache der Parteien gewählt.2 Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss der finanzierenden Investmentbanken, in denen Englisch häufig Unternehmenssprache ist und die etwa über die Ergebnisse der Due Diligence und den Fortgang der Verhandlungen regelmäßig informiert werden müssen.
10.2
Zum anderen haben vom Verkäufer initiierte Bieterverfahren zu dieser Entwicklung beigetragen. Dort wird den am Erwerb des Unternehmens interessierten Bietern oftmals ein in englischer Sprache verfasstes und nach anglo-amerikanischem Vorbild gestaltetes Vertragsmuster vorgelegt, um die Attraktivität des Verfahrens für ausländische Bieter zu erhöhen.
10.3
Über die genannten wirtschaftlichen Motive hinaus gibt es jedoch auch juristische Gründe dafür, dass auch bei Unternehmenskäufen nach deutschem Recht auf anglo-amerikanische Vertragsgestaltungen zurückgegriffen wird. Denn das deutsche gesetzliche Kaufrecht ist auf den Erwerb von Unternehmen nicht ausgelegt. Über eine lange Zeit hinweg musste der Unternehmenskauf in die seit dem 1.1.1900 geltenden Kategorien des BGB entweder als Sach- oder als Rechtskauf eingeordnet werden. Der BGB-Gesetzgeber sah als Kaufgegenstand jeweils einzelne
10.4
1 S. die Dinner Speech [sic] von Bruse anlässlich eines Abendessens von Lehrbeauftragten der Universität Münster am 17.4.2007, abrufbar unter https://www.pplaw.com/sites/default/files/publica tions/2007/08/mb-2007-m-untergang.pdf (zuletzt abgerufen am 14.6.2018). 2 S. auch Triebel/Balthasar, NJW 2004, 2189 (2190).
Henrich
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Kap. 10 Rz. 10.5
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
Sachen oder Rechte vor und nicht ein Unternehmen als Gesamtheit von materiellen und immateriellen Rechtsgütern und Geschäftswerten,3 bzw., wie auch häufig formuliert wird, als „Inbegriff von Sachen und Rechten.“4 Mit einem Unternehmenskaufvertrag, bei dem eine Vielzahl von Rechtsbeziehungen – unmittelbar (Asset Deal) oder mittelbar (Share Deal) – zu berücksichtigen sind, ist das Gesetzesrecht schlicht überfordert.
10.5 Hieran hat auch der im Zuge der Schuldrechtsreform im Jahr 2002 eingeführte § 453 Abs. 1 Alt. 2 BGB nichts geändert. Danach finden die Vorschriften über den Kauf von Sachen auch auf den Kauf von „sonstigen Gegenständen“ Anwendung. Laut der Gesetzesbegründung sollte diese Neuregelung auf die Erfassung von Unternehmenskaufverträgen abzielen.5 Die Vertragspraxis hat von diesem gesetzgeberischen Angebot aus den angesprochenen Gründen jedoch bisher keinen Gebrauch gemacht.6 Vielmehr wird das gesetzliche Kaufrecht – soweit es dispositiv ist – abbedungen.
10.6 Im Vergleich zu Deutschland fanden in den USA Unternehmenskäufe und -verkäufe bereits zu einem früheren Zeitpunkt und in größerem Umfang statt. Da dort aufgrund des Case Law grundsätzlich nur in geringem Umfang auf gesetzliche Bestimmungen zurückgegriffen werden konnte, sind die Vertragsparteien seit langem auf umfangreiche Vertragswerke, in denen die Rechtsbeziehungen im Einzelnen ausgestaltet werden, angewiesen. Die damit einhergehende Flut an Regelungen in den Vertragswerken, die nicht selten mehrere hundert Seiten umfassen können, wird bisweilen kritisiert,7 ist aber eine Folge der mangelnden Rückgriffsmöglichkeit auf gesetzliche Regelungen. Wird eine Fallgestaltung von den Parteien nicht bedacht und erfährt dadurch keine Regelung im Vertrag, kommt nach deutscher Rechtsvorstellung dispositives Gesetzesrecht zur Anwendung; nach englischem Recht werden „Lücken“ im Vertrag durch den Richter grundsätzlich nicht geschlossen. Nur wenn es unbedingt erforderlich ist, um die Abwicklung des Vertrages zu gewährleisten, hilft möglicherweise die doctrine of implied terms, wonach die Lückenfüllung, ähnlich wie bei der ergänzenden Vertragsauslegung nach deutschem Recht, nach dem vermuteten Parteiwillen erfolgt.8
10.7 Da die wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten und die zu regelnden Sachverhalte bei einem Unternehmenskaufvertrag nach deutschem Recht grundsätzlich nicht anders gelagert sind als bei Verträgen nach US-amerikanischem oder englischem Recht, spricht aus deutscher Beraterperspektive nichts dagegen, auf den dort gesammelten Erfahrungsschatz bezüglich der Gestaltung von Unternehmenskaufverträgen zurückzugreifen.
10.8 Beim Entwurf des Vertragswerks ist jedoch stets zu beachten, dass deutsches Recht Vertragsstatut und das deutsche Rechtsverständnis maßgeblich ist, auch wenn englische oder USamerikanische Rechtsbegriffe verwendet werden. Zur Vermeidung von Unklarheiten empfiehlt es sich daher zum einen, solchen Begriffen im Vertragstext deutsche Übersetzungen und Verweise auf anwendbare deutsche Rechtsvorschriften beizufügen.9 Zum anderen ist beim Entwurf von Unternehmenskaufverträgen – egal, ob diese in deutscher oder englischer 3 Thiessen in MünchKomm/HGB, Anh. zu § 25 Rz. 4. 4 So z.B. Berger in Jauernig, BGB, § 453 BGB Rz. 12; Westermann in MünchKomm/BGB, § 453 BGB Rz. 20. 5 Vgl. BT-Drucks. 14/6040 v. 14.5.2001, 242. 6 Saenger/Klockenbrink, ZGS 2006, 61 (65). 7 Etwa von von Drygalski in FS Pöllath, S. 51. 8 Vgl. Triebel, RIW 1998, 1 Fn. 3. 9 Ausführlich hierzu Triebel/Balthasar, NJW 2004, 2189 (2194 ff.).
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B. Die Erwartungen US-amerikanischer Käufer
Rz. 10.12 Kap. 10
Sprache verfasst werden und welcher Systematik der Vertrag folgt – stets auf eine genaue Definition der verwendeten Begriffe und auf deren einheitliche Verwendung zu achten. Weder deutsche noch englische Rechtsbegriffe helfen den Vertragsparteien weiter, wenn nicht klar ist, was mit diesen Begriffen überhaupt gemeint ist und was inhaltlich geregelt werden soll. Im Folgenden sollen Vertragsklauseln und Gestaltungsvarianten erläutert werden, die sich typischerweise in Unternehmenskaufverträgen finden, die deutschem Recht unterliegen, aber nach anglo-amerikanischem Muster gestaltet sind. Dabei wird an einigen Stellen das im Anhang abgedruckte Muster eines Limited Partnership Interest and Share Purchase Agreement in Bezug genommen. Dabei erhebt dieser Teil keinen Anspruch darauf, eine allgemeine Einführung in den Unternehmenskauf darzustellen; diese wird vielmehr in Kapitel 9 durch Markus Weber geleistet.
10.9
B. Die Erwartungen US-amerikanischer Käufer Eine typische Konstellation, in der ein Unternehmenskaufvertrag nach anglo-amerikanischer Vertragssystematik abgeschlossen wird, ist der Kauf eines deutschen Unternehmens durch einen US-amerikanischen Käufer. Handelt es sich bei dem Verkäufer der deutschen Zielgesellschaft um ein Großunternehmen, ergeben sich selten besondere Probleme, denn die mit der Betreuung des Verkaufsprozesses betrauten Mitarbeiter aus der Rechtsabteilung des Verkäufers und deren Berater sind im Regelfall mit anglo-amerikanischen Vertragsmustern sowie der Herangehensweise und der Erwartungshaltung US-amerikanischer Käufer vertraut. Auch die englische Sprache stellt üblicherweise kein Problem für die Beteiligten dar.
10.10
Anders ist die Situation dagegen häufig, wenn es sich bei der deutschen Zielgesellschaft um ein bis dato familiengeführtes oder einen Teilbereich eines mittelständischen Unternehmens handelt. In diesem Fall mangelt es den Beteiligten auf Verkäuferseite häufig nicht nur an Transaktionserfahrung, den erforderlichen hervorragenden Kenntnissen der englischen Sprache sowie geeigneten Beratern, sondern oftmals auch an der Einsicht, dass dies der Fall sein könnte. Wird dieser Verkäufertypus dann mit dem Entwurf eines Unternehmenskaufvertrags nach anglo-amerikanischer Vertragssystematik konfrontiert, führt dies nicht selten zu Unverständnis, Verärgerung und einer gewissen Abwehrhaltung. Dies können wiederum die Verhandlungsführer der Käuferseite häufig nicht nachvollziehen, denn für sie entspricht der Vertragsentwurf dem gewohnten Standard, den sie auch bei Akquisitionen außerhalb der USA ständig verwenden. Aus diesem Grund sollen nachfolgend zunächst einige Hinweise zur Erwartungshaltung US-amerikanischer Käufer und zur Verhandlungstaktik gegeben werden.
10.11
I. Standardregelungen bei Unternehmenskäufen in den USA Einen guten Überblick über die jeweils aktuellen Standard-Regelungen in US-Unternehmenskaufverträgen bietet die „Private Target M&A Deal Points Study“, welche die Business Law Section der American Bar Association seit 2006 in regelmäßigen Abständen veröffentlicht. Für die aktuelle Studie von Dezember 2017 wurden 139 Unternehmenskaufverträge ausgewertet, die im Jahr 2016 und im ersten Halbjahr 2017 abgeschlossen wurden und mit denen Aktiengesellschaften als Käufer Privatunternehmen erworben haben. Da die Studie auch Vergleiche mit den Ergebnissen früherer Studien enthält, lassen sich ihr nicht nur aktuelle Trends, sondern auch Entwicklungen entnehmen. Henrich
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10.12
Kap. 10 Rz. 10.13
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
10.13 In 85 % der für die aktuelle Studie ausgewerteten Unternehmenskaufverträge fielen Signing und Closing auseinander. Regelungen über die Anpassung des Kaufpreises nach dem Closing enthielten 86 % der Verträge (im Vergleich zu nur 68 % der Kaufverträge, die für die erste, 2006 veröffentlichte, Studie ausgewertet wurden), in 99 % wurde eine MAE-Klausel vereinbart.10 In ebenfalls 99 % der untersuchten Verträge gaben die Verkäufer eine Bilanzgarantie ab, in der sie versicherten, dass die betreffenden (Jahres)Abschlüsse ein zutreffendes Bild (fair presentation) der Finanz- und Ertragslage der Zielgesellschaft vermitteln. 97 % enthielten eine Verkäufergarantie des Inhalts, dass die Zielgesellschaft keine nicht offengelegten Verbindlichkeiten hat. Absoluter Standard ist auch die Verkäufergarantie, dass der Geschäftsbetrieb der Zielgesellschaft in Übereinstimmung mit den geltenden Rechtsvorschriften geführt wurde; eine solche Garantie enthielten 99 % der ausgewerteten Verträge.
10.14 Solche im US-Markt gängigen Standardregelungen erwarten amerikanische Käufer auch in Unternehmenskaufverträgen, die ausländischen Rechtsordnungen – etwa deutschem Recht – unterliegen. Verkäufer, die mit einem US-Käufer erfolgreich zum Abschluss kommen möchten, sollten sich diese Erwartungshaltung vor Augen führen und sich im Verkaufsprozess darauf einstellen. Hier sind insbesondere auch die Berater gefragt, deren Aufgabe es u.a. ist, ihre Mandanten erfolgreich durch den Prozess zu lotsen. Häufig ist es etwa nicht zielführend, sich in Diskussionen über die Sinnhaftigkeit einiger Regelungen zu verlieren oder sich von vornherein zu weigern, bestimmte Verkäufergarantien abzugeben. Sinnvoller kann es sein, sich in den Verhandlungen darauf zu konzentrieren, Formulierungen zu vereinbaren, die für beide Seiten akzeptabel sind: Statt über das „ob“ bestimmter Garantien sollte über das „wie“ verhandelt werden.
II. Wichtige Themen aus Sicht eines US-Käufers 10.15 Ebenfalls hilfreich kann es sein, in einem möglichst frühen Stadium des Verkaufsprozesses Umstände offenzulegen, die aus Sicht eines US-Käufers als ungewöhnlich oder besonders wichtig einzustufen sein könnten.
10.16 Zu denken ist dabei insbesondere an arbeitsrechtliche Vorschriften. In Deutschland selbstverständliche Phänomene wie Kündigungsschutz, Betriebsräte, Tarifbindung oder Mitbestimmung der Arbeitnehmer sind in den USA in vielen Bereichen unüblich oder nicht existent. Der Gedanke daran, in der neu zu erwerbenden deutschen Tochtergesellschaft etwa mit einem Betriebsrat oder einem mitbestimmten Aufsichtsrat konfrontiert zu werden, kann bei US-Amerikanern geradezu irrationale Vorbehalte vor „Sozialismus“ auslösen. Dem lässt sich häufig von vornherein entgegenwirken, indem z.B. bereits im Informationsmemorandum offengelegt wird, dass es bei der Zielgesellschaft einen Betriebsrat gibt, welche Funktion dieser hat, welche Betriebsvereinbarungen in Kraft sind und dass es (sofern zutreffend) in den letzten fünf Jahren keine Arbeitskämpfe gab.
10.17 Aus Käufersicht hohe Relevanz haben daneben im Regelfall Informationen zu Betriebsrenten und deren Finanzierung.
10.18 Darüber hinaus werden aus Sicht von Käufern mit geschäftlichen Aktivitäten in den USA – d.h. auch für Nicht-US-Unternehmen – Compliance-Themen immer wichtiger, denn im Falle von Verstößen gegen US-Sanktionen oder Anti-Korruptions-Gesetze drohen empfind10 Vgl. zu MAE (Material Adverse Effect)-Klauseln Rz. 10.81 ff.
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Henrich
C. Die Präambel
Rz. 10.22 Kap. 10
liche Strafen. Zwar haben viele deutsche Unternehmen ihre Anstrengungen im Bereich Compliance in den letzten Jahren verstärkt; nach Einschätzung der Verfasserin hat das Thema aber für US-Unternehmen derzeit nach wie vor noch eine höhere Bedeutung. Sofern die Zielgesellschaft in Ländern aktiv ist, die etwa für Korruptionsanfälligkeit bekannt sind, sollten die Verkäufer damit rechnen, dass die Geschäftstätigkeit der Zielgesellschaft in den betreffenden Ländern von Kaufinteressenten im Rahmen der Due Diligence eingehend untersucht werden wird. Idealerweise sollten ggf. schon einige Jahre vor Beginn des Verkaufsprozesses geeignete Maßnahmen ergriffen werden (beispielsweise interne Untersuchungen und regelmäßige Schulungen von Mitarbeitern und Handelsvertretern), um das Risiko von Gesetzesverstößen bei Geschäften in solchen Ländern zu reduzieren.
C. Die Präambel Die Präambel (lat. praeambulum) ist die Einleitung des Vertrages, ist also nicht eigentlicher Teil des Unternehmenskaufvertrages, sondern geht diesem voraus. Kein anderer Vertragsbestandteil verdeutlicht den Einfluss des US-amerikanischen Rechts auf Unternehmenskäufe stärker als die Präambel. Nach US-amerikanischem Rechtsverständnis dient die Präambel dazu, den Vertrag über die grundsätzlich dominierende Wortlautauslegung hinaus einer Auslegung nach Sinn und Zweck zugänglich zu machen.
10.19
Nach deutschem Rechtsverständnis wäre eine Präambel demnach entbehrlich; Sinn und Zweck des Vertrags sind bei seiner Auslegung nämlich ohnehin gem. §§ 133, 157 BGB zu berücksichtigen.11 Gleichwohl ist die Präambel mit gutem Grund Bestandteil nahezu jedes Unternehmenskaufvertrags.
10.20
Die Präambel dient dazu, die Motive für den Vertragsschluss vor den eigentlichen vertragli- 10.21 chen Regelungen zusammenzufassen und kann demnach bei später auftretenden Zweifelsfragen für die Auslegung des Vertrages von erheblicher Bedeutung sein. Gemäß §§ 133, 157 BGB ist der wirkliche Wille der Parteien zu erforschen, wozu selbstverständlich die Motive für den Vertragsschluss von großer Bedeutung sind.12 Die Parteien können in der Präambel zusammenfassend den wirtschaftlichen Hintergrund der Transaktion erläutern. Auch dies erleichtert später eine teleologische Auslegung der einzelnen vertraglichen Bestimmungen.13 Jedoch sollten über deskriptive Ausführungen zum wirtschaftlichen Hintergrund der Transaktion hinausgehende Aspekte nicht in die Präambel aufgenommen werden. Rein praktisch gesehen kann eine gut geschriebene Präambel auch das Verständnis des Unternehmenskaufvertrages erleichtern, insbesondere, wenn der Vertragsabschluss schon einige Zeit zurückliegt und der Vertrag nochmals im Hinblick auf bestimmte Regelungen, etwa Garantien oder Freistellungen, durchgesehen wird, oder im Falle eines Rechtsstreits von Richtern oder Schiedsrichtern. Schon aus diesem Grund sollte die Bedeutung der Präambel nicht unterschätzt werden.
11 Pilger, BB 2000, 368. 12 Vgl. BGH v. 28.9.1995 – II ZR 87/94, NJW 1995, 3313 (3314). 13 Vgl. zur Heranziehung der Präambel als Auslegungshilfe BGH v. 7.3.1996 – I ZR 68/94, NJW-RR 1996, 1120; BGH v. 6.4.1981 – II ZR 252/79, GmbHR 1981, 241 = MDR 1981, 997 = NJW 1981, 2059 (2060).
Henrich
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10.22
Kap. 10 Rz. 10.23
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
10.23 Durch die Aufnahme des Zwecks und der Motive in eine dem Vertrag vorangestellte Präambel wird zudem eventuell das Berufen auf die Störung der Geschäftsgrundlage erleichtert.14 Denn zum einen werden in der Präambel die beiderseitigen Erwartungen und Ziele dokumentiert, andererseits ist die Präambel gerade nicht eigentlicher Teil der vertraglichen Regelungen, was für das Berufen auf den Wegfall oder die Störung der Geschäftsgrundlage Voraussetzung ist. Verändert sich also die Geschäftsgrundlage nach Vertragsschluss grundlegend, kann gem. § 313 Abs. 1 BGB gegebenenfalls Anpassung des Vertrags verlangt werden. In Extremfällen ist sogar der Rücktritt vom Vertrag gem. § 313 Abs. 3 Satz 1 BGB denkbar.15
10.24 Hinzuweisen ist darüber hinaus noch auf folgende Gestaltungsmöglichkeit: In der Präambel kann dokumentiert werden, dass dem Käufer etwa im Rahmen einer vorab durchgeführten Due Diligence sämtliche mit dem Unternehmenskauf im Zusammenhang stehende Umstände zugänglich gemacht worden seien. Dem Käufer wird es dann verwehrt sein, den Kaufvertrag wegen arglistig vorenthaltener Informationen gem. § 123 BGB anzufechten, da ihm, dem Käufer, ja ausweislich der Präambel vollumfängliche Informationen über den Kaufgegenstand angeboten hat.16
10.25 Regelungen, die eigenständige Rechte und Pflichten begründen oder auf diese Bezug nehmen, gehören dagegen in den Vertragstext. Teilweise wird in der Präambel jedoch bereits der Kaufgegenstand definiert, so auch in dem Muster eines Limited Partnership Interest and Share Purchase Agreement im Anhang.
D. Kaufgegenstand und Übertragung 10.26 Der Verkauf eines Unternehmens nach deutschem Recht erfolgt aufgrund des Abstraktionsprinzips in zwei Schritten, dem schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäft und dem dinglichen Vollzugsgeschäft.
10.27 Das schuldrechtliche Verpflichtungsgeschäft, d.h. die Bestimmung, mit der sich der Verkäufer verpflichtet, den Kaufgegenstand zu übertragen, und dem Käufer somit den Anspruch einräumt, die Übertragung des Kaufgegenstandes zu verlangen, wird bei Unternehmenskaufverträgen – anders als das dingliche Vollzugsgeschäft – üblicherweise nicht unter die (aufschiebende) Bedingung der Kaufpreiszahlung gestellt. Es wäre nämlich unbillig, wenn der Käufer einen Unternehmensverkauf einseitig dadurch zu Fall bringen könnte, dass er den Kaufpreis nicht zahlt. Im Falle der Nichtzahlung sollte es vielmehr dem Verkäufer überlassen sein, ob er vom Vertrag zurücktritt, sich an Garantiegeber des Käufers hält oder Vollstreckungsmaßnahmen gegen den Käufer einleitet.
10.28 Bei der dinglichen Übertragung von Anteilen an einer Gesellschaft, deren Gesellschaftsstatut deutsches Recht ist, handelt es sich um eine Abtretung i.S.d. § 398 i.V.m. § 413 BGB. Beim Share Deal muss der Veräußerer daher ein Abtretungsangebot erklären und der Erwerber dieses annehmen. Wird das dingliche Vollzugsgeschäft unbedingt geschlossen, ist der unmit-
14 Vgl. Klumpp/Beisel in Beisel/Klumpp, § 4 Rz. 9; Pilger, BB 2000, 368 (369). 15 Zur Präambel als Standort der Geschäftsgrundlage BGH v. 23.2.1995 – IX ZR 29/94, MDR 1995, 962 = NJW 1995, 1425 (1428). 16 Zu weiteren Einzelheiten und ggf. bestehenden Risiken auf Verkäuferseite vgl. Pilger, BB 2000, 368 (369 f.).
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D. Kaufgegenstand und Übertragung
Rz. 10.34 Kap. 10
telbare Übergang der erworbenen Beteiligung auf den Erwerber mit allen Rechten und Pflichten, genauso wie allen Nebenrechten, Folge der Abtretung, §§ 413, 401 BGB.
I. Das dingliche Vollzugsgeschäft unter aufschiebender Bedingung In aller Regel erfolgt die Abtretung der Anteile an der Zielgesellschaft jedoch unter einer oder mehreren aufschiebenden Bedingung(en), § 158 Abs. 1 BGB.
10.29
Im Fall dieser vertraglichen Gestaltung tritt der Rechtsübergang erst mit Erfüllung der Bedingung ein. Die aufschiebende Bedingung kann dabei unterschiedliche Zwecke erfüllen.
10.30
Die – typische – Bestimmung, dass die Abtretung der Anteile aufschiebend bedingt auf die vollständige Kaufpreiszahlung ist, dient dem Schutz des Verkäufers vor dem Verlust des Eigentums an seinen Anteilen an der Zielgesellschaft vor Erhalt des vollständigen Kaufpreises.
10.31
Die typische aufschiebende Bedingung bei der Übertragung von Kommanditanteilen, wo- 10.32 nach die Abtretung des Kommanditanteils aufschiebend bedingt ist auf den Zeitpunkt der Eintragung des Käufers im Handelsregister als Sonderrechtsnachfolger des Verkäufers hinsichtlich des Kommanditanteils, dient dagegen sowohl dem Schutz des Käufers als auch dem Schutz des Verkäufers. Zunächst dient die aufschiebende Bedingung dem Schutz des Käufers des Kommanditanteils. Denn gem. § 176 Abs. 2 HGB haftet ein Kommanditist für alle in der Zeit zwischen seinem Eintritt und seiner Eintragung im Handelsregister von der Kommanditgesellschaft eingegangenen Verbindlichkeiten gleich einem persönlich haftenden Gesellschafter. Die Vorschrift gilt auch für Kommanditisten, die ihren Kommanditanteil nicht durch Eintritt, sondern durch Abtretung erworben haben für die Zeit zwischen Beteiligungsübergang und Eintragung.17 Um eine persönliche Haftung des Käufers für alle von der Kommanditgesellschaft zwischen Abtretung und Eintragung eingegangenen Verbindlichkeiten zu verhindern, muss die Abtretung folglich aufschiebend bedingt auf die Eintragung des Käufers als Kommanditist kraft Sonderrechtsnachfolge im Handelsregister erfolgen.18 Darüber hinaus dient diese aufschiebende Bedingung aber auch dem Schutz des Verkäufers: Mit der Übertragung des Kommanditanteils geht die Rechtsposition des Verkäufers und damit auch dessen Recht, sich gem. § 171 Abs. 1 Halbs. 2 HGB darauf zu berufen, dass die Einlage geleistet ist, auf den Käufer über.19 Bei Fehlen des Rechtsnachfolgevermerks ist somit die im Handelsregister weiter eingetragene Haftsumme des früheren Kommanditisten durch seine frühere Einlagenleistung fortan nicht mehr gedeckt.20
10.33
Regelmäßig wird der Rechtsübergang darüber hinaus von weiteren Bedingungen abhängig gemacht, die am Vollzugstag, dem sog. Closing, erfüllt sein müssen.
10.34
17 BGH v. 21.3.1983 – II ZR 113/82, GmbHR 1983, 238 = MDR 1983, 999 = NJW 1983, 2258 (2259); OLG Hamburg v. 21.5.1985 – 7 O 118/82, EWiR 1985, 699 (m. Anm. Plander). 18 Vgl. etwa Roth in Baumbach/Hopt, § 162 HGB Rz. 8 sowie zu diesen und weiteren Gestaltungen Neubauer/Herchen in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 2, 4. Aufl. 2014, § 30 Rz. 106. 19 BGH v. 29.6.1981 – II ZR 142/80, MDR 1981, 911 = GmbHR 1981, 262 (263). 20 BGH v. 29.6.1981 – II ZR 142/80, MDR 1981, 911 = GmbHR 1981, 262 (264), vgl. auch etwa Roth in Baumbach/Hopt, § 173 HGB Rz. 13.
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Kap. 10 Rz. 10.35
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
II. Das auf das dingliche Vollzugsgeschäft anwendbare Recht 10.35 Die Unterscheidung zwischen Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft ist auch im Hinblick auf die Möglichkeit der Rechtswahl relevant.
10.36 Auf vertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen, namentlich Unternehmenskaufverträge mit internationalem Bezug, ist in Deutschland sowie in sämtlichen EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks die Rom I-VO anwendbar.21
10.37 Gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Rom I-VO unterliegt ein Vertrag dem von den Parteien gewählten Recht. Dabei sind die Parteien grundsätzlich frei, jede staatliche Rechtsordnung zu wählen; ein räumlicher oder sachlicher Bezug zu der gewählten Rechtsordnung ist nicht erforderlich.22 In der Praxis enthalten häufig sogar Unternehmenskaufverträge ohne Bezug zu einer ausländischen Rechtsordnung eine Rechtswahlklausel, obwohl eine solche in diesem Fall verzichtbar wäre.
10.38 Die Rechtswahl führt zur Anwendung des gewählten materiellen Rechts unter Ausschluss des Internationalen Privatrechts (Sachnormverweisung), Art. 20 Rom I-VO. Das in dem Unternehmenskaufvertrag gewählte materielle Recht ist insbesondere maßgeblich für dessen Zustandekommen und Wirksamkeit (vgl. Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Rom I-VO), für die Erfüllung bzw. die Folgen der Nichterfüllung, die Verjährung sowie die Folgen einer Nichtigkeit des Vertrags (Art. 12 Abs. 1 Rom I-VO). Gemäß Art. 18 Abs. 1 Rom I-VO ist das Vertragsstatut auch insoweit maßgeblich, als es für vertragliche Schuldverhältnisse gesetzliche Vermutungen aufstellt oder die Beweislast verteilt. Im Hinblick auf gesetzliche Vermutungen gilt dies jedoch nur für Vermutungen im Schuldrecht, nicht etwa die Eigentumsvermutung nach § 1006 BGB, die der lex rei sitae unterliegt.23
10.39 Das von den Parteien im Unternehmenskaufvertrag gewählte Recht gilt jedoch nicht für die Übereignung der Vermögensgegenstände des Unternehmens (beim Asset Deal) sowie für die Übertragung von Gesellschaftsanteilen (beim Share Deal):
10.40 Beim Asset Deal erwirbt der Käufer die einzelnen Vermögensgegenstände, aus denen sich das Unternehmen zusammensetzt.24 Befinden sich diese Gegenstände (teilweise) im Ausland, muss für jeden Gegenstand das für seine Übertragung maßgebliche Recht bestimmt werden.25
10.41 Handelt es sich bei den Vermögensgegenständen um bewegliche oder unbewegliche Sachen (Grundstücke), richtet sich deren Übereignung nach dem Recht des Staates, in dem sich die Sache befindet (lex rei sitae), Art. 43 Abs. 1 EGBGB. Eine von diesem Grundsatz abweichende Rechtswahl ist nach deutschem internationalen Sachenrecht aus Gründen des Verkehrs-
21 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht (Rom I) v. 17.6.2008, ABl. EU Nr. L 177, 6; ber. 2009 Nr. L 309, S. 87 (Rom I-VO). Laut Erwägungsgrund 46 der Rom I-VO beteiligt sich Dänemark nicht an deren Annahme. 22 Vgl. Land, BB 2013, 2697 m.w.N. 23 Palandt/Thorn, Art. 18 Rom I-VO, Rz. 3. 24 Vgl. zum Asset Deal bereits Kapitel 9, Rz. 9.88 ff. 25 Vgl. Land, BB 2013, 2697 (2699).
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D. Kaufgegenstand und Übertragung
Rz. 10.46 Kap. 10
schutzes nicht möglich.26 Der Grundsatz der lex rei sitae gilt in den meisten Staaten, zu den wenigen Ausnahmen gehören die USA.27 Für einen Asset Deal-Kaufvertrag nach deutschem Recht bedeutet dies, dass im Vertrag wirksam die Übereignung von beweglichen und unbeweglichen Sachen der Zielgesellschaft, welche sich in Deutschland befinden, vereinbart werden kann. Die Übereignung von im Ausland belegenen Sachen richtet sich jedoch grundsätzlich nach dem Recht des Staates, in dem sich die Sachen befinden (sofern im internationalen Sachenrecht des betreffenden Staats der lex rei sitae-Grundsatz gilt). Für die Übereignung der betreffenden Sachen sind daher separate Übereignungsverträge nach dem anwendbaren lokalen Recht abzuschließen und ggf. erforderliche Formerfordernisse (Beurkundung, Registrierung in öffentlichen Registern o.Ä.) zu erfüllen. Wenn sich Sachen der Zielgesellschaft in mehreren verschiedenen Jurisdiktionen befinden und zu übereignen sind, empfiehlt es sich, einen Muster-Übereignungsvertrag zu entwerfen und dieses Muster von lokalen Anwälten an die Erfordernisse der jeweiligen Rechtsordnung anpassen zu lassen. Dadurch wird gewährleistet, dass die diversen Übereignungsverträge vergleichbare inhaltliche Regelungen aufweisen und, soweit möglich, auf den Unternehmenskaufvertrag abgestimmt sind.
10.42
Auf die Übertragung anderer Vermögensgegenstände des Unternehmens, etwa von Forderungen und Immaterialgüterrechten (z.B. Patenten, Marken, Urheberrechten), sind andere Kollisionsregeln anwendbar, die hier jedoch nicht im Einzelnen dargestellt werden sollen.28
10.43
Ist der Unternehmenskauf als Share Deal strukturiert, hat der Verkäufer Gesellschaftsanteile an den Käufer zu übertragen. Die Übertragung von Gesellschaftsanteilen richtet sich nach dem Gesellschaftsstatut. Das internationale Gesellschaftsrecht ist vom Anwendungsbereich der Rom I-Verordnung ausdrücklich ausgenommen (vgl. Art. 1 Abs. 2 lit. f Rom I-VO) und auch im EBGBG nicht geregelt.
10.44
In der deutschen Rechtsprechung und Lehre wurde das Gesellschaftsstatut lange Zeit überwiegend nach der sog. Sitztheorie bestimmt, wonach eine Gesellschaft der Rechtsordnung zu unterstellen ist, in der sie ihren tatsächlichen Hauptsitz hat.29 Demgegenüber ist die Gesellschaft nach der Gründungstheorie derjenigen Rechtsordnung zu unterstellen, nach der sie gegründet worden ist.30
10.45
Im Falle von im Ausland gegründeten Gesellschaften, die ihren tatsächlichen Sitz nach Deutschland verlegten, führte die Anwendung der Sitztheorie zu deren Nicht-Anerkennung durch deutsche Gerichte31 oder zu einer Umdeutung in eine deutsche Personengesellschaft mit der Folge der persönlichen Haftung der Gesellschafter.32 In seinem Überseering-Urteil von 2002 entschied der EuGH, dass die Mitgliedstaaten der EU nach Art. 49 und 54 AEUV
10.46
26 Vgl. BGH v. 25.9.1996 – VIII ZR 76/95, NJW 1997, 461, 462; Gesetzesbegründung zu Art. 43 Abs. 2 EGBGB, BT-Drucks. 14/343, 16. 27 Vgl. die Übersicht bei Staudinger/Mansel, 2015, Art. 43 EGBGB Rz. 90 m.w.N. 28 Vgl. etwa die Darstellung von Land, BB 2013, 2697 (2699) m.w.N. 29 Vgl. etwa Kieninger in Ferrari/Kieninger/Mankowski u.a., Int. Vertragsrecht, VO (EG) 593/2008 Art. 1 Anwendungsbereich, Rz. 22 m.w.N. 30 Vgl. etwa Kieninger in Ferrari/Kieninger/Mankowski u.a., Int. Vertragsrecht, VO (EG) 593/2008 Art. 1 Anwendungsbereich, Rz. 22 m.w.N. 31 Vgl. BGH v. 30.3.2000 – VII ZR 370/98, GmbHR 2000, 715 = AG 2000, 473 = NZG 2000, 926. 32 Vgl. BGH v. 1.7.2002 – II ZR 380/00, GmbHR 2002, 1021 = MDR 2002, 1382 = AG 2003, 39 = NJW 2002, 3539 (3540).
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Kap. 10 Rz. 10.47
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
(damals Art. 43 und Art. 48 EG) verpflichtet sind, die Rechts- und Parteifähigkeit einer Gesellschaft zu achten, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet wurde und von ihrer Niederlassungsfreiheit in einem anderen Mitgliedstaat Gebrauch macht.33 Damit ist im Geltungsbereich der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 und Art. 54 AEUV nunmehr die Maßgeblichkeit der Gründungstheorie durch die Rechtsprechung des EuGH vorgegeben.34 Dies gilt nicht nur für Gesellschaften, die in einem EU-Mitgliedstaat, sondern auch für solche, die in einem Mitgliedstaat des EWR gegründet wurden,35 nicht aber für in der Schweiz gegründete Gesellschaften.36
10.47 Nach der Rechtsprechung des BGH ist jedoch auf Gesellschaften, die weder in einem Mitgliedstaat der EU noch des EWR gegründet wurden, nach wie vor die Sitztheorie anzuwenden.37
10.48 Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt wiederum für Drittstaaten, mit denen Staatsverträge bestehen, die zur gegenseitigen Anerkennung von Gesellschaften nach der Gründungstheorie führen.38 Im Verhältnis zwischen Deutschland und den USA gilt etwa Art. XXV Abs. 5 des deutsch-amerikanischen Vertrags vom 29.10.1954, wonach für das Gesellschaftsstatut einer in den USA gegründeten Gesellschaft unabhängig von ihrem Verwaltungssitz an das am Ort ihrer Gründung geltende Recht anzuknüpfen ist.39 Die USA folgen, wie auch z.B. Großbritannien, die Niederlande, die Schweiz sowie Japan, der Gründungstheorie.40
10.49 Für den Share Deal-Kaufvertrag gilt mithin, dass für die Übertragung der Anteile an jeder verkauften Gesellschaft separat zu prüfen ist, welchem Gesellschaftsstatut die verkaufte Gesellschaft unterliegt und welches Recht somit für die Übertragung der Anteile gilt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Gesellschaftsstatut nicht nur für die Übertragung der Anteile relevant ist, sondern auch für alle anderen als gesellschaftsrechtlich zu qualifizierenden Rechtsfragen, wie etwa Zustimmungsvorbehalte zugunsten der Gesellschaft oder der Gesellschafterversammlung, den Ein- und Austritt von Gesellschaftern und deren Haftung.41
10.50 Auch hier empfiehlt es sich grundsätzlich, die Pflicht zur Übertragung der Anteile im Unternehmenskaufvertrag selbst, die eigentliche Übertragung aber in separaten Übertragungsvereinbarungen nach dem jeweils anwendbaren Recht zu regeln. Umfasst der Share Deal die 33 EuGH v. 5.11.2002 – C-208/00 (Überseering), MDR 2003, 96 = GmbHR 2002, 1137 = AG 2003, 37 = NJW 2002, 3614, 3616. 34 Vgl. BGH v. 13.3.2003 – VII ZR 370/98, GmbHR 2000, 715 = AG 2000, 473 = NJW 2003, 1461; Palandt/Thorn, Anh. Art. 12 EGBGB Rz. 1, 5. 35 BGH v. 19.9.2005 – II ZR 372/03, MDR 2006, 105 m. Anm. Haack = GmbHR 2005, 1483 m. Anm. Wachter = NJW 2005, 3351, 3352. 36 BGH v. 27.10.2008 – II ZR 158/06, GmbHR 2009, 138 m. Anm. Wachter = AG 2009, 84 = NJW 2009, 289 (290). 37 BGH v. 27.10.2008 – II ZR 158/06, GmbHR 2009, 138 m. Anm. Wachter = AG 2009, 84 = NJW 2009, 289 (290). 38 Vgl. Kieninger in Ferrari/Kieninger/Mankowski u.a., Int. Vertragsrecht, VO (EG) 593/2008 Art. 1 Anwendungsbereich, Rz. 22. 39 BGH v. 5.7.2004 – II ZR 389/02, GmbHR 2004, 1225 = AG 2004, 607 = NJW 2004, 1001; Palandt/ Thorn, Anh. Art. 12 EGBGB, Rz. 3. 40 Vgl. Kindler in MünchKomm/BGB, Band 12, Teil 10 (Int. Handels- und Gesellschaftsrecht), Rz. 360. 41 Vgl. Land, BB 2013, 2704 m.w.N.
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E. Der Vollzug
Rz. 10.56 Kap. 10
Übertragung von Anteilen an mehreren Gesellschaften, die unterschiedlichen Gesellschaftsstatuten unterliegen, kann es wiederum sinnvoll sein, einen Muster-Übertragungsvertrag zu entwerfen und dieses Muster von lokalen Anwälten an die Erfordernisse der jeweiligen Rechtsordnung anpassen zu lassen, um zu gewährleisten, dass die diversen Übertragungsverträge vergleichbare inhaltliche Regelungen aufweisen und, soweit möglich, auf den Unternehmenskaufvertrag abgestimmt sind.
E. Der Vollzug I. Vollzugsvoraussetzungen Regelmäßig sehen Unternehmenskaufverträge vor, dass der dingliche Vollzug der vertraglich vorgesehenen Transaktionen erst dann stattfindet, wenn bestimmte, im Vertrag festgelegte Vollzugsvoraussetzungen erfüllt sind.
10.51
Welche Vollzugsvoraussetzungen zwischen den Parteien vereinbart werden, ist Verhandlungs- 10.52 sache und hängt vorwiegend von regulatorischen Erfordernissen und den Verhandlungspositionen der Parteien ab. Typische Closing-Bedingungen sind fusionskontrollrechtliche Freigaben, die Erfüllung anderer regulatorischer Voraussetzungen (z.B. keine Untersagung nach dem Außenwirtschaftsgesetz (AWG) oder vergleichbaren Regelungen anderer Staaten), Abschluss, Fortführung oder Beendigung bestimmter Verträge, die Niederlegung von Ämtern durch Mitglieder der Geschäftsführungs- oder Aufsichtsorgane der Zielgesellschaft, Gremienvorbehalte oder Finanzierungsvorbehalte. Ein Formulierungsbeispiel findet sich in § 4.2 des in Anhang A. III. beigefügten Vertragsmusters (M 4). Anhand dieses Beispiels werden typische Vollzugsvoraussetzungen im Folgenden näher erläutert.
10.53
Zu unterscheiden sind Closing-Bedingungen, vor deren Erfüllung beide Parteien nicht voll- 10.54 ziehen dürfen (im Muster: § 4.2.1 – „The obligations of the Parties to consummate the Closing are subject to …“) und solche, von deren Erfüllung die Verpflichtung nur einer Partei zum Vollzug der Transaktion abhängt (im Muster: § 4.2.2 – „The obligation of the Purchaser to consummate the Closing is subject to …“. 1. Fusionskontrollrechtliche Freigabe Eine häufig erforderliche Vollzugsvoraussetzung für beide Parteien ist die fusionskontrollrechtliche Freigabe der Transaktion.
10.55
Erforderlich sein kann die Freigabe durch die EU-Kommission, das BKartA und/oder durch Kartellbehörden von Drittstaaten, z.B. die Federal Trade Commission oder die Kartellrechtsabteilung des US-Justizministeriums in den Vereinigten Staaten. In den meisten Jurisdiktionen besteht vor Erteilung der Freigabe durch die zuständige Behörde ein Vollzugsverbot.42
10.56
42 In der EU nach Art. 7 Abs. 1 FKVO, in Deutschland nach § 41 Abs. 1 Satz 1 GWB. In diesen Fällen ist die Vollzugsvoraussetzung streng genommen nicht die Freigabe der Transaktion durch die zuständige Behörde, sondern der Wegfall des Vollzugsverbots.
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Kap. 10 Rz. 10.57
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
10.57 Da mittlerweile mehr als 140 Jurisdiktionen weltweit über Fusionskontrollvorschriften verfügen,43 lösen Transaktionen, an denen international operierende Unternehmen beteiligt sind, häufig Anmeldepflichten in mehreren Staaten aus. Daher sollten fusionskontrollrechtliche Überlegungen bereits frühzeitig in die Transaktionsplanung und -vorbereitung einfließen. a) Deutsche Fusionskontrolle
10.58 Im Mustervertrag ist als Vollzugsbedingung u.a. vorgesehen, dass der Vollzug der Transaktion nicht gegen das Vollzugsverbot des § 41 GWB verstößt.
10.59 Bei der Transaktion kommt mithin eine Anmeldepflicht beim BKartA (BKartA) gem. § 39 GWB in Betracht. Auch nach deutschem Recht besteht vor Freigabe eines anmeldepflichtigen Zusammenschlusses ein Vollzugsverbot, vgl. § 41 Abs. 1 GWB.
10.60 Eine Anmeldepflicht besteht gem. § 35 Abs. 1 GWB grundsätzlich, wenn im letzten Geschäftsjahr vor dem Zusammenschluss die folgenden Umsatzschwellen erreicht wurden: – die beteiligten Unternehmen haben insgesamt weltweit Umsatzerlöse von mehr als 500 Millionen Euro und – im Inland hat mindestens ein beteiligtes Unternehmen Umsatzerlöse von mehr als 25 Millionen Euro und – ein anderes beteiligtes Unternehmen Umsatzerlöse von mehr als 5 Millionen Euro erzielt.
10.61 Darüber hinaus wurde mit der 9. GWB-Novelle eine Transaktionswertschwelle eingeführt. Nach dem neuen § 35 Abs. 1a GWB ist ein Zusammenschluss auch anmeldepflichtig, wenn: – die beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr vor dem Zusammenschluss insgesamt weltweit Umsatzerlöse von mehr als 500 Millionen Euro erzielt haben und – im Inland im letzten Geschäftsjahr vor dem Zusammenschluss ein beteiligtes Unternehmen Umsatzerlöse von mehr als 25 Millionen Euro erzielt hat und weder das zu erwerbende Unternehmen noch ein anderes beteiligtes Unternehmen Umsatzerlöse von jeweils mehr als 5 Millionen Euro erzielt haben, – der Wert der Gegenleistung für den Zusammenschluss mehr als 400 Millionen Euro beträgt und – das zu erwerbende Unternehmen in erheblichem Umfang im Inland tätig ist. Auch bei Erfüllung der Aufgreifschwellen besteht jedoch keine Anmeldepflicht, wenn es sich bei der Transaktion um einen Bagatellfall im Sinne der De-minimis-Klausel (§ 35 Abs. 2 Satz 1 GWB) handelt, d.h. soweit ein nicht abhängiges Unternehmen, das im letzten Geschäftsjahr vor dem Zusammenschluss weltweit Umsatzerlöse von weniger als 10 Millionen Euro erzielt hat, sich mit einem anderen Unternehmen zusammenschließt (näher dazu Rz. 7.11 ff.).
10.62 Die einzelnen Zusammenschlusstatbestände sind in § 37 Abs. 1 GWB aufgeführt; es handelt sich um – Vermögenserwerb (ganz oder zu einem wesentlichen Teil), § 37 Abs. 1 Nr. 1 GWB; – Kontrollerwerb (Alleinkontrolle oder gemeinsame Kontrolle), § 37 Abs. 1 Nr. 2 GWB; 43 Vgl. Davis/Dodoo/Schubert/Zampa, Getting the Deal Through: Merger Control 2018, S. 7.
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E. Der Vollzug
Rz. 10.67 Kap. 10
– Erwerb von 25 % oder 50 % des Kapitals oder der Stimmrechte, § 37 Abs. 1 Nr. 3 GWB; – Herbeiführung einer sonstigen Verbindung, die wettbewerblich erheblichen Einfluss vermittelt, § 37 Abs. 1 Nr. 4 GWB. Bei einem Share Deal liegt somit bereits beim Erwerb einer Beteiligung von 25 % an einem Unternehmen ein Zusammenschluss vor. Für Einzelheiten zum Zusammenschlussbegriff s. Rz. 7.43 ff.
10.63
Die Anmeldung des Zusammenschlusses hat gem. § 39 Abs. 1 GWB vor dem Vollzug zu er- 10.64 folgen, ist aber nicht an bestimmte Fristen gebunden. Sie kann vor Unterzeichnung des Kaufvertrages, sonstiger verbindlicher Erklärungen oder eines Letters of Intent erfolgen, sofern ein beteiligtes Unternehmen die konkrete Absicht hat, die geplante Transaktion durchzuführen.44 Zu beachten ist jedoch, dass angemeldete Zusammenschlüsse üblicherweise unter Nennung der beteiligten Unternehmen und der betroffenen Produktmärkte innerhalb weniger Tage auf der Internetseite des BKartA veröffentlicht werden. In der Praxis werden Fusionskontrollanmeldungen daher häufig erst nach Unterzeichnung des Kaufvertrages angemeldet, um ein Bekanntwerden der Transaktion zu einem früheren Zeitpunkt, zu dem der Abschluss noch scheitern könnte, zu vermeiden. Nach Eingang der vollständigen Anmeldung hat das BKartA einen Monat Zeit zu der Prü- 10.65 fung, ob es in das Hauptprüfverfahren einzutreten beabsichtigt, was Voraussetzung für eine Untersagung des Zusammenschlusses ist, vgl. § 40 Abs. 1 GWB. In unproblematischen Fällen erfolgt die schriftliche Mitteilung der Behörde, dass sie das Hauptprüfverfahren nicht eröffnen wird, häufig schon vor Ablauf der Monatsfrist. Wird das Hauptprüfverfahren eröffnet, hat das BKartA grundsätzlich innerhalb von vier Monaten nach Anmeldung den Parteien mitzuteilen, ob der Zusammenschluss untersagt oder freigegeben wird; anderenfalls gilt der Zusammenschluss als freigegeben, § 40 Abs. 2 Satz 2 GWB. Eine Verlängerung dieser Frist ist gem. § 40 Abs. 2 Satz 4 Nr. 1 mit Zustimmung der anmeldenden Unternehmen sowie aus den sonstigen, in § 40 Abs. 2 genannten, Gründen möglich.
10.66
Gemäß § 36 Abs. 1 GWB, dem materiellen Prüfungsmaßstab der Fusionskontrolle, ist ein Zu- 10.67 sammenschluss, durch den wirksamer Wettbewerb erheblich behindert würde, insbesondere von dem zu erwarten ist, dass er eine marktbeherrschende Stellung begründet oder verstärkt, vom BKartA zu untersagen. Eine Untersagung ist jedoch zum einen nicht möglich, wenn – die beteiligten Unternehmen nachweisen, dass durch den Zusammenschluss auch Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen eintreten und diese Verbesserungen die Nachteile der Marktbeherrschung überwiegen (§ 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 GWB); – von dem Zusammenschluss ein Markt betroffen ist, auf dem seit mindestens fünf Jahren Waren oder gewerbliche Leistungen angeboten werden und auf dem im letzten Kalenderjahr weniger als 15 Millionen Euro umgesetzt wurden, es sei denn, es handelt sich um einen Markt, auf dem unentgeltliche Leistungen erbracht werden oder einen Fall des § 35 Abs. 1a (§ 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 GWB); oder
44 Vgl. Bechtold/Bosch, § 39 GWB Rz. 6; Riesenkampff/Lehr in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/ Kersting/Meyer-Lindemann, § 39 GWB Rz. 13.
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Kap. 10 Rz. 10.68
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
– der Zusammenschluss die Voraussetzungen für eine Sanierungsfusion im Zeitungs- bzw. Zeitschriftenbereich erfüllt (§ 36 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 GWB).45 Ausführlich zu den materiellen Untersagungsvoraussetzungen Rz. 7.281 ff.
10.68 Die Freigabe kann gem. § 40 Abs. 3 GWB mit Bedingungen und Auflagen verbunden werden. Auch dieser Fall kann im Unternehmenskaufvertrag von vornherein geregelt werden, indem der Käufer sich entweder verpflichtet, bestimmte Bedingungen und Auflagen der Behörden zu akzeptieren und nicht vom Vollzug der Transaktion Abstand zu nehmen, oder – wie im Vertragsmuster im Anhang A. III. (M 4, s. dort § 4.3.3) – vereinbart wird, dass den Käufer keine entsprechende Verpflichtung treffen soll.
10.69 Im Falle der Anwendbarkeit der deutschen Vorschriften über die Zusammenschlusskontrolle könnte die Vollzugsvoraussetzung „Wegfall des fusionskontrollrechtlichen Vollzugsverbots“ kurz wie folgt formuliert werden: The Closing is not prohibited pursuant to Section 41 para. 1 of the German Act against Restraints of Competition (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen – GWB). b) Fusionskontrolle in Drittstaaten
10.70 Bei Unternehmenskäufen mit internationalen Bezügen kommen daneben Anmeldepflichten in weiteren Staaten in Betracht, beispielsweise in den USA. Auch dort ist die Fusionskontrolle präventiv ausgestaltet: Zusammenschlüsse müssen nach Sec. 7A Clayton Act46 ab einer bestimmten Größe der Parteien oder der Transaktion bei der Kartellrechtsabteilung des Justizministeriums oder der Federal Trade Commission (FTC) vorab angemeldet werden und unterliegen vorher sowie grundsätzlich 30 Tage nach Übermittlung der vollständigen Unterlagen einem Vollzugsverbot. Die Schwellenwerte, deren Überschreitung die Anmeldepflicht auslöst, werden jährlich neu festgelegt. Auch Zusammenschlüsse, die diese Schwellen nicht erreichen, können geprüft werden.47
10.71 Abschließend sei darauf hingewiesen, dass in einigen Ländern die fusionskontrollrechtliche Anmeldepflicht beim Unternehmenskauf durch die Überschreitung bestimmter Marktanteilsschwellen ausgelöst wird. Dies ist beispielsweise in Großbritannien48, Spanien49 und Portugal50 der Fall. In Großbritannien gelten zudem seit dem 11.6.2018 niedrigere Aufgreifschwellen für Zusammenschlüsse zwischen Unternehmen, die in bestimmten, sicherheitsrelevanten Branchen tätig sind, nämlich der Entwicklung oder Produktion von Produkten für militärische oder dual 45 Näher zur Sonderregelung für Pressezusammenschlüsse Bechtold/Bosch, § 36 GWB Rz. 52 ff. 46 Diese Vorschrift wurde 1976 durch den Hart-Scott-Rodino Antitrust Improvements Act (HSR Act) eingefügt, daher wird die Fusionskontrollanmeldung in den USA auch als „HSR Filing“ bezeichnet. 47 Vgl. Körber in Immenga/Mestmäcker, Einl. FKVO Rz. 165 ff. 48 Gemeinsamer Share of Supply von 25 % oder mehr nach dem Zusammenschluss, vgl. Enterprise Act von 2002 i.d.F. des Enterprise and Regulatory Reform Act von 2013. 49 Marktanteil von 30 % oder mehr, vgl. Art. 8 Abs. 1 lit. a des Wettbewerbsgesetzes v. 3.7.2007. 50 Marktanteil von 50 % oder mehr oder Markanteil von 30 % oder mehr, wenn mindestens zwei der am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr vor dem Zusammenschluss einen Umsatz von jeweils mehr als 5 Mio. Euro in Portugal erzielten, vgl. Gesetz Nr. 19/2012 v. 8.5.2012.
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E. Der Vollzug
Rz. 10.74 Kap. 10
use-Zwecke, Quantentechnologie oder der Computerbranche.51 Ist die Zielgesellschaft in einer diesen Branchen tätig, kann ein Zusammenschluss bereits dann von der Wettbewerbsbehörde (Competition & Markets Authority) untersucht werden, wenn der Inlandsumsatz der Zielgesellschaft in Großbritannien GBP 1 Million beträgt, statt GBP 70 Millionen in anderen Branchen, oder ihr Share of Supply mindestens 25 % beträgt, auch wenn er durch den Zusammenschluss nicht erhöht wird. Diese Beispiele illustrieren die Notwendigkeit, die in Betracht kommenden Anmeldepflichten frühzeitig gründlich zu prüfen und frühzeitig lokale Anwälte aus den betroffenen Jurisdiktionen zu involvieren. 2. Sonstige regulatorische Erfordernisse Neben der fusionskontrollrechtlichen Freigabe können weitere regulatorische Erfordernisse 10.72 zu beachten sein. Zu denken ist etwa an die Kontrollbefugnisse des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) nach dem Außenwirtschaftsgesetz. Diese sind im Zuge der neunten Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung, die am 18.7.2017 in Kraft getreten ist, ausgeweitet worden.52 Generell nimmt die Bedeutung von Gesetzen zur Begrenzung ausländischer Investitionen in bestimmte Branchen bei grenzüberschreitenden Transaktionen immer weiter zu. Zahlreiche Länder haben – wie Deutschland – in der jüngeren Vergangenheit entsprechende Gesetze verschärft oder legen vorhandene Regularien strenger aus. Nachfolgend soll ein kurzer Überblick über die Regelungen zur Überprüfung ausländischer Investitionen in den Vereinigten Staaten gegeben werden. Betreibt die Zielgesellschaft Geschäfte in den USA, kommt eine Prüfung des geplanten Zusammenschlusses durch den Ausschuss zur Überprüfung ausländischer Investitionen in den USA (Committee on Foreign Investment in the United States – „CFIUS“) in Betracht. Dieser Ausschuss wurde bereits 1975 durch einen Exekutivorder des damaligen US-Präsidenten Ford gegründet, seine jetzigen Befugnisse wurden ihm jedoch durch den Foreign Investment and National Security Act (FINSA) von 2007 verliehen. CFIUS übt die – eigentlich dem Präsidenten der Vereinigten Staaten – zustehende Befugnis aus, die Auswirkungen sog. betroffener Transaktionen (covered transactions) auf die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten zu untersuchen.53
10.73
Der Begriff der „covered transactions“ ist weit gefasst und umfasst sämtliche Zusammenschlüsse, Erwerbstatbestände oder Übernahmen durch oder mit einer ausländischen Partei, die dazu führen könnten, dass eine ausländische Partei die Kontrolle über eine Partei erlangt, die Geschäftstätigkeiten in den USA nachgeht.54 Zudem wird im Gesetz nicht definiert, unter welchen Voraussetzungen davon auszugehen ist, dass eine Transaktion die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten beeinträchtigen könnte.55 Zwar enthält das Gesetz eine Aufzäh-
10.74
51 Vgl. Enterprise Act 2002 (Share of Supply Test) (Amendment) Order 2018 und Enterprise Act 2002 (Turnover Test) (Amendment) Order 2018. 52 Vgl. hierzu etwa Boewe/Johnen, NZG 2017, 1095; Hindelang/Hagemeyer, EuZW 2017, 882. 53 Vgl. Section 721 (b) (1) (A) des Defense Production Act von 1950 in der durch FINSA geänderten Fassung, 50 U.S.C. App. 2170. 54 Vgl. die Definition des Begriffs „covered transaction“ in Section 721 (a) (3): The term ‚covered transaction‘ means any merger, acquisition, or takeover that is proposed or pending after August 23, 1988, by or with any foreign person which could result in foreign control of any person engaged in interstate commerce in the United States. 55 Vgl. Seibt/Kulenkamp, ZIP 2017, 1345 (1349).
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Kap. 10 Rz. 10.75
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
lung von Faktoren, die CFIUS in die Betrachtung einbeziehen kann, diese ist jedoch nicht abschließend.56 In der Praxis interessiert sich CFIUS insbesondere für Zusammenschlüsse in den Bereichen Infrastruktur (insbesondere Energie, Transport, Informationstechnologie), Hochtechnologie, Rüstungsindustrie sowie Produktion oder Vertrieb von Produkten, die Exportkontrollen unterliegen. Verfügt die Zielgesellschaft über Verträge mit US-Behörden, Zugang zu klassifizierten Informationen oder zu persönlichen Daten von US-Bürgern, benötigt Sicherheitsüberprüfungen der US-Behörden oder verfügt über Standorte, die in unmittelbarer Nähe von wichtigen Militäreinrichtungen liegen, können auch diese Faktoren Bedenken im Hinblick auf die nationale Sicherheit auslösen.57
10.75 Falls die Geschäftstätigkeit der Zielgesellschaft in den USA einen der vorgenannten Faktoren erfüllen könnte, sollte dringend geprüft werden, ob die geplante Transaktion der CFIUS angezeigt werden sollte. Eine solche Anzeige ist freiwillig.58 Erfolgt sie nicht, kann der Ausschuss jedoch auch noch nach Vollzug der Transaktion die Prüfung initiieren und ggf. Entflechtungsmaßnahmen im Hinblick auf die betroffenen US-Geschäftsbereiche verlangen, und zwar zeitlich unbegrenzt.59 Zudem gibt es gegen die Entscheidung, eine Transaktion wegen einer Gefährdung der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten zu verbieten, keine Rechtsbehelfe.60
10.76 Im Jahr 2017 hat die Anzahl der CFIUS-Prüfungsverfahren mit 238 eingeleiteten Prüfungen (im Vergleich zu 172 in 2016) einen neuen Höchststand erreicht.61 Dieser signifikante Anstieg dürfte zumindest auch darauf zurückzuführen sein, dass Unternehmen eine kritischere Einstellung der neuen US-amerikanischen Regierung gegenüber Investitionen aus dem Ausland fürchten und auf Nummer Sicher gehen wollen. Und in der Tat deuten die Zahlen auf eine höhere Prüfungsintensität hin: In 70 % der Fälle eröffnete CFIUS innerhalb der ersten Prüfungsphase (review period), für welche 30 Tage zur Verfügung stehen, die eigentliche Untersuchungsphase (investigation period). Auch dies stellt eine deutliche Steigerung im Vergleich zu den Jahren 2015 und 2016 dar, in denen in etwa 46 % der Fälle die Untersuchungsphase eröffnet wurde.62 Des Weiteren verlangte CFIUS in ca. 20 % der im Jahr 2017 untersuchten Fälle
56 Vgl. Section 721 (f) des Defense Production Act von 1950 in der durch FINSA geänderten Fassung, 50 U.S.C. App. 2170 („factors to be considered“). 57 Vgl. CFIUS: Evolution Yields to Revolution, Jones Day White Paper, Februar 2018, S. 1, abrufbar unter http://www.jonesday.com/cfius-evolution-yields-to-revolution-02-16-2018/ (zuletzt abgerufen am 5.7.2018). 58 Vgl. CFIUS: Evolution Yields to Revolution, Jones Day White Paper, Februar 2018, S. 1, abrufbar unter http://www.jonesday.com/cfius-evolution-yields-to-revolution-02-16-2018/ (zuletzt abgerufen am 5.7.2018). 59 Vgl. Marquardt/Kurcab/Green, Getting the Deal Through: Foreign Investment Review 2018 – United States, Januar 2018, Rz. 8. 60 Vgl. Section 721 (e) des Defense Production Act von 1950 in der durch FINSA geänderten Fassung, 50 U.S.C. App. 2170 („The actions of the President under paragraph (1) of subsection (d) and the findings of the President under paragraph (4) of subsection (d) shall not be subject to judicial review“). 61 Vgl. CFIUS: Evolution Yields to Revolution, Jones Day White Paper, Februar 2018, S. 1, abrufbar unter http://www.jonesday.com/cfius-evolution-yields-to-revolution-02-16-2018/ (zuletzt abgerufen am 5.7.2018). 62 Vgl. CFIUS: Evolution Yields to Revolution, Jones Day White Paper, Februar 2018, S. 1, abrufbar unter http://www.jonesday.com/cfius-evolution-yields-to-revolution-02-16-2018/ (zuletzt abgerufen am 5.7.2018).
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E. Der Vollzug
Rz. 10.80 Kap. 10
von den beteiligten Unternehmen die Erfüllung von Auflagen, um eine Freigabe zu erreichen; im Jahr davor wurde dies nur in ca. 10 % der untersuchten Fälle verlangt.63 Zu einer förmlichen Untersagung von Transaktionen ist es in der Vergangenheit nicht häufig gekommen. Aktuelle Beispiele sind die Untersagung des geplanten Erwerbs des US-Halbleiterherstellers Lattice Semiconductor Corporation durch Canyon Bridge Capital Partners im September 2017 durch Präsident Trump, für die der Umstand entscheidend gewesen sein dürfte, dass ein chinesischer Staatsfonds indirekt an Canyon Bridge Capital Partners beteiligt war,64 sowie die Untersagung des Erwerbs des US-Geschäfts des deutschen Herstellers von Maschinen für die Halbleiter-Produktion Aixtron SE durch einen chinesischen Investmentfonds im Dezember 2016 durch Präsident Obama.65
10.77
In der Praxis entscheiden sich die meisten Unternehmen dafür, von der geplanten Transakti- 10.78 on Abstand zu nehmen, wenn sich abzeichnet, dass diese von CFIUS nicht freigegeben werden wird. Schätzungen zufolge – offizielle Zahlen hierzu werden nicht veröffentlicht – wurden in 2017 mindestens 18 angezeigte Transaktionen aus diesem Grund nicht weiter verfolgt; auch dies stellt eine signifikante Steigerung im Vergleich zu den Jahren 2016 (12 abgebrochene Transaktionen) und 2015 (5 abgebrochene Transaktionen) dar.66 Eine weitere Verschärfung der Gesetzeslage durch das geplante Gesetz zur Modernisierung der Prüfung der Risiken ausländischer Investments (Foreign Investment Risk Review Modernization Act – „FIRRMA“) zeichnet sich bereits ab. Der Entwurf dieses Gesetzes wurde im November 2017 vom US-amerikanischen Kongress eingebracht; Komitees des US-Senats sowie des Repräsentantenhauses haben im Mai 2018 Änderungsvorschläge vorgelegt.67 Ausweislich der derzeit vorliegenden Gesetzesentwürfe soll die Definition der betroffenen Transaktionen (covered transactions) erweitert, die Prüfungs- sowie die Untersuchungsphase verlängert und in bestimmten Fällen eine Meldepflicht eigeführt werden.68
10.79
Es ist derzeit noch nicht bekannt, wann diese Änderungen in Kraft treten werden; auch der genaue Inhalt der Neuregelungen steht noch nicht fest. Beteiligte an Transaktionen, für die ein CFIUS-Prüfungsverfahren relevant werden könnte, sollten die weitere Entwicklung daher beobachten.
10.80
63 Vgl. CFIUS: Evolution Yields to Revolution, Jones Day White Paper, Februar 2018, S. 2, abrufbar unter http://www.jonesday.com/cfius-evolution-yields-to-revolution-02-16-2018/ (zuletzt abgerufen am 5.7.2018). 64 Vgl. die Pressemitteilung des US-Finanzministeriums vom 13.9.2017, abrufbar unter https:// www.treasury.gov/press-center/press-releases/Pages/sm0157.aspx (zuletzt abgerufen am 5.7.2018). 65 Vgl. die Pressemitteilung des US-Finanzministeriums vom 2.12.2016, abrufbar unter https:// www.treasury.gov/press-center/press-releases/Pages/jl0679.aspx (zuletzt abgerufen am 5.7.2018). 66 Vgl. CFIUS: Evolution Yields to Revolution, Jones Day White Paper, Februar 2018, S. 2, abrufbar unter http://www.jonesday.com/cfius-evolution-yields-to-revolution-02-16-2018/ (zuletzt abgerufen am 5.7.2018). 67 Vgl. CFIUS: Evolution Yields to Revolution, Jones Day White Paper, Februar 2018, S. 2 f., abrufbar unter http://www.jonesday.com/cfius-evolution-yields-to-revolution-02-16-2018/ (zuletzt abgerufen am 5.7.2018). 68 Vgl. CFIUS: Evolution Yields to Revolution, Jones Day White Paper, Februar 2018, S. 3 f., abrufbar unter http://www.jonesday.com/cfius-evolution-yields-to-revolution-02-16-2018/ (zuletzt abgerufen am 5.7.2018).
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Kap. 10 Rz. 10.81
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
3. Kein Material Adverse Change (MAC)
10.81 Neben Vollzugsvoraussetzungen, die regulatorischen Erfordernissen geschuldet sind und für Verkäufer und Käufer gelten, ist in Unternehmenskaufverträgen oftmals eine Regelung für den Fall einer „wesentlich nachteiligen Änderung“ der Grundlagen der Transaktion für den Zeitraum zwischen Unterzeichnung des Vertrages und Closing anzutreffen (Material Adverse Change- oder Material Adverse Effect-Klausel – MAC-Klausel).69 Solche MAC-Klauseln sind ein Beispiel für Closing-Bedingungen, die es nur einer Partei – in diesem Fall dem Käufer – erlauben, vom Vollzug der Transaktion Abstand zu nehmen.
10.82 Auch nach § 313 Abs. 1 BGB (Störung der Geschäftsgrundlage) wird der Grundsatz „pacta sunt servanda“ dann durchbrochen, wenn sich die Umstände, die zur Grundlage des Vertrages geworden sind, nach Vertragsschluss so schwerwiegend geändert haben, dass einer Vertragspartei ein unverändertes Festhalten am Vertrag nicht zugemutet werden kann. Zwar entspricht die MAC-Klausel vom Ansatz her einem vertraglich vereinbarten Wegfall der Geschäftsgrundlage. Jedoch sind die Parteien in der individuellen Ausgestaltung der Klausel frei. Insbesondere werden die Vertragsparteien als Rechtsfolge in aller Regel nicht etwa die Anpassung des Vertrages vorsehen, vgl. § 313 Abs. 1, 3 BGB, sondern wegen der ineinander verwobenen Regelungen eines Unternehmenskaufvertrages dem Käufer das Recht einräumen, vom Vertrag und damit der Transaktion Abstand zu nehmen,70 so dass auch in diesem Fall von den gesetzlichen Bestimmungen abgewichen und die Regelungen des § 313 BGB abbedungen werden.
10.83 Im Rahmen einer konkreten vertraglichen Einzelfallregelung können die Parteien dann die Risikoverteilung für nach dem Signing eintretende nachträgliche Verschlechterungen des Zustands des Unternehmens individuell vereinbaren. Sie können dabei etwa festlegen, welche Risiken zu einem Abstandnehmen vom Vertrag berechtigen sollen, z.B. nur solche, die innerhalb des Unternehmens wurzeln („Interner Material Adverse Change“) oder auch solche, die von außen auf das Unternehmen einwirken. Hier kann nochmals zwischen einem wirtschaftlichen und einem nicht wirtschaftlichen Material Adverse Change differenziert werden.71
10.84 Ob zwischen den Vertragsparteien eine solche MAC-Klausel vereinbart wird und wenn ja, wie weitreichend sie gestaltet ist, hängt natürlich von den jeweiligen Verhandlungspositionen und Erwartungshaltungen ab. In den USA ist die Vereinbarung einer MAC-Klausel heute absoluter Marktstandard: Ausweislich der Private Target M&A Deal Points Study 2017 der ABA enthielten 99 % der untersuchten Unternehmenskaufverträge eine Definition eines „Material Adverse Effects“ und 92 % der Verträge eine Vollzugsbedingung, die den Käufer dazu berechtigt, im Falle des Eintritts einer solchen nachteiligen Veränderung vom Vollzug des Vertrags Abstand zu nehmen.72
69 MAC-Klauseln kommen in US-amerikanischen Unternehmenskaufverträgen in verschiedenen Varianten vor. Außer in der hier vorgestellten Form eines Rechts, den Vollzug zu verweigern, werden MAC-Klauseln auch als Relativierung oder Modifizierung von Zusicherungen oder als spezielle Zusicherung verwendet, dahingehend, dass vor einem bestimmten Stichtag keine negativen Veränderungen eintreten. Vgl. hierzu im Einzelnen Lange, NZG 2005, 454. 70 Zu Einzelheiten vgl. Picot/Duggal, DB 2003, 2635. 71 Picot/Duggal, DB 2003, 2635 (2638); Kuntz, DStR 2009, 377 (379). 72 Vgl. Private Target M&A Deal Points Study 2017 der Business Law Section der American Bar Association, S. 24, 58.
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E. Der Vollzug
Rz. 10.89 Kap. 10
Demgegenüber wurde eine solche Vollzugsbedingung nur in 15 % der im Rahmen einer europäischen M&A Studie ausgewerteten europäischen Unternehmenskaufverträge vereinbart, für die 443 Unternehmenskaufverträge aus dem Jahr 2016 untersucht wurden.73 In deutschsprachigen Ländern war der Anteil mit 10 % sogar noch geringer.74
10.85
Eine mögliche Erklärung für diese unterschiedlichen Marktstandards könnte darin liegen, dass in Europa lange Zeit bei vielen Unternehmenskäufen die Unterzeichnung und der Vollzug der Kaufverträge am selben Tag stattfanden, während es in den USA schon länger üblich ist, dass Signing und Closing zeitlich auseinanderfallen.75 Dementsprechend gab es ein größeres Bedürfnis der Käuferseite nach einer Absicherung für den Fall wesentlich nachteiliger Veränderungen bei der Zielgesellschaft im Zeitraum zwischen Signing und Closing.
10.86
Allerdings unterscheiden sich die in US-Unternehmenskaufverträgen vereinbarten MAC- 10.87 Klauseln inhaltlich erheblich voneinander. Zeichnet sich in den Verhandlungen mit einem US-Käufer ab, dass dieser auf die Vereinbarung einer MAC-Klausel großen Wert legt, kann ein möglicher Kompromiss aus Verkäufersicht sein, eine eng formulierte Klausel anzubieten, statt die Einbeziehung einer solchen Klausel kategorisch abzulehnen. Nachfolgend werden verschiedene Formulierungsmöglichkeiten dargestellt. Grundsätzlich ist für die möglichen praktischen Auswirkungen einer MAC-Klausel maßgebend, wann das Unternehmen in wirtschaftlicher Hinsicht, d.h. im Hinblick auf Nutzen und Gefahren, auf den Käufer übergeht (wirtschaftlicher Stichtag). Dieser Termin kann, muss aber nicht mit dem dinglichen Vollzug zum Zeitpunkt des Closing zusammen fallen. Hierzu folgendes Beispiel: Vertragsschluss (Signing) ist am 8.1.2018. Als wirtschaftlicher Stichtag ist jedoch der 31.12.2017, 24.00 Uhr, vereinbart. Der dingliche Rechtsübergang auf den Käufer fand am 28.2.2018 statt. Folge ist, dass der Erwerber ab dem 1.1.2018, 0.00 Uhr, die wirtschaftlichen Risiken und Chancen aus der Unternehmenstätigkeit in vollem Umfang getragen hat, obwohl der dingliche Vollzug erst danach erfolgte und damit der Verkäufer, obwohl vertraglich seit dem 8.1.2018 gebunden, noch unmittelbaren Einfluss auf die Unternehmenstätigkeit ausüben konnte.
10.88
In einer solchen Konstellation ist es Ziel des Käufers sicherzustellen, dass der (z.B. auf Basis einer Stichtagsbilanz zum 31.12.2017 festgelegte) Kaufpreis am Vollzugstag noch angemessen ist. Ziel des Käufers ist es daher, eine Klausel durchzusetzen, die möglichst unbestimmt und breit formuliert möglichst alle negativen Veränderungen des Unternehmenswertes erfasst, wie etwa:
10.89
The Buyer may refuse to consummate the transaction if as of or after the Signing an event, change or occurrence which, individually or together with any other event, change or occurrence has had or would be reasonably expected to have a material adverse effect on the financial position, business, properties, assets, results of operations or prospects of the Company („Material Adverse Change“).
73 Vgl. CMS European M&A Study 2017, S. 6, abrufbar unter https://cms.law/en/INT/Publication/ CMS-European-M-A-Study-2017 (zuletzt abgerufen am 6.7.2018). 74 Vgl. CMS European M&A Study 2017, S. 12, abrufbar unter https://cms.law/en/INT/Publica tion/CMS-European-M-A-Study-2017 (zuletzt abgerufen am 6.7.2018). 75 Vgl. CMS European M&A Study 2017, S. 9, abrufbar unter https://cms.law/en/INT/Publication/ CMS-European-M-A-Study-2017 (zuletzt abgerufen am 6.7.2018).
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Kap. 10 Rz. 10.90
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
10.90 Folge dieser Regelung ist, dass der Verkäufer bis zum Closing das Risiko eines MAC trägt, wobei die Vereinbarung einer solch unbestimmten MAC-Klausel für den Verkäufer ein hohes Risiko birgt. Ob tatsächlich in der Zeit zwischen Signing und Closing eine wesentliche nachteilige Änderung eingetreten ist, ist wegen der Unbestimmtheit dieser Formulierung nicht ohne Weiteres feststellbar. Reut den Käufer nach Vertragsunterzeichnung seine Kaufentscheidung, könnte er sich zunächst auf die MAC-Klausel berufen, um die Durchführung der Transaktion ganz zu verhindern oder einen niedrigeren Kaufpreis durchzusetzen.76 Der Verkäufer, der üblicherweise spätestens mit der Unterzeichnung des Vertrages mit keinen anderen Interessenten mehr in Kontakt steht, steht dann vor der Wahl, den „Deal platzen zu lassen“ oder sich auf die Forderungen des Käufers und die Behauptung eines MAC einzulassen.
10.91 Häufig werden in der Praxis daher bestimmte Veränderungen vom Anwendungsbereich der MAC-Klausel ausgenommen (sog. „Carve-Outs“), betreffend etwa Umstände, auf die die Parteien keinen Einfluss haben, wie volkswirtschaftliche Veränderungen oder Änderungen in der Rechtsprechung, etc.
10.92 Eine solche MAC-Klausel mit „Carve-Out“ könnte etwa folgendermaßen aussehen: The term „Material Adverse Change“ shall not include any event, circumstance, change or effect arising out of or attributable to a) events, circumstances, changes or effects that generally affect the industries in which the Company operates (including legal and regulatory changes), b) general economic conditions or events, circumstances, changes or effects affecting the securities markets generally c) any reduction in the price of services or products offered by the Company in response to the reduction in price of comparable services or products offered by a competitor.77
10.93 Diese Beispielsklausel beschreibt in allgemeiner Weise den Material Adverse Change, ohne bestimmte Ereignisse oder Umstände konkret zu benennen, die den MAC auszulösen vermögen. Der scheinbare Vorteil einer solch weiten Fassung hat aber auch für den Käufer den Nachteil, dass es sich bei der Formulierung der „wesentlich nachteiligen“ Auswirkung um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt, die im Zweifelsfall der Auslegung bedürfen. Möglich und empfehlenswert kann es daher sein, im Rahmen der MAC-Klausel genau festzulegen, ab wann die nachträgliche Veränderung der Umstände die Schwelle zur Wesentlichkeit überschritten hat, etwa durch das Abstellen auf eine negative Abweichung von bestimmten Umsatz- oder Gewinnerwartungen.
10.94 Die MAC-Klausel ist häufig eine der Bestimmungen, die am härtesten verhandelt werden. Daher ist die Reichweite einer solchen Klausel, wenn eine solche überhaupt in den Vertrag aufgenommen wird, in höchstem Maße abhängig vom konkreten Einzelfall und der Verhandlungsmacht der Parteien.
76 Diese Gefahr sprechen auch Kästle/Haller, NZG 2016, 926 (927) an. 77 Beispiel von Lange, NZG 2005, 454 (456).
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E. Der Vollzug
Rz. 10.99 Kap. 10
Insbesondere für den Fall, dass der Käufer eine allgemein formulierte MAC-Klausel durchsetzen kann, ist den Parteien jedenfalls dringend die Aufnahme einer Schiedsgerichtsklausel speziell für den Fall des Streits über das Vorliegen eines Material Adverse Change zu raten (Fast-Track Arbitration). Eine solche Arbitration-Klausel dient der Absicherung des Verkäufers. Ihr Vorhandensein dürfte die Gefahr, dass sich der Käufer ohne sachlichen Grund auf die MAC-Klausel beruft, um sich vom Vertrag zu lösen oder den Kaufpreis herunterzuhandeln, deutlich verringern.
10.95
Vermag der Käufer eine nach obigen Grundsätzen dargestellte MAC-Klausel nicht durchzusetzen, wird ihm aber gleichwohl daran gelegen sein, den Vollzug zu verweigern, wenn noch vor dem Closing – etwa aufgrund der Verletzung von Verkäufergarantien oder anderen Verpflichtungen des Verkäufers – eine vertraglich festgelegte Haftungssumme erreicht oder überschritten ist. Eine entsprechende Klausel, die auch als „Mini-MAC“ bezeichnet wird, könnte wie folgt formuliert werden:
10.96
The obligation of Purchaser to consummate the Closing is subject to the fulfilment of the condition precedent that, as of the Closing Date, the representations and warranties of Sellers set out in Article 7 are true and correct in all material respects; „material“ in this context means that the untruthfulness and/or incorrectness of the representations and warranties would and/or do not result in Losses (as defined in Article (…)) exceeding 5.0 million Euro. Hintergrund einer solchen Regelung ist der Umstand, dass die Vertragsparteien regelmäßig 10.97 sämtliche Ansprüche des Käufers wegen Mängeln der Kaufsache nach den Vorschriften der §§ 437 ff. BGB ausschließen. Im Gegenzug gibt der Verkäufer gegenüber dem Käufer bestimmte das Unternehmen betreffende Garantien ab, etwa bzgl. des Vermögens, bestimmter vertraglicher Verpflichtungen, behördlicher Genehmigungen etc. Stellen sich diese Garantien als unzutreffend heraus, so haftet der Verkäufer wegen der Verletzung dieser Garantien entsprechend den vertraglichen Vereinbarungen, regelmäßig bis zu einer Haftungshöchstgrenze. Wenn jedoch bereits nach dem Signing Tatsachen eintreten, die, wenn sie nach dem Vollzugstermin eingetreten wären, zu einer nennenswerten Haftung des Verkäufers führen würden, ist bereits vor dem Closing abzusehen, dass der Erwerber ein Unternehmen übernehmen soll, das nicht den vertraglichen Vereinbarungen entspricht. Steht also bereits vor dem Vollzugstag fest, dass der Käufer mit Übernahme des Unternehmens Haftungsansprüche in beträchtlichem Umfang gegen den Veräußerer erwerben würde, so kann dem Käufer ab einem bestimmten Umfang dieser Haftungssumme nicht mehr zugemutet werden, das verkaufte, aber mangelhafte Unternehmen zu übernehmen. In diesem Fall erlaubt es die „Mini-MAC“-Klausel dem Käufer, den Vollzug des Vertrags zu verweigern.
10.98
4. Rücktrittsrechte Für den Fall, dass die Vollzugsvoraussetzungen bis zu einem bestimmten Datum nicht vor- 10.99 liegen, kann und sollte den Parteien ein vertragliches Rücktrittsrecht eingeräumt werden. Zu regeln ist darüber hinaus, ob trotz des erfolgten Rücktritts bestimmte vertragliche Pflichten, etwa solche bzgl. der Verschwiegenheit, fortbestehen sollen.
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Kap. 10 Rz. 10.100
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
II. Streitigkeiten über das Vorliegen der Vollzugsvoraussetzungen – Fast Track Arbitration 10.100 In der Zeit nach dem Signing obliegt es den Parteien, für die Erfüllung der Closing-Bedingungen zu sorgen. Über deren Eintritt und die damit verbundene Verpflichtung, die Transaktion zu vollziehen, kann zwischen den Parteien jedoch auch Streit entstehen.
10.101 Solche Streitigkeiten über den Eintritt der Vollzugsvoraussetzungen sind besonders kritisch, da sie in eine Zeit fallen, zu der die Parteien schon vertraglich gebunden sind und die Öffentlichkeit möglicherweise schon informiert ist, die dingliche Übertragung aber noch aussteht. Jede Verzögerung kann sich daher negativ auf den Wert und den Ruf des Unternehmens auswirken. Es wird daher im Interesse der Parteien liegen, speziell für Streitigkeiten hinsichtlich des Eintritts der Vollzugsbedingungen ein beschleunigtes Schiedsverfahren (Fast-TrackArbitration) vorzusehen. Hierunter werden solche Schiedsverfahren verstanden, die darauf abzielen, ein Verfahren unter Abkürzung aller sonst üblichen Fristen für die Bildung des Schiedsgerichts, die Einleitung des Verfahrens und die Durchführung desselben zu führen.78 Auch wird als Gegenstand eines solchen Schiedsverfahrens ein im Vorhinein eng umrissener Streitgegenstand festgelegt, hier also die Frage der Erfüllung der Closing-Bedingungen.
10.102 Die Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit e.V. (DIS) hat im Jahr 2008 ergänzende Regeln für beschleunigte Verfahren (ERBV) veröffentlicht, die die Parteien in Ergänzung zur DIS-Schiedsordnung vereinbaren können. Ein Formulierungsvorschlag für die Inbezugnahme der ERBV bei Abschluss einer Schiedsvereinbarung ist auf der Internetseite der DIS veröffentlicht.79
10.103 Gemäß § 1.2 ERBV sollen Schiedsverfahren, die nach den ERBV durchgeführt werden, nicht länger als sechs (bei Bestellung eines Einzelschiedsrichters) bzw. neun (bei Bestellung eines Schiedsgerichts mit drei Schiedsrichtern) Monate ab Eingang der Schiedsklage dauern. In der Praxis kann ein solcher Zeitraum allerdings für eine Entscheidung über die Frage, ob etwa die Voraussetzungen der MAC-Klausel eingreifen und Käufer damit den Vollzug des Unternehmenskaufvertrags verweigern kann, sehr lang sein. Abgesehen von der für die Parteien ungewissen Situation dürfte sich auch der Reputationsschaden für den Verkäufer und die Zielgesellschaft vergrößern, je länger die Ungewissheit über den Vollzug des Verkaufs andauert.80 Die Parteien können zur weiteren Beschleunigung des Verfahrens aber entweder die Bestimmungen und Fristen der ERBV modifizieren (vgl. § 6.1 ERBV) oder eine Individualvereinbarung treffen. Dabei empfehlen sich die folgenden Regelungen zur Beschleunigung des Schiedsverfahrens: Zunächst sollten die Parteien bereits im Unternehmenskaufvertrag Schiedsrichter sowie Ersatzschiedsrichter festlegen; die benannten Personen sollten in der fraglichen Zeit verfügbar sein, sich bereits im Vorhinein mit der möglichen Berufung einverstanden erklären und sich verpflichten, sich während des relevanten Zeitraums frei von Interessenkonflikten zu halten.81 78 Blackaby/Partasides/Redfern/Hunter, Redfern and Hunter on InternationalArbitration, para 6.263 et seq. 79 Abrufbar unter http://www.disarb.org/de/16/regeln/dis-erg%C3 %A4nzende-regeln-f%C3 %BCrbeschleunigte-verfahren-08-erbv-id3 (zuletzt abgerufen am 6.7.2018). 80 Vgl. Kästle/Haller, NZG 2016, 926 (928). 81 So auch Kästle/Haller, NZG 2016, 926 (928).
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F. Gewährleistungen des Verkäufers
Rz. 10.105 Kap. 10
Des Weiteren sollten die Parteien eine mündliche Verhandlung ausdrücklich ausschließen, was nach § 1047 Abs. 1 Satz 2 ZPO möglich ist. Zwar ist es laut der Gesetzesbegründung zu § 1047 ZPO in Ausnahmefällen unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs denkbar, dass eine mündliche Verhandlung auf Antrag einer Partei auch dann abzuhalten ist, wenn die Parteien eine mündliche Verhandlung ausgeschlossen haben.82 Dies kommt jedoch in der Praxis der Fast Track-Schiedsverfahren, soweit ersichtlich, nicht häufig vor. Zudem sollten von vornherein kurze Schriftsatzfristen vereinbart sowie die Anzahl der Schriftsatzrunden auf zwei begrenzt werden.83 Als Alternative zu einem Fast Track-Schiedsverfahren zur Frage, ob die Voraussetzungen der vereinbarten Vollzugsbedingungen erfüllt sind, wird auch die Durchführung eines schiedsgutachterlichen Verfahrens vorgeschlagen.84 Abgesehen von dem Nachteil, dass ein Schiedsgutachten – im Gegensatz zu einem Schiedsspruch – keinen vollstreckungsfähigen Titel darstellt,85 hat sich das schiedsgutachterliche Verfahren über die Frage, ob bestimmte Vollzugsvoraussetzungen vorliegen, in der Praxis bislang nicht durchsetzen können. Die Einholung eines Schiedsgutachtens wird dagegen häufig als Mittel zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen den Parteien über die Richtigkeit von zum wirtschaftlichen Stichtag oder zum Closing zu erstellenden Abschlüssen und/oder über die Berechnung von Kaufpreisanpassungen vereinbart.
F. Gewährleistungen des Verkäufers I. Allgemeines Die bereits in der Einleitung angesprochenen Unzulänglichkeiten des deutschen gesetzlichen Kaufrechts werden im Zusammenhang mit den Gewährleistungen des Verkäufers des Unternehmens besonders deutlich. Unabhängig von der Ausgestaltung der Transaktion als Share Deal (Rechtskauf i.S.v. § 453 Abs. 1 BGB) oder Asset Deal (Kauf sonstiger Gegenstände gem. § 453 Abs. 1 BGB) kommt bei Mängeln des Kaufgegenstands grundsätzlich das gleiche gesetzliche Haftungsregime zur Anwendung, da § 453 Abs. 1 BGB seit der Schuldrechtsreform den Kauf von Sachen dem Kauf von Rechten und sonstigen Gegenständen gleichstellt.
10.104
Beim Asset Deal erwirbt der Käufer das Unternehmen in seiner Gesamtheit. Die Mangelhaftigkeit des Kaufgegenstandes kann sich folglich sowohl aus Mängeln des Unternehmens insgesamt ergeben als auch aus der Mangelhaftigkeit in Bezug auf einzelne das Unternehmen ausmachende Sachen und Rechte.86 Allerdings machen Fehler an einzelnen Gegenständen der veräußerten Vermögensmasse nicht zwangsläufig das gesamte Unternehmen mangelhaft. Vielmehr sind Mängel einzelner Wirtschaftsgüter beim Unternehmenskauf nur dann beachtlich, wenn diese auf das Unternehmen als solches durchschlagen.87
10.105
82 Vgl. BT-Drucks. 13/5274, 49, rechte Spalte; zustimmend etwa Münch in MünchKomm/ZPO, § 1047 Rz. 7 m.w.N. 83 Die von Kästle/Haller, NZG 2016, 926 (929) darüber hinaus vorgeschlagen Beschränkung der Länge der Schriftsätze hält die Verfasserin dagegen für praktisch schwer durchsetzbar. 84 Vgl. speziell zu den Voraussetzungen von MAC-Klauseln Kästle/Haller, NZG 2016, 926 (931 ff.); allgemeiner (nicht auf MAC bezogen) Kasolowsky/Schnabl, SchiedsVZ 2012, 84. 85 Dies stufen auch Kasolowsky/Schnabl, SchiedsVZ 2012, 84 (86) als Nachteil ein. 86 Holzapfel/Pöllath, Rz. 617; Berger in Jauernig, § 453 BGB Rz. 14 ff. 87 Vgl. BGH v. 7.1.1970 – I ZR 99/68, NJW 1970, 556 f.; s. auch Rz. 9.205 m.w.N.
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Kap. 10 Rz. 10.106
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
10.106 Beim Share Deal greift die Rechtsmängelhaftung nach §§ 453 Abs. 1, 435 BGB ein, wenn der verkaufte Geschäftsanteil selbst mangelhaft ist. Ein Rechtsmangel liegt vor, wenn das verkaufte Recht nicht in dem Umfang besteht, wie dies im Kaufvertrag vorausgesetzt wird, oder wenn andere Rechte entgegenstehen.88 Dies ist beim Share Deal zu bejahen, wenn der verkaufte Geschäftsanteil überhaupt nicht existiert oder mit Rechten Dritter belastet ist, aber etwa auch dann, wenn der Käufer für nicht bezahlte Einlageschulden haften muss, nicht mitgeteilte Nachschusspflichten oder den Gesellschaftsanteil belastende Stimmrechtsbeschränkungen bestehen.89
10.107 Jedoch ist bis heute umstritten, ob auch beim Share Deal ein Mangel des Unternehmens einen Mangel des Geschäftsanteils zur Folge haben kann. Argument hierfür wäre, dass mit dem Verkauf eines Geschäftsanteils wirtschaftlich nicht nur die Beteiligung als solche verkauft wird, sondern mittelbar auch das Unternehmenssubstrat.90 Auch nach neuer Rechtslage wird aber mehrheitlich vertreten, dass Beschaffenheitsmängel des Unternehmens Gewährleistungsansprüche des Käufers beim Beteiligungskauf nur dann auslösen, wenn die verkaufte Beteiligung dem Verkauf des Unternehmens gleich kommt. Verlangt wird hierfür mindestens eine Beteiligung im Umfang von 75–80 Prozent am ganzen Unternehmen.91 Verwiesen wird dabei auf die Regelung des § 453 Abs. 3 BGB, wonach der Verkäufer, der ein Recht verkauft, nur dann verpflichtet ist, die Sache frei von Rechts- und Sachmängeln zu verkaufen, wenn das Recht auch zum Besitz einer Sache berechtigt. Diese Ansicht verweist darauf, dass es einer solchen Regelung nicht bedurft hätte, wenn jeder Rechtskauf auch zur sachmängelfreien Übergabe verpflichtete.92
10.108 Diese Unsicherheiten verdeutlichen, dass das geltende Haftungsregime des Bürgerlichen Rechts für die Praxis des Unternehmenskaufs wenig tauglich ist. Es entspricht daher gängiger Praxis, das gesetzliche Gewährleistungsrecht, soweit dieses dispositiv ist, durch ein individuelles vertragliches Gewährleistungsrecht, das den Bedürfnissen der häufig aus unterschiedlichen Jurisdiktionen stammenden Vertragsparteien gerecht wird, zu ersetzen.93 In Unternehmenskaufverträgen werden daher regelmäßig in umfangreicher Weise Beschaffenheitsmerkmale und sonstige Eigenschaften des Unternehmens garantiert (im Englischen: „Representations and Warranties“).
10.109 Bei solchen Representations and Warranties handelt es sich nicht um unselbständige Garantien, die lediglich verschuldensunabhängig die Haftung des Verkäufers bei Sach- und/oder Rechtsmängeln der Kaufsache verschärfen, sondern um einen auf § 311 Abs. 1 BGB beruhenden selbständigen Garantievertrag,94 so dass die Garantiezusage für den Empfänger eine eigene Anspruchsgrundlage darstellt.
10.110 Die verschuldensunabhängige Haftung des Verkäufers im Garantiefall wird jedoch durch Beschränkungen auf der Rechtsfolgenseite ausgeglichen, insbesondere im Hinblick auf Höhe und Umfang des Schadensersatzes, auf die Verjährungsfristen oder durch die Beschränkung der Rücktrittsmöglichkeiten des Käufers. Dieses Wechselspiel aus häufig sehr umfangreichen Garantiezusagen und Beschränkungen auf der Rechtsfolgenseite wird allgemein als interessen88 89 90 91 92 93 94
Palandt/Weidenkaff, § 453 BGB Rz. 23. Vgl. etwa Wolf/Kaiser, DB 2002, 411 (416). Vgl. Holzapfel/Pöllath, Rz. 632 f.; Beisel in Beisel/Klumpp, § 16 Rz. 22. Vgl. Schlitt/Schäfer, AG 2004, 346 (351); Weitnauer, NJW 2002, 2511 m.w.N. Schlitt/Schäfer, AG 2004, 346 (351) m.w.N. Vgl. hierzu auch Picot, DB 2009, 2587 (2594) sowie Rz. 9.249. Holzapfel/Pöllath, Rz. 676; Mellert, BB 2011, 1667 (1667).
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F. Gewährleistungen des Verkäufers
Rz. 10.115 Kap. 10
gerecht empfunden und bietet eine praxisgerechte Möglichkeit, auf individuelle Erfordernisse flexibel reagieren zu können. Das folgende Formulierungsbeispiel für eine Garantiezusage des Verkäufers mit gleichzeitiger Bezugnahme auf die ebenfalls im Vertrag festgelegten Rechtsfolgen ist dem Vertragsmuster in Anhang A.III. (M 4) Section 7.1 entnommen: The Seller represents and warrants vis-à-vis the Purchaser in the form of an independent guarantee (selbständiges Garantieversprechen) pursuant to Section 311 para. 1 BGB, subject to the provisions and limitations set forth in Section 8 and Section 11, which form an integral part of this guarantee (Inhalt des Schuldverhältnisses/Bestandteil der Garantieerklärung), and unless otherwise indicated in this Agreement, that the following statements – hereinafter „Seller’s Guarantees“ (Verkäufergarantien) – shall be true and correct on the date hereof and on the Closing Date, unless another reference date is set forth in the following. The Seller’s Guarantees shall neither constitute a specification agreement (Beschaffenheitsvereinbarung) within the meaning of Section 434 para. 1 BGB nor a guarantee concerning the quality of the purchased object (Garantie für die Beschaffenheit der Sache) within the meaning of Sections 443 or 444 BGB. Section 442 BGB shall not apply. Gegenstand einer Garantieerklärung des Verkäufers muss aber nicht notwendigerweise das 10.111 objektive Bestehen oder Nichtbestehen eines Umstandes sein; sie kann sich vielmehr auch auf die Kenntnis oder Nichtkenntnis des Verkäufers bezüglich eines Umstands beziehen. So wird die Verkäuferseite mitunter (und nicht immer zu Unrecht) argumentieren, den objektiven Zustand könne sie gar nicht garantieren, allenfalls „bestes Wissen“ bzgl. einer Gegebenheit oder Tatsache. Zur Veranschaulichung folgendes Beispiel einer Verkäufergarantie (aus Section 7.9.3 des in Anhang A.III. (M 4) abgedruckten Vertragsmusters):
10.112
To the best of Seller’s Knowledge, there are no indications according to which the insurances may be invalid or may be terminated by the respective insurer prematurely. Hieran wird deutlich, dass es einen erheblichen Unterschied ausmacht, ob der Verkäufer für die objektive Richtigkeit des von ihm garantierten Umstandes einsteht, oder ob er nur zusichern will, er habe keine Kenntnis, die auf die Unrichtigkeit schließen lässt. Eine solche eingeschränkte Garantie95 ist für den Erwerber mithin von geringerem Wert. Darüber hinaus obliegt es im Garantiefall dem Käufer nicht nur nachzuweisen, dass die Garantie objektiv unrichtig ist, sondern auch, dass der Verkäufer wider besseres Wissen die Garantiezusage abgegeben hat.
10.113
Sollte sich der Käufer auf die Einräumung von Wissensgarantien einlassen (müssen), so wird er möglicherweise eine abweichende Gestaltung der Beweislast durchsetzen können. Denkbar ist etwa eine Umkehrung der Beweislast mit Exkulpationsmöglichkeit durch den Verkäufer.
10.114
In jedem Fall ist zu empfehlen, dass die Vertragsparteien ausdrücklich festlegen, was unter dem Begriff „bestes Wissen“ zu verstehen ist. Häufig wird auch bestimmt, welche Personen als Wissensvertreter des Verkäufers anzusehen sind, wie in folgendem Formulierungsbeispiel:
10.115
„Best Knowledge of Sellers“ shall mean the actual knowledge (positive Kenntnis) of the persons listed in Exhibit Sellers’ BK and their constructive knowledge, i.e. the facts those persons could have known but for gross negligence (grobe Fahrlässigkeit) did not know, taking into account 95 Holzapfel/Pöllath, Rz. 703; Schmitz, RNotZ 2006, 561 (589 und 591 ff.).
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Kap. 10 Rz. 10.116
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
the standard customarily applied to a prudent business person (ordentlicher Kaufmann) in view of the contemplated transaction. Insbesondere in Fällen, in denen der Verkäufer zwar Gesellschafter der Zielgesellschaft, aber nicht oder nicht mehr selbst in der Unternehmensleitung tätig ist, ist es wichtig, als Wissensvertreter des Verkäufers weitere Personen anzuführen, die über die tatsächlichen Verhältnisse im Unternehmen im Bilde sind und deren Kenntnis der Verkäufer gegen sich gelten lassen muss.
10.116 Schließlich müssen die Parteien festlegen, auf welchen Zeitpunkt sich die Gewährleistungen beziehen sollen. Gemäß § 446 BGB geht die Gefahr des zufälligen Untergangs oder der zufälligen Verschlechterung der verkauften Sache (erst) mit der Übergabe der Sache auf den Käufer über. Diesem gesetzlichen Leitbild müssen die Parteien aber nicht folgen. Im Interesse des Verkäufers liegt es natürlich, für die Zeit nach dem Signing, also für zukünftige Veränderungen, keine Zusicherungen abzugeben. Demgegenüber wird dem Käufer daran gelegen sein, dass der Verkäufer auch für die Zeit nach dem Vertragsschluss für bestimmte Risiken die Haftung übernimmt, insbesondere deshalb, weil der Verkäufer das Unternehmen auch nach dem Signing noch führt. Letztlich wird sich häufig ein Kompromiss dahingehend finden, dass einzelne Gewährleistungen nur auf den Tag des Vertragsschlusses abgegeben werden, etwa für solche Ereignisse, die der Verkäufer nach Vertragsschluss nicht mehr kontrollieren kann oder für solche, die natürlichen Veränderungen unterliegen, wie etwa der Bestand an wichtigen Verträgen oder die Beteiligung der Zielgesellschaft an gerichtlichen Auseinandersetzungen.
II. Typische Gewährleistungen im Einzelnen 10.117 Nachfolgend seien einige Beispiele für gängige Representations and Warranties des Verkäufers angeführt. 1. Rechtsgewährleistungen
10.118 Typischerweise übernimmt der Verkäufer die Garantie, dass er Inhaber der Anteile an der Zielgesellschaft ist, diese nicht mit Rechten Dritter oder Nachschusspflichten belastet sind und er frei über die Anteile verfügen kann. Diese Garantie betrifft nach deutschem Verständnis mithin lediglich die Erfüllung der Hauptleistungspflichten durch den Verkäufer, denn auch nach dem deutschen gesetzlichen Kaufrecht schuldet der Verkäufer die rechtsmangelfreie Übertragung der verkauften Gesellschaftsanteile. Hier ein Formulierungsbeispiel: 1. The Seller is the sole owner and has full authority to freely dispose of the Partnership Interest and the GmbH Shares, without infringing rights of third parties and without violating the articles of association or by-laws of any Target Company, in accordance with the terms of this Agreements and the consents and approvals referenced herein. 2. The interests or shares in each Target Company have been duly issued, the respective contributions have been fully paid in and have not been paid back, and there is – except for the facts disclosed in Exhibit 7.2.2 – no obligation of the shareholders or the limited partners to make any additional payment or other contribution with respect to any of the shares or interests in the Target Companies. Each of the aforementioned interests or shares are free of any liens, encumbrances or other rights of third parties. There are no pre-emption rights, no option rights, no agreements on the exercise of voting rights (Stimmrechtsausübungsverein944
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F. Gewährleistungen des Verkäufers
Rz. 10.120 Kap. 10
barungen) and no other third party rights with regard to the acquisition of the interests or shares in a Target Company, except for rights resulting from applicable statutory provisions or from the articles of association of such Target Company. 2. Vermögensgegenstände Nicht vom gesetzlichen Kaufrecht erfasst werden dagegen, wie bereits erläutert, Gewährleistungen für den Zustand einzelner Vermögensgegenstände des Unternehmens oder dafür, dass die vorhandenen Vermögensgegenstände ausreichend sind, um die Geschäftstätigkeit des Unternehmens im derzeitigen Umfang auszuüben. Gerade die letztgenannte Garantie (sog. „Sufficiency of Assets Rep“) wird häufig vereinbart und kann wie folgt formuliert werden:
10.119
The Target Companies (except for Chinese Subsidiary Co. Ltd.) own or rightfully use all assets required for their business as currently conducted. The assets which are owned or used by the Target Companies and are material for the business as currently conducted by them have no material defects, are in good operating condition and repair (except for ordinary wear and tear) in view of their age and term of use. The Target Companies do not own, lease or possess any fixed assets which are used in any locations other than their facilities. Darüber hinaus versuchen Käufer oftmals, Garantien bezüglich eines bestimmten Wartungsund Erhaltungszustandes von Maschinen und Betriebseinrichtungen zu erhalten (so wie in dem vorstehenden Beispiel) oder sich zusichern zu lassen, dass bestimmte betriebsnotwendige Maschinen voll funktionstüchtig sind, kein Reparaturrückstand besteht oder neu bestellte Maschinen pünktlich geliefert werden. Angesichts der Bandbreite unternehmerischer Tätigkeiten lässt sich nicht abstrakt sagen, welche Garantien bezüglich der Vermögensgegenstände eines Unternehmens im Einzelfall sinnvoll sind; dies ist von Transaktion zu Transaktion unteschiedlich. 3. Immaterialgüterrechte In den letzten Jahren hat die Bedeutung von Immaterialgüterrechten bei Unternehmenskäufen deutlich zugenommen. Insbesondere US-amerikanische Käufer untersuchen die Immaterialgüterrechte der Zielgesellschaft und mögliche Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit diesen bereits im Rahmen der Due Diligence gründlich und verlangen häufig ausführliche Garantien im Kaufvertrag, wie das folgende Beispiel zeigt, das dem Vertragsmuster in Anhang A. III. (M 4) entnommen ist: 7.6.1 Exhibit 7.6.1 contains a true and complete list of all patents, trademarks, copyrights, domain names and other intellectual property rights (i) which have been registered, or filed for registration, on behalf of the Target Companies or (ii) which are owned by or licensed to the Target Companies (the „Intellectual Property Rights“), specifying, as applicable: the nature of such Intellectual Property Right, the owner of such Intellectual Property Right, and with respect to registered Intellectual Property Rights, the jurisdictions in which such Intellectual Property Right has been registered or in which an application for such issuance or registration has been filed, the product or service class (if applicable), the registration or application numbers and any applicable termination or expiration dates. 7.6.2 The Target Companies are the sole and unrestricted owners of, or have valid licenses to use, the Intellectual Property Rights. The Intellectual Property Rights registered in the name of and/or owned by the Target Companies are free and clear of any rights of third Henrich
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10.120
Kap. 10 Rz. 10.121
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
parties. No Target Company has granted an exclusive or non-exclusive license with respect to any Intellectual Property Right to any third party. None of the Intellectual Property Rights is subject to any outstanding judgment, injunction, order or decree issued against any Target Company which restricts the use thereof by it and, as of the date hereof, no third party has challenged any Intellectual Property Right in writing or, in any other manner towards any Target Company. To the best of Seller’s Knowledge, none of the Intellectual Property Rights is currently being infringed by any third party. 7.6.3 The Target Companies have paid all registration or license fees when due and taken all other actions necessary to validly maintain any registrations and the enforceability of all Intellectual Property Rights, and are in compliance with all license conditions, as applicable, with respect to any Intellectual Property Rights. Aus Verkäufersicht sollten bereits zu Beginn der Planungen für einen möglichen Verkauf des Unternehmens die Immaterialgüterrechte, deren Inhaber das Unternehmen ist oder die von diesem als Lizenznehmer genutzt werden, sorgfältig überprüft und dokumentiert werden. Geprüft werden sollte beispielsweise, ob Patente und Marken in allen Ländern registriert sind, in denen das Unternehmen tätig ist oder in den nächsten Jahren tätig werden will, ob sämtliche Registrierungsgebühren gezahlt und Verlängerungsanträge rechtzeitig gestellt wurden und ob von Dritten Widersprüche gegen Eintragungen erhoben wurden. Nutzt das Unternehmen Rechte Dritter als Lizenznehmer, sollte vorsorglich überprüft werden, ob sämtliche Lizenzgebühren gezahlt wurden, die tatsächliche Nutzung durch das Unternehmen sich im Rahmen der Lizenzbedingungen bewegt und ob der Lizenzgeber im Falle eines möglichen Gesellschafterwechsels (change of control) ein Kündigungsrecht hat. Werden bei der vorsorglichen Prüfung Defizite aufgedeckt, sollten diese möglichst vor Beginn des Verkaufsprozesses behoben werden. Dies kann wesentlich dazu beitragen, dass der Käufer und dessen Berater im Rahmen der Due Diligence einen positiven Eindruck vom Kaufobjekt gewinnen. 4. Einhaltung von Rechtsvorschriften
10.121 Ein weiterer Bereich, dessen Bedeutung bei Unternehmenskäufen in den letzten Jahren stetig zugenommen hat, ist die Einhaltung von Rechtsvorschriften durch die Zielgesellschaft. Eine Zusicherung des Verkäufers, dass die Zielgesellschaft (zumindest im Wesentlichen) im Einklang mit den anwendbaren Gesetzen operiert und über alle wesentlichen Genehmigungen verfügt, wird heute beinahe standardmäßig verlangt. Laut der Private Target M&A Deal Points Study 2017 der ABA enthielten fast alle (98 % – 100 %) der für die Studien von 2006 bis 2016/17 untersuchten Unternehmenskaufverträge eine solche „Compliance with Law“-Garantie.96 Gleichzeitig wurde diese Verkäufergarantie immer seltener auf das „beste Wissen“ des Verkäufers beschränkt; bei den ausgewerteten Verträgen aus den Jahren 2016/17 war die Garantie nur in einem Prozent der Fälle dergestalt eingeschränkt.97
10.122 Bei der Formulierung der entsprechenden Gewährleistungen kommt es auf die Details an. Da in der Praxis wohl nur wenige Unternehmen für sich in Anspruch nehmen können, stets jede anwendbare Rechtsvorschrift einzuhalten, lässt sich oftmals eine Einschränkung dahin96 Vgl. Private Target M&A Deal Points Study 2017 der Business Law Section der American Bar Association, S. 42. 97 Vgl. Private Target M&A Deal Points Study 2017 der Business Law Section der American Bar Association, a.a.O.
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F. Gewährleistungen des Verkäufers
Rz. 10.126 Kap. 10
gehend verhandeln, dass „alle wesentlichen Rechtsvorschriften“ eingehalten werden, oder es wird doch auf das „beste Wissen“ der Verkäufer rekurriert, wie in folgendem Formulierungsbeispiel, welches beide Einschränkungen enthält: Each of the Target Group Entities, to the Best Knowledge of Sellers, complies, in all material respects, with all applicable regulations and has filed, registered and made all necessary formalities and holds all governmental licenses or permits (including building permits where (i) legally required and (ii) no right to continue the use without permit is given due to the long-term factual use of the concerned premises (Bestandsschutz)) necessary for the conduct of the Business (the „Permits“), including, for the avoidance of doubt, any fines levied upon any Target Group Entity. Each of the Target Group Entities observes and has complied in the past and currently complies with all laws and regulations applicable to the Business. Demgegenüber enthält § 7.11.1 des in Anhang A. III. (M 4) beigefügten Vertragsmusters eine wesentlich strenger formulierte Verkäufergarantie. Ist der Käufer oder dessen Muttergesellschaft ein in den USA börsennotiertes Unternehmen, wird er wahrscheinlich darüber hinaus eine Zusicherung des Verkäufers verlangen, dass die Zielgesellschaft keine Schmiergelder zahlt oder in sonstige Korruptionsfälle verwickelt ist. Hintergrund sind die Vorschriften des Foreign Corrupt Practices Act (FCPA)98, welche empfindliche strafrechtliche und zivilrechtliche Sanktionen (Gewinnabschöpfung) u.a. für die Bestechung ausländischer Amtsträger (foreign officials), ausländischer politischer Parteien, Parteimitglieder oder Kandidaten für politische Ämter vorsehen. Das Gesetz erfasst auch indirekte Zuwendungen von Bestechungsgeldern, z.B. über eine Mittelsperson im Ausland.99 Der Begriff des „foreign official“ wird dabei weit ausgelegt und erfasst auch einfache Mitarbeiter einer ausländischen Regierung oder einer Einrichtung derselben sowie Mitarbeiter staatlicher Unternehmen.100
10.123
Da Käufer eines Unternehmens gemäß dem FCPA unter bestimmten Umständen die Haftung für Rechtsverstöße des Unternehmens vor dem Erwerb übernehmen müssen, raten das USJustizministerium sowie die US-Börsenaufsicht SEC zu einer gründlichen Due Diligence-Prüfung, u.a. um die Risiken zukünftigen Fehlverhaltens des betreffenden Unternehmens zu verringern.101 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das Thema Korruption in der Due Diligence und bei der Bewertung der Zielgesellschaft für Käufer, die unter den FCPA fallen oder aus anderen Gründen an anspruchsvolle Compliance-Ziele gebunden sind – etwa aufgrund entsprechender Vorgaben bestimmter Investoren – eine wichtige Rolle spielt.
10.124
Auch hierauf sollten Verkäufer sich ggf. vorbereiten. Ist das zu verkaufende Unternehmen in bestimmten, korruptionsanfälligen Ländern tätig, kann sich eine interne Compliance-Untersuchung im Vorfeld der geplanten Transaktion anbieten. Auch der Nachweis, dass Mitarbeiter, die in den betreffenden Ländern tätig sind, regelmäßig geschult werden und Kontrollmechanismen implementiert wurden, kann sich im Verkaufsprozess positiv auswirken.
10.125
Eine entsprechende Gewährleistung im Kaufvertrag könnte wie folgt lauten:
10.126
None of the Target Companies (including the Target Companies’ foreign representative offices) nor any director, officer or employee of a Target Company (including the Target Companies’ 98 99 100 101
15 U. S. C. §§ 78dd-1 ff. Spies, MMR 2009, XIII. Vgl. Grau/Meshulam/Blechschmidt, BB 2010, 652 (657) m.w.N. Vgl. etwa Spehl/Grützner, CCZ 2013, 198 (201).
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Kap. 10 Rz. 10.127
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
foreign representative offices), has (i) violated any provision of any applicable anti-corruption law, (ii) made any bribe, payoff, influence payment, kickback or other unlawful payment to any person or entity (including any representative or employee of any governmental authority), or (iii) violated or operated in non-compliance with applicable export restrictions, anti-boycott regulations, embargo regulations or other applicable laws.
10.127 Des Weiteren interessieren sich Käufer mit US-amerikanischem Bezug in der Regel für die Handelspartner der Zielgesellschaft bzw. dafür, ob Exporte in Länder stattfinden, gegen die die Vereinigten Staaten ein vollständiges oder ein auf bestimmte Güter bezogenes Handelsembargo verhängt haben. Die betreffenden Länder werden vom Office of Foreign Assets Control (OFAC)102, welches mit der Überwachung der Embargos betraut ist, als „Targeted Countries“ bezeichnet. Derzeit sind dies u.a. der Iran, Kuba, Nordkorea, der Sudan, Syrien und der Teil der Krim, auf den Russland Anspruch erhebt.103
10.128 Darüber hinaus führt OFAC eine Liste sog. Specially Designated Nationals (SDN), d.h. von Personen und Unternehmen, die im Eigentum von Targeted Countries stehen oder für diese tätig werden. Die Liste wird regelmäßig überarbeitet und umfasst auch Personen und Organisationen, die unter Terrorismusverdacht stehen oder des Drogenhandels beschuldigt werden.104 Der Handel mit solchen Personen und Organisationen ist in den Vereinigten Staaten ansässigen Personen generell untersagt.
10.129 Eine Gewährleistung des Inhalts, dass die Zielgesellschaft keine Geschäfte mit Ländern oder Personen tätigt, gegen die die Vereinigten Staaten Sanktionen verhängt haben oder die auf der Liste der Specially Designated Nationals aufgeführt sind, könnte folgendermaßen formuliert werden: Since December 31, (…), no Target Company has, directly or indirectly, engaged in any services (including financial services), transfers of goods, software, or technology, or any other business activity related to (i) Cuba, Iran, North Korea, Sudan, Syria or the Crimea region of Ukraine claimed by Russia („Sanctioned Countries“), (ii) the government of any Sanctioned Country, (iii) any person, entity or organization located in, resident in, formed under the laws of, or owned or controlled by the government of, any Sanctioned Country, or (iv) any person, entity or organization made subject of any sanctions administered or enforced by the United States Government, including, without limitation, the list of Specially Designated Nationals of the Office of Foreign Assets Control of the U.S. Treasury Department („OFAC“), or by the United Nations Security Council, the European Union, Her Majesty’s Treasury, or other relevant sanctions authority. 5. Bilanzgarantien
10.130 Bei der Ausgestaltung von Bilanzgarantien im Unternehmenskaufvertrag ist zunächst zwischen „weichen“ oder „subjektiven“ und „harten“ oder „objektiven“ Bilanzgarantien zu unterscheiden.105 Ein Beispiel für eine harte Bilanzgarantie findet sich in § 7.3.1 des in An102 Das Office of Foreign Asset Control ist eine Abteilung des US-amerikanischen Finanzministeriums (U. S. Department of the Treasury). 103 Die jeweils aktuellen Angaben sind abrufbar unter http://www.treasury.gov/resource-center/sanc tions/Programs/Pages/Programs.aspx (zuletzt abgerufen am 12.7.2018). 104 Die jeweils aktuelle Liste sowie Angaben zu den jeweiligen Änderungen sind abrufbar unter http:// www.ustreas.gov/offices/enforcement/ofac/sdn/index.shtml (zuletzt abgerufen am 12.7.2018). 105 Vgl. zu Bilanzgarantien bereits unter Rz. 9.257 ff.; Blunk/Rabe, GmbHR 2011, 408 (409).
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F. Gewährleistungen des Verkäufers
Rz. 10.135 Kap. 10
hang A. III. (M 4) beigefügten Musters eines Limited Partnership Interest and Share Purchase Agreement. Die entsprechende Klausel lautet (auszugsweise): 7.3.1. […] The annual financial statements of the Target and of Partner GmbH for the financial years (…) through (…) have, in each case, been prepared in accordance with the provisions of the German Commercial Code (HGB) and generally accepted accounting principles as applied in Germany, applied on a consistent basis (such consistency to include, for the purposes of this Section 7.3.1, the consistent use of any discretionary rights – Bilanzierungs- und Bewertungswahlrechte). Such annual financial statements of the Target and of Partner GmbH give, in each case, a true and fair view of the assets, financial condition and results of the operations of the Target and of Partner GmbH. Sie enthält, wie bei harten Bilanzgarantien üblich, ein prozessuales und ein materielles Ele- 10.131 ment: Wenn der Verkäufer zunächst versichert, dass der betreffende Abschluss nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung und Bilanzierung unter Wahrung der Bilanzund Bewertungskontinuität erstellt wurde, sagt er damit zu, dass bei der Aufstellung des Abschlusses die handelsrechtlich vorgegebenen Vorschriften und Grundsätze zur Bilanzerstellung eingehalten wurden.106 Er garantiert mithin, dass der Prozess der Aufstellung ordnungsgemäß war. Dagegen hat die im letzten Satz enthaltene, weitergehende Garantie des Inhalts, dass die Ab- 10.132 schlüsse ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild („true and fair view“ oder „fair presentation“) der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Zielgesellschaft vermitteln, einen objektiven oder materiellen Inhalt. Aus ihrem Wortlaut ergibt sich, dass die Abschlüsse die tatsächliche Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Zielgesellschaft objektiv vollständig und richtig wiedergeben sollen.107 Damit hat der Verkäufer auch für am Bilanzstichtag nicht bekannte Verbindlichkeiten einzustehen, und zwar unabhängig davon, ob diese bis zum Stichtag auch unter Berücksichtigung der bilanzrechtlich erforderlichen Aufstellungssorgfalt überhaupt erkennbar waren.108 Inhaltlich bezieht sich die Garantie auf den gesamten Jahresabschluss, d.h. auf sämtliche gesetzlichen Bestandteile des Jahresabschlusses, der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung: Aktiva und Passiva, Ertragssituation und Risiken sind daher korrekt auszuweisen und in dem erforderlichen Maße Rückstellungen zu bilden, so dass auch hinsichtlich der Existenz und/oder der Höhe noch nicht oder noch nicht vollständig bekannte bzw. zu erwartende Risiken, Wertminderungen und Verbindlichkeiten von der (harten) Bilanzgarantie umfasst sind.109
10.133
Für den Verkäufer ist die Abgabe einer harten Bilanzgarantie somit risikoreich, da er ver- 10.134 schuldensunabhängig auch für unbekannte Verbindlichkeiten und Eventualverbindlichkeiten sowie nicht oder nur unzureichend gebildete Rückstellungen haftet. Mit einer weichen Bilanzgarantie sichert der Verkäufer demgegenüber nur zu, dass der Prozess der Aufstellung der betreffenden Abschlüsse ordnungsgemäß war, wie im ersten Satz der oben abgedruckten Klausel aus § 7.3.1 des Muster-Unternehmenskaufvertrags. Anders 106 107 108 109
Vgl. Blunk/Rabe, GmbHR 2011, 408 (409). Vgl. OLG Frankfurt v. 7.5.2015 – 26 U 35/12, GmbHR 2016, 116 (119). Vgl. OLG Frankfurt v. 7.5.2015 – 26 U 35/12, GmbHR 2016, 116 (119). Vgl. OLG Frankfurt v. 7.5.2015 – 26 U 35/12, GmbHR 2016, 116 (118) mit Verweis auf Blunk/ Rabe, GmbHR 2011, 408 (410).
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Kap. 10 Rz. 10.136
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
als bei der harten Bilanzgarantie steht der Verkäufer somit nicht für unbekannte Verbindlichkeiten der Zielgesellschaft ein, die keinen Eingang in die Abschlüsse gefunden haben, soweit diese unter Berücksichtigung der bilanzrechtlich erforderlichen Sorgfalt nicht erkennbar waren.110
10.136 In den USA sind harte Bilanzgarantien absoluter Standard.111 Auch in Unternehmenskaufverträgen nach deutschem Recht sind sie heute verbreitetet, wenn auch wohl nicht so weit wie in den USA. Häufiger als „reine“ harte Bilanzgarantien werden abgeschwächte Versionen verhandelt, etwa indem die Garantie (teilweise) auf das beste Wissen des Verkäufers beschränkt wird oder bestimmte Bilanzpositionen ausgenommen werden. Ein sinnvoller Ansatz kann auch darin liegen, Freibeträge für bestimmte Bilanzpositionen zu vereinbaren, so dass von einem Verstoß gegen die Bilanzgarantie erst dann auszugehen wäre, wenn die Summe später bekannt werdender Abweichungen von den betreffenden, in der Bilanz ausgewiesenen Beträgen den jeweiligen Freibetrag über- oder unterschreitet.
10.137 In der Praxis mindestens ebenso wichtig wie die sorgfältige Formulierung der Bilanzgarantie selbst ist die Regelung der Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen diese.112 Nach wohl überwiegender Auffassung ist der Käufer bei einer Verletzung einer Bilanzgarantie so zu stellen, als wäre es ihm bei Kenntnis der wahren Sachlage gelungen, den Unternehmenskaufvertrag zu einem günstigeren Kaufpreis abzuschließen. Der Schaden des Käufers besteht somit in der Differenz zwischen dem von ihm tatsächlich gezahlten Kaufpreis und dem hypothetischen niedrigeren Kaufpreis, den er erzielt hätte, wenn die betreffenden Abschlüsse ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Zielgesellschaft vermittelt hätten.113
10.138 Die Höhe dieses Schadens dürfte für den Käufer jedoch häufig schwer zu beziffern sein; er müsste konkret darlegen, wie sich der von ihm angenommene Unternehmenswert verändert hätte, wenn er in seine Berechnungen die korrekt erstellten Abschlüsse einbezogen hätte.114 Zudem kann sich bei Transaktionen, bei denen die finanzielle Lage der Zielgesellschaft für den Käufer kein entscheidender Faktor ist – etwa, wenn der Käufer insbesondere am Erwerb bestimmter Immaterialgüterrechte oder des Vertriebsnetzes der Zielgesellschaft interessiert ist – die Frage stellen, ob dem Käufer durch den Garantieverstoß überhaupt ein Schaden entstanden ist. Insbesondere aus Käufersicht ist es daher empfehlenswert, die Rechtsfolgen eines möglichen Verstoßes gegen die Bilanzgarantie im Unternehmenskaufvertrag ausdrücklich zu regeln.
10.139 Darüber hinaus kommt es beim Unternehmenskauf mit internationalem Bezug bei den Bilanzgarantien insbesondere darauf an, im Vertrag die relevanten Buchführungsregeln (HGBGrundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, IFRS, US-GAAP oder vergleichbare Regelungen), auf die sich die Garantien beziehen, ausdrücklich festzulegen, wie in der folgenden Klausel aus dem Muster-Unternehmenskaufvertrag: 110 Vgl. Blunk/Rabe, GmbHR 2011, 408 (410). 111 Laut der Private Target M&A Deal Points Study 2017 der ABA enthielten 99 % der seit 2012 untersuchten Unternehmenskaufverträge eine sog. „Fair Presentation Representation“, also eine harte Bilanzgarantie, vgl. Private Target M&A Deal Points Study 2017 der Business Law Section der American Bar Association, S. 38. 112 Hierauf weisen auch Bormann/Trautmann, GmbHR 2016, 122 (123) hin. 113 Vgl. OLG Frankfurt v. 7.5.2015 – 26 U 35/12, GmbHR 2016, 116 (120); Bormann/Trautmann, GmbHR 2016, 122 (123) m.w.N. 114 Vgl. Bormann/Trautmann, GmbHR 2016, 122 (124).
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F. Gewährleistungen des Verkäufers
Rz. 10.144 Kap. 10
7.3.2. Prior to the date hereof, the Purchaser was provided with the annual financial statements (including cash flow statements) for the fiscal years (…) through (…) of French Subsidiary S.à.r.l. with unqualified auditors’ certificates thereon. Such annual financial statements have been prepared in accordance with all applicable laws and relevant accounting principles applicable in France, applied on a consistent basis, and fairly present in all material respects, in accordance with such principles, the state of affairs/assets, financial position (as applicable) and results of operations of the French Subsidiary S.à.r.l. with respect to the financial years (…) through (…). Werden über die eigentliche Bilanzgarantie hinaus Garantiezusagen im Hinblick auf bestimmte wirtschaftliche Kennzahlen gemacht (z.B. Höhe des EBIT, des EBITDA oder des vorhandenen Eigenkapitals zum Ende des Geschäftsjahres), empfiehlt es sich, genau zu definieren, wie diese Kennzahlen berechnet werden sollen und die von der Zielgesellschaft angewendeten Bilanzierungsgrundsätze einschließlich der Ausübung von Bilanzierungs- und Bewertungswahlrechten möglichst genau festzuhalten und dem Kaufvertrag als Anlage b eizufügen.
10.140
Dies gilt insbesondere, wenn der Verkäufer durch einen Earn Out noch für einige Zeit nach seinem Ausscheiden an den Ergebnissen der Zielgesellschaft beteiligt werden soll. Denn in solchen Fällen treten häufig Konflikte zwischen dem Verkäufer, der naturgemäß am Erreichen der garantierten Kennzahlen bzw. der Schwellenwerte für den Earn Out interessiert ist, und dem Käufer, für den es finanziell vorteilhaft wäre, wenn er bei Nichterreichung der Kennzahlen Gewährleistungsansprüche gegen den Verkäufer geltend machen oder beim Nichterreichen der Schwellenwerte Aufwendungen für den Earn Out vermeiden könnte, auf. Angesichts dieser gegensätzlichen Interessen kann leicht Streit darüber entstehen, ob die Bilanzen ordnungsgemäß und unter Einhaltung des Grundsatzes der Bilanzkontinuität aufgestellt wurden.
10.141
Für den möglichen Streitfall sollte im Unternehmenskaufvertrag von vornherein eine Wirt- 10.142 schaftsprüfungsgesellschaft als Schiedsgutachter benannt werden. Können oder wollen die Parteien den Schiedsgutachter nicht bereits im Kaufvertrag festlegen, kann vorgesehen werden, dass dieser auf Antrag einer Partei von einem neutralen Dritten (beispielsweise vom Sprecher des Vorstands des Instituts der Wirtschaftsprüfer e.V. (IDW) in Düsseldorf) bestimmt wird. 6. Weitere Gewährleistungen Darüber hinaus sind zahlreiche weitere Gewährleistungen im Hinblick etwa auf die arbeitsrechtlichen Verhältnisse, Pensionen, Rechtsstreitigkeiten, Mietverhältnisse, Betriebsgrundstücke, öffentliche Fördermittel, die Verschuldung der Zielgesellschaft etc. denkbar. Ob und in welchem Umfang solche Gewährleistungen Eingang in den Kaufvertrag finden, ist letztlich von den konkreten Erfordernissen im Hinblick auf die Zielgesellschaft und von den Verhandlungspositionen der Parteien abhängig.
10.143
In US-Unternehmenskaufverträgen werden die Haftungsrisiken des Verkäufers aus den von ihm abgegebenen Garantien und Freistellungen immer häufiger durch Abschluss einer Garantieversicherung (Warranty & Indemnity- oder W& I-Insurance) auf einen Versicherer abgewälzt. Laut der Private Target M&A Deal Points Study 2017 der ABA enthielten 29 % der
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Kap. 10 Rz. 10.145
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
untersuchten Unternehmenskaufverträge eine Bezugnahme auf eine W&I-Versicherung.115 Der Anteil der Transaktionen, bei denen solche Versicherungen abgeschlossen wurden, dürfte eher noch höher liegen, da dies nicht immer aus dem Unternehmenskaufvertrag ersichtlich ist. Einen ausführlichen Überblick über das Thema W&I-Insurance bietet Kapitel 9, Rz. 9.272 ff.
III. Haftung des Verkäufers bei Verletzung der Verkäufergarantien 10.145 Wegen der zumeist umfangreichen Garantieversprechen, die der Verkäufer dem Käufer gegenüber abgibt, ist der Umfang der Haftung des Verkäufers für die Parteien von großer Bedeutung.
10.146 Generell sind die Parteien auch bei der Regelung der Rechtsfolgen der Verletzung von Verkäufergarantien bestrebt, ein autonomes Haftungsregime auszuhandeln; sie werden deshalb – soweit zulässig – sämtliche gesetzlichen Gewährleistungsrechte ausschließen. 1. Schäden der Zielgesellschaft
10.147 In der Praxis kann es problematisch sein, wenn der Käufer einen Schaden geltend macht, der der Zielgesellschaft entstanden ist. Zwar ist der Käufer Vertragspartner des Verkäufers und damit im Gewährleistungsfall grundsätzlich auch ersatzberechtigt. Käufer und Zielgesellschaft sind haftungsrechtlich aber verschiedene Zurechnungssubjekte. Fraglich ist dann, ob der Schaden der Gesellschaft gleichzeitig als solcher des Käufers angesehen werden kann. Gerade beim Share Deal ist dies problematisch. Denn der Käufer muss grundsätzlich einen eigenen Schaden darlegen und beweisen (Grundsatz der Relativität). Dieser wird aber regelmäßig allein im Minderwert seiner erworbenen Anteile liegen und ist demnach mit dem Schaden der Zielgesellschaft nicht notwendigerweise identisch. Es empfiehlt sich daher, ausdrücklich klarzustellen, dass bei der Zielgesellschaft aufgetretene Schäden ersatzfähige Schäden des Käufers sind.116 Hierzu folgendes Formulierungsbeispiel: Seller shall indemnify and hold harmless Purchaser from any „Losses“, whereby Losses shall mean liabilities, reasonable costs and expenses (including reasonable attorney’s fees and other damages or losses in the sense of Section 249 German Civil Code (Bürgerliches Gesetzbuch) (including indirect and consequential damages but excluding (i) lost profits within the meaning of Section 252 German Civil Code (Bürgerliches Gesetzbuch) and (ii) internal costs of administering the respective claim of any entity of Purchaser’s Group)), incurred by Purchaser or the Target Group Entities which arise out of a breach of any representation, warranty, covenant, indemnity or agreement of Sellers in this Agreement. 2. Begrenzungen der Haftung des Verkäufers
10.148 Je umfangreicher die vom Verkäufer im Kaufvertrag abgegebenen Garantiezusagen sind, desto wichtiger ist aus Verkäufersicht eine Begrenzung der Haftung auf der Rechtsfolgenseite.
115 Vgl. Private Target M&A Deal Points Study 2017 der Business Law Section der American Bar Association, S. 106. 116 Vgl. hierzu ausführlich Elsing in FS Lüer, S. 517 (522 ff.).
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F. Gewährleistungen des Verkäufers
Rz. 10.153 Kap. 10
Grundsätzlich wird der Verkäufer bestrebt sein, für ein und denselben Schaden nur einmal zu haften. Dies bedeutet zunächst, dass er für Schäden, die auf ein schadensstiftendes Ereignis zurückzuführen sind, nur einmal wird haften wollen, auch wenn das Ereignis nach dem Wortlaut des Kaufvertrages mehrere Haftungstatbestände erfüllen sollte. Ein entsprechender Ausschluss einer mehrfachen Inanspruchnahme könnte wie folgt formuliert werden:
10.149
Purchaser shall not be entitled to a claim for indemnification under any provision of the representations and warranties in Section (…) if and to the extent compensation has been obtained under any other provision of this Agreement (including another provision of Section (…)) based on the same set of facts. Darüber hinaus wird der Verkäufer zu vermeiden suchen, dass eine Tatsache, die bereits in die Kaufpreisberechnung eingeflossen ist (z.B. durch einen Abschlag für die erforderliche Sanierung eines kontaminierten Betriebsgrundstücks), zusätzlich Zahlungspflichten unter dem Gesichtspunkt der Verletzung einer Verkäufergarantie auslöst. Wichtig ist daher, dass die Rechtsberater der Parteien auch bei komplizierten Kaufpreisberechnungsmethoden den Überblick behalten und den Vertrag als Ganzes im Blick haben.
10.150
Ein Ausschluss der Haftung des Verkäufers wegen Garantieverletzungen wird daneben oftmals 10.151 vereinbart, wenn der Käufer oder die Zielgesellschaft Ersatz von dritter Seite (z.B. einer Versicherung oder einem ersatzpflichtigen Schädiger) erhalten oder für die zum Ausgleich notwendigen Beträge bereits Rückstellungen in den Bilanzen der Zielgesellschaft gebildet wurden, wie in den folgenden Klauseln: 1. Sellers shall not be liable for any Losses, if and to the extent that: (a) the amount of an indemnification claim is recovered (i) under an insurance policy entered into by or on behalf of, any of the Target Group Entities from a third party (net of costs of recovery, including increased insurance premiums) or (ii) under other insurance policies available to Target under the B group insurance coverage; (b) an indemnification claim results from a failure of Purchaser to mitigate damages pursuant to Section 254 German Civil Code (Bürgerliches Gesetzbuch). 2. Sellers shall not be liable to Purchaser for any Losses under any provision of this Agreement to the extent that such Losses are explicitly reflected as a write-off, value adjustment, liability, provision or accrual in the Financial Statements. Wenn Ersatz von dritter Seite erlangt werden kann, besteht eine weitere gängige Regelungsmöglichkeit darin, Ansprüche gegen den Dritten an den Verkäufer abzutreten, wenn und soweit er bereits Schadenersatz geleistet hat. Das folgende Formulierungsbeispiel für eine solche Regelung ist § 11.2 des in Anhang A. III. (M 4) beigefügten Muster-Unternehmenskaufvertrags entnommen:
10.152
If the Seller has compensated the Purchaser or the Target Companies for damages resulting from a breach of the Seller’s Guarantees and such breach results in the Purchaser or the Target Companies having a claim for damages against third parties based on the same underlying facts, the Seller shall be entitled to demand assignment of such claims up to the amount in which he has paid compensation for the damages at issue. Grundsätzlich wird der Käufer ein Interesse daran haben, dass der Verkäufer nur von seiner Ersatzpflicht frei wird, soweit der ersatzpflichtige Dritte seinerseits geleistet hat. Der Verkäufer dagegen wird darauf drängen, dass zunächst auf ersatzpflichtige Dritte zurückgegriffen Henrich
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Kap. 10 Rz. 10.154
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
werden muss, oftmals aus der Befürchtung heraus, dass der Käufer anderenfalls keinen Anreiz dafür hat, die Ersatzleistungen ernsthaft und mit Nachdruck von dem Dritten einzufordern und ggf. auch rechtliche Schritte gegen den Dritten einzuleiten. Eine mögliche Kompromisslösung kann darin liegen, dass die Parteien ausdrücklich regeln, welche konkreten Schritte der Käufer ggf. durchführen muss, um die Forderung ernsthaft gegen den Dritten geltend zu machen, bevor er den Verkäufer in Anspruch nehmen darf.
10.154 Des Weiteren hat der Verkäufer häufig ein Interesse daran, seine Haftung für die Verletzung der von ihm abgegebenen Garantien auszuschließen, wenn dem Käufer die Tatsache, die eine Garantieverletzung darstellt, bei Unterzeichnung des Vertrages bereits bekannt war (sog. Anti-Sandbagging-Klausel), wie in dem folgenden Formulierungsbeispiel: Seller shall not be liable for a breach of representations and warranties if the underlying facts of such breach (i) are disclosed in this Agreement or (ii) were actually known to Purchaser (positive Kenntnis). Purchaser’s actual knowledge in this context means the actual knowledge of (…) on the Signing Date.
10.155 Eine solche Regelung enthält im gesetzlichen Gewährleistungsrecht § 442 Abs. 1 Satz 1 BGB, wonach die Rechte des Käufers wegen eines Mangels ausgeschlossen sind, wenn er bei Vertragsschluss den Mangel kennt. Diese Regelung ist abdingbar117 und wird in der Praxis auch häufig abbedungen, wie etwa in § 7.1 des im Anhang abgedruckten Muster-Unternehmenskaufvertrags. Oftmals wird auch ausdrücklich vereinbart, dass die Ansprüche des Käufers aus oder im Zusammenhang mit der Verletzung von Verkäufergarantien auch dann unberührt bleiben, wenn der Käufer bereits vor Signing positive Kenntnis von der Verletzung hatte oder bei sorgfältiger Prüfung der vom Verkäufer zur Verfügung gestellten Due Diligence-Informationen Kenntnis hiervon hätte erlangen können (sog. Pro-Sandbagging- oder Benefit of the Bargain-Klausel).118
10.156 In US-Unternehmenskaufverträgen werden ausdrückliche Anti-Sandbagging-Klauseln nur selten vereinbart; von den für die aktuelle Private Target M&A Deal Points Study ausgewerteten Verträgen enthielten nur 6 % eine solche Regelung. Dagegen wurde in 42 % eine ProSandbagging-Klausel vereinbart.119 In der Mehrzahl der untersuchten Verträge (51 %) wurde dieser Punkt nicht geregelt. In Deutschland dürfte das Verhältnis zwischen Pro-Sandbagging und Anti-SandbaggingKlauseln ausgewogener und der Anteil der Unternehmenskaufverträge, in denen keine Regelung zu diesem Punkt getroffen wird, geringer sein. 3. Prozedere im Gewährleistungsfall
10.157 Auch sollten die Parteien genau regeln, welches Prozedere sie beschreiten wollen, wenn der Käufer behauptet, eine Verkäufergarantie sei verletzt. Denkbar ist dabei etwa folgende Vereinbarung: In the event of a breach of a representation, warranty, covenant, indemnity or agreement by a Party (herein referred to as „Indemnifying Party“) contained in this Agreement, any Party to be indemnified and/or held harmless hereunder (herein referred to as „Indemnified Party“), 117 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 442 BGB Rz. 4. 118 Vgl. dazu auch Beisel/Klumpp, § 16 Rz. 152. 119 Vgl. Private Target M&A Deal Points Study 2017 der Business Law Section der American Bar Association, S. 66.
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F. Gewährleistungen des Verkäufers
Rz. 10.162 Kap. 10
shall (i) promptly, after becoming aware of the claim, notify the Indemnifying Party of any breach, describe its claim in reasonable detail and, to the extent then feasible, set forth the estimated amount of such claim and (ii) give the Indemnifying Party the opportunity to remedy the breach within a reasonable period of time. 4. Bagatellschäden; Haftungshöchstgrenze Für den Verkäufer ist es wichtig, den möglichen Umfang seiner Haftung bereits vor Vertragsschluss abschätzen zu können. Dagegen ist der Käufer naturgemäß an einer möglichst unbeschränkten Haftung des Verkäufers und an umfangreichen Freistellungen interessiert.
10.158
In der Praxis vereinbaren die Parteien häufig einen Schwellenwert, unterhalb dessen die Haftung des Verkäufers für einen Schaden ausgeschlossen wird. Solche sog. de-minimis-Regelungen bieten dem Verkäufer den Vorteil einer Reduzierung seiner Haftungsverpflichtung und erlauben ihm im Zusammenspiel mit einer Haftungshöchstgrenze (sog. „Cap“), schon zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses seinen Haftungskorridor abzuschätzen. Aber auch für den Käufer müssen de-minimis-Regelungen in der Praxis nicht nachteilig sein, da bei geringfügigen Schäden mögliche Schadensersatzzahlungen des Verkäufers oftmals kaum die Kosten der vom Käufer zu deren Geltendmachung eingeschalteten Gutachter und Berater decken.
10.159
Ausweislich der bereits erwähnten europäischen M&A-Studie wurde in 76 % der untersuchten Unternehmenskaufverträge, die 2016 abgeschlossen wurden, eine de minimis-Regelung vereinbart, wobei die vereinbarten Beträge sich aber in der Tendenz nach unten bewegten.120 De-minimis-Klauseln sind häufig in zwei verschiedenen Grundkonstellationen anzutreffen. Denkbar ist zum einen die Vereinbarung eines Freibetrags (englisch: deductible), bei dem die Haftung des Verkäufers für einzelne oder sämtliche Gewährleistungsansprüche im Sinne eines Selbstbehalts erst dann greift, wenn der Freibetrag überschritten ist. Zum anderen kann eine Freigrenze (englisch: threshold) festgelegt werden, bis zu deren Erreichen der Verkäufer nicht haftet; wird die Freigrenze aber überschritten, so schuldet der Verkäufer die volle Summe.
10.160
Je nach Höhe des Kaufpreises kann es aber auch sinnvoll sein, die Geltendmachung von Bagatellschäden durch den Käufer weitgehend auszuschließen und vorzusehen, dass Bagatellschäden unterhalb eines bestimmten Betrages von vornherein nicht in die Berechnung des Freibetrags oder der Freigrenze einfließen, wie in folgendem Beispiel:
10.161
Sellers shall only be liable to Purchaser for any Losses if and to the extent that (i) any Loss arising from an individual matter exceeds an amount of 50,000.00 Euro („Minor Cases“) and (ii) the aggregate of the Losses – excluding Minor Cases – exceed a threshold of 250,000.00 Euro; if this threshold is exceeded, Purchaser shall be entitled to the whole amount (de minimis threshold); Minor Cases shall be excluded in any event. Haftungshöchstgrenzen sind sowohl in US- als auch in europäischen Unternehmenskaufverträgen heute absoluter Standard und werden in mehr als 90 % der Transaktionen verein-
120 Vgl. CMS European M&A Study 2017, S. 7, abrufbar unter https://cms.law/en/INT/Publica tion/CMS-European-M-A-Study-2017 (zuletzt abgerufen am 6.7.2018).
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Kap. 10 Rz. 10.163
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bart.121 Der jahrelange Trend zu immer niedrigeren Haftungshöchstgrenzen scheint zwar zumindest in europäischen Unternehmenskaufverträgen gestoppt; dennoch wurden laut der CMS European M&A Study 2017 in 58 % der ausgewerteten Kaufverträge Caps von weniger als 50 % und in 14 % der Verträge sogar von weniger als 10 % des Kaufpreises vereinbart.122 Allerdings werden bestimmte Garantien, etwa für die Rechtsinhaberschaft der Anteile an der Zielgesellschaft, häufig von einer allgemeinen Haftungshöchstgrenze ausgenommen, oder es werden unterschiedliche Haftungshöchstgrenzen für „normale“ Garantien (z.B. 50 % des Kaufpreises) und Rechtsgewährleistungen vereinbart, wobei jedoch auch für letztere oftmals die Haftung auf die Höhe des Kaufpreises begrenzt wird. Ein Beispiel für eine Klausel, mit der Rechtsgewährleistungen und bestimmte andere Verkäufergarantien von der allgemeinen Haftungshöchstgrenze ausgenommen werden, findet sich in § 11.4.3 des in Anhang A. III. (M 4) beigefügten Muster-Unternehmenskaufvertrags. 5. Inanspruchnahme durch Dritte
10.163 Die Parteien sollten darüber hinaus vertraglich regeln, was gilt, wenn die Zielgesellschaft oder der Käufer nach dem Vollzug des Kaufvertrags von einem Dritten in Anspruch genommen wird und diese Inanspruchnahme eine Haftung des Verkäufers auslösen kann.
10.164 In einem solchen Fall hat der Verkäufer ein berechtigtes Interesse daran, dass solche Drittansprüche durch den Käufer oder die Zielgesellschaft abgewehrt werden. Hierbei sind verschiedene Gestaltungen möglich. So kann etwa vorgesehen werden, dass der Verkäufer der Zielgesellschaft Anweisungen bezüglich der Abwehr von Drittansprüchen geben oder die zu mandatierenden Rechtsberater bestimmen kann. Häufig wird dem Verkäufer sogar das Recht eingeräumt, das Verfahren gegen den Dritten ganz oder teilweise selbst im Namen des Käufers oder der Zielgesellschaft zu führen, wobei in diesem Fall auch Regelungen zur Kostentragungspflicht getroffen werden sollten. Alternativ kann vorgesehen werden, dass der Verkäufer lediglich unverbindliche Vorschläge zur Führung des Verfahrens gegen den Dritten machen kann. Eine solche Regelung ist im Vergleich zu einer aktiveren Rolle des Verkäufers seltener anzutreffen; ein Beispiel für eine solche Vertragsklausel findet sich in § 8.3.2 des Muster-Unternehmenskaufvertrags. 6. Haftungsausschluss im Übrigen
10.165 Der Verkäufer wird für die Übernahme der vertraglichen Garantien, also für das verschuldensunabhängige Einstehen für vertraglich zugesicherte Umstände, im Gegenzug darauf dringen, dass neben den vertraglich übernommenen Einstandspflichten keine weiteren Haftungsfolgen auf ihn zukommen.
10.166 Um das zwischen den Parteien austarierte Gleichgewicht zwischen Haftungstatbeständen und Rechtsfolgen nicht zu stören, werden die Parteien daher umfassend die gesetzlichen Haftungstatbestände, insbesondere das kaufrechtliche Gewährleistungsrecht, aber auch An121 Vgl. zu den USA: Private Target M&A Deal Points Study 2017 der Business Law Section der American Bar Association, S. 88 ff.; zu Europa: CMS European M&A Study 2017, S. 6 f, abrufbar unter https://cms.law/en/INT/Publication/CMS-European-M-A-Study-2017 (zuletzt abgerufen am 6.7.2018). 122 Vgl. CMS European M&A Study 2017, S. 7, abrufbar unter https://cms.law/en/INT/Publica tion/CMS-European-M-A-Study-2017 (zuletzt abgerufen am 6.7.2018).
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F. Gewährleistungen des Verkäufers
Rz. 10.170 Kap. 10
sprüche aus § 311 Abs. 1 BGB (culpa in contrahendo) oder § 313 BGB (Störung der Geschäftsgrundlage) ausschließen. Gleiches gilt für die Möglichkeit, sich durch Rücktritt vom Vertrag zu lösen, wenn und soweit hierfür keine besonderen Regelungen, etwa wegen eines MAC, getroffen wurden. Eine solche umfassende Ausschlussklausel könnte etwa wie die Klausel in § 11.5 des im Anhang A. III. (M 4) enthaltenen Muster-Unternehmenskaufvertrags aussehen:
10.167
The Parties agree that this Agreement exclusively and finally regulates the legal consequences of the breach of a Seller’s Guarantee pursuant to Section 7 as well as the treatment of environmental and Tax liabilities pursuant to Sections 9 and 10 and that the Purchaser is only entitled to claims and legal consequences with regard to the breach of a Seller’s Guarantee and with respect to possible environmental or Tax liabilities that are set forth in this Agreement. As far as legally admissible, all claims exceeding the scope of claims and entitlements of the Purchaser in this Agreement, irrespective of their origin, their extent and their legal foundation, are expressly excluded. This applies in particular, but not solely, to claims arising with regard to breach of duties prior to the conclusion of the agreement (Sect. 311 para. 2 and para. 3; Sect. 241 para. 2 German Civil Code (BGB)), infringement of a contractual obligation (in particular pursuant to Sect. 280, Sect. 282, Sect. 241 German Civil Code (BGB)), of contract (Sect. 313 German Civil Code (BGB)), pursuant to statutory warranty regulations (in particular pursuant to Sect. 437 to Sect. 441, Sect. 453 German Civil Code (BGB)) and tort as well as all other claims that are the consequence of a rescission, a challenge or mitigation or that result for any other reason in the termination, the invalidity or revocation of this Agreement, that could result in the modification of its contents or the reimbursement or reduction of the purchase price, unless the claim is based on wilful misconduct (Vorsatz) or fraudulent misrepresentation (arglistige Täuschung) by the Seller. Diese Klausel schließt sämtliche gesetzlichen Ansprüche aus, mit Ausnahme der Haftung für vorsätzliches oder arglistiges Handeln durch den Verkäufer. Nach § 276 Abs. 3 BGB ist ein Haftungsausschluss für Vorsatz vor Entstehen des Anspruchs auch bei Individualabreden unzulässig. Gleiches gilt für den Ausschluss einer Anfechtung nach § 123 BGB. Nach der Rechtsprechung des BGH ist ein im Voraus vereinbarter Ausschluss der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung mit dem von § 123 BGB bezweckten Schutz der freien Selbstbestimmung unvereinbar.123
10.168
7. Verjährung Da es sich bei den selbständigen Garantieversprechen um eigene vertragliche Anspruchsgrundlagen handelt, kommt die (zweijährige) kaufrechtliche Verjährungsfrist für Mängelansprüche des § 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB nicht zur Anwendung; vielmehr verjähren die Garantieansprüche im Rahmen der regelmäßigen Verjährungsfrist gem. §§ 195, 199 BGB. Zwar beträgt diese gem. § 195 BGB lediglich drei Jahre; sie ist jedoch relativ, d.h. kenntnis-abhängig, vgl. § 199 Abs. 1 BGB, und kann sich bis zur absoluten Frist von zehn Jahren ab Entstehung des Anspruchs, § 199 Abs. 4 BGB, verlängern. Für Schadensersatzansprüche beträgt die absolute Verjährungsfrist sogar 30 Jahre, § 199 Abs. 3 Satz 1 BGB.
10.169
Die Parteien werden daher bestrebt sein, individuelle Verjährungsregelungen zu treffen. Grundsätzlich ist der Verkäufer an kurzen Verjährungsfristen interessiert. Für die vom Ver-
10.170
123 BGH v. 17.1.2007 – VIII ZR 37/06, GmbHR 2007, 375 = MDR 2007, 576 = NJW 2007, 1058.
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Kap. 10 Rz. 10.171
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
käufer abzugebenden Rechtsgewährleistungen, insbesondere der Garantie der Inhaberschaft und der Lastenfreiheit der Anteile an der Zielgesellschaft, werden jedoch oftmals längere Verjährungsfristen vereinbart als für andere, für den Käufer weniger relevante Garantien.
10.171 Häufig ist es auch sachgerecht, unterschiedliche Verjährungsfristen für Garantien und Freistellungen (insbesondere Steuerfreistellungen) festzulegen. Für die Verjährung von Ansprüchen der Parteien aus Steuerfreistellungen wird oftmals auf die endgültige und bestandskräftige Festsetzung der betreffenden Steuern abgestellt, da diese häufig erst nach Ablauf der Verjährungsfrist für „allgemeine“ Verkäufergarantien erfolgt.
10.172 Daneben empfiehlt es sich auch, zur Vermeidung von Unklarheiten die Voraussetzungen der Unterbrechung der Verjährung parteiautonom im Kaufvertrag zu regeln, und zwar nicht nur in Fällen, in denen die Parteien unterschiedlichen Jurisdiktionen angehören. So kann beispielsweise auch bei inländischen Parteien Streit darüber entstehen, inwieweit der Austausch von Meinungen über mögliche Schadensersatzansprüche bereits zu einer Hemmung der Verjährung gem. § 203 BGB führt.124
10.173 Ein Formulierungsbeispiel für eine differenzierte Regelung der Verjährungsfristen findet sich in § 11.6.1 des Muster-Unternehmenskaufvertrags in Anhang A. III. (M 4): All claims of the Purchaser under a Seller’s Guarantee set forth in Section 7 shall be time-barred (verjähren) upon expiration of a period of three years after the Closing Date, except for claims under the Seller’s Guarantees contained in Section 7.2.1 – 7.2.3 (ownership of shares and absence of third-party rights in shares), which shall be time-barred ten years after the Closing Date. Diese Verjährungsfristen sind allerdings vergleichsweise lang. Verjährungsfristen von 12 bis 24 Monaten für Verkäufergarantien (mit Ausnahme der Rechtsgewährleistungen) entsprechen eher dem heutigen Marktstandard.
IV. Freistellungen 10.174 Neben den Verkäufergarantien (Representations and Warranties) finden sich in den meisten Unternehmenskaufverträgen Verpflichtungen des Verkäufers, den Käufer von der Haftung für bestimmte Sachverhalte freizustellen, die sog. Indemnities. Diese betreffen gewöhnlich Risiken, die in der Due Diligence bekannt geworden sind und in der Zukunft Zahlungspflichten der Zielgesellschaft auslösen könnten (z.B. schwebende Rechtsstreitigkeiten oder mögliche Sanierungsaufwendungen für ein Betriebsgrundstück), deren Höhe bei Vertragsschluss aber noch unbekannt ist.125
10.175 Häufig wird eine Freistellung des Käufers von Steuerverbindlichkeiten der Zielgesellschaft vereinbart, die sich auf Veranlagungszeiträume vor dem Vollzugstag beziehen und bis zum Vollzugstag noch nicht bezahlt worden sind (s. § 10.2 des Muster-Unternehmenskaufver124 Der Begriff der „Verhandlungen“ in § 203 BGB wird von der Rechtsprechung weit ausgelegt. Wenn der Gläubiger angekündigt hat, dass er einen Anspruch geltend machen und worauf er ihn im Kern stützen will, soll jeder Meinungsaustausch zwischen den Parteien über den Anspruch oder dessen Grundlagen eine Verhandlung über den Anspruch darstellen, es sei denn, dass der Schuldner unverzüglich Verhandlungen erkennbar ablehnt, vgl. BGH v. 26.10.2006 – VII ZR 194/05, MDR 2007, 331 = NJW 2007, 587. 125 Für eine allgemeine Einführung in Freistellungsansprüche beim Unternehmenskauf vgl. Hilgard, BB 2016, 1218.
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G. Sonstige Vorschriften
Rz. 10.180 Kap. 10
trags in Anhang A. III. (M 4)). Auch Risiken aufgrund möglicher Umweltbelastungen der Betriebsgrundstücke der Zielgesellschaft werden oftmals in einer Freistellungsregelung abgebildet (für ein ausführliches Beispiel s. § 9 des Muster-Unternehmenskaufvertrags). Grundsätzlich wird der Käufer fordern, dass Beschränkungen der Haftung des Verkäufers durch de-minimis-Regelungen, Haftungshöchstbeträge und vergleichsweise kurze Verjährungsfristen, die für die Representations and Warranties vereinbart wurden, auf die Freistellungen nicht angewendet werden, während der Verkäufer bestrebt sein wird, seine Haftung auch bezüglich der Freistellungen zu begrenzen.
10.176
G. Sonstige Vorschriften Selbstverständlich haben die Parteien die Möglichkeit, neben der Vereinbarung von Garan- 10.177 tieversprechen und Freistellungsregelungen auch bestimmte Handlungspflichten in den Vertrag aufzunehmen. Diese Verpflichtungen betreffen nicht den Kernbestand der Regelungen, die zur Durchführung der Transaktion zwingend notwendig sind. Vielmehr handelt es sich um flankierende Maßnahmen, die aus Sicht der Parteien notwendig sind, um die ordnungsgemäße Durchführung des Vertrages zu gewährleisten, also um Verpflichtungen, die vor, neben und ggf. auch nach Erfüllung der vertraglichen Hauptpflichten vorgesehen sind. Zu nennen ist hierbei etwa das Verhalten des Verkäufers vor dem Closing oder auch die Beschränkung nachvertraglichen Wettbewerbs durch den Verkäufer.
I. Verhalten zwischen Signing und Closing (Covenants) Eine der wichtigsten Vereinbarungen betrifft dabei das Verhalten der Verkäuferseite im Zeitraum zwischen Signing und Closing. Während dieses Zeitraums sind die Parteien zwar bereits vertraglich gebunden, die eigentliche Leitungsmacht über die Zielgesellschaft liegt aber bis zum dinglichen Vollzug nach wie vor beim Verkäufer. Der Käufer ist daher häufig an der Vereinbarung einer sog. „Conduct of Business-Klausel“ interessiert.
10.178
Eine solche Klausel soll sicherstellen, dass der Verkäufer die Geschäfte der Zielgesellschaft bis zum Vollzugstag mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns und entsprechend der gewöhnlichen Praxis weiterführt, oder, abstrakt formuliert, dass der Käufer zum Closing nicht ein „anderes“ Unternehmen oder eine Beteiligung hieran erhält, als er vorher gekauft hat.126 Der Verkäufer soll folglich solche Maßnahmen nach dem Signing nicht mehr durchführen dürfen, die den Charakter oder den Wert des Unternehmens verändern würden, wie etwa Umstrukturierungen, Änderungen des Gesellschaftsvertrags der Zielgesellschaft oder Dividendenausschüttungen.
10.179
Vorsicht ist insoweit geboten, wenn der Zusammenschluss fusionskontrollpflichtig ist. In diesem Fall dürfen die Verpflichtungen des Verkäufers für den Zeitraum vor der Freigabe der Transaktion nicht soweit gehen, dass eine geschäftliche Maßnahme von der Zustimmung des Käufers abhängt. Hierin läge ein Verstoß gegen das fusionskontrollrechtliche Vollzugsverbot (§ 41 Abs. 1 GWB für die deutsche Fusionskontrolle bzw. Art. 7 Abs. 1 FKVO für die europäische Fusionskontrolle), weil der Erwerber damit bereits vor Freigabe der Transaktion durch die Wettbewerbsbehörden die faktische Kontrolle über die Zielgesellschaft erlangen würde.
10.180
126 Mielke/Welling, BB 2007, 277.
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Kap. 10 Rz. 10.181
Besonderheiten der anglo-amerikanischen Vertragssystematik
10.181 Aus steuerlicher Perspektive können weitgehende Zustimmungsvorbehalte zugunsten des Käufers für den Zeitraum zwischen Signing und Closing einer der Faktoren sein, die für einen Übergang des wirtschaftlichen Eigentums auf den Käufer bereits vor dem Vollzug sprechen.127
II. Wettbewerbsverbot 10.182 Der Käufer eines Unternehmens ist gewöhnlich daran interessiert, dass der Verkäufer nach Vollzug der Transaktion nicht mehr im bisherigen Tätigkeitsbereich des Unternehmens tätig wird und dabei sein Know-how und seine Geschäftsbeziehungen für sich nutzbar macht.128 Zwar dürfte sich ein Wettbewerbsverbot des Verkäufers bereits aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, § 242 BGB, ergeben, wenn ansonsten der Zweck der Transaktion gefährdet würde.129 Gleichwohl empfiehlt sich regelmäßig eine explizite Regelung im Kaufvertrag bezüglich der Unterlassung von Wettbewerb, der Abwerbung von Mitarbeitern und der Geheimhaltung von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen.
10.183 Bei der Vereinbarung eines Wettbewerbsverbots sollten die Parteien jedoch die Vereinbarkeit mit dem deutschen Kartellrecht im Auge behalten:130 Nach dem Kartellverbot des § 1 GWB ist eine vertragliche Verpflichtung eines Unternehmens oder einer Privatperson, Wettbewerb zu unterlassen, grundsätzlich unzulässig; Vereinbarungen, die gegen dieses Verbot verstoßen, sind gem. § 134 BGB nichtig.131 Ein in einem Unternehmenskaufvertrag vereinbartes Wettbewerbsverbot zu Lasten des Verkäufers ist nur dann als sog. Nebenabrede zulässig, wenn zwischen den Vertragsparteien sichergestellt werden soll, dass der Erwerber das Unternehmen vollständig, d.h. inklusive Kundenstamm, Know-how etc. übertragen erhält.132 Wenn das Wettbewerbsverbot verhindern soll, dass der Verkäufer die Kundenbeziehungen, die er mit verkauft hat und für die er eine Kaufpreiszahlung erhalten hat, anschließend durch eigene Konkurrenztätigkeit dem Käufer wieder entzieht oder entscheidend beeinträchtigt, ist es erforderlich, um den kartellrechtlich neutralen Hauptzweck des Vertrages sicherzustellen.133
10.184 Das Wettbewerbsverbot muss allerdings nach Zeit, Ort und Gegenstand auf das Maß beschränkt werden, das erforderlich ist, damit der Erwerber die ihm bei der Unternehmensübertragung überlassenen Kundenbeziehungen festigen kann.134 In zeitlicher Hinsicht geht die Rechtsprechung des BGH davon aus, dass die Grenze im Allgemeinen bei zwei Jahren liegt. Über diesen Zeitraum hinaus sei ein schutzwürdiges Interesse des Berechtigten an der Fernhaltung des Verpflichteten von seinem Kundenkreis grundsätzlich nicht mehr anzuer-
127 Vgl. zum Übergang des wirtschaftlichen Eigentums aus steuerlicher Sicht ausführlich Kleinheisterkamp/Schell, DStR 2010, 833 (838). 128 Beisel in Beisel/Klumpp, § 12 Rz. 56. 129 Beisel in Beisel/Klumpp, § 12 Rz. 57. 130 Zu Problemen des Wettbewerbsverbots wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB vgl. Holzapfel/ Pöllath, Rz. 948 f. 131 Vgl. nur Bechtold/Bosch, GWB, § 1 GWB Rz. 90. 132 Vgl. BGH v. 3.11.1981 – KZR 33/80, WuW/E BGH 1898 (1899) („Holzpaneele“). 133 BGH v. 14.1.1997 – KZR 41/95, WuW/E 3115 (3118) = NJW 1997, 2324 (2326) („Druckgussteile“). 134 BGH v. 20.1.2015 – II ZR 369/13, GmbHR 2015, 308 = MDR 2015, 408 = WM 2015, 441, 442 m.w.N.
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G. Sonstige Vorschriften
Rz. 10.188 Kap. 10
kennen.135 Im Einzelfall kann auch eine längere Zeit gerechtfertigt sein; ein Wettbewerbsverbot für einen Zeitraum von fünf Jahren ist allerdings nicht gerechtfertigt.136 Wettbewerbsverbote, die räumlich oder sachlich zu weit gehen, werden von den Gerichten nicht auf ihren kartellrechtlich zulässigen Kern reduziert, sondern führen zur Nichtigkeit der Klausel.137 Übermäßige zeitliche Beschränkungen sind dagegen auf das zulässige Maß zurückzuführen; insoweit findet eine geltungserhaltende Reduktion statt.138
10.185
Auch im europäischen Kartellrecht werden Wettbewerbsverbote als erforderliche Nebenabreden zum Unternehmenskaufvertrag angesehen, wenn neben materiellen Vermögenswerten auch der mit dem Unternehmen verbundene Goodwill, der Kundenstamm und sonstige immaterielle Werte (z.B. das erforderliche Know-how) mitverkauft werden, das Wettbewerbsverbot folglich dazu dient, den Übergang des vollen Geschäftswerts des Unternehmens auf den Erwerber zu ermöglichen.139 Solche Wettbewerbsverbote gelten als mit der Durchführung des Zusammenschlusses „unmittelbar verbundene und für sie notwendige Einschränkungen“ mit der Freigabe des Zusammenschlusses als genehmigt, Art. 6 Abs. 1 lit. b Satz 2, Art. 8 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 3 FKVO.140
10.186
Ebenso wie im deutschen Recht sind Wettbewerbsverbote dieser Art jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn sie im Hinblick auf ihre Geltungsdauer, ihren räumlichen und sachlichen Geltungsbereich sowie die von ihnen betroffenen Personen nicht über das erforderliche Maß hinausgehen.141
10.187
Nach Ansicht der Kommission ist ein dreijähriges Wettbewerbsverbot grundsätzlich gerecht- 10.188 fertigt, wenn im Rahmen des Unternehmenskaufs der Geschäftswert und das Know-how des Unternehmens auf den Erwerber übertragen werden.142 Wird dagegen nur der Geschäftswert, aber kein Know-how übertragen, verkürze sich dieser Zeitraum auf höchstens zwei Jahre.143 In Fällen, in denen nur materielle Vermögenswerte wie Grundstücke und Gebäude oder ausschließliche gewerbliche Schutzrechte übertragen werden, können Wettbewerbsverbote für den Veräußerer nach Auffassung der Kommission nicht als notwendig angesehen werden; sie wären damit kartellrechtlich unzulässig.144
135 BGH v. 20.1.2015 – II ZR 369/13, GmbHR 2015, 308 = MDR 2015, 408 = WM 2015, 441, 442 m.w.N. 136 BGH v. 20.1.2015 – II ZR 369/13, GmbHR 2015, 308 = MDR 2015, 408 = WM 2015, 441, 442. 137 Bechtold/Bosch, GWB, § 1 GWB Rz. 90. 138 BGH v. 20.1.2015 – II ZR 369/13, GmbHR 2015, 308 = MDR 2015, 408 = WM 2015, 441, 443; BGH v. 14.1.1997 – KZR 41/95, WuW/E 3115 (3119) = NJW 1997, 2324 (2326) („Druckgussteile“); Bechtold/Bosch, GWB, § 1 GWB Rz. 90. 139 Beisel in Beisel/Klumpp, § 12 Rz. 54. 140 Körber in Immenga/Mestmäcker, Art. 6 FKVO Rz. 32; Mueller-Thuns in Unternehmenskauf, Unternehmensverkauf, § 21 Rz. 19. 141 Vgl. Bekanntmachung der Kommission über Einschränkungen des Wettbewerbs, die mit der Durchführung von Unternehmenszusammenschlüssen unmittelbar verbunden und für diese notwendig sind, ABl. EU C 56 v. 5.3.2005, S. 24 (27, dort Rz. 19) m. Nachw. aus der EuGHRechtsprechung. 142 Kommission, ABl. EU C 56 v. 5.3.2005, S. 24 (27, dort Rz. 20). 143 Kommission, ABl. EU C 56 v. 5.3.2005, S. 24 (27, dort Rz. 19). 144 Kommission, ABl. EU C 56 v. 5.3.2005, S. 24 (27, dort Rz. 21).
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Kapitel 11 Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung von Beteiligungen Friedhelm Sahner und Stefan Blum
Überblick A. Grundlegende Regelungen . . . . . . B. Wertbeimessung von Beteiligungen nach deren Erwerb auf Ebene des handelsrechtlichen Jahresabschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.1
11.3
C. Folgebewertungen des Beteiligungsansatzes im handelsrechtlichen Jahresabschluss im Rahmen sog. Werthaltigkeitstests . . . .
11.9
I. Bewertungsanlass . . . . . . . . . . . . . .
11.9
II. Berücksichtigung von Unternehmens- und Ertragsteuern . . . . 11.12 III. Berücksichtigung von Synergieeffekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.18 IV. Bestimmung der Alternativanlage für den Kapitalisierungszinssatz . 11.24 V. Bewertung unter Veräußerungsgesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . 11.28 VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.32 D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss nach IFRS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.33 I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . 11.33 II. Bilanzierung von Business Combinations nach IFRS 3 im Konzernabschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendung der Purchase-method . 2. Basisbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fair Value-Konzeption . . . . . . . . . . 4. Immaterielle Vermögenswerte . . . . a) Identifizierung und Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertungsverfahren . . . . . . . . . aa) Marktpreisorientiertes Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kapitalwertorientiertes Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kostenorientiertes Verfahren
11.39 11.39 11.55 11.56 11.61
dd) Berücksichtigung von Ertragsteuern . . . . . . . . . . . . ee) Contributory Asset Charges (CACs) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Goodwill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Behandlung eines negativen Goodwill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Latente Steuern . . . . . . . . . . . . . . . .
11.83 11.86 11.92 11.93 11.94
III. Bewertungsvorgehen für ausgewählte immaterielle Vermögenswerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.102 1. Kundenstamm/„Customer Relationship“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.102 2. Markenname/„Trade Name“ . . . . . 11.106 3. Wettbewerbsverbot/„Noncompete Agreement“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.110 4. Technologie, Forschung & Entwicklung/„Technology, In Process Research & Development“ . . . . . . . 11.113 5. Bewertungsergebnis/Berechnung des Goodwill . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.116 E. Werthaltigkeitstests im Rahmen der Folgekonsolidierung nach IAS 36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.118 I. Impairment Only Approach (IOA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.118 II. Durchführung des Impairmenttests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.122 III. Feststellung eines möglichen Wertminderungsbedarfs . . . . . . . . 11.126 IV. Beizulegender Zeitwert abzgl. Veräußerungskosten (Fair Value less Costs of Disposal) . . . . . . . . . . 11.127 V. Nutzungswert (Value in Use) . . . . 11.128
11.61 11.73 11.76 11.77 11.82
VI. Buchwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.133 VII. Realisierung des Wertminderungsbedarfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.134 VIII. Zuordnung des Goodwill zu Cash Generating Units . . . . . . . . . . 11.137
Sahner/Blum 963
Kap. 11
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
Literatur: Zu IDW RS HFA 10: Ballwieser, Bewertung von Beteiligungen und sonstigen Unternehmensanteilen für die Zwecke eines handelsrechtlichen Jahresabschlusses, BBK Nr. 7 vom 2.4.2004, S. 299 ff. (zit. Beteiligungsbewertung); Ballwieser, Der Kalkulationszinsfuß in der Unternehmensbewertung: Komponenten und Ermittlungsprobleme, WPg 2002, 736; Ballwieser, Unternehmensbewertung und Komplexitätsreduktion, 3. Aufl. 1990; Beck’scher Bilanz-Kommentar, 9. Aufl. 2014; Beck’sches IFRS-Handbuch, 4. Aufl. 2013; Dörschell/Schulte, Bewertung von Beteiligungen für bilanzielle Zwecke, DB 2002, 1669; Dörschel/Franke/Schulte, Bewertung von Beteiligungen nach IDW RS HFA 10, WPg 2006, 1060; Franken/Schulte, Auswirkungen des IDW RS HFA 10 auf andere Bewertungsanlässe, BB 2003, 2675; Hayn/Ehsen, Impairment Test im HGB, FB 2003, 205; Hennrichs, Unternehmensbewertung und persönliche Ertragsteuern aus (aktien)rechtlicher Sicht, ZHR 164 (2000), 453; Heyes, Kaufpreisallokation und latente Steuern für Verlust- und Zinsvorträge, IRZ 2008, 553; IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), WPg Supplement 3/2008, S. 68 ff., FN-IDW 2008, S. 271 ff.; IDW Stellungnahme zur Rechnungslegung: Anwendung der Grundsätze des IDW S 1 bei der Bewertung von Beteiligungen und sonstigen Unternehmensteilen für die Zwecke eines handelsrechtlichen Jahresabschlusses (IDW RS HFA 10), IDW-FN 2005; Künnemann, Berücksichtigung der Steuern in der Unternehmensbewertung, in Börsig/Coenenberg (Hrsg.), Bewertung von Unternehmen, 2003, S. 153; Kupke/Nestler, Bewertung von Beteiligungen und sonstigen Unternehmensanteilen in der Handelsbilanz gemäß IDW RS HFA 10, BB 2003, 2671; Leibfried/Fassnacht, Unternehmenserwerb und Kaufpreisallokation, KoR 2007, 48; Lorson/Pfirmann/Tesche, Niederstwerttest für Beteiligungen im Jahresabschluss nach HGB, KoR 2014, 324; Moser, Plausibilisierung des Goodwills im Rahmen einer Kaufpreisallokation nach IFRS 3 durch zukünftige immaterielle Vermögenswerte, FB 2008, 732; Munkert, Der Kapitalisierungszinssatz in der Unternehmensbewertung – Theorie, Gutachtenpraxis und Rechtssprechung in Spruchverfahren, DUV 2005; Oser, Absagen an den Impairment-Only-Approach im HGB nach BilMoG, DB 2008, 361; Reuter, Unternehmensbewertung bei Sacheinlagen: Der neue IDW-Standard S 1 auf dem Prüfstand des Kapitalaufbringungsrechts, BB 2000, 2298; Rosenbaum/Gorny, Bewertung von Beteiligungen im handelsrechtlichen Jahresabschluss, DB 2003, 837; Scherff/Willeke, Bewertung von Beteiligungen und sonstigen Unternehmensanteilen für die Zwecke eines handelsrechtlichen Jahresabschlusses, BBK 2004, 6705; Schultze, Die Kaufpreisallokation bei Unternehmenszusammenschlüssen nach IFRS 3 (a.F.) und IFRS 3 (rev. 2008), DStR 2008, 1348; Thies/Ziegelmaier, Einfluss von Steuern auf die Ermittlung subjektiver Unternehmenswerte, in Richter/Timmreck (Hrsg.), Unternehmensbewertung – Moderne Instrumente und Lösungsansätze, 2004, S. 303; Wagner/Jonas/Ballwieser/Tschöpel, Weiterentwicklung der Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S1), WPg 2004, 889; Wenzel/Hoffmann, Bewertung von Beteiligungen gem. 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AICPA Practice Aid); Alvarez, Segmentberichterstattung nach DRS 3 im Vergleich zu IAS 14 und SFAS 131, DB 2002, 2057; Alvarez/Biberacher, Goodwill-Bilanzierung nach US-GAAP – Anforderungen an Unternehmenssteuerung und -berichterstattung, BB 2002, 346; App, Latente Steuern nach IAS, US-GAAP und HGB, KoR 2003, 209; Arnoldi/Leopold, Portfolio Fair Value Hedge Accounting – Entwicklung IAS-konformer und -praxistauglicher Buchungsregeln, KoR 2005, 22; Arnsfeld/Schremper, Konsequenzen des Goodwill-Impairment nach IFRS 3 für die wertorientierte Unternehmenssteuerung, KoR 2005, 498; Barckow/Glaum, Bilanzierung von Finanzinstrumenten nach IAS 39 (rev. 2004) – ein Schritt in Richtung Fair Value Modell?, KoR 2004, 185; Barckow/Schmidt, Financial Instruments Puttable at Fair Value and Obligations Arising on Liquidation, KoR 2006, 623; Beyhs/Wagner, Die neuen Vorschriften des IASB zur Abbildung von Unternehmenszusammenschlüssen, DB 2008, 73; Bieker/Esser, Goodwill-Bilanzierung nach ED 3 „Business Combinations“, KoR 2003, 75; Bieker/Lenz, Latente Steuern und die Anwendung des Fair-Value-Modells, KoR 2008, 198; Bissinger/Dornauer/Schneemann, Intangible Assets – Bewertung von immateriel-
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Sahner/Blum
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
Kap. 11
len Vermögensgegenständen, Corporate Finance biz 4/2010, 240; Blum/Weber, Bewertung von Marken – Ein Vergleich zwischen IDW S 5 und ISO 10668, WPg 2012, 442; Brösel/Müller, Goodwillbilanzierung nach IFRS aus Sicht des Beteiligungscontrollings, KoR 2007, 34; Brücks/Kerkhoff/Richter, Impairmenttest für den Goodwill nach IFRS – Vergleich mit den Regelungen nach US-GAAP: Gemeinsamkeiten und Unterschiede, KoR 2005, 1; Brücks/Richter, Business Combination (Phase II), KoR 2005, 1; Brücks/Wiederhold, Exposure Draft 3 „Business Combinations“ des IASB, KoR 2003, 21; Brücks/Wiederhold, IFRS 3 Business Combinations, KoR 2004, 177; Castello/Klingbeil/Schröder, IDW RS HFA 16 – Bewertung bei der Abbildung von Unternehmenserwerben und bei Werthaltigkeitsprüfungen nach IFRS, WPg 2006, 1028; Dawo, Immaterielle Güter in der Rechnungslegung nach HGB, IAS/IFRS und US-GAAP, 2003; Delaney/Epstein/Nach/Weiss Budak, Wiley GAAP 2004 – Interpretation and Application of Generally Accepted Accounting Principles, 2003 (zit. Wiley GAAP 2004); Deloitte Touche GmbH, IFRS 3 – Unternehmenszusammenschlüsse sowie Änderungen der IAS 36 – Wertminderungen von Vermögenswerten und IAS 38 – Immaterielle Vermögenswerte, Mai 2004 (zit. Mandanten Information); Diehm, Impairments auf Finanzinvestments – Die derzeitige Diskussion um konkretisierende Regelungen in den USA, KoR 2005, 228; Eberle, Neue Standards zur Bilanzierung von Goodwill, ST 2002, 184; Erhardt, Push down Accounting – eine kritische Würdigung, BBK 2003, 2045; Eckes/Flick, Fair Value gleich fair value? Gegenüberstellung der Vorschriften unter US-GAAP und IFRS, KoR 2008, 456; Eckes/Weigel, Die Fair Value Option, KoR 2006, 415; Erchinger/Melcher, Stand der Konvergenz zwischen US-GAAP und IFRS – die Fair-Value-Option, KoR 2007, 541; Eitzen/Dahlke/Kromer, Auswirkungen des IFRS 3 auf die Bilanzierung latenter Steuern aus Unternehmenszusammenschlüssen, DB 2005, 509; Fladt/Feige, Der Exposure Draft 3 „Business Combinations“ des IASB – Konvergenz mit den US-GAAP?, WPg 2003, 249; Focken, Reporting Unit vs. Cash-Generating Unit – Auf dem Weg zu einer harmonisierten Goodwill-Bilanzierung, RIW 2003, 437; Förschle/K. Hoffmann, HGB § 309, in Beck’scher Bilanzkommentar, 9. Aufl. 2014; Förschle/Deubert, HGB § 301, in Beck’scher Bilanzkommentar, 9. Aufl. 2014; Frowein/Lüdenbach, Das Sum-of-the-parts-Problem beim Goodwill Impairment-Test, KoR 2003, 261; Frowein/Lüdenbach, Der Goodwill-Impairment-Test aus der Sicht der Bewertungspraxis, FB 2003, 65; Gelhausen/Fey/Kämpfer, Rechnungslegung und Prüfung nach dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, 2009; Grant Thornton, Impairment of Assets. A Guide to Applying IAS 36 in Practice, 2014, S. 28; Gros, Bilanzierung eines „bargain purchase“ nach IFRS 3, DStR 2005, 1955; Haaker, Die Zuordnung des Goodwill auf Cash Generating Units zum Zweck des ImpairmentTests nach IFRS, KoR 2005, 426; Haaker, Einheitstheorie und Fair-Value Orientierung, KoR 2006, 451; Hachmeister/Kunth, Die Bilanzierung des Geschäfts- oder Firmenwerts im Übergang auf IFRS 3, KoR 2005, 62; Hahn, Die Full-Goodwill-Methode nach ED IFRS 3 und Auswirkungen auf den GoodwillImpairment-Test, KoR 2007, 408; Haller, Immaterielle Vermögenswerte – Wesentliche Herausforderung für die Zukunft der Unternehmensrechnung, in Möller/Schmidt (Hrsg.), Rechnungswesen als Instrument für Führungsentscheidungen, 1998, S. 561; Haufe IFRS-Kommentar, 12. Aufl. 2014 (zit. IFRS-Kommentar); Hennrichs, Immaterielle Vermögensgegenstände nach dem Entwurf des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG), DB 2008, 537; Hitz, SFAS 15X, Fair Value Measurements – Zur Fortentwicklung der Fair Value-Konzeption in der kapitalmarktorientierten Rechnungslegung, KoR 2006, 357; Hommel, Bilanzierung von Goodwill und Badwill im internationalen Vergleich, RIW 2001, 801; Hommel, Neue Goodwillbilanzierung das FASB auf dem Weg zur entobjektivierten Bilanz?, BB 2001, 1943; Hornung, Immaterielle Vermögenswerte als Herausforderung der Zeit, in Küting/Weber (Hrsg.), Vom Financial Accounting zum Business Reporting, 2002, S. 13; Huthmann/Hofele, Teilweise Umsetzung der Fair Value Richtlinien in deutsches Recht und Folgen für die handelsrechtliche Bilanzierung, KoR 2005, 181; Jäger/Himmel, Die Fair Value-Bewertung immaterieller Vermögenswerte vor dem Hintergrund der Umsetzung internationaler Rechnungslegungsstandards, BFuP 2003, 417; Jerzembek/Große, Die Fair Value-Option nach IAS 39, KoR 2005, 221; Kasperzak/Nestler, Zur Berücksichtigung des Tax Amortisation Benefit bei der Fair Value-Ermittlung immaterieller Vermögenswerte nach IFRS, DB 2007, 473; Kommission der EG: EU-Fair-Value-Richtlinie, 2000; Kirsch, Berichterstattung nach IAS 1 (rev. 2003) über Ermessensspielräume beim Asset Impairment für operative Vermögenswerte und zahlungsmittelgenerierende Einheiten, KoR 2004, 136 (zit. Berichterstattung nach IAS 1); Kirsch/Koelen/Tinz, Die Berichterstattung der DAX-30-Unternehmen in Bezug auf die Neuregelung des impairment only approach des IASB, KoR 2008, 88; Kley, Die Fair Value-Bilanzierung in der Rechnungslegung nach den International Accounting Standards (IAS), DB 2001, 2257; Klingels,
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Kap. 11
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
Der Impairment-Test einer geschäftswerttragenden Cash Generating Unit, KoR 2006, 276; Kornmaier, Eignung des Income Capitalisation Model zur Fair Value-Ermittlung von Investment Properties nach IAS 40, KoR 2006, 378; KPMG, Guide to Accounting for Business Combinations, 2002 (zit. KPMGGuide); Küting K., Bilanzanalyse am Neuen Markt, in Küting K./Weber (Hrsg.), Vom Financial Accounting zum Business Reporting, 2002, S. 101; Küting K., Der Geschäfts- oder Firmenwert – ein Spielball der Bilanzpolitik in deutschen Konzernen, AG 2000, 97; Küting K., Vom Financial Accounting zum Business Reporting – Eröffnungsrede anlässlich der 6. Fachtagung am 22./23.11.2001 in Frankfurt am Main, in Küting K./Weber (Hrsg.), Vom Financial Accounting zum Business Reporting, 2002, S. 1; Küting K./Elprana/Wirth, Sukzessive Anteilserwerbe in der Konzernrechnungslegung nach IAS 22/ED 3 und dem Business Combinations Project (Phase II), KoR 2003, 477; Küting K./Gattung/Wirth, Zeitpunkt der erstmaligen Aussetzung der planmäßigen Abschreibung des Geschäfts- oder Firmenwertes nach IFRS 3, KoR 2004, 247; Küting K./Ranker, Behandlung von Anschaffungskostenbestandteilen gem. IAS 16.16 lit. c in der Fair Value-Bewertung, KoR 2007, 193; Küting K./Trappmann/Ranker, Gegenüberstellung der Bewertungskonzeption von beizulegendem Wert und Fair Value im Sachanlagevermögen, DB 2007, 1709; Küting K./Weber/Wirth, Die Goodwillbilanzierung im finalisierten Business Combinations Project Phase II, KoR 2008, 139; Küting K./Wirth, Bilanzierung von Unternehmenszusammenschlüssen nach IFRS 3, KoR 2004, 167; Küting K./Wirth, Die Kapitalkonsolidierung im Spiegel der Bilanzwelten HGB – IAS/IFRS – US-GAAP, DStR 2003, 475 und 522; Küting K./Wirth, Goodwillbilanzierung im Near Final Draft zu Business Combination Phase II, KoR 2007, 460; Küting P./Döge/Pfingsten, Neukonzeption der Fair Value-Option nach IAS 39, KoR 2006, 597; Lüdenbach, Zweifelhafter Objektivierungsbeitrag des Fair Value Measurements-Projekts, KoR 2006, 437; Lüdenbach/Freiberg, Günstige und ungünstige Verträge – Bilanzierung schwebender Geschäfte nach IFRS 3, KoR 2005, 188; Lüdenbach/Frowein, Der Goodwill-Impairment-Test aus Sicht der Rechnungslegungspraxis, DB 2003, 217; Lüdenbach/Hoffmann, Gemildertes Fair-Value-Prinzip bei der Bilanzierung von Wertpapiervermögen, DB 2004, 85; Lüdenbach/Hoffmann, Übergangskonsolidierung und Auf- und Abstockung von Mehrheitsbeteiligungen nach ED IAS 27 und ED IFRS 3, DB 2005, 1805; Lüdenbach/Prusaczyk, Bilanzierung von Kundenbeziehungen in der Abgrenzung zu Marken und Goodwill, KoR 2004, 204; Lüdenbach/Schulz, Unternehmensbewertung für Bilanzierungszwecke, WPg 2002, 489; Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, Valuation for Financial Reporting, 2002; Michael, Das Unternehmen als Marke – Das Ansehenskapital von Unternehmen wird wichtiger als ihr Stammkapital, Vortrag zur 16. Veranstaltung der Reihe „Top-Manager stehen Rede und Antwort“ am 4.11.2003, IHK Aachen; Moxter, Immaterielle Anlagewerte im neuen Bilanzrecht, BB 1979, 1102; Olbrich/Brösel, Inkonsistenzen der Zweitwertbilanzierung nach IFRS – Kritik und Abhilfe, DB 2007, 1543; Oser, Der Konzernabschluss nach dem BilMoG mit internationalem Antlitz, PiR 2009, 121; Pawelzik, Latente Steuern auf Goodwilldifferenzen bei der Konsolidierung von Personengesellschaften nach IFRS, KoR 2006, 13; Pellens/Basche/Sellhorn, Full Goodwill Method, KoR 2003, 1; Pellens/Fülbier, Ansätze zur Erfassung immaterieller Werte in der kapitalmarktorientierten Rechnungslegung, in Baetge (Hrsg.), Zur Rechnungslegung nach internationalen Accounting Standards (IAS), 2000, S. 35; Pellens/Sellhorn, Minderheitenproblematik beim Goodwill Impairment Test nach geplanten IFRS und geltenden US-GAAP, DB 2003, 401; Pellens/Sellhorn, Neue Goodwill-Bilanzierung nach US-GAAP, DB 2001, 713; Pellens/Sellhorn/Amshoff, Reform der Konzernbilanzierung – Neufassung von IFRS 3 „Business Combinations“, DB 2005, 1749; Pfaff/Kukule, Wie fair ist der fair value?, KoR 2006, 542; Pfeil/Vater, Neues über Goodwill und immaterielle Werte, ST 2002, 585 und 665; Pfitzer/Dutzi, Fair Value, in Ballwieser u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechnungslegung und Prüfung, 3. Aufl. 2002, Sp. 749 ff.; PriceWaterhouseCoopers, Shedding light on the New Business Combination Rules. A Guide for Dealmakers, 2002 (zit. PWC-Guide); Reimsbach, Der Kapitalisierungszins bei der Fair Value-Ermittlung von immateriellen Vermögenswerten – WACC versus WARA, KoR 2011, 230; A. Schmidt, Immaterielle Vermögenswerte als Werttreiber der Unternehmen, in Küting K./Weber (Hrsg.), Vom Financial Accounting zum Business Reporting, 2002, S. 295; I. Schmidt, Bilanzierung des Goodwills im internationalen Vergleich, 2002; Schneck, Bewertung des Goodwill nach US-GAAP, DSWR 2003, 225; Schubert/ Gadek, Kommentierung zu § 255 HGB, in Beck’scher Bilanzkommentar, 9. Aufl. 2014; Schwedler, Business Combination Phase II – Die neuen Vorschriften zur Bilanzierung von Unternehmenszusammenschlüssen (Teil I), KoR 2008, 125; Schwedler, IASB-Projekte „Business Combinations“ – Überblick und aktuelle Bestandsaufnahme, KoR 2006, 410; Sellhorn, Ansätze zur bilanziellen Behandlung des
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Sahner/Blum
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
Kap. 11
Goodwill im Rahmen einer kapitalmarktorientierten Rechnungslegung, DB 2000, 885; Senger/Brune/ Elprana, § 33 sowie Schulz-Danso, § 25 in Beck’sches IFRS-Handbuch, 4. Aufl. 2013; Stauber/Ketterle, Goodwill-Bilanzierung nach US GAAP, ST 2001, 955; Teitler-Feinberg, Neue Bewertung von Goodwill und anderen immateriellen Aktiven, ST 2001, 331; Theile/Pawelzik, Erfolgswirksamkeit des Anschaffungsvorgangs nach ED 3, WPg 2003, 316; Theile/Pawelzik, Fair Value – Beteiligungsbuchwerte als Grundlage der Erstkonsolidierung nach IAS/IFRS?, KoR 2004, 94; Theile/Pawelzik in Heuser/Theile, IFRS-Handbuch, 5. Aufl. 2012, Rz. 3200–3850; Trömel, Analysten warnen vor der Goodwill-Falle, Handelsblatt v. 19.7.2002, S. 31; Tump/Gross, M&A-Implikationen des neuen FASB Exposure Draft „Business Combinations and Intangible Assets“, MAR 2001, 316; Ulbricht, Goodwill Impairment und Bewertung immaterieller Vermögensgegenstände nach IAS & US-GAAP, in Richter/Timmreck (Hrsg.), Unternehmensbewertung – Moderne Instrumente und Lösungsansätze, 2004, S. 323; Vater, M&A Accounting – Abschaffung des Pooling of Interests?, DB 2001, 1841; Velthuis/Wesner/Schabel, Fair Value und internes Rechnungswesen, KoR 2006, 458; Weber, Intangibles und Steuerung, in Küting/Weber (Hrsg.), Vom Financial Accounting zum Business Reporting, 2002, S. 319; Wendlandt/ Vogler, Bilanzierung von immateriellen Vermögenswerten und Impairment-Test nach Überarbeitung von IAS 36 und IAS 38, KoR 2003, 66; Weniger/Knoll, Bewertung von Bezugsrechten – Vom Verwässerungseffekt zum „fair value“, FB 1999, 81; Wüstemann/Duhr, Geschäftswertbilanzierung nach dem Exposure Draft ED 3 des IASB – Entobjektivierung auf dem Spuren des FASB?, BB 2003, 247; Zeimes/Kühne, Die neue Bilanzierung von Übernahmen, FAZ v. 5.4.2004, S. 20; Zimmermann, Widersprüchliche Signale des DSR zur Goodwillbilanzierung, DB 2002, 385; Zwirner/Busch/Mugler, Kaufpreisallokation und Impairment Test, KoR 2012, 425.
Überblick Gegenstand dieses Beitrags sind die Bewertungsmaßnahmen auf Unternehmensebene in Zusammenhang mit dem Erwerb von Beteiligungen. Dabei kommen die nachfolgenden Bewertungsanlässe zum Tragen: – Wertbeimessung von Beteiligungen nach deren Erwerb auf Ebene des handelsrechtlichen Jahresabschlusses; – Folgebewertungen des Beteiligungsansatzes im handelsrechtlichen Jahresabschluss im Rahmen sog. Werthaltigkeitstests; – Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss nach IFRS sowie – Werthaltigkeitstests im Rahmen der Folgekonsolidierung nach IAS 36. Im Fokus stehen dabei auf Einzelabschlussebene die deutschen handelsrechtlichen Normen sowie auf Konzernabschlussebene die IFRS-Standards. Es werden die bei der Durchführung von Werthaltigkeitstests zu berücksichtigenden Annahmen hinsichtlich des Einbezugs von Synergien, der Steuern der Anteilseigner sowie des Kapitalisierungszinssatzes dargestellt. Zur Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss wird die Durchführung einer Kaufpreisallokation auf die erworbenen Vermögenswerte und Schulden in Grundzügen sowie anhand eines Beispiels präsentiert. Der verbleibende Goodwill ist nach der Impairment only-Konzeption des IAS 36 einer regelmäßigen Überprüfung der Werthaltigkeit zu unterziehen. Hierzu werden die zugrunde liegenden Wertkonzeptionen erläutert und die Durchführung des Impairment Tests anhand eines schematischen Beispiels verdeutlicht.
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Kap. 11 Rz. 11.1
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
A. Grundlegende Regelungen 11.1 In Deutschland rechnungslegungspflichtige Unternehmen haben den Einzelabschluss gemäß den Regelungen der §§ 238 ff. HGB aufzustellen, wobei Kapitalgesellschaften zusätzlich die Normen der §§ 264 ff. HGB zu beachten haben. Die Bewertung von Beteiligungen im handelsrechtlichen Einzelabschluss wird in Abschnitt B. (Rz. 11.3 ff.) dieses Beitrags dargestellt. Die Abbildung von Beteiligungserwerben im Konzernabschluss erfolgt für nach deutschem Recht zur Konzernabschlusserstellung verpflichtete Unternehmen differenziert danach, ob sie am Bilanzstichtag Wertpapiere emittiert haben, die auf einem geregelten Markt eines Mitgliedstaates der EU gehandelt werden. Sofern entsprechende Wertpapiere ausgegeben wurden, haben die betroffenen Unternehmen nach Art. 4 der IAS-VO der Europäischen Union die IFRS-Standards zur Konzernrechnungslegung anzuwenden. Sofern keine diesbezüglichen Wertpapiere emittiert wurden, sind die §§ 290 ff. HGB anzuwenden. Wir zeigen in Abschnitt C. (Rz. 11.9 ff.) exemplarisch die Regelungen nach den IFRS Standards.
11.2 Zwischenzeitlich hat auch der Berufsstand der Wirtschaftsprüfer mit IDW S 5 Grundsätze zur Bewertung immaterieller Vermögenswerte und IDW RS HFA 16 Bewertungen bei der Abbildung von Unternehmenserwerben und bei Werthaltigkeitsprüfungen nach IFRS zu ausgewählten Fragen der Bewertung und Abbildung im Rahmen von Unternehmenserwerben Stellung genommen. Weiterhin ist IDW RS HFA 10 anzuwenden, der die Anwendung der Grundsätze des IDW S 1 bei der Bewertung von Beteiligungen und sonstigen Unternehmensteilen für die Zwecke eines handelsrechtlichen Jahresabschlusses konkretisiert. Weiterhin liegt mit DRS 4 „Unternehmenserwerbe im Konzernabschluss“ ein Standard des Deutschen Rechnungslegungs Standards Committee e.V. vor, der in seiner letzten Aktualisierung zum 18.2.2010 die Änderungen durch das BilMoG berücksichtigt.
B. Wertbeimessung von Beteiligungen nach deren Erwerb auf Ebene des handelsrechtlichen Jahresabschlusses 11.3 Der Wertansatz von Beteiligungen i.S.d. § 271 Abs. 1 HGB erfolgt im handelsrechtlichen Jahresabschluss gem. § 253 Abs. 1 Satz 1 HGB höchstens mit deren Anschaffungskosten. Sollte zum Abschlussstichtag der beizulegende Wert einer Beteiligung niedriger sein, so kann eine außerplanmäßige Abschreibung gem. § 253 Abs. 3 Satz 4 HGB vorgenommen werden. Bei einer voraussichtlich dauernden Wertminderung muss auf den beizulegenden Wert abgeschrieben werden (§ 253 Abs. 3 Satz 3 HGB). Für Anteile im Umlaufvermögen gilt das strenge Niederstwertprinzip (§ 253 Abs. 4 Satz 2 HGB). Wurde ferner eine Beteiligung auf den niedrigeren beizulegenden Wert abgeschrieben und entfallen zu einem späteren Zeitpunkt die Gründe für diese Abschreibung, so ist nach dem Wertaufholungsgebot (§ 253 Abs. 5 Satz 1 HGB) eine Wertaufholung maximal bis zur Höhe der zuvor angesetzten Anschaffungskosten geboten.
11.4 Im Rahmen der Jahresabschlusserstellung ist bei Anzeichen einer Wertminderung der beizulegende Wert zu ermitteln. Das Handelsrecht sieht bei der Ermittlung des beizulegenden Wertes kein bestimmtes Bewertungsverfahren vor.1 In Literatur und Praxis besteht indes
1 Vgl. Dörschell/Schulte, DB 2002, 1669 (1669).
968
Sahner/Blum
B. Wertbeimessung von Beteiligungen nach deren Erwerb
Rz. 11.8 Kap. 11
darüber Einigkeit, dass der beizulegende Wert aus einer Ertragswertberechnung2 abzuleiten ist.3 Anzeichen für eine Wertminderung können sich aus der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Beteiligungsunternehmens, dem Erfolgspotential sowie der Abnahme von Synergieeffekten ergeben.4 Handelt es sich bei der Beteiligung um eine börsennotierte Gesellschaft, so kann grundsätzlich der Börsenkurs (Marktkapitalisierung) am Abschlussstichtag als Ausgangspunkt für die Bestimmung einer dauerhaften Wertminderung herangezogen werden.
11.5
Im Rahmen der Abschlusserstellung hat sich die bilanzierende Gesellschaft ein Urteil über die Angemessenheit des Wertansatzes ihrer Beteiligungen zu bilden. Dies geschieht in der Regel durch Einsicht in die Jahresabschlüsse, Prüfungsberichte und Planzahlen der Beteiligungsunternehmen sowie durch Auskünfte der zu bilanzierenden Gesellschaft.5 Ferner sind weitere Umstände zu berücksichtigen, welche einen Einfluss auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Beteiligungsunternehmen haben wie beispielsweise politische Situation, forcierter Wettbewerb oder die Einführung eines innovativen Produktes durch einen Konkurrenten. Resultiert aus diesen Informationen, dass die Werthaltigkeit eines bilanzierten Beteiligungswertes beeinträchtigt ist, kann bzw. muss die bilanzierende Gesellschaft nach Vergleich des beizulegenden Wertes mit den (fortgeführten) Anschaffungskosten eine außerplanmäßige Abschreibung vornehmen.
11.6
Das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) hat in dem Standard Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1) festgelegt, nach welchen allgemeinen Grundsätzen Unternehmensbewertungen durch Wirtschaftsprüfer vorzunehmen sind. Neben verschiedenen gesetzlichen, insbesondere aktienrechtlichen Bewertungsanlässen nennt der IDW S 1 die Bewertung aus Gründen der externen Rechnungslegung. Der IDW S 1 hält grundsätzlich ein Spektrum von Bewertungsmethoden bereit, welche für die Bewertung von Unternehmen in Frage kommen. Die Bewertungsmethoden unterscheiden sich im Einzelfall sehr deutlich voneinander und sind auf den jeweiligen Bewertungszweck anzupassen.6
11.7
Der Hauptfachausschuss des IDW hat am 29.9.20037 die Stellungnahme zur Rechnungslegung Anwendung der Grundsätze des IDW S 1 bei der Bewertung von Beteiligungen und sonstigen Unternehmensanteilen für Zwecke eines handelsrechtlichen Jahresabschlusses (IDW RS HFA 10)8 verabschiedet. Aufgabe der Stellungnahme ist die Konkretisierung der im IDW S 1 vorgestellten betriebswirtschaftlichen Grundsätze im Hinblick auf die Bewertung von Betei-
11.8
2 Der Berechnung nach Ertragswertverfahren steht die Ermittlung eines Unternehmenswertes nach Discounted Cash Flow-Verfahren gleich. Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 7 und 101; zur Fortentwicklung des IDW S 1 grundsätzlich Wagner/Jonas/Ballwieser/Tschöpel, WPg 2004, 889 ff. 3 Vgl. Kozikowski/Roscher/Schramm in BeckBilKomm., § 253 HGB Rz. 310; Rosenbaum/Gorny, DB 2003, 837. 4 Vgl. WP-Handbuch, Bd. I 2006, S. 2077. 5 Vgl. WP-Handbuch, Bd. I 2006, S. 2076 f. 6 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 17. 7 Redaktionelle Änderung durch den HFA am 4.3.2004 und 18.10.2005; vgl. hierzu WPg 2004, 434, Heft-Nr. 8/2004, WPg 2005, 1322 f., Heft-Nr. 23/2005. 8 Vgl. IDW-FN 2003, 557 ff.
Sahner/Blum 969
Kap. 11 Rz. 11.9
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
ligungen sowie Unternehmensanteilen9 für die Zwecke des handelsrechtlichen Jahresabschlusses.10 Ein aus der Anwendung des IDW S 1 i.V.m. IDW RS HFA 10 ermittelter Unternehmenswert spiegelt die nachhaltig aus dieser Beteiligung resultierenden Nettozuflüsse wider. Übersteigen die fortgeführten Anschaffungskosten diesen Unternehmenswert, ist ein Abwertungsbedarf bei dauerhafter Wertminderung gegeben. Im Folgenden soll die hinter der IDW-Stellungnahme RS HFA 10 stehende Bewertungskonzeption mit deren Konkretisierungen in Bezug auf IDW S 1 vorgestellt werden.
C. Folgebewertungen des Beteiligungsansatzes im handelsrechtlichen Jahresabschluss im Rahmen sog. Werthaltigkeitstests I. Bewertungsanlass 11.9 Der IDW S 1 macht in seinen Grundsätzen deutlich, dass die für die Unternehmensbewertung getroffenen Annahmen auf den konkreten Bewertungsanlass zugeschnitten sein müssen.11 In der Bewertungspraxis dominiert die Ermittlung von objektivierten Unternehmenswerten für einen geplanten Wechsel der Eigentumsrechte.12 Zu diesem Anlass wird ein typisierter Zukunftserfolgswert aus der Perspektive eines inländischen, unbeschränkt steuerpflichtigen Anteilseigners bei Fortführung des Unternehmens in unverändertem Konzept auf Stand-AloneBasis ermittelt.13 Da diese Bewertungskonzeption nicht jeden denkbaren Bewertungsfall zutreffend abbildet, verlangt IDW S 1 jeweils eine auf den Bewertungsanlass abgestimmte, fachgerechte Lösung.14
11.10 Der Standard hält aus diesem Grund in seinen betriebswirtschaftlichen Grundsätzen offen, ob bei der Unternehmensbewertung ein objektivierter Unternehmenswert, subjektiver Entscheidungswert oder ein Einigungswert zu ermitteln ist. Die unterschiedlichen Bewertungsperspektiven gehen mit unterschiedlichen Bewertungskonzeptionen einher.
11.11 Der IDW RS HFA 10 passt die Bewertungsperspektive und die Bewertungskonzeption für die Bewertung von Beteiligungen an den zu regelnden Bewertungsanlass an – die Ermittlung des beizulegenden Beteiligungswertes für das die Beteiligung bilanzierende Unternehmen.15 Dieser Bewertungsanlass fordert, die Bewertungskonzeption aus der Perspektive des bilanzierenden Unternehmens aufzubauen,16 d.h. einen subjektiven Unternehmenswert zu ermitteln, der den Wert der Beteiligung für das bilanzierende Unternehmen zum Abschlussstichtag widerspiegelt17 und nicht den Wert aus Sicht der Anteilseigner des die Beteiligung haltenden Un-
9 Die in der Stellungnahme dargestellten Grundsätze sind auf Unternehmensanteile, die keine Beteiligungen i.S.d. § 271 Abs. 1 HGB sind und für die der Ertragswert heranzuziehen ist, ebenfalls anzuwenden. Vgl. hierzu ebenfalls Kupke/Nestler, BB 2003, 2671. 10 Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 1. 11 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 17. 12 Vgl. Rosenbaum/Gorny, DB 2003, 837. 13 Vgl. Dörschell/Schulte, DB 2002, 1669 (1670); Rosenbaum/Gorny, DB 2003, 837. 14 Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 1. 15 Vgl. Rosenbaum/Gorny, DB 2003, 837 (840); Hayn/Ehsen, FB 2003, 205 (206). 16 Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 8. 17 Vgl. Dörschell/Schulte, DB 2002, 1669 (1674).
970
Sahner/Blum
C. Folgebewertungen des Beteiligungsansatzes
Rz. 11.15 Kap. 11
ternehmens.18 Dies ist nur dann der Fall, wenn die individuellen Renditeerwartungen des bilanzierenden Unternehmens durch die von der Beteiligung ausgehenden Nettozuflüsse befriedigt werden.19 Die Wertermittlung erfolgt hierbei unter der Berücksichtigung der individuellen Pläne und Möglichkeiten des bilanzierenden Unternehmens.20 Ferner ist bei der Berücksichtigung der Gesamtumstände nicht auf typisierte Faktoren abzustellen, sondern auf die speziellen Gegebenheiten des bilanzierenden Unternehmens einzugehen.
II. Berücksichtigung von Unternehmens- und Ertragsteuern Bei der Bewertung von Beteiligungen im Abschluss ist auf die individuellen Verhältnisse des bilanzierenden Unternehmens abzustellen. Dies gilt ebenso für die Behandlung von Unternehmens- und Ertragsteuern, die bei der Wertfindung ihre Berücksichtigung finden müssen. Hierbei sind nach IDW RS HFA 10 drei Ebenen zu unterscheiden:21
11.12
– die Ebene des Beteiligungsunternehmens, – die Ebene des bilanzierenden Unternehmens, – die Ebene der Anteilseigner des bilanzierenden Unternehmens. Bei der Bewertung der Nettozuflüsse aus einer Investition in Form einer Beteiligung sind auf der Ebene des Beteiligungsunternehmens die tatsächlich anfallenden Unternehmenssteuern (Gewerbeertragsteuer und Körperschaftsteuer) zu berücksichtigen, die aufgrund der Besteuerung des Einkommens und Ertrags bei dem Beteiligungsunternehmen anfallen. Hierbei ist speziell auf die konkreten steuerlichen Verhältnisse des Unternehmens abzustellen,22 d.h. Verlustvorträge, Organschaften etc. sind bei der Ermittlung der aus der Beteiligung resultierenden Nettozuflüsse heranzuziehen.
11.13
Auf der Ebene des bilanzierenden Unternehmens sind die Unternehmenssteuern sowie Steuereinsparungen bei der Bewertung der Nettozuflüsse zu berücksichtigen, die der Beteiligung wirtschaftlich zuzurechnen sind.23 Nach § 8b KStG gelten 5 % der Beteiligungserträge als nicht abzugsfähige Betriebsausgaben.24 Neben diesen der Beteiligung wirtschaftlich zuzurechnenden Steuern können sich beispielsweise auch solche aus der Besteuerung von Beteiligungserträgen im Ausland ansässiger Unternehmen ergeben. Aufgrund der Heterogenität von Beteiligungsstrukturen vieler international tätiger Unternehmen wird es sich in der Praxis vereinfachend anbieten, die Steuern auf die vom Beteiligungsunternehmen prognostizierten Ergebnisse vor Steuern mittels Konzernsteuersatz, welcher üblicherweise auch Effekte wie steuerliche Verlustvorträge berücksichtigt, neu zu berechnen.25
11.14
Einstweilen frei.
11.15
18 19 20 21 22 23 24 25
Vgl. Hayn/Ehsen, FB 2003, 205 (206). Vgl. Rosenbaum/Gorny, DB 2003, 837 (840). Vgl. Rosenbaum/Gorny, DB 2003, 837. Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 8. Vgl. Kupke/Nestler, BB 2003, 2671 (2673). Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 8; Rosenbaum/Gorny, DB 2003, 837 (838). Vgl. Dötsch/Pung, DB 2004, 151 (154). Vgl. auch zu den steuerlichen Konsequenzen verschiedener Erwerbsmodelle Thies/Ziegelmaier in Richter/Timmreck (Hrsg.), S. 303 ff.
Sahner/Blum 971
Kap. 11 Rz. 11.16
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
11.16 Die nachfolgende Tabelle gibt eine Übersicht über die Berücksichtigung von Ertragsteuern für den maßgeblichen Nettozufluss nach IDW RS HFA 10: Ebene
Berechnung Nettozufluss gemäß IDW RS HFA 10
Alternative Berechnung Nettozufluss
Beteiligungsebene
Ergebnis vor Steuern Ergebnis vor Steuern Steuern des beteiligten Unternehmens Ergebnis nach Steuern
Ebene der bilanzierenden Gesellschaft
Vereinfachte SteuerberechZuordenbare Unternehmenssteuern der bilanzierenden Gesellschaft nung mittels Konzernsteuersatz Nettozufluss aus BeteiNettozufluss aus Beteiligung ligung
Ebene der Anteilseigner
Keine Berücksichtigung von persönlichen Ertragsteuern
Keine Berücksichtigung von persönlichen Ertragsteuern
11.17 Entsprechend der Behandlung von Ertragsteuern für den maßgeblichen Nettozufluss ergibt sich für die Berücksichtigung von Ertragsteuern bei dem aus Sicht des bilanzierenden Unternehmens zu ermittelnden Kapitalisierungszinssatz Folgendes: Nach IDW RS HFA 10 ist die Unternehmensteuerbelastung zu erfassen, die der zu bewertenden Beteiligung aus Sicht der bilanzierenden Gesellschaft wirtschaftlich zuzurechnen ist.26 Konkret soll somit der Ertragsteuerbelastung des bilanzierenden Unternehmens Rechnung getragen werden, die auf die zugrunde gelegte Alternativanlage entfällt.27 Im Falle eines Aktienportefeuilles als Alternativanlage würde hier in der Regel – im Gegensatz zu einer Alternativanlage in ein festverzinsliches Wertpapier – die gleiche Besteuerung anfallen wie im Falle der Anlage in das zu bewertende Unternehmen. Daher sind auch hier lediglich Unternehmensteuern zu berücksichtigen. Diese sind in den aus Kapitalmarktdaten erhobenen Parametern bereits berücksichtigt. Andererseits ist die Ertragsteuerbelastung der Anteilseigner des bilanzierenden Unternehmens nicht zu berücksichtigen.28
III. Berücksichtigung von Synergieeffekten 11.18 Die Berücksichtigung von Synergien hängt bei der Unternehmenswertermittlung nach IDW S 1 von der zugrunde liegenden Bewertungskonzeption ab. Der IDW S 1 unterscheidet hierbei echte und unechte Synergieeffekte. Bei der Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes sind lediglich unechte Synergien zu berücksichtigen. Diese werden dadurch charakterisiert, dass die aus diesen Synergien resultierenden Effekte mit einer Vielzahl von Partnern erzielbar sind, ohne hierbei die Auswirkungen aus dem Bewertungsanlass zu berücksichtigen.29 Ferner ist die Einleitung oder Dokumentation der synergiestiftenden Maßnahmen im Unternehmenskonzept zum Bewertungsstichtag maßgeblich.30 26 27 28 29 30
Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 8. Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 9. Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 8. Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 34. Vgl. Hayn/Ehsen, FB 2003, 205 (210).
972
Sahner/Blum
C. Folgebewertungen des Beteiligungsansatzes
Rz. 11.22 Kap. 11
Im Gegensatz zu den unechten schließen die echten Synergien auch die Effekte mit ein, welche einerseits auf zum Bewertungsstichtag noch nicht eingeleitete Maßnahmen in Folgeperioden beruhen und andererseits auf den durch den Bewertungsanlass zugeschnittenen Partner entfallen. Sie werden nach IDW S 1 bei der Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes nicht berücksichtigt, bei der Ermittlung eines subjektiven Entscheidungswertes fließen diese jedoch mit ein.31 Daher sind grundsätzlich bei der Bewertung der Beteiligung in den auf den Erwerb folgenden Jahren sowohl echte als auch unechte Synergieeffekte zu berücksichtigen.
11.19
Bei der erstmaligen Bilanzierung einer Beteiligung fließen im Zeitpunkt der Anschaffung die bezahlten echten und unechten Synergien in den Beteiligungsansatz über die Aktivierung der Anschaffungskosten ein.32 Diese Synergien können auf unterschiedlichen Ebenen des Konzerns realisiert werden, beispielsweise über einen bei einer Konzerngesellschaft organisierten zentralen Einkauf von Rohstoffen.
11.20
Bei der Bewertung in den Folgejahren ist hingegen die Berücksichtigung von Synergievorteilen aus einem übergeordneten Konzernverbund ausgeschlossen.33 Es sind nur solche Synergien zu berücksichtigen, welche bis zur Ebene des bilanzierenden Unternehmens und seiner Tochterunternehmen (TU, einschließlich der zu bewertenden Beteiligung [BU]) zu realisieren sind.34 Synergieeffekte bei der Muttergesellschaft (MU) sowie bei Schwestergesellschaften (SU) der bilanzierenden Unternehmen sind nicht zu berücksichtigen.35 Die handelsrechtliche Bewertung erfolgt nach IDW RS HFA 10 insbesondere zur Ermittlung eines Schuldendeckungspotentials36 und somit zum Zwecke des Gläubigerschutzes. Aus diesem Grund dürfen bei der Bewertung keine Einflüsse berücksichtigt werden, welche nicht auf der Ebene des bilanzierenden Unternehmens realisierbar sind. Die Verbundeffekte, die zwischen dem bilanzierenden Unternehmen und dessen Tochtergesellschaften realisierbar sind, sind hierbei grundsätzlich für die Ermittlung des oben genannten Schuldendeckungspotentials geeignet.
11.21
Die nachfolgende Abbildung veranschaulicht, dass nur die auf Ebenen innerhalb des gekennzeichneten Bereichs entstehenden Synergien in die Beteiligungsbewertung mit einfließen dürfen, s. Abb. 1 S. 974. Es kann beispielsweise sein, dass der Unternehmenswert des Beteiligungsunternehmens (BU) nicht ausreicht, um den Beteiligungsbuchwert bei der bilanzierenden Gesellschaft zu decken. Dies kann immer dann der Fall sein, wenn z.B. auf Ebene der bilanzierenden Gesellschaft (gekennzeichneter Bereich) anfallende Synergieeffekte unberücksichtigt bleiben mussten. Bezieht man diese Synergien mit in die Bewertung ein, so übersteigt der Unternehmenswert des Beteiligungsunternehmens gegebenenfalls dessen Beteiligungsbuchwert. Erkenntlich kann somit die Höhe des Beteiligungswertes davon abhängig sein, auf welcher Konzernstufe die Beteiligung aktiviert wird bzw. auf welcher Konzernstufe sich die Synergieeffekte realisieren lassen.37 31 32 33 34
Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 50. Vgl. Lüdenbach/Schulz, WPg 2002, 489. Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 6. Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 6; Dörschell/Schulte, DB 2002, 1669 (1674); Kupke/Nestler, BB 2003, 2671 (2672). 35 Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 6. 36 Vgl. Kupke/Nestler, BB 2003, 2671 (2672). 37 Vgl. Hayn/Ehsen, FB 2003, 205 (211).
Sahner/Blum 973
11.22
Kap. 11 Rz. 11.23
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
Bilanzierendes Unternehmen
Anteilseigner IDW S1
Bewertungsobjekt: Beteiligung
IDW RS HFA 10 Ausschüttung
Persönliche Einkommensteuer
Beteiligung zurechenbare Unternehmenssteuern
Euro Gewerbesteuer Körperschaftsteuer
Euro Fiskus
Abb. 1: Synergiebereich bei Folgebewertungen
11.23 Es stellt sich die Frage nach der Behandlung des Teils eines Kaufpreises, der für von der bilanzierenden Gesellschaft nicht realisierbare Synergieeffekte gezahlt worden ist. IDW RS HFA 10 zeigt hier drei alternative Wege auf:38 – Bei Anwendung der für den faktischen Konzern geltenden aktienrechtlichen Vorschriften kann im Zeitpunkt des Beteiligungserwerbs neben der Beteiligung eine Forderung auf Nachteilsausgleich gem. § 311 Abs. 2 AktG zu aktivieren sein – und zwar genau in der Höhe des Anteils am gezahlten Kaufpreis, der nicht den auf der Ebene der bilanzierenden Gesellschaft realisierbaren Synergieeffekten zuzurechnen ist. Die Darstellung der Wertminderung der Beteiligung sowie die gleichzeitige Aktivierung einer Forderung auf Nachteilsausgleich kommt einem Aktivtausch gleich. – Bei Vorliegen eines Ergebnisabführungsvertrages (Vertragskonzern) führt die in diesem Fall notwendige außerplanmäßige Abschreibung der Beteiligung zu einer entsprechend geringeren Gewinnabführung bzw. zu einem erhöhten Verlustausgleich durch die Muttergesellschaft. – Letztendlich kann in vorliegender Situation bei nicht durch faktische bzw. Vertragsverhältnisse geprägte Konzernverhältnisse auch eine Entnahme der Gesellschafter vorliegen.39
IV. Bestimmung der Alternativanlage für den Kapitalisierungszinssatz 11.24 IDW S 1 unterstellt als im Kapitalisierungszinssatz repräsentierte Alternativanlage regelmäßig eine risikofreie Anlage am Kapitalmarkt (Basiszinssatz), die um eine Risikoprämie adjustiert wird.40 Nach IDW S 1 kommen als Ausgangsgröße für die Bestimmung von Alternativrenditen insbesondere Kapitalmarktrenditen für Unternehmensbeteiligungen (in Form eines Aktienportfolios) in Betracht,41 wobei sich diese grundsätzlich in einen Basiszinssatz und eine von
38 39 40 41
Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 7; Kupke/Nestler, BB 2003, 2671 (2672). Vgl. Kupke/Nestler, BB 2003, 2671 (2672). Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 93, 114. Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 93, 115.
974
Sahner/Blum
C. Folgebewertungen des Beteiligungsansatzes
Rz. 11.27 Kap. 11
den Beteiligungen aufgrund der Übernahme unternehmerischen Risikos geforderten Risikoprämie zerlegen lassen.42 Beim Basiszinssatz wird grundsätzlich auf die langfristig erzielbare Rendite öffentlicher Anleihen abgestellt.43 Dieser Basiszinssatz ist um einen Risikozuschlag zu erhöhen,44 der das Risiko des unternehmerischen Engagements und den unsicheren zeitlichen Verlauf der Zahlungsströme berücksichtigt. Eine marktgestützte Ermittlung des Risikozuschlags kann insbesondere nach den Grundsätzen des Kapitalmarktpreisbildungsmodells (Capital Asset Pricing Model) vorgenommen werden.45
11.25
Wenn nun für die Bilanzansatzprüfung die Unternehmensbewertung einer Beteiligung grundsätzlich aus der Perspektive der die Beteiligung haltenden Gesellschaft zu erfolgen hat, so müsste sich dieser Grundgedanke nicht nur, wie ausgeführt, bei den Themen Abzug von Ertragsteuern (vgl. Rz. 11.12 ff.) und Synergien (vgl. Rz. 11.18) wieder finden, sondern auch bei der Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes, d.h. hier bei der Festlegung der Alternativanlage. IDW ERS HFA 10 geht auf das Thema der Alternativanlage jedoch nicht weiter ein.46
11.26
IDW RS HFA 10 fordert die Ermittlung des Kapitalisierungssatzes anhand der Rendite einer risikoadäquaten Alternativanlage. Aus der Perspektive einer Beteiligungen haltenden Gesellschaft könnte ein Aktienportfolio eine sachgerechte Alternativanlage darstellen.
11.27
Diese Alternativanlage hätte im Übrigen den Nebeneffekt, die Widersprüchlichkeit der Ermittlung des Basiszinssatzes aus einer Anlage in (quasi-)risikofreien Kapitalmarktpapieren und des Risikozuschlags zum Basiszinssatz auf der Grundlage des CAPM aus Kapitalmarktdaten risikotragender Anlagen47 aufzuheben. Andererseits erlaubt die Formulierung „risikoadäquate Alternativanlage“ auch eine andere Interpretation. Grundsätzlich ist durch die Formulierung „risikoadäquate Alternativanlage“ die konkrete Alternative nicht erkennbar. Auch der in IDW S 1 geforderte Basiszins, ermittelt aus finanziellen Überschüssen (quasi-)risikofreier Anlagen am Kapitalmarkt,48 soll nach Adjustierung um den Risikozuschlag49 eine „risikoadäquate Alternativanlage“ widergeben.50 Diese Interpretation dürfte grundsätzlich IDW RS HFA 10 zugrunde liegen. Sie hat sicherlich den Vorteil der Objektivierbarkeit51 und Nachprüfbarkeit52: Die für den Zweck des handelsrechtlichen Jahresabschlusses gebotene Objektivierbarkeit des Wertansatzes erlaubt nicht die Berücksichtigung der vom Investor individuell und rein subjektiv bestimmter Renditeerwar-
42 43 44 45 46 47 48 49 50
Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 115. Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 116. Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 85 ff. Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 92, 118. Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 9. Vgl. Künnemann in Börsig/Coenenberg (Hrsg.), S. 165. Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 93, 115 ff. Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 85 ff. Vgl. auch die Eckdaten zur Bestimmung des Kapitalisierungszinssatzes im Rahmen der Unternehmensbewertung des AKU, IDW-FN 2005, 70. 51 Vgl. Ballwieser, Unternehmensbewertung und Komplexitätsreduktion, S. 171; Künnemann in Börsig/Coenenberg (Hrsg.), S. 164; Wagner/Jonas/Ballwieser/Tschöpel, WPg 2004, 889 (891). 52 Vgl. Ballwieser, WPg 2002, 736 (741); Künnemann in Börsig/Coenenberg (Hrsg.), S. 164.
Sahner/Blum 975
Kap. 11 Rz. 11.28
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
tungen.53 Ermittlungsprobleme, wie z.B. Zusammensetzung des Aktienportfolios, Referenzzeitraum, Marktvolatilität und sonstige subjektive Einschätzungen54 werden vermieden. Im Ergebnis wird man festhalten müssen, dass IDW S 1 und IDW RS HFA 10 in diesem Punkt letztendlich nicht voneinander abweichen.
V. Bewertung unter Veräußerungsgesichtspunkten 11.28 Ist eine im Abschluss bilanzierte Beteiligung zur Veräußerung vorgesehen, so ist nach IDW RS HFA 10 die Beteiligung unter speziellen Veräußerungsgesichtspunkten zu bewerten. Die Werthaltigkeit des Beteiligungsansatzes ist nicht mehr abhängig von den Renditeerwartungen des bilanzierenden Unternehmens, sondern von der Beantwortung der Frage, ob der Veräußerungserlös ausreicht, den bilanzierten Beteiligungsbuchwert zu decken. Die Beteiligungsbewertung hat somit aus der Perspektive eines potentiellen Erwerbers zu erfolgen. Der Wert einer Beteiligung ist für diesen durch den Barwert der ihm aus der Investition zukommenden Nettozuflüsse bestimmt. Hierbei sind die Grundsätze für die Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes gemäß IDW S 1 maßgeblich.
11.29 Somit ist grundsätzlich der Abzug der persönlichen Ertragsteuern des potentiellen Erwerbers bei der Ermittlung der Nettozuflüsse vorzunehmen.55 Nach dem Äquivalenzprinzip sind dann auch bei der Ermittlung des Kapitalisierungszinssatzes die Ertragsteuern eines potentiellen unbeschränkt steuerpflichtigen Inländers anzusetzen. Nach IDW S 1 i.d.F. 2008 ist hingegen im Rahmen einer Unternehmensveräußerung eine mittelbare Typisierung als sachgerecht anzusehen, die davon ausgeht, dass im Bewertungsfall die persönliche Ertragsteuerbelastung der Nettozuflüsse aus dem zu bewertenden Unternehmen der persönlichen Ertragsteuerbelastung der Alternativinvestition in ein Aktienportfolio entspricht. Folglich könne auf eine unmittelbare Berücksichtigung persönlicher Steuern bei den finanziellen Überschüssen und dem Kapitalisierungszinssatz verzichtet werden.56
11.30 Des Weiteren ist die Berücksichtigung von echten Synergien, die auf der Ebene des bilanzierenden Unternehmens realisierbar sind, bei der Beteiligungsbewertung unter Veräußerungsgesichtspunkten nicht möglich, da diese für einen potentiellen Erwerber nicht nutzbar sind.57 Für die oben angesprochenen Synergien (Verbesserung der Einkaufskonditionen) müssten daher bei der Bewertung Anpassungen vorgenommen werden. Diese Anpassung wird in der Korrektur des EBT um den nachhaltigen Synergieeffekt „Verbesserung der Einkaufskonditionen“ münden.
11.31 Die Tatsache, dass eine Beteiligung zur Veräußerung vorgesehen ist, bewirkt somit wiederum eine Verschiebung der Bewertungsperspektive und damit zusammenhängend eine erneute Änderung der Bewertungskonzeption. Der beizulegende Wert einer Beteiligung unter Veräußerungsgesichtspunkten kann sich zum Abschlussstichtag anstatt durch den Ertragswert auch durch ein verbindliches Kaufpreisangebot bestimmen.58 Dies ist aus Bewertungssicht
53 54 55 56 57 58
Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 9. Vgl. auch Ballwieser, WPg 2002, 736 (739 ff.). Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 12. Vgl. IDW S 1 i.d.F. 2008, Rz. 45. Vgl. IDW RS HFA 10, Rz. 11. Vgl. Kupke/Nestler, BB 2003, 2671 (2674).
976
Sahner/Blum
C. Folgebewertungen des Beteiligungsansatzes
Rz. 11.32 Kap. 11
der eindeutigste Fall.59 Liegt ein verbindliches Kaufpreisangebot vor, ist dieses als beizulegender Wert anstelle des objektivierten Unternehmenswertes bei der Beteiligungsbewertung zu berücksichtigen. Für den Fall, dass der beizulegende Wert niedriger ist als der Buchwert, muss eine entsprechende Abschreibung auf den beizulegenden Wert vorgenommen werden, da die Beteiligung bei Vorlage einer Veräußerungsabsicht gem. § 247 Abs. 2 HGB unter dem Umlaufvermögen auszuweisen ist, für welches das strenge Niederstwertprinzip gilt. Von einem verbindlichen Kaufpreisangebot ist aus handelsrechtlicher Sicht dann auszugehen, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit60 feststeht, dass der Kauf auch zustande kommt. Ein zum Bewertungsstichtag unter Vorbehalt abgegebenes Kaufpreisangebot kann, sofern die Transaktion noch vor Fertigstellung des Jahresabschlusses vollzogen wird, in den beizulegenden Wert einer Beteiligung zum Abschlussstichtag eingehen.61
VI. Ergebnis Mit Verabschiedung des IDW RS HFA 10 hat das Institut der Wirtschaftsprüfer einen Leitfa- 11.32 den zur Anwendung des IDW S 1 bei der Bewertung von Beteiligungen zum Zwecke des handelsrechtlichen Jahresabschlusses gegeben. Die im handelsrechtlichen Abschluss gebotene Objektivierbarkeit und Nachprüfbarkeit des Wertansatzes der Beteiligungen forderte klare Richtlinien zur Bewertung. Da der IDW S 1 den Bewertungszweck handelsrechtlicher Wertansatz als Anwendungsfall ausdrücklich nannte, wurde die Anwendung des IDW S 1 unter Vorgabe der Bewertungskonzeption durch den IDW RS HFA 10 geboren. Bei der Ermittlung des beizulegenden Wertes der Beteiligung zum Abschlussstichtag sind im Rahmen der Unternehmenswertermittlung unter Berücksichtigung des IDW RS HFA 10 im Speziellen und des IDW S 1 im Allgemeinen bestimmte Vorgaben im Bereich der Synergien und Steuern zu beachten. Synergien dürfen nur bei der Bewertung Berücksichtigung finden, insoweit diese auf der Ebene des bilanzierenden Unternehmens und deren Tochtergesellschaften entstehen. Synergien, die aus Sicht des bilanzierenden Unternehmens mit einer Mutteroder Schwestergesellschaft erzielbar sind, dürfen nicht berücksichtigt werden. Im Rahmen der Bewertung sind Unternehmenssteuern der zu bewertenden Beteiligung sowie die Steuern auf Ebene des bilanzierenden Unternehmens, die der Beteiligung wirtschaftlich zuzurechnen sind, zu berücksichtigen. Unternehmenswertermittlungen nach IDW RS HFA 10 werden in der Regel zu einem niedrigeren Unternehmenswert im Vergleich zu Ermittlungen nach IDW S 1 i.S. einer objektivierten Unternehmensbewertung führen. Hierbei bleibt jedoch noch zu erwähnen, dass zwar durch die Änderung der Bewertungsperspektive und damit der Steueransprüche eine Verminderung des Unternehmenswertes durch die Sicht des bilanzierenden Unternehmens eintritt, die Berücksichtigung von unechten Synergien auf Ebene des bilanzierenden Unternehmens wiederum eine gegenläufige Wirkung erzielt. Diese Bewertungskonzeption ist nach IDW RS HFA 10 nicht anzuwenden, insofern die zu bewertende Beteiligung unter Veräußerungsgesichtspunkten zu bilanzieren ist. Ist dies der Fall, so sind die Grundsätze des IDW S 1 zur Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes anzuwenden. Eine weitere Konkretisierung des IDW S 1 nimmt der IDW RS HFA 10 nicht vor.
59 Vgl. Hayn/Ehsen, FB 2003, 205 (207). 60 Vgl. Hayn/Ehsen, FB 2003, 205 (207). 61 Vgl. Hayn/Ehsen, FB 2003, 205 (207).
Sahner/Blum 977
Kap. 11 Rz. 11.33
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
Für den Fall, dass der gezahlte Kaufpreis Synergien enthält, die auf der Ebene des bilanzierenden Unternehmens nicht realisierbar sind, hält der IDW RS HFA 10 drei Lösungsvorschläge bereit (vgl. Rz. 11.23). Die unterschiedlichen Sichtweisen von IDW S 1, Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes aus Sicht eines inländischen, unbeschränkt steuerpflichtigen Anteilseigners, und IDW RS HFA 10, Ermittlung des beizulegenden Wertes einer Beteiligung zum Abschlussstichtag aus Sicht des bilanzierenden Unternehmens, werden in folgender Abbildung hinsichtlich des Themas Steuern noch einmal verdeutlicht:
Bilanzierendes Unternehmen
Anteilseigner IDW S1
Bewertungsobjekt: Beteiligung
IDW RS HFA 10 Ausschüttung
Persönliche Einkommensteuer
Beteiligung zurechenbare Unternehmenssteuern
Euro Gewerbesteuer Körperschaftsteuer
Euro Fiskus
Abb. 2: Berücksichtigung von Steuern auf den unterschiedlichen Beteiligungsebenen
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss nach IFRS I. Vorbemerkung 11.33 Mit der Einführung von SFAS 141 „Business Combinations“ und SFAS 142 „Goodwill and Other Intangible Assets“ im Sommer 2001 hat das Financial Accounting Standards Board (FASB) neue Vorschriften zur Bilanzierung von bestimmten Beteiligungen, zur Behandlung des Firmenwertes und anderer immaterieller Vermögenswerte verabschiedet. Die Literatur sprach von einem Paradigmenwechsel62 oder einer neuen Ära der Rechnungslegung.63
11.34 Der im Februar 2001 veröffentlichte revidierte Entwurf „Business Combinations and Intangible Assets – Accounting for Goodwill“ (2001 Exposure Draft) beinhaltet erstmals die Festlegung, dass ein Goodwill nicht mehr planmäßig abzuschreiben sei, vielmehr regelmäßig ein Werthaltigkeitstest durchzuführen sei.64 Nach Umsetzung weiterer Kommentare entschied das FASB, die relevanten Rechnungslegungsgrundsätze in zwei endgültigen Dokumenten nie-
62 Vgl. Alvarez/Biberacher, BB 2002, 346 (346); Kümpel, Der Betriebswirt 2002, 15 (20); Küting/ Wirth, KoR 2004, 167 (177). 63 Vgl. Eberle, ST 2002, 184 (199). 64 Vgl. SFAS 141, Rz. B 15.
978
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.35 Kap. 11
derzulegen. Hieraus resultieren die verabschiedeten Fassungen SFAS 141 „Business Combinations“ und SFAS 142 „Goodwill and Other Intangible Assets“. SFAS 141 und SFAS 142 ersetzen nunmehr APB Opinion No. 16 und No. 17.65 Mit der Verabschiedung hat das FASB das „Business Combinations Project“ in wesentlichen Teilen abgeschlossen.66 Um eine Akzeptanz der IFRS auch in den USA zu erreichen, startete das IASB das Projekt „Business Combinations“, wobei eine Konvergenz mit den US-GAAP angestrebt wurde.67 Im Rahmen der ersten Projektphase, die 2004 abgeschlossen werden konnte, wurde eine generelle Anwendung der Erwerbsmethode sowie die Abschaffung der planmäßigen Abschreibung des Goodwill und weiterer immaterieller Vermögenswerte mit unbestimmter Nutzungsdauer beschlossen.68 Die zweite Projektphase, die als Gemeinschaftsprojekt mit dem FASB durchgeführt wurde, sah insbesondere die Aktivierung des auf die Minderheitsgesellschafter entfallenden Anteils am Goodwill (Full Goodwill-Methode) vor. Diese Methode entspricht der Einheitstheorie der Konzernbilanzierung, wonach auch die Anteile der Minderheitsgesellschafter als Teil des Eigenkapitals des Konzerns zu zeigen sind.69 Schließlich wurde am 10.1.2008 der finale Standard IFRS 3 verabschiedet, der verpflichtend auf Unternehmenszusammenschlüsse, die in Geschäftsjahren, die nach dem 30.6.2009 beginnen, umgesetzt werden, anzuwenden ist. Damit wurde die zweite Phase des Konvergenzprojekts zu den US-GAAP abgeschlossen. Die ursprünglich beabsichtigte vollständige Konvergenz mit den US-GAAP wurde allerdings nicht erreicht, weil die nach den US-GAAP obligatorische Full Goodwill-Methode in IFRS 3 nur als Wahlrecht verankert wurde, wohingegen sie nach dem US-GAAP Standard ASC 805 (vormals SFAS 141) verpflichtend anzuwenden ist.70 Am 3.4.2009 trat das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG) in Kraft. Für nach dem 1.1.2010 beginnende Geschäftsjahre sind danach die Änderungen zur Kapitalerstkonsolidierung nach § 301 HGB zu beachten. Danach entfallen die zuvor anwendbare Interessenzusammenführungsmethode nach § 302 HGB a.F. sowie die Anwendung der Buchwertmethode nach § 301 Abs. 1 HGB a.F. zugunsten der ausschließlichen Anwendung der Neubewertungsmethode im Rahmen der Purchase-Methode.71 Dies bedeutet, dass nunmehr für Unternehmenszusammenschlüsse nach deutschem Bilanzrecht eine Purchase Price Allocation durchzuführen ist, die eine Neubewertung der erworbenen Vermögensgegenstände und Schulden des Tochterunternehmens umfasst. Allerdings konnte sich der deutsche Gesetzgeber weder zur Anwendung der Full-Goodwill-Methode noch dem Impairment-Only-Approach im Rahmen der Folgekonsolidierung durchringen. Vielmehr verbleibt es bei dem Ansatz des Goodwill, soweit er auf den Mehrheitsgesellschafter entfällt, sowie bei der planmäßigen Abschreibung des Goodwill in den Folgejahren entsprechend der voraussichtlichen Nutzungsdauer des Goodwill. Das Wahlrecht zwischen der Abschreibung von mindestens einem Viertel pro Jahr,
65 66 67 68 69 70 71
Vgl. SFAS 141, Rz. B 16. Vgl. Hitz/Kuhner, WPg 2002, 273. K. Schwedler, KoR 2006, 410 ff. Theile/Pawelzik in Heuser/Theile, IFRS-Handbuch, Rz. 3200. Küting/Weber/Wirth, KoR 2008, 139. Theile/Pawelzik in Heuser/Theile, IFRS-Handbuch, Rz. 3200. Zur Anwendung der Interessenzusammenführungsmethode bedurfte es allerdings der kumulativen Erfüllung dreier Voraussetzungen, vgl. hierfür § 302 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB a.F. In der Praxis galt die Interessenzusammenführungsmethode in der Vergangenheit ohnehin als weitgehend bedeutungslos.
Sahner/Blum 979
11.35
Kap. 11 Rz. 11.36
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
der planmäßigen Abschreibung und der offenen Verrechnung mit den Rücklagen72 ist damit aufgehoben.
11.36 Unternehmenszusammenschlüsse („business combinations“) im Sinne des IFRS 3 sind alle Arten von Beteiligungsakquisitionen, welche über einen Asset- oder Share-Deal realisiert werden. Wichtige Voraussetzung ist allerdings, dass der Erwerber die Kontrolle über das akquirierte Unternehmen erlangt (Control-Kriterium).73
11.37 Neben der Bestimmung des erwerbenden Unternehmens („Identifying the Acquiring Entity“)74 und der Ermittlung des Kaufpreises („Determining the Cost of the Acquired Entity“)75 stellt bei der Anwendung der „purchase-method“ die Bewertung der akquirierten Vermögenswerte und Schulden die eigentliche zentrale Aufgabe dar. Mit der Anwendung des IFRS 3 haben die Methoden der Unternehmensbewertung im Rahmen von Unternehmensakquisitionen an Bedeutung gewonnen. Die Beurteilung der Werthaltigkeit des Goodwill und der immateriellen Vermögenswerte mit unbestimmter Nutzungsdauer erfolgt ebenfalls auf Basis von Ertragsbewertungen.76 Sie gewinnt aufgrund des Impairment-Only-Approachs zusätzliche Bedeutung, da der Werthaltigkeitstest grundsätzlich jährlich durchzuführen ist.
11.38 Die bilanzpolitischen Chancen, aber auch die erheblichen Risiken, die die Allokation des Kaufpreises auf die Vermögenswerte und die Verbindlichkeiten mit sich bringen, gilt es schon im Vorfeld eines Unternehmenserwerbes zu erfassen. Dies erfolgt zweckmäßigerweise im Rahmen einer sog. Pre-Deal-Purchase Price Allocation77 im Rahmen des Akquisitionsprozesses. Dabei können die zu erwerbenden Vermögenswerte und Schulden näherungsweise, z.B. durch Verwendung der von im Rahmen der Financial Due Diligence erlangten Analyseergebnisse, identifiziert und bewertet werden.78 Die folgenden Darstellungen sollen die wesentlichen Regelungen im Rahmen von Unternehmenszusammenschlüssen (business combinations) und deren Auswirkungen auf die Bewertung von Beteiligungen aufzeigen.
II. Bilanzierung von Business Combinations nach IFRS 3 im Konzernabschluss 1. Anwendung der Purchase-method
11.39 Im Rahmen von Unternehmenszusammenschlüssen (Business Combinations) im Sinne von IFRS 3 ist ausschließlich die Erwerbsmethode (Purchase-method) anzuwenden.79
11.40 Ein Unternehmenszusammenschluss zeichnet sich dadurch aus, dass nicht bloß einzelne Vermögenswerte und Schulden erworben wurden, vielmehr muss es sich bei der Sachgesamtheit
72 73 74 75 76 77 78
Vgl. § 309 Abs. 1 HGB a.F. Vgl. IFRS 3, Rz. 4. Vgl. IFRS 3, Rz. 17 ff. Vgl. IFRS 3, Rz. 24 ff. Vgl. IAS 36. In der Literatur teilweise auch als indikative Kaufpreisallokation bezeichnet. Um einen Überblick der Aufgaben und Methoden einer Pre-Deal-Purchase Price Allocation zu erlangen, vgl. Zülch/Wünsch, KoR 2008, 468–473. 79 Zu den Besonderheiten im Rahmen von sukzessiven Anteilserwerben gemäß IAS/IFRS vgl. Küting/Elprana/Wirth, KoR 2003, 477 ff.
980
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.42 Kap. 11
der erworbenen Vermögenswerte und Schulden um einen Geschäftsbetrieb handeln.80 Damit ein solcher Geschäftsbetrieb vorliegt, müssen die nachfolgenden Voraussetzungen erfüllt sein:81 – Ressourceneinsatz: Zur Leistungserbringung eingesetzte Ressourcen können langfristige Anlagegüter, geistiges Eigentum (Patente) oder der Zugriff auf Materialien sein. – Verfahren: Dabei handelt es sich um alle Systeme, Standards, Protokolle, Konventionen und Regeln, die bei Anwendung auf einen Ressourceneinsatz Leistungen erzeugen oder erzeugen können. – Leistung: Sie stellt das Ergebnis von Ressourceneinsatz und darauf angewendeter Verfahren dar. Leistungen können in Form von Dividenden, niedrigeren Kosten oder sonstigem wirtschaftlichem Nutzen direkt den Anteilseignern oder anderen Eigentümern, Gesellschaftern oder Teilnehmern zugehen. Die Anwendung von IFRS 3 auf ein „business“ ist unabhängig davon, ob es sich um einen Share Deal oder einen Asset Deal handelt.82 Die Vorgehensweise bei der Kaufpreisverteilung wird durch IFRS 3 und somit wie folgt bestimmt:
11.41
1. Identifizierung des Erwerbers83 2. Bestimmung des Erwerbszeitpunkts84 3. Neubewertung der erworbenen Vermögenswerte und Schulden85 4. Bestimmung des Goodwill (oder negativer Goodwill aufgrund eines bargain purchase)86 Der Ansatz der erworbenen Vermögenswerte und Schulden erfolgt mit dem Fair Value (beizulegender Zeitwert) zum Zeitpunkt des Erwerbs. Das ist der Zeitpunkt, an dem der Erwerber die Beherrschung über das erworbene Unternehmen erlangt.87 Dies wiederum ist im Allgemeinen der Tag, an dem er die Gegenleistung rechtsgültig transferiert, die Vermögenswerte erhält und die Schulden des erworbenen Unternehmens übernimmt, also am sog. Closing Date.88 Im Rahmen der Purchase Price Allocation ist der gezahlte Kaufpreis auf die erworbenen Ver- 11.42 mögenswerte (Assets)89 und Schulden (Liabilities) sowie auf den Goodwill nach Fair-ValueGesichtspunkten im Zeitpunkt des Erwerbs zu verteilen.90 Hierzu gehört zunächst die voll-
80 81 82 83 84 85 86 87 88 89
Vgl. IFRS 3, Rz. 3. Vgl. IFRS 3, Anhang B 7. Theile/Pawelzik in Heuser/Theile, IFRS-Handbuch, Rz. 3212. Vgl. IFRS 3, Rz. 6–7. Vgl. IFRS 3, Rz. 8–9. Vgl. IFRS 3, Rz. 10–31. Vgl. IFRS 3, Rz. 32–33. Vgl. IFRS 3, Rz. 8. Vgl. IFRS 3, Rz. 9. Der Begriff „Asset“ entspricht nicht deckungsgleich dem Begriff des handelsrechtlichen Vermögensgegenstandes. In diesem Abschnitt wird daher der Begriff des Vermögenswertes als Synonym verwendet; so auch Nestler/Thuy, KoR 2002, 169 (171 Fn. 17). 90 Vgl. IFRS 3, Rz. 36 ff.
Sahner/Blum 981
Kap. 11 Rz. 11.43
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
ständige Identifikation der erworbenen immateriellen sowie materiellen Vermögenswerte und Schulden. Die anschließende Bewertung der Vermögenswerte und Schulden ermöglicht die eigentliche Verteilung des Kaufpreises. Ein nicht auf Vermögenswerte und Schulden verteilter Restbetrag des Kaufpreises wird dem Goodwill zugeordnet.
11.43 Technisch erfolgt die Umsetzung der Purchase Price Allocation, indem der Erwerber eines Unternehmens die Anschaffungskosten der Beteiligung gegen den Zeitwert des Eigenkapitals des erworbenen Unternehmens zum Zeitpunkt der Akquisition verrechnet (Kapitalerstkonsolidierung). Die Bestimmung des Zeitwertes des Eigenkapitals des erworbenen Unternehmens ist nicht etwa im Rahmen einer Unternehmensbewertung der Beteiligung als Ganzes zu bestimmen, sondern ist gemäß der Definition der Eigenkapitalgröße in der Bilanz aus der Summe der Zeitwerte der einzelnen erworbenen Vermögenswerte abzgl. der Schulden zu ermitteln. Es ist mithin also erforderlich, zunächst den Zeitwert der einzelnen Vermögenswerte und der einzelnen Schulden zu ermitteln, um als Nettogröße aus Vermögenswerten und Schulden den Zeitwert des Eigenkapitals ableiten zu können. Ein bei Aufrechnung des Zeitwertes des Eigenkapitals mit den Anschaffungskosten der Beteiligung verbleibender Unterschiedsbetrag ist im Falle eines aktiven Unterschiedsbetrages als Goodwill oder Firmenwert bzw. stellt einen passiven Unterschiedsbetrag dar.
11.44 Einstweilen frei. 11.45 Da die Zeitwerte der Vermögenswerte und Schulden in der ersten auf den Erwerb der Beteiligung folgenden Konzernbilanz anzusetzen sind und so den Goodwill bzw. den passiven Unterschiedsbetrag kürzen, führt die Purchase Price Allocation somit zu einer Verteilung des Kaufpreises der Beteiligung auf die einzelnen erworbenen Vermögenswerte, Schulden und den Goodwill/passiven Unterschiedsbetrag.
11.46 Wichtig ist, dass der Bilanzierende nach IFRS 3.45 zunächst eine provisorische Purchase Price Allocation auf Basis der zum Erwerbszeitpunkt vorliegenden Informationen durchführen kann und im Laufe eines Jahres nach dem Erwerbszeitpunkt die endgültige Purchase Price Allocation anfertigen muss.91
11.47 Der Erwerber hat den Goodwill zum Erwerbszeitpunkt anzusetzen, um den die übertragene Gegenleistung den Saldo der zum Erwerbszeitpunkt bestehenden und gemäß IFRS 3 bewerteten Beträge der erworbenen identifizierbaren Vermögenswerte und der übernommenen Schulden übersteigt.92 Der Erwerbszeitpunkt ist jener Tag, an dem der Erwerber die Möglichkeit der Kontrolle über ein Business unter wirtschaftlicher Betrachtungsweise erlangt hat.93 Die Gegenleistung – also der Kaufpreis –, den der Erwerber für die Erlangung der Anteile an dem Zielobjekt zahlt, bestimmt sich nach dem Zeitwert der hinzugebenden Vermögenswerte, der Schulden, die der Erwerber von den früheren Eigentümern übernommen hat und den vom Erwerber ausgegebenen Eigenkapitalanteilen zum Erwerbszeitpunkt.94
91 Theile/Pawelzik in Heuser/Theile, IFRS-Handbuch, Rz. 3440; Oser, Der Konzernabschluss nach dem BilMoG mit internationalem Antlitz, PiR 2009, 123. 92 Vgl. IFRS 3, Rz. 32. 93 Theile/Pawelzik in Heuser/Theile, IFRS-Handbuch, Rz. 3240. 94 Vgl. IFRS 3, Rz. 37.
982
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.53 Kap. 11
Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass in der ab dem 1.7.2009 gültigen Fassung von 11.48 IFRS 3 Anschaffungsnebenkosten des Erwerbsvorgangs – wie Vermittlungsprovisionen, Beratungs-, Anwalts-, Wirtschaftsprüfungs-, Bewertungs- und sonstige Fachberatungsgebühren, allgemeine Verwaltungskosten wie Kosten für die Erhaltung einer internen Akquisitionsabteilung sowie Kosten der Registrierung und Emission von Schuldtiteln und Eigenkapitalanteilen – nicht mehr zur Gegenleistung rechnen, sondern vielmehr in der Periode des Anfalls direkt als Aufwand der Periode zu verbuchen sind.95 Nach der Konzeption des IFRS 3 stellt der gezahlte Kaufpreis des erworbenen Unternehmens gleichzeitig dessen Fair Value zum Erwerbszeitpunkt dar. Bei der Purchase Price Allocation ist stets zu hinterfragen, wofür der Veräußerer den Kaufpreis verlangt und der Käufer bezahlt hat. Der IFRS 3 hält einen Verhandlungserfolg („bargain purchase“) oder einen Zwangsverkauf als Ursache eines passiven Unterschiedsbetrages für möglich.96 IFRS 3 legt es deshalb nahe, eine passivische Differenz aus der ersten Purchase Price Allocation einer ausführlichen Überprüfung zu unterwerfen, ob tatsächlich die Vermögenswerte und Schulden angemessen bewertet worden sind.97
11.49
Nach IFRS ist der nach einer Überprüfung verbleibende passive Unterschiedsbetrag sofort als Ertrag zu vereinnahmen.98
11.50
Das IASB schlägt im IFRS 3 die Neubewertung der erworbenen Vermögenswerte und Schulden sowie eine Neuberechnung des Kaufpreises vor.99 Der verbleibende „excess of acquirer’s interest in the net fair value of acquiree’s identifiable assets, liabilities and contingent liabilities over cost“100 ist nach der Neubewertung erfolgswirksam zu vereinnahmen.101
11.51
Nach IFRS 3.19 darf erstmals die sog. Full Goodwill-Methode angewendet werden. Danach sind im Falle von Erwerben von weniger als 100 % der Anteile die nicht beherrschenden Anteile an dem erworbenen Unternehmen entweder zum beizulegenden Zeitwert oder zum entsprechenden Anteil des identifizierbaren Nettovermögens des erworbenen Unternehmens zu bewerten (Wahlrecht).102 In beiden Fällen ist der Anteil der Minderheitsgesellschafter an den stillen Reserven und Lasten der erworbenen Vermögenswerte und Schulden anzusetzen.103 Erfolgt die Bewertung des Anteils nicht-beherrschender Gesellschafter zum beizulegenden Zeitwert, so ist auch der auf diesen Gesellschafter beteiligungsproportional entfallende Goodwill anzusetzen (Full Goodwill).104 Diese Vorgehensweise entspricht der sog. Einheitstheorie der Konzernbilanzierung, nach der die Minderheitsgesellschafter als Teil des Konzerns betrachtet werden.
11.52
Einstweilen frei.
11.53
95 96 97 98 99 100 101 102 103 104
Vgl. IFRS 3, Rz. 53. Vgl. IFRS 3, Rz. 34, 35; Theile/Pawelzik, WPg 2003, 316 (322). Vgl. IFRS 3, Rz. 36. IDW RS HFA 19 Tz. 9. Vgl. IFRS 3, Rz. 56a; Theile/Pawelzik, WPg 2003, 316 (321). Vgl. IFRS 3, Rz. 56; im Folgenden auch als Excess over cost bezeichnet. Vgl. IFRS 3, Rz. 36; Küting/Wirth, DStR 2003, 522; Brücks/Wiederhold, KoR 2003, 21 (27). Vgl. IFRS 3, Rz. 19. Theile/Pawelzik in HeuserTheile, IFRS-Handbuch, Rz. 3223. Senger/Brune/Diersch in Beck’sches IFRS-Handbuch, § 34 Rz. 219.
Sahner/Blum 983
Kap. 11 Rz. 11.54
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
11.54 Der Goodwill sowie die klassifizierten immateriellen Vermögenswerte mit unbestimmter Nutzungsdauer sind im Rahmen eines jährlich durchzuführenden Impairmenttests nach IAS 36 auf ihre Werthaltigkeit zu überprüfen (vgl. hierzu ausführlich Rz. 11.118 ff.). Gegebenenfalls ergibt sich in Folge dessen ein Abschreibungsbedarf. Eine planmäßige Abschreibung ist dagegen nicht vorgesehen.105 2. Basisbeispiel
11.55 Die nachfolgende verbale Darstellung der Vorgehensweise im Rahmen einer Purchase Price Allocation nach IFRS 3 soll durch ein vereinfachtes Beispiel verdeutlicht werden. Dem Basisbeispiel liegt folgende Ausgangssituation zugrunde: Unternehmen A erwirbt zum 31.12. sämtliche Anteile an Unternehmen B zu einem Kaufpreis in Höhe von 95 Mio. Euro. Unternehmen A beliefert verschiedene Branchen mit speziell gefertigten Navigationsgeräten inklusive der hierfür eigenst entwickelten Software. Unternehmen A ist anhand dieser Branchen gegliedert. Diese sind im Einzelnen Automobiltechnik, Schienenfahrzeugtechnik und Luftfahrttechnik. Das akquirierte Unternehmen B ist dagegen wesentlich im Bereich der Raumfahrttechnik tätig; ein Segment ist dem Bereich Luftfahrttechnik zuzuordnen. Beide Unternehmen sind nicht börsennotiert und haben keine börsennotierten Beteiligungsunternehmen. Unternehmen B ist ein traditionsreiches ehemaliges Familienunternehmen und bilanziert keinen Goodwill aus vorangegangenen Akquisitionen. Daten zur Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Unternehmen werden soweit notwendig an gegebener Stelle bereitgestellt.
100 %
Unternehmen A
Automobiltechnik
Schienenfahrzeugtechnik
Luftfahrttechnik
Unternehmen B
Luftfahrttechnik
Raumfahrttechnik
Abb. 3: Übersicht über die Geschäftsbereiche von Investor A und Zielunternehmen B
3. Fair Value-Konzeption
11.56 Bewertungen im Rahmen einer Purchase Price Allocation erfolgen grundsätzlich zum Fair Value oder zum beizulegenden Zeitwert. Der beizulegende Zeitwert wird dabei nach IFRS 3.A definiert als der Betrag, zu dem zwischen sachverständigen, vertragswilligen und voneinander unabhängigen Geschäftspartnern unter marktüblichen Bedingungen ein Vermögenswert ge-
105 Dieser Ansatz wird als sog. „impairment only-approach“ bezeichnet. Vgl. hierzu IFRS 3.54 f. i.V.m. IAS 36.
984
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.58 Kap. 11
tauscht oder eine Schuld beglichen werden könnte. Der beizulegende Zeitwert ist ein Schätzwert und kann nicht als exakt bestimmbarer Betrag verstanden werden.106 Anwendung findet das Fair-Value-Konzept bei nachfolgenden Bewertungen: – Bestimmung des beizulegenden Zeitwerts der erworbenen Vermögenswerte und Schulden – Bestimmung des beizulegenden Zeitwerts der auf die Minderheiten entfallenden Anteile bei Anwendung der Full Goodwill-Methode.
11.57
Daher sind bei der Bewertung folgende Schritte zu berücksichtigen: 1. Sind notierte Marktpreise in aktiven Märkten vorhanden, sind diese als bester Beweis für das Vorhandensein von Fair Values zu verstehen.107 Marktpreisbewegungen in der Vergangenheit, gehandelte Mengen, aber auch die Marktpreissituation vor und nach Bekanntwerden der Transaktion sind bei der Wertabschätzung zu berücksichtigen. 2. Wenn Marktpreise nicht verfügbar sind, ist auf die beste vorhandene Informationsquelle abzustellen. Wichtig hierbei ist, dass Annahmen bei der Bewertung getroffen werden, die auch Marktteilnehmer in ihre Überlegungen einbeziehen würden. Sind diese Annahmen nicht aus dem Markt herauszufiltern oder bedarf dies unverhältnismäßig hoher Anstrengungen, so sind eigene Einschätzungen des Managements zu treffen. Hierbei ist die Marktperspektive maßgebend. Die anzusetzenden Schätzgrößen sind hierbei unabhängig von persönlichen Verhältnissen und der individuellen Nutzung vorzunehmen. Unternehmensspezifische Vorteile bzw. Nachteile dürfen nicht Berücksichtigung finden. Sie dürfen nur berücksichtigt werden insoweit sie mit dem Vermögenswert selbst verbunden sind und auch nach der Übertragung an einen Dritten diesem zur Verfügung stehen.108 Als Methodik der Ermittlung dient im Regelfall eine „present value technique“ wie das Discounted Cash Flow-Verfahren.109 3. Sind weder Marktpreise verfügbar noch Einschätzungen des Managements zu künftigen Cash Flows vorhanden, können Vergleichspreise herangezogen werden.110 Diese können zum einen unter Heranziehung von vergleichbaren Transaktionen, und zum anderen unter Zuhilfenahme von Gewinn- oder Umsatzmultiplikatoren ermittelt werden.111 Generell gilt, dass der Fair Value nicht bestimmt wird durch die geplante Verwendung des erwerbenden Unternehmens. IFRS 3 n.F. stellt hierzu klar, dass die geplante Nutzung eines Vermögenswertes durch den Erwerber keinen Einfluss auf seine Bewertung mit dem beizulegenden Zeitwert haben darf. Selbst wenn der Erwerber z.B. plant, den Vermögenswert nicht mehr zu nutzen, muss der Vermögenswert zum beizulegenden Zeitwert und damit unter Berücksichtigung der Nutzungsabsicht anderer Marktteilnehmer bewertet werden.112 Einstweilen frei.
11.58
11.59–11.60
106 Grant Thornton, Intangible Assets in a Business Combination, Identifying and valuing intangibles under IFRS 3, May 2008. 107 Vgl. IAS 38, Rz. 39; Pfitzer/Dutzi in Ballwieser u.a. (Hrsg.), Sp. 750; Dawo, S. 140 und S. 212 f. 108 Vgl. Dawo, S. 140; zur Vermeidung von Inkonsistenzen bei der Anwendung verschiedener Prämissen im Rahmen der Unternehmensbewertung s. Ulbricht in Richter/Timmreck (Hrsg.), S. 326 ff. 109 Vgl. IAS 38, Rz. 41b. 110 Vgl. IAS 38, Rz. 40. 111 Vgl. Lüdenbach/Schulz, WPg 2002, 489 (491); IAS 38, Rz. 41a; Fladt/Feige, WPg 2003, 249 (255). 112 Beyhs/Wagner, DB 2008, 77; IFRS 3 B.43 n.F.
Sahner/Blum 985
Kap. 11 Rz. 11.61
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
4. Immaterielle Vermögenswerte a) Identifizierung und Klassifizierung
11.61 Die Identifizierung und Bewertung immaterieller Vermögenswerte stellt eine der schwierigsten Herausforderungen der Purchase Price Allocation dar. Wirtschaftlich betrachtet stellen eine ganze Reihe immaterieller Ressourcen, Werttreiber oder Vorteile eine wesentliche Grundlage eines Geschäftsbetriebs dar. Um aber als immaterieller Vermögenswert im Rahmen eines Unternehmenszusammenschlusses definiert zu werden, müssen die genannten Faktoren folgende Kriterien erfüllen: 1. Definition eines immateriellen Vermögenswertes gemäß den Vorgaben des IFRS Frameworks 2. Selbständige Identifizierbarkeit gemäß IFRS 3 Ein Vermögenswert ist nach dem Framework 4.4 (a) eine Ressource, die aufgrund von Ereignissen der Vergangenheit in der Verfügungsmacht des Unternehmens steht, und von der erwartet wird, dass dem Unternehmen aus ihr künftiger wirtschaftlicher Nutzen zufließt.
11.62 Darüber hinaus definiert IFRS 3.A einen immateriellen Vermögenswert als einen identifizierbaren nicht-monetären Vermögenswert ohne physische Substanz. Nicht relevant für den Ansatz eines immateriellen Vermögenswertes ist es, ob der künftige wirtschaftliche Nutzen wahrscheinlich ist oder nicht (so IAS 38.21 bei selbsterstellten immateriellen Vermögenswerten). Stattdessen ist die Wahrscheinlichkeitskriterium im Rahmen eines Unternehmenszusammenschlusses erfüllt, wenn die Unsicherheit hinsichtlich des künftigen Nutzenzuflusses bei der Bewertung des Fair Value berücksichtigt wird.113 Die Identifizierbarkeit des immateriellen Vermögenswertes nach IFRS 3.A ist erfüllt, wenn 1. der Vermögenswert separierbar ist von dem Unternehmen und selbständig veräußert, übertragen, lizenziert, vermietet oder getauscht werden kann, und zwar einzeln oder in Verbindung mit einem Vertrag, einem identifizierbaren Vermögenswert oder einer identifizierbaren Schuld;114 2. der Vermögenswert das vertragliche/gesetzliche Kriterium erfüllt. Danach ist der Vermögenswert identifizierbar, wenn er durch Vertrag oder gesetzliche Bestimmung entstanden ist, und zwar auch dann, wenn er weder übertragbar noch separierbar von dem erworbenen Unternehmen ist.115
11.63 Um immaterielle Vermögenswerte zu identifizieren, die die vorstehenden Kriterien erfüllen, ist es wichtig, das Geschäft des erworbenen Unternehmens zu verstehen, insbesondere die Werttreiber ausfindig zu machen, die dem Erwerber einen künftigen Nutzen versprechen und die er am Erwerbsstichtag kontrollieren kann. Weiterhin sind die Verträge, Patente und das rechtliche Umfeld des Unternehmens zu überprüfen, inwieweit Anhaltspunkte für künftige Nutzenzuflüsse auf Basis der niedergeschriebenen Rechte vorliegen. Hierzu sollten der Kaufvertrag, Due-Diligence-Unterlagen sowie öffentliche und interne Daten des Unternehmens untersucht werden.
113 Vgl. IAS 38.33. 114 Vgl. IFRS 3 B.33. 115 Vgl. IFRS 3 B.32.
986
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.65 Kap. 11
Die nachfolgende Abbildung verdeutlicht das vorgenannte Prüfungsschema:116
11.64
Prüfung auf separate Aktivierbarkeit immaterieller Vermögenswerte des Goodwill (i.w.S.)
1. Contractual-legal Criterion
2. Separability Criterion
Vermögenswert beruht auf vertraglicher Basis oder gesetzlichen Rechten, unabhängig davon, ob die vertraglichen bzw. gesetzlichen Rechte von dem erworbenen Unternehmen separierbar oder an Dritte übertragbar sind.
Separierbar von übrigen akquirierten Unternehmenskomponenten. Der Vermögenswert kann separat oder in Verbindung mit einem Vertrag, einem Vermögenswert oder einer Verbindlichkeit verkauft, lizensiert, vermietet oder übertragen werden.
Bsp. – Internet Domain Names – Auftragsbestand – Leasingverträge
Bsp. – unpatentiertes Know-how – Kundendaten – Datenbanken
ja
Nein
Aktivierung als Teil des Goodwills (i.e.S.)
Nein
ja
Aktivierung als Other Intangible Asset
Abb. 4: Prüfschema zur Überprüfung der Aktivierbarkeit immaterieller Vermögenswerte nach IFRS 3.A
Die Kriterien konkretisieren die Abgrenzbarkeit vom Goodwill. Sie dienen somit der besseren Überprüfbarkeit, ob die Vorteile im Goodwill aufgehen oder von diesem abgrenzbar sind.117 Eine nicht abschließende Liste immaterieller Vermögenswerte ist dem Abschnitt Illustrative Examples zu IFRS 3 zu entnehmen. Keine separierbaren immateriellen Vermögenswerte liegen in nachfolgenden Fällen vor: – Der Vermögenswert Assembled Workforce ist nicht vom Goodwill separierbar und ist aus diesem Grund nicht in der Liste enthalten. Das IASB geht davon aus, dass ein Unternehmen zwar einen Mitarbeiterstamm bewerten kann und muss, eine Veräußerung des Mitarbeiterstammes aber nicht in Frage kommt. Nach IAS 38 ist der Mitarbeiterstamm nur dann zu bewerten, wenn durch diesen ein zukünftiger finanzieller Nutzen zu erwarten 116 Vgl. zur Abbildung Alvarez/Biberacher, BB 2002, 346 (347); ähnlich auch Hornung in Küting/ Weber (Hrsg.), S. 26; Coenenberg, Jahresabschluss und Jahresabschlussanalyse, S. 614. 117 Vgl. Dawo, S. 128.
Sahner/Blum 987
11.65
Kap. 11 Rz. 11.66
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
ist. Das IASB unterstellt jedoch, dass einer Aktivierung des Mitarbeiterstamms die ungenügende Steuerbarkeit dieses finanziellen Nutzens entgegensteht.118 – Synergien sind regelmäßig nicht vertraglich zugesichert und können nicht vom Unternehmen getrennt veräußert werden. Sie bleiben Teil des anzusetzenden Goodwill. – Marktanteile, Marktpotentiale, Monopolstellung und andere strategische Vorteile; dabei handelt es sich nicht um kontrollierbare künftige wirtschaftliche Vorteile. Gleichwohl dürften die genannten Werte zu höheren beizulegenden Zeitwerten der identifizierbaren marketingbezogenen oder technologiegetriebenen Vermögenswerte führen. – Ein hohes Bonitätsrating mag die Kosten der Akquisition tangieren, ist aber nicht kontrollierbar und daher nicht selbständig identifizierbar. – Bisher bilanzierte Goodwills; diese sind nicht vertraglich geschützt und nicht vom restlichen Unternehmen trennbar. Die Standardsetter unterscheiden bei immateriellen Vermögenswerten fünf Kategorien:119
11.66 – Marketing-related Intangible Assets Hierunter versteht das IASB diejenigen immateriellen Vermögenswerte, die aus der Vertriebsund Werbetätigkeit des Unternehmens hervorgehen.120 Hierzu gehören u.a. Markenzeichen („trademarks“), Internet Domain Namen sowie Wettbewerbsvereinbarungen („non-competition agreements“). Die Bewertung von Markennamen kann für den Erwerber immer dann zu erheblichen Belastungen führen, wenn Pläne für das Auflösen und Ersetzen dieser erworbenen Marke durch eigene Markennamen bestehen. Es drohen in diesem Fall hohe außerplanmäßige Abschreibungen in den Folgejahren.
11.67 – Customer-related Intangible Assets Diese werden im Wesentlichen durch detailliertes Wissen über Kunden und Kundenverhalten wertbestimmt. Zu den kundenbezogenen immateriellen Werten gehören im Wesentlichen Kundenverträge und die hieraus bestehende Kundenbeziehung. Dieses ist nicht zu verwechseln mit dem oben beschriebenen Kundenstamm („customer base“), welcher durch die Ermangelung der Identifizierbarkeit der Kundenbeziehung nicht zu dieser Gruppe von Vermögenswerten zählt. Ferner gehören veräußerbare Kundenkarteien zu den einzeln aktivierbaren Vermögenswerten, sofern diese nicht durch Datenschutzbestimmungen oder gesetzliche Bestimmungen von einer Veräußerung an Dritte ausgenommen sind. Sie enthalten neben den allgemeinen Kontaktinformationen des Kunden ebenfalls Informationen zu Bestellverhalten und andere zusätzliche Informationen. Obwohl eine Kundenkartei weder dem „contractual-“ oder „legal-criterion“ unterliegt, sind diese durch ihre Bewertbarkeit und durch in der Praxis übliche Leasing- und Verkaufsvereinbarungen als eigenständiges Gut zu aktivieren.121 Auch der Auftragsbestand („order backlog“) zum Erwerbszeitpunkt zählt zu den kundenbezogenen Vermögenswerten.
118 Vgl. IAS 38.15; IFRS 3.B37. 119 Vgl. Pfeil/Vater, KoR 2002, 66 (68); eine ähnliche Aufteilung findet sich in IFRS 3 Illustrative Examples, IFRS 3.IE16-44. 120 Vgl. IFRS 3, Illustrative Examples, S. 4 f. 121 Vgl. IFRS 3, Illustrative Examples, S. 5 f.
988
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.73 Kap. 11
11.68
– Artistic-related Intangible Assets Hierzu zählen alle Arten von künstlerischen Aufführungen und Aufzeichnungen wie Opern, literarische Werke, Song-Texte, Bilder, Filme und Musikvideos. Der Wert dieser Vermögenswerte liegt im Wesentlichen in der Verwertung und Vermarktung von Rechten an künstlerischem geistigen Eigentum.122
11.69
– Contract-based Intangible Assets Sie definieren ihren Wert aus den Rechten, die aus einer vertraglichen Beziehung resultieren. Dieses sind beispielsweise Lizenzen, Leasing- und Franchise-Verträge oder Senderechte.123 Sollten aus einem Vertrag im Vergleich zu Marktpreisen nachteilige Bedingungen hervorgehen, so sind diese unter den Liabilities auszuweisen.124
11.70
– Technology-based Intangible Assets Hierunter sind Innovationen und technologische Vorteile wie Patente, Software, Datenbanken und Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse zu verstehen.125 Sofern eine Basistechnologie vorliegt, die nicht durch Patente geschützt ist, das Unternehmen jedoch in die Lage versetzt, positive Free Cash Flows, die dieser Technologie zuzuordnen sind, zu erzielen, handelt es sich um einen selbständig bewertbaren Vermögenswert nach IFRS 3. Dies setzt allerdings voraus, dass das Unternehmen in der Lage ist, die alleinige Kontrolle über diese Technologie auszuüben und andere von Nachahmungen auszuschließen. Die aus ihrem Besitz resultierenden Vorteile sind oftmals Alleinstellungsmerkmal wie z.B. ein einzigartiges Medikament auf dem Markt.
11.71
Einstweilen frei.
Festzuhalten bleibt, dass im Jahresabschluss auch Vermögenswerte bilanziert werden, die bis- 11.72 her nicht erfasst werden konnten, weil sie z.B. die Kriterien des IAS 38 nicht erfüllten. Gerade bei diesen Vermögenswerten liegt die Schwierigkeit der vollständigen Erfassung und vom Goodwill getrennten Bilanzierung.126 b) Bewertungsverfahren Die Bewertung von immateriellen Vermögenswerten ist häufig mit Schwierigkeiten und Un- 11.73 wägbarkeiten verbunden. Dies liegt u.a. auch an der Tatsache, dass direkte Anschaffungskosten beispielsweise durch eine Markttransaktion nicht nachgewiesen werden können. Vielmehr ist es in vielen Fällen lediglich möglich, sich dem Wert dieser immateriellen Vermögenswerte anzunähern. Wie oben bereits ausgeführt, handelt es sich bei dem beizulegenden Zeitwert um einen auf Schätzungen beruhendem Wert. Für die Bestimmung der Fair Values der immateriellen Vermögenswerte kommen vorrangig zur Anwendung:127
122 123 124 125 126
Vgl. IFRS 3, Illustrative Examples, S. 6 f. Vgl. Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 20. Vgl. IFRS 3, Illustrative Examples, S. 7. Vgl. IFRS 3, Illustrative Examples, S. 8. Vgl. Jäger/Himmel, BFuP 2003, 417 (418); Senger/Brune/Elprana in Beck’sches IFRS-Handbuch, § 34 Rz. 102 f. 127 Vgl. z.B. Frowein/Lüdenbach, FB 2003, 65 (67); Nestler/Thuy, KoR 2002, 169 (172 ff.); AICPA Practice Aid, S. 11 ff.; Schmidt in Küting/Weber (Hrsg.), S. 312 ff.
Sahner/Blum 989
Kap. 11 Rz. 11.74
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
– Marktpreisorientiertes Verfahren (Market Approach), – kapitalwertorientiertes Verfahren (Income Approach), – kostenorientiertes Verfahren (Cost Approach).
Verfahren
Marktpreisorientiertes Verfahren
Kapitalwertorientiertes Verfahren
Kostenorientiertes Verfahren
Marktpreise auf aktivem Markt
Methode der unmittelbaren Cash Flow-Prognose
Reproduktionskostenmethode
Analogiemethoden
Methode der Lizenzpreisanalogie
Wiederbeschaffungskostenmethode
Methoden
Residualwertmethode
Mehrgewinnmethode
Abb. 5: Übersicht über die Bewertungsmethoden immaterieller Vermögenswerte Quelle: IDW S 5 Rz. 18
11.74 Aus den grundsätzlichen Verfahrensansätzen ergeben sich verschiedene Varianten wie beispielsweise die „Multi-period Excess Earnings Method“ als Unterform des Income Approach zur Bewertung von wesentlichen Werttreibern in einem Unternehmen. Eine Hierarchie der Verfahren ergibt sich aus der marktorientierten Sichtweise des IAS 38.128 Hiernach ist der marktorientierte Ansatz vor dem ertragsorientierten Ansatz zu wählen. Sind diese beiden Verfahren nicht anwendbar, kommt der kostenorientierte Ansatz zum Tragen.129 Von den drei Ansätzen zur Bewertung von immateriellen Vermögenswerten sind der Income Approach und der Cost Approach die gebräuchlichen Varianten. Der Market Approach gelangt im Speziellen im Pharmazie-Sektor zur Anwendung.130
11.75 Für die Fair-Value-Ermittlung der immateriellen Vermögenswerte sind neben anderen individuellen, unternehmensspezifischen Faktoren (wie z.B. branchenspezifische Limitierung
128 Vgl. IAS 38, Rz. 39 ff. 129 Vgl. Jäger/Himmel, BFuP 2003, 417 (426). 130 Vgl. AICPA Practice Aid, S. 11.
990
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.77 Kap. 11
der Patentierbarkeit von Prozessen oder Rezepten) grundsätzlich folgende vier Gesichtspunkte relevant:131 – die Bedeutung, der Charakter und der Nutzen des immateriellen Vermögenswertes, – die ertragsgenerierenden oder kosteneinsparenden Attribute des immateriellen Vermögenswertes, – die Beschaffenheit und die Zeitverteilung der technischen und wirtschaftlichen Alterung jedes einzelnen immateriellen Vermögenswertes und – das relative Risiko und die Unsicherheit, die mit der Anlage in einen immateriellen Vermögenswert verbunden ist. aa) Marktpreisorientiertes Verfahren Marktorientierte Ansätze leiten den Fair Value eines Vermögenswertes unmittelbar aus Marktpreisen ab (direkte Wertermittlung) oder lehnen diesen an Marktpreise an (Analogieverfahren).132 Aus einer vorangegangenen Veräußerung von Vermögenswerten werden Preise für die zu bewertenden Vermögenswerte unter Berücksichtung dessen Eigenschaften abgeleitet.133 Die Anwendung von Marktpreisen setzt voraus, dass die zu bewertenden immateriellen Vermögenswerte marktgängig sind und ein hinreichend liquider Markt mit einer repräsentativen Preisbildung für diese Vermögenswerte existiert. Bei der Bewertung selbsterschaffener immaterieller Vermögenswerte wird ein direkter Zugriff auf Marktpreise nur selten verfügbar sein.134
11.76
Daher ist es erforderlich, dass der Fair Value auf Basis der besten verfügbaren Informationen abgeleitet wird.135 Die Bewertung des Fair Value sollte die jüngsten Markttransaktionen und die in der Branche bewährte Vorgehensweise berücksichtigen.136 Verfügbare Marktdaten können Gewinnmultiplikatoren oder Kapitalisierungszinssätze sein. bb) Kapitalwertorientiertes Verfahren Für die Bewertung von immateriellen Vermögenswerten kommen häufig ertragsorientierte 11.77 Ansätze zum Einsatz. Diese messen den Gegenwartswert der zukünftigen ökonomischen Vorteile, die aus künftigen Einnahmen und Kosteneinsparungen resultieren.137 Die finanziellen Überschüsse können z.B. auch aus zusätzlichen Absatzmengen und/oder höheren Absatzpreisen resultieren, für die die Verwertung der immateriellen Vermögenswerte die Grundlage bildet. In einer zweistufigen Bewertung werden zunächst im ersten Schritt zukünftige Cash Flows aus dem Besitz des Vermögenswertes geschätzt. Im zweiten Schritt werden diese Cash Flows auf den Barwert zum Bewertungsstichtag diskontiert.138 Erfolgt die Bewertung auf Basis der im Rahmen des Erwerbsvorgangs erstellten Planung des Erwerbers ist zu berücksichtigen, dass die Fair-Value-Konzeption nur die Perspektive eines typischen Marktteilnehmers zulässt. Erwerberspezifische Synergien oder andere Vorteile 131 132 133 134 135 136 137 138
Vgl. AICPA Practice Aid, S. 116. Vgl. Frowein/Lüdenbach, FB 2003, 65 (67). Vgl. AICPA Practice Aid, S. 12. Vgl. Jäger/Himmel, BFuP 2003, 417 (428). Vgl. IFRS 38.40. Vgl. IFRS 38.41. Vgl. Frowein/Lüdenbach, FB 2003, 65 (67). Vgl. AICPA Practice Aid, S. 12.
Sahner/Blum 991
Kap. 11 Rz. 11.78
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
sind zuvor aus der Planung zu eliminieren. Ein typischer Marktteilnehmer sollte wie folgt charakterisiert sein:139 – ein Dritter, der außerhalb des Unternehmenszusammenschlusses steht – z.B. ein Wettbewerber in derselben Branche oder ein Finanzinvestor, – der ein Verständnis über den zu bewertenden Vermögenswert hat, das sich auf verfügbaren Informationen der Branche bzw. aus einem üblichen Due-Diligence-Prozess ergibt, – und der in der Lage und willig ist, den betreffenden Vermögenswert zu erwerben, aber nicht dazu gezwungen ist.
11.78 Beim kapitalwertorientierten Ansatz stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung. Die gebräuchlichen Verfahren sind hierbei: – Relief-from-royalty Approach, – Multi-period Excess Earnings Method, – Incremental Cash Flow Approach.
11.79 Bei der Anwendung des Relief-from-royalty Approach (auch Lizenzpreisanalogie) erfolgt die Ermittlung des Vermögenswertes durch Vergleich mit einem zu entrichtenden marktüblichen Lizenzentgelt. Der wirtschaftliche Nutzen des immateriellen Vermögenswertes liegt hierbei in den durch das Eigentum an diesem eingesparten marktüblichen Lizenzentgelt.140 Diese Methode wird vornehmlich zur Bewertung von Markennamen und -zeichen und Patenten verwendet.141 Von einer zu bestimmenden Ausgangsgröße – dies können im Wesentlichen prognostizierte Umsatzerlöse oder eine z.B. markenrelevante Rohmarge sein – werden fiktive Lizenzentgelte abgesetzt und auf den Bewertungsstichtag abgezinst. Die Hauptschwierigkeit liegt hierbei in der Ermittlung einer adäquaten Lizenzrate, die für eine vergleichbare Lizenz bei weltweit uneingeschränkten Rechten gilt.142 Ein Anwendungsbeispiel des Relief-fromroyalty Approach wird in Rz. 11.106 ff. gegeben.
11.80 Die Multi-period Excess Earnings Method wird zur Bewertung des eigentlichen Erfolgstreibers in einem Unternehmen angewendet. Bei diesem Ansatz werden die durch den immateriellen Vermögenswert generierten Einzahlungsüberschüsse ebenfalls isoliert, um den Stand-Alone-Wert des Vermögenswertes zu bestimmen.143 Die Wertermittlung erfolgt indirekt aus der der Unternehmensbewertung zugrunde liegenden Unternehmensgesamtplanung. Aufgrund der indirekten Bewertungssystematik werden Wertbeiträge, die durch andere unterstützende Vermögenswerte generiert werden, aus der Bewertung durch Absetzung der Contributory Asset Charges (vgl. unten Rz. 11.86 ff.) eliminiert. Die Herausforderung liegt demnach in der Isolierung der Zahlungsströme. Jeder Abzug von zum Bewertungsstichtag bekannten Asset Charges mindert somit das Bewertungsergebnis. Hauptkritikpunkt an dieser Methode ist demnach die enorme Bewertungsbandbreite, die bei Anwendung dieser Methode entstehen kann.144
139 140 141 142 143 144
992
Grant Thornton, Intangible Assets in a Business Combination, May 2008. Vgl. Jäger/Himmel, BFuP 2003, 417 (432). Vgl. AICPA Practice Aid, S. 13. Vgl. AICPA Practice Aid, S. 14. Vgl. Jäger/Himmel, BFuP 2003, 417 (434). Vgl. Jäger/Himmel, BFuP 2003, 417 (434).
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.83 Kap. 11
Bei der Incremental Cash Flow-Methode wird der Wert nicht durch Isolierung von Einzahlungsüberschüssen ermittelt. Vielmehr ergibt sich der Wert des Vermögenswertes aus dem Unterschiedsbetrag der Einzahlungsüberschüsse des Bewertungsobjektes mit und ohne dem speziellen Vermögenswert.145 Die Hauptaufgabe liegt demnach darin, zwei Unternehmensbewertungen durchzuführen. Die Prämissen werden hierbei so angepasst werden müssen, dass man den Unterschiedsbetrag eindeutig auf den zu bewertenden Vermögenswert spezifizieren kann.146 Eine Bewertung nach der Incremental Cash Flow-Methode wird am Beispiel eines Wettbewerbsverbots unter Rz. 11.110 erläutert.
11.81
cc) Kostenorientiertes Verfahren Hier wird davon ausgegangen, dass ein potentieller Investor für einen Vermögenswert nicht mehr als dessen Wiederbeschaffungskosten ausgeben würde.147 Nach dem „Principle of Substitution“ liegt die Wertobergrenze des zu bewertenden Gutes bei dem Wert, der für die Wiederherstellung dieses Gutes ausgegeben werden müsste.148 Die Anwendung des kostenorientierten Ansatzes spiegelt sich in den entstehenden Kosten eines duplizierten Vermögenswertes (Reproduction Cost Method) oder in den Herstellungskosten eines anderen gleichwertigen Vermögenswertes (Replacement Cost Method) wider.149
11.82
Für die Wertermittlung nach dem Cost Approach müssen alle relevanten Kosten identifiziert werden. Die Kostenkomponenten werden unterteilt in auszahlungswirksame Kosten (Cash Costs) und Opportunitätskosten.150 Die Bestimmung der Opportunitätskosten stellt hierbei „ein häufig unterschätztes Problem dar“.151 Ferner ist anschließend ein eingetretener Wertverzehr des Vermögenswertes zu berücksichtigen. Hauptkritikpunkt dieser Methode bei Anwendung auf die Bewertung immaterieller Vermögenswerte ist die tendenziell auftretende Unterbewertung, da nur Kosten der Reproduktion Eingang in die Bewertung finden, künftige Nutzenpotentiale eines immateriellen Vermögenswertes jedoch außer Betracht bleiben. Daher beschränkt sich die Anwendung dieses Ansatzes regelmäßig auf häufig und auf unkompliziert ersetzbare Vermögenswerte, für die ein Erwerber nicht bereit wäre, ein über dem Preis für eine Ersatzbeschaffung hinausgehendes Entgelt zu entrichten. Der Reproduktionskostenansatz kommt häufig im Rahmen des Sachanlagevermögens oder selbsterstellter Software zum Einsatz. dd) Berücksichtigung von Ertragsteuern Typische Marktteilnehmer unterliegen üblicherweise einer Ertragsbesteuerung, wonach die Erzielung künftiger Einnahmenüberschüsse aus der Nutzung des Vermögenswertes steuerpflichtig ist und entsprechende Aufwendungen von der Besteuerungsgrundlage abziehbar sind. Die steuerlichen Folgen aus dem Erwerb eines Vermögenswertes werden daher den Betrag, den ein typischer Marktteilnehmer bereit ist, für den Vermögenswert zu bezahlen, beeinflussen. Einige der oben genannten Bewertungsansätze beinhalten bereits den Steuereffekt aus dem Erwerb des Vermögenswertes, andere liefern eine Vorsteuerbetrachtung oder berücksichtigen üblicherweise eine erwerberspezifische Betrachtungsweise. Nachfolgend werden da145 146 147 148 149 150 151
Vgl. Jäger/Himmel, BFuP 2003, 417 (435). Vgl. Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 62 ff. Vgl. Frowein/Lüdenbach, FB 2003, 65 (67). Vgl. AICPA Practice Aid, S. 11. Vgl. Jäger/Himmel, BFuP 2003, 417 (427). Vgl. Jäger/Himmel, BFuP 2003, 417 (427). Jäger/Himmel, BFuP 2003, 417 (427) Fn. 58.
Sahner/Blum 993
11.83
Kap. 11 Rz. 11.84
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
her die erforderlichen Steueranpassungen in Abhängigkeit von dem zugrunde gelegten Datenmaterial dargestellt:152 – Werden der Bestimmung des Fair Value Marktdaten zugrunde gelegt, so sind die steuerlichen Konsequenzen bereits berücksichtigt und müssen nicht gesondert betrachtet werden. – Eine Bewertung nach dem Income Approach erfordert die Berücksichtigung des Abzugs von Steuern von den künftigen Einnahmenüberschüssen, aber auch der Abzugsfähigkeit des Verbrauchs des Vermögenswertes als künftige Abschreibung in der steuerlichen Bemessungsgrundlage. – Bei Anwendung des cost Approachs ist die Berücksichtigung von Steuereffekten abhängig davon, ob Marktdaten zugrunde gelegt werden oder interne Daten des Unternehmens. Im letzteren Fall sind Ertragsteuern zu berücksichtigen. – Bei Anwendung des Income Approaches der Wertermittlung geht man grundsätzlich von Plan-Cash-Flows aus, die zu diskontieren sind, um den Zeitwert zum Bewertungsstichtag zu erhalten. Nach dem ab 2013 verpflichtend anzuwendenden IFRS 13 „Fair Value Measurement“ ist in diesen Fällen insofern konsistent zu verfahren, als entweder mit Vorsteuer-Cash-Flows und Kapitalisierungszinssätzen vor Berücksichtigung von Ertragsteuern oder aber mit Nachsteuer-Cash-Flows unter Verwendung von Kapitalisierungszinssätzen auf Nachsteuerbasis zu rechnen ist.153
11.84 Die im Wege eines Asset Deals aus der Aufdeckung stiller Reserven bei den erworbenen Vermögenswerten resultierende höhere steuerliche Abschreibung und die hieraus resultierenden steuermindernden Effekte („tax amortization benefit“ kurz TAB) müssen im Falle des Income und des Cost Approachs auf den Zeitwert des Vermögenswertes aufgeschlagen werden. Der TAB stellt somit den Barwert der steuerlichen Vorteile aus der Abschreibung der Differenz zwischen steuerlichen Buchwert und Fair Value des Vermögenswertes dar. Nach US-amerikanischem Steuerrecht werden alle Arten von immateriellen Vermögenswerten über einen Zeitraum von 15 Jahren abgeschrieben. Bei der Bewertung von deutschen Unternehmen kommt es darauf an, ob der Vermögenswert einen Goodwill-bildenden Faktor darstellt. Ist dies der Fall, dann ist dieses Asset ebenfalls wie der Firmenwert nach deutschem Steuerrecht über 15 Jahre planmäßig abzuschreiben. Eine kürzere Nutzungsdauer ist nach deutschem Steuerrecht immer dann anzuwenden, wenn diese sachgerecht ist und der tatsächlichen Abnutzung des Wirtschaftsgutes entspricht. Die Berücksichtigung des TAB erfolgt unabhängig davon, ob der Unternehmenszusammenschluss auf Basis eines Share Deals oder eines Asset Deals erfolgt. Bei einem Asset Deal ist die Nutzung künftiger Steuervorteile aus dem Ansatz in der Steuerbilanz des Erwerbers evident. Dass im Falle eines Share Deals gleichwohl eine Berücksichtigung der Steuervorteile zu berücksichtigen ist, resultiert aus der Fair-Value-Konzeption des IFRS 3, wonach es für die Wertbestimmung eines Vermögenswertes keinen Unterschied machen kann, ob er im Rahmen eines Asset Deals erworben wurde oder im Rahmen eines Share Deals. Es besteht nur ein Marktpreis. Ein potentieller Erwerber, der steuerliche Vorteile nutzen kann, wird bereit sein, einen höheren Preis für einen Vermögenswert zu bezahlen, und daher zu einem höheren Marktpreis beitragen.154 152 Grant Thornton, Intangible Assets in a Business Combination, November 2013. 153 IFRS 13 B14d. 154 Kritisch zur Berücksichtigung des Tax Amortization Benefits Kasperzak/Nestler, DB 2007, 473 ff.
994
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.86 Kap. 11
Gleichwohl ist bei der Berücksichtigung des TAB zu bedenken, – ob der betreffende Vermögenswert steuerlich abzugsfähig ist, – die steuerliche Nutzungsdauer des Vermögenswertes, – die steuerliche Abschreibungsmethode, – der durchschnittliche Steuersatz. Die gesonderte Berücksichtigung von Steuereffekten kommt in der Regel nur bei kapitalwertorientierten und kostenorientierten Bewertungsansätzen in Frage; bei marktorientierten Ansätzen sind Steuereffekte bereits in den Vergleichspreisen eingearbeitet.155 Unter der Prämisse, dass für den neu berechneten Vermögenswert bisher kein Buchwert bei dem erworbenen Unternehmen bilanziert wurde, lautet die Formel für den TAB:156
11.85
TAB = BWCF × [n/(n – {[BW(DF, n, -1) × (1 + DF)^0,5] × T}) -1] BWCF N DF BW(DF, n, -1) × (1 + DF)^0,5 T
= = = =
Barwert der Cash Flows steuerliche Abschreibungsdauer Diskontierungsfaktor Barwert einer Annuität von 1 Euro über einen Zeitraum von n Jahren = Steuersatz/effektive Steuerquote
Bei dem Barwert der Annuität wurde durch den Faktor (1 + DF)^0,5 berücksichtigt, dass die internationale Bewertungspraxis annimmt, dass Cash Flows in der Mitte der Periode anfallen. Der Aufschlag des TAB im Zuge der Asset-Bewertung kann unterschiedlich dargestellt werden. Nachfolgend sollen zwei Darstellungsformen kurz gezeigt werden. Berechnung 1 Barwert der Cash Flows
Berechnung 2 100 000,00
Barwert der Cash Flows
100 000,00
Diskontierungsfaktor
10,0 %
Diskontierungsfaktor
10,0 %
Steuersatz
40,0 %
Steuersatz
40,0 %
steuerliche Abschreibungsdauer Amortization benefit Fair Value
15 Jahre 27 021,00 127 021,00
steuerliche Abschreibungsdauer Amortization benefit factor Fair Value
15 Jahre 1,270210 127 021,00
Der Amortization Benefit Factor errechnet sich aus dem Term in eckigen Klammern der obigen Formel. ee) Contributory Asset Charges (CACs) Erfolgt die Bewertung der immateriellen Vermögenswerte auf Basis der Multi-period Excess 11.86 Earnings Method (MEEM; s. Rz. 11.80) so ist zu berücksichtigen, dass die Cash Flows, die einem immateriellen Vermögenswert zuzuordnen sind, regelmäßig auch durch andere Ver155 Vgl. Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 24 f. 156 Vgl. Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 54.
Sahner/Blum 995
Kap. 11 Rz. 11.87
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
mögenswerte erwirtschaftet wurden. In den seltensten Fällen dürfte es möglich sein, die einem bestimmten Vermögenswert zuordenbaren Cash Flows vollständig zu separieren. Die MEEM unternimmt gar nicht erst den Versuch einer Separierung von Cash Flows, sondern zieht zur Bewertung des Vermögenswertes die Cash Flows des Gesamtunternehmens oder einer abgrenzbaren Business Unit heran und berücksichtigt die Ergebnisbeiträge der übrigen Vermögenswerte durch Abzug der durch diese unterstützenden Vermögenswerte entstandenen fiktiven Nutzungsentgelte, den sog. Contributory Asset Charges oder Capital Charges. Die Berechnung erfolgt auf Grundlage der Asset-spezifischen Kapitalkosten auf die Fair Values der „beisteuernden“ Vermögenswerte. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass alle an der Generierung der Cash Flows mitwirkenden Vermögenswerte miteinbezogen werden müssen. Die Basisprämisse des MEEM ist, dass sich der Fair Value des Vermögenswertes durch den Barwert des Überschusses der Cash Flows über die berücksichtigten CACs ergibt.
11.87 Theoretisch erfolgt die Ermittlung der CACs, indem die Zeitwerte der für die Cash-Flow-Erzielung erforderlichen beisteuernden Vermögenswerte festgelegt werden und auf diese die Kapitalkosten berechnet werden.157 Üblich ist aber auch die Umrechnung der Kapitalkosten in eine im Zeitablauf konstante Leasingrate in Form einer Annuität auf Basis der Wertverhältnisse zum Erwerbszeitpunkt. Zur Berücksichtigung von Veränderungen der Cash Flows (Wachstum oder Rückgang durch Kundenverluste) kann eine Veränderung der CACs in Abhängigkeit der Veränderung der Umsatzerlöse des zu bewertenden Vermögenswertes berücksichtigt werden. Im Falle der Bewertung von Marken oder Patenten, deren Bewertung üblicherweise eine ersparte Lizenz zugrunde gelegt wird, kann als CAC die Lizenz ermittelt durch Produkt aus Lizenzrate und Umsatzerlöse des zu bewertenden Vermögenswertes abgezogen werden.
11.88 Für die CACs werden je nach Risikobehaftung des Vermögenswertes spezifische Kapitalkostensätze festgelegt. Regelmäßig werden diese als WACC (Weighted Average Cost of Capital) definiert und berücksichtigen dabei neben dem risikofreien, laufzeitspezifischen Basiszinssatz eine allgemeine Marktrisikoprämie von z.B. 5 %, die mit dem Beta-Faktor der Peer Group gewichtet wird. Weiterhin ist die Kapitalstruktur der Peer Group zu berücksichtigen, um Eigen- und Fremdkapitalkosten entsprechend dem durchschnittlichen Verschuldungsgrad der Branche gewichtet zum jeweiligen Asset-spezifischen Kapitalkostensatz zu aggregieren.158 Die Herleitung von Beta-Faktor und Verschuldungsgrad aus der Peer Group soll gewährleisten, dass keine unternehmens- oder erwerberspezifischen Faktoren in die Fair Value-Bewertung der Vermögenswerte Eingang finden. Der Kapitalkostensatz soll dem mit dem Vermögenswert verbundenen spezifischen Risiko Rechnung tragen, das die Marktteilnehmer durch ein Investment in den Vermögenswert bereit sind einzugehen. Dementsprechend ist die Anwendung eines einheitlichen Risikozuschlags zur Bewertung unterschiedlicher Vermögenswerte nicht sachgerecht. Der zur Bewertung des Unternehmens verwendete WACC kann dabei als Ausgangsgröße zur Herleitung der Asset-spezifischen Kapitalkosten dienen, ist jedoch dahingehend anzupassen, ob der betreffende Vermögenswert als risikoreicher oder eher weniger risikoreich einzustufen ist als ein Investment in das Unternehmen als Ganzes.159 Anhaltspunkte für solche Anpassungen können z.B. sein:160 157 IDW S 5 Tz. 37 ff. 158 IDW S 5 Tz. 42. 159 Grant Thornton International, Intangible Assets in a Business Combination, November 2013, B27. 160 Reimsbach, Der Kapitalisierungszinssatz bei der Fair Value-Ermittlung von immateriellen Vermögenswerten – WACC vs. WARA, KoR 2011, 233.
996
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.89 Kap. 11
– Verkehrsfähigkeit oder Fungibilität des betrachteten Vermögenswertes – Höhe der Volatilität bzw. Grad der Unsicherheit der künftigen Cash Flows aus dem Vermögenswert – Umfang des rechtlichen Schutzes bei immateriellen Vermögenswerten wie Marken und Patenten – Markteintrittsbarrieren neuer Wettbewerber z.B. durch hohe Investitionen, um einen vergleichbaren Vermögenswert zu erstellen. Die nachfolgende Tabelle gibt eine Übersicht über die bei unserer Beispiels-„Purchase Price Allocation“ verwendeten Diskontierungssätze: WettAnlageKundenNet working vermögen beziehun- bewerbsverbot gen Capital Nutzungsdauer Risikofreier Zins Marktrisikoprämie Beta Risikozuschlag Anpassung Risikozuschlag Risikozuschlag Eigenkapitalkosten Risikofreier Zins Credit spreads Fremdkapitalkosten vor Steuern Ertragsteuern Fremdkapitalkosten Fremdkapitalquote (Peer Group) Eigenkapitalquote Asset capital costs
Mitarbeiterstamm
Marken- Technoname logie
5 Jahre
10 Jahre
5 Jahre
8 Jahre
3,50 % 5% 1,20 6%
4,10 % 5% 1,20 6%
3,50 % 5% 1,20 6%
4,05 % 5% 1,20 6%
0%
2%
5%
2%
6% 9,50 %
8% 12,10 %
11 % 14,50 %
8% 12,05 %
3% 0,95 %
3,50 % 1,35 %
4,10 % 1,40 %
3,50 % 1,35 %
4,05 % 1,37 %
4,30 % 1,90 %
4,10 % 1,40 %
3,95 %
4,85 %
5,50 %
4,85 %
5,42 %
6,20 %
5,50 %
-1,19 % 2,77 %
-1,46 % 3,40 %
-1,65 % 3,85 %
-1,46 % 3,40 %
-1,63 % 3,79 %
100 %
30 %
30 %
30 %
30 %
30 %
30 %
0,0 %
70,0 %
70,0 %
70,0 %
70,0 %
70,0 %
70,0 %
2,77 %
7,67 %
9,63 %
11,17 %
9,57 %
, 1 Jahr
Unbe- 10 Jahre stimmt 4,30 % 4,10 % 5% 5% 1,20 1,20 6% 6% 5%
4%
11 % 10 % 15,30 % 14,10 %
-1,86 % -1,65 % 4,34 % 3,85 %
12,01 % 11,03 %
Die CACs stellen eine Schätzung über das Entgelt dar, das ein typischer Marktteilnehmer zu zahlen hätte, wenn er diese unterstützenden Vermögenswerte nutzen will. Die CACs beinhalten grundsätzlich zwei Komponenten: – den Rückfluss des eingesetzten Kapitals (Return of Investment) – die Verzinsung auf das eingesetzte Kapital (Return on Investment)
Sahner/Blum 997
11.89
Kap. 11 Rz. 11.90
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
Der Rückfluss des eingesetzten Kapitals erfolgt üblicherweise durch Ansatz von Abschreibungen, die bilanziell die erwirtschafteten Abschreibungsgegenwerte repräsentieren, die ein Dritter als Erstattung des ursprünglich eingesetzten Kapitals erwartet. Die Verzinsung des eingesetzten Kapitals wird über die Rückzahlung des ursprünglich investierten Kapitals hinaus als Überlassungsentgelt für das zur Verfügung gestellte Kapital erwartet. Leasingraten beinhalten üblicherweise sowohl einen Kapital- oder Tilgungsanteil als auch eine Verzinsungskomponente.
11.90 Vorsicht ist bei der Ermittlung der CACs im konkreten Einzelfall geboten, wenn eine Unternehmensplanung zur Bewertung herangezogen wird, die ggf. nicht alle unterstützenden Vermögenswerte beinhaltet. Es muss eine Abstimmung zwischen Unternehmensplanung und CACs erfolgen, die eine Identifikation aller erforderlichen unterstützenden Vermögenswerte zum Gegenstand hat und beurteilt, ob bereits Aufwendungen für die eingesetzten Vermögenswerte berücksichtigt sind.161 So können im Marketingbudget bereits Kosten für die Erhaltung der Marke enthalten sein. Auch Ausgaben für Forschung und Entwicklung oder für das Net Working Capital können bereits in der Planung berücksichtigt sein. Diese sind entweder zu eliminieren, um die CACs der Marke bzw. eines Entwicklungsprojekts in voller Höhe ansetzen zu können, oder die CACs sind entsprechend zu korrigieren. Demgegenüber sind die Opportunitätskosten der Nutzung unterstützender Vermögenswerte (Kapitalkosten, Return on Investment) üblicherweise nicht in der Unternehmensplanung abgebildet. Erfolgt die Anwendung des MEEM nicht auf Basis von Cash Flows, sondern von Erträgen inkl. Abschreibungen, sind als CACs nur die jeweiligen Verzinsungskomponenten zu berücksichtigen. Wichtig ist, dass die CACs Nachsteuergrößen sind, da Ertragsteuern – wie in obiger Tabelle ersichtlich – auf die Kapitalkosten abgezogen worden sind. Dies bedeutet, dass die CACs bei der Ermittlung des Fair Values des Vermögenswertes erst abgezogen werden dürfen, nachdem zuvor die Ertragsteuern auf die Cash Flows abgezogen wurden.
11.91 Zur Plausibilisierung der Purchase Price Allocation und insbesondere der angesetzten CACs empfiehlt es sich, die ermittelten Fair Values aller Vermögenswerte und Schulden des erworbenen Unternehmens mit ihren Asset-spezifischen Kapitalkosten sowie ihrem jeweiligen Anteil am Gesamtvermögen des Unternehmens zu multiplizieren. Die Summe dieser gewichteten Kapitalkostensätze (Weighted Average Return on Assets, WARA) muss wiederum – zumindest annähernd – den WACC für das Gesamtunternehmen ergeben (Return-Test oder WACC-WARA-Analyse).162 Dies zeigt dann eine in sich konsistente Bewertung der Gesamtheit der einzelnen erworbenen Vermögenswerte an.163 5. Goodwill
11.92 Der Goodwill stellt nach den IFRS einen Vermögenswert dar, der einen dauerhaften Wertbeitrag liefert und sich nicht planmäßig abnutzen wird. Es ist jedoch zu überprüfen, ob der Goodwill in den Folgeperioden außerplanmäßig in seinem Wert gemindert wird. 161 IDW S 5 Rz. 38. 162 Grant Thornton, Intangible Assets in a Business Combination, November 2013. 163 Reimsbach, Der Kapitalisierungszins bei der Fair-Value-Ermittlung von immateriellen Vermögenswerten – WACC vs. WARA, KoR 2011, 230–235.
998
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.97 Kap. 11
Der nicht durch die Purchase Price Allocation verteilte Restbetrag des Kaufpreises wird auch als Kern-Goodwill („core goodwill“) bezeichnet. Der Kern-Goodwill umfasst neben nicht separierbaren immateriellen Vermögenswerten im Wesentlichen Synergievorteile und den Mitarbeiterstamm („assembled workforce“). 6. Behandlung eines negativen Goodwill Übersteigen die Fair Values der erworbenen Vermögenswerte und Schulden den Kaufpreis, so entsteht ein Überschuss des erworbenen Nettovermögens über die Anschaffungskosten. Dieser Überschuss führt im Rahmen der Kaufpreisallokation zu einem negativen Goodwill. Nach den Vorgaben von IFRS ist der überschießende Betrag nach einer Kontrolle der Bewertung direkt als Ertrag zu verbuchen (vgl. hierzu Rz. 11.50).164
11.93
7. Latente Steuern Der Erwerber hat einen latenten Steueranspruch oder eine latente Steuerschuld aus bei einem Unternehmenszusammenschluss erworbenen Vermögenswerten und übernommenen Schulden gemäß IAS 12 anzusetzen und zu bewerten.165 Im Rahmen von Unternehmenszusammenschlüssen spielen latente Steuern eine wesentliche Rolle. Der Ansatz bzw. Nichtansatz von latenten Steuern hat direkten Einfluss auf die Höhe des Goodwill.166 Eine Steuerlatenz resultiert aus unterschiedlichen Wertansätzen in Steuerbilanz und „Handelsbilanz“. Die unterschiedlichen Wertansätze können zeitlich begrenzt, jedoch auch permanenter Natur sein.167 Maßgeblich ist der Steuersatz des erworbenen Unternehmens, der im Zeitpunkt des tatsächlichen Anfalls der Steuern gilt. Dabei kommt es nach dem Temporary-Konzept auf den Unterschied in den Bilanzansätzen der Vermögenswerte und Schulden zwischen IFRS-Bilanz und Steuerbilanz an.
11.94
Die Aufdeckung stiller Reserven und Lasten durch die Neubewertung von Vermögenswerten und Schulden im Rahmen der Purchase Price Allocation führt zu solchen unterschiedlichen Wertansätzen. Im Rahmen der Kaufpreisverteilung sind daher auf die ermittelten Werte latente Steuern zu bilden. Hierbei sind auf den verbleibenden Goodwill keine latenten Steuern zu berechnen.168
11.95
Aus Vereinfachungsgründen wird in unserem Basisbeispiel auf den Ausweis und die Berechnung von latenten Steuern verzichtet.
11.96
Zurück zu dem Beispiel (Rz. 11.53 ff.):
11.97
Durch die Überschneidung der Berichtseinheiten Luftfahrttechnik bei Unternehmen A und B werden diese für Bilanzierungszwecke künftig zusammengefasst dargestellt werden. Ferner ist anzunehmen, dass das Unternehmen A die Cash Generating Unit Raumfahrttechnik zukünftig als vierte separate Cash Generating Unit darstellen wird. Die neue Cash Generating Unit-Struktur von Unternehmen A stellt sich wie folgt dar:
164 165 166 167 168
Vgl. IFRS 3.34 ff. Vgl. IFRS 3.24. Vgl. Lüdenbach, Unternehmenszusammenschlüsse, in Haufe IFRS-Kommentar, § 31 Rz. 165. Vgl. App, KoR 2003, 209 (210). Vgl. App, KoR 2003, 209 (211).
Sahner/Blum 999
Kap. 11 Rz. 11.102
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
Unternehmen A (neu)
Automobiltechnik
Schienenfahrzeugtechnik
Luftfahrttechnik
Raumfahrttechnik
Abb. 6: Übersicht über die Cash Generating Units des Investors A nach Integration des Zielunternehmens B
11.98–11.101 Einstweilen frei.
III. Bewertungsvorgehen für ausgewählte immaterielle Vermögenswerte 1. Kundenstamm/„Customer Relationship“
11.102 Der Wert eines vorhandenen Kundenstamms liegt für potentielle Erwerber im gesparten Zeitund Marketingaufwand bei dem alternativen Aufbau eines eigenen Kundenstamms begründet. Bei der Bewertung eines Kundenstamms kommt es darauf an, dass die zu bewertenden Kunden bekannt sind. So genannte Laufkundschaft („Customer Base“), die aus einer Vielzahl nicht bekannter Kunden besteht, kann und darf nicht bewertet werden (vgl. hierzu Rz. 11.67). Sowohl FASB als auch IASB nennen in ihren Standards vier verschiedene Arten von Kundenbeziehungen: Kundenlisten, Stammkundenbeziehungen ohne aktuelles Vertragsverhältnis, Vertragskunden und Auftragsbestände.169
11.103 Für die Bewertung von Kundenbeziehungen wird häufig ein einkommensorientierter Bewertungsansatz verwendet: der Multi-period Excess Earnings Approach.170 Dieser wird im Regelfall für die immateriellen Vermögenswerte angewendet, die den größten Bezug zu Umsatzund Cash-Flow-Größen haben.171 Dieser Bewertungsansatz misst die Ertragsströme aus dem zum Bewertungsstichtag vorhandenen Kundenstamm. Dabei reduzieren sich die Ertragsströme nach Maßgabe der Kundenabwanderungsrate oder Churn Rate (auch Attrition Rate), welche die jährliche Reduktion der Altkunden abbilden soll.172 Die Churn Rate hängt sowohl von lokalen Bevölkerungsentwicklungen als auch von Wettbewerbseffekten ab. Es bietet sich in der Praxis an, zur Ermittlung der Churn Rate auf Vergangenheitsanalysen und Prognosen (externe und interne) aufzubauen. Ferner werden bei der Bewertung neben operativen Kosten die „Contributory Asset Charges“ abgesetzt (vgl. hierzu Rz. 11.86).
11.104 Im Folgenden – unabhängig von unserem gewählten Fall – Beispiel soll eine detaillierte Kundenstammbewertung für ein Unternehmen beschrieben werden, das sowohl Privatkun169 170 171 172
Vgl. Lüdenbach/Prusaczyk, KoR 2004, 204. Vgl. Lüdenbach/Prusaczyk, KoR 2004, 204 (210). Vgl. Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 56; I. Schmidt, S. 315 f.; Jäger/Himmel, BFuP 2003, 417 (434). Vgl. Frowein/Lüdenbach, FB 2003, 65 (71); Lüdenbach/Prusaczyk, KoR 2004, 204 (210).
1000
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.104 Kap. 11
den als auch Geschäftskunden betreut. Für beide Kundensegmente werden die zurechenbaren Ertragsströme separiert durch Aufteilung der Umsatzerlöse, kundenspezifischen Rohmarge sowie sonstigen Aufwendungen und der segmentspezifischen Churn Rate. Kundensegmente Gesamtbereich Privatkunden Geschäftskunden Sonstige Privatkunden (PK)
Umsatzerlöse Anteil in % Anteil in % Anteil in % Umsatzerlöse Churn Rate (5 %) Umsatzerlöse PK Rohmarge (45 %) Operative Kosten (30 %) NOI vor Steuern Steuern (40 %) NOI nach Steuern Capital Charges Residual Cash Flow
Kundensegmente Geschäftskunden (GK) Umsatzerlöse Churn Rate (10 %) Umsatzerlöse GK Rohmarge (46 %) Operative Kosten (25 %) NOI Steuern (40 %) NOI nach Steuern Capital Charges Residual Cash Flow Summe Free Cash flows Barwertfaktor 17 % Barwerte Summen der Barwerte Berechnung des Tax Amortization Benefit Diskontierungsfaktor Effektive Steuerquote Abschreibungsdauer (Jahre) Amortization Benefit Factor Fair Value des Kundenstamms
Jahr 1 Jahr 2 Jahr 3 Jahr 4 Jahr 5 TEuro TEuro TEuro TEuro TEuro 20 550 22 194 23 748 25 529 27 699 35 % 36 % 37 % 38 % 40 % 35 % 38 % 39 % 38 % 37 % 30 % 26 % 24 % 24 % 23 % 7 193 95 % 6 833 3 075 2 050 1 025 410 615 375 240
7 990 90 % 7 211 3 245 2 163 1 082 433 649 375 274
8 787 86 % 7 533 3 390 2 260 1 130 452 678 375 303
9 701 11 079 81 % 77 % 7 901 8 573 3 556 3 858 2 370 2 572 1 185 1 286 474 514 711 772 375 375 336 397
Jahr 1 Jahr 2 Jahr 3 Jahr 4 Jahr 5 TEuro TEuro TEuro TEuro TEuro 7 193 8 434 9 262 9 701 10 248 90 % 81 % 73 % 66 % 59 % 6 473 6 831 6 752 6 365 6 052 2 978 3 142 3 106 2 928 2 784 1 618 1 708 1 688 1 591 1 513 1 359 1 435 1 418 1 337 1 271 544 574 567 535 508 816 861 851 802 763 350 350 350 350 350 466 511 501 452 413 706 785 804 788 809 0,8547 0,7305 0,6244 0,5337 3,1391 603 573 502 421 2 540 4 638
17 % 40 % 15 1,1814 5 480
Sahner/Blum 1001
Kap. 11 Rz. 11.105
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
11.105 Im Fallbeispiel handelt es sich um ein innovatives Technologieunternehmen, welches durch Vertrieb und Produktion hochsensibler Navigationssysteme seine Cash Flows generiert. Die Umsätze und Cash Flows des Unternehmens begründen sich hauptsächlich durch die technologischen Vorteile der Produkte. Daher wird für die Bewertung des Kundenstamms des Beispielunternehmens auf einen kostenorientierten Bewertungsansatz zurückgegriffen. Für den kostenorientierten Ansatz ist es notwendig, die genauen Kosten für die Gewinnung der Neukunden eines angemessenen Vergleichszeitraums zu ermitteln. Z.B. könnte eine prozentuale Aufteilung der Vertriebsmitarbeiter auf Altkundenbetreuung und Neukundenakquisition erfolgen. Kosten für Abteilungen, die sich lediglich mit Bestandskunden beschäftigen, sind außer Betracht zu lassen.173 Im Fallbeispiel wird angenommen, dass die Kosten für die Neukundengewinnung im gleichen Verhältnis zu den gesamten Vertriebskosten stehen wie die Neukundenumsätze zu den Gesamtumsätzen. Die Kundenstammbewertung könnte im Beispiel wie folgt durchgeführt werden:174 Jahr
Marketing- und Vertriebs- Anteil Neukunden Anteilige Kosten Anzahl kosten vor Steuern am Gesamtumsatz Neukunden Neukunden TEuro % TEuro
1 2 3 4 5
1 500 1 325 1 400 1 550 1 650
4,23 % 3,76 % 3,90 % 4,20 % 5%
Ermittlung Fair Value des Kundenstamms Anteilige Marketing- und Vertriebskosten Neukunden vor Steuern abzgl. Steuern (effektive Steuerquote 40 %) Anteilige Marketing- und Vertriebskosten Neukunden nach Steuern Anteilige Marketing- und Vertriebskosten je Neukunden Anzahl Kunden des zu bewertenden Kundenstamms Wiederbeschaffungskosten des Kundenstamms Berechnung des Tax Amortization Benefit Diskontierungsfaktor Effektive Steuerquote Abschreibungsdauer (Jahre) Amortization Benefit Factor Fair Value des Kundenstamms
173 Vgl. Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 56. 174 Vgl. Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 56 ff.
1002
Sahner/Blum
63 50 55 65 83 315 in TEuro 315 -126 189 9,96 156 1 554
15 % 40 % 15 1,2008 1 866
3 2 4 5 5 19
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.108 Kap. 11
In dem vorangegangenen Bewertungsbeispiel wird deutlich, dass der Umsatz des Unternehmens zu 100 % mit den dem Unternehmen bekannten Kunden generiert wird. Der Kundenkreis von 156 Kunden vertraut seit Jahren auf die hoch technisierten Navigationssysteme von hoher Qualität. Auf dem engen Markt ist es schwierig, neue Kunden zu gewinnen. Dies ist vor allem daran zu erkennen, dass das Unternehmen Jahr für Jahr nur wenige Neukunden zu verzeichnen hat. Bei geschätzten Wiederbeschaffungskosten je Kunde i.H.v. 10 TEuro ergibt sich ein Wiederbeschaffungswert des Kundenstamms i.H.v. 1 554 TEuro. Nach Berücksichtigung des Tax Amortization Benefit“ i.H.v. 312 TEuro beträgt der Fair Value des Kundenstamms rd. 1,9 Mio. Euro. 2. Markenname/„Trade Name“ Der Wert einer Marke oder eines Markennamens liegt im Wesentlichen darin begründet, dass Kunden sich aus der Marke einen Vorteil versprechen und somit dem Unternehmen einen finanziellen Beitrag leisten. Eine Differenzierung über die Marke verspricht dem Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil aus einer vereinfachten Neukundengewinnung durch den Bekanntheitsgrad der Marke. Ferner bewirkt eine starke Marke eine hohe Kundenbindung bzw. geringere Wechselbereitschaft der bestehenden Kunden aus Liefer- und Leistungsverträgen.
11.106
„Menschen und Marken statt Maschinen“, so titelt die Neue Zürcher Zeitung.175 Ein Vortrag 11.107 im Rahmen der Aachener Wirtschaftsgespräche stand unter dem Thema „Das Unternehmen als Marke – Das Ansehenskapital von Unternehmen wird wichtiger als ihr Stammkapital“.176 Bei einem Unternehmenskauf entfällt heute regelmäßig ein erheblicher Kaufpreisanteil auf die Marke. Dieser in der Regel vom Verkäufer selbst geschaffene Vermögenswert steht aufgrund des Aktivierungsverbots nicht in der Bilanz des Verkäufers177 und führt im Rahmen von IFRS 3 zu identifizierbaren und somit bewertungsfähigen immateriellen Vermögenswerten. Für die Bewertung eines Markennamens wird neben dem kostenorientierten Ansatz, welcher 11.108 die Aufwendungen für die Etablierung einer vergleichbaren Marke im Marktumfeld z.B. durch Beauftragung einer Werbeagentur bewertet, häufig der ertragsorientierte Bewertungsansatz „Relief from Royalties Method“ gewählt.178 Die Ermittlung des Fair Values des Markennamens erfolgt hierbei auf Basis von nicht angefallenen, fiktiven Lizenzgebühren für die Verwendung des Markennamens für den Vertrieb eines Produktes. Als Datenbasis dienen Informationen über die bisherige Lebensdauer der Marke (Markenhistorie), die Anzahl der mit dieser Marke erreichbaren Kunden sowie die strategische Ausrichtung für die zukünftige Nutzung oder Entwicklung. Unter der Berücksichtigung der vorgenannten Faktoren werden Lizenzgebühren („royalty rates“) prozentual vom prognostizierten, markenbezogenen Umsatz bzw. von einer markenrelevanten Rohmarge berechnet.179 Die umsatzbezogene Quote wird in der Regel aus vergleichbaren Markentransaktionen abgeleitet. Branchenübliche Royalty-Sätze können durch Recherchen in kommerziellen Datenbanken für diese speziellen Transaktionen aus Plausibilisierungsgründen berücksichtigt werden.180 Nach Abzug der Un-
175 176 177 178 179 180
Vgl. o.V., Neue Zürcher Zeitung v. 29.1.2001, S. 6. Vgl. Michael, Das Unternehmen als Marke. Vgl. Aders/Wiedemann, FB 2001, 469. Vgl. Frowein/Lüdenbach, FB 2003, 65 (71). Vgl. Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 61. Vgl. Frowein/Lüdenbach, FB 2003, 65 (71).
Sahner/Blum 1003
Kap. 11 Rz. 11.109
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
ternehmenssteuern wird die jährliche Ersparnis mit dem für die Marke festgelegten Diskontierungsfaktor auf den Barwert zum Bewertungsstichtag diskontiert.181 In der Literatur werden neben den oben diskutierten Ansätzen ebenfalls der Incremental Cash Flow-Approach sowie der Multi-period Excess Earnings-Ansatz besprochen.182
11.109 Die nachfolgende Bewertung zeigt die Bewertung der erworbenen Marke „NaviPro“.183 Die Datenbankrecherche ergab einen durchschnittlichen Royalty-Satz i.H.v. 3 % des markenbezogenen Umsatzes.
Umsatz Anteil markenrelevanter Umsatz Markenrelevante Umsätze Relief from royalty (3 %) vor Steuern abzgl. Steuern (effektive Steuerquote 40 %) Relief from royalty nach Steuern
Jahr 1
Jahr 2
Jahr 3
Jahr 4
TEuro
TEuro
TEuro
TEuro
20 550
22 194
23 748
25 529
80 %
80 %
75 %
70 %
16 440
17 755
17 811
17 870
493
533
534
536
-197
-213
-214
-214
296
320
321
322
0,8696
0,7561
0,6575
0,5718
Barwert
257
242
211
184
Summe der Barwerte
894
Barwertfaktor
Berechnung des Tax Amortization Benefit Diskontierungsfaktor
15 %
Effektive Steuerquote
40 %
Abschreibungsdauer (Jahre)
15
Amortization Benefit Factor
1,2008
Fair Value Marke „NaviPro“
1 073
Die Marke „NaviPro“ wird vom Unternehmen B für eine spezielle Serie im Bereich der Luftfahrttechnik eingesetzt. Da Unternehmen A plant, die Serie Ende Jahr 4 einzustellen, werden nur die markenrelevanten Umsätze bis Jahr 4 berücksichtigt. An den Umsätzen ist bereits in Jahr 3 deutlich die Abnahme durch das geplante Auslaufen der Serie „NaviPro“ zu erkennen. Nach Diskontierung der Cash Flows und Hinzufügen des Tax Amortization Benefit ergibt sich ein Fair Value der Marke i.H.v. rd. 1,1 Mio. Euro. Ist demgegenüber davon auszugehen, dass die erworbene Marke dauerhaft eingesetzt wird, ist i.d.R. von einer unbestimmten Nutzungsdauer der Marke auszugehen. Dann wäre ab 2004 eine ewige Rente zu berechnen und der Summe der Barwerte hinzuzurechnen. Dann 181 Vgl. Aders/Wiedemann, FB 2001, 469 (470). 182 Vgl. Aders/Wiedemann, FB 2001, 469 (476 f.). 183 Der Markenname „NaviPro“ wurde für das Bewertungsbeispiel erfunden.
1004
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.112 Kap. 11
käme auch der Impairment-only-approach des IAS 36 zum tragen. Eine planmäßige Abschreibung scheidet bei unbestimmter Nutzungsdauer aus. 3. Wettbewerbsverbot/„Noncompete Agreement“ Bei der vertraglichen Gestaltung eines Unternehmenserwerbs werden häufig Klauseln mit einem Wettbewerbsverbot verwendet. Diese sollen dem Käufer die Sicherheit geben, dass der Verkäufer nicht unmittelbar nach dem Verkauf seines Unternehmens wieder in Wettbewerb mit dem verkauften Unternehmen tritt. Üblicherweise werden Wettbewerbsverbotsklauseln über ein bis fünf Jahre abgeschlossen.
11.110
Die Bewertung des „Noncompete Agreement“ kann auf verschiedene Weisen erfolgen. Teilweise werden bei dieser Art von Verträgen bzw. Vertragsbedingungen Extrazahlungen ausgelöst, die für eine Bewertung verwendet werden können. Eine gängige Lösung ist der Vergleich der Unternehmenswerte mit und ohne Wettbewerbsverbot.184 Hierzu können in den der Bewertung zugrunde liegenden Planungsrechnungen verschiedene Prämissen gesetzt werden. Diese können beispielweise eine schlechtere Wachstumsrate bei den Umsätzen, eine schwächere Rohmarge sowie höhere Marketing- und Vertriebsaufwendungen bedeuten.
11.111
Die Ermittlung des Unternehmenswertes mit Wettbewerbsverbot für das Beispiel kann wie folgt berechnet werden:
11.112
Umsatz
Jahr 1
Jahr 2
Jahr 3
Jahr 4
Jahr 5
ab Jahr 6
TEuro
TEuro
TEuro
TEuro
TEuro
TEuro
20 550
22 194
23 748
25 529
27 699
29 914
-
8,0 %
7,0 %
7,5 %
8,5 %
8,0 %
10 070
10 764
11 399
12 356
13 462
14 509
49,0 %
48,5 %
48,0 %
48,4 %
48,6 %
48,5 %
1 510
1 615
1 710
1 853
2 019
2 176
8 559
9 149
9 689
10 502
11 442
12 332
-3 424
-3 660
-3 876
-4 201
-4 577
-4 933
5 135
5 490
5 813
6 301
6 865
7 399
0,9320
0,8686
0,8095
0,7544
0,7031
9,6312
4 786
4 768
4 706
4 754
4 827
71 264
Wachstumsrate Rohertrag Rohertragsquote Andere Kosten
15,0 %
NOI vor Steuern Steuern
40,0 %
NOI nach Steuern
Barwertfaktor Barwerte Summe der Barwerte
7,3 %
95 105
Durch den Wegfall des Wettbewerbsschutzes kann davon ausgegangen werden, dass das angestrebte Umsatzwachstum bei Eintritt eines neuen Wettbewerbers in den Markt nicht erreicht werden kann. Ferner sind Absatzpreise durch die sich ändernde Preissensitivität der Marktteilnehmer nach unten zu korrigieren. Einsetzende Preiskämpfe können diesen Effekt noch weiter verstärken. Durch die erhöhten Aktivitäten am Markt wird es außerdem not184 Vgl. Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 62.
Sahner/Blum 1005
Kap. 11 Rz. 11.112
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
wendig sein, durch erhöhte Marketing- und Vertriebsaktivitäten die Präsenz des Unternehmens am Markt zu steigern. Die Prämissen für die Unternehmensbewertung könnten somit wie folgt angepasst werden: Unternehmensbewertung mit Wettbewerbsverbot Jahr 1 Wachstumsrate Umsatz
Jahr 2
Jahr 3
Jahr 4
Jahr 5
ab Jahr 6
-
8,0 %
7,0 %
7,5 %
8,5 %
8,0 %
Rohertragsquote
49,0 %
48,5 %
48,0 %
48,4 %
48,6 %
48,5 %
Andere Kosten (inkl. Vertrieb, Marketing)
15,0 %
15,0 %
15,0 %
15,0 %
15,0 %
15,0 %
Unternehmensbewertung ohne Wettbewerbsverbot Jahr 1
Jahr 2
Jahr 3
Jahr 4
Jahr 5
ab Jahr 6
-
7,5 %
6,5 %
7,0 %
8,0 %
7,5 %
Rohertragsquote
48,5 %
48,0 %
47,5 %
47,9 %
48,1 %
48,0 %
Andere Kosten (inkl. Vertrieb, Marketing)
15,5 %
15,5 %
15,5 %
15,5 %
15,5 %
15,5 %
Wachstumsrate Umsatz
Die Unternehmensbewertung ohne installiertes Wettbewerbsverbot unter den neuen Bewertungsprämissen führt demnach zu einem niedrigeren Unternehmenswert. Die Bewertung könnte hiernach wie folgt aussehen:
Umsatz
Jahr 1
Jahr 2
Jahr 3
Jahr 4
Jahr 5
ab Jahr 6
TEuro
TEuro
TEuro
TEuro
TEuro
TEuro
20 550
22 091
23 527
25 174
27 188
29 227
-
7,5 %
6,5 %
7,0 %
8,0 %
7,5 %
9 967
10 604
11 175
12 058
13 077
14 029
Rohertragsquote
48,5 %
48,0 %
47,5 %
47,9 %
48,1 %
48,0 %
Andere Kosten
1 545
1 644
1 732
1 869
2 027
2 174
NOI vor Steuern
8 422
8 960
9 443
10 189
11 050
11 855
-3 369
-3 584
-3 777
-4 076
-4 420
-4 742
5 053
5 376
5 666
6 114
6 630
7 113
0,9320
0,8686
0,8095
0,7544
0,7031
9,6312
4 709
4 669
4 586
4 612
4 662
68 504
Wachstumsrate Rohertrag
Steuern
40,0 %
NOI nach Steuern
Barwertfaktor Barwerte Summe der Barwerte
7,3 %
91 743
Die Differenz aus den ermittelten Unternehmenswerten stellt den eigentlichen finanziellen Vorteil aus dem Wettbewerbsverbot dar. Aufgrund der Unsicherheit, zum einen ob der Verkäufer zukünftig in Wettbewerb mit der Gesellschaft gehen wird, und zum anderen ob die1006
Sahner/Blum
D. Abbildung des Beteiligungserwerbs im Konzernabschluss
Rz. 11.114 Kap. 11
ses Vorhaben erfolgreich für den Verkäufer verlaufen würde, wird in der Regel ein Sicherheitsabschlag vorgenommen.185 Die Einschätzung des Wahrscheinlichkeitsfaktors kann sich nur aus Gesprächen mit dem Management bzw. dem Verkäufer ergeben. Im Bewertungsbeispiel wird davon ausgegangen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Verkäufer wieder in Wettbewerb tritt, als sehr gering einzuschätzen ist. Die vergleichende Darstellung der Unternehmenswerte kann wie folgt aussehen: TEuro Unternehmenswert – mit Wettbewerbsverbot
95 105
– ohne Wettbewerbsverbot
91 743
Finanzieller Vorteil aus „noncompete agreement“
3 362
Wahrscheinlichkeitsfaktor
30 %
Fair Value Wettbewerbsverbot
1 009
Nach der Gewichtung des finanziellen Vorteils aus dem Wettbewerbsverbot ergibt sich ein Fair Value für das Noncompete Agreement i.H.v. rund 1 Mio. Euro. 4. Technologie, Forschung & Entwicklung/„Technology, In Process Research & Development“ Unterhält das erworbene Unternehmen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten (kurz F&E) oder ist geplant, Vermögenswerte des Unternehmens für solche Zwecke zu nutzen, so können Teile des Kaufpreises auf Entwicklungsprojekte verteilt werden. Bei vielen Akquisitionen wird ein zum Teil beachtlicher Anteil des Kaufpreises für vorangegangene Forschungsund Entwicklungsprojekte gezahlt.186 Beispiele für Vermögenswerte sind Patente, SoftwareRechte, Basis- und Kern-Technologien, spezielle in Arbeit befindliche F&E-Projekte sowie technische Anleitungen und Zeichnungen.187 Kosten für Forschungsprojekte sind direkt als Aufwand zu erfassen. Entwicklungsprojekte dagegen dürfen unter bestimmten Voraussetzungen angesetzt werden.188 Zu den Vermögenswerten, die einer alternativen zukünftigen Nutzung entgegensehen, gehören beispielsweise Gebäude, in denen F&E-Aktivitäten stattfinden, die auch zu anderen Zwecken genutzt werden können. Sollten jedoch spezielle Maschinen für ein Technikum angeschafft werden, sind diese nicht zu aktivieren, sondern sind als Aufwand zu verbuchen.
11.113
Voraussetzung für eine Bewertung der erworbenen Assets, die aus diesen F&E-Aktivitäten 11.114 und -Projekten resultieren, ist, dass der wirtschaftliche Nutzen dieser Vermögenswerte mit einer angemessenen Verlässlichkeit geschätzt oder bestimmt werden kann. Das Forschungsprojekt muss über das Stadium der reinen Konzeptionalisierung hinaus so greifbar sein, dass es mit hinreichender Verlässlichkeit bewertet werden kann (Substanz). Ferner
185 186 187 188
Vgl. Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 66. Vgl. Wiley GAAP 2004, S. 433. Vgl. AICPA Practice Aid, S. 61. Vgl. IAS 38, Rz. 54, 57.
Sahner/Blum 1007
Kap. 11 Rz. 11.115
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
müssen noch konstruktionstechnische oder technologische Risiken bestehen (Unvollständigkeit). Zur Bewertung sollten folgende Komponenten betrachtet werden:189 – der Markt für das Produkt, – Zeit für die Kommerzialisierung und Vermarktung des Produktes, – potentielle Kunden/Käufer und Marktdurchdringung, – Effekte aus bestehenden oder zukünftigen Produkten von Wettbewerbern, – der kombinierte Marktanteil des Unternehmens, – der Verkaufspreis sowie – Produktionskosten und andere Kosten des Produktes.
11.115 Die Bewertung nach der „Multi-period Excess Earnings Method“ bringt die erwarteten Kosten inklusive der Kapitalkosten der für den F&E-Prozess benötigten Vermögenswerte des Unternehmens in Abzug von den aus den F&E-Aktivitäten erwarteten Umsätzen. Sind die oben genannten Voraussetzungen für eine Bewertung von Technologie und F&E-Aktivitäten erfüllt, so sind folgende Schritte für die Bewertung durchzuführen:190 1. Auswahl der Unternehmensplanung, die am besten den endgültigen Kaufpreis widerspiegelt; 2. Entwicklung und Dokumentation der Schlüsselprämissen, die der Unternehmensplanung zugrunde liegen, und Prüfung, ob diese den Management-Vorstellungen entsprechen; 3. Eliminierung der Synergien, die von Marktteilnehmern nicht bewertet werden würden, aus der Unternehmensplanung; hieraus ergibt sich die angepasste Unternehmensplanung; 4. Identifizierung der erworbenen Vermögenswerte inklusive der für F&E-Aktivitäten erworbenen Vermögenswerte; 5. Bestätigung der Existenz von Vermögenswerten, die für F&E-Projekte genutzt werden, inklusive spezifische in der Entwicklung befindliche F&E-Projekte; 6. Eliminierung der Effekte aus Aktivitäten, die nicht In Process Research & Developmentbezogen sind; hieraus ergibt sich die endgültig zugrunde zu legende Unternehmensplanung für die Bewertung der F&E-Projekte; 7. Anrechnung von „Contributory Asset Charges“ auf Vermögenswerte, die für den F&EProzess benötigt werden; 8. Berechnung des Barwertes der Cash Flows aus der endgültigen Unternehmensplanung unter Berücksichtigung eines angemessenen Diskontierungszinssatzes; 9. Berechnung des steuerlichen Vorteils von Abschreibungen; 10. Prüfung der Angemessenheit der ermittelten Werte im Vergleich zu den Werten der anderen Vermögenswerte und dem Gesamtkaufpreis. 189 Vgl. Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 29; ähnlich die Regelungen des IASB vgl. Wendlandt/Vogler, KoR 2003, 66 (68). 190 Vgl. AICPA Practice Aid, S. 69.
1008
Sahner/Blum
E. Werthaltigkeitstests/Folgekonsolidierung nach IAS 36
Rz. 11.118 Kap. 11
5. Bewertungsergebnis/Berechnung des Goodwill Die oben ermittelten Fair Values der immateriellen Vermögenswerte fließen in das Schema 11.116 der Kaufpreisverteilung ein. Hierzu müssen ebenfalls die Fair Values der materiellen Vermögenswerte sowie der Schulden ermittelt worden sein. Neben den beisteuernden materiellen Vermögenswerten und den beisteuernden Vermögenswerten des Umlaufvermögens konnten noch weitere Vermögenswerte identifiziert werden, die nicht direkt Beiträge zur Erzielung von Cash Flows bewirken. Die Fair Values der materiellen Vermögenswerte des erworbenen Unternehmens betragen 65 000 TEuro, das Umlaufvermögen wurde mit einem Fair Value i.H.v. 40 000 TEuro bewertet. Ferner wurden langfristige Verbindlichkeiten i.H.v. 50 000 TEuro und kurzfristige Verbindlichkeiten i.H.v. 22 000 TEuro eingegangen. Nach Durchführung der Bewertungsarbeiten im Rahmen der Purchase Price Allocation im Basisbeispiel ergibt sich folgendes Ergebnis:191 Kaufpreisverteilung
TEuro
Kaufpreis
95 000
Langfristige Verbindlichkeiten
50 000
Kurzfristige Verbindlichkeiten
22 000
Abzüglich Fair Value materielle Vermögenswerte
65 000
Abzüglich Fair Value Umlaufvermögen
40 000
11.117
Abzüglich Fair Value immaterielle Vermögenswerte – Kundenstamm
1 866
– Markenname
1 073
– Wettbewerbsverbot
1 009
Verbleibender Goodwill
58.052
Der verbleibende Goodwill ist in der Folge als nicht abnutzbarer Vermögenswert zu behandeln und im Rahmen jährlich durchzuführender Wertminderungstests auf seine Werthaltigkeit zu testen (IAS 36).
E. Werthaltigkeitstests im Rahmen der Folgekonsolidierung nach IAS 36 I. Impairment Only Approach (IOA) Mit der Einführung des IOA (auch Nonamortization Approach) durch die Verabschiedung 11.118 des Statements of Financial Accounting Standards SFAS 142 im Sommer 2001 hat sich das US-amerikanische Financial Accounting Standards Board (FASB) von der planmäßigen Abschreibung des Goodwill abgewendet.192 Dem hat sich das International Accounting Stan-
191 Zu diesem Schema vgl. Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 74; IFRS 3 Appendix „Illustrative Examples“. 192 SFAS 142 wurde durch ASC 350 ersetzt.
Sahner/Blum 1009
Kap. 11 Rz. 11.119
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
dards Board (IASB) im März 2004 mit der Veröffentlichung sowie der Überarbeitung der Revised IAS 36/38 angelehnt.193 Aufgrund der nach US-GAAP jedoch teilweise sehr komplizierten und umfangreichen Arbeiten im Rahmen des Impairmenttests sah sich das IASB dazu veranlasst, einen vereinfachten Weg im Rahmen der Werthaltigkeitsprüfung für den derivativen Goodwill zu beschreiten. In den grundsätzlichen Überlegungen stimmen die Standardsetter jedoch überein: Goodwill sowie immaterielle Vermögenswerte mit unbestimmter Lebensdauer sind nicht mehr planmäßig abzuschreiben; stattdessen muss ein Unternehmen für diese beiden Arten von Vermögenswerten entweder einzeln oder auf der Ebene der Berichtseinheiten („Cash-Generating Units“) mindestens einmal jährlich einschätzen, ob ein Anhaltspunkt für eine Wertminderung vorliegt.194 Damit hat die außerplanmäßige Abschreibung nach IAS 36 erheblich an praktischer Bedeutung gewonnen.195
11.119 Während das im Rahmen des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG) aktualisierte deutsche Handelsrecht den derivativen Geschäfts- oder Firmenwert mittels Fiktion zu einem Vermögensgegenstand erhebt und für diesen eine planmäßige Abschreibung vorsieht (vgl. § 309 Abs. 1 HGB), ist der derivative Goodwill nach internationalen Rechnungslegungsvorschriften als ein nicht abnutzbarer Vermögenswert (non-wasting asset) zu behandeln und nur bei Vorliegen einer Wertminderung außerplanmäßig abzuschreiben.196 Auch ein immaterielles Vermögensgut mit unbestimmter Lebensdauer wird nur dann abgeschrieben, wenn diesem eine Wertminderung zugeschrieben werden kann.197 Die Lebensdauer eines immateriellen Vermögenswertes gilt dann als unbestimmt (indefinite), insofern es nicht durch rechtliche, regulatorische, vertragliche, wettbewerbliche, wirtschaftliche oder sonstige Faktoren in dessen Lebensdauer begrenzt wird.198 Ein Beispiel für einen Vermögenswert, welcher keiner planmäßigen Abschreibung unterliegen könnte, ist ein regelmäßig erneuerbares Fernsehrecht. Dagegen ist bei erworbenen Kundenlisten („customer lists“) oder Marktinformationen regelmäßig nicht von einer unbeschränkten Lebensdauer auszugehen.199
11.120 Mit der Klassifizierung des Goodwill als Vermögenswert wird von diesem ein zukünftiger Nutzenzufluss erwartet. Der bei einem Unternehmenszusammenschluss erworbene Geschäfts- oder Firmenwert stellt eine Zahlung dar, die ein Erwerber in der Erwartung künftigen wirtschaftlichen Nutzens von Vermögenswerten, die nicht einzeln identifiziert oder erfasst werden können, geleistet hat. Der Geschäfts- oder Firmenwert erzeugt keine Cash Flows, die unabhängig von anderen Vermögenswerten sind, und trägt oft zu den Cash Flows von mehreren zahlungsmittelgenerierenden Einheiten bei.200 Die zahlungsmittelgenerierende Einheit darf nicht größer sein als ein für die Segmentberichterstattung nach IAS 14 gebildetes Segment und muss die niedrigste Ebene darstellen, auf der ein Geschäfts- oder Firmenwert für die interne Unternehmenssteuerung systematisch überwacht wird.201 Es wird
193 Vgl. Küting/Wirth, DStR 2003, 475 (481). 194 Vgl. IAS 36, Rz. 10a, b; Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 76; Wendlandt/Vogler, KoR 2003, 66 (68, 71); Focken, RIW 2003, 437 (442). 195 Heuser/Pawelzik in Heuser/Theile, IFRS-Handbuch, Rz. 1502 ff. 196 Vgl. Hitz/Kuhner, WPg 2002, 273; Wendlandt/Vogler, KoR 2003, 66 (68); Küting/Wirth, DStR 2003, 475 (480 f.). 197 Vgl. Wendlandt/Vogler, KoR 2003, 66 (71). 198 Vgl. Mard/Hitchner/Hyden/Zyla, S. 80. 199 Vgl. Dawo, S. 148. 200 Vgl. IAS 36.81. 201 Vgl. IAS 36.80, IAS 36.82.
1010
Sahner/Blum
E. Werthaltigkeitstests/Folgekonsolidierung nach IAS 36
Rz. 11.122 Kap. 11
dabei nicht erwartet, dass für Zwecke der Überwachung der Werthaltigkeit zusätzliche Berichtssysteme entwickelt werden.202 Das IASB will mit den neuen Regelungen zur Goodwill- und Intangible-Bilanzierung zur Verbesserung der Berichterstattung über immaterielle Vermögenswerte beitragen. In der Vergangenheit wurden bisher nicht buchmäßig erfasste immaterielle Vermögenswerte des akquirierten Unternehmens unter dem planmäßig abzuschreibenden Goodwill zusammengefasst.203 Mit der Aufteilung des Goodwill auf einzelne Gruppen von immateriellen Vermögenswerten werden die erworbenen immateriellen Vermögenswerte sichtbar. Ferner bewirkt die individuelle Zuteilung von Anschaffungskosten und Nutzungsdauern eine sachgerechtere Verteilung des Abschreibungsaufwands in den Folgeperioden. Andererseits gilt es die inhärenten Ermessensspielräume im Rahmen der Goodwill-Zuteilung und darüber hinaus weitere Verwässerungseffekte im Zuge der Folgebewertung gemäß IOA kritisch zu überprüfen.
11.121
Die folgenden Ausführungen sollen dazu dienen, die Praktikabilität des in der praktischen Anwendung komplexen Verfahrens204 des Impairmenttests darzustellen.
II. Durchführung des Impairmenttests Nach IAS 36 hat die Folgebewertung eines derivativen Goodwill nicht mittels planmäßiger Abschreibung zu erfolgen, sondern ausschließlich über eine regelmäßige Werthaltigkeitsprüfung (Impairmenttest). Zu diesem Zweck ist der Goodwill bereits im Erwerbszeitpunkt auf diejenigen Cash-Generating Units bzw. Gruppen von Cash-Generating Units zu verteilen, denen erwartungsgemäß ein entsprechender Nutzen aus dem Zusammenschluss zugeordnet werden kann bzw. die aus den Synergien des Unternehmenszusammenschlusses Nutzen ziehen sollen.205 Eine solche Cash-Generating Unit, der ein entsprechender Goodwill zugeteilt wurde, ist dann in den Folgejahren einem jährlichen Wertminderungstest zu unterziehen. Cash-Generating Units sind von Periode zu Periode für die gleichen Vermögenswerte stetig zu identifizieren.206 Dabei schreibt IAS 36 keinen konkreten Zeitpunkt innerhalb eines Jahres zur Durchführung des Impairmenttests vor; die einmal gewählten Zeitpunkte sind allerdings in der Zukunft auf der Ebene der jeweiligen Berichtseinheit stetig beizubehalten. Darüber hinaus hat nach IAS 36 ein Impairmenttest immer dann zu erfolgen, wenn entsprechende Anhaltspunkte („triggering events“) vorliegen, die auf eine bevorstehende Wertminderung schließen lassen.207 Mögliche Auslöser für einen Impairmenttest können beispielsweise signifikante Veränderungen mit nachteiligen Folgen für das Unternehmen im technischen, marktbezogenen, ökonomischen oder rechtlichen Umfeld, in welchem das Unternehmen tätig ist, sein. Auch kann das Nichterreichen von betriebswirtschaftlichen Planzahlen die Durchführung eines Impairmenttests begründen und erfordern.208
202 203 204 205 206 207 208
Vgl. IAS 36.82. Vgl. Davis, DB 2002, 697. Vgl. Nestler/Thuy, KoR 2002, 169 (170). Vgl. IAS 36, Rz. 80; Brücks/Kerkhoff/Richter, KoR 2005, 1. Vgl. IAS 36.72. Vgl. IAS 36, Rz. 90. Eine Auflistung möglicher Anhaltspunkte für einen Wertminderungsbedarf, die jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat, ist in IAS 36.12 ff. aufgeführt.
Sahner/Blum 1011
11.122
Kap. 11 Rz. 11.123
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
11.123 Nach IFRS ist für die Zwecke des Impairmenttests der Buchwert („Carrying Amount“) der zu überprüfenden Cash-Generating Unit dem erzielbaren Betrag („Recoverable Amount“) gegenüberzustellen.
11.124 Dieser Impairmenttest erfolgt in einem einstufigen Verfahren, bei dem Buchwert und erzielbarer Betrag gegenübergestellt werden. Übersteigt der Buchwert (einschließlich des zugeteilten Goodwill) den erzielbaren Betrag, so liegt in der Höhe dieser Differenz ein entsprechender Wertminderungsbedarf vor, der in der Regel erfolgswirksam zu erfassen ist.209
11.125 Der erzielbare Betrag ergibt sich dabei als der jeweils höhere Betrag aus beizulegendem Zeitwert abzgl. Veräußerungskosten („Fair Value less Costs of Disposal“) und Nutzungswert („Value in Use“). Somit resultiert der erzielbare Ertrag aus dem Vergleich der beiden alternativen Verwendungsmöglichkeiten Verkauf oder interne Nutzung.
III. Feststellung eines möglichen Wertminderungsbedarfs 11.126 Der IAS 36 klassifiziert den erzielbaren Betrag (Recoverable Amount) als den höheren Betrag aus Fair Value less Costs of Disposal und Value in Use. Die Ermittlung beider Werte ist allerdings nicht zwingend vorgeschrieben. Zum einen kann auf die Ermittlung des jeweils anderen Werts verzichtet werden, sofern bereits einer der beiden Werte den Buchwert der betrachteten Cash-Generating Unit übersteigt und somit keine Wertminderung vorliegt. Zum anderen ist die Ermittlung des Value in Use dann nicht erforderlich, wenn es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass der Nutzungswert seinen beizulegenden Zeitwert wesentlich übersteigt.210 Dies sei beispielsweise bei einem zu Veräußerungszwecken gehaltenen Vermögenswert der Fall, dessen zukünftig erzielbare Cash Flows bis zu seinem Abgang vergleichsweise unbedeutend erscheinen. In diesem Zusammenhang können also einfache Plausibilitätsüberlegungen den Aufwand einer detaillierten Ermittlung beider Größen reduzieren. Für den Fall, dass der Buchwert über dem erzielbaren Betrag liegt, besteht gemäß IAS 36 die Pflicht einer erfolgswirksamen Abschreibung in Höhe der ermittelten Differenz. Dabei ist zunächst der einer Cash-Generating Unit zugeordnete Goodwill um den Abschreibungsbetrag zu reduzieren. Sollte der jeweilige Buchwert des zugeteilten Goodwill nicht ausreichen, um den erforderlichen Wertminderungsbedarf zu decken, so sind die zugehörigen Vermögenswerte auf Cash-Generating Unit-Ebene buchwertproportional um den Restbetrag zu vermindern.211 Weiterhin trägt IAS 36 ein Zuschreibungsverbot in sich, wonach ein erfasster Wertminderungsaufwand auf den Goodwill in den Folgeperioden nicht aufgeholt werden darf. Für einen solchen Fall kann nämlich davon ausgegangen werden, dass es sich nicht um eine Wertaufholung des Goodwill, sondern um einen originären, d.h. selbst geschaffener Geschäfts- oder Firmenwert handelt, für den nach IAS 38 ein Ansatzverbot besteht.212
IV. Beizulegender Zeitwert abzgl. Veräußerungskosten (Fair Value less Costs of Disposal) 11.127 Hinsichtlich der Wertermittlung des Zeitwerts enthält IAS 36 zwischenzeitlich keine eigenständige Definition mehr, nachdem in 2011 der Standard IFRS 13 Fair Value Measurement 209 210 211 212
Vgl. IAS 36, Rz. 90; Kirsch/Koelen/Tinz, KoR 2008, 89. Vgl. IAS 36, Rz. 19, 21; Brücks/Kerkhoff/Richter, KoR 2005, 3. Vgl. IAS 36, Rz. 104; Brösel/Müller, KoR 2007, 36. Vgl. IAS 36, Rz. 124, 125.
1012
Sahner/Blum
E. Werthaltigkeitstests/Folgekonsolidierung nach IAS 36
Rz. 11.128 Kap. 11
veröffentlicht wurde, dessen Grundsätze erstmals für Geschäftsjahre anzuwenden sind, die nach dem 31.12.2012 beginnen.213 Der für die Ermittlung des Wertminderungsbedarfs notwendige beizulegende Zeitwert abzgl. Veräußerungskosten entspricht nach IFRS 13 jenem Betrag, der bei einem Austausch des Vermögenswerts bzw. der Schuld zwischen Marktteilnehmern unter aktuellen Marktbedingungen am Bemessungsstichtag im Rahmen eines geordneten Geschäftsvorfalls mit dem Ziel, den Vermögenswert zu verkaufen oder die Schuld zu übertragen, erzielt werden kann.214 Entgegen den früheren Regelungen in IAS 36 kommt es nach den neuen Regelungen des IFRS 13 nicht mehr in erster Linie auf das gewählte Verfahren der Wertermittlung an. Vielmehr bestimmt die Verfügbarkeit von Marktdaten das anzuwendende Bewertungsverfahren.215 Grundsätzlich soll der Bewerter allgemein zugängliche Marktdaten verwenden, die entweder auf dem Hauptmarkt für einen Vermögenswert oder eine Schuld beobachtbar sind oder aber auf dem vorteilhaftesten Markt, sofern kein Hauptmarkt vorhanden ist.216 Die Zweitwerthierarchie des IFRS 13 geht dabei von drei Stufen möglicher Inputfaktoren aus, die in nachfolgender Reihenfolge zu beachten ist217: Stufe 1: notierte Preise für identische Vermögenswerte und Schulden auf zugänglichen Märkten Stufe 2: Preisnotierungen für ähnliche Vermögenswerte oder Schulden in aktiven Märkten oder für identische oder ähnliche Vermögenswerte oder Schulden auf Märkten, die nicht aktiv sind. Hierzu gehören auch andere marktgestützte Input-Faktoren, die für den Wert des Vermögenswertes oder Schuld maßgeblich sind, wie z.B. Zinssätze. Stufe 3: Input-Faktoren, die für den Vermögenswert oder die Schuld nicht beobachtbar sind. Zu den Input-Faktoren der 3. Stufe rechnen auch unternehmensinterne Daten und Einschätzungen, die dann zum Zuge kommen, wenn keine am Markt beobachtbaren Daten verfügbar sind.
V. Nutzungswert (Value in Use) Der Nutzungswert bildet die interne Perspektive ab, die im Gegensatz zu dem beizulegenden Zeitwert abzgl. Veräußerungskosten nicht auf einen hypothetischen Markt und damit auf Käufer und Verkäufer abstellt, sondern auf die individuellen Verhältnisse des Nutzers. Aus diesem Grund wird als Bewertungsverfahren nur das kapitalmarktorientierte Verfahren zugelassen, da das marktpreisorientierte Verfahren auf Transaktionen unter fremden Dritten abstellt. Der resultierende Nutzungswert ergibt sich dabei gemäß IAS 36.6 aus dem Barwert der zukünftigen Cash Flows, die voraussichtlich aus einer zahlungsmittelgenerierenden Einheit abgeleitet werden können.
213 Grant Thornton, Impairment of Assets. A guide to Applying IAS 36 in Practice, 2014, S. 28. 214 IFRS 13.15. 215 IFRS 13.61 stellt darauf ab, diejenige Bewertungstechnik anzuwenden, die unter den jeweiligen Umständen sachgerecht ist und für die ausreichend Daten zur Bemessung des beizulegenden Zeitwerts zur Verfügung stehen. 216 IFRS 13.16. 217 IFRS 13.76 ff.
Sahner/Blum 1013
11.128
Kap. 11 Rz. 11.129
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
Der erzielbare Betrag auf Basis des Nutzungswertes symbolisiert somit die Überlegung, eine zahlungsmittelgenerierende Einheit im laufenden Geschäftsbetrieb vorteilhafter einsetzen zu können als im Falle einer Veräußerung.
11.129 Ein verbreitetes kapitalmarktorientiertes Verfahren ist das sog. Discounted-Cash-Flow-Verfahren. Bei diesem werden die erwarteten künftigen Cash Flows mit einem geeigneten Kapitalisierungskostensatz abdiskontiert und addiert. Der resultierende Barwert bildet den Nutzungswert der betrachteten zahlungsmittelgenerierenden Einheit ab. Ausgangspunkt der Wertermittlung ist dabei regelmäßig eine detaillierte Unternehmensplanung des Managements, in welcher die zukünftigen Zahlungsströme geschätzt und simuliert werden. Die geschätzten Cash Flows umfassen dabei sowohl die künftigen Mittelzuflüsse aus der fortgesetzten Nutzung der Geschäftseinheit, die Mittelabflüsse, die notwendigerweise entstehen, um Mittelzuflüsse zu erzielen, sowie Netto-Cash Flows, die gegebenenfalls für den Abgang der zahlungsmittelgenerierenden Einheit am Ende der Nutzungsdauer eingehen oder geleistet werden müssen (beispielsweise in Form von Verkaufserlösen oder Entsorgungs- bzw. Abwicklungskosten).218
11.130 Von entscheidender Wichtigkeit in diesem Zusammenhang ist, dass die künftigen Cash Flows auf Basis der gegenwärtigen Verhältnisse geschätzt werden müssen. Aus diesem Grund sind die Plangrößen um die für den Nutzungswert bestehenden Besonderheiten zu bereinigen. Dies betrifft zunächst das Verbot der Berücksichtigung bestimmter Effekte aus Restrukturierungsmaßnahmen und Erweiterungsinvestitionen.219 Künftige Restrukturierungsmaßnahmen, zu denen sich das Unternehmen zum Zeitpunkt der Bewertung noch nicht verpflichtet hat, sowie künftige Erweiterungsinvestitionen dürfen nicht berücksichtigt werden. An dieser Stelle zeigt sich ein Zugeständnis der Bewertungstheorie an die Rechnungslegung: Der Nutzungswert ist seiner Konzeption nach an das bestehende Vermögen gebunden. Zukünftige Erweiterungen der Substanz dürfen nicht erfasst werden, da in der Beurteilung des gegenwärtigen Buchwertes ansonsten Wertkomponenten Eingang fänden, die den Buchwert als zukünftige Anschaffung noch nicht in seiner Höhe beeinflusst haben.
11.131 Hinsichtlich der Berücksichtigung künftiger Investitionen ist zwischen Erhaltungs- und Erweiterungsinvestitionen zu unterscheiden. Investitionen, die lediglich das Leistungsvermögen der Produktion erhalten, jedoch nicht erweitern, dürfen berücksichtigt werden (dayto-day service cost).220 Die Berücksichtigung von Investitionen, die eine Erweiterung der Produktionsbasis bewirken, ist dagegen untersagt.
11.132 Ein weiteres Charakteristikum des Nutzungswertes ergibt sich aus der Wertfeststellung vor jeglichen Finanzierungstätigkeiten.221 Demnach dürfen Ein- oder Auszahlungen aus Finanzierungstätigkeiten nicht in die prognostizierten Cash Flows Berücksichtigung finden. Diese werden vielmehr bei der Diskontierung der künftigen Cash Flows berücksichtigt.222 Des Weiteren fordert der IAS 36 eine Bewertung vor Ertragsteuern, was eine Eliminierung sämtlicher Unternehmenssteuern sowohl in den Cash Flows als auch in den Kapitalkostensatz erfordert. 218 219 220 221 222
Vgl. IAS 36.39. Vgl. IAS 36.44 und 49. Vgl. IAS 36.41. Vgl. IAS 36.50. Vgl. IAS 36.51.
1014
Sahner/Blum
E. Werthaltigkeitstests/Folgekonsolidierung nach IAS 36
Rz. 11.134 Kap. 11
Die geschätzten künftigen Cash Flows werden in einem weiteren Schritt auf den Bewertungszeitpunkt abdiskontiert. Nach IAS 36.55 ist derjenige Kapitalisierungszinssatz zu wählen, welcher sowohl die gegenwärtige Markteinschätzung des Zinseffektes als auch die spezifischen Risiken des Bewertungsobjektes widerspiegelt.
VI. Buchwert Der Buchwert einer zahlungsmittelgenerierenden Einheit ist in Übereinstimmung mit der Art, in der der erzielbare Betrag der zahlungsmittelgenerierenden Einheit bestimmt wird, zu ermitteln. Dabei gilt es sicherzustellen, dass bei der Ermittlung des Buchwertes nur diejenigen Vermögenswerte berücksichtigt werden, welche auch im erzielbaren Betrag ihren Niederschlag finden (Äquivalenzprinzip).223
11.133
VII. Realisierung des Wertminderungsbedarfs Ergibt sich aus der Ermittlung des erzielbaren Betrages ein Wert, der niedriger ist als der Buchwert, so ist eine Wertminderung in Höhe der Differenz vorzunehmen.224 Die Aufteilung des Wertminderungsbedarfs richtet sich nach IAS 36.104. Demnach ist der Wertminderungsaufwand in erster Linie von dem Buchwert des Geschäfts- oder Firmenwertes abzuschreiben.225 Übersteigt der Wertminderungsbedarf den in der Bilanz ausgewiesenen Geschäfts- oder Firmenwert, so sind auch die übrigen Vermögenswerte der zahlungsmittelgenerierenden Einheit in ihrem Wert zu mindern.226 Im Zuge der Wertminderung darf jedoch der Buchwert eines Vermögenswertes nicht seinen beizulegenden Zeitwert abzgl. der Veräußerungskosten, den Nutzungswert oder den Wert von Null unterschreiten.227 Verbleibt ein darüber hinaus bestehender Wertminderungsbedarf, so ist die Wertminderung proportional auf diejenigen Vermögenswerte zu verteilen, deren Buchwerte noch den erzielbaren Betrag und den Wert Null überschreiten. Die Verteilung des Wertminderungsaufwands erfolgt jeweils buchwertproportional.228 Schema zur Durchführung von Wertminderungstests nach IAS 36 Schritt 1: Einschätzung, ob ein Anhaltspunkt für eine Wertminderung vorliegt (IAS 36.9) Gilt nur für Vermögenswerte mit bestimmter Nutzungsdauer
223 224 225 226 227 228
Anhaltspunkte: – gesunkener Marktwert – signifikante Veränderungen im technischen, marktbezogenen, ökonomischen oder gesetzlichen Umfeld – gestiegene Marktzinssätze – Überalterung – beschlossene Stilllegung, Restrukturierung – verschlechterte Ertragskraft
Vgl. IAS. 36.75 und 79. Vgl. IAS 36.104. Vgl. IAS 36.104 (a). Vgl. IAS 36.104 (b). Vgl. IAS 36.105. Vgl. IAS 36.104.
Sahner/Blum 1015
11.134
Kap. 11 Rz. 11.135
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
Schema zur Durchführung von Wertminderungstests nach IAS 36 Schritt 2: Führt Schritt 1 zur Einschätzung eines Wertminderungsbedarfs, ist ein Impairmenttest durchzuführen Ausnahme: Bei immateriellen Vermögenswerten mit unbestimmter Nutzungsdauer und Goodwill ist jährlich ein Impairmenttest durchzuführen
Vergleich des erzielbaren Betrages mit dem Buchwert des Vermögenswertes/ der Berichtseinheit: – Erzielbarer Betrag $ Buchwert = Berichtseinheit gilt als nicht wertgemindert – Erzielbarer Betrag , Buchwert = Berichtseinheit ist wertgemindert
11.135 Infolge der Akquisition im Vorjahr hat Unternehmen A zusätzlich zu den vorhandenen Berichtseinheiten Automobiltechnik, Schienenfahrzeugtechnik und Luftfahrttechnik eine vierte Berichtseinheit Raumfahrttechnik gebildet. Die jeweiligen Gesamtwerte der Berichtseinheiten wurden anhand von Unternehmenswertberechnungen nach dem Discounted-Cash-Flow-Verfahren ermittelt. Nachfolgend wird eine beispielhafte Vermögensübersicht der Berichtseinheit Raumfahrttechnik zur Darstellung des „carrying amount“ skizziert, der sich, wie weiter oben bereits beschrieben (s. Rz. 11.122 f.), aus den fortgeführten Buchwerten der erworbenen Vermögenswerte inklusive Goodwill abzüglich der eingegangenen Verbindlichkeiten ergibt. Der resultierende Buchwert der Berichtseinheit entspricht deren „Net Assets“ oder dem fortgeführten Buchwert des Eigenkapitals. Bilanz Berichtseinheit Raumfahrttechnik – Impairmenttest (alle Angaben in Mio. Euro) Goodwill
35
Eigenkapital
Immaterielle Vermögenswerte
20
Pensionen
Materielle Vermögenswerte
15
Langfristiges Fremdkapital
30
30 100
Kurzfristiges Fremdkapital
15 100
Umlaufvermögen
50 5
Der Vergleich der aktuellen Istzahlen mit den zum Erwerbszeitpunkt bestandenen Planzahlen der Berichtseinheit Raumfahrttechnik zeigt, dass Anhaltspunkte einer Wertminderung vorhanden sind. Bei der Berichtseinheit Luftfahrttechnik hat eine Analyse der Ereignisse und Umstände, die seit der Purchase Price Allocation im Vorjahr angefallen sind, ergeben, dass das Unternehmen insbesondere die prognostizierten Planzahlen nicht erreichen konnte. Nach diesen Erkenntnissen kann eine Wertminderung des Goodwill sowie anderer immaterieller Vermögenswerte nicht ausgeschlossen werden.
11.136 Der im Rahmen des einstufigen Impairmenttests ermittelte Recoverable Amount der CashGenerating Unit soll nach Durchführung der Unternehmensbewertung, die für die Berichtseinheit Raumfahrttechnik durchgeführt wurde, zu einem erzielbaren Betrag von 40 geführt haben. Verglichen mit dem Carrying Amount ergibt sich danach ein Abwertungsbedarf von 10, der in voller Höhe vom Goodwill abzuschreiben ist. Läge der Revoverable Amount um mehr als 35 unter dem Buchwert des Eigenkapitals des Bereichs, so wären nach vollständiger Abschreibung des Goodwill die übrigen materiellen Vermögenswerte und das Umlaufvermögen buchwertproportional abzuwerten.
1016
Sahner/Blum
E. Werthaltigkeitstests/Folgekonsolidierung nach IAS 36
Rz. 11.139 Kap. 11
VIII. Zuordnung des Goodwill zu Cash Generating Units Wie in Rz. 11.122 dargestellt, ist der erworbene Goodwill auf zahlungsmittelgenerierende Einheiten oder Cash Generating Units des Konzerns zu verteilen. Dies ist für die Überprüfung der Werthaltigkeit des Goodwill in den Folgejahren nach dem Erwerb des Geschäfts entscheidend, da die Werthaltigkeit nicht auf Ebene des Gesamtkonzerns festzustellen ist, sondern für einzelne Geschäftssegmente des Konzerns. Nachdem die planmäßige Abschreibung des Goodwill durch jährliche Wertminderungstests ersetzt worden ist, stellt sich für den Bilanzierenden die Frage nach der Zuteilung von Goodwill und Vermögenswerten auf die Cash-Generating Units des Konzerns. Diese Zuteilung kann erhebliche Auswirkungen auf die künftige Höhe von Impairment-Aufwendungen haben.229 Je weiter beispielsweise eine Cash Generating Unit definiert wird, desto größer ist der innerhalb der Cash Generating Unit vorhandene Saldierungsbereich von Chancen und Risiken zur Verhinderung außerplanmäßiger Abschreibungen.230 Zukünftige Abschreibungen sind auf diese Weise strategisch planbar.231
11.137
Das IASB fordert eine angemessene und nachvollziehbare Vorgehensweise bei der Aufteilung von Goodwill und anderen Vermögenswerten/Schulden auf die zahlungsmittelgenerierenden Einheiten. Diese sind entsprechend der Organisation der Steuerung des Unternehmens durch das Management (nach Produktlinien, Geschäftsfeldern oder regionalen Tätigkeitsfeldern) abzugrenzen. Grundlage ist daher die Struktur des internen Berichtswesens (Management Approach, vgl. IAS 36.69).
11.138
Der erworbene Firmenwert soll denjenigen Cash Generating Units zugeordnet werden, die aus dem Unternehmenserwerb durch Synergien profitieren, und zwar unabhängig davon, ob diesen Cash Generating Units auch andere Vermögenswerte/Schulden aus dem Unternehmenserwerb zugeordnet werden. Die Zuordnung soll nachvollziehbar und im Zeitablauf stetig erfolgen. Daher ist es wichtig, bei der erstmaligen Zuordnung entsprechende Sorgfalt walten zu lassen. Hierbei wird das für den Unternehmenserwerb verantwortliche Management einzubinden sein, da die Überwachung der Werthaltigkeit des Goodwill auf Basis der durch das Management vorzugebenden internen Berichtsstruktur zu erfolgen hat. Dabei dürfen die zahlungsmittelgenerierenden Einheiten nicht größer sein als die Segmente gemäß IAS 14 (vgl. IAS 36.80). Durch die Zuteilung des derivativen Goodwill auf bestehende Berichtseinheiten kann ein eventuell entstehender Abschreibungsaufwand durch die implizite Aktivierung des originären Goodwill vermieden werden.232 Auch stille Reserven in sonstigen materiellen Vermögenswerten des erwerbenden Unternehmens können die außerplanmäßige Abschreibung eines Goodwills verhindern.233 Gleichermaßen hat die Struktur des internen Berichtswesens bei Bemessung und Umfang der zahlungsmittelgenerierenden Einheiten einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit einer möglichen Wertminderung von Goodwill und immateriellen Vermögenswerten.234 Ein Unternehmen könnte auch im Rahmen der Goodwill-Zuteilung versuchen, verschiedene Ertragsquellen in eine Berichtseinheit zu integrieren, um auf diese Weise durch den Risi229 230 231 232 233 234
Vgl. Pfeil/Vater, KoR 2002, 66 (78). Heuser/Pawelzik in Heuser/Theile, IFRS-Handbuch, Rz. 1528. Vgl. Focken, RIW 2003, 437 (440). Vgl. Pfeil/Vater, KoR 2002, 66 (78). Vgl. Schneck, DSWR 2003, 225 (226). Vgl. Kirsch, KoR 2004, 136 (137).
Sahner/Blum 1017
11.139
Kap. 11 Rz. 11.140
Unternehmensbewertung und Post-Merger-/Acquisitions-Bilanzierung
koausgleich einem zukünftigen Impairment zu begegnen.235 Je höher die Ebene der gebildeten Cash-Generating Unit ist, desto geringer fällt somit eine ggf. erforderliche Abschreibung aus.236
11.140 Wirkungsbeispiel: Die beschriebenen Strategien könnten zum Aufbau eines so genannten „Goodwill Shield“237 genutzt werden und könnten daher eine zukünftige Steuerungsaufgabe des Managements sein. Zu beachten ist hierbei, dass ein „Goodwill Shield“ nicht auf beiden Stufen des Impairmenttests Wirkung zeigen muss. An folgendem Beispiel soll die Wirkungsweise des Goodwill Shield verdeutlicht werden: Bestehende Berichtseinheit Gesamtwert
100
Goodwill Shield
30
Assets
70
Equity
70
70
70 Erworbene Einheit
Kaufpreis
70
Goodwill
20
Assets
50
Equity
70
70
70
Die bereits vor der Akquisition bestehende Cash-Generating Unit bilanziert in ihrer Vermögensübersicht keinen derivativen Goodwill. Durch den den Buchwert des bilanziellen Eigenkapitals übersteigenden Gesamtwert der Berichtseinheit i.H.v. 100 kann dieser ein originärer Goodwill von 30 zugerechnet werden. Dieser originäre Goodwill beinhaltet neben nicht separat bilanzierten, selbst erschaffenen immateriellen Vermögenswerten und stillen Reserven bei den materiellen Vermögenswerten den eigentlichen Kern-Goodwill. Dieser überschießende Betrag bildet ein Goodwill Shield im Rahmen des Impairmenttests.238 Die erworbene Einheit mit einem derivativen Goodwill von 20 wird der bestehenden Cash-Generating Unit zugeordnet. Hiernach ergibt sich folgendes Bild: Neue Berichtseinheit Gesamtwert Goodwill Assets
170 20
Vgl. Pfeil/Vater, KoR 2002, 66 (71). Vgl. Kirsch, KoR 2004, 136 (138). Vgl. PwC-Guide, S. 10. Vgl. Focken, RIW 2003, 437 (441).
1018
140
120 140
235 236 237 238
Equity
Sahner/Blum
140
E. Werthaltigkeitstests/Folgekonsolidierung nach IAS 36
Rz. 11.141 Kap. 11
Die neue Berichtseinheit hat einen Gesamtwert von 170. Die Ertragsaussichten des neu erworbenen Bereichs haben sich seit Erwerb verschlechtert. Der erzielbare Betrag beträgt nur noch 50. Für die Betrachtung im Impairmenttest ergibt sich ein Puffer zwischen Gesamtwert und Buchwert der Berichtseinheit in Höhe des Goodwill Shield. Der Impairmenttest der Stufe 1 kann für die neue Berichtseinheit wie folgt dargestellt werden: Impairmenttest Neue Berichtseinheit Gesamtwert (Erzielbarer Betrag)
150
Buchwert (Carrying Value)
140
Ergebnis Impairmenttest
Gesamtwert . Buchwert = Keine Wertminderung
Festzuhalten bleibt, dass Wertminderungen der neuen Cash-Generating Unit bis zum Buchwert der Berichtseinheit geschützt sind durch das Goodwill Shield der bestehenden Berichtseinheit. Voraussetzung solcher Überlegungen ist allerdings, dass eine Zusammenfassung des neu erworbenen Geschäfts mit der bestehenden zahlungsmittelgenerierenden Einheit möglich ist. Die nach IAS 36.80 vorzunehmende nutzenorientierte Zuordnung des Goodwill soll nach den Vorstellungen des IASB dort erfolgen, wo seitens der Unternehmensführung die wesentlichen nicht bilanzierten immateriellen Werttreiber wie z.B. das erworbene Know-how oder das Potential für eine zukünftige Technologieführerschaft vermutet werden.239 Bei der Zuteilung von Vermögenswerten und Schulden auf zahlungsmittelgenerierende Ein- 11.141 heiten bestehen keine großen Spielräume, wenn diese eindeutig einer Cash-Generating Unit zugeordnet werden können, wie z.B. bestimmte maschinelle Anlagen, Handelswaren, Forderungen, Verbindlichkeiten etc. Allerdings bestehen Ermessensspielräume bei den sog. gemeinschaftlichen Vermögenswerten, die nicht einer einzigen Berichtseinheit zugeteilt werden können.240 Hierunter fallen beispielsweise Verwaltungsgebäude, Technologien, intern verwendete Software usw. Die Auswahl von Kriterien für die Zuteilung von Vermögenswerten und Schulden, die berichtseinheitsübergreifend eingesetzt werden, kann entscheidenden Einfluss auf die „Goodwill-Struktur“ der Cash-Generating Unit haben. Charakteristisches Merkmal von gemeinschaftlichen Vermögenswerten ist, dass sie selbst keine Mittelzuflüsse erzeugen, die unabhängig von anderen Vermögenswerten sind. Die Zuordnung dieser Vermögenswerte erfolgt daher ebenfalls auf zahlungsmittelgenerierende Einheiten, um deren Werthaltigkeit zu überprüfen. IAS 36.102 schreibt vor, dass die Zuteilung auf einer vernünftigen und stetigen Basis zu erfolgen hat.
239 Senger/Brune/Diersch in Beck’sches IFRS-Handbuch, § 34 Rz. 243. 240 Vgl. IAS 36.100.
Sahner/Blum 1019
Teil III Akquisitionstypen Kapitel 12 Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition Wolfgang Hölters und Tanja Hölters
Überblick
3. Rechtsfolgen unzulässiger Kostenübernahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.65
A. Vorstand und Unternehmenskauf . .
12.1
B. Vorstand und Due Diligence . . . . . .
12.6
I. Relevanz der Due Diligence für Target-, Veräußerer- und Erwerber-AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Einflussmöglichkeiten des Erwerbers auf die Unternehmensführung im Rahmen der Transaktion . . . . . . 12.69
12.6
I. Zahlung einer Sondervergütung an den Vorstand der Target-AG durch die Erwerber-AG; Anforderungen an eine Sondervergütung im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.69
II. Erwerber-AG und Due Diligence . . 12.11 1. Due Diligence und Gewährleistung . 12.12 2. Aktienrechtliche Besonderheiten . . . . 12.15 III. Target-AG und Due Diligence . . . . . 1. Unterschiede der Informationserteilung bei GmbH und AG . . . . . . . 2. Grenzen der Informationserteilung . 3. Interne Entscheidungsprozesse . . . . . 4. Pflicht zu effektiven Sicherheitsvorkehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kein Auskunftsrecht von Aktionären und Mitinteressenten . . . . . . . . . . . . . 6. Managementinterviews . . . . . . . . . . .
12.21 12.21 12.24 12.34 12.37 12.39 12.41
IV. Veräußerer-AG und Due Diligence . 12.44 V. Compliance beim Unternehmenskauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Compliance – ein altes Thema unter neuem Stichwort . . . . . . . . . . . 2. Compliance als Gegenstand einer Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gründe für die Durchführung einer Compliance Due Diligence . b) Schwerpunkte einer Compliance Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Kostenübernahme durch das Target 1. Transaktionskosten . . . . . . . . . . . . . . a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verbot der Einlagenrückgewähr . . c) Verbot der finanziellen Unterstützung des Aktienerwerbs . . . . . d) Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . 2. Break-up-Fees . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12.49 12.49 12.51 12.51 12.52 12.54 12.54 12.54 12.55 12.61 12.63 12.64
II. Möglichkeit der Einflussnahme des Erwerbers auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats und des Vorstands der Target-AG . . . . . . . . . 1. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . 2. Möglichkeit der Einflussnahme auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beendigung des Aufsichtsratsmandats durch Amtsniederlegung . . . . c) Gestaltungsmöglichkeiten für die Amtsniederlegung . . . . . . . . . . d) Neubestellung von Aufsichtsratsmitgliedern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einflussnahme auf die Zusammensetzung des Vorstands . . . . . . . . . . . .
12.74 12.74 12.75 12.75 12.77 12.80 12.84 12.85
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.88 I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.88 II. Gesamtvorstand und Zustimmung des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zuständigkeit des Gesamtvorstands . 2. Zustimmung des Aufsichtsrats . . . . . a) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Missachtung des Zustimmungsvorbehaltes durch den Vorstand . .
Hölters/Hölters
12.91 12.91 12.92 12.92 12.95
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Kap. 12
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
d) Informations- und Auslegungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.177 e) Folgen von Anfechtungsklagen . . . 12.178
c) Zustimmung des Aufsichtsrats als aufschiebende Bedingung in Unternehmenskaufverträgen . . . . . . . 12.100 III. Zustimmungserfordernis der Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . 12.102 IV. Zuständigkeit der Hauptversammlung einer Veräußerer- bzw. Erwerber-AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausdrückliche Kompetenzen der Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Änderung des Unternehmensgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Übertragung des gesamten Gesellschaftsvermögens . . . . . . . . . 2. Ungeschriebene Hauptversammlungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Holzmüller-Entscheidung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidungsgründe . . . . . . . cc) Dogmatische Rechtfertigung der Holzmüller-Doktrin . . . . . c) Die Gelatine-Urteile des BGH . . . aa) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidungsgründe . . . . . . . d) Folgen für die M&A-Praxis . . . . . . aa) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . bb) Veräußerer-AG . . . . . . . . . . . . (1) Share Deal . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Asset Deal . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Erwerber-AG . . . . . . . . . . . . . . (1) Share Deal . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Asset Deal . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Wertgrenzen . . . . . . . . . . . . . . (1) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . (2) Maßgebliche Parameter . . . . . (3) Schwellenwert . . . . . . . . . . . . . ee) Mehrheitserfordernisse bei Holzmüller-Beschlüssen . . . . . ff) Zeitpunkt der Befassung der Hauptversammlung . . . . . . . . 3. Freiwillige Befassung der Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Haftungsvermeidende Wirkung . . b) Zeitliche Strukturierung . . . . . . . . c) Mehrheitserfordernisse bei freiwilliger Vorlage . . . . . . . . . . . . . . .
12.106 12.106 12.106 12.109 12.120 12.129 12.129 12.130 12.130 12.131 12.133 12.136 12.136 12.138 12.143 12.143 12.145 12.145 12.149 12.150 12.150 12.156 12.157 12.157 12.159 12.161 12.164 12.168 12.173 12.173 12.175 12.176
V. „Holzmüller-Hauptversammlung“ . 1. Einberufungsverfahren . . . . . . . . . . . a) Information der Aktionäre . . . . . . b) Bekanntmachung des wesentlichen Vertragsinhalts . . . . . . . . . . c) Vorlage des Unternehmenskaufvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Information über weitere Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Bekanntmachung des wesentlichen Inhalts von Konzepten . . . . g) Holzmüller-Bericht . . . . . . . . . . . . h) Weitere Unterlagen, insbesondere Bilanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . 2. Durchführung einer M&A-Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorbereitung und Eröffnung . . . . b) Auskunftsrechte der Aktionäre . . . c) Auskunftsverweigerungsrechte der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . 3. Risiken durch Gerichtsverfahren . . . . a) Anfechtungsklage . . . . . . . . . . . . . aa) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Reichweite gerichtlicher Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . cc) Klageverfahren . . . . . . . . . . . . dd) Rechtsfolgen einer erfolgreichen Anfechtungsklage . . . . . . b) Einstweilige Verfügung . . . . . . . . . c) Folgen für die Gestaltung des Unternehmenskaufvertrages . . . . .
12.179 12.179 12.179 12.183 12.187 12.190 12.191 12.192 12.193 12.196 12.198 12.200 12.200 12.202 12.205 12.210 12.210 12.210 12.212 12.215 12.218 12.223 12.226
E. Mitteilungspflichten bei M&ATransaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.227 I. Relevanz der Thematik für Target-, Veräußerer- und Erwerber-AG . . . . 12.227 II. Aktienrechtliche und kapitalmarktrechtliche Mitteilungspflichten gegenüber dem Target . . . . . . . . . . . . . 12.230 III. 1. 2. 3.
Ad-hoc-Mitteilungspflichten . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beeinflussung des Börsenkurses . . . . Zeitpunkt der Ad-hoc-Mitteilung . . .
12.232 12.232 12.234 12.236
Literatur: Arnold, Mitwirkungsbefugnisse der Aktionäre nach Gelatine und Macrotron, ZIP 2005, 1573; Bauer/Arnold, Vorstandsverträge im Kreuzfeuer der Kritik. Zulässigkeit der vorzeitigen Wiederbestellung, von „Change-in-Control“-Klauseln und der Drittvergütung von Vorstandsmitgliedern
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Hölters/Hölters
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
Kap. 12
unter Berücksichtigung der verschärften Publizitätspflichten, DB 2006, 260; Becker, Verhaltenspflichten des Vorstands der Zielgesellschaft bei feindlichen Übernahmen, ZHR 165 (2001), 280; Beisel/ Klumpp, Der Unternehmenskauf, 7. Aufl. 2016; Bihr, Due Diligence, Geschäftsführungsorgane im Spannungsfeld zwischen Gesellschafts- und Gesellschafterinteressen, BB 1998, 1198; Böttcher, Verpflichtung des Vorstands einer AG zur Durchführung einer Due Diligence, NZG 2005, 49; Böttcher, Due Diligence beim Unternehmenskauf als Verkehrssitte, ZGS 2007, 20; Böttcher, Organpflichten beim Unternehmenskauf, NZG 2007, 481; Buchta, Die Haftung des Vorstandes einer Aktiengesellschaft – aktuelle Entwicklungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung, DStR 2003, 694; Bungert, Festschreibung der ungeschriebenen „Holzmüller“-Hauptversammlungszuständigkeiten bei der Aktiengesellschaft, BB 2004, 1345; Burgard, Publizität bei gestreckten Sachverhalten und mehrstufigen Entscheidungsprozessen, ZHR 162 (1998), 51; Bürgers, Aktienrechtlicher Schutz beim Delisting?, NJW 2003, 1642; Bürkle, Corporate Compliance – Pflicht oder Kür für den Vorstand der AG?, BB 2005, 565; von Busekist/Timmerbeil, Die Compliance Due Diligence in M&A-Prozessen, CCZ 2013, 225; Ebenroth/Daum, Die Kompetenzen des Vorstands einer Aktiengesellschaft bei der Durchführung und Abwehr unkoordinierter Übernahmen, DB 1991, 1105; von Falkenhausen, Keine ungeschriebene Mitwirkungskompetenz der Hauptversammlung bei Beteiligungsveräußerung, Anm. zu BGH, Beschluss vom 20.11.2006 – II ZR 226/05, ZIP 2007, 24; Feldhaus, Der Verkauf von Unternehmensteilen einer Aktiengesellschaft und die Notwendigkeit einer außerordentlichen Hauptversammlung, BB 2009, 562; Fleischer, Konkurrenzangebote und Due Diligence, ZIP 2002, 651; Fleischer, Ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten im Aktienrecht: Von „Holzmüller“ zu „Gelatine“, NJW 2004, 2335; Fleischer, Kartellrechtsverstöße und Vorstandsrecht, BB 2008, 1070; Fleischer/Körber, Due diligence und Gewährleistung beim Unternehmenskauf, BB 2001, 841; Fonk, Zustimmungsvorbehalte des AGAufsichtsrats, ZGR 2006, 841; Fuhrmann, „Gelatine“ und die „Holzmüller“-Doktrin: Ende einer juristischen Irrfahrt?, AG 2004, 339; Goette, Anmerkung zu den Gelatine-Urteilen des BGH, DStR 2004, 927; Goette, Organisation und Zuständigkeit im Konzern, AG 2006, 522; Habersack, Mitwirkungsrechte der Aktionäre nach Macrotron und Gelatine, AG 2005, 137; Hasselbach, Die Weitergabe von Insiderinformationen bei M&A-Transaktionen mit börsennotierten Aktiengesellschaften – Unter Berücksichtigung des Gesetzes zur Verbesserung des Anlegerschutzes vom 28.10.2004, NZG 2004, 1087; Hauschka, Corporate Compliance – Unternehmensorganisatorische Ansätze zur Erfüllung der Pflichten von Vorständen und Geschäftsführern, AG 2004, 461; Hemeling, Gesellschaftsrechtliche Fragen der Due Diligence beim Unternehmenskauf, ZHR 169 (2005), 274; Hennrichs, „Basel II“ und das Gesellschaftsrecht, ZGR 2006, 568; Hölters/Deilmann/Buchta, Die kleine Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 2002; Hofmeister, Veräußerung und Erwerb von Beteiligungen bei der Aktiengesellschaft: Denkbare Anwendungsfälle der Gelatine-Rechtsprechung, NZG 2008, 47; Hohaus/Weber, Gesellschaftsrechtliche Probleme bei der Gewährung von Transaktionsboni durch einen Aktionär, DStR 2008, 104; Holzapfel/ Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, 15. Aufl. 2017; Hopt, Übernahmen, Geheimhaltung und Interessenkonflikte: Probleme für Vorstände, Aufsichtsräte und Banken, ZGR 2002, 333; Kalb/ Fröhlich, Die Drittvergütung von Vorständen, NZG 2014, 167; Kiesewetter/Spengler, Hauptversammlungszuständigkeit bei Veräußerung und Erwerb von Gesellschaftsvermögen im Rahmen von M&ATransaktionen, Der Konzern 2009, 451; Kiethe, Vorstandshaftung aufgrund fehlerhafter Due Diligence beim Unternehmenskauf, NZG 1999, 976; Körber, Geschäftsleitung der Zielgesellschaft und due diligence bei Paketerwerb und Unternehmenskauf, NZG 2002, 263; Kort, „Das Mannesmann“-Urteil im Lichte von § 87 AktG, NJW 2005, 333; Liebscher, Ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten im Lichte von Holzmüller, Macrotron und Gelatine, ZGR 2005, 1; Liese/Theusinger, Zur Frage der Geschäftsführerhaftung aufgrund einer Fehlinvestition, BB 2007, 71; Lutter, Die Business Judgment Rule und ihre praktische Anwendung, ZIP 2007, 841; Markwardt, „Holzmüller“ im vorläufigen Rechtsschutz, WM 2004, 211; Mayer-Uellner, Zur Zulässigkeit finanzieller Leistungen Dritter an die Mitglieder des Vorstands, AG 2011, 193; Müller, Gestattung der Due Diligence durch den Vorstand der Aktiengesellschaft, NJW 2000, 3452; Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der Aktiengesellschaft, 2002; Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, 4. Aufl. 2013; Picot/Mentz/Seydel, Die Aktiengesellschaft bei Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2003; Reichert, Mitwirkungsrechte und Rechtsschutz der Aktionäre nach Macrotron und Gelatine, AG 2005, 150; Rieckers/Leyendecker-Langner, Neubesetzung des Aufsichtsrats bei öffentlichen Übernahmen, NZG 2013, 167; Säcker/Boesche, Vom Gutsherren zum Gutsverwalter: Wandlungen im Auf-
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Kap. 12
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
sichtsratsrecht unter besonderer Berücksichtigung des Mannesmann-Urteils, BB 2006, 897; Semler/ Volhard, Arbeitshandbuch Unternehmensübernahmen, Bd. 1, 2001, Bd. 2, 2003; Sieger/Hasselbach, Break Fee-Vereinbarungen bei Unternehmenskäufen, BB 2000, 625; Sigle/Zinger, Die Übernahme der Transaktionskosten durch die Aktiengesellschaft, NZG 2003, 301; Simon, Von „Holzmüller“ zur „Gelatine“ – ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten im Lichte der BGH-Rechtsprechung (Teil I und II), DStR 2004, 1482, 1528; Stoffels, Grenzen der Informationsweitergabe durch den Vorstand einer Aktiengesellschaft im Rahmen einer „Due Diligence“, ZHR 165 (2001), 362; Tröger, Informationsrechte der Aktionäre bei Beteiligungsveräußerungen, ZHR 165 (2001), 593; Vogt/Bedkowski, Risikobegrenzungsgesetz – Arbeitsrechtliche Auswirkungen auf M&A-Transaktionen, NZG 2008, 725; Weißhaupt, Holzmüller-Informationspflichten nach den Erläuterungen des BGH in Sachen „Gelatine“, AG 2004, 585; Werner, Haftungsrisiken bei Unternehmensakquisitionen, die Pflicht des Vorstands zur Due Diligence, ZIP 2000, 989.
Überblick Die Aktiengesellschaft als Rechtsform ist trotz leichten zahlenmäßigen Rückgangs in den letzten Jahren in der Bundesrepublik Deutschland von erheblicher Bedeutung. Sie hat sich nicht nur innerhalb von Konzernorganisationen bei Großunternehmen, sondern auch im deutschen Mittelstand durchgesetzt. 2013 gab es in Deutschland ca. 12.500 Aktiengesellschaften. Ende März 2018 waren etwa 800 Aktiengesellschaften börsennotiert. Im Vergleich zu der in Deutschland dominierenden Rechtsform der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) zeichnen sich deutsche Aktiengesellschaften als besonders aktive „Player“ im M&A-Geschäft aus. So sind die deutschen Großunternehmen, die für einen Großteil der M&A-Aktivitäten als Käufer oder Verkäufer stehen, überwiegend in der Rechtsform der Aktiengesellschaft organisiert. Jedoch auch viele kleine Aktiengesellschaften sind bei M&A-Transaktionen beteiligt, oftmals gerade als Target. Die Struktur der Aktiengesellschaft erfordert einen vielschichtigen Blick auf die organisations- und haftungsrechtlichen Fragen beim Unternehmenskauf unter Beteiligung einer Aktiengesellschaft. Die klar abgegrenzten Kompetenzen von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung, eine um Rechtsfortbildung bemühte höchstrichterliche Rechtsprechung (Stichwort Holzmüller und Gelatine) sowie ein aktiver Gesetzgeber machen in diesem Handbuch ein eigenes Kapitel zum Thema M&A und Aktienrecht unumgänglich. Gerade aktuelle Fallbeispiele veranschaulichen die besondere Bedeutung des komplizierten deutschen Aktienrechts bei Unternehmenstransaktionen. So entzündet sich die in den vergangenen Jahren immer stärker in den Blickpunkt geratene Diskussion über die Haftung von Vorständen und Aufsichtsräten oft an fehlgeschlagenen Unternehmenskäufen. Die Frage nach einer ungeschriebenen Zuständigkeit der Hauptversammlung bei einer wesentlichen Änderung der Unternehmensstruktur infolge eines Beteiligungserwerbs im Rahmen eines Unternehmenskaufes sowie die Behandlung zukünftiger Umstände im Recht der Ad-hoc-Publizität im Zusammenhang mit dem Ausscheiden eines Vorstandsvorsitzenden aus dem Vorstand einer Aktiengesellschaft sind weitere Beispiele. Hinzu kommen die erheblichen praktischen Probleme deutscher Aktiengesellschaften mit dem Verhalten von Berufsopponenten gerade bei Hauptversammlungen, denen es in den vergangenen Jahrzehnten teilweise gelungen ist, wesentliche Grundlagenentscheidungen der Gesellschaften zu blockieren.
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Hölters/Hölters
A. Vorstand und Unternehmenskauf
Rz. 12.4 Kap. 12
A. Vorstand und Unternehmenskauf Unternehmenskäufe bringen ein erhebliches persönliches Haftungsrisiko insbesondere des Vorstands mit sich. Immer häufiger versuchen enttäuschte Aktionäre, Vorstände für die zum Teil erheblichen Kurs- und damit einhergehenden Vermögensverluste in Anspruch zu nehmen.1 Derartige Ansprüche werden insbesondere auf die Behauptung unrichtiger Kapitalmarktinformationen gestützt, insbesondere auf angeblich unzutreffende Ad-hoc-Mitteilungen der Gesellschaft. Hierbei handelt es sich regelmäßig um Masseverfahren auf der Grundlage des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG). Solche Ansprüche sind allerdings nur erfolgversprechend, wenn die Anleger nachweisen, dass die Gesellschaft tatsächlich fehlerhafte Kapitalmarktinformationen in Umlauf gebracht hat und sie diese Informationen zur Grundlage einer konkreten schadensverursachenden Anlageentscheidung gemacht haben. Die Rechtsprechung stellt hohe Anforderungen an die entsprechenden Kausalitätsnachweise.2
12.1
Soweit dem Aktionär lediglich ein mittelbarer Schaden durch Minderung des Vermögens der Aktiengesellschaft entsteht (Problem des Doppelschadens), kann dieser nur Schadensersatz an die Aktiengesellschaft verlangen. Der Entwertungsschaden ist damit über das Gesellschaftsvermögen auszugleichen.3
12.2
Nach §§ 148, 147 Abs. 1 Satz 1 AktG können Aktionäre bereits als kleine Minderheit, deren 12.3 Anteile im Zeitpunkt der Antragstellung zusammen nur 1 % des Grundkapitals oder einen anteiligen Betrag von 100 000 Euro erreichen müssen, vermeintliche Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegenüber dem Vorstand geltend machen. Damit die klagewilligen Aktionäre, die sich im Regelfall nicht untereinander kennen, leichter Kontakt zueinander aufnehmen können, um die notwendigen Schritte für eine entsprechende Klage einzuleiten, können sie das Aktionärsforum des Bundesanzeigers (§ 127a AktG) in Anspruch nehmen. Der Gang der Darstellung ist praxisorientiert. Aus der Sicht des Vorstands einer Aktiengesellschaft werden die wesentlichen Problemkreise dargestellt, die sich beim Unternehmenskauf unter Beteiligung von Aktiengesellschaften ergeben. Hierbei wird jeweils herausgearbeitet, inwieweit die Problemstellungen Aktiengesellschaften als Verkäufer, Käufer oder als Target betreffen. Die Darstellung der Rechte und insbesondere der Pflichten des Vorstands beim Unternehmenskauf dient hierbei als Basis, etwaige Haftungsrisiken für den Vorstand bei M&A1 BGH v. 3.3.2008 – II ZR 310/06 – ComROAD VIII, NZG 2008, 386 = AG 2008, 377; BGH v. 7.1.2008 – II ZR 68/06 – ComROAD VII, NZG 2008, 385 = AG 2008, 254; BGH v. 7.1.2008 – II ZR 229/05 – ComROAD VI, NZG 2008, 382 = MDR 2008, 458 = AG 2008, 252; BGH v. 4.6.2007 – II ZR 173/05 – ComROAD V, NZG 2007, 711 ff. = AG 2007, 623; BGH v. 4.6.2007 – II ZR 147/05 – ComROAD IV, NZG 2007, 708 ff. = AG 2007, 620 = MDR 2007, 1204; BGH v. 19.7.2004 – II ZR 402/02 – Infomatec II, NJW 2004, 2971 ff. = AG 2004, 546; BGH v. 19.7.2004 – II ZR 218/03 – Infomatec I, NJW 2004, 2664 ff. = AG 2004, 543; OLG Frankfurt v. 10.5.2005 – 5 U 133/03 – EM. TV, NJOZ 2006, 4091 = AG 2006, 162; OLG München v. 18.7.2002 – 19 U 5630/01 – EM. TV, AG 2003, 105; Weber, NJW 2009, 33 (35 f.); Buchta, DStR 2003, 694. 2 Vgl. nur BGH v. 7.1.2008 – II ZR 68/06 – ComROAD VII, NZG 2008, 385 = AG 2008, 254; BGH v. 7.1.2008 – II ZR 229/05 – ComROAD VI, NZG 2008, 382 = MDR 2008, 458 = AG 2008, 252; BGH v. 4.6.2007 – II ZR 173/05 – ComROAD V, NZG 2007, 711 ff. = AG 2007, 623; BGH v. 4.6.2007 – II ZR 147/05 – ComROAD IV, NZG 2007, 708 ff. = AG 2007, 620 = MDR 2007, 1204. 3 BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, BGHZ 129, 136 (166) = GmbHR 1995, 665 = AG 1995, 368; BGH v. 10.11.1986 – II ZR 140/85, MDR 1987, 384 = NJW 1987, 1077 (1079 f.).
Hölters/Hölters
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12.4
Kap. 12 Rz. 12.5
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
Transaktionen zu identifizieren. Die genaue Kenntnis der spezifischen aktienrechtlichen Themen beim Unternehmenskauf ermöglicht es dem Vorstand, Haftungsfallen zu vermeiden.
12.5 Gerade bei Beteiligung von Aktiengesellschaften bei M&A-Transaktionen ist es unabdingbar, den Prozess umfassend zu planen. Oft wird sich bereits wegen der Größe der Transaktion eine größere Komplexität ergeben. Weiter muss die Organisationsform der Aktiengesellschaft berücksichtigt werden. Es ist also zu fragen, ob, wann und in welchem Umfang der Aufsichtsrat zu unterrichten oder dessen Zustimmung einzuholen ist. In Ausnahmen ist auch an die Einberufung einer Hauptversammlung zu denken (vergleiche zu diesen Themen bei D., Rz. 12.102 ff.). Handelt es sich um eine börsennotierte Aktiengesellschaft, ist weiterhin der Zeitpunkt von möglicherweise notwendigen Ad-hoc-Mitteilungen zu berücksichtigen.
B. Vorstand und Due Diligence I. Relevanz der Due Diligence für Target-, Veräußerer- und Erwerber-AG 12.6 Bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war es bei Unternehmenskäufen eher unüblich, dass der Käufer vor Abschluss des Unternehmenskaufvertrages das zu erwerbende Unternehmen eingehend auf Risiken untersuchte. Der Veräußerer und das zu erwerbende Unternehmen waren zumeist nicht bereit, die entscheidenden unternehmensbezogenen Dokumente über seine rechtliche und finanzielle Situation zusammenzustellen und dem Erwerber zur Verfügung zu stellen. Der Käufer versuchte seine Position dadurch zu schützen, indem er in den Unternehmenskaufvertrag einen äußerst umfangreichen Katalog von Gewährleistungsoder Garantietatbeständen aufnahm.4
12.7 Die Durchführung einer Due Diligence ist in der Unternehmenskaufpraxis in Deutschland zunehmend üblich geworden. Unter Due Diligence versteht man die systematische Untersuchung des Zielunternehmens durch den Kaufinteressenten. Das Zielunternehmen wird hierbei in rechtlicher, finanzieller, steuerlicher und, sofern erforderlich, auch umweltspezifischer Hinsicht umfassend geprüft. Gegenstand einer Due Diligence können zudem Compliance-Aspekte sein (vergleiche dazu Rz. 12.51 ff.). Vor und während der Vertragsverhandlungen haben der Veräußerer und der potentielle Erwerber des Zielunternehmens ein nachvollziehbares Interesse, den tatsächlichen Wert des zu veräußernden Unternehmens oder Unternehmensteils zu ermitteln und einen Überblick über die mit dem Erwerb verbundenen Risiken zu erhalten. Dem Veräußerer geht es hierbei regelmäßig darum, sich ein Bild von dem Wert des eigenen Unternehmens und dem mit der Abgabe von Gewährleistungen vorhandenen Haftungsrisiko zu machen, während der potentielle Erwerber darauf angewiesen ist, mögliche finanzielle, steuerliche, rechtliche und umweltspezifische Risiken des Targets aufzudecken und abzuschätzen.
12.8 Aufgrund dieser zwischenzeitlich weitgehend üblichen Praxis beim Unternehmenskauf ergeben sich Fragen der rechtlichen Einordnung sowohl beim Veräußerer als auch beim Erwerber und dem Zielunternehmen. Auf der Erwerberseite stellt sich für den Vorstand der Erwerber-AG die Frage, ob er verpflichtet ist, vor Abschluss eines Unternehmenskaufvertrages eine Due Diligence durchzuführen. Bejaht man diese Pflicht und führt der Vorstand keine Due Diligence durch, könnte er sich nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG schadensersatzpflichtig machen. 4 Hölters/Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 93 AktG Rz. 176.
1026
Hölters/Hölters
B. Vorstand und Due Diligence
Rz. 12.14 Kap. 12
Für den Vorstand des Zielunternehmens ist die Frage zu beantworten, ob er berechtigt oder sogar verpflichtet ist, eine Due Diligence durch einen Kaufinteressenten zuzulassen oder ob er hierdurch seine Pflicht zur Verschwiegenheit verletzt. Ein besonderes Problem stellt sich in der Praxis, wenn das Target verpflichtet werden soll, beim Veräußerer, Erwerber oder beim Target selbst entstehende Transaktionskosten zu tragen.
12.9
Der Vorstand einer veräußernden Aktiengesellschaft muss sich fragen, ob er rechtlich dazu in der Lage ist, den Vorstand der Ziel-AG zu bewegen, eine Due Diligence zuzulassen. Außerdem muss er sich die Frage stellen, ob er nicht dazu verpflichtet ist, selbst eine Due Diligence (Vendor Due Diligence) vorzunehmen und welche Mittel ihm dazu zur Verfügung stehen.5
12.10
II. Erwerber-AG und Due Diligence Sowohl aus zivilrechtlichen als auch aktienrechtlichen Gründen kann sich eine Notwendigkeit für den Vorstand der Erwerber-AG ergeben, das Zielunternehmen im Rahmen einer Due Diligence zu prüfen. Zivilrechtlich kann der Verzicht auf eine Due Diligence dazu führen, dass Gewährleistungsansprüche des Käufers entfallen. Aktienrechtlich kann die Nichtdurchführung einer Due Diligence eine Pflichtverletzung des Vorstands darstellen.
12.11
1. Due Diligence und Gewährleistung Im amerikanischen Rechtskreis herrscht der Grundsatz, dass der Erwerber, der einen Kaufgegenstand nicht mit gehöriger Sorgfalt prüft, keine Gewährleistungsansprüche wegen etwaiger Mängel geltend machen kann.6 Dem deutschen Kaufrecht ist dieses Verständnis fremd. Es gibt in Deutschland keine allgemeine Obliegenheit, einen Kaufgegenstand vor Abschluss des Vertrages zu untersuchen.7 Nach § 442 BGB kann aber die Kenntnis des Erwerbers von etwaigen Mängeln des Kaufgegenstandes bei Vertragsschluss dazu führen, dass die Haftung des Veräußerers ausgeschlossen ist.8
12.12
Für den Spezialbereich des Unternehmenskaufs wird in der Literatur vereinzelt vertreten, dass die Due Diligence beim Unternehmenskauf, insbesondere beim Erwerb mittlerer oder größerer Unternehmen, mittlerweile der allgemeinen Verkehrssitte entspreche.9 Hieraus wird geschlossen, dass der Verzicht auf eine Due Diligence dazu führen kann, dass der Vorstand grob fahrlässig i.S.v. § 442 BGB handelt und ein Ausschluss von Gewährleistungsrechten droht. Die überwiegende Auffassung in der Literatur verneint hingegen eine kaufrechtliche Obliegenheit zur Durchführung einer Due Diligence vor dem Erwerb des Zielunternehmens.10
12.13
Der herrschenden Auffassung in der Literatur ist zuzustimmen. Es gibt bislang keinen ge- 12.14 neralisierbaren Kernbestand an Prüfpflichten für die Durchführung einer Due Diligence 5 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 178. 6 Werner, ZIP 2000, 989 (990); Merkt, BB 1995, 1041 (1043); Stoffels, ZHR 165 (2001), 362 (363); Loges, DB 1997, 965; Fleischer/Körber, BB 2001, 841 (842); Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 177. 7 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 177; Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, Rz. 48; Vogt, DStR 2001, 2027 (2031). 8 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 177; Holzapfel/Pöllath, Rz. 48; Beisel in Beisel/Klumpp, § 2 Rz. 9. 9 Böttcher, NZG 2005, 49 (50); Böttcher, ZGS 2007, 20 (22); Merkt, WiB 1996, 145 (148); Vogt, DStR 2001, 2027 (2031). 10 Holzapfel/Pöllath, Rz. 48; Fleischer/Körber, BB 2001, 841 (845); Werner, ZIP 2000, 989 (990); Loges, DB 1997, 965 (968).
Hölters/Hölters
1027
Kap. 12 Rz. 12.15
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
beim Unternehmenskauf. Insbesondere die unterschiedlichsten Ausprägungen von Due Diligence-Checklisten zeigen, dass sich die Art und der Umfang einer Due Diligence nach den Umständen des Einzelfalls richten.11 Der Annahme einer Verkehrssitte steht auch entgegen, dass die Frage, ob und in welchem Umfang eine Due Diligence durchgeführt werden soll, nicht selten Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen zwischen Käufer und Verkäufer ist.12 Im Übrigen kommt der Vorstand des Targets im Rahmen einer Due Diligence seinen Geschäftsleiterpflichten gegenüber der eigenen Gesellschaft nach und nicht einer angeblich existierenden Verkehrssitte.13 Die Durchführung einer spezifischen Due Diligence ist demnach nicht zur Verkehrssitte geworden. Die gesetzlichen Gewährleistungsansprüche des Erwerbers bleiben demnach auch ohne Due Diligence erhalten. 2. Aktienrechtliche Besonderheiten
12.15 Nach Ansicht der LG Hannover und Frankfurt soll der Vorstand einer Aktiengesellschaft dazu verpflichtet sein, die Vermögensverhältnisse einer zur Übernahme anstehenden Gesellschaft vor Erwerb gründlich zu prüfen, wenn er eine Haftung nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG vermeiden will.14 Auch in der Literatur wird eine Sorgfaltspflicht des Vorstands, vor einem Unternehmenskauf eine Due Diligence durchzuführen, teilweise bejaht.15 Begründet wird dies mit den erheblichen Risiken beim Unternehmenskauf und der Gefahr der Vernichtung von Ressourcen für das übernehmende Unternehmen. Der Vorstand überschreite seinen Gestaltungsspielraum, wenn er Entscheidungen ohne eine entsprechende Informationsgrundlage treffe.
12.16 Dieser Auffassung ist mit der herrschenden Meinung16 nicht zuzustimmen. Ausgangspunkt für die Diskussion der Vorstandspflichten im Rahmen einer Due Diligence ist die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG. Die Eigenverantwortlichkeit des Vorstands bei der Wahrnehmung unternehmerischer Aufgaben und Ziele schließt notwendig einen eigenen unternehmerischen Ermessensspielraum ein, ohne den eine unternehmerische Tätigkeit nicht möglich ist.17 Die Entscheidung über den Erwerb eines Unternehmens oder einer Beteiligung ist eine unternehmerische Entscheidung, bei der dem Vorstand der Erwerbergesellschaft ein unternehmerisches Ermessen zusteht.18 Es gilt die Business Judgement Rule. Der Vorstand muss daher annehmen können, auf der Grundlage angemessener Informationen zum Wohl der Gesellschaft zu handeln. Er muss alle ihm 11 12 13 14 15
16 17 18
Fleischer/Körber, BB 2001, 841 (846). Werner, ZIP 2000, 989 (990); Loges, DB 1997, 965 (968). Fleischer/Körber, BB 2001, 841 (846). LG Hannover v. 23.2.1977 – 1 O 123/75 – Kämmerei Döhren AG, AG 1977, 198 (200); LG Frankfurt v. 7.10.1997 – 3/11 O 44/96, AG 1998, 488 ff. U.a. Hauschka, AG 2004, 461 (465) (grds. Pflicht zur Durchführung); Kiethe, NZG 1999, 976 (982); Lutter, ZIP 2007, 841 (844) (Due Diligence erforderlich bei Erwerb eines Unternehmens für 100 Mio. US-$); Stoffels, ZHR 165 (2001), 363 (368) und Fn. 27; wohl auch Ulmer, DB 2004, 859 (860); Werner, ZIP 2000, 989 (990, 994) (grds. Pflicht zur Durchführung einer Due Diligence, soweit nicht unmöglich. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 179; u.a. Fleischer/Körber, BB 2001, 841 (847); Hemeling, ZHR 169 (2005), 274 (277); Liese/Theusinger, BB 2007, 71 (72). Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 179; BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 – ARAG/Garmenbeck, BGHZ 135, 244 (253) = AG 1997, 377 = MDR 1997, 663; BGH v. 23.6.1997 – II ZR 132/93 – Siemens/Nold II, BGHZ 136, 133 (140) = AG 1997, 465. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 179; Böttcher, NZG 2007, 481 (482); Spindler in MünchKomm/ AktG, § 93 AktG Rz. 102.
1028
Hölters/Hölters
B. Vorstand und Due Diligence
Rz. 12.17 Kap. 12
zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausschöpfen und eine Bewertung der Chancen und Risiken vornehmen.19 Zu diesem Ermessensspielraum gehört neben dem bewussten Eingehen geschäftlicher Risiken auch die Gefahr von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen. Der Vorstand darf hierbei allerdings keine überspannte Risikobereitschaft zeigen. Ebenso wenig darf er sein Ermessen unterschreiten. Er muss demnach unternehmerische Chancen suchen und nutzen.20 Entscheidend ist damit, ob der Vorstand einer Aktiengesellschaft die Grenzen seines Er- 12.17 messensspielraumes unzulässigerweise überschreitet, wenn er einen Unternehmenskauf vornimmt, ohne zuvor eine Due Diligence des Targets durchzuführen. Diese Frage ist nur im Einzelfall zu beantworten. Der Vorstand muss sich deshalb vor dem Unternehmenskauf verschiedene Fragen stellen. Der Erwerb des Zielunternehmens muss zunächst strategisch sinnvoll sein. Weiterhin muss der zu zahlende Kaufpreis in angemessenem Verhältnis zu den Gewinnchancen bei Erwerb des Unternehmens stehen.21 Der Vorstand hat somit das Zielunternehmen zu bewerten. Er hat dabei das Zielunternehmen zu analysieren und zu prüfen, ob die Finanz-, Vermögens- und Ertragslage der Zielgesellschaft mit den ihm öffentlich zugänglichen Informationen (insbesondere Jahresabschluss) und den vom Verkäufer erlangten Informationen in Einklang steht. Dies kann dazu führen, dass er dazu verpflichtet ist, vor Abschluss eines Unternehmenskaufvertrages eine sorgfältige und umfangreiche Due Diligence bei dem Zielunternehmen durchzuführen.22 Eine solche Verpflichtung liegt zumindest nahe, wenn ein Unternehmen aus der Insolvenz erworben wird.23 Die Verpflichtung zur Durchführung einer Due Diligence besteht jedoch nicht ausnahmslos. Es kann die Situation eintreten, dass dem Erwerbsinteressenten eine Due Diligence nicht gestattet ist. In diesem Falle von einem Erwerb des Unternehmens oder der Beteiligung abzusehen, könnte unter Umständen die falsche unternehmerische Entscheidung sein.24 Die mit dem Zielunternehmen verbundenen zusätzlichen Erwerbschancen können so vielversprechend sein und das voraussichtliche Risiko kann so gering sein, dass der Vorstand auch ohne vorherige Due Diligence den Erwerb vornimmt. In diesem Fall wird der Vorstand vorhandene Risiken durch einen umfangreichen Garantiekatalog im Unternehmenskaufvertrag abzusichern versuchen. Ein solches Risiko kann bei Erwerb einer Beteiligung an einer inländischen Aktiengesellschaft, die strengen Veröffentlichungspflichten unterliegt, geringer sein als beim Erwerb eines in- oder ausländischen Unternehmens in einer Rechtsform mit geringeren Veröffentlichungspflichten.25 Es mag weiter im Rahmen des unternehmerischen Ermessens liegen, von einer umfangreichen Due Diligence abzusehen, wenn es sich bei dem zu erwerbenden Unternehmen um ein im Verhältnis zur Erwerbergesellschaft sehr kleines Unternehmen mit begrenzten Risiken handelt26 und die Kosten einer Due Diligence unverhältnismäßig hoch gegenüber dem aufzuwendenden Kaufpreis wären.27 Sofern der Vorstand über eine ausreichende Tatsachengrundlage verfügt, die auch außerhalb eines formalen Due Diligence-Verfahrens gewonnen werden kann, und der Vorstand in der Lage ist, Chancen und Risiken der Transaktion umfassend abzuwägen, können durch den Verzicht auf eine Due Diligence erhebliche Kosten gespart werden. Will bei19 20 21 22 23 24 25 26 27
Strenger BGH v. 14.7.2008 – II ZR 202/07, NZG 2008, 705 (706) (für GmbH-Geschäftsführer). Spindler in MünchKomm/AktG, § 93 AktG Rz. 57. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 180. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 180. OLG Oldenburg v. 22.6.2006 – 1 U 34/03, GmbHR 2006, 1263 = NZG 2007, 434 (436 f.). Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 180; a.A. Kiethe, NZG 1999, 976 (983). Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 180. Spindler in MünchKomm/AktG, § 93 AktG Rz. 102. Liese/Theusinger, BB 2007, 71 (72).
Hölters/Hölters
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Kap. 12 Rz. 12.18
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
spielsweise die Aktiengesellschaft einen Zulieferer erwerben, mit dem über Jahre hinweg umfassende Geschäftsbeziehungen bestanden, so dass der Vorstand über ausreichende Informationen über das Target verfügt, ist eine kostenintensive Due Diligence nicht zwingend erforderlich. Weiter kann es im Einzelfall im Rahmen des dem Vorstand zustehenden unternehmerischen Ermessens liegen, auf die Due Diligence zu verzichten, weil bei ihrer Durchführung durch Kenntnis verschiedener Mitarbeiter oder erheblichen Zeitablaufes die Transaktion gefährdet und damit eine bevorstehende Geschäftschance ungenutzt bliebe.28 In jedem Fall ist es für den Vorstand empfehlenswert, die wesentlichen Gründe seiner Ermessensentscheidung und das Ergebnis der Prüfung zu dokumentieren, um sich im Haftungsfall entlasten zu können.29 Ist dem Vorstand die Durchführung einer Due Diligence vom Zielunternehmen verweigert worden, hat er diese nach dem Erwerb unverzüglich nachzuholen, damit eventuelle Gewährleistungs- oder Garantieansprüche aus dem Erwerbsvertrag geltend gemacht werden können.30
12.18 Wenn Vorstand oder Geschäftsführung des Zielunternehmens eine Due Diligence zulassen, diese zeitlich möglich ist und der damit verbundene finanzielle Aufwand nicht außer Verhältnis zum Kaufpreis liegt, ist jedoch im Regelfall kein Grund denkbar, der in Ausübung des unternehmerischen Ermessens eine Entscheidung, von einer Due Diligence abzusehen, rechtfertigen würde.31 Das Risikopotential bei Unternehmenskäufen liegt in der Regel in der Investitionssumme und den gewachsenen und unter Umständen nicht mehr zeitgemäßen Strukturen des zu erwerbenden Unternehmens sowie in den unerkannten Mängeln des Kaufobjektes. Auch die Vernichtung von Ressourcen auf Seiten des übernehmenden Unternehmens ist eine praxisrelevante Gefahr.32 Zudem droht die Haftung für Altverbindlichkeiten des übernommenen Unternehmens aus vertraglicher Verpflichtung oder aus Gesetz, beispielsweise die Haftung des Betriebsübernehmers nach § 75 AO oder aufgrund Betriebsübergangs gem. § 613a BGB. Das bewusste Eingehen dieser Risiken wird in der Regel nicht dem Gesellschaftswohl dienen. Der Vorstand der erwerbenden Aktiengesellschaft ist dann verpflichtet, zur Vermeidung eigener Haftungsrisiken eine Due Diligence durchzuführen.
12.19 Im Ergebnis wird der Vorstand einer Erwerber-AG nur in Ausnahmefällen von einer Due Diligence absehen können. Bei größeren Transaktionen oder erheblichen Haftungsrisiken ist der Vorstand im Regelfall verpflichtet, eine Due Diligence vor dem Unternehmenskauf durchzuführen.
12.20 Wenn der Käufer die durch die Due Diligence-Prüfung erlangten Daten nicht für den Erwerb oder Verkauf von Wertpapieren der Zielgesellschaft außerhalb des geplanten Erwerbs nutzt, sondern die neu erlangten Informationen über die Zielgesellschaft ausschließlich für die Ausgestaltung des Kaufvertrages verwendet, liegt keine nach § 14 Abs. 1 Nr. 1 WpHG a.F. bzw. Art 14 MAR verbotene Verwendung von Insiderinformationen vor.33 Das gilt ebenfalls, wenn ein Kaufinteressent die Entscheidung zum Erwerb nach der Due Diligence-Prüfung revidiert.34 Ungeachtet dessen, dass sich bereits aus aktienrechtlichen Gründen eine sorgfältige 28 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 181; LG Frankfurt v. 7.10.1997 – 3/11 O 44/96, AG 1998, 488 = ZIP 1998, 641 (644). 29 Spindler in MünchKomm/AktG, § 93 AktG Rz. 102. 30 LG Frankfurt v. 7.10.1997 – 3/11 O 44/96, AG 1998, 488 = ZIP 1998, 641 (644). 31 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 181. 32 Werner, ZIP 2000, 989 (991); Kiethe, NZG 1999, 976 (981). 33 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, § 14 WpHG Rz. 163. 34 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, § 14 WpHG Rz. 45; Hasselbach, NZG 2004, 1087 (1091).
1030
Hölters/Hölters
B. Vorstand und Due Diligence
Rz. 12.25 Kap. 12
Dokumentation von Vorstandsentscheidungen empfiehlt, sollte der bereits vor der Durchführung der Due Diligence gefasste Kaufentschluss aus wertpapierhandelsrechtlichen Beweiszwecken hinreichend dokumentiert werden.35
III. Target-AG und Due Diligence 1. Unterschiede der Informationserteilung bei GmbH und AG Ein überaus praxisrelevantes Problem sind die Grenzen der Erteilung von Informationen durch den Vorstand des Targets im Rahmen einer Due Diligence. Dies wird deutlich bei einem Vergleich der aktienrechtlichen Bestimmungen mit dem GmbH-Recht. Den Gesellschaftern einer GmbH stehen weitgehende Informationsrechte zu. Nach § 51a GmbHG hat die Gesellschaft den Gesellschaftern, also auch dem Veräußerer, auf Verlangen unverzüglich Auskunft über die Angelegenheiten der Gesellschaft zu geben sowie die Einsicht in die Gesellschaftsunterlagen zu gestatten. Allenfalls die Weitergabe der erlangten Information durch den Veräußerer an den potentiellen Erwerber ist rechtlich problematisch.36
12.21
Die Informationserteilung durch den Vorstand einer Target-AG ist hingegen problematisch, da das Aktiengesetz der Informationspreisgabe durch den Vorstand gesellschaftsrechtliche Grenzen setzt. § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG verpflichtet die Vorstandsmitglieder, über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die ihnen durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekannt geworden sind, Stillschweigen zu bewahren. Wird die Verschwiegenheitspflicht verletzt, haftet das jeweilige Vorstandsmitglied nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG auf Schadensersatz. Darüber hinaus kann die Verletzung der Schweigepflicht zu einem Widerruf der Bestellung als Mitglied des Vorstands nach § 84 Abs. 3 AktG und zu einer Kündigung des Anstellungsvertrags führen.
12.22
Nach § 404 AktG ist die unbefugte Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen zudem unter Strafe gestellt. Einem Vorstandsmitglied ist es verboten, ein Geheimnis der Gesellschaft, namentlich ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, das ihm in seiner Eigenschaft als Vorstandsmitglied bekannt geworden ist, unbefugt zu offenbaren. Handelt es sich beim Target um eine börsennotierte Aktiengesellschaft, ist zusätzlich zu beachten, dass die Vorstandsmitglieder nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 WpHG a.F. Primärinsider sind. Die Vorstandsmitglieder dürfen demnach nicht unbefugt Insiderinformationen mitteilen oder zugänglich machen. Ein Verstoß führt zur Strafbarkeit nach § 38 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 39 Abs. 2 Nr. 3, § 14 Abs. 1 Nr. 2 WpHG a.F. bzw. Art. 14 MAR.
12.23
2. Grenzen der Informationserteilung Der Kaufinteressent verfügt über keine originären Informationsansprüche gegenüber dem Target, da sein Vertragspartner nicht die Target-AG selbst, sondern der veräußerungswillige Aktionär ist.
12.24
Das Auskunftsrecht des veräußerungswilligen Aktionärs ist nach § 131 AktG in mehrfacher Hinsicht beschränkt. Das Auskunftsrecht kann nur im Rahmen der Hauptversamm-
12.25
35 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, § 14 WpHG Rz. 165. 36 Dafür Werner, ZIP 2000, 989 (992); Götze, ZGR 1999, 202 (210); Ziegler, DStR 2000, 249 (250); dagegen Hüffer in Ulmer/Habersack/Winter, § 51a GmbHG Rz. 11; K. Schmidt in Scholz, § 51a GmbHG Rz. 13.
Hölters/Hölters
1031
Kap. 12 Rz. 12.26
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
lung und nur insoweit geltend gemacht werden, als es zur sachgemäßen Beurteilung der Gegenstände der Tagesordnung erforderlich ist.37 Zudem stehen der Gesellschaft gerade bei der Preisgabe besonders sensibler unternehmensinterner Informationen Auskunftsverweigerungsrechte gem. § 131 Abs. 3 AktG zu.
12.26 Der Vorstand einer Target-AG kann berechtigt, in Ausnahmefällen sogar verpflichtet sein, eine Due Diligence durch einen Kaufinteressenten zuzulassen. Hierbei handelt es sich um eine Frage des unternehmerischen Ermessens,38 bei der die Business Judgement Rule gilt. Der Vorstand der Target-AG hat die Frage der Zulassung einer Due Diligence stets eigenverantwortlich zu beurteilen, es sei denn er wird im Rahmen eines Beherrschungsvertrages von der Konzernobergesellschaft angewiesen.39 Im Übrigen kann er – anders als bei der GmbH – von dem veräußerungswilligen Gesellschafter nicht dazu angewiesen werden.40
12.27 Die Verschwiegenheitspflicht bildet keine absolute Entscheidungsschranke bei der Wahrnehmung des dem Vorstand zukommenden Leitungsermessens. Der Umfang der Verschwiegenheitspflicht muss stets für jeden Einzelfall mit Blick auf das übergeordnete Unternehmensinteresse bestimmt werden und kann demnach auch Einschränkungen erfahren.41 „Wo das Unternehmensinteresse gebietet zu reden, hört die Schweigepflicht auf.“42 Im Vordergrund der Ermessensentscheidung steht somit das objektive Gesellschaftsinteresse. Persönliche Interessen der Vorstandsmitglieder (beispielsweise die Aussicht auf einen höher dotierten Dienstvertrag nach Übernahme) oder des externen Erwerbers sind irrelevant.43 Gleiches gilt für die Interessen des verkaufswilligen Großaktionärs.
12.28 In der Literatur wird sehr kontrovers diskutiert, welche konkreten Gesichtspunkte bei der Ermessensentscheidung vom Vorstand im Einzelnen zu berücksichtigen und wie diese zu gewichten sind. Nach einer sehr restriktiven Auffassung soll die Weitergabe von Informationen an veräußerungswillige Aktionäre bzw. potentielle Erwerber allenfalls in extrem gelagerten Ausnahmesituationen und bei einer Prüfung durch neutrale, zur Verschwiegenheit verpflichtete Sachverständige sowie der sofortigen Veröffentlichung des Prüfungsergebnisses zulässig sein.44 Andere Stimmen wollen nur ausnahmsweise die Weitergabe von Informationen an einen neutralen Wirtschaftsprüfer, der dem Erwerbsinteressenten lediglich das Ergebnis der Due Diligence mitteilen darf, erlauben.45
12.29 Die überwiegende Auffassung in der Literatur gestattet vom Grundsatz her die Informationsweitergabe durch den Vorstand im Rahmen einer Due Diligence.46 Der Vorstand des 37 Stoffels, ZHR 165 (2001), 362 (369); Ziegler, DStR 2000, 252; Lutter, ZIP 1997, 613 (616). 38 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 183; Fleischer in Spindler/Stilz, § 93 AktG Rz. 170; Hopt in Großkomm/AktG, § 93 AktG Rz. 204; Spindler in MünchKomm/AktG, § 93 AktG Rz. 137; a.A. Lutter, ZIP 1997, 613 (617) (Weitergabe von Unternehmensdaten grundsätzlich unzulässig). 39 A.A. Lutter, ZIP 1997, 613 (616 f.) (Weisung als von § 308 AktG nicht gedeckt abzulehnen). 40 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 183. 41 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 183; Schroeder, DB 1997, 2161 (2162); Müller, NJW 2000, 3452 (3453); Roschmann/Frey, AG 1996, 452; Ziegler, DStR 2000, 252; Ziemons, AG 1999, 493; Stoffels, ZHR 165 (2001), 363 (373). 42 Mertens/Cahn in KölnKomm/AktG, § 93 AktG Rz. 120. 43 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 184. 44 Lutter, ZIP 1997, 613 (616). 45 Bihr, DB 1998, 1198; Ziemons, AG 1999, 492 (493). 46 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 184 m.w.N.; Roschmann/Frey, AG 1996, 449 (452); Mertens, AG 1997, 541 (546 ff.); Schroeder, DB 1997, 2161 (2163); Ziegler, DStR 2000, 249 (250); Kiethe,
1032
Hölters/Hölters
B. Vorstand und Due Diligence
Rz. 12.32 Kap. 12
Targets hat jedoch insbesondere durch entsprechende Geheimhaltungsvereinbarungen mit den an der Transaktion Beteiligten sicherzustellen, dass geheimhaltungsbedürftige Informationen nicht an Dritte gelangen. Der herrschenden Auffassung in der Literatur ist zuzustimmen. Nach der restriktiven Auffassung würde es dem Erwerbsinteressenten im Regelfall zugemutet, das Target ohne vorherige Prüfung, also „blind“ zu kaufen. Dies würde viele Unternehmenskäufe verhindern und wäre auch eine erhebliche Benachteiligung deutscher Aktiengesellschaften im internationalen Unternehmenskaufmarkt.47 Auch die Weitergabe an zur Verschwiegenheit verpflichtete Wirtschaftsprüfer, die nur über die Ergebnisse ihrer Prüfung eingeschränkt berichten dürfen, ist nicht praxistauglich. Der potentielle Erwerber muss sich selbst ein Bild von der Situation des Targets machen können und benötigt dazu beispielsweise auch die Grundlageninformationen für die Bewertung des Unternehmens.48 Kein Vorstand eines Erwerbsunternehmens wird sich auf die abstrakten Ergebnisse der Überprüfung durch einen Wirtschaftsprüfer verlassen, der zwar Zahlen überprüfen kann, aber nicht die unternehmerische Tragweite der gesamten Transaktion.49 Lediglich wenn im Einzelfall die Gefahr eines Informationsmissbrauchs in besonderem Maße vorliegt, kann eine bloß selektive Offenlegung oder gar die Einschaltung eines unabhängigen Sachverständigen weiterhelfen.50
12.30
Aus der Sicht des Vorstands des Targets ist die Entscheidung über die Zulassung der Due 12.31 Diligence und über deren Reichweite vom jeweiligen Einzelfall abhängig. So wird der Vorstand im Rahmen seines unternehmerischen Ermessens die Durchführung einer Due Diligence verweigern, wenn er konkret befürchten muss, dass die Weitergabe von Informationen einen erheblichen Schaden für die Aktiengesellschaft mit sich bringen könnte. Ist der Erwerbsinteressent beispielsweise ein Mitbewerber, wird der Vorstand genau die Risiken abwägen müssen, die die Preisgabe sensibler Informationen mit sich bringen. Hier wird es oftmals angezeigt sein, besonders relevante Informationen nicht zu übermitteln. Es mag für den Vorstand mitunter sogar geboten sein, die Informationserteilung zu verweigern, auch wenn dies den Unternehmenskauf gefährdet.51 Dies gilt insbesondere dann, wenn der Aktienerwerb durch den Mitbewerber offensichtlich der Verdrängung der Zielgesellschaft vom Markt dient. Entsprechendes gilt, wenn eine hochgradig kreditfinanzierte Übernahme zur Zerschlagung wesentlicher Teile des Unternehmens führen wird oder aber offenkundig ist, dass der Aktienerwerb durch die Kartellbehörden untersagt werden wird.52 Besonders sinnvoll ist zudem ein gestuftes Vorgehen, das berücksichtigt, wie wahrscheinlich die Durchführung der Transaktion ist. Ist der Erwerbsvorgang noch in einem sehr frühen Stadium, sollten nur Grundlageninformationen erteilt werden. Letztlich muss der Vorstand bei seiner Entscheidung die objektiven Unternehmensinteressen 12.32 so konkretisieren, dass die Chancen und Risiken der Informationsfreigabe gegeneinander abgewogen werden. Wichtige strategische Vorteile einer Anteilsveräußerung, wie beispielsweise Synergieeffekte durch die Bildung eines Unternehmensverbundes, die Verbesserung
47 48 49 50 51 52
NZG 1999, 976 (977); Müller, NJW 2000, 3452 (3453); Werner, ZIP 2000, 989 (991); Körber, NZG 2002, 263 (269); Fleischer, ZIP 2002, 651. Kiethe, NZG 1999, 976 (979); Werner, ZIP 2000, 989 (991). Kiethe, NZG 1999, 976 (979); Fleischer, ZIP 2002, 651. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 184. Weitergehend im Zutrauen auf die Zweckmäßigkeit der Einschaltung eines Sachverständigen; Fleischer, ZIP 2002, 651 (652). Stoffels, ZHR 165 (2001), 362 (374); Müller, NJW 2000, 3452 (3454). Schroeder, DB 1997, 2161 (2163).
Hölters/Hölters
1033
Kap. 12 Rz. 12.33
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
der Einkaufskonditionen, die Erschließung neuer Märkte, das Zurverfügung-Stellen neuen Know-hows oder die Verbesserung der Kapitalausstattung, sprechen regelmäßig für die Zulassung einer umfassenden Due Diligence.53
12.33 In Ausnahmefällen kann der Vorstand einer Target-AG nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet sein, die Due Diligence eines Erwerbsinteressenten zuzulassen. Kann der Bestand des Unternehmens beispielsweise nur durch den Zutritt eines neuen kapitalzuführenden Aktionärs vor der Insolvenz bewahrt werden, reduziert sich die unternehmerische Ermessensentscheidung des Vorstands auf null.54 3. Interne Entscheidungsprozesse
12.34 Sofern der Vorstand die Durchführung einer Due Diligence gestatten will, wird er zur Haftungsvermeidung dafür Sorge tragen, dass die internen Entscheidungsprozesse ordnungsgemäß ablaufen. Die Entscheidung über die Zulassung der Due Diligence und deren Reichweite geht regelmäßig über die Ressortkompetenz eines einzelnen Vorstandsmitglieds hinaus. Aus diesem Grunde ist ein Beschluss des Gesamtvorstands notwendig,55 der zu Nachweiszwecken schriftlich dokumentiert werden sollte.
12.35 Ob auch der Aufsichtsrat der Gesellschaft mit dem Vorgang befasst werden muss, ist eine Frage des Einzelfalls. Nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG sind in der Satzung oder insbesondere in der Geschäftsordnung für den Vorstand Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats aufzunehmen. Der Aufsichtsrat kann auch Zustimmungsvorbehalte ad hoc festlegen. Sofern sich Zustimmungsvorbehalte auf die Weitergabe von Informationen im Rahmen einer Due Diligence beziehen, ist der Aufsichtsrat zwingend zu beteiligen. Anderenfalls ist die Entscheidung über die Durchführung und die Reichweite einer Due Diligence eine Geschäftsführungsmaßnahme, die dem Vorstand obliegt.56 In der Literatur wird teilweise empfohlen, die Zustimmung des Aufsichtsrats auch einzuholen, wenn es sich nicht um ein zustimmungspflichtiges Geschäft handelt oder den Aufsichtsrat zumindest zu informieren.57 Dieser Empfehlung ist nur sehr eingeschränkt zu folgen.58 Die Leitung des Unternehmens obliegt dem Vorstand und nicht dem Aufsichtsrat. Eine rechtlich nicht geforderte Delegation von Aufgaben vom Vorstand auf den Aufsichtsrat könnte zu der Einschätzung führen, dass der Vorstand nicht dazu in der Lage ist, Entscheidungen für das Unternehmen zu treffen und damit seinen Aufgaben als Vorstand nicht gewachsen ist.59
12.36 Die Befassung der Hauptversammlung mit der Frage, ob Informationen im Rahmen einer Due Diligence einem potentiellen Erwerber zur Verfügung gestellt werden sollen, ist nach § 119 Abs. 2 AktG möglich, in der Praxis aber nicht vorstellbar. Sie könnte lediglich zur 53 Schroeder, DB 1997, 2161 (2162); Müller, NJW 2000, 3452 (3453); Stoffels, ZHR 165 (2001), 362 (374). 54 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 184; Lutter, ZIP 1997, 613 (617) Fn. 37. 55 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 185; Roschmann/Frey, AG 1996, 452; Müller, NJW 2000, 3452; Schroeder, DB 1997, 2163; Hennrichs, ZGR 2006, 568 (574); Mertens/Cahn in KölnKomm/AktG, § 93 AktG Rz. 120; Ziegler, DStR 2000, 253. 56 A.A. Bihr, BB 1998, 1198 (1200) (Zustimmung des Aufsichtsrats erforderlich), dem zustimmend Ziemons, AG 1999, 492 (494 Fn. 15). 57 Mueller-Thuns in Rödder/Hötzel/Mueller-Thuns, § 3 Rz. 75; Thiel in Semler/Volhard, ArbeitsHdb. Unternehmensübernahmen Bd. 2, § 54 Rz. 42. 58 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 185. 59 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 185.
1034
Hölters/Hölters
B. Vorstand und Due Diligence
Rz. 12.38 Kap. 12
Haftungsvermeidung für den Vorstand dienen. Aufgrund der einzuhaltenden Einberufungsfrist für die Hauptversammlung und der Öffentlichkeitswirkung bei Veröffentlichung der Einberufung im Bundesanzeiger ist eine Befassung der Hauptversammlung vor einer Due Diligence weder praktisch noch dienlich. 4. Pflicht zu effektiven Sicherheitsvorkehrungen Soweit eine Due Diligence bei der Zielgesellschaft durchgeführt wird, hat deren Vorstand der Gefahr vorzubeugen, dass sensible Informationen zum Schaden der Zielgesellschaft weitergegeben werden. Er hat das Risiko zu minimieren. Als Sicherungsvorkehrungen kommen abhängig vom Einzelfall eine Vielzahl von Maßnahmen in Betracht. So sollte der Vorstand des Targets die Übersendung wesentlicher Dokumente fordern, beispielsweise einen „Letter of Intent“ (vgl. hierzu Rz. 9.28 ff.) zwischen dem verkaufswilligen Aktionär und dem Kaufinteressenten, um sich von der Seriosität des Verkaufsprozesses zu überzeugen. Der Kaufinteressent sollte zudem dem Vorstand die wesentlichen Vorteile des Unternehmenskaufs für das Target selbst darlegen, indem er die nach dem Unternehmenskauf beabsichtigten Maßnahmen erläutert.
12.37
Zur Absicherung des Geheimhaltungsbedürfnisses ist der Abschluss einer Vertraulichkeits- 12.38 vereinbarung (vgl. hierzu Rz. 9.64 f.) zwischen der Target-AG und dem Kaufinteressenten unabdingbar.60 Zur Vermeidung von Nachweisproblemen bei der Berechnung des Schadens ist in der Regel eine angemessen hohe Vertragsstrafe aufzunehmen. Oft wird eine Vertraulichkeitsvereinbarung in einem Letter of Intent (Absichtserklärung) niedergelegt.61 Dieser hat keine rechtsverbindliche Wirkung. Die Erklärenden haben also darauf zu achten, dass im Unterschied zum übrigen Inhalt der Vertraulichkeitsvereinbarung Rechtsverbindlichkeit zukommt.62 Auch dann begründet eine Vertraulichkeitsvereinbarung in einem Letter of Intent zwischen Veräußerer und Erwerbsinteressenten keinen Rechtsanspruch des Targets. Wenn keine selbständige Vertraulichkeitsvereinbarung mit dem Target begründet wird, sind dessen Geheimhaltungsinteressen allenfalls gewahrt, wenn in den Letter of Intent eine Klausel aufgenommen wird, wonach auch das Target aus der Vertraulichkeitsabrede Rechte herleiten kann (Vertrag zugunsten Dritter). Der Schutz ist jedoch lückenhaft, da der Letter of Intent jederzeit ohne Mitwirkung des Targets abgeändert werden kann. In der Praxis lässt sich die Verletzung von im Rahmen eines Unternehmenskaufs vereinbarten Verschwiegenheitspflichten nur sehr schwer nachweisen. Dies ändert aber nichts an der Pflicht des Vorstands der Target-AG, auf der rechtswirksamen Vereinbarung einer Verschwiegenheitspflicht zu bestehen. In der Praxis ist es oftmals angezeigt, sich eine Verschwiegenheitserklärung von jedem Mitarbeiter des Erwerbsinteressenten, der mit dem Erwerbsvorgang befasst ist, persönlich unterzeichnen zu lassen.63 Auch bei der Einrichtung des Datenraumes (räumlich oder elektronisch) und beim weiteren Ablauf der Due Diligence ist durch strenge Kontrollen sicherzustellen, dass die Geheimhaltungsinteressen des Targets weitestgehend Berücksichtigung finden.
60 61 62 63
Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 186. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 186. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 186; Holzapfel/Pöllath, Rz. 53. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 186.
Hölters/Hölters
1035
Kap. 12 Rz. 12.39
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
5. Kein Auskunftsrecht von Aktionären und Mitinteressenten
12.39 In der Praxis spielen Auskunftsrechte der anderen Aktionäre nach einem Unternehmenskauf eine große Rolle. Handelt es sich bei dem Kaufinteressenten, der Informationen im Rahmen einer Due Diligence erlangt hat, bereits um einen Aktionär der Gesellschaft, so haben die übrigen Aktionäre keinen Anspruch auf Erteilung der entsprechenden Informationen.64 Ein Auskunftsanspruch nach § 131 Abs. 4 Satz 1 AktG besteht nicht, da dem Käufer die Informationen nicht in seiner Eigenschaft als Aktionär gewährt wurden.65 Außerdem kann ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 131 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AktG i.V.m. § 404 AktG bestehen, wenn der Vorstand sich wegen unbefugter Weitergabe von Geheimnissen strafbar machen würde.66 Das Auskunftsverweigerungsrecht des Vorstands ist auch sachlich begründet. Die Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen im Rahmen der Due Diligence hat sich nach einer Interessenabwägung des Vorstands nur auf die Person des Aktienerwerbers bezogen. Die Information der Hauptversammlung hat hingegen keinen vergleichbaren Vorteil für die Gesellschaft, der den Vorstand von seiner Schweigepflicht gem. § 93 AktG entbinden könnte. Die Weitergabe ausführlicher Due Diligence-Informationen in der Hauptversammlung, also de facto an eine nicht kontrollierbare Öffentlichkeit, kann im Gegenteil sogar die Interessen der Gesellschaft erheblich gefährden.67 Da dem Käufer die Informationen nicht in seiner Eigenschaft als Aktionär gewährt wurden, können die übrigen Aktionäre auch keinen Informationsanspruch aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 53a AktG herleiten.68 War der Kaufinteressent vor dem Erwerb nicht an der Gesellschaft beteiligt, ergibt sich ein Auskunftsanspruch unter keinem denkbaren Gesichtspunkt.
12.40 Auch ein konkurrierender Erwerbsinteressent kann nicht verlangen, dass ihm eine Due Diligence im gleichen Umfang gewährt wird.69 Dies kann nur bei an dieser Stelle nicht behandelten öffentlichen Übernahmen gelten.70 Wenn der Vorstand der Target-AG im Rahmen seines unternehmerischen Ermessens abzuwägen hat, ob er überhaupt eine Due Diligence zulässt, so liegt auch die unternehmerische Entscheidung darüber, wen er als geeigneten Erwerbsinteressenten ansieht, in seinem pflichtgemäßen Ermessen.71 6. Managementinterviews
12.41 Häufig wird der Erwerbsinteressent – über eine Due Diligence bei der Target-AG hinaus gehend – das Gespräch mit den Vorständen der Target-AG suchen, um deren persönliche Meinung zu dem gegenwärtigen Finanz- und Vermögensstand sowie ihrer Geschäftspolitik zu hinterfragen. In der Praxis häufiger als Einzelgespräche sind Managementinterviews zu festgesetzten Terminen während oder nach dem Due Diligence Prozess, anlässlich derer von
64 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 187; Hoffmann-Becking in MünchHdb/AG, § 38 Rz. 54; a.A. wohl Hopt/Roth in Großkomm/AktG, § 93 AktG Rz. 304 und Mertens/Cahn in KölnKomm/AktG, § 93 AktG Rz. 123. 65 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 187. 66 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 187. 67 Schroeder, DB 1997, 2161; Körber, NZG 2002, 263 (266); Stoffels, ZHR 165 (2001), 362 (382). 68 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 187; Körbers, NZG 2002, 263 (265); a.A. Lutter, ZIP 1997, 613 (618). 69 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 187. 70 Fleischer, ZIP 2002, 651 (654) und Hopt, ZGR 2002, 333 (358) (Pflicht zur Bietergleichbehandlung abgeleitet aus § 22 Abs. 3 WpÜG); Becker, ZHR 165 (2001), 280 (286). 71 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 187.
1036
Hölters/Hölters
B. Vorstand und Due Diligence
Rz. 12.45 Kap. 12
den Vorständen der Target-AG oft umfangreiche Präsentationen erwartet werden.72 Ob sich der Vorstand der Target-AG zu Einzelgesprächen oder Managementinterviews bereit erklärt, steht in seinem pflichtgemäßen unternehmerischen Ermessen. Er darf sich dabei lediglich von dem Unternehmensinteresse der Target-AG leiten lassen. Mögliche persönliche Interessen, wie beispielsweise das Interesse an der Beibehaltung seines Amtes nach der Übernahme oder nach einer finanziellen Verbesserung, müssen außen vor bleiben.73 Letzteres ist allerdings nur schwer nachprüfbar. Weiterhin könnte den Erwerbsinteressenten daran gelegen sein, mit Mitarbeitern des Unternehmens unterhalb der Vorstandsebene zu sprechen. Auch ein solches Gespräch kann im Unternehmensinteresse liegen. Das ist jedoch der absolute Ausnahmefall. Wenn dem Erwerbsinteressenten Interviews mit Mitarbeitern des Unternehmens vom Vorstand der Target-AG erlaubt werden, ist darauf zu achten, dass stets ein Vorstandsmitglied bei der Besprechung anwesend ist.74
12.42
Dem Vorstand der Target-AG ist es untersagt, sich für die Möglichkeit einer Due Diligence, Managementinterviews sowie Mitarbeiterinterviews finanzielle Vorteile gewähren oder versprechen zu lassen. In der Praxis kommt es nicht selten vor, dass der Erwerbsinteressent eine Neubestellung nach Ablauf der Bestellungsperiode, dies sogar mit erhöhten Bezügen, in Aussicht stellt. Dem Vorstand der Target-AG ist es selbst dann untersagt, sich von entsprechenden Angeboten leiten zu lassen, wenn die geplante Transaktion objektiv betrachtet eindeutig im Unternehmensinteresse läge.75
12.43
IV. Veräußerer-AG und Due Diligence Der Vorstand der Veräußerer-AG ist verpflichtet, einen angemessenen und möglichst hohen Kaufpreis zu erzielen und dabei die Gefahr von Haftungsansprüchen zu begrenzen.76 Welcher Vorbereitungsmaßnahmen es hierzu bedarf, liegt in seinem unternehmerischen Ermessen. Äußerst eingeschränkte Vorbereitungsmaßnahmen können gegebenenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn der Vorstand die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse des Zielunternehmens im Detail kennt. Dies kann z.B. dann zu bejahen sein, wenn die Veräußerer-AG lediglich eine Tochtergesellschaft hat und zudem Doppelmandate in den Vorständen bestehen.77 Ansonsten wird der Vorstand der Veräußerer-AG darüber zu entscheiden haben, ob die Veräußerer-AG ebenfalls eine Due Diligence bei dem Zielunternehmen durchführt (Vendor Due Diligence).
12.44
Führt der Erwerbsinteressent eine Due Diligence bei der Target-AG durch, ist dem Vorstand der Veräußerer-AG in jedem Falle anzuraten, eine Vendor Due Diligence durchzuführen. Dieser sollte über keinen geringeren Informationsstand über die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse beim Target verfügen als sein künftiger Verhandlungspartner. Abhängig von der Größe des Zielunternehmens und dem bisherigen Kenntnisstand des Vorstands der Veräußerer-AG über das Zielunternehmen kann das grundsätzliche unternehmerische Ermessen in der Frage der Durchführung einer Vendor Due Diligence sogar auf null reduziert sein.78
12.45
72 73 74 75 76 77 78
Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 188. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 188. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 189. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 190. Kiethe, NZG 1999, 976 (977); Merkt, BB 1995, 1042 (1043). Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 191. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 192.
Hölters/Hölters
1037
Kap. 12 Rz. 12.46
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
12.46 Für den Vorstand der Veräußerer-AG stellt sich weiter die Frage, wie er den Vorstand einer Target-AG dazu veranlassen kann, eine Vendor Due Diligence und eine darauf folgende Due Diligence durch Erwerbsinteressenten durchführen zu lassen. Unproblematisch ist dies, wenn es sich bei der Zielgesellschaft um eine GmbH handelt. Dem Vorstand der Veräußerer-AG steht dann die Möglichkeit offen, die Zulassung einer Due Diligence mittels Ausübung seines Weisungsrechts durchsetzen. Diese Möglichkeit besteht bei einem Target in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft nicht, es sei denn, es besteht ein Beherrschungsvertrag. Ob eine Vendor Due Diligence zugelassen wird, liegt – wie auch die Entscheidung über die Due Diligence eines Erwerbsinteressenten – im unternehmerischen Ermessen des Vorstands der Target-AG. Der Vorstand der Target-AG wird zumeist in Ausübung seines unternehmerischen Ermessens verpflichtet sein, eine Vendor Due Diligence zuzulassen, wenn er die Due Diligence durch einen Erwerbsinteressenten zulässt.79
12.47 Der Vorstand der Veräußerer-AG kann im Verkaufsprozess Informationen, die er von der Target-AG in zulässiger Weise erlangt hat, an den Kaufinteressenten oder seine Berater weiterleiten. Falls jedoch diese Informationen geeignet sind, dem Target zu schaden, ist eine Weitergabe ausnahmsweise nicht zulässig und würde gegen die Treuepflicht des Aktionärs gegenüber der Gesellschaft verstoßen.80 Zur Begrenzung der mit der Due Diligence verbundenen Risiken für das Target ist es hierbei in der Praxis üblich, dass der Veräußerer geeignete Sicherheitsmaßnahmen ergreift und insbesondere eine Vertraulichkeitsvereinbarung mit dem Kaufinteressenten abschließt. Führt der Erwerbsinteressent selbst eine Due Diligence durch, ist die Weitergabe von Informationen zumeist überflüssig.81
12.48 In besonderen Ausnahmefällen können bei Unternehmenskäufen wie bei anderen zivilrechtlichen Geschäften Offenbarungspflichten bestehen (vgl. Rz. 9.228). Ausnahmsweise bestehende Offenbarungspflichten treffen zumeist den Verkäufer. Wenn dem Vorstand einer Erwerber-AG eine Due Diligence möglich ist, wird er sich als geschäftserfahrener Unternehmenskäufer nur in seltenen Ausnahmefällen auf eine angebliche Offenbarungspflicht des Verkäufers berufen können (vgl. Rz. 9.228).
V. Compliance beim Unternehmenskauf 1. Compliance – ein altes Thema unter neuem Stichwort
12.49 Im Rahmen eines Unternehmenskaufes spielen Compliance-Aspekte seit Jahren zunehmend eine wichtige Rolle. Dies gilt sowohl für die Geschäftspraktiken der Veräußerer-AG und der Erwerber-AG während der M&A-Transaktion als auch in besonderem Maße für das bisherige Geschäftsgebaren der Target-AG. Zunächst einmal sollten sämtliche Unternehmensorgane der an der Veräußerung beteiligten Unternehmen auch im Zusammenhang mit M&A-Transaktionen den Rahmen des geltenden Rechts stets beachten, um Haftungsrisiken zu vermeiden. Denn schon leicht fahrlässiges Handeln eines Organs könnte zu dessen Haftung führen. Compliance-relevante Bereiche auf Seiten des Veräußerers und des Erwerbers im Rahmen eines Unternehmenskaufes sind insbesondere die Bereiche Kartell- bzw. Wettbewerbsrecht, Datenschutz sowie Korruption.
79 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 193. 80 Mueller-Thuns in Rödder/Hötzel/Mueller-Thuns, § 3 Rz. 80; Ziegler, DStR 2000, 249 (254); Körber, NZG 2002, 263 (272). 81 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 194.
1038
Hölters/Hölters
B. Vorstand und Due Diligence
Rz. 12.51 Kap. 12
Ein Corporate-Compliance-System dient dazu, die Einhaltung von Gesetzen durch die Gesellschaft, ihre Organe und ihre Mitarbeiter zu organisieren und zu kontrollieren. Es dient damit der Reduzierung, gar Minimierung von Haftungsrisiken und der Sicherung eines rechtmäßigen Verhaltens im Unternehmen.82 Eine Rechtspflicht zur Einrichtung einer umfassenden Compliance-Organisation besteht nicht.83 Der Vorstand hat jedoch eine Kontrollund Überwachungspflicht der nachgelagerten Unternehmensebenen, deren Erfüllung allerdings in seinem unternehmerischen Ermessen liegt.84 Entsprechendes ergibt sich auch für börsennotierte Gesellschaften aus dem Deutschen Corporate Governance-Kodex. Gemäß Ziffer 4.1.3 Deutscher Corporate Governance-Kodex hat der Vorstand für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen und wirkt auf deren Beachtung durch die Konzernunternehmen hin (Compliance). Neu eingefügt durch den DCGK 2017 wurde die Empfehlung, ein Compliance Management System einzurichten und die Grundzüge sowie die Möglichkeit für Beschäftigte und Dritte zu schaffen, Hinweise auf Rechtsverstöße zu geben (Ziffer 4. 1.3 DCGK). Bei international agierenden Unternehmen können sich jedoch aus ausländischen Normen spezielle Verpflichtungen des Vorstands ergeben. Dies gilt insbesondere für Unternehmen, die auf dem US-Kapitalmarkt tätig sind, auf die insbesondere die Regelungen des Sarbanes-Oxley Act Anwendung finden.85 Daneben ist insbesondere der Foreign Corrupt Practices Act (FCPA) von Bedeutung.86 Großbritannien hat nach dem Vorbild des Sarbanes-Oxley Act den Bribery Act 2010 in Kraft gesetzt. Dieser gilt für Unternehmen, die Geschäftsbeziehungen zu Großbritannien unterhalten. In der Praxis hat sich bei allen großen Aktiengesellschaften die Einführung eines Compliance-Systems durchgesetzt, was auch in jedem Falle anzuraten ist.
12.50
2. Compliance als Gegenstand einer Due Diligence a) Gründe für die Durchführung einer Compliance Due Diligence Für die Erwerber-AG ist es wichtig, das bestehende Compliance-System der Target-AG zu untersuchen. Zum einen sollen Haftungsrisiken, die aus Fällen eines unzureichenden Compliance-Systems resultieren, erkannt werden. Zum anderen wird die Erwerber-AG nach Vollzug der Transaktion das Compliance-System der Target-AG in ihr eigenes Compliance-System integrieren oder aber ein eigenes Compliance-System bei der Target-AG einrichten. Es liegt daher im Interesse der Erwerber-AG, Kosten und Aufwand hierfür frühzeitig zu ermitteln, da dies gegebenenfalls Auswirkungen auf die Kaufpreisverhandlungen haben kann.87 Selbst wenn die Target-AG über ein angemessenes Compliance-System verfügt, kann es für die Erwerber-AG vorzugswürdig sein, das System der Target-AG in ihr eigenes ComplianceSystem zu integrieren, um den späteren Verwaltungsaufwand zu reduzieren.
82 83 84 85
Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 91. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 92 m.w.N.; a.A. Bürkle, BB 2005, 565 (568 ff.). Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 92; Bürkle in Hauschka, Corporate Compliance, § 8 Rz. 6. Sarbanes-Oxley Act of 2002, in Kraft getreten am 30.7.2002. Weitere Einzelheiten hierzu bei Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 93. 86 Foreign Corrupt Practices Act of 1977, aktuelle Fassung vom 10.11.1998. Weitere Einzelheiten hierzu bei Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 93. 87 Von Busekist/Timmerbeil, CCZ 2013, 225 (226). Zu den Gründen der Compliance Due Diligence ebenfalls Liese, BB Special 4 (zu BB 2010, Heft 50), 27.
Hölters/Hölters
1039
12.51
Kap. 12 Rz. 12.52
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
b) Schwerpunkte einer Compliance Due Diligence
12.52 Der Umfang einer Compliance Due Diligence lässt sich stets nur einzelfallbezogen ermitteln. Hier können Kriterien wie die Größe der Target-AG und ihre Branche, die Vertriebsstruktur sowie die Länder, in denen das Unternehmen tätig ist, eine Rolle spielen.88 Schwerpunktmäßig erstreckt sich eine Compliance Due Diligence häufig auf die Bereiche Kartell- und Wettbewerbsrecht, Datenschutz, Korruption sowie Außenwirtschaftsrecht.89 Daneben kann sich eine Compliance Due Diligence auch auf Bereiche wie Arbeits- und Sozialversicherungsrecht beziehen.
12.53 Insbesondere bei Kartellverstößen drohen empfindliche Geldbußen, denn Folge von Kartellverstößen können Bußgelder von bis zu 10 % des Gesamtumsatzes des vorausgegangenen Geschäftsjahrs nach § 81 Abs. 4 GWB sowie nach Art. 23 Abs. 2 Satz 1 lit. a und Satz 2 der Verordnung 1/2003/EG vom 16.12.200290 sein. Weiterhin kann ein Kartellverstoß mit erheblichen Ansehensverlusten verbunden sein.91 Letzteres droht insbesondere auch bei Verstößen gegen datenschutzrechtliche Vorschriften. Neben zivilrechtlichen Ansprüchen können auch Bußgelder oder Freiheitstrafen gegen die Gesellschaft bzw. deren Management verhängt werden.92 Ein Compliance-System sollte auch die Bekämpfung von Korruption umfassen. Korruptionsanfällige Bereiche sind u.a. die Auftragsvergabe, der Einkauf und der Vertrieb. Korruption bedeutet vor allem ein großes strafrechtliches Risiko für die beteiligten Organe oder sonstigen Mitarbeiter des Unternehmens. Darüber hinaus kann Korruption auch zu hohen Bußgeldern, einem enormen Reputationsverlust sowie Konsequenzen in vergaberechtlicher Hinsicht führen.
VI. Kostenübernahme durch das Target 1. Transaktionskosten a) Einführung
12.54 Im Regelfall tragen bei gescheiterten Unternehmenskaufverhandlungen Veräußerer und Erwerber ihre Kosten selbst. Sind der Target-AG durch die Durchführung einer Due Diligence sowie Managementinterviews Kosten entstanden, so trägt es diese, soweit nichts anderes vereinbart ist. Da insbesondere die bei einer Due Diligence anfallenden Kosten nicht unerheblich sind, versuchen Veräußerer und Erwerber zunehmend, diese im Falle eines Scheiterns der Vertragsverhandlungen dem Target aufzuerlegen. Dieses Vorgehen ist jedoch aktienrechtlich höchst problematisch. Die Übernahme von Transaktionskosten durch die TargetAG verstößt im Regelfall gegen das in § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG niedergelegte Verbot der Einlagenrückgewähr,93 das Verbot der finanziellen Unterstützung des Aktienerwerbs nach § 71a Abs. 1 AktG94 und gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 53a AktG.95 Die Übernahme von Transaktionskosten durch das Target ist dann nichtig und etwaige Zahlungen sind zurückzugewähren. Sofern diese Zahlungen nicht einbringlich wären, macht sich der 88 89 90 91 92 93 94 95
Von Busekist/Timmerbeil, CCZ 2013, 225 (228). Von Busekist/Timmerbeil, CCZ 2013, 225 (228). ABl. 2003 Nr. L 1, S. 1. Fleischer, BB 2008, 1070 (1072). Von Busekist/Timmerbeil, CCZ 2013, 225 (228). Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 196; Bayer in MünchKomm/AktG, § 57 AktG Rz. 87. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 196. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 196.
1040
Hölters/Hölters
B. Vorstand und Due Diligence
Rz. 12.57 Kap. 12
Vorstand des Targets wegen Pflichtverletzung schadensersatzpflichtig, falls er Transaktionskosten aktienrechtswidrig übernommen hat. b) Verbot der Einlagenrückgewähr Nach § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG dürfen die Einlagen dem Aktionär nicht zurückgewährt werden. 12.55 Die Norm ist eine Kapitalerhaltungsvorschrift und soll der Aktiengesellschaft einen umfassenden Schutz des Gesellschaftsvermögens vor der Verwendung für gesellschaftsfremde Zwecke sichern. Sie umfasst nach allgemeiner Meinung nicht nur direkte oder indirekte Zahlungen oder Sachleistungen, sondern alle Leistungen der Aktiengesellschaft im weitesten Sinn, die ihren Grund in der Aktionärseigenschaft des Empfängers haben und zu einer Schmälerung des Gesellschaftsvermögens führen.96 Umfasst werden hierbei Leistungen an derzeitige, frühere oder künftige Aktionäre.97 Nach Sinn und Zweck der Vorschrift sind auch Leistungen an Dritte erfasst, wenn die Leistung auf Veranlassung des Aktionärs an einen Dritten erfolgt und dem Aktionär zurechenbar ist.98 Umsatzgeschäfte zwischen Gesellschaft und einem Aktionär sind ausnahmsweise erlaubt,99 soweit der Aktionär wie jeder andere Dritte behandelt wird, das Geschäft also nicht von der mitgliedschaftlichen Beziehung beeinflusst ist. Der Versuch der Übertragung der Grundsätze der Umsatzgeschäfte auf die Übernahme der Transaktionskosten100 geht jedoch fehl. Hier geht es um die Übernahme der Transaktionskosten entweder des Veräußerers oder des Erwerbers. Der Veräußerer ist gegenwärtiger Aktionär der Target-AG, der Erwerbsinteressent künftiger Aktionär der Target-AG. Es gibt damit keinen fremden Dritten, mit dem das Geschäft der Übernahme der Transaktionskosten ebenfalls hätte vorgenommen werden können.101
12.56
Obwohl die Aktiengesellschaft grundsätzlich kein Interesse an der Zusammensetzung ihres 12.57 Aktionärskreises hat,102 soll eine Transaktionskostenübernahme dennoch in Ausnahmefällen zulässig sein.103 Das soll dann zu bejahen sein, wenn die beabsichtigte Transaktion auch für die Gesellschaft selbst Vorteile bringt.104 Diese Auffassung ist abzulehnen. Als mögliche Fallkonstellationen werden die konkrete Zusage, neue Vertriebsmöglichkeiten zu eröffnen oder Know-how zu übertragen, die hohe Wahrscheinlichkeit signifikanter Synergieeffekte oder aber auch die Zuführung liquider Mittel, die für den Fortbestand oder künftige Investitionen der Gesellschaft unerlässlich sind, genannt.105 Dies alles sind jedoch Gesichtspunkte, die im Rahmen des § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG außer Betracht bleiben.106 Vielmehr handelt es sich um Überlegungen, die im Rahmen der Business Judgement Rule bei der Ausübung unternehmerischen Ermessens eine Rolle spielen. Es liegt aber gerade nicht im unternehmeri96 OLG Frankfurt v. 30.1.1992 – 16 U 120/90, AG 1992, 194 (196); Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 197. 97 OLG Frankfurt v. 30.11.1995 – 6 U 192/91 – Küppersbusch/AEG, AG 1996, 324 (325) (für frühere Aktionärin); Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 197. 98 Hölters/Laubert, § 57 AktG Rz. 13. 99 Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (302); Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 197. 100 Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (302). 101 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 197. 102 Lutter, ZIP 1997, 613 (616); Sieger/Hasselbach, BB 2000, 625 (628); Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (302); Ziemons, AG 1999, 492 (497). 103 Sigle/Zinger NZG 2003, 301 (302, 304 f.). 104 Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (302); Sieger/Hasselbach, BB 2000, 625 (628). 105 Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (305). 106 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 198.
Hölters/Hölters
1041
Kap. 12 Rz. 12.58
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
schen Ermessen des Vorstands, sich über das Verbot der Einlagenrückgewähr hinwegzusetzen.107
12.58 Die Durchführung einer Due Diligence vor Erwerb des Targets liegt regelmäßig im überwiegenden Interesse des Erwerbers. Der Erwerber hat deshalb auch die Kosten der Due Diligence zu tragen.108 Die (teilweise) Übernahme von Kosten der Due Diligence kann demnach allenfalls im Verhältnis zwischen Veräußerer und potentiellem Erwerber vereinbart werden.
12.59 Bei einer Due Diligence entstehen jedoch nicht nur dem Veräußerer und dem Erwerber Kosten. Vielmehr ist eine Due Diligence auch auf der Ebene des Targets häufig überaus kostenintensiv. Die Vorbereitung eines Datenraums oder auch eines virtuellen Datenraums bedarf eines erheblichen Aufwandes. Auch die Gespräche zwischen den Führungskräften des Targets und dem potentiellen Erwerber sind zeitaufwendig und beeinträchtigen den alltäglichen Geschäftsbetrieb. Der Vorstand sollte deshalb in geeigneten Fällen überlegen, eine (teilweise) Übernahme der durch die Due Diligence beim Target entstehenden Kosten durch den Veräußerer bzw. den Erwerber zu vereinbaren.109
12.60 Die im Rahmen der Due Diligence beim Target selbst entstehenden Kosten können jedoch aktienrechtlich auch vom Target übernommen werden. Im Rahmen seines unternehmerischen Ermessens wird der Vorstand des Targets die Due Diligence nur dann zulassen, wenn der geplante Unternehmenskauf für die Gesellschaft selbst vorteilhaft ist.110 Er wird bei der Abwägung der Vor- und Nachteile einer Due Diligence auch die bei der Gesellschaft entstehenden Kosten mit einbeziehen. Der Vorstand kann damit, ebenso wie er entschieden hat, die Due Diligence überhaupt zuzulassen, auch im Rahmen seines unternehmerischen Ermessens entscheiden, dass die bei der Gesellschaft entstehenden Kosten von dieser selbst getragen werden.111 c) Verbot der finanziellen Unterstützung des Aktienerwerbs
12.61 § 71a AktG bezweckt ebenso wie § 57 Abs. 1 AktG einen umfassenden Kapitalschutz, der für den besonderen Fall des Aktienerwerbs zusätzlich gesondert geregelt wird.112 Die Vorschrift erfasst alle Finanzierungs- und Hilfsgeschäfte zu Lasten des Gesellschaftsvermögens, sofern diese das Ziel haben, den Erwerb von Aktien der betreffenden Gesellschaft zu ermöglichen, zu fördern oder zu erleichtern.113
12.62 Die Übernahme von Transaktionskosten durch das Target stellt eine unzulässige Unterstützung des künftigen Aktionärs dar.114 Der künftige Aktionär profitiert von einem erheblichen Finanzierungseffekt, da sich sein Kapitaleinsatz verringert, ohne dass hierfür eine aus Sicht des Kapital- und Gläubigerschutzes relevante Gegenleistung erbracht wird.115 Davon soll nach einer teilweise vertretenen Meinung eine Ausnahme zugelassen sein, wenn die Trans107 108 109 110 111 112
Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 198. Wegmann/Koch, DStR 2000, 1027 (1029). Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 201. Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (305); Sieger/Hasselbach, BB 2000, 625 (628). Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (302); Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 201. Hölters/Laubert, § 71a AktG Rz. 1; Sieger/Hasselbach, BB 2004, 60 (62); Cahn in Spindler/Stilz, § 71a AktG Rz. 9. 113 Hölters/Laubert, § 71a AktG Rz. 2; Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (303). 114 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 199; a.A. Cahn in Spindler/Stilz, § 71a AktG Rz. 43. 115 Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (303).
1042
Hölters/Hölters
B. Vorstand und Due Diligence
Rz. 12.65 Kap. 12
aktion im wohlverstandenen Interesse des Targets liegt.116 Das ist unzutreffend. Es liegt, ebenso wie im Rahmen des § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG, nicht im Ermessen des Vorstands des Targets, sich über Kapitalerhaltungsvorschriften hinwegzusetzen.117 d) Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz Nach § 53a AktG sind sämtliche Aktionäre unter gleichen Voraussetzungen gleich zu behan- 12.63 deln. Bei der Übernahme von Transaktionskosten liegt eine unzulässige Ungleichbehandlung gegenüber den Aktionären vor, die Aktien des Targets ohne wirtschaftliche Unterstützung durch die Gesellschaft erworben haben.118 Eine unterschiedliche Behandlung einzelner Aktionäre ist jedoch dann zulässig, wenn sie zur Erreichung wesentlicher Ziele der Gesellschaft geeignet und erforderlich ist und auch unter Berücksichtigung der Interessen der benachteiligten Aktionäre als verhältnismäßig erscheint.119 Insofern kann eine Transaktion im wohlverstandenen Interesse des Targets liegen und damit nach Maßgabe des § 53a AktG unbedenklich sein.120 Dies ist aber im Ergebnis irrelevant, da ein Verstoß nach § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG und § 71a Abs. 1 AktG vorliegt.121 2. Break-up-Fees Vereinbarungen, nach denen die Ziel-AG dem Erwerber eine bestimmte Geldsumme bei Scheitern der Transaktion zu zahlen hat (Break-Up-Fee), sind unzulässig. Entsprechende Vereinbarungen verstoßen gegen § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG und § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG. Werden sie teilweise für zulässig angesehen, soweit sie im Interesse der Zielgesellschaft liegen und bei einem öffentlichen Übernahmeangebot nicht geeignet sind, den Erfolg des Angebots eines konkurrierenden Bieters zu vereiteln,122 so wird dabei der zwingende Charakter der Kapitalerhaltungsvorschriften außer Acht gelassen. Es liegt gerade nicht im unternehmerischen Ermessen des Vorstands der Target-AG, sich über Kapitalerhaltungsvorschriften hinwegzusetzen.123
12.64
3. Rechtsfolgen unzulässiger Kostenübernahmen Übernimmt die Target-AG unzulässigerweise Kosten (beispielsweise Transaktionskosten und Break-up-Fees), ist das Rechtsgeschäft nach § 134 BGB wegen Verstoßes gegen § 71a AktG nichtig. Die Nichtigkeit umfasst lediglich das Verpflichtungsgeschäft.124 Dennoch erfolgte Leistungen sind nach §§ 812 ff. BGB zurückzufordern.125 Zudem drohen steuerliche Nachteile für das Target, da die unzulässige Übernahme von Transaktionskosten eine verdeckte Gewinnausschüttung i.S.d. § 8 Abs. 3 KStG darstellen kann.126
116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126
Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (305); Sieger/Hasselbach, BB 2000, 625 (628). Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 199. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 200. Hölters/Laubert, § 53a AktG Rz. 11. Sieger/Hasselbach, BB 2004, 60 (63). Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 200. Fleischer, AG 2009, 345 (350, 354 f. m.w.N.). Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 202. Hölters/Laubert, § 71a AktG Rz. 6; a.A. Cahn in Spindler/Stilz, § 71a AktG Rz. 50. Hölters/Laubert, § 71a AktG Rz. 6. Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (304).
Hölters/Hölters
1043
12.65
Kap. 12 Rz. 12.66
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
12.66 Ein weiterhin gegebener Verstoß gegen § 57 AktG führt zwar nicht zur Nichtigkeit des zugrunde liegenden Rechtsgeschäftes127, die Target-AG hat jedoch einen Rückforderungsanspruch nach § 62 AktG. Dieser spezielle aktienrechtliche Rückforderungsanspruch knüpft an die mitgliedschaftliche Verbindung zwischen Aktionär und Gesellschaft an. Der Anspruch kann sowohl von der Target-AG als auch von den Gesellschaftsgläubigern geltend gemacht werden, sofern die Gläubiger von der Target-AG nicht befriedigt werden können (§ 62 Abs. 2 Satz 1 AktG). Gesellschaftsgläubiger können jedoch nur Leistung an die Gesellschaft verlangen.128
12.67 Übernimmt die Target-AG aktienrechtswidrig die Kosten von Beratern des Erwerbers (beispielsweise von Wirtschaftsprüfern oder Rechtsanwälten), so besteht auch in diesem Falle der Rückforderungsanspruch gegen den Erwerber nach § 62 AktG. Das ist unabhängig davon, ob die Zahlung an den Berater direkt durch die Target-AG oder durch den Erwerber erfolgte.129 Daneben ist ein Rückforderungsanspruch gegen den Berater oder sonstige Dritte, deren Kosten die Gesellschaft aktienrechtswidrig übernommen hat, nach § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB wegen Verstoßes gegen § 71a AktG in Betracht zu ziehen. Ein solcher Rückforderungsanspruch setzt jedoch voraus, dass der Dritte von der Nichtigkeit der Kostenübernahmevereinbarung zwischen Gesellschaft und Aktionär Kenntnis hatte.130 Auch bei gescheitertem Aktienerwerb richten sich Rückforderungsansprüche gegen einen Erwerber, der kein Aktionär ist, nach den Vorschriften des Bereicherungsrechts gem. §§ 812 ff. BGB, da der Erwerber weder zum Zeitpunkt der aktienrechtswidrigen Unterstützung des Aktienerwerbs Aktionär der Gesellschaft war noch später wurde.131
12.68 Der Vorstand der Target-AG ist verpflichtet, die unzulässigerweise übernommenen Transaktionskosten zurückzufordern. Anderenfalls drohen ihm Schadensersatzansprüche.132 Die Durchsetzung des Rückforderungsanspruchs gegen den neuen Großaktionär der Gesellschaft bereitet in der Praxis jedoch erhebliche Probleme, da der Vorstand unmittelbar gegen die Person bzw. die Gesellschaft vorgehen muss, auf deren Unterstützung er insbesondere bei der Erreichung notwendiger Mehrheiten in der Hauptversammlung angewiesen ist. Die hiermit verbundenen persönlichen Risiken für den Vorstand liegen auf der Hand.
C. Einflussmöglichkeiten des Erwerbers auf die Unternehmensführung im Rahmen der Transaktion I. Zahlung einer Sondervergütung an den Vorstand der Target-AG durch die Erwerber-AG; Anforderungen an eine Sondervergütung im Allgemeinen 12.69 Im Rahmen von Transaktionen kommt es vereinzelt vor, dass die Erwerber-AG dem Vorstand der Target-AG finanzielle Zuwendungen im Zusammenhang mit einer Transaktion 127 BGH v. 12.3.2013 – II ZR 179/12, AG 2013, 431 = MDR 2013, 606 = NJW 2013, 1742 f.; Hölters/Laubert, § 57 AktG Rz. 28; krit. LG München I v. 20.11.2003 – 5 HKO 16543/01 – Ingram Macrotron AG, AG 2004, 159 (160). 128 H.M. Hölters/Laubert, § 62 AktG Rz. 17; Bayer in MünchKomm/AktG, § 62 AktG Rz. 85 f.; a.A. Cahn in Spindler/Stilz, § 62 AktG Rz. 30. 129 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 204. 130 Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (303). 131 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 204; Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (304); Oechsler in MünchKomm/AktG, § 71a AktG Rz. 41. 132 Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (303).
1044
Hölters/Hölters
C. Einflussmöglichkeiten des Erwerbers auf die Unternehmensführung
Rz. 12.71 Kap. 12
verspricht und/oder gewährt. Möglich wäre in diesem Zusammenhang die Zahlung einer Sondervergütung für den Fall des Zustandekommens der Transaktion. Eine gesetzliche Vorschrift, nach der derartige Drittvergütungen unzulässig sind, gibt es nicht.133 Vielmehr deuten die Regelungen in § 285 Nr. 9 lit. a, § 314 Abs. 1 Nr. 6 lit. a HGB, wonach der Vorstand einer börsennotierten Aktiengesellschaft verpflichtet ist, von einem Dritten gewährte Bezüge im Anhang des Jahres- und Konzernabschlusses zu veröffentlichen, um mögliche Interessenkonflikte transparent zu machen, darauf hin, dass nach dem Willen des Gesetzgebers Drittvergütungen grundsätzlich zulässig sein sollen.134 In aktienrechtlicher Hinsicht sind derartige Sonderzahlungen durch Dritte problematisch. Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG hat der Aufsichtsrat bei der Festsetzung der Gesamtbezüge des einzelnen Vorstandsmitglieds dafür zu sorgen, dass diese in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds sowie zur Lage der Gesellschaft stehen und die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen. Zuständig für die Festsetzung einer angemessenen Vergütung der Vorstandsmitglieder ist damit ausschließlich der Aufsichtsrat als Gesamtorgan. Hierbei ist der Aufsichtsrat nicht auf solche Vergütungsbestandteile beschränkt, die aus Gesellschaftsmitteln aufgewendet werden.135 Es werden vielmehr Leistungsanreize gesetzt, die den Vorstand zu einem Handeln ausschließlich im Interesse der Gesellschaft verleiten. Dies verdeutlicht auch ausdrücklich der Gesetzeswortlaut in § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG, wonach die Vergütungsstruktur bei börsennotierten Gesellschaften auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung auszurichten ist. Könnten Dritte – ohne Einbeziehung des Aufsichtsrates – dem Vorstand zusätzliche finanzielle Vorteile gewähren, so würde die klare Intention des Gesetzgebers unterlaufen. Es wäre nicht auszuschließen, dass Dritte finanzielle Vorteile an Vorstandsmitglieder gewähren, die allein in ihrem Interesse und nicht im Gesellschaftsinteresse liegen. Jede Gewährung finanzieller Zuwendungen an Vorstandsmitglieder im Rahmen von deren Vorstandstätigkeit bedarf daher der Zustimmung des Aufsichtsrates.136
12.70
Von Relevanz war die Frage der Zulässigkeit von Sondervergütungen im von der Öffentlichkeit mit Interesse begleiteten „Mannesmann-Fall“.137 Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ab November 1999 versuchten der Vorstandsvorsitzende Dr. Esser und seine Mitarbeiter eine Übernahme der Mannesmann AG durch Vodafone Airtouch plc abzuwehren. Anfang Februar 2000 kam es schließlich zu einer Einigung beider Unternehmen über die Bedingungen einer einvernehmlichen Übernahme. Kurz nach dieser Entscheidung befasste sich das Aufsichtsratspräsidium der Mannesmann AG, das bei einer Beteiligung von mindestens drei Mitgliedern beschlussfähig war und mit der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen entschied, mit der Zuerkennung freiwilliger Anerkennungsprämien („appreciation awards“) an den Vorstandsvorsitzenden Dr. Esser und vier weitere Vorstandsmitglieder sowie den früheren Vorstandsvorsitzenden Prof. Dr. Funk. Die Geschäftsleitung der Vodafone Airtouch plc hatte ihr Einverständnis erteilt.
12.71
133 Hölters/Weber, § 87 AktG Rz. 12. 134 Hölters/Weber, § 87 AktG Rz. 12; Hohaus/Weber, DStR 2008, 104 (105). 135 Hölters/Weber, § 87 AktG Rz. 13; Bauer/Arnold, DB 2006, 260 (265); a.A. Hohaus/Weber, DStR 2008, 104 (105). 136 So auch Hölters/Weber, § 87 AktG Rz. 13; Bauer/Arnold, DB 2006, 260 (265); Mayer-Uellner, AG 2011, 193 (198); a.A. Kalb/Fröhlich, NZG 2014, 167 (169). 137 BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, AG 2006, 110 = NZG 2006, 141 (142).
Hölters/Hölters
1045
Kap. 12 Rz. 12.72
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
12.72 Der Sachverhalt verdeutlicht, dass im „Mannesmann-Fall“ die Gewährung der Sonderzahlungen an den Vorstandsvorsitzenden Dr. Esser und vier Vorstandskollegen sowie den früheren Vorstandsvorsitzenden Prof. Dr. Funk mit Zustimmung des Aufsichtsrates der Mannesmann AG erfolgte. Allein der Umstand, dass die Zahlung zudem mit Einverständnis der späteren Erwerberin, des britischen Telekommunikationsunternehmens Vodafone Airtouch plc erfolgte, führt nicht dazu, dass es sich hierbei um eine Drittvergütung handelt. Vielmehr erfolgten die Zahlungen aus dem Vermögen der Mannesmann AG. Aufgrund der Aktionärseigenschaft der Vodafone Airtouch plc zum Zeitpunkt der Beschlussfassung über die Gewährung der Sonderzahlungen (9,8 %) sowie zum Zeitpunkt der Sonderzahlungsauszahlung (98,66 %) wurde lediglich indirekt das Vermögen der Vodafone Airtouch plc tangiert.
12.73 Im „Mannesmann-Fall“ stellt sich die Frage, ob die Gewährung der Sondervergütungen an die Vorstandsmitglieder der Mannesmann AG im Zusammenhang mit der Durchführung der Transaktion mit Vodafone Airtouch plc einen Verstoß gegen § 87 AktG darstellt, da die gewährten Zahlungen möglicherweise dem Ziel einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung widersprochen haben. Ein solcher Widerspruch liegt nach einer starken Auffassung in der Literatur selbst dann nicht vor, wenn die Sonderzahlung ohne ausdrückliche vertragliche Grundlage als nachträgliche Vergütung für bereits erbrachte Leistungen gewährt wird, vorausgesetzt, sie wird nach Art und Höhe als Ergänzung der ursprünglich vertraglich vereinbarten, aber nachträglich betrachtet als nicht leistungsgerecht erscheinenden Vergütung angesehen.138 Nach Auffassung des BGH, der zuzustimmen ist, ist bei fehlender Rechtsgrundlage im Dienstvertrag die Gewährung einer nachträglichen Anerkennungsprämie nur dann zulässig, sofern dem Unternehmen gleichzeitig Vorteile in angemessener Höhe zufließen.139 Eine im Dienstvertrag nicht vereinbarte Sonderzahlung, die ausschließlich belohnenden Charakter ohne zukunftsbezogenen Nutzen für die Gesellschaft hat, ist als treupflichtwidrige Verschwendung des anvertrauten Gesellschaftsvermögens stets dem Grunde nach unzulässig.140 Einen derartigen Verstoß hat der BGH im Fall Mannesmann bejaht. Insbesondere auch in Anbetracht des „Mannesmann-Falles“ ist es in der Praxis ratsam, in Dienstverträgen zumindest eine Klausel vorzusehen, dass der Aufsichtsrat bei besonderen Leistungen eines Vorstandsmitglieds nach billigem Ermessen eine Sondervergütung festsetzen darf.141
II. Möglichkeit der Einflussnahme des Erwerbers auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats und des Vorstands der Target-AG 1. Ausgangssituation
12.74 Aufgrund der trialistischen Verfassung der deutschen Aktiengesellschaft und der dadurch bewirkten zwingenden Zuständigkeiten der einzelnen Gesellschaftsorgane hat der Erwerber einer Mehrheit des Grundkapitals nicht automatisch die Möglichkeit, die unternehmerischen Geschicke der Aktiengesellschaft zu bestimmen. Diese auf der Struktur der deutschen Aktiengesellschaft beruhende Gesetzeslage stößt bei ausländischen Erwerbern oft beim ersten Kennenlernen auf Verwunderung. Die alten Vorstände und Aufsichtsräte bleiben im Amt. Der Erwerber muss sich deshalb vor der Transaktion Gedanken darüber machen, wie er seine künftige Mehrheit in der Hauptversammlung in unternehmerischen Einfluss umsetzen kann. 138 Fonk, NZG 2005, 248 (250 f.); a.A. BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, AG 2006, 110 = NZG 2006, 141 (143). 139 BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, AG 2006, 110 = NZG 2006, 141 (143). 140 BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, AG 2006, 110 = NZG 2006, 141 (143). 141 So auch Hölters/Weber, § 87 AktG Rz. 41.
1046
Hölters/Hölters
C. Einflussmöglichkeiten des Erwerbers auf die Unternehmensführung
Rz. 12.78 Kap. 12
2. Möglichkeit der Einflussnahme auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats a) Grundsätze Gemäß § 101 Abs. 1 AktG werden die Mitglieder des Aufsichtsrats von der Hauptversammlung gewählt, soweit sie nicht in den Aufsichtsrat zu entsenden sind oder als Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer nach dem Mitbestimmungsgesetz, dem Mitbestimmungsergänzungsgesetz, dem Drittelbeteiligungsgesetz oder dem Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung zu wählen sind.
12.75
Aufsichtsratsmitglieder, die von der Hauptversammlung ohne Bindung an einen Wahlvorschlag gewählt worden sind, können gem. § 103 Abs. 1 AktG von ihr vor Ablauf der Amtszeit abberufen werden. Sofern die Satzung keine andere Mehrheit sowie weitere Erfordernisse vorsieht, bedarf der Beschluss einer Mehrheit, die mindestens drei Viertel der abgegebenen Stimmen umfasst. Erwirbt der Erwerber Anteile, die vorstehenden Anteilsvorgaben entsprechen, so steht es ihm frei, die bisherigen Anteilseignervertreter, die von der Hauptversammlung in den Aufsichtsrat gewählt worden sind, in einer nach Vollzug der Transaktion anberaumten Hauptversammlung abzuberufen. Da ein wichtiger Grund zur Abberufung in der Regel ausscheidet, bietet sich – neben den hier nicht näher zu behandelnden Fällen der Abberufung entsandter Mitglieder sowie der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer – als weitere Möglichkeit die Beendigung des Aufsichtsratsmandats durch Amtsniederlegung.
12.76
b) Beendigung des Aufsichtsratsmandats durch Amtsniederlegung Verfügt der Erwerber nicht über eine entsprechende Mehrheit zur Abberufung der Anteilseig- 12.77 nervertreter oder liegen sonstige Gründe vor, die einer Abberufung entgegenstehen, so kommt eine Beendigung des Aufsichtsratsmandats durch Amtsniederlegung in Betracht. Diese ist im Aktiengesetz zwar nicht geregelt, ihre Zulässigkeit ist jedoch allgemein anerkannt.142 Für die Niederlegung bedarf es nach herrschender Meinung weder einer entsprechenden Satzungsregelung143 noch eines wichtigen Grundes.144 Die Niederlegung darf allerdings nicht „zur Unzeit“ erfolgen; eine solche wäre zwar wirksam, jedoch pflichtwidrig und könnte damit Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen den niederlegenden Aufsichtsrat zur Folge haben.145 Dass die Niederlegung keines wichtigen Grundes bedarf ist sachgerecht, da es nicht im Interesse der Gesellschaft liegen kann, ein unwilliges oder seinen Aufgaben nicht standhaltendes Aufsichtsratsmitglied gegen seinen Willen im Aufsichtsrat zu belassen. Anderes gilt jedoch dann, wenn die Satzung die Amtsniederlegung ausdrücklich an das Vorliegen eines wichtigen Grundes knüpft.146 142 Hölters/Simons, § 103 AktG Rz. 55; Hopt/Roth in Großkomm/AktG, § 103 AktG Rz. 82; Mertens/Cahn in KölnKomm/AktG, § 103 AktG Rz. 57; Habersack in MünchKomm/AktG, § 103 AktG Rz. 59. 143 Hölters/Simons, § 103 AktG Rz. 55; Hopt/Roth in Großkomm/AktG, § 103 AktG Rz. 90. 144 LG Hannover v. 12.3.2009 – 21 T 2/09, AG 2009, 341 (342); Hopt/Roth in Großkomm/AktG, § 103 AktG Rz. 85; Habersack in MünchKomm/AktG, § 103 AktG Rz. 59; a.A. Zöllner in Baumbach/Hueck, § 52 GmbHG Rz. 34. 145 Habersack in MünchKomm/AktG, § 103 AktG Rz. 60; Hopt/Roth in Großkomm/AktG, § 103 AktG Rz. 94; Mertens/Cahn in KölnKomm/AktG, § 103 AktG Rz. 57; Spindler in Spindler/Stilz, § 103 AktG Rz. 63. 146 Habersack in MünchKomm/AktG, § 103 AktG Rz. 62; Hopt/Roth in Großkomm/AktG, § 103 AktG Rz. 90; Mertens/Cahn in KölnKomm/AktG, § 103 AktG Rz. 57.
Hölters/Hölters
1047
12.78
Kap. 12 Rz. 12.79
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
12.79 Die Niederlegungserklärung ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung, die mit Zugang beim Erklärungsempfänger wirksam wird (§ 130 Abs. 1 Satz 1 BGB). Sie ist grundsätzlich an die Gesellschaft, vertreten durch den Vorstand, zu richten. Daneben ist auch die Hauptversammlung empfangszuständig, soweit es um die Amtsniederlegung eines von ihr gewählten Aufsichtsratsmitglieds geht.147 In der Satzung können die Anforderungen an die Amtsniederlegung im Einzelnen geregelt werden (§ 23 Abs. 5 Satz 2 AktG), wie beispielsweise bestimmte Niederlegungsfristen. Auch bei Vorhandensein einer satzungsmäßigen Niederlegungsfrist ist eine Amtsniederlegung mit sofortiger Wirkung – so wie dies bei Transaktionen zumeist im Interesse der Erwerber-AG liegt – möglich, sofern objektiv ein wichtiger Grund für die Niederlegung besteht.148 Möglich ist zudem ein Verzicht der Gesellschaft auf das Fristerfordernis. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Satzung ausdrücklich eine Fristverkürzung mit Zustimmung der Gesellschaft für zulässig erklärt.149 Aber auch ohne eine derartige ausdrückliche Satzungsbestimmung muss ein Verzicht möglich sein, da das Fristerfordernis dem Schutz der Gesellschaft dient, jedoch kein Grund ersichtlich ist, warum es dieser nicht gestattet sein sollte, davon Abstand zu nehmen.150 c) Gestaltungsmöglichkeiten für die Amtsniederlegung
12.80 Will der Erwerber nicht auf eine freiwillige Amtsniederlegung nach Vollzug der Transaktion vertrauen, was in der Praxis zumeist der Fall sein wird, so muss vor Unterzeichnung des Unternehmenskaufvertrages die Niederlegung insbesondere entweder bereits erklärt sein oder eine entsprechende Verpflichtung seitens der betreffenden Aufsichtsratsmitglieder bestehen. Da vor Unterzeichnung des Unternehmenskaufvertrages noch nicht endgültig feststeht, dass es auch wirklich zum Vollzug der Transaktion kommt, ist lediglich das Eingehen einer entsprechenden Verpflichtung durch die Aufsichtsratsmitglieder praxisgerecht.
12.81 Denkbar wäre danach, dass sich die Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat der Target-AG gegenüber dem Erwerbsinteressenten und gegebenenfalls zusätzlich gegenüber der Target-AG vertraglich dazu verpflichten, ihr Amt nach Vollzug der Transaktion niederzulegen.151 Im Falle des Scheiterns der Transaktion würde diese Verpflichtung erlöschen. Der Möglichkeit zur Verpflichtung zur Amtsniederlegung stehen keine zwingenden aktienrechtlichen Regelungen entgegen. Es kann keinen Unterschied darstellen, jederzeit ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes sein Amt niederzulegen oder aber eine entsprechende Verpflichtung einzugehen. Das Aufsichtsratsmitglied entscheidet in beiden Fällen frei. Der Unterschied liegt darin, dass bei einer Verpflichtung die Amtsniederlegung an ein objektives, im vornhinein festgelegtes Ereignis – nämlich den Vollzug der Transaktion – geknüpft wird. Damit handelt es sich bei dem Ereignis auch nicht um ein solches, was allein vom Erwerber herbeigeführt werden könnte.
12.82 Da es sich bei der Erklärung zur Amtsniederlegung um eine Gestaltungserklärung handelt, ist es umstritten, ob eine aufschiebend bedingte Amtsniederlegung zulässig ist. In diesem Fall würde die Niederlegung vor Vollzug der Transaktion gegenüber der Target-AG erklärt werden. Aufschiebende Bedingung wäre der Vollzug der Transaktion. Vereinzelt wird – ohne nähere
147 148 149 150 151
Habersack in MünchKomm/AktG, § 103 AktG Rz. 61. Hölters/Simons, § 103 AktG Rz. 58; Hopt/Roth in Großkomm/AktG, § 103 AktG Rz. 90. Hölters/Simons, § 103 AktG Rz. 58. Im Ergebnis ebenso Rieckers/Leyendecker-Langner, NZG 2013, 167 (169). Ebenso Rieckers/Leyendecker-Langner, NZG 2013, 167 (169); a.A. Dornhegge, NJW-Spezial 2011, 143 (144).
1048
Hölters/Hölters
C. Einflussmöglichkeiten des Erwerbers auf die Unternehmensführung
Rz. 12.85 Kap. 12
Begründung – vertreten, die Amtsniederlegung müsse unbedingt erfolgen.152 Bessere Argumente sprechen jedoch dafür, eine aufschiebend bedingte Niederlegungserklärung unter fest definierten Voraussetzungen als zulässig anzusehen. Gegen eine aufschiebend bedingte Niederlegungserklärung spricht zunächst, dass Gestaltungsrechte nach allgemeiner Ansicht bedingungsfeindlich sind153. Allerdings gibt es einige Ausnahmen von diesem Grundsatz, die auch in Rechtsprechung und Literatur Anerkennung finden. Ausgangspunkt ist, dass die Bedingungsfeindlichkeit dem Schutz des Erklärungsempfängers vor Ungewissheit dient.154 Danach ist eine bedingte Gestaltungserklärung, die für den Erklärungsgegner keine untragbare Ungewissheit über den neuen Rechtszustand schafft, zulässig.155 Dies gilt beispielsweise für Bedingungen, deren Eintritt allein vom Willen des Erklärungsempfängers abhängen.156 Der Erklärungsempfänger bedarf hier keines Schutzes, da er den Bedingungseintritt selbst beeinflussen kann. Darüber hinaus ist eine bedingte Gestaltungserklärung auch dann zulässig, wenn sich der Erklärungsempfänger mit der Bedingung einverstanden erklärt hat.157 Eine Amtsniederlegung, die aufschiebend bedingt auf den Vollzug der Transaktion erklärt wird, stellt keine Bedingung dar, deren Eintritt allein vom Willen der Target-AG abhängt.158 Die mangelnde Schutzbedürftigkeit der Target-AG spricht jedoch auch in diesem Falle für die Zulässigkeit. Welche der beiden Möglichkeiten vorzuziehen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Beide könnten auch aus Gründen äußerster Vorsicht miteinander kombiniert werden. In der Praxis bietet sich aus Gründen stärkerer Geheimhaltung eine Verpflichtungserklärung zur Amtsniederlegung an.
12.83
d) Neubestellung von Aufsichtsratsmitgliedern Hat ein Aufsichtsratsmitglied wirksam sein Aufsichtsratsamt niedergelegt, so stehen der Erwerber-AG nach Vollzug der Transaktion verschiedene Wege zur Neubestellung von Aufsichtsratsmitgliedern offen. Die Hauptversammlung wählt die Mitglieder des Aufsichtsrates ohne Rücksicht auf die Kapitalverhältnisse mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen (§ 133 Abs. 1 AktG), soweit die Satzung keine anderweitige Regelung trifft. Bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen steht dem Erwerber daher die Wahl ihm genehmer Aufsichtsratsmitglieder in einer anzuberaumenden Hauptversammlung nach Vollzug der Transaktion offen.
12.84
3. Einflussnahme auf die Zusammensetzung des Vorstands Vorstandsmitglieder werden gem. § 84 Abs. 1 AktG durch den Aufsichtsrat bestellt. Sofern daher der Erwerber mit eigenen Vertretern nach Vollzug der Transaktion im Aufsichtsrat
152 Hopt/Roth in Großkomm/AktG, § 103 AktG Rz. 88. 153 BGH v. 21.3.1986 – V ZR 23/85, MDR 1986, 835 = NJW 1986, 2245 (2246); H.P. Westermann in MünchKomm/BGB, § 158 BGB Rz. 33. 154 Bülow, JZ 1979, 431. 155 BGH v. 21.3.1986 – V ZR 23/85, MDR 1986, 835 = NJW 1986, 2245 (2246). 156 Bülow, JZ 1979, 431. 157 Dennhardt in Bamberger/Roth, § 388 BGB Rz. 4; Gursky in Staudinger, § 388 BGB Rz. 29. 158 A.A. Rieckers/Leyendecker-Langner, NZG 2013, 167 (171) mit Bezugnahme auf BGH v. 24.10.2005 – II ZR 55/04, GmbHR 2006, 46 = MDR 2006, 405 = NZG 2006, 62 (63). Zur Möglichkeit der Hinterlegung einer unbedingten Niederlegungserklärung bei einem Treuhänder, vgl. ebenso Rieckers/Leyendecker- Langner, NZG 2013, 167 (172).
Hölters/Hölters
1049
12.85
Kap. 12 Rz. 12.86
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
vertreten ist, so steht ihm auch die Möglichkeit offen, auf die Bestellung des Vorstands Einfluss zu nehmen.
12.86 Vor einer Neubestellung müssten jedoch die dem Erwerber unliebsamen Vorstandsmitglieder zunächst ihres Amtes enthoben sein. Wie auch die Bestellung so erfolgt gem. § 84 Abs. 3 AktG der Widerruf der Bestellung durch den Aufsichtsrat. Die Bestellung kann lediglich dann widerrufen werden, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Ein solcher Grund ist namentlich grobe Pflichtverletzung, Unfähigkeit zur ordnungsmäßigen Geschäftsführung oder Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung, es sei denn, dass das Vertrauen aus offenbar unsachlichen Gründen entzogen worden ist. Sofern es sich bei dem Erwerber nach Vollzug der Transaktion um den Mehrheitsaktionär der Target-AG handelt, so kommt der Widerruf der Vorstandsbestellung aufgrund eines Vertrauensentzuges durch die Hauptversammlung in Betracht. Der Beschluss über den Vertrauensentzug bedarf keiner Begründung und setzt keinen vorangehenden Pflichtenverstoß des Vorstandsmitglieds voraus.159 Ein Widerruf wegen Vertrauensentzuges kommt selbst dann in Betracht, wenn das Vorstandsmitglied bei Meinungsverschiedenheiten über wesentliche Unternehmensentscheidungen sogar objektiv im Recht ist.160 Voraussetzung ist lediglich, dass das Vertrauen nicht aus offenbar unsachlichen Gründen entzogen worden ist. Dies ist nicht anzunehmen, wenn der Erwerbsinteressent die Mehrheit an der Target-AG übernommen hat und nunmehr dem Vorstand in einer Hauptversammlung das Vertrauen entzieht.161 Da sich der Vertrauensentzug auf die zukünftige Zusammenarbeit mit dem Vorstand bezieht und nur bedingt die Ereignisse in der Vergangenheit erfasst,162 so muss auch der Mehrheit in der Hauptversammlung die Entscheidung verbleiben, ob sie ein von Vertrauen geprägtes Verhältnis zum Vorstand in der Zukunft als gegeben ansieht.163
12.87 Liegt im Einzelfall kein wichtiger Grund vor oder ist auch eine einvernehmliche Beendigung der Bestellung des Vorstandsmitglieds in Erwägung zu ziehen, so ist stets eine Vereinbarung zwischen den entsprechenden Vorstandsmitgliedern und der Target-AG, vertreten durch den Gesamtaufsichtsrat, über eine einvernehmliche Beendigung der Bestellung des Vorstandsmitglieds möglich. Im Rahmen einer solchen Aufhebungsvereinbarung ist die Vereinbarung einer Abfindung gängige Praxis.164 Die Bemessung der Höhe der Abfindung liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Aufsichtsrates (§§ 116 i.V.m. 93 AktG).165 Die Zusage einer Abfindung vor Vollzug der Transaktion an den Vorstand der Target-AG durch den Erwerbsinteressenten ist nicht zulässig, da es sich hierbei um eine unzulässige Drittvergütung handeln würde (vgl. Rz. 12.69 ff.).
159 Hölters/Weber, § 84 AktG Rz. 76; Fleischer in Spindler/Stilz, § 84 AktG Rz. 111. 160 BGH v. 29.5.1989 – II ZR 220/88, AG 1989, 437 = GmbHR 1989, 415 = MDR 1990, 28 = NJW 1989, 2683 (2684); Hölters/Weber, § 84 AktG Rz. 76. 161 Ebenso Spindler in MünchKomm/AktG, § 84 AktG Rz. 139. 162 Hölters/Weber, § 84 AktG Rz. 76; Spindler in MünchKomm/AktG, § 84 AktG Rz. 138; Fleischer in Spindler/Stilz, § 84 AktG Rz. 111. 163 Ebenso Spindler in MünchKomm/AktG, § 84 AktG Rz. 139. 164 Hölters/Weber, § 87 AktG Rz. 42; Fleischer in Spindler/Stilz, § 87 AktG Rz. 45. 165 Näheres hierzu: Hölters/Weber, § 87 AktG Rz. 42.
1050
Hölters/Hölters
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.92 Kap. 12
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung I. Einführung Die Aktiengesellschaft zeichnet sich durch eine strikte Kompetenzverteilung ihrer Organe aus. Der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft ist insbesondere im Aktien- und Umwandlungsgesetz ein Kompetenzkatalog vorgegeben, der im Wesentlichen Grundlagenentscheidungen umfasst. Hierunter fallen u.a. Dividendenbeschlüsse, die Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern, die jährliche Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat, die Bestellung des Abschlussprüfers, Satzungsänderungen oder die Zustimmung zu Unternehmensverträgen.166
12.88
Die Geschäftsführungsbefugnis einer Aktiengesellschaft liegt gem. § 76 Abs. 1 AktG allein beim Vorstand. Geschäftsführungsmaßnahmen sind auch der Erwerb bzw. die Veräußerung von Beteiligungen im Rahmen eines Share Deals bzw. von Unternehmen oder Unternehmensteilen im Rahmen eines Asset Deals. Nach der aktienrechtlichen Kompetenzverteilung ist somit der Vorstand einer Veräußerer- bzw. Erwerber-AG für alle Maßnahmen im Zusammenhang mit einem Unternehmenskauf zuständig.
12.89
Die aktienrechtliche Kompetenzverteilung zwischen Hauptversammlung und Vorstand ist zwingend. Eine Kompetenz der Hauptversammlung bei Geschäftsführungsfragen kann auch nicht durch eine entsprechende Satzungsbestimmung oder einen Beschluss der Hauptversammlung herbeigeführt werden. Derartige Vorgaben der Satzung bzw. der Hauptversammlung an den Vorstand sind rechtlich unverbindlich. In der Praxis ist jedoch gerade bei kleineren Aktiengesellschaften die Tendenz feststellbar, dass ein Vorstand nur selten von den Vorgaben der Aktionärsmehrheit abweicht.
12.90
II. Gesamtvorstand und Zustimmung des Aufsichtsrats 1. Zuständigkeit des Gesamtvorstands Auf Seiten der Veräußerer- und Erwerber-AG fällt die Entscheidung über die Durchführung eines Unternehmenskaufs regelmäßig in die Zuständigkeit des Gesamtvorstands. Lediglich bei sehr großen Unternehmen, bei denen Unternehmenskäufe zum täglichen Geschäftsablauf gehören und bei sehr kleinen Unternehmen als Target ist es denkbar, dass der Unternehmenskauf nach dem Geschäftsverteilungsplan in die Ressortzuständigkeit eines einzelnen Vorstandsmitglieds fällt.167
12.91
2. Zustimmung des Aufsichtsrats a) Grundsätze Ob eine Zustimmung des Aufsichtsrats erforderlich ist, hängt davon ab, ob der Unternehmens- oder Beteiligungskauf im Katalog der zustimmungspflichtigen Geschäfte nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG enthalten ist. Danach wird in der Satzung oder in der Geschäftsordnung für den Vorstand festgelegt, dass im Einzelnen definierte Geschäfte nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats vorgenommen werden dürfen. In der Praxis werden Unternehmenskäufe 166 Vgl. im Einzelnen Hölters/Drinhausen, § 119 AktG Rz. 5. 167 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 216.
Hölters/Hölters
1051
12.92
Kap. 12 Rz. 12.93
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
und -verkäufe regelmäßig in den Katalog der zustimmungspflichtigen Geschäfte aufgenommen, bei Großunternehmen zumindest bei Überschreiten einer bestimmten Wertgrenze. Ist das nicht der Fall, kann der Aufsichtsrat nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG jederzeit einen Unternehmenskauf in seine Zustimmungskompetenz aufnehmen. Der Beschluss über die Erteilung oder Verweigerung der Zustimmung des Aufsichtsrats ist grundsätzlich eine unternehmerische Entscheidung i.S.d. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, so dass dem Aufsichtsrat nach § 116 Satz 1 AktG ein unternehmerisches Ermessen zukommt (Business Judgement Rule).168
12.93 Es ist ausreichend und notwendig, dass der Aufsichtsrat seine Entscheidung auf der Basis von Informationen trifft, die er vom Vorstand erhält und die eine Plausibilitätsprüfung ermöglichen.169 Die mit einem Beschlussvorschlag versehene Aufsichtsratsvorlage muss insbesondere folgende Punkte enthalten:170 – Darstellung der Transaktion – Unternehmerisch-strategische Begründung der Transaktion – Bewertung und Wirtschaftlichkeit – Risiken
12.94 Der Vorstand hat dem Aufsichtsrat eine angemessene Zeit zur Lektüre einzuräumen. Was angemessen ist, ist letztlich nur im Einzelfall zu beurteilen. Hierbei spielt auch eine Rolle, ob die Transaktion bereits angekündigt und der Aufsichtsrat bereits vorab informiert worden ist. Als Richtschnur können zwei Wochen als angemessen angesehen werden, in Extremfällen kann jedoch auch ein Wochenende genügen.171 b) Missachtung des Zustimmungsvorbehaltes durch den Vorstand
12.95 Wird der Unternehmenskaufvertrag trotz Zustimmungsvorbehaltes ohne Zustimmung des Aufsichtsrats abgeschlossen, ist der Vertrag dennoch wirksam, da der Vorstand nach §§ 78, 82 AktG vertretungsberechtigt ist. Die Missachtung des Zustimmungsvorbehaltes nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG kann jedoch eine Pflichtverletzung des Vorstandsmitglieds begründen.
12.96 Von einermöglichen Pflichtverletzung des Vorstands wegen Missachtung des Zustimmungsvorbehaltes ist die Frage zu unterscheiden, ob die Maßnahme als solche, das heißt der Abschluss des Unternehmenskaufvertrages, pflichtwidrig ist. Der Vorstand hat die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten. Er hat die alleinige Geschäftsführungsbefugnis. Die Zustimmung des Aufsichtsrats zu einer bestimmten Maßnahme lässt die Verantwortung des Vorstands für die zugrunde liegende Maßnahme unberührt. Sollte daher die Maßnahme selbst pflichtwidrig sein und die Aktiengesellschaft einen Schaden erleiden, entbindet die Zustimmung durch den Aufsichtsrat nicht von seiner Haftung gegenüber der Gesellschaft. Gegebenenfalls haftet der Aufsichtsrat ebenfalls, wenn es seine Pflicht gewesen wäre, die Zustimmung auf Basis der von ihm verlangten und erteilten Informationen zu versagen.172
168 169 170 171 172
Habersack in MünchKomm/AktG, § 111 AktG Rz. 127. Habersack in MünchKomm/AktG, § 111 AktG Rz. 127; Fonk, ZGR 2006, 841 (861 ff.). J. Hüffer in FS Hüffer, S. 372. Fonk, ZGR 2006, 841 (859). Spindler in Spindler/Stilz, § 111 AktG Rz. 79.
1052
Hölters/Hölters
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.100 Kap. 12
Ist der Abschluss des Unternehmenskaufvertrages als solches rechtmäßig, kann die Pflicht- 12.97 widrigkeit des Vorstands darin liegen, dass er sich über den Zustimmungsvorbehalt hinwegsetzt. Ist in der Satzung oder in einem Aufsichtsratsbeschluss lediglich eine Zustimmung durch den Aufsichtsrat erwähnt, ist neben einer vorherigen Zustimmung (Einwilligung) auch eine nachträgliche Zustimmung (Genehmigung) ausreichend.173 Als Auslegungshilfe kann auf die im Bürgerlichen Gesetzbuch ausdrücklich normierten Definitionen (§§ 183, 184 BGB) zurückgegriffen werden. Danach gibt es zwei Formen der Zustimmung, zum einen eine vorherige Zustimmung (Einwilligung) nach § 183 BGB, zum anderen eine nachträgliche Zustimmung (Genehmigung) nach § 184 BGB. Satzungen und Geschäftsordnungen von Aktiengesellschaften werden regelmäßig durch rechtskundige Juristen entworfen, denen diese beiden Formen der Zustimmung bekannt sind und die, sofern lediglich eine Form der Zustimmung zulässig sein soll, dies entsprechend klargestellt hätten. Gleiches gilt für Aufsichtsratsbeschlüsse, zu deren Vorbereitung sich die Mitglieder rechtskundigen Beistandes bedienen. Diese Auslegung genügt dem Schutzzweck des Zustimmungsvorbehaltes als Instrument zur Überwachung der Geschäftsführung. Schließt der Vorstand den Unternehmenskaufvertrag ab, ohne zuvor die Zustimmung des Aufsichtsrats abgewartet zu haben, geht er ein erhebliches Risiko ein, da die nachträgliche Genehmigung des Geschäftes durch den Aufsichtsrat versagt werden kann. Dies kann eine Schadensersatzpflicht des Vorstands gegenüber der Gesellschaft begründen. Ein Vorstandsmitglied, das die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden pflegt, wird ein solches Risiko nicht eingehen, es sei denn, es handelt sich ausnahmsweise um ein besonders eilbedürftiges Geschäft und der Vorstand kann nach pflichtgemäßem Ermessen davon ausgehen, dass der Aufsichtsrat dem Geschäft nachträglich zustimmen wird.
12.98
Ist in der Satzung oder dem Aufsichtsratsbeschluss hingegen ausdrücklich eine vorherige Zu- 12.99 stimmung durch den Aufsichtsrat erwähnt, ist eine nachträgliche Zustimmung durch den Aufsichtsrat unzureichend. Sollte für bestimmte Maßnahmen, beispielsweise Eilmaßnahmen, ausnahmsweise die nachträgliche Zustimmung ausreichend sein, so ist auch dies ausdrücklich klarzustellen. Eine Schadensersatzpflicht eines Vorstands durch Übergehen des Zustimmungsvorbehaltes wird sich jedoch kaum ergeben, wenn der abgeschlossene Unternehmenskaufvertrag nach der Business Judgement Rule innerhalb seines Geschäftsleiterermessens lag. Entweder ist dem Unternehmen kein Schaden entstanden (Unternehmenskauf oder -verkauf ist ein Erfolg) oder es mangelt möglicherweise an der Kausalität, wenn der Vorstand nachweisen kann, dass die Zustimmung des Aufsichtsrats erteilt worden wäre. c) Zustimmung des Aufsichtsrats als aufschiebende Bedingung in Unternehmenskaufverträgen Bei Unternehmenskaufverträgen nach deutscher Systematik erfolgen die schuldrechtliche 12.100 Verpflichtung zur Übertragung der Anteile und die dingliche Übertragung in einem Akt. Die Zustimmung des Aufsichtsrats kann zur aufschiebenden Bedingung des Kaufvertrages und der Übertragung ausgestaltet werden. Fraglich ist aber, ob sich der Vertragspartner auf eine solche Vertragsgestaltung einlässt. Verweigert der Aufsichtsrat seine Zustimmung, ist kein Vertrag zustande gekommen. Stimmt sich der Vorstand in einem solchen Fall mit dem Aufsichtsrat ab, kann diese Partei das Zustandekommen des Unternehmenskaufvertrages steuern. Nicht ausreichend wäre es, die Zustimmung des Aufsichtsrats lediglich zur aufschiebenden Bedingung der dinglichen Übertragung zu machen. Bei Nichteintritt der Bedingung bliebe der 173 A.A. Habersack in MünchKomm/AktG, § 111 AktG Rz. 123.
Hölters/Hölters
1053
Kap. 12 Rz. 12.101
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
Kaufvertrag wirksam und es ergäbe sich eine Schadensersatzpflicht des Unternehmens gegenüber der anderen Vertragspartei, wenn der Kaufvertrag nicht erfüllt wird.
12.101 Bei Unternehmenskaufverträgen nach anglo-amerikanischem Muster erfolgen der Abschluss des Vertrages, der die Verpflichtung zur Übertragung der Anteile oder Vermögensgegenstände begründet, und das Closing zu unterschiedlichen Zeitpunkten. „Closing“ bedeutet den Zeitpunkt, zu dem die Anteile oder Vermögensgegenstände tatsächlich übertragen werden. Auch in diesem Fall kann der Vertrag aufschiebend bedingt durch die Zustimmung des Aufsichtsrats abgeschlossen werden. Die Zustimmung ist dann beim Closing dem Vertragspartner vorzulegen. Bei Vertragsgestaltungen nach anglo-amerikanischem Muster ist die Chance größer, dass sich die andere Vertragspartei auf eine solche Gestaltung einlässt, da regelmäßig Verpflichtungen der Parteien zur Herbeiführung der Bedingungen für das Closing definiert sind. Die Verletzung solcher Verpflichtungen führt regelmäßig zu Schadensersatzansprüchen.
III. Zustimmungserfordernis der Hauptversammlung 12.102 Bei einigen M&A-Transaktionen unter Beteiligung von Aktiengesellschaften bedarf es einer Befassung der Hauptversammlung. Zuständigkeiten der Hauptversammlung können sich aus Gesetz, aus der Satzung der Gesellschaft oder aus der Rechtsfortbildung des BGH (Stichwort Holzmüller und Gelatine) ergeben. Die praktische Bedeutung der Thematik ist erheblich davon abhängig, ob bei einer Transaktion Aktiengesellschaften als Target, Veräußerer oder Erwerber beteiligt sind.
12.103 Ist das Target eines Unternehmenskaufes eine Aktiengesellschaft, wird die Hauptversammlung dieser Gesellschaft nur selten mit dem Vorgang befasst. In Betracht kommt hier insbesondere, Geschäftsführungsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Unternehmenskauf im Rahmen einer sog. freiwilligen Vorlage nach § 119 Abs. 2 AktG der Hauptversammlung zur Zustimmung vorzulegen. Hierdurch erreicht der Vorstand – ordnungsgemäße Information und Zustimmung der Hauptversammlung vorausgesetzt – eine Haftungsbefreiung.174 Vorstellbar wäre es beispielsweise, dass der Vorstand des Targets seine Hauptversammlung mit der Frage befasst, ob umfangreiche Informationen im Rahmen einer Due Diligence den potentiellen Erwerbern zur Verfügung gestellt werden sollen. Von dieser Möglichkeit wird in der Praxis jedoch nur selten Gebrauch gemacht. Der Grund liegt in der erheblichen Verzögerung der Transaktion aufgrund der einzuhaltenden Einberufungsfrist für die Hauptversammlung von dreißig Tagen zzgl. etwaiger Anmeldungsfristen sowie die Information der Öffentlichkeit durch die Veröffentlichung der Einladung im frei zugänglichen Bundesanzeiger. Die Befassung der Hauptversammlung beim Target wird deswegen im vorvertraglichen Stadium nur dann in Frage kommen, wenn sämtliche Aktionäre der Gesellschaft namentlich bekannt sind und deshalb eine Einberufung durch eingeschriebenen Brief nach § 121 Abs. 4 AktG zulässig ist. Eine weitere Besonderheit besteht, wenn alle Aktionäre bei der Hauptversammlung erscheinen oder vertreten sind. In diesem Fall kann die Hauptversammlung auch ohne Einhaltung der aktienrechtlichen Frist- und Formerfordernisse wirksame Beschlüsse fassen, sofern kein Aktionär der Beschlussfassung widerspricht (§ 121 Abs. 6 AktG). Eine solche Vollversammlung kann somit auch ad hoc beschließen. Die Transaktion wird dann nicht verzögert.
12.104 Eher von Bedeutung ist die Befassung der Hauptversammlung des Targets, wenn die Satzung der Gesellschaft eine Vinkulierung der Aktien nach § 68 Abs. 2 AktG vorsieht. Ist die 174 Hoffmann in Spindler/Stilz, § 119 AktG Rz. 18.
1054
Hölters/Hölters
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.109 Kap. 12
Hauptversammlung das zuständige Organ für die Erteilung der Zustimmung bei einer Übertragung von Aktien, so muss diese zwingend mit dem Unternehmenskauf befasst werden, um die Aktien wirksam übertragen zu können.175 Veräußerer und Erwerber müssen in einem solchen Fall durch rechtzeitige Gespräche mit den Aktionären sicherstellen, dass eine Mehrheit in der Hauptversammlung für die Übertragung stimmen wird. Ist der Veräußerer Mehrheitsaktionär, wird dies in der Regel unproblematisch sein, da dieser nach herrschender Meinung mitstimmen darf.176 Relevanter sind in der Praxis etwaige Zustimmungserfordernisse der Hauptversammlung, wenn eine Aktiengesellschaft als Veräußerer oder Erwerber auftritt.
12.105
IV. Zuständigkeit der Hauptversammlung einer Veräußerer- bzw. Erwerber-AG 1. Ausdrückliche Kompetenzen der Hauptversammlung a) Überblick Ausdrückliche Hauptversammlungszuständigkeiten bei der Veräußerer-AG sind selten. Praxisrelevant sind insbesondere zwei Fallgestaltungen: die Notwendigkeit einer Satzungsänderung in Bezug auf den Unternehmensgegenstand und die Veräußerung des gesamten Gesellschaftsvermögens.
12.106
Bei der Erwerber-AG ist allenfalls die Überschreitung des Unternehmensgegenstandes von 12.107 praktischer Bedeutung. Eine Zuständigkeit der Hauptversammlung kann sich dann ergeben, wenn der Vorstand einer Aktiengesellschaft ein Unternehmen zu kaufen beabsichtigt, das in einem Geschäftsbereich tätig ist, der nicht vom Unternehmensgegenstand der Erwerber-AG erfasst ist. In Spezialfällen können zudem weitere gesetzliche Hauptversammlungskompetenzen bestehen. Dies gilt beispielsweise für den Fall, dass die Transaktion im Wege der Verschmelzung nach dem Umwandlungsgesetz durchgeführt wird (§§ 13, 65 UmwG). Die Befassung der Hauptversammlung ist aber auch dann notwendig, wenn dem Veräußerer als Gegenleistung Aktien an der erwerbenden Aktiengesellschaft gewährt werden und zu diesem Zweck eine Sachkapitalerhöhung durch die Hauptversammlung beschlossen werden muss, falls die erwerbende Gesellschaft nicht über ausreichend genehmigtes Kapital mit der Möglichkeit zum Bezugsrechtsausschluss bzw. über eigene Aktien verfügt.
12.108
b) Änderung des Unternehmensgegenstandes Der Unternehmensgegenstand einer Aktiengesellschaft bezeichnet die Art der Tätigkeit, die die Gesellschaft auszuüben beabsichtigt.177 Der Unternehmensgegenstand ist in der Satzung ausreichend zu konkretisieren. Nach dem Gesetzeswortlaut sind „namentlich bei Industrie175 BGH v. 28.4.1954 – II ZR 8/53, BGHZ 13, 179 (187) (Abtretung eines Geschäftsanteils an einer KG); Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 219. 176 BGH v. 29.5.1967 – II ZR 105/66 (zu § 47 GmbHG), BGHZ 48, 163 (167); Cahn in Spindler/ Stilz, § 68 AktG Rz. 51. 177 BGH v. 9.11.1987 – II ZB 49/87, BGHZ 102, 209 = GmbHR 1988, 135 = MDR 1988, 475; BayObLG v. 15.12.1976 – 2 Z 53/75, NJW 1976, 1694 f.; Limmer in Spindler/Stilz, § 23 AktG Rz. 16 f.; Hölters/Buchta in Hölters/Deilmann/Buchta, S. 16.
Hölters/Hölters
1055
12.109
Kap. 12 Rz. 12.110
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
und Handelsunternehmen die Art der Erzeugnisse und Waren, die hergestellt und gehandelt werden sollen, näher anzugeben“ (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG).
12.110 In der Satzung einer Aktiengesellschaft kann beispielsweise geregelt sein, dass der Unternehmensgegenstand die Herstellung und den Vertrieb bestimmter Waren umfasst. Oftmals wird die Aktiengesellschaft zu allen Geschäften oder Maßnahmen berechtigt, die dem Gegenstand des Unternehmens dienen. Zu diesem Zweck wird sie üblicherweise auch ermächtigt, andere Unternehmen zu gründen, zu erwerben oder sich an ihnen zu beteiligen. Durch diese Formulierung ist der Kauf bzw. der Verkauf von Beteiligungen und Unternehmen durch die Satzung ermöglicht.
12.111 Die konkrete Festlegung des Unternehmensgegenstandes in der Satzung einer Aktiengesellschaft soll insbesondere die Aktionäre vor Kompetenzüberschreitungen des Vorstands schützen.178 Überschreitet der Vorstand den durch den Unternehmensgegenstand festgelegten Aufgabenbereich, drohen Schadensersatzpflichten. Die Wirksamkeit des Handelns nach außen für die vertretene Gesellschaft wird hierdurch jedoch nicht berührt.
12.112 Die Festlegung des Unternehmensgegenstandes in der Satzung hat nach heute herrschender Meinung zwei wesentliche Auswirkungen auf das Vorstandshandeln. Einerseits darf der Vorstand den Unternehmensgegenstand nicht überschreiten, andererseits muss er ihn jedoch auch ausfüllen.179 Dies gilt insbesondere, wenn durch Maßnahmen des Vorstands das geschichtlich geprägte Erscheinungsbild der Aktiengesellschaft geändert wird.
12.113 Für den Erwerb von Beteiligungen bedeutet dies, dass der Geschäftsbereich des zu erwerbenden Unternehmens vom Unternehmensgegenstand der Erwerber-AG umfasst sein muss. Ist der Unternehmensgegenstand eng gefasst und bezieht er sich beispielsweise auf die Produktion und den Vertrieb von Textilien, so ist der Erwerb einer neuen Tochtergesellschaft, die im Bereich Telekommunikation tätig ist, eindeutig nicht vom Unternehmensgegenstand umfasst. Der Vorstand ist demnach nicht berechtigt, den Unternehmenskauf ohne eine vorherige Satzungsänderung durchzuführen.
12.114 Bei der Veräußerer-AG stellt sich bei der beabsichtigten Veräußerung einer Tochtergesellschaft nicht die Frage nach der Überschreitung, sondern nach der Unterschreitung des Unternehmensgegenstandes.180 Ist Unternehmensgegenstand einer Aktiengesellschaft die Produktion und der Vertrieb sowohl von Textilien als auch von Telekommunikationsprodukten und verfügt die Aktiengesellschaft über zwei in selbständige Tochtergesellschaften ausgegliederte Geschäftsbereiche, führt die Veräußerung einer der beiden Gesellschaften zu einer teilweisen Aufgabe des Unternehmensgegenstandes.
12.115 Die Änderung des Unternehmensgegenstandes stellt eine Satzungsänderung dar. Nach § 124 Abs. 2 Satz 3 AktG muss deshalb der Wortlaut der vorgeschlagenen Satzungsänderung bekannt gemacht werden. Zudem ist es in der Praxis üblich, vor dem Beschlussvorschlag einleitende Bemerkungen der Verwaltung aufzunehmen, um den Aktionären die Satzungsänderung kurz zu erläutern. Zwingend erforderlich sind solche Erläuterungen jedoch nicht. 178 Holzborn in Spindler/Stilz, § 179 AktG Rz. 62. 179 Wiedemann in Großkomm/AktG, § 179 AktG Rz. 58; Lutter/Leinekugel, ZIP 1998, 225 (227); Holzborn in Spindler/Stilz, § 179 AktG Rz. 64. 180 OLG Köln v. 15.1.2009 – 18 U 205/07, AG 2009, 416 – Strabag, ZIP 2009, 1469 (1470 f.); OLG Stuttgart v. 14.5.2003 – 20 U 31/02, AG 2003, 527 = NZG 2003, 778 (783 f.) (Veräußerung eines Betriebsteils einer KGaA).
1056
Hölters/Hölters
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.120 Kap. 12
Beabsichtigt eine Gesellschaft durch den Erwerb eines Unternehmens einen neuen Geschäftsbereich aufzunehmen, könnte der Text des entsprechenden Teils der Einberufung der Hauptversammlung wie folgt lauten:
12.116
„Unter Tagesordnungspunkt 5 soll der Unternehmensgegenstand in § 2 der Satzung der Gesellschaft geändert werden. Der Unternehmensgegenstand, der derzeit ausschließlich die Produktion und den Vertrieb von Textilien umfasst, soll auf den Geschäftsbereich Telekommunikation erweitert werden. Die Gesellschaft beabsichtigt, eine im Bereich Telekommunikation tätige Gesellschaft zu erwerben. Vorstand und Aufsichtsrat schlagen deshalb vor, § 2 der Satzung (Gegenstand des Unternehmens) wie folgt zu ändern: Gegenstand des Unternehmens ist die Herstellung und der Vertrieb von Textilien und Telekommunikationsprodukten. Die Gesellschaft ist zu allen Geschäften und Maßnahmen berechtigt, die dem Gegenstand des Unternehmens dienen. Sie kann zu diesem Zweck auch andere Unternehmen gründen, erwerben oder sich an ihnen beteiligen.“
Der Beschluss der Hauptversammlung zur Änderung des satzungsmäßigen Unternehmensgegenstandes bedarf einer Mehrheit, die mindestens drei Viertel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals umfasst (§ 179 Abs. 2 Satz 1 AktG). Zusätzlich erforderlich ist die einfache Stimmenmehrheit nach § 133 Abs. 1 AktG.181 Die einfache Stimmenmehrheit ist dann von Bedeutung, wenn bei der Gesellschaft ausnahmsweise das Stimmrecht nicht der Kapitalbeteiligung entspricht.182 In der Satzung der Gesellschaft kann eine größere Kapitalmehrheit für die Änderung des Unternehmensgegenstandes festgelegt werden (§ 179 Abs. 2 Satz 2 AktG).
12.117
Bedarf die M&A-Transaktion der Zustimmung der Hauptversammlung einer der an der 12.118 Transaktion beteiligten Gesellschaften, weil der Unternehmensgegenstand in der Satzung der Gesellschaft geändert werden muss, so hat die Satzungsänderung vor Durchführung der M&A-Transaktion zu erfolgen. Bei der zeitlichen Strukturierung ist hierbei zu berücksichtigen, dass eine Satzungsänderung nicht zum Zeitpunkt der Beschlussfassung durch die Hauptversammlung, sondern erst mit Eintragung der Änderung im Handelsregister wirksam wird (§ 181 Abs. 3 AktG). Der Vorstand hat die Satzungsänderung nach der Beschlussfassung der Hauptversammlung zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden. Der Anmeldung ist der vollständige Wortlaut der geänderten Satzung beizufügen. Zudem ist der Anmeldung eine Bescheinigung eines Notars beizufügen, dass die geänderten Bestimmungen der Satzung mit dem Beschluss über die Satzungsänderung und die unveränderten Bestimmungen mit dem zuletzt zum Handelsregister eingereichten vollständigen Wortlaut der Satzung übereinstimmen (§ 181 Abs. 1 Satz 2 AktG). Die Anmeldung hat vom Vorstand in vertretungsberechtigter Zahl zu erfolgen, nach § 12 Abs. 1 HGB sind die Unterschriften von einem Notar zu beglaubigen.183
12.119
c) Übertragung des gesamten Gesellschaftsvermögens Nach § 179a AktG muss die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft einem Vertrag zustimmen, durch den sich die Gesellschaft verpflichtet, im Wege der Einzelrechtsübertragung das gesamte Gesellschaftsvermögen zu übertragen. Ziel der Regelung ist es, die Aktionäre 181 BGH v. 28.11.1974 – II ZR 176/72, AG 1975, 16. 182 BGH v. 28.11.1974 – II ZR 176/72, AG 1975, 16; Hölters/Haberstock/Greitemann, § 179 AktG Rz. 12 ff. 183 Hölters/Haberstock/Greitemann, § 181 AktG Rz. 3, 11.
Hölters/Hölters
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12.120
Kap. 12 Rz. 12.121
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
vor einer unangemessenen Vertragsgestaltung, insbesondere bei Übertragung des Gesellschaftsvermögens an den bisherigen Hauptaktionär, zu schützen.184
12.121 Die Zustimmung der Hauptversammlung ist an zwei Voraussetzungen gebunden: Erstens muss sich die Aktiengesellschaft zur Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens verpflichten. Diese Voraussetzung ist jedoch auch dann erfüllt, wenn nur unwesentliches Vermögen bei der Gesellschaft verbleibt.185 Entscheidend ist hierbei, ob die Gesellschaft mit dem zurückbehaltenen Vermögen den in ihrer Satzung festgelegten Unternehmensgegenstand zumindest in eingeschränktem Umfang weiter verfolgen kann.186 Zweitens darf die Vermögensübertragung nicht unter die Vorschriften des Umwandlungsgesetzes fallen. Verschmelzungen, Spaltungen, Vermögensübertragungen oder übertragende Umwandlungen im Sinne des Umwandlungsgesetzes sind deshalb vom Anwendungsbereich ausgenommen. Allerdings ergeben sich in diesen Fällen Zustimmungspflichten der Hauptversammlung aus den einschlägigen Regelungen des Umwandlungsgesetzes.
12.122 Zustimmungspflichtig ist grundsätzlich das Verpflichtungsgeschäft. Die Hauptversammlung muss einem konkreten Übertragungsvertrag zustimmen, die Vorlage eines Konzeptes reicht nicht aus. Der Vorstand muss demnach entweder den Übertragungsvertrag der Hauptversammlung vor Abschluss des Vertrages zur Zustimmung oder aber nach Abschluss zur Genehmigung vorlegen.187 Die Aufspaltung des Vertragswerkes in mehrere Teile führt dazu, dass sämtliche Vertragsteile vorzulegen sind.188 Die Zustimmung der Hauptversammlung ist Wirksamkeitsvoraussetzung für den Übertragungsvertrag, so dass der Zustimmung der Hauptversammlung Außenwirkung zukommt.189 Bei der Zustimmung der Hauptversammlung zur Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens gibt es somit nur einen begrenzten Spielraum für die zeitliche Gestaltung des Vorhabens.
12.123 Einer Satzungsänderung bedarf die Übertragung des gesamten Vermögens grundsätzlich nicht.190 Allerdings wird in der Regel mit der Übertragung des gesamten Gesellschaftsvermögens eine Änderung des Unternehmensgegenstandes einhergehen. Beispielsweise tritt an die Stelle der Produktion und des Vertriebs von Waren die Vermögensverwaltung bezogen auf den durch die Transaktion erzielten Kaufpreis. In diesem Fall muss zusätzlich zur Zustimmung zum Übertragungsvertrag auch der Unternehmensgegenstand geändert und die Satzungsänderung zur Eintragung in das Handelsregister angemeldet werden.191
184 Hölters/Haberstock/Greitemann, § 179a AktG Rz. 1. 185 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 – Holzmüller, BGHZ 83, 122 = AG 1982, 158 = MDR 1982, 554; RG v. 13.5.1929 – II 313/28, RGZ 124, 279 (294); Hölters/Haberstock/Greitemann, § 179a AktG Rz. 4. 186 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 – Holzmüller, BGHZ 83, 122 = AG 1982, 158 = MDR 1982, 554. 187 BGH v. 16.11.1981 – II ZR 150/80 – Hoesch/Hoogovens, BGHZ 82, 188 (193) = AG 1982, 129 = MDR 1982, 383; LG Hamburg v. 8.6.1995 – 405 O 203/94, AG 1996, 233 (234); Holzborn in Spindler/Stilz, § 179a AktG Rz. 15. 188 BGH v. 16.11.1981 – II ZR 150/80 – Hoesch/Hoogovens, BGHZ 82, 188 (196) = AG 1982, 129 = MDR 1982, 383. 189 Hölters/Haberstock/Greitemann, § 179a AktG Rz. 7; Holzborn in Spindler/Stilz, § 179a AktG Rz. 7. 190 Hölters/Haberstock/Greitemann, § 179a AktG Rz. 2; Holzborn in Spindler/Stilz, § 179a AktG Rz. 18; Kraft in KölnKomm/AktG, § 361 AktG a.F. Rz. 22. 191 Hölters/Haberstock/Greitemann, § 179a AktG Rz. 8.
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D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.128 Kap. 12
Ein Beschlussvorschlag für die Hauptversammlung mit Erläuterung könnte deshalb wie folgt lauten:
12.124
„Die Gesellschaft hat am 15. Oktober 2017 einen Vertrag mit der Müller & Mayer AG geschlossen, mit dem das Vermögen der Gesellschaft auf die Müller & Mayer AG gegen Zahlung eines Kaufpreises von 100 Mio. Euro übertragen werden soll. Der Vertrag hat im Wesentlichen folgenden Inhalt: … Gemäß § 179a AktG ist die Zustimmung der Hauptversammlung der Gesellschaft für die Wirksamkeit des Vertrages erforderlich. Nach Vollzug des Vertrages wird die Gesellschaft ihre bisherige Geschäftstätigkeit einstellen und sich auf die Verwaltung eigenen Vermögens beschränken. Dementsprechend ist der Unternehmensgegenstand in § 2 der Satzung der Gesellschaft anzupassen. Vorstand und Aufsichtsrat schlagen vor: 1. Die Hauptversammlung stimmt dem am 15. Oktober 2017 mit der Müller & Mayer AG geschlossenen Vertrag zur Übertragung des ganzen Vermögens der Gesellschaft zu. 2. § 2 der Satzung der Gesellschaft (Gegenstand des Unternehmens) wird wie folgt geändert: Gegenstand des Unternehmens ist die Verwaltung eigenen Vermögens.“
Der Übertragungsvertrag ist gem. § 179a Abs. 2 Satz 1 AktG von der Einberufung der Hauptversammlung an, die über die Zustimmung beschließen soll, in dem Geschäftsraum der Gesellschaft zur Einsicht der Aktionäre auszulegen. Der Auslegung weiterer Unterlagen bedarf es nicht, insbesondere sind weder ein Vorstandsbericht zur Erläuterung des Vertrages noch ein Spaltungsbericht nach §§ 8, 125 UmwG notwendig.192 Auf Verlangen erhält jeder Aktionär eine Kopie des Übertragungsvertrages zugesandt (§ 179a Abs. 2 Satz 2 AktG). Gemäß § 179a Abs. 2 Satz 3 AktG entfallen diese Verpflichtungen, wenn der Vertrag für denselben Zeitraum über die Internetseite der Gesellschaft zugänglich ist. Letzteres ist insbesondere bei börsennotierten Gesellschaften relevant. Diese trifft gem. § 124a Satz 1 AktG die Pflicht, alsbald nach der Einberufung der Hauptversammlung bestimmte Informationen und Unterlagen, worunter auch der Übertragungsvertrag fällt, über die Internetseite der Gesellschaft zugänglich zu machen.
12.125
In der Hauptversammlung selbst ist der Übertragungsvertrag zugänglich zu machen und vom 12.126 Vorstand zu Beginn der Verhandlung zu erläutern. Der Vertrag ist auch dem Protokoll der Hauptversammlung beizufügen. Der Hauptversammlungsbeschluss bedarf einer Mehrheit von mindestens drei Viertel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals (§ 179a Abs. 1 i.V.m. § 179 Abs. 2 AktG); zusätzlich ist auch die einfache Stimmenmehrheit nach § 133 Abs. 1 AktG erforderlich.193 Die Satzung kann jedoch eine größere Kapitalmehrheit vorsehen. Einer Anmeldung zur Eintragung im Handelsregister bedarf es bei einem Beschluss zur Zustimmung zu einem Übertragungsvertrag nach § 179a AktG nicht. Nur für den Fall, dass gleichzeitig eine Änderung des Unternehmensgegenstandes beschlossen wird, ist diese Satzungsänderung zum Handelsregister anzumelden.
12.127
Wird der zustimmende Hauptversammlungsbeschluss zur Übertragung des gesamten Vermögens einer Aktiengesellschaft erfolgreich angefochten, so fällt die Zustimmung der Hauptversammlung mit Wirkung ex tunc weg. Damit fehlt eine Wirksamkeitsvoraussetzung des Übertragungsvertrages, gleichwohl erbrachte Leistungen sind gemäß den §§ 812 ff. BGB rück-
12.128
192 LG Hamburg v. 21.1.1997 – 402 O 122/96 – Wünsche AG, AG 1997, 238; Bungert, NZG 1998, 367 (368); a.A. LG Karlsruhe v. 6.11.1997 – O 43/97 KfH I, AG 1998, 99 (100). 193 Hölters/Haberstock/Greitemann, § 179a AktG Rz. 9; Holzborn in Spindler/Stilz, § 179a AktG Rz. 21.
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Kap. 12 Rz. 12.129
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
abzuwickeln. Die Rückabwicklung unterbleibt jedoch, wenn es zu einer erneuten und gültigen Beschlussfassung der Hauptversammlung kommt. Auch ist es möglich, sofern keine Nichtigkeitsgründe vorliegen, dass die Hauptversammlung den angefochtenen Beschluss durch einen Beschluss nach § 244 AktG bestätigt. 2. Ungeschriebene Hauptversammlungskompetenz a) Einführung
12.129 Besonders praxisrelevant erschien über einen längeren Zeitraum die Frage, ob eine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit für eine geplante M&A-Transaktion auf Seiten der Veräußerer- oder Erwerber-AG besteht. Diese Fragestellung und die damit verbundenen erheblichen Unsicherheiten für die Praxis rührten aus einer Entscheidung des BGH vom 25.2.1982 her, die unter dem Stichwort Holzmüller für erhebliche Aufmerksamkeit gesorgt hat.194 Der BGH bejahte in dieser Entscheidung eine Pflicht des Vorstands, bei Geschäftsführungsmaßnahmen, die die Mitgliedsrechte der Aktionäre ganz wesentlich beeinträchtigen, die Zustimmung der Hauptversammlung einzuholen. Kaum eine andere aktienrechtliche Entscheidung des BGH ist so häufig kommentiert worden195 und hat die anwaltliche Praxis so umfassend beschäftigt.196 Eine Beruhigung trat erst durch die Gelatine-Entscheidungen des BGH ein.197 Die Zahl der in der Praxis in Betracht kommenden Fälle wurde dadurch erheblich verringert. b) Die Holzmüller-Entscheidung des BGH aa) Sachverhalt
12.130 Die Holzmüller-Entscheidung des BGH betraf eine klassische Ausgliederung. Unternehmensgegenstand der beklagten Aktiengesellschaft war u.a. der Betrieb einer Umschlag- und Lagerungshalle für Holz sowie die Vermittlung, Durchführung und Finanzierung von Holzgeschäften. Der Seehafenbetrieb als der mit einem Anteil von über 80 % mit Abstand wertvollste Unternehmensteil wurde im Rahmen einer Sachgründung in eine 100%ige Tochtergesellschaft eingebracht. Hierzu war im Vorfeld der Einbringung bereits der Unternehmensgegenstand der Gesellschaft dahingehend geändert worden, dass der Geschäftsbetrieb ganz oder teilweise Tochtergesellschaften überlassen werden durfte. Das Begehren des klagenden Aktionärs ging dahin, die Einbringung des Seehafenbetriebes in die Tochtergesellschaft für nichtig zu erklären, da der Vorstand ohne Zustimmung der Hauptversammlung gehandelt und damit seine Organvertretungsmacht überschritten habe. bb) Entscheidungsgründe
12.131 Der BGH entschied, dass die Einbringung des mit Abstand wertvollsten Unternehmensteils in eine Tochtergesellschaft der Zustimmung der Hauptversammlung bedurft hätte, obwohl die Maßnahme durch die Satzung der Aktiengesellschaft gedeckt war und die Voraussetzungen des § 179a AktG (Veräußerung des gesamten Vermögens einer Aktiengesellschaft) nicht vor194 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 – Holzmüller, BGHZ 83, 122 = AG 1982, 158 = MDR 1982, 554. 195 Vgl. nur die Nachweise bei Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 37 ff., Fn. 105 ff. 196 Vgl. hierzu die empirische Untersuchung von Bernhardt, DB 2000, 1873. 197 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 = AG 2004, 384; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 – Gelatine II, ZIP 2004, 1001.
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D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.134 Kap. 12
lagen.198 Zur Begründung stützte sich der BGH maßgeblich auf § 119 Abs. 2 AktG, der es dem Vorstand einer Aktiengesellschaft bei Geschäftsführungsmaßnahmen ermöglicht, die Hauptversammlung freiwillig mit dem Vorgang zu befassen. Der BGH stellte fest, dass dem Vorstand ein unternehmerisches Ermessen zusteht, ob er die Hauptversammlung mit einer Geschäftsführungsmaßnahme befassen will. Das Ermessen des Vorstandes könne jedoch im Einzelfall auf null reduziert sein, wenn die Maßnahmen „so tief in die Mitgliedsrechte der Aktionäre und deren im Anteilseigentum verkörpertes Vermögensinteresse eingreifen, dass der Vorstand vernünftigerweise nicht annehmen kann, er dürfe sie ausschließlich in eigener Verantwortung treffen“.199 In der Holzmüller-Entscheidung bejahte der BGH eine Ermessensreduzierung des Vor- 12.132 stands, da die Maßnahme im Kernbereich der Unternehmenstätigkeit erfolgte, den wertvollsten Unternehmensteil betraf und die Unternehmensstruktur der Aktiengesellschaft von Grund auf änderte. Der Feststellungsantrag des Aktionärs blieb jedoch trotzdem ohne Erfolg, da der BGH der Vorlageverpflichtung des Vorstands rein interne Bedeutung beimaß und eine Beschränkung der Vertretungsmacht im Außenverhältnis ausdrücklich ablehnte.200 Die Wirksamkeit der Maßnahme blieb demnach im Verhältnis zu der anderen Vertragspartei von der fehlenden Zustimmung der Hauptversammlung unberührt. cc) Dogmatische Rechtfertigung der Holzmüller-Doktrin Der BGH leitete die Hauptversammlungszuständigkeit dogmatisch aus § 119 Abs. 2 AktG her.201 Zur Begründung führt er an, dass durch die Ausgliederung des bedeutsamsten Geschäftsbereichs der wesentliche Teil des Gesellschaftsvermögens der Kontrolle der Aktionäre entzogen worden sei. Nach der Ausgliederung auf eine Tochtergesellschaft sei das ursprüngliche Gesellschaftsvermögen vollständig in die Kontrollsphäre des Vorstands übergegangen, da dieser für alle Maßnahmen auf der Ebene der Tochtergesellschaft zuständig sei. Die Rechte der Aktionäre der Muttergesellschaft seien hierdurch mediatisiert worden. Die Aktionäre seien jedoch vor schwerwiegenden Eingriffen in ihr Mitwirkungspotential und ihre Vermögensrechte zu schützen.
12.133
Die unterinstanzlichen Gerichte sind dem BGH bei der Herleitung der Hauptversammlungszuständigkeit aus § 119 Abs. 2 AktG gefolgt.202 Auch in der Literatur hat der Begründungsansatz des BGH Zustimmung gefunden.203 Nach einer anderen Ansicht in Rechtsprechung und Literatur ist hingegen eine Gesamtanalogie zu den aktien- und umwandlungsrechtlichen
12.134
198 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 – Holzmüller, BGHZ 83, 122 (131) = AG 1982, 158 = MDR 1982, 554. 199 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 – Holzmüller, BGHZ 83, 122 (131) = AG 1982, 158 = MDR 1982, 554. 200 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 – Holzmüller, BGHZ 83, 122 (133) = AG 1982, 158 = MDR 1982, 554. 201 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 – Holzmüller, BGHZ 83, 122 (131) = AG 1982, 158 = MDR 1982, 554. 202 OLG München v. 10.11.1994 – 24 U 1036/93 – Ekatit/Riedinger Verwaltungs-AG, AG 1995, 232 (233); LG Frankfurt/M. v. 29.7.1997 – 3/5 O 162/95 – Altana/Milupa, AG 1998, 45 (46); LG Duisburg v. 27.6.2002 – 21 O 106/02 – Babcock Borsig, AG 2003, 390. 203 Hölters/Drinhausen, § 119 AktG Rz. 20; Lutter, ZHR 151 (1987), 444 (454); Großfeld/Bondics, JZ 1982, 589 (591).
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Kap. 12 Rz. 12.135
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
Vorschriften, die Strukturänderungen betreffen, zu bilden.204 Die Hauptversammlung sei demnach grundsätzlich für Entscheidungen von wesentlicher Bedeutung zuständig. Begründet wird diese Auffassung damit, dass in jedem Einzelfall geprüft werden müsse, ob eine geplante Maßnahme Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre beeinträchtige. Die in § 76 Abs. 1 AktG gesetzlich normierte umfassende Kompetenz des Vorstands bei Geschäftsführungsmaßnahmen soll nach dieser Auffassung der Befassung durch die Hauptversammlung nicht entgegenstehen, da es sich bei Strukturmaßnahmen nicht mehr um die gewöhnliche Leitung der Gesellschaft handele.
12.135 Erfreulicherweise hat der BGH im April 2004 die dogmatische Rechtfertigung der Holzmüller-Doktrin in seinen beiden Gelatine-Urteilen205 konkretisiert. Nach 22 Jahren hat der BGH die Gelegenheit genutzt, zumindest in Teilbereichen Unsicherheiten für die Praxis zu beseitigen. c) Die Gelatine-Urteile des BGH aa) Sachverhalt
12.136 Der satzungsmäßige Unternehmensgegenstand der Deutsche Gelatine-Fabriken Stoess AG war die Herstellung und der Vertrieb von Gelatine und Gelatineerzeugnissen einschließlich Sonderprodukten sowie anderen chemischen Erzeugnissen. Der Unternehmensgegenstand konnte auch durch Tochtergesellschaften bzw. Zweigniederlassungen erfüllt werden. Die Satzung der Gesellschaft enthielt zudem eine Klausel, dass sämtliche Beschlüsse der Hauptversammlung mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen und, soweit eine Kapitalmehrheit erforderlich ist, mit einfacher Mehrheit des vertretenen Kapitals gefasst werden können, sofern nicht die Satzung oder das Gesetz zwingend etwas anderes vorschreiben.
12.137 Die Gesellschaft sollte zu einer reinen Holdinggesellschaft umstrukturiert werden. Zum einen sollten Geschäftsanteile einer deutschen GmbH & Co. KG teilweise in eine andere Tochtergesellschaft der Gesellschaft, die Gelatine-Kapseln produzierte und vertrieb, eingebracht werden.206 Zum anderen sollten die Beteiligungen an schwedischen und englischen Tochtergesellschaften auf eine andere Tochtergesellschaft der Gesellschaft übertragen werden. Allein die schwedische Tochtergesellschaft trug mit bis zu 30 % zum Vorsteuerergebnis des Konzerns bei.207 Mit den beiden Umstrukturierungsvorgängen wurde die Hauptversammlung der Gesellschaft befasst. Diese stimmte den Beschlussvorschlägen der Verwaltung mit einfacher Mehrheit, nicht jedoch mit Drei-Viertel-Mehrheit zu. Gegen die Hauptversammlungsbeschlüsse wurden Anfechtungsklagen erhoben.
204 LG Karlsruhe v. 6.11.1997 – O 43/97 KfH I, AG 1998, 99 (101); Lutter/Leinekugel, ZIP 1998, 805 (806); Lutter in FS Fleck, S. 169 (186); Wiedemann in Großkomm/AktG, § 179 AktG Rz. 74 f.; Timm, ZHR 153 (1989), 60 (69). 205 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 = AG 2004, 384; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 – Gelatine II, ZIP 2004, 1001; vgl. hierzu Bungert, BB 2004, 1345; Fuhrmann, AG 2004, 339; Fleischer, NJW 2004, 2335; Goette, DStR 2004, 927; Koppensteiner, Der Konzern 2004, 381; Simon, DStR 2004, 1482 und 1528; Weißhaupt, AG 2004, 585. 206 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 – Gelatine II, ZIP 2004, 1001 (1002). 207 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 = AG 2004, 384.
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D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.141 Kap. 12
bb) Entscheidungsgründe Der BGH entschied, dass die Umstrukturierungsmaßnahmen der Deutsche Gelatine-Fabriken Stoess AG keine Holzmüller-Fälle darstellten, und hielt deshalb die Anfechtungsklagen für unbegründet.
12.138
Ausgangspunkt der Begründung des BGH ist, dass die Einbringung von Beteiligungen der Gesellschaft in ihre Tochtergesellschaften von dem in der Satzung niedergelegten Unternehmensgegenstand gedeckt war, so dass eine Änderung der Satzung nicht erforderlich war. Der BGH verneint zudem eine Anwendung der Holzmüller-Grundsätze, da die Maßnahmen nicht in den Kernbereich des Unternehmens eingegriffen hätten und daher die Aktionäre nicht in ihren mitgliedschaftlichen Rechten beeinträchtigt worden seien. Zwar könne eine ungeschriebene Kompetenz der Hauptversammlung dann vorliegen, wenn eine Umstrukturierung „an die Kernkompetenz der Hauptversammlung, über die Verfassung der Aktiengesellschaft zu bestimmen, rührt, weil sie Veränderungen nach sich zieht, die denjenigen zumindest nahe kommen, welche allein durch eine Satzungsänderung herbeigeführt werden können“.208 Einen Katalog von Geschäftsführungsmaßnahmen, bei welchen gegebenenfalls die Zustimmung der Hauptversammlung einzuholen ist, hat der BGH ausdrücklich nicht aufstellen wollen.209 Zwingend erforderlich sei es jedenfalls, dass ein Mediatisierungseffekt wie im HolzmüllerFall bei der Ausgliederung eines wichtigen Betriebes einer Tochtergesellschaft oder bei der Umstrukturierung des Beteiligungsbesitzes eintreten werde. Der Einfluss der Aktionäre hinsichtlich des von den Maßnahmen betroffenen Gesellschaftsvermögens muss verringert werden und dieses damit ihrem Einflussbereich entzogen sein.
12.139
Der BGH stellte hierbei klar, dass die im Schrifttum genannten Schwellenwerte für ein Ein- 12.140 greifen der Holzmüller-Grundsätze, die zwischen 10 % und 50 % schwanken, in diesem Zusammenhang nicht ausreichen können. Vielmehr könne eine Kompetenz der Hauptversammlung nur dann in Frage kommen, wenn ein mit der Holzmüller-Entscheidung vergleichbarer Sachverhalt vorläge.210 Bei der Holzmüller-Konstellation waren 80 % des Gesellschaftsvermögens betroffen. Für die dogmatische Rechtfertigung der Holzmüller-Doktrin stellt der BGH nun nicht mehr auf eine Einzelanalogie zu § 119 Abs. 2 AktG ab. Vielmehr kombiniert er die zutreffenden Elemente einzelner Ansätze, nämlich die nur das Innenverhältnis betreffende Wirkung einer etwaigen Hauptversammlungskompetenz einerseits und die Orientierung der in Betracht kommenden Fallgestaltungen an den gesetzlich festgelegten Kompetenzen der Hauptversammlung andererseits.211 Der BGH betont jedoch ausdrücklich in einem historischen Exkurs die fest gefügte Kompetenzstruktur bei einer Aktiengesellschaft, die dem Vorstand grundsätzlich die Alleinkompetenz bei Geschäftsführungsmaßnahmen zuweist. In einer global vernetzten Wirtschaftsordnung, bei der es auf ein schnelles Handeln des Vorstandes besonders
208 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 = AG 2004, 384; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 – Gelatine II, ZIP 2004, 1001. 209 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 (996) = AG 2004, 384; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 – Gelatine II, ZIP 2004, 1001 (1003). 210 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 (998) = AG 2004, 384; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 – Gelatine II, ZIP 2004, 1001 (1003). 211 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 (997) = AG 2004, 384; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 – Gelatine II, ZIP 2004, 1001 (1003).
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Kap. 12 Rz. 12.142
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
ankomme, drohe ansonsten bei einer ausufernden Kompetenz der Hauptversammlung eine Lähmung der Gesellschaft.212
12.142 Sofern nach den vom BGH aufgestellten Grundsätzen ausnahmsweise die Zustimmung der Hauptversammlung erforderlich ist, bedarf diese einer Drei-Viertel-Mehrheit des vertretenen Grundkapitals. Dies gilt auch bei einer in der Satzung enthaltenen Konzernklausel und auch dann, wenn die Satzung der Aktiengesellschaft außer bei zwingenden Mehrheitserfordernissen nach Gesetz oder Satzung die einfache Mehrheit genügen lässt.213 Aufgrund der Schwere der möglichen Beeinträchtigungen der Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre soll es unzulässig sein, in der Satzung das Quorum für die Zustimmung zu der beabsichtigten Maßnahme abzusenken. d) Folgen für die M&A-Praxis aa) Grundsätze
12.143 Vor den Gelatine-Urteilen des BGH hatte die Holzmüller-Entscheidung des BGH zu erheblichen Unsicherheiten in der Unternehmenspraxis geführt. Die Reichweite der Holzmüller-Entscheidung, insbesondere die Anwendbarkeit der Holzmüller-Doktrin auf andere wesentliche Geschäftsführungsmaßnahmen, war unklar.214 Auch bei einer vorherigen Änderung des Unternehmensgegenstandes konnte eine zusätzliche Befassung der Hauptversammlung nach den Holzmüller-Grundsätzen nötig sein, da der BGH die Zustimmung zu einer konkret-individuellen Maßnahme forderte.215 In der Praxis musste jeder Sachverhalt einzelfallbezogen geprüft und die Argumente für und gegen eine Anwendbarkeit der Holzmüller-Doktrin abgewogen werden.
12.144 Die Gelatine-Urteile des BGH zeigen eine starke Tendenz des Gerichts, die Holzmüller-Doktrin nur in Ausnahmekonstellationen anzuwenden. Auch die klare Aussage zu den notwendigen Schwellenwerten ist für die Praxis sehr hilfreich. Allerdings hat der BGH ausdrücklich davon abgesehen, eine Liste von Geschäftsführungsmaßnahmen zu erstellen, die vom Ausgangspunkt her unter die Holzmüller-Doktrin fallen könnten. Insoweit ist die Unsicherheit für die M&A-Praxis zwar erheblich abgemildert, jedoch nicht endgültig beseitigt worden. Vom Grundsatz her sind Vorlagepflichten des Vorstands an die Hauptversammlung bei M&ATransaktionen weiterhin denkbar, sie werden aber aufgrund der restriktiven Haltung des BGH seltener praxisrelevant werden. bb) Veräußerer-AG (1) Share Deal
12.145 Die Anwendung der Holzmüller und Gelatine-Grundsätze auf die Veräußerung von Beteiligungen wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich gewertet. Ein großer Teil der unterinstanzlichen Rechtsprechung und ein Teil der Literatur bejaht das Eingreifen der
212 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 (998) = AG 2004, 384; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 – Gelatine II, ZIP 2004, 1001 (1003). 213 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 (998) = AG 2004, 384; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 – Gelatine II, ZIP 2004, 1001 (1003). 214 Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 65 ff. 215 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 – Holzmüller, BGHZ 83, 122 (130) = AG 1982, 158 = MDR 1982, 554.
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D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.148 Kap. 12
Holzmüller und Gelatine-Grundsätze bei Beteiligungsabgaben.216 Begründet wird das Zustimmungserfordernis bei der Veräußerung wesentlicher Unternehmensbeteiligungen unter Hinweis auf ein obiter dictum des BGH in der Holzmüller-Entscheidung217 mit einem ansonsten drohenden Wertungswiderspruch zu Ausgliederungsfällen. So sei es wenig einleuchtend, dass zwar die Verkürzung der Aktionärsrechte durch die Ausgliederung auf Tochtergesellschaften, nicht aber die weiterreichende vollständige Aufgabe der Beteiligungsrechte durch Veräußerung an einen Dritten der Hauptversammlungsmitwirkung unterliegen soll.218 Die Veräußerung einer Beteiligung könne demnach eine wesentliche Strukturänderung bewirken, die der Zustimmung der Hauptversammlung unterliege.219 Die Zustimmung der Hauptversammlung kann nach teilweise vertretener Auffassung auch dann erforderlich sein, wenn eine Beteiligung nur anteilig veräußert wird und konzernfremde Dritte erstmalig beteiligt werden. Dies gelte jedoch erst ab einer wesentlichen Drittbeteiligung von mehr als 25 %, da erst dann die Obergesellschaft und ihre Aktionäre die Möglichkeit verlieren, Strukturentscheidungen herbeizuführen, die einer qualifizierten Mehrheit bedürfen.220
12.146
Nach anderer Auffassung in Rechtsprechung und Literatur wird hingegen eine Kompetenz der Hauptversammlung zur Mitwirkung bei der Veräußerung wesentlicher Beteiligungen verneint.221 Zur Begründung wird angeführt, dass die Beteiligungsabgabe gerade den Effekt der Mediatisierung rückgängig mache. Als Kaufpreis fließe nunmehr der an der Beteiligung gebundene Teil des Gesellschaftsvermögens wieder in das Gesellschaftsvermögen der Aktiengesellschaft zurück. Sofern der satzungsmäßige Unternehmensgegenstand weiterhin ausgefüllt werde, sei demnach eine Zuständigkeit der Hauptversammlung ausgeschlossen.
12.147
Der letztgenannten Auffassung ist zuzustimmen. Sie entspricht der vom BGH in der Gelatine-Entscheidung vorgegebenen Tendenz.222 Der BGH betont ausdrücklich die Ferne der Hauptversammlung zu Geschäftsführungsmaßnahmen. „In einer global vernetzten Wirtschaftsordnung, in der es darauf ankommt, sich bietende Chancen umgehend zu nutzen oder aufkommenden Gefahren sogleich zu begegnen, wäre eine zu enge Bindung an jeweils einzuholende Entschließungen der nicht ständig präsenten, sondern regelmäßig nur mit erheblichem Aufwand an Zeit und Kosten einzuberufenden Hauptversammlung gänzlich unprak-
12.148
216 OLG München v. 10.11.1994 – 24 U 1036/93 – EKATIT/Riedinger Verwaltungs-AG, AG 1995, 232 (233); LG Düsseldorf v. 13.2.1997 – 31 O 133/96 – Walter Rau Neusser Öl und Fett AG, AG 1999, 94; LG Duisburg v. 27.6.2002 – 21 O 106/02 – Babcock Borsig, AG 2003, 390; LG Frankfurt/M. v. 29.7.1997 – 3/5 O 162/95 – Altana/Milupa, AG 1998, 45 (46); LG Stuttgart v. 8.11.1991 – 2 KfH O 135/91 – ASS, AG 1992, 236 (237); Lutter in FS Stimpel, S. 825 (851). 217 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 – Holzmüller, BGHZ 83, 122 (140) = AG 1982, 158 = MDR 1982, 554. 218 Henze in FS Ulmer, S. 211 (231); Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 68. 219 Reichert in Semler/Volhard/Reichert, ArbeitsHdb. für die Hauptversammlung, § 1 Rz. 22. 220 OLG Stuttgart v. 14.5.2003 – 20 U 31/02, AG 2003, 527; Henze in FS Ulmer, S. 211 (231); Simon in Heckschen/Simon, § 4 Rz. 72. 221 OLG Köln v. 15.1.2009 – 18 U 205/07, AG 2009, 416 (418); Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 222; Arnold, ZIP 2005, 1573 (1576 f.); von Falkenhausen, ZIP 2009, 24 (25 f.); Feldhaus, BB 2009, 562 (567); Goette, AG 2006, 522 (527); Habersack, AG 2005, 137; Hofmeister, ZG 2008, 47 (49); Reichert, AG 2005, 150 (155); Joost, ZHR 163 (1999), 164 (185); Groß, AG 1994, 266 (271). 222 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 (997 f.) = AG 2004, 384; Hölters/ Hölters, § 93 AktG Rz. 222.
Hölters/Hölters
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Kap. 12 Rz. 12.149
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
tikabel und hätte eine Lähmung der Gesellschaft zur Folge“.223 Diese zutreffende praktische Sichtweise des BGH gilt insbesondere für Unternehmenstransaktionen.224 Der Blick auf den der Holzmüller-Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt verdeutlicht, dass entscheidend die Nähe zu einer Satzungsänderung ist, für die die Hauptversammlung zuständig ist. In dem Holzmüller-Fall wurde aus einer aktiv gewerblich tätigen Gesellschaft eine HoldingGesellschaft. (2) Asset Deal
12.149 Ob die Hauptversammlung bei Veräußerungsfällen im Rahmen eines Asset Deals zuständig ist, ist ebenfalls umstritten. Von den Befürwortern der Zustimmungspflicht225 wird teilweise argumentiert, wenn die Ausgliederung eines wesentlichen Unternehmensteils auf eine 100%ige Tochtergesellschaft zustimmungspflichtig sei, so sei der Mediatisierungseffekt bei einer Veräußerung eines solchen Unternehmensteils an einen Dritten noch wesentlich größer. Wenn eine unternehmerische Kerntätigkeit aufgegeben werde und entsprechende Wertgrenzen überschritten werden, bestehe kein Unterschied zwischen der Veräußerung von rechtlich verselbständigten und unselbständigen Unternehmensteilen.226 Nach dieser Auffassung kann demnach die Veräußerung eines Unternehmensteils im Wege eines Asset Deals bei Erreichen der noch darzulegenden Wertgrenzen zustimmungspflichtig sein. Von der Gegenmeinung227 wird – entsprechend den Ausführungen zum Share Deal – angeführt, bei einer Unternehmensveräußerung liege kein Mediatisierungseffekt vor, da das Gesellschaftsvermögen als Kaufpreis wiederum an die Aktiengesellschaft zurückfließe. Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Sie entspricht der vom BGH in der Gelatine-Entscheidung vorgegebenen Tendenz.228 Der BGH betont ausdrücklich die Ferne der Hauptversammlung zu Geschäftsführungsmaßnahmen. cc) Erwerber-AG (1) Share Deal
12.150 Die Zuständigkeit der Hauptversammlung beim Erwerb einer wesentlichen Beteiligung durch die Aktiengesellschaft ist ebenfalls umstritten. Allerdings hat der BGH bereits in seiner Holzmüller-Entscheidung eine gewisse Tendenz erkennen lassen, als er den Erwerb einer Tochtergesellschaft als gemeinhin reine Geschäftsführungsmaßnahme einstufte.229 Der BGH musste jedoch hierüber nicht abschließend befinden.
223 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 (998) = AG 2004, 384. 224 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 222. 225 S. u.a. OLG Stuttgart v. 14.5.2003 – 20 U 31/02, AG 2003, 527 = ZIP 2003, 1981 (1988) (für KGaA); OLG Celle v. 7.3.2001 – 9 U 137/00 – AlliedSignal Chemical/Riedel de Haen, NZG 2001, 409 (410); LG Frankfurt v. 12.12.2000 – 3/5 O 149/99, AGIV AG, AG 2001, 431 (433); Götze, NZG 2004, 585 (588); Lutter/Leinekugel, ZIP 1998, 225 (229); Henze in FS Ulmer, S. 211 (230 f.). 226 Lutter/Leinekugel, ZIP 1998, 225 (229); Reichert, ZHR Sonderheft 68 (1999), 25 (67). 227 OLG Köln v. 15.1.2009 – 18 U 205/07, AG 2009, 416 (418); Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 222; von Falkenhausen, ZIP 2007, 24 (25 f.); Feldhaus, BB 2009, 562 (567); Goette, AG 2006, 522 (527); Joost, ZHR 163 (1999), 164 (185). 228 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 (997 f.) = AG 2004, 384; Hölters/ Hölters, § 93 AktG Rz. 222. 229 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 – Holzmüller, BGHZ 83, 122 (132) = AG 1982, 158 = MDR 1982, 554.
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Hölters/Hölters
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.153 Kap. 12
Eine vielfach vertretene Meinung in Rechtsprechung und Literatur bejaht eine grundsätz- 12.151 liche Zustimmungspflicht der Hauptversammlung für erhebliche Erwerbsvorgänge.230 Zur Begründung wird auf die Vergleichbarkeit mit Ausgliederungssachverhalten verwiesen. Unmittelbar der Obergesellschaft zugeordnetes Vermögen werde in eine gesellschaftsrechtliche Beteiligung transformiert. Der Erwerb von Tochtergesellschaften führe zu dem vom BGH in der Holzmüller-Entscheidung herausgearbeiteten Mediatisierungseffekt, da die erworbenen Beteiligungen nicht dem unmittelbaren Zugriff der Aktionäre der erwerbenden Aktiengesellschaft unterliegen. Der Endzustand nach einem Beteiligungserwerb sei somit derselbe wie nach einer Ausgliederung. Die leicht überwiegende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur verneint hingegen eine Zustimmungspflicht der Hauptversammlung bei Erwerbsvorgängen.231 Die Auffassung wird teilweise damit begründet, dass die Ausgliederung das Anlagevermögen betreffe, während der Beteiligungserwerb aus dem Umlaufvermögen finanziert werde.232 Darüber hinaus soll gerade der Vergleich mit anderen Investitionen ohne Konzernbildung, wie der Aufbau neuer Produktionsstätten oder gesellschaftseigener Vertriebskanäle, zeigen, dass es keine allgemeine Mittelverwendungskontrolle durch die Hauptversammlung geben könne.233
12.152
Für die erstgenannte Ansicht und damit eine Zustimmungspflicht der Hauptversammlung spricht zwar, dass der Erwerb von Tochtergesellschaften, auch wenn er in der Satzung ausdrücklich zugelassen ist, durchaus die Struktur einer Aktiengesellschaft erheblich verändern kann. So ist die Fallkonstellation vorstellbar, dass eine Aktiengesellschaft den durch die Satzung vorgegebenen Unternehmensgegenstand durch einen eingeschränkten Geschäftsbetrieb zwar ausfüllt, der wesentliche Wert der Gesellschaft jedoch in ihrem sehr hohen Barvermögen liegt. In einer solchen Konstellation wäre eine Investitionsentscheidung des Vorstands, eine Gesellschaft unter Einsetzung des vorhandenen Barvermögens zu erwerben, die den Unternehmensgegenstand in einem weitaus größeren Umfang ausfüllen wird, für die bislang an einer Vermögensholding beteiligten Aktionäre ein erheblicher Eingriff. So hat es auch das LG Frankfurt in seiner Entscheidung vom 15.12.2009 (Commerzbank/Dresdner Bank)234 im Fall eines Beteiligungserwerbs als entscheidend angesehen, ob es durch den Beteiligungserwerb zu einer wesentlichen Veränderung der Unternehmensstruktur kommt, das heißt einer wesentli-
12.153
230 LG Frankfurt/M. v. 15.12.2009 – 3-5 O 208/09 – Commerzbank/Dresdner Bank, AG 2010, 416 = ZIP 2010, 429 (431 ff.); OLG Hamburg v. 5.9.1980 – 11 U 1/80 – Holzmüller, AG 1981, 344 = ZIP 1980, 1000 (1006); LG Stuttgart v. 8.11.1991 – 2 KfH O 135/91 – ASS, AG 1992, 236 (237) (obiter); Henze in FS Ulmer, S. 211 (229); Geßler in FS Stimpel, S. 771 (786); Lutter in FS Stimpel, S. 825 (853); Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 6. Aufl. 2015, § 16 Rz. 13; Kiesewetter/Spengler, Der Konzern 2009, 451 (455); Liebscher, ZGR 2005, 1 (23 f.); Hofmeister, NZG 2008, 47 (50 ff.); Hirte, Bezugsrechtsausschluss und Konzernbildung 1986, S. 16 ff.; Hoffmann in Spindler/Stilz, § 119 AktG Rz. 31. 231 LG Heidelberg v. 1.12.1998 – O 95/98 KfH I – MLP AG, AG 1999, 135 (137); Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 221; Semler in MünchHdb/AG, § 34 Rz. 38; Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 71; Reichert in Beck’sches Hdb. AG, § 5 Rz. 32; Timm, ZIP 1993, 114 (117); Ebenroth/ Daum, DB 1991, 1105 (1109); Groß, AG 1994, 266 (271); Joost, ZHR 163 (1999), 164 (183); Renner, NZG 2002, 1091 (1093); Reichert, AG 2005, 150 (155); Werner, ZHR 147 (1983), 429 (447 f.). 232 Timm, ZIP 1993, 114 (117). 233 Renner, NZG 2002, 1091 (1093); Groß, AG 1994, 266 (273); Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 71; Ebenroth/Daum, DB 1991, 1105 (1109). 234 LG Frankfurt/M. v. 15.12.2009 – 3-5 O 208/09 – Commerzbank/Dresdner Bank, AG 2010, 416 = ZIP 2010, 429 (431 ff.).
Hölters/Hölters
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Kap. 12 Rz. 12.154
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
chen Änderung der Kapitalstruktur, insbesondere der Erhöhung des Verschuldungsgrades. Dies wurde vom LG Frankfurt bejaht, da durch den Erwerb und durch die anschließende Verschmelzung der Dresdner Bank auf die Commerzbank deren Verschuldungsgrad erhöht und ein erweitertes Engagement des Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin) erforderlich wurde.
12.154 Richtigerweise ist eine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit für den Fall des Erwerbs einer wesentlichen Beteiligung durch die Aktiengesellschaft abzulehnen. Die Gegenauffassung übersieht, dass es im Fall des Beteiligungserwerbs im Gegensatz zur Ausgliederung wesentlicher Unternehmensteile gerade nicht zu einer Mediatisierung der Mitwirkungsrechte der Aktionäre im Hinblick auf bisher eingesetztes unternehmerisches Vermögen kommt. Anders als bei einer Ausgliederung wird beim Beteiligungserwerb keine bereits bestehende unternehmerische Substanz dem Einfluss der Aktionäre entzogen. Vielmehr handelt es sich beim Beteiligungserwerb um eine Maßnahme der Vermögensverwendung, die der Vorstand eigenverantwortlich muss vornehmen können, sofern man die Organkompetenzen des Vorstands nicht über Gebühr einschränken will.235 Auch ist dem Schutzbedürfnis der Aktionäre mit dem Erfordernis einer satzungsmäßigen Ermächtigung zum Beteiligungserwerb ausreichend Genüge getan.236
12.155 Im Ergebnis bedarf der Erwerb von wesentlichen Beteiligungen im Wege eines Share Deals nicht der Zustimmung der Hauptversammlung. Es handelt sich um eine Geschäftsführungsmaßnahme, die der Vorstand in eigener Verantwortung durchführen kann. Aufgrund der umstrittenen Rechtslage wird jedoch in der Literatur teilweise empfohlen, in der Praxis vorsorglich eine entsprechende Beschlussfassung der Hauptversammlung vorzusehen.237 Allerdings wird zu Recht auch darauf verwiesen, dass bei sehr großen Transaktionen bislang überwiegend keine Zustimmung der Hauptversammlung eingeholt worden ist, wie bei den Unternehmenskäufen Deutsche Bank/Bankers Trust, Mannesmann/Orange, Deutsche Telekom/Voice Stream, Allianz/Dresdner Bank oder Commerzbank/Dresdner Bank.238 Die vorsorgliche Vorlage an die Hauptversammlung wird demnach nur in seltenen Fällen, abhängig vom konkreten Einzelfall, empfehlenswert sein, da durch sie die Durchführung der Transaktion außerordentlich erschwert wird. (2) Asset Deal
12.156 Das für den Share Deal erarbeitete Ergebnis einer fehlenden Hauptversammlungskompetenz gilt erst recht bei einem Asset Deal. Erwirbt eine Aktiengesellschaft unmittelbar ein Unternehmen durch Erwerb der entsprechenden Vermögensgegenstände, so ist für das Argument, die Aktionärsrechte könnten hierdurch mediatisiert werden, von vornherein kein Raum. Vielmehr werden Vermögensgegenstände gerade dem Zugriff der Aktionäre unterworfen, da die Aktiengesellschaft unmittelbar Eigentum erwirbt. Der Erwerb von Unternehmensteilen im Wege eines Asset Deals ist demnach ebenfalls nicht zustimmungspflichtig.
235 236 237 238
Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 221 m.w.N. So auch Joost ZHR 163 (1999), 164 (183); Reichert, AG 2005, 150 (155). Becker in Picot/Mentz/Seydel, Rz. 2.94. LG Frankfurt/M. v. 15.12.2009 – 3-5 O 208/09 – Commerzbank/Dresdner Bank, AG 2010, 416 = ZIP 2010, 429 (431 ff.) nahezu als Abkehr von den Gelatine-Grundsätzen des BGH.
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Hölters/Hölters
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.160 Kap. 12
dd) Wertgrenzen (1) Einführung Wie angeführt ist bei sämtlichen Unternehmenstransaktionen, ob Share Deal oder Asset Deal, ob auf Veräußerer- oder Erwerberseite, keine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit gegeben. Auf die Diskussion über Wertgrenzen bei der Transaktion kommt es deshalb nicht an. Auf die Wertgrenzendiskussion wird deshalb nur eingegangen, falls man sich aus Gründen äußerster Vorsicht oder aus sonstigen Gründen – etwa der Aktionärspflege – einer gegenteiligen Auffassung zuneigen sollte.
12.157
In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ab welcher Größenordnung der Transaktion die Hauptversammlung zu befassen ist. Zudem ist unklar, welche Faktoren für die Berechnung des Schwellenwerts herangezogen werden sollen. Unstreitig ist hingegen, dass, sofern die Maßnahme nicht als Gesamtakt, sondern in mehreren Einzelakten erfolgt, die Einzelmaßnahmen für die Berechnung der Wesentlichkeit zusammenzurechnen sind, soweit zwischen ihnen ein zeitlicher und wirtschaftlicher Zusammenhang besteht.239
12.158
(2) Maßgebliche Parameter In Rechtsprechung und Literatur werden unterschiedliche Parameter diskutiert, die für die Berechnung des Schwellenwerts für das Eingreifen der Holzmüller-Doktrin relevant sein sollen. Als maßgebliche Faktoren werden die für den Unternehmenswert der betroffenen Aktiengesellschaft wesentlichen Kriterien diskutiert, wie beispielsweise Bilanz- und Ertragswerte, steuerliche Teilwerte, Aktivvermögen, Grundkapital, Umsatz, Beschäftigtenzahl, Bedeutung der Beteiligung für die langfristige Strategie und die historische Prägung des Unternehmens.240 Hierbei kommt es auf eine Gesamtbetrachtung des zu veräußernden bzw. zu erwerbenden Unternehmens an. Parameter wie das Grundkapital, der Umsatz oder die Anzahl der betroffenen Mitarbeiter sind hierbei von untergeordneter Bedeutung.
12.159
Entscheidend bei der Gesamtbetrachtung ist im Regelfall der wertmäßige Anteil des zu veräußernden bzw. zu erwerbenden Unternehmens an der Veräußerer- bzw. Erwerber-AG. Die Berechnung des wertmäßigen Anteils ist eine Frage des Einzelfalls. Die Berechnung erfolgt in der Praxis nach den allgemeinen Grundsätzen der Unternehmensbewertung sowohl anhand der Ertragswertmethode241 als auch durch ein Abstellen auf die Bilanzwerte der betroffenen Unternehmen.242 Bei letzterer Vorgehensweise sind Vermögensgegenstände, die nur mit dem Buchwert oder ggf. überhaupt nicht bilanziert sind, wie beispielsweise selbst generierte Markenrechte, mit ihrem Verkehrswert zu berücksichtigen.243
12.160
239 Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 52. 240 Henze in FS Ulmer, S. 211 (223). 241 Reichert in Beck’sches Hdb. AG, § 5 Rz. 48; Habersack in Emmerich/Habersack, vor § 311 AktG Rz. 47; Simon in Heckschen/Simon, § 4 Rz. 40. 242 Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 50; Lutter in FS Stimpel, S. 825 (850); Hüffer in FS Ulmer, S. 279 (295). 243 Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 50; Zimmermann/Pentz in FS W. Müller, S. 151 (168).
Hölters/Hölters
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Kap. 12 Rz. 12.161
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
(3) Schwellenwert
12.161 Das Spektrum für die Schwellenwerte reichte vor den Gelatine-Urteilen des BGH aus dem Jahr 2004 in Rechtsprechung und Literatur von 10 %244 bis zu 75 %245 der jeweils für maßgeblich erklärten Parameter. Überwiegend wurden hierbei Schwellenwerte zwischen 25 % und 50 % genannt, wobei in den letzten Jahren vor den Gelatine-Urteilen des BGH zunehmend gefordert wurde, dass zumindest 50 % des Gesellschaftsvermögens betroffen sind.246 Diese Auffassung wurde bestärkt durch Stellungnahmen von Mitgliedern des für aktienrechtliche Fragen zuständigen II. Zivilsenats des BGH zur Entscheidung in Sachen Altana/Milupa.247
12.162 In seinen Gelatine-Urteilen hat der BGH schließlich zu den Schwellenwerten eindeutig Stellung genommen. Eine Zuständigkeit der Hauptversammlung kann nur dann angenommen werden, „wenn der Bereich, auf den sich die Maßnahme erstreckt, in seiner Bedeutung für die Gesellschaft die Ausmaße der Ausgliederung in dem vom Senat entschiedenen ‚Holzmüller‘-Fall erreicht“.248 Dies bedeutet, dass weit mehr als 50 %, im Regelfall etwa 80 % des Gesellschaftsvermögens, von der Geschäftsführungsmaßnahme betroffen sein müssen. Maßnahmen, die unterhalb dieser Schwelle liegen, bleiben im autonomen Bereich des Vorstandshandelns. Der BGH hat damit der Praxis ein taugliches Abgrenzungskriterium an die Hand gegeben.
12.163 In der Praxis wird es sich dennoch verbieten, schematisch den vom BGH in Bezug genommenen Schwellenwert anzuwenden. Vielmehr bedarf es weiterhin einer Abwägung im Einzelfall.249 So kann beispielsweise ein Unternehmensverkauf – sofern man entgegen der hier vertretenen Auffassung überhaupt von einer möglichen Zustimmungspflicht ausgeht – zustimmungspflichtig sein, wenn eine nur 60 % des Gesellschaftsvermögens ausmachende Tochtergesellschaft als Konzernperle veräußert werden soll, die den Konzern aufgrund der Historie oder ihres Renommees prägt und der dort erwirtschaftete Gewinn die Verluste anderer Tochtergesellschaften ausgleicht, ohne dass hierbei pauschal auf die Erreichung von 80 % des Gesellschaftsvermögens abgestellt werden kann. Keinesfalls reichen jedoch weniger als 50 % aus.250 Im Ergebnis bedarf es demnach immer einer Begutachtung des konkreten Einzelfalls, allerdings mit der Maßgabe, dass die quantitativen Eingriffsschwellen überaus hoch anzusetzen sind. Die Gelatine-Urteile des BGH haben damit zu einer größeren Klarheit geführt, ohne dass damit allerdings endgültige Rechtssicherheit für die Praxis herbeigeführt wurde. ee) Mehrheitserfordernisse bei Holzmüller-Beschlüssen
12.164 Die Mehrheitserfordernisse bei Holzmüller-Beschlüssen der Hauptversammlung waren vor der Gelatine-Entscheidung überaus strittig. Die Ursache hierfür liegt in der dargestellten unterschiedlichen dogmatischen Ableitung der Kompetenz der Hauptversammlung. 244 LG Frankfurt/M. v. 10.3.1993 – 3/14 O 25/92, AG 1993, 287 (288) (10 % des Gesellschaftsvermögens); Geßler in FS Stimpel, S. 771 (787) (10 % des Grund- bzw. Eigenkapitals). 245 Hüffer in FS Ulmer, S. 279 (295) (75 % des Buchvermögens oder des Umsatzes). 246 Vgl. im Einzelnen die umfangreichen Fundstellennachweise bei Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 51. 247 BGH v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 – Altana/Milupa, BGHZ 146, 288 = AG 2001, 261. 248 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 (998) = AG 2004, 384; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 – Gelatine II, ZIP 2004, 1001 (1003). 249 So auch Habersack in Emmerich/Habersack, vor § 311 AktG Rz. 47; Henze in FS Ulmer, S. 211 (222); Krieger in MünchHdb/AG, § 69 Rz. 11. 250 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 223.
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Hölters/Hölters
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.169 Kap. 12
In der Literatur gab es eine starke Auffassung, die aufgrund der Herleitung der Kompetenz der Hauptversammlung aus einer Gesamtanalogie zu Vorschriften des Aktien- und Umwandlungsgesetzes bei Strukturänderungen oder aus § 179 AktG die Notwendigkeit einer Drei-Viertel-Kapitalmehrheit forderte.251 Die herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur ließ hingegen die einfache Stimmenmehrheit des § 133 Abs. 1 AktG genügen.252 Auch der BGH schien dieser Ansicht zuzuneigen.
12.165
Der BGH hat schließlich in seinen Gelatine-Urteilen entschieden, dass die Hauptversammlung bei Eingreifen der Holzmüller-Grundsätze mit qualifizierter Mehrheit der Maßnahme zustimmen müsse. Dies gelte unabhängig davon, ob in der Satzung festgelegt sei, dass die einfache Mehrheit ausreicht, sofern Gesetz oder Satzung nicht ausdrücklich eine qualifizierte Mehrheit fordern.253 Die Auffassung des BGH ist insofern nicht stimmig, als die Maßnahme, mit der die Hauptversammlung befasst wird, immer Geschäftsführungsmaßnahme bleibt. Auch besteht ein Wertungswiderspruch zur freiwilligen Vorlage von Geschäftsführungsmaßnahmen durch den Vorstand nach § 119 Abs. 2 AktG, da insoweit unstreitig die einfache Stimmenmehrheit für den Hauptversammlungsbeschluss ausreicht. Es ist nicht ersichtlich, weshalb eine andere Stimmenmehrheit bei Geschäftsführungsmaßnahmen gelten soll, abhängig davon, ob der Vorstand nach der Holzmüller-Doktrin vorlegt oder nach § 119 Abs. 2 AktG. Aus Sicht der Aktionäre ist vielmehr entscheidend, dass die Hauptversammlung überhaupt beteiligt wird.
12.166
Die Praxis wird sich jedoch nach den Vorgaben des BGH richten müssen. Holzmüller-Beschlüsse kommen demnach nur dann wirksam zustande, wenn die Drei-Viertel-Mehrheit des vertretenen Grundkapitals erreicht wird. Der Vorstand wird deshalb im Vorfeld einer Holzmüller-Maßnahme eingehend prüfen müssen, ob das Erreichen der qualifizierten Mehrheit in der Hauptversammlung realistisch ist. Er wird die Hauptversammlung nur dann befassen, wenn er davon ausgeht, dass diese Mehrheit auch erreicht wird. Ansonsten drohen unnötige Kosten für die Vorbereitung der Maßnahme und die Durchführung der Hauptversammlung sowie ein erheblicher Ansehensverlust für die Gesellschaft, insbesondere für den Vorstand selbst, da der fehlende Rückhalt in der Hauptversammlung auf den Vorstand zurückfällt.
12.167
ff) Zeitpunkt der Befassung der Hauptversammlung Wird die Zustimmung der Hauptversammlung entgegen der hier vertretenen Auffassung aufgrund einer ungeschriebenen Hauptversammlungszuständigkeit für notwendig gehalten oder nach § 119 Abs. 2 AktG vom Vorstand gewünscht, gibt es verschiedene Möglichkeiten der zeitlichen Gestaltung. Die Hauptversammlung kann vorab dem generellen Konzept zur Veräußerung oder aber dem konkreten Unternehmenskaufvertrag vor oder nach Unterzeichnung zustimmen. Zudem ist es möglich, die Hauptversammlung erst nachträglich mit dem Unternehmensverkauf zu befassen und sich das Vorstandshandeln genehmigen zu lassen.
12.168
Die abstrakte Zustimmung der Hauptversammlung zu einer beabsichtigten Strukturmaßnahme ist nach der herrschenden Meinung in der Literatur zulässig.254 Dies gilt insbesonde-
12.169
251 Habersack in Emmerich/Habersack, 3. Aufl. 2003, vor § 311 AktG Rz. 45; Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 59. 252 OLG Karlsruhe v. 12.3.2002 – 8 U 295/00 – Deutsche Gelatine AG, AG 2003, 388. 253 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – Gelatine I, ZIP 2004, 993 (998) = AG 2004, 384; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 154/02 – Gelatine II, ZIP 2004, 1001 (1003). 254 LG Frankfurt v. 12.12.2000 – 3/5 O 149/99, AGIV AG, AG 2001, 431 (433); LG Hamburg v. 21.1.1997 – 402 O 122/96 – Wünsche AG, AG 1997, 238; Kubis in MünchKomm/AktG, § 119
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Kap. 12 Rz. 12.170
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
re unter Berücksichtigung der Siemens/Nold- und Adidas-Entscheidungen des BGH zum Bezugsrechtsausschluss beim genehmigten Kapital.255 Erforderlich ist jedoch eine hinreichende Konkretisierung des Konzepts.256 Das Konzept muss klar umrissen werden und damit die Aktionäre umfassend über die beabsichtigten Maßnahmen informieren. Hierunter fällt auch die Darstellung von etwaigen Handlungsalternativen und insbesondere auch das Aufzeigen von wirtschaftlichen Chancen und Risiken der vorgeschlagenen Maßnahme. Die Ermächtigung ist auf den Zeitraum bis zur nächsten Hauptversammlung zu beschränken.257
12.170 Sobald ein hinreichend konkretisierter Unternehmenskaufvertrag vorliegt, ist es jedoch nicht mehr möglich, abstrakt die Hauptversammlung mit dem Vorgang zu befassen und lediglich die Zustimmung zu einem Konzept zu verlangen. Vielmehr ist dann erforderlich, die Hauptversammlung mit dem konkreten Unternehmenskaufvertrag zu befassen. Der Vorstand kann die Zustimmung der Hauptversammlung zum Abschluss eines bestimmten Unternehmenskaufvertrages, also letztlich die Zustimmung zu einem Vertragsentwurf, einholen. Nachträgliche materielle Änderungen des Vertragsentwurfes vor Abschluss sind dann jedoch ausgeschlossen. Weiterhin ist eine nachträgliche Genehmigung durch die Hauptversammlung möglich. Hierbei geht der Vorstand allerdings das Risiko ein, dass diese nachträgliche Genehmigung versagt wird.
12.171 In der Praxis vorzugswürdig ist es daher, der Hauptversammlung den bereits abgeschlossenen Unternehmenskaufvertrag vorzulegen, der als eine der aufschiebenden Bedingungen (für das schuldrechtliche und das dingliche Rechtsgeschäft) die Zustimmung der Hauptversammlung enthält. Der Vorteil liegt darin, dass die Unternehmenskaufverhandlungen mit der erforderlichen Diskretion erfolgen können. Eine vor Abschluss des Vertrages einberufene Hauptversammlung wird häufig Erfolg versprechende Verhandlungen unmöglich machen. Der Vertragspartner wird sich allerdings im Regelfall auf eine solche Verfahrensweise nur dann einlassen, wenn ihm die Zustimmung der Hauptversammlung hinreichend wahrscheinlich erscheint. Möglich ist es zudem, statt einer aufschiebenden Bedingung einen Rücktrittsvorbehalt zu vereinbaren.
12.172 Gerade bei Sachverhalten, bei denen das Eingreifen der Holzmüller-Kriterien – sogar nach der Auffassung, die eine ungeschriebene Hauptversammlungskompetenz bei Transaktionen für denkbar hält – eher unwahrscheinlich ist, ist es empfehlenswert, die M&A-Transaktion ohne Hauptversammlungsbeschluss durchzuführen. Ein solches Vorgehen bietet sich insbesondere dann an, wenn einerseits die Maßnahme sehr eilbedürftig für die Aktiengesellschaft ist (beispielsweise bei Liquiditätsschwierigkeiten), andererseits aufgrund klarer Mehrheitsverhältnisse eine nachträgliche Genehmigung durch die Hauptversammlung aus der Sicht des Vorstands gesichert ist. Hierzu ist eine Abstimmung mit den Mehrheitsaktionären sinnvoll. In diesem Fall kann ein etwaiger Eingriff in die Zuständigkeit der Hauptversammlung durch die AktG Rz. 53; Priester, ZHR 163 (1999), 187 (198); Lutter/Leinekugel, ZIP 1998, 805; Mülbert in Großkomm/AktG, § 119 AktG Rz. 63; Schockenhoff, NZG 2001, 921 (925); Zeidler, NZG 1998, 91 (92). 255 BGH v. 23.6.1997 – II ZR 132/93 – Siemens/Nold II, BGHZ 136, 133 = AG 1997, 465; BGH v. 15.5.2000 – II ZR 359/98 – Adidas, BGHZ 144, 290 = GmbHR 2000, 870 = AG 2000, 475; so zu Recht auch Habersack in Emmerich/Habersack, vor § 311 AktG Rz. 51; Henze in FS Ulmer, S. 211 (231). 256 Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 99; Lutter/Leinekugel, ZIP 1998, 805 (815); Henze in FS Ulmer, S. 211 (234); Habersack in Emmerich/Habersack, vor § 311 AktG Rz. 51. 257 Henze in FS Ulmer, S. 211 (233); Lutter/Leinekugel, ZIP 1998, 805 (816); Tröger, ZIP 2001, 2029 (2041); Grunewald, AG 1990, 133 (136).
1072
Hölters/Hölters
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.175 Kap. 12
nachträgliche Genehmigung geheilt werden, einer etwaigen Abwehr- oder Beseitigungsklage eines Aktionärs wird auf diese Weise die Grundlage entzogen.258 3. Freiwillige Befassung der Hauptversammlung a) Haftungsvermeidende Wirkung Nach § 119 Abs. 2 AktG hat der Vorstand die Möglichkeit, die Hauptversammlung mit Geschäftsführungsmaßnahmen zu befassen. Ein entsprechender Beschluss der Hauptversammlung bindet den Vorstand, der ihn umzusetzen hat.259
12.173
Nach der hier vertretenen Auffassung besteht sowohl bei Veräußerungs- als auch Erwerbsvorgängen keine Verpflichtung, eine Zustimmung der Hauptversammlung einzuholen. Möglich ist jedoch die freiwillige Befassung der Hauptversammlung bei Unternehmenstransaktionen. Eine freiwillige Vorlage an die Hauptversammlung bei Unternehmenstransaktionen ist, selbst wenn auch diese äußerst selten ist, noch die in der Praxis am ehesten relevante Fallgestaltung.260 M&A-Transaktionen bergen für die veräußernde und erwerbende Aktiengesellschaft Haftungsrisiken, die mittelbar auf den Vorstand durchschlagen. Will der Vorstand eine riskante Transaktion vornehmen, drohen für den Fall des Scheiterns Ersatzpflichten. Die Entlastung durch die Hauptversammlung nach § 120 AktG hilft dem Vorstand nicht, da diese nur eine generelle Billigung des Vorstandshandelns darstellt und keine Befreiung von etwaigen Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft umfasst (§ 120 Abs. 2 Satz 2 AktG). Die Billigung des Aufsichtsrats führt ebenfalls nicht zu einem Erlöschen der Ersatzpflichten (§ 93 Abs. 4 Satz 2 AktG). Sofern der Vorstand mögliche Schadensersatzpflichten bereits im Vorfeld ausschalten will, muss er demnach vor Durchführung der Maßnahme einen Beschluss der Hauptversammlung einholen (§ 93 Abs. 4 Satz 1 AktG). Sofern der Vorstand die Hauptversammlung ordnungsgemäß und umfassend über die Geschäftsführungsmaßnahme und deren Risiken informiert hat, kann er sich von der Ersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft freizeichnen. Die Vorlage einer riskanten M&A-Transaktion ist demnach ein legitimes Mittel des Vorstands zur Vermeidung des eigenen Haftungsrisikos.
12.174
b) Zeitliche Strukturierung Bei einer freiwilligen Vorlage an die Hauptversammlung bestehen die für Holzmüller-Fälle dargestellten zeitlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Auch hier ist eine Befassung vorab mit einem hinreichend konkretisierten Konzept möglich.261 Ebenfalls möglich ist die Befassung der Hauptversammlung mit einem Vertragsentwurf oder aber mit dem bereits abgeschlossenen Unternehmenskaufvertrag, der aufschiebend bedingt durch die Zustimmung der Hauptversammlung ist.262 Auch eine nachträgliche Genehmigung durch die Hauptversammlung ist denkbar, wenn einer etwaigen Abwehr- oder Beseitigungsklage vorsorglich entgegengewirkt werden soll, obwohl ersichtlich nach der Holzmüller-Doktrin keine Kompetenz der Hauptversammlung besteht. Die Befassung der Hauptversammlung mit dem bereits abgeschlossenen
258 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 – Holzmüller, BGHZ 83, 122 (133) = AG 1982, 158 = MDR 1982, 554; Habersack in Emmerich/Habersack, vor § 311 AktG Rz. 51. 259 Mülbert in Großkomm/AktG, § 119 AktG Rz. 54. 260 Vgl. hierzu auch die empirische Untersuchung von Bernhardt, DB 2000, 1873. 261 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 224. 262 Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 53.
Hölters/Hölters
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12.175
Kap. 12 Rz. 12.176
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
Unternehmenskaufvertrag, der als eine der aufschiebenden Bedingungen die Zustimmung der Hauptversammlung enthält, ist die in der Praxis vorzugswürdige Möglichkeit.263 c) Mehrheitserfordernisse bei freiwilliger Vorlage
12.176 Bei der Befassung der Hauptversammlung mit Geschäftsführungsmaßnahmen nach § 119 Abs. 2 AktG verbleibt es bei der allgemeinen Regelung, dass die Hauptversammlung mit der einfachen Stimmenmehrheit des § 133 Abs. 1 AktG dem Antrag der Verwaltung zustimmen muss, sofern in der Satzung keine strengeren Anforderungen festgelegt sind.264 Etwas anderes gilt jedoch, falls eine Geschäftsführungsmaßnahme der Zustimmung des Aufsichtsrats bedarf und der Aufsichtsrat die Zustimmung verweigert. In diesem Fall kann der Vorstand, wenn er die Maßnahme trotzdem durchführen will, die Hauptversammlung mit dem Vorgang befassen und durch einen zustimmenden Hauptversammlungsbeschluss die Zustimmung des Aufsichtsrats ersetzen. Der Beschluss bedarf dann einer qualifizierten Mehrheit von mindestens drei Viertel der abgegebenen Stimmen (§ 111 Abs. 4 Satz 4 AktG). In der Praxis ist eine solche Konstellation jedoch überaus selten. d) Informations- und Auslegungspflichten
12.177 Für die Informations- und Auslegungspflichten bei einer freiwilligen Befassung der Hauptversammlung gilt nichts anderes als bei Hauptversammlungen, bei denen die Voraussetzungen für einen Holzmüller-Beschluss gegeben sind. Der Hauptversammlung sind demnach die Informationen zu geben, die diese für eine sachgerechte Willensbildung benötigt. Der Auffassung in der Literatur, dass der Inhalt eines Unternehmenskaufvertrages dann nicht bekannt gemacht werden muss, wenn die Hauptversammlung freiwillig befasst wird,265 ist der BGH in seiner Altana/Milupa-Entscheidung ausdrücklich entgegengetreten.266 Holzmüller-Beschlüsse und freiwillige Vorlagen sind deshalb identisch zu handhaben.267 e) Folgen von Anfechtungsklagen
12.178 Auch bei einer freiwilligen Vorlage eines Unternehmenskaufvertrages an die Hauptversammlung gilt hinsichtlich einer gegen den von dieser Hauptversammlung gefassten Beschluss erhobenen Anfechtungsklage nichts anderes als bei Holzmüller-Beschlüssen (vgl. hierzu nachfolgend Rz. 12.210 ff.).
263 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 224. 264 Hoffmann in Spindler/Stilz, § 119 AktG Rz. 16. 265 Mülbert in Großkomm/AktG, § 119 AktG Rz. 51; Tröger, ZHR 165 (2001), 593 (597); Groß, AG 1996, 111 (115). 266 BGH v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 – Altana/Milupa, BGHZ 146, 288 = AG 2001, 261. 267 OLG Frankfurt v. 23.3.1999 – 5 U 193/97, AG 1999, 378 (380); OLG München v. 26.4.1996 – 23 U 4586/96, AG 1996, 327; Schockenhoff, NZG 2001, 921 (922); Werner in FS Fleck, S. 401 (412); Lutter in FS Fleck, S. 169 (176).
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Hölters/Hölters
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.183 Kap. 12
V. „Holzmüller-Hauptversammlung“ 1. Einberufungsverfahren a) Information der Aktionäre Neben den allgemeinen Pflichtangaben sind bei einer M&A-Hauptversammlung, die – folgt man der Auffassung, die eine ungeschriebene Hauptversammlungskompetenz bejaht – aufgrund der Holzmüller-Doktrin einberufen wird, noch weitere Angaben zwingend erforderlich. Ausgangspunkt sind die kontrovers diskutierten Informationsrechte der Hauptversammlung bei Holzmüller-Beschlüssen. So ist insbesondere umstritten,
12.179
– ob der Unternehmenskaufvertrag, dem die Hauptversammlung zustimmen soll, in seinem vollen Wortlaut auszulegen ist; – ob ein Bericht des Vorstands an die Hauptversammlung notwendig ist, dessen wesentlicher Inhalt in der Hauptversammlungseinladung aufzunehmen ist; – ob noch weitere Unterlagen, beispielsweise die Bilanzen der beteiligten Gesellschaften, insbesondere des Targets, auszulegen sind. In der Hauptversammlungseinladung wird in der Praxis genau aufgeführt, welche Unterla- 12.180 gen ab dem Zeitpunkt der Einberufung bei der Gesellschaft ausliegen und auf Verlangen den Aktionären übersandt werden. Diese sind gegebenenfalls alsbald nach Einberufung der Hauptversammlung über die Internetseite der Gesellschaft (§ 124a AktG) sowie auch in der Hauptversammlung zugänglich. Deshalb ist die Frage der Reichweite der Informationsrechte der Hauptversammlung bereits für den Einladungstext von entscheidender Bedeutung. Für die Praxis überaus relevant ist, dass eine Vertraulichkeitsvereinbarung zwischen der Aktiengesellschaft und der anderen Vertragspartei des Unternehmenskaufvertrages nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Literatur keine Einschränkung der Informationsrechte der Hauptversammlung zur Folge hat.268 Ansonsten läge es in der Hand des Vorstands, aufgrund individueller Vereinbarungen Informationsrechte der Aktionäre zu beschneiden.
12.181
Die Reichweite der Informationsrechte der Hauptversammlung bei Holzmüller-Beschlüs- 12.182 sen ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Ursache für den Streit ist die unterschiedliche dogmatische Herleitung der Hauptversammlungskompetenz. Folgt man der vereinzelt in der Literatur vertretenen Gesamtanalogie, so ergeben sich daraus folgerichtig erhebliche Informationsrechte. Dann ist es zumindest vertretbar, dass auch sämtliche Informationspflichten aus den zur Gesamtanalogie herangezogenen Vorschriften erfüllt werden müssen. Folgt man der insbesondere vom BGH vertretenen Herleitung aus einer einzelfallbezogenen Analogie, so sind die Informationsrechte klarer bestimmbar, da aus der für den jeweiligen Einzelfall einschlägigen Regelung die Reichweite der Informationsrechte hergeleitet werden kann.269 b) Bekanntmachung des wesentlichen Vertragsinhalts Soll die Hauptversammlung über einen Vertrag beschließen, der nur mit ihrer Zustimmung wirksam wird, so ist nach § 124 Abs. 2 Satz 3 AktG der wesentliche Inhalt des Vertrages bekannt zu machen. Die Vorschrift zielt auf Verträge ab, die aufgrund gesetzlicher Regelungen, 268 BGH v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 – Altana/Milupa, BGHZ 146, 288 (297) = AG 2001, 261; OLG München v. 26.4.1996 – 23 U 4586/96, AG 1996, 327. 269 BGH v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 – Altana/Milupa, BGHZ 146, 288 (295) = AG 2001, 261.
Hölters/Hölters
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12.183
Kap. 12 Rz. 12.184
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
insbesondere nach dem Umwandlungs- oder Aktiengesetz, zwingend der Zustimmung der Hauptversammlung bedürfen. Insoweit war in der Literatur lange umstritten, ob bei Verträgen, die aufgrund vertraglicher Bestimmungen nur mit Zustimmung der Hauptversammlung wirksam werden, ebenfalls der wesentliche Vertragsinhalt in der Einberufung bekannt zu machen ist.270 Auch bei Holzmüller-Entscheidungen war unklar, ob in der Hauptversammlungseinladung der wesentliche Vertragsinhalt wiederzugeben ist.271 Für die Praxis hat der BGH schließlich in seiner Altana/Milupa-Entscheidung klare Vorgaben gegeben.272
12.184 Ausgangspunkt der Rechtsprechung des BGH und der überwiegenden Meinung in der Literatur ist, dass bei einer Befassung der Hauptversammlung mit Geschäftsführungsmaßnahmen der Vorstand der Hauptversammlung die Informationen geben muss, die sie für eine sachgerechte Willensbildung benötigt.273 Daraus folgt, dass zumindest Informationen über den wesentlichen Vertragsinhalt gegeben werden müssen. Zudem bedarf es stets einer Prüfung im Einzelfall, ob auch ein Recht der Aktionäre zur Einsichtnahme in den vollen Vertragswortlaut besteht.274
12.185 Der Altana/Milupa-Entscheidung des BGH lag ein für die Praxis typischer Sachverhalt zugrunde. Der Vorstand der Altana AG hatte seine Hauptversammlung mit der Veräußerung einer bedeutenden Tochtergesellschaft befasst, ohne den Unternehmenskaufvertrag offen zu legen. Der BGH nutzte in seiner Entscheidung die Möglichkeit, die Vorlagepflicht dogmatisch eindeutig herzuleiten, und bejahte eine Einzelanalogie aus § 119 Abs. 2 AktG i.V.m. § 179a Abs. 2 AktG.275 Er stellte ausdrücklich fest, dass eine Pflicht zur Bekanntmachung des wesentlichen Inhalts eines Unternehmenskaufvertrages zumindest dann besteht, wenn sich der Vorstand des Einverständnisses der Hauptversammlung zum Vertragsschluss versichern will oder wenn er den Vertrag unter der Bedingung der Zustimmung (§ 158 BGB) oder unter dem Vorbehalt der Genehmigung (§ 184 BGB) der Hauptversammlung geschlossen hat. Ebenso wie das Vorliegen einer Bedingung bewertet der BGH einen vereinbarten Rücktrittsvorbehalt.276
12.186 Als wesentlicher Inhalt des Vertrages sind alle Regelungen anzusehen, von denen ein verständiger Aktionär seine Entscheidung abhängig machen würde.277 Neben dem Konzept sind die grundlegenden Rahmenbedingungen und die Essentialia der Vertragsvereinbarungen bekannt zu machen. Auf eigene Bewertungen sollte bei der Wiedergabe des wesentlichen Inhaltes verzichtet werden. Die Beschreibung der Vertragsregelungen reicht aus.278 Bei der Beurteilung, 270 Dafür Kubis in MünchKomm/AktG, § 124 AktG Rz. 18; Werner in Großkomm/AktG, § 124 AktG Rz. 49; dagegen Noack/Zetzsche in KölnKomm/AktG, § 124 AktG Rz. 25. 271 Bejahend OLG München v. 10.11.1994 – 24 U 1036/93 – EKATIT/Riedinger Verwaltungs-AG, AG 1995, 232 (233); LG Frankfurt v. 12.12.2000 – 3/5 O 144/99, AGIV AG, AG 2001, 431 (432); Hölters/Drinhausen, § 124 AktG Rz. 11; Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 54; verneinend Drinkuth, AG 2001, 256 (258). 272 BGH v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 – Altana/Milupa, BGHZ 146, 288 (294); hierzu Schockenhoff, NZG 2001, 921; Drinkuth, AG 2001, 256. 273 BGH v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 – Altana/Milupa, BGHZ 146, 288 (294) = AG 2001, 261; Hölters/Drinhausen, § 124 AktG Rz. 12. 274 BGH v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 – Altana/Milupa, BGHZ 146, 288 (295) = AG 2001, 261. 275 BGH v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 – Altana/Milupa, BGHZ 146, 288 (291) = AG 2001, 261. 276 BGH v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 – Altana/Milupa, BGHZ 146, 288 (294) = AG 2001, 261. 277 OLG München v. 10.11.1994 – 24 U 1036/93 – EKATIT/Riedinger Verwaltungs-AG, AG 1995, 232 f.; Werner in Großkomm/AktG, § 124 AktG Rz. 50. 278 LG Köln v. 16.12.1998 – 91 O 81/98 – Kaufhalle/Kaufhof, AG 1999, 333 (334).
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Hölters/Hölters
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.190 Kap. 12
welche Informationen preisgegeben werden, sollte stets beachtet werden, dass die Bekanntmachung im öffentlich zugänglichen Bundesanzeiger zu erfolgen hat. c) Vorlage des Unternehmenskaufvertrages Keine genaue Anleitung gibt der BGH in der Altana/Milupa-Entscheidung, ob bei M&ATransaktionen immer der Unternehmenskaufvertrag in seinem vollständigen Wortlaut ausgelegt werden muss. Im entschiedenen Fall war das gesamte Vermögen der Tochtergesellschaft betroffen, so dass eine Analogie zu § 179a AktG nahe lag und somit eine Auslegungspflicht für den gesamten Vertrag bejaht wurde. Ob dies jedoch bei Holzmüller-Fällen außerhalb des Anwendungsbereichs von § 179a AktG grundsätzlich zu bejahen ist, ist zweifelhaft.279 In der Praxis sollte der Unternehmenskaufvertrag in seinem vollen Wortlaut nur in absoluten Ausnahmefällen vorgelegt werden. Nur unter ganz besonderen Umständen des Einzelfalles kann im Wege der Einzelanalogie eine Vorlagepflicht für den vollständigen Wortlaut begründet sein, beispielsweise in Fällen – vergleichbar der Altana/Milupa-Entscheidung – in denen das gesamte Vermögen der Tochtergesellschaft betroffen war. Abgesehen von diesen absoluten Ausnahmefällen reicht es aus, die wesentlichen Regelungen des Unternehmenskaufvertrages auszulegen. Von einer Veröffentlichung des vollständigen Wortlauts über die Internetseite der Gesellschaft (§ 124a AktG) sollte stets abgesehen werden.
12.187
Eine großzügigere Vorlagepflicht würde erhebliche Risiken für die angedachte Transaktion zur Folge haben. Zu denken ist an große Aktiengesellschaften mit einem sehr großen Aktionärskreis. Nur eine Aktie genügt, um Anspruch auf Preisgabe zahlreicher vertraulicher Details über die bevorstehende Transaktion zu haben. Diese Informationen könnten aufgrund des großen Kreises der Aktionäre schnell in der Öffentlichkeit verbreitet werden. Dies würde noch größere Dimensionen annehmen, würde der vollständige Wortlaut des Unternehmenskaufvertrages sogar über die Internetseite der Gesellschaft zugänglich sein.
12.188
Sollte ausnahmsweise der vollständige Wortlaut ausgelegt werden, so ist es dringend anzuraten, einzelne Angaben im Vertrag, beispielsweise eine Liste von Arbeitnehmern, bei denen die Gehälter angegeben werden, aus Datenschutzgründen zu schwärzen.280
12.189
d) Information über weitere Verträge Im Einzelfall können sich noch weitere praktische Probleme bei der Bekanntmachung des wesentlichen Inhalts eines Vertrages bzw. der Auslegung ergeben. So muss im Einzelfall geprüft werden, ob auch andere Verträge ihrem wesentlichen Inhalt nach mitzuteilen und gegebenenfalls auszulegen sind, da die Aktionäre anderenfalls die Bedeutung des ihnen zur Beschlussfassung vorgelegten Vertrages nicht zutreffend erfassen können.281 Sofern beispielsweise wesentliche Regelungen im Zusammenhang mit dem Unternehmenskaufvertrag in anderen Verträgen und Dokumenten geregelt sind, müssen diese wesentlichen Regelungen
279 Dafür OLG Frankfurt v. 23.3.1999 – 5 U 193/97, AG 1999, 378 f.; LG Frankfurt v. 29.7.1997 – 3/5 ZR 162/95, NZG 1998, 113; Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 56; Krieger in MünchHdb/AG, § 69 Rz. 14; Reichert, ZHR-Sonderheft 68 (1999), 25 (60); Schockenhoff, NZG 2001, 921 (923); dagegen Bungert, NZG 1998, 367 (370); kritisch Zeidler, NZG 1998, 91 (93). 280 Vgl. zum Datenschutz beim Unternehmenskauf Körbers, NZG 2002, 263 (267). 281 BGH v. 16.11.1981 – II ZR 150/80 – Hoesch/Hoogovens, BGHZ 82, 188 = AG 1982, 129 = MDR 1982, 383; zustimmend Werner in Großkomm/AktG, § 124 AktG Rz. 52.
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12.190
Kap. 12 Rz. 12.191
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
ebenfalls offen gelegt werden, da anderenfalls die Hauptversammlung nicht im Sinne der Rechtsprechung des BGH umfassend informiert wird. e) Sprache
12.191 Sollten Verträge ausnahmsweise vorzulegen sein, so sind diese unbedingt in deutscher Sprache auszulegen. Bei fremdsprachigen Verträgen ist deshalb zusätzlich zu dem Originalvertrag auch eine beglaubigte Übersetzung auszulegen.282 Entsprechendes gilt für die Auslegung fremdsprachiger Gutachten.283 f) Bekanntmachung des wesentlichen Inhalts von Konzepten
12.192 Bei der Vorlage eines Konzeptes als Basis einer M&A-Transaktion ist es nach herrschender Auffassung in der Literatur notwendig, das Unternehmenskonzept und die wesentlichen zu seiner Verwirklichung erforderlichen Einzelschritte analog § 124 Abs. 2 Satz 3 AktG in der Einladung zur Hauptversammlung darzustellen.284 Dies gilt auch dann, wenn die Umsetzung des Konzeptes durch einen Vertrag erfolgt. g) Holzmüller-Bericht
12.193 Schwerpunkt der Vorbereitung einer Holzmüller-Hauptversammlung ist in der Praxis häufig die Erstellung eines detaillierten Berichts über die zur Zustimmung vorgelegte Maßnahme. In diesem sog. Holzmüller-Bericht werden die beteiligten Unternehmen, die Maßnahme als solche, deren Begründung, Durchführung sowie Auswirkungen sowie Preis bzw. Gegenleistung ausführlich erläutert. Im Rahmen dieser Grobstrukturierung wird insbesondere dargelegt, welche Risiken und Chancen für die Aktiengesellschaft aufgrund des von der Verwaltung vorgeschlagenen Vorgehens bestehen sowie welche Handlungsalternativen, wiederum unter Darstellung ihrer Risiken und Möglichkeiten, bestehen. Der Bericht stellt eine sehr wesentliche Informationsquelle der Aktionäre zur Vorbereitung auf die Hauptversammlung dar. Der Holzmüller-Bericht muss sorgfältig erarbeitet werden.285
12.194 Ob eine Pflicht des Vorstands zur Erstellung eines Holzmüller-Berichts besteht, ist umstritten. Nach überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur ist die Erstellung des Holzmüller-Berichts zur Vorbereitung der Hauptversammlung erforderlich.286 Insbesondere in der Literatur wird hierbei oftmals auf eine Gesamtanalogie zu aktienrechtlichen Vorschriften, insbesondere zu den §§ 186 Abs. 4, 293a AktG sowie zu § 127 UmwG verwiesen.
282 LG München v. 3.5.2001 – 5 HK O 23950/00 – Direkt Anlage Bank/Self Trade, ZIP 2001, 1148 (1150); Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 58. 283 OLG Dresden v. 23.4.2003 – 18 U 1976/02 – Valarte Group AG, AG 2003, 433. 284 Groß, AG 1996, 111 (114); Henze in FS Ulmer, S. 211 (234). 285 Groß, AG 1996, 111 (113); Lutter/Leinekugel, ZIP 1998, 805 (814). 286 OLG Frankfurt v. 23.3.1999 – 5 U 193/97 – Altana/Milupa, AG 1999, 378 (379); LG Frankfurt/M. v. 29.7.1997 – 3/5 O 162/95 – Altana/Milupa, AG 1998, 45; LG Frankfurt/M. v. 12.12.2000 – 3/5 O 144/99, AGIV AG, AG 2001, 431 (437); LG Karlsruhe v. 6.11.1997 – O 43/97 KfH I, AG 1998, 99; Tröger, ZHR 2001, 593 (597); Groß, AG 1996, 111 (115); Lutter/Leinekugel, ZIP 1998, 805 (814); Habersack in Emmerich/Habersack, vor § 311 AktG Rz. 52.
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Hölters/Hölters
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.197 Kap. 12
Danach sind die Eckpunkte des Holzmüller-Berichts zudem in der Hauptversammlungseinladung anzugeben.287 Nach anderer Auffassung in Rechtsprechung und Literatur bedarf es jedoch keines schriftli- 12.195 chen Vorstandsberichts bei Holzmüller-Beschlüssen.288 Der BGH hat in seiner Altana/Milupa-Entscheidung hierzu nicht Stellung genommen. An der entscheidenden Stelle des Urteils heißt es nur, dass „mindestens“ die Information der Hauptversammlung durch Darstellung des wesentlichen Vertragsinhalts Voraussetzung eines wirksamen Beschlusses ist.289 Folgerichtig ist dann, bei Zugrundelegung einer Einzelanalogie zu § 179a AktG die Notwendigkeit eines Holzmüller-Berichts zu verneinen. In § 124 Abs. 2 Satz 3 AktG wird nur die Wiedergabe des wesentlichen Inhalts des Vertrages, nicht jedoch eine darüber hinausgehende Erläuterung gefordert. Zudem spricht gegen die Berichtspflicht, dass die zugrunde liegende Maßnahme auch bei Einbeziehung der Hauptversammlung allenfalls satzungsnaher Art ist. Zu § 179 AktG wird für eine Satzungsänderung gleichfalls keine Berichtspflicht verlangt. h) Weitere Unterlagen, insbesondere Bilanzen Weitere Unterlagen, wie insbesondere Bilanzen der beteiligten Gesellschaften, insbesondere des Targets, sind – so auch die herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur290 – bei Holzmüller-Beschlüssen nicht auszulegen. Die Vorlage der Bilanzen der beteiligten Rechtsträger ist bei Strukturmaßnahmen, wie beispielsweise bei Verschmelzungen nach dem Umwandlungsgesetz oder in Bezug auf die Tochtergesellschaft bei einem Squeeze-out, gesetzlich vorgesehen. Der BGH hat jedoch in der Altana/Milupa-Entscheidung und in den Gelatine-Urteilen zu Recht der in der Literatur vertretenen Ansicht, Informationspflichten bei Holzmüller-Fällen aus einer Gesamtanalogie herleiten zu wollen, eine klare Absage erteilt.
12.196
In diesem Zusammenhang sind der Sachverhalt und die Entscheidungsgründe einer nicht veröffentlichten Entscheidung des LG Bielefeld zu einer M&A-Hauptversammlung besonders anschaulich.291 Der Fall betraf die Zustimmung einer Hauptversammlung zur Veräußerung der „Konzernperle“. Der klagende Aktionär hatte seine Anfechtungsklage u.a. darauf gestützt, dass der Vorstand der Gesellschaft in der Hauptversammlung nicht, wie von einem anderen Aktionär gefordert, zwölf Bilanzen der beteiligten Unternehmen nebst der Planzahlen für die folgenden Geschäftsjahre vorgelesen hatte. Das Gericht stellte zu Recht fest, dass diese Bilanzen weder im Vorfeld noch in der Hauptversammlung auszulegen und auch nicht in der Hauptversammlung zu verlesen waren. Der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt veranschaulicht jedoch, mit welchen Einwänden Aktiengesellschaften bei M&A-Hauptversammlungen insbesondere von Seiten sog. Berufsopponenten zu rechnen haben.
12.197
287 OLG München v. 10.11.1994 – 24 U 1036/93 – EKATIT/Riedinger Verwaltungs-AG, AG 1995, 232; Groß, AG 1996, 111 (113). 288 OLG München v. 14.2.2001 – 7 U 6019/99 – Ingram Macrotron AG, AG 2001, 364 (366); LG Hamburg v. 21.1.1997 – 402 O 122/96 – Wünsche AG, AG 1997, 238; LG Hamm v. 21.1.1997 – 402 O 112/96, AG 1997, 238; Kort, ZIP 2002, 685 (687); Wilde, ZGR 1998, 423 (451); Priester, ZHR 163 (1999), 187 (201); differenzierend nach Beschlussgegenständen, wonach nur bei Konzeptbeschluss Berichtspflicht besteht, nicht hingegen bei Vertrag Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 55; Weißhaupt, AG 2004, 585 (589 f.). 289 BGH v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 – Altana/Milupa, BGHZ 146, 288 (294) = AG 2001, 261. 290 LG Bielefeld v. 28.8.2003 – 13 O 102/02 (n.v.); Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 55; a.A. LG Karlsruhe v. 6.11.1997 – O 43/97 KfH I, AG 1998, 99. 291 LG Bielefeld v. 28.8.2003 – 13 O 102/02 (n.v.).
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Kap. 12 Rz. 12.198
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
i) Zusammenfassung
12.198 Bei einer M&A-Hauptversammlung, die aufgrund der Holzmüller-Doktrin mit der Zustimmung zu einem bestimmten Unternehmenskaufvertrag befasst wird, sind zumindest vorsorglich die folgenden zusätzlichen Angaben in die Hauptversammlungseinladung aufzunehmen: – Bekanntmachung des wesentlichen Inhalts des Unternehmenskaufvertrages; – Hinweis auf die Auslage des wesentlichen Inhalts des Unternehmenskaufvertrages in den Geschäftsräumen der Gesellschaft und in der Hauptversammlung sowie auf die Möglichkeit der Aktionäre, auf Verlangen eine Abschrift der Unterlagen zu erhalten.
12.199 Ein Beschlussvorschlag für die Hauptversammlung mit Erläuterungen könnte deshalb wie folgt lauten: „Die Gesellschaft hat am 15. Oktober 2014 einen Vertrag mit der Müller & Mayer AG geschlossen, mit dem sämtliche von der Gesellschaft bislang allein gehaltenen Geschäftsanteile an der XYZ GmbH gegen Zahlung eines Kaufpreises von 100 Mio. Euro verkauft worden sind. Der Unternehmenskaufvertrag sieht ein bis zum 31. Dezember 2014 befristetes Rücktrittsrecht für die Gesellschaft vor, sofern die Hauptversammlung der Gesellschaft dem Vertrag nicht zustimmen sollte. Der Vertrag sieht im Wesentlichen vor … Vorstand und Aufsichtsrat schlagen vor, dem am 15. Oktober 2014 mit der Müller & Meyer AG geschlossenen Unternehmenskaufvertrag zuzustimmen. Der wesentliche Inhalt des Unternehmenskaufvertrages liegt von der Einberufung der Hauptversammlung an in den Geschäftsräumen der Gesellschaft aus und wird auch in der Hauptversammlung zugänglich gemacht. Auf Verlangen erhält jeder Aktionär eine Kopie des wesentlichen Inhalts zugesandt.“
2. Durchführung einer M&A-Hauptversammlung a) Vorbereitung und Eröffnung
12.200 Die Durchführung einer M&A-Hauptversammlung unterscheidet sich nur unwesentlich von einer sonstigen Hauptversammlung. Entscheidend sind die stringente Durchführung der üblichen Vorbereitungshandlungen, wie die Erstellung des Teilnehmerverzeichnisses nach Ablauf der Anmeldefrist, die notwendigen Abstimmungen mit dem beurkundenden Notar oder die Sicherstellung der technischen Voraussetzungen, insbesondere die Tonübertragung im gesamten Präsenzbereich. Auch die Ordnungsgemäßheit der Ein- und Ausgangskontrolle ist sicherzustellen.
12.201 Nach der Eröffnung der Hauptversammlung durch den Versammlungsleiter und dem Verlesen der Formalia wird auch bei einer M&A-Hauptversammlung üblicherweise dem Vorstandsvorsitzenden oder -sprecher das Wort erteilt. Der Vorstand sollte zu Beginn der Hauptversammlung die Transaktion generell und den Unternehmenskaufvertrag im Speziellen mündlich darlegen und erläutern. Hauptzweck der Rede des Vorstands ist, einige der zu erwartenden Fragen der Aktionäre bereits zu beantworten und zudem für eine positive Grundstimmung bei den Aktionären zu sorgen, indem die wesentlichen Vorteile der beabsichtigten Maßnahme hervorgehoben werden.
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Hölters/Hölters
D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.206 Kap. 12
b) Auskunftsrechte der Aktionäre Die Aktionäre haben in der Hauptversammlung ein umfassendes Recht auf Auskunft, soweit dies zur sachgemäßen Beurteilung der Gegenstände der Tagesordnung erforderlich ist (§ 131 Abs. 1 AktG). Die Fragen sind vom Vorstand zu beantworten. Die Auskünfte sind grundsätzlich mündlich zu erteilen. Der Aktionär hat keinen Anspruch auf Vorlage von Unterlagen und auf Einsichtnahme in Bücher.292
12.202
Bereits im Vorfeld der Hauptversammlung muss sich der Vorstand entscheiden, ob er seiner Verpflichtung zur Auskunftserteilung mit oder ohne Unterstützung von Dritten nachkommen will. Die Entscheidung wird von Faktoren wie der Größe und der Unternehmensstruktur der Gesellschaft, der zu erwarteten Fragen und der Anzahl der kritischen Aktionäre abhängig sein. Nach den gleichen Kriterien entscheidet sich auch, ob sich der Vorstand allein von unternehmensinternen Experten aus der zweiten Führungsebene oder auch von externen Beratern wie Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern unterstützen lässt. Das Beratungsteam bildet dann während der Hauptversammlung das „Back Office“, in dem die zulässig gestellten Fragen beantwortet und an den Vorstand weitergeleitet werden.
12.203
Die Möglichkeit von Aktionären, Fragen zu einem Tagesordnungspunkt zu stellen, der die Zu- 12.204 stimmung zu einem Unternehmenskaufvertrag zum Inhalt hat, sind mannigfaltig. Zur sachgemäßen Beurteilung des Gegenstands der Tagesordnung sind beispielsweise Informationen über die Bemessung der in dem Unternehmenskaufvertrag vereinbarten Preise erforderlich.293 Angesichts der Bedeutung der Transaktion für die Aktiengesellschaft, die allein aus der Vorlage an die Hauptversammlung ersichtlich ist, sind die unterschiedlichsten Fragenbereiche vorstellbar. Einen Schwerpunkt bilden in der Praxis überwiegend Bewertungsfragen des Targets, aber auch Fragen zu Risiken der beabsichtigten Maßnahme und insbesondere zu Handlungsalternativen. Zudem muss sich der Vorstand der Gesellschaft darauf einstellen, dass eine Vielzahl von Detailfragen zu den im Vorfeld ausgelegten Unterlagen gestellt werden. c) Auskunftsverweigerungsrechte der Gesellschaft In § 131 Abs. 3 AktG sind einige Fälle aufgeführt, in denen der Vorstand die Auskunft ver- 12.205 weigern darf. Der Vorstand sollte sich jedoch vorab Rechtsrat eines auf das Aktienrecht spezialisierten Juristen einholen, bevor er von diesem Recht Gebrauch macht. In der Praxis von M&A-Hauptversammlungen sind Auskunftsverweigerungsrechte nur selten relevant. Gerade bei Holzmüller-Beschlüssen wird ein hohes Informationsbedürfnis der Aktionäre anzunehmen sein, da es sich um eine wesentliche Transaktion handelt, die in die Rechte der Aktionäre eingreift.294 Auch bei Geheimhaltungsabreden mit der anderen Partei des Unternehmenskaufvertrages werden Auskunftsverweigerungsrechte im Regelfall nicht vorliegen. Anderenfalls könnte der Vorstand durch die Aufnahme von Vertraulichkeitsvereinbarungen im Unternehmenskaufvertrag über die Auskunftsrechte der Aktionäre disponieren.295 292 BGH v. 5.4.1993 – II ZR 238/91, BGHZ 122, 211 (236) = AG 1993, 422 = MDR 1993, 745 = GmbHR 1993, 446. 293 OLG Dresden v. 23.4.2003 – 18 U 1976/02 – Valarte Group AG, AG 2003, 433 (434). 294 OLG München v. 26.4.1996 – 23 U 4586/96, AG 1996, 327; Weißhaupt, NZG 1999, 804 (808). 295 BGH v. 15.1.2001 – II ZR 124/99 – Altana/Milupa, BGHZ 146, 288 (297) = AG 2001, 261; OLG München v. 26.4.1996 – 23 U 4586/96, AG 1996, 327; LG Koblenz v. 23.7.2003 – 3 HO 100/01, DB 2003, 2766; Kubis in MünchKomm/AktG, § 131 AktG Rz. 112.
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12.206
Kap. 12 Rz. 12.207
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
12.207 Etwaige Auskunftsverweigerungsrechte bei einer M&A-Hauptversammlung sind unter Beachtung der aufgeführten restriktiven Vorgaben abhängig vom Einzelfall. Bei erheblichen sachlichen Gründen kann eine Auskunft verweigert werden.296 Wird beispielsweise Auskunft über den technischen Sachstand der Forschungstätigkeit beim Target verlangt, ist wie in anderen Fällen, bei denen der Geheimnisverlust zu erheblichen wirtschaftlichen Schäden für die betroffene Aktiengesellschaft führen kann, ein Auskunftsverweigerungsrecht zu bejahen.297
12.208 Verweigert der Vorstand die Auskunft zu einer Frage, so kann der Aktionär verlangen, dass seine Frage und der Grund, aus dem die Auskunft verweigert worden ist, in das Protokoll aufgenommen werden (§ 131 Abs. 5 AktG). Der Aktionär hat dann die Möglichkeit, ein Auskunftserzwingungsverfahren einzuleiten (§ 132 AktG). Antragsberechtigt ist neben dem Aktionär, dem die Auskunft verweigert worden ist, jeder in der Hauptversammlung erschienene Aktionär, wenn über den Tagesordnungspunkt, auf den sich die Frage bezog, Beschluss gefasst worden ist und er Widerspruch zur Niederschrift erklärt hat. Im Rahmen dieses Verfahrens entscheidet auf Antrag des Aktionärs das LG am Sitz der Gesellschaft298 darüber, ob der Vorstand die Auskunft erteilen muss. Der Antrag ist innerhalb von zwei Wochen nach der Hauptversammlung zu stellen. Wird die Aktiengesellschaft antragsgemäß verurteilt, hat der Vorstand die Auskunft unverzüglich zu erteilen.
12.209 Bei einer unberechtigten Auskunftsverweigerung hat der Aktionär zusätzlich auch die Möglichkeit, Anfechtungsklage gegen den Hauptversammlungsbeschluss zu erheben.299 3. Risiken durch Gerichtsverfahren a) Anfechtungsklage aa) Grundsatz
12.210 Beschlüsse von M&A-Hauptversammlungen können wie andere Beschlüsse der Hauptversammlung nichtig oder anfechtbar sein. Ein nichtiger Beschluss ist und bleibt, wenn er nicht ausnahmsweise geheilt wird, unwirksam. Ein anfechtbarer Beschluss wird nur dann unwirksam, wenn er nach einer rechtzeitig erhobenen Anfechtungsklage vom zuständigen Gericht durch stattgebendes Anfechtungsurteil mit Wirkung ex tunc vernichtet wird.300
12.211 Nichtig ist ein Beschluss der Hauptversammlung nur ausnahmsweise. In § 241 AktG sind die wesentlichen Gründe, die zu einer Nichtigkeit von Beschlüssen führen können, aufgeführt. So sind Beschlüsse nichtig, die in einer Hauptversammlung gefasst werden, die unter Verstoß gegen die wesentlichen Formvorschriften des § 121 Abs. 2 und 3 Satz 1 oder Abs. 4 AktG einberufen wurde. Dies gilt jedoch nicht für reine Bagatellverstöße.301 Weitaus praxisrelevanter ist die Anfechtbarkeit von Beschlüssen. Ein Beschluss der Hauptversammlung ist nach § 243 AktG anfechtbar, wenn eine Verletzung des Gesetzes oder der Satzung vorliegt. Gleiches gilt, wenn ein Aktionär mit der Ausübung des Stimmrechts für sich oder einen Dritten Sondervor296 Kubis in MünchKomm/AktG, § 131 AktG Rz. 112. 297 Kubis in MünchKomm/AktG, § 131 AktG Rz. 202; Zeidler, NZG 1998, 91 (93). 298 Zu berücksichtigen sind jedoch die Rechtsverordnungen in einzelnen Bundesländern zur Entscheidungskonzentration bei einzelnen LG nach § 71 Abs. 4 GVG. 299 Hölters/Drinhausen, § 131 AktG Rz. 44. 300 Hölters/Englisch, § 248 AktG Rz. 8. 301 BGH v. 30.3.1987 – II ZR 180/86, BGHZ 100, 264 = GmbHR 1987, 424 = MDR 1987, 1004 (zu § 51 GmbHG); OLG München v. 12.11.1999 – 23 U 3319/99, AG 2000, 134; OLG Düsseldorf v. 24.4.1997 – 6 U 20/96 – ARAG/Garmenbeck, ZIP 1997, 1153.
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D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.215 Kap. 12
teile zum Schaden der Gesellschaft oder der anderen Aktionäre zu erlangen suchte und der Beschluss geeignet ist, diesem Zweck zu dienen. bb) Reichweite gerichtlicher Überprüfung Materielle Einwände gegen die Wirksamkeit von M&A-Beschlüssen führen bei Anfechtungsverfahren nur selten zum Erfolg. So ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass bei einem Unternehmenskaufvertrag mit einem unternehmensfremden Dritten der vereinbarte Kaufpreis nicht der Überprüfung der Gerichte unterliegt.302 Auch findet eine allgemeine Inhaltskontrolle, die die Maßnahme auf ihre Angemessenheit und Erforderlichkeit oder gar auf ihre Zweckmäßigkeit überprüft, nicht statt.303 Auch Verstöße gegen Treuepflichten und den Gleichbehandlungsgrundsatz unterliegen in der Regel nicht der gerichtlichen Überprüfung.304
12.212
Praxisrelevanter sind Verfahrensfehler beim Zustandekommen von Beschlüssen. Hierunter fallen Vorbereitungs- und Durchführungsmängel und insbesondere die Verletzung von Auskunfts- und Informationspflichten. In einem solchen Fall hat die Anfechtungsklage jedoch nur dann Erfolg, wenn der Verfahrensfehler Einfluss auf das Ergebnis der Beschlussfassung gehabt hat.305
12.213
Der BGH folgt hierbei in seiner Rechtsprechung der auch in der Literatur vertretenen Rele- 12.214 vanztheorie.306 Danach ist zu prüfen, ob es bei einer am Zweck der verletzten Norm orientierten wertenden Betrachtung ausgeschlossen ist, dass sich der Verfahrensfehler, wie beispielsweise die Nichterteilung einer geschuldeten Auskunft, auf das Beschlussergebnis ausgewirkt hat.307 In jedem Einzelfall muss deshalb wertend geprüft werden, ob der Verstoß gegen das Aktionärsrecht, das nach dem Zweck der verletzten Norm geschützt wird, die Anfechtung rechtfertigt oder ob der Verstoß so gering ist, dass der Anfechtung der Erfolg versagt werden muss.308 cc) Klageverfahren Die Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen erfolgt durch die Erhebung einer Anfechtungsklage beim LG am Sitz der Gesellschaft. Sie ist gegen die Gesellschaft zu richten und muss innerhalb eines Monats nach der Beschlussfassung erhoben werden (§ 246 Abs. 1 AktG). Die Anfechtungsklage eines Aktionärs ist mindestens einem Mitglied des Vorstands und des Aufsichtsrats der Gesellschaft zuzustellen.309
302 In diesem Sinn tendenziell BVerfG v. 23.8.2000 – I BvR 68/95 und 147/97 – MotoMeter, AG 2001, 42. 303 OLG Karlsruhe v. 12.3.2002 – 8 U 295/00, AG 2003, 388; LG Frankfurt/M. v. 10.3.1993 – 3/14 O 25/92, AG 1993, 287; Henze in FS Ulmer, S. 211 (224); Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 60; Westermann in FS Koppensteiner, S. 276; a.A. Krieger in MünchHdb/AG, § 69 Rz. 13. 304 Kubis in MünchKomm/AktG, § 119 AktG Rz. 61 m.w.N.; a.A. Habersack in Emmerich/Habersack, vor § 311 AktG Rz. 51. 305 Hölters/Englisch, § 243 AktG Rz. 17; Würthwein in Spindler/Stilz, § 243 AktG Rz. 78 ff. 306 BGH v. 12.11.2001 – II ZR 225/99 – Sachsenmilch III, BGHZ 149, 158 = MDR 2002, 282 = AG 2002, 241; BGH v. 2.7.2007 – II ZR 111/05, MDR 2007, 1446 = NJW 2008, 69; Hölters/Englisch, § 243 AktG Rz. 18. 307 Henze, BB 2002, 893 (900). 308 Henze, BB 2002, 893 (900); Hölters/Englisch, § 243 AktG Rz. 18 ff. 309 Dörr in Spindler/Stilz, § 246 AktG Rz. 45; Hölters/Englisch, § 246 AktG Rz. 39.
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Kap. 12 Rz. 12.216
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
12.216 Zur Anfechtung berechtigt ist nach § 245 AktG (neben Vorstand und Aufsichtsrat) jeder in der Hauptversammlung erschienene Aktionär, wenn er die Aktien schon vor der Bekanntmachung der Tagesordnung erworben hatte und gegen den Beschluss Widerspruch zur Niederschrift erklärt hat. Auch ein in der Hauptversammlung nicht erschienener Aktionär ist anfechtungsberechtigt, wenn er zu der Hauptversammlung zu Unrecht nicht zugelassen wurde oder die Versammlung nicht ordnungsgemäß einberufen oder der Gegenstand der Beschlussfassung nicht ordnungsgemäß bekannt gemacht worden ist. Ausnahmsweise ist zudem jeder Aktionär zur Anfechtungsklage berechtigt, wenn ein anderer Aktionär mit der Ausübung des Stimmrechts für sich oder einen Dritten Sondervorteile zu erlangen versucht hat.
12.217 Der Vorstand einer Aktiengesellschaft ist verpflichtet, die Erhebung der Klage unverzüglich in den Gesellschaftsblättern, d.h. jedenfalls im Bundesanzeiger (§ 25 AktG), bekannt zu machen (§ 246 Abs. 4 AktG). Wird der Anfechtungsklage rechtskräftig stattgegeben, so wird der angegriffene Beschluss nichtig. Der Vorstand hat das der Klage stattgebende Urteil unverzüglich zum Handelsregister einzureichen (§ 248 Abs. 1 Satz 2 AktG). dd) Rechtsfolgen einer erfolgreichen Anfechtungsklage
12.218 Das Vollzugs- und Bestandsrisiko beim Holzmüller-Beschluss ist vergleichsweise gering, da der Holzmüller-Beschluss zu seiner Wirksamkeit nicht der Eintragung im Handelsregister bedarf und auch ansonsten keine Außenwirkung hat. Bei einer anhängigen Anfechtungsklage entscheidet demnach der Vorstand nach pflichtgemäßem Ermessen, ob er die Transaktion dennoch durchführt. Der Vorstand hat hierbei eine sorgfältige Prüfung und eine vernünftige Beurteilung der Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage vorzunehmen. Zur Vermeidung von Haftungsrisiken wird der Vorstand regelmäßig eine gutachterliche Stellungnahme einer auf das Aktienrecht spezialisierten Anwaltskanzlei einholen. Kommt das Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Anfechtungsklage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, wird der Vorstand den Unternehmenskaufvertrag vollziehen.
12.219 Hat die Anfechtungsklage Erfolg, findet eine Rückabwicklung des Unternehmenskaufvertrages häufig nicht statt. Dies gilt insbesondere für Fälle, in denen die Wirksamkeit des Unternehmenskaufvertrages nicht von der Zustimmung der Hauptversammlung abhängt. In diesem Fall bleibt somit die Anfechtungsklage und die Aufhebung des Hauptversammlungsbeschlusses auf den Unternehmenskaufvertrag ohne Auswirkung.
12.220 Etwas anderes kann jedoch dann gelten, wenn der Unternehmenskaufvertrag unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Hauptversammlung geschlossen worden ist, indem beispielsweise eine entsprechende aufschiebende Bedingung eingefügt worden ist. Da nach einer erfolgreichen Anfechtungsklage der Zustimmungsbeschluss der Hauptversammlung von Anfang an nichtig war, ist demnach auch die aufschiebende Bedingung im Unternehmenskaufvertrag zu keinem Zeitpunkt eingetreten und der Vertrag somit nicht wirksam geschlossen worden. Insoweit müsste der Unternehmenskaufvertrag rückabgewickelt werden, was in der Praxis allerdings nahezu undenkbar ist.
12.221 Die Rückabwicklung des Unternehmenskaufvertrages richtet sich nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen. Anspruchsgrundlage können die §§ 985 ff. BGB (Eigentümer-Besitzer-Verhältnis) und insbesondere die §§ 812 ff. BGB (ungerechtfertigte Bereicherung) sein.
12.222 In der Literatur wird vertreten, dass das Unternehmen in seinem aktuellen Bestand zurückzugeben ist, ohne dass es darauf ankommt, ob die nunmehr vorhandenen Vermögenswerte
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D. Zusammenwirken von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung
Rz. 12.225 Kap. 12
bereits zum Zeitpunkt der Übertragung des Unternehmens vorhanden waren.310 Die hiermit verbundenen praktischen Schwierigkeiten sind bei einer Rückabwicklung nach Abschluss eines mehrjährigen Anfechtungsverfahrens evident. Problematisch sind insbesondere die Fälle, in denen der Erwerber das Unternehmen beispielsweise durch Umorganisation oder Wechsel des Tätigkeitsbereichs wesentlich verändert hat. Möglicherweise existiert das erworbene Unternehmen nach einer Verschmelzung nicht mehr, ist bereits insolvent oder stillgelegt worden. Im Falle eines solchen Identitätswechsels, der mehrere Jahre nach einem Unternehmenskauf oftmals zu bejahen sein wird, ist eine Rückabwicklung nicht mehr möglich.311 In einem solchen Fall hat der Käufer des Unternehmens Wertersatz zu leisten, dessen Berechnung überaus schwierig ist. Im Regelfall wird jedoch keine Zahlung erfolgen müssen, da sich Kaufpreis und Wertersatz oftmals entsprechen werden und somit gegeneinander verrechnet werden können. b) Einstweilige Verfügung Sofern eine Hauptversammlung – bejaht man eine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit – nicht mit einem Unternehmenskauf befasst wird oder sofern ein etwaiger Holzmüller-Beschluss fehlerhaft zustande gekommen ist, besteht für Aktionäre die Möglichkeit, den Vollzug des Unternehmenskaufvertrages durch eine einstweilige Verfügung zu verhindern.312 Zusätzlich zum Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung kann im Hauptverfahren eine Unterlassungsklage erhoben werden.
12.223
Besonders gefährlich ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung für die betroffene Gesellschaft, weil sie im Vorfeld zu diesem Antrag oftmals nicht gehört wird. Sofern das Gericht vom einseitigen Vortrag des Antragstellers, der gegebenenfalls durch eidesstattliche Versicherung untermauert wird, überzeugt ist, kann es nach § 937 Abs. 2 ZPO die einstweilige Verfügung ohne mündliche Verhandlung erlassen. Hierdurch wird der Vollzug der Transaktion zunächst einmal verhindert.
12.224
In der Praxis sind Anträge von Aktionären auf Erlass von einstweiligen Verfügungen bislang 12.225 selten. Das hat seinen Grund darin, dass der Antragsteller das Risiko einer verschuldensunabhängigen Schadensersatzhaftung nach § 945 ZPO trägt, wenn die Entscheidung in der Hauptsache zugunsten der Aktiengesellschaft erfolgt. In einem solchen Fall wäre von dem das einstweilige Verfügungsverfahren betreibenden Aktionär der Schaden zu ersetzen, der aus der Untersagung der Durchführung der Transaktion entstanden ist. Da die einstweilige Verfügung zur Folge haben kann, dass der Vertragspartner von der Transaktion als solcher Abstand nimmt, stellt dieses ein nicht zu unterschätzendes Risiko für die Aktionäre dar.313 Trotz dieses Risikos ist jedoch die Gefahr, dass Aktionäre eine Transaktion durch Beantragung einer einstweiligen Verfügung zu verhindern suchen, nicht auszuschließen. Bei der Strukturierung der Transaktion ist deshalb auf diesen Problemkreis einzugehen. Wird mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gerechnet, empfiehlt sich die Einreichung von Schutzschriften beim zuständigen Gericht, in denen bereits im Vorfeld etwaiger Anträge von Aktionären dargelegt wird, weshalb eine Hauptversammlungszuständigkeit 310 Ballerstedt in FS Schilling, S. 289 (293); Schwintowski, JZ 1987, 588. 311 Schwintowski, JZ 1987, 588; Schöne, ZGR 2000, 86 (98). 312 LG Duisburg v. 27.6.2002 – 21 O 106/02 – Babcock Borsig AG/HDW, AG 2003, 390; LG Berlin v. 10.5.2002 – 91 O 58/02 – Condat, ZIP-Aktuell Nr. 125/2002; LG Regensburg v. 5.11.2001 – 1 HK 2291/01 (n.v.); Hölters/Englisch, § 243 AktG Rz. 105; Markwardt, WM 2004, 211. 313 Markwardt, WM 2004, 211 (218).
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Kap. 12 Rz. 12.226
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
nicht gegeben ist oder ein Hauptversammlungsbeschluss rechtswirksam zustande gekommen ist. In diesem Fall tendieren die Gerichte dazu, vor ihrer Entscheidung über den Erlass der einstweiligen Verfügung beide Parteien in einer mündlichen Verhandlung zu hören. c) Folgen für die Gestaltung des Unternehmenskaufvertrages
12.226 Die dargestellten Risiken für die M&A-Transaktion bei Gerichtsverfahren, insbesondere bei erfolgreichen Anfechtungsklagen, haben erheblichen Einfluss auf die Formulierung des Unternehmenskaufvertrages. Üblicherweise wird in der Praxis die Transaktion unter die aufschiebende Bedingung gestellt, dass die Hauptversammlung dem Vertrag zustimmt. Durch diese vertragliche Gestaltung ergibt sich jedoch der Nachteil, dass im Falle einer erfolgreichen Anfechtungsklage eine Rückabwicklung des Vertrages droht. Genauso schwerwiegend ist es, dass während der mehrjährigen Dauer des Anfechtungsverfahrens eine weitere Veräußerung des gekauften Unternehmens nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist, da ein etwaiger Erwerbsinteressent wegen der unklaren Rechtslage oftmals von einem Kauf absehen wird. Aufgrund dieser Risiken wird sich der Vertragspartner auf eine solche Verfahrensweise nur dann einlassen, wenn ihm die Zustimmung der Hauptversammlung vom Vorstand der anderen Vertragspartei als hinreichend wahrscheinlich dargestellt wird.314
E. Mitteilungspflichten bei M&A-Transaktionen I. Relevanz der Thematik für Target-, Veräußerer- und Erwerber-AG 12.227 Während und nach einer M&A-Transaktion unter Beteiligung von Aktiengesellschaften haben die Vorstände der beteiligten Unternehmen die Mitteilungspflichten nach dem Aktiengesetz sowie bei börsennotierten Unternehmen nach dem Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) und nach Art. 17 Marktmissbrauchsverordnung315 zu beachten. Daneben gibt es arbeitsrechtliche Mitteilungspflichten. Erlangt der Erwerber die Kontrolle über die Target-AG, hat deren Vorstand den Wirtschaftsausschuss über die Übernahme nach § 106 Abs. 2 und Abs. 3 Nr. 9a BetrVG zu informieren.316 Bestehen mehrere Wirtschaftsausschüsse innerhalb eines Konzerns, so ist der Wirtschaftsausschuss der Konzernobergesellschaft zu informieren.317 In Unternehmen, in denen kein Wirtschaftsausschuss besteht, hat die Information nach § 109a BetrVG gegenüber dem Betriebsrat zu erfolgen.
12.228 Die Nichtbeachtung der Mitteilungspflichten nach dem Aktiengesetz und nach dem Wertpapierhandelsgesetz führt dazu, dass der Erwerber in der Hauptversammlung des Targets für die neu erworbenen Aktien kein Stimmrecht ausüben kann und hierdurch erhebliche Nachteile für den Erwerber drohen. Werden Ad-hoc-Mitteilungspflichten verletzt, stellt dies eine mit hohen Geldbußen bewehrte Ordnungswidrigkeit dar und führt zur Schadensersatzpflicht für die verantwortlichen Vorstandsmitglieder.
12.229 Die Beachtung der Mitteilungspflichten nach dem Aktiengesetz ist für die Vorstände der Erwerber-, der Veräußerer- und der Target-AG von praktischer Relevanz. Ad-hoc-Mitteilungspflichten sind für die Vorstände der Veräußerer- bzw. Erwerber-AG von großer Bedeutung, 314 315 316 317
Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 224. Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 215. Vogt/Bedkowski, NZG 2008, 725 (727).
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E. Mitteilungspflichten bei M&A-Transaktionen
Rz. 12.232 Kap. 12
sofern die von ihnen vertretenen Unternehmen börsennotiert sind. Ob ein börsennotiertes Target eine Mitteilungspflicht hat, hängt von der Börsenrelevanz der Transaktion für das Target ab. Dies richtet sich nach den allgemeinen Kriterien.318
II. Aktienrechtliche und kapitalmarktrechtliche Mitteilungspflichten gegenüber dem Target Bei der Durchführung von M&A-Transaktionen mit nicht börsennotierten Aktiengesellschaften haben Veräußerer und Erwerber Mitteilungspflichten nach dem Aktiengesetz zu beachten. § 20 AktG betrifft Mitteilungspflichten von Unternehmen gegenüber inländischer Aktiengesellschaft bezüglich Erwerb oder Wegfall einer wesentlichen Beteiligung. Eine Mitteilungspflicht besteht, wenn eine Schachtelbeteiligung, d.h. eine Beteiligung von mehr als 25 % der Aktien einer Aktiengesellschaft, erworben wurde (§ 20 Abs. 1 AktG). Die Mitteilungspflicht ist vom Vorstand der erwerbenden Aktiengesellschaft durch eine schriftliche Benachrichtigung an das Target zu erfüllen.319 Mitteilungspflichtig ist zudem der Erwerb einer Beteiligung von mehr als 50 % der Kapitalanteile oder Stimmrechte (§ 20 Abs. 4 AktG). Umgekehrt bestehen auch Mitteilungspflichten der veräußernden Aktiengesellschaft gegenüber der Target-AG. Besteht eine mitteilungspflichtige Beteiligung von 50 % bzw. 25 % nicht mehr, hat der Vorstand der Veräußerer-AG dies dem Target mitzuteilen (§ 20 Abs. 5 AktG). Entsprechende Meldepflichten bestehen nach § 21 AktG auch für den Fall, dass das Target eine Kommanditgesellschaft auf Aktien oder eine GmbH ist, sofern Veräußerer oder Erwerber Aktiengesellschaften sind. Für das Halten von Aktien an börsennotierten Aktiengesellschaften gelten die Mitteilungspflichten nach dem Wertpapierhandelsgesetz, insbesondere §§ 33, 34 sowie 43 WpHG als Spezialnorm gegenüber § 20 AktG.
12.230
Für den Vorstand der Target-AG ist die Erfüllung von Meldepflichten von großer Bedeutung. 12.231 So hat der Vorstand unverzüglich nach Erhalt einer Beteiligungsmitteilung die Mitteilung in den Gesellschaftsblättern, also jedenfalls im Bundesanzeiger (§ 25 AktG), bekannt zu machen (§ 20 Abs. 6 AktG). Werden die Mitteilungspflichten nicht ordnungsgemäß erfüllt, hat auch dies Auswirkungen auf die Pflichten des Vorstands der Target-AG. Rechte aus Aktien, bei denen die Mitteilungspflichten nicht ordnungsgemäß erfüllt worden sind, bestehen für den Zeitraum nicht, in dem das Unternehmen seine Mitteilungspflicht nicht oder nicht ordnungsgemäß erfüllt hat.320 So besteht insbesondere kein Stimmrecht in der Hauptversammlung der Gesellschaft und auch kein Dividendenanspruch. Dies ist für den Vorstand der Target-AG von Bedeutung. Beachtet er diese Grundsätze nicht, kann er sich schadensersatzpflichtig machen.321
III. Ad-hoc-Mitteilungspflichten 1. Einleitung Nach Art. 17 Marktmissbrauchsverordnung hat der Vorstand einer börsennotierten Aktiengesellschaft konkrete Informationen über nicht öffentlich bekannte Umstände, die die Gesellschaft unmittelbar betreffen und die geeignet sind, im Falle ihres öffentlichen Be318 319 320 321
Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 208. Hölters/Hirschmann, § 20 AktG Rz. 10. BGH v. 22.4.1991 – II ZR 231/90, BGHZ 114, 203 = AG 1991, 270 = MDR 1991, 733. Sester in Spindler/Stilz, § 20 AktG Rz. 55 f.
Hölters/Hölters
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12.232
Kap. 12 Rz. 12.233
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
kanntwerdens den Börsen- oder Marktpreis der Aktien erheblich zu beeinflussen, unverzüglich zu veröffentlichen und diese an das Unternehmensregister zu übermitteln sowie die Information den betreffenden Börsen und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) mitzuteilen. Das vorsätzliche oder leichtfertige Unterlassen einer Ad-hoc-Mitteilung stellt eine Ordnungswidrigkeit nach § 39 Abs. 2 Nr. 2 lit. c und Nr. 5 lit. a WpHG a.F. dar, die mit hohen Geldbußen geahndet werden kann. Die Höhe ist in den Bußgeldrichtlinien II der BAFin geregelt. Außerdem können sich die Vorstände nach §§ 97, 98 WpHG schadensersatzpflichtig machen.
12.233 Besondere praktische Probleme bereitet die Ad-hoc-Mitteilungspflicht bei M&A-Transaktionen für die beteiligten Vorstände der Veräußerer- bzw. Erwerber-AG aus zwei Gesichtspunkten. Nicht jeder Unternehmensverkauf bzw. -kauf wird solche Auswirkungen haben, dass eine erhebliche Beeinflussung des Börsen- oder Marktpreises der Insiderpapiere zu erwarten ist. Problematisch ist zudem, zu welchem Zeitpunkt eine Ad-hoc-Mitteilungspflicht bei einer M&A-Transaktion entstehen kann. Die Frage, ob eine börsennotierte Aktiengesellschaft mit einer Ad-hoc-Mitteilungspflicht insbesondere bis zur Unterzeichnung des Unternehmenskaufvertrages zuwarten kann, ist von erheblicher Praxisrelevanz, da Ad-hoc-Mitteilungspflichten unverzüglich zu erfüllen sind. 2. Beeinflussung des Börsenkurses
12.234 Die Pflicht zur Übermittlung nach Art. 17 Marktmissbrauchsverordnung setzt voraus, dass die Information zur erheblichen Beeinflussung des Börsenpreises geeignet ist (Art. 7 Abs. 1 a) Marktmissbrauchsverordnung). Allgemein akzeptiert ist das empirische Faktum, dass Übernahmen, Zusammenschlüsse oder Beteiligungsveräußerungen eine solche Auswirkung auf die betroffenen Unternehmen haben können.322 Ob sich ein Unternehmenskauf jedoch auf den Börsenkurs der Veräußerer- oder Erwerber-AG auswirken kann, ist eine Frage des Einzelfalls.323 Der Vorstand der Gesellschaft hat ex ante eine prognostische Entscheidung zu treffen.324 Nach der heute herrschenden Meinung ist dieses Tatbestandsmerkmal funktionsbezogen auszulegen. So soll der Emittent bewerten müssen, ob im Falle des Bekanntwerdens einer Tatsache ein rational handelnder Investor in Ansehung der mit einer Transaktion verbundenen Kosten und Risiken einen Aktienerwerb bzw. -verkauf vornehmen würde.325
12.235 Unternehmenskäufe werden sich in der Regel auf den Börsenkurs der betroffenen Unternehmen auswirken.326 Allerdings ist in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der Größe der Transaktion und der beteiligten Unternehmen zu prüfen, ob eine Auswirkung auf den Börsenkurs wahrscheinlich ist.327 Bei der Prüfung sind die wirtschaftlichen Unternehmensdaten, vor allem der Umsatz der betroffenen Unternehmen und ihr Größenverhältnis zueinander, sowie das Marktumfeld, in dem die Transaktion erfolgt, besonders zu berücksichtigen. Sofern eine
322 Nowak, DB 1999, 601 (604). 323 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 209. 324 Emittentenleitfaden der BaFin v. 8.11.2013, III.2.1.4 (S. 34 f.); Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, § 13 WpHG Rz. 55 und Rz. 26. 325 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 209; Cahn, ZHR 162 (1998), 1 (18); Fürhoff/Wölk, WM 1997, 449 (455); Burgard, ZHR 162 (1998), 51 (69); Kümpel, AG 1997, 66 (71); Süßmann, AG 1997, 63 (64). 326 Schander/Lucas, DB 1997, 2109 (2110). 327 Nowak, DB 1999, 601 (603).
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Hölters/Hölters
E. Mitteilungspflichten bei M&A-Transaktionen
Rz. 12.238 Kap. 12
große börsennotierte Aktiengesellschaft zu einer Vielzahl bereits vorhandener Beteiligungen eine weitere kleine Beteiligung hinzuerwirbt, wird die Kursrelevanz nur ausnahmsweise zu bejahen sein.328 Bei einer Transaktion, die für einen Vertragspartner strategische Bedeutung hat, ist die Börsenkursrelevanz regelmäßig zu bejahen.329 Die Bandbreite dazwischen ist groß, so dass die Beurteilung im Einzelfall schwierig sein kann. Der Vorstand muss insoweit eine Abwägung sämtlicher Umstände vornehmen, wobei insbesondere der Gefahr des Scheiterns oder der Behinderung der Unternehmenstransaktion bei frühzeitigem Bekanntwerden einerseits und der Gefahr einer Ordnungswidrigkeitensanktion andererseits maßgebliche Bedeutung zukommt.330 3. Zeitpunkt der Ad-hoc-Mitteilung Eine mitteilungspflichtige Tatsache ist nach Art. 17 Abs. 1 Marktmissbrauchsverordnung so bald wie möglich zu veröffentlichen. Diese Mitteilungspflicht setzt bei einer M&A-Transaktion ein, wenn deren Realisierung hinreichend wahrscheinlich ist.331 Der BGH hat die Frage, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bei einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit vorliegt oder eine höhere Realisierungswahrscheinlichkeit zu fordern ist, offen gelassen.332
12.236
Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit liegt zumindest bei Abschluss des Unternehmenskaufvertrages vor. Dies gilt sogar dann, wenn dieser noch verschiedene Rücktrittsmöglichkeiten vorsieht.333 Gleiches gilt für den Fall, dass der Unternehmenskaufvertrag nach Maßgabe des anglo-amerikanischen Rechtssystems abgeschlossen wird. Ein solcher Unternehmenskaufvertrag enthält lediglich die schuldrechtliche Bindung, während die dinglichen Übertragungsakte an einem späteren Stichtag (sog. Closing Date) vorgenommen werden. Die Voraussetzungen für die dingliche Übertragung sind häufig sehr weitgehend, indem beispielsweise der Erwerb durch den Käufer daran gekoppelt wird, dass dieser bis zum Stichtag seine Finanzierung gesichert hat. Auch in diesem Falle hat die Ad-hoc-Mitteilung bei Vertragsabschluss zu erfolgen, da die Erfüllung der Closing Conditions hinreichend wahrscheinlich sein wird.334
12.237
Vor Abschluss des Kaufvertrages sind für die Verpflichtung zur Abgabe einer Ad-hoc-Mitteilung zwei Ebenen zu unterscheiden. Auf der externen Ebene ist festzustellen, wie weit die Verhandlungen der Vertragsparteien vorangeschritten sind und ob sie einen Vertragsabschluss hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen. Dies kann immer nur für den Einzelfall entschieden werden. Nicht praxisgerecht ist die Vorstellung, man könne ab einem gewissen Verhandlungsstand mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, der Unternehmenskaufvertrag komme zustande.335 In der Praxis nicht selten sind Fälle, in denen die Verhandlungen in letzter Minute scheitern, dies zumeist begründet in neuen Forderungen einer Partei oder aber aufgrund einer grundsätzlichen Änderung der unternehmerischen Strategie. Vor Abschluss eines Unternehmenskaufvertrages müssen somit sehr spezielle Umstände vor-
12.238
328 329 330 331 332
Nowak, DB 1999, 601 (603). Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 209. Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 209. Kümpel, WM 1996, 653 (654. BGH v. 25.2.2008 – II ZB 9/07 – DaimlerChrysler/Schrempp-Rücktritt, NZG 2008, 300 (303) = AG 2008, 380 = MDR 2008, 633. 333 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 211. 334 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 211. 335 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 213.
Hölters/Hölters
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Kap. 12 Rz. 12.239
Aktiengesellschaften und Unternehmensakquisition
liegen, die die Annahme rechtfertigen können, die Realisierung der Transaktion sei hinreichend wahrscheinlich.336
12.239 Auf der internen Seite ist zu beurteilen, wie weit der interne Entscheidungsprozess fortgeschritten ist. Es muss zumindest ein Vorstandsbeschluss vorliegen,337 es sei denn, der Erwerb oder die Veräußerung eines Unternehmens ist ausnahmsweise von einem einzelnen Vorstandsmitglied im Rahmen seiner Ressortzuständigkeit zu entscheiden. Sofern neben dem Vorstand auch der Aufsichtsrat einem Unternehmenskauf im Rahmen der zustimmungspflichtigen Geschäfte zustimmen muss (sog. mehrstufiger Entscheidungsprozess), besteht eine Veröffentlichungspflicht im Regelfall erst nach Zustimmung des Aufsichtsrats.338 Etwas anderes kann im Einzelfall ausnahmsweise dann gelten, wenn die Maßnahme bereits vorab mit dem Aufsichtsrat ausführlich erörtert und beraten und damit informell abgestimmt wäre.
12.240 Die BaFin führt in ihrem Emittentenleitfaden von 2013339 aus, bei einem mehrstufigen Entscheidungsprozess entstehe die Ad-hoc-Publizitätspflicht „in der Regel nicht erst mit der endgültigen Entscheidung (z.B. Zustimmung des Aufsichtsrats)“, sondern bereits mit dem Vorstandsbeschluss. Es handelt sich hierbei um allgemeine Ausführungen der BaFin zu mehrstufigen Entscheidungsprozessen. Es wird nicht ausdrücklich ausgeführt, ob dies auch für M&A-Transaktionen gelten soll, denen an anderer Stelle ein eigenes Kapitel zuteil wird.340 Der Auffassung der BaFin ist jedenfalls für Unternehmenstransaktionen nicht zuzustimmen.341 Ob mit einem Vorstandsbeschluss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Transaktion auch tatsächlich durchgeführt wird, ist zweifelhaft. Gerade angesichts der seit einigen Jahren von Gesetzgeber, Rechtsprechung und Öffentlichkeit betonten Stärkung der Verantwortlichkeit von Aufsichtsräten kann man nicht davon ausgehen, dass Vorstandsbeschlüsse im Aufsichtsrat ohne weiteres abgesegnet werden. Im Gegenteil wird der Aufsichtsrat vielmehr bei Transaktionen mit einem erheblichen Kursbeeinflussungspotential den Vorstandsbeschluss einer eingehenden rechtlichen und wirtschaftlichen Prüfung unterziehen. Eine vorzeitige Veröffentlichung des vom Vorstand gefassten Beschlusses würde die Stellung des Aufsichtsrats schwächen, demnach den in den letzten Jahren geförderten Corporate Governance Entwicklungen zuwiderlaufen. Auch dies betont die BaFin im Rahmen ihrer Ausführungen zu den mehrstufigen Entscheidungsprozessen.342
12.241 Setzt man den Veröffentlichungszeitpunkt der Ad-hoc-Meldung bereits mit dem Vorstandsbeschluss an, so bleibt jedenfalls die Möglichkeit des Aufschubs nach Art. 17 Abs. 4 Marktmissbrauchsverordnung zu berücksichtigen. Der Emittent ist von der Pflicht zur Veröffentlichung solange befreit, wie es der Schutz seiner berechtigten Interessen erfordert, keine Irreführung der Öffentlichkeit zu befürchten ist und er die Vertraulichkeit der Insiderinfor-
336 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 213. 337 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 212; Happ, JZ 1994, 240 (242 f.); a.A. Assmann in Assmann/ Uwe H. Schneider, § 15 WpHG Rz. 75 und § 13 WpHG Rz. 28 f. 338 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 213; Happ, JZ 1994, 240 (242 f.); Hopt, ZHR 159 (1995), 135 (152); Kiem/Kotthoff, WM 1995, 1999 (2003); Cahn, ZHR 162 (1998), 1 (22); a.A. Pananis, WM 1997, 460 (464); Fürhoff/Wölk, WM 1997, 449 (453); Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, § 15 WpHG Rz. 75 und § 13 WpHG Rz. 28 f. 339 Emittentenleitfaden der BaFin v. 8.11.2013, IV.2.2.7 (S. 54 f.). 340 Emittentenleitfaden der BaFin v. 8.11.2013, IV.2.2.14 (S. 58 f.). 341 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 213. 342 Emittentenleitfaden der BaFin v. 8.11.2013, IV.2.2.7 (S. 54 f.).
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Hölters/Hölters
E. Mitteilungspflichten bei M&A-Transaktionen
Rz. 12.242 Kap. 12
mation gewährleisten kann.343 Ein solches berechtigtes Interesse ist nach § 6 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2 WpAIV insbesondere dann zu bejahen, wenn durch das Geschäftsführungsorgan des Emittenten abgeschlossene Verträge oder andere getroffene Entscheidungen zusammen mit der Ankündigung bekannt gegeben werden müssten, dass die für die Wirksamkeit der Maßnahme erforderliche Zustimmung eines anderen Organs des Emittenten noch aussteht, und dies die sachgerechte Bewertung der Information durch das Publikum gefährden würde. Die Veröffentlichung ist alsdann unverzüglich nachzuholen, sobald diese Tatbestandsmerkmale entfallen. Dieser Befreiungstatbestand ist bei M&A-Transaktionen im Regelfall gegeben, was auch die BaFin ausdrücklich ausführt.344 Da eine verfrühte Ad-hoc-Mitteilung die Durchführung und Strukturierung eines Unternehmenskaufs erheblich erschweren würde, ist es – sofern man die Publizitätspflicht entgegen der hier vertretenen Auffassung bereits mit dem Vorstandsbeschluss bejaht – für die Praxis ratsam, sowohl auf Veräußerer- als auch auf Erwerberseite die einzelnen Anknüpfungspunkte für eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (Vorstandsbeschluss, Genehmigung des Aufsichtsrats, Unterzeichnung des Vertrages) zeitlich so dicht zu staffeln, dass der die Ad-hoc-Mitteilung auslösende Gesichtspunkt am Ende dieser Kette liegt.345 Im Regelfall bedeutet dies, dass Vorstandsbeschluss und Aufsichtsratsbeschluss zeitlich eng hintereinander kurz vor der Unterzeichnung des Vertrages zu erfolgen haben.
343 OLG Stuttgart v. 22.4.2009 – 20 Kap 1/08 – DaimlerChrysler/Schrempp Rücktritt, AG 2009, 454 = NZG 2009, 624 (639 ff.); Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider, § 15 WpHG Rz. 133; bei mehrstufigen Entscheidungsprozessen in der Regel § 15 Abs. 3 WpHG gegeben: Emittentenleitfaden der BaFin v. 8.11.2013, IV.2.2.7 und IV.3.1 (S. 55, 60 f.). 344 Emittentenleitfaden der BaFin v. 8.11.2013, IV.2.2.7, IV.3.1 (S. 55, 60 f.). 345 Hölters/Hölters, § 93 AktG Rz. 214.
Hölters/Hölters
1091
12.242
Kapitel 13 Börsennotierte Unternehmen Olaf Müller-Michaels
Überblick A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13.1
I. Das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG) . . . . . . . 1. Ziele des WpÜG . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systematik des WpÜG . . . . . . . . . . . . a) Angebotsarten . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anwendungsbereich des WpÜG . . . . a) Zielgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . b) Organisierter Markt . . . . . . . . . . . c) Bieter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Wertpapiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Öffentliche Angebote . . . . . . . . . . 4. Allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . .
13.4 13.5 13.6 13.7 13.8 13.9 13.10 13.11 13.12 13.14 13.15 13.16
II. Veröffentlichte Angebotsunterlagen 13.21 B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots . . . . . . . . 13.22 I. Vorbereitungsphase . . . . . . . . . . . . . 1. Grundstruktur der Transaktion . . . . . a) Alternativen zu einem Übernahmeangebot . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ziele einer Übernahme . . . . . . . . . c) Ablauf der Übernahme . . . . . . . . . aa) Vorerwerbe – Creeping Takeover . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kaufvertrag mit Großaktionären oder Irrevocable Undertaking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Übernahmeangebot oder Pflichtangebot . . . . . . . . . . . . . dd) Squeeze-out der Minderheitsgesellschafter . . . . . . . . . . . . . . 2. Due Diligence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eckpunkte des Übernahmeangebots . a) Art der Gegenleistung . . . . . . . . . . aa) Geldleistung in Euro . . . . . . . . bb) Aktien als Gegenleistung . . . . (1) Börsenzulassung innerhalb des EWR . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Liquidität . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Alternative Gegenleistung . . . b) Höhe der Gegenleistung . . . . . . . . aa) Berücksichtigung von Vorerwerben . . . . . . . . . . . . . . . . .
13.23 13.24 13.24 13.27 13.30 13.31 13.35 13.37 13.38 13.39 13.40 13.41 13.42 13.45 13.46 13.48 13.50 13.51 13.52
bb) Berücksichtigung von Börsenkursen . . . . . . . . . . . . . cc) Aufschlag auf Börsenkurs . . . . dd) Preisreaktionen . . . . . . . . . . . . c) Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zulässige Bedingungen . . . . . . bb) Unzulässige Bedingungen . . . . cc) Nachträgliche Änderungen oder Verzicht auf Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Annahmefrist . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Haupt- bzw. Gesellschafterversammlung beim Bieter erforderlich? . . . . . . 5. Weitere vorbereitende Maßnahmen . a) Selbständige Bietergesellschaft . . . b) Business Combination Agreement c) Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Angebotsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entscheidung über Angebotsabgabe . 2. Angebotsunterlage . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhalt der Angebotsunterlage . . . . b) Besonderheiten bei Tauschangeboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Übermittlung der Angebotsunterlage an die BaFin . . . . . . . . . . . . . . d) Prüfung der Angebotsunterlage durch die BaFin . . . . . . . . . . . . . . . e) Veröffentlichung der Angebotsunterlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Berichtigungen/Aktualisierung der Angebotsunterlage . . . . . . . . . g) Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausschluss von Wertpapierinhabern außerhalb des EWR . . . . . . . . . . . . . . 4. „Wasserstandsmeldungen“ . . . . . . . . 5. Änderungen des Angebots . . . . . . . . . 6. Annahme und Abwicklung des Übernahmeangebots . . . . . . . . . . . . . 7. Nachbesserungspflicht . . . . . . . . . . . . 8. Ablauf eines Übernahmeangebots im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13.53 13.54 13.55 13.56 13.57 13.62 13.66 13.67 13.69 13.70 13.70 13.71 13.72 13.73 13.74 13.76 13.77 13.81 13.84 13.89 13.90 13.92 13.93 13.94 13.96 13.98 13.102 13.104 13.105
C. Pflichtangebote . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.106 I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.106 II. Kontrollerwerb als Auslöser des Pflichtangebots . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.108 1. Arten des Kontrollerwerbs . . . . . . . . . 13.108
Müller-Michaels 1093
Kap. 13
Börsennotierte Unternehmen
2. Zurechnung der Stimmrechte Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Call-Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Halten für Rechnung des Bieters . c) Acting in Concert . . . . . . . . . . . . .
13.113 13.114 13.115 13.116
III. Angebotsunterlage, Mindestpreis . . 13.117 IV. Ausnahmen vom Pflichtangebot . . . 1. Vorangegangenes Übernahmeangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antrag auf Nichtberücksichtigung von Stimmrechten nach § 36 WpÜG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Antrag auf Befreiung nach § 37 WpÜG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sanierungsbefreiung . . . . . . . . . . . c) Squeeze-out . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsbehelfe des Antragstellers und der Aktionäre . . . . . . . . . . . . . . .
13.120 13.120 13.121 13.123 13.123 13.125 13.129 13.130
D. Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 13.132 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.132 II. Pflichten im Vorfeld von Übernahmeangeboten . . . . . . . . . . . . . . . . 13.135 III. Stellungnahme des Vorstands und des Aufsichtsrats nach § 27 WpÜG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.141 IV. Sondervorteile und Anerkennungsprämien für Verwaltungsmitglieder der Zielgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 13.149 V. Abwehrmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Präventive Maßnahmen und Maßnahmen in konkreten Übernahmesituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verhinderungsverbot des § 33 WpÜG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz: Keine Verhinderung des Angebots . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahme 1: Maßnahmen eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausnahme 2: Suche nach einem konkurrierenden Angebot . . . . . . . d) Ausnahme 3: Maßnahmen mit Zustimmung des Aufsichtsrats . . .
13.153 13.153 13.154 13.155 13.155 13.156 13.158
e) Ausnahme 4: Vorratsbeschlüsse der Hauptversammlung . . . . . . . . f) Ausnahme 5: Abwehrbeschlüsse der Hauptversammlung . . . . . . . . 4. Europäische Regeln über Abwehrmaßnahmen (§§ 33a–c WpÜG) . . . . a) Europäisches Verhinderungsverbot (§ 33a WpÜG) . . . . . . . . . . b) Europäische Durchbrechungsregel (§ 33b WpÜG) . . . . . . . . . . . c) Vorbehalt der Gegenseitigkeit (§ 33c WpÜG) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Unternehmenspraxis . . . . . . . . . . . 5. Diskussion bestimmter Abwehrmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verteuerung einer Übernahme durch Steigerung des Börsenwerts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnutzung genehmigten Kapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erwerb oder Veräußerung eigener Aktien . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ausgabe von Wandel- oder Optionsanleihen . . . . . . . . . . . . . . e) IPO von Tochtergesellschaften . . . f) Senkung der Attraktivität der Zielgesellschaft für den Bieter . . . g) Erschwerung des Kontrollerwerbs durch Veräußerungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . aa) Vinkulierung . . . . . . . . . . . . . bb) Vereinbarungen zwischen Gesellschaft und Aktionären oder zwischen Aktionären . . . h) Erschwerung des Kontrollerwerbs durch Stimmrechtsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Erschwerung der Neubesetzung von Aufsichtsrat und Vorstand . . j) Ausnutzung regulatorischer Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . k) Gegenangebot („Pac Man“) . . . . . l) Werbemaßnahmen . . . . . . . . . . . . m)Offenlegung von Übernahmehindernissen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Rechtsfolgen bei Verstößen gegen Verhaltenspflichten . . . . . . . . . . . . . .
13.162 13.167 13.171 13.174 13.175 13.176 13.177 13.178 13.179 13.180 13.190 13.192 13.193 13.194 13.198 13.199 13.201 13.202 13.204 13.209 13.211 13.212 13.214 13.218
13.159
Literatur: Aisenbrey, § 31 Abs. 6 Satz 1 WpÜG bei mehraktigen Erwerbsvorgängen, Kommentar zu BGH v. 7.11.2017 – II ZR 37/16, AG 2018, 105; AG 2018, 102; Angerer/Geibel/Süßmann, WpÜG, 3. Aufl. 2017; Assmann, Überlagerung und Komplementierung des Aktienrechts nach dem Aktien-
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Börsennotierte Unternehmen
Kap. 13
gesetz 1965 durch Kapitalmarktrecht, AG 2015, 597; Assmann/Pötzsch/Uwe. H. Schneider, WpÜG, 2. Aufl. 2013; Bader, Iudex non calculat sed inspicet tabula pretiorum, Kommentar zu OLG Frankfurt v. 19.1.2016 – 5 U 2/15 – Magnetar/McKesson, AG 2016, 249, AG 2016, 239; Baums/Thoma (Hrsg.), WpÜG, 11. Aktualisierung 2016; Boucsein/Schmiady, Aktuelle Entwicklungen bei der Durchführung von Übernahmeangeboten nach dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG), AG 2016, 597; Brellochs, Konzernrechtliche Beherrschung und übernahmerechtliche Kontrolle, NZG 2012, 1010; Bunz, Suspensiveffekt von Befreiungs- und Nichtberücksichtigungsanträgen im Übernahmerecht (§§ 36, 37 WpÜG), ZIP 2014, 454; Cascante/Tyrolt, 10 Jahre WpÜG – Reformbedarf im Übernahmerecht?, AG 2012, 97; Ehricke/Ekkenga/Oechsler, WpÜG, 2003; Diekmann, Änderungen im Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz anlässlich der Umsetzung der EU-Übernahmerichtlinie in das deutsche Recht, NJW 2007, 17; Ekkenga, Neuere Entwicklungen zur Preisverantwortung des Bieters im Übernahmerecht – das Postbank-Urteil des BGH, ZGR 2015, 485; Florstedt, Der Aufbau von Fremdkapitalpositionen mit dem Ziel einer schuldenbasierten Unternehmensübernahme, ZIP 2015, 2345; Gaul, Politische Einflussnahme bei der gescheiterten Übernahme von K+S durch Potash, Effektives Verteidigungsmittel oder unzulässiger Protektionismus?, AG 2016, 484; Gei/Kiesewetter, Praxisrelevante Aspekte öffentlicher Übernahmen in Zeiten volatiler Märkte, AG 2012, 741; Haarmann/Schüppen, Frankfurter Kommentar zum WpÜG, 3. Aufl. 2008; Habersack, Verhinderungsverbot und Pflichtangebotsregel – Eckpfeiler des europäischen Übernahmerechts?, ZHR 181 (2017), 603; Hasselbach, Das gerichtliche Bewertungsverfahren nach § 39b WpÜG, BB 2010, 2842; Hasselbach, Taking Private – aktuelle Themen bei der Übernahme börsennotierter Unternehmen, BB 2015, 1033; Hasselbach/Pröhl, Entwicklung des Übernahmerechts 2015/2016, BB 2016, 1091; Hasselbach/Peters, Entwicklung des Übernahmerechts 2016/2017, BB 2017, 1347; Hippeli, Genehmigung von Auslandsdirektinvestitionen seitens chinesischer Staatskonzerne – Die Problematik entsprechender Angebotsbedingungen i.S.d. § 18 WpÜG, AG 2014, 267; Hippeli, Rechtsprobleme von nach der Übernahmepublizität pluralistisch agierenden Bietern im öffentlichen Übernahmerecht, NZG 2016, 1207; Hippeli/Diesing, Business Combination Agreements bei M&A-Transaktionen, AG 2015, 185; Hippeli/ Hofmann, Die Stellungnahme des Vorstands und Aufsichtsrats der Zielgesellschaft nach § 27 WpÜG in der Anwendungspraxis der BaFin, NZG 2014, 850; Hippeli/Klepsch, „No, not yet or never?“ – zur Reichweite der Bindungswirkung von negativen Absichtserklärungen im Übernahmerecht, WM 2016, 1205; Hippeli/Schmiady, Übernahmerechtliche Aspekte der Unternehmensnachfolge bei börsennotierten Familienunternehmen, ZIP 2015, 705; Hirte/von Bülow, Kölner Kommentar zum WpÜG, 2. Aufl. 2010; Hitzer/Hauser, Stimmrechtszurechnung: acting in concert und Kettenzurechnung im Lichte der vollharmonisierenden Wirkung der Transparenzrichtlinie, NZG 2016, 1365; Kiefner/Happ, Zulässigkeit von Standstill und Lock-up Agreements bei der Aktiengesellschaft, ZIP 2015, 1811; Koch, Unzulänglichkeiten im Übernahmerecht? Das Verhinderungsverbot aus institutionenökonomischer Perspektive, WM 2010, 1155; Kocher, Strategien im Umgang mit aktivistischen Aktionären und Investoren in Deutschland, DB 2016, 2887; Krause, Zum richterrechtlichen Anspruch der Aktionäre auf angemessene Gegenleistung bei Übernahme- und Pflichtangeboten – Zugleich Besprechung von BGH v. 29.7.2014 – II ZR 353/12, AG 2014, 662 – Postbank, AG 2014, 833; Krause/Albien, BB-Gesetzgebungsund Rechtsprechungsreport zu Mergers & Acquisitions und Corporate Finance, BB 2015, 194; Krieg/ Kausemann, Unternehmensübernahmen: BaFin-Studie – Deutliche Preisreaktionen auf Übernahmemeldungen, BaFin Journal 8/2014, 18; Leyendecker/Herfs, Mindestpreis- und Preisanpassungsregelungen bei Delistingangeboten, BB 2018, 643; Leyendecker-Langner, Die Stellungnahme nach § 27 WpÜG bei Interessenkonflikten von Organmitgliedern, NZG 2016, 1213; Leyendecker-Langner/Huthmacher, Die Aufstockungsabsicht nach § 27a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 WpHG im Kontext von öffentlichen Übernahmen, AG 2015, 560; Leyendecker-Langner/Läufer, Transaktionssicherheit und übernahmerechtliche Meldepflichten, NZG 2014, 161; Löhdefink/Jaspers, Fortgeschrittenenveranstaltung zum WpÜG – Die Postbank-Entscheidung des BGH und ihre praktischen Implikationen – Zugleich Besprechung BGH v. 29.7.2014 – II ZR 353/12, ZIP 2014, 1623, ZIP 2014, 2261; Mayer-Uellner, Die Finanzierung öffentlicher Übernahmen im Lichte des Vollangebotsgrundsatzes, AG 2012, 399; Mayer-Uellner, From Public to Private: Öffentliche Übernahmen durch Private Equity-Investoren, AG 2013, 828; Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, Band 6: §§ 329-410, WpÜG, Österreichisches Übernahmerecht, 4. Aufl. 2017 (zitiert: MünchKomm. AktG); Nikoleyczik/Hildebrand, Anwendbarkeit des § 31 VI 1 WpÜG auf Wandelschuldverschreibungen – Magnetar/McKesson, NZG 2016, 505; Oppen-
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Kap. 13
Börsennotierte Unternehmen
hoff/Horcher, Rechtsentwicklungen im Übernahmerecht 2016, DB Beilage 2016, Nr 6, 25; Oppenhoff/ Illert, Rechtsentwicklungen im Übernahmerecht 2017, DB Beilage 2017, Nr 3, 24; Paschos/Fleischer, Handbuch Übernahmerecht nach dem WpÜG, 2017; Reichert, Business Combination Agreements – Fallgruppen und Problemkreise, ZGR 2015, 1; Scheibenpflug/Tönningsen, Interessenschutzklausel als acting in concert und Rechtsfolgen eines verspäteten Übernahmeangebots – Eine Untersuchung aus Anlass des Urteils zur Postbank-Übernahme BGH, 29.7.2014 – II ZR 353/12, ZBB 2014, 344, BKR 2015, 140; Scholl/Siekmann, Rechtsgeschäftliche Probleme im Übernahmerecht, BKR 2013, 316; Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl. 2010; Seibt, Reform der EU-Übernahmerichtlinie und des deutschen Übernahmerechts, Ergebnisse einer Experten-Umfrage, ZIP 2012, 1; Steinmeyer, WpÜG, 3. Aufl. 2013; Technau, Die Auswirkungen des Erwerbs von Wandelschuldverschreibungen auf Art und Höhe der Gegenleistung in Übernahmeangeboten – Anmerkung zu OLG Frankfurt/M. vom 19.1.2016 – 5 U 2/15, Der Konzern 2016, 313; Verse, Neues zum Rechtsschutz der Aktionäre im Übernahmerecht – Die Postbank-Entscheidung des BGH und ihre Folgen, Der Konzern 2015, 1; Wackerbarth, Die Umgehung der Mindestpreisregeln des WpÜG durch zeitlich gestreckte Erwerbsvorgänge – und ihre Verhinderung, ZIP 2012, 253; Wasse, Die Angemessenheit des Angebotspreises bei aufeinanderfolgenden Übernahmeangeboten, AG 2012, 784; Wilk, Der FamilienTrust als Bieter im deutschen Übernahmerecht, ZIP 2013, 1549.
Überblick Für den Erwerb börsennotierter Unternehmen gelten besondere Rahmenbedingungen. Im Vordergrund steht dabei das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG), das formelle und materielle Vorgaben für Public M&A Transaktionen enthält. In der Einleitung (Abschnitt A) werden Ziele, Systematik und Anwendungsbereich des WpÜG sowie dessen Praxisrelevanz behandelt. Abschnitt B beschreibt Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots. Dabei werden zunächst die typischerweise mit einem solchen Angebot verfolgten Ziele sowie Vorbereitungsmaßnahmen des Bieters, wie (heimlicher) Beteiligungsaufbau, Vereinbarungen mit Großaktionären und Due Diligence erläutert. Ein erster Schwerpunkt liegt auf den gesetzlichen Regelungen über Art und Höhe der vom Bieter anzubietenden Gegenleistung. Praxisprobleme ergeben sich, wenn der Bieter Aktien als Gegenleistung anbieten möchte. Häufiger Streitpunkt ist darüber hinaus die Berechnung der Höhe der Bargegenleistung sowie die Abdeckung durch die gesetzlich vorgeschriebene Finanzierungsbestätigung. Zur Höhe der Gegenleistung wird die aktuelle Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Wandelanleihen (Celesio) und zur Vorverlegung des Referenzzeitraums für Vorerwerbe (Postbank) beleuchtet. Ausführlich werden auch zulässige und unzulässige Bedingungen diskutiert. Im Anschluss behandelt der Beitrag den Inhalt der gesetzlich vorgeschriebenen Angebotsunterlage und die damit zusammenhängenden Veröffentlichungen. Abgeschlossen wird der Abschnitt zum Übernahmeangebot mit einer grafischen Darstellung, die den Ablauf eines solchen Angebots im Überblick zeigt. Abschnitt C geht ausführlich auf Pflichtangebote ein. Anknüpfungspunkt ist der gesetzlich definierte Begriff des Kontrollerwerbs. Verkompliziert wird die Rechtslage dadurch, dass dem Bieter nicht nur eigene, sondern auch fremde Aktien zugerechnet werden können. Besondere Risiken lauern in diesem Zusammenhang beim sog. Acting in Concert; hier hat die Rechtsprechung zuletzt im Fall der Übernahme der Postbank einige Pflöcke eingeschlagen. Erhebliche Praxisrelevanz haben auch die Verfahren, mit denen Ausnahmen vom Pflichtangebot geltend gemacht werden können, z.B. bei Konzernumstrukturierungen und Sanierungen. Geklärt werden auch die Rechtsschutzmöglichkeiten von Bietern und Aktionären im Zusammenhang mit Pflichtangeboten. In Abschnitt D werden schließlich die Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft analysiert. Dabei stellt sich zunächst die Frage nach präventiven Schutzmaßnahmen. Diese unterliegen grundsätzlich den allgemeinen aktienrechtlichen 1096
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A. Einleitung
Rz. 13.2 Kap. 13
Organpflichten (§§ 93, 116 AktG). Ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung eines Angebots überlagern die Spezialvorschriften des WpÜG die Vorschriften des AktG. Nach jenen müssen Vorstand und Aufsichtsrat eine Stellungnahme zu dem Angebot abgeben, um den Aktionären eine bessere Informationsbasis für die Entscheidung über die Annahme des Angebots zu verschaffen (Transparenzgrundsatz). Sondervorteile oder Anerkennungsprämien für Organmitglieder unterliegen strengen Beschränkungen. Grundsätzlich müssen sich die Organe Angeboten gegenüber neutral verhalten und dürfen diese nicht verhindern. Zu diesem Grundsatz gibt es allerdings eine Vielzahl an Ausnahmen. Schon eine negative Stellungnahme zum Angebot kann eine erhebliche Abwehrwirkung entfalten. Auch darf der Vorstand Maßnahmen eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters fortführen und nach einem konkurrierenden Angebot suchen. Großen Freiraum verschafft dem Vorstand ferner die Möglichkeit, weitere Maßnahmen zur Verhinderung des Angebots zu ergreifen, wenn der Aufsichtsrat diesen zustimmt. Darauf folgt eine Diskussion verschiedener konkreter Abwehrmaßnahmen, wie Kapitalmaßnahmen, Veräußerungsbeschränkungen, Werbemaßnahmen oder der Ausnutzung regulatorischer Zustimmungserfordernisse. Der Beitrag schließt mit einer Betrachtung der Rechtsfolgen beim Verstoß gegen Verhaltenspflichten.
A. Einleitung Der Erwerb börsennotierter Unternehmen („Public M&A“) weist gegenüber dem Erwerb 13.1 nicht börsennotierter Unternehmen („Private M&A“) Besonderheiten auf. Das betrifft erstens die Rechtsform der Zielunternehmen. Da eine Börsennotierung nur für Wertpapiere möglich ist (§ 32 Abs. 1 BörsG), beschränkt sich Public M&A auf den Erwerb von Gesellschaftsanteilen, die Wertpapiere sind, also in Deutschland von Aktien (§ 10 AktG). Zielgesellschaften für Public M&A Transaktionen in Deutschland können folglich nur Aktiengesellschaften (AG, § 1 Abs. 2 AktG)1, Kommanditgesellschaften auf Aktien (KGaA, § 278 Abs. 1 AktG) sowie die Societas Europaea (SE, Art. 1 Abs. 2 Satz 1 SE-VO) sein. Zweitens sind aufgrund der Börsennotierung eine unbestimmte Vielzahl an Aktionären betroffen, deren Interessen durch eine Übernahme berührt werden. Drittens haben die Leitungsorgane bei börsennotierten Gesellschaften einen besonders großen Informationsvorsprung gegenüber den Kleinaktionären, der Interessenkonflikte zwischen den beiden Gruppen verschärfen kann. Schließlich besteht ein öffentliches Interesse an einem funktionierenden, fairen und geordneten Kapitalmarkt, der durch ungeregelte Übernahmen gestört werden kann. Der Gesetzgeber hat dem mit dem am 1.1.2002 in Kraft getretenen Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes (WpÜG) Rechnung getragen. Seitdem sind mehr als 500 öffentliche Kauf- und Tauschangebote zum Erwerb von Wertpapieren veröffentlicht worden.2 Die weitaus größte Zahl dieser Angebote findet in Abstimmung mit Vorstand und Großaktionären der Zielgesellschaft als sog. „freundliche Übernahme“ statt, die von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird. „Feindliche Übernahmen“, also nicht mit dem Management der Zielgesellschaft abgestimmte Angebote, erregen hingegen große öffentliche Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Genannt sei hier die Übernahme der Mannesmann AG durch Vodafone Airtouch plc., die Übernahme der Continental AG durch die Schaeffler KG und zuletzt das Angebot der Fortum Deutschland SE an die Aktjonäre der Uniper SE. 1 Zur Überlagerung des Aktienrechts durch das Kapitalmarktrecht, eingehend Assmann, AG 2015, 597 ff. 2 Stand: Januar 2018. Alle Angebote mit Verweis auf Angebotsunterlagen sind auf der Webseite der BaFin unter www.bafin.de abrufbar.
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13.2
Kap. 13 Rz. 13.3
Börsennotierte Unternehmen
13.3 Die folgende Darstellung gibt einen Überblick über die wichtigsten gesetzlichen Regelungen und den Ablauf von öffentlichen Angeboten in Deutschland. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Darstellung der Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft im Vorfeld von und während öffentlichen Angeboten.
I. Das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG) 13.4 In Deutschland wurden öffentliche Übernahmen erstmals im Jahre 1979 durch die von der Börsensachverständigenkommission (BSK)3 erlassenen Leitsätze für freiwillige Übernahmeangebote4 reguliert, die aber kaum praktische Bedeutung erlangten. Sie wurden nach vorausgegangenen Beratungen einer von den Mitgliedern der BSK berufenen Übernahmekommission durch einen ebenfalls freiwilligen Übernahmekodex abgelöst, der am 1.10.1995 in Kraft trat. Aufgrund der geringen Akzeptanz des Übernahmekodex5 schlug die Übernahmekommission im Februar 1999 schließlich die Einführung einer gesetzlichen Regelung vor. Das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG)6 wurde vom Bundestag am 15.11.2001 verabschiedet und trat am 1.1.2002 in Kraft. Seitdem ist das WpÜG mehrfach geändert worden, wobei sich umfangreichere materielle Änderungen insbesondere 2006 im Zuge der Umsetzung der Übernahmerichtlinie7 durch das Übernahmerichtlinie-Umsetzungsgesetz8 ergeben haben. Reformvorschläge nach Ablauf der Revisionsfrist im Jahr 20119 sind bisher nicht realisiert worden. 1. Ziele des WpÜG
13.5 Ziel des WpÜG ist es, Rahmenbedingungen für Unternehmensübernahmen und andere öffentliche Angebote zum Erwerb von Wertpapieren zu schaffen10 und damit den „Markt für Unternehmenskontrolle“11 zu regulieren. Dabei sollen die Interessen der Zielgesellschaft, der Aktionäre der Zielgesellschaft, des Bieters und des Kapitalmarkts in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden. Formal stehen dabei Vorschriften über ein geordnetes Übernahmeverfahren unter der Aufsicht der BaFin im Mittelpunkt. Kennzeichen dieses Verfahrens sind Information und Transparenz. Materieller Kern des WpÜG ist die Pflicht des Bieters, 3 Die seit 1968 bestehende BSK ist ein unabhängiges Beratergremium des Bundesfinanzministeriums (BMF). Der BSK gehören an: Vertreter der Anlegerschutzverbände, Kreditinstitute, Versicherungen, Investmentgesellschaften, Börsen, Industrie, Deutschen Bundesbank, Wissenschaft und des Länderarbeitskreises Börsen, vgl. die Informationen auf der Webseite der Deutsche Börse AG (http://deutsche-boerse.com/dbg-de/ueber-uns/initiativen/weitere-initiativen). 4 „Leitsätze für öffentliche freiwillige Kauf- und Umtauschangebote bzw. Aufforderungen zur Abgabe derartiger Angebote im amtlich notierten oder im geregelten Freiverkehr gehandelten Aktien bzw. Erwerbsrechten“, abgedruckt in Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 30. Aufl. 1995, 2. Teil Nr. 18 (Übernahmeangebote). 5 Bis zum 11.4.2001 hatten von den 1016 börsennotierten inländischen Unternehmen (ohne Freiverkehr) lediglich 755 Unternehmen (darunter 86 Unternehmen des DAX-100) den Übernahmekodex anerkannt; vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 27. 6 BGBl. I 2001, 3822. 7 Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. Nr. L 142 v. 30.4.2004, 12. 8 BGBl. I 2006, 1426. 9 S. die Zusammenfassung einer Expertenumfrage bei Seibt, ZIP 2012, 1 ff. 10 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 28. 11 Assmann, AG 2015, 597 (611 f. m.w.N.).
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A. Einleitung
Rz. 13.7 Kap. 13
bei einem von ihm erreichten oder angestrebten Kontrollwechsel den übrigen Aktionären, den Erwerb ihrer Aktien zu einem angemessenen Preis anzubieten und diesen damit eine Veräußerung ihrer Beteiligung zu ermöglichen sowie das prinzipielle Verbot für den Vorstand, das Angebot zu verhindern.12 Nicht erfasst werden schuldenbasierte Übernahmen („Distressed Debt Takeover“), also solche, die ohne den Erwerb von Aktien erfolgen.13 2. Systematik des WpÜG Das WpÜG enthält materielle Vorschriften zu seinem Anwendungsbereich, zu allgemeinen Grundsätzen (§§ 1 ff.) und zu den einzelnen Angebotstypen (§§ 10, 29, 35 ff.). Daneben finden sich in den §§ 4 ff. formelle Regelungen über die Zuständigkeit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht („BaFin“) sowie über Verfahren, Rechtsmittel und Sanktionen (§§ 40, 48, 59 ff.).14
13.6
a) Angebotsarten Das WpÜG unterscheidet drei Arten von öffentlichen Angeboten: einfache öffentliche Erwerbsangebote, Übernahmeangebote und Pflichtangebote. Dazu kommt seit Ende 2015 als Spezialfall des einfachen Angebots das Delisting-Erwerbsangebot.15 Einfache öffentliche Erwerbsangebote sind solche, mit denen der Bieter entweder eine Beteiligung von weniger als 30 % der Stimmrechte an der Zielgesellschaft zu erreichen beabsichtigt (Einstiegsangebote), oder aber eine bereits bestehende Beteiligung von mehr als 30 % der Stimmrechte aufzustocken gedenkt (Aufstockungsangebote). Übernahmeangebote sind dagegen auf die Erlangung von Kontrolle gerichtet. Kontrolle ist das Halten von 30 % der Stimmrechte der Zielgesellschaft (§ 29 Abs. 2 WpÜG) unter Berücksichtigung eigener und gem. § 30 WpÜG zuzurechnender Stimmrechte. Pflichtangebote sind Angebote, die ein Bieter unterbreiten muss, nachdem er anderweitig die Kontrolle über die Zielgesellschaft erlangt hat. Mit einem Delisting-Erwerbsangebot wird der Widerruf der Zulassung von Aktien vom regulierten Markt angestrebt. Der Aufbau des Gesetzes folgt der Einteilung in die verschiedenen Angebotsarten. Grundfall der Angebote ist das einfache Erwerbsangebot. Weitere Anforderungen werden an Übernahmeangebote und Pflichtangebote gestellt. Dabei wird für das Übernahmeangebot grundsätzlich auf die Vorschriften für das einfache Erwerbsangebot verwiesen und für das Pflichtangebot auf die Vorschriften für das Übernahmeangebot. Das Delisting-Erwerbsangebot ist in § 39 BörsG geregelt, der wiederum in teilweiser modifizierter Form auf das WpÜG verweist.16
12 Kritisch zur Rechtfertigung und Effektivität dieser Grundsätze Habersack, ZHR 2017, 603 ff. 13 Dazu kritisch und mit einem Reformvorschlag Florstedt, ZIP 2015, 2345 (2351 ff.). 14 Zum Aufbau des WpÜG: Noack/Zetsche in Schwark/Zimmer, Einleitung WpÜG Rz. 7 ff.; Steinmeyer in Steinmeyer, WpÜG, Einleitung Rz. 28 ff.; Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, WpÜG, Einleitung Rz. 37 ff. 15 Im Rahmen des Umsetzungsgesetzes zur EU-Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie (BGBl. I 2015, 2029) hat der Gesetzgeber zum 26.11.2015 mit dem neuen § 39 Abs. 2-6 BörsG ein modifiziertes Erwerbsangebot als Voraussetzung für den Widerruf der Zulassung von Wertpapieren eingeführt. 16 Zu ersten Anwendungsfällen: Oppenhoff/Illert, DB Beilage 2017, Nr. 3, 24 (25 f.); zu Mindestpreis- und Preisanpassungsregelungen Leyendecker/Herfs, BB 2018, 643 ff.
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13.7
Kap. 13 Rz. 13.8
Börsennotierte Unternehmen
b) Verordnungen
13.8 Neben den gesetzlichen Bestimmungen des WpÜG sind die Verordnungen des Bundesfinanzministeriums zu beachten. Zur Regelung von Details sind bislang sechs Rechtsverordnungen erlassen worden: Drei Verordnungen beschäftigen sich mit formellen Fragen, d.h. der Zusammensetzung des bei der BaFin einzurichtenden Beirats17 bzw. des Widerspruchsausschusses18 sowie mit den Verwaltungsgebühren.19 Zwei Verordnungen regeln näher Einzelfragen bei Angeboten mit Auslandsbezug20 bzw. bei Zielgesellschaften, die in mehreren Mitgliedsstaaten, aber nicht in ihrem Herkunftsstaat börsennotiert sind21. Von erheblicher materieller Bedeutung ist die auf Grund von §§ 11 Abs. 4, 31 Abs. 7 und 37 Abs. 2 WpÜG erlassene „Verordnung über den Inhalt der Angebotsunterlage, die Gegenleistung bei Übernahmeangeboten und Pflichtangeboten und die Befreiung von der Verpflichtung zur Veröffentlichung und zur Abgabe eines Angebots“ (WpÜG-AngebotsVO).22 Sie konkretisiert insbesondere die Höhe der gem. § 31 Abs. 1 WpÜG zu gewährenden „angemessenen Gegenleistung“ und die Ausnahmen von der Abgabe eines Pflichtangebots. Aus gesetzgeberischer Sicht bieten Rechtsverordnungen den Vorteil, dass sie geänderten Gegebenheiten leichter als formelle Gesetze angepasst werden können. 3. Anwendungsbereich des WpÜG
13.9 Das WpÜG ist auf Angebote zum Erwerb von Wertpapieren anwendbar, die von einer Zielgesellschaft ausgegeben wurden und zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen sind, § 1 Abs. 1 WpÜG. a) Zielgesellschaft
13.10 Zielgesellschaften sind Aktiengesellschaften (AG), auch die Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea, SE, über Art. 9 Abs. 1 c) ii. SE-VO),23 oder Kommanditgesellschaften auf Aktien (KGaA) mit Sitz im Inland und Gesellschaften mit Sitz in einem anderen Staat des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), § 2 Abs. 3 WpÜG. Durch das ÜbernahmerichtlinieUmsetzungsgesetz wurde der internationale Anwendungsbereich neu geregelt. Im Ergebnis ist 17 Verordnung über die Zusammensetzung, die Bestellung der Mitglieder und das Verfahren des Beirats bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (WpÜG-BeiratsVO), BGBl. I 2001, 4259. 18 Verordnung über die Zusammensetzung und das Verfahren des Widerspruchsausschusses bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (WpÜG-WiderspruchsausschussVO), BGBl. I 2001, 4261. 19 Verordnung über Gebühren nach dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG-GebührenVO), BGBl. I 2001, 4267. 20 Verordnung über die Anwendbarkeit von Vorschriften betreffend Angebote i.S.d. § 1 Abs. 2 und 3 des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes (WpÜG-Anwendbarkeitsverordnung), BGBl. I 2006, 1698. 21 Verordnung über den Zeitpunkt sowie den Inhalt und die Form der Mitteilung und der Veröffentlichung der Entscheidung einer Zielgesellschaft nach § 1 Abs. 5 Satz 1 und 2 des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes (WpÜG-Beaufsichtigungsmitteilungsverordnung), BGBl. I 2006, 2266. 22 Verordnung über den Inhalt der Angebotsunterlage, die Gegenleistung bei Übernahmeangeboten und Pflichtangeboten und die Befreiung von der Verpflichtung zur Veröffentlichung und zur Abgabe eines Angebots (WpÜG-AngebotsVO), BGBl. I 2001, 4263. 23 Noack/Holzborn in Schwark/Zimmer, § 2 WpÜG Rz. 18 f.
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Rz. 13.13 Kap. 13
das WpÜG uneingeschränkt anwendbar auf Gesellschaften mit Sitz im Inland, deren stimmberechtigte Aktien auch im Inland börsennotiert sind. Auf Gesellschaften mit Sitz im Inland, deren Aktien nur in einem anderen EWR-Staat börsennotiert sind, war das WpÜG ursprünglich ebenfalls uneingeschränkt anwendbar. Nunmehr ist das WpÜG auf diese Fälle nur noch insoweit anwendbar, als es die Kontrolle, die Verpflichtung zur Abgabe eines Angebots, die Unterrichtung der Arbeitnehmer der Zielgesellschaft oder des Bieters, Handlungen des Vorstands der Zielgesellschaft, durch die der Erfolg eines Angebots verhindert werden kann, oder andere gesellschaftsrechtliche Fragen betrifft, § 1 Abs. 2 WpÜG. Auf Angebote, die eine Zielgesellschaft mit Sitz in einem anderen Staat des EWR betreffen, ist das WpÜG nur anzuwenden, wenn das Angebot nach dem Recht des Sitzstaates als Angebot im Sinne der Übernahmerichtlinie gilt und die Zielgesellschaft nur in Deutschland börsennotiert ist oder Deutschland das Land der primären Börsennotierung ist, soweit es Fragen der Gegenleistung, des Inhalts der Angebotsunterlage und des Angebotsverfahrens regelt, § 1 Abs. 3 WpÜG. b) Organisierter Markt Organisierter Markt sind nach § 2 Abs. 7 WpÜG der regulierte Markt an einer Börse im Inland und der geregelte Markt i.S.d. Art. 4 Abs. 1 Nr. 14 der Richtlinie 2004/39/EG über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID I)24. Der Freiverkehr gehört nicht zu den organisierten Märkten im Sinne dieser Vorschrift. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber mit dem WpÜG gerade zum Schutz der Kleinaktionäre ein geordnetes Verfahren für Übernahmen sicherstellen wollte, ist diese Regelung unverständlich. Aktionäre von im Freiverkehr gehandelten Wertpapieren sind genauso schutzwürdig wie die Inhaber von an organisierten Märkten zugelassenen Wertpapieren.25 Im Übrigen war schon der Übernahmekodex auf Freiverkehrswerte anwendbar. Andererseits ist zu bedenken, dass eine Notierung im Freiverkehr ohne Mitwirkung des Emittenten erfolgen kann. Aus dessen Sicht ist die Differenzierung daher mit Blick auf die umfangreichen Pflichten des Managements bei öffentlichen Angeboten nach dem WpÜG verständlich.
13.11
c) Bieter Bieter kann jede natürliche oder juristische Person des Privatrechts oder des öffentlichen Rechts sein, sofern sie allein oder gemeinsam mit anderen Personen (§ 2 Abs. 5 und Abs. 6 WpÜG) ein Angebot abgibt, die Abgabe beabsichtigt oder zur Abgabe verpflichtet ist, § 2 Abs. 4 WpÜG. Auch ausländische Bieter unterfallen damit ohne weiteres den Pflichten des WpÜG.26
13.12
Auch für die (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts ist inzwischen anerkannt, dass sie als Rechtsträgerin anzusehen ist.27 Schließen sich mehrere natürliche oder juristische Personen zum Zwecke der gemeinsamen Abgabe eines Angebots zusammen, so ist diese Gesellschaft bürgerlichen Rechts somit Bieterin i.S.v. § 2 Abs. 4 WpÜG.28
13.13
24 ABl. EU Nr. L 145 v. 30.4.2004, S. 1. 25 S. zur Diskussion: Baums/Hecker in Baums/Thoma, § 1 WpÜG Rz. 49. 26 Santelmann in Steinmeyer, § 2 WpÜG Rz. 12; Noack/Holzborn in Schwark/Zimmer, § 2 WpÜG Rz. 24 ff.; Angerer in Angerer/Geibel/Süßmann, § 2 WpÜG Rz. 6 ff. 27 BGH v. 29.1.2002 – II ZR 331/00, ZIP 2001, 330. 28 Baums/Hecker in Baums/Thoma, § 2 WpÜG Rz. 109 ff.; Schüppen in Haarmann/Schüppen, § 2 WpÜG Rz. 43; Angerer in Angerer/Geibel/Süßmann, § 2 WpÜG Rz. 22 ff.
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Kap. 13 Rz. 13.14
Börsennotierte Unternehmen
d) Wertpapiere
13.14 Wertpapiere sind Aktien, mit diesen vergleichbare Wertpapiere und Zertifikate, die Aktien vertreten,29 sowie Wertpapiere, die den Erwerb der genannten Papiere zum Gegenstand haben, also insbesondere Optionsanleihen, Wandelschuldverschreibungen und Optionsscheine, § 2 Abs. 2 WpÜG.30 Entscheidend ist, ob die Papiere ein mitgliedschaftliches Recht bzw. einen Anspruch auf Einräumung eines mitgliedschaftlichen Rechts verkörpern.31 Unmaßgeblich ist hingegen, ob die Wertpapiere auch ein Stimmrecht gewähren.32 Somit können auch Vorzugsaktien, die kein Stimmrecht gewähren (§ 12 Abs. 1 Satz 2 AktG), Gegenstand von Pflicht- und Übernahmeangeboten sein. e) Öffentliche Angebote
13.15 Angebote sind freiwillige oder aufgrund einer Verpflichtung nach dem WpÜG erfolgende öffentliche Kauf- oder Tauschangebote zum Erwerb von Wertpapieren der Zielgesellschaft, § 2 Abs. 1 WpÜG. Wann ein Angebot „öffentlich“ ist, wird vom Gesetz nicht näher konkretisiert. Maßgeblich ist, ob sich das Angebot nur an einen begrenzten Personenkreis richtet, der Bieter also einzelne Aktionäre der Zielgesellschaft individuell anspricht, oder ob ein unbestimmter Personenkreis dazu aufgefordert wird, seine Wertpapiere an den Bieter zu veräußern.33 4. Allgemeine Grundsätze
13.16 Grundlegende Wertungen des Gesetzgebers, die bei der Anwendung des WpÜG zu berücksichtigen sind, wurden in § 3 WpÜG verankert. Sie bilden Auslegungshilfen im Sinne allgemeiner Programmsätze, die bei Zweifelsfragen zu Detailregelungen herangezogen werden können.
13.17 Ein auch bereits im Übernahmekodex anerkanntes Prinzip ist dabei die Pflicht zur Gleichbehandlung von Aktionären der gleichen Gattung der Zielgesellschaft, § 3 Abs. 1 WpÜG. Bei der Gestaltung des Angebots und bei der Abwicklung sind die Inhaber von Wertpapieren einer Gattung materiell und formal in jeder Hinsicht gleich zu behandeln.34 Inhaber von Wertpapieren unterschiedlicher Gattungen dürfen dagegen ungleich behandelt werden. So muss beispielsweise Vorzugs- und Stammaktionären nicht der gleiche Preis geboten werden. In der Praxis ist dies besonders bei den öffentlichkeitswirksamen Angeboten an die Vorzugsaktionäre der ProSiebenSat.1 Media AG und der Wella AG deutlich geworden.35 29 Z.B. Zwischenscheine oder American Depositary Receipts, vgl. Baums/Hecker in Baums/Thoma, § 2 WpÜG Rz. 60; Noack/Holzborn in Schwark/Zimmer, § 2 WpÜG Rz. 15. 30 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 34; Angerer in Angerer/Geibel/Süßmann, § 1 WpÜG Rz. 40 ff.; Baums/Hecker in Baums/Thoma, § 2 WpÜG Rz. 63; Schüppen in Haarmann/Schüppen, § 2 WpÜG Rz. 27. 31 Santelmann in Steinmeyer, § 1 WpÜG Rz. 20; Schüppen in Haarmann/Schüppen, § 2 WpÜG Rz. 25 ff.; Assmann/Favoccia in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, § 2 WpÜG Rz. 46 ff. 32 Assmann/Favoccia in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, § 2 WpÜG Rz. 47. 33 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 33; Baums/Hecker in Baums/Thoma, § 2 WpÜG Rz. 19 ff.; Angerer in Angerer/Geibel/Süßmann, § 2 WpÜG Rz. 20 ff. 34 Baums/Hecker in Baums/Thoma, § 3 WpÜG Rz. 11; Versteegen in KölnKomm/WpÜG, § 3 WpÜG Rz. 14. 35 BaFin, Jahresbericht 2003, 208; OLG Frankfurt v. 4.7.2003 – WpÜG 4/03, AG 2003, 513 – Wella AG II.
1102
Müller-Michaels
B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots
Rz. 13.23 Kap. 13
Die Inhaber von Wertpapieren der Zielgesellschaft müssen über genügend Zeit und ausreichende Informationen verfügen, um in Kenntnis der Sachlage über das Angebot zu entscheiden, § 3 Abs. 2 WpÜG. Eine konkrete Ausprägung dieser Prinzipien findet sich in den detaillierten Vorschriften zur Angebotsunterlage (§ 11 WpÜG i.V.m. WpÜG-AngebotsVO) und den Vorschriften zu Mindestfristen für das Angebot (§ 16 WpÜG). Die Vorschrift soll als Programmsatz im Hinblick auf den Inhalt der Angebotsunterlage keinen eigenen auf den Einzelfall bezogenen Anwendungsbereich haben.36
13.18
Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft müssen darüber hinaus stets im Gesellschaftsinteresse handeln, § 3 Abs. 3 WpÜG. Da sich dies bereits aus den aktienrechtlichen Vorschriften in §§ 93, 116 AktG ergibt, hat dieser Grundsatz lediglich klarstellende Funktion (s. hierzu Rz. 13.132).
13.19
Um die Zielgesellschaft nicht unnötig zu belasten, ist das Verfahren rasch durchzuführen, § 3 Abs. 4 WpÜG. Zudem verbietet § 3 Abs. 5 WpÜG die Schaffung von Marktverzerrungen beim Handel mit Wertpapieren der Zielgesellschaft.
13.20
II. Veröffentlichte Angebotsunterlagen Insgesamt sind seit dem Inkrafttreten des WpÜG im Jahr 2002 knapp über 500 Angebote ver- 13.21 öffentlicht worden (Stand Januar 2018)37. In den letzten Jahren hat sich die Zahl pro Jahr auf Anfang bis Mitte 20 eingependelt. Im Jahr 2012 wurden 27 Angebote veröffentlicht, im Jahr 2013 23, im Jahr 2014 26, im Jahr 2015 18, im Jahr 2016 22 und im Jahr 2017 23; in weit mehr als der Hälfte der Fälle handelte es sich um Übernahmeangebote; zunehmende Bedeutung erlangen Delisting-Erwerbsangebote.38
B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots Auch wenn gesetzessystematisch das einfache öffentliche Erwerbsangebot den Grundfall darstellt, orientiert sich die nachfolgende Darstellung an einem Übernahmeangebot, weil dieses den in der Praxis des Unternehmenskaufs relevanteren Fall darstellt. Zunächst werden verschiedene zentrale Punkte bei der Vorbereitung eines Angebots dargestellt und anschließend die eigentliche Angebotsphase aus Sicht des Bieters beschrieben.
13.22
I. Vorbereitungsphase Nach der Identifizierung eines geeigneten Targets durch den Bieter wird in der Regel ein Team von eigenen Mitarbeitern, Investmentbankern, Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern zusammengestellt. Geht der Bieter von einer feindlichen Übernahme aus, so ist die Einschaltung einer Werbeagentur bereits in einem frühen Stadium ratsam. In diesem Stadium sind
36 Versteegen in KölnKomm/WpÜG, § 3 WpÜG Rz. 30 f.; Schüppen in Haarmann/Schüppen, § 3 WpÜG Rz. 21; Baums/Hecker in Baums/Thoma, § 3 WpÜG Rz. 27 f. 37 Die Zahlen sind in den Jahresberichten der BaFin veröffentlicht und können der Datenbank „Veröffentlichte Angebotsunterlagen (§ 14 WpÜG)“ auf der Webseite der BaFin entnommen werden; zu den Angeboten bis zum Jahr 2011 s. die Übersicht bei Cascante/Tyrolt, AG 2012, 97 (98 f.). 38 S. dazu die grafische Darstellung in BaFin, Jahresbericht 2017, 147.
Müller-Michaels 1103
13.23
Kap. 13 Rz. 13.24
Börsennotierte Unternehmen
zahlreiche Vorfragen zu klären, die von Fall zu Fall unterschiedlich sind. Im Folgenden werden verschiedene Überlegungen dargestellt, die für viele Übernahmen typisch sind. 1. Grundstruktur der Transaktion a) Alternativen zu einem Übernahmeangebot
13.24 Ein Übernahmeangebot ist nur eine von verschiedenen Formen eines Unternehmenszusammenschlusses. So kann eine Kontrollbeteiligung auch außerbörslich von Großaktionären oder ohne öffentliches Angebot über die Börse erworben werden. Im Anschluss muss der Bieter dann ein Pflichtangebot abgeben (§ 35 WpÜG, s. hierzu Rz. 13.106 ff.). Bei beiden gelten ähnliche Regeln, es gibt allerdings auch erhebliche Unterschiede. Welche Variante besser geeignet ist, hängt von den Zielen und Möglichkeiten des Bieters ab (s. hierzu Rz. 13.37).
13.25 Ist der Bieter eine inländische Gesellschaft, kommt auch eine Maßnahme nach dem Umwandlungsgesetz, insbesondere eine Verschmelzung beider Gesellschaften in Betracht. Die Verschmelzung von Thyssen/Krupp etwa wurde als feindliche Übernahme begonnen und als Verschmelzung durchgeführt. Eine Verschmelzung führt gesellschaftsrechtlich zu einem anderen Ergebnis als eine Übernahme. Während letzteres die Zielgesellschaft zur beherrschten Gesellschaft des Bieters macht, führt die Verschmelzung dazu, dass Bieter und Zielgesellschaft zu einer rechtlichen Einheit verschmelzen. Dies kann die Verschmelzung insbesondere im Falle einer Verschmelzung zur Neugründung für das Management der Zielgesellschaft attraktiv machen. Nachteil der Verschmelzung ist, dass etwaige Konflikte innerhalb des Managements zwischen den beteiligten Gesellschaften oft auf die Zeit nach der Verschmelzung verschoben werden.
13.26 An Stelle eines Übernahmeangebots kann auch ein Asset Deal in Betracht kommen, etwa dann, wenn die Zielgesellschaft eine reine Holding-Gesellschaft ist. In einem solchen Fall ist denkbar, dass der Bieter lediglich die Anteile an den Tochtergesellschaften der Zielgesellschaft erwirbt. Für den Bieter hat dies den Vorteil, dass der Vorgang erheblich schneller durchführbar und mit erheblich weniger Unsicherheiten behaftet ist als ein Übernahmeangebot. Aus Sicht der Zielgesellschaft ist zu beachten, dass ein Hauptversammlungsbeschluss erforderlich sein kann (s. hierzu oben Kap. 12 Rz. 12.133 ff.). Für die Aktionäre der Zielgesellschaft ist ein Asset Deal erheblich weniger attraktiv, weil die Erlöse aus dem Verkauf zunächst an die Zielgesellschaft fließen und nicht unmittelbar an sie. b) Ziele einer Übernahme
13.27 Übernahmen durch strategische Investoren haben in der Regel das Ziel, externes Wachstum durch Übernahme des Targets zu ermöglichen. Zu diesem Zweck soll die Zielgesellschaft erworben und letztlich in den Konzern des Übernehmers integriert werden. Übernahmen durch Finanzinvestoren haben dagegen regelmäßig die Zielsetzung, einen Veräußerungsgewinn zu erzielen. Dies kann dadurch erreicht werden, dass das Target mittelfristig an die Börse gebracht, an einen strategischen Investor weiterveräußert oder zerschlagen und in Einzelteilen weiter veräußert wird, wenn nach Einschätzung des Bieters der Wert der Teile der Zielgesellschaft den Wert des gesamten Unternehmens übersteigt. Auch bei der Übernahme durch strategische Bieter kann es zu einem Verkauf von Teilen der Zielgesellschaft, etwa dann, wenn der Bieter letztlich nur an bestimmten Teilen der Zielgesellschaft interessiert ist oder aber aus kartellrechtlichen Gründen Teile der Zielgesellschaft verkaufen muss.
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B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots
Rz. 13.32 Kap. 13
Sowohl strategische Investoren als auch Finanzinvestoren streben in der Regel an, die Zielgesellschaft zu kontrollieren. Auf diese Weise soll es entweder ermöglicht werden, die Zielgesellschaft in den eigenen Konzern zu integrieren oder aber diese zu restrukturieren und weiter zu veräußern.
13.28
Hierzu ist eine vollständige Übernahme (also von 100 % der Aktien) ideal. Ist das nicht erreichbar, ist die nächst niedrigere Kontrollstufe eine Beteiligung von 90 %, ab der ein Zwangsausschluss der Minderheitsaktionäre möglich ist (s. hierzu unten Rz. 13.38). Ab einer Beteiligung von 75 % kann der Bieter zumindest den Abschluss eines Beherrschungs und Gewinnabführungsvertrags erreichen39, was ihm den finanziellen und organisatorischen Zugriff auf die Zielgesellschaft ermöglicht. Mit der einfachen Kontrolle (Hauptversammlungsmehrheit) ist der Bieter lediglich in der Lage, über die Hauptversammlungskompetenzen (§ 119 Abs. 1 AktG) Strukturentscheidungen zu treffen und über die Wahl der Kapitalvertreter im Aufsichtsrat mittelbar Einfluss auf die Vorstandsbesetzung und damit die Unternehmensführung zu nehmen.
13.29
c) Ablauf der Übernahme Nach einer Analyse der Aktionärsstruktur des Targets wird der Bieter Gespräche mit den Großaktionären und dem Management führen. Sind Großaktionäre vorhanden, kommt eine Übernahme nur in Betracht, wenn diese bereit sind, ihre Aktien dem Bieter zu verkaufen. Der Bieter möchte dadurch möglichst frühzeitig Transaktionssicherheit gewinnen.40 Kommt mit den Großaktionären eine Einigung zustande, so läuft die Übernahme häufig in folgenden Phasen ab:
13.30
– Börsliche oder außerbörsliche Vorerwerbe von Aktien der Zielgesellschaft durch den Bieter (Rz. 13.31 ff.), – Kaufvertrag mit den Großaktionären oder Verpflichtung der Großaktionäre, ein späteres Übernahmeangebot anzunehmen (Rz. 13.35 f.), – Übernahme- oder Pflichtangebot an die übrigen Aktionäre (Rz. 13.37), – Squeeze-out der verbleibenden Minderheitsgesellschafter (Rz. 13.38). aa) Vorerwerbe – Creeping Takeover Der Bieter kann versuchen, selbst oder durch eingeschaltete Dritte eine bereits bestehende Beteiligung an der Zielgesellschaft durch börsliche oder außerbörsliche Käufe aufzustocken. Das WpÜG untersagt dies grundsätzlich nicht, es sind jedoch einige Regeln zu beachten.
13.31
Einer schleichenden oder geheimen Übernahme des Targets, auch als „Creeping Takeover“ bezeichnet, sind zunächst durch die Melde- und Veröffentlichungspflichten im WpHG Grenzen gesetzt. So ist das Erreichen von 3 %, 5 %, 10 %, 15 %, 20 %, 25 %, 30 %, 50 % oder 75 % der Stimmrechte an einer börsennotierten Gesellschaft unverzüglich, spätestens innerhalb von vier Handelstagen der BaFin und der Gesellschaft schriftlich mitzuteilen, § 33 Abs. 1 WpHG.
13.32
39 Ein Beherrschungsvertrag bedarf der Zustimmung der Hauptversammlung mit einer Mehrheit von mindestens drei Vierteln des auf der Hauptversammlung vertretenen Grundkapitals, es sei denn, die Satzung sieht eine höhere Mehrheit vor, § 293 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 AktG. 40 S. hierzu und zu anderen Instrumenten eingehend: Leyendecker-Langner/Läufer, NZG 2014, 161 ff.
Müller-Michaels 1105
Kap. 13 Rz. 13.33
Börsennotierte Unternehmen
Das gleiche gilt für bestimmte derivative Finanzinstrumente wie Optionen, Terminkontrakte und Swaps auf Aktien, § 38 WpHG. Die Gesellschaft wiederum hat die erhaltene Meldung innerhalb von drei Handelstagen zu veröffentlichen, § 40 Abs. 1 WpHG. Eine zusätzliche Mitteilungspflicht besteht, wenn ein Meldepflichtiger die Schwelle von 10 % der Stimmrechte erreicht oder überschreitet, § 43 WpHG. In diesem Fall müssen dem Emittenten die mit dem Erwerb der Stimmrechte verfolgten Ziele und die Herkunft der für den Erwerb verwendeten Mittel innerhalb von 20 Handelstagen nach Erreichen oder Überschreiten dieser Schwellen mitgeteilt werden.
13.33 Vorerwerbe können darüber hinaus insofern problematisch sein, als sich darin unter Umständen widerspiegelt, dass der Bieter bereits eine Entscheidung zur Abgabe eines Übernahmeangebots getroffen hat, die er unverzüglich den Börsen und der BaFin melden und anschließend veröffentlichen müsste, § 10 WpÜG. Der Bieter muss weiter darauf achten, dass er mit dem Beteiligungsaufbau nicht gegen das Verbot des Insiderhandels (Art. 8 Marktmissbrauchsverordnung41) verstößt. Nur der Erwerb von Aktien innerhalb eines öffentlichen Angebots gilt nicht als Ausnutzen von Insiderinformationen, wenn diese Informationen bis zum Ende der Angebotsfrist veröffentlicht werden; diese Privilegierung gilt ausdrücklich nicht für den Beteiligungsaufbau (Art. 9 Abs. 4 Marktmissbrauchsverordnung). Das Risiko besteht insbesondere, wenn der Bieter eine Due Diligence durchführt (s. hierzu Rz. 13.39).
13.34 Desweiteren können sich Vorerwerbe auf Art und Höhe der anzubietenden Gegenleistung auswirken. Wenn der Bieter, mit ihm gemeinsam handelnde Personen oder deren Tochtergesellschaften innerhalb von sechs Monaten vor der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots insgesamt mindestens 5 % der Aktien oder Stimmrechte an der Zielgesellschaft gegen Zahlung einer Geldleistung erworben hat, so muss der Bieter den Aktionären der Zielgesellschaft zwingend eine Geldleistung in Euro als Gegenleistung anbieten, § 31 Abs. 3 WpÜG. Darüber hinaus schreibt das WpÜG vor, dass die Gegenleistung mindestens dem Wert der höchsten vom Bieter, mit ihm gemeinsam handelnden Personen oder deren Tochterunternehmen während der letzten sechs Monate vor Veröffentlichung der Angebotsunterlage vereinbarten oder gewährten Gegenleistung entsprechen muss, § 31 Abs. 7 WpÜG i.V.m. § 4 WpÜG-AngebotsVO. Der Aktienerwerb über die Börse kann im Übrigen dazu führen, dass der Börsenkurs der Zielgesellschaft derartig ansteigt, dass ein Übernahmeangebot unattraktiv wird. bb) Kaufvertrag mit Großaktionären oder Irrevocable Undertaking
13.35 Der Abschluss eines Kaufvertrages oder einer Investorenvereinbarung mit den Großaktionären über deren Aktien ist für den Bieter insofern vorteilhaft, als die Großaktionäre in diesem Kaufvertrag Gewährleistungen zur Zielgesellschaft abgeben können und bei ihrer Verletzung Schadensersatzansprüche vereinbart werden können. Ein Übernahmeangebot hat normalerweise für den Bieter den Nachteil, dass er anders als bei einem sonstigen Unternehmenskauf von den Verkäufern keinerlei Gewährleistungen zum Geschäftsbetrieb der Zielgesellschaft erhält. Auch die Zielgesellschaft selbst kann keinerlei Gewährleistungen zu seinem Geschäftsbetrieb abgeben, die mit Schadensersatzansprüchen verknüpft sind. Das wäre eine unzulässige Einlagenrückgewähr gem. § 57 AktG, da der Zielgesellschaft im Rahmen der Übernahme der Aktien durch den Bieter nichts zufließt. Sofern die Großaktionäre dazu bereit sind, kann der Bieter aber mit ihnen Gewährleistungen vereinbaren. Auf der anderen Seite ist sorgfältig darauf zu achten, dass die Vereinbarung nicht schon zur Zurech41 Verordnung (EU) Nr. 596/2014 (ABl. Nr. L 173 vom 12.6.2014, S. 1).
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B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots
Rz. 13.38 Kap. 13
nung von Stimmrechten und damit zu einem vorzeitigen Kontrollerwerb führt, so dass der Bieter eigentlich bezogen auf die Vereinbarung ein Pflichtangebot hätte abgeben müssen; dies kann zu erheblichen Nachzahlungspflichten führen (s. hierzu Rz. 13.113 ff.). Sind die Großaktionäre nicht zum Abschluss eines separaten Kaufvertrages mit entsprechenden Gewährleistungen bereit, der sie gegenüber den anderen Aktionären letztlich schlechter stellt, kann der Bieter alternativ mit den Großaktionären vereinbaren, dass diese sich verpflichten, das Übernahmeangebot des Bieters anzunehmen, sofern das Angebot bestimmte Voraussetzungen erfüllt (sog. Irrevocable Undertaking).
13.36
cc) Übernahmeangebot oder Pflichtangebot In einem zweiten Schritt wird dem Streubesitz ein Übernahme- oder Pflichtangebot unterbreitet. Das Übernahme- oder Pflichtangebot darf dabei nicht auf einen Teil der Aktien der Zielgesellschaft beschränkt werden (§ 32 WpÜG). Ein sog. Teilangebot ist nur bei einfachen öffentlichen Erwerbsangeboten zulässig. Wird der Kaufvertrag mit den Großaktionären durchgeführt und erwirbt der Bieter auf diese Weise die Kontrolle an der Zielgesellschaft, muss das anschließende öffentliche Angebot als Pflichtangebot durchgeführt werden (s. hierzu Rz. 13.106 ff.). Für den Bieter hat dies gegenüber einem Übernahmeangebot den Nachteil, dass das Pflichtangebot keine Bedingungen enthalten, insbesondere nicht an das Erreichen einer Mindestbeteiligungsquote geknüpft werden kann. Dies kann dadurch vermieden werden, dass der Kaufvertrag mit den Großaktionären nicht gleich durchgeführt wird, sondern die Durchführung ihrerseits unter die Bedingung eines erfolgreichen Übernahmeangebots gestellt wird. Der Bieter hält dann keine Kontrollbeteiligung am Target und kann das Angebot als Übernahmeangebot durchführen. Ein Pflichtangebot kann dagegen bei hohem Zeitdruck vorzugswürdig sein, da die zweiwöchige zusätzliche Annahmefrist (§ 16 Abs. 2 WpÜG, s. hierzu Rz. 13.68) entfällt.42
13.37
dd) Squeeze-out der Minderheitsgesellschafter Idealziel des Übernahme- oder Pflichtangebots ist es regelmäßig, eine Beteiligungsquote von 13.38 mindestens 95 % oder jedenfalls 90 % zu erreichen. Dies ermöglicht, die Minderheitsgesellschafter aus der Gesellschaft gegen eine Barabfindung auszuschließen (sog. Squeeze-out). Wird das Angebot als Übernahmeangebot durchgeführt, kann der Bieter die Durchführung des Angebots unter die Bedingung stellen, dass die erforderliche Beteiligungsquote erreicht wird (Mindestannahmequote, s. hierzu Rz. 13.57). Für den Squeeze-out gibt es drei Varianten, die gesellschaftsrechtliche (§§ 327a ff. AktG), die verschmelzungsrechtliche (§ 62 Abs. 5 UmwG als Sonderform der §§ 327a ff. AktG) und die übernahmerechtliche (§§ 39a, b WpÜG). Der gesellschaftsrechtliche Squeeze-out setzt eine Beteiligungsquote von mindestens 95 %, einen Hauptversammlungsbeschluss und eine am Ertragswert orientierte angemessene Barabfindung voraus (§ 327a AktG). Wird die Zielgesellschaft auf eine AG, KGaA oder SE verschmolzen, reicht schon eine Beteiligungshöhe von 90 % für den Ausschluss der Minderheitsaktionäre (§ 62 Abs. 5 Satz 1 UmwG). Der verschmelzungsrechtliche Squeezeout hat seit seiner Einführung im Jahr 2011 erheblich an Bedeutung gewonnen und macht mittlerweile fast die Hälfte der eingetragenen Squeeze-out Beschlüsse aus.43 Will der Bieter davon profitieren, muss er bei der Wahl des Übernahmevehikels darauf achten, dass dieses die Rechtsform einer AG, KGaA oder SE hat (s. hierzu Rz. 13.70). Beim übernahmerechtlichen Squeeze-out kann der Bieter, wenn 90 % sein Übernahmeangebot angenommen ha42 Zu Vor- und Nachteilen Mayer-Uellner, AG 2013, 828 (829 f.). 43 Müller-Michaels in Hölters, AktG, § 327a Rz. 11a.
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Kap. 13 Rz. 13.39
Börsennotierte Unternehmen
ben und er 95 % der stimmberechtigen Aktien hält, die verbleibenden Aktionäre zum Übernahmepreis ausschließen (§§ 39a, 39b WpÜG); die praktische Bedeutung dieser Variante ist insbesondere wegen der engen Voraussetzungen und der langen Verfahrensdauer gering geblieben.44 2. Due Diligence
13.39 Der Bieter hat häufig ein erhebliches Interesse daran, neben Informationen aus öffentlich zugänglichen Quellen Weiteres über die Zielgesellschaft zu erfahren, z.B. ob die Zielgesellschaft Vereinbarungen abgeschlossen hat, die im Falle eines Kontrollwechsels einem Dritten Rechte einräumen. Für Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft besteht dagegen die Pflicht, über Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Stillschweigen zu bewahren (§ 93 AktG). Dennoch kann der Vorstand im Rahmen einer Due Diligence Informationen erteilen, denn die Verschwiegenheitspflicht besteht nur im Rahmen des Unternehmensinteresses. Der Vorstand ist daher zur Offenlegung von Informationen berechtigt, wenn die mit der Aktienveräußerung für die Gesellschaft verbundenen Vorteile die Risiken der Informationsweitergabe überwiegen. Von wesentlicher Bedeutung für die Abwägung ist die informierte Einschätzung des Vorstands über die Ernsthaftigkeit der Erwerbsabsicht, die Interessenten sowie dessen Planungen hinsichtlich der Zielgesellschaft. Der Vorstand ist dabei aber zur Vorsicht verpflichtet. Der Bieter sollte eine Vertraulichkeitsvereinbarung abgeschlossen haben und der Informationsfluss sollte streng kontrolliert werden. Darüber hinaus bietet sich auch ein mehrstufiges Vorgehen an, bei dem vertrauliche Informationen erst zu einem späteren Zeitpunkt, in dem die Abgabe eines Angebots kurz bevorsteht, offen gelegt werden.45 Der Bieter muss außerdem darauf achten, beim Erwerb weiterer Aktien während oder nach der Due Diligence nicht gegen das Verbot des Insiderhandels zu verstoßen (s. hierzu Rz. 13.33). 3. Eckpunkte des Übernahmeangebots
13.40 Bereits in der Vorbereitungsphase des Übernahmeangebots wird der Bieter gemeinsam mit den Beratern verschiedene zentrale Eckpunkte des Übernahmeangebots festlegen. a) Art der Gegenleistung
13.41 Von zentraler Bedeutung für den Bieter ist die Frage, welche Regelungen zu Art und Höhe der Gegenleistung zu beachten sind. Das WpÜG bestimmt zur Art, dass die Gegenleistung bei einem Übernahmeangebot entweder in einer Geldleistung in Euro oder in liquiden Aktien bestehen muss, die zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen sind, § 31 Abs. 2 WpÜG. Der Bieter wird in letzterem Fall in der Regel seine eigenen Aktien als Gegenleistung anbieten. Zwingend ist dies jedoch nicht. Theoretisch kann der Bieter auch Aktien anderer Gesellschaften als Gegenleistung anbieten.46 Auch eine Mischung aus Geldleistung
44 Kocher, DB 2016, 2887 (2888); Müller-Michaels in Hölters, AktG, § 327a Rz. 11 m.w.N.; zum möglichen Reformbedarf: Cascante/Tyrolt, AG 2012, 97 (112 f.); zu § 39b WpÜG: Hasselbach, BB 2010, 2842 ff. 45 Zum Ganzen Hölters in Hölters, AktG, § 93 Rz. 183 ff.; Hasselbach/Pröhl, BB 2016, 1091 (1094 f.). 46 Marsch-Barner in Baums/Thoma, § 31 WpÜG Rz. 65; Kremer/Oesterhaus in KölnKomm/WpÜG, § 31 WpÜG Rz. 27 ff.; Krause in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, § 31 WpÜG Rz. 44.
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B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots
Rz. 13.44 Kap. 13
in Euro und Aktien ist zulässig.47 Eine Pflicht zur Geldleistung besteht in dem bereits erwähnten Fall des Vorerwerbs von mindestens 5 % der Aktien gegen Geldzahlung innerhalb der letzten sechs Monate vor der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots, § 31 Abs. 3 WpÜG. aa) Geldleistung in Euro In der Regel wird den Aktionären der Zielgesellschaft eine feste Gegenleistung in Euro an- 13.42 geboten. Sie ist für die Aktionäre der Zielgesellschaft besonders attraktiv und macht das Angebot leicht verständlich; denkbar ist auch eine variable Gegenleistung, wenn die Preisformel hinreichend verständlich ist (§ 11 Abs. 1 Satz 3 WpÜG).48 Auch die Erstellung der Angebotsunterlage ist bei einer Gegenleistung in Euro weitaus weniger aufwendig als bei einer Gegenleistung in Aktien. Für den Bieter hat diese Gegenleistung jedoch den Nachteil, dass er die für die Übernahme erforderlichen Barmittel zur Verfügung stellen muss. Ein vom Bieter unabhängiges Wertpapierdienstleistungsunternehmen muss ferner schriftlich bestätigen, dass der Bieter die notwendigen Maßnahmen getroffen hat, um sicherzustellen, dass die zur vollständigen Erfüllung des Angebots erforderlichen Mittel zum Zeitpunkt der Fälligkeit des Anspruchs auf die Geldleistung zur Verfügung stehen (sog. Finanzierungsbestätigung), § 13 Abs. 1 Satz 2 WpÜG.49 Bei Angeboten in Mischform ist eine Finanzierungsbestätigung zum Volumen des Barangebots zu erbringen.50 „Unabhängig“ im Sinne der Vorschrift ist der Wertpapierdienstleister, wenn er keiner gesellschaftsrechtlichen Bindung unterliegt, auf Grund derer der Bieter auf ihn Einfluss nehmen könnte. Entscheidend ist insoweit die rechtliche Abhängigkeit, nicht aber die wirtschaftliche oder sonstige. Die Unabhängigkeit kann auch bei persönlichen Verknüpfungen entfallen, etwa dann, wenn ein Mitglied der Geschäftsleitung des Wertpapierdienstleisters an dem Bieter wesentlich beteiligt ist.51 Die Zugehörigkeit zum Aufsichtsrat des Bieters oder der Zielgesellschaft von einem Vertreter des Wertpapierdienstleistungsunternehmens soll die Unabhängigkeit nicht entfallen lassen.52 Etwas anderes gilt allerdings, wenn ein Organmitglied des Finanzdienstleisters in der Geschäftsführung des Bieters tätig ist.53 Des Weiteren kann auch der den Bieter im Übernahmeverfahren beratende Wertpapierdienstleister die Finanzierungsbestätigung erstellen, obwohl er regelmäßig ein wirtschaftliches Interesse am Erfolg des Übernahmeangebots haben dürfte (Erfolgshonorare).54 Stehen dem Bieter die Mittel entgegen der Finanzierungsbestätigung nicht zur Verfügung, trifft den Wertpapierdienstleister eine Schadensersatzpflicht, § 13 Abs. 2 WpÜG.
13.43
Sofern der Bieter nicht selbst über die erforderlichen Barmittel verfügt, sollte also schon vor 13.44 der verbindlichen Entscheidung über die Abgabe eines Angebots eine Finanzierungszusage durch ein Kreditinstitut vorliegen. Ansonsten riskiert der Bieter eine Untersagung des An47 Kremer/Oesterhaus in KölnKomm/WpÜG, § 31 WpÜG Rz. 34; Süßmann in Angerer/Geibel/Süßmann, § 31 WpÜG Rz. 25 f. 48 Die Finanzierungsbestätigung muss dann grundsätzlich den höchstmöglichen Betrag abdecken; zum Ganzen Mayer-Uellner, AG 2013, 828 (834 ff.); Boucsein/Schmiady, AG 2016, 597 (607 f.). 49 Unter dem Blickwinkel eines möglichen Reformbedarfs: Cascante/Tyrolt, AG 2012, 97 (105 ff.). 50 Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 13 WpÜG Rz. 28. 51 Marsch-Barner in Baums/Thoma, § 13 WpÜG Rz. 170. 52 Marsch-Barner in Baums/Thoma, § 13 WpÜG Rz. 171; Süßmann in Angerer/Geibel/Süßmann, § 13 WpÜG Rz. 31; a.A. Möllers in KölnKomm/WpÜG, § 13 WpÜG Rz. 77 f. 53 Hierzu Süßmann in Angerer/Geibel/Süßmann, § 13 WpÜG Rz. 31. 54 Marsch-Barner in Baums/Thoma, § 13 WpÜG Rz. 173.
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Kap. 13 Rz. 13.45
Börsennotierte Unternehmen
gebots durch die BaFin (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 WpÜG) sowie ein Bußgeld und in extremen Fällen Untersuchungen wegen Marktmanipulation.55 bb) Aktien als Gegenleistung
13.45 Aktien als Gegenleistung oder Aktien kombiniert mit einer Barleistung werden den Aktionären der Zielgesellschaft nur selten angeboten.56 Einerseits erstaunt dies, weil das Angebot von Aktien oder eine Mischung aus Geldleistung und Aktien für den Bieter insofern interessant ist, als er die für das Angebot erforderlichen eigenen Aktien selber schaffen kann. Andererseits sind Tauschangebote aufgrund der Aktienkursbewegungen beider Gesellschaften mit Unwägbarkeiten verbunden. Sinkt der Kurs des Bieters nach Veröffentlichung des Angebots, kann dies das Angebot unattraktiv machen. Es können auch Schwierigkeiten bei der Schaffung der anzubietenden Aktien auftreten: ist der Bieter eine deutsche Aktiengesellschaft und verfügt er nicht in dem für das Tauschangebot erforderlichen Umfang über genehmigtes Kapital oder zurückgekaufte Aktien, so müsste eine Hauptversammlung des Bieters eine Sachkapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss beschließen. Dieser Beschluss muss bereits zu dem Zeitpunkt vorliegen, zu dem die BaFin die Veröffentlichung der Angebotsunterlage gestattet und das Angebot startet.57 Dabei sollten in den Zeitplan auch eine Anfechtung des Kapitalerhöhungsbeschlusses und ein anschließendes gerichtliches Freigabeverfahren (§ 246a AktG) einkalkuliert werden. Hinzu kommt, dass die Dokumentation bei einem Tauschangebot erheblich aufwendiger ist als bei einem Barangebot. Die Angebotsunterlage muss nämlich auch Angaben nach § 7 WpPG in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 809/2004 über Wertpapierprospekte58, es sei denn, es wurde für diese Wertpapiere innerhalb der letzten zwölf Monate ein Prospekt veröffentlicht (§ 2 Nr. 2 WpÜG-AngebotsVO). Im Ergebnis muss die Angebotsunterlage in einem solchen Fall auch den Inhalt eines Wertpapierprospekts nach dem WpPG enthalten. (1) Börsenzulassung innerhalb des EWR
13.46 Ein Bieter kann bei Übernahme- und Pflichtangeboten Aktien nur dann als Gegenleistung anbieten, wenn diese an einem organisierten Markt innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zum Handel zugelassen sind (§ 31 Abs. 2 Satz 1 i.v.m. § 2 Abs. 7 WpÜG). Das Erfordernis der Zulassung an einem organisierten Markt des EWR soll nach dem Willen des Gesetzgebers verhindern, dass die Adressaten eines Angebots auf außereuropäische Vorschriften verwiesen werden, deren Anforderungen unter Umständen deutlich geringer seien als die europäischen Standards.59
13.47 In zeitlicher Hinsicht genügt es, wenn die Aktien zum Zeitpunkt der Übereignung an die Aktionäre der Zielgesellschaft an einem organisierten Markt zugelassen sind.
55 BaFin, Jahresbericht 2015, 247 f. (am Beispiel der Vereitelung eines Tauschangebots). 56 So waren z.B. im Jahr 2016 von 22 Angeboten nur zwei Tauschangebote und ein gemischtes Angebot und im Jahr 2015 von 18 zwei Tauschangebote und zwei kombinierte Tauschangebote; diese betrafen mit einer Ausnahme nur den Immobiliensektor, s. die aktuellen Überblicke bei Hasselbach/Pröhl, BB 2016, 1091 und Hasselbach/Peters, BB 2017, 1347; Boucsein/Schmiady, AG 2016, 597 (604 f.). 57 Dies hat die BaFin in dem gescheiterten Übernahmeverfahren Vonovia SE/Deutsche Wohnen AG klar gestellt, BaFin, Jahresbericht 2015, 247 f. 58 ABl. Nr. L 149, 30.4.2004, 3. 59 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 55.
1110
Müller-Michaels
B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots
Rz. 13.50 Kap. 13
(2) Liquidität Die Aktien müssen nach § 31 Abs. 2 Satz 1 WpÜG ferner „liquide“ sein. Dieses Erfordernis ist weder im Gesetz noch in seiner Begründung näher ausgeführt. Wichtig für einen Bieter ist insbesondere, zu welchem Zeitpunkt Liquidität vorhanden sein muss und wann sie in ausreichendem Maß erreicht ist. Als einzige normierte Orientierung kann § 5 Abs. 4 WpÜG-AngebotsVO dienen, wonach für die Bestimmung des Mindestpreises der Börsenkurs der Vergangenheit dann nicht herangezogen werden kann, wenn nur an weniger als einem Drittel der Börsentage Börsenkurse festgestellt werden und mehrere nacheinander festgestellte Kurse um mehr als 5 % voneinander abweichen. Daraus kann gefolgert werden, dass Aktien, deren Börsenkurs nach der WpÜG-AngebotsVO noch nicht einmal zur Bestimmung der Höhe der Gegenleistung herangezogen werden dürfen, vom Aktionär auch nicht ohne weiteres veräußert werden könnten und daher als nicht liquide gelten müssen.60 Darüber hinaus ist eine Einzelfallbetrachtung erforderlich, bei der die Aufnahmefähigkeit des Marktes zu prognostizieren ist; dabei wird die Streuung der Aktien eine wichtige Rolle spielen.61
13.48
Das Gesetz definiert auch nicht, zu welchem Zeitpunkt die Liquidität beurteilt wird. Sinn und Zweck der Vorschrift des § 31 WpÜG ist es, sicherzustellen, dass die Aktionäre der Zielgesellschaft im Fall eines Angebots zum Aktientausch eine Gegenleistung erhalten, die einer Barabfindung durch die Möglichkeit der umgehenden Veräußerung dieser Wertpapiere vergleichbar ist.62 Dem damit intendierten Anlegerschutz wäre ausreichende Geltung verschafft, wenn die Aktien erst zum Zeitpunkt der Übereignung an die Adressaten des Angebots liquide sind. Nach der Gesetzesbegründung zur Art der Gegenleistung reicht es aus, wenn die neuen Aktien zum Zeitpunkt der Übereignung zum Handel an einem organisierten Markt innerhalb des EWR zugelassen sind.63 Dies muss auch der für die Beurteilung der Liquidität maßgebliche Zeitpunkt sein.64 Die BaFin verlangt jedoch grundsätzlich, dass Aktien des Bieters schon vor der Angebotsveröffentlichung an einem organisierten Markt innerhalb des EWR gehandelt werden, lässt aber in begründeten Fällen Ausnahmen zu.65
13.49
cc) Alternative Gegenleistung Die gesetzliche Mindestgegenleistung bei Übernahme-, Pflicht- und Delisting-Angeboten muss wie gerade beschrieben in Geld oder liquiden an einem organisierten Markt notierten Aktien bestehen. Bei einfachen Erwerbsangeboten oder ansonsten neben der Mindestleistung steht es dem Bieter frei, zusätzliche oder alternative Gegenleistungen anzubieten, die diesen Anforderungen nicht genügen.66 Auf diese Weise können z.B. Aktien, die nicht an einem orga60 Süßmann in Angerer/Geibel/Süßmann, § 31 WpÜG Rz. 12; Kremer/Oesterhaus in KölnKomm/ WpÜG, § 31 WpÜG Rz. 30; Marsch-Barner in Baums/Thoma, § 31 WpÜG Rz. 71; ähnlich Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider, § 31 WpÜG Rz. 49. 61 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider, § 31 WpÜG Rz. 48, 51. 62 Süßmann in Angerer/Geibel/Süßmann, § 31 WpÜG Rz. 10; Kremer/Oesterhaus in KölnKomm/ WpÜG, § 31 WpÜG Rz. 23. 63 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 55. 64 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider, § 31 WpÜG Rz. 50; Kremer/Oesterhaus in KölnKomm/ WpÜG, § 31 WpÜG Rz. 31. 65 So hat die BaFin im Fall des Übernahmeangebots der DePfa Holding plc. ein öffentliches Tauschangebot nach dem gerade in Kraft getretenen WpÜG für alle Aktien der DePfa Deutsche Pfandbriefbank AG zugelassen, obwohl die Aktien des Bieters erst nach dem Übernahmeangebot zum ersten Mal an einem organisierten Markt gehandelt wurden. 66 Krause in Assmann/Pötzsch/Schneider, § 31 WpÜG Rz. 65; Boucsein/Schmiady, AG 2016, 597 (600 f.).
Müller-Michaels 1111
13.50
Kap. 13 Rz. 13.51
Börsennotierte Unternehmen
nisierten Markt zugelassen sind sowie Optionen oder Derivate auf Aktien als Gegenleistung und andere variable erfolgsabhängige Komponenten angeboten werden.67 b) Höhe der Gegenleistung
13.51 Neben der Art der Gegenleistung ist die Frage ihrer Höhe für den Bieter von besonderer Bedeutung. Das WpÜG schreibt insofern vor, dass die Gegenleistung „angemessen“ sein muss und grundsätzlich der durchschnittliche Börsenkurs der Aktien der Zielgesellschaft und Vorerwerbe durch den Bieter, durch mit ihm gemeinsam handelnde Personen oder deren Tochterunternehmen zu berücksichtigen sind, § 31 Abs. 1 WpÜG. Diese Grundsätze werden in §§ 3–7 WpÜG-AngebotsVO für Übernahme- und Pflichtangebote durch Festlegung von Mindestpreisen konkretisiert. Die Referenzzeitpunkte für die Ermittlung der angemessenen Gegenleistung können zurückverlegt werden, wenn der Bieter insbesondere aufgrund von Vereinbarungen mit Großaktionären schon vorher die Kontrolle über die Zielgesellschaft erlangt hat und eigentlich ein Pflichtangebot hätte abgeben müssen; dies kann zu erheblichen Nachzahlungspflichten führen (s. hierzu Rz. 13.113). aa) Berücksichtigung von Vorerwerben
13.52 Die Gegenleistung muss mindestens dem Wert der höchsten vom Bieter, einer mit ihm gemeinsam handelnden Person oder deren Tochterunternehmen gewährten oder vereinbarten Gegenleistung für den Erwerb von Aktien der Zielgesellschaft innerhalb der letzten sechs Monate vor Veröffentlichung der Angebotsunterlage für ein Übernahmeangebot oder Pflichtangebot entsprechen, § 4 WpÜG-AngebotsVO. Bei Erwerb gegen Sachleistung kommt es auf den Wert der Sachleistung im Augenblick der Vereinbarung an.68 Ferner ist § 31 Abs. 6 Satz 1 WpÜG zu beachten, nach dem Vereinbarungen, auf Grund derer die Übereignung von Aktien verlangt werden kann, dem Vorerwerb von Aktien gleichgestellt sind.69 Wandelschuldverschreibungen sind solche Vereinbarungen. Der BGH hat in einem Grundsatzurteil klargestellt, dass das auch gilt, wenn die Wandelanleihen nicht unmittelbar von der Zielgesellschaft, sondern abgeleitet von Dritten erworben werden.70 Sofern der Bieter die Wandelschuldverschreibungen innerhalb der Sechsmonatsfrist erwirbt und wandelt, ist demnach der auf das Aktienerwerbsrecht entfallene Teil des Kaufpreises für die Wandelschuldverschreibung zu berücksichtigen. Da das Interesse des Bieters an einer Verzinsung im Regelfall nur von untergeordneter Bedeutung ist, hält es der BGH bei sofortiger Wandlungsmöglichkeit für gerechtfertigt, den vollen Preis der Wandelschuldverschreibung als auf das Aktienerwerbsrecht entfallend zu werten.71
67 S. zu den vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten, die besonders für Private Equity Fonds als Bieter interessant sind Mayer-Uellner, AG 2013, 828, (832 ff.) sowie zur Absicherung gegen Volatilität: Gei/Kiesewetter, AG 2012, 741 ff. 68 Marsch-Barner in Baums/Thoma, § 31 WpÜG Rz. 31. 69 Eingehend dazu Wackerbarth, ZIP 2012, 253 (255 ff.). 70 BGH v. 7.11.2017 – II ZR 37/16, NZG 2018, 106 ff. – Celesio/McKesson mit Nachweisen zum bisherigen Streitstand in Rz. 14; s. dazu Aisenbrey, AG 2018, 102 ff.; so schon zuvor Wackerbarth, ZIP 2012, 253 (257 ff.); zur Vorinstanz OLG Frankfurt v. 19.1.2016 – 5 U 2/15, AG 2016, 249, Bader, AG 2016, 239 ff.; Nikoleyczik/Hildebrand, NZG 2016, 505 ff.; Technau, DK 2016, 313 ff.; die BaFin hatte das anders gesehen und die Angebotsunterlage ohne Berücksichtigung der Wandelanleihen gebilligt, Jahresbericht 2015, 234 f. 71 BGH v. 7.11.2017 – II ZR 37/16, AG 2018, 105 = NZG 2018, 106 – Celesio/McKesson Rz. 33, 36.
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Müller-Michaels
B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots
Rz. 13.56 Kap. 13
bb) Berücksichtigung von Börsenkursen Sind die Aktien der Zielgesellschaft zum Handel an einer inländischen Börse zugelassen, muss die Gegenleistung mindestens dem gewichteten durchschnittlichen inländischen Börsenkurs dieser Aktien während der letzten drei Monate vor der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Übernahmeangebots bzw. der Veröffentlichung der Kontrollerlangung entsprechen, § 5 Abs. 1 WpÜG-AngebotsVO. Sind die Aktien noch nicht drei Monate zum Handel zugelassen, beginnt die entsprechend kürzere Referenzperiode mit der Einführung der Aktien in den Handel, § 5 Abs. 2 WpÜG-AngebotsVO. Der gewichtete durchschnittliche inländische Börsenkurs ist der nach Umsätzen gewichtete Durchschnittskurs der der BaFin nach § 9 WpHG als börslich gemeldeten Geschäfte, § 5 Abs. 3 WpÜG-AngebotsVO. Der auf dieser Grundlage berechnete Mindestpreis für inländische Aktien wird dem Bieter durch die BaFin mitgeteilt.
13.53
cc) Aufschlag auf Börsenkurs Die Mindestpreisregelungen müssen vom Bieter beachtet werden. In der Praxis spielt aber eher eine Rolle, welchen Aufschlag der Bieter im Vergleich zum Börsenkurs zu leisten bereit ist, um eine entsprechend große Zahl von Aktionären der Zielgesellschaft zu einer Annahme des Angebots zu bewegen. Bei der Ermittlung des Preises haben die Organvertreter der Bietergesellschaft zu beachten, dass sie gegenüber ihrer eigenen Gesellschaft zur Sorgfalt verpflichtet sind und sie die Zahlung eines Aufschlags zum Börsenkurs entsprechend begründen müssen. In den letzten Jahren lagen die Prämien regelmäßig über 10 % und erreichten bis zu 38 %.72
13.54
dd) Preisreaktionen Die BaFin hat für den Zeitraum seit Inkrafttreten des WpÜG im Jahr 2002 bis zum Jahr 13.55 2012 auf Grundlage der bis dahin veröffentlichten 392 Angebotsunterlagen untersucht, welche Auswirkungen die Bekanntgabe von Übernahmen auf den Börsenkurs der Zielgesellschaft hatte.73 Der durchschnittliche Preiseffekt lag danach einen Monat vor Bekanntgabe bei 26,36 %, eine Woche vor der Bekanntgabe bei 18,96 % und am Handelstag vor der Bekanntgabe noch bei 14,84 %. Aufgeteilt auf die verschiedenen Angebotsarten ist der Preiseffekt wenig überraschend bei Übernahmeangeboten am höchsten (hier muss der Bieter einen attraktiven Preis bieten) und bei Pflichtangeboten am niedrigsten. Übernahmemeldungen führen also regelmäßig zu Preissteigerungen, wenn auch der Effekt schwächer wird, je näher der Tag der Bekanntgabe rückt. Das kann einerseits an preistreibenden Vorerwerben der Bieter liegen, aber andererseits auch auf Informationslecks und damit verbotenen Insiderhandel sein. Die BaFin prüft daher nach eigenen Angaben jede Übernahmemeldung auf Insiderdelikte.74 c) Bedingungen Das WpÜG untersagt es einem Bieter, das Angebot von Bedingungen abhängig zu machen, deren Eintritt der Bieter, mit ihm gemeinsam handelnde Personen oder deren Tochtergesellschaften oder im Zusammenhang mit dem Angebot für diese Personen oder Unternehmen tätige Berater ausschließlich selbst herbeiführen können, § 18 Abs. 1 WpÜG.75 Das Angebot darf ferner nicht unter dem Vorbehalt des Widerrufs oder des Rücktritts abgegeben werden, 72 73 74 75
Hasselbach, BB 2015, 1033 (1035); Hasselbach/Pröhl, BB 2016, 1091 (1095). Krieg/Kausemann, BaFin Journal 8/2014, 18 ff. Krieg/Kausemann, BaFin Journal 8/2014, 18 (22). Hierzu ausführlich Scholl/Siekmann, BKR 2013, 316 (318 ff.).
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13.56
Kap. 13 Rz. 13.57
Börsennotierte Unternehmen
§ 18 Abs. 2 WpÜG. Im Hinblick auf Bedingungen, deren Eintritt von der Mitwirkung des Bieters abhängen, ist § 162 BGB zu beachten.76 Verhindert der Bieter treuwidrig den Eintritt einer Bedingung, dann gilt diese als eingetreten. aa) Zulässige Bedingungen
13.57 – Mindestannahmeschwelle: Das Angebot darf von der Erreichung einer bestimmten Mindestannahmeschwelle abhängig gemacht werden.77 Das ist sinnvoll, wenn sich der Bieter nicht schon vorher über Aktienkäufe oder Irrevocable Undertakings (s. hierzu Rz. 13.35) eine ihm ausreichende Zahl an Aktien gesichert hat. Für die Mindestannahmeschwelle von Bedeutung sind zunächst alle Schwellen, die eine qualifizierte Kontrolle ermöglichen (s. hierzu Rz. 13.24); der Bieter kann aber auch ein Interesse daran haben sich wenigstens eine einfache Hauptversammlungsmehrheit zu sichern.
13.58 – Behördliche Genehmigungen: Das Angebot kann von in- und ausländischen behördlichen Genehmigungen abhängig gemacht werden. Relevant ist dabei insbesondere die Zustimmung der zuständigen Kartellbehörden. Im Einzelfall können darüber hinaus weitere behördliche Genehmigungen erforderlich sein, etwa im Bereich des Bank- oder Versicherungsaufsichtsrechts oder des Medienrechts. Zunehmende Bedeutung erlangen außenwirtschaftliche Genehmigungen zum Schutz von Sicherheitsinteressen oder Schlüsseltechnologie (Public Intervention).78 Entscheidend ist auch hier, dass der Bieter oder eine ihn beherrschende Person oder Staat den Bedingungseintritt nicht selbst in der Hand hat.79
13.59 – Material-Adverse-Change oder Force-Majeure-Klausel: Zulässig und nicht selten sind auch Bedingungen, nach denen der Vollzug des Übernahmeangebots davon abhängig gemacht wird, dass bei der Zielgesellschaft selbst (Target MAC) oder im Marktumfeld der Zielgesellschaft (Market MAC) nicht zu wesentlichen nachteiligen Änderungen kommt,80 Die Kriterien für den Eintritt der Bedingung müssen jedoch im Einzelnen beschrieben werden, damit objektiv nachvollziehbar ist, ob die Bedingung eingetreten ist oder nicht. Die BaFin verlangt, dass die auslösenden Ergebnisse an das Vorliegen einer Ad-hoc-Veröffentlichung nach § 15 WpHG oder an das Gutachten eines neutralen Dritten gekoppelt werden.81
76 Hasselbach in KölnKomm/WpÜG, § 18 WpÜG Rz. 20. 77 Geibel/Süßmann in Angerer/Geibel/Süßmann, § 18 WpÜG Rz. 29. 78 Dies betraf etwa die gescheiterte Übernahme von Aixtron durch die chinesische Grand Chip Investment (die nach den Angebotsbedingungen erforderliche US CFIUS Genehmigung wurde nicht erteilt und die ebenfalls erforderliche deutsche AWG-Genehmigung wurde widerrufen) und die erfolgreiche Übernahme von Kuka durch die ebenfalls chinesische Midea, s. dazu Hasselbach/Peters, BB 2017, 1347 (1348 f.); kritisch zur politischen Einflussnahme am Beispiel der gescheiterten Übernahme von K+S durch Potash Gaul, AG 2016, 484 ff. 79 Kritisch zur Bedingung einer Genehmigung durch den chinesischen Staat bei von diesem kontrollierten Bietern Hippeli, AG 2014, 267 ff.; s. auch Oppenhoff/Horcher, DB Beilage 2016, Nr. 6, 25 (27). 80 So die überwiegende Meinung im Schrifttum: Noack/Holzborn in Schwark/Zimmer, § 18 WpÜG Rz. 18; Merkner/Sustmann in Baums/Thoma, § 18 WpÜG Rz. 123 ff.; Hasselbach in KölnKomm/ WpÜG, § 18 WpÜG Rz. 58 ff.; Hasselbach/Pröhl, BB 2016, 1091 (1096); kritisch unter dem Gesichtspunkt der Bestimmtheit Steinmeyer in Steinmeyer, § 18 WpÜG Rz. 25; Krause/Favoccia in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, § 18 WpÜG Rz. 90 ff. 81 BaFin, Jahresbericht 2003, 209.
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B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots
Rz. 13.65 Kap. 13
– Keine Verteidigungsmaßnahmen: Der Bieter kann das Angebot auch davon abhängig machen, dass die Zielgesellschaft bestimmte im Einzelnen genau beschriebene Verteidigungsmaßnahmen nicht vornimmt, z.B. keine Kapitalerhöhungen durchführt.82 Zulässig ist es auch, das Angebot von der Bedingung abhängig zu machen, dass Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft eine unterstützende Stellungnahme nach § 27 Abs. 1 WpÜG abgeben.
13.60
– Zustimmende Gesellschafterversammlung des Bieters: In Abweichung von dem allgemeinen Grundsatz, dass Bedingungen nicht zulässig sind, die der Bieter selbst herbeiführen kann, ist es zulässig, das Angebot unter den Vorbehalt der Zustimmung der Hauptoder Gesellschafterversammlung des Bieters zu stellen. Die Aktionäre der Zielgesellschaft sind insofern geschützt, als der Bieter verpflichtet ist, den entsprechenden Gesellschafterbeschluss unverzüglich, jedenfalls bis zum fünften Werktag vor Ablauf der Annahmefrist herbeizuführen, § 25 WpÜG. Die Aufnahme einer solchen Bedingung ist trotz des uneingeschränkten Wortlauts von § 18 Abs. 1 WpÜG nur dann zulässig, wenn die Zustimmung der Gesellschafterversammlung zweifellos oder zumindest möglicherweise rechtlich erforderlich ist.83
13.61
bb) Unzulässige Bedingungen – Finanzierungsvorbehalt: Der Bieter kann das Angebot nicht unter der Bedingung abgeben, dass ihm die für die Durchführung des Angebots erforderlichen finanziellen Mittel bei Ablauf der Annahmefrist zur Verfügung stehen.84 Dasselbe gilt für ähnliche Gestaltungen, etwa eine auflösende Bedingung für den Fall, dass eine finanzierende Bank die Finanzierungszusage aufgrund einer wesentlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage des Bieters kündigt. Der Bieter kann aber den Finanzbedarf dadurch verringern, dass er mit Aktionären Nichtannahmevereinbarungen (No Tender Agreements) abschließt, in denen sich diese unter Androhung einer Vertragsstrafe dazu verpflichten, das Angebot nicht anzunehmen.85
13.62
– Gremienvorbehalte: Das Angebot darf nicht unter dem Vorbehalt der Zustimmung anderer Gremien des Bieters als seiner Gesellschafterversammlung gestellt werden.
13.63
– Unerfüllbare Bedingungen: Praktisch unerfüllbare Bedingungen, wie z.B. eine Betei- 13.64 ligungsschwelle von 100 %, sind ebenfalls nicht zulässig. Da das Angebot nur im Falle eines Verzichts des Bieters durchgeführt werden kann, liegt darin eine Bedingung, deren Eintritt der Bieter ausschließlich selbst herbeiführen kann. Folge einer unzulässigen Bedingung ist, dass die BaFin das Angebot wegen offensichtlichen Gesetzesverstoßes untersagen (§ 15 Abs. 1 Nr. 2 WpÜG) oder aber im Rahmen der Missbrauchsaufsicht nach § 4 Abs. 1 WpÜG die Berufung auf die unzulässige Bedingung verbieten kann.86
82 Vgl. Hasselbach in KölnKomm/WpÜG, § 18 WpÜG Rz. 66; Krause/Favoccia in Assmann/Pötzsch/ Uwe H. Schneider, § 18 WpÜG Rz. 81 ff. 83 Merkner/Sustmann in Baums/Thoma, § 18 WpÜG Rz. 87; Geibel/Süßmann in Angerer/Geibel/ Süßmann, § 18 WpÜG Rz. 01 ff.; a.A. Hasselbach in KölnKomm/WpÜG, § 18 WpÜG Rz. 74. 84 Noack/Holzborn in Schwark/Zimmer, § 18 WpÜG Rz. 22. 85 Hasselbach/Pröhl, BB 2016, 1091 (1097). 86 Hasselbach in KölnKomm/WpÜG, § 18 WpÜG Rz. 95.
Müller-Michaels 1115
13.65
Kap. 13 Rz. 13.66
Börsennotierte Unternehmen
cc) Nachträgliche Änderungen oder Verzicht auf Bedingungen
13.66 Der Bieter kann bis zum letzten Werktag vor Ablauf der Annahmefrist auf einzelne oder alle Bedingungen verzichten, § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 WpÜG. Eine Änderung kommt nur im Hinblick auf die Mindestannahmeschwelle in Betracht. Der Bieter kann diese nachträglich verringern, § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 WpÜG. – Zu den Folgen einer Änderung oder eines Verzichts s. Rz. 13.98 ff. d) Annahmefrist
13.67 Die Annahmefrist muss mindestens vier und darf höchstens zehn Wochen betragen, § 16 Abs. 1 Satz 1 WpÜG. Eine kurze Annahmefrist senkt das Risiko für den Bieter, dass der Kurs der Aktie während des Angebotszeitraums einbricht und der Bieter dadurch mehr Aktien angedient bekommt als beabsichtigt. Auf der anderen Seite erhöht sich die Chance für eine hohe Annahmequote bei einer längeren Angebotsfrist. Zu einer gesetzlichen Verlängerung der Annahmefrist, bei der auch die Höchstfrist von zehn Wochen überschritten werden kann, kann es in drei gesetzlich geregelten Fällen kommen. Erstens verlängert sich im Falle einer Änderung des Angebots die Annahmefrist um zwei Wochen, wenn die Veröffentlichung der Änderung innerhalb der letzten zwei Wochen vor Ablauf der Angebotsfrist erfolgt, § 21 Abs. 5 WpÜG. Wird zweitens während der Annahmefrist von einem Dritten ein konkurrierendes Angebot abgegeben und läuft die Annahmefrist des zuerst abgegebenen Angebots vor Ablauf der Annahmefrist des konkurrierenden Angebotes ab, so richtet sich die Annahmefrist automatisch nach dem konkurrierenden Angebot, § 22 Abs. 2 WpÜG. Es kommt somit zu einem Gleichlauf der Annahmefristen beider Angebote. Wird drittens von der Zielgesellschaft im Zusammenhang mit dem Angebot nach der Veröffentlichung der Angebotsunterlage eine Hauptversammlung einberufen, dann beträgt die Annahmefrist automatisch zehn Wochen, § 16 Abs. 3 Satz 1 WpÜG. Dagegen kann der Bieter, wenn er die zehnwöchige Höchstfrist nicht ausgeschöpft hat, die Annahmefrist später nicht mehr einseitig verlängern, da dies eine von § 21 Abs. 1 WpÜG nicht gestattete Änderung des Angebots wäre.87
13.68 Bei einem Übernahmeangebot können die Aktionäre, die das Angebot nicht angenommen haben, darüber hinaus das Angebot innerhalb einer weiteren Annahmefrist von zwei Wochen nach Veröffentlichung der vom Bieter nach Ablauf der Annahmefrist gehaltenen Wertpapierund Stimmrechtsanteile annehmen, es sei denn das Angebot enthielt eine Mindestannahmeschwelle, die nicht erreicht wurde (sog. „Zaunkönigregelung“; § 16 Abs. 2 WpÜG). Damit soll den Kleinaktionären ermöglicht werden, ihr Verhalten an dem der institutionellen Investoren auszurichten, die üblicherweise erst kurz vor Ende der Frist über die Annahme entscheiden. 4. Haupt- bzw. Gesellschafterversammlung beim Bieter erforderlich?
13.69 Der Erwerb von Beteiligungen bedarf bei einer Personengesellschaft oder einer GmbH häufig aufgrund statutarischer Regelungen im Gesellschaftsvertrag der Zustimmung der Gesellschafterversammlung. Bei einer Aktiengesellschaft bedarf der Erwerb eines anderen Unter87 Diese Auffassung wird auch von der BaFin geteilt; a.A. Merkner/Sustmann in Baums/Thoma, § 16 WpÜG Rz. 14; Hasselbach in KölnKomm/WpÜG, § 16 WpÜG Rz. 22; de lege ferenda wäre es allerdings wünschenswert, wenn es dem Bieter gestattet würde, die Annahmefrist bis zur Ausschöpfung der Höchstfrist nachträglich zu ändern, da schützenswerte Interessen der Zielgesellschaft oder ihrer Aktionäre dem nicht entgegenstehen.
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Müller-Michaels
B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots
Rz. 13.71 Kap. 13
nehmens regelmäßig der Zustimmung des Aufsichtsrats. Sollen Aktien als Gegenleistung angeboten werden, kann zur Schaffung der anzubietenden Aktien eine Hauptversammlung erforderlich sein, die über die entsprechende Kapitalerhöhung Beschluss fasst. Geschäftsführungsmaßnahmen wie der Erwerb eines anderen Unternehmens werden grundsätzlich nur dann der Hauptversammlung vorgelegt, wenn der Vorstand dies beschließt, § 119 Abs. 2 AktG. Einer Zustimmung der Hauptversammlung bedarf die Abgabe eines Übernahmeangebots nur in Ausnahmefällen, namentlich wenn durch die Übernahme die Erfüllung des Satzungszwecks des Bieters berührt wird (sog. Holzmüller/Gelatine Doktrin, s. dazu ausführlich Kap. 12 Rz. 12.129 ff.). Ist ein Hauptversammlungs- oder Gesellschafterbeschluss beim Bieter einzuholen, so kann das Übernahmeangebot, wie oben gesehen (Rz. 13.61), unter die Bedingung eines zustimmenden Beschlusses der Hauptversammlung bzw. Gesellschafterversammlung gestellt werden (§§ 18 Abs. 1, 25 WpÜG). Der Beschluss muss unverzüglich, spätestens bis zum fünften Werktag vor Ablauf der Annahmefrist herbeigeführt werden, § 25 WpÜG. 5. Weitere vorbereitende Maßnahmen a) Selbständige Bietergesellschaft Zulässig, aber nicht zwingend erforderlich ist die Einschaltung einer selbständigen Bietergesellschaft. Wegen der unkomplizierten Gründung und Führung ist die Wahl einer GmbH oder einer GmbH & Co. KG naheliegend. In den letzten Jahren traten jedoch häufig Aktiengesellschaften, SE oder KGaA als Bietergesellschaften auf; das liegt daran, dass nur diese Gesellschaftsformen Partei des verschmelzungsrechtlichen Squeeze-out sein können, wodurch ein Ausschluss von Minderheitsaktionären schon ab einer Beteiligung von 90 % (und nicht erst ab 95 %) möglich ist (§ 62 Abs. 5 UmwG).88 Diese neu gegründete Gesellschaft (NewCo) muss durch den Bieter oder durch ein Finanzinstitut mit den für die Übernahme erforderlichen finanziellen Mitteln ausgestattet werden. Dies hat zum einen den Vorteil, dass die Zielgesellschaft einschließlich der Finanzierung ihrer Übernahme innerhalb des Konzerns des Bieters klar abgegrenzt bleibt. Darüber hinaus eröffnen sich nach einer erfolgreichen Übernahme weitere Gestaltungsmöglichkeiten. Durch die Verschmelzung der Zielgesellschaft auf die NewCo kann das Vermögen der Zielgesellschaft unmittelbar als Sicherheit für die Finanzierung der Übernahme genutzt werden; außerdem kommt wie gerade gesehen ein verschmelzungsrechtlicher Squeeze-out in Betracht. Bei Bietergemeinschaften muss grundsätzlich jeder Bieter die Pflichten nach dem WpÜG erfüllen.89
13.70
b) Business Combination Agreement Häufig wird bei freundlichen Übernahmen nach anglo-amerikanischem Vorbild zwischen 13.71 dem Bieter und der Zielgesellschaft und unter Umständen ihren Großaktionären eine Investorenvereinbarung oder ein sog. Business Combination Agreement, Tender Offer Agreement oder Merger Agreement abgeschlossen.90 In diesem Vertrag, der nicht mit einem Verschmelzungsvertrag nach dem Umwandlungsgesetz zu verwechseln ist, werden die Eckpunkte des Übernahmeangebots geregelt, insbesondere Kaufpreis und Bedingungen, die Absichten des Bieters im Hinblick auf die Zielgesellschaft, etwaige Folgen der Übernahme für die Arbeitnehmer, die Vertretung des Bieters im Aufsichtsrat der Zielgesellschaft und die Verpflichtung der Gesellschaft, das Übernahmeangebot zu unterstützen und Maßnahmen zu unterlassen, die 88 Hasselbach/Pröhl, BB 2016, 1091 (1095). 89 Hippeli, NZG 2016, 1207 ff. 90 Dazu ausführlich Hippeli/Diesing, AG 2015, 185 ff.; Reichert, ZGR 2015, 1 ff.
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Kap. 13 Rz. 13.72
Börsennotierte Unternehmen
den Erfolg des Angebots gefährden könnten. Darüber hinaus verpflichtet sich die Zielgesellschaft häufig, während der Laufzeit des Übernahmeangebots bestimmte Maßnahmen, die die Struktur der Gesellschaft grundlegend ändern oder das Übernahmeangebot gefährden könnten, nicht zu ergreifen.91 Der Bieter hat häufig ein Interesse daran, für den Fall des Scheiterns der Transaktion – etwa wegen eines konkurrierenden Übernahmeangebots – von der Zielgesellschaft für seine Beratungs- und Due Diligence-Kosten Aufwendungsersatz durch Zahlung einer sog. Break- oder Break-up Fee zu erhalten.92 Gegen eine solche Klausel spricht nichts, solange sich die Zahlung in Grenzen hält und der Bieter lediglich eine Art pauschalierten Kostenersatz erhält. c) Kartellrecht
13.72 In der Vorbereitungsphase sind darüber hinaus die kartellrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen. Diese richten sich nach dem jeweils anwendbaren Kartellrecht (s. dazu ausführlich Kap. 7). Unterliegt die geplante Übernahme dem deutschen, europäischen oder anderen Kartellrecht, kann eine Bedingung in das Angebot aufgenommen werden, wonach das Übernahmeangebot unter der Bedingung unterbreitet wird, dass die kartellrechtliche Freigabe erfolgt. Dabei ist es zulässig, dass diese Bedingung erst nach dem Ende der Angebotsfrist eintritt.
II. Angebotsphase 13.73 An die Planungs- und Konzeptionsphase schließt sich die Angebotsphase an. Intensiver als die Vorbereitungsphase wird ihr Ablauf in vielen Aspekten von gesetzlichen Vorgaben bestimmt. 1. Entscheidung über Angebotsabgabe
13.74 Die Angebotsphase beginnt mit der Entscheidung des Bieters über die Abgabe eines Angebots. Als Entscheidung wird die abschließende Meinungsbildung des Bieters verstanden.93 Schließt der Bieter mit Großaktionären oder der Zielgesellschaft ein Business Combination Agreement oder andere die Übernahme vorbereitende Vereinbarungen, ist dies häufig der Zeitpunkt einer abschließenden Meinungsbildung. Bei einer Aktiengesellschaft ist die Meinungsbildung über eine Entscheidung, der der Aufsichtsrat zustimmen muss, erst abgeschlossen, wenn der Aufsichtsrat gem. § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG seine Zustimmung erteilt hat.94 Der Zeitpunkt der Entscheidung zur Abgabe des Angebots kann durch die entsprechende Terminierung des Abschlusses von vorbereitenden Verträgen oder eines notwendigen Aufsichtsratsbeschlusses in Grenzen beeinflusst werden. Dies ist von besonderer Bedeutung, wenn 91 Hasselbach/Pröhl, BB 2016, 1091 (1095). 92 Hippeli/Diesing, AG 2015, 185 (187). 93 Vgl. Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 10 WpÜG Rz. 27; Noack in Schwark/Zimmer, § 10 WpÜG Rz. 6; zum Verhältnis zur Mitteilungspflicht hinsichtlich der Aufstockungsabsicht nach § 27a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 WpHG Leyendecker-Langner/Huthmacher, AG 2015, 560 ff. 94 Die Zustimmung der Hauptversammlung kann dagegen grundsätzlich nur als Bedingung in das Angebot mit aufgenommen werden; die BaFin kann davon abweichend gestatten, dass die Entscheidung zur Abgabe eines Angebots erst nach dem Hauptversammlungsbeschluss veröffentlicht wird, wenn der Bieter durch geeignete Vorkehrungen sicherstellt, dass dadurch Marktverzerrungen nicht zu befürchten sind, § 10 Abs. 1 WpÜG; Letzteres setzt allerdings voraus, dass der Bieter eine Gesellschaft mit geschlossenem Gesellschafterkreis ist.
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B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots
Rz. 13.78 Kap. 13
Aktien als Gegenleistung angeboten werden sollen. In diesem Fall ist die Erstellung der Angebotsunterlage wesentlich aufwendiger, da sie dem Standard eines Wertpapierprospekts genügen muss. Die nach der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots bis zur Abgabe der Angebotsunterlage gesetzlich festgelegte Frist von vier Wochen kann dann sehr kurz sein. Mit dem Zeitpunkt der Entscheidung über das Angebot beginnen die Pflichten des Bieters nach dem WpÜG. Zunächst muss der Bieter die Geschäftsführungen der Börse, an der die Wertpapiere der Zielgesellschaft gehandelt werden, und die BaFin unverzüglich über die Entscheidung informieren, § 10 Abs. 2 WpÜG. Des Weiteren muss die Entscheidung unverzüglich im Internet und über ein qualifiziertes elektronisch betriebenes Informationsverbreitungssystem in deutscher Sprache veröffentlicht werden, § 10 Abs. 3 Satz 1 WpÜG. Dabei ist auch die Internet-Adresse anzugeben, unter der die Veröffentlichung der Angebotsunterlage im Internet erfolgen wird, § 10 Abs. 3 Satz 2 WpÜG.95 Diese Veröffentlichung ist anschließend unverzüglich den Börsen, der BaFin und dem Vorstand der Zielgesellschaft zu übersenden, § 10 Abs. 4 WpÜG. Nennt der Bieter in der Veröffentlichung bereits einen Mindestpreis, wozu er nicht verpflichtet ist, ist er an diesen gebunden; auch eine „Rücknahme“ der Meldung nach § 10 WpÜG ist nicht zulässig.96 Das gleiche gilt für einen Bieteraustausch.97
13.75
2. Angebotsunterlage Die Angebotsunterlage ist die für die Aktionäre der Zielgesellschaft wesentliche Informationsgrundlage über das Angebot. Sie bildet das verbindliche Angebot i.S.v. § 145 BGB an die Aktionäre der Zielgesellschaft, wobei der Zugang der Willenserklärung durch die Veröffentlichung gem. § 14 Abs. 3 WpÜG ersetzt wird. Die in deutscher Sprache zu verfassende Angebotsunterlage muss richtig und vollständig sein, in einer Form abgefasst werden, die ihr Verständnis und ihre Auswertung erleichtert, und die Angaben enthalten, die notwendig sind, um in Kenntnis der Sachlage über das Angebot entscheiden zu können, § 11 Abs. 1 WpÜG.
13.76
a) Inhalt der Angebotsunterlage Der Inhalt der Angebotsunterlage ist in § 11 WpÜG und § 2 WpÜG-AngebotsVO detailliert vorgegeben. Das Gesetz unterscheidet zwischen Angaben zum Inhalt des Angebots sowie ergänzenden Angaben. Die Angaben zum Inhalt des Angebots umfassen den Bieter, die Zielgesellschaft, die Wertpapiere, die Gegenstand des Angebots sind, Art und Höhe der Gegenleistung, etwaige Bedingungen, von denen die Wirksamkeit des Angebots abhängig ist, sowie Beginn und Ende der Annahmefrist.
13.77
Ergänzende Angaben (§ 11 Abs. 2 Satz 4 WpÜG sowie § 2 WpÜG-AngebotsVO) sind u.a. Informationen zu den Maßnahmen, die zur Sicherung der Erfüllung des Angebots getätigt wurden, sowie Angaben zu den Absichten des Bieters im Hinblick auf die künftige Geschäftstätigkeit der Zielgesellschaft und im Hinblick auf ihre Arbeitnehmer und deren Vertretungen, Angaben zu Leistungen an Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der Zielgesell-
13.78
95 Ein Muster für eine Veröffentlichung findet sich bei Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 10 WpÜG Rz. 6. 96 Boucsein/Schmiady, AG 2016, 597 (598 f.) mit Verweis auf die Verwaltungspraxis der BaFin; unter dem Gesichtspunkt eines möglichen Reformbedarfs Cascante/Tyrolt, AG 2012, 97 (102 ff.); zu zivilrechtlichen Fragen Scholl/Siekmann, BKR 2013, 316 ff. 97 Hippeli, NZG 2016, 1207 ff.; zu zivilrechtlichen Fragen Scholl/Siekmann, BKR 2013, 316 ff.
Müller-Michaels 1119
Kap. 13 Rz. 13.79
Börsennotierte Unternehmen
schaft, Angaben zu Vorerwerben innerhalb der letzten drei Monate vor der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots98 und der Veröffentlichung der Angebotsunterlage,99 Angaben zum Stand behördlicher Genehmigungsverfahren sowie Angaben zu den angewandten Bewertungsmethoden bei der Festlegung der Gegenleistung. Letzteres beschränkt sich in der Regel darauf, dass der Bieter darlegt, dass die angebotene Gegenleistung den Mindestpreisanforderungen der §§ 3–7 WpÜG-AngebotsVO entspricht. Bei der Darstellung der zukünftigen Absichten des Bieters, die mit dem Erwerb verfolgt werden, reichen ganz allgemeine Formulierungen nicht aus. Es ist hinreichend deutlich zu machen, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen, so dass bereits frühzeitig strategische Festlegungen offensichtlich werden. Für die Aktionäre besonders einschneidende Maßnahmen wie ein Delisting oder ein Squeeze-out, sind anzukündigen.100 Bei Barangeboten oder gemischten Bar- und Tauschangeboten muss auch die Finanzierungsbestätigung (s. dazu Rz. 13.42) der Angebotsunterlage beigefügt werden.
13.79 Des Weiteren muss die Angebotsunterlage Angaben zur technischen Abwicklung des Angebots enthalten, insbesondere Hinweise dazu, in welchen Fällen sich die Annahmefrist verlängert, wo und auf welche Weise die Angebotsunterlage und alle sonstigen Mitteilungen im Hinblick auf das Angebot veröffentlicht werden und welche Maßnahmen zur Annahme des Angebots zu ergreifen sind.
13.80 Schließlich ist auch auf die Rücktrittsrechte bei Änderung des Angebots (§ 21 Abs. 4 WpÜG) und im Falle eines konkurrierenden Angebots (§ 22 Abs. 3 WpÜG) hinzuweisen. Gibt der Bieter in der Angebotsunterlage eine die Erklärung ab, den Angebotspreis unter keinen Umständen zu erhöhen („No-Increase Statement“), ist er grundsätzlich daran gebunden.101 Weiter ist in der Angebotsunterlage anzugeben, welchem Recht die infolge der Annahme des Angebots zustande kommenden Verträge unterliegen.102 Die Angebotsunterlage muss ferner Namen und Anschrift derjenigen Personen oder Gesellschaften aufführen, die für den Inhalt der Angebotsunterlage die Verantwortung übernehmen. Diese müssen erklären, dass ihres Wissens die Angaben richtig und keine wesentlichen Umstände ausgelassen worden sind, § 11 Abs. 3 WpÜG. b) Besonderheiten bei Tauschangeboten
13.81 Soweit als Gegenleistung Wertpapiere angeboten werden, haben die Aktionäre der Zielgesellschaft ein sehr viel umfassenderes Informationsbedürfnis im Hinblick auf den Bieter. Die Angebotsunterlage muss daher alle Angaben eines Wertpapierprospekts gem. § 7 WpPG in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 809/2004 über Wertpapierprospekte enthalten, § 2 Nr. 2 WpÜG-AngebotsVO (s. dazu schon oben Rz. 13.45). Die Angebotsunterlage muss somit neben den im Einzelnen genannten Angaben zum Bieter sämtliche Informationen enthalten, 98 Diese Vorerwerbe sind relevant im Hinblick auf die Mindestleistung, § 4 WpÜG-AngebotsVO; s. hierzu auch Rz. 13.52. 99 Diese Vorerwerbe sind relevant im Hinblick auf die Frage, ob der Bieter zwingend ein Barangebot unterbreiten muss, § 31 Abs. 3 WpÜG; s. hierzu auch Rz. 13.34. 100 Thoma in Baums/Thoma, § 11 WpÜG Rz. 77; Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 11 WpÜG Rz. 50 f. 101 Hippeli/Klepsch, ZIP 2016, 1205 (1206). 102 Die Angabe ist eine Rechtswahlvereinbarung i.S.d. Art. 3 2008/593/EG (Rom I-VO); es kann daher auch ein anderes als das deutsche Recht gewählt werden; dies ist aber nur in besonderen Konstellationen ratsam, denn die inländischen Aktionäre werden vermuten, dass die Wahl eines ausländischen Rechts sie benachteiligen soll.
1120
Müller-Michaels
B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots
Rz. 13.87 Kap. 13
die in einem Wertpapierprospekt enthalten sind. Die Börsenzulassung der angebotenen Aktien kann dann ohne weiteren gesonderten Wertpapierprospekt erfolgen, § 4 Abs. 2 Nr. 3 WpPG. Die Angebotsunterlage muss keine Angaben eines Wertpapierprospekts enthalten, wenn für die als Gegenleistung angebotenen Wertpapiere vor Veröffentlichung der Angebotsunterlage ein Prospekt, auf Grund dessen die Wertpapiere öffentlich angeboten oder zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen worden sind, im Inland in deutscher Sprache veröffentlicht wurde und für die als Gegenleistung angebotenen Wertpapiere während der gesamten Laufzeit des Angebots ein gültiger Prospekt veröffentlicht wurde. In diesem Fall genügt die Angabe, dass ein Prospekt veröffentlicht wurde und wo dieser jeweils erhältlich, § 2 Nr. 2 WpÜG-AngebotsVO.
13.82
Sollen als Gegenleistung Aktien angeboten werden, die im Zuge des Übernahmeverfahrens zum organisierten Markt zugelassen werden sollen, hat der Bieter somit die Wahl, ob er entweder einen Börsenzulassungsprospekt erstellt und in die Angebotsunterlage lediglich einen Hinweis aufnimmt, wo der Prospekt erhältlich ist, oder ob er eine Angebotsunterlage erstellt, die inhaltlich einem Wertpapierprospekt entspricht und damit den Anforderungen an eine Börsenzulassung genügt, um im Rahmen der Börsenzulassung eine Befreiung von der Verpflichtung zur Erstellung eines Börsenzulassungsprospekts zu erlangen.
13.83
c) Übermittlung der Angebotsunterlage an die BaFin Die BaFin lehnt es ab, Entwürfe der Angebotsunterlage vorab zu prüfen; ungewöhnliche Gestaltungen können und sollten aber mit der BaFin vorab besprochen werden. Die Angebotsunterlage muss vom Bieter innerhalb einer Frist von vier Wochen nach der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots der BaFin übermittelt werden, § 14 Abs. 1 Satz 1 WpÜG. Sofern die Einhaltung der Vier-Wochen-Frist auf Grund eines grenzüberschreitenden Angebots oder erforderlicher Kapitalmaßnahmen nicht möglich ist, kann die BaFin die Frist auf Antrag um bis zu vier Wochen verlängern, § 14 Abs. 1 Satz 3 WpÜG. Die jeweilige Frist endet mit Ablauf des Wochentages, der durch seine Benennung dem Tag entspricht, an dem die Veröffentlichung erfolgte. Ist dieser Tag ein Samstag, Sonntag oder ein gesetzlicher Feiertag in Hessen, endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages.
13.84
Der Bieter hat die Angebotsunterlage in der Form, in der er sie veröffentlichen will, der BaFin zu übermitteln. Aktualisierungen oder Berichtigungen während der Prüfungsphase der Angebotsunterlage durch die BaFin können nach ihrem Ermessen gestattet werden.
13.85
Die Angebotsunterlage muss bei der Übermittlung an die BaFin vom Bieter im Original unterschrieben sein, § 11 Abs. 1 Satz 5 WpÜG. Es genügt eine Unterzeichnung durch die gesetzlichen Vertreter in vertretungsberechtigter Zahl. Auch eine Unterzeichnung durch im Handelsregister eingetragene Prokuristen in vertretungsberechtigter Zahl ist ausreichend, da deren Vertretungsberechtigung aus dem Handelsregister ersichtlich ist.103 Eine Unterzeichnung aufgrund rechtsgeschäftlicher Bevollmächtigung genügt hingegen nicht.
13.86
Zur Fristwahrung reicht es aus, ein im Original unterzeichnetes Dokument als elektronisches Dokument, das mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, rechtzeitig an die BaFin zu übermitteln, § 126a BGB. Ein Fax genügt hingegen nicht.
13.87
103 Seydel in KölnKomm/WpÜG, § 11 WpÜG Rz. 45.
Müller-Michaels 1121
Kap. 13 Rz. 13.88
Börsennotierte Unternehmen
13.88 Die Übermittlung der Angebotsunterlage beinhaltet regelmäßig einen Antrag des Bieters, das Angebot zu gestatten. Eines ausdrücklichen Gestattungsantrags bedarf es nicht.104 d) Prüfung der Angebotsunterlage durch die BaFin
13.89 Die BaFin bestätigt dem Bieter den Tag des Eingangs der Angebotsunterlage, § 14 Abs. 1 Satz 2 WpÜG. Anschließend erfolgt während der nächsten bis zu zehn Werktage eine formelle Prüfung der Angebotsunterlage darauf, ob sämtliche gesetzlich vorgeschriebenen Punkte in der Angebotsunterlage behandelt werden. Darüber hinaus findet eine eingeschränkte inhaltliche Überprüfung der Angebotsunterlage dahingehend statt, ob die darin enthaltenen Angaben offensichtlich gegen Vorschriften des WpÜG oder der daraufhin erlassenen Rechtsverordnungen verstoßen, § 15 Abs. 1 Nr. 2 WpÜG. Dabei werden insbesondere die Angaben zur Höhe und Art der Gegenleistung geprüft.105 Die BaFin ist dabei nicht nur auf die Angaben in der Angebotsunterlage beschränkt, sondern kann von sich aus Ermittlungen vornehmen, um festzustellen, ob die Angaben in der Angebotsunterlage richtig und vollständig sind.106 Stellt die BaFin bei ihrer Prüfung fest, dass die Angebotsunterlage nicht vollständig ist oder sonst dem WpÜG oder der auf Grund des WpÜG erlassenen Rechtsverordnungen nicht entspricht, kann die Prüfungsfrist von zehn Werktagen um bis zu fünf Werktage verlängert werden, damit die Mängel beseitigt werden können, § 14 Abs. 2 Satz 3 WpÜG. In der Praxis wird der Bieter in der Regel nach einigen Tagen von Mitarbeitern der BaFin kontaktiert. Änderungswünsche der BaFin werden entweder in einem persönlichen Gespräch bei der BaFin oder auf telefonischem Weg erörtert. e) Veröffentlichung der Angebotsunterlage
13.90 Hat die BaFin das Angebot ausdrücklich gestattet oder nicht innerhalb von zehn Werktagen nach Eingang der Angebotsunterlage untersagt, hat der Bieter die Angebotsunterlage unverzüglich zu veröffentlichen (§ 14 Abs. 2 Satz 1 WpÜG) und dem Vorstand der Zielgesellschaft zu übermitteln, § 14 Abs. 4 WpÜG. Die Veröffentlichung hat durch eine Bekanntgabe im Internet (§ 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 WpÜG) und Bekanntgabe im Bundesanzeiger oder durch Bereithalten zur kostenlosen Ausgabe bei einer geeigneten Stelle im Inland zu erfolgen; im letzteren Fall ist im Bundesanzeiger bekannt zu geben, bei welcher Stelle die Angebotsunterlage bereitgehalten wird (§ 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 WpÜG). In der Praxis erfolgt darüber hinaus eine Veröffentlichung in den Wertpapiermitteilungen, damit die Aktionäre der Zielgesellschaft über ihre jeweilige Depotbank unterrichtet werden. Die Bekanntgabe im Internet erfolgt in der Regel auf der Internetseite des Bieters. Zwingend ist dies jedoch nicht. Es kann auch eine eigene Website eingerichtet werden. Bei Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe des Angebots nach § 10 Abs. 3 Satz 2 WpÜG muss der Bieter auch die Web-Adresse angeben, unter der die Veröffentlichung des Angebots erfolgt.107 Der Bieter hat außerdem sicherzustellen, dass die Angebotsunterlage durch Suchmaschinen leicht auffindbar ist.108
104 Seydel in KölnKomm/WpÜG, § 14 WpÜG Rz. 27. 105 Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 15 WpÜG Rz. 21. 106 Seydel in KölnKomm/WpÜG, § 14 WpÜG Rz. 38; enger Geibel/Süßmann in Angerer/Geibel/ Süßmann, § 14 WpÜG Rz. 31. 107 Assmann in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, § 14 WpÜG Rz. 35. 108 Thoma in Baums/Thoma, § 14 WpÜG Rz. 82; Seydel in KölnKomm/WpÜG, § 14 WpÜG Rz. 63.
1122
Müller-Michaels
B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots
Rz. 13.94 Kap. 13
Der Bieter hat der BaFin unverzüglich einen Beleg über die Veröffentlichung nach § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 WpÜG zu übersenden. Auch der Zeitpunkt der Freischaltung im Internet sollte dokumentiert werden, da die BaFin bei Veröffentlichungsfehlern das Angebot untersagen kann, § 15 Abs. 2 WpÜG. Unverzüglich nach der Veröffentlichung hat der Bieter die Angebotsunterlage dem Vorstand der Zielgesellschaft zu übermitteln, § 14 Abs. 4 Satz 1 WpÜG. Es genügt die Übersendung einer entsprechenden Datei oder auch der Hinweis auf die Internetseite, unter der die Angebotsunterlage veröffentlicht wurde.
13.91
f) Berichtigungen/Aktualisierung der Angebotsunterlage Eine Berichtigung von Unrichtigkeiten der Angebotsunterlage erfolgt durch eine Ad-hocMitteilung nach § 15 Abs. 3 WpHG oder eine vergleichbare Bekanntmachung, § 12 Abs. 3 Nr. 3 WpÜG. Werden Angaben in der Angebotsunterlage aufgrund nachträglich eintretender Umstände unrichtig, so ist der Bieter auch nach der Veröffentlichung der Angebotsunterlage zu einer Aktualisierung verpflichtet.109
13.92
g) Haftung Ähnlich der Prospekthaftung für Börsenzulassungsprospekte (§ 21 WpPG) ist der Bieter den Wertpapierinhabern der Zielgesellschaft zum Schadensersatz verpflichtet, wenn für die Beurteilung des Angebots wesentliche Angaben der Angebotsunterlage unrichtig oder unvollständig sind, § 12 Abs. 1 WpÜG. Mit Angaben sind dabei nicht nur Tatsachen, sondern auch wertende Aussagen und Prognosen gemeint.110 Wesentlich sind vor allem Angaben zu den wertbildenden Faktoren.
13.93
3. Ausschluss von Wertpapierinhabern außerhalb des EWR In das Angebot sind grundsätzlich auch im Ausland ansässige Wertpapierinhaber einzubeziehen. Gemäß § 24 WpÜG kann die BaFin bei grenzüberschreitenden Angeboten auf Antrag gestatten, Wertpapierinhaber aus Staaten außerhalb des EWR von dem Angebot auszunehmen, wenn der Bieter sonst zugleich die Vorschriften des anderen Staates einhalten müsste und ihm deshalb ein Angebot an alle Aktionäre unzumutbar ist. Grenzüberschreitend ist ein Angebot dann, wenn es aus Sicht eines Bieters möglich erscheint, dass Wertpapierinhaber der Zielgesellschaft außerhalb des EWR ansässig sind.111 Im Hinblick auf die Anwendung der Vorschriften eines anderen Staates genügt es, dass die Vorschriften dieses Staates möglicherweise anwendbar sind.112 Die Vorschriften können übernahmerechtlicher Natur sein, bei Tauschangeboten kommen auch Bestimmungen über öffentliche Angebote von Wertpapieren in Betracht. Die Einhaltung des auswärtigen Rechts muss unzumutbar sein. Dies ist dann der Fall, wenn die Einhaltung des WpÜG und des jeweiligen auswärtigen Rechts wegen sich widersprechender Vorschriften unmöglich ist, aber auch dann, wenn die Einhaltung mit einem erheblichen finanziellen Mehraufwand verbunden wäre, der aufgrund einer geringen Zahl in dem jeweiligen Land ansässigen Wertpapierinhaber nicht gerechtfertigt wäre.113 Für in den USA ansässige Aktionäre lässt die BaFin eine besondere Abwick109 110 111 112 113
Vgl. Möllers in KölnKomm/WpÜG, § 12 WpÜG Rz. 49 ff. Noack/Holzborn in Schwark/Zimmer, § 12 WpÜG Rz. 11. Versteegen in KölnKomm/WpÜG, § 24 WpÜG Rz. 11. Versteegen in KölnKomm/WpÜG, § 24 WpÜG Rz. 15 f. Diekmann in Baums/Thoma, § 24 WpÜG Rz. 14 f.; Versteegen in KölnKomm/WpÜG, § 24 WpÜG Rz. 25.
Müller-Michaels 1123
13.94
Kap. 13 Rz. 13.95
Börsennotierte Unternehmen
lungsform des Tauschangebots zu (sog. Vendor Placement); dabei werden die Aktien USamerikanischer Aktionäre in deren Namen über die Börse veräußert und der Erlös an diese ausgekehrt.114
13.95 Die BaFin entscheidet über die Gestattung auf schriftlichen Antrag des Bieters. Der Antrag muss spätestens mit der Übermittlung der Angebotsunterlage gestellt werden, da die Angebotsunterlage vom Bieter so zu übermitteln ist, wie sie veröffentlicht werden soll. Es empfiehlt sich jedoch, den Antrag möglichst frühzeitig, gegebenenfalls unter Beifügung eines Entwurfs der Angebotsunterlage und einer ausführlichen Begründung zu den Tatbestandsmerkmalen der Befreiung zu stellen. 4. „Wasserstandsmeldungen“
13.96 Der Bieter muss gem. § 23 Abs. 1 WpÜG nach Veröffentlichung der Angebotsunterlagen wöchentlich und in der letzten Woche vor Ablauf der Annahmefrist täglich veröffentlichen und der BaFin mitteilen, welche Beteiligungen an der Zielgesellschaft er innerhalb der Annahmefrist erworben hat. Eine derartige Veröffentlichungs- und Mitteilungspflicht an die BaFin besteht auch unverzüglich115 nach Ablauf der Annahmefrist und nach Ablauf der weiteren Annahmefrist. Im Einzelnen muss der Bieter – die Anzahl der ihm, mit ihm gemeinsam handelnden Personen und deren Tochterunternehmen zustehenden Wertpapiere, – die sich daraus ergebende Höhe der Wertpapieranteile (also der Prozentsatz der Beteiligung), – die ihm zustehenden Stimmrechtsanteile, – die ihm zuzurechnenden Stimmrechtsanteile sowie – die sich aus den ihm zugegangenen Annahmeerklärungen ergebende Anzahl der Wertpapiere, die Gegenstand des Angebots sind, einschließlich der Wertpapier- und Stimmrechtsanteile veröffentlichen.
13.97 Die Veröffentlichung muss wie bei der Angebotsunterlage erfolgen, also durch Einstellung ins Internet und durch Bekanntgabe im elektronischen Bundesanzeiger oder durch Bereithalten zur kostenlosen Ausgabe bei einer geeigneten Stelle im Inland. 5. Änderungen des Angebots
13.98 Bis einen Werktag116 vor Ablauf der Annahmefrist hat der Bieter die Möglichkeit, bestimmte Änderungen des Angebots vorzunehmen, die zu einer Verbesserung des Angebots für die Wertpapierinhaber der Zielgesellschaft führen, § 21 WpÜG. Zulässig sind danach: die Erhöhung der Gegenleistung, das Angebot einer alternativen anderen Gegenleistung, die Verringerung der Mindestannahmequote oder der Verzicht auf im Angebot enthaltene Bedingungen. Der Bieter kann auch mehrere Änderungen vornehmen. 114 BaFin, Jahresbericht 2015, 248; Boucsein/Schmiady, AG 2016, 597 (606 f.). 115 Unverzüglich meint ohne schuldhaftes Zögern i.S.v. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB; eine Veröffentlichung innerhalb von fünf Börsentagen einschließlich eines etwaigen sich anschließenden Wochenendes wird noch als unverzüglich angesehen; Diekmann in Baums/Thoma, § 23 WpÜG Rz. 57; Möllers in KölnKomm/WpÜG, § 23 WpÜG Rz. 79. 116 Ausführlich zur Berechnung der Frist Hasselbach in KölnKomm/WpÜG, § 21 WpÜG Rz. 13 f.
1124
Müller-Michaels
B. Vorbereitung und Durchführung eines Übernahmeangebots
Rz. 13.104 Kap. 13
Die Änderung führt dazu, dass das geänderte Angebot automatisch für und gegen alle Wertpapierinhaber der Zielgesellschaft gilt. Diejenigen Wertpapierinhaber, die das Angebot bereits vor der Änderung angenommen haben, können bis zum Ablauf der Annahmefrist von dem Vertrag zurücktreten, § 21 Abs. 4 WpÜG.
13.99
Jede Änderung muss unverzüglich in der gleichen Weise wie die Angebotsunterlage veröffentlicht werden, § 21 Abs. 2 WpÜG. Darüber hinaus ist erneut auf das Rücktrittsrecht nach § 21 Abs. 4 WpÜG hinzuweisen.
13.100
Erfolgt eine Änderung des Angebots in den letzten zwei Wochen vor Ablauf der in der Angebotsunterlage festgesetzten oder aufgrund eines konkurrierenden Angebots gem. § 22 Abs. 2 WpÜG verlängerten Annahmefrist, so verlängert sich die Annahmefrist kraft Gesetzes um zwei Wochen, § 21 Abs. 5 WpÜG. Innerhalb der Verlängerungsfrist sind erneute Änderungen des Angebots unzulässig, § 21 Abs. 6 WpÜG. Damit soll verhindert werden, dass der Bieter durch ständige Änderungen des Angebots den Ablauf der Annahmefrist unangemessen lang hinauszögern kann.
13.101
6. Annahme und Abwicklung des Übernahmeangebots Für die Annahme und Abwicklung des Übernahmeangebots wird vom Bieter in der Regel ein 13.102 Kreditinstitut als Abwicklungsstelle eingeschaltet. Die Annahme eines Übernahmeangebots durch die Aktionäre der Zielgesellschaft erfolgt regelmäßig durch schriftliche Erklärung gegenüber den depotführenden Kreditinstituten. Während des Laufs der Annahmefrist bzw. der weiteren Annahmefrist werden die Aktien der Zielgesellschaft, für die das Angebot angenommen wurde, im Depot des jeweiligen Aktionärs belassen. Die depotführende Bank wird jedoch angewiesen, die Aktien auf eine gesonderte Wertpapierkenn-Nummer bei der Clearstream Banking AG umzubuchen. Bis kurz vor Ablauf der Annahmefrist können die Aktien, für die das Angebot angenommen wurde, unter dieser gesonderten Wertpapierkenn-Nummer gehandelt werden. Die Clearstream Banking AG wiederum wird angewiesen, diese Aktien nach Ablauf der Annahmefrist und Eintritt der aufschiebenden Bedingungen auf ein Depot des vom Bieter als Abwicklungsstelle eingeschalteten Kreditinstituts zu übertragen. Die Übertragung erfolgt Zug um Zug gegen Überweisung der Gegenleistung an das jeweilige depotführende Kreditinstitut. Mit dieser Übertragung geht dann das Eigentum an den Aktien auf den Bieter über. Häufig lässt es der Bieter ausreichen, wenn die Aktien, für die während der Annahmefrist eine Annahmeerklärung erfolgte, innerhalb von wenigen weiteren Bankarbeitstagen nach Ablauf der Annahmefrist auf die gesonderte Wertpapierkenn-Nummer umgebucht werden. Sofern Aktionäre der Zielgesellschaft über Aktienurkunden verfügen, die Aktien also nicht nur in Form von Globalurkunden verbrieft sind, müssen die Aktionäre der Zielgesellschaft zusätzlich die Aktienurkunden über ihr depotführendes Kreditinstitut bei dem vom Bieter als Abwicklungsstelle eingeschalteten Kreditinstitut einreichen.
13.103
7. Nachbesserungspflicht In bestimmten Fällen ist der Bieter auch nach Abschluss des Angebotsverfahrens zu einer Erhöhung der Gegenleistung verpflichtet. Erwerben der Bieter, mit ihm gemeinsam handelnde Personen oder deren Tochterunternehmen innerhalb eines Jahres nach der Veröffentlichung des Ergebnisses des Übernahmeangebots weitere Aktien der Zielgesellschaft außerhalb der Börse und wird dabei wertmäßig eine höhere Gegenleistung angeboten oder vereinbart, ist der Müller-Michaels 1125
13.104
Kap. 13 Rz. 13.105
Börsennotierte Unternehmen
Bieter verpflichtet, allen Aktionären, die das Angebot angenommen haben, den Unterschiedsbetrag zu zahlen (§ 31 Abs. 5 WpÜG). Das gilt nach dem Wortlaut der Vorschrift auch, wenn der Bieter innerhalb der Jahresfrist ein weiteres Übernahmeangebot zu einem höheren Preis abgibt.117 Der Bieter ist für diesen Zeitraum ebenfalls verpflichtet, sämtliche Aktienerwerbe – auch die börslichen – außerhalb des Angebotsverfahrens unter Angabe der erworbenen Aktien- und Stimmrechtsanteile sowie Art und Höhe der für jeden Anteil gewährten Gegenleistung durch Einstellung ins Internet und durch Abdruck in einem überregionalen Börsenpflichtblatt oder durch Bereithalten zur kostenlosen Ausgabe bei einer geeigneten Stelle im Inland zu veröffentlichen (§ 23 Abs. 2 WpÜG). 8. Ablauf eines Übernahmeangebots im Überblick
13.105 Die folgende Abbildung zeigt den idealtypischen Ablauf eines Übernahmeangebots:
Zeitplan Veröffentlichung Entscheidung Angebot
3 Monate 3 Monate
Übermittlung Angebotsunterlage an BaFin
4 Wochen
Gestattung BaFin, Veröffentlichung Angebotsunterlage
10–15 Werktage
Closing
4–10 Wochen 2 Wochen Annahmefrist weitere Annahmefrist
Vorerwerbe
1 Jahr
Nacherwerbe
Durchschnittskurs
Abb. 1: Ablauf Übernahmeangebot
C. Pflichtangebote I. Allgemeines 13.106 § 35 WpÜG setzt im Gewand einer Verfahrensvorschrift eines der wichtigsten Anliegen des Gesetzgebers um, nämlich die Einführung eines Pflichtangebots zum Schutz der Minderheitsaktionäre in börsennotierten Aktiengesellschaften.118 Diese sollen nach einem Kontroll-
117 Dazu kritisch Wasse, AG 2012, 784 ff. 118 Baums/Hecker in Baums/Thoma, § 35 WpÜG Rz. 1; H. Meyer in Angerer/Geibel/Süßmann, § 35 WpÜG Rz. 1; vgl. auch Hasselbach in KölnKomm/WpÜG, § 35 WpÜG Rz. 1 f.
1126
Müller-Michaels
C. Pflichtangebote
Rz. 13.109 Kap. 13
wechsel die Gelegenheit haben, ihre Beteiligung an dem Unternehmen zu einem angemessenen Preis zu veräußern.119 § 35 Abs. 1 WpÜG verpflichtet denjenigen, der die Kontrolle über eine Zielgesellschaft erlangt 13.107 hat, dies unverzüglich, spätestens innerhalb von sieben Kalendertagen, zu veröffentlichen; § 35 Abs. 2 WpÜG ordnet an, dass der Bieter innerhalb von vier Wochen nach der Veröffentlichung aufgrund Abs. 1 der BaFin eine Angebotsunterlage zu übermitteln und gem. § 14 Abs. 2 Satz 1 WpÜG ein Angebot zu veröffentlichen hat. Diese Verpflichtungen bestehen nicht, wenn der Bieter die Kontrolle auf Grund eines Übernahmeangebots erlangt hat (§ 35 Abs. 3 WpÜG). Die inhaltlichen Vorgaben für das Pflichtangebot ergeben sich über die Verweisungsnorm des § 39 WpÜG, die mit einigen Ausnahmen die Vorschriften der Abschnitte 3 (Erwerbsangebote) und 4 (Übernahmeangebote) des WpÜG für entsprechend anwendbar erklärt. Diese Verweisungstechnik mag zwar unter dem Gesichtspunkt eines schlanken Gesetzes verständlich sein, erschwert jedoch gerade der interessierten Kapitalmarktöffentlichkeit das Verständnis des Pflichtangebots.120
II. Kontrollerwerb als Auslöser des Pflichtangebots 1. Arten des Kontrollerwerbs Auslöser des Pflichtangebots ist die Erlangung der unmittelbaren oder mittelbaren Kontrolle über die Zielgesellschaft. „Kontrolle“ ist nach § 29 Abs. 2 WpÜG das Halten von mindestens 30 % der Stimmrechte an der Zielgesellschaft. Unerheblich ist, ob der Bieter durch den Erwerb von 30 % der Stimmrechte auch tatsächlich die Kontrolle über die Gesellschaft erlangt hat.121 Das gilt grundsätzlich auch für die Fälle, in denen ein Dritter bereits einen gleich hohen oder gar höheren Stimmrechtsanteil hält.122 Umgekehrt kann es Konstellationen geben, in denen Kontrolle auch mit weniger als 30 % der Stimmrechte ausgeübt werden kann; auch dies ist unerheblich und löst kein Pflichtangebot aus. Der Gesetzgeber hat sich im Interesse der Rechtssicherheit bewusst für eine starre Grenze entschieden.123
13.108
Ebenfalls ohne Belang für die Anwendung von § 35 Abs. 1 Satz 1 WpÜG ist es, auf welche Weise der Bieter die Kontrolle erworben hat. In Frage kommt ein Erwerb durch Rechtsgeschäft (börslich oder außerbörslich), aber auch von Gesetzes wegen.124 Das gilt auch für den Kon-
13.109
119 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 30; Hommelhoff/Witt in Haarmann/Schüppen, vor §§ 35 bis 39 WpÜG Rz. 1 ff.; Noack/Zetsche in Schwark/Zimmer, § 35 WpÜG Rz. 4. 120 Baums/Hecker in Baums/Thoma, § 35 WpÜG Rz. 3. 121 Diese Frage ist allenfalls im Rahmen von § 37 Abs. 1 WpÜG i.V.m. § 9 Satz 2 Nr. 2 WpÜG-AngebotsVO relevant, der der BaFin die Möglichkeit gibt, den Erwerber vom Pflichtangebot zu befreien, wenn aufgrund historischer Hauptversammlungspräsenzen nicht zu erwarten ist, dass der Erwerber damit nicht über 50 % der tatsächlich auf der Hauptversammlung vertretenen Stimmrechte verfügt. Zu den Befreiungsmöglichkeiten s. Rz. 13.123 ff. 122 Auch in dieser Konstellation kommt allerdings ein Befreiungstatbestand in Betracht (§ 37 Abs. 1 WpÜG i.V.m. § 9 Satz 2 Nr. 3 WpÜG-AngebotsVO). 123 BGH v. 15.12.2011 – I ZR 129/10, MDR 2012, 926 = AG 2012, 594 ff. Rz. 22; hierzu: Brellochs, NZG 2012, 1010 ff. 124 Meyer in Angerer/Geibel/Süßmann, § 35 WpÜG Rz. 31. Beim Erwerb durch Erbgang zwischen Verwandten hat die BaFin jedoch nach § 36 Nr. 1 WpÜG zuzulassen, dass die so erworbenen Stimmrechte unberücksichtigt bleiben bzw. kann, wenn kein Verwandtschaftsverhältnis besteht, eine Befreiung nach § 37 Abs. 1 WpÜG i.V.m. § 9 Satz 1 Nr. 1 WpÜG-AngebotsVO erteilen.
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Kap. 13 Rz. 13.110
Börsennotierte Unternehmen
trollerwerb aufgrund von Maßnahmen nach dem UmwG.125 Praktisch wird dies insbesondere, wenn ein Rechtsträger mit einer kontrollierenden Beteiligung an einer börsennotierten Gesellschaft auf einen anderen Rechtsträger verschmolzen wird. Letzterer muss dann gegenüber den anderen Aktionären der börsennotierten Gesellschaft ein Pflichtangebot abgeben.126 Einzig der Erwerb der Kontrolle durch ein Übernahmeangebot ist ausdrücklich von der Folge des Pflichtangebots ausgenommen (§ 35 Abs. 3 WpÜG).
13.110 Allerdings greift § 35 Abs. 1 WpÜG nicht ein, wenn lediglich eine bereits bestehende Kontrollposition ausgebaut wird, wenn also bei einer schon bestehenden Beteiligung von mindestens 30 % weitere Aktien hinzu erworben werden.127 Das kann sich ein Bieter zunutze machen, indem er bei einem niedrigen Kursniveau die 30 %-Schwelle überschreitet (sog. „low-balling“).128 Selbst wenn das Angebot dann nur von wenigen Aktionären angenommen wird, kann der Bieter seine Kontrollposition ohne weiteres Angebot unbeschränkt ausbauen. Das war die Strategie bei der versuchten Übernahme von VW durch Porsche im Jahr 2007.
13.111 Von § 35 Abs. 1 WpÜG wird nicht nur die unmittelbare, sondern auch die nur mittelbare Erlangung der Kontrolle erfasst. Das spielt etwa eine Rolle, wenn der Erwerber die Kontrolle über eine (auch nicht börsennotierte) Gesellschaft erlangt, die ihrerseits selbst die Kontrolle über eine börsennotierte Tochtergesellschaft ausübt; in diesem Fall hat der Bieter den Aktionären der Tochtergesellschaft ein Pflichtangebot zu unterbreiten.129 Allerdings kann ein Bieter nach § 37 Abs. 1 WpÜG i.V.m. § 9 Satz 2 Nr. 3 WpÜG-AngebotsVO eine Befreiung von der Pflicht zur Angebotsabgabe beantragen, wenn der Buchwert der Beteiligung der Muttergesellschaft an der Tochtergesellschaft weniger als 20 % des buchmäßigen Aktivvermögens der Muttergesellschaft beträgt.
13.112 Durch Änderung der Stimmrechtsverteilung kann die Kontrolle ebenfalls erlangt werden. Möglich wird dies z.B. bei Kapitalherabsetzung durch Einziehung von Aktien130 oder bei einer Kapitalerhöhung mit oder ohne Ausschluss des Bezugsrechts, wenn der Betreffende die entsprechende Anzahl an Aktien zeichnet.131 2. Zurechnung der Stimmrechte Dritter
13.113 Relevant für die Berechnung des Stimmrechtsanteils sind nicht nur die eigenen Stimmen des Bieters, sondern auch die Dritter, die ihm nach § 30 WpÜG zugerechnet werden. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpÜG erfasst Tochtergesellschaften des Bieters gehörende Stimmrechte, Nr. 2 Stimmrechte, die für Rechnung des Bieters von einem Dritten gehalten werden, Nr. 3 125 Schlitt in MünchKomm/AktG, § 35 WpÜG Rz. 137 ff.; Hommelhoff/Witt in Haarmann/Schüppen, § 35 WpÜG Rz. 54 ff.; Hasselbach in KölnKomm/WpÜG, § 35 WpÜG Rz. 106 ff. 126 Schlitt in MünchKomm/AktG, § 35 WpÜG Rz. 144; Hasselbach in KölnKomm/WpÜG, § 35 WpÜG Rz. 134. 127 Vgl. Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, § 35 WpÜG Rz. 75. 128 Unter dem Blickwinkel eines möglichen Reformbedarfs: Cascante/Tyrolt, AG 2012, 97 (104 f.). 129 Ist auch die Mutter börsennotiert, kann die Börsennotierung von Tochtergesellschaften eine potentielle Übernahme verteuern und eignet sich daher als Abwehrinstrument (s. hierzu näher unten Rz. 13.193). 130 Vgl. dazu Hasselbach in KölnKomm/WpÜG, § 35 WpÜG Rz. 95; Schlitt in MünchKomm/AktG, § 35 WpÜG Rz. 91. 131 Vgl. dazu Hasselbach in KölnKomm/WpÜG, § 35 WpÜG Rz. 131; Schlitt in MünchKomm/ AktG, § 35 WpÜG Rz. 70.
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Müller-Michaels
C. Pflichtangebote
Rz. 13.114 Kap. 13
Stimmrechte aus Aktien, die der Bieter sicherungsübereignet hat, Nr. 4 Stimmrechte, an denen dem Bieter ein Nießbrauch zusteht, und Nr. 6 Stimmrechte, die dem Bieter anderweitig zur Ausübung nach eigenem Ermessen überlassen sind. In der Praxis führen bei den Zurechnungstatbeständen des § 30 WpÜG vor allem die Einräumung von Call-Optionen (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 WpÜG), das Halten für Rechnung des Bieters (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpÜG) sowie das sog. „Acting in Concert“ (§ 30 Abs. 2 WpÜG) zu Unsicherheiten.132 Bei der Abfassung von Investorenvereinbarungen und Anteilskaufverträgen im Vorfeld von Übernahmeangeboten muss darauf geachtet werden, dass keiner der Zurechnungstatbestände erfüllt ist. Andernfalls gilt bereits der Abschluss der Vereinbarung mit dem Großaktionär als Kontrollerwerb, der wegen der Vorverlegung der Referenzzeiträume der §§ 4, 5 WpÜG-AngVO ein Pflichtangebot zu Preisen auslöst, die erheblich über dem vom Bieter geplanten Preis des Übernahmeangebots liegen können; der Bieter muss dann den Aktionären, die das Übernahmeangebot angenommen haben, die Differenz zu dem Preis des fiktiven Pflichtangebots nachzahlen.133 a) Call-Optionen Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 WpÜG werden dem Bieter Stimmrechte zugerechnet, die er 13.114 „durch eine Willenserklärung erwerben kann“. Diese Voraussetzung ist nur erfüllt, wenn der dingliche Erwerb der Aktien ohne Mitwirkung Dritter durch einseitige Willenserklärung herbeigeführt werden kann.134 Die Option muss mit anderen Worten „self-executing“ sein; das heißt, der Optionsvertrag muss so ausgestaltet sein, dass er bereits ein Übereignungsangebot enthält, das der Berechtigte nur noch einseitig annehmen muss. Nur bei einer solchen „selfexecuting“ Option ist der Zugriff auf die Stimmrechte so eng, dass eine Zurechnung gerechtfertigt sein kann.135 Nicht ausreichend ist, dass die Optionsausübung lediglich eine vertragliche Pflicht zur Übereignung auslöst, zur Übereignung selbst aber noch weitere Erklärungen oder Handlungen des Verpflichteten gegenüber dem Berechtigten oder gegenüber dem Verwahrer der Aktien erforderlich sind.136 In der Praxis haben etwa bei der Übernahme von Continental durch Schaeffler sog. „Cash-settled Equity Swaps“ eine wesentliche Rolle ge132 Ausführlich Hitzer/Hauser, NZG 2016, 1365 ff.; Krause, AG 2014, 833 ff.; zu Besonderheiten bei Trusts Wilk, ZIP 2013, 1549 ff. 133 Dies wurde besonders drastisch bei der Übernahme der Postbank durch die Deutsche Bank relevant. Hier sah der BGH schon den Abschluss der Nachtragsvereinbarung zum Acquisition Agreement zwischen der Deutschen Post und der Deutschen Bank als Kontrollerwerb nach § 30 Abs. 2 WpÜG an, BGH v. 29.7.2014 – II ZR 353/12, BGHZ 202, 180 ff. = MDR 2014, 1096; s. dazu Krause, AG 2014, 833 ff.; Löhdefink/Jaspers, ZIP 2014, 2261 ff.; Verse, DK 2015, 1 ff.; das LG Köln stufte im Anschluss sogar schon das ursprüngliche Acquisition Agreement als Kontrollerwerb nach § 30 Abs. 2 WpÜG und nach § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpÜG ein, LG Köln v. 20.10.2017 – 82 O 11/15; s. hierzu Rz. 13.115 f. sowie allgemein zu gestreckten Erwerbsvorgängen Wackerbarth, ZIP 2012, 253 ff. 134 BGH v. 29.7.2014 – II ZR 353/12, BGHZ 202, 180 Rz. 40 – Postbank = AG 2014, 662 = MDR 2014, 1096; Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 30 WpÜG Rz. 25; Walz in Haarmann/Schüppen, § 30 WpÜG Rz. 55 ff.; von Bülow in KölnKomm/WpÜG, § 30 WpÜG Rz. 173; Diekmann in Baums/Thoma, § 30 WpÜG Rz. 57. 135 Walz in Haarmann/Schüppen, § 30 WpÜG Rz. 55; Süßmann in Angerer/Geibel/Süßmann, § 30 WpÜG Rz. 22; von Bülow in KölnKomm/WpÜG, § 30 WpÜG Rz. 173; Diekmann in Baums/ Thoma, § 30 WpÜG Rz. 55 f.; für eine weite Auslegung Uwe H. Schneider in Assmann/Pötzsch/ Uwe H. Schneider, § 30 WpÜG Rz. 110 ff. 136 BGH v. 29.7.2014 – II ZR 353/12, BGHZ 202, 180 Rz. 40 – Postbank = AG 2014, 662 = MDR 2014, 1096.
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Kap. 13 Rz. 13.115
Börsennotierte Unternehmen
spielt. Darunter versteht man Vereinbarungen, nach denen dem Inhaber des Optionsrechts von der anderen Partei entweder Aktien oder ein Barausgleich geleistet werden kann. Derartige Vereinbarungen unterfallen nicht § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 WpÜG, da das Wahlrecht, ob ein Barausgleich oder eine Lieferung von Aktien gewählt wird, nicht bei dem Erwerber, sondern der Gegenpartei liegt.137 b) Halten für Rechnung des Bieters
13.115 Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpÜG sind dem Bieter Stimmrechte aus Aktien zuzurechnen, die einem Dritten gehören und von ihm für Rechnung des Bieters gehalten werden. „Für Rechnung“ bedeutet, dass der Bieter die wesentlichen Risiken und Chancen aus den betreffenden Aktien tragen muss. Dazu zählen die Risiken und Chancen einer Veränderung des Börsenkurses, die Chancen einer Dividendenzahlung und das Insolvenzrisiko der Zielgesellschaft; ein Abstellen primär auf die Risiken reicht ebenso wenig wie eine rein wirtschaftliche Betrachtung, daher muss der Bieter zusätzlich auch rechtlich in der Lage sein, Einfluss auf die Stimmrechtsausübung zu nehmen; dazu ist ein „gemeinsames Verständnis“ über die Dividendenpolitik nicht ausreichend138, wohl aber ein Zustimmungsvorbehalt des Bieters für Dividendenbeschlüsse139. c) Acting in Concert
13.116 § 30 Abs. 2 WpÜG regelt den Zurechnungstatbestand des abgestimmten Verhaltens, besser bekannt unter dem Begriff „Acting in Concert“140. Danach werden dem Bieter Stimmrechte eines Dritten zugerechnet, mit dem er oder sein Tochterunternehmen sein Verhalten in Bezug auf die Zielgesellschaft auf Grund einer Vereinbarung oder in sonstiger Weise abstimmt; ausgenommen sind Vereinbarungen in Einzelfällen. Ein abgestimmtes Verhalten setzt voraus, dass der Bieter oder sein Tochterunternehmen und der Dritte sich über die Ausübung von Stimmrechten verständigen oder mit dem Ziel einer dauerhaften und erheblichen Änderung der unternehmerischen Ausrichtung in sonstiger Weise zusammenwirken, § 30 Abs. 2 Satz 2 WpÜG. Eine Abstimmung des Stimmverhaltens durch Vereinbarung liegt insbesondere beim Abschluss von Konsortialvereinbarungen vor, also jeder Art von Stimmbindungsverträgen. Gefährlich sind auch Interessenschutzvereinbarungen in Investorenvereinbarungen oder Verpfändungsverträgen, mit denen sich ein Aktionär verpflichtet, die ihm zustehenden aktienrechtlichen Rechte nur unter angemessener Berücksichtigung der Interessen des Bieters auszuüben, wenn dies nach dem Willen der Parteien auch die Ausübung des Stimmrechts erfassen soll.141 Entscheidend kommt es darauf an, ob nur der „Status Quo“ bewahrt werden soll oder ob „überschießende Rechtspositionen“ gewährt werden, etwa durch Zustimmungsvorbehalte zu Satzungsänderungen oder Dividendenausschüttungen.142 Ein Zusam137 Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 30 WpÜG Rz. 48. 138 BGH v. 29.7.2014 – II ZR 353/12, BGHZ 202, 180 Rz. 49 ff. – Postbank = AG 2014, 662 = MDR 2014, 1096; ebenso für § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG: BGHZ 180, 154 Rz. 34. 139 LG Köln v. 20.10.2017 – 82 O 11/15, juris, Rz. 487 – Postbank II. 140 S. dazu aus Sicht der Europäischen Aufsichtsbehörde ausführlich: European Securities and Market Authority, Public Statement: Information on shareholder cooperation and acting in concert under the Takeover Bids Directive, 12/11/2013. 141 BGH v. 29.7.2014 – II ZR 353/12, BGHZ 202, 180 Rz. 59 f. – Postbank = AG 2014, 662 = MDR 2014, 1096; kritisch dazu Ekkenga, ZGR 2015, 485 (503); s. auch ausführlich Scheibenpflug/Tönningsen, BKR 2015, 140 ff.; Verse, DK 2015, 1 (7 f.). 142 Ausführlich LG Köln v. 20.10.2017 – 82 O 11/15, juris, Rz. 286 ff. – Postbank II.
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C. Pflichtangebote
Rz. 13.119 Kap. 13
menwirken in sonstiger Weise kann ein Verhalten außerhalb der Hauptversammlung sein, etwa eine tatsächliche Einflussnahme durch mehrere Aktionäre auf den Vorstand, wenn diese Einflussnahme darauf gerichtet ist, eine dauerhafte und erhebliche Änderung der unternehmerischen Ausrichtung herbeizuführen, z.B. auf den Verkauf der wichtigsten Sparte des Unternehmens gerichtet ist. Teilweise wird es auch für ausreichend gehalten, wenn eine Änderung des Gesellschafterkreises oder der unternehmerischen Ausrichtung verhindert werden soll (sog. Standstill Vereinbarungen).143 Ein reiner Parallelerwerb durch voneinander unabhängige Unternehmen reicht dagegen nicht.144 Ebenso wenig reichen gemeinsame Stellungnahmen oder Initiativen gegenüber dem Vorstand sowie Absprachen über die Ablehnung oder die Zustimmung zu Kapitalmaßnahmen oder anderen Umstrukturierungen.145
III. Angebotsunterlage, Mindestpreis Hat der Bieter die Kontrolle über die Zielgesellschaft erlangt, ist er verpflichtet, der BaFin eine Angebotsunterlage zur Prüfung zu übermitteln und anschließend zu veröffentlichen (§ 35 Abs. 2 WpÜG).
13.117
Der Inhalt der Angebotsunterlage entspricht bei einem Pflichtangebot prinzipiell demjenigen eines einfachen Erwerbs- oder Übernahmeangebots (§ 39 WpÜG; s. hierzu Rz. 13.77 ff.). Bereits aus dem Sinn und Zweck eines Pflichtangebots ergibt sich allerdings die grundsätzliche Unzulässigkeit von Bedingungen, die bei einfachen Erwerbs- oder Übernahmeangeboten gestattet sind; folgerichtig nimmt § 39 WpÜG die Vorschrift über Bedingungen bei Erwerbsangeboten (§ 18 Abs. 1 WpÜG) von der Anwendbarkeit auf Pflichtangebote aus. Dies gilt ebenso für Teilangebote. Auch diese sind unzulässig (§§ 39, 25 WpÜG). Daher ist auch den Vorzugsaktionären, selbst wenn nur die Stammaktien der Zielgesellschaft börsennotiert sind, ein Pflichtangebot zu unterbreiten. Führt der am Ende des Angebotsverfahrens erfolgende dingliche Erwerb der Aktien zur Fusionskontrolle nach deutschem oder zwingendem und anwendbaren ausländischem Recht, kann das Pflichtangebot jedoch unter die aufschiebende Bedingung der Freigabe des Zusammenschlusses gestellt werden.146
13.118
Die Gegenleistung bestimmt sich nach den Regelungen zum Übernahmeangebot (§§ 39, 31 WpÜG). Namentlich gelten die Mindestpreisvorschriften des § 31 Abs. 1 WpÜG und der §§ 3 ff. WpÜG-AngebotsVO auch für Pflichtangebote (s. hierzu Rz. 13.51 ff.). Konsequenz ist, dass ein eventueller Paketzuschlag bei dem das Pflichtangebot auslösenden Erwerb auch den übrigen Aktionären zugutekommt. Ebenso muss der Bieter eine Finanzierungsbestätigung in Höhe der für das Angebot erforderlichen Barmittel vorlegen (§§ 39, 13 WpÜG).
13.119
143 Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 30 WpÜG Rz. 47; a.A. LG Hamburg v. 16.10.2006 – 412 O 102/04, AG 2007, 177, 179; von Bülow in KölnKomm/WpÜG, § 30 WpÜG Rz. 282; s. dazu ausführlich Kiefner/Happ, ZIP 2015, 1811 ff. 144 Von Bülow in KölnKomm/WpÜG, § 30 WpÜG Rz. 278. 145 ESMA, Public Statement: Information on shareholder cooperation and acting in concert under the Takeover Bids Directive, 12/11/2013, S. 4. 146 Begr. RegE BT-Drucks. 14/7034, 62; a.A. Baums/Hecker in Baums/Thoma, § 35 WpÜG Rz. 241 ff.
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Kap. 13 Rz. 13.120
Börsennotierte Unternehmen
IV. Ausnahmen vom Pflichtangebot 1. Vorangegangenes Übernahmeangebot
13.120 Ein Pflichtangebot ist entbehrlich, wenn die Kontrolle über die Zielgesellschaft aufgrund eines (ordnungsgemäß durchgeführten) Übernahmeangebots erlangt worden ist (§ 35 Abs. 3 WpÜG). Von Ausnahmen abgesehen147, unterliegen Übernahme- und Pflichtangebote nämlich wie gezeigt identischen Regelungen. Dadurch wird bereits im Übernahmeverfahren ein umfassender Schutz der Aktionäre gewährleistet. Es besteht kein Bedürfnis, dem Bieter nach Kontrollerwerb ein erneutes Pflichtangebot aufzuerlegen.148 2. Antrag auf Nichtberücksichtigung von Stimmrechten nach § 36 WpÜG
13.121 Nach § 36 WpÜG hat die BaFin darüber hinaus auf schriftlichen Antrag zuzulassen, dass Stimmrechte an der Zielgesellschaft bei der Berechnung des Stimmrechtsanteils unter besonderen Umständen unberücksichtigt bleiben.149 Es sprechen gute Gründe dafür, dass schon der ordnungsgemäße Antrag suspensive Wirkung hat, also zunächst von der Pflicht, ein Pflichtangebot abzugeben befreit.150 Bei Vorliegen der Tatbestandsmerkmale ist die BaFin verpflichtet, die Ausnahmegenehmigung zur Nichtberücksichtigung der Stimmrechte zu erteilen, ein Ermessensspielraum besteht dann nicht.151 Gegen die Entscheidung der BaFin kann der Antragsteller Widerspruch einlegen.152 Die Ausnahmeverfahren haben erhebliche praktische Bedeutung, so werden regelmäßig mehr Anträge auf Nichtberücksichtigung oder Befreiung (s. dazu Rz. 13.123 ff.) gestellt als Angebotsunterlagen veröffentlicht.153
13.122 Gemäß § 36 Nr. 1 WpÜG zählen zu den Umständen, die eine Nichtberücksichtigung zulassen, zunächst familienrechtliche und erbrechtliche Tatbestände, nämlich Aktienerwerb durch Schenkung oder Erbauseinandersetzung unter Verwandten, Erbgang oder durch Vermögensteilung aus Anlass der Auflösung einer Ehe oder Lebenspartnerschaft. Mit dieser Regelung sollen Familienunternehmen geschützt werden.154 Weiterhin bleiben Erwerbsvorgänge aufgrund von Rechtsformwechseln (§ 36 Nr. 2 WpÜG) außerhalb des Umwandlungsgesetzes155 oder
147 Z.B. § 16 Abs. 2 WpÜG, betreffend die erweiterte Annahmefrist bei Übernahmeangeboten. 148 Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 60; Hommelhoff/Witt in Haarmann/Schüppen, § 35 WpÜG Rz. 104. 149 Dies hatte bereits die Expertenkommission Unternehmensübernahmen in den „Eckpunkten eines künftigen Übernahmegesetzes“ vom 17.5.2000 angeregt. 150 Bunz, ZIP 2014, 454 ff. 151 Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 60: „Liegen die in § 36 genannten Voraussetzungen vor, ist das Bundesaufsichtsamt verpflichtet, dem Antrag zu entsprechen.“ 152 Widerspruchsverfahren nach § 41 WpÜG. 153 So etwa im Jahr 2015 83 Anträge (Nichtberücksichtigung: 31, Befreiung: 52) und im Jahr 2016 41 Anträge (Nichtberücksichtigung: 21, Befreiung: 20), BaFin, Jahresbericht 2016, 191. 154 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 60; s. dazu ausführlich Hippeli/Schmiady, ZIP 2015, 705 (707 f.). 155 Rechtsformwechsel nach den §§ 190–304 UmwG lassen die rechtliche Identität des Rechtsträgers unberührt; das Unternehmen wird nicht übertragen, so dass nicht einmal ein formeller Kontrollwechsel stattfindet, vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 60. In der Praxis können vor allem die sog. Anwachsungsmodelle, bei denen eine Personengesellschaft, die eine kontrollierende Beteiligung an einer Zielgesellschaft hält, durch Austritt ihres vorletzten Gesellschafters auf ihren letzten Gesellschafter übergeht, unter die Ausnahmeregelung des § 36 Nr. 2 WpÜG fallen; Voraussetzung ist aber in jedem Fall, dass sich an der materiellen Kontrollsituation nichts än-
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Müller-Michaels
C. Pflichtangebote
Rz. 13.124 Kap. 13
aufgrund von Umstrukturierungen innerhalb eines Konzerns156 (§ 36 Nr. 3 WpÜG) auf Antrag unberücksichtigt. Hintergrund ist, dass in diesem Fall zwar ein formeller Kontrollwechsel stattgefunden hat, sich aber an der materiellen Kontrollsituation nichts geändert hat.157 3. Antrag auf Befreiung nach § 37 WpÜG a) Überblick Gemäß § 37 Abs. 1 WpÜG kann die BaFin den Bieter nach pflichtgemäßem Ermessen von 13.123 der Verpflichtung zur Abgabe eines Angebots befreien. Anders als bei der Nichtberücksichtigung von Stimmrechten nach § 36 WpÜG hat der Antragsteller keinen Anspruch darauf, dass die Befreiung erteilt wird, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, sondern nur ein subjektiv öffentliches Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag. Auch hier wird vertreten, dass schon die frist- und ordnungsgemäße Antragstellung während der Dauer des Verfahrens den Antragsteller vom Pflichtangebot suspendiert.158 Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 37 Abs. 1 WpÜG beziehen sich auf die Art der Kontrollerlangung159, die mit der Erlangung der Kontrolle beabsichtigte Zielsetzung, ein nach der Erlangung der Kontrolle erfolgendes Unterschreiten der Kontrollschwelle, die Beteiligungsverhältnisse an der Zielgesellschaft oder die tatsächliche Möglichkeit zur Ausübung der Kontrolle. Die so normierten Befreiungstatbestände sind abschließend.160 Nur wenn eine oder mehrere dieser Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, wägt die BaFin im Rahmen der Ermessensausübung die Interessen des Antragstellers gegen die Interessen der Aktionäre der Zielgesellschaft ab (§ 37 Abs. 1 a.E. WpÜG) und kann eine Befreiung erteilen. Eine nähere Ausgestaltung des Verfahrens und der inhaltlichen Anforderungen für eine Befreiung vom Pflichtangebot nach § 37 Abs. 1 WpÜG ist in den aufgrund von § 37 Abs. 2 WpÜG erlassenen §§ 8–12 WpÜG-AngebotsVO enthalten. Von wesentlicher Bedeutung ist zunächst, dass der Befreiungsantrag schon vor Erlangung der Kontrolle gestellt werden kann (§ 8 Satz 2 WpÜG-AngebotsVO). § 9 WpÜG-AngebotsVO konkretisiert in nicht abschließender Form161 die Befreiungstatbestände des § 37 Abs. 1 WpÜG. Nach § 9 Satz 1 WpÜG-AngebotsVO kann die BaFin eine Befreiung erteilen, wenn die Kontrolle erworben wurde durch
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157 158 159 160 161
dert, s. Hecker in Baums/Thoma, § 36 WpÜG Rz. 47–52; von Bülow in KölnKomm/WpÜG, § 36 WpÜG Rz. 42. „Konzern“ ist im aktienrechtlichen Sinne zu verstehen, vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 60. Damit ist die Definition gem. § 18 Abs. 1 Satz 1 AktG maßgeblich. Zusätzlich können wohl auch im Sinne einer konsistenten Gesetzesauslegung „Tochterunternehmen“ i.S.d. § 2 Abs. 6 WpÜG unter den Konzernbegriff des § 36 Nr. 3 WpÜG subsumiert werden; von Bülow in KölnKomm/WpÜG, § 36 WpÜG Rz. 54; noch weitergehend Hecker in Baums/Thoma, § 36 WpÜG Rz. 53–66, nach dem unter „Konzern“ jede Unternehmensgruppe zu verstehen ist. Hecker in Baums/Thoma, § 36 WpÜG Rz. 9. Bunz, ZIP 2014, 454 (456 f.). Zu den Einzelheiten bei der Übernahme börsennotierter Familienunternehmen Hippeli/Schmiady, ZIP 2015, 705 (708 ff.). Meyer in Angerer/Geibel/Süßmann, § 37 WpÜG Rz. 31; Hecker in Baums/Thoma, § 37 WpÜG Rz. 1; Krause/Pötzsch/Seiler in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, § 37 WpÜG Rz. 2. Dies folgt schon aus dem Wort „insbesondere“ in der Einleitung von § 9 WpÜG-AngebotsVO. Eine andere Auslegung würde ferner gegen das Prinzip des Gesetzesvorrangs verstoßen, da eine Verordnung als niederrangiges Recht ein Gesetz nicht einschränken kann. Andererseits darf § 9 WpÜG-AngebotsVO auch keine neuen Befreiungstatbestände schaffen, da die Verordnungsermächtigung in § 37 Abs. 2 WpÜG lediglich den Erlass von „näheren Bestimmungen“ erlaubt.
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13.124
Kap. 13 Rz. 13.125
Börsennotierte Unternehmen
Erbschaft (Nr. 1) oder Schenkung (Nr. 2) zwischen nicht miteinander verwandten Personen,162 im Zusammenhang mit der Sanierung der Zielgesellschaft (Nr. 3), zum Zweck der Forderungssicherung (Nr. 4), auf Grund einer Verringerung der Gesamtzahl der Stimmrechte (Nr. 5) oder durch ein unbeabsichtigtes Überschreiten der Kontrollschwelle, wenn diese unverzüglich nach Antragstellung wieder unterschritten wird (Nr. 6). Ferner kann eine Befreiung nach § 9 Satz 2 WpÜG-AngebotsVO erteilt werden, wenn ein Dritter über einen höheren Stimmrechtsanteil als der Bieter verfügt163 (Nr. 1), der Bieter auf Grund der Präsenz in den letzten drei Hauptversammlungen voraussichtlich nicht über mehr als 50 % der vertretenen Stimmrechte verfügt164 (Nr. 2) oder wenn bei einem mittelbaren Kontrollerwerb der Buchwert der Beteiligung an der Zielgesellschaft weniger als 20 % des Aktivvermögens der unmittelbar erworbenen Gesellschaft beträgt (Nr. 3) (s. hierzu Rz. 13.111)165. b) Sanierungsbefreiung
13.125 Von den in § 9 WpÜG-AngebotsVO aufgeführten Ausnahmetatbeständen hat die Sanierungsbefreiung (Satz 1 Nr. 3) die größte praktische Relevanz. Sie wird allgemein als Konkretisierung von § 37 Abs. 1 Alt. 2 WpÜG, also als ein Unterfall einer besonderen mit der Erlangung der Kontrolle beabsichtigten Zielsetzung verstanden.166 Eine Sanierung im Sinne der WpÜG-AngebotsVO setzt die Sanierungsbedürftigkeit und die Sanierungsfähigkeit der Zielgesellschaft sowie einen Sanierungsbeitrag des Bieters voraus.167
13.126 Die Sanierungsbedürftigkeit steht fest, wenn ein Insolvenzgrund (Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit) vorliegt. Der Verordnungsgeber hat aber bewusst nicht an das Vorliegen von Insolvenztatbeständen angeknüpft; die Sanierungsbedürftigkeit ist dem begrifflich vorgelagert und kann sich bereits im Stadium der Krise des Unternehmens manifestieren. Eine krisenbedingte Sanierungsbedürftigkeit wird man ohne weiteres annehmen können, wenn der Abschlussprüfer in seinem Prüfungsbericht und im Bestätigungsvermerk auf bestandsgefährdende Risiken hingewiesen hat (§§ 321 Abs. 1 Satz 3, 322 Abs. 2 Satz 3 HGB).168 Zur Definition der Sanierungsbedürftigkeit bietet es sich darüber hinaus an, auf die steuerrechtliche Rechtsprechung zu § 3 Nr. 66 EStG a.F. (Steuerbefreiung von Sanierungsgewinnen) zurückzugreifen; danach galt ein Unternehmen als sanierungsbedürftig, wenn dessen Fortführung vor dem Hintergrund der Gesamtleistungsfähigkeit des Unternehmens nach kaufmännischen Gesichtspunkten nicht mehr möglich erschien.169 Man kann ferner dann von einer Krise sprechen, wenn die Unternehmensleitung von ihr für die Unternehmensfortführung für richtig gehaltene Maßnahmen nicht mehr durchführen kann, da außen stehende Dritte in wesentlichem Umfang auf unternehmerische Entscheidungen Einfluss nehmen; Beispiele 162 Zwischen Verwandten greift schon § 36 Nr. 1 WpÜG ein; zu Besonderheiten bei Familien-Trusts Wilk, ZIP 2014, 1549 (1553 f.). 163 So schon Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 61. 164 So schon Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 61. 165 Zur Börsennotierung von Tochtergesellschaften als Abwehrmaßnahme gegen feindliche Übernahmen s. Rz. 13.193. 166 Meyer in Angerer/Geibel/Süßmann, § 37 WpÜG Rz. 29; Hecker in Baums/Thoma, § 37 WpÜG Rz. 80. 167 Schlitt in MünchKomm/AktG, Anh. § 37 WpÜG Rz. 17 ff.; Versteegen in KölnKomm/WpÜG, Anh. § 37 WpÜG Rz. 17 ff.; Hecker in Baums/Thoma, § 37 WpÜG Rz. 85 ff. 168 Hecker in Baums/Thoma, § 37 WpÜG Rz. 86; Gei/Kiesewetter, AG 2012, 741 (748). 169 Vgl. Hecker in Baums/Thoma, § 37 WpÜG Rz. 86, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BFH.
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C. Pflichtangebote
Rz. 13.129 Kap. 13
wären die Versagung eines notwendigen Betriebsmittel- oder Akquisitionskredits durch die finanzierende Bank oder die Kündigung wesentlicher Verträge (etwa Kunden-, Liefer- oder Lizenzverträge) durch die Vertragspartner. Kann der Antragsteller die Sanierungsbedürftigkeit der Zielgesellschaft schlüssig darlegen, 13.127 muss er sodann zeigen, dass die Zielgesellschaft durch seine Mitwirkung auch sanierungsfähig ist. Dies kann durch Vorlage eines nachvollziehbaren Sanierungskonzepts erreicht werden.170 Kern eines solchen Konzepts sind die Sanierungsfähigkeit, die Sanierungsbeiträge des Bieters und deren Eignung, die Krise zu überwinden. Der Sanierungsbeitrag muss so bemessen sein, dass die Liquidität der Zielgesellschaft nicht nur kurzfristig wieder hergestellt wird.171 Dabei kann es ausreichen, dass lediglich Gläubigerforderungen gebündelt und in die Zielgesellschaft eingebracht werden.172 Das Sanierungskonzept sollte vor der Vorlage bei der BaFin von einem unabhängigen Dritten (z.B. einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft) auf Plausibilität geprüft und entsprechend bestätigt werden.173 Liegt die Tatbestandsvoraussetzung der Sanierung vor, tritt die BaFin im Rahmen der Ermessensausübung gem. § 37 Abs. 1 a.E. WpÜG in die Abwägung der Interessen des Antragstellers und der Anteilseigner der Zielgesellschaft ein. Interessen Dritter, namentlich der Arbeitnehmer und der Gläubiger sind grundsätzlich nicht zu berücksichtigen.174 Hinsichtlich der Interessen des Antragstellers und der Aktionäre wird die Abwägung im Wesentlichen darin bestehen, die Kosten der Sanierung in ein Verhältnis zu den Belastungen aus einem Pflichtangebot zu setzen.175 Dementsprechend sollte der Antragsteller bei der Abfassung seines Antrags darlegen, dass die zusätzlichen Belastungen aus einem Pflichtangebot eine Sanierung der Gesellschaft wirtschaftlich unattraktiv machen würden. Ferner kann er in diesem Zusammenhang auf besondere Risiken hinweisen, die er bereit ist, für die Sanierung einzugehen.
13.128
c) Squeeze-out Neben den in § 9 WpÜG-AngebotsVO normierten Befreiungstatbeständen wird ein beabsichtigter Squeeze-out176 gegen Barabfindung als Grund für eine Befreiung von der Abgabe eines Pflichtangebots diskutiert.177 Eine Befreiung kommt unter dem Gesichtspunkt der besonderen Beteiligungsverhältnisse nur in Betracht, wenn der Bieter bereits 99 % der Aktien erworben hat und bei der Berechnung der Squeeze-out-Abfindung die Mindestpreisregeln des §§ 3 ff. WpÜG-AngebotsVO berücksichtigt werden; weiter muss der Squeeze-out in absehbarer Zeit (maximal sechs Monate) nach dem Kontrollerwerb wirksam werden.178 Für den Antragsteller besteht dann das Risiko, dass, wenn der Squeeze-out, etwa auf Grund einer An-
170 Hecker in Baums/Thoma, § 37 WpÜG Rz. 87; Schlitt in MünchKomm/AktG, Anh. § 37 WpÜG Rz. 22. 171 Schlitt in MünchKomm/AktG, Anh. § 37 WpÜG Rz. 24. 172 BaFin, Jahresbericht 2013, S. 180 zum Befreiungsverfahren der centrotherm photovoltaics AG. 173 Hecker in Baums/Thoma, § 37 WpÜG Rz. 87. 174 Hecker in Baums/Thoma, § 37 WpÜG Rz. 88; Meyer in Angerer/Geibel/Süßmann, § 37 WpÜG Rz. 62. 175 Hecker in Baums/Thoma, § 37 WpÜG Rz. 91. 176 Ausschluss von Minderheitsaktionären durch den Hauptaktionär; s. dazu Rz. 13.38. 177 Versteegen in KölnKomm/WpÜG, § 37 WpÜG Rz. 65 f.; Hecker in Baums/Thoma, § 37 WpÜG Rz. 41 ff.; Krause/Pötzsch/Seiler in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, § 37 WpÜG Rz. 60 ff. 178 Versteegen in KölnKomm/WpÜG, § 37 WpÜG Rz. 66.
Müller-Michaels 1135
13.129
Kap. 13 Rz. 13.130
Börsennotierte Unternehmen
fechtungsklage, nicht rechtzeitig eingetragen wird, die Befreiung entfällt und er doch noch ein Pflichtangebot abgeben muss. 4. Rechtsbehelfe des Antragstellers und der Aktionäre
13.130 Lehnt die BaFin einen Befreiungsantrag ab, kann der Antragsteller dagegen mit dem Widerspruch nach § 41 WpÜG vorgehen. Der Widerspruch hat aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 VwGO), da Maßnahmen nach §§ 36, 37 WpÜG in der Ausnahmevorschrift des § 42 WpÜG nicht genannt sind. Weist die BaFin auch den Widerspruch zurück, steht dem Antragsteller die Beschwerde zum OLG Frankfurt offen (§ 48 WpÜG). Die Beschwerde hat nach § 49 WpÜG nur aufschiebende Wirkung, soweit durch die angefochtene Verfügung eine Befreiung nach §§ 36, 37 WpÜG widerrufen wurde. Im Normalfall, in dem die Befreiung von vornherein versagt wurde, entfaltet die Beschwerde also anders als der Widerspruch keine aufschiebende Wirkung. Das Gericht kann diese jedoch auf Antrag anordnen, insbesondere bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung oder in Härtefällen (§ 50 Abs. 3 WpÜG).
13.131 Brisanter als die Rechtsmittel des Bieters ist die Frage, ob einzelne Aktionäre Rechtsmittel gegen die Befreiung eines potentiellen Bieters von der Abgabe eines Pflichtangebots oder gegen die Nichtabgabe eines solchen Angebots einlegen können. Ein solcher Wunsch liegt nahe, denn durch die Befreiung wird den Aktionären die Möglichkeit genommen, ihre Aktien zu dem für Pflichtangebote geltenden Mindestpreis (§ 31 Abs. 1 WpÜG i.V.m. §§ 3 ff. WpÜGAngebotsVO) zu veräußern. Die Aktionäre haben auch ein Interesse, einen Bieter auf Gegenleistung in Anspruch zu nehmen, der entgegen § 35 Abs. 2 WpÜG trotz Kontrollerwerb kein Pflichtangebot abgibt. Die Antwort auf die Frage nach Rechtsbehelfen der Aktionäre hängt entscheidend davon ab, ob man § 37 und § 35 WpÜG drittschützenden Charakter zugunsten der Aktionäre zuschreibt.179 Das hat der BGH klar abgelehnt; Aktionäre haben also keine Möglichkeit, gerichtlich die Abgabe eines Pflichtangebots zu erreichen; ebenso wenig können sie die Gegenleistung einklagen, wenn der Bieter kein Pflichtangebot abgibt; schließlich scheidet mangels Drittschutz auch ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 35 Abs. 2 WpÜG aus.180 Gibt der Bieter allerdings ein Übernahmeangebot ab, können Aktionäre mit dem Argument auf eine höhere Gegenleistung klagen, dass der Bieter schon früher wegen eines vorangegangenen Kontrollerwerbs ein Pflichtangebot hätte abgeben müssen.181 In diesem Szenario können die Aktionäre zwar auch kein Pflichtangebot verlangen, aber immerhin die Gegenleistung eines fiktiven Pflichtangebots (s hierzu Rz. 13.113 und Rz. 13.116).
179 Solch drittschützende Normen vermitteln dem Betroffenen ein gerichtlich überprüfbares subjektiv öffentliches Recht; vgl. zu dieser sog. Schutznormtheorie nur Happ in Eyermann, § 42 VwGO Rz. 86 ff. 180 BGH v. 11.6.2013 – II ZR 80/12, MDR 2013, 1050 = AG 2013, 634 ff. – BKN; Heusel, AG 2014, 232 ff.; Schlitt in MünchKomm/AktG, § 35 WpÜG Rz. 243 ff., § 37 WpÜG Rz. 77. 181 BGH v. 29.7.2014 – II ZR 353/12, BGHZ 180, 202 ff. – Postbank = AG 2014, 662 = MDR 2014, 1096; ausführlich dazu unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzes Löhdefink/Jaspers, ZIP 2014, 2261 (2265 ff.).
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D. Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft
Rz. 13.137 Kap. 13
D. Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft I. Einleitung Der Vorstand hat die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten (§ 76 Abs. 1 AktG). 13.132 Der Aufsichtsrat hat die Geschäftsführung zu überwachen (§ 111 Abs. 1 AktG). Die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats haben dabei die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns anzuwenden (§§ 93 Abs. 1 Satz 1, 116 Abs. 1 Satz 1 AktG). Diese allgemeinen aktienrechtlichen Pflichten gelten auch und gerade in Übernahmesituationen. Klarstellend normiert das WpÜG in § 3 Abs. 3, dass Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft im Interesse der Zielgesellschaft handeln müssen.182 Selbstverständlich ist, dass das Gesellschaftsinteresse Vorrang vor den persönlichen Interessen der Verwaltungsmitglieder hat. Aus § 3 Abs. 3 WpÜG, der ausdrücklich auf das Gesellschaftsinteresse abstellt, folgt aber auch, dass das Interesse der Aktionäre (an der Maximierung des Angebotspreises) nicht allein ausschlaggebend sein darf. Spezielle Regelungen zu den Pflichten des Vorstands und des Aufsichtsrats enthalten § 27 und § 33 WpÜG. § 27 WpÜG begründet die Pflicht von Vorstand und Aufsichtsrat, eine begründete Stellungnahme zu dem Angebot abzugeben (s. dazu Rz. 13.141 ff.). § 33 WpÜG schränkt den Handlungsfreiraum des Vorstands bei einem Übernahmeangebot ein, indem er grundsätzlich Handlungen untersagt, durch die der Erfolg des Angebots verhindert werden könnte (Verhinderungsverbot, s. dazu Rz. 13.155 ff.).
13.133
Im Folgenden werden die Handlungsmöglichkeiten und Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft im Vorfeld von und bei Übernahmeangeboten konkretisieret. Schwerpunkt sind dabei die besonders kontroversen Abwehrmaßnahmen gegen feindliche Übernahmen (s. unten Rz. 13.153 ff.).
13.134
II. Pflichten im Vorfeld von Übernahmeangeboten Zunächst stellt sich für den Vorstand einer börsennotierten Gesellschaft die Frage, wie er auf die Ansprache durch einen potentiellen Bieter reagieren soll. Konkret geht es um den Zeitraum zwischen einer ersten Interessensbekundung und der offiziellen Veröffentlichung des Bieters über die Entscheidung zur Abgabe eines Angebots (§ 10 WpÜG). Der Regelungsrahmen des WpÜG greift erst ab diesem Zeitpunkt ein. Vorher gelten die allgemeinen aktienrechtlichen Rechte und Pflichten.183
13.135
Der Vorstand muss seine Entscheidungen auf der Grundlage angemessener Informationen treffen (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG). Bevor der Vorstand also eine ablehnende (oder zustimmende) Haltung zu einem möglichen Angebot einnehmen kann, muss er Informationen zu dem potentiellen Bieter und dessen Absichten beschaffen. Dies kann durch die Auswertung öffentlich verfügbarer Informationen geschehen, dürfte aber im Regelfall auch ein direktes Gespräch mit dem potentiellen Bieter erfordern.
13.136
Bei einem solchen Gespräch mit einem potentiellen Bieter muss der Vorstand jedoch seine Verschwiegenheitspflicht (§ 93 Abs. 1 Satz 3 AktG) beachten. Daraus folgt zunächst, dass
13.137
182 Die Pflicht zur Wahrung des Gesellschaftsinteresses folgt bereits aus §§ 93, 116 AktG, s. nur Versteegen in KölnKomm/WpÜG, § 3 WpÜG Rz. 35. 183 Vgl. dazu die einschlägige Kommentierung, wie z.B. von Hölters/Weber, § 76 AktG Rz. 49.
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Kap. 13 Rz. 13.138
Börsennotierte Unternehmen
der Teilnehmerkreis auf beiden Seiten möglichst klein gehalten werden sollte. Will der Vorstand nicht nur als passiver Zuhörer auftreten, sondern das Gespräch oder zukünftige weitere Gespräche aktiv selbst mitgestalten, wird dies regelmäßig mit der Offenlegung von (vertraulichen) Informationen gegenüber dem potentiellen Bieter einhergehen.184 Dies ist wiederum unter dem Gesichtspunkt der Verschwiegenheitspflicht nur zulässig, wenn sich der Interessent einer Vertraulichkeitsverpflichtung unterwirft. Da das Leitungsorgan des potentiellen Bieters grundsätzlich ähnlichen Bindungen unterliegt, heißt das in der Praxis, dass eine wechselseitige Vertraulichkeitsvereinbarung zwischen dem Interessenten und der Zielgesellschaft abgeschlossen wird.
13.138 Weiterhin stellt sich für den Vorstand der Zielgesellschaft die Frage nach der Kapitalmarktkommunikation. § 10 Abs. 6 WpÜG regelt, dass Art. 17 Marktmissbrauchsverordnung185, der die Pflicht zur Veröffentlichung von Ad-hoc-Meldungen betrifft, für Entscheidungen zur Abgabe eines Angebots nicht gilt. Diese Vorschrift betrifft jedoch in unmittelbarer Anwendung nur den Bieter, das heißt, der Bieter muss neben der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots (§ 10 Abs. 1 Satz 1 WpÜG) keine Ad-hoc-Mitteilung nach Art. 17 Abs. 1 Marktmissbrauchsverordnung machen. Hinsichtlich der Zielgesellschaft ist die Rechtslage nicht eindeutig. Nach Art. 17 Abs. 1 Marktmissbrauchsverordnung ist es für eine Ad-hoc-Pflicht entscheidend, dass die Tatsache den Emittenten unmittelbar betrifft. Das dürfte bei einem bevorstehenden Übernahmeangebot der Fall sein.
13.139 Der Vorstand muss demnach eine Ad-hoc-Mitteilung machen, wenn ihm der Bieter sein Übernahmeangebot übermittelt. Auch die Vereinbarung von Exklusivität oder der Abschluss eines Letter of Intent kann Ad-hoc-pflichtig sein; hier empfiehlt sich ein Aufschub der Publizitätspflicht nach Art. 17 Abs. 4 Marktmissbrauchsverordnung.186 Scheitern die Gespräche über eine freundliche Übernahme und hält der Bieter an seiner Absicht fest, dürfte diese Tatsache ebenfalls Ad-hoc-pflichtig sein und stellt eine zulässige Abwehrmaßnahme dar.187 Umgekehrt wird der Vorstand meist einer Vertraulichkeitsvereinbarung mit dem Bieter unterliegen, so dass er außerhalb seiner Verpflichtungen nach der Marktmissbrauchsverordnung von einer Veröffentlichung absehen muss. Bei einer von vornherein feindlichen Übernahme dürfte der Vorstand im Übrigen selten lange genug vor der Öffentlichkeit informiert werden, um noch eine handelswirksame Veröffentlichung machen zu können.
13.140 Unausweichlich ist schließlich für den Vorstand die Frage, wann und wie der Aufsichtsrat über die Kontaktaufnahme eines potentiellen Bieters und eventuelle Gespräche informiert werden muss. § 90 Abs. 1 Satz 3 AktG verlangt, dass dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats aus sonstigen wichtigen Anlässen zu berichten ist. Dies sind in Abgrenzung zu den Regelberichten nach § 90 Abs. 1 Satz 1 AktG, die die Geschäftslage betreffen, vornehmlich Ereignisse, die von außen an die Gesellschaft herangetragen werden und nachteilig auf sie einwirken können.188 Ähnlich verlangt Ziff. 5.2 Abs. 3 Satz 2 des Deutschen Corporate Governance Kodex, dass der Aufsichtsratsvorsitzende vom Vorsitzenden oder Sprecher des Vorstands über wichtige Ereignisse unverzüglich informiert wird. Der Vorstand sollte also spätestens, wenn er feststellt, dass der potentielle Bieter ein ernsthaftes Interesse an einer Übernahme hat, den Vorsitzenden des Aufsichtsrats einweihen. Dies gilt umso mehr, wenn der Vorstand 184 185 186 187 188
Zur Gestattung einer Due Diligence eines potentiellen Bieters s. oben Rz. 13.39. Verordnung (EU) Nr. 596/2014 (ABl. Nr. L 173 vom 12.6.2014, S. 1). Geibel/Louven in Angerer/Geibel/Süßmann, § 10 WpÜG Rz. 125 f. Geibel/Louven in Angerer/Geibel/Süßmann, § 10 WpÜG Rz. 126. Hölters/Müller-Michaels, § 90 AktG Rz. 11; Hüffer/Koch, § 90 AktG Rz. 8.
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Müller-Michaels
D. Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft
Rz. 13.143 Kap. 13
davon ausgehen muss, dass ein feindliches Angebot bevorsteht. Der Aufsichtsratsvorsitzende entscheidet dann, ob er die anderen Mitglieder des Aufsichtsrats unterrichtet und erforderlichenfalls eine außerordentliche Sitzung des Aufsichtsrats einberuft.189 Spätestens muss der Vorsitzende des Aufsichtsrats die Aufsichtsratsmitglieder in der nächsten Sitzung des Aufsichtsrats unterrichten (§ 90 Abs. 5 Satz 3 AktG).190
III. Stellungnahme des Vorstands und des Aufsichtsrats nach § 27 WpÜG Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 WpÜG haben Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft eine be- 13.141 gründete Stellungnahme zu dem Angebot abzugeben.191 Hiermit hat der Gesetzgeber eine spezielle Verhaltenspflicht geschaffen, die durch die Übermittlung der Angebotsunterlage durch den Bieter ausgelöst wird (§ 27 Abs. 3 Satz 1 WpÜG). Zweck der Stellungnahme ist es, den Aktionären eine Grundlage für ihre Entscheidung über Annahme oder Ablehnung des Angebots zu geben.192 Die Vorschrift lässt sich daher als Ausprägung des in § 3 Abs. 2 WpÜG normierten allgemeinen Transparenzgrundsatzes einordnen, nach dem die Inhaber von Wertpapieren über ausreichende Informationen verfügen müssen, um in Kenntnis der Sachlage über das Angebot entscheiden zu können.193 Einen ähnlichen Programmsatz zur Transparenz enthält auch Ziff. 3.7 Abs. 1 des Deutschen Corporate Governance Kodex. Die Stellungnahme soll damit zugunsten der Aktionäre und aufgrund der Sachkenntnis der Leitungsorgane ein Gegengewicht zur Angebotsunterlage schaffen und so einseitigen Informationen des Bieters entgegenwirken.194 Aus dem Wortlaut des § 27 Abs. 1 Satz 1 WpÜG ergibt sich, dass Vorstand und Aufsichtsrat getrennte Stellungnahmen abgeben können. In der Praxis ist allerdings eine gemeinsame Stellungnahme üblich.195 Vor dem Hintergrund des Transparenzgrundsatzes darf eine solche gemeinsame Stellungnahme aber nur erfolgen, wenn sich Vorstand und Aufsichtsrat über die Bewertung des Angebots tatsächlich einig sind. Sollte Uneinigkeit auch nur hinsichtlich einzelner Punkte bestehen, muss dieser Konflikt den Aktionären durch die Veröffentlichung getrennter Stellungnahmen offengelegt werden. Zulässig sind auch Sondervoten einzelner Organmitglieder.196
13.142
Hinsichtlich des Inhalts schreibt § 27 Abs. 1 Satz 2 WpÜG vor, dass die Stellungnahme ins- 13.143 besondere einzugehen hat auf die Art und Höhe der Gegenleistung, die voraussichtlichen Folgen eines erfolgreichen Angebots für die Zielgesellschaft, die Arbeitnehmer und ihre Vertretungen, die Beschäftigungsbedingungen und die Standorte der Zielgesellschaft, die vom Bieter mit dem Angebot verfolgten Ziele sowie auf die Absicht der Organmitglieder, die selbst Aktien halten, das Angebot anzunehmen. 189 Nach Ziff. 5.2 Abs. 3 Satz 3 des Deutschen Corporate Governance Kodex soll der Aufsichtsratsvorsitzende dies tun. 190 Hölters/Müller-Michaels, § 90 AktG Rz. 20. 191 Ausführlich hierzu Hippeli/Hofmann, NZG 2014, 850 ff. 192 Hippeli/Hofmann, NZG 2014, 850 (850 f.); Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 27 WpÜG Rz. 2; Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 27 WpÜG Rz. 2. 193 Hippeli/Hofmann, NZG 2014, 850 (850 f.); Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 27 WpÜG Rz. 2; Harbarth in Baums/Thoma, § 27 WpÜG Rz. 1; Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/ Uwe H. Schneider, § 27 WpÜG Rz. 4. 194 Harbarth in Baums/Thoma, § 27 WpÜG Rz. 1. 195 Louven in Angerer/Geibel/Süßmann, § 27 WpÜG Rz. 42. 196 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 52.
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Kap. 13 Rz. 13.144
Börsennotierte Unternehmen
13.144 Darüber hinaus lässt sich aus dem Transparenzgrundsatz ableiten, dass die Aktionäre neben dem eben skizzierten Mindestinhalt über alle Tatsachen zu informieren sind, die für ihre Entscheidung über die Annahme des Angebots relevant sind. Bloße Wiederholungen der Angebotsunterlage sind als „Information Overload“ zu vermeiden; das gilt insbesondere, wenn diese nicht einmal als Zitat gekennzeichnet sind.197 Im Gegenteil sollen gerade die kritischen Punkte des Angebots offengelegt werden. Negative Tatsachen dürfen nicht „geschönt“ werden. Auch Umstände, die einen Interessenkonflikt des Vorstands oder Aufsichtsrats auslösen können, dürfen nicht verschwiegen werden.198 Ferner dürfen sich Vorstand und Aufsichtsrat nicht allein auf die Angaben des Bieters in der Angebotsunterlage verlassen, sondern müssen im Rahmen des Angemessenen selbst die notwendigen Informationen einholen; sind sie dazu (insbesondere angesichts der Kürze der Zeit199) nicht in der Lage, müssen sie auf Informationsdefizite in der Angebotsunterlage hinweisen.200 Empfehlenswert ist auch die Aufnahme eines Änderungsvorbehalts, um Diskussionen über eine etwaige Bindungswirkung von Erklärungen der Organmitglieder zu vermeiden.201 Dies alles sollte vor dem Hintergrund der möglichen persönlichen Haftung der Organmitglieder (s. dazu Rz. 13.148) ernst genommen werden.
13.145 Die Stellungnahme muss schließlich eine konkrete Handlungsempfehlung aussprechen. Sie kann also entweder zustimmend oder ablehnend sein; dies sollte als „Tenor“ der Stellungnahme vorangestellt werden.202 Nur in Ausnahmefällen dürfen sich die Organe einer solchen konkreten Empfehlung enthalten,203 die Gründe hierfür müssen dann detailliert dargelegt werden.204
13.146 Bei feindlichen Übernahmeangeboten entfaltet eine ablehnende Stellungnahme eine bedeutende Abwehrfunktion.205 Gerade im Jahr 2017 lehnten Vorstand und Aufsichtsrat in 30 % der Fälle das Angebot ab. Da der Gesetzgeber eine solche ablehnende Stellungnahme in § 27 Abs. 1 WpÜG zulässt, kann sie trotz ihrer Eignung, den Erfolg des Angebots zu verhindern, nicht unter das Verhinderungsverbot des § 33 WpÜG fallen.206 Insofern kann man von einer zulässigen Verteidigungsmaßnahme sprechen.
13.147 Die Stellungnahme muss nach § 27 Abs. 3 Satz 1 WpÜG unverzüglich nach Übermittlung der Angebotsunterlage durch den Bieter veröffentlicht werden. Trotz der oben geschilderten nicht unerheblichen rechtlichen und tatsächlichen Anforderungen muss die Stellungnahme regelmäßig binnen zwei Wochen nach Übermittlung der Angebotsunterlage veröffentlicht werden; eine spätere Veröffentlichung kann nur in ganz besonderen Ausnahmefällen ausrei-
197 Hippeli/Hofmann, NZG 2014, 850 (851 f.). 198 Deutlich: Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 27 WpÜG Rz. 11; Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 27 WpÜG Rz. 32, 34; ausführlich Langendecker-Langner, NZG 2016, 2013 (2015 ff.). 199 Die Stellungnahme hat gem. § 27 Abs. 3 Satz 1 WpÜG „unverzüglich nach Übermittlung der Angebotsunterlage“ zu erfolgen. S. hierzu Rz. 13.147. 200 Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 27 WpÜG Rz. 32; Harbarth in Baums/Thoma, § 27 WpÜG Rz. 69; Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 27 WpÜG Rz. 12. 201 Hippeli/Klepsch, ZIP 2016, 1205 (1207). 202 Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 27 WpÜG Rz. 10. 203 So Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 52. 204 Hippeli/Hofmann, NZG 2014, 850 (852 f.); Harbarth in Baums/Thoma, § 27 WpÜG Rz. 82; Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 27 WpÜG Rz. 10. 205 Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 27 WpÜG Rz. 6. 206 Harbarth in Baums/Thoma, § 27 WpÜG Rz. 19.
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D. Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft
Rz. 13.151 Kap. 13
chen.207 Die Veröffentlichung muss wiederum selbst unverzüglich der BaFin mitgeteilt werden (§ 27 Abs. 3 Satz 2 WpÜG), wobei hier „unverzüglich“ innerhalb von drei Werktagen bedeutet.208 Die Frage, ob die Stellungnahme zu einer persönlichen Haftung von Vorstand und Auf- 13.148 sichtsrat führen kann, regelt das WpÜG nicht. Die Frage ist dementsprechend in der Literatur umstritten.209 Es erscheint aber nicht ganz unwahrscheinlich, dass die für die Angebotsunterlage geltenden Haftungsregeln (§ 12 WpÜG) als Konkretisierung der allgemeinen kapitalmarktrechtlichen Prospekthaftung entsprechend angewandt werden können.210 Die Verwaltungsmitglieder müssen daher mit Haftungsklagen von Aktionären rechnen, wenn für die Beurteilung des Angebots wesentliche Angaben in der Stellungnahme unrichtig oder unvollständig sind. Eine Entlastung ist möglich, wenn die Verwaltungsmitglieder nachweisen, dass sie die Unrichtigkeit nicht kannten und diese Unkenntnis nicht auf grober Fahrlässigkeit beruhte. Unabhängig von der umstrittenen kapitalmarktrechtlichen Prospekthaftung für die Stellungnahme ist in Fällen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung § 826 BGB als Haftungsgrundlage anwendbar.211
IV. Sondervorteile und Anerkennungsprämien für Verwaltungsmitglieder der Zielgesellschaft Nach § 33d WpÜG dürfen Bieter den Organmitgliedern der Zielgesellschaft im Zusammenhang mit dem Angebot keine ungerechtfertigten geldwerten Vorteile gewähren oder in Aussicht stellen. Unter Verstoß empfangene Leistungen können zurückgefordert werden. Damit soll sichergestellt werden, dass Vorstand und Aufsichtsrat ihre Handlungen allein an den Interessen der Zielgesellschaft und ihrer Aktionäre ausrichten. Die Regelung stellt ein gesetzliches Verbot i.S.v. § 134 BGB dar.
13.149
Nicht verboten sind „gerechtfertigte“ Zusagen, das heißt solche, die auch aus der Sicht der Zielgesellschaft und ihrer Anteilseigner aus sachlich nachvollziehbaren Gründen gewährt werden könnten.212 Dazu können etwa Zusagen gehören, die sich auf eine Weiterbeschäftigung des Managements nach erfolgter Übernahme beziehen.213 Es kann wesentlich für die Investitionsentscheidung eines Bieters sein, wertvolle Mitglieder des Managements für die Zeit nach einer Übernahme an die Zielgesellschaft zu binden. Die Angebotsunterlage hat solche Leistungen aufzuführen (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 WpÜG).
13.150
Aufgrund des Mannesmann-Verfahrens sind Zahlungen an das Management der Zielgesellschaft verstärkt in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt. Dabei wäre § 33d WpÜG
13.151
207 OLG Frankfurt v. 8.12.2006 – WpÜG 1/05, ZIP 2006, 428 = AG 2006, 207 Rz. 6; Hippeli/Hofmann, NZG 2014, 850 (855 f.). 208 Hippeli/Hofmann, NZG 2014, 850 (856). 209 Streitstand bei Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 27 WpÜG Rz. 27 Fn. 69. 210 Dafür ausdrücklich Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 27 WpÜG Rz. 27 ff.; ähnlich: Wackerbarth in MünchKomm/AktG, § 27 WpÜG Rz. 16. 211 Steinmeyer in Steinmeyer, § 27 WpÜG Rz. 83; vertiefend: Louven in Angerer/Geibel/Süßmann, § 27 WpÜG Rz. 53; Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, § 27 WpÜG Rz. 153. 212 Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33d WpÜG Rz. 15. 213 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 59; vgl. Noack/Zetsche in Schwark/Zimmer, § 33d WpÜG Rz. 4; bejahend auch Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33d WpÜG Rz. 15.
Müller-Michaels 1141
Kap. 13 Rz. 13.152
Börsennotierte Unternehmen
(selbst wenn er damals schon gegolten hätte) nicht anwendbar gewesen, da die Zahlungen nicht durch den Bieter (Vodafone plc), sondern durch die Zielgesellschaft selbst (Mannesmann AG) erfolgt sind. Solche Zahlungen sind an § 87 Abs. 1 AktG zu messen, nach dem der Aufsichtsrat bei der Festsetzung der Gesamtbezüge der Vorstandsmitglieder dafür zu sorgen hat, dass diese angemessen sind. Ihre besondere Problematik erhielten die Zahlungen im Fall Mannesmann dadurch, dass sie erst mit oder nach dem Ausscheiden der betroffenen Vorstandsmitglieder geleistet wurden. Solche Anerkennungsprämien (oder Appreciation Awards) sind nach dem Mannesmann-Urteil des BGH regelmäßig als pflichtwidrig und als strafbare Untreue einzustufen und nur im Ausnahmefall zulässig, wenn sie einen dreigliedrigen Test bestehen:214 (1) Sind im Dienstvertrag einmalige oder jährlich wiederkehrende Prämien als variabler Vergütungsbestandteil vereinbart, so dürfen sie nach Ablauf des Geschäftsjahrs zuerkannt werden, wenn sie sich innerhalb der Angemessenheitsgrenze des § 87 Abs. 1 AktG befinden.215 (2) Bei einer fehlenden Rechtsgrundlage im Dienstvertrag ist die Bewilligung einer nachträglichen Anerkennungsprämie zulässig, wenn und soweit dem Unternehmen gleichzeitig Vorteile zufließen, die in einem angemessenen Verhältnis zu der mit der freiwilligen Zusatzvergütung verbundenen Minderung des Gesellschaftsvermögens stehen. (3) Eine im Dienstvertrag nicht vereinbarte Sonderzahlung für eine geschuldete Leistung, die ausschließlich belohnenden Charakter hat und der Gesellschaft keinen Nutzen in der Zukunft bringen kann,216 ist als treupflichtwidrige Verschwendung des anvertrauten Gesellschaftsvermögens einzuordnen.
13.152 Für die Praxis ist festzuhalten, dass Zahlungen oder die Gewährung anderer Sondervorteile an Verwaltungsmitglieder der Zielgesellschaft im Zusammenhang mit Übernahmen nur nach sorgfältiger Prüfung erfolgen sollten. Die Vertragspraxis hat sich rasch auf das Mannesmann-Urteil eingestellt und die Statthaftigkeit nachträglicher Sonderzahlungen in die entsprechenden Dienstverträge aufgenommen. Ein weiterer gangbarer Weg für Anerkennungsprämien könnte auch die Zahlung durch (ehemalige) Aktionäre sein, die das Übernahmeangebot angenommen haben und aus der Gesellschaft ausgeschieden sind. Dieser Gruppe kommt eine Erhöhung des Börsenkurses (und damit eine Maximierung des Angebotspreises) durch das Management der Zielgesellschaft besonders zugute. Allerdings ist dabei zu beachten, dass weder die Unabhängigkeit des Vorstands (§ 76 Abs. 1 AktG) noch die Kompetenz des Aufsichtsrats für die Festlegung der Vergütung der Vorstandsmitglieder (§ 87 Abs. 1 AktG) berührt wird.
V. Abwehrmaßnahmen 1. Einleitung
13.153 Abwehrmaßnahmen gegen Übernahmen gehören zu den meistdiskutierten Feldern des Übernahmerechts.217 Das steht in einem auffälligen Missverhältnis zu der Zahl der tatsäch214 215 216 217
BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, BGHSt 50, 331 = ZIP 2006, 72 = AG 2006, 110. Hölters/Weber, § 87 AktG Rz. 16 ff. Sog. „kompensationslose Anerkennungsprämie“. S. nur die Literaturnachweise bei Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG, Grunewald in Baums/Thoma, § 33 WpÜG.
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Müller-Michaels
D. Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft
Rz. 13.156 Kap. 13
lich in Deutschland (öffentlich) versuchten oder tatsächlich durchgeführten feindlichen Übernahmen.218 Nur bei feindlichen Übernahmen werden schließlich solche Maßnahmen relevant. Auf der anderen Seite dürfte allein das Wissen um mögliche Abwehrinstrumente eine Reihe von feindlichen Übernahmen abgeschreckt oder schon im Vorfeld zu freundlichen Übernahmen gemacht haben. Denn gerade die intensive Aufarbeitung in der Fachliteratur, insbesondere aus der anwaltlichen Praxis zeigt, dass sich viele Vorstände bereits intensive Gedanken für den Fall des Falles gemacht haben. 2. Präventive Maßnahmen und Maßnahmen in konkreten Übernahmesituationen Für den rechtlichen Rahmen ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen Maßnahmen, die außerhalb einer Übernahmesituation getroffen werden und solchen, die nach Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots (§ 10 WpÜG) erfolgen. Bis zu diesem Zeitpunkt richtet sich die Pflichtenstellung des Vorstands nach allgemeinem Aktienrecht. §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 Satz 2 AktG räumen dem Vorstand ein weites unternehmerisches Ermessen ein (sog. „Business Judgment Rule“). Nach Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots durch einen Bieter gilt dagegen § 33 WpÜG, der die eben skizzierten aktienrechtlichen Pflichten des Vorstands und dessen Geschäftsleiterermessen überlagert und modifiziert.
13.154
3. Verhinderungsverbot des § 33 WpÜG a) Grundsatz: Keine Verhinderung des Angebots § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG verbietet dem Vorstand nach Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots durch einen Bieter (§ 10 WpÜG), Handlungen vorzunehmen, durch die der Erfolg des Angebots verhindert werden könnte. Die Aktionäre und nicht der Vorstand sollen über das Angebot entscheiden. Maßgeblich ist, ob die Handlung objektiv geeignet erscheint, den Erfolg des Übernahmeangebots zu vereiteln.219 Das Verhinderungsverbot hat jedoch in § 33 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 WpÜG weit reichende Durchbrechungen erfahren.220
13.155
b) Ausnahme 1: Maßnahmen eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters So nimmt § 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 WpÜG Handlungen, die auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer Gesellschaft, die nicht von einem Übernahmeangebot betroffen ist, vorgenommen hätte, vom Verhinderungsverbot des § 33 Abs. 1 Satz 1WpÜG aus.221 Das Tagesgeschäft soll also nicht unangemessen beeinträchtigt werden. Darin erschöpft sich die Ausnahme jedoch nicht. Auch eingeschlagene Unternehmensstrategien sollen ungeachtet des Angebots fortgeführt werden können.222 Damit können selbst für das Unternehmen wesentliche und außergewöhnliche Transaktionen weiterhin durchgeführt werden, wenn sie vor der 218 So auch die Diagnose von Löhdefink/Jaspers, ZIP 2014, 2261. 219 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 57 f.; Steinmeyer in Steinmeyer, § 33 WpÜG Rz. 16; Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 55; Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, § 33 WpÜG Rz. 84. 220 Kritisch dazu aus institutionenökonomischer Perspektive Koch, WM 2010, 1155 (1157 ff.). 221 Hierzu ausführlich für die Maßnahmen des Managements bei der Abwehr des gescheiterten Übernahmeversuchs von K+S durch Potash, Gaul, AG 2016, 484 (489 ff.). 222 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 58.
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13.156
Kap. 13 Rz. 13.157
Börsennotierte Unternehmen
Veröffentlichung des Übernahmeangebots geplant und – im Hinblick auf die den Vorstand im Zweifelsfall gem. § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG treffende Beweislast – hinreichend dokumentiert wurden.
13.157 Ähnlich bestimmt Ziff. 3.7. des Deutschen Corporate Governance Kodex, dass der Vorstand nach Bekanntgabe eines Übernahmeangebots keine Handlungen vornehmen darf, durch die der Erfolg des Angebots verhindert werden könnte, soweit solche Handlungen nicht nach den gesetzlichen Regelungen erlaubt sind. Daneben wird in Ziff. 3.7 Abs. 3 wenig praxisnah angeregt, dass der Vorstand eine außerordentliche Hauptversammlung einberufen sollte (s. hierzu Rz. 13.170). c) Ausnahme 2: Suche nach einem konkurrierenden Angebot
13.158 Zulässig ist nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 WpÜG auch die Suche nach einem konkurrierenden Übernehmer (sog. „White Knight“), da hierdurch im Interesse der Aktionäre der Zielgesellschaft möglichst attraktive Angebotskonditionen erreicht werden können.223 Allerdings ist der „weiße Ritter“ bislang vor allem in (amerikanischen) Lehrbüchern, dagegen nicht in der Praxis deutscher Unternehmen aufgetaucht.224 Ein wesentlicher Grund dürfte in der kurzen Frist von maximal vierzehn Wochen zur Vorlage eines vollständigen Konkurrenzangebots liegen (§§ 14 Abs. 1 Satz 1, 16 Abs. 1 Satz 1 WpÜG).225 Es bietet sich daher für den Vorstand an, sich bereits vor einer konkreten Übernahme Gedanken über einen möglichen „White Knight“ zu machen. d) Ausnahme 3: Maßnahmen mit Zustimmung des Aufsichtsrats
13.159 Der Vorstand der Zielgesellschaft kann im Übernahmekampf als Ausnahme zum Verhinderungsverbot des § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG auch solche Abwehrmaßnahmen ergreifen, denen der Aufsichtsrat zugestimmt hat (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 WpÜG). Gemeint ist die vorherige Zustimmung (Einwilligung), nicht die (nachträgliche) Genehmigung.226 Der Aufsichtsrat kann die Erteilung der Einwilligung auf einen Ausschuss delegieren.227
13.160 Die Ausnahme erstreckt sich allerdings nur auf Maßnahmen der Geschäftsführung.228 Maßnahmen, die in die Zuständigkeit der Hauptversammlung fallen, sind somit nicht erfasst.229 In Betracht kommen daher vor allem das Ausnutzen von genehmigtem Kapital oder der Erwerb eigener Aktien aufgrund von bestehenden Ermächtigungen der Hauptversammlung. Möglich bleibt ferner die Veräußerung von Unternehmensbeteiligungen und von Tochtergesellschaften, sofern dadurch nicht der Satzungszweck berührt wird; solche Transaktionen dürften aber, wenn sie von ihrer Größe überhaupt als Verhinderungsmaßnahmen in Be223 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 58; Steinmeyer in Steinmeyer, § 33 WpÜG Rz. 24. 224 Auch wenn etwa die Bundesregierung einen solchen gesucht hat, um die Übernahme von Kuka durch die chinesische Midea zu verhindern, s. dazu Hasselbach/Peters, BB 2017, 1347 (1349). 225 Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 76. 226 Brandi in Angerer/Geibel/Süßmann, § 33 WpÜG Rz. 58 (Wortlaut: „zugestimmt hat“); a.A. Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 86. 227 Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 87. 228 Steinmeyer in Steinmeyer, § 33 WpÜG Rz. 26; Schlitt in MünchKomm/AktG, § 33 WpÜG Rz. 167. 229 Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 80; Grunewald in Baums/Thoma, § 33 WpÜG Rz. 68.
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D. Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft
Rz. 13.164 Kap. 13
tracht kommen, nach der Geschäftsordnung des Vorstands ohnehin unter dem Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats stehen. An die Ausübung des Ermessens von Vorstand und Aufsichtsrat sind bei ihren Entscheidungen strenge Anforderungen zu stellen. Denn eine bevorstehende Übernahme ist der Prototyp des Interessenkonflikts. Es besteht eine offensichtliche Gefahr, dass die Verwaltung aus Eigeninteresse Abwehrhandlungen vornimmt, die nicht notwendigerweise im Interesse der Gesellschaft sind.230 Auch das Zustimmungserfordernis des Aufsichtsrats ist nur ein unzureichendes Korrektiv: Aufsichtsratsmitglieder und Vorstand befinden sich in demselben Konflikt. Auf die Business Judgment Rule des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, nach der dem Vorstand bei unternehmerischen Entscheidungen ein weites Ermessen zusteht, ist in solchen Situationen nicht abzustellen.231 Eine Abwehrmaßnahme kann daher nur auf § 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 WpÜG gestützt werden, wenn ein dringendes Unternehmensinteresse besteht und dieses Unternehmensinteresse das Interesse der Aktionäre an einer ungestörten Veräußerung ihres Aktienbesitzes eindeutig überwiegt.232
13.161
e) Ausnahme 4: Vorratsbeschlüsse der Hauptversammlung § 33 Abs. 2 WpÜG regelt eine weitere Ausnahme vom Verhinderungsverbot des § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG. Bereits im Vorfeld eines Übernahmeangebotes kann die Hauptversammlung die Verwaltung einer Gesellschaft zur Vornahme von Abwehrmaßnahmen ermächtigen. Die Ermächtigung kann für höchstens achtzehn Monate erteilt werden und bedarf einer Mehrheit von 75 % des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals, § 33 Abs. 2 WpÜG. Der Vorstand der Zielgesellschaft kann dann Abwehrmaßnahmen, die der Art nach in der Ermächtigung bestimmt sind, während eines laufenden Übernahmeangebots durchführen.
13.162
Allerdings kann der Vorstand nur zu Maßnahmen ermächtigt werden, welche die Hauptversammlung auch aufgrund der Kompetenzen des Aktienrechts auf den Vorstand übertragen kann.233 Erfasst sind damit vor allem die Schaffung und Ausnutzung von genehmigtem (§ 202 AktG) und bedingtem Kapital (§ 192 AktG) sowie der Rückkauf eigener Aktien (§ 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG). Zudem ist auch die Ermächtigung zum Abschluss und zur Aufhebung von Unternehmensverträgen möglich.234 Ferner gehören dazu die sog. Holzmüller-Fälle (s. dazu ausführlich Kap. 12 Rz. 12.130 ff.), also insbesondere die Veräußerung wesentlicher Beteiligungen.235
13.163
In der Ermächtigung der Hauptversammlung müssen die Abwehrhandlungen der Art nach bestimmt werden. Blankettermächtigungen („alle erforderlichen Maßnahmen“) sind damit
13.164
230 Schlitt in MünchKomm/AktG, § 33 WpÜG Rz. 172. 231 Vgl. dazu Steinmeyer in Steinmeyer, § 33 WpÜG Rz. 22; Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 83 ff. 232 Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 83; Schlitt in MünchKomm/AktG, § 33 WpÜG Rz. 173 (Vorstand), 180 (Aufsichtsrat). 233 Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 97. 234 Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 99. 235 Darauf nimmt die Begründung der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses (zu Abs. 1) ausdrücklich Bezug; hierbei ist aber zu beachten, dass der BGH den Anwendungsbereich der Holzmüller-Doktrin in seiner Gelatine-Entscheidung (Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 = NJW 2004, 1860 = AG 2004, 384) stark eingeschränkt hat, so dass fraglich ist, ob bei Beteiligungsverkäufen, die nicht zu einer faktischen Satzungsänderung führen, überhaupt eine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit besteht.
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Kap. 13 Rz. 13.165
Börsennotierte Unternehmen
ausgeschlossen. Auf der anderen Seite ist es aber auch nicht erforderlich, die Handlungen im Einzelnen zu bestimmen. Ausreichend sind danach Bestimmungen wie „Durchführung einer Kapitalmaßnahme“ (auch unter Ausschluss des Bezugsrechts), „Veräußerung von Beteiligungen“ oder „Erwerb eigener Aktien“; die Höhe der Kapitalmaßnahme oder der niedrigste und höchste Gegenwert beim Erwerb eigener Aktien müssen nicht genannt werden.236 Daher müssen auch nicht Eckpunkte von möglichen Transaktionen in die Ermächtigung aufgenommen werden.237 Diese werden regelmäßig zum Zeitpunkt des Hauptversammlungsbeschlusses noch gar nicht feststehen.
13.165 Das Management entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen, ob und welche Abwehrmaßnahme in einer konkreten Übernahmesituation durchgeführt wird. In jedem Fall bedarf die Handlung aufgrund der Vorratsermächtigung der zusätzlichen Zustimmung des Aufsichtsrats (§ 33 Abs. 2 Satz 4 WpÜG).
13.166 Ungeachtet der intensiven und kontroversen Diskussion der Vorratsbeschlüsse im Gesetzgebungsverfahren wird in der Praxis soweit ersichtlich von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht. Zum einen dürfte dies daran liegen, dass ein Vorratsbeschluss die Furcht vor einer Übernahme signalisieren könnte.238 Zum anderen erscheint auch das praktische Bedürfnis für solche Ermächtigungen gering, da die wichtigsten Maßnahmen (insb. Ausnutzung von genehmigtem Kapital und Rückkauf eigener Aktien) auch allein mit Zustimmung des Aufsichtsrats nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 WpÜG durchgeführt werden können. f) Ausnahme 5: Abwehrbeschlüsse der Hauptversammlung
13.167 Neben den im Gesetz ausdrücklich normierten Vorratsbeschlüssen der Hauptversammlung nach § 33 Abs. 2 WpÜG kann der Vorstand auch die Hauptversammlung während des laufenden Übernahmeverfahrens über Abwehrmaßnahmen entscheiden lassen.239 § 16 Abs. 3 WpÜG, der das Einberufungsverfahren einer außerordentlichen Hauptversammlung im Zusammenhang mit dem Angebot während der Angebotsfrist regelt, setzt die Möglichkeit eines solchen Ad-hoc-Abwehrbeschlusses voraus.
13.168 Die Einberufung einer Ad-hoc-Hauptversammlung bietet sich gerade in Situationen an, in denen der Vorstand eine Haftung gegenüber den Aktionären fürchtet. § 16 Abs. 4 WpÜG erleichtert während der Angebotsfrist die Einberufungsformalitäten und senkt die Mindesteinberufungsfrist auf zwei Wochen. Gleichzeitig verlängert sich die Angebotsfrist in einem solchen Fall automatisch auf zehn Wochen (§ 16 Abs. 3 WpÜG). Dadurch wird ein Zeitrahmen geschaffen, der den Abwehrbeschluss und seine Umsetzung vor Vollzug des Angebots, zumindest theoretisch, möglich machen soll.240
236 Finanzausschuss zum RegE WpÜG, BT-Drucks. 14/7477, 53; Grunewald in Baums/Thoma, § 33 WpÜG Rz. 91; Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 118. 237 Grunewald in Baums/Thoma, § 33 WpÜG Rz. 65; Schlitt in MünchKomm/AktG, § 33 WpÜG Rz. 215. 238 Schlitt in MünchKomm/AktG, § 33 WpÜG Rz. 204. 239 Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 88; Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/ Uwe H. Schneider, § 33 WpÜG Rz. 188. 240 Vertiefend: Geibel in Angerer/Geibel/Süßmann, § 16 WpÜG Rz. 74 ff.
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Rz. 13.174 Kap. 13
Die inhaltlichen Anforderungen an den Beschluss in einer Ad-hoc-Hauptversammlung sind höher als bei Vorratsbeschlüssen. Da bereits bekannt ist, wer der Bieter ist und wie das Angebot konkret ausgestaltet ist, muss der Beschluss die Maßnahmen konkret festlegen.241
13.169
Bei der Entscheidung über die Einberufung ist mit zu berücksichtigen, dass eine solche 13.170 Hauptversammlung in einem Abwehrkampf öffentlichkeitswirksam sein kann. Ob die notwendigen Mehrheiten erreicht werden können, ist schwerer vorhersehbar als außerhalb von Übernahmesituationen. Ein entscheidender Nachteil ist darüber hinaus die Anfechtbarkeit der Hauptversammlungsbeschlüsse. Der Bieter wird alles daransetzen, die beschlossenen Abwehrmaßnahmen anzugreifen. Vor allem das Anfechtungsrisiko und die damit verbundene Unsicherheit dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass Abwehrhauptversammlungen soweit ersichtlich bisher keine praktische Relevanz erlangt haben und das trotz der Anregung in Ziff. 3.7 des Deutschen Corporate Governance Kodex. 4. Europäische Regeln über Abwehrmaßnahmen (§§ 33a–c WpÜG) §§ 33a-c WpÜG wurden durch Gesetz vom 8.7.2006 in das WpÜG eingefügt.242 Die Einführung diente der Umsetzung des Art. 9 Abs. 2 und 3 der EU-Übernahmerichtlinie,243 durch welche der europäische Gesetzgeber das Ziel verfolgte, gemeinschaftsweit ein angemessenes Schutzniveau für Aktionäre zu gewährleisten, aber auch die europäischen Unternehmen hinsichtlich möglicher Übernahmen gleichzustellen. Ebenso sollten nationale Hemmnisse für Übernahmen abgebaut werden, um grenzüberschreitende Übernahmen leichter durchführen zu können.
13.171
Die Regelung des Art. 9 Abs. 2 und 3 mussten die Mitgliedstaaten aber nicht zwingend umsetzen (Art. 12 Abs. 1 der EU-Übernahmerichtlinie), sondern konnten stattdessen von dem sog. Opt-Out-Recht Gebrauch machen und eigene Regeln treffen. Allerdings musste es inländischen Gesellschaften in jedem Fall möglich gemacht werden, das Verhinderungsverbot für sich anzuwenden können (sog. Opt-In-Recht, Art. 12 Abs. 2 der EU-Übernahmerichtlinie).
13.172
Der deutsche Gesetzgeber hat im Rahmen des Übernahmerichtlinie-Umsetzungsgesetzes von dem Opt-Out-Recht Gebrauch gemacht.244 Deutsche Gesellschaften können daher nach wie vor an den schon bisher bestehenden Regelungen des WpÜG festhalten.
13.173
a) Europäisches Verhinderungsverbot (§ 33a WpÜG) Durch den sog. Opt-In gem. § 33a WpÜG haben deutsche Gesellschaften die Möglichkeit, in der Satzung zu vereinbaren, dass die ansonsten möglichen Abwehrmaßnahmen des § 33 WpÜG keine Anwendung finden sollen, sondern lediglich die des § 33a WpÜG, welche der Richtlinie entsprechen. Nach § 33a Abs. 2 WpÜG sind nur Handlungen erlaubt, zu welchen die Hauptversammlung den Vorstand oder Aufsichtsrat nach Veröffentlichung der Entschei241 Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 90; Schlitt in MünchKomm/AktG, § 33 WpÜG Rz. 196; Grunewald in Baums/Thoma, § 33 WpÜG Rz. 90; Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/ Pötzsch/Uwe H. Schneider, § 33 WpÜG Rz. 195. 242 BGBl. I 2006, 1426. 243 Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. EU Nr. L 142 v. 30.4.2004, S. 12. 244 Kritisch Habersack, ZHR 2017, 60 3 (626 ff.), der fordert, dass nicht der Gesetzgeber, sondern nur die Aktionäre über den Opt-Out entscheiden können sollen.
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Kap. 13 Rz. 13.175
Börsennotierte Unternehmen
dung zur Abgabe eines Angebots ermächtigt hat (Nr. 1), Handlungen innerhalb des normalen Geschäftsbetriebs (Nr. 2), Handlungen außerhalb des normalen Geschäftsbetriebs, sofern sie der Umsetzung von Entscheidungen dienen, die vor der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots gefasst und teilweise umgesetzt wurden (Nr. 3), sowie die Suche nach einem konkurrierenden Angebot (Nr. 4). Der Unterschied zwischen den vorher schon bestehenden Abwehrmaßnahmen nach § 33 WpÜG und den Neuerungen durch die EU-Übernahmerichtlinie (§ 33a WpÜG) ist, dass Verteidigungsmaßnahmen nach § 33 WpÜG auch dann zulässig sind, wenn ihnen der Aufsichtsrat zugestimmt hat. Außerdem sind die Ausnahmen hinsichtlich des ordentlichen Geschäftsbetriebs wesentlich enger als ihr Pendant in § 33 Abs. 1 Satz 2 WpÜG. Denn es muss zumindest bereits eine Entscheidung über die Maßnahme getroffen sein, allein das Vorhandensein einer Strategie, die dann umgesetzt wird, reicht nicht. Zusätzlich besteht eine Beschränkung auf den „ordinary course of business“. Konkret heißt das, etwa beim Erwerb eines Unternehmens gegen Ausgabe genehmigten Kapitals (unter Ausschluss des Bezugsrechts), dass der Vorstand den Beschluss über den Erwerb vor Bekanntmachung des Angebots gefasst haben muss. Wurde mit der Umsetzung bereits begonnen, findet keine weitere Prüfung statt; hat die Umsetzung noch nicht begonnen, stellt sich die Frage, ob die Transaktion eine Entscheidung im normalen Geschäftsverlauf ist. Das ist zumindest bei größeren Transaktionen fraglich; eine konkrete Richtschnur gibt es nicht. Diskussionsfähig könnte eine Grenze von 10 % des Grundkapitals (bezogen auf das genehmigte Kapital, das an den Verkäufer ausgegeben wird) oder des Außenumsatzes (bezogen auf das neu erworbene Unternehmen) sein. b) Europäische Durchbrechungsregel (§ 33b WpÜG)
13.175 Ähnlich wie bei § 33a WpÜG kann nach § 33b WpÜG die Satzung einer Zielgesellschaft vorsehen, dass bestimmte Übernahmebeschränkungen während eines Angebots durchbrochen werden. Die Durchbrechungsregelung besagt gem. § 33b Abs. 2 WpÜG, dass satzungsmäßige, zwischen Zielgesellschaft und Aktionären oder zwischen Aktionären vereinbarte Beschränkungen hinsichtlich der Übertragbarkeit von Aktien nicht gegenüber dem Bieter während der Annahmefrist gelten (Nr. 1).245 Ebenso entfalten Stimmbindungsverträge während der Annahmefrist keine Wirkung (Nr. 2). Gleichfalls berechtigen Mehrstimmrechtsaktien – die es allerdings unter deutschem Recht nicht mehr gibt – während der Annahmefrist nur zu einer Stimme (Nr. 2).246 Sofern der Bieter durch ein Angebot 3/4 des stimmberechtigten Kapitals besitzt, entfalten auf der ersten auf Verlangen des Bieters zur Satzungsänderung oder zur Besetzung des Leitungs-/Verwaltungsorgans einberufenen Hauptversammlung Stimmbindungsverträge sowie Entsendungsrechte keine Wirkung (Nr. 3). Mehrstimmrechtsaktien sind in dieser Versammlung nur jeweils zu einer Stimmabgabe berechtigt (Nr. 3). Falls die Durchbrechungsregelung Anwendung findet, ist der Bieter zu einer finanziellen Entschädigung verpflichtet, § 33b Abs. 5 WpÜG.247
245 Vereinbarte Übertragungsbeschränkungen sind z.B. Vinkulierungen, Andienungs- oder Vorkaufsrechte, dazu bei Rz. 13.199 ff. 246 Diekmann, NJW 2007, 17 (18). 247 Zu Schwierigkeiten hinsichtlich der Beweislast für einen erlittenen Schaden: Diekmann, NJW 2007, 17 (18).
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D. Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft
Rz. 13.179 Kap. 13
c) Vorbehalt der Gegenseitigkeit (§ 33c WpÜG) Von dem oben genannten Opt-Out- bzw. Opt-In-Recht müssen die Mitgliedstaaten, wie aufgezeigt, keinen Gebrauch machen. Deshalb soll gem. Art. 12 Abs. 3 der EU-Übernahmerichtlinie eine sog. „Waffengleichheit“ hergestellt werden (Reziprozität). Gesellschaften, die Opt-In gewählt haben (d.h. dem Europäischen Verhinderungsverbot bzw. der Europäischen Durchbrechungsregelung folgen), können durch die Hauptversammlung beschließen, den verschärften Regelungen der Richtlinie dann nicht zu unterliegen, wenn der Bieter oder ein von ihm beherrschtes Unternehmen diesen Regeln nicht unterliegt, § 33c Abs. 1, 2 WpÜG. Dieser Beschluss gilt gem. § 33c Abs. 3 WpÜG für höchstens 18 Monate und ist daher ggf. auf jeder Hauptversammlung erneut zu beschließen.
13.176
d) Unternehmenspraxis Soweit ersichtlich haben deutsche Gesellschaften von der Möglichkeit des Opt-in bisher keinen Gebrauch gemacht. Zwar kann eine erleichterte Übernahme in eine höhere Unternehmensbewertung münden.248 Ebenso kann das Opt-In auch als Zeichen der Stärke verstanden werden, da so dem Kapitalmarkt signalisiert wird, dass sich das Unternehmen bei einer Übernahme (einzig) auf seinen gesteigerten Börsenkurs verlässt.249 Gleichfalls unterstreicht die Gesellschaft ihre Kapitalmarktorientierung.250 Diesen möglichen Vorteilen steht aber der Nachteil wesentlich eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten für Vorstand und Aufsichtsrat in Übernahmesituationen gegenüber. Dies scheint bisher den Ausschlag gegen einen Opt-in gegeben zu haben.
13.177
5. Diskussion bestimmter Abwehrmaßnahmen Nachdem die Schranken für Abwehrmaßnahmen nunmehr abstrakt abgesteckt sind, sollen im Folgenden einige konkrete Optionen zur Verteidigung gegen feindliche Übernahmen diskutiert werden, die in der Praxis von Bedeutung sein können. Dabei muss man sich immer vor Augen halten, dass es, wie oben gesehen, einen grundlegenden Unterschied macht, ob die Maßnahme während eines laufenden Übernahmeverfahrens erfolgt oder präventiv und losgelöst von einer konkreten Übernahmesituation. Im ersten Fall gilt speziell § 33 WpÜG, im zweiten die allgemeine Business Judgment Rule, nach der unternehmerische Maßnahmen, die als Präventivmaßnahmen wirken, ergriffen werden dürfen, wenn der Vorstand „[…] vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG).
13.178
a) Verteuerung einer Übernahme durch Steigerung des Börsenwerts Ein wirksames Mittel gegen Übernahmen ist die Steigerung des Börsenwerts der Zielgesellschaft. Dies verteuert ein Angebot für potentielle Bieter. Leider gibt es dafür keine einfachen Rezepte. In jedem Fall dürften aber eine klare Fokussierung der Unternehmensstrategie, die Konzentration auf Geschäftsfelder, in denen das Unternehmen zu den Marktführern gehört, und nicht zuletzt eine transparente Kommunikation mit dem Kapitalmarkt zu einer Steigerung des Börsenwerts beitragen. Im Vorfeld einer Übernahme sind darauf gerichtete Maßnahmen regelmäßig rechtlich unproblematisch, da der Vorstand sichtbar zum Wohle 248 Steinmeyer in Steinmeyer, § 33a WpÜG Rz. 5; Kiem in Baums/Thoma, § 33a WpÜG Rz. 8. 249 Kiem in Baums/Thoma, § 33a WpÜG Rz. 8. 250 Kiem in Baums/Thoma, § 33a WpÜG Rz. 8.
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Kap. 13 Rz. 13.180
Börsennotierte Unternehmen
der Gesellschaft handelt.251 Aber auch in einer konkreten Übernahmesituation kann eine solche einmal eingeschlagene Strategie der Steigerung des Börsenwerts fortgeführt werden, selbst wenn sie größere Unternehmenstransaktionen, wie die Veräußerung von Tochterunternehmen außerhalb des Kerngeschäftsfelds, während des Angebots beinhaltet (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 WpÜG). Allerdings fallen unter diese Ausnahme nicht Maßnahmen, die den Aktienkurs, für den Vorstand erkennbar, nur kurzfristig (gerade während der Dauer des Angebots) steigern; dies könnte etwa durch die vorzeitige Realisierung von stillen Reserven oder anderer Geschäftschancen versucht werden. Solche Maßnahmen sollten (selbst mit Einwilligung des Aufsichtsrats, § 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 WpÜG) unterbleiben, da dem Vorstand hier eine Begründung mit einer vorher eingeschlagenen Strategie oder mit dem Gesellschaftsinteresse schwerfallen dürfte. Die einzige unproblematische Ausnahme hiervon ist nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 WpÜG die Suche nach einem konkurrierenden Angebot, auch wenn dies nur zu einer kurzzeitigen Steigerung des Aktienkurses während der Angebotslaufzeit führt; denn hier kann zwar ein Angebot vereitelt, dafür aber den Aktionären die Annahme eines anderen Angebots ermöglicht werden. b) Ausnutzung genehmigten Kapitals
13.180 Ein weiteres effizientes Mittel zur Abwehr einer feindlichen Übernahme stellt die Ausnutzung genehmigten Kapitals durch den Vorstand dar. Dagegen dürfte mit Blick auf den Zeitbedarf und das Anfechtungsrisiko eine ordentliche Kapitalerhöhung als Abwehrmaßnahme ausscheiden.
13.181 Eine Kapitalerhöhung aus genehmigtem Kapital mit Bezugsrecht während oder vor einem Übernahmeangebot erhöht den Gesamtpreis der Übernahme für den Bieter. Insofern wird das Angebot erschwert.252 Allerdings kann dann nicht ausgeschlossen werden, dass der Bieter (entsprechende finanzielle Mittel vorausgesetzt) Bezugsrechte am Markt aufkauft und die Kapitalerhöhung in seinem Sinne zum Aufbau einer Beteiligung nutzt. Das kann durch den Ausschluss des Bezugsrechts der Altaktionäre verhindert werden. Wird etwa eine Kapitalerhöhung derart durchgeführt, dass ein Dritter die jungen Aktien gegen Einbringung einer Sacheinlage zeichnet, kann dadurch der Aufbau einer beherrschenden Beteiligung durch den Bieter erheblich erschwert werden. In der Praxis kann das z.B. erreicht werden, indem ein strategischer Partner ein Unternehmen als Sacheinlage in die Zielgesellschaft einbringt und dafür junge Aktien erhält,253 die mindestens 25 % der Stimmrechte in der Hauptversammlung vermitteln. Mit dieser Sperrminorität könnte der Partner dann Umstrukturierungen durch den Bieter blockieren. Dabei muss die Beteiligung nicht einmal nominell 25 % des Grundkapitals (nach Erhöhung des Kapitals) betragen, sondern kann je nach Hauptversammlungspräsenz erheblich darunter liegen.
13.182 Rechtsgrundlage für das genehmigte Kapital ist ein satzungsändernder Beschluss der Hauptversammlung, der mindestens drei Viertel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals umfassen muss und den Vorstand für bis zu fünf Jahre ermächtigen kann, das Grundkapital mit Zustimmung des Aufsichtsrats zu erhöhen (§ 202 Abs. 1 und Abs. 2 AktG). Die 251 Allerdings darf der Vorstand dabei die Interessen der anderen „Stakeholder“, also der Mitarbeiter, Gläubiger und der Allgemeinheit, nicht außer Acht lassen. 252 Brandi in Angerer/Geibel/Süßmann, § 33 WpÜG Rz. 26 ff.; Grunewald in Baums/Thoma, § 33 WpÜG Rz. 29 ff. m.w.N. 253 Auf diese Weise wurde etwa das Übernahmeangebot von de Benedetti auf die Societé Générale de Belgique abgewehrt.
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Rz. 13.185 Kap. 13
Hauptversammlung kann auf diese Weise eine Erhöhung von bis zu 50 % des bei der Ermächtigung vorhandenen Grundkapitals autorisieren (§ 202 Abs. 3 AktG). Soll der Vorstand dabei zusätzlich zum Ausschluss des Bezugsrechts ermächtigt werden, ist dies in dem Hauptversammlungsbeschluss über das genehmigte Kapital ausdrücklich vorzusehen (§ 203 Abs. 2 Satz 1 AktG). Der Vorstand hat in diesem Fall der Hauptversammlung, die über das genehmigte Kapital entscheiden soll, einen schriftlichen Bericht vorzulegen, der den Grund für den Ausschluss des Bezugsrechts darlegt und den vorgeschlagenen Ausgabebetrag rechtfertigt (§ 203 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 186 Abs. 4 Satz 2 AktG). Nach der Rechtsprechung des BGH reicht hier eine generell-abstrakte Umschreibung des Grundes für den Bezugsrechtsausschluss (etwa Erwerb von Beteiligungen gegen Ausgabe von Aktien in geeigneten Einzelfällen) und des Gesellschaftsinteresses aus.254 Ermächtigungen zur Ausgabe von genehmigtem Kapital durch den Vorstand unter Ausschluss des Bezugsrechts sind übliche Praxis bei deutschen Publikumsgesellschaften. Mit den materiell niedrigen Anforderungen für den Ermächtigungsbeschluss der Hauptversammlung verlagert sich die Pflicht zur Prüfung, ob der Bezugsrechtsausschluss sachlich gerechtfertigt ist, auf den Vorstand und den Aufsichtsrat.255 Ein Bericht an die Hauptversammlung ist vor Ausübung des genehmigten Kapitals unter Ausschluss des Bezugsrechts nicht erforderlich.256 Der Vorstand muss bei seiner Entscheidung beurteilen, ob der Bezugsrechtsausschluss im Gesellschaftsinteresse geeignet, erforderlich und angemessen ist. Im Vorfeld einer Übernahmesituation gelten hier keine Besonderheiten, sieht man von Ausnahmefällen ab, in denen sich eine Umgehung von § 33 WpÜG aufdrängt; Beispiel wäre die Ausübung genehmigten Kapitals kurz bevor ein Bieter sein Angebot nach § 10 WpÜG veröffentlicht.
13.183
Nach diesem Zeitpunkt stellt die Ausgabe von neuen Aktien (erst recht unter Ausschluss des 13.184 Bezugsrechts) jedoch eine grundsätzlich unzulässige Verhinderungsmaßnahme dar (§ 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG), es sei denn, sie wirkt sich nur geringfügig auf die Kapitalstruktur aus.257 Die Grenze dürfte nach der gesetzlichen Wertung des § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG bei 10 % des Grundkapitals liegen. Allerdings kann auch schon eine geringere Beteiligung die Übernahme verhindern, wenn nämlich der Bieter, etwa um einen Squeeze-out durchführen zu können, eine hohe Beteiligung an der Zielgesellschaft anstrebt.258 Auch in solchen Fällen dürfte daher die Ausnutzung genehmigten Kapitals nur unter den Ausnahmetatbeständen des § 33 Abs. 1 Satz 2 (oder Abs. 2) WpÜG möglich sein. Das kann einerseits der Fall sein, wenn die Kapitalmaßnahme Umsetzung einer bereits vor 13.185 dem Übernahmeangebot eingeschlagenen Unternehmensstrategie ist (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 WpÜG). Dies dürfte eher zufällig vorkommen, wenn die Kapitalmaßnahme sowieso 254 BGH v. 23.6.1997 – II ZR 132/93, BGHZ 136, 133 (138) = ZIP 1997, 1499 = AG 1997, 465; Hüffer/Koch, § 203 AktG Rz. 11, 26. Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht müssen allerdings bei Einsatz des genehmigten Kapitals für Abwehrzwecke zusätzlich die Voraussetzungen des § 33 Abs. 2 WpÜG erfüllt sein (Sperrwirkung des § 33 Abs. 2 WpÜG). Das heißt, die Abwehr von Übernahmen muss ausdrücklich im Beschluss der Hauptversammlung als (möglicher) Einsatzzweck des genehmigten Kapitals genannt werden und das genehmigte Kapital dürfte insoweit nur eine Laufzeit von 18 Monaten haben, s. Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 117 ff. 255 Hüffer/Koch, § 203 AktG Rz. 11, 35. 256 Dies ist nicht unstreitig, s. Hüffer/Koch, § 203 AktG Rz. 36 f. m.w.N. 257 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 57; Schlitt in MünchKomm/AktG, § 33 WpÜG Rz. 87; Grunewald in Baums/Thoma, § 33 WpÜG Rz. 30. 258 Grunewald in Baums/Thoma, § 33 WpÜG Rz. 30.
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Kap. 13 Rz. 13.186
Börsennotierte Unternehmen
schon für einen Zeitraum geplant war, in den dann das Übernahmeangebot fällt; dies muss der Vorstand dokumentieren können.
13.186 Ferner ist es denkbar, dass die Kapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss der Aufnahme eines „White Knight“ als Gesellschafter dient. Wird dadurch (wie regelmäßig) das Angebot des ursprünglichen Bieters vereitelt, kann der Bezugsrechtsausschluss zugunsten des „White Knight“ jedoch nicht unter den Ausnahmetatbestand des § 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 WpÜG (Suche nach einem konkurrierenden Angebot) subsumiert werden und zwar selbst dann nicht, wenn der „White Knight“ im Zusammenhang mit dem Beteiligungserwerb ebenfalls ein Übernahmeangebot abgibt; denn es ist Sache der Aktionäre und nicht des Vorstands, zwischen mehreren Angeboten zu wählen. Problematisch ist dagegen die Suche nach einem Aktionär, der zu Verteidigungszwecken lediglich eine Sperrminorität aufbaut.259 Auf der anderen Seite nutzen aktivistische Investoren solche Mittel, um einen höheren Angebotspreis zu erreichen (sog. Übernahme-Arbitrage)260.
13.187 Weiter bleibt die Zustimmung des Aufsichtsrats als Ausnahmetatbestand (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 WpÜG); dies ist insofern unproblematisch als der Aufsichtsrat dem Ausschluss des Bezugsrechts sowie den Bedingungen der Aktienausgabe ohnehin nach Aktienrecht zustimmen muss (§ 204 Abs. 1 Satz 2 AktG). Materiell darf allerdings eine Abwehrmaßnahme nur auf § 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 WpÜG gestützt werden, wenn ein dringendes Unternehmensinteresse besteht und dieses Unternehmensinteresse das Interesse der Aktionäre an einer ungestörten Veräußerung ihres Aktienbesitzes eindeutig überwiegt (s. hierzu Rz. 13.161). Dieses wird man im Zusammenhang mit einem Bezugsrechtsausschluss wiederum nur in Extremfällen annehmen können. Teilweise wird hier die bei Übernahme drohende Vernichtung oder Zerschlagung der Gesellschaft genannt; keinesfalls reicht eine bloße „Überfremdung“.261
13.188 Eine Autorisierung der Ausnutzung des genehmigten Kapitals durch eine Abwehr-Hauptversammlung ist schließlich wegen des Anfechtungsrisikos in der Praxis wenig ratsam.
13.189 Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Ausnutzung genehmigten Kapitals während einer Übernahme, insbesondere zusammen mit einem Bezugsrechtsausschluss, erhebliche Rechtsprobleme aufwirft und angesichts des Haftungsrisikos nur (wenn überhaupt) nach sorgfältiger, gut dokumentierter und mit externem Rat untermauerter Prüfung erfolgen sollte. c) Erwerb oder Veräußerung eigener Aktien
13.190 Ein anderes Abwehrinstrument kann der Erwerb oder die Veräußerung eigener Aktien durch die Zielgesellschaft sein.262 In normalen Marktsituationen steigt der Aktienkurs aufgrund der Angebotsverknappung beim Rückerwerb eigener Aktien. Dadurch kann die Übernahme verteuert werden. Andererseits kann die Gesellschaft das Stimmrecht aus eigenen Aktien nicht ausüben (§ 71b AktG). Gleichzeitig verringert sich die Zahl der umlaufenden Aktien, so dass ein Rückerwerb eigener Aktien einen Kontrollerwerb sogar erleichtern kann, wenn die Kurs259 Bei dem gescheiterten feindlichen Übernahmeversuch von K+S durch Potash wurde der Erwerb einer Sperrminorität durch die staatlich kontrollierte KfW diskutiert, dazu kritisch Gaul, AG 2016, 484 (486 f.). 260 Bekannt ist dafür insbesondere der Hedge Fund Elliott Associates des Investors Paul Singer (Kabel Deutschland, Celesio, Uniper); s. dazu Kocher, DB 2016, 2887 ff. 261 Hüffer/Koch, § 186 AktG Rz. 32 m.w.N. 262 Grunewald in Baums/Thoma, § 33 WpÜG Rz. 33; Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/ Uwe H. Schneider, § 33 WpÜG Rz. 286.
1152
Müller-Michaels
D. Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft
Rz. 13.193 Kap. 13
steigerung nicht entsprechend hoch ausfällt. Darüber hinaus beschränkt § 71 Abs. 2 Satz 1 AktG den Rückerwerb auf höchstens 10 % des Grundkapitals und lässt diesen nur in den in der Vorschrift explizit genannten Fällen zu. Insgesamt eignet sich daher der Rückerwerb eigener Aktien in Deutschland kaum als Abwehrmaßnahme gegen feindliche Übernahmen. Effektiver kann (eine entsprechende Ermächtigung der Hauptversammlung nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5 AktG vorausgesetzt) die Veräußerung der eigenen Aktien durch die Gesellschaft an einen strategischen Partner sein. Eine solche Maßnahme wirkt (wenn auch auf eine Beteiligung von höchstens 10 % beschränkt) ähnlich wie die Ausnutzung genehmigten Kapitals unter Ausschluss des Bezugsrechts und unterliegt daher den gleichen Schranken (s. hierzu Rz. 13.181). Damit unterfällt sie während eines Übernahmeangebots dem Verhinderungsverbot des § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG, kann also nur ausnahmsweise gerechtfertigt sein.
13.191
d) Ausgabe von Wandel- oder Optionsanleihen Auch die Ausgabe von Wandel- und Optionsanleihen nach § 221 Abs. 1 AktG kann vorbeugend dazu genutzt werden, Übernahmen zu erschweren. Einerseits kann (die Ausübung des Wandel- oder Optionsrechts vorausgesetzt) der Vorstand dadurch eine zeitversetzte Erhöhung des Grundkapitals erreichen. Sind die Anleihen unter Ausschluss des Bezugsrechts bei einem strategischen Partner platziert, kann dies einen potentiellen Bieter abschrecken, da er fürchten muss, bei Ausübung des Wandel- oder Optionsrechts einen feindlichen Mitgesellschafter zu erhalten. Andererseits können Wandel- oder Optionsanleihe so ausgestaltet werden, dass diese im Falle eines Kontrollwechsels oder eines Übernahmeangebots sofort fällig werden; dadurch geriete die Zielgesellschaft möglicherweise in Liquiditätsschwierigkeiten. Der Bieter wird bei einer solchen Konstruktion letztlich dazu gezwungen, das Angebot auf die Wandelanleihen zu erstrecken.263 Damit wird der Preis für eine erfolgreiche Übernahme erhöht. Dies wurde etwa bei der (freundlichen) Übernahme der Celesio AG durch die McKesson Corporation im Jahr 2013/2014 relevant.264
13.192
e) IPO von Tochtergesellschaften Ein weiteres Mittel, um den Preis für eine Übernahme zu erhöhen, ist der Börsengang von 13.193 Tochtergesellschaften („Equity Carve-Out“). Erwirbt der Bieter die Kontrolle über die Muttergesellschaft und wird diese zu einem Tochterunternehmen des Bieters i.S.d. § 2 Abs. 6 WpÜG (Definition des § 290 HGB oder beherrschender Einfluss), dann erwirbt der Bieter mittelbar die Kontrolle über alle Beteiligungen der Zielgesellschaft, an denen diese mindestens 30 % der Stimmrechte hält (§§ 30 Abs. 1 Nr. 1, 29 Abs. 2 WpÜG). Ist eine von diesen Tochtergesellschaften börsennotiert, muss der Bieter zusätzlich zu dem Übernahmeangebot an die Aktionäre der Zielgesellschaft auch ein Pflichtangebot an die Aktionäre dieser börsennotierten Tochtergesellschaft abgeben. Hat die Tochtergesellschaft eine hohe Börsenbewertung, kann dies eine Übernahme der Muttergesellschaft finanziell unattraktiv machen. Im Rahmen des Geschäftsleiterermessens des Vorstands ist ein Equity Carve-Out als präventive Abwehrmaßnahme möglich. Während eines Angebots kommt die Börsennotierung einer Tochtergesellschaft schon aus Zeitgründen nicht in Betracht. 263 Brandi in Angerer/Geibel/Süßmann, § 33 WpÜG Rz. 68. 264 Der BGH hat McKesson zusätzlich verpflichtet, allen Aktionären, die das Angebot angenommen hatten, die Differenz zum höheren Preis, den McKesson an Elliott für die Wandelanleihen gezahlt hatte, nachzuzahlen, BGH v. 7.11.2017 – II ZR 37/16, AG 2018, 105 = NZG 2018, 106 ff., s. hierzu Rz. 13.52.
Müller-Michaels 1153
Kap. 13 Rz. 13.194
Börsennotierte Unternehmen
f) Senkung der Attraktivität der Zielgesellschaft für den Bieter
13.194 Denkbar ist es, zur Abwehr einer feindlichen Übernahme wertvolle Tochtergesellschaften oder Unternehmensteile zu veräußern, insbesondere solche, die für den Bieter aufgrund seiner Ausrichtung besonders interessant sind. Eine solche Veräußerung von „Crown Juwels“ ist für den Vorstand jedoch im Hinblick auf seine Verhaltenspflichten besonders kritisch, da hier ein Unternehmensinteresse schwer darzulegen sein wird. Denn der Vorstand nimmt nicht nur den Aktionären die Möglichkeit, ihre Aktien zu veräußern, sondern nimmt darüber hinaus dem Unternehmen einen wertvollen Betriebsteil. Dies kann nur ausnahmsweise gerechtfertigt sein, wenn die Transaktion Teil einer schon vor dem Bekanntwerden des Übernahmeangebots eingeschlagenen Strategie ist (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 WpÜG) und der Preis nachweisbar marktgerecht ist. Greift diese Ausnahme nicht, dürfte es noch schwieriger sein, ein dringendes Unternehmensinteresse an einer Veräußerung zu begründen, das Grundlage einer Zustimmung des Aufsichtsrats nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 WpÜG sein könnte. In jedem Fall muss der Vorstand bei einer Veräußerung von „Kronjuwelen“ während eines Übernahmeverfahrens mit Haftungsklagen von Aktionären rechnen, so dass eine juristische Beratung dringend anzuraten ist.
13.195 Es sind jedoch im Vorfeld von Übernahmeangeboten strategische Maßnahmen möglich, die weniger stark in das Unternehmen eingreifen, gleichzeitig aber eine Übernahme ebenfalls unattraktiv machen können. Anstatt eines Verkaufs könnte eine wesentliche Beteiligung in ein Joint Venture mit einem strategischen Partner eingebracht werden. Dabei könnte beiden Partnern im Falle eines Kontrollwechsels des jeweils anderen Partners eine Kaufoption auf den Anteil dieses Partners eingeräumt werden. Eine solche Konstruktion kann durchaus im Unternehmensinteresse liegen. Man ist allerdings bei wichtigen Entscheidungen auf den anderen Partner angewiesen, was bei Spannungen zu Problemen für das Joint Venture führen kann. Zu berücksichtigen ist weiter, dass allein zur Preisbestimmung und Festlegung von Details für die Kaufoption ein vollständiger Unternehmenskaufvertrag verhandelt und unterzeichnet werden muss. In jedem Fall ist die Eingehung eines solchen Joint Ventures während eines laufenden Angebots grundsätzlich ebenfalls als Verhinderungsmaßnahme anzusehen, die nur nach den Ausnahmevorschriften des § 33 Abs. 1 Satz 2 (oder Abs. 2) WpÜG möglich ist.
13.196 Neben dem Joint-Venture-Modell können auch Änderungen im Produktportfolio, Änderungen des Vertriebs oder andere organisatorische Maßnahmen die Attraktivität der Zielgesellschaft zumindest für bestimmte strategische Interessenten senken. Handelt es sich dagegen um Finanzinvestoren, erschwert die Reduktion des Kassenbestands (etwa durch Erwerb eines Unternehmens) deren Refinanzierung. Allerdings können auch solche Maßnahmen, wenn sie erst während eines Übernahmeangebots erfolgen, unter das Verhinderungsverbot des § 33 Abs. 1 WpÜG fallen.
13.197 Schließlich können auch langfristige vertragliche Bindungen mit strategischen Partnern eine Übernahme erschweren. Einerseits in dem Sinne, dass der Bieter ein Interesse daran hätte, diese Vertragsbeziehungen (etwa Lieferverträge) zu beendigen, dies aber aufgrund der Langfristigkeit nicht kann; andererseits in dem Sinne, dass diese Verträge eine Kündigungsmöglichkeit bei einem Kontrollwechsel enthalten und so der Bieter von wichtigen Lieferanten oder Kundenbeziehungen abgeschnitten wird. Allerdings dürfte die (nachträgliche) Vereinbarung einer „change-of-control“-Klausel in einem wichtigen Vertrag während eines Übernahme-
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Müller-Michaels
D. Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft
Rz. 13.200 Kap. 13
angebots wiederum ein Fall für das Verhinderungsverbot des § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG sein.265 g) Erschwerung des Kontrollerwerbs durch Veräußerungsbeschränkungen Die Abwehr von feindlichen Übernahmen kann konzeptionell auch dadurch erfolgen, dass die Veräußerung von Aktien durch die Aktionäre an die Zustimmung der Gesellschaft (und damit des Vorstands) gebunden wird. Ein Kontrollerwerb ist dann gegen den Willen des Vorstands nicht möglich. Eine solche Zustimmungsbindung kann rechtlich entweder durch eine Aufnahme des Zustimmungserfordernisses in die Satzung (Vinkulierung) oder durch eine vertragliche Vereinbarung zwischen der Gesellschaft und einzelnen Aktionären erreicht werden. Schließlich kommen auch Vereinbarungen zwischen Aktionären, die die Veräußerung beschränken, in Betracht; dies kann ein wirksames Abwehrmittel sein, wenn es sich zumindest bei einem dieser Aktionäre um einen strategischen Partner (des Vorstands) handelt.
13.198
aa) Vinkulierung Die Vinkulierung ist in § 68 Abs. 2 AktG geregelt und führt zu einer dinglichen Veräuße- 13.199 rungsbeschränkung, das heißt ein Erwerb von Aktien ohne Zustimmung der Gesellschaft ist nicht wirksam. Möglich ist die Vinkulierung nur bei Namensaktien, nicht aber bei Inhaberaktien.266 Ferner ist eine nachträgliche Vinkulierung bei börsennotierten Gesellschaften praktisch unmöglich, da sie der Zustimmung aller Aktionäre bedarf (§ 180 Abs. 2 AktG). Eine bestehende Vinkulierung kann allerdings in einem konkreten Übernahmeverfahren als Abwehrmittel eingesetzt werden, indem der Vorstand die Zustimmung zum Erwerb der Aktien durch den Bieter verweigert. Eine solche Verweigerung ist an § 33 Abs. 1 WpÜG zu messen. Durch die Verweigerung der Zustimmung wird das Angebot vereitelt und die Aktionäre werden an der Veräußerung ihrer Aktien gehindert. Folglich verstößt sie gegen das Verhinderungsverbot und kann nur in einem der Ausnahmefälle des § 33 Abs. 1 Satz 2 WpÜG gerechtfertigt sein.267 Dabei kommt alleine die Zustimmung des Aufsichtsrats (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 WpÜG) in Betracht. Diese darf nur beantragt oder erteilt werden, wenn ein dringendes Unternehmensinteresse besteht und dieses Unternehmensinteresse das Interesse der Aktionäre an einer ungestörten Veräußerung ihres Aktienbesitzes eindeutig überwiegt. Ähnlich wie beim Bezugsrechtsausschluss ist dies nur in Extremfällen denkbar, etwa wenn konkrete Hinweise auf eine vorwerfbare Schädigungsabsicht des Bieters vorliegen – wofür eine reine Zerschlagungs- und „Versilberungsabsicht“ aber wiederum nicht ausreicht. Sofern die Satzung der Zielgesellschaft nach § 33b WpÜG (Europäische Durchbrechungsregel) vorsieht, dass satzungsmäßige, zwischen der Zielgesellschaft und den Aktionären oder zwischen Aktionären vereinbarte Übertragungsbeschränkungen von Aktien nicht gegenüber dem Bieter gelten, entfaltet eine Vinkulierung der Aktien gegenüber dem Bieter keine Wirkung (s. hierzu Rz. 13.176).
265 Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 59; Schlitt in MünchKomm/AktG, § 33 WpÜG Rz. 117; Grunewald in Baums/Thoma, § 33 WpÜG Rz. 48. 266 Hüffer/Koch, § 68 AktG Rz. 10. 267 Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 59 m.w.N. in Fn. 146.
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13.200
Kap. 13 Rz. 13.201
Börsennotierte Unternehmen
bb) Vereinbarungen zwischen Gesellschaft und Aktionären oder zwischen Aktionären
13.201 Außer durch Vinkulierung der Aktien kann die Übertragbarkeit von Aktien durch schuldrechtliche Vereinbarungen (Andienungspflichten, Verfügungsbeschränkungen sowie Vorkaufsrechte) beschränkt werden. Solche schuldrechtlichen Vereinbarungen (Lock-up oder No-Tender Agreements) zwischen der Gesellschaft und einzelnen Aktionären sind während eines laufenden Angebots unzulässig, da sie wie ein Annahmeverbot wirken.268 Befinden sich die Aktien einer Zielgesellschaft überwiegend im Streubesitz, dürfte es darüber hinaus schwer sein, mit einer relevanten Anzahl von Aktionären schuldrechtliche Übertragungshindernisse zu vereinbaren. Vereinbarungen zwischen Aktionären oder vor einem Angebot können dagegen nicht gegen § 33 WpÜG verstoßen, da nur Handlungen des Vorstands nach Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots erfasst werden. h) Erschwerung des Kontrollerwerbs durch Stimmrechtsbeschränkungen
13.202 Der Erwerb der Kontrolle kann präventiv auch durch Stimmrechtsbeschränkungen der Aktien der Zielgesellschaft erschwert werden. Die Einräumung von Höchststimmrechten ist bei börsennotierten Gesellschaften nicht mehr möglich, bestehende Höchststimmrechte sind zum 1.6.2000 erloschen (§ 5 Abs. 6 EGAktG). Mehrfachstimmrechte sind generell unzulässig (§ 12 Abs. 2 AktG) und bestehende Mehrfachstimmrechte sind grundsätzlich zum 1.6.2003 erloschen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 EGAktG). Eine Beschränkung des Stimmrechts ist bei Aktien gesellschaftsrechtlich also nur noch durch die Ausgabe stimmrechtsloser Vorzugsaktien möglich (§ 12 Abs. 1 Satz 2 AktG). Stimmrechtslose Vorzugsaktien dürfen gem. § 139 Abs. 2 AktG die Hälfte des Grundkapitals ausmachen. Werden nur Vorzugsaktien an der Börse gehandelt, während die stimmrechtsvermittelnden Stammaktien bei zuverlässigen Investoren platziert werden, ist eine Übernahme faktisch ausgeschlossen. Allerdings wird sich diese Tatsache regelmäßig in einer niedrigeren Börsenbewertung niederschlagen. Bei Kapitalbedarf ist schließlich auch daran zu denken, anstelle von Aktien Genussscheine auszugeben; Genussscheine vermitteln keine Verwaltungs- oder Stimmrechte.
13.203 Neben gesetzlichen oder satzungsmäßigen Beschränkungen der Stimmrechtsmacht besteht auch die Möglichkeit, schuldrechtliche Stimmbindungsverträge zu vereinbaren. Allerdings ist der Abschluss solcher Stimmbindungsverträge ordnungswidrig, wenn mit einem Aktieninhaber besondere Vorteile als Gegenleistung für ein bestimmtes Stimmverhalten in der Hauptversammlung vereinbart werden (§ 405 Abs. 3 Nr. 6 und 7 AktG). i) Erschwerung der Neubesetzung von Aufsichtsrat und Vorstand
13.204 Die kurzfristige Neubesetzung von Aufsichtsrat und Vorstand gegen ihren Willen ist nach den in Deutschland geltenden Bestimmungen schwierig. Der Aufsichtsrat ist aufgrund des MitbestG regelmäßig zur Hälfte mit Vertretern der Arbeitnehmer besetzt. Diese Mitglieder kann der Bieter nicht ersetzen. Für eine vorzeitige Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder der Aktionäre muss eine Hauptversammlung einberufen werden (§ 103 Abs. 1 Satz 1 AktG), die dann mit einer qualifizierten Mehrheit von 75 % der abgegebenen Stimmen die Abberufung beschließen muss (§ 103 Abs. 1 Satz 2 AktG). Der Aufsichtsrat wiederum kann die Bestellung eines Mitglieds des Vorstands nur vorzeitig widerrufen, wenn in der Person dieses Vorstandsmitglieds ein wichtiger Grund vorliegt (§ 84 Abs. 3 Satz 1 AktG). Ein solcher 268 Kiefner/Happ, ZIP 2015, 1811 (1814 f.).
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Müller-Michaels
D. Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft
Rz. 13.208 Kap. 13
Grund ist nach § 84 Abs. 3 Satz 2 AktG namentlich eine grobe Pflichtverletzung, die Unfähigkeit zur ordnungsmäßigen Geschäftsführung oder ein Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung (Beschluss mit einfacher Mehrheit), es sei denn, dass das Vertrauen aus offensichtlich unsachlichen Gründen entzogen worden ist; ein Kontrollwechsel stellt keinen offensichtlich unsachlichen Grund dar, so dass bei entsprechendem Beschluss der Hauptversammlung und Mehrheit im Aufsichtsrat der Vorstand abberufen werden kann.269 Insgesamt stellen schon diese gesetzlichen Vorschriften ein nicht unerhebliches Übernahmehindernis dar. Darüber hinaus sind noch weitergehende Gestaltungen zulässig, die eine feindliche Übernahme zusätzlich erschweren.
13.205
So können die Amtszeiten der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder gestaffelt werden270 (sog. 13.206 Staggered Board). Dadurch kann man erreichen, dass die ordentliche Bestelldauer einzelner Aufsichtsratsmitglieder zu jedem Zeitpunkt drei bis fünf Jahre beträgt. Damit ist es für einen Bieter unmöglich, einen Zeitpunkt für seinen Übernahmeversuch zu finden, an dem die reguläre Amtszeit aller Mitglieder ausläuft.271 Ferner kann bestimmten Aktionären oder den Inhabern bestimmter Aktien in der Satzung ein Recht zur Entsendung von Mitgliedern in den Aufsichtsrat eingeräumt werden (§ 101 Abs. 2 AktG). Die Anzahl der durch Entsendung besetzten Mandate darf aber ein Drittel der Aufsichtsratsmitglieder nicht überschreiten (§ 101 Abs. 2 Satz 4 AktG). Schließlich kann nach §§ 103 Abs. 1 Satz 3, 133 Abs. 2 AktG in der Satzung vorgesehen werden, dass für Wahlen zum Aufsichtsrat nicht der Grundsatz der einfachen Stimmenmehrheit, sondern schärfere oder auch mildere Anforderungen gelten sollen. Damit können die Anforderungen an den Austausch von Aufsichtsratsmitgliedern weiter erhöht werden. Zugleich erhöht sich damit die Schwelle, die eine Erwerbergesellschaft zum Erreichen einer einflussreichen Position überschreiten muss. Wie beim Aufsichtsrat können auch die Amtszeiten der Mitglieder des Vorstands gestaffelt werden. Ist die Zahl der Vorstandsmitglieder allerdings nach der Satzung nicht begrenzt, kann ein neuer Aktionär Vorstandsmitglieder bestellen und so die Mehrheitsverhältnisse im Vorstand ändern. Fraglich ist aber, ob ein derart gespaltener Vorstand, der in Gesamtverantwortung für das Unternehmen wichtige Entscheidungen zu treffen hat, seine Geschäftsleitungsaufgabe überhaupt wahrnehmen kann.272
13.207
Es ist ferner denkbar, mit den Vorstandsmitgliedern die Zahlung hoher Abfindungen für 13.208 den Fall eines Ausscheidens nach einem erfolgreichen Übernahmeangebot zu vereinbaren (sog. Golden Parachutes), um dem Erwerber so die Übernahme zu erschweren. Allerdings wird diese Maßnahme allein kaum ein geeignetes Abwehrmittel273 darstellen, da die Abfindung im Verhältnis zum Gesamtpreis in der Regel nicht wesentlich ins Gewicht fallen dürfte. Zudem könnten Verwaltungsmitglieder hierdurch sogar dazu motiviert werden, aus eigennützigen Erwägungen gegen das Wohl der Gesellschaft zum Gelingen der Übernahme beizutragen. Schließlich muss sich eine solche Abfindung an § 87 Abs. 1 AktG messen lassen, also unter Betrachtung der Gesamtbezüge des einzelnen Vorstandsmitglieds in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesell269 S. dazu Hölters/Weber, § 84 AktG Rz. 69 ff.; Seibt in Schmidt/Lutter, § 84 AktG Rz. 50 f. 270 Dabei ist lediglich zu beachten, dass die Rechtsstellung aller Aufsichtsratsmitglieder gleichwertig sein muss. Dagegen kann die Amtszeit ohne weiteres variieren, BGH v. 15.12.1986 – II ZR 18/86, BGHZ 99, 211 = MDR 1987, 384 (215) = NJW 1987, 902 = AG 1987, 152. 271 Grunewald in Baums/Thoma, § 33 WpÜG Rz. 45. 272 Vgl. Hölters/Weber, § 77 AktG Rz. 9 ff. 273 Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Uwe H. Schneider, § 33 WpÜG Rz. 280.
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Kap. 13 Rz. 13.209
Börsennotierte Unternehmen
schaft stehen.274 Das Mannesmann-Verfahren (s. hierzu Rz. 13.151 f.) hat gezeigt, dass diese Vorschrift kein „zahnloser Tiger“ ist. Ein gravierender Verstoß kann über den Untreuetatbestand (§ 266 StGB) sogar strafrechtliche Relevanz für die Mitglieder des Aufsichtsrats haben, die über die Abfindung entscheiden. j) Ausnutzung regulatorischer Beschränkungen
13.209 Ein Kontrollerwerb durch den Bieter kann auch an regulatorischen Beschränkungen scheitern. Zu denken ist hier zunächst an das Kartellrecht, das bei grundsätzlich jeder Transaktion, bei der ein Kontrollwechsel stattfindet, zu beachten ist; s. dazu Teil 6. Dabei kann ein Hinweis an die zuständigen Kartellbehörden im Rahmen eines laufenden Verfahrens über bestimmte kartellrechtliche Probleme (z.B. Entstehen von marktbeherrschenden Positionen) durch den Vorstand der Zielgesellschaft keine Verhinderungshandlung i.S.d. § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG sein. Das ist anders, wenn die Zielgesellschaft nach Bekanntwerden eines Übernahmeangebots ein mit dem Bieter konkurrierendes Unternehmen kauft und dadurch erst kartellrechtliche Schwierigkeiten schafft.275 Eine solche Maßnahme ist nur nach den Ausnahmevorschriften des § 33 Abs. 1 Satz 2 (oder Abs. 2) WpÜG zulässig, also insbesondere dann, wenn der Vorstand dokumentieren kann, dass er dieses Unternehmen zu diesem Zeitpunkt im Rahmen seiner Unternehmensstrategie auch erworben hätte, wenn kein Übernahmeangebot abgegeben worden wäre (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 WpÜG).
13.210 Neben dem Kartellrecht können weitere regulatorische Beschränkungen für den Erwerb der Zielgesellschaft oder einer ihrer Tochtergesellschaften gelten. So kann etwa die BaFin als zuständige Aufsichtsbehörde den Erwerb einer bedeutenden Beteiligung an einem Kreditinstitut oder Finanzdienstleistungsinstitut nach § 2c Abs. 1b KWG untersagen; als Gründe kommen die Unzuverlässigkeit des Erwerbers oder eine Beeinträchtigung der wirksamen Aufsicht (insbesondere, wenn der Erwerber in einem Staat seinen Sitz hat, in dem keine wirksame Aufsicht besteht) in Betracht. Andere oft regulierte Branchen sind etwa Versicherungen, Luftfahrt, Rüstung, Energie, Rohstoffe, Logistik und Schlüsseltechnologien. Von zunehmender Bedeutung ist das Verfahren nach dem AWG/AWVO276, das deutsche sicherheitsrelevante Unternehmen vor ausländischer Einflussnahme schützen soll.277 Daneben sind auch entsprechende ausländische Vorschriften zu beachten, etwas Genehmigungsvorbehalte nach dem USDefense Production Act (CIFIUS-Verfahren)278; s. hierzu oben Rz. 13.58. Der Vorstand sollte die für seinen Konzern geltenden regulatorischen Beschränkungen für Kontrollwechsel also möglichst schon im Vorfeld einer Übernahme systematisch erfassen und auswerten. k) Gegenangebot („Pac Man“)
13.211 Aus dem anglo-amerikanischen Rechtsraum stammt ein weiteres Verteidigungsinstrument, nämlich die als „Pac Man“-Strategie bezeichnete Abgabe eines Gegenangebots an die Aktionäre des Bieters oder seiner Obergesellschaft. Das Ziel ist dabei, die Kontrolle über den Bieter zu erlangen. Nach deutschem Recht kann ein Kontrollerwerb durch den Bieter jedoch 274 275 276 277
Zu der Angemessenheit der Bezüge Hölters/Weber, § 87 AktG Rz. 16 ff. So Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 58; Grunewald in Baums/Thoma, § 33 WpÜG Rz. 43. S. hierzu eingehend Kap. 18 Rz. 18.244 ff. So wurde die zunächst erteilte Unbedenklichkeitsbescheinigung nach § 58 Abs. 1 AWV bei der gescheiterten Übernahme von Aixtron durch die chinesische Grand Chip Investment widerrufen; s. hierzu oben Rz. 13.58; Hasselbach/Peters, BB 2017, 1347 (1348 f.). 278 Hasselbach/Peters, BB 2017, 1347 (1348 f.).
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Müller-Michaels
D. Verhaltenspflichten der Organe der Zielgesellschaft
Rz. 13.215 Kap. 13
schon verhindert werden, wenn die Zielgesellschaft eine Beteiligung von über 25 % am Bieter erwirbt. Erreicht dann der Bieter ebenfalls eine Beteiligung an der Zielgesellschaft, die 25 % überschreitet, gelten beide Gesellschaften als wechselseitig beteiligt (§ 19 Abs. 1 AktG). Rechtsfolge einer solchen wechselseitigen Beteiligung ist die Beschränkung der Stimmrechte auf 25 % (§ 328 Abs. 1 Satz 1 AktG). Das heißt, selbst wenn der Bieter durch sein Angebot 90 % der Aktien einsammelt, ist seine Stimmrechtsmacht auf 25 % beschränkt, wenn er nicht der Zielgesellschaft seine Beteiligung zuerst gemeldet hat (§ 328 Abs. 2 AktG). Diese Aussicht dürfte den Bieter von einer Übernahme abhalten. Daher wird man die Abgabe eines Übernahmeangebots an die Aktionäre des Bieters nach Bekanntwerden von dessen Angebot auch als Verhinderungshandlung einstufen müssen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG).279 Auch hier gilt also wieder: Die „Pac Man“-Strategie ist unzulässig; nur wenn das Angebot auf die Bietergesellschaft unabhängig von deren Angebot auf die Zielgesellschaft geplant war, kann § 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 WpÜG ein Gegenangebot rechtfertigen. Die übrigen Ausnahmen vom Verhinderungsverbot dürften ausscheiden; insbesondere wird man kaum ein dringendes Unternehmensinteresse, das eine Zustimmung des Aufsichtsrats (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 WpÜG) möglich machen würde, darlegen können. l) Werbemaßnahmen Grundsätzlich ist Werbung im Zusammenhang mit öffentlichen Angeboten zulässig (arg ex § 28 WpÜG). Bezüglich der Werbemethoden gibt das Gesetz keine Einschränkung vor, so dass grundsätzlich alle Arten von Werbemethoden gestattet sind. Zu beachten sind allerdings auch bei Roadshows oder Analystentreffen die Regeln des Insiderrechts (Art. 14 ff. Marktmissbrauchsverordnung).
13.212
Die Vorstände haben bei Werbemaßnahmen die Interessen der Unternehmen zu wahren. Be- 13.213 stimmte Arten der Werbung können von der BaFin nach § 28 Abs. 1 WpÜG untersagt werden, um Missständen vorzubeugen. Vor allem unzulässige Werbemethoden, unwahre Werbeaussagen, irreführende Analysen und Prognosen sowie unsachliche Äußerungen können untersagt werden. m) Offenlegung von Übernahmehindernissen Zur Gewährleistung möglichst großer Transparenz sah die Übernahmerichtlinie eine Reihe von erweiterten Informationspflichten für Zielgesellschaften vor. Hierfür gab es kein Opting-out. Der deutsche Gesetzgeber hat die Vorgaben in den Vorschriften des HGB zum Lagebericht umgesetzt (§§ 289 Abs. 2 Nr. 4, 315 Abs. 2 Nr. 4 HGB). Der Lagebericht hat danach u.a. zu enthalten Angaben zur Zusammensetzung des gezeichneten Kapitals, zu Stimmrechtsund Übertragungsbeschränkungen (sofern sie dem Vorstand bekannt sind), zu direkter und indirekter Beteiligung am Kapital von mehr als 10 % der Stimmrechte, zu wesentlichen Vereinbarungen der Gesellschaft, die unter der Bedingung eines Kontrollwechsels in Folge eines Übernahmeangebots stehen, sowie zu den sog. Golden Parachutes.
13.214
Diese Anforderungen wird die Gesellschaft nur erfüllen können, wenn der Vorstand im Sinne einer internen Due Diligence die genannten Punkte möglicherweise unter Hinzuziehung externer Berater systematisch erfasst und laufend aktualisiert.
13.215
279 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/7034, 58.
Müller-Michaels 1159
Kap. 13 Rz. 13.216
Börsennotierte Unternehmen
13.216 Die Pflicht des Bieters zur Mitteilung der Entscheidung über die Abgabe eines Angebots besteht auch gegenüber dem Betriebsrat bzw. Arbeitnehmern des Bieters, § 10 Abs. 5 Satz 2 WpÜG. Für die Angebotsunterlage gilt gem. § 14 Abs. 4 Satz 3 WpÜG Entsprechendes.
13.217 Die Veröffentlichung über die Abgabe eines Angebotes kann allein im Internet und in einem elektronisch betriebenen Informationsverbreitungssystem erfolgen, § 10 Abs. 3 Satz 1 WpÜG; eine Veröffentlichung in einem Print-Medium ist nicht erforderlich. 6. Rechtsfolgen bei Verstößen gegen Verhaltenspflichten
13.218 Verstößt ein Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats gegen seine Verhaltenspflichten, kann die Gesellschaft nach § 93 Abs. 2 AktG (Vorstand) und nach § 116 Satz 1 AktG (Aufsichtsrat) Schadensersatz verlangen. Gelingt die feindliche Übernahme trotz der Abwehrmaßnahme und hat letztere zu einem Schaden für die Gesellschaft geführt (etwa durch den Verkauf einer wertvollen Beteiligung unter Wert), müssen der (ehemalige) Vorstand und Aufsichtsrat mit einer genauen Prüfung seiner Handlungen durch die nunmehr vom Bieter kontrollierte Gesellschaft rechnen. Wird hingegen die Übernahme durch den Vorstand vereitelt, wird dies Aktionäre, die das Angebot annehmen wollten, dazu motivieren, ihrerseits rechtliche Schritte einzuleiten. Dabei können sie sich auf einige Stimmen in der Literatur berufen, die § 33 WpÜG als Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB ansehen;280 damit könnten die Aktionäre ihren eigenen Vermögensschaden (Differenz zum Angebotspreis) persönlich gegenüber dem Vorstand geltend machen.
13.219 Darüber hinaus ist es auch denkbar, dass Aktionäre nach Bekanntwerden eines Übernahmeangebots auf Unterlassung bestimmter vom Vorstand eingeleiteter Abwehrmaßnahmen klagen. Dies ist umso wahrscheinlicher, als der Bieter zu diesem Zeitpunkt bereits Aktien der Zielgesellschaft halten dürfte. Der Unterlassungsanspruch kann darauf gestützt werden, dass Abwehrmaßnahmen, die nicht unter die Ausnahmetatbestände des § 33 Abs. 1 Satz 2 WpÜG fallen, im Kompetenzbereich der Hauptversammlung liegen (§ 33 Abs. 2 WpÜG).281 Ein verbandsrechtlicher Abwehranspruch gegen Übergriffe in die Zuständigkeit der Hauptversammlung ist seit dem Holzmüller-Urteil des BGH282 grundsätzlich anerkannt.
13.220 Gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 8 i.V.m. Abs. 3 WpÜG kann schließlich demjenigen, der eine Maßnahme entgegen § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG ergreift, ein Bußgeld i.H.v. bis zu 5 Mio. Euro auferlegt werden.
280 Hirte in KölnKomm/WpÜG, § 33 WpÜG Rz. 159 f.; a.A. Schlitt in MünchKomm/AktG, § 33 WpÜG Rz. 248 (kein Schutzgesetz). 281 Schlitt in MünchKomm/AktG, § 33 WpÜG Rz. 238 f. 282 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 = MDR 1982, 554 = ZIP 1982, 568 = AG 1982, 152.
1160
Müller-Michaels
Kapitel 14 Private Equity Stefan Weinheimer und Stefan Renner
Überblick A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14.1
I. Begriff und Reichweite . . . . . . . . . 1. Private Equity-Investition als unternehmerische Entscheidung der Zielgesellschaft . . . . . . . . . . . . . 2. Interessen des Finanzinvestors . . . . a) (Langfristige) Ertragssteigerung b) Nutzung des Eigenkapitals . . . . . 3. Akteure des Private EquityMarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Investoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Private Equity-Gesellschaften . . 4. Finanzierungsarten und -instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Leveraged Buy-Out . . . . . . . . . . . b) Hybride Finanzierungsinstrumente, Mezzanine-Finanzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14.1 14.9 14.13 14.14 14.15 14.17 14.18 14.19 14.23 14.23 14.25
II. Aktuelle Entwicklungen der Private Equity-Praxis . . . . . . . . . . . 14.29 1. Entwicklung der gesetzlichen Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . 14.29 2. Statistische Kennzahlen . . . . . . . . . . 14.33 B. Gesellschaftsrechtliche Schranken der Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . 14.39 I. Rechtsnatur und Inhalt des Beteiligungsvertrages . . . . . . . . . . . 1. Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Form der Beteiligung . . . . . . . . . . . a) Direkte Beteiligung . . . . . . . . . . . b) Indirekte oder verdeckte Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zulässigkeit vor dem Hintergrund einer Verpflichtung zur Kapitalerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . b) GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bezugsrechtsausschluss . . . . . . . . 4. Rechtsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . 5. Preisgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Verwässerungsschutzvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Garantien, Gewährleistung . . . . . . . 8. Covenants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14.39 14.40 14.41 14.42 14.46 14.47 14.48 14.49 14.50 14.54 14.56
II. Beschränkung der Nutzung des Vermögens der Zielgesellschaft bei Leveraged Buy-Outs . . . . . . . . . 1. Fremdkapitalfinanzierung in Form des Leveraged Buy-Outs . . . . . . . . . 2. Strukturelle Probleme der Sicherheitenbestellung durch die Zielgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kapitalschutzregelungen . . . . . . . . . a) Kapitalerhaltungsvorschriften . . aa) Aktiengesellschaft, KGaA . . . bb) GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) GmbH & Co. KG . . . . . . . . . dd) Verstöße durch Financial Assistance . . . . . . . . . . . . . . . b) Existenzvernichtungshaftung . . . 4. Rechtsfolgen von Verstößen gegen den gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14.67 14.67 14.73 14.75 14.76 14.76 14.79 14.83 14.84 14.85 14.90
C. Die Gesellschaftervereinbarung zwischen Investoren und (Alt-)Gesellschaftern . . . . . . . . . . . 14.91 I. Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.91 II. Mitverwaltungsvereinbarungen . . 1. Entsendungsrechte in den Aufsichtsrat und in den Beirat . . . . . . . a) Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . b) GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Informationsrechte . . . . . . . . . . . . . a) Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . b) GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . 3. Zustimmungsklauseln . . . . . . . . . . . 4. Recht zur Bestellung und Abberufung der Geschäftsführung . . . . . . . a) Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . b) GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 1. 2. 3.
Veräußerungsbeschränkungen . . . Vinkulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veräußerungsverbote . . . . . . . . . . . Vorerwerbsrechte . . . . . . . . . . . . . . .
14.93 14.94 14.94 14.96 14.97 14.98 14.99 14.100 14.101 14.105 14.106 14.107 14.108 14.109 14.110 14.111
IV. Bezugsrechte und -pflichten . . . . . 14.112 14.57 14.63 14.66
V. Vesting-Klauseln und Key-ManIssues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.114
Weinheimer/Renner 1161
Kap. 14
Private Equity
VI. Exit-Vereinbarungen . . . . . . . . . . . 14.117
VIII. Sanktionen bei Verstoß . . . . . . . . . 14.123
VII. Liquidationspräferenz . . . . . . . . . . 14.121 Literatur: Achleitner, Start-up-Unternehmen: Bewertung mit der Venture-Capital-Methode, BB 2001, 927; Achleitner/Schraml/Tappeiner, Private Equity in Familienunternehmen – Erfahrungen mit Minderheitsbeteiligungen, Stiftung Familienunternehmen, www.familienunternehmen.de; Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 38. Aufl. 2018; Baums/Möller, U.S.-amerikanisches Modell und deutsches Aktienrecht, in Liber amicorum Buxbaum, 2000, S. 33; Bartlett, Fundamentals of Venture Capital, 1999; Becker, Aktienrechtliches und handelsrechtliches Agio, NZG 2003, 510; Becker, Gesellschaftsrechtliche Probleme der Finanzierung von Leveraged-Buy-Outs, DStR 1998, 1429; Beck’sches M&A Handbuch, 2017; Beisel/Klumpp, Der Unternehmenskauf, 7. Aufl. 2016; Binz/Freudenberg, Die Bilanzgarantie im Unternehmenskaufvertrag, DStR 1991, 1629; Bloß, Managementbeteiligungen bei Private-Equity Transaktionen, GmbHR 2016, 104; Brandi, Gewährleistungen durch die Aktiengesellschaft bei Anteilserwerb durch Kapitalerhöhung, NZG 2004, 600; Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, 2012; Buchwaldt, Bilanz und Beteiligungserwerb, NJW 1994, 153; Drygala/Kremer, Alles neu macht der Mai – Zur Neuregelung der Kapitalerhaltungsvorschriften im Regierungsentwurf zum MoMiG, ZIP 2007, 1289; Eidenmüller, Leveraged Buyouts und die Effizienz des deutschen Restrukturierungsrechts, ZIP 2007, 1729; Eidenmüller, Regulierung von Finanzinvestoren, DStR 2007, 2116; Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, 2012; von Einem/Schmid/Meyer, „Weighted-Average“ – Verwässerungsschutz bei Venture Capital-Beteiligungen, BB 2004, 2702; von Einem/Schmid/Meyer, Verwässerungsschutz für Investoren im Rahmen von Kapitalbeteiligungen, FB 2003, 879; Engert, Solvenzanforderungen als gesetzliche Ausschüttungssperre bei Kapitalgesellschaften, ZHR 170 (2006), 296; Farahbakhsh, Private Equity-Fonds und Secondary-Transaktionen, GWR 2016, 265; Feldhaus/ Veith, Frankfurter Kommentar zu Private Equity, 2009; Fischer, Die Reform des Rechts der Unternehmensbeteiligungsgesellschaften, WM 2008, 857; Fischer/Gasteyer, Grenzen der Sicherheitenbestellung bei der GmbH, NZG 2003, 517; Fock, Gesetz über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften: UBGG, 2005; Freitag, „Financial Assistance“ durch die Aktiengesellschaft nach der Reform der Kapitalrichtlinie – (k)ein Freifahrtschein für LBOs?, AG 2007, 157; Grigoleit, Aktiengesetz, 2013; Haag/Veith, Das MoRakG und seine Auswirkungen für Wagniskapital in Deutschland – oder was von einem PrivateEquity-Gesetz geblieben ist, BB 2008, 1915; Habersack, Die finanzielle Unterstützung des Aktienerwerbs – Überlegungen zu Zweck und Anwendungsbereich des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG, in Festschrift für Röhricht, 2005, S. 155; Hasselbach, Taking Private – aktuelle Themen bei der Übernahme börsennotierter Unternehmen, BB 2015, 1033; Häger/Elkemann-Reusch, Mezzanine Finanzierungsinstrumente, 2. Aufl. 2007; Herrmann, Gutglaubenserwerb und Gesellschafterdarlehen bei Finanzinvestitionen, DZWIR 2009, 265; Hoffmann/Hölzle, Die „liquidation preference“ in VC-Verträgen nach deutschem Recht, FB 2003, 113; Hohaus/Inhester, Rahmenbedingungen von Management-Beteiligungen, DStR 2003, 1765; Hohaus/Weber, Aktuelles zu Managementbeteiligungen in Private Equity Transaktionen 2007/2008, BB 2008, 2358; Hohaus/Weber, Aktuelles zu Managementbeteiligungen in Private Equity Transaktionen 2006/2007, BB 2007, 2582; Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, 15. Aufl. 2017; Hüffer/Koch, Aktiengesetz, 13. Aufl. 2018; Jesch, Private-EquityBeteiligungen, 2004; Jesch/Striegel/Boxberger, Rechtshandbuch Private Equity, 1. Aufl. 2010; Johnen/ Boewe, Die Änderung der Außenwirtschaftsverordnung und deren Relevanz für Unternehmenskäufe, NZG 2017, 1095; Josenhans/Danzmann/Krampe, Die Auswirkungen des EZB-Leitfadens für Leveraged-Transaktionen auf Akquisitionsfinanzierungen, BKR 2017, 265; Kaneyuki, Creative valuation techniques for venture capital fund reporting, FB 2003, 506; Kaserer/Achleitner/von Einem/Schiereck, Private Equity in Deutschland, 2007; Kästle/Heuterkes, Leaver-Klauseln in Verträgen über Management-Beteiligungen im Lichte der neuesten OLG-Rechtsprechung, NZG 2005, 289; Kerber, Eigenkapitalverwandte Finanzierungsinstrumente, 2002; Knapp, Auswirkungen des MoMiG auf Aktiengesellschaften und ihre Organmitglieder, DStR 2008, 2371; Knebel/Schmidt, Gestaltungen zur Eigenkapital-Optimierung vor dem Hintergrund der Finanzkrise, BB 2009, 430; Knof, Die neue Insolvenzverursachungshaftung nach § 64 S. 3 RegE-GmbHG, DStR 2007, 1580; Koblenzer, Management Buy-Out (MBO) und Management Buy-In (MBI) als Instrumente der Unternehmensnachfolgeplanung, ZEV 2002, 350; Koch, Das Kapitalanlagegesetzbuch: Neue Rahmenbedingungen für
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Weinheimer/Renner
Private Equity
Kap. 14
Private-Equity-Fonds – Transparenz, gesellschaftsrechtliche Maßnahmen und Finanzierung, WM 2014, 433; Krolop, Mit dem MoMiG vom Eigenkapitalersatz zu einem insolvenzrechtlichen Haftkapitalerhaltungsrecht, ZIP 2007, 1738; Krolop, Zur Anwendung der MoMiG-Regelungen zu Gesellschafterdarlehen auf gesellschaftsfremde Dritte – Von der Finanzierungsfolgenverantwortung des Gesellschafters zur Risikoübernahmeverantwortung des Risikokapitalgebers?, GmbHR 2009, 397; Leible/Lehmann, Das MoRaKG – ein zeitgemäßes Private-Equity-Gesetz für Deutschland?, NZG 2008, 729; Leible/Lehmann, Hedgefonds und Private Equity – Fluch oder Segen?, 2009; Leuering/Rubner, Die AWG-Novelle: Neuer Rahmen für Unternehmenserwerbe, NJW-Spezial 2009, 175; Loritz/ Uffmann, Der Geltungsbereich des Kapitalanlagegesetzbuches (KAGB) und Investmentformen außerhalb desselben – Erste Überlegungen, auch zum Auslegungsschreiben der BaFin vom 14.6.2013, WM 2013, 2193; Lutter/Hommelhoff, GmbH-Gesetz, 19. Aufl. 2016; Maidl/Kreifels, Beteiligungsverträge und ergänzende Vereinbarungen, NZG 2003, 1091; Martinius/Stubert, Venture-Capital-Verträge und das Verbot der Hinauskündigung, BB 2006, 1977; Mayer, Grenzen von Aktionärsvereinbarungen, MittBayNot 2006, 281; Mellert, Venture Capital Beteiligungsverträge auf dem Prüfstand, NZG 2003, 1096; Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017; Mock, Stille im MoMiG zur stillen Gesellschaft? – Das neue (Eigen-)Kapitalersatzrecht und seine Auswirkungen auf das Recht der stillen Gesellschaft, DStR 2008, 1645; Münchener Anwaltshandbuch Aktienrecht, 2. Aufl. 2010; MünchAnwaltsHdb. Insolvenz und Sanierung, 2. Aufl. 2012; MünchHdb. Gesellschaftsrecht Band 3, 4. Aufl. 2014; Nelle/Klebeck, Der „kleine“ AIFM – Chancen und Risiken der neuen Regulierung für deutsche Fondsmanager, BB 2013, 2499; Nerlich/Kreplin, Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, 2. Aufl. 2012; Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994; Nuyken, Finanzielle Unterstützung bei Private-Equity-Transaktionen, ZIP 2004, 1893; Oechsler, Das Finanzierungsverbot des § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG bei Erwerb eigener Aktien – Schutzzweck und praktische Anwendung, ZIP 2006, 1661; Paefgen, Dogmatische Grundlagen, Anwendungsbereich und Formulierung einer Business Judgment Rule im künftigen UMAG, AG 2004, 245; Pellens/Jödicke/Schmidt, Reformbestrebungen zum Gläubigerschutz, Der Konzern 2007, 427; Pfeifer, Venture Capital als Finanzierungs- und Beteiligungsinstrument, BB 1999, 1665; Reinhardt/Pelster, Stärkere Kontrolle von ausländischen Investitionen – Zu den Änderungen von AWG und AWV, NZG 2009, 441; Ricke, Stichwort: Hedge Fonds, BKR 2004, 60; Riegger, Kapitalgesellschaftsrechtliche Grenzen der Finanzierung von Unternehmensübernahmen durch Finanzinvestoren, ZGR 2008, 233; Roth/Altmeppen, GmbHG, 8. Aufl. 2015; Rudolph, Funktionen und Regulierung der Finanzinvestoren, ZGR 2008, 161; Schäfer/Stephan, Venture Capital Verträge, 2003; Schäffler, Finanzierung von LBO-Transaktionen: Die Grenze der Nutzung des Vermögens der Zielgesellschaft, BB 2006, Special 9/06, 1; Schenk, Beobachtungen zum Controlling von VC-Beteiligungen, FB 2004, 154; Schiessl, Empfehlungen an Publikumsgesellschaften für den Umgang mit Hedgefonds, ZIP 2009, 689; Schmidt, Reform der Kapitalsicherung und Haftung in der Krise nach dem Regierungsentwurf des MoMiG, GmbHR 2007, 1072; Schmidt/Lutter, Aktienrecht Kommentar, 3. Aufl. 2015; Schmitz/Slopek, PIPE-Transaktionen aus rechtlicher Sicht – Aktien- und wertpapierrechtliche von Private Investments in Public Entities, NJOZ 2009, 1264; Uwe H. Schneider, Alternative Geldgeber oder Eigenkapitalräuber, AG 2006, 577; Uwe H. Schneider, Missbräuchliches Verhalten durch Private Equity, NZG 2007, 888; Scholz, Kommentar zum GmbHG, 12. 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Aufl. 2016, Band 3; Van Kann/Redeker/Keiluweit, Überblick über das Kapitalanlagengesetzbuch (KAGB), DStR 2013, 1483; Viciano-Gofferje, Neue Transparenzanfor-
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Kap. 14 Rz. 14.1
Private Equity
derungen für Private Equity Fonds nach dem Kapitalanlagegesetzbuch, BB 2013, 2506; Walter, Die neuen Regelungen zu Unternehmenserwerben, RIW 2017, 650; Weitnauer, Die Gesellschafterfremdfinanzierung aus Sicht von Finanzinvestoren – ein Resümee der Änderungen des MoMiG und der derzeitigen rechtlichen Rahmenbedingungen vor dem Hintergrund der Finanzkrise, BKR 2009, 18; Weitnauer, Liquidationspräferenz und Garantiehaftung, NZG 2007, 814; Weitnauer, Auswirkungen eines Gesetzes zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen (MoRaKG) und der Unternehmensteuerreform auf die deutsche Venture Capital-Landschaft, BKR 2007, 521; Weitnauer, Handbuch Venture Capital, 5. Aufl. 2016; Weitnauer, Der Beteiligungsvertrag, NZG 2001, 1065; Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004; Zetzsche, Die Europäische Regulierung von Hedgefonds und Private Equity – ein Zwischenstand, NZG 2009, 692; Zetzsche, Anteils- und Kontrollerwerb an Zielgesellschaften durch Verwalter alternativer Investmentfonds, NZG 2012, 1164; Ziegert, Der Venture Capital-Beteiligungsvertrag (VCB), 2005.
Überblick Investitionen privater und institutioneller Finanzinvestoren in nicht börsennotiertes Eigenkapital (Private Equity) sind, trotz ihrer teils negativen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, relevant wie nie zuvor. 2017 markierte ein neues Rekordjahr für den deutschen Markt für Beteiligungskapital. Mit einem Gesamtvolumen von 11,3 Milliarden Euro wurde erstmals sogar das Vorkrisenniveau aus dem Jahr 2007 übertroffen. Kehrseite der nicht zuletzt durch das jahrelange Niedrigzinsniveau ausgelösten, starken Nachfrage sind Firmenbewertungen auf Rekordniveau bzw. ein aus Sicht von PE-Fonds immer größer werdender Mangel an potentiellen „Targets“. Das Kapitel „Private Equity“ bietet einen Überblick über die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Private Equity-Transaktionen in Deutschland. Dabei werden zunächst die wesentlichen Inhalte eines Beteiligungsvertrages unter Berücksichtigung aktueller Rechtsprechung und Literatur dargestellt. Ein weiterer Abschnitt widmet sich den typischen Regelungen der zwischen Investoren und (Alt-)Gesellschaftern abzuschließenden Gesellschaftervereinbarung, insbesondere Veräußerungsbeschränkungen, Vorerwerbsrechte, Mitveräußerungsrechte, Liquidationspräferenzen und Exit-Vereinbarungen. Zusammenfassend werden zudem aktuelle Rechtsfragen bei der Gestaltung virtueller Mitarbeiterbeteiligungsprogramme sowie dem Abschluss von W&I-Versicherungen behandelt.
A. Einleitung I. Begriff und Reichweite 14.1 Der Begriff der Private Equity-Transaktion beschreibt bei wörtlicher Definition sämtliche Investitionen in nicht börsennotiertes Eigenkapital.1 Dem gegenüber steht mit Public Equity das an Kapitalmärkten gehandelte börsliche Eigenkapital. Die Schwierigkeiten einer inhaltlich beschreibenden Definition beruhen darauf, dass der Begriff des Private Equity kein auf wissenschaftlicher Grundlage entwickelter Rechtsbegriff ist, sondern in der Praxis 1 Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, S. 443, Rz. 1695; Fock, UBGG, Einleitung Rz. 1; Jesch, Private Equity-Beteiligungen, S. 21; Eilers/Koffka in Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 1, Rz. 1.
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Weinheimer/Renner
A. Einleitung
Rz. 14.3 Kap. 14
zur Umschreibung eines sich stetig wandelnden Beteiligungsmarktes begründet wurde und verwendet wird. Im angelsächsischen Rechtsraum entstand in den 1960er Jahren zunächst im Rahmen der privaten Gründungsfinanzierung das Geschäftsfeld der Venture Capital-Investition.2 Dieser Ausgangspunkt der Gründungs- und Frühphasenfinanzierung besteht heute als Teilbereich des mit Private Equity umschriebenen Beteiligungsmarktes.3 Sowohl im angelsächsischen Raum als auch im europäischen Raum – wenngleich zeitlich verzögert – entwickelte sich die Branche mit der Zunahme von stark mit Fremdkapital finanzierten Transaktionen aus der Beschränkung auf Gründungsfinanzierungen hin zu dem heute bestimmenden Buy-Out-Modell. Private Equity
Early Stage Finanzierungen
Later Stage Finanzierungen
Buy-Outs
MezzanineFinanzierungen
Venture Capital
Abb. 1: Terminologie von Beteiligungskapital; Quelle: Darstellung in Anlehnung an BVK-Untersuchung „Zur Rolle von Private Equity und Venture Capital in der Wirtschaft“, Berlin, Oktober 2005
Sowohl die Venture Capital-Investition als auch die klassische Buy-Out-Transaktion bezieht ihre Besonderheiten primär aus der Art der Finanzierung. Der Erwerb einer Beteiligung durch einen Private Equity-Investor folgt daher in rechtlicher Hinsicht grundsätzlich den jeden gesellschaftsrechtlichen Beteiligungserwerb regierenden Bestimmungen.
14.2
Eine einheitliche Bestimmung der unter das Stichwort Private Equity fallenden Transaktionen ist daher schwierig. Als erstes Abgrenzungsmerkmal soll die fehlende Listung an einem geregelten Kapitalmarkt herangezogen werden. Die Börsennotierung kann dabei für die Private Equity-Investition sowohl Startpunkt (Delisting des Zielunternehmens, Going Private) als auch Endpunkt (Rückzug aus dem Investment durch IPO) der Beteiligung sein. Zunehmend entdeckten Private Equity-Investoren jedoch auch börsennotierte Übernahmeobjekte.4 Rechtliche Abweichungen ergeben sich in den Fällen einer Börsennotierung des Zielunternehmens insbesondere im Hinblick auf die üblicherweise erfolgenden finanziellen Anreize und Managementbeteiligungen.5
14.3
2 Weitnauer, Handbuch Venture Capital, S. 21 f., Rz. 48 ff.; Eilers/Koffka in Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 1 f., Rz. 1. 3 Weitnauer, Handbuch Venture Capital, S. 3 f., Rz. 1 ff. 4 Beispielhaft sei der Erwerb einer Beteiligung an der Deutschen Telekom AG durch Blackstone, der Erwerb einer Beteiligung an der Techem AG durch Macquarie, die Übernahme der ProSiebenSat.1 Media AG durch KKR und Permira, sowie die Übernahme der Douglas Holding AG durch den Finanzinvestor Advent International und die Familie Kreke genannt. 5 Eingehend dazu: Traugott/Grün, AG 2007, 761 ff.; Hohaus/Weber, BB 2008, 2358 (2359 f.), allgemeiner: Hasselbach, Taking Private – aktuelle Themen bei der Übernahme börsennotierter Unternehmen, BB 2015, 1033.
Weinheimer/Renner 1165
Kap. 14 Rz. 14.4
Private Equity
14.4 Als Anleger kommen sowohl vermögende Privatpersonen als auch juristische Personen in Gestalt von Versicherungen und Pensionskassen in Betracht. In den vergangenen Jahren gab es Versuche der institutionellen Fondsgesellschaften, sich neben diesen klassischen Investorengruppen durch die eigene Notierung an Kapitalmärkten zusätzliche Investoren zu erschließen. Vor den Aufsehen erregenden Börsengängen von Blackstone und KKR haben bereits Permira, Ripplewood sowie Candover und Apollo Management über Tochtergesellschaften den Weg an die geregelten Kapitalmärkte gesucht. Der Abgrenzung zwischen börslichem und außerbörslichem Kapital kommt somit sowohl auf Seiten der Kapitaleinwerbung als auch bei der Art der Investitionsbeteiligung nur eine stark eingeschränkte Bedeutung zu.
14.5 Eine Annäherung an die vom Begriff der Private Equity-Transaktionen umfassten Unternehmens- und Beteiligungskäufe und eine Strukturierung der unterschiedlichen Formen von Private Equity-Investitionen kann daneben anhand einer Betrachtung der typischen ökonomischen Interessen der Investoren und der Zielgesellschaften in den jeweiligen Entwicklungsstadien des Unternehmens als auch anhand einer Klassifizierung der Akquisitionsfinanzierungsinstrumente erfolgen. Vor allem dem Geschäftsmodell der institutionellen Private Equity-Fonds kommt in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion ein in den letzten Jahren stetig steigender Stellenwert zu. Nach zwischenzeitlich teilweise sehr emotionalen Bewertungen6 der Branche institutioneller Private Equity-Investoren und großen Befürchtungen, heimischen Unternehmen könne eine umfassende Ausplünderung durch räuberisch agierende Fondsgesellschaften, speziell durch sog. Hedge-Fonds, bevorstehen, hat sich weitgehend eine moderate Bewertung der Branche und eine Anerkennung der wirtschaftlichen Vorteile eines „dritten Kapitalmarktes“ eingestellt.7
14.6 Das Geschäftsmodell des privaten Beteiligungsmarktes führt insbesondere im Auftreten institutioneller Investoren zu einer Steigerung der Effizienz der Kapitalmärkte.8 Neben der generellen Möglichkeit der Deckung des Kapitalbedarfs von Unternehmen ist insbesondere die Restrukturierung von Unternehmen mit dem Ziel der Steigerung der Profitabilität, welche zur Erreichung der Rentabilitätsansprüche der Kapitalgeber beim Verkauf der Beteiligung oftmals nötig sind, aus volkswirtschaftlicher Perspektive wünschenswert. Diese organisatorische Fortentwicklung des Unternehmens im Sinne eines effizienteren Umgangs mit den Anforderungen und Risiken des jeweiligen Marktes führt neben einer Steigerung des Unternehmenswertes zu einer fortschreitenden Entwicklung und Wettbewerbsstärkung des gesamten Marktes. Interessant zu beobachten war, welche Entwicklungen die weltweite Finanzkrise auf den Beteiligungsmarkt hatte. Kurzfristig waren starke Einbrüche in allen Bereichen zu verzeichnen. Dies galt sowohl für die Einwerbung von Geldern durch die Fondsgesellschaften als auch insbesondere für die Verfügbarkeit entsprechender Bankendarlehen, um gängige Leverage-Raten finanzieren zu können, sowie die Erreichbarkeit geplanter ExitSzenarien. Nach einer Studie der Rating-Agentur Standard & Poor’s (S&P) lagen demgemäß
6 Vgl. Schönauer, Die Haie unter den Fondsmanagern, Handelsblatt vom 8.1.2002, Nr. 5, S. 10; Wiebe, Hedge-Fonds – Die Zeit der Raubritter geht vorbei, Handelsblatt vom 14.8.2002, Nr. 155, S. 9; Moerschen, Die schmutzigen Geheimnisse des Fonds, Handelsblatt vom 19.11.2003, Nr. 233, S. 10; Eilers/Koffka in Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 5 ff.; Herrmann, DZWiR 2009, 265; Uwe H. Schneider, NZG 2007, 888 (889); Uwe H. Schneider, AG 2006, 577 ff. 7 Rudolph, ZGR 2008, 161 (166 ff.); Uwe H. Schneider, NZG 2007, 888 (893); Schönwitz, Private Equity – Von wegen Plage, Zeit Nr. 43/2016; ausführlich zu der Thematik: Leible/Lehmann, Hedgefonds und Private Equity – Fluch oder Segen?, 2009. 8 Spremann/Gantenbein, Kapitalmärkte, S. 44.
1166
Weinheimer/Renner
A. Einleitung
Rz. 14.6 Kap. 14
auch schon für das Geschäftsjahr 2008 knapp 70 % der auf Leveraged Buy-Outs spezialisierten Private Equity-Häuser deutlich hinter ihren Planzahlen zurück.9 Bei 45 % der untersuchten Firmen lag die Abweichung bei über 10 %. Bereits seit 2010 befindet sich der deutsche LBO Markt allerdings wieder kontinuierlich im Aufwind. Für den europäischen mittelgroßen (MidCap) LBO-Markt war 2017 das beste Jahr seit der Finanzkrise. Der deutsche MidCap-LBO Markt ist 2017 ebenfalls signifikant gewachsen. Der aktuelle MidCapMonitor der Investmentbank GCA Altium, der regelmäßig Leveraged-Buyout-Finanzierungen mit Kreditvolumen zwischen 20 und 500 Millionen Euro darstellt, weist für das Gesamtjahr 2017 mit 100 Transaktionen einen Anstieg um 30 Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum aus.
Fonds Private
Spezialisten
Unternehmen
Anwälte Staat Staat Wirtsch.prüfer
Investoren
Berater
Versicherungen
Inkubatoren
Private EquityBranche
Gründerzentren
FinanzIntermediäre
Banken
Gründer Unternehmen
Wissensch. Einrichtungen
Mittelstand
Börsen
Hochschulen Konzerne
Institute
Abb. 2: Die Private Equity-Branche in der volkwirtschaftlichen Wertschöpfungskette; Quelle: Darstellung in Anlehnung an BVK-Untersuchung „Zur Rolle von Private Equity und Venture Capital in der Wirtschaft“, Berlin, Oktober 2005
9 Financial Times Deutschland vom 10.9.2009, „Firmenkäufe bedrohen Banken“.
Weinheimer/Renner 1167
Kap. 14 Rz. 14.7
Private Equity
Total Number of Deals in the German Market (Senior & Unitranche) 28
37
63
70
77
100
68
28
54
65
15
16
12
2014
2015
2016
32 5
2012
48
2013
Debt Funds
32 2017
Banks
Abb. 3: Entwicklung des deutschen LBO-Marktes; Quelle: MidCapMonitor 2017, GCA Altium
14.7 Ausdruck einer aktuell wieder in den Fokus gerückten politischen Besorgnis der Ausplünderung deutscher Gesellschaften durch ausländische Investoren ist das am 13.2.2009 beschlossene 13. Gesetz zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes (AWG) sowie der Außenwirtschaftsverordnung (AWV).10 Danach kann der Erwerb inländischer Unternehmen durch Nicht-EU- beziehungsweise Nicht-EFTA-ansässige Erwerber in Höhe eines Anteiles, der 25 % oder mehr der Stimmrechte an dem Unternehmen entspricht, durch das Bundeswirtschaftsministerium untersagt werden, wenn eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt. Betroffen können von dieser Regelung auch gemeinschaftsansässige Erwerber sein, sofern gemeinschaftsfremde Investoren mindestens 25 % der Stimmrechte an dem Erwerber halten. Ausweislich der Gesetzesbegründung verfolgt die Gesetzesänderung zwar nicht das Ziel, eine generelle routinemäßige Prüfung sämtlicher Beteiligungserwerbe durch ausländische Investoren zu erreichen,11 die Prüfungsmaßgaben wurden mit dem Merkmal der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung jedoch erheblich ausgeweitet. Durch das Inkrafttreten der Neunten Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung am 18.7.201712 ist die sektorübergreifende Prüfung von Unternehmenserwerben durch Investoren aus dem Nicht-EU-Ausland weiter konkretisiert und verschärft worden. Hierdurch soll eine Verbesserung des Schutzes deutscher Unternehmen in
10 Dreizehntes Gesetz zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes und der Außenwirtschaftsverordnung, BGBl. I 2009, 770 ff.; s. dazu Reinhardt/Pelster, NZG 2009, 441 ff.; Leuering/Rubner, NJWSpezial 2009, 175 ff. 11 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/10730, 13. 12 Neunte Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung, BAnz AT 17.7.2017 V1; s. dazu Boewe/Johnen, NZG 2017, 1095 ff.; Walter, RIW 2017, 650 ff.
1168
Weinheimer/Renner
A. Einleitung
Rz. 14.8 Kap. 14
sicherheitsrelevanten Sektoren erreicht werden. § 55 AWV enthält hierfür nunmehr fünf Regelbeispiele, die als Anhaltspunkt dienen, wann eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen kann. Der Fokus liegt dabei aufgrund ihrer hohen Sicherheitsrelevanz insbesondere auf Unternehmen, die sog. kritische Infrastrukturen betreiben.13 Erfüllt ein inländisches Unternehmen die Voraussetzungen eines Regelbeispiels des § 55 Abs. 2 AWV, besteht für den Erwerber zudem fortan gem. § 55 Abs. 4 AWV eine Meldepflicht beim BMWi. Als weitere wichtige Änderung beginnt die dreimonatige Prüffrist des BMWi gem. § 55 Abs. 3 AWV erst mit Kenntniserlangung von der Transaktion durch das BMWi. Zudem ist die Prüfungsfrist des BMWi von vormals zwei auf nunmehr vier Monate verlängert worden. Sowohl im Hinblick auf die Realisierungswahrscheinlichkeit von Transaktionsvorhaben durch nicht in der EU/EFTA ansässige Investoren, als auch hinsichtlich der zu erwartenden Verfahrensdauer führen die Änderungen der sektorübergreifenden Prüfung somit zu erheblichen Transaktionsrisiken. Dem Instrument der Unbedenklichkeitsbescheinigung gem. § 58 AWV dürfte fortan in der Praxis eine bedeutende Rolle zukommen, da das BMWi die Unbedenklichkeit bescheinigen oder in ein formelles Prüfverfahren eintreten muss, wenn es die andernfalls nach § 58 Abs. 2 AWV eintretende Fiktion der wirtschaftlichen Unbedenklichkeit verhindern will. Es gilt allerdings zu berücksichtigen, dass eine Unbedenklichkeitsbescheinigung gem. § 58 Abs. 2 AWV nunmehr erst dann als erteilt gilt, wenn das BMWi in einem Zeitraum von zwei Monaten nach Beantragung der Unbedenklichkeitsbescheinigung untätig geblieben ist. In praktischer Hinsicht werden die vorgenannten Änderungen der AWV zu einem erhöhten Aufwand auf Seiten der Erwerber und ihren Beratern führen, da sie sowohl im Rahmen der Planung als auch der Durchführung von Unternehmenserwerben zu beachten sind.14 Besonderheiten ergeben sich für Private Equity-Akquisitionen in der Gestaltung der Transaktion vor allem aufgrund der Finanzierungsweise, die zumindest im Bereich der institutionellen Investoren regelmäßig unter hohem Fremdkapitaleinsatz erfolgt, dem sog. Leveraged Buy-Out. Gesellschaftsrechtliche Relevanz kann diesbezüglich insbesondere eine finanzielle Mitwirkung der Gesellschaft bei dem Anteilserwerb sowie die Frage erhöhter Ausschüttungen haben.15 In Fällen der Einbindung des (alten oder neuen) Managements der Zielgesellschaft (Management Buy-Out, Management Buy-In) in die Beteiligungsstruktur ergeben sich Besonderheiten zur Absicherung der Exit-Interessen der Finanzinvestoren. Weiter sind Fälle der Minderheitsbeteiligung des Finanzinvestors im Venture Capital-Bereich und bei Familienunternehmen zu nennen, in denen der Finanzinvestor neben der Übernahme der Beteiligungsrechte regelmäßig weitere Informations-, Kontroll- und Mitverwaltungsrechte zu erlangen sucht.
13 § 2 Abs. 10 BSIG definiert Kritische Infrastrukturen als Einrichtungen, Anlagen oder Teile davon, die den Sektoren Energie, Informationstechnik und Telekommunikation, Transport und Verkehr, Gesundheit, Wasser, Ernährung sowie Finanz- und Versicherungswesen angehören und von hoher Bedeutung für das Funktionieren des Gemeinwesens sind, weil durch ihren Ausfall oder ihre Beeinträchtigung erhebliche Versorgungsengpässe oder Gefährdungen für die öffentliche Sicherheit eintreten würden. 14 Boewe/Johnen, NZG 2017, 1095 (1099). 15 Dazu Seibert in FS Schwark, S. 261 (266 f.).
Weinheimer/Renner 1169
14.8
Kap. 14 Rz. 14.9
Private Equity
1. Private Equity-Investition als unternehmerische Entscheidung der Zielgesellschaft
14.9 Die Private Equity-Investition kann für die Zielgesellschaft im Stadium der Gründung, des frühen Wachstums, grundlegender strategischer Umstrukturierungen oder bei sonstigem besonderem Kapitalbedarf eine Finanzierungsalternative zur Aufnahme von Fremdkapital darstellen. Eine Stärkung der Eigenkapitalbasis kann durch Kapitalerhöhungen oder passivierbares Mezzanine-Kapital erfolgen. Die regelmäßig relevanten Phasen des Einsatzes von Private Equity-Kapital in der Unternehmensentwicklung sind in dem folgenden Schaubild dargestellt. Frühphasenfinanzierung
Later stage
– Gründung – Forschung und Entwicklung – Produktionsbeginn – Markteinführung
– – – –
M&A Konsolidierung Vorbereitung Börsengang
– Eigene Mittel der Gesellschafter – Öffentliche Fördermittel – Private Investoren – Venture Capital
– Fremdfinanzierung – Mezzanine
Leveraged Buy-Outs, Mezzanine
Exit
– LBO – MBO – MBI
– Börsengang – Trade Sale – Buy back der Gesellschafter – Secondary Purchase – Liquidation
– Fremdfinanzierung – Geregelter Kapitalmarkt – Private Equity – Mezzanine
– Fremdfinanzierung – Geregelter Kapitalmarkt – Private Equity – Mezzanine
Abb. 4: Phasen der Private Equity-Finanzierung
14.10 Im deutschen Wirtschaftsraum erfolgte die Deckung besonderen Kapitalbedarfs im Gegensatz zum angloamerikanischen Bereich traditionell über Bankenfinanzierungen. Der geregelte Kapitalmarkt steht als Alternative aufgrund seiner hohen Zugangsvoraussetzungen demgegenüber nur einer begrenzten Zahl von Unternehmen offen.
14.11 Die Private Equity-Investition unterscheidet sich für die Zielgesellschaft von der Alternative einer Fremdkapitalfinanzierung über Banken oder andere Kapitalgeber dadurch, dass die Übernahme von haftendem Eigenkapital durch den Kapitalgeber eine Stellung von Sicherheiten durch die Zielgesellschaft als Kapitalnehmer überflüssig macht. Die Position der Sicherheiten nimmt für den Kapitalgeber die Chance der Partizipierung an dem unternehmerischen Erfolg der Zielgesellschaft durch eine Wertsteigerung der gehaltenen Anteile ein. In der Phase der Unternehmensgründung und besonderen Wachstums- und Investitionsphasen kann die Befriedigung des Eigenkapitalbedarfs für die Gesellschaft daher günstiger über die Ausgabe von Anteilen oder Anteilsoptionen erfolgen. Demgegenüber stehen bei der Begründung einer Mehrheitsbeteiligung, insbesondere an Familien- und Mittelstandsunternehmen, regelmäßig die Interessen der bisherigen Anteilsinhaber an einem Verkauf oder die Finanzierungsinteressen eines MBO beziehungsweise MBI im Vordergrund. Die grundsätzlich positiven Entwicklungen, zu denen das Beteiligungskapital regelmäßig führt, verdeutlicht das folgende Schaubild.
1170
Weinheimer/Renner
A. Einleitung
Rz. 14.12 Kap. 14
100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0% Investitionsvolumen höher
F&EAusgaben gleich
Exporte
Beschäftigte
Umsatz
niedriger
Abb. 5: Veränderung wichtiger Unternehmenskennzahlen nach einer Private Equity-Finanzierung; Quelle: Darstellung in Anlehnung an BVK/PwC, Der Einfluss von Beteiligungskapital auf die Beteiligungsunternehmen und die deutsche Wirtschaft, 2000
Das obige Schaubild verdeutlicht den signifikant positiven Einfluss von privatem Beteiligungskapital auf die wichtigsten betriebswirtschaftlichen Kennziffern der Unternehmen. In den von BVK und PwC durchgeführten Studien,16 bei denen im Jahr 1998 216 Private Equity-finanzierte Unternehmen und im Jahr 2000 248 Private Equity-finanzierte Unternehmen untersucht wurden, ergibt sich, dass sowohl das Umsatzwachstum, die Umsatzrendite als auch etwa die Eigenkapitalquote deutlich über den jeweiligen Vergleichswerten liegen. Diese Ergebnisse fanden sich sowohl in objektiver Hinsicht als auch in der subjektiven Wahrnehmung des Managements. Neben dem rein finanziellen Engagement spielten für die Unternehmen auch Zusatzleistungen wie der Nutzen kompetenter Diskussionspartner, Finanzberatung und die Nutzungsmöglichkeit bestehender Netzwerke eine positive Rolle. Volkswirtschaftlich ist darüber hinaus interessant, dass Steigerungen auch in der Beschäftigungsstruktur überdurchschnittlich ausfallen. Demgegenüber darf auch eine erhöhte Insolvenzwahrscheinlichkeit nicht vernachlässigt werden, die im Falle der Übertragung hoher Fremdkapitalkosten auf die Gesellschaft im Rahmen der Abwicklung sog. Leveraged Buy-Outs erfolgen kann.17
16 BVK/C&L, Venture Capital – Der Einfluss an Beteiligungskapital auf die Beteiligungsunternehmen und die deutsche Wirtschaft, 1998; BVK/PwC, Der Einfluss an Beteiligungskapital auf die Beteiligungsunternehmen und die deutsche Wirtschaft, 2000; Kaserer/Achleitner/von Einem/ Schiereck, Private Equity in Deutschland, S. 167 ff. (190 ff.). 17 Vgl. Eidenmüller, ZIP 2007, 1729 (1730 m.w.N.): European Central Bank, Large Banks and Private Equity-Sponsored Leveraged Buyouts in the EU, April 2007, 39.
Weinheimer/Renner 1171
14.12
Kap. 14 Rz. 14.13
Private Equity
Die vorstehenden Erkenntnisse wurden 2015 durch eine weitere Studie zur wirtschaftlichen Entwicklung von beteiligungskapitalfinanzierten Unternehmen in Deutschland bestätigt.18 Die Studie basiert auf Auswertungen der Angaben von insgesamt 46 Beteiligungsgesellschaften mit Marktpräsenz in Deutschland, sowie den Selbstauskünften von 555 Portfoliounternehmen. Sie beleuchtet die Entwicklung von beteiligungskapitalfinanzierten Unternehmen im Vergleich zur Referenzgruppe (Bundesdurchschnitt) im Zeitraum von 2006–2012. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die beteiligungskapitalfinanzierten Unternehmen im Vergleich zum Bundesdurchschnitt ein doppeltes bis dreifaches Umsatzwachstum aufweisen. Zudem erreichten die beteiligungskapitalfinanzierten Unternehmen Beschäftigtenwachstumsraten zwischen 9 % im Jahr 2007 und 17 % im Jahr 2012 und lagen damit deutlich über dem Bundesdurchschnitt (1,0 % im Jahr 2007 und 1,3 % im Jahr 2012). Schließlich verfügten die beteiligungskapitalfinanzierten Unternehmen im Betrachtungszeitraum mit Eigenkapitalquoten zwischen 38 % und 41 % auch über eine deutlich bessere bilanzielle Eigenkapitalausstattung als die Gesamtwirtschaft im Bundesdurchschnitt (27 % bis 31 %). 2. Interessen des Finanzinvestors
14.13 Die Interessen eines Finanzinvestors werden regelmäßig in Abgrenzung zu denen des Fremdkapitalgebers und des strategischen Investors definiert. Der Finanzinvestor stellt die Mittel für die Investition in das Eigenkapital des Zielunternehmens entgegen den Interessen des Fremdkapitalgebers nicht auf eine Verzinsung der Gelder hin zur Verfügung, sondern zielt regelmäßig auf eine Wertsteigerung des Unternehmens und die Erzielung einer Rendite über den Verkauf seiner Beteiligung. Der Ausstieg aus der Beteiligung kann dabei über einen Börsengang des Zielunternehmens oder einen Verkauf der Beteiligung an einen strategischen Investor (Trade Sale), einen weiteren Finanzinvestor (Secondary Purchase) oder, in Einzelfällen, auch an die Altgesellschafter (Buy back) erfolgen. Dies gilt sowohl für private als auch für institutionelle Investoren. Die Interessen des strategischen Investors zielen demgegenüber regelmäßig, zumindest zusätzlich, auf die Bildung und Ausnutzung von Synergieeffekten und eine Bündelung von Ressourcen. Auch Finanzinvestoren verfolgen mithin jedoch strategische Interessen, etwa um ein bestehendes Portfolio zu optimieren oder um durch gezielte Nutzung bestimmter Synergieeffekte letztlich eine Steigerung des Unternehmenswertes zu erzielen. a) (Langfristige) Ertragssteigerung
14.14 Die Steigerung des Ertragswertes des Unternehmens ist regelmäßig mit einer Steigerung des Unternehmenswertes gleichzusetzen und liegt daher im Interesse des Finanzinvestors. Im Gegensatz zu dem Geschäftsmodell der Hedge-Fonds ist eine Mittelfristigkeit der Investition des Private Equity-Investors auch in der Praxis regelmäßig Strategie der Übernahme. Nur über die Möglichkeit, die Leitung und Entwicklung des Unternehmens zumindest zeitweilig zu beeinflussen, lässt sich für den Investor eine signifikante Steigerung des Unternehmenswertes erreichen.
18 Studie der AFC Consulting Group AG und der Otto Küsters & Company GmbH in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften, 2015, abrufbar unter: www.bvkap.de.
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Weinheimer/Renner
A. Einleitung
Rz. 14.18 Kap. 14
b) Nutzung des Eigenkapitals Die Finanzierung eines Leveraged Buy-Out (s. dazu Rz. 14.23) unter Nutzung einer hohen Fremdkapitalquote begründet in der gesellschaftlichen Diskussion über den wirtschaftlichen Nutzen von Private Equity-Investitionen häufig den Vorwurf der Gefahr der Plünderung des Eigenkapitals finanziell gesunder Zielunternehmen durch den Investor. Der Anreiz einer hohen Fremdkapitalquote ergibt sich für den Investor jedoch nachvollziehbar aus einem Umfeld niedriger Marktzinsen, die dem Investor, solange der Cashflow der Zielgesellschaft über den Kapitalkosten liegt, erhöhte Renditechancen auf das eingesetzte Eigenkapital liefern. Unbestritten ist, dass sich durch die erhöhte Fremdkapitalquote und möglicherweise überhöhte Renditeerwartungen das Risiko der Inanspruchnahme der Zielgesellschaft erhöht, da im Falle der übermäßigen Fremdfinanzierung der Investor oftmals zu laufenden hohen Ausschüttungen zur Bedienung seiner Kosten gezwungen ist. Wirtschaftliche Schwächephasen der Zielgesellschaft werden daher teilweise mit Substanzeingriffen beantwortet. Alternativ überträgt der Investor die Erwerberkredite auf die Zielgesellschaft. Dies kann sowohl durch Verschmelzung des Investmentvehikels auf die Zielgesellschaft als auch durch Ablösung des Erwerberkredites durch die Zielgesellschaft geschehen. Den Interessen des Investors ist durch eine finanzielle Überforderung des Zielunternehmens jedoch im Ergebnis nicht gedient. Ein erfolgreicher Exit kann nur realisiert werden, wenn die Zielgesellschaft ihre Werthaltigkeit behält oder steigert.
14.15
Die Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise waren auch auf dem Private Equity-Markt 14.16 deutlich spürbar, da das verengte Kreditangebot zwangsweise zu Änderungen zu Lasten des Fremdkapitalangebots in den üblichen Leverage-Raten geführt hat. Als Konsequenz ließ sich im Jahr 2009 für den deutschen Private Equity-Markt beispielsweise ein Rückgang des Investitionsvolumens von nahezu 70 Prozent feststellen. In den Folgejahren hat sich der Private Equity-Markt jedoch schneller als von vielen Marktteilnehmern erwartet von der Finanzkrise erholt, was in einem seit Jahren kontinuierlich steigenden Investitionsvolumen zum Ausdruck kommt.19 3. Akteure des Private Equity-Marktes Akteure des Private Equity-Marktes sind neben den Investoren und den Zielgesellschaften die Private Equity-Gesellschaften als Investitionsmittler und die Banken als zusätzliche Fremdkapitalgeber, s. hierzu Abb. 6 auf S. 1174.
14.17
a) Investoren Klassische Investorengruppen sind die Gruppen der Pensionskassen und Versicherungen, 14.18 Banken, Institute der öffentlichen Hand als Geber von Fördergeldern, Unternehmen und private Investoren. Insbesondere in der jüngeren Vergangenheit haben daneben Beteiligungserwerbe durch Staatsfonds sowohl in ihren Beteiligungsvolumina als auch in der öffentlichen Diskussion an Bedeutung gewonnen. Für den Venture Capital-Bereich sind darüber hinaus Investitionen durch vermögende Privatpersonen beziehungsweise Personenvereinigungen von immenser Bedeutung. Gerade in dem Bereich der Seed-Phase kann die Bedeutung von nicht-institutionellen Investoren für die entsprechenden Unternehmen kaum hoch genug bewertet werden. Neben der Funktion als Kapitalgeber ist für die Unternehmen vielfach die
19 Statistik der BVK, abrufbar unter: www.bvkap.de.
Weinheimer/Renner 1173
Kap. 14 Rz. 14.19
Private Equity
Möglichkeit der Nutzung vorhandener Netzwerke der Investoren und deren Erfahrungen bei dem Aufbau junger Unternehmen von großer Wichtigkeit.
Investoren Banken, Versicherungen, Pensionsfonds, Privatpersonen, Staat, öffentliche Institute
Private Equity-Funds-of-Fund (Dachfonds)
Private Equity-Fonds
Private Equity-Fonds
Private Equity-Fonds
Unternehmen
Unternehmen
Unternehmen
Abb. 6: Varianten für Private Equity-Anlagen; Quelle: Darstellung in Anlehnung an BVK-Untersuchung „Zur Rolle von Private Equity und Venture Capital in der Wirtschaft“, Berlin, Oktober 2005
b) Private Equity-Gesellschaften
14.19 Aufgabe der Private Equity-Gesellschaften ist die Rolle der Kapitalsammelstelle und des Finanzintermediärs zwischen den kapitalbedürftigen Unternehmen und potentiellen Anlegern. Das Geschäftsmodell von Private Equity-Gesellschaften zielt grundsätzlich auf ein kurz- bis mittelfristiges Investment in der Zielgesellschaft. Selten verfolgt die Private Equity-Gesellschaft einen Anlagehorizont, der über drei bis sieben Jahre hinausgeht.20 Das Investment erfolgt durch einen von der Private Equity-Gesellschaft aufgelegten Private Equity-Fonds und ist auf eine Weiterentwicklung und Wertsteigerung des Zielunternehmens unter aktiver Einwirkung auf die Führung des Unternehmens gerichtet.21 Private Equity-Fonds sind rechtlich regelmäßig als vermögensverwaltende Personengesellschaften organisiert, an denen sich Investoren als Kommanditisten beziehungsweise als beschränkt haftende Gesellschafter in der jeweiligen Rechtsform beteiligen können.22 In der Praxis stellen Gesellschaften deutscher Rechtsform allerdings die Minderheit dar. Die Auswahl, Bewertung und Verwaltung
20 So auch Eilers/Koffka in Eilers/Koffka/Macksensen, Private Equity, S. 11 f. 21 Rudolph, ZGR 2008, 161 (163 f.); Eidenmüller, DStR 2007, 2116 f. 22 Eilers/Koffka in Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, Einleitung S. 9, Rz. 15; Feldhaus in Feldhaus/Veith, Frankfurter Kommentar zu Private Equity, Kap. 1, Rz. 51 f.
1174
Weinheimer/Renner
A. Einleitung
Rz. 14.22 Kap. 14
der Beteiligungen wird von dem Fondsaufleger als Komplementär der Gesellschaft durchgeführt. Dem Komplementär wird durch den Gesellschaftsvertrag in Form einer Management Fee und eines Carried Interest eine stark erfolgsabhängige Vergütung gewährt, die disproportional zu der eigenen gesellschaftlichen Beteiligung an der Zielgesellschaft ist. Der Gewinnanteil besteht regelmäßig in einem prozentualen Anteil des Betrages der Gesamteinnahmen, der die Rückzahlungen der von den Investoren geleisteten Einlagen zzgl. einer Mindestverzinsung übersteigt. Eine Strukturierung des breiten Angebots an Private Equity-Gesellschaften kann sowohl an- 14.20 hand der Gesellschafterstruktur als auch einer fachlichen oder geographischen Fokussierung vorgenommen werden. Im Bereich der fachlichen Spezialisierung sind insbesondere Venture Capital-Fonds zu beachten. Die Begriffe der Venture Capital- oder Wagnis- beziehungsweise Risikokapitalinvestition stehen für eine gegenüber den üblicherweise mit Private Equity-Investment bezeichneten Beteiligungskäufen längerfristige Investition, die im Frühstadium der Unternehmensentwicklung ansetzt. Die potentiellen Investoren und Initiatoren entsprechender Fonds sind neben institutionellen und privaten Investoren auch öffentliche und industrielle Investoren, die im Schnittpunkt zwischen Finanz- und strategischem Investor stehen. Besonders öffentliche Investoren sehen ihr Einsatzgebiet fast ausnahmslos als bloß zusätzliche Kapitalgeber, die das Investment eines Wagniskapitalgebers im Rahmen einer stillen Beteiligung unterstützen. Der industrielle Investor verfolgt daneben regelmäßig strategische und technologische Entwicklungsziele. Für die Anteilseigner des Zielunternehmens sowie für potentielle zusätzliche institutionelle oder private Investoren kann ein zusätzlicher industrieller (Teil-)Investor ferner bereits frühzeitig eine mögliche Exit-Strategie darstellen. Eine Streuung der Risiken der Investition wird in jüngerer Zeit vermehrt über die Auflage sog. Funds of Funds gesucht, die die eingeworbenen Gelder im Wege eines Dachfonds auf verschiedene Private Equity-Fonds und somit eine größere Anzahl an Zielunternehmen verteilen. Auch nach Erwerb der Beteiligung kann eine Syndizierung durch Teilübertragung der Anteile an zusätzliche Finanzinvestoren oder strategische Partner als Reaktion auf veränderte Gegebenheiten der Gesellschaft oder aufgrund fondsinterner Risikovorgaben in Betracht kommen.
14.21
Keine Private Equity-Fonds sind nach der hier verwendeten Definition demgegenüber Hedge-Fonds.23 Diese verfolgen das Ziel der Ausnutzung temporärer Marktineffizienzen durch kurzfristige Minderheitsbeteiligungen an börsennotierten Unternehmen.24 Ursprünglich verfolgten Hedge-Fonds die Strategie, vermeintlich unterbewertete Anlagepositionen durch den Leerverkauf von Aktien, bei denen eine Überbewertung vermutet wurde, abzusichern („Hedging“). Dies sollte das allgemeine Schwankungsrisiko der Märkte (systematisches Risiko) ausgleichen, so dass die Entwicklung des Portfolios allein von den bezogenen Anlagepositionen abhing. Dieser ursprüngliche Hedging-Ansatz ist heute vielfältigen Investitionsstrategien gewichen. Gemeinsam ist diesen Strategien, dass Hedge-Fonds entweder auf Kursbewegungen durch generelle Markttendenzen oder Ereignisse auf Unternehmensebene setzen oder Preisunterschiede an unterschiedlichen Börsenplätzen ausnutzen. Dazu benötigen Hedge-Fonds funktionierende und ausgereifte Märkte für Eigen- und Fremdkapital. Ein aktives Einwirken auf die Unternehmensführung ist bei Hedge-Fonds regelmäßig nicht auf die Entwicklung und Steigerung des Unternehmenswertes gerichtet, sondern wird vielmehr zur
14.22
23 Vgl. mit aktuellen Beispielen Schiessl, ZIP 2009, 689 (690). 24 Eidenmüller, DStR 2007, 2116 f.; Ricke, Stichwort: Hedge Fonds, BKR 2004, 60 ff.; Herrmann, DZWiR 2009, 265 (266 f.).
Weinheimer/Renner 1175
Kap. 14 Rz. 14.23
Private Equity
Erzielung einer kurzfristig zu erreichenden Änderung des Kurses des Zielunternehmens in der gewünschten Richtung eingesetzt. Im Gegensatz zum klassischen Private Equity-Fonds nimmt der Hedge-Fonds zur Finanzierung der Investition Fremdkapital auch wirtschaftlich nahezu ausschließlich auf der Ebene des Fonds und nicht auf der Ebene der Zielgesellschaft auf. Die größte Gemeinsamkeit der Geschäftsstrategien von Private Equity-Gesellschaften und HedgeFonds besteht darin, dass unterbewertete Unternehmen beziehungsweise unterbewertetes Eigenkapital eine lohnende Investitionsmöglichkeit darstellen. 4. Finanzierungsarten und -instrumente a) Leveraged Buy-Out
14.23 Der Begriff des Leveraged Buy-Outs bezeichnet die Finanzierung eines Unternehmens- oder Beteiligungskaufs unter Nutzung eines großen Anteils an Fremdkapital, der typischerweise überwiegend durch die Vermögensgegenstände der Zielgesellschaft besichert wird. Neben dem Ziel der Optimierung der Kapitalkosten und der Verminderung der steuerlichen Belastung der Erwerber wird die hohe Verschuldung auch als Form der Unternehmenssteuerung bezeichnet, ermöglicht der hohe Fremdkapitalanteil doch eine vergleichsweise stärkere Beteiligung des Managements und damit hohe Leistungsanreize.25 Als Leverage-Effekt bezeichnet man die Erhöhung der Eigenkapitalrendite durch einen unter der Gesamtrendite liegenden Kapitalzins. Solange der Kapitalzins unter der Gesamtrendite des eingesetzten Kapitals bleibt, erhöht sich die Eigenkapitalrendite mit dem Anstieg der Fremdkapitalquote. Aus steuerlicher Sicht sind daneben die auf das aufgenommene Fremdkapital zu zahlenden Zinsen als Aufwand abzugsfähig und verringern die steuerliche Belastung, während sonstige Ausschüttungen an den Erwerber als Gewinnverwendung voll versteuert werden müssen. Als Reaktion auf den insbesondere wegen des anhaltenden Niedrigzinsumfeldes zu beobachtenden Wiederanstieg von Leveraged-Transaktionen mit hoher Verschuldensquote hat die Europäische Zentralbank (EZB) Leitlinien für systemrelevante Finanzinstitute zur Durchführung von Transaktionen mit Hebelwirkung veröffentlicht.26 Die Leitlinien traten am 16.11.2017 in Kraft und erhöhen die Anforderungen an das Risikomanagement systemrelevanter Banken. So sind beispielsweise zukünftig von den systemrelevanten Banken interne Limits für den Verschuldungsgrad festzusetzen. Zwar verbieten die EZB-Leitlinien keine Finanzierungen mit einer hohen Verschuldungsquote. Derartige Finanzierungen erfordern nunmehr allerdings eine entsprechende Begründung und Eskalation im Risikomanagementprozess.
14.24 Dem steht für das Zielunternehmen die Gefahr der Überschuldung gegenüber. Überschuldung liegt vor, wenn der generierte Cashflow nicht mehr ausreicht, die fälligen Zins- und Tilgungszahlungen zu leisten. Im insolvenzrechtlichen Sinne ist ferner erforderlich, dass die Fortführung des Unternehmens nach den Umständen nicht überwiegend wahrscheinlich erscheint.
25 Schäfer/Fisher, Die Bedeutung von Buy-Outs/Ins für unternehmerische Effizienz, Effektivität und Corporate Governance, DIW-Studie Berlin 2008, www.diw.de. 26 Abrufbar unter: https://www.bankingsupervision.europa.eu/ecb/pub/pdf/ssm.leveraged_transac tions_guidance_201705.en.pdf.
1176
Weinheimer/Renner
A. Einleitung
Rz. 14.27 Kap. 14
b) Hybride Finanzierungsinstrumente, Mezzanine-Finanzierungen Der Begriff der Mezzanine27-Finanzierung oder des Mezzanine-Kapitals unterliegt keiner allgemeingültigen Definition. Er umfasst Unternehmensfinanzierungen, die als Eigen- oder Fremdkapitalfinanzierung (sog. Equity Mezzanine oder Debt Mezzanine) zusätzlich Elemente der jeweils anderen Finanzierungsart aufweisen.28 Für die Passivierung ausschlaggebend ist eine Betrachtung der jeweiligen Investition im Einzelfall. Gängige Formen von Mezzanine-Finanzierungsinstrumenten sind die stille Beteiligung (typisch und atypisch), Genussrechte, Wandel- beziehungsweise Optionsanleihen sowie das Nachrang- und Verkäuferdarlehen. Typische Merkmale der hybriden Finanzinstrumente sind neben der Nachrangigkeit gegenüber (anderen) Gläubigern in der Insolvenz und der Vorrangigkeit gegenüber dem („echten“) Eigenkapital eine zeitliche Befristung der Kapitalüberlassung und die zumindest vertragliche Gewährleistung von Stimm- und Kontrollrechten.29
14.25
Als Finanzierungsinstrumente mit Fremdkapitalausrichtung sind die typische stille Beteiligung, das Nachrang- und das Verkäuferdarlehen anzusehen. Die typische stille Beteiligung ist eines der wenigen gesetzlich definierten Mezzanine-Finanzierungsmittel (§§ 230 ff. HGB).30 Der stille Gesellschafter erwirbt mit seiner Beteiligung Anspruch auf Gewinnbeteiligung, wohingegen eine Beteiligung am Verlust der Gesellschaft teilweise oder ganz ausgeschlossen werden kann. In jedem Fall beschränkt sich die Verlustteilnahme des stillen Gesellschafters auf die Höhe seiner Beteiligung. Von der stillen Beteiligung abzugrenzen ist das partiarische Darlehen, bei dem eine Verlustbeteiligung des Darlehensgebers ausgeschlossen und die Möglichkeit der Gewährung von Kontrollrechten stark eingeschränkt ist.31
14.26
Nachrangdarlehen (Junior oder Subordinated Debt) werden unter Abschluss einer Rangrücktrittsvereinbarung geschlossen, die sich entweder zugunsten bestimmter aufgeführter Dritter oder allgemein gegenüber sämtlichen Gläubigern der Gesellschaft auswirkt. Rangrücktrittsvereinbarungen führen zur Vermeidung der Überschuldung, sofern die jeweilige Forderung nur aus künftigen Jahresüberschüssen oder einem etwaigen Liquidationsüberschuss aus weiterem, die sonstigen Schulden der Gesellschaft übersteigenden Vermögen getilgt werden soll. Die vom Rangrücktritt erfasste Forderung ist dann bei der Ermittlung des Überschuldungsstatus der Gesellschaft nicht zu berücksichtigen. Die Vergütung des darlehensgebenden Investors besteht regelmäßig sowohl aus einer festen Nominalverzinsung als auch einer gewinnabhängigen Zusatzvergütung. Daneben kommen Wandel- oder Optionsrechte des Investors, sog. Equity-Kicker, in Betracht, die in bestimmten Fällen die Umwandlung der Darlehensforderungen in Eigenkapital ermöglichen. Zu beachten ist dabei, dass der Erwerb der Anteile erst nach vollständiger Rückzahlung des Darlehens erfolgt. Durch Verkäuferdarlehen (Vendor Loans) gewährt der Verkäufer dem Erwerber des Unternehmens oder der Beteiligung über die Gewährung eines Darlehens mittelbar eine Stundung des Kaufpreises. Demgegenüber stellen Wandel- und Optionsanleihen echte hybride Finanzierungsformen dar. Wandelanleihen gewähren als Schuldverschreibungen der Gesellschaft dem Investor das Recht, bei Fälligkeit der Anleihe statt der Rückzahlung des eingesetzten Kapitals die Ausgabe
14.27
27 Der Begriff Mezzanine wird in der Architektur für die Bezeichnung eines Zwischengeschosses verwendet. 28 Häger/Elkemann-Reusch, Mezzanine Finanzierungsinstrumente, S. 22; Then Bergh, Leveraged Management Buyout, S. 69. 29 Häger/Elkemann-Reusch, Mezzanine Finanzierungsinstrumente, S. 22 f. 30 Hopt in Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, § 230 HGB Rz. 1 ff.; K. Schmidt in MünchKomm/HGB, § 230 HGB Rz. 7 f. 31 Häger/Elkemann-Reusch, Mezzanine Finanzierungsinstrumente, S. 28, Rz. 16.
Weinheimer/Renner 1177
Kap. 14 Rz. 14.28
Private Equity
von Anteilen an der Anleiheschuldnerin zu verlangen, wobei eine Anrechnung des zurück zu gewährenden Anleihekapitals auf das einzuzahlende Grundkapital erfolgt. Die Optionsanleihe gewährt dem Anleihegläubiger hingegen neben dem Rückzahlungsanspruch auf das eingesetzte Anleihekapital eine selbständige Option auf den Bezug einer bestimmten Anzahl der Anteile an der Anleiheschuldnerin zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Anleihe. Im Gegensatz zur Wandelanleihe sind der Rückzahlungsanspruch auf die Anleihe und das Optionsrecht auf den Erwerb von Kapitalbeteiligungen voneinander trennbar.32 Grundsätzlich ist mithin auch im Bereich der Verwertung eine eigenständige Behandlung des Optionsrechts, etwa eine Abtretung der Rechte, möglich. Im Sonderfall der Going-Public-Anleihe entsteht eine Option zum Erwerb von Anteilen an der Gesellschaft lediglich für den Fall eines Börsengangs der Anleiheschuldnerin.33
14.28 Den Finanzierungsformen mit Eigenkapitalcharakter sind Genussrechte und atypische stille Beteiligungen zuzurechnen. Genussrechte sind entweder gewinnabhängige verzinsliche Vermögenseinlagen oder Gewinnbeteiligungsanlagen.34 Im Gegensatz zu der stillen Beteiligung gewähren Genussrechte dem Investor lediglich schuldrechtliche Ansprüche. Diese sind vermögensrechtlicher Art und umfassen regelmäßig insbesondere die Teilhabe am Gewinn und Verlust oder Liquidationserlös der Gesellschaft. Demgegenüber gewähren sie grundsätzlich keine Stimm-, Kontroll- oder Informationsrechte. Die atypische stille Beteiligung gewährt dem Anteilsinhaber neben der Beteiligung am Ergebnis der Gesellschaft zusätzlichen Einfluss auf die Führung der Gesellschaft durch Kontroll- und Stimmrechte. Voraussetzung für die Passivierung des Mezzanine-Kapitals sind neben der Erfolgsabhängigkeit der Vergütung die Teilnahme am Verlust der Gesellschaft und die Nachrangigkeit der Ansprüche in der Insolvenz.35
II. Aktuelle Entwicklungen der Private Equity-Praxis 1. Entwicklung der gesetzlichen Rahmenbedingungen
14.29 Auswirkungen auf die Entwicklung der Private Equity-Branche hatten in den letzten Jahren vor allem der Private Equity-Erlass von 2003,36 die Diskussionen um Steuertransparenz und Umsatzsteuer auf Geschäftsführungsleistungen des Managements, die Einführung des Wagniskapitalbeteiligungsgesetzes (WKBG37), die Änderung des Unternehmensbeteiligungsgesellschaftsgesetzes durch das Gesetz zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen (MoRaKG38) sowie die Änderungen des § 64 Satz 3 GmbHG und des § 92
32 Habersack in MünchKomm/AktG, § 221 AktG Rz. 13. 33 Kerber, Eigenkapitalverwandte Finanzierungsinstrumente – Zum Finanzierungspotential von Wandelschuldverschreibungen aus aktienrechtlicher Sicht, 2002, S. 13; Habersack in MünchKomm/AktG, § 221 AktG Rz. 33; Lutter in KölnKomm/AktG, § 221 AktG Rz. 188 ff. 34 K. Schmidt in MünchKomm/HGB, § 230 HGB Rz. 53. 35 Vgl. HFA-Stellungnahme, „Zur Behandlung von Genussrechten im Jahresabschluss von Kapitalgesellschaften“, 1/1994, 419. 36 BMF-Schreiben v. 16.12.2003 – IV A 6 - S 2240 – 153/03, BStBl. I 2004, 40. 37 Gesetz zur Förderung von Wagniskapitalbeteiligungen (Wagniskapitalbeteiligungsgesetz – WKBG) vom 12.8.2008, in Kraft getreten am 19.8.2008, BGBl. I 2008, 1672. 38 Gesetz zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen (MoRaKG) vom 12.8.2008, in Kraft getreten am 19.8.2008, BGBl. I 2008, 1672.
1178
Weinheimer/Renner
A. Einleitung
Rz. 14.30a Kap. 14
Abs. 2 Satz 3 AktG durch das MoMiG39 in 2008. Im November 2010 wurde schließlich die Richtlinie über die Verwalter alternativer Investmentfonds, kurz AIFM-Richtlinie (englisch: Alternative Investment Fund Manager Directive), vom Europäischen Parlament angenommen.40 Berührungspunkte der AIFM-Richtlinie mit der Private Equity-Praxis finden sich insbesondere im Schutz von Anlegern und Finanzmärkten. Zu diesem Zweck wurden Regelungen zur Risikostreuung und zur Vermeidung von Interessenkonflikten aufgenommen. Zusätzlich begründet die Richtlinie Transparenzpflichten für die Vergütung von Mitarbeitern von Private Equity-Fonds und gegen das sog. „Ausschlachten“ von Unternehmen.41 Die Umsetzung der Richtlinie in Deutschland erfolgte durch das AIFM-Umsetzungsgesetz42 mit der Folge beachtenswerter Änderungen: Das erst 2008 eingeführte WKBG wurde aufgehoben und das Kapitalanlagegesetzbuch (KAGB) trat am 22.7.2013 in Kraft. Letzteres ersetzte u.a. das Investmentgesetz, dessen Regelungen in das KAGB integriert wurden. Intention des Gesetzgebers war es, den bisherigen Aufsichts- und Regulierungsrahmen für Investmentfonds auf eine höhere Ebene zu bringen. Besonders Private Equity-Investoren müssen sich an neue regulatorische Anforderungen gewöhnen. Gleichzeitig wurde damit ein Beitrag zur Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes geleistet.43
14.29a
Inhaltlich enthält das KAGB Normen für alle Formen von Investmentvermögen44 und ist 14.30 damit auch Grundlage für in Deutschland regulierte Fondsstrukturen. In den Anwendungsbereich des KAGB fallen somit auch Private Equity-Fonds.45 Insbesondere wurden neue Regulierungsvorschriften für die Zulassung, die Verwaltung und den Vertrieb von Private Equity-Fonds durch den Gesetzgeber eingeführt.46 Beachtenswert sind aber auch die Neuerungen für die Regulierung von Private Equity-Transaktionen im Sinne des KAGB. Gemeint sind hiermit Investitionen in nicht börsennotierte Unternehmen ab 250 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von mehr als 50 Millionen Euro oder einer Jahresbilanzsumme von mehr als 43 Millionen Euro.47 Für derartige Transaktionen gelten nun u.a. Regelungen zur Unternehmenszerschlagung, zu Ausschüttungen oder allgemeinen Mitteilungspflichten. Die §§ 287 ff. KAGB enthalten Vorschriften für AIF (Alternative Investmentfonds, vgl. § 1 14.30a Abs. 3 KAGB), die die Kontrolle über nicht börsennotierte Unternehmen und Emittenten erlangen. Vorwiegend bezwecken sie den Schutz des Kapitals und sollen der Unternehmensübernahme zu einer schnellen Profitmaximierung entgegenwirken.48 In den Geltungsbereich fallen AIF-Kapitalverwaltungsgesellschaften. Laut Definition in § 1 Abs. 16 KAGB sind darunter Gesellschaften zu verstehen, die mindestens einen AIF verwalten oder zu verwalten beabsichtigen und i.S.v. § 17 KAGB ihren satzungsmäßigen Sitz und ihre Hauptverwaltung im Inland haben. Der Geschäftsbetrieb muss darauf gerichtet sein, entweder inländisches Investmentvermögen, EU-Investmentvermögen oder ausländische AIF zu verwalten. 39 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) vom 23.10.2008, in Kraft getreten am 1.11.2008, BGBl. I 2008, 2026. 40 Richtlinie 2011/61/EU. 41 Eilers/Koffka in Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 7 f., Rz. 9. 42 AIFM-UmsG v. 4.7.2013, BGBl. I 2013, 1981. 43 Nelle/Klebeck, BB 2013, 2499. 44 Loritz/Uffmann, WM 2013, 2193. 45 Schröder/Rahn, GWR 2014, 49. 46 Van Kann/Redeker/Keiluweit, DStR 2013, 1483. 47 Vgl. die Gesetzesbegründung zu BT-Drucks. 17/13395, nach der die Definition gem. Art. 2 Abs. 1 des Anhangs der Empfehlung 2003/361/EG der Kommission v. 6.5.2003 gilt. 48 Schröder/Rahn, GWR 2014, 49 (52).
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Kap. 14 Rz. 14.30b
Private Equity
14.30b Eine wichtige Vorschrift in diesem Bereich ist § 292 KAGB, die umfassende Regulierungen hinsichtlich Ausschüttungssperren normiert. So sind z.B. Ausschüttungen innerhalb der ersten 24 Monate nach Erlangung der Kontrolle des Zielunternehmens durch den AIF nicht gestattet, wenn dadurch eine Unterbilanz entstünde, also das Nettoaktivvermögen bei Geschäftsjahresabschluss den Betrag des gezeichneten Kapitals unterschreitet oder infolge einer solchen Ausschüttung unterschreiten würde. Ausschüttungen dürfen demnach nur noch aus verfügbarem Eigenkapital erfolgen.49 Unter Ausschüttungen fallen nach § 292 Abs. 3 Nr. 1 KAGB insbesondere die Zahlung von Dividenden und Zinsen im Zusammenhang mit Anteilen. Eine solche ausgedehnte Begriffsdefinition der Ausschüttung birgt natürlich das Risiko der Umgehung. Um dem vorzubeugen, sollen auch Zinsen auf hybrides Kapitel, das sich in Anteile an dem Zielunternehmen umwandeln lässt, wie z.B. Wandelschuldverschreibungen, in den Anwendungsbereich der Ausschüttung i.S.d. § 292 KAGB fallen.50 Zugleich wird aber gem. § 292 Abs. 2 Nr. 2 KAGB klargestellt, dass Ausschüttungen an die Anteilseigner aus dem Jahresgewinn weiterhin erlaubt sind.
14.30c Neben den oben beschriebenen Ausschüttungssperren werden in § 289 KAGB Mitteilungspflichten für die AIF-Kapitalverwaltungsgesellschaft aufgestellt. Danach muss die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) im Falle des Über- oder Unterschreitens der Beteiligungsschwellen von 10, 20, 30, 50 und 75 % an einem nicht börsennotierten Unternehmen unterrichtet werden. Zudem werden in §§ 290 Abs. 1, 288 Abs. 1 i.V.m. § 287 Abs. 1 KAGB festgelegt, dass im Falle des Übertretens der 50 % Schwelle neben der BaFin auch die Anteilseigner und das betroffene Unternehmen informiert werden müssen. Fraglich ist allerdings der Hintergrund dieser Regelung. Das Ergreifen von Abwehrmaßnahmen scheint zu diesem Zeitpunkt nicht mehr erfolgsversprechend zu sein. Die Meldepflicht dient daher offensichtlich nur informativen Zwecken.51 Ebenso ist die AIF-Kapitalgesellschaft dazu verpflichtet, Kontakt zum Vorstand des Unternehmens aufzunehmen, um die Arbeitnehmervertreter beziehungsweise die Arbeitnehmer selbst von der Übernahme zu unterrichten.
14.30d Gemäß § 291 KAGB hat die AIF-Kapitalgesellschaft auch besondere Regelungen hinsichtlich des Jahresabschlusses und des Lageberichts zu beachten. Unter anderem ist auf eine rechtzeitige Erstellung des Jahresabschlusses hinzuwirken oder aber es sind im eigenen Jahresabschluss Informationen über das Zielunternehmen aufzunehmen.
14.31 Auch das Unternehmensbeteiligungsgesellschaftsgesetz (UBGG52) zielt, entgegen der ursprünglichen Zielsetzung, nicht in Richtung eines allgemeinen Private Equity-Gesetzes. Nach § 2 Abs. 2 UBGG ist der Unternehmensgegenstand der Unternehmensbeteiligungsgesellschaft (UBG) der Erwerb, das Halten, die Verwaltung und die Veräußerung von Unternehmensbeteiligungen im Allgemeinen. Regelungsgehalt des UBGG ist insoweit die Tätigkeit und Beaufsichtigung von Unternehmensbeteiligungsgesellschaften. Ihre Anerkennung und Aufsicht liegen im Zuständigkeitsbereich der Bundesländer und erfolgen regelmäßig durch die jeweiligen Wirtschaftsministerien. Die UBG kann in der Rechtsform der Aktiengesellschaft, GmbH, Kommanditgesellschaft und KGaA betrieben werden. Ihr Sitz und ihre Geschäftsleitung sind inländisch zu errichten. Das Grund- oder Stammkapital der UBG, welches bei An49 50 51 52
Schröder/Rahn, GWR 2014, 49 (52). Zetzsche, NZG 2012, 1164 (1168). Van Kann/Redeker/Keiluweit, DStR 2013, 1483. Gesetz über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften v. 17.12.1986 (BGBl. I 1986, 2488) in der Fassung v. 9.9.1998 (BGBl. I 1998, 2765), zuletzt geändert durch Gesetz v. 28.8.2013 (BGBl. I 2013, 3395).
1180
Weinheimer/Renner
A. Einleitung
Rz. 14.32 Kap. 14
erkennung voll geleistet sein muss, muss mindestens eine Million Euro betragen. Das UBGG unterscheidet zwischen einer offenen und einer integrierten UBG. Offene UBGs dürfen mit Ablauf von fünf Jahren nach ihrer Anerkennung als UBG kein Tochterunternehmen gem. § 1a Abs. 4 UBGG mehr sein, sowie gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 UBGG keine Beteiligung eines einzelnen Gesellschafters aufweisen, der unmittelbar oder mittelbar mehr als 40 % der Stimmrechte in der UBG kontrolliert. Integrierte UBGs unterliegen demgegenüber keinen Beschränkungen in Bezug auf ihre Gesellschafterstruktur. Diese unterliegen jedoch im Hinblick auf die erworbenen Beteiligungen stärkeren Beschränkungen. Beiden Arten der Beteiligungsgesellschaften ist gemein, dass sie die Anlagegrenzen des § 4 Abs. 1, 2 UBGG einhalten müssen. UBGs sind danach nach Ablauf der ersten drei Jahre der Tätigkeit der Erwerb einer Beteiligung grundsätzlich nur in einem Wert von maximal 30 % der Bilanzsumme des jeweiligen Zielunternehmens der UBG erlaubt. Anteile an einem börsennotierten Unternehmen, dessen Bilanzsumme 250 Millionen Euro übersteigt, dürfen nicht erworben werden. Es besteht ferner ein Majorisierungsverbot, wonach ein Beteiligungserwerb nicht zur Erlangung von Stimmrechten i.H.v. mehr als 49 % führen darf. Für die offene UBG erfährt diese Grenze insoweit eine Einschränkung, als eine Überschreitung der genannten Grenze einmalig je Beteiligung zulässig ist, sofern eine Rückführung auf die genannte Grenze innerhalb von acht Jahren erreicht wird. Offenen UBGs steht demnach das bereits geschilderte Geschäftsfeld von Buy-Out-Transaktionen institutioneller Investoren ohne übermäßige Beschränkungen offen. Für die integrierte UBG findet die Ausnahme des Majorisierungsverbots nur insoweit Anwendung, als Mehrheitsbeteiligungen bereits vor Ablauf eines Jahres zurückgeführt werden müssen. Darüber hinaus ist bei integrierten UBGs der Beteiligungserwerb beschränkt auf Unternehmen, an denen mindestens eine der zur Geschäftsführung befugten natürlichen Personen mit einem Anteil von 10 % an den Stimmrechten des Unternehmens beteiligt ist. Die UBG trifft ferner gem. § 4 Abs. 6 UBGG eine zeitliche Haltegrenze von 15 Jahren, wonach das Halten von Beteiligungen unzulässig werden kann, wenn der Buchwert der länger als 15 Jahre gehaltenen Beteiligungen zusammen einen Anteil von 30 % der Bilanzsumme übersteigt. Auch UBGs werden steuerlich durch die Einstufung ihrer Tätigkeit als vermögensverwaltende Tätigkeit und der daraus folgenden Gewerbesteuerfreiheit gefördert. Die Privilegierung des § 24 UBGG, wonach Gesellschafter von UBGs von dem Eingriff des 14.32 Eigenkapitalersatzrechts ausgeschlossen sind, wurde durch das MoRaKG in seiner Anwendung insoweit erweitert, als Darlehen und wirtschaftlich vergleichbare Rechtshandlungen, welche der Zielgesellschaft von der UBG oder einem ihrer Gesellschafter gewährt werden, nicht der Nachrangigkeit gem. § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO unterliegen. Ursprünglich bezweckte der Gesetzgeber mit der Schaffung der Vorschrift die Erleichterung der Gründung von UBGs durch Banken und Versicherungsunternehmen.53 Dieses Ziel ist der neuen gesetzgeberischen Intention gewichen, eine Stärkung der Breite der Finanzierungsmöglichkeiten kleiner und mittelständischer Unternehmen durch eine Privilegierung der Fremdkapitalvergabe durch UBGs zu erreichen.54 Die Regelung stellt sich damit als Fremdkörper im System des UBGG dar, widerspricht sie doch der eigentlichen Gesetzesintention, eine Verbesserung der Eigenkapitalversorgung deutscher Unternehmen zu erreichen.55 Nichtsdestotrotz stellt die Rege-
53 BT-Drucks. 10/4551, 30 f. 54 BT-Drucks. 16/6311, 26. 55 Fock, UBGG, § 24 Rz. 15; Feldhaus in Feldhaus/Veith, Frankfurter Kommentar zu Private Equity, Kap. 2, § 24 Rz. 11; Haag/Veith, BB 2008, 1921.
Weinheimer/Renner 1181
Kap. 14 Rz. 14.33
Private Equity
lung des § 24 UBGG für Private Equity-Gesellschaften in der Praxis einen der wichtigsten Anreize zum Bestreben der Anerkennung als UBG dar.56 2. Statistische Kennzahlen
14.33 Die Entwicklung des Private Equity-Marktes in Deutschland verschob sich seit den 1990er Jahren von den Expansionsfinanzierungen nach einem zwischenzeitlich starken Wachstum insbesondere der Venture Capital-Investitionen (Early Stage, Seed Phase) im Rahmen der High Tech- und Neuer Markt Euphorien bis zum Jahre 2000 hin zu einer klaren Dominanz der Buy-Out-Investitionen.57
14.34 Das Investitionsvolumen der dem Private Equity-Bereich zuzurechnenden Beteiligungskäufe deutscher Beteiligungsunternehmen entwickelte sich von 700 Millionen Euro im Jahr 1996 und 4,76 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf 10,6 Milliarden Euro im Jahr 2007 sowie 8,4 Milliarden Euro im Jahr 2008.58 Nachdem sich die Investitionen seit dem Jahr 2010 stetig steigerten, wurde im Jahr 2013 erstmals wieder ein Rückgang verzeichnet. Das Vorjahresergebnis wurde um 29 % unterschritten und lag damit in Deutschland lediglich bei 4,68 Milliarden Euro59. In der Folge hat sich der Private Equity Markt allerdings wieder stabilisiert. Für das Jahr 2016 wurden Investitionen i.H.v. 5,68 Milliarden Euro verzeichnet. Im Jahr 2017 konnte schließlich mit Investitionen i.H.v. insgesamt 9,31Milliarden Euro ein neuer Investitionsrekord verzeichnet werden.60
14.35 Das in Deutschland durch Beteiligungsgesellschaften verwaltete Kapital betrug im Jahr 2013 40,26 Milliarden Euro (2012: 40,03 Milliarden Euro).61 Ende 2015 belief sich das verwaltete Kapital auf 39,06 Milliarden Euro.62
14.36 Inhaltlich richteten sich die Investitionen auch 2016 weit überwiegend (75,6 %) auf BuyOut-Finanzierungen. Investitionen in der Expansionsphase (6,6 %) sowie im Venture Capital-Bereich (16,4 %) kamen daneben eine deutlich geringere Rolle zu. Im Jahr 2016 machten Buy-Outs zwar 75,6 % der Investitionen der in Deutschland ansässigen Beteiligungsgesellschaften (Branchenstatistik) aus, allerdings sank ihr Volumen (4,3 Milliarden Euro) im Vergleich zum Vorjahr (4,8 Milliarden Euro). Im Vergleich dazu übertrafen Venture Capital Investitionen mit 0,93 Milliarden Euro das Vorjahresergebnis (0,83 Milliarden Euro).63
14.37 Branchenspezifisch entfielen 2016 drei Viertel der Investitionen auf die Branchen Unternehmensprodukte und -dienstleistungen (33 %), Kommunikation, Computer, Elektronik (23 %) und Konsumgüter und -services (20 %). Auf die Branche des Gesundheitswesens und der Biotechnologie entfielen zudem 9,2 % der Investitionen.64 56 Fischer, WM 2008, 859; Feldhaus in Feldhaus/Veith, Frankfurter Kommentar zu Private Equity, Kap. 2, § 24 Rz. 1. 57 Laut Statistik des Bundesverbandes Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften betrug der Anteil von Buy-Outs 2016 76 %, www.bvkap.de. 58 Statistiken des Bundesverbandes Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften – German Private Equity and Venture Capital Association e.V., www.bvkap.de. 59 BVK-Statistik, Das Jahr in Zahlen 2013, Berlin 2014, S. 6, Ziff. 6. 60 BVK- Das Jahr in Zahlen2017, abrufbar unter: www.bvkap.de. 61 Bezogen auf die erfassten BVK-Mitglieder. 62 BVK-Statistik, Das Jahr in Zahlen 2015, Berlin 2016, S. 4, Ziff. 4. 63 BVK-Statistik, Das Jahr in Zahlen 2016, abrufbar unter: www.bvkap.de. 64 BVK-Statistik, Das Jahr in Zahlen 2016, abrufbar unter: www.bvkap.de.
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Weinheimer/Renner
B. Gesellschaftsrechtliche Schranken der Beteiligung
Rz. 14.40 Kap. 14
Im Jahr 2013 summierte sich das Fundraising deutscher Beteiligungsgesellschaften auf 1,1 Milliarden Euro (2012: 1,97 Milliarden Euro). Dieser Betrag hat sich bis Ende 2016 mehr als verdoppelt. So summierte sich das Fundraising deutscher Beteiligungsgesellschaften im Jahr 2016 auf 2,33 Milliarden Euro (2015: 1,53 Milliarden Euro). Während das Exit-Volumen deutscher Beteiligungsgesellschaften im Jahr 2013 noch ein Volumen von 5,73 Milliarden Euro (Vorjahr: 3,88 Milliarden Euro) erreichte, betrug es 2016 lediglich 2,92 Milliarden Euro, was eine Halbierung im Vergleich zum Vorjahr (5,73 Milliarden Euro) bedeutete.65
14.38
B. Gesellschaftsrechtliche Schranken der Beteiligung I. Rechtsnatur und Inhalt des Beteiligungsvertrages Der Beteiligungsvertrag regelt in Form einer schuldrechtlichen Vereinbarung zwischen den (Alt-) Gesellschaftern und dem Private Equity-Investor, sowie unter Umständen auch der Zielgesellschaft, die Konditionen für ein Investment beziehungsweise einen Anteilserwerb des Investors.66 Mit dem Begriff des Beteiligungsvertrages im weiteren Sinne wird regelmäßig auch eine ergänzende Gesellschaftervereinbarung bezeichnet, die Vereinbarungen bezüglich der Ausgestaltung von etwaigen Mitverwaltungs- und Kontrollrechten der Investoren, Vereinbarungen einseitiger Bezugsrechte (um anfängliche Bewertungsunsicherheiten durch eine erneute Kapitalerhöhung beheben zu können) oder Vesting-Klauseln (die den Erhalt der Gesellschafterstellung an eine Managementtätigkeit knüpfen) enthalten kann. Essentielle Bestandteile des Beteiligungsvertrages sind jedoch jedenfalls, wie bei jedem Unternehmenskauf, die Form und Höhe der Investition und die Beteiligung des Investors an der Zielgesellschaft sowie etwaige Garantien durch die Altgesellschafter. Daneben können jedoch auch im Beteiligungsvertrag im engeren Sinne Bestimmungen bezüglich der mit den neuen Anteilen verbundenen Rechte sowie Vereinbarungen über den Ausstieg des Investors und damit zusammenhängend Veräußerungsbeschränkungen für die (Alt-) Gesellschafter, Mitveräußerungsrechte oder Put- und Call-Optionen zu finden sein. Eine allgemeine Abgrenzung der Inhalte des jeweiligen Vertrages erfolgt in der Praxis insbesondere im Hinblick auf die das Verhältnis von Investoren und (Alt-) Gesellschaftern regelnden Verpflichtungen nicht.67 Trotz des schuldrechtlichen Charakters des Beteiligungsvertrages fin