212 58 2MB
German Pages 768 [760] Year 2014
Dahs
Handbuch des Strafverteidigers
Handbuch des Strafverteidigers von
Prof. Dr. Hans Dahs Rechtsanwalt Bonn
unter Mitarbeit von
Felix Rettenmaier Rechtsanwalt Frankfurt am Main
8. neu bearbeitete und erweiterte Auflage
2015
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-16556-7 ©2015 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany
Gunter Widmaier zum Andenken
Vorwort Mit dieser 8. Auflage wird eine grundlegende und erweiterte Neubearbeitung des Handbuchs auf dem Stand von Mitte 2014 vorgelegt. Unverändert ist die Zielsetzung: Das Handbuch lehrt keine Dogmen, beansprucht nicht den Rang eines wissenschaftlichen Werkes der Lehre oder Forschung, sondern soll ein verlässlicher Ratgeber für den praktischen Gebrauch sein und sowohl dem jungen Rechtsanwalt („Zum zweiten Staatsexamen habe ich mir von meinen Eltern dieses Buch gewünscht!“) wie auch dem Juristen, der (nach vielleicht vielen Jahren) wieder in die anwaltliche Strafverteidigung „einsteigen“ will oder als „Nicht-Rechtsanwalt“ Erkenntnisse über „Geist und Handwerk“ des Verteidigers gewinnen will, aber auch dem gestandenen Strafverteidiger als Hilfe in den unterschiedlichen Berufssituationen dienen. Das Handbuch des Strafverteidigers ist keine „Betriebsanleitung Strafverteidigung“ und enthält deswegen auch keine „Schriftsatzmuster“ oder „Formulare für den Strafverteidiger“. Die Bestimmungen der Straf- und Prozessgesetze sind bei weitem nicht das einzige oder gar wichtigste Handwerkszeug des Strafverteidigers. Menschenkenntnis und Menschenführung, Lebens- und Berufserfahrung, Gespür und Psychologie machen sehr viel mehr aus. Der Verteidiger steht auch in einer dauernden inneren Auseinandersetzung mit seinem natürlichen Erfolgsstreben einerseits und dem ethischen Postulat seines Berufes andererseits. Er ist nicht zuletzt im Einzelfall dazu berufen, die Fragen nach Gesetz und Recht in ein gerechtes Verhältnis zu Opportunitätsfragen und zur Taktik der Verteidigung zu bringen. All diese geschriebenen und ungeschriebenen besonderen Anforderungen des Berufes sind der Stoff dieses Handbuchs. Mein Dank für die Zusammenarbeit bei der Erarbeitung der 8. Auflage gilt in erster Linie Herrn Kollegen Felix Rettenmaier (Frankfurt). Er hat als anwaltlicher Strafverteidiger deutlich jüngerer Generation seine Sicht der Materie in das gesamte Werk eingebracht. Auch im Übrigen hat sich gegenüber der 7. Auflage manches geändert; dazu gehört u.a. die gesetzliche Regelung der Verständigung in § 357c StPO – die zwar nicht alle Probleme beseitigt, dem geschickten Verteidiger aber manchen Ansatzpunkt bietet. Ob andere Entwicklungen, wie z.B. der „compliance-investigator“ für das Rechtsleben der Wirtschaft und den Strafverteidiger eine Bereicherung ist, bleibt zumindest vorläufig offen. Für zahlreiche wertvolle Anregungen aus der Sicht des Journalisten danke ich Herrn Jürgen Kleikamp herzlich. Im Übrigen bin ich Frau DiplomBibliothekarin Michaela van der Linde, Frau Referendarin Leonie Bardt, Frau stud. jur. Nadine Bauer und insbesondere meiner schon bei früheren Auflagen sehr bewährten Sekretärin Frau Sylvia Fromm für ihre wertvolle Mitarbeit besonders dankbar. Bonn, im September 2014
Hans Dahs VII
Inhaltsübersicht Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
A. Erster Hauptteil Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren Rz Seite
I. II. III. IV. V.
Der Berufsauftrag des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . Das Selbstverständnis des Verteidigers . . . . . . . . . . . . Unabhängigkeit des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Verteidiger im Widerstreit seiner Berufspflichten Verteidiger und Medien-Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . .
. . . . .
1 23 28 45 97
6 18 21 30 64
118 119 167 168 172 175 211 221
79 79 109 110 114 117 146 154
B. Zweiter Hauptteil Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verteidiger und Mandant . . . . . . . . . . Verteidiger und Verteidiger . . . . . . . . . Verteidiger und Geschädigter . . . . . . . Verteidiger und Polizeibehörden . . . . . Verteidiger, Staatsanwalt und Richter . Verteidiger und Zeuge . . . . . . . . . . . . . Verteidiger und Sachverständiger . . . .
............. ............. ............. ............. ............. ............. ............. .............
IX
Inhaltsbersicht
C. Dritter Hauptteil Die Aufgaben des Verteidigers in den Abschnitten des allgemeinen Strafverfahrens Rz Seite
I. Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren . . . . II. Der Verteidiger im Zwischenverfahren . . . . . . III. Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren . . . V. Der Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren VI. Beteiligung des Verletzten . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Strafbefehlsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Allgemeine Rechtsbehelfe im Verfahren . . . . .
....... ....... ....... ....... ....... ....... ....... .......
233 420
163 283
448 816 996 1029 1070 1079
298 501 579 593 609 614
D. Vierter Hauptteil Der Verteidiger im Verfahren der Strafaussetzung zur Bewährung, der Strafvollstreckung, der Straftilgung und im Gnadenverfahren I. Verteidiger und Resozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . II. Strafaussetzung zur Bewährung und Aussetzung des Strafrestes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Strafvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Straftilgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gnadenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . 1100
627
. . 1101 . . 1110
628 634 642 646
. . 1126 . . 1134
E. Fünfter Hauptteil Der Verteidiger in besonderen Funktionen I. Der Verteidiger als Rechtsberater und Rechtsvertreter von Wirtschaftsunternehmen in Strafsachen . . . . . . . II. Der Verteidiger als Zeugenberater und anwaltlicher Zeugenbeistand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Verteidigung von Ausländern . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Verteidiger in Verfahren vor parlamentarischen Untersuchungsausschüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der Verteidiger in eigener Sache . . . . . . . . . . . . . . . . .
X
. 1145
651
. 1160 . 1169
659 664
. 1173
665 668
. 1180
Inhaltsbersicht
F. Sechster Hauptteil Die Honorierung des Strafverteidigers Rz Seite
I. II. III. IV.
Ein heikles Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vereinbarungshonorare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kostenzahlung und Kostensicherung . . . . . . . . . Probleme der Niederlegung der Verteidigung aus Kostengründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Verteidigerhonorar und Geldwäsche . . . . . . . . . . VI. Steuersünden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . 1185 . . . . . . 1195 . . . . . . 1219 . . . . . . 1223
671 674 686
. . . . . . 1227 . . . . . . 1232
688 690 693
Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
697
XI
Inhaltsverzeichnis (Die in Klammern gesetzten Zahlen bezeichnen die Randziffern) Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
Einführung in die Benutzung des Handbuchs . . . . . . . . . . . . . . . .
1
A. Erster Hauptteil Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren Rz. Seite
I. Der Berufsauftrag des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . .
1
6
1. Verteidiger und Strafjustiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
6
3
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III. Unabhängigkeit des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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21
1. Der Bereich der Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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21
Verfolgungszwang (1), Justizförmigkeit (2)
2. Der Verteidiger – Organ der Rechtspflege . . . . . . . . . . . . Organ der Rechtspflege (3), Bindung und Freiheit (3), öffentlichrechtliche Komponente (4), selbständiger Beistand (5), Verschulden (6), Strafanträge (8)
3. Die Schutzaufgabe des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . Beistand und Berater (9), Schutzfunktion des Staatsanwalts (10), Einseitigkeit des Verteidigers (11), freie Beweiswürdigung (13), justizielles Unrecht (14), Rechtssicherheit (15), Umgang mit Mandant (16)
4. Die Beratungsfunktion des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . Vertrauensgrundlage (17), Schuld oder Nichtschuld (18), Bestreiten oder Geständnis (18), Prozessprognose (21)
II. Das Selbstverständnis des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . Eckpunkte (23), Dienstleister (24), „kein Entscheider“ (25), „Einzelkämpfer“ (26), Partner der Rechtspflege (27)
Unabhängigkeit vom Staat (29), vom Gericht (30), vom Mandanten (31), vom „Kostenträger“ (32), vom Kammervorstand (35)
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1. Der Teufelskreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Wahrheitspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Verteidiger und Medien-Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . .
97
64
1. Öffentlichkeit in Strafprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Bindung an das Berufsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwaltliches Berufsrecht (38), Minimalstandard (39), Konfliktverteidigung (39)
3. Ausschließung und Überwachung des Verteidigers . . . . . Rechtsgrundlagen (40), Entscheidungszuständigkeit (41), Pflichtverteidiger (42), Überwachung der Mandantenkontakte (44)
IV. Der Verteidiger im Widerstreit seiner Berufspflichten
Verbot der Lüge (46), Zweifelhafte Beweisbehauptungen (47), Konflikte (47)
3. Verschwiegenheitspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweigepflicht (48), Öffentlichkeit (49), Mitarbeiter und Personal (50), Handakten (51), Widerstreit zur Wahrheitspflicht (53), Übertragung von Verteidigerwissen (55), Offenbarungspflicht (57)
4. Verteidigung und Strafvereitelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefährliche Nachbarschaft (59), Mangel am Tatbestand (59), Konfliktsituationen (60), Strafvereitelung und Verschwiegenheitspflicht (63), Hinderung der Strafverfolgung (64), Auslieferung (66), Zeitgewinn (67), Kollusion (72), Verteidigerbesprechungen; koordinierte Verteidigung (72), Strafvereitelung in der Hauptverhandlung (73), Prozesssabotage/Konfliktverteidigung (75), Konfliktlagen (76)
5. Verteidigung des schuldigen Angeklagten . . . . . . . . . . . . Problemstellung (77), legale Verteidigung (79), praktische Erfahrungen (81), Niederlegung der Verteidigung (82)
6. Interessenkollision und Parteiverrat . . . . . . . . . . . . . . . . Treuepflicht (83), mehrere Beschuldigte (83), Beratung (84), Gefährdung der Rechtspflege (85), dieselbe Rechtssache (86), „Ausrichtung“ des Mandats (87), Aktenauszug für Versicherungen (89), Verbotsirrtum (90), „böser Anschein“ (91)
7. „Werbung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bekanntheit durch Leistung und Medien (92), Mandate aus der JVA (95), Homepage (96)
„Elektronische“ Öffentlichkeit (97), parlamentarische Untersuchungsausschüsse (98), Presseerklärungen (98), Konfliktfälle (98)
2. Verteidiger und Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
118
79
II. Verteidiger und Mandant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119
79
1. Übernahme der Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wahlverteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120 120
80 80
145
92
a) Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebot der Sachlichkeit (99), Boulevardmedien (100)
b) Medienkontakte als „flankierende Verteidigung“ . . . . Grundsätze (101), Medienkontakte/Hintergrundgespräche (101), Presseerklärungen und Pressekonferenzen (102), Story des Mandanten (103), Konflikte (104)
c) Schutz des Mandanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abwehrmaßnahmen (105), „Stillhalteabkommen“ (106), Gegendarstellung (107), Strafanzeige (108), Zivilklagen (109), Krisenmanagement (110), Hauptverhandlung (111)
d) Selbstschutz des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freiheit der Verteidigung (112), Strafantrag (112), Niederlegung des Mandats (112)
3. Bildaufnahmen, Fernsehen und Rundfunk . . . . . . . . . . . . Nachteile und Gefahren (113), Abwehrmaßnahmen (113), Personen der Zeitgeschichte (114), Interviews (115), Opportunität (116)
4. Öffentliches Wirken des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . .
B. Zweiter Hauptteil Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
Auftrag (120), Vollmacht (121), mehrere Verteidiger (122), Doppelverteidigung (124), Untervollmacht (125), Verteidigung von Familienangehörigen (126), Schwerverbrecher (127), Unterwelt (128), Terroristen (129), Wirtschaftsstrafsachen (130), Mandate von Politikern (131), Sexualstraftaten (133), „faule Mandate“ (134), „Vereinnahmung“ (134), verhaftete Mandanten (135), Interessenkollision (137), Mandanten in einer Hierarchie (137), Reservierung für Mandat (139), Syndikusanwalt (140), Beauftragung durch Dritte (142), Beauftragung durch Presse (142), Wiederaufnahmesachen (143), Honorarzahlung durch Dritte (144)
b) Pflichtverteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestellung (145), Anwalt des Vertrauens (148), Pflichtverteidiger und Wahlverteidiger (148), zusätzlicher Pflichtverteidiger (149), „Zwangsverteidiger“ (149), Delegation (150)
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3. Delegation der Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Niederlegung der Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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114
VI. Verteidiger, Staatsanwalt und Richter . . . . . . . . . . . . .
175
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1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aufgabenbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zusammenarbeit, Besprechungen und Absprachen . .
175 176 177
117 117 118
2. Verteidiger und Staatsanwalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
122
3. Verteidiger und Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Achtungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186 186
123 123
191 192
127 127
2. Autorität und Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Führungsanspruch (152), Besprechungsorte (153), „Ausschreibung“ von Mandaten (154), Distanz (155), Vertraulichkeiten (156), Geschwätzigkeit (159)
Zur Unzeit (161), Interessenkollision (161), Niederlegungsanzeige (162), Mandatsentziehung (163), Pflichtverteidiger (164)
5. Zivilrechtliche Haftung des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . Grundlagen (165), Verletzung der Beratungs- und Belehrungspflicht (166), Beispiele (166), Ausreden (166)
III. Verteidiger und Verteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verteidiger und Syndikusanwalt (167), Verteidigungsteam (167), „leadership“ (167), „Seilschaft“ (167)
IV. Verteidiger und Geschädigter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prozessverhütung durch Vergleich (168), Rücknahme des Strafantrags gegen Geldzahlung (169), Täter-Opfer-Ausgleich (170), Akteneinsicht des Verletzten gem. § 406e StPO (171), Empfehlungen (171)
V. Verteidiger und Polizeibehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spannungsverhältnis (172), Zusammenarbeit (173), Indiskretionen (174)
Unabhängigkeit (177), Vertrauliche Besprechungen (178), Besprechungen/Absprachen/Verständigungen (179), Stilfragen (180), Konflikte (181), persönlicher Umgang (182), wirtschaftliche Beziehungen (183), Aktenbehandlung (184)
Verhalten vor Gericht (186), „Urteilsschelte“ (187), verbale Missgriffe (187), Vorwurf der Rechtsbeugung (188), Beanstandungen der Sachleitung (189), Rechtsbehelfe (190), Drohungen (190)
b) Ehrenamtliche Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Favor judicis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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145
VII. Verteidiger und Zeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
211
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1. Behandlung des Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
211
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217 217
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VIII. Verteidiger und Sachverständiger . . . . . . . . . . . . . . . .
221
154
1. Stellung des Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221
155
4. Fehlverhalten des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unabhängigkeit (194), Ordnungsgewalt (194), Entfernung aus dem Sitzungssaal (195), Kostenfolgen (195)
5. Fehlverhalten von Richtern und Staatsanwälten . . . . . . a) Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richtertypen (196), Voreingenommenheit (196), Konfliktbereiche (196)
b)
Maßnahmen des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . Niederlegung des Mandats (197)
aa) Ablehnung von Richtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opportunität (198), Richterausschluss (199), Richterablehnung (200), Befangenheit (200), persönliche Differenzen (202), Vorangegangene Entscheidungen (203), Zurückverweisung aus Revision (203), Verfahrensabsprache (204), Ablehnungsverfahren (205)
bb) Ablehnung des Staatsanwalts . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtslage (207), Vorgehensweise (207), Vernehmung des Staatsanwalts als Zeuge (208)
cc) Andere Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strafanzeige (209), Dienstaufsichtsbeschwerde (209), Anrufung des Oberlandesgerichts (209), Verzögerungsrüge (210)
Achtungsanspruch (211), Bloßstellung (212), Vorstrafen (213), Ordnungsverstoß (214)
2. Falschaussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verteidiger als Teilnehmer (215), Strafanzeige gegen Zeugen (216)
3. Außergerichtliche Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niederschrift und Tonbandaufnahmen (217), unzulässige Beeinflussung (218), anwaltlicher Zeugenbeistand (219)
b) Eidesstattliche Versicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufnahme (220), Verwertung (220)
Gutachterprozess (221), Richtergehilfe (222), außergerichtliche Befragung (223), Sachverständiger als Zeuge (224), Haftung (225)
XVII
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2. Sachkunde des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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159
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161
Allgemeines (226), Überheblichkeit von Sachverständigen (227), Allkompetenz (227), Auswahl des Sachverständigen (228)
3. Ablehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befangenheit (229), Verfahren (230), Sachverständiger der Polizei (230), Sachverständiger als Zeuge (231)
4. Rechtsgutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Dritter Hauptteil Die Aufgaben des Verteidigers in den Abschnitten des allgemeinen Strafverfahrens I. Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . .
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163
1. Allgemeines und Besonderes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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181 182
275
189
Schutzfunktion (233), Domäne der Strafverfolgungsbehörden (234), Mitwirkung des Verteidigers (235), kooperatives Ermittlungsverfahren (235), präventives Krisenmanagement (236), proaktive Verteidigung (237), Absprachen (237), Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse (238), Medienarbeit (239), Haftpflichtversicherungen, Berufsgenossenschaften und Aufsichtsbehörden (240), Sockelverteidigung (241), Mitgestaltung des Verfahrens (243), Verfahrensbeispiele (244), „verdeckte Verteidigung“ (245)
2. Die speziellen Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einstellung des Verfahrens (246), Fernwirkung von Ermittlungsergebnissen (247), Rat zum Geständnis (247), polizeiliche Protokolle (248), Belehrung (250), Verwertungsverbot (250), Vernehmungstechnik der Polizei (252), unzulässige Vernehmungsmethoden (253), Verfahren der Staatsanwaltschaft (254), Grenzen der Verteidigung (255)
3. Verbindung zu den Organen der Strafverfolgung . . . . . . . . Polizeiliche Dienststellen (256), Staatsanwaltschaft (257), Anwesenheitsrecht (257), Ermittlungsrichter (258)
4. Akteneinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtslage und praktische Hinweise (260), Beiakten (261), Spurenakten (262), Elektronische Dateien (263), Videoaufzeichnungen (264), Umfang (265), Versagung (266), praktische Schwierigkeiten (268), Sachverständigengutachten und Vernehmungsprotokolle (270), Durchführung der Akteneinsicht (271), Akteneinsicht nach Einstellung (273 f.)
b) Aktenbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XVIII
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c) Aktenauszug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
276
191
280
192
292
198
292
199
300
204
301
205
308
207
313
210
323 323
216 216
328
219
Abschriften, Fotokopien, Dateien (276), Umfang (277), Kosten (278), Staatsschutzverfahren (279)
d) Verwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Information des Klienten (280), Rückforderung (280), Weitergabe (281), Beteiligung Dritter (283), Überlassung an Mitverteidiger (284), Überlassung an anwaltlichen Zeugenbeistand (285), Überlassung an Presse (286), Strafregisterauszüge (287), Auszug für Versicherungen (288), Untersuchungshaft (289), Verlust der Akten (291)
5. Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen . . . . . . . . . a) Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen der Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Belehrungspflicht (292), Verdächtigter und Beschuldigter (293), Verletzung der Belehrungspflicht (293), informatorische Anhörung (293), Aussageverweigerung (294), „Zurückstellung“ der Aussage (295), schriftliche Äußerung (297), Anwesenheitsrecht (298), Protokollabschriften (299)
b) Mitwirkung bei Gegenüberstellungen . . . . . . . . . . . . . Wahlgegenüberstellungen (300), Lichtbildvorlagen (300)
c) Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erscheinenspflicht (301), Anwesenheitsanspruch des Verteidigers (301), Vorbereitung (302), Fragerecht (303), Protokoll (305), Antragsrecht (307)
d) Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen des Vernehmungsrichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines (308), Beratung (309), Anwesenheit (310), Fragerecht (311), praktische Hinweise (312)
6. Eigene „Ermittlungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines (313), Zielsetzung (314), „informationeller Schutzbereich“ (315), Auskünfte (316), Zeugen (316), Sachverständige (317), Urkunden (318), Augenschein (319), „Zufallsfunde“ (319), Verwertung (320), Privatdetektive (321)
7. Einstellung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einstellung mangels hinreichenden Tatverdachts . . . . . Anspruch (323), Überobjektivierung (324), „Interesse der Öffentlichkeit“ (325), Nachsorgepflichten (326), Absprachen (327)
b) Einstellung wegen Geringfügigkeit, nach Erfüllung von Auflagen und aus anderen Gründen, Beschränkung des Verfahrensstoffs, Täter-Opfer-Ausgleich (§ 153, §§ 153a–153e; §§ 154a–154e, §§ 155a und b StPO) . . . . „Denken in Verfahrensrisiken“ (328), Geringfügigkeit, § 153 (329), Einstellung gegen Auflagen, § 153a (330), Nötigung und Erpressung (333)
XIX
Inhaltsverzeichnis Rz. Seite
c) Beschwerde und Klageerzwingung . . . . . . . . . . . . . . . .
334
224
337 337
226 227
344
231
352 352
237 238
355
239
359
241
361
243
363 364
245 247
371 372
252 252
378
255
380
257
381
259
Beschwerderecht (334), Verfahren (335), Akteneinsicht des Verletzten nach § 406e (336), „Nachsorge“ (336), besondere Prozesssituation (336)
8. Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines (337), Haftunfähigkeit (339), Vollzug der U-Haft (340), Briefverkehr (341), falsche Geständnisse (342), Besuche (343)
b)
Haftgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akteneinsicht (344), dringender Tatverdacht (344), Fluchtgefahr (345), Verdunkelungsgefahr (346), Wirtschaftsstrafsachen (347), Verhältnismäßigkeit (350), mündliche Anhörung (351)
c) Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akteneinsicht (352 f.), Anträge (354), Absprachen (354), Haftpsychosen (354)
bb) Die mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftprüfung (355), Risiken (356), Gespräche (357), Terminswahrnehmung (358)
cc) Haftbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Erfahrungen (359), Verzögerung der Entscheidung (360), Risiken (360)
d)
Haftverschonung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auflagen (361), Recherchen (361), Sicherheitsleistung (362)
e) f)
Haftdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkehr mit dem Verhafteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündlicher und schriftlicher Verkehr (364), UVollzO (364), Fehlverhalten des Verteidigers (365), „Kassiber“ (367), Nahrungs- und Genussmittel (368), Lesestoff (368), Briefverkehr (369), Rechtsbehelfe (370)
g) Anrechnung der Umtersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . h) Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen . . . . . Rechtslage (372), Fristen (373), Nachweis (374), Kosten der Verteidigung (376), Steuerpflicht (377)
i)
Freiheitsentziehung und Regress . . . . . . . . . . . . . . . . Amtshaftungsanspruch (378), Ausschlussgründe (378), Presseerklärungen (379)
j)
Vorbeugende Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drohender Haftbefehl (380), Kooperationsbereitschaft (380), vorsorglicher Verteidigungsschriftsatz (380)
9. Einstweilige Unterbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XX
Inhaltsverzeichnis Rz. Seite
382 382
259 259
390
265
401 402
272 274
411
278
412
280
II. Der Verteidiger im Zwischenverfahren . . . . . . . . . . . .
420
283
1. Verteidigungschancen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
420
283
422 422
285 285
435 436
292 292
10. Andere vorläufige Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Durchsuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung (382), Anwesenheit des Verteidigers (383), Verzeichnis (383), Durchsicht von Papieren, Datenträgern u.ä. (384), Zufallsfunde (385), Rechtsmittel (387), vorbeugende Maßnahmen (388), präventive Beratung (389)
b) Beschlagnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zulässigkeit (390), Beschwerde (391), richterliche Entscheidung (392), Pressebeschlagnahme (393), Postbeschlagnahme (394), Beschlagnahmeverbote (395), Handakten des Verteidigers (396), Akten der Syndikusanwälte (397), Verwertungsverbot (399), Entschädigungsansprüche (400), Rückgabe beschlagnahmter Sachen (400)
c) Überwachung von Kommunikation und Telekommunikation sowie Observation . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Körperliche Untersuchungen und Eingriffe . . . . . . . . . Psychiatrisches Krankenhaus (402), Verteidigungsrisiken (403), körperliche Untersuchung (404), Verfahrensfehler (405), Blutprobe (406), Testübungen (407), erkennungsdienstliche Maßnahmen (408), Polygraphentest (Lügendetektor) (409), Untersuchung von Zeugen (410)
e) „Genetischer Fingerabdruck“ (DNA-Analyse) . . . . . . Allgemeines (411), Massentests (411)
f) Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis . . . . . . . . . . Dringende Gründe (412), Wegnahme des Führerscheins (413), EU-Fahrerlaubnis (413), Fahrverbot (414), Anrechnung (414), Prüfungsrecht der Verkehrsbehörde (415), Verbotsfrist (416), Nachschulungskurs (418), Entschädigungsanspruch (419)
Praktische Erfahrungen (421), „Interesse der Öffentlichkeit“ (421), Zwischenziele und Teilerfolge (421)
2. Einwendungen gegen die Eröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahrenshindernisse (422), Verbrauch der Strafklage (424), Verhandlungsunfähigkeit (425), Strafantrag (427), Verjährung (430), Zuständigkeit (431), besondere Verteidigungschancen (434)
b) Geltendmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erklärungsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richtergespräch (437), Absprachen (437), Beweisanträge (438)
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bb) „Schutzschrift“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
440
295
445
297
III. Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
448
298
1. Vorbereitung der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
448 448
298 298
462 463
308 309
466
312
468
313
470
314
471 472
315 315
473
316
475
318
481
321
Opportunität (440), Verteidigungsstrategie (440), Rechtsausführungen (441), Blick auf die Revision (441), Sonderfälle (442), Erwiderung der Staatsanwaltschaft (444)
3. Sonstige Anträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweisanträge (445), Vorlage von Gutachten (446), Zwangsmaßnahmen (447)
Verantwortung (448), Verteidigungsstrategie (449), Konfliktverteidigung (450), sachlich-technische Vorbereitung (451), Hauptverhandlungsplan (452), technische Hilfsmittel (453), Anträge (457), Terminkollisionen (460), Beschwerde gegen Terminierung (460), Vertretung (461)
b) c)
Prüfung der Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besetzung der Richterbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rügepräklusion (463), Berufsrichter (464), Schöffen (465), Zeitpunkt der Rüge (465)
d)
Ablehnungsgesuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines (466), Zeitpunkt (467), Missbrauch (467)
e)
Kontakte zu Gericht und Staatsanwaltschaft . . . . . . Verfahrensabsprache (468), Akteneinsicht (469), Öffentlichkeit (469)
f)
Verbindung zu Mitangeklagten und Mitverteidigern . Gestaltung der Kontakte (470), Verteidigerbesprechungen (470), Risiken (470)
g) Vorbereitung der Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Eigene „Ermittlungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhörung von Beweispersonen (472), Sachverständige (472), Augenschein (472)
bb) Anträge zur Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielsetzung (473), Ablehnung (474), Durchsetzung (474)
cc) Selbstladung von Zeugen und Sachverständigen . . . . Verfahren (475 f.), Information (478), Schwierigkeiten (478 ff.)
dd) Gefährliche Zweischneidigkeiten . . . . . . . . . . . . . . .
XXII
Inhaltsverzeichnis Rz. Seite
h) Entbindung vom Erscheinen, kommissarische Vernehmung und richterlicher Augenscheinsbeweis vor der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
482
322
486
324
501 501 502
335 336 337
507
339
526
348
530
351
539
355
543 543
357 357
Praktische Erfahrungen (482), eigenmächtiges Ausbleiben (483), kommissarische Beweiserhebungen (484), Anwesenheit (485)
i) Vorbereitung der Einlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verteidigungsstrategie (486), Äußerlichkeiten (488), Geständnis (490), persönlicher Eindruck (491), Vernehmung zur Person (492), Vernehmung zur Sache (493), Schweigerecht (494), Gefahren (495), „Zeitschweigen“ (495), Änderung der Einlassung (497), Divergenzen (498), letztes Wort (500)
2. Der Verteidiger in der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verständigung und Verfahrensabsprachen . . . . . . . . . . Gelegenheiten (502), Rechtslage (502), Anforderungen (503), Rechtsbeständigkeit (504), Scheitern (505), Motivation (506)
c)
Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pünktlichkeit (507), Auftreten und Amtstracht (508), Mobiltelefon (509), Laptop (510), Anträge (512), „opening statement“ (513), Verhandlungsfähigkeit (514), Beurlaubung (515), Besetzungsrüge (517), Unzuständigkeit (518), Ablehnungsgesuche (519), Ausschluss der Öffentlichkeit (520), Einwendungen (521), Einstellung (522), Beweisanträge (525)
d)
Erklärungsrechte und Widerspruchspflichten . . . . . . . Rechtslage und Bedeutung (526), Erklärung zu Beweiserhebungen (526), Beanstandung bei Versagung (527), Widerspruch gegen Verwertbarkeit (529)
e)
Fragerechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Regelung (530), Beschränkung (531), ungeeignete Fragen (532), Entscheidung des Gerichts (533), Anknüpfungsfragen (534), Fangfragen (535), Suggestivfragen (536), Fragenkatalog (537), Fragerecht des Mandanten (538)
f)
Beanstandungsrechte und -pflichten . . . . . . . . . . . . . . Sachleitung (539), Gerichtsbeschluss (540), Fingerzeige (541), Protokoll (542)
g) Vernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vernehmung des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Situation des Mandanten (543), Vernehmung zur Person (544), Bloßstellung (545), Belehrung (546), Reihenfolge der Vernehmungen (547), Vernehmung zur Sache (549), Vorbereitung (550), Vorhalte (551), Beanstandung (552), Nachvollziehung des Akteninhalts (553), Geständniswiderruf (554), Vorstrafen (556), Ablehnung (558), Befragung durch Staatsanwalt (559), Befragung durch Verteidiger (560), Befragung durch Verteidiger des Mitangeklagten (562), Fortsetzung der Hauptverhandlung (566)
XXIII
Inhaltsverzeichnis Rz. Seite
bb) Vernehmung der Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
567
368
616
401
627
410
641 641 642
419 419 419
646
421
648 648
424 424
Bedeutung (567), Vernehmungstechnik und -psychologie (568), Vernehmung zur Person (569), Belehrung (570), Zeugnisverweigerung (570), Auskunftsverweigerung (571), Berufsgeheimnis (572), Konfliktsituation (573), Entbindung von der Schweigepflicht (574), Verteidiger als Zeuge (574), Sperrerklärung (574), Zwischenstreit (575), Verhörperson (576), Verwertungsverbote (576), Trennung von Bericht und Verhör (579), sachverständiger Zeuge (580), Zeuge vom Hörensagen (581), V-Leute (582), Vorhalte (583), Protokoll (584), Reihenfolge (585), Gegenüberstellung (586), Befragung durch Staatsanwalt oder Mitverteidiger (587), Befragung durch Verteidiger (588), praktische Hinweise (589 f.), Vernehmung von Ermittlungsbeamten (590), Vernehmung von Kindern und Jugendlichen (591), Vorhalte (592), Vereidigung (593 ff.), Protokoll (593), Entlastung (594), Aussagepsychologie (595), Aussagetüchtigkeit (597), Aussageehrlichkeit (599), Rollentausch (602), Aussagerichtigkeit (605), Aussagekonstanz (606), Sensationsprozesse (607), Kinder und Jugendliche (608), Entstehungsgeschichte der Aussage (609 ff.)
cc) Vernehmung der Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigene Sachkunde des Gerichts (616), Leitungspflicht (617), Befund- und Zusatztatsachen (619), Fachgebiet (621), Sachbeweis (622), Vertreter des Sachverständigen (624), Auseinandersetzungen (625), Vereidigung (625), Selbstladung (625), Ablehnung (626)
h) Urkundenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines (627), Verlesung (628), Selbstleseverfahren (628), präsente Beweismittel (629), Beweisverbote (630), Verlesung von Protokollen (632 ff.), Vorhalte (636 ff.), Behördengutachten (639), Leumundszeugnis (640)
i) Beweis durch Augenschein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ton- und Filmaufnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines (642), Beweisverbote (643), behördliche Ton-, Bildund Filmaufnahmen (644), Rekonstruktion (645)
j)
Der kriminaltechnische Gutachten-Sachbeweis . . . . . . . Begriff (646), Aufgabe des Verteidigers (647), Befangenheit (647)
k) Beweisanträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beweisanträge des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines (648), Beweiserheblichkeit (650), Missbrauch (651), Strafvereitelung (653), Zweifel des Verteidigers (654), außergerichtliche Befragung (655), Kostenfolgen (656), Indizien (657), Alibibeweis (658), Offenkundigkeit (659), Erwiesenheit (660), „affirmativer Beweisantrag“ (660), Aufklärungsrüge (661), Wahrunterstellung (663), Zeitpunkt (666), Zurückstellung der Entscheidung (667), Hilfsbeweisantrag (668), Verschleppungsabsicht (669), Staatsanwalt als Zeuge (671), Richter als Zeuge (672), Protokoll (673), Beweisbehauptung (674), Unerreichbarkeit (677),
XXIV
Inhaltsverzeichnis Rz. Seite V-Mann (677), Begründung des Beweisantrages (678), Ungeeignetheit (679), Austausch von Beweismitteln (680), Benennung von Zeugen (681), von Sachverständigen (682), Sachkunde des Gerichts (683), Obergutachter (684), „affirmativer Beweisantrag“ zum Gutachten (685), Gerichtsarzt (686), Augenschein (688), Skizzen und Lichtbilder (689), Rekonstruktion (691), Beweisermittlungsantrag (692), Beweisanregung (692)
bb) Beweisanträge des Staatsanwalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
693
445
697
447
702 702
449 450
707 709
452 453
712
455
714
455
764
478
778
486
Ermittlungen während der Hauptverhandlung (694), Aussetzungsantrag (695), Entlastungstatsachen (696)
l)
Präsente Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung (697), weiterer Sachverständiger (697), Entschädigungsantrag (697), Skizzen und Fotos (698), Verzicht (700), Aufklärungspflicht (701)
m) Änderung der Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtliche und sachliche Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . Rechtlicher Gesichtspunkt (702), Belehrung (703), veränderte Sachlage (704), Aussetzung (705), Einstellung (706)
bb) Nachtragsanklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . n) Sitzungsniederschrift und das Tonbandprotokoll . . . . . . . Protokollierung (709), Verwirkung (709), Einsichtnahme (710), Tonbandprotokoll (711)
o)
Zwischenberatungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richtungsänderung (712), Gefahren (712), Berufungsinstanz (713)
p)
Das Plädoyer des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines (714), Redekunst (715), Adressat (716), Vorbereitung (717), Anrede (719), Form und Gehalt (721), Glaubwürdigkeit (723), Dauer (724), „Fensterredner“ (727), Aufbau (729), Anfang (730), eigene Überzeugung (731), Absprache (733), überführter Angeklagter (735), Psychologie (738), Justizirrtümer (739), Rechtsfragen (741), Rechtsentwicklung (743), Überzeugungsbildung des Richters (745), Publikum (746), Anträge (749), Hilfsbeweisanträge (750), Wirkung auf den Staatsanwalt (751), Erwiderung (752), Wirkung auf den Mandanten (753), Schuldinterlokut (754), Strafzumessung (756), Humor (759), Schlagfertigkeit (760), Fairness (761), mehrere Verteidiger (762), Schluss des Plädoyers (763)
q)
Vor und nach der Urteilsverkündung . . . . . . . . . . . . . . . . Letztes Wort (765), Wiedereröffnung der Beweisaufnahme (766), Vorteile (767), „schriftliches Nachplädoyer“ (768), erneute Beratung (770), Anwesenheit des Verteidigers (771), Urteilsverkündung (772), Rechtsmittelverzicht (774), Haftbefehl (775)
r)
Die „Nachsorge“ für den Mandanten nach der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beseitigung negativer Relikte (778), Strafaussetzung (779), Bundeszentralregister (780), Mitteilungspflichten (781), Fahrverbot
XXV
Inhaltsverzeichnis Rz. Seite (782), Entziehung der Fahrerlaubnis (783), Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft (784), Urteilsausfertigung (784), Medienerklärung (785), polizeiliche Dateien (785), erkennungsdienstliche Maßnahmen (785), Herausgabe beschlagnahmter Gegenstände (785), Entschädigung (785)
786 786 787 790 793 797
489 489 490 491 492 493
802
494
806 806
495 495
810
497
Arglistiges Verhalten und Rechtsmissbrauch . . . . . .
813
498
IV. Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren . . . . . . . . . .
816
501
816 817 820 825 826
501 501 503 505 505
3. Verwirkung von Verteidigungsrechten . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rüge von Prozessverstößen . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verlust des Rügerechts durch Rügeverzicht . . . bb) Unterlassene Anrufung des Gerichts . . . . . . . . . cc) Überholung durch Prozessablauf, Präklusionen
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
Widerspruchserfordernis (797), Zeitpunkt (798), Beginn der Hauptverhandlung (799), nächste Instanz (800), Aussetzung (801)
dd) Verpasste Gelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Verteidigungswaffen (802), Niederlegung der Verteidigung (803), Verlassen des Sitzungssaales (804), Ausbleiben (805)
c) Ratschläge für prozessgerechtes Verhalten . . . . . . . . aa) Fixierung der Prozessvorgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . Protokoll (806), strafbare Handlungen (808), Freibeweis (809)
bb) Opportunitätsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologisches (810), Absprache (811), prozessuale Luftgefechte (8118), Richteroriginale (812)
d)
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aussichten des Rechtsmittels . . . . . b) Zweckmäßigkeit des Rechtsmittels c) Rechtsmittelverzicht . . . . . . . . . . . d) Einlegung des Rechtsmittels . . . . . .
. . . . .
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. . . . .
Rechtsmittelfrist (827), Wiedereinsetzung (828), Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft (829), Einlegung (830 f.), vorsorgliches Rechtsmittel (833)
e) Zurücknahme des Rechtsmittels . . . . . . . . . . . . . . . . f) Beiderseitige Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Rechtsmittel des Staatsanwalts zugunsten des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
835 841
508 511
843
513
2. Der Verteidiger im Beschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . .
844
513
XXVI
Inhaltsverzeichnis Rz. Seite
a) Arten und Zulässigkeit der Beschwerde . . . . . . . . . . . .
844
513
853
516
854 859
517 519
860
519
860 866 869 872
519 522 523 524
873 876
524 526
885 886
530 531
890
532
894 897 900 901 903 905
534 536 537 538 538 539
912
543
Einfache Beschwerde (844), Ausschluss der Beschwerde (845), Beschwerdetatbestände (845), sofortige Beschwerde (849)
b) Zweckmäßigkeit der Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einlegung der Beschwerde, Abhilfeverfahren, rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beschwerdeschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Verteidiger im Berufungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit, Aussichten und Zweckmäßigkeit der Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschränkung der Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einlegung der Berufung, Berufungsfrist . . . . . . . . . . . . . d) Annahmeberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Schriftliche Berufungsrechtfertigung und Vorbereitung der Berufungsverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Der Verteidiger in der Berufungsverhandlung . . . . . . . . Ausbleiben des Angeklagten (876), Ladung (877), Wiedereinsetzung (878), Berufung der Staatsanwaltschaft (879), Bericht und Urteilsverlesung (880), Besonderheiten der Hauptverhandlung (882), Schlussvortrag (883), Erwiderung (884)
4. Der Verteidiger im Revisionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Revisionsrecht – eine „Geheimwissenschaft“? . . „Vernichtende Zensuren“ (888), praktische Erfahrungen (888)
b)
Vorbereitung der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzungsprotokoll (890), Verbindung zu anderen Verteidigern (891), Abgabe an „Revisionsspezialisten“ (892), Pflichtverteidiger (893)
c)
Zulässigkeit, Aussichten und Zweckmäßigkeit der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Einlegung der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Begründung der Revision (Allgemeines) . . . . . . . . . aa) Mindesterfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Revisionsanträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Frist und Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
Urteilszustellung (905), keine Verlängerung (906), verspätete Verfahrensrüge (906), allgemeine Sachrüge (907), Form (908), Verantwortung für Revisionsbegründung (909), Wiedereinsetzung zur Nachholung einzelner Revisionsrügen (911)
dd) Das „Aufspüren“ der Revisionsgründe . . . . . . . . . . . . Sitzungsprotokoll (914), Hauptfälle (915), Gerichtsbesetzung (916)
XXVII
Inhaltsverzeichnis Rz. Seite
ee) Die unbeachtliche „Protokollrüge“ . . . . . . . . . . . . . . . . .
917
546
920
547
924 924 925
549 549 550
931
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941
557
955
562
975 977
570 571
983
574
990 991
576 577
993
578
Begriff (917), Freibeweis (919), Protokollberichtigung (919)
ff) Die „unwahre Verfahrensrüge“, Protokollberichtigung und „Rügeverkümmerung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweiskraft des Protokolls (920), Rügeverkümmerung (921), Berichtigungsverfahren (921)
f) Revisionsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfahrensvoraussetzungen und -hindernisse . . . . . . . . . bb) Prozessrügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strenge Anforderungen (925), Tatsachenvortrag (926), Heilung von Verfahrensfehlern (927), Negativtatsachen (927), unzulässige Bezugnahme (930)
(1) Absolute Revisionsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzlicher Richter (932), „schlafender Schöffe“ (932), Ablehnung (933), Abwesenheit von Prozessbeteiligten (934), Verhandlungsunfähigkeit (935), Öffentlichkeit (936), Fernseh- und Rundfunkaufnahmen (938), fehlende oder verspätete Entscheidungsgründe (939)
(2) Relative Revisionsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das „Beruhen“ des Urteils (941), Protokollfehler (941), Beschränkung der Verteidigung (942), falsche Belehrung (943), Vereidigungen (943), Aufklärungsrüge (946), Ablehnung von Beweisanträgen (947), Beweiswürdigung (950), Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes (951), letztes Wort (952), Verletzung der Denkgesetze (953), ungenügende Begründung (954)
cc) Sachrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff (956), Rechtsfehler des Urteils (958), lückenhafte Feststellungen (960), Widersprüche (962), naheliegende andere Möglichkeiten (963), Denkgesetze (964), Beweiswürdigung (965), Erfahrungssätze (968), Naturgesetze (969), in dubio pro reo (970), Strafzumessung (972)
dd) Häufung und Konkurrenz von Revisionsrügen . . . . . . . . g) Verfahren bis zur Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenerklärung (977), „o. u.-Beschluss“, § 349 Abs. 2 (978), Vorbereitung der Hauptverhandlung (979), Teilnahme des Mandanten (980), nützliche Gespräche (981)
h) Der Verteidiger in der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . Vortrag des Berichterstatters (983), Beschränkung des Verhandlungsstoffs (984), Plädoyer (985), Rechtsgespräch (987), häufige Fehler (989)
i) j)
Verletzung des rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktische Erfahrungen und Ratschläge . . . . . . . . . . . . . Nicht veröffentlichte Entscheidungen (991), Dilemma des Revisionsrichters (992), ungerechte Urteile (992)
k) Die Revision der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . XXVIII
Inhaltsverzeichnis Rz. Seite
V. Der Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren . . . . . .
996
579
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
996
579
2. Beratung und Vorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001
582
3. Eigene „Ermittlungen“ des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . 1004
583
4. Der Verteidiger in den Abschnitten des Verfahrens . . . . . 1005 a) Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005
584 584
Fehlurteile im Strafprozess (996), Interesse der Öffentlichkeit (996), unrichtige Beweiswürdigung (997), verfassungswidrige Normen (997), Spannungsfeld (998), Interesse der Öffentlichkeit (999), Offizialverteidiger (1000)
Allgemeines (1005), Teilrechtskraft (1006), Strafzumessung (1007), rechtskräftige Beschlüsse (1008), Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft (1009), Form und Inhalt (1010), Zuständigkeit (1011), Zulässigkeit (1013), neue Tatsachen und Beweismittel (1015), Sachverständigenbeweis (1018), Geständniswiderruf (1020), Absprache (1020)
b) Probationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1021
591
In dubio pro reo (1021), Zeugenvernehmungen (1022), Anwesenheitsrecht des Verteidigers (1023), Anwesenheit des Mandanten (1024), Schlussanhörung (1025)
c) Erneuerung der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . 1026
592
5. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027
593
6. Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1028
593
VI. Beteiligung des Verletzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1029
593
1. Privatklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1030 a) Prozessvermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1031 b) Gütliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1032
594 594 595
Materielles Beleidigungsrecht (1032), Wahrnehmung berechtigter Interessen (1033), Formalbeleidigung (1034), Beleidigung durch Medien (1035), Prozessdauer (1036), Widerklage (1037), Strafbemessung (1038), Gebührenvorschuss und Sühneversuch (1040), Einstellung (1044), wechselseitige Beleidigungen (1045), Vergleiche (1046), Kosten (1047), Berufungsund Revisionsinstanz (1048), Ehrenerklärung (1049), öffentlicher Widerruf (1050)
c) Streitiges Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1051
601
Öffentliches Interesse (1051), Strafantrag (1053), Gebührenvorschuss und Prozesskostenhilfe (1054), Hauptverhandlung (1056), Umfang der Beweisaufnahme (1057), zivilrechtliche Möglichkeiten (1059), Beleidigung durch Medien (1060), politische Beleidigungsprozesse (1061)
2. Nebenklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1062
605
XXIX
Inhaltsverzeichnis Rz. Seite
3. Vertretung des Verletzten nach Opferschutzgesetz . . . . 1068
607
Rechtslage (1068), Akteneinsicht (1068), Beanstandungen (1068), Beweisantragsrecht (1068)
4. Adhäsionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1069
609
VII. Strafbefehlsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1070
609
Zulässigkeit (1070), Unterwerfungscharakter (1071), praktische Überlegungen (1072), streitige Durchführung (1077), Rechtskraft und Wiederaufnahme (1078)
VIII. Allgemeine Rechtsbehelfe im Verfahren . . . . . . . . . . 1079
614
1. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . . . . . . . . . . . 1079
615
Allgemeines (1079), Fristversäumnis (1080), Verschulden des Mandanten (1081), Verschulden des Verteidigers (1082), Glaubhaftmachung (1083), Frist (1084), Form (1085)
2. Anrufung des Oberlandesgerichts nach §§ 23 ff. EGGVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1086
619
3. Dienstaufsichtsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1091
622
4. Gegenvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1099
624
D. Vierter Hauptteil Der Verteidiger im Verfahren der Strafaussetzung zur Bewährung, der Strafvollstreckung, der Straftilgung und im Gnadenverfahren I. Verteidiger und Resozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 1100
627
II. Strafaussetzung zur Bewährung und Aussetzung des Strafrestes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1101
628
1. Allgemeines; Voraussetzungen der Strafaussetzung . . . 1101
628
2. Bewährungszeit und Bewährungsauflagen . . . . . . . . . . 1104
630
3. Widerruf der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1108
632
4. Aussetzung des Strafrestes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1109
632
III. Strafvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1110
634
1. Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1110
634
2. Vollzug von Freiheitsstrafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1114 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1114 b) Einzelne Anträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1116
363 636 638
XXX
Inhaltsverzeichnis Rz. Seite
3. Vollstreckung von Vermögensstrafen . . . . . . . . . . . . . . . 1122
640
4. Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1124
641
IV. Straftilgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1126
642
Bundeszentralregister (1126), Gewerbezentralregister (1126), Inhalt des Registers (1127), Auskunft aus dem Register (1128), Tilgungsfristen (1130), Verwertungsverbot (1131), eingeschränkte Offenbarungspflicht (1131), Verkehrszentralregister (1133)
V. Gnadenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1134
646
Allgemeines (1134), mögliche Zielsetzung (1135), Gnadenpraxis (1136), persönliche Fürsprache (1137), Begründung des Gnadengesuchs (1138), Korrektur von Fehlurteilen (1139), ungerechtes Gesetz (1139), Tatfolgen (1140), Wiedergutmachung (1141), Strafvollstreckung (1142), Anfechtbarkeit (1143), Zentralregister (1144)
E. Fünfter Hauptteil Der Verteidiger in besonderen Funktionen I. Der Verteidiger als Rechtsberater und Rechtsvertreter von Wirtschaftsunternehmen in Strafsachen . . . . . . . . 1145
651
1. Unternehmensberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1146
651
Beratungsspektrum (1146), Strafrechtliche Risiken (1148), Einzelfälle (1149)
2. Verteidigung und Vertretung in Straf- und Bußgeldsachen 1150
654
Verbandsgeldbuße (1150), Quasi-Verteidiger (1151)
3. Unternehmen als Geschädigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1152
655
Strafanzeigen (1152), parlamentarische Untersuchungsausschüsse (1159)
II. Der Verteidiger als Zeugenberater und anwaltlicher Zeugenbeistand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1160
659
Arbeitsgebiet (1160), Interessenkollision (1161), Zeugenberatung (1162), Akteneinsicht (1163), Aussageverweigerung (1154), Terminprobleme (1165), Vernehmung (1166), Protokoll (1167)
III. Die Verteidigung von Ausländern . . . . . . . . . . . . . . . . . 1169
664
IV. Der Verteidiger in Verfahren vor parlamentarischen Untersuchungsausschüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1173
665
Gesetzeslage (1173), Aufgaben (1174), Schlussbericht (1175), Vorbereitung (1176), Unternehmen (1177), Konfliktfälle (1178)
XXXI
Inhaltsverzeichnis Rz. Seite
V. Der Verteidiger in eigener Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1180
668
Honeste vivere (1180), eigene Straftaten (1181), steuerliche Verfehlungen (1182), Schweigerecht und Wahrheitspflicht (1183), Verteidigung (1184)
F. Sechster Hauptteil Die Honorierung des Strafverteidigers I. Ein heikles Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185
671
1. Das Honorar als Strukturelement des freien Berufs . . . . . 1185
671
Unabhängigkeit (1185), Geschäftsbesorgungsvertrag (1186), öffentliche Meinung (1187)
2. Der Honorarverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1188
673
Rechtsanwaltvergütungsgesetz (1188), Rechtsschutzversicherung (1189), verbotene Werbung (1190), Verteidigung von Kollegen (1192), Gebührenteilung (1194)
II. Vereinbarungshonorare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1195
674
1. Die gesetzliche Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1195 a) Wahlverteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1195
674 675
Grundlagen (1195), Rechtsschutzversicherungen (1197)
b) Pflichtverteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1198
677
Anrechnung (1198), leistungsfähige Mandanten (1199)
2. Berufsrechtliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1200 a) Das Gebot der Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 1200
678 678
Herabsetzung (1200), unsittliche Vereinbarungen (1201), Pauschalhonorare (1202), Zeittaktklausel (1203), juristische Mitarbeiter (1204), Zeitliste (1205), Auslagen (1206), mehrere Verteidiger (1207 f.), „Mischkalkulation“ (1209)
b) Äußere Form und Umstände der Honorarvereinbarung 1210
682
Honorarschein (1210), Schriftform (1211), Distanz (1212), Aufklärung (1213), „Vorschuss“ (1214), U-Haft (1215)
c) Das Erfolgshonorar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1216
684
Rechtslage (1216), praktikable Möglichkeiten (1217 f.)
III. Kostenzahlung und Kostensicherung . . . . . . . . . . . . . . 1219
686
1. Aufgaben der Kanzlei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1219
686
Geldverkehr (1219), Geschmacksfragen (1219), Geldempfangsvollmacht (1220), Kostensicherung (1220)
2. Zahlung durch Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1221
687
3. Honorare aus dem „Milieu“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1222
687
XXXII
Inhaltsverzeichnis Rz. Seite
IV. Probleme der Niederlegung der Verteidigung aus Kostengründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1223
688
Niederlegung zur Unzeit (1223), Bestellung zum Pflichtverteidiger (1224), Verrechnungen (1225), Erstattung (1226)
V. Verteidigerhonorar und Geldwäsche . . . . . . . . . . . . . . 1227
690
Rechtslage (1227), Honorarvereinbarung (1230), Anzeigepflicht (1231)
VI. Steuersünden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1232
693
Des Mandanten (1233), des Verteidigers (1234), „OR-Sachen“ (1234), Auslandsklienten (1234)
Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XXXIII
Einführung in die Benutzung des Handbuchs Die im Vorwort skizzierte Zielsetzung des Handbuchs bestimmt notwendigerweise auch den Stoff, der zu verarbeiten ist. Dies sind aus dem Bereich des Strafprozessrechts in erster Linie die Bestimmungen, die sich unmittelbar oder mittelbar auf die Verteidigung beziehen oder für sie besondere praktische Bedeutung haben. Dazu gehören außer der Strafprozessordnung u.a. auch die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV), die zwar keine Gesetzeskraft haben, aber die Praxis der Strafverteidigung mitbestimmen. Aus dem Berufsrecht des Anwalts sind neben der Bundesrechtsanwaltordnung die Berufsordnung (BORA) und die Fachanwaltsordnung, daneben auch die Standesregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Union Erkenntnisquellen für die Berufsausübung. Auch die in der Schriftenreihe der BRAK veröffentlichten Arbeitsergebnisse des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer finden Berücksichtigung. Über den engeren Bereich dieser Materien hinaus beanspruchen die Gebiete der Psychologie, der Ethik und Rhetorik u.a. besondere Beachtung. In welcher Form diese Stoffgebiete zu behandeln sind, hängt ebenfalls von der Zielsetzung des Handbuchs ab. Diese besteht nicht in einer Bearbeitung nach Art von Kommentaren, Lehr- und Formular-Büchern oder Monografien, deren es für jede einzelne Materie genug geben mag. Erstrebt ist vielmehr eine Auswahl unter dem speziellen Aspekt der Verteidigung. Dabei geht es insbesondere auch um die praktischen Fragen von Opportunität, Strategie und Taktik der Verteidigung. Das Handbuch will insbesondere langjährige praktische Erfahrungen auf den Gebieten der Verteidigung in Strafverfahren und ähnlichen Bereichen nutzbar machen. Sie haben die Gewissheit vermittelt, dass die großen Möglichkeiten für eine wirksame Verteidigung von den Verteidigern vielfach nicht gesehen bzw. nicht genutzt werden. Die Vielfalt der Erscheinungen und ihr plötzliches Auftreten verursachen erfahrungsgemäß häufig Unsicherheit und Ratlosigkeit. Insbesondere in der Hauptverhandlung gehen die rechten Augenblicke oft ungenützt vorbei. Ungeübtheit und Mangel an Schlagfertigkeit sind die Ursachen. Anderseits werden in der Praxis die Grenzen der Verteidigung nicht immer respektiert, die durch die Nachbarschaft zum Parteiverrat, zur Strafvereitelung, zur Schweigepflicht u.a. sowie zum Berufsrecht und zu den Geboten der Fairness, des Taktes und des guten Stils gezogen sind. Besondere Aufmerksamkeit ist der Übersichtlichkeit der Bearbeitung gewidmet worden. Der Benutzer soll sicher sein können, zu der sein Interesse beanspruchenden Stelle des Buches hingeführt zu werden. Die vorangestellte Inhaltsübersicht kennzeichnet den Aufbau des Werkes. Der Strafverteidiger wird nach einer einleitenden Betrachtung seiner allgemeinen Stellung und Berufsaufgaben als Organ der Rechtspflege in sei1
Einfhrung
nem Verhältnis zum Mandanten und in seinen Beziehungen zu den übrigen Prozessbeteiligten (Richter, Staatsanwälte, Zeugen, Verletzte, Sachverständige) wie auch zu Dritten, insbesondere zur Öffentlichkeit und den sie dominierenden Medien (Presse, Internet, Rundfunk und Fernsehen), dargestellt. Dabei ist besonderer Wert auf die Veranschaulichung der zahlreichen Konfliktsituationen des Anwalts, vor allem in den Wechselbeziehungen seiner Berufspflichten gelegt. Es folgt eine Erörterung der Funktionen des Verteidigers in den einzelnen Stadien des Strafverfahrens von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens an bis zur rechtskräftigen Erledigung einschließlich der Wiederaufnahme des Verfahrens, der Beteiligung des Verletzten, besonderer Verfahrensarten sowie der Strafvollstreckung. Auf die Kapitel Steuerstrafverfahren, Ordnungswidrigkeiten, Auslieferungsverfahren u.a. wurde im Hinblick auf spezielle einschlägige Spezialwerke verzichtet. Außerhalb der Verteidigung im Strafprozess, aber innerhalb des Aufgabenspektrums in der Praxis liegen die Kapitel Beratung und Vertretung juristischer Personen (insbesondere auch von Wirtschaftsunternehmen), anwaltlicher Zeugenbeistand, die Aufgaben in Verfahren vor parlamentarischen Untersuchungsausschüssen sowie die Verteidigung in eigener Sache. Daran schließt sich als letzter Teil ein Blick auf die Honorierung des Verteidigers in ihren zahlreichen Aspekten – auch der Geldwäsche – sowie die praktischen Bräuche und Missbräuche an. Das verarbeitete Material ist unter den für die Verteidigung in der Praxis wesentlichen Gesichtspunkten ausgewählt und ausgewertet. Eine Auswahl des jeweils einschlägigen Schrifttums findet sich in den Kopfzitaten an der Spitze der einzelnen Abschnitte, die den Benutzer weiterführen sollen, wenn der Buchtext nicht ausreicht. Für die Auswahl des Schrifttums waren vor allem Aktualität und praktische Erreichbarkeit maßgebend. Wichtige höchstrichterliche Entscheidungen sind in Fußnoten jeweils zugeordnet, so dass der Verteidiger sie im Bedarfsfall zur Hand hat. Dazu sollte er vorsorglich auch stets einen der führenden Kommentare zur StPO zur Verfügung halten, wie ihn auch Richter und Staatsanwälte benutzen. Im Handbuch wird an vielen Stellen, insbesondere auch bei komplexen und streitigen Fragen, auf die Kommentierung der StPO bei Meyer-Goßner/Schmitt (57. Aufl. 2014) verwiesen, die dem Benutzer weiterhelfen wird, was gleichermaßen für den StGB-Kommentar von Thomas Fischer (61. Aufl. 2014) gilt. Für die Bearbeitung einer Revision gilt Band 16 der Schriftenreihe der NJW Praxis „Die Revision im Strafprozess“ (8. Aufl. 2012) als brauchbares Hilfsmittel. Auch die einschlägigen Werke von Hamm (Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010) und Schlothauer/Weider (Verteidigung im Revisionsverfahren, 2. Aufl. 2013) sind sehr nützlich. In berufsrechtlichen Fragen sollte sich der Verteidiger nie ohne den Kommentar zur BRAO von Feuerich/Weyland (8. Aufl. 2012) entscheiden. Die von Beulke und Ignor herausgegebene Reihe „Praxis der Strafverteidigung“ und das „Beck’sche Formularbuch für den Strafverteidiger“, herausgegeben von Hamm/Leipold (5. Aufl. 2012), stellen eine sinnfällige Ergänzung des Handbuchs dar. Dies gilt auch für die 2
Einfhrung
Werke von Burhoff, Handbuch zum Ermittlungsverfahren (6. Aufl. 2013), zur Hauptverhandlung (7. Aufl. 2013) und Rechtsmittel (2013). Das Handbuch des Strafverteidigers kann solche Standardwerke nicht ersetzen, will aber zu ihrer Beachtung beitragen.
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A. Erster Hauptteil Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren Literatur: Alsberg, Die Philosophie der Verteidigung, 1930; Alsberg, Max, hrsg. von J. Taschke, 2. Aufl. 2013; Armbruster, Die Entwicklung der Verteidigung in Strafsachen, Berlin 1980; Barton, Mindeststandards der Strafverteidigung, 1995; Bernsmann, Zur Stellung des Strafverteidigers im deutschen Strafverfahren, StraFo 1999, 226; Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren. Funktionen und Rechtsstellung, 1980; Beulke, Strafverteidigung im Spannungsfeld zwischen Rechtsstaatlichkeit und Verfahrenseffizienz in Deutschland, in Kühne/Migazawa (Hrsg.), Alte Strafrechtsstrukturen und neue gesellschaftliche Herausforderungen in Japan und Deutschland, 2000, S. 137 ff.; Beulke/Ruhmannseder, Die Strafbarkeit des Verteidigers, 2. Aufl. 2010; Busse, Anwaltsethik unter der Geltung des neuen Berufsrechts, AnwBl. 1998, 231; Dahs sen., Stellung und Grundaufgaben des Strafverteidigers, NJW 1959, 1158 = AnwBl. 1959, 171; Dahs, Ethische Aspekte im Strafverfahren? – Ein Denkanstoß, JR 2004, 96; Döhring, Die Eigenart der Anwaltstätigkeit, in Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, 1953, S. 135 ff.; Döpfer, Grenzen und Möglichkeiten der Strafverteidiger in im Strafprozess, AnwBl. 2002, 92; Ehlers, Über den Sinn des Anwaltsberufes, 1953; Fahl, Der Rechtsmissbrauch im Strafprozess, 2004; Feuerich/Weyland, BRAO, Kommentar, 8. Aufl. 2012; Fischer, Strafverteidiger aus der Sicht des Richters – Rückblick und Ausblick, StV 2014, 47; Gössel, Die Stellung des Verteidigers im rechtsstaatlichen Strafverfahren, ZStW 32 (1982), 5; Hamm, Entwicklungstendenzen der Strafverteidigung, FS Sarstedt (1981), S. 49; Hassemer, Reform der Strafverteidigung, ZRP 1980, 326; Hassemer, Strafverteidigung und Grundrechte, StraFo 2004, 113; Holtfort (Hrsg.), Strafverteidiger als Interessenvertreter – Berufsbild und Tätigkeitsfeld,1979; Ignor, Zur Rechtsstellung und zu den Aufgaben des Strafverteidigers, FS Schlüchter (1998), S. 39 ff.; Jahn, Die Rechtsstellung des Verteidigers im heutigen deutschen Strafverfahren, StV 2014, 40; Knapp, Der Verteidiger – ein Organ der Rechtspflege?, 1974; Krämer, Die verfassungsrechtliche Stellung des Rechtsanwalts, AnwBl. 1995, 422; Lehmann, Recht und Ethik – Ihr Verhältnis im Berufsbild des Anwalts, BRAK-Mitt. 2009, 194; Lüderssen, Aus der grauen Zone zwischen staatlichen und individuellen Interessen. – Zur Funktion der Strafverteidigung in einer freien Gesellschaft, FS Sarstedt (1981), S. 145; Maier, Kunst des Rechtsanwalts, 4. Aufl. 1985; Mangakis, Das ethische Problem der Strafverteidigung, GA 1966, 321; Müller, Eckhart, Berufsfreiheit und Freiheit des Berufs – Der Strafverteidiger als Organ der Rechtspflege, FS Dahs (2005), S. 3; Müller, Egon, Strafverteidigung, NJW 1981, 1801; Mützelburg, Über Verteidigung im Verständnis der Verteidiger, FS Dünnebier (1982), S. 277; Ostler, Der Rechtsanwalt als Strafverteidiger, JR 1959, 121; Seibert, Die Kunst der Verteidigung, JR 1951, 337; v. Stackelberg, Der Anwalt im Strafprozess, DRiZ 1959, 311 = AnwBl. 1959, 190; Stern, Anwaltschaft und Verfassungsstaat, BRAK-Schriftenreihe, Bd. 1, 1980; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992; Ullers, Der Strafverteidiger, 1962; Vogtherr, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Strafverteidigung, 1991; Volk, Konfliktverteidigung, Konsensualverteidigung und die Strafrechtsdogmatik, FS Dahs (2005), S. 495; Weihrauch, Strafverteidigung und Berufsrecht – Fragmentarische Überlegungen zu einer Ethik der Strafverteidigung, FS Dahs (2005), S. 19; Welp, Der Verteidiger als Anwalt des Vertrauens, ZStW 90 (1978), 101; Wolf, Das System des Rechts der Strafverteidigung, 2000; Zaczyk, Über Theorie und Praxis im Recht, FS Dahs (2005), S. 33.
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Rz. 1
Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren
I. Der Berufsauftrag des Verteidigers 1. Verteidiger und Strafjustiz 1
Verteidigung ist Kampf. – Seit 1969 steht dieser etwas vielleicht martialisch klingende Satz am Beginn des Handbuchs – zuweilen missverstanden, wenn die sinnhafte Funktion der Verteidigung in der Strafjustiz verkannt wurde. Gemeint war und ist der Kampf um das Recht mit den Mitteln des Rechts. In dem „dynamischen Aktionsdreieck“, das im Verfahren zur Erkenntnis der Wahrheit führen soll, fällt der Staatsanwaltschaft und ihren Hilfsbehörden die Verfolgungs- und Ermittlungspflicht (§§ 152 Abs. 2, 160 StPO), dem Gericht die Aufklärungs- und Entscheidungspflicht (§§ 244 Abs. 2, 260 Abs. 1 StPO) und dem Verteidiger – als quasi verfahrensrechtlichem Antipoden – die Wahrung der Abwehr- und Mitwirkungsrechte des Beschuldigten zu. An diesen Essentialia hat sich bis heute ebenso wenig etwas geändert wie an der Einseitigkeit des Eintretens des Verteidigers nur zugunsten des beschuldigten Mandanten (Rz. 9 ff.). Nach wie vor sind auch alle Prozessbeteiligten bei der Erfüllung ihrer speziellen Aufgaben nicht nur an Gesetz und Recht gebunden, sondern sie sind integriert in Aufgabe und Ziel des Strafprozesses, in einem gesetzlich und rechtlich geordneten Verfahren mit dem entsprechenden Instrumentarium im kontroversen Diskurs zur „richtigen“ Entscheidung beizutragen:1 zwar kontrovers, aber nicht kontraproduktiv und schon gar nicht perniziös. Dementsprechend ist auch der Verteidiger – wie die höchstrichterliche Rechtsprechung akzentuiert – in die Aufgabe eingebunden, das Prozessziel im Diskurs zu fördern und sich ihm nicht in antirechtlicher Weise entgegenzustellen. Er trägt aufgrund seiner Bindung an die Ziele der Rechtspflege Mitverantwortung für das Erreichen des Verfahrenszieles auf dem rechtlich vorgezeichneten Weg. Dabei wird das Prozessziel in der Regel im argumentativ-konträren Diskurs mit den Strafverfolgungsorganen und dem Gericht angestrebt, kann aber auch im Erreichen eines Konsenses über die Verfahrenserledigung (§ 257c StPO)2 (Rz. 179) bestehen. Der Verteidiger ist also einer der Funktionsträger der Rechtspflege und nicht ihr Gegner. Daraus hat die Rechtsprechung auch die Mitverantwortung des Verteidigers für das Gelingen des Strafprozesses im Einzelnen abgeleitet.3 Der in diesem Zusammenhang apostrophierte Pflichtenkanon des Verteidigers als „Mitgarant“ für die Erreichung des Verfahrenszieles in einem rechtsfehlerfreien Prozess4 darf allerdings nicht als eine – durchaus problematische – Einschränkung 1 Vgl. auch Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Einl. Rz. 4 m.N. 2 Vgl. dazu Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Einl. Rz. 119 ff. 3 BGH v. 11.5.2005 – 2 StR 150/05, StraFo 2005, 343; BGH v. 16.6.2005 – 5 StR 440/04, wistra 2005, 390. 4 BGH v. 7.11.1991 – 4 StR 252/91, BGHSt. 38, 111 (114) = NStZ 1992, 140; BGH v. 11.5.2005 – 2 StR 150/05, StraFo 2005, 343; BGH v. 16.6.2005 – 5 StR 440/04, wistra 2005, 390; Basdorf, StV 1997, 488, StV 1995, 310, StV 2010, 414; Maatz, NStZ 1992, 513 (517); Gaede, wistra 2010, 210 (212); Niemöller, JR 2010, 322; krit. Widmaier, NStZ 1992, 519; Ziemann, StV 2010, 452 (455).
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Der Berufsauftrag des Verteidigers
Rz. 2
der dem Verteidiger wesenseigenen Einseitigkeit seiner Prozessaufgabe (Rz. 11) missverstanden werden. Denn bis zur rechtskräftigen Entscheidung bleibt kraft der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK die Frage nach Täter und Schuld offen. Daraus ergeben sich einerseits die Grenzen der Verteidigung, anderseits der eindeutige Auftrag, dem staatlichen Zugriff auf den zunächst nur Verdächtigen mit allen gesetzlichen Mitteln zu begegnen. Dabei muss dem Verteidiger auch vor Augen stehen, dass nur in weniger als einem Drittel der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren Anklage erhoben, Strafbefehle beantragt werden oder eine Einstellung unter Auflage erfolgt, während mehr als zwei Drittel der Verfahren sich anderweitig erledigen1. Dazu kommt die vielfach größere Zahl von Strafanträgen der Staatsanwaltschaft, die in ihrer Höhe von den Gerichten als ungerechtfertigt abgelehnt werden. Allerdings werden auch nur ca. 3 % der Angeklagten von den Gerichten freigesprochen. Schon diese großen Spannen machen den weiten Bereich der Verteidigeraufgaben deutlich. Der Polarität des Strafverfahrens tragen Rechtsordnung und Rechtspraxis 2 durch entsprechende Verfahrenssicherungen Rechnung. Nur dann, wenn das Gericht sich auf verfahrensrechtlich erlaubtem, auf justizförmigem Wege von der Täterschaft und Schuld des Angeklagten zu überzeugen vermag, ist eine Verurteilung zulässig2. Ein geläutertes Rechtsbewusstsein will die Bestrafung des Täters nicht um jeden Preis. Die Würde des Menschen, die zu achten den Strafverfolgungsorganen verfassungsrechtlich geboten ist (Art. 1 Abs. 1 GG), lässt es nicht zu, ihn zum Objekt der staatlichen Untersuchungshandlungen zu erniedrigen. Er ist vielmehr vollberechtigtes Prozesssubjekt des Verfahrens3. Dafür hat der Verteidiger einzustehen. Der Strafprozess ist also ein ständiges Bemühen um den gerechten Ausgleich zwischen der Aufgabe des Staates zur wirksamen Verbrechensbekämpfung und dem legitimen Schutzanspruch des Individuums gegenüber der staatlichen Machtentfaltung. 2. Der Verteidiger – Organ der Rechtspflege Literatur: Armbruster, Die Entwicklung der Verteidigung in Strafsachen, Berlin 1980, S. 137 ff.; Augstein, Der Anwalt: Organ der Rechtspflege, NStZ 1981, 52; Bernsmann, Zur Stellung des Strafverteidigers im deutschen Strafverfahren, StraFo 1999, 226; Beulke, Wohin treibt die Reform der Strafverteidigung?, in Schreiber (Hrsg.), Strafprozess und Reform, 1979, S. 30 ff.; Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 50 ff.; Beulke, Strafverteidigung im Spannungsfeld zwischen 1 Jehle, Strafrechtspflege in Deutschland (Hrsg. BMJ), 5. Aufl. 2009, S. 19 (für 2006). Allerdings enthält dieser Zwei-Drittel-Wert neben der Einstellung ohne Auflagen und der nach § 170 Abs. 2 StPO noch „sonstige Erledigungen“, die auch die Abgabe an andere Staatsanwaltschaften erfassen und 21,2 % der Gesamtverfahren ausmachen (Verfahrensstatistik). 2 BGH v. 16.2.1954 – 1 StR 578/53, NJW 1954, 649. 3 BVerfG v. 8.1.1959 – 1 BvR 396/55, BVerfGE 9, 89 (95) und st. Rspr.
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Rz. 3
Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren
Rechtsstaatlichkeit und Verfahrenseffizienz in Deutschland, in Kühne/Migazawa (Hrsg.), Alte Strafrechtsstrukturen und neue gesellschaftliche Herausforderungen in Japan und Deutschland, 2000, S. 137; Busse, Anwaltsethik unter der Geltung des neuen Berufsrechts, AnwBl. 1998, 231; Dahs, Verteidiger der Gehilfe des Gerichts?, AnwBl. 1966, 371; Dahs, Strafverteidigung und Strafrechtspflege, FS Odersky (1996), S. 317; Dahs, Ethische Aspekte im Strafverfahren? – Ein Denkanstoß, JR 2004, 96; Dornach, Ist der Strafverteidiger aufgrund seiner Stellung als „Organ der Rechtspflege“ Mitgarant eines justizförmigen Verfahrens?, NStZ 1995, 57; Eschen, Noch einmal: § 1 BRAO – Die Bedeutung des Begriffes „Organ der Rechtspflege“, StV 1981, 365; Fahl, Der Rechtsmissbrauch im Strafprozess, Habil. 2004; Fischer, Strafverteidiger aus der Sicht des Richters – Rückblick und Ausblick, StV 2014, 47; Hanack, Arbeitskreis Strafprozessreform: Die Verteidigung, ZStW 93 (1981), 559; Hassemer, Reform der Strafverteidigung, ZRP 1980, 326; Hassemer, Über den Missbrauch von Rechten, FS Meyer-Goßner (2001), S. 127; Henssler, Die Anwaltschaft zwischen Berufsethos und Kommerz, AnwBl. 2008, 721; Jahn, Die Rechtsstellung des Verteidigers im heutigen Strafverfahren, StV 2014, 40; Kempf, Rechtsmissbrauch im Strafprozess, StV 1996, 507; Kilian, „Berufsethische Regeln“ – ein Modell für die deutsche Anwaltschaft?, AnwBl. 2013, 688; Knapp, Der Verteidiger – ein Organ der Rechtspflege?, 1974; Knapp, Verteidigung des Rechtsstaats durch Bekämpfung des Verteidigers?, AnwBl. 1975, 373; Krämer, Der Rechtsanwalt – ein „staatlich gebundener Vertrauensberuf“?, NJW 1975, 849; Krämer, Die verfassungsrechtliche Stellung des Rechtsanwalts, NJW 1995, 2313; Müller, Eckhart, Berufsfreiheit und Freiheit des Berufs – Der Strafverteidiger als Organ der Rechtspflege, FS Dahs (2005), S. 3; Müller, Egon, Strafverteidigung, NJW 1981, 1801; Ostler, Der Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege, Schriftenreihe Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 56/57, 1963, S. 16 ff.; Rieß, Prolegomena zu einer Gesamtreform des Strafverfahrensrechts, FS K. Schäfer (1979), S. 155, 200 ff.; Schier, Die Stellung des Rechtsanwalts in der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte, AnwBl. 1984, 410; Stern, Anwaltschaft und Verfassungsstaat, Schriftenreihe der BRAK, Bd. 1, 1980.
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Seinen speziellen Auftrag erfüllt der Verteidiger als ein selbständiges Organ der Rechtspflege. Diese Bezeichnung ist dem Rechtsanwalt – nicht nur dem Strafverteidiger – allgemein in § 1 BRAO verliehen. Die Frage nach dem rechtlichen Inhalt der Organstellung und den daraus folgenden Rechten und Pflichten des Verteidigers ist Gegenstand einer wohl nie endenden Diskussion. Die Spanne der Auffassungen reicht vom „staatlich gebundenen Vertrauensberuf“ über den „unabhängigen, jedoch in die Funktion der Rechtspflege integrierten Beistand“ bis zum nahezu schrankenlos ausschließlich „parteigebundenen Helfer politisch/sozialer Gegenmacht“ zur staatlichen Rechtspflege. Indes ist der Organbegriff (allein) als Grundlage für eine substantielle Bestimmung des Verhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Staat ungeeignet: Auch als Basis für ein Koordinatensystem der Verteidigerrechte und -pflichten und der Grenzen zulässigen Verteidigerhandelns kann er nicht dienen. Die Rechtsprechung verpflichtet den Verteidiger lediglich auf die „Interessen der Strafrechtspflege“1. Es spricht vieles dafür, dass die Formel des § 1 BRAO nur die Integration des Rechtsanwalts in den Funktionszusammenhang der 1 BGH v. 7.11.1991 – 4 StR 252/91, BGHSt. 38, 111 (114) = NJW 1992, 1245 (1246); BGH v. 27.2.1992 – 5 StR 190/91, BGHSt. 38, 214.
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Der Berufsauftrag des Verteidigers
Rz. 4
Rechtspflege beschreibt. Daraus lässt sich als Maxime für die Ausübung des Berufes lediglich ableiten, dass der Verteidiger Teilhaber und nicht Gegner einer funktionsfähigen Rechtspflege ist, diese also nicht, und zwar auch nicht in der Ausprägung des einzelnen Verfahrens, „bekämpfen“ darf. An der Erfüllung der Aufgabe des Strafprozesses, durch Erforschung der Wahrheit zu einem gerechten Urteil zu gelangen, hat er kontradiktorisch – die Interessen des Beschuldigten beratend und vertretend – mitzuwirken. Bei einer Kollision zwischen der Schutzaufgabe des Verteidigers und den Interessen der Strafrechtspflege hat grundsätzlich die Erstere Vorrang1. Dies gilt nur dann nicht, wenn die Beistandsleistung sich als Missachtung ihrer Aufgabe und Angriff auf die Funktion der Rechtspflege darstellt. Eine solche liegt aber noch nicht vor, wenn der Verteidiger die schützenden Formen des Strafverfahrensrechts „parteiisch und intensiv“ nutzt2. Dies gehört sogar zum ureigensten Verteidigungsauftrag3. Die Frage, ob die Institution des Strafverteidigers eine öffentlich-recht- 4 liche Komponente hat4, ist wohl ebenso wenig überzeugend zu beantworten wie die nach dem rechtlichen Gehalt der Organstellung. Freilich wird man das Verhältnis zwischen Verteidiger und Mandant auch nicht als ausschließlich privatrechtlicher Natur bezeichnen können5. In bestimmten Verfahren muss dem Angeklagten ein Verteidiger zur Seite stehen, ob er will oder nicht (§ 140 StPO); dabei spielt auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit keine Rolle. Hat der Beschuldigte/Angeklagte keinen Wahlverteidiger, so erfolgt eine Beiordnung von Amts wegen, die beim Verteidiger außer der Verpflichtung, die Verteidigung zu führen (§ 49 BRAO), keine weiteren Pflichten gegenüber dem Staat auslöst. Jedem Verteidiger stehen die Rechte u.a. auf Einsicht in die Ermittlungsund Gerichtsakten, Besichtigung der Beweismittel (§ 147 StPO) und auf nichtüberwachten mündlichen und schriftlichen Verkehr mit dem Inhaftierten zu (§ 148 StPO, vgl. auch Rz. 341). Dass diese Rechtsgewährung beim Gesetzgeber ein erhebliches Vertrauen in die Seriosität des Verteidigers und seine faire Haltung zur Strafrechtspflege voraussetzt, kann nicht bezweifelt werden. Der Gesetzgeber verbindet mit der Funktion des Verteidigers unserer Strafprozessordnung das Leitbild eines an Wahrheit und Fairness orientierten Verhaltens. Darin ist auch die „Geschäftsgrundlage“ für die dem Verteidiger gewährten gesetzlichen Verfahrensrechte zu sehen.
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Deutlich BVerfG v. 27.6.1996 – 1 BvR 1398/94, AnwBl. 1996, 468. So aber LG Wiesbaden v. 23.9.1994 – 6 Js 8862.2/92, StV 1995, 239 f. Vgl. Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 137. So Hanack treffend in einem Referat vor dem Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer v. 24.10.1980 – RS 22/80; Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 79 ff., spricht in ähnlichem Zusammenhang von „öffentlichen Interessen“. 5 Jahn in Löwe/Rosenberg, Vor § 137 StPO Rz. 33 ff. (zum Vertragsprinzip); Laufhütte in KK, Vor § 137 StPO Rz. 4 ff.
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Rz. 5
Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren
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In diesem Rahmen ist der Verteidiger selbständiger Beistand des Beschuldigten. Er handelt in eigener Verantwortung und ist an Weisungen des Mandanten nicht gebunden1. Daraus ergibt sich zugleich, dass er grundsätzlich nicht dessen Vertreter ist2. Ihm stehen vielmehr prozessuale Rechte zu, die der Beschuldigte selbst nicht hat, so die Befugnis zur Akteneinsicht (Rz. 259 ff.), zur Anwesenheit bei Vernehmungen, von denen der Beschuldigte ausgeschlossen ist (§ 168c Abs. 5 StPO)3 (Rz. 298, 303, 310) und zur unmittelbaren Befragung von Mitangeklagten (§ 240 Abs. 2 S. 2 StPO). Eine Vertretung des Mandanten durch den Verteidiger sieht das Verfahrensrecht nur in Einzelfällen vor (vgl. §§ 234, 329 Abs. 1 S. 1, 330 Abs. 2 S. 1, 387 Abs. 1, 411 Abs. 2 S. 1 StPO).
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In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, wie weit Fehler oder Versäumnisse des Rechtsanwalts sich rechtlich zum Nachteil des Beschuldigten auswirken. Nach ständiger Rechtsprechung wird anders als im Zivilprozess das Verschulden des anwaltlichen Strafverteidigers und seines (gut ausgewählten und überwachten) Personals bei der Versäumung von Fristen (§ 44 StPO) dem Mandanten (Beschuldigten) nicht zugerechnet4. Er hat Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Rz. 1079 ff.), sofern ihn nicht ein Mitverschulden trifft5. Verspätung oder Fehler bei der Einlegung von Rechtsmitteln bleiben daher unschädlich. Das ist besonders auch im Revisionsrecht von Bedeutung (Rz. 1079 ff.). Fehler des Verteidigers in der Sache, z.B. unzulängliche Aktenkenntnis, verspätete oder nachlässige Bearbeitung, unterlassene Anträge und Beanstandungen, ein schlechtes Plädoyer, Mängel der Revisionsbegründung u.Ä. gehen demgegenüber zulasten des Mandanten – ohne Heilungsmöglichkeit! (Zur zivilrechtlichen Haftung des Strafverteidigers vgl. Rz. 165 ff.)
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Die selbständige Stellung des Verteidigers schließt auch jede Abhängigkeit vom Staat (Rz. 29) und vom Gericht (Rz. 30) aus. Er ist nicht dessen Gehilfe, aber er bleibt der Aufgabe verpflichtet, das Recht mit zu pflegen und die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung zur Richtschnur seines Handelns zu machen. Der Rechtsanwalt als Verteidiger steht Staatsanwalt und Gericht in voller Gleichberechtigung gegenüber. Er ist aber nicht wie diese zur Unparteilichkeit verpflichtet. Ihm obliegt es auch nicht, der Wahrheitsermittlung in objektiver Weise umfassend zu die1 BGH v. 30.10.1959 – 1 StR 418/59, BGHSt. 13, 337 (343). 2 BGH v. 20.9.1956 – 4 StR 287/56, BGHSt. 9, 356; BGH v. 30.1.1959 – 1 StR 510/58, BGHSt. 12, 367 (369); Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 137 StPO Rz. 1. 3 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 168c StPO Rz. 3; auch Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 247 StPO Rz. 1. 4 BVerfG v. 8.8.1990 – 2 BvR 267/90, NJW 1991, 351; BVerfG v. 13.4.1994 – 2 BvR 2107/93, NJW 1994, 1856; BGH v. 25.5.1960 – 4 StR 193/60, BGHSt. 14, 306 (308); vgl. aber zur Beratungshaftung OLG Nürnberg v. 29.6.1995 – 8 U 4041/93, StraFo 1997, 186. 5 Vgl. i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 StPO Rz. 18.
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Der Berufsauftrag des Verteidigers
Rz. 9
nen, da er nur auf Entlastung seines Mandanten hinzuwirken hat. Er unterliegt andererseits der Pflicht zur Wahrheit und dem Verbot der Lüge. Er darf den Sachverhalt nicht verdunkeln und keine Beweismittel beseitigen oder verfälschen. Er darf sich nicht rechtlich unzulässiger Mittel bedienen. Wenn er dagegen verstößt, wird aus seiner Verteidigung strafbare Strafvereitelung. Die Grenzen zwischen „noch zulässig“ und „schon unzulässig“ sind allerdings nicht immer leicht zu ziehen (Rz. 46). Die Beurteilung von Verteidigeraktionen als „unzulässig“ wird aber wegen der rechtsstaatlich geforderten Gewährleistung einer effektiven Verteidigung (auch im Hinblick auf Art. 12 GG) allerdings nur mit großer Zurückhaltung erfolgen können1. Ob und in welchen Fällen der Verteidiger die Funktion übernimmt, 8 durch Strafanzeige und Strafantrag eine Strafverfolgung in Gang zu setzen, ist eine je nach Lage des Falles zu beantwortende Stilfrage. Es gibt durchaus Fälle, in denen die unverzügliche Strafanzeige gerade durch den Verteidiger ein sinnvolles Instrument der Verteidigung sein kann, z.B. gegen den falsch aussagenden Zeugen, den „wahren“ Täter u.a. Opferschutz, Privat- und Nebenklage (§§ 406d ff., 374 ff., 395 StPO) zeigen, dass der Gesetzgeber den Rechtsanwalt, und d.h. hier den Strafverteidiger, auch in diese Aufgabe gestellt hat. Nutzlos und erfahrungsgemäß eher schädlich sind allerdings in aller Regel die von Mandanten oft gewünschten „Gegenanzeigen“, sowie unsubstantiierte Anzeigen gegen Polizeibeamte und Staatsanwälte wegen Verfolgung Unschuldiger, Nötigung, Aussageerpressung usw. Hier ist auch die Gefahr zu sehen, dass der Verteidiger sich selbst dem Vorwurf der üblen Nachrede aussetzen kann2. Er sollte im allgemeinen die Erstattung einer Strafanzeige seinem Mandanten überlassen, den er freilich in geeigneten Fällen anwaltlich dabei beraten oder auch durch einen Entwurf unterstützen kann. 3. Die Schutzaufgabe des Verteidigers Literatur: Dahs sen., Der Anwalt im Strafprozess, AnwBl. 1959, 171 = NJW 1959, 1158; Hammerstein, Verteidigung und Moralität, NStZ 1990, 261; Lüderssen, Bedeutung und Wirkung von „Vertrauen“ in der Beziehung zwischen Mandant und Verteidiger, BRAK-Schriftenreihe Bd. 12 (Symp. f. Egon Müller), 2000, S. 41; v. Stackelberg, Der Anwalt im Strafprozess, AnwBl. 1959, 190; Welp, Der Verteidiger als Anwalt des Vertrauens, ZStW 90 (1978), 101.
In diesem Spannungsverhältnis liegt die Funktion der Verteidigung be- 9 schlossen. Der Verteidiger ist der Berater und Beistand des Beschuldigten. In dieser Funktion hat er die Aufgabe, eine sachgerechte Verteidigung des Mandanten zu gewährleisten, indem er zum einen alle den Beschuldigten entlastenden Umstände zur Geltung bringt und zum ande-
1 BGH v. 10.4.2002 – 5 StR 485/01, NJW 2002, 2115 f. 2 Vgl. dazu u.a. OLG Hamburg v. 13.5.1980 – 1 Ss 43/80, MDR 1980, 953 m.N.
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ren im Rahmen seiner Aufgabe, den Mandanten zu schützen, über die Gesetzlichkeit des Verfahrens wacht1. Der Beschuldigte selbst kann keiner dieser Funktionen genügen. In aller Regel ist er zu einer sachgerechten Selbstverteidigung schon deshalb nicht imstande, weil er in eigener Sache nicht den nötigen Abstand gewinnt. Auch werden ihm die erforderlichen Rechtskenntnisse, Gewandtheit und Erfahrungen in forensischer Beziehung meistens fehlen. Ein Recht auf Akteneinsicht steht ihm nicht zu. In seiner durch die Anschuldigung entstandenen Bedrängnis lässt er sich leicht zu Fehlreaktionen hinreißen, die den Verdacht noch vergrößern. Möglicherweise übersieht er wichtiges Entlastungsmaterial in fehlerhafter Einschätzung seiner Bedeutung, oder er wagt in verständlichem Misstrauen vor den Verfolgungsorganen nicht, sich – wo dies geboten ist – rückhaltlos zu offenbaren. Der verhaftete Beschuldigte ist und sieht sich vollends außerstande, Entlastungsbeweise beizubringen. 10
Nun verpflichtet zwar die Strafprozessordnung die Staatsanwaltschaft, auch die entlastenden Umstände zu ermitteln (§ 160 Abs. 2 StPO), und auch das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der materiellen Wahrheit dienlich ist (§ 244 Abs. 2 StPO). Aber auch der beste Wille, diese Pflichten zu erfüllen, reicht zum Schutz des Beschuldigten nicht aus. Besonders dem Staatsanwalt und seinen Ermittlungsbehörden (Polizei u.a.)2 als staatlichen Verfolgungsorganen wird ein psychologisch schwer zu vollziehendes Verhalten abverlangt. Es liegt auf der Hand, dass eine auf Strafverfolgung abzielende Berufstätigkeit die Unbefangenheit des Urteils beeinflusst. Je stärker der Verdacht ist, umso mehr ist das Vermögen des Strafverfolgers beeinträchtigt, die entlastenden Umstände mit derselben Unvoreingenommenheit und Sachlichkeit zu ermitteln und zu berücksichtigen wie die belastenden. Wo er Verdacht hat, wird es ihm schwer, Unschuld zu vermuten. Die der Justizförmigkeit dienenden schützenden Formen des Prozessrechts mag er nicht selten als Hindernis bei der Ermittlung der materiellen Wahrheit empfinden. Gelegentlich wird die Objektivität von Staatsanwälten in Zweifel gezogen; insbesondere in Verfahren gegen „Prominente“ erscheint der Verfolgungsdrang zuweilen besonders ausgeprägt, zumal wenn die Staatsanwaltschaft sich „herausgefordert“ fühlt. Für ihre Ermittlungsbehörden (Polizei, Steuer- und Zollfahndung u.a.) gilt dies zudem in deutlich höherem Maße. Es gibt aber auch noch einen anderen Grund, weshalb die Staatsanwaltschaft außerstande ist, dem Entlastungsanspruch des Beschuldigten zu entsprechen. Der Beschuldigte sieht im Staatsanwalt nicht die Person seines Vertrauens, sondern seinen Verfolger. Oft genug äußert der Man1 St. Rspr., vgl. nur Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 2. 2 Durch das am 1.9.2004 in Kraft getretene Justizmodernisierungsgesetz wurden die „Hilfsbeamten“ zu „Ermittlungspersonen“ der Staatsanwaltschaft.
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dant sogar die Befürchtung, der Staatsanwalt sei aus Gründen seines persönlichen Prestiges darauf aus, „ihn zur Strecke zu bringen“ und jede Verurteilung des Angeklagten begünstige als Berufserfolg des Staatsanwalts seine Beförderung. Die zwangsläufige Folge solcher Vorstellungen ist das Misstrauen des Verfolgten, sogar seine Angst, sich diesem Widersacher aufzuschließen. Er zieht sich vor ihm umso mehr zurück, als das dem Staatsanwalt Anvertraute nicht unter dem Schutz einer beruflichen Schweigepflicht, sondern unter dem Zwang der Verfolgungspflicht stehen würde. Diese Umstände und Prozesserfahrungen aus Jahrhunderten haben dazu 11 geführt, der Staatsanwaltschaft einen Verteidiger gegenüberzustellen, der ausschließlich dem Beschuldigten gegenüber verpflichtet ist. Seine strenge Einseitigkeit ist ein hervorragendes Mittel zur Wahrheitserforschung. Sie verbürgt die vollständige Erfassung aller für die Entscheidung des Ermittlungsverfahrens und das Urteil wesentlichen Entlastungstatsachen. Sie ist das von Rechts wegen kalkulierte Gegengewicht gegen das auf die Verfolgung ausgerichtete Wirken der Anklagebehörde. Durch die Verteilung der Prozessfunktionen der Anklage, der Verteidigung und auch des Urteilens auf verschiedene Personen wird der Prozess der Wahrheitsfindung dialektisch ausgestaltet und sichert so am besten das Ziel der gerechten Entscheidung1. Die Lösung dieser Aufgaben vollzieht sich in dem Bereich der Normen der Strafprozessordnung, die sich damit als die „Magna Charta“ des Beschuldigten bewährt. Dies sollte auch für die konsensuale Verfahrenserledigung nach § 257c StPO gelten2. Bei der Wahrheitserforschung hat der Verteidiger eine ganz spezielle Auf- 12 gabe. Sie wurzelt in dem Wissen, dass es dem Menschen nicht möglich ist, die objektive Wahrheit eines Falles mit den Mitteln seines Erkennens absolut sicher zu ermitteln. Ein Richter kann nur versuchen, der absoluten Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen. Sein Urteil ist ein Wurf nach der Gerechtigkeit. Der Richter muss sich mit einer „relativen“ Wahrheit begnügen. Er findet sie im Wege einer Rekonstruktion zeitlich zurückliegender Vorgänge durch die Benutzung bestimmter Beweismittel. Je nach Zuverlässigkeit der Beweismittel gelingt dem Richter die wahrheitsgemäße Feststellung eines früheren Geschehens oder er bleibt ihr fern. Es kann auch sein, dass er genau die objektive Wahrheit feststellt. Das ist aber dann nicht die Folge zwingender Natur- oder Denkgesetze, sondern das Ergebnis einer glücklicherweise gewonnenen – objektiv aber nie feststellbaren – Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Geschehen. Die Erforschung der materiellen Wahrheit erweist sich somit letztlich als eine Illusion. In Wahrheit tritt an ihre Stelle die „richterli1 Eine gewisse Auflösung der dialektischen Struktur ergibt sich allerdings bei Verfahrensabsprachen (Rz. 177 ff., 496 ff. et passim), die auch die Wahrheitsfindung berühren können. 2 Vgl. dazu Knaur/Lickleder, Die obergerichtliche Rechtsprechung zu Verfahrensabsprachen nach der gesetzlichen Regelung – ein kritischer Überblick, NStZ 2012, 366 ff.
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che Überzeugung“. Sie findet der Richter aufgrund seiner freien Beweiswürdigung. Dies ist das Fundament seines Urteils. 13
Mit dieser Erkenntnis tritt die Gefahr eines Fehlurteils offen zutage. Denn für die freie Beweiswürdigung gibt es keinen Kanon objektiv gültiger und immer überprüfbarer Maßstäbe. Die Rechtsprechung lässt daher auch für die Bildung der richterlichen Überzeugung ein „nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen“1, genügen. Das ist eine bedenkliche, gefährliche und oft missverstandene Formel. Sie bedeutet gerade nicht, dass der Richter sich über bestehengebliebene Zweifel hinwegsetzen und sich anstelle eines vollen Beweises mit einem Grad von Wahrscheinlichkeit begnügen dürfte. Das wäre ein klarer Verstoß gegen den Grundsatz des „in dubio pro reo“ (Rz. 651)2. Dieser besagt, dass nur verurteilt werden darf, wenn für das Gericht nach angemessener, kritischer Prüfung der unwiderlegbare Beweis dafür erbracht ist, dass eine Schuldlosigkeit des Angeklagten absolut unmöglich ist. Kristallisationspunkt bleibt aber die subjektive Überzeugung des Gerichts; eine jederzeit reproduzierbare und nachvollziehbare, quasi naturwissenschaftlich-mathematische Beweisführung wird nicht gefordert. In diesem Bereich ist die Funktion des Verteidigers von besonderer Wichtigkeit. Seine Aufgabe ist eindeutig. Indem er einseitig zum Schutz seines Mandanten tätig wird, ist er auch Diener am Recht, wie es für ihren Teil Richter und Staatsanwalt sind. Sie alle steuern dem Ziel der Gerechtigkeit zu, aber von verschiedenen Ausgangspunkten her: der Staatsanwalt vom Strafanspruch des Staates, der Richter von der Totalität des Rechts, der Verteidiger vom Schutzanspruch des Beschuldigten aus. Der Richter hat sich zu bemühen, die Wahrheit objektiv nach allen Richtungen in vollem Umfang zu ergründen. Der einseitig für seinen Mandanten ausgerichtete Verteidiger sieht dagegen die Wahrheit nur im Profil. Seine Funktion ist damit aber ebenso legitim wie die des advocatus diaboli im kanonischen Prozess der Seligsprechung. Dem guten Richter wird deshalb der gute Verteidiger gerade wegen seiner Einseitigkeit und Härte willkommen sein3. Denn er stärkt das Gewissen des Richters, weil er ihn zur Beachtung aller entlastenden Gesichtspunkte zwingt. Erreicht er damit den Freispruch seines Mandanten, so müsste der Richter es ihm danken, ihn vor einem Fehlurteil bewahrt zu haben. Dringt der Verteidiger nicht durch, so sollte das Gewissen des Richters beruhigt sein, weil er durch die sachlich qualifizierte Verteidigung zur Prüfung aller Bedenken veranlasst worden ist.
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Dieses berufsethische Niveau der Strafverteidigung wird aber auch noch in einer anderen Beziehung sichtbar. Die auf Strafverfolgung ausgehen1 BGH v. 8.1.1988 – 2 StR 551/87, NStZ 1988, 236. 2 BGH v. 9.2.1957 – 2 StR 508/56, BGHSt. 10, 208. 3 Zur Konflikt- oder Chaosverteidigung vgl. Rz. 75, 813 et passim sowie Dahs in FS Odersky (1996), S. 317 ff.
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den Staatsorgane können sich irren, und die Strafe kann dann einen Unschuldigen treffen. Wenn das geschieht, geht etwas Schreckliches vor sich. Der Rechtsstaat selbst, der das Recht zu setzen und zu wahren hat, begeht Unrecht. Er begeht es durch seine eigene, der Rechtsverwirklichung verpflichtete Justiz. Von allen Formen des Unrechts ist seinem Wesen nach dieses justizielle Unrecht der Obrigkeit das schlimmste. Es bedeutet die Pervertierung des Rechtsstaates. Der Verteidiger, der einer solchen Möglichkeit entgegenwirkt, erfüllt eine große Aufgabe. In ihr liegt die Würde seines Berufes begründet. Andererseits muss der Verteidiger sich seiner Selbständigkeit im Verhältnis zum Mandanten stets bewusst sein. Er ist nicht das „juristische Ich“ des Beschuldigten und schon gar nicht „auf Gedeih und Verderb“ mit ihm verbunden1 – was manche Klienten gerne möchten. Beistand ist nicht kritiklose Gefolgschaft! Andererseits kann eine auf dem pflichtmäßigen Einsatz einer erfolgrei- 15 chen Verteidigung beruhende Entscheidung materiell falsch sein, und ein Schuldiger kann freigesprochen werden. Das braucht aber den Verteidiger nicht zu belasten. Denn auch dieses Urteil entspricht dem Recht, weil Prozessrecht ebenso „Recht“ ist wie das materielle Recht. In dieser Wertordnung ist im Rechtsstaat die Rechtssicherheit verbürgt. Ihre Wertidee hat den höheren Rang vor der materiell gerechten Entscheidung des Einzelfalles. Daraus folgt die Pflicht des Verteidigers, eine nicht prozessgerechte Verurteilung mit allen gesetzlichen Mitteln auch dann zu verhindern, wenn sie materiell richtig sein würde. „Das verlangt das Recht von ihm“2. Zur Schutzaufgabe des Verteidigers gehört indessen auch ein anderer Be- 16 reich, der seinen unmittelbaren Umgang mit dem Mandanten betrifft. Dieser ist in der Regel durch das Verfahren stark betroffen. Er fühlt sich von Verwandten und Freunden verlassen oder verachtet, gar von Medien vorverurteilt. Er verliert seine Selbstsicherheit und seine Ruhe. Das ist ganz besonders in der Untersuchungshaft der Fall (Rz. 337 ff.). Der Verteidiger ist dann häufig sein ganzer Halt. Ihm kann er sich ohne Scheu anvertrauen. Von seiner Leistung und Erfahrung verspricht er sich alles. Er ist die Brücke zur Justiz, der er zugeordnet ist und deren Sprache er spricht. Es ist überaus wichtig, aus dieser Lage heraus das richtige Vertrauensverhältnis zum Mandanten auf- und auszubauen. Dazu gehören auch viele Einzelheiten geringerer Bedeutung, so z.B. die Bezeichnung des Mandanten in schriftlichen Eingaben und vor Gericht als „Herr X“ und nicht als der „Angeklagte“ oder der „Beschuldigte“, auch der Gebrauch der Höflichkeitsformen im Schriftverkehr und die Begrüßung mit Handschlag. Gerade bei unangenehmen Charakteren sollte der Verteidiger bedenken, dass eine unsympathisch wirkende Person leichter „in die Klemme“ geraten kann. In diesem Falle ist er in seiner Schutzaufgabe so1 Etwa im Sinne eines „right or wrong – my client“. 2 Vgl. dazu Eberhard Schmidt, Lehrkommentar, Bd. 2, Vor. § 137 Nr. 6 StPO.
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gar verstärkt gefordert. Der Verteidiger muss die angemessene Form zu finden suchen, um einerseits das nötige Vertrauen einzuflößen, andererseits Distanz zu halten und sich Respekt zu verschaffen. Seine Schutzaufgabe verbietet es dem Verteidiger natürlich auch, Eigeninteressen zulasten seines Mandanten nachzugehen. Er darf insbesondere nicht den Fall seines Klienten als Mittel zur Praxiserweiterung auswerten. Man muss manchmal den Eindruck gewinnen, dass Verteidiger z.B. an einer geräuschlosen Einstellung oder sonst einfachen Erledigung einer Sache (z.B. nach § 153a oder § 257c StPO) nicht interessiert sind, weil sie das Spektakulum einer großen Hauptverhandlung und ihren publikumswirksamen Auftritt vorziehen. Dabei sind sie auch dem Verdacht ausgesetzt, an einem hohen Honorar mehr interessiert zu sein als am Schutz ihrer Klienten. Das sind böse Verdächtigungen. Aber sind sie wirklich immer unbegründet? 4. Die Beratungsfunktion des Verteidigers Literatur: Krause, Die Aufklärungspflicht des Verteidigers gegenüber seinem Mandanten; BRAK-Schriftenreihe, Bd. 12 (Symp. f. Egon Müller) 2000, S. 11; Lüderssen, Bedeutung und Wirkung von Vertrauen in der Beziehung zwischen Mandant und Verteidiger, BRAK-Schriftenreihe Bd. 12 (Symp. f. Egon Müller) 2000, S. 41.
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Dem Beginn der eigentlichen Verteidigung im Verfahren ist oft eine beratende Tätigkeit des Verteidigers vorgeschaltet. Sie kann zu ihrem wichtigsten Stück werden, indem das Verfahren überhaupt verhindert oder in günstige Bahnen gelenkt wird. Die Beratung kann sich fruchtbar nur auf der Grundlage des Vertrauens entwickeln. Der Verteidiger gewinnt es durch seine überzeugende Haltung. Überlegene Sachkunde, ausgeglichenes Wesen und Bestimmtheit des Auftretens sind entscheidend. Der Mandant muss fühlen, dass er einen bereitwilligen und fähigen Beistand gefunden hat, er muss aber auch merken, dass dieser sich nichts vormachen lässt. Auch in der umgekehrten Richtung spielt das Vertrauen eine Rolle. Zwar wird der Mandant nicht immer gleich die ganze Wahrheit sagen können. Der Verteidiger muss ihm aber wenigstens in etwa trauen, statt ihm nur etwas zutrauen zu können. In vielen Strafprozessen geht es um die Hauptfrage, ob der Betroffene schuldig oder nicht schuldig ist. Im ersten Fall trifft ihn die Strafverfolgung mit dem Einsatz ihrer einschneidenden Machtmittel zu Recht, und empfindliche Strafen können oft eine gerechte Sanktion sein. Im anderen Fall gebührt dem zu Unrecht Verfolgten der Freispruch. Solange die Schuldfrage strittig ist, bedeutet Verteidigung nur die Kunst des Möglichen. Die Weichen hierzu werden im Verfahren immer wieder neu gestellt.
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Dabei bedarf der Beschuldigte eines Ratgebers, der nur sein Verteidiger sein kann. Dieser ist nicht verpflichtet, den Mandanten zu einem Geständnis zu drängen. Er ist kein Beichtvater, der im Klienten Reue und 16
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Leid zu erwecken und ihn zur Entsühnung zu bringen hätte (Rz. 52). Es kann aber ein Akt der Klugheit sein, dem Mandanten das Eingeständnis etwa vorhandener Schuld nahezulegen. Das kann viele Vorteile bringen (Rz. 490). Das Verfahren wird abgekürzt. Die Vorgeschichte und Motive des Fehlverhaltens können dargelegt werden. Für die Geltendmachung aller Milderungsgründe ist der Weg freigemacht. Die Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO – obwohl von einem Geständnis nicht abhängig – rückt in den Bereich des Möglichen. Sogar ein Freispruch (etwa aus § 20 StGB) oder das Absehen von Strafe (z.B. §§ 60, 199 StGB, § 31 BtMG, §§ 153b, 153c, 154c StPO, § 31a BtMG) kann jetzt seine Begründung finden. Daneben eröffnet der Weg über ein Eingeständnis die Möglichkeit der Schadenswiedergutmachung, die nach § 46a StGB regelmäßig zu einer Strafmilderung führt. Der Verteidiger kann auch sonst für den Strafausspruch alle günstigen Umstände und Beweismittel zur Persönlichkeitsbeurteilung und Zukunftsprognose einführen und in dem breitgefächerten gesetzlichen Rahmen eine milde Straf- oder Maßregelsanktion erzielen (z.B. §§ 59, 60 StGB) – alles Erfolge, die bei starrem Bestreiten nicht zu erringen sind (vgl. besonders Rz. 61, 437, 490, 652). Je nach Lage der Sache können auch Initiativen zu einer Verfahrensabsprache gem. § 257c StPO (Rz. 237) entwickelt werden. Der Verteidiger hat in allen genannten Bereichen eine besonders schwere, aber auch schöne Aufgabe. Er ist dabei allerdings besonders darauf angewiesen, dass der Mandant Vertrauen zu ihm gewinnt. Andererseits darf sich der Verteidiger von seinem Mandanten nicht „ein- 19 kassieren“ lassen. Viele Beschuldigte haben das Bedürfnis, angesichts der gegen sie erhobenen Vorwürfe von ihrem Verteidiger ein „Glaubensbekenntnis“ für die Untadeligkeit ihrer Person und ihre Darstellung der Sache zu erhalten und drängen auf entsprechende Beteuerungen rückhaltloser Gemeinsamkeit. Davon sollte man sich fernhalten. Dem richtig verstandenen Interesse des Beschuldigten ist mit einem kritiklos „heißen Herzen“ seines Verteidigers nicht gedient. Das soll keine Einschränkung des Verteidigungs-Engagements bedeuten, jedoch wird der allseits einen gewissen inneren Abstand wahrende, den Anklagevorwurf, die Ermittlungsergebnisse und auch die Einlassung des Mandanten distanziert-kritisch analysierende Beistand in seiner Beratung und Verteidigung größere Erfolge erzielen. Auch sonst obliegt es dem Verteidiger in besonderem Maße, die für die 20 kriminalpolitische Beurteilung des Täters wesentlichen Tatsachen in das Verfahren einzuführen und für seinen Mandanten auszuwerten. Eine Vielzahl bedeutsamer Umstände aus dem persönlichen Bereich des Angeklagten sind ihrer Natur nach verborgen und der Amtsermittlung durch Staatsanwaltschaft und Gericht nicht zugänglich. Hier liegt eine große Chance für den Verteidiger: Wenn er aufgrund des zu dem Mandanten bestehenden Vertrauensverhältnisses von diesem umfassende Informationen zu den tatsächlichen Grundlagen des Strafausspruchs erhalten kann (oder erhält), entsprechende Beweise herangeschafft hat und darüber hi17
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naus das Straf- und Maßregelsystem beherrscht, kann er in diesem Teil des Erkenntnisprozesses sogar eine gewisse verfahrensmäßige Führungsposition und Überlegenheit gewinnen und auf diese Weise maßgeblich zugunsten seines Mandanten auf die richterliche Straffolgenentscheidung Einfluss nehmen. Auch eigene Ermittlungen des Verteidigers (Rz. 313 ff.) sind in gewissem Rahmen denkbar und von Nutzen. 21
Der Verteidiger wird in diesem Zusammenhang oft um eine Prozessprognose gefragt, besonders für den Fall eines Eingeständnisses. Sie ist vorbehaltlich verlässlich getroffener Absprachen (Rz. 177 ff., 327, 330, 354, 434, 437, 468, 502, 548, 564) schwierig und gefährlich. Allzu düstere Bemerkungen gefährden das Vertrauen, und Schönfärberei zahlt sich nicht aus. Der Verteidiger ist vielmehr gehalten, dem Mandanten Chancen und Risiken realistisch aufzuzeigen.
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So ist der Verteidiger als Berater auch dann in hohem Maße gefordert, wenn ein strafrechtlich relevantes Verhalten von Anfang an unbestreitbar ist. Zunächst muss er den Klienten darüber aufklären, was nach Gesetz und Erfahrung als Sanktion überhaupt in Betracht kommt. Häufig bestehen darüber völlig überzogene Vorstellungen, die eine fast irrationale Angst auslösen und den Blick für eine realistische Einordnung der Tat in das Sanktionensystem versperren. Die „Entkrampfung“ des Verhältnisses zu der begangenen Straftat fördert dann nicht selten Schuldmilderungs-, zuweilen sogar Rechtfertigungsgründe oder stichhaltige Argumente gegen Nebenfolgen (z.B. §§ 44, 69, 69a, 70 StGB) zutage. Verfahrensrechtlich kann so der Weg zur Erledigung der Sache ohne Hauptverhandlung und Urteil (§§ 153, 153a StPO – Rz. 328 ff.), zum Strafbefehlsverfahren (§ 407 oder auch § 408a StPO!) oder zu einem weniger belastenden Strafausspruch (z.B. Fahrlässigkeit statt Vorsatz oder § 59 StGB) gefunden werden. Auch kann eine saubere rechtliche Subsumierung dazu führen, dass die Tat in eine andere Kategorie eingeordnet wird, z.B. als minder schwerer Fall. Alles dies verlangt, dass der Verteidiger zwar sensibel, aber auch bestimmt die Beratung führt und Mittel und Wege findet, die Sache seines Mandanten optimal an die Staatsanwaltschaft – nicht selten auch an deren Ermittlungsbehörden – oder das Gericht heranzutragen (dazu näher Rz. 179).
II. Das Selbstverständnis des Verteidigers 23
Jeder Strafverteidiger wird im Laufe des Berufslebens ein eigenes, differenziertes Selbstverständnis seiner Funktion im Bereich der Rechtspflege entwickeln. Das Gesetz bietet ihm dafür nur wenige Koordinaten, z.B. in der BRAO, (BORA), BGB, StGB. Aus langjährigen Erfahrungen der Praxis lassen sich folgende Eckpunkte gewinnen:
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Der Strafverteidiger ist ein Dienstleister. Das gilt unabhängig von allen Theorien über Mandatsvertrag, Offizialverteidigung, Organstellung usw. 18
Das Selbstverstndnis des Verteidigers
Rz. 25
(Rz. 3 ff.). Kern seiner Aufgabe in strafrechtlichen Angelegenheiten ist die Unterstützung des Mandanten durch Beratung, Anleitung, Beistand, Schutz und Vertretung. Allein der Klient ist das Prozesssubjekt, auf das sich die Arbeit des Verteidigers bezieht; nur seinen Interessen im Verfahren hat er sich zu widmen. Letztlich bestimmt dieser auch die Verteidigungsziele und die Verfahrensstrategie. Der Verteidiger muss dies ungeachtet seiner überlegenen Fachkenntnis und entsprechender – auch nachdrücklicher – Beratung akzeptieren. Bei unüberbrückbaren Differenzen ist er berechtigt, das Mandat zu beenden. Sein Dienst erschöpft sich im Schutz des Mandanten – sei er unschuldig oder nicht. Anerkennung, Einvernehmen oder gar Sympathie von Gericht und Staatsanwaltschaft sind kein legitimes Ziel der Verteidigung. Auch die Zufriedenstellung Dritter als Auftraggeber (und Kostenträger) – seien es (Groß-)Unternehmen, eine Partei oder andere „mandatsträchtige“ Organisationen (Rz. 32 f.) – ist unzulässig. Sie widerspricht dem Geist der Strafverteidigung. Die Person des Verteidigers hat hinter der so verstandenen Berufsaufgabe unbedingt zurückzutreten. Es geht nicht darum, im Prozess „glänzend“ dazustehen, sondern die Rechte und Interessen des Mandanten optimal zu vertreten – auch wenn dieser verurteilt wird. Der (dann eher seltene) Kommentar „An Ihnen hat es nicht gelegen“, muss ihm als Anerkennung reichen! Der Strafverteidiger ist „kein Entscheider“. Er kann zwar in gewissem 25 Umfang rechtlicher Vertreter seines Klienten sein (z.B. §§ 233, 387, 411 Abs. 2 StPO); außerhalb dieses engen Bereichs sollte er aber davon Abstand nehmen, anstelle seines Klienten Entscheidungen zu treffen. Nicht wenige Mandanten versuchen, vor allem in schwierigen Verfahrenslagen (Zustimmung zu § 153a StPO, Absprachen, Geständnis, Rechtsmittel), die Entscheidung über das Prozessverhalten dem Strafverteidiger zuzuschieben. „Entscheiden Sie das, Sie verstehen mehr davon“ ist ein Beispiel für Schein-Komplimente dieser Art. Sie sollten beim Verteidiger ein Alarmsignal auslösen: Entweder ist es ihm nicht gelungen, den Mandanten für diesen verständlich und umfassend über das Für und Wider der anstehenden Entscheidung aufzuklären und zu beraten – oder es soll ihm eine Verantwortung zugeschoben werden, die er nicht übernehmen kann. Hier geht es in der Regel um die Disposition der Entscheidung in der Sache selbst, also um den ureigensten, höchstpersönlichen Willen des Mandanten, der auch die Konsequenzen der Entscheidung zu tragen hat. Es ist nicht Sache des noch so engagierten Verteidigers, solche Entscheidungen zu übernehmen. Dies auch deshalb, weil der für den zu treffenden Entschluss maßgebende „wirkliche Sachverhalt“1 und die daraus folgende „wahre Interessenlage“ in aller Regel zwar dem Mandanten, aber keineswegs immer dem Verteidiger bekannt ist. Mit einem Wort: Der Verteidiger kann die Verantwortung gar nicht übernehmen und sollte sich, nicht zuletzt auch in seinem eigenen Interesse, nicht in sie hineindrän1 OLG Zweibrücken v. 27.5.1994 – 1 Ss 12/94, NStZ 1995, 35 (36); dazu Dahs, NStZ 1995, 16.
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gen lassen! Nur damit entgeht er der Gefahr späterer Vorwürfe des Mandanten, wenn diesem die getroffene Entscheidung – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr „passt“. Erfahrungsgemäß reicht es auch aus, dem Mandanten (nochmals) klarzumachen, dass die Aufgabe des Verteidigers sich in der Erklärung der Sach- und Rechtslage, der Beratung einschließlich der Vermittlung von Erfahrungen, auch aus vergleichbaren Sachen, beschränkt, die Entscheidung über sein prozessuales Schicksal aber letztlich Sache des Betroffenen selbst ist. 26
Der Strafverteidiger ist ein „Einzelkämpfer“. Keiner der übrigen Verfahrensbeteiligten steht nach beruflicher Aufgabe und prozesstypischer Zielsetzung (a priori) auf seiner Seite. Das Gericht ist allein der Totalität des Rechts verpflichtet, gleich wem es nütze oder schade. Dies ist nicht stets im Sinne des Mandanten. Die Maxime gilt von Rechts wegen auch für die Staatsanwaltschaft (§ 160 Abs. 2 StPO); allerdings lehrt die Praxis, dass diese oft doch eher der Strafverfolgung zugeneigt ist, auch wenn die überwiegende Zahl der Ermittlungsverfahren eingestellt wird. Nebenkläger sind schon kraft Rechtsposition (§ 395 StPO) die dezidierten Antipoden des Verteidigers. Selbst der eigene Mandant, in dem man eigentlich den „gekorenen“ Mitkämpfer sehen sollte, ist für den Verteidiger nicht selten eine Chimäre. Einerseits verlangt er den von ihm vorgegebenen Verteidigungserfolg gegen den Tatvorwurf, andererseits zeigen die Erfahrungen aus langjähriger Praxis, dass er seinen Verteidiger oft nur selektiv informiert und versucht, ihn gegenüber der Strafrechtspflege als eine Art Schachfigur in seinem Interessendispositiv einzusetzen. Und geht die Sache „schief“, so wird der Verteidiger in der Außendarstellung durch den Verurteilten leicht zum „Sündenbock“ gemacht. Bei allem Engagement des Verteidigers für den Klienten muss er sich dieser Gefahr bewusst sein und entsprechend handeln. Dazu gehört nicht zuletzt auch eine Aktenführung, die es jederzeit – insbesondere nachträglich – ermöglicht, den verteidigungsinternen Informations- und Beratungsgang sowie die getroffenen Entscheidungen – und ihre Entstehung – nachzuvollziehen. Auch insoweit muss sich der Verteidiger bewusst sein, dass er ggf. allein steht.
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Der Strafverteidiger ist schließlich Partner der Rechtspflege – und nicht ihr Gegner oder gar „Feind“ (Rz. 1, 3). Das bedeutet, dass er ihren Repräsentanten „auf Augenhöhe“ gegenübertreten und um das Rechte ringen kann – auch und gerade weil ihm eine Mitverantwortung für rechtsfehlerfreies Prozedieren obliegt (Rz. 1). Umgekehrt kann er erwarten, dass er entsprechend geachtet und in seinem beruflichen Agieren akzeptiert wird. Der Verteidiger ist die von Recht und Gesetz gewollte „personifizierte Antithese“ zu staatlicher Strafverfolgung auf der Basis von Verdacht, Beweisführung und Rechtsfindung (Rz. 51 ff.). Dieser Bereich wird auch dann nicht verlassen, wenn Verteidigungsmaßnahmen als prozessual unzulässig oder offensichtlich unbegründet beurteilt werden. Die Grenze der zulässigen Verteidigung wird erst durch die distanzlose Kumpanei mit dem Mandanten überschritten, der in strafrechtlich relevanter Weise den Gang der Rechtspflege zu sabotieren sucht (Rz. 59 ff.). 20
Unabhngigkeit des Verteidigers
Rz. 29
III. Unabhängigkeit des Verteidigers 1. Der Bereich der Unabhängigkeit Literatur: Amelung, Der Anwalt – abhängiges Organ unabhängiger Richter?, AnwBl. 2002, 347 ff.; Beulke/Ruhmanseder, Die Strafbarkeit des Verteidigers, 2. Aufl. 2010, Rz. 559 ff. (Berufsrecht); Dahs, Wehrhafter Rechtsstaat und freie Verteidigung – Ein Widerspruch?, AnwBl. 1977, 362; Fahl, Der Rechtsmissbrauch im Strafprozess, Habil. 2004; Habscheid, Die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts, NJW 1962, 1958; Kniemeyer, Das Verhältnis des Strafverteidigers zu seinem Mandanten: Vertrauen und Unabhängigkeit, 1997; Lüderssen, Wie abhängig ist der Strafverteidiger von seinem Auftraggeber, wie unabhängig kann und soll er sein?, FS Dünnebier (1982), S. 263; Prütting, Ethos anwaltlicher Berufsausübung, AnwBl. 1994, 315 (317); Quack, Sinn und Grenzen anwaltlicher Unabhängigkeit heute, NJW 1975, 1337 = AnwBl. 1975, 259; Schneider, Der freie Anwalt und die Präjudizien, MDR 1972, 745; Vehling, Die Funktion des Verteidigers im Strafverfahren, StV 1992, 86; Vogel, Sinn und Grenzen anwaltlicher Unabhängigkeit, Bulletin der BuReg. Nr. 61 vom 14.5.1975, S. 571.
Ein wesentliches Element der Verteidigung ist die Unabhängigkeit des An- 28 walts, die Freiheit der Advokatur, die in § 1 der Berufsordnung näher beschrieben ist1. Sie hat verschiedene Bezüge. Ursprünglich ist sie als Freiheit von der staatlichen Obrigkeit verstanden worden. In der Tat musste die Loslösung des Anwaltsberufs von der Verbeamtung im 19. Jahrhundert erst erkämpft werden. Andere Aspekte des Unabhängigkeitsproblems traten in den Vordergrund, als das Streben nach Sicherheit die Unabhängigkeit in seinen Gefahrenbereich zog und merkantiles Denken die berufsethische Fundierung des unabhängigen Anwaltsberufs zu erschüttern begann. Es entspricht nicht dem praktischen Zweck dieses Buches, die anwaltliche Unabhängigkeit in all ihren Beziehungen aufzuzeigen, angefangen von der freien Zulassung, der Freizügigkeit, über die Freiheit von politischen Bindungen und die Freiheit der politischen Betätigung bis zur Freiheit des Berufsstandes in möglichst weitreichender Selbstverwaltung. Jeder Verteidiger sollte aber doch mit den Grundelementen und Grenzfragen seiner Unabhängigkeit und seiner Bindungen vertraut sein. Im Vordergrund steht die Unabhängigkeit vom Staat (§ 2 Abs. 1 BRAO). 29 Sie ist ein unabdingbarer Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Rechtsordnung. Die Gewissheit, den Beruf frei von staatlicher Einflussnahme und insbesondere politisch motivierten Sanktionen ausüben zu können, setzt den Verteidiger in den Stand, sich dem Staat und seiner Tätigkeit kritisch gegenüberzustellen und ohne Scheu an ihr Kritik üben zu können. Gerade dies ist die Aufgabe des Verteidigers im Strafverfahren, das so gravierend in die Freiheitssphäre des Beschuldigten eingreift. Er hat sich hier seine volle Handlungsfreiheit zu erhalten und darf keinem staatlichen Druck und keiner politischen Beeinflussung nachgeben. Im parlamentarischen Kampf um die sog. politische Klausel hat die Anwalt1 Für den Verteidiger vgl. auch Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Bd. 8, 1992, Thesen zur Strafverteidigung, These 1 S. 23.
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Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren
schaft auch die gesetzliche Anerkennung ihrer absoluten Freiheit vom Staat in der Bestimmung des § 7 Nr. 6 BRAO durchgesetzt. Hiernach verwirkt der Anwalt seine Zulassung nur dann, wenn er „die demokratische Grundordnung in strafbarer Weise bekämpft“. Außerdem lautet sein Eid, „die verfassungsmäßige Ordnung zu wahren“ (§ 26 BRAO). Mit weiteren Einschränkungen vonseiten des Staates ist seine Tätigkeit nicht belastet. Die Zeit des Nationalsozialismus oder der DDR lehrt, mit welchen Methoden eines polizeistaatlichen Regimes versucht wurde, die unabhängige Strafverteidigung zu sabotieren. Rechtswidrige Gesetze und Anordnungen, häufig durch Täuschung, Drohung und Zwang, wurden gegen Beschuldigte und Verteidiger eingesetzt. Die Unabhängigkeit der Verteidiger war ebenso wie die der Richter und Staatsanwälte in größter Bedrängnis. Diese unheilvolle Reminiszenz an überholte Epochen ist heute eine Warnung an den Verteidiger, jedem etwa denkbaren Versuch einer Beeinträchtigung seiner politischen Unabhängigkeit schon in den Anfängen zu wehren. Die Bindung an Gesetzes- und Berufsrecht wird dadurch aber nicht eingeschränkt (Rz. 38). 30
Die Unabhängigkeit vom Gericht ergibt sich aus dem Wesen der Strafverteidigung. Als selbständiges Organ der Rechtspflege ist der Verteidiger dem Gericht nicht untergeordnet, sondern ist in voller Gleichberechtigung tätig. Die unmittelbare Folge davon ist, dass der Verteidiger weder der Ordnungsstrafgewalt des Gerichts noch sonstigen Zwangsmaßnahmen gem. § 177 GVG, sondern allein den sitzungspolizeilichen Maßnahmen nach § 176 GVG unterliegt (Rz. 194). Unrühmliche Bedeutung hat diese Rechtslage dadurch erlangt, dass das AG Hagen im Jahr 2003 erstmalig in der deutschen Justizgeschichte Ordnungshaft gegen einen Strafverteidiger verhängt hat1. Das gestattet es nur unter ganz besonderen Voraussetzungen, den Verteidiger von der Führung der Verteidigung auszuschließen (§§ 138a ff. StPO – Rz. 40 f.). Dem Vorsitzenden steht keine Befugnis zu, einem Verteidiger wegen seiner Anträge oder seiner sonstigen Prozesshandlungen eine Rüge zu erteilen2, geschweige denn sein Verhalten als berufsrechtliches Fehlverhalten festzustellen3. Dem Gericht obliegt auch nicht die Überwachung des Verteidigers daraufhin, ob dieser ordnungsmäßig verteidigt. Ordnungswidrige Führung der Verteidigung ist auch kein Revisionsgrund. Die Fürsorgepflicht des Gerichts führt nur ganz ausnahmsweise zur Ablösung des Verteidigers, etwa bei Krankheit, Altersstörung oder durch Sucht- oder Rauschmittel bedingter Unfähigkeit, die Verteidigung zu führen. Gegenüber unberechtigter Kritik sollte der Verteidiger in aller Festigkeit klarstellen, dass die Verhandlung zwar der Vorsitzende führt, die Verteidigung ihm aber allein zu eigener Verantwortung zustehe (Rz. 28 f.). Damit soll nicht in Zweifel ge1 Die Vollziehung wurde allerdings bereits nach drei Stunden durch das OLG ausgesetzt und die Ordnungshaft später für unzulässig erklärt. Vgl. OLG Hamm v. 6.6.2003 – 2 Ws 122/03, StraFo 2003, 244; Nobis, StraFo 2003, 257. 2 BGH v. 6.2.1979 – 5 StR 713/78, JR 1980, 218 m. Anm. Meyer. 3 BGH, 4 StR 143/67 – n.v.
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zogen werden, dass es in der Praxis Fälle pflichtwidriger Verteidigung und gravierender Untätigkeit und/oder Unwilligkeit gibt, z.B. wenn sich das Plädoyer auf die Worte beschränkt: „Herrn X (dem Mandanten) wird noch manches ins Stammbuch geschrieben werden müssen. Ich stelle keinen Antrag“! Solche Missgriffe dürfen indes an dem Rechtsinstitut der Unabhängigkeit nichts ändern. Die Unabhängigkeit vom Mandanten ist eine praktisch besonders wich- 31 tige und häufig auf die Probe gestellte Anforderung. Für den Anwalt, der vor den staatlichen Gerichten als Repräsentant der freien Anwaltschaft als der dritten Säule der Rechtspflege auftreten will, muss unter allen Umständen die äußere und innere Freiheit vom Auftraggeber gewährleistet sein. Er darf deshalb keine Bindungen eingehen, die seine berufliche Unabhängigkeit gefährden könnten. Er kann jedes Mandat ohne Begründung ablehnen, wenn es ihm nicht passt. Vor allem der Strafverteidiger muss jederzeit die freie Entschließung behalten, wem und wie er seine Berufstätigkeit gewähren will (Rz. 28 f.). Sein Berufsauftrag in der Rechtspflege verbietet es ihm, die Verteidigung anders zu führen als es dem sachlich begründeten Schutzinteresse seines Auftraggebers entspricht. Der Aufgabe, dem Recht zu dienen, gebührt der unbedingte Vorrang vor sachfremden, wirtschaftlichen, beruflichen, politischen, ideologischen oder sonstigen Interessen des Mandanten, die dieser im Strafverfahren – sei es im Zusammenhang mit seiner Verteidigung, sei es gar anstelle einer sachgerechten Verteidigung – vielleicht verfolgen will oder soll. Weisungen des Auftraggebers können den Verteidiger weder in seiner Rechtsüberzeugung binden noch ihn von der Verantwortlichkeit für sein Handeln freistellen. Jedes ihm angesonnene Verhalten, das seine Berufspflichten verletzen würde, muss er unterlassen. Ein heikles Kapitel ist die Unabhängigkeit des Verteidigers vom „Kosten- 32 träger“, wenn es sich dabei um außerhalb des Mandats stehende Dritte handelt. Zu denken ist an Verwandte und Bekannte des Klienten, an Unternehmen oder Organisationen, die aus der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers heraus die Kosten tragen, an Rechtsschutzversicherungen und nicht zuletzt an Medien, denen der Mandant seine Lebens- und Prozessgeschichte (exklusiv) verkauft hat. Nur ausnahmsweise werden diese „Nothelfer“ völlig selbstlos und neutral handeln; oft haben sie recht handfeste eigene Interessen, in die sie den Klienten und seinen Verteidiger mit Hilfe ihrer Finanzkraft einzubinden versuchen. So wird z.B. einem Betriebsleiter nahegebracht, die „oberen Etagen“ des Unternehmens oder beteiligte Behörden (z.B. im Umwelt-, Bestechungs- oder Kartellstrafsachen) „aus der Sache herauszuhalten“ oder generell die Devise „Vorstand bleibt außen vor“. Medien können an spektakulärer, vor allem „streitiger“ Prozessführung („Konfliktverteidigung“) interessiert sein und wünschen gelegentlich entsprechende „Zusammenarbeit“ (vulgo: Prozessrabatz auf Bestellung). Andere Kostenträger verlangen einen kurzen Prozess mit möglichst geringem Kostenaufwand (z.B. für Gutachten). 23
Rz. 33
Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren
Dies und manches andere wird in erkennbarem Zusammenhang mit Honorarzusage oder Honorarhöhe diskret oder direkt an den Verteidiger herangetragen – zuweilen sogar ohne Wissen des Mandanten. Nur selten werden sich solche Wünsche mit dem individuellen Prozessziel des Betroffenen ohne weiteres decken; manchmal können sie im Wege des Kompromisses in Übereinstimmung gebracht werden. Immer kann der fachlich beratene Klient seine Verteidigungslinie selbst definieren und z.B. darauf verzichten, sich auf Kosten Dritter zu entlasten. Wo dies nicht möglich ist, muss der Verteidiger der Versuchung widerstehen, die von ihm erkannten wohlverstandenen Interessen seines Klienten auch nur ein wenig zurückzustellen, um das lukrative Mandat nicht zu gefährden. Geschieht dies dennoch, so wird der Mandant (auch wenn er es nicht merkt), im eigentlichen Sinne „verraten“. 33
Die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Strafverteidigers kann aber auch dadurch gefährdet werden, dass in subtiler oder deutlicher Weise seine Sozietät von ihm erwartet, dass er in lukrativen Mandaten (vgl. auch Rz. 31), z.B. wenn die Kosten der Verteidigung durch ein großes Unternehmen getragen werden, auf der Grundlage einer entsprechend abzuschließenden Honorarvereinbarung „fleißig Stunden macht“. Damit ist zwar nicht gemeint, dass Arbeitsaufwand abgerechnet wird, der gar nicht angefallen ist, sondern dass die Akten so gründlich (einmal oder mehrfach) gelesen, die Rechtslage so intensiv geprüft und die Schriftsätze so oft überarbeitet werden, dass die Verteidigung zu Honorarforderungen führt, die für den objektiven Betrachter kaum oder gar nicht nachzuvollziehen sind. Es sind offenbar Praktiken dieser Art gewesen, die zu einer Rechtsprechung geführt haben, durch die dem Verteidiger sowohl die Art seiner Abrechnung (Minutenbasis) als auch die angeblich objektiv erforderliche Arbeitszeit quasi vorgeschrieben wird1. Andererseits gibt es Fälle, in denen die Vereinbarung guter oder besonders guter Honorare z.B. durch ein Wirtschaftsunternehmen als Kostenträger mit der ausgesprochenen oder erkennbaren Erwartung verbunden werden, dass der Verteidiger sich z.B. den vom Unternehmen oder von einem „Firmenanwalt“ (vgl. auch Rz. 31) gegebenen Direktiven und vorgegebenen Verteidigungsstrategien unterordnet – auch wenn nach seiner Auffassung das individuelle Verteidigungsinteresse seines Klienten davon abweicht oder eine andere, für den Mandanten mutmaßlich günstigere Einzel-Verteidigungsstrategie in Betracht käme. Die Grenzen zu solchen Aufweichungen der Unabhängigkeit sind nicht immer deutlich. Die Standfestigkeit des Verteidigers, der ein „schönes“ Mandat gefährdet sieht, ist hier aber besonders gefordert. Es soll auch vorgekommen sein, dass der Beschuldigte seine Prozess„story“ an Medien verkauft hat mit der Auflage, dass sein aus dem Erlös honorierter Verteidiger in der Gestaltung der Verteidigung mit dem Geldgeber „zusammenarbeitet“ und dessen Interessen an „farbigen“ Verfah1 OLG Düsseldorf v. 18.2.2010 – I-24 U 183/05, StV 2010, 261.
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Unabhngigkeit des Verteidigers
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renseffekten – vor allem während der Hauptverhandlung – unterstützt. Es sollte nicht zweifelhaft sein, dass so motivierte „knallige“ Zusammenstöße mit Staatsanwaltschaft, Gericht oder Zeugen eine Perversion freier, sachbezogener Verteidigung und nachdrücklich zu verurteilen sind. Ein Verteidiger, der sich auf ein solches Spiel einlässt, begibt sich in die Rolle einer Marionette, die seines Berufes unwürdig ist. Der Anwalt muss auch jede Unkorrektheit (etwa steuerlicher Art) ver- 34 meiden, die ihn durch eine Mitwisserschaft des Mandanten in dessen Abhängigkeit bringen kann (Rz. 32). Er könnte sich dann nicht mehr nach dem richten, was er als Recht zu vertreten hat, sondern müsste sich nach dem einstellen, was der Mandant von ihm verlangt. So können auch das gebotene Maß übersteigende Honorare oder Geschenke, möglicherweise auch Darlehen, ebenso gesellschaftliche Kontakte und Vorteile eine Abhängigkeit begründen. Der Anwalt, der deswegen den Klienten nicht verlieren möchte, gerät leicht in die Gefahr, sich zu einem Vorgehen verleiten zu lassen, das er sonst nicht für richtig halten würde. Stets sollte er darauf achten, auch jeden falschen Anschein zu vermeiden (Rz. 94). Schließlich kann ebenfalls ein allzu vertrauter persönlicher Verkehr seine Unabhängigkeit gefährden (Rz. 155). Die Unabhängigkeit des Verteidigers besteht auch gegenüber dem Kam- 35 mervorstand. Der Verteidiger untersteht zwar als Rechtsanwalt seiner Berufsorganisation. Er ist ipso jure Mitglied seiner Kammer, deren Vorstand die Berufsaufsicht ausübt. Diese berechtigt aber den Kammervorstand nicht, etwa dem einzelnen Anwalt Anweisungen für sein berufliches Verhalten zu geben. Insbesondere das freie Wort des Anwalts unterliegt keiner Kontrolle seiner Standesvertretung – Entgleisungen nach Form und Inhalt ausgenommen. Der Verteidiger hat darauf zu achten, dass ihm das Recht zu – auch deutlicher – Kritik nicht beschnitten und die rückhaltlose Interessenvertretung nicht gefährdet wird. Das gilt insbesondere auch, wenn er bei einzelnen Prozessbeteiligten Missfallen erregt hat und nun der Kammervorstand über entsprechende Beschwerden befinden wird. Hier hat sich der Anwalt energisch zu behaupten, allerdings in den begrenzenden Bindungen seiner Berufsorganisation. Er sollte andererseits nicht vergessen, dass die Kammer in schwierigen 36 Berufssituationen, z.B. bei drohenden Interessenkollisionen, als kompetente Beratungsstelle zur Verfügung steht, auch in Honorarfragen. So ist z.B. „die öffentliche Hand“ als Honorarpartner gehalten, beim Kammervorstand eine gutachtliche Stellungnahme zur Angemessenheit des Anwaltshonorars einzuholen. Ihr Votum ist für den Verteidiger eine sichere und beruhigende Handlungsbasis. In dieser Funktion kann man die Rechtsanwaltskammer durchaus als Garantin anwaltlicher Unabhängigkeit verstehen. Sonstige Unabhängigkeit ist auch bezüglich aller rechtsfremden Einflüs- 37 se anderer Art geboten. Es wird oft von außen versucht, den Verteidiger 25
Rz. 38
Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren
für oder gegen einen Beteiligten einzunehmen. Sympathien und Antipathien, aber auch hintergründige Absichten sind die Triebkräfte. Der Verteidiger muss diesen Einflüssen widerstehen. Andernfalls verletzt er seine Treuepflicht und verrät seinen Mandanten. Er darf auch nicht „knochenweich“ werden, wenn er einen anderen – z.B. einen Mitangeklagten, Belastungszeugen, Nebenkläger oder „Verletzten“ – angreifen und bloßstellen muss. 2. Bindung an das Berufsrecht Literatur: Busse, Anwaltsethik unter der Geltung des neuen Berufsrechts, AnwBl. 1998, 231; Eylmann, Unsachlichkeit als Charakterfehler ahnden?, AnwBl. 1999, 338; Hassemer in Hamm/Leipold (Hrsg.), Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 5; Kleine-Cosack, Neuordnung des anwaltlichen Berufsrechts, NJW 1994, 2249; Loewer, Neuordnung des anwaltlichen Berufsrechts, BRAK-Mitt. 1994, 186; Prütting, Die rechtlichen Grundlagen anwaltlicher Berufspflichten und das System der Reaktionen bei anwaltlichem Fehlverhalten, AnwBl. 1999, 361; Schardey, Die neue Bundesrechtsanwaltsordnung, AnwBl. 1994, 369.
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Die Unabhängigkeit ist dem Anwalt ebenso wenig wie dem Richter um seiner selbst willen gegeben, sondern damit er als freier Mann fähig und berufen ist, den Dienst am Recht und den Kampf ums Recht zu bestehen. Freiheit ohne Bindung ist aber nicht denkbar. Ihrer Sicherung dient vorwiegend das Berufsrecht. Das frühere anwaltliche Standesrecht ist durch die Novelle zur BRAO aus dem Jahre 1994 obsolet geworden, nachdem es zuvor durch das BVerfG1 für verfassungswidrig erklärt worden war. Grundlage der Berufsausübung des Rechtsanwalts und des Strafverteidigers sind seitdem vorrangig die allgemeinen Gesetze (insbesondere §§ 185 ff., 201, 203, 258, 352, 356d, 356 StGB), die §§ 53 ff., 53, 56, 76 BRAO, womit die Berufspflichten des Rechtsanwalts als Strafverteidiger nunmehr auf ausschließlich gesetzlicher Grundlage geregelt sind2. Ob indes die grundlegende Berufspflicht des § 43a Abs. 3 BRAO – das Sachlichkeitsgebot – die Grenzen zulässiger Verteidigung in allen Varianten hinreichend deutlich umreißt, wird bezweifelt3. Damit ist die Gefahr nicht auszuschließen, dass quasi „durch die Hintertür“ Aspekte des früheren Standesrechts mit Rücksicht auf die Einheitlichkeit der Pflichtverletzung4 Eingang in die Bewertung finden könnten5.
1 BVerfG v. 14.7.1987 – 1 BvR 537/81, 1 BvR 195/87, BVerfGE 76, 171. 2 Prütting, AnwBl. 1999, 361 (362); in der BORA sind keine speziell den Strafverteidiger betreffenden Normen mehr enthalten. 3 Henssler/Prütting/Eylmann, § 43a BRAO Rz. 82: „nicht justitiable Leerformel“. 4 St. Rspr., vgl. nur BGH v. 25.9.1961 – AnwSt (R) 4/61, BGHSt. 16, 237 (240). 5 Nach Jähnke in FS Pfeiffer, S. 941 (954) geht es um „die Minderung der Anwaltsehre schlechthin“.
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Unabhngigkeit des Verteidigers
Rz. 39
Den Verteidiger, der sich an die Grundpflichten hält, hat niemand zu kri- 39 tisieren. Es muss aber jeder für sich entscheiden, ob er es bei diesem rechtlichen Minimalstandard belässt oder seine Berufsausübung an einem zuweilen anspruchsvolleren Ethos der Strafverteidigung ausrichtet. Das Handbuch ist nicht der Ort, das Konzept einer solchen „Ethik der Strafverteidigung“ zu entwerfen; deshalb sollen nur einige Aspekte und Beispiele aus der Praxis verdeutlichen, was u.a. gemeint ist: Konfliktverteidigung „im Grenzbereich des Zulässigen“ sollte nicht das Prinzip des Verteidigerlebens sein; die Erfahrung lehrt, dass sie nur in seltenen Ausnahmefällen nötig ist. Ähnliches gilt für einen Verteidigungsstil, der primär darauf abzielt, dem Gericht prozessuale „Fallen zu stellen“ (z.B. durch in umfangreiche Schriftsätze kryptisch eingebaute Beweisbegehren, provokative Ablehnungsgesuche u.Ä.)1. In diesen Bereich gehört auch der Gebrauch einer im Grenzbereich von Wahrheit und Unwahrheit schillernden Sprache. Den Interessen des Mandanten schadet es in der Regel auch nicht, einem Staatsanwalt, der sich „vergaloppiert“ hat, Gelegenheit zu geben, das Gesicht zu wahren – statt ihn in der Verhandlung verbal „niederzumachen“. Überhaupt sollte der Umgang mit den Justizorganen von Respekt und Verständnis für die „jeweils unterschiedliche Aufgabe“ getragen sein – und nicht von Aggression. Auch das persönliche Abqualifizieren von Zeugen ist in der Regel ebenso unpassend wie das bewusst auf den Lästigkeitseffekt abzielende „Belämmern“ des Tatopfers, den Strafantrag zurückzunehmen oder der Rücknahmekauf zu weit übersetztem („Entschädigungs-“)Preis2. Entsprechendes gilt für aggressives Hinwirken auf die Ausübung von Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechten. Allgemein passen Kniffe und Winkelzüge nicht zum Bild des seriösen Strafverteidigers. Damit ist die Ausnutzung fachlicher Überlegenheit nicht ausgeschlossen, aber professionelle Strafverteidigung bedeutet nicht Kampf mit allen Mitteln gegen ein Feindbild Strafjustiz3! Eine professionelle und erfolgreiche Verteidigung wird aber nicht nur durch die rechtliche Zulässigkeit des Verteidigerhandelns und seiner ethischen Ausrichtung bestimmt, sondern auch durch informelle Programme4. Diese Programme bzw. Strategien erschließen sich dem (jungen) Strafverteidiger durch Ratschläge, Beobachtungen und Vorbilder; nicht zuletzt insoweit möchte das Handbuch eine Hilfe sein.
1 Vgl. dazu u.a. BVerfG v. 14.2.1973 – 2 BvR 667/72, BVerfGE 34, 293 (306); Dahs in FS Odersky (1996), S. 317 ff. 2 Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, S. 55 f.; es ist allerdings nicht strafrechtlich relevant, BGH v. 9.5.2000 – 1 StR 106/00, BGHSt. 46, 53. 3 Dahs, NJW 1994, 909; Dahs, JR 2004, 96. 4 Hassemer, StV 1982, 377 ff.; Krekeler, NStZ 1989, 146 (153): ungeschriebene Regeln der anwaltlichen Klugheit.
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Rz. 40
Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren
3. Ausschließung und Überwachung des Verteidigers Literatur: Burhoff, Der Ausschluss des Verteidigers im Strafverfahren, ZAP Fach 22 (2002), 361; Frye, Die Ausschließung des Verteidigers, wistra 2005, 86; Jahn/Ebner, Strafvereitelung im strafprozessualen Revisionsverfahren, NJW 2012, 30; Krekeler, Strafrechtliche Grenzen der Verteidigung, NStZ 1989, 146; Remagen-Kemmerling, Der Ausschluss des Strafverteidigers in Theorie und Praxis; 1992; (zum früheren Rechtszustand vgl. das in der 5. Aufl. angeführte Schrifttum).
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Die Ausschließung des Verteidigers von der Verteidigung in einem oder mehreren Strafverfahren ist in der Vergangenheit ein „heißes“ Thema gewesen1. Nach §§ 138a ff. StPO ist die Ausschließung zulässig, wenn gegen den Verteidiger (auch den Unterbevollmächtigten) der dringende oder hinreichende Verdacht (§ 203 StPO) der Tatbeteiligung (§ 138a Abs. 1 Nr. 1 StPO) oder der Begünstigung, Strafvereitelung, Hehlerei (§ 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO), des Missbrauches des freien Verkehrs mit dem inhaftierten Mandanten zur Begehung von Straftaten, der erheblichen Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik (§ 138a Abs. 1 Nr. 2, 32, § 138b StPO) besteht. In Verfahren wegen terroristischer Delikte (§ 129a, auch i.V.m. § 129b StGB) reicht es schon aus, dass „bestimmte Tatsachen“ einen Verdacht im Sinne von § 138a Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO begründen. Der Verdacht eines zwar (sogar grob) berufswidrigen, nicht aber strafrechtlich relevanten Verhaltens kann die Ausschließung nicht rechtfertigen3, sogar bei Begehung von strafbaren Verfehlungen wie Beleidigung, Bedrohung des Gerichts o.Ä. darf der Verteidiger nicht ausgeschlossen werden4. Die Vorschriften sind vom BVerfG als verfassungsmäßig anerkannt5, sie sind aber kein „jederzeit nutzbares Zuchtmittel“6 gegen unbequeme und hartnäckige Verteidiger. Für Staatsanwaltschaften und Gerichte ist vielmehr größte Zurückhaltung bei der Einleitung von Ausschließungsverfahren geboten. Dessen ist sich die Strafjustiz wohl auch bewusst, denn Ausschlüsse von Verteidigern sind vereinzelt geblieben7 und auch heute eine Seltenheit.
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Die Entscheidungszuständigkeit des Oberlandesgerichts (§ 138c Abs. 1 S. 1 StPO), das Beschwerderecht (§ 138d Abs. 6 S. 1 StPO), die Beteiligung der Rechtsanwaltskammer am Verfahren (§ 138c Abs. 2 S. 3, 4 StPO), Be-
1 Vgl. nur BVerfG v. 14.2.1973 – 2 BvR 667/72, BVerfGE 34, 293 (306); Dahs, NJW 1975, 1385. 2 Vgl. dazu OLG Karlsruhe v. 31.3.2006 – 3 Ausschl. 1/06, JZ 2006, 1129 m.N. 3 BGH v. 8.8.1979 – 2 ARs 231/79, AnwBl. 1981, 115. 4 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 138a StPO Rz. 1. 5 BVerfG v. 8.4.1975 – 2 BvR 207/75, BVerfGE 39, 238 (245). 6 Deutlich und immer noch richtig OLG Köln v. 6.4.1999 – 2 Ws 152/99, NJW 1975, 459 (pers. Bem. des Vors.). 7 Von 1975 bis 2004 kein Ausschluss in Terrorismusverfahren; vgl. auch die restriktiven Entscheidungen des OLG Hamm v. 19.10.1998 – 2 Ws 481/98, NStZRR 1999, 50; OLG Düsseldorf v. 23.12.1997 – 1 Ws 988/97, StV 1999, 531; OLG Köln v. 6.4.1999 – 2 Ws 152/99, StraFo 1999, 233.
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Unabhngigkeit des Verteidigers
Rz. 43
weisaufnahme (Freibeweis)1 in mündlicher Verhandlung2 (§ 138d Abs. 1, 4 StPO), gewähren dem Betroffenen bzw. dem „den Verteidiger verteidigenden Verteidiger“ ausreichende Möglichkeiten, bei der Klärung der zu beurteilenden Vorgänge und ihrer rechtlichen Würdigung auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen. Zugute kommt dem betroffenen Verteidiger auch, dass die Gerichte strenge Anforderungen an Ausschließungsanträge stellen3. Eine Kontaktaufnahme mit dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer vor der mündlichen Verhandlung wird vielfach zweckmäßig sein. Gerade in problematischen berufsrechtlichen Fragen dürfte sein Votum die richterliche Entscheidung maßgeblich beeinflussen. Darauf sollte sich der betroffene Verteidiger rechtzeitig einstellen können. Auf den Pflichtverteidiger findet ebenfalls das Verfahren nach §§ 138a ff. 42 StPO Anwendung; er ist nicht anders als der Wahlverteidiger zu behandeln4. Die Gleichstellung ist geboten, weil prozessuale Funktion und Berufsauftrag gleich sind; außerdem sollte auch der Anschein vermieden werden, dass der von Amts wegen bestellte Verteidiger einer indirekten Disziplinierung durch den Vorsitzenden unterworfen und dadurch in seinen Verteidigungs-Aktivitäten eingeschränkt sein könnte. Freilich soll bei Missbrauch prozessualer Rechte auch die Entpflichtung des Verteidigers möglich sein5. Der Verteidiger wird allerdings immer im Auge behalten müssen, ob der 43 Sachverhalt ihm nicht im eigenen und im Interesse des Mandanten die freiwillige Niederlegung der Verteidigung näherlegt als die Durchführung eines Ausschlussverfahrens. Denn für die richtige Entschließung bleibt er in jedem Fall seiner Aufsichtsinstanz verantwortlich. Die Entscheidung kann ihm besonders in der Hauptverhandlung sehr plötzlich abverlangt werden. Der Verteidiger sollte deshalb mit den Einzelheiten des Problems vertraut sein, aber auch in jedem Falle sich die erforderliche Zeit zur Überlegung – ggf. durch Unterbrechung der Hauptverhandlung – sichern.
1 BGH v. 24.8.1978 – 2 Ars 245/78, BGHSt. 28, 116. 2 Dazu OLG Stuttgart v. 9.4.1975 – 1 ARs 25/75, NJW 1975, 1669; BVerfG v. 4.7.1975 – 2 BvR 482/75, NJW 1975, 2341. 3 Eindeutig OLG Düsseldorf v. 23.12.1997 – 1 Ws 988/97, StV 1999, 531 (der hinreichende Tatverdacht muss sich schlüssig allein aus der Begründung der Vorlage ergeben); OLG Köln v. 6.4.1999 – 2 Ws 152/99, StraFo 1999, 233 ff. („Erforderlich ist eine in sich geschlossene, auch die Beweismittel angebende Darstellung der Tatsachen […]; dabei darf auf andere Schriftstücke nicht lediglich Bezug genommen werden.“); vgl. auch OLG Hamm v. 19.10.1998 – 2 Ws 481/98, NStZ-RR 1999, 50. 4 BGH v. 20.3.1996 – 2 ARs 20/96, NStZ 1997, 46 m. Anm. Weigend; OLG Düsseldorf v. 10.2.1988 – 3 Ws 72/88, NStZ 1988, 519 m.N.; eingehend Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 138a StPO Rz. 3. 5 OLG Hamburg v. 17.11.1997 – 2 Ws 255/97, NStZ 1998, 586 m. Anm. Kudlich.
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Rz. 44
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Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren
Die Überwachung des schriftlichen Verkehrs zwischen Verteidiger und Mandant (§§ 148, 148a StPO) und die Trennscheibe beim mündlichen Gespräch (§ 148 Abs. 2 StPO) in Verfahren wegen terroristischer Straftaten (§ 129a, evtl. i.V.m. § 129b StGB) mussten als gesetzgeberische Einschränkungen der Verteidigung leider hingenommen werden1. Eine analoge Anwendung der Bestimmungen auf ähnliche Fallgestaltungen ist aber unzulässig2.
IV. Der Verteidiger im Widerstreit seiner Berufspflichten Literatur: Alsberg, Die Philosophie der Verteidigung, 1930; Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980; Beulke/Ruhmannseder, Die Strafbarkeit des Verteidigers, 2. Aufl. 2010; Fahl, Der Rechtsmissbrauch im Strafprozess, Habil. 2004; Gatzweiler, Möglichkeiten und Risiken einer effizienten Strafverteidigung, StV 1985, 248; Hartung, BORA/FAO, 5. Aufl. 2012; Krekeler, Strafrechtliche Grenzen der Verteidigung, NStZ 1989, 146; Lehr, Der Verdacht – eine besondere Herausforderung an den Ausgleich zwischen Persönlichkeitsschutz und freier Berichterstattung, AfP 2013, 7; Seibert, Konfliktslagen für Anwalt und Verteidiger, JR 1951, 678.
1. Der Teufelskreis 45
Stellung und Aufgabe des Verteidigers bringen ihm täglich Konflikte. Sie erwachsen zwangsläufig aus der Antinomie der Rechte und Pflichten seines Berufs. Es widersprechen oder überschneiden sich die Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit mit seiner Schutzaufgabe als Verteidiger, seine strafprozessualen Möglichkeiten mit den berufsrechtlichen Bindungen, das Interesse des Mandanten mit seinem beruflichen Imperativ, seine Unabhängigkeit mit der vertraglichen Mandatsbindung, seine Wahrheitspflicht mit der Verschwiegenheitspflicht, seine Pflicht zur Unerschrockenheit mit dem Gebot des Maßhaltens. Die Fülle dieser widerstreitenden oder auch korrespondierenden Aspekte und deren Unterordnung unter die vorrangig zu beachtende Treuepflicht gegenüber dem Mandanten3 zeigt die Vielseitigkeit möglicher Konflikte. Im Rahmen des Handbuchs ist eine auch nur annähernd vollständige Behandlung der weitschichtigen Materie nicht möglich. Die nachfolgende Darstellung geht von praktischen Bedürfnissen des Verteidigers aus, indem sie die hauptsächlichen Konfliktsfälle herausstellt und durch Beispiele lebendig zu machen sucht.
1 Vgl. dazu BGH v. 17.2.1981 – 5 AR (Vz) 43/80, NStZ 1981, 236; zur Rechtsgültigkeit von § 148 Abs. 2 S. 3 StPO (Trennscheibe) KG, GA 1979, 340; OLG Hamm v. 7.9.1979 – 1 Vollz (Ws) 21, 22/79, NJW 1980, 1404. 2 BGH v. 17.2.1981 – 5 AR (Vz) 43/80, BGHSt. 30, 38 (41). 3 RGSt. 70, 393.
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Der Verteidiger im Widerstreit seiner Berufspflichten
Rz. 47
2. Wahrheitspflicht Literatur: Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 149 f.; Brandt, Der Rechtsanwalt im Spannungsverhältnis zwischen prozessualer Wahrheitspflicht und Verschwiegenheitspflicht, AnwBl. 2014, 286; Ostendorf, Strafvereitelung durch Strafverteidigung, NJW 1978, 1345; Prütting, Ethos anwaltlicher Berufsausübung, AnwBl. 1994, 315 (319).
Sie ist eine der tragenden Grundlagen jeder anwaltlichen Tätigkeit1. Die 46 Wahrheitspflicht bindet den Verteidiger aber nicht nur gegenüber dem Mandanten, sondern gegenüber jedermann. Wenn auf das Wort eines Rechtsanwalts kein Verlass mehr ist, leidet die Rechtspflege schweren Schaden. Der Rechtsanwalt unterliegt auch als Verteidiger der Pflicht zur Wahrheit und dem Verbot der Lüge. Die Anwaltsgerichte ahnden Verstöße mit Recht in unnachsichtiger Strenge. Unwahrhaftigkeiten sind des Verteidigers unwürdig. Die Wahrheitspflicht besteht in erster Linie gegenüber dem Mandanten. Sie ist die Grundlage seines Vertrauens sowie Element der anwaltlichen Schutz- und Beistandsaufgabe (Rz. 9 ff.). Lügt der Verteidiger, büßt er Ansehen und Autorität ein. Er untergräbt damit seine Fähigkeit, den Verteidigungsauftrag seriös zu erfüllen. Auch eine nur fahrlässige Unwahrheit hat er zu vermeiden. Er darf sich auch nicht durch Übertreibungen in Szene setzen, um Mandate zu akquirieren, oder sich im Vergleich zu Anwalts-Kollegen herausstellen („Den Staatsanwalt kenne ich so gut, dass ein einziger Anruf von mir genügen wird …“). Die Wahrheitspflicht erfährt ihre Bewährung besonders im Verhältnis 47 des Verteidigers zur Justiz. Seine Stellung als Organ der Rechtspflege schließt jede Unwahrhaftigkeit aus. Wer diesen Grundsatz nicht respektiert, gerät in den Bereich der Strafvereitelung (§ 258 StGB – Rz. 59 ff.). Er ist dann auch nicht aus seiner Schutzaufgabe heraus gerechtfertigt oder entschuldigt. Sie berechtigt und verpflichtet ihn zwar zu kompromissloser Verteidigung, schließt aber das Mittel der Unwahrheit gerade aus. Das ist auch dann grundsätzlich nicht anders, wenn der Verteidiger nur auf diese Weise ein materiell falsches Urteil verhindern könnte – abgesehen davon, dass ein solcher Fall praktisch kaum vorstellbar ist –. Der Zweck heiligt auch hier das Mittel nicht. Nur ganz ausnahmsweise kann die Verletzung der Wahrheitspflicht nach allgemeinen Grundsätzen durch einen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund straflos sein2. Der Verteidiger gerät aber nicht in die Gefahr der Strafbarkeit, wenn er die Richtigkeit vom Mandanten vorgebrachter Tatsachenbehauptungen zwar für zweifelhaft, aber nicht für ausgeschlossen hält. Im Gegenteil verpflichtet ihn sein Mandat, sie dem Gericht vorzutragen, ggf. auch entsprechende Beweisanträge zu stellen (Rz. 654), selbst wenn er ihre Un1 Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, Thesen 19–21, 47 ff. 2 Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 19–21, 47 ff.
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Rz. 48
Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren
richtigkeit für wahrscheinlich hält1. Die stets zu beachtende Grenze ist das Handeln wider besseres Wissen2. So klar und eindeutig das Gebot der Wahrheit und das Verbot der Lüge zu sein scheinen, so schwer kann es in der Praxis für den Verteidiger sein, damit nicht in Konflikt zu geraten. Das ist besonders dort gefährlich, wo die Wahrheitspflicht mit anderen Berufspflichten, besonders mit der Verschwiegenheitspflicht (Rz. 48 ff.), kollidiert. Zum Problem der sog. „unwahren Verfahrensrüge“ vgl. Rz. 920 ff. Auch in einer ihn selbst betreffenden Strafsache ist der Verteidiger als Rechtsanwalt dem Verbot der Lüge unterworfen. 3. Verschwiegenheitspflicht Literatur: Ackermann, Zur Verschwiegenheitspflicht des Rechtsanwalts in Strafsachen, FS zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, 1960, Bd. I, S. 479 ff.; Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 119 ff.; Bottke, Wahrheitspflicht des Verteidigers, ZStW 96 (1984), 726; Feigen/Livonius, Problembereiche der anwaltlichen Schweigepflicht bei der Unternehmensberatung, FS Wolter (2013), S. 891; Gärditz, Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte im Spiegel der Rechtsprechung des BVerfG, FS Wolter (2013), 909; v. Galen, Der Verteidiger – Garant eines rechtsstaatlichen Verfahrens oder Mittel zur Inquisition?, StV 2000, 575; Gurlitt/Zander, Verfassungs- und europarechtliche Grundlagen des Anwaltsgeheimnisses, BRAK-Mitt. 2012, 4; Haas, Die Grenzen des anwaltlichen Zeugnisverweigerungsrechts gem. § 53 Abs. 1 Nr. 3, NJW 1972, 1081; Habscheid, Zur Schweigepflicht des Anwalts nach dem Tode seines Mandanten, AnwBl. 1964, 302; Hartung, BORA/FAO, 5. Aufl. 2012; Henssler, Das anwaltliche Berufsgeheimnis, NJW 1994, 1817; Kalsbach, Über die Schweigepflicht und das Offenbarungsrecht des Rechtsanwalts, AnwBl. 1955, 41; Kleine-Cosack, Neuordnung des anwaltlichen Berufsrechts, NJW 1994, 2249 (2251); Kohlhaas, Strafrechtliche Schweigepflicht und prozessuales Schweigerecht, GA 1958, 65; Kümmelmann, Die anwaltliche Schweigepflicht nach dem Tode des Mandanten, AnwBl. 1984, 535; Lammer, Der Verteidiger im Zeugenstand, FS Wolter (2013), S. 1031; Lehr, Der Verdacht – eine besondere Herausforderung an den Ausgleich zwischen Persönlichkeitsschutz und freier Berichterstattung, AfP 2013, 7; Lenckner, Aussagepflicht, Schweigepflicht und Zeugnisverweigerungsrecht, NJW 1965, 321; Lurinski, Anwaltliche Schweigepflicht und E-Mail, BRAK-Mitt. 2004, 12; Müller, Egon, Strafverteidigung, NJW 1981, 1801 (1804); Quaas, Verschwiegenheitspflicht und anwaltliche Selbstdarstellung, BRAK-Mitt. 2013, 258; Tzschaschel, Die Information des Beschuldigten über das psychiatrisch-psychologische Gutachten, NJW 1990, 749; Weihrauch/Bosbach, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2011, Rz. 36; Welp, Die Geheimsphäre des Verteidigers in ihren strafprozessualen Funktionen, FS Gallas (1973), S. 391 ff.; Widmaier, Zum Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger, FS Dahs (2005), S. 543.
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Die Verschwiegenheitspflicht ist ein Oberbegriff, der die in § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB strafrechtlich sanktionierte Schweigepflicht im engeren Sin-
1 BGH v. 1.9.1992 – 1 StR 281/92, NStZ 1993, 79 = StV 1993, 93 m. Anm. Scheffler; Egon Müller, NStZ 1997, 222. 2 OLG Düsseldorf v. 23.6.1997 – 1 Ws 453/97, StraFo 1997, 333.
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Rz. 49
ne mitumfasst1 (§ 43a Abs. 2 BRAO, § 2 BORA, Ziff. 2.3. CCBE-Richtlinien). Neben der Schweigepflicht steht das Schweigerecht (§ 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO). Mit diesen Begriffen korrespondieren Offenbarungspflicht und Offenbarungsrecht. Die allgemeine Verschwiegenheitspflicht erstreckt sich auf alles, was dem Rechtsanwalt in Ausübung seines Berufs anvertraut oder ihm bei Gelegenheit seiner Berufsausübung bekannt geworden ist. Sie gilt über den Tod des Mandanten hinaus (§ 203 Abs. 4 StGB)2. Nur im Vertrauen auf die Verschwiegenheit des Anwalts kann sich der Beschuldigte seinem Verteidiger unbesorgt anvertrauen und dessen Rat für die geeignete Verteidigung einholen. Grundsätzlich bindet die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht den Anwalt auch noch da, wo der Mandant Publizität wünscht, etwa weil er die „story“ seiner Straftaten an die Presse verkauft hat. Denn die Verschwiegenheitspflicht ist ein Element der beruflichen Haltung. Davon kann der Mandant nicht entbinden, weil sie unabhängig von seinem Willen und Interesse besteht. Dem Mandanten ist es dagegen unbenommen, sein Wissen und seine 49 Meinung öffentlich preiszugeben. Allerdings wird dies seiner Sache in der Regel mehr schaden als nützen, was ihm der Verteidiger klarmachen sollte. In Sonderfällen kann es eine sachgerechte Verteidigung allerdings gebieten, die Hilfe der Öffentlichkeit und der Medien in Anspruch zu nehmen, z.B. um sonst nicht erreichbare Zeugen oder andere Beweismittel aufzuspüren oder auch Recherchen auszulösen, zu denen Ermittlungsbehörden – aus welchen Gründen auch immer – nicht bereit oder imstande sind. Wenn die Publizität einer Sache wirklich Schutz und Hilfe für den Klienten bedeutet, muss der Verteidiger seine Verschwiegenheit nach sorgfältiger Abwägung mit dem Mandanten zurückstellen. Die Verschwiegenheitspflicht verpflichtet den Verteidiger auch zur Diskretion gegenüber nicht mit der Sache beauftragten Kollegen, selbst wenn diese der Schweigepflicht unterliegen. Verteidiger von Mit-Beschuldigten halten den vertraulichen Informationsaustausch häufig für ganz selbstverständlich („Was wird denn Ihr Mandant sagen?“). Auch bei Entbindung von der Schweigepflicht (§ 53 Abs. 2 StPO) ist gegenüber solchen Gesprächswünschen Vorsicht geboten. Sie können allzu leicht in Kollusionen hineinführen.3 Verschwiegenheit des Verteidigers ist auch gegenüber seinem Personal geboten, soweit dieses nicht zwangsläufig durch den Geschäftsgang unterrichtet ist. Im Übrigen bestimmt sich der Geheimnischarakter einer dem Anwalt „anvertrauten“ oder ihm in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt „bekanntgewordenen“ Tatsache entscheidend nach dem subjektiven Geheimhaltungswillen des sich dem Anwalt Anvertrauenden. Der Verteidiger kann in diesem Bereich nicht vorsichtig genug sein. So kann 1 EuGH v. 9.3.2012 – Rs. C-518/07, NJW 2010, 1256. 2 Kümmelmann, AnwBl. 1984, 535. 3 Dahs, NStZ 2011, 200 für den Anwalt als Zeugenbeistand.
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z.B. schon die Äußerung, dass eine bestimmte Person ihn in seiner Praxis besucht hat oder dass sie sein Klient geworden ist, schwerwiegende Folgen auslösen. Sie ist deshalb unzulässig. Das Mandatsverhältnis selbst ist hier schon geschütztes Geheimnis. Nicht ganz charakterfeste Verteidiger halten diese Grenzen öfter nicht ein. Sie unterliegen ihrer Publicity- und Renommiersucht, indem sie mit ihren prominenten Mandanten „angeben“ oder im Familien- oder Freundeskreis darüber plaudern. Der Anwalt sollte sich dazu nicht hinreißen lassen, sondern sich schweigend anhören, was dort über den interessanten Fall und seine Akteure geredet wird, statt selbst sich zum eitlen Schwätzer zu degradieren. Die Schweigepflicht gilt auch dort, wo das Geheimnis schon bekannt ist,1 was bei Anfragen der Medien oft der Fall ist. Der Anwalt als Geheimnisträger kann nicht mit Sicherheit erkennen, in welchen Einzelheiten und mit welchem Bestimmtheitsgrad das Geheimnis bereits aufgehoben ist. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen kommen im Einvernehmen mit dem Mandanten Gespräche mit der Presse oder anderen Medien in Betracht – um Schlimmeres zu verhüten. Die Pflicht zur Verschwiegenheit erstreckt sich nicht nur über den rechtskräftigen Abschluss eines Prozesses, sondern sogar über die Beendigung eines Mandatsverhältnisses hinaus. 50
Der Schutz des Anwaltsgeheimnisses wird ergänzt durch die Schweigepflicht der in der Kanzlei tätigen Hilfspersonen und Referendare (§ 203 Abs. 3 StGB). Der Anwalt hat gerade in Strafsachen sein Personal und seine Mitarbeiter deutlich und nachhaltig auf ihre Schweigepflicht hinzuweisen und Verstöße scharf zu ahnden. Zu beachten ist, dass der durch § 203 StGB bestimmten Schweigepflicht des Anwalts und seines Hilfspersonals das Zeugnisverweigerungsrecht der §§ 53, 53a StPO entspricht (Rz. 572)2.
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Der Verteidiger muss auch wissen, dass gem. § 97 StPO seine gesamten Handakten und sonstigen Verteidigungsunterlagen beschlagnahmefrei sind3 (Rz. 396). Ein Anwalt, der seine Handakten an Polizei, Zoll- und Steuerfahndung oder eine Kartellbehörde herausgibt, ohne dass ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, macht sich einer Verletzung der Schweigepflicht schuldig. Auf die allgemeine Pflicht zur Herausgabe von Gegenständen, die als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können (§§ 94, 95 StPO), kann sich der Anwalt hier nicht berufen.
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Inhaltlich bedeutet die Schweigepflicht des Verteidigers insbesondere das absolute Verbot, ihm bekanntgewordene ungünstige Umstände zum Nachteil seines Mandanten preiszugeben. Der Verteidiger würde damit die Grundlage des Vertrauensverhältnisses zum Mandanten zerstören. Er würde verraten statt zu verteidigen. Deshalb darf er auch ein privates Ge1 RGSt. 26, 5 (8). 2 Dazu ausführlich Ignor/Berthau in Löwe/Rosenberg, § 53 StPO Rz. 7 ff. 3 Nack in KK, § 97 StPO Rz. 11 ff.
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Rz. 54
ständnis des Mandanten nicht weitergeben (Rz. 81). Auch vertrauliche Äußerungen sind in diesem Bereich nicht erlaubt. Nun kann hier die Schweigepflicht des Verteidigers in Widerstreit zu sei- 53 ner Wahrheitspflicht geraten (Rz. 46). Das liegt im Wesen der Sache. Wenn unter „Wahrheit“ jeweils „die ganze Wahrheit“ zu verstehen ist, dann ist es dem durch seine Schweigepflicht gebundenen Verteidiger gar nicht erlaubt, „die“ Wahrheit zu sagen. Anderseits hat er die Pflicht zur „Wahrheit“. Das kann hier folgerichtig aber nichts anderes bedeuten als die Verpflichtung, nichts Unwahres zu sagen. Der Konflikt löst sich dahin auf, dass der Verteidiger „nichts als die Wahrheit“, aber nicht „die ganze Wahrheit“ zu sagen hat – oder anders ausgedrückt: Alles, was der Verteidiger sagt, muss wahr sein, aber er darf nicht alles sagen, was wahr ist. Es liegt auf der Hand, dass die Verpflichtung, alle dem Mandanten ungünstigen Umstände zu verschweigen, den Verteidiger insbesondere dann in eine fatale Lage bringt, wenn der Mandant die Verfolgungsbehörden oder das Gericht belügt. Verteidigungsauftrag und Geheimhaltungspflicht binden ihm einerseits die Zunge, anderseits darf er die Lüge nicht unterstützen. Gerade diese zwiespältige Situation rückt ihn bei dem unkritischen Teil des Publikums leicht ins Zwielicht. Die Schweigepflicht entfällt, wenn der Verteidiger zur Offenbarung be- 54 fugt ist. Ob dies der Fall ist, hat er jeweils sorgfältig zu prüfen, ehe er sich dazu entscheidet. Die Befugnis zur Offenbarung ist gegeben, wenn er von der Schweigepflicht umfassend und eindeutig entbunden ist oder sie im Rahmen des Auftrages liegt (Mitteilung an den Privatgutachter, den zugezogenen Kollegen usw.) oder wenn sich ein Offenbarungsrecht aus dem Grundsatz der Rechtsgüter- und Pflichtenabwägung ergibt. Die Offenbarung von Tatsachen, die der Verteidiger durch die Akteneinsicht erfahren hat, an Dritte, die keine umfassende Akteneinsicht hatten, z.B. an anwaltliche Zeugenbeistände (auch Mitverteidiger) ist nur zulässig, wenn sämtliche Personen, die „Gegenstand des Akteninhalts“ sind, ihn von der Schweigepflicht entbunden haben1. Bei der Weitergabe von Aktenwissen ist auch die Gefahr der (versuchten) Strafvereitelung (§§ 258, 22 StGB) zu beachten. Das Interesse des Rechtsanwalts an seiner eigenen sachgemäßen Verteidigung im Strafprozess oder im berufsgerichtlichen Verfahren wird als vorrangig anerkannt2, desgleichen das Interesse an der Durchsetzung des Honoraranspruchs im Zivilprozess gegen den säumigen Auftraggeber3. Die Offenbarung muss sich in jedem Falle auf das erforderliche Mindestmaß beschränken. Die Güterabwägung ist in den verschiedenen Fällen oft recht schwierig. Wenn z.B. ein Täter dem Verteidiger seine Schuld eingestanden hat und jetzt ein anderer Verdächtiger verhaftet wird, ist der Verteidiger durch 1 Vgl. dazu i.E. Dahs, NStZ 2011, 200. 2 BGH v. 9.10.1951 – 1 StR 159/51, BGHSt. 1, 366; Henssler, NJW 1994, 1817 (1822 f.); Fischer, § 203 StGB Rz. 46. 3 Fischer, § 203 StGB Rz. 46; v. Galen, StV 2000, 575 (577 ff.).
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Rz. 55
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seine Verschwiegenheits- und Treuepflicht grundsätzlich gehindert, sein Wissen preiszugeben. Wird aber der Unschuldige wegen Mordes etwa zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, so wird man aus der Abwägung der widerstreitenden Pflichten und Rechtsgüter heraus ein Offenbarungsrecht anerkennen müssen1. Schwierig ist auch die Frage, ob der Verteidiger berechtigt ist, die erheblich eingeschränkte oder ausgeschlossene Schuldfähigkeit des Mandanten im Prozess zu offenbaren, wenn dieser widerspricht. Ähnlich ist es mit der krankheitsbedingten Verhandlungsunfähigkeit. Nach meiner Ansicht ist der Verteidiger auch in solchen Fällen nicht zur Offenbarung berechtigt, sollte aber für sich und den Mandanten eine andere Lösung anstreben2. Schließlich gilt es nicht als Verstoß gegen die Wahrheitspflicht, wenn der Verteidiger bei einer – wie er weiß – unwahren Zeugenaussage nicht eingreift3. 55
Schließlich soll die Übertragung von Verteidigerwissen in eine andere Sache angesprochen werden: Gegen die als Ladendiebin Angeklagte tritt als einziger oder entscheidender Belastungszeuge der Warenhausdetektiv auf. Dem Verteidiger ist aus einem anderen, gleichgelagerten Verfahren bekannt, dass dieser erheblich, auch wegen Aussagedelikten u.Ä., vorbestraft ist, was der Zeuge auf Frage in Abrede stellt. Meines Erachtens ist der Verteidiger aus seiner Schutzaufgabe heraus befugt, den ihm aus der anderen Sache vorliegenden Strafregisterauszug dem Gericht mit dem Antrag auf Einführung in die Hauptverhandlung vorzulegen, wenn er sonst damit rechnen muss, dass die Aussage des Zeugen zur Verurteilung seiner Klientin führen wird und das Gericht zu einer Aufklärung der Vorstrafen des Zeugen anderenfalls nicht bereit ist. Der Fall wäre wohl anders zu beurteilen, wenn der Rechtsanwalt seine Kenntnis aus einer früheren Verteidigung des jetzigen Zeugen hätte. Jedenfalls wird man dem gewissenhaft prüfenden Verteidiger in solchen Fällen wohl mindestens einen entschuldbaren Verbotsirrtum zugutehalten. Dagegen ist die abstrakte, d.h. von dem konkreten, individualisierbaren Fall gelöste Übertragung von (Erfahrungs-)Wissen des Verteidigers, z.B. über Ermittlungs- oder Erledigungsmodalitäten der Staatsanwaltschaft bei bestimmten Fallgruppen oder speziellen Delikten, selbstverständlich unbedenklich.
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Konflikte mit der Verschwiegenheitspflicht spielen auch in den Fällen eine Rolle, in denen ein Mandant sich trotz seiner beweisbaren Unschuld verurteilen lassen will, weil er einen anderen Täter oder eine eigene andere Straftat verdecken will. Ob der Verteidiger hier sein besseres Wissen gegen den Willen des Mandanten zur Verhütung einer falschen, vielleicht schweren Verurteilung preisgeben oder etwa ein ärztliches Gutachten anregen darf, berührt außer der Frage des Offenbarungsrechtes auch noch 1 So Henssler, NJW 1994, 1817 (1823) m.N.; Beulke, S. 120. 2 Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, S. 46; a.A. wohl Beulke, S. 120. 3 BGH v. 16.5.1983 – 2 ARs 129/83, NStZ 1983, 503.
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andere grundsätzliche Fragen der Verteidigung1. Es spricht viel dafür, der Schweigepflicht den Vorrang einzuräumen, wenn die Verteidigung nicht niedergelegt werden kann2. Eine Offenbarungspflicht als Ausnahme von dem Grundsatz der Schwei- 57 gepflicht kann sich als Rechtspflicht aus dem Gesetz ergeben, etwa im Rahmen der §§ 138, 139 StGB. Aufgrund seiner Organstellung wurde der Verteidiger früher für verpflichtet gehalten, erkanntermaßen falsche Zeugenaussagen aufzudecken. Bei Unterlassung machte er sich strafbar. Diese Ansicht ist aufgegeben, weil sie mit der Verschwiegenheitspflicht nicht in Einklang zu bringen ist3 (Rz. 215). Wird der Anwalt nach § 53 Abs. 2 StPO von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden, ist er aufgrund der allgemeinen Zeugnispflicht zur Offenbarung seines gesamten Wissens verpflichtet. Anderseits kann die Pflicht zur wahrheitsgemäßen Auskunft und zur Handaktenvorlage gegenüber dem Kammervorstand oder einem beauftragten Mitglied (§ 56 BRAO) die Schweigepflicht im Sinne des § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht aufheben. Der Verteidiger muss beachten, dass eine seiner Verschwiegenheits- 58 pflicht entsprechende Bindung des Mandanten nicht besteht. Dieser Unterschied kann zu beträchtlichen Unannehmlichkeiten führen. Oft plaudern Mandanten alle möglichen Vorgänge und Äußerungen aus vertraulichen Besprechungen aus. Besonders bei falscher oder verzerrter Wiedergabe kann das Ansehen des Verteidigers dadurch schwer beeinträchtigt werden. Dieser kann sich dagegen meistens nicht wirksam zur Wehr setzen, weil die eigene Schweigepflicht ihm den Mund verschließt. Das muss stets bedacht werden und zu äußerster Vorsicht Anlass geben. 4. Verteidigung und Strafvereitelung Literatur: Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 218; Beulke, Strafvereitelung durch Strafverteidigung, Anm. NStZ 1983, 504; Beulke, Umfang und Grenzen der erlaubten Strafverteidigerfähigkeit, Anm. JR 1994, 116; Beulke, Zwickmühle des Verteidigers – Strafverteidigung und Strafvereitelung im demokratischen Rechtsstaat, in FS Roxin (2001), S. 1173 ff.; Beulke/Ruhmannseder, Die Strafbarkeit des Verteidigers, 2. Aufl. 2010, S. 1 ff. und Teil 4 – Rz. 622 ff.; Dessecker, Strafvereitelung und Strafverteidigung: ein lösbarer Konflikt?, GA 2005, 142; Fahl, Rechtsmissbrauch im Strafprozess, Habil. 2004; Grabemeyer, Die Grenzen rechtmäßiger Strafverteidigung, 1997; Hamm, Thesen zum Thema: Strafrechtliche Freiräume der Strafverteidigung, NJW-Sonderheft zum 65. Geburtstag für Gerhard Schäfer am 18.10.2002, S. 32; Hammerstein, Verteidigung wider besseres Wissen?, NStZ 1997, 12; Hartmann, Der Strafverteidiger und sein Handeln – oftmals Strafvereitelung und Geldwäsche? – Ein Überblick, AnwBl. 2002, 330 ff.; Ignor, Zur Rechtsstellung und zu den Aufgaben des Strafverteidigers, FS Schlüchter (1998), S. 39 ff.; Jahn, Konfliktverteidigung und Inquisitionsmaxime, 1998; Jahn, Kann 1 Egon Müller, NJW 1981, 1801 (1804). 2 Vgl. Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Bd. 8, 1992, Thesen zur Strafverteidigung, These 12; a.A. wohl Henssler, NJW 1994, 1817 (1823). 3 BGH v. 20.8.1953 – 1 StR 88/53, BGHSt. 4, 327.
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Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren
„Konfliktverteidigung“ Strafvereitelung (§ 258 StGB) sein?, ZRP 1998, 103; Jahn/ Ebener, Strafvereitelung im strafprozessualen Revisionsverfahren – Eine Risikoprognose, NJW 2012, 30; Jerouschek/Schröder, Die Strafverteidigung: Ein Tatbestand im Meinungsstreit, GA 2000, 51 ff.; Kempf, Rechtsmissbrauch im Strafprozess, StV 1996, 507; Krekeler, Strafrechtliche Grenzen der Verteidigung, NStZ 1989, 146; Lüderssen, Strafvereitelung und Strafverteidiger, StV 1999, 537; Müller, Eckhart, Die Sockelverteidigung, StV 2001, 649; Müller, Ingo, Die Strafvereitelung im System der Rechtspflegedelikte, StV 1981, 90; Nehm/Senge, Ursachen langer Hauptverhandlungen, NStZ 1998, 377; Otto, Strafvereitelung durch Verteidigerhandeln, Jura 1987, 329; Pellkofer, Sockelverteidigung und Strafvereitelung, 1999; Pfeiffer, Zulässiges und unzulässiges Verteidigerhandeln, DRiZ 1984, 341; Ransiek, Die Information des Kunden über strafprozessuale und steuerrechtliche Ermittlungsmaßnahmen bei Kreditinstituten, wistra 1999, 401 (402 ff.); Richter II, Sockelverteidigung. Voraussetzungen, Inhalt und Grenzen der Zusammenarbeit von Verteidigern verschiedener Beschuldigter, NJW 1993, 2152; Scheffler, Strafvereitelung des Verteidigers, JR 2001, 294; Schnarr, Zum strafrechtlichen Freiraum legitimer Strafverteidigung, NJW-Sonderheft für G. Schäfer, 2002, 64; Seier, Die Trennlinie zwischen zulässiger Verteidigungstätigkeit und Strafvereitelung, JuS 1981, 806; Stumpf, Gibt es im materiellen Strafrecht ein Verteidigerprivileg?, NStZ 1997, 7; Stumpf, Die Strafbarkeit des Strafverteidigers wegen Strafvereitelung (§ 258 StGB), 1999; Stumpf, Zur Strafbarkeit des Verteidigers gem. § 258 StGB, wistra 2001, 123; Volk, Konfliktverteidigung, Konsensualverteidigung und die Strafrechtsdogmatik, FS Dahs (2005), S. 495; Wassmann, Strafverteidigung und Strafvereitelung, 1982; Weihrauch/Bosbach, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2011; Widmaier, Strafverteidigung im strafrechtlichen Risiko, FS BGH (2000), S. 1042 ff.; Wohlers, Strafverteidigung vor den Grenzen der Strafgerichtsbarkeit, StV 2001, 420.
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Der Verteidiger befindet sich fast ständig in der Nähe strafbarer Strafvereitelung. Nach § 258 StGB wird bestraft, „wer absichtlich oder wissentlich ganz oder zum Teil vereitelt, dass ein anderer dem Strafgesetz gemäß wegen einer rechtswidrigen Tat bestraft oder einer Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB) unterworfen wird.“ Durch seine Schutzaufgabe ist der Verteidiger berufen, den Tatverdächtigen und damit evtl. auch den Täter vor der Strafverfolgung zu schützen. Strafvereitelung und Verteidigung stehen damit dicht nebeneinander. Der Verteidiger kann leicht in den ihm verbotenen Bereich dieser strafbaren Handlung geraten, wenn er nicht gewissenhaft die Grenzen beachtet. Wer freilich im Rahmen seines gesetzmäßigen Berufsauftrages einen Verdächtigen im Zusammenstoß mit den Strafverfolgungsorganen verteidigt, der „vereitelt“ nicht eine gesetzmäßige Bestrafung. Die Verteidigung eines Schuldigen kann und muss ebenso engagiert geführt werden wie die Verteidigung eines Unschuldigen. Der BGH konzediert dem Verteidiger ausdrücklich, zugunsten seines Mandanten dessen Tatsachenbehauptungen (z.B. in einem Beweisantrag) vorzutragen, obwohl er an deren Richtigkeit erhebliche Zweifel hat, jedoch nicht für ausgeschlossen bzw. ihre Unrichtigkeit für wahrscheinlich hält1. Selbst wenn die Verteidigung zu materiell unge1 BGH v. 1.9.1992 – 1 StR 281/92, BGHSt. 38, 345 (348); BGH v. 9.5.2000 – 1 StR 106/00, BGHSt. 46, 53 (54 f.); BGH v. 3.10.1979 – 3 StR 264/79 (S), BGHSt. 29, 99 (102); Fischer, § 258 StGB Rz. 18a m.N.
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Der Verteidiger im Widerstreit seiner Berufspflichten
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rechtem Freispruch führt, handelt der Verteidiger damit nicht pflichtwidrig, sondern pflichtgemäß. Es fehlt nicht nur an der Rechtswidrigkeit seines Handelns, sondern bereits an der Tatbestandsmäßigkeit. Verteidigung und Strafvereitelung liegen hiernach zwar dicht zusammen, sie schließen sich aber begrifflich absolut aus1. Strafbar ist nur die rechtsfeindliche Komplizenschaft des Verteidigers mit (dem) Beschuldigten2. In die Nachbarschaft der Strafvereitelung kann der Verteidiger in ver- 60 schiedener Weise geraten. Am häufigsten sind die Konfliktsituationen, die sich aus der Kollision der Schutzaufgabe des Verteidigers (Rz. 9 ff.) mit seiner Zuordnung zur Rechtspflege (Rz. 3 ff.), insbesondere auch aus seiner Wahrheitspflicht und Verschwiegenheitspflicht (Rz. 48 ff.), ergeben. Die Grenzen zwischen strafrechtlich neutralem Verteidigerhandeln und tatbestandsmäßiger Strafvereitelung werden durch das Prozessrecht und das Berufsrecht abgesteckt. Was sowohl verfahrens- wie berufsrechtlich zulässig ist, kann strafrechtlich nicht verboten sein3. Genauere Abgrenzungskriterien werden sich kaum finden lassen: Das hängt mit den prozessualen Besonderheiten der Institution „Verteidigung“ und der eigenartigen Doppelstellung des Rechtsanwalts zusammen. Die Rechtsprechung hat nur zu der allgemeinen Formel gefunden, dass der Verteidiger sich jeder aktiven Verdunkelung und Verzerrung des Sachverhalts enthalten muss4. Zu beachten ist auch, dass in subjektiver Hinsicht § 258 StGB Eventualvorsatz hinsichtlich der Vortat ausreichen lässt5; im Übrigen ist direkter Vorsatz erforderlich6. In der Praxis des Verteidigers gehören die Konfliktsituationen zum beruflichen Alltag. Er ist ihnen in seiner Kanzlei ebenso wie bei Gericht ständig ausgesetzt. Schon bei der ersten Besprechung will der Mandant meist eine Belehrung über seine zweckmäßige Einlassung. Die Bindung an seine Wahrheitspflicht verbietet dem Verteidiger, dem Mandanten zur Lüge zu raten oder eine solche zu vertreten. Einer meiner ersten Klienten legte mir die Anklageschrift auf den Tisch mit der Erklärung: „Was da steht, das stimmt. Das sage ich aber nur Ihnen. Das Lügen besorgen Sie.“ Mit diesem Mandanten habe ich zwar „kurzen Prozess“ gemacht. Aber nur selten enthüllt sich die Zumutung zur Strafvereitelung so plump. Meist versteckt sie sich, weil der Mandant aus richtigem Instinkt dem Verteidiger die Möglichkeit zu erhalten sucht, nach außen sein Gesicht zu wahren. So „erkundigt“ er sich etwa über Vernehmungsfragen, wobei er in 1 BGH v. 1.9.1992 – 1 StR 281/92, BGHSt. 38, 345 (347 ff.); BGH v. 9.5.2000 – 1 StR 106/00, BGHSt. 46, 53 (54 f.); Fischer, § 258 StGB Rz. 16 ff. m.N. 2 Fischer, § 258 StGB Rz. 19 ff. 3 So ausdrücklich BGH v. 9.5.2000 – 1 StR 106/00, BGHSt. 46, 53 (54) m.N. 4 BGH v. 1.9.1992 – 1 StR 281/92, BGHSt. 38, 345 (348) m. Anm. Scheffler, StV 1993, 470; Beulke, JR 1994, 116. 5 BGH v. 19.5.1999 – 2 StR 86/99, BGHSt. 45, 97 (100) m. Anm. Neumann, StV 2000, 425; Dölling, JR 2000, 379; Fischer, § 258 StGB Rz. 33; krit. Ingo Müller, StV 1981, 92 m.N. 6 BGH v. 19.5.1999 – 2 StR 86/99, BGHSt. 45, 97 (100); BGH v. 1.9.1992 – 1 StR 281/92, BGHSt. 38, 345 (348).
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Die allgemeine Stellung des Verteidigers im Strafverfahren
Wahrheit eine Hilfestellung zur Lüge sucht. Ebenso kommt oft die Frage des Klienten, was er zu einem bestimmten Punkt „sagen solle“. Auch bei Formulierungshilfe zu schriftlichen Erklärungen des Beschuldigten (Rz. 56 f.) ist der Weg zur bewussten Unterstützung der Unwahrheit nicht weit. Anderseits ist die Hilfe nicht verboten, selbst dann nicht, wenn der Verteidiger an der Richtigkeit zweifelt. Gerade hier ist aber auch die berufsrechtliche Seite zu beachten. Der Verteidiger darf auch den Beschuldigten darüber belehren, dass er für eine unwahre Aussage nicht zur Verantwortung gezogen wird1. Zu einer solchen raten darf er aber nicht2. 61
Der Verteidiger braucht einen Mandanten nicht zum Geständnis oder sonst zur Wahrheit zu drängen, wenn dies auch häufig das Richtige sein wird. Der Verteidiger kann damit in vielen Fällen dem wirklichen Interesse des Mandanten am besten dienen (Rz. 18). Niemals darf er einen Mandanten veranlassen, ein wahres Geständnis zu widerrufen. Auch sollte er einen zum Geständnis Neigenden nicht davon abhalten. Er wird allerdings zu überlegen haben, ob er dem Mandanten dazu rät, sich auf sein Schweigerecht zu berufen. Je nach Lage des Falles und des Beweisergebnisses eröffnet ihm diese Variante der Verteidigung die Möglichkeit, Freispruch (mangels Beweises) zu beantragen3. Es kommt vor, dass ein Mandant dem Verteidiger eine ganz „dumme“ Einlassung gibt, die er auf einen Wink des Verteidigers absolut entschärfen könnte. Er sieht z.B. nicht, dass er einen Verkehrsunfall ohne weiteres mit der unwahren Angabe erklären könnte, der Zu-Tode-Gekommene sei plötzlich mitten auf die Fahrbahn gelaufen oder die tödlich verunglückte Beifahrerin sei ihm überraschend ins Steuer gefallen oder jemand habe unbemerkt Cognac in sein Bier gegossen. Der Verteidiger würde sich schwer vergehen, wenn er eine Aussage auf solche Weise in eine falsche Richtung lenken würde4. Theoretische Belehrungen und Fragen sind dem Verteidiger aber nicht verboten, insbesondere wenn sie notwendig sind, um die Wahrheit festzustellen. Solche Belehrungen stehen allerdings einer inhaltlichen Beeinflussung der Aussage manchmal sehr nahe. Es ist unzulässig, auf diesem Weg den Mandanten zu bestimmten Angaben hinzulenken, was freilich eine Formulierungshilfe nicht ausschließt. „In den Mund legen“ z.B. darf man dem Mandanten auch keine Schlafmittel oder andere Medikamente, wenn er auch noch so sehr um Angabe von Rezept und richtiger Dosierung bettelt, um damit seine Einlassung zu verbessern5.
1 In diesem Sinne BGH v. 21.8.1992 – 2 ARs 346/92, NJW 1992, 3047 (bzgl. Rechtsauskunft); OLG Düsseldorf v. 1.7.1998 – 1 Ws 378/98, StV 1998, 552 (bzgl. Zeugenberatung). 2 BGH v. 26.11.1998 – 4 StR 207/98, NStZ 1999, 188 (189). 3 BGH v. 3.10.1979 – 3 StR 264/79 (S), BGHSt. 29, 99 (107); BGH v. 20.5.1952 – 1 StR 748/51, BGHSt. 2, 375 (377 f.); Fischer, § 258 StGB Rz. 18a. 4 Vgl. dazu Salditt, StV 1999, 61 (64); Widmaier in FS BGH (2000), S. 1042 (1050 f.); auch Fischer, § 258 StGB Rz. 19. 5 BGH v. 26.11.1998 – 4 StR 207/98, NStZ 1999, 188 (Medikamentendosierung).
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Ein wegen Unfallflucht angeklagter Mandant konnte seinem Verteidiger keine Erklärung dafür geben, weshalb er den lauten Anstoß eines anderen Wagens am Heck seines Autos nicht bemerkt haben wolle. Der Verteidiger stellte ihm die Frage, ob er etwa infolge des eingeschalteten Autoradios, durch den Lärm einer vorbeifahrenden Straßenbahn oder loser Gegenstände im Kofferraum den Anstoß überhört haben könnte. Nach einiger Überlegung entsann sich der Mandant eines dort gelegenen Wagenhebers, der erhebliche Geräusche verursacht habe. Aufgrund dieser Einlassung wurde der Mandant freigesprochen. Dem Verteidiger war es dabei nicht gemütlich, obwohl er sich nicht inkorrekt verhalten hatte (vgl. auch Rz. 81). Für Besprechungen mit Zeugen sind die besonderen Sorgfaltspflichten 62 (Rz. 217) zu beachten, deren Verletzung Strafvereitelung sein kann. Es ist aber keine Strafvereitelung, wenn der Verteidiger einen Zeugen überredet, von seinem Auskunfts- oder Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen (Rz. 217)1; das gilt sogar für den Fall einer finanziellen Zuwendung2. Der Verteidiger kann auch in den Gefahrenbereich der Interessenkollisi- 63 on und Strafvereitelung geraten, wenn man aus seiner Zuordnung zur Rechtspflege (Rz. 3 ff.) eine besondere Art von Schweigepflicht ableitet. Er kann in eine Pflichtenkollision geraten, wenn er erfährt, dass Zwangsmaßnahmen wie Durchsuchung und Beschlagnahme, Haftbefehl u.Ä. gegen seinen Mandanten bevorstehen. Durch seine Schutzaufgabe und die Treuepflicht wird er sich zur Information des Klienten gedrängt fühlen. Dabei kommt ihm jedoch der Gedanke, möglicherweise ein Verhalten des Betroffenen zu veranlassen, das seiner Zuordnung zur Rechtspflege widersprechen könnte. Die Frage ist ebenso schwierig wie sie kontrovers beantwortet wird3. Das Spektrum praktischer Fallgestaltung ist groß: Hat der Verteidiger sein Wissen in Ausübung seines Rechts auf Einsicht in die Ermittlungsakten zulässigerweise erlangt, so gebührt seiner Schutzaufgabe Vorrang (Rz. 9 ff.)4. Es kann aber auch sein, dass er sich die Akteneinsicht ohne vorherige Entscheidung der Staatsanwaltschaft verschafft hat, z.B. in einem „unbewachten“ Augenblick auf der Geschäftsstelle die Akten eingesehen oder einen nachgeordneten Justizbediensteten veranlasst hat, ihm „kurzerhand“ d.h. ohne Rückfrage beim Staatsanwalt die Akte zu überlassen; dann kann die Lage anders sein. 1 BGH v. 18.10.1957 – 5 StR 383/57, BGHSt. 10, 393; OLG Düsseldorf v. 10.12.1990 – 1 Ws 1096/90, NJW 1991, 996; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, S. 55 ff. 2 BGH v. 15.4.2008 – 1 StR 104/08, StraFo 2009, 158; LG Augsburg v. 1.4.2011 – 3 KLs 400 Js 116928/08. 3 Zum Streitstand Fischer, § 258 StGB Rz. 22 m.N. Wie hier wohl BGH v. 3.10.1979 – 3 StR 264/79 (S), BGHSt. 29, 99 (103); anders OLG Hamburg v. 17.2.1987 – 51 Js 85/84, BRAK 1987, 163 m. Anm. Dahs; Krekeler, NStZ 1989, 146 (149). 4 So auch Beschluss des Strafrechtsausschusses der BRAK v. 16.2.1979 (RS 7/79).
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Auch vertrauliche Besprechungen mit Richtern und Staatsanwälten führen zu Konflikten, wenn dem Verteidiger, vielleicht sogar ungefragt, Informationen gegeben werden, die ausdrücklich oder aus der Natur der Sache heraus der Weitergabe an andere Personen entzogen sind. Es kann ferner so sein, dass der Verteidiger zufällig eine für seinen Klienten wichtige Information „aufschnappt“ z.B. wenn andere in seiner Gegenwart darüber sprechen. Sicherlich sind solche Erkenntnisse nicht in unzulässiger Weise erlangt: Auch kann dem Verteidiger von einem Staatsanwalt oder Richter kein rechtlich bindendes Schweigegebot auferlegt werden. Gleichwohl ist eine rechtlich-abstrakte, zugleich aber praktisch brauchbare Abgrenzung zwischen erlaubter und nicht zulässiger Unterrichtung des Klienten angesichts der Vielgestaltigkeit der denkbaren Fälle kaum möglich. Liegen aber alle Umstände, die zum Wissen des Verteidigers geführt haben, allein in der „Risikosphäre“ der Justiz (z.B. Gewährung der Akteneinsicht, zufälliges Mithören eines Gespräches), so spricht vieles dafür, der Schutzaufgabe des Verteidigers den Vorrang gegenüber seiner Zuordnung zur Rechtspflege einzuräumen. Gleichwohl muss er bedenken, dass die auch heute noch überwiegende Auffassung eine Information an den Mandanten, die den Untersuchungszweck gefährdet, in den Tatbestand des § 258 StGB verweist1. Der Verteidiger, der seinen „guten Draht“ zur Justiz oder seine von ihr definierte „Vertrauenswürdigkeit“ auch für die Zukunft erhalten möchte, wird unabhängig von der strafrechtlichen Lage stets versuchen, einen Weg zu finden, auf dem er die Interessen seines Mandanten wahrt, ohne seine Qualifikation als Partner vertraulicher Gespräche mit der Justiz zu verlieren. 64
Gelegentlich wird der Verteidigungs- und Beratungsauftrag schon erteilt, bevor das Ermittlungsverfahren richtig in Gang gekommen ist, z.B. aufgrund der öffentlichen Mitteilung einer Strafanzeige oder einer Publikation in Medien. Der Mandant stellt dann häufig die Frage, was jetzt alles auf ihn „zukommen“ könne. Der Verteidiger ist dann nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, über alle denkbaren gesetzlichen Schritte der Staatsanwaltschaft (Durchsuchung, Beschlagnahme, Haftbefehl, Observation, Telefonüberwachung), ihre Voraussetzungen (z.B. typische Verdunkelungshandlungen), ihren möglichen Umfang (Geschäfts-, Privaträume, Person – auch andere Personen [§ 95 StPO] –, Banksafes) Auskünfte zu erteilen, auch wenn nach seiner Beurteilung derartige Maßnahmen der Staatsanwaltschaft unmittelbar bevorstehen können. In derartigen Fällen ist auch die Entgegennahme einer Blankovollmacht durchweg unbedenklich2.
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Zuweilen fragt der besorgte Mandant, ob er nicht „aus geschäftlichen Gründen“ oder „zur Erholung“ eine Auslandsreise machen könne. Das 1 BGH v. 3.10.1979 – 3 StR 264/79 (S), BGHSt. 29, 99 (103); Fischer, § 258 StGB Rz. 17 ff.; anders OLG Hamburg v. 17.2.1987 – 51 Js 85/84, BRAK-Mitt. 1987, 163 m. Anm. Dahs; Krekeler, NStZ 1989, 146 (149). 2 Bedenken bestehen, wenn eine Straftat erst geplant ist, BRAK-Mitt., Nov. 1976, S. 4.
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kann nach den Umständen ganz unbedenklich sein. Es kann aber auch die Einleitung zu einer Flucht und der Ratschlag des Verteidigers damit Strafvereitelung sein. Manchmal fragt auch ein im Ausland befindlicher Mandant, ob er dort bleiben solle und ob der Verteidiger ihn zur Besprechung aufsuchen wolle. Der Besuch im Ausland ist unbedenklich, wenn damit nicht unzulässig eine konkret bevorstehende Verhaftung vereitelt werden soll. Manchmal ist es möglich, mit dem Staatsanwalt über solche Fragen zu 66 sprechen, vor allem wenn eine Durchsuchung oder ein Haftbefehl „in der Luft liegt“. Das setzt aber ein großes Vertrauensverhältnis und sehr viel Fingerspitzengefühl voraus. Bedenken gegen den Zweck der Auslandsreise können z.B. durch entsprechende Nachweise (die nicht unbedingt Inhalt der Ermittlungsakten werden müssen) zerstreut werden. Dagegen kann die Hinterlegung des Reisepasses beim Verteidiger mit der Absprache, ihn jeweils nur mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auszuhändigen und die Rückgabe zu überwachen, problematisch sein. Der Verteidiger wird sich nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen auf ein solches Verfahren einlassen können. Drohende Durchsuchungen können durch die Erklärung der Bereitschaft zur Herausgabe nicht selten vermieden oder wenigstens „diskret“ gestaltet werden. Der Verteidiger muss in solchen Fällen allerdings viel Vertrauen in die korrekte Abwicklung durch die Klientel aufbringen können. Dem Klienten muss andererseits gesagt werden, dass ein gewisses „Restrisiko“ nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. auch Rz. 380 ff.). Manche Klienten wollen wissen, aus welchen Ländern eine Auslieferung nach Deutschland nicht zu erwarten ist. Über die Rechtslage zur Auslieferung (z.B. Europäisches Recht, völkerrechtliche Verträge) darf der Verteidiger im Rahmen seines Rechts zur allseitigen Aufklärung über die Rechtslage informieren1, die Grenze zur strafbaren konkreten Fluchtempfehlung und Fluchtplanung muss aber beachtet werden. Ein Rechtsanspruch des Anwalts auf Einsicht in das Deutsche Fahndungsbuch lässt sich nicht begründen. Besonders listenreiche Leute bringen es auch fertig, den Verteidiger an der Straftat durch objektive Strafvereitelung teilnehmen zu lassen, ohne dass dieser es merkt. Sie stellen ein Paket mit Diebesgut oder belastendem Material in der Kanzlei des Verteidigers ab in der nicht falschen Überlegung, dass es dort am wenigsten gesucht und wegen der Verschwiegenheitspflicht und des Beschlagnahmeschutzes am schwersten gefunden werden kann. Der Verteidiger sollte ein solches „depositum irregulare“ nicht dulden (Rz. 396). Fast alle, die sich schuldig fühlen, arbeiten auf Verzögerung des Verfah- 67 rens. Sie wollen mit dem Verteidiger den „Faktor Zeit“ mobilisieren. Be1 Fischer, § 258 StGB Rz. 18; auch Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, Beschl. v. 16.2.1979 (RS 7/79).
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wusste Verzögerung des Strafverfahrens oder der Vollstreckung kann aber strafbare Strafvereitelung sein, z.B. wenn der Klient zum Verbleib im Ausland veranlasst wird, während die Justiz mit unwahren oder irreführenden Angaben einige Monate hingehalten wird. 68
Bei umfangreichen Wirtschaftsstrafsachen oder Serienstraftaten wirkt sich die oft unerträglich lange Verfahrensdauer gravierend aus. Das geltende Straf- und Strafprozessrecht scheint nicht selten bei der zügigen Bewältigung dieser Großverfahren zu versagen. Bis zum rechtskräftigen Urteil vergehen viele Jahre. Das kommt schon einem Bankrott der Justiz nahe, umso mehr, wenn der angerichtete Schaden in die Milliarden geht. Andererseits müssen Nichtschuldige auf ihre Rehabilitierung lange warten. Der Verteidiger hat in diesem Raum viele Möglichkeiten, aber auch eine große Verantwortung (vgl. dazu Rz. 130). Bei einem gut betuchten Klienten und entsprechender Honorarvereinbarung (oder auch Pflichtverteidigung) mag ihm die Zeitdauer recht sein, zumal sie – wenn nicht vom Angeklagten verursacht – ein Strafmilderungsgrund bei Verurteilung ist (Rz. 756).
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Der Verteidiger muss aber auch gegenüber einem schuldigen Mandanten seine Pflichten beachten. So ist er unter Umständen nicht befugt, den Aufenthaltsort des Mandanten anzugeben. Das kann sogar als Verletzung der Schweigepflicht und der Treuepflicht ein Berufsvergehen sein. In einem Telefongespräch mit einem Staatsanwalt ist es mir vor Jahren passiert, von einem bevorstehenden Besuch meines Mandanten zu erzählen, ohne dass ich dabei an die Möglichkeit eines Haftbefehls überhaupt dachte. Die dadurch „begünstigte“ Vollstreckung des Haftbefehls in meinem Hause steckt mir noch heute in den Gliedern. Auch gegenüber „Einladungen“ der Staatsanwaltschaft zu einem verfahrensfördernden oder -erledigenden Gespräch sollte man vorsichtig sein. Die Verhaftung des Klienten von der Seite des Verteidigers weg ist dann zwar ein grober Stilbruch der Staatsanwaltschaft, jedoch muss sich der Verteidiger die Frage gefallen lassen, warum er diese Gefahr nicht gesehen und ihr in geeigneter Weise im Vorfeld vorgebeugt hat, z.B. durch ausdrückliche Besprechung des Problems mit den Strafverfolgungsorganen (Rz. 380).
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Eine schwierige Situation kann sich auch ergeben, wenn ein flüchtiger Beschuldigter den Verteidigungsauftrag dahin erteilt, er wolle „das Verfahren jetzt hinter sich bringen“, aber ohne aufgrund des ihm bekannten Haftbefehls in Untersuchungshaft genommen zu werden. Ein sachlich denkender Staatsanwalt wird sich in geeigneten Fällen dem Wunsch nach einer Zustimmung zur Haftverschonung nicht verschließen. Es kommt aber auch vor, dass im Zwischenstadium bis zu dieser Entscheidung, deren Voraussetzungen (z.B. fester Wohnsitz im Inland, Arbeitsstelle) noch geschaffen werden müssen, Beamte der Ermittlungsbehörden, gelegentlich sogar Richter, den Versuch unternehmen, vom Verteidiger oder auch seinem Büropersonal scheinbar harmlose Auskünfte („Adresse zum Zwecke der Zustellung“) zu erhalten, um den Haftbe44
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fehl zu vollstrecken. Daran muss der Verteidiger denken und Sorge tragen, dass derartige Mitteilungen unterbleiben. Befindet sich der Mandant in Untersuchungshaft, muss der Verteidiger 71 zur Vermeidung des Verdachts der Strafvereitelung alle einschlägigen Vorschriften und seine Berufspflichten besonders sorgfältig beachten (Rz. 75 ff.). Die ihm eingeräumten Sonderrechte sind groß. Das Überbringen von Mitteilungen, Umgehung der Postkontrolle1 und die Weitergabe von Informationen sowie viele andere – auch fahrlässige – Verdunkelungshandlungen können den Verteidiger in eine böse Lage bringen. Andererseits ist der Beschuldigte gerade in dieser Lage besonders auf eine effektive Verteidigung angewiesen. Der Verteidiger darf deshalb auch dem inhaftierten Mandanten Protokolle, Aktenauszüge, die er in zulässiger Weise erhalten hat, ebenso Vermerke von Zeugen über ihr Wissen oder den Inhalt ihrer Vernehmung überlassen2. Die (kaum je) auszuschließende Gefahr, auf diese Weise den Untersuchungszweck zu gefährden, ist gerade wegen der Untersuchungshaft geringer als sonst. Eine besondere Gefahrenlage ist gegeben, wenn noch andere Beschuldigte und auch durch andere Verteidiger vertreten sind. Die Privilegien des Verteidigers, besonders sein Akteneinsichtsrecht und sein Verkehrsrecht mit dem inhaftierten Klienten, ermöglichen ihm die Verständigung mit den anderen Betroffenen und die Weitergabe von Informationen, die durch die Untersuchungshaft gerade verhindert werden soll. Das gilt insbesondere für den Akteninhalt, wenn anderen Verteidigern die Einsicht (noch) verwehrt wird (§ 147 Abs. 2 StPO). Damit würde der Verteidiger aber gerade das Vertrauen missbrauchen, das die Strafprozessordnung ihm bewusst entgegenbringt (Rz. 75). Verteidigerbesprechungen, besonders im Ermittlungsverfahren, sind da- 72 mit ein Prüfstein für die berufsethische Haltung der Verteidiger. Die koordinierte Verteidigung darf nicht zu verfahrenswidriger Kollusion werden. Die Grenzen sind im Einzelfall manchmal recht schwer zu ziehen. Aussprachen der Verteidiger sind legal, vielfach unentbehrlich und dem allgemeinen Verfahrenszweck dienlich. Sie können von der Klärung von Einzelfragen (z.B. „Hat Ihr Mandant ausgesagt?“) bis zur Planung und Durchführung einer gemeinsamen Basis- oder „Sockelverteidigung“3 (Rz. 241, 470) führen. Eine solche kommt insbesondere in Betracht, wenn zum Verfahrensgegenstand Sach- oder Rechtsfragen gehören, die für mehrere oder alle Beschuldigte gleich sind und ohne Beeinträchtigung der jeweils individuellen Verteidigungsposition gemeinsam oder arbeitsteilig behandelt werden können. Die gemeinsame Sockelverteidigung kann 1 AnwG Hamburg v. 1.4.1996 – II 14/96 EV 39/94, StraFo 1998, 142. 2 Vgl. zu diesem Problemkreis BGH v. 3.10.1979 – 3 StR 264/79 (S), BGHSt. 29, 99 (103); Fischer, § 258 StGB Rz. 18 m.N. 3 Dazu Eckhart Müller, StV 2001, 649; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 8, 2004, Bd. 13, S. 113 ff.; Richter II, NJW 1993, 2152.
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sich auf die genaue Ermittlung des verfahrensgegenständlichen Sachverhalts (insbesondere vor Gewährung von Akteneinsicht) oder die Feststellung entlastender (primär objektiver) Tatumstände ebenso beziehen wie auf die im Verfahren voraussichtlich relevanten Rechtsfragen prozessualer oder materiell-rechtlicher Art (Rz. 241). Auch kann eine umfangreiche Verfahrensmaterie zur vorbereitenden Bearbeitung in Einzelkomplexe aufgeteilt und – je nach Spezialwissen – bestimmten Verteidigern als „Berichterstattern“ zugewiesen werden. Schließlich gehört auch die Ausarbeitung von großen Schriftsätzen nach einem entsprechend gestalteten „Modulsystem“ hierher1. Die Abgrenzung zu begünstigenden „Absprachen“ kann dabei allerdings dünn werden2. Besonders am Anfang eines Verfahrens haben die Verteidiger mit dem ihnen zur Einsichtnahme bedingungslos zustehenden Protokoll über die Vernehmung ihres Mandanten (§ 147 Abs. 3 StPO) allerlei in der Hand, dessen Austausch die Untersuchungshaft illusorisch oder die Aufklärung sehr erschweren oder gar unmöglich machen würde. Ein Misstrauen der Staatsanwaltschaft gegen solche Veranstaltungen der Verteidiger ist daher häufig zu beobachten. Für einen pflichtmäßig handelnden Verteidiger ist das allerdings kein Grund, das sachlich Gebotene nicht zu tun. Dazu kann unter Umständen auch der kollegial-vertrauliche Austausch der Einlassungen der Beschuldigten gehören3. Dabei hat der Mitteilungsempfänger aber in erster Linie die Verantwortung für die Nichtweitergabe an seinen Mandanten, dessen Angehörige oder andere Personen, mit denen er Gespräche führt. Nur durch große Zurückhaltung kann der Verteidiger je nach Lage des Falles hier den Verdacht der Verdunkelung vermeiden. Zu diesem Zwecke kann es geboten sein, die Unterlagen nur zu treuen Händen zu übersenden und damit den Hinweis zu verbinden, sie nicht auszuhändigen und sie nur als „Gedächtnisstütze“ zu gebrauchen, um eine sachgerechte Darstellung einzelner Umstände durch den Mandanten zu ermöglichen. Dagegen ist es nicht zulässig, ohne Zustimmung der Ermittlungsbehörde Aktenauszüge an die Verteidiger von Mitbeschuldigten weiterzugeben, denen die Einsicht bisher versagt wurde. Besondere Probleme entstehen, wenn Kollegen als Zeugenbeistände (§ 68b StPO) in die Gesamtverteidigung „eingebunden“ werden sollen oder wollen4. 73
Strafvereitelung kann auch im Gerichtssaal begangen werden. Zwar hat der Verteidiger gerade hier alle Mittel für seinen Mandanten einzusetzen. Es ist keine Strafvereitelung, wenn er dabei beispielsweise die Beweisaufnahme nicht objektiv, sondern einseitig würdigt. Auch kann und muss er die Rechtsauffassungen vertreten oder wenigstens als anderweitig vertretene Ansichten darlegen und auswerten, die für seine Sache am günstigsten sind (Rz. 741). Die Wahrheitserforschung beeinträchtigt er 1 Zust. KG v. 7.1.2002 – 5 Ws 582/01, StraFo 2003, 147. 2 Vgl. i.E. Pellhofer, Sockelverteidigung und Strafvereitelung (1999). 3 Vgl. dazu OLG Düsseldorf v. 20.8.2002 – 1 Ws 318/02, JR 2003, 346 m. Anm. Beulke; OLG Frankfurt v. 10.11.1980 – (2) 3 Ws 800/80, NStZ 1981, 144. 4 Zu dieser Problematik i.E. Dahs in FS Puppe (2011), S. 1545 ff.
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dadurch nicht in verbotener Weise, solange er die Sammlung des Beweismaterials und die Feststellung der Tatsachen nicht durch objektiv und subjektiv falschen Sachvortrag behindert. Er ist auch nicht verpflichtet, die vom Mandanten angeführten Beweismittel vor ihrer Benennung auf ihre Standfestigkeit zu überprüfen1, wozu er meist auch gar nicht in der Lage sein würde. Manchmal allerdings kommt der Mandant mit Zeugen, deren offensichtlich falsche Aussagen ihn retten sollen. In diesem Falle kann die Benennung der Zeugen Strafvereitelung sein (Rz. 653). Es bleibt im Übrigen immer eine Sache des Gewissens, nicht zu weit zu gehen und sich vor dem peinlichen Verdacht einer Täuschung des Gerichts durch falsche Beweismittel zu hüten. Der Verteidiger kann zu leicht den Eindruck erwecken, dass er seinen Mandanten um jeden Preis „heraushauen“ wolle. Strafbare Strafvereitelung kann auch vorliegen, wenn der Verteidiger 74 durch Beweisanträge falsche Zeugenaussagen bewusst herbeiführt2, womit er sich zugleich der Beihilfe zum Meineid schuldig machen kann (Rz. 215). Ganz problematisch sind finanzielle Zuwendungen an Zeugen3. Es ist auch vorgekommen, dass der Verteidiger eine bei ihm hergestellte Fotokopie einer Urkunde vorlegte, um damit einen im Original vorhandenen, aber bei der Ablichtung abgedeckten Zusatz zu unterdrücken. Die Ausnutzung prozessualer Befugnisse und eine entsprechende Beratung sind prinzipiell erlaubt, auch wenn dies Gefahren für eine baldige und richtige Entscheidung mit sich bringt4. So darf weder allein aus der Zahl noch aus dem „späten“ Zeitpunkt von Beweisanträgen der Vorwurf der Strafvereitelung abgeleitet werden5; auch vom Mandanten veranlasste „ins Blaue hinein“ gestellte Beweisanträge gehören hierher; anders ist es, wenn sich der Verteidiger selbst Behauptungen „ausdenkt“. Der Verteidiger darf jedoch einen vernehmenden Richter nicht durch eine gezielte Querfrage oder eine andere sachlich nicht oder nicht in diesem Zeitpunkt gebotene Aktion (Antrag, Beanstandung, Erklärung, Unterbre-
1 BGH v. 1.9.1992 – 1 StR 281/92, BGHSt. 38, 345 (348); Fischer, § 258 StGB Rz. 18a. 2 Dazu OLG Köln v. 14.10.2002 – 2 Ws 508–509/02, StV 2003, 15; OLG Frankfurt v. 13.2.2003 – 3 Ws 190/03, 3 Ws 190/03 (Ausschl.), NStZ-RR 2003, 238. 3 Dazu grundlegend BGH v. 9.5.2000 – 1 StR 106/00, NJW 2000, 2433; dagegen ist die Bitte um Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts unbedenklich – BGH v. 18.10.1957 – 5 StR 383/57, BGHSt. 10, 393 (395); BGH v. 3.10.1979 – 3 StR 264/79, BGHSt. 29, 99 (107); i.E. Beulke/Ruhmannseder, Rz. 57. 4 OLG Düsseldorf v. 10.12.1990 – 1 Ws 1096/90, StV 1992, 57; KG v. 12.11.1987 – 1 AR 1105/87, NStZ 1988, 178; Dahs, Revision, 2012, Rz. 411. 5 BGH v. 14.6.2005 – 5 StR 129/05, StV 2006, 113 m. Anm. Dahs; BGH v. 10.11.2009 – 1 StR 162/09, NStZ 2010, 161; BGH v. 23.9.2008 – 1 StR 484/08, NStZ 2009, 169; OLG Karlsruhe v. 31.3.2006 – 3 Ausschl. 1/06, JZ 2006, 1129; OLG Düsseldorf v. 4.2.1986 – 1 Ws 100/86, StV 1986, 288 (289); Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 138a StPO Rz. 11.
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chung) von einem gefährlichen Punkt ablenken, um die Aufklärung zu verhindern. 75
Eine immer wieder auflebende Diskussion betrifft die „Verfahrensverzögerung durch unzulässiges Verteidigerverhalten“ („Prozesssabotage“), z.B. mit dem Ziel, den Prozess bis zum Eintritt der absoluten Verjährung (§ 78c Abs. 3 S. 2 StGB)1, der krankheitsbedingt zu erwartenden Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten, Vernehmungsunfähigkeit oder Unerreichbarkeit eines wichtigen Belastungszeugen auszudehnen. Wann eine Verteidigung (insgesamt) prozessual „unzulässig“ wird, ist bis heute nicht geklärt2; vom Tatgericht als unzulässig oder wegen Verschleppungsabsicht abgelehnte Beweisanträge reichen für ein solches Verdikt – schon wegen der Überprüfung durch das Revisionsgericht – allein nicht aus. Der BGH3 hat die Abgrenzung dahin definiert, dass der Verteidiger im Rahmen der Regelungen des Prozessrechts grundsätzlich alles tun darf, was in gesetzlich nicht zu beanstandender Weise seinem Mandanten nutzt. Er ist auch verpflichtet, Tatsachenschilderungen des Mandanten, an deren Richtigkeit er erhebliche Zweifel hat, dem Gericht vorzutragen und zum Gegenstand von Beweisanträgen zu machen. Die Grenze ist erst bei Kenntnis der Unrichtigkeit erreicht. Es soll allerdings auch Fälle geben, in denen Verteidiger ihren Klienten „garantieren“, den Prozess durch sog. Konfliktverteidigung (Rz. 450) zum „Platzen“ oder in die absolute Verjährung zu bringen (Letzterem beugt zwar § 78b Abs. 4 StGB vielfach vor) oder zu einer gewünschten Verständigung (§ 257c StPO), und sogar ein Erfolgshonorar (Rz. 1201) dafür vereinbaren. Wenn solche Ziele mit zweifelsfrei sachfremden oder bewusst wahrheitswidrigen Prozessaktionen (Erklärungen, Gesuchen, Beweis- oder anderen Anträgen) angestrebt werden, kann der Tatbestand des § 258 StGB erfüllt sein. Freilich ist in der Praxis die Grauzone groß und die Überführung schwierig.
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Besondere Konfliktlagen können in der Hauptverhandlung auch durch die Antinomie der Wahrheitspflicht und Verschwiegenheitspflicht entstehen (Rz. 46, 48). Grundsätzlich geht die Verschwiegenheitspflicht vor. Wenn es z.B. auf Vorstrafen ankommt (Strafzumessung, Strafaussetzung), 1 Dazu einerseits Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 153; andererseits Krekeler, NStZ 1989, 146 (152); im Übrigen ist § 78b Abs. 4 StGB zu beachten! 2 Vgl. dazu BGH v. 9.5.2007 – 1 StR 32/07, NStZ-RR 2009, 21 = BGHSt. 51, 333 (342 ff.); BGH v. 14.6.2005 – 5 StR 129/05, StV 2006, 113 m. Anm. Dahs; krit. Hamm in FS Hassemer, S. 1023 ff. m.N.; Jahn, StV 2009, 663; Beulke, StV 2009, 555 f.; Fahl, Rechtsmissbrauch im Strafprozess, 2004; unter dem Aspekt der Revision Dahs, Revision, 2012, Rz. 402 ff., 351 ff.; BRAK-Schriftenreihe, Bd. 8, Thesen Nr. 33 ff. 3 BGH v. 9.5.2000 – 1 StR 106/00, BGHSt. 46, 53 (54); BGH v. 1.9.1992 – 1 StR 281/92, NStZ 1993, 79; bei Egon Müller, NStZ 1997, 222; m. Anm. Scheffler, MDR 1993, 1168; m. Anm. Beulke, JR 1994, 114; diff. Fischer, § 258 StGB Rz. 19 ff.
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Rz. 78
die das Gericht noch nicht kennt, darf der Verteidiger sie ohne Zustimmung des Mandanten nicht offenbaren. Er wird aber nicht das Fehlen dieser Vorstrafen positiv behaupten und auswerten dürfen1. Es kommt auch vor, dass der Richter – was er nicht sollte – den Verteidiger fragt, ob ein ihm bekanntes Verfahren inzwischen zu einer Verurteilung des Mandanten geführt habe. Die Wahrheit wird der Verteidiger ebenso wenig sagen dürfen wie die Unwahrheit. Aber das Schweigen würde Bejahung bedeuten. Der peinliche Konflikt löst sich am besten, wenn der Verteidiger den Mandanten dazu bringt, der Aufklärung des Gerichts zuzustimmen. Die Sprengung des Mandats durch Niederlegung der Verteidigung (Rz. 161 ff.) als äußerstes Mittel sollte er zu vermeiden wissen. Der Verteidiger ist nicht verpflichtet, der Staatsanwaltschaft auf Kosten seines Mandanten eingeholte Privatgutachten vorzulegen, wenn sich daraus für seinen Mandanten Belastendes ergibt2, jedoch soll der Sachverständige über den Inhalt seines Gutachtens als Zeuge vernommen werden dürfen3. Dagegen braucht der Verteidiger einem „unlauteren“ Verhalten des Beschuldigten nicht äußerlich erkennbar entgegenzutreten: Schweige- und Treuepflicht haben Vorrang. 5. Verteidigung des schuldigen Angeklagten Literatur: Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 150, 156; Fahl, Der Rechtsmissbrauch im Strafprozess, Habil. 2004; Gillmeister, Die Verteidigung eines lügenden Beschuldigten, FS Schiller (2014), S. 175; Wohlers, Strafverteidigung vor den Schranken der Strafgerichtsbarkeit, StV 2001, 425.
Die unter dieser Überschrift viel erörterte Konfliktsituation des Verteidi- 77 gers ist ein Alltagsproblem, mit dem er sich ständig zu befassen hat. Strafrechtlich ist das heute kein Problem mehr4. Hier geht es nicht um die Frage anwaltlicher Berufshaltung, ob der Anwalt die Verteidigung eines schuldigen, aber bestreitenden Angeklagten übernehmen will, was stets in seinem Belieben steht. Er wird das aber vielfach grundsätzlich oder im speziellen Falle ablehnen (Rz. 78). Es handelt sich dabei aber nicht um eine Frage der Zulässigkeit der Verteidigung. Mit der Verwechslung der beiden Bezugspunkte wird oft der Zugang zur richtigen Erkenntnis der Konfliktsfrage verschüttet. Die Frage, ob der Anwalt „wider besseres Wissen“ verteidigen darf, be- 78 trifft Grundlagen des Strafprozesses. Das Gericht hat seinem Urteil nur das Ergebnis der Hauptverhandlung unter Ausschaltung allen privaten 1 EGE VI, 270. 2 LG Koblenz v. 9.12.1993 – 8 Js 6510/89 Ns, StV 1994, 378. 3 LG Essen v. 8.12.1995 – 22a (11/95), StraFo 1996, 92; krit. Krause, StraFo 1998, 1. 4 BGH v. 1.9.1992 – 1 StR 281/92, NStZ 1993, 79; Anm. Scheffler, MDR 1993, 1168; Anm. Beulke, JR 1994, 114; BGH v. 9.5.2000 – 1 StR 106/00, StV 2000, 427; Wohlers, StV 2001, 425; Fischer, § 258 StGB Rz. 17a.
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Wissens zugrunde zu legen. Es darf nur verwertet werden, was in prozessgerechter Weise gewonnen worden ist. Dazu gehört nicht das in der Hauptverhandlung nicht behandelte persönliche Wissen des Verteidigers. Es steht außerhalb des Prozesses. Die Situation kann den Verteidiger aber ins Zwielicht bringen. Er gerät leicht in den Verdacht, durch die Unterdrückung seines Wissens zu begünstigen. Es kommt manchem so vor, als gehe es dem Verteidiger nur darum, einen Schuldigen mit allen Mitteln „herauszureißen“. Man sieht in ihm so etwas wie einen Komplizen der Straftat. Man will nicht verstehen, dass ein Anwalt sich gegen seine Überzeugung oder gar gegen sein besseres Wissen dazu hergibt, einen Schuldigen der Strafe zu entziehen, besonders wenn es sich um schwere oder scheußliche Verbrechen handelt. Daraus resultieren die oft gestellten Fragen an den Verteidiger, „ob er das denn alles selbst glaube“, wie man „so einen Kerl“ überhaupt verteidigen könne und ob der Verteidiger dafür viel Geld bekomme. Diese in der Volksmeinung häufigen Auffassungen über den Verteidiger als „Bratenwender“ (H. Heine) haben eine gesunde Wurzel. Für den Anwalt, der auf seine Reputation hält, ist es ein recht schwieriger Entschluss, wider besseres Wissen zu verteidigen und die Freisprechung eines Schuldigen herbeizuführen. Er wird häufig nicht bereit sein, sich einer solchen Zumutung eines Delinquenten, der das Gericht belügt, zu beugen. Das gilt allerdings nicht in jedem Falle. Die Verteidigung „wider besseres Wissen“ wird auch ein honoriger Anwalt in gewissen Fällen vor sich verantworten können, z.B. im Kampf gegen ein ungerechtes oder überholtes Gesetz oder aus politischer oder weltanschaulicher Überzeugung oder auch zur Lösung eines schweren menschlichen Konflikts. Man denke an den – heute vielleicht antiquierten, gleichwohl instruktiven – Fall des „Kavaliereides“. Ein Mann, der von der Straftat einer ihm nahestehenden Frau weiß und darüber als Zeuge aussagen soll, kann sich aus höchst ehrenhaften Motiven entschließen, durch einen Meineid, Ehre, Ehe und wirtschaftliche Existenz der Frau und ihrer Familie zu schützen. In solchem Falle wird auch ein mit sich selbst strenger Anwalt zur Verteidigung bereit sein können. Rechtlich besteht jedenfalls kein Zweifel daran, dass der Rechtsanwalt als Verteidiger berechtigt ist, die Verteidigung des schuldigen Angeklagten auch bei Kenntnis der Tatschuld mit dem Ziel des Freispruchs zu führen. Das ist auch der Standpunkt der Rechtsprechung1. Jede andere Auffassung wäre eine Verkennung des Wesens der Strafverteidigung und ihrer Aufgabe in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren2. Damit ist auch die Übernahme der Verteidigung dem freien Entschluss des Verteidigers anheimgegeben. Ihn kann zur Annahme der Verteidigung sogar der Gesichtspunkt bestimmen, dass gerade auch der schlimmste Verbrecher 1 Vgl. vorherige Fn. 2 So ausdrücklich BGH v. 1.9.1992 – 1 StR 281/92, NStZ 1993, 79.
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Anspruch auf eine Verteidigung hat. Zudem hat der zu bestellende Pflichtverteidiger gar keine andere Möglichkeit, als das private Geständnis des Beschuldigten für sich zu behalten und mit diesem Wissen zu verteidigen. Wenn sich der Verteidiger hiernach zur Führung der Verteidigung ent- 79 schlossen hat, kommt jetzt alles darauf an, wie er sie führt. Er hat sich streng auf seine legalen Mittel zu beschränken: Aufdeckung aller Beweislücken, Angriffe auf belastendes Beweismaterial, Stellungnahme zur Rechtslage, Auslegung des Gesetzes usw. Er bleibt verpflichtet, nichts Belastendes gegen den Angeklagten vorzubringen. Verboten aber bleibt ihm, was ohnehin nicht erlaubt ist: die Irreführung des Gerichts durch Vorspiegelungen, Verdunkelung und Trübung von Beweisquellen. Die Situation mag an einem Beispiel erläutert werden: Ein Angeklagter wird ausschließlich durch einen Zeugen belastet, der ihn beim nächtlichen Einsteigen in ein Haus aus großer Entfernung beobachtet haben will. Er behauptet, es sei eine mondhelle Nacht gewesen. Der Verteidiger weiß, dass der Angeklagte schuldig ist. Er bringt gleichwohl die Aussage durch eine Auskunft des Wetterdienstes zu Fall. Hiernach war es stockdunkle Nacht gewesen. Der Verteidiger beantragt und erwirkt damit den Freispruch. Dem Verteidiger kann hier sein Prozessverhalten nicht zum Vorwurf gemacht werden. Ähnlich liegt der Fall, wenn der Verteidiger den Zeugen durch den Nachweis von Vorstrafen wegen Eidesverletzung/ Falschaussage als unglaubwürdig darstellen kann. Hier ist die Erwirkung des Freispruchs dann unbedenklich, wenn die Aussage des Zeugen nach der Vorstellung des Verteidigers falsch ist, obwohl der Angeklagte tatsächlich der Schuldige ist. Ist die Aussage des Zeugen aber nach seiner Überzeugung richtig, wird es dem Verteidiger nicht gestattet sein, die Aussage durch den Beweis der allgemeinen Unglaubwürdigkeit des vorbestraften Zeugen auszuschalten. Vor diesem Hintergrund bestehen auch unter berufsrechtlichen Aspekten gegen die Verteidigung des schuldigen Angeklagten grundsätzlich keine Bedenken. Es versteht sich aber von selbst, dass der Verteidiger die Form der Vertei- 80 digung seiner Konfliktslage anpassen muss. Er darf nicht wider besseres Wissen die Unschuld seines Mandanten positiv behaupten oder gar lauthals heraustönen. Er hat sich darauf zu beschränken, die Nichtüberführung des Angeklagten darzutun. Insbesondere das Plädoyer des Verteidigers einschließlich seiner Anträge erfordert auch hier viel Geschick und Takt (Rz. 735). Mit dieser Klarstellung der Rechtslage fangen nun die praktischen Fragen 81 für die Tagespraxis erst an. Sie entwickeln sich urplötzlich aus der Situation der Besprechung mit dem Mandanten. Der potenzielle Mandant kommt meist mit der fragenden Bemerkung: „Ihnen, Herr Rechtsanwalt, kann ich ja alles sagen.“ Der Anwalt muss sich in dieser „juristischen Sekunde“ entscheiden, was er darauf antwortet und ob er den Mandanten 51
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weitersprechen lässt. Wenn er das tut, wird er vielleicht sofort ein „Wissender“. Ein Anwalt, der grundsätzlich nicht „gegen besseres Wissen“ verteidigen will, hat sich damit den Weg zum Mandat verbaut. Der Rechtspflege nützt sein korrektes Verhalten allerdings nichts: Denn der jetzt klug gewordene Mandant geht zum nächsten Anwalt, den er konsequent belügt. Der Verteidiger kann nun auch dem Mandanten ins Wort fallen und ihn auffordern, ihn nicht durch ein Geständnis um seinen „guten Glauben“ und um das Mandat zu bringen. Das wäre aber ein recht krummer Weg. Aus diesem Dilemma gibt es kaum einen befriedigenden Ausweg. Es ist vielleicht das kleinste Übel, den Mandanten auf eine entsprechende Frage oder Bemerkung oder an sonst geeigneter Stelle im Anfangsstadium der Besprechung abstrakt zu belehren, dass alle seine Äußerungen durch die Schweigepflicht abgesichert sind, er aber gleichwohl seine beabsichtigte Stellungnahme daraufhin überprüfen möge, ob sie den Verteidiger – wenn die Verteidigung mit dem Ziele des Freispruchs geführt werden soll – in (kurz zu skizzierende) Konflikte bringen kann, die die Unbefangenheit und Qualität der Verteidigung oder sogar das Mandat selbst gefährden. Die Mandanten verstehen das meist sehr rasch. Wohl kann man sich aber auch dabei nicht fühlen, mag auch der Verteidiger nicht zur Herbeiführung eines Geständnisses verpflichtet sein (Rz. 61). Die Situation wird für den Verteidiger noch schwieriger, wenn er ein Mandat zunächst gutgläubig angenommen hat und der Mandant ihm erst später die Wahrheit gesteht. Hier kann meines Erachtens der Verteidiger verlangen, dass der Mandant nun auch bei Gericht der Wahrheit die Ehre gibt oder im Prozess schweigt. Will er das nicht, gewinnt der Verteidiger seine Entschlussfreiheit zurück und braucht sich meines Erachtens zur Weiterführung der Verteidigung nicht zwingen zu lassen. 82
Allerdings sollte die Niederlegung des Mandats so schonend wie möglich vor sich gehen. Anders steht es auch hier für den Pflichtverteidiger, der keine Möglichkeit hat, die Rücknahme seiner Bestellung zu beantragen. Er müsste sonst das Geständnis des Mandanten offenbaren, was mit der Verschwiegenheitspflicht nicht vereinbar ist (Rz. 52). Eine alltägliche Variante ist der Konflikt des Verteidigers, wenn er von der Schuld des Mandanten zwar nicht positiv weiß, aber von ihrem Gegebensein persönlich überzeugt ist. Diese subjektive Gewissheit gewinnt der Verteidiger oft durch überzeugende Anzeichen in Verhalten und Äußerungen des Mandanten, seiner Angehörigen oder Dritter oder aus anderen Umständen. Hier muss der Verteidiger seine Entscheidung noch sehr viel sorgfältiger abwägen. Er hat dabei zu beachten, dass subjektive Gewissheit keine objektive Wahrheit zu sein braucht. Sie ist nicht einmal durch ein „Geständnis“ immer sicher verbürgt, das aus mancherlei Motiven unwahr sein kann (Rz. 78). Die behandelte Konfliktslage hat viele Varianten. Häufig ist es so, dass der Mandant den Tatbestand in wesentlichen Teilen zugibt, jedoch ande52
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Rz. 83
re Taten oder Tatteile verschweigen will. Er gibt z.B. eine Unfallflucht zu, will aber den dem Verteidiger berichteten Alkoholkonsum verschweigen. Der Verteidiger wird von Fall zu Fall entscheiden müssen, ob er in dieser Linie die Verteidigung führen oder niederlegen will (vgl. auch Rz. 61). 6. Interessenkollision und Parteiverrat Literatur: Beulke/Ruhmannseder, Die Strafbarkeit des Verteidigers, 2. Aufl. 2010, S. 149 ff.; Dahs, Anm. zu OLG Stuttgart, JR 1986, 349; Dahs, Zum Parteiverrat und zur Schweige- und Treuepflicht des Rechtsanwalts (Anm. zu BGHSt. 34, 190), JR 1987, 476; Dahs, Parteiverrat im Strafprozess, NStZ 1991, 561; Dahs, Angeklagter und „verdächtiger Zeuge“ – Parteien im Strafprozess (§ 356 StGB), NStZ 1995, 16; Dahs, Anm. zu BGH, NStZ 2000, 370 (371); Dahs in Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2012, § 356; Dahs, Zeugenbeistand zwischen Parteiverrat und Strafvereitelung, FS Puppe (2011), S. 1545; Dahs, „Informationelle Vorbereitung“ von Zeugenaussagen durch den anwaltlichen Zeugenbeistand, NStZ 2011, 200; Dingfelder/Friedrich, Parteiverrat und Standesrecht, 1987; Erb, Parteiverrat, BRAK-Schriftenreihe, Bd. 14, 2005; Eylmann, Die Interessenkollision im Strafverfahren, AnwBl. 1998, 359; Fahl, Der Rechtsmissbrauch im Strafprozess, Habil. 2004; Geppert, Strafverteidigung und Parteiverrat, NJW 1958, 1959; Geppert, Der strafrechtliche Parteiverrat, 1961; Geppert, Anm. zu OLG Stuttgart, NStZ 1990, 542; Holtz, Parteiverrat in Strafsachen, Diss. Tübingen 1996; Kleine-Cosack, Parteiverrat bei Mehrfachvertretung, AnwBl. 2005, 338; Offermann-Burckart, Die Interessenkollision – Anwaltschaft im Wandel?, AnwBl. 2005, 312; Prinz, Der Parteiverrat des Strafverteidigers, Diss. 1999; Ranft, Zum Begriff „dieselbe Rechtssache“ beim Parteiverrat, JR 1996, 256; Schmidt-Leichner, Strafverteidigung, Parteiverrat, NJW 1959, 133.
Das Mandat des Verteidigers untersteht dem Gebot absoluter Treue- 83 pflicht. Die Treue gegenüber dem Mandanten bildet die Grundlage des Anwaltsberufes. Die Treuepflicht ist das Spiegelbild des Vertrauens, das der Mandant dem Verteidiger entgegenbringt. Dieser offenbart sich ihm in rückhaltloser Offenheit, weil er in seiner Lage alles von ihm erhofft. Die Treuepflicht gebietet dem Rechtsanwalt nicht nur sorgfältigste Prozessführung und strenge Beobachtung seiner Berufspflichten, sondern darüber hinaus den äußersten Einsatz aller (zulässigen) Verhandlungsmittel unter Anspannung seiner ganzen Kräfte. Dabei darf er allerdings seine Unabhängigkeit nicht in Gefahr geraten lassen. Die Verletzung der Treuepflicht ist ein schlimmes Vergehen des Verteidigers. Sie ist als Verrat des Mandanten schlechterdings unerträglich. Deshalb wird der Parteiverrat des Rechtsanwalts mit einer Mindeststrafe von drei Monaten Freiheitsstrafe bedroht (§ 356 StGB). Auch die BRAO und die Berufsordnung enthalten in § 43a Abs. 4 und § 3 Abs. 1 entsprechende Vorschriften. Kraft dieser Bestimmungen ist es dem Anwalt nicht erlaubt, in derselben Rechtssache zwei Parteien, deren Interessen einander widerstreiten, durch Rat oder Beistand pflichtwidrig zu dienen. Dass diese Voraussetzungen gegeben sind, liegt manchmal klar auf der Hand. In vielen Fällen ist dies aber schwer zu erkennen und wird in der 53
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Praxis oft in geradezu erschreckendem Umfang verkannt. Wer in einem Strafverfahren zunächst den Beschuldigten und später den Nebenkläger vertritt, begeht Verrat. Wer einen Angeklagten in der Hauptverhandlung verteidigt und einen von ihm angegriffenen Zeugen später in einem Strafverfahren wegen derselben (Falsch-)Aussage vertritt, handelt pflichtwidrig und ist regelmäßig strafbar. Die Verteidigung mehrerer Beschuldigter durch einen gemeinschaftlichen Verteidiger wegen derselben Tat (§ 264 StPO) ist nach § 146 StPO generell unzulässig, auch wenn die Gefahr der Interessenkollision nicht besteht. Dagegen ist die sukzessive Verteidigung prozessual zulässig, womit über eine Interessenkollision im Einzelfall allerdings nichts gesagt ist1. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass mehrere Mitglieder einer Sozietät verschiedene Beschuldigte in demselben Verfahren verteidigen, wenn der Auftrag nicht der Sozietät, sondern dem einzelnen Sozius persönlich erteilt wird2. 84
Die neben der Verteidigung eines Beschuldigten in demselben Verfahren einem anderen gewährte bloße Beratung ist durch § 146 StPO nicht untersagt, jedoch ist auch hier die Gefahr der Interessenkollision besonders zu beachten. Das wird häufig übersehen, wenn die Beratung der Beteiligten zu verschiedenen Zeiten erfolgt. Wenn der Verteidiger den einen Beschuldigten – wenn auch nur flüchtig – beraten und dieser inzwischen einen anderen Verteidiger beauftragt hat, darf er später nicht den Geschädigten beraten oder vertreten. Bei der nach § 146 StPO zulässigen sukzessiven Verteidigung mehrerer Beschuldigter wegen derselben Tat in demselben Verfahren muss der Verteidiger besonders auch bedenken, dass die Treuepflicht mit der Auflösung eines Mandats nicht endet.
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Die Probleme in dem hier behandelten Bereich des Parteiverrats gehen zu einem wesentlichen Teil auf die irreführende Kennzeichnung „Parteiverrat“ zurück. Sie legt die Auslegung nahe, dass einziges geschütztes Rechtsgut der Verbotsnorm die Treuepflicht des Anwalts sei. Das ist ein verhängnisvoller Irrtum. Das Verbot würde dann nämlich in allen Fällen nicht gelten, in denen die Parteien mit der Vertretung der entgegengesetzten Interessen oder mit einer doppelseitigen Beratung einverstanden sind. In Wirklichkeit beseitigt dieses Einverständnis das Verbot und auch die Strafbarkeit grundsätzlich nicht3. Denn geschütztes Rechtsgut ist außer der Treuepflicht die Funktion des Verteidigers im Rechtssystem4. Nach herrschender Meinung5 ist es freilich Zweck der Verbotsnorm, die Gefährdung der Rechtspflege durch anwaltliches Fehlverhalten 1 Für Mitbeschuldigte vgl. OLG Stuttgart v. 25.4.1990 – 2 Ws 2/90, NStZ 1990, 542 m. Anm. Geppert; OLG Zweibrücken v. 27.5.1994 – 1 Ss 12/94, NStZ 1995, 36 m.N. 2 BVerfG v. 3.7.2003 – 1 BvR 238/01, NJW 2003, 2520; Kleine-Cosack, AnwBl. 2003, 359; eingehend Dahs in MüKo, § 356 StGB Rz. 34. 3 Dazu eingehend Dahs in MüKo, § 356 StGB Rz. 47 ff. 4 Dahs in MüKo, § 356 StGB Rz. 3 ff. 5 Vgl. nur BVerfG v. 24.5.2001 – 2 BvR 1373/00, NJW 2001, 3180 f.; Hübner in LK, § 356 StGB Rz. 9; Prinz, S. 20 f.; Lackner/Kühl, § 356 StGB Rz. 1.
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auszuschließen. Diese ist bei der Vertretung kollidierender Interessen immer gegeben, auch wenn die Parteien demselben Anwalt in derselben Rechtssache ihr Vertrauen schenken. Der Rechtsanwalt muss aber geradlinig bleiben, er darf nicht auf zwei Schultern tragen, er darf dieselbe Sache nicht einmal schwarz und ein anderes Mal weiß darstellen. Die Verhütung solcher Zwiespältigkeit ist die ratio legis. Ein weiterer Grund für die Missverständnisse ist der Begriff „derselben 86 Rechtssache“1. Er wird oft dahin ausgelegt, es müsse sich um dasselbe Verfahren handeln. Das ist schon deshalb falsch, weil das Verbot für jede anwaltliche Tätigkeit gilt, auch wenn ein förmliches Verfahren nicht anhängig ist, wie etwa in den Fällen außergerichtlicher Beratung. „Rechtssache“ ist vielmehr jedes einheitliche Lebensverhältnis. Die Einheitlichkeit wird auch durch längeren Zeitabstand nicht aufgehoben. Typische Fälle sind das durch die Ehe begründete Lebensverhältnis, ein Mietverhältnis oder auch eine Autofahrt, bei der es zu einem Verkehrsdelikt gekommen ist2. Daraus kann zu ganz verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Verfahren ein Rechtsstreit entstehen. Ein Rechtsanwalt hat eine Frau im Sorgerechtsverfahren vertreten und auftragsgemäß den Ehemann sexueller Handlungen am Kind beschuldigt. Nach einiger Zeit erscheinen die inzwischen versöhnten Eheleute und bitten den Anwalt dringend, die Verteidigung des von dem Kind verleumdeten Ehemannes in dem Strafverfahren wegen des Sexualdelikts zu führen. Die Annahme dieses Mandats ist Parteiverrat, weil der Anwalt die angeblichen Handlungen des Mannes einmal gegen ihn ausgewertet hat, dieselben Handlungen jetzt aber als sein Verteidiger in Abrede stellen soll. Auf die Einwilligung der Ehefrau als der früheren Mandantin kommt es nicht an. Der Verteidiger greift eine Zeugin im Strafverfahren wegen einer angeblich falschen Aussage an. Der trotzdem verurteilte Mandant betreibt eine Wiederaufnahme des Verfahrens über den Weg eines Strafverfahrens gegen die Zeugin. Später verlobt er sich mit ihr und beauftragt den Anwalt, ihre Verteidigung im Strafverfahren wegen Falschaussage zu führen. Die Übernahme dieses Mandats wäre Parteiverrat trotz des absoluten Einverständnisses der Beteiligten. Der Verteidiger vertritt zunächst den als Pkw-Fahrer wegen eines Verkehrsdelikts angeklagten Halter; gleichzeitig berät er die als Zeugin geladene Mitfahrerin, die alternativ als Fahrerin in Betracht kommt. Das ist – ebenso – Parteiverrat wie gleichzeitige Mandatsführung für Nebentäter oder Beschuldigte und „Opferzeugen“3. Es gibt nun allerdings auch Fälle, in denen die Parteien den Interessen- 87 gegensatz dadurch ausschalten können, dass sie das Mandat in einer be1 Dazu i.E. Dahs in MüKo, § 356 StGB Rz. 43 ff. 2 Vgl. OLG Zweibrücken v. 27.5.1994 – 1 Ss 12/94, NStZ 1995, 35; dazu Dahs, NStZ 1995, 16; interessant auch OLG Karlsruhe v. 11.4.1997 – 2 Ss 259/96, wistra 1997, 315. 3 OLG Zweibrücken v. 27.5.1994 – 1 Ss 12/94, NStZ 1995, 36.
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stimmten Weise „ausrichten“. In Strafsachen ist dies u.a. wegen der Maxime der Sachaufklärung von Amts wegen (§§ 160, 244 Abs. 2 StPO) schwierig1. Wenn zu Beginn eines größeren Ermittlungsverfahrens ein Anwalt den Auftrag einer Unternehmensleitung übernimmt, Betriebsangehörige in ihrer Eigenschaft als Beschuldigte hinsichtlich der formellen Seite möglicher Vernehmungen zu informieren (Aussageverweigerung, schriftliche Einlassung u.a.), so kann dies unbedenklich sein, wenn der Verteidiger bei diesen Belehrungen es absolut vermeidet, sachliche Einzelfragen zu besprechen, und wenn er außer Zweifel stellt, dass er nicht Verteidiger des einzelnen ist. Der Verteidiger ist dann nicht gehindert, im weiteren Verfahren einen der vorher beratenen Betroffenen zu verteidigen, weil die gegensätzlichen Elemente des Sachverhalts durch Beschränkung des ersten Auftrages ausgeschaltet waren. Kritisch ist die Situation dann, wenn zwei Mandate übernommen und geführt werden, zwischen denen eine Interessenkollision auftreten könnte, tatsächlich jedoch (noch) nicht besteht. Diese in der Sache zwar angelegte (latente) Interessenkollision, die aber nicht unbedingt aufbrechen muss, kann durch eine entsprechend ausgerichtete Verteidigung – wenn dies im Einverständnis aller geschieht – kupiert werden. Der Verteidiger geht hier aber einen gefährlichen Weg, wenn es mehr oder weniger vom Zufall abhängig ist, ob der Interessenkonflikt im Laufe des Verfahrens aufbricht oder nicht und ob er dies rechtzeitig bemerkt und mit der Niederlegung beider Mandate reagieren kann. Nicht verboten ist die Vertretung entgegengesetzter Interessen in der „gleichen“ Rechtssache, sofern es sich nicht um „dieselbe“ Rechtssache handelt. Verteidigt der Anwalt im ersten Verfahren den Autofahrer A gegen den Vorwurf schuldhafter Trunkenheit im Straßenverkehr mit der Begründung, dieser habe um die atypische Wirkung des Alkoholkonsums im Zusammenhang mit einer bestimmten Erkrankung nicht gewusst, und vertritt er später in einem anderen Strafverfahren einen Nebenkläger B gegen denselben Angeklagten A mit der Begründung, A habe seine Erkrankung und ihre Bedeutung bei Alkoholkonsum gekannt, so fehlt es am gesetzlichen Tatbestand des § 356 StGB. Die Vertretung durch denselben Anwalt betrifft hier nicht „dieselbe Rechtssache“, weil der erste Fall mit dem zweiten Fall nicht in einem „einheitlichen Lebensverhältnis“ zusammengeschlossen ist. Es handelt sich vielmehr um verschiedene Vorfälle zwischen verschiedenen Personen zu verschiedenen Zeiten und ohne eine das Ganze zusammenfassende Klammer. Nur ein einzelner tatbestandlicher Umstand ist in beiden Fällen bedeutungsvoll, die Alkoholverträglichkeit eines Beteiligten. Dadurch entsteht in einem Punkt für den Anwalt eine Gleichheit der Lage, aber keinesfalls eine Identität der beiden Rechtssachen. Der Verteidiger handelt allerdings wegen seiner kompromittierenden Doppelzüngigkeit wohl berufswidrig (§ 43 BRAO).
1 Interessanter Fall: BGH v. 13.7.1982 – 1 StR 245/82, NStZ 1982, 465; vgl. ferner Dahs, NStZ 1991, 564 f.; Dahs in MüKo, § 356 StGB Rz. 53 ff.
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Es kann überhaupt recht geschmacklos – wenn auch nicht unbedingt berufsrechtswidrig oder gar strafbar – sein, gegen Personen aufzutreten, die man in einer anderen Sache vertritt oder vertreten hat, auch wenn es sich nicht um dieselben Streitpunkte handelt. In einer Strafsache führte ein Anwalt eine Verteidigung, die ihn zu schärfsten Angriffen und Beweisanträgen gegen einen Zeugen nötigte. Diesen Zeugen vertrat er gleichzeitig in einer anderen Strafsache. Die beiden Fälle standen in keinem Zusammenhang. Der Vorsitzende beanstandete die Doppelvertretung als „Interessenkollision“. Eine solche war im technischen Sinne nicht gegeben, weil es am Begriff „derselben Rechtssache“ fehlte. Dem Verteidiger war gleichwohl die Niederlegung der Verteidigung zu empfehlen, obwohl sein Mandant mit der zweiten Verteidigung einverstanden gewesen war. Das konnte am äußeren Bild des auf zwei Schultern tragenden Anwalts nichts ändern. Die Verteidigung eines Beschuldigten im Strafverfahren kann mit der 88 Vertretung im zivilrechtlichen Schadensersatzprozess kollidieren, wenn der Anwalt dort sowohl den Beschuldigten wie dessen Haftpflichtversicherung als gemeinsame Beklagte vertritt. Er kann als Verteidiger Tatsachen erfahren haben, deren Bekanntgabe an die Versicherung zur Entziehung des Versicherungsschutzes führen könnte1. Kein Problem ist heute mehr der Aktenauszug für Versicherungsgesell- 89 schaften. Die Haftpflichtversicherung eines Unfallbeteiligten bittet den Verteidiger eines anderen Beteiligten um Überlassung eines vom Verteidiger beschafften Aktenauszuges aus den Strafakten gegen die übliche Pauschalgebühr bzw. Erstattung der Kopierkosten. Noch häufiger wird dieses Verlangen an den Anwalt des Nebenklägers und Geschädigten gerichtet. Die Aushändigung des Auszuges soll in diesen Fällen der beschleunigten Regelung des Schadens dienen und liegt daher vor allem im Interesse der vom Anwalt vertretenen (und ggf. beweispflichtigen) Partei. Es ist aber zu beachten, dass an sich der Anwalt mit Annahme und Ausführung des Auftrages gegen Entgelt dem Gegner in derselben Rechtssache dient, in der er den anderen vertritt. Zudem kann der Aktenauszug auch Umstände ergeben, die dem Mandanten ungünstig sind. Andererseits wird die Versicherung den Aktenauszug auch auf anderem Wege erhalten und bis dahin zur Schadensregelung nicht bereit sein. Gegen den Vorwurf einer Interessenkollision spricht auch, dass der Auftrag der Versicherung an den Anwalt auf den Aktenauszug beschränkt ist und dass in diesem Bereich die Interessen der Beteiligten sich decken. Auch kann man sagen, dass die Aushändigung des Aktenauszuges zur Vertretung des Mandanten gehöre. Dann ist aber auch die Annahme der üblichen (sehr geringen) Pauschalgebühr für die Fertigung des Aktenauszuges hinnehmbar. Sonst würden die Versicherungsgesellschaften die Nutznießer der berufsrechtlichen Gebundenheit des Anwalts, indem sie den Aktenauszug letztlich unentgeltlich bekämen – sicher kein wünschenswertes 1 Gerhardt, NJW 1970, 313.
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Ergebnis. Die Zustimmung des Klienten sollte freilich herbeigeführt werden. 90
Die Betroffenen berufen sich häufig auf ihre Gutgläubigkeit und einen entschuldbaren Verbotsirrtum. Damit werden sie in den meisten Fällen keinen Erfolg haben. Die Irrtumsfragen bei § 356 StGB sind sehr komplex und schwierig1. Es besteht eine gewisse Neigung, eine strafausschließende Entschuldbarkeit grundsätzlich nicht anzuerkennen mit der Begründung, dass der Rechtsanwalt „seinen“ Paragraphen am besten kennen müsse2. Das kann anders sein, wenn ein zu Rate gezogener erfahrener Kollege3 oder der Vorstand der Rechtsanwaltskammer die Strafbarkeit auf Anfrage verneint hatte4 oder wenn der Betroffene zu einer Rechtsansicht aufgrund sorgfältiger eigener Prüfung gelangt ist5 (und dies dokumentiert hat). Dem Verteidiger ist deshalb dringend zu empfehlen, im Zweifelsfalle ein qualifiziertes Zweit-Votum einzuholen. Das hilft ihm allerdings nur, wenn er alle wesentlichen Umstände genau bekanntgibt. Die in § 356 StGB angedrohte Mindeststrafe von drei Monaten Freiheitsstrafe sollte Warnung genug sein!
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Zwar ist der „böse Anschein“ der Vertretung widerstreitender Interessen heute kein Berufsvergehen mehr. Der Verteidiger sollte aber bedenken, dass schon der Verdacht einer Straftat (§ 356 StGB) oder eines Berufsvergehens (§ 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 Abs. 1 BORA) ein Ermittlungsverfahren mit all seinen negativen Konsequenzen und Belastungen auslösen kann. In jedem Falle leidet sein guter Ruf, vor allem bei der Strafjustiz, erheblich. Deshalb kann nur dringend dazu geraten werden, schon bei dem leisesten Zweifel das Mandat aufzugeben. 7. „Werbung“ Literatur: Bardenz, Anwaltliches Werberecht – Eine Übersicht möglicher Werbemittel, MDR 2001, 247; Bardenz, Anwaltliches Werberecht – Aktuelles zu den berufs- und wettbewerbsrechtlichen Grenzen, MDR 2001, 1409; Danko/Donsbach/ Sreglich, Anwaltswerbung aus der Sicht deutscher Anwälte – Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage unter DAV-Mitgliedern, NJW 2004, 18; Deppert, Die Rechtsprechung des Senats für Anwaltssachen des Bundesgerichtshofs im Jahre 2002, BRAK-Mitt. 2003, 42; Feuerich/Weyland, BRAO, Kommentar, 8. Aufl. 2012, § 43b; Hillmann-Stadtfeld, Aktuelle Rechtsprechung zur Zulässigkeit anwaltlicher Werbemaßnahmen, AnwBl. 2002, 271; Hoß, Berufs- und wettbewerbsrechtliche Grenzen der Anwaltswerbung im Internet, AnwBl. 2002, 377; Lehr, Der Ver1 BGH v. 4.4.2013 – 3 StR 521/12, StV 2014, 13 m. Anm. Dahs; Dahs in MüKo, § 356 StGB Rz. 63 ff. 2 BGH v. 24.3.1955 – 4 StR 381/54, BGHSt. 7, 261 (263); BGH v. 16.11.1962 – 4 StR 344/62, BGHSt. 18, 192 (195). 3 BGH v. 16.11.1962 – 4 StR 344/62, BGHSt. 18, 192 (197); BGH v. 24.6.1960 – 2 StR 621/59, BGHSt. 15, 332 (341). 4 BGH v. 16.11.1962 – 4 StR 344/62, BGHSt. 18, 192 (197); BGH v. 4.2.1954 – 4 StR 724/53, BGHSt. 5, 301 (307); Dahs, NStZ 1991, 565 f. 5 BGH v. 24.6.1960 – 2 StR 621/59, BGHSt. 15, 332 (341); BGH v. 16.11.1962 – 4 StR 344/62, BGHSt. 18, 192 (197).
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dacht – eine besondere Herausforderung an den Ausgleich zwischen Persönlichkeitsschutz und freier Berichterstattung, AfP 2013, 7; Pohlmann, Die Beschränkung anwaltlicher Werbung in Berufs- und Wettbewerbsrecht, Diss. 2002; Salditt, Strafverteidiger und öffentliche Meinung, AnwBl. 1999, 445; Schneider, Standesund wettbewerbsrechtliche Grenzen der Internet-Präsentation von Anwälten, MDR 2000, 133; Graf von Westphalen, Einige Bemerkungen zu Akquisitionserfolgen und Manieren, AnwBl. 2005, 306 (309 ff.).
Machen wir uns nichts vor: Der Strafverteidiger lebt von seinem Be- 92 kanntheitsgrad. Die besten Leistungen nutzen nichts, wenn sie nicht (auch) an das Ohr rechtsuchender Klienten dringen. Auf die „Mundpropaganda“ zufriedener Mandanten kann er sich nicht verlassen: Wer wird schon gerne darüber reden, dass er in ein Strafverfahren verwickelt war? Deshalb ist es nicht unwillkommen, dass Strafsachen sehr oft für die Medien das „Salz in der Suppe“ ihrer Arbeit sind. Denn gleichgültig, ob Zeitung oder Fernsehsender – die Hoffnung auf ein großes Publikumsinteresse an interessanten Strafsachen ist erheblich. Versprechen sich diese doch davon eine höhere Auflage oder höhere Einschaltquoten. Für den Verteidiger bietet der Strafprozess die Chance, durch sein Auftreten und durch die Art und Weise seiner Strategie Werbung für sich und seine Kanzlei zu machen – sogar so, dass es nicht einmal wie Werbung aussieht. Das richtige Medienecho kann auch für den Mandanten von Vorteil sein! Das mag ausgesprochen attraktiv klingen, ist aber auch extrem gefährlich. Denn die Öffentlichkeit, besonders aber auch die Veröffentlicher – Redakteure und Reporter – haben ein hohes Interesse an effektvollen Auftritten – möglichst aller Verfahrensbeteiligten –, vor allem aber eine nahezu unstillbare Gier nach exklusiven und vertraulichen Informationen „aus erster Hand“ – also aus der des Beschuldigten oder dessen Anwalt. Näher dran geht es schließlich nicht. Es gibt Journalisten, die mit unverhohlener Dreistigkeit zum Ausdruck bringen, der Verteidiger könne doch durch Lieferung von Exklusiv-Informationen die einmalige und riesige Chance bei diesem besonders spektakulären Fall dazu nutzen, den Bekanntheitsgrad seiner Person und Kanzlei in schwindelerregende Höhen zu treiben. Für solche Journalisten sind gerade Strafprozesse außerordentlich spektakulär und die Chancen erscheinen ihnen einmalig. Diese angebliche Chance nutzen Verteidiger erstaunlicherweise immer wieder – oder versuchen es zumindest. Nicht ahnend, dass die Chance tatsächlich einmalig gewesen sein könnte. Denn garantiert wird der nächste Versuch des „Informationsaufsaugens“ kommen. Verweigert der Verteidiger dann die Exklusiv-Informationen, wird er mit Sicherheit gnadenlos „niedergemacht“. Und vorbei ist es mit der Chance auf Gewinn und Ruhm! Deshalb wundert man sich schon sehr, mit welcher Unbedarftheit nicht selten über Anklage, Verfahrensstrategie, Richter, Klienten und Zeugen in aller Medien-Öffentlichkeit locker geplaudert wird. Ein Kaffeeklatsch unter alten Freundinnen oder Freunden ist nichts dagegen! Mir ist stets das Wort eines Strafkammervorsitzenden im Ohr, der einen notorisch publicity-orientierten Verteidi59
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ger kurz und knackig, aber durchaus in höflichem Ton, beschied: „Herr Rechtsanwalt, eigentlichen brauchen Sie hier in der Verhandlung gar nichts mehr zu sagen, denn Ihre Argumente kennen wir doch schon alle – aus dem Nachrichtenmagazin soundso.“ Solche angeblichen „Win-winAngebote“ von Journalisten kann man getrost ablehnen. Schaden- und kostenfrei. Und man sollte sie auch ablehnen! 93
Die beste Werbung ist eben doch die eigene Leistung. Nur sie verschafft dem Anwalt Achtung und Beachtung, Ansehen und Bekanntheit – und damit ganz „automatisch“ auch Klienten. Seriosität in Auftreten und Argumentation sind eine behutsame und unaufdringliche Werbung, für Anwälte weit wirksamer als die reißerische Reklame nach Art eines Teppichhändlers im Basar. Auch das anwaltliche Berufsrecht verbietet die reklamehafte, d.h. kaufmännisch-anreißerische Werbung (vgl. § 43b BRAO, §§ 6, 7 BORA). Die Möglichkeit, die Bezeichnung Fachanwalt für Strafrecht (§ 43c BRAO) zu erwerben und auf Briefbögen, in Praxisbroschüren Hinweise auf Interessen- und Tätigkeitsschwerpunkte zu geben (§ 7 BORA), sollte ausreichen, um im Einklang mit dem Berufsrecht auf besondere Qualifikationen aufmerksam zu machen. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Der Kontakt zu und der Umgang mit Medienvertretern ist Verteidigern weder berufsrechtlich untersagt noch rate ich grundsätzlich davon ab. Wenn die Justizbehörden – mit den Staatsanwaltschaften in solchen Fällen fast immer in der ersten Reihe – durch Mediensprecher, Abteilungsleiter, Dezernenten oder sogar Behördenleiter Informationen an die Printpresse und Original-Töne an die elektronischen Medien vermitteln, ist ein inhaltliches Kontrastprogramm der Verteidigung nicht nur erlaubt, sondern oft auch dringend geboten – manchmal sogar unverzichtbar. Schließlich präsentieren sich die Ermittlungsbehörden nicht aus purer Neigung zu den Journalisten vor Mikrofon und Kamera. Sie wollen vielmehr den Stand der Sache aus ihrer Sicht darstellen. Das ist hinzunehmen, solange nicht die Sachlichkeit durch tendenziöse oder gar unzutreffende „Erkenntnisse“ auf der Strecke bleibt. Dann gilt es dagegenzuhalten – sachlich, deutlich, höflich, ohne das Interesse des Mandanten dabei aus den Augen zu verlieren. Der überzeugende Anwalt kommt auch ganz ohne Tiraden oder gar Tränen aus. Das ist dann Waffengleichheit – und die ist in einem Strafprozess zwischen Strafverfolgern und Verteidigern auch bei Medienkontakten überaus wichtig. Verlautbarungen von Gerichtssprechern vor der Hauptverhandlung sind fast ausnahmslos sachlich, neutral und so sorgfältig austariert, dass keiner der Beteiligten bevorzugt oder benachteiligt wird. Nach der Verhandlung kann das schon anders aussehen – muss es aber nicht. Kommt der Gerichtssprecher aber vom Pfad der absoluten Neutralität ab – was eher selten ist –, muss der Verteidiger mit überlegener Ruhe dagegenhalten. Der Hinweis, sich „nach sorgfältiger Prüfung“ des schriftlichen Urteils den Gang zum Revisionsgericht zu überlegen, ist immer erlaubt, unschädlich und durchaus professionell – mit dem schönen Nebeneffekt: 60
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Die Medien haben ein Zitat oder einen O-Ton. Damit wird jeder Beteiligte erst einmal zufrieden sein. Es gibt aber auch durchaus Fälle, in denen der Verteidiger aus eigenem Antrieb, weil es sein Auftrag gebietet, an die Medien herantritt. Es kann für den Mandanten von erheblichem Vorteil sein, dass der Verteidiger mit seinen Auskünften nicht erst hinter etwa wortgewaltigen Ausführungen der Ermittlungsbehörden her hechelt. Diese Fälle sind aber eher selten und besonders sorgfältig abzuwägen. Sachlichkeit im gesamten Habitus und vor allem in der Wortwahl ist dabei die beste Zutat. Der Grundsatz, möglichst alle gleich zu behandeln, ist für Behörden gesetzlich vorgegeben, für Anwälte sollte es ein guter Brauch sein – allemal in spektakulären Fällen. Nur einen kleinen Kreis von gutwilligen, persönlich bekannten oder Journalisten mit hoher Quote oder Auflage im Rücken zu informieren, kann allerdings die gute Absicht zunichte machen. Das beste Stilmittel für extreme Situationen ist die Pressekonferenz. Wenn der Anwalt sich tatsächlich dazu durchgerungen hat, offensiv auf die Medien zuzugehen, ist das die beste Gelegenheit, die eigene Botschaft einem möglichst großen Kreis – zeitgleich – nahezubringen – ein hohes Gut für Medienvertreter aller Couleur. Eine solche Pressekonferenz sollte aber unbedingt in schlichtem Rahmen abgehalten werden, z.B. im Besprechungsraum der Kanzlei. Ist dieser ungeeignet, kann man in ein Tagungshotel ausweichen, nicht aber in ein Fünf-Sterne-Hotel. Aufwendiges Buffet, Edelgrappa oder Champagner sind dabei absolut tabu! Es versteht sich von selbst, dass der Verteidiger sich nie in das „Schussfeld“ von Fotoreportern und Kameraleuten hineindrängen sollte. Er braucht sich allerdings vor ihnen auch nicht zu verstecken. Angesichts der zunehmend beherrschenden Rolle der abbildenden Medien im oder vor dem Gerichtssaal oder dem Gerichtsgebäude wären solche Versuche eher krampfhaft und seiner Stellung unwürdig. Der Presse auf Wunsch ein Foto zur Verfügung zu stellen, ist besser als die Alternative eines etwa vorhandenen Archivbildes, das einem Fahndungsfoto ähnlich ist. Berufsrechtlich wird inzwischen sehr viel konzediert. Schwierig wird es, wenn Medien von dem Verteidiger ein Film- oder Bild-Interview wünschen und ihn in anreißerischer Pose, z.B. vor dem Gericht oder der JVA – natürlich in Robe – gleich serienweise „schießen“ wollen. Das könnte auch berufsrechtlich bedenklich sein. Allerdings soll die bloße Überlassung von Anwaltsfotos für einen anpreisenden Pressebericht keine berufswidrige Werbung sein1. Sogar die Angabe von Erfolgs- und Umsatzzahlen wird heute toleriert2. Schriftstellerische3 und Vortragstätigkeit ist als solche keine verbotene Praxiswerbung, ebenso wenig die Teilnahme an einer Fernsehsendung über fachliche, berufspolitische oder rechtspolitische Fragen. Dabei sollte die reißerische Herausstellung des Berufes auf jeden Fall unterbleiben – 1 BVerfG v. 29.11.1999 – 1 BvR 2284/98, EWiR 2000, 77 m. Anm. Huff. 2 OLG Nürnberg v. 22.6.2004 – 3 U 334/04, BRAK-Mitt. 2004, 184. 3 BGH v. 12.5.1975 – AnwSt (R) 10/74, BGHSt. 26, 131.
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was zwar häufig „nur“ Geschmacksache sein mag, aber ggf. auch das Berufsrecht (§ 43 S. 2 BRAO) tangieren könnte. (Vgl. i.Ü. Rz. 117.) Der Verteidiger darf sich auch nicht an potenzielle Auftraggeber mit dem Ziel der Akquisition von Mandaten „heranmachen“1. Wenn er beispielsweise bei Akteneinsicht für eine Versicherung Namen von Beschuldigten oder anderen potenziellen Auftraggebern erfährt, darf er mit diesen keine Verbindung aufnehmen. Wenn ihm eine Verteidigung angetragen wird, die er zugunsten eines anderen Beteiligten lieber ablehnen möchte, darf er diesen nur ausnahmsweise – z.B. wenn es sich um einen „Dauermandanten“ handelt – darüber informieren (Rz. 138). In dem Sonderfall einer Beauftragung durch die Presse ist besondere Vorsicht geboten (Rz. 142). Auch die Teilnahme an einer Talkshow im Fernsehen über fachlich, berufspolitische oder grundsätzliche rechtspolitische Fragen ist erlaubt. Der Verteidiger muss aber beachten, dass eine Talkshow ihre eigenen Gesetze und Spielregeln hat – die man sehr gut kennen sollte, bevor man sich ins Visier von vier bis fünf Kameras begibt. Im Übrigen sind Gelassenheit und Sachlichkeit in Auftreten und Argumentation auch insoweit die wichtigsten Grundsätze. 94
Allzu intensive Kontakte mit Medien bergen stets die Gefahr des „bösen Anscheins“ der Werbung um jeden Preis in sich. Dieser böse Anschein wird zwar heute berufsrechtlich nicht mehr sanktioniert, ist aber behaftet mit Risiken und Nebenwirkungen, die nicht so schnell wieder einzufangen sind. So besteht die nicht geringe Gefahr, dass in sehr vertrauten Gesprächen die Selbstkontrolle nachlässt und Dinge ausgeplaudert werden, die besser der Schweigepflicht unterliegen sollten. Auch die mit ihr zusammenhängende und besonders wichtige Schutzfunktion für den Klienten könnte Schaden nehmen. Hintergrundinformationen, also Details, die auf keinen Fall zur Berichterstattung bestimmt sind, von dieser regelrecht ausgeschlossen sein müssen, darf der Verteidiger nur mit der ausdrücklichen Zustimmung seines Mandanten dem Journalisten anvertrauen. Von Vorteil ist, wenn der Anwalt den Journalisten gut kennt, ihn für vertrauenswürdig hält und absolut sicher ist, dass er Hintergrundinformationen auch ausnahmslos als solche behandelt. Hat er daran auch nur den geringsten Zweifel – gibt es keine Hintergrundgespräche. Ohnehin sollte er sich darauf nur dann einlassen, wenn die sachgerechte Vertretung der Interessen des Klienten dies erfordert oder wenigstens gestattet.
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Mandate aus der JVA (Rz. 128, 135) konzentrieren sich nach übereinstimmenden Erfahrungen verbreitet auf bestimmte Verteidiger. Das kann auf durchaus legaler Grundlage beruhen. Im Milieu der Haftanstalt kann sich aber der Verteidiger auch mit anderen Mitteln beliebt machen. Zigaretten und sonstige Aufmerksamkeiten erzeugen bei dem Anstaltspersonal leicht eine günstige Stimmung, die sich mit Empfehlungen oder 1 Vgl. z.B. OLG München v. 12.1.2012 – 6 U 813/11, BRAK-Mitt. 2012, 134.
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Mandatsvermittlungen bezahlt machen kann. Ähnlich wirkt es, wenn der Verteidiger seine Klientel mit solchen Dingen, etwa mit Geld, Tabakwaren oder Schlimmerem verwöhnt, besonders aber, wenn er großzügig in der Vermittlung privater oder gar auf die Sache bezüglicher Nachrichten verfährt. Ich habe Kollegen erlebt, die bei jedem Besuch des Klienten in der JVA zunächst das „Füllhorn“ ihres Tascheninhalts – Zeitschriften, Zigaretten, Toilettensachen, Genussmittel – ausgossen, ehe man dann ein Sachgespräch versuchen konnte. In der Haftanstalt verbreitet sich erfahrungsgemäß der so entstandene Ruf des Verteidigers wie ein Lauffeuer. Dazu gehört auch der Missbrauch der für den Verteidiger unbeschränkten Besuchserlaubnis zu sachlich nicht gebotenen stundenlangen Unterhaltungen, die sich schließlich so herumsprechen, dass der betreffende Verteidiger zu einer Art von beliebtem „Hausanwalt“ der Haftanstalt wird, der ständig zur Verfügung steht. Alles das ist mit Würde und Berufspflichten des Verteidigers nicht zu vereinbaren. Zulässige Werbung ist heute auch mit einem soliden Internetauftritt 96 möglich und flächendeckend üblich. Er sollte aber auch professionell daherkommen. Webseiten, die Workshop-Atmosphäre vermitteln oder aussehen wie amtliche Bekanntmachungen des Katasteramtes, sind kontraproduktiv. Auch hier muss Seriosität Vorrang haben, ohne altbacken zu wirken. In aller Deutlichkeit: Ohne einen präsentablen Internetauftritt riskiert der Anwalt, in der „medialen Steinzeit“ verortet zu werden. Auf der persönlichen Homepage darf der Verteidiger seine Kanzlei mit ihrer Geschichte seit Gründung, das Team seiner Sozietät und seinen juristischen Werdegang darstellen. Besondere persönliche Qualifikationen wie die Fachanwaltschaft für Strafrecht, fachliche Spezialgebiete sowie die Beteiligung an wichtigen Strafprozessen und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen oder auch Publikationen aus seiner eigenen Feder darf er besonders herausstellen. Die Homepage sollte auch unbedingt ein aktuelles Porträt-Foto schmücken. Auch in die unter dem Titel „Kompetenz vor Ort“ o.ä. in Lokalzeitungen publizierten Listen von Rechtsanwälten, die sich unter dem Rubrum von Spezialgebieten als fachlich besonders qualifiziert apostrophieren, darf er sich aufnehmen lassen. Entsprechendes gilt für Nachschlagewerke, in denen Anwälte in ein fachspezifisches „Ranking“ eingeordnet werden. Tempora mutantur! Aber eigentlich ist auch diese Zeitenwende schon überholt. Das Geld der Kanzlei sollte man doch wohl besser für die Professionalisierung und laufende Aktualisierung des Internetauftritts aufwenden. Denn es ist einigermaßen wahrscheinlich, dass sich die angestrebte Klientel bei der Mandatsvergabe eher an nachvollziehbaren Fakten als an nichtssagenden Selbstdarstellungen orientiert1.
1 Lesenswert: „Prekariat im Anwaltsstand“, Jahn, FAZ v. 3.3.2012, S. 13.
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V. Verteidiger und Medien-Öffentlichkeit Literatur: Böttcher, Zur Instrumentalisierung des Ermittlungsverfahrens im politischen Meinungskampf, GS Schlüchter (2002), S. 435; Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, 1980; BRAK-Schriftenreihe, Bd. 13, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 2004, S. 115 ff.; Bundesregierung, Bericht zur Vorverurteilung durch die Medien, BT-Drucks. 10/4608; Dahs, Der Bürger im Strafverfahren: Zwischen Vorverurteilung und Persönlichkeitsschutz, Osnabrücker Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 27 (1991), S. 367; Dalbkermeyer, Der Schutz des Beschuldigten vor identifizierenden und tendenziösen Pressemitteilungen der Ermittlungsbehörden, 1994; Gatzweiler, Verteidigung und Medienkontakte, StraFo 1995, 64; Hassemer, Vorverurteilung durch die Medien, NJW 1985, 1921; Jahn, Der Einfluss der Medien auf das Strafverfahren, 1990, S. 5; Kindhäuser, Zur möglichen Beeinträchtigung von Strafverfahren durch Medien, FS Wolter (2013), S. 979; Kleikamp, Kleines Handbuch der Krisenkommunikation, Köln, 2012; Krekeler, Maßnahmen zur Verhinderung der Entstehung und der Einwirkung „öffentlicher Vorverurteilungen“ auf das Strafverfahren, AnwBl. 1985, 426; Lehr, Bildberichterstattung der Medien über Strafverfahren, NStZ 2001, 63; Lehr, Der Verdacht – eine besondere Herausforderung an den Ausgleich zwischen Persönlichkeitsschutz und freier Berichterstattung, AfP 2013, 7; Lehr, Strafverteidigung und Medien, in Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2. Aufl. 2014, § 21 Quaas, Verschwiegenheitspflicht und anwaltliche Selbstdarstellung, BRAK-Mitt. 2013, 258; Roxin, Strafrechtliche und strafprozessuale Probleme der Vorverurteilung, NStZ 1991, 153; Rückert, Der Gerichtsreporter – Chronist oder Wächter?, StV 2012, 378; Salditt, Strafverteidiger und öffentliche Meinung, AnwBl. 1999, 445; Schaefer, Vorverurteilung, NJW 1996, 496; Schroers, Versteckte Probleme bei der Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaften und Medien, NJW 1996, 969; Ulsamer, Einige Bemerkungen über Medien und Strafprozess, FS Jauch (1991), S. 221; Wagner, Strafprozessführung über Medien, 1987; Weiler, Medienwirkung auf das Strafverfahren, ZRP 1995, 130; Widmaier, Gerechtigkeit – Aufgabe von Justiz und Medien, NJW 2004, 399; Zipf, Gutachten zum 54. DJT 1982; Zuck, Medien und Justiz, DRiZ 1997, 23.
1. Öffentlichkeit in Strafprozessen Vgl. auch Rz. 99 ff. 97
Der Begriff der Öffentlichkeit, wie ihn die Verfahrensordnung in § 169 S. 1 GVG kennt, ist vor allem in Strafsachen seit Langem über die bloße Zugänglichkeit des Verhandlungsraumes für jedermann hinausgewachsen. Wer heute in diesem Zusammenhang von Öffentlichkeit spricht, meint nur zuletzt den Zuhörer im Verhandlungssaal, sondern versteht darunter vielmehr die unbestimmte Vielzahl von Personen, die mit Hilfe der Medien am Geschehen eines Strafprozesses oder eines strafprozessähnlichen Verfahrens – zuweilen auch eines Zivilprozesses – teilnehmen. So entsteht eine „elektronische Öffentlichkeit“. Zwar sind unmittelbare Rundfunk- und Fernsehübertragungen aus dem Gerichtssaal während der Verhandlung – anders als Bildaufnahmen, für die allgemeinere Vorschriften gelten1 – nach § 169 S. 2 GVG nach wie vor unzulässig. Es hat sich aber eingebürgert, dass Vorsitzende und Verhandlungsleiter das Fotogra1 Dazu Lehr, NStZ 2001, 63 (64 f.).
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fieren, das Filmen und Fernsehaufnahmen vor und nach der Hauptverhandlung, in den Pausen und auch nach Eintritt des Gerichts in den Saal über einen mehr oder weniger langen Zeitraum bis zur förmlichen Eröffnung der Verhandlung zulassen, was von den Medien intensiv genutzt wird. Sogar Erklärungen des Staatsanwalts, des Vorsitzenden, auch von Verteidigern und ihren Mandanten „am Rande“ der Hauptverhandlung vor laufenden Kameras sind keine Seltenheit. Dazu kann es besonders dann kommen, wenn der Strafkammervorsitzende zugleich Pressesprecher des Gerichts ist – und im „Eifer des Gefechts“ vergisst, welchen „Hut er gerade aufhat“. Der Verteidiger hat in solchen Fällen kaum eine andere Wahl als auch seine Sicht der Dinge den Medien zu Gehör zu bringen, um der Gefahr einseitiger Berichterstattung oder Missverständnissen im Interesse des Mandanten zu begegnen. In Verfahren vor parlamentarischen Untersuchungsausschüssen des Bun- 98 des und der Länder (dazu E II., Rz. 1173), die der „sinngemäßen Anwendung der Vorschriften über den Strafprozess“ (Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG) verpflichtet sind, geben Abgeordnete zuweilen sogar während noch andauernder Vernehmung von Zeugen in der Beweisaufnahme vor dem Sitzungssaal Informationen über Aussagen an Presse, Funk und Fernsehen, wobei sie ihre eigene oder die Beweiswürdigung ihrer Fraktion gleich einbeziehen1. Diese Entwicklungen sind auch deshalb bedenklich, weil Verlautbarungen der skizzierten Art quasi binnen kürzester Zeit im Internet bzw. den Online-Ausgaben der großen Magazine oder der Boulevard-Zeitungen – oft mit einschlägigen Fotos – nachgesehen werden können. Es besteht die große Gefahr, dass die fachliche und sachliche Information im medialen Geschwindigkeitsrausch auf der Strecke bleibt. Der Rechtsgrundsatz des § 169 S. 1 GVG wird dadurch zunehmend ausgehöhlt. Der Verteidiger muss diese Überlegungen in seine Verteidigungsstrategie einbeziehen, d.h. den Wunsch der Medienvertreter nach Informationen über ein bestimmtes Verfahren nicht schlechterdings ignorieren. Denn auch er selbst braucht im Einzelfall die Medien, um sich an die Öffentlichkeit wenden zu können und z.B. Presseerklärungen der Staatsanwaltschaft, des Gerichtssprechers und anderer Verfahrensbeteiligter im Interesse des Mandanten entgegenzutreten, dessen Standpunkt zur Geltung zu bringen oder bestimmte Prozessvorgänge zu kommentieren. In dieser Weise berühren und überschneiden sich die Belange des Verteidigers und seiner Mandanten mit dem Interesse der Öffentlichkeit an allgemeiner wie an spezieller Unterrichtung aus Anlass eines einzelnen Verfahrens. Dem Verteidiger wird deshalb viel an Fingerspitzengefühl, Verantwortung und Professionalität abverlangt. Die Massenmedien sind häufig auf Befriedigung des Wissensdranges des Publikums und oft auch der Sensationsgier der Menge und damit weniger auf den objektiven und rechtserheblichen Kern ihrer Informationen ausgerichtet. Sachverhalte 1 Vgl. dazu i.E. Dahs in FS Rudolphi, S. 597 (607 f.).
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werden dabei häufig verzerrt. Ihrer Beurteilung in der Abschlussentscheidung wird in unerwünschter Weise durch die Medien vorgegriffen. Hinzu kommt die Beeinflussung von Zeugen und anderen Verfahrensbeteiligten durch Massensuggestion über die sozialen Medien wie Facebook oder Twitter sowie die bedenklichen „Vor- oder Parallelermittlungen“ der Medien (Rz. 607), die zuweilen ein Interesse daran haben, die Öffentlichkeit in einem bestimmten Sinne zu beeinflussen. Der Verteidiger sollte sich von allem fernhalten, was sich auch auf die indirekte Beeinflussung der Öffentlichkeit – und damit der Justiz – durch von ihm gegründete oder geförderte „Unterstützungskomitees“, „Solidaritätsinitiativen“ u.Ä. (= „pressure groups“) bezieht. Dass solche Aktivitäten für den Mandanten Vorteile im Verfahren bringen, kann wohl mit Sicherheit ausgeschlossen werden. 2. Verteidiger und Medien Beachte dazu auch den Abschnitt „Werbung“, Rz. 92 ff. sowie Rz. 97. a) Informationen 99
Üblicherweise kommt der Kontakt zwischen Medien und Verteidiger dann zustande, wenn dieser von ihnen um Informationen gebeten wird oder der Verteidiger diese selbst anbietet (vgl. Rz. 102 f.). Beides ist legitim, sofern der Verteidiger dabei in den gebotenen Grenzen bleibt. Diese werden vor allem durch das Gebot der Sachlichkeit und das Verbot anreißerischer Selbstreklame (§ 6 BORA) gezogen. Aber auch die Beeinflussung eines schwebenden Verfahrens ist zu vermeiden. Der Verteidiger muss dafür sorgen, dass in der Öffentlichkeit kein falsches Bild entsteht, z.B. bei der in Medien besonders beliebten „Verdachtsberichterstattung“1. Dabei sollte er allerdings den Eindruck vermeiden, als solle durch mehr oder weniger gezielte Informationen an die Öffentlichkeit auf Berufs- oder Laienrichter eingewirkt werden; diese reagieren darauf sehr empfindlich. Die berufsgerichtliche Rechtsprechung ist in früherer Zeit in diesem Bereich sehr streng gewesen; mit veränderter Medienlandschaft sind einschlägige Urteile indes selten geworden. Die Grenze bilden jedenfalls die Bestimmungen des allgemeinen Strafrechts, vor allem der merkwürdigerweise recht unbekannte § 353d (insbesondere Nr. 3) sowie §§ 203 Abs. 1 Nr. 3, 204, 185 ff., 240, 22, 241 StGB. Schon zur Vermeidung von Strafbarkeitsrisiken empfiehlt sich eine zurückhaltende „Öffentlichkeitsarbeit“. Es ist vorgekommen, dass ein Angeklagter den Gang der Hauptverhandlung laufend – in seiner Sichtweise – in das Internet gestellt hat. Dann ist es mehr als eine Stilfrage, ob der Verteidiger sich daran aktiv oder passiv beteiligt und diese besondere Art der Publi1 Dazu ausführl. Lehr, Der Verdacht – eine besondere Herausforderung an den Ausgleich zwischen Persönlichkeitsschutz und freier Berichterstattung, AfP 2013, 7.
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kation einschließlich seiner Anträge, Schriftsätze und Prozesserklärungen duldet. „Grenzwertig“ dürfte auch die tägliche Bewertung der Hauptverhandlung gegenüber den Medien in einem sog. Sensationsprozess sein. Auf der anderen Seite sind aber die sog. Boulevardpresse und die „elek- 100 tronischen“ Medien für die Rechtsfindung, den Mandanten und den Verteidiger eine große Gefahr. Sie sind darauf aus, die Fälle hochzuspielen. Dabei werden die Beteiligten rücksichtslos „zwischengenommen“. Die Sache kann bis zur Unkenntlichkeit entstellt oder durch geschicktes „Weglassen“ aufgeblasen werden. Auch die elektronischen Medien und die Online-Portale sind da sehr erfindungsreich. Der verderbliche Einfluss derartiger unseriöser Publikationen auf das Gericht, insbesondere auf die Laienrichter, aber auch auf Zeugen und sonstige Prozessbeteiligte, ist ebenso unabsehbar wie schwer einzuschätzen. Er kann den Rufmord an dem Beschuldigten bedeuten. Treffend wird vom „Vor-Urteil als ungebetenem Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft“ und von der „Halsgerichtsbarkeit“ der Medien vor der Hauptverhandlung gesprochen. Der Verteidiger muss sich jeder Mitwirkung hieran enthalten. Besonders hat er den Eindruck zu vermeiden, er wolle sich selbst herausstreichen. Er darf nicht einmal darauf hinwirken, dass sein Name in der Presse oder anderen Medien genannt wird. Erst recht darf er sich dieserhalb nicht anbiedern (Rz. 99). Die Anwälte kommen immer wieder mit der Entschuldigung, die Medien hätten die sachlich richtig erteilte Information falsch oder verzerrt wiedergegeben. Damit kann der Anwalt grundsätzlich nicht gehört werden. Er muss wissen, was Medien aus einer Sache zu „machen“ verstehen. Durch Auslassungen und Verstellungen, durch eingeschobene Überschriften und falsche Akzente kann ein Text entstehen, den man selbst nicht mehr wiedererkennt. So können selbst harmlos gegebene Erklärungen und objektiv geführte Gespräche mit den Medien zum verbalen K.o.Cocktail werden, umso mehr, als deren Vertreter es in aller Regel ablehnen, einen Text vor der Publikation zur Genehmigung vorzulegen und außerdem die „Aufmachung“ der Informationen nicht immer von den Reportern, sondern auch in den Redaktionen bewirkt wird. Die Situation ist also immer geladen. Der Umgang mit den Medien ist ebenso verführerisch wie gefährlich. Nur beim ersten Schritt ist man frei … Entlarvend ist auch der alte Spruch der Reporter: „Nichts verdirbt eine gute Story schneller als ein paar Tatsachen“. b) Medienkontakte als „flankierende Verteidigung“ Die Verteidigung im Verfahren und nicht in den Medien zu führen, ist 101 nicht nur ein Grundsatz, sondern er sollte zum „Grundgesetz“ jedes Verteidigers gehören. Es gibt aber besondere Konstellationen im Strafverfahren, bei denen es anzuraten ist, flankierend zur Verteidigung in der Sache professionellen Kontakt mit den Medien zu suchen. Das gilt vor allem in 67
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Fällen, in denen – gewollt oder ungewollt – (ständig) Informationen aus dem Bereich von Ermittlungsbehörden, Gerichten oder anderen Justiz-Institutionen den Weg in die Öffentlichkeit finden. Den sich daraus für die Tatsachen- und Rechtsfindung sowie die Persönlichkeit des Mandanten drohenden Gefahren einer einseitig-zielgerichteten Information gilt es rechtzeitig entgegenzuwirken oder sie sofort zu neutralisieren. Dies sollte nicht in erster Linie – aber auch – mit Hilfe des rechtlichen Instrumentariums (Rz. 105 ff.) geschehen, sondern durch nüchtern-sachliche, unpolemische Aufklärung seriöser, vertrauenswürdiger Medienrepräsentanten. Ob es immer optimal ist, dafür eine Medien-Agentur einzuschalten, mag dahinstehen. Die Erfahrungen der Praxis lehren, dass ein medienrechtlich versierter Anwalt mit guten Kontakten und Beziehungen zu den „richtigen“ Leuten durch entsprechende Aktivitäten neben dem Verteidiger mehr bewirken kann. Auch ein erfahrener Journalist, der die „Klaviatur“ möglichst aller Medien kennt, kann als „sidekick“ weitere Expertise liefern. Außer offenen, zur Außenwirkung gegebenen Erklärungen spielt dabei das „Hintergrundgespräch“, das seiner Natur nach vertraulich ist, eine wichtige Rolle. In diesem besonderen Rahmen sind auch Journalisten und andere Medienvertreter nicht selten bereit, das Ergebnis ihrer Nachforschungen offenzulegen und bestätigende, korrigierende oder klarstellende Informationen aufzugreifen und zu verwerten. Beiderseits als vertraulich vereinbarte Gespräche werden fast immer auch vertraulich behandelt – eine wirkliche „Win-win-Situation“, die dem Gewinn von Tiefenschärfe im Einzelfall dient. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse verschaffen dem Medienvertreter, der den Akteninhalt nicht kennt, bei der Verfahrensbeobachtung und gegenüber tendenziösen anderen Verlautbarungen einen überlegenen „Durchblick“ und eine objektiv-fundierte Berichterstattung – auch gegenüber einem nach außen vielleicht eher negativ gefärbten Verfahrensgang. Der Verteidiger und ggf. der ihn unterstützende Kollege müssen allerdings immer zwei elementare Bedingungen beachten: die Entbindung von der Schweigepflicht durch den Mandanten – und die Gewissheit von der Seriosität und Qualität des Gesprächspartners aus dem Bereich der Medien. Die flankierende Begleitung der Verteidigungsarbeit durch Medienkontakte der beschriebenen Art steht in ihrer Bedeutung zuweilen der Verteidigung in der Sache fast gleich! Man mag dies bedauern oder rechtsbedenklich finden – an der Realität und Bedeutung des Faktors „Medienberichterstattung“ für die Verteidigung des Mandanten ändert dies nichts. 102
Auch wenn optimale Möglichkeiten der skizzierten Art nicht bestehen, kann – und muss – der Medienaspekt der Verteidigung je nach Art und Lage des Falles stets mit ins Auge gefasst und zur Wahrung der Mandanteninteressen realisiert werden. So können in größeren Sachen mit Außenwirkung „Presseerklärungen“ oder sogar „Pressekonferenzen“ (ohne jeden „Pomp“) in Betracht kommen, um falschen Auffassungen und Vorurteilen zu begegnen. Durch unrichtige Pressemitteilungen kann die Öffentlichkeit zulasten des Beschuldigten irregeführt sein. Auch können Mitteilungen der Justizpressestelle oder der Staatsanwaltschaft durch 68
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Einseitigkeit dem Mandanten gefährlich sein1. Es kann dann für den Verteidiger geboten sein, Vertreter der Medien bis zum Boulevard-Blatt und der Nachrichtenagenturen zur Entgegennahme einer Information zusammenzurufen oder ihnen eine schriftliche Pressemitteilung – auch auf der Internet-Seite der Kanzlei – zu übermitteln2. Mit Recht weisen Mandanten darauf hin, dass die Unterlassung jeder Gegenerklärung im Publikum als Eingeständnis der Schuld gedeutet wird. Man kann daher in entsprechenden Fällen das Verlangen der Mandanten nicht einfach ablehnen. Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass jede Nennung des Namens des Mandanten – sei es durch die Justiz oder die Verteidigung – zu einer stärkeren öffentlichen Wahrnehmung führt. Kaum etwas ist für die Medien attraktiver als die Personalisierung von „guten Geschichten“. Zudem sollte das Verfahren nicht in der Presse ausgetragen werden, sondern gegenüber den zuständigen Justizstellen. Gericht und Staatsanwaltschaft sehen Presseerklärungen der Verteidigung nicht gern, was freilich Staatsanwaltschaften nicht immer hindert, gerade in bedeutenderen Strafverfahren die Anklageerhebung und andere Gelegenheiten zu effekthaschenden Auftritten vor den Medien zu nutzen – vorzugsweise an dem Tag, an dem der Verteidigung die Anklageschrift gerade erst zugestellt worden ist. Aktivitäten gegenüber den Medien gehören nicht selten zu den schwierigsten – weil besonders zweischneidigen – Aktionen der Verteidigung. Sie müssen daher in jedem Falle – auch in der Prognose auf das Gesamtverfahren und „die Zeit danach“ – sorgfältigst überlegt und abgewogen werden. Verbleiben Unsicherheiten und Zweifel, so wird mit weitgehender Zurückhaltung dem Interesse des Auftraggebers wohl besser gedient. Die grundsätzlich gebotene Zurückhaltung kann dem Mandanten dadurch nähergebracht werden, dass auf die Wahrscheinlichkeit von Gegenerklärungen der Staatsanwaltschaft auf die Erklärungen der Verteidigung hingewiesen wird. Solche Reaktionen liegen nicht im Interesse des Mandanten, dessen Fall auf diese Weise immer stärker und permanent in die Öffentlichkeit hineinwirkt. Der Anwalt selbst sollte keinesfalls an spektakulären oder reißerischen 103 Veröffentlichungen mitwirken, die mit der „Story“ des Mandanten auch den Verteidiger publikumswirksam herausstellen und den Eindruck des Haschens nach Reklame vermeiden. Hierher gehört auch die Verlesung beabsichtigter Beweisanträge oder Prozesserklärungen vor Kamera und Mikrophon. Der Kampf um das Recht gehört in den Gerichtssaal.
1 Vgl. zur Rechtswidrigkeit einer Presseerklärung der Staatsanwaltschaft: BVerwG v. 6.2.1991 – 3 B 85/90, StV 1992, 185; LG Düsseldorf v. 30.4.2013 – 2b O 182/02, NJW 2003, 2535. 2 Dazu: Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 58 (S. 87); Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 13, 2004, Thesen 71–73 (S. 115 ff.).
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Bei der Abwägung des Für und Wider einer Mitteilung an die Medien-Öffentlichkeit kann der Verteidiger auch auf andere Weise in Konflikte geraten. Die Medien geben sich besonders in Sensationsprozessen selten mit dem gebotenen Material zufrieden. Ein Teil lässt Verständnis und Rücksichtnahme auf Stellung und Aufgaben des Verteidigers vermissen. Lehnt der Verteidiger aus Gründen der Schweigepflicht eine Information ab, so sieht er sich gelegentlich der Drohung ausgesetzt, man werde das dem Anfragenden (angeblich) schon vorliegende „Verdachts“-Material mit dem Hinweis, die Verteidigung habe eine Äußerung abgelehnt, veröffentlichen. Enthält es falsche Beschuldigungen gegen seinen Auftraggeber oder falsche Darstellungen über Art und Stand des Verfahrens, dann steht der Verteidiger vor der Frage, ob er ggf. die Verschwiegenheitspflicht (Rz. 48 ff.) brechen und den Sachverhalt richtigstellen soll, um Schlimmeres zu verhüten. Manchmal genügt der nachdrückliche Hinweis, die der Presse vorliegende Information sei falsch und eine Publikation werde nicht hingenommen werden, um Journalisten vorsichtig werden zu lassen, manchmal sogar zur Besinnung zu bringen. c) Schutz des Mandanten Literatur: Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, 1980; Dahs, Empfiehlt es sich, die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Strafverfahrens neu zu gestalten?, Referat zum 54. DJT, 1982, Sitzungsbericht K; Lampe, Der Straftäter als „Person der Zeitgeschichte“, NJW 1973, 217 ff.; Lehr, Bildberichterstattung der Medien über Strafverfahren, NStZ 2001, 63; Lehr in Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2014, § 21; Lehr, Der Verdacht – eine besondere Herausforderung an den Ausgleich zwischen Persönlichkeitsschutz und freier Berichterstattung, AfP 2013, 7; Lehr, Pressefreiheit und Persönlichkeitsrechte – Ein Spannungsverhältnis für die Öffentlichkeitsarbeit der Justiz, NJW 2013, 728; Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung: Handbuch des Äußerungsrechts, 5. Aufl. 2003.
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Die geschilderten Nachteile von Medienberichten für den Beschuldigten rufen den Verteidiger in der Regel auf den Plan, weil er ständig von seinen Klienten um Abwehrmaßnahmen dringend gebeten wird. Das betrifft in besonderem Maße auch die Berichterstattung über Hauptverhandlungen und andere Untersuchungen, durch die der Betroffene sehr bloßgestellt werden kann. Viele Mandanten fürchten – zu Recht – den öffentlichen Pranger der Medien oft weit mehr als das ihnen evtl. drohende Urteil. Das ist allgemeines Erfahrungsgut aller Verteidiger.
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Auf ein „Stillhalteabkommen“ lassen sich die Medien in aller Regel nicht ein, zumal der Verteidiger kaum je in der Lage sein wird, einen lohnenden Informationen-Preis als Gegenleistung für den zeitweisen Verzicht auf Veröffentlichung anzubieten. Das kann anders sein, wenn der „Informations-Preis“ für den Journalisten exklusiv und in der Sache so lohnend ist, dass er sich später für seine Story nachhaltig auszahlt.
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Der Verteidiger hat in dieser Lage eine schwierige Beratungsaufgabe. Er 107 kann zwar eine Reihe von rechtlichen Möglichkeiten aufzählen, sie aber häufig nicht empfehlen. Die in den meisten Pressegesetzen vorgesehene Gegendarstellung ist eine einseitige Berichtigung ohne Beweiskraft, weil sie ohne Prüfung ihres Wahrheitsgehalts publiziert werden muss – was die Redaktionen auch gerne hinzufügen. Sie wird daher dem Strafverfolgten in der Regel nicht „abgenommen“. Immerhin mag sie manchmal ein einigermaßen wirksames Mittel sein. Ähnliche Bedenken können gegen Richtigstellungen durch den Verteidiger in der Presse bestehen. Es muss auch hier damit gerechnet werden, dass dasselbe Presseorgan die Sache wieder aufgreift und nun der Betroffene erst recht zum Gegenstand der Berichterstattung wird. Der Strafantrag wegen übler Nachrede u.a. (§§ 186, 185 pp. StGB) hat den 108 unbestreitbaren Effekt des schnellen Gegenschlags, wenn der Verteidiger ihn öffentlich bekannt gibt. Darin erschöpft sich aber praktisch seine Wirkung. Strafverfahren gegen die Presse oder andere Medien pflegen lange zu laufen und versanden schließlich. Zu einer Bestrafung eines Presseangehörigen kommt es nur sehr selten. Das liegt an dem extrem weitgehenden Schutz, den Art. 5 GG, § 193 StGB nach einer sich immer weiter zulasten des Betroffenen entwickelnden Rechtsprechung zur Meinungs- und Pressefreiheit gewähren1. Für den Verletzten unangenehm wirken sich auch die Möglichkeiten des Beschuldigten aus, für seine Behauptungen im Prozess den Wahrheitsbeweis anzutreten. Aber selbst wenn für einen Teil der Veröffentlichungen eine Bestrafung zu erzielen ist, muss sie teuer erkauft werden. Denn der Verletzte hat sich die öffentliche Ausbreitung des ganzen Stoffes in dem Beleidigungsverfahren durch drei Instanzen hindurch gefallen zu lassen. Er kann dabei nicht verhindern, dass auch die ihn belastenden Bestandteile des Falles zur Sprache kommen. Die Situation ist ähnlich wie die Situation eines Beleidigten im Privatklageverfahren (Rz. 1030 ff.) oder im Nebenklageverfahren (Rz. 1062). Im Übrigen hat der Verteidiger besonders darauf zu achten, dass die in der Regel sehr kurze Verjährungsfrist für Pressedelikte2 nicht überschritten wird. Nach den Erfahrungen der Praxis kann der „strafrechtliche Gegenschlag“, von Ausnahmefällen abgesehen, nicht empfohlen werden. Dagegen kann die professionelle Durchsetzung des rechtlichen Unterlas- 109 sungsanspruchs sinnvoll und wirksam sein3. Das gilt vor allem für die Berichterstattung, die bereits während des Ermittlungsverfahrens oder zu Beginn einer längeren Hauptverhandlung beginnt. Die für den Unterlassungsanspruch wesentliche Wiederholungsgefahr kann dann oft im Hinblick auf eine zu erwartende Folgeberichterstattung mit guten Gründen 1 Vgl. i.E. Lehr, NStZ 2001, 63. 2 Dazu i.E. Fischer, § 78 StGB Rz. 7a f. 3 Vgl. i.E. Lehr in Widmaier (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, § 21.
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dargelegt werden. Es gelingt auch nicht selten, bei den mit der Materie vertrauten Pressekammern der Landgerichte eine einstweilige Verfügung innerhalb kürzester Zeit durchzusetzen1. Freilich ist dabei zu bedenken, dass damit eine „zweite Front“ eröffnet wird, weil der Mandant sich parallel zur Verteidigung im Strafverfahren nun auch im Zivilverfahren mit derselben Materie verteidigend auseinandersetzen muss – nicht immer zu seinem Vorteil. Es empfiehlt sich deshalb, in allen Sachen, die das Interesse der Medien finden können, eine presserechtliche Krisenbewältigung – ggf. auch mit journalistischer Beratung im „Backoffice“ – zu betreiben. Dazu gehört die rechtzeitige Erkenntnis der Gefahr von Publikationen, nach Möglichkeit die Nutzung eines Zuganges zu den Entscheidungsträgern der Medien oder der Rechtsabteilung, im Streitfall die sorgfältige und verantwortungsbewusste Abfassung einer eidesstattlichen Versicherung und angesichts der Notwendigkeit, in zeitlich ganz kurzer Frist Rechtsschutz zu erlangen, ein gutes Personal- und Zeitmanagement. Aber auch wenn die Voraussetzungen für einen zivilrechtlichen Erfolg günstig sind, sollte einer abwehrenden Deeskalation oft der Vorrang gegeben werden2. Insgesamt kommt im Rahmen des Mandantenschutzes der presserechtlichen Gegendarstellung und dem Unterlassungsanspruch durchaus erfolgversprechende Bedeutung zu. Nach aller Erfahrung halten sich die Medien dann doch an die (dürren) Fakten – ohne diese – wie es bei den Medien heißt – zu „veredeln“. Anders sieht es mit Widerrufs- und Schadensersatzklagen aus. Die entsprechenden Prozesse können sich lange Zeit durch die Instanzen ziehen. Die Beweislage des Klägers ist ungünstiger, die öffentliche Erörterung des Falles wird mehrfach wiederholt, was der Boulevardpresse hochwillkommen ist. Selbst wenn der Betroffene nach langer Zeit den Prozesserfolg erringt, ist dies für das auf Sensationen erpichte Publikum kaum noch interessant, wenn überhaupt darüber berichtet wird. Man kann sogar die Frage stellen, ob die im Prozess erreichte Wiederherstellung der Ehre und des Ansehens in der Realität überhaupt noch eine Bedeutung hat. 110
Die Durchmusterung des Arsenals der rechtlichen Waffen ergibt zwar heute keine Unterbilanz des Ehrenschutzes mehr (Rz. 1030 ff.). Die Erfahrungen der Praxis führen gleichwohl immer wieder dazu, dem Mandanten von rechtlichen Maßnahmen gegen die Medien abzuraten. Dessen Reaktion kann dann leicht die Erschütterung des Vertrauens sein, weil der Verteidiger nicht scharf genug auftrete. Dieser muss seine Klienten zu überzeugen wissen, dass ein Kampf gegen die Medien mit ungleichen Waffen und nicht immer zu einem guten Ende geführt wird. Ein professionelles, flexibles medienrechtliches Krisenmanagement ist in der Regel erfolgreicher.
1 Lehr in Widmaier (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, § 21 Rz. 80 ff. 2 Zu allen Einzelheiten Lehr, NStZ 2001, 63.
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Auch während und nach einer Hauptverhandlung kann der Verteidiger 111 einiges tun, um Unheil zu verhüten. Er kann mit den anwesenden Gerichtsberichterstattern sprechen und auf Sachlichkeit hinwirken. Zweischneidig und in aller Regel erfolglos ist aber der Versuch, Reporter zum gänzlichen Verzicht auf Berichterstattung zu bewegen. Das ist ein häufiger Wunsch der Angeklagten. Anders ist es mit dem Verzicht auf Namensnennung, den die Presse durchweg freiwillig praktiziert. Hier muss der Verteidiger versuchen, den Journalisten davon abzuhalten, die Person des Mandanten in anderer Weise identifizierbar zu beschreiben (z.B. Initialen, Beruf, Wohn- oder Berufsort). Der Versuch kann gelingen. Die Presse verhält sich hierzu nach bestimmten Richtlinien1. Manchmal stößt man aber auf empfindliche Reaktionen der auf ihren Auftrag und ihre Freiheit bedachten Pressevertreter, die sich für den Pressebericht recht schädlich auswirken können. Das gilt besonders für Kontaktversuche zur medialen „Chefetage“. Die Chefredakteure legen sich lieber mit einer Anwaltskanzlei an als mit ihrer Redaktionsmannschaft. Denn Journalisten haben ein ausgesprochen gesundes Selbstbewusstsein! Allenfalls kommt ein Kontakt mit dem Justiziariat in Betracht mit dem Ansinnen, die Berichterstattung in ihrem Medium zu überprüfen. Wenn die Berichterstattung zu beanstanden ist, kann es ggf. geboten sein, dies bei Gericht zur Sprache zu bringen im Hinblick auf die Erhaltung der Unvoreingenommenheit der Schöffen und z.B. noch zu vernehmender Zeugen. Der Ausschluss von insoweit „fehlsamen“ Journalisten von der Hauptverhandlung ist allerdings heute kaum noch zu erreichen2. d) Selbstschutz des Verteidigers Literatur: Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, 1980; Dahs sen., Der Anwalt im Strafprozess, AnwBl. 1959, 181; Lehr, Bildberichterstattung der Medien über Strafverfahren, NStZ 2001, 63; Lehr, Der Verdacht – eine besondere Herausforderung an den Ausgleich zwischen Persönlichkeitsschutz und freier Berichterstattung, AfP 2013, 7; Lehr, Pressefreiehit und Persönlichkeitsrechte – Ein Spannungsverhältnis für die Öffentlichkeitsarbeit der Justiz, NJW 2013, 728; Möller, Zum Verhalten des Gerichts und des Verteidigers bei Presseangriffen auf den Verteidiger, ArchPressR 1965, 62; Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung: Handbuch des Äußerungsrechts, 5. Aufl. 2003.
Die Veröffentlichungen der Medien greifen zuweilen auch in unverant- 112 wortlicher Weise in die Freiheit der Verteidigung ein. Bildreportagen, die künstlich gestellt sind, unsachliche Berichterstattung über die Führung der Verteidigung, beleidigende Äußerungen können zu einer Art Pressefeldzug auch gegen den Verteidiger werden. Und dies nicht nur in den sog. politischen Strafsachen, sondern auch in anderen Verfahren, an de1 Richtlinien für die publizistische Arbeit nach den Empfehlungen des Deutschen Presserates, Pressekodex/Beschwerdeordnung v. 3.12.2008. 2 Nicht nur wegen Art. 5 GG und § 338 Nr. 6 StPO; früher bejahend OLG Hamm v. 9.12.1966 – 3 Ss 696/66, NJW 1967, 1289.
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nen die Medien besonders interessiert sind. In solchen Fällen die richtigen Maßnahmen zu treffen, erfordert Fingerspitzengefühl und Erfahrung. Hierzu muss der Verteidiger wissen, dass er unter Umständen die Ausschließung des Berichterstatters von der Verhandlung durchsetzen kann, der unsachliche und aufreizende Reportagen gegen die Verteidigung schreibt1. Der Anspruch der Öffentlichkeit auf Information muss in solchen Fällen gegenüber dem Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren und ungehinderte Führung der Verteidigung zurückstehen. Ggf. hilft ein Gerichtsbeschluss. Lehnt das Gericht die Ausschließung ab, kann in krassen Fällen ggf. in der Revisionsinstanz die unzulässige Beschränkung der Verteidigung gerügt werden (§ 338 Nr. 8 StPO; Rz. 942). Diffamierende Äußerungen der Medien zwingen den Verteidiger unter Umständen, Strafantrag zu stellen. Der Antrag besitzt Publizitätswirkung, wenn er bekannt wird, und verschafft dem Verteidiger Respekt. Auch kann man bei der Staatsanwaltschaft anregen, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu bejahen, und zu diesem Zweck den Vorstand der Rechtsanwaltskammer einschalten. Er hat allerdings kein selbständiges Strafantragsrecht gem. § 77a StGB. Dieser Weg ist vor allem zu empfehlen, falls es sich um eine „Kollektivbeleidigung“ der Anwaltschaft handelt. Wird das öffentliche Interesse verneint, so kommt Privatklage in Betracht. Es ist aber sehr fraglich, ob dem Verteidiger zu diesem Mittel geraten werden kann (Rz. 1030 ff.). Äußerstenfalls muss sich der Verteidiger die Niederlegung des Mandats überlegen. Dieses letzte Mittel bedarf sorgfältigster Prüfung und kommt allein in Betracht, falls die Medienangriffe es unmöglich machen, die Verteidigung innerlich und äußerlich frei zu führen. 3. Bildaufnahmen, Fernsehen und Rundfunk 113
Die modernen elektronischen Nachrichtenmittel bringen für die Betroffenen im Strafverfahren empfindliche Nachteile und Gefahren (Rz. 99 ff.). Vor allem in „großen“ Prozessen haben Medienvertreter ein besonderes Interesse daran, mittels Fernsehkamera, Radio-Mikrophon oder digitalen Fotoapparaten Angeklagte beim Betreten des Gerichts, des Sitzungssaales und insbesondere „auf der Anklagebank“ zu präsentieren und zu Gesicht eines riesigen Publikums zu bringen. Darunter können die unglücklichen Opfer der Sensationslust außerordentlich leiden. Sie sollen den „Beschuss“ der Fotoreporter und das Surren der Kameras ebenso wie begleitende, in der Regel provokative Fragen („Wie haben Sie letzte Nacht geschlafen?“) wehrlos über sich ergehen lassen, und sie sollen mit Stimme und Gesicht einer sensationslüsternden Menge – zuweilen sogar zufällig anwesenden Schöffen – ausgeliefert werden. Dagegen sollten die Verteidiger ihre Mandanten schützen, statt sie dem kläglichen und entwürdigenden Versuch zu überlassen, durch Vorhalten von Aktenteilen, Kleidungsstücken oder anderen Gegenständen das Gesicht zu verbergen. 1 Dazu BGH v. 16.6.1964 – 5 StR 183/64, NJW 1964, 1485.
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Zur Verhütung solcher Anprangerungen ist in erster Linie der Vorsitzende des Gerichts berufen. Das Recht und die Möglichkeit hierzu folgen aus seiner Sitzungsgewalt (§ 176 GVG: Nr. 129 RiStBV). Sie umfasst räumlich den Sitzungssaal und die zugehörigen Vor- und Nebenräume, zeitlich die Hauptverhandlung einschließlich der Sitzungspausen, besonders auch während der Beratung vor der Urteilsverkündung1. Während des Gangs der eigentlichen Verhandlung sind Rundfunk-, Ton- und Filmaufnahmen zu Zwecken der öffentlichen Vorführung verboten (§ 169 GVG)2. Das in § 169 GVG nicht genannte Fotografieren scheitert in der Regel an § 176 GVG3. Das gilt erst recht für die Urteilsverkündung (Rz. 771). Verstöße hiergegen sind ein durchgreifender Revisionsgrund (Rz. 938). Leider bleibt aber noch reichlich Raum für unzumutbare Beeinträchtigungen vor Beginn der Sitzung und in den Sitzungspausen im Sitzungssaal, auf die sich das Verbot mindestens dann nicht erstreckt, wenn der Angeklagte im Sitzungsraum nicht anwesend ist4. So habe ich es in einem Prozess gegen einen prominenten Mandanten erlebt, dass im Sitzungssaal eine Art „Tribüne“ für die filmenden und fotografierenden Medien aufgebaut war, um ihnen optimal das „Schussfeld“ auf alle Verfahrensbeteiligte zu sichern. Als äußerstes Mittel ist in solchen und ähnlichen Fällen daran zu denken, dass der Mandant sich weigert, den Saal zu betreten, solange dort fotografiert und gefilmt wird. Eine entsprechende Ankündigung der Verteidigung wird manchen „pressefreundlichen“ Vorsitzenden nachdenklich machen. Für das Gerichtsgebäude ist der Gerichtspräsident als Hausherr zuständig; das gilt auch für die Zeit unmittelbar vor Beginn der Hauptverhandlung. Nur selten besteht heute noch ein generelles Film- und Fotografierverbot im ganzen Gebäude. Ggf. muss man rechtzeitig ein solches beantragen und begründen5. Vor dem Gerichtsgebäude bleiben die Verfahrensbeteiligten den Reportern, Fotografen und Kameraleuten in jedem Falle auf „Gedeih und Verderb“ ausgeliefert. Findige Verteidiger schützen ihren Klienten, indem sie ihn über „Nebenwege“ in das Gericht schleusen oder ihn lange vor Verhandlungsbeginn das Gebäude betreten und ihn sich an sehr unwürdigen Orten verbergen lassen. Je nach Sachlage und Persönlichkeit des Angeklagten ist aber auch zu erwägen, diesen mit seinem Verteidiger quasi „hocherhobenen Hauptes“ das Gerichtsgebäude betreten zu lassen und 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 176 GVG Rz. 2; i.E. Lehr in Widmaier (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, § 21 Rz. 54 ff. 2 Zeichnen ist dagegen erlaubt. 3 BVerfG v. 11.5.1994 – 1 BvR 733/94, NJW 1996, 310; Gummer in KK, StPO, § 169 GVG Rz. 16; Lehr, NStZ 2001, 63. 4 BGH v. 27.10.1969 – 2 StR 636/68, NJW 1970, 63. 5 Ein um sein gutes Verhältnis zur Presse besorgter Vorsitzender schlug mir in einem solchen Gespräch vor, die Reporter dadurch zufriedenzustellen, dass sich die (übrigens sehr attraktive) Angeklagte zusammen mit mir vor dem Blumenfenster des Gerichts statt im Sitzungssaal fotografieren ließe (!).
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für jede erfragte Ausage auf die Gerichtsverhandlung zu verweisen. Solche Souveränität zeigt manchmal Wirkung. 114
Das BVerfG1 hat es bei Verhandlungen gegen Personen der Zeitgeschichte zugelassen, dass einigen Vertretern der Medien – stellvertretend für alle – Film-, Fernseh- und Fotoaufnahmen bis zum Aufruf der Sache durch den Vorsitzenden im Sitzungssaal gestattet werden (sog. Pool-Lösung)2. Voraussetzung ist ein den Individualschutz überwiegendes Interesse der Allgemeinheit am Zeitgeschehen, was jeweils kritisch zu prüfen ist3. Diese Rechtsgrundsätze werden inzwischen auch von Instanzgerichten auf „relative“ Personen der Zeitgeschichte angewendet. Der Verteidiger muss mit seinem Klienten erörtern, ob er dies hinzunehmen bereit ist und ggf. dagegen intervenieren – bis zur Verfassungsbeschwerde (einstweilige Anordnung). Sonst bleibt nur die Möglichkeit, dass der Angeklagte sich weigert, den Sitzungssaal zu betreten, während gefilmt und fotografiert wird. In der Regel scheuen die Vorsitzenden eine zwangsweise „Vorführung vor die Kameras“. Heute ist es allgemein üblich, dass die Medien das Gesicht des Angeklagten durch technische Maßnahmen („verpixeln“) unkenntlich machen. Im Interesse seines Mandanten muss der Verteidiger in diesen Fällen darauf achten, dass etwaige Namensschilder ebenfalls unkenntlich gemacht werden. Eher selten ist es auch, die Zustimmung des Gerichts dazu zu erreichen, dass der Angeklagte den Gerichtsaal erst betritt, nachdem die Medien ihn verlassen haben.
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Für den Verteidiger selbst bringen die Ton- und Bildaufnahmen (Interviews) allerdings auch noch besondere Probleme mit sich. Sie bewirken in der Regel keine Diskriminierung seiner Person, sondern nur Publicity. Das mag manchem Anwalt willkommen sein. Er darf aber selbst zu ihrer Förderung nichts tun. Keinesfalls darf der Verteidiger Aufnahmen unter bewusster Zurücksetzung der Interessen seines Mandanten dulden, der davon verschont sein möchte.
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In allen Fällen wird der Verteidiger allerdings überlegen müssen, ob die volle Ausnutzung der Schutzrechte für seinen Mandanten opportun ist (Rz. 105 ff.). Nicht selten lassen sich darüber Absprachen treffen, vor allem dann, wenn Mandanten sich nicht unbedingt dagegen wehren, aufgenommen zu werden, weil sie ein gutes Gewissen haben oder ein solches demonstrieren wollen. Jedenfalls muss der Verteidiger sich rechtzeitig auf die jeweilige Situation einrichten, um im entscheidenden Augenblick richtig agieren zu können. Ob und in welcher Weise sich der Verteidiger an einer vom Mandanten gewünschten Eigen-Vermarktung4 beteiligt, ist mindestens eine Stilfrage. 1 BVerfG v. 11.11.1992 – 1 BvR 1595/92, 1 BvR 1606/92, BVerfGE 87, 334. 2 Dazu i.E. Lehr, NStZ 2001, 63. 3 Die Verhandlungen vor den Internationalen Gerichtshöfen in Den Haag werden sogar vollständig im Internet übertragen. 4 Dazu Lehr in Widmaier (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, § 21 Rz. 69 ff.
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4. Öffentliches Wirken des Verteidigers Schriftstellerische, rednerische, politische und sonstige öffentliche Tätig- 117 keit ist dem Verteidiger gestattet, sofern sie sachlich-qualifiziert ist und anreißerische Werbung vermieden wird. Das gilt insbesondere für wissenschaftliche Aufsätze, Bücher, öffentliche Vorträge, Presseartikel und dergleichen. Diese dienen dem Ansehen des Berufsstandes umso mehr, je höherstehend ihre Qualität ist. Das gilt besonders auch für Publikationen in Fachzeitschriften. Aber auch in der Tagespresse oder in periodischen Druckschriften darf der Verteidiger publizieren und sich auch als Rechtsanwalt bezeichnen. Auch braucht er sich nicht zu scheuen, sich an Rundfunk- und Fernsehveranstaltungen zu beteiligen, wenn es sich um sachlich abgestimmte Veranstaltungen handelt, etwa um ein Podiumsgespräch über rechtspolitische Fragen oder Gesetzesvorhaben. Ob sog. „Talk-Shows“ dafür ein geeignetes Forum sind, wird sehr vom Einzelfall abhängen und zuweilen eher eine Stilfrage sein. Es besteht aber durchaus ein allgemeines Interesse daran, Ansehen und Bedeutung der Anwaltschaft auch der Öffentlichkeit darzutun. Dass damit zugleich als Nebenprodukt eine persönliche Werbewirkung für den mitwirkenden Anwalt ausgelöst wird, ist unvermeidbar und unbedenklich (vgl. i.Ü. Rz. 102).
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B. Zweiter Hauptteil Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens Literatur: Alsberg, Die Philosophie der Verteidigung, 1930, S. 14 ff.; Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980; Dahs sen., Der Anwalt im Strafprozess, AnwBl. 1959, 171; Dahs, Ethische Aspekte im Strafverfahren? – Ein Denkanstoß, JR 2004, 94; v. Stackelberg, Der Anwalt im Strafprozess, AnwBl. 1959, 190; Wahle, Gedanken zur Beziehung von Mandant und Verteidiger, FS Hanack (1999), S. 105.
I. Allgemeines Die Verteidigung eines Beschuldigten bedeutet vielseitige Begegnungen 118 mit den sehr verschiedenen Prozessbeteiligten in den einzelnen Abschnitten des Verfahrens. Der Verteidiger kann die ihm damit zukommenden Aufgaben nur erfüllen, wenn er über Wissen und Können, über Menschenkenntnis und Lebenserfahrung verfügt. Sein Auftreten wird sich jeweils nach Person und Funktion des anderen in der konkreten Situation des Prozesses richten müssen. Dabei können ganz verschiedene Verhaltensweisen in Betracht kommen, je nachdem, ob es sich um die anderen Organe der Rechtspflege, ob Richter, Staatsanwalt oder seine Ermittlungsorgane (z.B. Polizei, Steuer- und Zollfahndung), um die Beweispersonen, Zeugen und Sachverständigen und den eigenen Mandanten, Mitverteidiger sowie um die durch die Medien repräsentierte Öffentlichkeit handelt. Maßgebliche Bedenken hat dabei die Regel des § 43a Abs. 3 BRAO, wonach der Rechtsanwalt die ihm anvertrauten Interessen sachlich zu vertreten hat. Danach ist ihm das Maßhalten vorgeschrieben, energisches und scharfes Auftreten für den gegebenen Fall aber nicht verboten. Er muss die Regeln des Taktes und des guten Geschmacks ebenso beherrschen, wie er in der Lage sein muss, mit einem unverschämten Zeitgenossen Klartext zu reden. In keinem Fall darf er aber die Nerven verlieren und aus der Rolle fallen. Auch wenn es innerlich in ihm kocht, muss er nach außen Anstand und Ruhe bewahren. Der Zorn ist ein schlechter Vater für Gedanken.
II. Verteidiger und Mandant Literatur: Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 163, 183; Hammerstein, Verteidigung wider besseres Wissen?, NStZ 1997, 12; Kniemeyer, Das Verhältnis des Strafverteidigers zu seinem Mandanten, 1997; Rieß, Das Selbstbestimmungsrecht des Mandanten, BRAK-Schriftenreihe Bd. 12 (Symp. f. Egon Müller), 2000, S. 1; Salditt, Das Mandanteninteresse, BRAK-Schriftenreihe Bd. 12 (Symp. f. Egon Müller), 2000, S. 25; Ch. Schaefer, Die Kommunikation zwischen Mandant und Verteidiger – rechtlich absolut geschützt?, BRAK-Schriftenreihe Bd. 12 (Symp. f. Egon Müller), 2000, S. 53; Schott, Zahlung von Sanktionen und Verteidigerkos-
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Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
ten für Mitarbeiter durch Unternehmen, StraFo 2014, 315; Spendel, Zur Vollmacht und Rechtsstellung des Strafverteidigers, JZ 1959, 737; Wahle, Gedanken zur Beziehung von Mandant und Verteidiger, FS Hanack (1999), S. 105.
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In den Zusammenhang dieses Abschnittes gehört auch das Kapitel A I. 4. über die Beratungsfunktion des Verteidigers (Rz. 17). Als erste Hauptperson begegnet dem Verteidiger der Mandant. Er schreibt ihm einen Brief (oder eine „Mail“), telefoniert mit ihm, vereinbart eine Besprechung mit ihm oder erbittet seinen Besuch in der Vollzugsanstalt. Er kann dem Verteidiger bekannt oder fremd sein, es kann sich um einen unbescholtenen Bürger oder um einen Vorbestraften handeln. Der Verteidiger kann mit dem Fall schon anderweitig vertraut sein oder noch nichts davon wissen. Diese und andere Varianten führen den Verteidiger sofort in die Spannung hinein, die das erregende Element seines Wirkens im Strafverfahren und seines Berufes überhaupt ist. Oft ist das Verhältnis des Verteidigers zum Mandanten von der ersten Begegnung an bis zum Ende der Verteidigung von der alles beherrschenden Frage bestimmt: Gilt die Verteidigung einem Schuldigen oder Unschuldigen?! Die Frage kann schon bei der ersten dem Verteidiger abverlangten Entscheidung dominieren, ob er die Verteidigung überhaupt übernehmen oder ablehnen soll (Rz. 126 ff.). Es erscheint deshalb geboten, vorab die rechtlichen Grundlagen des Verteidigermandats im Strafverfahren anzusprechen, die für den Wahlverteidiger und den Pflichtverteidiger verschieden sind. Sie können aber nicht für sich betrachtet, sondern müssen im Zusammenhang mit den bei der Verteidigerbestellung erfahrungsgemäß auftretenden praktischen Fragen der Zweckmäßigkeit und des Zweifels gesehen werden. 1. Übernahme der Verteidigung a) Wahlverteidiger Literatur: Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 183 ff.; v. Briel, Strafbarkeitsrisiko des beratenden Rechtsanwalts, StraFo 1997, 71; Eylmann, Die Interessenkollision im Strafverfahren, AnwBl. 1998, 359.
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Zwischen dem Rechtsanwalt als gewähltem Verteidiger und seinem Mandanten besteht zivilrechtlich ein Dienstverhältnis, und zwar ein Geschäftsbesorgungsvertrag im Sinne des § 675 BGB1. Er kommt durch Angebot und Annahme zustande. Die Rechte und Pflichten bestimmen sich nach dem bürgerlichen Recht, soweit sich nicht Besonderheiten aus der Zuordnung des Verteidigers zur Rechtspflege ergeben (Rz. 3 ff.).
1 BGH v. 16.11.1995 – IX ZR 148/94, NJW 1996, 661; eingehend Lüderssen in KK, Vor § 137 StPO Rz. 35.
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Verteidiger und Mandant
Rz. 123
Die Bestellung des Wahlverteidigers erfolgt in der Regel mit der Unter- 121 zeichnung einer Strafprozessvollmacht1. Die Vollmacht ist aber kein Element des anwaltlichen Vertrages zur Verteidigung. Der Verteidiger kann daher, auch ohne im Besitz einer Vollmachtsurkunde zu sein, tätig werden2. So kann er z.B. ein Rechtsmittel wirksam einlegen, auch wenn die Vollmacht erst nach Fristablauf nachgereicht wird. Er muss dann aber auf Anfordern die rechtzeitige schriftliche oder mündliche Beauftragung nachweisen können3. Die Bestellung zur Verteidigung wird wirksam mit der schriftlichen oder mündlichen Annahmeerklärung. Eine Mitteilung zu den Akten des Gerichts oder der Ermittlungsbehörde ist nicht essentiell. Es wird sogar nicht selten zweckmäßig sein, die Übernahme der Verteidigung zunächst noch nicht anzuzeigen, z.B. wenn zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens der Mandant beraten sein will (sog. „verdeckte Verteidigung“), die Sache aber nicht durch Auffahren von „Kanonen“ in ihrem Gewicht hochgetrieben und auffällig gemacht werden soll. In solchen Fällen muss der Verteidiger den Mandanten davor warnen, auf dahin zielendes Befragen der Vernehmungspersonen zu lügen. Dieser muss vielmehr sehen, wie er auf andere Weise der Frage begegnet. Bevor der Anwalt die Verteidigung übernimmt, muss er feststellen, ob 122 schon ein anderer Verteidiger bestellt ist. Es ist dann zu klären, ob der Mandant zwei Verteidiger bestellen will. Der Verteidiger wird überlegen müssen, ob das der Sache dienlich ist. Er wird auch dann ablehnen, wenn die doppelte Verteidigung mit seinem Selbstgefühl nicht vereinbar ist oder er sie dem erstverteidigenden Kollegen nicht zumuten will. Andererseits kann die Bestellung eines zweiten Verteidigers, z.B. am Sitz der zuständigen Justizbehörde, sehr sachdienlich sein. Schon aufgrund seiner Vertrautheit mit den dortigen Usancen und Personen wird dieser häufig wertvolle Arbeit leisten, indem er dem Mit- oder Hauptverteidiger wichtige Insider-Informationen liefert; in auswärtigen Haftsachen ist er fast unentbehrlich wegen des unmittelbaren Kontaktes zu dem Mandanten und dem ihm bekannten Anstaltspersonal. Sollen mehrere Verteidiger tätig werden, so ist zu beachten, dass die Zahl 123 der Wahlverteidiger drei nicht übersteigen darf (§ 137 Abs. 1 S. 2 StPO): Entscheidend ist das Datum der Vollmachterteilung. „Überzählige“ weitere Wahlverteidiger müssen Staatsanwaltschaft und Gericht zurückweisen4. Ist der Verteidiger Mitglied einer Sozietät, die aus mehr als drei Rechtsanwälten besteht, so muss er darauf achten und mit dem Mandanten besprechen, dass nur (höchstens) drei Mitglieder der Sozietät be-
1 Vgl. dazu Meyer-Lohkamp, StraFo 2009, 265. 2 BayObLG v. 31.7.1980 – 2 ObOWi 169/80, StV 1981, 117. 3 Vgl. i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 137 StPO Rz. 9 m.N.; BayObLG v. 7.11.2001 – 5St RR 285/01, NStZ 2002, 277. 4 BGH v. 27.2.1976 – 1 BJs 25/75 (StB 8/76), BGHSt. 26, 291; BGH v. 12.5.1976 – 3 StR 100/76, BGHSt. 26, 335.
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Rz. 124
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
auftragt werden können1. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob im Vollmachtsformular die Namen von mehr als drei Anwälten genannt sind; entscheidend ist tatsächliche Auftragserteilung2. Die Beschränkung des § 137 Abs. 1 S. 2 StPO umfasst nicht die neben Wahlverteidigern bestellten Offizialverteidiger3, auch nicht den Unterbevollmächtigten, wenn er nur anstelle des Hauptbevollmächtigten, etwa in der Hauptverhandlung, tätig wird4. Der Verteidiger muss aber beachten, dass das Verbot der Doppelverteidigung auch für Unterbevollmächtigte gilt. Es empfiehlt sich, in jedem Einzelfall die reichhaltige und differenzierte Judikatur und das Schrifttum zurate zu ziehen. Zu den Fragen, die sich für den Wahlverteidiger ergeben können, wenn eine schon bestehende Pflichtverteidigung (entgegen § 143 StPO) nicht aufgehoben oder ein Pflichtverteidiger zusätzlich bestellt wird, vgl. Rz. 149; zum Verhältnis zwischen Mitverteidigern Rz. 167. 124
Bei der Übernahme des Mandats ist auch das Verbot der Doppelverteidigung (§ 146 StPO; Rz. 122) zu beachten5. Die Vorschrift wird von der Rechtsprechung extensiv ausgelegt: Die Verteidigung durch einen Verteidiger ist unzulässig, wenn mehrere Beschuldigte zwar nicht in demselben Verfahren verfolgt werden, das ihnen zur Last gelegte Verhalten aber Teil eines einheitlichen Tatkomplexes (§ 264 StPO) ist6 oder der Vorwurf der Mittäterschaft oder der Beteiligung im weitesten Sinne (auch Begünstigung, Hehlerei und Strafvereitelung) erhoben wird7. Das Gleiche gilt, wenn in demselben Verfahren den Beschuldigten verschiedene Taten zur Last gelegt werden8. Dagegen ist die sukzessive Verteidigung mehrerer Beschuldigter zulässig9, wenn das frühere Verteidigungsverhältnis rechtlich beendet ist10. Die Vorschrift des § 146 StPO verbietet aber nicht die Verteidigung mehrerer Beschuldigter durch Rechtsanwälte einer Sozietät, wenn jeder Anwalt einen anderen Beschuldigten verteidigt. Ist dies der Fall, kommt es nicht darauf an, dass die Vollmachtsurkunden auf mehrere Sozien lauten11. Allerdings ist die Möglichkeit einer Interessen1 BVerfG v. 28.10.1976 – 2 BvR 23/76, BVerfGE 43, 79 (91); Schmitt in MeyerGoßner/Schmitt, § 137 StPO Rz. 6 m.N. 2 BVerfG v. 28.10.1976 – 2 BvR 23/76, BVerfGE 43, 79 (91); BGH v. 7.6.1994 – 5 StR 85/94, BGHSt. 40, 188. 3 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 137 StPO Rz. 5. 4 BGH bei Holz, MDR 1978, 108 (111); Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 137 StPO Rz. 5 m.N. 5 Nach BVerfG v. 11.3.1975 – 2 BvR 135/75; 2 BvR 136/75; 2 BvR 137/75; 2 BvR 138/75; 2 BvR 139/75, BVerfGE 39, 156 verfassungsgemäß. 6 BVerfG v. 26.11.1975 – 2 BvR 883/75, NJW 1976, 231; aber BGH v. 21.12.1977 – 1 BJs 95/77 (StB 254/77), BGHSt. 27, 315. 7 OLG Stuttgart v. 4.11.1975 – 2 StE 1/74, NJW 1976, 157. 8 BGH v. 22.6.1994 – 2 StR 180/94, NStZ 1994, 500. 9 § 146 StPO verbietet nur die „gleichzeitige“ Mehrfachverteidigung; OLG Karlsruhe v. 26.8.1988 – 3 Ws 205/88, NStZ 1988, 567. 10 BGH v. 23.3.1977 – 1 BJs 55/75 (StB 52/77), BGHSt. 27, 154. 11 BVerfG v. 28.10.1976 – 2 BvR 23/76, BVerfGE 43, 79.
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Verteidiger und Mandant
Rz. 127
kollision sorgfältig zu prüfen, damit nicht später eventuell alle Mandate niedergelegt werden müssen. Bei nicht eindeutiger Situation im Zusammenhang mit angeblichen Straftaten im Bereich von Unternehmen hat es sich bewährt, dass sich ein Verteidiger zunächst nur für das Unternehmen als juristische Person legitimiert, intern die Beratung koordiniert und erst später, nach weiterer Klärung des Sachverhalts, Verteidiger für konkrete Beschuldigte bestellt werden (vgl. auch Rz. 137 f.). Der Wahlverteidiger kann einem anderen Verteidiger Untervollmacht er- 125 teilen; eine Befugnis, die dem Pflichtverteidiger nicht zusteht1. Die Zustimmung des Mandanten ist erforderlich. Sie wird zweckmäßigerweise in der Verteidigervollmacht generell erteilt. Auch Referendaren kann nach § 139 StPO die Verteidigung unter Umständen übertragen werden. Soll der Wahlverteidiger an die Stelle eines schon bestellten Erstverteidigers treten, so ist eine kollegiale Rückfrage am Platze, ob das frühere Mandat beendet ist. Darüber hinaus ist es guter kollegialer Stil, zu unterrichten und anzufragen, ob gegen die Übernahme des Mandats Bedenken bestehen. Manchmal kann dann der Mandant als Querulant oder sonst fragwürdige Erscheinung erkannt werden. Häufig sind auch die Kosten nicht gezahlt worden. In diesem Falle wird man sich die Annahme des Mandats überlegen, wenn auch nicht allgemein ein Anspruch auf Gebührenschutz bestehen mag. Ein besonderer Fall ist das Ansinnen eines Familienangehörigen oder na- 126 hen Verwandten des Verteidigers, eine Verteidigung für ihn zu übernehmen. Dazu sollte der Verteidiger im Allgemeinen nicht bereit sein. Handelt es sich um nahe Angehörige im Sinne des § 52 Abs. 1 StPO, befindet sich der Verteidiger im Bereich der (straflosen) Strafvereitelung (§ 258 Abs. 6 StGB), wenn er seine Grenzen überschreitet. Der daraus sich ergebende Eindruck ist nicht günstig. Aber auch sonst steht der Verteidiger hier nicht in guter Beleuchtung, weil er sich zu leicht als Verwandter statt als Organ der Rechtspflege fühlen könnte. Es kommt indessen immer auf den einzelnen Fall an, so z.B. wenn ein Verwandter neben anderen Hauptverteidigern nur eine begrenzte Aufgabe, etwa durch Beratung „im Hintergrund“ übernimmt. Der Verteidiger wird im Übrigen die Annahme des Mandats immer auch 127 abhängig machen von der Persönlichkeit des Mandanten und dem Charakter seiner Sache. Die Entscheidung, ob das Mandat eines „Schwerverbrechers“ oder eines „Massenmörders“ angenommen wird, muss jeder Verteidiger aus seiner Verantwortung heraus selbst treffen. Gerade auch der schwerster Straftaten Verdächtige und der vorbestrafte Beschuldigte haben Anspruch auf sachgemäße Verteidigung, umso mehr, als Vorbestrafte besonders leicht in Verdacht gezogen werden, auch wenn sie 1 BGH v. 11.6.1981 – 1 StR 303/81, bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1983, 208; BGH v. 9.2.1982 – 1 StR 815/81, StV 1982, 213, bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1983, 354; BGH v. 27.2.1992 – 5 StR 190/91, StV 1992, 212 (213).
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Rz. 128
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
nicht schuldig sind. Die Übernahme der Verteidigung bedeutet keine Identifizierung mit Tat oder Täter, sondern nur die Sicherung eines fairen Verfahrens für den Beschuldigten. Darin liegen die Notwendigkeit und die Ethik der Verteidigung beschlossen (Rz. 14). Dennoch kann der Verteidiger in solchen Fällen wie auch sonst ablehnen, wenn das Mandat seiner Einstellung oder seinem Gefühl widerspricht. Es gibt darüber keine Regel außer derjenigen, die der Verteidiger sich selbst gesetzt hat. 128
Das gilt ganz besonders für Mandate der Unterwelt. Es gab schon immer Verteidiger, die sich der besonderen Wertschätzung dieser Kreise erfreuen und sich damit einen etwas zweifelhaften Ruf erwerben. Es kann natürlich keine Rede davon sein, dass eine solche Verteidigung abgelehnt werden müsste. Vielmehr handelt es sich um eine Frage des Geschmacks und des Berufsstils, über die man nicht streiten kann. Sie gewinnt noch einen besonderen Aspekt im Zusammenhang mit der Honorierung des Verteidigers (Rz. 1215, 1207). Entscheidend wird immer sein, in welcher Art und Weise der Verteidiger die Verteidigung tatsächlich führt. In Schwierigkeiten kommt ein Verteidiger, der sich bei üblen Anklagen im Allgemeinen versagt, aber in einem konkreten Fall von der Unschuld des Beschuldigten überzeugt ist. Je unsympathischer oder widerlicher das vorgeworfene Delikt und je größer der Verdacht ist, umso mehr bedarf dann der Verdächtige des Verteidigers. Der Freispruch eines Unschuldigen in einem solchen Falle ist des Verteidigers schönster Lohn. Oft genug hat aber auch ein gutgläubiger Verteidiger Vertrauen und Einsicht an einen Schuldigen verschwendet. Dessen Verurteilung ist für den Verteidiger dann eine bittere Enttäuschung.
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Die Verteidigung eines Terroristen oder anarchistischen Straftäters ist ein Sonderproblem, das für den Verteidiger zu einer schwierigen Gewissensentscheidung werden kann. Wird ihm angesonnen, sich mit den Zielen des Beschuldigten zu identifizieren, sich in ein Informations- und Weisungssystem einzuordnen sowie Inhalt und Form der Verteidigung den Vorstellungen des Mandanten z.B. über die „Fortsetzung des revolutionären Kampfes im Gerichtssaal“ o.Ä. anzupassen, so wird er den Auftrag nicht annehmen1. Wird ein Mandat in diesem Bereich überhaupt übernommen, so wird der Beistand nur in strengster Sachlichkeit und strikter Beachtung der Pflichten des Verteidigers auch gegenüber der Rechtspflege erfolgen können. Der Verteidiger ist dann besonders aufgerufen, sich seiner Verantwortung gegenüber dem (prozessualen und materiellen) Recht bewusst zu sein.
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Mit Bedenken kann der Verteidiger sich auch konfrontiert sehen bei Mandanten in größeren Wirtschaftsstrafsachen2, etwa wegen Steuervergehen, Bilanz- und Finanzdelikten, Betrug, Bestechung u.a. (Rz. 130). Diese wer1 Vgl. dazu BGH v. 3.10.1979 – 3 StR 264/79 (S), BGHSt. 29, 99; Rudolphi in FS Bruns (1978), S. 315. 2 Vgl. dazu Taschke, NZWiSt 2012, 89.
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Verteidiger und Mandant
Rz. 133
den häufig grenzüberschreitend begangen. Die Aufklärung ist für die Ermittlungsbehörden und ihre Organe sehr schwierig, äußerst zeitraubend und manchmal sogar unmöglich. Die Täter mit den „weißen Kragen“ (white collar) legen es nicht selten auf Sabotage der Ermittlungen durch Mobilisierung aller Möglichkeiten und finanzieller Mittel an. Die Justiz mit ihren vergleichsweise unzulänglichen Mitteln kann dadurch praktisch kaltgestellt werden. Das ist besonders folgenschwer, wenn die Täter bis zur Rechtskraft einer Verurteilung durch Neugründungen oder Verlagerungen ihres Tätigkeitsgebietes ihr Handeln zum Schaden der rechtstreuen Bevölkerung manchmal jahrelang fortsetzen. Der Verteidiger steht vor der schwierigen Aufgabe, den Sach- und Rechtsverhalt zu durchdringen, sich an rechtswidriger Verfahrensverschleppung (doppelte Verjährung § 78c Abs. 3 StGB!) und Aufklärungssabotage nicht zu beteiligen, anderseits aber auch seinen Mandanten gegen die Strafverfolgung wirksam in Schutz zu nehmen (wobei Mandanten- und Unternehmensinteressen nicht immer deckungsgleich sind oder bleiben) und dabei alle legalen Mittel voll auszuschöpfen. Dazu gehört sehr viel, nicht zuletzt gründliche Sachkunde, berufliche Erfahrung, Standfestigkeit und Fingerspitzengefühl. Besondere Erwägungen wird der Verteidiger anstellen, wenn es um Man- 131 date politischer Parteien bzw. politisch exponierter Persönlichkeiten geht, mit deren Parteirichtung der Verteidiger leicht identifiziert wird. Ein solches Odium hält sich erfahrungsgemäß sehr hartnäckig, obwohl es vielfach recht töricht ist. Wenn einer den Kopf in der Schlinge hat, sucht er sein Heil meist in der Tüchtigkeit seines Verteidigers, nicht im Parteibuch. Es gibt auch Fälle, in denen man zu einem Mandanten oder seiner Sache 132 von vornherein kein Vertrauen fassen kann. Hier sollte man am besten gleich „nein“ sagen oder wenigstens bei der Übernahme besonders vorsichtig sein. Man kann mit Klienten böse Überraschungen erleben. Ein Kollege mit großer Erfahrung – aber auch mit Neigung zum Zynismus – gab mir als jungem Anwalt den Rat: „Betrachten Sie Ihren Mandanten immer als Ihren künftigen Prozessgegner, dann behandeln Sie ihn richtig.“ Einer besonderen Betrachtung wert ist die Verteidigung von Beschuldig- 133 ten, denen Sexualstraftaten, vor allem an Kindern oder Jugendlichen, zur Last gelegt werden. Der Verteidiger wird sich hier besonders prüfen, ob er in der Lage ist, sich für den Klienten zu engagieren. Dabei wird neben einer vielleicht vorhandenen starken gefühlsmäßigen Ablehnung aber auch die Haltung des Klienten in die Waagschale fallen müssen. Beharrt dieser auf einer Verteidigung, die als Zumutung empfunden werden muss, wird die Ablehnung des Mandats häufig richtig sein, wobei die Möglichkeit der nicht ganz seltenen Falschbezichtigung besonders zu erwägen ist. Oft begehen gerade auf diesem Gebiet Täter aber aus einer unnatürlichen Veranlagung oder psychischen Störung heraus scheußlichste 85
Rz. 134
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
Verbrechen. Diese sind abstoßend und widerwärtig. Das kann manchem Anwalt die Ablehnung der Verteidigung nahelegen. Er sollte aber bedenken, dass diese beklagenswerten und oft verzweifelten Menschen für ihre Veranlagung oft nichts können und für ihre Taten nicht oder nur beschränkt verantwortlich sind oder wenigstens Anspruch auf Zubilligung mildernder Umstände in reichlichem Maße haben. Es kann sehr viel für sie zu tun sein, besonders wenn eine aufgebrachte Öffentlichkeit sich des Falles schon bemächtigt hat. Ich habe aus dem ersten Jahr meiner anwaltlichen Tätigkeit immer in Erinnerung behalten, wie ich als Pflichtverteidiger mich schämen zu müssen glaubte, einen solchen Fall zu vertreten. Die Verteidigung und das Plädoyer, das ich mir abrang, waren schwächlich und farblos. Wirklich beschämt wurde ich dann erst durch die Urteilsverkündung. Der Vorsitzende, sonst ein strenger Richter, begann mit dem Ausdruck seines Mitgefühls für den Angeklagten, der mit seiner perversen Veranlagung zur Welt gekommen sei und unser aller Mitleid verdiene. Die weitere Begründung des Urteils war das versäumte Plädoyer der Verteidigung. In diesen Fällen lauert auch die schlimme Gefahr, dass man durch den Abscheu vor den vorgeworfenen Handlungen die Beweislage nicht sehr kritisch und sorgfältig prüft und dem durch die Ermittlungen entstandenen Sog eines „Vor“-Urteils selbst erliegt, obwohl der Betroffene möglicherweise unschuldig ist. Oft genug beeinflussen den Verteidiger dabei auch Äußerungen aus seiner Umgebung, wie man „so einen Mann“ verteidigen könne und dergleichen. 134
Besonders junge Anwälte werden oft mit „faulen Mandaten“ bedacht. Ihnen nähern sich zweifelhafte oder vertrauensunwürdige Subjekte, meist „alte Kunden“ des Gerichts und der ortsansässigen Rechtsanwälte, die auf die Unerfahrenheit, Anfälligkeit und Schwäche des Anfängers spekulieren. Sie belügen ihren Anwalt oder versuchen ihn zu ihrem willfährigen Gehilfen zu machen. Dazu betrügen sie ihn nicht selten auch noch um seine Gebühren. Eine unsaubere Sache sollte gerade der junge Anwalt nicht übernehmen, um sich seinen Ruf nicht zu verscherzen. Das ist schnell geschehen, denn er steht im hellen Licht. Ähnlich sind die Fälle zu sehen, in denen Beschuldigte gegenüber Ermittlungsbehörden einfach behaupten, sie hätten RA X. als Verteidiger beauftragt oder würden dies tun. Überraschend oft gelingt es ihnen, auf diese Weise die Ermittlungen zu verzögern. Ein Verteidiger wird sich einer solchen „Vereinnahmung“ zu entziehen wissen. Oft erfährt man erst durch Rückfrage der Polizei oder Staatsanwaltschaft von einem solchen Luftmandat. Hat der potentielle Mandant in der Zwischenzeit nicht um Übernahme des Mandats gebeten, so sollte man ihm, wenn er sich doch noch meldet, die passende Antwort geben. Es gibt allerdings Ausnahmefälle, in denen die beabsichtigte ordnungsgemäße Auftragserteilung durch Krankheit oder andere Bedrängnisse verzögert worden ist. Rückfragen könnten hier berufsrechtlich problematisch sein. Dies ist anders in den Fällen, wo Angehörige, Freunde, Arbeitgeber, Rechtsschutzversicherungen oder sonst vertrauenswürdige Dritte um die Übernahme der Ver86
Verteidiger und Mandant
Rz. 137
teidigung für einen Beschuldigten bitten. Hier ist eine Rückfrage bei dem Betroffenen, ob er das Mandat erteilen möchte, unbedenklich. Ob man ihm sofort eine Mandatsbestätigung schickt und sich zugleich im Verfahren bestellt, ist zwar eine Stilfrage. Die alsbaldige Niederlegung des Mandats, wenn der Betroffene sich doch anders entscheidet, kann aber zu einer etwas „schiefen Optik“ führen. Eine besondere Gruppe von Auftraggebern sind die „Knastologen“. Sie 135 haben einen eigenen Stil, um ihre Verteidigung zu werben. Sie beanspruchen als „Alteingesessene“ zuweilen sogar eine Art von Respekt. In einer gewissen Einheitssprache, deren Eigenart sich nach geheimnisvollen Gesetzen zu bilden scheint, schreiben sie aus der Untersuchungs- oder Strafhaft den Anwalt an, dem sie ihr Mandat verschenken wollen. Sie verstehen es durch den Hinweis auf die Dringlichkeit ihrer Sache, den Anwalt in eine Verantwortung hineinzumanövrieren oder ihm einen (möglichst sofortigen) Besuch in der Haftanstalt aufzunötigen. Dabei bieten sie zugleich Honorare an, für deren Zahlung meistens Verwandte, Freunde oder imaginäre „Bräute“ bereit sein sollen oder für die „sofort nach der Entlassung“ gesorgt werden solle. Der Anwalt sollte auf solche Typen nicht hereinfallen. Sie nutzen ihn nur aus. Er darf auch nicht vergessen, dass er nur bei einwandfreier Zahlung seiner Gebühren tätig werden darf, andernfalls vergeht er sich berufsrechtlich oder sogar strafrechtlich (Geldwäsche1). In geeigneten Fällen kann er sich immerhin zum Pflichtverteidiger bestellen lassen. Somit ist bei der Mandatsannahme mancherlei Vorsicht geboten. Das gilt 136 umso mehr, als es immer schwer sein wird, eine einmal übernommene Verteidigung wieder niederzulegen (Rz. 161). Auch erfährt der Verteidiger manches über den Mandanten und die Sache erst durch die Akteneinsicht. Diese ist ihm aber erst nach der Übernahme der Verteidigung möglich. Daraus erwächst das Dilemma des Verteidigers und die Überlegung, ob die Verteidigung vielleicht „unter Vorbehalt“ angenommen werden kann, was in der Regel nicht geht. Wenn möglich, sollte man sich vorher z.B. die Anklage vom Klienten schicken lassen. In diesem Stadium wird im Übrigen auch die Frage der Honorierung der Verteidigung erstmalig bedeutungsvoll. Der Verteidiger muss auch jetzt schon darauf achten, dass er nicht unver- 137 sehens in eine Interessenkollision gerät (Rz. 77 ff.). Das kann ihm leicht passieren, wenn er Beteiligte früher vertreten oder auch nur beraten hat. Dies kann dazu führen, dass er später das unbedacht übernommene Mandat niederlegen muss (Rz. 161). In Sozietäten kann übersehen, häufig aber auch vor der Mandatsannahme gar nicht festgestellt werden, ob ein Sozius schon in einem kollidierenden Mandat tätig ist. In diesem Fall ist
1 BVerfG v. 30.3.2004 – 2 BvR 1520/01, 2 BvR 1521/01, NStZ 2004, 259; Fischer, § 261 StGB Rz. 32 ff.
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Rz. 137
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
jedes Mandat der Sozietät illegal, was besonders der Mandant nicht wissen oder nicht wahrhaben will. Der Verteidiger darf ein solches Mandat nicht führen. Die Gefahr einer Interessenkollision ist besonders zu beachten, wenn in einem Strafverfahren die Verteidigung mehrerer Beschuldigter durch Anwälte der Sozietät übernommen werden sollen. Dies kann unbedenklich sein, wenn kollidierende Interessen zwischen den Mandanten nach der Struktur des Falles offensichtlich ausgeschlossen sind. Mit dieser Beurteilung sollte man indes vorsichtig sein. Die Erfahrung lehrt, dass bei Übernahme des Mandats von den Beteiligten Interessenkollisionen ausgeschlossen werden und auch für den Verteidiger nicht erkennbar sind, jedoch dann, wenn im Laufe des Verfahrens Sachverhalte und Einlassungen erarbeitet werden, sich überraschend herausstellt, dass die vorausgesetzte Einheitlichkeit und Kongruenz der Interessen doch nicht besteht. Die Notwendigkeit der Niederlegung aller Mandate ist dann die Folge. Dieser Gefahr kann man in geeigneten Fällen dadurch begegnen, dass von den Anwälten der Sozietät zunächst nur einer sich als Verteidiger bestellt und die Begründung der weiteren Mandate zurückgestellt wird, bis die Beschuldigungen konkretisiert sind, die individuellen Verteidigungslinien miteinander verglichen und Fragen nach möglichen Interessenkollisionen beantwortet werden können. Allerdings muss man sich in solchen Fällen auch davor hüten, die Sache intern unter den Strafverteidigern für die vorbereitende Bearbeitung so zu verteilen, dass sie unversehens in die Wahrnehmung eines Individualinteresses „hineinrutschen“. Dann kommt es für den Interessenwiderstreit und seine Folgen auf das „Außenbild“ naturgemäß nicht an. Kommen als Beschuldigte Personen in Betracht, die unterschiedlichen Hierarchiestufen, z.B. im Unternehmen, angehören und soll ein bestimmter Verteidiger auf jeden Fall für eine bestimmte Person „reserviert“ bleiben, so empfiehlt es sich, dass dieser zunächst aus dem Mandatsbereich ausgeklammert bleibt, solange noch nicht sicher ist, dass der für ihn vorgesehene Mandant überhaupt Beschuldigter (oder etwa „verdächtiger Zeuge“) im Verfahren sein wird. In der Regel sollte der Methode der Vorzug gegeben werden, dass sich nur ein Anwalt, der nicht unbedingt ein ausgewiesener Strafverteidiger sein muss, als Verteidiger bestellt und im Wesentlichen allein in der Sache agiert, bis die Frage der Interessenkollision geklärt ist, woraufhin dann die übrigen Verteidigungsmandate begründet werden können. Zur Frage der Interessenkollision bei der Vertretung von Angeklagten und Zeugen oder mehreren Zeugen als Beistand vgl. Rz. 1161. Der Verteidiger muss das Mandat ablehnen, wenn er selbst an der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat beteiligt ist1. Sehr schwierig ist es, wenn der Verteidiger im Verfahren als Zeuge in Betracht kommt. Die Verteidi-
1 Ausschließungsgrund nach § 238a Abs. 1 StPO.
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Verteidiger und Mandant
Rz. 139
gung wird dadurch nicht unzulässig1, zumal sich die Zeugenvernehmung während des Prozesses auch überraschend ergeben kann, vor allem wenn es sich um Vorgänge im Verfahren handelt. Gleichwohl sollte der Verteidiger jedenfalls dann Zurückhaltung üben, wenn schon bei Mandatsübernahme damit zu rechnen ist, dass er für wesentliche Umstände, die die Sache selbst betreffen, als Zeuge in Betracht kommt. Die Peinlichkeit, sich einer kontroversen Befragung ausgesetzt zu sehen und evtl. Gegenstand unterschiedlicher Beweiswürdigung zu sein, sollte er unbedingt vermeiden. Diese Rolle entfernt sich zu sehr von seinem Berufsbild und seiner Aufgabe. Delikate Fragen löst ein Verteidigungsauftrag eines Beschuldigten aus, 138 wenn damit zu rechnen ist, dass ein anderer Beschuldigter auf denselben Anwalt als Mandant zukommen wird. Das kann z.B. der Fall sein, wenn dieser potentielle Mandant schon Klient in einer anderen Sache ist oder sonstige gute Verbindungen bestehen. Nimmt der Verteidiger den ersten Auftrag an, so wird er für den erwünschten zweiten Auftrag illegal und schaltet sich damit selbst aus (§ 146 StPO). Lehnt er ihn ab, kann er bei Ausbleiben des zweiten Mandats „zwischen zwei Stühle“ geraten. Das Dilemma des Verteidigers ist noch verschärft, wenn das angetragene Erstmandat nur eine unbedeutende Randfigur des Verfahrens betrifft, während das erwartete Zweitmandat einen größeren oder sonst vorzuziehenden Auftrag darstellen würde. Handelt es sich um einen Mandanten, der anwaltlich ständig oder jedenfalls zur Zeit in anderer Sache vertreten wird, erscheint eine allgemein gehaltene Rückfrage vertretbar. Die Erfahrung lehrt, dass solche Klienten dies auch erwarten und geradezu konsterniert sind, wenn „ihr“ Vertrauens-Anwalt sich durch die Annahme eines anderen Auftrages in der Sache blockiert hat. Es ist eine Frage des Stils, die Rückfrage so zu gestalten, dass jeder Anschein der Werbung vermieden wird. Auch die bloße Mitteilung, man habe das angetragene Mandat wegen der bestehenden beruflichen Beziehungen zum Adressaten abgelehnt, wäre berufsrechtlich wohl nicht sanktionsbewehrt. Zu beanstanden ist dagegen eine Kontaktaufnahme zu einem Nicht-Klienten, zumal sie häufig mit einer reklamehaften Empfehlung der eigenen Fachkunde verbunden ist – oder jedenfalls so verstanden wird. Hier spielt auch das Problem der Reservierung für ein Verteidigungsman- 139 dat eine Rolle. Der Klient will sich für den Fall der entsprechenden Entwicklung einer Sache seinen Anwalt sichern. Man muss sich das dann gut überlegen, wenn man auf ein „besseres“ Mandat in derselben Sache rechnen kann. Es passiert aber auch, dass ein Beschuldigter einen Anwalt für sich reserviert, ohne überhaupt gewillt zu sein, ihn später zu beauftragen. Damit bezweckt er, den betreffenden Anwalt, den er als Gegner fürchtet, für jedes Gegenmandat, z.B. für einen ihn belastenden Mitbeschuldigten, in derselben Rechtssache auszuschalten. Dieses Ziel wird 1 Vgl. i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 48 StPO Rz. 18; Ignor/Bertheau in Löwe/Rosenberg, Vor § 48 StPO Rz. 45 ff.
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Rz. 140
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
erreicht, wenn der Angesprochene sich auch nur auf eine vorläufige Beratung einlässt. Wenn der Mandant dann statt seiner einen anderen Verteidiger beauftragt, sieht er sich letztlich durch solch raffiniertes Vorgehen für jedes kollidierende Mandat aus der Sache „herausgeschossen“. Es kommt auch vor, dass ein Betroffener, der diesen Effekt anstrebt, das offen zur Sprache bringt. Er schlägt dem Anwalt vor, sich gegen Honorierung jeder Mandatsannahme für Interessengegner in der Sache zu enthalten, während der Mandant selbst doch „seinen“ Anwalt als Verteidiger behält. Wer das mitmacht, lässt sich gewissermaßen „einkaufen“ und leistet damit einen Dienst durch echtes Nichtstun. Das ist die Wirksamkeit einer fleet in being – ein mit der Berufsauffassung wohl kaum zu vereinbarendes Manöver. 140
Ein Syndikusanwalt darf die Verteidigung eines Repräsentanten seines Unternehmens oder Verbandes vor Gericht nicht übernehmen. § 46 BRAO verbietet die Vertretung eines Auftraggebers, bei dem er als Syndikusanwalt tätig ist; darunter fällt auch die Vertretung gesetzlicher Vertreter (Mitglied des Vorstandes, Geschäftsführer, persönlich haftender Gesellschafter) in einer Strafsache aus dem Unternehmensbereich1. Anders ist es bei einer rein persönlichen Strafsache, die die Belange des Unternehmens nicht tangiert2.
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In der Praxis übernehmen Syndikusanwälte häufig die Verteidigung von Mitarbeitern „ihres“ Unternehmens, die unterhalb der Ebene gesetzlicher Vertreter stehen. Derartige Mandate sollten genau bedacht werden. Zum einen ist zu prüfen, ob eine der gesetzlichen Sperren des § 46 Abs. 2 BRAO besteht (Vorbefassung), zum anderen ist die Gefahr einer Kollision der Interessen des Unternehmens mit denen der individuellen Verteidigung kaum einmal auszuschließen3. Das gilt z.B., wenn zur Verteidigung auf Weisungen (bisher nicht beschuldigter)Vorgesetzter, ungenügende Anleitung und Ausstattung sowie Organisationsmängel hingewiesen werden muss, was nach praktischer Erfahrung häufig der Fall ist. Darin liegen übrigens auch für den externen Verteidiger Probleme, zumal wenn das Unternehmen seine Kosten trägt (näher dazu Rz. 144). Schließlich muss der Syndikusanwalt überlegen, ob er über die für eine Strafverteidigung notwendigen Spezialkenntnisse und Erfahrungen verfügt, was häufig nicht der Fall ist. Der exzellente Kenner des Handels-, Gesellschaftsund Steuerrechts, des nationalen und internationalen Unternehmensrechts u.a. ist in seiner Berufsausübung regelmäßig von Strafrecht, besonders von der forensischen Strafverteidigung, meilenweit entfernt. Gerade der Mangel an laufend aktualisierter Alltagserfahrung im Umgang mit Strafverfolgungsorganen kann zu Fehlern und Missgriffen führen, die nach der Eigenart des Strafprozesses irreparabel sind. Staatsanwälte spre1 Feuerich/Weyland, § 46 BRAO Rz. 18; krit. Prütting, Kammerforum Köln, 2012, 4 (7 f.). 2 Feuerich/Weyland, § 46 BRAO Rz. 18. 3 Ähnliches gilt für den Syndikus als Zeugenbeistand – vgl. Rz. 140.
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Verteidiger und Mandant
Rz. 142
chen im Zusammenhang mit der Verteidigung durch Syndikusanwälte zuweilen etwas abschätzig von der „Laienspielschar“. Der Syndikus dient seinem Unternehmen in der Regel besser, wenn er den Aufbau einer externen Verteidigung organisiert und sich auf deren interne Information und Beratung beschränkt. Dazu kann er (soweit erforderlich) seine Spezialkenntnisse ebenso wie die Interessen aller Beteiligten in die Diskussion über die Verteidigungsstrategie und -taktik einbringen (dazu Rz. 140 f.) und fruchtbar machen. Dabei muss er allerdings bedenken, dass – wenn er im Verfahren nicht als Verteidiger bestellt ist – die Beschlagnahmefreiheit seiner Unterlagen nach § 97 StPO nicht ohne weiteres gesichert ist1. Die Zusammenarbeit zwischen externen Verteidigern und Syndikusanwälten ist ein vielschichtiges und nicht selten schwieriges Kapitel; sie erfordert auf beiden Seiten Souveränität und Fingerspitzengefühl. Wenn der Auftrag zur Verteidigung durch dritte Personen erteilt wird, 142 entsteht das Verteidigungsverhältnis erst durch Vereinbarung mit dem Beschuldigten, ohne dessen Vollmacht der Verteidiger nicht handeln kann. Ein besonderer Fall dieser Variante ist die Beauftragung durch die Medien (dazu Rz. 32). Auf der Jagd nach Sensationen suchen deren Vertreter häufig die Verbindung zu Anwälten, um über sie schnell und zuverlässig Informationen zu erhalten. Im Umgang mit den Medien sollte der Verteidiger allgemein Zurückhaltung üben (Rz. 99), insbesondere das Reklameverbot und das Schweigegebot beachten. In publikumswirksamen Sachen tritt die Presse manchmal an einen Anwalt heran und bietet ihm für die Führung der Verteidigung ein hohes Honorar an. Es ist nicht grundsätzlich verboten, ein solches Mandat anzunehmen. Der Anwalt muss sich aber den Auftrag vom Beschuldigten bestätigen und sich Vollmacht erteilen lassen. Er hat dann ausschließlich dem Interesse des Verteidigten zu dienen, auch wenn das den Wünschen des Pressemandanten zuwiderläuft. Er hat auch besonders auf die Respektierung der Persönlichkeitsrechte und der Intimsphäre seines Mandanten zu achten. Auch wenn dieser ihn von der gesetzlichen Schweigepflicht entbindet, hat der Verteidiger die darüber hinausgehende Pflicht zur beruflichen Verschwiegenheit. Das bedeutet, dass er nicht zur Sensationsmache und an spektakulären Publikationen mitwirken darf. Das gilt besonders auch dann, wenn der Verteidigte es anders wünscht, weil er sich öffentlich interessant machen oder ein möglichst hohes Honorar herausschlagen will. Auch hat der Anwalt zu beachten, dass durch solche Sensationsartikel das Verfahren nachteilig beeinflusst werden kann. Das gilt jedenfalls dann, wenn das Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, sondern noch läuft oder durch ein Wiederaufnahmeverfahren wieder in Gang gesetzt werden soll.
1 Dazu Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 53 StPO Rz. 15; Nack in KK, § 97 StPO Rz. 38 ff.; Roxin, NJW 1992, 1129;vgl. auch LG Frankfurt v. 17.12.1992 – 5/26 Qs 41/92, StV 1993, 351; Hassemer, wistra 1986, 1.
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Rz. 143
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Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
Die Berichterstattung gerade in Wiederaufnahmefällen (Rz. 996) ist häufig darauf ausgerichtet, der Justiz grobe Verfahrensfehler vorzuwerfen oder sonst den Verurteilten als Opfer eines Justizirrtums sensationell herauszustellen. Die dabei angewandten Methoden der Meinungsbeeinflussung sind für das schwebende Verfahren sehr gefährlich, besonders wegen der Einwirkung auf die Laienrichter und die Verfahrenszeugen. Dazu darf der Verteidiger nicht mitwirken, und er sollte darüber hinaus dafür sorgen, dass sein Name und seine Informationen nicht mit derartigen Veröffentlichungen in Zusammenhang gebracht werden. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen das Interesse der Medien-Öffentlichkeit und die publizistische Begleitung des Verfahrens dem Klienten Schutz vor einem allzu rasanten „Abbügeln“ seiner Bemühungen um die Überprüfung eines zweifelhaften Urteils bieten kann. Daran darf der Verteidiger selbstverständlich durch zutreffende und objektive Information mitwirken, wenn der Mandant damit einverstanden ist. Auch dann ist es aber schon ein Gebot der Klugheit, auf strenge Sachlichkeit in der Berichterstattung hinzuwirken. Ein ganz anderer Fall liegt vor, wenn der Verteidiger den Auftrag der Presse annimmt, als deren Vertreter und in deren Interesse in einer Sache zu recherchieren und der Presse Material zu geben. In diesem Falle wird der Anwalt nicht Verteidiger des Betroffenen. Dieser erteilt ihm auch keine Vollmacht, und der Anwalt ist ihm gegenüber frei. Aber auch hier sind Unabhängigkeit und das Ansehen des Berufs zu wahren (Rz. 28 ff.). Das Verbot der Reklame (Rz. 99) ist zu achten. Besonders hat der Verteidiger zu bedenken, dass durch eine pressemäßige Ausschlachtung seiner Informationen das Verfahren gestört und der Betroffene geschädigt werden kann.
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Verteidiger werden oft von Inhabern oder Leitern von Unternehmen oder Geschäften beauftragt (vgl. auch Rz. 130, 142), die im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht für Betriebsangehörige das Honorar des Verteidigers übernehmen (Rz. 32). Hier ist große Wachsamkeit geboten. Nicht selten kollidieren nämlich die Interessen der in einen strafrechtlichen Vorwurf geratenen Beschuldigten mit den zivilrechtlichen Interessen des Unternehmers hinsichtlich des Schadensersatzes oder auch mit den strafrechtlichen Interessen des Inhabers oder Leiters. Der Verteidiger darf dann zwar von dort das Honorar annehmen, aber er hat nur seinem speziellen Mandanten zu dienen und darf mit keinem Auge nach dem „Brötchengeber“ schielen. Darüber hat er auch von vornherein Klarheit zu schaffen. Er darf niemals im Zwielicht stehen. (Zur „Ausschreibung“ von Mandaten und zur Unabhängigkeit von Kostenträgern Rz. 32.) b) Pflichtverteidiger Literatur: Beulke, Die notwendige Verteidigung in Jugendstrafverfahren – Land in Sicht?, FS Böhm (1999), S. 647; Burgard, Notwendige Verteidigung wegen hoher Strafverwartung durch Änderung der Verfahrenssituation in der Hauptverhand-
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Verteidiger und Mandant
Rz. 145
lung, NStZ 2000, 242; Hamm, Die (notwendige) Verteidigung während des Vorverfahrens im Licht der Vertragstheorie und der neueren Rechtsprechung, FS Lüderssen (2002), S. 717; Hilgendorf, Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung gem. § 143 StPO, NStZ 1996, 1; Klemke, Unterlassene Pflichtverteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren und ihre Konsequenzen, StV 2003, 413; Lehmann, Zur Beiordnung des auswärtigen Verteidigers, NStZ 2012, 188; Leipold, Die Pflichtverteidigung – Verteidigung 2. Klasse?, AnwBl. 2004, 683; Lüderssen, Die Pflichtverteidigung, NJW 1986, 2472; Oellerich, Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung und Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung, StV 1981, 454; Schlothauer, Die Auswahl des Pflichtverteidigers, StV 1981, 443; Schnarr, Der bevollmächtigte Pflichtverteidiger und sein Stellvertreter, NStZ 1996, 214; Welp, Der Verteidiger als Anwalt des Vertrauens, ZStW 90 (1978), 101 (107, 122); Widmaier, Zu den Folgen der Verletzung von Art. III lit. d EMRK durch unterbliebene Verteidigerbestellung: Beweiswürdigungslösung oder Verwertungsverbot?, NJWSonderheft für Gerhard Schäfer 2003, 76.
In den Fällen der notwendigen Verteidigung ist dem Beschuldigten von 145 Amts wegen ein Verteidiger zuzuordnen, falls keine Wahlverteidigung besteht. Grundlage ist einmal der Straftatenkatalog des § 140 Abs. 1 StPO, zum anderen die Auffangregelung des § 140 Abs. 2 StPO1. Zu beachten ist, dass die Bestellung z.B. immer dann erfolgen muss, wenn die nur dem Verteidiger zustehende Akteneinsicht zu einer sachgemäßen Verteidigung erforderlich ist2, der Mitangeklagte einen Verteidiger hat3 oder die Staatsanwaltschaft die Beiordnung beantragt4. Streitig ist die Frage, ob die Erwartung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr die notwendige Verteidigung auslöst oder dies erst dann der Fall ist, wenn zwei Jahre drohen5. Der vom Beschuldigten um Beratung angesprochene Anwalt sollte im Zweifel seine Bestellung beantragen: Vielfach werden sich gute Gründe anführen lassen. Das Gefühl mancher Vorsitzender für die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO ist immer noch unterentwickelt und erst durch entsprechend begründete Anträge zu aktivieren6. 1 Zur Bedeutung der Pflichtverteidigergarantie vgl. EuGMR v. 13.5.1980 – 6694/74, EuGRZ 1980, 662. 2 BVerfG v. 29.1.1993 – 2 BvR 1121/92, StV 1993, 647 f.; KG v. 26.5.1992 – 1 Ss 58/92, StV 1993, 5 f.; OLG Koblenz v. 11.2.1999 – 1 Ws 43/99, NStZ-RR 2000, 176; OLG Koblenz v. 29.4.1993 – 1 Ss 72/93, StV 1993, 461 f.; eingehend Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 StPO Rz. 27. 3 LG Magdeburg v. 29.10.2010 – 21 Qs 805 Js 70914/10 (77/10), NStZ-RR 2012, 50 (LS). 4 LG Dresden v. 3.3.2011 – 4 Qs 56/11, NStZ-RR 2012, 50 (LS). 5 Richtwert = ein Jahr: OLG Saarbrücken v. 24.4.2007 – Ss 25/2007; OLG Hamm v. 12.2.2008 – 3 Ss 541/07; OLG München v. 6.3.1992 – 1 Ws 161/92, StV 1993, 65; BayObLG v. 26.11.1992 – 4St RR 210/92, StV 1993, 180; OLG Koblenz v. 29.4.1993 – 1 Ss 72/93, StV 1993, 461; mindestens zwei Jahre: OLG Celle v. 5.2.1985 – 2 Ws 26/85, 2 Ws 27/85, StV 1985, 184; OLG Frankfurt v. 17.4.1984 – 2 Ss 82/84, StV 1984, 370; OLG Zweibrücken v. 28.1.1986 – 1 Ss 30/86, NStZ 1987, 89; krit. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 StPO Rz. 23. 6 Zum Umfang der Mitwirkung von Verteidigern in Strafverfahren allgemein Rieß in FS Sarstedt (1980), S. 261. Zur notwendigen Verteidigung bei Ausländern vgl. OLG Düsseldorf v. 6.12.1988 – 1 Ws 1142/88, 1 Ws 1194/88, StV 1992, 363 m.
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Rz. 146
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Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
Den Pflichtverteidiger hat der Vorsitzende des Gerichts in den dafür in Betracht kommenden Fällen möglichst aus dem Kreis der im Bezirk zugelassenen Rechtsanwälte zu bestellen (§ 142 Abs. 1 S. 1 StPO); benennt der Beschuldigte (§ 142 Abs. 1 S. 2 und 3 StPO) einen auswärtigen Verteidiger, so hat das Vertrauensverhältnis Vorrang1, was ggf. dargelegt werden muss. Durch öffentlich-rechtlichen Akt wird das Rechtsverhältnis zwischen dem Pflichtverteidiger und dem Beschuldigten begründet, dessen Zustimmung oder Ablehnung dazu rechtlich nicht von Bedeutung ist2. Der Pflichtverteidiger hat kraft der Bestellung seine Rechte und Pflichten unabhängig von den Weisungen des Beschuldigten auszuüben. Als Pflichtverteidiger soll in erster Linie ein Anwalt des Vertrauens des Beschuldigten bestellt werden. Deshalb ist ihm Gelegenheit zu geben, einen solchen zu benennen (§ 142 Abs. 1 S. 2 StPO). Dem Wunsch des Beschuldigten muss entsprochen werden, wenn nicht wichtige Gründe entgegenstehen (S. 3). Fiskalische Gründe oder die bekannte „Unbequemlichkeit“ des Verteidigers dürfen nicht zur Ablehnung führen3. Die Bestellung erfolgt durch den Vorsitzenden (S. 1), auch wenn der Beschuldigte keinen Verteidiger benannt hat. Die Verletzung des § 142 Abs. 1 StPO kann unter bestimmten Voraussetzungen mit der Beschwerde angefochten werden4; Entsprechendes gilt auch für die Bestellung des Pflichtverteidigers5. Schließlich kommt bei Rechtsfehlern ggf. die Revision in Betracht6. Die Anwälte haben verschiedene Auffassungen über die Erwünschtheit von Pflichtverteidigungen. Besonders der jüngere Anwalt sollte danach streben, durch Pflichtverteidigungen Erfahrungen in Strafsachen zu sammeln und sich der Öffentlichkeit bekanntzumachen. Auch wenn die einzelne Sache ihm nicht sympathisch sein mag, so verschafft sie dem Anwalt doch vielfältige Kontakte zu Gericht, Staatsanwaltschaft, Zeugen und Sachverständigen sowie zum Publikum und zur Presse. Sie gibt ihm damit eine sehr gute Gelegenheit, für sich durch Leistung zu werben. Es ist auch nicht bedenklich, Vorsitzende wissen zu lassen, dass Pflichtverteidigungen erwünscht sind. Viele Gerichte legen im Zusammenwirken mit den Anwaltvereinen Listen an, die für die Auswahl dem Vorsitzenden eine willkommene Hilfe sind.
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Anm. Wolf; OLG Hamm v. 16.11.1993 – 3 Ss 1032/93, StV 1995, 64; LG Landshut v. 13.7.1993 – Qs 158/93, StV 1994, 239. OLG Zweibrücken v. 5.6.2001 – 1 Ws 305/01, StV 2002, 238; Schmitt in MeyerGoßner/Schmitt, § 142 StPO Rz. 12 f. m.N.; Lehmann, NStZ 2012, 188. Die Einzelheiten des Rechtsverhältnisses zwischen Pflichtverteidiger und Beschuldigtem sind dogmatisch nicht geklärt. OLG Zweibrücken v. 5.6.2001 – 1 Ws 305/01, StV 2002, 238 m.N. OLG Düsseldorf v. 30.8.1999 – 1 Ws 411/99, JMBl. NRW 2000, 98. OLG Düsseldorf v. 18.9.2002 – 2 Ws 242/02, StV 2004, 62 m. Anm. Bockemühl. BGH v. 26.8.1993 – 4 StR 364/93, BGHSt. 39, 310 (313); BGH v. 22.11.2001 – 1 StR 220/01, BGHSt. 47, 172 (180); BGH v. 25.2.1992 – 5 StR 483/91, NStZ 1992, 292 m.N.
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Verteidiger und Mandant
Rz. 147
Wenn ein Anwalt sich generell für die Ablehnung von Pflichtverteidigun- 147 gen entschieden hat, wird er gegen seinen erklärten Willen wohl nicht bestellt werden, obwohl er an sich zur Führung von Pflichtverteidigungen verpflichtet ist (§ 49 Abs. 1 BRAO). Das geschieht umso weniger, als der Pflichtverteidiger die Aufhebung der Bestellung aus „wichtigen Gründen“ verlangen kann (§§ 49 Abs. 2, 48 Abs. 2 BRAO)1. Schwierigkeiten können auftreten, wenn der gewählte und schon tätig gewordene Wahlverteidiger nach Niederlegung seines Mandats ohne seinen Antrag zum Pflichtverteidiger bestellt wird. Das kommt besonders dann vor, wenn – vielleicht kurz vor oder während der Hauptverhandlung – der Vorsitzende den Termin oder sogar das gesamte Verfahren retten will. Der Verteidiger wird dann häufig als gewichtigen Grund für die Ablehnung bzw. Aufhebung der Pflichtverteidigung die vorher aufgetretenen Störungen der Vertrauensgrundlage vorbringen können. Diese werden in der Praxis auch regelmäßig als Ablehnungs- bzw. Aufhebungsgrund anerkannt2. Es kommt auch, besonders in großen Sachen, vor, dass der Vorsitzende eines auswärtigen Gerichts den ausgeschiedenen Wahlverteidiger zum Pflichtverteidiger bestellen will, weil er die Sache kennt und die zeitraubende Einarbeitung eines anderen Pflichtverteidigers vermieden werden soll. Das ist aber bei weiter Entfernung in der Regel dem Verteidiger nicht zuzumuten, wenn die Zusatzkosten nicht sichergestellt sind. Anderseits gibt es in der Praxis häufig den Fall, dass der Wahlverteidiger niederlegt, weil seine Kosten nicht bezahlt oder gesichert sind. Er muss damit rechnen, dass der Vorsitzende ihn jetzt zum Pflichtverteidiger bestellt; einer solchen Beiordnung wird er sich schwerlich entziehen können – Grund genug, die Kostenfrage möglichst langfristig vor der Hauptverhandlung zu klären (Rz. 1201). Der Anwalt darf seine Bestellung zum Pflichtverteidiger nicht hinnehmen, wenn er nicht genügend Zeit zur Vorbereitung der Hauptverhandlung hat. Mindestens muss er dann eine Aussetzung verlangen. Dasselbe gilt natürlich gem. § 145 Abs. 3 StPO dann, wenn der Pflichtverteidiger erst während der Hauptverhandlung wegen Wegfalls des Erstverteidigers bestellt wird. In den vorgenannten Fällen muss der Verteidiger hart gegenüber dem Vorsitzenden, aber auch hart gegen sich selbst sein. Die Versuchung ist groß, sich das Wohlwollen des Vorsitzenden (Rz. 192) besonders im Hinblick auf Zuteilung weiterer Pflichtverteidigungen durch Nachgiebigkeit zu erkaufen und auf den verfahrensstörenden Aussetzungsantrag zu ver-
1 Vgl. auch Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 7. 2 BGH v. 19.5.1988 – 2 StR 22/88, NStZ 1988, 420: Niederlegung wegen Störung des Vertrauensverhältnisses allein genügt nicht. Es muss dargetan sein, dass und warum das Vertrauensverhältnis tatsächlich beseitigt ist. Zu den Voraussetzungen einer Entpflichtung aus wichtigem Grund s. auch OLG Köln v. 21.9.1993 – 2 Ws 461/93, StV 1994, 234 m. Anm. Münchhalffen.
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Rz. 148
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
zichten. Das geschieht dann aber auf dem Rücken des Angeklagten, der damit verraten statt verteidigt wird. Es ist vorgekommen, dass ein Anwalt sich in einer Umfangstrafsache kurz vor Beginn der Hauptverhandlung zum Offizialverteidiger bestellen ließ und auf den vom Angeklagten selbst in der Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Aussetzung zum Zwecke sachgemäßer Vorbereitung die Erklärung abgab, er könne sich ja während der Verhandlung nach und nach mit dem Inhalt der Akten (30 Bände!) vertraut machen. Der Vorsitzende hatte zuvor angedeutet, man werde sich auch für die Gewährung einer Pauschalvergütung (§ 51 RVG) einsetzen. Es soll andererseits auch geschehen, dass Verteidiger versuchen, ihre Bestellung dadurch zu „erzwingen“, dass sie das Mandat als Wahlverteidiger so kurz vor Beginn der (umfangreichen) Hauptverhandlung niederlegen, dass der Vorsitzende praktisch keine andere Möglichkeit hat als sie zum Offizialverteidiger zu bestellen, wenn er den Termin „retten“ will. Dieses Verhalten ist berufswidrig, wenn der Verteidiger schon früher wusste, dass z.B. der Mandant die Kosten nicht würde zahlen können. In solchen Fällen muss der Verteidiger auch mit der Kostenfolge nach § 145 Abs. 4 StPO rechnen, wenn aus triftigen Gründen ein anderer Pflichtverteidiger bestellt wird. Die „unzeitige“ Niederlegung des Mandats als Wahlverteidiger allein ist kein ausreichender Grund. Praktisch bedeutsam ist die Wirksamkeit der Bestellung für die Gesamtdauer des Verfahrens (außer der Hauptverhandlung in der Revisionsinstanz1 – Rz. 893) bis zur Urteilsrechtskraft, falls sie nicht ausdrücklich beschränkt ist. Die Bestellung des Pflichtverteidigers muss auch für eine evtl. Wiederaufnahme (Rz. 996 ff.) erfolgen (§§ 364a, 364b StPO). Das verursacht Konflikte, wenn der Pflichtverteidiger einen Wiederaufnahmeantrag für aussichtslos hält. Er verstößt gegen die Treuepflicht, wenn er weder dem Gericht den Vertrauensentzug durch seinen Mandanten mitteilt noch die Aufhebung seiner Beiordnung beantragt. 148
Die Bestellung zum Pflichtverteidiger hat gem. § 143 StPO zu unterbleiben oder ist zurückzunehmen, wenn ein Wahlverteidiger bestellt ist oder wird. Es soll grundsätzlich keine Pflichtverteidigung bestehen, wo ein Wahlverteidiger bestellt ist. Das folgt aus der Struktur des Gesetzes und auch aus der Gefährdung ordnungsmäßiger Verteidigung, falls der Pflichtverteidiger andere Wege gehen will als der Mandant oder sein Wahlverteidiger. Eine Ausnahme ist u.a. aber dann geboten, wenn von vornherein feststeht, dass der Wahlverteidiger in der Hauptverhandlung nicht ständig anwesend sein kann2. Die Praxis geht besonders in Umfangsachen noch darüber hinaus, indem der Vorsitzende trotz bestehen1 BGH v. 3.3.1964 – 5 StR 54/64, BGHSt. 19, 258; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 140 StPO Rz. 9. 2 BGH v. 24.1.1961 – 1 StR 132/60, BGHSt. 15, 306 (309); OLG Stuttgart v. 23.11.1966 – 1 Ss 261/66, NJW 1967, 944; OLG Frankfurt v. 9.10.1985 – 3 Ws 867/85, StV 1986, 144.
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Verteidiger und Mandant
Rz. 149
der Wahlverteidigung einen Pflichtverteidiger vorsorglich bestellt. Dazu kann ein unabweisbares Bedürfnis bestehen1. In solchen Verfahren bestellen sich nicht selten während des Ermittlungs- oder Zwischenverfahrens Wahlverteidiger, die häufig kurz vor oder sogar während einer dieser monatelangen Hauptverhandlungen ihr Mandat niederlegen, sei es aus allgemeinen Praxisgründen oder aus gesundheitlichen oder auch aus Kostengründen2. Damit würde die Hauptverhandlung „platzen“, wenn nicht vorsorglich neben dem Wahlverteidiger ein Pflichtverteidiger bestellt worden wäre. Es muss allerdings verlangt werden, dass der zusätzliche Offizialverteidiger im Einverständnis mit dem Wahlverteidiger bestellt wird, was in der Praxis nur zum Teil geschieht. Der Verteidiger sollte diese Praxis kennen und rechtzeitig mit dem Vorsitzenden über die Person des zusätzlichen Pflichtverteidigers sprechen. Die Bestellung des zusätzlichen Pflichtverteidigers („Sicherungsverteidi- 149 ger“) kann nach den Erfahrungen der Praxis für den Wahlverteidiger und den Klienten erhebliche Vorteile haben. So kann mit dem ortsansässigen und an allen Verhandlungstagen anwesenden Pflichtverteidiger eine Arbeitsteilung oder ein Informationssystem vereinbart werden, wodurch die Führung manchen Mandats überhaupt erst ermöglicht wird. An die vom Wahlverteidiger mit dem Mandanten erarbeitete Verteidigungsstrategie schließt sich der Offizialverteidiger erfahrungsgemäß durchweg an. Kommt es – aus welchen Gründen auch immer – nicht zu einer aktiven Kooperation, so pflegt der zusätzliche Pflichtverteidiger sich regelmäßig auf die Rolle eines „Ersatzverteidigers“ zu beschränken, d.h. sich bei im Wesentlichen passiver Teilnahme an der Verhandlung für den Notfall in Reserve zu halten. Man erlebt allerdings auch Kollegen, die offenbar eine andere Auffassung von ihrer Aufgabe als zusätzlicher Pflichtverteidiger haben und unter Herausstellung ihrer guten Kenntnis des Gerichts (des Vorsitzenden!) Geständnisempfehlungen erteilen. Dringen sie damit nicht durch, stellen sie in der Verhandlung Fragen, die jedem Staatsanwalt Ehre machen würden. Einer derart gefährlichen „Verteidigung“ muss der Wahlverteidiger, dem naturgemäß das Primat in der Verteidigung zukommt, in geeigneter Weise entgegentreten. Die Bestellung des zusätzlichen Pflichtverteidigers kann aber auch zu anderen, für die Beteiligten fast unlösbaren Problemen führen. Hier ist zu denken an die Fälle, in denen Offizialverteidiger allein zum Zwecke der „Verfahrenssicherung“ bestellt werden. Das geschieht dann, wenn der Vorsitzende befürchtet, dass der oder die gewählten Verteidiger ausgeschlossen (Rz. 40) werden müssen, vom Angeklagten entlassen werden oder ihr Mandat niederlegen, um die Verhandlung zum „Platzen“ zu bringen. Solchen Entwicklungen soll der zusätzliche Offizialverteidiger vorbeugen. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei der Auswahl dieses 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 143 StPO Rz. 2. 2 OLG Zweibrücken v. 16.2.1982 – 1 Ws 54/82, NStZ 1982, 298.
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Rz. 150
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
Verteidigers nicht der Wunsch des Beschuldigten, sondern das Vertrauen des Vorsitzenden in die Person des Anwalts vorrangig ist. Gleichwohl ist auch hier das Vorschlagsrecht des Beschuldigten zu beachten1. Ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschuldigten und seinen Wunschverteidigern auf der einen und dem unerwünschten Pflichtverteidiger auf der anderen Seite kommt allerdings meist nicht zustande, stattdessen beherrschen Ablehnung oder Feindschaft und Aggression die Szene. Eine berufsrechtliche Pflicht des sog. aufgenötigten Offizialverteidigers („Zwangsverteidigers“), die Aufhebung seiner Beiordnung zu betreiben, besteht nicht, weil der Antrag nach § 48 Abs. 2 BRAO nur fakultativ ist2. Auf der anderen Seite hat der Verteidiger eher das Recht, die Aufhebung seiner Bestellung zu beantragen, wenn das Vertrauen des Mandanten fehlt und die Weiterführung der Verteidigung unzumutbar ist3. Das Interesse an der Verfahrenssicherung hat kein solches Gewicht, dass demgegenüber alle elementaren Berufs- und Persönlichkeitsrechte des Verteidigers (einschließlich Art. 1 GG) zurücktreten müssten. Es spricht sogar manches dafür, dass die Sicherung des Verfahrens überhaupt kein rechtlicher Bestandteil der Idee und Institution der notwendigen Verteidigung ist, sondern nur ein Reflex der dem Schutz und Vorteil des Angeklagten verpflichteten Verfahrensteilhabe des Verteidigers4. Lehnt das Gericht die Entbindung des Pflichtverteidigers ab, so ist er verpflichtet, sich an den ablehnenden Beschluss zu halten (arg. ex § 49 Abs. 1 BRAO)5. Andererseits kann der vom Mandanten gewählte Verteidiger standesrechtlich nicht gehalten sein, gegen dessen Wunsch und Weisung mit dem abgelehnten Offizialverteidiger zu kooperieren, insbesondere ihm die Verteidigungsstrategie zu offenbaren. Das entbindet ihn allerdings nicht von der Beachtung der Grundsätze kollegialer Höflichkeit. 150
Der Pflichtverteidiger kann sich grundsätzlich nicht durch einen Unterbevollmächtigten vertreten lassen, weil die Bestellung auf seine Person beschränkt ist6; das gilt auch für den Kanzleisozius7. Die Vertretung ist aber mit Zustimmung des Vorsitzenden zulässig8. Dagegen ist eine Vertretung durch Referendare auch bei Zustimmung des Vorsitzenden unzu-
1 OLG Düsseldorf v. 1.8.1994 – 1 Ws 551/94, NStZ 1994, 599. 2 Das ist auch die Auffassung des Strafrechtsausschusses der BRAK (Kurzprot. der 122. Tagung, S. 5); Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 7. 3 Vgl. dazu Meyer/Goßner, § 140 StPO Rz. 34. 4 A.A. OLG Karlsruhe v. 2.3.1978 – 3 Ws 48/78 und KG v. 12.4.1978 – 1 StE 2/77 in AnwBl. 1978, 241. 5 In ganz extremen Situationen ist nach meiner Ansicht eine andere Entscheidung bei Anwendung des Rechtsgedankens aus § 35 StGB vertretbar. 6 BGH v. 16.12.1994 – 2 StR 461/94, NStZ 1995, 356; BGH v. 1.6.1981 – 1 StR 303/81, StV 1981, 393. 7 BGH v. 10.9.1980 – 2 StR 275/80, StV 1981, 12. 8 OLG Frankfurt v. 9.1.1980 – 3 Ws 13/80, NJW 1980, 1703.
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Verteidiger und Mandant
Rz. 152
lässig, da § 139 StPO nur für den Fall der Wahlverteidigung gilt1. Das gilt auch für den Stationsreferendar2 (Rz. 160), jedoch nicht für den Referendar, der zum allgemeinen Vertreter für alle Fälle der Verhinderung des Rechtsanwalts bestellt ist3. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass ein Referendar mit einer Ausbildungszeit von einem Jahr und drei Monaten vom Vorsitzenden zum Pflichtverteidiger bestellt werden kann (§ 139 StPO – Rz. 160) – was in der Praxis kaum geschieht und in aller Regel den Referendar überfordern würde. Bei der Einlegung von Rechtsmitteln und der Begründung der Revision 151 ist besonders darauf zu achten, dass die Schriftsätze vom Pflichtverteidiger persönlich unterzeichnet werden: Die Unterschrift des Kanzleisozius oder eines Unterbevollmächtigten führt zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels4. Das gilt aber nicht für den allgemeinen Vertreter im Sinne von § 53 BRAO. Dagegen soll der „unzulässige“ Vertreter die Revision wirksam zurücknehmen können5. 2. Autorität und Distanz Die Unabhängigkeit vom Mandanten (Rz. 31) erfordert eine überlegene 152 und straffe Führung der Verteidigung. Sie darf nicht durch schwächliche Folgsamkeit beeinträchtigt werden. Die Betroffenen treten oft mit unsachgemäßen Wünschen und Erwartungen an den Verteidiger heran. Das beruht zum Teil auf ihrem Unverstand oder ihrem zweifelhaften Charakter, zum Teil sind es Respektlosigkeit und Arroganz. Diese Eigenschaften finden sich häufig bei vermögenden Mandanten, die sich ihren Anwalt „nehmen“ und erwarten, dass die Verteidigung nach ihren Vorstellungen geführt wird. Ihnen muss man gleich von Anfang an energisch begegnen (Rz. 17)! Nur der Verteidiger selbst hat die Möglichkeit, aber auch die Verantwortung, den Umfang und die Grenzen seiner Wirksamkeit zu erkennen und die Verteidigung entsprechend zu führen. Dass er sich dabei nicht zu straf- oder berufsrechtlich bedenklichem Verhalten bestimmen lassen darf, ist ohnehin selbstverständlich. So hat er beispielsweise die Zumutung eines Mandanten zurückzuweisen, nach dem Vorhandensein eines Haftbefehls zu recherchieren, damit der Mandant sich dann ggf. noch durch eine Auslandsreise absetzen könnte (Rz. 65) oder der eindeutigen Aufforderung nachzukommen „Mit dem Zeugen X muss mal deut1 BGH v. 13.7.1989 – 4 StR 315/89, StV 1989, 465; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 139 StPO Rz. 1. 2 BGH v. 26.6.1958 – 5 StR 235/58, NJW 1958, 1308. 3 BGH v. 13.7.1989 – 4 StR 315/89, StV 1989, 465; BGH v. 2.9.1975 – 1 StR 380/75, NJW 1975, 2351. 4 BGH v. 11.6.1981 – 1 StR 303/81, StV 1981, 393; BayObLG v. 6.10.1980 – RReg.5 St 170/80, NJW 1981, 1629. 5 BGH v. 16.12.1994 – 2 StR 461/94, NStZ 1995, 356; dazu Schnarr, NStZ 1996, 214.
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lich gesprochen werden!“. Der Mandant wird oft rebellisch, wenn der Verteidiger sich derartigen oder ähnlichen Ansinnen nicht beugt. Solche Auftraggeber drängen vielfach auch auf Einschaltung der Presse, Mobilisierung politischen Einflusses („die politische Schiene fahren“), auf Einflussnahme bei zuständigen oder unzuständigen Stellen, auf Einreichung von Anträgen, Rechtsmitteln, Dienstaufsichtsbeschwerden, telefonische Anrufe zu höheren Dienststellen und dergleichen. Der Verteidiger hat mit gelassener Überlegenheit das Unzumutbare oder Unzweckmäßige zurückzuweisen, dabei jedem Unwillen mit souveräner Bestimmtheit zu begegnen. Nur so wird der Mandant merken, dass er an eine Persönlichkeit geraten ist, die sich nichts vormachen und sich auch nicht einkaufen lässt. Er wird sich dem Führungsanspruch des Verteidigers beugen und seine Maßnahmen respektieren müssen, wenn er auf diesen Verteidiger nicht verzichten will. Er wird sich auch die Auffassung abgewöhnen müssen, dass der Verteidiger nur für ihn da zu sein und andere Berufsaufgaben bedingungslos zurückzustellen habe. Der Verteidiger muss stets eine professionelle Distanz zu seinem Mandanten wahren. Von Ausnahmen abgesehen soll der Verteidiger sich auch grundsätzlich nicht in die Wohnung des Mandanten zitieren lassen und auch Besuche in seiner eigenen Wohnung – besonders erwünscht an Wochenenden – abwehren. In diesen Bereich gehört auch das Ansinnen, den Urlaub zu unterbrechen oder abzubrechen, obwohl die Sachlage dies weder erfordert noch die „Mandatspflege“ es ausnahmsweise nahelegt. Der Mandant mag in seinem Beruf über seine Leute wie über Schachfiguren verfügen können, der freie und unabhängige Anwalt sollte sich keinem Despotismus beugen. Das gilt auch bei Untersuchungshaft, die solchen Mandanten naturgemäß besonders zusetzt. Der Verteidiger sollte in solchen Fällen allerdings zugleich auch mit etwas diplomatischem Geschick zu Werke gehen, um das Mandat nicht zu verlieren. Das alles ist – besonders für den jungen Anwalt – nicht immer einfach. Aber auf die Dauer erwirbt er nur mit starkem Rückgrat Autorität und Ansehen. 153
Auf der anderen Seite ist es heute auch nicht mehr so, dass der Anwalt Besprechungen mit Klienten ausschließlich in seiner Kanzlei durchführt, gleichgültig wie viele Personen wie weit reisen müssen. In viele Mandate, besonders aus den Bereichen der Wirtschaftsunternehmen, Organisationen und Behörden sind von Anfang an zahlreiche Beteiligte eingebunden, z.B. Beschuldigte, Noch-nicht-Beschuldigte, Vorgesetzte, Syndici, „Hausanwälte“ u.a. Zusätzlich kann umfangreiches Aktenmaterial vorliegen, das für die Sache Bedeutung hat. In solchen Fällen wäre die „Einbestellung“ aller Beteiligten in die Kanzlei nicht nur unhöflich, sondern für das Mandat geradezu gefährlich. Es hat sich daher das Prinzip eingebürgert, dass derjenige reist, für den dies den geringsten Aufwand bedeutet. Diese Praxis hat dem Strafverteidiger, zumal wenn er überregional tätig ist, eine lebhafte Reisetätigkeit beschert, die ihm besondere Organisations- und Koordinierungsfähigkeit abverlangt.
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Viel schwieriger zu behandeln ist die nicht so seltene „Ausschreibung“ 154 von Mandaten, die in Bereichen des Wirtschaftsstrafrechts fast Standard ist. Einzelpersonen oder Unternehmen, die Aufträge in sensationellen, umfangreichen „wirtschaftlich“ attraktiven oder sonst aus dem Rahmen fallenden Straf-Verfahren zu vergeben haben, sprechen mehrere Verteidiger an und arrangieren „unverbindliche Vorgespräche“ (manchmal sogar am Telefon), in denen sich die an einem Mandat interessierten Rechtsanwälte in Auftreten, Gespräch und Honorarvorstellung präsentieren sollen. Dabei wird gelegentlich auch ganz ungeniert gesagt, welche Kollegen mit in der Konkurrenz sind. Erst nach Abschluss dieser „Verteidigerschau“ („Beauty-Contest“) wird dann entschieden, ob überhaupt, wer, welches der anstehenden Mandate erhält. Die Neigung, sich an einem solchen „Schaulaufen“ zu beteiligen, sollte gering sein, ist es aber nicht. Es ist eigentlich eine unwürdige Vorstellung, dass Verteidiger vor einer Mandanten-Jury eine „Show abziehen“, mit Mandaten und Erfolgen protzen, kollegiale Konkurrenten dezent aber deutlich „in die Pfanne hauen“ und gegenseitig die Honorare unterbieten. Dass so der objektiv beste Verteidiger gefunden wird, erscheint mehr als zweifelhaft. Wenn ein potentieller Mandant, was verständlich ist, vor der Erteilung des Auftrages einen unmittelbaren Eindruck vom Verteidiger gewinnen will, so ist das persönliche Gespräch – ohne Offenlegung des Wettbewerbs – dafür angemessen. Die inzwischen übliche Praxisbroschüre mag als ergänzende Information, die Empfehlung eines kompetenten Kollegen als weitere Entscheidungshilfe dienen. Obwohl dies eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, drängt sich die Erkenntnis auf, dass sich mancher um des „fetten“ Mandats willen auch an unangemessenen Auswahlverfahren – ja geradezu „Bewerbungen“ beim Beschuldigten – beteiligt – eine bedauerliche Entwicklung mit Risiken für alle Beteiligten. Die Autorität kann auch sonst dadurch gefährdet werden, dass der Vertei- 155 diger nicht die notwendige professionelle Distanz hält. Am besten ist es, sich auf die berufliche Aufgabe zu beschränken oder wenigstens das Berufliche vom Privaten zu trennen. Der Verteidiger läuft sonst Gefahr, die Grenzen nicht klar zu sehen und in Abhängigkeit zu geraten. Darauf legen manche Klienten es geradezu an. Sie inszenieren Einladungen, alkoholische Gelage, amouröse Abenteuer, Golfpartien im In- und Ausland und Duzfreundschaften. Der Verteidiger kann sich dabei seinem Klienten unter Umständen weitgehend ausliefern und ihm geradezu „hörig“ werden. Diese Warnung gilt besonders im Milieu einer Klientel, die sich nicht immer aus den Edelsten der Nation zusammensetzt. Allerdings soll es auch Verteidiger geben, die mit ähnlichen Methoden Syndici, Kollegen und andere Personen umgarnen, von denen die „Vergabe“ lukrativer Mandate erwartet werden kann. Der Verteidiger sollte sich auch keine plumpen Vertraulichkeiten, beson- 156 ders in der Öffentlichkeit und bei Gericht, gefallen lassen. Die Situation kann allerdings unter Umständen schwierig werden, wenn etwa im Gerichtssaal der vorbestrafte Schwerverbrecher oder die stadtbekannte Bar101
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dame den Verteidiger aufdringlich begrüßen will. Ein heikles Kapitel ist manchmal auch die Anrede des Mandanten. Wenn gegen diesen z.B. wegen unbefugten Führens des Professoren- oder Doktortitels verhandelt wird, kann die Anrede mit diesem Titel ebenso fragwürdig sein wie ihre Umgehung. 157
Eine spezielle Betrachtung erfordert die Situation des Verteidigers in den Verhandlungspausen des Gerichts. Sobald der Vorsitzende den Beginn einer Pause bekanntgibt, tritt das Gericht geschlossen in das Beratungszimmer ab. Demgegenüber gerät der Verteidiger von seinem „niedrigen“ Platz aus in den Strom der durch die allgemeine Tür nach außen drängenden Angeklagten, sonstigen Beteiligten und des Publikums. Die Gespanntheit der Verhandlung löst sich weitgehend in Unordnung, in lärmende Unterhaltung und aufdringliche Befragungen des Verteidigers durch seinen Klienten, Angehörige, Medienvertreter und alle möglichen anderen Leute auf. Es ist nicht immer einfach, dabei eine gute Figur abzugeben. Der Verteidiger muss sich aber bemühen, seine Haltung stets zu bewahren. Er muss auch, wenn er sich in entlegensten Orten des Gerichtsflures befindet, an seine Robe denken.
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Anbahnungen persönlicher Beziehungen zu Klienten im Mandat ist primär eine Stilfrage. Die Ablösung der beruflichen Distanz durch intime Beziehungen kann aber besonders je nach der Art der vertretenen Strafsache bedenklich oder mindestens geschmacklos sein. Das Bekanntwerden einer solchen Beziehung während des Verfahrens bei Gericht oder Staatsanwaltschaft diskreditiert den Verteidiger. Der Sache kann sie nur schaden. Der Verteidiger sollte dann lieber niederlegen – die Verteidigung oder das Verhältnis. Alle Vertraulichkeiten der geschilderten Art gefährden übrigens nicht nur die Autorität, sondern auch den Honoraranspruch des Verteidigers.
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Der Verteidiger bringt schließlich wie jeder Anwalt seine Autorität durch Unwahrheit oder Geschwätzigkeit in Gefahr. Verschwommene Äußerungen und Schönredereien stören das Vertrauen. Unwahrheiten und Halbwahrheiten des Verteidigers verzeiht ihm kein Klient. Auch Notlügen sind unwürdig. Sie sollten auch nicht zur Bemäntelung einer terminlichen Verhinderung oder dergleichen benutzt werden. Der Verteidiger setzt dabei auch den Respekt des Büropersonals aufs Spiel, das er selbst zu strenger Wahrheitspflicht zu erziehen hat. 3. Delegation der Verteidigung
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Der Wahlverteidiger kann sich in der Ausübung seiner Tätigkeit durch einen anderen Anwalt vertreten lassen (über Vertretung in der Hauptverhandlung vgl. Rz. 511, für Pflichtverteidiger vgl. Rz. 150). Die Vertretung kommt vor allem bei Terminkollisionen und auswärtigen Rechtshilfeoder Hauptverhandlungsterminen in Betracht, zumal die Sonderkosten
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des nicht am Gerichtsort domizilierenden Verteidigers in der Regel nicht ohne weiteres erstattet werden. Der Wahlverteidiger hat auch die Möglichkeit, einem Referendar mit einer Ausbildung von einem Jahr und drei Monaten die Verteidigung zu übertragen (§ 139 StPO), nicht jedoch einem Rechtsassessor1. Dazu bedarf er der Zustimmung des Angeklagten, nicht aber des Gerichts. Dieses Recht hat jedoch nur der Wahlverteidiger, nicht der Pflichtverteidiger2. Es bedeutet inhaltlich die Übertragung aller oder nur einzelner Aufgaben des Verteidigers. Der Verteidiger sollte in jedem Falle, auch bei Zustimmung des Mandanten, gewissenhaft überlegen, ob er die Übertragung auf den Referendar verantworten kann. Er muss die Sache und die Person des Referendars daraufhin prüfen, ob fachliche Qualifikation, Unabhängigkeit und Stehvermögen gesichert erscheinen. Es ist bezeichnend, dass im Bereich der Pflichtverteidigung (Rz. 145 ff.) Referendare nur sehr selten bestellt werden, jedenfalls nicht in den erstinstanzlichen Strafkammersachen und in Oberlandesgerichts- und Bundesgerichtshofsachen. Praktisch wichtiger ist die Möglichkeit für den Verteidiger, sich der Assistenz eines Referendars oder Assessors, auch in der Hauptverhandlung, zu bedienen. Sie ist zulässig und zur Erleichterung der Verteidigung, aber auch für die Ausbildung des Referendars ein sehr geeignetes Mittel, besonders wenn der juristische Mitarbeiter an der Sichtung und Ordnung des Materials mitgewirkt hat. Eine bestimmte Ausbildungszeit ist hier nicht vorgeschrieben. In der Hauptverhandlung kann der Referendar neben dem verantwortlichen Verteidiger auch Fragen stellen und Erklärungen abgeben, aber wohl nur mit Zustimmung des Gerichts (entsprechend § 138 Abs. 2 StPO). 4. Niederlegung der Verteidigung Literatur: Ch. Richter II, Der Umgang des Verteidigers mit dem Tatverdacht, BRAK-Schriftenreihe Bd. 12 (Symp. f. Egon Müller) 2000, S. 34; Thomas, Der Umgang des Verteidigers mit dem Tatverdacht, BRAK-Schriftenreihe Bd. 12 (Symp. f. Egon Müller) 2000, S. 36.
Der Wahlverteidiger kann grundsätzlich nach seinem Ermessen die Ver- 161 teidigung niederlegen. Dabei tauchen eine Vielzahl von Fragen auf. Zwar darf er seinen Auftrag „nicht zur Unzeit“ kündigen, es sei denn, dass zwingende Gründe vorliegen3. Praktisch sagt das aber nicht allzu viel. Als zwingenden Grund wird man eine erhebliche Erschütterung des Vertrauens regelmäßig anerkennen müssen, ebenso wie die Nichtzahlung
1 BGH v. 30.3.1976 – 1 StR 30/76, BGHSt. 26, 319; BayObLG v. 11.1.1991 – RReg.1 St 337/90, NJW 1991, 2434. 2 BGH v. 16.12.1994 – 2 StR 461/94, NStZ 1995, 356; Schnarr, NStZ 1996, 214. 3 Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 8.
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der Kosten1 (Rz. 1223). Insbesondere wird sich der Verteidiger anmaßendes Verhalten des Mandanten, Nachlässigkeit, Unwahrhaftigkeit und sonstiges schlechtes Benehmen nicht gefallen lassen, wenn es sich nicht um eine einmalige Entgleisung, etwa aufgrund der Haftsituation, handelt. Erst recht muss er sich von einem Mandanten trennen, der ihm unerlaubte Mittel oder berufswidriges Verhalten zumutet oder seine Autorität nicht respektiert, besonders in seiner Einlassung zur Sache und seinem sonstigen Verhalten verbohrt und eigensinnig ist. (Über den Fall der Niederlegung der Verteidigung eines schuldigen Angeklagten s. Rz. 81 f.) Hierher gehört auch der Fall eines bestreitenden Angeklagten, den der Verteidiger für hoffnungslos überführt hält2. Zwar sollte der Verteidiger mit der Bildung einer solchen Meinung sehr vorsichtig sein. Vor der Hauptverhandlung insbesondere ist die Prognose fast immer unsicher. Nichts ist trostloser als die Verzweiflung eines unschuldigen Menschen, dem sein eigener Verteidiger nicht mehr glaubt. Wenn aber auch bei äußerster Gewissenhaftigkeit kein noch so entfernter Hoffnungsschimmer mehr zu erkennen ist, dann verliert der Verteidiger jede Glaubwürdigkeit, wenn er die aussichtslose Sache nicht aufgibt. Er muss dann den Mandanten zu vernünftigem Prozessverhalten bringen. Insbesondere muss der Mandant sich damit einverstanden erklären, dass die Verteidigung sodann auf das Strafmaß beschränkt wird (Rz. 18). Sonst muss er ggf. die Konsequenz der Niederlegung ziehen. Selbstgefühl und Gewissen müssen ihm mehr bedeuten als der Verlust des Mandats. In der Hauptverhandlung entwickelt sich der Konflikt im Übrigen auch zu der Frage, ob der Verteidiger aus seiner selbständigen Verantwortung heraus gegen Willen und Auffassung seines Mandanten plädieren darf (Rz. 731). Immer geboten ist die Niederlegung des Mandats bei Auftreten einer Interessenkollision3 (Rz. 83 ff., 112, 137, 161). Bei Zweifeln können auch hier vertrauliche Rücksprachen mit Richtern und Staatsanwälten, insbesondere aber auch mit der Rechtsanwaltskammer oder erfahrenen Kollegen nützlich sein. Der Verteidiger muss auch beachten, dass die Niederlegung des Mandats dem Mandanten sehr schädlich sein kann, wenn daraus auf dessen Schuld geschlossen wird. Um das auszuschließen, kann man in entsprechenden Fällen unter Umständen bei der Niederlegung erklären, dass sie „nicht aus Gründen erfolgt, die in der Sache selbst liegen“. Der Verteidiger muss auch die Entscheidung über die Niederlegung seiner Stellung als Organ der Rechtspflege zuordnen und bedenken, dass die Niederlegung empfindliche Störungen des Verfahrens mit sich bringen kann. Das ist besonders der Fall, wenn die Hauptverhandlung bevorsteht, der Mandant einen anderen Verteidiger nicht rechtzeitig bestellen kann oder will und die Zeit für die Bestellung und Vorbereitung eines Pflichtver-
1 Vgl. aber OLG Koblenz v. 8.4.1975 – 1 Ws 198/75, MDR 1975, 773. 2 A.A. Richter II, BRAK-Schriftenreihe, Bd. 12, S. 35. 3 Vgl. dazu i.E. Dahs in MüKo, § 356 StGB Rz. 40, 41 ff.
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teidigers nicht reicht. Die Niederlegung kann dann zum „Platzen“ der Hauptverhandlung führen. Oft zeichnet sich einige Zeit vor der Hauptverhandlung die Möglichkeit ab, dass der Verteidiger dort evtl. nicht auftreten könnte, z.B. wegen Erkrankung oder aus anderen zwingenden Gründen. Dann gebietet es der Anstand des Verteidigers, das Gericht rechtzeitig über diese Möglichkeit zu informieren, damit der Vorsitzende ggf. noch einen Pflichtverteidiger vorsorglich bestellen kann, der evtl. wieder ausscheidet, wenn der Wahlverteidiger doch noch auftritt. Solche Abstimmungen mit dem Vorsitzenden werden dankbar aufgenommen und sichern dem Verteidiger entsprechendes Entgegenkommen für den nächsten Fall. (Zum Problem der Terminkollision s. Rz. 460.) In manchen Fällen ist es praktisch, die Verteidigung nicht förmlich nie- 162 derzulegen, sondern nur im Termin nicht aufzutreten, so etwa im Fall nicht ausreichender Informationen oder aus Kostengründen, wenn dies dem Mandanten rechtzeitig angekündigt worden ist. Der Verteidiger bleibt dann in seinem Mandat und wird nicht selten für die zweite und dritte Instanz wieder in Anspruch genommen, wenn der verurteilte Mandant sieht, was er angerichtet hat. Wenn der Verteidiger die Niederlegung oder eine Verhinderung nicht angezeigt hat, kommt es leicht dazu, dass in der Sitzung die Vorgänge öffentlich besprochen werden. Dabei ist der Verteidiger gegen Entstellungen und Unwahrheiten nicht geschützt, ganz abgesehen von der Peinlichkeit öffentlicher Erörterungen, etwa von Honorarfragen. Solche gibt der Mandant mit Vorliebe als Grund der Niederlegung an, auch wenn die Gründe in Wahrheit in der Sache selbst oder in seiner Person liegen. Überhaupt ist der Verteidiger immer in der Gefahr, nach der Mandatskündigung durch unwahre oder entstellte Darstellungen seines ehemaligen Mandanten bloßgestellt oder verleumdet zu werden. Er kann sich in der Regel schon wegen der Schweigepflicht (Rz. 53) dagegen kaum wehren. Darauf muss er sein Verhalten von Anfang an einrichten, um keine unangenehmen Überraschungen zu erleben. Die dargestellten Misslichkeiten sind noch prekärer, wenn der Mandant 163 selbst das Mandat entzieht. Ein solcher Vorgang ist an sich schon unangenehm. Die Umwelt neigt dazu, ein Versagen des Verteidigers zu vermuten. Dieser muss zu allen Fragen und Unterstellungen schweigen, was oft schwerfallen mag. Häufig erhebt auch der Mandant direkte Vorwürfe, besonders wenn er verurteilt worden ist und in angeblichen Fehlern des Verteidigers sein moralisches Alibi sucht. Dieser könnte mit einem Wort Aufklärung geben und den Verleumder bloßstellen. Das kann er aber vielfach nicht tun. Es wäre wenig geschmackvoll, über seine früheren Klienten abfällig zu reden, nachdem er bis dahin als Auftraggeber gut genug war. In einem aufsehenerregenden Prozess musste ein angesehener Verteidiger es hinnehmen, dass als Grund für die Mandatsentziehung in dem Wiederaufnahmeverfahren vom Mandanten und in der Pres105
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se kolportiert wurde, er habe durch grobe Fehler in der Hauptverhandlung die Verurteilung verschuldet. In Wahrheit hatte der Verteidiger sich geweigert, dem Mandanten in der Beschaffung und Auswertung eines falschen Beweismittels zu folgen. Der Verteidiger hätte zur Feststellung der Wahrheit und zur Wahrnehmung seiner Interessen an sich wohl eine Klarstellung veranlassen können, ohne daran durch seine Schweigepflicht gehindert zu sein. Unter den besonderen Umständen des Falles musste er aber schweigen und sich mit der erheblichen Beeinträchtigung seines Rufes abfinden. Wenn die Niederlegung der Verteidigung durch eine Kündigung des Mandanten ausgelöst wird, braucht der Verteidiger das dem Gericht nicht ausdrücklich zu erklären, was auch nicht gerade angenehm wäre. Zu empfehlen ist die Anzeige, das Mandat sei „beendet“. Das ist besser als die Erklärung des Verteidigers, dass er die Verteidigung „niederlege“. Damit würde er den Mandanten nur provozieren, das Gericht und möglicherweise die Öffentlichkeit über die von ihm ausgegangene Kündigung zu unterrichten. 164
Für den Pflichtverteidiger besteht die Möglichkeit der einfachen Niederlegung der Verteidigung nicht. Er kann nur nach Maßgabe des § 48 Abs. 2 BRAO aus wichtigen Gründen die Aufhebung der Pflichtverteidigung bei dem Vorsitzenden des Gerichts beantragen1. Hier gibt es aber oft Schwierigkeiten. Wenn aber ein Vertrauensverhältnis zum Verteidiger nicht oder nicht mehr besteht, insbesondere wenn die nicht gewünschte Pflichtverteidigung aufgezwungen ist, wird eine verständige Aussprache mit dem Vorsitzenden oft eine befriedigende Lösung bringen. (Vgl. i.Ü. zu dieser Problematik Rz. 146 ff.) 5. Zivilrechtliche Haftung des Verteidigers Literatur: Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 13, 2004, S. 121 ff.; Chab, Neue Regressprobleme im strafrechtlichen Mandat, AnwBl. 2005, 497; Krause, Die zivilrechtliche Haftung des Strafverteidigers, NStZ 2000, 225; G. Schäfer, Zur Frage der zivilrechtlichen Haftung des Verteidigers, BRAK-Schriftenreihe, Bd. 12 (Symp. f. Egon Müller) 2000, S. 63; Zwiehoff, Haftung des Strafverteidigers?, StV 1999, 555.
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Die Konsequenzen einer schlechten Verteidigung hat in aller Regel der Mandant allein zu tragen (Rz. 6). Zwar ist ein zivilrechtlicher Schadensersatzanspruch auf der Grundlage einer positiven Verletzung des Mandatsvertrages (entgeltlicher Geschäftsbesorgungsvertrag gem. §§ 675, 611 BGB) durchaus denkbar. Dagegen steht indes – anders als im Zivilprozess – die Struktur des Strafprozesses, in dem das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen umfassend – also auch ohne Mitwirkung des Verteidi1 Dazu grundsätzlich OLG Hamm v. 13.9.1982 – 1 Ws 302/82, StV 1982, 510, vgl. auch Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 7.
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gers oder gegen seine Intentionen – aufzuklären (§ 244 Abs. 2 StPO) und sein Urteil in freier Beweiswürdigung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu fällen hat (§ 261 StPO). Damit kommt dem Gericht – idealiter – eine Art Garantiestellung für die Fehlerfreiheit des Verfahrens und der Entscheidung zu, die zudem mit verschiedenen Rechtsmitteln bzw. Rechtsbehelfen überprüft werden kann. Selbst wenn sich also ein bestimmtes Verhalten des Verteidigers als fehlerhaft, gar unvertretbar erweisen würde, so folgt daraus weder die Wahrscheinlichkeit noch die Sicherheit einer anderen gerichtlichen Entscheidung bei alternativem Verteidigerverhalten. Die Feststellung, dass bei einem anderen, d.h. fehlerfreiem Agieren der Verteidigung es zu einer für den Mandanten günstigeren Entscheidung gekommen wäre, ist in aller Regel nicht zu treffen1. Es ist klar, dass sich mit dieser Feststellung kein Anwalt beruhigen kann, für den die optimale Erfüllung des Verteidigungsauftrages die beherrschende Maxime seines beruflichen Handelns ist. Es gibt aber auch Ausnahmen, in denen Rechtsprechung und Schrifttum die zivilrechtliche Haftung des Strafverteidigers bei Beratungs- und Prüfungsfehlern bejaht haben2. Dazu gehört z.B. die unterlassene bzw. fehlerhafte Prüfung von Verfahrenshindernissen, die auch aus nachträglicher Sicht zwingend zu einer Nichtverurteilung des Mandanten geführt hätten. Das gilt sowohl für den Eintritt der Verfolgungsverjährung3 wie auch für den fehlenden oder rechtlich unwirksamen Strafantrag beim absoluten Antragsdelikt. Entsprechendes dürfte für das Verfahrenshindernis der Immunität gelten. Schon an dieser Stelle sei bemerkt, dass die Rechtsprechung den Verteidiger nicht dadurch als entlastet ansieht, dass Staatsanwaltschaft und Gericht denselben Fehler gemacht, also das Verfahrenshindernis übersehen haben; die Haftung des Verteidigers soll sogar gegenüber der Amtshaftung vorrangig sein (§ 839 Abs. 1 S. 2 BGB)4. Ein weites Feld für mögliche Schadensersatzansprüche sind auch Verlet- 166 zungen der Beratungs- und Belehrungspflicht. So macht sich ein Verteidiger ggf. haftpflichtig, wenn er zum Einspruch gegen einen Strafbefehl rät, ohne den Mandanten auf die Möglichkeit einer höheren Bestrafung im Verurteilungsfalle hinzuweisen oder darauf aufmerksam zu machen, dass das Gericht bei Kenntnis der wahren Einkommensverhältnisse des Mandanten den Tagessatz mit einem wesentlich höheren Betrag festgesetzt hätte5. Schadensersatzbegründend ist auch die Empfehlung, eine Verurteilung hinzunehmen, ohne den Mandanten darüber zu beraten, dass die Rechtskraft des Urteils (ein Jahr Freiheitsstrafe) automatisch zum
1 Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 13, 2004, S. 121 ff. 2 Eingehend zu diesem Thema Krause, NStZ 2000, 225. 3 BGH v. 17.9.1964 – III ZR 215/63, NJW 1964, 2402. 4 BGH v. 17.9.1964 – III ZR 215/63, NJW 1964, 2402; Krause, NStZ 2000, 225 (228). 5 OLG Düsseldorf v. 26.9.1985 – 8 U 248/84, StV 1986, 211.
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Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis führt1 oder eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren zum Verlust der beamtenrechtlichen Versorgungsbezüge als Ruhestandsbeamter2. Sehr weitgehend ist die Bejahung einer Verteidigerhaftung, wenn dem Mandanten die Einlegung und Durchführung der Revision empfohlen wird, ohne dass er auf die allgemein geringen Erfolgsaussichten dieses Rechtsmittels hingewiesen wird3. Ein Schadensersatz begründender Rechtsfehler des Verteidigers ist auch in dem Fall bejaht worden, dass der Verteidiger im Revisionsverfahren die Rüge des § 338 Nr. 5 StPO – rechtsfehlerhafte Fortführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten – nicht in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügenden Weise begründet hatte4. Wenn auch wegen des absoluten Revisionsgrundes das tatrichterliche Urteil hätte aufgehoben werden müssen, so bleibt doch völlig offen, ob das Sachurteil in der erneuten Tatsacheninstanz günstiger ausgefallen wäre5. Schließlich sei das unterlassene Vorbringen von Strafzumessungsgründen in der Hauptverhandlung erwähnt, die dem Gericht nicht bekannt sind (sein können) und zu einer anderen bzw. geringeren Strafe geführt hätten, z.B. der gem. § 46 Abs. 1 S. 2 StGB zu berücksichtigende Wegfall der beamtenrechtlichen Versorgungsbezüge nach § 59 BeamtVG6. Haftungsbegründend wirkt auch der Beratungsfehler an den im Ausland befindlichen, im Inland mit Haftbefehl gesuchten Mandanten, er könne ohne Bedenken einreisen, da Strafverfolgungsverjährung eingetreten sei – was bei zutreffender Beurteilung der Rechtslage (hier: § 78b Abs. 4 StGB) nicht der Fall war7. Der Verteidiger muss sich bewusst sein, dass an seine beruflichen Fähigkeiten und Anstrengungen – gerade im Regressprozess – besonders hohe Anforderungen gestellt werden. Dementsprechend wird auch die gängige Ausrede „Arbeitsüberlastung“ ebenso wenig verfangen wie – mit welchem Gründen auch immer gerechtfertigte – Unkenntnis höchstrichterlicher Rechtsprechung, insbesondere in Revisionssachen. Es kann daher in geeigneten Fällen sinnvoll sein, Mandate, die besondere Spezialkenntnisse erfordern, gemeinsam mit einem in diesem Bereich besonders qualifizierten Kollegen zu führen. Dies gilt auch unabhängig vom Risiko eines Haftungsprozesses, das angesichts zunehmender „Regressfreude“ der Gesellschaft eher zunehmen wird.
1 OLG Düsseldorf v. 23.6.1998 – 24 U 161/97, NJW-RR 1999, 785. 2 OLG Nürnberg v. 29.6.1995 – 8 U 4041/93, StV 1997, 481, das sogar hinsichtlich der strafgerichtlichen Entscheidung eine Beweislastumkehr zulasten des Verteidigers statuiert hat. 3 Dazu OLG Düsseldorf v. 23.6.1998 – 24 U 161/97, NJW-RR 1999, 785. 4 LG Berlin v. 3.5.1990 – 7 O 390/89, StV 1991, 310. 5 Dazu Zwiehoff, StV 1999, 555 (556). 6 Dazu Zwiehoff, StV 1999, 555 (557) m.N. 7 OLG Braunschweig v. 26.10.2000 – 1 U 19/00, StraFo 2002, 94.
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Verteidiger und Verteidiger
Rz. 167
III. Verteidiger und Verteidiger In größeren Verfahren, besonders in Wirtschaftsstrafsachen, ist es fast 167 zur Regel geworden, dass jeder Angeklagte durch mehrere Verteidiger vertreten wird, seien es ausschließlich Wahlverteidiger oder Wahl- und Pflichtverteidiger (Rz. 120, 145 ff.). Dazu treten unter Umständen dann noch als „Gehilfen“ der Verteidigung Steuerberater, Wirtschaftsprüfer oder Sachverständige bestimmter Fachbereiche (z.B. des Preisprüfungsrechts, der Außenwirtschaftsverwaltung u.a.) und intern die Syndikusanwälte. Solche Verteidigungs-Teams bedürfen sorgfältiger Auswahl, Führung und Behandlung, um sie zu optimaler Leistung zu bringen. So ist einerseits eine straffe Leitung, Koordination und Aufgabenverteilung unerlässlich, andererseits muss auf das fachliche Selbstwertgefühl und persönliche Empfindlichkeiten Rücksicht genommen werden, um das sachorientiert-loyale Zusammenwirken und damit die Schlagkraft der Verteidigung nicht zu gefährden. Nichts ist schädlicher als unkoordiniertes oder gar von Konkurrenzhaltung beeinflusstes Agieren; der Vorteil eines Teams von Verteidigern wird dann zum Nachteil. Manchmal ist es leicht, im Einverständnis aller einem der beteiligten Verteidiger aufgrund seiner Erfahrung, Reputation etc. die Koordinierungsaufgabe zu übertragen, manchmal gibt es dafür auch Vorgaben des oder der Auftraggeber oder Kostenträger (Rz. 32). Bleibt die Frage der „leadership“ indes dem „freien Spiel der Kräfte“ vorbehalten, kann es zu unerfreulichen und unkollegialen Profilierungs- und Verdrängungsbestrebungen kommen. Ob man sich daran beteiligt, ist weniger eine Frage des Berufsrechts als des Stils und der Selbstachtung. Auch die gegenseitige Loyalität und die innere Einheit der Verteidigung bleiben dabei leicht auf der Strecke. Bei Verfahren mit sehr vielen Beteiligten kann sich die Einrichtung einer „leading group“ bewähren, die z.B. aus je einem Verteidiger der Unternehmensleitung, der Mitarbeiter und einem Syndikusanwalt besteht. Es kann sich zudem in geeigneten Fällen anbieten, „Teams“ zu einzelnen Sach- oder Rechtsfragen oder zur Bearbeitung bestimmter Vorwürfe oder Tatkomplexe zu bilden. Eine solche Bündelung von Sonderwissen ist häufig geeignet, „Schwächen“ einzelner auszugleichen. Schwierigkeiten der geschilderten Art mögen geringer sein, wenn als Verteidiger-Team von vornherein eine „Seilschaft“ beauftragt wird. So bezeichnet man eine Gruppe gleichgesinnter und -gestimmter Rechtsanwälte, die sich zur dauernden Verteilung von Mandaten (und gemeinsamen Führung) zusammengeschlossen haben – informell versteht sich. Wird einer von ihnen in einem Verfahren beauftragt, in dem weitere Mandate zu vergeben sind, so ist die Auswahl geeigneter Kollegen kein Problem! In einem solchen „Kartell“ gibt es auch kaum Koordinationsoder Führungsprobleme, zumal dafür gesorgt wird, dass kein außenstehender Kollege die Kreise durch eigenständige Vorstellungen über die beste Verteidigung stört. Eine „eingespielte Mannschaft“ hat – wie jeder
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Rz. 168
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
Sportsfreund weiß – Vorteile, über denen allerdings die Nachteile, die ein solcher „closed shop“ für die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Individualverteidigung in besonderem Maße mit sich bringt, nicht übersehen werden sollten.
IV. Verteidiger und Geschädigter Literatur: Leipold, Zulässige Einwirkung und Belehrung von Zeugen durch den Verteidiger, StraFo 1998, 79; Lüderssen, Das Recht des Verletzten auf Einsicht in beschlagnahmte Akten, NStZ 1987, 249; Neuhaus, Zur Gewährung von Akteneinsicht für den Verletzten, StraFo 1996, 27; Riedel/Wallau, Das Akteneinsichtsrecht des „Verletzten“ in Strafsachen – und seine Probleme, NStZ 2003, 393; H. Schäfer, Die Einsicht in Strafakten durch den Verletzten, wistra 1988, 216; Wallau, Rechtsschutz gegen die Akteneinsicht des „Verletzten“, FS Dahs (2005), S. 509.
In diesem Kapitel wird das Verhältnis des Verteidigers zum Geschädigten in allgemeiner Beziehung und in besonderen Problemlagen dargestellt. Soweit der Geschädigte im Prozess als Privat- oder Nebenkläger, Verletzter oder im Adhäsionsverfahren selbst auftritt, wird seine Stellung in Kapitel C. VI. (Rz. 1030 ff.) behandelt. 168
Die Erfahrung lehrt, dass der beste Prozess für den Mandanten nicht so viel wert ist wie seine Verhütung. Das gilt für das Strafverfahren ganz besonders. Der Verteidiger sollte deshalb für seinen Mandanten alles daran setzen, es nicht zu einer Anzeige des Geschädigten kommen zulassen oder sie schnell wieder aus der Welt zu schaffen oder abzuschwächen. Das ist vielfach auf durchaus legalem Wege möglich. Bei Antragsdelikten unterbleibt die Strafverfolgung, wenn der Verletzte bewogen werden kann, keinen Strafantrag zu stellen. Ist es dafür schon zu spät, kann die Rücknahme noch bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens erklärt werden (§ 77d Abs. 1 StGB). Weder dem Beschuldigten noch dem Verteidiger ist es verboten, auf den Antragsberechtigten entsprechend einzuwirken, um damit der Strafverfolgung zu entgehen. Das ist keine verbotene Strafvereitelung (Rz. 59 ff.), wenn es nur mit erlaubten Mitteln geschieht. Der Verteidiger sollte das in geeigneten Fällen mit seinem Mandanten beraten. Insbesondere wird die Wiedergutmachung des Schadens, ggf. in Verbindung mit einer Entschuldigung, oft zur Vermeidung oder Rücknahme des Strafantrags führen.
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Der Verteidiger kann auch eine Geldzahlung für gemeinnützige Zwecke vorschlagen. Dem Verletzten selbst eine Geldzahlung anzubieten und ihm so den Strafantrag „abzukaufen“, ist berufsrechtlich nicht unzulässig, soweit die Geldleistung zum angemessenen Ausgleich eines durch die Straftat wirklich zugefügten materiellen oder immateriellen Schadens dient. Es kann aber rechtsbedenklich sein, wenn der Verteidiger neben einer Entschuldigung finanzielle Leistungen an den Geschädigten anbietet, bei denen keine Konnexität zu den durch die Straftat (poten110
Verteidiger und Geschdigter
Rz. 170
tiell) erlittenen Nachteilen besteht1. Der Einsatz von Einschüchterung, Drohung und Zwang gegen einen unwilligen Verletzten ist ebenso unzulässig wie Täuschung und Winkelzüge2. Keinesfalls sollte der Verteidiger sich Bestrebungen des Verletzten, den Schädiger zu erpressen oder jedenfalls aus der Sache „Kapital zu schlagen“, unterwerfen (vgl. hierzu besonders auch Rz. 1049). Es kommt dabei darauf an, ob der freie Wille des Antragsberechtigten beeinträchtigt wird. Das ist zweifelhaft z.B. bei dem Hinweis an den antragsberechtigten Vater eines Kindes im Zusammenhang eines Sexualdelikts, in einer Hauptverhandlung würden „sehr peinliche Fragen“ gestellt werden. Auch wiederholtes, inständiges Bedrängen des Antragsberechtigten, gar unter Hinweis auf religiöse Aspekte, den Strafantrag zu unterlassen, ist bedenklich. Erst recht darf der Verteidiger den Antragsberechtigten nicht arglistig über die Antragsfrist hinziehen. Einem Mandanten, der eine Tötung zu verantworten hat, sollte der Verteidiger raten, sein menschliches Mitgefühl den Angehörigen in angemessener Weise auszudrücken. Der Mandant muss natürlich belehrt werden, dass sein Verhalten gegenüber dem Betroffenen immer unter dem Gesichtspunkt beargwöhnt wird, ob es sich dabei nicht um eine Strategie handelt, die Beteiligten zu für ihn günstigen Zeugenaussagen zu beeinflussen. Auch muss er sich gegen die Auslegung zu schützen wissen, durch sein Verhalten gebe er seine strafrechtliche Schuld zu, während er sie im Verfahren bestreitet. In jedem Fall sollte deshalb der Verteidiger, wenn der Mandant sich schriftlich an den Antragsberechtigten wenden will, den Text kritisch überprüfen. Auch der Verteidiger selbst muss sich vor Missdeutungen eines vielleicht gutgemeinten Verhaltens schützen. Wird der von ihm vertretene Angeklagte in erster Instanz freigesprochen, sollte er mit Angeboten an den Geschädigten zu dessen Schadloshaltung vorsichtig sein. Allzu leicht entsteht der Verdacht, dass er den Gegner damit von Rechtsmitteln abhalten wolle. Das wird besonders deutlich, wenn das Rechtsmittel unterbleibt, der Mandant sich aber an die Äußerungen seines Verteidigers nicht bindet. Was vielleicht als karitatives Spontanangebot an einen Schwerverletzten gemeint war, kann nachträglich schnell als prozessualer Winkelzug erscheinen. Handelt es sich um ein Offizialdelikt, kann die Strafanzeige nicht wirk- 170 sam zurückgenommen werden. Es gibt aber auch hier noch erfolgversprechende Möglichkeiten, die Wirkung der Anzeige zu beseitigen oder abzumildern. Wenn der Verletzte damit einverstanden ist oder sich sogar dafür einsetzt, kann das Verfahren unter Umständen nach § 153 oder § 153a StPO eingestellt werden. Der Täter-Opfer-Ausgleich nach Maßgabe des § 46a StGB eröffnet in Verbindung mit einem Geständnis die
1 Vgl. dazu Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 28. 2 Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 28.
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Rz. 171
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
Möglichkeit, dass von Strafe abgesehen wird. Diese Chancen muss der Verteidiger durch Verhandlungen mit dem Geschädigten und der Staatsanwaltschaft wahrnehmen und seinen Mandanten entsprechend anweisen. Obwohl die Einstellung des Verfahrens keine Schuldfeststellung voraussetzt1 und die Unschuldsvermutung uneingeschränkt fortgilt2, muss der Verteidiger darauf achten, dass er sich die Verteidigung für die Hauptverhandlung nicht verbaut (Rz. 328 ff.). In einer Straßenverkehrssache hatte ich mit der sehr gefährlichen Anzeige einer aufgebrachten Dame gegen meinen Mandanten zu tun, dem grob verkehrswidriges und rücksichtsloses Überholen mit Nötigung durch scharfes Schneiden des von der Anzeigenden gesteuerten Autos vorgeworfen wurde. Auf meinen Vorschlag schrieb der Mandant einen von mir mitberatenen Brief, der in angemessener Form das Bedauern über den Vorfall zum Ausdruck brachte. Die Schuldfrage wurde dabei offengelassen. Gedacht war bei diesem Schritt an eine Entschärfung der zu erwartenden Zeugenaussage. Bewirkt wurde weit mehr: In der Hauptverhandlung kam statt der Zeugin ein Brief, mit dem sie ihr Desinteresse an der Bestrafung erklärte. Selbst der Staatsanwalt war durch solches Verhalten von Herrn und Dame so beeindruckt, dass mit seiner Zustimmung das Verfahren gegen eine Geldauflage eingestellt wurde. Die Bitte um Entschuldigung an den Verletzten sollte der Verteidiger in entsprechenden Fällen auch in der Hauptverhandlung anraten. Die damit bekundete Einsicht wirkt beim Verletzten, Staatsanwalt und Richter, besonders bei den Schöffen, oft Wunder. 171
Die Akteneinsicht des „Verletzten“ gem. § 406e StPO ist eine für den Verteidiger und seinen Mandanten in der Regel weniger willkommene Variante der Einsicht in Strafakten (vgl. auch Rz. 168 ff.). Die Bestimmung ermöglicht dem (potentiell) Verletzten die Einsichtnahme in Ermittlungs-, Gerichts- und ggf. sogar Beweismittelakten, wenn mit der „Verletztenstellung“ ein berechtigtes Interesse einhergeht3. Der Verteidiger muss den Auswirkungen dieses Rechts, die sowohl das Strafverfahren wie auch – und oft vor allem – sachgleiche Zivil- (z.B. bei sog. „class actions“) oder andere Prozesse betreffen, von Anfang an besonderes Augenmerk widmen. Er sollte sich nicht darauf verlassen, dass Ermittlungsbehörden oder Gerichte die Vorschrift im Lichte des Datenschutzes des Betroffenen restriktiv auslegen. Die Erfahrung zeigt, dass die Justizbehörden nicht selten recht großzügig zur Herausgabe von Verfahrensakten bereit sind und wenig Mühe darauf verwenden, dem durchaus komplizier-
1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 153 StPO Rz. 3; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 153a StPO Rz. 7. 2 BVerfG v. 16.1.1991 – 1 BvR 1326/90, MDR 1991, 891. 3 So Hilger, NStZ 1984, 541; OLG Koblenz v. 30.5.1988 – 2 VAs 3/88, StV 1988, 332 f.; OLG Koblenz v. 9.3.1990 – 2 VAs 25/89, NStZ 1990, 604; i.E. Riedel/Wallau, NStZ 2003, 393 (395).
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Verteidiger und Geschdigter
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ten Regelungscharakter des § 406e StPO gerecht zu werden1. So wird zuweilen die Eigenschaft des Antragstellers als „Verletzter“ vorschnell bejaht, das Erfordernis des „berechtigten Interesses“ an der Einsichtnahme ohne erkennbare Prüfung unterstellt und die gebotene Abwägung der Interessen2 von Antragsteller und Beschuldigtem nicht vorgenommen. Auch wird übersehen, dass zwingende Voraussetzung für die Akteneinsicht die Bejahung des hinreichenden Tatverdachts des Beschuldigten ist3. Auch werden allzuoft die gesamten Akten ausgehändigt, ohne die gebotene Prüfung durchzuführen, ob sich das rechtliche Interesse des „Verletzten“ wirklich auf sämtliche Aktenvorgänge, z.B. auch den Antragsteller nicht betreffende Straftaten und Einzelinhalte der Akten erstreckt4. Vor allem hat der Verteidiger die Versagungsgründe des § 406e Abs. 2 StPO in den Blick zu nehmen, wenn überwiegende schutzwürdige Interessen des Mandanten oder anderer Personen entgegenstehen, der Untersuchungszweck gefährdet erscheint oder bei absehbar erheblicher Verzögerung des Verfahrens5. Insgesamt ist zu berücksichtigen, dass das BVerfG für die Gewährung der Akteneinsicht an mutmaßlich Verletzte der Abwägung zwischen deren Interessen und dem Recht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) große Bedeutung beimisst und enge Grenzen gezogen hat6. Diese betreffen vor allem den Fall in den Akten befindlicher Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse des oder der Betroffenen oder sonst schutzwürdige Daten7. In der Praxis wird daher ggf. die Akteneinsicht nur unter Auflagen gewährt. Die Variationsbreite reicht von – ggf. durch „Verpflichtungserklärungen“ verstärkten – Verboten gegenüber dem Rechtsvertreter des Verletzten, den Aktenauszug an seinen Mandanten weiterzugeben, diesem vorzulesen o.Ä. bis zum Verbot, den Akteninhalt zu anderen Zwecken, insbesondere zur Klientenwerbung, zu verwenden8. Es könnte indes zweifelhaft sein, ob solche Auflagen (deren Rechtsgrund bisher nicht geklärt ist – öffentlich-rechtlicher Vertrag?) tatsächlich geeignet sind, die intendierte Wirkung erreichen. Das BVerfG hat z.B. dem Verbot an den Verletztenvertreter, seinem Mandanten einen Aktenauszug auszuhändigen usw. wenig Eignung zugesprochen, da dem „Verletz1 Vgl. i.E. Riedel/Wallau, NStZ 2003, 393; Wallau in FS Dahs (2005), S. 509; Neuhaus, StV 2004, 620; w.N. bei BVerfG v. 24.9.2002 – 2 BvR 742/021, NJW 2003, 501. 2 Dazu Wallau in FS Dahs (2005), S. 515 ff. 3 LG Köln v. 29.6.2004 – 106-37/04 – 116 Js 192/03, StraFo 2005, 78 f.; LG Stade v. 10.7.2000 – 12 AR 1/100, StV 2001, 159. 4 Zutr. restriktiv AG Saalfeld v. 12.4.2005 – 630 Js 23573/04 – 2 Ds jug, StV 2005, 261: keine Akteneinsicht bis zur Zeugenvernehmung des Verletzten in der Hauptverhandlung. 5 Riedel/Wallau, NStZ 2003, 396; Schlothauer, StV 1987, 336 (337). 6 BVerfG v. 24.9.2002 – 2 BvR 742/021, NJW 2003, 501. 7 I.E. Riedel/Wallau, NStZ 2003, 396 m.N. 8 Neuhaus, StraFo 1996, 27; Riedel/Wallau, NStZ 2003, 396 (398).
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Rz. 172
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
ten“ spätestens bei Erstellung einer zivilrechtlichen Klageschrift ohnehin der Akteninhalt bekannt würde1. Im Mandanteninteresse muss die Empfehlung an den Verteidiger dahin gehen, in einschlägigen Sachen bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen (und im Fortgang des Verfahrens wiederholt) für den Fall eines Antrages nach § 406e StPO seinerseits den Antrag auf vorherige Anhörung entsprechend § 33 Abs. 3, 2 StPO zu stellen oder von vornherein der Gewährung der Akteneinsicht an den mutmaßlich Verletzten zu widersprechen und den Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 406e Abs. 4 StPO zu stellen. Dies kann bereits im Rahmen der Verteidigungsanzeige erfolgen. Nur durch diese „vorbeugende Notifikation“ seines Mitwirkungsbegehrens bzw. Widerspruchs kann der in einer Zeit des fast überpointierten „Opferschutzes“ durchaus realen Gefahr von sachlichen und rechtlichen Nachteilen für den Mandanten mit Erfolg begegnet werden. Allerdings ist auch in diesem Zusammenhang stets sorgfältig zu prüfen, ob aus besonderen Gründen des Einzelfalls eine gerichtliche Entscheidung insbesondere zum Tatverdacht nicht besser zu meiden ist. Hier gelten ähnliche Überlegungen wie bei der Frage, ob aus taktischen Erwägungen eine obergerichtliche Entscheidung über eine Haft-Beschwerde und also eine „gerichtliche Festschreibung des Tatverdachts im Ermittlungsverfahren“ lieber nicht riskiert werden sollte (Rz. 360).
V. Verteidiger und Polizeibehörden 172
Die Beziehungen des Verteidigers zur Polizei werden durch ihr systemspezifisches Spannungsverhältnis bestimmt. Die Polizei nimmt die Interessen des Staates wahr und ist deshalb mit dem Recht und der Pflicht zum ersten Zugriff ausgestattet (§ 163 Abs. 1 StPO). Sie ist Ermittlungsorgan der Staatsanwaltschaft: Ihre Beamten werden im Strafverfahren als deren Ermittlungspersonen tätig (§ 152 GVG). Demgegenüber ist es Aufgabe des Verteidigers, den Beschuldigten vor ungerechtfertigten Vorwürfen zu schützen. Zu diesem Zweck hat er die polizeilichen Ermittlungsmaßnahmen zu überwachen, wenn möglich zu beeinflussen und muss sie häufig hart kritisieren. Dass daraus Spannungen entstehen können, liegt auf der Hand. Die Lage des Verteidigers ist umso misslicher, je mehr „Jagdeifer“ die Polizei entwickelt und deshalb die Grenzen ihrer Befugnis und den Grundsatz eines fairen Verfahrens vergisst. Hinzu kommt, dass die Polizei im Wesentlichen Träger der Ermittlungen ist. Nur selten ist der Staatsanwalt wirklich der Herr des Ermittlungsverfahrens, wie es die Strafprozessordnung vorsieht. Damit muss sich der Verteidiger abfinden und seine Beziehungen zu den Behörden und Beamten der Polizei darauf einstellen. Freilich besteht kaum eine solche unmittelbare Beziehung während des polizeilichen Ermittlungsverfahrens. Es fehlt häufig eine auf beiderseitigem Vertrauen gegründete Zusammenarbeit. Sie setzt vo1 BVerfG v. 24.9.2002 – 2 BvR 742/02, NJW 2003, 501 ff.
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Verteidiger und Polizeibehçrden
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raus, dass die Polizei ihr Misstrauen gegenüber den Verteidigern aufgibt und die Verteidiger sich nicht dazu verstehen, die Verbrechensbekämpfung zu gefährden. Beide Teile müssen sich ihre verschiedenen Funktionen und die Grenzen ihrer Aufgaben in der täglichen Praxis vor Augen halten. Für den Verteidiger ist es selbstverständlich, dass er die ihm anvertrauten Interessen gegenüber der Polizei sachlich wahrnimmt. Dazu ist er berufsrechtlich genauso verpflichtet wie gegenüber Richter und Staatsanwalt (Rz. 118, 177). Mag die Atmosphäre auch noch so gespannt sein, der Verteidiger darf 173 sich keine Entgleisungen erlauben und polizeiliche Anordnungen nicht in beleidigender Form kritisieren. Nur auf diese Weise kann man überhaupt zu vernünftiger Zusammenarbeit gelangen und allmählich das Misstrauen der Polizei abbauen. Die Belehrungspflicht der Polizei bietet einen guten Ansatzpunkt. In vielen Verfahren öffnet der Hinweis des Polizeibeamten, der Beschuldigte könne vor seiner Vernehmung den Rat eines Rechtsanwalts einholen (§§ 163a Abs. 4, 136 Abs. 1 StPO), den Weg zu gegenseitiger Verbindungsaufnahme. In geeigneten Fällen sollte sich der Verteidiger nicht scheuen, offen mit dem Sachbearbeiter der Polizei zu sprechen, was der Verteidigung manchmal große Vorteile bringt. Unter Umständen kann er ihm sogar Vertraulichkeit des Gesprächs zusichern (Rz. 178). Allerdings muss die Zusammenarbeit auf Gegenseitigkeit beruhen. Bleibt der Polizeibeamte reserviert, etwa weil er sich in den Ermittlungen nicht stören lassen will, so hat sich der Verteidiger danach zu richten. Sonst entsteht leicht der Eindruck, er halte von der Sache seines Mandanten nichts. „Knochenweiches“ Nachgeben ist von Übel. Deshalb kommt unter Umständen die Anfechtung polizeilicher Maßnahmen in Betracht. Hierzu muss der Verteidiger wissen, wie strafprozessuale Handlungen der Polizei angefochten werden können. Sie werden nicht als Justizverwaltungsakte angesehen und unterliegen deshalb nicht dem Antragsrecht nach §§ 23 ff. EGGVG, jedoch ist der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten eröffnet. Schneller zum Ziel kann die Dienstaufsichtsbeschwerde führen. Sie ist unbeschränkt zulässig und ist häufig geeignet, die Polizei zu gesetzmäßigem Vorgehen anzuhalten. Ihr Vorteil ist vor allem, dass die Staatsanwaltschaft gezwungen wird, sich selbst um die Ermittlungen zu kümmern (Rz. 1094). Als letztes Mittel bleibt die Strafanzeige gegen den Polizeibeamten. Sie darf nur nach genauer Prüfung der objektiven und subjektiven Tatseite erstattet werden (Rz. 209). In jedem Fall muss der Verteidiger die Vor- und Nachteile eines solchen Vorgehens abwägen. Ein besonderes Übel sind die Indiskretionen, die durchweg der Polizei 174 angelastet werden, wenn wieder einmal Vorgänge aus Ermittlungsverfahren, insbesondere Zwangsmaßnahmen, den Weg in die Medien gefunden haben. Wenn Staatsanwaltschaft und Polizei – zuweilen in Kompanie-
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Rz. 174
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
stärke – zur Durchsuchung anrücken und Fernsehen und Presse sie bereits vor Ort erwarten, wird häufig ein Schaden an persönlicher und wirtschaftlicher Reputation von Einzelpersonen und Unternehmen angerichtet, der in keinem Verhältnis zu Gegenstand und Ergebnis des Ermittlungsverfahrens steht, zumal wenn dieses eines Tages eingestellt wird. Ähnlich ist es, wenn Informationen (fast immer mit belastender Tendenz) an die Presse „durchsickern“. Ganz schlimm wird es, wenn erkennbar der Presse Aktenteile zur Verfügung gestanden haben, aus denen sie zitiert. In Steuerstrafsachen wird § 30 AO (das Steuergeheimnis) – gerade in „Prominentensachen“ – nicht selten verletzt. Staatsanwälte berichten gelegentlich etwas verzweifelt darüber, dass die eingeleiteten Ermittlungsverfahren wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses (§ 353b StGB) kaum je zum Erfolg führen und auch keine hinreichend abschreckende Wirkung gegenüber einem unseriösen „Scheckbuchjournalismus“ entfalten. Der Verteidiger muss diese Gefahr sehen und in entsprechenden „Risikofällen“ rechtzeitig mit der Staatsanwaltschaft vorbeugende Maßnahmen erörtern. Mindestens müssen für die Klientel eine Presseerklärung für den Fall einer Indiskretion vorbereitet werden und im Übrigen die Möglichkeiten einer flankierenden Verteidigung in den Medien (Rz. 101) genutzt werden. Steht fest, dass Informationen an die Presse gelangt sind, und ist die Veröffentlichung absehbar, kann eine Presseerklärung der Verteidigung geeignet sein, die Entstehung einer „story“ zu verhindern. Zumindest kann die Verteidigung eine einseitig zulasten des Mandanten drohende Berichterstattung verhindern. Das Verhältnis Verteidiger – Polizei kann nun nicht nur durch Gegensätzlichkeiten, sondern auch durch allzu gutes Verstehen beeinträchtigt sein. Das wünschenswerte Einvernehmen darf nicht zu einer pflichtwidrigen Bevorzugung bestimmter Verteidiger durch die Polizei führen. Es kommt vor, dass die Polizei Anwälte als Verteidiger empfiehlt. Verständlicherweise bedrängen Beschuldigte besonders bei plötzlichem Zugriff oder sogar Festnahme in ihrer Not den Polizeibeamten um Empfehlung eines Verteidigers. Das liegt namentlich im Zusammenhang der Belehrung und Hilfestellung bei „Auffinden“ eines Verteidigers nach § 136 StPO1 nahe. Der Beamte muss sich solchen Ansinnen verschließen. Tut er das pflichtwidrigerweise nicht, braucht dies für den empfohlenen Verteidiger kein Grund zur Ablehnung des Mandats zu sein. Er hat aber jedes eigene auf Werbung abzielende Verhalten zu vermeiden. Insbesondere sind persönliche oder sogar freundschaftliche Beziehungen zu Beamten der Polizei suspekt. Abgesehen von dem Verbot anreißerischer Werbung (Rz. 92) kann der Verteidiger seine Unabhängigkeit gefährden (Rz. 34 a.E.); dies insbesondere, wenn im Verfahren Angriffe gegen den Beamten zur Verteidigung notwendig werden.
1 BGH v. 25.7.2000 – 1 StR 169/00, BGHSt. 46, 93; BGH v. 2.11.2001 – 1 StR 220/01, StV 2002, 117; BGH v. 5.2.2002 – 5 StR 588/01, StV 2002, 180.
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Verteidiger, Staatsanwalt und Richter
Rz. 176
VI. Verteidiger, Staatsanwalt und Richter Das Verhältnis des Verteidigers und seines Mandanten zu den Funktio- 175 nen und zu den Trägern der Justiz ist in der zeitgeschichtlichen Entwicklung dem Wandel unterworfen. Aktuelle Einzelphänomene sollten aber nicht gleich zu einer grundsätzlichen Neuorientierung führen, sondern die Entwicklung in Ruhe abgewartet werden. 1. Allgemeines Literatur: Dreher, Staatsanwalt und Verteidiger – eine Gegenüberstellung, FS Kleinknecht (1985), S. 91; van Els, Kompetenzverteilung zwischen Richter und Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren, NJW 1977, 85; Geisler, Stellung und Funktion der Staatsanwaltschaft im heutigen deutschen Strafverfahren, ZStW 93 (1981), 1109; Gröner, Strafverteidiger und Sitzungspolizei, 1998; Gross, Zur Notwendigkeit des strafrechtlichen Anfangsverdachts – Keine falschen Umkehrschlüsse aus § 152 Abs. 2 StPO, FS Dahs (2005), S. 249; Heghmanns, Das Arbeitsgebiet des Staatsanwalts, 4. Aufl. 2009; Jahn, Kritik der richterlichen Vernunft, NZWiSt 2014, 58; Koller, Die Staatsanwaltschaft – Organ der Judikative oder Exekutivbehörde, 1997; Marx, Aufgaben der Staatsanwaltschaft in der strafrechtlichen Hauptverhandlung, GA 1978, 365; Nehm/Senge, Ursachen langer Hauptverhandlungen, NStZ 1998, 377; Römer, Kooperatives Verhalten der Rechtspflegeorgane im Strafverfahren?, FS Schmidt-Leichner (1977), S. 133; Roxin, Zur Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft damals und heute, DRiZ 1997, 109; Rüping, Die Staatsanwaltschaft – Stiefkind der Revolution, StV 1997, 276; Schneider, Hartmut, Überblick über die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Verfahrensverständigung, NStZ 2014, 192 und 2014, 252; Schreiber, Wie unabhängig ist der Richter?, FS Jescheck (1985), S. 757; Volk, Der Laie als Strafrichter, FS Dünnebier (1982), S. 373; Weihrauch, Richter und Verteidiger – Konfrontation oder Kooperation?, FS 175 Jahre pfälzisches Oberlandesgericht (1990), S. 363.
a) Aufgabenbereiche Zwischen Strafrichter, Staatsanwalt und Verteidiger besteht eine Funk- 176 tionsteilung. Sie ist begründet in der unterschiedlichen Aufgabenstellung und ausgerichtet auf das Ziel des Strafprozesses, eine sachgerechte Entscheidung zu finden. Daraus entspringt die Wechselwirkung richterlicher, staatsanwaltlicher und anwaltlicher Tätigkeit. Alle drei sind einander zugeordnet und korrespondierende Elemente einer Sinneinheit1. Die Funktionsteilung bewirkt hier ein natürliches und notwendiges Spannungsverhältnis, in dem der Verteidiger den Schutzanspruch des Beschuldigten vertritt. Das ist einer der Gründe, weshalb die Beziehungen zwischen der Anwaltschaft einerseits und Staatsanwälten und Richtern andererseits nie einfach waren. Der Persönlichkeit nach setzt die Funktionsteilung gegenseitige Achtung, Verständnis und Vertrauen voraus2. Ohne Anerkennung der anderen Organe der Rechtspflege ist ein ord1 Immer noch zutreffende Definition des früheren GBA Güde, AnwBl. 1951, 3. 2 Dies kam in der früheren Fassung der RiStBV (Ziff. 90 a.F.) sinnfällig zum Ausdruck: „Der Verteidiger erfüllt wichtige Aufgaben der Strafrechtspflege. Die Zusammenarbeit soll auf Verständnis und Vertrauen beruhen“.
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Rz. 177
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
nungsgemäßer Ablauf des Verfahrens nicht denkbar. Sachliche Schärfen sind dabei freilich erlaubt und vielfach geboten. Sie fördern im Für und Wider der Meinungen die Sache. Noch immer gilt: Der Streit ist der Vater des Gedankens! (Heraklit). Persönliche Herabsetzungen gehören dazu aber nicht. b) Zusammenarbeit, Besprechungen und Absprachen 177
Sie wird durch achtungsvolle Unabhängigkeit bestimmt. Dieser Begriff kennzeichnet einerseits die Pflicht zur sachlichen und würdigen Form der Interessenvertretung und andererseits die Aufgabe des Verteidigers, alle zulässigen Maßnahmen für seinen Mandanten unbefangen in eigener Verantwortung durchzuführen (Rz. 31, 152). Der Verteidiger hat folglich zwei Aufgaben. Er muss die Organe der Strafjustiz unterstützen, indem er alle zugunsten des Betroffenen sprechenden Umstände vorbringt und vertritt. Er hat aber auch darüber zu wachen, dass die Rechte des Betroffenen nicht verletzt und die ihn schützenden Regeln des Verfahrens eingehalten werden. Innerhalb dieser Grenzen hat sich die vernünftige Zusammenarbeit in der täglichen Praxis zu vollziehen.
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Vertrauliche Besprechungen mit Staatsanwalt und Richter sind unentbehrlich und können für alle Beteiligten nützlich sein. Die Gesprächspartner müssen sich darauf verlassen können, dass die Vertraulichkeit gewahrt bleibt, und zwar ggf. auch gegenüber dem Mandanten (Rz. 63). Ihr Bruch ist die Todsünde des Verteidigers. Er kann nicht erwarten, dass ihm in Zukunft dieselbe Möglichkeit nochmals geboten wird. Überhaupt muss er damit rechnen, dass Staatsanwalt und Richter gegen Besprechungen mit ihm misstrauisch sind, wenn sie das Gefühl haben, überfahren zu werden. Diese Gefahr ist besonders groß bei bekannten Verteidigern, die von auswärts anreisen. Auf keinen Fall sollte der Verteidiger zu einer Lüge greifen, um sein Erscheinen zu motivieren, etwa mit der Bemerkung: „Ich habe heute ohnehin in X. zu tun und möchte Sie bei dieser Gelegenheit einmal besuchen.“ Klüger, aber schillernd wäre auch die neutrale Formulierung: „Ich bin heute in X. und möchte deshalb mit Ihnen sprechen.“ Nicht selten bietet eine sachlich motivierte Besprechung „technischer“ Fragen des Verfahrens, z.B. Akteneinsicht, Terminierung, einen guten Einstieg in ein vertrauliches Sachgespräch.
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Besprechungen und auch Absprachen/Verständigungen mit den Organen der Strafrechtspflege gehören heute zum allgemeinen „Inventar“ der Verteidigung und sind vom Gesetzgeber in § 257c StPO legitimiert. Sie müssen aber nicht immer unmittelbar die Schuld- und Straffrage betreffen. In den einzelnen Verfahrensabschnitten gibt es zahlreiche Situationen, in denen sie fast unentbehrlich sind. Darauf wird an den entsprechenden Stellen des Handbuchs jeweils eingegangen werden. Im Vorverfahren können ggf. Zwangsmaßnahmen wie Durchsuchung und Beschlagnahme abgewendet werden, wenn die von den Ermittlungsbehörden benötigten Unterlagen freiwillig zur Verfügung gestellt werden oder der Zugang zur 118
Verteidiger, Staatsanwalt und Richter
Rz. 180
Durchsuchung ohne Gerichtsbeschluss vereinbart wird. Zumindest kann auf diese Weise ein schädlicher Medienrummel vermieden werden. Auch eine Begrenzung des Verfahrensstoffs nach §§ 154, 154a StPO ist erreichbar, ebenso die Zusicherung des Staatsanwalts, das Verfahren gegen einen Erpressten nach § 154c StPO einzustellen, wenn die zunächst anonym gegebene Schilderung des Verteidigers sich als zutreffend erweisen sollte. Schließlich sind die Möglichkeiten der Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153a StPO und die Erledigung des Verfahrens durch Strafbefehl zu erwähnen (Rz. 1070 ff.). Diese Modalitäten sind ggf. auch noch im Hauptverfahren, wo sogar zwischen Gericht, Staatsanwalt und Verteidiger über Schuld- und Strafausspruch gesprochen werden kann (Rz. 502), anwendbar. Über verfahrensrechtliche Pannen kann man evtl. durch Rügeverzicht (Rz. 791) hinwegkommen, wenn dies dem Angeklagten zugutekommt. Schließlich können Staatsanwalt und Verteidiger vereinbaren, beiderseits keine Rechtsmittel einzulegen (Rz. 842). Sie brauchen sich dann nicht bis zur Minute des Fristablaufs gegenseitig zu belauern. In Privat- und Nebenklageverfahren (Rz. 1030 ff., 1062, 1068 ff.) gibt es viele Prozesslagen, die sich im Agreement erledigen lassen. Dies gilt auch für Offizialverfahren wegen Beleidigung, wo auch nach Erhebung der Anklage der Verteidiger über eine Ehrenerklärung des Beleidigers, über Buße und auch über die Kosten gegen Rücknahme des Strafantrages verhandeln kann. Bei jeder Absprache muss der Verteidiger etwaige außerstrafrechtliche Konsequenzen des erwogenen Verfahrensabschlusses prüfen oder den Klienten über die Notwendigkeit einer solchen Prüfung beraten. Dies kann zivilrechtliche, arbeitsrechtliche, beamtenrechtliche, gesellschaftsrechtliche, verwaltungsrechtliche oder disziplinarrechtliche Folgen betreffen. Die unterlassene Beratung kann den Verteidiger schadensersatzpflichtig machen1 (Rz. 165 f.). Allen Absprachen mit dem Verteidiger ist etwas Bestimmtes gemeinsam. Er muss das Vertrauen genießen, unbedingt zu seinem Wort zu stehen und sich bei seinem Mandanten durchsetzen zu können, insbesondere diesen nicht in die nur dem Verteidiger gewährte Vertraulichkeit einzubeziehen und in keinem Fall die ihm gegebenen Erklärungen auszuspielen. Übel war der Fall eines Verteidigers, der eine vertrauliche Äußerung des Staatsanwalts, er habe Zweifel an der Aussicht einer Anklage, zum Gegenstand einer Dienstaufsichtsbeschwerde machte, als die Anklage doch erhoben wurde. Die Erfahrung lehrt übrigens, dass sich die Strafjustiz geradezu peinlich genau an getroffene (klare) Absprachen zu halten pflegt. Es ist mehr als eine Stilfrage, ein persönlich gutes Verhältnis zur Justiz- 180 person nicht in unangemessener Weise auszunutzen. So sollte der Verteidiger in Gegenwart des Mandanten von telefonischen Anrufen bei Staatsanwälten oder Richtern Abstand nehmen. Sie sind in dieser Situation 1 OLG Nürnberg v. 29.6.1995 – 8 U 4041/93, StraFo 1997, 186 m. krit. Anm. Barton.
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ohnehin in der Regel ein Ausdruck von Renommiersucht. Dies gilt besonders auch für die Bekanntgabe eines Duzverhältnisses mit Justizpersonen (etwa aus der gemeinsamen Ausbildungszeit). In der Praxis wird hier oft gesündigt: „Ich rufe mal eben meinen Freund … bei der Staatsanwaltschaft an, dann werden wir die Sache schon vom Tisch bringen“! Wenn bei einem solchen Gespräch sogar die Anwesenheit des Mandanten verschwiegen wird, drängt sich der Gedanke an Missbrauch auf. Überhaupt sollte es selbstverständlich sein, zunächst beim Gesprächspartner zu erkunden, ob er zu einem Sachgespräch sofort oder später bereit ist; dabei schadet auch das Angebot einer persönlichen Vorsprache (als höflicher Geste) nicht. Auf jeden Fall haben Besprechungen eine sachlich bessere und angemessene Basis, wenn sie vorher vereinbart sind, der Gesprächspartner sich vorbereiten kann und die Akte vorliegt. 181
Vertrauliche Gespräche mit Staatsanwälten oder Richtern können den Verteidiger aber auch in Konflikt mit seiner Schutzaufgabe (Rz. 9 ff.) bringen. Das ist immer dann der Fall, wenn der Verteidiger Sachinformationen oder Einschätzungen erfährt, die nicht aus den Akten zu entnehmen, für die Sache der Verteidigung aber wichtig sind. So wenn der Staatsanwalt Zweifel an der Glaubwürdigkeit des entscheidenden Belastungszeugen äußert oder auf weitere nicht bekannte Ermittlungsverfahren gegen den Mandanten mit gleichartigem Vorwurf hinweist. Es gibt auch Richter, die schon vor der Hauptverhandlung deren Ergebnis verkünden („Wir geben in diesen Fällen immer drei Jahre!“) oder vor Erlass des Eröffnungsbeschlusses alternative Szenarien der Hauptverhandlung in den Raum stellen („Bei Geständnis kriegt er zwei Jahre ‚mit‘ – sonst drei!“). Wie ernst solche Äußerungen zu nehmen sind, ist zwar nicht immer leicht zu erkennen, der Umgang mit ihnen, insbesondere gegenüber dem Mandanten, ist aber ein Problem, weil dieser einerseits einen Anspruch gegen den Verteidiger auf volle Information hat, andererseits der Verteidiger – wenn er daraufhin vom Mandanten verlangte Maßnahmen ergreift, womit der Gesprächsinhalt offengelegt wird – sich selbst die Basis für zukünftige Gespräche entzieht. Am besten vereinbart man mit dem Mandanten vorher eine nur eingeschränkte Informationspflicht. Das schließt nicht aus, in der Verteidigung auch die anderen Erkenntnisse in einer Form einzusetzen, die den Gesprächspartner nicht desavouiert („Es ist der Verteidigung zwar bekannt, dass die Strafkammer in solchen Fällen durchweg eine Freiheitsstrafe von … verhängt, jedoch würde dieses Strafmaß dem vorliegenden Fall nicht gerecht …“). In zugespitzten Verfahrenslagen wird der Verteidiger bei Interessenkollision seiner Schutzaufgabe den Vorrang geben müssen – mit für ihn negativen Konsequenzen. Er sollte deshalb Gespräche mit Justizorganen im eigenen Interesse so führen, dass er sich solche Konflikte erspart oder – je nach Mandant – auf vertrauliche Besprechungen ganz verzichten.
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Im persönlichen Umgang mit Richtern und Staatsanwälten sollte der Verteidiger stets einen gewissen Abstand wahren, sie in der Verhandlung und der Korrespondenz mit der Funktionsbezeichnung, z.B. Herr Vorsit120
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zender, Berichterstatter, Richter, anreden. Die Amtsbezeichnungen nach § 19a DRiG (z.B. Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht, Richter am Landgericht) sind zur Benutzung im persönlichen Gespräch wenig geeignet. Im Schriftwechsel mit den Behörden ist es heute üblich, die allgemeinen Höflichkeitsfloskeln in der Anrede und vor der Unterschrift beiderseits zu verwenden („Sehr geehrter Herr Staatsanwalt“, „Mit freundlichen Grüßen“). Dass sich auch bei Behörden diese Tendenz durchsetzt, ist zu begrüßen. Dagegen erscheint es problematisch, den Staatsanwalt oder Richter mit „Herr Kollege“ zu titulieren – erst recht wenn der Verteidiger selbst Beschuldigter ist (Rz. 1180 ff.). Im außerdienstlichen Verkehr sollte die Initiative zu größerer Vertrautheit jeweils abgewartet werden, damit nicht der Eindruck entsteht, man wolle sich „anbiedern“. Andererseits sollte sich der Verteidiger auch nicht für eine dienstliche Handlung des Richters oder Staatsanwalts „bedanken“. Aus besonderem Anlass kann man aber ggf. seine „Befriedigung“ über eine dienstliche Erledigung der Sache äußern. Aus denselben Gründen sollten private Freundschaften mit Richtern und Staatsanwälten nicht künstlich herbeigeführt werden. Sie sind zwar keineswegs unzulässig. Zurückhaltung ist aber anzuraten, weil sonst leicht die für die berufliche Tätigkeit notwendige Distanz und damit die innere Freiheit des Verteidigers beeinträchtigt wird (Rz. 155). Einladungen in die Wohnung oder in Lokale sind nur bei näherer Bekanntschaft unbedenklich. Die Eingeladenen könnten sich sonst veranlasst sehen, sich zu revanchieren. Das kann nicht nur zu einem Zwang unerwünschter Ausgaben führen, sondern auch zu dem Verdacht, sie sollten beeinflusst werden. Auf keinen Fall vertretbar ist es, die Gelegenheit einer Einladung oder einer gesellschaftlichen Veranstaltung zu benutzen, den Richter oder Staatsanwalt auf Verfahren anzusprechen, die er bearbeitet. Bei Geschenken und kleinen Aufmerksamkeiten an Richter und Staatsanwälte ist größte Zurückhaltung geboten. Sogar bei Dedizierung eigener Publikationen des Verteidigers müssen die Richter mitunter die Genehmigung des Gerichtspräsidenten einholen. Auch das Angebot des Rechtsanwalts, den Richter oder Staatsanwalt in seinem Pkw zu einem auswärtigen Termin mitzunehmen, kann bedenklich sein. Zwangloser geht es in der Praxis zuweilen zu, wenn die Verfahrensbeteiligten – evtl. über mehrere Tage – bei auswärtigen Rechtshilfeterminen im In- oder Ausland zusammen sind. Sogar Staatsanwälte und auch Richter achten dann manchmal weniger auf „Abstand“. Der Verteidiger muss sich dem nicht entziehen – sollte sich aber in keiner Weise anbiedern, sondern mit wachen Sinnen auf scheinbar hingeworfene Bemerkungen und Zwischentöne achten. Er kann ggf. auch selbst in der Unterhaltung versuchen, bestimmte Gedanken und Erwägungen beim Gegenüber zu platzieren. Wirtschaftliche Beziehungen des Anwalts zum Richter oder Staatsanwalt 183 sind nicht per se unzulässig. Aber auch hier darf in keinem Fall der Ver121
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dacht der Abhängigkeit entstehen. Dieser ist z.B. bei der Darlehnsgewährung kaum zu vermeiden. Dem Rechtsanwalt kann nur geraten werden, jeden Anschein zu vermeiden, er habe den Richter oder Staatsanwalt in seinen amtlichen Entscheidungen unfrei machen wollen. Am besten ist es, wenn zwischen Rechtsanwälten und Angehörigen der Strafjustiz keine wirtschaftlichen Beziehungen bestehen. 184
Zur Verlässlichkeit des Verteidigers gehört auch die gewissenhafte Führung und Behandlung der Akten und die fristgerechte Rückgabe bei Gewährung der Akteneinsicht (Rz. 275), das pünktliche Erscheinen zum Termin, der Antrag auf Terminverlegung nur in unvermeidbaren Fällen (Rz. 460). Berufswidrig und dem Ansehen des Anwalts abträglich ist es, die Verlegung eines Termins mit der unrichtigen Begründung zu beantragen, der Verteidiger sei verhindert. Ebenso ist darauf zu achten, dass im Verkehr mit einem inhaftierten Mandanten nicht einmal der Anschein einer unzulässigen Umgehung der Kontrollstelle aufkommt, soweit sie die Verbindung zum Verteidiger überhaupt prüfen darf (Rz. 365). Der Verteidiger verletzt seine Berufspflicht, wenn er ein Schreiben des Auftraggebers ohne Prüfung der Zulässigkeit und Unverfänglichkeit und ohne eigene Stellungnahme an Gericht oder andere Behörden weitergibt. Er muss selbst die Verantwortung übernehmen. 2. Verteidiger und Staatsanwalt
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Der Verteidiger, der im Staatsanwalt nur das „Feindbild“ schlechthin sieht, macht einen großen Fehler. Zwar sind Strafverfolger und Verteidiger in ihren Funktionen im Strafprozess einander entgegengesetzt, jedoch lediglich im Diskurs um Sachverhaltsklärung und rechtliche Bewertung. Das gilt letzten Endes auch trotz des reichlich vollmundigen Begriffs der „Herrschaft“ im Ermittlungsverfahren. Zwar wird der Staatsanwalt häufig den ersten Schritt gegen den Mandaten tun (müssen), entscheidend ist aber der letzte Schritt, mit dem das Vorverfahren beendet wird. Schrittfolge und -richtung zugunsten seines Mandanten zu beeinflussen, ist Aufgabe des Verteidigers. Dies kann durch präventive Beratung (Rz. 236), Anträge auf Erhebung von Beweisen, Argumentation und Diskussion geschehen (im Einzelnen Rz. 235). Immer ist der Staatsanwalt im Ablauf des Verfahrens „die erste Adresse“, wenn es darum geht, jede Art von Unbill, die das Verfahren auslösen kann, abzuwenden (Rz. 237) und die Strafverfolgung zu beenden. In aller Regel strebt der Staatsanwalt auch nicht nach dem Prinzip „koste es, was es wolle“ die Anklage an. (Vgl. die in Rz. 1 erwähnte Statistik.) Bei Verfahrenserledigungen durch Ermessensentscheidungen (§§ 153 ff. StPO) ist es für den Verteidiger ein großer Vorteil, dass der Staatsanwalt die ganze Breite der einzelnen Fallgruppen sieht, während der Richter nur mit den vergleichsweise wenigen Fällen befasst wird, die durch Anklage oder auf andere Weise an ihn gelangen. Für die Gewichtung des Vorwurfs in der Palette vergleichbarer Straftaten findet man deshalb 122
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beim Staatsanwalt oft besser Gehör – und Erfolg. Nach aller Erfahrung ist es – gerade in schwierigen Sachen – dem Staatsanwalt durchaus willkommen, in einer qualifizierten Verteidigung den Diskussionspartner zu finden, der seine eigene Sicht schärft und zur sachgerechten Abwägung beiträgt. Wem indes das hier skizzierte Bild des Staatsanwalts zu positiv erscheint, dem sei konzediert: Es gibt auch Staatsanwälte ganz anderer Art – bis hin zu solchen, deren „Feindbild“ der Verteidiger ist! Aber wie stets hängt vieles von der Art der Sache, der Persönlichkeit des Verteidigers und den Erfahrungen des Staatsanwalts ab. Einen Versuch ist es allemal wert! 3. Verteidiger und Richter a) Achtungsanspruch Achtungsvolles Verhalten gegenüber dem Richter ist eine Selbstver- 186 ständlichkeit. Der Richter ist als Träger der rechtsprechenden Gewalt zu achten. Das gilt auch dann, wenn sich ein Richter – im Erscheinungsbild oder verbal – mehr oder weniger salopp gibt. Ebenso muss der Anwalt aber erwarten können, dass Richter und Staatsanwalt ihm Achtung und Vertrauen entgegenbringen bei voller Anerkennung seiner konträren Berufsaufgabe. Dieses Verhältnis herzustellen und zu bewahren, gehört zu den Obliegenheiten des Anwalts. Es sollte alles unterbleiben, was die wechselseitige Anerkennung und Respektierung als Grundlage der Zusammenarbeit (Rz. 178) stören könnte. Sonst kann der Anwalt seine Berufsarbeit nicht unabhängig und gleichberechtigt leisten. Verletzendes Benehmen im Gerichtssaal ist generell und gegenüber jedermann zu unterlassen. Dazu gehört der Ton im mündlichen Vortrag, die Steigerung der Stimme in provozierender Form, das geflissentliche Überhören richterlicher Hinweise, der Gebrauch beleidigender Ausdrücke (so z.B. die Bezeichnung eines Richters als „Appendix“ [Wurmfortsatz] der Anklagebehörde1). Die Niederlegung der Verteidigung in der Hauptverhandlung kommt nur im Extremfall in Frage, ebenso das demonstrative Ausziehen der Robe und der Wechsel in den Zuhörerbereich des Gerichtssaales. Bloße Spannungen mit dem Vorsitzenden können solche Aktionen ebenso wenig rechtfertigen wie Verfahrensfehler des Gerichts. Im Allgemeinen reichen die formelle Beanstandung (Rz. 539) und der Antrag aus, die Auseinandersetzung wörtlich zu protokollieren (Rz. 542). Auch persönliche Kontrahagen mit dem Staatsanwalt können die Würde des Gerichts tangieren, wenn sie den Charakter einer Anrempelei annehmen. Allerdings gibt es gelegentlich auch Entgleisungen von Vorsitzenden und Staatsanwälten, die eine deutliche Antwort erfordern (Rz. 196).
1 EG Frankfurt v. 19.12.1976 – EG 10/76.
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Ein besonderes Kapitel ist die Kritik an richterlichen Entscheidungen. Die „Urteilsschelte“ darf in der Sache scharf, im Ton muss sie bedachtsam sein. So ist es nicht vertretbar, von willkürlicher1, gesetzwidriger Beweiswürdigung oder von einem Tendenzurteil zu sprechen oder zu schreiben. Auch die Bemerkung, der Richter sei fehl am Platz, er habe es an einer gewissenhaften Behandlung der Sache fehlen lassen, er habe mit zweierlei Maß gemessen, er habe sein Ermessen bewusst missbraucht, um ein früheres Fehlurteil zu decken, widerspricht einer sachlichen Interessenwahrnehmung. Dazu gehört auch die Äußerung eines Rechtsanwalts, er könne sich die Entscheidung „nur durch die Faulheit oder Gehässigkeit der Richter erklären“2 oder durch „Rechtsblindheit“ und „himmelschreiende Befangenheit“3: ebenso der Vergleich einer Gerichtsentscheidung mit der Gesinnungsjustiz des Nationalsozialismus4. Solche Bemerkungen verlassen den Boden sachlicher Kritik. Sie sind ebenso zu beanstanden wie die tendenziös-ungenaue Wiedergabe einer richterlichen Entscheidung. Bemerkungen solcher Art verbieten sich nicht nur in der Öffentlichkeit, namentlich gegenüber der Presse, sondern auch dem Mandanten gegenüber. Sie sind auch dann unstatthaft, falls sie in Informationsschreiben an den Anwalt der Rechtsmittelinstanz enthalten sind. Dabei wird nicht verkannt, dass die Erfüllung des Mandats oft eine energische Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung erfordert5. Formulierungen dieser Art sollten jedoch den Eindruck vermeiden, die Sache selbst stehe schwach, es solle bewusst verletzt werden, der Mandant solle sehen, wie „scharf“ der Anwalt seine Sache vertrete. Es soll sogar vorkommen, dass Anwälte mit ihrer zur Schau getragenen Empörung über ein angebliches „Unrechtsurteil“ versuchen, von eigenen Fehlern in der Verteidigung abzulenken. Bei verbalen Missgriffen kann sich der Anwalt nicht ohne weiteres auf das Recht zur freien Meinungsäußerung berufen. Dieses Recht ist durch die Berufspflicht (§ 43 BRAO) eingeschränkt und steht mit ihr in Wechselwirkung6. Der Verteidiger darf allerdings auch nicht zu ängstlich sein und sich zu viel gefallen lassen. Auf scharfe Angriffe muss er adäquat reagieren. Darüber darf sich der Richter (oder der Staatsanwalt) nicht wundern, wenn er den Anwalt herabsetzt. Der Verteidiger darf auch starke, eindringliche Ausdrücke benutzen7, wobei nicht entscheidend ist, ob
1 Ggf. sogar strafbar nach AG Marburg v. 24.4.2003 – 5/3 Js 4259/02-57 Ds, NStZRR 2004, 203; dazu auch OLG Düsseldorf v. 4.3.1998 – 5 Ss 47/98 - 25/98, NStZ 1998, 516. 2 BayEGH v. 5.5.1977 – II 8, 22/76. 3 BGH v. 30.3.2004 – 3 StR 98/04, wistra 2004, 313. 4 EGH Berlin v. 7.7.1980 – II EGH 15/79. 5 Erfreulich deutlich AGH Hamm v. 19.11.1996 – (2) 6 EVY 10/96, BRAK-Mitt. 1997, 261. 6 BGH v. 16.1.1967 – AnwSt (R) 10/66, NJW 1967, 891. 7 Dazu i.E. BVerfG v. 16.3.1999 – 1 BvR 734/98, StV 1999, 532.
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er seine Kritik auch anders hätte formulieren können. Dabei gilt allerdings nur mit Einschränkung der Grundsatz, dass die mit seiner Meinungsäußerung verbundene Verletzung von Individualrechten das schonendste Mittel der Interessenwahrnehmung sein muss. Nicht jede aus nachträglicher Beurteilung unnötige Schärfe lässt den Rechtfertigungsgrund des § 193 StGB entfallen1. Auch der Anwaltssenat des BGH2 hielt es nicht für standeswidrig, wenn der Anwalt „zur Erörterung stellt“, ob bestimmte Maßnahmen mit der gebotenen Objektivität übereinstimmen3. Nicht akzeptabel ist es dagegen, dass der Anwalt einen anderen Beteilig- 188 ten grundlos verunglimpft. Erhebt der Verteidiger Vorwürfe gegen Richter, muss er diese vorher sorgfältigst geprüft haben. Der Vorwurf der Rechtsbeugung darf nicht vorgebracht werden, wenn die innere und äußere Tatseite nicht guten Gewissens bejaht werden kann4. Auch die Kritik an einem Richter oder Staatsanwalt als Zeugen hat sich nach diesen Grundsätzen zu richten (z.B. Zivilrichter als Zeuge bei der Verhandlung eines Aussagedelikts). Allerdings untersteht der Richter wie der Zeuge Fragen und Vorhaltungen. Persönlich herabsetzende Kritik an seiner Aussage ist jedoch unzulässig, so die Frage nach der Zeugenvernehmung eines Richters und eines Anwalts, wer denn nun einen Meineid geleistet habe (Rz. 211)5. Im Ergebnis kommt es stets auf die Umstände des Einzelfalles an. Manches in diesem Bereich dürfte letztlich eine Frage „abgezirkelter“ Formulierung sein. Beanstandungen der Verhandlungs- und Sachleitung des Richters bringen 189 den Verteidiger fast regelmäßig in eine schwierige Situation. Sie führen häufig zu Zusammenstößen mit Richter und Staatsanwalt. Die gegensätzliche Aufgabenstellung tritt hier besonders deutlich hervor. Der Verteidiger ist zur sachlichen Einseitigkeit verpflichtet und muss deshalb darauf achten, dass die Verfahrensregeln eingehalten werden. Der Mandant darf durch die Gestaltung des Ablaufs der Hauptverhandlung nicht zum bloßen „Prozessobjekt“ werden. Erst recht dürfen prozessuale Fehler zu seinem Nachteil nicht hingenommen werden. Zu diesem Zweck sind Anordnungen des Richters, die die Sachleitung betreffen (§ 238 StPO: Rz. 539) und unzulässige Fragen (§ 242 StPO: Rz. 535 f., 552) zu beanstanden. Dadurch gerät der Verteidiger notwendigerweise in eine Frontstellung zum Richter, oft aber auch zu dem Staatsanwalt, der nicht
1 KG v. 3.7.1997 – (4) 1 Ss 290/96 (110/96), AnwBl. 1998, 278; zur Abwägung auch OLG Bremen v. 6.8.1999 – Ss 16/99, StV 1999, 534. 2 BGH v. 16.1.1967 – AnwSt (R) 10/66, NJW 1967, 891. 3 S. dazu Arndt, NJW 1967, 1331. 4 OLG Jena v. 4.7.2001 – 1 Ss 157/01, StraFo 2002, 203; zum früheren Standesrecht EGE II, 128; EGE IV, 1; EGE V, 7, 113; EGE XI, 176. 5 EGE V, 236.
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bereit oder imstande ist, Formfehlern entgegenzutreten1. Deshalb muss der Verteidiger seine Stellungnahme sorgfältig abwägen und maßvoll vortragen. Soweit sich Verhandlungs- und Sachleitung in zulässigen Bahnen bewegen, dürfen sie nicht angegriffen werden. Im Falle von Beanstandungen sind beleidigende Formulierungen verboten: Sie untergraben Achtung und Vertrauen zur Rechtspflege. Ebenso wäre es unstatthaft, sich in eine zulässige Art der Vernehmung einzumischen und den Richter dauernd zu unterbrechen. Die sachlich vorgetragene und rechtlich fundierte Beanstandung ist weitaus besser geeignet, das angestrebte Ziel zu erreichen. 190
Der Verteidiger ist befugt, alle zulässigen Rechtsbehelfe gegen richterliche Entscheidungen auszuschöpfen. Dies darf er sowohl zum Schutz seiner eigenen Stellung als Verteidiger wie auch für seinen Mandanten. Ob und welche Rechtsbehelfe der Verteidiger ergreift, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Er trifft die Entscheidung hierüber in eigener Verantwortung (Rz. 802 f.). Davon befreit ihn auch nicht der Umstand, dass Richter und Staatsanwalt von Amts wegen alle zugunsten des Beschuldigten sprechenden Umstände zu berücksichtigen haben. Verletzt der Verteidiger diese Verpflichtung, so kann er sich schadensersatzpflichtig machen. Aus diesen Gründen sind die Entscheidungen des Verteidigers insoweit richterlicher Kritik entzogen. Keinesfalls darf der Verteidiger zur Drohung mit Rechtsmitteln, Dienstaufsichtsbeschwerden und Strafanzeigen greifen2. Es ist auch nicht erlaubt, Stellen außerhalb der Rechtspflege anzugehen, z.B. Eingaben an den Bundeskanzler oder Justizminister zu dem Zweck, in ein gerichtliches Verfahren einzugreifen. Ebenso ist es unzulässig, einem Richter anzukündigen, die von ihm beabsichtigte Entscheidung werde für ihn „Konsequenzen“ haben. Ein solches Verhalten grenzt an Nötigung. Entsprechendes gilt auch für das Verhältnis des Verteidigers zum Staatsanwalt (Rz. 185). Auch er darf z.B. nicht „unter Druck gesetzt“ werden etwa mit der Drohung, man werde aus der Sache eine Medien-Sensation machen oder dergleichen. Auch die Bemerkung, die Zustimmung zu einer Einstellung nach § 153 StPO werde verweigert, während Mordanzeigen in der Schublade liegen blieben, liegt neben der Sache. Inwieweit solche und ähnliche Vorgänge heute noch zu einer berufsgerichtlichen Ahndung führen, ist eine Frage des Einzelfalles. Es ist aber ein Gebot der Klugheit für den Verteidiger, auch in erhitzter oder gar „vergifteter“ Atmosphäre abzuwägen, was letztlich den – allein maßgebenden – Interessen seines Klienten dienlich ist. Die Erfahrung lehrt, dass „die Strafjustiz“ in diesen Bereichen sehr nachtragend sein kann – sowohl zum Nachteil der Mandanten als auch des Verteidigers.
1 Hierzu Kohlhaas, DRiZ 1966, 46. 2 EGE VI, 211.
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Rz. 192
b) Ehrenamtliche Richter Das Verhältnis des Verteidigers zu den Laienrichtern erfordert besondere 191 Aufmerksamkeit. Infolge ihrer geringen Vertrautheit mit dem Verfahren sind sie mit ihrem bedeutenden Stimmgewicht für das Urteil Gefahr und Chance zugleich. Sie beobachten und werten auch z.B. objektiv kaum wesentliche Einzelheiten (Rz. 712) und lassen sich leicht durch Eindrücke und Emotionen, Sympathie und Antipathie beeinflussen (vgl. für das Plädoyer Rz. 746). Sie beobachten auch aus Interesse oder Misstrauen den Verteidiger selbst und seine Attitüde sehr aufmerksam. Ihre Empfindungen können sogar als irrationale Entscheidungselemente in das Urteil eingehen. Zwar hat ein „starker“ Vorsitzender die Schöffen oft „in der Hand“. Aber wir wissen, dass sie bisweilen „stur“ bleiben und ihr Votum durchsetzen. Jedoch ist dies nur eine Teilerscheinung der problematischen Laienbeteiligung an der Strafrechtspflege. Der Verteidiger tut in jedem Falle gut daran, sich mit der Person der Schöffen vertraut zu machen (§ 24 Abs. 2 StPO – Rz. 200, 456) und ggf. Erkundigungen einzuholen (Rz. 456). Ihre Namen finden sich üblicherweise in der Besetzungsmitteilung (§ 222a StPO) oder auf der Terminrolle vor dem Sitzungssaal. c) Favor judicis Diese Hinweise entsprechen der guten Übung als Richtschnur für an- 192 waltliches Verhalten, sich um ein gutes Verhältnis zu Staatsanwalt und Gericht, um den sog. „favor judicis“, zu bemühen und ihn zu pflegen. In der Tat beruht eine gute Strafrechtspflege auf dem vertrauensvollen, spannungsfreien Verhältnis der an ihr beteiligten Organe. Aber das Wort vom favor judicis ist sehr gefährlich. Wenn es missverstanden wird, führt es zur Beeinträchtigung der inneren Unabhängigkeit und Freiheit des Verteidigers. Dessen oben (Rz. 1 ff.) beschriebene Berufsaufgabe fordert von ihm Entschlossenheit und Unerschrockenheit in der Auseinandersetzung. Daraus entstehende Konflikte auch mit dem Gericht muss er durchstehen und darf nicht „knochenweich“ werden, um damit sein angenehmes persönliches Verhältnis zu erhalten. Er darf auch nicht an seine folgenden Verteidigungen denken und den Richtern nach den Augen sehen. Wer das nicht kann, kommt in die Gefahr, seinen Mandanten zu verraten. Werbung um den favor judicis und der Kampf um Recht vertragen sich manchmal eben nicht. Die Unabhängigkeit des Geistes besteht in der Unerschrockenheit und der Bereitschaft, sich um der Sache willen unbeliebt zu machen1. Man muss daher hellhörig werden, wenn Richter den Verteidiger loben, mit dem sich „immer so gut arbeiten lasse“ und der „keine Schwierigkeiten mache“. In Wahrheit will der gute Vorsitzende den schwächlichen Verteidiger auch gar nicht haben und entzieht dem aufrechten nicht seine Gunst. Es ist selbstverständlich, dass der Ver1 Arndt, 40. Deutscher Juristentag, Verhandlungen, Bd. II C 59; ferner: „Er spricht nicht mehr mit mir, der Herr Vorsitzende“, AnwBl. 1971, 172.
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teidiger dabei die verbindliche Form zu wahren hat und die Vorteile diplomatischer Geschicklichkeit sich zunutze machen sollte (vgl. auch zu den Fragen der Opportunität Rz. 1092). 193
Das Interesse eines Verteidigers am favor iudicis oder „favor procuratoris“ macht ihn also nicht zum „Ja-Sager“, solange der Verteidiger die Würde seiner Berufsaufgabe wahrt und sich nicht herabwürdigt. Die harte Durchsetzung von Beschuldigten- und Verteidigerrechten ist eines. Wenn sie in der Sache geboten ist, muss sie kompromisslos erfolgen. Für die optimale Erfüllung des Verteidigungsauftrages und der Wahrnehmung der Interessen des Klienten kann aber ein gutes, auf Respekt und gegenseitige Wertschätzung gestütztes Verhältnis zum Richter gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Vor allem in manchen nicht durchnormierten Bereichen des Strafprozesses, bei Ermessensentscheidungen sowie in Fällen einer gewünschten Rücksichtnahme auf den Verteidiger, auf die kein Rechtsanspruch besteht, kann die persönliche Einstellung des Richters zu dem jeweiligen Verteidiger den Ausschlag geben. Der einzelne Strafprozess ist in aller Regel auch nicht geeignet, Ansprüche und Rechte der Verteidigung um ihrer selbst willen oder „aus grundsätzlichen Erwägungen“ durchzusetzen. Gegenstand des Strafprozesses ist nicht der Kampf um die Rechte des Strafverteidigers, sondern der Kampf um ein optimales Ergebnis für den Klienten. Alle anderen Interessen, mögen sie noch so wichtig sein, haben ihren Platz primär auf der rechtspolitischen und berufspolitischen Ebene. Die Anwälte haben – vor allem in neuerer Zeit – durchaus unterschiedliche Einstellungen zum „favor judicis“. Nicht wenige lehnen ein solches Bemühen ab und geben einer „Konfliktverteidigung“ (Rz. 39, 75, 198, 450, 702, 810, 813) den Vorzug. Ob diese dem Schutzanspruch des Klienten besser dient, scheint eine „Glaubensfrage“ der Verteidiger zu sein, der mit rationalen Argumenten kaum beizukommen ist1. 4. Fehlverhalten des Verteidigers Literatur: Gröner, Strafverteidiger und Sitzungspolizei, 1998; Hassemer, Über den Missbrauch von Rechten, FS Meyer-Goßner (2001), S. 127; Hübel, Sitzungspolizeilich verfügte Durchsuchung von Verteidigern nach GVG § 176, StV 1998, 243; Jahn, Sitzungspolizei contra „Konfliktverteidigung“?, NStZ 1998, 389; Krekeler, Durchsuchung des Verteidigers beim Betreten des Gerichtsgebäudes, NJW 1979, 185; Müller, Zwangsweise Entfernung eines Rechtsanwalts aus dem Sitzungszimmer, NJW 1979, 22; Nobis, Ordnungshaft für den Verteidiger – Eine Justizposse aus Hagen, StraFo 2003, 257; Rüping/Dornseifer, Dysfunktionales Verhalten im Prozess, JZ 1977, 417; Salditt, Verteidigung in der Hauptverhandlung – Notwendige Alternativen zum Praxisritual, StV 1993, 442; Volk, Konfliktverteidigung, Konsensualverteidigung und die Strafrechtsdogmatik, FS Dahs (2005), S. 495; Weber, Der Missbrauch prozessualer Rechte im Strafverfahren, GA 1975, 289.
1 Zum Problem Dahs in FS Odersky (1996), S. 317 ff.
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Verteidiger, Staatsanwalt und Richter
Rz. 195
Es folgt aus der allseitigen Unabhängigkeit des Verteidigers (Rz. 28 ff.), 194 dass gegen ihn nur in ganz beschränktem Umfang eingeschritten werden kann, wenn wegen seiner Verteidigung Bedenken bestehen. Neben der außerordentlichen Maßnahme der Ausschließung des Verteidigers nach § 138a StPO (Rz. 40 ff.) kommt ein Vorgehen gegen den Verteidiger, besonders gegen ein Fehlverhalten des Verteidigers, in der Hauptverhandlung in Betracht. Der Verteidiger untersteht der Sitzungspolizei des Vorsitzenden (§ 176 GVG). Der Richter ist zu Ermahnungen und Rügen allerdings nur befugt, wenn der Verteidiger in der Form fehlgreift oder seine Äußerungen nicht zur Sache gehören. Selbst scharfe Auseinandersetzungen berechtigen nicht zu Anordnungen, die den Verteidiger herabsetzen oder seine Rechte schmälern. Allerdings sind Verteidiger und Mandant gesetzlich nur unzureichend gegen unrechtmäßige Maßnahmen geschützt. Das Gericht kann zwar angerufen werden gegen die Anordnungen der Verhandlungsleitung (§ 238 Abs. 2 StPO). Sitzungspolizeiliche Maßnahmen begründen als solche aber nicht die Revision. Handelt es sich jedoch um Anordnungen der Sachleitung, so kann die Verteidigung in einem wesentlichen Punkt beschränkt sein (§§ 238, 338 Nr. 8 StPO). Der Angeklagte hat Anspruch auf ungehinderte Führung der Verteidigung und auf ein faires Verfahren. In einem solchen Falle geht der Revisionsgrund aber verloren, wenn der Verteidiger nicht einen Gerichtsbeschluss herbeiführt1 (Rz. 541). Andere sitzungspolizeiliche Befugnisse als Rügen und Ermahnungen stehen dem Richter gegen den Verteidiger nicht zu, insbesondere unterliegt er nicht der Ordnungsstrafgewalt des Gerichts (§ 178 GVG)2. Auch eine Entfernung des Verteidigers aus dem Gerichtssaal durch Ge- 195 richtsbeschluss gem. § 177 GVG ist unzulässig3. Sie lässt sich weder aus der sitzungspolizeilichen Befugnis des § 176 GVG noch aus dem allgemeinen Hausrecht der Justizbehörden herleiten. Der Verteidiger ist immer zur Anwesenheit befugt. Dem Richter bleibt nur die Möglichkeit, das Verhalten des Verteidigers strafrechtlich oder berufsrechtlich überprüfen zu lassen. Soweit strafbare Handlungen des Verteidigers vorliegen, hat das Gericht den Tatbestand im Protokoll festzulegen und der zuständigen Behörde Mitteilung zu machen (§ 183 GVG: Rz. 709). Bei bloßen Verstößen gegen das Berufsrecht greift diese Bestimmung jedoch nicht ein. Daher ist auch der Protokollvermerk unzulässig, der Verteidiger habe sich berufswidrig verhalten. Allerdings kann das Gericht gegen schwere Ungebühr des Verteidigers auf anderem Wege vorgehen. Nach § 145 StPO sind dem Wahl- und Pflicht1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 338 StPO Rz. 60 f. 2 Deutlich OLG Hamm v. 6.6.2003 – 2 Ws 122/03, StraFo 2003, 244; OLG Düsseldorf v. 24.11.1993 – 1 Ws OWi 1034/93, wistra 1994, 79; Meyer-Goßner in MeyerGoßner/Schmitt, StPO, § 177 GVG Rz. 3a. 3 OLG Hamm v. 6.6.2003 – 2 Ws 122/03, StraFo 2003, 244.
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Rz. 196
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
verteidiger die Kosten aufzuerlegen, wenn durch seine Schuld eine Hauptverhandlung ausgesetzt werden muss. Beispiel: Der Verteidiger entfernt sich ohne wichtigen sachlichen Anlass aus der Sitzung oder weigert sich, die Verteidigung zu führen (Rz. 511, 803). Gleich zu behandeln ist der Fall, dass sich der Verteidiger trotz mehrfacher Ermahnung ungebührlich benimmt und deshalb nicht weiterverhandelt werden kann, so wenn der Verteidiger vom Vorsitzenden verlangt, er möge sich jeweils selbst davon überzeugen, dass die (abgelehnten) Beweisanträge des Verteidigers protokolliert seien1. In jedem Falle muss die Aussetzung der Verhandlung mit der Kostenfolge zulasten des Verteidigers das letzte Mittel sein. § 145 StPO gibt dem Gericht nicht das Recht, sich auf diese Weise eines unbequemen Verteidigers zu entledigen. Das Gericht hat in diesen Fällen auch die Möglichkeit, die Hauptverhandlung lediglich zu unterbrechen. Bedeutung hat eine solche Maßnahme aber nur gegenüber einem Pflichtverteidiger, weil seine Bestellung zurückgenommen und ein anderer Verteidiger bestellt werden kann (§ 145 Abs. 1 StPO). Die im Zusammenhang mit dem Missbrauch prozessualer Rechte durch den Verteidiger bestehenden Fragen werden an anderer Stelle, z.B. bei der Ablehnung von Gerichtspersonen (Rz. 198) und beim Beweisantragsrecht (Rz. 669 ff.) behandelt. 5. Fehlverhalten von Richtern und Staatsanwälten a) Fälle 196
Der Verteidiger darf und muss sich in aller Form zur Wehr setzen, wenn der Richter oder der Staatsanwalt sich nicht richtig verhält. Es gibt gute und schlechte, erfahrene und unerfahrene, schnelle und langsame, eifrige und phlegmatische, bescheidene und selbstbewusste, kluge und weniger kluge Richter und Staatsanwälte. Hierher gehört auch die häufig anzutreffende Fehleinstellung von Richtern zu ihrer richterlichen Aufgabe. Sie fühlen sich nicht selten weniger als vom Staat unabhängige und zur Kontrolle der öffentlichen Gewalt und zum Schutze der Freiheitsrechte des Bürgers berufene Souveräne, sondern eher als von ihm bestellte und besoldete Staatsdiener, dessen Funktionen sie wie Rechtsprechungsbeamte ausüben. Solche im Obrigkeitsdenken befangene (auch jüngere) Richter machen es der Verteidigung oft schwer. Man trifft als Verteidiger darüber hinaus auch auf eingebildete und dünkelhafte Richter. Das sind diejenigen, die durch ihren Sitz am Richtertisch auf einem höheren Platz als der Verteidiger nach und nach in die Auffassung hineingeraten, der räumliche Höhenunterschied bedeute auch ihre Überlegenheit im geistigen und moralischen Bereich.
1 OLG Hamm, NJW 1954, 1053; vgl. auch OLG Hamburg v. 19.10.1981 – 1 Ws 358/81, 1 Ws 263/81, NStZ 1982, 171 (172).
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Verteidiger, Staatsanwalt und Richter
Rz. 196
Diese überheblichen Richter schauen auf den Verteidiger „von oben herab“ und steigern sich im Laufe der Dienstjahre mehr oder weniger in eine Art „Unfehlbarkeitswahn“. Sie kennen die Wahrheit schon beim ersten Eintritt in den Sitzungssaal. Auch sonst darf der Verteidiger die Aktenkenntnis der Berufsrichter und ihre etwaige Mitwirkung am Eröffnungsbeschluss, anderen Vorentscheidungen und Parallelsachen nicht außer Acht lassen. Diese Umstände führen leicht zu einer für den Richter unbewussten, dem Betroffenen aber durchaus evidenten Voreingenommenheit (Rz. 10, 203). Die Hauptverhandlung kann dann zu einem bloßen Nachvollzug der Ermittlungsakten entarten (Rz. 553, 583). Dies wird u.a. dadurch deutlich, dass der Richter den Verteidiger etwa bei der Befragung des Angeklagten, der Zeugen oder Sachverständigen ständig unterbricht oder ihn gar herabsetzt. Auch kommt es vor, dass ungeeignete Vorsitzende laut werden und Angeklagte geradezu anschreien. Solche Angriffe des Richters erfordern eine sachlich scharfe Erwiderung: Sie zwingen den Verteidiger zu Gegenmaßnahmen, um sein Ansehen und die Belange des Mandanten zu wahren. Furcht vor „Ungnade“ darf auch den Pflichtverteidiger hiervon nicht abhalten. Er darf sich z.B. nicht die Bemerkung eines Vorsitzenden, der Verteidiger führe seine Verteidigung mit „Tricks“ oder „Mätzchen“, gefallen lassen. Ungehörig ist auch die Bemerkung eines Richters, der Verteidiger verstoße gegen sein Berufsrecht. Das gilt auch für die Äußerung, der Richter werde „Meldung“ erstatten, der Verteidiger mache nur Schwierigkeiten oder für den unbegründeten Vorwurf der „Prozesssabotage“. Mit der Pflicht zur gegenseitigen Achtung ist es nicht vereinbar, wenn ein Richter während des Plädoyers (Rz. 723) in den Akten blättert, mit anderen Richtern spricht, bereits die Urteilsformel niederschreibt oder sonst zum Ausdruck bringt, dass ihn der Vortrag nicht interessiert. Der Verteidiger muss innehalten, bis ihm wieder zugehört wird. Darauf hat er Anspruch. Ebenso wenig braucht er Unterbrechungen seines Vortrages zu dulden. Gegen jeden Eingriff in die Freiheit des Plädoyers hat er sich zur Wehr zu setzen. Dies kann indessen anders sein, wenn der Verteidiger sich ständig wiederholt oder weitschweifig wird. Selbstverständlich darf der Verteidiger seine Rechtsansicht äußern, auch wenn sie mit der herrschenden Lehre oder der Meinung des erkennenden Gerichts nicht übereinstimmt. Dann steht es Richter und Staatsanwalt nicht zu, von einer „eigenartigen“ oder „exotischen“ Rechtsauffassung der Verteidigung zu sprechen. Der Verteidiger stößt auch sonst oft genug auf eine nicht achtungsvolle, verständnislose oder sogar ausgesprochen unfreundliche Einstellung von Richtern. So werden häufig unbegreiflich kurze Fristen zur Bearbeitung gesetzt, die ein beschäftigter Anwalt einfach nicht einhalten kann. Mit Vorliebe wird auch von manchen die Überlassung von Akten auf Minifristen – von ein bis drei Tagen – beschränkt, auch wenn es für den Verteidiger die erste Akteneinsicht nach langer Verfahrensdauer ist. Die Frist einfach zu überschreiten und die Akten festzuhalten, wäre in einem solchen Fall nicht korrekt. Der Staatsanwalt oder der Richter würde zwar 131
Rz. 197
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
auf Bitte wohl die Frist verlängern. Dazu braucht sich aber der Verteidiger nicht immer herzugeben. Wirksam kann die fristgerechte Rückgabe der Akten sein in Verbindung mit dem Antrag, nunmehr eine angemessene Frist zu bestimmen (Rz. 275). In dieser Weise sollte man allerdings nur dort reagieren, wo Verständnislosigkeit oder gar böser Wille vermutet werden muss. Der Verteidiger sollte auch gegen die häufige Übung angehen, Zustellungen zu Unzeit, d.h. vor Festtagen, etwa zur Weihnachtszeit durchzuführen, damit der Sachbearbeiter Anklagen, Urteile oder sonstige Entscheidungen noch schnell „vom Tisch hat“. Der Verteidiger sitzt dann im Fristdruck, den verständnisvolle Zusammenarbeit hätte verhindern sollen. Es kommt erfreulicherweise der umgekehrte Fall sehr viel häufiger vor: Auf die – rechtzeitige – Bitte des Verteidigers wird die Zustellung bis zu einem besser passenden Zeitpunkt zurückgestellt. b) Maßnahmen des Verteidigers 197
In fast allen Fällen des Fehlverhaltens von Richtern oder Staatsanwälten kommt der Verteidiger in eine schwierige Lage. Verwahrt er sich dagegen nicht in wirksamer Form, so setzt er seine Autorität aufs Spiel, die er nicht nur um seiner selbst willen, sondern auch im Interesse der Mandanten zu schützen hat. Ein Verteidiger mit einem öffentlichen Tadel ist für den Angeklagten nichts wert. Weist der Verteidiger die Herausforderung zurück, so kann er die Chancen des Mandanten verscherzen. Es kommt daher auf den Einzelfall an, ob und was zu unternehmen ist. Oft wird eine unverzügliche, in der Sache deutliche, in der Form korrekte Zurückweisung des Angriffs ausreichen. Äußerstenfalls bleibt die Mandatsniederlegung (Rz. 803). Häufig reicht es jedoch aus anzukündigen, das Mandat in der Hauptverhandlung niederzulegen, was das Gericht naturgemäß vermeiden will (vgl. auch Rz. 197). Allerdings sollte der Verteidiger nicht bei jeder Gelegenheit mit der Niederlegung des Mandats drohen, sonst wird daraus rasch eine stumpfe Waffe, die nicht mehr ernstgenommen wird. Auch schadet eine solche Maßnahme in der Regel dem Klienten mehr als sie nützt. Vorzuziehen ist daher oft eine Unterbrechung der Verhandlung, die zu einem Gespräch, evtl. unter Vermittlung eines Beisitzers – oder des Staatsanwalts – genutzt werden kann. So kann überraschend oft die Atmosphäre entspannt und die Verhandlung – ggf. auch nach kurzen Erklärungen der Beteiligten – in einem besseren Klima fortgesetzt werden. Kommt der Verteidiger in die Lage, gegen Richter oder Staatsanwalt auf schriftlichem Wege persönlich vorgehen zu müssen, so ist er zu gewissenhafter selbstverantwortlicher Prüfung besonders verpflichtet. Auf die Angaben des Mandanten oder Dritter darf er sich nicht verlassen. Das Gesuch ist in korrekter Form vorzubringen. Sonst kann sich der Verteidiger berufsrechtlicher Ahndung und unter Umständen strafrechtlicher Verfolgung aussetzen, z.B. wegen versuchter Nötigung oder Beleidigung. 132
Verteidiger, Staatsanwalt und Richter
Rz. 198
Alle Umstände sind sorgfältig abzuwägen. Leichtfertige Angaben sind ebenso zu vermeiden wie ein bewusst missbräuchlicher Einsatz einer formal zulässigen Maßnahme. Diese Grundsätze sind für alle im nächsten Abschnitt behandelten Gegenmittel des Verteidigers zu berücksichtigen. aa) Ablehnung von Richtern Literatur: Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl. 2012, Rz. 162 ff.; Hamm, Der gesetzliche Richter und die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit, Diss. 1973; Krehl, Zur Rechtzeitigkeit eines nicht sofort angebrachten Ablehnungsgesuches, NStZ 1992, 598; Krekeler, Der befangene Richter, NJW 1981, 1633; Kröpil, Zur Entstehung und Bedeutung des § 26a Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 StPO, AnwBl. 1997, 575; Michel, Befangenheit in der Strafgerichtsbarkeit, MDR 1993, 1146; Rabe, Zur Zulässigkeit eines Ablehnungsgesuches gem. § 26a I Nr. 2 StPO, NStZ 1996, 369.
Die Ablehnung von Richtern einschließlich der Laienrichter (und gele- 198 gentlich auch von Staatsanwälten) spielt in der Praxis eine große Rolle. Der Erfolg eines Ablehnungsgesuchs entscheidet oft den Ausgang des Verfahrens und bestimmt dadurch maßgeblich das Schicksal des Mandanten. Die durch Ablehnung erreichte anderweitige Besetzung des Gerichts kann häufig zu einer günstigeren Beurteilung der Sach- und Rechtslage führen. Auch muss der Verteidiger stets im Auge behalten, dass der Anspruch auf ein faires Verfahren unter Umständen die Ablehnung gebietet. Um seiner Aufgabe gerecht werden zu können, muss der Verteidiger die einschlägige reichhaltige Rechtsprechung und die nicht weniger umfangreiche Literatur über die Richterablehnung (auch in Zivilsachen) kennen, auf die wegen aller Einzelheiten verwiesen wird. Wichtig ist eine praktische Erfahrung: Das Gegenmittel der Ablehnung darf nicht über Gebühr strapaziert werden1. Ständige Ablehnungsgesuche sprechen sich herum: Sie machen misstrauisch und werden als bloßes Mittel der „Konfliktverteidigung“ nicht mehr ernst genommen. Dabei ist nicht zuletzt eine gewisse Empfindlichkeit der Richter ins Kalkül zu setzen. Nicht nur die unmittelbar Betroffenen sehen erfahrungsgemäß die Ablehnung als einen „Affront gegen den Berufsstand“ an2. Es gibt auch Richter, die einen Ablehnungsantrag souverän „wegstecken“ und sich in ihrer – auch gegenüber dem Verteidiger – verbindlichen Verhandlungsführung nicht beeinträchtigen lassen. Andererseits spüren Verteidiger häufig, wie distanziert man ihnen nach einem Ablehnungsantrag gegenübertritt, vor allem, wenn er erfolgreich gewesen ist. Dies wirkt sich auch auf den Mandanten aus. Bewusst oder unbewusst wird er härter angefasst, falls sein Verteidiger oder er selbst es unternommen hat, mit einem Ablehnungsgesuch die Objektivität eines Organs der Rechtspflege zu bezweifeln. Nicht zuletzt der übermäßige Gebrauch des Ablehnungs1 Vgl. dazu Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, Thesen 35 und 42. 2 Deubner, NJW 1967, 2371.
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Rz. 199
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
rechts hat zu der Diskussion über gesetzgeberische Maßnahmen gegen „Missbrauchsverteidiger“ geführt1. Die Ablehnung kann aber auch eine entgegengesetzte Wirkung haben. Die Zurückweisung eines Ablehnungsantrages kann den Bestand des Urteils in der Revisionsinstanz erheblich gefährden. Man hat nun manchmal den Eindruck, dass das Gericht aus diesem Grund zu einem „entgegenkommenden“ Urteil (etwa durch Strafaussetzung zur Bewährung) kommt, um der Überprüfung der Befangenheitsrüge zu entgehen (Rz. 206). Dabei ist bedeutsam, dass für den Verteidiger zur Durchsetzung der Ablehnung auch die Anrufung des BVerfG wegen des Grundrechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) in Betracht kommen kann2. Die Erfahrung lehrt im Übrigen: Bei Ablehnungsverfahren kann der Verteidiger mit seinen Berufspflichten in Konflikt geraten. Einerseits hat er alle Umstände vorzutragen, die für die Besorgnis der Befangenheit sprechen, und muss deshalb notwendigerweise den Richter oder den Staatsanwalt persönlich angreifen. Andererseits hat er sich jeder Äußerung zu enthalten, die den Betroffenen verunglimpft. Ablehnungsgesuche allein zu diesem Zwecke können als unzulässig verworfen werden (§ 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO3) und halten nicht einmal den Fortgang der Hauptverhandlung auf (§ 29 Abs. 2 StPO). Der Sachvortrag des Verteidigers muss in jedem Falle maßvoll sein (Rz. 187). 199
Die Richterablehnung umfasst zwei Fälle, den Ausschluss kraft Gesetzes, der ebenfalls durch Ablehnung geltend gemacht werden kann (§ 24 Abs. 1 StPO), und die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit. Der Richterausschluss bietet im Allgemeinen keine Schwierigkeiten, wenn der Richter wegen einer besonderen Beziehung zum Gegenstand des Verfahrens nicht mitwirken darf (§ 22 StPO). Weit problematischer hingegen können die Fälle sein, in denen der Richter ausgeschlossen ist, weil er an früheren Entscheidungen in derselben Sache beteiligt war (§ 23 Abs. 1 StPO). Dies ist nur der Richter der Vorinstanz, nicht jedoch der Rechtsmittelrichter bei der neuen erstinstanzlichen Entscheidung. Ausgeschlossen ist auch der Richter, der an einer früheren Entscheidung beteiligt war, die im Wiederaufnahmeverfahren angegriffen wird (§ 23 Abs. 2 StPO). Dies gilt für die Richter aller Sachentscheidungen im früheren Verfahren, gleichgültig in welcher Instanz sie tätig waren4, gleichgültig auch, in welchem Abschnitt des Wiederaufnahmeverfahrens sie wieder
1 Zum Begriff des Rechtsmissbrauchs durch Verteidiger BGH v. 7.11.1991 – 4 StR 252/91, BGHSt. 38, 111 (113); OLG Hamburg v. 6.6.2003 – 2 Ws 122/03, NStZ 1998, 586 m. Anm. Kudlich; Hassemer in FS Meyer-Goßner (2001), S. 127 ff.; ferner Dahs in FS Odersky (1996), S. 317 ff. 2 BVerfG v. 6.6.2003 – 2 Ws 122/03, BVerfGE 21, 148 f. 3 KG, JR 1966, 229. 4 Zu Ausnahmen vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 23 StPO Rz. 5; enger Dahs sen., NJW 1965, 85.
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Verteidiger, Staatsanwalt und Richter
Rz. 200
tätig werden sollen1. Dagegen ist der Richter nicht ausgeschlossen, wenn er als Zeuge sich nur zu dienstlichen Vorgängen in dem anhängigen Verfahren geäußert hat2. Weiter ist die Richterablehnung zulässig, wenn der Richter zwar nicht 200 kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, wenn aber seine Befangenheit befürchtet werden muss. Auch wenn das Gesetz in § 24 Abs. 2 StPO genau zu umschreiben sucht, wann Besorgnis der Befangenheit anzunehmen ist, gibt es hierüber eine umfangreiche Rechtsprechung, auf die verwiesen werden muss3. Es kommt immer auf den Einzelfall an; auch spielen die Zeitumstände eine nicht unwesentliche Rolle. Nach dem Gesetzeswortlaut ist Befangenheit des Richters zu befürchten, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Maßgebend ist der Standpunkt des Ablehnenden (subjektives Element). Für ihn müssen vernünftige Gründe vorliegen, an der Unbefangenheit des Richters zu zweifeln (objektives Element). Ob sich der Richter selbst für befangen hält, ist hingegen unerheblich. Ohne Bedeutung ist auch, ob der Richter in Wahrheit befangen ist. Es reicht aus, wenn objektiver Anlass zu der Befürchtung besteht. Der Verteidiger, der ein Ablehnungsgesuch in Betracht zieht, muss also vom Standpunkt seines Auftraggebers aus prüfen, ob sachliche Gründe für die Besorgnis der Befangenheit sprechen. Zur Vorbereitung dieser Prüfung kann die rechtzeitige Namhaftmachung der Richter erforderlich sein. Darauf hat der Angeklagte einen Anspruch (§ 24 Abs. 3 S. 2 StPO – Rz. 466, vgl. auch Rz. 191). In aller Regel ergeben sich die Namen der mitwirkenden Richter einschließlich der Laienrichter in Verfahren vor dem Landbericht (und Oberlandesgericht) aus der Besetzungsmitteilung nach § 222a StPO, sonst aus dem Terminzettel am Sitzungssaal. Die Rechtsprechung zur Befangenheit ist vielgestaltig. Ausreichend sind Freundschaft oder Feindschaft des Richters zum Beschuldigten oder Verletzten, entferntere Verwandtschaft, die den Richter nicht schon kraft Gesetzes ausschließt, richterliche Äußerungen gegenüber der Presse des Inhalts, die Anklage enthalte schon feststehende Tatsachen4, Zureden des Richters, die Ehefrau des Angeklagten, die ihn belastet, möge die Aussage nicht verweigern5, die Bemerkung eines Beisitzers im vorangegangenen Haftprüfungstermin, aufgrund der Strafliste stehe fest, dass der Angeklagte der Typ des Gewohnheitsverbrechers sei, die bewusste Nichtgewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), die Warnung
1 OLG Saarbrücken v. 15.9.1965 – Ws 148/65, NJW 1966, 167; OLG Bremen v. 21.12.1965 – Ws 247/65, NJW 1966, 605. 2 BGH v. 28.1.1998 – 3 StR 575/96, NStZ 1998, 524 m. Anm. Bottke. 3 Vgl. die bei Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 24 StPO Rz. 9 ff. und 14a ff. angeführten Beispiele. 4 BGH v. 28.1.1998 – 3 StR 575/96, BGHSt. 4, 264. 5 BGH v. 9.2.1951 – 3 StR 48/50, BGHSt. 1, 34.
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Rz. 201
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
an den nicht geständigen Angeklagten, fehlende Einsicht in das Unrecht der Tat könne strafschärfend berücksichtigt werden1, die richterliche Äußerung in sicherer Form, der Angeklagte sei schuldig2 oder der im Gespräch über eine Verständigung (§ 257c StPO) erweckte Eindruck, sich vorbehaltlos und endgültig festgelegt zu haben3. Der Verteidiger sollte immer wieder dafür eintreten, dass auch die Unsitte des Niederschreibens der vollständigen Urteilsformel vor Abschluss des „letzten Wortes“4 und die Ausarbeitung eines Manuskripts der mündlichen Urteilsbegründung vor den Schlussvorträgen – was gerade in Umfangverfahren häufiger vorkommt – als Befangenheitsgründe anerkannt werden. Gelegentlich erreicht man es, dass Instanzgerichte in diesem Sinne entscheiden. Bloße gute Bekanntschaft oder Nachbarschaft soll die Ablehnung nicht rechtfertigen5, eine bedenkliche Auffassung, die allein auf die Richtertugend der Objektivität abstellt und den Grundsatz des fairen Verfahrens vernachlässigt6. 201
Auch unsachliche Äußerungen berechtigen zur Ablehnung, so wenn den Richter die Ruhe verlässt und er mit starken oder abfälligen Worten die Person oder das Verhalten des Mandanten kritisiert7. Sogar Mienenspiel und Gestik eines Richters können mangelnde Objektivität ausdrücken und die Ablehnung rechtfertigen8. Bei Laienrichtern ist die Kenntnis der Anklageschrift, insbesondere des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen vor deren Verlesung ein Ablehnungsgrund9 (Rz. 519). In der Hauptverhandlung kann der Verteidiger danach fragen. Auf diese Weise ist auch festzustellen, ob sich Laienrichter durch sensationelle Berichterstattung über den Prozessstoff ein „Vor-Urteil“ gebildet haben (Rz. 100), wobei allerdings die bloße Kenntnis von Presseveröffentlichungen nicht ausreichen soll10; die Grenze wird hier aber oftmals schwer zu ziehen und noch schwieriger im Rahmen eines Befangenheitsantrags zu begründen sein. Überhaupt müssen unvorsichtige Äußerungen von Laienrichtern gegenüber Dritten den Verteidiger auf den Plan rufen. Hier finden sich oft Ab-
1 BGH v. 7.8.2001 – 4 StR 290/01, StV 2002, 115 (wenn es sich nicht um einen abstrakten Hinweis auf die Rechtslage handelt). 2 BGH, GA 1962, 282. 3 BGH v. 17.11.1999 – 2 StR 3130/99, StV 2000, 289. 4 Vgl. dazu BGH v. 17.11.1999 – 2 StR 3130/99, BGHSt. 11, 74, wo ein Verstoß gegen § 261 StPO zwar verneint, aber eingeräumt wird, dass diese Praxis „den Eindruck erwecken kann, der Richter habe sich bereits endgültig entschieden“. 5 LG Bonn v. 11.10.1965 – 4 T 460/65, NJW 1966, 160. 6 Rasehorn, NJW 1966, 666. 7 OLG Hamm v. 9.3.1967 – 2 Ss 28/67, NJW 1967, 1577 m. zust. Anm. Deubner, NJW 1967, 2371; BGH v. 27.4.1972 – 4 StR 149/72, BGHSt. 24, 336; zu Unmutsäußerungen vgl. BGH v. 14.1.2000 – 3 StR 106/99, NStZ 2000, 325. 8 OVG Lüneburg v. 4.1.1974 – IV OVG B 8/73, AnwBl. 1974, 132. 9 Nr. 126 Abs. 3 RiStBV; i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 31 StPO Rz. 2 m.N. 10 BGH v. 18.12.1968 – 2 StR 322/68, BGHSt. 22, 289, 294 f.
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Verteidiger, Staatsanwalt und Richter
Rz. 202
lehnungsgründe, wenn auch die Gerichtspraxis nicht leicht darauf eingeht1. Ob persönliche Differenzen des Richters mit dem Verteidiger des Ange- 202 klagten die Ablehnung rechtfertigen, ist umstritten. Der Verteidiger hat kein eigenes Ablehnungsrecht. Daher sollen Zerwürfnisse des Verteidigers mit dem Richter, die schon vor der zu verhandelnden Sache entstanden sind, in aller Regel als Ablehnungsgrund ausscheiden2. Man befürchtet, dieser Richter werde immer dann ausgeschaltet, wenn dieser Verteidiger auftritt. Diese Rechtsprechung wird der Realität nicht immer gerecht. Sie berücksichtigt nicht, dass schwere, langandauernde persönliche Feindschaft zwischen Richter und Rechtsanwalt sich sehr wohl auf die Einstellung zum Angeklagten auswirken kann3. Jedenfalls rechtfertigt aber ein schwerwiegender persönlicher Streit des Verteidigers mit dem Richter dann die Ablehnung, wenn er in der betreffenden Sache aufgetreten ist4. Auch drastisch-herabsetzende Bewertungen von Fragen des Verteidigers in einem Gerichtsbeschluss können die Ablehnung rechtfertigen5. Ebenso können grob stilwidrige, missachtende Gesten während der Ausführungen des Verteidigers die Ablehnung rechtfertigen. Auch aus der Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch oder der vorangegangenen dienstlichen Äußerung zum Ablehnungsgesuch kann sich ein neuer Ablehnungsgrund ergeben, was aber sorgfältig geprüft werden muss. Indessen kann aus dem eigenen Verhalten des Verteidigers und des Angeklagten grundsätzlich kein Ablehnungsgrund hergeleitet werden. Jedoch führen fortlaufende Unmutsäußerungen des Richters auch in diesem Falle zur Ablehnung6. Der Verteidiger kann sich deshalb nichts davon versprechen, einen Streit mit dem Richter vom Zaun zu brechen und künstlich einen Eklat herbeizuführen. Würde dies die Ablehnung rechtfertigen, wäre ihr Erfolg mehr
1 BGH v. 13.7.1966 – 2 StR 157/66, NJW 1966, 2321 = JR 1967, 227 m. Anm. Hanack, JR 1967, 229. 2 BGH v. 4.3.1993 – 1 StR 895/92, StV 1993, 339; BGH v. 5.4.1995 – 5 StR 681/94, StV 1995, 396; OLG Hamm v. 15.8.2002 – 2 Ws 354/02, StraFo 2002, 355; OLG Hamm v. 7.10.2004 – 2 Ss 345/04, NStZ-RR 2005, 15; OLG Braunschweig v. 22.1.1997 – Ws 5/97, StraFo 1997, 76. 3 Bejahend OLG Braunschweig v. 22.1.1997 – Ws 5/97, StraFo 1997, 76; OLG Düsseldorf v. 13.8.1990 – 1 Ws 685/90, wistra 1991, 78; wohl auch OLG Hamm v. 7.10.2004 – 2 Ss 345/04, NStZ-RR 2005, 15 (16). 4 BGH v. 3.7.1953 – I ZR 216/52, NJW 1953, 1425; BGH v. 15.1.1986 – 2 StR 630/85, NStZ 1987, 19; BGH v. 5.4.1995 – 5 StR 681/94, StV 1995, 396: Kontroverse zwischen Richter und Verteidiger kann Besorgnis der Befangenheit begründen, wenn sie durch Verfahrensrechte des Angeklagten verletzende Handlungen ausgelöst wird; oder BGH v. 4.3.1993 – 1 StR 895/92, StV 1993, 339: völlig unangemessenes Reagieren auf Verhalten des Verteidigers. 5 BGH v. 9.11.2004 – 5 StR 380/04, StV 2005, 72. 6 OLG Nürnberg v. 10.11.1966 – 5 W 63/66, MDR 1967, 310; i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 24 StPO Rz. 17.
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Rz. 203
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
oder weniger dem Verteidiger in die Hand gegeben. Das wird aus guten Gründen nicht zugelassen1. Überhaupt darf das Ablehnungsrecht nicht als „jederzeit nutzbares Zuchtmittel“ der Verteidigung gegenüber dem Richter angesehen und eingesetzt werden. Der Verteidiger muss vielmehr eine von ihm in Erwägung gezogene Richterablehnung immer besonders kritisch prüfen und bei der Begründung des Gesuches die Sachlichkeit wahren (§ 43 BRAO), was deutliche Worte nicht ausschließt2. Kein Ablehnungsgrund ist es nach der Rechtsprechung, wenn der Richter sich ohne Zusammenhang mit dem Verfahrensgegenstand politisch oder konfessionell betätigt, wenn gegen ihn eine Strafanzeige wegen Rechtsbeugung erstattet3 oder ein Disziplinarverfahren eingeleitet ist, wenn er in sachlicher Form seine Rechtsansicht während des Verfahrens äußert oder ändert4, wenn er zur Rücknahme eines Rechtsmittels rät. Die Ablehnung verspricht auch dann keinen Erfolg, wenn der Vorsitzende dem Angeklagten die Verdachtsgründe vorhält, weil er hierzu nach §§ 243 Abs. 4, 136 Abs. 2 StPO verpflichtet ist5. Jedenfalls reichen die Gründe allein zur Ablehnung nicht aus, wenn nicht Entgleisungen in der Form hinzutreten. Fehlerhafte Verfahrensentscheidungen allein vermögen ebenfalls die Ablehnung nicht zu rechtfertigen6, falls sie nicht rechtlich unbegründbar und willkürlich sind7. 203
Sehr zweifelhaft ist der Erfolg der Ablehnung des Richters, der vor der Hauptverhandlung an vorangegangenen Entscheidungen im Eröffnungsverfahren, im Haft- und Beschlagnahmeverfahren mitgewirkt oder der einzelne Beweise gem. § 202 StPO erhoben hat. Im Allgemeinen wird hier die Ablehnung wegen Befangenheit nicht durchgreifen, solange das geltende Recht die Identität dieser Richter mit den erkennenden Richtern bewusst in Kauf nimmt, obwohl gerade hier fast stets der Eindruck entsteht, der Richter sei befangen: so auch, wenn der Vorsitzende im Rahmen des § 221 StPO eine rege Ermittlungstätigkeit entfaltet hat8. Mindestens kann die Ablehnung dann versucht werden, wenn der Richter sich in den vorangegangenen Verfahren auf eine Wertung oder juristische Ansicht festgelegt hat. Das kann etwa zutreffen, wenn der Richter im Zwischenverfahren durch Verhängung oder Aufrechterhaltung von 1 BGH v. 7.10.1952 – 1 StR 94/52, NJW 1952, 1425; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 24 StPO Rz. 7 m. Beispielen. 2 KG v. 3.7.1997 – (4) 1 Ss 290/96 (110/96), NStZ-RR 1998, 12. 3 BVerfG v. 3.7.1997 – (4) 1 Ss 290/96 (110/96), NJW 1996, 2022. 4 BGH v. 3.7.1997 – (4) 1 Ss 290/96 (110/96), NJW 1962, 748. 5 OLG Köln v. 27.6.1956 – Ws 294/56, MDR 1956, 694 für den Untersuchungsrichter alten Rechts. Vgl. dazu Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 24 StPO Rz. 17. 6 BGH v. 18.5.1994 – 3 StR 628/93, NStZ 1994, 447. 7 BGH v. 9.12.1983 – 2 StR 452/83, NJW 1984, 1907; BGH v. 31.1.1990 – 2 StR 449/89, NJW 1990, 1373. 8 Dazu Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 24 StPO Rz. 15 f.
138
Verteidiger, Staatsanwalt und Richter
Rz. 203
Haft oder durch vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis schwerwiegende Entscheidungen getroffen und sich damit nicht nur auf den dringenden Tatverdacht, sondern auch auf eine „zu erwartende hohe Freiheitsstrafe“ gegen den Angeklagten festgelegt hat1. Auch die Mitwirkung eines Richters in anderen Verfahren, die denselben Sachverhalt betreffen (sog. „Parallelverfahren“), kann den Verteidiger zur Ablehnung veranlassen. Freilich verneint die Praxis in den genannten Prozesssituationen überwiegend die Befangenheit. Dies gilt nicht, wenn die Zwischenentscheidung rechtlich völlig unhaltbar2 oder das richterliche Vorgehen willkürlich ist3. Der Verteidiger sollte das nicht in jedem Falle hinnehmen4 und jedenfalls in krassen Fällen, die oft genug vorkommen, den Versuch unternehmen, die Rechtsprechung zu beeinflussen. Dies gelingt gelegentlich bei Fallkonstellationen, in denen es um Aussagedelikte und versuchte Strafvereitelung geht, wenn derselbe Richter schon das Ausgangsverfahren geführt und den jetzt angeklagten (Entlastungs-)Zeugen im Urteil für unglaubwürdig und seine Angaben für falsch erklärt hat. Besondere Aufmerksamkeit muss der Verteidiger der Frage widmen, ob nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht ein Tatrichter allein wegen seiner Mitwirkung an der früheren Entscheidung abgelehnt werden kann. Das Revisionsgericht hat zwar an eine andere Abteilung oder Kammer zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO), es ist aber nicht auszuschließen, dass ein Berufs- oder Laienrichter nunmehr dieser Abteilung oder dieser Kammer angehört, etwa bei Änderung der Geschäftsverteilung. In diesem Falle hat die Rechtsprechung die Befangenheit für den Berufsrichter verneint5. Für den Laienrichter ist die Frage offengelassen6. Diese Ansicht begegnet erheblichen Bedenken7. Sie überfordert den Tatrichter, besonders den ehrenamtlichen Richter, der „sein“ Urteil aufgehoben sieht und jede Kenntnis über das frühere Verfahren aus seinem Bewusstsein verdrängen soll. Diese Auffassung lässt aber vor allem die Situation des Angeklagten außer Acht. Er steht vor demselben Richter, der ihn schon einmal verurteilt hat, und soll ihm gleichwohl vertrauen. Erfahrungsgut aller Verteidiger ist demgemäß die hoffnungslose Verzweiflung aller Angeklagten, wenn sie sich demselben Richter wieder stellen sollen. Sie sehen die erfolgreiche Revision nun tatsächlich als einen „Pyrrhussieg“ an. Dieses unüberwindliche Misstrauen gegen die 1 Vgl. BGH v. 17.11.1999 – 2 StR 313/99, StV 2000, 289. 2 OLG Koblenz v. 7.4.1977 – 2 Ws 145/77, GA 1977, 314; i.E. Schmitt in MeyerGoßner/Schmitt, § 24 StPO Rz. 14. 3 BayObLG v. 12.5.1977 – BReg. 1 Z 29/77, DRiZ 1977, 244. 4 Dahs sen., NJW 1966, 1691 (1697). 5 BGH v. 9.9.1966 – 4 StR 261/66, NJW 1967, 62; BGH v. 28.11.1967 – 1 StR 497/67, GA 1968, 372; ebenso OLG Celle v. 15.11.1965 – 2 Ss 337/65, NJW 1966, 168; OLG Hamm v. 27.6.1966 – 3 Ws 50/66, NJW 1966, 2073; aber BGH v. 27.4.1972 – 4 StR 149/72, BGHSt. 24, 336; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 354 StPO Rz. 39. 6 BGH v. 27.4.1972 – 4 StR 149/72, NJW 1967, 2217. 7 Hanack, NJW 1967, 580.
139
Rz. 204
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
Vorurteilslosigkeit des Richters kann der Verteidiger dem Angeklagten nicht nehmen. Es ist in der Tat nicht zu bestreiten, dass aus der auch sonst maßgeblichen subjektiven Sicht des Angeklagten der Tatrichter nicht mehr unvoreingenommen erscheint. Aufgabe des Verteidigers ist es, in geeigneten Fällen die Gerichte immer wieder zur Prüfung dieser Meinung zu zwingen. So wurden Ablehnungsgesuche gegen die früheren Tatrichter für begründet erachtet nach Aufhebung des Urteils wegen abträglicher Werturteile über den Angeklagten in den Urteilsgründen, die sich möglicherweise nachteilig auf die Strafzumessung ausgewirkt hätten1. Haben die Schöffen die Anklageschrift erhalten und vor Verlesung in der Hauptverhandlung im Einzelnen zur Kenntnis genommen, so ist ein Befangenheitsgesuch angebracht2; dagegen wird in Umfangstrafsachen die Überlassung des verlesenen Anklagesatzes nicht beanstandet werden können3. 204
Ablehnungsgesuche, die mit dem Verhalten von Richtern im Zusammenhang mit einer Verfahrensabsprache (Rz. 502) – zumal einer gescheiterten – begründet werden, sind ein heikles Kapitel. Ist der Verteidiger von solchen Gesprächen, etwa zwischen Richter und Staatsanwalt, ausgeschlossen worden, dürfte die Besorgnis der Befangenheit begründet sein4. Anders ist es bei Äußerungen zur Schuld- und Straffrage, auch wenn der Angeklagte die Tat bestreitet. Hat der Verteidiger – im Einvernehmen mit seinem Klienten5 – das Gespräch initiiert oder sich darauf eingelassen, wird das offene Wort eines Richters, das ausgesprochen oder unausgesprochen unter dem Vorbehalt des weiteren Verfahrensganges und der Schlussberatung steht, nicht Gegenstand eines Ablehnungsgesuchs sein können6. Nur in Extremfällen, in denen etwa ein Richter völlig „aus der Rolle fällt“, dürfte eine andere Entscheidung in Betracht kommen7. In jedem Fall muss der Verteidiger aber die Interessen des Klienten besonders bedenken, dem es letzten Endes nur um ein möglichst günstiges Verfahrensergebnis geht. Es muss ihm auch klar sein, dass ein auf den In1 BGH v. 27.4.1972 – 4 StR 149/72, BGHSt. 24, 336 (338) m. Anm. Arzt, JR 1973, 33. 2 Vgl. dazu schon BGH bei Dallinger, MDR 1957, 268; Nr. 126 Abs. 3 S. 1 RiStBV; zu den Einschränkungen vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 31 StPO Rz. 2. 3 So auch Nr. 126 Abs. 3 Satz 2 RiStBV; weitergehend Schreiber in FS Welzel (1974), S. 941. 4 Vgl. hierzu BGH v. 23.1.1991 – 3 StR 365/90, StV 1991, 194 (LS. in StV 1991, 241 m. Anm. Weider). 5 Dazu Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 40. 6 BGH v. 27.4.1972 – 4 StR 149/72, StV 1988, 417; vgl. i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 24 StPO Rz. 18; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 42. 7 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 24 StPO Rz. 15 ff.
140
Verteidiger, Staatsanwalt und Richter
Rz. 205
halt vertraulicher Gespräche mit Richtern und Staatsanwalt gestütztes Ablehnungsgesuch ihn in den Augen der Strafjustiz für immer disqualifizieren kann. Ein solcher Vorgang wird sich sehr schnell und weit „herumsprechen“. Deshalb wird er sich auch überlegen, ob er etwa wegen eines einzelnen verbalen Missgriffs in den Erörterungen über eine Verfahrensabsprache ein Ablehnungsgesuch für den Fall ihres Scheiterns in Aussicht stellt, was zudem als Versuch der Nötigung empfunden werden könnte. Da sich der Verteidiger meist schnell entscheiden muss, ist es seine 205 Pflicht, das Ablehnungsverfahren einschließlich der Zuständigkeit (§§ 26 ff. StPO) zu beherrschen. Sonst riskiert er, dass der Antrag als unzulässig verworfen wird (§ 26a StPO). Auf jeden Fall empfiehlt es sich, den Antrag auch in der Hauptverhandlung schriftlich einzureichen. Der Ablehnungsgrund ist glaubhaft zu machen, was nicht durch Eid geschehen kann, wohl aber durch Bezugnahme auf das Zeugnis des abgelehnten Richters oder – wenn dienstliche Erklärungen fehlen – durch anwaltliche Versicherung der Richtigkeit des Sachvortrags1. Dazu muss der Verteidiger wissen: Die Glaubhaftmachung soll das Gericht in die Lage versetzen, ohne weitere Ermittlungen zu entscheiden. Der Sachverhalt ist so vorzutragen, dass er dem Gericht wahrscheinlich erscheint2. Auf die Gewährung einer Frist für die Begründung des Ablehnungsgesuchs besteht kein Anspruch3, ebenso wenig für eine ergänzende Glaubhaftmachung. Besonders wichtig ist der Zeitpunkt der Ablehnung (§ 25 StPO). Der Verteidiger tut gut daran, das Ablehnungsgesuch sofort vorzubringen. Sonst wird der Vorwurf der Verzögerung erhoben. Äußerste Grenze ist die Beendigung des letzten Wortes (§ 25 Abs. 2 S. 2 StPO). Bis zum Beginn der Sachvernehmung, in der Revisionsverhandlung bis zum Beginn der Revisionsausführungen, ist die Ablehnung unbeschränkt zulässig. Danach kann sie nur erfolgreich sein, wenn die zur Ablehnung berechtigenden Umstände erst später eingetreten oder erst später bekanntgeworden sind und unverzüglich vorgebracht werden (§ 25 Abs. 2 StPO), d.h. ohne eine durch die Sachlage nicht begründete Verzögerung4, wobei allerdings dem Antragsteller eine ausreichende Zeit zur Überlegung und Beratung mit seinem Verteidiger eingeräumt wird5. Hier heißt es für den Verteidiger schnell zu schalten, damit der Ablehnungsgrund nicht verlorengeht. So muss er auf unsachliche und herabsetzende richterliche Äußerungen während der Vernehmung des Mandanten sofort reagieren (Rz. 552). Bei 1 BGHv. 27.4.1972 – 4 StR 149/72, StV 2005, 72 (73); BGHR StPO § 338 Nr. 3 Revisibilität 1. 2 BGH v. 10.11.1967 – 4 StR 512/66, NJW 1968, 710; BGH v. 30.10.1990 – 5 StR 447/90, NStZ 1991, 144; BGH v. 10.11.1967 – 4 StR 512/66, BGHSt. 21, 334 (350). 3 OLG München v. 2.12.1975 – 2 Ws 597/75, NJW 1976, 436. 4 BGH v. 10.11.1967 – 4 StR 512/66, NStZ 1982, 291 (292); BGH v. 10.11.1967 – 4 StR 512/66, BGHSt. 21, 334 (339). 5 BGH v. 14.2.1992 – 2 StR 254/91, NStZ 1992, 290 m. Anm. Krehl 598.
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Rz. 206
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
mehrtägigen Hauptverhandlungen ist es stets geboten, das Ablehnungsgesuch vor Fortsetzung der Verhandlung einzureichen1. Wird der Zeitpunkt verpasst, so darf der Verteidiger nicht aufgeben. Selbst ein verspätetes Ablehnungsgesuch kann den betroffenen Richter zur Selbstablehnung bringen (§ 30 StPO). Auch zuvor nicht (rechtzeitig) gerügte Äußerungen eines Richters können einem späteren Ablehnungsgesuch größeres Gewicht verleihen2. In der Praxis hat sich die Fortsetzung der Hauptverhandlung trotz eines Ablehnungsgesuches – oft über längere Zeit – eingebürgert (§ 29 Abs. 2 StPO). Der Verteidiger wird schon besonders gute Gründe vorbringen müssen, um dies zu verhindern, z.B. dass die Gründe der Ablehnung gerade die anstehende Beweiserhebung beeinträchtigen oder dass ohnehin eine Unterbrechung bevorsteht (Mittagspause!). 206
Das Gericht entscheidet zunächst über die Zulässigkeit der Ablehnung; bei dieser Entscheidung ist der abgelehnte Richter nicht ausgeschlossen, sondern wirkt daran mit (§ 27 Abs. 2 StPO). Ein typischer Fall der Unzulässigkeit ist die pauschale Ablehnung eines Kollegialgerichts. Die Ablehnung kann sich immer nur auf einen bestimmten Richter beziehen und muss aus seiner Person heraus begründet sein. Es ist aber natürlich nicht ausgeschlossen, dass in Bezug auf jedes einzelne Mitglied des Gerichts ein Ablehnungsgrund dargetan werden kann. Dann kann jeder einzelne – damit im Ergebnis das ganze Gericht – abgelehnt werden3. Wird die Ablehnung nicht als unzulässig verworfen, so entscheidet über ihre Begründetheit das Gericht ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters (§ 27 Abs. 1 StPO). Die Einzelheiten der Zuständigkeit und des Verfahrens sind dem Gesetz zu entnehmen. Der Beschluss, der die Ablehnung für begründet erklärt, ist unanfechtbar. Wird sie als unzulässig verworfen oder als unbegründet zurückgewiesen, so ist hiergegen sofortige Beschwerde gegeben. Betrifft die Entscheidung allerdings einen erkennenden Richter, so ist sie nur zusammen mit dem Urteil anfechtbar (§ 28 Abs. 2 S. 2 StPO). bb) Ablehnung des Staatsanwalts Literatur: Böttcher, Rechtsschutz gegen befangene Ermittler, FS Roxin (2001), S. 1334; BRAK-Schriftenreihe, Bd. 13, Thesen 67 f.; Frisch, Ausschluss und Ablehnung des Staatsanwalts, FS Bruns (1978), S. 385; Häger, Zu den Folgen staatsanwaltlicher in der Hauptverhandlung begangener Verfahrensfehler, GS K.-H. Meyer (1990), S. 171 (179 ff.); Hilgendorf, Verfahrensfragen bei der Ablehnung eines befangenen Staatsanwalts, StV 1996, 50; Joos, Ablehnung des Staatsanwalts wegen Befangenheit?, NJW 1981, 100 ff.; Müller-Gabriel, Neue Rechtsprechung des BGH zum Ausschluss des „Zeugen-Staatsanwalts“, StV 1991, 235; Pawlik, Der disquali1 BGH v. 22.10.1992 – 1 StR 575/92, NStZ 1993, 141; BGH v. 10.11.1967 – 4 StR 512/66, BGHSt. 21, 334. 2 BGH v. 2.3.2004 – 1 StR 574/03, wistra 2004, 351. 3 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 24 StPO Rz. 3.
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Verteidiger, Staatsanwalt und Richter
Rz. 207
fizierte Staatsanwalt, NStZ 1995, 309; Pfeiffer, Zur Ausschließung und Ablehnung des Staatsanwalts im geltenden Recht, FS Rebmann (1989), S. 359; Reinhardt, Der Ausschluss und die Ablehnung des befangen erscheinenden Staatsanwalts, 1997; G. Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. 2000, Rz. 107 ff.; Schneider, Gedanken zur Problematik des infolge einer Zeugenvernehmung „befangenen“ Staatsanwalts, NStZ 1994, 457; Tolksdorf, Mitwirkungsverbot für den befangenen Staatsanwalt, 1989; Wendisch, Zur Ausschließung und Ablehnung des Staatsanwalts, FS K. Schäfer (1979), S. 243.
Die Ablehnung eines Staatsanwalts ist im Gesetz nicht geregelt, weil die 207 staatsanwaltlichen Sachbearbeiter im Gegensatz zum Richter jederzeit ausgetauscht werden können. Die Ablehnung in entsprechender Anwendung der §§ 22 ff. StPO wird als nicht zulässig angesehen1. Gleichwohl gehört es zu den Amtspflichten eines Staatsanwalts, in den Verfahren nicht tätig zu werden, die ihn oder seine Angehörigen im Sinne des § 22 Abs. 1–3 und 5 StPO betreffen. Der Verteidiger ist befugt und verpflichtet, hierauf hinzuweisen und die Abberufung des Staatsanwalts, notfalls im Wege der Dienstaufsichtsbeschwerde, zu betreiben, wenn dieser gleichwohl tätig wird. Ebenso ist es zulässig, wegen Besorgnis der Befangenheit die Abberufung des Staatsanwalts bei seinem Dienstvorgesetzten zu verlangen, falls ein vernünftiger Grund vorliegt2. Wann sachlicher Anlass zu der Befürchtung besteht, der Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft sei voreingenommen, hängt auch hier von den Umständen des Einzelfalles ab. Ähnlich wie bei der Richterablehnung dürfte die Besorgnis zu bejahen sein bei Verwandtschaft, Freundschaft oder Feindschaft des Staatsanwalts zum Verletzten oder Beschuldigten. Hingegen werden Äußerungen des Staatsanwalts über seine Auffassung vom Verdacht oder dem Nachweis der strafbaren Handlung keinen Ablehnungsgrund geben, wie dies bei entsprechenden Erklärungen des Richters der Fall sein kann. Denn es ist Aufgabe des Staatsanwalts, strafbare Handlungen zu verfolgen und sich über den Verdacht und über die Beweislage schon vor der Verurteilung ein Bild zu machen. Ein besonderes Verfahren für die Abberufung des Staatsanwalts ist nicht vorgeschrieben. Der Beschuldigte oder sein Verteidiger können sich jederzeit, auch nach Anklageerhebung und während der Hauptverhandlung, an den Dienstvorgesetzten wenden, um die Abberufung des amtierenden Staatsanwalts zu erreichen, während der Antrag nach §§ 23 ff. EGGVG für unzulässig gehalten wird3. Auch von Amts wegen oder auf
1 BVerfG v. 16.4.1969 – 2 BvR 115/69, BVerfGE 25, 336 (345) (obiter dictum); eingehend Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Vorbem. 3 vor § 22 StPO m. zahlr. N.; Fischer in KK, Vor § 22 StPO Rz. 1. 2 BGH v. 27.8.1991 – 1 StR 438/91, NStZ 1991, 595; BVerfG v. 16.4.1969 – 2 BvR 115/69, BVerfGE 25, 336 (345); Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Vorbem. 4 vor § 22 StPO. 3 OLG Hamm v. 24.10.1968 – 1 VAs 142/68, NJW 1969, 808; eingehend Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 22 StPO Rz. 5 und Pawlik, NStZ 1995, 309 (314 f.).
143
Rz. 208
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
Anregung des betroffenen Staatsanwalts selbst kann es zu einer Ablösung kommen. Wird dem Verlangen nicht stattgegeben, so wird die Wirksamkeit der staatsanwaltschaftlichen Amtshandlungen allerdings dadurch nicht berührt. Insbesondere gibt seine Mitwirkung keinen Grund zur Anfechtung gerichtlicher Entscheidungen. Nach den Erfahrungen der Praxis halten die Staatsanwaltschaften mit Zähigkeit an ihrem Sitzungsvertreter fest, vor allem wenn ein „Platzen“ der Hauptverhandlung droht1. Ein gut begründeter Ablösungsantrag kann aber immerhin bewirken, dass der Staatsanwalt intern angehalten wird, sein Verhalten zu ändern. 208
Anders ist die Situation bei der Vernehmung des Staatsanwalts als Zeuge (Rz. 671), was zwar nicht seinen Ausschluss aus der Hauptverhandlung, jedoch eine Einschränkung seiner Aktionsfähigkeit zur Folge hat. Sie spielt insbesondere eine Rolle, wenn der Staatsanwalt über Vorgänge und eigene Äußerungen während des Vorverfahrens vernommen werden soll. Der Staatsanwalt, der selbst ermittelt hat, ist Verhörsbeamter und kann als solcher über Vernehmungen von Beweispersonen und des Beschuldigten sowie andere Vorgänge (z.B. in Aussicht gestellte Vorteile bei einem Geständnis usw.) als Zeuge gehört werden. Der Verteidiger darf freilich einen Staatsanwalt nicht allein zu dem Zweck als Zeugen benennen, um ihn aus der Hauptverhandlung herauszubekommen oder seine Aktionsfähigkeit einzuschränken. Es gibt aber Fälle, in denen die Vernehmung des Staatsanwalts ähnlich derjenigen des Verteidigers als Zeugen für die Sachaufklärung unerlässlich ist. Dann muss der Verteidiger einen entsprechenden Beweisantrag stellen. Vernimmt das Gericht den Staatsanwalt, so ist er nach der Rechtsprechung nicht grundsätzlich von der weiteren Amtsausübung ausgeschlossen2. Vom BGH wird die Auffassung vertreten, er könne die staatsanwaltliche Funktion trotzdem wahrnehmen, wenn sie sich von der Erörterung und Wertung seiner Zeugenaussage trennen lasse3. Dagegen muss sich der Verteidiger in geeigneten Fällen wehren, z.B. wenn es um die Herbeiführung eines seinen Mandanten belastenden „Geständnisses“ des Mitangeklagten geht. Die Objektivität des Staatsanwalts ist dann im Allgemeinen nicht mehr ge-
1 Der Ablösungsantrag soll allerdings nicht zur Aussetzung der Hauptverhandlung führen, OLG Zweibrücken v. 6.6.2000 – 1 HPL 27/00, StV 2000, 516. 2 BGH v. 3.5.1960 – 1 StR 155/60, BGHSt. 14, 265; BGH v. 25.4.1989 – 1 StR 97/89, BGHR StPO § 24 Staatsanwalt 3; BGH v. 10.7.1996 – 3 StR 50/96, BGHR StPO § 24 Staatsanwalt 5; auch BGH v. 3.5.1960 – 1 StR 155/60, BGHSt. 21, 85 (90); BGH v. 19.10.1982 – 5 StR 408/82, NStZ 1983, 135. 3 BGH v. 3.7.1966 – 2 StR 157/66, NJW 1966, 2321 m. Anm. Hanack, JR 1967, 229; Ausnahmen: BGH v. 25.4.1989 – 1 StR 97/89, NStZ 1989, 583: Zeugenschaftliche Vernehmung des Staatsanwalts bezieht sich auf Wahrnehmungen, die nicht in unlösbarem Zusammenhang mit dem i.Ü. zu erörternden Sachverhalt stehen. BGH v. 7.12.1993 – 5 StR 171/93, StV 1994, 225: Staatsanwalt wurde in einer vorangegangenen Hauptverhandlung in gleicher Sache vor einer anderen Strafkammer als Zeuge vernommen.
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Verteidiger, Staatsanwalt und Richter
Rz. 210
währleistet. Das ist erst recht der Fall, wenn die Glaubwürdigkeit des Staatsanwalts als Zeuge mit guten Gründen bezweifelt wird, sogar vom Gericht1. cc) Andere Maßnahmen Liegen bei einem Fehlverhalten des Richters oder Staatsanwalts die Vo- 209 raussetzungen der Ablehnung oder Abberufung nicht vor oder will der Verteidiger diesen Weg nicht gehen, stehen ihm noch andere Gegenmittel zur Verfügung. Strafanzeige gegen einen Richter oder Staatsanwalt ist ein schweres Geschütz. Der Verteidiger sollte für seine eigene Person tunlichst davon absehen. Auch einem Mandanten ist hier Zurückhaltung zu empfehlen. Die Strafanzeige kann nur in besonderen Fällen als ultima ratio geboten sein, wenn schwere Pflichtverletzungen begangen sind, wozu auch Beleidigung des Verteidigers gehören kann. Es versteht sich von selbst, dass die Anzeige eine sorgfältige Prüfung der äußeren und inneren Tatseite voraussetzt. Der Verteidiger muss dabei bedenken, dass er sich seinerseits strafbar machen kann (§§ 164, 185 ff. StGB). Der Vorwurf der Rechtsbeugung (§ 339 StGB), die schwerste Beschuldigung für einen Richter, ist im Zweifel schon aus subjektiven Gründen nicht berechtigt (Rz. 188). In der Regel wird man überhaupt erwarten müssen, dass der Verteidiger seine Rehabilitierung oder Genugtuung auf anderem Wege sucht. Eine Aussprache oder die Vermittlung durch einen Dritten werden häufig zum Ziel führen können. Auch wird in schwerwiegenden Fällen der Kammervorstand oder der örtliche Anwaltverein bereit sein, sich einzuschalten und ggf. auf dem Wege der Dienstaufsicht des Richters oder Staatsanwalts eine Beilegung versuchen. Der Verteidiger kann aber auch eine Dienstaufsichtsbeschwerde erheben. Sie ist ein schwächeres Mittel als die Strafanzeige und in ihrer Wirksamkeit zweifelhaft. Ihre Voraussetzungen und ihre Durchführung erfordern sorgfältige Überlegungen (Rz. 1091). Dasselbe gilt von der Anrufung des Oberlandesgerichts nach §§ 23 ff. EGGVG, die als Rechtsbehelf nur gegen Justizverwaltungsakte in Betracht kommt (Rz. 1086). Schließlich kommt bei unangemessener Verzögerung des Verfahrens 210 durch Justizbehörden nach § 198 GVG die Verzögerungsrüge mit der Folge eines Entschädigungsanspruchs unter bestimmten Voraussetzungen in Betracht. Der Verteidiger hat darauf zu achten, dass die Verzögerungsrüge rechtzeitig und formgerecht erhoben wird.
1 BGH v. 3.2.2005 – 5 StR 84/04, wistra 2005, 223.
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Rz. 211
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
VII. Verteidiger und Zeuge Literatur: Böttcher, Der Schutz der Persönlichkeit des Zeugen im Strafverfahren, FS Kleinknecht (1985), S. 25; Dahs, Zum Persönlichkeitsschutz des „Verletzten“ als Zeuge im Strafprozess, NJW 1984, 1921; Dahs, Der Zeuge – zu Tode geschützt?, NJW 1998, 2332; Kempf, Wahrnehmungen des Rechts: Einflussnahme auf Zeugen, StraFo 2003, 79; Schlothauer, Darf, sollte, muss sich ein Zeuge auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung vorbereiten?, FS Dahs (2005), S. 547; Thomas, Der Zeugenbeistand im Strafprozess, NStZ 1982, 489; Widmaier, Zum Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger – Grenzen und Grenzüberschreitungen, FS Dahs (2005), S. 543.
Unter dieser Überschrift werden die Beziehungen des Verteidigers zum Zeugen im allgemeinen, ihre beiderseitigen Funktionen sowie die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln ihres Zusammenwirkens behandelt. Die Vernehmung der Zeugen in der Hauptverhandlung wird in Kapitel C III in dem Unterabschnitt 2g bb) besonders erörtert (Rz. 567 ff.). Ein anderes Kapitel ist auch die Beratung und Begleitung von Zeugen im Zusammenhang mit Vernehmungen vor Staatsanwaltschaft und Gericht. Diese Fragen werden gesondert in Kapitel E II. (Rz. 1052 ff.) und E III. (Rz. 1173 ff.) behandelt. 1. Behandlung des Zeugen 211
Der Zeuge im Strafprozess ist nicht zu beneiden! Schon in der Ladung wird er mit Sanktionen bedroht (§ 48 StPO). In der Hauptverhandlung wird er zur Wahrheit ermahnt, auch wenn es dieser Ermahnung gar nicht bedarf (§ 57 S. 1 StPO); zugleich wird ihm strafrechtliche Verfolgung für den Fall einer Unrichtigkeit in seiner Aussage angekündigt (§ 57 S. 2 StPO)1. Nicht selten fallen alle Prozessbeteiligten wie aufgrund einer geheimen Verabredung über einen ungelenken Zeugen her, der sich nicht ausdrücken kann. Der Zeuge ist aber kein prozessuales „Freiwild“, sondern trägt durch die Erfüllung seiner staatsbürgerlichen Pflicht zur Klärung des Sachverhalts und damit zur Rechtserkenntnis bei. Deshalb hat jeder Zeuge Anspruch auf menschenwürdige Behandlung. Die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung darf zu keinem Zeitpunkt durch Prozessbeteiligte beeinträchtigt werden. Quälereien, Kränkungen, Täuschungen und das Versprechen von gesetzwidrigen Vorteilen greifen in diesen Schutzbereich ein. Sie sind verfassungsrechtlich unzulässig, auch soweit eine ausdrückliche Regelung hierfür fehlt2. Unter diesem Schutz steht besonders die Intimsphäre, soweit nicht die Zwecke des Strafverfahrens überwiegen. Für den Verteidiger bedeuten diese Grundsätze: Persönliche, durch die Sache nicht gebotene Angriffe auf einen Zeugen sind selbst dann in der Regel unstatthaft, wenn der Verteidiger meint, der Zeuge sage die Unwahrheit. Der Verteidiger darf und muss 1 Dazu Dahs, NJW 1998, 2332. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 48 StPO Rz. 10 m.N.
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Verteidiger und Zeuge
Rz. 212
zwar eine Bekundung als falsch bezeichnen, wenn er sie für falsch hält1. Er ist aber nicht befugt, den Zeugen moralisch herabzuwürdigen oder des Meineids zu beschuldigen. Das sagt sich freilich leichter, als es in der Praxis aussieht. Oft müssen Zeugen hart angefasst werden, um sie zur Wahrheit zu bringen. Bei anderen Zeugen erreicht der Verteidiger damit nur das Gegenteil. Vielfach muss der Verteidiger nicht lediglich die Aussagen des Zeugen kritisieren, sondern auch seine Persönlichkeit würdigen, sein Vorleben oder sein Interesse an der Sache erörtern (Rz. 603). In allen Fällen gilt, dass die Kritik maßvoll bleiben muss2. Das muss auch dem Mandanten verdeutlicht werden; die Überschreitung der Grenze angemessener Verteidigung gegenüber einem Belastungszeugen kann sonst zu einer Strafschärfung führen3. Darauf ist auch im Plädoyer zu achten. Allerdings darf der Verteidiger rhetorische Mittel einsetzen, um seine Ausführungen einprägsam und plastisch zu machen. Solche Mittel sind u.a. Ironie und Spott, die der Verteidiger auch bei der Erörterung einer Zeugenaussage verwenden darf, sofern er damit den Zeugen nicht verunglimpft. Innerhalb dieser Grenzen sind ehrverletzende Angriffe auf Zeugen durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen gedeckt (§ 193 StGB). Ausgenommen hiervon sind Formalbeleidigungen und Verleumdungen. Einen besonderen Schutz des Zeugen vor Bloßstellung gewährt § 68a 212 StPO. Darauf hat vor allem der Verteidiger zu achten. Weder darf er hinnehmen, dass andere Beteiligte einen Zeugen verunglimpfen, noch ist er selbst befugt, nach Tatsachen zu fragen, die dem Zeugen oder seinen Angehörigen zur Unehre gereichen. Geschützt sind die sittliche Bewertung des Zeugen in seiner Umwelt, sein Ruf und seine private Sphäre. Freilich muss der Schutz des Zeugen gegenüber notwendiger Wahrheitserforschung zurücktreten. Deshalb sind bloßstellende Fragen zulässig, die zur Prüfung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen unerlässlich sind4. Praktisch können damit nur Fragen nach solchen Tatsachen zurückgewiesen werden, die das Gericht für unerheblich und damit für ungeeignet (§ 241 Abs. 2 StPO) hält. Das schränkt die Bedeutung der Schutzvorschrift des § 68a StPO ein. Dabei ist auch nicht zu verkennen, dass schon die Fragestellung als solche und deren Formulierung den Zeugen treffen und verletzen kann. Der Verteidiger kommt in solchen Fällen leicht in Konflikte, besonders wenn er im Interesse des Auftraggebers nach Umständen der Intimsphäre fragen muss. Handelt es sich gar um eine Zeugin, so ist die Situation noch heikler, vor allem, wenn sie dem Mandanten nahesteht und er sie geschützt wissen will. Hier kommt es zu unerwarteten Reaktionen. Vorwürfe gegen den Verteidiger sind keine Sel1 BGH v. 3.8.1994 – 2 StR 161/94, NStZ 1995, 78. 2 BGH v. 12.9.1984 – 3 StR 333/84, StV 1985, 146 (147); inwieweit dabei Angriffe auf die Ehre des Zeugen gerechtfertigt sind, beurteilt sich nach § 193 StGB. 3 BGH v. 8.4.2004 – 4 StR 576/03, NStZ 2004, 616 m.N. 4 BGH v. 29.9.1959 – 1 StR 375/59, BGHSt. 13, 252 (254).
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Rz. 213
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
tenheit. Darüber hinaus können solche Fragen als ungeeignet zurückgewiesen werden1. Selbstverständlich gilt dies auch für die Fragen anderer Prozessbeteiligter, die der Verteidiger ggf. zu beanstanden hat. 213
Fragen nach Vorstrafen sollen an einen Zeugen nur gestellt werden, um festzustellen, ob er unfähig ist, als Zeuge eidlich vernommen zu werden oder ob er an der Tat beteiligt oder der Begünstigung oder Hehlerei verdächtig ist (Fälle des § 60 Nr. 1 und 2 StPO), oder um seine Glaubwürdigkeit zu beurteilen. Die Glaubwürdigkeit wird nicht durch jede Vorstrafe in Frage gestellt, jedoch können ggf. Betrug, Untreue, falsche Verdächtigung, Falschaussage und Meineid für die Glaubwürdigkeit Bedeutung gewinnen. Die Rechtsprechung hat es zugelassen, bei Zweifeln an der Glaubwürdigkeit des Zeugen auch ein gegen ihn gerichtetes Strafurteil zu verlesen2. Allerdings dürfen die Vorstrafen eines Zeugen dann nicht erörtert werden, wenn der Vermerk im Strafregister getilgt ist (§ 51 Abs. 1 BZRG).
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Greift ein Zeuge den Verteidiger in beleidigender Form an, so verletzt er damit die Würde des Gerichts und stört die Ordnung im Gerichtssaal3. Der Verteidiger sollte daher in solchen Fällen notfalls beantragen, einen Ordnungsstrafbeschluss gem. § 178 GVG zu erlassen. 2. Falschaussagen Literatur: Beulke, Zum Versuchsbeginn bei der Strafvereitelung, NStZ 1982, 330; Bockelmann, Zum Problem der Meineidsbeihilfe durch Unterlassen, NJW 1954, 697; Brammsen, Kann das Benennen eines Zeugen und Schweigen zu dessen Falschaussage eine strafbare Teilnahme an dem Aussagedelikt des Zeugen sein?, StV 1994, 135; Reimers, Zur Verhinderung falscher Aussagen im Zivil- und Strafprozess, DRiZ 1953, 141.
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Der Verteidiger kann Teilnehmer der falschen Aussage eines Zeugen durch eigenes Handeln sein, etwa indem er einen Zeugen im Wissen und in der Erwartung einer unrichtigen Bekundung benennt (dolus eventualis) oder einen falsch aussagenden Zeugen bewusst ermuntert. Diese Fälle sind ebenso unproblematisch wie der Fall, dass der Verteidiger einen Zeugen zu beeinflussen sucht, falsch auszusagen. Die Frage, ob und wann der Verteidiger sich der Teilnahme schuldig macht, wenn er der erkanntermaßen unwahren Aussage eines Zeugen nicht entgegentritt (Teilnahme durch Unterlassen) wird dahin beantwortet, dass der Rechtsanwalt nicht verpflichtet ist, eine Falschaussage und einen Meineid zu verhindern, nur weil er an der Wahrheitsfindung mit-
1 BGH v. 14.1.1982 – 1 StR 809/81, NStZ 1982, 170. 2 BGH v. 2.10.1951 – 1 StR 421/51, BGHSt. 1, 337 (341). 3 OLG Hamm v. 3.5.1963 – 3 Ws 144/63, NJW 1963, 1791.
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Verteidiger und Zeuge
Rz. 216
zuwirken hat1. Im Strafprozess gibt es ohnehin keine dem § 138 ZPO entsprechende Vorschrift (Rz. 57). Der Anwalt käme auch sonst in unzumutbare Schwierigkeiten und Interessenkonflikte. So müsste er ggf. beantragen, den Zeugen nicht zu vereidigen, und die Gründe aufdecken (Rz. 603), auch wenn er dem Mandanten Nachteile zufügt. Schwierig ist die Frage, ob der Verteidiger bei Gericht auf die (nur noch ausnahmsweise gebotene – § 59 Abs. 1 S. 1 StPO) Vereidigung hinwirken darf. Meines Erachtens ist das zulässig, wenn es im Interesse der Verteidigung des Klienten nach Überzeugung des Verteidigers unerlässlich ist, um dem Gericht zu demonstrieren, dass der Zeuge trotz kritischer Hinweise auf den Wahrheitsgehalt seiner Aussage sogar zum Meineid bereit ist. Eine so zugespitzte Situation wird aber der Ausnahmefall sein. In aller Regel dürfte es ausreichen, die Eidesbereitschaft des Zeugen durch entsprechende Frage festzustellen und dann die Falschaussage nachzuweisen. Im Zweifel hat die Schutzaufgabe das Übergewicht; die Verantwortung für seine Aussage muss der Zeuge selbst tragen. Mandanten verlangen häufig, ihr Anwalt möge Strafanzeige gegen einen 216 Zeugen stellen, der Zeuge habe falsch ausgesagt. In aller Regel handelt es sich dann um Aussagen von Belastungszeugen. Wie in allen Fällen der Strafanzeige ist es geboten, den äußeren und den inneren Tatbestand sorgfältig zu prüfen. Der Verteidiger sollte auch die Anzeige tunlichst nicht selbst erstatten, sondern sie dem Mandanten überlassen, wobei er ihm (intern) behilflich sein kann (Rz. 8). Er sollte zur Anzeige raten, wenn der Zeuge tatsächlich die Unwahrheit gesagt hat. Dadurch hält er sich die Möglichkeit offen, später ein Wiederaufnahmeverfahren (§ 359 Nr. 2 StPO) zu erreichen (Rz. 996). Er muss andererseits bedenken, dass die Anzeige als bloßer Schachzug und taktisches Kalkül erscheinen kann, besonders wenn die Sache selbst sub judice ist. Der Verteidiger setzt sich dem Verdacht aus, dass der Zeuge nur „madig“ gemacht werden soll. In der Regel ist es besser, die Strafanzeige erst nach Beendigung des Verfahrens zu erstatten. 3. Außergerichtliche Befragung Literatur: Bemmann/Grünwald u.a., Die Verteidigung, 1982, S. 95 f.; Jungfer, Eigene Ermittlungstätigkeit des Verteidigers, StrafV 1981, 100; Krey, Zur Problematik privater Ermittlungen des durch die Straftat Verletzten, 1994; Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, 2012; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, Thesen S. 52 f., 55 ff.; Strafrechtsausschuss der BRAK, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 13, 2004, S. 89 ff.; Weihrauch/Bosbach, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2011, Rz. 159 ff. Vgl. auch das vor Rz. 313 angeführte Schrifttum!
1 BGH v. 20.8.1953 – 1 StR 88/53, BGHSt. 4, 327; für andere Prozessbeteiligte hat der BGH die Duldung einer falschen Aussage nicht als Beihilfe oder Strafschärfungsgrund angesehen, BGH v. 6.4.1962 – 4 StR 32/62, BGHSt. 17, 321; BGH v. 20.4.2004 – 4 StR 474/03, wistra 2004, 297; auch BGH v. 27.1.2004 – 3 StR 454/03, wistra 2004, 180.
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Rz. 217
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
a) Zulässigkeit 217
Über die Zulässigkeit der außergerichtlichen Befragung von Zeugen durch den Verteidiger herrschte lange Zeit Streit. Einerseits wurde die Ansicht vertreten, die Befragung von Zeugen während des Ermittlungsverfahrens sei allein Sache der Staatsanwaltschaft und des Gerichts sowie der Polizei, der Verteidiger habe sich nicht einzumischen. Inzwischen ist nicht mehr streitig, dass der Rechtsanwalt Zeugen über ihr Wissen dann befragen darf, wenn es zur pflichtgemäßen Sachaufklärung notwendig ist1. Gleichwohl muss er bedenken, dass in der Strafjustiz immer noch – zum Teil unterschwellig – Misstrauen gegen die Befragung von Zeugen durch einen Anwalt besteht. Diesem Umstand sollte der Verteidiger Rechnung tragen, wenn er sich dazu entschließt, außergerichtlich zu erforschen, was denn nun ein Zeuge tatsächlich weiß. Um gar nicht erst in den Verdacht zu geraten, einen Zeugen beeinflusst zu haben, wird vielfach die Befragung von Zeugen unterlassen, auch wenn sie der Sache nach geboten wäre. Hierzu trägt auch die Überlegung bei, die Befragung der Zeugen durch den Verteidiger könne den Mandanten nur schaden, weil die Aussage dieser Zeugen dann von vornherein kritisch betrachtet werde. Solche Gedankengänge sind aber nicht geeignet, den Anwalt von seiner Verpflichtung zu entbinden, Zeugen außergerichtlich anzuhören, wenn dies zur Verteidigung geboten ist. Einem Anwalt darf nicht ohne weiteres unterstellt werden, er verdunkele den Sachverhalt. Als Organ der Rechtspflege steht es ihm zu, aus seiner Sicht zur Wahrheitserforschung beizutragen. Wenn die Staatsanwaltschaft in allen Abschnitten des Verfahrens, z.B. auch zwischen erster und zweiter Instanz oder gar zwischen den Hauptverhandlungsterminen, Zeugen vernehmen und sich dadurch über deren voraussichtliche Aussagen in der Hauptverhandlung Kenntnis verschaffen und auf sie einwirken darf, gibt es keinen überzeugenden Grund, dem Verteidiger Gleiches zu verweigern. Allerdings ist Zurückhaltung geboten, wenn die Zeugen schon gerichtlich, staatsanwaltschaftlich oder polizeilich vorvernommen sind. Dürfte der Verteidiger Zeugen nicht außergerichtlich befragen, so wäre es ihm in vielen Fällen unmöglich, eine sachgerechte Verteidigung vorzubringen, etwa wenn der Mandant ihm einen Entlastungszeugen benennt, dessen angeblichem Wissen der Verteidiger misstraut. Ihn in das Verfahren einzuführen, wäre nicht nur für den Beschuldigten gefährlich, dadurch würde auch der Gang des Verfahrens unnötig belastet. Nicht selten verübeln die Gerichte es einem Verteidiger und seinem Mandanten auch, nutzlose Beweisanträge gestellt zu haben. Ebenso liegt es bei einem Zeugen, der für die Berufungsinstanz oder ein beabsichtigtes Wiederaufnahmeverfahren neue Tatsachen oder neue Wahrnehmungen bekunden soll. Es ist undenkbar, dass ein verantwortungsbewusster Verteidiger sich 1 BGH v. 8.8.1979 – 2 ARs 231/79, AnwBl. 1981, 115; w.N. bei Schmitt in MeyerGoßner/Schmitt, Vor § 137 StPO Rz. 2; Weihrauch/Bosbach, Rz. 159 ff.
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Verteidiger und Zeuge
Rz. 217
in diesen Fällen nicht mit dem Zeugen außergerichtlich in Verbindung setzen dürfen sollte. Der Zeuge kommt ohnehin nur freiwillig zu dem Verteidiger. Ein Zwangsmittel steht nicht zur Verfügung. Aus diesen Gründen ist es auch abzulehnen, die Zeugenbefragung nur in Anwesenheit eines Dritten für zulässig zu halten, während Richter, Staatsanwalt und Polizei im Ermittlungsverfahren jederzeit berechtigt sind, einen Zeugen unter vier Augen anzuhören. Auch werden viele Zeugen einem Verteidiger überhaupt nicht Rede und Antwort stehen, wenn ihnen in allen Fällen wiederum ein Zeuge beigegeben werden müsste. Im Einzelfall wird der Verteidiger schon von sich aus Bedacht darauf nehmen, einen Dritten hinzuzuziehen, um sich gegen jeden Vorwurf zu schützen. Nicht zutreffend ist schließlich die Auffassung, der Verteidiger müsse den Zeugen darüber aufklären, dass es sich nicht um eine amtliche Vernehmung handele. Das weiß ohnehin jeder. Der Verteidiger darf nur nicht den Eindruck erwecken, der Zeuge sei ihm gegenüber zu Angaben verpflichtet. Dies ist am besten dadurch zu erreichen, dass man dem Zeugen schriftlich mitteilt, worum es sich handelt, und ihn zu einer Besprechung bittet. Auf diese Weise werden Missverständnisse vermieden: Auch kann der Verteidiger jederzeit nachweisen, wie er vorgegangen ist. Die Aufnahme einer Aufzeichnung und schriftlichen Erklärung des Zeugen mit seiner Unterschrift ist grundsätzlich zulässig. Von einer solchen Aufzeichnung darf der Verteidiger aber nur zum Zwecke des Vorhalts an den Zeugen im Verfahren Gebrauch machen. Die Aufzeichnung darf nur in Ausnahmefällen des Beweisnotstandes als Beweismittel benutzt werden. Nimmt der Verteidiger eine unterzeichnete Niederschrift über die Erklärung des Zeugen auf, so ist er genötigt, die belastenden Aussagen mit zu protokollieren, sonst verstößt er gegen die Wahrheitspflicht (Rz. 46). Nimmt er die belastenden Tatsachen aber auf, dann verstößt er gegen seine Schutzaufgabe (Rz. 9). Er gerät in Gewissenskonflikte, weil er alles belastende Material verschweigen muss1. Heimliche Tonbandaufnahmen sind selbstverständlich verboten (§ 201 StGB) (Rz. 643). Insgesamt ist die anwaltliche Protokollierung von Zeugenaussagen ein zweischneidiges Schwert; vielfach wird ein informeller Aktenvermerk oder ein nach der Besprechung gefertigtes „Gedächtnis-Protokoll“ vorzuziehen sein. Im übrigen ist der Verteidiger hier wie sonst befugt, den Zeugen über seine Rechte und Pflichten, insbesondere seine Wahrheitspflicht zu belehren und zu beraten. Dazu zählt auch die Belehrung über ein etwaiges Aussageverweigerungsrecht. Der Anwalt darf auch wie jeder Dritte einem Zeugen raten, von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen2, wenn dies nicht unter Drohung oder Zwang geschieht (Rz. 570). 1 Zutr. Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil II, 1957, Vorbem. zu § 137 Nr. 18. 2 Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Bd. 8, 1992, These 56; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 13, 2004, These 63.
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Rz. 218
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Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
Die außergerichtliche Befragung von Zeugen findet ihre Grenze, wenn sie in eine unzulässige Beeinflussung des Zeugen übergeht1. Vollendete oder versuchte Zeugenbeeinflussung kann zum Ausschluss aus der Anwaltschaft führen. Die Besprechung mit einem Zeugen darf der Wahrheitserforschung nicht zuwiderlaufen und sie auch nicht beeinträchtigen. Der Rechtsanwalt darf einen Zeugen nicht veranlassen, bestimmte Tatsachen anzugeben oder andere zu verschweigen, selbst wenn er diese Tatschen für unerheblich hält. Der Verdacht der Beeinflussung und damit auch der Verdacht der Begünstigung des Beschuldigten kann schon durch die äußere Form der Besprechung mit dem Zeugen entstehen. So sollten Einladungen und Bewirtungen eines Zeugen ebenso vermieden werden wie die Vorspiegelung privaten Interesses an der Person einer Zeugin in der Absicht, von ihr Material für den Prozess zu erhalten. Überhaupt ist täuschendes Verhalten bedenklich, z.B. die Inszenierung eines Unfalls, um Zugang zu einem Zeugen zu gewinnen. In Verhandlungen entstehen häufig peinliche Szenen, wenn Zeugen von Gericht oder Staatsanwaltschaft befragt werden, ob der Verteidiger mit ihnen über die Sache gesprochen habe und ob sie sogar in sein Büro bestellt worden seien. In einer Art aufgeschreckten Untertanengeist reagieren die Befragten oft durch ein falsches Bestreiten, so als ob sie sich mit dem Teufel eingelassen hätten. Der Verteidiger sollte deshalb daran denken, den Zeugen zu veranlassen, auf solche Fragen wahrheitsgemäß und unbefangen zu antworten und ihm bei der Besprechung auch sagen, dass dieses Gespräch nichts Verbotenes oder Unlauteres ist.
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Das BVerfG hat schon im Jahre 1974 ein verfassungsrechtliches Recht des Zeugen statuiert, sich für seine Vernehmung u.a. vor einem Strafgericht der (Rechts-)Hilfe und Begleitung eines anwaltlichen Zeugenbeistandes zu bedienen. Im Jahre 2005 ist die Institution des Rechtsbeistandes in § 68b StPO Gesetz geworden. In der Praxis hat sie sofort breite Akzeptanz gefunden, und der Zeugenbeistand ist heute in vielen Verfahren, insbesondere in Wirtschaftsstrafsachen, fast eine Selbstverständlichkeit. Der „Koordinator“ einer Gesamtverteidigung und auch andere Strafverteidiger legen erfahrungsgemäß Wert darauf, dass allen Angehörigen z.B. des betroffenen Unternehmens, die im Rahmen der Ermittlungen mit der Strafjustiz in Kontakt kommen, umfassender Rechtsschutz zuteil wird. Dies ist der Aktionsbereich des anwaltlichen Zeugenbeistands in Vorbereitung der Aussage und Begleitung des Zeugen zur Vernehmung. Dabei geht es in der Praxis längst nicht mehr nur um die Beschränkung auf (mögliche) Fälle des Auskunftsverweigerungsrechts nach § 55 StPO, sondern der Zeuge wird entsprechend seiner Bedeutung für die Gesamtverteidigung in deren Konzept „eingebaut“. So erhält er, der vielleicht eigene Erinnerungen nur an einen ganz kleinen Sektor des Ver1 BGH v. 16.5.1983 – 2 ARs 129/83, JR 1984, 299 zu § 258 StGB: Es ist dem Verteidiger nicht erlaubt, auf Zeugen mit dem Ziel einzuwirken, dass sie unzutreffende Aussagen machen, und sie nach einer solchen „Vorbereitung“ als Beweismittel zu benennen.
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Verteidiger und Zeuge
Rz. 220
fahrensstoffs hat, darüber hinausgehende umfangreiche Informationen, die ihn auf seine Aussage „vorbereiten“ sollen. Je nach Lage des Falles und der Art der Vorbereitung des Zeugen, können die Beteiligten – in aller Regel anwaltliche Strafverteidiger – in eine durchaus „schillernde“ Verfahrenssituation geraten. So werden z.B. nicht wenige Zeugen vor Gericht letztlich nicht mehr in allen Punkten unterscheiden können, was auf eigener sicherer Erinnerung beruht und was möglicherweise auf die Vorbereitung im weitesten Sinne zurückgeht1. Für den Verteidiger kann eine solche Situation recht unangenehm werden, wenn er durch seine Fragen nach dem Zustandekommen der Zeugenaussage die kollegiale „Vorbereitung“ mit möglicherweise nicht angenehmen Begleitumständen für den anwaltlichen Beistand (z.B. Gewährung von Akteneinsicht in Teile der Ermittlungsakten durch den Zeugen u.a.) aufdeckt. Dennoch darf er, wenn es auf die Genesis der Zeugenaussage – unter Umständen in Einzelheiten – ankommt, keine falsche Rücksichtnahme üben, sondern muss die Entstehungsgeschichte der dem Gericht vorgetragenen Aussage lückenlos klären. Die Verantwortung für etwaige Grenzüberschreitungen und deren Folgen trägt dann nicht der Verteidiger, sondern der „Aussage-Coach“2. Die kollegiale Rücksichtnahme hat in einer solchen Situation kompromisslos hinter der Verteidigungsaufgabe und der Beistandspflicht gegenüber dem Mandanten zurückzutreten. b) Eidesstattliche Versicherungen Literatur: Schmid, Über Eid und eidesstattliche Versicherung im strafprozessualen Freibeweisrecht, SchlHA 1981, 41; Weihrauch/Bosbach, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2011, S. 105 Rz. 173.
Anders als im Zivilprozess kommt eine eidesstattliche Versicherung als 220 Mittel der Glaubhaftmachung im Strafverfahren nur ausnahmsweise in Betracht. So ist im Falle der Richterablehnung der Ablehnungsgrund (§ 26 Abs. 2 StPO) glaubhaft zu machen. Dies kann durch eidesstattliche Versicherung von Zeugen oder anderen Personen geschehen3. Die Aufnahme eidesstattlicher Erklärungen erfordert eine sorgfältige Belehrung im Hinblick auf § 156 StGB. Darüber hinaus obliegt dem Rechtsanwalt die Prüfung, ob die Verwertung einer eidesstattlichen Versicherung zulässig ist. So erscheint es bedenklich, eidesstattliche Versicherungen dann einzureichen, wenn das Gesetz vollen Beweis fordert. Ein solches Verfahren erweckt zu leicht den Anschein, verfahrensfremde Zwecke mit der
1 Zu den strafrechtlichen Problemen, die sich dabei ergeben können, vgl. Dahs, Zeugenbeistand zwischen Strafvereitelung und Parteiverrat, in FS Puppe (2011), S. 1545; Dahs, „Informationelle Vorbereitung“ von Zeugenaussagen durch den anwaltlichen Rechtsbeistand, NStZ 2011, 200 – dort auch zahlr. w.N. 2 Vgl. Dahs, NStZ 2011, 200; Dahs in FS Puppe (2011), S. 1545. 3 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 26 StPO Rz. 10.
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Rz. 220
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
eidesstattlichen Versicherung zu verfolgen, etwa den Zeugen vor seiner mündlichen Aussage schon „festgelegt“ zu haben. Es kommt immer wieder einmal vor, dass einem als Verteidiger ungewollt vom Mandanten – sogar von Kollegen – eidesstattliche Versicherungen als Beweismittel zur Verfügung gestellt oder gar aufgedrängt werden. Um strafrechtliche Risiken beurteilen zu können, sollte die Entstehung der Erklärung hinterfragt werden. Einreichen sollte man ein solches Papier – wenn überhaupt – mit einer kurzen Erläuterung („Der Zeuge X hat aufgrund eigener Initiative meinem Mandanten die beiliegende schriftliche ‚Erklärung‘ zur Verfügung gestellt“) und in Verbindung mit einem entsprechenden Beweisantrag. Im Strafverfahren sollte nach alledem der Verteidiger eidesstattliche Versicherungen von Zeugen nur in den wenigen Fällen aufnehmen und verwenden, in denen das Gesetz die Glaubhaftmachung durch solche Erklärungen zulässt, z.B. in den Verfahrensbereichen, in denen das Freibeweisverfahren zulässig ist (Rz. 809).
VIII. Verteidiger und Sachverständiger Literatur: Barton, Sachverständiger und Verteidiger, StV 1983, 73; Barton, Strafverteidigung und Kriminaltechnik, StV 1988, 124; Barton, Anm. zu BGH, StV 2003, 537; Detter, Der Sachverständige im Strafverfahren – eine Bestandsaufnahme, NStZ 1998, 57; Dippel, Die Stellung des Sachverständigen im Strafprozess, Heidelberg 1986; Fincke, Die Pflicht des Sachverständigen zur Belehrung des Beschuldigten, ZStW 86 (1974), 656; Krause, Der „Gehilfe“ der Verteidigung und sein Schweigerecht (§ 53a StPO), StraFo 1998, 1; Kube, Polizeibedienstete als Zeugen und Sachverständige vor Gericht, DRiZ 1979, 38; Kube/Leineweber, Polizeibeamte als Zeugen und Sachverständige, BKA-Schriftenreihe, Bd. 45, 2. Aufl. 1980; Müller, E., Über Probleme des Sachverständigenbeweises im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren, FS Lüke (1997), S. 493 ff.; Müller, K., Der Sachverständige im gerichtlichen Verfahren, Handbuch des Sachverständigenbeweises, 3. Aufl. 1988; Rode/Legnaro, Der Straftäter und sein Gutachter, Subjektive Aspekte der psychiatrischen Begutachtung, StV 1995, 496; Sarstedt, Auswahl und Leitung des Sachverständigen im Strafprozess, NJW 1968, 177; dazu Karpinski, NJW 1968, 1173; Lürken, NJW 1968, 1161; Rauch, NJW 1968, 1173; Schorsch, Phantasie, Irrtum, Lüge und die Wahrheitsfindung, StV 1985, 522; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, Thesen 18 ff.; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 13, 2004, S. 83 ff.; Thielmann, Von promovierten habilitierten oberflächlichen Sachverständigen, StraFo 2004, 5; Toepel, Grundstrukturen des Sachverständigenbeweises, 2002; Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, 12. Aufl. 2007; Weihrauch/Bosbach, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2011; Zwiehoff, Das Recht auf den Sachverständigen, 2000. Weitere Literaturangaben vor Rz. 616.
In diesem Abschnitt werden Begriff und allgemeine Aufgaben des Sachverständigen im Strafprozess sowie seine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit behandelt. Der Ladung und der Vernehmung des Sach154
Verteidiger und Sachverstndiger
Rz. 223
verständigen in der Hauptverhandlung sind die speziellen Darstellungen in den Unterabschnitten C III 1g (Rz. 472 ff.) und C III 2e cc (Rz. 616 ff.) des Handbuchs gewidmet. 1. Stellung des Sachverständigen Die Beziehungen des Verteidigers zu den Sachverständigen sind nicht im- 221 mer die besten. Die Erfahrungen bestätigen, dass der Sachverständigenbeweis trotz aller Warnungen die selbstverantwortliche Überzeugungsbildung des Richters häufig zu ersetzen droht. Das ist eine Folge der außerordentlichen Entwicklung von Wissenschaft und Technik, insbesondere auch der Kriminaltechnik. Sie führt dazu, dass mancher Strafprozess zu einem wissenschaftlichen Streitgespräch und der Gerichtssaal zum Hörsaal wird. Je komplizierter das Fachgebiet und je geringer die Zahl der kompetenten Sachkenner ist, um so mehr steigert sich die Tendenz zur Verlagerung der Verhandlungskompetenz vom Richter auf den Sachverständigen. Es kommt zu einem „Prozess der Gutachter“, der für die Rechtsfindung sehr bedenklich ist. In dieser Situation hat auch der Verteidiger eine schwierige Aufgabe. Die Auseinandersetzungen von Juristen mit Sachverständigen im Prozess sind deshalb so schwer, weil sie in verschiedenen Sprachen reden (Rz. 617). Für die zur Verurteilung eines Menschen erforderliche Gewissheit der Tatsachenfeststellung gelten andere Maßstäbe als für die Bildung einer wissenschaftlichen These. Diese beruht auf einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit gegenüber anderen in Betracht kommenden Möglichkeiten. Der Grad der Wahrscheinlichkeit ist nicht derselbe wie die vom Richter verlangte „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ (Rz. 12). Diese Verschiedenheit ist einer der Gründe, weshalb es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Verteidiger und Sachverständigen kommt. Gegenseitige Vorurteile und Misstrauen dürfen jedoch den Verteidiger nicht davon abhalten, den Sachverständigenbeweis nüchtern zu beurteilen und – soweit erforderlich – berechtigte Kritik zu üben. Der Verteidiger muss allerdings in jedem Fall darauf achten, dass der 222 Sachverständige sich nicht zum Richter aufwirft, sondern „Gehilfe“ des Richters bleibt. Dazu muss der Verteidiger jedes Sachverständigengutachten ggf. unter Hinzuziehung eigener Sachverständiger kritisch prüfen und darf es nicht als gegeben hinnehmen. Ggf. hat er einen anderen Sachverständigen außergerichtlich zu befra- 223 gen1. Das kann nicht nur notwendig sein, um sich die eigene Sachkunde zu verschaffen, sondern auch um zu entscheiden, ob ein anderer Sachverständiger im Wege des Beweisantrages (Rz. 475 ff., 684 f.) in das Verfahren eingeführt werden soll. Hierbei ist zu bedenken: Es ist gefährlich, einen Sachverständigen ins Blaue hinein zu benennen. Die Ladung ist nur ziel1 Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 28.
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Rz. 224
Die Stellung des Verteidigers zu den Beteiligten des Strafverfahrens
führend und sachgerecht, wenn der Verteidiger die Ansicht des Sachverständigen vorher wenigstens in groben Zügen kennt. Die Alternative besteht darin, dass die Verteidigung selbst einen Sachverständigen beauftragt und erst mit dem fertigen Gutachten bei Gericht hervortritt. Manchmal ist es schwierig, einen kompetenten Gutachter zu gewinnen, weil dieser den Vorwurf des „Parteigutachtens“ befürchtet. Ihm muss dann klargemacht werden, dass die Vorlage des vom Verteidiger eingeholten Gutachtens durch seinen objektiv-fachlichen Inhalt in gleicher Weise der Rechtsfindung dient wie die von Staatsanwalt und Gericht in Auftrag gegebenen Expertisen. Um den Verdacht einer unzulässigen Befragung oder Beeinflussung (Rz. 218) zu vermeiden, etwa durch Bekanntgabe des Akteninhalts (Rz. 283), sollte der Verteidiger den Sachverständigen schriftlich beauftragen und sich das vorbereitende Gutachten schriftlich und in vollständiger Fassung geben lassen. Soll der Gutachter zu Fragen Stellung nehmen, zu denen Staatsanwaltschaft oder Gericht bereits Stellungnahmen von Sachverständigen eingeholt haben, sollte dem „eigenen“ Gutachter diese Stellungnahme auf jeden Fall zur Kenntnis gebracht werden. 224
Bei der Beauftragung eines eigenen Sachverständigen muss der Verteidiger die Gefahr sehen, dass „sein“ Gutachter – den er wegen ungünstiger Ergebnisse nicht in das Verfahren einführen will – als Zeuge vernommen werden könnte, wenn Staatsanwaltschaft und Gericht davon Kenntnis erhalten, z.B. durch die Überprüfung amtlich verwahrten Beweismaterials. Ob der Sachverständige als „Gehilfe“ des Verteidigers ein Schweigerecht nach § 53a StPO hat, ist streitig1.
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Schließlich ist zu beachten, dass den Sachverständigen auch eine Haftung für ein fehlerhaftes Gutachten trifft: diese soll allerdings nur bei grober Fahrlässigkeit eintreten, wogegen sich gute Gründe anführen lassen2. 2. Sachkunde des Verteidigers Literatur: Arntzen/Michaelis-Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, 5. Aufl. 2011; Barton, Strafverteidigung und Kriminaltechnik, StV 1988, 124; Bässler, Humanbiologische Spuren, 1995; Boerner, Das psychologische Gutachten, 8. Aufl. 2010; Burghard/Hamacher/Herold, Kriminalistiklexikon, 3. Aufl. 1996; Dierlamm, Das rechtliche Gehör vor der Auswahl eines Sachverständigen im Ermittlungsverfahren, FS E. Müller (2008), S. 117 f.; Hecker, Forensische Handschriftenuntersuchung, 1993; Hellmiss, Kriminaltechnische Begutachtung, Schrift-, Branduntersuchung, biologische Spuren, 1994; Kube, Kriminalistik Bd. I, 1992; Bd. II, 1994; Meyer/Wolf, Kriminalistisches Lehrbuch der Polizei, 8. Aufl. 2003; Neuhaus, Kriminaltechnik für den Strafverteidiger, StraFo 2004, 127; Pohl, Untersuchungen bei Bränden, Bd. 25 der Reihe Kriminalistik, 1984; Rinker/Ditges/ Arendt, Bilanzen, 14. Aufl. 2012; Schwerd, Rechtsmedizin, 5. Aufl. 1992; Tondorf, 1 Mit überzeugenden Gründen bejahend Krause, StraFo 1998, 1. 2 BVerfG v. 11.10.1978 – 1 BvR 84/74, NJW 1979, 305 m. abw. Meinung von vier Richtern.
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Verteidiger und Sachverstndiger
Rz. 227
Neue kriminaltechnische Entwicklungen – eine Herausforderung für den Strafverteidiger, StV 1993, 39 ff.; v. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung für Ärzte und Juristen, 1994.
Es ist typisch, dass der Strafverteidiger regelmäßig mit Fragen aus ande- 226 ren wissenschaftlichen Fachgebieten konfrontiert wird, die ihm fremd sind und auf deren Bewältigung er weder durch seine theoretische noch praktische Ausbildung vorbereitet ist. Geht es heute um die Rekonstruktion eines Verkehrsunfalles, können morgen komplizierte Fragen der Entstehung eines Brandes, der Ballistik, der Schriftvergleichung und der DNA-Analyse der Bearbeitung bedürfen. Während Staatsanwaltschaften und Gerichte mit der Lösung derartiger Probleme Sachverständige beauftragen, steht dem Verteidiger diese Möglichkeit nicht immer zur Verfügung. In der Regel wird der Verteidiger im Rahmen der Akteneinsicht feststellen, dass die Ermittlungsbehörden entweder selbst z.B. die Auswertung von Spuren, die Aufklärung eines Betriebsunfalles vorgenommen oder sich dazu besonders fachkundiger Behörden, z.B. der wissenschaftlichen Abteilungen von LKA oder BKA bedient oder ein Sachverständigengutachten eingeholt haben. Er steht dann vor der Aufgabe, diese Ermittlungsergebnisse auf ihre sachliche und wissenschaftlich-gutachterliche Schlüssigkeit zu überprüfen. Dazu muss er sich die entsprechenden Fachkenntnisse in der Regel durch Selbststudium und Einholung von Einzelauskünften verschaffen. Dies erfordert Literaturstudien, Kontaktgespräche mit Fachleuten, genaue Aufarbeitung des einschlägigen Tatsachenmaterials – und einen erheblichen Zeitaufwand. Darüber hinaus sind Flexibilität, Initiative und Phantasie gefragt. Die hier an den Verteidiger gestellten Anforderungen, sich – auch kurzfristig – in andere, ihm bisher fremde Materien einzuarbeiten, können beträchtlich sein. Stellt sich der Verteidiger der Aufgabe, sich mit dem Fachgebiet der beteiligten Sachverständigen bis in alle Einzelheiten zu befassen, so beweist die Erfahrung, dass er dann den Gutachtern häufig auch gewachsen ist1. Auch vor fachlich komplizierten Problemen sollte er nicht verzagen, denn Staatsanwalt und Richter müssen sich in gleicher Weise das hinreichende Fachwissen aneignen, um Beweisführung und Ergebnis des Gutachtens verantwortlich kontrollieren und in ihre Entscheidung einbeziehen zu können. Viele Sachverständige halten es für selbstverständlich, dass sich alle Pro- 227 zessbeteiligten ihrem Votum beugen. Bei genauer Beschäftigung mit dem Fachgebiet kann es jedoch gelingen, Ungenauigkeiten und Oberflächlichkeiten aufzudecken. Auch gibt es Sachverständige, die ihr eigenes Wissen überschätzen, z.B. ein Waffensachverständiger glaubt, Richtlinien des BKA bei der Untersuchung eines Jagdunfalles außer Acht lassen zu können. Im übrigen hat der Verteidiger besonders die tatsächlichen Grundlagen zu untersuchen, auf denen das Sachverständigengutachten aufbaut. So darf er nicht durchgehen lassen, dass ein Sachverständiger le1 Fehlerquellen bei Schriftgutachten: Hecker, Krim. 1972, 21.
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diglich aufgrund von fotografischen Aufnahmen eine Todesursache feststellen will, solange die Leiche nicht untersucht ist. Auch sollte der Verteidiger im Auge behalten, dass sich unter Umständen der Sachverständige schadensersatzpflichtig macht, der fahrlässig ein falsches Gutachten erstattet. Allerdings stellt die Rechtsprechung die Sachverständigen weitgehend von jedem Haftungsrisiko frei1. In diesen Zusammenhang gehört der von vielen Sachverständigen gepflegte „Zwar-aber-Stil“, der es oft erschwert, einen komplizierten Sachverhalt aufzuhellen. Hier hat der Verteidiger den Sachverständigen durch Fragen zu zwingen, „Farbe zu bekennen“. Viele Sachverständige beanspruchen auch Kenntnisse und Erfahrungen aus einem anderen Gebiet (s. nur die Differenzen zwischen Psychiatern und Psychologen – Rz. 615)2 und wagen es nicht, die Grenzen ihrer eigenen Fachkunde einzugestehen3. Selbst anerkannte Kapazitäten besitzen nicht stets so überragende spezielle Kenntnisse, dass ihre Beurteilung unantastbar ist. Auch sie unterliegen der Routine, auch ihr Wissen kann durch neue Forschungen zweifelhaft, wenn nicht gar überholt sein4. Jedenfalls darf der Verteidiger nicht vor Titel, Erfahrung und wissenschaftlichem Ruf eines Sachverständigen zurückschrecken. Die einschlägigen wissenschaftlichen Abteilungen der Landeskriminalämter und des BKA gelten als Stellen mit „überlegenen Forschungsmitteln“ (§ 244 Abs. 4 S. 2 Halbs. 2 StPO). 228
Fehleinschätzungen muss der Verteidiger in allen Verfahrensabschnitten eindringlich entgegentreten. Schon im Ermittlungsverfahren hat er dafür zu sorgen, dass der richtige Sachverständige bestellt wird, z.B. für körperliche Untersuchungen (Rz. 404), Genomanalyse (Rz. 411), vorläufige Unterbringungen (Rz. 402), Begutachtung von Geld, Wertzeichen und Schriften. In geeigneten Fällen sollte der Staatsanwalt daran erinnert werden, dass der Sachverständige möglichst im Einvernehmen mit dem Verteidiger bestimmt werden soll5. Ggf. ist unverzüglich durch Beweisantrag ein anderer Fachmann zu benennen (Rz. 445). Auch in der Hauptverhandlung muss der Verteidiger alle Mittel einsetzen und notfalls im Wege einer Erklärung ankündigen (Rz. 526), die erfahrungsgemäß geeignet sind, Sachverständige zur Objektivität und Genauigkeit zu zwingen. Dazu gehören der Antrag auf Vereidigung (Rz. 625 i.d.M.), die wörtliche Aufnahme wesentlicher Teile des Gutachtens in die Niederschrift (Rz. 625), die Einführung eines anderen Sachverständigen durch Beweisantrag (Rz. 452, 684).
1 BGH v. 19.11.1964 – VII ZR 8/63, BGHZ 42, 313 zu § 410 ZPO; BGH v. 30.1.1968 – VI ZR 153/66, NJW 1968, 787. 2 Vgl. dazu i.E. BGH v. 15.12.2011 – 3 StR 365/11, NStZ 2012, 280. 3 Sarstedt, NJW 1968, 181. 4 Dazu plastisch Dennemark, NJW 1970, 1960: Derselbe Arzt macht psychiatrische Gutachten, […] seziert, […] untersucht gynäkologisch, […] gutachtet erbbiologisch. Das kann man […] als eine Art organisierten Dilettantismus bezeichnen […] und als „pathologisches“ Wissen, „alles zu wissen“. 5 RiStBV Nr. 70, I; Jessnitzer/Frieling, 12. Aufl. 2007, Rz. 182; Schmitt in MeyerGoßner/Schmitt, § 73 StPO Rz. 1.
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Verteidiger und Sachverstndiger
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3. Ablehnung Literatur: Bleyl, Wissenschaftliche Publikation und Befangenheit vor Gericht, MedR 1994, 106; Dästner, Zur Anwendbarkeit des § 74 StPO auf Polizeibedienstete als Sachverständige, MDR 1979, 545; dazu Leineweber, Die Rechtsstellung der Polizeibediensteten als Sachverständige vor Gericht, MDR 1980, 7; Dahs, Der Standpunkt des Verteidigers zum Sachbeweis, BKA-Vortragsreihe, Bd. 24, 1979, S. 20 f.; Jessnitzer/Frieling, Der gerichtliche Sachverständige, 12. Aufl. 2007, Rz. 188 ff.; Wiegemann, Ablehnung von Mitarbeitern der Strafverfolgungsbehörden als Sachverständige (§ 74 StPO), StV 1996, 570.
Die Erfahrung lehrt, dass auf die „Befangenheit“ der Sachverständigen zu 229 wenig geachtet wird. Häufig ist nämlich einem voreingenommenen Sachverständigen nur durch ein Ablehnungsgesuch beizukommen. Selbst dessen Zurückweisung kann dazu beitragen, dass Sachverständige vorsichtig werden und sich auf die gebotene Neutralität besinnen. Sachverständige halten sich leicht für eine Art von Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft und des Gerichts, wenn sie ständig von diesen bestellt und schon im Ermittlungsverfahren als sachkundige Helfer der Polizei tätig werden. Dadurch wird auch bei bestem Willen ihre Einstellung zur Sache beeinflusst, die nicht selten offen zutage tritt. Deshalb hat der Verteidiger Verhalten und Äußerungen des Sachverständigen in allen Verfahrensabschnitten darauf zu prüfen, ob ein Ablehnungsantrag notwendig ist. Zu diesem Zweck muss er das Ablehnungsverfahren beherrschen, denn er muss sich meist schnell entscheiden (§§ 74 ff. StPO). Insbesondere darf er nicht übersehen, dass das Ablehnungsgesuch noch nach Erstattung des Gutachtens angebracht werden kann. Ein vor der Hauptverhandlung zurückgewiesener Antrag ist in der Verhandlung zu wiederholen. Sonst kann die Verfahrensrüge auf die fehlerhafte Zurückweisung nicht gestützt werden. Auch ist daran zu denken, dass die Entscheidung mit der einfachen Beschwerde angefochten werden kann (Rz. 844), wenn sie außerhalb der Hauptverhandlung ergangen ist1. Der Ablehnungsantrag ist in den Fällen zu stellen, in denen ein Richter 230 kraft Gesetzes ausgeschlossen wäre (Rz. 199). Besonders muss der Verteidiger vor allem den Sachverständigen der Kriminalpolizei im Auge behalten, der die strafbare Handlung unmittelbar verfolgt hat2. Im Übrigen kommt es bei der Ablehnung darauf an, ob aus der Sicht des Mandanten vernünftige Gründe eine Befangenheit befürchten lassen (Rz. 200 ff.). Beispiele: Wettbewerb zwischen Mandanten und Sachverständigen, Abhängigkeit des Sachverständigen vom Geschädigten3, Erstattung eines Gutachtens für eine beteiligte Versicherungsgesellschaft4 oder für den Verletzten5. In Staatsschutzsachen ist die Mitwirkung von Sachverstän1 2 3 4 5
Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 74 StPO Rz. 14. BGH v. 11.1.1963 – 3 StR 52/62, BGHSt. 18, 214. RGSt. 58, 262. BGH v. 9.11.2001 – 3 StR 216/01, NStZ 2002, 215; RGSt. 72, 251. BGH v. 20.7.1965 – 5 StR 241/65, NJW 1965, 2017.
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digen problematisch, die dem Verfassungsschutz angehören. In der Regel werden sie aber als „unbefangen“ angesehen1. Hiergegen muss sich der Verteidiger ebenso wehren wie gegen die Auffassung, es mache nichts aus, dass ein Sachverständiger im Vorverfahren im Auftrag der Staatsanwaltschaft oder der Polizei ein Gutachten erstattet hat oder dass dieser überhaupt als Sachverständiger fortgesetzt für Staatsanwaltschaft und Polizei tätig ist2. In diesen Fällen soll das Ablehnungsgesuch nur Erfolg haben können, falls der Sachverständige besonderen „Jagdeifer“ entwickelt hat3. Besonders problematisch sind dabei die Fälle, in denen der Sachverständige Polizeibediensteter ist. Zwar trifft es zu, dass allein die Zugehörigkeit zu einer Polizeidienststelle einen Ablehnungsgrund weder nach §§ 74, 22 Nr. 4 StPO4, noch unter dem Gesichtspunkt der Befangenheit5 darstellt6. Andererseits kann die Ablehnung des Sachverständigen nicht daran scheitern, dass er für eine Behörde tätig geworden ist. § 256 StPO schränkt den Geltungsbereich des § 74 StPO nicht ein7. Auch ist zu beachten, dass die Ablehnung nicht allein deshalb durchgreift, weil der Sachverständige eine dem Mandanten ungünstige wissenschaftliche Meinung vertritt8. Hier muss der Verteidiger prüfen, ob er einen anderen Sachverständigen benennen soll. Andererseits erscheint die Ablehnung begründet, wenn der Sachverständige schon vor der Hauptverhandlung den Fall mit seiner fachlichen Beurteilung in Fachzeitschriften publiziert hat. Der Verteidiger sollte auch – ggf. mit Hilfe des Klienten – die Fachliteratur daraufhin überprüfen, ob der Sachverständige etwa wissenschaftlich abseitige Ansichten vertritt, z.B. die allgemein üblichen Anästhesiegeräte als „sterile Hinrichtungsmaschinen“ bekämpft9. Besonders ist das Verhalten des Sachverständigen in der Hauptverhandlung zu beobachten, in der Ablehnungsgründe häufiger hervortreten als angenommen wird (Rz. 626). 231
Bei alledem ist aber zu bedenken, dass ein abgelehnter Sachverständiger als Zeuge vernommen werden kann. Die herrschende Ansicht lässt es zu, ihn über Tatsachen zu hören, die er bei Durchführung seines Auftrages wahrgenommen hat10. Der Verteidiger muss mindestens darauf be1 2 3 4 5 6 7 8 9
10
BGH v. 4.6.1964 – 3 StR 13/64, NJW 1964, 1681. Kohlhaas, NJW 1962, 1329 m.N. BGH v. 3.10.1957 – II ZR 77/56, NJW 1957, 1834. BGH v. 26.6.1958 – 5 StR 235/58, NJW 1958, 1308. BGH v. 11.1.1963 – 3 StR 52/62, BGHSt. 18, 214 ff. S. auch Dästner, MDR 1979, 545 ff., mit abl., aber nicht überzeugender Kritik von Leineweber, MDR 1980, 7 ff. Dästner, MDR 1979, 547. OLG Celle v. 27.7.1966 – 4 Ws 252/66, NJW 1966, 1881. Als nicht akzeptabel ist auch ein medizinischer Sachverständiger angesehen worden, der die generelle Überzeugung geäußert hatte, die Angeklagten in Wirtschaftsstrafsachen, die sich auf Haft- und Verhandlungsunfähigkeit beriefen, seien durchweg Simulanten (LG Köln v. 20.8.1981 – 109-1/81, StV 1981, 540). BGH v. 7.5.1965 – 2 StR 92/6, BGHSt. 20, 222; BGH v. 7.5.1965 – 2 StR 92/65, NJW 1965, 1492 = JR 1966, 424 m. abl. Anm. Hanack.
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stehen, dass die Zeugenaussage kein „verkapptes Gutachten“ wird, sondern sich auf reine Tatsachenbekundungen beschränkt. Der zum Zeugen gemachte Sachverständige darf keine einzige sachkundige Folgerung ziehen (Rz. 619, 626). 4. Rechtsgutachten Die Zahl der in Strafsachen dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft vor- 232 gelegten Rechtsgutachten – oft von fachlich renommierten Hochschullehrern erstattet – steht im ungekehrten Verhältnis zu ihrer Bedeutung und Relevanz für die strafrichterliche Entscheidung. Mehr noch: Staatsanwälte und Richter reagieren nicht selten geradezu „allergisch“, wenn sie durch die Rechtsmeinung z.B. eines universitären „Olympiers“ in der Rechtserkenntnis – ihrer ureigensten richterlichen Aufgabe (iura novit curia) – bevormundet werden sollen. Unvergesslich ist mir der trockene Satz eines Vorsitzenden: „Ach ja – da haben wir noch das Gutachten von Prof. Dr. Dr. […]. Man liest es mit Gewinn – indes: Die Kammer ist anderer Meinung“! Damit ist eigentlich alles gesagt. Der „Rechts-Sachverständige“ ist auch kein förmliches Beweismittel im Sinne des § 344 StPO, weil er „zur Sache“, d.h. zur Feststellung urteilsrelevanter Tatsachen nichts beitragen kann. Mit einem Rechtsgutachten wird der Verteidiger nur Gehör finden, wenn es um Rechtsfragen geht, die durch außer-strafrechtliche Spezial-Regelungen determiniert werden, die dem Strafrichter nicht geläufig sein können. In solchen Fällen mag z.B. die objektive Aufarbeitung der Rechtsprechung oder des einschlägigen Schrifttums in praxisnaher Darstellung der Rechtslage und ihrer Auswirkungen auf das Strafrecht dem Strafrichter bei der Rechtsfindung hilfreich sein. Voraussetzung ist immer, dass das Gutachten völlig objektiv und in keiner Weise „parteiisch“ abgefasst ist. Keinesfalls darf sich der Gutachter in die konkrete strafrechtliche Entscheidung einzumischen versuchen. Die Strafjustiz reagiert sehr empfindlich, wenn auch nur der Verdacht aufkommt, eine bestimmte Entscheidung solle ihr oktroyiert werden. In den meisten Fällen sollte man als Verteidiger die – meist hohen – Kosten für ein Rechtsgutachten dem Mandanten ersparen und die Rechtslage selbst überzeugend darstellen! Dabei kann natürlich ein internes Rechtsgutachten hilfreich sein.
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C. Dritter Hauptteil Die Aufgaben des Verteidigers in den Abschnitten des allgemeinen Strafverfahrens I. Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren 1. Allgemeines und Besonderes Literatur: Beulke, Muss die Polizei dem Beschuldigten „Erste Hilfe“ bei der Verteidigerkonsultation leisten?, NStZ 1996, 257; Beulke, Strafprozessrecht, 12. Aufl. 2012, Rz. 309 ff.; Beulke/Ruhmannseder, Die Strafbarkeit des Verteidigers, 2. Aufl. 2010; Böttcher, Zur Instrumentalisierung des Ermittlungsverfahrens im politischen Meinungskampf; GS Schlüchter (2002), S. 435; Bottke, Rechtsbehelfe der Verteidigung im Ermittlungsverfahren – Eine Systematisierung, StV 1986, 120; Burhoff, Verteidigerfehler in der Tatsachen- und Revisionsinstanz, StV 1997, 432; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 5. Aufl. 2012; Dahs, Revision, 8. Aufl. 2012, Rz. 222 ff.; Deckers, Verteidigung beim ersten Zugriff der Polizei, NJW 1991, 1151; Generalstaatsanwaltschaft beim OLG Frankfurt, Kooperation im Ermittlungsverfahren (Rundverfügung v. 16.3.1998), AnwBl. 1998, 263; Gillmeister, Rechtliches Gehör im Ermittlungsverfahren, StraFo 1996, 114; Groß, Zur Notwendigkeit des strafrechtlichen Anfangsverdachts – Keine falschen Umkehrschlüsse aus § 152 Abs. 2 StPO, FS Dahs (2005), 249; Groß/Fünfsinn, Datenweitergabe im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, NStZ 1992, 105; Heghmanns, Das Arbeitsgebiet des Staatsanwalts, 4. Aufl. 2010; Ignor/Peters, Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 67 ff.; Jahn, Beschuldigtenvernehmung und Verteidigerkonsultation, JuS 2006, 273; König, Wege und Grenzen eigener Ermittlungstätigkeit des Strafverteidigers, StraFo 1996, 98; Müller, Eckhart, Die Sockelverteidigung, StV 2001, 649; Müller, Egon, Gedanken zur Verteidigung im Ermittlungsverfahren, in Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege (Hanack-Symp.) (1991), S. 21; Ransiek, Belehrung über Aussagefreiheit und Recht der Verteidigerkonsultation: Folgerungen für die Beschuldigtenvernehmung, StV 1994, 343; Richter II, Grenzen anwaltlicher Interessenvertretung im Ermittlungsverfahren, NJW 1981, 1820; Richter II, Zum Bedeutungswandel des Ermittlungsverfahrens, StV 1985, 382; Richter II, Sockelverteidigung. Voraussetzungen, Inhalt und Grenzen der Zusammenarbeit von Verteidigern verschiedener Beschuldigter, NJW 1993, 2152; Ch. Schaefer, Kooperation im Ermittlungsverfahren, AnwBl. 1988, 67; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 13, 2004; Wagner, Rechtliches Gehör im Ermittlungsverfahren, ZStW 109 (1997), 545; Weihrauch/Bosbach, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2011.
Das Strafverfahren beginnt mit der Einleitung eines Ermittlungsverfah- 233 rens. Die Staatsgewalt setzt sich durch die Staatsanwaltschaft oder ihre Ermittlungsbehörden wie Polizei, Steuer- und Zollfahndung, Kartellbehörden u.a. gegen den Beschuldigten in Bewegung. In der Regel löst das Furcht und Schrecken, jedenfalls Sorgen und Unruhe aus. Es entsteht im Beschuldigten ein Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber der ungewohnten Situation. Ein akutes Schutzbedürfnis treibt den Betroffenen zum Anwalt als dem berufenen Vertreter im Umgang mit der Justiz. Die Not ist 163
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Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
am größten, wenn bereits Verhaftung, Durchsuchungen und Beschlagnahmen durchgeführt sind. Die allgemeinen Funktionen des Verteidigers in diesem Anfangsstadium sind vielfältig. Er hat einerseits seinen Mandanten verantwortlich zu beraten und ihm zugleich eine menschliche Hilfe zu geben, deren dieser jetzt dringend bedarf. Insbesondere will der Auftraggeber wissen, wie er sich zu verhalten hat, sowie, ob und wie er aussagen oder Rechtsmittel einlegen soll. Der Beschuldigte drängt auf Kontakte mit Mitbeschuldigten und Zeugen, um sich dadurch zu unterrichten und vielleicht auch, um Einfluss auf das Verhalten dieser Beteiligten zu gewinnen. Der Verteidiger hat in diesem Stadium des Verfahrens keine leichte Aufgabe, wenn er alles Erforderliche tun und nichts versäumen will. 234
Für keinen anderen Abschnitt des Strafprozesses hat die „Philosophie“ der Strafverteidigung eine so tiefgreifende Veränderung erfahren wie für das Vorverfahren. Dieses war und ist über 100 Jahre die Domäne der Strafverfolgungsbehörden, die allerdings auch die volle Verantwortung für die rechtmäßige Durchführung der Ermittlungen trägt1, während die Verteidigung keine das Verfahren mitgestaltende Rolle spielte – was nur in Fällen der Untersuchungshaft anders gewesen sein mag. Es galt im Wesentlichen die Maxime, kein Verteidigungsterrain preiszugeben durch vorzeitige Offenbarung in streitigem Diskurs mit Staatsanwaltschaft und Polizei. Der Gedanke an eigene „Ermittlungen“ des Verteidigers lag fern. Man wartete ab, was eines Tages als Ermittlungsergebnis präsentiert werden würde, und hielt dafür „das Pulver trocken“. Das Ermittlungsverfahren war also eher ein Durchgangsstadium zu späteren Verteidigungsaktivitäten. In neuerer Zeit hat sich dagegen weithin die Überzeugung durchgesetzt, dass dem Ermittlungsverfahren und seinen Ergebnissen für das weitere Verfahren, und zwar auch für das Hauptverfahren und die Hauptverhandlung, eine große, wenn nicht sogar urteilsprägende Bedeutung, zukommt2. Was im Vorverfahren versäumt wird, kann in keiner Phase des Prozessfortganges wieder gutgemacht werden. Niederschriften (Bild- und Tonaufnahmen) über förmliche Vernehmungen, informelle Äußerungen, Augenscheinseinnahmen, Gegenüberstellungen, Spurensicherungen, kriminaltechnische Untersuchungen und andere nicht oder so nicht wiederholbare und reproduzierbare Beweiserhebungen werden mehr oder weniger unabänderlich und damit im Ergebnis zur Grundlage tatrichterlicher Überzeugungsbildung, ohne dass die Verteidigung im Stadium des Entstehens des Beweisergebnisses aktiv geworden ist, sei es kontrollierend, 1 Zum aktuellen Rechtszustand BGH v. 4.11.1986 – 1 StR 498/86, BGHSt. 34, 215 (217); BGH v. 24.7.2003 – 3 StR 212/02, NStZ 2003, 671. 2 Richter II, StV 1985, 382; Dahs, Zur Verteidigung im Ermittlungsverfahren, NJW 1985, 113; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 13, 2004, S. 2 f. sowie Thesen 1 ff.; Wagner, ZStW 109 (1997), 557; Bahnsen, Akteneinsicht, S. 125 (Fn. 531).
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Allgemeines und Besonderes
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mitgestaltend oder durch eigene Recherchen oder Erhebungen die klärungsbedürftigen Punkte auch aus der Sicht des Beschuldigten beleuchtend. Dies gilt auch für die Einholung von Sachverständigengutachten, bei denen zwar nach Nr. 70 Abs. 1 RiStBV der Verteidiger an der Auswahl der Person des Sachverständigen beteiligt werden soll (was in der Praxis nicht selten „übersehen“ wird), aber nicht zu Formulierung, Umfang und Gegenstand des Begutachtungsauftrages zuvor gehört wird – und auf diese Weise ggf. auch darauf aufmerksam wird, dass ein „Gegengutachten“ durch einen von der Verteidigung beauftragten Sachverständigen geboten ist. Die Mitwirkung des Verteidigers am Ermittlungsverfahren steht nach 235 heute wohl herrschender Meinung jedenfalls in vielen Fällen unter dem Gebot der Mitgestaltung oder sogar des Mit-Managements. Voraussetzung dafür ist freilich, dass der (frühzeitig beauftragte) Verteidiger sich so bald wie möglich einen Zugang zur Staatsanwaltschaft oder den anderen Ermittlungsbehörden verschafft. Auch wenn die Akteneinsicht nach § 147 Abs. 2 StPO noch versagt wird, gibt es Möglichkeiten, sich ein gewisses Basiswissen über Vorwurf und Beweismittel zu verschaffen: Auskünfte der Staatsanwaltschaft und ihrer Hilfspersonen, die Begründung von Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüssen, Erkenntnisse aus Haftvorgängen, Kontakten mit anderen Verteidigern, Analyse der nach § 147 Abs. 3 StPO nicht zu sperrenden Aktenteile, Informationen des Mandanten zur Sache, Befragung von Zeugen u.a. Auf diesem provisorischen Plafond, um dessen Vergrößerung er sich ständig bemühen muss, kann der Verteidiger durchaus agieren. Den Tat- oder Unfallort kann er besichtigen, seinen Zustand durch Fotos oder in sonst geeigneter Weise festhalten, Vorgänge rekonstruieren, nach Beweisstücken kann er suchen oder suchen lassen, Doppel von beschlagnahmten Urkunden beschaffen u.a. Zeugen können ausfindig gemacht, befragt, über Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte (§§ 52–55 StPO), Strafantragsrechte und ihre Rücknahme informiert, über das Recht zum Zeugenbeistand (Rz. 1160 ff.) belehrt, Gutachter können „reserviert“ oder schon mit Teilaufträgen befasst werden; schließlich können ggf. Anträge auf Beweiserhebungen an die Staatsanwaltschaft gestellt werden. Liegt Aufklärung im Interesse der Verteidigung – was nicht immer der Fall ist –, wird der Verteidiger bei der Staatsanwaltschaft häufig ein offenes Ohr für Anregungen und Anträge finden. Sogar die Gestattung der Anwesenheit des Verteidigers bei – zumal von ihm selbst beantragten – Beweiserhebungen wird dann manchmal zu erlangen sein. Über eine Beschränkung der Verfahrensmaterie (§§ 154, 154a StPO) oder Teileinstellung kann gesprochen und „verhandelt“, über die Person des Sachverständigen oder die Fassung des Auftrages kann Einigkeit erzielt werden. Über Rechtsprobleme, z.B. der Verjährung, Verwertungsverbote, die Vernehmung ausländischer Zeugen u.a. kann diskutiert werden. Zu gegebener Zeit kann der Verteidiger seine Vorstellungen über die Abschlussentscheidung zur Geltung bringen.
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Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Dieses Idealbild eines kooperativen Ermittlungsverfahrens1 ist zwar keineswegs Standard in der heutigen Realität des Vorverfahrens. Die skizzierte Mitgestaltung des Verfahrens oder das Mit-Management in der Bewältigung umfangreichen Verfahrensstoffes ist aber häufiger (wenigstens teilweise) erreichbar als allgemein angenommen wird. Auf diese Weise kann zugunsten des Klienten auch viel mehr bewirkt werden als man sich in der Vergangenheit vorgestellt hat. Größere Aktivitäten und Bemühungen um substantielle Beiträge zum Ermittlungsergebnis sind dem Verteidiger in geeigneten Fällen anzuraten, um die Wirksamkeit seines weiteren Prozesshandelns zu erhöhen2. 236
Insgesamt kann der Verteidiger durch ein rechtzeitiges, professionelles präventives Krisenmanagement viel erreichen. Entscheidende Voraussetzung ist allerdings, dass er bei den ersten „Alarmzeichen“, die auf die zu erwartende oder bereits erfolgte Einleitung eines Ermittlungsverfahrens hindeuten, beauftragt wird. Die Unkenntnis nicht nur des Einzelmandanten, sondern auch von Wirtschaftsunternehmen über die Omnipotenz des Staates gerade im Vorverfahren ist zuweilen erschreckend! Die wichtigsten Aufgabenfelder, denen der Verteidiger sich widmen muss, sind folgende: Zunächst sollte er sich aus allen zur Verfügung stehenden Quellen, z.B. Informationen der Mandantschaft, Presseberichten oder anderen Medien-Publikationen, einen ersten Informations-Plafond verschaffen, der ein ungefähres Bild ergibt, worum es überhaupt geht oder gehen könnte. Der nächste Schritt ist die Belehrung des oder der Betroffenen über Ablauf und Bedeutung des Ermittlungsverfahrens, Verhalten bei denkbaren Zwangsmaßnahmen und daran anschließend die Überlegung von Gegenmaßnahmen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf drohende Durchsuchungen und Beschlagnahmen. Wenn z.B. die Unterlagen, an denen die Ermittlungsbehörde ein besonderes Interesse haben könnte, einigermaßen sicher eingegrenzt werden können, so ist zu empfehlen, dass von diesen sofort Fotokopien hergestellt und dem Verteidiger zur Verfügung gestellt werden, um im Falle der Beschlagnahme die Verteidigungsfähigkeit zu erhalten. Denn die Erfahrung zeigt, dass Einsicht in die Beweismittel unter Umständen erst in einem relativ späten Stadium des Ermittlungsverfahrens zu erlangen ist – wenn die Staatsanwaltschaft diese bereits ausgewertet und sich damit bewusst oder unbewusst ein Bild über die Vorgänge gemacht hat.
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In diesen Zusammenhang gehört auch die Prüfung eines „Kooperationsangebots“ an die Ermittlungsbehörden. Eine solche proaktive Verteidigung gegenüber der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren kann für die Verteidigung gute Chancen bieten. Ist abzusehen, dass sich die Ermittlungen auf bestimmte Sachkomplexe erstrecken werden und damit gerechnet werden muss, dass die Ermittlungsbehörden im Wege der Durchsuchung und Beschlagnahme einschlägige Unterlagen ohnehin er1 Dazu näher Dahs, NJW 1985, 1113. 2 Im Jargon: So früh wie möglich den Fuß in die Tür bringen.
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Allgemeines und Besonderes
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langen können, so kommt in geeigneten Fällen in Betracht, als proaktive Maßnahme der Staatsanwaltschaft anzubieten, ihr alle einschlägigen Unterlagen, Datensätze usw. auf erste Anforderung vollständig zur Verfügung zu stellen und dazu einschlägige Informationen zu geben, so dass es einer (nicht selten „medienöffentlichen“) Zwangsmaßnahme (Durchsuchung) nicht bedarf. Der Verteidiger muss sich bei einem solchen Kooperations-Angebot allerdings sicher sein, dass der Mandant insoweit wirklich bereit ist, „mit offenen Karten zu spielen“ und nicht versucht, belastende Dokumente verschwinden zu lassen oder sie auf andere Weise den Ermittlungsbehörden vorzuenthalten. Er muss wissen, dass ein solcher „Trick“ in aller Regel auffällt (oft sind z.B. Dokumente mehrfach vorhanden), alle Bestrebungen um eine kooperative Gestaltung des Ermittlungsverfahrens zunichte gemacht werden und „die letzten Dinge schlimmer sein werden als die ersten“. Bei derartigen Angeboten an Ermittlungsbehörden und entsprechenden Absprachen stehen in gewissem Sinne auch das Prestige und der gute Ruf des Verteidigers mit auf dem Spiel – was er ggf. im eigenen Interesse bedenken sollte. Staatsanwaltschaften sind vor allem in unübersichtlichen, umfangreichen oder in der Sachaufklärung aus anderen Gründen schwierigen Verfahren häufig bereit, auf ein entsprechendes Angebot der Verteidigung jedenfalls einen „Testlauf“ zu riskieren und die Seriosität des Angebots zu überprüfen. Dazu mag auch der Umstand beitragen, dass es in Großunternehmen für die Ermittlungsbehörden oft schwierig und aufwendig ist, in unterschiedlichen Abteilungen, umfangreichen Archiven und ausgelagerten Betriebsstätten wirklich alle verfahrensrelevanten Unterlagen und Daten aufzufinden. Auch kann der Betrieb des Unternehmens, z.B. durch Sicherstellung und Beschlagnahme von EDV-Speichern oder der Unterlagen des gesamten Rechnungswesens, gefährlich beeinträchtigt oder sogar blockiert werden. Aus der Vergangenheit sind Fälle bekannt, in denen ein allzu „forsches“ Vorgehen der Ermittlungsbehörden zum Zusammenbruch von Unternehmen oder zu schweren wirtschaftlichen Schäden geführt hat, die schließlich sogar in einen Regressprozess gegen das betreffende Bundesland gemündet haben. Auch ist zu berücksichtigen und mit der Staatsanwaltschaft abzuspre- 238 chen, ob und ggf. welche Unterlagen Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse (z.B. Personalia) enthalten, deshalb einer besonders gesicherten Aufbewahrung zugeführt und nicht ohne weiteres potentiellen Geschädigten auf Akteneinsichtsantrag (§ 406e StPO) zur Verfügung gestellt werden können (Rz. 171). Der Verteidiger hat auf der anderen Seite mit Nachdruck sicherzustellen, dass die Originalunterlagen bis zur Entscheidung der Staatsanwaltschaft vollständig an ihrem üblichen Platz in Aktenregalen, Schränken und Archiven verbleiben, der Datenbestand auf Festplatten und andere Datensammlungen nicht angetastet wird und auch sonst nichts geschieht, was eine misstrauische Ermittlungsbehörde unter den Begriff der Verdunklungsgefahr subsumieren könnte. Die dem Verteidiger in einem solchen Szenario obliegenden Aufgaben setzen große Erfahrung, 167
Rz. 239
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Fingerspitzengefühl und ein hohes Maß an Vertrauen bei allen Beteiligten voraus. Geht ein solcher Kooperationsversuch „schief“, so hat nicht nur die Mandantschaft die Folgen zu tragen, sondern der Verteidiger wird in vergleichbaren Fällen für die Staatsanwaltschaft als Gesprächspartner kaum noch in Betracht kommen. Allein dies ist Grund genug, das skizzierte vollständige Instrumentarium eines frühzeitigen Krisenmanagements nur in dafür wirklich geeigneten Fällen zu wagen. 239
Nicht minder wichtig kann je nach Sachlage die Medienarbeit sein. Viele Ermittlungsverfahren werden erst aufgrund einer Veröffentlichung in der Presse, im Rundfunk oder im Fernsehen eingeleitet – und in der Folgezeit von diesen in mehr oder weniger sensationeller Aufmachung „begleitet“. Diese unerwünschte, aber als solche nicht zu verhindernde Verfahrensbegleitung kann nicht nur für den Mandanten als Einzelperson oder als Unternehmen immaterielle oder materielle Schäden auslösen, die nicht selten zur Bedeutung des Ermittlungsgegenstandes in keinem Verhältnis stehen und das strafrechtliche Gewicht der Untersuchung übersteigen. Diese Gefahr muss der Verteidiger rechtzeitig erkennen oder voraussehen und eine entsprechende Strategie entwickeln. Diese sollte keineswegs immer in der Ausschöpfung des rechtlichen Instrumentariums (Rz. 105 ff.) gegenüber jeder Veröffentlichung bestehen. Oft kann mit offiziell erteilten Informationen, Hintergrundgesprächen, Richtigstellungen oder Kontakten mit der Rechtsabteilung des Medien-Organs – also ein eher „stilles Krisenmanagement“ – ein größerer Erfolg erzielt werden (vgl. im Einzelnen Rz. 110) als durch die Anrufung der Gerichte.
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Schließlich darf auch die Bearbeitung der Sache gegenüber evtl. zuständigen Haftpflichtversicherungen, Berufsgenossenschaften, auch Aufsichtsbehörden u.Ä. nicht aus dem Auge gelassen werden. Anders als bei Aussagen im Ermittlungsverfahren muss der Betroffene oder das betroffene Unternehmen z.B. bei Betriebsunfällen oder Fehlern im Betriebsablauf wahrheitsgemäße Berichte abgeben und dabei unter Umständen Schwachstellen im Betriebsablauf offenbaren, die nicht nur die der Leitung obliegenden Organisations- und Überwachungspflichten betreffen, sondern seitens der Strafjustiz bzw. der Bußgeldbehörden auch zu empfindlichen Sanktionen gegen das Unternehmen als juristische Person führen können (§§ 130, 30 OWiG). Die insoweit gegenüber dritten Stellen geschuldeten Berichte zur Sache unterliegen dem Zugriff der Ermittlungsbehörden. Sie können auch in aller Regel nicht lange aufgeschoben werden, jedenfalls nicht bis zum Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Entsprechendes gilt für sachgleiche Zivilprozesse oder andere rechtliche Verfahren. Derartige Konstellationen können ebenfalls Veranlassung geben, von Anfang an gegenüber den Ermittlungsbehörden bei der Sachverhaltsermittlung „mit offenen Karten zu spielen“.
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Zum Instrumentarium einer sachgerechten Verteidigung im Ermittlungsverfahren mit einer Mehrzahl von Beteiligten gehört auch die Basisoder Sockelverteidigung, an der sich mehrere Verteidiger beteiligen kön168
Allgemeines und Besonderes
Rz. 243
nen. Ein Verstoß gegen § 146 StPO liegt darin nicht, auch wenn der Verteidiger dabei Kenntnis von Einlassungen anderer Beschuldigter erhält1. Sie betrifft die arbeitsteilige Aufarbeitung und Bearbeitung von Sachverhalten und Rechtsfragen, die für alle Betroffenen gleich sind. Die personelle Zurechnung von Vorgängen, der subjektive Tatbestand und Rechtsfragen müssen dadurch oft nicht berührt werden. Auf die Darstellung unter Rz. 72 wird verwiesen. Es sind also je nach Lage des Falles eine ganze Reihe von Aktionsfeldern 242 vom Verteidiger in den Blick zu nehmen und in seine Beratung der Mandantschaft und sein Agieren gegenüber Ermittlungsbehörden einzubeziehen – eine sehr schwierige und häufig auch nicht vollständig bzw. optimal zu lösende Aufgabe. Gelingt aber der kooperative Ansatz, so ist für die Sache des Mandanten – zumindest unter dem Aspekt einer Schadensbegrenzung – viel gewonnen und nicht selten die Möglichkeit eröffnet, das Verfahren insgesamt in der einen oder anderen Weise erheblich zu seinen Gunsten zu beeinflussen oder zu erledigen (vgl. Rz. 328 ff.). In der großen, vielleicht überwiegenden Zahl der Fälle wird allerdings der Gewinn des Beschuldigten nach wie vor darin liegen, dass der Sachverhalt eben gerade nicht lückenlos aufgeklärt wird. Hier werden sich die Aktivitäten des Verteidigers zunächst auf einige wenige Punkte, z.B. Beteiligung an der Auswahl des Sachverständigen, Rechtsfragen, Beschränkung des Verfahrensstoffes, Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Ermittlungen im Sinne des Klienten, reduzieren. Die Bereitschaft von Staatsanwälten, mit einem sich in der Sache „bedeckt“ haltenden Verteidiger zu kooperieren, sollte dann aber nicht überschätzt werden. Häufig bedarf es einiger Geschicklichkeit und Überzeugungskraft, bei der Ermittlungsbehörde Verständnis dafür zu finden, dass an der Sachaufklärung vorerst nicht mitgewirkt werden kann, eine Mitwirkung bei anderen verfahrensgestaltenden Fragen gleichwohl sinnvoll und förderlich ist. Generell gilt indes die Empfehlung, im Ermittlungsverfahren aus der nur 243 passiv-abwehrenden Verteidigungshaltung herauszutreten und aktiv auf formellen und informellen Wegen zur Mitgestaltung des Vorverfahrens nach Maßgabe der Verteidigungsinteressen des Beschuldigten zu gelangen. Die so definierte Generalaufgabe des Verteidigers im Ermittlungsverfahren ist allerdings nicht unumstritten. So wird z.B. als „Strategie“ empfohlen, man müsse die Ermittlungsbehörden „kommen lassen“ – eine gefährlich doppeldeutige Maxime – und den Staatsanwalt mit der Anklage „auflaufen“ lassen. Nach den Erfahrungen der Praxis erscheint diese Haltung bei der großen Vielzahl der Fälle allerdings eine gefährliche Illusion. Der Verteidiger verschenkt zudem die Möglichkeit, den Tatvorwurf in geeigneter Form tatsächlich oder rechtlich zu begrenzen. Die Vorstellung, die Ermittlungen würden durch eine „Mauer des Schweigens“ oder Störens so beeinträchtigt, dass der Staatsanwalt keine den ge1 OLG Düsseldorf v. 20.8.2002 – 1 Ws 318/02, JR 2003, 346 m. Anm. Beulke; KG v. 17.1.2002 – 5 Ws 581/01, StraFo 2003, 147.
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Rz. 244
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
setzlichen Anforderungen genügende Anklage zustande bringen könne, ist in aller Regel realitätsfern. Die Anforderungen, die § 200 StPO an den Inhalt der Anklageschrift stellt, sind eher marginal. Die Zurückweisung von Anklagen wegen rechtlich oder sachlich unzulänglicher Begründung ist in der Praxis eine seltene Ausnahme1. Auch „magere“ Anklagen werden häufig zugelassen2 und ihre Lücken und Mängel werden im Hauptverfahren über § 244 Abs. 2 und § 265 StPO beseitigt. Wer als Verteidiger das Ermittlungsverfahren nach dem Prinzip „Schotten dicht“ ablaufen lässt und auf eine Zurückweisung der Anklage im Zwischenverfahren oder einen Freispruch (wegen Aufklärungsmängeln) spekuliert, wird in aller Regel eine Enttäuschung erleben – und diese gegenüber seinem Mandanten zu verantworten haben. Auch wenn die Hauptverhandlung nicht als „Nachvollzug der Akten“ praktiziert wird (dazu Rz. 196, 553, 583), ändert dies nichts an der Erkenntnis, dass im Ermittlungsverfahren „die Weichen gestellt werden“. Nach zugelassener Anklage und Hauptverhandlung kommt es nur in ca. 3 % der Fälle zum Freispruch. Dies muss der Verteidiger wissen und sein berufliches Handeln darauf einstellen. Nach allen Erfahrungen wird hier in der Praxis viel versäumt. 244
Ob und wann ihm der Verteidigungsauftrag erteilt wird, liegt naturgemäß allein beim Klienten; der Verteidiger darf sich darum nicht „bewerben“ (Rz. 31 ff.). Freilich gibt es Fallgestaltungen, in denen der Rat, (etwa nach vorangegangener Beratung) nunmehr eine formelle Verteidigerbestellung vorzunehmen, geboten ist. Viele Ermittlungsverfahren werden nicht von Anfang an gegen eine konkret benannte natürliche Person geführt, sondern zunächst gegen „Unbekannt“ oder „die Verantwortlichen der Firma …“ o.Ä. Hier wird der anwaltliche Auftrag nicht selten von einem Wirtschaftsunternehmen, einer Organisation oder auch einer (möglicherweise betroffenen) Einzelperson dahin erteilt, den Gang des Ermittlungsverfahrens zu beobachten und Kontakt mit der Ermittlungsbehörde zu halten, um die Interessen des Auftraggebers, sollten sie des Schutzes bedürfen, zu wahren. Dabei kann gleichzeitig vorgesehen sein, den Anwalt bei Konkretisierung der Ermittlungen im Hinblick auf eine bestimmte Person als Verteidiger zu beauftragen. In diesen, aber auch in Fällen ohne potentielle Zuordnung ist es ein Gebot sachgerechter Beratung, den Klienten auf die Zweckmäßigkeit oder Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung hinzuweisen, wenn entweder feststeht, dass die Ermittlungen sich gegen bestimmte natürliche Personen richten, oder damit nach Lage der Sache gerechnet werden muss. Entsprechendes gilt auch, wenn der Anwalt zunächst als Beistand eines gefährdeten Zeugen (Rz. 1160) beauftragt ist und ihm deutlich wird, dass der bisherige Zeuge mit hoher Wahrscheinlichkeit Beschuldigter werden, vielleicht von Ermittlungsbehörden (wenn auch unausgesprochen) bereits als solcher 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 200 StPO Rz. 25 ff. m.N. 2 Seufzer eines Vorsitzenden: „Was glauben Sie, was wir hier an Anklageschriften bekommen?“.
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Allgemeines und Besonderes
Rz. 245
behandelt wird. Freilich sind beim Wechsel der Position vom Zeugenbeistand zum Verteidiger Fragen der Interessenkollision zu beachten (Rz. 83), vor allem, wenn der Verteidiger als Rechtsbeistand für mehrere Zeugen in derselben Sache aufgetreten ist (Rz. 1160 ff.). Bei Ermittlungen gegen Angehörige eines Unternehmens, das eine juristische Person ist (z.B. AG, GmbH), kommt eine Bestellung für diese in Betracht, wenn sie möglicherweise als Nebenbeteiligte gem. §§ 130, 30 OWiG für Fehler von Organmitgliedern einzustehen hat. Der späteren (zusätzlichen) Übernahme der Verteidigung eines Organmitgliedes steht auch § 146 StPO nicht entgegen (Rz. 1151)1. Ob eine Interessenkollision in Betracht kommt, bedarf freilich der gesonderten Prüfung. Schließlich ist es auch für den zunächst nur zivilrechtlich beauftragten Anwalt ein Gebot professionellen Handelns, zur Beauftragung als Strafverteidiger zu raten, wenn er erkennt, dass entweder die zivilrechtliche Materie strafrechtlichen Stellenwert hat oder absehbar ist, dass aus dem Zivilprozess sich ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren entwickeln kann. Etwas anderes ist die sog. „verdeckte Verteidigung“. Damit ist gemeint, 245 dass der Verteidigungsauftrag zwar erteilt wird, jedoch Einigkeit darüber besteht, dass der Verteidiger noch nicht als solcher zu den Ermittlungsakten legitimiert sein soll, intern aber bereits an der Verteidigung wesentlich mitarbeitet. Diese Sonderform der verdeckten Verteidigung kommt z.B. bei Klienten in Betracht, die aufgrund ihrer beruflichen Position oder aus anderen Gründen besonders im Lichte der Öffentlichkeit oder anderer Aufmerksamkeit stehen und befürchten, dass die formelle Beauftragung eines Verteidigers entweder von den Ermittlungsbehörden oder der Öffentlichkeit dahin missdeutet werden könnte, sie hätten sich etwas vorzuwerfen. Dieser Besorgnis begegnet man in gesteigertem Maße, wenn der beauftragte Rechtsanwalt ein bekannter Strafverteidiger ist. Ob solche Bedenken immer gerechtfertigt sind, erscheint zwar angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der heute weitgehend für alle Rechtsfälle Anwälte beauftragt werden, zweifelhaft, jedoch wird man solchen Wünschen des Klienten nur selten entgegentreten. Der Verteidiger sollte in solchen Fällen Wert darauf legen, dass sein Auftrag genau fixiert ist (z.B. Verteidigungsauftrag mit der Maßgabe, dass die Bestellung zu den Ermittlungsakten zu gegebener Zeit im beiderseitigen Einvernehmen – oder nach der Entscheidung des Verteidigers – erfolgt), er insbesondere über eine Vollmacht verfügt, so dass im Bedarfsfalle (z.B. bei prozessualen Zwangsmaßnahmen) die Voraussetzungen für ein sofortiges Agieren auch nach außen gegeben sind. Im Übrigen kann das Mandat bis zu diesem Zeitpunkt in der Form geführt werden, dass im Außenverhältnis etwa der Syndikus des Unternehmens (Rz. 140) oder der örtliche Firmenanwalt agieren, während im Innenverhältnis der beauftragte Straf1 BVerfG v. 21.6.1977 – 2 BvR 70/75; 2 BvR 361/75, BVerfGE 45, 272 (288); BGH v. 14.10.1976 – KRB 1/76, DRiZ 1977, 24 (25); Rogall in KK, § 30 OWiG Rz. 180; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 444 StPO Rz. 12; vgl. auch §§ 434 f. StPO.
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Rz. 246
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
verteidiger schon die vorliegenden Informationen auswertet, beratend tätig wird, eine Strategie entwickelt und insbesondere bei der Ausarbeitung etwaiger Schriftsätze, Anträge, Rechtmittel (federführend) mitwirkt. Es ist überraschend, in welchem Umfang etwa bei einem Betriebsunfall den (strafrechtlich nicht ausgewiesenen) Firmenjuristen von den Ermittlungsbehörden und Gutachterstellen (z.B. Gewerbeaufsicht, Berufsgenossenschaft) Auskünfte erteilt und Hinweise gegeben werden, die Grundlage für eine optimale Verteidigung schon im Ermittlungsverfahren bieten, wenn sie „professionell“ von einem Strafverteidiger umgesetzt werden. Es mag sein, dass die „Dramatik“ einer förmlichen Verteidigerbestellung mit entsprechend energischen Anträgen (primär auf Akteneinsicht) nützliche Informationsquellen zum Versiegen bringen würde. Auch manche Staatsanwälte geraten anscheinend gegenüber den von ihnen oft als „harmlos“ eingeschätzten Firmenjuristen1 eher ins Plaudern als gegenüber dem Strafverteidiger, den sie ganz automatisch als ihren qualifizierten Widerpart im Verfahren empfinden. In summa kann man in entsprechend gelagerten Fällen mit einer engen und loyalen Kooperation viel erreichen. Ob mit einer „offenen Verteidigung“ dasselbe Ziel nicht auch (irgendwann) erreicht worden wäre, kann dahinstehen. Manchmal ist die Entscheidung für die „verdeckte Verteidigung“ auch wohl nur das Ergebnis der psychischen Befindlichkeit und Vorstellungswelt des Klienten, auf die man jedenfalls solange Rücksicht nehmen sollte, wie es für die Sache nicht schädlich ist. 2. Die speziellen Aufgaben 246
Die speziellen Aufgaben des Verteidigers im Ermittlungsverfahren ergeben sich im Übrigen aus dessen Zielsetzung. Es dient der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, ob gegen den Beschuldigten eine öffentliche Klage (Anklage oder Antrag auf Erlass eines Strafbefehls) zu erheben oder das Verfahren mangels Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 StPO) oder aus Opportunitätsgründen (§§ 153 ff. StPO) einzustellen ist. Damit sind die Funktionen des Verteidigers eindeutig ausgewiesen. Er hat mit allen zulässigen Mitteln auf die Einstellung des Verfahrens hinzuwirken. So soll er – jedenfalls nach einer älteren Rechtsauffassung – als Organ der Rechtspflege sogar verpflichtet sein, Verfahrenshindernisse wie die Verfolgungsverjährung rechtzeitig geltend zu machen, andernfalls ihn nachteilige Konsequenzen treffen können2. Der Mandant kann aber gute Gründe haben, statt einer prozessualen eine Sachentscheidung anzustreben. Der Verteidiger muss indes das Verfahren so beeinflussen, dass für den Fall einer öffentlichen Klage die nach Lage der Sache gegebenen Möglichkeiten der Verteidigung im Ermittlungsverfahren ausgeschöpft sind und eine möglichst günstige Ausgangsposition für den Beschuldigten im Eröff-
1 Im Jargon ist gelegentlich (oft zu Unrecht) von „Laienspielschar“ die Rede. 2 Dazu Arndt, NJW 1963, 348; Arndt, NJW 1963, 1592; Jecht, NJW 1964, 639; Dahs, AnwBl. 1966, 371.
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Die speziellen Aufgaben
Rz. 248
nungsverfahren und in der Hauptverhandlung geschaffen ist. Je früher der Verteidiger tätig wird, desto besser kann er die Belange des Beschuldigten wahrnehmen (Rz. 233 ff.). Wie jeder erfahrene Verteidiger weiß, können Richtung und Akzente des 247 Verfahrens bereits während der polizeilichen bzw. staatsanwaltlichen (Rz. 234) Ermittlungen gesetzt werden. Aufklärungsmängel werden häufig von einem zum anderen Verfahrensabschnitt mitgeschleppt. Diese Erfahrungen werden freilich vom Gesetzgeber ignoriert, wenn nach § 467a StPO die notwendigen Auslagen des Beschuldigten, also insbesondere die Verteidigerkosten bei Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO nach möglicherweise jahrelangen Ermittlungen und intensiver Verteidigerarbeit nicht erstattet werden – angesichts der Bedeutung, welche die ggf. drohende Anklage disziplinar- oder berufsrechtlich oder in der Öffentlichkeit haben kann, eine traurige Groteske1. Der Verteidiger muss andererseits aber in jedem Stadium des Verfahrens im Auge behalten, ob und wann er mit dem Mandanten über die Vorund Nachteile eines Eingeständnisses etwa vorhandener Schuld beraten soll. Hier können bedeutende Chancen (46a StGB) einer günstigen Erledigung (Rz. 18, 437, 490 ff.) liegen.2 Bei Verfahren gegen Bundestags- und Landtagsabgeordnete sind die besonderen Bestimmungen des § 152a StPO und der Nr. 191, 192 ff. RiStBV zu beachten. Das Problem des Verteidigers im Anfangsstadium der Ermittlungen liegt 248 indes öfter nicht in seinem professionellen Agieren, sondern darin, dass er überhaupt Zugang zur Verteidigung findet (§§ 136 ff. StPO). Den Ermittlungsbehörden sind allerdings durch eine strenge Rechtsprechung eine Reihe von Verpflichtungen auferlegt, deren Einhaltung ggf. im Hinblick auf prozessuale Konsequenzen (Verwertung) vom Verteidiger sorgfältig zu überprüfen ist. Ihnen obliegt gem. § 136 StPO nämlich nicht nur die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über die Möglichkeit der Heranziehung eines Verteidigers (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO), sondern sie müssen darüber hinausgehend – bei Bedarf – die Beauftragung eines Verteidigers aktiv unterstützen. Dies gilt auch zu ungewöhnlichen Zeiten (Nacht, Wochenende, Feiertag). Zwar wird es dann schwierig sein, einen Verteidiger unter seiner Kanzlei- oder Privatadresse zu erreichen, jedoch sind die Ermittlungsbehörden verpflichtet, darüber hinaus an der Aktivierung des in vielen Städten eingerichteten anwaltlichen Not- bzw. Nachtdienstes mitzuwirken, insbesondere den Beschuldigten auf diese Möglichkeit hinzuweisen. Wird gegen diese Pflichten verstoßen, führt
1 Anders ist es, wenn die erhobene öffentliche Klage zurückgenommen wird (§ 467a Abs. 1 StPO) oder die Anzeige vorsätzlich oder leichtfertig falsch erstattet wurde (§ 469 StPO). 2 Vgl. i.E. die ausführliche Kommentierung von Fischer, § 46a StGB.
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Rz. 249
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
dies nach der strengen Rechtsprechung zur Unverwertbarkeit etwa erlangter Aussagen und Beweisergebnisse1. 249
Diese bilden die Grundlage für fast alle vorläufigen Maßnahmen, etwa die Anordnung der Haft oder die Entziehung der Fahrerlaubnis. Häufig werden die polizeilichen Protokolle vom Haftrichter kurzerhand verlesen. In der Hauptverhandlung werden die Niederschriften mindestens dann vorgehalten, wenn sich Abweichungen gegenüber der früheren Einlassung ergeben (Rz. 356, 550 f., 554, 583). Widersprüche treten nur zu leicht auf, ohne dass sie in jedem Falle auf Lüge beruhen oder gar eine Schuld beweisen. Kaum ein Mensch ist in der Lage, den Inhalt einer Vernehmung auch nach kurzer Zeit noch in allen Einzelheiten im Kopf zu haben.
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Ist der Verteidiger mandatiert, muss er sich also primär der Frage zuwenden, ob der Beschuldigte eine ordnungsgemäße Belehrung nach § 136 Abs. 1 StPO, insbesondere über sein Schweigerecht, das Recht zur Konsultation eines Verteidigers und ggf. Hilfe beim Erreichen eines Verteidigers, vor der Vernehmung erhalten hat. Mit im Protokoll häufig vorgedruckten formularmäßigen Vermerken (Nr. 45 Abs. 1 RiStBV) darf er sich nicht zufriedengeben, sondern muss mit dem Klienten den Vorgang im Einzelnen nachvollziehen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zu den Folgen der Verletzung des Belehrungsgebots sowie der Verpflichtung der Ermittlungsbehörden, dem Beschuldigten auf Wunsch einen Verteidiger zu „beschaffen“, ist streng2. Sie wird in jedem Einzelfall der Auswertung bedürfen, wobei das Erfordernis der Geltendmachung des Verwertungsverbots durch ausdrücklichen Widerspruch der Verteidigung bezüglich jeder einzelnen Angabe des Beschuldigten bzw. jedes einzelnen Vernehmungsbeamten3 in der Hauptverhandlung spätestens im Zeitpunkt des § 257 StPO nicht übersehen werden darf4 (Rz. 529)! Hierbei handelt es sich übrigens um ein Gebiet, in dem der Verteidiger aufgerufen ist, in geeigneten Fällen sich um eine Fortentwicklung des Rechts der Aussagefreiheit zu bemühen. Die Erfahrung lehrt, dass es für einen Beschuldigten in aller Regel so gut wie unmöglich ist, von den polizeilichen Niederschriften seiner Vernehmung loszukommen. Weicht er später von ihnen ab, so werden in der Re1 BGH v. 13.5.1996 – GSSt 1/96, BGHSt. (GrS) 42, 139 (147); EGMR v. 8.2.1996 – 18731/91 – John Murray/Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1996, 587 (592); BGH v. 12.1.1996 – 5 StR 756/94, BGHSt. 42, 15; BGH v. 11.8.2005 – 5 StR 200/05, NStZ 2006, 114; i.Ü. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 136 StPO Rz. 10 ff. – auch zur „informatorischen Befragung“; vgl. aber auch BayObLG v. 2.11.2004 – 1 St RR 109/04, wistra 2005, 239; BGH v. 18.10.2005 – 1 StR 114/05, NStZ 2006, 236 m. Anm. Jahn, JuS 2006, 273. 2 Vgl. Rz. 248. 3 Dazu i.E. BGH v. 3.12.2003 – 5 StR 307/03, NStZ 2004, 389; vgl. ferner http:// www.ja-aktuell.de/cms/website.php?id. 4 BGH v. 3.12.2003 – 5 StR 307/03, NStZ 2004, 389; BGH v. 12.1.1996 – 5 StR 756/94, NJW 1996, 1547.
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Die speziellen Aufgaben
Rz. 252
gel die Verhörpersonen über das Zustandekommen und Inhalt der polizeilichen Niederschrift als Zeugen vernommen. Der Beschuldigte unterschreibt erfahrungsgemäß die polizeilichen Protokolle und genehmigt sie ausdrücklich, obwohl sie auch im Falle eines Geständnisses entgegen Nr. 45 Abs. 2 RiStBV vielfach nicht mit seinen Worten und in seiner Ausdrucksweise abgefasst zu werden. Auch geben die Niederschriften meist lediglich Ergebnisse der Vernehmung wieder. Sie halten weder den Gang des Verhörs im Einzelnen fest noch dokumentieren sie die zeitlich oft umfänglichen „Vorgespräche“ vor Beginn der niedergeschriebenen Vernehmung. Gerade hieraus können sich aber nicht selten Rückschlüsse auf das Zustandekommen der Aussage, die äußeren Umstände der Vernehmung und den Wahrheitsgehalt der angeblichen Aussage ziehen lassen. Ein Protokoll von wenigen Seiten bei einer Vernehmungsdauer von mehreren Stunden muss beim Verteidiger immer ein Alarmsignal auslösen. Besonders misstrauisch sollte der Verteidiger gegenüber polizeilichen 251 Formulierungen sein, nach denen der Beschuldigte etwas „zugegeben“ hat. Oft handelt es sich nicht um Geständnisse, sondern um bloße Angaben von Tatsachen. Sie erwecken den Eindruck, als habe der Beschuldigte eine Tat gestehen wollen. („Ich gebe zu, 10 Minuten nach der Tat in einer Entfernung von 1 km vom Tatort gestellt worden zu sein.“) Nicht selten finden solche Formulierungen ihren Grund in dem Wunsch des Polizeibeamten, ein Geständnis protokollieren zu können. Auch die lapidare Bemerkung „Der Beschuldigte räumte das Tatgeschehen ein“ oder „gab die Tat zu“ kann für den Verteidiger ein Alarmsignal sein. Die Polizei mag sich dabei noch im Rahmen ihrer Pflicht zur Ermittlung 252 strafbarer Handlungen bewegen. Aus verständlichen und beachtenswerten Gründen legt sie Wert darauf, schon bei der ersten Vernehmung den Beschuldigten zu überführen. Dabei darf sie auch die Wirkung einer Überraschung ausnutzen. Der Beschuldigte hingegen ist an der Sicherung seines Individualrechtes interessiert, dessen Schutz vordringliche Aufgabe des Verteidigers auch im Ermittlungsverfahren ist (Rz. 9 ff.). Daraus ergeben sich notwendigerweise Spannungen und Gegensätzlichkeiten. Um sie zu überwinden, greift der Polizeibeamte häufig in der Vernehmungstechnik zu Mitteln, die zwar noch nicht unzulässig sein müssen, die aber doch geeignet sind, auf die Willensentschließung des Beschuldigten entscheidend einzuwirken1. So wird dem Beschuldigten mehr oder weniger eindringlich zugeredet, die Wahrheit zu sagen, bei der Feststellung des Sachverhaltes zu helfen, sein Gewissen und seine Lage zu erleichtern, nichts zu verschweigen und dergleichen mehr. Obwohl der Beweiswert derartiger Geständnisse, die manchmal nur durch den Überraschungseffekt ausgelöst sind, nicht überschätzt werden sollte, steht doch fest, dass die Unrichtigkeit von Geständnisprotokollen kaum ein1 Vgl. hierzu Beulke, StV 1990, 182; Puppe, List im Verhör des Beschuldigten, GA 1978, 289 ff.
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Rz. 253
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
mal zu beweisen ist. Einem „Geständnis“ wird noch immer geglaubt, schon deshalb, weil der Beschuldigte (häufig neben anderen) sich dabei (auch) selbst belastet – vielleicht um sich umso besser an anderer Stelle zu entlasten. Es wird selten genügend geprüft. Dabei wird viel zu wenig beachtet, wie häufig falsche Geständnisse vorkommen. Diese können ganz verschiedene Ursachen haben, z.B. Furcht vor der (Fortdauer der) Untersuchungshaft (Rz. 342), das Bestreben, den Ermittlungsbehörden im eigenen Interesse („Absprache“ oder andere Vorteile, z.B. nach §§ 154, 154a StPO) gefällig zu sein oder auch nur das „unnormale Verhalten“ Gerichtsfremder im Prozess1. 253
Die Grenzen des § 136a StPO werden mit Hinweisen der Polizei, die die Geständniswilligkeit fördern sollten, nicht ohne weiteres überschritten. Die Rechtsprechung sieht in der Regel hierin noch keine unzulässigen Vernehmungsmittel, sondern lediglich den mahnenden Vorhalt von Umständen und Gründen, die dem Beschuldigten die Beurteilung seiner Lage ermöglichen sollen. Auch die Androhung von statthaften Maßnahmen, etwa der vorläufigen Festnahme, der Verhaftung oder der Durchsuchung, wird für zulässig gehalten2. Anders wäre es nur, wenn ein Polizeibeamter die Androhung allein mit dem Leugnen des Beschuldigten begründen würde3. Da die Rechtsprechung den § 136a StPO eng auslegt und nur massive Beeinträchtigungen anerkennt, kommt es in der Praxis selten vor, dass eine Aussage nachweisbar auf Drohung, Quälerei oder Täuschung zurückzuführen ist und deshalb nicht verwertet werden darf4. Unzulässiger Zwang liegt indessen vor, wenn einem Beschuldigten die Verschonung von der Untersuchungshaft für den Fall eines Geständnisses zugesagt wird und der Vernehmende weiß, dass der Beschuldigte auf Haftentlassung drängt5. Kaum angreifbar ist allerdings die Praxis, für den Fall einer umfassenden Aussage (= Geständnis) die Entlassung aus der Untersuchungshaft wegen Wegfalls der Verdunkelungs- oder sogar Fluchtgefahr (!) in Aussicht zu stellen. Auch muss der Verteidiger prüfen, ob der Mandant nicht über Umfang und Bestehen seines Schweigerechts getäuscht worden ist. Dann darf die Einlassung nicht verwertet werden. Freilich erkennt die Rechtsprechung nur eine bewusste Täuschung an, nicht auch die nur versehentlich unterlassene Belehrung6 (Rz. 293). Alle diese Fragen sind nach den Erfahrungen der Praxis nur zu klären, wenn der Verteidiger die Einzelheiten der Vernehmung unnachgiebig erforscht 1 2 3 4
Peters, Untersuchungen zum Fehlurteil, S. 14. BGH, GA 55, 246; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a StPO Rz. 22. BGH bei Dallinger, MDR 1953, 723. Deutlich BGH v. 14.9.1965 – 5 StR 307/65, BGHSt. 20, 268; i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a StPO Rz. 4 ff. 5 BGH v. 14.9.1965 – 5 StR 307/65, BGHSt. 20, 268. 6 BGH v. 7.6.1983 – 5 StR 409/81, BGHSt. 31, 395 (400); BGH v. 24.8.1988 – 3 StR 129/88, BGHSt. 35, 328 (329); zum Begriff der Täuschung einschränkend: BGH v. 13.5.1996 – GSSt 1/96, NJW 1996, 2940 (2942); BGH v. 7.1.1997 – 1 StR 666/96, NStZ 1997, 251.
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Die speziellen Aufgaben
Rz. 254
– auch wenn er sich dabei häufig den Unwillen der Justizorgane zuziehen wird. In Verkehrsstrafsachen kann die Vernehmung an der Unfallstelle unter § 136a StPO fallen, falls der Beschuldigte nachweisbar unter Schockwirkung stand. Der Beschuldigte steht aber nicht nur diesen Fragen meist ratlos gegenüber. Schon die Tatsache, dass überhaupt gegen ihn staatliche Ermittlungen geführt werden, macht ihn häufig unsicher und unbeholfen, auch wenn er sonst gewandt ist und nichts zu verbergen hat. Das Verfahren wirkt wie ein Schock und trifft vor allem denjenigen, der zu Unrecht verdächtigt wird. Der Schuldige weiß sich meist besser zu helfen. Er kennt seine Rechte oft aus Erfahrung: Er merkt, worauf der Vernehmende hinaus will. Der Unschuldige hingegen redet häufig zu viel. Er ist empört, wenn er von dem Verdacht in Kenntnis gesetzt wird, und ist nur zu gern bereit, sofort auszusagen, weil er ein gutes Gewissen hat und glaubt, durch seine Aussage die Sache „erledigen“ zu können. Veranlasst wird er dazu zuweilen durch den Hinweis des Polizeibeamten, der Beschuldigte könne sich den „Skandal“ der Verhaftung und die Schädigung seines Rufes nicht leisten. Dabei übersieht er jedoch vielfach, dass er die Tatsachen und die sich daraus ergebenden rechtlichen Folgen, auf die es ankommt, nicht kennt und dass die Wahrheit für ihn häufig ungünstiger ist als die Unwahrheit (Beispiel: Der Beschuldigte bestreitet den Willen zur Selbstbegünstigung). Auch der unschuldig Verdächtigte sagt häufig die Unwahrheit, etwa aus Angst vor dem Verdacht, aus Scham vor dem Aufsehen durch das Verfahren oder in der Absicht, eine andere Person zu schützen1. Dass sich der Beschuldigte durch ein solches Verhalten selbst in Verdacht bringt, merkt er oft erst zu spät. Aus diesen Gründen steht der Verteidiger im Ermittlungsverfahren oft vor einer schwierigen Aufgabe. Die erste Frage ist meist: Soll er die Ermittlungen der Polizei abwarten, oder soll er alsbald aktiv werden? Was richtig ist, hängt vom Einzelfall ab (vgl. Rz. 233 ff.). Soviel kann aber gesagt werden: Wenn es darum geht, entlastende Umstände unverzüglich aufklären zu lassen, darf der Verteidiger nicht zögern, sie der Ermittlungsbehörde (zum richtigen Zeitpunkt!) vorzutragen. Das weit verbreitete polizeiliche Misstrauen sollte ihn nicht stören. Vielfach gelingt es auf diese Weise, eine Anklage zu verhindern. Auch kann es im Einzelfall pflichtwidrig sein, entlastendes Beweismaterial zurückzuhalten. Was vorstehend zu den Ermittlungshandlungen der Polizei und der Ver- 254 teidigeraufgabe im polizeilichen Ermittlungsverfahren dargestellt ist, trifft im Prinzip auch für das Verfahren der Staatsanwaltschaft zu, soweit diese die Ermittlungen selbst betreibt. Das gilt besonders auch für die staatsanwaltlichen Vernehmungen und deren Niederschriften (§§ 161a, 163a, 168b StPO). Sie haben für das Verfahren eine wesentlich stärkere Bedeutung, weil das der Staatsanwaltschaft gebührende Vertrauen in ihre 1 Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozess, S. 53.
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Rz. 255
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Objektivität höher einzustufen ist als die Sachgerechtigkeit polizeilichen Vorgehens. Der Verteidiger ist aber dadurch nicht von seinen Funktionen entbunden. Er hat es indessen im Umgang mit der Staatsanwaltschaft wesentlich leichter als mit der Polizei. Er ist oft bei den Sachbearbeitern der Staatsanwaltschaft und ihren Vorgesetzten bekannt und kann mit dem entsprechenden Vertrauen rechnen. Der Staatsanwalt ist wie er selbst streng an Gesetz und Recht gebunden. Er hat in jedem Stadium des Verfahrens seiner vornehmsten Pflicht zu genügen, auch die den Beschuldigten entlastenden Tatsachen zu ermitteln (§ 160 Abs. 2 StPO). Das alles ist durch den Verteidiger nutzbar zu machen, befreit ihn aber nicht von seiner Pflicht, seinerseits in eigener Verantwortung seinen Obliegenheiten zu genügen und alle seinem Mandanten günstigen Umstände in das Verfahren einzufügen. Er darf sich in keinem Fall darauf verlassen, dass die Staatsanwaltschaft schon alles berücksichtigen werde. Leider verfahren viele Verteidiger nach diesem gefährlichen „Vertrauensgrundsatz“ und verfehlen ihre Aufgabe. Eine besonders schwere Verfehlung begeht der Verteidiger, der schwerwiegendes Entlastungsmaterial oder durchschlagende (Rechts-)Argumente ohne zwingenden Grund zurückhält, um sich in der Hauptverhandlung einen spektakulären und erfolgreichen Auftritt zu sichern. Damit wird seine Schutzaufgabe (Rz. 9 ff.) geradezu pervertiert. 255
Wie stets hat der Verteidiger darauf zu achten, die Grenzen der zulässigen Verteidigung nicht zu überschreiten und damit aus der Verteidigung in die Strafvereitelung zu geraten. Im Einzelnen sind diese Gefahr und ihre Vermeidung in dem Abschnitt „Verteidigung und Strafvereitelung“ (Rz. 59 ff.) dargestellt, wobei der Bereich des Ermittlungsverfahrens besonders berücksichtigt ist (Rz. 60 ff.). Darauf wird namentlich hinsichtlich Beratung und Belehrung des Mandanten über Einlassung, Vernehmung, Geständnis und Widerruf sowie des Zusammenwirkens mit Mitverteidigern („Verteidigerbesprechungen“ – Rz. 72) verwiesen. Die vorgelagerte Frage, ob und wie das Mandat überhaupt anzunehmen oder abzulehnen ist oder wieder abgegeben werden soll, kann ebenso schwierig sein. Dazu wird auf den besonderen Abschnitt „Verteidiger und Mandant“ verwiesen (Rz. 119 ff.). Ein besonderes Problem ist auch die Verteidigung des schuldigen Angeklagten (Rz. 77 ff.), insbesondere, wenn dieser sich dem Anwalt offenbart, bei Staatsanwaltschaft und Gericht aber bestreiten will. 3. Verbindung zu den Organen der Strafverfolgung Literatur: Krause, Einzelfragen zum Anwesenheitsrecht des Verteidigers im Strafverfahren, StV 1984, 169; Nelles, Der Einfluss der Verteidiger auf Beweiserhebungen im Ermittlungsverfahren, StV 1986, 74; Richter II, Zum Bedeutungswandel des Ermittlungsverfahrens, StV 1985, 382; Schaefer, Ch., Kooperation im Ermittlungsverfahren, AnwBl. 1998, 67; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 13, 2004; Thomas, Erweiterte Teilhaberechte des Verteidigers im reformierten Ermittlungsverfahren, AnwBl. 1986, 56; Wagner, Rechtliches Gehör im Ermittlungsverfahren, ZStW 109
178
Verbindung zu den Organen der Strafverfolgung
Rz. 257
(1997), 545; Weihrauch/Bosbach, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2011.
Um nichts zu versäumen, sollte der Verteidiger möglichst frühzeitig zu 256 den Ermittlungsbehörden Verbindung aufnehmen (Rz. 235). In der Folgezeit sollte er den Kontakt nicht abreißen lassen und so für möglichst weitgehende Information sowie Einfluss auf die Ermittlungen sorgen. Das wird unter Umständen von den Ermittlungsbehörden gerne gesehen, manchmal aber auch nur geduldet. Der Verteidiger stößt insbesondere bei den Polizeidienststellen häufig auf Ablehnung. Er sollte sich dadurch aber nicht abschrecken lassen. Wenn der Beamte merkt, dass er es mit einem seriösen Anwalt zu tun hat, wird er nach und nach aus sich herausgehen. Er wird vor allem erkennen, dass der Verteidiger eine unvergleichliche Hilfe leisten kann, wenn es darum geht, den Beschuldigten im eigenen Interesse zur wahrheitsgemäßen Aussage zu veranlassen, statt in starrem Leugnen zu verharren. Die Polizei wird alsbald auch Hinweise und Anträge des Verteidigers zu weiteren Ermittlungen positiv aufnehmen, wenn sie damit gute Erfahrungen macht. Die baldige Kontaktaufnahme mit der Polizei ist für den Verteidiger auch zweckmäßig, um den Gegenstand der Beschuldigung zu erfahren, wenn sich nicht aus dem Bericht des Mandanten volle Klarheit erzielen lässt. Er sollte die Polizei nach dem Stand des Ermittlungsverfahrens fragen, wenn dies notwendig ist, um Entscheidungen über Aussageverweigerung oder schriftliche Äußerung zu treffen. Er sollte auch die Feststellung versuchen, wie die Polizei eine schriftliche Aussageverweigerung auffassen wird, ob sie daraus Folgerungen etwa für Haftanträge o.Ä. ziehen würde. Bezüglich der Verbindung zur Staatsanwaltschaft ist zunächst die Frage 257 wichtig, ob der Verteidiger seine Bestellung als Wahlverteidiger sofort bei der Staatsanwaltschaft anzeigen soll, wenn er sich nicht schon bei der Polizei gemeldet hat. Vielfach ist es zweckmäßig, damit zunächst zu warten. Die Erfahrung lehrt, dass sehr frühzeitig eingesetzte Verteidigung auch misstrauisch machen kann (Rz. 245). Außerdem unterstellt der Staatsanwalt sofort (meist zu Recht), dass Erklärungen und Eingaben de Beschuldigten vom Verteidiger beeinflusst oder sogar formuliert sind. Der Verteidiger muss also abwägen, was im Einzelfall richtig ist. Die unverzügliche Anzeige der Bestellung ist immer dann vorteilhaft, wenn es darauf ankommt, möglichst schnell Akteneinsicht zu erhalten (Rz. 259 ff., 295) oder sonst im staatsanwaltschaftlichen Verfahren unmittelbar mitzuwirken. In jedem Fall ist aber der Mandant darüber zu belehren, dass er die Verteidigerbestellung nicht wahrheitswidrig verschweigen soll, wenn er danach gefragt wird. Er könnte sich damit generell unglaubwürdig machen. Auch wenn mehrere Personen um ihre Verteidigung in derselben Sache bitten, kann es mit Rücksicht auf § 146 StPO zweckmäßig sein, nicht sofort für alle Mandanten Verteidiger zu bestellen. Hier hat es sich bewährt, zunächst nur für einen Betroffenen einen Verteidiger auftreten zu 179
Rz. 257
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
lassen und die weiteren Bestellungen erst dann vorzunehmen, wenn geklärt ist, welche Personen überhaupt als Beschuldigte angesehen werden und wo ggf. der Schwerpunkt der Vorwürfe liegt (Rz. 244). Bei der Staatsanwaltschaft sollte man grundsätzlich mit dem Sachbearbeiter selbst das Gespräch suchen. Nur in Ausnahmefällen sollte dessen Vorgesetzter angesprochen werden, wenn es wegen der Bedeutung der Sache angezeigt erscheint oder wenn sich bei der Besprechung mit dem Sachbearbeiter Schwierigkeiten ergeben. In diesem Falle kann die Unterredung mit dem Vorgesetzten zu dem Zweck geführt werden, eine Anweisung für den Sachbearbeiter zu erreichen, dessen Bedenken zu zerstreuen oder aber im Wege der Dienstaufsichtsbeschwerde vorzugehen (Rz. 1091). Ist das Verhältnis zum Dezernenten der Staatsanwaltschaft belastet, kann auch eine „Bitte um Vermittlung“ an den Vorgesetzten sehr nützlich sein. Ermittelt der Staatsanwalt selbst, wird der Verteidiger sich alsbald über den Gegenstand der Beschuldigung informieren. Im Übrigen ist es wichtig, von der Staatsanwaltschaft den jeweiligen Stand der Ermittlungen zu erfahren und möglichst schon vor deren Abschluss Akteneinsicht zu erhalten (Rz. 266). Auch wird der Staatsanwalt bei vernünftiger Zusammenarbeit gelegentlich bekanntgeben, welche Beweiserhebungen er beabsichtigt. Ein souveräner Staatsanwalt, der keineswegs so selten ist wie zuweilen angenommen, wird sich einem vernünftigen Gespräch kaum je verschließen. Das kann besondere Bedeutung haben für die Vernehmung des Beschuldigten (§ 163a Abs. 3 StPO), von Zeugen und die Anhörung von Sachverständigen (§ 161a StPO). Wird der Mandant vom Staatsanwalt vernommen, so sollte der Verteidiger von seinem Anwesenheitsrecht (§ 163a Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 168c Abs. 1 StPO – Rz. 295) stets Gebrauch machen. Mindestens ebenso wichtig ist die Mitwirkung des Verteidigers bei der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen. Hier besteht zwar kein gesetzlicher Anspruch des Verteidigers auf Teilnahme, jedoch schließt das Gesetz die Mitwirkung des Verteidigers auch nicht aus1. Sachliche Gründe, den Verteidiger nicht zuzulassen, dürften in aller Regel nicht bestehen, zumindest dann nicht, wenn bereits Akteneinsicht gewährt worden ist oder die Beweiserhebung auf Antrag der Verteidigung erfolgt. Der Verteidiger sollte auf seine Anwesenheit drängen und sie bei Weigerung des Sachbearbeiters ggf. durch den Vorgesetzten zu erreichen suchen. In der Praxis besteht das Problem in der Regel darin, überhaupt zu erfahren, dass und wann der Staatsanwalt eine Vernehmung durchführt. Bevor der Verteidiger sich für oder gegen eine umfassende Stellungnahme zum Ermittlungsergebnis entscheidet, sollte er versuchen, die Ansicht des Staatsanwalts genauer festzustellen.
1 Dazu Wagner, ZStW 109 (1997), 548 ff.; anders bei der Vernehmung des Mitbeschuldigten (str.) BGH v. 20.2.1997 – 4 StR 598/96, StV 1997, 234; OLG Karlsruhe v. 9.11.1995 – 2 VAs 18/95, StV 1996, 302 m. Anm. Theisen in JR 1996, 436.
180
Akteneinsicht
Rz. 258
Sobald der Beschuldigte die Ladung zur richterlichen Vernehmung erhält, 258 sollte sich der Verteidiger mit dem Ermittlungsrichter in Verbindung setzen. Es ist dies insbesondere geboten, wenn der Verteidiger vom Gegenstand der Beschuldigung keine sichere Kenntnis hat. Auch sollte er mit dem Richter darüber sprechen, ob ein Haftbefehl zu erwarten ist, falls der Beschuldigte nicht aussagt oder sich schriftlich äußert (Rz. 295, 344). Auch bei allen anderen richterlichen Ermittlungshandlungen (§ 168c Abs. 2, § 168d Abs. 1 StPO) hat der Verteidiger einen Anspruch auf Teilnahme1. Es kann zweckmäßig sein, den Wunsch nach rechtzeitiger Terminsbenachrichtigung (§ 168c Abs. 5 StPO – auch für den Fall des § 168c Abs. 3 StPO) aktenkundig zu machen, um einschlägigen „technischen Pannen“ vorzubeugen und Terminkollisionen zu vermeiden. Ein Anspruch auf Terminverlegung soll nach § 168c Abs. 5 S. 3 StPO nicht bestehen, jedoch ist eine Verlegung immerhin möglich. Der Verteidiger sollte also ggf. bei Verhinderung des Klienten oder eigener Verhinderung durchaus den Verlegungsantrag mit eingehender (und wahrheitsgemäßer) Begründung stellen und das Gericht darauf hinweisen, dass angesichts der Bedeutung des Verfahrens und der Notwendigkeit des Verteidigerbeistandes sowie letztlich auch im Interesse der Beschleunigung der Sache eine Verlegung des Termins angezeigt ist. In diesem Zusammenhang kann ein Hinweis darauf, dass der Beschuldigte zwar zu einer Aussage bereit ist, jedoch nur in Gegenwart seines Verteidigers, hilfreich sein. Damit hat der Verteidiger ein gewisses „Druckmittel“ in der Hand, um zu einer einvernehmlichen Terminsbestimmung zu kommen, jedoch wohl nur dann, wenn die Staatsanwaltschaft ein echtes Interesse an der Aussage des Beschuldigten hat. 4. Akteneinsicht Literatur: Bahnsen, Das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung im Strafverfahren, 1996; Beulke, Das Einsichtsrecht des Strafverteidigers in die polizeilichen Spurenakten, FS Dünnebier (1982), S. 285; Burkhard, Zum Recht des Strafverteidigers auf Akteneinsicht im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, wistra 1996, 171; Götz, Kriminalpolizeiliche Spurenakten, Kriminalistik 1988, 481; Groh, Zum Recht des Strafverteidigers auf Einsichtnahme in staatsanwaltliche Ermittlungsakten, DRiZ 1985, 52; Jahn, „Parität des Wissens“? – Die konventionskonforme Auslegung der Neuregelung des Akteneinsichtsrechts (§ 147 StPO), FS Imme Roxin (2012), S. 585 ff.; Kempf, Zur verfassungsrechtlichen Entwicklung des Akteneinsichtsrechts, StraFo 2004, 299; Marberth-Kubicki, Die Akteneinsicht in der Praxis, StraFo 2003, 366; Mehle/Hiebl, Rechtsschutz gegen Verweigerung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft, StV 1995, 571; Meyer-Goßner, Die Behandlung kriminalpolizeilicher Spurenakten im Strafverfahren, NStZ 1982, 353; Neuhaus, Das Opferrechtsreformgesetz 2004, StV 2004, 620; Riedel/Wallau, Das Akteneinsichtsrecht des „Verletzten“ in Strafsachen – und seine Probleme, NStZ 2003, 393; Taschke, Die behördliche Zurückhaltung von Beweismitteln im Strafprozessrecht, 1989; Wallau, Rechtsschutz gegen die Akteneinsicht des „Verletzten“, FS Dahs (2005), S. 509; Wasserburg, Das Einsichtsrecht des Anwalts in die kriminalpolizei1 Vgl. aber BGH v. 2.5.1979 – 2 StR 99/79, BGHSt. 29, 1 sowie die Hinweise in Rz. 301.
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Rz. 259
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
lichen Spurenakten, NJW 1980, 2440; Weihrauch/Bosbach, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2011, Rz. 92 ff.; Welp, „Probleme des Akteneinsichtsrechts“, FG Karl Peters (1984), S. 309; Welp, Rechtsschutz gegen verweigerte Akteneinsicht, StV 1986, 446.
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Wichtigstes Privileg des Verteidigers im Ermittlungsverfahren ist das in § 147 StPO geregelte Recht zur Akteneinsicht1. Es gewährt ihm weitgehende und sehr wirksame Möglichkeiten zum Schutze des Verfolgten. Allein die Aktenkenntnis öffnet den Weg zur sachlichen Diskussion mit dem Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft und zu dem Ziel, die Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Verfahrens zu bringen. a) Gesetzliche Regelung
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Der Verteidiger hat grundsätzlich das Recht zur Akteneinsicht in allen Verfahrensabschnitten (§ 147 StPO), mit Ausnahme des polizeilichen Ermittlungsverfahrens. Das gilt auch, wenn die Vollmachtsurkunde (noch) nicht vorgelegt ist, die Bevollmächtigung selbst aber nicht zweifelhaft ist.2 Er darf die Akten und Beiakten, die dem Gericht vorliegen oder im Fall der Anklageerhebung vorzulegen wären, die also den anderen Rechtspflegeorganen bekannt sind, einsehen und amtlich verwahrte Beweisstücke besichtigen. Allerdings hat er keinen Anspruch darauf, dass die Akten ständig bereitgehalten werden. Es ist daher zweckmäßig, die Absicht der Akteneinsicht auf der Geschäftsstelle vorher anzukündigen. Der Fortgang des Verfahrens soll durch die Akteneinsicht nicht unangemessen verzögert werden. Freilich muss eine Verzögerung in Kauf genommen werden, wenn anders die Verteidigung nicht sachgerecht geführt werden kann. Darauf muss der Verteidiger bestehen. Die in der Praxis verbreitete (formularmäßige) Erwiderung auf Einsichtsanträge, die Akten seien „versandt“ oder „nicht entbehrlich“, darf er jedenfalls (im Wiederholungsfalle) nicht hinnehmen, sondern sollte eine förmliche Entscheidung darüber herbeiführen, ob die Voraussetzungen des allein die Verweigerung rechtfertigenden § 147 Abs. 2 StPO vorliegen. Einen praktischen Kompromiss erreicht man übrigens nicht selten mit dem Angebot, die Akten durch Boten abholen und binnen 24 oder 48 Stunden zurückbringen zu lassen. Nur in besonderen Verfahrenslagen kann er sich mit Akteneinsicht auf der Geschäftsstelle begnügen, so in Haftsachen (Rz. 344) oder kurz vor bzw. während der Hauptverhandlung.
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Die Einsicht in private oder behördliche Beiakten steht dem Verteidiger ebenfalls frei. Die Staatsanwaltschaft darf dem Gericht nur solche Aktenteile und Beweisstücke vorlegen, die Bestandteile der Akten sind und 1 Der EuGMR v. 17.2.1997 – 10/1996/629/812, NStZ 1998, 429 m. Anm. Deumeland, billigt allerdings dem Beschuldigten selbst ebenfalls ein Recht auf Akteneinsicht zu. Das gilt jedoch nicht, wenn er einen Verteidiger hat, OLG Frankfurt v. 10.7.2001 – 3 Ws 656/01, NStZ-RR 2001, 374. 2 BVerfG v. 14.9.2011 – 2 BvR 449/11, AnwBl. 2012, 280.
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Akteneinsicht
Rz. 263
damit auch dem Verteidiger zugänglich werden (vgl. Nr. 111 Abs. 5 RiStBV). Das Verfahren, derartige Akten „neben dem Vorsitzenden liegen zu lassen“, ohne sie zum Gegenstand der Verhandlung zu machen, muss der Verteidiger beanstanden. Solche „heimlichen Beiakten“ können die richterliche Überzeugungsbildung in gefährlicher Weise beeinflussen. Im Steuerstrafverfahren bezieht sich die Befugnis des Verteidigers auch auf sämtliche Akten, die das Finanzamt bei seiner Entscheidung berücksichtigen will. Schließt eine Behörde im Einzelfall die Einsicht in ihre beigezogenen Akten aus, so darf deren Inhalt nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden1. Besonderen Schwierigkeiten kann sich der Verteidiger gegenübersehen, 262 wenn polizeiliche Spurenakten dem Gericht nicht vorgelegt werden. Ein Anspruch auf Einsicht nach § 147 StPO soll dann nicht bestehen2. Ein schlüssiger Beweisantrag kann in der Regel nicht formuliert werden, weil der konkrete Inhalt der einzelnen Spurenakte unbekannt ist. Es bleibt daher nur der unsichere Weg des Beweisermittlungsantrages (Rz. 692), dem das Gericht nur im Rahmen seiner allgemeinen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) nachgehen muss, wenn der aufzuklärende Tatsachenkomplex einigermaßen konkretisiert werden kann3. Jedenfalls in den Fällen, in denen der Angeklagte seine Täterschaft bestreitet und Ermittlungen gegen verschiedene Tatverdächtige geführt worden sind, dürfen weder Verteidigung noch Gericht auf die Auswertung der Spurenakten verzichten4. Eine solche Einschränkung der richterlichen Erkenntnismöglichkeit durch die Ermittlungsbehörde kann nur im Ausnahmefall mit Rücksicht auf höherrangige rechtliche Interessen toleriert werden, wobei ein strenger Maßstab anzulegen ist. Das Recht auf Akteneinsicht muss aber darüber hinaus auch die für das 263 Verfahren gespeicherten oder sonst dafür ausgewerteten Daten (§ 98b Abs. 3 StPO) erfassen. Würde man aus dem Einsichtsrecht die elektronischen Dateien ausklammern, wäre es nicht nur inkomplett, sondern könnte dadurch unterlaufen werden, dass „sensible“ Daten/Ermittlungsergebnisse nicht aktenkundig gemacht, sondern – jedenfalls bis zum Abschluss der Ermittlungen – nur in der EDV gespeichert würden. Der umfassende Einsatz von EDV-Anlagen bei Betroffenen einerseits und in der 1 Näher Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 13 ff.; eine Ausnahme kommt nur im Falle des § 96 StPO in Betracht; dagegen begründet allein der Charakter der Vertraulichkeit keine Begrenzung des Akteneinsichtsrechts, BGH v. 7.3.1996 – 1 StR 688/95, NJW 1996, 2171 = NStZ 1997, 43. 2 So BGH v. 26.5.1981 – 1 StR 48/81, BGHSt. 30, 131 (139 f.); aber BVerfG v. 12.1.1983 – 2 BvR 864/81, StV 1983, 177 (178): Spurenakten müssen dann Gericht (und Verteidigung) vorgelegt werden, wenn Inhalt für etwaige gegen Beschuldigten zu verhängenden Rechtsfolgen von irgendeiner Bedeutung sein kann. Weitere Hinweise bei Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 18; BGH v. 11.3.2003 – 3 StR 28/03, NStZ 2003, 666. 3 Vgl. BGH v. 26.5.1981 – 1 StR 48/81, NStZ 1981, 361. 4 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 18.
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Rz. 264
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Strafrechtspflege sowie der Polizei andererseits muss deshalb zur Folge haben, dass auch das Einsichts-/Informationsrecht des Verteidigers in fortgebildeter Auslegung des § 147 StPO bis in diese Tiefe reicht. Auf Antrag sind daher Auskünfte über EDV-gespeicherte Daten konkreter Verfahrensrelevanz zu erteilen1. 264
Schließlich umfasst das Akteneinsichtsrecht auch die Kopie von Videoaufzeichnungen2.
265
Es empfiehlt sich, den Antrag auf Akteneinsicht ausdrücklich auf „alle Hauptakten, Beiakten, Beweismittelakten, Spurenakten usw.“ zu erstrecken sowie auf Informationen über etwa elektronisch gespeicherte verfahrensrelevante Daten. Es kommt nämlich vor, dass nur ein Teil der Akten ausgehändigt wird, ohne dass die Existenz weiterer Verfahrensakten erkennbar ist. Auch deshalb sollte man bei Rückgabe der Akten in einem Begleitschreiben genau festhalten, welche Aktenstücke vorgelegen haben. Später etwa notwendig werdende Anträge auf Verlängerung von Fristen oder auf Vertagung können angesichts des umfassenden früheren Antrags dann kaum zurückgewiesen werden. – Es ist grundsätzlich nicht, wie Richter gelegentlich meinen, „Sache des Verteidigers, dafür zu sorgen, dass er alle Akten und Unterlagen bekommt“3.
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Sobald der Staatsanwalt den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt hat, hat der Verteidiger einen unbeschränkten Anspruch auf Akteneinsicht. Die Versagung der Akteneinsicht und der Besichtigung der Beweisstücke darf nur ausnahmsweise und vor Abschluss der Ermittlungen (§ 147 Abs. 2 StPO) erfolgen, wenn dadurch der Untersuchungszweck gefährdet wird (Rz. 273). In diesem Falle ist die Staatsanwaltschaft bei Abschluss der Ermittlungen zu einer ausdrücklichen Mitteilung an den Verteidiger verpflichtet, dass die Akten nunmehr unbeschränkt eingesehen werden können (§ 147 Abs. 6 S. 2 StPO). Für die zeitweilige Ablehnung der Akteneinsicht kann es ausnahmsweise objektive Gründe geben, die nach dem Stand des Verfahrens gerechtfertigt sind, z.B. die Vorbereitung überraschender Untersuchungshandlungen, etwa einer Durchsuchung oder einer Haftanordnung. Manchmal gewährt der Staatsanwalt trotzdem Akteneinsicht (nach Entnahme der einschlägigen Vorgänge), wenn er an einer Stellungnahme der Verteidigung besonders interessiert ist oder um seinen Standpunkt zu überprüfen. Dagegen rechtfertigen ermittlungstaktische Erwägungen der Staatsanwaltschaft die Verweigerung nicht, z.B. die Absicht, neue Er1 Näher dazu Weihrauch/Bosbach, Rz. 101; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 18a m.N. 2 OLG Stuttgart v. 12.11.2002 – 4 Ws 267/2002, StV 2003, 17 m.N.; OLG Koblenz v. 10.7.2003 – 1 Ws 425/03, StV 2003, 608. 3 Nach BGH v. 21.9.2000 – 1 StR 634/99, StV 2001, 4 ist das Gericht sogar ggf. verpflichtet, dem Verteidiger von Amts wegen (ergänzende) Akteneinsicht zu gewähren; zur Revisionsrüge unzulänglicher Akteneinsicht BGH v. 11.2.2014 – 1 StR 355/13, NStZ 2014, 347.
184
Akteneinsicht
Rz. 268
mittlungsergebnisse dem Beschuldigten oder Zeugen in einer bevorstehenden Vernehmung überraschend vorzuhalten. Es ist allerdings auch nicht ausgeschlossen, dass die Staatsanwaltschaft versucht, die Aussageverweigerung des Beschuldigten zu benutzen, um die Akteneinsicht abzulehnen: Das ist nach der ratio legis ebenfalls nicht zulässig! Zu Schwierigkeiten führt die Versagung der Akteneinsicht, wenn der Staatsanwalt glaubt, sie damit begründen zu müssen, der Verteidiger komme sonst in eine Pflichtenkollision oder er sei persönlich unzuverlässig. Ob ein möglicher Pflichtenwiderstreit (Rz. 280) allein zur Versagung der Akteneinsicht ausreicht, muss bezweifelt werden. Zwar ist das Bedenken nicht leicht zu nehmen. Der Verteidiger steht aber in Erfüllung seines Auftrages mehr oder weniger ständig in Konfliktsituationen, die er nach Recht und Berufspflichten zu lösen hat. Allein deswegen die Akteneinsicht und damit die Möglichkeit zu sachgerechter Verteidigung schon vor Abschluss der Ermittlungen zu verweigern, ist nicht zulässig. Überhaupt ist die Akteneinsicht der Prüfstein für das Verständnis zwi- 267 schen Staatsanwalt und Verteidiger, so wie es früher die Richtlinien für das Strafverfahren (Nr. 90 a.F.) in richtiger Deutung des Gesetzes ausdrücklich vorschrieben (s. Fn. 2 zu Rz. 176). Der Gesetzgeber hat dem Verteidiger mit dem Privileg der Akteneinsicht großes Vertrauen bewiesen und ihn damit als Funktionsträger der Rechtspflege anerkannt. Es liegt aber auch am Staatsanwalt, im Einzelfall mit „Verständnis und Vertrauen“ so zu praktizieren. Die meisten Staatsanwälte handeln dementsprechend und sehen in der Akteneinsicht durch den Verteidiger grundsätzlich keine Gefährdung des Untersuchungszweckes. Es gibt aber Staatsanwälte, die ebenso grundsätzlich erklären, der Untersuchungszweck sei in jedem Falle mindestens dann gefährdet, wenn der Beschuldigte noch nicht vernommen sei. Wenn der Verteidiger auf solche Auffassungen stößt, muss er auf die Barrikaden gehen, falls er den Staatsanwalt nicht in einer persönlichen Aussprache überzeugen kann. Er muss die Grundsatzfrage notfalls bei dem Vorgesetzten des Sachbearbeiters förmlich auspauken. Allerdings gibt es hier manchmal praktische Schwierigkeiten sehr diffizi- 268 ler Natur. Dem Staatsanwalt kann aus anderen Fällen bekannt sein, dass der betreffende Verteidiger das Akteneinsichtsrecht missbraucht und sich damit als unzuverlässig erwiesen hat. Man wird dann für die Bedenken des Staatsanwalts Verständnis haben müssen. Anderseits darf es nicht dazu kommen, dass die Verteidiger von der Staatsanwaltschaft in eine erste Gruppe vertrauenswürdiger und in eine zweite Gruppe vertrauensunwürdiger (Rz. 256 f.; 259) Anwälte klassifiziert werden. Dies will auch die Staatsanwaltschaft selbst im Allgemeinen nicht. Sie wird eine Form der Ablehnung mit oder ohne Einzelbegründung zu finden wissen, die der Situation angemessen ist. Wenn die Staatsanwaltschaft die vollständige Akteneinsicht noch nicht gewähren will, kann man in geeigneten Sachen manchmal im Kompro185
Rz. 269
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
misswege erreichen, dass wenigstens Teileinsicht in die Akten, die schon „ausermittelte“ Sachkomplexe enthalten, gewährt wird. In Fällen, in denen der Verteidiger sich vor Abschluss der Ermittlungen bestellt hat, sollte er vorsorglich immer „Akteneinsicht nach Abschluss der Ermittlungen“ beantragen, die ihm nicht versagt werden darf1. Das gilt besonders dann, wenn zur Sache eine Stellungnahme abgegeben worden ist, die zu weiteren Ermittlungen geführt hat. Die Ermittlungsbehörden sehen es leider nur selten als ihr nobile officium an, die Ergebnisse der vom Verteidiger angeregten oder beantragten Ermittlungen diesem von Amts wegen vor ihrer Abschlussentscheidung zur Kenntnis zu bringen. 269
Überhaupt muss der Verteidiger bei Verweigerung der Akteneinsicht die Anfechtungsmöglichkeit prüfen. Richterliche Entscheidungen unterliegen der Beschwerde, staatsanwaltschaftliche Ablehnungen der Dienstaufsichtsbeschwerde (Rz. 1091). Der Antrag nach § 23 EGGVG wird als unzulässig angesehen2. Unbestritten zulässig ist der Antrag, falls die Akteneinsicht außerhalb eines anhängigen Verfahrens versagt wird (Rz. 1087).
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Die Erfahrung beweist darüber hinaus, dass vielen Verteidigern die Vorschrift des § 147 Abs. 3 StPO nicht geläufig ist. Bei Ablehnung der Akteneinsicht kann der Verteidiger jederzeit die Sachverständigengutachten und die polizeilichen, staatsanwaltschaftlichen und richterlichen Protokolle über die Vernehmungen des Beschuldigten einsehen, desgleichen die Niederschriften über richterliche Untersuchungshandlungen, an denen er teilgenommen hat oder hätte teilnehmen dürfen. Auf diesem Wege lässt sich auch bei der Polizei Einsicht in diese Aktenteile erreichen3. Versagung der Akteneinsicht in diesen Fällen bedeutet Verweigerung des rechtlichen Gehörs4. Der Verteidiger hat auch das Recht auf Einsicht in die Akten ausländischer Strafverfolgungsbehörden, vorausgesetzt, diese Akten wurden von den deutschen Ermittlungsbehörden oder dem erkennenden Gericht beigezogen5. Aus Fragen und Vorhalten in diesen Niederschriften kann der Verteidiger oft die Schuldvorwürfe und Belastungsmomente erkennen.
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Für die Durchführung der Akteneinsicht gilt Folgendes: Wenn nicht wichtige Gründe entgegenstehen, darf der Verteidiger die Akten mit Aus1 Weihrauch/Bosbach, Rz. 110. 2 BVerfG v. 27.5.1993 – 2 BvR 744/93, StV 1994, 1: Antrag nach § 23 EGGVG nicht statthaft, selbst wenn Beschuldigter in U-Haft; ebenso OLG Karlsruhe v. 31.7.1996 – 2 VAs 1/96, NStZ 1997, 49; dagegen Mehle/Hiebl, StV 1995, 571 m.N. 3 Kleinknecht, Kriminalistik 1965, 454. 4 BVerfG v. 9.3.1965 – 2 BvR 176/63, NJW 1965, 1171; BVerfG v. 12.1.1983 – 2 BvR 864/81, NJW 1983, 1043 (im Fall des Abs. 3 sowie der Spurenakten ist § 23 EGGVG zulässig). 5 OLG Frankfurt v. 5.3.1996 – 3 Ws 131/96, NStZ-RR 1996, 238.
186
Akteneinsicht
Rz. 271
nahme der Beweisstücke in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitnehmen. Die Entscheidung hierüber ist nach ausdrücklicher Gesetzesvorschrift nicht anfechtbar (§ 147 Abs. 4). Im Allgemeinen wird die Einsicht der Akten in den Räumen des Verteidigers bewilligt (Nr. 187 Abs. 2 RiStBV). Anders ist auch eine Verteidigung, vor allem in umfangreichen Sachen, nicht ordnungsgemäß zu führen. Es ist schwer verständlich, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte gerade in großen Sachen immer noch die Neigung haben, die Überlassung der Akten in die Kanzlei oder die Versendung an den Kanzleiort „wegen des Umfanges der Akten“ abzulehnen. Vor der „technischen Unbeholfenheit“ von Justizorganen sollte der Verteidiger aber nicht kapitulieren. Der Aufwand und die Schwierigkeiten, die dem Verteidiger mit der Durcharbeitung umfangreicher Akten und der Herstellung eines Aktenauszuges auf der Geschäftsstelle eines möglicherweise von seinem Kanzleiort weit entfernten Gerichts zugemutet werden, sind unvergleichlich größer als die Expedierung von einigen Aktenkisten oder elektronischen Datenträgern. Der Verteidiger kann dann nur eine Abholung der Akten durch eigene Mitarbeiter oder einen Kurierdienst organisieren, wenn er nicht Tage oder Wochen in einem auswärtigen Gericht zubringen will. Eine Ausnahme gilt in Staatsschutzsachen, in denen die Interessen des Geheimnisschutzes gelegentlich vorgehen können (Rz. 279), und in Steuerstrafsachen für die eigentlichen Steuerakten, die von der Mitnahme regelmäßig ausgeschlossen werden. Soweit Akten oder Beweisstücke in den Diensträumen der Staatsanwaltschaft eingesehen werden müssen, kann der Verteidiger damit einen (z.B. am Ort befindlichen) Kollegen oder auch einen juristischen Mitarbeiter beauftragen1. Die Besichtigung von Beweismitteln oder die Einsicht in Beweisunterlagen, z.B. in Wirtschaftsstrafsachen, darf auch durch einen vom Verteidiger dafür bevollmächtigten Sachverständigen, z.B. Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Fachingenieur usw. im Auftrage des Verteidigers durchgeführt werden2. Bei diesen Personen wird es sich entweder um Hilfspersonen des Verteidigers im Sinne des § 53a StPO (Rz. 315) oder um Angehörige „verkammerter Berufe“ handeln, die selbst berufsrechtlichen Bindungen, insbesondere der Verschwiegenheitspflicht (§ 203 StGB) unterliegen. Das Verbot, dem Verteidiger Beweisunterlagen zur Fertigung von Fotokopien in die Kanzlei zu überlassen (§ 147 Abs. 4 StPO) kann gleichwohl insbesondere in großen Wirtschaftsstrafsachen die Verteidigung extrem behindern. Die Ermittlungsbehörden und Gerichte sind zwar heute zuweilen bereit, die Beweisurkunden (z.B. Krankenblätter usw.) nach Absprache ganz oder teilweise mit oder ohne Kostenerstattung für den Ver1 OLG Brandenburg v. 20.9.1995 – 2 Ws 174/95, NJW 1996, 67; Schmitt in MeyerGoßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 9. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 9; LG Bielefeld v. 19.3.1998 – 9 KLs K 2/95 IX – n.v.
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teidiger abzulichten: Ein Rechtsanspruch darauf besteht allerdings nicht. Hilfsweise kommt in Betracht, dass die Beweisunterlagen gegen Kostenerstattung vom Verteidiger oder unter seiner Aufsicht von Mitarbeitern im Dienstgebäude der Staatsanwaltschaft kopiert oder auf Datenträger gespeichert werden. Auch dies wird bei umfangreichen Akten bisweilen abgelehnt und der Verteidigung anheim gegeben, ein Fotokopiergerät selbst mitzubringen! Besondere Schwierigkeiten gibt es auch bei der notwendigen Herstellung von Farbkopien, was den behördlichen TechnikStatus in der Regel übersteigt. Hier kann nur eine für den Einzelfall praktikable Lösung weiterhelfen. 272
In der Praxis sieht die Aktenüberlassung an den Verteidiger vielfach anders aus als auf dem Papier. Die Beamten der Geschäftsstelle geben manchmal die Akten dem Verteidiger oder seinen Büroangestellten kurzerhand mit gegen die Zusage pünktlicher Rückgabe. Das ist für den Beamten und für den Verteidiger dann ein bedenkliches Verfahren, wenn es heimlich und den Umständen nach ohne oder gegen Anordnung des Sachbearbeiters geschieht. Vielfach haben aber die Beamten eine Art genereller Erlaubnis, nach ihrem Ermessen die Akten an „vertrauenswürdige“ Verteidiger herauszugeben. Der Verteidiger kann es wohl vertreten, von dem ihm so zugeteilten ius singulare Gebrauch zu machen. Die Verantwortung hat dann der Beamte bzw. die Behörde.
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Hat der Staatsanwalt den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt, so ist die Befugnis des Verteidigers zur Akteneinsicht unbeschränkbar. Will der Staatsanwalt das Verfahren einstellen, so braucht er den Abschluss der Ermittlungen allerdings nicht aktenkundig zu machen. Wird ein Einstellungsbeschluss jedoch im Beschwerdeverfahren später aufgehoben oder wird der Staatsanwalt im Klageerzwingungsverfahren zur Anklageerhebung angewiesen, muss er nunmehr den Vermerk anbringen. Damit tritt die unbeschränkbare Befugnis des Verteidigers zur Akteneinsicht ebenfalls in Kraft.
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Endet das Ermittlungsverfahren mit einer Einstellung mangels Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO, besteht häufig dennoch ein Interesse an der Akteneinsicht. Nach Nr. 88 RiStBV wird dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger im Regelfall lediglich mitgeteilt, dass das Verfahren eingestellt worden ist, während die Begründung dieser Entscheidung und evtl. Nebenentscheidungen aktenintern bleiben. Es liegt auf der Hand, dass sowohl der Betroffene als auch sein Verteidiger ein gesteigertes Interesse daran haben, die Gründe für die Einstellung des Verfahrens und die sachlichen Grundlagen der Entscheidung in Erfahrung zu bringen. Sie können für ein disziplinarisches oder berufsgerichtliches Verfahren ebenso Bedeutung haben wie für die Rehabilitierung des Betroffenen in der Öffentlichkeit oder in anderen Bereichen. Die Entscheidungsgründe können auch Veranlassung zu einer Strafanzeige (z.B. nach § 164 StGB) oder zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen bieten; darüber hinaus sind sie möglicherweise für arbeitsrechtliche oder dienstrechtliche Fragen re188
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levant. Deshalb eröffnet Nr. 88 S. 1 RiStBV auch die Möglichkeit, auf ausdrücklichen Antrag die Gründe für die Einstellung des Verfahrens mitgeteilt zu bekommen. Dies geschieht allerdings nur, soweit kein schutzwürdiges Interesse entgegensteht. Das Interesse der Verteidigung des Klienten kann aber über die Begründung der Einstellungsverfügung hinausgehen, insbesondere wenn die Entscheidung der Staatsanwaltschaft auf Ermittlungsergebnissen beruht, die der Verteidigung noch nicht bekannt waren. Merkwürdigerweise stehen nicht wenige Staatsanwälte auf dem Standpunkt, dass mit Abschluss des Ermittlungsverfahrens der Betroffene und sein Verteidiger „Dritte“ im Sinne der Nr. 182 RiStBV geworden sind und ihnen ein Anspruch auf Akteneinsicht nur zusteht, wenn sie ein rechtliches Interesse darlegen können. Die an sich schon eigenartige Rechtslage, dass dem Betroffenen die Gründe der Abschlussentscheidung nur auf Antrag mitgeteilt werden, wird durch diese Auffassung noch verschärft. Es kann durchaus auf Seiten des Betroffenen ein Interesse daran bestehen, eben nicht aktenkundig zu machen, aus welchen Gründen er an dem vollständigen Ermittlungsergebnis, das vor der Abschlussentscheidung erhoben worden ist, ein Interesse hat. So können z.B. Erkenntnisse für die Verteidigung des Betroffenen in einem anderen Ermittlungsverfahren – vielleicht sogar wegen eines ähnlichen Vorwurfs – direkte oder indirekte Bedeutung entfalten, für die Frage der Richtigkeit einer von ihm als Zeuge in einem anderen Verfahren gemachten Aussage wichtig sein u.Ä. Es kann auch sein, dass sich die Grundlage für die Einstellungsentscheidung als so „schwach“ erweist, dass eine mögliche Beschwerde (§ 172 Abs. 1 StPO) zu befürchten ist oder aus anderen Gründen damit gerechnet werden muss, dass aufgrund eines zu erwartenden „Anstoßes“ die Ermittlungen wieder aufgenommen werden. Für diese Fälle Vorsorge zu treffen, ist essentieller Bestandteil der selbstverständlichen Pflicht des Verteidigers zur Nachsorge (Rz. 778). Richtigerweise muss daher auch nach einer Einstellung des Verfahrens das Verteidigerverhältnis als fortbestehend angesehen und der Anspruch auf Gewährung der Akteneinsicht aus § 147 StPO anerkannt werden1. Das soll allerdings dann nicht gelten, wenn die Einsicht für Zwecke begehrt wird, die mit der Verteidigung nicht mehr zusammenhängen2. b) Aktenbehandlung Die sorgfältige Verwahrung und Behandlung der Akten ist Pflicht des 275 Verteidigers, der die Akten aufgrund eigenen Rechtes und des ihm vom Gesetzgeber eingeräumten Vertrauens einsehen und in die Kanzlei mitnehmen darf. Man erwartet von ihm, dass er die Aktenkenntnis nicht missbräuchlich ausnützt und für die Unversehrtheit der Akten einsteht. 1 Dazu Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 11 m.N. 2 So Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 11; a.A. OLG Hamm v. 9.1.1984 – 1 VAs 1/84, NJW 1984, 880.
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Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Der Verteidiger hat daher gewissenhaft darauf zu achten, dass dieses Vertrauen nicht gestört wird. Die Aufbewahrung ist so zu gestalten, dass Unbefugte keinen Einblick nehmen können, dass sie nicht verlorengehen und nicht beschädigt werden können (§ 19 Abs. 1 BORA). Jede Nachlässigkeit, auch des Büropersonals, ist geeignet, das Vertrauen zu erschüttern, und kann dazu führen, dass dem Verteidiger in Zukunft die Mitnahme der Akten in sein Büro oder gar die Akteneinsicht vor Abschluss der Ermittlungen verweigert wird. Es ist deshalb notwendig, Mitarbeiter und Angestellte über die Behandlung der Akten zu belehren und sie in ausreichendem Maße zu beaufsichtigen. Um Fehler zu vermeiden, empfiehlt sich weiter eine genaue Kontrolle des Eingangs und Ausgangs der überlassenen Akten und Beiakten. Dies kann in Form einer Liste geschehen, in der die Akten mit der Zahl der Aktenbände (Hauptakten, Beiakten usw.) nach der Reihenfolge ihres Eingangs mit Datum, Bezeichnung der Sache, übersendender Behörde, deren Aktenzeichen und Termin der Rückgabe vermerkt werden. Die letzte Spalte einer solchen Liste kann für den Nachweis der Rückgabe der Akten an die Behörde benutzt werden: Zumindest sollten die Akten nie formlos von Hand zu Hand, sondern stets mit einem Schriftsatz zurückgegeben werden, in dem sie einzeln genau bezeichnet sind. Auf die pünktliche Rückgabe der Akten ist besonderer Wert zu legen. Reicht die gewährte Frist nicht aus, so sollte rechtzeitig deren Verlängerung beantragt werden. Es darf nicht vorkommen, dass nach Fristablauf das Aktenretent dem Sachbearbeiter vorgelegt wird, ohne dass wenigstens eine Erklärung des Verteidigers eingegangen ist, aus welchem Grunde die Akten noch nicht zurückgesandt worden sind und bis wann dies geschehen wird. Überhaupt sollte der Verteidiger sich von vornherein eine ausreichende Frist zur Akteneinsicht geben lassen. In umfangreichen Sachen ist dies unumgänglich. Zu kurze Fristen darf er nicht hinnehmen (Rz. 196 a.E.). Für die unmittelbare Weitergabe der Akten an einen Mitverteidiger ist die Zustimmung der Behörde einzuholen, die die Akten überlassen hat. Sicherheitshalber sollte man sich die Genehmigung schriftlich erteilen lassen oder eine mündliche/telefonische Genehmigung in einer Notiz genau festhalten. Besser ist es, die Akten an die überlassende Behörde zurückzugeben, um Nachforschungen und Auseinandersetzungen zu vermeiden. Keinesfalls dürfen Akten ohne Genehmigung der Staatsanwaltschaft an Mitverteidiger weitergegeben werden, denen die Einsichtnahme verwehrt worden ist (§ 147 Abs. 2 StPO). Geradezu unbegreiflich sind die immer wieder berichteten Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft gezwungen ist, sich die einem Verteidiger überlassenen Akten per Durchsuchungsbeschluss zurückzuholen. Solche Vorfälle sind für den nachlässigen oder gar böswilligen Verteidiger „tödlich“. 190
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c) Aktenauszug Der Verteidiger ist befugt, Abschriften oder Fotokopien aus den überlas- 276 senen Akten für sich und ggf. seinen Klienten anzufertigen oder durch seine Angestellten anfertigen zu lassen1. Dabei hat er gewissenhaft darauf zu achten, dass Missbräuche ausgeschlossen sind. Das gilt insbesondere für die Anfertigung von Ablichtungen, z.B. Farbkopien, außerhalb des Büros, die nur unter Aufsicht des Verteidigers oder seines Beauftragten geschehen darf und nur dann zulässig ist, wenn Dritte von dem Akteninhalt nicht Kenntnis nehmen können (§ 19 Abs. 1 BORA). Wird der Inhalt der Akten in Datenspeicher übertragen, ist sicherzustellen, dass nicht Dritte – auch nicht andere Büromitarbeiter – Zugang erhalten. Generell ist zu empfehlen, den strafrechtlichen EDV-Bereich aus jedem Netzwerkverbund herauszunehmen. Art und Umfang des Aktenauszuges hängen von sachlichen und persönli- 277 chen Gesichtspunkten ab. Sachlich werden die Aktenteile ausscheiden, die nur für den internen Dienstbetrieb der Justizbehörden von Belang sind, etwa Zustellungsurkunden, soweit es im Einzelfall nicht auf Art und Zeitpunkt der Zustellung ankommt. In einem Verfahren gegen mehrere Beschuldigte kann der Verteidiger sich ggf. auf die Aktenteile beschränken, die seinen Auftraggeber betreffen. Dabei ist allerdings Vorsicht geboten im Hinblick auf sachliche, persönliche oder indizielle Verbindungen. Die Erfahrungen der Praxis legen es nahe, eine vollständige Kopie des Akteninhalts herzustellen. Es ist kaum einmal sicher abzuschätzen, ob etwa einzelne Aktenteile für die Verteidigung keine Bedeutung gewinnen können. Die Erfahrung lehrt, dass der Verteidiger eher zu viel als zu wenig aus den Akten zur Hand haben sollte. So kann er z.B. Widersprüche in den Aussagen von Belastungszeugen in der Hauptverhandlung in der Regel nur aufdecken, wenn er die früheren Bekundungen der Zeugen wortwörtlich kennt und sie ihnen vorhalten kann. Ermittlungsverfügungen des Staatsanwalts und des Gerichts sowie Vermerke rechtlichen Inhalts sind stets von Bedeutung. Außerdem muss man auf Randbemerkungen, Unterstreichungen, Ausruf- und Fragezeichen sowie andere Notizen achten. Oft vermitteln sie wertvolle Aufschlüsse, wie Richter und Staatsanwalt die Sache beurteilen. Insoweit sind auch die eigenen Schriftsätze des Verteidigers zu überprüfen. Schließlich ist an die Entwürfe für Verfügungen und Beschlüsse zu denken, die der Sachbearbeiter auf Aktenblätter gesetzt, aber nicht unterschrieben hat. Bei Kollegialgerichten schreibt der Berichterstatter die Urschriften der Entscheidungen zuweilen noch mit der Hand. Aus Korrekturen ergeben sich gelegentlich wichtige Hinweise.
1 BGH v. 29.5.1963 – StB 5/63 (6 BJs 497/62), BGHSt. 18, 369; Schmitt in MeyerGoßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 7.
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Inzwischen ist sogar im Kostenrecht anerkannt, dass es dem Verteidiger nicht zuzumuten ist, umfangreiche Akten persönlich daraufhin zu überprüfen, ob etwa einzelne Seiten nicht fotokopiert werden müssen. Zudem muss im Interesse einer ökonomischen Sachbearbeitung die Fertigung von Aktenauszügen durchweg nicht juristischen Mitarbeitern der Kanzlei überlassen werden, die ohnehin nicht in der Lage sind, eine Auswahl zu treffen.
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Einschränkungen können sich in Staatsschutzverfahren ergeben. Grundsätzlich darf dem Verteidiger die Befugnis zur Akteneinsicht auch aus Gründen des Geheimnisschutzes nicht verwehrt werden1. Ob der Verteidiger sich in solchen Fällen Auszüge aus den Akten anfertigen lassen darf, ist eine Frage des Einzelfalles. Sie ist zu bejahen, wenn eine sachgerechte Verteidigung anders nicht gewährleistet ist. Die zuständige Justizbehörde kann dann allerdings dem Verteidiger besondere Sicherungsmaßnahmen auferlegen, um das Staatsgeheimnis zu bewahren, etwa anordnen, wie die Akten aufzubewahren sind und mit wem sie erörtert werden dürfen (Mitverteidiger, Beschuldigter, Sachverständiger2). In diesem Zusammenhang sind auch die Verschlusssachenvorschriften besonders zu beachten. d) Verwertung Literatur: Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers, 2. Aufl. 2010; Jahn/Lips, Hat der Strafverteidiger die Pflicht, bei der Rekonstruktion außer Kontrolle geratener Verfahrensakten mitzuwirken?, StraFo 2004, 229; Krause, Der „Gehilfe“ der Verteidigung und sein Schweigerecht, StraFo 1998, 1; Krekeler/Schonard, Der Berufshelfer im Sinne des § 53a, wistra 1998, 137; Schlothauer, Vorbereitung der Hauptverhandlung, 2. Aufl. 1998, S. 30 ff.; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 4. Aufl. 2010; Tondorf, Begeht der Strafverteidiger eine Strafvereitelung und verletzt es seine Standespflichten, wenn er den Mandanten benachrichtigt, nachdem er von einem geplanten Haft- oder Durchsuchungsbefehl erfahren hat?, StV 1983, 257; Weihrauch/Bosbach, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2011, Rz. 74 ff.
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Die Information des Klienten über den Inhalt der dem Verteidiger von der Ermittlungsbehörde oder dem Gericht zur Einsicht überlassenen Akten wird zwar grundsätzlich heute nicht mehr in Frage gestellt3; Probleme gibt es aber, wenn sich aus den Akten ergibt, dass ein Haft- oder Durchsuchungsbefehl o.Ä. erlassen oder beantragt ist oder sonst überraschende Ermittlungsmaßnahmen geplant sind oder ihre Ausführung bevorsteht. Hier wird immer noch (vom BGH) die Auffassung vertreten, der Verteidiger dürfe seinen Mandanten darüber weder unterrichten noch
1 BGH v. 29.5.1963 – StB 5/63 (6 BJs 497/62), BGHSt. 18, 369. 2 BGH v. 29.5.1963 – StB 5/63 (6 BJs 497/62), BGHSt. 18, 369. 3 So ausdrücklich § 19 Abs. 2 S. 1 BORA; BGH v. 3.10.1979 – 3 StR 264/79 (S), NJW 1980, 64; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 20.
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ihm die entsprechenden Akten(-teile) überlassen1. Diese Ansicht verkennt die Aufgaben- und Verantwortungsverteilung zwischen Justizorganen und Verteidiger, die Rechtsstellung des Anwalts und seine beruflichen Pflichten gegenüber dem Klienten. Es ist allein Aufgabe der die Akteneinsicht gewährenden Staatsanwaltschaft oder des Gerichts, vor Gewährung der Einsicht zu prüfen, ob sie ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks möglich ist (§ 147 Abs. 2 StPO). Unterlaufen bei dieser Prüfung Fehler, so liegen diese allein in der Risikosphäre der Justiz und gehen zu ihren Lasten. Es macht keinen Unterschied, ob ein Staatsanwalt unbedacht etwas ausplaudert, eine vertrauliche Mitteilung falsch adressiert wird o.Ä. Auch die Integration des Verteidigers in die Rechtspflege kann nicht zu der Pflicht führen, etwaige Fehler der Justizorgane „auszubügeln“ – unter Zurückstellung seiner Schutzaufgabe und Treuepflicht zum Nachteil des Mandanten. So wird der Verteidiger auch nicht als verpflichtet angesehen, Informationen deshalb zurückzuhalten, weil der Beschuldigte generell die Kenntnis des Ermittlungsstandes zu Verdunkelungsmaßnahmen nutzen kann2. Der Verteidiger hat nach dem Mandatsvertrag auch kein Recht, den Klienten auch nur partiell über wesentliche Umstände des Verfahrens uninformiert zu lassen. Ein solches „Informationsgefälle“ ist mit dem Kerngehalt des auf Vertrauen und rückhaltlosen Beistand angelegten Verteidigungsverhältnisses unvereinbar. Dem Klienten würde ausgerechnet durch seinen Verteidiger die Möglichkeit genommen, z.B. vor Vollstreckung eines Haftbefehls (mit möglicherweise katastrophalen Folgen) durch sofortige Aktivitäten den Staatsanwalt oder Haftrichter davon zu überzeugen, dass kein Haftgrund vorliegt, oder eine (spektakuläre) Durchsuchung durch freiwillige Herausgabe abzuwenden. Man kann daher gerade als verantwortungsbewusster Verteidiger durchaus den Standpunkt des uneingeschränkten Informationsrechts vertreten3, sollte aber tunlichst einen Weg finden, sowohl seiner Verteidigungsaufgabe als auch seiner Zuordnung zur Rechtspflege gerecht zu werden. Je nach den Umständen kommt ein Gespräch mit dem Staatsanwalt oder Richter in Betracht. – Dies alles gilt aber nicht, wenn sich der Verteidiger die Akteneinsicht auf nicht ordnungsgemäßem Weg verschafft hat, z.B. unter bewusster Umgehung des Staatsanwalts über die Geschäftsstelle, die Kanzlei, die Wachtmeisterei usw. Soweit der Verteidiger das Recht zur Information des Mandanten hat, besteht aufgrund seines Auftrages auch eine entsprechende Pflicht zur Unterrichtung4. Diese wird zweckmäßig in der Form durchgeführt, dass der 1 BGH v. 3.10.1979 – 3 StR 264/79 (S), BGHSt. 29, 99 (103); Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 21 m.N. insbesondere auch zur gegenteiligen Auffassung. 2 BGH v. 3.10.1979 – 3 StR 264/79 (S), BGHSt. 29, 99 (103). 3 So auch Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rz. 378; Krekeler, wistra 1983, 47; Mehle, NStZ 1983, 557; a.A. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 21; Fischer, § 258 StGB Rz. 7; Beulke, Rz. 42 f. 4 BGH v. 3.10.1979 – 3 StR 264/79 (S), BGHSt. 29, 99 (102) m. zust. Anm. MüllerDietz, JR 1981, 76.
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Rz. 281
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Aktenauszug in der Regel dem Klienten zur eingehenden und ruhigen Durchsicht überlassen wird. Dabei muss der Verteidiger allerdings Missbräuchen vorzubeugen versuchen. Bewährt hat sich hier die Belehrung, dass „der Aktenauszug nur den Zwecken der Verteidigung dienen darf“. Der Aktenauszug darf dann nicht weitergegeben werden, wenn der Verteidiger als sicher davon ausgehen muss, dass der Beschuldigte ihn zu strafbaren oder sonst unzulässigen Zwecken verwenden will. Dann liegt aber wohl ohnehin eine Beendigung des Mandats nahe. Beschränkungen können sich auch aus zulässigen Anordnungen der Einsicht gewährenden Behörde ergeben (§ 19 Abs. 2 BORA). Der Verteidiger ist zu einer Rückforderung des Aktenauszuges vom Mandanten nach Kenntnisnahme oder bei Beendigung des Mandats nicht verpflichtet1. Er wird zwar häufig (schon aus Kostengründen) lediglich eine Kopie der Akten herstellen, jedoch kann nach Lage des Falles und der Person des Klienten die Fertigung eines doppelten Aktenauszuges zweckmäßig oder unerlässlich sein, um eine laufende „zweispurige“ Bearbeitung zu ermöglichen. 281
Grundsätzlich zulässig ist die Weitergabe des Akteninhalts dagegen, wenn sie zwar nicht unmittelbar der Verteidigung im Strafverfahren dient, sondern die Wahrnehmung der Rechte des Mandanten in einem sachgleichen Zivilprozess, Arbeitsgerichtsverfahren oder anderen Verfahren, die mit gleicher Zielrichtung wie die Verteidigung geführt werden. Dies dient mittelbar der Verteidigung, weil unterschiedlicher Sachvortrag, die Unfähigkeit, Widersprüche und Unwahrheiten aufzudecken und eine negative anderweitige Gerichtsentscheidung die Verteidigungsposition im Strafverfahren beeinträchtigen können. Über diese Kriterien sollte sich der Verteidiger allerdings vergewissern. Zusätzlich kann eine entsprechende Mitteilung an die zuständige Strafjustizbehörde zweckmäßig sein, um Irritationen zu vermeiden.
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Die Aushändigung von Originalakten an den Mandanten ist unzulässig, an Mitarbeiter der Kanzlei zulässig (§ 19 Abs. 1 BORA). Dagegen kommt es in besonders gelagerten Fällen in Betracht, mit Zustimmung der aktenführenden Behörde dem Mandanten die Durchsicht von Originalunterlagen unter der Überwachung des Verteidigers zu ermöglichen, wenn es sich z.B. um nicht reproduzierbare Lichtbilder, Filme, Pläne oder umfangreiche Buchhaltungs-, Rechnungs- oder sonstige Geschäftsunterlagen handelt. Die Strafjustizbehörden verhalten sich gegenüber einem Verteidiger, dem sie vertrauen, insoweit auch nicht engherzig. Soweit Beweismittel der Sperre des § 147 Abs. 4 StPO unterliegen, wird die Staatsanwaltschaft zumindest auf Antrag zu gestatten haben, dass diese bei der Behörde unter Aufsicht von Ermittlungsbeamten und Verteidiger auch durch den Beschuldigten eingesehen werden. Gegen die Versagung der Erlaubnis dürfte der Rechtsweg nach § 23 EGGVG (Rz. 1086) gegeben sein. 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 23.
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Akteneinsicht
Rz. 284
Die Aushändigung von Aktenauszügen an Dritte ist im Rahmen der Ver- 283 teidigung grundsätzlich zulässig, wenn dies (im weitesten Sinne) den Verteidigungsinteressen des Mandanten dient. So darf der Verteidiger dem gesetzlichen Vertreter seines Auftraggebers oder einer Person, über die er sich mit dem Beschuldigten verständigt (Dolmetscher, Taubstummenlehrer), Aktenauszüge zur Verfügung stellen. Das gilt auch für an der Bearbeitung der Sache beteiligte juristische Mitarbeiter (Rechtsanwalt, Assessor, Referendar) seiner Kanzlei. Gleiches muss auch für den in die Verteidigung einbezogenen, beauftragten Hochschullehrer, Buchsachverständigen oder Wirtschaftsprüfer usw. gelten (Rz. 315), die spezielle Fachoder Rechtsfragen für die Verteidigung bearbeiten, auch wenn nicht von Anfang an vorgesehen ist, dass sie nach außen als Sachverständige auftreten1. Da z.B. in umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren fast immer eine (gesetzlich unbeschränkte) Mehrzahl von Staatsanwälten und Wirtschaftsreferenten sachbearbeitend tätig ist, ist es schon ein Erfordernis des Prinzips der Waffengleichheit, dass diesem Anklageteam ein gleichwertiges Verteidigungsteam entgegengesetzt werden kann. Diese Möglichkeit ist durch § 137 StPO ohnehin eingeschränkt genug. Die Verteidigung muss daher berechtigt sein, durch einen qualifizierten internen und externen Mitarbeiterstab im Sinne des § 53a StPO (Rz. 315) eine Gleichwertigkeit in der Sachbearbeitung zu erreichen, weil sie sonst der Anklagebehörde von vornherein unterlegen ist2. Die Überlassung des Aktenauszuges an Mitverteidiger ist nicht so pro- 284 blemlos wie sie auf den ersten Blick vielleicht zu sein scheint. Zwar sehen es die Justizbehörden nicht selten als eine Vereinfachung an, wenn die Akten „von Verteidiger zu Verteidiger“ wandern; dies teilen sie dann aber üblicherweise auch mit. In umfangreichen, komplexen und schwierigen Verfahren kann es aber genau anders sein: Hier wird über die Akteneinsicht häufig sehr selektiv entschieden. So mag ein Verteidiger die Akten erhalten, z.B. weil sein Klient nur eine Nebenrolle spielt oder der ihn betreffende Sachkomplex vorab erledigt werden soll (vielleicht auch, um so einen Zeugen gegen andere Beteiligte zu gewinnen). Gleichzeitig wird gegenüber anderen Betroffenen, z.B. den „Hauptbeschuldigten“ oder solchen, gegen die Zwangsmaßnahmen erwogen werden, die Akteneinsicht nicht gewährt. Gedankenlose Weitergabe von Aktenauszügen – auch auf „kollegiale“ Anforderung unter Zusicherung der Vertraulichkeit – kann einen sehr rasch in den Dunstkreis der versuchten Strafvereitelung bringen. Aus solchen und anderen Gründen ist hier größte Vorsicht geboten. Auf die einfache Behauptung des Kollegen, die Staatsanwaltschaft sei einverstanden, sollte man sich nicht verlassen. Jede Weitergabe von Akten an Mitverteidiger sollte nur nach klarer Abstimmung mit den Justizbehörden erfolgen und aktenkundig gemacht werden.
1 Ignor/Bertheau in Löwe/Rosenberg, § 53a StPO Rz. 5; Krause, StraFo 1998, 1. 2 Zu diesen und anderen Fragen instruktiv OLG Brandenburg v. 20.9.1995 – 2 Ws 174/95, NJW 1996, 67.
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Rz. 285
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
285
Anders ist es mit der Überlassung von Akteninhalt an einen anwaltlichen Zeugenbeistand1. Dieser hat nach Lage des Gesetzes kein eigenes Recht auf Akteneinsicht2. Dies würde auch dem strafprozessualen Prinzip widersprechen, dass der Zeuge allein aus seiner Erinnerung aussagt und Gedächtnishilfen (Nachfragen, Vorhalte) in der Hauptverhandlung primär dem Gericht vorbehalten sind. Dieser prozessuale Grundsatz würde umgangen, wenn dem Zeugen über seinen anwaltlichen Beistand vor der Vernehmung Akteninhalt zur Kenntnis gebracht würde. Dass der Zeuge durch „selektive Information“ aus den Akten in eine bestimmte Richtung „gelenkt werden“ könnte, steht ebenfalls dem Prinzip der Wahrheitsfindung entgegen. Schon aus diesen Gründen kann es dem Verteidiger nicht gestattet sein, sein privilegiertes Recht auf vollständige Akteneinsicht zur „Steuerung“ der Aussage eines Zeugen zu missbrauchen. Er würde sich auch der Gefahr einer Straftat nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB aussetzen. Entsprechendes gilt prinzipiell für die mündliche Weitergabe von Aktenwissen.
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Grundsätzlich unzulässig ist es, der Presse den Aktenauszug zu überlassen. Dagegen kann es im Einzelfall gerechtfertigt sein, Medien über den Akteninhalt etwas mitzuteilen, wenn dies im Interesse der Verteidigung des Mandanten unerlässlich ist, z.B. dass das Verfahren bei gleichem Sachstand von der Staatsanwaltschaft bereits wiederholt eingestellt worden ist oder bei notwendiger Erwiderung auf Verlautbarungen der Justizbehörden. Die Wahrung des berechtigten Interesses des Mandanten, auch die Wahrung seines Ansehens in der Öffentlichkeit (etwa um einer Vorverurteilung entgegenzuwirken) kann Vorrang haben – was allerdings jeweils sorgfältiger Prüfung bedarf (Rz. 101).
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Der Verteidiger darf auch nicht ohne weiteres seine Kenntnis von Strafregisterauszügen (Auszügen aus dem Bundeszentralregister) dritter Personen benutzen. Indessen ist es unbedenklich und aufgrund der Treuepflicht geboten, wenn der Verteidiger in einem Zivilprozess, den er für den Beschuldigten wegen des gleichen Sachverhalts führt (etwa in Verkehrsunfallsachen), von den Strafregistervermerken anderer Beteiligter Gebrauch macht: Die Strafakten können jederzeit beigezogen und als Beiakten im Zivilprozess ausgewertet werden. Auch dann, wenn der Verteidiger zulässigerweise von dem Vorstrafenregister eines Zeugen (z.B. Warenhausdetektiv) Kenntnis erlangt hat, darf er diese in einem anderen Strafverfahren, in dem derselbe Zeuge eine Rolle spielt, mit gleicher Zielrichtung benutzen, wenn und soweit die Vorstrafen für die Würdigung der Zeugenaussage Bedeutung haben.
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Gewisse Probleme wurden früher beim Aktenauszug für Versicherungsgesellschaften, vor allen Dingen in Verkehrsstrafsachen, gesehen. Die Versicherungsgesellschaften haben kein eigenes Recht auf Einsicht. 1 Vgl. zu dieser Problematik Dahs, NStZ 2012, 200 ff. 2 Str., vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 68b StPO Rz. 5.
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Akteneinsicht
Rz. 290
Nach § 475 Abs. 1 StPO gewähren aber Staatsanwaltschaft und Gericht bevollmächtigten Rechtsanwälten für die Unfallbeteiligten oder deren Versicherungsgesellschaften Akteneinsicht. Für den Verteidiger ist die Beschaffung des Aktenauszuges für eine Versicherung gegenüber seinem (beweispflichtigen) Mandanten mit dessen Zustimmung bei Erstattung der Kopierkosten nicht pflichtwidrig im Sinne des § 356 Abs. 1 StGB1. Bei Untersuchungshaft spielt der Akteninhalt eine besondere Rolle, 289 wenn es darum geht, ob Einwendungen gegen den dringenden Tatverdacht nach § 112 Abs. 1 StPO mit Aussicht auf Erfolg erhoben werden können. Hierzu kann der Verteidiger in den meisten Fällen ohne Akteneinsicht nur wenig vortragen und riskiert so eine unter Umständen recht belastende „Festschreibung“ des Tatverdachts. Entlastende Umstände vorzubringen und hierfür Beweiserhebungen zu beantragen, ist nur aussichtsreich bei genauer Kenntnis der Belastungen. Hiervon hängt auch die Entscheidung ab, ob der Verteidiger Beweismittel noch zurückhalten soll, ob er dem Mandanten raten kann, die Einlassung zu verweigern oder sich schriftlich zu äußern – eine Entscheidung, die gerade im Haftverfahren besondere Brisanz hat, wird doch nicht selten von Ermittlungsbehörden angedeutet, man könne bei einer sachfördernden „zufriedenstellenden“ Einlassung die Haftfrage überdenken. Umso wichtiger ist es, dass die Rechtslage zur Akteneinsicht im Haftverfahren durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte2 eine wichtige Gesetzesänderung erfahren hat. Nach § 147 Abs. 2 S. 2 StPO hat der Verteidiger nunmehr einen unbeschränkbaren Rechtsanspruch darauf, alle Akten einzusehen, auf deren Inhalt der Haftbefehl beruht und die sonst für jede weitere Haftentscheidung relevant sind3. Dieses Recht muss der Verteidiger kennen und in vollem Umfang kompromisslos durchsetzen, sonst verspielt er seine Chancen in dem ohnehin schwierigen Kampf um die Freiheit seines Klienten (Rz. 337). Erst durch die Akteneinsicht wird die Entwicklung einer substantiellen 290 Verteidigungsstrategie möglich. Die Erkenntnis der beabsichtigten Ermittlungsschritte der Staatsanwaltschaft gibt die Chance, auf den Gang des Ermittlungsverfahrens einzuwirken, z.B. die Anwesenheit des Verteidigers schon bei polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen zu erreichen (Rz. 292 ff., 301 ff.). Auch für eine sachgerechte Vertretung des Mandanten im Eröffnungsverfahren (Rz. 420 ff.), erst recht in der Hauptverhandlung ist die Aktenkenntnis unerlässlich. Die Vorbereitung der Einlassung des Mandanten, der Erfolg von Fragen und Vorhalten aus den Akten an Mitangeklagte, Zeugen und Sachverständige, der Erfolg der Aufdeckung von Widersprüchen u.Ä. hängt primär davon ab, dass der Verteidiger genau weiß, was in den Akten steht. Dasselbe gilt im beson1 Dahs in MüKo § 356 StGB Rz. 58 m.N. 2 EGMR v. 13.2.2001 – 24479/94, NJW 2002, 2013 ff. = StV 2001, 201 ff. m. Anm. Kempf. 3 Eingehend Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 25a m. zahlr. N.
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Rz. 291
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
deren Maße für den Erfolg von Rechtsmitteln (Rz. 816 ff.), insbesondere bei Beschwerden gegen Durchsuchung und Beschlagnahme, Untersuchungshaft sowie vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (Rz. 337, 383, 412). 291
Zuweilen kommt es vor, dass die Justizbehörden selbst von der Akteneinsicht des Verteidigers profitieren wollen. Das ist dann der Fall, wenn die Originalakten in „Verlust“ geraten“ sind, was immer wieder einmal vorkommt. Staatsanwaltschaft oder Gericht bitten dann zuweilen den Verteidiger um Vorlage seines Aktenauszuges zur Rekonstruktion. Eine Verpflichtung des Verteidigers, an der Wiederherstellung der Akten mitzuwirken, besteht grundsätzlich nicht. Mit Zustimmung des Mandanten darf der Aktenauszug aber zur Verfügung gestellt werden, wenn dieser zuvor über die aufgrund einer solchen Zustimmung für ihn entstehenden denkbaren Nachteile sorgfältig belehrt worden ist; dabei wird eine Empfehlung zur Zustimmung nur gegeben werden können, wenn die Durchführung des Verfahrens der Rehabilitierung dient oder die Blockierung des Verfahrens für den Klienten Nachteile mit sich bringt. Dagegen ist eine Pflicht des Verteidigers zur Vorlage seines Aktenauszuges – auch ohne Zustimmung des Mandanten – zu bejahen, wenn die Originalakten im Einflussbereich des Anwalts, z.B. in seinem Büro, verlorengegangen sind1. 5. Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen Literatur: Artkämper, Fehlerquellen der Beschuldigtenvernehmung, Kriminalistik 1996, 393; Bernsmann, Verwertungsverbot bei fehlender und mangelhafter Belehrung, StraFo 1998, 73; Beulke, Die Vernehmung des Beschuldigten – Einige Anmerkungen aus der Sicht der Prozessrechtswissenschaft, StV 1990, 180; Beulke, Muss die Polizei dem Beschuldigten vor der Vernehmung „Erste Hilfe“ bei der Verteidigerkonsultation leisten?, NStZ 1996, 257; Dahs, Zur Verteidigung im Ermittlungsverfahren, NJW 1985, 1113; Dahs/Langkeit, Das Schweigerecht des Beschuldigten und seine Auskunftsverweigerung als „verdächtiger Zeuge“, NStZ 1993, 213; Danckert, Anwesenheitsrechte im Ermittlungsverfahren, AnwBl. 1995, 215; Joachimski in Seitz/Büchel, Beck’sches Richter-Handbuch, 3. Aufl. 2012, E.I. Rz. 170 ff.; Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, 2012; Lesch in Bockemühl, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 5. Aufl. 2012, S. 1141 ff.; Odenthal, Zulässigkeit und Beweiswert einer heimlichen Stimmenidentifizierung, NStZ 1995, 579; Ranft, Strafprozessrecht, 3. Aufl. 2005, S. 94 ff.; Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeivernehmung, 1990, S. 88; Ransiek, Belehrung über Aussagefreiheit und Recht der Verteidigerkonsultation: Folgerung für die Beschuldigtenvernehmung, StV 1994, 157; Roxin, Das Recht des Beschuldigten zur Verteidigerkonsultation in der neuesten Rechtsprechung, JZ 1997, 343; Strafrechtausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 13, 2004, Thesen 14 ff.; Weihrauch/Bosbach, Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2011, Rz. 240 ff.; Widmaier, Zu den Folgen der Verletzung von Art. 6 III lit. d EMRK durch unterbliebene Verteidigerbestellung, NJW-Sonderheft für G. Schäfer (2002), S. 76. 1 Das ist im Wesentlichen auch die Auffassung des Strafrechtsausschusses der BRAK, Prot. der 58. Tagung v. 5.–7.3.1965, Bl. 140 ff.
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Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen
Rz. 293
a) Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen der Polizei Die Beratung des Beschuldigten vor seiner ersten polizeilichen Verneh- 292 mung gewinnt ihre eigentliche Bedeutung in Verbindung mit der Verpflichtung von Richter, Polizei und Staatsanwaltschaft, den Beschuldigten über seine Rechte (Aussagefreiheit, Verteidigerkonsultation, schriftliche Äußerung, Entlastungsbeweisanträge) zu belehren (§§ 136, 163a StPO). Der Beschuldigte will spätestens dann, im Allgemeinen aber in einem früheren Zeitpunkt anwaltlichen Rat. Dies gilt nicht nur für den auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten, sondern erst recht für den vorläufig festgenommenen oder verhafteten Beschuldigten (Rz. 337 ff.). Der Schutzzweck des § 136 StPO wird unterlaufen, wenn die Polizei Ver- 293 dächtige und sog. Auskunftspersonen ohne Belehrung befragt, obwohl sie nach Lage der Sache tatsächlich als Beschuldigte anzusehen sind1. Wird eine Person schriftlich zur Polizeibehörde vorgeladen, so soll die Ladung erkennen lassen, dass sie als Beschuldigter vernommen werden soll (Nr. 44 Abs. 1 RiStBV); dementsprechend ist dieser Hinweis auch bei Vernehmungen ohne vorangegangene schriftliche Ladung geboten. Freilich ist noch nicht jeder Verdächtige schon Beschuldigter. Zu den Fragen der Rechtsstellung und Befugnisse der verdächtigen Auskunftsperson gibt es ein umfangreiches Schrifttum (vgl. oben vor Rz. 292), das in jedem Einzelfall der Auswertung bedarf. Die Einleitung oder das Betreiben des Ermittlungsverfahrens gegen eine bestimmte Person verschafft dem Verdächtigen jedenfalls die Stellung eines Beschuldigten2. Wird gegen die Belehrungspflicht des § 136 StPO verstoßen oder dem Anspruch des Beschuldigten, zunächst einen Verteidiger zu konsultieren direkt oder indirekt nicht stattgegeben oder wird er bei der Suche nach einem Verteidiger nicht sachgerecht unterstützt, führt dies grundsätzlich zum Verbot der Verwertung der unter solchen Umständen zustande gekommenen Aussagen. Dies ist heute auch der Standpunkt der Rechtsprechung, der allerdings zum einen die freiwillige Aussage des Beschuldigten (wenn dabei keine verbotenen Vernehmungsmethoden angewendet worden sind) zulässt und im Übrigen das Verwertungsverbot an den rechtzeitigen (§ 257 StPO) Widerspruch (des Verteidigers) bindet3. Wird 1 Anders ist es, wenn eine Privatperson Angaben des Beschuldigten in einer vernehmungsähnlichen Situation herbeiführt – BGH v. 31.3.2001 – 3 StR 400/10, StV 2012, 129. 2 Zu den Grenzen BGH v. 10.9.2004 – 1 StR 304/04, NStZ-RR 2004, 368; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 152 StPO Rz. 4 ff. 3 BGH v. 27.2.1992 – 5 StR 190/91, BGHSt. 38, 214; BGH v. 12.10.1993 – 1 StR 475/93, BGHSt. 39, 349 (gegen BGH v. 7.6.1983 – 5 StR 409/81, BGHSt. 31, 395); BGH v. 12.1.1996 – 5 StR 756/94, StV 1996, 187 ff. unter Berufung auf BGH v. 12.10.1993 – 1 StR 475/93, BGHSt. 39, 349; BGH v. 29.10.1992 – 4 StR 126/92, BGHSt. 38, 372 (373); BGH v. 21.5.1996 – 1 StR 154/95, NStZ 1996, 452; aus dem Schrifttum: Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 136 StPO Rz. 25; Diemer in KK, § 136 StPO Rz. 14 ff.; Roxin, JZ 1993, 426; Roxin, JZ 1997, 346; Dahs, StraFo 1998, 253; Meyer-Goßner/Appl, StraFo 1998, 258; Fezer, JR 1992, 385.
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Rz. 294
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
das Verteidigungsmandat erst nach polizeilicher Vernehmung übernommen, so hat der Verteidiger die Voraussetzungen eines evtl. Verwertungsverbotes sorgfältig zu prüfen und dieses ggf. rechtzeitig geltend zu machen (Rz. 529). Eine zwangsweise Vorführung des Beschuldigten zur polizeilichen Vernehmung ist übrigens immer unzulässig1. Vor der förmlichen Einleitung des Verfahrens (§ 152 Abs. 2 StPO) gegen eine oder mehrere bestimmte Personen greift die Polizei häufig zu dem Mittel der zunächst nur informatorischen Anhörung, um die Art der Beteiligung des einzelnen festzustellen (z.B. bei Betriebs- und Verkehrsunfällen, Umweltschäden, Bränden und Schlägereien). Allerdings ist nicht auszuschließen, dass durch ein solches Vorgehen derjenige, den die Polizei sachlich als Beschuldigten ansieht, erst zu einem späteren Zeitpunkt über seine Rechte belehrt wird. Dies ist dann unzulässig, wenn die Strafverfolgungsbehörde den Betroffenen mit sachfremden Erwägungen, etwa nur zu dem Zweck, ihn dem Aussage- und Vereidigungszwang auszusetzen, in die Rolle eines Zeugen drängt2. Die besondere Schwierigkeit besteht darin, dass die Erklärung des Betroffenen, der zuerst als Zeuge vernommen und dann Beschuldigter geworden ist, über die Verhörspersonen (Rz. 637) in die Hauptverhandlung eingeführt werden kann. Eine – verspätete – Belehrung nützt ihm dann nichts mehr. 294
Der Rat zur Aussageverweigerung vor der Polizei wird oft richtig sein, zumal wenn der Verteidiger die Akten nicht kennt und sein Recht auf Anwesenheit nicht anerkannt ist (Rz. 298)3. Gleichwohl ist er nach wie vor eine zweischneidige Angelegenheit und erfordert eingehende Überlegungen auch dann, wenn feststeht, dass der Mandant als Beschuldigter vernommen werden soll. Nicht in jedem Falle ist es richtig, sich der Polizei gegenüber ablehnend zu verhalten. Das kann zu prozessualen Zwangsmaßnahmen und sogar zu Anklagen führen, die bei vollständiger Äußerung vielleicht unterblieben wären. Mindestens verzögert sich das Verfahren, weil die Polizei die Beweiserhebung ausdehnt, was erfahrungsgemäß die Lage des Beschuldigten nur selten verbessert. Auch muss der Verteidiger immer noch damit rechnen, dass Polizei und im weiteren Verfahren Staatsanwalt und Gericht das Schweigen unausgesprochen und oft auch unerkennbar als Schuldindiz ansehen – ungeachtet der insoweit völlig eindeutigen anderen Rechtslage4. Hiergegen wird der Verteidiger immer wieder ankämpfen müssen. Schweigen ist kein Beweis für Schuld. Allenfalls eine gewisse Bestätigung dafür, dass nicht ein völlig 1 BGH v. 23.2.1962 – 4 StR 511/61, NJW 1962, 1020. 2 BGH v. 18.10.1956 – 4 StR 278/56, NJW 1957, 230; BayObLG v. 2.11.2004 – 1 St RR 109/04, wistra 2005, 239. 3 Str., vgl. i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 163 StPO Rz. 16. 4 BVerfG v. 8.10.1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105; BVerfG v. 13.1.1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37; BGH v. 27.2.1992 – 5 StR 190/91, BGHSt. 38, 214; BGH v. 26.5.1992 – 5 StR 122/92, BGHSt. 38, 302; deutlich: BVerfG v. 7.7.1995 – 2 BvR 326/92, NStZ 1995, 555.
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Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen
Rz. 294
Unbeteiligter verfolgt wird. Freilich darf der Verteidiger die nachteiligen Auswirkungen nicht verkennen, die sich insbesondere für die Hauptverhandlung ergeben können (Rz. 494). Hierzu muss man wissen, dass Schweigen vor der Polizei und späteres Reden vor dem Richter nicht zulasten des Beschuldigten berücksichtigt werden dürfen (Rz. 494). Für den Verteidiger bleibt aber stets offen, ob das Schweigen vor der Polizei nicht doch die Überzeugungsbildung des Richters ungünstig beeinflusst. Nach aller Erfahrung ziehen vor allem Laienrichter bewusst oder unbewusst aus dem Schweigen Schlüsse auf die Schuld des Angeklagten. Dagegen kann einer polizeilichen Vernehmung ohne vorherige Akteneinsicht eine nicht unerhebliche „Beweiskraft“ zukommen. Sie sollte allerdings – aufgrund der damit verbundenen Risiken – die absolute Ausnahme bleiben. Besonders heikel ist die Frage des vorläufig festgenommenen oder verhafteten Mandanten. Zwar hat der Haftrichter den Beschuldigten über sein Recht zum Schweigen zu belehren (§ 115 Abs. 3 StPO). Trotz der Belehrungspflicht ist jedoch nicht zu leugnen, dass die Aussageverweigerung zur Verlängerung der Haft führen kann („Wer schweigt, wird auch verdunkeln“ – Rz. 296). Zuweilen wird auch in bedenklicher Weise die Erklärung des Beschuldigten, er wolle vor seiner Äußerung zur Sache einen Anwalt befragen, als Aussageverweigerung bewertet. In Verkehrsstrafsachen kann die Rückgabe des sichergestellten oder vorläufig entzogenen Führerscheins davon abhängen, dass sich der Beschuldigte zur Sache äußert. Schließlich kann das Schweigen den Zeitpunkt hinausschieben, in dem der Verteidiger Akteneinsicht erhält. Allerdings hat der Verteidiger grundsätzlich das Recht auf Akteneinsicht schon vor dem Vermerk über den Abschluss der Ermittlungen (§§ 169a, 147 Abs. 2 StPO), die Staatsanwaltschaft könnte aber die Aussageverweigerung des Beschuldigten zum Anlass nehmen, den Untersuchungszweck als gefährdet anzusehen (Rz. 266) und die Akteneinsicht verzögern. Diese Nachteile sind gegenüber den Vorteilen einer Einlassungsverweigerung abzuwägen. Schon in Verfahren mittleren Umfangs übersieht der Beschuldigte selten die Bedeutung und Folgen seiner Erklärungen. Die Gefahr, dass er sich unwiderbringlich „festlegt“, ist kaum auszuräumen; die Verteidigung gegen die Angaben des eigenen Mandanten ist in der Regel aussichtslos. Schweigt der Beschuldigte vor der Polizei, so werden die Nachteile vermieden, die sich notwendigerweise aus der Situation des Betroffenen und aus dem Spannungsverhältnis zu dem amtlichen Interesse an Aufklärung des Sachverhalts ergeben. Auch kann sich der Mandant in der Hauptverhandlung immer noch zur Sache äußern, obwohl er bei der Polizei geschwiegen hat. Eine Missdeutung dieses Aussageverhaltens kann ggf. durch Erklärung des Verteidigers abgefangen werden (z.B.: Eine Erklärung soll nicht vor [oder erst nach] Gewährung der Akteneinsicht abgegeben werden.). Im umgekehrten Falle – er redet vor der Polizei und schweigt in der Hauptverhandlung – muss er hingegen mit erheblichen Nachteilen durch Verwertung seiner Aussage über die Zeugenvernehmung des Polizeibeamten rechnen (Rz. 494).
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Rz. 295
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
295
Welcher Rat richtig ist, kann immer nur vom Einzelfall abhängen. Hierbei muss der Verteidiger auch die Persönlichkeit des Mandanten in Betracht ziehen. Sein Auftreten, seine Gewandtheit, sein Temperament, seine gesundheitliche Verfassung spielen bei den Überlegungen eine nicht unerhebliche Rolle. Die Entscheidung wird dadurch erschwert, dass der Verteidiger den Sachverhalt zu diesem Zeitpunkt oft nur aus der Sicht des Auftraggebers kennt. Das bisherige Beweisergebnis kann er seinem Rat selten zugrunde legen. Er ist insoweit vielfach auf Vermutungen angewiesen. In geeigneten Fällen bietet sich eine andere Lösung, die diese Nachteile vermeidet und gleichwohl einen Aufschub der Vernehmung ermöglicht. Der Verteidiger erklärt, dass sein Mandant Wert darauf lege, sich eingehend zur Sache zu äußern. Damit verbindet er den Antrag auf Akteneinsicht gem. § 147 StPO, über den die Staatsanwaltschaft entscheiden möge. Er fügt hinzu, dass die Stellungnahme zur Sache bis zur Durchführung der Akteneinsicht zurückgestellt werde. Damit vermeiden der Verteidiger und der Beschuldigte eine „Aussageverweigerung“ mit einer nicht günstigen Auswirkung. Außerdem bekommt der Verteidiger die Akteneinsicht evtl. schneller (oder wenigstens teilweise) und kann den Mandanten dann sachgemäß beraten. Polizei und Staatsanwälte sind von solcher Verfahrensweise des Verteidigers meist nicht erbaut. Sie können aber nichts dagegen tun. Der Verteidiger hat hier die stärkere Position. Unterbleibt allerdings die ausdrücklich angekündigte Stellungnahme, kann dies mindestens psychologische Nachteile auslösen!
296
Die Methode kann dann gefährlich sein, wenn ein Haftbefehl in der Luft liegt. Dann wird die Ablehnung der Aussage zur Begründung einer Verdunkelungsgefahr oder einer Haftverlängerung mit herangezogen, obwohl der Beschuldigte nur von seinem gesetzlichen Recht Gebrauch macht (Rz. 346).
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Schließlich darf der Beschuldigte sich in allen Fällen schriftlich zur Sache äußern. Darüber soll er in geeigneten Fällen belehrt werden (§ 136 Abs. 1 S. 4 StPO). Die Polizei schränkt die Belehrung gelegentlich ein, indem sie darin keine Verpflichtung, sondern lediglich eine Befugnis sieht. Das ist unrichtig. Der Vorteil einer schriftlichen Äußerung liegt auf der Hand. Der Beschuldigte kann seine eigenen Worte gebrauchen. Er kann sich seine Einlassung in Ruhe überlegen und die Punkte hervorheben, auf die es zu seiner Entlastung ankommt. Das spielt vor allem in umfangreichen Sachen eine Rolle, bei denen der Beschuldigte etwaige Unterlagen auswerten muss. Er kann auch einen Anwalt um Formulierungshilfe bitten. Für den Anwalt ist freilich Vorsicht geboten. Die Gefahr der Verdunkelung und der Strafvereitelung liegt hier besonders nahe (Rz. 60). Der sachliche Wahrheitsgehalt darf nicht verfälscht werden. Schildert der Mandant einen Sachverhalt, der ihn belastet, darf der Anwalt diesen Sachverhalt nicht „umbiegen“. Er braucht aber die belastenden Umstände nicht zu offenbaren, wenn nicht mit ihrer Unterdrückung die Sachdarstellung zur Unwahrheit hin verfälscht wird.
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Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen
Rz. 299
Allerdings ist das Misstrauen der Polizei bei anwaltlich beratenen schriftlichen Einlassungen in Betracht zu ziehen. Der Verteidiger wird darauf achten müssen, diesem Misstrauen durch korrektes Verhalten zu begegnen. Noch ein anderer Umstand ist zu berücksichtigen: Die schriftliche Äußerung des Mandanten ist eine Urkunde, die in der Hauptverhandlung verlesen und auch zum Nachteil des Mandanten verwertet werden darf (Rz. 630)1. Dieser Nachteil wird vermieden, wenn der Verteidiger die Erklärung seines Mandanten in einem anwaltlichen Schriftsatz einfügt, am besten in indirekter Rede oder nicht personenbezogener Darstellung. Derartige Schriftsätze gelten prozessual nicht als Einlassung des Mandanten2, was freilich Vorhalte (Rz. 583) nicht ausschließt3. Alles Gründe, die Stellungnahme nicht etwa in der Sprechstunde „herunterzudiktieren“, weil sie ja „nur“ an die Polizei geht. Sie kann, wenn auch weniger prozessrechtlich, so doch psychologisch Wirkungen bis zum Urteil entfalten. Es ist auch nicht ausgeschlossen, die Anwesenheit des Verteidigers bei 298 der Vernehmung des Mandanten durch die Polizei, ggf. über die Staatsanwaltschaft, zu erreichen, obwohl ein gesetzlicher Anspruch auf Anwesenheit nicht besteht4 – allerdings auch kein Verbot. Praktisch kann der Verteidiger seine Anwesenheit erzwingen, indem er sich nur auf eine staatsanwaltliche oder richterliche Vernehmung des Mandanten einlässt (Rz. 308 ff.), worauf die Ermittlungsbehörden allerdings nicht eingehen müssen. Die Anwesenheit birgt freilich auch eine Gefahr. Polizeiliche Niederschriften, die in Gegenwart des Verteidigers aufgenommen worden sind, kann er später kaum noch angreifen. Solche Bedenken müssen jedoch zurücktreten, wenn es darauf ankommt, Entlastungsbeweise und auch die Umstände alsbald vorzubringen, die den Fall unmittelbar noch nicht betreffen, die aber die Verhältnisse des Beschuldigten und seine Persönlichkeit schon bei der ersten Vernehmung klären. Rechtlich erhebliche Entlastungsbeweise sind schon im Ermittlungsverfahren zu erheben (§ 163a Abs. 2 StPO). Ebenso sind bereits die persönlichen Verhältnisse aufzuklären (§ 136 StPO). Ist der Verteidiger anwesend, so darf er Fragen stellen und dem Mandanten Hinweise geben (vgl. im Einzelnen Rz. 311). Der Verteidiger sollte schon bei der Polizei anregen, ihm Abschriften der 299 Protokolle über die Vernehmung des Beschuldigten und der Zeugen zu1 OLG Hamm, JMBl. NRW 1968, 215. 2 Dazu BGH v. 6.4.1994 – 2 StR 76/94, StV 1994, 468; BGH v. 13.12.2001 – 4 StR 506/01, StV 2002, 182. 3 Für Hauptverhandlung vgl. BGH v. 3.7.2003 – 1 StR 453/02, NStZ 2004, 457 m. Anm. Dahs. 4 So Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 163 StPO Rz. 16; Griesbaum in KK, § 163a StPO Rz. 21 f.; Krause, StV 1984, 169 (173); allerdings muss die Polizei bei einer Festnahme den Beschuldigten darüber belehren, dass er einen Verteidiger hinzuziehen kann – BGH v. 27.6.2013 – 3 StR 435/12, NStZ 2013, 604.
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Rz. 300
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
zuleiten. Der Antrag wird vor allem in Sachen größeren Umfangs zweckmäßig sein. Allerdings ist auch insoweit mit dem Widerstand der Polizei zu rechnen, obwohl die Aushändigung von Überstücken der Beschuldigtenvernehmung bedenkenlos ist, da der Verteidiger diese Aktenteile nach § 147 Abs. 3 StPO immer erhalten kann (Rz. 270). Der Verteidiger hat hier auch ein probates Mittel in der Hand. Die Erteilung der Abschriften wird praktisch „erzwungen“, wenn er andeutet, dass der Beschuldigte sich anderenfalls überhaupt nicht vernehmen lassen werde. Ggf. kann auch versucht werden, über die Staatsanwaltschaft eine entsprechende Anweisung an die Polizei zu erreichen. Werden Vorhalte aus Zeugenvernehmungen gemacht, so kann der Verteidiger versuchen, entsprechend vorzugehen. Zumindest sollte er erreichen, dass er die einschlägigen Passagen durchlesen kann, um die Korrektheit des Vorhalts zu überprüfen. Gerade um Missverständnisse zu vermeiden, sollte hierauf stets geachtet werden. Die Kenntnis vom Abschluss der polizeilichen Ermittlungen und der Abgabe der Sache an die Staatsanwaltschaft ist für den Verteidiger von Bedeutung, damit er sich alsbald mit dem Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft in Verbindung setzen kann (Rz. 257). Der Verteidiger kann den Antrag an die Polizei in der Form stellen, dass er seine Vollmacht vorlegt und bittet, ihm von der Abgabe an die Staatsanwaltschaft Nachricht zu geben. Freilich ist dies meist unzureichend, weil dieser Antrag bei der Polizei oft übersehen wird. Daher ist es zweckmäßig, mündlich oder fernmündlich mit dem zuständigen Polizeibeamten Verbindung zu halten, um die Weitergabe der Sache und ggf. das Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft rechtzeitig zu erfahren. b) Mitwirkung bei Gegenüberstellungen Literatur: Gniech/Stadler, Die Wahlgegenüberstellung – Methodische Probleme des kriminalistischen Wiedererkennungsexperiments, StV 1981, 565; Köhnken, Gegenüberstellung – Fehlerquellen bei der Identifizierung durch Augenzeugen, Kriminalistik 1993, 231; Merten/Schwarz/Walser (Hrsg.), Praxis des Wiedererkennungsverfahrens bei der Polizei des Landes Baden-Württemberg, 1998; Nelles, Der Einfluss der Verteidigung auf Beweiserhebungen im Ermittlungsverfahren, StV 1986, 74; Nöldeke, Zum Wiedererkennen des Tatverdächtigen bei Gegenüberstellung und Bildvorlage, NStZ 1982, 193; Odenthal, Die Gegenüberstellung zum Zwecke des Wiedererkennens, NStZ 1985, 433; Odenthal, Die Gegenüberstellung im Strafverfahren, 1986; Odenthal, Identifizierung von Verdächtigen, Gegenüberstellung und Wahllichtbildvorlage, StraFo 2013, 62; Pauly, Das Wiedererkennen im Straf- und Bußgeldverfahren, StraFo 1998, 41; Wiegmann, Das Wiedererkennen im Straf- und Bußgeldverfahren, StraFo 1998, 37.
300
Wahlgegenüberstellungen zur Identifizierung des Beschuldigten werden durchweg von der Polizei durchgeführt. Sie haben oft verfahrensentscheidende Bedeutung. Der Verteidiger sollte seine Beteiligung durchsetzen, um die äußeren Bedingungen (Zahl, Ähnlichkeit – Statur, Haartracht,
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Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen
Rz. 301
Brille –, Kleidung, Haltung der Vergleichspersonen)1 zu überwachen und die erste Äußerung der Zeugen mitzuhören. Ein entsprechender Antrag an die Staatsanwaltschaft führt hier häufig zum Erfolg, zumal wenn vom Beschuldigten eine gewisse Kooperation, z.B. hinsichtlich Haar- und Barttracht, Brille, Kleidung usw. erwartet wird. Auch wenn der Beschuldigte die Bereitschaft zur Mitwirkung an den Modalitäten der Wahlgegenüberstellung von der Anwesenheit seines Verteidigers abhängig macht, erklärt die Staatsanwaltschaft nicht selten ihre Zustimmung. Allerdings wird es als zulässig angesehen, das von der Ermittlungsbehörde für richtig erachtete Aussehen und Verhalten des Beschuldigten mit Gewalt zu erzwingen2. Dagegen werden Einwendungen erhoben3, wobei Art und Intensität der Zwangsmaßnahmen der Ermittlungsbehörde u.a. am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen sind. Ist in einem Ermittlungsverfahren mit Zwangsmaßnahmen solcher Art zu rechnen, kann es notwendig sein, in einem vorsorglich eingereichten Schriftsatz auf Bedenken aufmerksam zu machen. Man erreicht damit wenigstens eine vorherige Überprüfung der polizeilichen Intentionen durch die Staatsanwaltschaft (vgl. i.Ü. Rz. 586). Der Frage, ob der Wahlgegenüberstellung etwa Lichtbildvorlagen bei der Polizei vorausgegangen sind, muss der Verteidiger besondere Aufmerksamkeit schenken, weil sie die Gegenüberstellung zu einer Farce machen können und zudem häufig selbst fehlerbehaftet sind4. In einer solchen Situation wird oft Anlass bestehen, die Gegenüberstellung abzulehnen und die Gründe aktenkundig zu machen. So kann ggf. die Staatsanwaltschaft veranlasst werden, diesen für den Beschuldigten oft gefährlichen Ermittlungsansatz aufzugeben, weil das Ergebnis mit zu großen Sach- oder Rechtsrisiken behaftet sein würde. c) Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen der Staatsanwaltschaft Literatur: Vgl. das vor Rz. 292 angeführte Schrifttum.
Der Beschuldigte ist verpflichtet, zur Vernehmung vor dem Staatsanwalt 301 zu erscheinen: Sein Verteidiger hat dabei Anspruch auf Benachrichtigung vom Termin und Anwesenheit (§ 163a Abs. 3 StPO). In geeigneten Fällen sollte auf die Vernehmung des Mandanten durch den Staatsanwalt hingewirkt werden. Gegenüber der polizeilichen Vernehmung kann sie den Vorteil haben, dass der Staatsanwalt frühzeitig einen persönlichen Eindruck von dem Beschuldigten erhält und sich nicht aus den Akten ein 1 Ignor/Bertheau in Löwe/Rosenberg, § 58 StPO Rz. 13. 2 BVerfG v. 4.2.1978 – 2 BvR 406/77, BVerfGE 47, 239; KG v. 2.4.1979 – 4 Ws 42/79, JR 1979, 347. 3 Grünwald, JZ 1981, 423. 4 Zu diesem Problemkreis BGH v. 3.2.1987 – 1 StR 644/86, NStZ 1987, 288; Odenthal, NStZ 1985, 433; Köhnken, Kriminalistik 1993, 231; Ignor/Bertheau in Löwe/Rosenberg, § 58 Rz. 14.
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Rz. 302
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
notwendig unvollständiges Bild machen muss. Darin liegt auch der Vorteil einer persönlichen Vernehmung gegenüber einer nur schriftlichen Eingabe an die Staatsanwaltschaft. 302
Die Vernehmung des Mandanten durch den Staatsanwalt bedarf sorgfältigster Vorbereitung. Sie ist nicht selten entscheidend für Anklage oder Einstellung. Ist die Akteneinsicht schon gewährt worden, muss der Klient die Ergebnisse der Ermittlungen genau kennen und präsent haben. Die zu erwartenden Fragen und Vorhalte müssen mit ihm besprochen sein. Bei der Vorbereitung sollte der Verteidiger lieber zu viel als zu wenig tun, allerdings auch darauf achten, dass der Mandant nicht überfordert wird (vgl. i.Ü. Rz. 496 ff., 1162).
303
Die persönliche Teilnahme des Verteidigers an der staatsanwaltlichen Vernehmung ist eine unabdingbare Notwendigkeit. Der Mandant darf in dieser ersten und möglicherweise entscheidenden Begegnung mit dem Ermittlungsbeamten, der über die Anklage zu entscheiden hat, nicht allein gelassen werden, sondern bedarf in besonderem Maße des Schutzes und der Betreuung. Bei der Vernehmung hat der Verteidiger dieselben weitgehenden Rechte zu Fragen, Hinweisen und Beanstandungen, wie er sie bei richterlicher Vernehmung haben würde (Rz. 311). Darüber hinaus muss er aufkommende Nervosität und Unsicherheit des Klienten in geeigneter Weise abfangen, Missverständnisse korrigieren, ungeschickte und mehrdeutige Formulierungen klarstellen und auf sachgerechte Protokollierung achten. Geschieht dies mit behutsamer Hand, so wird auch der vernehmende Staatsanwalt die Hilfestellung des Verteidigers im eigenen Interesse akzeptieren.
304
Das Mitwirkungsrecht des Verteidigers impliziert den Anspruch auf eine Abschrift oder Kopie des Protokolls. Vorsorglich sollte man dies zu Beginn der Vernehmung klarstellen, um im Weigerungsfalle jedenfalls mitschreiben zu können. Auf eine eigene Tonbandaufnahme besteht dagegen kein Rechtsanspruch. Notizen und Mitschriften des Verteidigers dagegen können nicht verboten werden.
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Wenn, was allgemeine Praxis ist, die Vernehmung auf Tonträger diktiert wird, sollte auf das Angebot des Staatsanwalts, der Beschuldigte könne selbst diktieren, nur eingegangen werden, wenn der Mandant in der Sache absolut sicher und sprachgewandt ist. Notwendig werdende häufige Interventionen des Verteidigers beim Diktat könnten zu einem ungünstigen Eindruck führen. Die Vernehmung auf Tonträger bietet im Übrigen den hoch einzuschätzenden Vorteil, dass das Protokoll nicht sofort unterschrieben und geschlossen werden kann. Es wird vielmehr in der Regel von der Staatsanwaltschaft zugeschickt, was die Möglichkeit eröffnet, dass der Inhalt von Verteidiger und Mandant nochmals überprüft und ggf. korrigiert und ergänzt werden kann. Dies ist nicht selten und wird von der Staatsanwaltschaft üblicherweise auch ohne weiteres hingenommen. Allerdings sollte dies nicht dazu führen, dass ein fast völlig neues Pro206
Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen
Rz. 308
tokoll entsteht (oder sogar neu geschrieben wird, was auch vorgekommen ist). Die Änderungen sollten korrekterweise kenntlich gemacht werden und sich auf Richtigstellungen, Vervollständigung und die Aufklärung von Missverständnissen beschränken. Es kommt vor, dass der Staatsanwalt das Verfahren einstellen will, sich 306 aber durch das bisherige Schweigen des Beschuldigten daran gehindert sieht. Er wünscht die Vernehmung dann mehr als formalen Akt und zur besseren Fundierung der Einstellung. Wenn das dem Verteidiger durch den Staatsanwalt deutlich gemacht wird, kann er auf die zeitraubende Akteneinsicht und evtl. sogar auf die Anwesenheit bei der Vernehmung verzichten. Im Übrigen muss der Verteidiger rechtzeitig dafür sorgen, dass die Staats- 307 anwaltschaft die dem Beschuldigten günstigen Umstände von vornherein vollständig aufklärt. Für Anträge, insbesondere Beweisanträge, und Anregungen zur Beweiserhebung durch den Staatsanwalt gelten ähnliche Überlegungen wie beim polizeilichen Ermittlungsverfahren (Rz. 246 ff.). So kann ein Beweisantrag ganz unbedenklich sein, vor allem, wenn der Verteidiger das zu erwartende Beweisergebnis mit hinreichender Sicherheit abschätzen kann. Ansonsten muss er bedenken, dass ihm ein Rechtsanspruch auf Teilnahme an Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft oder die von ihr beauftragte Polizei nicht zusteht (Rz. 298), was man aber ggf. mit dem Staatsanwalt „aushandeln“ kann. d) Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen des Vernehmungsrichters Literatur: Eisenberg, Zur „besonderen Qualität“ richterlicher Vernehmungen im Ermittlungsverfahren, NStZ 1988, 488; Rieß, Grenzen der Ermittlungsbefugnisse des Richters im Vorverfahren, NStZ 1983, 521; Rieß, Die Prüfungskompetenz des Ermittlungsrichters, NStZ 1991, 513; Schellenberg, Zur Zulässigkeit staatsanwaltlicher Vernehmungsersuchen im Ermittlungsverfahren, NStZ 1991, 72; Schlothauer, Zum Beweisantragsrecht des Beschuldigten gegenüber dem Ermittlungsrichter (§ 166 Abs. 1 StPO), StV 1995, 158; Welp, Anwesenheitsrechte und Benachrichtigungspflichten, JZ 1980, 134; vgl. auch das vor Rz. 292 angeführte Schrifttum.
In manchen Fällen kann es zweckmäßig oder sogar geboten sein, dass der 308 Verteidiger die richterliche Vernehmung des Beschuldigten schon im Ermittlungsverfahren beantragt. Mit Rücksicht auf sein Recht zur Teilnahme an einer Vernehmung durch den Staatsanwalt (Rz. 257) wird es sich dabei jedoch nur um Fälle handeln, in denen begründete Bedenken gegen ein objektives Vorgehen der Staatsanwaltschaft bestehen oder es aus anderen Gründen angebracht ist, auf richterlicher Vernehmung zu bestehen, etwa wegen der Persönlichkeit des Mandanten. Erzwingbar ist die richterliche Vernehmung allerdings nicht. Auch die Ankündigung, vor der Staatsanwaltschaft nicht auszusagen, lässt diese häufig kalt.
207
Rz. 309
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
309
Es muss aber bedacht werden, dass ein richterliches – nicht aber ein staatsanwaltliches – Vernehmungsprotokoll nach § 254 Abs. 1 StPO in der Hauptverhandlung ggf. als Beweismittel verlesen werden kann1. Auch an einem richterlichen Vernehmungstermin sollte der Verteidiger daher in jedem Fall teilnehmen, auch wenn er zur Aussageverweigerung rät. Nur so wird er verhindern können, dass der Mandant dazu kommt, sich entgegen dem anwaltlichen Rat zur Sache zu erklären. Darüber hinaus ist der Auftraggeber zu belehren, dass er auch dann zu dem Termin zu erscheinen hat, wenn er sich schriftlich geäußert hat oder die Aussage verweigern will; über seine Personalien muss er ohnehin Auskunft geben2. Bei unbegründetem Nichterscheinen besteht die Gefahr eines Vorführungsbefehls (§ 135 StPO), der indessen keinesfalls außer Verhältnis zu dem erstrebten Zweck stehen darf3.
310
Auch bei allen anderen richterlichen Untersuchungshandlungen (Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen, Einnahme des Augenscheins) besteht ein Recht auf Anwesenheit (Rz. 258) für den Verteidiger (ebenso für den Staatsanwalt); von den Terminen muss er benachrichtigt werden (§§ 168c, 168d StPO). Es empfiehlt sich, schon zu Beginn des Termins die Fertigung einer zusätzlichen Protokolldurchschrift und ihre Aushändigung zu beantragen. Bedenklich ist die einschränkende Auslegung des § 168c Abs. 5 StPO (auf den in § 163a Abs. 3 StPO verwiesen wird) durch den BGH4, wonach eine Benachrichtigung des Verteidigers von der bevorstehenden Vernehmung dann unterbleiben kann, wenn nur hierdurch materielle Gefahren für die „Gewinnung einer wahrheitsgemäßen Aussage“ abgewendet werden können. Erfährt der Verteidiger indes auf andere Weise von dem Termin und erscheint, so darf ihm die Anwesenheit nicht versagt werden5. Eine Ausnahme gilt für die im Gesetz nicht geregelte Frage des Anwesenheitsrechts bei der Vernehmung eines Mitbeschuldigten. Dazu hat der BGH entschieden, dass § 168c Abs. 2 StPO nicht analog anzuwenden ist und somit der Verteidiger kein Teilnahmerecht hat6.
311
In den Fällen der Anwesenheit hat der Verteidiger das Recht, Fragen zu stellen, Vorhalte zu machen und Hinweise zu geben7. Der Verteidiger kann dadurch Gang und Inhalt der Vernehmung beeinflussen. Beanstandungen sind häufig notwendig, wenn es um subtile innere Tatsachen 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 254 StPO Rz. 1. 2 Arg. ex § 111 OWiG. 3 Was bei richterlicher Vernehmung nach allgemeiner Meinung jedoch nie der Fall sein soll; so Diemer in KK, § 133 StPO Rz. 13; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 133 StPO Rz. 7. 4 BGH v. 2.5.1979 – 2 StR 99/79, BGHSt. 29, 1 ff. m. abl. Anm. Welp, JZ 1980, 134; i.Ü.str. vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 168c StPO Rz. 5 m.N. 5 BGH v. 2.5.1979 – 2 StR 99/79, BGHSt. 29, 1; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 168c StPO Rz. 5. 6 BGH v. 20.2.1997 – 4 StR 598/96, StV 1997, 234. 7 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 168c StPO Rz. 1.
208
Beratung und Mitwirkung bei Vernehmungen
Rz. 312
geht, etwa bei hypothetischen Fragen wie: „Können Sie es ausschließen, dass …“, „Wie hätten Sie reagiert, wenn …“. Das sind in Wahrheit keine Fragen nach Tatsachen. Bedenklich ist auch die Protokollierung: „Ich gebe zu …“, die bei der Polizei vielfach üblich ist und die Niederschrift mit einer Tendenz versieht (Rz. 251). Andererseits ist zu beachten, dass der Verteidiger bohrende Fragen des Richters, die sachlich gehalten sind, nicht immer verhindern kann, auch wenn sie den Mandanten in Gefahr bringen. Greift der Verteidiger bei solchen Fragen ein, so entsteht der Eindruck, der Mandant habe etwas zu verbergen. Deshalb kann man auch nur vorsichtig auf eine Aussageverweigerung hinwirken. Sie bringt den Verteidiger auch in den Verdacht, das Verfahren sabotieren zu wollen. Zwar kann er mit der Aussageverweigerung die Vernehmung stilllegen und durch eine entsprechende Ankündigung sich gegenüber dem Vernehmenden durchsetzen. Die damit verbundenen Nachteile dürfen aber nicht außer Acht bleiben. Ein Nachteil der richterlichen Handlungen im Ermittlungsverfahren kann es sein, dass Staatsanwaltschaft und erkennendes Gericht solchen Vernehmungen besondere Bedeutung beimessen. Die richterliche Untersuchung macht das vorbereitende Verfahren „vollkommen“. Wird der Beschuldigte durch seine Einlassung vor dem Ermittlungsrichter oder durch Zeugen und Sachverständige in der richterlichen Vernehmung belastet, so verstärkt sich der Verdacht. Ihn zu entkräften, wird kaum einmal möglich sein. Dabei ist im Auge zu behalten, dass das richterliche Protokoll in die Hauptverhandlung hineinwirkt. Es kann evtl. im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden (§§ 251 Abs. 1, 254 StPO – Rz. 633, 638). Kommt es in der richterlichen Vernehmung zu Auseinandersetzungen mit dem Richter, etwa über die Zulässigkeit von Fragen und Vorhalten, Beschränkungen der Verteidigung oder gar die Art und Weise der Vernehmung (offensichtlich voreingenommener oder sachunkundiger Richter), so muss darauf gedrungen werden, dass diese in das Protokoll aufgenommen werden. Lehnt der Richter entsprechende Anträge der Verteidigung ab, so sollten die Vorgänge sofort im Anschluss an den Termin schriftsätzlich aktenkundig gemacht werden. Damit kann eine wesentlich bessere Basis für spätere Einwendungen gegen die Verwertung bzw. Würdigung des Protokollinhalts geschafft werden als wenn der Protest erst in der Hauptverhandlung erhoben wird. Der Verteidiger wird einen Antrag auf richterliche Vernehmung seines 312 Mandanten im Ermittlungsverfahren nur stellen, wenn der Beschuldigte sich vor dem Richter zur Sache äußern will. Beantragt der Staatsanwalt die richterliche Vernehmung des Beschuldigten (§ 162 StPO), so kann es im Einzelfall zweckmäßig sein, dem Auftraggeber zu raten, seine Einlassung auch gegenüber dem Richter zu verweigern oder sich nur schriftlich zu äußern. Für die Überlegungen des Verteidigers gelten dieselben Grundsätze wie für die Aussageverweigerung und die schriftliche Äuße-
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Rz. 313
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
rung im polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren (Rz. 294). Hat der Ermittlungsrichter schon Termin zur Vernehmung des Mandanten bestimmt, so hebt er ihn erfahrungsgemäß auf, wenn eine schriftliche Äußerung innerhalb einer bestimmten, ggf. mit dem Richter abzusprechenden Frist angekündigt wird. Es empfiehlt sich, in die schriftliche Erklärung auch die Angaben zur Person aufzunehmen (§ 111 OWiG), weil sonst unter Umständen auf diesem Teil der Vernehmung vor dem Richter bestanden wird. 6. Eigene „Ermittlungen“ Literatur: Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 13, 2004, S. 89 ff.; Danckert/Ignor in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 90 ff.; König, Wege und Grenzen eigener Ermittlungstätigkeit des Strafverteidigers, StraFo 1996, 98; Krause, Der „Gehilfe“ der Verteidigung und sein Schweigerecht, StraFo 1998, 1; Krekeler, Strafrechtliche Grenzen der Verteidigung, NStZ 1989, 146, 150; Krekeler/Schonard, Der Berufshelfer im Sinne des § 53a StPO, wistra 1988, 137; Neuhaus, Außergerichtliche Zeugenvernehmungen durch den Strafverteidiger, ZAP 1995, 209; Parigger, Zeugengewinnung und -vernehmung durch den Verteidiger, StraFo 2003, 262; Weihrauch/Bosbach, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. 2011, Rz. 147 ff.; Widmaier, Zur Rechtsstellung des nach §§ 220, 38 StPO vom Verteidiger geladenen Sachverständigen, StV 1985, 526; Wittstamm, Wahrnehmung von Verteidigerrechten = Amtsanmaßung?, StV 1999, 573; vgl. auch das vor Rz. 233 angeführte Schrifttum.
313
Das Recht auf eigene „Ermittlungen“ (besser: Erhebungen) des Verteidigers ist als Rechtsinstitut heute zwar unbestritten1; seine Durchführung (Inanspruchnahme) löst aber gleichwohl bei Staatsanwälten und Richtern oft nicht nur kritische Nachfragen, sondern auch unverhohlenes Misstrauen und Ablehnung aus. Beweisergebnisse solcher Provenienz werden nach aller Erfahrung einer wesentlich strengeren Würdigung unterzogen als dies bei Ermittlungsergebnissen der Staatsanwaltschaft geschieht. Dieses Spannungsfeld muss der Verteidiger stets im Blick haben und in die Entscheidung über eigene Aktivitäten einbringen. Dabei genügt es nicht, nur das Ermittlungsverfahren zu sehen, sondern es muss zugleich die Wirkung der eigenen Erhebungen vor dem Hintergrund einer oder im Hinblick auf die – mögliche – Hauptverhandlung bedacht werden.
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Eigene Erhebungen können zweckmäßig sein, um die Benennung von Beweismitteln im Ermittlungsverfahren vorzubereiten, insbesondere die Validität des Beweismittels vorab zu testen. Nicht selten werden die Recherchen des Verteidigers zu dem Ergebnis führen, von einer Benennung, 1 Vgl. nur OLG Frankfurt v. 6.11.1980 – (2) 3 Ws 800/80, StV 1981, 28 und die Nachw. bei: in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 137 StPO Rz. 2; Weihrauch/Bosbach, Rz. 93, Fn. 254.
210
Eigene „Ermittlungen“
Rz. 316
z.B. des vermeintlichen Entlastungszeugen Abstand zu nehmen oder zu der Erkenntnis, dass der Zeuge hinsichtlich der Ausübung seines Aussageverweigerungsrechts unbeeinflussbar ist. Bei der eigenen Anhörung von Zeugen, Mitbeschuldigten und Sachverständigen (Rz. 217 ff., 223) sind auch gewisse rechtliche Grenzen zu beachten1. Der Verteidiger kann im Übrigen seine Recherchen auf alle Arten von Beweismitteln erstrecken und unterliegt keinen sachlichen Beschränkungen. So kommen neben den „klassischen“ Beweisen auch Rekonstruktionen, Fahrversuche, Laboruntersuchungen und alle Varianten des Sachbeweises in Betracht. Die Beschaffung von entlastendem Beweismaterial oder das Aufspüren 315 von Zeugen muss der Verteidiger nicht in eigener Person durchführen, sondern kann sich dafür dritter Personen als Rechercheuren bedienen. Der Rechercheur muss nicht ein Privatdetektiv sein, sondern es kann jede dafür geeignete Person, z.B. ein pensionierter Kriminalbeamter oder Werkschutzangehöriger usw., herangezogen werden. Bei Einschaltung einer dritten Person muss der Verteidiger aber stets bedenken, dass findige Staatsanwälte oder Richter nicht selten auf den Gedanken kommen, diese Personen als Zeugen über ihre Arbeitsweise und alle von Ihnen gewonnenen Erkenntnisse zu vernehmen und so für den Angeklagten negative Beweisergebnisse aus der Ermittlungstätigkeit seines eigenen Verteidigers zu produzieren. Dem muss der Verteidiger dadurch vorbeugen, dass er die herangezogenen Personen, auch einen beauftragten Sachverständigen, zum Gehilfen der Verteidigung im Sinne des § 53a StPO macht. Damit sichert er seinen Hilfspersonen das gesetzliche Schweigerecht, das allerdings nicht ohne weiteres anerkannt wird. Die Anerkennung darf aber dann nicht verweigert werden, wenn die Hilfsperson in dem „informationellen Schutzbereich“ des Verteidigungsmandats einbezogen ist, d.h. insbesondere wenn sie (natürlich mit Zustimmung des Mandanten) Sachinformationen oder Einsicht in vorliegende Urkunden, Aktenauszüge u.Ä. erhalten hat2. Es empfiehlt sich, zur einwandfreien Dokumentation des strafprozessualen Gehilfenstatus den erteilten Auftrag, die Tatsache, dass Informationen aus dem Mandatsbereich erteilt wurden und die sich ergebenden Rechtsfolgen aus § 53a StPO in einem Brief an den beauftragten Sachverständigen, Privatdetektiv oder Rechercheur festzuhalten. Der Verteidiger hat damit sichergestellt, dass eine Vernehmung der Hilfsperson als Zeuge nur möglich ist, wenn er sie zuvor selbst von der Schweigepflicht entbunden hat. Dass er dabei im Einvernehmen mit dem Mandanten handeln muss, versteht sich von selbst. Der Verteidiger kann Auskünfte amtlicher und nichtamtlicher Stellen 316 und Personen einholen, z.B. des Wetterdienstes oder einer Firma über ein von ihr hergestelltes Produkt. Er kann Zeugen um Informationen ersu1 Dazu Jungfer, StV 1981, 100; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 13, 2004, S. 99. 2 Zu allen Einzelheiten Ignor/Bertheau in Löwe/Rosenberg, § 53a StPO Rz. 3, 5 m.N.
211
Rz. 316
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
chen, und zwar gleichgültig, ob sie bereits vernommen worden sind oder nicht, insbesondere auch, wenn er oder sein Mandant die Zeugen erst ausfindig gemacht hat, sie also noch gar nicht „verfahrensbekannt“ sind. So wichtig es für die Verteidigung sein kann, einen neuen oder noch nicht „ausgeschöpften“ Zeugen zu präsentieren, so viel Sorgfalt und Fingerspitzengefühl muss der Verteidiger dabei aufwenden, um den erstrebten Effekt bei dem in der Regel skeptischen Gericht nicht zu verspielen. Hierzu muss der Verteidiger bei dem Zeugen den Eindruck vermeiden und ggf. korrigieren, dieser sei zu Angaben ihm gegenüber verpflichtet; der entsprechende Hinweis sollte möglichst in einem Vermerk festgehalten werden. Dass der Zeuge im Zusammenhang mit seiner Aussage weder getäuscht, bedroht noch sonst unter Druck gesetzt werden darf, ist schon vor dem Hintergrund der §§ 258, 240 StGB selbstverständlich. Dieser strafrechtlichen Grenze vorgelagert ist jedoch eine Grauzone, die nicht zu unterschätzende Gefahren für die Beweiskraft mit sich bringt: Jede Art der Einflussnahme auf den Zeugen kann dessen Glaubwürdigkeit oder die Glaubhaftigkeit seiner Angaben entwerten1. Wenn dem Gericht solche Methoden bekannt werden, ist mit Sicherheit der Beweiswert so herbeigeführter Aussagen für die richterliche Überzeugungsbildung „kaputt“. Erfahrene Richter finden auch immer einen Weg, dies in der Beweiswürdigung so zu „verpacken“, dass sie rechtlich unangreifbar bleibt. – Nun gibt es Zeugen, die auch in einem sachlich geführten Gespräch leicht ins „Schwätzen“ geraten und das Gesagte dann später nicht mehr wahrhaben wollen – aus welchen Gründen auch immer. Dieser Gefahr begegnet man zweckmäßig entweder durch das Diktat der Angaben des Zeugen während des Gesprächs oder durch einen im Anschluss diktierten Aktenvermerk. Allerdings müssen solche Niederschriften, wenn sie nach außen verwendet werden sollen, vollständig sein, d.h. auch evtl. negative Bekundungen enthalten, was ihren Verteidigungswert stark schmälern kann. Dass der Verteidiger es unterlassen sollte, durch eine entsprechend geschickte Frage- und Gesprächsführung, möglicherweise auch durch Abblocken ihm unbequemer Angaben, die negativen Erkenntnisse des Zeugen aus seiner Befragung „herauszuhalten“, sollte selbstverständlich sein. Er riskiert sonst den Vorwurf, die Zeugenaussage bewusst manipuliert und versucht zu haben, die Staatsanwaltschaft oder das Gericht irrezuführen. Um sich selbst und den Zeugen zur Sorgfalt anzuhalten, kann man die Niederschrift des Gesprächs oder den gefertigten Aktenvermerk von ihm gegenzeichnen lassen – riskiert dabei aber „Rückzieher“ des Zeugen, der sich „so genau“ denn doch nicht festlegen lassen wollte. Wenig förderlich erscheint auch die Gegenwart einer dritten Person, die ihrerseits die Zeugenaussagen später bestätigen soll. Die meisten Zeugen werden wohl dann sehr zurückhaltend sein, wenn sie merken, dass sie – in welcher Form auch immer – auf jedes Wort „festgenagelt“ werden sollen. Bereits diese wenigen Bemerkungen machen deutlich, dass die anwaltliche Zeugenanhörung heikel sein kann. Beson1 Dazu i.E. Beulke/Ruhmannseder, Rz. 58 ff.
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Eigene „Ermittlungen“
Rz. 318
ders problematisch kann es werden, wenn der Verteidiger vor den Ermittlungsbehörden schon alle Zeugen „vernommen“ hat. Dies wird – obwohl nicht unzulässig – schlicht als der Versuch eines Unterlaufens der staatlichen Sachaufklärung angesehen – und entsprechend gewürdigt. Diese psychologische „Fernwirkung“ sollte bedacht werden. Von der Verteidigung beauftragte Sachverständige können sehr gute Ar- 317 beit leisten und betriebsblind gewordene Gutachter der Ermittlungsbehörden widerlegen. Allerdings ist der Verteidigung mit einem „Gefälligkeitsgutachten“ – wie gut und teuer es auch sei – nicht gedient. Staatsanwälte und Strafkammervorsitzende, die vielfach ein ebenso ungerechtfertigtes wie unausrottbares Misstrauen gegen von der Verteidigung bestellte Gutachter haben, machen sich häufig zur Aufgabe, solche Sachverständige so lange und intensiv zu vernehmen und mit Anknüpfungstatsachen aus dem Ergebnis der Ermittlungen oder der Beweisaufnahme der Hauptverhandlung zu „füttern“, bis es ihnen gelingt, den Sachverständigen (z.B. durch „Vorgaben“ aus dem Sachverhalt) „umzudrehen“ und seine Begutachtung zulasten des Beschuldigten bzw. Angeklagten verwerten können. Der Sachverständige sollte daher angehalten werden, sich streng am Akteninhalt zu orientieren und evtl. in Betracht kommende andere fachliche Meinungen und Ausdeutungen von Fakten offen anzusprechen. Es versteht sich, auch, dass die Begutachtung zunächst intern bleiben sollte, z.B. in der Form eines Vorgutachtens oder einer Tendenzäußerung. Die größte Schwierigkeit besteht indes nach aller Erfahrung darin, den fachlich für die einzelne Sache am besten geeigneten Sachverständigen ausfindig zu machen und ihn für eine Begutachtung zu gewinnen. Viele und gerade angesehene Sachverständige neigen dazu, nur im Auftrag von Gericht oder Behörden tätig zu werden, und fürchten, das Odium eines „Parteigutachtens“. Hier muss der Verteidiger den angesprochenen Gutachter von der Seriosität und Bedeutung des Auftrages überzeugen. Bei der Auswahl ist nüchterner Sachverstand klangvollen Titeln und (angeblichen) Großtaten in anderen Verfahren der Vorzug zu geben. Oft ist es für die Zwecke der Verteidigung auch ausreichend, dass der Sachverständige lediglich die fachliche Schlüssigkeit und die abstrakt-wissenschaftliche Vertretbarkeit eines von der Staatsanwaltschaft eingeholten Gutachtens überprüft und der Verteidigung Schwachstellen für die Auseinandersetzung aufzeigt – ohne mit einem eigenen Gutachten hervorzutreten. Auf dieser Basis kann dann im Ermittlungsverfahren oder in der Beweisaufnahme die Grundlage für einen Antrag auf Einholung eines „Obergutachtens“ (Rz. 684) geschaffen werden. Dieser Weg ist nicht selten erfolgversprechender. Wesentlich unproblematischer ist der Umgang mit Urkunden, die sich 318 die Verteidigung in jeder in Betracht kommenden Weise verschaffen kann. Für die Prüfung der Nutzbarkeit kommt es allein auf die Echtheit und den Aussagegehalt der Dokumente an. Vor Jahren war ich in der Situation, möglicherweise verfahrensentscheidende, jedoch im Ausland befindliche Urkunden nur im Wege des Kaufs erhalten zu können. Dies 213
Rz. 319
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
wurde bei der Vorlage der Dokumente vor Gericht auch offengelegt. Die spontane Skepsis über diese Art der Beweisbeschaffung verkehrte sich allerdings in ihr Gegenteil, nachdem das Gericht durch ein Behördengutachten die Echtheit der Dokumente bestätigt erhalten hatte. Soweit der Verteidiger Kopien oder Abschriften von Urkunden vorlegt, ist auf die Vollständigkeit und inhaltliche Richtigkeit des wiedergegebenen Textes selbstverständlich besonders zu achten; gegen die Vorlage von Auszügen aus Urkunden sind Staatsanwaltschaften und Gerichte sehr misstrauisch. Sie sollte deshalb unterbleiben oder – wenn unumgänglich – bei Vorlage schriftlich plausibel erklärt werden. 319
Wie jedermann hat der Verteidiger auch das Recht der Besichtigung von Tatorten und Unfallorten. Er kann über die örtlichen Verhältnisse Skizzen und Fotografien fertigen oder sie vermessen (lassen). Fotografien müssen dabei in dem durch den Verfahrenszweck abgesteckten Rahmen objektiv sein und dürfen nicht, etwa durch die Wahl bestimmter, nicht verfahrensrelevanter Winkel die örtlichen Verhältnisse für den Betrachter verfälschen. Solche „Lichtbildlügen“ hätten auch in aller Regel kurze Beine, weil die Ermittlungsbehörden den sich aus den Fotografien für die Verteidigung ergebenden günstigen Befund mit Sicherheit durch eigene Augenscheinseinnahme nachprüfen würden. Auch eine „Nachsuche“ nach beweisrelevanten Gegenständen ist dem Verteidiger – wie übrigens jedermann – nicht verboten. Anders als „jedermann“ kommt der Verteidiger aber in Schwierigkeiten, wenn er dabei „Zufallsfunde“ macht, die erkanntermaßen für seine Klienten im Verfahren negative Bedeutung gewinnen würden. Während der beim Spaziergang fündig gewordene „Jedermann“ solche Funde mitnehmen, ins Unterholz oder ins Wasser werfen dürfte, könnte ein solches Verhalten für den Verteidiger den geraden Weg in die (versuchte) Strafvereitelung nach § 258 StGB bedeuten. Er muss daher solche Beweisstücke am Fundort belassen, kann aber natürlich sein so erworbenes Wissen im Rahmen seiner Beratungs- und Verteidigungsaufgabe auswerten. Damit ist allerdings nicht gemeint, dass er nunmehr seinen Klienten veranlasst, das zu tun, was ihm selbst untersagt ist. Ob er (ungefragt) eine unmittelbar aktuelle Informationspflicht gegenüber seinem Mandanten hat, ist eine sehr schwierige Frage. Sie kann wohl nur von Fall zu Fall „praktikabel“ gelöst werden. Zum Glück kommen aber derartige Fälle recht selten vor.
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Hat der Verteidiger auf seine Weise Beweise „erhoben“, so muss er noch überlegen, ob eine sofortige Verwertung richtig ist oder er sie für einen späteren Verfahrensabschnitt zurückhält. Verweigert z.B. die Polizei die Anwesenheit des Verteidigers bei der Zeugenvernehmung, so ist die sofortige Benennung eines Zeugen oft nicht zweckmäßig. Bringt der Verteidiger im polizeilichen Verfahren schon alle Beweismittel vor, so wird dem Verfahren auch zu leicht der Charakter der Vorläufigkeit und Unvollkommenheit genommen. Das Überraschungsmoment geht verloren. Staatsanwaltschaft und Gericht werden dazu neigen, dem Akteninhalt 214
Eigene „Ermittlungen“
Rz. 321
des „vollkommenen“ Vorverfahrens größere Bedeutung beizumessen als einem Verfahren, in dem ersichtlich noch nicht alle Beweismittel erschöpft sind. Indessen kann die Zurückhaltung von Beweismaterial ein Nachteil sein, wenn das Beweismaterial verlorengeht oder seine spätere Benutzung erschwert werden kann (z.B. DNA-Material) und wenn die vollständige Beweiserhebung im Ermittlungsverfahren alsbald zur Einstellung des Verfahrens, zur Aufhebung des Haftbefehls oder anderen Maßnahmen führen kann. Auch hier kommt es auf den Einzelfall an. Keine Rolle sollte allerdings der Umstand spielen, dass die notwendigen Auslagen nicht erstattet werden, wenn das Verfahren vor Abschluss der Ermittlungen eingestellt wird (§ 467a). Schließlich darf der Verteidiger nicht übersehen, dass das Entlastungsmaterial den polizeilichen Schlussbericht beeinflussen kann. Die Polizei pflegt in diesem Bericht nicht nur die Tatsachenfeststellungen zusammenzufassen, sie nimmt häufig auch eine erste rechtliche Subsumtion vor und beurteilt aus ihrer Sicht den objektiven und subjektiven Tatbestand. Diese polizeilichen Schuldfeststellungen sind zwar äußerst problematisch. Trotzdem werden sie häufig kritiklos übernommen und finden sich zuweilen fast wortgleich in Anklagen wieder. Sofern für Ermittlungen Privatdetektive beauftragt werden, ist Vorsicht 321 geboten. Ihre Methoden und ihre persönliche Zuverlässigkeit sind nicht immer unanfechtbar. Am besten ist eine Vermittlung über eine kompetente und zuverlässige Empfehlung, z.B. durch Kollegen oder durch die Verbandsorganisationen1. Diese Stellen benennen Mitglieder ihrer Organisation, die für den betreffenden Fall in Betracht kommen. Wenigstens geben sie ihre Mitgliederliste bekannt. Dem Mandanten muss man in jedem Fall raten, eindeutige Honorarvereinbarungen zu treffen und dabei besonders vorsichtig zu verfahren. Detektivaufträge sind Vertrauenssache. Die Schwierigkeit liegt meistens darin, dass der Umfang und der Erfolg der zu leistenden Arbeit im Voraus kaum abzuschätzen sind. Der Mandant muss damit rechnen, dass der beauftragte Detektiv nach einigen vorbereitenden Informationen erklärt, dass sein Honorarvorschuss erschöpft sei und weitere Zahlungen erwartet werden. Die Arbeit eines Detektivs ist in der Regel „teuer“. Der Verteidiger muss beachten, dass die dem Mandanten durch die Tätigkeit des Detektivs entstehenden Auslagen nur selten aus der Staatskasse erstattet werden. Die Notwendigkeit dieser Kosten wird sehr scharf überprüft. Die Erstattung wurde z.B. abgelehnt2, weil das Gericht auf eine Eingabe des Verteidigers inzwischen beschlossen hatte, eine psychologische Begutachtung über die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anzuordnen, 1 Bundesverband Deutscher Detektive e.V. (BDD), Scharnhorststraße 2a, 53721 Siegburg. 2 OLG Hamm v. 28.6.1968 – 3 Ws 542/67, NJW 1968, 1537; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 464a StPO Rz. 16.
215
Rz. 322
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
auf den sich der Detektivauftrag bezogen hatte. Das Gericht legte es dem Verteidiger zur Last, dass er die Erstattung des Gutachtens nicht abgewartet hatte. Mit ähnlicher Argumentation muss auch sonst gerechnet werden. Im Übrigen stehen Staatsanwälte und Richter Erkenntnissen, die Detektive als Zeugen bekunden, nach den Erfahrungen der Praxis sehr kritisch gegenüber und versuchen, die Arbeitsmethoden (mit negativer Tendenz) zu „hinterfragen“. Der Verteidiger sollte auch aus diesem Grunde erwägen, die erzielten Ergebnisse zwar für die Verteidigung auszuwerten und in das Verfahren einzubringen, jedoch möglichst ohne den Detektiv nach außen als Beweisperson zu präsentieren. Ist es unvermeidlich, den Detektiv als Zeugen einzuführen, so sollte man diesen zuvor über die Art und Weise befragen, in der er seine Erkenntnisse gewonnen hat. Dazu mahnen z.B.: inszenierter Verkehrsunfall, um so in das Haus des Auszuforschenden zu gelangen; Anknüpfen einer scheinbaren Liebesbeziehung, um die „Zugänglichkeit“ der angeblich vergewaltigten Zeugin zu testen; rechtswidriger „Mitschnitt“ von Gesprächen u.a. 322
Zusammenfassend betrachtet wird es in vielen Fällen für den Verteidiger geboten sein, im Interesse des Mandanten eigene Erhebungen anzustellen, Beweismittel aufzuspüren, zu verifizieren und in geeigneter Weise auszuwerten. So wichtig es also ist, Recherchen jeder Art im Verteidigungsinstrumentarium präsent zu haben, so sehr muss doch auch vor einem blinden „Ermittlungsaktivismus“ gewarnt werden. Nach den Erfahrungen der Praxis ist in der Mehrzahl der Fälle ein Weniger und nicht ein Zuviel der Verteidigung dienlich. Unbedachte Erhebungsaktivitäten können nicht nur der Sache selbst schaden, sondern den Verteidiger auch in unangenehme Konfliktsituationen bringen. Hier wie auch sonst sollte die Maxime des klugen Abwägens mit einer sorgfältigen Erfolgsabschätzung Vorrang haben vor der Euphorie, ein zusätzliches Verteidigerrecht mehr um seiner selbst willen zu aktivieren! 7. Einstellung des Verfahrens a) Einstellung mangels hinreichenden Tatverdachts Literatur: Damrau, Der Ort der Rückgabe beschlagnahmter Sachen, NStZ 2003, 408; Hilger, Über die Pflicht der Staatsanwaltschaft zur unverzögerten Einstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO, JR 1985, 93; Hoffmann/Knierim, Rückgabe von im Strafverfahren sichergestellten oder beschlagnahmten Gegenständen, NStZ 2000, 461; Kaiser, Tatverdacht und Verantwortung des Staatsanwalts, NJW 1965, 2380; Weiland, Von Recht und Pflicht zur Anklageerhebung, NStZ 1991, 575.
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Alle Maßnahmen des Verteidigers im Ermittlungsverfahren dienen dem Ziel, nach Möglichkeit die Einstellung des Verfahrens zu erreichen. Dazu ist der Staatsanwalt verpflichtet, wenn „die Ermittlungen keinen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage bieten“ (§ 170 StPO), d.h. wenn der Beschuldigte nicht hinreichend verdächtig im Sinne des 216
Einstellung des Verfahrens
Rz. 324
§ 203 StPO ist1. Der Verteidiger hat deshalb ständig darauf zu drängen, dass die Staatsanwaltschaft ihrer Pflicht zur Ermittlung auch der entlastenden Umstände nachkommt (§ 160 Abs. 2 StPO). Notfalls muss er das im Wege über die Dienstaufsicht erzwingen, allerdings nicht sofort über den Generalstaatsanwalt, sondern den Abteilungsleiter. Er muss auch wissen und dem Staatsanwalt sollte es nicht unbekannt sein, dass eine Verletzung dieser Amtspflicht Schadensersatzansprüche auslösen kann2. Auch eine Verzögerung der Entscheidung darf der Verteidiger sich nicht gefallen lassen. Denn die Fortdauer eines unberechtigten Ermittlungsverfahrens ist für jeden Staatsbürger eine schwere Belastung, umso mehr, als die leichtfertigste und dümmste, wie auch die anonyme Anzeige genügt, ihn zunächst „in die Mühle zu bringen“. Der Verteidiger muss auch die bemerkenswerte Vorschrift im Gedächtnis haben, dass der Beschuldigte und der Verteidiger von der Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nicht benachrichtigt werden, wenn der Beschuldigte als solcher noch nicht vernommen ist und nicht um einen Bescheid besonders gebeten hat (§ 170 Abs. 2 StPO). Es darf nicht dazu kommen, dass der Beschuldigte sich immer noch unter dem Druck des Verfahrens fühlt, obwohl es längst eingestellt ist. Es ist auch weithin unbekannt, dass der zu Unrecht denunzierte Staatsbürger seine volle Rehabilitation erreichen kann, indem der Einstellungsbescheid damit begründet wird, dass der Beschuldigte unschuldig ist oder kein begründeter „Verdacht gegen ihn besteht“ (Nr. 88 S. 2 RiStBV). Schließlich ist daran zu denken, bei vorsätzlich oder leichtfertig erstatteten Strafanzeigen nach Einstellung des Verfahrens bei der Staatsanwaltschaft den Antrag zu stellen, die Kosten der Verteidigung dem Anzeigeerstatter aufzuerlegen (§ 469 StPO, Nr. 92 RiStBV). Der Verteidiger hat auch oft noch mit einem anderen Phänomen zu tun. 324 Zwar stellt die Staatsanwaltschaft in bis zu 80 v.H. der Fälle das Verfahren (aus unterschiedlichen Gründen) ein. Das sind aber in der Masse die weniger problematischen Fälle. In den Sachen, die „auf des Messers Schneide stehen“, ist dagegen die Neigung zur Anklageerhebung „in dubio contra reum“ allgemein zu beobachten. Das liegt einerseits an der Berufsausrichtung des Staatsanwalts und der Dehnbarkeit des Begriffs „hinreichender Tatverdacht“, andererseits auch an sachfremden Einflüssen. Damit ist die zu beobachtende Überobjektivität der Staatsanwaltschaft gemeint, die besonders bei der Beurteilung sozial oder politisch prominenter Persönlichkeiten um der Gerechtigkeit willen schärfer zugreift 1 Hinreichender Tatverdacht besteht, wenn eine auf Tatsachen gegründete hohe Wahrscheinlichkeit nicht nur für die straftatbestandlichen Voraussetzungen, sondern auch für die prozessuale Verfolgbarkeit vorliegt. Zu Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernissen vgl. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. StPO Rz. 141 ff. 2 BGH v. 8.3.1956 – III ZR 113/54, BGHZ 20, 178; BGH v. 29.5.1958 – III ZR 38/57, BGHZ 27, 338.
217
Rz. 325
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
als es dem kleinen Mann geschehen würde (so etwa bei der Verfolgung von Führungspersönlichkeiten in Politik und Wirtschaft, Justizangehörigen, Rechtsanwälten). 325
Gemeint ist aber auch die bewusste oder unbewusste Rücksichtnahme auf das Interesse der Öffentlichkeit in den sensationellen Fällen, die möglicherweise auch die Medien besonders hochgespielt haben. Hier gewinnt man gelegentlich den Eindruck, dass die Verantwortung für die Entscheidung (auch gegenüber der Öffentlichkeit) ganz gerne (durch Anklageerhebung) an die Gerichte „weitergereicht“ wird. Die Schwierigkeiten in der Praxis liegen darin, dass heute selten ein Staatsanwalt eine derartige Ansicht noch äußern würde. Sie kann aber gleichwohl seine Einstellung bestimmen. Nicht jeder Staatsanwalt ist ein Gesinnungsheld. Der Verteidiger muss sich in solchen Fällen verantwortungsscheuen Verhaltens Gehör zu verschaffen wissen, notfalls bei dem Leiter der Behörde oder sogar höheren Orts, um klares Unrecht zu verhindern.
326
Hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt, können für den Verteidiger gewisse Nachsorgepflichten bestehen. Der Einstellungsbescheid besteht in aller Regel nur aus dem Satz „Das gegen Sie (Ihren Mandanten) eingeleitete Ermittlungsverfahren habe ich eingestellt“. Eine Begründung wird nur im Ausnahmefall mitgeteilt (Nr. 88 RiStBV); an ihr besteht aber großes Interesse, nicht nur im Hinblick auf evtl. Disziplinaroder Berufsgerichtsverfahren, sachgleiche Zivilprozesse, rechtliche Maßnahmen gegen Anzeigeerstatter (z.B. § 164 StGB, § 469 StPO) u.a. Schließlich sollte der Verteidiger auch selbst ein Interesse daran haben, ob aufgrund seiner Aktivitäten oder aus völlig anderen Gründen die Einstellung erfolgt ist. Akteneinsicht ist also geboten. Daneben ist die Frist für eine evtl. Beschwerde gegen die Einstellung unter Kontrolle zu nehmen. Schließlich muss er sich um die Rückgabe evtl. beschlagnahmter Gegenstände, insbesondere von Unterlagen des Mandanten, kümmern. Dabei kann es zu Schwierigkeiten kommen, wenn eine (auswärtige) Staatsanwaltschaft nicht bereit ist, etwa umfangreiches Aktenmaterial auf Kosten der Justiz zurückzuschaffen. Ein Rechtsanspruch darauf ist wohl nicht zu begründen, so dass Verteidiger und Mandant dies in Absprache mit der Behörde organisieren müssen1.
327
Nicht ganz selten steht der Staatsanwalt vor der Frage, ob er das Verfahren („mit Bauchschmerzen“) nach § 170 Abs. 2 StPO einstellen soll, obwohl mit einer Beschwerde (§§ 172 Abs. 1, 171 StPO) gegen die Entscheidung zu rechnen ist, die nicht ohne weiteres als aussichtslos qualifiziert werden kann. Er kommt dann zuweilen auf den Verteidiger zu mit der Anfrage, ob für den Mandanten eine Einstellung nach § 153 Abs. 1 StPO (Rz. 329) vielleicht günstiger ist, weil es dagegen kein Rechtsmittel gibt2. 1 Nach BGH v. 3.2.2005 – III ZR 271/04, NJW 2005, 988 Rückgabe am Ort der Aufbewahrung; a.A. Damrau, NStZ 2003, 408; Hoffmann/Knierim, NStZ 2000, 461; Schäfer in Löwe/Rosenberg, § 98 StPO Rz. 64, 66. 2 BVerfG v. 5.11.2001 – 2 BvR 1551/01, NStZ 2002, 211.
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Einstellung des Verfahrens
Rz. 328
Der Verteidiger muss einerseits den Vorteil des Mandanten bei einer solchen Absprache sehen, der damit das Verfahren endgültig „los“ ist, diesen andererseits auf den Nachteil hinweisen, dass er die Kosten der Verteidigung selbst tragen muss1. Da aus der Einstellung nach § 153 StPO dem Mandanten jedoch keinerlei Rechtsnachteile erwachsen können2, spricht viel dafür, die Einstellung nach § 153 StPO („mit der Faust in der Tasche“) zu akzeptieren, vor allem, wenn – in entsprechenden Sachen – eine passable Pressemitteilung durch die Staatsanwaltschaft zugesagt wird. b) Einstellung wegen Geringfügigkeit, nach Erfüllung von Auflagen und aus anderen Gründen, Beschränkung des Verfahrensstoffs, Täter-Opfer-Ausgleich (§ 153, §§ 153a–153e; §§ 154a–154e, §§ 155a und 155b StPO) Literatur: Bandemer, Einstellung hinter der Einstellung, NStZ 1988, 297; Beulke, Die unbenannten Auflagen und Weisungen des § 153a StPO, FS Dahs (2005), S. 209; Dahs, § 153a StPO – ein Allheilmittel der Strafrechtspflege?, NJW 1996, 1192; Fünfsinn, Die „Zumessung“ der Geldauflage nach § 153a I Nr. 2 StPO, NStZ 1987, 97; Hohendorf, § 153a I StPO als Radikalmittel zur Bewältigung der „Massen-Bagatellkriminalität“?, NJW 1987, 1177; Joachimski in Seitz/Bückel, Beck’sches Richter-Handbuch, 3. Aufl. 2012, E.I. 179 ff.; Jungwirth, Bagatelldiebstahl und Sachen ohne Verkehrswert, NJW 1984, 954; Paschmanns, Die staatsanwaltliche Verfahrenseinstellung wegen Geringfügigkeit nach §§ 153, 153a StPO – Entscheidungsgrenzen und Entscheidungskontrolle, 1988; Schädler, Der „weiße Fleck“ im Sanktionensystem, ZRP 1985, 186; Schaefer, Ch., Kooperation im Ermittlungsverfahren, AnwBl. 1998, 67; Schlothauer, Die Einstellung des Verfahrens gem. §§ 153, 153a nach Eröffnung des Hauptverfahrens, StV 1982, 409; Terbach, Rechtsschutz gegen die staatsanwaltliche Zustimmungsverweigerung zur Verfahrenseinstellung nach §§ 153 II, 153a StPO, NStZ 1998, 172.
Die Einstellung des Verfahrens nach §§ 153 ff. StPO bietet dem Verteidi- 328 ger äußerst bedeutungsvolle Chancen, ein Verfahren ganz oder wenigstens teilweise ohne Urteilsspruch zur Erledigung zu bringen. Das auf eine Vielzahl von praktischen Fallgestaltungen zugeschnittene System von Einstellungsgründen sollte der Verteidiger in jedem Verfahren und Verfahrensstadium im Auge behalten. Ist mit einer Verurteilung zu rechnen, so bietet die Einstellung die möglicherweise einzige Chance, den Makel einer Bestrafung mit Eintragung in das Bundeszentralregister abzuwenden (dazu Rz. 179). Während die Denkweise des Richters entscheidend durch seine Aufgabe, die materielle Wahrheit festzustellen, geprägt ist, muss sich der Verteidiger vielfach das „Denken in Verfahrensrisiken“ zu eigen machen. Er wird also, auch wenn nach seiner Beurteilung eine Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts oder ein Freispruch erreichbar erscheint, im Interesse sei1 Evtl. Ansprüche nach dem StrEG bleiben unberührt. 2 BVerfG v. 16.1.1991 – 1 BvR 1326/90, MDR 1991, 891; BVerfG v. 6.12.1995 – 2 BvR 1732/95, NStZ-RR 1996, 168.
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Rz. 329
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
nes Mandanten stets auch das Risiko einkalkulieren, dass die Ermittlungsbehörde oder das Gericht zu einer anderen, ungünstigen Entscheidung kommt. Dieses Risiko ist in der Praxis selten völlig auszuschließen. Dem Mandanten, der von seiner Nichtschuld überzeugt ist, muss das strafprozessuale Verfahrensrisiko oft mit einiger Mühe klargemacht werden. Dabei kann durchaus die Gefahr entstehen, dass der Mandant die Erwägungen seines Verteidigers als „mangelnden Schneid“ ansieht und die Vertrauensbasis gefährdet wird. Ein Gespräch über derartige Fragen muss deshalb mit Behutsamkeit und Geschick geführt werden. Trotzdem wird die Erkenntnis eines Prozessrisikos sachlicher oder rechtlicher Natur für den Verteidiger immer Anlass sein müssen, neben dem erstrangigen Ziel einer Einstellung des Verfahrens mangels Tatverdachts oder des Freispruchs hilfsweise auch das für seinen Mandanten (nur) relativ beste Ergebnis auf dem „unteren Wege“ der Einstellung des Verfahrens nach §§ 153 ff. StPO anzusteuern. Dies ist umso mehr geboten, wenn bereits ungünstige Zwischenentscheidungen der Ermittlungsbehörde oder eines Instanzgerichts gefallen sind. In dieser Rangfolge der Verteidigungsziele ist die Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO sicherlich das relativ günstigste Ergebnis. Der Verteidiger sollte aber stets darauf eingestellt sein, bei Nichterreichbarkeit dieses Optimums sich auf der „Stufenleiter“ der gesetzlichen Möglichkeiten über § 153a StPO, evtl. auch § 153b StPO, bis auf die §§ 154, 154a StPO nach und nach zurückzuziehen, um auf diese Weise jedenfalls noch einen Teilerfolg zu erzielen, zumal die Einstellung nach §§ 153, 153a StPO auch nicht in das Bundeszentralregister eingetragen wird1. Der Antrag auf Einstellung des Verfahrens oder die Geltendmachung von Einstellungsgründen neben dem Antrag auf Freispruch begegnet heute auch keinen verteidigungstaktischen Bedenken mehr. Nach der Neufassung des Gesetzes setzt die Einstellung des Verfahrens keine Schuldfeststellung mehr voraus2, sondern es genügt, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Schuldspruches besteht3. Der Einstellung des Verfahrens förderlich ist erfahrungsgemäß in dafür in Betracht kommenden Fällen auch der Täter-Opfer-Ausgleich (§§ 155a und 155b StPO, § 46a StGB), der auch ohne Mitwirkung der Staatsanwaltschaft und der Ausgleichsstelle möglich ist. Die gleichzeitige Negierung jeden Verschuldens wird dabei allerdings kaum möglich sein. 329
Die Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit (§ 153 StPO) kommt in Betracht, wenn kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht und die Schuld als gering anzusehen wäre. Bei der Überlastung der Justiz findet man häufig offene Ohren für eine Einstellung, wenn sie mit guten Gründen angeregt werden kann. So ist 1 Auch nicht in das Fahreignungregister (§ 28 StVG). 2 Vgl. schon den Wortlaut des § 153 StPO ([…] Verschulden gering wäre). 3 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 153 StPO Rz. 3; § 153a StPO Rz. 7.
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Einstellung des Verfahrens
Rz. 330
es z.B. zweckmäßig, einerseits auf die eigene Verletzung des Beschuldigten, nachteilige wirtschaftliche Folgen, drohende Disziplinarmaßnahmen und berufsrechtliche Auswirkungen aufmerksam zu machen und andererseits für den Fall der Ablehnung der Einstellung auf die voraussichtlich von der Verteidigung zu stellenden Beweisanträge, evtl. verfahrensrechtliche Probleme und den sich daraus ergebenden Verfahrensumfang hinzuweisen. Die Inadäquanz von Justizaufwand und Tatgewicht kann die Gerichte in vielen Fällen bewegen, ihre Zustimmung zur Einstellung zu erteilen. Fraglich ist das öffentliche Interesse auch dann, wenn bei Körperverletzungen im Straßenverkehr ein Strafantrag des Verletzten nicht gestellt wurde und wenn keine Leichtfertigkeit oder schwere Unfallfolgen vorliegen. Die gelegentlich anzutreffende Übung von Staatsanwälten, ihre Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens von einer Art „Schuld- und Reuebekenntnis“ des Beschuldigten abhängig zu machen, ist nach dem Wortlaut des Gesetzes als unzulässig zurückzuweisen. Geringfügige Vermögensdelikte können nach § 153 Abs. 1 S. 2 StPO auch ohne Zustimmung des Gerichts durch Einstellung erledigt werden. Hierher gehören vor allem die Bagatellfälle des Diebstahls und Betruges, die zudem in der Regel nur noch auf Strafantrag hin verfolgt werden (§ 248a StGB). Dabei muss jedoch zusätzlich dargelegt werden, dass der angerichtete Schaden gering ist. Für den praktisch bedeutsamen Bereich des Ladendiebstahls eröffnen sich hier besonders günstige Perspektiven für eine erfolgreiche Verteidigung1. Erreicht der Verteidiger die Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens 330 nach § 153 StPO nicht, weil ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bejaht wird, so kann dieses Hindernis auf dem Wege zur Verfahrenserledigung durch die Erfüllung von Auflagen nach Maßgabe des § 153a StPO überwunden werden. In derartigen Fällen kann sich ein informelles Vorabgespräch mit dem Staatsanwalt (Rz. 178) oder dem Richter über den Rahmen der in Betracht kommenden Auflagen, die sehr erheblich sein können, empfehlen – das durchaus den Charakter einer „Absprache“ haben kann. In der Praxis steht heute die Einstellung nach § 153a StPO bei allen gewichtigeren Fällen eindeutig im Vordergrund. Manchmal bedarf es großer Anstrengungen der Verteidigung, diese Entscheidung zu erreichen, manchmal geht es überraschend leicht. Die Maßstäbe sind nicht einheitlich. Wichtig ist, dass trotz der gesetzlich notwendigen Zustimmung des Beschuldigten und auch bei Zahlung einer hohen Geldauflage die Unschuldsvermutung uneingeschränkt fortbesteht und eine für den Klienten negative Verwertung in einem anderen Verfahren (z.B. Disziplinarverfahren) unzulässig ist2. 1 Einzelfälle bei Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 153 StPO Rz. 16 ff.; Schoreit in KK, § 153 StPO Rz. 16. 2 So ausdrücklich BVerfG v. 16.1.1991 – 1 BvR 1326/90, MDR 1991, 891; BVerfG v. 6.12.1995 – 2 BvR 1732/95, NStZ-RR 1996, 168.
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Rz. 331
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Die Entscheidung über die Kosten und notwendigen Auslagen des Einstellungsbeschlusses kann nicht angefochten werden1. Verweigert die Staatsanwaltschaft die Einstellung, so kommt die Dienstaufsichtsbeschwerde in Betracht (Rz. 1091); sie verspricht allerdings nur Erfolg, wenn es lediglich darum geht, dass der Sachbearbeiter sich scheut, die Verantwortung für die Einstellung allein zu übernehmen. Der Verteidiger sollte daran denken, dass manchmal das Revisionsgericht das Verfahren noch nach § 153 StPO (nicht 153a StPO) einstellt2. 331
Kann von Strafe abgesehen (z.B. § 60 StGB) oder der Angeklagte für straffrei erklärt werden, so kommt ebenfalls von vornherein die Einstellung in Betracht. Auch hier empfiehlt es sich, die Gründe im Einzelnen rechtzeitig der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht darzulegen. Freilich ist mindestens in der Formulierung Vorsicht geboten. Wie im Falle der Einstellung wegen Geringfügigkeit (Rz. 328) sollte der Verteidiger im Allgemeinen den Antrag nach § 153a StPO nur unter dem Vorbehalt („hilfsweise“) stellen, dass die Schuldfrage überhaupt zu bejahen ist. Sonst kann aus dem Antrag zu leicht gefolgert werden, der Beschuldigte räume seine Schuld ein. Das muss der Verteidiger auch bedenken, wenn die Zustimmung des Angeschuldigten zur richterlichen Einstellung abgegeben werden soll (§ 153a Abs. 2 StPO). Hier wird sorgfältig abzuwägen sein, ob man es auf eine Hauptverhandlung ankommen lassen kann. Im Allgemeinen sollte der Einstellung zugestimmt werden, weil eine Hauptverhandlung für den Mandanten fast immer mit Nachteilen – und sei es auch „nur“ die der Öffentlichkeit – verbunden ist.
332
Auch bedeutsame und große Verfahren werden nicht ganz selten nach § 153a StPO erledigt, wenn sich herausstellt, dass das Verfahren nicht (mehr) „verhandelbar“ ist/sein wird oder die Schuld sich auf so viele Personen verteilt, dass der Anteil des Einzelnen die Minimalgrenze erreicht. Zu einer solchen Verfahrensentwicklung kann es aus vielen Gründen kommen, z.B. unzulängliche Ermittlungen und eine Anklage, die ständig „nachgebessert“ werden muss, „ausgefallene“ Mitbeschuldigte/Angeklagte und Zeugen, die (un)absehbare Dauer der Hauptverhandlung bei drängenden anderen (Haft-)Sachen, Probleme bei Beweiserhebungen im Ausland oder bei der Vernehmung von Auslandszeugen u.a.3. Der Verteidiger muss ein waches Auge für den Zeitpunkt haben, in dem die rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten der Bewältigung eines Verfahrens den Grad erreicht haben, der erfahrungsgemäß bei Staatsanwaltschaft oder Gericht die Neigung auslöst, einer „pragmatischen“ Lösung der Probleme zuzustimmen. Der Verteidiger muss auch bedenken, dass es der Staatsanwaltschaft und dem Gericht nicht verwehrt werden kann, die Einstellungsentscheidung mit einer schriftlichen Begründung zu versehen, wenn dies auch in der 1 Dazu Schoreit in KK, § 153a StPO Rz. 61 f. m.N. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 153 StPO Rz. 39. 3 Dahs, NJW 1996, 1192.
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Einstellung des Verfahrens
Rz. 333
Praxis selten geschieht. Er sollte versuchen, auf diese Begründung Einfluss zu nehmen, um jedenfalls zu verhindern, dass darin über den Gesetzesinhalt hinausgehend ein Verschulden „festgeschrieben“ wird oder der Sache nicht angemessene Androhungen für einen etwaigen Wiederholungsfall ausgesprochen werden. Gründlich danebengegriffen hatte ein Staatsanwalt, der in der Einstellungsverfügung Unternehmen und Personen mit der Einleitung von Ermittlungen bedrohte, die am Verfahren gar nicht beteiligt waren. Aber auch das kommt vor. Es gibt auch Fälle, in denen der Mandant Interesse an einer für ihn positiven Begründung hat – wenn sie nämlich dahin geht, die Möglichkeit/ Wahrscheinlichkeit eines (Teil-)Freispruchs deutlich zu dokumentieren. Dies kann für Folgeverfahren, z.B. berufsgerichtlicher oder disziplinarischer Art – sogar für Zivilprozesse – sehr wichtig sein. Der Verteidiger darf nicht zögern, dieses Anliegen angemessen zur Sprache zu bringen. Er wird damit überraschend oft Erfolg haben. Bei jeder Einstellung des Verfahrens muss der Verteidiger die Frage einer Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen nach § 3 StrEG prüfen (Rz. 372). Eine vielfach wichtige Möglichkeit der Einstellung bietet sich für den Verteidiger in den §§ 154, 154a StPO. Hiernach können Nebendelikte oder abtrennbare Teile der Tat ausgeschaltet werden, wenn die Bestrafung gegenüber den Haupttaten nicht ins Gewicht fallen würde (Rz. 332). Einer besonderen Situation sieht sich der Anwalt gegenüber, wenn der 333 Betroffene im Falle einer Nötigung oder Erpressung um Rat bittet. Es empfiehlt sich, sehr vorsichtig zu Werke zu gehen, um zu erreichen, dass die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung absieht (§ 154c StPO). Man kann kaum einmal voraussagen, wie die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt beurteilt. Nach Nr. 102 RiStBV hat sie zu prüfen, ob die Nötigung oder die Erpressung strafwürdiger ist als die Tat des Erpressungsopfers. Diese Anweisung weicht insofern von § 154c StPO ab, als danach der Staatsanwalt das Verfahren einstellen kann, wenn nicht wegen der Schwere der Tat eine Sühne unerlässlich ist1. Da diese Maßstäbe ungewiss sind, kann der Anwalt es nur selten verantworten, den Namen seines Mandanten frühzeitig bekanntzugeben. Er würde ihn sonst einer unsicheren Entscheidung ausliefern, die überdies nach herrschender Auffassung nur mit der Dienstaufsichtsbeschwerde anfechtbar ist. Bewährt hat sich folgendes Verfahren: Der Anwalt trägt der Staatsanwaltschaft den Sachverhalt vollständig vor, ohne vorerst die Namen der Beteiligten zu nennen. Er bittet um die (verbindliche Zusicherung) der Einstellung unter der Voraussetzung, dass die angegebenen Tatsachen zutreffen. Nach der Zusicherung nennt er die Namen. Dieses Verfahren hat eine sorgfältige wahrheitsgemäße Aufnahme und Darstellung des Tatbestandes zur Voraussetzung. Deshalb ist der Auftraggeber anzuhalten, dem Anwalt den gesamten Sachverhalt rückhaltlos zu offenbaren. 1 Schoreit in KK, § 154c StPO Rz. 4.
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Rz. 334
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
c) Beschwerde und Klageerzwingung Literatur: Bischoff, Die Praxis des Klageerzwingungsverfahrens, NStZ 1988, 63; Langer, Zur Klageerzwingung wegen Verfolgung Unschuldiger, JR 1989, 95; Rieß, Alte und neue aktuelle Fragen im Klageerzwingungsverfahren – Notanwalt, Ermittlungserzwingung, NStZ 1986, 433; Rieß, Zur Verspätung eines Klageerzwingungs-Antrages nach Wiederaufnahme der Ermittlung und zur Zurechnung des Anwaltverschuldens bei der Fristversäumung, NStZ 1989, 194; Wohlers, Zu den formellen Voraussetzungen eines Antrags nach StPO § 172, NStZ 1990, 98.
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Hat der Verteidiger es erreicht, dass die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren mangels hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO einstellt, so ist seine Arbeit damit nicht immer zu Ende. Der durch die angebliche Straftat „Verletzte“ kann nämlich gegen den Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft Beschwerde einlegen (§ 172 Abs. 1 StPO). Der Verteidiger muss wissen, dass der Begriff des Verletzten in der Praxis sehr weit ausgedehnt wird1 und der Anzeigeerstatter nach Nr. 89 RiStBV in einem substantiell begründeten Bescheid über die Einstellung sein Beschwerderecht unterrichtet wird. Gegen eine Einstellung nach § 153 oder § 153a StPO ist dagegen eine Beschwerde nicht statthaft. Wichtig ist, dass die Einlegung der Beschwerde dem Verteidiger und seinem Klienten nicht mitgeteilt werden muss, was in der Praxis auch regelmäßig nicht geschieht. Man muss sich daher durch Nachfrage oder Akteneinsicht darüber vergewissern, um die Rechte seines Mandanten auch in dem an sich nur internen Überprüfungsvorgang der Staatsanwaltschaft wahrzunehmen. Dabei sollte man es nach praktischer Erfahrung nicht bei einem schriftlichen Antrag auf Übersendung der Beschwerdebegründung belassen (der gelegentlich übersehen wird), sondern durch mündliche Nachfrage sich über Beschwerde und Beschwerdebegründung informieren. Erfährt man dann vom Dezernenten der Staatsanwaltschaft, er werde aufgrund der Beschwerde die Ermittlungen auf jeden Fall wieder aufnehmen (müssen) (Nr. 105 RiStBV), so kann es sich empfehlen, eine Stellungnahme zur Beschwerdebegründung zurückzustellen, bis die erneuerten Ermittlungen zum Abschluss gekommen sind. Allgemein lässt sich sagen, dass die Haltung der örtlichen Staatsanwaltschaft zu Beschwerden sich deutlich an der Einstellung der jeweiligen Generalstaatsanwaltschaft orientiert. So haben in vielen Gerichtsbezirken Beschwerden kaum eine Chance, während in anderen viele Beschwerden zur Wiederaufnahme der Ermittlungen führen, weil ansonsten mit einem entsprechenden Auftrag der Generalstaatsanwaltschaft sicher gerechnet werden muss. Der Verteidiger sollte derartige örtliche Besonderheiten kennen und sie in seine Konzeption einbeziehen.
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Bleibt die Beschwerde ohne Erfolg, so kann der Antragsteller ein Klageerzwingungsverfahren einleiten, sofern nicht die Ausnahmefälle gem. § 172 Abs. 2 StPO gegeben sind (insbesondere bei Privatklagedelikten 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 172 StPO Rz. 10; Schmidt in KK, § 172 StPO Rz. 19 ff.
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Einstellung des Verfahrens
Rz. 336
und Geringfügigkeit). Das Erzwingungsverfahren wird verhältnismäßig wenig praktiziert und ist auch selten vom Erfolg gekrönt. Da für die Entscheidung über den Antrag das Oberlandesgericht zuständig ist (§ 172 Abs. 4 S. 1 StPO), wird dem Beschuldigten und seinem Verteidiger unter den Voraussetzungen des § 33 Abs. 3 StPO vor der Entscheidung rechtliches Gehör gewährt. Der Verteidiger ist daher aufgerufen, den Gang des Verfahrens auch nach einer günstigen Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft (die ihm ebenfalls von Amts wegen nicht mitgeteilt wird) im Auge zu behalten. Er muss durch eigene Aktivitäten dafür Sorge tragen, dass er den Zeitpunkt der Zustellung der Beschwerdeentscheidung an den Antragsteller, den Eingang des Klageerzwingungsantrages und seine Begründung erfährt und zur Kenntnis erhält. Es ist davor zu warnen, sich bei einer Klageerzwingung allein auf die Generalstaatsanwaltschaft und das Oberlandesgericht zu verlassen, wenn auch Klageerzwingungsanträge in der Praxis eher selten erfolgreich sind. Keinesfalls darf es dazu kommen, dass der Verteidiger sich bei einer erfolgreichen Klageerzwingung der Frage des Klienten stellen muss, aus welchem Grund er nicht versucht habe, auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen. Dies umso weniger, als die Verteidigungschancen in aller Regel gut sind. Das Klageerzwingungsverfahren ist geradezu „gespickt“ mit formellen und sachlichen Anforderungen, die der Antragsteller häufig nicht erfüllt1. Insoweit kann auf die einschlägige Kommentarliteratur verwiesen werden2. Problematisch kann auch die aufgrund der Beschwerde für den „Ver- 336 letzten“ leichter zu erreichende Akteneinsicht (§ 406e StPO) für die Verteidigung sein (Rz. 171 ff.). Hier muss ggf. präventiv bei der Staatsanwaltschaft interveniert und es müssen Gegengründe angebracht werden. Es kommt immer wieder vor, dass Motiv für Strafanzeigen und Beschwerden gegen Einstellungen die Ausforschung des von den Ermittlungsbehörden und der Verteidigung zusammengetragenen Materials einschließlich persönlichkeitsrelevanter Daten, Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen zu anderen als strafrechtlichen Zwecken ist. Der Verteidiger muss durch geeignete Antragstellung, ggf. verbunden mit dem vorsorglich geltend gemachten Widerspruch gegen die Gewährung der begehrten Akteneinsicht sicherstellen, dass er vor der Entscheidung Gehör erhält (analog § 33 StPO). Insgesamt gehören Beschwerde- und Klageerzwingungsverfahren zu dem Aufgabenbereich des Verteidigers, der an anderer Stelle (Rz. 778 ff.) als „Nachsorge“ für den Mandanten nach positiver Sachentscheidung behandelt wird. Die Risiken, die sich im staatsanwaltschaftlichen „NachsorgeBereich“ ergeben können, insbesondere bei Wiederaufnahme der Ermittlungen, sollten rechtzeitig gesehen und nüchtern bewertet werden. Es kann ein Gebot der Klugheit sein, auf die „Einstellung erster Klasse“ 1 Dazu OLG Düsseldorf v. 23.9.1980 – 1 Ws 341/80, MDR 1981, 161; OLG Koblenz v. 2.6.1977 – 1 Ws 123/77, NJW 1977, 1461 m.zahlr.N. 2 Schmidt in KK, § 172 StPO Rz. 17 ff.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 172 StPO Rz. 27; Gillmeister in Beck’sches Formularbuch, S. 1197 ff.
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Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
nach § 170 Abs. 2 StPO zu verzichten und sich stattdessen mit einer Verfahrenserledigung nach § 153 StPO oder § 153a StPO zufrieden zu geben, weil das Verfahren dann mit Sicherheit beendet ist. Gerade in Fällen, in denen die Annahme des hinreichenden Tatverdachts ebenso naheliegt wie die Einstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO, kann die Einstellung nach Opportunitätsgrundsätzen ein probates Mittel zur dauerhaften Sicherung der Interessen des Mandanten sein. Allerdings ist es nicht immer leicht, die dafür notwendige Einsicht beim Mandanten zu wecken! Auch wenn ein Klageerzwingungsantrag – ausnahmsweise – Erfolg hat, ist für die Verteidigung noch nichts verloren, wenn auch der Antragsteller im Verfahren als Nebenkläger beitreten kann (§ 395 Abs. 1 Nr. 3). Denn der Erfolg des Klageerzwingungsverfahrens erschöpft sich in der Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, die öffentliche Klage zu erheben. Sie kann dessen ungeachtet ihre abweichende Auffassung zur Sach- und Rechtslage weiter vertreten oder sich der „besseren Einsicht“ des Oberlandesgerichts anschließen. Der Verteidiger des Angeklagten befindet sich in der Hauptverhandlung jedenfalls in einer einmaligen Prozesssituation. Er trifft auf einen Staatsanwalt, der die Anklage gegen seine Überzeugung gezwungenermaßen erhoben hat und ggf. durch die Beschlussgründe des Gerichts auch nicht anderen Sinnes geworden ist. Der Verteidiger gewinnt damit zu seiner Überraschung einen Verbündeten, mit dem er sich – auch in der Vorbereitung der Hauptverhandlung – ggf. abstimmen kann. Die Gerichte sind nach aller Erfahrung ebenfalls von einer ihnen derart aufgezwungenen Sache nicht gerade begeistert. Kommt es trotzdem – extrem selten – zu einer Verurteilung, ist der Staatsanwalt nicht gehindert, vielleicht sogar besonders geneigt, ein Rechtsmittel zugunsten des Angeklagten einzulegen – sonst ein seltenes Mauerblümchen in der deutschen Strafrechtspflege. 8. Untersuchungshaft Literatur: Baumann, Gesetzliche Regelung des Vollzugs der Untersuchungshaft, JZ 1990, 107; Beulke/Ruhmannseder, Die Strafbarkeit des Verteidigers, 2. Aufl. 2010; Bohnert, Untersuchungshaft, Akteneinsicht und Verfahrensrecht, GA 1995, 468; Dahs sen., Recht und Unrecht der Untersuchungshaft, NJW 1959, 505; Dahs, Apokryphe Haftgründe, FS Dünnebier (1982), S. 227; Dahs, Der Haftgrund der Fluchtgefahr, AnwBl. 1983, 418; Dahs, Das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994, NJW 1995, 553; Dahs/Riedel, Ausländereigenschaft als Haftgrund? Zur Problematik eines Haftbefehls gegen im Ausland lebende ausländische Staatsbürger, StV 2003, 416; Deckers, Reform der Untersuchungshaft, FG Koch (1989), S. 151; Deckers, Verteidigung in Haftsachen, NJW 1994, 2261; Deckers in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 189 ff.; Eidam, Zur Selbstverständlichkeit von Rechtsbrüchen beim Vollzug der Untersuchungshaft, HRRS 2008, 241; Eisenberg, Über Verhängung und Vollzug von Untersuchungshaft bei Jugendlichen und Heranwachsenden, GA 1993, 293; Fischer, Aufhebung des Haftbefehls nach § 121 StPO, StV 1987, 462; Hamm, Kommunikationsfreiheit in der Haft, ZRP 1984, 292; Hamm, Zur Prognosegenauigkeit der Haftentscheidung, StV 1986, 499; Joachimski in Seitz/Büchel, Beck’sches Richter-
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Untersuchungshaft
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handbuch, 3. Aufl., E I, Rz. 58 ff.; Jungfer, Sicherheitsleistung zur Verminderung der Verdunkelungsgefahr, GS K. H. Meyer (1990), S. 227; Krekeler, Zum Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, insbesondere bei Wirtschaftsdelikten, wistra 1982, 8; Münchhalffen/Gatzweiler, Das Recht der Untersuchungshaft, NJW-Schriftenreihe Bd. 30, 3. Aufl. 2009; Nobis, „U-Haft schafft Fakten“ – Verteidigung gegen Untersuchungshaft, StraFo 2012, 45; Paeffgen, Apokryphe Haftverlängerungsgründe in der Rechtsprechung zu § 121 StPO, NJW 1990, 537; Paeffgen, Haftvoraussetzungen, Schriftenreihe Strafverteidigervereinigungen, 1996; Parigger, Aus der Praxis des Rechts der Untersuchungshaft, NStZ 1986, 211; Püschel, Vermeidung von Untersuchungshaft, StraFo 2009, 134; Rückel, Handlungsmöglichkeit des Strafverteidigers im Haftverfahren, StV 1985, 36; Schlothauer, Die Verteidigung des inhaftierten Mandanten, StraFo 1995, 5; Schlothauer, Die Bedeutung des materiellen Strafrechts für die Verteidigung in Untersuchungshaftfällen, StV 1996, 391; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 4. Aufl. 2010; Schöch, Kurze Untersuchungshaft durch Strafverteidigung?, StV 1997, 323; Schwenn, Straferwartung – ein Haftgrund?, StV 1984, 132; Seebode, Zur Verhältnismäßigkeit von Untersuchungshaft, StV 1994, 86; Ullrich, Handlungsmöglichkeiten des Strafverteidigers im Haftverfahren?, StV 1986, 268; Weider, Die Anordnung der Untersuchungshaft, StraFo 1995, 11; Wolter, Untersuchungshaft, Vorbeugehaft und vorläufige Sanktionen, ZStW 93 (1981), 452; Zieger, Akteneinsichtsrecht des Verteidigers bei Untersuchungshaft, StV 1993, 320; Ziegert, Der Richter des nächsten Amtsgerichts – Richter oder Urkundsbeamter?, StV 1997, 439. Vgl. auch die Rspr.-Übersichten: Schultheis, NStZ 2013, 87 ff.; 2014, 73; 140; Burhoff, StRR 2013, 328 ff.
a) Problematik Die Untersuchungshaft ist das trostloseste Kapitel der Strafverteidigung! 337 In keinem anderen Verfahrensbereich treten die Allmacht des Staates und die Ohnmacht der Verteidigung so deutlich hervor. Anträge auf Erlass von Haftbefehlen scheinen nahezu „Selbstgänger“, wenn es nur um das „richtige“ Delikt und den „passenden“ Beschuldigten geht. Dabei wird nicht übersehen, dass wohl in der Mehrzahl der Fälle die Untersuchungshaft wegen Flucht- oder Verdunklungsgefahr tatsächlich gerechtfertigt ist. Es gibt aber daneben einen erheblichen Anteil von Haftverfahren, in denen man nicht nur an der Notwendigkeit des Freiheitsentzuges zweifeln, sondern an der richterlichen Prüfungskompetenz geradezu verzweifeln muss. Die weniger juristische als justiz-emotionale Maxime „Der gehört rein“ scheint bei nicht wenigen Entscheidungen Pate zu stehen und die gebotene kritische Prüfung des Tatverdachts und der Haftgründe zu überlagern. In nicht wenigen Fällen scheint der Ermittlungsrichter sogar mehr „Notar der Staatsanwaltschaft“ als kritischer Wahrer der Grundrechte zu sein. Die Statistik über die Zunahme von Verhaftungen und der Vergleich zwischen Untersuchungshaft und rechtskräftiger Sachentscheidung ergeben ein bedrückendes Bild. Für den Verteidiger gehört das vergebliche Anrennen gegen formelhafte Haftbeschlüsse und Rechtsmittelentscheidungen zu den frustrierenden Seiten seiner Berufsausübung. Der mit der Untersuchungshaft verbundene psychische und physisch empfundene Druck wird nach den übereinstimmenden Erfahrungen der Verteidiger von Ermittlungsbehörden nicht sel227
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Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
ten bewusst eingesetzt, um das Schweigerecht des Beschuldigten zu untergraben und zu eliminieren – zumindest wird diese Konsequenz gern hingenommen. Auch der solchermaßen von der Notwendigkeit einer Aussage „überzeugte“ Beschuldigte sieht sich oft auch unter dem Druck, immer noch mehr aussagen zu sollen und vor allem weitere Personen zu belasten – um die Verdunkelungsgefahr zu beseitigen. Dabei wird nicht selten ganz unverhohlen gesagt, es müsse noch ein wenig „zugelegt“ werden, wenn die Staatsanwaltschaft Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls oder Verschonung stellen solle. Der Verteidiger kann in solchen und ähnlichen Fällen die Freude des Klienten über die wiedergewonnene Freiheit nicht so recht teilen, weil er weiß, dass die vorläufige Freilassung mit einer erfahrungsgemäß nicht revokablen und daher endgültigen Einlassung erreicht worden ist, die zur Grundlage für die Verhängung einer Freiheitsstrafe werden kann. Diese Konsequenz ist Mandanten, die vielfach unter dem Druck der Existenzvernichtung bei Fortdauer der Untersuchungshaft stehen, in ihrer bedrängten Situation nur schwer beizubringen. Die erfolgreiche Verteidigung des in Untersuchungshaft befindlichen Klienten ist die schwierigste Aufgabe, die einem Verteidiger gestellt werden kann. 338
Es besteht eine Tendenz der Gerichte, die gesetzlichen Vorschriften mehr in Richtung einer Sicherung der Verbrechensverfolgung auszulegen als in Richtung auf eine Sicherung der Freiheitsrechte des Beschuldigten. Die Untersuchungshaft wirkt praktisch wie eine vorweggenommene Bestrafung. Für den Verteidiger ist genaueste Kenntnis des materiellen und formellen Haftrechts und der neuesten Rechtsprechung unbedingt notwendig. Besonders die Judikatur des zuständigen Oberlandesgerichts muss er unbedingt kennen.
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Der Mandant macht häufig Haftunfähigkeit geltend. Das Gericht lässt sich auf privatärztliche Atteste im Allgemeinen nicht ein. Vielmehr wird der Gerichts- oder Anstaltsarzt beauftragt. Er neigt erfahrungsgemäß zur Bejahung der Haftfähigkeit. In anderen Fällen wird die Überweisung in ein Gefängnislazarett angeordnet und dort für den Aufenthalt in der Krankenabteilung die Haftfähigkeit bejaht. In schwerwiegenden Fällen, in denen die Behandlung in einer Klinik unerlässlich ist, muss damit gerechnet werden, dass die Eröffnung des Haftbefehls dort erfolgt und der Mandant in der Folgezeit durch Vollzugbeamte dort bewacht wird. Dabei ergeben sich leicht Unzuträglichkeiten, die eine Einschaltung des Haftrichters (§ 119 StPO) erforderlich machen. Mit einem vernünftigen Staatsanwalt wird man auch insoweit manches regeln können, z.B. dass die Bewacher nicht im Krankenzimmer sitzen und sich die Zeit am Fernseher vertreiben.
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Der Vollzug der Untersuchungshaft ist für den Betroffenen eine Tortur und auch für den Verteidiger des Beschuldigten eine schwere Zeit. Er erlebt die „Qual der Untersuchungshaft“ (Hachenburg) von seiner Seite aus mit. Es gibt kaum einen empfindlicheren Eingriff in das Leben eines 228
Untersuchungshaft
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Bürgers als den Freiheitsentzug. Er wird aus seinem gewohnten Leben herausgerissen, von Beruf und Familie getrennt, in einer – unter Umständen stark veralteten – Anstalt „verwahrt“, deren Regeln er sich unterordnen muss (Nr. 18 Abs. 4 UVollzO). Ihm wird ein Tageslauf auferlegt, der ihn umso härter trifft, je mehr er seinen sonstigen Gepflogenheiten widerspricht. Der Schock der Verhaftung, die Schädigung seines Ansehens durch die Haft, die Ungewissheit der Haftdauer, körperlich und seelisch ungünstige Folgen der Haft, die Unmöglichkeit, seine Verteidigung selbst sachgerecht vorzubereiten, zermürben den Betroffenen am schlimmsten, der nicht durch Erfahrung abgebrüht ist. Niedergeschlagenheit, bis zu Selbstmordabsichten gesteigerte Verzweiflung einerseits, trotzige Auflehnung, jähzornige Vorwürfe andererseits, sind in allen ihren Schattierungen je nach Charakter und Temperament die Reaktion des Verhafteten. Es ist eine schwierige Aufgabe des Verteidigers, mit psychologischem Einfühlungsvermögen den Weg zum Mandanten zu finden. In den meisten Fällen ist dies nur zu erreichen, wenn der Verteidiger auch den mehr persönlichen Sorgen und Belangen des Auftraggebers seine Aufmerksamkeit widmet. Der Verteidiger muss versuchen, den Mandanten von unüberlegten Schritten abzuhalten. Er muss ihm klarmachen, dass vernünftige und sachliche Überlegungen eher helfen als gefühlsbedingte, wenn auch verständliche Erregung. Deshalb sollte der Verteidiger dem verhafteten Mandanten empfehlen, sein Verhalten der Ordnung in der Anstalt anzupassen und nicht sinnlos gegen deren Regeln anzugehen. Das kostet den Betroffenen nur Nervenkraft, die er besser für die Vorbereitung seiner Verteidigung verwendet. Aus diesem Grund sollte der Verteidiger den Mandanten auch auf alle Möglichkeiten hinweisen, die dem Verhafteten den Freiheitsentzug in zulässigem Rahmen erleichtern können wie Lesen, Schreiben, Arbeiten in der Haft, Teilnahme am Hofgang, Gespräche mit dem Anstaltsgeistlichen und dem Fürsorgebeamten, ggf. mit dem Arzt.1 Hierzu muss der Verteidiger wissen, dass Zeitungen und Zeitschriften (§ 45 UVollzO)2 und die Benutzung einer Schreibmaschine zugelassen sind3, ggf. auch Rundfunkgeräte (§ 40 Abs. 2 UVollzO)4 und Fernsehgeräte (§ 40 Abs. 3 UVollzO). Dagegen soll die Benutzung eines Laptops nur zulässig sein, wenn sie zur ordnungsgemäßen Verteidigung erforderlich ist5, was in größeren Wirtschaftsstrafsachen in der Regel der Fall sein dürfte.
1 Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 2010, S. 169 ff. 2 OLG Saarbrücken, JBl. Saar 1966, 206; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rz. 956. 3 BVerfG v. 27.3.1973 – 2 BvR 664/72, BVerfGE 35, 5 = NJW 1973, 1363; Untersagung nur bei konkreten Anhaltspunkten für eine reale Gefährdung von Anstaltssicherheit, so BVerfG v. 25.7.1994 – 2 BvR 806/94, NStZ 1994, 604. 4 BVerfG v. 19.2.1963 – 1 BvR 610/62, BVerfGE 15, 288. 5 OLG Koblenz v. 15.11.1994 – 1 Ws 752/94, StV 1995, 86; OLG Stuttgart v. 12.8.2003 – 1 Ws 195/03, NStZ-RR 2003, 347; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 119 StPO Rz. 29.
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In diesen Zusammenhang gehört der Briefverkehr mit Dritten1, dessen Kontrolle und Grenzen der Verteidiger dem Mandanten deutlich machen muss; entsprechendes gilt für den Telefonverkehr2 und das Internet. Grundsätzlich hat auch der Häftling das Recht auf Meinungsäußerung und Information3. Damit ist das Problem aber nicht erschöpft. Der Mandant muss auch auf die Gefahr hingewiesen werden, dass seine Briefe gegen ihn verwertet werden können. Auch muss der Verteidiger damit rechnen, dass der erkennende Richter, falls er die Briefkontrolle ausübt, in seiner Überzeugungsbildung beeinflusst wird. Ein besonderes Kapitel sind schriftliche Eingaben des Mandanten an Gericht und Staatsanwaltschaft. Briefe strafbaren Inhalts können angehalten (§ 34 UVollzO) und als Beweismittel beschlagnahmt werden. Der Verteidiger sieht seine Bemühungen auch durchkreuzt, wenn sich der Auftraggeber schriftlich zu rechtfertigen sucht. Erfahrungsgemäß sind Verhaftete nur allzu leicht bereit, sich alles von der Seele zu schreiben. Das ist begreiflich und führt deshalb für den Verteidiger zu zwei Konsequenzen. Einmal muss er dem Mandanten ausreichend Gelegenheit geben, sich mit ihm in Ruhe auszusprechen, zum anderen muss er überwachen, dass der Auftraggeber nicht unüberlegt Erklärungen abgibt. Verletzungen der Postkontrolle durch den Verteidiger werden als Missbrauch seiner privilegierten Stellung berufsrechtlich streng geahndet4.
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Geständnissen gegenüber sollte der Verteidiger kritisch sein. Falsche Geständnisse oder Teilgeständnisse von Verhafteten sind häufiger als gemeinhin angenommen wird. Viele Beschuldigte glauben (vielleicht zu Recht), sich auf diese Weise am schnellsten ihre Freiheit „einzuhandeln“. Manchmal werden sie auch durch die Art der Vernehmung in den Glauben versetzt, ein Geständnis bringe Vorteile, auf die sie sonst keinen Anspruch hätten. Nur in extremen Fällen hilft das Verbot des § 136a StPO. So, wenn der Staatsanwalt gesetzlich nicht vorgesehene Vorteile für den Fall eines Geständnisses zusagt5. Im Übrigen pflegen simulierte Geständnisse alsbald nach der Haftentlassung oder spätestens in der Hauptverhandlung widerrufen zu werden. Die damit verbundenen Schwierigkeiten, z.B. die Verteidigung gegen die Einlassung des eigenen Mandanten, hat der Verteidiger auszutragen (Rz. 498, 554). „Erfahrene“ Beschuldigte versuchen, über entlassene Mithäftlinge mit Dritten Verbindung aufzunehmen. Davon hat der Verteidiger abzuraten. Auch sollte er dem Auftraggeber empfehlen, nicht mit anderen Häftlin1 Zum (unüberwachten) Briefverkehr mit dem Verteidiger vgl. BVerfG v. 25.10.2011 – 2 BvR 979/10, StV 2012, 161. 2 BGH v. 15.7.1998 – 2 BGs 185/98, BRAK-Mitt. 1999, 48. 3 BVerfG v. 19.2.1963 – 1 BvR 610/62, BVerfGE 15, 288; OLG Düsseldorf v. 6.12.1990 – 2 Ws 459/90, StV 1991, 221. 4 AGH Hamburg v. 1.4.1996 – II 14/96 EV 39/94, StraFo 1998, 142; Beulke/Ruhmannseder, Rz. 74, 695. 5 BGH v. 14.9.1965 – 5 StR 307/65, NJW 1965, 2262; auch BGH v. 12.1.2005 – 3 StR 411/04, NStZ 2005, 393.
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gen über das Verfahren zu sprechen. Gesprächspartner können das Vertrauen missbrauchen und ihr Wissen – richtig oder falsch – an die Strafverfolgungsbehörden weitergeben. Alle diese Aufgaben kann der Verteidiger nur erfüllen, wenn er regel- 343 mäßig Kontakt mit dem verhafteten Mandanten hält. Dazu dienen die Besuche in der Haftanstalt. Oft ist es allerdings schwierig, allen Wünschen des Mandanten zu entsprechen oder sich zu versagen. Manche Auftraggeber sind sehr anspruchsvoll. Sie verlangen Zuspruch wie von einem Seelsorger. Solche „karitativen“ Besuche liegen nicht jedem Verteidiger. Auch kommt die sachliche Förderung der Verteidigung dabei zu kurz. Dies hat in der Praxis zu der problematischen Figur des „Besuchsverteidigers“ geführt, der mehr für die seelische Unterstützung oder Unterhaltung des Mandanten als für seine Verteidigung zuständig ist. Der Verteidiger muss es auch in schwieriger Situation erreichen, dass der Mandant sich an seinen Stil gewöhnt und seinen Führungsanspruch anerkennt (Rz. 152). b) Haftgründe Literatur: Dahs, Apokryphe Haftgründe, FS Dünnebier (1982), S. 227; Dahs, Der Haftgrund der Fluchtgefahr, AnwBl. 1983, 418; Dahs/Riedel, Ausländereigenschaft als Haftgrund? Zur Problematik eines Haftbefehls gegen einen im Ausland lebenden ausländischen Staatsbürger, StV 2003, 416; Deckers, Die Vorschrift des § 112 III StPO, sog. „Haftgrund der Tatschwere“, AnwBl. 1983, 420; Franzheim, Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr bei Wirtschaftsstrafsachen, GA 1970, 109; Gallandi, Das nicht vollständige Geständnis als Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, StV 1987, 87; Hohmann, Zur verfassungsmäßig gebotenen restriktiven Auslegung von StPO § 112a Abs. 1 Nr. 2, StV 1997, 310; Jungfer, Sicherheitsleistung zur Verminderung der Verdunkelungsgefahr?, GS K. Meyer (1990), S. 227; Krekeler, Zum Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, insbesondere bei Wirtschaftsdelikten, wistra 1982, 8; Lemme, Apokryphe Haftgründe im Wirtschaftsstrafrecht?, wistra 2004, 288; Möller, Fluchtgefahr während des Vollzugs von Freiheitsstrafe in anderen Sachen?, NStZ 1991, 606; Neere, Zur Zulässigkeit der Sicherungshaft gem. § 112a StPO, insbesondere bei Anwendung von Jugendstrafrecht, StV 1993, 212; Nix, Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, StV 1992, 445; Paeffgen, Haftvoraussetzungen, Schriftenreihe Strafverteidigervereinigungen, 1996; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 4. Aufl. 2010; Schwenn, Straferwartung – ein Haftgrund?, StV 1984, 132; Wattenberg, Berücksichtigung eines möglichen Bewährungswiderrufs zur Begründung von Fluchtgefahr, StV 1996, 384. Vgl. auch das vor Rz. 337 angeführte Schrifttum.
Zur Beurteilung der Haftgründe muss der Verteidiger die rechtlichen und 344 tatsächlichen Voraussetzungen präsent haben. Die gesetzlichen Bestimmungen und die Judikatur muss er beherrschen oder sorgfältig studieren. Die Kenntnis des Sachverhalts muss er sich in erster Linie durch Akteneinsicht (Rz. 259 ff.) beschaffen, damit er ein eigenes Bild über den Stand des Verfahrens und die von der Strafverfolgungsbehörde behaupteten Haftvoraussetzungen erlangen kann. Er bewegt sich sonst im Dunkeln und ist auf Vermutungen angewiesen, die sich für den Mandan231
Rz. 345
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ten verhängnisvoll auswirken können, wenn sie nicht zutreffen. Insoweit ist verfassungsrechtlich anerkannt, dass der Verteidiger einen (eingeschränkten) Anspruch auf Akteneinsicht jedenfalls insoweit hat, als der Haftbefehl auf den Akteninhalt gestützt ist und er die diesbezüglichen Informationen benötigt, um auf die gerichtliche Haftentscheidung effektiv einwirken zu können. Dies gilt vor allem, wenn eine mündliche Mitteilung der Tatsachen und Beweismittel, die das Haftgericht seiner Entscheidung zugrunde legen will, unzureichend ist1. Der umfassende Anspruch auf Akteneinsicht nach § 147 Abs. 1 StPO steht dem Verteidiger dagegen während der Untersuchungshaft von Verfassungs wegen nicht zu, soweit die Voraussetzungen des § 147 Abs. 2 StPO gegeben sind2. Der Anspruch auf Akteneinsicht muss für alle Umstände, mit denen der Haftbefehl begründet ist, besonders aber den dringenden Tatverdacht, der durch Tatsachen zu belegen ist (§ 112 Abs. 1 i.V.m. § 114 Abs. 2 Nr. 4 StPO) gelten. Schon deshalb muss der Verteidiger den Stand der Ermittlungen selbst anhand der Akten prüfen und darf nicht auf mehr oder weniger vollständige Informationen durch Gericht und Staatsanwalt verwiesen werden. Dringender Tatverdacht bedeutet, dass eine Tat nach dem Stand des Verfahrens als fast bewiesen erscheinen muss3. Der Verteidiger sollte überhaupt jedes Mal genau untersuchen, wie es sich mit den bestimmten Tatsachen verhält, die das Gesetz als Voraussetzung für die Verhaftung verlangt. Seine Kontrolle hat sich darauf zu erstrecken, ob solche Tatsachen im Haftbefehl angegeben sind und ob sie in Wahrheit vorliegen. Diese Prüfung bedingt eine sorgfältige Analyse des Sachverhalts. Gerade hier finden sich erfahrungsgemäß Fehler, deren Beanstandung zur Aufhebung von Haftbefehlen führen können. 345
So ist ein Haftbefehl wegen Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) nur gerechtfertigt, wenn diese Gefahr mit bestimmten Tatsachen belegt ist. Dazu sollen auch (kriminalistische) Erfahrungstatsachen gehören4, jedoch nicht bloße Mutmaßungen und Spekulationen. Eine unheilvolle Rolle spielt der angebliche Erfahrungssatz, dass die Neigung der Flucht desto größer sei, je höher die zu erwartende Strafe eingeschätzt werde. Als Kriterium für die Höhe der zu erwartenden Strafe wird von den Haftgerichten dann gerne die Höhe des „angerichteten Schadens“ verwendet. Dies führt in der Praxis zu einer Art „Akzessorietät“ des Haftgrundes der Fluchtgefahr zum dringenden Tatverdacht und zu der unheilvollen Gleichung „dringender Tatverdacht eines hohen Schadens = Fluchtgefahr“5. 1 EGMR v. 13.2.2001 – 24479/94, NJW 2002, 2013; i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 147 StPO Rz. 25a m.N. 2 BVerfG v. 11.7.1994 – 2 BvR 777/94, NStZ 1994, 551. 3 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 StPO Rz. 5: stärkerer Grad als der hinreichende Verdacht, große Wahrscheinlichkeit. 4 Graf in KK, § 112 StPO Rz. 15. 5 Dahs, Apokryphe Haftgründe, in FS Dünnebier (1982), S. 227 ff.; OLG Köln v. 12.3.1991 – 2 Ws 109/91, StV 1991, 305, ist der Auffassung, dass die Formel hohe Straferwartung = Fluchtgefahr eine unzulässige Anwendung des Gesetzes dar-
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Es ist außerordentlich schwierig, erfolgreich gegen diese starre Formel zu argumentieren, zumal die als Gegengewicht zur Fluchtgefahr an sich anerkannten Umstände wie berufliche und familiäre Bindungen usw. in ihrer Wertigkeit vielfach unterschätzt und gegenüber der „hohen Straferwartung“ zurückgestellt werden („Es ist zu erwarten, dass sich die beruflichen und privaten Bindungen im Zuge des Fortganges des Verfahrens lockern werden oder abbrechen“). Der Besitz von Vermögen im Ausland, geschäftliche oder private Beziehungen in das Ausland machen die Fluchtgefahr fast zu einer „unwiderleglichen Vermutung“. Dies, obwohl gerade Kontakte ins Ausland in Zeiten des Internet zu „Normalität“ geworden sind. Allerdings soll auch Vermögen im Inland keinen Schutz gegen Fluchtgefahr bieten („Der Beschuldigte kann selbst oder durch dritte Personen sein inländisches Vermögen verlagern oder veräußern“). Wer über kein Vermögen verfügt, dem wird attestiert, es fehle ihm deshalb eine wesentliche Bindung an das Inland. Ein etwas verzweiflungsvoller Teufelskreis! In vielen Fällen lässt sich argumentativ gegen den Haftgrund wenig ausrichten, weil zu jedem Argument das Gegenargument schon bereitgestellt ist. Streitig ist die Frage, ob ein Beschuldigter, der sich an seinem Heimatort im Ausland aufhält und sich dem Strafverfahren in Deutschland nicht „stellt“, deshalb „flüchtig“ ist1. Für die Fluchtgefahr kommt es letztlich auf die innere Haltung des Betroffenen zum Vorwurf und zum Verfahren an. Diese innere Haltung ist mittelbar dem für die Haftfrage zuständigen Staatsanwalt und Richter nur schwer zu vermitteln. Statt vieler Worte in Schriftsätzen sollte der Verteidiger daher in geeigneten Fällen den Versuch unternehmen, eine persönliche Anhörung/Vernehmung des Klienten zu erreichen. Nach aller Erfahrung eröffnet sich hier am ehesten die Chance, das Haftgericht davon zu überzeugen, dass sich der Betroffene dem Verfahren stellen wird. Eine Haftentscheidung, die auf den persönlichen Eindruck gestützt wird, hat zudem den Vorteil, dass sie durch das Rechtsmittelgericht nicht so leicht abgeändert werden kann, sofern sie sich im Bereich der Vertretbarkeit bewegt; zumindest muss das Rechtsmittelgericht sich seinerseits ein Bild von der Persönlichkeit des Inhaftierten durch persönliche Anschauung machen. Dies alles ändert aber nichts daran, dass bei einem auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl das gesamte argumentative und taktische Können des Verteidigers gefordert ist. Wenn er zudem gute Kontakte zur Staatsanwaltschaft und zum Haftgericht hat, kann eine Vorab-Erörterung der Frage, wodurch einer evtl. Fluchtgefahr wirksam begegnet werden könnte, hilfreich und für die Freiheit des Klienten manchmal entscheidend sein. stelle; ebenso OLG Bremen v. 1.6.1994 – Ws 71/94, StV 1995, 85; LG München v. 12.8.2004 – 8 KLs 361 Js 42456/03, StV 2005, 38. 1 Bejahend OLG Köln v. 7.8.2002 – 2 Ws 358/02, NStZ 2003, 219; verneinend OLG Karlsruhe v. 15.10.1998 – 2 Ws 222/98, bei Paeffgen, NStZ 2000, 75; zum Ganzen Dahs/Riedel, StV 2003, 418.
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Lässt sich im Einzelfall gegen die Fluchtgefahr als solche nichts einwenden, so muss der Verteidiger wenigstens versuchen, die Aussetzung des Haftvollzuges nach § 116 StPO zu erreichen (Rz. 361). Vor allem aber ist es Aufgabe des Verteidigers, gegen die immer wieder zu beobachtenden staatsanwaltschaftlichen und richterlichen Routineentscheidungen in Haftsachen, gegen schematische oder gar rein formularmäßige Behandlung der Haftanordnung vorzugehen. Der Verteidiger muss erwägen, ob vorhandene Haftunfähigkeit (Rz. 339) nicht zugleich Fluchtunfähigkeit bedeutet. Dann ist der Haftbefehl aufzuheben. Haftunfähigkeit kann auch zugleich Verhandlungsunfähigkeit bedeuten. In diesem Fall kann die Einstellung des Verfahrens zu erreichen sein (§§ 205, 206a StPO; Rz. 425). 346
Bei der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) kommt es auf die richtige Auslegung der gesetzlichen Begriffe und die Prüfung der für ihre Anwendung vorgebrachten Tatsachen an. Hier geht es vornehmlich um vier Punkte: Die Feststellung von „bestimmten Tatsachen“ in Bezug auf das „Verhalten des Beschuldigten“, das den „dringenden Verdacht“ einer Verdunkelung begründen soll: Daraus muss die „Gefahr drohen, dass die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde“. Im Einzelnen muss hinsichtlich der zahlreichen Fallgruppen und Einzelfragen auf das reichhaltige Schrifttum und die Entscheidungen der Oberlandesgerichte verwiesen werden. Der Verteidiger sollte dem Mandanten äußerste Vorsicht in seinem Verhalten empfehlen. Er muss ihn auf die Gefahren aufmerksam machen, in die auch der Beschuldigte geraten kann, der sich guten Gewissens mit Zeugen und Mitbeschuldigten in Verbindung setzt. Der Verteidiger muss verhindern, dass auch nur der Eindruck unlauterer Einwirkung auf die Wahrheitsermittlung aufkommt. Das Gesetz will indessen nicht, dass der Beschuldigte in seiner legalen Verteidigung eingeschränkt wird. Die bloße Verbindungsaufnahme mit Zeugen, Mitbeschuldigten und Sachverständigen (Rz. 217 ff., 223), die Suche nach Entlastungsmaterial (Rz. 313 ff.), die Verweigerung der Aussage (Rz. 294), der Aufschub der Einlassung bis zur Beratung durch einen Verteidiger (Rz. 295), ja selbst das wahrheitswidrige Bestreiten der Tat dürfen deshalb für sich betrachtet nicht zur Verhaftung wegen erkennbarer Absicht der Verdunkelung führen. Insoweit handelt es sich um erlaubte Verteidigungsmittel1. Ebenso wenig verdunkelt der Beschuldigte, der einem Zeugen zuredet, von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, der einen dazu berechtigten Sachverständigen veranlasst, das Gutachten zu verweigern, oder der einen Mitbeschuldigten auffordert, die Einlassung zur Sache zu verweigern2. 1 Graf in KK, § 112 StPO Rz. 3 ff., 34 ff.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 StPO Rz. 33 ff.; Dahs sen., NJW 1965, 82 und 889; Philipp, DRiZ 1965, 83. 2 Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rz. 595; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 112 StPO Rz. 29; für den Verteidiger vgl. Strafrechtsausschuss der
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Untersuchungshaft
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Vor allem in Strafsachen aus dem Wirtschaftsleben im weitesten Sinne 347 wird der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr häufig damit begründet, dass die zu untersuchende Straftat ihrem Charakter und ihrer Begehungsweise nach von vornherein auf Täuschung und Verdunkelung des Sachverhalts angelegt sei oder eine solche vor und nach ihrer Begehung geradezu voraussetze1. Diese Konstruktion der „bestimmten Tatsachen“ ist äußerst problematisch2, weil der dringende Tatverdacht damit zu einer nicht oder kaum widerlegbaren Vermutung des Haftgrundes wird. Das Anwendungsgebiet dieses „vereinfachten Haftgrundes“ ist breit. Wenn bei der Begehung der Straftat Kontrollinstanzen getäuscht, Unterlagen verändert oder gefälscht oder sonst besondere, tatbestandsüberschreitende Maßnahmen zur Verdeckung der Tat, zur Verheimlichung der Person des Täters o.Ä. getroffen worden sind, soll dies den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr auslösen. Die Verteidigung ist in solchen Fällen praktisch gezwungen, zur Sache selbst und zur Beteiligung des Klienten im Einzelnen Stellung zu nehmen, um gegen den Haftgrund erfolgreich anzugehen. Diese frühzeitige Offenlegung der Verteidigungslinie kann naturgemäß im weiteren Verfahren in der Sache für den Klienten unter Umständen erhebliche Nachteile mit sich bringen; sie muss daher sorgfältig überlegt werden. Kommt ein Geständnis oder Teilgeständnis in Betracht, so kann dieses allerdings häufig geeignet sein, die Verdunkelungsgefahr zu widerlegen, wenn der Sachverhalt zur Zufriedenheit des Staatsanwalts geklärt ist. Natürlich gibt es Staatsanwälte, die den Beschuldigten (manchmal auch den Verteidiger) so überzeugend über diese positive Folge eines Eingeständnisses belehren, dass sich dieser der Verlockung wiederzugewinnender Freiheit nicht zu entziehen vermag. Der Verteidiger findet in einer solchen Situation bei seinem Klienten wenig Gehör für die Warnung, dass durch Eingeständnisse im Haftverfahren der Sachverhalt auch für eine spätere Hauptverhandlung praktisch „festgeschrieben“ wird. Der verbreiteten laienhaften Vorstellung, man könne ein früher abgegebenes Geständnis jederzeit wirksam widerrufen (Rz. 498), muss er entgegentreten. Im Übrigen ist zu beachten, dass die Verdunkelungsgefahr auch ohne besondere Mitwirkung des Verhafteten mit der Zeit und dem Fortschritt der Ermittlungen immer geringer wird. Je mehr die Staatsanwaltschaft nach ihrer Vorstellung den Sachverhalt aufgeklärt hat, desto geringer ist die Gefahr, dass er durch einen auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten noch verfälscht werden könnte. Bei einem Antrag auf Haftverschonung nach § 116 Abs. 2 StPO (Rz. 361) kann auch darauf hingewiesen werden, dass der Beschuldigte bereit ist, sich einem Kontaktverbot mit Zeugen und Mitbeschuldigten zu unterwerfen (§ 116 Abs. 2 StPO). Schließlich ist daran zu denken, die Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft insoweit zu unterstützen, als es um BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, Thesen 19, 5 ff. 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 StPO Rz. 30 m.N. 2 Dahs, Apokryphe Haftgründe, S. 235; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rz. 606.
235
Rz. 348
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
die Herausgabe (ohnehin beschlagnahmefähiger) Unterlagen und Dokumente geht (Rz. 237). Auch auf diese Weise kann die Sachverhaltsklärung in geeigneten Fällen so gefördert werden, dass die Verdunkelungsgefahr, wenn nicht beseitigt, aber so in einem Maße reduziert werden kann, dass die Aufrechterhaltung der Haft auch unter dem Aspekt des Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 S. 2 StPO) nicht mehr gerechtfertigt ist. 348
Der Haftbefehl bei Tötungs- und Sprengstoffdelikten sowie Bildung terroristischer Vereinigungen (§ 112 Abs. 3 StPO) ist eine systemwidrige Einrichtung, insofern hier die Untersuchungshaft nicht in erster Linie der Sicherung des Verfahrens dienen, sondern ein Haftgrund der „Unerträglichkeit“ sein soll. Der Verteidiger muss die Unvereinbarkeit mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und ihre verfassungsrechtliche Problematik und die Notwendigkeit einer streng verfassungskonformen Auslegung herausstellen1. Dazu gehört auch, dass eine Aussetzung des Vollzuges entsprechend § 116 StPO zulässig ist2.
349
Der Verteidiger hat auch im Falle der Verhaftung wegen Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) in erster Linie zu prüfen, ob hierfür bestimmte Tatsachen im Haftbefehl angegeben sind und auch tatsächlich vorliegen3. Dabei wird der Verteidiger berücksichtigen müssen, dass es sich bei diesem Haftgrund um eine dem Haftrecht sonst fremde Präventivmaßnahme handelt, die mit der Sicherung der Wahrheitsermittlung nichts mehr zu tun hat. Vielfach wird auch die Wiederholungsgefahr mit Erwägungen aus kriminologischer Sicht ausgeräumt werden können4.
350
Auch sonst hat der Verteidiger während des gesamten Haftverfahrens sein Augenmerk darauf zu richten, ob die Untersuchungshaft nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspricht (§ 112 Abs. 1 S. 2 StPO)5. Steht die Verhaftung von vornherein außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache oder tritt dieser Fall im Laufe der Haft ein (§ 120 Abs. 1 StPO), etwa weil nunmehr die berufliche Existenz des Betroffenen gefährdet ist, so muss der Verteidiger unverzüglich Aufhebung des Haftbefehls beantragen6.
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Die schwierige Situation der Verteidigung gegenüber der Untersuchungshaft wird nicht selten günstiger, wenn es gelingt, in der Entscheidungsphase über die Haftanordnung eine mündliche Anhörung durch das Haft1 BVerfG v. 15.12.1965 – 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, 342 = NJW 1966, 243 u. 772. 2 BVerfG v. 15.12.1965 – 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, 353; OLG Frankfurt v. 18.1.2000 – 1 Ws 3/2000, 1 Wa 3/00, StV 2000, 374; Graf in KK, § 116 StPO Rz. 3; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 116 StPO Rz. 18 m.N. 3 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 114 StPO Rz. 15. 4 Kritisch zu § 112a StPO Hassemer, StV 1989, 78. 5 BVerfG v. 15.12.1965 – 1 BvR 513/65, NJW 1966, 243. 6 BVerfG v. 6.2.1980 – 2 BvR 1070/79, NJW 1980, 1448 (Aufhebung sogar trotz Aussetzung); OLG Braunschweig v. 2.2.1967 – HEs 5/67, MDR 1967, 514 = NJW 1967, 1290.
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Untersuchungshaft
Rz. 351
gericht (Rz. 355 ff.) zu erreichen. Dann gewinnt nämlich der sonst im Haftverfahren eher bedeutungslose „persönliche Eindruck“ des Betroffenen auf das Gericht unter Umständen erhebliche Bedeutung. Der Verteidiger muss einen solchen Termin mit dem Klienten sorgfältig vorbereiten, der dem Richter weder aggressiv, verschlossen oder wortkarg gegenübertreten noch allzu eloquent oder „präpariert“ erscheinen darf („keine Show abziehen!“). Wichtig ist, dass es zu einem echten Gespräch mit dem Richter kommt und dieser nicht nur formal seiner Verpflichtung zum rechtlichen Gehör genügt. In den Dialog zwischen Richter und Betroffenen sollte der Verteidiger sich nach Möglichkeit nicht einschalten, falls nicht eine Korrektur des Gesprächsganges unerlässlich ist („Ich wollte mir von Ihrem Klienten einen Eindruck verschaffen, nicht von Ihnen, Herr Verteidiger!“). Hat der Haftrichter, aber auch das erkennende Gericht, den persönlichen Eindruck gewonnen, dass sich der Angeklagte dem Verfahren nicht durch die Flucht entziehen oder keine Verdunkelungshandlung vornehmen wird, so ist eine (auch) auf diesen Umstand gestützte günstige Haftentscheidung auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft nur beschränkt überprüfbar. Die Überprüfung muss sich angesichts der Unmöglichkeit einer detaillierten Darlegung der Elemente, die zu einem bestimmten persönlichen Eindruck geführt haben, darauf beschränken, ob die Entscheidung auf einer vertretbaren Wertung der für und gegen die Haftvoraussetzungen sprechenden Umstände beruht1. Ist die Haftentscheidung während einer laufenden Hauptverhandlung ergangen, so wird das Beschwerdegericht sie häufig schon deshalb akzeptieren müssen, weil es nicht überprüfen kann, ob das erkennende Gericht aus dem Inbegriff der mündlichen Hauptverhandlung rechtlich richtige Erkenntnisse gewonnen hat2. c) Rechtsbehelfe Literatur: Burhoff, Die besondere Haftprüfung durch das OLG nach den §§ 121, 122 StPO, StraFo 2000, 109; Deckers, Verteidigung in Haftsachen, NJW 1994, 2261; Heinrich, Die Entscheidungsbefugnis des „nächsten Amtsrichters“ nach § 115a StPO, StV 1995, 660; Hohmann, Rechtsbehelf bei „Überhaft“: – Antrag auf Haftprüfung oder Haftbeschwerde?, NJW 1990, 1649; Koch, Noch einmal – Zuständigkeitsverteilung und Transportart nach den §§ 115, 115a StPO, NStZ 1995, 71; Maier, Was darf der „nächste“ Richter nach § 115a StPO?, NStZ 1989, 59; Mehle, Haftprüfung mit mündlicher Verhandlung – einige praktische Hinweise, StraFo 1989, 2; Nibbeling, Gesetzliche Fesseln des Richters bei der Haftentscheidung, ZRP 1998, 342; Schlothauer, Dürfen in der Begründung von Haftentscheidungen die maßgebenden Beweismittel verschwiegen werden, wenn anderenfalls eine Gefährdung aller Ermittlungen zu befürchten wäre?, StV 1991, 522; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 4. Aufl. 2010, Rz. 694 ff.; Schmitz, Monika, Der verhaftete Beschuldigte und sein erster Richter (§§ 115, 115a StPO), NStZ 1998, 165; Tondorf, Verfassungsbeschwerde gegen Haftentscheidungen?, StV 1992, 235; Wasserburg, 1 BGH v. 6.8.1991 – 2 Ausschl 1/91, StV 1991, 595; OLG Karlsruhe v. 6.12.1996 – 3 Ws 321/96, 3 Ws 322/96, StV 1997, 312; OLG Frankfurt v. 25.7.1995 – 1 Ws 120–123/95, StV 1995, 593; KG v. 22.2.1993 – 3 Ws 74/93, StV 1993, 252. 2 Z.B. OLG Hamm, Beschl. v. 2.7.1996 – 3 Ws 327/96 – n.v.
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Rz. 352
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Muss bei der Aufhebung eines Haftbefehls eine Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Beschuldigten ergehen?, NStZ 1988, 195; Ziegert, Der Richter des nächsten Amtsgerichts – Richter oder Urkundsbeamter?, StV 1997, 439.
aa) Allgemeines 352
Die Vielzahl der Rechtsbehelfe im Haftverfahren führt in der Regel nicht zum Erfolg; schlimmstenfalls vertiefen sie die Fronten zwischen Verteidigung, Staatsanwaltschaft und Gericht. In der Praxis führen die Rechtsbehelfe häufig zu einer nicht unerheblichen Verzögerung der Ermittlungen, zumal, wenn sie hintereinander gestaffelt in Bewegung gesetzt werden. Die Schwierigkeiten sind für den Verteidiger deshalb u.a. so groß, weil er auf Akteneinsicht angewiesen ist, wenn er einen Antrag mit Aussicht auf Erfolg begründen will und die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme nicht offenkundig ist. Die Akten befinden sich aber oft bei der Polizei. Sie müssen ihr erst weggenommen werden, um Staatsanwaltschaft, Gericht und Verteidigung für die Haftprüfung zur Verfügung zu stehen. Der Verteidiger sollte aus diesen Gründen schon frühzeitig darauf bestehen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft Zweitschriften der Akten führen. Das wird noch nicht überall gehandhabt, obwohl gerade die „Doppelakte“ allen Beteiligten Arbeitszeit erspart, denn es macht keine Mühe, wenn schon die Polizei Kopien der Vernehmung der Zeugen und der Beschuldigten anfertigt oder elektronische Datenträger benutzt. Das sollte der Verteidiger schon bei der Polizei beantragen (Rz. 299) und ggf. auch die Einlassung zur Sache hiervon abhängig machen. Das ist für ihn eine wesentliche Erleichterung.
353
Gerade in Haftsachen wird im Übrigen die Akteneinsicht in der Regel versagt, weil sie den Ermittlungszweck gefährden könne (§ 147 Abs. 2 StPO). Die Rechtsprechung billigt dem Verteidiger jedoch auch in solchen Fällen eine eingeschränkte Einsicht in die Akten zu, soweit er die darin befindlichen Informationen benötigt, um auf die gerichtliche Haftentscheidung effektiv einwirken zu können1. Das gilt sowohl – sogar in erster Linie – für den dringenden Tatverdacht als auch für die Haftgründe. Damit ist Verteidigungsbasis gegen Haftbefehle deutlich verbessert und muss entsprechend extensiv genutzt werden. Das Recht auf (Teil-)Akteneinsicht reicht so weit, dass die Verteidigung in die Lage versetzt wird, den dringenden Tatverdacht insgesamt anzugreifen. Danach muss der Verteidigung zumindest Einsicht in alle Akten gewährt werden, auf die der Haftbefehl direkt oder mittelbar Bezug nimmt. Allerdings soll der Anspruch auf Akteneinsicht nicht bestehen, wenn eine mündliche Mitteilung der entscheidungsrelevanten Tatsachen und Beweismittel ausreichend ist2. Mit einer knappen mündlichen Mitteilung darf sich der Verteidiger in größeren Sachen nicht ohne weiteres „abspeisen“ lassen, sondern muss nachfragen oder Anträge auf weitere Informationen stel1 BVerfG v. 11.7.1994 – 2 BvR 777/94, NStZ 1994, 551. 2 BVerfG v. 11.7.1994 – 2 BvR 777/94, NStZ 1994, 551.
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Untersuchungshaft
Rz. 355
len. Darüber hinaus wird vor allem für die schriftsätzliche Bearbeitung die Akteneinsicht unverzichtbar sein. Sie muss notfalls mit der Verfassungsbeschwerde durchgesetzt werden. Im Haftverfahren muss sich der Verteidiger schnell entscheiden, ob er 354 Anträge gegen einen Haftbefehl stellt. Freilich darf er neben der Verzögerung der Ermittlungen auch nicht außer Acht lassen, dass eine sichere Prognose für die Erfolgsaussichten kaum einmal zu stellen ist. Statt einer vielleicht aussichtslosen Anfechtung des Haftbefehls empfiehlt es sich dann, bei Polizei und Staatsanwaltschaft energisch auf Beschleunigung der Ermittlungen zu drängen. Ein offenes Gespräch mit dem Staatsanwalt bewirkt gelegentlich, dass die durch Maßnahmen der Verteidigung nicht behinderten Ermittlungen zügig voranschreiten (vgl. auch Rz. 179, 267). Solche Absprachen mit der Staatsanwaltschaft (Rz. 185) führen häufig zur Fixierung bestimmter Termine, bis zu denen der Staatsanwalt die Haft aufzuheben verspricht. Zwar kann der Staatsanwalt nach der Natur der Sache einen solchen Termin nicht mit absoluter Verbindlichkeit nennen. Das Agreement bedeutet aber immerhin eine starke Position des Verteidigers zur baldigen Durchsetzung der Haftentlassung. Je länger die Haft dauert, desto schwieriger wird es allerdings für den Verteidiger, dem Mandanten und seinen Angehörigen klarzumachen, dass es besser ist, Anträge gegen den Haftbefehl noch zurückzustellen: Denn der Auftraggeber erwartet von dem Verteidiger in erster Linie, dass er die Aufhebung der Untersuchungshaft durchsetzt, und hat wenig Verständnis dafür, dass ihm das zeitliche Risiko der Ermittlungen aufgebürdet wird. Die immer wieder zu beobachtende Haftpsychose nimmt dem Betroffenen die Möglichkeit zu ruhiger vernünftiger Überlegung. Häufig wird das Verhältnis zwischen Verteidiger und Mandant in dieser Zeit in besonderem Maße auf die Probe gestellt. Nicht selten kommt es aus diesen Gründen zu Vertrauenskrisen zwischen Verteidiger und Mandanten, die die Lage des Mandanten nur noch verschlimmern. Aufgabe des Verteidigers ist es, auch in scheinbar aussichtlosen Situationen Ruhe und Gelassenheit zu bewahren und den begreiflicherweise nervösen Beschuldigten menschlich zu führen. Dabei hilft es u.a., diese Probleme in der „Wir-Form“ zu besprechen. Dadurch erhält der Auftraggeber das Gefühl für die gemeinsame Aufgabe. Freilich kann es notwendig werden, die Fortführung des einmal gefassten Verteidigungsplanes durchzusetzen. Erfahrungsgemäß ist dies jedenfalls richtiger, als mit einer Mandatsniederlegung zur Unzeit aufzugeben. bb) Die mündliche Verhandlung Im Verfahren der Haftprüfung wird der Verteidiger häufig mündliche Ver- 355 handlung – Haftprüfung – beantragen (§§ 117 Abs. 1, 118, 118a StPO), auf deren Durchführung er dann einen gesetzlichen Anspruch hat. Im Beschwerdeverfahren steht sie im Ermessen des Gerichts. Gelingt es, ihre Vorteile auszunutzen, so wird sich eine Aufhebung des Haftbefehls, min239
Rz. 356
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
destens aber eine Verschonung von der Haft (Rz. 361) eher erreichen lassen als im schriftlichen Haftprüfungsverfahren. Der Verteidiger muss die mündliche Verhandlung beantragen, wenn es darauf ankommt, dem Richter einen persönlichen Eindruck (Rz. 491) von dem Beschuldigten zu vermitteln, der grundsätzlich vorzuführen ist. Fluchtgefahr und Verdunkelungsabsicht auszuräumen, gelingt erfahrungsgemäß am besten mit dem persönlichen Eindruck, den der Beschuldigte macht. Einwendungen gegen den Haftbefehl, die in den persönlichen Verhältnissen des Beschuldigten ihre Rechtfertigung finden, lassen sich oft in der mündlichen Verhandlung besser begründen. Auch kann es richtig sein, auf mündlicher Verhandlung zu bestehen, um dem Richter vor Augen zu führen, wie stark die Haft den Beschuldigten körperlich und seelisch mitnimmt. 356
Der Verteidiger darf aber die Nachteile der mündlichen Verhandlung nicht übersehen. Sind die Verfahrenslage und sein Kenntnisstand im Wesentlichen unverändert, so wird der Richter, der den Haftbefehl erlassen hat, kaum dazu zu bewegen sein, seine eigene Entscheidung aufzuheben. Aus diesem Grunde bedarf die mündliche Verhandlung der eingehenden Vorbereitung. Der Verteidiger muss sich über den Stand des Verfahrens und den Umfang der Beschuldigung genau unterrichten. Akteneinsicht in dem aus Art. 6 Abs. 3a MRK folgenden Minimalumfang (Rz. 353) ist unerlässlich. Darüber hinaus sollte er auf seinem Recht bestehen, vor dem Haftprüfungstermin die Niederschriften über die bisherigen Vernehmungen des Beschuldigten und etwaige Sachverständigengutachten kennenzulernen (§ 147 Abs. 3 StPO – Rz. 270), bzw. deren Zweitschriften zu erhalten (Rz. 352 a.E.). Während der Haftbefehl den strafrechtlichen Vorwurf oft nur formelhaft und sachlich allzu knapp wiedergibt, kann man aus Fragen und Vorhalten im Vernehmungsprotokoll häufig zusätzliche konkrete Erkenntnisse über den Sachverhalt der Beschuldigung und das Beweismaterial gewinnen. Auch die Befragung des Mandanten über Vorgänge, die nicht im Protokoll stehen, insbesondere über Fragen und Bemerkungen der Vernehmungsbeamten „am Rande“ erbringt für den Verteidiger oft nützliche Hinweise. Dies gilt in gleichem Maße für die Rechtsprechung des zuständigen Oberlandesgerichts, die wertvolle rechtliche Argumente liefern kann.
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Der Verteidiger kann auch versuchen, mit Richter und Staatsanwalt vor dem Termin zu sprechen, um ihre Meinung zu erfahren. Diese ergibt sich aus der ihm zustehenden Minimal-Akteneinsicht (Rz. 353) in der Regel nicht. Bei vertrauensvoll-fairer Zusammenarbeit erhält er dabei mindestens wertvolle Hinweise. Ggf. kann der Verteidiger auch in der mündlichen Verhandlung anregen, ihn in Abwesenheit des Beschuldigten genauer zu unterrichten. Nur wenn der Verteidiger den Sachverhalt so kennt wie Richter und Staatsanwalt, ist ein Gespräch auf „Augenhöhe“ möglich. Hat er die Akten früher eingesehen, so muss er überprüfen, ob zusätzliche Ermittlungsergebnisse vorliegen. Ein bevorstehender Haftprüfungstermin fördert erfahrungsgemäß die Ermittlungsaktivität. Der Verteidi240
Untersuchungshaft
Rz. 359
ger muss dafür Sorge tragen, dass er im Termin keine Überraschungen erlebt. Präsentiert die Ermittlungsbehörde erst im Termin belastende Unterlagen, so ist ein Antrag auf angemessene Unterbrechung der Verhandlung angezeigt, um das neue Material zu prüfen und mit dem Mandanten zu besprechen. Derartige Aktionen der Staatsanwaltschaft werden auch von den Gerichten nicht geschätzt. Der auswärtige Verteidiger befindet sich bei der Anberaumung des Ter- 358 mins im Haftverfahren gelegentlich im Nachteil, wenn er nicht mehr rechtzeitig benachrichtigt werden kann. Er sollte dann auf jeden Fall Wiederholung der mündlichen Verhandlung beantragen. Hat der Termin gesetzwidrig ohne Verteidiger stattgefunden, wird die Entscheidung auf Beschwerde aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, wenn nicht das Beschwerdegericht nach § 118 Abs. 2 StPO selbst die mündliche Verhandlung durchführt1. Der Verteidiger ist verpflichtet, die Verhandlung auch mit dem Mandanten im Einzelnen vorzubereiten. Der Beschuldigte muss wissen, worauf es ankommt, wie er sich zu verhalten hat und wo die Grenzen liegen, die seinen Wünschen durch das Haftrecht gesetzt sind. Der Verteidiger muss auch die Frage aufwerfen, ob über den bekannten Akteninhalt hinaus evtl. mit bestimmten weiteren Belastungen zu rechnen ist, hinsichtlich derer vorsorglich eine Stellungnahme für die Verhandlung vorbereitet werden sollte („Leiche im Keller“). Der Mandant wird in fast allen Fällen auf einen frühen Haftprüfungstermin drängen. Diesem verständlichen Bestreben wird der Verteidiger entgegentreten müssen, wenn die Aufhebung des Haftbefehls oder die Verschonung von der Haft voraussichtlich nicht oder noch nicht zu erreichen ist. So wird es in der Regel unzweckmäßig sein, in die mündliche Verhandlung zu gehen, ohne den tatsächlichen Umfang der Beschuldigung hinreichend zu kennen, ohne entlastende Umstände und Beweismittel überprüft zu haben. Der Verteidiger wird auch während der Haft seines Mandanten bedenken müssen, dass es nicht in allen Fällen sinnvoll ist, schon „alle Karten auf den Tisch zu legen“. Auch ist zu berücksichtigen, dass eine erneute mündliche Verhandlung erst nach zwei Monaten oder nach einer Mindesthaftdauer von drei Monaten erzwungen werden kann (§ 118 Abs. 3 StPO). Der Verteidiger muss sich also den Zeitpunkt für seinen Antrag auf mündliche Verhandlung genau überlegen. cc) Haftbeschwerde Vor einer Haftbeschwerde2, deren Verfahren sich nach §§ 304 ff. StPO rich- 359 tet (Rz. 844 ff.), sollte der Verteidiger bedenken, dass sie regelmäßig die Ermittlungsarbeit wesentlich verzögert. Die Staatsanwaltschaft braucht die Akten zur Ausarbeitung einer Stellungnahme, das Beschwerdegericht 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 118a StPO Rz. 7 m.N. 2 Deckers in Beck’sches Formularbuch, 5. Aufl. 2010, S. 235 ff.
241
Rz. 360
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
muss sich erst in die Akte einarbeiten, die Entscheidung bedarf der Beratung. Die Erfahrungen mit der Haftbeschwerde sind in der Praxis nicht günstig. Die Strafkammern als Beschwerdegericht neigen zur Bestätigung des Haftbefehls. Das kommt auch daher, dass namentlich in Fällen des dringenden Tatverdachts der Verteidiger zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens eine Haftbeschwerde nur in seltenen Fällen umfassend begründen kann. Sie kommt jedoch vor allem in Betracht, wenn ein formeller oder materieller Fehler des Haftbefehls auf der Hand liegt oder wenn eine mündliche Verhandlung schon einmal stattgefunden hat und die Fristen von drei bzw. zwei Monaten nach § 118 Abs. 3 StPO noch nicht abgelaufen sind. In der Praxis hat sich die weitere Beschwerde als eher wirksames Rechtsmittel erwiesen. Sie ist nach § 310 StPO zulässig. Der Verteidiger erreicht damit die Nachprüfung durch das Oberlandesgericht, das in der Ebene eines Revisionsgerichts sich um streng gesetzmäßige Interpretation der Bestimmungen und der ihnen zugrunde liegenden ratio legis bemüht. Die Oberlandesgerichte haben sich um restriktive Auslegung und objektive Rechtsfindung im Haftrecht sehr verdient gemacht und manche untragbaren Haftbefehle aufgehoben. Allerdings ist die Rechtsprechung regional sehr unterschiedlich. Neben liberal denkenden (in dubio pro libertate) gibt es auch ausgesprochen „haftfreudige“ Obergerichte. 360
Es kommt vor, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts über die weitere Beschwerde sich verzögert, ohne dass ein sachlicher Grund dafür erkennbar ist. Manchmal ist der Verdacht begründet, dass die Sache einfach „liegengelassen“ wird. Einem solchen Verhalten kann und sollte mit der Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Art. 2 GG und des aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Beschleunigungsgebots (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 3 MRK) begegnet werden. Die Erfahrung zeigt, dass das BVerfG in solchen Fällen sehr schnell reagiert. Entweder genügt schon eine Anfrage aus Karlsruhe bei dem Oberlandesgericht, um eine kurzfristige Entscheidung herbeizuführen, oder es kann sehr rasch zur Aufhebung der Haft durch Beschluss des BVerfG kommen. In der Benutzung des Rechtsmittels der Haftbeschwerde (vor allem auch der weiteren Beschwerde) liegen aber auch nicht zu unterschätzende Gefahren für die Verteidigung insgesamt. Viele Gerichte neigen dazu, den dringenden Tatverdacht zwar einerseits nur summarisch zu prüfen, andererseits ihn aber in der Begründung ihrer Entscheidung zur Anklage- oder gar Verurteilungs-Gewissheit zu verdichten („Eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft wird nicht in Betracht kommen“). Darüber hinaus werden mehr oder weniger konkrete Straferwartungen ausgesprochen („… hat mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe zu rechnen“ oder „… wird eine Freiheitsstrafe im oberen Bereich des Strafrahmens in Betracht kommen“). Derartige Entscheidungen üben erfahrungsgemäß nicht nur einen unter Umständen erheblichen Einfluss 242
Untersuchungshaft
Rz. 361
auf die Staatsanwaltschaft, sondern auch auf das im Hauptverfahren erkennende Gericht aus. Ganz besonders problematisch sind die Fälle, in denen die Beschwerdestrafkammer auch als Gericht des ersten Rechtszuges im Hauptverfahren zuständig ist. Die Rechtsmittel im Haftverfahren bleiben also nicht nur häufig erfolglos, sondern können sogar zu einer faktischen Verschlechterung der Situation des Betroffenen führen. Der Verteidiger muss diese Risiken in seine Überlegungen einbeziehen und insbesondere auch mit dem Mandanten besprechen. Er muss darüber hinaus ebenso Erkundigungen über die geschäftsplanmäßige Zuständigkeit der Spruchkörper einholen wie sich auch Informationen über die Rechtsprechung des konkreten Gerichts in Haftsachen verschaffen. Besonders wichtig können auch Informationen über das „Klima“ zwischen Staatsanwaltschaft und Landgericht sein. Überraschend erlebt man hier immer wieder einmal gespannte Beziehungen, was sich ein geschickter Verteidiger in vielfältiger Weise zunutze machen kann. d) Haftverschonung Literatur: Jakoby, Zulässigkeit von Anordnungen gem. § 132 Abs. 1 StPO gegen im Ausland befindliche Beschuldigte, StV 1993, 448; Neuhaus, Haftverschonungsauflagen und ihre Kontrolle, StV 1999, 340; Wendisch, Ist die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls vom Beschuldigten mit der weiteren Beschwerde anfechtbar?, StV 1991, 219.
Der Verteidiger wird – wenn schon die Vermeidung oder Aufhebung des 361 Haftbefehls nicht erreichbar ist – die Aussetzung des Haftvollzuges nach § 116 StPO von vornherein ins Auge fassen. Richter und Staatsanwalt sind häufig eher bereit, den Beschuldigten unter Auflagen von der Haft zu verschonen, als den Haftbefehl aufzuheben. Diese Erfahrung sollte sich der Verteidiger zunutze machen und in geeigneten Fällen von vornherein die Unterwerfung unter angemessene richterliche Weisungen anbieten. Dabei muss der Verteidiger vor allem die persönlichen Verhältnisse des Mandanten, dessen familiäre und berufliche Bindungen offenlegen und ggf. in mündlicher Verhandlung durch Vernehmung des Beschuldigten unter Beweis stellen. Nach Ablauf von sechs Monaten ist die Verschonung von der Haft unter bestimmten Voraussetzungen zwingend vorgeschrieben (§ 121 Abs. 1 und 2 StPO; Rz. 363). Welche Auflagen der Verteidiger anbieten kann, muss er sich im Einzelfall überlegen. Der Katalog des § 116 Abs. 1 StPO ist reichhaltig, einzelne Maßnahmen sind indessen nicht immer bedenkenfrei. So muss der Verteidiger beachten, dass die Einbehaltung des Reisepasses und Personalausweises für den Klienten, der z.B. im Wirtschaftsleben tätig ist, sehr einschneidend sein kann, von der Rechtsprechung aber in der Regel für zulässig gehalten wird1. Er sollte in Erfahrung bringen, wie die Meinung 1 OLG Celle v. 3.5.1991 – 1 Ws 109/91, StV 1991, 473; Graf in KK, § 116 StPO Rz. 12 f.
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Rz. 362
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
des zuständigen Haftrichters zu dieser und anderen Streitfragen ist. Bei einer Unterredung wird er auch feststellen können, ob der Richter nicht schon von sich aus den Haftbefehl aufheben will und deshalb der Antrag auf Haftverschonung überflüssig ist. Der Antrag birgt die Gefahr in sich, dass der Richter auf die Aussetzung des Haftvollzugs ausweicht, statt den Haftbefehl aufzuheben. Der Verteidiger muss ferner berücksichtigen, dass die Haftverschonung auch bei der Verdunkelungshaft möglich ist (§ 116 Abs. 2 StPO), dass aber die richterliche Anweisung, der Beschuldigte dürfe sich nicht mit Zeugen, Mitbeschuldigten oder Sachverständigen in Verbindung setzen, die Verteidigung in bedenklicher Weise einschränkt. Der Verteidiger ist gehalten, sich gegen solche Auflagen zu wehren. Ein Kontaktverbot mit Familienangehörigen dürfte zudem gegen Art. 6 GG verstoßen. Ob das immer klug ist, ist eine andere Frage. Er bewirkt damit unter Umständen gerade die Ablehnung der Haftverschonung. In einem sehr kritischen Fall hat der Verteidiger sie dadurch erwirkt, dass er dem Haftrichter ein Schreiben vorlegte, das an alle noch zu vernehmenden Zeugen gerichtet war und die nachdrückliche Aufforderung enthielt, wahrheitsgemäß auszusagen, ggf. auch gegen den Beschuldigten selbst auszusagen. Der Verteidiger muss also in der Haftsituation pragmatisch zu Werke gehen. Im Übrigen darf der Verteidiger auch in dieser Phase des Verfahrens jederzeit in zulässigem Rahmen mit Zeugen, Mitbeschuldigten und Sachverständigen Verbindung aufnehmen und Recherchen durchführen (Rz. 313 ff.), die Mithilfe des Mandanten wird jedoch in den meisten Fällen nicht zu entbehren sein. Ist es für den Beschuldigten zweckmäßig, mit Beteiligten in Verbindung zu treten, so empfiehlt sich ein Weg, der sich in der Praxis bewährt hat, um jeden Verdacht einer unzulässigen Beeinflussung zu vermeiden. Der Verteidiger kann dem Mandanten aufgeben, ihm die Fragen genau zu nennen, die er beantwortet haben will; ggf. kann der Verteidiger bei der Formulierung der Fragen helfen. Entweder leitet er die Fragen selbst an den anderen Beteiligten oder dessen Verteidiger weiter, oder der Beschuldigte schickt die genau aufgesetzten Fragen an diese Personen. Ist der Mandant mit einem solchen Vorgehen nicht einverstanden, so weiß der Verteidiger, dass die Absicht der Verdunkelung nicht auszuschließen ist. Er verhindert dann im Allgemeinen, dass sie ausgeführt wird. Im anderen Falle wird der Verdacht irgendeiner unzulässigen Beeinflussung von vornherein vermieden. 362
Besondere Bedeutung bei der Haftverschonung hat die Möglichkeit der Sicherheitsleistung (§ 116 Abs. 1 Nr. 4 StPO). Die Erfahrungen mit Sicherheitsleistungen, insbesondere auch solchen, die von Dritten erbracht werden, sind recht positiv. Sicherheitsleistung kann in verschiedenster Form erfolgen: Hinterlegung von Bargeld, Wertpapieren, Erbringung einer Bürgschaft, Eintragung oder Abtretung von Grundpfandrechten u.a. Dies sollte je nach den Möglichkeiten des Mandanten vor der Entscheidung über die Haftverschonung mit dem Haftrichter besprochen werden. Eine spätere Abänderung des negativ ausgefallenen Haftverschonungsbe244
Untersuchungshaft
Rz. 362
schlusses kann nicht nur schwierig werden, sondern braucht in jedem Falle Zeit – die der Mandant weiter hinter Gittern zu verbringen hat. Bei der in der Praxis häufigen Bürgschaft wird in erster Linie eine Bankbürgschaft in Betracht kommen, daneben jedoch auch die Bürgschaft eines oder mehrerer Angehöriger, von Freunden oder auch des Arbeitgebers des Betroffenen. Tritt ein Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit für die Sicherheitsleistung ein, wird dort ggf. § 266 StGB beachtet werden müssen; insoweit unbedenklich ist eine Lösung über die Gewährung eines Darlehens. Dagegen sollte sich der Verteidiger mit einer Sicherheitsleistung aus eigenen Mitteln große Zurückhaltung auferlegen. Er darf sich insbesondere nicht aus Ehrgeiz verleiten lassen, aus eigener Tasche einen Betrag zu hinterlegen, nur um den Erfolg der Haftentlassung des Mandanten für sich verbuchen zu können1. Schließlich kann er sich durch eine Bürgschaftsübernahme auch von seinem Mandanten abhängig machen. Erfährt er von Fluchtabsichten, so steht er in dem Widerstreit, entweder die verbürgte Summe zu verlieren oder den Justizbehörden Kenntnis von den Fluchtvorbereitungen zu geben (Rz. 53). Einem solchen Gewissenskonflikt darf sich der Verteidiger nicht aussetzen. Bei der Verwaltung und Abrechnung eines Sicherheitsbetrages, den der Verteidiger vom Mandanten oder dessen Angehörigen erhalten hat, muss er beachten, dass er ohne Zustimmung nicht befugt ist, den Sicherheitsbetrag mit seiner Gebührenforderung zu verrechnen (§ 4 Abs. 3 BORA). Auch die Höhe der Sicherheit, die sich nach der sozialen Stellung des Mandanten richtet, sollte der Verteidiger mit dem Haftrichter und dem Staatsanwalt besprechen. Erfahrungsgemäß schließen sich die Strafverfolgungsbehörden einem vernünftigen Vorschlag im Wesentlichen an, sobald sie die beizubringenden Unterlagen geprüft haben. Um dem Haftgrund der Fluchtgefahr wirksam zu begegnen, kann in Absprache mit dem Mandanten zudem das Tragen einer sog. elektronischen Fußfessel angeboten werden. Diese ermöglicht dem Mandanten die weitgehende Fortführung seines Privat- und Arbeitslebens mit oft nur geringen Einschränkungen. e) Haftdauer Literatur: Bartsch, Richtermangel und Dauer der Untersuchungshaft, NJW 1973, 1303; Bertram, Grüner Esel – schwarzer Sack?, NJW 1996, 1451; Fahl, Muss der Verdacht einer weiteren Straftat in einen bereits ergangenen Haftbefehl aufgenommen, oder kann ein zweiter Haftbefehl erlassen werden?, NStZ 1997, 98; Happel, Aufhebung des Haftbefehls nach § 121 StPO, StV 1986, 501; Paeffgen, Neuerlass eines Haftbefehls nach Aufhebung des alten wegen derselben Tat?, JR 1995, 75; Schlothauer, Zur Fortdauer der Untersuchungshaft wegen wichtigen Grundes nach StPO § 121, StV 1992, 183; Schlothauer, Zur Berechnung der Frist nach StPO § 121 Abs. 1 bei Haftzeiten wegen mehrerer Straftaten und bei zeitweiser Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus, StV 1996, 554; Schöch, Kurze Untersuchungshaft durch frühe Strafverteidigung?, StV 1997, 323; Seebald, Zur Verhältnismäßigkeit der Haft nach erstinstanzlicher Verurteilung, NJW 1975, 1 Vgl. Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, Thesen 15 u. 57.
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Rz. 363
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
28; Seetzen, Untersuchungshaft und Verfahrensverzögerung insbesondere nach erstinstanzlicher Hauptverhandlung, ZRP 1975, 29; Starke, Probleme der Fristberechnung nach § 121 I StPO, NStZ 1995, 98.
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Bei längerer Haftdauer ist es Pflicht des Verteidigers, darauf zu achten, dass die Bestimmungen des § 121 StPO eingehalten werden. Der Verteidiger muss darauf hinwirken, dass die gesetzlich vorgeschriebene Prüfung durch Staatsanwalt und Haftrichter1 rechtzeitig vor Ablauf der Sechsmonatsfrist stattfindet. Damit die Frist nicht übersehen wird, empfiehlt sich deren Vermerk in den Handakten und im Fristenkalender. Eine Vorfrist von drei bis vier Wochen ist zweckmäßig. Da die nicht rechtzeitige Vorlage der Sache an das Oberlandesgericht nicht die Aufhebung des Haftbefehls zur Folge hat2, muss der Verteidiger ggf. in den Geschäftsgang eingreifen, indem er auf Beschleunigung drängt. Umso eher kann er geltend machen, dass die verzögerliche Bearbeitung von Haftsachen der Menschenrechtskonvention widerspricht (Art. 6 Abs. 3 MRK)3. Dabei ist freilich zu bedenken, dass die Vorlage der Akten an das Oberlandesgericht die Ermittlungen hinausschiebt. Dieser Nachteil kann nur aufgefangen werden, wenn ein Haftsonderheft oder „Doppelakten“ geführt werden – was erreichbar sein sollte. Unabhängig von dem Verfahren nach §§ 121 ff. StPO ist ein Haftbefehl aufzuheben, wenn die Ermittlungen nicht hinreichend zügig betrieben, insbesondere auch bei der Eröffnung des Hauptverfahrens der Termin zur Hauptverhandlung wegen der Geschäfts- oder Personallage des Gerichts erheblich hinausgeschoben wird4. Nach Ablauf der in § 121 Abs. 1 StPO bestimmten Frist darf der Beschuldigte jedenfalls nicht länger in Haft gehalten werden als es die ordnungsgemäße Vorbereitung der Hauptverhandlung erfordern würde: Ein Jahr darf die Untersuchungshaft nur in besonderen Ausnahmefällen übersteigen. Überhaupt muss der Verteidiger darauf drängen, dass ein Verfahren, in dem der Beschuldigte in Haft ist, nicht längere Zeit unbearbeitet bleibt. Das kann gegen Art. 2 Abs. 2 GG5 verstoßen und zwingt dann zur Aufhebung des Haftbefehls. Die Oberlandesgerichte legen bei der Prüfung, ob das Verfahren mit der durch die Haft gebotenen Intensität gefördert worden ist, durchweg einen strengen Maßstab an. Richtermangel, Überlastung des Spruchkörpers u.Ä. werden nicht hingenommen. Der Verteidiger muss sich mit der einschlägigen Rechtsprechung, die vielfältig vorhanden ist, vertraut machen.
1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 121 StPO Rz. 27 m.N.; a.A. Schlothauer/ Weider, Untersuchungshaft, Rz. 901. 2 BGH bei Schmidt, MDR 1988, 353 (357); Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 121 StPO Rz. 28. 3 EGMR v. 26.1.1993 – 92/1991/344/417, EuGRZ 1993, 384 (386 unter B); BVerfG v. 3.5.1966 – 1 BvR 58/66, NJW 1966, 1259. 4 BVerfG v. 12.12.1973 – 2 BvR 558/73, JZ 1974, 582 m. Anm. Kleinknecht. 5 BVerfG v. 12.12.1973 – 2 BvR 558/73, BVerfGE 36, 264 = JZ 1974, 582.
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Untersuchungshaft
Rz. 364
Wird die Entscheidung des Oberlandesgerichts unangemessen verzögert, kann Verfassungsbeschwerde geboten sein (Rz. 360). Der „Anruf aus Karlsruhe“ zeigt in der Regel sehr schnell Wirkung. Ordnet das Oberlandesgericht die Fortdauer der Haft an (§ 121 Abs. 2 StPO), so hat der Verteidiger die rechtzeitige Haftprüfung nach drei Monaten zu überwachen (§ 122 Abs. 3 StPO). Im Übrigen treten Schwierigkeiten auf, falls der Senat im Haftverfahren zu kurze Äußerungsfristen setzt (z.B. 3 Tage). Dann ist zu erwägen, ob die kurze Frist in Kauf genommen werden kann oder deren Verlängerung beantragt werden muss, die notwendigerweise die Ermittlungen weiter verzögert. f) Verkehr mit dem Verhafteten Literatur: Berndt, Eingriffe in den Briefverkehr von Untersuchungshaftgefangenen, NStZ 1996, 157; Ernesti, Grenzen anwaltlicher Interessenvertretung im Ermittlungsverfahren, JR 1982, 221; Joachimski in Seitz/Büchel, Beck’sches RichterHandbuch, 3. Aufl. 2012, E. I. Rz. 131 ff.; Krekeler, Probleme der Verteidigung in Wirtschaftsstrafsachen, wistra 1983, 43; Kruis/Cassardt, Verfassungsrechtliche Leitsätze zum Vollzug von Straf- und Untersuchungshaft, NStZ 1995, 521, 574; Liemersdorf, Grenzziehung zwischen zulässigem und unzulässigem Verhalten eines Strafverteidigers im Umgang mit seinem Mandanten, MDR 1989, 204; LübbeWolff/Geisler, Neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Vollzug von Straf- und Untersuchungshaft, NStZ 2004, 478; Münchhalffen, „Der Fall Rechtsanwalt P.“ oder „Wie man einem unliebsamen Verteidiger den Zugang zu einem inhaftierten Beschuldigten versagt“, StraFo 1997, 106; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 4. Aufl. 2010, Rz. 93 ff.; Schmitz, Mandatsanbahnung in Haftsachen, NJW 2009, 40; Wenfeld, Zur Weiterleitung von Schreiben Strafgefangener an die Aufsichtsbehörde im Rahmen der Briefkontrolle, NStZ 1985, 237; Wohlers, Die „unverzügliche“ Beiordnung eines Pflichtverteidigers: Gefährdung des Anspruchs auf effektive Verteidigung?, StV 2010, 151; Wüllrich, Die Schwierigkeit des Verteidigers mit dem Zugang zum Beschuldigten nach dessen Festnahme, StraFo 1996, 48.
Allein die ständige Verbindung mit dem verhafteten Beschuldigten setzt 364 den Verteidiger in den Stand, seiner Aufgabe gerecht zu werden. Der unbeschränkte mündliche und schriftliche Verkehr ist durch § 148 StPO gewährleistet. Ob das Privileg des unkontrollierten Kontaktes auch schon für die Anbahnung des Mandats Geltung hat, ist streitig, wird aber überwiegend verneint1. Für das mündliche Anbahnungsgespräch, zu dem üblicherweise der Anwalt durch einen Justizbeamten begleitet wird, kann die Überwachung dadurch eliminiert werden, dass man sich zu Beginn eine (vorläufige) Verteidigervollmacht unterschreiben lässt, diese dem Justizbeamten vorlegt, woraufhin dann das Gespräch unüberwacht weitergeführt werden kann. Erst am Ende des Gesprächs kann dann die Entscheidung über die endgültige Mandatserteilung fallen. Kommt das angebahnte Mandat nicht zustande, sollte die Verteidigervollmacht zu1 OLG Stuttgart, StV 1999, 235; Laufhütte in KK, § 148 StPO Rz. 5; Schlothauer/ Weider, Untersuchungshaft, Rz. 94 ff.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 148 StPO Rz. 3 f. m.N.
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Rz. 364
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
rückgegeben oder vernichtet und die Justizvollzugsanstalt entsprechend informiert werden. Unabhängig davon zeigt aber die Erfahrung, dass der zuständige Richter gelegentlich auch bereit ist, ein unbewachtes Anbahnungsgespräch zu gestatten1. Im Schriftverkehr ist für die Anbahnungsphase daran zu denken, die Briefe zwar mit dem Aufdruck „Verteidigerpost“, jedoch mit dem deutlichen Zusatz „Mandatsanbahnung“ zu versehen. Dann kann die Staatsanwaltschaft oder das Gericht von Fall zu Fall entscheiden, ob sie den Brief ausnahmsweise unkontrolliert passieren lassen. Hat der Verteidiger die Übernahme des Mandats der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht angezeigt, so empfiehlt es sich, zugleich den Antrag zustellen, die Justizvollzugsanstalt von der Übernahme der Verteidigung zu informieren. Es kommt auch in Betracht, die Verwaltung der JVA unmittelbar durch Übersendung einer Kopie der Verteidigerbestellung und der Vollmacht von der Übernahme des Mandats in Kenntnis zu setzen und um Eintragung in die „Verteidigerliste“ zu ersuchen. Die Erfahrung zeigt, dass ohne entsprechende Bemühungen des Verteidigers die Information an die JVA sich verzögern oder unterbleiben kann. Dies bringt naturgemäß Schwierigkeiten im schriftlichen und mündlichen Kontakt mit dem Verhafteten, die durch die Initiative des Verteidigers vermieden werden können. Der unkontrollierte Kontakt mit dem Klienten ist eingeschränkt in Verfahren, die eine Straftat nach § 129a StGB (terroristische Vereinigung) zum Gegenstand haben; hier ist die Überwachung des schriftlichen Verkehrs nach § 148 Abs. 2 StPO zulässig. Für den Bereich des mündlichen Kontaktes muss in gewissen Fällen eine Trennscheibe hingenommen werden (§ 148 Abs. 2 S. 3 StPO). In Extremfällen kann sogar eine weitgehende Kontaktsperre Platz greifen (§§ 31 ff. EGGVG), wodurch die Verteidigung nahezu paralysiert wird. Die Anwaltschaft sollte den rechtspolitischen Widerstand gegen derartige Angriffe auf den Kernbereich ihrer Berufsausübung nicht aufgeben. Die Durchsuchung von Verteidigern beim Besuch von Untersuchungshäftlingen ist leider eine von der Rechtsprechung2 gebilligte Praxis in bestimmten Verfahren geworden. Der Verteidiger, der zu Unrecht von einer solchen Maßnahme betroffen wird, sollte dieses um seiner Selbstachtung und der Würde seines rechtsstaatlichen Berufsauftrages willen keinesfalls hinnehmen und alle zulässigen Rechtsbehelfe ausschöpfen. Allgemeine Beschränkungen können sich aus richterlichen Anordnungen für den Vollzug der Untersuchungshaft nach § 119 StPO und durch die Regeln der Untersuchungshaftvollzugsordnung ergeben. Der Verteidiger ist hier aufgerufen, auf die Einhaltung des § 119 Abs. 3 StPO durch 1 KG, StV 1991, 304 (307); KG v. 28.3.1991 – 4 Ws 60/91, StV 1991, 307; StV 2011, 524; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 148 StPO Rz. 4. 2 BVerfG v. 7.4.1978 – 2 BvR 202/78, BVerfGE 48, 118 = NJW 1978, 1048; BGH v. 18.7.1973 – 1 BJs 6/71, AnwBl. 1973, 313.
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Untersuchungshaft
Rz. 366
die Behörden zu achten. So ist beispielsweise der Staatsanwalt nur zu Anordnungen berechtigt, die den Häftling nicht beschweren. Sonst ist die richterliche Entscheidung einzuholen (Nr. 74 UVollzO)1. Zulässig sind überhaupt nur solche Maßnahmen, die der Zweck der Haft und die Anstaltsordnung erfordern. Verboten ist hingegen jede inhaltliche Einengung der Verteidigerrechte, z.B. die Begrenzung der Zahl der Besuche in der Anstalt oder ihre Dauer im Einzelfall2. Gegen solche Versuche muss sich der Verteidiger unmittelbar zur Wehr setzen, denn sie greifen in die Grundlagen der Verteidigung ein. Er hat nur solche Maßnahmen hinzunehmen, durch welche die äußere Ordnung der Verbindung des Verhafteten mit seinem Verteidiger geregelt ist, etwa die Besuchszeit, die Art und Ausstattung des Sprechraums, den Nachweis der Verteidigerbestellung. Die Bestimmungen über die äußere Ordnung findet der Verteidiger in der Untersuchungshaftvollzugsordnung. Da der Bund von seiner Gesetzgebungsbefugnis keinen Gebrauch gemacht hat, gilt die Untersuchungshaftvollzugsordnung in der bundeseinheitlichen Fassung der Länder vom 1.12.1990. Die Untersuchungshaftvollzugsordnung ist eine allgemeine Verwaltungsanordnung, die den Richter nicht bindet3. Der Richter darf im Einzelfall im Rahmen der Bestimmungen der StPO (insbesondere § 119 Abs. 3, 4) von der Verwaltungsanordnung abweichen (Nr. 2 Abs. 2 UVollzO). Die Verbindung des Verhafteten mit seinem Verteidiger regeln die Nr. 36 und 37 UVollzO. Die Grundsätze dieser Verwaltungsanordnungen haben für den Verteidi- 365 ger auch noch eine berufsrechtliche Seite. Er muss beachten, dass er in keinem Fall den Zweck der Untersuchungshaft gefährden darf. Es ist ihm dringend zu empfehlen, schon den Anschein zu vermeiden, es solle verdunkelt, begünstigt oder gegen die Anstaltsregeln verstoßen werden. Es darf keinen Anlass zu Misstrauen geben. Auch noch so verständliche Wünsche des Mandanten sind zurückzuweisen. Er muss die Grenzen, die der Unterstützung gesetzt sind, kennen und einhalten, auch wenn er dadurch in Konflikte kommt. Selbst eine Beeinträchtigung des Vertrauensverhältnisses muss er in Kauf nehmen und eher ein Mandat niederlegen, als eine Verfehlung zu begehen sowie Ruf und Ansehen aufs Spiel zu setzen. In derartige Situationen gerät der Verteidiger vor allem bei mündlichen 366 Besprechungen mit dem Mandanten in der Anstalt, die sich nur auf den Verteidigungszweck erstrecken dürfen (Nr. 36 Abs. 1 UVollzO). Der Verteidiger muss sich der Haftanstalt gegenüber durch die Vollmacht oder die Bestellung ausweisen. Besitzt er noch keine Vollmacht, so muss er einen Einzelsprechschein vorlegen (Nr. 36 Abs. 3 UVollzO). Vollmacht, 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 119 StPO Rz. 46. 2 Dazu OLG Stuttgart v. 23.9.1997 – 4 VAs 15/97, NStZ 1998, 212. 3 BVerfG v. 19.2.1963 – 1 BvR 610/62, NJW 1963, 755; vgl. dazu u.a.Schlothauer/ Weider, Untersuchungshaft, Rz. 369 ff.
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Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Bestellung oder Sprechschein ermächtigen ihn zur inhaltlich uneingeschränkten mündlichen (im Rahmen der Sprechzeiten der JVA) und schriftlichen Verbindung mit dem Mandanten. Seine Vertreter und seine Gehilfen, die mindestens Referendare sein müssen, dürfen den Mandanten ebenso besuchen wie der Verteidiger, wenn sie sich ausweisen und die Bevollmächtigung oder Bestellung des Verteidigers nachgewiesen ist. Auf keinen Fall darf der Verteidiger täuschen oder auch nur den Verdacht erwecken, das Anstaltspersonal solle hintergangen werden. (Krasses Beispiel: Der Verteidiger schmuggelt die Ehefrau des Häftlings als Sekretärin ein.) Dabei muss der Verteidiger auch immer bedenken, dass sein unzulässiges Verhalten zu Maßnahmen gegen den Mandanten führen kann, beispielsweise zu Hausstrafen aufgrund der Nr. 67 ff. UVollzO, die naturgemäß den Freiheitsentzug und seine Wirkungen intensivieren. 367
Insbesondere die Beförderung von Schriftstücken des Verhafteten bereitet immer wieder Schwierigkeiten. Es ist berufswidrig, die Postüberwachung zu umgehen. Das heimliche Hinausschmuggeln von Briefen des Häftlings ist ein erheblicher Missbrauch des Vertrauens, das dem Verteidiger eingeräumt ist1. Dies gilt unabhängig vom Inhalt der Mitteilung oder davon, ob diese tatsächlich weitergegeben wurde. Ist der Verteidiger zugleich Anwalt des inhaftierten Klienten in anderen als Strafsachen, so muss der unkontrollierte Schriftverkehr auf das Verteidigungsmandat beschränkt werden2. Vorsicht ist ebenso anzuraten, falls der Mandant in der verschlossenen und daher nicht kontrollierten Verteidigerpost Schriftstücke für Dritte übermittelt. Häftlinge sehen darin oft eine günstige Möglichkeit, die Kontrolle zu umgehen. Der Verteidiger darf solche Post nicht weiterleiten und trägt auch die Verantwortung dafür, dass sein Personal so verfährt. Er muss solche Schriftstücke, zweckmäßig mit einer entsprechenden Belehrung, an den Klienten zurücksenden. Beachtet er diese Grundsätze nicht, so setzt er sich unter Umständen dem Verdacht der Strafvereitelung aus und gibt damit den Strafverfolgungsbehörden Anlass, die Durchsuchung seiner Kanzlei oder gar die Beschlagnahme der Handakten anzuordnen (Rz. 398 ff.). Der Verteidiger ist auch nicht berechtigt, dem Verhafteten Schriftstücke Dritter ohne Genehmigung zu übermitteln. Ausgenommen von diesem Verbot sind unverschlossene Schriftstücke, die unmittelbar das Strafverfahren oder das Mandatsverhältnis (etwa die Anklageschrift) betreffen (Nr. 36 Abs. 5 UVollzO).
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Ebenso häufig kommt der Verteidiger in Konflikte, wenn es um die Überlassung von Nahrungsmitteln und Genussmitteln sowie Lesestoff geht. Es kommt vor, dass ein Verteidiger vor Beginn des Gesprächs seine Aktentasche voller Hochglanz-Illustrierten pp. auf den Tisch schüttet. Auch dies ist dem Verteidiger natürlich nicht gestattet. Er darf sich ebenso 1 BGH v. 23.9.1977 – 1 BJs 80/77 – StB 215/77, BGHSt. 27, 260 (265). 2 BGH v. 15.3.1976 – AnwSt (R) 6/75, BGHSt. 26, 304; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rz. 95 ff.
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nicht als Bote der Angehörigen des Mandanten zur Übermittlung hergeben. Dieses Verbot gilt auch, wenn der Anwalt den Inhalt prüft, weil er nicht ausschließen kann, dass der Verdacht entsteht, es sollten Nachrichten versteckt eingeschleust werden (Rz. 95). Rauchen während der Besprechung mit dem Mandanten ist nicht grundsätzlich verboten. Dem Verteidiger kann es ohnehin nicht untersagt werden; er ist deshalb auch befugt, dem Mandanten Zigarren oder Zigaretten zum sofortigen Konsum – falls in der JVA überhaupt zulässig – anzubieten. Der Verteidiger sollte schließlich nicht vergessen, dass er sich durch Verstöße gegen diese Grundsätze dem Klienten als Mitwisser ausliefert. Dieser kann die Situation ausnutzen, indem er den Verteidiger zu weiteren Unkorrektheiten drängt. Das gilt auch für sonstige Verstöße, besonders im Verhältnis zum Anstaltspersonal. Konziliantes oder gar pflichtwidriges Entgegenkommen der Verteidiger spricht sich in Kreisen der Häftlinge und ihrer Angehörigen erfahrungsgemäß schnell herum. Darauf darf der Verteidiger es nicht anlegen. Untersagt ist es auch, dem Gefängnispersonal Vollmachtsformulare für Häftlinge als potentielle Mandanten zu überlassen oder auf andere Weise sich ihrer Vermittlung zu bedienen. Außer in Verfahren, die einen Vorwurf nach § 129a StGB zum Gegen- 369 stand haben, unterliegt der Briefverkehr des Verteidigers mit dem Beschuldigten keiner Kontrolle. Dies gilt auch, wenn der Haftbefehl wegen Verdunkelungsgefahr erlassen ist. Die Prüfung darf sich nur noch darauf beziehen, ob es sich um Post des legitimierten Verteidigers handelt (Nr. 37 UVollzO). Der Verteidiger sollte daher seine schriftlichen Mitteilungen an den Verhafteten deutlich als „Verteidigerpost“ – auch schon äußerlich – kennzeichnen. Dann ist es auch sicher, dass Post, die sein Auftraggeber an ihn richtet, keiner inhaltlichen Überprüfung unterworfen wird. Er sollte den Klienten veranlassen, die an ihn gerichteten Briefe ebenfalls als „Verteidigerpost“ zu kennzeichnen (Nr. 37 Abs. 1 UVollzO). Die Freiheit des Briefverkehrs gilt auch dann, wenn der Mandant sich in einer anderen Strafsache in Untersuchungshaft befindet1, in der ein anderer oder kein Verteidiger tätig ist. Der Verteidiger muss endlich wissen, welche Rechtsbehelfe er gegen Ent- 370 scheidungen ergreifen kann, die die schriftliche und mündliche Verbindung mit dem verhafteten Mandanten betreffen. Gegen Maßnahmen der Anstaltsleitung ist ggf. Dienstaufsichtsbeschwerde einzulegen (Rz. 1091). Hierüber entscheidet der Richter, wenn es sich um Anordnungen handelt, die das erlaubte Maß des Freiheitsentzuges betreffen (§ 119 Abs. 3 und 6 StPO; Nr. 75 Abs. 1 UVollzO). Die richterliche Verfügung wiederum ist mit der einfachen Beschwerde anfechtbar (Rz. 844)2, während das
1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 148 StPO Rz. 6. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 119 StPO Rz. 37.
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Rz. 371
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG nicht ohne weiteres Erfolg verspricht1. Dieser besondere Rechtsbehelf ist aber dann statthaft, wenn Maßnahmen der Anstalt angegriffen werden, die nicht der richterlichen Kontrolle unterliegen (Nr. 75 Abs. 3 UVollzO; Rz. 1086). g) Anrechnung der Untersuchungshaft 371
Der Verteidiger muss schon während des Haftverfahrens an die Probleme denken, die sich für eine etwaige spätere Strafzumessung aus der Anrechenbarkeit der Untersuchungshaft und der einstweiligen Unterbringung ergeben. Danach wird ihn vor allem der Mandant fragen, der mit einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe rechnet. Da die Dauer der Untersuchungshaft ungewiss ist, will der Beschuldigte wenigstens erfahren, ob und in welchem Umfang er mit der Untersuchungshaft schon praktisch die erwartete Strafe ganz oder teilweise verbüßt. Nach § 51 StGB wird die Untersuchungshaft automatisch angerechnet, und zwar nicht nur auf eine zeitige Freiheitsstrafe, sondern auch auf Geldstrafe. Nur ausnahmsweise kann das Gericht – auch das Revisionsgericht – anordnen, dass die Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie mit Rücksicht auf das Verhalten nach der Tat nicht gerechtfertigt ist (§ 51 Abs. 1 S. 2 StGB). Dazu gehört vor allem auch das Verhalten im Verfahren, insbesondere die Verschleppung der Sache. Dagegen darf das Bestreiten des Angeklagten nicht zur Verweigerung der Haftanrechnung führen. Er braucht nicht zu seiner Überführung beizutragen2. h) Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen Literatur: Abramenko, Der Freispruch wegen eines nachträglichen Beweisverwertungsverbotes und die Entschädigung nach §§ 1, 2 StrEG, NStZ 1998, 176; Galke, Die Entschädigung nach dem StrEG – ein Fall verschuldensabhängiger Staatshaft, DVBl. 1990, 145; Haas, Verzicht auf Haftentschädigung, MDR 1994, 9; Kunz, Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen, Kommentar, 4. Aufl. 2010; Meyer, Zum Umfang der Entschädigung für vorläufige Führerscheinmaßnahmen (§ 7 StrEG), JurBüro 1990, 685; Meyer, Der Entschädigungsanspruch im Strafbefehlsverfahren, MDR 1992, 219; Meyer, StrEG-Entschädigung bei vertanem Urlaub, MDR 1994, 658; Meyer, Strafrechtsentschädigung, Kommentar, 8. Aufl. 2011; Mümmler, Fragen zur Erstattung des Verdienstausfalls des Angeklagten, JurBüro 1983, 886; Pflüger, Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen zugunsten des verstorbenen Angeklagten?, GA 1992, 20; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 4. Aufl. 2010, Rz. 1315 ff.; Sojka, Entschädigung auch bei Einstellung nach § 153a StPO möglich, MDR 1993, 948.
1 Schultheis in KK, § 119 StPO Rz. 103; § 23 EGGVG zulässig bei allgemeinen Anordnungen, unzulässig bei Beschränkungen in Bezug auf einen bestimmten Gefangenen, z.B. Beschränkung der Besuchsdauer durch den Verteidiger: OLG Karlsruhe v. 25.4.1997 – 2 VAs 8/97, NStZ 1997, 407. 2 Fischer, § 51 StGB Rz. 11; BGH v. 23.7.1970 – 4 StR 241/70, BGHSt. 23, 307 f.; LG Freiburg v. 5.2.1982 – 34 Ns 118/81 J II AK 13/82, StV 1982, 338 („böswillige Verschleppung“).
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Untersuchungshaft
Rz. 373
In allen Fällen der Einstellung des Verfahrens, des Freispruchs, des Weg- 372 falles einer Maßregel der Besserung und Sicherung oder einer Nebenfolge sowie der Milderung der erkannten Strafe muss der Verteidiger prüfen, ob ein Anspruch auf Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen nach den §§ 1–4 StrEG gegeben ist. Die Möglichkeit der Entschädigung sollte er schon früh in seine Beratung einbeziehen und auf Beweissicherung drängen. Von besonderer Bedeutung für die Praxis ist die Entschädigung wegen Sicherstellung und vorläufiger Entziehung der Fahrerlaubnis sowie wegen vorläufiger Festnahme (§ 2 Abs. 2 Nr. 2, 5 StrEG). Restriktiven Tendenzen bei der Gewährung der „Entschädigung nach Billigkeit“ (§§ 3, 4 StrEG) sollte der Verteidiger energisch entgegentreten. Dass eine solche Entschädigung nur im Ausnahmefall zu gewähren ist, kann aus dem Gesetz nicht entnommen werden1; sie ist eine konsequente Folge der (fortbestehenden) Unschuldsvermutung2. An die tatsächlichen Feststellungen der Einstellungsverfügung ist der Richter nicht gebunden3. Problematisch ist die Versagung der Entschädigung nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 StrEG, wenn der Beschuldigte schuldhaft wesentliche entlastende Umstände bei seiner Aussage verschwiegen hat4. Für die Durchführung des Entschädigungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft sind bundeseinheitliche Ausführungsvorschriften (AV)5 erlassen, die auch vom Verteidiger beachtet und ausgewertet werden sollten. Die Frist für den (notwendigen) Antrag auf Feststellung der Entschädi- 373 gungspflicht beträgt einen Monat seit Mitteilung der Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft (§ 9 Abs. 2 S. 2 StrEG). Wird sie durch Verschulden des Verteidigers (oder seiner Mitarbeiter) versäumt, soll Wiedereinsetzung nach §§ 44, 45 StPO nicht zulässig sein6. Das gilt aber nicht für die sofortige Beschwerde nach § 8 Abs. 3 StrEG gegen eine Entscheidung des Gerichts7. Die Frist für die Geltendmachung des konkreten Entschädigungsanspruches beträgt sechs Monate ab Zustellung des Belehrungsschreibens durch die Staatsanwaltschaft (§ 10 StrEG). Wird die Frist durch Verschulden des Rechtsanwalts versäumt, so ist der
1 A.A. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 3 StrEG Rz. 2; richtigerweise hat eine Gesamtabwägung zu erfolgen, OLG Düsseldorf v. 28.7.1988 – 1 Ws 353/88, 1 Ws 354/88, StV 1989, 29; OLG Düsseldorf v. 7.6.1986 – 1 Ws 414/86, MDR 1987, 80. 2 BVerfG v. 25.11.1991 – 2 BvR 1056/90, NJW 1992, 2011. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 9 StrEG Rz. 9. 4 Vgl. dazu Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 467 StPO Rz. 13; Meyer, Strafrechtsentschädigung, Vor §§ 5 u. 6; strenger Maßstab zugunsten des Beschuldigten: OLG Düsseldorf v. 6.8.1987 – 3 Ws 340/87, StV 1988, 446. 5 Anlage C zu den RiStBV. 6 BGH v. 6.5.1975 – 5 StR 139/75, BGHSt. 26, 126; OLG Düsseldorf v. 6.6.1988 – V 7/88, StV 1988, 447; OLG Karlsruhe v. 14.3.1980 – 3 Ws 56/80, MDR 1980, 693; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 9 StrEG Rz. 5. 7 OLG Karlsruhe v. 14.3.1980 – 3 Ws 56/80, MDR 1980, 693.
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Rz. 374
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Anspruch ausgeschlossen1. Ist seit der Feststellung der Entschädigungspflicht ein Jahr verstrichen, kann der Anspruch nicht mehr erhoben werden (§ 12 StrEG). Die verschiedenen Fristen bergen für den anwaltlichen Strafverteidiger besondere Regressrisiken, denen er durch entsprechende Sicherung der gesetzlichen Fristen Rechnung tragen sollte. 374
Der Nachweis der entstandenen Schäden ist oft schwierig. Gerade in schwerwiegenden Fällen, in denen eine lang andauernde Untersuchungshaft zum Verlust der beruflichen Existenz, zum Notverkauf von Vermögenswerten u.Ä. geführt hat, ist die Höhe des Schadens schwer zu ermitteln, weil für den Betroffenen und seine Angehörigen in dieser Notzeit völlig andere Probleme im Vordergrund stehen als die Beschaffung und Erhaltung von Beweismaterial für ein späteres Entschädigungsverfahren. Die genaue Rekonstruktion der mutmaßlichen Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klienten ohne die Strafverfolgungsmaßnahme, ihre Kausalität für eine Vielzahl von Einzelschäden sowie der Streit um ein mitwirkendes Verschulden (§ 254 BGB)2 hinsichtlich der Höhe der Schäden bieten z.B. bei Unternehmern und Freiberuflern kaum zu lösende Probleme. Den Antragsteller trifft für die geltend gemachten Ansprüche die volle Beweislast, wenn auch die Prüfungsstelle nach AV B II Nr. 43 von kleinlichen Beanstandungen absehen soll.
375
Die Schwierigkeiten können sich noch dadurch erhöhen, dass die zuständige Prüfstelle mit den notwendigen Erhebungen über den Entschädigungsanspruch gerade die Polizeibehörden beauftragt, die früher mit den Ermittlungen gegen den Mandanten betraut waren und die jetzt zu entschädigende Strafverfolgungsmaßnahme herbeigeführt haben. Die Erfahrungen der Praxis bestätigen, dass die Polizeibeamten, die manchmal das Ergebnis des Strafverfahrens nicht zu akzeptieren vermögen, mit der Durchführung von Erhebungen zugunsten des Entschädigungsanspruchs des früheren Beschuldigten psychologisch überfordert sind. Sie führen die Ermittlungen verzögerlich und in erkennbar einseitiger Weise zuungunsten des Anspruchstellers. Der Verteidiger sollte daher darauf drängen, dass eine andere Polizeibehörde, zumindest aber andere Polizeibeamte mit den Feststellungen für den Entschädigungsanspruch beauftragt werden. In geeigneten Fällen sollte die Aufklärung durch die Prüfstelle selbst im Interesse der Neutralität der Feststellungen beantragt werden. Wenn die Verhandlungen mit der Prüfstelle sich „festgefahren“ haben, sollte man die Vorlage der Sache an das zuständige Landesjustizministerium beantragen oder das Ministerium selbst angehen. Dieses Verfahren empfiehlt sich auch, wenn der Anspruchsteller eine vergleichsweise Erledigung seiner Ansprüche anstrebt, was vor allem bei bestehenden Be1 BGH v. 11.3.1976 – III ZR 113/74, BGHZ 66, 125. 2 Vgl. hierzu OLG Hamm v. 24.2.1975 – 5 Ws 24/75, NJW 1975, 2033; OLG Hamm v. 24.2.1975 – 5 Ws 24/75, NJW 1975, 2033 m. Anm. Meyer, NJW 1976, 761. 3 Anlage C der RiStBV.
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weisschwierigkeiten vielfach zweckmäßig sein wird. Der Mandant wird kaum ein Interesse daran haben können, nach Abschluss eines mehrjährigen Strafverfahrens erneut langwierige Ermittlungen über seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse in Vergangenheit und Zukunft über sich ergehen zu lassen und lange Zeit auf seine Entschädigung zu warten. Für den Verteidiger ist es besonders bedeutsam, dass die Entschädigung 376 nach § 7 StrEG auch den Ersatz der Kosten der Verteidigung umfasst, die durch die Beauftragung mit dem Ziel der Aufhebung der Strafverfolgungsmaßnahme notwendig waren, soweit die Kostenvorschriften der StPO eine Kostenerstattung nicht vorsehen1. Die Anwaltsgebühren für die Vertretung im Entschädigungsverfahren sind als Teil des Vermögensschadens ebenfalls zu erstatten2. Gegen die Entscheidung der Prüfstelle über den Entschädigungsanspruch 377 ist der Zivilrechtsweg gegeben. Die Klage muss innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Zustellung der Entscheidung bei dem für die Prüfstelle zuständigen Landgericht erhoben werden (§ 13 Abs. 1 StrEG). Schließlich sollte man den Mandanten darauf hinweisen, dass die Entschädigungszahlung der Steuerpflicht unterliegt (Ziffer B II 2e der Ausführungsbestimmungen zum StrEG). i) Freiheitsentziehung und Regress In den Fällen der Untersuchungshaft und der einstweiligen Unterbrin- 378 gung sollte der Verteidiger auch die Möglichkeit des Amtshaftungsanspruches nach Art. 34 GG, § 839 BGB im Auge behalten. Dieser steht unabhängig neben dem Entschädigungsanspruch wegen erlittener Strafverfolgung3 (Rz. 372), wird aber nur praktisch, soweit entstandener Schaden nicht vom StrEG erfasst wird. Der Verteidiger darf sich durch die häufig nicht einfache Beurteilung der Sach- und Rechtslage nicht davon abhalten lassen, den Mandanten über den Anspruch zu belehren. Allerdings sind ihm die Hände gebunden, wenn der Auftraggeber von einem vielleicht langwierigen Zivilprozess nichts wissen will, der sich an das gerade überstandene Strafverfahren anschließt. Man macht die Erfahrung, dass nur wenige Mandanten sich zu einer Amtshaftungsklage entschließen. Grundlage des Anspruchs sind die fehlerhafte Anordnung der Haft und die fehlerhaft unterlassene Aufhebung des Haftbefehls, veranlasst vom Staatsanwalt oder vom Richter. Haftentscheidungen fallen nicht unter das Privileg des Spruchrichters nach § 839 Abs. 2 BGB. Die Fehler eines Haftbefehls können auf mannigfachen Ursachen beruhen. Im Wesentli1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 7 StrEG Rz. 5 m.N. 2 Ziff. B II 2g) der Ausführungsbestimmungen. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Vor § 1 StrEG Rz. 3.
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chen lassen sich zwei Fallgruppen unterscheiden: einmal die mangelnde Aufklärung von Tatsachen (Beispiel: Der Staatsanwalt geht sofort zu beschaffendem Entlastungsmaterial nicht nach), zum anderen die unrichtige Einordnung des Sachverhalts unter die gesetzlichen Voraussetzungen (Beispiel: Beantragung und Verhängung der Verdunkelungshaft mit der bloßen Begründung, die Ermittlungen dauerten noch an)1. Die Voraussetzungen für den Regress muss der Verteidiger schon während des Haftverfahrens im Auge behalten. Vor allem muss er in diesen Fällen Haftbeschwerde und ggf. weitere Beschwerde einlegen, weil ohne Ausschöpfung der Rechtsmittel die Ersatzpflicht nicht eintritt (§ 839 Abs. 3 BGB). Er muss dies auch tun, damit ihm nicht im Amtshaftungsprozess entgegengehalten wird, der Betroffene habe auf andere Weise Ersatz erlangen können, nämlich bei seinem Verteidiger, der die zulässigen Rechtsmittel unterlassen hat (§ 839 Abs. 1 S. 2 BGB). Hat der Verteidiger diese Voraussetzungen beachtet, so bedarf es sorgfältiger Prüfung, ob die Amtspflichtverletzung – die fehlerhafte und damit rechtswidrige Verhaftung – auf Verschulden eines oder mehrerer Beamten beruht. Hier liegen meist die Schwierigkeiten für die Durchsetzung des Anspruchs. Die Begriffe „dringender Tatverdacht“, „Fluchtgefahr“, „Verdunkelungsgefahr“ und „Wiederholungsgefahr“ räumen dem Staatsanwalt und dem Richter einen nicht unerheblichen Beurteilungsspielraum ein. Ein Missgriff in der Beurteilung führt daher nur bei offensichtlichen Fehlern zur Verschuldenshaftung. Dabei muss aber der Verteidiger wissen, dass es auch ein verschuldeter Mangel des Haftbefehls ist, wenn Staatsanwalt und Richter die gebotene Umsicht und Vorsicht außer Acht lassen und solche Umstände nicht berücksichtigen, die einer Verhaftung entgegenstehen2. Beispiele: Die Anhörung eines sofort verfügbaren Entlastungszeugen wird unterlassen; der Haftrichter arbeitet die Akten vor der Haftprüfung nur flüchtig durch. Für das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren hat der BGH3 den Grundsatz hervorgehoben, es sei Amtspflicht der Strafverfolgungsbehörden gegenüber dem Betroffenen, die Ermittlungen ordnungsgemäß zu führen. Der Verteidiger sollte sich auch nicht von einer Bestätigung eines fehlerhaften Haftbefehls durch die Beschwerdeinstanzen stören lassen. Hierin findet zwar die Rechtsprechung in der Regel einen Umstand, der zum Ausschluss der Amtshaftung führt4. Diese Regel gilt nur dann nicht, wenn das Kollegialgericht die Sach- und Rechtslage völlig verkannt hat.
1 Weitere Beispiele: Schmidt-Leichner, NJW 1959, 849. 2 BGH v. 8.3.1956 – III ZR 113/54, BGHZ 20, 178; zu den Maßstäben der Amtspflichtverletzung BGH v. 21.4.1988 – III ZR 255/86, StV 1988, 441; BGH v. 29.4.1993 – III ZR 3/92, StV 1994, 329: auch immaterieller Schaden. 3 BGH v. 29.5.1958 – III ZR 38/57, BGHZ 27, 388. 4 BGH v. 29.5.1958 – III ZR 38/57, BGHZ 27, 388 = NJW 1959, 35 m. Anm. Dahs sen.
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Eine andere Sache ist der Regress wegen schadenstiftender Presseerklä- 379 rungen (Rz. 98, 101) der Ermittlungsbehörden oder Gerichte, zu denen es erfahrungsgemäß gerade in Haftfällen kommen kann. Der Verteidiger sollte daher in Verfahren, die Öffentlichkeitsinteresse finden, die Publikationen, die auf Erklärungen von Justizpressestellen zurückgehen, von Anfang an sammeln (lassen), um nach rechtskräftiger Freistellung des Mandanten von den Vorwürfen die Grundlagen zur Prüfung des Regressanspruches zur Hand zu haben. Dies ist ein Teil der Nachsorge, die dem Verteidiger auch nach einem günstig ausgegangenen Strafprozess obliegt (Rz. 778 ff.). Die Rechtsprechung ist gegenüber Missgriffen der Justizpressestellen oder anderer Justizorgane eher streng1, was auch bei Besprechungen mit der Staatsanwaltschaft geltend gemacht werden kann. So wird es z.B. für unzulässig gehalten, die Öffentlichkeit über eine Anklageerhebung mit Einzelheiten zu informieren, solange nicht der Betroffene Gelegenheit zur Kenntnisnahme der Anklage hatte2. j) Vorbeugende Maßnahmen In allen Sachen, in denen der Antrag auf Erlass eines Haftbefehls nicht 380 mit Sicherheit ausgeschlossen ist oder gar ein solcher „in der Luft liegt“ (Rz. 266), muss der Verteidiger die Möglichkeit der Freiheitsentziehung ins Kalkül ziehen und schon im Vorfeld versuchen, solche Anträge der Ermittlungsbehörden zu vermeiden. Dies geschieht in erster Linie durch Beratung des Mandanten über die gesetzlichen Voraussetzungen des Haftbefehls und die diesbezüglichen praktischen Erfahrungen. Dabei muss der Mandant erfahren, dass für ihn schon der Anschein eines haftbegründenden Verhaltens höchst gefährlich ist. Er muss insbesondere darüber informiert werden, welche Verhaltensweisen die Ermittlungsbehörden üblicher- und typischerweise als Vorbereitungen zur Flucht oder Versuch der Verdunkelungsgefahr ansehen. Auch wenn man darüber streiten kann, ob die Sicht der Ermittlungsbehörde richtig ist, so ist das Risiko einer Inhaftierung des Mandanten doch in aller Regel so schwerwiegend, dass auch einem Missverständnis der Staatsanwaltschaft vorgebeugt werden muss. Die Erfahrung lehrt, dass dann, wenn der Haftbefehlsantrag gestellt oder der Haftbefehl gar erlassen ist, es unvergleichlich schwieriger ist, die Freiheit des Mandanten zu bewahren oder wiederzugewinnen. Die vorbeugende Beratung kann sogar so weit gehen, an sich zulässige Maßnahmen, z.B. Einholung von Informationen bei Zeugen, Anforderung von Unterlagen u.Ä. nicht vom Angeklagten, sondern vom Verteidiger durchführen zu lassen oder gar zurückzustellen. Die Praxis lehrt, dass in diesem Bereich große Vorsicht dem Klienten besser dient als die Ausschöpfung seiner Rechte. Daneben kann man aber auch auf der Ebene der Strafverfolgungsbehörden einiges tun, um sie von Haftbefehlsanträgen abzuhalten. Dazu ge1 BGH v. 16.1.1986 – III ZR 77/84, NStZ 1986, 562 m. Anm. Dahs. 2 VG Frankfurt/M. v. 11.2.1997 – 4 G 11/97 (1), StV 1997, 240.
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hört je nach Lage des Falles die im mündlichen Gespräch zum Ausdruck gebrachte Kooperationsbereitschaft, z.B. Herausgabe oder Beschaffung von Unterlagen, die sonst für die Ermittlungen nicht ohne weiteres zu Verfügung stehen, die Benennung von Zeugen, Beschaffung von Anschriften, einzelne sachliche oder technische Erklärungen, frühzeitige Erörterungen von Rechtsfragen oder Bereitschaft zur teilweisen oder vollständigen Aussage, wofür dann wieder ein bestimmter Zeitpunkt oder Ermittlungsabschnitt ins Auge gefasst werden kann. Bei solchen Kooperationen handelt es sich freilich um ein heikles Gebiet, in dem der Verteidiger einerseits seine Schutzaufgabe (Rz. 9) im Auge behalten, andererseits darauf achten muss, dass er bei den Ermittlungsbehörden nicht in den Verdacht der Doppelzüngigkeit, Verschleierung oder gar Täuschung gerät, wodurch er mindestens seinen Ruf als seriös, fair und verlässlich einbüßen kann. Es handelt sich hier um ein Teilgebiet der Absprachen im Strafprozess (Rz. 177 ff., 502 ff.), auf dem manches erreicht, aber auch viel verloren werden kann. Mit dem Klienten sind die Vor- und Nachteile einer solchen Strategie zu erörtern, und seine Zustimmung ist herbeizuführen, wobei der Verteidiger sich freilich einen gewissen Verhandlungsfreiraum ausbedingen sollte. Es kann auch richtig sein, mit dem Staatsanwalt die Haftfrage ausdrücklich anzusprechen und offen zu erörtern. Dabei wird man nicht selten etwas über die allgemeine Haftpraxis der Behörde und die persönliche Einstellung des Staatsanwalts zum Freiheitsentzug erfahren. Es gibt Staatsanwälte, die in solchen Gesprächen mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg halten und entweder einen Haftbefehl als nicht in Betracht kommend bezeichnen oder darlegen, bei welcher Entwicklung der Sache sie einen entsprechenden Antrag in Erwägung ziehen. Daraus ergibt sich dann rasch das Gespräch darüber, durch welche Umstände der in Erwägung gezogene Haftgrund widerlegt werden kann. Es muss aber auch bedacht werden, dass ein zur Inhaftierung entschlossener Staatsanwalt durch seine Dienstpflicht gehindert ist, dies dem Verteidiger direkt oder indirekt zu offenbaren. Gibt das Gespräch mit dem Staatsanwalt Veranlassung zu der Befürchtung, dass ein Haftbefehl beantragt werden könnte, z.B. weil der Staatsanwalt entsprechende Andeutungen macht, sich nur sibyllinisch äußert oder das Gespräch über die Frage ablehnt, so kommt in Betracht, bei dem zuständigen Haftrichter vorsorglich einen Verteidigungsschriftsatz gegen den zu erwartenden Antrag zu hinterlegen, in dem ggf. zum dringenden Tatverdacht, zu den mutmaßlichen Haftgründen und zur Frage der Verhältnismäßigkeit Stellung genommen wird. Gleichzeitig kann hilfsweise Haftverschonung (§ 116 StPO) beantragt und die Zustimmung zu in concreto in Betracht kommenden Auflagen erklärt werden. Problematisch wird die Sache für den Verteidiger dann, wenn der Staatsanwalt ihm eindeutig erklärt, er habe bereits Antrag auf Erlass des Haftbefehls gestellt oder werde dies kurzfristig tun. Der Verteidiger gerät damit in das Dilemma, seinen Mandanten darüber zu unterrichten – ohne dessen Reaktion vorhersehen zu können (vgl. dazu Rz. 258) oder „sehenden Auges“ die Inhaftierung seines Klienten hinzunehmen. Allerdings dürften derartige Er258
Andere vorlufige Maßnahmen
Rz. 381
klärungen eines Staatsanwalts mit seinen Dienstpflichten nur schwer in Einklang zu bringen sein. Ein geschickter Verteidiger könnte deshalb in einer solchen Situation dennoch den Versuch unternehmen, mit dem Staatsanwalt zu einer anderweitigen Behandlung der Haftfrage zu gelangen – wobei er freilich den Eindruck vermeiden muss, er wolle auf den Staatsanwalt wegen dessen Fehlverhaltens Druck ausüben. Eher könnte in einer solchen Extremsituation die sofortige – persönliche und mündliche – Intervention beim Haftrichter Erfolg haben. Aber auch dies ist ein heikles Unternehmen zwischen Schutzaufgabe, Schweigepflicht und Bindung an die Rechtspflege (Rz. 9). Allgemein gültige Regeln lassen sich nicht aufstellen; es wird sehr auf die Persönlichkeit der Beteiligten und das gegenseitige Respekts- und Vertrauensverhältnis ankommen. 9. Einstweilige Unterbringung Die einstweilige Unterbringung (§ 126a StPO) ist als nur vorläufige Maß- 381 nahme ein Vorgriff auf die endgültige Sicherungsmaßnahme der §§ 63, 64 StGB (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt). Das Verfahren entspricht im Wesentlichen dem Haftrecht (Rz. 344 ff.). Es kann insbesondere geltend gemacht werden, dass die öffentliche Sicherheit nicht gefährdet und die Unterbringung nicht gerechtfertigt ist, falls weniger einschneidende Maßnahmen genügen oder die Unterbringung außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht1. Beispiele für weniger einschneidende Anordnungen sind Bestellung eines Betreuers, Unterbringung in einem Heim oder Sanatorium und psychotherapeutische Behandlung. Die Tatsachen, die die Unterbringung begründen sollen, müssen sich eindeutig aus den Akten ergeben2. Der Kontakt mit dem Mandanten wird sich in diesen Fällen oft schwierig gestalten. Der Verteidiger ist dann darauf angewiesen, Entscheidungen zu treffen, die er sonst nur nach Belehrung und mit Einverständnis des Mandanten vorzunehmen pflegt. Immerhin sollte der Verteidiger jede Möglichkeit ausnutzen, mit den Angehörigen des Beschuldigten, mit seinem Pfleger oder Betreuer zu sprechen, um sein Vorgehen abzustimmen. Erweist sich eine einstweilige Unterbringung später als unberechtigt, kommt wie bei der Untersuchungshaft ein Entschädigungsanspruch in Betracht (Rz. 372). 10. Andere vorläufige Maßnahmen a) Durchsuchung Literatur: Amelung, Grundfragen der Verwertungsverbote bei beweissichernden Haussuchungen im Strafverfahren, NJW 1991, 2533; Bär, Beschlagnahme von Computerdaten, CR 1996, 744; Ignor/Peters in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 83 ff.; Freyschmidt/Krumm, Verteidigung in Straßenverkehrssachen, 10. Aufl. 2013; Jung, Durchsuchung und Beschlagnahme in 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 126a StPO Rz. 5. 2 OLG Köln v. 1.12.1953 – Ws 289/53, NJW 1954, 205.
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Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Medienangelegenheiten, AfP 1995, 375; Klaas, Zum Zeitpunkt des Vollzuges einer Durchsuchung, wenn beim Beschuldigten elektronisch gespeicherte Daten in der Weise beschlagnahmt werden, dass eine Kopie des gesamten Datenträgers erstellt wird, NStZ 1995, 55; Krekeler, Verwertungsverbot bei der Durchsuchung, AnwBl. 1992, 356; Malek/Wohlers, Zwangsmaßnahmen und Grundrechtseingriffe im Ermittlungsverfahren, Verteidigerstrategien, 2. Aufl. 2001; Roxin, Zur richterlichen Kontrolle von Durchsuchungen, StV 1997, 654; Sachs, Gültigkeitsdauer richterlicher Durchsuchungsanordnungen, JuS 1998, 363; Schäfer, G., Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. 2000, S. 172; Schuhmann, Durchsuchung und Beschlagnahme im Steuerverfahren, wistra 1994, 93; Wehnert, Zur Praxis der Durchsuchung und Beschlagnahme, StraFo 1996, 77; Weihrauch, Ermittlungsverfahren, 6. Aufl. 2002, Rz. 208 ff.; vgl. auch das vor Rz. 344 angeführte Schrifttum.
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Die Durchsuchung ist neben der oft mit ihr in Zusammenhang stehenden Freiheitsentziehung der gravierendste und oft folgenreichste Eingriff der Strafverfolgung in die Individualsphäre natürlicher (und juristischer) Personen. Dabei geht es oft nicht nur um die Auffindung tatsächlich oder scheinbar belastender Urkunden und Gegenstände, sondern auch um „Zufallsfunde“ (§ 108 StPO) und vor allem die Wirkungen der staatlichen Zwangsmaßnahme auf Mitarbeiter und – in der Regel unvermeidbar – die Öffentlichkeit (Rz. 239), die nicht selten die gravierendsten Folgen (z.B. bei Kreditinstituten, Geschäftspartnern) auslösen. Dass sie zu den „Standardmaßnahmen“ von Ermittlungsbehörden gehört, ist Grund genug für den Verteidiger, dieses Risiko von Anfang an angemessen zu berücksichtigen, nicht zuletzt ggf. auch durch Vorbereitung einer Presseerklärung (Rz. 102).
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Die Kontrollbefugnis des Verteidigers ist im Verfahren der Durchsuchung (§§ 102 ff. StPO) stark eingeengt. So hat er keinen Rechtsanspruch auf Anwesenheit. Gestattet aber der Inhaber der zu durchsuchenden Räume oder Gegenstände die Anwesenheit, so darf ihm diese nicht versagt werden, es sei denn, dass er die Amtshandlung im Sinne des § 164 StPO stört1. Von einer Störung kann indes nicht die Rede sein, wenn der Verteidiger nur die Rechtmäßigkeit des Vorgehens prüft und Rechte des Betroffenen sachlich wahrnimmt2. In der Praxis wird die Anwesenheit des Verteidigers, in der Regel auch des Justitiars oder Syndikusanwalts, überwiegend gestattet. Gegen die Weigerung der vor Ort tätigen Ermittlungspersonen hilft häufig die telefonisch oder per Telefax herbeizuführende Entscheidung des Staatsanwalts. Nicht selten sind die Ermittlungspersonen, insbesondere die Staatsanwälte, auch bereit, mit dem Beginn der Durchsuchung zu warten, bis der Verteidiger eintrifft, falls dieser kurzfristig erscheinen kann und Gefahr für den Durchsuchungszweck nicht besteht. Auch hier kann es darauf ankommen, ob der Verteidiger dem Staatsanwalt als seriös und sachlich bekannt ist (Rz. 178 f., 388). Der Verteidiger sollte auch dann versuchen, die Erlaubnis für seine Anwesenheit zu erwirken, falls er ausnahmsweise von einer beabsichtigten Durch1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 106 StPO Rz. 3. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 164 StPO Rz. 1.
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Andere vorlufige Maßnahmen
Rz. 384
suchung erfährt. Er kann darauf hinweisen, dass seine Anwesenheit notwendig ist, damit er sich ein eigenes Bild über Art und Umfang der Durchsuchung machen und überflüssige Auseinandersetzungen verhindern kann. Dadurch werden nicht nur unnötige Rechtsbehelfe vermieden, der Verteidiger ist auch in der Lage, schon bei der Durchsuchung auf Entlastungsmaterial zu achten und dessen Sicherstellung zu veranlassen. Ggf. ist es auch erreichbar, dass elektronisches Datenmaterial nur kopiert wird und die „Originale“ oder die Kopien an Ort und Stelle verbleiben. Das spielt vor allem eine Rolle, wenn nicht die Räume des Beschuldigten, sondern Dritter durchsucht werden (§ 103 StPO): Hier ist die Gefahr besonders groß, dass Entlastungsmaterial (Briefe, Abrechnungen) verlorengeht, das der durchsuchende Beamte noch für nebensächlich hält, das aber später bedeutsam wird. In jedem Falle sollte der Verteidiger dem Beschuldigten raten, ein Exemplar des Durchsuchungsbeschlusses und ein Verzeichnis der in Verwahrung genommenen Gegenstände zu verlangen, oder selbst dieses Verlangen stellen (§ 107 StPO). Das Verzeichnis bildet die Grundlage für die spätere Auswertung der Durchsuchung. So kann der Verteidiger aus der Auswahl der weggenommenen Gegenstände oft entnehmen, worauf der strafrechtliche Vorwurf hinzielt. Auch kann er Mängel des Verzeichnisses den Ermittlungspersonen vorhalten, wenn diese später als Zeugen vernommen werden. Von besonderer Bedeutung ist die Durchsicht der gefundenen Papiere, die 384 nur dem Staatsanwalt und seinen Ermittlungspersonen im Sinne des § 152 GVG (die im Einzelnen durch Landesrecht bestimmt sind) zusteht – ohne Einwilligung des Betroffenen nicht jedoch anderen Beamten (§ 110 Abs. 2 S. 1 StPO). Insoweit ist ggf. nach § 110 Abs. 2 S. 2 StPO zu verfahren (Versiegelung und Übergabe an die Staatsanwaltschaft). Als „Papiere“ im Sinne des § 110 StPO werden in Analogie jede Art von Datenträgern (z.B. Computer-Festplatten, „Sticks“ oder CDs1, Tonträger, Filme, Lochkarten und Magnetbänder gewertet2. Auf die Möglichkeit der Sicherung des Inhalts, z.B. durch Sicherungs-CD sollte der Verteidiger drängen, auf die Teilnahme des Beschuldigten an der Durchsuchung Wert legen (§ 106 StPO) und zugleich seine eigene Anwesenheit unter Hinweis auf §§ 163a Abs. 3 S. 2, 168c Abs. 1 StPO3 durchsetzen. Die Staatsanwaltschaften neigen zuweilen dazu, unter allgemeinem Hinweis auf die entsprechende Zeitverzögerung die Mitwirkung zu versagen. Darauf muss sich der Verteidiger einstellen. Die ihm bei der Durchsicht der Papiere zuteil werdende „Akteneinsicht“, Fragen und Bemerkungen des Staatsanwalts u.Ä. können von großer Bedeutung für die Beratung des Klienten und den Aufbau der Verteidigung sein. Der Verteidiger hat hier eine legale Möglichkeit, die „Mauer 1 BGH v. 23.11.1987 – 1 BJs 55/81, StV 1988, 90. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 110 StPO Rz. 1. 3 Schluss a maiore ad minus.
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Rz. 385
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
des Schweigens“, die das Ermittlungsverfahren oft bis zur Akteneinsicht umgibt, zu durchbrechen. Dadurch kommt er auch in die Lage, belastendes Material alsbald kennenzulernen und entlastende Schriftstücke schon im Ermittlungsverfahren in den Vordergrund zu stellen. Wird ein entlastender Brief übersehen und ist er später nicht mehr auffindbar, so ist das Versäumnis kaum gutzumachen. In vielen Fällen bezweckt die Durchsuchung ausschließlich, Schriftstücke zu finden, die in Beziehung zu einer bestimmten Straftat stehen (Handelsbücher, Korrespondenz, Vermerke, Verträge u.Ä.). Die Durchsuchung zu diesem Zweck ist darum häufig die erste Maßregel, die die Strafverfolgungsbehörde anordnet. Der Verteidiger sollte darauf bestehen, dass er bei Durchsicht der weggenommenen Papiere anwesend ist, auch wenn der Beschuldigte kein Teilnahmerecht hat. Einen durchschlagenden sachlichen Grund, den Verteidiger auszuschließen, wird die Staatsanwaltschaft schwerlich finden; notfalls kommt die telefonische Einschaltung des Vorgesetzten in Betracht. 385
Ein besonders heikles Kapitel sind die Zufallsfunde (§ 108 StPO), bei denen nach Erfahrungen der Praxis häufig der Verdacht besteht, dass sie das eigentliche Ziel der Durchsuchung sind. Natürlich ist eine derartige Maßnahme unzulässig1, jedoch ist es schwierig, den Nachweis zu führen, dass gezielt nach „Zufalls“-Funden gesucht worden ist. Bei großen Durchsuchungsaktionen kommt es freilich gelegentlich vor, dass die eingesetzten Beamten Einsatzbefehle oder andere Schriftstücke liegen lassen, aus denen diesbezügliche Erkenntnisse zu gewinnen sind; auch das Studium der Ermittlungsakten und der darin enthaltenen Vermerke des Sachbearbeiters der Staatsanwaltschaft oder ihrer Hilfsbeamten fördert zuweilen Überraschendes zutage.
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Verfahrensverstöße hat der Verteidiger zu beanstanden. Häufig wird ohne echten Tatverdacht durchsucht, gleichsam zum Zweck der Ausforschung. Die Rspr. ist insoweit recht streng2. Statthaft ist die Durchsuchung nur, wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass Gegenstände gefunden werden, die als Beweismittel in Betracht kommen oder deren Einziehung zu erwarten ist. Die Durchsuchung darf sich schließlich nicht auf Sachen erstrecken, deren Beschlagnahme verboten ist (Rz. 395 f.).
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Rechtsmittel gegen die Durchsuchung ist die Beschwerde (§ 304 StPO), gegen die Art und Weise ihrer Durchführung die Beschwerde nach § 98 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 108 StPO Rz. 1 m.N. 2 Vgl. nur BGH v. 9.11.2001 – 3 StR 216/01, NStZ 2002, 215; BVerfG v. 30.3.2004 – 2 BvR 1520/01, 2 BvR 1521/01, wistra 2004, 295; BVerfG v. 9.11.2001 – 2 BvR 436/01, NStZ 2002, 212; LG Nürnberg-Fürth v. 7.5.1999 – 12 Qs 1/99, StV 1999, 521 m. Anm. Wehnert m.N.; LG Berlin v. 1.4.1999 – 511 Qs 105/98, StV 1999, 520 („überalterter Beschluss“); LG Berlin v. 16.8.2001 – 504 Qs 94/01, StV 2002, 69 (Durchsuchung bei Dritten); LG Frankfurt v. 18.10.2001 – 5-22 Qs 3/01, StV 2002, 70 m.N.; OLG Jena v. 20.11.2000 – 1 Ws 313/00, StV 2002, 63 (Behördenakten).
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Andere vorlufige Maßnahmen
Rz. 388
Abs. 2 S. 2 StPO analog1. Die Beschwerde kann heute nicht mehr nur bis zum Abschluss der Durchsuchung – wozu auch die Durchsicht von Papieren gehört2, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch nach deren Abschluss eingelegt werden3. Grundlage für die nachträgliche richterliche Überprüfung ist ein Antrag nach § 98 Abs. 2 S. 2 StPO analog, wenn ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit besteht4. Ein Feststellungsinteresse ist dann gegeben, wenn wegen der erheblichen Folgen des Eingriffs oder der Gefahr einer Wiederholung ein nachwirkendes Bedürfnis für die richterliche Überprüfung besteht. Besser als die Ausschöpfung aller gesetzlichen Rechte gegen die Durch- 388 suchung sind im Rahmen des strafprozessualen Krisenmanagements des Verteidigers (Rz. 236 ff.) auch hier vorbeugende Maßnahmen. Die Durchsuchung, bei der von den eingesetzten Beamten nicht immer zurückhaltend vorgegangen wird, bringt für den betroffenen Personenkreis und Bereich intern mindestens Irritationen und extern eine Rufschädigung mit sich. Das gilt vor allem bei „Großdurchsuchungen“ von Industrieunternehmen, Banken, Versicherungen, Verbänden, Kliniken, Arztpraxen usw. Hier muss notwendigerweise der Einsatz mehrerer Staatsanwälte sowie einer großen Zahl von Ermittlungspersonen aus dem Bereich von Polizei, Steuerfahndung oder Zollfahndung erfolgen. Der Abtransport umfangreichen Materials bleibt nicht unbemerkt. Es wird auch immer wieder berichtet, dass bei derartigen Aktionen von Anfang an Vertreter der Medien, sogar Kamerateams, vor Ort sind – manchmal sogar vor Eintreffen der Ermittlungsbeamten. Welche der beteiligten Personen oder Stellen hier etwas hat „durchsickern“ lassen, ist nach den Erfahrungen der Praxis offenbar niemals zu klären. Der Schaden, der durch die unmittelbare Berichterstattung „vom Ort des Geschehens“ angerichtet wird, ist für die Betroffenen immens. Eine spätere Freistellung von dem erhobenen Verdacht oder seine Reduzierung auf Einzelvorwürfe gegen nachgeordnete Mitarbeiter finden, falls darüber überhaupt berichtet wird, kaum noch Interesse. Dagegen bleibt die spektakuläre Durchsuchungsaktion („ein halbes Dutzend Staatsanwälte, Polizei in Kompaniestärke, fünf Lkw, hunderte von Kisten Beweismaterial“) im Gedächtnis des Publi-
1 BGH v. 7.12.1998 – 5 AR (VS) 2/98, BGHSt. 44, 265; BGH v. 25.8.1999 – 5 AR (VS) 1/99, BGHSt. 45, 183. 2 BVerfG v. 29.1.2002 – 2 BvR 494/01, NStZ-RR 2002, 144; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 110 StPO Rz. 6. 3 Meyer/Rettenmaier, Die Praxis des nachträglichen Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, NJW 2009, 1238 ff.; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Bd. 13, 2004, S. 61 ff.; Beispiele bei Dahs, JR 2004, 96. 4 BGH v. 26.6.1990 – 5 AR (Vz) 8/90, BGHSt. 37, 79; BGH v. 25.1.1978 – 3 StR 412/77, NJW 1978, 1013 m. Anm. Amelung; BGH v. 13.6.1978 – 1 BJs 93/77 StB 51/78, BGHSt. 28, 57; BGH v. 23.10.1978 – 1 BJs 97/77 (StB 202/78), BGHSt. 28, 160; BGH v. 21.11.1978 – 1 BJs 93/77, BGHSt. 28, 206; Schmitt in MeyerGoßner/Schmitt, § 98 StPO Rz. 23.
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Rz. 388
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
kums und hat möglicherweise katastrophale Folgen. So sind z.B. Banken mit Kreditkündigungen schnell bei der Hand. Diese Gefahren in Verbindung mit der Erfahrung, dass gerade in Wirtschaftsstrafsachen umfangreiche Durchsuchungen zum „Standardrepertoire“ von Ermittlungsbehörden gehören, sollten den Verteidiger rechtzeitig auf den Plan rufen. Er muss wissen, dass durch rechtzeitiges Agieren manche Durchsuchung ganz vermieden und viele andere so durchgeführt werden können, dass sie ohne die geschilderte Außenwirkung bleiben. Dies setzt voraus, dass der Verteidiger ein Gespür dafür entwickelt, wann mit einer Durchsuchung zu rechnen ist und worauf diese sich voraussichtlich erstrecken wird. Er kann dann zunächst mit der Klientel erörtern, ob die Bereitschaft besteht, hinsichtlich der Herausgabe von Unterlagen pp. mit der Ermittlungsbehörde zu kooperieren, d.h. freiwillig und vollständig das von der Staatsanwaltschaft mutmaßlich erwartete Material herauszugeben. In vielen Fällen wird damit nichts vergeben, weil mit dem Erlass entsprechender Durchsuchungsbeschlüsse nach aller Erfahrung ohnehin gerechnet werden muss. Wird das Einverständnis der Klientel erteilt und kann der Verteidiger darauf vertrauen, dass diese sich an die gegebene Zusage auch halten wird (eine Belehrung darüber, dass die Beseitigung von Beweismaterial als Verdunkelungshandlung im Sinne des § 112 StPO gewertet wird, ist allemal am Platze), so sollte er mit dem Staatsanwalt Verbindung aufnehmen. Einem als vertrauenswürdig anerkannten Verteidiger kann es dann durchaus gelingen, bei der Staatsanwaltschaft Verständnis für die Belange des Betroffenen zu wecken. Das optimale Ergebnis, der Verzicht auf die Durchsuchung, ist erreichbar, wenn über die gesuchten Gegenstände und Unterlagen hinreichende Klarheit besteht, z.B. Einkaufs-, Verwendungsund Abrechnungsunterlagen über bestimmtes medizinisches Hilfsmaterial für einen konkreten Zeitraum oder das Betriebstagebuch einer bestimmten technischen Anlage für einen bestimmten Zeitraum, oder eine „Globalerklärung“ abgegeben wird, dass alle von der Ermittlungsbehörde gewünschten Gegenstände herausgegeben werden. In unübersichtlichen Sachen ist die Staatsanwaltschaft im Ausnahmefall sogar bereit, einen Fragenkatalog mit Anforderung von Unterlagen an den Verteidiger zu richten (Rz. 237). In anderen Fällen ist es möglich, über die Modalitäten der Durchsuchung eine Vereinbarung („Absprache“) zu treffen, die spektakuläre Außenund irritierende Intern-Wirkungen vermeidet, z.B. die Ermittlungsbeamten kommen in unauffälliger Weise zu einem vereinbarten Zeitpunkt, zu dem die gesamten zu prüfenden Unterlagen in einem Raum konzentriert zur Verfügung stehen. Ob es in der Folgezeit bei der „schonenden“ Durchsuchung bleibt, hängt in allen Fällen davon ab, ob die zu prüfenden Gegenstände/Dokumente tatsächlich aus der Sicht der Ermittlungsbehörde vollständig zur Verfügung gestellt werden. Jede Art von „Tricks“, die den Ermittlungszweck beeinträchtigen, müssen in solchen Fällen (auch seitens nachgeordneter Mitarbeiter) strikt unterbleiben, weil sonst „die letzten Dinge schlimmer sind als die ersten“. Der seriöse und ge264
Andere vorlufige Maßnahmen
Rz. 389
schickte Verteidiger kann also auch auf dem Gebiet der strafprozessualen Zwangsmaßnahmen (bei entsprechender Klientel) manches erreichen. Nicht alle Fälle sind für vorbeugende Maßnahmen der geschilderten Art 389 geeignet. Dann ist es gut, wenn dem Betroffenen zuvor eine präventive Beratung durch den Verteidiger – so er denn rechtzeitig beauftragt war – zuteil geworden ist. Sie ist geboten, wenn Durchsuchung und Beschlagnahme in Betracht kommen, was jedenfalls in Wirtschaftsstrafsachen im weitesten Sinne regelmäßig der Fall ist (Rz. 236). Die Erfahrungen der Praxis zeigen die Wichtigkeit der Vorbereitung von Betriebsangehörigen – auch der Rechtsabteilung – für den Umgang mit Strafverfolgungsbehörden jeder Art u.a. bei Durchsuchungen. Der Versuch, Polizeibeamten oder anderen Ermittlungspersonen den Zutritt zu den Betriebsräumen und Büros generell zu verweigern („Pforte“), ist ein schwerer Fehler, weil dadurch „die Staatsmacht“ sich herausgefordert fühlt und entsprechend reagiert. Richtig ist die Bitte um Identifizierung und Vorlage des Durchsuchungsbeschlusses, der manchen Aufschluss über Grund und Ziel der Aktion gibt. Zugleich ist die Rechtsabteilung und/oder ein externer Verteidiger zu informieren – dessen kurzfristiges Erscheinen jedenfalls Staatsanwälte gelegentlich abwarten. Während der Durchsuchung empfiehlt sich eine flexible, aber grundsätzlich passive Haltung. So mag zwar der Standort von gesuchten Akten mitgeteilt, diese aber nicht freiwillig herausgegeben werden. Bei betriebsnotwendigen Unterlagen ist auf Fertigung von Kopien zu drängen, bei EDV-Daten auf Sicherungskopien. Einer „Begleitung“ durch einen Rechtsanwalt bei der Durchsuchung wird kaum widersprochen werden können, während eine Filmdokumentation als Störung der Amtshandlung im Sinne des § 164 StPO empfunden wird. Besonders ist auch darauf zu achten, dass es nicht zu spontanen Äußerungen zur Sache kommt, die von den Beamten in Vermerken festgehalten und später als Zeugen bestätigt werden. Also: „Technische“ Hilfe kann geleistet werden – schon damit nicht der ganze Betrieb „auf den Kopf gestellt“ wird (mit der Folge echter oder unechter Zufallsfunde – § 108 StPO) – während „informatorische“ Aussagen zur Sache nicht zur Durchsuchung gehören. Es ist darauf zu achten, spätestens bei Beendigung der Aktion ein Exemplar des richterlichen Beschlusses, des Verzeichnisses nach § 107 S. 2 StPO zu verlangen und möglichst sofort zu erhalten, einen evtl. Widerspruch im Protokoll zu vermerken, auf Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse ausdrücklich hinzuweisen und eine entsprechende Kennzeichnung und ggf. gesonderte Verwahrung zu verlangen. Zur Sicherheit sollte (auch im Hinblick auf § 406e StPO) unverzüglich ein entsprechender Schriftsatz zur Akte gebracht werden. b) Beschlagnahme Literatur: Amelung, Strafprozessuale Beschlagnahme von Behördenakten?, NStZ 1993, 48; Beulke, Beschlagnahmefreiheit von Verteidigungsunterlagen, FS Lüderssen (2002), S. 693; Bohlander, Grundrechtswidrige Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse, AnwBl. 1996, 177; Braczyk, Zur Zuständigkeit der Staatsan-
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Rz. 390
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
waltschaft für das Herausgabeverlangen nach § 95 StPO, wistra 1993, 57; Dahs, Die Beschlagnahme von Verteidigungsmaterial und die Ausforschung der Verteidigung, GS K. Meyer (1990), S. 61 ff.; Damrau, Der Ort der Rückgabe beschlagnahmter Sachen, NStZ 2003, 408; Frommel, Zur Zulässigkeit der Beschlagnahme einer ärztlichen Patientenkartei, StV 1992, 114; Hoffmann/Knierim, Rückgabe von im Strafverfahren sichergestellten oder beschlagnahmten Gegenständen, NStZ 2000, 461; Kluger, Die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft für Maßnahmen nach § 95 StPO, wistra 1991, 17; Konrad, Die Beschlagnahme von Verteidigungsunterlagen, 2000, S. 173 ff.; Lisken, Rechtsschutzbedürfnis bei Überprüfung erledigter Anordnungen zu Durchsuchung und Beschlagnahme, StV 1997, 396; Löffler, Die Herausgabe von beschlagnahmten oder sichergestellten Sachen im Strafverfahren, NJW 1991, 1705; Lorenz, Grenzen des strafprozessualen Zugriffs auf Tagebücher, JR 1994, 430; Odenthal, Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nach Eröffnung des Hauptverfahrens, StV 1991, 441; Ost, Zur Beschlagnahme des Testaments eines Klienten beim Berufsgeheimnisträger, wistra 1993, 177; Schäfer, G., Der Schutz von Verteidigungsunterlagen und Verteidigungsstrategie gegen Eingriffe der Strafverfolgungsorgane, FS Hanack (1999), S. 77; Schäfer, H., Die Rückgabe beschlagnahmter Beweismittel nach Rechtskraft des Urteils, wistra 1984, 136; Schuhmann, Zur Beschlagnahme von Mandantenunterlagen bei den Angehörigen der rechtsund steuerberatenden Berufe, wistra 1995, 50; Weinmann, Die Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen des Beschuldigten bei Zeugnisverweigerungsberechtigten, FS Dünnebier (1982), S. 199; Wilhelm, Allgemeine Beschlagnahme bei Presseinhaltsdelikten, NStZ 1996, 204; Wolf, Zum Rechtsweg für die Anfechtung von strafprozessual angeordneten und erledigten Durchsuchungen und Beschlagnahmen, StV 1992, 56.
390
Bei Beschlagnahmeanordnungen, die normalerweise der Durchsuchung folgen, muss der Verteidiger beachten, dass sie nur zulässig sind, um Unterlagen oder Gegenstände sicherzustellen, die Beweisstücke sind oder dem Verfall oder der Unbrauchbarmachung unterliegen (§§ 94, 111b StPO). Man macht immer wieder die Erfahrung, dass diese Grenze überschritten wird. Das hängt damit zusammen, dass die Beschlagnahme, ihre Anordnung und ihre Durchführung das Ermittlungsverfahren in aller Regel eröffnet. Vorgeschaltet ist allenfalls die Durchsuchung nach beschlagnahmefähigen Gegenständen (Rz. 382 ff.).
391
Wie bei der Durchsuchung ist die Mitwirkung des Verteidigers im Beschlagnahmeverfahren im Allgemeinen darauf beschränkt, eine nachträgliche Kontrolle auszuüben (Rz. 383; vgl. aber auch Rz. 288). Deshalb bleibt ihm in vielen Fällen nur die Beschwerde, die auch zulässig ist, falls die Beschlagnahme schon durchgeführt ist. Zweckmäßigerweise verbindet der Verteidiger die Beschwerde mit dem Antrag auf Akteneinsicht (Rz. 260). In geeigneten Fällen kann er sich auch die Beschwerdebegründung vorbehalten, bis er die Akten eingesehen hat. Denn dann darf ohne Gewährung der Akteneinsicht nicht zum Nachteil des Betroffenen entschieden werden1. Dieses Verfahren empfiehlt sich, falls die Beschwerde ohne Kenntnis der Akten, wenigstens der Niederschriften über die bisherigen Vernehmungen der Beschuldigten und etwaiger Sachverständigengutachten, nicht sachgerecht begründet werden kann (Rz. 857). 1 BVerfG v. 9.3.1965 – 2 BvR 176/63, NJW 1965, 117.
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Andere vorlufige Maßnahmen
Rz. 394
Falls nicht ein Richter die Beschlagnahme angeordnet hat, muss der Ver- 392 teidiger überlegen, ob es sinnvoll ist, die richterliche Entscheidung zu beantragen (§ 98 Abs. 2 S. 2 StGB). Dazu ist der Betroffene jederzeit befugt. Geboten ist der Antrag insbesondere, wenn der Ermittlungsbeamte bei der Beschlagnahme deren gesetzliche Voraussetzungen verkannt hat. Hierzu gehört der Tatverdacht. Es genügt nicht die bloße Vermutung einer strafbaren Handlung, es genügt auch nicht jeder Verdacht einer strafbaren Handlung im Sinne von § 152 Abs. 2 und § 160 Abs. 1 StPO, es müssen schon stärker konkretisierte Umstände vorliegen, die ein Gerichtsverfahren voraussehen lassen1. Das BVerfG wacht mit Strenge über die Gesetzlichkeit des Eingriffs in den grundgesetzlich geschützten Bereich des Betroffenen. Formelhafte oder sonst dürftige Beschlüsse lässt es (zu Recht) nicht durchgehen2. Wie überall gilt hier auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Je schwerer der Eingriff, desto erheblicher muss der Verdacht sein3. In diesen Zusammenhang gehört auch „die Verhaftung des Gedankens“, 393 d.h. die Pressebeschlagnahme, die Beschlagnahme sonstiger periodischer Druckwerke sowie jeder Art von Speicher- und Kontaktmedien (z.B. Festplatte, Datensticks, CDs, DVDs)4 von Rundfunk und Fernsehen. Nachdem das Redaktionsgeheimnis durch §§ 53 Abs. 1 Nr. 5, 97 Abs. 5 StPO umfassend geschützt ist5, sind Beschlagnahmeaktionen nur noch in sehr begrenztem Rahmen zulässig6, wobei dem in § 111m und § 111n StPO konkretisierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besondere Bedeutung zukommt. Fehler werden häufig bei der Postbeschlagnahme gemacht, die alle Post- 394 sendungen und den Telefonverkehr des Beschuldigten betreffen kann (§§ 99, 100, 100a StPO). Es ist Aufgabe des Verteidigers, auch hier darauf zu achten, dass die gesetzlichen Grenzen eingehalten werden. Zu beanstanden hat der Verteidiger, wenn Ermittlungspersonen, insbesondere die Polizei, die Postbeschlagnahme anordnen. Befugt hierzu ist nur der Richter, im Falle eines Vergehens bei Gefahr im Verzug auch der Staatsanwalt, niemals die Polizei (§ 100 Abs. 1 StPO). Der Vollzug einer staatsanwaltschaftlichen oder richterlichen Beschlagnahmeanordnung obliegt ausschließlich der Post. Der Verteidiger darf nicht versäumen, die Poststellen darauf hinzuweisen, dass eine staatsanwaltschaftliche Beschlagnahmeanordnung ohne richterliche Bestätigung nach drei Tagen außer Kraft tritt (§ 100 Abs. 2 StPO). Auch muss er darauf bestehen, dass die 1 BGH v. 7.9.1956 – 1 BJs 182/55 (StB 28/56), BGHSt. 9, 351 (355). 2 Vgl. nur BVerfG v. 30.3.2004 – 2 BvR 1520/01, 2 BvR 1521/01, wistra 2004, 295; BVerfG v. 9.11.2001 – 2 BvR 436/01, NStZ 2002, 212; BVerfG v. 3.9.1991 – 2 BvR 279/90, NJW 1992, 551. 3 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 94 StPO Rz. 18. 4 Nack in KK, § 94 StPO Rz. 4. 5 Dazu Ignor/Berthau in Löwe/Rosenberg, § 53 StPO Rz. 43 ff. 6 BVerfG v. 1.10.1987 – 2 BvR 1434/86, BVerfGE 77, 65; Groß, StV 1996, 559; Pfeiffer, NStZ 1983, 208.
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Rz. 395
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Staatsanwaltschaft Briefe und andere Postsendungen ungeöffnet dem Richter vorlegt (§ 100 Abs. 1 StPO)1, wenn dieser seine Befugnis nicht auf die Staatsanwaltschaft übertragen hat. Ob diese Delegation (noch) rechtmäßig ist, hat der Verteidiger laufend zu überprüfen. Bei der Durchsicht der weggenommenen Postsendungen sollte der Verteidiger seine Anwesenheit erwirken (§§ 110 Abs. 3, 106 StPO). Der Verteidiger muss auch stets kontrollieren, ob die Aufrechterhaltung der Postbeschlagnahme noch gerechtfertigt ist. Dabei hat er im Zusammenhang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch auf die wirtschaftlichen Nachteile hinzuweisen, die dem Betroffenen drohen (s. Nr. 77 Abs. 2 RiStBV). Auch ist die Beschlagnahme aller Postsendungen kaum einmal begründet: Meist ist eine Beschränkung auf den Postverkehr mit bestimmten Personen oder auf eine bestimmte Art von Postsendungen geboten (Nr. 77 Abs. 3 RiStBV). 395
Dem Verteidiger obliegt es besonders, darauf zu achten, dass die Beschlagnahmeverbote eingehalten werden (§ 97 StGB). Erfahrungsgemäß tauchen hier vor allem Probleme auf, wenn die Ermittlungsbehörden versuchen, ärztliche Aufzeichnungen, Anwaltsakten, Unterlagen von Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern2 oder anderes Verteidigungsmaterial zu beschlagnahmen, das nicht im Gewahrsam der zeugnisverweigerungsberechtigten Personen ist3. Es ist heute anerkannten Rechts, dass auch Unterlagen, die der Betroffene erkennbar zu seiner Verteidigung in dem gegen ihn anhängigen Verfahren angefertigt hat, weder beschlagnahmt noch gegen seinen Widerspruch verwertet werden dürfen4. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht insoweit nicht selten die Entbindung von der Schweigepflicht. Der Verteidiger hat den Mandanten darüber zu belehren, dass die Beschlagnahme solcher Unterlagen grundsätzlich zulässig wird, sobald der Berechtigte den Schweigeberechtigten, z.B. den Steuerberater oder Arzt, von der Schweigepflicht entbindet5. Ob dies geschehen soll, hängt von der Lage des Einzelfalles ab. Es ist jeweils zu prüfen, auf welche Umstände sich die Schweigepflicht des Geheimnisträgers erstreckt. In Zweifelsfällen ist es besser, den Arzt o.a. nicht von der Schweigepflicht zu entbinden, um die Beschlagnahme zu verhindern. Dann bleiben auch in jedem Falle die im Bereich des Arztes oder z.B. des Zivil-Anwalts ruhenden Geheimnisse geschützt, die dem Betroffenen selbst gar nicht bekannt sind, etwa unbekannte ärztliche Befunde oder kritische Aufzeichnungen des Arztes über den Patienten oder des Anwalts über seinen Mandanten. 1 Hierzu Wagner, MDR 1961, 97; Lüttger, MDR 1961, 809. 2 LG Bonn v. 29.10.2001 – 37 Qs 59/01, StV 2002, 68 m. Anm. Wehnert. 3 BVerfG v. 30.1.2002 – 2 BvR 2248/00, NStZ 2002, 377 (Notebook); LG Frankfurt v. 27.4.2004 – 5/2 Qs 1/04, 5-02 Qs 1/04, StraFo 2004, 239 (anwaltliches Strategiepapier); Dahs, GS Meyer (1990), S. 61; G. Schäfer in Löwe/Rosenberg25, § 97 StPO Rz. 85 ff.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 97 StPO Rz. 37 m.N. 4 BGH v. 25.2.1998 – 3 StR 490/97, NStZ 1998, 309. 5 BGH v. 3.12.1991 – 1 StR 120/90, BGHSt. 38, 144; OLG Hamburg v. 29.12.1961 – Ws 756/61, NJW 1962, 689.
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Andere vorlufige Maßnahmen
Rz. 396
Freilich muss der Verteidiger bedenken, dass die Ermittlungsbehörden aus der Weigerung nachteilige Schlüsse ziehen können. Deshalb kann es z.B. geboten sein, dem Arzt keine allgemeine Genehmigung zu erteilen, sondern durch eine ausdrückliche Beschränkung die Befreiung auf bestimmte Tatsachen zu beschränken, etwa auf ein bestimmtes Leiden oder die Folgen eines bestimmten Unfalles. Das ist zulässig1. Eine Absicherung ist auch in der Form möglich, dass der Beschuldigte dem Arzt erlaubt, den Verteidiger über den Inhalt der ärztlichen Aufzeichnung zu informieren. Dann erfährt der Verteidiger zuverlässig etwaige Bedenken des Arztes, ihn von der Schweigepflicht zu entbinden. Bei der Beratung des Mandanten sollte der Verteidiger auch daran denken, dass sich in ärztlichen Unterlagen nicht selten Geheimnisse dritter Personen befinden, etwa naher Angehöriger des Beschuldigten. Solche Geheimnisse sind geschützt, sofern diese Personen den Arzt nicht ebenfalls von der Schweigepflicht entbinden. Werden die Geheimnisse gleichwohl aufgedeckt, so dürfen sie nicht gegen die Betroffenen verwertet werden. Dieses Verwertungsverbot gilt auch dann, wenn die Beschlagnahme zulässig war, weil der Arzt selbst Beschuldigter ist2. Die Anordnung zur Beschlagnahme von Handakten des Verteidigers 396 muss ausnahmslos bekämpft werden, sofern ihre Beschlagnahmefreiheit nicht aus den Gründen des § 97 Abs. 2 StPO zweifelsfrei aufgehoben ist3. Nur in diesen Grenzen sind die Handakten des Verteidigers schlechthin beschlagnahmefrei4. Sein Gewahrsam ist aber nicht geschützt, wenn er Gegenstände in Besitz hat, die unter den Begriff der instrumenta et producta sceleris fallen oder die sonst aus der Straftat herrühren (Beispiel: die gefälschte Urkunde, die gesuchte Kartellvereinbarung, die vermissten Geschäftsunterlagen u.Ä.). Der Gewahrsam des Verteidigers ist ebenso wie derjenige des Arztes dann nicht geschützt, wenn er einer Teilnahme oder Strafvereitelung verdächtigt ist. Aus diesen Gründen muss der Verteidiger schon den leisesten Anschein vermeiden, als ob er mit dem Beschuldigten gemeinsame Sache mache. Das hat nicht nur für ihn strafrechtliche und berufsrechtliche Folgen, auch der Mandant muss mit Nachteilen rechnen, eben gerade der Durchbrechung des Beschlagnahmeverbots, wenn der Verteidiger sich unkorrekt verhält. Lässt er sich beispielsweise verleiten, Schriftstücke aus der Haftanstalt zu schmuggeln, durch die Zeugen beeinflusst werden sollen (Rz. 367), so entfällt das Be1 OLG Hamburg v. 29.12.1961 – Ws 756/61, NJW 1962, 689 (690). 2 OLG Celle v. 23.11.1962 – 3 Ws 280/62, NJW 1963, 406. 3 Vgl. dazu BGH v. 13.8.1973 – 1 BJs 6/71 – StB 34/73, NJW 1973, 2035 m. Anm. Specht, NJW 1974, 65; Roxin, JR 1974, 115; Welp, JZ 1974, 423; Krekeler, AnwBl. 1977, 367; Schüller, StV 1985, 169; OLG Frankfurt, StV 1992, 64; BGH v. 20.10.1982 – 2 StR 43/82, NStZ 1983, 85 (Verwertung, obwohl Tatverdacht entfallen war). 4 G. Schäfer in Löwe/Rosenberg25, § 97 StPO Rz. 96, 97, der selbst die Beschlagnahme bei einem teilnahmeverdächtigen Verteidiger während einer bestehenden Verteidigung ablehnt; Nack in KK, § 97 StPO Rz. 39 („exzeptionelle Ausnahmefälle“).
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Rz. 397
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
schlagnahmeverbot wegen des Verdachts der (versuchten) Strafvereitelung. Besondere Vorsicht ist auch geboten, wenn der Mandant oder ein Dritter dem Verteidiger Gegenstände (insbesondere Unterlagen) übergeben wollen, die zu der Straftat in Beziehung stehen können. Büro und Wohnung des Verteidigers sind denkbar ungeeignete Aufbewahrungsorte für solche Sachen (Rz. 66). Hat der Verteidiger auch nur die Vermutung, dass sie mit der strafbaren Handlung zusammenhängen, so muss er ihre Entgegennahme ablehnen. Das gilt erst recht, wenn es sich um Gegenstände handelt, deren Beschlagnahme bereits angeordnet ist. Trifft der Verteidiger in Konfliktfällen eine falsche Entscheidung, so gibt er damit den Schutz des Beschlagnahmeverbotes auf. 397
Ein Sonderproblem ist die Beschlagnahme von Akten der Syndikusanwälte in Ermittlungsverfahren, die sich gegen Angehörige des Unternehmens richten, in dem sie tätig sind. Das liegt daran, dass Syndikusanwälte häufig neben eindeutig selbständiger anwaltlicher Tätigkeit auch in Unternehmensaufgaben eingebunden sind, die den Bereich des Managements im weitesten Sinne betreffen, sie insoweit weisungsgebunden sind und daher die in §§ 53 Abs. 1 Nr. 3, 97 Abs. 1 Nr. 1 StPO vorausgesetzte Selbständigkeit und Unabhängigkeit fehlt1. Für die Beschlagnahmefreiheit entscheidend ist eine äußerliche Separierung des „Anwaltsbereichs“, insbesondere der anwaltlichen Akten und Unterlagen, z.B. durch entsprechend gekennzeichnete Zimmer, Schränke oder Regalabteilungen und die Zugangseinschränkung auf den Syndikus, der z.B. allein über entsprechende Schlüssel verfügt2. Haben dagegen Mitglieder der Unternehmensleitung oder andere nach eigener Entscheidung Zugang zu den Akten (Mitgewahrsam), sollen die Voraussetzungen des § 97 Abs. 2 StPO nicht gegeben sein3. Beim Aufbau einer Verteidigung unter Einbeziehung von Syndikusanwälten (Rz. 140 f., 1150) muss auf diese Umstände geachtet werden; häufig wird es sich empfehlen, dass der Syndikus zusätzlich als Verteidiger bestellt wird. Dabei wird allerdings die Frage möglicher Interessenkollision (Rz. 141) jeweils besonderer Prüfung bedürfen. Staatsanwaltschaft und Instanzgerichte stehen der Syndikustätigkeit eher kritisch gegenüber und werden nach Mitteln und Wegen suchen, auf deren Arbeitsbereich Zugriff zu erhalten.
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In Gewissenskonflikte kommt der Verteidiger, wenn die Strafverfolgungsbehörde unter Hinweis auf die Entbindung von der Schweigepflicht durch den Mandanten Herausgabe einzelner Schriftstücke oder der ganzen Handakte begehrt. Folgt er diesem Verlangen nicht, muss er mit der 1 Dazu i.E. Roxin, NJW 1992, 1129 (1134) m.N.; Hassemer, wistra 1986, 1 (14); Dahs in MüKo, § 356 StGB Rz. 17. 2 Hassemer, wistra 1986, 1 (14); Roxin, NJW 1992, 1129 (1134) m.N.; LG Frankfurt v. 17.12.1992 – 5/26 Qs 41/92, WM 1995, 47 (48); AG Düsseldorf v. 14.11.1997 – 151 Gs 1897/97 – n.v. 3 LG Frankfurt v. 17.12.1992 – 5/26 Qs 41/92, WM 1995, 47 (48); AG Düsseldorf v. 14.11.1997 – 151 Gs 1897/97 – n.v.; die zusätzlich eine „Sperrwirkung“ der anwaltlichen Tätigkeit in § 46 Abs. 2 BRAO ableiten.
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Andere vorlufige Maßnahmen
Rz. 399
Beschlagnahmeanordnung rechnen. Die Handakten enthalten aber vielfach Unterlagen und Aufzeichnungen des Verteidigers, die den Beschuldigten nicht nur entlasten, sondern auch belasten. Der Verteidiger verletzt seine Schweigepflicht, falls er diesen Inhalt der Handakten ohne spezifisches Einverständnis des Mandanten preisgibt (Rz. 51). Er muss daher dem Mandanten klarmachen, dass das Beschlagnahmeverbot an das Recht des Verteidigers auf Verweigerung des Zeugnisses geknüpft ist. Ggf. muss er dem Beschuldigten empfehlen, ihn nicht von der Schweigepflicht zu entbinden oder diese Erklärung zurückzunehmen, da sonst die Beschlagnahmefreiheit in vollem Umfang aufgehoben wird (Rz. 395). Weiterhin hat er zu prüfen, ob seine Handakten oder die ihm übergebenen Schriftstücke Umstände offenbaren, die zwar mit dem eigentlichen strafrechtlichen Vorwurf des anhängigen Verfahrens nichts zu tun haben, die aber Hinweise auf andere Straftaten des Beschuldigten oder dritter Personen enthalten. Allerdings kann auch insoweit ein Verwertungsverbot bestehen1. Generell ist der Verteidiger verpflichtet, sich nachdrücklich gegen Durchsuchungsanordnungen zu wehren, die seinen Gewahrsamsbereich betreffen. Das kann er allerdings nur, wenn sein korrektes Verhalten außer Zweifel steht. In allen Beschlagnahmefällen muss der Verteidiger im Auge behalten, 399 dass nicht jede Überschreitung des Beschlagnahmeverbots die Verwertung etwa vorgefundener Beweismittel untersagt. So besteht kein Verwertungsverbot bei freiwilliger Herausgabe durch den Beschuldigten oder durch eine Person, die zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt ist. Gibt z.B. ein Verteidiger seine Handakten (oder ein Arzt seine Aufzeichnungen) heraus, ohne von der Schweigepflicht entbunden zu sein und ohne dass einer der Fälle des § 97 Abs. 2 StPO gegeben ist, so hilft der nachträgliche Widerspruch nichts. Die etwa aus den Akten aufgedeckten belastenden Umstände dürfen gegen den Beschuldigten verwendet werden. In diesem Zusammenhang muss der Verteidiger auch berücksichtigen, dass gegenüber einem zeugnisverweigerungsberechtigten Angehörigen die Verpflichtung zur Belehrung über das Verbot der Beschlagnahme und der Verwertung besteht. Ermittlungsorgane und Instanzgerichte übersehen vielfach, dass freiwillig herausgegebene oder beschlagnahmte Gegenstände (insbesondere Schriftwechsel) nicht verwertet werden dürfen, wenn der weigerungsberechtigte Angehörige auf das Beschlagnahmeverbot nicht ausdrücklich hingewiesen worden ist und sich deshalb der Bedeutung seiner Erklärung nicht bewusst war2. In der Praxis sind dies die Fälle, in denen die Beschlagnahme im Bereich des Angehörigen zulässig ist, weil gegen ihn Teilnahmeverdacht besteht (§ 97 Abs. 2 StPO). Hier muss der Verteidiger berücksichtigen, dass nur solche Gegenstände beschlagnahmt werden dürfen, die mit diesem Verdacht etwas zu tun ha1 Vgl. dazu Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 97 StPO Rz. 49 m.N. 2 BGH v. 23.1.1963 – 2 StR 534/62, BGHSt. 18, 227; Nack in KK, § 97 StPO Rz. 3.
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Rz. 400
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
ben. Werden z.B. belastende Schriftstücke gefunden, die mit diesem Verdacht in keinem Zusammenhang stehen, so dürfen sie weder gegen den Beschuldigten noch gegen den Angehörigen verwendet werden, auch nicht in anderen Verfahren1. 400
Wenn es im Verfahren nicht zu einer Verurteilung des Beschuldigten kommt, muss der Verteidiger prüfen, ob ein Anspruch auf Entschädigung wegen der Beschlagnahme in Betracht kommt (§§ 2 ff. StrEG; Rz. 372 ff.). Die Rückgabe beschlagnahmter Sachen soll nach Meinung des 3. Zivilsenats des BGH an den Ort erfolgen, an dem die Sachen aufzubewahren waren (§ 697 BGB analog)2. In allen Fällen der Beschlagnahme und der Durchsuchung sollte der Verteidiger auch prüfen, ob dem Mandanten empfohlen werden kann, Amtshaftungsansprüche geltend zu machen. Schuldhaft rechtswidrige Maßnahmen bei Anordnung und Durchführung der Beschlagnahme lösen den Regressanspruch aus, falls ein Schaden entstanden ist. Auch ein eigener Schaden des Verteidigers kann in Betracht kommen, etwa wenn wegen unzulässiger Beschlagnahme Akten nicht weiterbearbeitet werden können oder ihm Mandate entzogen werden. Indessen bedarf es stets sorgsamer Überlegung, ob die rechtswidrige Anordnung dem Beamten als Verschulden zuzurechnen ist (Rz. 378). c) Überwachung von Kommunikation und Telekommunikation sowie Observation Literatur: Bernsmann, Heimliche Ermittlungsmethoden und ihre Kontrolle – Ein systematischer Überblick, StV 1998, 217; Demko/Wohlers, Der strafprozessuale Zugriff auf Verbindungsdaten (§§ 100g, 100h StPO), StV 2003, 241; Eisenberg, Zur Unzulässigkeit optischer Ermittlungsmaßnahmen (Observation) betreffend eine Wohnung, NStZ 2002, 638; Eisenberg/Singelstein, Zur Unzulässigkeit der heimlichen Ortung per stiller SMS, NStZ 2005, 62; Globig, Zur Vernichtung der Niederschriften über eine Telefonüberwachung, StV 1994, 286; Hassemer, Telefonüberwachung und Gefahrenabwehr, ZRP 1991, 289; Hefendehl, Observation im Spannungsfeld von Prävention und Repression, StV 2000, 270; Küpper, Zur Verwertung von Beweisen aus einer Telefonüberwachung und deren Überprüfbarkeit, JR 1996, 214; Mahnkopf, Telefonüberwachungsmaßnahmen bei Opfern von Schutzgelderpressungen ohne deren Einwilligung, NStZ 1995, 112; Mann, Präventiver Lauschangriff via Telefon?, ZRP 1995, 180; Michalke, Digitale Daten im Spannungsfeld – Chancen der Verteidigung, StraFo 2005, 91; Palm, Der BGH und der Zugriff auf Mailboxen, NJW 1997, 1904; Störmer, Der gerichtliche Prüfungsumfang bei Telefonüberwachungen – Beurteilungsspielraum bei Anordnungen nach § 100a StPO?, StV 1995, 653; Taschke, Zur Verwertbarkeit der Ergebnisse einer Telefonüberwachung, StV 1990, 436; Welp, Strafprozessuale Zugriffe auf Verteidigerakten des Fernmeldeverkehrs, NStZ 1994, 209; Welp, Wird in das Fernmeldegeheimnis eingegriffen, wenn ein Polizeibeamter im Einverständnis des Telefoninhabers ein 1 BGH v. 23.1.1963 – 2 StR 534/62, BGHSt. 18, 227; Nack in KK, § 97 StPO Rz. 11. 2 BGH v. 3.2.2005 – III ZR 271/04, NJW 2005, 988; Hoffmann/Knierim, NStZ 2000, 461 ff.
272
Andere vorlufige Maßnahmen
Rz. 401
Gespräch ohne Wissen des Gesprächspartners mithört?, NStZ 1994, 294; Wolff, Anordnung der Auskunft über Telekommunikationsverbindungsdaten gegen unbekannt?, NStZ 2003, 404.
Die Überwachung der Kommunikation, insbesondere der Aufnahme des 401 Telefon-, Mobilfunk-, Internet-, Internet-Telefonie-, Fernschreib-, Telefax- und Funkverkehrs, des nichtöffentlichen Gesprächs, das observierende Fotografieren und Filmen nach Maßgabe des komplizierten Vorschriften-Zyklus der §§ 100a–100i StPO unterscheidet sich von den anderen vorläufigen Maßnahmen im Strafverfahren u.a. dadurch, dass der Betroffene davon erst nachträglich – möglicherweise nach langer Zeit – erfährt. Die Möglichkeit von Abhörmaßnahmen und Maßnahmen nach §§ 100c, 100g und 100i StPO wird daher in erster Linie Gegenstand der präventiven umfassenden Beratung des Mandanten bei Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der in §§ 100a und 100c Abs. 1 StPO näher bezeichneten Katalogstraftaten sein. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass auch Gespräche von und mit unbeteiligten, gutgläubigen Dritten überwacht werden können1; sogar die Kontakte des Verdächtigen mit dem Verteidiger können davon betroffen werden2. Allerdings darf der Telefonanschluss des Verteidigers im Hinblick auf § 148 StPO nicht abgehört werden3. Ist die Überwachung nachträglich offengelegt, so muss der Verteidiger ihre formelle Ordnungsmäßigkeit und materielle Rechtmäßigkeit, diese besonders auch unter dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz4 (Verdachtsgrad, Gewicht der vorgeworfenen Tatbeteiligung, Umfang und Dauer der Überwachung) genau prüfen und ggf. ein Verwertungsverbot geltend machen. So wird mit guten Gründen die Verwertung der Niederschrift über ein Telefongespräch des Beschuldigten von seinem Anschluss mit seinem Verteidiger, der selbst unverdächtig ist, für unzulässig gehalten (arg. ex § 148 StPO); insoweit soll auch ein Anspruch auf Vernichtung der Unterlagen bestehen5. Besonders problematisch sind die Folgewirkungen der Überwachung in Bezug auf Delikte des Beschuldigten, die nicht unter § 100a StPO fallen, sowie Erkenntnisse über Straftaten oder Berufsvergehen (!) der unbeteiligten Gesprächspartner. Inwieweit derartige „Zufallsfunde“ verwertet werden dürfen, ist umstritten und wird vielfach mit guten Gründen für unzulässig erklärt werden können. Überwiegend wird heute eine Unver-
1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 100a StPO Rz. 18 m.N. 2 BGH v. 11.5.1988 – 3 StR 563/87, NStZ 1988, 562. 3 BGH v. 5.11.1985 – 2 StR 279/85, BGHSt. 33, 347; w.N. bei Schmitt in MeyerGoßner/Schmitt, § 100a StPO Rz. 21. 4 BVerfG v. 15.12.1970 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68, 2 BvR 308/69, BVerfGE 30, 1 (20 ff.); BVerwG v. 17.10.1990 – 1 C 12/88, StV 1991, 290. 5 OLG Koblenz v. 21.12.1993 – 3 VAs 25/93, StV 1994, 284; Strafrechtsausschuss der BRAK v. 19.6.1981 – RS Nr. 16/81.
273
Rz. 402
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
wertbarkeit angenommen, wenn es sich nicht um Katalogtaten des Beschuldigten und Dritter handelt1. d) Körperliche Untersuchungen und Eingriffe Literatur: Benfer, Zur Rechtmäßigkeit von Blutprobenentnahmen bei Reihenuntersuchungen im Ermittlungsverfahren, NStZ 1997, 397; Graalmann-Scherer, DNAMassentest de lege lata und de lege ferenda, NStZ 2004, 297; Lührs, Genomanalyse im Strafverfahren, MDR 1992, 929; Malek/Wohlerse, Zwangsmaßnahmen und Grundrechtseingriffe im Ermittlungsverfahren, 2. Aufl. 2001; Mayer, Die Entnahme einer Blutprobe nach §§ 81a, 81c StPO zum Zwecke der Feststellung einer AIDS-Infizierung, JR 1990, 358; Rill/Vossel, Psychophysiologische Täterschaftsbeurteilung („Lügendetektion“, „Polygraphie“), NStZ 1998, 481; Rogall, Die Vergabe von Vomitivmitteln als strafprozessuale Zwangsmaßnahme, NStZ 1998, 66; Senge, Strafverfahrensänderungsgesetz – DNA-Analyse, NJW 1997, 2409; Solbach, Körperliche Untersuchungen bei Verdacht intrakorporalen Drogenschmuggels, MedR 1987, 80; Weiler, Darf eine Blutprobe, die dem Angeklagten im Krankenhaus zur Vorbereitung einer Operation entnommen wurde, gerichtlich zum Beweis der BAK verwertet werden?, NStZ 1995, 98.
402
Die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Vorbereitung eines Gutachtens über seinen psychischen Zustand (§ 81 StPO) wird der Verteidiger manchmal von sich aus anregen müssen. Freilich kann er hier in kaum lösbare Konflikte geraten. Er wird die Tatsachen, die für die Anwendung des § 20 StGB sprechen, nicht vorbringen und damit auch die Unterbringung nicht anregen dürfen, so lange der Auftraggeber gute Aussichten hat, aus anderen Gründen freigesprochen zu werden. Von der Anregung dieser Maßnahmen wird der Verteidiger auch absehen müssen, wenn der Mandant mit der Begutachtung und somit auch der Unterbringung nicht einverstanden ist. Der Verteidiger muss berücksichtigen, dass die Beobachtung in einem psychiatrischen Krankenhaus gleichsam nur letztes Mittel sein darf2. Gegen den Willen des Beschuldigten darf sie nur angeordnet werden, falls der Sachverständige auf andere Weise kein sicheres Bild gewinnen kann3. Sie entfällt nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch, wenn nur eine geringe Strafe zu erwarten ist4.
403
Zuvor ist allerdings die Frage zu entscheiden, ob die Verteidigung überhaupt auf Schuldunfähigkeit gestützt werden soll – mit allen außerstrafrechtlichen Nachteilen, die dem Mandanten bei einem so erzielten „Erfolg“ drohen, z.B. beamtenrechtlicher, berufsrechtlicher, arbeitsrechtlicher Art, insbesondere auch der nicht löschungsfähigen Eintragung im BZRG (§§ 11, 45 Abs. 1, 3 Nr. 2 BZRG). Ist der Wille des Mandanten 1 Vgl. i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 100a StPO Rz. 34, § 477 Rz. 5; Nack in KK, § 100a StPO Rz. 80 ff. 2 Krause in Löwe/Rosenberg25, § 81 StPO Rz. 14 m.N. 3 BVerfG v. 7.3.1995 – 2 BvR 1509/94, StV 1995, 617. 4 OLG Hamm v. 3.2.1960 – 1 Ws 480/59, NJW 1960, 1400; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 81 StPO Rz. 7.
274
Andere vorlufige Maßnahmen
Rz. 404
nicht zuverlässig festzustellen oder zweifelhaft, ob er Bedeutung und Tragweite der Entscheidung erfasst, wird sich der Verteidiger an seine Schweigepflicht (Rz. 48) gebunden sehen und entsprechende Anträge oder (auch versteckte) Anregungen unterlassen müssen1. Vor der Entscheidung muss ein (fachlich geeigneter) Sachverständiger gehört und dem Verteidiger Gelegenheit gegeben werden, zu dem Gutachten Stellung zu nehmen (§ 81 Abs. 1 StPO). Zur Vorbereitung der Stellungnahme muss deshalb rechtzeitig Akteneinsicht beantragt werden. Unter Umständen ist auch die mündliche Anhörung des Mandanten notwendig, am besten in Anwesenheit des Sachverständigen. Dieser muss den Beschuldigten ohnehin untersuchen und darf seine Gutachten nicht allein aufgrund des Akteninhalts oder telefonisch gewonnener Erkenntnisse abgeben2. Es ist Aufgabe des Verteidigers, auf tunliche Abkürzung der Unterbringung zu drängen. So ist nicht in jedem Falle die gesetzliche Höchstdauer von sechs Wochen erforderlich, obwohl sie in der Praxis oft gedankenlos hingenommen wird. Gegen Unterbringungsbeschlüsse ist sofortige Beschwerde einzulegen, die aufschiebende Wirkung hat (§ 81 Abs. 4 StPO) und auch gegen den Unterbringungsbeschluss des erkennenden Gerichts in der Hauptverhandlung statthaft ist. Die körperliche Untersuchung des Beschuldigten (§ 81a StPO) wird in 404 der Regel stattgefunden haben, wenn ein Verteidiger beauftragt wird. Das gilt insbesondere für die Entnahme einer Blutprobe in Verkehrsstrafsachen (Rz. 406). Ihre Verzögerung gefährdet in der Regel den Untersuchungserfolg und darf daher von den Ermittlungspersonen, also der Polizei anstelle des Richters angeordnet werden (§ 81a Abs. 2 StPO). Im Allgemeinen kann der Beschuldigte den Verteidiger vorher nur in den Fällen um Rat bitten, in denen ein ärztlicher Eingriff ernsterer Natur angeordnet wird, etwa die Hirnkammerfüllung (Enzephalographie) im Zusammenhang mit einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus3 (Rz. 402). Die Unterbringungsanordnung allein deckt den Eingriff noch nicht, die Voraussetzungen des § 81a StPO müssen gesondert beachtet werden4. Der Verteidiger muss den Mandanten darauf hinweisen, dass er nicht verpflichtet ist, bei seiner Untersuchung aktiv mitzuwirken. Der Beschuldigte braucht keine Fragen zu beantworten. Er hat die angeordnete Untersuchung lediglich zu dulden5. Freilich kommt es auf den Einzelfall an, ob diese Empfehlung richtig ist. Im Interesse des Mandanten kann es liegen, dem Arzt Aufklärung zu geben, z.B. über Erkrankungen in der Familie und eigene Krankheiten. Der Verteidiger 1 Vgl. dazu Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, S. 45 f. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 81 StPO Rz. 11 m.N.; Krause in Löwe/Rosenberg25, § 81 Rz. 17 m.N. 3 Oder andere invasive Untersuchungen und Eingriffe, vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 81a StPO Rz. 20. 4 BGH v. 8.7.1955 – 5 StR 233/55, BGHSt. 8, 144. 5 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 81a StPO Rz. 11.
275
Rz. 405
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
muss auch überlegen, ob er dem Beschuldigten nicht raten soll, sich einer Untersuchung freiwillig zu unterziehen. Dann erübrigt sich die behördliche Anordnung der Untersuchung. 405
Bei der Untersuchungsanordnung treten gelegentlich Verfahrensfehler auf, die nicht nur eine Anfechtung des Beschlusses mit der (einfachen) Beschwerde rechtfertigen, sofern nicht das erkennende Gericht die Untersuchung angeordnet hat1, sondern auch für die Frage bedeutsam sind, ob die Untersuchung für das weitere Verfahren verwertbar ist. So darf die Untersuchung nicht angeordnet werden, falls der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entgegensteht. Der Eingriff muss für das Verfahren erheblich und durch die Schwere des Tatverdachts begründet sein2. Die anordnende Behörde muss den Eingriff genau bezeichnen, er darf nicht dem ärztlichen Ermessen überlassen bleiben3. Der Verteidiger muss sich auch mit der Frage befassen, ob nicht nachteilige gesundheitliche Folgen zu befürchten sind, die den Eingriff unzulässig machen. Hierbei muss er sich ggf. mit dem neuesten Stand der ärztlichen Wissenschaft auseinandersetzen. So ist die Hirnkammerluftfüllung durch die (nicht invasiven) Möglichkeiten der Elektroencephalographie (EEG) und der Computertomographie (CT) überholt4. In jedem Falle ist vorher eine Äußerung des Sachverständigen herbeizuführen, welche zusätzlichen Erkenntnisse durch den Eingriff gewonnen werden können, der selbstverständlich nur durch einen Arzt vorgenommen werden darf5.
406
Das Problem der Verwertbarkeit stellt sich für den Verteidiger vor allem in Verkehrsstrafsachen bei der Entnahme einer Blutprobe, die im Bußgeldverfahren auch von der Verwaltungsbehörde angeordnet werden darf (§ 46 Abs. 4 OWiG). Er darf nicht verkennen, dass alkoholisierte Verkehrsteilnehmer mit Recht einer strengen Beurteilung unterliegen. Gerade deswegen hat aber der Betroffene Anspruch darauf, dass die Verfahrensregeln genau eingehalten werden. Der Verteidiger muss in solchen Fällen dem in den Akten befindlichen Protokoll über die Blutentnahme seine besondere Aufmerksamkeit widmen. Die Niederschrift weist manchmal formelle oder auch sachliche Fehler auf, die jedoch nur im Ausnahmefall die sachliche Verwertbarkeit im Prozess in Frage stellen sollen. Der schriftliche Untersuchungsbericht und das Ergebnis der Blutprobe dürfen nach § 256 Abs. 1 Nr. 3 und 1 StPO verlesen werden. Die Vernehmung der beteiligten Ärzte ist die Ausnahme, z.B. wenn es darum 1 Str. dazu Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 81a StPO Rz. 30 m.N.; Krause in Löwe/Rosenberg25, § 81a StPO Rz. 84 m.N. 2 BVerfG v. 10.6.1963 – 1 BvR 790/58, NJW 1963, 1597; BVerfG v. 14.11.1969 – 1 BvR 253/68, NJW 1970, 505. 3 OLG Celle v. 7.8.1956 – 1 Ws 290/56, MDR 1956, 695; BayObLG v. 1.8.1956 – BReg. 1 St 109/56, NJW 1957, 272. 4 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 81a StPO Rz. 20; Krause in Löwe/Rosenberg25, § 81 StPO Rz. 57. 5 BGH v. 17.3.1971 – 3 StR 189/70, BGHSt. 24, 125; zur Verwertbarkeit bei Rechtsverstößen i.Ü. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 81a StPO Rz. 32 m.N.
276
Andere vorlufige Maßnahmen
Rz. 410
geht, ob ohne Zustimmung des Beschuldigten nicht approbierte Ärzte, Pfleger oder Krankenschwestern die Blutprobe ohne Aufsicht eines approbierten Arztes entnommen haben sollen1. Was die Testübungen betrifft, so sollte der Verteidiger sein Augenmerk 407 darauf richten, ob nicht der Beschuldigte in unzulässiger Weise zu einer aktiven Mitwirkung gebracht worden ist, zu der er nicht verpflichtet ist. Der Beschuldigte darf sich nach entsprechender Belehrung (§ 163a Abs. 4 i.V.m. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO) freiwillig entscheiden, ob er die Fragen des Arztes beantworten und die Übungen ausführen will2. Indessen – auch daran sollte der Verteidiger denken – ist mit der Aufdeckung einschlägiger Fehler allein noch nicht viel gewonnen, weil zweifelhaft ist, ob sie die Verwertung des Untersuchungsergebnisses verbieten. Der Verteidiger sollte daher prüfen, ob nicht die Regeln des § 136a StPO zugunsten des Betroffenen eingreifen. Bei Unklarheiten, Widersprüchen und Divergenzen mit anderen Ermittlungsergebnissen muss der Arzt als sachverständiger Zeuge vernommen werden. Gelegentlich wird der Verteidiger befragt, ob erkennungsdienstliche Maß- 408 nahmen gegen den Beschuldigten zulässig sind. Sie sind grundsätzlich statthaft (§ 81b StPO), jedoch ist – wie stets – der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Der Anspruch des Beschuldigten auf Löschung oder Sperrung seiner personenbezogenen Daten richtet sich nach §§ 483 ff., 489 StPO. Der Polygraphentest („Lügendetektor“) kommt als körperliche Unter- 409 suchung nicht in Betracht, nachdem der BGH ihn – auch auf freiwilliger Basis – für unzulässig erklärt hat3. Die körperliche Untersuchung von Zeugen (§ 81c StPO) wirft für den 410 Verteidiger vor allem die Frage auf, ob das Untersuchungsergebnis verwertbar ist, auch wenn die Ermittlungspersonen die Voraussetzungen des Gesetzes nicht beachtet haben. Trotz fehlerhafter Durchführung der Untersuchung soll ihr Ergebnis dem Verfahren zugrunde gelegt werden können. Eine Ausnahme gilt indessen, wenn der Zeugnisverweigerungsberechtigte oder ggf. der gesetzliche Vertreter nicht über das Recht belehrt worden ist, die Untersuchung verweigern zu können. Fehlt die Belehrung, so darf das Ergebnis der Untersuchung nicht verwendet werden4. Dabei muss der Verteidiger wissen, dass die Belehrungspflicht auch besteht, wenn der Zeuge freiwillig in die Untersuchung einwilligt. Sie entfällt schließlich nicht, wenn es sich um eine freiwillige Untersuchung handelt, zu der der Zeuge nach § 81c StPO überhaupt nicht ver1 Dazu Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 81a StPO Rz. 19, 32b f. 2 BGH v. 9.4.1986 – 3 StR 551/85, BGHSt. 34, 39; Senge in KK, § 81a StPO Rz. 4. 3 BGH v. 17.12.1998 – 1 StR 156/98, BGHSt. 44, 308; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 136a StPO Rz. 24. 4 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 81c StPO Rz. 24; BGH v. 8.12.1958 – GSSt 3/58, BGHSt. 12, 235; BGH, StV 1993, 463.
277
Rz. 411
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
pflichtet ist, z.B. einer Untersuchung auf seine Glaubwürdigkeit1. Die Frage der Zumutbarkeit der Untersuchung ist in jedem Fall zu prüfen (§ 81c Abs. 4 StPO). e) „Genetischer Fingerabdruck“ (DNA-Analyse) Literatur: Benfer, Zur Rechtmäßigkeit von Blutprobeentnahmen bei Reihenuntersuchungen im Ermittlungsverfahren, NStZ 1997, 397; Busch, Die Zulässigkeit molekulargenetischer Reihenuntersuchungen, NJW 2001, 1335; Busch, Einwilligung in die DNA-Analyse als Ersatz der richterlichen Anordnung?, StraFo 2002, 46; Busch, Die Speicherung von DNA-Identifizierungsmustern in der DNA-AnalyseDatei, NJW 2002, 1754; Endriß/Kinzig, Betäubungsmittel und DNA-Analyse, NStZ 2001, 299; Fischer/Sprenger, Zur Erforderlichkeit der richterlichen Anordnung von DNA-Analysen, NJW 1999, 1830; Keller, Die Genomanalyse im Strafverfahren, NJW 1989, 2289; Krieglstein, Der genetische Fingerabdruck zur Personenidentifizierung im Strafverfahren, 1994; Rackow, Rechtsprobleme bei der Ausweitung der DNA-Analyse, Kriminalistik 2003, 476; Schneider/Rittner, Genprofile von Sexualstraftätern, ZRP 1998, 64; Taschke/Breidenstein, Die Genomanalyse im Strafverfahren, 1995; Vogt, Anm. zu BGH, Urt. v. 12.8.1992 – 5 StR 239/92, StV 1993, 175; Volk, E., DNA-Identitätsfeststellungsgesetz, NStZ 2002, 561. Vgl. im Übrigen die umfangreichen Nachweise und Erläuterungen bei Krause in Löwe/Rosenberg[25], § 81a StPO.
411
Die molekulargenetische Untersuchung (DNA-Analyse) betrifft die Untersuchung von Körpermaterial, das nach § 81a Abs. 1 StPO (Rz. 404) gewonnen worden ist. Dabei wird aufgefundenes Körpermaterial des Tatopfers oder eines anderen „Spurenlegers“ (z.B. Blut, Sputum, Haar, Sperma, Hautfetzen u.a.) genetisch analysiert und mit der genetischen Struktur vergleichbaren Materials des Beschuldigten und/oder Dritter verglichen (z.B. Verdächtige, Zeugen, Unverdächtige). Die Methode dient der Identifizierung von Personen, die mit einem Tatopfer oder Gegenständen in Kontakt genommen sind oder sich an einem verfahrensrelevanten Ort aufgehalten haben2. Die Ergebnisse der DNA-Analyse haben für die Beweisführung einen zwar hohen, aber keinen absoluten Beweiswert3. Sie machen die Beweisaufnahme und die umfassende Würdigung ihrer Ergebnisse nicht überflüssig4. Für den Verteidiger wichtig ist der Umstand, dass ein Beweisantrag (Rz. 648 ff.) auf Durchführung einer DNA-Analyse zur Entlastung des Beschuldigten in der Regel nicht abgelehnt werden darf5. Ist Spurenmaterial vorhanden oder Vergleichsmaterial zu beschaffen, so gebietet schon die Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO die Durchführung der Untersuchung6. 1 BGH v. 29.6.1989 – 4 StR 201/89, BGHSt. 36, 217; jedoch nur für Zeugen, die ein Verweigerungsrecht haben. 2 So etwa steht es in § 81e StPO. 3 So schon BGH v. 12.8.1992 – 5 StR 239/92, BGHSt. 38, 320 (LS); Vogt, StV 1993, 175. 4 BGH v. 27.7.1994 – 3 StR 225/94, NStZ 1994, 554. 5 BGH v. 3.7.1990 – 1 StR 340/90, NJW 1990, 2328. 6 BGH v. 25.4.1991 – 4 StR 582/90, NStZ 1991, 399.
278
Andere vorlufige Maßnahmen
Rz. 411
Wegen ihres hohen Beweiswertes ist die DNA-Analyse für die Verteidigung Chance und Risiko zugleich. Dies erfordert eine umfassende und sorgfältige Aufklärung des Mandanten, bevor entsprechende Verteidigeraktivitäten entfaltet werden. Gegen eine von den Ermittlungsbehörden oder dem Gericht angeordnete Maßnahme, deren Durchführung auf § 81a Abs. 1 oder § 81c StPO beruht, bestehen allerdings nur geringe Verteidigungschancen (Rz. 404 f.). Umso mehr muss der Verteidiger das Zustandekommen der Anordnung rechtlich und des Analyseergebnisses in der Sache kritisch hinterfragen. Seine Prüfung muss sich dabei zunächst auf die Gewinnung des Materials vom Tatopfer, Tatort u.a. beziehen, sodann auf die Behandlung des Materials in der Folgezeit und schließlich auf die Durchführung der Analyse. Wenn bei der Verfolgung besonders schwerwiegender oder öffentlichen Abscheu erregender Straftaten, z.B. Sexualstraftaten (an Kindern) mit Tötung des Opfers, sog. „Massentests“ durchgeführt werden, z.B. die gesamte männliche Bevölkerung des Ortes einer bestimmten Altersgruppe oder ähnlicher Gruppen aufgefordert sind, „freiwillig“ Testmaterial zur Verfügung zu stellen, müssen Fehler bei der Materialgewinnung und Verwechslungen ausgeschlossen sein, was der Verteidiger ggf. kritisch nachprüfen muss. Die Erfüllung dieser Aufgabe setzt eine Einarbeitung in die Materie voraus, die mit Hilfe des Schrifttums, durch Einholung von Auskünften entsprechender (rechtsmedizinischer) Institute, Befragung von Sachverständigen oder Teilnahme an Fachveranstaltungen erfolgen kann. Wird durch Ermittlungsbehörden, insbesondere die Polizei, zur freiwilligen Teilnahme an Massentests aufgerufen, so begründet die Verweigerung der Teilnahme zwar keinen Anfangsverdacht im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO; es muss aber damit gerechnet werden, dass die Polizei gleichwohl den Testverweigerern ihr besonderes Augenmerk widmen und sie als Zeugen über ihr Alibi zur Tatzeit u.a. vorladen wird. Aus der Sicht der Praxis ist der Testverweigerer nur noch „hauchdünn“ vom Anfangsverdacht entfernt. Vor diesem Hintergrund könnte man bezweifeln, ob die Aufforderung von Ermittlungsbehörden an einen großen unverdächtigen Personenkreis, sich „freiwillig“ dem DNA-Test zu unterwerfen, mit dem Geist eines rechtsstaatlichen Verfahrens in Einklang zu bringen ist. Andererseits kann gerade der Verteidiger in die Lage kommen, im Interesse seines Klienten die Durchführung solcher „Massentests“ zu beantragen und an dessen Verweigerung durch Einzelpersonen Verdachtsgründe zu knüpfen. So erweist sich die DNA-Analyse auch unter diesem Aspekt als ein durchaus zweischneidiges Schwert. Zur Durchführung der Materialgewinnung von Beschuldigten oder anderen Personen ist auf die Ausführungen des § 81a StPO (Rz. 494) und das Gesetz zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse (2005) zu verweisen.
279
Rz. 412
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
f) Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis Literatur: Freyschmidt, Verteidigung in Straßenverkehrssachen, 9. Aufl. 2009; Gillmeister/Rode in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 940 ff.; Hentschel, Trunkenheit, Fahrerlaubnisentziehung, Fahrverbot im Strafund OWi-Recht, 9. Aufl. 2003; Himmelreich/Janker/Karbach, Fahrverbot, Fahrerlaubnisentzug und MPU-Begutachtung im Verkehrsverwaltungsrecht, 8. Aufl. 2007; Lenhard, Das Erfordernis tatrichterlicher Feststellungen über die Eignung im Hinblick auf Anordnung einer MPU durch die Fahrerlaubnisbehörde – Bindungswirkung, DAR 2002, 203; Matt in Bockemühl, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 5. Aufl. 2012, S. 501 ff.
412
Im Verfahren der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) sieht sich der Verteidiger ähnlichen Problemen gegenüber wie bei der Verhaftung des Beschuldigten (Rz. 337 ff.). Er muss prüfen, ob der Beschluss, der die Fahrerlaubnis vorläufig entzieht, auf dem Verdacht einer strafbaren Handlung und auf dringenden Gründen dafür beruht, dass die Fahrerlaubnis endgültig entzogen werden wird. Das ist nichts anderes als der dringende Tatverdacht, bezogen auf die Voraussetzungen des § 69 StGB1. Daher ist es Pflicht des Verteidigers, die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis auch in der Richtung zu prüfen, ob nach der Tat und nach der Persönlichkeit des Beschuldigten mit der Entziehung im Urteil zu rechnen ist. Hier hat er insbesondere darauf zu achten, dass die Gerichte nicht schematisch und formularmäßig vorgehen. Die Praxis der Verkehrsgerichte neigt in besonderem Maße zur Vereinfachung. Das ist begreiflich, weil sie sonst die Masse der Verfahren nicht bewältigen könnte. Gerade darum ist es Aufgabe des Verteidigers, sorgfältig abzuwägen, ob der ihm anvertraute Einzelfall eine solche Behandlung verträgt. Kommt er zu der Überzeugung, dass das Individualinteresse gegenüber dem Schutz der Allgemeinheit vor weiterer Gefährdung nicht genügend berücksichtigt ist, so muss er sich für die Rückgabe des Führerscheins schon vor Abschluss des Verfahrens einsetzen, ggf. ist auch die Beschränkung der vorläufigen Entziehung auf bestimmte Fahrzeugarten zu erreichen (§ 111a Abs. 1 S. 2 StPO), z.B. bei einem Landwirt.
413
Der Verteidiger muss allerdings berücksichtigen, dass es in vielen Fällen nicht zweckmäßig ist, eine richterliche Entscheidung nach § 111a StPO herbeizuführen oder gegen einen solchen Beschluss Beschwerde einzulegen. Der Betroffene kann zwar bei polizeilicher Wegnahme des Führerscheins richterliche Entscheidung beantragen (§ 98 Abs. 2 S. 2 StPO), an deren Stelle die Beschlussfassung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis tritt (§ 111a Abs. 4 StPO), die wiederum mit der Beschwerde anfechtbar ist. Wie im Haftrecht (Rz. 354) darf der Verteidiger aber nicht übersehen, dass die Ausnutzung der Rechtsbehelfe zu einer häufig beträchtlichen Verzögerung des Verfahrens führt. Darauf hat er den Auftraggeber hinzuweisen, der verständlicherweise auf frühzeitige Rückgabe 1 Vgl. dazu i.E. die Kommentierung von Fischer, StGB, und das dort angef. Schrifttum.
280
Andere vorlufige Maßnahmen
Rz. 415
des Führerscheins drängt. Steht fest, dass mit der endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis gerechnet werden muss, sollte der Antrag auf richterliche Entscheidung unterbleiben. Auch kann der Verzicht auf solche Anträge im Endergebnis bei der Bemessung der Sperrfrist honoriert werden. Ein richtiges Urteil kann der Verteidiger sich hier nur bilden, wenn er sich im Falle der Trunkenheitsfahrt frühzeitig Aufschluss über das Ergebnis der Blutprobe (Rz. 406) verschafft. Im Allgemeinen gibt die Polizei dem Verteidiger oder dem Betroffenen Auskunft über den festgestellten Alkoholgehalt. Überhaupt sollte der Verteidiger in Fällen der vorläufigen Entziehung und der bloßen Wegnahme des Führerscheins auf das Zeitmoment sein besonderes Augenmerk richten. Für den Beschuldigten, der auf die Fahrerlaubnis angewiesen ist, kann es eine Frage der Existenz sein, wann er den Führerschein wieder in der Hand hat. Deshalb ist die Aufhebung der vorläufigen Entziehung zu beantragen und notfalls im Beschwerdeweg durchzusetzen, wenn sich das Verfahren ungebührlich hinauszögert1. Die vorläufige Entziehung hat die Wirkung einer Beschlagnahme. Dies gilt auch für die EU-Fahrerlaubnis eines Betroffenen mit inländischem Wohnsitz (§ 111a Abs. 3 StPO). Der Verteidiger hat im Falle der Verurteilung auch auf die Anrechnung 414 der Zeit zu achten, in der der Beschuldigte tatsächlich schon ohne Führerschein war (§ 69a Abs. 4 und 6 StGB). Er hat auch rechtzeitig alle Umstände zu sammeln und dem Gericht vorzutragen, die dafür sprechen, die Mindestsperrfrist bis auf drei Monate abzukürzen (§ 69a Abs. 4–6 StGB). Besteht Aussicht, die Zeit der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis annähernd auf das Mindestmaß von drei Monaten herabzusetzen, so darf der Verteidiger die Chance nicht außer Acht lassen, die das Fahrverbot gewährt (§ 44 StGB). Ist das Gericht erkennbar bereit, die Sperrfrist für die Entziehung auf drei Monate oder nur wenig darüber festzusetzen, so lassen sich im Allgemeinen auch gute Argumente finden, statt der Entziehung der Fahrerlaubnis nur den Denkzettel des Fahrverbots von ein bis drei Monaten zu verhängen. Für den Betroffenen hat das Fahrverbot den Vorteil, dass der Führerschein lediglich in Verwahrung genommen wird; er braucht nach Fristablauf keine neue Fahrerlaubnis bei der Verwaltungsbehörde zu beantragen. Es kommt hinzu, dass bei Entziehung der Fahrerlaubnis wegen des eige- 415 nen Prüfungsrechts der Verkehrsbehörde diese gravierende Bedingungen auferlegen kann, z.B. Einholung eines MPU-Gutachtens, ärztliche Prüfung der Fahrtauglichkeit oder Wiederholung der Fahrprüfung. Besonders bei älteren oder sonst nicht mehr ganz „sattelfesten“ Klienten sollte der Verteidiger deshalb in Fällen der Verhängung des Fahrverbots statt der Entziehung der Fahrerlaubnis versuchen, in der Hauptverhandlung den Wegfall der Ungeeignetheit des Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen unter Beweis zu stellen, um das Gericht dazu zu bewegen, in den 1 G. Schäfer in Löwe/Rosenberg25, § 111a StPO Rz. 65.
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Rz. 416
Der Verteidiger im Ermittlungsverfahren
Urteilsgründen klar zum Ausdruck zu bringen, dass es aufgrund einer eigenständigen abschließenden Beurteilung den Betroffenen nunmehr wieder für geeignet hält, ein Kraftfahrzeug zu führen. Dann kann die Verkehrsbehörde nämlich denselben Sachverhalt, der bereits Gegenstand des Strafverfahrens war, nicht erneut zum Anlass für eine Eignungsuntersuchung (MPU) nehmen. Das strafgerichtliche Urteil entfaltet dann gegenüber der Fahrerlaubnisbehörde Bindungswirkung1. 416
Der Verteidiger muss dem Mandanten raten, den Führerschein unmittelbar nach Rechtskraft des Fahrverbotes bei der Vollstreckungsbehörde abzuliefern und nicht auf die Wegnahme zu warten. Denn die Verbotsfrist läuft erst ab Verwahrung des Führerscheins (§ 44 Abs. 3 S. 1 StGB), worüber der Richter den Angeklagten zu belehren hat (§ 268c StPO). Bei Rücknahme des Einspruchs gegen einen entsprechenden Bußgeldbescheid empfiehlt sich die gleichzeitige Übersendung des Führerscheins. Das „timing“ dieser Prozesshandlung kann dann auch auf die individuellen Bedürfnisse des Mandanten ausgerichtet werden, z.B. Urlaubs- und andere Abwesenheiten. Im Übrigen ist auf die Sondervorschrift des § 25 Abs. 2a StVG zu achten. In diesem Zusammenhang ist auch daran zu denken, dass auf die Dauer des Fahrverbots ebenfalls die Zeit der vorläufigen Entziehung und der Wegnahme des Führerscheins anzurechnen ist (§ 51 Abs. 5 StGB). Diese Grundsätze hat der Verteidiger auch zu beachten, wenn die Verwaltungsbehörde wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit ein Fahrverbot verhängt.
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Der Verteidiger muss für die unverzügliche Aushändigung des beschlagnahmten Führerscheins sorgen, wenn das Gericht im vorbereitenden Verfahren die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ablehnt (§ 111a Abs. 5 S. 1 StPO) oder seinen Beschluss in der Hauptverhandlung aufhebt. Ist die Hauptverhandlung abgeschlossen, so empfiehlt es sich, die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis zu überprüfen, wenn das Urteil, das auf Entziehung lautet, nicht sofort rechtskräftig wird. Berufungs- und Revisionsgericht können die von der Vorinstanz angeordnete vorläufige Maßnahme aufheben, wenn nach ihrer Beurteilung der Eignungsmangel entfallen ist. Bloßer Zeitablauf genügt dafür aber nicht2.
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Je nach Lage des Falles kann die Zeit der vorläufigen Entziehung des Führerscheins zur Teilnahme an einem Nachschulungskurs u.a. für alkoholauffällige Kraftfahrer genutzt werden3. Dadurch kann in Verbindung mit anderen Umständen unter Umständen die endgültige Entziehung vermieden oder die Sperrfrist verkürzt werden.
1 BVerwG v. 15.7.1988 – 7 C 46/87, VRS 1975, 379 (384); Lenhard, DAR 2002, 302. 2 H.M. Fischer, § 69a StGB Rz. 3 m.N. 3 Dazu Fischer, § 69 StGB Rz. 36, 44 m.N.
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Verteidigungschancen
Rz. 421
Übersieht der Verteidiger eine Möglichkeit, dem Betroffenen den Führer- 419 schein alsbald wieder zu verschaffen, so setzt er sich der Gefahr des Regresses aus. Deshalb muss er in Verkehrsstrafsachen stets im Auge behalten, ob nicht Verjährung eingetreten ist oder ein anderes Verfahrenshindernis besteht. Die Pflicht des Staatsanwalts und des Richters, auf Mängel des Verfahrens zu achten, soll den Verteidiger nicht entlasten können1. Diese Ansicht darf der Verteidiger nicht unwidersprochen lassen, wenn er seinerseits alles getan hat, was zur ordentlichen Interessenwahrnehmung notwendig ist. Erweist sich eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis später als ungerechtfertigt, hat der Verteidiger die Möglichkeit eines Entschädigungsanspruches nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 StrEG (Rz. 372 ff.) zu prüfen.
II. Der Verteidiger im Zwischenverfahren Literatur: Beulke, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2004, Rz. 352 ff.; Hamm, Die Verteidigungsschrift im Verfahren bis zur Hauptverhandlung, StV 1982, 490; Hamm in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 281 ff.; Kempf, Münchener Handbuch Strafverteidigung, § 6; Koch, K., Das Zwischenverfahren im Strafprozess – Mauerblümchen oder verborgener Schatz?, StV 2002, 222; Krekeler, Das Zwischenverfahren in Wirtschaftsstrafsachen aus der Sicht der Verteidigung, wistra 1985, 54; Rath, Zum Begriff der Verhandlungsunfähigkeit im Strafverfahren, GA 1997, 214; Schäfer, G., Die Praxis des Strafverfahrens, 7. Aufl. 2011, S. 275 ff.; Schlothauer, Vorbereitung der Hauptverhandlung, 2. Aufl. 1998; Traut/Nickolaus, Ist es (wieder) Zeit für Trennung zwischen Eröffnungs- und Tatsachenrichter?, StraFo 2012, 51; Welp, Die Gestellung des verhandlungsunfähigen Angeklagten, JR 1991, 265.
1. Verteidigungschancen Mit der Erhebung der öffentlichen Klage beantragt die Staatsanwaltschaft 420 die Eröffnung des Hauptverfahrens bei Gericht. Die Anklageschrift wird dem Angeschuldigten (oder dem Verteidiger – § 145a StPO) mit einer Erklärungsfrist zugestellt. Der Verteidiger (bzw. der Angeschuldigte) erhält eine Abschrift. Das Verfahren kommt damit in einen entscheidenden Abschnitt. Deshalb wird auch in der Mehrzahl der Fälle der Verteidiger erst jetzt beauftragt. Das Gericht darf die Anklage nur zulassen und das Hauptverfahren eröffnen, wenn der Angeklagte „hinreichend verdächtig“ ist (§ 203 StPO). Nach allen praktischen Erfahrungen ist die Ablehnung der Verfahrens- 421 eröffnung nur selten zu erreichen. Oft werden die Eröffnungsbeschlüsse als Entwurf der Geschäftsstelle gleich mit den erforderlichen Abschriften entsprechend dem Text der Anklage dem Gericht vorgelegt und zum großen Teil fast schematisch unterschrieben. In Sachen von großer Bedeutung wird sorgfältiger geprüft, umso mehr als das Gericht sich mit der 1 BGH v. 17.9.1964 – III ZR 215/63, NJW 1964, 2402.
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Rz. 421
Der Verteidiger im Zwischenverfahren
Ablehnung eine Hauptverhandlung ersparen kann. Andererseits zwingt die Ablehnung zu einer sorgfältigen Begründung des Beschlusses, der von der Staatsanwaltschaft mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden kann und in der Regel auch wird. Das ist einer der Gründe für manche nicht gerechtfertigte Eröffnung. Ein weiterer Grund ist die Rücksichtnahme auf Beteiligte oder das Interesse der Öffentlichkeit. So wird besonders bei tödlichen Unfällen fast immer eröffnet. Erst recht geschieht dies in großen Sachen, die publizistisch schon ausgebreitet und „beurteilt“ sind oder die erhebliches politisches oder sonstiges „Interesse der Öffentlichkeit“ berühren oder prominente Persönlichkeiten oder Unternehmen betreffen. Solche Gesichtspunkte zu berücksichtigen ist unzulässig und gesetzwidrig, weil sie für den hinreichenden Tatverdacht – und nur darauf kommt es an – nichts besagen. Es gelten hier die gleichen Grundsätze, die auch für den Staatsanwalt bei der Entscheidung über die Anklageerhebung maßgeblich zu sein haben (z.B. Rz. 325). Die Richter behaupten daher auch immer, dass sie sich durch solche sachfremden Umstände nicht beeinflussen lassen. Der Verteidiger sollte dennoch deren tatsächliches Gewicht nicht unterschätzen; er würde oft enttäuscht werden. In dieser Situation steht der Verteidiger anderseits unter dem starken Druck des Mandanten, der alles zur Vermeidung der ihn kompromittierenden Hauptverhandlung eingesetzt wissen will. Mit Recht fürchtet er seine öffentliche Diffamierung durch die Medien, die Folgen für seinen Beruf (Suspendierung!) und für sein Ansehen im Freundes- und Familienkreis. Sie können bedeuten, dass er schon ein „Hingerichteter“ ist, wenn die Verhandlung beginnt. Selbst ein Freispruch kann das nicht wieder ausgleichen. Dies sehen Richter leider häufig nicht ein, wenn sie einem darlegen, bei Ablehnung der Eröffnung bestehe das Risiko, dass das Beschwerdegericht anders entscheide und deshalb sei „es für den Angeklagten doch besser, wenn er ggf. gleich freigesprochen werde“. Der Verteidiger steht in dieser Situation in einem Dilemma, das in allen nun zu treffenden Entscheidungen sich auswirken muss. Insbesondere geht es darum, ob er jetzt bereits sein gesamtes Verteidigungsvorbringen ausbreiten oder es für die Hauptverhandlung zurückhalten soll (vgl. darüber im Einzelnen Rz. 435 ff.). Die Entscheidung wird wesentlich davon abhängen, ob das Verteidigungsvorbringen aus Sicht des Verteidigers geeignet erscheint, die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen. Es kommt vor, dass das rechtliche Gehör nach § 201 StPO nicht gewährt wird, z.B. wenn das Gericht entscheidet, ohne die Frist zur Äußerung abzuwarten. Der Verteidiger kann dann versuchen, im Wege der Nachholung des rechtlichen Gehörs (§ 33a StPO) Einwendungen gegen die Zulassung der Anklage zu erheben, um eine Aufhebung des Eröffnungsbeschlusses zu erreichen. Die Aussichten sind verschwindend gering. Wird über die Eröffnung nicht sofort nach Ablauf der Äußerungsfrist entschieden, kann der Verteidiger auch nach Fristablauf noch Einwendungen vorbringen. Das ist besonders wichtig, wenn der Mandant ihn zu 284
Einwendungen gegen die Erçffnung
Rz. 422
spät, oft erst nach Zustellung der Anklage und Ablauf der Erklärungsfrist beauftragt. In diesem Fall kann er beantragen, die Entscheidung über die Eröffnung bis zum Eingang seiner Stellungnahme zurückzustellen. Einen Anspruch darauf hat der Verteidiger jedoch nicht. Der Verteidiger sollte seine Überlegungen im Zwischenverfahren nicht nur auf das Ziel der vollständigen Zurückweisung der Anklage in der Sache beschränken. Es gibt eine Reihe von „Zwischenzielen“ und Teilerfolgen, für die das Zwischenverfahren durchaus Chancen bietet (Rz. 328 ff., 435 ff.). Er muss allerdings auch bedenken, dass er sich schon in einem Vorstadium des Hauptverfahrens befindet und deshalb die Bezüge und Auswirkungen seiner Aktivitäten auf die Vorbereitung der Hauptverhandlung (§§ 213 ff. StPO) und deren Durchführung im Auge haben. Insbesondere muss abgewogen werden, ob und welche Verteidigungsmaßnahme vor oder nach der Zulassungs- und Eröffnungsentscheidung größere Erfolgschancen bietet1. Insoweit ergibt sich bei sorgfältiger Prüfung der Sache und geschicktem Vorgehen doch manche Chance. 2. Einwendungen gegen die Eröffnung a) Gründe Die Zweckmäßigkeit von Einwendungen hängt wesentlich von ihrem 422 prozessualen Gewicht ab. Man kann es erst richtig abschätzen, wenn man alle rechtlichen Möglichkeiten sorgfältig durchgeprüft hat. Nachstehend werden nur die wesentlichen Fälle behandelt. Vorab sollten die Prozessvoraussetzungen beachtet werden. Wenn eine solche fehlt oder ein Prozesshindernis besteht, lässt sich im Allgemeinen die Einstellung des Verfahrens bereits vor der Hauptverhandlung durch Beschluss erreichen (§§ 205, 206a, 206b, 209 StPO). Der Vorteil liegt auf der Hand: Dem Auftraggeber wird die oft peinliche Hauptverhandlung erspart, das Verfahren wird schneller und billiger beendet, vorläufige Maßnahmen werden hinfällig. Der Verteidiger muss auch bedenken, dass die vorsätzliche oder auch nur fahrlässige Nichtbeachtung von Verfahrenshindernissen ihn in Schwierigkeiten bringen kann (Rz. 8, 246, 430)2. Andererseits ist auch zu beachten, dass die Einstellung ein Scheinerfolg sein kann, dann nämlich, wenn der Einstellungsgrund einem neuen Strafverfahren nicht entgegensteht (Beispiele: die Frist für den bisher fehlenden Strafantrag ist noch nicht abgelaufen [Rz. 427]; Fehler der Anklageschrift und des Eröffnungsbeschlusses werden im neuen Verfahren vermieden [Rz. 423]). Der Verteidiger muss sich also genau ansehen, ob es im Interesse des Auftraggebers liegt, ein zweites Verfahren in Kauf zu nehmen. Dabei ist auch auf die Verjährungsfrage zu achten, insbesondere § 78c Abs. 3 StGB – absolute Verjährung.
1 BGH v. 17.9.1964 – III ZR 215/63, NJW 1964, 2402. 2 BGH v. 17.9.1964 – III ZR 215/63, NJW 1964, 2402.
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Rz. 423
423
Der Verteidiger im Zwischenverfahren
Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss sind daraufhin zu prüfen, ob sie nach Form und Inhalt wesentliche Mängel aufweisen1. Fehler der Anklageschrift kehren im Eröffnungsbeschluss häufig wieder. Früher wurden Teile der Anklageschrift kurzerhand eingeklammert und auf diese Weise in den Eröffnungsbeschluss übernommen. Heute wird „die Anklage der Staatsanwaltschaft in X vom […] zugelassen!“ (§ 207 StPO). Eine Begründung ist nicht vorgeschrieben und nicht üblich. Es kann aber im Interesse der Verteidigung sein, dass das Gericht die Vorläufigkeit seiner Beurteilung in einer Kurzbegründung zum Ausdruck bringt. Im Übrigen gilt der Satz: Mängel der zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage sind zugleich Mängel des Eröffnungsbeschlusses2. Freilich muss sich der Verteidiger darüber klar sein, dass nicht jeder Fehler des Zulassungsbeschlusses bzw. der Anklage zur Einstellung des Verfahrens führt. So wird die Ansicht vertreten, die Einstellung komme nur in Betracht, wenn sich aus der Anklageschrift unter Hinzuziehung des Akteninhalts der Anklagevorwurf nicht hinreichend bestimmbar entnehmen lasse3 oder sonst funktionale Mängel vorliegen4. Unklarheiten des Eröffnungsbeschlusses über Art und Umfang des Schuldvorwurfs5 darf der Verteidiger grundsätzlich nicht durchgehen lassen; er weiß sonst häufig gar nicht genau, gegen welche Beschuldigung er den Beschuldigten verteidigen soll. Indessen gilt auch hier die Erfahrung, dass dem Mandanten mit einem zweiten Verfahren nicht immer gedient ist. Man weiß kaum einmal genau, ob die zweite Anklageschrift günstiger ausfällt. Der Verteidiger muss überhaupt bedenken, dass eine berechtigte Beanstandung der Anklage in der Regel nur dazu führen wird, dass das Gericht deren Beseitigung veranlasst. Damit wird ein erst wahrscheinlicher Fehler des Eröffnungsbeschlusses ausgeschaltet, der das künftige Urteil noch in der Revisionsinstanz zu Fall bringen könnte. Dass der den Fehler jetzt nicht beanstandende Verteidiger damit sein Rügerecht verwirken würde (Rz. 791), ist nicht anzunehmen.
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Der Verbrauch der Strafklage6 bedarf vor allem der Prüfung, wenn wegen desselben Vorgangs bereits eine Verurteilung erfolgt ist, z.B. nach rechtskräftiger Verurteilung wegen Volltrunkenheit (§ 323a StGB), nunmehr wegen in diesem Zustand begangener Straftaten (evtl. bei einem anderen Gericht) gesondert Anklage erhoben wird. Auch ein rechtskräftiger Strafbefehl führt nach § 410 Abs. 3 StPO zum uneingeschränkten Strafklageverbrauch. Dagegen wird durch einen Bußgeldbescheid die Strafklage nicht immer verbraucht (§ 84 OWiG). 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 200 StPO Rz. 25 ff.; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 207 StPO Rz. 11. 2 Schneider in KK, § 207 StPO Rz. 16. 3 BGH v. 14.6.1993 – 4 StR 288/93, BGHR StPO § 200 Abs. 1 S. 1 Anklagesatz 4. 4 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 200 StPO Rz. 26 m. Beisp. 5 BGH v. 19.5.1961 – 1 StR 521/60, NJW 1961, 1366. 6 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. StPO Rz. 171 ff.
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Einwendungen gegen die Erçffnung
Rz. 426
Der Verteidiger muss sich ggf. über die Verhandlungsfähigkeit des Ange- 425 klagten Gedanken machen. Fehlt sie, so kann die vorläufige (§ 205 StPO) oder auch die dauernde Einstellung des Verfahrens (§ 206a StPO) erreicht werden1. Hier trägt der Verteidiger eine besondere Verantwortung. Der Mandant kann häufig selbst nicht beurteilen, welche physische und psychische Kraft die Hauptverhandlung erfordert. Man macht immer wieder die Erfahrung, dass sich gesundheitlich anfällige Mandanten zu viel zutrauen und dann der Hauptverhandlung bei bestem Willen nicht gewachsen sind. Befindet sich der Beschuldigte gar längere Zeit in Untersuchungshaft, so kann seine Widerstandskraft vollends geschwächt sein (Rz. 337). Bei aller Fürsorge für den Mandanten darf sich der Verteidiger aber nicht vorspannen lassen. Manche Beschuldigte fliehen bewusst oder unbewusst in eine Krankheit, weil sie die Hauptverhandlung fürchten. Das ist nicht immer leicht zu erkennen. Noch schwieriger ist es, solchen Auftraggebern klarzumachen, dass der Verteidiger nicht dazu da ist, unberechtigten Wünschen Vorschub zu leisten, etwa um Zeit zu gewinnen (Rz. 63). Der Verteidiger muss solchen Mandanten erklären, dass nur schwere seelische und körperliche Erkrankungen die Verhandlungsfähigkeit ausschließen2 und dies sehr kritisch geprüft wird. Die Grenze liegt dort, wo der Beschuldigte nicht mehr in der Lage ist, in vernünftiger Weise seine Interessen zu wahren und seine Verteidigung zu führen3 oder wo ihn die Hauptverhandlung gesundheitlich schwer gefährdet4. Es genügt nicht, dass der Mandant „der Verhandlung folgen kann“ in dem Sinne, dass er hört und aufnimmt, was vor ihm abläuft. Er muss auch in der Lage sein, das was er hört und sieht, intellektuell rasch zu verarbeiten, auf seine Relevanz für das Verfahren und seine Verteidigung zu prüfen und mit zielgerichteten, überlegten Aktivitäten zu erwidern oder solche an seinen Verteidiger heranzutragen. Dazu gehört auch, dass er in der Lage war, rechtzeitig vor der Verhandlung die Akten zu lesen und auszuwerten (Art. 6 Abs. IIIa) MRK). Diese richtig verstandene Verhandlungsfähigkeit wird von Richtern nicht selten verkannt. Fehler können noch in der Revision Bedeutung gewinnen. In Zweifelsfällen empfiehlt es sich, eine ärztliche Begutachtung herbei- 426 zuführen. Allerdings werden häufig ärztliche Atteste, auch von Fachärzten, vorgelegt, deren Standfestigkeit bei der zu erwartenden Überprüfung durch den Amtsarzt, den „Gerichtsarzt“ oder anderer Gutachter zweifelhaft ist. Bleibt der Mandant wegen Krankheit aus, so muss mit der Anordnung amtsärztlicher Untersuchung gerechnet werden. Es ist keineswegs sicher, dass die Hauptverhandlung „platzt“. Wenn das Gericht das 1 BGH v. 9.12.1988 – 2 StR 164/88, StV 1989, 239; OLG Frankfurt v. 18.11.1968 – 3 Ws 480/68, NJW 1969, 570; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 205 StPO Rz. 1 ff.; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. StPO Rz. 97 f. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. StPO Rz. 97. 3 OLG Hamm, NJW 1974, 1894. 4 „Schwerwiegender Schaden an der Gesundheit“, BGH v. 14.4.1992 – 1 StR 68/92, StV 1992, 553 unter Berufung auf BVerfG v. 19.6.1979 – 2 BvR 1060/78, NJW 1979, 2349.
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Rz. 427
Der Verteidiger im Zwischenverfahren
Attest als nicht genügend ansieht, kann der Mandant entgegen seiner Erwartung verhaftet werden (Vorführungs- oder Haftbefehl, § 236 StPO; Rz. 483), besonders wenn er sich wegen angeblicher Erkrankung nach auswärts oder sogar ins Ausland begeben hat (Rz. 65). Unter bestimmten Voraussetzungen kann auch ohne ihn verhandelt werden (§ 232 StPO). Das Problem der Verhandlungsunfähigkeit, vor allem in komplizierten, lang dauernden Verhandlungen, ist ein weites Feld, in dem zwar viel vorgespiegelt, aber auch nicht selten die Sache zu hart „durchgezogen“ wird. Hat der Angeklagte seine Verhandlungsunfähigkeit vorsätzlich und schuldhaft herbeigeführt, so kann das Gericht unter bestimmten Voraussetzungen (§ 231a StPO) ohne ihn verhandeln (Rz. 483). Angesichts der möglicherweise schwerwiegenden, oft nicht wiedergutzumachenden Nachteile für die Verteidigung des Angeklagten muss der Verteidiger sehr kritisch prüfen, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Abwesenheitsverhandlung erwiesen und die rechtlichen Bedingungen gegeben sind. Das gilt insbesondere für die Frage, ob die Anwesenheit des Mandanten „unerlässlich“ ist. Die Verletzung des § 231a StPO soll wegen der in § 231a Abs. 3 S. 3 StPO eröffneten sofortigen Beschwerde nicht die Revision begründen. Will aber der Beschuldigte die Hauptverhandlung hinter sich bringen, so sollte der Verteidiger das Gericht über den Gesundheitszustand des Mandanten vor Beginn der Hauptverhandlung unterrichten. Auch muss er in diesen Fällen im Verlaufe der Hauptverhandlung darauf achten, in welcher Verfassung sich der Auftraggeber befindet. Ggf. muss er beantragen, die Hauptverhandlung zu unterbrechen oder auszusetzen (Rz. 512). Gegen den Willen des Mandanten darf er aber dessen Erkrankung nicht offenbaren1. 427
Der Strafantrag spielt außer im allgemeinen Strafrecht, in Verkehrsstrafsachen und in Privatklageverfahren, besonders auch im Nebenstrafrecht eine Rolle. Genaue Prüfung der Formalien (§§ 77 ff. StGB) ist Pflicht des Verteidigers. Häufig werden Strafanträge nicht immer in der rechten Form gestellt; daher ist es notwendig, sich das Schriftstück, das den Strafantrag enthalten soll, möglichst in Urschrift anzusehen. Dabei ist ggf. der Frage nachzugehen, ob der Unterzeichner des Strafantrags, z.B. bei Unternehmen, überhaupt feststellbar ist und ob er Vertretungsbefugnis hatte. Hier sind Fehler häufiger (z.B. bei Ladendiebstahl) als man annehmen sollte. Es ist auch zu prüfen, ob der Strafantrag nicht zulässigerweise zurückgenommen ist. Bevor der Verteidiger freilich das Fehlen eines wirksamen Strafantrages beanstandet, sollte er prüfen, wie es mit der Antragsfrist von drei Monaten steht. Ist nämlich die Frist noch nicht abgelaufen, so kann der Antrag nachgeholt werden2. Unter diesen Um1 Strafrechtsausschuss der BRAK; Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, S. 46 (unter 4). 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 158 StPO Rz. 5 m.N.
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Einwendungen gegen die Erçffnung
Rz. 430
ständen würde der Verteidiger dem Auftraggeber keinen guten Dienst erweisen. Wegen der richtigen Berechnung der Antragsfrist vgl. Rz. 1053. In manchen Antragsverfahren, insbesondere in Fällen der Beleidigung, 428 lohnt sich die Prüfung, ob die Rücknahme des Strafantrages durch eine „Ehrenerklärung“ oder auch durch Entschädigung erlangt werden kann (Rz. 169, 1049, 1069). Praktisch muss der Verteidiger die Ehrenerklärung gegen die Zusicherung anbieten, dass der Strafantrag zurückgenommen und das Verfahren anschließend eingestellt wird. Das ist auch noch in der Hauptverhandlung (auch nach mehreren Terminen) möglich. Indessen ist Vorsicht am Platze, da sich der Verteidiger auf das Wort der anderen Beteiligten verlassen muss. Wie bei der Anregung, das Verfahren aus den Gründen des § 153 StPO einzustellen, kann er aber sein Angebot nur für den Fall machen, dass eine Schuld des Auftraggebers überhaupt festgestellt werden kann (Rz. 328). Außerdem ist zu erklären, dass der Beschuldigte die Kosten und notwendigen Auslagen des Geschädigten übernimmt. Sonst wird der Betroffene den Strafantrag nicht zurücknehmen, damit er nicht die Kosten zu tragen hat (§ 470 S. 1, 2 StPO). Einer besonderen Situation sieht sich der Verteidiger in Verkehrsstrafsa- 429 chen gegenüber, bei denen zugleich eine Körperverletzung angeklagt ist. Hier bejaht die Staatsanwaltschaft unabhängig von einem etwaigen Strafantrag stets das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung (§ 230 Abs. 1 StGB). Diese ständige Übung stimmt dann nicht mit Nr. 243 Abs. 3 RiStBV überein, wenn sie ohne nähere Prüfung schematisch praktiziert wird. Gegen diese Praxis kann sich der Verteidiger freilich nur schwer wehren. Es gibt kein Rechtsmittel gegen die Bejahung oder Verneinung des öffentlichen Interesses. Nach überwiegender Auffassung ist das Gericht zur Nachprüfung nicht befugt1. Der Verwaltungsrechtsweg ist verschlossen2. Das Verfahren nach § 23 EGGVG entfällt3. In geeigneten Fällen bleibt allenfalls die Dienstaufsichtsbeschwerde, deren Erfolgsaussichten im Allgemeinen gering sind (Rz. 1091). Auch die Frage der Verjährung der Strafverfolgung bedarf der Aufmerk- 430 samkeit. Genaues Studium der Akten ist zu der Feststellung geboten, ob eine richterliche Anordnung die Verjährung rechtzeitig unterbrochen hat. Hierbei ist zu beachten, dass nicht jede Anordnung des zuständigen Richters geeignet ist, die Verjährung zu unterbrechen (§ 78c Abs. 1 StGB)4.
1 BVerfG v. 8.5.1979 – 2 BvR 782/78, BVerfGE 51, 176; BGH v. 3.7.1964 – 2 StR 208/64, BGHSt. 19, 377 (381); BayObLG v. 29.11.1990 – RReg. 3 St 168/90, NJW 1991, 1765; Fischer, § 230 StGB Rz. 3 m.N. 2 BVerwG v. 16.12.1958 – VII B 41/58, NJW 1959, 448. 3 BGH v. 26.5.1961 – 2 StR 40/61, BGHSt. 16, 225. 4 Fischer, § 78c StGB Rz. 14.
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Rz. 431
Der Verteidiger im Zwischenverfahren
Seit „Abschaffung“ der fortgesetzten Handlung1 strapazieren Staatsanwälte häufig die Rechtsfigur der „natürlichen Handlungseinheit“, um Einzeltaten vor der Verjährung zu „retten“. Derartigen Versuchen kann der Verteidiger in der Regel mit Erfolg begegnen. Besonderheiten gelten für die Verjährung von Ordnungswidrigkeiten (§§ 31 ff. OWiG). 431
Mit der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit muss sich der Verteidiger gelegentlich befassen, so z.B. wenn die Staatsanwaltschaft mit der Anklageerhebung zunächst über die Zuständigkeit des Gerichts befindet (insbesondere §§ 24, 25 GVG). Mandanten fragen den Verteidiger schon im Vorverfahren, vor welchem Gericht sie stehen werden und welche Rechtsmittel es im Falle einer Verurteilung gibt. Diese Frage kann der Verteidiger in solchen Fällen erst nach Anklageerhebung beantworten. Aufgrund gesetzlicher Änderungen (§§ 24, 25 GVG) gelangen heute viele Sachen vor die Schöffengerichte oder Strafkammern in „Zweierbesetzung“ (§ 76 Abs. 2 GVG), die früher vor „Plenar“-Strafkammern verhandelt worden wären. Hier kann ein Revisionsgrund entstehen (Rz. 932). Auch hat die Staatsanwaltschaft nach Nr. 113 RiStBV sorgfältig zu prüfen, vor welchem Gericht sie anklagt. Ein gewisser Beurteilungsspielraum der Staatsanwaltschaft im Sinne der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zum unbestimmten Rechtsbegriff wird sich jedoch in der Praxis nicht angreifen lassen. Es empfiehlt sich daher, rechtzeitig mit dem Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft Kontakt aufzunehmen, um dessen Absichten kennenzulernen. Auf diese Weise kann der Verteidiger unter Umständen die Zuständigkeitswahl der Staatsanwaltschaft und damit den Rechtsmittelzug beeinflussen. Ähnliches gilt für die örtliche Zuständigkeit (§§ 7 ff., 13, 16 StPO), wenn die Sache aus einer ungünstigen örtlichen Atmosphäre herausgenommen werden soll, z.B. weil Parallelsachen schon ungünstig entschieden sind oder sich durch Abtrennungen u.Ä. neue prozessuale Aspekte ergeben.
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Die Einstellung wegen potentiell geringer Schuld (§ 153 StPO) oder aus den Gründen der §§ 153a–153d StPO sowie eine Teileinstellung oder Beschränkung des Verhandlungsstoffes (§§ 154, 154a StPO) wird in manchen Fällen im Zwischenverfahren erreichbar sein. Man sollte nicht darauf vertrauen, dass der Richter zu Beginn oder im Verlauf der Hauptverhandlung diese Frage kraft seiner Amtspflicht aufgreifen wird. Dann ist es oft zu spät, weil der amtierende Staatsanwalt, der oft nicht der Sachbearbeiter ist, Bedenken hat und auch eine entsprechende Weisung nicht einholen will oder erhalten kann.
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Im Übrigen wird der Verteidiger zur Begründung der Einstellung so argumentieren und vorgehen müssen wie im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft. Die dort gemachten Ausführungen gelten auch hier in vollem Umfang (Rz. 522 ff.). Die Situation ist jetzt allerdings erschwert, weil sowohl Gericht als auch Staatsanwalt zur Einstellung be1 BGH v. 3.5.1994 – GSSt 2/93, GSSt 3/93, BGHSt. 40, 138.
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Einwendungen gegen die Erçffnung
Rz. 434
reit sein müssen. Sie ist andererseits erleichtert, weil das Gericht vielfach der Staatsanwaltschaft den Antrag oder die Zustimmung – manchmal dringend – nahelegt. Das Zwischenverfahren bietet noch weitere Gelegenheiten, die Sache 434 zugunsten des Mandanten zu beeinflussen. So kann auf vorgreifliche Rechtsfragen aus anderen Rechtsgebieten hingewiesen und analog § 262 Abs. 2 StPO die Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung der zuständigen Fachgerichte beantragt werden1. Die Neigung der Strafgerichte, Verfahren auszusetzen, z.B. um eine Entscheidung der Finanzgerichte oder Verwaltungsgerichte abzuwarten, ist allerdings gering; offenbar fühlen sie sich durch die Regelung des § 262 Abs. 1 StPO ermutigt, auch schwierigste Probleme, z.B. des Verwaltungs- oder des Handels- und Gesellschafts- oder sogar des Bilanzrechts, selbst zu entscheiden. Es bedarf daher schon sehr sorgfältiger, andererseits für den Adressaten auch „griffiger“ und eingängiger Argumentation. Besser sind die Aussichten, wenn beispielsweise die Verfassungsmäßigkeit tatrelevanter Bestimmungen (z.B. des Nebenstrafrechts) bereits der verfassungsrechtlichen Überprüfung zugeführt sind (oder gar eine einstweilige Anordnung gegenüber den Verwaltungsbehörden erlassen wurde). Hier gelingt es eher, wenn schon nicht eine formelle Aussetzung, so doch ein „Abwarten“ bis zur verfassungsgerichtlichen Entscheidung zu erreichen. Ähnliches gilt bei prozessunökonomischen Anklagen, z.B. wenn bei komplexem und schwierigem Sachverhalt die Anklage gegen den Haupttäter zur Wirtschaftsstrafkammer erhoben ist, die Anklage gegen den Gehilfen jedoch beim Strafrichter eingereicht wird, der somit genötigt sein würde, anstelle der Wirtschaftsstrafkammer alle schwierigen Sach- und Rechtsfragen im Prozess gegen den Gehilfen zu entscheiden. Hier kommt entweder ein stillschweigendes Zuwarten in Frage oder auch wegen des Sachzusammenhanges die Abgabe des Verfahrens an die Wirtschaftsstrafkammer, was für die Verteidigung je nach Lage des Falles erwünscht oder unerwünscht sein wird. Schließlich gibt es Fallgestaltungen, die absehbar oder von der Verteidigung beeinflussbar große prozessrechtliche Schwierigkeiten mit sich bringen werden. Zu denken ist an eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten (z.B. pro Verhandlungstag nur drei Stunden), „Überzahl von Angeklagten“ (und Verteidigern!), zu erwartende totale Auskunftsverweigerung wesentlicher Zeugen nach § 55 StPO, Notwendigkeit der Vernehmung von Auslandszeugen, Einholung bisher versäumter Sachverständigengutachten zu umfangreichen und schwierigen Fragen in der Hauptverhandlung, Geltendmachung von Verwertungsverboten, Notwendigkeit einer Vielzahl von Beweisanträgen wegen mangelnder Aufklärung der Sache im Vorverfahren usw. Der Verteidiger wird sorgfältig zu prüfen haben, ob und welche Gründe allein oder in Kombination mit 1 Dies gilt nicht nur für Fragen des Zivilrechts, sondern auch für alle anderen Gerichtszweige, Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 262 StPO Rz. 5, 10.
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Rz. 435
Der Verteidiger im Zwischenverfahren
anderen Erwägungen geeignet sind, dem Gericht „die Lust an der Sache zu nehmen“. Wird das zu erwartende Verhandlungsszenario gut und sachlich, aber auch eindringlich und von Zeugen vorgetragen, so kann damit der Boden für manche, den Interessen des Mandanten dienende Zwischen- oder Endentscheidung bereitet werden. In geeigneten Fällen ist daran zu denken, in einer Art Doppelstrategie die schriftliche Argumentation mit flankierenden Gesprächen mit Gericht (und Staatsanwaltschaft) über eine umfassende oder partielle Verständigung nach § 257c StPO zu kombinieren (Rz. 177 ff., 502 ff.). Die dargestellte Palette von Verteidigungsmöglichkeiten ändert im Ergebnis nichts daran, dass wegen der Masse der alltäglichen Strafprozesse das Zwischenverfahren eine bis zur Formalität erstarrte „Durchgangsstation“ zu Hauptverfahren und Hauptverhandlung ist. In Verfahren mittlerer und größerer Bedeutung, insbesondere wenn die öffentliche Hauptverhandlung für den Klienten gravierende Nachteile mit sich bringt, muss der Verteidiger jede sich ihm bietende Chance nutzen, die Hauptverhandlung zu vermeiden oder wenigstens den Tatvorwurf auf ein Minimum zu reduzieren. b) Geltendmachung 435
Die vorstehende Übersicht der im Zwischenverfahren möglichen Einwendungen und ihrer rechtlichen Begründungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens besagt noch nichts zur Art ihrer Geltendmachung. Der Verteidiger muss hier einerseits sehr auf die formale Seite, d.h. auf die Sicherung der ihm zustehenden Fristen achten, anderseits vielfach subtile Überlegungen anstellen, ob und wie er seine Einwendungen oder Anträge bei Gericht anbringt. aa) Erklärungsfrist
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Vorab muss der Verteidiger dafür Sorge tragen, dass er selbst und der Mandant je ein Exemplar der Anklageschrift erhalten. Darauf besteht ein Rechtsanspruch (§ 145a Abs. 1, 3 StPO, Nr. 108 RiStBV). Die mit der Zustellung der Anklage bestimmte Erklärungsfrist bedarf in der Praxis wegen oft gedankenlos kurzer Fristsetzungen (3 Tage, 1 Woche) oft der Verlängerung. Diese ist in der Regel zu erreichen. Sie ist unerlässlich, wenn jetzt erstmalig Akteneinsicht gewährt wird. Der neu bestellte Verteidiger kennt bis dahin die Sache nicht. Die Erklärungsfrist ist für ihn daher erst nutzbar, wenn er vorher die Akteneinsicht durchgeführt und die Sache mit seinem Mandanten besprochen hat. Es ist deshalb notwendig, den Antrag auf Akteneinsicht mit dem Antrag zu verbinden, die Frist stillschweigend bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nach Beendigung der Akteneinsicht zu verlängern. Praktisch ist der Zusatz: „Ich bitte annehmen zu dürfen, dass die beantragte Verlängerung der Erklärungsfrist stillschweigend bewilligt ist, wenn ich eine andere Mitteilung nicht erhalte.“ Damit erspart man dem Gericht Arbeit und si292
Einwendungen gegen die Erçffnung
Rz. 437
chert sich selbst das rechtliche Gehör. In „heiklen Sachen“ ist aber doch eine fernmündliche Erkundigung ratsam, ob der Richter entsprechend verfügt hat. Ggf. ist eine zweite Fristverlängerung – mit Begründung – zu beantragen. Ein Gespräch mit dem Richter ist in diesem Stadium oft ein nützliches 437 Unternehmen, wenn der Richter sich in die Sache eingearbeitet hat. Sonst empfiehlt es sich in der Regel, für diesen Zeitpunkt einen (weiteren) Kontakt zu vereinbaren. Man erfährt etwas von der Einstellung des Gerichts zur Sache. Hinweise des Richters können wertvollen Aufschluss geben und der Verteidiger kann seine Fragen und Zweifel zur Sprache bringen. Auch die Möglichkeiten für eine Einstellung des Verfahrens vor oder nach der Eröffnung können offen besprochen werden (Rz. 328 ff.), ebenso Beschränkungen des Verfahrensstoffes (§§ 154, 154a StPO). Besonders in größeren Sachen sind die Richter interessiert, das Verteidigungsvorbringen einschließlich der Beweismittel möglichst erschöpfend zu erfahren. Die persönliche Freundlichkeit in solchen Gesprächen bedeutet noch lange nicht die Neigung, den Einwendungen des Verteidigers tatsächlich zu folgen. Die Richter wollen häufig die Einstellung der Verteidiger nur möglichst umfassend erfahren, um sich danach für die Hauptverhandlung einzurichten, ohne dass ernstlich daran gedacht würde, das Hauptverfahren nicht zu eröffnen. So kann es sein, dass in solchen Besprechungen der Verteidiger nur der Gebende und der Richter der Nehmende geblieben ist. Der Verteidiger muss auch damit rechnen, dass der Richter bei solchen Vorbesprechungen den Staatsanwalt zuzieht oder jedenfalls unterrichtet. Besprechungen dieser Art können gleichwohl auch für die Verteidiger von großem Nutzen sein. Sie werden zuweilen sogar vom Vorsitzenden angeregt, um in Gegenwart von Beisitzern und Staatsanwalt Fragen der Hauptverhandlung schon jetzt für den Fall zu erörtern, dass es zu einer Eröffnung des Hauptverfahrens kommt. Sie sind besonders in Verfahren größeren Umfangs eigentlich unerlässlich, um einen reibungslosen Ablauf der Hauptverhandlung zu gewährleisten. So kann der Verteidiger dem Gericht etwaige Terminprobleme mitteilen, damit Terminkollisionen vermieden werden (Rz. 460). Auch kann es geboten sein, ausreichende Zeit für die Vorbereitung der Hauptverhandlung zu sichern (Rz. 458, 512). In persönlichen Rücksprachen lassen sich schließlich die Vorstellungen des Gerichts und der Staatsanwaltschaft über den Gang des Verfahrens, besonders den Terminplan, am besten klären. Vorgesehene tägliche Verhandlungsdauer, geplante Unterbrechungszeiten (§ 229 Abs. 2 StPO), Reihenfolge der Zeugenvernehmungen und der Sachverständigenanhörung muss der Verteidiger frühzeitig kennen, damit er sich einrichten und den Mandanten vorbereiten kann. Auch muss er zu erfahren suchen, ob und wann das Gericht Ortstermine abhalten will, ob kommissarische Vernehmungen beabsichtigt sind (Rz. 484) und was das Gericht davon hält, wenn der Mandant vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden werden will (Rz. 482). 293
Rz. 438
Der Verteidiger im Zwischenverfahren
Erfährt der Verteidiger den Plan der Hauptverhandlung, so kann er auch Wünsche äußern, Anregungen geben und Anträge stellen. Will er Zeugen oder Sachverständige zur Hauptverhandlung laden (Rz. 475 ff.), so ist zu empfehlen, dem Gericht hiervon Mitteilung zu machen, wenn nicht das Überraschungsmoment in der Hauptverhandlung ausgenutzt werden soll. Der Vorsitzende kann dann rechtzeitig die Vernehmung dieser Beweispersonen vorsehen. Der Termin, in dem die Zeugen erscheinen sollen, kann vereinbart werden. Der Verteidiger setzt sich nicht dem Vorwurf aus, den Zeitplan des Gerichts durcheinanderzubringen. Allerdings riskiert er, dass die Staatsanwaltschaft den Zeugen noch zuvor vernimmt, was nicht unzulässig ist, aber in Kollision zur „Prozessfairness“ stehen dürfte. Man kann aber auch diese Frage ggf. ansprechen und ein Agreement erreichen. Das Richtergespräch gibt dem Verteidiger auch Anhaltspunkte für die Frage, ob seinem Mandanten jetzt das Eingeständnis etwa vorhandener Schuld anzuraten ist. Solange der Mandant bestreitet, kann der Verteidiger die entlastenden Umstände zur Persönlichkeitsbewertung, Tatmotiv, Zukunftsprognose u.a. (Rz. 18) kaum einführen. Mit einer Schuldigerklärung würde das schlagartig anders. Verteidiger und Mandant könnten sich damit ggf. die Sympathien des Gerichts erringen und die Hauptverhandlung in ein günstiges Fahrwasser steuern (vgl. Rz. 18 und zur Beratung vor der Hauptverhandlung Rz. 61, 490). Darüber und sogar über das Ergebnis lässt sich mancher Richter (und Staatsanwalt) zu Gesprächen und Prognosen ein, die Grundlage einer formellen Verständigung (§ 257c StPO – Rz. 502) werden können. 438
Bei einer derartigen Rücksprache muss der Verteidiger seine bereits vorgebrachten oder beabsichtigten Beweisanträge (Rz. 473) im Auge behalten. Unter Umständen kann er diese Anträge in geeigneter Form ankündigen. Er wird meist erfahren, wie der Vorsitzende oder Staatsanwalt darüber denkt. Bei vertrauensvoller Aussprache kommt es dabei in der Regel auch zu einem Gespräch über die Sache selbst, das für die Maßnahmen des Verteidigers nützlich sein kann. Bei einem solchen Gespräch kann der Verteidiger auch alle Bitten vortragen, die notwendig sind, um den Mandanten vor unnötigen Erörterungen seines persönlichen Bereichs zu schützen (Rz. 544). Insbesondere kann er veranlassen, dass etwaige Vorstrafen nicht zu Beginn der Hauptverhandlung (§ 243 Abs. 5 S. 3, 4 StPO)1 erörtert werden (Rz. 545). Hinsichtlich der Einlassung und der Beweismittel zur Schuld- und Straffrage befindet sich der Verteidiger allerdings wegen der Zweischneidigkeit seines Vorgehens in einem gefährlichen Dilemma (Rz. 481).
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Wenn es im Zwischenverfahren zu Vorbesprechungen der geschilderten Art nicht kommt, sind sie spätestens vor der Terminbestimmung am
1 Dazu Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 243 StPO Rz. 32 ff.
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Einwendungen gegen die Erçffnung
Rz. 441
Platze. Sie sind dann im Wesentlichen in derselben Form zu führen (Rz. 468). bb) „Schutzschrift“ Erhebliche Probleme kann die Einreichung einer sog. Schutzschrift auf- 440 werfen. Das Dilemma des Verteidigers, einerseits den Mandanten vor der Hauptverhandlung zu schützen, anderseits nicht den Fehler vorheriger Preisgabe seines Verteidigungsvorbringens zu machen (Rz. 421 a.E.), macht diese Frage zu einem echten Problem. Es ist nicht einheitlich zu entscheiden, ob die Schutzschrift nützlich ist. Der Spannungsbereich geht von der evtl. berufswidrigen Unterdrückung (etwa Verschweigen eines einwandfreien Alibizeugen) bis zu dem schwerwiegenden Fehler vollständiger Materialauslieferung, etwa Offenlegung aller Beweismittel an Gericht und Staatsanwaltschaft statt eigener Auswertung in der Hauptverhandlung. Selbst grobe Mängel der Anklageschrift sollte man unter Umständen zweckmäßigerweise erst in der Hauptverhandlung auswerten. Dort kann sie der Sitzungsstaatsanwalt meist schlechter ausräumen als vorher der Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft. Meine Erfahrungen haben mich bestimmt, mit der Einreichung von Schutzschriften eher zurückhaltend zu sein. Wenn man allerdings die Anklage – insbesondere materiell-rechtlich – so gut wie sicher entkräften kann, sollte man den Versuch wagen. Das kann z.B. sein, wenn die Anklage wegen eines klaren Rechtsfehlers nicht schlüssig, wenn die Verjährung übersehen ist oder ein neuer Zeuge die Beschuldigung eindeutig widerlegt. Mit einer solchen Schutzschrift findet auch der Verteidiger, der wegen seiner sonstigen „Sparsamkeit“ mit Schutzschriften bekannt ist, sofort Beachtung. Sie kann auch dazu dienen, das Gericht durch eine gezielte Verteidigungsstrategie auf einen bestimmten „Kurs“ zu bringen, z.B. durch die Kombination von sachlichen oder prozessualen Problemen mit dem Angebot einer „teuren“ Einstellung nach § 153a StPO (Rz. 330). In vielen Fällen nützt sich das Verteidigungsmittel der Schutzschrift durch ständigen Gebrauch ab. Was von der „Schutzschrift“ tatsächlich gehalten wird, lässt schon ihre ominöse Bezeichnung erkennen. Das Wort steht in verdächtiger Nachbarschaft zur „Schutzbehauptung“ eines Angeklagten – ein Terminus, der die skeptische Reserve von Richtern und Staatsanwälten sichtbar macht, die unter dem Ausdruck oft nichts anderes als ein Lügengewebe des Angeklagten verstehen. Die Schutzschrift bewirkt dann im günstigsten Falle die Ladung benannter Zeugen zur Hauptverhandlung oder die Beiziehung von Akten und nicht mehr. Am Ende steht der Verteidiger dann mit leeren Händen da, nachdem er alles verausgabt hat. In der Hauptverhandlung verbleibt er dann häufig in der Rolle eines in den Hintergrund gedrängten Zuschauers, der zusehen muss, was die wirklichen Akteure des Prozesses mit seinem Material machen. Hierher gehört auch das Problem der Rechtsausführungen. Damit sollte 441 der Verteidiger ebenfalls nur zurückhaltend operieren. Zwar hat er die Sache in rechtlicher Hinsicht intensiv durchzuprüfen. Im Allgemeinen 295
Rz. 442
Der Verteidiger im Zwischenverfahren
sind aber Erörterungen der Rechtsfragen in der Schutzschrift nur zweckmäßig, wenn damit die Eröffnung wirklich zu vermeiden oder die Rechtslage so kompliziert ist, dass sie sich in der Hauptverhandlung nicht übersichtlich darstellen lässt. Anderenfalls richten Staatsanwaltschaft und Gericht sich auf die rechtlichen Hinweise ein und sind häufig versucht, die tatsächlichen Feststellungen entsprechend zu steuern. Schweigt dagegen der Verteidiger zu kritischen Punkten, werden die tatsächlichen Feststellungen häufig knapper ausfallen und die Revision erleichtern (Rz. 960). Wie in der Hauptverhandlung, besonders beim Plädoyer (Rz. 741 ff.) sieht sich der Verteidiger hier schon im Eröffnungsverfahren vor die äußerst schwierige Frage gestellt, ob in der Tatsacheninstanz in solchen Situationen die Verteidigung mit dem Blick auf die Revision geführt werden soll. Das bedarf sorgfältigster Abwägung der Erfolgschancen wie auch der Pflichten des Verteidigers gegenüber seinem Mandanten1. 442
Es gibt allerdings Sonderfälle, in denen die an sich gebotene Zurückhaltung nicht durchgehalten werden kann. Das sind die, in denen die öffentliche Hauptverhandlung ohne Rücksicht auf ihr Ergebnis für den Mandanten katastrophale Folgen haben würde, z.B. wenn er sich in exponierter Stellung befindet und zu erwarten ist, dass sich die Medien auf den Fall stürzen werden. In solchen Situationen entscheiden sich die Klienten trotz Kenntnis des Dilemmas der Verteidigung (Rz. 421) nicht selten dafür, auch eine nur kleine Chance im Zwischenverfahren wahrzunehmen – manchmal mit überraschendem Erfolg. Auch wenn es nicht gelingt, die Zurückweisung der Anklage in toto zu erreichen, kann es zu beachtlichen Teilerfolgen kommen oder das Gericht wird durch einen guten Schriftsatz auf eine für die Hauptverhandlung günstige Linie gebracht. In sehr seltenen Fällen kann die Hauptverhandlung dann sogar zu einem „Triumph des Angeklagten“ werden.
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Wenn der Verteidiger die Einreichung einer Schutzschrift nicht für richtig erachtet, sollte er aber, wenn der Angeschuldigte nicht geständig ist, es grundsätzlich nicht unterlassen, wenigstens den schriftlichen Antrag auf Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens zu stellen. Er kann die Begründung auf die Erklärung beschränken, dass „nach dem Ergebnis der Ermittlungen der Angeschuldigte nicht hinreichend verdächtig“ ist, oder dass „die Anklage rechtlich oder/und tatsächlich unbegründet“ sei. Er kann auch auf die bisherigen Einlassungen verweisen und dazu bemerken, dass „ggf. die (weitere) Verteidigung der Hauptverhandlung vorbehalten bleibe“. Er räumt damit mindestens die Ungewissheit des Gerichts aus, ob die Verteidigung noch etwas bringen werde. Es ist nach der Erfahrung besonders in Umfangsverfahren auch daran zu denken, in einer knappen Eingabe dem Gericht wenigstens die allgemeine Richtung der Verteidigung bekanntzugeben. Damit kann eine Mitteilung der Ver-
1 Zu diesem Problemkreis Dahs, Revision, Rz. 402 ff.
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Sonstige Antrge
Rz. 446
teidigungsplanung und die Angabe von Beweismitteln verbunden werden, wenn diese die Verteidigung nicht gefährdet. Eine Erwiderung der Staatsanwaltschaft muss der Verteidiger sich be- 444 schaffen; entweder durch ausdrücklichen Antrag oder durch nochmalige Akteneinsicht. Er muss wissen, dass sie ihm von Amts wegen nicht bekanntgegeben werden muss. In wichtigen Sachen sollte er durch Vereinbarung mit dem Vorsitzenden seine Unterrichtung sicherstellen. Allerdings sind die Entgegnungen der Staatsanwaltschaft meist von enttäuschender Kürze und beschränken sich vielfach auf eine Wiederholung des Antrags der Anklage. 3. Sonstige Anträge Statt Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorzubrin- 445 gen, kann der Verteidiger Beweiserhebungen beantragen (§§ 201, 202 StPO). Das kann insbesondere dann sinnvoll sein, wenn er sich erst nach Erhebung der Beweise schlüssig werden kann oder will, ob und wie er der Eröffnung widerspricht. Das Gericht kann die beantragten Beweise sofort erheben, was in der Praxis leider eine Seltenheit ist. Für die Teilnahme des Verteidigers gelten dann die allgemeinen Bestimmungen über richterliche Vernehmungen. Mit der angeordneten weiteren Aufklärung wird aber in der Regel die Staatsanwaltschaft beauftragt, die sich häufig der Hilfe der Polizei bedient. Der Verteidiger kann dann mit guten Gründen beantragen, ihm die Anwesenheit bei den Beweiserhebungen zu gestatten. Das wird ihm – notfalls über das Gericht – meistens gelingen. Ob solche Beweiserhebungsanträge zielführend sind, muss der Verteidiger sorgfältig abwägen. Es kommt darauf an, ob er das Beweisergebnis im Voraus schon kennt, oder ob eine außergerichtliche Befragung (Rz. 217 ff.) bzw. ein Beweisantrag zur Hauptverhandlung (Rz. 648 ff.) nicht besser wäre. Die Zustellung der Anklage kann auch der richtige Zeitpunkt zur Vor- 446 lage von Gutachten oder Gegengutachten sein. Sie kann mit dem Antrag auf Ladung des Sachverständigen oder mit der Ankündigung einer Selbstladung gem. §§ 220–245 StPO verbunden werden. Die Sache kann damit in ein anderes Fahrwasser kommen. Erfahrungsgemäß veranlassen Gericht oder Staatsanwaltschaft dann ein Nachtragsgutachten des gerichtlichen Sachverständigen oder ein „Obergutachten“. Der Verteidiger muss deshalb überlegen, ob er sein Vorgehen nicht besser bis kurz vor der Hauptverhandlung zurückstellt. Dann allerdings muss er mit deren Aufhebung rechnen, was sich als ein Vorteil, aber auch als Nachteil herausstellen kann. Besonders problematisch (aber immer noch beliebt) ist die Vorlage von Rechtsgutachten1 (Rz. 232), die häufig in geeigneten Fällen im Auftrag 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 72 StPO Rz. 7.
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Rz. 447
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
der Verteidigung durch Universitätsprofessoren oder sonstige Experten erstattet werden. Sie können eine wesentliche Hilfe sein, jedoch sind die Gerichte dagegen ebenso empfindlich wie misstrauisch. Zumeist werden sie in der richterlichen Entscheidung nicht einmal erwähnt. Häufig ist es daher besser, solche Rechtsgutachten nur intern für die Verteidigung auszuwerten und auf der Grundlage dieser Auswertung schriftsätzlich vorzutragen. Davon sind die Klienten aber oft nur schwer zu überzeugen. Der Glaube an die unbegrenzte Heilkraft von „Professoren-Gutachten“ ist nach den Erfahrungen der Praxis ebenso verbreitet wie irrig. In jedem Fall gilt: „Gefälligkeitsgutachten“ ohne Überzeugungskraft schaden nur. 447
Befindet sich der Mandant in Untersuchungshaft, so wird das Gericht mit der Eröffnung des Verfahrens zugleich über die Fortdauer der Haft zu beschließen haben. Dazu sollte der Verteidiger sich rechtzeitig erklären. Mit der Anklage ist die Verdunkelungsgefahr meist entfallen, der Fluchtverdacht kann sich, insbesondere nach Gesprächen mit Gericht und Staatsanwaltschaft zu dem geplanten Gang der Hauptverhandlung, abgeschwächt haben. Jedenfalls muss der Verteidiger hier alle Chancen nutzen und gerade auch durch Besprechungen mit dem Gericht die Entlassung zu bewirken suchen. Das Gericht wird sich ggf. von der starken Erschwerung der Verteidigung und deren Vorbereitung durch die Haftfortdauer überzeugen lassen und auch Gesprächen über eine Kaution zugänglich sein (Rz. 362). Auch bei vorläufiger Entziehung der Fahrerlaubnis kann jetzt ein Zeitpunkt zu Verhandlungen und Anträgen zu ihrer Aufhebung gekommen sein (Rz. 412).
III. Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges 1. Vorbereitung der Hauptverhandlung a) Allgemeines Literatur: Artkämper, Die „gestörte“ Hauptverhandlung, 4. Aufl. 2013; Basdorf, Formelle und informelle Präklusion im Strafverfahren, StV 1997, 488; Beulke, Empirische und normative Probleme der Verwendung neuer Medien in der Hauptverhandlung, ZStW 113 (2001), 709; Beulke, Strafprozessrecht, 12. Aufl. 2012, Rz. 368 ff.; Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 7. Aufl. 2012; Dahs, „Informationelle Vorbereitung von Zeugenaussagen durch den anwaltlichen Rechtsbeistand, NStZ 2011, 200; Dahs, Stumpf gewordene StPO?, NJW 1994, 909 = BRAK-Mitt. 1994, 75; Dahs, Ethische Aspekte im Strafverfahren? – Ein Denkanstoß, JR 2004, 96; Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl. 2012; Hahn, Staatsanwaltliche Ermittlungstätigkeit während des Hauptverfahrens, GA 1978, 331; Ignor/Peters in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 291 ff.; Jahn, M., Sitzungspolizei kontra „Konfliktverteidigung“?, NStZ 1998, 389; Jahn, M., Konfliktverteidigung und Inquisitionsmaxime, 1998; Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, 2. Aufl. 2012; Joachimski in Seitz/Büchel, Beck’sches Richter-Handbuch, 3. Aufl. 2012, E. I. Rz. 248 ff.; Kropp, Zur Überprüfung von Terminsbestimmungen des Vorsitzenden in Strafsachen, NStZ 2004, 668; Krumm, Terminierung, Verhinderung und Terminverlegung, StV 2012, 177; Kudlich, Gesetzliche Regelungsmöglichkeiten gegen den strafprozessualen Missbrauch
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Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 448
im Kontext von Freiheit und Verantwortung, FS Schlüchter (1998), S. 13 ff.; Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, 2012; Malek, Verteidigung in der Hauptverhandlung, 4. Aufl. 2012; Nehm/Senge, Ursachen langer Hauptverhandlungen, NStZ 1998, 377; Neuhaus, Terminsbestimmung, Terminverlegung und das Recht auf Beistand durch den Verteidiger des Vertrauens, StraFo 1998, 84; Niemöller, Besetzungsrüge und „Willkürformel“, StV 1987, 311; Salditt, Verteidigung in der Hauptverhandlung – Notwendige Alternative zum Praxisritual, StV 1993, 442; Schäfer, G., Die Praxis des Strafverfahrens, 7. Aufl. 2007, 251 ff.; Schlothauer, Vorbereitung der Hauptverhandlung, 2. Aufl. 1998; Senge, Missbräuchliche Inanspruchnahme verfahrensrechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten – wesentliches Merkmal der Konfliktverteidigung? Abwehr der Konfliktverteidigung, NStZ 2002, 225; Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren, 2002; Thomas, „Konfliktverteidigung“, Missbrauch von Verteidigungsrechten und das Beweisantragsrecht, StV 2010, 428; Traut/Nickolaus, Ist es (wieder) Zeit für eine Trennung zwischen Eröffnungs- und Tatsachenrichter?, StraFo 2012, 51; Wenske/Moldenhauer in Seitz/Büchel, Beck’sches Richter-Handbuch, 3. Aufl. 2012, E. II. Rz. 1 ff., 45 ff.
Da die Hauptverhandlung das Kernstück jedes Strafverfahrens ist, liegt 448 hier, wenn die Hauptverhandlung nicht anderweitig abgewendet werden kann, das Hauptgewicht der Verteidigungsaufgabe. Ungeachtet der „urteilsprägenden Kraft“ des Vorverfahrens (Rz. 234) kann in der Hauptverhandlung immer noch alles gewonnen oder verloren werden. In vielen Fällen steht auch lediglich eine Tatsacheninstanz zur Verfügung. Nur was in der Hauptverhandlung prozessrechtlich einwandfrei erörtert wird, darf Gegenstand der Urteilsfindung sein. Niemand sollte sich auf günstige Zufälle in der Hauptverhandlung verlassen. In keinem Fall darf sich der Verteidiger darauf verlassen, das Gericht werde schon alle dem Angeklagten günstigen Umstände finden. Auch die Hoffnung, es dürfe nicht zulasten des Angeklagten gehen, dass er keinen gewandteren Anwalt hat, kann den Verteidiger von seinen Pflichten nicht entbinden. Auch ist es ein nicht entschuldbarer Irrtum zu glauben, der Verteidiger könne allein auf seine Erfahrung, sein Wissen, seine Schlagfertigkeit und die Überzeugungskraft seines Plädoyers bauen. Zwar muss er in der Hauptverhandlung jede Situation erfassen, konservieren (= mitschreiben), in das Verteidigungskonzept integrieren und sich daraus ergebende Vorteile sofort wahrnehmen, er muss auch überzeugend plädieren können. Damit allein ist es aber nach aller Erfahrung nicht getan. Er kann seiner übernommenen Aufgabe nur dann gerecht werden, wenn jede Hauptverhandlung eingehend vorbereitet ist. Nichts, aber auch gar nichts darf dem Zufall überlassen bleiben. Sonst kann er die Verteidigung nicht verantworten. Er muss sich deshalb nicht nur selbst ausreichend Zeit zur Vorbereitung nehmen, sondern auch darauf bestehen, dass ihm diese Zeit gelassen wird (Rz. 458). So darf der Verteidiger, der kurzfristig bestellt oder beauftragt wird, nicht erklären, er sei genügend vorbereitet, wenn dies nicht der Fall ist1. Er schadet sonst dem Klienten, dem Ansehen der Rechtspflege und des Berufes. Auch gibt es die Ansicht, die schuldhaft schlechte Vorbereitung einer Hauptverhandlung könne dazu führen, dem Verteidi1 BGH v. 25.6.1965 – 4 StR 309/65, NJW 1965, 2164 m. Anm. Schmidt-Leichner.
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Rz. 449
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
ger die Kosten einer Aussetzung jedenfalls dann aufzuerlegen, wenn er die unzureichende Vorbereitung dem Gericht zu spät mitteilt1. Aus diesen Gründen muss der Verteidiger rechtzeitig Aussetzung nach § 265 Abs. 4 StPO (Rz. 705) oder nach § 145 Abs. 2 und 3 StPO (Rz. 512) beantragen. Überhaupt muss der Verteidiger, der das Mandat oder die Bestellung erst nach Eröffnung des Hauptverfahrens erhält, das nachholen, was ein von Anfang an tätiger Verteidiger bereits in den vorausgegangenen Verfahrensabschnitten an Vorbereitung zu leisten hatte. Vor allem muss er unverzüglich Akten und Beiakten einsehen (Rz. 259 ff.); deren nochmalige Einsicht auch für den rechtzeitig bestellten oder gewählten Verteidiger notwendig sein kann. Ggf. sind Zeugen und Sachverständige noch außergerichtlich zu befragen (Rz. 217, 226) und das Fachgebiet eines Sachverständigen eingehend zu studieren (Rz. 226). Auch ist der Verteidiger gehalten, die Voraussetzungen eines Haftbefehls (Rz. 344 ff.), einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis (Rz. 412 ff.) oder einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Rz. 402) zu prüfen und die Ordnungsmäßigkeit des Zwischenverfahrens, vor allem des Eröffnungsbeschlusses (Rz. 422 ff.), zu kontrollieren. 449
Die unmittelbare Vorbereitung der Hauptverhandlung wird zum einen durch die Verteidigungsstrategie, zum anderen durch technische Vorbereitungsmaßnahmen (Rz. 451 ff.) bestimmt. Es ist jetzt der späteste Zeitpunkt, sich über das Ziel der Verteidigung einschließlich etwaiger Alternativ- oder Hilfsziele (z.B. Verständigung – § 257c StPO) abschließende Gedanken zu machen, falls die Strategieplanung noch nicht bereits im Vorverfahren (Rz. 234 ff.) oder nach Vorlage der Anklage im Zwischenverfahren (Rz. 440) erfolgt ist. Die Frage der Einlassung des Mandanten, ggf. ihres Inhalts (Rz. 486) steht dabei ebenso im Vordergrund wie die Prüfung der Zuständigkeit (Rz. 462), der Besetzung der Richterbank (Rz. 463), von Beweisanträgen (Rz. 473), Ablehnungsgesuchen (Rz. 466) und eigener Recherchen (Rz. 472). So wichtig dies alles ist, so muss der Verteidiger vermeiden, sich durch die intensive Vorbereitung und Festlegung in einem starren Schema zu verfangen und deshalb nicht zu merken, dass die Hauptverhandlung in eine ganz andere Richtung gehen wird. Er muss die Sensibilität und Flexibilität bewahren, nicht erwartete Entwicklungen der Hauptverhandlung frühzeitig zu erkennen und darauf sofort zu reagieren – notfalls das ganze, mühsam erarbeitete Verteidigungskonzept umzuwerfen und neu aufzubauen. Die Fähigkeit, ausgearbeitete Konzepte, Anträge und Strategien von einer Sekunde auf die andere aufzugeben und sich in der Verhandlungskonzeption völlig umzustellen, zeichnet den professionellen Strafverteidiger aus.
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Dies ist auch der Zeitpunkt, in dem der Verteidiger mit seinem Klienten entscheiden muss, ob es in dessen Interesse liegt, bis zur Grenze des 1 OLG Düsseldorf v. 10.12.1980 – 1 Ws 721/80, AnwBl. 1981, 201; Einzelfälle bei Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 145 StPO Rz. 21.
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Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 451
Missbrauchs alle prozessualen Möglichkeiten auszunutzen, um das Gericht „mürbe“ zu machen, zu revisiblen Rechtsfehlern zu provozieren, das Hauptverfahren auf nicht absehbare Zeit aufzuschieben oder auszudehnen, Ablehnungsgründe zu provozieren oder sonst die Hauptverhandlung zum „Platzen“ zu bringen. Gründe für eine solche „Konfliktstrategie“ können die Aussichtslosigkeit der Verteidigung in der Sache (der Mandant hat nichts zu verlieren), der ideologisch motivierte Kampf gegen das Rechtspflegesystem als solches („Klassenjustiz“), der Ablauf der doppelten Verjährungsfrist (§ 78c Abs. 3 StGB), Erlass des Eröffnungsbeschlusses (§ 78b Abs. 4 StGB), der zu erwartende Ausfall entscheidender Belastungszeugen oder anderer Beweismittel oder die Überzeugung sein, bei dem erkennenden Gericht ein faires Verfahren nicht erwarten zu können u.a. Die prozessualen Möglichkeiten, die gegen die Durchführung eines Hauptverfahrens bis zum Urteil eingesetzt werden können, sind hinreichend bekannt: Vertagungsanträge, Ablehnungsanträge, Einstellungsanträge, Beanstandungen, Verteidigererklärungen, und immer wieder Beweisanträge. Verfahren, in denen die Verteidigung derartige Mittel flächendeckend oder teilweise zum Einsatz bringt, haben zu den Schlagworten Konfliktverteidigung und Chaosverteidigung geführt, die im rechtspolitischen Bereich sich als (willkommenes?) Phänomen für Gesetzinitiativen zur (weiteren) Einschränkung von Beschuldigten- und Verteidigerrechten erwiesen hat – wie sie auch die Rechtsprechung zu mancherlei restriktiven Gesetzesauslegungen ermuntert hat1. Es mag seltene, extrem gelagerte Fälle geben, in denen die Verteidigung keine anderen Möglichkeiten hat, gegen ein voreingenommenes Gericht vorzugehen, um ein ungerechtes Urteil zu verhindern. Diese dürften aber keineswegs so häufig sein, wie es die leider nicht geringe Zahl derartiger Konfliktverteidigungen in der Praxis glauben machen soll. Es soll auch keineswegs übersehen werden, dass bei Verfahrensentwicklungen, die in konfrontativen Strategien aller Verfahrensbeteiligter kulminieren, die Schuld keineswegs bei Angeklagten und Verteidigern liegt2. Gleichwohl ist nicht beabsichtigt, diese Art der Strafverteidigung, an deren Nutzen für den Klienten in aller Regel erhebliche Zweifel bestehen, näher darzustellen. Die sachlich-technische Vorbereitung sollte daran ausgerichtet sein, den 451 Gegenstand des Verfahrens, die Materie der bevorstehenden Hauptverhandlung in allen Einzelheiten zu beherrschen. Auch hier ist es in erster Linie der Sachverhalt, den der Verteidiger vollständig im Gedächtnis haben muss. Dies gilt sowohl für den Sachverhalt, der sich aus Hauptakten, Beiakten, Beweismittelakten, Sonderheften, Beistücken etc. ergibt, als auch für den Einlassungs-Sachverhalt, den der Mandant mitgeteilt hat oder der durch eigene Ermittlungen der Verteidigung erhoben worden ist. Wie er sich den gesamten Tatsachenkomplex erarbeitet und jederzeit pa1 Dazu z.B. Jahn, NStZ 1998, 389 m. zahlr. N. 2 Dazu z.B. Nehm/Senge, NStZ 1998, 377; Dahs, NJW 1994, 909 = BRAK-Mitt. 1994, 75; Dahs in FS Odersky (1996), S. 321 ff.
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
rat hält, ist eine Frage der persönlichen Arbeitsweise und der technischen Möglichkeiten im Gericht (z.B. Laptop-Anschluss). Er muss dafür sorgen, dass er in der Hauptverhandlung die schriftlichen oder elektronischen Unterlagen für das gerade behandelte Thema griffbereit hat. Misslich ist es, wenn der Verteidiger erst in den Akten blättern und das suchen muss, worauf es im Augenblick ankommt (stereotype Frage an den Vorsitzenden, der aus den Akten vorhält: „Band? Blatt?“). Dadurch können nicht nur wesentliche Einzelheiten der Verhandlung verlorengehen: Oft wird alsdann auch die Gelegenheit zu einer schnellen, schlagfertigen Erklärung verpasst. Die Folgen sind Unsicherheit und Nervosität. Derartige Unzulänglichkeiten lassen sich nur durch genaue Vorbereitung vermeiden. Das ist besonders wichtig in umfangreichen Sachen. Hier bewährt es sich, schon frühzeitig einen Plan für die Hauptverhandlung in ähnlicher Weise vorzubereiten wie Richter und Staatsanwalt. Die Art der Aufzeichnungen ist wiederum eine Frage des persönlichen Stils. Sie hängt auch von der eigenen Erfahrung ab, die man mit der vorbereitenden Systematisierung des Verfahrensstoffs und entsprechenden Aufzeichnungen gemacht hat. Am wichtigsten ist die Übersichtlichkeit der Notizen. Ergänzungen und Änderungen müssen sich leicht anbringen lassen. In vielen Fällen empfiehlt es sich sogar, die verschiedenen Komplexe oder historischen Abschnitte eines Geschehens getrennt zeitlich geordnet zu skizzieren. Dadurch lässt sich auch ein komplexer Sachverhalt in Stichworten verhältnismäßig einfach erarbeiten. Auch kann der Verteidiger die vorbereiteten Aufzeichnungen in der Hauptverhandlung ergänzen. Er erkennt sofort etwaige Widersprüche gegenüber früheren Erklärungen der Beteiligten. Er besitzt die Grundlage für das Plädoyer, das in manchen Fällen allein anhand geordneter Notizen gehalten werden kann oder muss (Rz. 718). Auch aus diesen Gründen ist es zweckmäßig, jeweils gesondert, aber nach demselben Schema übersichtlich Tatzeit, etwaige Mittäter, Zeugen, Sachverständige und Urkunden unter Angabe der Blattzahlen aus den Gerichtsakten zu vermerken. Stichwortartig kann dazu auch der Inhalt der Einlassung des Mandanten und der Beweispersonen festgehalten werden. Greifen einzelne Abschnitte ineinander über, so sind Verweisungen zu empfehlen. (Vgl. auch Rz. 451 ff.). 452
Bei dieser Vorbereitung ist zunächst der Sachverhalt zu erarbeiten, der sich bisher aus den Akten ergibt. Etwaige Widersprüche sind hervorzuheben. Schon jetzt sollte man sich eingehend mit der Persönlichkeit der Zeugen und ihrer Bekundung beschäftigen, um sie in der Hauptverhandlung sachgerecht befragen zu können (Rz. 550 ff.). Der Verteidiger wird auch vermerken, an welchen Stellen er mit einer abweichenden Darstellung in der Hauptverhandlung rechnet, etwa weil der Mandant seine Einlassung ändern will oder weil der Verteidiger eigene Zeugen oder Sachverständige benannt hat oder laden lassen will. Vor der Hauptverhandlung abgelehnte Beweisanträge bedürfen besonderer Hervorhebung, damit nicht übersehen wird, sie in der Hauptverhandlung zu wiederholen (Rz. 474). Auch die eigenen Handakten müssen für den 302
Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 455
Hauptverhandlungsplan ausgewertet werden, z.B. Notizen über Besprechungen mit Mandanten, außergerichtliche Befragung von Zeugen und Sachverständigen oder andere Erhebungen. Häufig ist es zweckmäßig, für bestimmte allgemeine Probleme, die in der Hauptverhandlung voraussichtlich angesprochen werden, besondere Aufzeichnungen anzulegen, z.B. für die Umstände, die für die Strafzumessung, die Anrechnung der Haft oder die Entziehung der Fahrerlaubnis von Bedeutung sind. Auch erweist es sich immer wieder als praktisch, an den jeweiligen Stellen Anhaltspunkte für die rechtliche Beurteilung in Stichworten oder Paragraphen zu notieren, die der Verteidiger später nach dem neuesten Stand von Rechtsprechung und Schrifttum überarbeiten und vertiefen kann. Hierbei sollte er sein Augenmerk nicht zuletzt darauf richten, ob das Gericht Beweisergebnisse aus dem Ermittlungsverfahren in der Hauptverhandlung verwerten darf (Umgehung der Beweisverbote – Rz. 576, 632 ff.) oder Wahrunterstellungen beachten muss. Auch Einwendungen gegen das Verfahren (Rz. 422 ff.) sollten hier bereits festgehalten werden. Nachdem inzwischen der Laptop und andere elektronische Hilfsmittel 453 Einzug in den Gerichtssaal gehalten haben (und zwar nicht nur auf der Verteidigerbank), ist Ersterer wohl das ideale technische Hilfsmittel. Wer die elektronischen Datenverarbeitung einigermaßen beherrscht, ist damit in der Lage, den gesamten Verhandlungsstoff zu speichern, in Gliederungen unter verschiedenen Aspekten, in Stichworten oder in anderer Weise zu systematisieren und in der Hauptverhandlung jederzeit abzurufen. Die Erarbeitung eines entsprechenden Programms kann bei umfangreichen und komplexen Sachverhalten einige Mühe bereiten, lohnt sich aber. Während Staatsanwälte, Nebenkläger oder Verteidigerkollegen noch bestimmte Unterlagen in Ordnern suchen, ist der Text auf dem Bildschirm bereits abzulesen und die Diskussion mit dem Gericht oder die Befragung eines Zeugen oder Sachverständigen kann beginnen. Es entfallen auch die ebenso ermüdenden wie fruchtlosen Erörterungen darüber, wie eine bestimmte Textstelle, die man gerade nicht zur Hand hat und nicht lange suchen will, nun wirklich lautet. Der Verteidiger sollte sich diese Möglichkeiten elektronischer Information zunutze machen; sie verschafft ihm bei vielen Gelegenheiten einen wichtigen Vorsprung an Schnelligkeit der Reaktion und zuverlässiger Präsentation von Sachverhalt. In Einzelfällen gibt es heute schon Gerichtsverhandlungen, in denen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung auf diese Weise „elektronisch prozedieren“. In den meisten Verfahren wird indes weiter auf „Papiergrundlage“ gear- 454 beitet. Es ist eine Frage der persönlichen Neigung, wie der Verfahrensstoff nachvollziehbar erfasst wird. Allein auf sein Gedächtnis oder ungeordnete Stichworte sollte sich jedenfalls niemand verlassen. Die vollkommene Beherrschung des Prozessstoffes reicht aber allein 455 nicht aus. Wie sich immer wieder zeigt, wird den äußeren Gegebenheiten zu wenig Beachtung geschenkt, durch die sich der Verteidiger auch in der 303
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Hetze des Alltags die Vorbereitung eines Hauptverhandlungstermins vereinfachen kann. So sollte man sich rechtzeitig über die Örtlichkeit des Gerichts (Parkmöglichkeiten), Zugangskontrollen, die Räumlichkeiten am Orte der Hauptverhandlung und im Sitzungssaal, über Mikrofone, Laptop-Anschlüsse, Sitzanordnungen usw. informieren. Da Pünktlichkeit geboten ist, empfiehlt es sich, die Nummer des Verhandlungssaals präsent zu haben, um zeitraubendes Suchen zu vermeiden. Zu dieser Art der Vorbereitung gehört die Bereitstellung und Mitnahme der gängigen Kurzkommentare in jeweils neuester Auflage. Überhaupt sollte sich der Verteidiger vor der Hauptverhandlung überlegen, was er benötigt, etwa speziell für diesen Fall bedeutsame Rechtsprechung und Literatur (möglichst in Fotokopie). Es bewährt sich immer wieder, wenn der Verteidiger derartiges Material in der Hauptverhandlung zur Hand hat. Es muss auch daran gedacht werden, dass eine Hauptverhandlung unterbrochen werden kann und dann in der Sitzung ein neuer Termin abgesprochen wird. Für solche Fälle empfiehlt es sich, einen (evtl. auch elektronischen) Kalender seiner wichtigsten Termine zur Hand zu haben. 456
Der Verteidiger tut auch gut daran, sich über die Person der Berufsrichter und der Schöffen der Hauptverhandlung ein Bild zu machen, insbesondere bei den Schöffen – falls möglich – ihren Beruf und wenn möglich weiteres zu erforschen. Daraus kann er nützliche Hinweise für seine Verteidigung gewinnen (§ 24 Abs. 3 StPO – Rz. 191).
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Mängel der Ladung wird der Verteidiger rügen müssen, wenn die ordnungsgemäße Vorbereitung der Hauptverhandlung nicht genügend gewährleistet ist. Das kann bei Nichtbeachtung der Ladungsfrist von einer Woche der Fall sein. Andererseits kann dem Mandanten an schneller Durchführung gelegen sein, oder dem Gericht soll eine ärgerliche Unbequemlichkeit erspart werden. Gegen eine ermessensfehlerhafte Terminsbestimmung ist die Beschwerde zulässig1. Entscheidet sich der Verteidiger für die Beanstandung eines Verfahrensfehlers, so ist es zweckmäßig, dem Gericht hiervon rechtzeitig Mitteilung zu machen. Das Gericht wird dann den Termin von Amts wegen aufheben, andernfalls muss der Verteidiger den Termin wahrnehmen oder für Vertretung sorgen. Denn die Verletzung der gesetzlichen Voraussetzungen für Ladung und Ladungsfrist muss in Form des Aussetzungsantrages in der Hauptverhandlung gerügt werden. Sonst geht das Rügerecht verloren. Handelt es sich um einen Fall der notwendigen Verteidigung, so kann zwar das Gericht die Hauptverhandlung aussetzen oder einen anderen Verteidiger bestellen, wenn der Pflichtverteidiger ausbleibt (§ 145 Abs. 1 StPO). Der Verteidiger setzt sich aber dann dem Vorwurf der Missachtung des Gerichts aus, jedenfalls ist „das Klima verdorben“. 1 OLG Frankfurt v. 24.10.2000 – 3 Ws 1101/00, StV 2001, 157; OLG Hamburg v. 14.10.1994 – 1 Ws 275/94, StV 1995, 11; OLG München v. 25.4.1994 – 2 Ws 550/94, NStZ 1994, 451; LG Düsseldorf v. 29.7.2003 – X Qs 90/03, StraFo 2003, 425.
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Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 459
Bei Prüfung der Förmlichkeiten der Ladung ist zu berücksichtigen, dass 458 der Verteidiger selbst nur geladen werden muss, wenn er seine Wahl im Zeitpunkt der Ladung dem Gericht angezeigt hat (§ 218 Abs. 1 StPO). Bei mehreren Verteidigern ist jeder Verteidiger gesondert und einzeln zu laden1. Schwierigkeiten treten auf, wenn das Mandat erst nach Zustellung der Terminsladung erteilt wird. Sie beginnen für den Verteidiger schon bei der Einsicht in die Akten, die kurz vor der Hauptverhandlung häufig nicht sofort greifbar sind. In Verfahren auch nur mittleren Umfangs ist die Zeit dann meist zu kurz bemessen, um eine pflichtgemäße Vorbereitung zu ermöglichen. Je nach Umfang und Schwierigkeit der Sache wird der Verteidiger um eine Verlegung der Hauptverhandlung bitten müssen, auch wenn die Ladungsfrist eingehalten ist. Er kann darauf hinweisen, dass die Förmlichkeiten der Ladung das rechtliche Gehör sichern sollen und zwar auch in dem Sinne, dass ausreichend Zeit zur Vorbereitung bleibt. Dieser Grundsatz verlangt unter Umständen wesentlich längere als die gesetzlichen Fristen. Das ist in der Rechtsprechung für den Pflichtverteidiger seit langem anerkannt2. Falls nach Art und Umfang der Sache eine längere Vorbereitungszeit unumgänglich ist, darf der Verteidiger von einem Vertagungsantrag nicht deshalb absehen, weil er befürchten muss, die Gunst des Gerichts zu verlieren (Rz. 192). Niemand, auch nicht der Richter, kann dem Verteidiger die Verantwortung abnehmen. Nur der Verteidiger kann übersehen, ob er den Sachverhalt völlig kennt und ob er zur Vorbereitung noch weitere Zeit braucht. Richtschnur sind ausschließlich die Interessen des Mandanten, selbst wenn das Gericht durch die Aussetzung in Terminnot gerät. Der Auftraggeber muss sich darauf verlassen können, dass der Verteidiger ausreichende Vorbereitungszeit durchsetzt. In allen Fällen, in denen der Verteidiger um eine Verlegung der Hauptverhandlung bitten muss, bewährt es sich, dem Vorsitzenden so früh wie möglich die Gründe schriftlich darzulegen. Daraus kann sich als „Nebenfolge“ übrigens durchaus ein für die Verteidigung nützliches Gespräch ergeben (Rz. 460 f., 468). Ähnliches gilt auch bei einer Verhinderung des Mandanten. Freilich hat 459 der Verteidiger darauf zu achten, dass der Sachverhalt wahrheitsgemäß vorgetragen wird. Er darf sich aber auch nicht „vorspannen“ lassen, falls ein Zeitgewinn wünschenswert wäre, etwa weil in einem späteren Zeitpunkt das Verhandlungsklima günstiger ist. Es gilt zwar als Erfahrungsregel, dass die Zeit für den Beschuldigten arbeitet. Der Verteidiger darf aber nicht auf dieses Ziel hinwirken, sonst setzt er sich dem Verdacht der Verschleppung und schlimmstenfalls der Strafvereitelung (auf Zeit) aus (Rz. 68). Keineswegs darf er dem Mandanten raten, ohne triftigen Grund in der Hauptverhandlung nicht zu erscheinen.
1 BGH v. 9.10.1989 – 2 StR 352/89, BGHSt. 36, 259; BGH v. 7.12.1994 – 5 StR 519/94, NStZ 1995, 298. 2 BGH v. 12.3.1963 – 1 StR 54/63, NJW 1963, 1114.
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Ein besonderes Kapitel sind Terminkollisionen des Verteidigers (vgl. auch Rz. 161 f. und 460). Sie führen häufig zu Misshelligkeiten und starker Belastung, weil die Gerichtspraxis sehr unterschiedlich ist. Viele Vorsitzende sehen es heute zwar als Selbstverständlichkeit an, in größeren Sachen den Hauptverhandlungstermin langfristig mit der Verteidigung abzustimmen. Auf der anderen Seite erlebt man es immer wieder, dass ein sachlich gerechtfertigter Verlegungsantrag unter lapidarem Hinweis auf „die Geschäftslage“ oder z.B. mit der Begründung abgelehnt wird, der Termin sei „langfristig mit dem Sachverständigen abgesprochen“ (!). Obwohl § 228 Abs. 2 StPO immer noch bestimmt, dass die Verhinderung des Wahlverteidigers kein Grund zur Aussetzung der Hauptverhandlung ist, darf der Verteidiger derartige Entscheidungen nicht hinnehmen. Der Beschuldigte hat einen Anspruch darauf, von dem Anwalt seines Vertrauens verteidigt zu werden1. Dieses Recht steht im Rang dem Gebot zur Verfahrensbeschleunigung grundsätzlich nicht nach. Aufgrund seiner Stellung und Aufgabe in der Rechtspflege kann der Verteidiger beanspruchen, dass sein beruflicher Einsatz nicht „von Obrigkeits wegen“ verfügt wird, sondern Termine in größeren und bedeutsamen Sachen – wenn eben möglich – einverständlich festgelegt werden. Der Verteidiger sollte darauf bestehen, dass auf seine Verhinderung in allen Fällen Rücksicht genommen wird, in denen eine anders nicht zu beseitigende Kollision mit einer gleichrangigen beruflichen Aufgabe besteht. Das ist z.B. der Fall, wenn eine Kollision mit einem Termin vor einem höheren Gericht, insbesondere einem Revisionsgericht (Rz. 979) oder mit einer bereits früher abgestimmten Hauptverhandlung in einer vergleichbar gewichtigen Sache besteht, oder wenn die Kollision durch die Verzögerung einer anderen Hauptverhandlung entsteht, die weder der Verteidiger noch der Angeklagte zu vertreten hat2. Zu den anzuerkennenden Verhinderungen gehört grundsätzlich auch der Urlaub des Verteidigers, zumal wenn er in die allgemeine Ferienzeit fällt3. Der Verteidiger muss aber auch seinerseits zur Vermeidung von Terminkollisionen beitragen. So empfiehlt es sich vielfach, das Gericht schon im Zwischenverfahren zu bitten, „für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens den Hauptverhandlungstermin langfristig abzustimmen, da1 Art. 6 Abs. 3c MRK, BVerfG v. 8.10.1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105 (111); BGH v. 14.1.2004 – 2 StR 315/03, StV 2004, 191; OLG Braunschweig v. 4.5.2004 – 1 Ss (S) 5/04, StraFo 2004, 242; OLG Frankfurt v. 27.10.1994 – 3 Ws 728/94, StV 1995, 9; OLG Frankfurt v. 14.10.1994 – 3 Ws 697/94, StV 1995, 11; OLG Frankfurt v. 28.4.1997 – 3 Ws 315/97, StV 1997, 402. 2 OLG Hamm v. 8.1.1969 – 4 Ss 1511/68, NJW 1969, 943; vgl. auch die bedeutsamen Ausführungen des BFH, mitgeteilt durch Wartner/Ahrndsen, AnwBl. 1976, 126, der für § 227 ZPO sogar zu einer „Rechtspflicht“ des Gerichts zur Terminverlegung gelangt. 3 Der Autor hat sich vor Jahren auf einen entsprechend begründeten Antrag die Antwort eingehandelt: „Wenn die Herren Verteidiger glauben, in Urlaub fahren zu müssen, ist das ihre Sache. Das Verfahren darf dadurch nicht aufgehalten werden.“ – Auf den Urlaub eines Zeugen wird übrigens fast immer Rücksicht genommen!
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mit Terminkollisionen vermieden werden können“. Auf bereits feststehende Verhinderungen in den folgenden Wochen oder Monaten z.B. durch andere Strafsachen oder Urlaub sollte dabei hingewiesen werden. Ein Vorsitzender wird sich nur schwer über solche Anregungen und Bitten eines Verteidigers hinwegsetzen können. Termine in Zivilsachen oder „kleine“ Bußgeldsachen werden im Allgemeinen zurücktreten müssen, zumal hier eine Vertretung leichter zu ermöglichen ist. Ggf. muss der Verteidiger in der Hauptverhandlung einen Aussetzungsantrag stellen und einen Gerichtsbeschluss herbeiführen. Damit wird die Überprüfung des Vorganges in der Revision eröffnet (§ 338 Nr. 8 StPO; Rz. 942). Die Aufhebung eines Termins kann nicht verlangt werden, wenn der Verteidiger das Mandat in Kenntnis der Kollision übernommen hat. Das Gericht kann im Übrigen erwarten, dass der Antrag auf Aufhebung eines Termins nicht nur formelhaft („wegen einer Terminkollision“), sondern im Einzelnen, ggf. sogar unter Angabe des Aktenzeichens des kollidierenden Verfahrens, begründet wird. Der Verteidiger sollte das Gericht auch darüber informieren, aus welchem Grunde eine Vertretung z.B. durch einen Sozius in dieser Sache nicht möglich ist. Bei Erkrankung des Verteidigers braucht er allerdings ein ärztliches Attest nicht vorzulegen. Er kann erwarten, dass seinem anwaltlichen Wort geglaubt wird1. Dass jede Unwahrhaftigkeit des Verteidigers in diesem Bereich die Rücksichtnahme und Kooperationsbereitschaft des Gerichts für alle Zukunft ausschließt, versteht sich von selbst. Es kann nur im Einzelfall entschieden werden, ob bei Terminschwierigkeiten eine schriftliche Eingabe, eine persönliche oder telefonische Besprechung mit dem Richter der geeignete Weg ist. Stets sollte der Verteidiger über die Sitzungstage des Gerichts informiert sein und dem Richter Ausweichtermine „anbieten“ können. Die Verständigung des Gerichts muss auch unverzüglich nach Eingang der Terminsmitteilung erfolgen, damit der Vorsitzende ggf. eine andere Sache „einschieben“ oder in Großverfahren durch eine Umgestaltung des Verhandlungsplanes und/oder die zusätzliche Bestellung eines Offizialverteidigers die Abwesenheit des Wahlverteidigers an einzelnen Verhandlungstagen überbrücken kann2. Ein Kompromiss in diesen Fragen ist – auch im Hinblick auf das Verhandlungsklima – allemal besser als stures Beharren auf einer (vermeintlichen) Rechtsposition oder eine Beschwerde3.
1 Auch die Vorlage eines substantiellen fachärztlichen Attestes hat den Autor allerdings nicht davor bewahrt, dass sofort ein „gefügiger“ Pflichtverteidiger bestellt wurde, der auch konsequent auf Verurteilung „hinarbeitete“. Der Angeklagte wurde trotzdem freigesprochen. 2 BGH v. 17.7.1973 – 1 StR 61/73, NJW 1973, 1985. 3 Zur Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde vgl. LG Berlin v. 13.4.2011 – 528 Qs 43 u. 44/11, StV 2012, 145; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 213 StPO Rz. 8, OLG Stuttgart v. 6.2.1976 – 3 Ws 30/76, NJW 1976, 1647 m.w.N.
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Es gibt im Übrigen noch eine andere Möglichkeit, die mit der Bestellung eines Vertreters zusammenhängt. Falls eine Terminkollision nicht zu beheben ist, muss der Verteidiger zu der einen oder anderen Sache einen Vertreter entsenden. Bei Bestellung eines Pflichtverteidigers kann dieser den Wahlverteidiger vertreten. Viele Vorsitzende akzeptieren eine solche Lösung. Kommt sie nicht in Betracht, so muss der Verteidiger dafür sorgen, dass der Vertreter voll informiert ist. Sonst kann er die Verteidigung nicht wirksam führen. Als Vertreter kommen entweder Kollegen aus der eigenen Kanzlei oder andere Kollegen in Frage, die für ein angemessenes Honorar aushelfen. Äußerstenfalls muss die Sache völlig an einen Kollegen abgegeben werden. Auch die Vertretung durch Referendare kann in geeigneten Sachen Betracht kommen (Rz. 160). Zuweilen gelingt mit dem Vorsitzenden auch eine Vereinbarung dahin, dass auf die Verhinderung durch Auswahl entsprechenden Verhandlungsstoffes (indirekt) Rücksicht genommen wird. b) Prüfung der Zuständigkeit
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Zur Vorbereitung der Hauptverhandlung gehört auch eine Überprüfung der Zuständigkeit des mit der Sache befassten Gerichts. Diese Maßnahme ist notwendig, wenn der Verteidiger sich die Revisionsrüge der Unzuständigkeit des Tatgerichts (§ 338 Nr. 4 StPO) erhalten will, da insoweit eine Rügepräklusion besteht. Die Untersuchung der Zuständigkeit kann sich aber auch aus Gründen empfehlen, die nicht im Bereich des Revisionsrechts liegen. Die örtliche Unzuständigkeit des Gerichts ist nach Eröffnung des Hauptverfahrens nur auf besondere Rüge zu beachten, die bis zum Beginn der Vernehmung des Mandanten vorgebracht sein muss (§ 16 S. 2 StPO). Findet die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten statt, muss die Beanstandung vor Beginn der Verhandlung geltend gemacht werden. Bei der Untersuchung der örtlichen Zuständigkeit ist anhand der Akten zu ermitteln, welcher Gerichtsstand (§§ 7 ff. StPO) in Betracht kommt und ob das angerufene Gericht auch nach dem Geschäftsverteilungsplan örtlich zuständig ist. Neben der örtlichen Zuständigkeit bedarf die besondere funktionelle Zuständigkeit ebenfalls der Überprüfung, weil auch hier eine Rügepräklusion (§ 6a StPO) gilt. Diese Rüge kommt in Betracht, wenn z.B. statt der angerufenen allgemeinen Strafkammer eine besondere Strafkammer (§ 74e GVG) zur Entscheidung berufen ist. Auch hier muss die Rüge bis zum Beginn der Vernehmung des Mandanten zur Sache vorgebracht werden. Der Verteidiger wird aber stets überlegen müssen, ob eine Verweisung des Verfahrens an die Spezialstrafkammer tatsächlich den Interessen seines Mandanten dient oder ob dieser nicht vielleicht bei der allgemeinen Strafkammer letztlich doch „besser aufgehoben“ ist. Eine besondere Form ist für die Rüge nicht vorgeschrieben: Im Hinblick auf die den Beschwerdeführer im Revisionsverfahren treffende „Beweis308
Vorbereitung der Hauptverhandlung
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last“ ist die Schriftform dringend zu empfehlen. Der Inhalt der Rüge muss den Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO entsprechen1. Die Verfahrensvoraussetzung der sachlichen Zuständigkeit im Übrigen ist durch das Gericht von Amts wegen zu prüfen (§ 6 StPO). Hier geht es jedoch nur um die Frage, ob ein Gericht höherer Ordnung zuständig ist, z.B. anstelle des Schöffengerichts die Große Strafkammer. Für den Verteidiger wird im Allgemeinen kein Anlass bestehen, die Verweisung der Sache an das höherrangige Gericht zu beantragen, weil damit in der Regel eine Instanz verlorengeht. Es gibt allerdings Ausnahmen: Hat sich z.B. das Oberlandesgericht, das bei einer Hauptverhandlung erster Instanz vor dem Schöffengericht für die Revision zuständig wäre, in wesentlichen Sach- oder Rechtsfragen des Falles bereits im Haftprüfungsverfahren, Beschwerdeverfahren oder Klageerzwingungsverfahren festgelegt, so kann die Verweisung an die Große Strafkammer als Tatgericht erster Instanz zweckmäßig sein, weil damit das Oberlandesgericht aus dem Verfahren ausgeschaltet wird. Der damit verbundene Verlust der zweiten Tatsacheninstanz ist manchmal das kleinere Übel. c) Besetzung der Richterbank Auch mit der ordnungsgemäßen Besetzung des Gerichts muss sich der 463 Verteidiger bereits vor der Hauptverhandlung befassen, wenn er sich für die Revisionsinstanz die Möglichkeit einer Besetzungsrüge (§ 338 Nr. 1 StPO; dazu Rz. 932) sichern will. Die Rügepräklusion tritt allerdings nur dann ein, wenn die Besetzung des Gerichts mitgeteilt und den Verfahrensbeteiligten ausreichende Gelegenheit zur Überprüfung gegeben worden ist. Die Einzelheiten des nicht unkomplizierten Verfahrens sind in den §§ 222a und 222b StPO geregelt. Die sich in der Praxis ergebenden Fragen sind zahlreich und vielgestaltig: Insoweit muss wegen aller Einzelheiten auf die Kommentarliteratur und das Schrifttum verwiesen werden, mit dem man sich sehr sorgfältig vertraut machen muss2. Die Praxis der Gerichte bei der Mitteilung ihrer Besetzung ist unterschiedlich. Es gibt Gerichte, die grundsätzlich die Besetzung erst zu Beginn der Hauptverhandlung bekanntgeben. Der Verteidiger muss wissen, dass er in solchen Fällen Anspruch auf Unterbrechung der Hauptverhandlung für eine Woche hat3. Es gehört zu den Widersprüchlichkeiten des Strafprozesses, dass manche Richter in solchen Fällen ärgerlich reagieren, wenn der Verteidiger den durch die Säumigkeit des Gerichts ausgelösten Unterbrechungsanspruch geltend macht bzw. voll „ausschöpft“. Man wird das unbehagliche Gefühl nicht los, dass die Ausnutzung der dem Verteidiger ausnahmsweise hier zugewachsenen „Position der Stär-
1 BGH v. 4.12.1979 – 5 StR 571/79, GA 1980, 255; Dahs, Revision, Rz. 173 f. 2 Dahs, Revision, Rz. 120 ff.; Hamm, Rz. 139 ff.; 318 ff.; Ignor/Sättele in Beck’sches Formularbuch, 5. Aufl. 2010, S. 397. 3 BGH v. 10.6.1980 – 5 StR 464/79, BGHSt. 29, 283.
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
ke“ gegenüber dem Gericht für den Mandanten das Risiko irgendwelcher Nachteile mit sich bringt. Der Verteidiger, der solche Konfrontation von vornherein vermeiden will, wird sich ungeachtet des § 222a StPO die Kenntnis von der Besetzung der Richterbank verschaffen und diese überprüfen. Es gibt sogar Gerichte, die an auswärtige Verteidiger zugleich mit der Besetzungsmitteilung die entsprechenden Unterlagen (Auszug aus dem Geschäftsverteilungsplan, Änderungsbeschlüsse, Auszüge aus den Schöffenunterlagen) übersenden. Der Verteidiger steht dann vor der Frage, ob er sich auf diesen „Service“ verlassen kann oder zusätzlich eine eigene Überprüfung der Originalunterlagen vornehmen muss. Soweit die ihm übermittelte Dokumentation lückenlos und in sich schlüssig ist, kann er wohl auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit vertrauen; in jedem Zweifelsfalle ist jedoch die eigene Kontrolle vorzuziehen. Die Nachprüfung der Besetzung des Gerichts erfordert genaueste Nachforschungen und manchmal geradezu Suchaktionen. Sie erstreckt sich sowohl auf die Berufsrichter (einschließlich einer etwaigen „Zweierbesetzung“ der Strafkammer1) wie auf die ehrenamtlichen Richter. Der Berufung und Auswahl der Richter sowie der Zusammensetzung des Spruchkörpers ist anhand der Generalakten und des Geschäftsverteilungsplanes nachzugehen. Die Geschäftsstellen der Gerichte und der Justizverwaltung sind verpflichtet und innerdienstlich angewiesen, dem Verteidiger die in Betracht kommenden Vorgänge offenzulegen; darauf hat der Verteidiger einen Rechtsanspruch2. 464
Bezüglich der Berufsrichter bei den Strafkammern ist der Geschäftsverteilungsplan zu überprüfen, der vom Präsidium des Landgerichts aufgestellt ist (§ 21e Abs. 1 S. 1 GVG). Zunächst ist der Frage nachzugehen, ob das Präsidium ordnungsgemäß gebildet (§ 21b GVG) ist. Der Verteidiger sollte auch untersuchen, ob der Geschäftsverteilungsplan etwa nicht in zulässiger Weise aufgestellt3 oder von vornherein undurchführbar, sein Inhalt also insgesamt rechtswidrig ist, oder ob er geändert worden ist, ohne dass dafür die Voraussetzungen des § 21e Abs. 3 GVG gegeben waren. Allerdings wird für die Revisibilität von Fehlern „Willkür“ gefordert4. Hinsichtlich des Vorsitzenden kann die Besetzungsrüge dann begründet sein, wenn dieser infolge anderweitiger Aufgaben so häufig verhindert ist, dass er auf die Rechtsprechung der Kammer keinen richtungsweisen-
1 Dahs, Revision, Rz. 129; die gesetzliche Regelung ist inzwischen zeitlich nicht mehr limitiert. 2 So schon BVerwG v. 26.5.1961 – VII C 7/61, NJW 1961, 1989 für die Einsicht in die Geschäftsverteilungspläne sowie die Schöffenlisten. 3 BGH v. 21.5.1963 – 2 StR 84/63, BGHSt. 18, 386. 4 Vgl. BGH v. 30.7.1998 – 5 StR 574/97, BGHSt. 44, 161; Dahs, Revision, Rz. 124 ff.
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Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 465
den Einfluss ausüben kann1. Hinsichtlich der Beisitzer ist die Zuteilung im Geschäftsverteilungsplan maßgebend: Dabei sind insbesondere auch die dort getroffenen Regelungen für die Reihenfolge der Vertreter im Verhinderungsfalle zu beachten. Hat die Strafkammer mehr als zwei Beisitzer, so regelt sich die Heranziehung in den einzelnen Sachen nach dem internen Geschäftsverteilungsplan der Strafkammer (§ 21g GVG). Bei den Schöffen ist die Identität der mitwirkenden Schöffen mit den 465 ausgelosten Schöffen zu kontrollieren, ebenso die Ordnungsmäßigkeit der Auslosung2 und Vereidigung3. Sind Hilfsschöffen zugezogen worden, so kann es darauf ankommen, wer die Entscheidung über die Streichung des Hauptschöffen oder seine Entbindung von der Einzelsitzung getroffen hat4, ob tatsächlich der in der Hilfsschöffenliste an nächster Stelle stehende noch nicht „verbrauchte“ Hilfsschöffe herangezogen worden ist, ob, wann und von wem die Schöffen beeidigt worden sind u.a.5. Nicht jeder Fehler in der Besetzung des Gerichts ist jedoch ein absoluter Revisionsgrund im Sinne des § 338 Nr. 1 StPO. Nur bei (objektiv) willkürlicher, nicht schon bei irrtümlicher Abweichung von den Geschäftsverteilungsplänen wird ein revisionsbegründender Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG anerkannt6. Die Frage, in welchem Zeitpunkt die Besetzungsrüge erhoben wird, lässt sich nur im Einzelfall beantworten. Soll die Besetzungsrüge „vorsorglich“ erhoben werden, um für den Fall eines ungünstigen Ausganges des Verfahrens für die Revision einen „Pfeil im Köcher“ zu haben, so wird die Geltendmachung der Beanstandung bis zur Hauptverhandlung zurückzustellen sein, weil erfahrungsgemäß das Gericht dann eher geneigt ist, an seiner Besetzung festzuhalten, die beantragte Unterbrechung abzulehnen (Rz. 517) oder die Rüge zurückzuweisen, die dann in der Revision uneingeschränkt erhoben werden kann. Geht es jedoch darum, einen oder mehrere Richter aus bestimmten Gründen im Interesse des Klienten bereits von der Mitwirkung in der Tatsacheninstanz auszuschließen, so wird es sich in der Regel empfehlen, die Rüge so rechtzeitig vor der Hauptverhandlung geltend zu machen, dass das Gericht unbeeinflusst 1 Nach BGH v. 19.6.1962 – GSZ 1/61, BGHZ 37, 210 muss der Vorsitzende durchweg 75 % der ihn treffenden Obliegenheiten selbst erledigen; BGH v. 16.11.1972 – 1 StR 418/72, BGHSt. 25, 54; auch BGH v. 22.4.1983 – RiZ (R) 4/82, BGHZ 88, 1. 2 BGH v. 20.9.1983 – 5 StR 189/83, StV 1983, 446; BGH v. 28.2.1984 – 5 StR 1000/83, NStZ 1984, 274; i.E. Dahs, Revision, Rz. 149 ff. 3 Dazu BGH v. 22.5.2003 – 4 StR 21/03, NStZ 2004, 98; BGH v. 12.7.2001 – 4 StR 550/00, NJW 2001, 3062. 4 Die Gründe für die Entbindung eines Schöffen von der Dienstleistung sind der revisionsgerichtlichen Nachprüfung entzogen, BGH v. 20.1.1981 – 5 StR 562/80, GA 1981, 382; i.Ü. Dahs, Revision, Rz. 151. 5 Dazu i.E. Kuckein in KK, § 338 StPO Rz. 39 ff. 6 Vgl. nur BGH v. 10.9.1968 – 1 StR 235/68, BGHSt. 22, 237 (239); BGH v. 30.7.1998 – 5 StR 574/97, BGHSt. 44, 161; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, § 21e GVG Rz. 25.
311
Rz. 466
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
von Organisations- und Zeitdruck entscheiden und noch rechtzeitig andere Richter zur Dienstleistung heranziehen kann (vgl. i.Ü. Rz. 517). d) Ablehnungsgesuche Gründe und Verfahren der Richterablehnung sind im Unterabschnitt B V 3b aa behandelt (Rz. 198 ff.). Vgl. auch die dort angeführte Rspr. u. Lit. Hier werden nur die Besonderheiten der Ablehnung im Stadium der Vorbereitung der Hauptverhandlung behandelt. 466
Will der Verteidiger sich vor der Hauptverhandlung über die Möglichkeiten einer Richterablehnung informieren, muss er rechtzeitig die Gerichtsbesetzung nachprüfen. Im Allgemeinen wird es genügen, auf der Geschäftsstelle des Gerichts nachzufragen. Andernfalls kann der Verteidiger beantragen, ihm die in der Hauptverhandlung mitwirkenden Personen namhaft zu machen (§ 24 Abs. 3 S. 2 StPO). Das Gericht ist nämlich dann verpflichtet, eine Änderung in der Besetzung mitzuteilen1. Unterlässt das Gericht die beantragte Mitteilung, so darf der Verteidiger nicht versäumen, den Verfahrensfehler in der Hauptverhandlung zu beanstanden, sonst kann darauf eine Revision nicht gestützt werden2. Kennt der Verteidiger die Besetzung des Gerichts, so kann es geboten sein, dass er die etwa gegen einzelne Gerichtspersonen in Frage kommenden Ablehnungsgründe selbst nachprüft, wenn sie nicht offen zutage liegen. Auch den Zeitpunkt des Ablehnungsgesuchs muss der Verteidiger sorgfältig überlegen (Rz. 205).
467
Es kann zweckmäßig sein, den Ablehnungsgrund zu einem möglichst frühen Zeitpunkt vorzubringen, also sogar einige Zeit vor der Hauptverhandlung. Dies ist z.B. dann zu empfehlen, wenn der Mandant ein Interesse daran hat, dass die Hauptverhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt durchgeführt wird. Verteidigungstaktisch ist die frühe Ablehnung unbedenklich, wenn die Ablehnungsgründe eindeutig sind und das Gericht an dem Gesuch nicht „vorbeikommen“ kann. Vorsorglich sollte man allerdings prüfen, welcher Richter an die Stelle des Abgelehnten rücken wird, damit man nicht trotz des erfolgreichen Ablehnungsgesuchs eine „böse Überraschung“ erlebt. Die Zurückstellung eines Ablehnungsgesuchs bis unmittelbar vor Beginn der Vernehmung des ersten Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse (§ 25 Abs. 1 StPO) kann sich aus verteidigungstaktischen Gründen dann empfehlen, wenn ein sachliches Interesse daran besteht, die Hauptverhandlung nicht so zügig „durchlaufen“ zu lassen, wie vom Gericht geplant, oder wenn die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch schwierig ist und darauf spekuliert wird, dass dem Gericht in seinem Drang, die Hauptverhandlung zu „retten“, ein Fehler unterläuft. Dieser kann dann ein „Pfeil im Köcher“ 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 24 StPO Rz. 21. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 24 StPO Rz. 22 m.N.
312
Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 469
für eine evtl. Revision sein. Schließlich kann die Zurückstellung des Ablehnungsgesuchs auch dem Ziel dienen, das Gericht „gesprächsbereit“ zu stimmen (Rz. 179, 502), z.B. wenn der abgelehnte Berichterstatter nicht kurzfristig ersetzt werden kann. Bei allen verteidigungstaktischen Überlegungen sollte man allerdings § 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO im Auge behalten. Ein evidenter Missbrauch des Ablehnungsrechts könnte in Extremfällen den Verdacht der versuchten Strafvereitelung (§§ 258, 22 StGB) auslösen. e) Kontakte zu Gericht und Staatsanwaltschaft In vielen Fällen ist es angebracht, vor der Hauptverhandlung den Vorsit- 468 zenden des Gerichts und den Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft zu einer Besprechung aufzusuchen. Dabei kann alles erörtert werden, was für die Hauptverhandlung bedeutungsvoll werden kann. Das ist der Fall für dieselben Fragen und Umstände, die im Stadium des Zwischenverfahrens zur Sprache kommen, wenn der Vorsitzende sie schon in diesem Zeitpunkt für den Fall der Eröffnung zur Diskussion stellt. Die sich hierauf beziehende eingehende Darstellung (Rz. 437 f.) für das Eröffnungsverfahren ist daher zugleich ein Teil des hier behandelten Abschnitts. In geeigneten Fällen eröffnet sich gerade hier auch die Möglichkeit zu einer Verständigung nach § 257c StPO1 (Rz. 177 ff., 502 ff.), weil sie quasi die letzte Gelegenheit ist, die Hauptverhandlung ganz oder teilweise zu „ersparen“. Je nach Situation bei Gericht und Staatsanwaltschaft erhält man unter Umständen geradezu verblüffend günstige „Angebote“. Wird dem Verteidiger erst so kurz vor der Hauptverhandlung Aktenein- 469 sicht gewährt, so dass die Vorbereitungszeit für eine sachgerechte Verteidigung nicht mehr ausreicht, muss dies dem Gericht unverzüglich mitgeteilt werden, damit es hinsichtlich des Termins noch anderweitig disponieren kann. Die Zurückstellung des Vertagungsantrages bis zur Hauptverhandlung kann dazu führen, dass dem Verteidiger die Kosten des Termins auferlegt werden (§ 145 Abs. 4 StPO)2. Auch wenn früher schon Akteneinsicht gewährt worden ist, sollte der Verteidiger kurz vor der Hauptverhandlung eine erneute Akteneinsicht (Rz. 259 ff.) durchführen. Häufig hat der sachliche Inhalt der Gerichtsakten zugenommen3, aus Verfügungen des Gerichts und der Staatsanwaltschaft, auch aus Schriftsätzen anderer Verfahrensbeteiligter oder Briefen von Zeugen an das Gericht ergeben sich nicht selten wichtige Hinweise für die Verteidigung. 1 Dazu BVerfG v. 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10 und 2 BvR 2155/11, NStZ 2013, 295. 2 OLG Düsseldorf v. 10.12.1980 – 1 Ws 721/80, AnwBl. 1981, 201. 3 Bei Verweigerung der Akteneinsicht besteht unter Umständen ein Vertagungsanspruch, OLG Hamm v. 6.12.1974 – 5 Ss OWi 936/74, MDR 1975, 422 (redaktioneller Leitsatz).
313
Rz. 470
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
In diesem Stadium des Verfahrens ist ggf. auch bei dem Vorsitzenden und dem Präsidenten des Landgerichts zu beantragen, Foto- und Filmaufnahmen in und vor dem Sitzungssaal zur Vermeidung einer unnötigen Bloßstellung des Klienten zu untersagen (Nr. 129 RiStBV)1. f) Verbindung zu Mitangeklagten und Mitverteidigern 470
Der Verteidiger sollte sich in jedem Verfahren, an dem mehrere Angeklagte beteiligt sind, spätestens jetzt überlegen, ob und in welchem Umfang es notwendig ist, Kontakte mit den Mitangeklagten bzw. deren Verteidigern vor Beginn der Hauptverhandlung aufzunehmen. Das ist ebenso zulässig wie der Ansatz zu einer Sockelverteidigung (Rz. 241, 72)2. Nur muss der Verteidiger die Grenzen genau beachten, die das Verbot der Verdunkelung (Rz. 346) und der Strafvereitelung (Rz. 59, 72) setzen. Auch muss er sich selbstverständlich jeder Beeinflussung der Mitangeklagten enthalten. Gegenüber Mitangeklagten, die nicht verteidigt sind, ist besondere Vorsicht am Platze. Das gilt vor allen Dingen, wenn sich die Angeklagten bisher untereinander belastet haben und der Verteidiger feststellen will, wie sich der andere Mitangeklagte in der Hauptverhandlung einlassen wird. Erfahrungsgemäß macht dieser Fall in der Praxis am ehesten die Befragung anderer Angeklagter erforderlich. Hier ist es empfehlenswert, sich auf die bloße Frage nach der Einlassung in der Hauptverhandlung zu beschränken. In heiklen Fällen kann es geboten sein, die Frage auch schriftlich zu formulieren. Schriftliche Festlegung der Fragen ist auch zweckmäßig, wenn es nur darum geht, ob andere Mitangeklagte über Umstände Bescheid wissen, die dem eigenen Mandanten unbekannt sind oder die ihn entlasten könnten (Rz. 313 ff.). Wird der Mitangeklagte verteidigt, so scheidet er als unmittelbarer Gesprächspartner aus. Die Prozesssituation darf nur mit seinem Verteidiger erörtert werden. Das gilt auch für Verhandlungspausen, falls der Mitverteidiger nicht anwesend ist. In diesem Falle hat sich der Verteidiger jeder Erörterung des Verfahrensgegenstandes zu enthalten. Dies widerspricht der Pflicht zur Kollegialität und kann unangenehme Reaktionen bei dem übergangenen Verteidiger auslösen. Auch wenn man von einem Mitangeklagten in Abwesenheit seines Verteidigers angesprochen wird, ist in der Regel Zurückhaltung zu empfehlen. Im Übrigen sind Verteidigerbesprechungen (Rz. 49, 72) in vielen Fällen auch in diesem Stadium zweckmäßig. Freilich besteht die Gefahr der Verdunkelung auch hier, weil jeder Verteidiger die Akten und damit die Punkte kennt, in denen sich die Beschuldigten gegenseitig belasten. Jedenfalls kann leicht der Verdacht aufkommen, die Verteidiger „steckten unter einer Decke“. Es gelten hier dieselben Überlegungen wie im Ermittlungsverfahren (Rz. 72). Allerdings sollte man deshalb die Verbindung zu den Mitverteidigern auch nicht scheuen. Sie kann bei voller 1 BVerfG v. 11.11.1992 – 1 BvR 1595/92, 1 BvR 1606/92, BVerfGE 87, 334. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 137 StPO Rz. 11 m.N.
314
Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 472
Wahrung berufs- und prozessrechtlicher Maximen außerordentliche Vorteile für die Verteidigung bringen, z.B. Vereinbarung einer gemeinsamen Basis- oder Sockelverteidigung (Rz. 72, 241), „Arbeitsteilung“, Vermeidung sachlich nicht notwendiger Kontroversen u.a.1. Problematisch können insbesondere auch Besprechungen mit anwaltlichen Zeugenbeiständen sein (Rz. 1087)2. g) Vorbereitung der Beweisführung Größte Aufmerksamkeit und schwierige Entscheidungen werden dem 471 Verteidiger zur Vorbereitung der Beweisaufnahme abverlangt. Seine Möglichkeiten sind zweischneidig (vgl. besonders Rz. 481). Dazu kommt verschiedenes in Betracht. aa) Eigene „Ermittlungen“ Literatur: Vgl. dazu das vor Rz. 313 angeführte Schrifttum.
Hat der Verteidiger eigene Beweispersonen bereits angehört (Rz. 217 ff., 472 226), so kann zur Vorbereitung der Hauptverhandlung ggf. eine nochmalige Befragung geboten sein. Unter Umständen gehört es zur Pflicht des Verteidigers, Zeugen und Sachverständige vor der Hauptverhandlung zu befragen, wenn er vorher keine Gelegenheit dazu hatte und anders die Verteidigung nicht ordnungsgemäß geführt werden kann (Rz. 313 ff., 448). Der Verteidiger ist gehalten, die Grenzen der Befragung zu beachten, und er sollte im eigenen Interesse auch den Anschein einer unzulässigen Beeinflussung vermeiden. Er darf jedoch einem Zeugen nahelegen, von einem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen (Rz. 217)3. Hat der Zeuge bereits ausgesagt und will er in der Hauptverhandlung schweigen, so muss der Verteidiger daran denken, dass die Verhörspersonen unter bestimmten Umständen vernommen werden können (Rz. 576). Auch wird die bloße Aussageverweigerung eines Angehörigen häufig als Belastung des Mandanten gewertet (Rz. 570). Ist am Verfahren ein Sachverständiger beteiligt, so kann auch eine nochmalige außergerichtliche Kontaktaufnahme im Interesse des Auftraggebers liegen. Das gilt insbesondere, wenn es sich um eigene Sachverständige der Verteidigung handelt und deren Stellungnahme von anderen Prozessbeteiligten angegriffen worden ist. Steht ein fachlicher Streit der Sachverständigen bevor, wie vielfach in Strafverfahren mit medizinischen, pharmazeutischen oder technischen Problemen, so ist die Bera1 OLG Düsseldorf v. 10.12.1990 – 1 Ws 1096/90, NJW 1991, 996; Fischer, § 258 StGB Rz. 16 f.; Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 13. 2 Vgl. dazu Dahs, NStZ 2011, 200. 3 Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 29.
315
Rz. 473
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
tung mit dem eigenen Sachverständigen und seine Information über die forensischen Modalitäten kurz vor der Hauptverhandlung unerlässlich. Der Verteidiger muss dabei beachten, dass Gerichte in der Hauptverhandlung gerne nach solchen Kontakten fragen. Obwohl sie zulässig sind1, hat man zuweilen doch das unangenehme Gefühl, dass sich Richter dadurch – in prozessrechtlich nicht fassbarer – Weise beeinflussen lassen. Ein Indiz dafür kann die besonders kritische Befragung eines solchen Sachverständigen sein. Dann ist ggf. eine deutliche Erklärung der Verteidigung angebracht. Auch die Augenscheinseinnahme des Tat- oder Unfallortes kann zur Vorbereitung der Hauptverhandlung von großem Nutzen sein: sie ist unerlässlich, wenn die örtlichen Gegebenheiten ein wesentliches Element der Beweisführung bilden. Der Verteidiger sollte nicht ohne weiteres von den bei den Akten befindlichen polizeilichen Skizzen ausgehen. Diese können Unrichtigkeiten aufweisen, vor allem wenn sie auf Schemablättern (z.B. von Kreuzungen) erstellt werden. Auch Fotos bieten nicht immer eine naturgetreue Wiedergabe: Schon ein ungünstiger Aufnahmewinkel kann zu täuschenden Verzerrungen führen. Im Allgemeinen vermittelt auch nur die eigene Ortsbesichtigung ein hinreichend plastisches Bild, um zu beurteilen, ob ein Beweisantrag auf richterliche Augenscheinseinnahme sinnvoll ist. bb) Anträge zur Beweiserhebung Literatur: Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess, 6. Aufl. 2013; Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl. 2012, Rz. 327 ff.; Hamm/Hassemer/ Pauly, Beweisantragsrecht, 3. Aufl. 2011; Nehm/Senge, Ursachen langer Hauptverhandlungen, NStZ 1998, 377; Oehler, Der vor der Hauptverhandlung gestellte Beweisantrag, JZ 1951, 725; Perron, Das Beweisantragsrecht des Beschuldigten im deutschen Strafprozess, 1995; Schlothauer, Vorbereitung der Hauptverhandlung, 2. Aufl. 1998; Traub, Die Behandlung übergangener, nach § 219 StPO gestellter Beweisanträge, NJW 1957, 1095.
473
Häufig ist es erforderlich, schon vor der Hauptverhandlung „Beweisanträge“ nach § 219 StPO zu stellen. Sie kommen insbesondere in Betracht, wenn der Angeklagte erst nach Abschluss des Zwischenverfahrens einen Verteidiger beauftragt. Nach Form und Inhalt muss auch der vorweggenommene Beweisantrag die Voraussetzungen eines echten Beweisantrages erfüllen (Rz. 648 ff.). Der Vorteil des Beweisantrages vor der Hauptverhandlung liegt darin, dem Vorsitzenden ggf. die Zielsetzung der Verteidigung und den voraussichtlichen Umfang der Beweisaufnahme zu signalisieren. Die Beweisanträge können das Ziel haben, das Gericht schon bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung „auf die richtige Schiene zu bringen“ oder die Schwierigkeiten aufzuzeigen, die eine (uneinge-
1 Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Thesen zur Strafverteidigung, Bd. 8, 1992, These 31.
316
Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 474
schränkte) Durchführung der Hauptverhandlung mit sich bringen würde (dazu Rz. 434 ff.). Evtl. besteht auch ein Interesse daran, Verstimmungen zu vermeiden, die leicht auftreten, wenn in der Hauptverhandlung die Beweisanträge überraschend gestellt werden (Rz. 666 f.). Freilich darf er auch die Nachteile nicht verkennen (Rz. 481). Nicht immer ist es zweckmäßig, den Verteidigungsplan frühzeitig offenzulegen (Rz. 441 f.). Auch ist es durchaus möglich, dass sich die Staatsanwaltschaft oder in ihrem Auftrag die Polizei mit einem vor der Hauptverhandlung benannten Zeugen oder Sachverständigen befasst. Andererseits dienen Auseinandersetzungen mit dem Vorsitzenden über die Ladung von Zeugen oder Sachverständigen meist nicht der Sache des Auftraggebers. Diesen Nachteil vermeidet der Verteidiger, wenn er auf einen Antrag nach § 219 StPO verzichtet und die Beweispersonen selbst lädt, die er für die Hauptverhandlung benötigt (Rz. 475 ff.), wobei er allerdings die gesetzlichen Einschränkungen des § 245 Abs. 2 StPO ins Kalkül ziehen muss. Bei Abwägung aller Umstände erweist sich nicht selten doch der Beweisantrag in der Hauptverhandlung als der bessere Weg, weil die Option damit offengehalten wird. Der Verteidiger darf nicht übersehen, dass die Ablehnung eines vorweg- 474 genommenen Beweisantrages seine besondere Aufmerksamkeit verlangt. Die Ablehnung hat nur vorläufigen Charakter, so dass der Antrag in der Hauptverhandlung wiederholt werden muss. Das ist insbesondere erforderlich, wenn der Vorsitzende des Gerichts das Gesuch ohne Begründung ablehnt oder antwortet, über den Antrag werde in der Hauptverhandlung entschieden. Wiederholt der Verteidiger den Beweisantrag nicht, so kann ihm im Revisionsverfahren entgegengehalten werden, er habe darauf verzichtet1 (Rz. 524, 797). Eine Wiederholung des Antrages in der Hauptverhandlung kann lediglich unterbleiben, wenn der Vorsitzende den Beweisantrag mit der Begründung ablehnt, die unter Beweis gestellte Tatsache werde als wahr unterstellt. Hierüber zu befinden ist allein Sache des Gerichts in der Hauptverhandlung2. Eine erneute Stellung des Antrages ist auch erforderlich, wenn die auf einen Beweisantrag des Verteidigers von Amts wegen geladenen Zeugen oder Sachverständigen in der Hauptverhandlung nicht erscheinen. Sonst geht das Rügerecht verloren. In allen Fällen der Ablehnung des Beweisantrages sollte sich der Verteidiger überlegen, ob er die von ihm benannten Beweispersonen nicht selbst lädt oder „stellt“ (Rz. 475 ff.) und einen erneuten Beweisantrag – evtl. mit Begründung – in der Hauptverhandlung stellt (Rz. 473 ff.). Im Interesse des Mandanten darf er es nicht darauf ankommen lassen, einen Verfahrensverstoß erst im Revisionsverfahren zu rügen.
1 BGH v. 5.7.1951 – 4 StR 281/51, BGHSt. 1, 286; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 219 StPO Rz. 7; Dahs, Revision, Rz. 248. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 219 StPO Rz. 7; differenziert Alsberg/Nüse/Meyer, S. 861 f.; abl. Bohnert, NStZ 1983, 344.
317
Rz. 475
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
cc) Selbstladung von Zeugen und Sachverständigen Literatur: Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010, Rz. 798, 805 f.; Krause, Der „Gehilfe“ der Verteidigung und sein Schweigerecht, StraFo 1998, 1; Müller, Egon, Der arme Angeklagte und § 245 StPO, ZRP 1969, 174; Schlothauer, Vorbereitung der Hauptverhandlung, 2. Aufl. 1998; Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, 12. Aufl. 2007.
475
Das Recht des Verteidigers und des Nebenklägers (Rz. 1062), Zeugen und Sachverständige zur Hauptverhandlung selbst zu laden (§ 220 StPO) hat von seiner Bedeutung für die Verteidigerpraxis viel verloren, weil das Gericht nicht verpflichtet ist, diese Beweispersonen unbedingt zu hören (§ 245 StPO). Vielmehr muss der Verteidiger zusätzlich einen Beweisantrag stellen, der allerdings nur unter eingeschränkten Voraussetzungen abgelehnt werden kann. Auch mag die Bereitschaft des Gerichts zur Vernehmung aus psychologischen Gründen größer sein, „wenn der Zeuge (Sachverständige) nun schon mal da ist“. Das Verfahren der Selbstladung ist geboten, falls Beweisanträge vor der Hauptverhandlung ohne Begründung oder mit fehlerhafter Begründung abgelehnt werden (Rz. 474). Sie kann angebracht sein, falls ein bereits entlassener Zeuge oder Sachverständige erneut befragt werden soll/muss (Rz. 594). Schließlich ist die unmittelbare Ladung sinnvoll, wenn durch Beweisanträge mit Angabe des Beweisthemas die Strategie der Verteidigung zur Unzeit offenbart würde.
476
Die Vorteile des präsenten Beweismittels kann der Verteidiger allerdings nur ausnutzen, wenn er die formellen Voraussetzungen hierfür einhält. Entscheidend ist die Ladung durch den Gerichtsvollzieher (§ 38 StPO). „Stellt“ der Verteidiger lediglich einen Zeugen oder Sachverständigen ohne formelle Ladung, so gilt für den Beweisantrag § 244 Abs. 3–5 StPO. Der Verteidiger sollte in jedem Einzelfall überlegen, ob er dem Gericht und der Staatsanwaltschaft die Ladung zur Hauptverhandlung mitteilt, auch wenn die Unterlassung rechtlich unschädlich ist (§ 222 Abs. 2 StPO). Es ist eine unangenehme Situation, wenn dem Verteidiger die unbegründete Unterlassung der Mitteilung vorgehalten wird. Sie soll den Prozessbeteiligten zwar Gelegenheit geben, sich vor der Hauptverhandlung über die Person des Geladenen zu unterrichten, nicht aber der Staatsanwaltschaft ermöglichen, den Zeugen zunächst selbst – ohne Verteidiger – zu vernehmen. Es kann auch zweckmäßig sein, dem Gericht mitzuteilen, für welchen Zeitpunkt der Hauptverhandlung der Zeuge geladen ist. Er braucht nämlich nicht zu Beginn der Hauptverhandlung anwesend zu sein1. Dagegen ist es sachlich geboten, die Mitteilung zurückzustellen, etwa wenn der Überraschungseffekt der Gegenüberstellung mit einem Belastungszeugen ausgenutzt werden soll.
1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 243 StPO Rz. 5.
318
Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 479
Über die Ladung durch den Gerichtsvollzieher ist in der Hauptverhand- 477 lung der Nachweis zu führen. Ist die Zustellung vom Gerichtsvollzieher noch nicht zurück, so ist daran zu denken, dass Zeugen und Sachverständige Ladungen meist bei sich tragen. Es reicht aus, wenn diese Ladungen dem Gericht vorgelegt werden. Der Verteidiger darf auch nicht vergessen, dass er bei der Ladung die gesetzliche Entschädigung für Reisekosten und Versäumnis durch den Gerichtsvollzieher in bar anbieten oder deren Hinterlegung nachweisen lassen muss. Sonst ist die Beweisperson nicht zum Erscheinen verpflichtet (§ 220 Abs. 2 StPO). Dieses Verfahren ist umständlich. Besonders bei Sachverständigen ist es schwierig, die Entschädigung für Versäumnisse in der richtigen Höhe anzubieten. Die Vergütung für den Sachverständigen braucht vorher nicht in jedem Falle angeboten zu werden. Sind Zeugen oder Sachverständige bereit zu erscheinen, so genügt es, auf der Ladung zu vermerken, dass der Angeklagte die Entschädigung für Versäumnis und Reisekosten zahlt. Diese Ladung verpflichtet die Beweisperson zwar nicht zum Erscheinen, auch ist die Ladung formell nicht in Ordnung, das Gericht hat aber das Angebot der Entschädigung nicht zu prüfen1. Der Verteidiger darf allerdings in diesen Fällen in die Ladung nicht die Androhung einer Geld- oder Haftstrafe für den Fall des Nichterscheinens aufnehmen, die wegen der Ordnungswidrigkeit der Ladung nicht verhängt werden könnte. Der Verteidiger könnte sich damit unter Umständen sogar dem Verdacht der Nötigung aussetzen. Die Ladung von Sachverständigen kann Schwierigkeiten wegen der Kostenfrage bewirken. Die Kosten können so beträchtlich sein, dass der Mandant sie nicht aufbringen kann. Bei Pflichtverteidigung stehen sie ohnehin meist nicht zur Verfügung. Damit wird eine Benachteiligung der Verteidigung sichtbar, die dem Prinzip der Waffengleichheit widerspricht2. Bei der Informationserteilung an den Sachverständigen wird der Verteidi- 478 ger dem Sachverständigen auch seine Akten vollständig zur Verfügung stellen, soweit dieser sie für das Gutachten benötigt (Rz. 283). Auch wird er in geeigneten Fällen die Sache zunächst mit dem Sachverständigen mündlich erörtern und erst danach seinen Auftrag exakt formulieren. Hält der Verteidiger oder der Sachverständige weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann ggf. das Gericht eingeschaltet werden (§ 80 StPO). Dabei können schwierige Situationen entstehen: Der Schriftsachverständige z.B. kann sich meist nur äußern, wenn er die 479 Urschrift der zu prüfenden Urkunde untersuchen kann. Diese befindet sich regelmäßig in den Akten. Der Verteidiger muss also für den Sachverständigen die Erlaubnis beantragen, die Urkunde im Original einzusehen. Ist das bewilligt und geschehen und beruft er sich später nicht auf diesen
1 Gmel in KK, § 220 StPO Rz. 8. 2 Egon Müller, ZRP 1969, 174.
319
Rz. 480
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Sachverständigen, so kann gefolgert werden, das Gutachten sei für den Angeklagten ungünstig ausgefallen. Gericht und Staatsanwalt können auf den Gedanken kommen, nun diesen Sachverständigen ihrerseits zu befragen. Es ist passiert, dass auf einen zunächst benannten Schriftsachverständigen vom Verteidiger verzichtet werden musste, weil er sich außerstande erklärte, sich zugunsten des Angeklagten zu äußern. Der Verteidiger war nicht wenig überrascht, im Sitzungssaal „seinen“ Sachverständigen anzutreffen. Er war von dem Vorsitzenden, der aus dem Verzicht des Verteidigers seine Schlüsse gezogen hatte, nachgeladen worden und wurde durch sein negatives Gutachten dem Angeklagten zum Verhängnis (Rz. 481). Die Erklärung des Sachverständigen zum „Gehilfen der Verteidigung“ mit der Folge des Zeugnisverweigerungsrechts nach § 53a StPO ist geboten, aber nicht ohne rechtliches Risiko1. Eine ähnliche Situation entsteht, wenn der Sachverständige Untersuchungen an einem Prozessbeteiligten durchführen muss, z.B. für ein psychologisches Gutachten die Exploration des Zeugen (oder gar eines Kindes) unerlässlich ist. Abgesehen davon, dass der Zeuge (zumal als Nebenkläger) ohnehin dazu nicht gezwungen werden kann (§ 81c Abs. 1 StPO)2, könnte der Vorsitzende von sich aus Schwierigkeiten machen. Kommt der Verteidiger an diesen Klippen vorbei, kann er auch hier wieder das Nachsehen haben, wenn der Sachverständige zu einem negativen Ergebnis kommt und jetzt das Gericht auf der Vernehmung besteht. Wenig erfreulich wirkt es, wenn die Staatsanwaltschaft sich in die Bemühungen des Verteidigers um Gewinnung eines bestimmten Sachverständigen einschaltet und ihn für die Staatsanwaltschaft gewissermaßen „wegengagiert“. Das ist schon im Ermittlungsverfahren oft genug ein schweres Handicap der Verteidigung. Dem kann man allerdings dadurch vorbeugen, dass mit den in Betracht kommenden Sachverständigen eine Reservierungsabrede getroffen oder ein Vorauftrag (z.B. Gutachtenskizze) erteilt wird. Das geht allerdings nur, wenn der Kreis der möglichen Gutachter fachlich oder lokal beschränkt ist und entsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. 480
Will der Verteidiger einen Sachverständigen zur Hauptverhandlung laden, so stößt er auch noch auf andere Schwierigkeiten. Sachverständige lehnen es häufig überhaupt ab, als „Parteigutachter“ tätig zu werden. Sie fürchten den Anschein der Parteilichkeit und sind um ihren Ruf besorgt, obwohl sie keine Bedenken haben, sich von der Polizei oder Staatsanwaltschaft beauftragen und bezahlen zu lassen. Unterstützt wird diese Einstellung dadurch, dass Staatsanwälte in der Hauptverhandlung gegen Sachverständige Front machen, die vom Verteidiger beauftragt sind. Es wird u.a. versucht, sie durch Ablehnungsanträge auszuschalten. Diese 1 Str., bejahend Senge in KK, § 53a StPO Rz. 3; Krause, StraFo 1998, 1; Krekeler/ Schonard, wistra 1998, 137; a.A. Detter in FS Meyer-Goßner, S. 438; LG Essen, StraFo 1996, 52. 2 BGH v. 6.11.1959 – 4 StR 376/59, BGHSt. 14, 11 (12, 13).
320
Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 481
Erfahrung führt auch dazu, dass Sachverständige versuchen, einer unmittelbaren Ladung auszuweichen, obgleich sie zum Erscheinen verpflichtet sind (Rz. 477). Solche Widerstände darf der Verteidiger nicht hinnehmen, wenn er überzeugt ist, dass der in Aussicht genommene Sachverständige zur Entlastung des Mandanten beitragen kann. Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Wenn der Sachverständige absolut nicht will, wird die Erzwingung seines Erscheinens dem Verteidiger nicht viel helfen. Von einem widerwilligen Sachverständigen ist kein wirksamer Einsatz zu erwarten. Die ihm abverlangte Leistung setzt vielmehr seine innere Bereitschaft voraus. Sie kann nicht erzwungen werden. In der Praxis hat es sich bewährt, in solchen Fällen dem Sachverständigen geduldig auseinanderzulegen, dass das Gericht schon im Interesse der Staatskasse aus Kostengründen seine Ladung als weiterer Sachverständiger nicht anordnen, aber von der Sache her seine Mitwirkung sehr begrüßen werde. Mindestens kann man den widersprechenden Sachverständigen darüber aufklären, dass der Verteidiger ein selbständiges, von der Zulassung durch das Gericht unabhängiges Ladungsrecht hat, mit dessen Hilfe die Vernehmung leichter durchgesetzt werden kann. dd) Gefährliche Zweischneidigkeiten Schon in den vorangegangenen Abschnitten wurde dargestellt, dass die 481 Vorbereitungsmaßnahmen des Verteidigers für ihn recht gefährlich werden können (Rz. 473, 479). Dazu kommt, dass der Verteidiger schon in diesem Stadium daran denken muss, für den Fall eines Schuldspruchs die Beweismittel für die Zumessung der Strafe, der Maßregeln der Besserung und Sicherung und für die Strafaussetzung zur Bewährung zur Verfügung zu haben (Rz. 652). Wenn das Gericht darauf abzielende Beweisbemühungen des Verteidigers erkennt, könnte es daraus Schlüsse auf die Schuldüberzeugung des Verteidigers ziehen. Zweischneidig ist insbesondere auch die Einführung von Sachverständigen zur Beurteilung von Fragen der Schuldfähigkeit. Man weiß nie, was dabei herauskommt. So hätte sich in einem vom Autor vertretenen Fall der Nachweis entlastender Tatmotive (Vermögensverluste, Erpressung, verschmähte Liebe, Mitleid, Kameradschaft) für den Mandanten im Strafmaß sehr günstig ausgewirkt. Ihre Einführung war aber nicht zu verantworten, weil dem Gericht gerade das Tatmotiv zur Schließung der Beweiskette noch fehlte. Solche gefährlichen Zweischneidigkeiten (bei nach geltendem Recht fehlendem Schuldinterlokut) führen den Verteidiger in ein unlösbares Dilemma (Rz. 754). Das ist übrigens auch bei der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung der Fall (Rz. 652). Die unheilvolle Situation wird den Verteidiger auch hier zu der Erwägung nötigen, ob nicht dem Mandanten das Eingeständnis (Rz. 18) etwa vorhandener Schuld nahegelegt werden soll. Damit würde der Weg zu den Entlastungsbeweisen frei.
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Rz. 482
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
h) Entbindung vom Erscheinen, kommissarische Vernehmung und richterlicher Augenscheinsbeweis vor der Hauptverhandlung Literatur: Maatz, Die Fortsetzung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten, DRiZ 1991, 200; Münchhalffen, Zur Zulässigkeit der Aussetzung der Hauptverhandlung zur Wahrung der prozessualen Waffengleichheit, StraFo 1996, 157; Schlothauer, Vorbereitung der Hauptverhandlung, 2. Aufl. 1998.
482
Der Auftraggeber tritt gelegentlich mit dem Wunsch an den Verteidiger heran, vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden zu werden. Darüber belehrt ihn das Gericht häufig vor der Ladung zum Termin, insbesondere bei Strafsachen geringeren Gewichts (Nr. 120 RiStBV). Es ist nachvollziehbar, dass ein Angeklagter Zeit, Kosten und Aufregungen scheut, die die Wahrnehmung eines Termins an einem weit entfernten Gerichtsort nun einmal mit sich bringt. Er zieht es vor, sich kommissarisch vernehmen zu lassen. Der Verteidiger wird aber dadurch nicht von der Verantwortung entbunden, die Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen und den Mandanten darüber zu belehren. Auch wenn die Voraussetzungen des § 233 StPO zu bejahen sind, wiegen die Nachteile häufig so schwer, dass er dem Mandanten raten muss, in der Hauptverhandlung anwesend zu sein. In vielen Verfahren wird sich ein günstiges Ergebnis nur erreichen lassen, wenn der Mandant vor dem erkennenden Gericht Rede und Antwort steht. Die Vernehmung durch einen beauftragten oder ersuchten Richter, dessen Protokoll in der Hauptverhandlung ebenso verlesen wird wie die Niederschrift über einen richterlichen Augenschein (§ 233 Abs. 3 S. 2 StPO), kann den persönlichen Eindruck nicht ersetzen. Die Niederschrift ist nicht mehr als eine Urkunde, die die Persönlichkeit, die sie unterschrieben hat, nicht deutlich machen kann. Die vorweggenommene Vernehmung verzögert zudem vielfach das Verfahren. Stellt sich beispielsweise in der Hauptverhandlung heraus, dass neue Tatsachen oder Beweismittel zu berücksichtigen sind, so muss der Angeklagte hierzu erneut richterlich vernommen werden, falls sie sich zu seinem Nachteil auswirken können1. Erfahrungsgemäß kommt es auch vor, dass das Gericht im Verfahrensabschnitt zwischen Zulassung der Anklage und Hauptverhandlungstermin ergänzende Ermittlungen veranlasst oder vornimmt, z.B. eine Zeugenvernehmung durchführt. Dieses Verfahren kann der Verteidiger ggf. als unstatthaft beanstanden2. Soll ein Antrag nach § 233 StPO gestellt werden, den der Verteidiger nur mit ausdrücklicher Ermächtigung des Mandanten einreichen kann3, jedoch auch noch in der Hauptverhandlung der Berufungsinstanz4, so ist es zweckmäßig, die Meinung des erkennenden Gerichts vorher festzustel1 2 3 4
Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 233 StPO Rz. 16. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 212 StPO Rz. 5. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 233 StPO Rz. 5. BGH v. 29.1.1974 – 1 StR 198/73, BGHSt. 25, 281; OLG Köln v. 12.11.1968 – Ss 414/68, NJW 1969, 705.
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Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 484
len. In aller Regel lässt sich auf diese Weise vorweg klären, ob das Gericht überhaupt bereit ist, auf die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung zu verzichten. Der Verteidiger sollte beim Gericht in vorsichtiger Weise anfragen, damit nicht der Eindruck entsteht, der Angeklagte wolle sich vor der Hauptverhandlung „drücken“ oder er nehme seine eigene Sache nicht so wichtig. Ähnlich problematisch ist das eigenmächtige Ausbleiben des Mandanten 483 in der Hauptverhandlung. Unter den Voraussetzungen des § 232 StPO kann zwar ohne den Angeklagten verhandelt werden; auch kann der Verteidiger den Mandanten mit schriftlicher Vollmacht vertreten (§ 234 StPO) und, wenn die Voraussetzungen gegeben sind, zu Beginn der Hauptverhandlung noch beantragen, den Mandanten vom Erscheinen zu entbinden, wozu ein Gerichtsbeschluss herbeigeführt werden muss1. Das unentschuldigte Fehlen macht aber einen schlechten Eindruck. In der Regel wird das persönliche Erscheinen angeordnet und ein Vorführungsoder Haftbefehl erlassen (§ 236 StPO). Kommt es zu einer Verurteilung des nicht erschienenen Angeklagten, so ist sowohl der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als auch Berufungseinlegung zu erwägen (§ 235 StPO; Rz. 860, 1079). Rechtzeitig vor der Hauptverhandlung sollte der Verteidiger feststellen – 484 ggf. durch persönliche Vorsprache (Rz. 468) –, ob das Gericht die kommissarische Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen oder einen richterlichen Augenschein außerhalb der Hauptverhandlung beabsichtigt (§§ 223, 225 StPO). Keinesfalls darf der Verteidiger den Standpunkt einnehmen, man könne das Ergebnis einer kommissarischen Vernehmung erst einmal abwarten. Wie die Erfahrung lehrt, ist es nach der Vernehmung meist zu spät. Der Verteidiger wird auf der Anhörung der Beweispersonen in der Hauptverhandlung bestehen müssen, falls nach der Bedeutung der Sache und nach der zu erwartenden Aussage des Zeugen oder Sachverständigen der persönliche Eindruck entscheidend ist. Das ist besonders wichtig bei Zeugen, die den Mandanten voraussichtlich belasten. Besteht keine Aussicht, die Belastung zu erschüttern oder gar zu widerlegen, so kann es auch richtig sein, der kommissarischen Vernehmung nicht zu widersprechen. Die Beweiskraft belastender Angaben wird möglicherweise ohne den persönlichen Eindruck des Zeugen geringer. Ähnliche Erwägungen wird der Verteidigung bei der beabsichtigten Vorführung einer Bild-Ton-Aufzeichnung (§ 255a StPO) anzustellen haben. Auch Lichtbilder und Skizzen darf der Verteidiger nicht ohne weiteres als Beweismittel gelten lassen. Häufig besteht die Veranlassung, die Vernehmung des Herstellers zu beantragen2. Skizzen und Lichtbilder können jedoch jederzeit als Hilfsmittel der Vernehmung Verwendung finden.
1 Nachw. bei Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 233 StPO Rz. 9. 2 BayObLG v. 7.7.1965 – RevREg. 1 b t 53/65, NJW 1965, 2357.
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Rz. 485
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
In allen Fällen der kommissarischen Vernehmung und des vorweggenommenen Augenscheins muss der Verteidiger grundsätzlich selbst den Termin wahrnehmen, von dem er zu benachrichtigen ist (§§ 224 Abs. 1, 225, 233 Abs. 3 StPO). Der Verteidiger kann bei Verhinderung eine Eingabe zu den Akten geben, die seine Auffassung mit Hinweisen und Anträgen enthält. Sie wird von dem kommissarischen Richter beachtet werden, kann aber natürlich die persönliche Mitwirkung nicht ersetzen. 485
Die Anwesenheit des Verteidigers bei einer kommissarischen Vernehmung und einem Augenscheinstermin hängt nicht zuletzt von den finanziellen Möglichkeiten des Mandanten ab. Der Verteidiger sollte dieses Problem offen mit dem Auftraggeber besprechen. Ggf. muss er erwägen, ob er nicht im Einverständnis mit dem Mandanten einen Anwalt am Ort der Vernehmung mit der Wahrnehmung des Termins beauftragen soll. Dann ist es allerdings notwendig, diesen Kollegen genau ins Bild zu setzen und ihm die Fragen, auf die es ankommt, im Einzelnen zu bezeichnen sowie Vorhaltungen an Zeugen oder Sachverständige schriftlich zu formulieren. Der Pflichtverteidiger muss in diesem Zusammenhang beachten, dass zur Bestellung eines Terminvertreters die Genehmigung des beiordnenden Gerichtsvorsitzenden erforderlich ist. Der Vertreter wird dadurch zum Pflichtverteidiger für diesen Teil des Verfahrens1. Nimmt der Pflichtverteidiger den Termin selbst wahr, so empfiehlt es sich, die Notwendigkeit der Reise vorher durch das Gericht bestätigen zulassen (§ 46 Abs. 2 RVG). i) Vorbereitung der Einlassung Literatur: Dahs/Langkeit, Das Schweigerecht des Beschuldigten und seine Auskunftsverweigerung als „verdächtiger Zeuge“, NStZ 1993, 213; Geppert, Schriftliche oder mündliche Erklärungen des Verteidigers als Einlassung des Angeklagten?, FS Rudolphi (2004), S. 643; Kempf in Münchener Handbuch Strafverteidigung, 2006, § 6; Michel, Einlassung durch den Anwalt?, MDR 1994, 648; Miebach, Der teilschweigende Angeklagte, NStZ 2000, 234; Park, Einlassung des Verteidigers bei Schweigen des Angeklagten, StV 1998, 59; Quentmeier, Geständnis, Schweigerecht und Schweigen des Beschuldigten, JA 1996, 215; Richter II, Reden – Schweigen – Teilschweigen, StV 1994, 687; Schäfer, Gerhard, Die Einlassung zur Sache durch den Verteidiger, FS Dahs (2005), S. 441; Schlothauer, Vorbereitung der Hauptverhandlung, 2. Aufl. 1998; Stree, Schweigen des Beschuldigten im Strafprozess, JZ 1966, 539; Volk, Zur Verwertbarkeit des teilweisen Schweigens des Angeklagten, NStZ 1984, 377.
486
Der wichtigste Teil der Vorbereitung der Hauptverhandlung ist die Frage der Einlassung des Mandanten. Dabei geht es nicht nur um das Grundproblem, ob eine Einlassung erfolgen soll oder nicht, sondern um eine Vielzahl von Varianten, z.B. Zeitpunkt der Einlassung, Teileinlassung2, 1 Laufhütte in KK, § 142 StPO Rz. 10. 2 Vgl. dazu Miebach, NStZ 2000, 234 m. umfangr. N.; OLG Karlsruhe v. 4.8.2004 – 1 Ss 79/04, NStZ-RR 2004, 371 m.N.
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Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 487
schriftliche oder mündliche Verteidigererklärung1 u.a. Die Aufgabe eines Verteidigers umfasst auch alle mit der äußeren Präsentation der Einlassung zusammenhängenden Fragen, vom Erscheinungsbild des Angeklagten (Rz. 488) bis zu Formulierungshilfen und ggf. zur Wortwahl. Auch frühere Einlassungen oder sonstige Sacherklärungen sind zu beachten und – falls nötig – auf eine „Harmonisierung“ mit der Verteidigung in der Hauptverhandlung zu prüfen. Zu erwartende Fragen und Vorhalte des Gerichts und der Staatsanwaltschaft sind ebenso einzubeziehen wie zu erwartende anderweitige Beweisergebnisse. Schließlich muss die gesamte Arbeit an der Einlassung durch den Blick auf die rechtliche Struktur des den Gegenstand der Vernehmung bildenden Straftatbestandes und seine Auslegung durch Rechtsprechung und Schrifttum überwölbt werden. Mit der Einlassung des Angeklagten, die zu Beginn der Hauptverhandlung unmittelbar der Verlesung des Anklagesatzes folgt, können viele „Punkte gemacht“, aber ebenso viele verloren werden. Der Mandant hat die große Chance, sich als erster dem Gericht als Person zu präsentieren und seine „Pflöcke einzuschlagen“. Fehler in diesem Stadium der Hauptverhandlung sind in der Regel irreparabel. Wenn auch der Mandant letztlich die Verantwortung seiner Darstellung des den Gegenstand der Verhandlung bildenden Sachverhalts tragen muss, so hat doch der Verteidiger als prozesserfahrener Berater dabei eine wichtige Aufgabe und große Mit-Verantwortung. Dabei muss er aber stets beachten, dass er zwar dem Mandanten seine Erfahrungen vermitteln und ihn beraten darf, sein zulässiges Agieren aber dort seine Grenze findet, wo er selbst die sachlich für den Klienten günstigste Einlassung entwickelt (erfindet) oder sich in anderer Weise aktiv an der Entwicklung einer wahrheitswidrigen Einlassung und Irreführung des Gerichts beteiligt (§ 258 StGB). Das bedeutet indessen nicht, dass dem Verteidiger etwa untersagt wäre, den Klienten darauf hinzuweisen, dass ein bestimmter von ihm vorgesehener Sachvortrag vom Gericht für ihn negativ gewürdigt werden würde und ihm deshalb die Überlegung des Schweigens oder Teilschweigens anhand zu geben. Nicht selten ist es besonders schwierig, gerade in diesem Stadium der Verteidigung einerseits das Vertrauen des Klienten zu gewinnen oder zu erhalten, ohne andererseits etwa unangemessenen Wünschen um Unterstützung nachzugeben, die die Grenzen des strafrechtlich Zulässigen überschreiten. Im Übrigen muss der Verteidiger – wie stets – die Beratung zur Einlassung seines Mandanten mit dem Blick auf die Revision führen (Rz. 890)2. Unmittelbar vor der Hauptverhandlung empfiehlt sich eine abschließen- 487 de Besprechung mit dem Mandanten. Der Verteidiger hat dann seine Vorbereitungen im Allgemeinen beendet. Sein Plan für die Hauptverhandlung ist fertig. Nun muss er mit dem Auftraggeber besprechen, worauf es 1 Dazu BGH v. 24.4.2003 – 3 StR 181/02, NStZ 2003, 498 m. Anm. Dahs, NStZ 2004, 451; Dahs, NStZ-RR 2000, 210; OLG Saarbrücken bei Egon Müller, NStZRR 2004, 102; OLG Hamm v. 19.7.2001 – 3 Ss 478/01, StV 2002, 187. 2 Dahs, Revision, Rz. 276 ff.
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Rz. 488
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
im Einzelnen ankommt. Ein gereizter, nervöser Angeklagter kann die besten Absichten des Verteidigers zunichtemachen. 488
Hierbei spielen zunächst die Äußerlichkeiten der Hauptverhandlung eine nicht geringe Rolle. Für ungewandte Auftraggeber beginnen die Schwierigkeiten häufig schon bei der Frage, wie sie das Gerichtsgebäude und den Sitzungssaal finden. Auch der äußere Rahmen und die Sitzordnung im Gerichtssaal sind nicht allgemein bekannt. Über Reihenfolge und Bedeutung der Prozesshandlungen weiß kaum jemand Bescheid. Selbst wenn der Mandant Kenntnisse oder gar Erfahrungen besitzt, sollte der Verteidiger den Ablauf der Hauptverhandlung im Detail und mit möglichen Varianten mit ihm erörtern. Der Angeklagte fühlt sich sicherer, wenn er weiß, wann er aufstehen muss (Nr. 124 Abs. 2 RiStBV), wie Richter und Staatsanwalt anzureden sind, wann er zu Wort kommt und wie einzelne Prozessvorgänge zu verstehen sind. Der Verteidiger darf auch die Äußerlichkeiten nicht vernachlässigen, weil das Auftreten des Mandanten den Eindruck mitbestimmen kann, den der Richter in das Beratungszimmer mitnimmt. Es kann sinnvoll sein, dem Mandanten zu raten, vor seiner eigenen Verhandlung an einer anderen Hauptverhandlung möglichst desselben Gerichts teilzunehmen. Er lernt dann die Atmosphäre kennen und bekommt Ruhe und Sicherheit für seine eigene Sache. Ggf. ist sogar zu besprechen, in welcher „Aufmachung“ der Mandant vor Gericht erscheint. Die früher üblichen Maßstäbe werden zwar heute nicht mehr angelegt. Der Toleranzbereich bis zur Grenze der Ungebühr vor Gericht ist größer geworden. Der Mandant muss aber wissen, dass er durch sein Auftreten und seine äußere Erscheinung – auch wenn das Gericht keine Ordnungsmaßnahme nach § 178 GVG verhängt – seiner Sache schaden kann, wenn die Richter, insbesondere die Laienrichter, darin den Ausdruck allgemeiner Missachtung der Rechtsordnung und ihrer richterlichen Tätigkeit sehen. Solche Eindrücke fließen erfahrungsgemäß unkontrollierbar zum Nachteil des Beschuldigten in die Entscheidung ein. Unter diesem Aspekt ist es zumindest ungeschickt und überflüssig, dass der Mandant durch Kleidung, Haartracht oder sonstige Äußerlichkeiten auffällt und damit in seiner Verteidigung „Punkte verliert“. Mandanten, die von Natur aus renitent sind, sollten in der Vorbesprechung auf die möglichen Folgen eines ungebührlichen Verhaltens hingewiesen werden.
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Schließlich sollten dem Verteidiger auch die medizinischen Erkenntnisse geläufig sein, die aus der Erforschung von „Stresssituationen“ gewonnen worden sind und es beispielsweise angeraten sein lassen, Angeklagte und Zeugen ihre Angaben im Sitzen machen zu lassen, was heute ohnehin der allgemeinen Gerichtspraxis entspricht. Der Mandant muss auch wissen, dass er Anspruch auf eine Pause hat, wenn er sich zu belastet fühlt, der Verhandlung nicht mehr folgen kann oder sich mit dem Verteidiger besprechen will.
490
Ein auch für die abschließende Beratung vor der Hauptverhandlung immer noch aktueller und wichtiger Punkt ist die Frage des Eingeständnis326
Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 490
ses etwa vorhandener Schuld (vgl. besonders Rz. 18). Ein solches eröffnet dem wirklich Schuldigen enorme Chancen. Die Hauptverhandlung nimmt mit der Schuldigerklärung einen gänzlich anderen Verlauf. Die Einlassung zur Sache wird abgekürzt, Zeugen und Sachverständige werden abbestellt, die Verteidigung verläuft reibungslos. Vor allem aber hat der Verteidiger nur auf diese Weise die Möglichkeit, alle entlastenden Umstände zur Person und zur Sache einzuführen, das Material zur Persönlichkeitsdiagnose und zur Zukunftsprognose vorzulegen, die entlastenden Tatmotive darzutun, Sachverständige zu hören und überhaupt alles anzubringen, was einem Urteil im Sinne der modernen Kriminalpolitik entspricht (vgl. im Einzelnen Rz. 18, 61, 437). Erkenntnisse dieser Art aus der Innensphäre des Mandanten sind sonst für das Gericht in der Regel nicht zu erkennen und aufzuklären. Auf diese Weise vermeidet der Verteidiger die schweren Nachteile, die sich sonst aus dem Fehlen eines Schuldinterlokuts (= Vorabentscheidung zum Schuldspruch) in der Hauptverhandlung ergeben (Rz. 652, 754). Die Vorbereitung der Hauptverhandlung kann ggf. zu einer Kooperation mit Gericht und Staatsanwaltschaft werden, die den Richtungswechsel begrüßen – auch ohne förmliche „Verständigung“ nach § 257c StPO1. Zu entsprechender Beratung hat der Verteidiger besonders dann Veranlassung, wenn die Einlassung des Mandanten bereits widerlegt ist oder in der Hauptverhandlung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit widerlegt werden wird. Denn dem Geständnis eines bereits erwiesenen Sachverhalts kommt nach aller Erfahrung kaum eine strafzumessungsrelevante Wirkung zu. Im Gegenteil: Häufig wird ein solches Eingeständnis nicht (mehr) als ein solches gewertet und gewichtet. Vor einem „selbstmörderischen“ Bestreiten muss der Mandant jedenfalls bewahrt werden. In anderen Fällen sollte der Verteidiger den Mandanten nicht allzu sehr drängen, die nach seiner Überzeugung unwahre Einlassung in der Hauptverhandlung zu berichtigen. Zwar ist es sinnvoll, dem Auftraggeber die Vorteile und Nachteile zu erläutern, die seine abweichende Einlassung in der Verhandlung mit sich bringen wird. Redet der Verteidiger aber dem Angeklagten zu, nunmehr die Wahrheit zu sagen, obwohl zu einer Selbstbelastung keine Notwendigkeit besteht, so wird das Vertrauensverhältnis gestört. Der Mandant bekommt den Eindruck, der Verteidiger stehe nicht für ihn ein. Auch gibt es selten Einlassungen, die in ihren sämtlichen Teilen unwahr sind. Richtige und unrichtige Angaben sind meist miteinander vermischt. Umstände, die der Betroffene für günstig hält, stellt er in den Vordergrund, andere Einzelheiten, von denen er meint, sie seien nachteilig, drängt er zurück oder erwähnt sie überhaupt nicht. Halbe Wahrheiten sind häufiger als völlige Unwahrheiten. Bei genauer Erforschung des Sachverhalts findet man dann vielfach belastende Tatumstände, die nicht zu beweisen sind. Dann ist es weder sinnvoll noch zweck-
1 Dazu BVerfG v. 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10 und 2 BvR 2155/11, NStZ 2013, 295.
327
Rz. 491
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
mäßig, dem Mandanten zu raten, solche Umstände in der Hauptverhandlung zu offenbaren. 491
Im Übrigen wird der persönliche Eindruck des Angeklagten stark durch die Art seiner Einlassung bestimmt. Hier kann die Vorbereitung der Hauptverhandlung nicht eingehend genug sein. Viele Angeklagte wollen sich in der Hauptverhandlung aussprechen. Der dabei häufig anzutreffenden Neigung, langatmig und weitschweifig zu werden, muss der Verteidiger entgegentreten. Anderen wieder wird er raten müssen, mehr aus sich herauszugehen, damit nicht der Verdacht der Verstocktheit und des Verdeckenwollens entsteht. Kennt der Verteidiger den Richter, so kann er dem Mandanten empfehlen, sich auf dessen Art einzustellen. Er kann ihm sagen, ob es besser ist, sich knapp zu fassen oder ausführlich zu berichten, Reue zu zeigen oder auf seinem Recht zu beharren, Mitleid zu erregen oder „mannhaft“ ohne Ausflüchte für die Tat einzustehen. Selbstverständlich wird der Verteidiger darauf bedacht sein, dass der Mandant nicht schauspielert, dass er insbesondere keine Rührszenen aufführt. Vielmehr muss der Mandant authentisch sein. Jede Form der Idealisierung der eigenen Person, der Verharmlosung der ggf. vorliegenden Tat oder der Herabsetzung etwaiger Opfer ist zu unterlassen. Positive Eigenschaften sollten erst auf Fragen des Verteidigers oder sachlich nüchtern vorgetragen werden. Man macht auch die Erfahrung, dass der Mandant von der Hauptverhandlung entweder zu viel oder zu wenig erwartet und sein Verhalten nach solchen Vorstellungen einrichten will. Besonders der verhaftete Beschuldigte legt sich vielfach auf seinen eigenen Verteidigungsplan fest. Besonders schwierig pflegen die Auftraggeber zu sein, die auf ihr vermeintliches Recht pochen. Der Verteidiger muss sie über die Rechts- und Beweislage klar und nachvollziehbar aufklären und versuchen, sie zur Rechtseinsicht zu bringen. Dies kann bedeute, dass er dem Auftraggeber die Argumente der Staatsanwaltschaft entgegenhalten muss. Hieraus kann eine Vertrauenskrise erwachsen. Der Mandant meint, der Verteidiger habe kein Verständnis oder, was noch schlimmer ist, er glaubt, der Verteidiger stehe innerlich auf der anderen Seite. In diesen Fällen kann allein geduldige und sachlich begründete Anleitung helfen. Man kann allerdings auch eigene Bedenken gegen die Sachdarstellung des Mandanten in die Form bringen „dazu wird Sie der Staatsanwalt fragen […]“ oder „dem wird das Gericht entgegenhalten […]“. Die so geschaffene verbale Distanz kann manches schwierige Gespräch sehr erleichtern und in eine andere Einlassung oder gar ein Eingeständnis münden.
492
Die Vorbereitung der Vernehmung zur Person (Rz. 544) ist im Allgemeinen nicht schwierig. Der Betroffene weiß, worum es geht. Die Vernehmung zum Lebenslauf und zu den wirtschaftlichen Verhältnissen gehört nicht hierher1. 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 243 StPO Rz. 12.
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Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 494
Schon die Erörterung der persönlichen Verhältnisse spielt für die Verteidigung eine bedeutsame Rolle. Der Angeklagte hat hier die erste Gelegenheit, sich dem Gericht günstig zu präsentieren, indem er in klarer, angemessen knapper und nüchterner Form Vorleben, Ausbildungsgang und beruflichen Weg schildert. Die hier besonders ausgeprägte Neigung vieler Mandanten zu Weitschweifigkeit und Selbstmitleid muss der Verteidiger bekämpfen: Bei „Unebenheiten“ des Werdeganges können einige erklärende Zusätze allerdings sinnvoll sein. Es kann sich je nach Lage des Falles auch empfehlen, dem Gericht vorab einen schriftlichen Lebenslauf und Werdegang in tabellarischer Form zur Verfügung zu stellen. Zur Frage der wirtschaftlichen Verhältnisse können sich die Gerichte angesichts des Tagessatzsystems (§ 40 StGB) nicht mehr mit allgemeinen Angaben zufriedengeben. Der Angeklagte ist auch insoweit nicht zur Äußerung verpflichtet. Das Gericht hat die wesentlichen Umstände für den Strafausspruch von Amts wegen zu ermitteln1. Schätzungen ohne jede Tatsachenfeststellung im Einzelnen, etwa nach dem Muster „wenn Sie keine Angaben machen, gehen wir von 10 000 Euro netto monatlich aus“2, sind vom Verteidiger zu widersprechen. Im allgemeinen wird die eigene Darstellung seiner finanziellen Situation durch den Mandanten vorzuziehen sein, zumal amtliche Ermittlungen zu unerwünschter Publizität der Einkommensverhältnisse und zu wirtschaftlichen Nachteilen, z.B. bei kreditgewährenden Banken, führen können. Es ist daher in geeigneten Fällen zu empfehlen, Unterlagen über Einkünfte und Belastungen zu beschaffen und in der Hauptverhandlung zur Hand zu haben, um sie ggf. dem Gericht zu überlassen. Die Vernehmung zur Sache (Rz. 549) bedarf abschließend nochmals ge- 493 nauester Beratung. Sie richtet sich in ihren Einzelheiten natürlich nach den konkreten Fallumständen. Es ist wichtig, dem Mandanten klarzumachen, was er zu erklären hat und was dem Verteidiger obliegt. Wenn er sich diese Funktionsteilung nicht zu eigen macht, ist das ganze Konzept des Verteidigers in Gefahr. So sollte der Angeklagte sich auf die reinen Tatsachenangaben beschränken. Rechtsausführungen, Schlussfolgerungen und Wertungen sind Sache des Verteidigers. Aber selbst die Tatsachen können im Einzelfall zweckmäßigerweise zu einem verabredeten Teil der Befragung durch den Verteidiger überlassen werden. Sie kommen dann besser heraus. Überhaupt muss man dem Mandanten das sichere Gefühl geben, dass etwas von ihm Vergessenes vom Verteidiger nachgefragt wird. Wichtigster Teil der Beratung kann die Frage sein, ob sich der Auftrag- 494 geber in der Hauptverhandlung zur Sache äußern oder auf sein Recht zum Schweigen berufen soll. Es bewährt sich, den Mandanten rechtzeitig darüber aufzuklären, dass der Richter ihn über dieses Recht belehren 1 BGH v. 10.1.1989 – 1 StR 682/88, NStZ 1989, 178; Fischer, § 40 StGB Rz. 6 ff. 2 Beispiel aus der Praxis! Als Beruf hatte der Angeklagte „Anlageberater“ angegeben.
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Rz. 494
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
muss (§ 243 Abs. 4 StPO). Laien fassen die ordnungsgemäße Belehrung gelegentlich als richterliche Aufforderung auf, zur Sache nichts auszusagen. Das kann zu nachteiligen Missverständnissen führen. Ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht ist ein revisibler Rechtsfehler1. Das Urteil soll aber dann nicht auf dem Fehler beruhen, wenn der Angeklagte sein Schweigerecht gekannt hat2, z.B. aus eigener Prozesserfahrung3. Im Übrigen geht der BGH in der Regel davon aus, bei einem verteidigten Angeklagten die Kenntnis zu unterstellen, weil die Aussagebereitschaft „eine der ersten und wichtigsten Fragen ist, welche der Verteidiger mit seinem Mandanten zu erörtern hat“. Eine andere Frage ist es, ob Schweigen in der Hauptverhandlung opportun ist. Oft steht der Verteidiger hier vor einem nur schwer lösbaren Konflikt. Er weiß, dass das Schweigen noch immer eine „zweischneidige Angelegenheit“ ist. Schweigende Angeklagte sind im deutschen Gerichtssaal immer noch Ausnahmeerscheinungen. Sie rufen oft Erstaunen, wenn nicht gar Ärger hervor. Das Schweigen wirkt leicht wie ein Schuldbekenntnis, weil nach der Lebenserfahrung ein Mensch, dem Vorwürfe gemacht werden, sich redend verteidigt. Nach dieser Auffassung bedeutet Schweigen den Ausdruck eines schlechten Gewissens, und zwar gerade für Laienrichter, die in erster Linie ihre Lebenserfahrung in die Waagschale werfen. Auch scheint die richterliche und staatsanwaltschaftliche Erfahrung darauf festgelegt zu sein, dass nur schuldige und in der Gerichtspraxis erfahrene Angeklagte von ihrem Recht zum Schweigen Gebrauch machen. Nicht selten macht man auch die Erfahrung, dass Schweigen des Angeklagten als eine Art „Kampfansage“ verstanden wird4, die mindestens das Verhandlungsklima negativ beeinflusst. Der Verteidiger muss immer wieder dafür eintreten, dass der Angeklagte nicht verpflichtet ist, die Verdachtsgründe zu beseitigen. Die Freiheit der Entschließung ist nur gewährleistet, wenn der Angeklagte aus dem Schweigen nicht nachteilige Schlüsse besorgen muss. Solange dies geschieht, zwingt die Gerichtspraxis den Angeklagten meistens zur Aussage, obwohl das Schweigen auch beachtenswerte Gründe haben kann. Der Satz, das Schweigen sei schlechthin das gute Recht des Angeklagten und dürfe auch nicht in versteckter Form zu seinem Nachteil ausgehen, stößt sich in der Praxis hart mit dem Recht und mit der Pflicht des Richters zur freien Beweiswürdigung (Rz. 13). Dabei muss der Verteidiger bedenken, dass in vielen Fällen allein der Mandant in der Lage ist, Zusammenhänge aufzuklären, sich zu entlasten oder Umstände vorzubringen, 1 BGH v. 14.7.1981 – 5 StR 343/81, NStZ 1983, 210 (Pf/M); BGH v. 14.5.1974 – 1 StR 366/73, BGHSt. 25, 325; Dahs, Revision, Rz. 276 ff. 2 BGH bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1983, 210; BGH v. 14.5.1974 – 1 StR 366/73, BGHSt. 25, 325; BGH v. 30.4.1968 – 1 StR 625/67, BGHSt. 22, 129 (132 f.). 3 BGH v. 14.5.1974 – 1 StR 366/73, BGHSt. 25, 325 (332); BGH v. 14.7.1981 – 5 StR 343/81, NStZ 1983, 210 (P/M); BGH v. 22.6.1966 – 2 StR 160/66, NJW 1966, 1719. 4 Dazu Dahs in FS Odersky (1996), S. 317 ff.
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Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 494
die für eine milde Strafe sprechen. Das völlige Schweigen steht sonst einer günstigen Aufklärung entgegen. Jedenfalls darf aus dem Schweigen allein nicht auf die Schuld geschlossen werden1; anderenfalls wird die Verweigerung der Einlassung zum „beredten Schweigen“2 vor dem man den Auftraggeber nur warnen kann. Weiß der Verteidiger oder muss er damit rechnen, dass Belastungszeugen auftreten, so kann er dem Mandanten nur selten empfehlen, in der Hauptverhandlung zu schweigen. Er setzt ihn sonst der Gefahr aus, dass in der Verweigerung der Einlassung – unausgesprochen – eine Bestätigung der Schuld gefunden wird. Zumindest überlässt er ausgerechnet den Belastungszeugen die Möglichkeit, bestimmte Tatsachenbereiche unwidersprochen mit ihrer Version des Geschehens zu besetzen! Nicht zulasten des Angeklagten darf berücksichtigt werden, dass er nicht schon bei seiner polizeilichen Vernehmung (Rz. 294), sondern erst vor dem Richter ausgesagt hat3 (Rz. 308 ff.); das Gleiche gilt, wenn der Angeklagte als Zeuge in einem Verfahren gegen Dritte nach § 55 StPO die Auskunft verweigert hat4. Auch das „Nachschieben“ weiterer Entlastungsbehauptungen und Beweisangebote – z.B. nach erkennbar gewordener Argumentation des Gerichts – darf nicht ohne weiteres zu seinem Nachteil gewürdigt werden5. Der umgekehrte Fall – der Angeklagte schweigt erst vor Gericht – führt in der Praxis dazu, dass der Vernehmungsbeamte in der Hauptverhandlung als Zeuge vernommen wird (Rz. 576, 637). So problematisch diese Praxis ist, der Verteidiger muss mit ihr rechnen und abwägen, ob Schweigen überhaupt sinnvoll ist, falls der Angeklagte vorher Angaben gemacht oder sogar ein Geständnis abgelegt hat, etwa in einer polizeilichen, staatsanwaltschaftlichen oder richterlichen Vernehmung, auch in einer früheren Hauptverhandlung (z.B. Einlassungsverweigerung erst im Berufungsverfahren)6 oder Dritten gegenüber. In keinem dieser Fälle kann der Verteidiger verhindern, dass der Tatrichter diese Personen als Zeugen vernimmt und aus dem Schweigen Folgerungen (mindestens für die Strafzumessung) zieht. Auch eine andere Erfahrung muss der Verteidiger berücksichtigen: Das ist die unausgesprochene Überzeugungsbildung des Richters, die jeder Kontrolle entzogen ist. Der vorsichtige Richter lässt selten erkennen, was er von dem Schweigen des Angeklagten 1 BGH v. 29.8.1974 – 4 StR 171/74, NJW 1974, 2295; BGH bei Holtz, MDR 1980, 108; auch nicht Mimik und Gestik des schweigenden Angeklagten, BGH v. 24.6.1993 – 5 StR 350/93, StV 1993, 458; BVerfG v. 7.7.1995 – 2 BvR 326/92, StV 1995, 505; im Einzelnen Miebach, NStZ 2000, 235. 2 Treffend Schmidt-Leichner, NJW 1966, 189. 3 BGH v. 26.4.1994 – 5 StR 172/94, StV 1994, 413; BGH v. 22.3.2006 – 2 StR 535/05 – Rz. 17, StraFo 2006, 289; BGH v. 27.1.1987 – 1 StR 703/86, StV 1987, 377; BGH v. 26.10.1965 – 5 StR 415/65, BGHSt. 20, 281; Richter II, StV 1994, 687. 4 BGH v. 26.5.1992 – 5 StR 122/92, BGHSt. 38, 302 (305). 5 Dazu Miebach, NStZ 2000, 237; sowie einerseits BGH v. 17.1.1989 – 5 StR 624/88, BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 9 und BGH v. 9.1.1991 – 2 StR 543/90, BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 11; andererseits BGH bei Pfeiffer/ Miebach, NStZ 1987, 217 (218). 6 OLG Celle v. 24.7.1961 – 3 Ws 459/61, NdsRpfl. 1966, 228.
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Rz. 495
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
hält. Er bildet sich aber seine Meinung, deren Grundlage er häufig nicht einmal in die Urteilsgründe zu schreiben braucht. 495
Keinesfalls darf es dazu kommen, dass in der Hauptverhandlung eine Diskussion darüber entsteht, ob der Angeklagte nun schweigen will oder nicht. Häufig ist gerade diese Frage jedoch nicht ausreichend vorbereitet. Schwierigkeiten dieser Art können auch dadurch vermieden werden, dass der Verteidiger für den Angeklagten nur die Erklärung abgibt, dieser werde (zunächst) von einer Äußerung Abstand nehmen oder der Mandant bestreite den Anklagevorwurf. Ein grober Fehler des Verteidigers ist es in aller Regel, wenn er duldet, dass der Mandant teilweise zur Sache aussagt und im Übrigen schweigt, etwa in Punktesachen zu einem Vorwurf Stellung nimmt, zu einer anderen Beschuldigung aber die Einlassung verweigert. Die Rechtsprechung lässt es zu, wenn daraus nachteilige Schlüsse gezogen werden. Mit der nur teilweisen Einlassung soll sich der Angeklagte selbst zu einem Beweismittel machen und damit der freien Beweiswürdigung unterstellen1. Dies gilt vor allem, wenn der Mandant Entlastungstatsachen vorbringt, zu ihrer näheren Aufklärung aber nicht beiträgt. Für die Beratung des Mandanten kann der Verteidiger aus dieser Rechtsprechung nur den Schluss ziehen: Entweder soll der Auftraggeber in vollem Umfang schweigen oder er soll reden. Irgendeine auch noch so geschickt ausgeklügelte Mittellösung, ein „Teilschweigen“, führt zu unübersehbaren Nachteilen, die auch in der Revisionsinstanz kaum kontrollierbar, geschweige denn einmal behoben werden können. Einen Mittelweg kann man in geeigneten Fällen manchmal in der Form gehen, dass der Angeklagte selbst einen (inhaltlich mit dem Verteidiger beratenen) Brief kurz vor Beginn der Hauptverhandlung an das Gericht schreibt, in dem er in konzentrierter Form seine Stellungnahme zum Anklagevorwurf zum Ausdruck bringt. Wenn der Angeklagte dann in der Hauptverhandlung von seinem Schweigerecht Gebrauch macht, kann der Brief – wie jede andere schriftliche Äußerung – durch Verlesung eingeführt werden, was der Verteidiger ggf. anzuregen oder sogar zu beantragen hat. Diese Methode empfiehlt sich z.B. in Fällen, in denen der Verteidiger weiß, dass der Angeklagte wegen seiner Persönlichkeitsstruktur dem ihn vernehmenden Vorsitzenden so wenig gewachsen ist, dass er in die Gefahr gerät, sich unbewusst „in etwas hinein zu reden“. In der Berufungsinstanz oder nach Zurückverweisung eines Verfahrens aus der Revisionsinstanz kommt es in Betracht, bei Ausübung des Schweigerechts durch den Angeklagten den Richter oder Staatsanwalt, der eine in früherer Instanz abgegebene Einlassung des Mandanten gehört hat, als Zeugen vernehmen zu lassen. Dieser Weg liegt u.a. nahe, wenn sonst die Gefahr besteht, dass der Mandant sich in Widersprüche zu früheren Einlassun-
1 BGH v. 26.10.1983 – 3 StR 251/83, BGHSt. 32, 140 (145) = NStZ 1984, 377; zu allen Einzelheiten Miebach, NStZ 2000, 234 ff.
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Vorbereitung der Hauptverhandlung
Rz. 496
gen verwickelt, was nach den Erfahrungen der Praxis in den Augen des Gerichts seiner Aussage die Glaubwürdigkeit nimmt. Der Verteidiger muss in geeigneten Fällen auch überlegen, ob der Mandant zunächst von seinem Schweigerecht Gebrauch macht und sich vorbehält, erst in einem späteren Stadium der Hauptverhandlung zur Sache Stellung zu nehmen („Zeitschweigen“)1. Dies kann geboten sein, wenn zunächst abgewartet werden soll, was bestimmte, für die Verteidigung problematische Zeugen aussagen werden, oder wenn der Angeklagte mit einer (unwiderlegbaren) Einlassung die Bekundungen von zu seinem Nachteil festgelegten Zeugen widerlegen kann. Es kann dem Interesse der Verteidigung dienlich sein, solche Zeugen zunächst „in die Falle laufen zu lassen“ und sie erst danach über die Einlassung (und entsprechende Beweisangebote) als Lügner zu entlarven. Wird eine solche Einlassung zu Beginn der Verhandlung gegeben, so kann der Verteidiger nicht immer sicher sein, dass die Richter die Beweisaufnahme in seinem Sinne gestalten und die Zeugen entsprechend befragen. Eine zu frühe Offenbarung der Einlassung gegenüber einem lügnerischen Zeugen kann diesem die Gelegenheit geben, „den Kopf aus der Schlinge zu ziehen“. Dies kann sich dann unter Umständen als nachteilig für die Verteidigungsposition des Klienten erweisen. Bei allem muss aber bedacht werden, dass das Gericht die „späte“ Einlassung in die Beweiswürdigung einbeziehen kann2. Falls der Angeklagte nicht in der Hauptverhandlung schweigen soll, 496 müssen Form und Inhalt der Einlassung mit ihm besprochen werden (Rz. 486, 499). Dies erfordert es, die Einlassung mit dem Mandanten Stück für Stück „durchzukauen“. Während dieser seine Darstellung der Sache vorträgt, hat jener die Rolle des Richters oder Staatsanwalts zu übernehmen, indem er die sich aus den Akten oder dem mutmaßlichen Ergebnis der Beweisaufnahme ergebenden Vorhalte, Widersprüche, Unwahrscheinlichkeiten u.Ä. dem Mandanten entgegenhält, Querfragen stellt usw. (Rz. 486). Nur durch eine derart intensive, geradezu penible Vorarbeit kann sichergestellt werden, dass die große, nicht selten prozessentscheidende Chance, die dem Angeklagten durch seinen Auftritt als erste Beweisperson in der Verhandlung geboten wird, optimal genutzt wird. In vielen Fällen vermag nichts bei den Richtern den Boden für eine skeptisch-kritische Haltung gegenüber später folgenden belastenden Beweiserhebungen so zu bereiten wie eine gut präsentierte, überzeugende Erklärung zur Sache. Dieses Ziel rechtfertigt einen hohen Aufwand. Bleibt der Mandant bei den Angaben, die er in den vorausgegangenen Verfahrensabschnitten gemacht hat, so ergeben sich im Allgemeinen keine
1 Das zeitweise Schweigen des Angeklagten darf nicht gegen ihn verwertet werden, BGH v. 26.5.1992 – 5 StR 122/92, BGHSt. 38, 302 (306); BGH v. 22.3.2006 – 2 StR 585/05, NStZ 2007, 417 (419). 2 St. Rspr.; BGH v. 7.10.1996 – 5 StR 499/96, StV 1997, 292; BGH v. 26.5.1992 – 5 StR 122/92, BGHSt. 38, 302; BGH v. 9.1.1991 – 2 StR 543/90, BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 11.
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Rz. 497
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
besonderen Probleme. Freilich sollte der Verteidiger darauf achten, dass dem Auftraggeber die Erklärungen, die er im Laufe des Verfahrens abgegeben hat, noch gegenwärtig sind. Er muss wissen, wie er sich früher eingelassen hat, damit er sich in der Hauptverhandlung nicht in scheinbare Widersprüche verwickelt. Der Angeklagte sollte allerdings keine Kopien aus den Akten vor sich liegen haben. Unklarheiten und Erinnerungslücken, selbst in Nebenpunkten, lassen Zweifel an der Glaubhaftigkeit seiner Angaben, gar seiner Glaubwürdigkeit insgesamt aufkommen. Einen ungünstigen Eindruck macht es auch, wenn der Mandant sich über etwaige Vorstrafen unrichtig äußert oder sich nicht mehr erinnert. 497
Eine bewusste Änderung der Einlassung bedarf sorgsamer Überlegung. Erfahrungsgemäß wirkt sie sich ungünstig aus. Die frühere Vernehmung wird vorgehalten. Aus der Abweichung zieht das Gericht meistens nachteilige Schlüsse, und es kann zu unangenehmen Reaktionen kommen (Rz. 553 f.). Daher muss der Verteidiger von Fall zu Fall prüfen, was richtig ist, wenn der Auftraggeber seine Einlassung in der Hauptverhandlung ändern will. War die frühere Erklärung unwahr, so kann es notwendig sein, den Mandanten zu veranlassen, den Hergang in der Hauptverhandlung richtig zu schildern.
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Schwierigkeiten treten immer auf, wenn der Auftraggeber in der Hauptverhandlung an seinen früheren Angaben, die der Wahrheit entsprechen, nicht mehr festhalten will. Hierzu zählt auch der Widerruf eines ausdrücklichen richterlichen Geständnisses. Der Verteidiger darf dem Mandanten nicht raten, ein solches Geständnis in der Hauptverhandlung zu widerrufen (Rz. 61). Dies ist weder zulässig noch zweckmäßig. Ein richterliches Protokoll über ein Geständnis kann im Wege des Urkundenbeweises (Rz. 638) verlesen werden (§ 254 Abs. 1 StPO). Fehlt ein verwertbares und verlesbares Geständnis, so kann die Verhörperson über das Zustandekommen und den Inhalt des Geständnisses vernommen werden (Rz. 554, 638). Freilich hat der Verteidiger sorgsam zu prüfen, ob die Erklärungen, die der Auftraggeber in der Hauptverhandlung widerrufen will, tatsächlich ein Geständnis sind. Mandanten erklären immer wieder, der vernehmende Polizeibeamte habe ihre Angaben nicht oder nicht vollständig oder nicht so niedergeschrieben, wie sie es gewünscht haben. Polizeiliche Protokolle pflegen in der Tat nicht in der Ausdrucksweise des Beschuldigten abgefasst zu werden (Rz. 251). Auch der unbefangene Bearbeiter liest aus solchen Protokollen nicht selten Geständnisse heraus, die in Wahrheit keine sind.
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Bei der Beratung des Mandanten über den Inhalt der Einlassung hat der Verteidiger auch alle Umstände zu berücksichtigen, die sich bisher im Verfahren und bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung ergeben haben. So ist der Auftraggeber über den Inhalt der Akten zu informieren (Rz. 280 ff.); das Ergebnis eigener Erhebungen (Rz. 313, 648) und kommissarischer Vernehmungen ist ihm mitzuteilen. Beabsichtigte Beweisanträ334
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 500
ge vor oder in der Hauptverhandlung (Rz. 473 f., 648 ff.) sowie in Aussicht genommene Selbstladungen von Zeugen und Sachverständigen (Rz. 475 ff.) sind eingehend zu erörtern und bei der Einlassung zu berücksichtigen. Manchmal hat der Mandant hierüber abweichende Ansichten. Oft will er Beweisanträge gestellt und Zeugen geladen haben, von denen der Verteidiger nichts hält. Umgekehrt ist vielleicht der Verteidiger der Auffassung, dass dieser oder jener Zeuge zur Hauptverhandlung unbedingt benötigt wird, der Angeklagte will aber davon nichts wissen. Möglicherweise kennt er auch die Umstände nicht, die der Verteidiger zu kennen glaubt, vielleicht steht auch das Vorbringen des Angeklagten den Anträgen entgegen. Der Verteidiger darf von diesen Anträgen auch dann nicht ohne weiteres absehen, wenn sich der Mandant nicht überzeugen lässt. Er hat den Führungsanspruch (Rz. 152) und die Verantwortung (Rz. 31). Allerdings sollte es den Verteidiger auch misstrauisch machen, wenn der Auftraggeber sich hartnäckig der vom Verteidiger für richtig gehaltenen Ladung eines Zeugen verweigert, der nach Lage der Sache eigentlich „positiv“ aussagen müsste. Er muss ins Kalkül ziehen, dass der Mandant möglicherweise mehr über die zu erwartende Aussage dieses Zeugen weiß als er zugibt oder aus anderen Gründen Veranlassung hat, die Aussage des Zeugen zu scheuen. Die Durchsetzung des Führungsanspruches darf insoweit nicht „blind“ erfolgen, sondern muss mit Fingerspitzengefühl und Vorsicht praktiziert werden. Schließlich muss der Verteidiger den Mandanten über Sinn und Zweck 500 des letzten Wortes (§ 258 StPO) rechtzeitig aufklären. Immer wieder macht man die Erfahrung, dass hierüber in allen Bevölkerungskreisen erhebliche Unklarheiten bestehen. Durch das Schlusswort kann viel gewonnen, aber auch viel verdorben werden. Gerade deshalb sollte der Mandant schon vor der Hauptverhandlung mit den maßgeblichen Überlegungen vertraut gemacht werden, weil die Zeit der Hauptverhandlung für Belehrungen nicht ausreicht und der Mandant nach den ihn erregenden Schlussvorträgen kaum in der Lage ist, die Bedeutung seines letzten Wortes richtig einzuschätzen. (Im Einzelnen wird hierzu auf Rz. 765 verwiesen.) 2. Der Verteidiger in der Hauptverhandlung Literatur: Dahs sen., Der Anwalt im Strafprozess, AnwBl. 1959, 186 f.; Dahs, Der Zeuge – zu Tode geschützt?, NJW 1998, 2332; Ignor/Sättele in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 386 ff.; Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, Schriftenreihe Deutsche Strafverteidiger, Bd. 35, 2012; Malek, Verteidigung in der Hauptverhandlung, 4. Aufl. 2012; Marx, Aufgaben der Staatsanwaltschaft in der strafrechtlichen Hauptverhandlung, GA 1978, 365; Münchhalffen, Bedeutung der Sitzordnung für eine ungehinderte Verteidigung, StraFo 1996, 18; Rieß, Die Durchführung der Hauptverhandlung ohne Angeklagten, JZ 1975, 265; Salditt, Verteidigung in der Hauptverhandlung – Notwendige Alternativen zum Praxisritual, StV 1993, 442; Stern, Der verdrehte Kopf – Sitzordnung mit Verteidigung auf der Anklagebank?, StraFo 1996, 46; Volk, Konfliktverteidigung, Konsensualverteidigung und die Strafrechtsdogmatik, FS Dahs (2005), S. 495 ff.; Warda,
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Rz. 501
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Hauptverhandlung mit dem verhandlungsunfähigen, aber verhandlungswilligen Angeklagten?, FS Bruns (1978), S. 415; vgl. auch das vor Rz. 448 angeführte Schrifttum.
a) Allgemeines Literatur: Zum Verhältnis Verteidiger – Medien während der Hauptverhandlung vgl. Rz. 97 ff. und das dort angeführte Schrifttum.
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Das Verhalten des Verteidigers in der Hauptverhandlung findet bei den Beteiligten und der Öffentlichkeit besondere Beachtung. Hier repräsentiert der Verteidiger seinen Berufsstand und das Institut der Strafverteidigung. Allein deshalb muss er so auftreten, wie es die Achtung vor dem Gericht und den beteiligten Personen verlangt. Wer diese Regeln nicht beachtet, setzt nicht nur die Interessen des Auftraggebers aufs Spiel. Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass unkorrektes Auftreten oder gar verletzendes Benehmen des Verteidigers sich bewusst oder unbewusst auch gegen seine sachlichen Argumente auswirkt. „Angeheizte Stimmung im Gerichtssaal“1 erschwert sachlich gerechtfertigte Anträge, vor allem für Beweisanträge. Das ist nur zu verständlich und macht deutlich, wie wichtig es ist, das rechte Maß in Angriff und Verteidigung zu finden. Erfahrung und Fingerspitzengefühl sind oft die einzigen Ratgeber. Der Verteidiger muss einerseits in der Hauptverhandlung den richtigen Ton schnell treffen und andererseits die Interessen des Mandanten gerade während der Verhandlung tatkräftig wahrnehmen. Nachgiebige Haltung ist dann nicht angebracht, wenn die Rechte der Verteidigung des Angeklagten, aus welchen Gründen auch immer, ungerechtfertigt verkürzt werden. Aber gerade, wenn es darum geht, die Verteidigungsrechte in der Hauptverhandlung durchzusetzen, bewährt sich der eher untertreibende, jedenfalls der sachliche Ton. Das „Ausschlachten“ von Irrtümern des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft kann zwar sehr effektvoll sein; ob es dem Interesse des Klienten dient, ist eine andere Frage. Auch nervöse und gereizte Erklärungen wirken nicht überzeugend. Überhaupt muss sich der Verteidiger immer die vielfältigen Auswirkungen vor Augen halten, die sein Auftreten für den Mandanten haben kann. Wie sich der Verteidiger benimmt und ausdrückt, was er sagt oder nicht sagt, kurz, die Wirkung seiner Persönlichkeit hinterlässt nicht nur bei den Laienrichtern oft nachhaltige Eindrücke. Je sachlicher und taktvoller der Verteidiger seine Aufgabe löst, desto eher wird sein Vorbringen Beachtung finden. In Strafsachen vor auswärtigen Gerichten sollte es für den Verteidiger selbstverständlich sein, den Vorsitzenden vor Beginn der Hauptverhandlung – ggf. durch Vermittlung der Geschäftsstelle – aufzusuchen, um sich vorzustellen. Diese – an sich selbstverständliche – Geste der Höflichkeit und des Anstands ist in besonderem Maße geeignet, ein gutes sachliches Klima für die Hauptverhandlung zu schaffen. Der Verteidiger sollte aber von sich aus bei einem solchen Vorstellungsbesuch nicht oder nur aus1 Dahs in FS Odersky (1996), S. 317 ff.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 502
nahmsweise die Sache selbst ansprechen. Nicht selten kommt es ohnehin auf Initiative des Richters zu einer Erörterung der Sache selbst. Der Verteidiger sollte hier grundsätzlich Zurückhaltung üben, besonders wenn er direkt oder indirekt nach dem Verteidigungsplan „gefragt“ wird. Nur im Ausnahmefall darf er das Risiko eingehen, dem Richter bestimmte Ziele der Verteidigung in der Beweisaufnahme mitzuteilen. Ein überzeugend vorgetragenes „Vorplädoyer“ kann bei einem aufnahmebereiten und souveränen Richter allerdings zu dem Erfolg führen, dass er die Gedanken der Verteidigung aufgreift und die Verhandlung selbst in dieser Richtung führt – zum Nutzen des Angeklagten (Rz. 513). b) Verständigung und Verfahrensabsprachen Literatur: Sauer, Absprachen im Strafprozess, 2. Aufl. 2013; Stuckenberg, Entscheidungsbesprechung BVerfG, Urt. v. 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10, ZIS 2013, 212; Velten, Die Rückabwicklung unzulässiger Absprachen – Kritik der aktuellen Rechtsprechung zur Reichweite der §§ 257c Abs. 4 S. 3, 136a StPO, StV 2012, 172. Zum Rechtszustand vor Einführung des § 257c StPO im Jahre 2009 vgl. die Vorauflage.
Die Anfangsphase der Hauptverhandlung kann auch der richtige Zeit- 502 punkt sein, sich vorsichtig an eine Verständigung im Sinne des § 257c StPO1 heranzutasten. Dies ist relativ einfach, wenn das Gericht selbst Andeutungen in dieser Richtung macht oder man feststellt, dass erhebliche Probleme für den Verhandlungsablauf aufgetreten sind oder erkennbar werden. Man macht allerdings die Erfahrung, dass Richter in dieser Hinsicht vorsichtig sind, wenn sie den Verteidiger nicht kennen oder er als „ablehnungsfreudig“ gilt. Die Chance für eine Verständigung liegt nicht selten unausgesprochen „in der Luft“, wofür der Verteidiger ein eigenes Gespür entwickeln muss. Die Vorbesprechung mit dem Vorsitzenden bietet nicht selten eine gute Möglichkeit, eine für den Mandanten unter Umständen vorteilhafte Absprache zu entrieren. Dabei ist nicht nur an die förmliche Geständnis-Absprache im Sinne des § 257c StPO zu denken, sondern auch an jede andere Art von Absprachen, z.B. mit dem Ziel einer Einstellung nach §§ 153, 153a, 154, 154a StPO u.a. Nimmt die Hauptverhandlung erst einmal ihren förmlichen Verlauf, ist es gar schon zu ersten Kontroversen mit Staatsanwaltschaft und Gericht gekommen und eine (aufwendige) Beweisaufnahme im Gang, können (nicht: müssen) sich die Chancen rapide verschlechtern. Der Verteidiger kann dann mit dem Gericht streiten und Aufmerksamkeit in der Presse finden – der Klient dagegen hat das Nachsehen (spätestens bei der Urteilsverkündung)! 1 BVerfG v. 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10, 2883/10, 2 BvR 2155/11, NJW 2013, 1058; dazu i.E. Stuckenberg, ZIS 2013, 212; Altvater, Überprüfung der Verständigung durch die Revision, StraFo 2014, 221; Ziegert, Die revisionsrechtliche Überprüfung von Absprachen in der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, StraFo 2014, 228.
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Rz. 503
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Verständigung und Verfahrensabsprache sind weder die „Krone der Strafverteidigung“ noch die „Bankrotterklärung der Strafjustiz“ oder „das Reich des Bösen“, sondern ein „Kind der Praxis“, über dessen Legitimität seit mehr als einem Jahrzehnt erbittert gestritten wurde (vor allem im Schrifttum). Die richtig verstandene Verfahrensabsprache beruht zum einen auf einem ungeschminkt-nüchternen Resümee der Sache und Verfahrenssituation aller Beteiligten und zum anderen dem Konsens, den Fall diesen Gegebenheiten entsprechend im Rahmen des Rechts zu Ende zu bringen. Die Wahrung unterschiedlicher Prozessfunktionen wird durch die Beteiligung der Repräsentanten von Rechtsprechung, Strafverfolgung und Verteidigung gewährleistet. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat zur Verständigung strenge Leitlinien entwickelt, die einer allzu weit gehenden Abkürzung der Hauptverhandlung Grenzen ziehen1. So darf das Gericht keine „Punktstrafe“2 zusagen, für den Angeklagten genügt ggf. ein sog. „schlaues“ Geständnis3. Ob bei Wegfall der Bindungswirkung ein Geständnis trotz § 257c Abs. 4 S. 3 StPO verwertbar ist, ist streitig4. Die Verpflichtungen des Gerichts nach §§ 244 Abs. 2, 265 StPO5 bleiben bei Verständigung unberührt; ebenso die Rüge fehlender Zuständigkeit (§ 338 Nr. 4 StPO) bei Willkür6. Die sachlichrechtlichen Anforderungen an die Überzeugungsbildung des Gerichts werden nach Auffassung des BGH durch die Verständigung nicht eingeschränkt7. 503
Der Verteidiger ist in diesem Zusammenhang in seiner Geschicklichkeit und Seriosität gleichermaßen gefordert8. Es liegt in seiner Verantwortung, für den Klienten eine Verteidigungsposition erst und nur dann aufzugeben, wenn die hohe Sicherheit besteht, dass er mit Gericht und Staatsanwaltschaft auch zu der angestrebten Konkordanz über die weitere Abwicklung des Verfahrens gelangen kann. In gleichem Maße ist er seinem Klienten dafür verantwortlich, dass die Möglichkeit einer Verständigung nicht verpasst wird, diese aber so klar und eindeutig formuliert ist, dass Missverständnisse über Inhalt und Ergebnis ausgeschlossen sind. Schließlich hat er darauf zu achten, dass nichts zum Inhalt der Absprache gemacht wird, auf das die Beteiligten keinen Einfluss haben, z.B. Modalitäten der Strafvollstreckung oder Leistungen in anderer Sa-
1 Vgl. vor allem BVerfG v. 19.3.2013 – 2 BvR 26/10 u.a., NJW. 2 BGH v. 28.9.2010 – 3 StR 359/10, NStZ 2011, 231 f.; BGH v. 17.2.2011 – 3 StR 426/10, NStZ 2011, 648. 3 BGH v. 1.3.2011 – 1 StR 52/11, StV 2011, 337 f. 4 Vgl. BGH v. 16.3.2011 – 1 StR 60/11, StV 2012, 134 m. Anm. Velten, StV 2012, 172; ferner die Nachw. bei Dahs, Revision, Rz. 398. 5 BGH v. 30.6.2011 – 3 StR 39/11, StV 2012, 135; zu den Auswirkungen der unterlassenen Belehrung nach § 257c Abs. 5 StPO BVerfG v. 30.6.2013 – 2 BvR 85/13, NStZ-RR 2013, 315. 6 BGH v. 13.9.2011 – 3 StR 196/11, StV 2012, 137. 7 BGH v. 22.9.2011 – 2 StR 383/11, StV 2012, 133. 8 Vgl. Dahs, NStZ 1988, 53.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 507
che1. Für den Angeklagten kann durch eine Verständigung manches erreicht werden. Auf die Einbeziehung aller beteiligten Richter und der Staatsanwaltschaft, die Offenlegung und Protokollierung in der Hauptverhandlung (§ 273 Abs. 1a S. 5, 1 und 2 StPO) und das Verbot eines Rechtsmittelverzichts (§ 302 Abs. 1 S. 2 StPO) ist besonders hinzuweisen. Im Übrigen hat der Verteidiger schon im Interesse des Mandantenschut- 504 zes, aber auch im Hinblick auf die Rechtsbeständigkeit der Verständigung auf die Einhaltung des Fairnessgebotes im Zusammenhang mit Zustandekommen und Abwicklung der Verständigung zu achten. Insbesondere ist jede unangebrachte Pression zurückzuweisen. Bei einem späteren Scheitern der abgesprochenen Verfahrenserledigung 505 im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung, z.B. wegen neuer gewichtiger Erkenntnisse (§ 257c Abs. 4 StPO) muss das Gericht einen zu protokollierenden (§ 273 Abs. 1 StPO) Hinweis geben, wenn es nunmehr ein höheres Strafmaß oder gar einen anderen Schuldspruch in Erwägung zieht (§ 257c Abs. 5 StPO). Ob eine konfrontative oder kooperative Verteidigung am besten geeignet 506 ist, das Feld für eine Absprache vorzubereiten, scheint unter den Strafverteidigern eine Art „Glaubensfrage“ zu sein; hier wird jeder seine eigenen Erfahrungen haben oder machen müssen. Für den professionell agierenden Verteidiger bietet sich mit diesem Verfahrensinstrument jedenfalls oft eine große Chance, die er zum Vorteil seines Mandanten nutzen kann. Allerdings sollte er sich nicht von Staatsanwaltschaft oder Gericht zu einer Verständigung drängen lassen, z.B. wenn Rechtsgründe der Verurteilung seines Mandanten entgegenstehen. Dass die Absprache zu einer Verkürzung des Verfahrens führt, darf insbesondere unter Honoraroder Gebührengesichtspunkten nicht daran hindern, diesen Weg zu beschreiten, wenn der Fall dafür geeignet ist. Schutzaufgabe, Treue- und Schweigepflicht gebieten dem Verteidiger, den Mandanten von Anfang an in einem gemeinsam festzulegenden Rahmen über die Aufnahme von Gesprächen, ihren Fortgang und die angestrebten und erreichten Ergebnisse zu unterrichten und mit seiner Zustimmung das Verfahren alsbald zu beenden. c) Beginn Pünktlichkeit des Verteidigers zu Beginn der Hauptverhandlung ist eine 507 Selbstverständlichkeit; sie ist aber nicht immer leicht zu erreichen, z.B. wenn vorangegangene Termine sich unerwartet verzögern. In solchen und anderen Fällen unverschuldeter Verspätung muss das Gericht vor der Terminsstunde durch eine telefonische Nachricht oder in anderer 1 BGH v. 19.2.2004 – 4 StR 371/03, NStZ 2004, 338 m. Anm. Weider; BGH v. 28.8.1997 – 4 StR 240/97, BGHSt. 43, 195.
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Weise unterrichtet werden. Es ist dann verpflichtet, auf die zeitweise Verhinderung des Verteidigers Rücksicht zu nehmen und die Sache später aufzurufen1. Der Bitte um Verschiebung des Terminbeginns um 20 oder auch 30 Minuten wegen Verhinderung des Verteidigers ist in aller Regel stattzugeben2. Auch sonst muss das Gericht so lange auf das Erscheinen des Verteidigers warten, wie dies mit dem Interesse an der Einhaltung der Tagesordnung vereinbar ist3. Vom Verteidiger kann aber erwartet werden, dass er seine Anreise z.B. zu einem auswärtigen Gericht zeitlich so kalkuliert, dass auch die immer möglichen Reiseverzögerungen nicht zu einer Verspätung führen. Andererseits muss auch der Verteidiger eine Verschiebung des Verhandlungsbeginns hinnehmen, wenn die Verzögerung in der Sphäre des Gerichts liegt, z.B. weil der voraufgegangene Termin noch andauert. Stundenlange Wartezeiten braucht er bei anderweitigen Terminsaufgaben allerdings nicht hinzunehmen. 508
Das erste Auftreten im Sitzungssaal erfordert zunächst die Beachtung gewisser äußerer Gegebenheiten. So wie der Verteidiger die Sitzordnung für die Beteiligten antrifft, wird er sie im Allgemeinen hinnehmen müssen, auch wenn ihm kein der Platzierung des Staatsanwalts entsprechender Platz zugewiesen ist. Wenn der Platz des Angeklagten allerdings eine „Armesünderbank“ ist, muss er protestieren; das gilt für jede „umfriedete Anklagebank“, die nur ausnahmsweise in Betracht kommt (Nr. 125 Abs. 2 RiStBV)4. Die vertrauliche Verständigung mit dem Mandanten muss gewährleistet sein; darauf besteht ein Rechtsanspruch5. Es gibt Verteidiger, welche die Rechte des Angeklagten in diesem Punkte lautstark verkünden und daraus eine massive Sensation machen. Besser ist meist eine ruhige Verständigung mit dem Vorsitzenden, unter Umständen allerdings auch ein stillschweigendes Hinnehmen, wenn dies die Verteidigung nicht substantiell beeinträchtigt. Dem Verteidiger ist das Tragen der Amtstracht vor Gericht vorgeschrieben (§ 20 BORA). Zu fordern ist im Allgemeinen schwarze Robe und weißer Quer- oder Längsbinder, für die Kolleginnen auch ein weißes Halstuch. Solange Richter und Staatsanwälte entsprechend gekleidet sind, ist unerfindlich, woraus manche Kollegen für sich das Sonderrecht zum Teil exotischer Kleidung vor Gericht ableiten, z.B. grellfarbige Hemden (kariertes Hemd vor dem BGH!), phantasievoll gemusterte Krawatten – oder 1 OLG Hamm v. 13.12.1979 – 3 Ss OWi 2938/79, AnwBl. 1980, 200; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 228 StPO Rz. 11 m.N. 2 OLG Düsseldorf v. 10.4.1995 – 2 Ss OWi 239/94-OWi 45/94 III, StV 1995, 454; BayObLG v. 26.7.1984 – RReg.1 St 130/84, StV 1985, 6; OLG Hamburg v. 22.8.1980 – 1 Ss 139/80 Owi, MDR 1981, 165. 3 BVerwG v. 14.2.1979 – 1 C 20/77, MDR 1979, 606. 4 Lesenswert Eb. Schmidt, Formen im Gerichtssaal, ZRP 1969, 254 (257). 5 BayObLG v. 6.4.1981 – 4 St 267/80, StraFo 1996, 47; OLG Köln v. 13.6.1979 – 3 Ss 1069/78, NJW 1980, 302.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 512
gar keine usw. Wenigstens im Interesse des Mandanten sollte man sich nicht derart „unter“ Richter und Staatsanwalt stellen. Im Übrigen hat vor langer Zeit das BVerfG entschieden, dass der Rechtsanwalt auch „gerichtsrechtlich“ verpflichtet ist, in Robe aufzutreten, und dass die Überwachung dieser Pflicht dem Prozessgericht obliegt1. Der Verteidiger, der nicht in Amtstracht auftritt, kann sogar zurückgewiesen werden2. Der Verteidiger sollte auch darauf achten, dass sein Mobiltelefon 509 („Handy“) abgeschaltet ist. Abgesehen davon, dass ein ankommender Telefonanruf die Verhandlung stört, pflegen die nüchtern denkenden Richter die Bedeutung des Verteidigers und seiner Praxis an anderen Kriterien zu messen. Beabsichtigt der Verteidiger, in der Hauptverhandlung einen Laptop o.Ä. 510 zu benutzen (Rz. 453), sollte er dies zuvor rechtzeitig mit dem Vorsitzenden besprechen, zumal er für die Stromzufuhr oft auf „technische Hilfe“ der Justizverwaltung angewiesen sein wird. Ein Gebrauch des Laptops, der die Verhandlung nicht stört, wird ihm – jedenfalls in umfangreichen Sachen – nicht verwehrt werden können, nachdem die elektronische Datenverarbeitung auch in die Strafjustiz Eingang gehalten hat. Auch wenn der Verteidiger aus anderen Gründen auf die Benutzung des Laptop angewiesen ist (etwa wegen einer Behinderung), muss er ggf. einen Gerichtsbeschluss herbeiführen, um die Beeinträchtigung der Verteidigung revisibel (§ 338 Nr. 8 StPO) zu machen. Allerdings wird es derartige Probleme immer seltener geben, nachdem schon heute in entsprechenden Verfahren auch Richter und Staatsanwälte sich in der Verhandlung dieser elektronischen Hilfsmittel bedienen. Der Verteidiger ist grundsätzlich zur Anwesenheit in der Hauptverhand- 511 lung von deren Beginn bis zur Beendigung der Urteilsverkündung verpflichtet3. Verstöße begründen bei notwendiger Verteidigung die Revision (§ 338 Nr. 5 StPO – Rz. 934). Auch können die Kosten des Verfahrens einem säumigen Verteidiger auferlegt werden (Rz. 195, 804). Bei zeitweiliger Verhinderung kann der Verteidiger sich vertreten lassen (Rz. 160). Aussetzungs- und Vertagungsanträge sollte der Verteidiger gleich zu Be- 512 ginn der Hauptverhandlung stellen. Dadurch kann er verhindern, dass unnötig verhandelt wird. Selbst aus der Ablehnung eines Antrages kann er Nutzen ziehen. Er erfährt aus der Versagung häufig die Meinung des Gerichts zu Fragen, die für seinen Verteidigungsplan von Interesse sind. Will der Verteidiger die Aussetzung der Hauptverhandlung beantragen, weil die Ladungsfrist nicht eingehalten ist (§ 217 Abs. 2 StPO) oder weil 1 BVerfG v. 18.2.1970 – 1BvR 226/69, BVerfGE 28, 21 = NJW 1970, 851. 2 BGH v. 25.10.1976 – AnwST (R) 5/76, BGHSt. 27, 34; BVerfG v. 18.2.1970 – 1 BvR 226/69, BVerfGE 28, 21; OLG Karlsruhe v. 25.8.1976 – 2 Ws 143/76, DRiZ 1976, 353. 3 Zur Fortführung der Hauptverhandlung bei Verhinderung des Wahlverteidigers vgl. BGH v. 17.7.1973 – 1 StR 61/73, NJW 1973, 1985.
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Rz. 513
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
die Vorbereitungszeit zu kurz war (Rz. 458 ff.), so sollte er das alsbald (bei § 217 Abs. 2 StPO bis zu Beginn der Vernehmung des Mandanten zur Sache) tun. Auch der kurzfristig bestellte Pflichtverteidiger muss unverzüglich beantragen, die Hauptverhandlung zu unterbrechen oder auszusetzen, falls die Zeit für die Vorbereitung zu knapp war (§ 145 Abs. 3 StPO), und darüber ggf. einen Gerichtsbeschluss (§ 238 Abs. 2 StPO) herbeiführen1. Für den Fall einer Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung muss der Verteidiger seinen Terminkalender jedenfalls soweit präsent haben, dass er bei der Absprache des neuen Termins etwaige zwingende Verhinderungen sofort geltend machen kann. Auf diese Weise vermeidet er Unstimmigkeiten, die bei Terminkollisionen (Rz. 460 ff.) und Verlegungsanträgen immer wieder auftreten. 513
Der Verteidiger muss sich überlegen, ob es angebracht ist, zu Beginn der Hauptverhandlung eine Erklärung zur Verteidigung („opening statement“) (Rz. 526) abzugeben, in der in unmittelbarer Erwiderung auf die Anklageverlesung die Eckpunkte der Verteidigungsargumentation, ihrer Beweisführung oder auch eine kritische Darstellung der Mängel der Anklage und des Ermittlungsergebnisses kurz und pointiert herausgestellt werden. Nachteile und Vorteile einer solchen Erklärung lassen sich nicht allgemein festlegen. Zunächst muss berücksichtigt werden, dass eine „Eröffnungsrede“ des Verteidigers durchweg Erstaunen auf der Richterbank hervorruft. Sie ist ungewöhnlich, weil das „opening statement“ des englisch-amerikanischen Verfahrens unserem Strafprozess fremd ist. Dadurch allein sollte sich indessen der Verteidiger nicht abhalten lassen. Maßgebend ist die Prüfung, ob es sinnvoll ist, den Verteidigungsplan schon jetzt offenzulegen. Vorteilhaft kann die frühzeitige Erläuterung des Verteidigungsplanes in Prozessen sein, in denen man eine alsbaldige Einstellung erreichen (Rz. 329 ff.), ein nicht festgelegtes Gericht sofort auf den „richtigen Kurs“ bringen will, oder an denen die Öffentlichkeit besonders interessiert ist. Hier wird der Vorwurf der Anklage durch die Medien oft schon vor der Hauptverhandlung verbreitet. Dann kann es notwendig sein, nach Verlesung der Anklage in der Hauptverhandlung eine Verteidigungserklärung abzugeben, um einer einseitigen Darstellung in der Öffentlichkeit und einer einseitigen Beeinflussung der ehrenamtlichen Richter entgegenzuwirken. Besonders wichtig ist eine Erwiderung des Verteidigers, falls der Staatsanwalt oder das Gericht nach Verlesung des zugelassenen Anklagesatzes eine abweichende, dem Mandanten ungünstigere Rechtsauffassung äußern (§ 243 Abs. 3 StPO). Mit der Bekanntgabe der Verteidigungsplanung kann der Verteidiger zugleich den Ablauf der Verhandlung unter Umständen wesentlich beeinflussen. Eine vorherige Ankündigung des opening statements gegenüber dem Vorsitzenden ist oft geeignet, Turbulenzen zu vermeiden.
514
Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten sollten ebenfalls spätestens zu Beginn der Hauptverhandlung vorgebracht werden (Rz. 405), 1 BGH v. 24.11.1999 – 3 StR 390/99, NStZ 2000, 212.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 516
mindestens muss der Verteidiger unverzüglich durch geeignete Anregungen dafür sorgen, dass auf den Gesundheitszustand des Mandanten Rücksicht genommen wird. Mit der Frage des Vorsitzenden, ob der Angeklagte „der Verhandlung folgen könne“, darf es nicht getan sein. Überhaupt muss er dem Mandanten, der körperlich behindert ist, alle notwendigen Erleichterungen verschaffen, die notwendig sind, um die Verteidigung uneingeschränkt führen zu können, z.B. das Gericht auf eine etwaige Schwerhörigkeit hinweisen oder darum bitten, dass regelmäßige Pausen eingelegt werden oder die tägliche Verhandlungsdauer beschränkt wird. In jedem Fall ist darauf hinzuwirken, dass der Mandant Gelegenheit hat, seine Unterlagen auszubreiten, zu schreiben und den unerlässlichen (vertraulichen) ständigen Kontakt mit seinem Verteidiger zu halten. Eine Erleichterung der Verhandlung für den Angeklagten ist auch die 515 zeitweilige Beurlaubung (§ 231c StPO). Der Verteidiger muss jedoch sorgfältig prüfen, ob er selbst nicht dennoch im Saal bleibt, weil auch aus Verhandlungsteilen, die den Mandanten nicht im Rechtssinne „betreffen“, wichtige Erkenntnisse für die Verteidigung gewonnen werden können. Mindestens sollte man sich durch die anwesenden Kollegen unterrichten lassen. Die Gerichte stehen inzwischen Beurlaubungsanträgen sehr ablehnend gegenüber, weil hier eine beachtliche „Fußangel“ für Revisionsangriffe liegt1. Die Hauptverhandlung darf im Übrigen nach § 231 Abs. 2 StPO in Ab- 516 wesenheit des Angeklagten nur dann fortgesetzt werden, wenn dieser „eigenmächtig“, also nicht unfreiwillig ferngeblieben ist, sondern versucht hat, durch Missachtung seiner Anwesenheitspflicht den Gang der Rechtspflege zu stören. Das muss nachgewiesen sein2. Den Sonderfall der vom Angeklagten selbst absichtlich herbeigeführten Verhandlungsunfähigkeit regelt § 231a StPO3. Der Angeklagte ist auch dann verhandlungsunfähig, wenn er nur für kürzere Zeitspannen, die zur Erledigung des Verfahrens in vernünftiger Frist nicht ausreichen, der Verhandlung folgen kann4. Dem Verteidiger ist es hier wie in allen anderen Situationen untersagt, ein Bestreben des Angeklagten, sich dem Verfahren zu entziehen oder seinen Fortgang ohne Rechtsgrund aufzuhalten, zu unterstützen oder zu fördern (§ 258 StGB, § 138a Abs. 3 StPO). Er hat aber den Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör wahrzunehmen, insbesondere darauf hinzuwirken, dass der Wiedereintritt der Verhandlungsfähigkeit sofort mitgeteilt wird5
1 Dahs, Revision, Rz. 185. 2 BGH v. 26.7.1961 – 2 StR 575/60, BGHSt. 16, 178 (180); BGH v. 9.5.1974 – 4 StR 102/74, BGHSt. 25, 317; BGH v. 22.11.1979 – 4 StR 629/79, NJW 1980, 950; Dahs, Revision, Rz. 183 f. 3 Nach BVerfG v. 21.1.1976 – 2 BvR 941/75, NJW 1976, 413 verfassungsgemäß. 4 BGH v. 22.10.1975 – 1 STE 1/74 – StB 60–63/75, NJW 1976, 116. 5 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 231a StPO Rz. 19 f.
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Rz. 517
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
oder auch dem verhandlungsunfähigen Angeklagten auf seinen Wunsch die Teilnahme an der Hauptverhandlung gestattet wird. 517
Wenn die Besetzungsrüge erhoben werden soll, so muss dies in der Hauptverhandlung, genauer gesagt, vor dem Beginn der Vernehmung des ersten Angeklagten – also nicht unbedingt des rügenden Angeklagten – geschehen, wobei alle Beanstandungen gleichzeitig vorgebracht werden müssen (§ 222b Abs. 1 S. 1, 3 StPO)1. Wird die Rüge nicht in schriftlicher Form vorgebracht, was dringend zu empfehlen ist, so besteht nach § 273 Abs. 1 StPO ein Rechtsanspruch darauf, dass sie nebst Begründung in das Protokoll der Hauptverhandlung aufgenommen wird, weil sie in ihrem Rechtscharakter und ihrer verfahrensrechtlichen Bedeutung einem Prozessantrag mindestens gleichsteht. Der Verteidiger hat dabei darauf zu achten, dass sämtliche Tatsachen zu Protokoll genommen werden, die er zur Begründung der Rüge vorgebracht hat (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO). (Vgl. i.Ü. Rz. 463 ff.). Ist die Besetzung der Richterbank oder eine Besetzungsänderung weniger als eine Woche vor Beginn der Hauptverhandlung mitgeteilt worden oder wird sie den Verfahrensbeteiligten erst zu Beginn der Verhandlung eröffnet, so muss der Verteidiger entscheiden, ob er einen Antrag auf Unterbrechung der Hauptverhandlung zur Prüfung der Besetzung stellt: Auch dieser Antrag muss spätestens bis zum Beginn der Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache (also nicht unbedingt des jeweiligen Mandanten) gestellt werden (§ 222a Abs. 2 StPO). Eine Unterbrechung der Hauptverhandlung von einer Woche muss das Gericht zur Prüfung der Besetzung bewilligen2 (Rz. 463).
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In ähnlicher Weise ist die Rüge der Unzuständigkeit des Gerichts in der Hauptverhandlung geltend zu machen. Sie kann allerdings nicht nur bis zur Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache, sondern bis zur Vernehmung des Angeklagten, der sich auf die Unzuständigkeit beruft, erhoben werden. Die Beanstandung kann schriftlich oder zu Protokoll der Hauptverhandlung (§ 273 StPO) vorgebracht werden: Für die Begründung des Einwandes der Unzuständigkeit gilt § 344 Abs. 2 S. 2 StPO entsprechend.
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Zu Beginn der Hauptverhandlung, spätestens vor der Vernehmung des ersten Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse (§ 25 Abs. 1 S. 1 StPO), muss der Verteidiger auch etwaige Ablehnungsgesuche vorbringen, sofern die Gründe bereits bekannt sind. Im Allgemeinen ist es nicht
1 Die „Zweierbesetzung“ hat der Gesetzgeber gem. § 76 Abs. 2 GVG in den Rang einer Dauerregelung erhoben; vgl. i.E. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 76 GVG Rz. 2 ff. 2 BGH v. 19.8.1987 – 2 StR 160/87, NStZ 1988, 36: zeitlich ausreichend zur Prüfung in jeder Hinsicht; BGH v. 10.6.1980 – 5 StR 464/79, BGHSt. 29, 283 = NStZ 1981, 31 m. Anm. Katholnigg; Rieß, JR 1981, 89.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 520
zweckmäßig, Ablehnungsgesuche bis zum letzten Augenblick aufzuschieben (Rz. 205, 466 f.). So kann es unter Umständen notwendig sein, rechtzeitig zu fragen, ob die Schöffen die Anklageschrift, insbesondere das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen, gelesen oder darin Einblick genommen haben. Dieser Umstand ist ein Ablehnungsgrund (Rz. 203). Die Richter, besonders die Schöffen, sind vielfach befangen durch die sensationelle Berichterstattung der Medien und deren „Vor-Urteil“ (Rz. 100). Mag man dem Berufsrichter noch die Fähigkeit zur Objektivität zutrauen, so ist die Befangenheit der Schöffen eigentlich nicht zu bezweifeln. Trotzdem wird diese Begründung allein in der Regel nicht ausreichen, weil sonst viele Sachen überhaupt nicht verhandelt werden könnten. Es ist gleichwohl zu erwägen, in Fällen, in denen das Klima, z.B. durch Verlautbarungen des Gerichts bzw. Vorverurteilung in den (lokalen) Medien völlig vergiftet ist, die Ablehnung der Schöffen zu beantragen, um dadurch Bewegung in diese bedenklichen Justizzustände zu bringen (Rz. 201). Zu Beginn und im Verlauf der Hauptverhandlung steht der Verteidiger 520 oft vor der Frage, wie er sich zur Ausschließung der Öffentlichkeit (§§ 172 ff. GVG) äußern soll. Vielfach will der Mandant schon vor der Hauptverhandlung wissen, ob denn Zuhörer dabei seien und ob der Verteidiger das nicht verhindern könne. Ein solcher Wunsch ist nur zu verständlich: Kein Mensch sieht es gern, wenn seine persönlichen Verhältnisse, sein Privatleben und sein etwaiges Versagen öffentlich erörtert und durch Zuhörer oder die Berichterstattung von Presse, Rundfunk und Fernsehen verbreitet werden können (Rz. 100)1. Viele Angeklagte fühlen sich allein aus diesem Grund befangen. Das Gesetz lässt den Ausschluss aber nur in besonderen Fällen zu, z.B. wegen Gefährdung der Sittlichkeit oder eines wichtigen Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisses (§ 172 Nr. 2 GVG). Aus dem Katalog der Ausschließungsgründe ist der Schutz des persönlichen Lebensbereichs eines Prozessbeteiligten oder Zeugen von besonderer Bedeutung. Der Ausschluss der Öffentlichkeit zum Schutz von Persönlichkeitsrechten ist heute nach § 171b GVG leichter zu erreichen als in früherer Zeit. Es muss dargelegt werden, dass die öffentliche Erörterung personenbezogener Tatsachen schutzwürdige Interessen verletzen würde. Das kann z.B. so sein bei der Erörterung von Jugendverfehlungen oder Krankenunterlagen2, der Befragung über seine (gescheiterte) Ehe einschließlich des sexuellen Bereichs, bei der Vernehmung von medizinischen Sachverständigen, deren mündliche Gutachten sonst die Öffentlichkeit über die intimsten physischen und psychischen Umstände des Angeklagten unterrichten. Der Ausschluss der Öffentlichkeit ist in diesen Fällen die Regel, die Zulassung der Öffentlichkeit die Ausnahme.
1 Vgl. dazu Nr. 129 RiStBV. 2 BGH v. 31.1.1967 – 5 StR 650/66, NJW 1967, 687.
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Rz. 521
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Sie kommt nur in Betracht, wenn das Interesse an der öffentlichen Erörterung überwiegt, wogegen sich häufig gute Gründe anführen lassen. Dabei ist zu beachten, dass über den Ausschluss der Öffentlichkeit nur auf Antrag in nichtöffentlicher Sitzung zu verhandeln ist (§ 174 Abs. 1 GVG), falls nicht das Gericht von sich aus die Anordnung trifft. Der Verteidiger muss vermeiden, die Gründe für den Ausschluss vor Zuhörern erörtern zu müssen, die auf diese Weise doch erfahren, worum es geht. Entsprechendes gilt für die Bekanntgabe der Gründe des Ausschließungsbeschlusses1. Im Zusammenhang mit der Öffentlichkeit der Verhandlung hat der Verteidiger darauf zu achten, dass Aufnahmen für Fernsehen, Rundfunk und Film während der Hauptverhandlung untersagt sind (§ 169 GVG). Gleichwohl wird in die Gerichtssäle noch hineingefilmt und fotografiert. Hiergegen muss der Verteidiger schon vor der Hauptverhandlung vorgehen, wenn die Interessen des Mandanten es verlangen (vgl. hierzu im Einzelnen Rz. 113 ff.). 521
In der Regel ist es sachdienlich, Einwendungen gegen das Verfahren unverzüglich vorzubringen, wenn sie nicht vor der Hauptverhandlung zur Einstellung geführt haben (Rz. 422 ff.). Das gilt insbesondere, falls der Verteidiger den Mangel erst kurz vor der Hauptverhandlung festgestellt oder noch keine Gelegenheit gehabt hat, sich darauf zu berufen. Beispielsweise kann die Verjährung eben erst eingetreten (Rz. 430), der Strafantrag zurückgenommen (Rz. 428), die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten gerade bekannt geworden sein (Rz. 425). Ist der Verteidiger der Ansicht, dass ein solcher Einwand durchschlägt, so sollte er nicht zögern, ihn sofort geltend zu machen. Er trägt dann dazu bei, eine unnütze Hauptverhandlung zu vermeiden. Bestehen hingegen Zweifel, so kann es richtig sein, die Erklärung noch zurückzuhalten, bis die Beweisaufnahme zu dem Punkt fortgeschritten ist, auf den es für den Einwand ankommt, etwa wenn für die Verjährung durch Zeugenaussagen die Tatzeit geklärt werden muss. Allerdings gibt es formelle Einwendungen, die nur bis zum Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache vorgebracht werden können, so der Antrag auf Aussetzung wegen Nichteinhaltung der Ladungsfrist oder wegen nicht ausreichender Zeit zur Vorbereitung der Hauptverhandlung (Rz. 448) und die nicht ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts (Rz. 517).
522
In vielen Fällen kann es zweckmäßig sein, die Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit oder gegen Auflagen (§§ 153, 153a StPO) alsbald anzuregen (Rz. 328 ff.), etwa um eine risikoreiche Beweisaufnahme von vornherein zu vermeiden. Es ist indessen wenig sinnvoll, einen schon vor der Hauptverhandlung abgelehnten Einstellungsantrag lediglich zu wiederholen. Das kann nur in Betracht kommen, wenn seit der Ablehnung neue Umstände hervorgetreten sind, die nunmehr die Einstellung 1 BGH v. 18.9.1981 – 2 StR 370/81, BGHSt. 30, 212.
346
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 523
rechtfertigen. Sonst fragen sich Gericht und Staatsanwaltschaft, warum der Gang des Verfahrens mit Wiederholungen aufgehalten wird. Auch kann es richtiger sein, die Frage der Einstellung in der Hauptverhandlung erst später aufzuwerfen, etwa wenn damit zu rechnen ist, dass die Geringfügigkeit im Verlauf der Beweisaufnahme nachgewiesen oder gestärkt wird oder wenn der Auftraggeber eine Ehrenerklärung gegen Rücknahme des Strafantrages nicht sofort abgeben kann oder will (Rz. 169). Bei der Erörterung der Einstellung in der Hauptverhandlung ist noch zu beachten, dass sich die Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft nicht immer berufen fühlen, ohne Einverständnis des Sachbearbeiters oder des Abteilungsleiters die Zustimmung zur Einstellung zu erteilen. In solchen Fällen kann der Verteidiger den Versuch unternehmen, mit dem Sachbearbeiter zusammen zum Abteilungsleiter gehen und eventuell auch bei den Behörden vorstellig werden, von deren Zustimmung die Staatsanwaltschaft ihr Einverständnis abhängig macht. Dazu muss er die Unterbrechung der Hauptverhandlung erwirken. Manchmal gelingt es sogar, den Richter zu veranlassen, sich bei der Staatsanwaltschaft unmittelbar für diese Erledigung einzusetzen. Gelegentlich kommt es auch vor, dass Gericht oder Staatsanwaltschaft 523 ihrerseits die Einstellung wegen geringer Schuld in der Hauptverhandlung erörtern und damit die Frage nach der Zustimmung des Angeklagten zur Einstellung im Raum steht. Das Gericht kann sich durch mancherlei Gründe veranlasst sehen, die Einstellung zu erwägen1. So kann das Gericht eine Bagatellsache „vom Tisch haben wollen“. Die Erörterung kann auch darauf beruhen, dass das Gericht an der Schuld des Angeklagten zweifelt oder dass es zur vollständigen Aufklärung eine umfangreiche Beweisaufnahme für erforderlich hält. Das Verfahren kann eingestellt werden, wenn sich die Schuld des Betroffenen noch nicht überblicken lässt. Es genügt, dass gegen den Angeklagten der hinreichende Verdacht eines geringen Verschuldens besteht2 oder (bei § 153a StPO) die Schwere der Schuld nicht entgegensteht. Allerdings ist das Gericht aufgrund seiner Fürsorgepflicht gehalten, das Verfahren fortzuführen, falls sich ohne viele Umstände die Schuldlosigkeit feststellen lässt. Darauf muss der Verteidiger grundsätzlich hinwirken, insbesondere, wenn nach seiner Überzeugung eine Schuld überhaupt nicht vorliegt. Auf jeden Fall ist es notwendig, dem Auftraggeber die Situation zu erläutern und zu diesem Zweck notfalls um eine kurze Unterbrechung der Hauptverhandlung zu bitten. Mandanten sind mit der Einstellung gelegentlich nicht einverstanden. Sie müssen wissen, welches Risiko sie eingehen und auf welche Vorteile sie ggf. verzichten (Rz. 328 ff.).
1 Dahs, NJW 1996, 1192. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 153 StPO Rz. 3; nach BVerfG v. 29.5.1990 – 2 BvR 254/88, 2 BvR 1343/88, BVerfGE 82, 106 verlangt das Gesetz nur eine hypothetische Schuldbeurteilung.
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Rz. 524
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
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Eine für die Verteidigung ebenfalls wichtige Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens bieten die Bestimmungen der §§ 154, 154a StPO. Sie kommt in Bezug auf Nebendelikte, Tatteile oder Einzeltaten in Betracht, deren Bestrafung neben der Hauptstrafe nicht beträchtlich ins Gewicht fallen würde. Die Gerichte sind aus Gründen der Prozessökonomie unter Umständen gern bereit, entsprechenden Anregungen des Verteidigers zu folgen (Rz. 329 ff.). Eine solche Anregung kann auch ein Test dafür sein, ob das Gericht im Übrigen zur Verurteilung neigt.
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Sind Beweisanträge vor der Hauptverhandlung (§ 219 StPO) abgelehnt oder nicht beschieden worden (Rz. 473), so können sie ebenfalls alsbald nach Beginn der Hauptverhandlung wiederholt werden. Das Gericht und die Staatsanwaltschaft wissen dann, woran sie sind. Aus diesem Grund können auch neue Beweisanträge ggf. sofort gestellt werden. Mit einem Beweisantrag kann der Verteidiger auch leicht sonstige Ausführungen über seinen Plan verbinden. Dadurch fällt es nicht so stark ins Auge, dass er in Wahrheit eine Gegenerklärung zur Anklage abgibt. In allen Fällen ist es aber zweckmäßig, die Ausführungen knapp zu halten und auf das Notwendige zu beschränken. An dieser Stelle soll und darf nicht bereits plädiert werden. d) Erklärungsrechte und Widerspruchspflichten Literatur: Burkhard, Erklärungsrecht des Verteidigers, § 257 Abs. 2 StPO, StV 2004, 390; Dahs, Die Ausweitung des Widerspruchserfordernisses, StraFo 1998, 253; Hammerstein, Die Grenzen des Erklärungsrechts, FS Rebmann (1989), S. 233; Hohmann, Das Erklärungsrecht von Angeklagtem und Verteidiger, StraFo 1999, 153; Leipold, Form und Umfang des Erklärungsrechts nach § 257 StPO und seine Auswirkungen auf die Widerspruchslösung des BGH, StraFo 2001, 300; Maiberg, Zur Widerspruchsabhängigkeit von strafprozessualen Verwertungsverboten, 2003; Meyer-Goßner, Die Ausweitung des Widerspruchserfordernisses, StraFo 1998, 258; Graf von Schliefen, Neues von der Widerspruchslösung, FS ARGE Strafrecht (2009), S. 801; Wesemann, Beanstandungs- und Erklärungsrechte zur Schaffung von Freiräumen der Verteidigung, StraFo 2001, 293.
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Der Verteidiger muss während der Hauptverhandlung auch das Recht nutzen, jederzeit Erklärungen abzugeben (§ 257 Abs. 2 StPO). Auf diese Weise kann er – im günstigen Falle – die Hauptverhandlung in Bahnen lenken, die für den Verteidigungsplan günstig sind. Er braucht sich nicht darauf zu beschränken, Anträge zu stellen oder sich dazu zu äußern, sein Fragerecht auszuüben (Rz. 530 ff.) oder Beanstandungen vorzubringen (Rz. 539 ff.), sondern hat auch die Möglichkeit, ohne Bindung an bestimmte Prozesssituationen jederzeit mit Zustimmung des Vorsitzenden (§ 238 StPO) das Wort zu ergreifen. Das folgt aus seiner Funktion als Organ der Rechtspflege und aus seiner Schutzaufgabe. Seine Erklärung kann kommentierender, ergänzender oder ankündigender Art sein, darf aber das Plädoyer nicht vorwegnehmen. Ohnehin macht man die Erfahrung, dass kurze, prägnante Erklärungen am besten „ankommen“. Der Verteidiger ist auch berechtigt, während der Hauptverhandlung schriftli348
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 527
che Erklärungen abzugeben. Dies kann in umfangreichen und komplexen Hauptverhandlungen oder bei lang andauernder Beweisaufnahme zweckmäßig sein, um gewisse Beweisergebnisse oder Stellungnahmen dazu jedenfalls in der Form „festzuschreiben“, dass sie Bestandteil der Akten (als Anlage zum Hauptverhandlungsprotokoll) werden. Derartige Erklärungen äußern zwar keine Bindungswirkung für das Gericht, bilden aber erfahrungsgemäß doch eine gewisse „Hemmschwelle“ davor, dass ein Verfahrensvorgang oder ein Beweisergebnis bei der Entscheidung völlig anders „gesehen“ wird als sich dies aus dem in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang eingereichten Statement des Verteidigers ergibt. Ihre Wirkung kann bis in die Revision hineinreichen. Schriftliche Erklärungen, in denen Teilergebnisse der Beweisaufnahme festgehalten – und kommentiert – werden, eignen sich häufig auch als Begründung für Beweisanträge (Rz. 678), wenn sie den Verfahrensanlass für den Beweisantrag und seinen Bezug zu anderen (negativen) Beweisergebnissen sowie die Relevanz für das Urteil deutlich machen. Auf diese Weise kann auch dem Ablehnungsgrund der Prozessverschleppung (Rz. 669) entgegengewirkt werden. Besondere Bedeutung kommt dem Erklärungsrecht bei der Beweiserhebung zu. Das Gericht pflegt den Ablauf der Beweisaufnahme anhand der Akten vorzubereiten. Mit erläuternden Hinweisen zur rechten Zeit gelingt es manchmal, die Sachaufklärung in andere Richtung zu lenken. Nach der Vernehmung eines Zeugen kann der Verteidiger z.B. auf bereits stattgefundene oder bevorstehende Beweiserhebungen aufmerksam machen, um die Zusammenhänge zu verdeutlichen. Auch bewährt es sich, nach einer belastenden Zeugenaussage unverzüglich vorzutragen, was an Entlastungsmaterial zu erwarten ist. Dadurch verhindert man, dass sich das Gericht, insbesondere die Laienrichter, zu früh eine feste Meinung bilden. Genauso liegt es beim Sachverständigenbeweis. Die Richterbank misst dem zuerst vorgetragenen Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen in der Regel große Bedeutung bei. Fällt das Gutachten für den Angeklagten ungünstig aus und sind abweichende Gutachten zu erwarten, so sollte der Verteidiger deutlich darauf hinweisen. Diese Beispiele zeigen, welchen Einfluss der Verteidiger auf das Beweisergebnis und die richterliche Überzeugungsbildung nehmen kann. Hier liegen nicht selten bessere Möglichkeiten als im Schlussplädoyer. Dem Verteidiger ist es schon aus Gewissensgründen verboten, tatenlos zuzusehen, wie ein Verfahren „falsch aufgezogen“, wie es in eine bestimmte Richtung gedrängt wird oder nach „Schema F“ abläuft. Zweifel anzumelden, sie überzeugend darzulegen und, wo es nottut, auch leidenschaftlich gegen eingefahrene Routine anzukämpfen, ist das Recht und die Pflicht des Verteidigers. Wer seine Aufgabe so auffasst, wird das Erklärungsrecht und andere prozessuale Befugnisse nicht verkürzen lassen. Gegen eine Versagung hilft die Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO 527 (Rz. 539 ff.). Der Verteidiger kann dazu beitragen, dass er zu dieser Maß349
Rz. 528
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
nahme nicht gezwungen wird. So ist es nicht nur unstatthaft, sondern auch unzweckmäßig, die Vernehmung eines Zeugen mit einer Erklärung zu unterbrechen. Das Ende der einzelnen Beweiserhebung muss zwar abgewartet, dann aber auch gehandelt werden. Dabei muss sich der Verteidiger hüten, die Erklärung zu einem längeren Plädoyer auszuweiten. Bestenfalls wird er ein kleines Zwischenplädoyer wirksam anbringen können. In der Kürze liegt gerade hier Würze und Wirkung. Wer das Erklärungsrecht energisch ausübt, muss ohnehin mit Skepsis rechnen. Der Vorwurf der Prozessstörung oder gar -verschleppung wird leicht erhoben und führt zu vermeidbaren Auseinandersetzungen. Wird freilich die Bedeutung des Erklärungsrechts verkannt und dem Verteidiger das Wort verweigert oder abgeschnitten, so darf er nicht nachgeben. Der Antrag auf Entscheidung des Gerichts kommt im Übrigen noch in vielen anderen Prozesssituationen in Betracht und ist für eine eventuelle Revision entscheidend (Rz. 530 ff.)1. 528
Ähnliche Überlegungen muss er anstellen, wenn er für den Auftraggeber das Erklärungsrecht nach § 257 Abs. 2 StPO in Anspruch nimmt. In der Praxis wird der Angeklagte meist nicht nach jeder einzelnen Beweiserhebung gefragt, ob er etwas erklären wolle, obwohl Strafprozessordnung und vorgedrucktes Protokoll die Frage vorschreiben. Sache des Verteidigers ist es, auf die Bestimmung hinzuweisen. Das soll nicht heißen, dass er nach jeder Beweiserhebung auf den Formfehler aufmerksam macht. Es kann aber darauf ankommen, dass der Mandant zu einer Zeugenaussage, zur Einlassung eines Mitangeklagten oder zu einer Urkunde sofort Stellung nimmt, etwa seine Angaben berichtigt oder ergänzt. Dann muss der Verteidiger für den Angeklagten um das Wort bitten. Er darf ihn nicht auf das Fragerecht (Rz. 538) oder gar das Schlusswort (Rz. 765) verweisen lassen. Im Zweifel muss er einen Gerichtsbeschluss (§ 238 Abs. 2 StPO) herbeiführen (Rz. 540). Freilich ist zu prüfen, ob es richtig ist, dass der Mandant selbst eine Erklärung abgibt. Das hängt nicht nur von der Sachlage ab, sondern auch von der Person des Auftraggebers. Ungeschickte oder weitschweifige Erklärungen schaden in der Regel mehr als sie nützen. Bezweifelt der Verteidiger, dass der Mandant der Situation gewachsen ist, so sollte er von einer eigenen Erklärung abraten. Ggf. kann er um eine kurze Unterbrechung bitten, sich mit dem Mandanten besprechen und dann die Erklärung selbst abgeben, die sich als notwendig erweist. Gegen die Entscheidung des Vorsitzenden, einen Zeugen nicht zu vereidigen, muss auch nach der Neufassung des § 59 StPO die Entscheidung des Gerichts beantragt werden, wenn der Verteidiger der Anordnung widersprechen will2. Verletzungen des § 257 StPO sollen die Revision nicht begründen, weil es sich um eine Ordnungsvorschrift handelt3. 1 Vgl. i.E. Dahs, Revision, Rz. 402, 409. 2 BGH v. 20.1.2005 – 3 StR 455/04, StV 2005, 200 m. Anm. Schlothauer. 3 BGH bei Dallinger, MDR 1967, 175; Dahs, Revision, Rz. 324.
350
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 530
Zu dem in § 257 StPO beschriebenen Zeitpunkt muss auch spätestens 529 der Widerspruch gegen die Verwertbarkeit eines Beweismittels, insbesondere einer Aussage eines Protokolls oder einer Urkunde, erhoben werden1. Wer diesen Zeitpunkt verpasst, begeht einen nicht wiedergutzumachenden Fehler; der versäumte Einwand der Unverwertbarkeit ist nicht nachholbar, auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gibt es für den Verteidiger nicht. Es ist darauf zu achten, dass der Widerspruch in das Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen wird. Eine schriftliche oder zu Protokoll diktierte Begründung ist jedenfalls empfehlenswert (ebenfalls erforderlich?). Alle Gründe sind gleichzeitig geltend zu machen. Ein Gerichtsbeschluss im Sinne des § 238 Abs. 2 StPO ist herbeizuführen2. e) Fragerechte Literatur: Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. II, Vernehmungslehre, 3. Aufl. 2007; Burhoff, Fragerecht u.a., ZAP 1994, 831; Dahs, Der Zeuge – zu Tode geschützt?, NJW 1998, 2332; Degener, Zum Fragerecht des Strafverteidigers gem. § 240 Abs. 2 StPO, StV 2002, 618; Gollwitzer, Das Fragerecht des Angeklagten, GS K.H. Meyer (1990), S. 147; Miebach, Entziehung des Fragerechts im Strafprozess?, DRiZ 1977, 140; Salditt, Verteidigung in der Hauptverhandlung – Notwendige Alternativen zum Praxisritual, StV 1993, 442; Salditt, Das Interesse an der Lüge, AnwBl. 1999, 134; Tondorf/Tondorf in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 456 ff.
Jeder erfahrene Verteidiger weiß, welche Bedeutung dem Recht zu- 530 kommt, Zeugen und Sachverständige zu befragen (§ 240 Abs. 2 StPO). Während das Erklärungsrecht es ermöglicht, auf die „allgemeine Marschroute“ der Hauptverhandlung einzuwirken (Rz. 526), kann der Verteidiger das Ergebnis der einzelnen Beweiserhebung beeinflussen, indem er selbst Fragen stellt. Man braucht sich nur vor Augen zu halten, dass die unmittelbare Befragung der vom Vorsitzenden vernommenen Beweispersonen dazu dient, ihre Angaben zu vervollständigen und auf ihre sachliche Richtigkeit und Glaubwürdigkeit zu prüfen3. Oft entscheidet das Ergebnis des „Tests“ über Wohl und Wehe des Angeklagten. Fehler in den Tatsachenfeststellungen sind meist nicht wiedergutzumachen. Deshalb hat sich der Verteidiger dieser Aufgabe sorgsam zu widmen. Er muss nicht nur die vielfältigen Arten einer Befragung beherrschen, er muss auch die Grenzen beachten, die dem Fragerecht gesetzt sind. Sonst kommt es zu Gegensätzen und Spannungen, die dem Mandanten schaden können. Selbstverständlich ist, dass der Verteidiger das Fragerecht erst beansprucht, nachdem der Richter die Beweisperson vernommen hat. Bei der Gestattung von Fragen an Beweispersonen ist der Vorsitzende 1 BGH v. 27.2.1992 – 5 StR 190/91, BGHSt. 38, 214; zu den Einzelheiten Dahs, StraFo 1998, 253; Meyer-Goßner/Appl, StraFo 1998, 258; auch BayObLG v. 16.5.2001 – 2 St RR 48/01, StV 2002, 179. 2 Dahs, Revision, Rz. 409 m.N. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 240 StPO Rz. 1.
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Rz. 531
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
an eine bestimmte Reihenfolge der Verhandlungsbeteiligten nicht gebunden1. 531
Beschränkungen des Fragerechts kann der Verteidiger entgegenwirken, wenn Folgendes beachtet wird: Grundsätzlich ist zu empfehlen, Einzelfragen zu stellen. Damit wird dem zwar unrichtigen, aber verbreiteten Einwand vorgebeugt, es seien nur reine Fragen zulässig. Die einzeln gestellte Frage hat auch den Vorteil, dass die Beweisperson sie in vielen Fällen mit ja oder nein beantworten kann (Rz. 588 a.E.). Folgen Einzelfragen Schlag auf Schlag, so wird der Zeuge gehindert auszuweichen. Indessen reicht diese Form der Befragung häufig nicht aus, so bei Vorhaltungen aus früheren Vernehmungen (Rz. 583). Dann und auch in anderen Fällen muss die Frage eingeleitet werden. Solche Anknüpfungen sind sowohl zum Zwecke des Vorhalts wie der Wiederholung zulässig. Der Verteidiger darf nicht dulden, dass er hierbei unterbrochen wird. Häufig ist anderseits die Äußerung zu hören, wo denn der Sinn der Frage liege. Oft ist es unzweckmäßig, den Anlass einer Frage zu erklären, solange die Beweisperson anwesend ist. Dann hört sie den Grund und kann sich danach richten. In solchen Fällen sollte der Verteidiger den Vorsitzenden bitten, die Beweisperson hinauszuschicken, um in ihrer Abwesenheit den Zweck der Frage zu erläutern. Geht das Gericht auf die Bitte nicht ein, so kann der Verteidiger sich weigern, eine Begründung für die Frage zu geben. Hier muss er auf seinem Recht bestehen. Ebenso wenig sollte der Verteidiger es hinnehmen, dass der Richter nach ein oder zwei Fragen die Vernehmung an sich zieht2. Das passiert vor allem, wenn der Verteidiger neue vom Richter übersehene Beweisthemen anschneidet oder schon behandelte Fragen vertieft. Auch wenn es im Einzelfall zweckmäßig sein mag, dass der Richter weiter fragt und das Thema im Sinne der Verteidigung aufnimmt. Geschieht das nicht, soll insbesondere die Befragung wieder auf die Linie der schon beendeten richterlichen Vernehmung gebracht werden, so muss sich der Verteidiger wehren, sonst wird der Verteidigungsplan entwertet. Erwägt das Gericht die Entlassung eines Zeugen oder Sachverständigen, so hat der Verteidiger zu prüfen, ob er noch Fragen hat oder ob er die Gegenüberstellung mit anderen Beteiligten zu beantragen hat. Sonst ist später ein Beweisantrag notwendig. Auch die Anträge zur Vereidigung einer Beweisperson (Rz. 593) sind vor der Entlassung zu stellen.
532
Zu Auseinandersetzungen kommt es immer wieder, wenn der Vorsitzende meint, der Verteidiger stelle ungeeignete oder nicht zur Sache gehörende Fragen (§ 241 Abs. 2 StPO), zumal sich das Gericht ein Urteil über die Entscheidungsrelevanz erst bilden soll, wenn es die Antwort der Beweisperson gehört hat3. Nicht jeder Richter verfährt großzügig, um eine 1 BGH v. 12.11.1968 – 1 StR 358/68, NJW 1969, 437. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 240 StPO Rz. 9. 3 BGH v. 20.11.1984 – 5 StR 648/84, NStZ 1985, 183.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 536
vielleicht zeitraubende Debatte zu vermeiden. Unstatthaft ist die Entziehung des Fragerechts als solches. Allenfalls dürfen einzelne Fragen zurückgewiesen werden. Hierzu muss der Verteidiger wissen, dass nicht allgemein gesagt werden kann, was unter „ungeeignet“ und „sachwidrig“ zu verstehen ist. Im Grunde genommen ist der Richter nur in wenigen Fällen befugt, eine Frage mit dieser Begründung zurückzuweisen. Solange sich der Verteidiger ernsthaft um Aufklärung bemüht, ist die Zurückweisung einer Frage unzulässig1. Dann darf er sogar nach Umständen fragen, die für einen Zeugen unehrenhaft sind oder ihn einer Strafverfolgung aussetzen. Die Form der Fragestellung spielt dabei eine erhebliche Rolle. Ruhiger Ton und sachliche Formulierung der Frage vermeiden im Allgemeinen ihre Beanstandung. Gegen die Zurückweisung von Fragen durch den Vorsitzenden muss die 533 Entscheidung des Gerichts (§§ 241, 242 StPO) in der Form eines verkündeten und protokollierten Beschlusses herbeigeführt werden, um die Revisibilität des Vorgangs sicherzustellen. Auch hier ist ein Fehler des Verteidigers irreparabel2. Anknüpfungsfragen führen oft zu dem richterlichen Einwand, der Zeuge 534 habe die Frage bereits beantwortet. Der Verteidiger kann erwidern, die bloße Wiederholung einer Frage sei zulässig und könne sogar besonders geeignet sein, Zeugen zu testen (Rz. 588 i.d.M.)3. Dies gilt selbstverständlich nicht für Fragen, die der Zeuge bereits erschöpfend, klar und widerspruchsfrei beantwortet hat. Die Wiederholung ist dagegen unumgänglich, wenn der Verteidiger zu wissen glaubt, dass der Zeuge etwas verschweigt. Dann empfiehlt es sich, vor der formellen Beanstandung, möglichst in Abwesenheit des Zeugen, den Zweck der Wiederholung zu erläutern und so das Fragerecht durchzusetzen. Der Verteidiger muss beachten, dass Fangfragen unzulässig sind. Sie fal- 535 len unter das Verbot der Täuschung (§§ 69 Abs. 3, 136a StPO). Deshalb ist der Eindruck zu vermeiden, der Beweisperson solle eine Falle gestellt werden. Das ist z.B. der Fall, wenn der Vorsitzende den Angeklagten einleitend fragt: „Ist es richtig, dass Sie Ihre Ehefrau seit drei Monaten nicht mehr geschlagen haben?“ Im Übrigen darf der Verteidiger dabei nicht zu ängstlich sein. Er muss eher einmal einen richterlichen Einwand in Kauf nehmen, als die Chance vorbeigehen lassen, einen hartnäckigen Zeugen zum Reden zu bringen. Diese Erfahrung gilt auch für die Suggestivfragen. Es gibt Zeugen, die ei- 536 ne neutrale Frage nicht beantworten können oder wollen. Hier ist oft die Zuspitzung notwendig, die bereits suggestiv wirken kann. Überhaupt kommt es meist darauf an, wie die Frage formuliert ist und in welchem
1 BGH v. 22.4.1952 – 1 StR 96/52, BGHSt. 2, 284. 2 Zu den Einzelheiten Dahs, Revision, Rz. 409. 3 Dazu BGH v. 14.10.1980 – 5 StR 206/80, NStZ 1981, 71.
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Rz. 537
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Ton sie vorgetragen wird. Auch eine äußerlich unverfängliche Formulierung kann die Antwort beeinflussen. Zu große Zurückhaltung ist nicht angebracht, jedenfalls dann nicht, wenn es darum geht, einen verstockten oder unwahrhaftigen Zeugen aus der Reserve zu locken. 537
Zweischneidig ist die Ausarbeitung eines Fragenkatalogs für einzelne oder alle Zeugen. Auch systematisch und psychologisch geschickt aufgebaute Systeme dieser Art werden durch die vorrangige Befragung des Zeugen durch die Richter, den Staatsanwalt und ggf. die Nebenklage sehr oft unterlaufen. Zudem neigt man dazu, an solchen Ausarbeitungen zu „kleben“ und verheddert sich, weil man nicht mehr überblickt, welche Fragen bereits wie beantwortet worden sind, stellt Wiederholungsfragen, die Kontroversen auslösen, und gerät insgesamt in der Befragung aus dem Konzept. Das taktische Verteidiger-Kalkül geht entweder ins Leere oder wendet sich gar gegen den Mandanten. Besser ist es, sich nur in Stichworten die wichtigsten Punkte bzw. Themenblöcke oder Sachverhaltskomplexe für die Zeugenaussage zu notieren und diese – falls durch Vorbefragung erledigt – zu streichen, daneben die frühere Aussage des Zeugen zur Hand zu haben, um sie auf Widersprüche zu überprüfen. Je nach Lage des Falles muss auch die Niederschrift über die Aussage in der Hauptverhandlung bereits gehörter Zeugen vorliegen, um Querverbindungen zu prüfen oder Widersprüche aufzugreifen.
538
Falls der Mandant unmittelbare Fragen an Zeugen oder Sachverständige richten will, soll der Verteidiger die Zweckmäßigkeit prüfen. Das Fragerecht des Angeklagten wird in der Praxis weit weniger eingeschränkt als die Fragebefugnis des Verteidigers. Diese Erfahrung zwingt zur Vorsicht. Im Allgemeinen ist es nicht ratsam, den Mandanten selbst fragen zu lassen. Oft handelt es sich nicht um Fragen, sondern um mehr oder minder zweckmäßige Erklärungen, die gegen den Angeklagten verwendet werden können. Besser ist es, sich mit dem Mandanten über die Frage zu verständigen und diese selbst zu stellen, falls sie sachdienlich ist. Angeklagte neigen dazu, Mitangeklagte unmittelbar zu befragen. Sie dürfen es nicht (§ 240 Abs. 2 S. 2 StPO), es wird aber häufig nicht eingeschritten, weil das Gegeneinander mehrerer Angeklagter für die Urteilsfindung aufschlussreich sein kann. Je nach Lage des Falles muss der Verteidiger eingreifen. Besteht die Gefahr, dass sein Mandant durch die plötzliche Frage eines Mitangeklagten überrascht wird, so muss er der unmittelbaren Befragung widersprechen. Freilich kann er nicht verhindern, dass der Vorsitzende die Frage aufnimmt und sie selbst stellt oder die unmittelbare Befragung gestattet1 oder aber der Verteidiger des fragenden Angeklagten dessen Frage vorträgt. Immerhin ist Zeit gewonnen, wenn der Verteidiger der direkten Fragestellung widerspricht.
1 Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, § 240 StPO Rz. 15.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 540
f) Beanstandungsrechte und -pflichten Literatur: Bischoff, Der Zwischenrechtsbehelf des § 238 II StPO im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur: Beanstandungsrecht oder Beanstandungspflicht?, NStZ 2010, 77; Dahs, Die Ausweitung des Widerspruchserfordernisses, StraFo 1998, 253; Ebert, Zum Beanstandungsrecht nach Anordnungen des Strafrichters gem. § 238 Abs. 2 StPO, StV 1997, 269; Fischer, Konfliktverteidigung, Missbrauch von Verteidigungsrechten und des Beweisantragsrechts, StV 2010, 423; Fuhrmann, Verwirkung des Rügerechts bei nicht beanstandeten Verfahrensverletzungen des Vorsitzenden (§ 238 Abs. 2 StPO), NJW 1963, 1230; Fuhrmann, Das Beanstandungsrecht des § 238 Abs. 2 StPO – seine Bedeutung und seine Grenzen, GA 1963, 65; Hamm, Der Verteidiger als Garant der Einhaltung von strafprozessualen Verfahrensregeln?, StV 2010, 418; Meyer-Goßner/Appl, Die Ausweitung des Widerspruchserfordernisses, StraFo 1998, 258; Mosbacher, Zur aktuellen Debatte um die Rügepräklusion, NStZ 2011, 606; Zilmann, Prozessuale Mitwirkungspflicht für den Strafverteidiger, StV 2010, 452. Eingehend Schneider in KK, § 238 StPO Rz. 11–35.
Häufig steht der Verteidiger vor dem Problem, ob er Anordnungen des 539 Richters beanstanden soll oder muss, die die Sachleitung betreffen (§ 238 Abs. 2 StPO). Je energischer er seine Rechte wahrnimmt, desto stärker ist der Widerstand, dem er begegnen kann. Das gilt besonders bei der Ausübung des Erklärungsrechts (Rz. 526 ff.) und des Fragerechts (Rz. 530 ff.). Seine Lage ist nicht einfach. Er muss sich schnell entscheiden, er hat in der Form die Würde des Gerichts zu achten (Rz. 176 ff.) und muss deshalb taktvoll bleiben, wenn der Richter eine Verteidigungsmaßnahme rügt. Er darf aber keinesfalls die Interessen des Mandanten vernachlässigen und muss deshalb unter Umständen auch eine scharfe, sachliche Auseinandersetzung auf sich nehmen. Freilich muss er in solchen Fällen das Gericht „ins Beratungszimmer 540 schicken“, um die Entscheidung des Vorsitzenden zu überprüfen. All das setzt die genaue Kenntnis der Verfahrensregeln, der Befugnisse des Vorsitzenden und der eigenen Rechte und ggf. Pflichten voraus, um Rechtsfehler des Vorsitzenden der Überprüfung und Korrektur zuzuführen. In für die Entscheidung wesentlichen Fragen ist es unerlässlich, einen Gerichtsbeschluss herbeizuführen. Sonst geht das Recht verloren, etwaige Fehler in der Revision zu rügen1. Nur in wenigen Fällen wirkt der Verfahrensfehler des Vorsitzenden auch ohne Gerichtsbeschluss fort2, z.B. bei der Vereidigung eines an der Tat beteiligten Zeugen (§ 60 Nr. 2 StPO). Der vorsichtige Verteidiger wird sich hierauf nicht verlassen und immer eine Entscheidung des Gerichts erwirken, z.B. zur Reichweite des § 55 StPO. Auch kann der Beschluss selbst fehlerhaft sein. So reicht es nicht aus, die Frage des Verteidigers an eine Beweisperson lediglich mit den Gesetzesworten als unzulässig abzulehnen3. Um das Rügerecht für die Revision zu sichern, ist auch in Verfahren vor dem Einzelrichter ein for1 BGH v. 24.6.1982 – 4 StR 300/82, NStZ 1982, 432; Dahs, Revision, Rz. 402 ff. 2 BGH v. 31.3.1992 – 1 StR 7/92, BGHSt. 38, 260 (261). 3 BGH v. 22.4.1952 – 1 StR 96/52, BGHSt. 2, 284.
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Rz. 541
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
meller Beschluss notwendig1. An dieser Stelle zeigt sich erneut sehr deutlich, dass die Verteidigung in der Hauptverhandlung immer auch mit dem Blick auf die Revision geführt werden muss. Nach neuerer Rechtsauffassung soll es auch zu den Obliegenheiten des Verteidigers als Mitgarant eines rechtsfehlerfreien Verfahrens gehören, erkannte Rechtsfehler des Vorsitzenden über § 238 Abs. 2 StPO zur Entscheidung des Gerichts zu bringen, weil ansonsten ein revisionsrechtliches Rügerecht verlorengeht2. 541
Durch einen Gerichtsbeschluss erhält der Verteidiger gelegentlich auch wertvolle Hinweise für die weitere Verhandlung. Er erfährt die Meinung des Gerichts und wird in die Lage versetzt, Erklärungen abzugeben, Fragen an Beweispersonen zu stellen, Beweiserhebungen zu beantragen oder Zeugen und Sachverständige noch während der Hauptverhandlung selbst laden zu lassen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den wesentlichen Fragen und den nebensächlichen Umständen. Bei den für die Überzeugungsbildung des Gerichts wichtigen Fragen darf der Verteidiger nicht nachgeben. Bei unwesentlichen Nebenpunkten kann es zweckmäßig sein, die Anordnung des Vorsitzenden nicht zu beanstanden. Hier kann es für den Verteidiger zweckmäßig sein zu berücksichtigen, dass er nicht den Eindruck erwecken und in den Ruf kommen sollte, er lege es nur darauf an, den ordnungsgemäßen Verfahrensgang zu behindern. Auch und gerade wenn der Verteidiger nicht immer sicher einschätzen kann, wie das Gericht die Erheblichkeit beurteilt, sollte die Anordnung, um die Rechte des Mandanten zu wahren, beanstandet werden. Dies führt nicht in jedem Falle zu einem Gerichtsbeschluss. Erfahrungsgemäß lenken Vorsitzende häufig ein, wenn ihre Maßnahmen beanstandet werden. Man kann sich auch darauf verständigen, die Frage lediglich anders zu formulieren, wenn sie dadurch in ihrem Kern nicht verändert wird.
542
Bei der Beanstandung darf der Verteidiger nicht vergessen, dass der Vorgang auf seinen Antrag im Protokoll zu vermerken und die Niederschrift zu verlesen ist (§ 273 Abs. 3 StPO). Denn nur das Protokoll beweist, ob ein Antrag gestellt oder nicht gestellt ist. Er muss den Antrag stellen, wenn es darauf ankommt, die Auseinandersetzung für das Revisionsverfahren genau festzuhalten3. Lehnt der Vorsitzende die Protokollierung und (oder) die Verlesung ab, so ist auch hierüber ein Gerichtsbeschluss zu erwirken. Andernfalls geht das Beanstandungsrecht durch Verwirkung verloren (Rz. 793, 806). Obwohl es vielfach notwendig wäre, wird das Recht auf Protokollierung und Verlesung in der Praxis zu selten ausgeübt. Der Verteidiger darf nicht zurückschrecken, diese Befugnisse tatkräftig wahrzunehmen, wenn es im Interesse der Sache geboten ist (Rz. 709). 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 238 StPO Rz. 18, 19. 2 Vgl. i.E. Dahs, Revision, Rz. 405 m.N. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 273 StPO Rz. 18 ff.
356
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 543
g) Vernehmung aa) Vernehmung des Angeklagten Literatur: Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl. 2007; Dahs, Revision, Rz. 460, 437; Dahs, Anm. zu BGH, NStZ 2003, 498 – 2004, 451; Dahs/Langkeit, Das Schweigerecht des Beschuldigten und seine Auskunftsverweigerung als „verdächtiger Zeuge“, NStZ 1992, 448; Hanack, Protokollverlesungen und -vorhalte als Vernehmungsbehelf, FS Schmidt-Leichner (1977), S. 83 ff.; Jerouschek, Jenseits von Gut und Böse – Das Geständnis und seine Bedeutung im Strafrecht, ZStW 102 (1990), 793; Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, Diss., 2012; Malek, Verteidigung in der Hauptverhandlung, 4. Aufl. 2011; Miebach, Der teilschweigende Angeklagte, NStZ 2000, 234; Paulus, Zur Unterrichtung des für die Dauer der Aussage eines Zeugen aus dem Sitzungssaal entfernten Angeklagten über den Inhalt der Aussage dieses Zeugen, JZ 1993, 271; Prüfer, Das fragwürdige Geständnis, StV 1998, 232; Salditt, Das Interesse an der Lüge, StV 1999, 61; Salditt, Das Mandanteninteresse, FS Egon Müller, BRAK-Schriftenreihe, Bd. 12, 2000, S. 25; zum Schweigerecht des Angeklagten vgl. Rz. 488 und das vor Rz. 480 angeführte Schrifttum.
Jeder Angeklagte weiß, was von seiner Vernehmung und dem Eindruck 543 abhängt, den er macht. Allein dieses Wissen ruft oft Nervosität und Unbeholfenheit hervor, auch bei Menschen, die sonst eloquent und schlagfertig sind. Gerade der unschuldige Angeklagte bleibt hiervon nicht verschont. Aus diesen Gründen muss der Verteidiger schon während der Vorbereitung der Hauptverhandlung versuchen, dem Mandanten Ruhe und Vertrauen einzuflößen. In den Besprechungen vor der Hauptverhandlung (Rz. 486 ff.) werden Hinweise und Belehrungen im Allgemeinen sehr gut aufgenommen. Sie werden verstanden, der Mandant ist gewillt, sich danach zu richten. Dennoch muss der Verteidiger damit rechnen, dass die Sache im Gerichtssaal plötzlich anders aussieht. Die Spannung, das Wissen um die Bedeutung jedes Wortes, oft gesteigert durch die fremde Atmosphäre, lässt den Mandanten alle Ratschläge vergessen: Die Aufregung verschlägt ihm die Sprache und die ganze Vorbereitung der Einlassung ist vergessen. Vornehmste Aufgabe des Verteidigers ist es in dieser Situation, beruhigend und leitend einzugreifen und die eigene Gelassenheit auf den Mandanten zu übertragen. Dazu ist er auch während der Vernehmung des Angeklagten durch den Richter in der Lage. Versteht der Mandant eine Frage nicht, bleiben seine Ausführungen unvollständig, wird er weitschweifig oder drückt er sich missverständlich aus, so ist es nicht immer ratsam, das Ende der richterlichen Vernehmung abzuwarten. Freilich darf der Verteidiger die Vernehmung nicht zur Unzeit unterbrechen. Aber schon eine beruhigende, erläuternde Bemerkung kann dem Mandanten helfen. Darüber hinaus kann es notwendig werden, bereits während der Vernehmung Unklarheiten zu beseitigen und den Mandanten zu belehren. Ein verständnisvoller Richter wird sich dem sachlich vorgetragenen Wunsch nicht verschließen. Spürt er, dass sich der Angeklagte verhaspelt, weil er der Lage nicht gewachsen ist, so wird er den Verteidiger sogar bitten, auf den Mandanten einzuwirken: Denn der erkennende Richter sieht den Angeklagten in 357
Rz. 544
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
der Hauptverhandlung meist zum ersten Mal, während der Verteidiger ihn kennt und deshalb mit ihm umzugehen weiß. 544
Bei der Vernehmung zur Person fühlen sich viele Mandanten begreiflicherweise gehemmt. Im Allgemeinen gehen sie zwar davon aus, dass sie die üblichen Angaben über Namen, Herkunft und Beruf machen müssen (§ 111 OWiG). Sie zögern aber, vor allem, wenn Zuhörer anwesend sind und die Öffentlichkeit nicht ausgeschlossen werden kann (Rz. 520), ihren persönlichen Bereich aufzudecken. Insbesondere stört sie die Frage nach ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen. Viele Mandanten scheuen sich, ihren Lebenslauf in allen Einzelheiten vor dritten Personen zu bekennen. Sofern der Lebenslauf nicht überhaupt entbehrlich ist, muss der Verteidiger darauf achten, dass der Mandant die wesentlichen Umstände berichtet und nichts aus seinem Leben vergisst, was für die Prüfung des Schuldvorwurfs und der Strafzumessung bedeutsam sein kann. In der Praxis werden die Grenzen der Vernehmung über die persönlichen Verhältnisse oft überdehnt. Der Vorsitzende erörtert in diesem Vernehmungsabschnitt manchmal schon Umstände, die die Schuldfrage und die strafrechtliche Verantwortlichkeit betreffen. Das ist unzulässig1 und muss vom Verteidiger verhindert werden, besonders wenn sich der Angeklagte zur Sache nicht einlassen will2. Überhaupt kann die Erörterung der persönlichen Verhältnisse zu einem Zeitpunkt vor Verlesung des Anklagesatzes und vor Vernehmung zur Sache gefährlich sein, weil besonders die Laienrichter dadurch einen falschen Eindruck erhalten können, der sie bei der Entscheidung beeinflusst, wenn die persönlichen Lebensumstände des Mandanten ungünstig sind. Es ist mit dem Grundsatz der Unverletzlichkeit der Person nicht vereinbar, Gegebenheiten der Intimsphäre öffentlich zu erörtern, wenn es dann später nicht zu einer Verurteilung kommt. Manche Tatumstände, insbesondere zur inneren Tatseite, lassen sich jedoch nicht aufklären, ohne die körperliche und geistige Entwicklung des Angeklagten sowie seinen beruflichen und familiären Werdegang zu kennen. Je nach Lage des Einzelfalles kann es daher für den Mandanten günstig sein, entlastende Umstände aus seinem Leben alsbald vorzutragen. In diesem Falle wird der Verteidiger Fragen nicht beanstanden, die schon die Sache selbst betreffen.
545
Eine unnötige Bloßstellung des Mandanten hat der Verteidiger ebenso zu verhindern wie seine kränkende und herabsetzende Behandlung (Rz. 200 a.E., 201, 519). Er muss stets dafür eintreten, dass jeder Angeklagte den 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 243 StPO Rz. 12; zum Verwertungsverbot OLG Stuttgart v. 16.8.1974 – 3 Ss 169/73, NJW 1975, 703; zur Abgrenzung BGH bei Dallinger, MDR 1975, 368. 2 Äußerungen zur Sache, insbesondere wenn sie vor der Belehrung nach § 243 Abs. 4 StPO erfolgt sind, dürfen nicht verwertet werden, BayObLG v. 25.11.1983 – 2 Ob OWi 302/83, MDR 1984, 336.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 547
Schutz der Menschenwürde beanspruchen kann und dass er keineswegs verpflichtet ist, alle seine persönlichen Verhältnisse in jedem Falle auszubreiten. Lassen sich Erörterungen aus dem persönlichen Bereich nicht vermeiden, so kommt unter Umständen der Ausschluss der Öffentlichkeit in Betracht (Rz. 520), insbesondere bei der Feststellung von Vorstrafen (Rz. 556). Der Verteidiger sollte insbesondere verhindern, dass Vorstrafen schon bei der Vernehmung zur Person besprochen werden. Das führt zu einer unnützen und frühzeitigen „Vorbelastung“ des Mandanten in den Augen der anderen Beteiligten und der Öffentlichkeit. Die verbreitete Übung, die Vorstrafen am Ende der Vernehmung zur Person festzustellen, ist unzulässig1. Die Feststellung gehört in die Sachvernehmung (§ 243 Abs. 4 S. 3 StPO), richtiger an das Ende der Phase der Hauptverhandlung, in der die Rechtsfolgenzumessungstatsachen festgestellt werden2. Der Verteidiger muss vor der Hauptverhandlung den Strafregisterauszug auf seine Richtigkeit und Verwertbarkeit geprüft haben, insbesondere unter den Kriterien der §§ 51, 45, 46 BZRG. Bei der richterlichen Belehrung über das Recht zur Äußerung oder zum 546 Schweigen muss der Verteidiger darauf achten, ob der Mandant den Hinweis richtig versteht (Rz. 494). Will der Mandant die Einlassung zur Sache verweigern, so darf er sich nicht beirren lassen. Richterlichen Hinweisen über Nachteile oder Unzweckmäßigkeit des Schweigens muss der Verteidiger entgegentreten. Es ist ausschließlich seine Aufgabe, die Verteidigung zu führen und zu verantworten. Der Richter kann und darf sie ihm nicht abnehmen. Wird die Belehrung unterlassen oder ist sie nach Form oder Inhalt fehlerhaft, so hat der Verteidiger darauf hinzuweisen. Hier geht es um grundsätzliche Rechte des Betroffenen, die nicht geschmälert werden dürfen. Deshalb kann man sich auch nicht mit der Rechtsprechung abfinden, die beim verteidigten Angeklagten eine fehlende oder falsche Belehrung nicht als Revisionsgrund ansieht, sondern darauf abstellt, der Angeklagte werde durch seinen Verteidiger auf jeden Fall belehrt (Rz. 494). In jedem Falle muss der Verteidiger im Auge behalten, dass die Ausübung des Schweigerechts sich nachteilig auswirken kann (vgl. im Einzelnen Rz. 494). Im Übrigen tut er in geeigneten Fällen gut daran, eine zu erwartende Aussageverweigerung des Mandanten dem Vorsitzenden vorher anzukündigen. Damit vermeidet er einen Leerlauf der Hauptverhandlung, ermöglicht eine sachgerechte Terminplanung und wirkt dem Verdacht der Effekthascherei entgegen. Andererseits erfährt er bei dieser Gelegenheit evtl. schon Erwägungen zu einer Verständigung (§ 257c StPO). Mit dem Aussageverweigerungsrecht ist im Übrigen dem Verteidiger ei- 547 ne starke Waffe in die Hand gegeben, auch wenn an sich zur Sache ausgesagt werden soll. Die Verteidiger mehrerer Angeklagter können die Reihenfolge der Vernehmungen vereinbaren, weil sie deren Zeitpunkt 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 243 StPO Rz. 34. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 243 StPO Rz. 34.
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Rz. 548
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
letztlich bestimmen. Die Verteidiger können auch durchsetzen, dass zuerst bestimmte Zeugen und Sachverständige vernommen werden, ehe ihre Mandanten sich sachlich äußern (Rz. 494). So bekommt der Verhandlungsplan solidarischer Verteidiger in geeigneten Fällen praktisch einen Vorrang vor dem Verhandlungsplan des Vorsitzenden. Wenn der Verteidiger das auch noch mit einer „Erklärung“ (Rz. 526) gewissermaßen als Entgegnung auf die vorgetragene Anklage des Staatsanwalts verbindet1, kann er sich eine günstige Ausgangsposition verschaffen. Er kann durch knappen Vortrag seiner Verteidigungsargumente die Stimmung im Saal und in der Öffentlichkeit beeinflussen und auch die Verhandlung selbst unter Umständen wesentlich mitsteuern (Rz. 448, 526). Gleichwohl sollte eine derartige Verhandlungsgestaltung die Ausnahme sein. 548
Die vor Beginn der Sachvernehmung nach § 243 Abs. 4 S. 1 StPO vorgeschriebene Mitteilung über etwaige Gespräche anlässlich der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 202a StPO) kann für den Verteidiger Anlass sein, auch seine Sicht der Dinge zu Gehör zu bringen, zumal die Schöffen an dem früheren Rechtsgespräch nicht beteiligt waren. Eine Art „opening statement durch die Hintertür“, das vor allem dann geboten ist, wenn Art und Weise der „Mitteilung“ tendenziös oder missverständlich sind. Natürlich kann die Mitteilung auch Gelegenheit bieten, die Frage einer Verständigung (§ 257c StPO) – ebenfalls unter Beteiligung der Schöffen – und vielleicht unter Aspekten des nunmehr akut anstehenden Prozessverhaltens der Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung (erneut) aufzugreifen.
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Die Vernehmung zur Sache gibt dem Mandanten, der aussagen will, Gelegenheit, den Sachverhalt aus seiner Sicht überzeugend darzustellen. Hierbei muss der Verteidiger stets vor Augen haben, dass sich das Gericht sein Urteil aus dem „Inbegriff der Verhandlung“ zu bilden hat, also auch aus der Überzeugung, die es aus dem Verhalten und den Äußerungen des Angeklagten gewinnt (§ 261 StPO). Deshalb kommt es so sehr darauf an, die Einlassung zur Sache mit dem Mandanten vor der Hauptverhandlung eingehend zu besprechen (Rz. 496) und ggf. selbstkritisch zu hinterfragen.
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Die Einlassung soll klar, in sich widerspruchsfrei und einleuchtend sein. Der Mandant sollte möglichst vorweg einen zusammenhängenden Bericht geben2. Viele Angeklagte sind hierzu nicht in der Lage. Entweder fehlt ihnen die Fähigkeit, einen Sachverhalt zusammenhängend zu schildern, oder die Aufregung der Hauptverhandlung schränkt diese Fähigkeit ein. Solchen Unzulänglichkeiten muss der Verteidiger entgegenwirken, indem er den Sachbericht mit dem Mandanten eingehend vorbereitet und das rechte Maß von Darstellung und Inhalt vorher bespricht (Rz. 496). 1 Zu apodiktisch Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 243 StPO Rz. 29, wonach ein „opening statement“ nach der StPO „nicht in Betracht“ komme. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 243 StPO Rz. 31.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 552
Darüber hinaus ist es notwendig, während des Sachberichts Richter und Staatsanwalt zu beobachten, um festzustellen, wie die Darstellung des Mandanten wirkt. Daran erkennt der Verteidiger, wo er während der Befragung des Mandanten einzusetzen hat (Rz. 560). Schwieriger ist es, wenn der Vorsitzende den Zusammenhang der Einlassung zerreißt und den Angeklagten nicht aussprechen lässt, etwa weil dieser weitschweifig wird, sich wiederholt, von früheren Erklärungen abweicht („Das haben Sie aber bei der Polizei anders gesagt.“). Dann wird der Mandant unsicher, er verliert den Faden, vergisst wesentliche Gesichtspunkte. Der Verteidiger darf nicht darauf vertrauen, diesen Fehler bei der Befragung des Mandanten zu berichtigen. Dann kann es zu spät sein. Das Gericht kann sich bereits eine Meinung gebildet haben. Deshalb muss der Verteidiger ggf. sofort eingreifen. Meist ist es ausreichend, um das Wort zu bitten, das Missverständnis aufzuklären, den Mandanten aufzufordern, sich auf das Wesentliche zu beschränken oder sich lückenlos zu erklären. In Ausnahmefällen kann es sinnvoll sein, die Frage des Vorsitzenden mit anderen Worten erneut zu formulieren, um dem Mandanten die Beantwortung so zu erleichtern. Schlägt der Vorsitzende entsprechende Bitten ab, will er sich also nicht unterbrechen lassen, so hat der Verteidiger zu überlegen, ob er Fragen, Vorhalte und Hinweise des Vorsitzenden beanstandet (§ 238 Abs. 2 StPO; Rz. 539). Der Angeklagte ist berechtigt, sich im Zusammenhang zu äußern: Der Verteidiger darf nicht dulden, dass der Bericht ständig gestört wird. Er muss indessen bedenken, dass der Vorsitzende befugt ist, den Bericht des Angeklagten zu leiten. So darf er auf Unklarheiten, Widersprüche und Lücken der Darstellung hinweisen und Gelegenheit geben, sie zu ergänzen und richtigzustellen. Dazu gehört auch der Vorhalt aus den Akten, der allerdings nicht so aus- 551 geweitet werden darf, dass die Verlesung der Akten an die Stelle der Vernehmung tritt. Schließlich ist es statthaft, auf frühere abweichende Aussagen von Zeugen oder den abweichenden Inhalt von Urkunden aufmerksam zu machen und Fragen über Umstände anzuschneiden, zu denen sich der Angeklagte aus eigenem Antrieb nicht geäußert hat. Der Verteidiger muss besonders darauf achten, dass der Vorhalt sachlich richtig ist. Die Prüfung des Vorhalts muss erfolgen, bevor der Mandant sich ggf. fehlerhaft äußert. Falsche Vorhalte, die mit dem Akteninhalt oder mit der bisherigen Beweisaufnahme nicht übereinstimmen, darf er nicht durchgehen lassen (§ 238 Abs. 2 StPO); sie dürfen ihm allerdings selbst auch nicht unterlaufen. In diesem Zusammenhang ist wichtig: Der Vorhalt als solcher darf nicht gegen den Angeklagten verwendet werden. Es kommt vielmehr darauf an, was auf den Vorhalt erklärt wird. Der Vorhalt selbst darf niemals Beweisgrundlage sein. Oft befindet sich freilich der Verteidiger in einer misslichen Situation. Wie bei Vorhalten gegenüber Zeugen weiß man nie genau, ob der unbestätigte Vorhalt gegenüber dem Mandanten nicht doch die richterliche Überzeugungsbildung beeinflusst. Solange solche Hinweise in der Form sachlich bleiben und durch den zu 552 beurteilenden Sachverhalt gedeckt sind, besteht kein Anlass zur Bean361
Rz. 552
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
standung. Anders ist es, falls der Richter den Mandanten in unsachlicher und unzulässiger Form vernimmt. So muss der Verteidiger widersprechen, falls der Mandant abfällig behandelt oder unnötig bloßgestellt wird (Rz. 200 ff., 520). Er muss auch eingreifen, wenn in unzulässiger Weise auf ein Geständnis oder eine Darstellung gedrängt wird, die der Richter für wahr hält. Nicht selten wird die Vernehmung auf ein beabsichtigtes Ergebnis abgestellt. Indessen ist eine Belehrung über die Prozesslage statthaft. Sie pflegt gegenüber bestreitenden Angeklagten mit dem Hinweis verbunden zu werden, ein Geständnis könne strafmildernd berücksichtigt werden oder den Weg zu einer Verständigung (§ 257c StPO) eröffnen. Je nach ihrer Formulierung sind solche und ähnliche Hinweise möglicherweise noch zulässig1. Gelegentlich kommen derartige Belehrungen aber dem Versprechen eines gesetzwidrigen Vorteils nahe. Der Mandant wird immer den Eindruck gewinnen, nur ein Geständnis sichere ihm eine günstige Beurteilung. In der Regel sollte der Verteidiger nun seinerseits den Mandanten jetzt nicht beeinflussen, ein Geständnis abzulegen. Er sollte ihm lediglich die Prozesssituation erklären, das Für und Wider eines Geständnisses (erneut) auseinandersetzen und ihm die Entschließung überlassen, ob er dem richterlichen Hinweis folgen will. Auch die Aufforderung des Vorsitzenden an den Angeklagten: „Nun sagen Sie mal die Wahrheit“, kann den Verteidiger auf den Plan rufen. Sie bewirkt, dass der Mandant meint, er müsse aussagen. Niemand ist aber verpflichtet, sich selbst zu belasten. Zweck der Vernehmung zur Sache ist es, dem Angeklagten Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Er kann sich entlasten, er kann versuchen, den Vorwurf der Anklage zu widerlegen oder sein Verhalten in einem milderen Lichte erscheinen zu lassen. Kurzum: Der Betroffene darf zur Anklage Stellung nehmen. Man weiß, was im gerichtlichen Alltag allzu leicht daraus wird. Das beginnt mit der Bitte, manchmal auch mit der energischen Aufforderung, der Angeklagte möge in seinem eigenen Interesse bei der Wahrheit bleiben. Nicht eröffnet wird ihm indessen, dass er hierzu nicht verpflichtet ist. Dadurch wird der Mandant zu einer Verteidigung gedrängt, die weder beabsichtigt war noch in seinem Interesse liegt. Für den Verteidiger ist es allerdings kaum einmal möglich, solche oder ähnliche richterliche Aufforderungen zu verhindern. Meist kommt er zu spät; auch ist es nicht immer zweckmäßig, sie ausdrücklich zu beanstanden. Es sieht sonst so aus, als ob die Verteidigung auf unrichtigen oder unvollständigen Angaben des Mandanten aufgebaut werden solle. Keinesfalls darf aber der Verteidiger schweigen, wenn der Vorsitzende aus der Rolle fällt und den Angeklagten etwa mit abfälligen Worten kritisiert. Daraus kann sich ein Ablehnungsgrund ergeben (Rz. 198 ff.). Auch wenn kein Ablehnungsgesuch gestellt wird, muss der Verteidiger dies in geeigneter Weise rügen.
1 BGH v. 1.4.1960 – 4 StR 36/60, NJW 1960, 1212.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 554
Der Verteidiger darf auch nicht durchgehen lassen, dass der Richter un- 553 zulässige Fangfragen oder täuschende Suggestivfragen (Rz. 561) an den Angeklagten stellt. Auch der leider nicht seltenen bloßen „Nachvollziehung des Akteninhalts“ während der Vernehmung des Mandanten muss der Verteidiger entgegentreten. Sie verstößt gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit und der Mündlichkeit und führt zu einer Beeinflussung zulasten des Angeklagten, ehe noch die Beweiserhebung angefangen hat. Sie ist auch deshalb für den Mandanten gefährlich, weil schon die geringste Abweichung vom Akteninhalt das Gericht gegen ihn einnehmen kann. Manche Richter reagieren äußerst unwillig, wenn der Angeklagte früher Gesagtes nicht mehr wahrhaben will. Ergibt sich dabei, dass dieser sich damals tatsächlich unrichtig geäußert hat, ist er unter Umständen erst recht unten durch. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dreist die Wahrheit spricht1. Die Szene wird oft turbulent, wenn der Mandant ein früheres Geständnis 554 widerruft (Rz. 498). Dann wird ihm das Geständnisprotokoll mehr oder weniger energisch vorgehalten. Je nach Art und Zustandekommen des Geständnisses muss der Verteidiger seine Maßnahmen einrichten. Dem Vorhalt selbst kann er nur widersprechen, falls der Vorsitzende das vermeintliche Geständnis aufgrund einer Niederschrift als tatsächlich abgegeben behandelt. Das Protokoll beweist nicht, dass ein Geständnis überhaupt oder in dieser Form abgelegt ist. Es kann falsch oder ungenau protokolliert sein. In einem solchen Falle muss der Verteidiger daher den Vorhalt sofort beanstanden. Er hat darauf hinzuweisen, dass die Tatsache des früheren Geständnisses aus dem Protokoll allein nicht gefolgert werden kann, wenn der Angeklagte sie bestreitet. Dabei ist es zweckmäßig, die Gründe darzulegen: Ggf. ist auch unverzüglich ein Beweisantrag darüber zu stellen, dass und warum das Geständnis in unzulässiger Weise zustande gebracht worden ist, z.B. im Falle von rechtswidrigen Vernehmungsmethoden der Polizei (Rz. 253) oder fehlender bzw. falscher Belehrung des Beschuldigten (Rz. 292 f.). Werden Polizeibeamte, die ein Geständnis protokolliert haben, vernommen, so ist ihnen ggf. vorzuhalten, dass sie entsprechend Nr. 45 Abs. 2 RiStBV nicht die Worte des Beschuldigten gebraucht haben (Rz. 251). Auch muss der Verteidiger darauf bestehen, dass der Verhörbeamte zunächst zusammenhängend berichtet, was er von der Vernehmung noch weiß. Erst danach darf ihm das frühere Protokoll vorgehalten werden2. Erinnert sich der Polizeibeamte trotz Vorhalts des Protokolls nicht mehr an die frühere Aussage des Mandanten, so ist es unstatthaft, den Vorhalt als solchen zu verwerten (Rz. 637 a.E.) oder das nichtrichterliche Protokoll als Urkundenbeweis zu verwenden3. Freilich kann der Verteidiger nicht verhindern, dass ein richterliches Pro1 Treffend Schmidt-Leichner, NJW 1951, 8. 2 BGH v. 11.11.1952 – 1 StR 465/52, BGHSt. 3, 281; zu Videoaufnahmen und ihre Verwertung Leitner, Schriftenreihe Deutsche Strafverteidiger, Bd. 35, 2012. 3 BGH v. 2.10.1985 – 2 StR 377/85, NJW 1986, 2063; BGH v. 31.5.1960 – 5 StR 168/60, NJW 1960, 1630.
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Rz. 555
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
tokoll über ein Geständnis im Wege des Urkundenbeweises in die Hauptverhandlung eingeführt wird (Rz. 638). 555
Sofern mehrere Taten Gegenstand der Hauptverhandlung sind und in Abschnitten getrennt verhandelt werden, muss der Angeklagte grundsätzlich zu jeder einzelnen Tat vor der Beweiserhebung vernommen werden1. Eine nachträgliche Vernehmung steht mit der Ordnung des Verfahrens nicht in Einklang und ist nur statthaft, falls die Verteidigung zustimmt. Dies kann ausnahmsweise zweckmäßig sein, wenn erst einmal abgewartet werden soll, ob sich bei der Beweiserhebung überhaupt eine Belastung herausstellt. Die Unterlassung des Widerspruchs zur späteren Vernehmung ist auch erforderlich im Falle einer einzigen Tat2.
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Der Verteidiger hat darauf zu achten, dass der Vorsitzende auch bei der Sachvernehmung etwaige Vorstrafen nur feststellt, wenn dies wirklich geboten ist (§ 243 Abs. 5 S. 3 StPO). Er muss widersprechen, wenn Vorstrafen nicht „einschlägig“ sind und auch sonst nichts mit der verhandelten Sache zu tun haben. Schon die Bemerkung des Richters, im Strafregisterauszug sei eine Strafe vermerkt, die aber für die Sache ohne Bedeutung sei, kann dem Angeklagten schaden. Der Eindruck auf Laienrichter und Zuhörer ist entstanden und kaum wiedergutzumachen. Freilich ist es schwierig, eine solche Bemerkung rechtzeitig zu verhindern. In geeigneten Fällen sollte der Verteidiger daher den Richter und den Staatsanwalt vor der Hauptverhandlung bitten, die Frage nach den Vorstrafen überhaupt nicht anzuschneiden (Rz. 468). Dabei kann er auf Nr. 134 RiStBV verweisen. Lässt sich die Vorstrafenerörterung nicht vermeiden, so muss der Verteidiger rechtzeitig überlegen, ob er den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragen kann, auch für die Verhandlung hierüber (§§ 171b, 174 GVG; Rz. 520 a.E.). Der Verteidiger muss ferner berücksichtigen, dass eine fehlerhafte Vorstrafenerörterung die Revision nicht zu begründen vermag, selbst wenn er einen Gerichtsbeschluss herbeiführt3. Es kommt vor, dass das Gericht die vom Staatsanwalt verlangte Bekanntgabe der Vorstrafen ablehnt und der verärgerte Staatsanwalt sein Plädoyer damit würzt. Der Verteidiger muss dann sofort eingreifen, wenn der Vorsitzende es nicht tut. Das ist einer der Fälle, wo ein Plädoyer unterbrochen werden kann (Rz. 748). Der Staatsanwalt ist auf die Herbeiführung eines Gerichtsbeschlusses zu verweisen (Nr. 134 RiStBV).
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Wird es notwendig, eine Frage des Richters an den Mandanten formell als unzulässig zu rügen (§ 242 StPO) oder Vorhaltungen und Hinweise zu beanstanden (§ 238 Abs. 2 StPO), so hat der Verteidiger dabei die Form zu wahren (Rz. 189). Er darf nicht die Art der gesamten Vernehmung be1 BGH v. 9.2.1990 – 2 StR 638/8, StV 1990, 245; BGH v. 2.7.1957 – 5 DtR 107/57, NJW 1957, 1527. 2 BGH v. 19.6.1963 – 2 StR 179/63, NJW 1963, 2084. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 243 StPO Rz. 41.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 559
anstanden, vielmehr muss er für jede einzelne unzulässige Frage oder Maßnahme einen Gerichtsbeschluss erwirken und beantragen, den Vorgang im Protokoll zu vermerken sowie die Niederschrift zu verlesen (§ 273 StPO; Rz. 542). Zeigen sich während der Vernehmung des Mandanten Umstände, die die 558 Befangenheit des Richters befürchten lassen, so hat der Verteidiger zu erwägen, sofort (§ 25 Abs. 2! StPO) ein Ablehnungsgesuch zu stellen (Rz. 198). Das Ablehnungsrecht ist aber kein jederzeit einsetzbares Kampfmittel des Verteidigers gegen das Gericht. Auch Verfahrensfehler lassen nur selten einen sicheren Schluss auf den richterlichen dolus malus zu. Verstöße gegen das Prozessrecht wird jeder Verteidiger im Allgemeinen mit den speziellen verfahrensrechtlichen Rechtsbehelfen (z.B. § 238 Abs. 2 StPO) und Rechtsmitteln bekämpfen. Vor allem in der Hauptverhandlung sollte das Ablehnungsrecht nur ausgeübt werden, wenn es im Verteidigungsinteresse unerlässlich ist; es darf nicht strapaziert werden. Der Sache des Mandanten ist ohnehin nur das eindeutig gerechtfertigte Gesuch dienlich. Angesichts der Empfindlichkeit der Richter gegen Ablehnungsgesuche muss der Verteidiger auch damit rechnen, dass er in den Verdacht der Prozesssabotage (Rz. 75, 450) gerät. Auch revisionsrechtlich ist eine Vielzahl von Ablehnungsgesuchen ohnehin wenig erfolgversprechend1. Während der Vernehmung des Angeklagten durch den Staatsanwalt hat 559 der Verteidiger ebenfalls dafür zu sorgen, dass der Mandant ordentlich behandelt wird und ihm keine unzulässigen Fragen gestellt werden (Rz. 552 ff.). Auch der Staatsanwalt ist nicht befugt, auf ein Geständnis zu drängen. Schwierigkeiten können entstehen, falls der Staatsanwalt nach angeblich entlastenden Umständen fragt. Die Pflicht des Staatsanwalts, auch die entlastenden Tatsachen zu berücksichtigen, führt nicht selten zu einem Eingriff in den Verteidigungsplan. Der Verteidiger kann dies schwerlich verhindern. Je nach Lage des Einzelfalls kann daraus aber auch eine Belastung werden, etwa wenn der Verteidiger weiß, dass der Mandant die Frage nach dem vermeintlich günstigen Umstand verneinen oder die Unwahrheit sagen, vielleicht sogar schweigen wird (Beispiele: Schonung von Angehörigen, Verschweigen anderer Taten, keine Berufung auf Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit). Dann kann der Verteidiger nur versuchen, in Form einer Erklärung (Rz. 526) zu erläutern, warum die Frage nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt beantwortet werden soll oder aber ohnehin bedeutungslos ist. Allerdings hilft dieser Weg nicht immer. Die Erklärung des Verteidigers kann nicht stets den ungünstigen Eindruck entkräften, der Angeklagte wolle sich zu einer angeblich entlastenden Tatsache nicht offen äußern.
1 BGH v. 19.2.1992 – 2 StR 454/91, BGHR StPO § 344 Abs. 2 S. 2 Befangenheitsrüge 1; Dahs, Revision, Rz. 162 ff.
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
560
Die eigene Befragung des Mandanten im Wege des Fragerechts (Rz. 530 ff.) muss der Verteidiger dazu nutzen, die richterliche und staatsanwaltschaftliche Vernehmung ggf. zu ergänzen. Lücken und Widersprüche in der Darstellung sind aufzuhellen. Unklarheiten sind möglichst zu beseitigen.
561
Der Verteidiger muss die Befragung des Mandanten so einrichten, dass er Suggestivfragen vermeidet. Sonst entwertet er die Antwort. Freilich weiß jeder Richter, dass der gewissenhafte Verteidiger die Fragen vor der Hauptverhandlung mit dem Auftraggeber besprochen hat. Aus dieser Erfahrung zieht der Richter seine Schlüsse. Das gilt vor allem, wenn der Verteidiger Umstände erörtert, die noch nicht Gegenstand der richterlichen Vernehmung waren (Rz. 531). Deshalb steht auch nichts im Wege, die Erörterung in der Hauptverhandlung anzusprechen. So kann man den Mandanten auffordern, sich über bestimmte Umstände zu äußern, die er dem Verteidiger mitgeteilt habe. Dann belegt der Verteidiger, dass er „mit offenen Karten spielt“ und nichts verheimlicht. Unterbrechungen muss der Verteidiger entgegentreten. Gerade bei der Befragung des Mandanten kommt es darauf an, dass man im Rahmen des Verteidigungsplanes sachgerecht, ungestört und im Zusammenhang fragen kann. So sollte der Verteidiger ggf. den Einwand nicht dulden, die Frage sei schon beantwortet. Auch ist der Versuch des Vorsitzenden unzulässig, die Befragung wieder an sich zu ziehen. Notfalls muss der Verteidiger die Unterbrechung beanstanden (§ 238 Abs. 2 StPO; Rz. 534, 533). Es kann aber auch in Akt taktischen Kalküls sein, den Vorsitzenden weiter fragen zu lassen, weil er den Antworten auf seine Fragen größeres Gewicht beimisst.
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Bei der Befragung des Mandanten durch den Verteidiger eines Mitangeklagten ist darauf zu achten, dass die Fragen nach Form und Inhalt zulässig sind (Rz. 532 ff.). Der Verteidiger muss sonst widersprechen und notfalls einen Gerichtsbeschluss herbeiführen (§ 242 StPO). Ist die Prozesssituation bereits vor der Hauptverhandlung mit dem Verteidiger eines Mitangeklagten erörtert (Rz. 72, 470 f.), kann es Überraschungen nur selten geben. Aufgabe des Verteidigers ist es aber auch hier, den eigenen Mandanten vor Überrumpelung zu schützen.
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Trotz eingehender Vorbereitung kann eine Besprechung mit dem Mandanten während der Hauptverhandlung notwendig werden. In vielen Fällen wird eine kurze Verständigung im Gerichtssaal genügen. In anderen Fällen, besonders bezüglich der Abgabe von Prozesserklärungen, kann es geboten sein, mit dem Auftraggeber unter vier Augen zu sprechen. Der Verteidiger muss den Eindruck berücksichtigen, den die Besprechung bei den anderen Beteiligten hervorruft. Sie kann als Zeichen der Unsicherheit angesehen werden. Richter und Staatsanwalt sind besonders aufmerksam, wenn sich Verteidiger und Angeklagter während der Hauptverhandlung (immer wieder oder kontrovers) „flüsternd“ unterhalten. Im Allgemeinen sollte daher eine Verhandlungspause abgewartet werden. Kommt sie nicht in Betracht oder ist eine unverzügliche Ab366
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 566
stimmung mit dem Auftraggeber erforderlich, so kann der Verteidiger eine Unterbrechung der Hauptverhandlung beantragen. Sie muss gewährt werden, solange der Fortgang der Verhandlung dadurch nicht wesentlich beeinträchtigt wird. Es kann sich also nur um eine kürzere Unterbrechung handeln, die der Vorsitzende anordnet (§ 228 Abs. 1 S. 2 StPO). Zweckmäßig ist es, die für die Besprechung nötige Zeit zu nennen und sich auf eine bestimmte Zeit zu einigen. Solche Sitzungspausen kommen insbesondere auch dann in Betracht, 564 wenn der Verlauf der Hauptverhandlung eine Richtungsänderung der Verteidigung, namentlich ein Schuldeingeständnis, etwa im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO, nahelegt (Rz. 712 f.) oder unter Änderung des Verteidigungsplanes auf die Einstellung des Verfahrens hingearbeitet werden soll (Rz. 328 ff.). Nach der Sachvernehmung des Angeklagten kann in seiner Abwesenheit 565 weiterverhandelt werden, wenn er sich aus der Verhandlung entfernt oder nach deren Unterbrechung eigenmächtig ausbleibt (§ 231 StPO). Mandanten neigen zu solchen Kurzschlusshandlungen vor allem dann, wenn sie während ihrer Vernehmung den Eindruck gewonnen haben, die Sache stehe schlecht. Verkennung der Situation, Angst und nicht zuletzt böser Wille führen zu solchen Fehlreaktionen. Es steht im Ermessen des Gerichts, ob weiter verhandelt oder auf Anwesenheit des Angeklagten bestanden wird und dann unter Umständen Vorführungs- oder Haftbefehl ergeht. Diese Maßnahmen sind freilich nicht statthaft bei schuldlosem Ausbleiben, z.B. wegen schlechten Gesundheitszustandes. In einschlägigen Fällen kann der Verteidiger durch ein rechtzeitiges Gespräch solche Fehlentwicklungen evtl. verhindern. Nach seiner Vernehmung zur Sache kann der Angeklagte unter besonde- 566 ren Umständen zeitweilig aus der Verhandlung entfernt werden (§ 247 StPO). Hierauf wird der Verteidiger selbst hinwirken müssen, falls durch die Erörterung für den körperlichen und geistigen Zustand des Mandanten gesundheitliche Nachteile zu befürchten sind. Im Übrigen hat der Verteidiger jedem Missbrauch der Bestimmung entgegenzutreten. So reicht die Erklärung eines Zeugen nicht aus, er werde nur in Abwesenheit des Angeklagten aussagen. Das Gericht hat vielmehr die konkrete durch Tatsachen belegte Gefahr festzustellen1, dass der Mitangeklagte oder der Zeuge in Gegenwart des Angeklagten nicht bei der Wahrheit bleiben werde. Anders soll es hingegen sein, wenn sich ein Zeuge auf sein Aussageverweigerungsrecht beruft, falls er in Anwesenheit des Angeklagten vernommen wird2. Bei der Vernehmung eines Zeugen unter 16 Jahren (§ 247 S. 2 StPO) bedarf es sorgfältiger Feststellung und Abwägung der für und gegen die An1 OLG Düsseldorf v. 22.2.1989 – 5 Ss 34/89-24/89 I, StV 1989, 472. 2 BGH v. 18.5.1995 – 1 StR 247/95, StV 1995, 509; BGH v. 6.12.1967 – 2 StR 616/67, NJW 1968, 806 m. Anm. Hanack, JZ 1972, 81.
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Rz. 566
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
wesenheit des Angeklagten sprechenden Gründe1. Grundsätzlich muss der Verteidiger durchsetzen, dass die Zeugen in Gegenwart des Mandanten aussagen, weil das Verhalten der Beweisperson unter dem Druck, belastende Aussagen „dem Angeklagten ins Gesicht“ machen zu müssen, für die Beweiswürdigung von großer Bedeutung sein kann. Wird nach §§ 247a, 255a StPO (audiovisuelle Zeugenvernehmung)2 verfahren, ist auf die Einhaltung der gesetzlichen Voraussetzungen sowie korrekte Beteiligung und Information der Verteidigung zu achten. Der Verteidiger muss wissen, dass während der Abwesenheit des Angeklagten keine anderen Beweishandlungen, z.B. Augenschein, Urkundenverlesung, vorgenommen werden dürfen, auch nicht bei einer Zeugenvernehmung3. Außerdem darf der Ausschluss nicht länger dauern als unbedingt notwendig4. Sonst wird die Verteidigung in unzulässiger Weise beschränkt (§ 338 Nr. 8 StPO). Nach Beendigung der Abwesenheit hat der Vorsitzende den Angeklagten über den wesentlichen Inhalt der Verhandlung zu informieren5. Hier muss der Verteidiger kontrollieren, dass der Bericht sachlich richtig und vollständig ist. Die Vernehmung des Zeugen ist zu wiederholen, wenn sich nachträglich herausstellt, dass er auch in Anwesenheit des Angeklagten hätte vernommen werden können6. bb) Vernehmung der Zeugen Literatur: Achenbach, Zur Verwertbarkeit eines heimlich durchgeführten Stimmvergleichs im Strafverfahren, StV 1994, 577; Arntzen, Vernehmungspsychologie, 3. Aufl. 2008; Arntzen/Michaelis-Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, 5. Aufl. 2011; Artkämper, Gegenüberstellungen – Erkenntnisquelle mit Kautelen, Kriminalistik 1995, 645; Bayreuther, Das Vereidigungsverbot nach § 60 Nr. 2 StPO im strafprozessualen Vorverfahren, NJW 1996, 1455; Bender/Nack/Treuer, Vernehmungslehre, 3. Aufl. 2007; Boerner, Das psychologische Gutachten, 8. Aufl. 2010; Boetticher, Das Urteil über die Einführung von Mindeststandards in aussagepsychologischen Gutachten und seine Wirkungen, NJW-Sonderheft f. G. Schäfer, 2002, 8; Burhoff, Verteidigerfehler in der Tatsachen- und Revisionsinstanz, StV 1997, 432; Dahs, Die Entbindung des Rechtsanwalts von der Schweigepflicht im Konkurs der Handelsgesellschaft, FS Kleinknecht (1985), S. 63; Dahs, Der Zeuge – zu Tode geschützt?, NJW 1998, 2332; Dahs, Valenti non fit in iuria – warum nicht auch bei § 247 StPO?, FS Widmaier (2008), S. 95 ff.; Dahs, Revision, 8. Aufl. 2012, Rz. 280 ff.; Dahs/Langkeit, Demontage des Zeugnisverweigerungsrechts?, StV 1992, 492; Dölling, Verlesbarkeit schriftlicher Erklärungen und Auskunftsverweigerung nach § 55 StPO, NStZ 1988, 6; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 8. Aufl. 1 S. hierzu Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, S. 64 ff. 2 Befürwortend Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 247 StPO Rz. 14a m.N. 3 Einzelheiten bei Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 247 StPO Rz. 7 ff., 19; i.Ü. zur Revisibilität Dahs, Revision, Rz. 187. 4 Vgl. i.E. Dahs, Revision, Rz. 187. 5 Dahs, Revision, Rz. 187. 6 OLG Hamburg v. 18.3.1975 – 1 Ss 164/74, NJW 1975, 1573 m. Anm. Fischer, NJW 1975, 2034; a.A. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 247 StPO Rz. 6, der die Entscheidung aber in das Ermessen des Gerichts stellt.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 568
2012; Fabian/Greuel/Stadler, Möglichkeiten und Grenzen aussagepsychologischer Glaubwürdigkeitsgutachten, StV 1996, 347; Fischer, Glaubwürdigkeitsbeurteilung und Beweiswürdigung, NStZ 1994, 1; Geerds, Muss über die Aussagegenehmigung für einen Polizeibeamten, der als Zeuge verhört werden soll, dessen oberste Dienstbehörde auch dann entscheiden, wenn das Landesrecht die Entscheidungsbefugnis generell delegiert hat?, NStZ 1996, 609; Gley, Psychologische Grundlagen und Kriterien der Beurteilung von Zeugenaussagen bei Kindern und Jugendlichen, StV 1987, 403; Jansen, Überprüfung aussagepsychologischer Gutachten, StV 2000, 224; Jansen, Zeuge und Aussagepsychologie, 2004; Joachim, Der Hörensagenbeweis im Strafverfahren, 1991; Kett-Straub, Die Glaubwürdigkeitsbegutachtung minderjähriger Zeugen, ZStW 117 (2005), 354; Krehl, Entschuldigtes Fernbleiben eines Zeugen, wenn dessen anwaltlicher Beistand verhindert ist, am Verhandlungstermin teilzunehmen?, NStZ 1990, 192; Krehl, Die Erkundigungspflicht des Zeugen bei fehlender oder beeinträchtigter Erinnerung, NStZ 1991, 416; Küper, Der agent provocateur im Strafrecht, GA 1974, 321; Langkeit/Cramer, Vorrang des Personalbeweises bei gem. § 55 StPO schweigendem Zeugen, StV 1996, 230; Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, Schriftenreihe Deutsche Strafverteidiger, Bd. 35, 2012; Nöldeke, Polizeibeamte als Zeugen vor Gericht, NJW 1979, 1644; Odenthal, Die Gegenüberstellung zum Zwecke des Wiedererkennens, NStZ 1985, 433; Reims, Coaching the witness – der vorbereitete polizeiliche Zeuge, StraFo 1993, 97; Richter II, Aussageverweigerungsrechte der Zeugen als Bestandteil der Verteidigungsstrategie, StraFo 1990, 87; Rogall, Über die Folgen der rechtswidrigen Beschaffung des Zeugenbeweises im Strafprozess, JZ 1996, 944; Rogall, Der aktive Zeugenbeistand – Ein Störenfried oder ein Stück aus dem Tollhaus, StV 1996, 511; Rogall, Zum Übergang der Zeugenstellung zur Beschuldigteneigenschaft im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, NStZ 1997, 399; Salditt, Verteidigung in der Hauptverhandlung – Notwendige Alternativen zum Praxisritual, StV 1993, 442; Salditt, Das Interesse an der Lüge, StV 1999, 61; Schlothauer, Video-Vernehmung und Zeugenschutz, Verfahrenspraktische Fragen, StV 1999, 47; Schlothauer, Darf, sollte, muss sich ein Zeuge auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung vorbereiten?, FS Dahs (2005), S. 457; Scholz, Die nicht glaubhafte Zeugenaussage, StV 2004, 104; Schünemann, Der deutsche Strafprozess im Spannungsfeld von Zeugenschutz und materieller Wahrheit, StV 1998, 391; Wattenberg, Zur Verwertbarkeit von Aussagen anonym bleibender Polizeibeamten, StV 1997, 620; Welp, Zum Umfang der richterlichen Belehrungspflicht gegenüber Beweispersonen bei Glaubwürdigkeitsuntersuchungen, JR 1996, 76. Vgl. auch das Schrifttum zu Sachverständigengutachten vor Rz. 616.
Die Zeugenvernehmung steht im Mittelpunkt der Beweiserhebung. In 567 den meisten Fällen entscheidet sie den Prozess. Für den Verteidiger kommt es deshalb besonders darauf an, Aufgabe und Funktion des Zeugen im Strafprozess richtig zu erkennen und zu ihm in ein der Sache dienliches optimales Verhältnis zu gelangen. Dessen Grundlagen und ihre Ausgestaltung im Allgemeinen sind im Kapitel „Verteidiger und Zeuge“ (Rz. 211 ff.) dargestellt. Die nachfolgende Abhandlung betrifft speziell die Funktion des Verteidigers in der Hauptverhandlung. Der Verteidiger muss die Kunst der Beweiserhebung beherrschen. Er 568 muss insbesondere mit den Grundsätzen der Vernehmenstechnik und der Aussagepsychologie vertraut sein (Rz. 588 ff.). Das Wissen darum ist freilich nicht allein aus Lehrbüchern zu erlernen, so nachdrücklich deren Studium auch anzuraten ist. Man muss erfahren haben und immer wie369
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der erfahren, wie die Zeugenvernehmung im Gerichtssaal funktioniert, welche Fülle an menschlichen Eigenschaften, an Ereignissen und Zusammenhängen das Ergebnis einer Zeugenbefragung beeinflussen kann. Dabei geht es nicht nur um die Persönlichkeit des Zeugen, es geht auch um die Person des Vernehmenden. Wie er einem Zeugen entgegentritt und sich auf ihn einstellt, bestimmt oft das Aussageergebnis. 569
Aus diesen Gründen spielt bereits die Vernehmung zur Person eine wichtige Rolle. Bereits sie entscheidet vielfach über den Beweiswert einer Zeugenaussage. Deshalb erfordert sie höchste Aufmerksamkeit des Verteidigers. So darf er es nicht durchgehen lassen, dass nach den Umständen nicht gefragt wird, die die Glaubwürdigkeit und die Beziehungen des Zeugen zum Angeklagten oder Verletzten betreffen (§ 68 StPO). Ggf. muss der Verteidiger eingreifen und entweder sofort um Ergänzung bitten oder nach der richterlichen Vernehmung sein Fragerecht ausüben (Rz. 530). Dies gilt insbesondere dann, wenn der Zeuge bereits anderweitig abweichende Angaben gemacht hat. Oft erhellen solche Verbindungen des Zeugen schlagartig, was von seiner Aussage zu halten ist (Rz. 599 f.). Ist eine belastende Aussage zu erwarten, so kann es zweckmäßig sein, die Zusammenhänge (etwa Feindschaft zum Angeklagten) sofort aufzudecken. Dann weiß jeder Beteiligte von vornherein, dass die Aussage des Zeugen vorsichtig zu bewerten ist. Auch wird der Zeuge dadurch veranlasst, sorgfältig bei der Wahrheit zu bleiben. Freilich kann die frühzeitige Erörterung der persönlichen Beziehungen auch Nachteile haben. Ist z.B. die positive Aussage eines Zeugen einleuchtend oder gar unwiderlegbar, so erhält sie besonderes Gewicht, falls der Zeuge mit dem Angeklagten verfeindet ist. In vielen Fällen ist es daher geboten, die Sachvernehmung des Zeugen abzuwarten: Dann übersieht der Verteidiger, ob es richtig ist, die Freundschaft oder die Feindschaft des Zeugen zu einem Beteiligten offenzulegen.
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Während der Belehrung über ein Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52 StPO) oder ein Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO) gibt das Verhalten des Zeugen vielfach Hinweise auf seine Persönlichkeit und seine Einstellung zur Sache. Deshalb ist darauf zu achten, dass der Zeuge die Belehrung versteht. Bei geistig behinderten Personen und bei Kindern muss unter Umständen der gesetzliche Vertreter belehrt werden und der Vernehmung zustimmen1. Sind die Eltern selbst angeklagt, so kommt eine Pflegerbestellung in Betracht2. Kindliche Zeugen sind in kindgerechter Form darauf hinzuweisen, dass sie trotz der Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters zu ihrer Vernehmung Angaben (und Aussagen bei der Gutachtenerstellung) verweigern können3. Angehörige wollen oft auf ihr Aus1 BGH v. 19.9.1967 – 5 StR 456/67, NJW 1967, 2273; Senge in KK, § 52 StPO Rz. 26, 27. 2 Senge in KK, § 52 StPO Rz. 29; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 52 StPO Rz. 20. 3 BGH v. 8.11.1995 – 2 StR 531/95, StV 1996, 196.
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sageverweigerungsrecht verzichten, weil sie glauben, sie würden den Angeklagten entlasten. Bei ihrer Vernehmung stellt sich plötzlich heraus, dass sie ihn mindestens teilweise belasten. Dann ist es zu spät; der Irrtum des Zeugen macht die Aussage nicht unverwertbar, wohl aber führt die unterlassene oder fehlerhafte Belehrung zu einem Verwertungsverbot1, wenn nicht feststeht, dass der Zeuge auch bei Belehrung ausgesagt hätte2. Insbesondere muss sich der Verteidiger dafür einsetzen, dass sich jeder Zeuge frei und unbeeinflusst entschließen kann, ob er aussagt. Erörterungen über die Zweckmäßigkeit einer Aussageverweigerung durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft wird er in aller Regel entgegentreten müssen. Sie beeinflussen den Zeugen. Das gilt insbesondere bei Verwandten des Angeklagten. Der Verteidiger hat im Allgemeinen mit solchen Zeugen selbst (Rz. 211 ff.) oder mit dem Mandanten vor der Hauptverhandlung (Rz. 499) besprochen, ob ein Angehöriger aussagen soll. Der einmal gefasste Entschluss darf nicht grundlos aufgegeben werden. Will der Angehörige nicht aussagen, so hat der Verteidiger jeden Versuch zu verhindern, nach den Gründen zu forschen3. Hierauf ist schon deshalb zu achten, weil sich der Zeuge sonst veranlasst sehen könnte, die Zeugnisverweigerung zu widerrufen: Dann darf er nämlich vernommen werden4. Verweigert der Zeuge die Aussage nach § 52 StPO, dürfen allerdings auch Angaben, die er zuvor bei einer „Vernehmung“ durch den Verteidiger gemacht hat, nicht verwertet werden5. Problematisch ist die Lage vor allem, falls der Verwandte der einzige Zeuge ist, der den Angeklagten überführen könnte (z.B. die Prostituierte den Zuhälter, den sie als Verlobten oder Lebenspartner gem. § 52 Abs. 1 Nr. 1 StPO ausgibt). In diesem Falle führt die Aussageverweigerung zum Freispruch, während der Angeklagte sonst verurteilt wird. Überhaupt ist der Verteidiger gehalten, sich näher mit einem behaupteten Verlöbnis oder einer Lebenspartnerschaft zu beschäftigen, wenn er an der Aussage des Zeugen Interesse hat. Ein Verlöbnis wird oft behauptet, um eine unangenehme oder unerwünschte Aussage zu vermeiden. Es empfiehlt sich, z.B. einen Mitangeklagten zunächst eingehend über Zeitpunkt und Begleitumstände der angeblichen Verlobung zu befragen und danach entsprechende Fragen an die Beweisperson zu stellen, um so Widersprüche aufzudecken und den Wahrheitsgehalt der entsprechenden Behauptungen in Zweifel zu ziehen. Erfahrungsgemäß schaltet sich dann sehr schnell das Gericht ein, wenn es den Eindruck hat, es soll hintergangen werden. In solchen Fällen wird nicht nur sehr nachdrücklich an die Wahrheitspflicht erinnert, sondern auch
1 Senge in KK, § 52 StPO Rz. 39; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 52 StPO Rz. 32. 2 BGH v. 15.11.1994 – 1 StR 461/94, BGHSt. 40, 336 (339) m.N. 3 BGH v. 29.6.1983 – 2 StR 855/82, StV 1983, 353; BGH v. 6.6.1989 – 5 StR 99/89, NStZ 1989, 440; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 52 StPO Rz. 16. 4 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 52 StPO Rz. 22. 5 BGH v. 10.2.2000 – 4 StR 616/99, NStZ 2001, 49.
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eine Glaubhaftmachung (eidliche Bekräftigung) verlangt (§ 56 StPO)1. In keinem Falle darf die Tatsache der Aussageverweigerung gegen den Angeklagten verwertet werden2. Dies ginge an der Erfahrung vorbei, dass die Aussageverweigerung ganz verschiedene Motive haben kann3. Allerdings können jederzeit dritte Personen über mündliche oder schriftliche Äußerungen des Angehörigen vernommen werden, die außerhalb des Verfahrens gefallen sind4, ebenso über die versprochene Lebenspartnerschaft. 571
Beruft sich ein Zeuge auf die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung (§ 55 StPO), so kann es im Interesse des Mandanten sein, möglichst genau festzustellen, warum der Zeuge nicht aussagen will. Ist z.B. zu vermuten, dass der Zeuge der Täter ist oder den Täter kennt, so sollte der Verteidiger auf Glaubhaftmachung der Gründe bestehen (§ 56 StPO). Auch darf er nicht ohne weiteres hinnehmen, dass ein Zeuge insgesamt die Aussage verweigert. Das ist nur ausnahmsweise statthaft, wenn die Gefahr für den Zeugen in vielen Punkten vorhanden ist (sog. Mosaiktheorie)5. Sonst ist der Zeuge lediglich befugt, auf einzelne „verdächtige“ Fragen die Auskunft abzulehnen. Hier können sich schwierige Konstellationen ergeben6. Äußert sich ein Zeuge zu verfänglichen Fragen nicht, so lassen sich meist Schlüsse zugunsten des Auftraggebers ziehen. Ggf. muss der Verteidiger bei der Befragung des Zeugen gezielte Fragen stellen, die den Verdacht gegen den Zeugen erhärten, falls er darauf schweigt. Freilich ist hierbei zu bedenken, dass ein Zeuge, der eine Straftat nicht aufdecken will, eher lügt als die Auskunft verweigert. Sonst müsste er einräumen, dass er etwas zu verheimlichen hat. Indessen lehrt die Erfahrung, dass nicht jeder Zeuge, der sich auf § 55 StPO beruft, wirklich schuldig ist. So kann es sein, dass sich ein Zeuge, falls er aussagt, lediglich dem „bösen Schein“ einer Straftat aussetzt, obgleich er in Wahrheit unschuldig ist, z.B. weil die innere Tatseite fehlt. Hier kommt es auf die ordnungsgemäße Belehrung an. Der Verteidiger muss widersprechen, wenn der Vorsitzende die ebenso übliche wie irreführende Belehrungsformel verwendet, der Zeuge könne die Aussage verweigern, wenn er „sich selbst belasten 1 Das Verlöbnis soll nicht nach zivilrechtlichen Maßstäben beurteilt werden – BGH v. 19.1.2000 – 3 StR 531/99, StV 2000, 293 – und der BGH lässt die Berufung auf ein Verlöbnis schon dann zu, wenn bei einem Beteiligten das Scheidungsverfahren noch anhängig ist, BGH v. 30.8.1983 – 5 StR 570/83, NStZ 1983, 564; vgl. i.Ü. Senge in KK, § 52 StPO Rz. 10 ff. zu allen Einzelheiten. 2 BGH v. 3.5.1985 – 2 StR 824/84, StV 1985, 485; BGH v. 23.10.1986 – 4 StR 569/86, NStZ 1987, 182; BGH v. 16.7.1991 – 1 StR 377/91, StV 1991, 450; Senge in KK, § 52 StPO Rz. 42, 45 ff. 3 BGH v. 16.7.1991 – 1 StR 377/91, StV 1991, 450; ferner Dahs, NJW 1998, 2332; KG v. 9.12.1965 – (3) 1 Ss 313/66/65, NJW 1966, 605. 4 Senge in KK, § 52 StPO Rz. 43a. 5 BGH v. 15.1.1957 – 5 StR 390/56, BGHSt. 10, 104 (105); Senge in KK, § 52 StPO Rz. 2. 6 Vgl. die Nachweise bei Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 55 StPO Rz. 10; Senge in KK, § 55 StPO Rz. 12 ff.
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müsste“. In Wirklichkeit kann die Aussage auch dann verweigert werden, wenn der Zeuge sich nichts hat zuschulden kommen lassen, sofern nur die Gefahr der Strafverfolgung gegeben ist1. Allerdings soll eine fehlende oder falsche Belehrung nach § 55 StPO die Verwertung der Aussage nicht verbieten und das mangelhafte Verfahren soll die Revision nicht rechtfertigen (Rz. 943)2. Unter Umständen kann der Verteidiger darauf hinweisen, dass die Nichtvernehmung eines falsch belehrten Zeugen gegen die Aufklärungspflicht verstößt3. Schließlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass eine frühere richterliche Bekundung des Zeugen verlesen werden kann, der sich erst in der Hauptverhandlung auf sein Recht zum Schweigen beruft4 (Rz. 576). Auch kann der Verhörbeamte vernommen werden5. Allerdings soll der Richter ohne besonderen Anlass nicht verpflichtet sein, den verweigernden Zeugen zu fragen, ob er in die Verwertung früherer Aussagen einwilligt6 – dies ist dann ggf. Sache des Verteidigers. Der Verteidiger muss auch prüfen, ob er die zu erwartende ungünstige Aussage eines Zeugen verhindern kann, wenn dieser in demselben oder in einem anderen Verfahren, das denselben Sachverhalt betrifft, selbst Beschuldigter ist, so z.B. im Falle einer vorausgegangenen Abtrennung seines Verfahrens. Abtrennung und Zeugenvernehmung können als unzulässig angegriffen werden7. Bei Zeugen, die Träger eines Berufsgeheimnisses sind (§§ 53 f. StPO)8, ist 572 zu berücksichtigen, dass sie über ihr Verweigerungsrecht nicht belehrt werden müssen9. In der Praxis wird aber in aller Regel erörtert, ob der Zeuge aussagen will10. Hierbei ist zu prüfen, ob tatsächlich ein Vertrauensverhältnis vorliegt, das unter die §§ 53 ff. StPO fällt. Das wird z.B. verneint für den Arzt, der lediglich eine Blutprobe entnommen hat. Auch ein Psychologe hat kein Zeugnisverweigerungsrecht, weil er in § 53 StPO
1 Senge in KK, § 55 StPO Rz. 4 ff. 2 BGH v. 21.1.1958 – GSSt 4/57, BGHSt. 11, 213; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 55 StPO Rz. 17; Dahs, Revision, Rz. 282 (S. 116). 3 OLG Oldenburg v. 21.2.1961 – 1 Ss 8/61, NJW 1961, 1225; Schmitt in MeyerGoßner/Schmitt, § 55 StPO Rz. 16 f. 4 Dazu BGH v. 29.8.2001 – 2 StR 266/01, StV 2002, 120. 5 BGH v. 13.4.1962 – 3 StR 6/62, BGHSt. 17, 245; BGH v. 30.6.1954 – 6 StR 172/54, BGHSt. 6, 209 (211). 6 BGH v. 24.4.2003 – 3 StR 181/02, NStZ 2003, 498; BGH v. 23.9.1999 – 4 StR 189/99, NStZ 2000, 160. 7 BGH v. 12.2.1974 – 1 StR 535/73, NJW 1974, 758; BGH v. 14.5.1968 – 1 StR 552/67, JR 1969, 148 m. Anm. Gerlach. 8 Dazu Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 53 StPO Rz. 44 m.N.; Senge in KK, § 53 StPO Rz. 1 ff. 9 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 53 StPO Rz. 44; Senge in KK, § 53 StPO Rz. 6. 10 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 53 StPO Rz. 44 m.N. (Belehrung nur bei offensichtlicher Unkenntnis erforderlich).
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nicht genannt ist1. Insbesondere bedarf das Zeugnisverweigerungsrecht der Presse (Medien) (§ 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO) der Beachtung. 573
Wird nicht erörtert, ob der Geheimnisträger aussagen will, so kann es zweckmäßig sein, dass der Verteidiger die Frage anschneidet. Nach überwiegender Auffassung soll zwar der Angeklagte keinen Anspruch auf das Schweigen des Geheimnisträgers haben2. Auch soll der Zeuge in eigener Verantwortung seine Entscheidung treffen können, solange er nicht von der Schweigepflicht entbunden ist. Die Güter- und Pflichtenabwägung wird ihm überlassen. Hält er sich danach zur Aussage für berechtigt oder sogar für verpflichtet, so kann der Angeklagte hieraus auch dann kein Aussage-, Vernehmungs- und Verwertungsverbot herleiten, wenn der Zeuge das Geheimnis rechtswidrig offenbart3. Der Verteidiger muss diese Ansicht aber wenigstens in den Fällen bekämpfen, in denen die Strafbarkeit des Geheimnisbruchs handgreiflich ist. Denn es ist nicht einzusehen, mit welcher Berechtigung Richter, Staatsanwalt und Verteidiger in „passiver Assistenz“ einer Straftat zusehen und deren „Früchte“ auswerten sollen4. Liegt hingegen die Strafbarkeit nicht offen zutage, rechtfertigt z.B. die Güter- und Pflichtenabwägung möglicherweise die Preisgabe eines Geheimnisses, dann ist es Sache des Zeugen, ob er schweigen oder aussagen will. Er ist zur Aussage zwar nicht verpflichtet, aber berechtigt. Der Verteidiger muss widersprechen, falls das Gericht den Zeugen bewusst oder unbewusst beeinflusst5. So ist die richterliche Belehrung des Zeugen unstatthaft, er sei zum Reden verpflichtet. Freilich kann schon die Frage des Vorsitzenden, ob der nicht von der Schweigepflicht entbundene Zeuge trotzdem aussagen wolle, dessen Aussagebereitschaft fördern. Dann muss der Verteidiger eingreifen. Er darf und braucht hierbei nicht zurückhaltend zu sein. Kennt z.B. nur der Arzt oder der Anwalt belastende Umstände, so muss sich der Verteidiger dafür einsetzen, dass der Zeuge schweigt. In der Regel wird jeder Träger eines Berufsgeheimnisses vorsichtig, wenn ihm in geeigneter sachlicher Form der Konflikt klargemacht wird, dem er sich gegenübersieht. Das gilt selbst bei Zeugen, die zwar nach §§ 53 f. StPO ihre Aussage verweigern dürfen, denen aber das materielle Recht keine Schweigepflicht auferlegt. So sind die Geistlichen und Abgeordneten im § 203 StGB nicht genannt: Und doch kann es ratsam sein, an ihr Gewissen zu appellieren, um sie zum Schweigen zu veranlassen. Decken sich das Zeugnisverweigerungsrecht und die Schweigepflicht wie beim Arzt und beim Anwalt, so kann der Verteidiger den Zeugen notfalls auf die strafrechtlichen Folgen für den Fall hinweisen, dass sich der Zeuge falsch entscheidet. Im Interesse des Mandanten 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 53 StPO Rz. 3; Senge in KK, § 53 StPO Rz. 2. 2 BGH v. 7.3.1996 – 4 StR 737/95, StV 1996, 356. 3 BGH v. 12.1.1956 – 3 StR 195/55, BGHSt. 9, 59. 4 Vgl. i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 53 StPO Rz. 6 m.N. 5 BGH v. 7.3.1996 – 4 StR 737/95, BGHSt. 42, 73 (76); Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 53 StPO Rz. 6.
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kann es sogar notwendig werden, einen Strafantrag nach § 205 StGB anzukündigen. In derartigen Ausnahmefällen wird der Verteidiger anführen, dass das allgemeine Vertrauen in die Wahrung eines beruflichen Geheimnisses grundsätzlich der Wahrheitserforschung vorzugehen hat. Allerdings wird er zu dieser Maßnahme nur greifen, wenn sie die einzige Möglichkeit ist, den Zeugen an einer voraussichtlich belastenden Bekundung zu hindern. Setzt sich der Verteidiger zu energisch für ein Schweigen des Zeugen ein, so entsteht leicht der Eindruck, der Angeklagte habe etwas zu verbergen. Aus der berechtigten Aussageverweigerung eines Geheimnisträgers darf zwar keine Folgerung gezogen werden, jedoch vollzieht sich die richterliche Überzeugensbildung in meist nicht nachprüfbarer Weise aus allen Vorgängen in der Hauptverhandlung. Auch wird dann häufig versucht, auf andere Weise die vermutete Belastung aufzuklären. Diese Erfahrung muss der Verteidiger auch berücksichtigen, wenn es um 574 die Entbindung von der Schweigepflicht geht. Hierbei ist zu beachten, dass sich die Befreiung kraft Gesetzes auf die „Berufshelfer“ des Geheimnisträgers erstreckt (§ 53a i.V.m. § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1–4 sowie § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO; vgl. auch Rz. 315). Auch hier hat der Verteidiger die Vorteile und Nachteile sorgfältig gegeneinander abzuwägen. In Zweifelsfällen kommt eine nur teilweise Entbindung in Betracht1. Überhaupt muss der Verteidiger darauf achten, dass sich die Einwilligung zur Aussage nicht nur auf die Umstände erstreckt, die den Kernbereich des Vertrauensverhältnisses betreffen2, also beim Arzt den Befund und die Behandlung, sondern auch auf die dem Geheimnisträger bei der Anbahnung des Vertrauensverhältnisses3 und aus dem sonstigen Lebensbereich bekanntgewordenen Tatsachen. Die Entbindung von der Schweigepflicht ist geboten, wenn der Zeuge entlastende Umstände aufklären soll oder die Vorteile die zu erwartenden Nachteile durch die Mitwirkung im Hinblick auf die Schuld (§ 46 StGB) überwiegen. Der Mandant darf zu solchen Tatsachen grundsätzlich nicht schweigen (Rz. 495); deshalb darf er auch die Entbindung von der Schweigepflicht nicht verweigern, insbesondere dann nicht, wenn er sich selbst auf günstige Tatsachen berufen will. Sonst kann das Gericht folgern, die Schutzbehauptung sei unglaubhaft4. Wird der zur Aussageverweigerung berechtigte Zeuge den Mandanten voraussichtlich belasten, so darf er grundsätzlich von der Schweigepflicht nicht befreit werden. Freilich gibt es kaum Zeugen, die entweder nur belastend oder nur entlastend aussagen. Meist bekunden Zeugen sowohl günstige wie ungünstige Umstände. Auch weiß man vor 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 53 StPO Rz. 49; Senge in KK, § 53 StPO Rz. 52, 53. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 53 StPO Rz. 18; Senge in KK, § 53 StPO Rz. 18. 3 BGH v. 20.2.1985 – 2 StR 561/84, NStZ 1985, 372; Senge in KK, § 53 StPO Rz. 18; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 53 StPO Rz. 18. 4 BGH v. 3.12.1965 – 4 StR 573/65, BGHSt. 20, 298.
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der Sachvernehmung nie genau, wie die Aussage ausfallen und wie sie wirken wird. Nicht selten entpuppt sich ein vermeintlicher Belastungszeuge als Entlastungszeuge und umgekehrt. Man macht diese Erfahrung immer wieder bei Personen, denen kraft ihres Berufes Geheimnisse anvertraut werden. Sie kennen Umstände und Zusammenhänge, an die der Angeklagte vielleicht gar nicht mehr denkt. In Zweifelsfällen ist zu empfehlen, die Entbindung von der Schweigepflicht auf bestimmte Tatsachenkomplexe zu beschränken. Eine Beschränkung auf Einzeltatsachen ist allerdings nicht zulässig1. Der Verteidiger muss bedenken, dass der Richter aus der Ablehnung oder der eingeschränkten Entbindung von der Schweigepflicht zwar keine nachteiligen Schlüsse ziehen darf, jedoch die Aufklärung mit Hilfe anderer Beweismittel versuchen kann. Es ist daher in jedem Einzelfall abzuwägen, ob die (eingeschränkte) Befreiung von der Schweigepflicht den Interessen des Mandanten nicht doch förderlicher ist. Entsprechende Erwägungen sind anzustellen, wenn Hilfspersonen (Rz. 315) von ihm von der Schweigepflicht entbunden werden sollen oder im Interesse des Mandanten müssen. Ähnliche Probleme ergeben sich, wenn der Mandant die Entbindung von der Schweigepflicht für die Hauptverhandlung widerrufen will; denn in diesem Fall dürfen frühere Aussagen des Zeugen verwertet werden2. Das gilt auch für den Richter, der einen V-Mann der Polizei früher einmal vernommen hatte (Rz. 576). Eine ähnliche Schwierigkeit besteht, falls der Mandant die Entbindung von der Schweigepflicht für die Hauptverhandlung widerrufen will. In diesem Falle darf nach herrschender Auffassung der Richter als Zeuge gehört werden, der die Vertrauensperson früher einmal vernommen hatte (Rz. 576). Gelegentlich kommt es dazu, dass der Verteidiger in der Hauptverhandlung als Zeuge vernommen werden soll (Rz. 40). In diesem – in der Praxis ungewöhnlichen – Fall darf der Verteidiger es nicht dazu kommen lassen, dass der Mandant durch die richterliche Aufforderung überrumpelt wird, er möge den Verteidiger von der Schweigepflicht entbinden (Beispiel: Der Richter will aufklären, ob und wann der Angeklagte seinem Verteidiger gewisse Entlastungsbehauptungen mitgeteilt hat, oder der Mandant beruft sich auf eine solche Mitteilung). Im Allgemeinen ist es geboten, um eine Unterbrechung zu bitten und die Entbindung mit dem Mandanten unter vier Augen zu besprechen. In jedem Falle dürfte hier eine Beschränkung der Befreiung von der Schweigepflicht auf den konkreten Vorgang, evtl. sogar auf die konkrete Beweisfrage angezeigt sein, die mit der Erklärung über die Entbindung von der Schweigepflicht in das Protokoll aufgenommen werden sollte3. 1 OLG Hamburg, NJW 1962, 680; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 53 StPO Rz. 49; Senge in KK, § 53 StPO Rz. 52. 2 BGH v. 20.11.1962 – 5 StR 426/62, BGHSt. 18, 146; Senge in KK, § 53 StPO Rz. 54; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 53 StPO Rz. 49. 3 Zum eigenen Schweigerecht des Verteidigers s. Leitner, StraFo 2012, 344; Beulke, ZIS 2011, 324.
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Viel schwieriger ist die Situation, wenn der Verteidiger – gegen seinen Rat – von der Schweigepflicht entbunden wird und bei vollständiger und wahrheitsgemäßer Aussage Interna des Mandats offenlegen müsste, die den Klienten belasten. Zu dieser Prozesssituation kann es vornehmlich dann kommen, wenn das Mandat beendet ist und der frühere Klient zu seiner vermeintlichen Entlastung sich von der Präsentation der Interna des abgeschlossenen Mandats Vorteile im Prozess verspricht. Ob dem Verteidiger dann ein „eigenes“, d.h. vom Mandanten unabhängiges Recht auf Verweigerung des Zeugnisses zusteht, ist eine durchaus umstrittene Frage1. Wenn möglich sollte der (frühere) Verteidiger sich durch Beratung mit der Rechtsanwaltskammer oder erfahrenen Kollegen vorsorglich absichern (vgl. § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Auch sollte er zu erreichen versuchen, dass das erkennende Gericht seine Rechtsauffassung in einem Vermerk im Hauptverhandlungsprotokoll niederlegt. Häufig sind Zeugen zur Amtsverschwiegenheit verpflichtet, insbesondere auch Kriminalbeamte, verdeckte Ermittler, Angehörige der Nachrichtendienste usw. Sie bedürfen für die Aussage der Genehmigung der dafür zuständigen Behörde (§ 54 StGB i.V.m. den beamtenrechtlichen Vorschriften)2. Zur Einholung der Genehmigung ist das Gericht verpflichtet, wenn es den Zeugen vernehmen will3. Eine (unbeschränkte) Aussagegenehmigung wird von Polizeibehörden nicht selten verweigert („Sperrerklärung“). Das Gericht muss dann – auch auf Antrag der Verteidigung – alle nach den Umständen des Falles gebotenen Bemühungen unternehmen, um das der Vernehmung des Zeugen entgegenstehende Hindernis zu beseitigen4. Bleibt die zuständige Dienstbehörde bei der Versagung der Genehmigung, so kommt eine Dienstaufsichtsbeschwerde oder die Anfechtung der Entscheidung im Verwaltungsrechtsweg in Betracht5. Die „Erkämpfung“ einer Aussagegenehmigung ist in der Regel schwierig und nicht oft von Erfolg gekrönt. Bei der Beweiswürdigung darf die Versagung der Ausnahmegenehmigung berücksichtigt werden. Kommt es zu einem „Zwischenstreit“ über die Aussageverweigerung ei- 575 nes Zeugen, so wird sich der Verteidiger in der Regel hierzu äußern müssen. Das Gericht hat zwar nach § 70 StPO von Amts wegen zu entscheiden, im Allgemeinen erwartet es aber eine Äußerung der Beteiligten. Wird der Zeuge vermutlich entlastende Tatsachen bekunden, dann muss der Verteidiger eine Ordnungsmaßnahme anregen, falls der Zeuge ohne
1 Für uneingeschränkte Aussagepflicht Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 53 StPO Rz. 45; a.A. Leitner; StraFo 2012, 344 m.N. 2 Abgedruckt bei Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 54 StPO Rz. 5 ff.; Senge in KK, § 54 StPO Rz. 14 ff. 3 Senge in KK, § 54 StPO Rz. 13. 4 BGH v. 17.10.1983 – GSSt 1/83, BGHSt. 32, 115 (125 ff.); BGH v. 16.4.1985 – 5 StR 718/84, BGHSt. 33, 178; BGH v. 2.7.1996 – 1 StR 314/96, BGHSt. 42, 175 (177); Senge in KK, § 54 StPO Rz. 19. 5 Senge in KK, § 54 StPO Rz. 20 ff.
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Rz. 576
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
gesetzlichen Grund die Aussage verweigert1. Der Verteidiger darf nicht hinnehmen, dass durch eine unberechtigte Zeugnisverweigerung die Aufklärung günstiger Umstände verhindert wird (Beispiel: Der Zeuge kennt Entlastungstatsachen, will sie aber aus Missgunst nicht offenbaren und versteckt sich hinter der angeblichen Gefahr einer strafgerichtlichen Verfolgung). Handelt es sich um einen Belastungszeugen, so wird der Verteidiger nicht darauf drängen, die Vernehmung zu erzwingen. Freilich kann auch hier der Mandant ein Interesse daran haben, dass gegen den Zeugen eine Ordnungsmaßnahme verhängt wird. Darauf hat er allerdings keinen Rechtsanspruch2. 576
In allen Fällen der berechtigten Aussageverweigerung muss der Verteidiger bedenken, dass der Richter unter Umständen das Wissen des Zeugen in anderer Weise in die Hauptverhandlung einführen kann. Wie die Praxis immer wieder zeigt, ist das Verlesungs- und Verwertungsverbot des § 252 StPO in bedenklicher Weise ausgehöhlt3. Das Gesetz schreibt vor: Die Aussage eines vor der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen darf nicht verlesen werden, falls er in der Hauptverhandlung sein Zeugnis berechtigt verweigert. Jeder erfahrene Verteidiger weiß, dass dieser Grundsatz in vielen Fällen nur auf dem Papier steht, obwohl er nach einhelliger Auffassung nicht nur verbietet, die frühere Aussage zu verlesen, sondern auch, sie zu verwerten4. So dürfen richterliche Verhörpersonen als Zeugen „vom Hörensagen“ vernommen werden, wenn sie eine frühere Aussage des Zeugen nach ordnungsgemäßer Belehrung über dessen Zeugnisverweigerungsrecht entgegengenommen haben. Zulässig ist aber nur die Vernehmung richterlicher Verhörpersonen (auch Schöffen)5, während eine Vernehmung der anderen Prozessbeteiligten ausgeschlossen ist. Hat ein Angehöriger im Verlauf des Verfahrens vor einem Richter, auch in einer früheren Hauptverhandlung, nach Belehrung über sein Weigerungsrecht ausgesagt, so darf das erkennende Gericht diesen Richter als Zeugen vernehmen6, nicht aber den Protokollführer der früheren Vernehmungen7. Danach ist es auch zulässig und ggf. geboten, z.B. den Zivilrichter zu vernehmen, der eine frühere Aussage des Angehörigen in einem Zivilprozess nach ordnungsgemäßer Belehrung entgegengenommen hat8.
1 Zur Eidesverweigerung aus Gewissensgründen vgl. BVerfG v. 1.4.1972 – 2 BvR 75/71, NJW 1972, 1183 m. Anm. Peters, JZ 1972, 520; Nagel, JZ 1972, 143. 2 BGH v. 9.11.1965 – 1 StR 436/65, NJW 1966, 211; Senge in KK, § 70 StPO Rz. 2. 3 Vgl. dazu die bei Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 252 StPO Rz. 8 ff., 13 f. aufgeführten Ausnahmen m. zahlr. N. 4 BGH v. 31.8.1965 – 5 StR 245/65, BGHSt. 20, 384. 5 BGH v. 14.10.1959 – 2 StR 249/59, BGHSt. 13, 394 (398). 6 BGH v. 2.4.1958 – 2 StR 96/58, BGHSt. 11, 338; BGH v. 29.6.1983 – 2 StR 150/83, BGHSt. 32, 25 (29); krit. Eisenberg, NStZ 1988, 488; abl. Welp, JR 1996, 78. 7 BGH v. 14.10.1959 – 2 StR 249/59, BGHSt. 13, 394. 8 BGH v. 2.5.1962 – 2 StR 132/62, BGHSt. 17, 234 = NJW 1962, 1875; krit.: Eser, NJW 1963, 234.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 577
Die Vernehmung des Richters wird nicht nur im Falle des § 52 StPO für zulässig gehalten, sondern auch dann, wenn ein Berufsgeheimnisträger (§ 53 StPO) früher von einem Richter vernommen und damals von der Schweigepflicht entbunden war, diese Entbindung aber inzwischen widerrufen ist1. Soweit die Vernehmung des Richters statthaft ist, dürfen ihm zur Auffrischung des Gedächtnisses auch Vorhalte aus den Vernehmungsniederschriften gemacht werden, die zu diesem Zweck sogar verlesen werden dürfen2. Voraussetzung für die Verwertung ist aber in jedem Fall, dass es sich bei der früheren Vernehmung um eine Zeugenvernehmung gehandelt hat. Wenn der Zeuge zum Zeitpunkt der richterlichen Vernehmung selbst Beschuldigter war und nunmehr als Zeuge von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, ist die frühere Aussage insgesamt unverwertbar. Dann ist auch eine Vernehmung des vernehmenden Richters ausgeschlossen3. Der Vernehmung anderer als richterlicher Verhörspersonen kann der Verteidiger immer mit Erfolg widersprechen. So ist es unstatthaft, den Polizeibeamten zu vernehmen, der die frühere Aussage des Zeugen aufgenommen hat4; dasselbe gilt für Beamte der Staatsanwaltschaft oder der Finanzbehörden5. Unzulässig ist auch die Vernehmung dieser Verhörsbeamten über ihre Eindrücke bei der Verhandlung6. Diese Grundsätze gelten ungeachtet dessen, dass die Ermittlungsbehörden einen Zeugen über ein etwaiges Aussageverweigerungsrecht nach § 163a Abs. 5 StPO belehren müssen7. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass § 252 StPO über seinen Wortlaut hinaus nicht nur die Verlesung der eigentlichen Aussage verbietet. Unzulässig ist vielmehr auch die Verlesung und Verwertung von Schriftstücken, die der Zeuge bei seiner Vernehmung überreicht hat, wenn diese Inhalt seiner Aussage geworden sind8. Auf das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO ist § 252 StPO 577 nicht anwendbar, so dass die frühere (auch polizeiliche) Aussage eines
1 BGH v. 20.11.1962 – 5 StR 426/62, BGHSt. 18, 146 = NJW 1963, 723. 2 BGH v. 2.4.1958 – 2 StR 96/58, BGHSt. 11, 338 (341); BGH v. 9.9.1966 – 4 StR 261/66, BGHSt. 21, 146; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 253 StPO Rz. 10; a.A. Fezer, JuS 1977, 672. 3 BGH v. 20.2.1997 – 4 StR 598/96, StV 1997, 234. 4 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 252 StPO Rz. 13. 5 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 252 StPO Rz. 13 m.N. 6 BGH v. 8.3.1979 – 4 StR 634/78, NJW 1979, 1722. 7 BGH v. 14.3.1967 – 5 StR 540/66, BGHSt. 21, 218. 8 BGH v. 17.7.1968 – 3 StR 117/68, BGHSt. 22, 213 (216); BGH v. 8.11.1995 – 2 StR 531/95, StV 1996, 196.
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Rz. 578
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Zeugen verwertet werden darf, der sich erst in der Hauptverhandlung berechtigterweise auf die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung beruft1. Gegenstand des Verlesungs- und Verwertungsverbots sind alle Aussagen im Rahmen einer Vernehmung. Dabei wird der Begriff der Vernehmung weit ausgelegt; geschützt werden auch Äußerungen im „Vorfeld“ der eigentlichen Vernehmung, wenn sie nur mit der Vernehmungstätigkeit der Behörden oder des Richters in Zusammenhang stehen2. Das gilt nicht nur für die informatorische Anhörung3, sondern sogar bei präventiver Tätigkeit der Polizei, so etwa, wenn ein Kind gefragt wird, warum es nachts auf der Straße herumirre4. Das Verwertungsverbot wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Initiative zur Vernehmung vom Zeugen ausgegangen ist5. Diese Grundsätze gelten entsprechend für die von einem Sachverständigen anlässlich der Durchführung seines Gutachterauftrages in Erfahrung gebrachten Zusatztatsachen6. Diese dürfen weder durch das Gutachten noch durch die Vernehmung des Sachverständigen als Zeugen in die Hauptverhandlung eingeführt oder bei der richterlichen Überzeugungsbildung verwertet werden7. Das gilt auch für die von dem explorierten Zeugen gegebene Tatsachenschilderung. Demgegenüber ist § 252 StPO nicht anwendbar, wenn ein Zeuge gem. § 81c StPO die Einwilligung in eine körperliche Untersuchung widerruft8. Das bis dahin erzielte Ergebnis soll aber verwertbar sein, wenn der Betroffene von einem Richter belehrt worden war9. 578
So bestreitbar diese Rechtsprechung ist, der Verteidiger muss mit ihr rechnen und seine Maßnahmen darauf einstellen. Insbesondere hat er sie bei der zulässigen Beratung eines Zeugen über das Aussageverweigerungsrecht zu berücksichtigen (Rz. 1162). Hat ein Zeuge schon einmal vor einem Richter über denselben Sachverhalt ausgesagt, so kommt seiner Aussageverweigerung in der Hauptverhandlung nur noch untergeordnete Bedeutung zu. Die ständige Praxis beruft sich auf die Aufklärungspflicht und vernimmt den „Vernehmungsrichter“. Mit einem Protest
1 BGH v. 13.4.1962 – 3 StR 6/62, BGHSt. 17, 245; BGH v. 27.9.1995 – 4 StR 488/95, StV 1996, 191; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 252 StPO Rz. 5. 2 BayObLG v. 14.12.1982 – RReg.1 St 366/82, NJW 1983, 1132; OLG Köln v. 25.9.1990 – Ss 347/90, VRS 80, 32. 3 BGH v. 25.3.1980 – 5 StR 36/80, BGHSt. 29, 230. 4 BGH v. 25.3.1980 – 5 StR 36/80, BGHSt. 29, 230 (232). 5 BayObLG v. 14.12.1982 – RReg.1 St 366/82, NJW 1983, 1132. 6 BGH v. 8.12.1958 – GSSt 3/58, BGHSt. 12, 235 (242); BGH v. 20.7.1995 – 1 StR 338/95, NStZ 1997, 296. 7 BGH v. 29.5.1996 – 3 StR 157/96, NStZ 1997, 95. 8 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 252 StPO Rz. 6; a.A. Geppert, Jura 1988, 365; Rengier, Jura 1981, 304. 9 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 252 StPO Rz. 14 m.N.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 579
gegen diese Verfahrensweise, auch mit der Herbeiführung eines Gerichtsbeschlusses, wird der Verteidiger in aller Regel keinen Erfolg haben. Dann besteht nur noch die Chance, dass sich der Zeuge an den Inhalt der früheren Bekundung nicht mehr erinnert, bei einem vielbeschäftigten Richter an sich kein seltener Fall. Der Verteidiger muss darauf achten, dass der Richter zunächst nach seinem präsenten Wissen zu fragen ist, ehe die frühere Vernehmung vorgehalten werden darf. Die sofortige Verlesung des Protokolls, z.B. bei der Vernehmung von Verhörspersonen, ist nicht statthaft und muss unverzüglich beanstandet werden (Rz. 636). In der Praxis wird dem Zeugen die frühere Niederschrift meistens in der Form vorgehalten, dass die Vernehmung in einem Zug vollständig vorgelesen wird. Der Zeuge erklärt dann in aller Regel, seine Erinnerung sei jetzt in vollem Umfang zurückgekehrt und er könne bestätigen, dass die Beweisperson wie protokolliert ausgesagt habe. Der Verteidiger sollte in allen derartigen Fällen darauf drängen, dass der Vorhalt des Protokolls nur satz- oder abschnittweise erfolgt und die Erinnerung des Zeugen jeweils danach „getestet“ wird. Beweisgrundlage darf nur die Bekundung der Vernehmungsperson in der Hauptverhandlung sein, nicht die Niederschrift über die Zeugenaussage, die sie entgegengenommen hat1. Das ist freilich ein sehr feiner Unterschied, der in der Praxis ständig verwischt wird. Es ist nämlich kaum zu verhindern, dass die frühere Aussage im Wege des Vorhalts und der Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt wird2. Nur wenn sich der Richter auch dann nicht mehr an den Inhalt der früheren Bekundung erinnert, sondern lediglich äußert, er habe richtig protokolliert, darf hierauf ein Urteil nicht gestützt werden3. Bei der richterlichen Vernehmung des Zeugen zur Sache ist es Aufgabe 579 des Verteidigers, auf die Trennung von Bericht und Verhör zu achten (§ 69 Abs. 1 StPO). Ein Verstoß hiergegen rechtfertigt die Revision4. Die Teilung ist nicht nur zwingend vorgeschrieben5, sie hat auch große praktische Bedeutung6. Ein Zeuge, der nicht mit einem durch Fragen und Vorbehalte beeinflussten Bericht beginnt, sondern nur einzelne Fragen beantwortet, wird oft wesentliche Umstände verschweigen. Der Verteidiger muss auch aus einem anderen Grund darauf bestehen, dass der Zeuge zunächst im Zusammenhang berichtet. Das Auftreten des Zeugen und die Art und Weise des zusammenhängenden Berichtes geben wertvolle Hinweise für den Beweiswert seiner Aussage (Rz. 605). Beantwortet er nur einzelne Fragen, so lässt sich für die Beurteilung der Person des Zeu1 BGH v. 26.4.1994 – 5 StR 172/94, StV 1994, 413; BGH v. 7.10.1966 – 1 StR 305/66, BGHSt. 21, 147 (150); BGH v. 2.4.1958 – 2 StR 96/58, BGHSt. 11, 338 (341). 2 Hiergegen zutreffend Hanack in FS Schmidt-Leichner (1977), S. 83. 3 BGH v. 26.4.1994 – 5 StR 172/94, StV 1994, 413; BGH v. 7.10.1966 – 1 StR 305/66, BGHSt. 21, 149 (150). 4 Vgl. Dahs, Revision, Rz. 282 (S. 117). 5 BGH v. 11.11.1952 – 1 StR 465/52, BGHSt. 3, 281. 6 Zum Zeugenbericht vgl. Prüfer, DRiZ 1975, 334.
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Rz. 580
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
gen viel weniger gewinnen. Es kommt nicht von ungefähr, dass manche Zeugen den Bericht scheuen und lieber bestimmte Fragen beantworten. Der Verteidiger hat freilich zu berücksichtigen, dass der Richter lenkende Hinweise geben darf, etwa um weitschweifige Erzählungen zu verhindern, die mit der Sache nichts zu tun haben. Stellt der Richter nach dem Bericht des Zeugen weitere Fragen (§ 69 Abs. 2 StPO), so hat der Verteidiger einzugreifen, wenn sie unzulässig sind (Rz. 535 f., 553): Notfalls muss er sie beanstanden (Rz. 539 ff.). Dabei ist zu beachten, dass für die Zeugenvernehmung die Grenzen des § 136a StPO einzuhalten sind (§ 69 Abs. 3 StPO; Rz. 253). So sind Fang- und Suggestivfragen unzulässig; hingegen darf der Richter, übrigens auch der Verteidiger, bei Ausübung des Fragerechts (Rz. 534 ff.), den Zeugen erneut auf die Wahrheitspflicht hinweisen. Ggf. muss der Verteidiger schon jetzt beantragen, die Zeugenaussage wörtlich ins Protokoll aufzunehmen (§ 273 Abs. 3 StPO; Rz. 673), dabei allerdings auf die engen gesetzlichen Voraussetzungen achten. Der Verteidiger muss ferner eingreifen, wenn ein Zeuge nicht nach eigenen Wahrnehmungen, sondern nach Ansichten und Schlussfolgerungen gefragt wird. Allerdings sind die Grenzen fließend. Der Leumundszeuge, der über Charaktereigenschaften und Ruf des Angeklagten berichtet, muss notwendigerweise „bewerten“; ebenso der Zeuge, der über den Grad der Trunkenheit eines Beteiligten aussagen soll1. Immer aber sollte der Verteidiger darauf hinwirken, dass auch für einfache Beurteilungen Tatsachen angeführt werden. 580
Auf diesen Unterschied hat der Verteidiger insbesondere bei der Vernehmung sachverständiger Zeugen zu achten. Indessen ist der Übergang zum Werturteil hier noch schwieriger, denn der sachverständige Zeuge sagt über Tatsachen und Zustände aus, die er aufgrund seines besonderen Fachwissens wahrnehmen konnte. Auch die Abgrenzung zwischen der Tatsachenbekundung eines sachverständigen Zeugen und dem Gutachten eines Sachverständigen ist nicht immer leicht (Rz. 620).
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Schwierigkeiten bereitet in der Regel die Vernehmung der Zeugen vom Hörensagen. Sie bekunden, was andere Personen über den Sachverhalt behauptet haben. Der Verteidiger muss wissen, dass ihre Vernehmung nicht grundsätzlich unzulässig oder völlig ohne Beweiswert ist2. Neben dem unmittelbaren Zeugen darf der Zeuge vom Hörensagen stets vernommen werden3, sonst ist seine Vernehmung in aller Regel nicht geeignet, die Vernehmung des unmittelbaren Zeugen zu ersetzen, falls dessen Vernehmung nicht ein rechtliches oder tatsächliches Hindernis entgegensteht4. Hinzu kommt, dass sich in fast jeder Aussage eigene Beob1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 48 StPO Rz. 4. 2 Vgl. i.E. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 250 StPO Rz. 4; grundsätzlich BVerfG v. 26.5.1981 – 2 BvR 215/81, NJW 1981, 1719 (1723 ff.). 3 BGH v. 1.8.1962 – 3 StR 28/62, BGHSt. 17, 382. 4 Str. vgl. BGH v. 17.10.1983 – GSSt 1/83, BGHSt. 32, 115 (123); wegen aller Einzelheiten Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 250 StPO Rz. 4.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 582
achtungen des Zeugen mit Berichten von dritter Seite vermischen. Das geschieht insbesondere bei Sachverhalten, die längere Zeit zurückliegen. In der Erinnerung wird selbst Erlebtes und nur Berichtetes häufig durcheinander gebracht. Bei der Befragung von Zeugen (Rz. 588 ff.) muss der Verteidiger versuchen, sie zu klarer Unterscheidung anzuhalten. Dadurch lässt sich oft der Beweiswert einer belastenden Bekundung erschüttern (Rz. 531, 588). Mindestens wird das Gericht gezwungen, einen erreichbaren unmittelbaren Zeugen zu vernehmen, weil es sonst seine Aufklärungspflicht verletzt1. Die Aussage eines Zeugen vom Hörensagen ist auch deshalb problematisch, weil sich der Verteidiger über die Persönlichkeit des unmittelbaren Zeugen kein eigenes Bild machen kann. Vorhalte und Fragen an den unmittelbaren Zeugen sind nicht möglich. Diese Erfahrungen muss der Verteidiger insbesondere berücksichtigen, wenn die Polizei ihre Gewährsleute nicht preisgibt und lediglich der Verhörbeamte als Zeuge vernommen wird. Der Verteidiger hat sich gegen ein solches Verfahren zu wehren und da- 582 rauf hinzuwirken, dass auch in Staatsschutzsachen, BtM-Sachen u.a. die durch den vernehmenden Beamten mitgeteilten Angaben des anonymen verdeckten Ermittlers oder V-Mannes, des „unheimlichen heimlichen Zeugen“, nicht zur alleinigen Grundlage einer Entscheidung gemacht werden2. Zur Vernehmung von persönlich besonders gefährdeten Zeugen3, deren geänderte Identität und/oder Aufenthaltsort von der Exekutive geheim gehalten wird, hat das BVerfG detaillierte Kriterien entwickelt4, deren Wahrung der Verteidiger streng zu prüfen hat. Immer wieder zeigt sich, dass die Vernehmung eines Verhörbeamten zu Schwierigkeiten führt. Insbesondere ist die Aussage des sog. „Geständniszeugen“ kritisch zu würdigen5 (Rz. 638). Der Vernehmung eines „Spitzels“, der dem Angeklagten ein Geständnis entlockt hat, muss der Verteidiger widersprechen6. Ein solches Verfahren ist mit der Menschenwürde nicht vereinbar7. Ebenso ist es bedenklich, wenn Angehörige der 1 BGH v. 17.10.1983 – GSSt 1/83, BGHSt. 32, 115 (123). 2 BVerfG v. 19.7.1995 – 2 BvR 1142/93, NJW 1996, 448 (449) = StV 1995, 561; BGH v. 20.6.1996 – 4 StR 680/95, StV 1996, 584; BGH v. 12.1.1996 – 5 StR 756/94, StV 1996, 412; einschr.: BGH bei Kusch, NStZ 1996, 325, wonach bei einem komplexen Gesamtgeschehen nicht jedes Detail einer anderweitigen Bestätigung bedarf; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 250 StPO Rz. 5. 3 Weyand, Die Schutzinteressen des gefährdeten Zeugen und das Strafverfolgungsinteresse des Staates de lege lata, Diss. 2008. 4 BVerfG v. 26.5.1981 – 2 BvR 215/81, BVerfGE 57, 250 (284); BGH v. 11.9.2003 – 3 StR 316/02, StV 2004, 241 m. Anm. Wattenberg; BGH v. 5.12.1984 – 2 StR 526/84, BGHSt. 33, 83 (91); Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 48 StPO Rz. 10. 5 Zu „Hörfallen“ vgl. BGH v. 13.5.1996 – GSSt 1/96, NStZ 1996, 502 m. krit. Anm. Rieß, abl. Roxin, NStZ 1997, 18. 6 Zu den Grenzen der Verwertbarkeit der „Ermittlungen“ von Spitzeln BGH v. 13.5.1996 – GSSt 1/96, NStZ 1996, 502 m. Anm. Rieß (polizeilich veranlasstes Telefongespräch mit dem Tatverdächtigen). 7 Roxin, NStZ 1995, 465 (Verstoß gegen den Nemo-tenetur-Grundsatz).
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Rz. 583
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Presse auf eigene Faust „Ermittlungen“ und Nachforschungen angestellt haben und darüber als Zeugen vernommen werden; ihre Nachforschungen haben oft eine Zielrichtung, die mit staatlichen Ermittlungen nicht identisch ist. 583
Fast während jeder Zeugenvernehmung macht der Richter Vorhalte. Entweder hält er dem Zeugen aufgrund der Aktenkenntnis bestimmte Umstände vor oder benutzt die Akten als Vernehmungsbehelf. Hier heißt es für den Verteidiger, besonders aufmerksam zu sein. Vorhaltungen verdecken häufig die Erkenntnis, was der Zeuge im Moment seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung wirklich noch weiß. Das ist aber entscheidend für den Beweiswert seiner Bekundung (Rz. 636 f.). Vorhaltungen dürfen die Vernehmung nicht ersetzen, sondern nur dazu dienen, eine Äußerung der Beweisperson zu veranlassen. Falls sich ein Zeuge trotz Vorhalts nicht erinnert, darf der Vorhalt als solcher nicht verwertet werden1. Auch muss sich der Verteidiger dagegen wehren, dass der Vorhalt – wie häufig – zum Nachvollzug des Akteninhalts entartet, etwa indem die polizeilichen Protokolle auf diese Weise in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Ein Indiz hierfür ist die Häufung von Vorhalten. Dann geht es nicht mehr darum, das Gedächtnis des Zeugen zu stützen, sondern meist um eine unzulässige Verlesung von Urkunden (Rz. 636 ff.). Ähnlich ist die Situation, wenn dem Zeugen sofort der ganze Inhalt von Schriftstücken (Vernehmungsprotokolle, Briefe, Aktenvermerke usw.) vorgehalten wird und er pauschal bestätigt. Der Verteidiger hat dann zu intervenieren und zu beantragen, dass der Vorhalt abschnittsweise oder satzweise erfolgt und jeweils danach der Zeuge gefragt wird, ob er sich an den verlesenen Inhalt (oder den folgenden) erinnert (§ 238 Abs. 2 StPO). Überhaupt zeigt die Praxis, dass der Unterschied zwischen Urkundenbeweis und Vorhalt von Urkunden vernachlässigt wird. So darf der Verteidiger den bloßen Vorhalt durch Verlesen nicht dulden, wenn es sich um schwer verständliche oder umfangreiche Schriftstücke handelt2. Auch dürfen die nur vorgehaltenen Schriftstücke nicht wörtlich in die Urteilsgründe aufgenommen werden3. Darauf ist besonders bei der Vernehmung von Verhörspersonen (Rz. 576 i.d.M., 605) zu achten. Solchen Zeugen darf das Protokoll erst vorgehalten werden, nachdem festgestellt ist, was sie aus der Erinnerung selbst noch wissen4. Insbesondere Laienrichter halten häufig nicht auseinander, welche Tatsachen bloßer Vorhalt geblieben und welche Tatsachen ordnungsgemäß durch Urkundenverlesung Gegenstand der Hauptverhandlung geworden sind. Es ist Aufgabe des Verteidigers, die nur vorgehaltenen Umstände, die der Zeuge nicht bestätigt, scharf herauszuarbeiten und ihrer Verwertung zu widersprechen (§ 257 Abs. 2 StPO!). Es darf nur das verwertet werden, was der Zeu1 BGH v. 8.1.1991 – 1 StR 704/90, StV 1991, 197 m.w.N.; Meyer-Goßner in MeyerGoßner/Schmitt, § 250 StPO Rz. 14. 2 BGH v. 24.10.1957 – 4 StR 320/57, BGHSt. 11, 159 (160). 3 BGH v. 12.1.1954 – 5 StR 668/53, BGHSt. 5, 278. 4 BGH v. 11.11.1952 – 1 StR 465/52, BGHSt. 3, 281.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 585
ge auf den Vorhalt erklärt hat. Freilich kann der Verteidiger kaum verhindern, dass sich der nicht bestätigte Vorhalt trotzdem im Gedächtnis der Richter „festsetzt“ und ihre Überzeugungsbildung beeinflusst. Das ist in der Hauptverhandlung oft gar nicht erkennbar und ergibt sich nur manchmal aus den Urteilsgründen. Im Allgemeinen stellt sich das Problem allerdings nicht so zugespitzt, denn in den meisten Fällen ist es zulässig, statt eines erfolglosen Vorhalts auf eine frühere Vernehmung des Zeugen zurückzugreifen. Der Verteidiger hat dafür zu sorgen, dass die frühere Niederschrift nur verlesen wird, falls der Zeuge trotz Vorhalts erklärt, er wisse davon nichts mehr1, oder falls eine Abweichung von der früheren Bekundung nicht auf andere Weise aufgeklärt werden kann (§ 253 StPO). Hier wird vom Zeugenbeweis zum Urkundenbeweis übergegangen (Rz. 636). Das wird auch für statthaft gehalten, wenn im Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung eine schriftliche Erklärung des Zeugen verlesen wird, die dieser zu Beweiszwecken verfasst hatte2. In Zweifelsfällen sollte der Verteidiger die Verlesung beanstanden und einen Gerichtsbeschluss herbeiführen (§ 238 Abs. 2 StPO). Trotz geringer Erfolgsaussichten sollte der Verteidiger im Verlauf einer 584 Zeugenvernehmung ständig prüfen, ob es zweckmäßig ist, den Antrag zu stellen, den Wortlaut der Aussage zu protokollieren (§ 273 Abs. 3 StPO; Rz. 673). Erfahrungsgemäß wird jeder Zeuge vorsichtig, sobald er durch den Antrag auf wörtliche Protokollierung merkt, dass es darauf ankommt. Hier handelt es sich freilich um ein mehr taktisches Verteidigungsmittel, weil in aller Regel die Gerichte der Meinung sind, dass es nicht auf den Wortlaut, sondern auf den Sachinhalt der Aussage ankommt3. Dazu sollte in der Antragsbegründung etwas gesagt werden. Kann die Protokollierung durchgesetzt werden, so darf der Verteidiger nicht übersehen, die Verlesung des aufgenommenen Wortlauts zu beantragen. Dies ist auch zweckmäßig, um eine entlastende Bekundung besonders hervorzuheben. Sie prägt sich auf diese Weise insbesondere ehrenamtlichen Richtern ein und gerät nicht so leicht in Vergessenheit. Insgesamt sind die Möglichkeiten des § 273 Abs. 3 StPO aber sehr begrenzt. Ständige Anträge nach § 273 Abs. 3 StPO werden in der Praxis dem Arsenal der „Blockade“- oder „Chaosverteidigung“ (Rz. 39, 75, 198, 450, 702, 810) zugerechnet4. Die Reihenfolge der Zeugenvernehmung darf der Verteidiger nicht dem 585 Gericht allein überlassen. Bekundungen der zuerst vernommenen Zeugen wirken erfahrungsgemäß nachhaltig, vor allem auf die zu Beginn der Verhandlung in besonderem Maße aufmerksamen ehrenamtlichen Richter. Im Allgemeinen wird es sich um die sog. Belastungszeugen handeln, die zuerst vernommen werden. Das kann man nicht verhindern. Es ist 1 2 3 4
OLG Köln v. 15.9.1964 – Ss 296/64, NJW 1965, 830. BGH v. 16.2.1965 – 1 StR 4/65, NJW 1965, 874. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 273 StPO Rz. 22. Dazu Volk in FS Dahs (2005), S. 495 ff.; Dahs in FS Odersky (1996), S. 317, 323.
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Rz. 586
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Sache des Vorsitzenden, die Reihenfolge der Vernehmungen zu bestimmen (§ 238 Abs. 1 StPO), die im Übrigen auch durch das materielle Recht beeinflusst wird. Der Verteidiger wird deshalb die gewünschte Reihenfolge nur durchsetzen können, z.B. wenn er sachlich überzeugende Gründe dafür vorträgt, was aber die Gefahr mit sich bringen kann, die Verteidigungsstrategie offenlegen zu müssen. Besser ist eine Kontaktaufnahme mit dem Vorsitzenden vor der Hauptverhandlung, die durchaus zu einer Verfahrensabsprache – nur hinsichtlich des Prozedierens, nicht des Ergebnisses – führen kann. In jedem Falle hat er aber darauf zu achten, dass der „mittelbare Zeuge“, z.B. der Verhörsbeamte, nicht vor einem erreichbaren unmittelbaren Tatzeugen vernommen wird. 586
Der Verteidiger hat die Gegenüberstellung eines Zeugen mit anderen Beteiligten anzuregen, falls sie im Interesse des Mandanten geboten ist. Oft trägt sie zur Aufklärung bei, kann aber natürlich auch zum Nachteil des Angeklagten ausgehen. In jedem Falle der Gegenüberstellung muss die Reaktion der Beteiligten festgehalten werden. Hieraus lassen sich für den Beweiswert der einen oder anderen Darstellung wertvolle Schlüsse ziehen (Rz. 605). Ein Beweisantrag auf Gegenüberstellung lässt sich häufig allerdings nur schwer schlüssig formulieren.
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Bei der Befragung eines Zeugen durch Staatsanwalt oder Mitverteidiger zeigt sich, welche Umstände der Staatsanwalt und Mitverteidiger für wesentlich halten. Der Verteidiger muss prüfen, inwieweit die Fragen und ihre Beantwortung für den Verteidigungsplan von Bedeutung sind. Ggf. hat er bei der Befragung der Zeugen (Rz. 592) diese Teile des Sachverhalts erneut aufzugreifen. Stellt der Staatsanwalt unzulässige (Rz. 532, 535 f., 553) oder ungeeignete (Rz. 535 f., 553) Fragen, so ist zu widersprechen und ggf. ein Gerichtsbeschluss herbeizuführen (§ 242 StPO).
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Bei der Befragung der Zeugen durch den Verteidiger übt dieser sein gesetzliches Fragerecht aus (§ 240 Abs. 2 StPO). Er muss dabei sachlich bleiben und darf den Zeugen nicht herabsetzen (Rz. 211 ff., 532). Auch sind die Grenzen des Fragerechts nach Form und Inhalt zu beachten (Rz. 531). Dadurch wird vermieden, dass Richter oder Staatsanwalt den Fragen des Verteidigers widersprechen und den Ablauf der Befragung unterbrechen. Die Erfahrung lehrt, dass nur die ungestörte Befragung eines Zeugen das bestmögliche Ergebnis gewährleistet. Die Beachtung der rechtlichen Grenzen des Fragerechts reicht aber allein nicht aus. Gerade um einen Zeugen richtig befragen zu können, muss der Verteidiger die Regeln der Vernehmungstechnik beherrschen, eben jene Kunst der Beweiserhebung. Hierbei muss er sich in die Lage des Zeugen versetzen und versuchen zu erkennen, warum der Zeuge in bestimmter Weise antwortet oder nicht. An sein eigenes Verhalten bei der Zeugenvernehmung hat der Verteidiger einen strengen Maßstab anzulegen. Er darf nichts dem Zufall überlassen. So muss er genau überlegen, welcher Ton angebracht ist. Meist bewährt sich der ruhige, freundliche, aber bestimmte Ton. Selbst verstockte, ausweichende oder dem Mandanten feindlich ge386
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 588
sinnte Zeugen lassen sich durch eine solche Vertrauensbrücke zum Reden bringen. Jedenfalls sollte der Verteidiger die Befragung in ruhiger Form beginnen, damit der Zeuge sich auf ihn einstellen kann. Diese Art des Verhörs ist auch aus einem anderen Grund zu empfehlen. Aus zu starker Betonung von Teilen einer Frage oder von ganzen Fragen kann der aufmerksame Zeuge erkennen, worauf es ankommt, und ggf. seine Antwort anpassen. Indessen gibt es kein allgemein gültiges „Rezept“. Die Art der Befragung hängt immer von der Persönlichkeit des Zeugen ab. So können alsbald energische Vorhalte geboten sein, etwa um dem Zeugen vor Augen zu halten, dass man ihm nicht glaubt. In einem solchen Falle darf und muss der Verteidiger deutlich seine Meinung sagen (Rz. 211, 535 f.). In der Regel kommt man aber zunächst mit Geduld und Ruhe am weitesten. Man sollte überhaupt jeden Zeugen grundsätzlich zunächst in freundlicher Weise befragen, um sein Vertrauen zu gewinnen und bei Belastungszeugen deren instinktive Abwehrhaltung zu überwinden. Man kann damit eine Entschärfung der Aussage zugunsten des Angeklagten erreichen und Widersprüche zur Einlassung des Mandanten beseitigen oder vermindern. Erst wenn diese Möglichkeiten erschöpft sind, ist der Zeitpunkt gekommen, vorhandenes Material gegen den Zeugen einzusetzen, z.B. Fragen nach (relevanten) Vorstrafen, Disziplinarverfahren und dergleichen oder aus der persönlichen Vergangenheit des Zeugen oder Feindschaft und feindliche Einstellung zum Mandanten. Ruhiges Auftreten ist besonders auch dann notwendig, wenn ein Zeuge weitschweifig wird. Entweder kann er sich nicht knapp ausdrücken oder er will vom Kern der Sache ablenken. Hier ist es sinnvoll, den Zeugen zunächst reden zu lassen, ihn im geeigneten Augenblick zu unterbrechen und die Frage, vielleicht jetzt mit gehobener Stimme, kurz und knapp zu wiederholen. Der Schock der Unterbrechung und die schlagartige Wiederholung wirken oft Wunder. Überhaupt sollte der Verteidiger versuchen, eine Frage so präzise zu stellen, dass sie mit ja oder nein beantwortet werden kann. Das erfordert zwar hohe Konzentration und eine gute Vorbereitung auf die Zeugenvernehmung (Rz. 448 ff.), hat aber eine Reihe von Vorteilen. Richter und Staatsanwalt werden selten einen Grund finden, solche Fragen zu beanstanden. Der Zeuge wird gehindert, ins Uferlose zu geraten oder auszuweichen. Solche Zeugen kann der Verteidiger gelegentlich auch auffordern, seine Fragen nur mit ja oder nein zu beantworten. Sie wissen dann, dass man sich auf Ausreden nicht einlässt. Mit knapper Formulierung seiner Fragen erreicht der Verteidiger auch am besten, dass er selbst wenig redet. Er darf die Antworten des Zeugen nicht durch lange Fragen vorwegnehmen, er darf den Zeugen auch nicht mit Erläuterungen „zudecken“. Damit kann man einen Zeugen nicht nur verwirren, man verhindert auch leicht, dass der richtige Eindruck über den Wert der Aussage entsteht. Aus diesen Gründen sollte der Verteidiger es auch vermeiden, mehrere Fragen auf einmal zu stellen. Aufeinanderfolgende Fragen lassen eine genauere Beantwortung zu. Sie ermöglichen es zudem, die Antworten ggf. vollständig zu protokollieren.
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Rz. 589
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Ihre Reihenfolge muss allerdings im Einzelfall überlegt und vorbereitet sein. 589
Nicht immer ist es zweckmäßig, die „Hauptfrage“ sofort zu stellen oder die einzelnen Fragen dem zeitlichen Ablauf des Geschehens anzupassen. Oft ist es ratsam, sich zunächst mit scheinbar nebensächlichen Fragen an das Wissen des Zeugen „heranzutasten“, um im geeigneten Moment nach dem wichtigen Umstand zu fragen. Diese Art des Verhörs bewährt sich gegenüber Zeugen, die den Mandanten belasten. Auch Zeugen, die sich unangenehmen Fragen dadurch entziehen wollen, dass sie sich auf ihr Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO (Rz. 571) berufen, ist auf diese Weise manchmal beizukommen. Anders liegt es meist bei Zeugen, die der Verteidiger benannt hat. Hier weiß er, was der Zeuge voraussichtlich aussagen wird, und kann alsbald auf den Kern der Sache zu sprechen kommen. Auch muss der Verteidiger stets bedenken, dass es gefährlich sein kann, eine günstige Aussage zu vertiefen. Sie wird dann häufig in Frage gestellt, „zerredet“ und schlägt ins Gegenteil um. All diese Erfahrungen gelten nur cum grano salis. Da der Verteidiger die Vernehmungstechnik auf die Persönlichkeit des Zeugen abstellen muss, hat er dessen Bildungsstand und Beruf sowie etwaige Beziehungen zum Mandanten oder anderen Beteiligten und die Einstellung des Zeugen zur Sache zu berücksichtigen, nicht zuletzt Geschlecht und Alter des Zeugen. Diese Umstände bestimmen, wie er „angefasst“ werden muss, um „Zugang“ zu ihm zu finden (Rz. 568, 595 ff.).
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Die Vernehmung von Polizeibeamten, Steuerfahndern und anderen Ermittlungsbeamten als Zeugen ist ein besonderes Kapitel. Sie sind durch ihren Beruf geschulte Zeugen, die sich kaum eine Blöße geben; dem Verteidiger treten sie oft mit Misstrauen oder Ablehnung gegenüber. Sie sehen in ihm den Gegner, der sich der Durchsetzung des Rechts in den Weg stellt, und ihr Verhalten ist durch latente Gereiztheit oder „stures“ Beharren gekennzeichnet. Ruhige Sachlichkeit hilft hier noch am ehesten weiter. Es ist auch unklug, aus einer festgestellten einzelnen Unrichtigkeit sofort eine „cause celébre“ zu machen, weil der Zeuge sich dann vollends verschließt und dadurch ein kritisches „Hinterfragen“ der wirklichen Kernprobleme des Falles blockiert. Andere Polizei-Zeugen wiederholen den Inhalt ihrer Anzeige und Ermittlungsberichte so perfekt, dass sich die Frage nach einer Terminsvorbereitung anhand von Aktendoppeln aufdrängt. In spektakulären und schwierigen Großverfahren ist die Polizei auch dazu übergegangen, „ihre“ Zeugen durch einen dafür ausgebildeten Planstellenbeamten beraten und auf die Vernehmung vorbereiten zu lassen1. Der Verteidiger muss dieses höchst bedenkliche behördeninterne Zeugentraining in allen Einzelheiten aufdecken und bei der Beweiswürdigung auswerten.
1 Vgl. Maeffert, Polizeiliche Zeugenbetreuung, was wissen wir heute darüber?, StV 1981, 370.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 593
Besonderer Vorbereitung bedarf die Befragung von Kindern und Jugend- 591 lichen. Sie stehen noch in der Entwicklung und reagieren daher anders als Erwachsene (Rz. 608 f.). Deshalb muss der Verteidiger einen guten Kontakt zu solchen Zeugen herstellen. Er kann dies durch einleitende Fragen erreichen. Seine Fragen müssen im besonderen Maße dem Begriffsvermögen und der Vorstellungswelt des Zeugen angepasst sein, sonst sind sachgerechte Antworten nicht zu erwarten. Bei der audiovisuellen Zeugenvernehmung1 nach § 247a StPO muss der Verteidiger darauf achten, dass seine Fragen im Wortlaut und in der von ihm intendierten Tonlage übertragen werden. Auch in anderen Fällen hat der Verteidiger den Antrag zu erwägen, dass ihm gem. § 241a Abs. 2 StPO die unmittelbare Befragung überlassen wird. In vielen Fällen reicht die bloße Befragung eines Zeugen nicht aus. Vor- 592 halte des Verteidigers sind vielfach geboten. Das gilt insbesondere für Zeugen, die den Mandanten belasten. Ebenso wie der Richter hat der Verteidiger die Regeln über den Vorhalt zu beachten (Rz. 583, 636 f.). Darüber hinaus ist es notwendig, den Vorhalt im geeigneten Moment anzubringen. Im Allgemeinen ist es unzweckmäßig, die Befragung mit einem Vorhalt zu beginnen. Es wird zunächst nötig sein, durch einleitende oder anknüpfende Fragen (Rz. 534) den Zeugen in den „Griff“ zu bekommen, um dann den Vorhalt präzise vorzutragen. Erfahrungsgemäß ist hier bestimmteste Form angebracht. Für Vorhalte aus den Akten muss der Verteidiger die richtige Stelle bereit haben, wobei sich ein genauer Plan für die Hauptverhandlung bewährt (Rz. 451, 513). Erinnert sich der Zeuge an die frühere Bekundung nicht mehr, so muss der Verteidiger sie wörtlich vorlesen und den Zeugen ggf. auf den Widerspruch hinweisen. Schweigt der Zeuge oder antwortet er ausweichend, so kann der Beweiswert seiner Aussage in Zweifel gezogen werden. Handelt es sich hierbei um wesentliche Tatsachengrundlagen für die Entscheidung, so sollte jedenfalls versucht werden, den Vorhalt und die Reaktion des Zeugen wörtlich in die Niederschrift aufnehmen zu lassen (Rz. 584, 709). Auch empfiehlt es sich, die Verlesung der früheren Vernehmung zu beantragen und sie auf diese Weise zum Gegenstand des Urkundenbeweises zu machen (Rz. 628). Schließlich kommt in Betracht, durch eine Erklärung (§ 257 Abs. 2 StPO) im Anschluss an die Vernehmung des Zeugen (und seine Entlassung!) die für die Verteidigung wichtigsten Punkte zu wiederholen und kurz aus Sicht der Verteidigung zu würdigen, damit der Vorgang sich dem Gericht besonders einprägt. Das sollte allerdings nicht dazu führen, dass der Zeuge erneut geladen wird! Vereidigung von Zeugen ist heute eine Ausnahme. Es kommt darauf an, 593 ob das Gericht sie wegen der ausschlaggebenden Bedeutung der Aussage oder zur Herbeiführung einer wahren Aussage für erforderlich hält (§ 59 Abs. 1 StPO). Beschlussfassung über die Vereidigung oder Nichtvereidigung der Zeugen kann für das Urteil entscheidend sein. Das gilt vor al1 Dazu Schlothauer, StV 1999, 47.
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
lem für die Variante der „ausschlaggebenden“ Bedeutung der Aussage – in für den Angeklagten positiver oder negativer Hinsicht. Das könnte den Verteidiger veranlassen und ihm evtl. zur Pflicht machen, so zu plädieren wie zum Urteil. Dies kommt aber eigentlich nur in Betracht, wenn das Gericht die Entscheidung über die Vereidigung aller Zeugen bis zum Schluss der Beweisaufnahme zurückstellt (§ 257 Abs. 3 StPO). Eine erschöpfende Stellungnahme hat den Nachteil, dass im Falle ihrer Erfolglosigkeit die Entschließung des Gerichts, die Zeugen zu vereidigen, weil ihre Aussage als ausschlaggebend und glaubwürdig angesehen wird, ungefähr den Charakter absoluter Endgültigkeit hat. Außerdem ist von der psychologischen Seite zu beachten, dass der Verteidiger sich den Unwillen des Gerichts zuzieht. Gegen diese Bedenken wäre geltend zu machen, dass das Gericht eine Vereidigung auch bei Zweifeln an der Glaubwürdigkeit „vernehmlich“ in Erwägung ziehen könne, um zu testen, ob der Zeuge nicht unter dem Druck des Eides von seiner Aussage abrückt. Der Verteidiger kann im späteren Plädoyer darauf hinweisen und versuchen, dem Gericht das Abrücken von der Vereidigung zu erleichtern. Sehr aussichtsreich wird das aber in der Regel nicht sein. Die richtige Entschließung ist eine sehr schwierige Entscheidung des Einzelfalles, die mit von der Persönlichkeit der Richter, dem Ansehen des Verteidigers und dem Verhandlungsklima abhängt. Scheidet eine umfassende Stellungnahme aus, was die Regel sein wird, so muss der Verteidiger wenigstens in prägnanter Kürze seinen Standpunkt zur Vereidigung zum Ausdruck bringen und einen Gerichtsbeschluss (§ 238 Abs. 2 StPO) herbeiführen. Ob es in der Revision dann gelingt, einen relevanten Ermessensfehler des Gerichts zu erweisen, ist allerdings eine andere Frage1. Im Übrigen muss der Verteidiger Inhalt und Grenzen der Vereidigungsverbote (§§ 60, 61 StPO) kennen. Zu Auseinandersetzungen kommt es vor allem, sobald die Vereidigung eines „tatverdächtigen“ Zeugen (§ 60 Nr. 2 StPO) erörtert wird. Dabei ist der Begriff der Tatbeteiligung weit zu fassen2. Aus den Äußerungen des Gerichts zum Grund der Vereidigung dürfte in der Regel zu entnehmen sein, ob es dem Zeugen glauben will. Hatte das Gericht den Zeugen wegen der Gefahr einer strafgerichtlichen Verfolgung belehrt (Rz. 570) und soll er nun vereidigt werden, so wird es seinen Angaben meist folgen wollen; mindestens ergibt sich daraus, dass der Richter den Zeugen nicht mehr als verdächtig ansieht3. Schwierig kann z.B. folgender Fall werden: Der Verteidiger weiß aus einem ihm vorliegenden Schriftstück, dass der seinen Mandanten belastende Zeuge die Unwahrheit sagt. Er erkennt aber auch, dass das Gericht 1 Vgl. dazu BGH v. 20.1.2005 – 3 StR 455/04, NStZ 2005, 340; Sommer, AnwBl. 2004, 506 f. 2 BGH v. 12.7.1983 – 1 StR 174/83, NStZ 1983, 516; BGH v. 9.3.1982 – 5 StR 130/82, StV 1982, 342; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 60 StPO Rz. 11. 3 BGH v. 2.7.1969 – 2 StR 198/69, BGHSt. 23, 30 (32); Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 60 StPO Rz. 23.
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Rz. 595
dem Zeugen glauben und die Aussage als ausschlaggebend beeidigen lassen will. Würde er das Schriftstück, das den Zeugen der Unwahrheit überführt, während der Vernehmung präsentieren, befürchtet er, dass dies in den Augen des Gerichts nicht ausreichen könnte, um die Aussage des Zeugen insgesamt als unglaubhaft zu erweisen. Er lässt daher den Zeugen ohne Widerspruch und präsentiert dann die Urkunde, die den Meineid beweist. Damit ist die problematische Frage aufgeworfen, ob der Verteidiger verpflichtet ist, den ihm bekannten Meineid eines Belastungszeugen zu verhindern1. Diese Frage muss im Ergebnis wohl jedenfalls dann verneint werden, wenn überwiegende Gründe der Verteidigung für ein solches Vorgehen sprachen. In der Regel dürfte es allerdings ausreichen, wenn eine solche Urkunde oder ein vergleichbares Beweisstück präsentiert wird, nachdem der Zeuge sich zur Eidesleistung bereit erklärt hat und diese unmittelbar bevorsteht. Beabsichtigt das Gericht nach Vernehmung und Befragung eines Zeugen 594 dessen vorzeitige Entlassung (§ 248 StPO), so darf der Verteidiger nicht ohne weiteres zustimmen. Er hat zu prüfen, ob dem Zeugen alle sachdienlichen Fragen vorgelegt sind, ob eine Gegenüberstellung mit anderen Beteiligten, z.B. später erscheinenden Zeugen, notwendig (Rz. 586) und ob die Frage der Vereidigung bzw. Nichtvereidigung abschließend geklärt ist. Es kann auch zweckmäßig sein, einzelne Fragen an einen Zeugen bis nach der Vernehmung anderer Zeugen zurückzustellen. Dann muss der Verteidiger der Entlassung widersprechen (§ 238 Abs. 2 StPO). Sonst ist er darauf angewiesen, einen Beweisantrag zu stellen2, dessen Ergebnis ungewiss ist (Rz. 654 f.). Nach jeder Zeugenvernehmung muss sich der Verteidiger mit dem Be- 595 weiswert der Aussage auseinandersetzen. Er hat zu prüfen, ob die Bekundung des Zeugen richtig ist und wie das Gericht die Aussage beurteilt. Es wäre verfehlt und pflichtwidrig, diese Überlegung allein dem Gericht zu überlassen. Die richterliche Beurteilung muss nicht zuletzt durch das beeinflusst werden, was der Verteidiger zum Beweiswert einer Zeugenaussage vorzutragen hat. Er hat das Recht, dazu sofort eine Erklärung abzugeben (§ 257 Abs. 2 StPO – Rz. 526 ff.). Dazu benötigt er eine genaue Kenntnis der „Aussagepsychologie“, die ihn in die Lage versetzt, den Wert einer Aussage zu unterstreichen oder ihre Fehlerquellen aufzudecken. Dabei sollte man sich stets bewusst bleiben, dass die Problematik vielschichtig und schwierig ist. Dazu können hier nur einige Gesichtspunkte und praktische Hinweise gebracht werden. Das Augenfällige darf nicht die einzige Richtschnur sein. Der Verteidiger muss tiefer eindringen und versuchen, auch verborgene Regungen der menschlichen Seele aufzuhellen. Hierzu ist es oftmals geboten, Spezialliteratur zu studieren. 1 Vgl. dazu BGH v. 20.8.1953 – 1 StR 88/53, BGHSt. 4, 327; Lenckner/Bosch in Schönke/Schröder, Vor §§ 153 ff. StGB Rz. 38. 2 BGH v. 18.7.2001 – 3 StR 211/01, NStZ-RR 2002, 258; BGH v. 21.6.1995 – 2 StR 67/95, StV 1995, 566; BGH bei Holtz, MDR 1978, 626.
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Rz. 596
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
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Die Erfahrung beweist, dass es zweckmäßig ist, in dem diffizilen Bereich der Aussagepsychologie mit festen Begriffen zu arbeiten. Das erleichtert nicht nur dem Verteidiger die Erkenntnis des Beweiswertes einer Aussage, er kann damit auch dem Gericht, vor allem ehrenamtlichen Richtern, die Problematik vereinfacht darstellen. Deshalb sollte jede Bekundung nach den Kriterien „Aussagetüchtigkeit“, „Aussageehrlichkeit“ und „Aussagerichtigkeit“ beurteilt werden.
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Die „Aussagetüchtigkeit“ der Menschen zeigt eine breite Skala. Sie bestimmt sich danach, was der Zeuge unter den gegebenen Verhältnissen tatsächlich wahrnehmen konnte, woran er sich erinnern kann und ob er in der Lage ist, das Erlebte genau zu schildern. Bei Prüfung dieser drei Fähigkeiten (Wahrnehmung, Erinnerung und Wiedergabe) muss sich der Verteidiger mit der Persönlichkeit des Zeugen befassen. Hierzu finden sich häufig Hinweise in den Akten. Ausbildung, Intelligenz und Begabung spielen eine große Rolle. Je intelligenter der Zeuge, desto eher zieht er Schlüsse und äußert Meinungen, statt Tatsachen wiederzugeben. Danach sieht es häufig so aus, als ob der Zeuge umfassend beobachtet habe. Vor allem ehrenamtliche Richter nehmen Ansichten und Urteile solcher Zeugen oft als bare Münze. Falls der Richter den Zeugen nicht an der Bekundung von Tatsachen festhält, muss der Verteidiger bei der Befragung des Zeugen den Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vorstellung deutlich herausarbeiten. Die Zuverlässigkeit einer Aussage bestimmt sich ferner nach den Eigenschaften eines Zeugen. Der Verteidiger sieht sich immer wieder Zeugen gegenüber, die verstockt, trotzig, ängstlich, geltungsbedürftig oder hochmütig sind. Auch die beruflichen und familiären Bindungen des Zeugen und seine Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Ordnungen lassen Rückschlüsse zu, ebenso sein Alter und seine seelische und körperliche Verfassung im Moment der Beobachtung. Dem unter Alkohol, Betäubungsmitteln oder gewissen Medikamenten stehenden Zeugen fehlt im Allgemeinen die Fähigkeit zur genauen Beobachtung; auch erhebliche Erkrankungen können sich negativ auswirken.
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Jeder Verteidiger weiß, dass die Aussage eines unbeteiligten Zeugen größeres Gewicht besitzt, während der auch nur mittelbar betroffene Zeuge in Gefahr geraten kann, unbewusst seine Wunsch- oder Überzeugungsvorstellungen an die Stelle von Wahrnehmungen zu setzen. Ebenso ist in der Regel die Bekundung des unmittelbaren Zeugen beweiskräftiger als die Aussage des Zeugen vom Hörensagen (Rz. 581). Der „Zeuge vom Zeugen“ gibt die ihm mitgeteilten Tatsachen häufig entstellt wieder. Seine Bekundung hat allenfalls indiziellen Beweiswert. Besonders aufmerksam muss sich der Verteidiger mit der Frage befassen, ob der Zeuge den geschilderten Vorgang und die beteiligten Personen überhaupt beobachten konnte. Standort, Beleuchtungsverhältnisse, Sehschärfe und Entfernung zum „Tatort“ (notfalls Ortstermin beantragen [Rz. 689] und sich nicht auf Schätzungen einlassen), aber auch Erregung oder gar Entsetzen des Zeugen oder der Zeugen mögen hier als Stichworte genügen. Problematisch ist insbesondere das vermeintlich sichere Wiedererkennen einer 392
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 600
Person1 (Rz. 300). Hier ist die Fähigkeit des Zeugen, sich zu erinnern, von großer Bedeutung. Das Erinnerungsbild wird nicht nur durch Zeitablauf getrübt, sondern auch durch frühere Äußerungen im Gespräch mit Dritten und Vernehmungen über den Vorgang. Das Erinnerungsbild kann aber auch „aufgefrischt“ worden sein2 durch Lichtbildvorlage3, „zufällige“ Begegnungen mit dem Angeklagten u.a. Das muss der Verteidiger aufklären und herauszufinden versuchen, ob nicht die Zeugen in dem Angeklagten nur die ihnen von dem Foto bekannte Person wiedererkennen4 oder ob ein früherer Wiedererkennungstest erfolglos war5. Ein Zeuge, der beruflich ständig mit Vernehmungen zu tun hat, wird sich begreiflicherweise an die einzelne Anhörung nur selten erinnern können. Deshalb muss der Verteidiger darauf bestehen, dass zunächst das „parate Wissen“ des Verhörbeamten festgestellt wird (Rz. 583). Das ist auch notwendig, bevor dem Zeugen seine eigene frühere Aussage vorgehalten wird (Rz. 583). Man kann sonst nicht erkennen, ob der Zeuge den Tatvorgang schildert oder lediglich die frühere Vernehmung wiedergibt (Rz. 637). Bei Prüfung der „Aussageehrlichkeit“ muss man den Motiven nachge- 599 hen, die einen Zeugen bestimmen können, bewusst oder unbewusst von der Wahrheit abzuweichen. Hierauf muss der Verteidiger schon bei der Vernehmung zur Person achten und ggf. die persönlichen Beziehungen zu einem Beteiligten offenlegen (Rz. 569). Dabei darf er die „Gruppeninteressen“ nicht außer Acht lassen, den frü- 600 her sog. „Korpsgeist“, der oft die Angaben eines Zeugen beeinflusst. Gehört er zur Gruppe des Angeklagten, so wird er nicht selten versuchen, ihn zu entlasten (z.B. die „gegnerischen“ Autoinsassen). Steht er der Gruppe des Verletzten nahe, so wird er umgekehrt leichter dazu neigen, den „Täter“ zu belasten. Daneben gibt es noch eine dritte Gruppe, die im 1 BGH v. 15.5.2013 – 5 StR 123/13; BGH v. 24.2.1994 – 4 StR 317/93, NStZ 1994, 295 (296) = NJW 1994, 1807 zur Überführung des Täters durch Stimmenvergleich; BGH v. 5.12.1990 – 2 StR 510/90, StV 1991, 501; BGH v. 18.8.1993 – 5 StR 477/93, StV 1993, 627; OLG Hamm v. 17.2.2000 – 2 Ss 108/2000, NStZ-RR 2000, 213. 2 Dazu Schlothauer, Darf, sollte, muss sich ein Zeuge auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung vorbereiten?, FS Dahs (2005), S. 457. 3 Dazu u.a. BGH v. 9.11.2011 – 1 StR 524/11, StraFo 2012, 143: Vorlage von mindestens acht Personen; entspr. Videobildern; BGH v. 13.2.2003 – 3 StR 430/02, StV 2004, 58 (Lichtbildvorlage und wiederholtes Wiedererkennen); BGH v. 1.8.1996 – 5 StR 254/96, StV 1996, 649; Odenthal, Rechtsprobleme des Wiedererkennens, S. 9, 17; Köhnken, Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, 1990. 4 BGH v. 28.6.1961 – 2 StR 83/61, BGHSt. 16, 201; BGH v. 7.11.1980 – 2 StR 522/80, StV 1981, 55; BGH v. 3.2.1987 – 1 StR 644/86, NStZ 1987, 288; OLG Düsseldorf v. 22.11.1990 – 2 Ss 288/90 - 126/90 II, StV 1991, 509; vgl. auch BGH v. 4.3.1997 – 1 StR 778/96, NStZ 1997, 355 zum Beweiswert des Wiedererkennens nach früherer Gegenüberstellung. 5 LG Gera v. 27.1.1997 – 325 Js 17037/95-5 KLs, StV 1997, 180.
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
forensischen Alltag in Erscheinung tritt. Das sind die Zeugen, die meist unbewusst zu anderen Zeugen halten und deren Angaben bestätigen, obwohl sie selbst den Vorgang weniger gut beobachten konnten (etwa die „Verkehrspolizisten“). Diese „Protektion der Solidarität“ ist nicht immer leicht zu erkennen. 601
Dagegen lässt sich das Motiv für eine unrichtige Bekundung meist besser aufklären, wenn der Zeuge an der Tat beteiligt ist. Ein verdächtiger Zeuge macht nicht immer von seinem Auskunftsverweigerungsrecht (Rz. 571) Gebrauch; er färbt lieber seine Aussage, weil er sonst offenbaren müsste, dass er etwas zu verheimlichen hat. Deshalb darf auch der Zeuge nicht vereidigt werden, der verdächtig ist, die Tat begangen zu haben, die dem Angeklagten vorgeworfen wird (§ 60 Nr. 2 StPO). Beteiligte Zeugen sind ohnehin in dem Wunsch befangen, ihren eigenen Beitrag zu bagatellisieren. Erfahrungsgemäß gilt das im besonderen Maße für die Bekundung von früheren Mitbeschuldigten und Mitangeklagten. Sie sind entweder durch Einstellung oder Verurteilung aus dem Verfahren ausgeschieden. Vielleicht ist auch ihr Verfahren noch nicht bis zur Hauptverhandlung gediehen und deshalb abgetrennt. Solche Zeugen sind von Haus aus voreingenommen. Der Beweiswert ihrer Aussagen ist gering. Entweder glauben sie sich in einer Art „Schicksalsgemeinschaft“ mit dem Angeklagten und versuchen, ihn zu entlasten, oder aber sie belasten ihn ungerechtfertigt, um sich in ein besseres Licht zu setzen1. Gelegentlich kommt es auch vor, dass die Aussage auf eine Entlastung abzielt, in der Erwartung, in dem „eigenen“ Verfahren durch den Angeklagten ebenfalls entlastet zu werden. Die Erfahrung lehrt, dass ihre Vernehmung als Zeugen für den Mandanten meist nachteilig ist.
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Der Verteidiger muss daher auch einer Trennung der Verfahren widersprechen, soweit dies in seinen Kräften steht. Er kann darauf hinweisen, dass der Mitbeteiligte von seinem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch machen kann; allerdings können dann frühere Aussagen verwertet werden2 (Rz. 571). Insbesondere hat sich der Verteidiger dagegen zu wehren, dass die Trennung ausschließlich zu dem Zwecke beschlossen wird, einen Mitangeklagten als Zeugen zu vernehmen3 („Rollentausch“)4. Mindestens ist die Trennung unzulässig, wenn der Angeklagte zu einem Tatgeschehen als Zeuge gehört werden soll, das auch ihm zur Last gelegt wird5. In diesem Zusammenhang kann der Verteidiger auch auf die allgemeine Erfahrung hinweisen, dass Zeugen nicht offen reden, wenn sie um ihren Ruf fürchten müssen. Sie schämen sich, eigenes Fehlverhalten aufzudecken. Oft sind sie auch in einer für Außen1 OLG Koblenz v. 28.5.2004 – 2 Ss 110/04, StraFo 2004, 279. 2 Dazu i.E. Senge in KK, § 55 StPO Rz. 15. 3 Zulässig nach BGH v. 25.2.1964 – 1 StR 13/64, NJW 1964, 1034; BGH v. 6.12.1973 – 4 StR 554/73, BGHSt. 25, 257; vgl. i.Ü. Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, Vor § 48 StPO Rz. 22. 4 Dazu eingehend Prittwitz, NStZ 1981, 463. 5 BGH v. 17.1.1984 – 5 StR 970/83, StV 1984, 186.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 605
stehende nicht immer erkennbaren Zwangslage. Dazu gehört der Zeuge, der eine frühere Aussage nicht aufgeben will, um sich nicht als Lügner zu entlarven. Der Verteidiger muss sich ständig damit auseinandersetzen, ob der Be- 603 kundung des Verletzten geglaubt werden kann. Dieser ist meist befangen, auch wenn er nicht Nebenkläger ist, ihn die Straftat etwa nur mittelbar betrifft1. So, wenn ihn die Tat des Angeklagten dem Verdacht der Teilnahme aussetzt und dadurch sein Ansehen geschädigt wird2. Der Verteidiger muss den Beweiswert der Aussage besonders kritisch würdigen; der Vereidigung eines solchen Zeugen muss er mit allem Nachdruck (§ 238 Abs. 2 StPO) widersprechen (Rz. 593). Gute Gründe lassen sich vorbringen, falls der Nebenkläger sein Recht beansprucht, in der Verhandlung anwesend zu sein. Wird er als Zeuge vernommen, so kennt er die Einlassung des Angeklagten und kann seine Aussage danach einrichten (Rz. 1062). Der Wille eines Zeugen zur richtigen oder falschen Bekundung wird 604 schließlich durch seinen Charakter bestimmt. Charaktermängel führen häufig zu Falschaussagen. Der Verteidiger braucht Erfahrung im Umgang mit Menschen und psychologisches Fingerspitzengefühl, um beurteilen zu können, ob z.B. der Zeuge charakterlich einwandfrei oder bösartig ist. Danach richtet sich auch, wie der Zeuge zu vernehmen ist. Es wird nicht häufig gelingen, einem Zeugen nachzuweisen, er habe seine Aussage aus verwerflichen Motiven, etwa aus Rachsucht, absichtlich falsch gemacht. Manchmal genügt es aber, durch geschickte Fragen Zweifel an seiner Aufrichtigkeit zu wecken. Böswilligen Absprachen von Zeugen kommt man gelegentlich auf die Spur, wenn schon vernommene Zeugen in einer Verhandlungspause intensiv mit später zu vernehmenden Zeugen sprechen (Umgehung des § 58 Abs. 1 StPO). Darauf muss der Verteidiger in Verhandlungspausen ebenso achten wie auf Gespräche zwischen Zuhörern und noch zu vernehmenden Zeugen. Diese sollte er nicht unterbinden, sondern zum Gegenstand der Befragung machen. Auch wenn derselbe Zuhörer wiederholt den Sitzungsraum verlässt, kann eine Prüfung geboten sein, ob er „späteren“ Zeugen Informationen gibt. Dagegen kann auch das Gericht mobilisiert werden. Die Bewertung einer Zeugenaussage muss letztlich in die Frage münden, 605 ob die Bekundung objektiv richtig ist („Aussagerichtigkeit“). Hierfür hat der Verteidiger auch das Verhalten des Zeugen während der Aussage auszuwerten. Ob ein Zeuge flüssig oder stockend redet, ob er aus dem Gedächtnis frei schildert oder Auswendiggelerntes herleiert, ob er mit ruhiger oder erregter Stimme spricht, kurz: Solche einfachen psychologischen Indizien können zeigen, was von der Zeugenaussage zu halten ist. Dabei darf das äußere Auftreten des Zeugen nicht vernachlässigt werden. 1 BGH v. 10.11.1953 – 1 StR 324/53, BGHSt. 5, 85. 2 BGH v. 22.5.1962 – 1 StR 156/62, BGHSt. 17, 248.
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Unruhige Körperhaltung, unsteter Blick, Mienenspiel, nervöse Bewegungen der Hände geben oft Aufschlüsse. Der Verteidiger muss aber auch wissen, dass Unbeholfenheit und Nervosität keine Indizien für Unglaubwürdigkeit sein müssen, zumal sich bei Zeugen aufgrund der ungewohnten „Stresssituation“ im Gerichtssaal psychosomatische Störungen einstellen können. Umgekehrt ist eloquentes Auftreten des Zeugen vielleicht nur Anzeichen für schauspielerische Eigenschaften, durch die man leicht getäuscht werden kann. Der Verteidiger muss dafür eintreten, dass jeder Zeuge zu Beginn seiner Sachvernehmung zusammenhängend berichtet (Rz. 578). Hierbei ist die Persönlichkeit des Zeugen am besten zu erkennen. Danach muss sich der Verteidiger auch richten, wenn er einen Zeugen befragt. Manchmal wird versäumt, die Vernehmungstechnik auf die Persönlichkeit des Zeugen abzustellen, obwohl sie für das richtige Ergebnis ausschlaggebend sein kann (Rz. 565, 589). 606
Die Bewertung einer Zeugenaussage hängt zudem nicht unerheblich von ihrer Entwicklung im Laufe eines Verfahrens ab. Der erfahrene Verteidiger weiß, welche Bedeutung der „Aussagekonstanz“ zukommt. Ein Zeuge, der bei seiner letzten Vernehmung zu den wesentlichen Punkten noch dasselbe aussagt wie bei der ersten Schilderung, ist im Allgemeinen glaubwürdiger als ein Zeuge, der seine Angaben wechselt. Sind Widersprüche vorhanden, so muss der Verteidiger die erste Äußerung des Zeugen genau prüfen und festzustellen versuchen, wie sie zustande gekommen ist, insbesondere wie sich der Zeuge dabei ausgedrückt und warum er über den Vorgang gesprochen hat. Hierzu kann es häufig sinnvoll und notwendig sein, die Personen als Zeugen zu benennen, die die erste Äußerung gehört oder als Vernehmende protokolliert haben. Denn die spontane Äußerung in engem zeitlichen Zusammenhang zu dem Geschehen, über das der Zeuge berichten soll, führt häufig zu einer besonders authentischen Darstellung des Erlebten. Außerdem sind die Stufen zu verfolgen, in denen sich die Aussage entwickelt hat. Letzten Endes läuft dies auf die Frage hinaus, ob der Zeuge jetzt nur noch seine früheren Erklärungen gegenüber Dritten – Verwandten, Verhörsbeamten, Sachverständigen – wiedergibt und sich an den Vorgang selbst gar nicht mehr erinnert („aufgepfropftes Wissen“). Häufig verwechseln Zeugen das beobachtete Geschehen mit Vermutungen, Schlussfolgerungen und Vorhaltungen derjenigen, die sie früher vernommen haben. Hier sind eingehende Fragen notwendig, um Widersprüche aufzuklären (Rz. 530 ff.). Nicht nur die Beobachtungen anderer Personen, auch ihre Meinungen und Urteile fließen fast zwangsläufig in die Vorstellung des Zeugen ein. Oft ist es schwierig, die tatsächliche Wahrnehmung des Zeugen herauszuarbeiten.
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Der Verteidiger sieht sich mit diesem Problem im besonderen Maße konfrontiert, wenn es sich um eine „cause celébre“ handelt, um einen sog. Sensationsprozess, über den jedermann spricht und von dem jedermann glaubt, er sei bestens orientiert. Hier unterliegen viele Zeugen der Massensuggestion, nicht zuletzt durch die Berichterstattung in Presse, Fern396
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
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sehen sowie eine evtl. Erörterung im Internet vor und während der Hauptverhandlung. Auch der gutwillige Zeuge kann sich dem meist unbewussten Einfluss kaum einmal entziehen. Noch schlimmer ist es, wenn Medien in schwebenden Verfahren „Vorermittlungen“ anstellen. Der Zeuge fühlt sich wichtig, er steht in der Zeitung oder spricht im Fernsehen. Was er dem Reporter tatsächlich berichtet hat, ist nicht kontrollierbar. Suggestivfragen und „selbstgemachte Schlagzeilen“, die auf der Neigung von Presse und anderen Medien zur Zuspitzung beruhen (Rz. 100), hindern den Zeugen, seine Angaben in der öffentlichen Hauptverhandlung zu berichtigen. Zwischen Zeuge und Verteidiger entsteht dann nicht selten ein Zielkonflikt: Während der Verteidiger auf eine belastbare und insbesondere wahrheitsgemäße Angabe hinarbeitet, ist der Zeuge nicht selten geneigt, seine bisherigen Angaben – ungeachtet des Wahrheitsgehalts – beibehalten zu wollen. Gelingt es nicht, diesen Konflikt aufzulösen, muss der Verteidiger sicherstellen, dass den Bekundungen des Zeugen kein erheblicher Beweiswert beigemessen wird. Besonders schwierig liegen die Fälle, in denen der Zeuge nicht durch Außenstehende, sondern durch eigene Ansichten oder gar eigene Gefühle beeinflusst wird. So wird ein Unfallzeuge nicht stets objektiv sein können, wenn er selbst oder seine Angehörigen Opfer des Straßenverkehrs geworden sind. Ähnliche Erfahrungen gibt es in „Kapitalsachen“ mit Beweispersonen, die aus Überzeugung für harte Strafen oder gar die Todesstrafe eintreten. Solche emotionellen Motive aufzudecken, ist häufig nicht leicht, aber unbedingt notwendig, um den objektiv verwertbaren Kern einer Aussage herauszuschälen. Gegen den Wert einer Aussage spricht im Übrigen stets, dass sich Widersprüche nicht zweifelsfrei aufklären lassen. Auch diese Feststellung kann der Verteidiger im Rahmen seiner Erklärung gem. § 247 Abs. 2 StPO im Anschluss an die Vernehmung formulieren. Für die Beweiskraft einer Bekundung kann angeführt werden, dass sie sich zeitlich und räumlich, auch im Zusammenhang mit anderen Aussagen und der Einlassung des Angeklagten, widerspruchsfrei in das Gesamtbild einordnen lässt. Aus diesen Gründen muss der Verteidiger aus einer Vielzahl von Schlüssen und Tatsachen zu einer Gesamtschau kommen und daraus entnehmen, ob die Aussage eines Zeugen wahr ist oder wenigstens für wahr gehalten werden kann. Das ist besonders notwendig bei Aussagen von Kindern und Jugendli- 608 chen, deren Glaubwürdigkeit in Verfahren um Sexualdelikte nicht selten zum Problem wird. Hier kann man mit der kurzen Wiedergabe von Beispielsfällen dartun, wie scheinbar glaubhafte Aussagen von Kindern sich nachher als notorisch falsch erwiesen haben, wie ein nachgewiesenes Fehlurteil auf einer unrichtigen Kinderaussage beruht. Die Bedeutung des „passenden“ Beispiels kann nicht groß genug eingeschätzt werden. Der neueren Justizgeschichte können hierzu etliche Beispiele entnommen werden.
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
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Der Verteidiger kann allerdings die Grundsätze der Zeugenbewertung nicht einfach auf die Aussagen von Kindern und Jugendlichen übertragen. Es liegt auf der Hand, dass die Fähigkeit eines Kindes und eines Jugendlichen, einen Vorgang wahrzunehmen und ihn richtig wiederzugeben, von der eines Erwachsenen abweichen kann. Das bedeutet keinesfalls, dass ein Kind weniger genau beobachtet als ein gereifter Mensch. Es kommt auf die Verstandesreife des Zeugen an, die sich nach dem Alter richtet. So ist zu beachten, dass Kinder unter 6 Jahren zwar im Allgemeinen gut beobachten, insbesondere einfache Sachverhalte, dass jedoch das eigene Erlebnis schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit nicht mehr zuverlässig dargestellt werden kann. Im Schulalter ist ihre Erinnerungsfähigkeit in der Regel besser. In einzelnen Fällen ist aber auch dann nicht auszuschließen, dass Kinder ihre Vorstellung mit ihrer Wahrnehmung verwechseln. Diese Möglichkeit nimmt zwar ab, je älter und „vernünftiger“ ein Kind wird. Der Verteidiger sollte aber die oft von Sachverständigen zu hörende Behauptung, das Kind sei im Alter von 9 bis 13 Jahren, der „reifen Kindheit“, ein besonders zuverlässiger Zeuge, nicht unkritisch hinnehmen. Die Forschungen über die Ursachen von Fehlurteilen lassen diese Behauptung mindestens zweifelhaft erscheinen1.
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Gerade in Verfahren wegen Sexualdelikten geschieht es nicht selten, dass Eltern oder Dritte aus verständlicher Sorge das Kind vor einer Anzeige suggestiv nach sexuellen Vorkommnissen gefragt und darauf aus Angst oder Scham die „passenden“ Antworten erhalten haben. Ähnliches gilt für die „Vorvernehmungen“, die häufig durch Kinderschutzorganisationen durchgeführt worden sind2. Die Ersterklärung des Kindes zieht sich häufig als zementierte Sachverhaltsfeststellung durch die Akten. Der Verteidiger muss daher die Möglichkeit der Suggestion durch Eltern, Erzieher und selbsternannte Experten besonders beachten. Sie wird in der forensischen Praxis selbst von Psychologen oft unterschätzt. Die Exploration kindlicher Zeugen durch Eltern und Dritte sowie die Befragung durch „mitfühlende“ Dritte verfälschen in aller Regel das Beobachtungsbild des Zeugen. Das braucht gar nicht so weit zu gehen, dass z.B. eine Mutter ihrer Tochter böswillig „eintrichtert“, der geschiedene Vater habe sich an dem Mädchen sexuell vergangen. Solchen Bekundungen ist noch beizukommen. Oft wirken sie auswendig gelernt, der Zeuge sucht während seiner Vernehmung Hilfe bei Dritten. Die unbewusste Suggerierung einer Aussage ist viel gefährlicher, weil sie schwieriger aufzuklären ist. Aus diesen Gründen ist es unerlässlich, die Entstehungsgeschichte der Aussage des kindlichen Zeugen in allen Einzelheiten aufzuklären. Darauf muss der Verteidiger nachhaltig hinwirken, insbesondere auch durch Beweisanregungen und Beweisanträge auf Vernehmung der Personen, die mit dem Kind früher über die den Gegenstand des Verfahrens bildenden Vorgänge gesprochen haben, sowie die Beiziehung etwaiger Unterlagen über solche Gespräche, insbesondere Tonbänder und Videoaufnahmen. 1 Vgl. nur Peters, Untersuchungen zum Fehlurteil, S. 23. 2 Vgl. Dahs, NJW 1996, 178 m.N.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 613
Diese Aufklärung wird inzwischen auch von der höchstrichterlichen Rechtsprechung gefordert1. In diesem Zusammenhang muss der Verteidiger bedenken, dass die Vor- 611 stellungswelt von Kindern und Jugendlichen durch Einflüsse ihrer Umwelt bestimmt wird. Schlafzimmerbeobachtungen, Rauschmittel- und Alkoholgenuss, ungeeignete Filme, Internet und einschlägiger Lesestoff, nicht zuletzt der pseudogeschlechtliche Umgang mit Spielgefährten führen zu Wunschvorstellungen und Phantasien, die allzu leicht im konkreten Falle als Belastung eines anderen vorgebracht werden. Freilich ist demgegenüber zu berücksichtigen, dass jugendliche Zeuginnen erotische Erlebnisse oft verschweigen oder in der (wenn auch eingeschränkten) Öffentlichkeit einer Hauptverhandlung nur zurückhaltend schildern, sei es aus Scham, aus Angst oder aus falsch verstandener Fairness. Dabei werden sie vielfach von ihrer Umwelt unterstützt. Sie verdrängen deshalb ein gravierendes Erlebnis. Für die Richtigkeit einer Aussage kann auch sprechen, dass ein Kind einen sexuellen Vorgang lebensnah schildert, dessen Erscheinungsform ihm bislang nicht bekannt war (z.B. das Verhalten eines Exhibitionisten). Keinesfalls lässt sich sagen, dass Kinder oder Jugendliche von vornherein unglaubhaft sind. Die Gefahr besteht aber in den Fällen, in denen Kinder miteinander gesprochen haben und so bewusst oder unbewusst zu einem Aussagekomplott gekommen sind. „Wenn ein Kind etwas sagt, so kannst du es ihm glauben. Wenn aber mehrere dasselbe sagen, sei voller Misstrauen!“2. An diesen bei der Aussagebewertung zu beachtenden Bedenklichkeiten 612 vermag auch die gesetzliche Lage (§ 247a StPO), wonach die Vernehmung eines Kindes allein durch den Vorsitzenden erfolgt, nichts zu ändern. Im Gegenteil kann es Pflicht des Verteidigers sein, etwaige tendenziöse oder auch nur ungeschickte Fragestellungen und Vernehmungsmethoden mit deutlichen Worten anzuprangern und ihre negativen Folgen aufzuzeigen. Vornehme Zurückhaltung gegenüber Defiziten des Vorsitzenden kann sogar zum Verrat an der Sache des Klienten werden. Selbstverständlich ist aber auch insoweit die Form zu wahren, ohne in der Sache nachzugeben. Allgemein wird es immer darauf ankommen, die Persönlichkeit des Zeu- 613 gen in seiner Entwicklungsstufe und Umwelt zu erforschen und die Umstände der Erstbefragung in allen Einzelheiten festzustellen. Zu diesem Zweck muss der Verteidiger notfalls frühzeitig beantragen, Eltern, Erzieher und die „Erstbefrager“ zu vernehmen, ggf. auch das zuständige Jugendamt einzuschalten. Der Lehrer kann geeigneter Zeuge über die Glaubwürdigkeit des Kindes sein3. Manche Schwierigkeiten werden noch dadurch verstärkt, dass sich der Verteidiger mindestens mit einem, 1 BGH v. 16.5.1995 – 4 StR 237/95, NJW 1996, 207 (208); BGH v. 17.2.1994 – 1 StR 723/93, StV 1994, 227. 2 Karl Kraus nach Seibert, MDR 1968, 880. 3 BGH v. 3.5.1967 – 2 StR 159/67, GA 1967, 343.
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
manchmal mit mehreren Sachverständigen auseinandersetzen muss. Er steht nicht selten mitten im Streit der Fachmeinungen. Dazu muss er den Stand der Rechtsprechung kennen. Es ist anerkannt, dass in Verfahren wegen Sexualdelikten jedenfalls dann ein Glaubwürdigkeitsgutachten einzuholen ist, wenn die Aussage eines jugendlichen oder kindlichen Zeugen wie meist die „Hauptgrundlage der Verurteilung“ bildet und der Sachverhalt Besonderheiten aufweist1. 614
Problematisch ist die Auswahl des Sachverständigen, auf die der Verteidiger ggf. Einfluss nehmen muss (vgl. Nr. 70 RiStBV). Die medizinischen Fachgebiete, mit denen sich der Verteidiger zu befassen hat (Rz. 226), überschneiden sich. „Die Psychologie hat es mit geistig gesunden Menschen zu tun, die Psychiatrie mit kranken“2. In den Grenzgebieten wurzelt der Streit der Fachleute. Es geschieht immer wieder, dass der Gutachter des einen Gebietes Kenntnisse und Erfahrungen des anderen Faches für sich in Anspruch nimmt und sein Ergebnis als zweifelsfrei bezeichnet. Hier muss der Verteidiger misstrauisch darüber wachen, dass der „richtige“ Sachverständige hinzugezogen wird. Er darf sich durch die Sicherheit nicht verblüffen lassen, mit der Sachverständige ihre Gutachten abzugeben pflegen (Rz. 227 ff., 621). Dabei ist auch eine andere Erfahrung zu berücksichtigen: Die Sicht, aus der ein Sachverständiger urteilt, hängt von seinem Fach und damit von seinem Erfahrungsgut ab. So neigt der Psychologe vielleicht dazu, die geistige Gesundheit eines Kindes dem Gutachten zugrunde zu legen, während der Psychiater durch neurologische Untersuchungen vorausgegangene Schädigungen feststellen kann und möglicherweise tatsächlich feststellt. Bestehen auch nur die geringsten Zweifel, so hat der Verteidiger die Zuziehung eines Sachverständigen des anderen Fachgebietes zu beantragen. Hierzu ist das Gericht aufgrund der Aufklärungspflicht grundsätzlich verpflichtet3.
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Damit aber nicht genug: Der Verteidiger muss auch darauf achten, dass der psychologische Sachverständige die Frage der Glaubwürdigkeit nicht ausschließlich nach der Aussage beurteilt, nämlich dem Aussageverhalten, der Entwicklung und dem Inhalt der Aussage und der Motivlage4. Der Sachverständige hat auch der Persönlichkeit und der Umwelt des Zeugen den nötigen Raum zu geben. Freilich setzt sich der Verteidiger damit häufig in Gegensatz zu einem Sachverständigen, der eine andere 1 BGH v. 30.7.2003 – 2 StR 246/03, StV 2004, 241; BGH v. 14.12.1954 – 5 StR 416/54, BGHSt. 7, 82; Nr. 19, 222 RiStBV. 2 Zur Abgrenzung der psychiatrischen und psychologischen Begutachtung Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 73 StPO Rz. 7 ff.; BGH v. 5.9.1996 – 1 StR 416/96, StV 1997, 61 m.N. 3 BGH v. 7.2.1995 – 5 StR 728/94, StV 1996, 4. 4 Dazu BGH v. 30.7.1999 – 1 StR 618/98, NStZ 2000, 100; Boetticher, Das Urteil über die Einführung von Mindeststandards in aussagepsychologischen Gutachten und seine Wirkungen, NJW-Sonderheft für G. Schäfer, 2002, 8 m.N.; Steller, Aussagepsychologie und Strafjustiz: Kooperation ohne Trauma, NJW-Sonderheft für G. Schäfer, 2002, 69.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 615
Meinung vertritt. Das darf ihn aber nicht davon abhalten, auf dem Gutachten eines anderen Psychologen oder Psychiaters zu bestehen. Der Verteidiger muss den Schutz des betroffenen Zeugen zwar im Auge behalten; deshalb darf er einen Jugendlichen oder ein Kind nicht unnütz einer ständig wiederholten Befragung zuführen. Der Konflikt ist oft nur schwer zu lösen. Die Rücksicht auf einen Zeugen darf aber keinesfalls dazu führen, die Verteidigungsaufgabe zu vernachlässigen. Daher ist ein weiteres Gutachten vor allem zu beantragen, wenn das schriftliche Gutachten die Grundlage für die Anklageerhebung und die Eröffnung des Verfahrens abgegeben hat und dadurch den Wert der begutachteten Aussage ein für alle Mal zu fixieren scheint. Bei der Exploration steht dem Sachverständigen fast immer nur das eine von ihm zu beurteilende Kind als Beweismittel zur Verfügung. Das Frage-und-Antwort-Spiel wird manchmal nur recht pauschal oder gar in einem zusammenfassenden Bericht festgehalten und entzieht sich einer Prüfung. Der Sachverständige kann dadurch das Kind und auch sich selbst festlegen. Auf diese Weise fällt die Entscheidung über den Wert einer kindlichen Bekundung nicht in der Hauptverhandlung, sondern im Vorverfahren. Dabei werden die Grenzen zwischen richterlicher und gutachterlicher Aufgabe oft nicht eingehalten. Es kommt vor, dass ein Sachverständiger nur im Wege einer sog. „therapeutischen Befragung“ des Probanden Erkenntnisse zur Sache gewonnen hat und diese dem Gericht vermitteln will. Das ist nicht zulässig. Zeugen, die bei einer „normalen“ Befragung versagen, fehlt die Aussagetüchtigkeit. Das Gericht darf die Vernehmung nicht dem Sachverständigen überlassen und dann dessen Erkenntnisse, die es selbst in foro nicht nachvollziehen kann, übernehmen. Der Verteidiger muss darauf bestehen, dass der Richter die Befragung und die Beweiswürdigung vornimmt, während der Sachverständige ihm lediglich die fachlichen Unterlagen zur Verfügung stellen darf (Rz. 596), also: Wesenszüge und Verhalten der jugendlichen oder kindlichen Zeugen, Erklärung der Aussage nach Inhalt und Entwicklung1. Deshalb muss sich der Verteidiger auch dagegen wehren, dass ein Sachverständiger eine Aussage für glaubwürdig oder wahr erklärt. Dieses Urteil steht ihm nicht zu. cc) Vernehmung der Sachverständigen Literatur: Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl. 2007; Boerner, Das psychologische Gutachten, 8. Aufl. 2010; Boetticher, Das Urteil über die Einführung von Mindeststandards in aussagepsychologischen Gutachten und seine Wirkungen, NJW-Sonderheft für G. Schäfer, 2002, 8 m.N.; Bussiek/Ehrmann, Buchführung, 9. Aufl. 2010; Dahs, Der Standpunkt des Verteidigers zum Sachbeweis, BKA-Vortragsreihe, Bd. 24, 1977, S. 19; Dahs, Die Ausweitung des Widerspruchserfordernisses, StraFo 1998, 253; Detter, Der von der Verteidigung geladene Sachverständige, FS Salger (1995), S. 231; Detter, Der Sachverständige im Strafverfahren – eine Bestandsaufnahme, NStZ 1998, 57; Driest, Zur Ablehnung eines Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit und zur Beteiligung des Beschuldigten bei der Auswahl des Sachverständigen, StV 1990, 390; Düring, Zur Un1 BGH v. 23.2.1966 – 2 StR 15/66, BGHSt. 21, 62.
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
tersuchung durch Sachverständige bei Sexualstraftaten an Kindern, StV 1997, 456; Fezer, Die Folgen der Sachverständigenablehnung für die Verwertung seiner Wahrnehmungen, JR 1990, 397; Fiedler, Persönlichkeitsstörungen, 6. Aufl. 2007; Forster/Ropohl, Rechtsmedizin, 5. Aufl. 1989; Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozess, 1960, S. 59 ff.; D. Krause, Der „Gehilfe“ der Verteidigung und sein Schweigerecht, StraFo 1998, 1; Krekeler, Strafverteidigung mit einem und gegen einen Sachverständigen, StraFo 1996, 5; Krekeler/Schonard, Der Berufshelfer im Sinne des § 53a StPO, wistra 1998, 137; Meyer-Goßner/Appl, Die Ausweitung des Widerspruchserfordernisses, StraFo 1998, 258; E. Müller, Über Probleme des Sachverständigenbeweises im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren, FS Lüke (1997), S. 493; Neuhaus, Kriminaltechnik für den Strafverteidiger – Eine Einführung in die Grundlagen, StraFo 2001, 406; Nix, Ablehnung eines polizeilichen Sachverständigen, Kriminalistik 1994, 83; Oster, Das Zeugnisverweigerungsrecht des Sachverständigen als Berufshelfer der Verteidigung, StraFo 1996, 92; Peters, Untersuchungen zum Fehlurteil im Strafprozess, 1967, S. 21 ff.; Sarstedt, Auswahl und Leitung der Sachverständigen im Strafprozess, NJW 1968, 177; Steller, Aussagepsychologie und Strafjustiz: Kooperation ohne Trauma, NJW-Sonderheft für G. Schäfer, 2002, 69; Thielmann, Von promovierten habilitierten oberflächlichen Sachverständigen, StraFo 2004, 5; Tondorf, Der Sachverständige, ein „Gehilfe“ auch des Strafverteidigers?, StV 1997, 493; Tondorf/Tondorf, Psychologische und psychiatrische Sachverständige im Strafverfahren, 3. Aufl. 2011; Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, 12. Aufl. 2007; Witting, Uneingeschränkte Exploration durch privaten Sachverständigen während der Untersuchungshaft, StV 1998, 174. Weitere Literaturangaben vor Rz. 221.
Die nachstehende Darstellung der Sachverständigenvernehmung in der Hauptverhandlung ist im Zusammenhang mit dem allgemeinen Kapitel „Verteidiger und Sachverständiger“ (Rz. 221 ff.) zu verstehen. Dort sind die allgemeine Stellung des Sachverständigen in ihren verfahrensmäßigen Grundlagen sowie das Recht der Ablehnung behandelt. 616
Die Anhörung eines oder mehrerer Sachverständiger kann ungleich wichtiger sein als die Zeugenvernehmung. Gutachtliche Äußerungen der Fachleute entscheiden mehr denn je den Prozess. Andererseits neigen Richter nicht selten dazu, die eigene Sachkunde in diesem Bereich zu überschätzen. Hier liegt eine schwierige, jedoch besonders wichtige Aufgabe des Verteidigers. Einerseits muss er Sachverständige in das Verfahren einführen, falls eine beweiserhebliche Tatsache nicht ohne besonderes Fachwissen festgestellt werden kann (durch Beweisantrag: Rz. 648 ff., 682). Anderseits hat er energisch dafür einzutreten, dass der Sachverständige seinen Auftrag nicht überschreitet. Er darf sich keine richterliche Aufgabe anmaßen und deshalb nicht in die richterliche Wertung und Beweiswürdigung eingreifen1. In der Praxis ziehen Gutachter vielfach tatsächliche und juristische Folgerungen, z.B. zur Anwendung des § 20 StGB. Der Verteidiger muss dafür sorgen, dass der Richter diese und ähnliche Wertungen nicht unbesehen übernimmt. Der Sachverständige ist „Gehilfe des Richters“. Kraft seines Fachwissens hat er die tatsächliche Grundlage, 1 BGH v. 23.11.1951 – 2 StR 491/51, BGHSt. 2, 16.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
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den Befund festzustellen, der zur Beantwortung der Beweisfrage notwendig ist1. Der Sachverständige hat lediglich die fehlende oder nicht ausreichende Sachkunde des Richters zu ersetzen oder zu ergänzen. Diese Abgrenzung ist besonders bedeutsam bei Aussagen von Kindern, Jugendlichen (Rz. 608) und Zeugen mit Erkrankungen2. Der Verteidiger kann dazu beitragen, dass solche Schwierigkeiten gar nicht erst auftreten. Wie die Erfahrung beweist, werden bereits die Aufträge an Sachverständige nicht immer präzise genug formuliert. Der Verteidiger muss durch Anregungen oder Anträge auf sachgerechte Fragestellung hinwirken. Bestenfalls geschieht dies, noch bevor der Sachverständige mit der Bearbeitung der Fragestellung begonnen hat. Die Pflicht zur Leitung des Sachverständigen (§ 78 StPO) wird von den 617 Gerichten nach den Erfahrungen der Praxis allerdings stark vernachlässigt bzw. gar nicht wahrgenommen. Es ist aber eine verbreitete Unsitte, dem Sachverständigen kurzerhand „die Akten“ zu überlassen mit einem knapp gefassten Gutachtenauftrag, z.B. zur Überschuldung des Unternehmens, zur Betriebssicherheit einer technischen Anlage, zur Glaubwürdigkeit des Zeugen oder gar zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten Stellung zu nehmen. Nur in Ausnahmefällen werden dem Sachverständigen die Anknüpfungstatsachen, insbesondere auch aus der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung vorgegeben, die er dem Gutachten zugrunde legen soll; ebenso selten werden dem Gutachter Sachverhaltsalternativen zur Prüfung vorgegeben. Diese Verfahrensweise entspricht nicht dem Gesetz3. Es wirkt sich häufig zum Nachteil des Angeklagten aus, wenn der Sachverständige nach seinem Ermessen Aussagen, Urkunden und andere Beweisergebnisse auswählt, auf denen er seine Begutachtung aufbaut. Nicht selten geraten auf diese prozessordnungswidrige Weise sogar Sachverhalte und andere Erkenntnisse in das Gutachten, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren4. Beanstandungen der Verteidigung werden häufig vom Gericht mit der Bemerkung quittiert, es obliege dem Gutachter, die erforderlichen Befundtatsachen aufgrund seiner besonderen Sachkunde selbst zu erheben. Natürlich gibt es Fälle, in denen eine so hoch spezialisierte Materie zu begutachten ist, dass nur der Sachverständige aufgrund seines besonderen Expertenwissens in der Lage ist, die dafür erforderlichen Tatsachen und Beweisergebnisse auszuwählen5. Darauf kann sich aber z.B. eine 1 BGH v. 7.6.1956 – 3 StR 136/56, BGHSt. 9, 292. 2 Vgl. BGH v. 30.7.1999 – 1 StR 618/98, NStZ 2000, 100; BGH v. 29.10.1996 – 4 StR 508/96, StV 1997, 60; Boetticher, Das Urteil über die Einführung von Mindeststandards in aussagepsychologischen Gutachten und seine Wirkungen, NJWSonderheft für G. Schäfer, 2002, 8 m.N. 3 BGH v. 20.3.1990 – 1 StR 693/89, BGHSt. 36, 384 (386); BGH v. 26.10.1962 – 4 StR 318/62, BGHSt. 18, 107. 4 BGH v. 13.2.1959 – 4 StR 470/58, BGHSt. 13, 1; BGH v. 18.9.1959 – 4 StR 208/59, BGHSt. 13, 250; BGH v. 26.10.1962 – 4 StR 318/62, BGHSt. 18, 107. 5 Dazu BGH v. 29.9.1994 – 4 StR 494/94, BGHR StPO § 78 Leitung 1; Senge in KK, § 78 StPO Rz. 1.
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Rz. 618
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
insoweit ebenfalls sachkundige Wirtschaftsstrafkammer nicht berufen, wenn es um die (erkennbare) Insolvenzreife eines Unternehmens o.Ä. geht, ebenso wenig eine Jugendstrafkammer, die aufgrund besonderer Fallumstände nach durchgeführter Beweisaufnahme ein Glaubwürdigkeitsgutachten in Auftrag gibt. Durch dieses Vorgehen wird der Verteidigung die Möglichkeit abgeschnitten, ihrerseits darauf hinzuwirken, dass dem Gutachter weitere Tatsachen und Beweisergebnisse ergänzend oder alternativ als Anknüpfungstatsachen vorgegeben werden; sie kann deshalb ihre Aufgabe, durch Anträge und Erklärungen zugunsten des Mandanten zu intervenieren, praktisch nicht wahrnehmen. Der Verteidiger muss in solchen Fällen den Versuch unternehmen, das Gericht durch Anträge zur Erfüllung seiner Leitungspflicht anzuhalten. Dringt er damit nicht durch, so ist die Geltendmachung eines Verwertungsverbots im Hinblick auf das Gutachten in Erwägung zu ziehen, wobei für den insoweit zu erhebenden Widerspruch gegen den Vortrag des Gutachtens und die Befragung des Sachverständigen „der späteste Zeitpunkt“ des § 257 StPO zu beachten ist1. 618
Die häufigen Kontroversen mit den Sachverständigen in der Hauptverhandlung haben oft die Ursache darin, dass Juristen und Naturwissenschaftler in verschiedenen Sprachen reden (Rz. 221). Insbesondere verstehen sie unter „Beweis“ etwas Verschiedenes. Medizinische Diagnose und prozessualer Tat- und Schuldbeweis sind grundverschiedene Dinge. Das liegt an der Divergenz ihrer Maßstäbe. Die Juristen haben im Prozess dafür zu sorgen, dass kein Unschuldiger verurteilt wird. Die Unerträglichkeit eines Fehlurteils zwingt sie dazu, auch entferntliegende Möglichkeiten zugunsten des Beschuldigten zu berücksichtigen. Demgegenüber praktiziert z.B. der Arzt nach Maßgabe der größten Wahrscheinlichkeit. Er wird einen lebensgefährlich Erkrankten operieren, wenn er einen durchgebrochenen Blinddarm für wahrscheinlich hält. Das wird auch dann geschehen, wenn andere Ursachen des Zustandes nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich sind. Dem Arzt bleibt keine andere Wahl, wenn er nicht Gefahr laufen will, durch Untätigkeit den Tod herbeizuführen, während der Eingriff als solcher ungefährlich ist. Der Verteidiger muss sehr aufpassen, dass von daher keine aus den Begriffsvorstellungen des Sachverständigen stammenden prozessual unzulänglichen Schlussfolgerungen hingenommen werden. Anderseits muss er aber auch beachten, dass die nur abstrakt theoretische Möglichkeit eines Andersseins die richterliche Überzeugung nicht auszuschließen braucht, wenn sie so entfernt liegt, dass sie keinen „vernünftigen Zweifel“ bewirkt. Der Verteidiger ist also z.B. noch nicht am Ziel, wenn er den Sachverständigen nur so weit bringt, dass dieser die naturwissenschaftliche Möglichkeit einer bestimmten theoretischen Annahme nicht absolut ausschließen kann. So kann ein Gericht aufgrund eines Gutachtens die Kausalität zwischen einer Verletzung und einer tödlich verlaufe1 BGH v. 26.10.1962 – 4 StR 318/62, NJW 1963, 401; BGH, NJW 1951, 771; KG v. 16.9.1993 – (4) 1 Ss 86/93, StV 1993, 628.
404
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 619
nen Entzündung als bewiesen auch dann ansehen, wenn ein bedächtiger oder eingeschüchterter Sachverständiger dem Verteidiger schließlich zugegeben hat, die Entzündung aus einer anderen – konkret nicht auszumachenden – Ursache sei nicht auszuschließen. Im Übrigen ist darauf zu achten, dass der Sachverständige nicht unver- 619 sehens zum Zeugen wird, indem das Gericht Umstände verwertet, die nur der Sachverständige in der Hauptverhandlung vorbringt. Es wird nicht immer scharf unterschieden zwischen Befundtatsachen und Zusatztatsachen. Deshalb muss der Verteidiger schriftliche und mündliche Äußerungen jedes Sachverständigen kritisch durchleuchten. In der Regel enthalten sie nicht nur die Umstände, die der Sachverständige aufgrund seiner Sachkunde festgestellt hat (Befundtatsachen). Ihre Verwertung ohne besondere Beweiserhebung ist unbedenklich. Die Gutachter behandeln aber auch Sachverhalte und erheben darüber Beweise, deren Feststellung nur dem Gericht möglich ist und nur diesem zusteht (Zusatz[Anklage-]tatsachen). Ihrer Verwertung durch den Sachverständigen hat der Verteidiger zu widersprechen, solange sie nicht ordnungsgemäß zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden sind (§ 80 StPO)1. Das kann z.B. dadurch geschehen, dass der Richter die vom Sachverständigen benutzten Akten beizieht, die von ihm angehörten Personen oder ihn selbst als Zeugen vernimmt2. In diesem Zusammenhang ergeben sich häufig Schwierigkeiten, wenn der medizinische Sachverständige dritte Personen, insbesondere Verwandte des Untersuchten, über Umstände befragt, die für die Begutachtung wesentlich sind. Vielfach handelt es sich um belastende Tatsachen. Sie dürfen auch dann nicht ohne Vernehmung des Sachverständigen als Zeugen herangezogen werden, wenn sie nicht Zusatztatsachen im eigentlichen Sinne sind. Das gilt vor allem für Umstände des Tathergangs, die Dritte dem Sachverständigen mitgeteilt haben. Will etwa das Gericht die Darstellung eines Zeugen für glaubhaft halten, weil er sie auch dem Sachverständigen gegenüber gegeben hat („Aussagekonstanz“, Rz. 606), so muss es den Sachverständigen dazu als Zeugen hören3. Hier muss der Verteidiger auch daran denken, dass der Sachverständige Dritte erst befragen darf, nachdem sie über ein etwaiges Zeugnisverweigerungsrecht richterlich, staatsanwaltschaftlich oder polizeilich belehrt worden sind4. Das wird in der täglichen Praxis zuweilen übersehen und führt dazu, dass Angehörige arglos belastende Umstände ausplaudern, vor allem einem Arzt gegenüber, von dem sie meinen, er stehe auch in diesem Falle unter ärztlicher Schweigepflicht. Der Sachverständige darf über solche Tatsachen nicht als Zeuge vernommen werden, falls ihre Verwertung nach 1 BGH v. 16.2.1965 – 3 StR 50/64, BGHSt. 20, 164 (166); BGH v. 26.10.1962 – 4 StR 318/62, BGHSt. 18, 107; BGH v. 13.2.1959 – 4 StR 470/58, BGHSt. 13, 1. 2 BGH, NJW 1985, 135; BGH v. 13.2.1959 – 4 StR 470/58, BGHSt. 13, 1. 3 BGH v. 18.9.1959 – 4 StR 208/59, BGHSt. 13, 250 = NJW 1959, 2222. 4 BGH v. 23.8.1995 – 3 StR 163/95, NStZ 1996, 95; BGH v. 16.4.1991 – 5 StR 158/91, NStZ 1991, 398; Diemer in KK, § 252 StPO Rz. 18 f.
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Rz. 620
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
§ 252 StPO verboten ist (Rz. 576). Freilich soll das Gericht solche Umstände verwenden können, wenn es sie unabhängig von den Angaben des Sachverständigen als festgestellt ansieht. Dann soll auch der Sachverständige diese Tatsachen seinem Gutachten zugrunde legen dürfen1. In der Hauptverhandlung ist es meist schwierig zu erkennen, ob das Gericht den schmalen Grat berücksichtigt, der die unzulässige von der eben noch statthaften Verwertung solcher Umstände trennt. Um die Einstellung des Gerichts zu erfahren, kann der Verteidiger der Verwendung bestimmter Tatsachen durch den Sachverständigen widersprechen. Er muss dann beantragen, der Sachverständige möge angehalten werden, sein Gutachten so zu erstatten, als ob diese Tatsachen ihm nicht bekannt wären. In diesen Fällen ist es ratsam, den Antrag wörtlich ins Protokoll aufnehmen zu lassen (Rz. 542, 702). 620
Wird ein Sachverständiger zulässigerweise als Zeuge vernommen, so hat der Verteidiger darauf zu achten, dass kein verstecktes Gutachten erstattet wird. Der Sachverständige darf als Zeuge nur Tatsachen bekunden; Schlussfolgerungen sind ihm nicht gestattet (Rz. 620 a.E.). Dies gilt auch, wenn er als sachverständiger Zeuge vernommen wird (Rz. 620). Es leuchtet ein, dass hierbei die bloße Wiedergabe von Tatsachen und deren Bewertung ineinanderfließen. Gleichwohl muss der Verteidiger die Beweispersonen anhalten, beide Bereiche zu trennen, auch wenn die Gerichtspraxis die Grenzen verwischt2. Der Verteidiger hat darauf zu bestehen, dass der Sachverständige sein Fragerecht (§ 80 Abs. 2 StPO) ordnungsgemäß ausübt. Unzulässigen Fragen ist zu widersprechen und ggf. ein Gerichtsbeschluss herbeizuführen (§ 242 StPO). Auch darf der Verteidiger nicht dulden, dass der Mandant mit scheinbar harmlosen Fragen überrascht wird. Der Angeklagte kann sich auch gegenüber dem Sachverständigen auf sein Recht zum Schweigen berufen. Diese Maßnahme kommt aber nur in Betracht, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Richter aus der Weigerung ungünstige Schlüsse zieht (Rz. 494).
621
Der Verteidiger hat den Sachverständigen insbesondere bei der mündlichen Erstattung des Gutachtens zu kontrollieren. Zu dieser Prüfung und der anschließenden Befragung ist der Verteidiger nur in der Lage, wenn er sich eingehend mit dem Fachgebiet des Sachverständigen befasst hat (Rz. 226). Sonst kann er weder sachgerecht fragen noch Fehler aufdecken. Deshalb muss der Verteidiger Stand und Fortschritt der jeweiligen Wissenschaft kennen. Vor allem darf sich der Verteidiger durch die Sicherheit nicht täuschen lassen, mit der Sachverständige ihre Gutachten regelmäßig vortragen. Er muss kritisch prüfen, ob der Sachverständige die behaupteten Fachkenntnisse und Erfahrungen tatsächlich besitzt. Er muss auch feststellen können, ob die Schlussfolgerungen des Sachverständigen wissenschaftlich richtig und vertretbar sind oder ob der Gut1 BGH v. 26.10.1962 – 4 StR 318/62, BGHSt. 18, 107. 2 OLG Hamm v. 25.10.1968 – 3 ss 1054/68, NJW 1969, 567.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 622
achter eine singuläre und nicht allgemein anerkannte wissenschaftliche Ansicht vertritt. Von besonderer Bedeutung ist die Prüfung, ob der Sachverständige etwa auf die zu untersuchende Frage „speziell spezialisiert“ ist: Geht es z.B. darum, ob ein Urologe während einer kurzen Behandlung eines Patienten mit einem schweren urologischen Leiden dessen Diabetes-Erkrankung erkennen konnte und musste, so ist ein auf die Zuckerkrankheit spezialisierter Internist kein geeigneter Gutachter. In Verfahren gegen Ärzte empfiehlt es sich überhaupt, mit Hilfe des Mandanten die spezielle fachliche Ausrichtung des Gutachters und seine Veröffentlichungen zu ermitteln. Auch darf der Verteidiger nicht hinnehmen, dass der medizinische Sachverständige Kenntnisse und Erfahrungen eines anderen Gebietes in Anspruch nimmt und sie als gesicherte Grundlage des Gutachtens hinstellt (s. z.B. Verhältnis des Psychiaters zum Psychologen Rz. 614). Besonders kritisch hat der Verteidiger die Gutachten der ständig für Poli- 622 zei, Staatsanwaltschaft und Gericht tätigen Fachleute unter die Lupe zu nehmen, insbesondere der „Gerichtsärzte“. Obwohl sie nicht auf allen Gebieten gleichmäßig erfahren sein können, trauen sie sich die Beurteilung vieler Sachfragen zu (Rz. 227, 686), oft nach nur kurzer Untersuchung, was nicht ganz selten zu Wiederaufnahmeverfahren führt. Überhaupt ist es eine „falsche Selbstverständlichkeit“, dass der Gutachter der Staatsanwaltschaft auch der gerichtliche Sachverständige sein müsse1. Wichtig sind auch die kriminaltechnischen Gutachter, die in der Regel Angehörige des Bundeskriminalamtes oder der Landeskriminalämter sind. Ihre Bedeutung insbesondere beim Sachbeweis im Strafprozess ist sehr groß2. Sie haben für ihr spezielles Fachgebiet oft eine überragende Kompetenz und Erfahrung. Das wird auch der Verteidiger in vielen Fällen anerkennen müssen. So kommen sie für einen Beweisantrag der Verteidigung auf Einholung eines „Obergutachtens“ in Betracht, weil sie über überlegene Forschungsmittel verfügen (Rz. 684) und bei den Gerichten viel Anerkennung finden. Die Praxis lehrt, dass in nicht wenigen Fällen Gutachten dieser Art entscheidend zur Entlastung beigetragen haben. Auf der anderen Seite kommt es aber auch vor, dass – gerade in kleineren Sachen – Gutachten nicht mit der gebotenen äußersten Sorgfalt und unter Ausschöpfung des gesamten einschlägigen Tatsachenmaterials und des neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstandes (Rz. 227) erarbeitet worden sind. Diese sachlichen Grundlagen der Begutachtung muss der Verteidiger kritisch hinterfragen. Ist der Gutachter bereits von den Ermittlungsbehörden herangezogen worden, so muss geprüft werden, ob er sich streng an seine wissenschaftliche Aufgabenstellung gehalten oder sich in die vorhandene Ermittlungsarbeit eingeschaltet hat; im letzteren
1 Arndt, NJW 1962, 26; Eb. Schmidt, JR 1961, 585. 2 Dazu Neuhaus, StraFo 2001, 406; Dahs, BKA-Vortragsreihe, Bd. 23, S. 19.
407
Rz. 623
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Falle wird er untauglich1 und kann wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden (Rz. 229 ff.). 623
Manches Gutachten kann der Verteidiger durch eine genaue Analyse seines Textes zu Fall bringen. Die Sachverständigen pflegen ihrer Beurteilung im schriftlichen Gutachten den Akteninhalt zugrunde zu legen. Dabei verwerten sie auch Vorgänge, die nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden. Das ist unzulässig und entwertet das Gutachten (Rz. 617).
624
Genaue Prüfung ist auch anzuraten, wenn der Gutachter in der Hauptverhandlung nicht persönlich anwesend ist, etwa wenn der Direktor der medizinischen Klinik seinen Assistenten schickt2. Der Verteidiger muss sich dafür einsetzen, dass der benannte Sachverständige selbst erscheint. Hierbei ist nicht zu verkennen, dass die Kapazitäten eines Faches der Gutachterpflicht nicht stets persönlich nachkommen können. Das befreit aber den Verteidiger nicht davon, im Einzelfall zu prüfen, ob der „Ersatzmann“ die fachlichen Voraussetzungen, insbesondere Erfahrungen und Spezialkenntnisse auf dem betreffenden Gebiet mitbringt. Andernfalls hat der Verteidiger auf Anwesenheit des bestellten Sachverständigen zu bestehen. Denn die Auswahl des geeigneten Sachverständigen ist Sache des Gerichts: sie darf nicht vom Sachverständigen getroffen werden. Aus diesem Grund ist auch zu prüfen, ob das vorausgegangene schriftliche Gutachten von dem benannten Sachverständigen mindestens unter seiner Verantwortung erstellt wurde3.
625
Einwendungen gegen Form und Inhalt der Gutachtertätigkeit darf der Verteidiger auch dann nicht unterdrücken, wenn er scharfe Auseinandersetzungen mit dem Sachverständigen erwarten muss. Es gibt Sachverständige, die jeden sachlichen Einwand als persönliche Diffamierung auffassen und dementsprechend reagieren. Sie sind auf ihren Ruf bedacht und weisen jede Kritik zurück. Allerdings darf der Verteidiger einen Sachverständigen nicht unnötig herabsetzen (Rz. 227 f.), im Konfliktfalle gehen jedoch regelmäßig die Interessen des Mandanten vor. Kaum einmal wird man einen Sachverständigen zu dem freimütigen Bekenntnis eines Irrtums veranlassen können. Im Allgemeinen genügt es jedoch, Zweifel zu wecken. Der Verteidiger darf deshalb berechtigte Einwendungen gegen das Fachwissen des Sachverständigen und die Richtigkeit des Gutachtens nicht für sich behalten, um den Sachverständigen zu schonen. Mitunter sind Sachverständige zur Genauigkeit und Objektivität nur dadurch anzuhalten, dass jedes prozessual zulässige Mittel aus-
1 BGH v. 11.1.1963 – 3 StR 52/62, BGHSt. 18, 214 (215); Senge in KK, § 74 StPO Rz. 2. 2 Gegen jede Delegation Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 73 StPO Rz. 10 m.N.; BGH bei Kusch, NStZ 1993, 31. 3 BGH v. 30.10.1968 – 4 StR 281/68, BGHSt. 22, 268; OLG Frankfurt, MDR 1993, 849 m. Anm. Müller.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 626
geschöpft wird. Dazu kann – ausnahmsweise – auch der Antrag gehören, wesentliche Teile des Gutachtens wörtlich ins Protokoll aufzunehmen und zu verlesen (Rz. 709). Auf diese Weise kann zwar nicht die gesamte mündliche Äußerung des Sachverständigen Wort für Wort in die Niederschrift übernommen werden, es können aber ggf. wesentliche Teile festgehalten werden. Man erreicht dadurch, dass der Sachverständige vorsichtig wird und sich mindestens seine Formulierungen genau überlegt. Die präzise Fixierung der Sachverständigenerklärung – notfalls durch für die Beteiligten erkennbare eigene (am besten: stenografische) Mitschrift – erleichtert unter Umständen deren Widerlegung. Der Verteidiger kann die Vereidigung des Sachverständigen nicht erzwingen. Sie erfolgt nur nach dem Ermessen des Gerichts, auf das er freilich durch (begründeten) Antrag oder nach § 238 Abs. 2 StPO ggf. Einfluss nehmen kann. Erfahrungsgemäß werden Sachverständige vorsichtig, wenn ein Antrag auf ihre Vereidigung angekündigt und notfalls gestellt wird. Dabei ist zu bedenken: Der Eid bezieht sich auch auf die Befundtatsachen (Rz. 619), die der Sachverständige in die Hauptverhandlung einführt. Die Sachverständigen sind die Vereidigung nicht gewohnt. Ihre Nichtvereidigung ist die Regel. Beantragt der Verteidiger die Vereidigung, so werden die Sachverständigen zur Genauigkeit angehalten. Nur durch den Eid wird die fahrlässig falsche Gutachtenerstattung auch strafbar; nur auf diese Weise kann der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 2 StPO entstehen. Man macht im Übrigen dabei zuweilen die Erfahrung, dass bei beantragter oder durchgeführter Vereidigung eines Sachverständigen etwa nachfolgende Sachverständige zurückhaltender werden und sogar von ihrem schriftlichen Gutachten abweichen. Zu den Maßnahmen, die der Verteidiger unter Umständen ergreifen muss, gehört die Benennung eines anderen Sachverständigen im Wege des Beweisantrags (Rz. 648 ff., 676 ff., 682) evtl. nach Selbstladung durch den Verteidiger (§ 245 Abs. 2 StPO). Oft liegt hier die einzige Möglichkeit, ein Gutachten zu widerlegen. Dabei muss der Verteidiger nicht selten den Widerstand der Fachleute überwinden, sich von der Verteidigung benennen und vom Angeklagten bezahlen zu lassen (Rz. 295). Schließlich kann es geboten sein, gegen Sachverständige ein Ablehnungs- 626 gesuch anzubringen (Rz. 229 ff.). Der Verteidiger darf und wird hiervon nicht unnötig Gebrauch machen. Dringt die Ablehnung nicht durch, so muss mit einer Verstimmung des Sachverständigen gerechnet werden. Auch beeinflusst das Gutachten eines abgelehnten Sachverständigen in unkontrollierbarer Weise die Überzeugungsbildung des Gerichts. Manchmal bleibt aber nur die Ablehnung, um eine objektive Begutachtung zu erzwingen. Ablehnungsgründe können sich noch in der Hauptverhandlung ergeben, z.B. aus der Fragestellung des Sachverständigen an Zeugen oder aus der Art, wie ein Sachverständiger versucht, die Aussagebereitschaft des Probanden zu fördern. Im Übrigen verhindert nach herrschender Meinung die erfolgreiche Ablehnung nicht, dass der Sachverständige als Zeuge über die Tatsachen verhört wird, die er bei Durchführung sei409
Rz. 627
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
nes Auftrages wahrgenommen hat (Rz. 620)1. Immerhin darf er dann nur Tatsachen bekunden und keine Schlussfolgerungen vortragen. Zur Begutachtung ist ein anderer Sachverständiger zu bestellen (§ 83 Abs. 2 StPO). h) Urkundenbeweis Literatur: Burhoff, Vorlagen gefälschter Urkunden durch Strafverteidiger, ZAP, Fach 22 R, 27; Dahs, Verwertungsverbote bei unzulässiger Beschlagnahme von Tagebuchaufzeichnungen, Verteidigungsunterlagen sowie bei unzulässiger Gesprächsaufzeichnung und Blutprobe, Schriftenreihe Arbeitsgemeinschaft DAV, 1989, S. 122; Knierim/Rettenmaier, Das Selbstleseverfahren gem. § 249 II StPO in Wirtschaftsstrafsachen – Verfahrensbeschleunigung oder unzulässiger Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren?, StV 2006, 155; Langkeit/Cramer, Vorrang des Personalbeweises bei gem. § 55 StPO schweigenden Zeugen, StV 1996, 230; Mosbacher, Zur Zulässigkeit vernehmungsergänzender Verlesgung, NStZ 2014, 1; Neuhaus, Die Änderungen der StPO durch das Erste Justizmodernisierungsgesetz vom 24.8.2004, StV 2005, 47, 52; Prechtel, Der Beweisantritt beim Urkundenbeweis, ZAP, Fach 13, 1571; G. Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. 2000, 372 ff.; Sommer, Moderne Strafverteidigung, strafprozessuale Änderungen des Ersten Justizmodernisierungsgesetzes, AnwBl. 2004, 506, 507.
627
Fast in jedem Strafprozess wird Urkundenbeweis erhoben. Darunter fallen nicht nur Schriftstücke, deren Inhalt selbst Gegenstand des Tatvorwurfs ist (z.B. der betrügerische Prospekt, der gefälschte Scheck, der Beleidigungsbrief), sondern vor allem die Urkunden, die zur sonstigen Aufklärung des Sachverhalts verwendet werden. Hierbei sieht sich der Verteidiger einer verwirrenden Vielfalt von Möglichkeiten und Meinungen gegenüber. Gesetzliche Regelung, Rechtsprechung und Handhabung der Praxis stecken voller Widersprüche und führen immer wieder zu Schwierigkeiten. Zur Orientierung in dem „Gestrüpp“ der Verfahrensvorschriften ist es ratsam, von der grundsätzlichen gesetzlichen Regelung auszugehen und sie mit den praktischen Erfahrungen zum Urkundenbeweis zu verbinden. Am Anfang steht der Grundsatz, dass zur Feststellung des Sachverhalts aus allen Arten von Schriftstücken alle tatsächlichen Schlüsse gezogen werden dürfen, die denkgesetzlich möglich sind (Beweiskraft der Urkunde). Dieses Prinzip ist freilich in mannigfacher Weise eingeschränkt. So ist nicht jede Urkunde in der Hauptverhandlung verwertbar. Auch besitzen nicht alle verwertbaren Urkunden die volle Beweiskraft für ihren Inhalt. Der Verteidiger wird zwar die Erfahrung berücksichtigen, dass eine Urkunde oft zuverlässiger ist als das Gedächtnis eines Zeugen. So ist der Nachweis einer Zahlung durch Vorlage einer Quittung sicherer zu führen als durch eine Zeugenvernehmung. Diese Erfahrung darf jedoch nicht dazu verleiten, den Inhalt einer Urkunde unbesehen als wahr hinzunehmen. Die Urkunde kann falsch sein oder den Sachverhalt ungenau oder tendenziös wiedergeben. Zum Beispiel beweist eine polizeiliche Nieder1 BGH v. 7.5.1965 – 2 StR 92/65, BGHSt. 20, 222 = NJW 1965, 1492 = JR 1966, 224 m. abl. Anm. Hanack; Senge in KK, § 74 StPO Rz. 15.
410
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 629
schrift über ein Geständnis noch nicht, dass der Mandant tatsächlich ein Geständnis abgelegt hat (Rz. 251). Bestreitet er den Inhalt des Protokolls, so kann das Geständnis nicht allein durch die polizeiliche Niederschrift bewiesen werden. Ebenso wenig beweist ein Aktenvermerk, dass ein Gespräch mit exakt diesem Inhalt stattgefunden hat. Außer der Beweiskraft einer Urkunde hat der Verteidiger zu prüfen, ob 628 sie als Beweismittel verwertbar ist. Hier liegen die eigentlichen Schwierigkeiten des Urkundenbeweises. Sie sind am besten zu überwinden, wenn man auf den gesetzlichen Grundlinien aufbaut. Danach ist zunächst jedes Schriftstück im Wege der Verlesung verwertbar, unbeschadet seiner Beweiskraft (§ 249 StPO). Der Verlesungszwang hat eine wichtige Funktion. Er soll den Beteiligten zweifelsfreie Klarheit über den Inhalt einer Urkunde verschaffen, damit sie sich unter Umständen dagegen wehren können. Eine zweischneidige Sache ist die Ersetzung der Verlesung durch „stille“ richterliche Kenntnisnahme nach § 249 Abs. 2 StPO (Selbstleseverfahren)1. Sie vermeidet zwar die ermüdenden „Lesestunden“ insbesondere in Wirtschaftsstrafsachen, jedoch ist einem oft nicht wohl und man fragt sich, ob wirklich alle Mitglieder des Gerichts die Dokumente sorgfältig gelesen haben. Allerdings kann der Verteidiger (oder der Angeklagte) der Anordnung des Vorsitzenden, das Selbstleseverfahren durchzuführen, „unverzüglich“ widersprechen und so eine Entscheidung des Gerichts herbeiführen (§ 249 Abs. 2 S. 2 StPO n.F.). Da es sich um eine Ermessensentscheidung handelt, sollte der Widerspruch möglichst stichhaltig – und schriftlich – begründet werden, was Teil der sachgemäßen Vorbereitung der Hauptverhandlung sein kann. Im Übrigen soll auch die Inhaltsangabe als Verlesungsersatz neben § 249 Abs. 2 StPO zulässig sein2. Besondere Aufmerksamkeit des Verteidigers ist geboten, wenn er selbst 629 Urkunden vorlegt. Sie sind dann präsente Beweismittel (§ 245 Abs. 2 StPO). Man erlebt aber häufig das Misstrauen des Gerichts gegen Urkunden, die von der Verteidigung in der Hauptverhandlung vorgelegt werden. Der Richter wirft oft nur einen flüchtigen Blick darauf und reicht sie dem Verteidiger kurzerhand zurück, legt sie „neben die Akten“ oder erklärt, man werde ggf. darauf zurückkommen. Damit verliert der Verteidiger das Beweismittel. Er muss den in § 245 Abs. 2 StPO vorgesehenen Beweisantrag stellen und auf seiner Protokollierung bestehen. Gegenstand der Beweisbehauptung darf aber nur der in der Urkunde dokumentierte Inhalt sein, nicht der Sachverhalt, den der Verteidiger daraus folgern will (Rz. 665).
1 Zu den Grundlagen Knierim/Rettenmaier, StV 2006, 155 ff.; zu revisionsrechtlichen Implikationen vgl. Dahs, Revision, Rz. 301 ff. 2 BGH v. 10.12.1980 – 3 StR 410/80, BGHSt. 30, 10; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 249 StPO Rz. 25 ff.
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Rz. 630
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
630
Das Prinzip, dass jedes Schriftstück durch Verlesung verwertbar ist, erleidet eine Reihe von praktisch bedeutsamen Ausnahmen verfassungs- und prozessrechtlicher Art. Die einschlägige Rechtsentwicklung muss der Verteidiger unter dem Stichwort „Beweisverbot“ im Auge behalten. Ein prägnantes Beispiel ist die Verwertung privatester Aufzeichnungen eines Beschuldigten, insbesondere eines Tagebuchs. Insoweit besteht dann ein uneingeschränktes Verwertungsverbot, wenn der absolut geschützte Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung betroffen ist1. In den übrigen Fällen soll eine Abwägung erforderlich sein, wobei sich auch die Verwertung intimer Aufzeichnungen als zulässig ergeben kann, wenn sie einen unmittelbaren Bezug zu einer schweren Straftat, z.B. einer Sexualstraftat, aufweisen2. Aufzeichnungen, die sich der Angeklagte (auch der Inhaftierte) zum Zwecke seiner Verteidigung macht, unterliegen ebenfalls einem Verwertungsverbot3 und dürfen deshalb auch nicht beschlagnahmt werden4. Entsprechendes gilt auch für anderes Verteidigungsmaterial des Angeklagten5 und für die persönlichen Notizen eines früheren Mitangeklagten6. Nicht vor der Verwertung geschützt sind dagegen schriftliche Äußerungen, die der Angeklagte außerhalb der genannten Schutzbereiche, z.B. gegenüber Dritten oder gem. § 163a StPO im Vorverfahren abgegeben hat7. Eine vom Verteidiger formulierte Erklärung, die er für den Mandanten abgegeben hat, ist dagegen nicht verlesbar8.
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Von den geregelten Ausnahmen ist die wichtigste: Der Urkundenbeweis ist unzulässig, falls die zu beweisende Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person beruht (§ 250 S. 1 StPO). In diesem Falle besitzt der Zeugenbeweis in der mündlichen Hauptverhandlung den Vorrang. Deshalb darf die persönliche Anhörung nicht durch Verlesung eines früheren Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung der Auskunftsperson ersetzt werden (§ 250 S. 2 StPO). Dazu ist aber klarzustellen, dass das Verlesungsverbot des § 250 S. 2 StPO nur den Ersatz einer Vernehmung durch die Verlesung einer Niederschrift oder Erklärung betrifft, die zu Beweiszwecken für ein Verfahren (dasselbe oder ein anderes) hergestellt worden
1 BVerfG v. 31.1.1973 – 2 BvR 454/71, BVerfGE 34, 238 (249); BVerfG v. 14.9.1989 – 2 BvR 1062/87, BVerfGE 80, 367; Dahs, Schriftenreihe Arbeitsgemeinschaft DAV, Bd. 6, 1989, S. 122 ff. 2 Zum Streitstand ausführlich Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. StPO Rz. 56a; BGH v. 21.2.1964 – 4 StR 519/63, BGHSt. 19, 325 (331); BVerfG v. 26.6.2008 – 2 BvR 219/08, StraFo 2008, 421. 3 BGH v. 25.2.1998 – 3 StR 490/97, BGHSt. 44, 46; BGH v. 25.2.1998 – 3 StR 490/97, NStZ 1998, 309. 4 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. 56a StPO m.N.; Dahs in GS K. Meyer (1990), S. 61 ff. 5 Dahs in GS K. Meyer (1990), S. 61 ff. 6 OLG Celle v. 31.8.1964 – 2 Ss 278/64, NdsRpfl. 1964, 279. 7 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 163a StPO Rz. 14. 8 OLG Celle v. 31.5.1988 – 1 Ss 117/88, NStZ 1988, 426; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 163a StPO Rz. 14.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 633
ist1. Gerade weil das gesetzliche Verbot in der täglichen Praxis z.B. durch Vorhalte (Rz. 636) häufig durchlöchert wird, muss immer wieder betont werden, dass die Mündlichkeit der Hauptverhandlung verlorengeht, wenn statt der Zeugenvernehmung Urkunden verlesen werden. Es fehlt der nicht selten entscheidende persönliche Eindruck, den der Zeuge macht, auch sind Fragen und Vorhaltungen unmöglich. Trotz dieser Erkenntnis lässt das Gesetz es unter bestimmten Vorausset- 632 zungen zu, von der Anhörung einer Auskunftsperson in der Hauptverhandlung abzusehen und dafür Niederschriften über frühere Vernehmungen oder von ihnen stammende schriftliche Erklärungen zu verlesen (§ 251 Abs. 1 StPO). Die gesetzliche Regelung, die Beweisverluste verhüten und das Verfahren beschleunigen soll, führt zu einer Ausweitung des Urkundenbeweises gegenüber dem Zeugen- und Sachverständigenbeweis und zu der Gefahr, mehr und mehr ins schriftliche Verfahren abzugleiten. Der Verteidiger muss in jedem Einzelfall genau überwachen, ob die Verlesung an die Stelle der persönlichen Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen treten darf. Ggf. muss er Beweisanträge auf persönliche Vernehmung stellen, die freilich nicht immer leicht zu begründen sind. Nach § 251 Abs. 2 StPO dürfen nur ordnungsgemäße richterliche Pro- 633 tokolle verlesen werden, und zwar unter den verhältnismäßig engen gesetzlichen Voraussetzungen des § 251 Abs. 2 Nr. 1–3 StPO. Über die Tatbestandsmerkmale kann im Einzelfall nicht immer zuverlässig entschieden werden, etwa über die große Entfernung und die Bedeutung der Aussage in Nr. 2. Deshalb weicht die Praxis auf § 251 Abs. 2 Nr. 3 StPO aus und versucht, das Einverständnis der Beteiligten mit der Verlesung eines richterlichen Protokolls zu erhalten. Der Verteidiger sollte seine Zustimmung nur nach sorgfältiger Überlegung erteilen. Er begibt sich aller Möglichkeiten, wenn er dieses Verfahren mitmacht oder auch nur stillschweigend duldet. Er muss ggf. ausdrücklich widersprechen, da sein Schweigen sonst leicht als Zustimmung aufgefasst wird2. Der Verteidiger muss auf die Anhörung einer Auskunftsperson in der Hauptverhandlung drängen, wenn es auf den persönlichen Eindruck ankommt oder wenn er die Auskunftsperson befragen muss. Anders kann er sich nur entscheiden, falls die frühere richterlich protokollierte Bekundung den Mandanten eindeutig entlastet und das Gericht diese Aussage erkennbar auch so werten will. Die Entscheidung hat der Verteidiger selbständig zu treffen, notfalls auch gegen den Willen des Mandanten, falls die Anhörung der Beweisperson unerlässlich ist.
1 BGH v. 16.2.1965 – 1 StR 4/65, BGHSt. 20, 160; BGH v. 30.6.1954 – 6 StR 172/54, BGHSt. 6, 209. 2 BGH v. 23.1.1985 – 1 StR 722/84, NStZ 1985, 376; BGH v. 2.2.1983 – 2 StR 576/82, NStZ 1983, 326; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 251 StPO Rz. 24 ff.
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Noch sorgsamer muss der Verteidiger darauf achten, dass andere als richterliche Protokolle nicht contra legem im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden (§ 251 Abs. 2 StPO). Polizeiliche Niederschriften über Zeugenvernehmungen und schriftliche Äußerungen einer Beweisperson sind mit „besonderer Skepsis“ zu prüfen, ehe der Verteidiger etwa ihrer Verlesung nach § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO zustimmt. Gegenüber der persönlichen Vernehmung in der Hauptverhandlung und gegenüber einem früheren richterlichen Protokoll sind sie nach aller Erfahrung das schlechtere Beweismittel. Deshalb dürfen solche Aufzeichnungen zum Zwecke des Urkundenbeweises nur verlesen werden, wenn die Auskunftsperson verstorben ist oder aus einem anderen Grund in absehbarer Zeit nicht gerichtlich vernommen werden kann (§ 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO). Im Falle des Todes einer Beweisperson darf ihre polizeiliche Aussage nicht verlesen werden, wenn sie sich nach der Vernehmung auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen hat1. Ebenfalls unverwertbar ist die Niederschrift, wenn der – noch lebende – Zeuge vor seiner Vernehmung nicht über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden ist. Unzulässig ist es auch, das Polizeiprotokoll über die Vernehmung eines Angehörigen in der Berufungsverhandlung zu verlesen, der in der Hauptverhandlung erster Instanz sein Zeugnis verweigert hat2. Häufig wird übersehen, dass es sich um unüberwindliche Vernehmungshindernisse handeln muss3. Problematisch ist das Merkmal „in nicht absehbarer Zeit“. Der Verteidiger hat darauf zu bestehen, dass nicht aus Scheu vor einer Vertagung die gesetzliche Ausnahme zur Regel wird. So verständlich das Streben nach Beschleunigung ist, es darf nur im Ausnahmefall dazu führen, eine in Zukunft vielleicht doch mögliche persönliche Vernehmung durch einen Urkundenbeweis zu ersetzen und damit den Unmittelbarkeitsgrundsatz zu durchbrechen.
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In diesem Zusammenhang muss der Verteidiger auch an eine andere praktisch wichtige Ausnahme denken: Jedes Schriftstück (richterliche und nichtrichterliche Protokolle, schriftliche Erklärungen der Auskunftsperson) darf auch ohne die Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 und 2 StPO verlesen werden, wenn dies nicht zur Urteilsfindung dient, sondern z.B. zur Feststellung, ob eine Auskunftsperson zu vernehmen und zu laden ist (§ 251 Abs. 3 StPO). Hier hat der Verteidiger darauf zu achten, dass die Verlesung nur verfahrensrechtliche Entscheidungen vorbereiten darf. Dabei kann er allerdings selten verhindern, dass das verlesene Schriftstück nicht doch die Meinungsbildung des Richters beeinflusst. Es gibt einen Weg, diese Gefahr zu vermeiden und zu erreichen, dass der Richter genau prüft, ob er die Urkunde für verfahrensrechtliche Entscheidungen verlesen und sie trotzdem für die Urteilsfindung nicht verwerten darf. Der Verteidiger kann eine Erklärung abgeben (Rz. 526) und notfalls 1 BGH v. 5.1.1968 – 4 StR 425/67, BGHSt. 22, 35; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 252 StPO Rz. 1 f. 2 OLG Celle v. 28.9.1967 – 1 Ss 291/67, NJW 1968, 415. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 251 StPO Rz. 9.
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im Wege eines Beweisantrages persönliche Vernehmung der Auskunftsperson vor der Verlesung einer früheren Niederschrift oder Äußerung beantragen. Das Gericht erwartet ohnehin eine Äußerung des Verteidigers, ehe es die Verlesung von Urkunden dieser Art anordnet und dabei den Grund der Verlesung bekanntgibt (§ 251 Abs. 4 StPO). In einem nicht minder großen, manchmal unlösbaren Dilemma befindet 636 sich der Verteidiger beim Vorhalt früherer Protokolle während der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen (§ 253 StPO). Die praktische Bedeutung dieses Rechtsinstituts liegt auf der Hand. Kaum eine Vernehmung geschieht ohne Vorhalt aus den Akten. Deshalb ist es für den Verteidiger unerlässlich, die Grundlagen des Vorhalts zu beherrschen und seine Gefahren im Einzelfall sofort zu erkennen. Vorweg muss man sich darüber klar sein, dass die gesetzliche Regelung eine „Kombination zwischen Zeugenbeweis und Urkundenbeweis“ zulässt. Der Urkundenbeweis darf jedoch nicht die Vernehmung ersetzen, er muss Vernehmungsbehelf bleiben. Das Gesetz sagt dies deutlich, indem es die Verlesung früherer Protokolle nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässt, nämlich im Falle des § 253 Abs. 1 StPO, wenn sich die Auskunftsperson an eine bestimmte Tatsache nicht mehr erinnert und die Verlesung bezweckt, ihr Gedächtnis zu unterstützen; im Falle des § 253 Abs. 2 StPO, wenn ohne Verlesung eines früheren Protokolls ein Widerspruch nicht festgestellt oder behoben werden kann, ohne die Hauptverhandlung zu unterbrechen. So klar diese Regelung erscheint, so wenig wird sie in der täglichen Praxis eingehalten (Rz. 583). Man erlebt es häufig, dass mit der Verlesung früherer Niederschriften, zu denen in diesem Falle die polizeilichen Protokolle gehören, nicht gewartet wird, bis man weiß, ob die Beweisperson sich noch erinnert, oder bis ein Widerspruch zu früheren Bekundungen festgestellt ist. Der Zeuge wird vielmehr oft mit Vorhalten mehr oder weniger „zugedeckt“, etwa in der Art, dass ihm die polizeiliche Vernehmung alsbald vorgelesen wird und gefragt wird, ob das so stimme. Gegen diese Art von Vorhalten muss der Verteidiger vorgehen. Sie verhindern nicht nur die Erkenntnis, was der Zeuge im Zeitpunkt der Hauptverhandlung wirklich noch weiß, sondern auf diese Weise wird lediglich der Akteninhalt nachvollzogen. Gegenstand der Hauptverhandlung ist dann nicht mehr die Aussage des Zeugen in der Verhandlung, sondern das Schriftstück über seine frühere Vernehmung. Das ist gerade deshalb gefährlich, weil im Wege des an sich zulässigen Vorhalts nicht nur richterliche Protokolle, sondern jede behördliche Niederschrift vorgelesen werden darf, obwohl z.B. Vernehmungsprotokolle der Polizei nicht immer genau das wiedergeben, was der Vernommene erklärt hat (Rz. 249, 251). Auf diese Weise kann das Polizeiprotokoll zum entscheidenden Beweismittel in der Hauptverhandlung werden, allenfalls noch unterstützt durch eine kurze Vernehmung der Verhörperson (Rz. 249). Einer solchen Entwicklung muss der Verteidiger entgegentreten. Sie trägt noch eine andere Gefahr in sich: Durch den Vorhalt kann eine frühere Aussage als Ge415
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genstand der mündlichen Erklärung in der Hauptverhandlung „gestaltet“ werden. Sie führt dann zu tatsächlichen Feststellungen im Urteil, die mit der Revision nicht anfechtbar sind. 637
Insbesondere wird immer wieder übersehen, dass der Vorhalt als solcher niemals Beweismittel sein darf1: Beweisgrundlage darf lediglich die Erklärung sein, die die Auskunftsperson in der Hauptverhandlung abgibt. Sie ist zunächst vollständig über ihr noch vorhandenes Wissen zu vernehmen2. Dabei sind etwaige Erinnerungslücken und Widersprüche festzustellen; erst danach ist es zulässig, frühere Niederschriften vorzuhalten und sie zu verlesen, obwohl die „Verlesung“ im Sinne der Strafprozessordnung sonst vielleicht unzulässig wäre. Bestätigt die Auskunftsperson auf einen Vorhalt, sie erinnere sich nunmehr an eine bestimmte Tatsache, dann ist Gegenstand des Beweises die Aussage in der Verhandlung, ergänzt durch den vergessenen früheren Inhalt der Vernehmungsniederschrift. Erklärt die Beweisperson hingegen trotz des Vorhalts, sich nicht mehr zu erinnern, so ist der Vorhalt gegenstandslos. Freilich beweist die Erfahrung, dass insbesondere Zeugen lediglich auf die frühere Bekundung Bezug nehmen und erklären, das damals Gesagte sei sicher richtig („wenn es dort so steht“), wenn sie auch den Inhalt in Wirklichkeit nicht mehr im Kopf haben. Eine solche Erklärung in der Hauptverhandlung macht die frühere Vernehmungsniederschrift nicht verwertbar. Besser ist es, wenn eine spätere Wiederholungsfrage des Verteidigers zutage bringt, dass der Zeuge sich tatsächlich nicht erinnert hat. Auf solche Umstände muss der Verteidiger besonders bei der Vernehmung von Verhörspersonen achten (Rz. 576). Die bloße Aussage des Richters oder des Polizeibeamten, er habe richtig protokolliert, darf nicht dazu führen, dass das frühere Protokoll sachlich verwertet wird3. Statthaft ist die Protokollverwertung nur, wenn die Verhörsperson auf den Vorbehalt bestätigt, sich auch an den Inhalt der Niederschrift zu erinnern. Diesen Unterschied muss der Verteidiger in der Verhandlung deutlich herausarbeiten. Das gilt vor allem bei der Vernehmung von Verhörspersonen über behauptete frühere Geständnisse des Mandanten, die jetzt bestritten werden (Rz. 554). Besonders Laienrichter erkennen häufig nicht, was bloßer Vorhalt geblieben und damit unverwertbar ist. Indessen kann der Verteidiger nicht verhindern, dass sich der gegenstandslos gewordene Vorhalt im Gedächtnis der Richter festsetzt und die Urteilsfindung beeinflusst. Dies wird nur selten augenfällig. Gelegentlich findet man in Urteilen Feststellungen, die auf einen unbestätigten Vorhalt oder auf eine nicht verlesene und nicht vorgehaltene Niederschrift zurückgehen. Im letzteren Falle kann die Versagung des rechtlichen Gehörs ge1 BGH v. 9.11.1965 – 1 StR 436/65, NJW 1966, 211. 2 BGH v. 11.11.1952 – 1 StR 465/52, BGHSt. 3, 281; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 253 StPO Rz. 3. 3 BGH v. 31.5.1960 – 5 StR 168/60, BGHSt. 14, 310; BGH v. 30.3.1995 – 2 StR 643/93, StV 1994, 413.
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rügt werden, weil zu der Niederschrift nicht Stellung genommen werden konnte1. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, hat das Revisionsgericht im Freibeweisverfahren aufzuklären. Meist hat die Rüge des unzulässig verwerteten Vorhalts freilich wenig Erfolgsaussicht. Im Urteil braucht nur der Satz zu stehen, der Inhalt der früheren Vernehmung sei aufgrund der Vernehmung der Verhörsperson festgestellt worden. Daher muss der Verteidiger möglichst verhindern, dass es überhaupt zu einem unzulässigen Vorhalt kommt. So ist es notwendig, den Vorhalt sofort zu beanstanden (§ 238 Abs. 2 StPO), wenn z.B. schwer verständliche, umfangreiche Schriftstücke – oder Auszüge aus diesen – verlesen werden sollen2, die aus sich heraus nicht verständlich oder nachvollziehbar sind. Das ist ebenso unstatthaft wie die Verlesung der früheren Bekundung eines Zeugen, der in der Hauptverhandlung die Aussage verweigert (§ 252 StPO; Rz. 576). Es ist immer ratsam, in Zweifelsfällen dem Vorhalt zu widersprechen und ausdrücklich zu beantragen, die Verlesung und ihren Grund in das Hauptverhandlungsprotokoll aufzunehmen (§ 255 StPO). Hierbei sieht sich der Verteidiger nicht selten einer prekären Situation gegenüber: Einerseits muss er immer wieder auf die Verfahrensregeln hinweisen, um die Interessen des Mandanten nicht zu gefährden, anderseits kann es jedoch im Einzelfall unzweckmäßig sein, die prozessualen Rechte über Gebühr zu beanspruchen. Erfahrung und Fingerspitzengefühl sind notwendig, um das rechte Maß zu finden. Diese schwierige Situation tritt besonders während des Vorhalts von 638 Geständnisprotokollen gegenüber dem Angeklagten auf (§ 254 StPO). Hier muss der Verteidiger darauf bestehen, dass ausschließlich frühere ordnungsgemäße richterliche Protokolle verlesen werden dürfen, z.B. einer kommissarischen Vernehmung des Mandanten nach § 233 StPO (Rz. 482). Nur richterliche Niederschriften sind auch geeignet, ein früheres Geständnis oder Widersprüche zu einer früheren Einlassung festzustellen. Es ist verboten, andere Niederschriften zu verwerten. Freilich kann der Verteidiger ebenso wenig den Vorhalt von Erklärungen, besonders eines Geständnisses, verhindern3 wie die Zeugenvernehmung der Verhörsperson (Rz. 576). Allerdings muss er genau darauf achten, dass ein polizeiliches Geständnisprotokoll nicht über den Umweg des Vorhalts als wahr behandelt wird. Das Protokoll kann falsch oder unrichtig aufgenommen sein (Rz. 251). Hinweise hierauf finden sich häufig, wenn komplexe Sachverhalte nicht im Sprachstil des Mandanten niedergelegt, sondern augenscheinlich „geradegezogen“ wurden. Wird der vernehmende Polizeibeamte in der Hauptverhandlung gehört, so darf ihm das Protokoll nicht sofort vorgehalten werden, er muss vorweg alles berichten, was er von der Sache noch weiß. Erinnert er sich trotz des Vorhalts an die frühere Einlassung des Mandanten nicht mehr, so darf das nicht-richterliche Protokoll nicht als Urkundenbeweis verwendet werden (Rz. 554, 1 BGH v. 13.12.1967 – 2 StR 544/67, NJW 1968, 997. 2 BGH v. 24.10.1957 – 4 StR 320/57, BGHSt. 11, 159. 3 BGH v. 28.7.1967 – 4 StR 243/67, NJW 1967, 2020.
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638 a.E.). Richterliche Protokolle hingegen sind verlesbar, auf keinen Fall darf es der Verteidiger jedoch hinnehmen, dass ein solches Protokoll verwendet wird, das lediglich auf eine polizeiliche Vernehmung Bezug nimmt, ohne sie wenigstens inhaltlich zu wiederholen1. Einen derartigen „unselbständigen Anhang“ zu verwenden, ist unzulässig. 639
Zeugnisse und Gutachten öffentlicher Behörden sowie ärztliche Erklärungen, Atteste und Routinegutachten (§ 256 StPO) sind darauf zu kontrollieren, ob sie überhaupt im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden dürfen. Nicht jeder Angehörige einer Behörde ist berechtigt, Gutachten für die Behörde zu erstatten2. Hierbei muss der Verteidiger daran denken, dass Institutsgutachten verlesen werden müssen, ehe sie ein Sachverständiger in der Hauptverhandlung seinem Gutachten zugrunde legen darf, wenn er nicht selbst das schriftliche Gutachten erstattet hat3. Besonders bedenklich ist die Zulässigkeit der Verlesung von Vermerken der Polizei über Ermittlungshandlungen nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO.4. Oft werden solche Schriftstücke Elemente einer Vernehmung enthalten, was einen Widerspruch gegen die Verlesung (§ 238 Abs. 2 StPO) erfordert (§ 256 Abs. 1 Nr. 5 Halbs. 1 StPO).
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Für den Verteidiger praktisch wichtig sind die Leumundszeugnisse, die kraft ausdrücklicher Vorschrift (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 StPO) dem Urkundenbeweis nicht zugänglich sind. Der Verteidiger muss deshalb darauf verzichten, sie zu verlesen. Man sollte auch nicht versuchen, solche Schriftstücke während des Plädoyers vorzulesen. Das ist unfair und außerdem prozessual unbeachtlich. Es gibt jedoch eine praktische Möglichkeit, ohne förmliche Ladung des Leumundszeugen das Zeugnis zur Wirkung zu bringen. Man kann als Beweis- oder als Eventualbeweisantrag die Ladung des Leumundszeugen über das Thema des schriftlichen Zeugnisses beantragen. Dabei kommt das Zeugnis zur Verlesung. Evtl. kommt auch eine Verlesung nach § 257, § 251 Abs. 3 StPO in Betracht. Hier ist anzumerken, dass die Bedeutung der Leumundszeugen von dem Gericht vielfach nicht respektiert wird. Sie sollen nicht immer nur einen Milderungsgrund belegen, sondern oft die Täterschaft oder Schuld des Angeklagten in Zweifel setzen, weil ihm die Tat nicht zuzutrauen sei. Ihre Vernehmung wird häufig mit der Wahrunterstellung umgangen (Rz. 665), weil die allgemeine Aussage die Schuld im konkreten Falle nicht ausschließe. Der Verteidiger sollte in den entsprechenden Fällen dies nicht hinnehmen, weil schon im Rahmen der Persönlichkeitsdiagnose und -prognose die vollständige Aufklärung geboten ist.
1 BGH v. 12.1.1996 – 5 StR 756/94, NJW 1996, 1547 (1550); Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 254 StPO Rz. 4. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 256 StPO Rz. 15; BGH v. 26.2.1988 – 4 StR 51/88, NStZ 1988, 283. 3 BGH v. 23.8.1966 – 5 StR 383/66, NJW 1967, 299. 4 Zutr. Kritik bei Sommer, AnwBl. 2004, 507 f.
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i) Beweis durch Augenschein aa) Allgemeines Literatur: Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 8. Aufl. 2012; Geppert, Der Augenscheinsbeweis, Jura 1996, 307; Haas, Der Beschuldigte als Augenscheinsobjekt, GA 1997, 368; Mühlhaus, Unfallskizzen und Lichtbilder, DAR 1965, 12; Rogall, Die Augenscheinseinnahme an zeugnisverweigerungsberechtigten Personen, MDR 1975, 813 ff.; Rogall, Der Augenscheinsgehilfe im Strafprozess, GS K. Meyer (1990), S. 391; Wenskat, Der richterliche Augenschein im deutschen Strafprozess, 1988.
Der Beweis durch Augenschein dient der Gewinnung von Beweisanzei- 641 chen durch die Sinnesorgane1, ist also nicht auf Besichtigung im engeren Sinne beschränkt. Nähere Vorschriften sind in der Strafprozessordnung nicht enthalten, abgesehen von der Protokollvorschrift des § 86 StPO (Rz. 709). Gegenstand des Augenscheins können Sachen jeder Art sein. Dazu gehören auch Lichtbilder, Filme, Skizzen, Schallplatten, Ton- und Videobänder sowie Datenträger. bb) Ton- und Filmaufnahmen Literatur: Küpper, Tagebücher, Tonbänder, Telefonate, JZ 1990, 416; Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, 2012; Preuß, Zur Verwertbarkeit heimlicher Tonbandaufnahmen als Beweismittel im Strafverfahren, StV 1995, 66 (Anm. zu BayObLG, StV 1995, 65).
Gegenstand der Beweiserhebung durch Augenschein können insbesonde- 642 re auch Tonträger sein, die im Strafprozess eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Damit sind zunächst Ton- und Filmaufnahmen gemeint, die nicht durch Organe der Strafrechtspflege hergestellt sind. Der Verteidiger muss wissen und beachten, dass solche Beweismittel in besonderem Maße der Verfälschung zugänglich sind. Je vollkommener die Geräte sind, desto eher verleiten sie zu missbräuchlicher Verwendung, etwa durch Änderungen oder Löschungen von Daten in elektronischen Datenspeichern, Überspielen oder Schneiden und Umspielen von Tonbändern auf ein anderes Band, das als solches dann unversehrt ist. Notfalls wird sich der Verteidiger über die technischen Einzelheiten unterrichten müssen, um sachgerecht zu reagieren, z.B. einen Beweisantrag auf kriminaltechnische Überprüfung stellen – wenn dies erfolgversprechend ist. Im Übrigen kommt es darauf an, dass die Aufnahme in der Hauptverhandlung ordnungsgemäß zu Gehör gebracht wird. Im Wesentlichen sind zwei Gesichtspunkte zu beachten: Die Aufnahme muss technisch einwandfrei sein, also gut lesbar, hörbar oder sichtbar sowie für alle Beteiligten verständlich sein. Sie muss aber auch auf gesetzliche Weise zustande gekommen und damit für die Hauptverhandlung verwertbar sein.
1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 86 StPO Rz. 1.
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Rz. 643
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Das nicht öffentlich gesprochene Wort eines anderen, z.B. eines Zeugen im Gespräch mit dem Verteidiger, darf nicht unbefugt auf einen Tonträger aufgenommen, eine so hergestellte Aufnahme darf weder gebraucht noch einem Dritten zugänglich gemacht werden, der unbefugte Einsatz eines Abhörgerätes ist verboten (§ 201 StGB). Diese Strafsanktion will das Recht am eigenen Wort schützen und regelt eine Reihe von praktisch bedeutsamen Problemen, ohne sie freilich vollständig zu lösen. Die heimliche Tonaufnahme ist auch dem Verteidiger durch die Strafvorschrift des § 201 Abs. 1 StGB untersagt. Das gilt für die Aufnahmen von Raumgesprächen ebenso wie für das Aufnehmen von Telefonaten. Schwierig kann die Situation werden, wenn dem Verteidiger private Tonaufnahmen zur Verwertung überlassen werden. Grundsätzlich darf die versteckte Aufnahme als Beweismittel weder angeboten noch gebraucht werden (§ 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Deshalb muss der Verteidiger prüfen, wie die ihm übergebene Aufnahme zustande gekommen ist. Auf die bloßen Angaben eines nicht als zuverlässig bekannten Mandanten oder Dritten wird er sich nicht verlassen können. Er hat sich im Rahmen des Möglichen zu vergewissern, ob die Aufnahme befugt hergestellt ist oder befugt verwendet wird. Die entsprechende Versicherung des zuvor rechtlich belehrten Mandanten wird dann genügen, wenn nicht handgreifliche Zweifel bestehen. Ob bei Vorlage des Beweismittels dem Gericht gegenüber eine entsprechende Erklärung abgegeben werden sollte, ist eine Frage des Einzelfalles. Die Anfertigung und die Verwertung einer Tonaufnahme ist stets befugt, wenn der Sprechende einwilligt. Diese Einwilligung muss der Verteidiger zu erreichen versuchen, falls er selbst eine Unterredung auf Tonträger aufnehmen will. Zweischneidig sind für den Verteidiger die Fälle, in denen ausnahmsweise die heimliche Tonaufnahme nach den Grundsätzen der Güter- und Pflichtenabwägung hergestellt und verwertet werden darf. Die Verwertung eines solchen Tonbandes kann lediglich aus zwingenden Gründen erlaubt sein, wobei die Grenze eng gezogen werden muss. Daher wird die versteckte private Aufnahme nur im Falle der Notwehr1 oder der notwehrähnlichen Lage2 zugelassen. Sonst verstößt sie gegen das Persönlichkeitsrecht3 und darf deshalb auch nicht auf dem Umweg in das Verfahren eingeführt werden, dass ein Zeuge über den Inhalt vernommen wird4. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass sich der Verteidiger bei außergerichtlichen Befragungen von Beweispersonen (Rz. 217) nur in Notfällen Tonaufnahmen geben lassen darf, etwa wenn ein Zeuge weder im Ermittlungsverfahren noch im Prozess seine Aussagen vor Gericht machen kann (Rz. 217 i.d.M.). Entsprechendes gilt z.B. für audiovisuelle Videoaufnahmen.
1 BGH v. 14.6.1960 – 1 StR 683/59, BGHSt. 14, 358. 2 OLG Celle v. 13.5.1965 – 1 Ss 5323/64, NJW 1965, 1677; OLG Frankfurt v. 8.6.1966 – 2 Vs 2/66, NJW 1967, 1047. 3 BGH v. 20.5.1958 – VI ZR 104/57, BGHZ 27, 284. 4 OLG Düsseldorf v. 23.11.1965 – 1 Ws 754/65, NJW 1966, 214.
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Ähnlichen Problemen sieht sich der Verteidiger gegenüber, falls eine be- 644 hördliche Ton-, Bild- und Filmaufnahme im Verfahren gebraucht werden sollen (§§ 100a, 100c, 247a StPO). Angesichts der ausdifferenzierten Gesetzeslage (vgl. nur §§ 100b, 100c, 100d–100i StPO) ist der Verteidiger in der Regel auf die sorgfältige Kontrolle beschränkt, ob alle Zulässigkeitsvoraussetzungen vorgelegen haben bzw. vorliegen (§ 247a StPO). Im Zweifelsfall ist ein Verwertungsverbot geltend zu machen und einen Gerichtsbeschluss (§ 238 Abs. 2 StPO) herbeizuführen. Die verbreitete Praxis, polizeiliche Vernehmungen auf Tonband aufzunehmen, ist nur zulässig, falls der Beschuldigte oder die Beweisperson zustimmt1. Ausnahmen sind bei Vernehmungen nicht denkbar, wohl aber in sonstigen Fällen, wenn nach der Güter- und Pflichtenabwägung das öffentliche Interesse überwiegt (z.B. die Aufnahme von erpresserischen Telefonanrufen). Hierzu rechnen in den Fällen des § 100a StPO die Anordnungen zum Abhören des Fernsprechverkehrs und dessen Aufnahme auf Tonträger2. Die Rekonstruktion von gelöschten Daten (Texten, z.B. Skype-Protokol- 645 len oder MSN-Messanger-Daten) von elektronischen Datenträgern (PCFestplatte, USB-Stick, DVD, CD-ROM) ist eine insbesondere in Wirtschaftsstrafsachen immer wichtiger werdende Beweisführung. Freilich darf die Rekonstruktion in entsprechend gelagerten Fällen nicht zur „freischaffenden Lückenfüllung“ werden, was der Verteidiger ggf. kritisch zu hinterfragen hat. Ebenso muss er sich Gewissheit darüber verschaffen, dass nach Übernahme der Datenträger in staatlichen Gewahrsam eine lückenlose Kontrolle über die Asservate bestand, so dass die Möglichkeit eines manipulativen Zugriffs auf die Daten durch Dritte ausgeschlossen ist. Im Übrigen hängt es vom Einzelfall ab, ob sich das Gericht mit dem Ausdruck von Daten begnügen kann oder eine unmittelbare Augenscheinseinnahme auf dem Bildschirm vorzugswürdig ist. j) Der kriminaltechnische Gutachten-Sachbeweis Literatur: Bässler, Humanbiologische Spuren, 1995; Dahs, Der Standpunkt des Verteidigers zum Sachbeweis, BKA-Vortragsreihe, Bd. 23, S. 19; Foth, Richter und Sachbeweis, BKA-Vortragsreihe, Bd. 24, S. 25; Hecker, Forensische Handschriftenuntersuchung, 1993; Hellmiss, Kriminaltechnische Begutachtung, Schrift-, Branduntersuchung, 1994; Kube, Kriminalistik (Handbuch für Praxis und Wissenschaft), Bd. 1, 1992 und 2, 1994; Michel, Möglichkeiten und Probleme der Sicherung latenter Druckspuren auf Schriftträgern, Arch. f. Krim. 1995, 169; Neuhaus, Kriminaltechnik für den Strafverteidiger – Eine Einführung in die Grundlagen, StraFo 2001, 406; Prante, Die Personenerkennung – Daktyloskopie, 1982, BKA-Schriftenreihe, Bd. 51; Schiller, Textilfasern in Anschmelzspuren, Kriminalistik 1995, 728; Schwerd, Rechtsmedizin (Lehrbuch für Mediziner und Juristen), 5. Aufl. 1992; Schyma, Fehlermöglichkeiten der Schussentfernungsbestimmung bei rikochettierten Vollmantelgeschossen, Arch. f. Krim. 1995, 30; Simmross, Kunststoffanalytik 1 BGH v. 14.6.1960 – 1 StR 73/63, BGHSt. 14, 339. 2 Zum Abhören von Gesprächen zwischen Verteidiger und Klient BGH v. 5.11.1985 – 2 StR 279/85, NStZ 1986, 323 m. Anm. Welp, NStZ 1986, 294.
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Rz. 646
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
in der Kriminaltechnik, Kriminalistik 1995, 569; Steinke, Forensische Ballistik, Linguistik, Thermographie, 1995, Bd. 84 der Internationalen Schriftenreihe; Tondorf, Neue kriminaltechnische Entwicklungen – eine Herausforderung für den Strafverteidiger, StV 1993, 39; Wirth, Kriminalistik-Lexikon, 4. Aufl. 2011; Witthuhn, Klassifizierung und Recherche von Handflächenabdrucken, Kriminalistik 1995, 425. Zur DNA-Analyse vgl. die bei Senge in KK, §§ 81e–81h StPO angeführte umfangreiche Literatur.
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Als Sachbeweis bezeichnet man die mit den Mitteln der Kriminaltechnik vorgenommene Feststellung und gutachterliche Auswertung aller am Tatort oder an sonstigen tat- oder täterrelevanten Stellen befindlichen Spuren, Gegenstände, Flüssigkeiten usw. im Hinblick auf den Ablauf des Tatgeschehens und die Person des Täters. Die für die Kriminalistik nutzbar gemachten neuesten Erkenntnisse der Naturwissenschaft erlauben es den Ermittlungsbehörden, aus der materiellen Beschaffenheit einer Spur viel mehr herauszulesen, als dies früher möglich war. Zu denken ist hier u.a. an den Einsatz aller Arten der Datenverarbeitungstechnik, z.B. in der vergleichenden Daktyloskopie und beim Spurenvergleich: Das Massenspektrometer nimmt wegen seiner universellen Anwendbarkeit, des schnellen Analysenganges und vor allem des geringen Substanzbedarfs einen hervorragenden Platz in der Auswertung von Körpersekreten oder Organteilen ein; das Rasterelektronenmikroskop hat die Erkenntnisse z.B. bei Waffen- und Werkzeugspuren erheblich verbessert und eignet sich besonders gut auch zur fotografischen Dokumentation der Befunde. Die DNA-Analyse erbringt einen genetischen Fingerabdruck, der einen extrem hohen Sicherheitsgrad für Identifizierungen hat1. Dies sind nur einige Beispiele aus dem sich ständig weiter entwickelnden kriminalistischen Fachbereich. Der Verteidiger tut gut daran, sich auch insoweit auf dem Laufenden zu halten. Prozessrechtlich handelt es sich bei dem Sachbeweis nicht um ein selbständiges oder gar neues Beweismittel, sondern um eine Kombination der klassischen Beweismittel Zeuge, sachverständiger Zeuge, Augenschein und Sachverständiger. Das Auffinden des Beweisgegenstandes und die Feststellung der Tatspur sind Umstände, die zunächst nur durch solche Zeugen in das Verfahren eingeführt werden können, die sie sinnlich d.h. normalerweise visuell wahrgenommen haben. Die Sicherstellung der Objekte für eine spätere kriminaltechnische Untersuchung, die Sicherung der visuell wahrnehmbaren Tatortsituation durch Fotografien (Stereofotografie, Skizze usw.) sowie die Beschaffung des Vergleichsmaterials für die molekulargenetische Untersuchung (§ 81e StPO) kann in die Hauptverhandlung ebenfalls nur durch (sachverständige) Zeugen – in der Regel Kriminalbeamte – eingeführt werden. Auch die weitere Behandlung der Asservate bis zur wissenschaftlich-kriminaltechnischen Auswertung und Begutachtung kann nur Gegenstand
1 BGH v. 4.4.1990 – 2 StR 466/89, NStZ 1990, 353; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit BVerfG v. 2.8.1996 – 2 BvR 1511/96, NStZ 1996, 606.
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von Zeugenaussagen sein. Der mit der eigentlichen wissenschaftlichen Untersuchung betraute Kriminaltechniker oder Wissenschaftler legt als Sachverständiger seine Arbeitsmethode, die Bearbeitung der Spuren und Asservate im konkreten Fall und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen und Erkenntnisse dar. Schließlich werden Asservate, Spuren und ihre Dokumentationen durch das Gericht im Wege des Augenscheins oder anderer sinnlicher Wahrnehmung verifiziert. Die Eigenart und strafprozessuale Qualifizierung der kriminaltechni- 647 schen Beweisführung gibt dem Verteidiger seine Aufgabe vor: Er muss die Feststellung, die Dokumentation und die Weiterleitung der Asservate und Spuren, die kriminalwissenschaftlich ausgewertet werden, durch eingehende Befragung der damit befassten Zeugen überprüfen. Dabei wird er die fachliche Qualifikation der Zeugen, ihre spezielle Ausbildung, ihre Erfahrung und Praxis usw. ebenso zu erforschen haben wie ihren Auftrag und ihre Tätigkeit in der einzelnen Sache. Dabei ist insbesondere Wert auf die Klärung der Frage zu legen, ob Spuren und Asservate irgendwelchen Einflüssen ausgesetzt waren, die ihre Beweisqualifikation beeinträchtigt haben können. Viel schwieriger ist die Situation des Verteidigers gegenüber dem schriftlichen und mündlichen kriminaltechnischen Gutachten. Über eine ausreichende eigene Sachkunde, die ihn zur Kontrolle der Ergebnisse des Sachverständigen befähigen würde, verfügt er nicht. In der Regel besteht auch keine Möglichkeit, den spezialisierten und qualifizierten Mitarbeitern der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamtes einen anderen Sachverständigen entgegenzusetzen, weil es „freie Sachverständige“ auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Kriminaltechnik praktisch nicht gibt – vielleicht aber einen pensionierten fachkundigen Kriminalbeamten. Der Verteidiger muss daher versuchen, sich durch das Studium des einschlägigen Schrifttums wenigstens insoweit kundig zu machen, dass er einen Einstieg in die Untersuchungsmethoden und Überlegungen des Sachverständigen gewinnen kann; im Übrigen muss er den Gutachter veranlassen, Methodik und Gang seiner wissenschaftlichen Untersuchungen Schritt für Schritt in verständlicher Form offenzulegen, wozu der Sachverständige verpflichtet ist1. Zu Teilbereichen des Gutachtens kommt auch eine Beratung durch Physiker, Chemiker oder Mathematiker in Betracht. Da die kriminaltechnischen Sachverständigen ausnahmslos dem Polizeidienst angehören, stellt sich für den Verteidiger vielfach die Frage, ob sie wegen Besorgnis der Befangenheit nach §§ 74, 24 StPO abgelehnt werden können. Die Rechtsprechung lässt dies aber nur dann zu, wenn der Sachverständige bei seiner Tätigkeit sicherheitspolizeiliche Aufgaben wahrgenommen, sich also nicht auf die beratende oder sonst typische Tätig-
1 BGH v. 14.5.1974 – 3 StR 113/75 – n.v.
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keit des wissenschaftlichen Gutachters beschränkt hat1. Die Grenzen sind hier vielfach schwer zu ziehen. Dem Bestreben der Polizeibehörden, die gesamte kriminaltechnische Untersuchung vom ersten Zugriff bis zur Gutachtenerstattung in der Hauptverhandlung in die Hände desselben Sachverständigen zu legen, muss sich der Verteidiger – notfalls auch durch Ablehnungsgesuche – widersetzen. k) Beweisanträge aa) Beweisanträge des Verteidigers Literatur: Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess, 6. Aufl. 2013, bearb. von Dallmeyer, Güntge und Tsambikakis; Basdorf, Änderungen des Beweisantragsrechts und Revision, StV 1995, 310; Basdorf, Elemente des Beweisantrags – Konnexität und anderes, FS Widmaier (2008), S. 51; Basdorf, Beweisantragsrecht – Disziplinierung der Verteidigung durch erhöhte Anforderungen?, StraFo 2010, 139; Jörg-Peter Becker, Die Rechtsprechung des BGH zum Beweisantragsrecht, NStZ 2007, 513; Dahs, Revision, 8. Aufl. 2012; Deckers, Zur Ablehnung eines Beweisantrages wegen Bedeutungslosigkeit, StV 1992, 147; Fahl, Rechtsmissbrauch im Strafprozess, 2004; Foth, „Der falsche Weg zum richtigen Ziel?“, JR 1996, 100; Fristet, Das Verhältnis von Beweisantragsrecht und gerichtlicher Aufklärungspflicht im Strafprozess, ZStW 105 (1993), 340; Gollwitzer, Einschränkungen des Beweisantragsrechts durch Umdeutung von Beweisanträgen in Beweisanregungen, StV 1990, 420, 518; Günther, Der Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen im Lichte des Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK, FS Widmaier (2008), S. 253; Habetha, Übergehen „unwahrscheinlicher“ Beweisanträge ohne Ablehnungsgrund, StV 2011, 239; Hamm, Beweis als Rechtsbegriff und seine revisionsrechtliche Kontrolle, FS Fezer (2008), S. 393; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010, Rz. 614 ff.; Hamm, Fristenregelung für Beweisanträge?, FS Hassemer (2010), S. 1017; Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, 3. Aufl. 2013; Heinrich, Zur Begründung der Ablehnung von Beweisanträgen im Strafverfahren, DAR 1997, 319; Herdegen, Zum Begriff der Beweisbehauptung, StV 1990, 518; Herdegen, Zur Ablehnung eines Beweisantrages wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit, NStZ 1997, 505; Jahn, Konnexitätsdoktrin und „Fristenlösungsmodell“ – Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Fremdkontrolle im Beweisantragsrecht, StV 2009, 663; Jahn, Verfassungsrechtliche Grundlagen des Beweisantragsrechts der Verteidigung im deutschen Strafprozess, FS Hassemer (2010), S. 1029; Kempf, Der (zu) späte Beweisantrag, StraFo 2010, 316; Kudlich, Unzulässigkeit eines missbräuchlichen Hilfsbeweisantrags – BGHSt. 40, 287 – JuS 1997, 507; Malek, Verteidigung in der Hauptverhandlung, 4. Aufl. 2012, Rz. 375 ff.; Michalke in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 4. Aufl. 2002, S. 525 ff.; Nack, Das Verteidigermandat und seine Inhalte als Beweisthema, StraFo 2012, 341; Niemöller, Negativbehauptungen als Gegenstand strafprozessualer Beweisanträge, StV 2003, 687; Pauly, Beweisanträge auf Vernehmung von Richtern, FS ARGE Strafrecht (2009), S. 731; Perron, Das Beweisantragsrecht des Beschuldigten – Ursache oder Symptom der Krise des deutschen Strafprozesses?, ZStW 108 (1996), 128; G. Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. 2000, S. 404 ff.; Scheffler, Beweisanträge kurz vor oder während der Verkündung des Strafurteils, MDR 1993, 3; Scheffler, Der Hilfsbeweisantrag und seine Bescheidung in der Hauptverhandlung, NStZ 1989, 158; H. Schneider, Zum Kriterium der Konnexität im strafprozessualen Beweisantrags1 BGH v. 26.6.1958 – 5 StR 235/58, NJW 1958, 1308; BGH v. 11.1.1963 – 3 StR 52/62, BGHSt. 18, 214 (217); Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 74 StPO Rz. 7.
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recht, FS Eisenberg (2008), S. 609; Schulz, Abgrenzung von Beweisantrag und Beweisermittlungsantrag im Strafverfahren, NStZ 1991, 449; Strate, Zu den formalen Anforderungen an einen Beweisantrag im Strafverfahren, StV 1994, 171; ter Veen, Beweisumfang und Verfahrensökonomie im Strafprozess; Thomas, „Konfliktverteidigung“, Missbrauch von Verteidigungsrechten und das Beweisantragsrecht, StV 2010, 428; Trück, Die Rechtsprechung des BGH zur Ablehnung von Beweisanträgen auf Vernehmung eines Sachverständigen, NStZ 2007, 377; Widmaier, Mitwirkungspflicht des Verteidigers in der Hauptverhandlung und Rügeverlust, NStZ 1992, 519; Widmaier, Zu den Anforderungen an die Individualisierung eines in einem Beweisantrag mit unvollständiger Anschrift benannten Zeugen und zum Umfang der strafgerichtlichen Aufklärungspflicht, NStZ 1994, 248; Widmaier, Quo vadis, Revision?, StraFo 2010, 310, 314 ff.; Wohlers, Ablehnung eines Beweisantrages wegen Bedeutungslosigkeit und Verbot der Beweisantizipation, StV 1997, 570. Vgl. insbesondere auch die lfd. Publikationen der Rechtsprechung des BGH zum Strafverfahrensrecht von Cierniak/Zimmermann, NStZ-RR 2012, 97, 129, 193, 232; sowie zum Beweisantragsrecht Cierniak/Pohlit, NStZ 2009, 533 und 2011, 261.
Alsberg schrieb im Vorwort zu seinem fundamentalen Werk über den Be- 648 weisantrag im Jahre 1930: Das Beweisproblem ist schlechthin das zentrale Problem des Strafprozesses. Und weiter: Nur von einer intimen Kenntnis der tatsächlichen Vorgänge, einem einsichtigen Verstehen der praktischen Notwendigkeiten ausgehend, ist somit ein Rechtsanspruch, wie ihn der Beweisantrag verwirklichen soll, in seinem Bedeutungsgehalt zu begreifen. Nach mehr als acht Jahrzehnten haben diese Sätze nichts an Aktualität eingebüßt. Für den Praktiker gibt es kein wichtigeres Problem als die Frage, ob eine Tatsache bewiesen ist oder nicht. Nur selten wird „ums Recht gestritten“1. Überwiegend geht es um die richtige Feststellung der Tatsachen. Der Verteidiger kann und muss diese Feststellung durch Beweisanträge beeinflussen. Er darf sich nicht darauf verlassen, das Gericht werde kraft seiner Aufklärungspflicht schon die Wahrheit finden. Er hat selbstverantwortlich an der Ermittlung des Sachverhalts in dem Sinne mitzuwirken, dass er alle dem Mandanten günstigen Umstände unter Beweis stellt, falls sie nicht anderweitig in das Verfahren eingeführt werden. Diese Verantwortung kann dem Verteidiger niemand abnehmen, weder Richter noch Staatsanwalt, letztlich auch nicht der Mandant, der die Bedeutung der zu beweisenden Tatsache häufig gar nicht erkennen kann. Der Verteidiger ist deshalb befugt, einen Beweisantrag auch gegen den Willen des Mandanten zu stellen2. Nun braucht der Verteidiger nicht nur die Kenntnis der Verfahrensregeln. 649 Wer auf sachgerechte Ermittlung von Tatsachen einwirken will, muss die Zusammenhänge des Lebens in möglichst vielen Bereichen zu deuten wissen. Er muss mit Menschen umgehen und sich in ihre Lage versetzen können. Dazu gehören Erfahrung und psychologisches Einfühlungsvermögen. Aus diesem Grund befassen sich die folgenden Ausführungen 1 Sarstedt, DAR 1964, 307. 2 BGH v. 10.4.1953 – 1 StR 145/53, NJW 1953, 1314.
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Rz. 650
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
vorwiegend mit den Grundsätzen und den praktischen Erfahrungen der Beweiserhebung. Zur Lösung von Einzelfragen wird der Verteidiger immer wieder zum Alsberg/Nüse/Meyer oder dem Werk von Hamm/Hassemer/Pauly1 greifen müssen, die Standardwerke über das Beweisrecht sind und dem Praktiker über alle Fragen zuverlässige Auskunft geben. 650
Die Beweiserheblichkeit eines Umstandes für die Schuld- oder Straffrage, der Lebensnerv des Beweisantrags, kann den Verteidiger zu komplizierten Überlegungen tatsächlicher und rechtlicher Art zwingen. Zur Erforschung der Wahrheit sind alle Umstände beweiserheblich, die geeignet sind, den äußeren und inneren Tatbestand der vorgeworfenen Tat festzustellen oder zu widerlegen (§ 244 Abs. 2 StPO).
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Aufgabe des Verteidigers ist es, alle Tatsachen in das Verfahren einzuführen, die den Tatvorwurf aus dem Weg räumen oder mindestens die Tatsachen als zweifelhaft erscheinen lassen, mit denen der Vorwurf bewiesen werden soll. Oft genügt es, beim Richter Zweifel zu wecken und damit seine Überzeugung von den Tatsachen zu erschüttern oder von vornherein zu verhindern, dass er sich eine feste Überzeugung bildet. In diesen Fällen greift der Grundsatz ein „in dubio pro reo“2. Die Bemühungen des Verteidigers, mit Hilfe des ihm zur Verfügung stehenden „Instruments Beweisantrag“ seine Beweisaufnahme durchzuführen, finden häufig nicht die Zustimmung des Gerichts. Das gilt insbesondere dann, wenn der Verteidiger z.B. als Reaktion auf die Kundgabe vorläufiger richterlicher Überzeugungen gezwungen ist, eine Vielzahl von Beweisanträgen zu stellen, etwa um eine vom Gericht als glaubhaft gewertete Zeugenaussage durch eine Reihe von indiziellen Tatsachen zu erschüttern und als unrichtig zu beweisen. Der Verteidiger darf sich durch den nicht selten deutlich bekundeten richterlichen Unwillen nicht abschrecken lassen, seine Schutzaufgabe zu erfüllen. Das Gesetz (§ 246 StGB) und die Rechtsprechung erkennen seine Anstrengungen auch als zulässig an bis zur „Missbrauchsgrenze“ (Rz. 195). Da es ein allgemeines Missbrauchsverbot nicht gibt, wird die Grenze im Einzelfall dann als erreicht angesehen, wenn ein Verfahrensbeteiligter die ihm durch die Strafprozessordnung eingeräumten Möglichkeiten zur Wahrung der von ihm zu vertretenden Belange dazu benutzt, gezielt verfahrensfremde oder verfahrenswidrige Zwecke zu verfolgen, z.B. wenn ein Antrag nur zum Schein der Sachaufklärung wegen gestellt wird, in Wahrheit aber verfahrensfremde Zwecke verfolgt3 (im Einzelnen Rz. 195).
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Der Verteidiger muss seine Aufmerksamkeit auch auf alle Tatsachen richten, die für eine etwaige Strafzumessung bedeutsam sind. Es ist seine 1 Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, 2. Aufl. 2007. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 261 StPO Rz. 26. 3 Dazu umfassend BGH v. 7.11.1991 – 4 StR 252/91, BGHSt. 38, 111 (113) m.N.; BGH v. 22.8.1990 – 3 StR 406/89, StV 1991, 99 (100); OLG Hamburg v. 17.11.1997 – 2 Ws 255/97, NStZ 1998, 586 m. Anm. Kudlich; BayObLG v. 5.3.2004 – 4St RR 22/04, StV 2005, 12 (für den Angeklagten).
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Rz. 654
Pflicht, das gesamte beweisbedürftige Entlastungsmaterial vorzubringen. Dazu gehören auch alle Umstände und Beweismittel, die auf die kriminologisch und kriminalpolitisch maßgeblichen Tatsachen Bezug haben (Rz. 755 ff.). Das gilt auch für die Maßnahmen zur Besserung und Sicherung und die Strafaussetzung zur Bewährung. Der Verteidiger hat hier eine besonders schwierige Aufgabe, die (mangels eines Schuldinterlokuts) durch die Einheit der Hauptverhandlung bedingt ist. Solange er auf den Freispruch seines Mandanten ausgeht, verträgt sich seine Verteidigung nicht mit Beweisanträgen zur Höhe und Aussetzung der Strafe oder zur Verhängung von Maßregeln (über dieses Dilemma vgl. auch Rz. 481, 754 ff.). Der Verteidiger wird daher dahin gehende Beweisanträge zwar (schriftlich) vorbereiten, aber erst im entsprechend späteren Zeitpunkt (evtl. als Hilfsbeweisantrag) anbringen, was freilich seine Tücken hat (Rz. 668). Jedenfalls muss er zur Vorbereitung der Beweiserhebung alle äußeren und inneren Tatsachen sorgfältig ermittelt und sich um Zeugen und Sachverständige bemüht haben (vgl. zu diesem Problem der „Zweischneidigkeit“ auch Rz. 481). Bei vielen Beweisanträgen ist ungewiss, was die Beweisperson in der 653 Hauptverhandlung tatsächlich aussagen wird. Hieraus ergeben sich jedoch keine berufsrechtlichen Bedenken. Auch darf kein Beweisantrag mit der Begründung zurückgewiesen werden, der Verteidiger halte den Erfolg selbst für zweifelhaft. Es ist jedoch gefährlich, erhebliche Tatsachen ins Ungewisse hinein zu behaupten. Werden sie nicht bewiesen, so kann der Eindruck entstehen, das Gericht solle aufgehalten werden, vielleicht sogar der Verdacht, die Wahrheit solle bewusst verschleiert werden. Einen solchen Eindruck muss der Verteidiger im Interesse des Klienten zu vermeiden trachten. Es ist strafrechtlich unter dem Gesichtspunkt der Strafvereitelung (Rz. 73) verboten, wider besseres Wissen angeblich entlastende Tatsachen oder Beweismittel dem Gericht als wahr zu unterbreiten (Rz. 46). Dagegen sind Zweifel des Verteidigers an der Valenz des Beweisantrages 654 kein Hinderungsgrund. Man erlebt es immer wieder, dass einem der Klient Beweisbehauptungen und Beweismittel nahebringt, bei denen man aus mancherlei Gründen Bedenken hat, ob die Beweisperson tatsächlich die in ihr Wissen gestellten Tatsachen bestätigen oder ob sie dabei die Wahrheit sagen wird. Der Verteidiger ist hier nicht verpflichtet, Nachforschungen durchzuführen, bevor er den Beweisantrag stellt, sondern darf sich grundsätzlich auf die Information seines Klienten verlassen1. Allerdings sollte er diesem klarmachen, dass ein fehlgegangener Entlastungsbeweisantrag erfahrungsgemäß im besonderen Maße die richterliche Überzeugung zum Nachteil des Angeklagten stärkt; das gilt erst recht, wenn nach Auffassung des Gerichts der Entlastungszeuge nicht 1 BGH v. 11.3.2003 – 3 StR 28/03, StV 2003, 369; BGH v. 3.8.1966 – 2 StR 242/66, BGHSt. 21, 118 (125); OLG Düsseldorf v. 9.7.1997 – 1 Ws 518/97, StraFo 1997, 333 (334); Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 20 m.N.
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Rz. 655
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die Wahrheit sagt. Ob der Verteidiger überhaupt berechtigt wäre, an einem von seinem Klienten gewünschten Beweisantrag mitzuwirken, erscheint rechtlich zweifelhaft1. Die Formulierung „der Angeklagte stellt den Beweisantrag […]“ dürfte die äußerste Grenze der Distanzierung darstellen. Zu einem vom Angeklagten selbst gestellten Beweisantrag darf er aber Formulierungshilfe leisten. Zumal gegen Ende der Beweisaufnahme werden nicht selten nach Auffassung des Gerichts „Beweisanträge ins Blaue hinein“ gestellt; derartige Anträge werden als Beweisermittlungsanträge behandelt, d.h. sie unterliegen nicht den strengen Regeln des § 244 Abs. 3–5 StPO2. 655
Der „unkontrollierte“ Beweisantrag ist auch aus einem anderen Grund riskant. Oft weiß man nicht, ob ein zur Entlastung des Mandanten gestellter Beweisantrag nicht ins völlige Gegenteil umschlägt. So kann sich bei der Vernehmung eines vom Verteidiger benannten Zeugen herausstellen, dass dieser zwar gewisse entlastende Umstände bestätigt, jedoch in anderen, vielleicht wichtigeren Punkten den Mandanten belastet. Hier zeigt sich die eigentliche Bedeutung, die der außergerichtlichen Befragung von Zeugen und Sachverständigen zukommt (Rz. 217).
656
Überdies ist es ratsam, den Mandanten auf die Kostenfolgen von Beweisanträgen aufmerksam zu machen. Die Gebühren für Zeugen und Sachverständige sind manchmal beträchtlich, ganz zu schweigen von den Kosten und Verteidigergebühren, falls die Hauptverhandlung aufgrund eines Beweisantrags ausgesetzt werden muss (Rz. 705). Allerdings können unter Umständen die Kosten eines erfolgreichen Beweisantrages auch bei Verurteilung der Staatskasse auferlegt werden (§ 465 Abs. 2 StPO).
657
Besonderer Beachtung bedürfen die nur mittelbar erheblichen Umstände, die Beweisanzeichen (Indizien). Beweisanträge der Verteidigung zielen in vielen Fällen darauf ab, den Beweiswert der Anklagetatsachen durch Indizien zu entkräften. Manchmal genügt es, aus der Kette der vom Staatsanwalt vorgebrachten Indizien ein Stück herauszubrechen. Keine Kette ist stärker als ihr schwächstes Glied. Allerdings wehren sich die Gerichte gegen derartige Beweisanträge häufig mit dem Rechtsgrund der Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache, indem sie sich auf den Standpunkt stellen, dass auf der Grundlage des bisherigen Beweisergebnisses die Indiztatsache selbst im Fall ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht beeinflussen könne, weil sie nur mögliche, aber nicht zwingende Schlüsse zulasse und die Richter die mögliche Schlussfolgerung nicht ziehen wol1 Etwas anderes ist das vom Willen des Klienten unabhängige Antragsrecht des Verteidigers, vgl. dazu Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 30 m.N. 2 BGH v. 11.4.2013 – 2 StR 504/12, NStZ 2013, 536; BGH v. 10.4.1992 – 3 StR 388/91, NStZ 1992, 397; BGH v. 10.11.1992 – 5 StR 474/92, StV 1993, 3; MeyerGoßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 20a m.N.; a.A. Gollwitzer, StV 1990, 420.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
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len1. Damit entsteht für die Verteidigung eine gefährliche Situation, weil die Entscheidung signalisiert, dass das Gericht sich seine Überzeugung bereits (definitiv) gebildet hat und einfach „nichts mehr hören will“. In (selten) eindeutig gelagerten Fällen kann hier wohl nur noch ein Ablehnungsgesuch (Rz. 203) helfen. Es handelt sich nicht mehr um einen Indizienbeweis, falls mit einem 658 einwandfreien Alibibeweis die Aussage eines Zeugen widerlegt wird, der behauptet, den Mandanten am Tatort erkannt zu haben. Der Verteidiger muss aber bedenken, dass hier der Satz in dubio pro reo nicht gelten kann2. Wenn der Alibibeweis mit einem non liquet ausgeht, soll das Gericht nicht gehindert sein, von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt zu sein. Allerdings darf es das Misslingen des Alibibeweises nicht als Schuldindiz werten3. Gelegentlich kann der Verteidiger herausfinden, ob das Gericht eine Tat- 659 sache als offenkundig, d.h. als allgemeinkundig oder gerichtskundig, ansehen will4. Denn nicht immer kommen die Instanzgerichte ihrer Verpflichtung nach, die Beteiligten schon während der Beweisaufnahme und nicht erst im Urteil darauf hinzuweisen, was sie als offenkundig behandeln wollen5; ggf. muss der Verteidiger danach fragen. Dies muss der Verteidiger besonders bei Kollegialgerichten beachten. Die Praxis zeigt, dass Berufsrichter mit Laienbeisitzern über die Offenkundigkeit nicht immer einer Meinung sind. Vor allem kennen die ehrenamtlichen Richter kaum einmal die bloß gerichtskundigen Umstände, die den Berufsrichtern meist aus anderen Verfahren geläufig sind. Gleichwohl sollen solche Umstände als gerichtsbekannt vorausgesetzt werden dürfen6. Einem Beweisantrag kann auch die „Erwiesenheit“ eines Umstandes ent- 660 gegenstehen (§ 244 Abs. 3 StPO). Im Verlauf einer Hauptverhandlung ist es oft nicht erkennbar, wie das Gericht die Beweise würdigt, ob es z.B. einem Zeugen glaubt oder einem Sachverständigen folgen wird. Nicht immer wird mit „offenen Karten gespielt“. So kann sich die Ansicht ändern, in der Beratung kann der einzelne Richter überstimmt werden. Ist der Verteidiger nicht ganz sicher, wie das Gericht das Beweisergebnis beurteilt, so sollte er einen Beweisantrag stellen. Man spricht hier auch von einem „affirmativen Beweisantrag“, mit dem ein dem Angeklagten 1 BGH v. 14.7.1992 – 5 StR 231/92, wistra 1993, 29; zur Konnextität zwischen Beweismittel und Beweisbehauptung vgl. BGH v. 4.12.2012 – 4 StR 372/12, NStZ 2013, 476; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 56 m. zahlr. N. 2 Vgl. die Nachw. bei Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 261 StPO Rz. 26. 3 BGH v. 5.7.1995 – 2 StR 137/95, StV 1995, 510. 4 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 50. 5 BGH v. 14.7.1954 – 6 StR 180/54, BGHSt. 6, 292. 6 BGH v. 30.10.1986 – 4 StR 499/86, BGHSt. 34, 209 (210); Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 53.
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
günstiges Beweisergebnis „festgeschrieben“ werden kann. Weicht das Gericht im Urteil davon ab, hat der Verteidiger für die Revision eine wirksame Waffe in der Hand. 661
Der „Beweiserhebungsanspruch“, den der Verteidiger mit dem Beweisantrag geltend macht, steht in untrennbarem Zusammenhang mit der richterlichen Aufklärungspflicht. Im Allgemeinen ist eine Aufklärungsrüge nur aussichtsreich, wenn der Verteidiger in der Tatsacheninstanz entsprechende Beweisanträge, Beweisanregungen oder wenigstens Beweisermittlungsanträge vorgebracht hat. Es ist einhellige Meinung, dass die Aufklärungsrüge nicht dazu dienen darf, unterlassene Beweisanträge nachzuholen. Deshalb ist es richtiger, einen Beweisantrag zu stellen, mag er auch abgelehnt werden. Der Mandant wird zwar einen abgelehnten Beweisantrag als Misserfolg ansehen, den er seinem Verteidiger „ankreidet“. Ggf. ist der Mandant über den Zweck der Maßnahme aufzuklären. Die Furcht, das Vertrauen des Mandanten zu erschüttern, oder gar die Befürchtung, die Gunst des Richters zu verlieren (Rz. 192), dürfen nicht dazu verleiten, einer unvollständigen Beweiserhebung des Tatrichters schweigend zuzusehen.
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Dies gilt selbst dann, wenn ein Zeuge noch einmal über dasselbe Beweisthema gehört werden soll. Die Aufklärungspflicht kann das Gericht zwingen, den Zeugen nochmals zu vernehmen, obwohl ein solcher Antrag lediglich ein Beweisermittlungsantrag ist1 (Rz. 692). Anders ist es, wenn derselbe Zeuge nochmals, aber über ein anderes Beweisthema vernommen werden soll. Die Aufklärungspflicht des Gerichts (Rz. 701) kann im Übrigen besonders dann verletzt sein, wenn bestimmte Fragen und Umstände ungeprüft bleiben, die der Verteidiger mangels eigenen Wissens nicht zum Gegenstand einer konkreten Beweisbehauptung (Rz. 674) machen kann. Das kann namentlich bezüglich der Gründe für Strafzumessung, Strafaussetzung zur Bewährung oder für Maßregeln und Auflagen der Fall sein (Rz. 652, 754 ff., 972). Der Verteidiger darf die Beweisführung aber auch nicht einseitig mit Blickrichtung auf eine etwaige Revision prüfen. Der Beweisantrag besitzt vor allem unmittelbare praktische Bedeutung für die Maßnahmen in der Tatsacheninstanz. Da das Gericht einen Beweisantrag mit einem begründeten Beschluss ablehnen muss (§ 244 Abs. 6 mit § 34 StPO), erfährt der Verteidiger die Ansicht des Richters und kann sich darauf einstellen. Das ist der Sinn des Begründungszwangs2. Dadurch kann der Verteidiger das Gericht veranlassen, die Endentscheidung vorwegzunehmen oder sie wenigstens in groben Zügen anzudeuten. Oft ergibt sich erst aus der Ablehnung eines Beweisantrages, wie das Gericht den Sachverhalt tatsächlich und rechtlich (vorläufig) beurteilt. 1 BGH v. 12.8.1960 – 4 StR 48/60, NJW 1960, 2156. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 41a.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 664
Besonders aufschlussreich ist die Wahrunterstellung. Sie ist statthaft bei 663 beweiserheblichen entlastenden Tatsachen (§ 244 Abs. 3 S. 2 StPO). Hier muss sich der Verteidiger über die gedankliche Grundlage im Klaren sein: Die Wahrunterstellung vertauscht die beantragte Beweiserhebung mit dem erstrebten Resultat und steht einer Beweiserhebung in dem Sinne gleich, dass die unter Beweis gestellte Tatsache im Urteil als bewiesen zu behandeln ist1. Die Erfahrung zeigt, dass die Wahrunterstellung geeignet ist, für den Mandanten ein günstiges Beweisergebnis zu sichern. Es gibt Fälle, in denen man zugleich mit dem (affirmativen) Beweisantrag bei Gericht die Wahrunterstellung (oder die Ablehnung als „bereits erwiesen“) ausdrücklich „anregen“ kann. Die Praxis lehrt aber auch, dass eine gewisse Skepsis angebracht ist. Denn die Wahrunterstellung birgt mancherlei Gefahren. Sarstedt2 bezeichnet sie geradezu als „Alarmzeichen“ für den Verteidiger, das ihn zu schnellem Denken zwingt. Das Gericht darf nämlich eine Tatsache nur als bewiesen unterstellen, falls eine weitere Aufklärung nicht möglich ist3. Die Aufklärungspflicht geht der Wahrunterstellung vor. Zu beachten ist auch, dass die als erheblich unterstellte Tatsache im Urteil zum Nachteil des Angeklagten als unerheblich beurteilt werden kann, ohne dass zuvor auf diesen Meinungswandel hingewiesen wird4 (Rz. 665). Mit der als wahr unterstellten (Indiz-)Tatsache muss das Gericht sich im Urteil ggf. auseinandersetzen5, aber nicht die Schlussfolgerung ziehen, die der Verteidiger möchte6. Behauptet der Verteidiger eine entlastende Tatsache und nennt er ein Be- 664 weismittel, so zeigt er dem Gericht den Weg, den Sachverhalt näher aufzuklären. Dies kann wie ein Bumerang wirken, z.B. wenn der vermeintliche Entlastungszeuge den Mandanten in Wahrheit belastet. Deshalb muss der Verteidiger vor dem Beweisantrag überlegen, ob das Gericht einen bestimmten Umstand nicht ohnehin als bereits widerlegt oder unwiderlegbar ansieht und aus diesem Grund eine weitere Aufklärung nicht für erforderlich hält. Es kann indessen schwierig sein, die Meinung des Gerichts zu erforschen, ohne eine Beweiserhebung zu beantragen. Manchmal hilft es, wenn der Verteidiger einen Beweisantrag lediglich für einen späteren Zeitpunkt ankündigt oder darüber „laut nachdenkt“ und 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 70. 2 Sarstedt, DAR 1964, 312. 3 BGH v. 4.6.1996 – 4 StR 242/96, StV 1996, 647 (648); Meyer-Goßner in MeyerGoßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 70. 4 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 70; allerdings ist ein Hinweis dann erforderlich, wenn es naheliegt, dass der Angeklagte wegen der Wahrunterstellung weitere Beweisanträge unterlässt: BGH v. 18.2.1982 – 2 StR 798/81, BGHSt. 30, 383 (385); OLG Hamm v. 11.2.1983 – 1 Ss 2123/82, NStZ 1983, 522. 5 BGH v. 21.2.1979 – 2 StR 749/78, BGHSt. 28, 310; BGH v. 10.1.1984 – 1 StR 812/83, StV 1984, 142; BayObLG v. 4.8.2004 – 5St RR 154/04, StV 2005, 14. 6 St. Rspr. vgl. nur BGH v. 9.2.1982 – 1 StR 849/81, NStZ 1982, 213; BGH v. 6.8.1986 – 3 StR 234/86, StV 1986, 467; w.N. bei Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 71a.
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Rz. 665
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
dadurch das Gericht zu einer Äußerung „provoziert“. Fällt diese günstig aus, so erübrigt sich der Beweisantrag. Umgekehrt muss der Verteidiger geschickt ausnutzen, dass die richterliche Aufklärungspflicht der Wahrunterstellung vorgeht. Das hat praktische Bedeutung vor allem bei Beweisanträgen, die sich gegen belastende Zeugenaussagen richten. Behauptet der Verteidiger Tatsachen, die gegen die Zuverlässigkeit eines Zeugen sprechen, und nennt er hierfür Beweismittel, so ist es ein Erfolg, wenn das Gericht den Beweisantrag mit einer Wahrunterstellung ablehnt. Dann darf es dem angegriffenen Zeugen nicht gegen die Wahrunterstellung glauben1. Im Grunde genommen ist also die Wahrunterstellung nur zulässig, wenn eine dem Angeklagten günstige Behauptung nicht widerlegt wird und auch nicht widerlegbar ist2. Die Wahrunterstellung ist nicht zulässig bei einem Beweisantrag gegen die Glaubwürdigkeit eines Mitangeklagten, auf dessen Aussage die Anklage beruht3. 665
Jeder erfahrene Verteidiger weiß jedoch, dass die tägliche Praxis der Instanzgerichte hiervon aus guten Gründen abweicht. Viele Wahrunterstellungen mögen prozessual nicht ganz „lupenrein“ sein. Der Praktiker kommt schon aus ökonomischen Überlegungen nicht ohne die Wahrunterstellung aus, die oft das Verfahren abkürzt. Es kann z.B. im Interesse des Mandanten sein, eine Hauptverhandlung nicht ins Uferlose auszudehnen, besonders wenn es nur um das Strafmaß geht. So kann der Verteidiger Leumundszeugen benennen, dabei die schriftlichen Zeugnisse vortragen, die als Urkundenbeweise unverwertbar sind und auf eine Wahrunterstellung hinarbeiten. Das Gericht ist zwar nicht verpflichtet, aus der unterstellten Tatsache (zumal einer Indiz-Tatsache) dieselben Folgerungen zu entnehmen wie der Verteidiger4. Es darf nur keine dem Angeklagten nachteiligen Schlüsse ziehen5. Oft erfährt man aus der Wahrunterstellung, wohin „die Reise geht“. Diese Erkenntnis ist aber wegen der Möglichkeit der richterlichen Meinungsänderung mit Vorsicht aufzunehmen (Rz. 478). Damit kann die Wahrunterstellung in der Praxis zu einem nebelhaften „Orakel der Pythia“ werden, weil die Verteidigung über die entscheidende Frage, die Erheblichkeit der unter Beweis gestellten Tatsachen, in Unsicherheit und Ungewissheit gebracht wird. Die Ablehnung eines Beweisantrages im Wege der Wahrunterstellung wird daher in jedem Fall Anlass zu sorgfältiger Prüfung sein müssen, ob weitere Beweisanträge erforderlich sind. Bei dieser Entscheidung wird auch die Überlegung eine Rolle spielen, dass in der Hauptverhandlung klar bewiesene Entlastungstatsachen psychologisch bei den Richtern echte und tiefere Eindrücke hervorrufen als „von des Gedankens Blässe angekränkel1 2 3 4 5
BGH v. 21.2.1979 – 2 StR 749/78, BGHSt. 28, 310 (311). Hierzu OLG Stuttgart v. 22.3.1967 1 Ss 41/67, NJW 1967, 1627. BGH v. 4.6.1996 – 4 StR 242/96, StV 1996, 647. St. Rspr., BGH v. 6.8.1986 – 3 StR 234/86, StV 1986, 467. BGH v. 4.5.1951 – 4 StR 216/51, BGHSt. 1, 137; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 244 StPO Rz. 70; anders BGH v. 30.4.1976 – 5 StR 481/75, NJW 1976, 1950 m. abl. Anm. Tenckhoff.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 666
te“, nur unterstellte Tatsachen. Außerdem ist über eine in der Hauptverhandlung bewiesene Tatsache weniger Streit möglich als über eine aus einem Antrag herausgelesene Folgerung. Schließlich können geladene Zeugen ergänzend befragt werden, was dem Angeklagten freilich auch zum Nachteil gereichen kann. Die Reaktion auf die Ablehnung eines Beweisantrages wegen Wahrunterstellung kann sich in der Praxis als eine der schwierigsten und folgenreichsten Entscheidungen erweisen, die der Verteidiger in der Hauptverhandlung zu treffen hat. Er wird sie nur aus dem Inbegriff seiner umfassenden Kenntnis der Sache, dem Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme, seiner gesamten forensischen Erfahrung und letztlich mit einem gehörigen Schuss „Intuition“ treffen können. Als vorteilhaft wirkt die Wahrunterstellung insoweit, als sie faktisch zu einer gewissen Bindung des Gerichts führt. Will das Gericht an der Unterstellung nicht festhalten (ohne dass es die Beweistatsache als „unerheblich“ ansieht – Rz. 650), so ist es verpflichtet, hierauf hinzuweisen, notfalls noch nach der Urteilsberatung: sonst verletzt es die Aufklärungspflicht1. Ein solcher Hinweis ist von unschätzbarem Wert, zeigt er doch, dass der Richter nunmehr die unterstellte Tatsache als widerlegt ansehen will. Dann kann der Verteidiger erneut einen Beweisantrag stellen. Hinzu kommt, dass die nicht „widerrufene“ Wahrunterstellung in der Revisionsinstanz meist vorteilhaft ist. Sie wird nicht selten in den Urteilsgründen fehlerhaft behandelt2. Hält der Verteidiger eine Beweiserhebung für notwendig, so muss er den 666 günstigsten Zeitpunkt des Beweisantrages überlegen. Grundsätzlich sollte der Antrag vor Schluss der Beweisaufnahme vorgebracht werden. Im Allgemeinen fragt der Vorsitzende gegen Ende der Beweisaufnahme, ob noch Anträge gestellt werden, und fügt formelhaft hinzu, die Beweisaufnahme werde geschlossen. Der Verteidiger darf nicht zustimmend nicken, falls aus seiner Sicht beweiserhebliche und beweisbare Tatsachen offengeblieben sind. Der Schluss der Beweisaufnahme „im allseitigen Einverständnis“ hindert ihn allerdings nicht, bis zur Urteilsverkündung weitere Beweisanträge anzubringen (Rz. 767)3. Es ist grundsätzlich verboten, einen Beweisantrag als verspätet zurückzuweisen (§ 246 Abs. 1 StPO)4. In der Regel sollte man es jedoch auf den letzten Zeitpunkt nicht ankommen lassen. Vielmehr gilt die Erfahrung: Jede Beweiserhebung ist so frühzeitig zu beantragen, wie es mit dem Verteidigungsplan vereinbar ist. Sonst kommt es zu vermeidbaren Auseinandersetzungen mit Gericht und Staatsanwalt, der unter Umständen die Aussetzung der Hauptverhandlung beantragen kann, um Erkundigungen einzuziehen (§ 246 Abs. 2 StPO).
1 2 3 4
BGH v. 16.2.1966 – 2 StR 489/65, NJW 1966, 989. Dahs, Revision, Rz. 355 ff. BGH v. 26.7.1967 – 2 StR 301/67, NJW 1967, 2019. BGH v. 14.5.1981 – 1 StR 160/81, NStZ 1981, 311.
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Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
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Häufig stellt der Vorsitzende die Entscheidung über einen Beweisantrag auf einen späteren Zeitpunkt der Hauptverhandlung zurück, um mit der Verhandlung ungehindert fortfahren zu können. Zur Zurückstellung der Entscheidung ist er im Rahmen der Prozessleitung grundsätzlich befugt. Eine ungebührliche Hinauszögerung braucht der Verteidiger aber nicht hinzunehmen. Er kann einen Gerichtsbeschluss verlangen (§ 238 Abs. 2 StPO) und andeuten, aus welchem Grund die Beweiserhebung zu diesem Zeitpunkt angebracht ist. Es ist zumindest eine Unsitte der Gerichte, Beweisanträge – vor allem in umfangreichen Wirtschaftsstrafsachen – zunächst nur zu „sammeln“ und die Entscheidung bis zu einem ungewissen Zeitpunkt (häufig bis zum Abschluss der Beweisaufnahme) aufzuschieben. Damit kann die Verteidigungsstrategie in ihrer Wirksamkeit erheblich beeinträchtigt werden, z.B. weil der benannte Sachverständige vor seiner Bestellung kein Fragerecht (§ 80 Abs. 2 StPO) hat. Seine Anwesenheit im Gerichtssaal wird aber zulässig sein. Es ist zu empfehlen, in derartigen Fällen ausdrücklich den Antrag zu stellen, über den Beweisantrag zunächst zu entscheiden. Lehnt das Gericht (durch Beschluss) dies ohne zureichenden Grund ab, so kommt eine Revisionsrüge nach §§ 238 Abs. 2, 338 Nr. 8 StPO in Betracht. Freilich wird oft schwer zu begründen sein, aus welchem Grund das Urteil auf dem rechtsfehlerhaften Aufschub der Entscheidung über den Beweisantrag beruht. Der Verteidiger wird bei sachlich nicht gerechtfertigter, jedoch hartnäckiger Weigerung, über seine Beweisanträge zu entscheiden, die Frage eines Ablehnungsgesuchs (Rz. 229) zu prüfen haben, das – wie stets – allerdings nur das letzte Mittel darstellt.
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Besondere Probleme bringt ein Hilfsbeweisantrag, der nur auf den ersten Blick als bequemer Ausweg erscheint. Der Verteidiger braucht zwar das Gericht nicht ins Beratungszimmer zu schicken; auch vermeidet er Auseinandersetzungen. Man darf sich jedoch durch diese vermeintlichen Vorteile nicht täuschen lassen. Der Hilfsbeweisantrag braucht nämlich erst mit der Urteilsberatung und der Urteilsverkündung erledigt zu werden1. Darin zeigen sich aber zugleich seine erheblichen Nachteile. Der Verteidiger erfährt vor der Urteilsverkündung nicht, ob das Gericht seinen Antrag richtig verstanden hat und wie es das Beweisthema beurteilt. Er vergibt die Chance zu hören, ob das Gericht eine Tatsache bereits als erwiesen ansieht oder als wahr unterstellen will. Da der Hilfsantrag außer wegen Verschleppungsabsicht (Rz. 669) nicht vor dem Urteil beschieden werden muss, entfällt die Zwischenberatung des Gerichts, die dem Verteidiger meist Aufschluss gibt, wie die Entscheidung aussehen wird. Dieser Vorteil des Beweisantrags gegenüber dem Hilfsantrag kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Wegen der Bedeutung der Zwischenberatung ist auch darauf zu achten, dass ein Beweisantrag nicht „untergeht“, eine Gefahr, die besonders bei längeren Hauptverhandlungen und einer Vielzahl von Beweisanträgen besteht. Spätestens vor Schluss der Beweisaufnahme ist an die noch nicht beschiedenen Beweisanträge zu er1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 44a.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 669
innern. Dann hat das Gericht zu entscheiden, vorher darf es sich grundsätzlich den Beschluss für einen späteren Zeitpunkt vorbehalten. Im Allgemeinen ist es zweckmäßig, mit dem Beweisantrag die Bitte zu verbinden, sofort zu beraten, dies ggf. zu begründen sowie einen Gerichtsbeschluss darüber zu beantragen. Ein Rechtsanspruch auf Bescheidung des Hilfsbeweisantrages vor der Urteilsverkündung besteht nicht1 – außer bei Ablehnung wegen Verschleppungsabsicht2. Trotzdem kann man es natürlich versuchen! Je nach der Prozesslage kann es richtig sein, auch einen Eventualbeweisantrag für das Plädoyer aufzuheben (Rz. 750). Das ist aber ein zweischneidiges Verfahren. Das Gericht hat einerseits die Neigung, in der Beratung zu Ende und über den Antrag „hinwegzukommen“. Dem wirkt der Verteidiger entgegen, wenn er vor dem Plädoyer einen echten Beweisantrag stellt. Andererseits kann dem Gericht der Fehler unterlaufen, den Eventualbeweisantrag im Urteil nicht zu bescheiden, was in der Revisionsinstanz zur Aufhebung des Urteils führen kann (Rz. 947). Ebenso liegt es, wenn die Ablehnung des Antrags nur am Rande und unzulänglich begründet ist. Der Hilfsantrag anstelle eines Hauptantrages ist im Übrigen prozesslogisch dann geboten, wenn in der Konzeption des Verteidigers und nach seinem Plädoyer das Beweisergebnis zum Freispruch zwingt. In solchen Fällen kommt es auf weitere Beweiserhebungen nicht an. Der Verteidiger stellt sich aber mit dem Hilfsantrag vorsorglich auf die Möglichkeit einer abweichenden Auffassung des Gerichts ein. Allerdings wird der Eventualbeweisantrag im Plädoyer in der Praxis in solchem Ausmaß strapaziert, dass er von manchen Gerichten schon dem Arsenal des Rechtsmissbrauchs durch die Verteidigung zugerechnet wird (Rz. 195)3. Wird der Beweisantrag frühzeitig gestellt, entfällt auch der Vorwurf der 669 Verschleppungsabsicht (§ 244 Abs. 2 StPO). Hierzu muss der Verteidiger wissen, dass bloße Verspätung des Antrags nicht ausreicht4. Es kommt vielmehr darauf an, dass der Antrag eindeutig ausschließlich in der Absicht vorgebracht wird, die Hauptverhandlung vertagen zu lassen5 oder z.B. die von der Verteidigung gewünschte Absprache (§ 257c StPO) zu erreichen6. Stellt der Verteidiger den Antrag, so muss die Verschleppungsabsicht in seiner Person festgestellt sein. Auf die Absicht des Mandanten kommt es dann nicht an7. Die Rechtsprechung ist hier im Grundsatz im1 BGH v. 24.9.1990 – 4 StR 384/90, NStZ 1991, 47; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 44a m.N. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 44a. 3 Vgl. dazu Hassemer, Über den Missbrauch von Rechten, in FS Meyer-Goßner (2001), S. 127; Herdegen, Das Beweisantragsrecht – zum Rechtsmissbrauch, NStZ 2000, 1. 4 OLG Köln v. 20.4.2000 – Ss 166–167/00, StV 2002, 238. 5 BGH v. 12.3.2003 – 1 StR 68/03, StV 2003, 315; BGH v. 3.8.1966 – 2 StR 242/66, BGHSt. 21, 118; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 67. 6 BGH v. 16.6.2004 – 1 StR 214/04, NStZ 2005, 45. 7 BGH v. 25.8.1964 – 5 StR 240/64, NJW 1964, 2118; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 69.
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Rz. 670
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
mer noch recht „verteidigerfreundlich“1. Auf die Frage, „Warum kommt der Beweisantrag erst jetzt?“, ist der Verteidiger keine Antwort schuldig; mit der Begründung „aus verteidigungstaktischen Gründen“ vergibt er sich allerdings auch nichts. Soll ein Hilfsbeweisantrag (Rz. 668) wegen Verschleppungsabsicht zurückgewiesen werden, so darf diese Entscheidung nicht wie sonst den Urteilsgründen überlassen werden. Der Beschluss muss vielmehr vorher in der Verhandlung ergehen, damit der Verteidiger sich darauf einrichten kann2. 670
Gelegentlich versucht der Mandant, durch nur scheinbar erhebliche Beweisanträge die Entscheidung aufzuschieben. Hieran darf der Verteidiger nicht mitwirken. So wird er keinen Alibizeugen benennen, wenn er sicher weiß, dass dieser das Beweisthema nicht bestätigen kann (Rz. 654). Freilich darf man auch nicht zu vorsichtig sein. Will der Verteidiger nach sorgsamer Prüfung einen Beweisantrag stellen, so ist es unzulässig, ihm den Zeitpunkt vorschreiben zu wollen3. Das Gericht muss davon ausgehen, dass der Verteidiger einen Beweisantrag ohne Verschleppungsabsicht vorbringt (vgl. aber Rz. 669)4. Es obliegt allein der Verteidigung, den Zeitpunkt zu bestimmen. So kann es opportun sein, bereits zu Beginn der Hauptverhandlung einen Beweisantrag vorzutragen oder anzukündigen (Rz. 648). Auch vor der Hauptverhandlung gestellte und abgelehnte Beweisanträge werden zweckmäßigerweise alsbald wiederholt. Oft stellt sich auch erst während der Beweisaufnahme heraus, dass ein neuer Beweisantrag unumgänglich ist, z.B. nach der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen sowie der Beschlussfassung über die Vereidigung von Beweispersonen.
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In besonderen Fällen kann auch ein Beweisantrag auf Vernehmung des in der Sitzung amtierenden Staatsanwalts in Betracht kommen, z.B. wenn es um Vorgänge geht, die sich bei von diesem Staatsanwalt durchgeführten Vernehmungen ereignet haben. Benennung und Vernehmung des Staatsanwalts als Zeuge sind zulässig. Während seiner Vernehmung kann er nicht als Staatsanwalt amtieren, sondern muss ersetzt werden, sonst ist die Revision nach § 338 Nr. 5 StPO begründet. Fraglich ist, ob der als Zeuge vernommene Staatsanwalt anschließend das Amt des Anklägers weiter ausüben und insbesondere die Schlussanträge stellen und das Plädoyer halten kann. Der BGH5 hält die weitere Anklagevertretung für zulässig, meint aber, dass die Würdigung der Aussage des Sitzungsvertreters und der Schlussantrag durch einen anderen Staatsanwalt erfolgen müsse. 1 2 3 4 5
Übersicht bei Schweckendieck, NStZ 1991, 109. BGH v. 8.5.1968 – 4 StR 326/67, NJW 1968, 1339. BGH v. 3.8.1966 – 2 StR 242/66, BGHSt. 21, 118. BGH v. 25.8.1964 – 5 StR 240/64, NJW 1964, 2118. BGH v. 3.5.1960 – 1 StR 155/60, BGHSt. 14, 265 (267); BGH v. 13.7.1966 – 2 StR 157/66, BGHSt. 21, 85 (89); Bedenken erhebt BGH v. 25.4.1989 – 1 StR 97/89, NStZ 1989, 583; i.E. Schneider, NStZ 1994, 457.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 673
Diese höchstrichterliche Auffassung mag von der Besorgnis getragen sein, dass anderenfalls die Benennung des Staatsanwalts als Zeuge ein allzu gefälliges Mittel werden könnte, eine Hauptverhandlung „zum Platzen“ zu bringen. Je nach Lage des Falles (z.B. wiederholte Vernehmung, Gegenüberstellung, einschlägige weitere Ermittlungen) werden sich indes gute Gründe gegen die weitere Anklagevertretung durch den Zeugen-Staatsanwalt vorbringen lassen, z.B. wenn es um konträre Beweisergebnisse zu dem vom Staatsanwalt bekundeten Sachverhalt (z.B. Absprache-Vorgänge während der U-Haft) geht1. Auch Beweisanträge auf Vernehmung eines erkennenden Richters als 672 Zeuge kommen vor, z.B. wenn er als beauftragter Richter Untersuchungshandlungen vorgenommen hat oder sonst Sachdienliches bekunden kann. Hier kann der Beweisantrag zurückgewiesen werden, wenn der benannte Richter eine dienstliche Erklärung dahin abgibt, von dem in sein Wissen gestellten Sachverhalt keine Kenntnis zu haben2 oder sich nur zu Vorgängen äußern zu können, die er im Zusammenhang mit seiner amtlichen Tätigkeit in der verhandelten Sache (also nicht außerhalb des Prozesses) wahrgenommen hat3. Auch die Wurzel für diese Rechtsprechung dürfte in der Besorgnis der Verfahrenssabotage4 (Rz. 75 ff.) zu finden sein. Dies darf den Verteidiger allerdings nicht hindern, einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen, wenn die Interessen der Verteidigung dies erfordern. Wenn möglich, sollte eine kurze Begründung den in der Luft liegenden Verdacht ausräumen. Ein Beweisantrag, der die Aufklärung von Vorgängen in der Hauptverhandlung zum Ziel hat (z.B. die Klärung des Inhalts einer Zeugenaussage), ist unzulässig, weil er nicht die Sache betrifft5. Der Verteidiger muss auf die ordnungsgemäße Protokollierung des Be- 673 weisantrages achten (Rz. 709). Nur die Niederschrift über die Hauptverhandlung beweist, dass ein Beweisantrag gestellt ist (§ 274 StPO). Versäumnisse in der Protokollierung lassen sich auch hier kaum einmal reparieren. Der Verteidiger kann durch die äußere Form des Beweisan1 BGH v. 3.2.2005 – 5 StR 84/04, wistra 2005, 223. 2 BGH v. 23.6.1993 – 3 StR 89/93, NStZ 1994, 80 (81 f.). 3 BGH v. 28.1.1998 – 3 StR 575/96, NStZ 1998, 524 m. Anm. Bottke; BGH, NStZ 2004, 355; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 49. 4 Vgl. BGH v. 12.3.2003 – 1 StR 68/03, StV 2003, 315; BGH v. 14.6.2005 – 5 StR 129/05, StV 2006, 113 m. Anm. Dahs, 116 ff.; BGH v. 9.5.2007 – 1 StR 32/07, NStZ 2007, 659; BGH v. 21.8.2007 – 3 StR 238/07, NStZ 2009, 168 (169); BGH v. 10.11.2009 – 1 StR 162/09, NStZ 2010, 161; BGH v. 18.9.2008 – 4 StR 353/08, NStZ-RR 2009, 21; BGH v. 28.10.2010 – 4 StR 359/10, StraFo 2011, 50; BGH v. 9.7.2009 – 5 StR 263/08, NJW 2009, 3248; BVerfG v. 6.10.2009 – 2 BvR 2580/08, NJW 2010, 592 ff.; BVerfG v. 6.10.2009 – 2 BvR 2580/08, NStZ 2010, 155. 5 BGH v. 22.8.1990 – 3 StR 406/89, BGHR StPO § 244 Abs. 3 S. 1 Unzulässigkeit 4; BGH v. 18.8.1992 – 1 StR 257/92, BGHR StPO § 244 Abs. 3 S. 1 Unzulässigkeit 7; BGH v. 23.6.1993 – 3 StR 89/93, BGHR StPO § 244 Abs. 3 S. 1 Unzulässigkeit 9; BGH v. 25.6.1993 – 3 StR 90/93, BGHR StPO § 244 Abs. 3 S. 1 Unzulässigkeit 10.
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Rz. 674
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
trags dafür sorgen, dass Nachteile nicht entstehen. So ist es zweckmäßig, alle Beteiligten auf den Beweisantrag aufmerksam zu machen, besonders den Protokollführer. Der Antrag sollte auch grundsätzlich schriftlich abgefasst, versehen mit der Überschrift „Beweisantrag“, vorgelesen und überreicht werden mit der Bitte um Protokollierung. Die schriftliche Niederlegung des Antrags durch den Verteidiger ist zwar nicht vorgeschrieben, es reicht der mündliche Vortrag und dessen Protokollierung. Nach § 257a StPO kann das Gericht aber die schriftliche Antragstellung verlangen. In jedem Falle verhindert die schriftliche Formulierung nebst Übergabe an das Gericht Missverständnisse über den Inhalt des Antrags (und ggf. seiner Begründung). Auch hebt sich der Antrag auf diese Weise vom sonstigen Prozessgeschehen ab. Der Verteidiger kann die Wichtigkeit des Antrags noch unterstreichen, indem er um eine kurze Unterbrechung der Verhandlung bittet und ankündigt, er wolle einen Beweisantrag vorbereiten. Das ist ohnehin oft unerlässlich, um den Antrag – soweit dieser nicht anderweitig vorbereitet werden konnte – in Ruhe abfassen zu können. Dadurch erreicht der Verteidiger auch, dass er sich den Inhalt des Beweisantrages genau überlegen kann. Viele Beweisanträge sind allein deshalb erfolglos, weil sie falsch formuliert sind. Zu jedem ordnungsgemäßen Beweisantrag gehören vor allem eine uneingeschränkte Tatsachenbehauptung und ein Beweismittel. Fehlt es an dem einen oder dem anderen, so handelt es sich allenfalls um einen Beweisermittlungsantrag, der letztlich nur ein Notbehelf ist (Rz. 692). 674
Oft nicht korrekt ist die Beweisbehauptung. Unrichtig ist die Formulierung, der Zeuge X solle darüber vernommen werden, ob er einen bestimmten Vorgang beobachtet hat. Richtig heißt es: Der Zeuge soll darüber vernommen werden, dass er den Vorgang gesehen hat. Der Verteidiger muss jede Formulierung vermeiden, die wie eine Frage aussehen könnte. Auch muss sich eine Behauptung auf Tatsachen erstrecken. Das ist besonders wichtig beim Sachverständigenbeweis. So reicht es nicht aus, die Anhörung eines Sachverständigen darüber zu beantragen, dass der Mandant schuldunfähig sei. Das ist keine Tatsache, sondern eine aus medizinischen und juristischen Elementen zusammengesetzte Bewertung. In diesem Falle muss daher behauptet werden, an welcher Krankheit der Mandant leidet, die den Schluss auf die Schuldunfähigkeit zulässt. Es kann aber auch so sein, dass unter dem Wertungsbegriff (Schuldunfähigkeit) bestimmte Tatsachen des Falles gemeint sind. Das Gericht wird dem Verteidiger ggf. zur Klarstellung Gelegenheit geben müssen. Die Beweisbehauptung kann sich auch auf negative Tatsachen beziehen, z.B. dass sich am Tatgegenstand keine Spuren befinden, die auf eine Täterschaft des Angeklagten hindeuten1.
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Bei jedem Beweisantrag muss der Verteidiger darauf achten, dass die beantragte Beweiserhebung nicht gegen Beweisverbote verstößt oder sonst 1 BGH, StV 2000, 280.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 679
unzulässig ist (§ 244 Abs. 3 StPO), beispielsweise ein Verlesungsverbot nach §§ 251 ff. StPO entgegensteht (Rz. 631 ff.). Bei Angabe der Beweismittel ist daran zu denken, dass zu jeder Tatsa- 676 chenbehauptung das Beweismittel gehört, mit dem sie nachgewiesen werden soll. Werden mehrere Behauptungen in einem Beweisantrag aufgestellt, so empfiehlt es sich, das Beweismittel sofort hinter jede Behauptung zu setzen. Dann kann es keine Missverständnisse geben. Als unerreichbar wird ein Beweismittel angesehen, wenn das Gericht 677 sich erfolglos um seine Heranziehung bemüht hat und keine begründete Aussicht besteht, dass es in absehbarer Zeit beigebracht werden kann1. Dabei müssen Bedeutung des Beweismittels und Beschleunigungsgebot gegeneinander abgewogen werden2. Dass die Ladung mit dem Vermerk „unbekannt verzogen“ zurückkommt, reicht allein nicht aus, ebenso wenig der Umstand, dass der Zeuge im Ausland wohnt3; insoweit ist allerdings § 244 Abs. 5 S. 2 StPO zu beachten4. Die Erreichbarkeit des polizeilichen Gewährsmannes („V-Mannes“), dessen Identität die Behörden geheim halten, ist ein Sonderproblem. Hier muss das Gericht mit Nachdruck versuchen, Namen und Anschrift des Zeugen zu erhalten, die nur im Ausnahmefall verweigert werden dürfen5 (Rz. 574). In manchen Fällen kann sich auch eine kurze Begründung des Beweis- 678 antrages als zweckmäßig erweisen. Mit ihr kann der Bezug zu anderen Ergebnissen der Beweisaufnahme oder richterlichen Hinweisen oder sonstigen Äußerungen des Gerichts zur Sache hergestellt werden. Diese Anknüpfung an andere Prozesstatsachen macht es in der Revision leichter, die Relevanz des Beweisantrages zum Ergebnis der Hauptverhandlung und zum Urteil nachzuweisen. Eine solche Begründung, die auch als „Obersatz“ zum Beweisantrag formuliert werden kann, ist auch geeignet, frühere Ergebnisse der Beweisaufnahme in gewissem Sinne „festzuschreiben“ (Rz. 628). Das gilt ebenfalls dann, wenn das Gericht dieser besonderen Art von prozessualen „Anknüpfungstatsachen“ bei seiner Entscheidung über den Beweisantrag nicht widerspricht. Wegen Ungeeignetheit des Beweismittels darf die Beweiserhebung schon 679 nach dem Gesetzeswortlaut nur verweigert werden, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet ist6. Das wird nur sehr selten der Fall sein. Deshalb ist zu prüfen, ob die Begründung, das Beweismittel sei unbrauchbar, 1 BGH v. 22.3.1979 – 4 StR 691/78, NJW 1979, 1788. 2 BGH v. 4.8.1992 – 1 StR 246/92, NStZ 1993, 50 m.N.; Meyer-Goßner in MeyerGoßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 62a m.N. 3 Vgl. i.E. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 63. 4 Vgl. i.E. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 63. 5 Näher bei Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 66. 6 BGH v. 14.6.1960 – 1 StR 73/63, BGHSt. 14, 339; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 58.
439
Rz. 680
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
nicht in Wahrheit eine verbotene vorweggenommene Beweiswürdigung verdeckt1, beispielsweise wenn das Gericht die Vernehmung eines Zeugen ablehnt, weil er „ohnehin“ unglaubhaft sei, weil er sich nach so langer Zeit nicht mehr erinnern werde2 oder weil er schon im Vorverfahren die Behauptung nicht bestätigt habe. Rechtsfehlerhaft ist auch die Ablehnung mit der Begründung, das (z.B. technische) Beweismittel erbringe nur einen Beweis zu 90 %, nicht aber zu 100 %. Über den Wert eines Beweismittels lässt sich erst urteilen, wenn der Beweis erhoben ist. Deshalb darf das Gericht auch nicht aus der bisherigen Beweisaufnahme schließen, ein beantragtes Beweismittel sei ungeeignet. Ggf. muss unverzüglich ein neuer Beweisantrag vorgebracht werden. 680
Es kommt vor, dass das Gericht anstelle des benannten Beweismittels zur Aufklärung der Beweistatsache ein anderes Beweismittel benutzt. Die „Austauschbarkeit von Beweismitteln“ ist grundsätzlich nicht statthaft, insbesondere darf nicht ein Zeuge durch einen anderen Zeugen ersetzt werden. Allein in Ausnahmefällen wird sie zugelassen, beispielsweise die Ersetzung einer amtlichen Auskunft durch eine Zeugenvernehmung3 oder die Augenscheinseinnahme eines Stadtplans anstelle der Vernehmung eines Polizeibeamten4.
681
Bei der Zeugenbenennung sind möglichst Vorname, Name und ladungsfähige Anschrift anzugeben. Dies ist zwar nicht unbedingt erforderlich5, es braucht nicht einmal der Name des Zeugen angegeben zu werden, wenn nur seine Person feststeht. Es wird z.B. als ausreichend angesehen, den Polizeibeamten zu benennen, der den Mandanten vorläufig festgenommen hat. Das Gericht ist verpflichtet, den Zeugen zu ermitteln6. Freilich sollte der Verteidiger dazu beitragen, das Verfahren zu fördern, indem er einen Zeugen möglichst genau bezeichnet, zumindest indem er mitteilt, wie er zu ermitteln ist.
682
Schwierigkeiten gibt es oft bei der Benennung von Sachverständigen. Der Verteidiger braucht keinen bestimmten Sachverständigen anzugeben7, wenn dies im Allgemeinen auch zweckmäßig ist. Das eigentliche Problem liegt jedoch darin, dass die Gerichte dem von der Verteidigung beantragten Sachverständigen oft skeptisch gegenüberstehen und nach Ablehnungsgründen suchen (§ 244 Abs. 4 StPO). Häufig ist die Ablehnung 1 Vgl. die bei Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 59 ff. angeführten Beispiele. 2 Vgl. aber BGH v. 12.10.1999 – 1 StR 109/99, NStZ 2000, 156; BVerfG v. 2.10.2003 – 2 BvR 149/03, NStZ 2004, 215 für die Fallgestaltung, dass Zeugen für einen lange zurückliegenden, für sie unbedeutenden, alltäglichen Vorgang benannt werden. 3 BGH v. 12.3.1969 – 2 StR 33/69, NJW 1969, 1219; Hanack, Zur Austauschbarkeit von Beweismitteln im Strafprozess, JR 1970, 561; Schulz, StV 1983, 341. 4 BGH v. 3.3.1977 – 2 StR 390/76, BGHSt. 27, 135. 5 BGH v. 2.5.1967 – 1 StR 119/67, GA 1968, 19. 6 Nachw. bei Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 21. 7 OLG Celle v. 3.7.1969 – 1 Ss 107/69, MDR 1969, 950 (Nr. 83).
440
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 684
mit der Begründung, das Gericht habe genügend eigene Sachkunde. Damit darf sich der Verteidiger nicht zufrieden geben. Ein Fachmann ist zwar grundsätzlich nur hinzuzuziehen, falls er mehr Fachkunde besitzt als der Richter (Rz. 616). Hierüber kann man sehr verschiedener Meinung sein. Der Verteidiger, der einen Sachverständigen gehört haben will, bezweifelt notwendigerweise die Sachkunde des Richters. Deshalb kann es angebracht sein, den Beweisantrag ausführlicher zu begründen, um Auseinandersetzungen auszuweichen. Der Verteidiger kann darauf verweisen, warum der benannte Sachverständige besondere Erfahrung auf seinem Gebiet besitzt. Indessen sollte der Verteidiger die Sachkunde des Richters nicht in jedem 683 Falle bezweifeln, sonst werden die Prozesse mehr oder weniger von Sachverständigen entschieden (Rz. 616). Der Verteidiger darf jedoch keinesfalls auf die Benennung eines Sachverständigen verzichten, wenn er nach gewissenhafter Prüfung überzeugt ist, dass die Sachkunde des Richters nicht ausreicht1. In diesem Falle muss er auch Auseinandersetzungen auf sich nehmen. Er kann sich darauf stützen, dass die Revisionsgerichte dem Tatrichter enge Grenzen setzen, wenn es um die Beurteilung von Fachfragen geht. Beruft sich der Richter auf eigenes Sachverständnis, dann ist der Beweisantrag manchmal das einzige Mittel, die Chancen für die Revision zu wahren. Auch kann der Beweisantrag erforderlich sein, um noch in der Hauptverhandlung zu erfahren, worauf das Gericht die eigene Sachkunde stützt. Sie muss zwar im Urteil im Einzelnen begründet werden, dann kann es aber zu spät sein. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass beim Kollegialgericht die Sachkenntnis nur eines Richters genügen soll2. Besonders sorgfältig ist ein Beweisantrag zu begründen, der darauf zielt, 684 einen Obergutachter vernehmen zu lassen3. Das Gericht wird sich häufig scheuen, einen weiteren Gutachter anzuhören, und folgt lieber „seinem“ gerichtlich bestellten Sachverständigen. Hält der Verteidiger das bisher erstattete Gutachten nicht für ausreichend, so darf er nicht nachgeben, sondern muss im Einzelnen darlegen, warum nach seiner Meinung die behauptete Tatsache durch das „Erstgutachten“ noch nicht widerlegt ist (§ 244 Abs. 4 S. 2 StPO). In geeigneten Fällen ist darüber hinaus vorzutragen, aus welchen Gründen die Sachkunde des angehörten Sachverständigen zweifelhaft ist, inwieweit dieser von unrichtigen tatsächlichen Voraussetzungen ausgegangen ist, warum sein Gutachten Widersprüche enthält oder weshalb der genannte Obergutachter über bessere Forschungsmittel verfügt. Dazu kann der Verteidiger ausführen, dass die Rechtsprechung der Revisionsgerichte in schwierigen Beweisfragen ver1 Döhring, Fachliche Kenntnisse des Richters und ihre Verwertung im Prozess, JR 1968, 641; Lifschütz, Das Sonder-Fachwissen des Richters, NJW 1969, 305. 2 BGH v. 15.12.1982 – 2 StR 83/82, NStZ 1983, 325; BGH v. 10.7.1958 – 4 StR 211/58, BGHSt. 12, 18. 3 Jessnitzer, StV 1982, 177.
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Rz. 685
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
langt, ein weiteres Gutachten einzuholen1. Die Praxis beachtet diesen Grundsatz nicht immer ausreichend, wobei manchmal auch fiskalische Gründe mitwirken mögen. Allerdings ist der Verteidiger in einer schwierigen Situation. Das Gericht kann im Urteil auf eine unanfechtbare Tatsachenfeststellung ausweichen und im Einzelnen darlegen, warum es dem angehörten Sachverständigen folgt. Daher ist es ratsam, schon während der Vernehmung des gerichtlich bestellten Sachverständigen die Möglichkeit eines weiteren Gutachtens nicht aus dem Auge zu lassen. So kann es notwendig sein, den Erstgutachter zu fragen, worauf seine Sachkunde beruht (Rz. 621). 685
Hat der Verteidiger Zweifel, ob das Gericht einem für den Mandanten günstigen Gutachten folgen will, so kommt auch hier ein „affirmativer Beweisantrag“ in Betracht. Der Verteidiger kann beantragen, für den Fall, dass das Gericht zu der Auffassung kommen sollte, der Sachverständige sei von unrichtigen tatsächlichen Voraussetzungen ausgegangen, sein Gutachten enthalte Widersprüche oder seine Sachkunde reiche nicht aus, einen Sachverständigen über dieselben Beweisfragen zu vernehmen. Das Gericht muss über diesen Eventualbeweisantrag zwar erst im Urteil entscheiden, wird um ihn aber nur dann „herumkommen“, wenn es sich nunmehr auf die eigene Sachkunde beruft, die es durch das (angeblich nicht überzeugende) Gutachten erworben haben will – ein revisionsrechtlich zweifelhaftes Unterfangen.
686
Das ist besonders wichtig bei medizinischen Beweisthemen. Vor allem kann nicht jeder „Gerichtsarzt“ sämtliche Fächer beherrschen (Rz. 227, 621). Daher darf sich der Verteidiger nicht ohne weiteres damit zufriedengeben, dass z.B. der chirurgische Gutachter Fragen der Schuldunfähigkeit, des pathologischen Rausches oder des Borderline-Syndroms beurteilt. Auch sonst hat der Verteidiger darauf zu achten, dass der „richtige“ Fachmann gehört wird, beispielsweise der Psychologe statt des Psychiaters oder umgekehrt, wenn Kinderaussagen zu beurteilen sind (Rz. 614 f.). Überhaupt muss sich der Verteidiger eingehend um das Fachgebiet des Sachverständigen kümmern. Sonst kann er z.B. nicht begründen, warum die Sachkunde des Erstgutachters nicht ausreicht (Rz. 226). Dabei kann der Verteidiger Beispielsfälle vortragen, in denen sich falsche Gutachten des einzigen Sachverständigen unheilvoll für den Angeklagten ausgewirkt haben. Geschickt ausgewählte Beispiele vermögen vor allem ehrenamtliche Richter eher zu überzeugen als noch so glänzende theoretische Ausführungen über den Unwert eines Gutachtens. Praktische Beispiele lassen sich oft auch für die Fehlbeurteilung technischer Fragen vorbringen. Die Fortschritte der Technik haben zu einer weitgehenden Spezialisierung der Fachleute geführt. Der Verteidiger muss die Grenzen der einzelnen Fachgebiete kennen und sie dem Gericht deutlich 1 BGH v. 21.5.1969 – 4 StR 446/68, BGHSt. 23, 8 (12); BGH v. 21.11.1969 – 3 StR 249/68, BGHSt. 23, 176 (187); Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 77.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 689
machen. Zu diesem Zweck hat sich der Verteidiger notfalls zu erkundigen, welcher Fachmann die zur Beurteilung des Beweisthemas erforderlichen Kenntnisse besitzt. Ggf. kann man sich an die Hochschulen und Fachschulen sowie die Berufsverbände wenden, auch an Handels- und Handwerkskammern. Kann der Verteidiger den Urkundenbeweis nicht führen, indem er die Ur- 687 kunde vorlegt, so muss er deren Herbeischaffung beantragen. Befindet sich die Urkunde in mehr oder weniger umfangreichen Akten, dann reicht der allgemeine Antrag auf Aktenbeiziehung meist nicht aus. Das ist allenfalls ein Beweisermittlungsantrag (Rz. 692). Die Aktenteile sind vielmehr möglichst genau zu bezeichnen1. Im Übrigen können Urkunden ungeachtet der Neufassung des § 249 StPO nach wie vor durch Bekanntgabe ihres wesentlichen Inhalts statt durch Verlesung in die Verhandlung eingeführt werden2. Der Verteidiger kann aber die wörtliche Verlesung durch einen entsprechenden Antrag erzwingen; ggf. ist ein Antrag auf auszugsweise Verlesung vorzuziehen, insbesondere bei umfangreichen Schriftstücken. Beim Augenscheinbeweis (Rz. 641) ist anzugeben, was zu sehen sein 688 wird. Es genügt nicht, einen Ortstermin zur allgemeinen Aufklärung des Tatgeschehens zu beantragen. Das wäre lediglich eine Beweisanregung, die das Gericht nicht wie einen Beweisantrag zu bescheiden braucht (Rz. 692). Dies hat der Verteidiger besonders in Verkehrsstrafsachen zu berücksich- 689 tigen3. Er wird beispielsweise beantragen müssen, den Augenschein dafür anzuordnen, dass ein bestimmter Zeuge von seinem Platz aus den Unfall nicht beobachten konnte. Damit allein ist freilich noch nicht sicher, dass sich der Richter an Ort und Stelle begibt. Es ist Sache seines pflichtgemäßen Ermessens, ob er den Augenschein durchführt (§ 244 Abs. 5 StPO). Das richterliche Ermessen wird durch die Aufklärungspflicht begrenzt. Manche Gerichte machen davon weitgehend Gebrauch; andere verweigern den Ortstermin grundsätzlich. Der Augenschein darf jedenfalls nicht abgelehnt werden, wenn er dazu dienen soll, eine Zeugenaussage zu entkräften4. Auch eine Ablehnung lediglich mit dem Gesetzeswortlaut ist fehlerhaft5. Andererseits soll der Augenschein über die Sichtverhältnisse an der Unfallstelle dadurch ersetzt werden können, dass das Gericht einen Polizeibeamten als Zeugen vernimmt, der die
1 BGH v. 31.1.1996 – 2 StR 621/95, StV 1996, 247; BGH v. 23.3.1982 – 1 StR 674/81, NStZ 1982, 296; BGH v. 26.5.1981 – 1 StR 48/81, BGHSt. 30, 131. 2 BGH v. 10.12.1980 – 3 StR 410/80, NStZ 1981, 231. 3 BGH v. 7.5.1954 – 2 StR 27/54, BGHSt. 6, 128 (129). 4 OLG Bremen v. 11.7.1962 – Ss 59/62, DAR 1963, 170; OLG Köln v. 30.11.1965 – Ss 395/65, NJW 1966, 606. 5 Fischer in KK, § 244 StPO Rz. 210; Sarstedt, DAR 1964, 314; a.A. OLG Hamm, VRS 7, 374; OLG Oldenburg, NdsRpfl 52, 151.
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Rz. 690
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Sichtverhältnisse überprüft hat1. Um den Augenschein sachgerecht beantragen zu können, sollte sich der Verteidiger den Tat- oder Unfallort vorher selbst ansehen (Rz. 319) und etwa vorhandene Skizzen und Lichtbilder auf ihre Richtigkeit und Genauigkeit prüfen. Noch so gute und maßstabgerechte Zeichnungen vermögen den persönlichen Eindruck kaum zu ersetzen. Da Ortsbesichtigungen den Terminplan des Gerichts meist durcheinanderbringen, werden sie leicht mit der Begründung abgelehnt, die in den Akten befindliche Skizze reiche aus2. Mit eigener Ortskenntnis kann der Verteidiger das Gericht eher von der Notwendigkeit der Augenscheinseinnahme überzeugen. 690
Man muss auch damit rechnen, dass der Augenschein abgelehnt wird, weil der Richter die Örtlichkeit selbst kennt. Hier ist zu prüfen, worauf diese Kenntnis beruht. Privates Wissen des Richters darf den Augenschein nicht ersetzen. Das käme einer „informatorischen Ortsbesichtigung“ gleich, die unverwertbar ist3. Die Ortskenntnis des Gerichts kann allenfalls ausreichen, wenn es sich um offenkundige Tatsachen handelt (Rz. 659), etwa um die allgemeinen Verkehrsverhältnisse an einer bestimmten Kreuzung4. Entsprechende Angaben kann der Verteidiger ggf. auch mit Hilfe des Internets und dort vorhandener Aufnahmen kurzfristig prüfen.
691
Sollen mit der Augenscheinseinnahme Experimente oder die Rekonstruktion des Tatgeschehens verbunden werden, so ist ein ausdrücklicher Antrag zweckmäßig. Das Gericht kann zwar auch hierüber nach seinem pflichtgemäßen Ermessen entscheiden, weil es sich lediglich um eine Beweisanregung handelt5. Dabei kann aber die Aufklärungspflicht verletzt werden. Bei Kollegialgerichten sollte man stets darauf drängen, dass nicht nur der Vorsitzende oder der Berichterstatter den Tatort besichtigt. Das ist zwar zulässig; das Protokoll ist in der Hauptverhandlung zu verlesen6. Meist ist es jedoch unerlässlich, dass das ganze Gericht die Örtlichkeiten kennenlernt.
692
Bleiben trotz sorgsamer Prüfung aller Voraussetzungen eines Beweisantrags Zweifel, ob das Gericht „mitmacht“, so darf der Verteidiger nicht ohne weiteres aufgeben. Er muss immer bedenken: In jedem nicht ordnungsgemäßen Beweisantrag kann ein Beweisermittlungsantrag7, eine Beweisanregung stecken, die das Gericht kraft seiner Aufklärungspflicht zwingt, der Sache nachzugehen8. Der Beweisermittlungsantrag braucht 1 2 3 4 5 6 7 8
OLG Hamm, VRS 1968, 61. OLG Düsseldorf, VRS 1966, 456. BGH v. 2.10.1952 – 3 StR 83/52, BGHSt. 3, 187 (188). Koch, Tatort und Augenschein in Verkehrsstrafsachen, DAR 1961, 275. BGH v. 20.6.1961 – 1 StR 212/61, NJW 1961, 1486. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 225 StPO Rz. 2 f. Zur Abgrenzung BGH v. 31.7.1980 – 2 StR 343/80, GA 1981, 228. BGH v. 29.8.1990 – 3 StR 184/90, NStZ 1990, 602; BGH v. 13.12.1967 – 2b StR 619/67, NJW 1968, 1293.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 695
zwar nicht wie ein Beweisantrag durch einen begründeten Beschluss abgelehnt zu werden1. Vielleicht geht aber das Gericht darauf ein. Möglicherweise unterläuft bei der Ablehnung ein Fehler, etwa wenn die Beweisanregung als unzulässig verworfen wird. Manchmal sieht das Revisionsgericht den Antrag doch als ordnungsgemäßen Beweisantrag an. Mindestens erleichtert aber der Beweisermittlungsantrag für den Fall einer Revision die Aufklärungsrüge. Um diese Chancen zu wahren, sollte der Verteidiger den Antrag auch dann schriftlich vorbereiten und wie einen Beweisantrag in die Hauptverhandlung einführen, wenn er von vornherein erkennt, das Gericht wird den Antrag ablehnen oder ihn als bloße Beweisanregung auffassen. Praktische Bedeutung hat dieses Vorgehen immer dann, wenn man die Beweisbehauptung nicht genau aufstellen oder ein Beweismittel nicht oder nicht bestimmt genug nennen kann. Auch hier gilt die Erfahrung: Handeln ist richtiger als Schweigen! bb) Beweisanträge des Staatsanwalts Der Staatsanwalt braucht in der Hauptverhandlung nur selten Beweis- 693 anträge zu stellen, weil er seine Beweismittel in der Anklage benannt hat und sie in aller Regel vom Gericht geladen bzw. herbeigeschafft sind (§ 245 Abs. 1 S. 1 StPO). Die Staatsanwaltschaft kann Beweispersonen auch formlos zur Hauptverhandlung laden und ihre Vernehmung beantragen, wobei die Gerichte ihren in der Praxis seltenen Beweisanträgen eher positiv gegenüberstehen. Für die Verteidigung besonders problematisch sind Ermittlungen des 694 Staatsanwalts während der Hauptverhandlung zur Vorbereitung von Beweisanträgen. Dies gilt als zulässig, obwohl damit das Verfahren jedenfalls teilweise der Herrschaft des Gerichts entzogen wird. Da der Verteidiger von Zeugenvernehmungen oder anderen Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft in aller Regel nichts erfährt, hat er auch keine Möglichkeit, daran teilzunehmen. Oft präsentiert die Staatsanwaltschaft zugleich mit dem Beweisantrag das Protokoll, das sie über die vorgängige Vernehmung des Zeugen bereits angefertigt hat. Dem Gericht bleibt dann wenig anderes übrig, als dem Beweisantrag stattzugeben und das Protokoll in der Hauptverhandlung „nachzuvollziehen“. Man kann zweifeln, ob ein solches Vorgehen mit den Grundsätzen der Fairness im Verfahren in Einklang steht. Der Verteidiger muss in solchen Fällen sehr kritisch und hartnäckig das Zustandekommen der Aussage des Zeugen oder des sonstigen Beweisergebnisses prüfen; in diesem Zusammenhang wird es auch nicht selten angezeigt sein, den Staatsanwalt als Zeugen zu benennen, um die Entstehungsgeschichte des Beweisergebnisses zu klären (Rz. 671). Der Verteidiger kann sich dagegen wenden, falls ihm das Beweismittel 695 nicht so rechtzeitig genannt ist, um noch Erkundigungen einzuziehen 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 27.
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Rz. 696
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
(§ 246 Abs. 2 StPO). In diesem Falle muss er Aussetzung der Verhandlung, jedenfalls aber die Verschiebung der Beweiserhebung beantragen. Dann wird die Vernehmung der Beweisperson wenigstens hinausgeschoben und auf diese Weise das Überraschungsmoment ausgeschaltet. Fehlt dem Beweisantrag eine Voraussetzung, muss der Verteidiger widersprechen, um eine ungünstige Entwicklung der Beweisaufnahme schon im Ansatz zu verhindern. Meist ist es zweckmäßig, den Widerspruch zu begründen, der auch zu einem „Plädoyer im kleinen“ ausgestaltet werden kann. Das Gericht wird dadurch veranlasst, sich mit den Argumenten der Verteidigung auseinanderzusetzen. Manchmal bedeutet dies eine Vorwegnahme der Entscheidung (Rz. 662). 696
Sorgfältige Überlegungen sind auch geboten, wenn der Staatsanwalt einen Beweisantrag stellt, der sich auf Entlastungstatsachen erstreckt. Man ist leicht geneigt, hierin eine günstige Entwicklung der Beweisaufnahme zu sehen und sich dem Beweisantrag sofort anzuschließen. Diese Entscheidung wird in vielen Fällen richtig sein. Jedoch hat der Verteidiger zu prüfen, ob die vom Staatsanwalt beantragte Beweiserhebung wirklich geeignet ist, die Beurteilung der Schuld- und Straffrage günstig zu beeinflussen. Das ist, wie die Erfahrung zeigt, nicht immer der Fall. Die Situation kann ähnlich schwierig sein wie in den Fällen, in denen der Staatsanwalt den Mandanten über angeblich entlastende Umstände befragt. Weiß der Verteidiger z.B., dass der vom Staatsanwalt für die Entlastung benannte Zeuge in Wahrheit den Mandanten belasten wird, so darf er die Dinge nicht einfach laufen lassen. Auch andere Gründe können dafür sprechen, die beantragte entlastende Beweiserhebung möglichst zu verhindern. So kann der Mandant daran interessiert sein, einen bestimmten Tatsachenkomplex nicht zu vertiefen, etwa um Angehörige zu schonen1 oder andere Tatsachen nicht aufzudecken. Besonders problematisch sind die Fälle, in denen der Staatsanwalt über einen Beweisantrag die verminderte Schuldfähigkeit oder die Schuldunfähigkeit des Angeklagten nachweisen will. Der gewissenhafte Verteidiger hat die Frage schon vorweg geprüft und mit dem Mandanten die Vorteile, insbesondere aber auch die Nachteile besprochen, die eine Berufung auf die §§ 20, 21 StGB mit sich bringt. Häufig wiegt ein Freispruch oder eine mildere Bestrafung aus §§ 20, 21 StGB die Nachteile nicht auf, die der Mandant in seinem beruflichen, familiären und gesellschaftlichen Ansehen befürchten muss. Auch ist es durchaus nicht immer angebracht, den Auftraggeber einer eingehenden nervenfachärztlichen Untersuchung auszusetzen, von der der Verteidiger nicht weiß, wie sie ausgeht. Hat sich der Verteidiger aus guten Gründen entschlossen, die Schuldfähigkeit des Mandanten nicht zu erörtern, so muss er ggf. dem staatsanwaltschaftlichen Beweisantrag widersprechen. Das ist auch sonst nötig, falls der entlastende Beweisantrag des Staatsanwalts mit dem Verteidigungsplan nicht übereinstimmt. Es ist aller1 Dazu Pananis, StraFo 2012, 121.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 697
dings meist ratsam, die Bedenken in vorsichtiger Form anzumelden, sonst bekommen Gericht und Staatsanwalt den Eindruck, der Mandant wolle etwas verbergen. So wird sich der Verteidiger nur selten ausdrücklich gegen einen Beweisantrag des Staatsanwalts wehren können, mit dem ein Entlastungszeuge benannt wird. Gelegentlich hilft die Erklärung, man halte die vom Staatsanwalt behauptete Entlastungstatsache für offenkundig oder sehe sie als bereits erwiesen an. Das Gericht wird dann den staatsanwaltschaftlichen Beweisantrag auf diese Einwendungen hin besonders prüfen. l) Präsente Beweismittel Literatur: Dahs, Revision, 8. Aufl., Rz. 370 ff.; Detter, Der von der Verteidigung geladene Sachverständige (Probleme des § 245 Abs. 2 StPO), FS Salger (1995), S. 231; Fezer, Zu den Voraussetzungen des StPO § 245 Abs. 1, JR 1992, 36; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010; Köhler, Zur Beweisaufnahme über präsente Beweismittel im Strafverfahren, StV 1992, 4.
Nach der heutigen Fassung des Gesetzes1 besteht keine Verpflichtung 697 des Gerichts mehr, die Beweisaufnahme von Amts wegen auf von Verfahrensbeteiligten präsentierte Beweismittel zu erstrecken, sondern eine Beweiserhebung erfolgt nur, wenn ein entsprechender Beweisantrag gestellt und diesem stattgegeben wird (§ 245 Abs. 2 S. 1 StPO). Dem Gericht sind indes für die Ablehnung eines Beweisantrages engere Grenzen als in § 244 Abs. 3–5 StPO gezogen. Die Ablehnung darf nur erfolgen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist, die zu beweisenden Tatsachen offenkundig oder schon erwiesen sind, das Beweismittel völlig ungeeignet oder der Antrag zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt ist. Darüber hinaus darf der Beweisantrag abgelehnt werden, wenn zwischen der Beweistatsache „und dem Gegenstand der Urteilsfindung kein Zusammenhang besteht“, d.h. der Antrag darf nicht schon dann abgelehnt werden, wenn die zu beweisende Tatsache für die Entscheidung ohne Bedeutung ist (§ 244 Abs. 3 StPO), sondern erst dann, wenn objektiv und für jeden erkennbar es an der Sachbezogenheit mangelt. Trotz bestehenden Zusammenhanges mit der zu treffenden Sachentscheidung kann die Beweiserhebung aber auch dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsache einen lediglich möglichen, aber nicht zwingenden Schluss auf eine unmittelbar erhebliche Tatsache zulassen und das Gericht diesen Schluss selbst dann nicht ziehen würde, wenn die Beweistatsache erwiesen wäre2. Auch die Zurückweisung von Anträgen auf Benutzung präsenter Beweismittel bedarf der Begründung, aus der der Verteidiger oft wertvolle Hinweise entnehmen kann. Ein wichtiges verfahrensrechtliches Instrument ist dem Verteidiger jedoch trotz Änderung des § 245 StPO verblieben, nämlich die Ladung ei1 Zum früheren Rechtszustand vgl. die Vorauflagen. 2 St. Rspr., vgl. nur BGH bei Kusch, NStZ-RR 1998, 260; BGH v. 13.1.1993 – 3 StR 491/92, bei Kusch, NStZ 1994, 23 (24).
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Rz. 698
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
nes (weiteren) Sachverständigen. Zwar muss er auch insoweit einen Beweisantrag stellen, jedoch wird das Gericht diesem in der Regel stattgeben müssen, weil die Ablehnungsgründe der eigenen Sachkunde oder der Erwiesenheit des Gegenteils der behaupteten Tatsache nicht gelten (§ 245 Abs. 2 S. 3 StPO). Nach vollständiger Vernehmung der Beweisperson empfiehlt sich der Antrag, dem Zeugen oder dem Sachverständigen die gesetzliche Entschädigung aus der Staatskasse zu gewähren (§ 220 Abs. 3 StPO). Dadurch kann man unmittelbar erfahren, ob das Gericht die Selbstladung als sachdienlich ansieht. Der Verteidiger kann dann seine weiteren Maßnahmen auf die Äußerung des Gerichts abstellen. Allerdings provoziert man eine gefährliche Vorabentscheidung, ehe die Verteidigung beendet und plädiert ist. 698
Andere Beweismittel als Zeugen und Sachverständige sind herbeigeschafft, wenn sie dem Gericht bereits vorliegen oder in der Verhandlung vorgelegt werden1. Das ist in der Praxis wichtig für Urkunden, besonders Vernehmungsprotokolle, und Akten sowie Skizzen und Fotos. Vielfach wird übersehen, dass das Gericht zur Vernehmung der vom Angeklagten gestellten Zeugen nur verpflichtet ist, wenn diese ordnungsgemäß „präsentiert“ werden2. § 245 Abs. 1 StPO entbindet den Verteidiger deshalb nicht von der Pflicht, eine Beweisperson im Wege der Selbstladung (§§ 220, 38 StPO) ordnungsgemäß zur Hauptverhandlung zu laden3. Außerdem muss er den förmlichen Beweisantrag stellen4, was auch für bereits bei den Akten befindliche Urkunden, Skizzen, Fotos etc. gilt5.
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Will der Verteidiger aus den Akten oder Beiakten Schriftstücke verlesen haben, so sind sie mit ihrer Fundstelle möglichst genau zu bezeichnen, sonst gelten sie nur als Beweisermittlungsanträge (Rz. 662), die nur der Aufklärungspflicht des Gerichts unterliegen6. Den Antrag, ein herbeigeschafftes Beweismittel zu gebrauchen, sollte der Verteidiger in pointierter Weise stellen, um die Beteiligten aufmerksam zu machen, besonders den Protokollführer (Rz. 673). Es kommt darauf an, dass das Hauptverhandlungsprotokoll das Erscheinen der geladenen Beweisperson, Vorlage anderer Beweismittel und den Beweisantrag ganz förmlich ausweist.
700
Besondere Zurückhaltung ist geboten, falls auf die Benutzung präsenter Beweismittel verzichtet werden soll (§ 245 Abs. 1 S. 2 StPO). Hier kommen leicht vermeidbare Fehler vor. Man muss sich vor Augen halten, 1 2 3 4
Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 245 StPO Rz. 4 f. Burhoff, StV 1997, 432. BGH v. 14.7.1981 – 1 StR 385/81, NStZ 1981, 401. Burhoff, StV 1997, 432; Michalke in Beck’sches Formularbuch, 5. Aufl. 2010, S. 525 ff. 5 BGH v. 30.8.1990 – 3 StR 459/87, BGHSt. 37, 168 (172); BGH v. 7.5.1963 – 1 StR 70/63, BGHSt. 18, 374. 6 BGH v. 10.12.1997 – 3 StR 389/97, NStZ-RR 1998, 276 m.N.; BGH v. 23.7.1997 – 3 StR 71/97, NStZ 1997, 562.
448
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 701
dass jeder Prozessbeteiligte beantragen kann, ein herbeigeschafftes Beweismittel zu verwenden. Manchmal bietet der Verzicht allerdings Vorteile. Ist das Beweisergebnis günstig, kann das Verfahren im Interesse des Mandanten abgekürzt werden. Steht z.B. nach der Vernehmung der angeblichen Belastungszeugen fest, dass der Vorwurf nicht nachgewiesen ist, so kann der Verteidiger im Wege einer Erklärung (Rz. 526) anregen, die Beweisaufnahme abzubrechen. In seiner Wirkung entspricht dieses Verfahren dem aus dem englischen Strafprozess bekannten „no case to answer“, nämlich der Erklärung, die Verteidigung sehe sich nicht veranlasst, der Beweisführung des Vertreters der Anklage mit eigenen Beweismitteln und Beweisanträgen entgegenzutreten. So kann der Verteidiger jedoch nur vorgehen, wenn er ganz sicher ist, dass das Gericht das Beweisergebnis ebenso beurteilt. Das lässt sich nicht immer feststellen. Daher ist es ratsam, den Verzicht zunächst nur anzukündigen und die Äußerung des Gerichts und des Staatsanwalts zu „provozieren“. Hierbei ist zu beachten, dass die Beweisaufnahme fortzusetzen ist, wenn 701 die Aufklärungspflicht das Gericht dazu zwingt1. Wie bei der Wahrunterstellung (Rz. 663) geht die richterliche Aufklärungspflicht vor, und zwar selbst dann, wenn Staatsanwalt und Verteidiger keine Beweise mehr erhoben haben wollen2. Daraus folgt für den Verteidiger: Regt das Gericht an, auf vorhandene und akzeptierte Beweismittel zu verzichten, so hält es eine weitere Aufklärung nicht für geboten. Das bedeutet nicht selten, dass es die Sache im Sinne der Anklage als spruchreif ansieht. Dann ist es selbstverständlich falsch, auf ein herbeigeschafftes Beweismittel zu verzichten; die Verzichtserklärung müssen sowohl der Angeklagte wie auch der Verteidiger abgeben (§ 245 Abs. 1 S. 2 StPO). Gerade wenn sich das Gericht schon eine Meinung gebildet hat, ist es notwendig, die Beweisaufnahme fortzusetzen und zu versuchen, die richterliche Überzeugung noch zu beeinflussen. Der vorsichtige Verteidiger erklärt dann ausdrücklich, dass er auf die Verwendung des bereitstehenden Beweismittels nicht verzichtet. Bloßes Schweigen auf die richterliche Anregung kann gefährlich sein. Es wird die Ansicht vertreten, man könne unter bestimmten Umständen auf eine weitere Beweisaufnahme auch stillschweigend verzichten. Aus diesem Grund ist es notwendig, vor Schluss der Beweisaufnahme zu prüfen, ob die vorhandenen Beweismittel vollständig ausgeschöpft sind. Er ist dadurch zwar nicht gehindert, noch förmliche Beweisanträge vorzubringen (Rz. 666), jedoch werden die Beweispersonen am Schluss der Beweisaufnahme entlassen und sind meist nicht mehr anwesend. m) Änderung der Anklage Literatur: de Vries, Ist die Legalisierung des Deals im Strafprozess alternativlos?, Kriminalistik 2013, 109; Gillmeister, Die Hinweispflicht des Tatrichters, StraFo 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 245 StPO Rz. 14. 2 Fischer in KK, § 245 StPO Rz. 1 f.
449
Rz. 702
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
1997, 8; Hänlein/Moos, Zu Reichweite und revisionsrechtlicher Problematik der Hinweispflicht nach § 265 I StPO, NStZ 1990, 481; König, Zur Hinweispflicht des Gerichts in der Beweisaufnahme, StV 1998, 113; Küpper, Die Hinweispflicht nach § 265 StPO bei verschiedenen Begehungsformen desselben Strafgesetzes, NStZ 1986, 249; Michel, Richterliche Hinweis- und Protokollierungspflicht, MDR 1996, 773; Niemöller, Die Hinweispflicht des Strafrichters bei Abweichungen vom Tatbild der Anklage, 1988; Schlothauer, Gerichtliche Hinweispflichten in der Hauptverhandlung, StV 1986, 213, 216; Wachsmuth, Die Hinweispflicht nach § 265 StPO – Lückenloser Schutz des Angeklagten vor Überraschungsentscheidungen?, ZRP 2006, 121.
aa) Rechtliche und sachliche Gesichtspunkte 702
In vielen Hauptverhandlungen stellt sich heraus, dass die rechtlichen und/oder tatsächlichen Grundlagen der Verhandlung, wie sie Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss vorbestimmt haben, nicht mehr zutreffen. Das „Prozessthema“ wird geändert oder ergänzt. Die Erfahrung lehrt, dass der Vorsitzende zwar den Angeklagten auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes hinweist (§ 265 StPO) und dieser Hinweis auch mehr oder weniger genau ins Protokoll kommt. Jedoch werden aus der Belehrung nicht immer die richtigen Folgerungen gezogen. Der Verteidiger hat solche Hinweise genau zu prüfen. Denn § 265 StPO soll eine Überrumpelung des Angeklagten verhindern und die umfassende Möglichkeit zur Verteidigung sichern1. Deshalb genügt es nicht, den Hinweis lediglich zur Kenntnis zu nehmen. Er ist auf seine Stichhaltigkeit und Vollständigkeit zu untersuchen; es sind die notwendigen Maßnahmen einzuleiten. Sonst bleibt der Hinweis trotz Protokollierung eine leere Formel, die lediglich bezweckt, das Urteil „revisionssicher“ zu machen.
703
Wie der Verteidiger im Einzelfall zu reagieren hat, hängt vom Inhalt der Belehrung ab. Manchmal wird der Hinweis nur recht allgemein formuliert, obwohl die Rechtsprechung die bzw. eine eindeutige und erschöpfende Aufklärung des Angeklagten fordert2. Ist der Hinweis unklar, so muss der Verteidiger um eine entsprechende Erläuterung bitten. Er muss insbesondere feststellen, ob das Gericht einen unverändert gebliebenen Sachverhalt rechtlich anders beurteilen (§ 265 Abs. 1 StPO) oder ob es der Entscheidung neu hervorgetretene tatsächliche Umstände zugrunde legen will (§ 265 Abs. 2 und 4 StPO). Dieser Unterschied ist wesentlich, weil nicht in jedem Falle ein unabdingbarer Anspruch auf Aussetzung besteht (Rz. 705). Beabsichtigt das Gericht, die bisherige rechtliche Beurteilung zu ersetzen oder zu ergänzen, so bedeutet dies nicht zwingend einen Nachteil für den Mandanten. Der rechtliche Gesichtspunkt wird auch verändert, wenn ein milderes Strafgesetz in Betracht kommt, etwa Versuch statt Vollendung, Fahrlässigkeit statt Vorsatz, Beihilfe statt Tä1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 265 StPO Rz. 2. 2 BGH v. 16.10.1962 – 5 StR 276/62, BGHSt. 18, 56; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 265 StPO Rz. 31.
450
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 705
terschaft1, Mittäterschaft statt Alleintäterschaft2. Anders ist es, wenn sich der im Eröffnungsbeschluss angenommene Sachverhalt ändert. Hier muss der Verteidiger prüfen, ob er sich auf den neuen Sachverhalt einlassen oder Aussetzung der Verhandlung beantragen soll (Rz. 705). Von Verteidigern häufig übersehen wird der Anspruch auf Aussetzung 704 der Hauptverhandlung wegen veränderter Sachlage (§ 265 Abs. 4 StPO). Er ist begründet, wenn in der zugelassenen Anklage nicht erwähnte Tatsachen oder geänderte Tatsachen mit Entscheidungsrelevanz vom Gericht in die Beweisaufnahme und Verhandlung einbezogen werden3. Insoweit kann die Veränderung des Tatzeitpunktes, Tatortes, eine Variante der Tathandlung, evtl. auch ein Verteidigerwechsel4 o.Ä. genügen. Im Zweifel sollte der Antrag gestellt werden, wenn die Verteidigung auf den neuen oder geänderten Gesichtspunkt nicht so vorbereitet ist, dass die Verteidigung unmittelbar sachgerecht fortgeführt werden kann. Entsprechendes gilt auch für Veränderungen der Verfahrenslage, z.B. durch nachgeschobene Beweismittel usw.5. Ist die Aussetzung der Hauptverhandlung geboten, so muss der Verteidi- 705 ger wissen, in welchen Fällen er sie durchsetzen kann. Hierbei ist die Erfahrung zu berücksichtigen, dass begreiflicherweise oft gegen den Aussetzungsantrag Front gemacht wird. Das Verfahren wird verzögert und verteuert. Diese Bedenken sind berechtigt, jedoch geht das Recht des Mandanten auf ein faires Verfahren vor. Deshalb muss der Verteidiger auf die Aussetzung der Verhandlung dringen, wenn dem Mandanten sonst Nachteile drohen. Die Aussetzung muss gewährt werden, falls aufgrund neuer Tatsachen ein schwereres Strafgesetz angewendet werden kann, die Strafbarkeit möglicherweise erhöht ist oder eine Sicherungsmaßregel in Betracht kommt (§ 265 Abs. 2 StPO). Weiter muss die neue Tatsache bestritten werden. Schließlich darf man die Behauptung nicht vergessen, die Verteidigung sei auf die neue Sachlage nicht genügend vorbereitet. Obwohl diese Behauptung nicht nachprüfbar ist6, darf der Verteidiger sie nicht leichtfertig aufstellen. Insbesondere ist es bedenklich, die Aussetzung ausschließlich zu dem Zwecke zu beantragen, die Entscheidung zu verzögern. Auch entstehen vermeidbare Kosten, die der Mandant zu tragen hat, falls er verurteilt wird. Der Verteidiger muss daher das Für und Wider sorgfältig abwägen. 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 265 StPO Rz. 8 ff.; Engelhardt in KK, § 265 StPO Rz. 6 ff. 2 BGH v. 21.11.1991 – 1 StR 552/90, NStZ 1992, 292; Meyer-Goßner in MeyerGoßner/Schmitt, § 265 StPO Rz. 14 m.N. 3 BGH v. 26.5.1992 – 1 StR 131/92, StV 1992, 452; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 265 StPO Rz. 41. 4 BGH v. 2.2.2000 – 1 StR 537/99, StV 2000, 183; BGH v. 25.6.1965 – 4 StR 309/65, NJW 1965, 2164 f. 5 Zu den Einzelheiten Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 265 StPO Rz. 42 ff. 6 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 265 StPO Rz. 36.
451
Rz. 706
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Er muss auch bedenken, dass das Gericht statt einer Aussetzung die Unterbrechung der Hauptverhandlung beschließen kann (§ 229 StPO). 706
Häufig haben Aussetzungsanträge einen unerwarteten Erfolg. Das Gericht ist zu einer Vorentscheidung über die veränderte rechtliche oder tatsächliche Situation gezwungen. Auch wenn es nicht an die Rechtsauffassung des Antragstellers gebunden ist1, wird vielfach nach einem Weg gesucht, aus praktischen Gründen die Entscheidung und eine mögliche Aussetzung zu umgehen. Dazu rechnen die Einstellung nach §§ 153, 153a, 154, 154a StPO, das Ausscheiden von unwesentlichen Punkten (Rz. 328 ff., 522) und vielleicht eine Verfahrensabsprache (§ 257c StPO; Rz. 177). In anderen Fällen wird das Gericht geneigt sein, aufgetauchte Gesichtspunkte nicht weiter zu verfolgen und bei demselben Gegenstand des Verfahrens zu bleiben, ehe es das Verfahren aussetzt. Diese Praxis muss der Verteidiger für den Klienten nutzen und in Zweifelsfällen die Aussetzung beantragen, falls die neue Sachlage den Auftraggeber belasten würde. Insgesamt sind Prozessvorgänge um § 265 StPO nicht selten erfolgreiche Ansatzpunkte für eine evtl. Revision2. bb) Nachtragsanklage
707
Erhebt der Staatsanwalt in der Hauptverhandlung eine Nachtragsanklage, so kommt es auf die Zustimmung des Angeklagten an (§ 266 StPO). Fehlt die Zustimmung, so darf das Gericht die neu angeklagte Tat nicht in das Verfahren einbeziehen3. In erster Linie hat der Verteidiger zu prüfen, ob sich der Mandant auf die neue Anklage sofort verteidigen kann. Das wird häufig nicht möglich sein, z.B. wenn dem Angeklagten eine Tat vorgeworfen wird, die dem Verteidiger unbekannt ist. Im Allgemeinen ist es in diesem Falle nicht richtig, sich auf eine Erweiterung der Anklage einzulassen. Mindestens muss der Verteidiger um eine Unterbrechung bitten, damit er die neue Situation mit dem Mandanten besprechen kann. Gibt der Mandant die jetzt erst angeklagte Tat zu, so liegt es meist in seinem Interesse, dass hierüber sofort mitentschieden wird. Sonst muss er mit einer neuen Anklage rechnen. Ist dem Verteidiger bekannt, dass bei Polizei oder Staatsanwaltschaft noch weitere Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten laufen, so ist es unter Umständen sogar geboten, auf sie hinzuweisen. Räumt der Mandant die neuen Taten ein, dann ist es in der Regel nicht sinnvoll, die neue Anklage abzuwarten. Dem geständigen
1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 265 StPO Rz. 36. 2 Vgl. i.E. Dahs, Revision, Rz. 373 ff. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 266 StPO Rz. 14 mit dem krit. Hinweis, dass es sich bei der Zustimmung nach der wohl h.M. nicht um eine Verfahrensvoraussetzung handelt; so aber die h.M., BGH v. 3.8.1998 – 5 StR 311/98, NStZ-RR 1999, 303.
452
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 709
Angeklagten wird im Allgemeinen daran gelegen sein, in einer einzigen Hauptverhandlung „reinen Tisch zu machen“. In diesem Zusammenhang darf der Verteidiger nicht außer Acht lassen, 708 dass in vielen Fällen nach Erhebung einer Nachtragsanklage die neue Beschuldigung als unwesentlich ausgeschieden werden kann (§§ 154, 154a StPO). Das lässt sich z.B. erreichen, wenn der Mandant die Tat zwar zugibt, aber etwa offenbleibt, ob er Mittäter oder Gehilfe ist. Dann bevorzugen manche Richter aus praktischen Gründen eine Einstellung. Zu beachten ist jedoch, dass es zur Wiedereinbeziehung einer zunächst ausgeschiedenen Gesetzesverletzung nach § 154 Abs. 5 StPO eines förmlichen Gerichtsbeschlusses bedarf. Bei § 154a StPO genügt der richterliche Hinweis nach § 265 StPO, wenn kein Zweifel daran bestehen kann, dass die Beschränkung der Strafverfolgung weggefallen ist1. n) Sitzungsniederschrift und das Tonbandprotokoll Literatur: Leitner, Videotechnik im Strafverfahren, Diss. 2012; Martin, Rechtsprechungsübersicht, Aushändigung von Tonbandprotokollen an Schöffen kein Verstoß gegen Mündlichkeitsgrundsatz, JuS 1997, 948; Marxen, Tonaufnahmen während der Hauptverhandlung für Zwecke der Verteidigung, NJW 1977, 2188; Molketin, Ist es zulässig, die Aussagen von Zeugen in der Hauptverhandlung ohne deren Einwilligung auf Tonband aufzunehmen?, NStZ 1993, 145.
Im vorausgegangenen Text ist wiederholt auf die Bedeutung der Proto- 709 kollierung der Verfahrensvorgänge hingewiesen worden. Sie bietet dem Verteidiger wichtige Möglichkeiten. Er muss deshalb die einschlägigen Vorschriften der §§ 271–274 StPO sicher beherrschen. Nicht nur die „wesentlichen Förmlichkeiten“ sind zu beurkunden, sondern in Hauptverhandlungen vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht grundsätzlich auch die „wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen“ (§ 273 Abs. 2 StPO), desgleichen die Verlesung von Urkunden, die gestellten Anträge und die Entscheidungen sowie die Vorgänge, die eine Verständigung (§ 257c StPO) betreffen (§ 273 Abs. 2 StPO). Der Verteidiger hat weitgehende Befugnis, die Protokollierung zu erzwingen. Das gilt besonders bezüglich der gestellten Anträge, der Beanstandungen (Rz. 539 ff.), der vorübergehenden Entfernung des Angeklagten (§ 247 StPO) sowie der Vereidigung der Zeugen und Sachverständigen, wobei die Gründe für die Vereidigung im Protokoll nicht notifiziert werden müssen (§ 59 Abs. 1 S. 2 StPO). Wenn der Verteidiger hier seine Möglichkeiten nicht schnell und sicher erkennt und durchzusetzen versteht, können seine Verteidigungsrechte durch Verwirkung untergehen. Im Einzelnen ist im Abschnitt „Verwirkung von Verteidigungsrechten“ besonders behandelt, wie der Verteidiger durch richtige Protokollierung
1 BGH v. 18.5.1994 – 2 StR 169/94, NStZ 1994, 495; i.Ü. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 154a StPO Rz. 24.
453
Rz. 710
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
solche Rechtsverluste vermeiden kann (Rz. 806 ff.) und welche Grenzen ihm dabei durch Opportunitätsfragen gezogen sind (Rz. 810 ff.). Auf diese Darstellung wird hier Bezug genommen. 710
Besonders in Umfangsverfahren besteht beim Verteidiger ein Interesse daran, schon während der noch andauernden Hauptverhandlung Einsicht in das Protokoll bzw. Fotokopien der Niederschrift zu erhalten. Ein solcher Anspruch wird von der Rechtsprechung jedoch verneint, weil das Protokoll der gesamten Hauptverhandlung eine Einheit bilde und erst mit Fertigstellung und Unterzeichnung Bestandteil der Akten werde1. Auch ohne Rechtsanspruch ist die Einsichtnahme aber bei einem guten Verhältnis zum Vorsitzenden unter Umständen zu erreichen.
711
Das Tonbandprotokoll in der Hauptverhandlung wirft besondere Probleme auf. Die seit langer Zeit gebräuchliche Sitzungsniederschrift hat viele Mängel. Tonbänder und andere Ton- und Bildträger spielen im Strafprozess eine immer größere Rolle. Gleichwohl haben die Bestrebungen noch nicht zum Ziele geführt, anstelle des schriftlichen Protokolls – das praktisch keine Inhaltsangaben zur Sache enthält – einen Tonträger zu gebrauchen. Jedoch wird die Tonaufnahme in besonders gelagerten Verfahren umfassend oder teilweise neben dem schriftlichen Protokoll als Gedächtnisstütze verwendet. Zulässig ist dies nur, falls der jeweils Sprechende zustimmt2. Im Allgemeinen wird sich der Verteidiger einer gerichtlichen Aufnahme nicht verschließen, wenn er sie auch für seine Zwecke nutzen kann. So ist es unbedenklich, dass er die Aufnahme anlässlich und unter Berücksichtigung der Grenzen der Akteneinsicht ganz oder teilweise reproduziert. Darüber hinaus kann der Verteidiger um die Erlaubnis bitten, bestimmte Teile der Verhandlung für seinen Gebrauch auf Band zu nehmen oder nehmen zu lassen. Dies ist z.B. in großen Sachen zweckmäßig, um Beweisanträge und Plädoyer vorzubereiten3. Sollte das Gericht die Erlaubnis nicht erteilen, kann der Verteidiger sich auf den Standpunkt stellen, dass er ihrer wenigstens insoweit nicht bedarf, als die jeweils Sprechenden zustimmen. Im Übrigen kann es sich um Probleme der Güter- und Pflichtenabwägung handeln. Nicht erlaubt ist die Verbreitung des Tonprotokolls an Dritte, etwa dessen Weitergabe an die Presse. Selbstverständlich ist dem Verteidiger auch die heimliche Aufnahme im Gerichtssaal untersagt. Sie ist ggf. strafbar (§ 201 StGB).
1 BGH v. 22.10.1992 – 1 StR 575/92, NStZ 1993, 141 (kein Anspruch auf Teilprotokoll); BGH v. 29.10.1980 – 1 StE 4/78-1 StB 43/80, NJW 1981, 411 m.N. 2 BGH v. 4.2.1964 – 1 StR 510/63, BGHSt. 19, 193; a.A., Meyer-Goßner in MeyerGoßner/Schmitt, StPO, § 169 GVG Rz. 13. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 169 GVG Rz. 12.
454
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 713
o) Zwischenberatungen Besondere Bedeutung können in jedem Stadium der Hauptverhandlung 712 bis zu den Plädoyers Zwischenberatungen des Gerichts gewinnen. Die Tatsache an sich und das anschließende Verhalten des Gerichts können dem Verteidiger wertvolle Aufschlüsse geben. Manchmal führen sie zu recht grundsätzlichen Äußerungen des Vorsitzenden über die Prozesslage. Sie können dann Veranlassung geben, erneut eine Richtungsänderung der Verteidigung durch eine Schuldigerklärung zu erwägen, um sich deren evtl. große Vorteile für den Strafausspruch zu sichern (im Einzelnen Rz. 490). Sie können auch den Beginn von Erörterungen über eine Verständigung bedeuten (§§ 257b, 257c StPO). Die Zwischenberatungen bergen aber auch erhebliche Gefahren in sich, weil naturgemäß bei den Richtern eine gewisse psychologische Bindung an die Ergebnisse dieser Beratungen eintritt. Es ist nicht zu verkennen und verständlich, dass ihre Bereitschaft abnimmt, die vorläufig gewonnenen Erkenntnisse wieder in Frage zu stellen. Der BGH hält seit langem Zwischenberatungen für zulässig1. Ob die Grenze überschritten ist, wenn z.B. das Gericht in einer Umfangstrafsache (mehrmonatige Hauptverhandlung, über 50 Zeugen, eine Vielzahl von Urkunden) nach einem mehrstündigen Plädoyer der Verteidigung nach nur einer Stunde Beratung das Urteil verkündet, erscheint doch fraglich2. Nicht selten erlebt man bei Berufungsgerichten (Rz. 881 ff.) die Praxis, 713 dass die Beweisaufnahme zu irgendeinem Zeitpunkt für eine „Pause“ unterbrochen wird, nach deren Ablauf der Vorsitzende überraschend das Ergebnis einer „Zwischenberatung“ verkündet, verbunden mit der mehr oder weniger nachdrücklichen Empfehlung, die Berufung zurückzunehmen oder zu beschränken. Der Verteidiger fühlt sich überfahren, weil er keine Gelegenheit zu einem Zwischenplädoyer vor der Zwischenberatung gehabt hat. Dieser misslichen Situation kann man dadurch vorbeugen, dass man bei Verkündung der Pause fragt, ob das Gericht eine Zwischenberatung beabsichtige und für diesen Fall eine vorherige Stellungnahme ankündigt. Der Verteidiger kann auch von sich aus eine Sitzungspause erbitten, um sich mit dem Mandanten zu besprechen (Rz. 564). Das kann allerdings gefährlich sein, wenn das Gericht daraus auf Bedenken der Verteidigung schließt, wozu insbesondere die ehrenamtlichen Richter neigen (Rz. 191). p) Das Plädoyer des Verteidigers Den nachstehenden Ausführungen liegt die Abhandlung „Das Plädoyer des Strafverteidigers“3 zugrunde, aus der das Handbuch entwickelt ist. 1 BGH v. 3.7.1962 – 3 StR 22/61, BGHSt. 17, 337; BGH v. 24.7.1990 – 5 StR 221/89, BGHSt. 37, 141. 2 Zulässig nach BGH v. 31.3.1976 – 3 StR 487/75, juris. 3 Dahs sen., AnwBl. 1959, 1 ff.
455
Rz. 714
„Tritt frisch auf, tu’s Maul auf, hör bald auf!“ (Luther)
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Wagner: „Der Vortrag macht des Redners Glück.“ Faust: „Such er den redlichen Gewinn, sei er kein schellenlauter Tor, es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor.“ (Goethe, Faust 1. Teil, Nacht)
Literatur: Alsberg, Die Philosophie der Verteidigung, 1930; Calamandrei, Lob der Richter, 1956: Dahs sen., Das Plädoyer des Strafverteidigers, AnwBl. 1959, 1; Dahs sen., Das Plädoyer des Staatsanwalts, DRiZ 1960, 106; Dästner, Schlussvortrag und letztes Wort im Strafverfahren, Recht und Politik 1982, 180; Gast, Juristische Rhetorik, 4. Aufl. 2006; Haft, Juristische Rhetorik, 8. Aufl. 2009; Kudlich, Das Abschlussplädoyer des Strafverteidigers, JA 2006, 463 ff.; Malek, Verteidigung in der Hauptverhandlung, 4. Aufl. 2012; Miller, Der Jurist, ein Kommunikationsberuf oder – Rhetorik für Juristen, JA 1997, 731; Reuß, Das Plädoyer des Anwalts, JR 1965, 162; Schneider, Juristische Rhetorik, MDR 1997, 625; Solbach, Anklageschrift, Einstellungsverfügung, Dezernat und Plädoyer, 13. Aufl. 2007; Wächter/ v. Roiper, Rechtsrhetorik contra juristische Folgenprognose!, JuS 1987, 335. (Für weitere Literatur vgl. die Vorauflagen.)
714
Das Plädoyer des Verteidigers ist sein großer Auftritt. Nach dessen Wirkung wird er meist beurteilt. Für die Dauer seines Plädoyers beherrscht er den Gerichtssaal. Es ist seine Stunde. Hierauf beruht es, dass der Verteidiger im Plädoyer der Strafsache wie sonst selten Gelegenheit hat, sich auszuzeichnen oder durchzufallen. Das Plädoyer wird besonders in den Augen des Mandanten als die Hauptphase der Verteidigungsleistung angesehen. Der Ruf von Anwälten als Strafverteidiger beruht oft auf ihren Plädoyers. In der Justizgeschichte haben solche vielfach historische Bedeutung gewonnen. In großen Prozessverfahren geben die Medien das Plädoyer des Verteidigers oft inhaltlich wieder; sie unterstreichen die brillante Eloquenz einer forensischen Rede oder verurteilen einen Versager. Diese Rolle des Plädoyers macht es notwendig, seine wirkliche Funktion in der Verhandlung besonders für das schicksalsentscheidende Urteil zu ergründen, sich die Möglichkeiten seiner Gestaltung zu überlegen und die Kunst des Plädierens zu erkennen und zu erlernen.
715
Dazu gibt es auch reiche Literatur über die Redekunst und die Philosophie der Verteidigung. Auch sind manche berühmte forensische Reden literarisch gewürdigt worden, deren Lektüre empfohlen wird. Es kann nur dringend geraten werden, sich mit diesen Werken zu befassen, um Anregung und Belehrung auch für das „Alltagsplädoyer“ zu bekommen.
716
Bei der Frage nach der höchstmöglichen Wirkung des Plädoyers stellt sich alsbald die Grundfrage, auf wen die Wirkung des Plädoyers abgestellt ist oder abgestellt sein sollte. Es ist eine Eigenart der forensischen Rede, dass die Zuhörer nicht einen mehr oder weniger homogenen Kreis 456
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 717
bilden. Als Adressaten kommen vielmehr sehr verschiedene Personen oder Personengruppen in Betracht. Es sind dies die Berufsrichter und die Laienrichter des erkennenden Gerichts, die Vertreter der Staatsanwaltschaft, der eigene Auftraggeber sowie die im Sitzungssaal anwesenden Zuhörer und die ggf. durch die Medien anwesende Öffentlichkeit. Diese verschiedenen Gruppen nehmen das Plädoyer des Verteidigers ganz unterschiedlich auf – entsprechend ihren divergierenden Standorten und Funktionen. Sie sind anderseits in einer besonderen Beziehung in der gleichen Situation. Im Allgemeinen betrifft sonst eine Rede Stoffe, die Zuhörern erstmalig durch die Rede nahegebracht werden; in diesem Falle ist im Allgemeinen mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu rechnen. Oder der Stoff ist dem Zuhörer schon aus anderen Reden oder aus Lektüre und Studium bekannt: Dann ist der Zuhörer in gewisser Weise vorbereitet. Die forensische Rede bietet demgegenüber eine Situation, in der sich nach durchgeführter Hauptverhandlung Meinungsauffassungen der Richter erst zu bilden beginnen oder in kontinuierlichem Bildungsprozess begriffen sind. Das Verhandlungsergebnis tritt erstmalig vollständig in Erscheinung und wird Gegenstand rednerischer Erörterung durch Staatsanwalt (evtl. Nebenkläger) und Verteidiger. Diese besondere Situation bietet für den Verteidiger Chancen, aber auch Risiken, wenn das Gericht sich aufgrund des Verhandlungsergebnisses bereits eine Überzeugung gebildet hat und nur mit innerem Widerstreben gegenteilige Argumente oder auch konforme Begründungen entgegennimmt. Von einem Richter stammt das Wort, dass nach Beendigung der Beweisaufnahme die Richter sich am besten die Ohren mit Wachs verschließen sollten, weil sie von da an nur noch verwirrt werden könnten. Hauptadressat des Plädoyers ist das Gericht. Ihm obliegt die Entschei- 717 dung der Sache. Die Wirkung des Plädoyers auf das Gericht kann nicht behandelt werden ohne eine Betrachtung der vorangegangenen Prozessstadien. Das Plädoyer kann auch nicht ohne Zusammenhang mit den äußeren und inneren prozessualen Aktionen des Verteidigers gesehen werden. So können in der Vorbereitung der Hauptverhandlung durchgeführte Besprechungen mit Gericht und Staatsanwaltschaft Aufschluss über die Grundeinstellung der Betreffenden zur Sache und zur Person des Angeklagten gebracht haben (Rz. 178, 437, 468). Hierbei und auch in der Hauptverhandlung lernt man zwei verschiedene Grundtypen der Richter kennen: Die eine Gruppe von Richtern hält es für richtig, ihre Einstellung zur Sache vor dem Urteil durch nichts erkennbar werden zu lassen, sie wirken verschlossen wie eine Wand. Andere Richter, meist von lebhaftem Temperament, sparen nicht mit Andeutungen, der Zustimmung ebenso wie des Unmuts. Sie neigen sogar zu voreiligen Äußerungen und unterscheiden sich untereinander wieder in Bezug auf die Bereitwilligkeit, die vorschnell geäußerte Auffassung zu korrigieren. Der Verteidiger muss diese psychologischen Voraussetzungen für die Wirkung seines Vortrages fruchtbar machen.
457
Rz. 718
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Wichtig zu erfahren sind auch persönliche Unterschiede und sachliche Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Kammer, auf die der Verteidiger evtl. ganz anders reagieren muss als auf Bemerkungen des Vorsitzenden in der Sitzung. Je nach Verhandlungsgegenstand kann auch die weltanschauliche und moralische Einstellung der Richter eine Rolle spielen. Das allgemeine Verhältnis der Kammer zur Staatsanwaltschaft und besonders zu derem Sitzungsvertreter kann ebenfalls für den Erfolg der Verteidigung wichtig sein. 718
Der Schlussvortrag in größeren Sachen sollte – wenn eben möglich – schriftlich vorbereitet sein. Hierzu ist eine – ggf. zu beantragende – Pause nach Beendigung der Beweisaufnahme der an sich gegebene Zeitpunkt. In geeigneten (seltenen) Sachen kann ein Plädoyer aus dem Stegreif – wenn man es kann – besondere Wirkung erzielen! Bei größeren Sachen bedarf das Plädoyer dagegen, ggf. sogar schon während der Hauptverhandlung, einer schriftlichen Vorbereitung (Rz. 448 ff.). Die Fertigstellung eines Textes, der mehr oder weniger abgelesen wird, ist in aller Regel verfehlt. Vorzugswürdig ist eine straffe gedankliche Disposition und deren Niederschrift in Stichworten, die während des mündlichen Vortrages als Leitlinie dienen. Es ist aber nicht zu übersehen, dass diese Vorbereitung nur einen relativen Wert hat, weil sie je nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung unbrauchbar werden kann oder umgestaltet werden muss. Der Verteidiger darf dann nicht an seinem Entwurf „kleben“, sondern muss seine elastisch gestaltete Disposition geschickt der neuen Lage anpassen.
719
Die Frage, ob zu Beginn des Plädoyers das Gericht angeredet werden soll („Hohes Gericht“, „Meine Damen und Herren Richter“), ob insbesondere die Schöffen besonders anzusprechen sind, lässt sich nicht einheitlich beantworten. Es kommt auf die Situation, auf die Sache und die Gewandtheit und Ausdrucksfähigkeit des Verteidigers an.
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Das Plädoyer sollte ruhig, klar und verständlich vorgetragen werden, so dass der Zuhörer mühelos folgen, den Inhalt erfassen und nachvollziehen kann. Die Gestik sollte dem Vortragsstil entsprechen. Eine ruhige Sprechweise, die lebendige Auswertung der Tatsachen nach ihrem inneren Gewicht und bezwingende Logik führen eher zum Erfolg. Ausfälle gegen Gericht und Staatsanwaltschaft sind unbedingt zu vermeiden. Unter dem Gesichtspunkt der Missachtung und Beleidigung des Gerichts können sie zu berufsrechtlicher Ahndung führen (Rz. 186 ff.). Auch die bloße Lautstärke hat keine Überzeugungskraft. Entgleisungen und Auseinandersetzungen machen das Plädoyer unter Umständen ganz zunichte. Diese Wirkung ist im Interesse des Ansehens des Gerichts und des Anwaltsstandes unerfreulich.
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Das entscheidende Kriterium für das Maß von Wirkung und Erfolg des Plädoyers für die Entscheidung des Gerichts ist das Verhältnis von Form und Gehalt des Vortrages. Rhetorische Effekte sind für die richterliche 458
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 723
Sachentscheidung in der Regel bedeutungslos. Leidenschaftliches Pathos wirkt durchweg unecht; jedenfalls erscheint es den Richtern meist überflüssig. Ein rhetorisch brillantes Plädoyer, das Aufmerksamkeit und Bewunderung des Publikums und der Öffentlichkeit erweckt, löst bei auf schlichte Sachlichkeit eingestellten Richtern ebenfalls oft keinen Erfolg aus. Vielmehr begegnet das Gericht einem solchen Schlussvortrag häufig mit Misstrauen. Mit ganz anderer Wirkung setzt sich die inhaltliche Gediegenheit eines 722 Sachvortrages durch. Wenn in folgerichtigem Aufbau erschöpfende und verständige Ausführungen zum Sachverhalt und zur Rechtslage dem Gericht in gefälliger Form unterbreitet werden, kann der Verteidiger der vollen Aufmerksamkeit und Wirkung seines Vortrages gewiss sein1. Auch ein Richter, der an sich zur Verurteilung geneigt ist, wird sich aus seiner Verantwortung heraus mit sachlichen Argumenten auseinandersetzen und wird seine Meinung sorgfältig überprüfen, auch weil sein Urteil in der Regel einer Rechtsmittelkontrolle unterliegt. Anderseits wird der zum Freispruch neigende Richter seine Auffassung gern bestärken lassen durch sachlich gewichtige Ausführungen. Damit ist nicht gesagt, dass die Form für die Wirkung eines Plädoyers nichts bedeutet. Zwar vermag die Form der forensischen Rede für sich allein nichts, wenn ihr Gehalt enttäuscht; umgekehrt bedarf der gediegene Gehalt der zwar schlichten, aber formvollendeten Wiedergabe. Die Rede kann damit zum ästhetischen Genuss gesteigert werden. Die Mahnung zur Vermeidung pathetischer Tiraden darf anderseits nicht 723 zu der Meinung führen, der Verteidiger sollte in monotoner Gleichmäßigkeit und flauem Stil leidenschaftslose Vorlesungen halten. Wenn das Plädoyer nicht leblos und eindruckslos bleiben soll, bedarf es einer gewinnenden Sprache und des Einsatzes von Temperament und Leidenschaft da, wo eine bestimmte Seite der Sache einen solchen Einsatz verlangt. Der Beruf des Verteidigers erfordert im Gegensatz zur statischen Funktion der richterlichen Tätigkeit ein dynamisches Wirken. Es gibt Fälle, die die ganze Leidenschaft des Verteidigers erfordern und auch erwarten lassen. Eine unberechtigte Anklage, ein falsches Urteil oder ein verfehltes Argument können Empörung oder Zorn herausfordern, den auszudrücken dem Verteidiger dann nicht schlecht ansteht. Verteidiger, die „immer“ entsprechend vortragen, verlieren allerdings schnell an Glaubwürdigkeit. Der „Missbrauch“ des prozessual garantierten Rederechts schadet immer. Er führt zur Geringschätzung von Plädoyer und Verteidiger. Der Verteidiger darf andererseits nicht dem Irrtum verfallen, die gebotene Achtung vor der Würde des Gerichts bedeute zugleich die Verpflichtung zum Zurückweichen in der Sache oder zum Hinnehmen von Ungehörig1 Vgl. die zwar nicht juristische, aber umso treffendere Abhandlung „Die Kunst der klaren Rede“ von Marietta Slomka in FAZ v. 15.5.2012.
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keiten. Wenn Richter dem Vortrag des Verteidigers ostentativ ihre Aufmerksamkeit verweigern, ständig in den Akten lesen, sich unterhalten oder gar die Augen schließen, dann ist es mit der Würde des Anwaltsstandes und dem Anspruch des Verteidigers auf Achtung nicht vereinbar, wenn der Anwalt ein solches Verhalten hinnimmt1. Der Verteidiger wird sich Respekt verschaffen, wenn er die „volle Aufmerksamkeit des Gerichts erbittet“ oder nötigenfalls seinen Vortrag unterbricht, bis man ihm auch äußerlich Aufmerksamkeit schenkt. Dabei muss der Verteidiger Haltung bewahren und Herr auch einer solchen Situation bleiben. 724
Ein besonderes Kapitel ist die lange Dauer des Plädoyers. Sie kann tödlich sein. Je besser eine Sache steht, umso kürzer kann die Antragsbegründung sein. Es liegt der Schluss nahe, dass eine Sache umso schlechter steht, je länger ein Plädoyer ist. Dieser Meinung setzt sich der Verteidiger aus, wenn sein Plädoyer sich über Gebühr hinzieht. Er sollte Wiederholungen vermeiden und Nebensächliches nicht auszuwalzen. Die Kurzfassung erfordert oft Mut und Selbstvertrauen. Dafür verfehlt sie ihre Wirkung selten. Demgegenüber gibt es Verteidiger, die in endlosen Perioden stundenlange Reden halten. Sie betreffen in weiten Strecken Dinge, die nicht zur Sache gehören, Fragen, über die gar kein Streit mehr besteht, oder sind nur Wiederholungen bereits vorgebrachter Argumente mit anderen – häufig schlechteren – Worten. Fehlende Gedanken werden durch hohle Worte ersetzt (Fontane: „Nichts rückt von der Stelle, alles macht sich selbst Konkurrenz“). Während lange Vorträge ermüden, hört man einfach dargebotenen Argumenten gerne zu2. Man kann sie ohne Mühe rekonstruieren, und sie wirken in der Beratung mehr nach, als es komplizierte und langatmige Ausführungen ermöglichen.
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Das Geheimnis des Langweilens eines Redners ist sein „Allessagen“. Unerträglich ist z.B. die endlose Wiedergabe von Literatur und Rechtsprechung und deren Vorlesen. Die freie Rede erfordert die Fähigkeit der Konzentration auf ein Zehntel dessen, was man zu sagen weiß und sagen könnte. Hierher gehört auch die häufige Frage der Richter, „Wie lange die Verteidiger zu plädieren gedenken“. Sie ist oft ein Anzeichen für die Besorgnis der Richter, übermüdet zu werden. Unglücklich sind Einleitungen, die nach ihrem Gegenstand schon eine lange Dauer des Vortrages erwarten lassen. Ein französischer Schriftsteller gibt den Beginn einer Verhandlung wie folgt wieder: Avocat: „Avant la naissance du monde […]“ Juge: „Ah, passons au deluge!“. Und ein chinesisches Sprichwort lautet: „Wer viel schießt, ist noch kein Schütze. Wer viel spricht, ist noch kein Redner.“
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Der Verteidiger stellt anderseits oft mit Enttäuschung fest, dass seine Ausführungen nicht beachtet oder nicht verstanden worden sind. Das kann ihn zu Wiederholungen (möglichst mit besseren Worten) und nach1 Glosse „Der Präsident las in den Akten“, NJW 1958, 1767. 2 S. die treffende Glosse „Die langen Plädoyers“, NJW 1958, 1333.
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drücklichen Unterstreichungen im nächsten Fall veranlassen. Auch hier heißt es, das richtige Maß zu finden. Dehnt ein Gericht die Verhandlung über Gebühr oder sogar zu „Mitternachtssitzungen“ aus, ist die Wirkung des Plädoyers von vornherein so stark in Frage gestellt, dass der Verteidiger überhaupt nur ausnahmsweise dazu bereit sein sollte. Kommt es gleichwohl dazu, so muss der Situation Rechnung getragen werden. Eine starke Beschränkung im Umfang des Vortrags ist geboten, auch wenn die Kürzungen einen harten Entschluss erfordern. Unbeschwert durch Überlegungen solcher Art sind die „Fensterredner“. 727 Sie reden für die „Galerie“, kämpfen für publicity und wenden sich auch äußerlich mehr der Pressebank als dem Gericht zu. Die Wirkung solcher Plädoyers auf das Gericht ist abstoßend. Die zu strenger Sachlichkeit neigenden Richter verschließen sich gegenüber solcher Medien-Anbiederung. Den Schaden muss der Klient tragen. Es kommt auch vor, dass der Verteidiger im Plädoyer durch Übersteigerungen bis zur Lächerlichkeit ausartet oder doch erheblich anstößt. Was nun den sachlichen Gehalt des Plädoyers als solchen anbelangt, so 728 muss die spezielle Struktur des deutschen Strafprozesses beachtet werden. Hiernach hat der Vorsitzende während der Hauptverhandlung die Funktion des ermittelnden Richters und in der Beratung die Funktion des urteilenden Richters. Beide Aufgaben gehen in ganz verschiedene Richtungen. Zeitlich zwischen dem Wirksamwerden der beiden verschiedenen Funktionen steht das Plädoyer des Staatsanwalts und des Verteidigers. Der Verteidiger darf die Augen nicht davor verschließen, dass er in einer natürlichen Gegnerschaft zum Gericht insofern steht, als der Richter gegen den von ihm vertretenen Angeklagten die ermittelnde Funktion ausübt. Der den Angeklagten pflichtgemäß schützende Verteidiger wird aus der Lage heraus von selbst mit dem funktionell bedingten Misstrauen des Richters gegen sich rechnen müssen. Der Gegensatz tritt besonders da zutage, wo der Verteidiger für seinen Mandanten die strenge Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze und prozessualer Beweisregeln in Fällen verlangt, in denen das Gericht der Überzeugung von einer materiellen Schuld zuneigt. Gerichte verkennen oft, dass der Verteidiger mehr noch als jedes andere Organ der Rechtspflege ein (wenn auch einseitiges) Gesetzeswächteramt ausübt und überall da einer Verurteilung entgegentreten muss, wo die letzte Voraussetzung dazu fehlt. Der Verteidiger muss aber in solchen Fällen im Rahmen bleiben. Er sollte sich gerade in Fällen zweifelhafter Tatschuld seines Mandanten hüten, die Verteidigung als seine „innere Überzeugung“ darzustellen. Er soll es auch nicht so machen, wie nach einer Anekdote der ältere Anwalt seinem Referendar empfohlen hat: „An dieser Stelle, Herr Kollege, müssen Sie Ihre Stimme besonders erheben und auf das Pult schlagen, denn hier sind unsere Argumente schlecht.“ Für die Wirkung eines Plädoyers mitentscheidend ist sein Aufbau. Das 729 Plädoyer des Staatsanwalts ist häufig nach einem bestimmten System, 461
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ähnlich wie die Urteilsverkündung, aufgebaut. Es beginnt mit der Feststellung des Sachverhalts und der Beweiswürdigung, es folgen die rechtliche Würdigung und dann die Ausführungen zum Strafmaß. Erst hierbei wird auch zur Persönlichkeit des Angeklagten etwas gesagt. Der Aufbau nach einem solchen Schema wirkt trocken und in seiner Gleichmäßigkeit manchmal öde. Gleichwohl kann der Verteidiger in geeigneten Sachen mit einer ausgesprochen „schulmäßig-gutachtlich“ aufgezogenen Prüfung des Anklagevorwurfs, im Ausnahmefall sogar einmal in Urteilsform, besonders „ankommen“. Im allgemeinen sollte er aber versuchen, nicht dem Beispiel des Anklagevertreters zu folgen, sondern mit seinem Plädoyer zu kontrastieren, d.h. nicht nur die zur Anklage stehende Tat als solche zu würdigen, sondern von vornherein den vor dem Richter stehenden Menschen als Persönlichkeit zu würdigen und ihn dem Gericht menschlich nahezubringen. Die Gerichtsverhandlung über eine konkrete Handlung dieses Menschen ist im Allgemeinen nicht mehr als eine Momentaufnahme im Gesamtablauf seines Lebens. Der Verteidiger muss es erreichen, den manchmal starren und nur auf den „Fall“ gerichteten Blick der Richter hinzulenken auf eine Wertung des ganzen Menschen, dem das Urteil gilt. „Wer einen Angeklagten verteidigen will, der erlebe die Not des Angeklagten und handele aus seiner Lage heraus“ (Naumann). Manche Verteidiger verstehen es, ihre Zuhörer sogleich zu fesseln, indem sie den Fall von einem bestimmten tatbestandlichen Einzelgeschehen her aufrollen. Das entspricht der dem Verteidiger zu empfehlenden induktiven Methode. In dem Verfahren gegen einen hochverdienten Beamten wegen des Vorwurfs einer pflichtwidrigen Geschenkannahme begann der Verteidiger das Plädoyer mit der Schilderung, wie der Nachtpförtner des Amtsgebäudes Tag für Tag einen Mann um die Mitternachtszeit das Gebäude verlassen sah. Es war der Angeklagte, der als einziger des Amtes nach 16stündiger Arbeit erst um diese Zeit seinen Dienst beendete und diese Gewohnheit seit vielen Jahren nicht ein einziges Mal durch einen Urlaub unterbrochen hatte. Von hier aus zeichnete der Verteidiger dann ein Bild von den ungewöhnlichen Charaktereigenschaften und Leistungen dieses Mannes und schlug seine Zuhörer ganz in seinen Bann. Die „Tat“ erschien am Schluss des Plädoyers als eine Winzigkeit in einem sonst vorbildlichen Beamtenleben. 730
Der Verteidiger sollte stets darauf bedacht sein, durch einen zündenden Anfang sich sofort die Aufmerksamkeit des Gerichts zu erzwingen. Das gelingt nicht, wenn etwas Überflüssiges oder Langweiliges gesagt wird. Andererseits darf man die Zuhörer auch nicht frappieren durch etwas, auf das sie nicht vorbereitet sind. Sehr zweifelhaft ist auch die Wirkung einer der captatio benevolentiae der Römer nachgebildeten Eloge, die man dem Gericht wegen seiner „vorbildlichen Verhandlungsführung“ glaubt machen zu sollen. Angebracht ist dagegen besonders in großen Sachen ein Hinweis darauf sein, auf welche Teile sich das Plädoyer erstreckt und wie viel Zeit es ungefähr in Anspruch nehmen wird. Ande462
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rerseits sollte man sich davor hüten, diese Vorbemerkung zu weit auszudehnen und insbesondere nicht vortragen, was man alles nicht sagen wird. Der weitere Aufbau des Plädoyers in der Hauptsache sollte sich danach richten, in klarer Folgerichtigkeit jedes (wesentliche) Argument oder Indiz der Anklage hervorzuholen und zu zerbrechen, so dass diese schließlich stürzen muss, weil die verbleibenden Stützpunkte nicht mehr ausreichen. Dieses alles ist vorzutragen in völliger geistiger Beherrschung des Stoffes und des sprachlichen Ausdrucks. Besonders das Laienpublikum stellt immer wieder die Frage an den Ver- 731 teidiger, ob er denn wirklich von seinem Mandanten selbst „überzeugt“ sei, oder wie es möglich sein könne, gegen seine eigene Überzeugung einen Menschen zu verteidigen. Diese Frage ist gerade auch für das Plädoyer von wesentlicher Bedeutung. Sie beantwortet sich von selbst von der Grundlage des Strafverfahrens und dem Wesen der Verteidigung her. Prozessual ist das private oder berufliche Wissen des Verteidigers von der Schuld des Mandanten bedeutungslos. Das Urteil hat nur zu beruhen auf dem Ergebnis der Hauptverhandlung, insbesondere dem darin erhobenen Beweis. Das innere Wissen und Gewissen des Verteidigers wird nicht Gegenstand der Hauptverhandlung. Sein Überzeugtsein oder Nichtüberzeugtsein von der Schuld seines Mandanten ist rechtsunerheblich. Darauf hat sich also auch das Plädoyer nicht zu beziehen. Es folgt dies auch aus den Grundsätzen, die Rechtsprechung und Berufsrecht zum Problem der „Verteidigung des schuldigen Angeklagten“ entwickelt haben, das im Einzelnen an anderer Stelle behandelt ist (Rz. 77 ff.). Für das Plädoyer kommt es dabei darauf an, ob ein Verteidiger prozessual und berufsrechtlich befugt ist, die Freisprechung des Angeklagten wenigstens „mangels Beweises“ zu beantragen, wenn er seine Schuld durch sein glaubwürdiges Geständnis oder aus anderen Quellen positiv kennt oder wenigstens von seiner Schuld fest überzeugt ist. Die Frage wird heute eindeutig bejaht. Trotz dieser grundsätzlichen Befugnis muss sich der Verteidiger aber vorstellen, wie sich ein Plädoyer ausnimmt, in dem er sich mit mehr oder weniger Emphase auf seine „Überzeugung“ von der Schuldlosigkeit des Angeklagten oder von bestimmten Prozessumständen beruft. Es ist dies eine häufig beobachtete Erscheinung. Das Pathos feiert dabei Triumphe. Der Verteidiger sollte das in aller Regel unterlassen. Solche aufgebauschten Passagen einer auch noch mit großer Lautstärke vorgetragenen Verteidigungsrede erwecken leicht den peinlichen Verdacht, dass hier allzu leicht und allzu oft die eigene „Überzeugung“ strapaziert wird. Dabei darf man sich auch nicht vor der Einsicht verschließen, dass die 732 Richter bei solchen Plädoyers sehr häufig in der Vorstellung befangen sind, dass der Verteidiger – möglicherweise eines besonders wohlhabenden Angeklagten – für seine Verteidigung ein hohes Honorar erhält. Stellt sich der Richter dazu vor, dass auch der Verteidiger – wie möglicherweise das Gericht – von der Schuld seines Mandanten entweder überzeugt ist
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oder diese als möglich in Kauf nimmt, dann kann der Eindruck entstehen, dass dieser sich für Geld verkauft. Aber wie soll man es richtig machen? Ein schlappes und farbloses Plädoyer ist in jedem Falle eine schwere Enttäuschung für den Mandanten. Es kommt auch bei Gericht schlecht an. Es wird in Fällen, in denen die Schuld des Angeklagten zweifelhaft ist, das Richtige sein, ein gesundes Mittelmaß zu halten. Alle Übertreibungen müssen ausgeschaltet werden, aber die Entlastungsmomente sind mit Nachdruck zu behandeln. Es kann dabei unter Umständen sehr viel eindrucksvoller und erfolgreicher sein, wenn der Verteidiger sich selbst objektiviert, auch die belastenden Momente nicht ignoriert, sondern sachlich behandelt. Es nützt dem Angeklagten auch, wenn der Verteidiger selbst gar solche Bedenken erweckt und erörtert, die bisher in der Hauptverhandlung und auch im Plädoyer des Staatsanwalts gar nicht gesehen worden sind. Die sich darin offenbarende Objektivität des Verteidigers nimmt für ihn ein. Sie schadet dem Angeklagten auch mindestens dann nicht, wenn ohnehin damit zu rechnen ist, dass dem Gericht in der Beratung die Bedenken mit Wahrscheinlichkeit kommen müssen. 733
In Fällen dringenden Verdachts ist die vorbehaltlose Erörterung aller belastenden Indizien durch den Verteidiger häufig die beste Möglichkeit, um „die letzten Zweifel“ der Richter zu wecken oder zu bestärken, die zum Freispruch führen können. Ein solcher objektiver Sachvortrag wirkt auch in den Augen eines vernünftigen Angeklagten und der Verhandlungsteilnehmer nicht schlapp und wirkungslos. Viele Angeklagte haben ein feines Gespür für die Wirkung reiner Sachlichkeit auf das Gericht. Sie beobachten dessen wohlwollendes Interesse und das damit sichtbar werdende Ansehen des Verteidigers. Sie bemerken besonders beifällig die Notizen des Richters zum Plädoyer des Verteidigers.
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Ist vor oder während der Hauptverhandlung eine Absprache (§ 257c StPO) getroffen worden (Rz. 502) und somit Schuldspruch und Strafausspruch – in einer gewissen Spannweite – ziemlich sicher, so sind Nüchternheit und der Absprachesituation angemessene Formulierungen besonders dringend geboten; alles andere ist abstoßendes Schattenboxen. Bei der gesetzmäßig offengelegten Absprache im Sinne des § 257c StPO muss sich der Verteidiger auf die offengebliebenen Fragen beschränken, z.B. das Strafmaß, die Strafaussetzung zur Bewährung und etwaige andere noch offengebliebene Nebenentscheidungen.
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Eine schwierige Aufgabe ist auch das Plädoyer in Fällen überführter Angeklagter, die trotz Bestreitens nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme mit Sicherheit verurteilt werden. Hier können schwere Konflikte und Vertrauenskrisen entstehen, die bis zur Niederlegung des Mandats führen können (Rz. 161 ff.). Der Verteidiger wird sich unter Umständen damit durchsetzen müssen, gegen den die Freisprechung begehrenden Angeklagten sich in seinen Anträgen auf eine milde Strafe zu beschränken. In solchen Fällen also, in denen ihm weder Antrag auf Freisprechung 464
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noch der Antrag auf milde Bestrafung nach der Situation möglich erscheint, kann er sich auf die Darlegung der entlastenden oder zweifelerweckenden Umstände des Falles beschränken. Jedenfalls würde ihn die Unterstützung des aussichtslosen Leugnens unglaubwürdig machen. Seine Objektivität hingegen sichert ihm für die Strafzumessung eine gute Chance. Anderseits macht die Unterlassung seines Antrages natürlich jedem im Gerichtssaal deutlich, dass der Verteidiger seinen Mandanten für schuldig hält. Nicht selten kann man aber einen Mittelweg gehen, der diese harte Konsequenz vermeidet, jedenfalls mildert. Nachdem der Verteidiger die Gründe dargelegt hat, die „aus der Sicht des Angeklagten“ gegen dessen Überführung sprechen, kann er etwa wie folgt fortfahren: „Wenn das Gericht diesen Bedenken folgt, muss es den Angeklagten freisprechen, was hiermit beantragt wird.“ Daran schließen sich quasi „aus der Sicht des Verteidigers“ die Ausführungen zur Strafzumessung an. Dass der Angeklagte ein solches Mandat – evtl. noch in der Verhandlung – kündigt, muss er hinnehmen. In ein ähnliches Dilemma gerät der Verteidiger, wenn er zwar den Frei- 736 spruch für geboten hält, das Gericht sich aber durch eine Zwischenentscheidung schon festgelegt hat. Wenn z.B. ein geständiger Mörder zu verteidigen ist, der nur bei Schuldunfähigkeit freizusprechen wäre, dann können Plädoyer und Antrag des Verteidigers sinnlos erscheinen, falls der gerichtliche Sachverständige die Schuldfähigkeit bejaht und deshalb das Gericht einen Beweisantrag des Verteidigers auf Vernehmung eines weiteren Sachverständigen abgelehnt hat. Soll in diesem Falle der Verteidiger (zwecklos) plädieren oder soll er das Plädoyer demonstrativ ablehnen? Ich halte den Verteidiger für verpflichtet, in einem solchen Falle wenigstens mit dem Antrag auf Freispruch konsequent seinen Standpunkt (Unerwiesenheit der Schuldfähigkeit) weiter zu vertreten; ggf. kann hilfsweise zur Frage der besonderen Schwere der Schuld (§ 57a StGB) Stellung genommen werden. Das muss für den Wahlverteidiger wie für den Pflichtverteidiger gelten. Es ist auch unerheblich, dass der Klient auf das Plädoyer des Verteidigers verzichtet hat1. Der Verteidiger muss ständig darauf achten, wie seine Rede bei den ein- 737 zelnen Richtern „ankommt“. Man hat als Redner ein sicheres Empfinden dafür, ob man dabei ist, überzeugend zu wirken, oder ob die Worte nicht ziehen. Man muss in ständiger Reaktionsbereitschaft diese Anzeichen aufnehmen und verarbeiten und auf die weitere Gestaltung der Worte und Gedanken einwirken lassen, wenn man nicht „im leeren Raum tönen“ will. Es gibt allerdings auch Richter, deren Haltung während des Plädoyers irreführend sein kann. Sie hören mit großer Aufmerksamkeit den Verteidi1 Unterlässt der Verteidiger den Schlussvortrag, obwohl er ihm möglich wäre, so erwächst daraus kein Revisionsgrund, BGH bei Pfeiffer, NStZ 1981, 95.
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ger an und machen lebhaft ihre Notizen. Das verführt zu dem Schluss, dass sie dem Verteidiger innerlich folgen und seine Meinung teilen. Es kann aber ganz anders sein: Sie lehnen seine Thesen ab, aber sie sind neugierig zu hören, wie er sie begründen will, und machen sich Notizen über die Argumente für ihre Widerlegung. Es kann umgekehrt ein Richter einen Verteidiger unterbrechen und ihm aufgeben, sich nicht in die Weite zu verlieren und zum Schluss zu kommen. Das kann durchaus daher kommen, dass der Richter den Anträgen des Verteidigers folgen will. 738
Es gibt noch viele psychologische Erfahrungen aus der Beobachtung der Urteilstätigkeit der Richter, die nicht alle behandelt werden können. Sie liegen auch bei den einzelnen Personen ganz verschieden. Sie betreffen z.B. die Frage, ob der Sache des Angeklagten gedient ist mit Ausführungen über die „Dunkelziffer“ der nicht zur Ahndung kommenden Straftaten der aktuell anstehenden Art. Das kann man z.B. bei einem Verfahren wegen Steuerhinterziehung mit dem lauten Ausruf tun, wie viele Tausende von Fällen nicht festgestellt oder verfolgt werden, so dass dem Staat viele Millionen verlorengehen und die Täter sich „ins Fäustchen lachen“. In Verfahren wegen Wirtschaftsvergehen, Umweltstraftaten, Bestechung oder Untreue geschieht oft dasselbe, ggf. sogar unter Vorlage statistischer Unterlagen über die „Dunkelziffern“. Damit legt der Verteidiger dem Gericht um des Missverhältnisses zur Dunkelziffer willen nahe, den Angeklagten nicht als Prügelknaben für andere anzusehen und ihn deshalb „billig davonkommen“ zu lassen. In den Urteilen der Richter hingegen wird der Hinweis auf die Dunkelziffer oft zur Begründung einer besonders nachdrücklichen Strafe verwendet, weil gerade die geringe Zahl der Aburteilungen eine besondere Abschreckung der Täter erforderte.
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Im Zusammenhang mit dem Grundsatz in dubio pro reo findet man häufig Ausführungen von Verteidigern über Justizirrtümer. Auch hier wird im Richter etwas angerührt, was dem Erfolg der Verteidigung nicht entgegenkommt. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es z.B. zweifelhaft, ob man ein Plädoyer mit den Worten beginnen sollte: „Die Geschichte der Justiz ist die Geschichte der Irrtümer.“ Ein bekannter Verteidiger führte einmal in einem brillanten Plädoyer aus, dass bei Anerkennung der Rechtsansicht des Staatsanwalts zu den Zehntausenden von Opfern des Straßenverkehrs weitere Zehntausend „auf dem Altar der Justiz“ geopfert würden. Der rhetorische Effekt der Formulierung ist unbestreitbar. Ob aber die Richter nicht durch so zugespitzte Argumente unangenehm berührt werden und der Sache des Mandanten damit geschadet wird, ist eine andere Frage. Es genügt im Allgemeinen, wenn sich der Verteidiger mit dem Sachverhalt und der Beweisführung befasst. Die Geschichte der Justizirrtümer braucht er nicht zu bemühen. Es wirkt überzeugender, nüchtern zu erörtern, warum eine behauptete Belastungstatsache nicht nachgewiesen ist oder aus welchen Gründen der Beweiswert einer Zeugenaussage oder eines Sachverständigengutachtens zweifelhaft ist. Handelt es sich um eine Mehrzahl von belastenden Umständen, insbesonde466
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re eine Indizienkette, so empfiehlt es sich, jede einzelne Tatsache und ihren Nachweis getrennt zu beleuchten. Auf diesem Wege kann man unmerklich am besten der Gefahr entgegenwirken, dass sich die richterliche Überzeugungsbildung statt an der vielleicht großen Zahl der Belastungsmomente an dem Gewicht des einzelnen Umstandes orientiert. Auch auf diese Gefahr sollte man indessen das Gericht grundsätzlich nicht in pointierter oder gar belehrender Form hinweisen. Problematisch ist auch der Appell an die Richtertugenden. Auch die Bitte um Gnade vor Recht ist gefährlich, weil sie auf ein dem Recht nicht voll entsprechendes Urteil hinzuwirken scheint. Manche Verteidiger, die sich mit der Psychologie der Richter befassen, 740 halten es für richtig, ihre Gedanken hierzu zu analysieren und in einer psychologischen Betrachtung vorzutragen. Das ist gefährlich, weil kein Richter sich gern in der Rolle psychologischer Objektbetrachtung sehen will. Ein schwieriger Komplex ist die Behandlung von Rechtsfragen im Plä- 741 doyer. Zwar gilt der Satz „iura novit curia“. Voll überzeugt davon ist in der Regel aber nur das Gericht selbst. Der Verteidiger fühlt sich daher häufig zu Rechtsausführungen veranlasst. Diese sind erfahrungsgemäß häufig mangelhaft. Man kann allgemein sagen, dass die daraus resultierende Einstellung der Gerichte gegenüber Rechtsausführungen der Verteidigung skeptisch ist. Es ist psychologisch grob fehlerhaft, wenn der Verteidiger bei den Erörterungen der Rechtslage einen dozierenden Ton annimmt. Gegen – vor allem umfangreiche – Rechtsbelehrungen des Verteidigers sträubt sich der Richter. Man sollte es auch vermeiden, die Überlassung von Entscheidungen oder Literatur dem Gericht anzubieten. Das akzeptiert der Richter, besonders vor der Öffentlichkeit, höchst ungern. Entscheidungen und Literatur sollte man auch nicht ablesen und dann wie ein Kommentator erläutern, sondern sich auf eine knappe Inhaltsangabe beschränken. Das Gericht will Rechtsfehler im Urteil vermeiden und wird schon deshalb jedem Hinweis von sich aus nachgehen. Es ist psychologisch überhaupt viel wichtiger, durch bloße Andeutungen und Entscheidungshinweise die rechtlichen Überlegungen des Gerichts zu beeinflussen und in eine dem Angeklagten günstige Richtung zu bringen. Der Richter wird dann viel lieber von sich aus zu der erstrebten Beurteilung gelangen und diese mit Befriedigung verkünden, als eine ihm von der Verteidigung vorgetragene Rechtsauffassung restlos zu akzeptieren. In dieser Erkenntnis kommt es gelegentlich allerdings auch zu Auswüchsen. Es gibt Verteidiger, die es unternehmen, sogar eine falsche Rechtsauffassung zustimmend zu diskutieren, weil diese einer dem Angeklagten günstigen Rechtsauffassung geistig benachbart ist. Der die Rechtsausführung des Verteidigers kritisch prüfende Richter kann dann leicht zur Ablehnung der falschen Rechtsauffassung geführt, zugleich aber auf die dem Angeklagten günstige Rechtsauffassung unmerklich hingelenkt werden. Es sind die Fälle, in denen der Richter nach dem Urteil dem Verteidiger mit leichtem Triumph sagen mag: „Wir haben zwar 467
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Ihren Mandanten freigesprochen, aber nicht mit Ihrer rechtlichen Begründung. Diese war ganz falsch.“ Beides – sowohl das Tief- als auch das Hochstapeln – ist zu vermeiden. 742
Schwierig wird es auch, wenn der Staatsanwalt die Freisprechung beantragt hat, während der Verteidiger selbst wesentliche Belastungspunkte nicht für ausgeräumt hält. Soll er diese Bedenken übergehen und sich dem Antrag des Staatsanwalts anschließen? Dann läuft er Gefahr, dass im Falle einer Verurteilung des Angeklagten die Hauptaufgabe seines Plädoyers nicht behandelt worden ist. Das bringt ihm in der Regel schwere Vorwürfe seines Mandanten ein. Es ist beispielsweise vorgekommen, dass in einer Sache wegen Trunkenheit am Steuer der Staatsanwalt die Freisprechung des Angeklagten wegen Schuldunfähigkeit gem. § 20 StGB beantragt, ohne an die Strafbarkeit des Vollrausches gem. § 323a StGB zu denken. Wenn der Verteidiger bei einem so groben Versehen zu der Unterlassung des Staatsanwalts schweigt, um den Freispruch nicht zu gefährden, so wirkt das wie eine Spekulation auf die Unachtsamkeit des Gerichts. Bringt er § 323a StGB von sich aus zur Sprache und trägt insoweit seine Verteidigungsargumente vor, so wird ihm von seinem Mandanten, wenn dieser trotzdem aus § 323a StGB verurteilt wird, vorgeworfen, das habe der Verteidiger allein verschuldet, weil er das Gericht erst auf den richtigen Gedanken gebracht habe. Der Verteidiger muss die ironische Bemerkung einstecken, „sein Mandant sei auf das Plädoyer seines Verteidigers“ verurteilt worden. Bei Anträgen des Staatsanwalts auf Freispruch kann es sinnvoll sein, das Dilemma des Verteidigers zu Beginn des Plädoyers offen anzusprechen und dem Gericht vorzuschlagen, das Plädoyer zunächst unter Übernahme der Argumente des Staatsanwalts auf ein Mindestmaß zu beschränken. Dabei kann der Verteidiger um die Zusage des Vorsitzenden bitten, dass im Falle auftretender Bedenken gegen den Freispruch während der Beratung die Verhandlung wieder eröffnet und zu ausführlicher Verteidigung erneut Gelegenheit gegeben wird.
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Kompliziert ist die Situation, wenn das Gericht bekanntermaßen zu einer Rechtsfrage ständig eine dem Mandanten ungünstige Auffassung vertritt. Wendet sich der Verteidiger gegen diese ständige Rechtsprechung, so redet er gleichsam „gegen eine Wand“. Trotzdem darf er sich nicht unterkriegen lassen. Es kann ihm gelingen, das Gericht umzustimmen und damit „der Wahrheit eine Gasse zu hauen“. Der Erfolg kann allerdings zum Pyrrhussieg werden, wenn die höhere Instanz das erstrittene Urteil aufhebt und alle Kosten dem Verurteilten aufbürdet. Dieser wird von seiner Märtyrerrolle wenig begeistert sein. Überhaupt haben Klienten meist keine Neigung, als Vehikel für die Fortentwicklung des Rechts und der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu dienen.
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Es ist auch so, dass im Falle einer Verurteilung die den Angeklagten belastenden Feststellungen im Urteil mit umso größerer Genauigkeit und Unangreifbarkeit revisionssicher gestaltet werden, je mehr die Rechts468
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lage in dezidierter Weise behandelt worden ist. Die Erfahrung lehrt, dass erschöpfende Rechtsausführungen selten zum Freispruch aus rechtlichen Gründen führen, sehr häufig aber zur Ausschaltung der Rechtsmittelchance durch revisionssichere Tatsachenfeststellungen. Der Verteidiger muss daher zwar jede Sache in rechtlicher Hinsicht intensiv vorbereiten, den sparsamen Einsatz seiner Denkergebnisse im Plädoyer aber sehr sorgfältig überlegen. Bei der Erörterung von Rechtsfragen gilt die auch sonst zutreffende Erfahrung, dass der Richter umso eher für eine Auffassung gewonnen wird, je mehr er der Ansicht ist, sie selbst entdeckt oder erarbeitet zu haben. Deshalb ist es oft geschickter, Argumente in zurückhaltender Weise anzubringen und ihre Entfaltung dem eigenen Ausdenken des Richters zu überlassen, als zu versuchen, sie ihm aufzuzwingen. Häufig kommt es auch vor, dass Anwälte ihr Plädoyer auf eine bestimmte juristische Theorie oder eine konkrete höchstrichterliche Entscheidung abstellen. Der Vortrag zur Sache wird dann häufig unter Vernachlässigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme gewaltsam unter die angestrebte Entscheidung „gepresst“. Die Wirkung des Plädoyers auf die Überzeugungsbildung des Richters ist 745 eine schwer zu beurteilende Frage. Die Erfahrung zeigt, dass die wichtigsten Möglichkeiten der Verteidigung nicht im Plädoyer, sondern in der Vorbereitung des Mandanten, der Mitwirkung bei der Beweisaufnahme und in Beweisanträgen liegen. Entsprechende Versäumnisse können im Plädoyer nicht korrigiert werden. Die Meinung der Richter ist nach Abschluss der Beweisaufnahme oft schon weitgehend gebildet oder vorbereitet. Umso schwieriger ist die Aufgabe, noch vorhandenen Zweifel zu erkennen, diese richtig zu würdigen und mit treffenden Argumenten die Überzeugungsbildung des Gerichts zu beeinflussen. Eine solche, sich nur gelegentlich bietende Chance darf aber keinesfalls überschätzt werden. Von Interesse ist jedoch auch eine Betrachtung, nach welchen Gesichts- 746 punkten die Gerichte einen Verteidiger im Allgemeinen einschätzen. Sie haben meistens eine ganz andere Einstellung als das allgemeine Publikum. Die Eigenschaften, nach denen viele Mandanten ihre Verteidiger beurteilen und aussuchen, sind andere als die, die ein Gericht schätzt. Dies gilt umgekehrt gleichermaßen. Die Richter lieben den sachlich eingestellten, maßvollen und ruhigen Verteidiger. Manches Publikum dagegen feiert den laut tönenden Anwalt, der vor nichts zurückschreckt und möglicherweise im Zusammenstoß mit Staatsanwalt und Gericht Triumphe sieht. Die Richter missachten jede Unsachlichkeit und hintergründigen Schliche. Manche Klientel findet gerade darin den richtigen Mann und findigen Kopf, der ihnen aus ihrer Misere heraushelfen wird. Hierher gehört auch die häufig anzutreffende Meinung, der durch besondere Autorität ausgezeichnete, der Staranwalt oder der „berühmte“ Anwalt habe in besonderem Maße das Ohr des Gerichts. Dies ist keineswegs so. In Wahrheit schirmt sich das Gericht gerade gegen solche Verteidiger häufig ab, um seine Neutralität und Unvoreingenommenheit 469
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zu demonstrieren. Ähnlich reagieren Gerichte übrigens häufig auf vorgelegte Rechtsgutachten von juristischen Sachverständigen. Hier entspricht die innere Auflehnung gegen die geistige Bevormundung der allgemeinen Erfahrung. Solche Verteidiger können dem Mandanten oft im doppelten Sinne „teuer zu stehen kommen“. Es entspricht im Übrigen einem natürlichen Gefühl des Menschen und besonders eines Richters, den Schwachen gegen den Starken zu schützen. Ein schlecht oder gar nicht verteidigter Angeklagter kann unter Umständen im Vorteil sein gegenüber einem anderen wohlhabenden Angeklagten, der einen berühmten und besonders geschickten Verteidiger oder gar mehrere Verteidiger hat, gegen deren Übermacht das Gericht einen Ausgleich sucht. Die vorgeschilderten Umstände und Erfahrungen wirken sich bei den ehrenamtlichen Richtern teilweise wesentlich anders als bei den Berufsrichtern aus. Das muss der Verteidiger beachten und erforderlichenfalls beiden Gruppen „etwas bringen“ (Rz. 191). 747
Bei allen Mahnungen zu strenger Sachlichkeit und Fallbezogenheit darf indes nicht übersehen werden, dass von dem Richter Verständnis erwartet werden kann und muss für die Funktion des Plädoyers des Verteidigers gegenüber dem Angeklagten. Es ist klar, dass der Angeklagte von seinem Verteidiger manches Vorbringen erwartet, das für das Gericht von geringerem Interesse ist. Diese Schwierigkeit für den Verteidiger wird der souveräne Richter immer zu würdigen wissen und bis zu einem gewissen Grad an den Ausführungen keinen Anstoß nehmen. Hier kommt es auf die richtige Grenzziehung an. Der Verteidiger muss sich u.a. auch entscheiden, ob er dem Richter ein angepasster Verteidiger sein will oder ob er als unbequemer Verteidiger seine Aufgabe nicht besser und richtiger sieht. Der gute Richter wird den sachlich unbequemen Verteidiger immer respektieren (Rz. 192 f.).
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Während des Plädoyers können Schwierigkeiten entstehen durch bestimmte Verhaltensweisen des Gerichts. So ist es z.B. die Frage, ob der Richter den Verteidiger in seinem Plädoyer unterbrechen darf. Die Unterbrechung ist dann ungehörig, wenn sie nur dem Zweck dienen soll, dem Verteidiger zu widersprechen oder ihn zurechtzuweisen. Wenn das geschieht, wird der Anwalt in der Regel so reagieren müssen, dass er von da ab ungestört sprechen kann (Rz. 531). Geschieht die Unterbrechung aber ohne Spitze gegen den Anwalt und in der offenbaren Absicht, den Verteidiger zu weiteren Gedanken und Ausführungen anzuregen, so ist dies nicht zu beanstanden. Unterbrechungen können sogar sinnvoll sein, und es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass auf gewisse Strecken hin das Plädoyer zu einem Rechtsgespräch mit den Richtern wird.
749
Ob der Verteidiger seine Anträge am Anfang oder am Ende oder an beiden Stellen seines Plädoyers bringen soll, ist von Fall zu Fall zu entscheiden und vielfach der durch das Plädoyer selbst erzeugten oder zu erzeugenden 470
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 751
Atmosphäre anzupassen. Wenn der Verteidiger den Freispruch beantragt, sollte er – im Hinblick auf seinen Mandanten – zugleich beantragen, dass außer den eigentlichen Kosten des Verfahrens auch die notwendigen Auslagen einschließlich der Kosten der Verteidigung der Staatskasse auferlegt werden. Das ist heute bei Freispruch die gesetzliche Rechtsfolge; daran sollte man sich halten! Hilfsbeweisanträge während des Plädoyers sind zweischneidig. Sie haben 750 den Nachteil, dass sie außer bei Prozessverschleppung (Rz. 669) erst mit dem Urteil beschieden werden, so dass der Verteidiger zu spät erfährt, was das Gericht von seiner Beweisbehauptung hält, und sich nicht danach richten kann. Zuweilen sind Eventualbeweisanträge freilich die Brücke zu aussichtsreicher Revision, weil die zum Urteil entschlossenen Richter sich durch den Antrag gestört und vielleicht sogar verärgert fühlen und aus dieser Stimmung heraus Fehler im Beweisantragsrecht machen (Rz. 668). Gelegentliche Ermahnungen des Vorsitzenden an den Verteidiger vor Schluss der Beweisaufnahme, sich keine Beweisanträge für das Plädoyer „aufzubewahren“, sind unsachlich. Wenn der Verteidiger die Sache für freispruchreif hält, hat er primär den Freispruch zu fordern. Weitere Beweiserhebungen können dann für ihn nur eventualiter in Betracht kommen für den Fall, dass das Gericht seine Meinung nicht teilt (vgl. aber Rz. 668). Das Plädoyer des Verteidigers hat im Hinblick auf den Staatsanwalt eine 751 besondere Funktion (Rz. 10, 176). Die Staatsanwaltschaft ist zwar zur Objektivität verpflichtet, ihren Strafanträgen merkt man das aber nicht immer an. Die Zahl der gerichtlichen Freisprüche ist wesentlich größer als die Zahl entsprechender Anträge der Staatsanwaltschaft. Die Argumente im Plädoyer des Staatsanwalts sind demzufolge oft recht angreifbar. Hier verlangt die Situation vom Verteidiger einen kompromisslosen Einsatz. Die Aufdeckung der Fehler und Mängel der Anklage ist das Recht des Angeklagten, das der Verteidiger zu verwirklichen hat. Die Staatsanwaltschaft hat mit der Erhebung der Anklage eine große Verantwortung gegenüber dem Angeklagten übernommen. Die damit verbundene Beeinträchtigung seines Ansehens bedeutet die Versetzung in einen sozialen Status zweiter Ordnung, zudem das Durchstehenmüssen einer schweren Prozedur und große seelische Belastung. Erweist sich die Anklage nach der begründeten Auffassung der Verteidigung als untragbar und hält der Staatsanwalt trotzdem an ihr fest, dann verlangt die Gerechtigkeit einen entschiedenen Einsatz, eine scharfe Widerlegung und Anprangerung ihrer Schwächen. Bei aller Wahrung der äußeren Form kann es in der Sache hier keine Zurückhaltung geben. Hier wäre ein höfliches Recht überhaupt kein Recht. Eine Besonderheit ergibt sich oft in den Fällen, in denen der Staatsanwalt als Sitzungsvertreter außer seinen Handakten von der Sache selbst nichts kennt. Die fehlende Aktenkenntnis des Staatsanwalts gewährt dem Verteidiger manche Überlegenheit. Es ist seine Pflicht, daraus seine Verteidi471
Rz. 752
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
gung zu stärken. Die Rücksichtnahme auf den sich dann in einer schwierigen Situation befindenden Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft darf ihn nicht dazu führen, zum Schaden seines Mandanten die Mängel eines Systems ungenutzt zu lassen, die in der Entsendung eines sachlich nicht orientierten Sitzungsstaatsanwalts in die Sitzung anstelle des Auftretens des Dezernenten bestehen. Die Staatsgewalt muss die Folgen eines solchen Organisationsmangels tragen, und der Verteidiger darf der Rücksichtnahme auf die fehlende Aktenkenntnis des Sitzungsvertreters nicht den Vorzug vor der rückhaltlosen Verteidigung des Angeklagten geben. 752
Das Recht der Erwiderung auf nochmalige Ausführungen des Staatsanwalts, wie es im erstinstanzlichen Verfahren dem Staatsanwalt in § 258 Abs. 2 StPO ausdrücklich eingeräumt ist, hat der Verteidiger nach der Strafprozessordnung nicht. Gleichwohl kann er auf weitere Ausführungen des Staatsanwalts noch einmal das Wort ergreifen aufgrund des Rechts des Angeklagten auf das letzte Wort. Die Frage, ob Gegenerwiderungen überhaupt zweckmäßig sind, ist im Übrigen eine bedeutsame Frage der Opportunität im Einzelfall. Nach einem erschöpfenden Plädoyer etwa in einer Verhandlung über die Berufung des Angeklagten wird man nicht immer auf die Ausführungen des Staatsanwalts antworten. Erwidert man jedoch, sind Wiederholungen zu vermeiden. Sie ermüden und schwächen die Wirkung ab. Dagegen kann es sehr wirksam sein, wenn man aus dem Gegenvortrag des Staatsanwalts einige wesentliche Punkte herausgreifen und mit handgreiflichen Argumenten und Gegenfragen widerlegen kann. Ergibt sich die Möglichkeit, ein solches „letztes Wort“ noch in schlagfertiger Formulierung zu pointieren, so kann dies ein wirkungsvoller Abschluss sein (Rz. 884). Immer wieder kommt es einmal vor, dass der Staatsanwalt seinen Antrag auf Bestrafung oder Freispruch verbrämt mit moralisierenden Äußerungen über den Angeklagten, die für den Zweck des Verfahrens und die Begründung der Entscheidung nicht geboten sind. Das geschieht besonders dann, wenn die Anklage in der Hauptsache zusammengebrochen ist und der Staatsanwalt nicht mehr viel zu „verkaufen“ hat. Solche Äußerungen stehen ihm ebenso wenig wie dem Richter zu. Man muss bedenken, dass ein Angeklagter um der Ordnung im Gerichtssaal und um der Würde des Gerichts willen sich gegen Beleidigungen nicht wehren kann. Hier erwartet aber der Angeklagte mit Recht von seinem Verteidiger das rückhaltlose Eintreten und den scharfen Widerspruch gegen Unsachlichkeit und Kränkung. Es kommt auch vor, dass der Staatsanwalt im Plädoyer überraschend Vorstrafen des Angeklagten bekanntgegeben hat und auswerten will, die der Vorsitzende (bewusst und zu Recht) nicht in die Verhandlung eingeführt hat. Dann darf und muss der Verteidiger den Staatsanwalt – schon wegen der Wirkung auf die ehrenamtlichen Richter – unterbrechen, wenn es nicht schon der Vorsitzende tut (Rz. 557).
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 754
Es lohnt sich eine spezielle Betrachtung des Plädoyers in der Auswirkung 753 auf den Mandanten. Sie ergibt ganz andere Aspekte als in Richtung auf das Gericht und den Staatsanwalt. Den Verteidiger sieht der Angeklagte unter den Prozessbeteiligten als seinen einzigen Verbündeten an. Von ihm erwartet er alles. Er sieht, dass der Verteidiger als rechtskundiger Anwalt das Gericht versteht und dass er mit diesem auf Augenhöhe argumentieren kann. Darin ruht ein Teil des Vertrauens des rechtsunkundigen Angeklagten. Er registriert genau das Interesse des Gerichts am Vortrag seines Verteidigers. Er sieht ebenso dessen Gleichgültigkeit und Unaufmerksamkeit. Auch danach beurteilt er den Wert des Plädoyers, während er andererseits nichts ungesagt sein lassen möchte, was ihm wichtig erscheint. Er kann verlangen, dass der Verteidiger nichts unterlässt, was mit Fug und Recht für ihn vorgebracht werden kann. Er erwartet eine Darlegung seines Werdegangs, seiner Charaktereigenschaften, seiner Lebensführung und -weise und bringt Leumundszeugen und -atteste, die ihn in ein gutes Licht stellen sollen. Seinem Verlangen muss der Verteidiger in der Regel nachkommen. Leumundszeugnisse sind allerdings nur zu verlesen, wenn diese Gegenstand der Beweisaufnahme oder zur Vorbereitung eines Beweisantrages dienen sollen. Man kann auch ein schriftliches Leumundszeugnis zum Gegenstand eines Eventualbeweisantrages im Plädoyer machen und es so auf legale Weise in die Hauptverhandlung einführen (Rz. 640). Im Plädoyer aber darf ein Verteidiger allerdings nicht regellos mit solchen Zeugnissen operieren. Dagegen mag es dem Verteidiger unter Umständen erlaubt sein, etwas nicht streng zur Sache Gehörendes vorzutragen, wenn es die Person oder die Tat des Angeklagten in eine besondere Beleuchtung bringen kann. Der Verteidiger hat auch andererseits zu berücksichtigen, dass im Falle eines Misserfolges der Verurteilte mit Vorliebe die Schuld dem Verteidiger zuschiebt, um vor seinen Angehörigen und der Öffentlichkeit ein Alibi zu haben. Misserfolge bei Strafverteidigungen führen sehr oft zu heftigen Vorwürfen. Sie bringen auch Mandatskündigungen mit sich und den Übergang auf vermeintlich „bessere“ Verteidiger. In diesen Bereichen spielen sich die typischen Schwierigkeiten und Kämpfe ab, zu denen es zwischen Mandant und Verteidiger kommen kann. Sehr oft verlangt der Auftraggeber von „seinem“ Anwalt, den er sich „nimmt“, dass dieser als Gegenleistung für sein Honorar sich kritiklos seine Gedankengänge, Argumente und Anträge zu eigen macht. Dem darf der Verteidiger nicht folgen (Rz. 152). Fast in jeder Strafsache taucht das kaum zu bewältigende Problem auf, 754 wie die Frage der Schuld und die des Strafmaßes in einem einheitlichen Plädoyer behandelt werden sollen. Der deutsche Strafprozess kennt keine Zweiteilung des Verfahrens nach Art des anglo-amerikanischen Rechts. Die Entscheidung über Schuld und Straffrage erfolgt vielmehr in einem einheitlichen Spruch. Diese Verfahrensordnung bringt für die Verteidigung fast unlösbare Schwierigkeiten mit sich. Ein Verteidiger, der seinen Antrag auf Freisprechung eingehend begründet hat, verliert seine Glaub473
Rz. 755
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
würdigkeit, wenn er anschließend für den Fall der Verurteilung mildernde Umstände erbittet oder überhaupt Ausführungen zur Strafbemessung macht. Die Wirkung seines Hauptvortrages macht er damit selbst zunichte. Mancher Verteidiger hält ein solches Plädoyer für „unter seiner Würde“ (vgl. im Übrigen zu diesem Dilemma Rz. 481, 652). Der Mandant fühlt die Paradoxie einer solchen Kombination. Er merkt deutlich seinen Kreditverlust bei allen Prozessbeteiligten. Unterlässt aber der Verteidiger andererseits die Stellungnahme zum Strafmaß und der Angeklagte wird zu einer harten Strafe verurteilt, dann ist der Vorwurf des Verurteilten verständlich, dass vielfältige Milderungsgründe nicht berücksichtigt sind. Aus diesem Dilemma gibt es für den Verteidiger kaum einen Ausweg. Es könnte nicht entstehen, wenn Schuld und Straffrage verfahrensmäßig getrennt wären (Schuldinterlokut). Solange die Prozessordnung in ihrer jetzigen Gestaltung gilt, muss der Verteidiger von Fall zu Fall entscheiden, welches die sinnvollste Vorgehensweise ist. Das kann in der Weise geschehen, dass man das Strafmaß vorab behandelt im unmittelbaren Anschluss an den Strafantrag des Staatsanwalts, der mit der Begründung des Strafmaßes sein Plädoyer geschlossen hat. Man kann – je nach der Situation eventuell auch als spontane Reaktion auf einen hohen Strafantrag – sofort daran anknüpfen und ausführen, dass der Staatsanwalt von seinem Standpunkt einer Schuld des Angeklagten aus gesehen zu einem solchen Strafantrag nicht habe kommen dürfen. In diesem (immer auf die Ausführungen des Staatsanwalts abgestellten) Vortrag können die Milderungsgründe gut zur Geltung kommen. Daran anschließend kann gesagt werden, dass es zwar ein Anliegen der Verteidigung gewesen sei, die Mängel in diesem Teil der staatsanwaltschaftlichen Ausführungen deutlich zu machen, dass eine Entscheidung über die damit aufgeworfenen Fragen sich aber deswegen erübrige, weil der Angeklagte einer Schuld nicht überführt sei. Die anschließende Begründung steht dann nicht im inneren Widerspruch zu den in der Einleitung gemachten Strafzumessungsbemerkungen. Diese Lösung hat natürlich den Nachteil jedes Kompromisses. Sie ist aber erträglicher als das umgekehrte Verfahren. 755
Die Bedeutung der erörterten Schwierigkeiten ist besonders augenfällig in den Fällen, in denen für den Richter die Wahl zwischen Freiheitsstrafe und Geldstrafe oder eine Strafaussetzung zur Bewährung in Betracht kommt (vgl. hierzu auch besonders Rz. 652, 1100 f.). Hier liegt in der Regel das Hauptinteresse des Angeklagten, der zwar in erster Linie freigesprochen werden will, für den Fall einer Verurteilung aber wenigstens eine Freiheitsstrafe vermeiden oder doch deren Aussetzung zur Bewährung erreichen will. Der Verteidiger kann es dann einfach nicht verantworten, die vielfältigen Umstände, die für den Ausfall der Strafe entscheidend sein können, unerörtert zu lassen. Gerade hier verbaut er sich aber jede Wirkung seines Antrags auf Freisprechung des Angeklagten, wenn er diesen zunächst gestellt und eingehend begründet hat, um ihn dann durch die Eventualausführungen zur Strafbemessung zu entwerten. Er kann aber z.B. auch hier mit der Rüge beginnen, die Staatsanwalt474
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 757
schaft habe kraft ihrer Verpflichtung, alle für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände zu behandeln, es von ihrem Standpunkt einer Schuld des Angeklagten aus keinesfalls unterlassen dürfen, wenigstens Strafaussetzung zu beantragen. Er kann ausführen, dass es ein schönes Beispiel der Objektivität der Staatsanwaltschaft sein würde, wenn sie dabei die für § 56 StGB wesentlichen Umstände wie folgt berücksichtigt hätte. Von hier aus findet sich dann der Übergang zu den Hauptausführungen, ohne dass zwischen den beiden Teilen ein unerträglicher Widerspruch klafft1. Steht fest, dass der Angeklagte bestraft wird, so hat sich der Verteidiger 756 auch mit den übrigen Umständen der Strafzumessung zu beschäftigen2. Das ist oft schwieriger, als den Antrag auf Freisprechung zu begründen. Anknüpfungspunkt ist der Antrag des Staatsanwalts. Meist ist es zweckmäßig, nach einigen allgemeinen Bemerkungen zum Strafantrag des Staatsanwalts die Persönlichkeit des Mandanten zu würdigen (Rz. 544) und auf die Frage hinzulenken, welche Strafe der Mandant für die Tat „verdient“ hat, mit anderen Worten, welche Strafe schuldangemessen ist. Primäre Pflicht des Verteidigers ist es, sämtliche Milderungsgründe anzuführen. Das sollte man sachlich und nüchtern tun, um den peinlichen Eindruck zu vermeiden, das Plädoyer werde nur mit Blick auf den Mandanten, seine Angehörigen oder die Öffentlichkeit gehalten. Der Verteidiger hat nicht zu „Tränen zu rühren“, er hat an das menschliche Verständnis der Richter zu appellieren. Denn die Strafzumessung ist im Wesentlichen eine Ermessensfrage des Tatrichters. Dieser ist aber gehalten, die im Gesetz einzeln aufgezählten Zumessungsgründe sorgfältig zu prüfen – wenn auch nicht katalogmäßig im Urteil abzuhandeln3. Auch er hat sich mit dem Problem der Schuld und der Strafzwecke auseinanderzusetzen. Dem Verteidiger ist durch das heutige Strafzumessungsrecht ein weites Feld seines Wirkens eröffnet. Der grundsätzliche Vorrang der Geldstrafe vor der Freiheitsstrafe, die Kriterien der Geldstrafenbemessung, die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB), die Verpönung der kurzfristigen Freiheitsstrafe und die Ausdehnung der Strafaussetzung zur Bewährung bieten dem Verteidiger außerordentliche Erfolgsmöglichkeiten. Die kriminalpolitischen Fortschritte der Rechtsentwicklung eines auf die Resozialisierung des Täters ausgerichteten Strafrechts haben gerade im Bereich der Strafbemessung ihren größten Wirkungsraum (Rz. 652 f., 756). Charakter und Persönlichkeit des Mandanten spielen für die Strafzu- 757 messung die entscheidende Rolle und müssen deshalb ausführlich be1 Vgl. zur neuesten Rechtsprechung des BGH zum Strafzumessungsrecht: Detter, Zum Strafzumessungs- und Maßregelrecht, NStZ 2012, 135; NStZ 2012, 200; NStZ 2013, 390. 2 Dazu u.a. Detter, Zum Strafzumessungsrecht, NStZ 2013, 390; Detter, Versäumnisse bei der Strafzumessungsverteidigung, StraFo 1997, 193; G. Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 3. Aufl. 2001. 3 St. Rspr., vgl. nur BGH v. 9.1.2008 – 2 StR 531/07, StV 2008, 582.
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Rz. 758
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
handelt werden. Der Verteidiger darf keinen Umstand auslassen, der für den Mandanten spricht. Das ist wichtiger als theoretische Überlegungen über Sinn und Zweck der Strafe im Allgemeinen, auch wenn er über den Stand der Zumessungslehre und die kriminalpolitischen Erkenntnisse unterrichtet sein muss. Vor ihrem Hintergrund muss er seine Verteidigung aufbauen und die ihm am ehesten bekannten Umstände und Beweise einführen (Rz. 652 f.). Insbesondere kann eine gut begründete Prognose des Verteidigers über das zukünftige Verhalten seines Mandanten eine günstige Beurteilung durch das Gericht veranlassen. Milde Beurteilung lässt sich auch erreichen im Falle eines geständigen oder unbestraften Angeklagten, desgleichen, wenn die Tat als solche nicht schwer wiegt. Dagegen muss der Verteidiger dem Versuch des Staatsanwalts energisch entgegentreten, der bestreitende Täter sei besonders hart zu bestrafen. Wer der Überzeugung ist, zu Unrecht beschuldigt zu werden, kann weder Einsicht zeigen noch Reue heucheln: Sonst durchlöchert er von vornherein sein Verteidigungsvorbringen. Häufig wird auch das Verbot der Doppelverwertung von Strafzumessungstatsachen nicht beachtet, das im Gesetz ausdrücklich verankert ist (§ 46 Abs. 3 StGB). Deshalb hat der Verteidiger die Ausführungen des Staatsanwalts zum Strafmaß genau zu analysieren und die Umstände herauszuarbeiten, die der Staatsanwalt sowohl für die Feststellung des gesetzlichen Tatbestandes als auch zur Rechtfertigung des Strafantrags herangezogen hat (Rz. 973). 758
Die Ausführungen zur Strafzumessung (Rz. 756 ff.) gelten sinngemäß auch für die Anordnung von Maßnahmen der Besserung und Sicherung sowie für Auflagen und Bußen bei der Strafaussetzung.
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Die Funktion des Humors im Plädoyer ist der ernsten Natur der Sache entsprechend begrenzt. Er braucht aber nicht immer zu fehlen, sondern kann in richtiger Form im richtigen Augenblick Situationen und Gemüter auflockern und damit der Sache dienstbar sein1.
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Dagegen ist es schon bedenklicher, das Mittel der Ironie oder des Sarkasmus in der Bekämpfung eines Gegners oder einer gegnerischen Auffassung einzusetzen. Beide können verletzen und daher unangebracht sein. Dagegen ist die Schlagfertigkeit (des dazu Befähigten) ein glänzendes Kampfmittel in der sachlichen Auseinandersetzung. Die Abgrenzung der liebenswürdigen Ironie oder der Schlagfertigkeit zum beißenden Sarkasmus ist nicht immer leicht zu finden und wird im Eifer des Gefechts oft verfehlt. Einige Erfahrungen mögen dies näher beleuchten. Den Ausführungen eines Staatsanwalts, er habe den Vortrag des Verteidigers „nicht verstanden“, wird der Verteidiger schwerlich entgegnen dürfen, „für diese bedauerliche Tatsache fühle er sich nicht verantwortlich“. Dagegen kann es gut angehen, dass auf eine Frage des Richters, ob die Verteidigung unzulässig beschränkt worden sei (§ 338 StPO), der Anwalt erwi1 Von Reiners stamm das Wort, dass es kein Stück Prosa gibt, die Grabrede abgerechnet, das nicht durch ein wenig Heiterkeit gewinnen würde.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 763
dert, die Verteidigung sei „nicht beschränkt“. Es ist schon etwas kühner, auf die Äußerung eines Prozessbeteiligten „So etwas geht oft schneller, als man denkt“ zu antworten: „Das kommt darauf an, wie schnell man denkt.“ Der frühere Bundesrichter Seibert1 zitierte aus einem Plädoyer, das nach schärfster Vernehmung der Angeklagten, der der Vorsitzende Lüge und Verstocktheit vorgeworfen hatte, gehalten wurde: „Meine Herren Geschworenen, wenn sie miterlebt haben, wie die Angeklagte bei den wohlwollenden, freundlichen Worten des Herrn Vorsitzenden in verzweifelte Tränen ausgebrochen und in ratlose Verwirrung geraten ist, und wenn sie diese, ich möchte sagen väterliche Art, mit einer Unglücklichen zu sprechen, mit dem Ton vergleichen, in welchem wohl der von vornherein von ihrer Schuld überzeugte Polizeibeamte mit ihr geredet haben mag, so werden sie diesem sog. Geständnis einen entscheidenden Wert nicht beimessen können!“ Dieses ironisierende Argument soll durchschlagend gewesen sein. Eine schöne Tugend hat im Plädoyer des Verteidigers besondere Gelegen- 761 heit zur Bewährung. Es ist die Ritterlichkeit im Kampfe, wenn ein unterlegener Gegner als Staatsanwalt oder als Nebenkläger oder als Verteidiger zu bekämpfen ist. Der Verteidiger soll immer bedenken, dass er ein andermal in der gleichen Lage sein kann und dass zudem einem jeden Fehler unterlaufen können. Keiner ist zu jeder Stunde des Tages klug. Das nutzt ein fairer Verteidiger nicht mehr aus, als die Sache es verlangt. Der Prozessverlauf macht oft genug den sicheren Erfolg des Verteidigers im Voraus sichtbar. Gerade dann gilt das Gebot der Zurückhaltung gegenüber dem mutmaßlich Unterliegenden. Ist anderseits der Misserfolg unvermeidlich, gilt in gleicher Weise das Gebot, mit Anstand verlieren zu können. Wenn mehrere Verteidiger sich eine Aufgabe teilen, bedarf es sorgsamer 762 Überlegung zur Abstimmung des Plädoyers. Wiederholungen anzuhören, ist für das Gericht unzumutbar. Trennung in Tatfrage und Rechtsfrage ist zuweilen zwar möglich, aber nicht immer zweckmäßig. Allgemeingültige Regeln kann man nicht aufstellen. Nicht jeder Verhandlungsstoff lässt sich problemlos in Sachkomplexe aufteilen. Gleichwohl kann ein guter Zusammenbau mehrerer Plädoyers, möglicherweise von Verteidigern verschiedenen Temperaments und sonstiger Prägung, sehr eindrucksvoll gestaltet werden. Mehrere Verteidiger können sich z.B. dann bewähren, wenn bei räumlicher Verschiedenheit von Verhandlungsort und Wohnsitz des Angeklagten sowohl sein erprobter Vertrauensanwalt wie der mit den örtlichen Gegebenheiten vertraute Anwalt des Gerichtsortes auftreten (Rz. 122, 149). Wie soll man den Schluss des Plädoyers gestalten? Die Entscheidung 763 hängt sehr davon ab, wie der Schlussvortrag „ankommt“. So muss das Schlusswort zu dem durch den Vortrag geschaffenen Klima „passen“. Es 1 Seibert, JR 1951, 337.
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Rz. 764
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
kann ein Rückblick, eine Zusammenfassung oder auch ein Ausblick sein. Es kann selbstverständlich auch anders als der Hauptteil in eine emotionelle Passage münden. Es kann eine allgemeine Betrachtung sein oder ein Aufruf an die Verantwortung des Gerichts. Idealerweise ist es eine Summierung der wirksamsten Elemente des Vortrages in äußerster Konzentration. Eine Anknüpfung an die Einleitungsworte wird vielfach möglich und dann recht wirkungsvoll sein. Der Verteidiger wird besonders beim Schlusswort auch unter der Vorstellung von dessen Wirkung nach außen stehen. Ungeachtet der Reaktion des Angeklagten und der Zuhörer sollte der Verteidiger aber nie vergessen, dass es in Wahrheit um etwas ganz anderes geht. Es ist das Schicksal des Menschen, der sich ihm anvertraut und für den er Verantwortung übernommen hat. Diesem Menschen dient ausschließlich der Erfolg in der Sache. Alles andere – die Reaktionen der Öffentlichkeit, anderer Angeklagter und deren Verteidiger etc. – muss unbeachtlich sein. Am wirksamsten wird für den Richter stets dasjenige Plädoyer sein, das ihm als Ausdruck der Überzeugung eines ehrlichen Menschen erscheint! q) Vor und nach der Urteilsverkündung Literatur: Dahs, Revision, 8. Aufl. 2012, Rz. 180 ff.; Hamm, Öffentliche Urteilsberatung, NJW 1992, 3147; Malek, Verteidigung in der Hauptverhandlung, 4. Aufl. 2011; G. Michel, Beratung, Abstimmung und Beratungsgeheimnis, DRiZ 1992, 263; Rieß, Über den Rechtsmittelverzicht im Strafverfahren, Koll. f. Gollwitzer, 2004, S. 191; G. Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. 2000, S. 1417 ff.; Schlothauer, Kann der Verteidiger die Bescheidung eines im Plädoyer gestellten Hilfsbeweisantrages vor der Urteilsverkündung erzwingen?, StV 1991, 350; Seibert, Zur Berichtigung des Urteilsspruchs in Strafsachen, NJW 1964, 239.
764
Auch die Prozesshandlungen nach den Schlussvorträgen erfordern die volle Aufmerksamkeit des Verteidigers. Es geht nicht an, dem Verfahren jetzt nur noch mit stark gemindertem Interesse zuzuhören. Es macht nicht nur beim Gericht und in der Öffentlichkeit einen schlechten Eindruck, es verstößt auch gegen die Pflicht des Verteidigers, dem Mandanten bis zum förmlichen Ende der Hauptverhandlung beizustehen.
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Besonders darf sich der Verteidiger beim „letzten Wort“ des Angeklagten (§ 258 Abs. 2 u. 3 StPO) nicht darauf verlassen, der Mandant werde es schon richtig machen. Das ist nicht selten ein für den Mandanten „tödlicher“ Fehler. Form und Inhalt des Schlusswortes sind stets genau zu überlegen und mit dem Mandanten zu erörtern. Der Eindruck, den der Mandant mit seinem letzten Wort hinterlässt, kann für das Urteil ausschlaggebend sein. Deshalb ist der Mandant auch schon bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung zum letzten Wort entsprechend zu belehren (Rz. 500). Auch im Laufe der Hauptverhandlung ist jeweils zu überlegen, ob eine bestimmte Erklärung erst als „letztes Wort“ maximale Wirksamkeit entfaltet. Viele Betroffene meinen auch, das Schlusswort sei ihre einzige Gelegenheit, ausführlich reden zu dürfen, jetzt könnten sie nun 478
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 765
endlich alles sagen, was den strafrechtlichen Vorwurf und das Verfahren betrifft. Andere Angeklagte hingegen sind froh, die Hauptverhandlung hinter sich zu haben, und enthalten sich jeder Äußerung. Je nach Persönlichkeitsstruktur des Mandanten können für das letzte Wort auch schriftliche Notizen hilfreich sein; sie sollten allerdings nicht die Diktion des Verteidigers zeigen – wenn dieser auch bei der Formulierung beraten darf und sollte. Für das rechte Maß beim Schlusswort lassen sich allgemeine Regeln nicht aufstellen. Und doch muss sich der Verteidiger bemühen, für jeden einzelnen Fall das richtige Maß zu finden und mit dem Auftraggeber vorher festzulegen. Das letzte Wort des Angeklagten, sein Benehmen, seine Stimme, der Ausdruck seines Gesichts gehen gleichsam in das Beratungszimmer mit. Nicht nur ehrenamtliche Richter beginnen ihre Überlegungen und ihre Überzeugungsbildung mit ihrer Beobachtung, wie sich der Angeklagte beim letzten Wort benommen hat. Das muss der Verteidiger vor allem nach längeren Hauptverhandlungen in Betracht ziehen. Was vor Stunden oder gar Tagen und Wochen in der Hauptverhandlung geschehen ist, haftet begreiflicherweise nicht mehr so gut im Gedächtnis der Beteiligten wie das eben erlebte Verhalten des Angeklagten am Ende der Verhandlung. Wie der Angeklagte die abschließenden Erklärungen abgeben soll, hängt vom Ergebnis der Hauptverhandlung und von der Persönlichkeit des Mandanten ab. Steht die Schuld fest, so ist es wenig sinnvoll, wenn der Angeklagte im Schlusswort seine Schuld leugnet und etwa, wie man das häufig erlebt, Belastungszeugen angreift und sich dadurch eine Strafmilderung verbaut, auf die der Verteidiger plädiert hat. Genauso misslich ist es, wenn der Auftraggeber um milde Beurteilung bittet, falls der Verteidiger Freispruch beantragt hat, weil die Schuld nicht nachgewiesen ist. Um solche Fehler zu vermeiden, muss der Verteidiger dem Mandanten die Vor- und Nachteile seines Verhaltens aufzeigen. Dieser wird sich dann im Allgemeinen der Empfehlung fügen. Das gilt auch für die Art, wie der Angeklagte sein Schlusswort abgibt. Von langatmigen, weitausholenden Reden sollte der Verteidiger abraten. Je prägnanter und kürzer ein Schlusswort ist, desto nachhaltiger wirkt es auf die Berufs- und Laienrichter. Auch ist der Vorsitzende befugt, Abschweifungen und unnötige Wiederholungen zu untersagen1. Freilich darf die Redezeit nicht begrenzt werden2, auch ist es unzulässig, von vornherein die Verlesung eines Manuskriptes zu verbieten3. Darauf kann es aber der Verteidiger nicht ankommen lassen. Erfahrungsgemäß ist es besser, dem Mandanten zu raten, das Schlusswort auf die unbedingt notwendigen Ausführungen zu beschränken. Der formelhafte und deshalb neutrale Satz: „Ich schließe mich den Ausführungen meines Verteidigers an“, ist oft geschickter als lange, meist auch noch in sich widerspruchsvolle Erklärungen.
1 BGH v. 17.9.1963 – 1 StR 301/63, MDR 1964, 72. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 258 StPO Rz. 25. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 258 StPO Rz. 12.
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Rz. 766
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Prozessverstöße des Gerichts im Zusammenhang des letzten Wortes kommen verhältnismäßig häufig vor. Sie begründen oft die Revision (Rz. 952). 766
Die Erteilung des letzten Wortes wird praktisch noch besonders bedeutsam, wenn das Gericht nach der Urteilsberatung die Verhandlung wieder eröffnet. Die Wiedereröffnung versetzt das Verfahren in den Stand vor den Schlussvorträgen zurück. Die Plädoyers und das bisherige Schlusswort des Angeklagten verlieren rechtlich ihre Bedeutung. Auch muss der Angeklagte erneut befragt werden, ob er noch etwas vorbringen wolle. Er ist befugt, zu sämtlichen Vorwürfen der Anklage noch einmal oder erst jetzt Stellung zu nehmen, selbst wenn das Gericht nur wegen eines Teiles wieder in die Verhandlung eingetreten ist, etwa um das Verfahren wegen einer Randfrage einzustellen. Wird der Mandant nicht noch einmal auf sein Recht zum letzten Wort hingewiesen, so begründet diese Unterlassung die Revision1. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass der Verteidiger auf den Protokollzwang achtet und sich im Falle der Revision davon überzeugt, was die Niederschrift über das letzte Wort ausweist (Rz. 952).
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Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass der Wiedereintritt in die Verhandlung große praktische Vorteile bieten kann. So kann der Verteidiger etwa vergessene oder zunächst bewusst zurückgestellte Ausführungen (z.B. zum Strafmaß, Rz. 756 f.) und Anträge nachholen. Sie können sich auf alle Verfahrensgegenstände beziehen, auch wenn das Gericht die Verhandlung nur wegen eines Teilbereichs wieder eröffnet. Gelegentlich versucht das Gericht, die Neuverhandlung auf bestimmte Teile zu beschränken. Statthaft ist dieses Verfahren nur im Einverständnis aller Beteiligten2. Der Verteidiger wird nicht zustimmen, wenn er die Gelegenheit benutzen will, zu anderen Verfahrensgegenständen noch etwas vorzutragen. Dazu muss er den Grund der Wiedereröffnung prüfen. Er erfährt mindestens einen Teil, wenn nicht das gesamte Beratungsergebnis. Besonders aufschlussreich ist es, falls das Gericht die Entscheidung über einen Beweisantrag oder Hilfsbeweisantrag vor der Urteilsverkündung bekanntgibt, den der Verteidiger im Plädoyer gestellt hatte (Rz. 750), wozu es (trotz entsprechenden Antrages) nicht verpflichtet ist3. Wird der Antrag abgelehnt, kann es notwendig sein, sofort einen neuen Antrag vorzubringen. Ebenso muss der Verteidiger unverzüglich die Konsequenzen ziehen, falls ein Zeuge nunmehr doch vereidigt werden soll, den das Gericht in der Verhandlung unvereidigt gelassen hatte (Rz. 593 f.). Ein solcher Beschluss kann nur bedeuten, das Gericht halte die Aussage für ausschlaggebend (§ 59 Abs. 1 StPO) und wolle dem Zeugen glauben. Handelt es sich um eine belastende Aussage, dann ist es erforderlich, alle 1 BGH v. 1.10.1965 – 4 StR 351/65, BGHSt. 20, 273 (275); BGH v. 20.3.1959 – 4 StR 416/58, BGHSt. 13, 53 (59); i.E. Dahs, Revision, Rz. 382 ff. 2 BGH v. 1.10.1965 – 4 StR 351/65, BGHSt. 20, 273. 3 BGH v. 21.10.1994 – 2 StR 328/94, BGHSt. 40, 287 (289); BGH v. 16.6.1983 – 2 StR 837/82, BGHSt. 32, 10 (13); Dahs, Revision, Rz. 336.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 770
Umstände – notfalls im Wege eines Beweisantrages – vorzubringen, die gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen sprechen. Häufig geschieht es, dass der Vorsitzende nach der Beratung darauf hinweist, das Gericht werde möglicherweise einen anderen rechtlichen Gesichtspunkt zugrunde legen (Rz. 702). Erfahrungsgemäß kann man davon ausgehen, dass sich das Gericht in der angedeuteten Richtung schon schlüssig geworden, das Urteil also vollständig oder in Teilbereichen bereits abschließend beraten ist. Ist die Änderung für den Mandanten nachteilig, so ist unter Umständen Aussetzung der Verhandlung zu beantragen (Rz. 705). Der Verteidiger sollte in solchen wie auch in anderen, geeigneten Fällen 768 erwägen, während der – möglicherweise mehrtägigen – Beratung des Gerichts einen Schriftsatz einzureichen. Das ist nicht unzulässig. Durch dieses „schriftliche Nachplädoyer“ kann man manchmal wirkungsvoll auf die Beratung Einfluss nehmen. Die schriftliche Eingabe eignet sich besonders für die Darlegung von Rechtsfragen. Schwierig ist die Situation, wenn das Gericht nach der Beratung der 769 Staatsanwaltschaft eine Beschränkung des Verfahrensstoffes nach §§ 154, 154a StPO nahelegt. Auch das ist ein gewichtiges Indiz für die vorgesehene Verurteilung. Trotzdem wird ein – rechtlich ohnehin unbeachtlicher – Widerspruch gegen die Einstellung dem Interesse des Klienten nicht dienen. Der Verteidiger muss aber weitere Anträge und Ausführungen in Erwägung ziehen, um die drohende Verurteilung doch noch abzuwenden oder auf das Strafmaß Einfluss zu nehmen. In den Fällen der Wiedereröffnung der Verhandlung muss der Verteidiger 770 feststellen, ob die erneute Urteilsberatung ordnungsgemäß stattfindet. Man erlebt es immer wieder, dass das in der Beratung bereits beschlossene Urteil nach Erörterung des wiederverhandelten Gegenstandes kurzerhand verkündet wird. Dieses Verfahren darf der Verteidiger nicht unbesehen hinnehmen. Jede neu eröffnete Verhandlung erfordert eine neue Beratung. Es ist ein sensibler Fehler und begründet die Revision, wenn sich der Vorsitzende im Gerichtssaal lediglich mit den Berufsrichtern verständigt, ohne die Laienrichter zu befragen1. Der Verteidiger kann zwar die geflüsterte Nachberatung im Gerichtssaal nicht verhindern. Es kommt aber darauf an, dass sie für alle Beteiligten als solche erkennbar ist und alle Mitglieder des Gerichts daran teilnehmen. Wird die abgekürzte Verständigung so laut geführt, dass der Verteidiger sie versteht, so ist es unter Umständen möglich und geboten, sich zu Wort zu melden. Es ist die letzte Chance, durch Abgabe einer Erklärung (Rz. 526) eine sich anbahnende ungünstige Entscheidung vielleicht noch zu verhindern. Mindestens kann der Verteidiger mit einer Erklärung versuchen, dass das Gericht noch einmal ins Beratungszimmer geht. Das ist im Hinblick auf die ehrenamtlichen Richter wichtig. Erfahrungsgemäß wagen sie es nach 1 Vgl. i.E. Dahs, Revision, Rz. 366.
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Rz. 771
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
wiedereröffneter Verhandlung von sich aus nicht, auf erneuter „Klausurberatung“ zu bestehen. 771
Auch die Urteilsverkündung (§ 268 StPO) wirft manchmal Probleme auf. Das beginnt schon bei der Frage der Anwesenheit des Verteidigers. In den Fällen der notwendigen Verteidigung (§ 140 Abs. 1 und 2 StPO) ist er auch als Wahlverteidiger zur Anwesenheit verpflichtet. Sonst schafft er einen Revisionsgrund, falls das Gericht versehentlich in seiner Abwesenheit das Urteil verkündet hat. Andernfalls kann es zur Bestellung eines anderen Verteidigers oder zu einer Aussetzung kommen (§ 145 StPO). Damit sind stets Nachteile für den Mandanten und den Verteidiger verbunden, der mit berufsrechtlicher Ahndung rechnen muss und mit den durch die Aussetzung verbundenen Kosten belegt werden kann, wenn er schuldhaft fernbleibt (§ 145 Abs. 4 StPO; Rz. 195). Auch dem“nicht notwendigen“ Verteidiger gebietet es der Anstand, bei der Urteilsverkündung anwesend zu sein. Es ist eine Unsitte und eine Missachtung des Gerichts, sich nach dem Plädoyer kurzerhand zu entfernen. Der Richter wird das unentschuldigte Fehlen des Verteidigers immer dahin auffassen, dass sein Urteil den Verteidiger nicht interessiere. Außerdem kommt sich der Mandant verlassen vor. Nun gibt es Terminkollisionen, die auch der sorgfältig planende Anwalt nicht vermeiden kann, nicht zuletzt diejenigen, die auf eine unerwartete Verzögerung der Hauptverhandlung oder auf eine Verschiebung der Verkündung des Urteils bis elf Tage nach Schluss der Verhandlung (§ 268 Abs. 3 StPO) zurückzuführen sind. In diesen Fällen ist es notwendig, den Vorsitzenden auf die Terminschwierigkeiten hinzuweisen und zu bitten, die Verkündung so festzulegen, dass der Verteidiger teilnehmen kann. Versagt dieser Weg, so kann sich der Verteidiger durch einen Kollegen vertreten lassen, notfalls auch durch einen Referendar mit einem Vorbereitungsdienst von einem Jahr und drei Monaten (§ 139 StPO).
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Im Falle seiner Abwesenheit begibt sich der Verteidiger einer Reihe von praktisch wichtigen Möglichkeiten. So entgeht ihm die mündliche Urteilsbegründung. Häufig ist es sinnvoll, während der Begründung die Hauptgesichtspunkte zu notieren. Maßgebend sind zwar die schriftlichen Urteilsgründe, man kann aber die schriftlichen Notizen für die Überlegung verwenden, ob auf Rechtsmittel verzichtet werden soll, und vor allem für die erste Beratung des Mandanten über die Einlegung von Rechtsmitteln. Dazu ist es erforderlich, den Mandanten über den Vorrang der schriftlichen Urteilsgründe zu belehren.
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Nur wenn der Verteidiger anwesend ist, kann er in bestimmten Ausnahmefällen die Urteilsverkündung unterbrechen. Als Beispiel seien genannt: Der Vorsitzende verkündet im Tenor eine Freiheitsstrafe und führt dazu in der Begründung aus, Geldstrafe sei vom Gesetz nicht vorgesehen. Das Gericht hat dabei nicht gemerkt, dass in einem der folgenden Paragraphen die Geldstrafe ausnahmsweise zugelassen ist. Die Beratung ging also von falschen Voraussetzungen aus. Oder das Gericht 482
Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 774
verurteilt im Tenor wegen Trunkenheit am Steuer, die mündliche Begründung ergibt, dass es nur wegen der einschlägigen Ordnungswidrigkeit verurteilen wollte. Hier ist der Tenor versehentlich unrichtig. Es gibt auch Fälle, in denen sich während der Urteilsberatung herausstellt, dass noch Beweisanträge zu stellen sind, etwa wenn der Verteidiger jetzt erst wichtige Informationen erhält. Da ein Beweisantrag grundsätzlich nicht als verspätet zurückgewiesen werden darf (§ 246 StPO), muss das Gericht auch nach der Urteilsberatung den Verteidiger zu Wort kommen lassen1. Allerdings soll die Verteidigung zwischen der Verkündung der Urteilsformel und der Urteilsgründe nicht mehr das Recht zu Beweisanträgen haben, was jedoch den Tatrichter vor Abschluss der Urteilsverkündung nicht hindert, noch darauf einzugehen2. Es ist klar, dass der Verteidiger die bereits begonnene Verkündung unterbrechen wird. Man muss sich vor Augen halten, dass die Unterbrechung im letzten Augenblick ein falsches Urteil verhindern und dem Mandanten eine zweite Instanz ersparen kann. Dazu muss der Verteidiger wissen, dass die Urteilsverkündung erst mit der vollständigen Bekanntgabe der Gründe endet. Bis dahin kann die Urteilsformel noch geändert werden3. Auch kann das Gericht bis zu diesem Zeitpunkt erneut beraten und noch einmal in die Verhandlung eintreten4. Daher muss der Verteidiger vor Abschluss der mündlichen Begründung um die Unterbrechung bitten und den Grund erläutern. Danach ist eine nachträgliche Berichtigung des Urteils nicht statthaft. Der letzte und wohl wichtigste Grund, warum der Verteidiger am Ende 774 der Hauptverhandlung den Mandanten nicht allein lassen darf, ist die immer noch anzutreffende Gewohnheit von Vorsitzenden, nach der Rechtsmittelbelehrung entgegen Nr. 142 Abs. 2 RiStBV einen Rechtsmittelverzicht (§ 302 StPO) zu erörtern oder dem Angeklagten gar nahezulegen. Diese immer noch praktizierte Übung ist eine Verfahrensmethode, die mit dem Sinn der Belehrung nicht in Einklang zu bringen ist und den Verdacht aufkommen lässt, das Gericht wolle sich durch die Anerkennung des Urteils dessen schriftliche Absetzung erleichtern. In der Tat hört der Verteidiger von Mandanten, die einen Rechtsmittelverzicht abgegeben haben, immer wieder, sie fühlten sich überrumpelt. Daran ändert sich auch nichts, wenn dem Angeklagten ein Merkblatt über die Rechtsmittel ausgehändigt wird (Nr. 142 Abs. 1 RiStBV)5. In diesem Moment kann der Betroffene das Merkblatt ebenso wenig in Ruhe lesen, wie er das Für und Wider des Rechtsmittelverzichts zu überschauen vermag6. 1 BGH v. 28.5.1974 – 4 StR 633/73, BGHSt. 25, 333. 2 BGH v. 23.7.1985 – 5 StR 217/85, StV 1985, 398; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 268 StPO Rz. 15; Dahs, Revision, Rz. 390. 3 BGH v. 28.5.1974 – 4 StR 633/73, BGHSt. 25, 333 (336); Meyer-Goßner in MeyerGoßner/Schmitt, § 268 StPO Rz. 8 f. 4 BGH v. 28.5.1974 – 4 StR 633/73, BGHSt. 25, 333 (335). 5 Die Gerichtspraxis ist in der Befolgung der Anweisung in Nr. 142 Abs. 1 RiStBV sehr unterschiedlich. 6 Dahs in FS Schmidt-Leichner (1977), S. 17.
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Rz. 774
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Es wird immer wieder übersehen, dass der Angeklagte unter dem Eindruck der Verhandlung und des Urteils zu leicht resigniert. Er befindet sich in einer Situation, in der er zu klarer Überlegung nicht fähig und eine rationale Entscheidung kaum möglich ist. Jetzt braucht er den anwaltlichen Beistand am nötigsten. Der Verteidiger kann übereilte Verzichtserklärungen verhindern. Er weiß, dass es kaum einmal gelingt, einen Rechtsmittelverzicht mit Erfolg rückgängig zu machen. Die Rechtsprechung hält daran fest, der Strafprozess erfordere im öffentlichen Interesse den zweifelsfreien Bestand von Prozesshandlungen. Lediglich in Ausnahmefällen wird der Verzicht als unwirksam anerkannt. So wenn der Verteidiger durch Verschulden des Gerichts wegen fehlender Ladung nicht anwesend ist1, wenn der Rechtsmittelverzicht unter Ausschaltung des anwesenden Verteidigers zustande kommt2 oder wenn die Rechtsmittelbelehrung falsch war3. Für den Fall der Verfahrensabsprache nach § 257c StPO gilt nichts anderes4. Der Verteidiger muss nach alledem darauf bestehen, dass der Mandant das Urteil nicht anerkennt, ohne vorher mit ihm gesprochen zu haben. Die Besprechung sollte nicht im Gerichtssaal stattfinden. Manchmal kann man in der Beratungspause mit dem Auftraggeber vorweg erörtern, unter welchen Voraussetzungen ein Rechtsmittelverzicht in Betracht kommt, z.B. wenn die Bestrafung feststeht und es nur um die Höhe der Strafe geht. Sonst ist das Urteil abzuwarten. Die Belehrung des Mandanten muss eingehend sein und die Vor- und Nachteile des sofortigen Rechtsmittelverzichts sorgsam gegenüberstellen. Zweckmäßig ist der Verzicht, falls der Mandant Wert darauf legt, eine Freiheitsstrafe bald anzutreten, etwa während seines bevorstehenden Urlaubs. Angekündigt werden kann der Verzicht, wenn es bei einem trotz Bestrafung günstigen Urteil darauf ankommt, den Rechtsmittelverzicht der Staatsanwaltschaft zu erreichen. In diesem Falle ist ein kurzes Gespräch mit dem Vertreter der Staatsanwaltschaft angebracht. Ist er nur Sitzungsvertreter oder fühlt er sich aus anderen Gründen nicht befugt, auf Rechtsmittel zu verzichten, so sollte auch der Verteidiger das Urteil nicht rechtskräftig werden lassen. Der „einseitige“ Rechtsmittelverzicht bringt vor allem dann Schwierigkeiten, wenn der Mandant darauf vertraut, die Staatsanwaltschaft werde kein Rechtsmittel einlegen. Ein solcher „Irrtum im Motiv“ wird als unbeachtlich angesehen; der Verzicht kann nicht mehr aus der Welt geschafft werden, auch wenn die Staatsanwaltschaft ihrerseits das Urteil angreift5.
1 OLG Schleswig v. 5.10.1964 – 2 Ws186/64, NJW 1965, 312. 2 BGH v. 24.3.1983 – 1 StR 166/83, StV 1983, 268; BGH v. 12.2.1963 – 1 StR 561/62, BGHSt. 18, 257 = JZ 1964, 263 m. Anm. Stratenwerth; BGH v. 17.9.1963 – 1 StR 301/63, BGHSt. 19, 101. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 302 StPO Rz. 22 m.N. 4 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c StPO Rz. 32a. 5 OLG Hamburg v. 13.2.1969 – 1 Ws 84/69, NJW 1969, 1976.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 777
Daraus ergibt sich: Entscheidungen über den Rechtsmittelverzicht sollten nicht übers Knie gebrochen werden. Im Zweifel ist es richtiger, die Rechtsmittelfrist auszunutzen, um eine an den Interessen des Mandanten und den Erfolgschancen des Rechtsmittels orientierte Entscheidung auf einer sicheren Tatsachengrundlage treffen zu können. Darin liegt übrigens ihr gesetzgeberischer Zweck. Auf keinen Fall darf der Verteidiger den Mandanten zu einem unverzüglichen Verzicht drängen. Damit setzt er das Vertrauen aufs Spiel. Der Mandant kann erwarten, dass sich auch der vielbeschäftigte Verteidiger innerhalb der Rechtsmittelfrist genügend Zeit nimmt, die Rechtsmittelaussichten zu besprechen (Rz. 817 ff.). Insbesondere im Zusammenhang mit einem Rechtsmittelverzicht muss 775 der Verteidiger die nach dem Urteil verkündeten Entscheidungen sorgsam verfolgen und ggf. unverzüglich geeignete Anträge stellen. Das gilt besonders für den Erlass eines „posthumen“ Haftbefehls. Der Verteidiger sollte genau und schnell prüfen, ob die materiellen und formellen Voraussetzungen für einen Haftbefehl überhaupt vorliegen (Rz. 344 f.). Sonst ist energisch zu widersprechen. Hier erwartet der Mandant mit Recht den vollen Einsatz des Verteidigers. Falls der Haftbefehl mit Verdunkelungsgefahr gerechtfertigt werden soll (Rz. 346), kann darauf verwiesen werden, dass nach Verkündung des Urteils Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr nur noch ausnahmsweise in Frage kommt1, weil der Sachverhalt festgestellt und im Allgemeinen nichts mehr zu verdunkeln ist. Wird der Haftbefehl mit Fluchtverdacht auf der Grundlage der verhängten Freiheitsstrafe begründet, muss der Verteidiger insbesondere vor dem Hintergrund der fehlenden Rechtskraft dagegen vorgehen. Die Rechtsprechung ist dazu zwar nicht einheitlich (Rz. 345). Mit guten Gründen wird aber darauf hingewiesen, dass eine zu erwartende – oder (nicht rechtskräftig) ausgesprochene hohe Strafe allein die Fluchtgefahr nicht zu rechtfertigen vermag2. Wird der Haftbefehl entgegen dem Antrag des Verteidigers erlassen, so ist 776 in geeigneten Fällen unverzüglich Haftverschonung (§ 116 StPO) zu beantragen (Rz. 361 ff.). Daran hat der Verteidiger auch zu denken, wenn die Fortdauer der Haft angeordnet werden soll (§ 268b StPO). Hier ist es indessen meist erforderlich, in erster Linie Aufhebung des Haftbefehls zu erwirken, wenn dessen Voraussetzungen weggefallen sind. Das gilt auch vor allem, wenn der Mandant freigesprochen ist, das Urteil aber noch nicht rechtskräftig wird. Mit seinen Anträgen muss der Verteidiger das Gericht zwingen, die Haftfragen eingehend zu beraten und nicht bloß schematisch zu entscheiden. Wird der Haftbefehl aufgehoben, gibt es gelegentlich Schwierigkeiten bei 777 der Entlassung aus der Haftanstalt. Der Angeklagte darf gegen seinen 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 StPO Rz. 35 m.N. 2 OLG Frankfurt v. 7.4.1965 – 1 Ws 73/65, NJW 1965, 1342; vgl. ferner Dahs in FS Dünnebier (1982), S. 227.
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Rz. 778
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Willen nicht in die Anstalt zurückgebracht werden1. Andererseits empfiehlt sich eine ordnungsgemäße Entlassung, schon damit der Mandant sein in der Haftanstalt verbliebenes Eigentum alsbald erhält. Deshalb ist dem Auftraggeber im Allgemeinen zu raten, sich nochmals freiwillig in die Vollzugsanstalt zu begeben und ihm zu diesem Zwecke die schriftliche Entlassungsanordnung des Richters (Nr. 17 UHaftVollzO) aushändigen zu lassen, falls der Mandant sich nicht von einem Beamten begleiten lassen will. In diesem Fall kann es auch angebracht sein, dass der Verteidiger den Mandanten zur Anstalt begleitet. Falls nach Urteilsverkündung die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufgehoben wird, hat der Verteidiger dafür zu sorgen, dass der Führerschein sofort ausgehändigt wird. r) Die „Nachsorge“ für den Mandanten nach der Hauptverhandlung 778
Mit dem Abschluss der Hauptverhandlung ist die Arbeit des Verteidigers noch nicht beendet. Die Ergebnisse und Folgen des Verfahrens müssen dem Mandanten erklärt und mit ihm beraten werden. Darüber hinaus muss der Verteidiger für die Beseitigung negativer Relikte aus dem Verfahren sorgen und ggf. die nächste Instanz vorbereiten. Es entspricht der praktischen Erfahrung, dass viele Mandanten in der sie besonders belastenden Situation der Urteilsverkündung den Urteilsausspruch, die Nebenentscheidungen, die Urteilsbegründung und etwaige Beschlüsse nicht richtig und vollständig erfassen und ihre Bedeutung nicht erkennen. Der Verteidiger sollte dem Mandanten nach Abschluss der Hauptverhandlung die Entscheidungen des Gerichts in jedem Fall in einer für ihn verständlichen Form zu verdeutlichen. Über das Ergebnis der Hauptverhandlung und alle Folgen darf der Mandant nicht im Unklaren bleiben.
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Für den Mandanten von besonderer Bedeutung ist ein Beschluss über die Strafaussetzung zur Bewährung (§ 268a StPO). Der Verteidiger sollte sich den Inhalt der Auflagen notieren. Oft bekommt sie der Mandant nicht genau mit. Erfahrungsgemäß will er aber darüber nach Schluss der Verhandlung zu allererst aufgeklärt werden. Das ist begreiflich, weil Art und Umfang der Auflagen in starkem Maße die Entschließung beeinflussen, ob ein Rechtsmittel eingelegt werden soll (Rz. 820). Hat das Gericht eine Geldstrafe verhängt, so ist die Frage eines Antrages auf Gewährung von Ratenzahlungen (§ 42 StGB) zu erwägen. Dabei muss der Mandant über die Voraussetzungen der Zahlungserleichterung, die Notwendigkeit eines Antrages und dessen Inhalt ebenso aufgeklärt werden wie darüber, dass dem Antrag zweckmäßigerweise entsprechende Unterlagen über Einkünfte und Belastungen beigefügt werden.
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Von besonderem Interesse für den Mandanten ist auch die Frage nach der Eintragung im Bundeszentralregister, im polizeilichen Führungszeugnis, die Tilgungsfrist und die Möglichkeiten evtl. vorzeitiger Tilgung. Dabei 1 Merz, NJW 1961, 1852 gegen Kaiser, NJW 1967, 866.
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Der Verteidiger in der Hauptverhandlung
Rz. 783
ist daran zu denken, dass bei Erstverurteilungen Geldstrafen von nicht mehr als 90 Tagessätzen und Freiheitsstrafen von nicht mehr als drei Monaten nicht in das polizeiliche Führungszeugnis aufgenommen werden (§ 32 Abs. 2 Nr. 5 BZRG) und der Verurteilte sich insoweit auch als unbestraft bezeichnen darf (§ 53 Abs. 1 BZRG; Ausnahme: § 53 Abs. 2 BZRG). Die Erkenntnis, dass die Bestrafung weitgehend „geheim“ bleibt und er sich nicht als „vorbestraft“ bezeichnen muss, erleichtert vielen die Hinnahme des Urteils. Dagegen wird man die Hoffnungen auf eine vorzeitige Tilgung der Bestrafung im Zentralregister (§§ 49, 45, 46 BZRG) vielfach dämpfen müssen, weil von dieser Ausnahmeregelung in der Praxis nur selten Gebrauch gemacht wird. Weiterhin ist zu beachten, dass in vielen Fällen für die Justizbehörden 781 Mitteilungspflichten bezüglich der ergangenen Urteile bestehen, z.B. bei Angeklagten, die im öffentlichen Dienst stehen, Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern, Angehörigen bestimmter Berufe des Wirtschaftslebens, Angehörigen der Heilberufe, Studenten u.a. Die Einzelheiten sind in der Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen (MiStra) vom 19.5.20081 geregelt. Jeder Verteidiger sollte über diese Materie informiert sein. Mit rechtzeitigen eigenen Aktionen bei den Stellen, die ohnehin von der Verurteilung unterrichtet werden, z.B. Dienstvorgesetzte, Kammern usw., kann man manches abfangen. In Bußgeldsachen wünscht der Mandant Auskünfte über die Eintragung in das Fahreignungsregister vom 1.5.2014 (früher Verkehrszentralregister). Bei Verurteilungen wegen Ordnungswidrigkeiten und Straftaten im Straßenverkehr spielt darüber hinaus die Frage nach den „Strafpunkten“ eine große Rolle2. Ist gegen den Mandanten ein Fahrverbot (§ 44 StGB) verhängt worden, so 782 muss er darüber belehrt werden, dass er mit Rechtskraft des Urteils zwar einerseits nicht mehr im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis ist und somit kein Kraftfahrzeug mehr führen darf, die im Urteil festgesetzte Verbotsfrist aber erst dann beginnt, wenn der Führerschein auf der Geschäftsstelle des Gerichts hinterlegt ist. Ist gegen den Mandanten auf Entziehung der Fahrerlaubnis erkannt wor- 783 den, so muss ihm erläutert werden, dass die Sperrfrist (§ 69a StGB) erst mit Rechtskraft des Urteils in Lauf gesetzt wird. Wird hier das Rechtsmittel der Berufung in Erwägung gezogen, so darf der Hinweis nicht fehlen, dass die bis zur Berufungshauptverhandlung verstreichende Zeit grundsätzlich nicht auf die Sperrfrist „angerechnet“ wird, wenn die Berufung erfolglos bleibt3. Der Mandant riskiert also mit einem Rechtsmittel eine faktische Verlängerung der Sperrfrist. Diese Gefahr muss er vor der 1 BAnz Nr. 126a; abgedr. bei Meyer-Goßner/Schmitt, Anhang 13 StPO. 2 Fahreignungsregister v. 1.5.2014, Anlage 13 zu § 40 Fahrerlaubnis-Verordnung (Punktsystem). 3 Vgl. Fischer, § 69a StGB Rz. 23 m.N.
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Rz. 784
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Entscheidung über die Einlegung der Berufung kennen. In diesem Zusammenhang ist auch an die Möglichkeit der vorzeitigen Aufhebung der Sperrfrist (§ 69a Abs. 7 StGB) zu denken. Eine solche kann evtl. durch die erfolgreiche Teilnahme an einem Nachschulungskurs für Ersttäter bei Alkoholdelikten im Straßenverkehr u.Ä. (Rz. 418) erreicht werden. 784
Ist das Urteil (relativ) günstig ausgefallen, so muss der Verteidiger nach Ablauf der Rechtsmittelfrist Nachforschungen darüber anstellen, ob die Staatsanwaltschaft oder ggf. die Nebenklage Berufung oder Revision eingelegt haben. Eine Mitteilung über die Einlegung eines solchen Rechtsmittels von Amts wegen ist im Gesetz nicht vorgesehen: Der Rechtsmittelgegner muss erst dann unterrichtet werden, wenn das Rechtsmittel begründet wird (Nr. 157 RiStBV). Es ist aber nicht angemessen, den Mandanten über Wochen oder Monate in der Ungewissheit zu lassen, ob das gegen ihn ergangene Urteil Rechtskraft erlangt hat. Für den Verteidiger ist es oft mühevoll, eine zuverlässige Auskunft über die Rechtskraft des Urteils oder ein Rechtsmittel zu erhalten, weil die Akten auf der Geschäftsstelle oder beim Richter nicht greifbar sind: Er muss diese Mühe aber im Interesse seines Klienten auf sich nehmen. Ist das Urteil rechtskräftig geworden, empfiehlt sich ein Antrag auf Erteilung einer Urteilsausfertigung. Zwar bestehen entsprechende Verwaltungsanordnungen, wonach das Urteil dem Betroffenen übersandt werden soll, jedoch werden sie in der Praxis nicht immer eingehalten. In der Regel wird dem Informationsbedürfnis des Mandanten nach Abschluss der Hauptverhandlung zunächst durch ein Gespräch mit dem Verteidiger genügt werden können. Dieser sollte jedoch Verlauf und Ergebnis der Hauptverhandlung sowie die im Anschlussgespräch gegebenen Belehrungen und Hinweise in einem eingehenden Brief an den Mandanten festhalten. Nur durch eine solche Dokumentation ist sichergestellt, dass den Klienten die gegebenen Erklärungen und Hinweise auch dann noch präsent sind, wenn sie – möglicherweise erst Monate nach der Hauptverhandlung – aktuell werden.
785
Die dem Verteidiger obliegende Nachsorge hat auch bei Freispruch des Mandanten Bedeutung. So ist bei spektakulären Verfahren, die ggf. medial begleitet wurden, zu prüfen, ob überhaupt und zutreffend über den Freispruch des Mandanten und die Begründung berichtet wird. Es kommt nicht selten vor, dass insoweit Interventionen erforderlich sind. Haben die Medien mit Tendenz gegen den Angeklagten berichtet, so ist zuweilen das Bestreben erkennbar, aus der Begründung des Urteils noch einen „Nachschlag“ gegen den Mandanten herauszuholen, wobei auffallend häufig „Missverständnisse“ der richterlichen Urteilsbegründung auftreten. Hat der Verteidiger Anlass zu Befürchtungen in dieser Richtung, kann es geboten sein, dass er nach Abschluss der Hauptverhandlung Kontakt mit den Medienvertretern aufnimmt und bei ihnen zum richtigen Verständnis der Urteilsgründe und ihrer Schwerpunkte beiträgt. Dies kann, insbesondere bei Umfangverfahren, auch durch eine schriftliche 488
Verwirkung von Verteidigungsrechten
Rz. 786
Presseerklärung geschenen. Auch kommt in Betracht, dass der Verteidiger eine Erklärung durch die Pressestelle des Gerichts anstrebt. In jedem Fall sollten entsprechende Erklärungen sachlich-nüchtern sein. Der Verteidiger muss zuden prüfen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Löschung oder Sperrung (Vermerk über den rechtskräftigen Freispruch) in polizeilichen Dateien zu erreichen ist (§§ 489 ff. StPO), zumindest nach Ablauf einer gewissen Zeit (§ 489 Abs. 4 StPO). Dies ist oft schwierig, da die gesetzlichen Voraussetzungen sehr eng sind (§ 489 Abs. 2, 7 StPO). Sind erkennungsdienstliche Maßnahmen gegen den Mandanten durchgeführt worden, muss der Verteidiger nach dem Urteil die Aussichten eines Antrages auf Entfernung aus den polizeilichen Sammlungen und Vernichtung prüfen (Rz. 408)1. Ggf. ist ein Antrag auf Herausgabe beschlagnahmter Gegenstände zu stellen (Rz. 400) und schließlich ist der Anspruch auf Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen zu erwägen und ggf. geltend zu machen (Rz. 372 ff., 378). 3. Verwirkung von Verteidigungsrechten Literatur: Basdorf, Formelle und informelle Präklusion im Strafverfahren, StV 1997, 488; Basdorf, Der Verteidiger als Garant von strafprozessualen Verfahrensregeln?, StV 2010, 414; Beulke, Rechtsmissbrauch im Strafprozess, StV 2009, 554; Dahs, Zur Ausweitung des Widerspruchserfordernisses, StraFo 1998, 253; Dahs, Revision, 8. Aufl. 2012, Rz. 402 ff.; Ebert, Pflicht zur Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO auch gegenüber Anordnungen des Strafrichters?, NStZ 1997, 565; Fezer, StV 1997, 57, Anm. zu BGH, StV 1996, 360; Fuhrmann, Verwirkung des Rügerechts bei nicht beanstandeten Verfahrensverletzungen des Vorsitzenden (§ 238 Abs. 2), NJW 1963, 1230; Grüner, Über den Missbrauch von Mitwirkungsrechten und die Mitwirkungspflichten des Verteidigers im Strafprozess, 2000; Hamm, Staatliche Hilfe bei der Suche nach Verteidigern – Verteidigerhilfe zur Begründung von Verwertungsverboten, NJW 1996, 2185 (2186); Jahn, Konfliktverteidigung und Inquisitionsmaxime, 1998, 173; Kindhäuser, Rügepräklusion durch Schweigen im Strafverfahren, NStZ 1987, 529; Maul/Eschelbach, Zur „Widerspruchslösung“ von Beweisverwertungsproblemen in der Rechtsprechung, StraFo 1996, 66; Meyer-Goßner/Appl, Die Ausweitung des Widerspruchserfordernisses, StraFo 1998, 258; Mosbacher, Rügepräklusion mangels Rechtsschutzbedürfnis, FS Widmaier (2008), S. 339, 352; Mosbacher, Zur aktuellen Debatte um die Rügepräklusion, NStZ 2011, 606; Niemöller, Zum exzessiven Gebrauch des Beweisantragsrechts, JR 2010, 332; Ventzke, Anm. zu BGH, StV 1999, 189 – StV 1999, 190; Widmaier, Mitwirkungspflicht des Verteidigers in der Hauptverhandlung und Rügeverlust, NStZ 1992, 519; Ziemann, Die Professionalisierung der Strafverteidigung: Grundlagen, Entwicklungen, Herausforderungen, StV 2010, 452.
a) Allgemeines Im folgenden Kapitel werden Verhaltensweisen der Verteidigung ange- 786 sprochen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen für den Mandanten 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 81b StPO Rz. 18, 23.
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Rz. 787
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Rechtsnachteile bringen. Zum einen handelt es sich um Fehler, die auf Unkenntnis, Erfahrungsmangel oder Unaufmerksamkeit beruhen, zum anderen sind es Aktionen, die als „dysfunktionales Verteidigungsverhalten“1 und/oder Rechtsmissbrauch2 qualifiziert werden müssen. Beide haben für den Mandanten gravierende – nicht selten prozessentscheidende – negative Auswirkungen. b) Rüge von Prozessverstößen 787
Unter dieser Überschrift werden Vorgänge aus der Hauptverhandlung und aus dem vorangegangenen Verfahrensabschnitt zusammengefasst, die durch Unkenntnis, Erfahrungsmangel und Unaufmerksamkeit der Verteidigung dem Mandanten häufig zum Verderben gereichen. An sich hat die bisherige Darstellung schon allenthalben gezeigt, welche Fallstricke und Fußangeln im Verfahren die Verteidigung bedrohen. Die Strafprozessordnung gilt zwar als Magna Charta libertatum des Angeklagten. Die mit ihr zur Verfügung gestellten Mittel der Verteidigung wollen aber erkannt und genutzt sein. Nur der Verteidiger, der mit ihr umzugehen weiß und aufpasst, ist erfolgreich. Die besonders in der Hauptverhandlung verpassten Gelegenheiten sind Legion. Mit Recht wird von Revisionsrichtern darauf hingewiesen, wie wenig angebracht die Versuche der Verteidiger sind, in der Revisionsverhandlung Fehler wieder auszubügeln, die in der Hauptverhandlung vor dem Tatrichter gemacht worden sind. Verteidiger, die dort ihren Auftritt verpassen, finden wenig Gehör, wenn sie mit der Revision den Richtern vorwerfen, „offensichtliche“ Verfahrensverstöße begangen, „sich aufdrängende“ Beweise nicht erhoben oder sonst grobe Fehler gemacht zu haben. Ihnen wird zu Recht entgegengehalten, dass sie bei derartigen Fehlern nicht hätten schweigen dürfen und damit ihr Recht vertan haben. Aufklärungsrügen mit der Behauptung, dem Gericht hätte sich die Notwendigkeit weiterer Beweiserhebung aufdrängen müssen, begegnen dem Vorhalt, warum bei solcher Offensichtlichkeit der Verteidiger den entsprechenden Beweisantrag nicht gestellt habe. Zwar kann darauf entgegnet werden, dass § 244 Abs. 2 StPO nur vom Gericht die umfassende Aufklärung des Sachverhalts fordert, während der Verteidiger seine Schutzaufgabe schon dann als erfüllt ansehen kann, wenn nach seiner objektivierten Beurteilung die Grenze des „non liquet“ erreicht ist. Aber selbst wenn eine unterlassene Aufklärung allen beteiligten Rechtspflegeorganen gemeinsam zur Last fällt, sollte dies eigentlich nicht allein der Angeklagte ausbaden müssen. Häufig gehen Verfahrensrechte dem Verteidiger auch dadurch verloren, dass er nicht für Protokollierung des Prozessvorganges gesorgt oder die Führung des Freibeweises auf andere Weise sichergestellt hat (Rz. 806, 809).
1 Rüping/Dornseif, Dysfunktionales Verteidigungshandeln im Prozess, JZ 1977, 417 ff. 2 Vgl. dazu ausführlich Fahl, Der Rechtsmissbrauch im Strafprozess, 2004.
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Verwirkung von Verteidigungsrechten
Rz. 791
Zur Materie gehören aber auch die umgekehrten Fälle. In diesen bemerkt 788 der Verteidiger zwar Verfahrensfehler, wertet diese aber nicht zugunsten seines Mandanten aus. Das geschieht häufig in der Absicht, den vorgekommenen Fehler für Revisionszwecke zu konservieren. Dieses Verschweigen führt jedoch zwangsläufig zu der Frage, ob der Verteidiger sich damit nicht das Rügerecht verwirkt hat. Das kommt besonders oft vor, wenn Verteidiger Frage- oder Erklärungsrechte nicht ausüben oder Beschluss- und Beweisanträge unterlassen (Rz. 530 ff.; 648 ff.). Der Abschnitt „Verwirkung von Verteidigungsrechten“ betrifft hiernach 789 ersichtlich wesentliche Teile der Materie, die unter C III 1. „Vorbereitung der Hauptverhandlung“ und C III 2 „Der Verteidiger in der Hauptverhandlung“ (Rz. 501 ff.) behandelt ist. Insoweit handelt es sich hier um eine wiederholende Zusammenfassung unter dem besonderen Gesichtspunkt des Rechtsverlustes durch Verwirkung. Der Abschnitt ist andererseits ein Vorgriff auf das Kapitel „Der Verteidiger im Revisionsverfahren“ (Rz. 885 ff.), weil im Revisionsverfahren die in der Vorinstanz begangenen Verfahrensfehler sowohl des Gerichts wie der Verteidigung beurteilt werden. aa) Verlust des Rügerechts durch Rügeverzicht Zu den Verteidigungsrechten, die der Verteidiger durch sein Versagen ver- 790 lieren kann, zählt in erster Linie die Beanstandung von Prozessverstößen in der Hauptverhandlung. Die Verwirkung von Verfahrensrügen kann hier in dreifacher Weise passieren: Der häufigste Fall ist der Verlust des Rügerechts durch Rügeverzicht1. 791 Der Verzicht kann schon vor der Prozesshandlung erklärt werden. Wenn das geschehen ist, kommt ein rügbarer Verfahrensfehler überhaupt nicht zur Entstehung. Er kann auch nach der Prozesshandlung erklärt werden. In diesem Fall wird der Verfahrensverstoß geheilt. Solche Verzichte können für die Verteidiger sehr gefährlich sein. Allerdings gilt dies nur für verzichtbare Prozessvorschriften, z.B. Einhaltung der Ladungsfrist (§ 217 Abs. 3 StPO), Nachtragsklage (§ 266 Abs. 1 StPO), Urkundenverlesung (§ 251 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 StPO), Einverständnis mit Rücknahme eines Rechtsmittels (§ 303 StPO), andere Fristen u.a. Die Verwirkung prozessualer Möglichkeiten der Verteidigung betrifft auch das Erklärungsrecht (§ 257 StPO), insbesondere den Widerspruch bei Verwertungsverboten (Rz. 529), unterlassene Beweisanträge und anderes. Bei den unverzichtbaren Prozessvorschriften kann die Erklärung des Verteidigers denklogisch nicht viel schaden (z.B. fehlende Prozessvoraussetzung, Öffentlichkeit des Verfahrens, Anwesenheit des Angeklagten [§§ 231 ff. StPO], Vereidigungsverbot für Zeugen [§ 60 StPO], Unterbrechungsfristen [§ 229 StPO] u.a.). Die nicht verwirkte Rüge kann aber auch nachträglich
1 Vgl. dazu i.E. Dahs, Revision, Rz. 404 m.N.
491
Rz. 792
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
dadurch untergehen, dass sie in der Revisionsbegründung nicht rechtzeitig und formgerecht erhoben wird (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO; Rz. 905). 792
Anderseits muss der Verteidiger beachten, dass ein Verzicht nicht immer ausdrücklich erklärt oder gar protokolliert sein muss. Er kann auch stillschweigend erklärt werden, so dass der Rechtsverlust als Folge mangelnder Wachsamkeit des Verteidigers eintritt. Das gilt insbesondere auch für den nachträglichen Verzicht. Hier liegt der Hauptbereich der Rügeverwirkung durch Versagen des Verteidigers. Im schnellen Ablauf der Hauptverhandlung, besonders unter einem zügig verhandelnden Vorsitzenden, wird die Prozessordnung in der Praxis oft genug missachtet. Die dazu schweigenden Verteidiger werden überrollt. Ob allerdings im Einzelfall ein Stillschweigen des Verteidigers tatsächlich als ein konkludent erklärter Rügeverzicht auszulegen ist, kann eine schwierige Tat- oder Rechtsfrage sein (über grobe Verteidigungsfehler als Revisionsgrund z.B. Rz. 793, 935). bb) Unterlassene Anrufung des Gerichts
793
Die Anrufung des Gerichts steht dem Verteidiger zu, wenn er Verfahrensfehler des Vorsitzenden beanstanden will (§ 238 Abs. 2 StPO). Hier ist nicht nur schnelle Reaktion, sondern oft auch entschlossenes Vorgehen geboten. Im Gesetz findet sich keine Vorschrift, die den Prozessverstoß des Vorsitzenden dadurch heilt, dass ein Antrag auf Gerichtsbeschluss (nach §§ 238 Abs. 2, 240 Abs. 2 StPO; Rz. 540 ff.) unterbleibt. Das gilt z.B. in der Praxis vornehmlich bei Maßnahmen der Verfahrensleitung (Rz. 539) sowie der Befragung und Vereidigung von Zeugen1. Der Vorsitzende entscheidet darüber regelmäßig allein ohne Befragung seiner Beisitzer2. Das gilt als gesetzmäßig, obwohl die Entscheidung über die Beeidigung nach dem Gesetz dem Gericht als ganzem obliegt. Wenn aber die Anrufung des Gerichts durch den Verteidiger versäumt wird und kein Mitglied des Gerichts widerspricht, gilt die Anordnung des Vorsitzenden als Gerichtsbeschluss entsprechend. Dieses Verfahren gefährdet die Prozesslage des Angeklagten beträchtlich. Es geht dabei auch um das Verhältnis zu § 338 Nr. 8 StPO, der die Beschränkung der Verteidigung nur im Falle eines Gerichtsbeschlusses als Revisionsgrund gelten lässt (Rz. 942).
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Diese Vorschrift soll indessen nur Fälle betreffen, die zugleich die Verletzung einer speziellen Vorschrift zum Schutz des Angeklagten darstellen3. Hiernach können mindestens Verstöße gegen zwingende Verfahrensvorschriften immer gerügt werden, z.B. die verspätete Absetzung eines 1 Zu § 59 StPO n.F. BGH v. 20.1.2005 – 3 StR 455/04, StV 2005, 200 m. Anm. Schlothauer. 2 Vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 59 StPO Rz. 9 f. 3 BGH v. 26.5.1981 – 1 StR 48/81, BGHSt. 30, 131 (137); BGH v. 12.2.1981 – 4 StR 714/80, NStZ 1981, 361; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 338 StPO Rz. 59.
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Verwirkung von Verteidigungsrechten
Rz. 797
Urteils (§ 338 Nr. 7 StPO). Es bleiben aber genügend Fälle eines möglichen Rügeverlustes durch Nichterwirkung eines Gerichtsbeschlusses (Rz. 942). Einen Gerichtsbeschluss kann der Verteidiger insbesondere verlangen, 795 wenn es sich um sein Fragerecht handelt. Wenn er durch den Vorsitzenden darin eingeschränkt wird oder sonst Streit über die Ausübung von Fragerechten und Äußerungsrechten entsteht, kann und sollte der Verteidiger sich nicht scheuen, auch wiederholt das Gericht zur Beschlussfassung anzurufen (Rz. 540; §§ 240, 242 StPO) und für die Protokollierung der Entscheidungen zu sorgen (Rz. 806 ff.). Er eröffnet damit ggf. zugleich den Tatsachen den sonst verschlossenen Zugang zum Revisionsgericht. So konnte in einem Falle1 der Verteidiger über den Weg der Verfahrensrügen den Sachverhalt weitgehend zur Verhandlung in der Revisionsinstanz bringen, nachdem er in der Hauptverhandlung zahlreiche Fragen gestellt und nach Ablehnung durch den Vorsitzenden jeweils Gerichtsbeschlüsse herbeigeführt hatte. Generell gilt die Empfehlung, bei Meinungsverschiedenheiten über Pro- 796 zessvorgänge einen Gerichtsbeschluss herbeizuführen. Damit geht nichts verloren, jedoch kann sehr viel gewonnen werden. cc) Überholung durch Prozessablauf, Präklusionen Außer den vorgenannten Fällen bewirkt auch der bloße Fortgang des Ver- 797 fahrens, dass manche Verfahrensverstöße von selbst auf der Strecke bleiben, wenn der Verteidiger nicht rechtzeitig aktiv wird. Prototyp solcher Fälle sind die Präklusionsvorschriften, die einen Rechtsverlust generell herbeiführen, ohne dass es der Annahme eines Rügeverzichts überhaupt bedarf. Sie betreffen die Besetzungs- und Unzuständigkeitsrüge (Rz. 462 und Rz. 463) sowie die Richterablehnung (Rz. 466). In diesen Bereich gehört auch die Ausweitung des Widerspruchserfordernisses, das der BGH für die Geltendmachung von Verwertungsverboten, z.B. wegen Verstößen gegen §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 4 S. 2, 168c Abs. 5 StPO statuiert hat2. Danach muss der Widerspruch gegen die Verwertung des rechtswidrigen Ermittlungs- bzw. Beweisergebnisses spätestens zu dem durch § 257 StPO bestimmten Zeitpunkt erfolgen3. Der Verteidiger muss den Widerspruch nicht nur klar und eindeutig in Bezug auf bestimmte Beweismittel bzw. Beweisergebnisse anbringen, sondern auch dafür Sorge tragen, dass er als wesentliche Förmlichkeit des Verfahrens
1 BGH v. 22.4.1952 – 1 StR 96/52, BGHSt. 2, 284. 2 BGH v. 12.1.1996 – 5 StR 756/94, BGHSt. 42, 15; BGH v. 12.10.1993 – 1 StR 475/93, BGHSt. 39, 349; BGH v. 27.2.1992 – 5 StR 190/91, BGHSt. 38, 214. 3 Vgl. dazu OLG Hamm v. 25.8.2008 – 3 Ss 318/08, NJW 2009, 242 m. Anm. Zopfs; Dahs, StraFo 1998, 253; Meyer-Goßner/Appl, StraFo 1998, 258, jeweils m. zahlr. N. sowie das vor Rz. 523 angef. Schrifttum.
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Rz. 798
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
nach § 273 StPO protokolliert wird. Folglich ist die schriftliche Geltendmachung des Widerspruchs mit Begründung zu empfehlen. 798
Verpasst der Verteidiger den Zeitpunkt des § 257 StPO, bezogen auf die Erhebung des nach seiner Auffassung nicht verwertbaren Beweises, etwa um zunächst weitere Beweisschritte abzuwarten, so ist eine häufig verfahrensentscheidende Chance unwiederbringlich dahin.
799
Auch der Beginn der Hauptverhandlung kann zur Überholung von Rechtsfehlern führen, die im Vorbereitungsstadium vorgekommen sind. Diese können die Hauptverhandlung verhängnisvoll beeinflussen (z.B. bei Ladungsverstößen1, Entscheidungen über Bestellung eines Verteidigers, Akteneinsicht, Benennung der Gerichtspersonen – § 24 StPO –, Unterlassung von Beweishandlungen, besonders nach Beweisanträgen und Fehlern bei Beweiserhebungen). Ob diese Fehler noch in die Hauptverhandlung hineinwirken und das Urteil beeinflussen und damit auch die Revision begründen können, muss der Verteidiger von Fall zu Fall überwachen. Vor der Hauptverhandlung gestellte Beweisanträge muss der Verteidiger in der Hauptverhandlung wiederholen2 (Rz. 474, 525). Er darf sich auch nicht darauf verlassen, dass das Gericht auf bislang übergangene oder abgelehnte Anträge in der Hauptverhandlung von sich aus zurückkommt. Das muss er selbst tun, um sein Recht nicht zu verlieren.
800
Eine klassische Überholung des Prozessverstoßes stellt auch der Übergang des Verfahrens in die nächste Instanz dar. So hat es keinen Sinn, mit der Revision gegen ein Strafkammerurteil zweiter Instanz Prozessfehler des Amtsrichters in erster Instanz (etwa Verletzung der Öffentlichkeitsvorschriften oder die unzulässige Vereidigung eines Zeugen) zu rügen. Denn die Hauptverhandlung ist ja – wenn sie ohne Einschränkung durchgeführt worden ist – in der Berufungsinstanz in toto erneuert worden.
801
Auch der Anspruch auf Aussetzung der Hauptverhandlung nach § 265 Abs. 3 und 4 StPO (Rz. 704 f.) geht unwiederbringlich verloren, wenn kein entsprechender Antrag gestellt und kein Gerichtsbeschluss herbeigeführt worden ist. Die Rüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung (§ 338 Nr. 8 i.V.m. § 265 Abs. 3 oder 4 StPO) ist dann ohne Grundlage3. dd) Verpasste Gelegenheiten
802
Gewisse Verteidigungsmöglichkeiten müssen im richtigen Augenblick eingesetzt werden. So kann der Verteidiger die Aussetzung in den dafür vorgesehenen Fällen (Rz. 448, 457, 695, 705, 707, 767) praktisch erzwin1 Vgl. aber BGH v. 18.5.1971 – 3 StR 10/71, BGHSt. 24, 143 (148): Verteidiger muss Gericht darauf hinweisen; vgl. i.Ü. Dahs, Revision, Rz. 405. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 34 m.N. 3 Dazu BGH v. 24.6.1998 – 5 StR 120/98, NStZ 1998, 530.
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Verwirkung von Verteidigungsrechten
Rz. 806
gen oder sich bei Ablehnung damit einen Revisionsgrund sichern, z.B. bei versagter oder verspäteter Gewährung der Akteneinsicht, ungenügender Zeit zur Vorbereitung oder bei Terminkollisionen in Fällen, in denen er sich nicht anders durchsetzen kann. Sonst ist die Gelegenheit unwiederbringlich dahin. Auch – jedenfalls in den Fällen der notwendigen Verteidigung – hat er ein 803 weiteres wirksames Mittel in der Hand, indem er notfalls die Niederlegung der Verteidigung androhen oder erklären kann (Rz. 161 ff.). Damit bringt er jede Hauptverhandlung zu Ende. Wenn eine Verhandlung so eskaliert, dass der Vorsitzende ihn nicht mehr 804 zu Wort kommen lässt oder er die Protokollierung seiner Anträge und Proteste nicht mehr zu erzwingen vermag, kann er durch Verlassen des Sitzungssaales die Hauptverhandlung sprengen. Das kann z.B. bei prozesswidriger Beschneidung des letzten Wortes als letzter Ausweg notwendig werden. Diese Maßnahme ist aber nur als ultima ratio in Ausnahmefällen zulässig, wenn sie eine Reaktion auf eine rechtswidrige oder in ihrer Zulässigkeit rechtlich umstrittene Maßnahme ist, durch die der Vorsitzende in die Rechte des Angeklagten oder der Verteidigung massiv eingreift. Die schuldhafte Verkennung der Rechtslage geht dabei zulasten des Verteidigers1, was bei Auferlegung der Kosten der Verhandlung nach § 145 Abs. 4 StPO unter Umständen sehr teuer werden kann. Niederlegung der Verteidigung oder Ausbleiben in der Hauptverhandlung 805 können auch unvermeidbar werden, wenn ein Vorsitzender sich Terminschwierigkeiten eines Verteidigers einsichtslos verschließt, der ohne Verschulden in eine unlösbare Terminkollision geraten ist und dies in angemessener Form rechtzeitig vorgetragen hat (Rz. 511)2. c) Ratschläge für prozessgerechtes Verhalten aa) Fixierung der Prozessvorgänge Literatur: Detter, Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo 2004, 329; Fezer, Anm. zu BGH, NStZ 2002, 270, 272; Knauer, Zur Wahrheitspflicht des (Revisions-)Verteidigers, FS Widmaier (2008), S. 281; Kury, Zum Umgang mit dem Hauptverhandlungsprotokoll: Ein Beitrag zur Aushöhlung der Protokollbeweiskraft, StraFo 2008, 185; Park, Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo 2004, 335.
Die größte Wachsamkeit gegenüber Prozessverstößen nützt nichts, wenn 806 der Verteidiger sie später nicht beweisen kann. Davon ist ggf. der Erfolg der Revisionsinstanz abhängig. Er muss sich deshalb die Beweise sichern. 1 Vgl. BGH v. 15.12.1980 – AnwSt (R) 14/80, StV 1981, 133; KG v. 14.1.1980 – (4) 1 HEs 4/79 (85/79), JR 1981, 86; OLG Koblenz v. 28.8.1981 – 1 Ws 486/81, 1 Ws 487/81, 1 Ws 488/81, 1 Ws 489/81, 1 Ws 490/81, NStZ 1982, 43. 2 OLG Bamberg v. 4.3.2011 – 2 Ss OWi 209/11, 2 Ss OWi 209/2011, StraFo 2011, 232.
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Rz. 807
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Das zuverlässigste Beweismittel ist das Sitzungsprotokoll (Rz. 709). Daneben ist der sog. Freibeweis (Rz. 919) zulässig. Das Sitzungsprotokoll hat nach § 275 StPO die sog. absolute Beweiskraft nur für die vorgeschriebenen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung (vgl. aber Rz. 917 f.). Diese müssen von Amts wegen in das Protokoll aufgenommen werden. Das bestimmt § 273 StPO in seinem Abs. 1. Viel mehr dient den Zwecken der Verteidigung der Abs. 3. Hiernach hat der Vorsitzende, wenn es auf die „Feststellung eines Vorgangs in der Hauptverhandlung ankommt“, (von Amts wegen oder) auf Antrag die vollständige Niederschreibung und Verlesung anzuordnen. Auch die Einwendungen des Verteidigers sind zu protokollieren. Gegen die Entscheidungen des Vorsitzenden kann der Verteidiger einen Gerichtsbeschluss herbeiführen. Die absolute Beweiskraft des Protokolls ist nach neuerer Rechtsprechung eingeschränkt in den Fällen der „Rügeverkümmerung“ (Rz. 921). Sie wird dort durch ein Verfahren der Protokollberichtigung überprüft und ggf. ersetzt (Rz. 919)1. 807
Auch soweit das Protokoll keine absolute Beweiskraft besitzt, wird es zum Beweis von Vorgängen in der Hauptverhandlung im Allgemeinen genügen. Das betrifft Verstöße, Belehrungen, Hinweise, Vereidigung oder Nichtvereidigung, Beanstandungen, Widersprüche, Beweisanträge, Beschränkungen im Schlusswort, Zusammenstöße zwischen Prozessbeteiligten, Äußerungen eines befangenen Richters, nicht hinreichende Deutschkenntnisse eines Schöffen2, Bewusstseinsstörungen des Angeklagten oder anderer notwendiger Verfahrensbeteiligter und anderes. Der Verteidiger kann bei Widerstand des Vorsitzenden das Gericht immer wieder zur Beschlussfassung in das Beratungszimmer „schicken“, bis er sich durchsetzt. Damit kann die Verhandlungsführung in gewissem Sinne jedenfalls teilweise unter die Kontrolle und Lenkung des Verteidigers kommen.
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Der Verteidiger muss auch die Vorschrift des § 183 GVG zu nutzen wissen. Hiernach müssen in der Hauptverhandlung begangene strafbare Handlungen protokolliert werden. Dafür kommen Falschaussage, (versuchte) Nötigung und auch Beleidigungen in Betracht.
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Setzt der Verteidiger die Protokollierung trotz seines Einsatzes auch durch Gerichtsbeschluss nicht durch, ist er in der Revisionsinstanz auf den Freibeweis angewiesen (Rz. 919). Das bedeutet die Feststellung von Prozessvorgängen nach freier richterlicher Überzeugung der Revisionsrichter, die auf alle denkbaren Erkenntnisquellen gestützt sein kann, insbesondere auf die dienstlichen Äußerungen der Prozessbeteiligten, auch des Verteidigers3. Diese Prozesssituation führt zu der recht kritischen 1 Vgl. i.E. BGH v. 23.4.2007 – GSSt 1/06, BGHSt. 51, 298; Dahs, Revision, Rz. 523. 2 BGH v. 26.1.2011 – 2 StR 338/10, NStZ-RR 2011, 349. 3 Dahs, Revision, Rz. 517 ff., 526.
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Verwirkung von Verteidigungsrechten
Rz. 812
Frage, ob bei Ablehnung der Protokollierung der beanstandeten Vorkommnisse durch den Vorsitzenden der Verteidiger durch eine Erklärung oder im Plädoyer einen Appell insbesondere an die richterlichen Beisitzer und den Staatsanwalt richten sollte, die Geschehnisse im Gedächtnis oder durch eine Notiz festzuhalten, damit der spätere Beweis für die Revisionsinstanz gesichert werde. Ein solches Vorgehen ist dem Verteidiger ggf. durchaus zu empfehlen. Der Einsatz des Verteidigers ist hier besonders wichtig, weil in diesem Bereich Verfahrensfehler nur berücksichtigt werden, wenn sie voll bewiesen sind. Ein non-liquet macht die Rüge unwirksam1. bb) Opportunitätsfragen Bei aller Notwendigkeit, keine Gelegenheit zu verpassen und sich die Be- 810 weise zu sichern, muss der Verteidiger natürlich auch überlegen, inwieweit forsches Vorgehen opportun ist. Allzu „scharfe“ oder ständig den Konflikt suchende Verteidiger (auch außerhalb der Grenzen des Rechtsmissbrauchs) können ihren Mandanten durch ihre selbst herbeigeführte Unbeliebtheit schaden. Wo Verstimmungen des Gerichts ohne Nachteil für die Sache vermeidbar sind, sollte man sich zurückhalten, auch wenn bei Gericht Fehler gemacht werden. Ein durch den Prozesssport des Verteidigers verärgertes Gericht ist für den Mandanten nie vorteilhaft. Der favor judicis (Rz. 192) wird verspielt. Wenn beispielsweise ein Verteidiger gleich zu Beginn der Vernehmung des Angeklagten auf den Vorhalt des Vorsitzenden: „Bei der Polizei haben Sie aber etwas anderes gesagt“, mit der provokanten Frage eingreift: „Herr Vorsitzender, woher wissen Sie das?“. Soweit er damit in sachlicher Weise darauf hinweisen will, dass der Angeklagte die Richtigkeit des polizeilichen Protokolls bestreiten will, mag die Äußerung angehen. Wenn er damit aber dem Vorsitzenden nur abstrakt vorhalten will, das Protokoll sei niemals ein Beweis für eine tatsächliche Aussage, zieht er sich mit Recht den Unwillen des Gerichts zu. Der Verteidiger bringt sich damit um die Vorteile reibungsfreier Zusam- 811 menarbeit, besonders auch um Absprachen vor und während der Hauptverhandlung (§ 257c StPO; Rz. 502). Besonders nach längerer Dienstzeit beinahe „gottähnlich“ sich fühlen- 812 den Amtsrichteroriginalen sollte man ihre „eigene Prozessordnung“ nicht abgewöhnen wollen („Das machen wir hier immer so“). Man erreicht viel mehr, wenn man sich anpasst und mit ihnen gemeinsam „kleine Brötchen backt“. So musste es schließlich aufgegeben werden, gegen die Gewohnheit eines dörflichen Amtsrichters zu opponieren, der jede Hauptverhandlung groteskerweise mit der Aufforderung an den Staatsanwalt begann, den Schlussbericht der Polizei vorzulesen, um die „Beteiligten in den Prozessstoff einzuführen“ (!). Gleiches gilt für einen 1 BGH v. 4.1.1966 – 1 StR 299/65, BGHSt. 21, 4 (10).
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Rz. 813
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
Schöffengerichtsvorsitzenden, der ständig die Rechtsauffassung praktizierte, Vorhalte aus den Akten dürfe nur der Vorsitzende machen. Dass die Schöffen gegen diese etwas „exotische“ Rechtsauffassung keinen Widerspruch erhoben, liegt auf der Hand. Die vorstehenden Erwägungen und Erfahrungen sind die gleichen, die den Verteidiger auch bestimmen sollten, im Bereich des materiellen Rechts, besonders im Plädoyer, die Richter der unteren Instanz nicht mit Rechtsausführungen zuzudecken (Rz. 741). d) Arglistiges Verhalten und Rechtsmissbrauch Literatur: Abdallah, Die Problematik des Rechtsmissbrauchs im Strafverfahren, 2002, 141; Basdorf, Änderung des Beweisantragsrechts und Revision, StV 1995, 310; Basdorf, Mitwirkungspflichten und gesteigerte Verantwortung des Verteidigers, StV 1997, 488; Basdorf, Der Verteidiger als Garant von strafprozessualen Verfahrensregeln?, StV 2010, 414; Beulke, Rechtsmissbrauch im Strafprozess, StV 2009, 554; Bischoff, Der Zwischenrechtsbehelf des § 238 II StPO im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur: Beanstandungsrecht oder Beanstandungspflicht?, NStZ 2010, 77; Bohlander, Die sog. „Widerspruchslösung“ des BGH und die Verantwortung des Strafverteidigers, StV 1999, 562; Brause, Faires Verfahren und Effektivität im Strafprozess, NJW 1997, 2865; Dahs, Das Schweigen des Verteidigers zu tatrichterlichen Verfahrensfehlern und die Revision, NStZ 2007, 241; Fahl, Rechtsmissbrauch im Strafprozess, Habil. 2004; Fischer, Rechtsmissbrauch und Überforderung der Strafjustiz, NStZ 1997, 212; Fischer, Strafverteidiger aus der Sicht des Richters …, StV 2014, 47; Gaede, Vorbeugende Rügepräklusion gegen vermuteten Rechtsmissbrauch, wistra 2010, 210; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010, Rz. 129 ff.; Hamm, Der Verteidiger als Garant der Einhaltung von strafprozessualen Verfahrensregeln?, StV 2010, 418; Jahn, Die Rechtsstellung des Verteidigers im heutigen deutschen Strafverfahren, StV 2014, 40; Kölbel, Das Rechtsmissbrauchs-Argument im Strafprozess, GA 2005, 36; Kudlich, Strafprozess und allgemeines Missbrauchsverbot, 1998, 23; Maatz, Mitwirkungspflicht des Verteidigers in der Hauptverhandlung und Rügeverlust, NStZ 1992, 513; Mosbacher, Zur Bescheidung auf Beweiserhebung gerichteter Anträge, NStZ-Sonderheft für Miebach, 2009, 20; Mosbacher, Rügepräklusion mangels Rechtsschutzbedürfnis, FS Widmaier (2008), S. 339, 352 ff.; Mosbacher, Zur aktuellen Debatte um die Rügepräklusion, NStZ 2011, 606; Eckhart Müller, Berufsbild und Berufsethos des Strafverteidigers, NJW 2009, 3745; Niemöller, Zum exzessiven Gebrauch des Beweisantragsrechts, JR 2010, 332; Pfeiffer, Zulässiges und unzulässiges Verteidigerverhalten, DRiZ 1984, 342; Pfister, Rechtmissbrauch im Strafprozess, 2. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2009, 74 = StV 2009, 550; Senge, Missbräuchliche Inanspruchnahme verfahrensrechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten – wesentliches Merkmal der Konfliktverteidigung? Abwehr der Konfliktverteidigung, NStZ 2002, 225; Trüg, Beweisantragsrecht – Disziplinierung der Verteidigung durch erhöhte Anforderungen, StraFo 2010, 139; Ventzke, … bringt alles Palaver dem Revidenden nichts, NStZ 2011, 481; Weßlau, Der Missbrauch von Verfahrensrechten im Strafverfahren, FS Lüderssen (2002), S. 787 ff.; Widmaier, Präklusion von Verfahrensrügen durch Zweckentfremdung aus § 238 II StPO, NStZ 2011, 305; Ziemann, Prozessuale Mitwirkungspflicht für den Strafverteidiger, StV 2010, 452.
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Schon seit Jahren sieht sich die Strafrechtspflege in zunehmendem Umfang mit „Verteidigungsstrategien“ konfrontiert, die nicht der Sachaufklärung zugunsten des Angeklagten oder dem Bemühen um rechtmäßige 498
Verwirkung von Verteidigungsrechten
Rz. 814
Verfahrensführung dienen, sondern – oft deutlich erkennbar – das Ziel verfolgen, den gesetzmäßigen Fortgang der Hauptverhandlung zu sabotieren, um deren Abbruch1, die Bereitschaft des Gerichts zu einer dem Angeklagten „genehmen“ Absprache nach § 257c StPO oder revisible Rechtsfehler u.a. zu erreichen2. Besonders beliebte prozessuale Instrumente dafür sind das Beweisantragsrecht3, die exzessive Ausübung des Fragerechts4, das Ablehnungsrecht5 sowie das arglistige Verschweigen erkannter Rechtsfehler, die von der Verteidigung des Angeklagten mindestens mitverursacht sind oder durch Schweigen „konserviert“ werden sollen6. Die Rechtsprechung hat auf solches Verteidigerverhalten u.a. mit der Fristsetzung für Beweisanträge7, der verschärften Anwendung des § 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO8, dem Protokollberichtigungsverfahren (§§ 273, 274 StPO)9 und mit ungewöhnlich deutlicher Kritik an der anwaltlichen Strafverteidigung10 reagiert11. Bei einer Gesamtbetrachtung ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich Missbrauch auf der einen und mindestens Ansätze zu Rechtsverkürzungen auf der anderen Seite tendenziell „aufschaukeln“. Das Handbuch des Strafverteidigers ist freilich nicht der Ort für eine 814 rechtspolitische oder dogmatische Auseinandersetzung mit den von der Rechtsprechung entwickelten „Abwehrinstrumenten“. Vielmehr kann hier dem Strafverteidiger nur der dringende Rat gegeben werden, sich in der Ausübung der ihm zustehenden Rechte und prozessualen Möglichkeiten außerhalb der Grenzen „bemakelter“ Strategien zu halten. Sein Handeln im Prozess sollte stets von seinem institutionellen Auftrag in der Strafrechtspflege (Rz. 1 ff.) bestimmt sein, und er sollte sich nicht zum verlängerten Arm des Angeklagten machen lassen! Deshalb kann es sinnvoll sein, z.B. bei einem „späten Beweisantrag“ gegenüber dem Gericht kurz klarzustellen, dass und aus welchem Grunde es nicht möglich oder im Verteidigungsinteresse war, ihn früher zu stellen. Entsprechendes gilt für den manchmal unumgänglichen Ablehnungsantrag. Ein Verteidiger, der sich gegenüber dem Gericht und der Staatsanwaltschaft –
1 LG Wiesbaden v. 23.9.1994 – 6 Js 8862.2/92, StV 1995, 239. 2 Vgl. die bei Fahl, Der Rechtsmissbrauch im Strafprozess, geschilderten zahlreichen Fälle. 3 Vgl. nur BGH v. 25.4.2012 – 5 StR 444/11, NStZ 2012, 526 (Beweisbehauptung wider besseres Wissen). 4 Vgl. dazu nur BGH v. 27.3.2009 – 2 StR 302/08, BGHSt. 53, 257 Rz. 5. 5 Z.B. OLG Bremen v. 28.11.2011 – 1 Ws 118/11, NStZ-RR 2012, 285. 6 BGH v. 16.6.2005 – 5 StR 440/04, wistra 2005, 390; Basdorf, StV 1995, 310 (319); Maatz, NStZ 1992, 513 (517). 7 BGH v. 19.6.2007 – 3 StR 149/07, NStZ 2007, 716. 8 BGH v. 10.4.2008 – 4 StR 443/07, NStZ 2008, 523. 9 BGH v. 23.4.2007 – GSSt 1/06, StV 2007, 403; BGH v. 20.4.2006 – 3 StR 284/05, StV 2006, 627. 10 Z.B. BGH v. 27.3.2009 – 2 StR 302/08, BGHSt. 53, 257. 11 Z.B. BGH v. 27.3.2009 – 2 StR 302/08, BGHSt. 53, 257.
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Rz. 815
Der Verteidiger im Hauptverfahren des ersten Rechtszuges
bei voller Wahrung seines Berufsauftrages – stets „fair“1 im Hinblick auf die Idee unseres Strafprozesses und seiner Repräsentanten verhält, wird nicht fehlgehen. Das schließt nicht aus, dass er sich auch energisch gegen zuweilen von allzu forschen Vorsitzenden zur „Unzeit“ gesetzte Antragsfristen im Interesse seines Mandanten und dem ordnungsgemäßen Ablauf des Strafverfahrens pp. wehrt (§ 238 Abs. 2 StPO), auch um für eine evtl. Revisionsrüge die Basis zu schaffen. Dem für revisionsrechtliche Verfahrensrügen zu §§ 273, 274 StPO entwickelten „Wahrheitsgebot“ (Rz. 920 ff.) muss er durch korrekte Mitwirkung am Protokollberichtigungsverfahren (Rz. 921) Rechnung tragen2. Erbringt dieses „Zwischenverfahren“ kein für die Revision hinreichend positives Ergebnis, ist die Rücknahme der Verfahrensrüge angezeigt – so bitter dies im Einzelfall auch sein kann! Dass missbräuchliche Verfahrensaktivitäten dem angeklagten Mandanten Nutzen gebracht haben, ist aus der einschlägigen Rechtsprechung im Übrigen nicht zu entnehmen. Vielmehr hat der von der und für die Rechtspflege entwickelte „Rechtsschutz“ für die Institution der (effektiven) Strafverteidigung erhebliche Nachteile gebracht. Im Konfliktfalle verspricht eine sachliche Rechtsdiskussion, ggf. auch ein persönliches Gespräch mit dem Vorsitzenden, nach aller Erfahrung mehr Erfolg und vermeidet überflüssige prozessuale Streitereien. Letztlich fällt es in die Verantwortung des einzelnen Strafverteidigers, mit dem prozessualen Instrumentarium so umzugehen, dass auch die Strafverteidigung als Institution von weiterer abwehrend-repressiver Regulierung bewahrt wird. Was kann es z.B. schaden, wenn der Verteidiger zu dem von ihm gestellten Beweisantrag z.B. eine Erklärung im Sinne der „Konnexität“ zwischen Beweismittel und Beweisergebnis abgibt? Für die unbeeinflusste Sachaufklärung schädlicher ist es übrigens oftmals, wenn die Staatsanwaltschaft außerhalb der Hauptverhandlung den von der Verteidigung benannten Zeugen daraufhin erst einmal allein und „eingehend“ vernimmt! 815
Die aus der Qualifizierung des Verteidigers als „Mitgarant einer prozessordnungsgemäßen Hauptverhandlung“3 abgeleiteten Obligationen verschieben allerdings die Grenzen der strikten Einseitigkeit der Verteidigung (auch durch „prozessuales Schweigen“) in bedenklicher Weise in Richtung der historischen „Assistenzräte“. Wie soll z.B. der Verteidiger zur Rechtfertigung einer Verfahrensrüge in der Revision nachweisen, dass (auch) ihm der gerügte Verfahrensfehler des Gerichts nicht aufgefallen ist? Die Reduktion der Revision durch die Rechtsprechung auf solche Verfahrensfehler, die vom Verteidiger (mit-)verursacht oder gar arglistig herbeigeführt worden sind, wäre die bessere Lösung! Im Übrigen kommt es – wie stets – in hohem Maße auf das Fingerspitzengefühl des Vorsitzenden wie auch des Verteidigers an! Nur Fairness auf allen Seiten wird geeignet sein, unsere seit über 100 Jahren bewährte Strafprozessordnung 1 Dazu u.a. Dahs, JR 2004, 96. 2 BVerfG v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, NJW 2009, 1469. 3 Vgl. i.E. Dahs, Revision, Rz. 405.
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Allgemeines
Rz. 817
vor weiteren Deformationen zu bewahren. Das liegt vor allem auch im Interesse der Strafverteidigung1.
IV. Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren 1. Allgemeines Literatur: Dahs, Revision, 8. Aufl. 2012, Rz. 1 ff.; Hamm, Der Verteidiger als Garant der Einhaltung von strafprozessualen Verfahrensregeln?, StV 2010, 418; Hartwig, Sprungrevision bei Nichtannahme der Berufung, NStZ 1997, 111; Kaiser, Die Beschwer als Voraussetzung strafprozessualer Rechtsmittel, 1993; Meyer-Goßner, Annahmeberufung und Sprungrevision, NStZ 1998, 19; Rieß, Zur Auslegung des § 303 StPO, JR 1986, 441; Rieß, Über den Rechtsmittelverzicht im Strafverfahren, Koll. f. Gollwitzer, 2004, S. 191; Rottleuthner, Entlastung durch Entformalisierung, 1997; Schmidt, R., Die Grenzen der Bindungswirkung eines Rechtsmittelverzichts, JuS 1967, 158; Schnarr, Der bevollmächtigte Pflichtverteidiger und sein Stellvertreter, NStZ 1996, 214; Wankel, Rechtsmittel- und Rechtsbehelfsbeschränkung in der StPO, JA 1998, 65.
Die Beratung über Rechtsmittel spielt in der Praxis naturgemäß eine gro- 816 ße Rolle. Ist eine ungünstige Entscheidung ergangen, so will der Auftraggeber wissen, was der Verteidiger von der Anfechtung hält. Er will hören, welches Rechtsmittel in Betracht kommt und ob es Aussicht auf Erfolg bietet. Vor dieser Aufgabe steht nicht nur der Verteidiger, der den Mandanten bereits vertreten hat, sondern auch der Verteidiger, der erst für die nächste Instanz hinzugezogen wird. Letzterer sieht sich in einer misslichen Lage, falls er die bisherigen Verteidigungsmaßnahmen kritisch beurteilen muss, beispielsweise der Revisionsanwalt, der Fehler des Instanzanwalts feststellt. Kritik an Kollegen ist immer eine undankbare Sache. Gewissenhafte Prüfung ist notwendig. Man muss sich in die Lage des Kollegen versetzen, der die Maßnahme in einem bestimmten Verfahrensstand getroffen hat, die sich nachträglich als falsch erweist. Ergibt die Nachprüfung, dass dem bisher tätigen Verteidiger ein prozessentscheidender Fehler unterlaufen ist, dann ist es das gute Recht des Mandanten, hierüber aufgeklärt zu werden. Sonst entsteht der Eindruck, man wolle den Kollegen schützen. Der jetzt befragte Verteidiger verliert jedes Vertrauen, wenn er unrichtige Maßnahmen zu rechtfertigen sucht. Auch läuft er Gefahr, selbst die Verteidigung in falscher Richtung aufzubauen, wenn er den Fehler nicht aufdeckt. a) Aussichten des Rechtsmittels Der Auftraggeber will in erster Linie erfahren, ob das Rechtsmittel aus- 817 sichtsreich ist. Dabei ist der juristische Weg dorthin meist unbeachtlich. Diese Einstellung ist nachvollziehbar, sie darf jedoch den Verteidiger nicht abhalten, die Erfolgsaussichten sorgfältig zu prüfen. Für die erste 1 Dazu u.a. Dahs, JR 2004, 96.
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Rz. 818
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
vorläufige Beratung kann der Verteidiger die Notizen aus der mündlichen Urteilsbegründung verwenden. Er muss sich dann allerdings die genaue Prüfung anhand der schriftlichen Urteilsgründe vorbehalten. Das ist auch aus einem anderen Grund zweckmäßig. Die vorsorgliche Einlegung eines Rechtsmittels (Rz. 833) erweckt beim Mandanten leicht den Eindruck, der Verteidiger halte die Sache auf jeden Fall für aussichtsreich. Ergibt die Nachprüfung das Gegenteil, so fehlt es vielen Mandanten an der Einsicht, das Rechtsmittel zurückzunehmen (Rz. 835 ff.). Der Vorbehalt, der möglichst dem Mandanten auch schriftlich mitgeteilt werden sollte, vereinfacht die spätere abschließende Beratung über die Durchführung des Rechtsmittels. 818
Zu den Rechtsmittelaussichten gehört die Frage nach der Beschwer. Sie ist manchmal nicht einfach zu beantworten und gerade in den Zweifelsfällen dem Mandanten kaum verständlich zu machen. Welcher Betroffene versteht z.B., dass der Satz in den Urteilsgründen: „Der Angeklagte ist ein notorischer Alkoholiker“ für sich allein noch nicht die Befugnis eröffnet, energisch gegen das Urteil vorzugehen. Denn die Belastung durch die Entscheidungsgründe reicht ebenso wenig aus wie der alleinige Zweck des Rechtsmittels, den Angeklagten zu rehabilitieren1. Besonders deutlich wird die Problematik beim Freispruch wegen Schuldunfähigkeit. Da der Angeklagte freigesprochen ist, soll er das Urteil mangels Beschwer nicht anfechten dürfen, selbst wenn das Gericht offenlässt, ob überhaupt eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung zu bejahen ist2. Der Konflikt für die Verteidigung ist offensichtlich: Der aus § 20 StGB erreichte Freispruch kann ein Pyrrhussieg sein, der das gesellschaftliche und berufliche Ansehen, evtl. auch die berufliche Laufbahn (z.B. Beamte, „verkammerte“ Freiberufler) des Mandanten vernichtet und ihn in Wahrheit mehr „beschwert“ als eine vielleicht nur geringe Strafe. Deshalb muss der Verteidiger sehr sorgfältig abwägen, ob sich der Mandant auf Schuldunfähigkeit berufen soll (Rz. 664 i.d.M.). Dabei ist auch zu bedenken, dass der Freispruch wegen Schuldunfähigkeit im Strafregister einzutragen ist (§ 11 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Nr. 4 BZRG) und nicht getilgt wird, weil es sich nicht um eine Verurteilung handelt (§ 45 Abs. 1 BZRG; Rz. 1134 ff.). Zu praktischen Schwierigkeiten führen auch die Fälle, in denen das Gericht das Verfahren wegen eines Prozesshindernisses einstellt, statt freizusprechen. Die Einstellung ist weniger als ein Freispruch, der möglicherweise in der nächsten Instanz durchgesetzt werden kann. Hierzu muss der Verteidiger wissen, dass die Rechtsprechung die Anfechtung nur dann für zulässig hält, wenn das Verfahrenshindernis, wegen dessen eingestellt wird, noch behebbar ist3. 1 BGH v. 18.1.1955 – 5 StR 499/54, BGHSt. 7, 153; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 296 StPO Rz. 11. 2 BGH v. 24.11.1961 – 1 StR 140/61, BGHSt. 16, 374; Dahs, Revision, Rz. 32. 3 BayObLG v. 8.10.1984 – RReg 4 St 200/84, BayObLGSt. 89, 33 = JR 1985, 477 m. Anm. Göhler; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 296 StPO Rz. 14.
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Allgemeines
Rz. 821
Schließlich ist zu prüfen, ob die Beschwer nicht weggefallen und deshalb 819 das Rechtsmittel gegenstandslos geworden ist. Hierzu kommt es vor allem, wenn sich das Verfahren weiter entwickelt hat. So soll die Beschwerde gegen einen Beschlagnahmebeschluss grundsätzlich unstatthaft sein, wenn inzwischen ein bestätigender Beschluss nach § 98 Abs. 2 StPO ergangen ist1. Man spricht dann von der „prozessualen Überholung“ der angefochtenen Entscheidung durch eine neue Verfahrenslage (Rz. 797). Allerdings wird in analoger Anwendung des § 98 Abs. 2 S. 2 StPO der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der erledigten Zwangsmaßnahmen, z.B. Durchsuchung oder Freiheitsentziehung, dann zugelassen, wenn es sich um tiefgreifende Grundrechtseingriffe handelt2. b) Zweckmäßigkeit des Rechtsmittels Der Mandant übersieht meist nicht, dass ein an sich aussichtsreiches 820 Rechtsmittel mehr schaden als nützen kann. Als Beispiele seien genannt: Die Revision müsste wegen eines Verfahrensfehlers durchgreifen; in der Sache selbst ist aber damit zu rechnen, dass der Mandant nach der Zurückverweisung wieder verurteilt wird (Rz. 895). Oder eine Berufung ist nur mit der Begründung aussichtsreich, der Angeklagte sei schuldunfähig. Das Rechtsmittel mag zwar zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führen, es kann aber die Existenz des Mandanten gefährden (Rz. 818). Meist erweist es sich in solchen Fällen als richtiger, das Urteil nicht anzufechten. Natürlich kommt es stets auf den Einzelfall an. So wird der Auftraggeber eher bereit sein, das Urteil rechtskräftig werden zu lassen, wenn ihm Strafaussetzung zur Bewährung bewilligt ist. Dabei darf der Verteidiger nicht übersehen, dass der Bewährungsbeschluss selbständig mit einfacher Beschwerde anfechtbar ist, falls eine Auflage gesetzwidrig ist (§ 305a StPO; Rz. 848). Eine bestehende Untersuchungshaft braucht den Verteidiger im Allgemeinen nicht zu beeinflussen, weil diese nach § 51 StGB grundsätzlich auch bei Erfolglosigkeit des Rechtsmittels auf die Strafe angerechnet wird (Rz. 371). Auch der Zusammenhang mit einem Rechtsmittel der Staatsanwalt- 821 schaft ist zu berücksichtigen. Rechtsmittel des Angeklagten können dazu führen, dass der Staatsanwalt ebenfalls die nächste Instanz anruft. Das ist besonders gefährlich, weil bei Berufung und Revision dann das Verbot der reformatio in peius entfällt. Daher ist der Zeitpunkt der Rechtsmitteleinlegung genau abzuwägen, damit möglichst das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft nicht provoziert wird (Rz. 842). Außerdem muss der Mandant in diesem Zusammenhang wissen: Wenn der Staats1 BGH v. 15.10.1999 – 2 BJs 20/97 – 2, NStZ 2000, 154; Meyer-Goßner in MeyerGoßner/Schmitt, Vor § 296 StPO Rz. 17. 2 BVerfG v. 30.4.1997 – 2 BvR 817/90, 2 BvR 728/92, 2 BvR 802/95, 2 BvR 1065/95, BVerfGE 96, 27; BVerfG v. 24.3.1998 – 1 BvR 1935/96 u.a., NJW 1998, 2131; BVerfG v. 3.2.1999 – 2 BvR 804/97, StV 1999, 295; BGH v. 26.6.1990 – 5 AR (Vz) 8/90, BGHSt. 37, 79; w.N. bei Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 296 StPO Rz. 18a.
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Rz. 822
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
anwalt nicht in die nächste Instanz geht, darf keine härtere Strafe verhängt werden. Viele Mandanten greifen diesen Hinweis dankbar auf und entscheiden sich spontan für das Rechtsmittel. Der Verteidiger muss jedoch weiter darüber aufklären, dass zwar die Strafe nicht verschärft, dass aber der Schuldspruch zum Nachteil des Angeklagten geändert werden kann. Beispiele: Vergehen statt Ordnungswidrigkeit und damit Eintragung in das Bundeszentralregister (Rz. 1126 ff.); zusätzliche Verurteilung wegen Unfallflucht bei Tateinheit mit der Gefahr eines Verlustes des Versicherungsschutzes bei Verkehrsdelikten; zusätzliche Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung mit der Folge einer Schadensersatzpflicht (vgl. hierzu auch Rz. 896). 822
Der Verteidiger sollte den Mandanten nicht zu einer bestimmten Entscheidung drängen. Erweist sie sich später als falsch, z.B. bei Erfolglosigkeit des Rechtsmittels, so hat der Mandant meist vergessen, dass er auf die Bedenken aufmerksam gemacht worden ist (Rz. 896). Er lastet den Misserfolg häufig ausschließlich seinem Verteidiger an. Der Konflikt ist nicht weniger groß, falls der Verteidiger pflichtgemäß von einem Rechtsmittel abrät, obwohl der Mandant darauf besteht. In diesen Fällen sollte man die Empfehlung nicht scheuen, einen zweiten Verteidiger, z.B. einen in Revisionssachen erfahrenen Kollegen, hinzuzuziehen (Rz. 892) oder das Mandat niederzulegen. Die schriftliche Fixierung der Beratung und Entscheidung über das Rechtsmittel ist dringend zu empfehlen („[…] nach Abwägung aller dieser Argumente haben Sie den Entschluss gefasst, das Rechtsmittel [nicht] durchzuführen“). Keinesfalls darf der Verteidiger etwa aus Verärgerung über die „schiefgegangene“ erste Instanz dazu raten, das Rechtsmittelverfahren um jeden Preis anzustrengen und durchzuführen. Hiermit sind auch die Fälle gemeint, in denen der „Preis“ wörtlich zu nehmen ist, nämlich die Rechtsmittel, die so offenbar aussichtslos sind, dass sich der Verdacht aufdrängt, sie würden nur der (Rechtsschutz-)Gebühren oder des Honorars wegen durchgeführt.
823
In Probleme kann der Verteidiger geraten, wenn ihm angetragen wird, ein Rechtsmittel wegen des damit verbundenen Zeitgewinns durchzuführen. Weiß der Verteidiger, dass der Mandant nur das Ziel anstrebt, sich auf eine gewisse Zeit der Strafverfolgung oder Strafvollstreckung zu entziehen (Rz. 68), so kann er in den Bereich der Strafvereitelung geraten. Diese Gefahr kommt sogar dann in Betracht, wenn das Rechtsmittel nur eingelegt wird, um den Übergang von Untersuchungshaft in Strafhaft hinauszuschieben, weil die prozessuale Form zu einem Zweck benutzt wird, der außerhalb der Verteidigung liegt. Anders sieht es etwa aus, wenn der Aufschub erreicht werden soll, damit der Mandant bei einer bevorstehenden Wahl noch von seinem Wahlrecht Gebrauch machen kann, wofür ein Strafaufschub in der Regel nicht erreichbar sein wird. Auch sonst gibt es objektiv anzuerkennende Umstände, wie z.B. die Abwicklung beruflicher Aufgaben oder eine bevorstehende Amnestie, die es rechtfertigen, den Zeitfaktor Rechtsmittel zu mobilisieren.
504
Allgemeines
Rz. 827
Wenn eine dem Verurteilten günstige Gesetzesänderung oder eine Amnestie bevorsteht, wird im Allgemeinen der Verteidiger das verfahrensverzögernde Rechtsmittel verantworten können1. Das Gleiche gilt, wenn mit der Rechtskraft besonders einschneidende Folgen einzutreten drohen, z.B. bei Beamten, die kraft Gesetzes alle erworbenen Rechte verlieren, oder im Falle einer bevorstehenden Prüfung, zu der Vorbestrafte nicht zugelassen werden. Die Durchführung des Rechtsmittelverfahrens hängt weiter davon ab, ob 824 noch andere Möglichkeiten bestehen, die nachteiligen Folgen einer Entscheidung zu vermindern. Darüber ist der Mandant aufzuklären, damit er sich sachgerecht entschließen kann. Hierzu gehören der Strafaufschub (§§ 455, 456 StPO), die nachträgliche Gesamtstrafenbildung (§ 460 StPO), die bedingte Entlassung aus der Strafhaft (§§ 57–58 StGB mit § 454 StPO), die Ratenzahlung bei Geldstrafen (§ 42 StGB), die vorzeitige Aufhebung der Fahrerlaubnisentziehung (§ 69a Abs. 7 StGB) und der Gnadenerweis (Rz. 1134). Bereits bei der Rechtsmittelberatung ist ein Teil der Aufgaben vorwegzunehmen, die dem Verteidiger im Vollstreckungsverfahren übertragen werden (Rz. 1116 ff.). c) Rechtsmittelverzicht Will der Mandant von einem Rechtsmittel absehen, so ist es unter Um- 825 ständen geboten, ausdrücklich darauf zu verzichten (§ 302 StPO). Das kann vor und nach Ablauf der Rechtsmittelfrist zweckmäßig sein, etwa bei einem günstigen Urteil, um den Staatsanwalt zu veranlassen, ebenfalls auf Rechtsmittel zu verzichten, oder bei Verhängung eines Fahrverbots, um den Führerschein sofort hinterlegen zu können. Im Übrigen ist zu beachten, dass im Falle einer dem Urteil vorausgegangenen Verständigung (§ 257c StPO) ein Rechtsmittelverzicht unzulässig ist (§ 302 Abs. 1 S. 2 StPO). d) Einlegung des Rechtsmittels Die genaue und richtige Bezeichnung eines Rechtsmittels sollte selbst- 826 verständlich sein. Ein Irrtum ist zwar unschädlich (§ 300 StPO), die Falschbezeichnung führt aber zu vermeidbaren Auseinandersetzungen über die Zulässigkeit des Rechtsmittels. Vor allem hat der Verteidiger die Rechtsmittelfrist für sofortige Be- 827 schwerde (§ 311 StPO), Berufung (§ 314 StPO) und Revision (§ 341 StPO) einzuhalten. Es ist dringend zu empfehlen, sofort nach Verkündung einer dem Mandanten ungünstigen Entscheidung die Rechtsmittelfrist im Fristenkalender selbst zu notieren oder durch zuverlässige Mitarbeiter eintragen oder elektronisch sichern zu lassen. Das ist auch erforderlich, falls anstelle der Verkündung die Entscheidung schriftlich bekanntzumachen 1 Vgl. hierzu Dahs, Zur Vorauswirkung von Rechtsreformen, ZRP 1970, 3.
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Rz. 828
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
ist, z.B. das in Abwesenheit des Angeklagten verkündete Urteil (§ 232 Abs. 4 StPO) und die nicht verkündeten Beschlüsse, die mit der sofortigen Beschwerde anzufechten sind. Die Bekanntmachung erfolgt durch Zustellung (§ 35 Abs. 2 S. 1 StPO), und zwar einschließlich der Rechtsmittelbelehrung (§ 35a StPO; Rz. 774). Sie hat entweder an den Verteidiger zu geschehen, wenn sich eine Vollmacht bei den Akten befindet, oder an den Mandanten. Derjenige, dem nicht förmlich zugestellt wird, erhält eine Abschrift (§ 145a StPO). Maßgebend ist nicht der Zugang der Abschrift, sondern die Zustellung1. Es kommt auf die zuerst bewirkte Zustellung an, wenn es sich um eine Doppelzustellung an denselben Empfänger handelt (§ 37 Abs. 2 StPO)2. Erfolgt die Zustellung an mehrere Empfangsberechtigte, z.B. Angeklagten und Verteidiger, so ist der Zeitpunkt der letzten Zustellung maßgebend (§ 37 Abs. 2 StPO). Im Übrigen richten sich die Förmlichkeiten der Zustellung nach den Vorschriften der ZPO (§ 37 Abs. 1 StPO). 828
Man darf nicht darauf abstellen, bei Fristversäumnis Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erreichen (Rz. 1079 ff.). Dieser Weg ist schon wegen eines möglichen Mitverschuldens des Klienten unsicher3 (Rz. 1081). Außerdem wird der Mandant den Fehler immer übelnehmen, zumal Zweifel über die fristgerechte Einlegung des Rechtsmittels zu seinen Lasten gehen. Es soll nicht der Grundsatz gelten „in dubio pro reo“, sondern im Zweifel zugunsten der Rechtskraft4. Da es sich in jedem Falle um die kurze Frist von einer Woche handelt, ist eine genaue Fristkontrolle notwendig. Hierzu ist es unerlässlich, die Fristberechnung zu beherrschen (§ 43 StPO). Das gilt insbesondere, wenn das Rechtsmittel erst im letzten Augenblick eingelegt werden soll.
829
Der Verteidiger wird die Rechtsmittelfrist ausnutzen, falls durch sofortige Anfechtung das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft veranlasst würde (Rz. 821). In diesen Fällen ist es am besten, wenn die Rechtsmittelschrift spät am Tag des Fristablaufs bei Gericht eingeht. Der ortsansässige Verteidiger kann den Schriftsatz durch Boten im letzten Moment überbringen oder gar bis Mitternacht in den Nachtbriefkasten der zuständigen Justizverwaltung stecken lassen. Der auswärtige Verteidiger muss vorsichtiger sein und postalische Verzögerungen einkalkulieren. Auch die Übersendung durch einen Kurierdienst5 kann sich verzögern. Notfalls ist ein ortsansässiger Kollege telefonisch mit der Rechtsmitteleinlegung zu beauftragen. Probleme können entstehen, wenn die Rechtsmittelschrift falsch adressiert ist. Hier wird die Auffassung vertreten, dass ein unrich-
1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 145a StPO Rz. 13 f. 2 BGH v. 27.10.1977 – 4 StR 326/77, NJW 1978, 60. 3 BGH v. 21.12.1972 – 1 StR 267/72, BGHSt. 25, 89 (92); krit. Dahs, AnwBl. 1973, 331. 4 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 261 StPO Rz. 35 m.N. 5 Insoweit reicht der Nachweis der fristwahrenden Einlieferung bei normalem Betriebsablauf aus, BVerfG v. 23.8.1999 – 1 BvR 1138/97, AnwBl. 2000, 126.
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Allgemeines
Rz. 833
tig adressiertes Schriftstück nicht schon mit seiner Einreichung bei einer gemeinsamen Justiz-Einlaufstelle zugeht, sondern erst, wenn die Einlaufstelle das Schriftstück an die zuständige Stelle weiterleitet1. Vorzugswürdig und in der Praxis am gebräuchlichsten ist die Einlegung 830 des Rechtsmittels per Telefax. Sie ist allgemein als zulässig anerkannt2, wenn das Original handschriftlich unterschrieben ist3; dieses muss aber nicht vorgelegt werden4. Der rechtzeitige Eingang wird durch das vollständige Absendeprotokoll bewiesen5; der „Ok“-Vermerk allein genügt nicht. Fehler (z.B. Papiermangel) am Empfangsgerät sollen nicht zulasten des Absenders gehen6. Eine Rückfrage bei Gericht und die Fertigung eines entsprechenden Aktenvermerks für die Handakte sind in jedem Falle zu empfehlen. Schließlich ist auch die Rechtsmitteleinlegung per Computerfax zuläs- 831 sig. Entscheidend ist dabei, dass das bei Gericht eingehende Schriftstück nach seinem Inhalt als Rechtsmittel erkennbar ist, wobei es auf die Unterschriftslosigkeit nicht ankommt, wenn der Absender hinreichend zuverlässig zu erkennen ist7. Die Einlegung von Rechtsmitteln durch einfache, nicht signierte E-Mail ist nicht zulässig8. Sie könnte zwar als Fortentwicklung der Übermittlungstechnik in Betracht kommen, aber der Verteidiger sollte diese Form besser nicht riskieren. Die telefonische Einlegung eines Rechtsmittels ist unzulässig9.
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Diese Schwierigkeiten vermeidet der Verteidiger, wenn er das Rechtsmit- 833 tel alsbald einlegt. Dabei kann er auf eine Postlaufzeit von zwei Tagen
1 BGH v. 13.10.1982 – VIb ZB 154/82, NJW 1983, 123; BayObLG v. 27.11.1974 – 5 St 97/74, JR 1976, 26 m. Anm. Küper; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 42 StPO Rz. 17 m.N. 2 BVerfG v. 1.8.1996 – 1 BvR 121/95, NJW 1996, 2857; BAG v. 24.9.1986 – 7 AZR 669/84, NJW 1987, 341; OLG Düsseldorf v. 20.10.1964 – 1 Ws 773/94, NJW 1995, 671; OLG Düsseldorf v. 7.3.1995 – 3 Ws 106/95, 3 Ws 107/95, NJW 1995, 2177. 3 OLG Hamburg v. 28.9.1989 – 1 Ss 132/89 (49) 51/89, NJW 1989, 3167; BGH v. 18.7.1989 – 4 StR 348/89, wistra 1989, 313. 4 OLG Frankfurt v. 31.7.2001 – 3 Ws 741/01, NStZ-RR 2001, 375. 5 KG v. 1.11.2005 – 2 Ss 194/05 – 3 Ws (B) 490/05, 2 Ss 194/05, 3 Ws (B) 490/05, NStZ-RR 2007, 24; OLG Düsseldorf, VRS 1989, 214; OLG Düsseldorf v. 13.3.1995 – 1 Ws 204 und 228/95, NJW 1995, 2303; Meyer-Goßner in MeyerGoßner/Schmitt, Einl. StPO Rz. 139a. 6 BVerfG v. 1.8.1996 – 1 BvR 121/95, NJW 1996, 2857. 7 GmS-OGB v. 5.4.2000 – GmS-OGB 1/98, NJW 2000, 2340; OLG München v. 11.9.2003 – 2 Ws 880/03, StraFo 2003, 429. 8 OLG Oldenburg v. 14.8.2008 – 1 Ws 465/08, NJW 2009, 536; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. StPO Rz. 139a. 9 BGH v. 26.3.1981 – 1 StR 206/80, BGHSt. 30, 64; BGH v. 26.3.1981 – 1 StR 206/80, NJW 1981, 1627; anders für Einspruch im OWi-Verfahren BGH v. 20.12.1979 – 1 StR 164/79, BGHSt. 29, 173; vgl. i.Ü. Kuckein in KK, § 341 StPO Rz. 12 m.N.
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Rz. 834
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
(außerhalb des Wochenendes) in aller Regel vertrauen1. Der sichere Weg empfiehlt sich vor allem bei der sog. vorsorglichen Rechtsmitteleinlegung. So genannt deshalb, weil in der Rechtsmittelschrift dieser oder ein ähnlicher Ausdruck zu vermeiden ist, da die Rechtsmitteleinlegung bedingungsfeindlich ist2. Das Wort „vorsorglich“ kann Zweifel hervorrufen und das Rechtsmittel unzulässig machen. Deshalb darf in einer staatsanwaltschaftlichen Rechtsmittelschrift nicht zum Ausdruck kommen, das Rechtsmittel werde nur vorsorglich eingelegt (Nr. 148 Abs. 2 RiStBV). Der Sache nach erweist sich die vorsorgliche Rechtsmitteleinlegung oft als notwendig, um die schriftlichen Gründe der Entscheidung abzuwarten (Rz. 772, 774) und danach die Rechtsmittelaussichten während der Begründungsfrist sorgfältig zu prüfen. Meist ist hierzu auch noch Akteneinsicht erforderlich, z.B. für die Revisionsbegründung zur Überprüfung des Hauptverhandlungsprotokolls (Rz. 914 f.). In diesen Fällen kann die endgültige Entschließung regelmäßig nicht innerhalb der Wochenfrist getroffen werden. Dazu ist insbesondere der Verteidiger nicht in der Lage, der erst für das Rechtsmittelverfahren beauftragt wird. 834
Freilich dürfen die Nachteile nicht vergessen werden, die mit der vorsorglichen, besonders der unverzüglichen Rechtsmitteleinlegung verbunden sein können. Sie kann das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft erst hervorrufen. Die Rechtskraft wird notwendigerweise hinausgeschoben. Zwar wird die nach der Urteilsverkündung erlittene Untersuchungshaft angerechnet3, jedoch sind die Kosten einer nur vorsorglichen Anfechtung zu bedenken. Wird das Rechtsmittel später zurückgenommen, so hat der Mandant auf jeden Fall die Kosten zu tragen (§ 473 Abs. 1 StPO). Hier wie überall ist zu beachten, dass ein Verschulden des Verteidigers sich nicht zum Nachteil des Mandanten auswirkt, wenn diesen kein Mitverschulden trifft (§ 44 StPO; Rz. 1079, 1081). e) Zurücknahme des Rechtsmittels
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Zur Rechtsmittelrücknahme bedarf der Verteidiger einer ausdrücklichen Ermächtigung (§ 302 Abs. 2 StPO). Sie ist im Allgemeinen in der Verteidigervollmacht enthalten, in der sie auch im Voraus wirksam erteilt werden kann4. Die Vorlage einer schriftlichen Vollmacht ist nicht notwendig, jedoch stets zweckmäßig. Nr. 152 Abs. 1 RiStBV schreibt dem Staatsanwalt vor, den Nachweis der Ermächtigung zu prüfen und das Ergebnis aktenkundig zu machen. Freilich kann der Mandant den Verteidi-
1 BGH v. 14.9.1993 – 5 StR 567/93, GA 1994, 75; i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 44 StPO Rz. 16 m.N. 2 BGH v. 12.11.1953 – 3 StR 435/53, BGHSt. 5, 183, Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. StPO Rz. 118 u. Vor § 296 StPO Rz. 5. 3 BGH v. 16.12.1988 – 4 StR 563/88, StV 1989, 152. 4 OLG Neustadt v. 23.10.162 – Ws 197/62, NJW 1963, 263 m. Anm. Pusinelli, NJW 1963, 551 u. Anm. Schaper, NJW 1963, 1120.
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Allgemeines
Rz. 838
ger auch mündlich wirksam zur Rücknahme eines Rechtsmittels ermächtigen. In diesem Falle genügt unter Umständen die Erklärung des Verteidigers gegenüber dem Gericht, er sei zur Rücknahme ermächtigt1. Fatal kann die Situation für den Verteidiger werden, wenn der Mandant 836 die Ermächtigung zur Rücknahme widerruft. Das ist gegenüber dem Verteidiger und gegenüber dem Gericht zulässig. Hier kommt es auf den Zugang des Widerrufs an. Erfahren Verteidiger oder Gericht vor Eingang der Rechtsmittelrücknahme von dem Widerruf, so gilt das Rechtsmittel nicht als zurückgenommen2. Da der Mandant die Ermächtigung dem Verteidiger gegenüber auch mündlich oder fernmündlich wirksam widerrufen kann3, ist es erforderlich, hierüber unverzüglich eine Aktennotiz anzufertigen. Ebenso unverzüglich ist das Gericht über den Sachverhalt mündlich, fernmündlich, per Telefax oder Schriftsatz zu unterrichten und soweit möglich der Schriftsatz mit der Rechtsmittelrücknahme anzuhalten oder „zurückzurufen“. Das kann im Einzelfall schwierig sein. Der Verteidiger muss aber sofort handeln, denn Unklarheiten gehen zulasten des Mandanten4. Ist nicht festzustellen, ob die Befugnis zur Rechtsmittelrücknahme vor deren Eingang bei Gericht widerrufen worden ist, so bleibt es bei der Rücknahme5. Dasselbe gilt für den vom Verteidiger erklärten Rechtsmittelverzicht, falls das Rechtsmittel des Angeklagten vor dem Verzicht bei dem Gericht eingeht. Die Ermächtigung zum Verzicht ist dadurch widerrufen; der Verzicht wird gegenstandslos6. Wie bei der Beratung über die Anfechtung einer Entscheidung (Rz. 820 ff.) 837 ist der Mandant umfassend über die Zweckmäßigkeit der Rücknahme aufzuklären, eine oft kaum lösbare Aufgabe. Insbesondere muss auch ggf. wiederholt auf die strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Folgen des Urteils hingewiesen werden, z.B. beamtenrechtliche, berufsrechtliche, gewerberechtliche und versorgungsrechtliche Konsequenzen (Rz. 6, 179, 1075). Bei vielen Mandanten ruft das einmal eingelegte Rechtsmittel den psychologisch verständlichen Effekt hervor, nun solle die Sache auch „durchgepaukt“ werden. Bei der Beratung ist der Mandant auf die Vorteile hinzuweisen, die mit der Rechtsmittelrücknahme verbunden sind und den Vorteilen des Rechtsmittelverzichts entsprechen (§ 302 StPO; Rz. 774, 825). Auch ist gerade in Zweifelsfällen der Zeitpunkt der Rechtsmittelrück- 838 nahme genau zu überlegen. Mit der Rücknahme einer Berufung und ei-
1 BGH v. 9.10.1989 – 2 StR 352/89, BGHSt. 36, 259 f.; BGH v. 12.7.2000 – 3 StR 257/00, NStZ 2001, 104; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 302 StPO Rz. 33. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 302 StPO Rz. 35. 3 BGH v. 3.5.1957 – 5 StR 52/57, BGHSt. 10, 245. 4 BGH bei Kusch, NStZ 1997, 28. 5 BGH bei Kusch, NStZ 1997, 28. 6 BGH bei Kusch, NStZ 1997, 28.
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Rz. 839
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
ner Revision kann man ggf. bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung warten, d.h. bis zum förmlichen Aufruf der Sache (§ 303 mit §§ 324, 351 und 243 Abs. 1 S. 1 StPO). Will der Verteidiger diese Möglichkeit offenhalten, so darf er die Kostenfolgen nicht übersehen. Die etwa zur Berufungsverhandlung geladenen Zeugen und Sachverständigen kosten den Mandanten Geld, wenn die Berufung erst im letzten Moment zurückgenommen wird. Insbesondere darf der Verteidiger nicht den Eindruck aufkommen lassen, er habe die Rechtsmittelrücknahme aus Honorargründen hinausgeschoben. Das ist die eine Seite. Anderseits kann man häufig erst kurz vor dem Aufruf zur Rechtsmittelverhandlung mit dem Vorsitzenden und dem Staatsanwalt sprechen. Manchmal erfährt man die Ansicht des Gerichts sogar erst im Gerichtssaal, also nach Aufruf der Sache. Etwa durch die richterliche Frage, ob denn das Rechtsmittel durchgeführt oder – was häufig der Fall ist – nicht wenigstens auf bestimmte Punkte beschränkt werden soll (Rz. 866 ff.). Dieser in Anwesenheit aller Prozessbeteiligten gestellten Frage muss der Verteidiger mit Ruhe begegnen. Sie ist zwar geeignet, ihn bloßzustellen, falls der Vorsitzende das Für und Wider des Rechtsmittels nicht sachlich gegeneinander abwägt, sondern in mehr oder minder aggressiver Form auf die Rücknahme drängt (was nicht sogleich ein Ablehnungsgesuch rechtfertigen soll). In diesen Fällen ist es sinnvoll, sachlich, aber bestimmt zu antworten, die Frage sei geprüft, das Verfahren solle durchgeführt werden. Sind die Erfolgsaussichten gering, so kann der Verteidiger um eine Unterbrechung bitten und sich nochmals mit dem Mandanten besprechen. Allerdings entsteht dann leicht der Verdacht, der Verteidiger selbst halte von dem Rechtsmittel nichts, er wolle versuchen, den Mandanten zur Rücknahme zu bewegen. Eine nochmalige Besprechung mit dem Mandanten ist daher meist nicht angebracht. Verteidiger und Mandant sollten sich bereits vorher über die Durchführung des Rechtsmittels endgültig schlüssig geworden sein. Ggf. kann man die Frage auch in einem offenen Rechtsgespräch erörtern und eine Zwischenberatung des Gerichts erbitten. Nach Beginn der Verhandlung ist außerdem die Zustimmung des Staatsanwalts zur Rechtsmittelrücknahme erforderlich (§ 303 StPO). Im Allgemeinen wird sie zwar zu erlangen sein. Um die eigene Entschließungsfreiheit zu wahren, sollte man sich jedoch möglichst von der Zustimmung unabhängig machen. 839
Die Rechtsmittelrücknahme kann auch im Verlauf einer Rechtsmittelverhandlung notwendig werden, etwa bei ungünstigem Ergebnis der Beweisaufnahme in der Berufungsverhandlung, z.B. aufgrund neuer Zeugenaussagen. Statthaft ist die Rücknahme noch bis zum Beginn der Urteilsverkündung1. Dann muss der Verteidiger mit dem Staatsanwalt wegen der Zustimmung (§ 303 StPO) sprechen. Die Zustimmung ist auch erforderlich, wenn die Berufungsverhandlung über die Fristen des
1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 302 StPO Rz. 6.
510
Allgemeines
Rz. 841
§ 229 StPO hinaus unterbrochen1 oder das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache aus der Revisionsinstanz zurückverwiesen worden ist2. Viele Klienten scheuen die Rücknahme eines Rechtsmittels, weil sie be- 840 fürchten, dass darin ein Schuldeingeständnis gesehen wird. Hier kann der Verteidiger mit einer mündlichen oder schriftlichen Erklärung helfen, in der etwas über die Motive der Rücknahme gesagt wird, z.B. wenn der Angeklagte den Belastungen des weiteren Verfahrens gesundheitlich nicht gewachsen ist. Unter Umständen reicht auch der Hinweis, die Rücknahme des Rechtsmittels bedeute kein Schuldeingeständnis, sondern erfolge aus Gründen, die außerhalb des Verfahrens liegen. Zwar haben solche Erklärungen prozessual keine Bedeutung; sie erleichtern dem Mandanten aber die Entscheidung, weil er das Gesicht wahren kann. Darüber hinaus sind sie auch nicht ohne Nutzen, wenn die Akten von anderen Gerichten, z.B. in Disziplinar- oder Berufsgerichtsverfahren, beigezogen werden. f) Beiderseitige Rechtsmittel Haben Staatsanwaltschaft und Verteidigung eine Entscheidung angefoch- 841 ten, so muss der Verteidiger mit der „einseitigen“ Rücknahme (Rz. 835 ff.) und Beschränkung (Rz. 866 ff.) des Rechtsmittels vorsichtig sein. Auch ohne eigenes Rechtsmittel kann zwar unter Umständen in der nächsten Instanz eine dem Mandanten günstigere Entscheidung erreicht werden. Jedes Rechtsmittel des Staatsanwalts bewirkt, dass die Entscheidung auch zugunsten des Angeklagten abgeändert werden kann (§ 301 StPO). Der Verteidiger jedoch, der sich darauf verlässt, macht sich von den Entschließungen der Staatsanwaltschaft abhängig. Nimmt sie z.B. ihr Rechtsmittel zurück, kann der Verteidiger ohne eigenes Rechtsmittel nichts mehr ausrichten. Genauso verhält es sich, falls die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel beschränkt, etwa ausdrücklich erklärt, sie strebe mit einer Berufung lediglich eine härtere Strafe an. Dann kann der Angeklagte, der nicht selbst ein Rechtsmittel eingelegt hat, nicht freigesprochen werden. Es kann lediglich eine mildere Strafe herauskommen3. Dabei ist auch an den Fall zu denken, dass der Verteidiger Berufung, die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt hat (§ 335 Abs. 3 StPO; Rz. 863). Solange der Verteidiger die Berufung als das weitergehende Rechtsmittel aufrechterhält, ist die Revision der Staatsanwaltschaft als Berufung zu behandeln. Auf diese Weise kann die zweite Tatsacheninstanz erzwungen werden. In aller Regel ist daher die Zurücknahme oder die Beschränkung des Rechtsmittels nicht ratsam, solange die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel aufrechterhält.
1 BGH v. 16.6.1970 – 5 SStR 602/69, BGHSt. 23, 277. 2 BayObLG v. 3.7.1973 – RReg. 2 St 61/73, NJW 1973, 2308; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 303 StPO Rz. 2. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 301 StPO Rz. 1.
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Rz. 842
842
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
Nun kann aber der Mandant ein erhebliches Interesse daran haben, es bei dem ursprünglich angefochtenen Urteil zu belassen. Hierzu gibt es einen praktischen Weg, beide Rechtsmittel aus der Welt zu schaffen. Zu diesem Zweck ist es notwendig, mit dem Sachbearbeiter oder notfalls dem Abteilungsleiter der Staatsanwaltschaft zu sprechen um festzustellen, ob sie von der Durchführung ihres Rechtsmittels absieht und mit beiderseitiger Rücknahme der Rechtsmittel einverstanden ist. Es kommt immer wieder vor, dass auch Staatsanwälte unter dem Eindruck des Urteils zunächst einmal ein Rechtsmittel einlegen und das schriftliche Urteil abwarten (Rz. 772). Sie fühlen sich dann häufig nicht in der Lage, ihr Rechtsmittel zurückzunehmen, solange die Verteidigung an ihrem Rechtsmittel festhält. Häufig erwarten sie auch, dass der Verteidiger sie anspricht, um zu praktischen Lösungen zu kommen. Bevor der Verteidiger mit dem Staatsanwalt spricht, muss er die Aussichten des staatsanwaltschaftlichen Rechtsmittels geprüft haben, und zwar in ähnlicher Weise, wie dies für das eigene Rechtsmittel erforderlich ist. Findet man „schwache“ Stellen, so ist das eine Waffe, die, geschickt eingesetzt, den Staatsanwalt dazu bringen kann, sein Rechtsmittel zurückzunehmen. In geeigneten Fällen kann der Verteidiger auch darauf verweisen, dass die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel zur Nachprüfung des Strafmaßes nur durchführen soll, wenn die verhängte Strafe in einem offenbaren Missverhältnis zur Tat steht (Nr. 147 Abs. 1 RiStBV). Daran anknüpfend kann der Verteidiger vorschlagen, beide Rechtsmittel zurückzunehmen, und sich gewissermaßen mit dem Staatsanwalt „vergleichen“. Es kommt nicht selten vor, dass die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel nur wegen des Rechtsmittels der Verteidigung durchführt und sich erst in oder nach der Hauptverhandlung des Rechtsmittelverfahrens herausstellt, dass der Staatsanwalt in die beiderseitige Rücknahme eingewilligt hätte. Dann ist es meist zu spät. Solche Missverständnisse kann der Verteidiger vermeiden, indem er rechtzeitig mit dem Staatsanwalt spricht. Das setzt gegenseitiges Vertrauen voraus. Beide Gesprächspartner müssen sich darauf verlassen können, dass die Vertraulichkeit gewahrt ist und jeder sein Wort einhält. Will der Verteidiger zunächst nur „vorfühlen“ und anschließend erst mit dem Mandanten die Rücknahme besprechen, so muss er sich dem Staatsanwalt gegenüber die endgültige Entschließung vorbehalten. Überhaupt ist es wichtig, die Rücknahme des eigenen Rechtsmittels nicht von vornherein als sicher hinzustellen. Man würde damit den Mandanten festlegen und die eigene Position schwächen, falls die Staatsanwaltschaft nicht zur Rücknahme des Rechtsmittels zu bewegen ist. Daraus folgt weiter: Solange die Staatsanwaltschaft sich noch nicht entschieden hat, darf der Verteidiger sein Rechtsmittel nicht zurücknehmen. Auch wird man sich beiderseits nicht in jedem Falle auf bloße mündliche Zusagen verlassen wollen. Auch hier bietet sich eine praktische Lösung an: Der Verteidiger übermittelt dem Staatsanwalt seine schriftliche Rücknahmeerklärung gewissermaßen zu treuen Händen mit der Ermächtigung, sie an das Gericht weiterzuleiten, sofern gleichzeitig die Staatsanwaltschaft zurücknimmt. 512
Der Verteidiger im Beschwerdeverfahren
Rz. 844
g) Rechtsmittel des Staatsanwalts zugunsten des Angeklagten Aus Rechtsmitteln der Staatsanwaltschaft zugunsten des Mandanten 843 (§ 296 Abs. 2 StPO) können Konflikte entstehen, die der Staatsanwalt gar nicht zu erkennen vermag. Hat z.B. der Verteidiger dem Auftraggeber geraten, aus Gründen der Zweckmäßigkeit beispielsweise dem alsbaldigen Haftantritt etc. von einem Rechtsmittel abzusehen (Rz. 820 ff.), so führt die staatsanwaltschaftliche Anfechtung vielleicht gerade zu dem Ergebnis, das vermieden werden sollte. Der Mandant muss sich einer erneuten öffentlichen Verhandlung seiner Sache unterziehen. Er muss Zeit und Kosten einsetzen, die er gerade nicht mehr riskieren kann oder will. In solchen Fällen wird eine Verständigung mit dem Staatsanwalt nicht schwierig sein. Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft zugunsten des Angeklagten sind ohnehin kaum anzutreffen. 2. Der Verteidiger im Beschwerdeverfahren Literatur: Gollwitzer, Zur Statthaftigkeit der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss, in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln, JR 1994, 342; Hamm in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 568 ff.; Krumm, Terminierung, Verhinderung und Terminsverlegung, StV 2012, 177 ff.; Letzgus, Beschwerde gegen Nichtzulassung der Nebenklage bei fahrlässiger Körperverletzung, NStZ 1989, 352; Plähn, Zur Zulässigkeit und Begründetheit einer Beschwerde gegen die Anberaumung eines Hauptverhandlungstermins gegen den Willen des Verteidigers, StV 1991, 152.
a) Arten und Zulässigkeit der Beschwerde Die einfache Beschwerde (§ 304 StPO) ist statthaft gegen alle richterli- 844 chen Beschlüsse im ersten Rechtszug und im Berufungsverfahren sowie gegen Verfügungen des Vorsitzenden, des Amtsrichters und des beauftragten oder ersuchten Richters. Ausgeschlossen ist die Beschwerde gegen Beschlüsse und Verfügungen des BGH und der Oberlandesgerichte mit Ausnahme bestimmter wichtiger Beschlüsse in Verfahren, in denen die Oberlandesgerichte als erste Instanz zuständig sind (§ 304 Abs. 4 StPO). Außerdem ist sie versagt gegen Entscheidungen, die bestimmte Verfahrensvorgänge betreffen1. So ist die Beschwerde nicht statthaft gegen Beschlüsse, die das Verfahren wegen Geringfügigkeit einstellen (§ 153 Abs. 2, § 153a Abs. 2 StPO). Auch den Eröffnungsbeschluss kann der Angeklagte nicht anfechten (§ 210 StPO). Zu den Ausschlusstatbeständen gehört auch die fehlende Beschwer (Rz. 818). Praktisch spielt sie im Bereich der Beschwerde ihre Hauptrolle. Die Beschwerde ist unzulässig oder wird gegenstandslos, wenn das Verfahren fortgeschritten und
1 Zusammenstellung bei Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 304 StPO Rz. 5.
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Rz. 845
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
über die Beschwerdesituation hinweggegangen ist, also im Fall der prozessualen Überholung1 (Rz. 819). 845
Die für die Praxis wichtigste Ausnahme enthält § 305 S. 1 StPO, nämlich den Ausschluss der Beschwerde gegen Entscheidungen des erkennenden Richters. Es erleichtert das Verständnis, wenn man sich den Zweck der Vorschrift vor Augen hält: Jede Entscheidung, die bei der Urteilsfindung ohnehin noch einmal überprüft werden muss, soll der selbständigen Anfechtung entzogen sein, z.B. die Beschlüsse zur Beweisaufnahme2. Daraus erklärt sich auch, dass – Ausnahme von der Ausnahme – gegen Haft-, Beschlagnahme- und ähnliche Entscheidungen Beschwerde gegeben ist, selbst wenn sie das erkennende Gericht erlässt (§ 305 S. 2 StPO). Denn diese Entscheidungen werden nicht überprüft, falls das Urteil angefochten wird3. Es geht hier um die Frage des sachlichen Zusammenhangs mit der Urteilsfindung. Es sind also die Entscheidungen nicht beschwerdefähig, die das Urteil vorbereiten. Der Verteidiger sollte möglichst feststellen, welche Ansicht das zuständige Oberlandesgericht und bei Beschwerden gegen amtsrichterliche Entscheidungen das zuständige Landgericht vertritt. Manchmal wird allein aus diesem Grund eine Besprechung mit dem Beschwerderichter unerlässlich sein, um nutzlose Beschwerden zu vermeiden. Meist halten sich die Gerichte an ihre sog. feste Rechtsprechung, die gar nicht so selten schon derjenigen im Nachbarbezirk widerspricht. Auch deshalb können hier nur einige Beschwerdetatbestände genannt werden.
846
Die Beschwerde ist statthaft gegen die Ablehnung der Verteidigerbestellung4 (Rz. 145 ff.) oder einer Terminverlegung5. Besonders geregelt ist die Anfechtung im Falle der Richterablehnung (Rz. 198 ff.). Entscheidungen über die Sachverständigenablehnung sind mit der einfachen Beschwerde anfechtbar, sofern sie außerhalb der Hauptverhandlung ergehen, sonst nur gemeinsam mit dem Urteil6 (Rz. 229 ff.). Auch die Verweigerung der Akteneinsicht durch den Richter kann mit der Beschwerde angefochten werden, wenn sie vor der Hauptverhandlung geschieht7 (Rz. 269). An die1 Meyer/Rettenmaier, Die Praxis des nachträglichen Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen – Rückkehr der strafprozessualen Überholung?, NJW 2009, 1238 ff. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 305 StPO Rz. 1 u. 4. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 305 StPO Rz. 6. 4 OLG Düsseldorf v. 30.8.1999 – 1 Ws 411/99, StV 2001, 609; OLG Köln v. 21.8.1990 – 2 Ws 401/90, NStZ 1991, 248 m. Anm. Wasserburg; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 141 StPO Rz. 10. 5 OLG Bamberg v. 4.3.2011 – 2 Ss OWi 209/11, 2 Ss OWi 209/2011, StraFo 2011, 232; OLG Frankfurt v. 24.10.2000 – 3 Ws 1101/00, StV 2001, 157; Krumm, StV 2012, 177; a.A. OLG Hamm v. 22.9.1988 – 4 Ws 436/88, StV 1990, 56. 6 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 74 StPO Rz. 20; OLG Celle v. 12.6.1967 – 2 Ss 160/67, NJW 1967, 2275; OLG Düsseldorf v. 18.10.1966 – 3 Ws 153/66, NJW 1967, 692. 7 OLG Hamm v. 13.10.1967 – 1 Vas 92/97, NJW 1968, 169; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 41.
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Der Verteidiger im Beschwerdeverfahren
Rz. 847
sen Beispielen wird ein Grundsatz deutlich, der leicht übersehen wird: Der Beginn der Hauptverhandlung schneidet das Beschwerderecht in vielen Fällen ab. Die Zweispurigkeit der Anfechtung soll möglichst vermieden werden. Hiervon macht die Rechtsprechung allerdings wichtige Ausnahmen. So kann der Aussetzungsbeschluss des erkennenden Richters nach fast einhelliger Ansicht mit der einfachen Beschwerde angefochten werden1. Unabhängig vom Beginn der Hauptverhandlung ist die Beschwerde in Haft- und Unterbringungssachen (Rz. 359, 381) statthaft. In diesen Fällen ist auch allein die weitere Beschwerde zulässig, die sonst versagt ist (§ 310 StPO). Praktisch besonders bedeutsam ist die Anfechtung richterlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen (Rz. 387, 391) und die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (Rz. 407). Unterschiedlich beantwortet wird, ob gegen die Zulassung einer Nebenklage Beschwerde gegeben ist (Rz. 1062 ff.). Heute wird die Beschwerdeberechtigung des Staatsanwalts und des Angeklagten allgemein bejaht2. Schwierigkeiten bietet die Anfechtung von Beschlüssen, die eine bean- 847 tragte Protokollberichtigung ablehnen. Sie steht in engem Zusammenhang mit der Protokollrüge, die für sich allein die Revision nicht zu rechtfertigen vermag (Rz. 917). Der Verteidiger muss hierzu beachten: Grundsätzlich kann Beschwerde eingelegt werden, falls das Gericht die Berichtigung ablehnt3. Jedoch ist eine inhaltliche Änderung des Protokolls mit der Beschwerde kaum erreichbar. Das Beschwerdegericht kann nämlich nicht anstelle der Urkundspersonen (Vorsitzender und Protokollführer) darüber befinden, ob ein nicht beurkundeter Vorgang stattgefunden oder ein protokollierter Vorgang nicht oder nicht in der aufgenommenen Weise geschehen ist. Es wird immer wieder verkannt, dass die Beschwerde nur aussichtsreich ist, falls die Berichtigung rechtsirrtümlich abgelehnt wird. Beispiel: Der Vorsitzende lehnt die Berichtigung ab, ohne den Protokollführer zu hören4; er ist der Meinung, der behauptete Vorgang sei nicht protokollpflichtig gewesen5. Der Verteidiger darf sich daher nicht auf das Beschwerdeverfahren verlassen. Er muss den Berichtigungsantrag schon so sorgfältig und überzeugend begründen, dass Richter und Protokollführer den Fehler einsehen. Das ist leichter gesagt als getan. Es ist eine schwierige Aufgabe, die Urkundspersonen von der Unrichtigkeit ihrer Niederschrift zu überzeugen, sei es, dass sie sich an den Vorgang nicht mehr erinnern, sei es, dass sie nicht willens sind, einen Fehler freimütig einzuräumen. 1 KG v. 9.11.1964 – I Ws 409/64, JR 1966, 230 m. Anm. Kleinknecht; OLG Frankfurt v. 24.1.1966 – 3 Ws 663/65, NJW 1966, 992. 2 KG v. 15.11.1994 – 1 AR 357/92 – 4 Ws 270/94, JR 1995, 259; OLG Düsseldorf v. 20.11.1996 – 1 Ws 999/96, NStZ 1997, 204; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 396 StPO Rz. 19. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 271 StPO Rz. 28 ff. 4 OLG Düsseldorf v. 2.2.1998 – 1 Ws 1013/97 u. 1 Ws 74/98, NStZ 1998, 477. 5 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 271 StPO Rz. 29; KG v. 29.7.1959 – I Ws 241/59, JR 1960, 28 m. Anm. Dünnebier; OLG Schleswig v. 16.10.1958 – 2 Ss 201/58, NJW 1959, 162.
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Rz. 848
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
Die nach eingelegter und begründeter Revision erfolgende Berichtigung des Protokolls (Rz. 919) ist nicht beschwerdefähig, sondern unterliegt nur der Überprüfung durch das Revisionsgericht1. 848
Durch besondere Vorschrift ist die einfache Beschwerde gegen einen Auflagenbeschluss anlässlich der Strafaussetzung zur Bewährung zugelassen, allerdings beschränkt darauf, dass eine Auflage gesetzwidrig ist oder in die Lebensführung des Betroffenen einschneidend und unzumutbar eingreift (§ 305a StPO). Praktische Bedeutung hat diese Beschwerde für den Fall, dass das Urteil, welches die Strafaussetzung bewilligt, nicht angegriffen werden soll oder bereits rechtskräftig geworden ist. Wird das Urteil angefochten, so kann man die fristfreie Beschwerde bis nach der Entscheidung der Rechtsmittelinstanz zurückstellen. Allerdings kann die gleichzeitige Einlegung der Revision gegen das Urteil und der Beschwerde gegen die Auflagen zweckmäßig sein. Bei zulässiger Revision hat das Revisionsgericht auch über die Beschwerde zu befinden (§ 305a Abs. 2 StPO). Der Verteidiger erreicht dadurch, dass die Gesamtentscheidung in einer Hand liegt und das Verfahren beschleunigt wird.
849
Bei der fristgebundenen sofortigen Beschwerde (§ 311 StPO) muss der Verteidiger daran denken, dass sie nur in Betracht kommt, wenn das Gesetz sie ausdrücklich zulässt. Das ist ohne Schwierigkeiten im Einzelfall festzustellen. b) Zweckmäßigkeit der Beschwerde
850
Bevor eine zulässige und aussichtsreiche Beschwerde eingelegt wird, ist der Mandant über die Zweckmäßigkeit des Rechtsmittels zu beraten. Selbst eine erfolgreiche Beschwerde kann Nachteile mit sich bringen. Im Vordergrund steht der Zeitverlust. Die Beschwerde läuft in vielen Fällen neben dem eigentlichen Verfahren her, etwa die Haftbeschwerde (Rz. 359) und die Beschlagnahmebeschwerde neben dem Ermittlungsverfahren oder dem Hauptverfahren. Die Beschwerde verzögert in aller Regel den Fortgang der Sache. Der Verteidiger muss sorgfältig abwägen, ob die Beschwerde sinnvoll ist. So ist es möglich, Gericht und Staatsanwaltschaft gegenüber zu erklären, die Entscheidung werde nicht angefochten, solange das Verfahren zügig vorangehe. Natürlich versagt dieser Weg, wenn nur die (fristgebundene) sofortige Beschwerde gegeben ist.
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In allen Fällen ist die Überlegung geboten, ob nicht anstelle der förmlichen Beschwerde lediglich eine Gegenvorstellung (Rz. 1099) erhoben wird. Sie ist stets statthaft und kommt vor allem in Betracht, wenn eine Beschwerde unzulässig ist (Rz. 844 f.). Sie zwingt das Gericht zur Überprüfung seiner Entscheidung. Das Verfahren wird nicht so stark verzögert, weil die Akten nicht dem Beschwerdegericht vorgelegt werden müssen. 1 Vgl. nur Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 271 StPO Rz. 26a, b.
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Der Verteidiger im Beschwerdeverfahren
Rz. 855
Darüber hinaus muss der Verteidiger bedenken, dass die Beschwerde im 852 Allgemeinen keine Hemmungsfunktion besitzt. Der Vollzug der angefochtenen Entscheidung wird durch die Beschwerde grundsätzlich nicht gehindert (§ 307 Abs. 1 StPO). So kann eine Durchsuchungsanordnung trotz Beschwerde ausgeführt werden. Nur ausnahmsweise bestimmt das Gesetz die aufschiebende Wirkung der Beschwerde, z.B. bei Unterbringungsbeschlüssen (§ 81 Abs. 4 StPO; Rz. 402 f.). Daher ist in jedem Falle zu prüfen, ob durch die Beschwerdeeinlegung der Vollzug der Entscheidung kraft Gesetzes gehemmt ist. Verneinendenfalls muss der Verteidiger überlegen, ob der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zu stellen ist (§ 307 Abs. 2 StPO), der häufig vergessen wird. Rücksprachen mit dem Gericht sind hier meist notwendig. Dabei können auch die Aussichten der Beschwerde erörtert werden. In vielen Fällen erweist es sich als Nachteil, dass die Beschwerdeent- 853 scheidung ohne mündliche Verhandlung ergeht (§ 309 Abs. 1 StPO). Man kann das Für und Wider mit dem Beschwerdegegner nicht vor dem Gericht erörtern. Es fehlt das Rechtsgespräch, das in der Regel besser geeignet ist, die richtige Entscheidung zu finden als der bloße Austausch von Schriftsätzen. Der Verteidiger kann versuchen, eine mündliche Verhandlung zu erreichen, die dem Beschwerdegericht nicht verboten ist. Mindestens kann er sein Vorbringen mündlich erläutern. c) Einlegung der Beschwerde, Abhilfeverfahren, rechtliches Gehör In aller Regel wird der Verteidiger die Beschwerde bei dem Gericht ein- 854 legen, dessen Entscheidung er anficht (judex a quo; § 306 StPO). Sie kann allerdings auch bei dem Beschwerdegericht erhoben werden. Das hat aber meistens Nachteile und kommt im Allgemeinen nur in Betracht, wenn die Aussetzung der Vollziehung beantragt werden soll (§ 307 Abs. 2 StPO; Rz. 852). Erfahrungsgemäß ist der Richter, dessen Entscheidung angegriffen wird, nur selten bereit, den Vollzug auszusetzen, während sich das Beschwerdegericht durch eine eigene „Vorentscheidung“ nicht gebunden zu fühlen braucht. Auch in diesem Zusammenhang ist an die Verzögerung zu denken, die 855 eintritt, wenn die Beschwerde direkt bei der Beschwerdeinstanz eingeht. Das Beschwerdegericht muss erst die Akten anfordern oder gibt die Beschwerde zunächst überhaupt an die Vorinstanz, damit dort das „Abhilfeverfahren“ durchgeführt wird. Hierzu muss der Verteidiger wissen: Bei der einfachen Beschwerde hat der Erstrichter abzuhelfen, falls er sie für zulässig und begründet hält (§ 306 Abs. 2 StPO). Die Erfahrung lehrt, dass diese Verfahren nicht sehr häufig erfolgreich sind. Das wird begreiflich, wenn man bedenkt, dass der Richter seine eigene Entscheidung widerrufen soll. Diese psychologische Situation muss der Verteidiger berücksichtigen. In manchen Fällen kann er sie überwinden, indem er die Beschwerde mit neuen Tatsachen und Argumenten eingehend begründet und sie
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Rz. 856
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
mit dem Richter erörtert. Überhaupt ist die persönliche Kontaktaufnahme oft angebracht. 856
In vielen Fällen wird der Beschwerdeführer ein Interesse daran haben, dass das Beschwerdegericht kurzfristig mit der Sache befasst wird, sei es, um die Aussetzung der Vollziehung (§ 307 Abs. 2 StPO) zu erreichen oder eine schnelle Sachentscheidung herbeizuführen, um durch Zeitverzögerung drohende Nachteile zu vermeiden. Beschwerden haben aber in vielen Fällen eigentümlicher Weise den Hang, beim Abhilferichter „liegenzubleiben“. Aus diesem Grund empfiehlt sich in solchen Fällen der Hinweis auf § 306 Abs. 2 Halbs. 2 StPO, wonach die Beschwerde bei Nichtabhilfe „sofort, spätestens vor Ablauf von drei Tagen“ dem Beschwerdegericht vorzulegen ist. Diese Frist scheint in der Praxis der Amtsgerichte weitgehend unbekannt zu sein. Der Verteidiger sollte sie daher unter Kontrolle nehmen und ihre Einhaltung, z.B. durch regelmäßige Nachfragen und Mahnungen, durchzusetzen wissen. Es gibt allerdings umfangreiche und schwierige Sachen, in denen man sich durchaus Chancen ausrechnen kann, im Abhilfeverfahren einen Erfolg oder Teilerfolg zu erzielen, wobei die gebotene intensive Befassung mit der Materie innerhalb der gesetzlichen Frist nicht zu leisten ist. Um den Richter davon abzuhalten, statt in die Tiefe der Sache einzusteigen, kurzerhand „der Beschwerde wird nicht abgeholfen“ zu verfügen, kann es sich empfehlen, ausdrücklich auf die Einhaltung der Frist zu verzichten mit dem Hinweis, dadurch solle dem anordnenden Gericht die gebotene intensive Überprüfung der Sache ermöglicht werden.
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In jedem Beschwerdeverfahren hat der Verteidiger besonders auf den Grundsatz des rechtlichen Gehörs zu achten. Er ist verletzt, wenn das Beschwerdegericht die angefochtene Entscheidung zum Nachteil des Beschwerdegegners ändert, ohne dass er Gelegenheit zur Gegenerklärung hatte (§ 308 Abs. 1 StPO). Dies gilt nicht in den praktisch wichtigen Fällen der Untersuchungshaft und anderer Zwangsmaßnahmen, wenn die vorherige Anhörung den Zweck der Anordnung gefährden würde (§ 33 Abs. 4 S. 1 StPO). Abgesehen von diesen Fällen umfasst der Grundsatz die Pflicht des Gerichts, eine angemessene Frist zur Äußerung zu gewähren. Für die Praxis folgt hieraus: Kann der Verteidiger die Beschwerde nicht unverzüglich begründen, so muss er die Gewährung einer Frist für die Beschwerdebegründung beantragen. Zweckmäßig wird es in jedem Falle sein, darzulegen, warum die Frist benötigt wird. Unter Umständen ist der Antrag mit der Bitte um Akteneinsicht zu verbinden (Rz. 260). Das Gericht ist gehalten, auch ohne besonderen Antrag eine angemessene Zeit mit der Entscheidung zu warten1. Bei Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das Beschwerdegericht gilt § 311a StPO.
1 BVerfG v. 25.2.2009 – 2 BvR 2542/08, NJW 2009, 1582 (1583) m.N.; BVerfG v. 25.2.2009 – 2 BvR 2542/08, BVerfGE 24, 23 (25); Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 306 StPO Rz. 5.
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Der Verteidiger im Berufungsverfahren
Rz. 860
Bei der sofortigen Beschwerde und der Beschwerde gegen Ordnungsstraf- 858 beschlüsse ist außerdem die Beschwerdefrist von einer Woche (§ 311 Abs. 2 StPO) einzuhalten. Dabei muss der Verteidiger daran denken, dass beschwerdefähige Beschlüsse oft nicht verkündet werden, sondern durch Zustellung bekanntzumachen sind (§ 35 Abs. 2 S. 1 StPO). Für den Fristbeginn kommt es auf die förmliche Zustellung an (Rz. 827). Das ist bei der Fristenkontrolle zu beachten. Auch hier darf sich der Verteidiger nicht auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verlassen (Rz. 1079 ff.). Bei Versäumung der Beschwerdefrist bewährt es sich, vorweg zu prüfen, ob die Rechtsmittelbelehrung erforderlich und bejahendenfalls richtig erteilt ist (§ 35a StPO). Im Falle der Bekanntmachung durch Zustellung muss die Belehrung schriftlich beigefügt werden1. Fehlt die Belehrung oder ist sie mangelhaft, so ist dies allein Grund zur Wiedereinsetzung2. d) Beschwerdeschrift Wie die Beschwerdeschrift sachlich richtig und zweckmäßig abzufassen 859 ist, hängt von den Besonderheiten des Einzelfalles ab. Allgemeine Vorschriften fehlen. Der Verteidiger sollte sich aber stets den Eindruck vor Augen halten, den die Beschwerdebegründung nach Form und Inhalt auf den Richter macht. Sie sollte einen klaren Antrag und eine auf das Wesentliche konzentrierte Begründung enthalten. Sie muss aus sich selbst heraus verständlich und schlüssig sein. Wird auf andere Aktenbestandteile Bezug genommen, sind diese eindeutig und nachvollziehbar zu zitieren. Es kommt nicht gut an, wenn der Adressat genötigt ist, ständig in Akten und Beiakten zu blättern, um die Beschwerdebegründung nachzuvollziehen. Häufig bietet es sich an, Literatur und Rechtsprechung, auf die ggf. Bezug genommen wird, als Anlage beizufügen. 3. Der Verteidiger im Berufungsverfahren Literatur: Ebert, Annahmeberufung nach Freispruch auf Antrag der Staatsanwaltschaft (§ 313 I 2 StPO), JR 1998, 265; Feuerhelm, Die Annahmeberufung im Strafprozess, StV 1997, 99; Fezer, Zum Verständnis der sog. Annahmeberufung, NStZ 1995, 265; Grossmann, Die Annahmeberufung (§ 313 StPO), 1996; Hartwig, Sprungrevision bei Nichtannahme der Berufung, NStZ 1997, 111; Meyer-Goßner, Annahmeberufung und Sprungrevision, NStZ 1998, 19; Michalke in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 575 ff.; H. Schäfer, Das Berufungsverfahren in Jugendsachen, NStZ 1998, 530; Tolksdorf, Zur Annahmeberufung nach § 313 StPO, FS Salger (1995), S. 393 ff.
a) Zulässigkeit, Aussichten und Zweckmäßigkeit der Berufung Die Berufung eröffnet eine zweite Tatsacheninstanz, sofern das Rechts- 860 mittel zulässig und ordnungsgemäß eingelegt ist. Das Berufungsgericht 1 OLG Hamm v. 11.2.1954 – 1 Ws 81/54, NJW 1954, 812. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 35a StPO Rz. 13 f.
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Rz. 861
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
hat das angegriffene Urteil auf richtige Tatsachenfeststellung und auf richtige Rechtsanwendung zu prüfen. Was dazu in erster Instanz versäumt worden ist, kann in der Berufungsinstanz nachgeholt werden. 861
Hierzu muss der Verteidiger die Bestimmungen über die Zulässigkeit der Berufung kennen. Der Verteidiger muss wissen, dass er Urteile des Schöffengerichts und des Amtsrichters uneingeschränkt nur anfechten kann, wenn mindestens eine Geldstrafe von mehr als 15 Tagessätzen verhängt oder – bei Freispruch – beantragt worden ist (§ 313 StPO). In Fällen geringeren Gewichts ist die Annahme der Berufung (Rz. 872) erforderlich. Der Verteidiger sollte also darlegen, dass die Berufung nicht „offensichtlich unbegründet“ ist (§ 313 Abs. 2 StPO). Insoweit kann vor allem auf neue Tatsachen und Beweismittel verwiesen oder die angefochtene Entscheidung als lückenhaft oder in der Beweiswürdigung falsch angegriffen werden. Die vorgeschaltete Annahmeentscheidung führt in der Praxis dazu, dass die in § 317 StPO an sich nur fakultativ („kann“) vorgesehene Begründung des Rechtsmittels (Rz. 873) zu einem „Muss“ werden kann. Dabei sollte auch die Wochenfrist im Auge behalten werden, weil man nicht voraussehen kann, wie schnell das Berufungsgericht über die Annahme entscheidet; ggf. ist eine angemessene Frist zu beantragen.
862
Neben der Berufung ist an die Möglichkeit der Sprungrevision zu denken, die zulässig ist gegen alle mit der Berufung anfechtbaren Urteile (§ 335 Abs. 1 StPO). Sie wird nur in den (seltenen) Fällen in Betracht kommen, in denen es wirklich einmal nur um Rechtsfragen geht, z.B. günstigere Tatsachenfeststellungen nach Lage der Sache nicht zu erwarten sind. Zu dem rechtlich schwierigen Verhältnis zwischen Annahmeberufung und Sprungrevision ist in jedem Falle die eingehende Prüfung von Rechtsprechung und Schrifttum erforderlich1.
863
Manchmal ist es schwierig, schon bei Anfechtung eines Urteils zu entscheiden, welches Rechtsmittel den besseren Erfolg verspricht. Das hängt im Wesentlichen von den schriftlichen Urteilsgründen ab, die innerhalb der Rechtsmittelfrist häufig noch nicht vorliegen. Der sichere Weg ist hier die Berufung2. Dabei ist es falsch, das Rechtsmittel ausdrücklich als Revision zu bezeichnen, weil dann der Übergang zur Berufung als unzulässig angesehen werden kann3. Die Falschbezeichnung schadet lediglich dann nichts, wenn der Verteidiger Berufung einlegt, obwohl nur Revision zulässig ist (§ 300 StPO; Rz. 826). In diesen Fällen ist die Revision fristgemäß zu begründen (Rz. 905 ff.). Man kann sich die Wahl des Rechtsmittels zunächst auch durch unbestimmte Anfechtung des Urteils innerhalb der Frist offenlassen. Dann muss die Wahl zwischen Berufung und Revision innerhalb der Begründungsfrist für die Re1 Vgl. nur OLG Karlsruhe v. 20.7.1995 – 3 Ss 88/94, NStZ 1995, 562; Meyer-Goßner, NStZ 1998, 19. 2 Eb. Schmidt, Berufung oder Revision im Strafprozess?, NJW 1960, 1651. 3 BGH v. 15.1.1960 – 1 StR 627/59, NJW 1960, 494 m. Anm. Mayer, NJW 1960, 733.
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Der Verteidiger im Berufungsverfahren
Rz. 864
vision erklärt werden1. Schließlich darf der Verteidiger nicht übersehen, dass er innerhalb der Begründungsfrist auch den Übergang auf das andere Rechtsmittel wirksam erklären kann, z.B. von der zunächst eingelegten Berufung auf die Revision und in der Regel auch umgekehrt2. Maßstab im Einzelfall bleibt stets die Frage, ob auf die zweite Tatsacheninstanz verzichtet werden kann. Das ist auch der entscheidende Gesichtspunkt für den Fall, dass bei beiderseitigen Rechtsmitteln der eine Beteiligte Revision, der andere Berufung eingelegt hat (§ 335 Abs. 3 StPO). Hierzu zählt auch die verschiedenartige Anfechtung eines Urteils durch mehrere Mitangeklagte. Der Verteidiger muss beachten: Die Berufung ist das umfassendere Rechtsmittel und hat deshalb Vorrang. Die Revision des anderen Beteiligten ist als Berufung zu behandeln, solange die Berufung noch anhängig ist3. Außer über die Zulässigkeit ist der Mandant über die Aussichten der Be- 864 rufung zu beraten (Rz. 817 ff.). Der Verteidiger hat die Erfolgsaussichten sorgsam zu prüfen und mit dem Auftraggeber zu erörtern. Maßgebend ist nicht der Wunsch des Mandanten, die Berufung auf jeden Fall durchzuführen (Rz. 822), sondern die selbstverantwortliche, gewissenhafte Abwägung des Verteidigers. Man erleichtert sich die Prüfung der Erfolgsaussichten, wenn man das Urteil nach bestimmten Gesichtspunkten analysiert. Es ist zu überlegen, ob in der Berufungsinstanz eine dem Mandanten günstigere Beweiswürdigung zu erreichen ist, ob eine andere rechtliche Beurteilung in Betracht kommt und ob neue, dem Amtsgericht noch nicht bekannte oder nicht aufgeklärte Tatsachen oder neue Beweise zu einem besseren Ergebnis führen können. War der Hauptverhandlung erster Instanz ein Strafbefehl vorausgegangen, lehrt die Erfahrung, dass manche Richter an „ihrem“ Strafbefehl „kleben“ und deshalb den Argumenten der Verteidigung nicht zugänglich sind. Die Berufung führt in solchen Fällen nicht selten zu einem völlig anderen Ergebnis. Einen wichtigen Gesichtspunkt darf der Verteidiger in geeigneten Fällen nicht außer Acht lassen: Die Berufung kann auch lediglich zu dem Zwecke geboten sein, die Einstellung wegen Geringfügigkeit zu erlangen (§§ 153, 153a StPO; Rz. 328 ff., 860). Hat z.B. das Amtsgericht die Einstellung abgelehnt oder der in erster Instanz amtierende Staatsanwalt der Einstellung nicht zugestimmt, so ist es oft nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht eine andere Auffassung vertritt. In solchen Fällen ist es notwendig, mit Gericht und Staatsanwalt zu sprechen (Rz. 833). Dabei muss man allerdings in Rechnung stellen, dass die Bereitschaft der Staatsanwaltschaft zur Erteilung der Zustimmung vor allem bei vorangegangener Ablehnung durch die Verteidigung in der Berufungsinstanz im allgemeinen sehr gering ist – es sei denn, es sind erhebliche neue 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 335 StPO Rz. 9. 2 BGH v. 19.4.1985 – 2 StR 317/84, BGHSt. 33, 183 (188); Meyer-Goßner in MeyerGoßner/Schmitt, § 335 StPO Rz. 10 ff. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 335 StPO Rz. 17 m.N.
521
Rz. 865
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
Aspekte hervorgetreten. Gut ist es, wenn der Verteidiger dabei das Gericht als „Bundesgenossen“ gewinnen kann. 865
Bei der Beratung ist der Mandant auch über die Zweckmäßigkeit der Berufung zu belehren (Rz. 820 ff.). Vorteile und Nachteile sind gegeneinander abzuwägen. Dabei darf die Hemmung der Rechtskraft nicht übersehen werden (§§ 316, 343 StPO). Die Einlegung der Berufung verhindert die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe. Der Mandant darf also auch nicht zum Strafantritt geladen werden. Ganz allgemein kann der Verteidiger davon ausgehen, dass die Situation für seinen Mandanten in der Berufungsinstanz nicht selten günstiger ist als im ersten Rechtszug. Das betrifft auch die Strafzumessung, die oft niedriger ausfällt (Berufung als „Rabattinstanz“). In der Sache selbst ist mit einer gründlicheren Aufklärung zu rechnen. Jedenfalls sollte es so sein. b) Beschränkung der Berufung Literatur: Milzer, Die Beschränkbarkeit der Berufungshauptverhandlung in Strafsachen, NStZ 1993, 69; Wankel, Rechtsmittel- und Rechtsbehelfsbeschränkung in der StPO, JA 1998, 65.
866
Die Beschränkung der Berufung (§ 318 StPO) hängt im Wesentlichen von Zweckmäßigkeitsüberlegungen ab. Da das Berufungsgericht das Urteil nur nachprüft, soweit es angefochten ist (§ 327 StPO), sind mit der Beschränkung des Rechtsmittels gewisse Nachteile und Risiken aufzufangen, die mit der Rechtsmitteleinlegung verbunden sind. Wird z.B. die Berufung von vornherein auf einen bestimmten Tatsachenkomplex begrenzt, so werden dadurch die Kosten der Beweisaufnahme für andere Bereiche gespart. Auch die Situation der Berufungsstrafkammern, die oft überlastet sind, darf der Verteidiger nicht unberücksichtigt lassen. Wird das Rechtsmittel auf das Strafmaß beschränkt, so wird das Gericht eher bereit sein, den Strafausspruch des angefochtenen Urteils zu korrigieren. Diese Erfahrung macht man vor allem, wenn der Vorsitzende vor oder bei Beginn der Berufungsverhandlung anregt, die Beschränkung zu erklären (Rz. 866). Daraus folgt, dass es in der Regel richtig ist, zunächst unbeschränkt Berufung einzulegen und sie vor Beginn der Hauptverhandlung zu begrenzen. Allerdings hat dies zur Folge, dass auch bei erfolgreicher Berufung ein Teil der Kosten dem Mandanten auferlegt wird.
867
Der Verteidiger darf jedoch nicht übersehen, dass die Beschränkung der Berufung auch eine Reihe von Gefahren birgt. Sie hängen mit den Folgen der Teilrechtskraft, die Rechtsprechung und Literatur zunehmend beschäftigen, zusammen. Ein Dickicht, ein komplexes Thema, bei dem je nach der Gestaltung des Einzelfalls die Problematik ständig wechselt. Es ist im Rahmen des Handbuchs nicht angebracht, die weitschichtigen Einzelheiten für alle denkbaren oder praktisch häufig vorkommenden 522
Der Verteidiger im Berufungsverfahren
Rz. 869
Fälle zu erörtern. Hier muss der Verteidiger sich jeweils durch Überprüfung des Schrifttums und der Rechtsprechung orientieren1. In jedem Falle nimmt der Verteidiger – jedenfalls in „streitigen“ Fällen – 868 mit der Beschränkung der Berufung eine Verantwortung auf sich, die er kaum einmal sicher überschauen kann. Unerlässlich ist dabei auch die Prüfung, welche Tatsachenfeststellungen durch die Beschränkung rechtskräftig werden und ob diese etwa dem angestrebten Ziel des Rechtsmittels entgegenstehen würden. Aus diesem Grund lassen sich viele Verteidiger auf eine Beschränkung des Rechtsmittels überhaupt nicht oder nur selten ein. Mindestens muss man sich den Zeitpunkt der Beschränkung sorgfältig überlegen. Sie sofort bei der Rechtsmitteleinlegung zu erklären, ist im Allgemeinen nicht ratsam, weil man die schriftliche Begründung der angefochtenen Entscheidung noch nicht kennt. Auch nach Eingang der schriftlichen Begründung ist es für die Beschränkung oft noch zu früh, vor allem, wenn in der Berufungsinstanz über neues Tatsachenmaterial zu verhandeln sein wird (Rz. 864). Der Verteidiger darf nicht übersehen, dass die Anfechtung auch noch in der Berufungsverhandlung eingeschränkt werden kann, nach deren Beginn indessen nur mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft (§ 303 StPO; Rz. 866). Die Beschränkung wird im Übrigen oft durch das Berufungsgericht veranlasst. Dadurch erhält der Verteidiger wertvolle Hinweise, wie das Berufungsgericht die Sache ggf. beurteilen wird. c) Einlegung der Berufung, Berufungsfrist Für die Einlegung der Berufung ist auf die Erfahrungen zu verweisen, die 869 für alle Rechtsmittel gelten (Rz. 826 ff.). Die Berufungsfrist von einer Woche beginnt meist mit der Verkündung des Urteils, in Fällen der Abwesenheit des Mandanten bei der Urteilsverkündung jedoch mit der Zustellung einschließlich der Rechtsmittelbelehrung (§ 314 StPO; Rz. 827). Allerdings gibt es eine Besonderheit, die der Verteidiger nicht übersehen darf. Bei Ausbleiben des Mandanten in der Hauptverhandlung des ersten Rechtszuges (§ 232 StPO; Rz. 483) kann gegen das Urteil innerhalb der Wochenfrist seit Zustellung sowohl Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt werden, falls deren Voraussetzungen zu bejahen sind (§ 235 StPO; Rz. 1079 ff.), als auch Berufung eingelegt werden (§ 315 StPO). Hier hat der Verteidiger ein Wahlrecht, das mit der Versäumung der Frist für das eine oder andere Rechtsmittel erlischt. Der sichere Weg ergibt sich daher von selbst: Der vorsichtige Verteidiger wird innerhalb der Frist um Wiedereinsetzung bitten und gleichzeitig Berufung einlegen. Das Gericht entscheidet dann erst über die Wiedereinsetzung, anschließend über die Berufung2. 1 Vgl. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 318 StPO Rz. 5 ff.; Paul in KK, § 318 StPO Rz. 1. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 315 StPO Rz. 2.
523
Rz. 870
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
870
Bei rechtzeitig eingelegter Berufung geht es vor allem um die Aktenvorlage an das Berufungsgericht (§§ 320, 321 StPO). Hat der Mandant ein Interesse an Beschleunigung, z.B. weil er verhaftet oder ihm der Führerschein weggenommen ist, so darf der Verteidiger die Sache nicht einfach laufen lassen. Die „Übersendungspraxis“ der Gerichte und Staatsanwaltschaften beweist, dass der Verteidiger Zeitverluste verhindern kann, wenn er rechtzeitig nachfasst. So ist vielen Verteidigern, Richtern und Staatsanwälten nicht geläufig, dass die Staatsanwaltschaft die Akten binnen einer Woche nach Eingang dem Vorsitzenden des Berufungsgerichts zu übergeben hat (§ 321 StPO).
871
Hält das Berufungsgericht die Berufung für unzulässig, so erlässt es einen Verwerfungsbeschluss, der mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar ist (§ 322 StPO). Hier muss der Verteidiger die beanstandeten formellen Voraussetzungen der Berufung genau prüfen (Rz. 861). d) Annahmeberufung
872
In den Fällen der Annahmeberufung (§ 313 StPO) sollte der Verteidiger stets eine Berufungsbegründung (Rz. 873 ff.) einreichen und darlegen, aufgrund welcher (neuen) Beweismittel und/oder Erwägungen das Rechtsmittel nicht offensichtlich unzulässig ist (§ 313 Abs. 2 StPO). Wird die Berufung nicht begründet, so riskiert der Verteidiger eine schnelle Verwerfung. Nur in Ausnahmefällen wird er sich darauf verlassen können, dass das Berufungsgericht die Schwäche des erstinstanzlichen Urteils mit Sicherheit erkennen und entsprechend entscheiden wird. Ein Rechtsmittel gegen die Annahmeentscheidung ist nicht gegeben (§ 322a S. 1 StPO). Ob trotz Verwerfung der Berufung als unzulässig die Revision zulässig ist (§ 335 Abs. 1 StPO), ist umstritten, wird von der überwiegenden Auffassung – jedenfalls in der Rechtsprechung – aber wohl bejaht1. Der Übergang zur Revision ist zulässig, wenn die Berufung angenommen und die Frist des § 345 Abs. 1 StPO noch nicht abgelaufen ist. e) Schriftliche Berufungsrechtfertigung und Vorbereitung der Berufungsverhandlung
873
Im Gegensatz zur Revision schreibt das Gesetz eine Begründung der Berufung nicht zwingend vor (§ 317 StPO). Viele Verteidiger haben daraus die Übung entwickelt, jedenfalls außerhalb der Annahmeberufung die Berufung nicht schriftlich zu begründen, sondern alle Anfechtungspunkte erst in der Verhandlung vorzubringen. Im Ergebnis kann diese Verfahrensweise zwar gerechtfertigt sein, jedoch dürfen die Gefahren einer Beschränkung der Beweisaufnahme nach §§ 323 Abs. 2 S. 1, 325 StPO nicht übersehen werden. Der Verteidiger sollte mitteilen, aus welchen Gründen eine vollständige Erneuerung der Beweisaufnahme geboten ist. Im 1 Zu allen Einzelheiten Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 335 StPO Rz. 21 m.N.; Meyer-Goßner, NStZ 1998, 19.
524
Der Verteidiger im Berufungsverfahren
Rz. 875
Übrigen sind wie stets Vorzüge und Nachteile einer schriftlichen Begründung im Einzelfall gegeneinander abzuwägen. Der Verteidiger muss auch überlegen, dass das Gericht bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung gern wissen möchte, worauf der Verteidiger hinaus will. In geeigneten Fällen sollte dieser daher die allgemeine Richtung des Rechtsmittels und hauptsächliche Angriffspunkte aufzeigen. Im Übrigen kommt es auf das angefochtene Urteil und das Ziel der Berufung an. Soll z.B. die Beweiswürdigung angegriffen werden, ist eine schriftliche Begründung eigentlich nicht angebracht, kann aber durch § 323 Abs. 2 StPO praktisch „erzwungen“ werden, wenn das Gericht die Beweispersonen nicht mehr laden will. Die Verlesung von Aussagen allein (§ 325 StPO) kann eine anderweitige Entscheidung kaum einmal bewirken. Denn das Berufungsgericht muss von den Beweispersonen einen persönlichen Eindruck haben. Den Beweiswert einer Zeugenaussage etwa kann das Berufungsgericht erst beurteilen, wenn es den Zeugen selbst erlebt. Strebt die Verteidigung in der Berufungsinstanz eine Einstellung nach 874 § 153a oder § 153 StPO an (Rz. 328 ff.), so kann es geboten sein, in einer entsprechenden Berufungsbegründung dem Gericht einerseits vor Augen zu führen, wie umfangreich und schwierig sich das Berufungsverfahren gestalten wird, und andererseits Argumente einzuflechten, die dem Berufungsgericht signalisieren, die Verteidigung würde sich auch mit einer Einstellung des Verfahrens anstelle des erstrebten Freispruchs „zufriedengeben“. Anstelle der schriftlichen Berufungsrechtfertigung gibt es auch wir- 875 kungsvollere Maßnahmen, die erfahrungsgemäß nicht genug ausgenutzt werden. Sie sind bei der Vorbereitung der Berufungsverhandlung zu überlegen, für die im Übrigen dieselben Gesichtspunkte wie für die Hauptverhandlung erster Instanz zu beachten sind (Rz. 448 ff.). So kann der Verteidiger „Beweisanträge“ stellen (§ 323 Abs. 1 mit § 219 StPO). Diese können sich auf dieselben Tatsachen und Beweismittel beziehen wie im ersten Rechtszug; es können aber auch neue Beweismittel vorgebracht werden (§ 323 Abs. 3 StPO). Der Verteidiger hat abzuwägen, ob die Vorwegnahme von Beweisanträgen zweckmäßig ist. Dafür gelten dieselben Erfahrungen, wie sie ab Rz. 473 für die Beweisanträge vor der erstinstanzlichen Hauptverhandlung beschrieben sind. Hierbei dürfen indessen die Besonderheiten des Berufungsverfahrens nicht außer Acht gelassen werden. Der Vorsitzende des Berufungsgerichts kann die Ladung der Beweispersonen erster Instanz nur unterlassen, wenn ihre wiederholte Vernehmung zur Aufklärung nicht erforderlich erscheint (§ 323 Abs. 2 StPO) oder nach § 325 StPO verfahren werden soll. Der Verteidiger muss sich daher vergewissern, ob und welche Beweispersonen zur Berufungsverhandlung von Amts wegen geladen sind. Insoweit muss kein Beweisantrag vorweggenommen werden. Außerdem hat der Vorsitzende des Berufungsgerichts bei Auswahl der zu ladenden Personen auf die Benennung in der Berufungsrechtfertigung Rücksicht zu nehmen (§ 323 Abs. 4 StPO). Diese Vorschrift führt zu einer Schwierigkeit: Bezieht sich der 525
Rz. 876
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
Verteidiger schriftlich nur auf bestimmte Zeugen und Sachverständige, kann es vorkommen, dass die anderen nicht geladen werden. Um dies zu verhindern, kann allgemein beantragt werden, die Zeugen und Sachverständigen zur Berufungsverhandlung zu laden, deren Erklärungen zur Entlastung des Mandanten dienen können. f) Der Verteidiger in der Berufungsverhandlung Literatur: Hamm/Leipold in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 575 ff.; Hegmann, Die Belehrung des Angeklagten gem. § 243 IV 1 StPO in der Berufungsverhandlung, NJW 1975, 915; Hegmann, Zur Auslegung des § 329 StPO, NJW 1977, 1275; Kaiser, Zur Wartepflicht des Gerichts bei Unpünktlichkeit von Beteiligten in Straf- und Bußgeldsachen, NJW 1977, 1955; Milzer, Die Beschränkbarkeit der Berufungshauptverhandlung in Strafsachen, NStZ 1993, 69; Rieß, Unentschuldigtes Ausbleiben des Angeklagten, Privatklägers oder Nebenklägers in der Berufungshauptverhandlung, NStZ 2000, 120; Schroeder, Revision der Staatsanwaltschaft bei Verwerfung der Berufung des nichterschienenen Angeklagten, NJW 1973, 308; Sieg, Nicht-Erscheinen des Angeklagten im Berufungsverfahren als Verwerfungsgrund, NJW 1978, 1845.
876
Die Berufungsverhandlung richtet sich im Einzelnen nach den Vorschriften des ersten Rechtszuges (§ 324 StPO). Daher gelten gesetzliche Grundlagen, Erfahrungen und praktische Hinweise, wie sie für die Hauptverhandlung des ersten Rechtszuges erörtert sind (Rz. 445 ff.), entsprechend. Es sind jedoch einige Besonderheiten zu berücksichtigen. So ist die Folge des Ausbleibens des Angeklagten in der Berufungsverhandlung abweichend geregelt (§ 329 StPO). Fehlt der Angeklagte, ohne genügend entschuldigt zu sein, kann seine Berufung durch Urteil verworfen werden, sofern nicht die Anwesenheit des Verteidigers ausreicht, etwa wenn der Mandant vom Erscheinen in der Verhandlung entbunden ist (§ 233 StPO; Rz. 483). Was als entschuldigtes oder unentschuldigtes Ausbleiben anzusehen ist, hängt vom Einzelfall ab und ist anhand der umfangreichen Rechtsprechung festzustellen1. Dabei kommt es nicht darauf an, ob eine ausreichende Entschuldigung vorliegt, sondern darauf, ob der Mandant entschuldigt ist, z.B. durch die telefonische Mitteilung eines Verkehrsunfalles. Allgemein kann der Verteidiger darauf verweisen, dass die Gerichte großzügig zu verfahren haben. Auch gilt der Grundsatz in dubio pro reo2. Über die Folgen des Fehlens ist der Mandant bei Vorbereitung der Berufungsverhandlung vom Verteidiger zu belehren. Unter Umständen kann es notwendig sein, dem Mandanten „Hilfestellung“ beim Auffinden des Gerichtsgebäudes und des Sitzungssaals zu leisten (Rz. 488). 1 Dazu EGMR v. 8.11.2012 – 30804/07, NStZ 2013, 350 (§ 329 Abs. 1 S. 1 StPO verstößt gegen Art. 6 Abs. 1 und 3 Buchst. c EMRK!); dazu OLG Celle v. 19.3.2013 – 32 Ss 29/13, NStZ 2013, 615; OLG München v. 17.1.2013 – 4St RR (A) 18/12, NStZ 2013, 358; zur Wahrheitspflicht des Gerichts KG v. 30.4.2013 – (4) 161 Ss 89/13 (86/13), StraFo 2013, 427; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 329 StPO Rz. 18 ff. 2 OLG Hamm v. 18.3.1996 – 2 Ss 142/97, NStZ-RR 1997, 240; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 StPO Rz. 21 f.
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Der Verteidiger im Berufungsverfahren
Rz. 879
Fehlt der Mandant bei Beginn der Verhandlung trotzdem, so darf der Ver- 877 teidiger nicht sofort aufgeben. Denn die Berufung darf nur verworfen werden, wenn der Angeklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf die Folgen seines Ausbleibens hingewiesen ist (§ 323 Abs. 1 StPO). Daher muss der Verteidiger die Formalien der Ladung prüfen (Rz. 457). Auf die Einhaltung der Ladungsfrist kommt es dabei allerdings nicht an, eine verspätete Ladung kann aber das Fehlen entschuldigen1. Auch muss der Verteidiger darauf aufmerksam machen, dass die Berufung bei pünktlichem Terminsbeginn nicht auf die Minute genau verworfen werden darf. Das Gericht ist verpflichtet, kurzfristig zu warten: in der Praxis hat sich eine Frist von mindestens 15 Minuten eingebürgert. Die Berufung darf außerdem nicht verworfen werden, wenn dem Verfahren ein Prozesshindernis entgegensteht; die Frage ist aber im Einzelnen streitig2. Der Verteidiger kann die Interessen des ausbleibenden Mandanten nur 878 wahren, wenn er selbst pünktlich anwesend ist (Rz. 460) oder bei unabwendbarer Verhinderung einen Vertreter bestellt, notfalls auch Vertagung beantragt (Rz. 460). Es geht zulasten des Verteidigers, wenn es zur Verwerfung der Berufung kommt, die er bei Anwesenheit hätte verhindern können. Außerdem ist daran zu denken, dass gegen ein Verwerfungsurteil Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 329 Abs. 3 StPO; Rz. 1079 ff.) und Revision (Rz. 894) zulässig sind3. Über eine Berufung der Staatsanwaltschaft kann auch ohne den ord- 879 nungsgemäß geladenen und nicht anwesenden Angeklagten verhandelt oder seine Vorführung oder Verhaftung angeordnet werden (§ 329 Abs. 2 und 4 StPO), und zwar auch, wenn beiderseits Rechtsmittel eingelegt sind4. In diesen Fällen sieht sich der Verteidiger häufig in einer schwierigen Situation. Vorführung oder Verhaftung treffen den Mandanten hart. Sie sind jedoch das geringere Übel, falls seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung unerlässlich ist. Der Verteidiger wird beispielsweise die Aussetzung der Verhandlung in den Fällen beantragen, in denen es darauf ankommt, dem Berufungsgericht einen persönlichen Eindruck von dem Mandanten zu vermitteln, etwa wenn sich die Berufung gegen einen Freispruch aus subjektiven Gründen oder gegen ein zu mildes Strafmaß richtet. In diesem Fall kann sich der Verteidiger auch darauf berufen, die Aufklärungspflicht erfordere die Anwesenheit des Angeklagten5. 1 BayObLG v. 20.10.1966 – RReg. 4a St 78/66, NJW 1967, 457; OLG München v. 17.1.2013 – 4St RR (A) 18/12, NStZ 2013, 358 (bewusst unentschuldigtes Fernbleiben). 2 Vgl. i.E. die Nachw. bei Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 StPO Rz. 8, der die Auffassung vertritt, die Verwerfung sei nur ausgeschlossen, wenn das Prozesshindernis erst in der Berufungsinstanz entstanden ist. 3 S. dazu Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 StPO Rz. 40 ff., 46; Paul in KK, § 329 StPO Rz. 22. 4 BayObLG v. 1.2.1956 – RReg. 1 St 508/55, NJW 1956, 838; Paul in KK, § 329 StPO Rz. 18 m.N. 5 BGH v. 1.8.1962 – 4 StR 122/62, NJW 1962, 2020.
527
Rz. 880
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
880
Eine weitere Besonderheit der Berufungshauptverhandlung ist der Bericht, der vor der Vernehmung des Angeklagten und vor der Beweisaufnahme in Abwesenheit der Zeugen zu halten ist (§ 324 StPO). Er umschließt die Verlesung des angefochtenen Urteils. Da das Gericht von der Verlesung der Urteilsgründe absehen kann, soweit sie für die Berufung ohne Bedeutung sind, weiß der Verteidiger häufig unmittelbar, dass es die weggelassenen Teile für unerheblich hält. Darauf kann er seine Maßnahmen abstellen, etwa indem er die vollständige Verlesung beantragt, falls in den nicht vorgetragenen Teilen des Urteils für den Mandanten günstige Tatsachen enthalten sind. Solche Tatsachen sind dann während der Vernehmung des Mandanten und der Beweisaufnahme betont herauszuarbeiten und zum Gegenstand der Berufungsverhandlung zu machen. Andererseits kann es im Interesse der Verteidigung liegen, dass bestimmte Teile des Urteils gerade nicht verlesen werden, um die Schöffen nicht negativ zu beeinflussen, z.B. Vorstrafen, Beweiswürdigung, Strafzumessung u.a. In derartigen Fällen sollte man rechtzeitig mit dem Gericht und der Staatsanwaltschaft Kontakt aufnehmen, um einen Verzicht auf die Verlesung (§ 324 Abs. 1 S. 2 StPO) herbeizuführen. Manchmal erreicht man auch einen völligen Verzicht auf die Verlesung, was besonders bei sehr negativ gefärbten Urteilsgründen anzustreben ist. Immer muss im Auge behalten werden, dass die Urteilsverlesung wie auch der sonstige Bericht kein Teil der Beweisaufnahme sind. Daraus folgt, dass auch andere Teile der Akten verlesen werden können, selbst wenn sie nicht als Urkunden verwertet werden dürfen1. Auch die Berufungsbegründung der Staatsanwaltschaft soll vorgelesen werden können2. Dass dadurch insbesondere die ehrenamtlichen Richter beeinflusst werden, liegt auf der Hand. So erfahren sie aus dem Urteil, warum das erstinstanzliche Gericht den Angeklagten für schuldig hält, obwohl darüber noch nicht rechtskräftig entschieden ist. Auch die im angefochtenen Urteil festgestellten Vorstrafen werden durch die Verlesung früher bekanntgegeben, als in der Hauptverhandlung erster Instanz. Aus diesen Gründen muss der Verteidiger die Reaktion der Richter, besonders der ehrenamtlichen Richter, beobachten: Er muss auch feststellen, ob sie nicht unzulässiger Weise eine Abschrift des Urteils oder anderer Aktenteile erhalten haben. Dann hat er einzugreifen. Er kann den oder die betroffenen Schöffen ablehnen (Rz. 201).
881
Zu Beginn der Hauptverhandlung sollte der Verteidiger erwägen, ob er den Prozessbeteiligten die allgemeine Richtung der Berufung bekanntgeben will, wenn dies schriftlich noch nicht geschehen ist (Rz. 873). Jedenfalls muss er auf eine entsprechende Frage des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft vorbereitet sein.
1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 324 StPO Rz. 4. 2 OLG Köln v. 14.3.1961 – Ss 508/60, NJW 1961, 1127; Meyer-Goßner in MeyerGoßner/Schmitt, § 324 StPO Rz. 4.
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Der Verteidiger im Berufungsverfahren
Rz. 883
Das Verfahren der Hauptverhandlung weicht in mancher Beziehung von 882 den Regeln der ersten Instanz erheblich ab. Das kommt besonders für die Verlesung von Schriftstücken in Betracht. Schweigt der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung, so kann seine Einlassung durch Verlesung des erstinstanzlichen Urteils als Beweismittel festgestellt und verwertet werden1. Entgegen § 250 StPO (Rz. 631 ff.) braucht nicht jede Beweisperson noch einmal vernommen zu werden, die in erster Instanz bereits ausgesagt hat. Das Vernehmungsprotokoll darf vielmehr in der Berufungsverhandlung grundsätzlich verlesen werden, und zwar über die Voraussetzungen hinaus, unter denen Vernehmungsniederschriften in erster Instanz verlesen werden können (§ 325 StPO). Die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) bleibt unberührt. Der Berufungsrichter darf nicht nur frühere richterliche und sonstige Protokolle unter den Voraussetzungen des § 251 StPO (Rz. 632 ff.) und beim Vorhalt unter den Voraussetzungen des § 253 StPO (Rz. 636) im Wege des Urkundenbeweises verwerten, sondern auch alle anderen Schriftstücke. Hiervon wiederum gibt es Ausnahmen, deren Einhaltung der Verteidiger zu überwachen hat. Die Aussage eines Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung des ersten Rechtszuges sein Zeugnis verweigert hat (§ 252 StPO; Rz. 576), darf nicht verlesen werden, desgleichen nicht Urkunden, die unter das Verbot des § 252 StPO fallen (Rz. 637)2. Im Übrigen hat es der Verteidiger in der Hand, wie weit die Verlesung von Protokollen aus der Vorinstanz anstelle der persönlichen Vernehmung tritt. Die Verlesung ist untersagt, wenn die Beweisperson wiederholt vorgeladen ist und Staatsanwaltschaft und Verteidigung der Verlesung nicht zustimmen. Hierbei bedeutet wiederholte Vorladung nicht, dass die Zustellung der Ladung nachgewiesen sein muss. Es genügt Abgang der Ladung3. Der Verteidiger wird nicht zustimmen, wenn es auf den persönlichen Eindruck ankommt, den der Zeuge oder Sachverständige auf das Berufungsgericht macht. Darüber hinaus kann der Verteidiger die Vernehmung anstelle der Protokollverlesung dadurch erzwingen, dass er rechtzeitig vor der Berufungsverhandlung die Ladung der Beweisperson beantragt4 (Rz. 875). Kommt es trotz seines Widerspruchs zu einer Protokollverlesung, so ist es geboten, die mündliche Vernehmung der Beweisperson förmlich zu beantragen, am besten nach Form und Inhalt wie bei einem Beweisantrag (Rz. 648 ff.). Dann ist das Gericht aufgrund der Aufklärungspflicht unter Umständen gehalten, dem Antrag stattzugeben5. Der Schlussvortrag des Verteidigers weist je nach der Verfahrenslage ge- 883 genüber der ersten Instanz (Rz. 682 ff.) Besonderheiten auf. Vertritt der Verteidiger die Berufung, so plädiert er zuerst; sonst der Staatsanwalt, 1 2 3 4
OLG Hamm v. 10.7.1974 – 4 Ss 287/74, NJW 1974, 1880. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 325 StPO Rz. 2. OLG Celle v. 19.1.1961 – 1 Ss 394/60, NJW 1961, 1490. OLG Hamm v. 30.4.1981 – 3 Ss 559/81, MDR 1981, 870; OLG Zweibrücken v. 26.3.1981 – 1 Ss 10/81, MDR 1981, 869. 5 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 325 StPO Rz. 12.
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Rz. 884
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
dem auch das „erste Wort“ gebührt, falls beiderseits Berufung eingelegt ist (§ 326 StPO). Inhaltlich ist das Plädoyer auf den Zweck des Berufungsverfahrens abzustellen, der durch den Umfang der Anfechtung vorgegeben ist. Hat der Verteidiger z.B. die Berufung begrenzt (Rz. 866), so muss er sich in seinen Ausführungen auf den angefochtenen Teil beschränken, selbstverständlich unter Verwertung des Ergebnisses der Berufungsverhandlung. Im Übrigen hat er sich mit dem angegriffenen Urteil auseinanderzusetzen. Das schließt notwendigerweise eine gewisse „Urteilsschelte“, d.h. die sachliche Begründung mit ein, warum das Ersturteil keinen Bestand haben darf. 884
Von besonderer Bedeutung ist das Recht des Verteidigers zu Erwiderungen auf die Gegenäußerungen der Staatsanwaltschaft zu seinem Plädoyer (Rz. 752). Da der Verteidiger bei einer Berufung des Angeklagten zuerst plädiert hat, stellt die Gegenausführung der Staatsanwaltschaft praktisch in dieser Hauptverhandlung den erstmaligen Vortrag der Anklage dar. Dieser kann das Plädoyer der Verteidigung „entwerten“. Dem Verteidiger bleibt dann nur das letzte Wort, um das Gericht auf seine Seite zu bringen. 4. Der Verteidiger im Revisionsverfahren Literatur: Basdorf, Formelle und informelle Präklusion im Strafverfahren, StV 1997, 488; Basdorf, Elemente des Beweisantrags – Konnexität und anderes, FS Widmaier (2008), S. 51; Basdorf, Was darf das Revisionsgericht?, NStZ 2013, 186; Blaese/Wielop, Die Förmlichkeiten der Revision in Strafsachen, 3. Aufl. 1991; Burhoff, Verteidigerfehler in der Tatsachen- und Revisionsinstanz, StV 1997, 432; Dahs sen., Die Verantwortung des Verteidigers in der Revisionsinstanz, AnwBl. 1963, 62; Dahs, Verfassungsrechtliche Gewährleistung umfassender Verteidigung im Revisionsverfahren, NJW 1978, 140; Dahs, Bestehenbleibende Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) – und ihre Probleme in „Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege“, Symposium für E. W. Hanack, 1990; Dahs, Das Schweigen des Verteidigers zu tatrichterlichen Verfahrensfehlern und die Revision, NStZ 2007, 241; Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl. 2012; Fezer, Die erweiterte Revision – Legitimierung der Rechtswirklichkeit, 1974; Fischer, Der Einfluss des Berichterstatters auf die Ergebnisse strafrechtlicher Revisionsverfahren, NStZ 2013, 425; Fischer, Strafverteidiger aus der Sicht des Richters – Rückblick und Ausblick, StV 2014, 47; Hamm, Rechtsgespräch oder Urteilsabsprachen? – Der Deal erreicht die Revision –, FS Dahs (2005), S. 267; Hamm in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, 597 ff.; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010; Hilger, Über die neuere Rechtsprechung des BGH zu den absoluten Revisionsgründen der StPO, FS Widmaier (2008), S. 277; Ignor, Eigene Sachentscheidungen des Revisionsgerichts. Ein kritischer Überblick über die alte und neue Rechtslage unter besonderer Berücksichtigung der sog. Schuldspruchberichtigungen, FS Dahs (2005), S. 281; Ignor/Bertheau, Der „Zwischenrechtsbehelf“ des § 238 II – ein zentrales Institut des Revisionsverfahrens, NStZ 2013, 138; Knauer, Zur Wahrheitspflicht des (Revisions-)Verteidigers, FS Widmaier (2008), S. 291; Langer, Zu den Zielen der Revision in Strafsachen, FS Meyer-Goßner (2001), S. 497; Mehle, Die „Relativierung“ der absoluten Revisionsgründe – vom Niedergang der Formenstrenge, FS Dahs (2005), S. 381; Miebach, Die Zulässigkeit von Verfahrensrügen in der Rechtsprechung des BGH, NStZ-RR 1998, 1; Nack, Aufhebungspraxis der Strafsenate des BGH, NStZ 1997, 153; Rieß, Gedanken zum gegenwärtigen Zustand und zur Zu-
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Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 887
kunft der Revision in Strafsachen, FS Hanack (1999), S. 397; G. Schäfer/Sander/von Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 5. Aufl. 2012; Schlothauer/Weider, Verteidigung im Revisionsverfahren, 2. Aufl. 2013; Schmid, Der Revisionsrichter als Tatrichter, ZStW 85 (1973), 360; Wahl, Prüfung der Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das Revisionsgericht, NJW-Sonderheft für G. Schäfer, 2002, 73; Widmaier, Quo vadis revision? Revision, wohin gehst Du?, StraFo 2010, 310.
An die Spitze dieses Abschnitts gehören die allgemeinen Ausführun- 885 gen, die sich übereinstimmend auf alle Rechtsmittel beziehen (C IV 1, Rz. 816 ff.). Sie werden hier nur durch die Darstellung der revisionsrechtlichen Besonderheiten ergänzt. Dabei muss die Darstellung der Verteidigung in der Revision im Handbuch auf die wichtigsten Elemente dieses Rechtsmittels und grundlegende Hinweise für die Bearbeitung beschränkt werden. Kein Verteidiger sollte sich an diese äußerst schwierige und für den Mandanten oft schicksalsentscheidende Materie heranwagen, der nicht über fundierte Erfahrungen verfügt oder sich diese aus den speziellen Standardwerken aneignen kann, z.B. Blaese/Wielop, Die Förmlichkeiten der Revision in Strafsachen, 3. Aufl. 1991; Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl. 2012; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010; Hamm in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 597 ff.; Schlothauer/Weider, Die Verteidigung im Revisionsverfahren, 2. Aufl. 2013. Auch die aktuellen Kommentare zur StPO sind zu jeder Einzelfrage auszuwerten. a) Das Revisionsrecht – eine „Geheimwissenschaft“? Die Revision ist in ihrem Wesen nicht nur dem Laien unzugänglich, son- 886 dern auch dem mit der Materie nicht ständig befassten Juristen wenig vertraut und oft von geradezu erschreckender Fremdheit. Das liegt in ihrem für das allgemeine Rechtsbewusstsein schwer fassbaren Charakter, in der ihre Eigenart bestimmenden schwierigen Abgrenzung von Tatund Rechtsfragen, in der Kompliziertheit ihrer Rechtsfolgewirkungen und allgemein in den Schwierigkeiten der Bearbeitung. Hinzu kommt die Natur der Revision, zwar einerseits der gerechten Entscheidung des Einzelfalles, andererseits aber – und vielleicht sogar hauptsächlich – der Einheit der Rechtsprechung und damit der Rechtssicherheit zu dienen. Die Revision wird daher auch als „ein höchst unbefriedigendes, selbst für den überdurchschnittlichen und folgerichtig denkenden Juristen schwer verständliches, wenig sinnvolles Rechtsgebilde“ bezeichnet1. Diese Eigenheiten der Revision wiegen umso schwerer für die Verant- 887 wortung des Revisionsführers, als die Revision gegen die Urteile gerade in Kapitalsachen (Strafkammer- und OLG-Urteile) das einzige Rechtsmittel darstellt und nur auf diesem Weg das Tor für eine neue Tatsachenverhandlung vor einem anderen Gericht (§ 354 Abs. 2 StPO) aufgestoßen werden kann. Dazu kommt, dass selbst ein in Strafsachen vielfach tätiger 1 Schweling, MDR 1967, 441.
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Rz. 888
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
Anwalt häufig nur einen kleinen Teil seiner Arbeit auf Revisionen verwendet. Viele Verteidiger kommen gar nicht oder ganz selten zum Revisionsgericht. Dort begegnen sie Richtern und Staatsanwälten, die ausschließlich oft jahrelang nur mit dem Revisionsrecht zu tun haben. Sie begegnen auch der erschreckenden Perspektive, dass fast 90 % der von Angeklagtenseite eingelegten Revisionen durch Verwerfung des Rechtsmittels ohne Hauptverhandlung als „offensichtlich unbegründet“ nach § 349 Abs. 2 StPO im schriftlichen Verfahren erledigt werden. 888
Erfahrene Revisionsrichter erteilen denn auch den Verteidigern der Revisionsinstanz häufig geradezu „vernichtende Zensuren“. Schriftliche und mündliche Revisionsbegründungen werden von den Revisionsgerichten zum Teil einfach nicht ernst genommen, weil sie der Sache nicht nur nicht dienen, sondern ihr sogar so schaden, dass manche Angeklagte nur durch Gutwilligkeit und Verantwortungsbewusstsein eines erfahrenen Revisionsrichters gegen die Fehler der Verteidiger abgeschirmt werden können. Mangels einer speziellen Ausbildung im Revisionsrecht ist der Verteidiger seiner schweren Aufgabe nur aufgrund längerer praktischer Erfahrung und vertiefter Kenntnis des Revisionsrechts gewachsen. Er muss sich auch durch genaue Unterrichtung über die aktuelle Judikatur der Revisionsgerichte und durch eingehendes Studium der reichhaltigen Literatur auf jeden Fall gründlichst vorbereiten. Dafür braucht selbst der erfahrene Revisionsrichter in komplexen Sachen einige Tage.
889
Niemand sollte eine Revision übernehmen, der nicht aufgrund allgemeinen Studiums des Revisionsrechts die Materie schon gut kennt. Auch im Handbuch können Einzelfragen nicht behandelt werden1. Der Verteidiger muss wissen, dass er mit seiner Revision bereits an ihrer rechtlichen Kompliziertheit oder an ihrer unerbittlichen Formstrenge scheitern kann. b) Vorbereitung der Revision
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Diese Gefahren erfordern besonders sorgfältige Überlegungen und Vorbereitungen, die schon vor dem Stadium der Revisionseinlegung einsetzen müssen. Schon während der Hauptverhandlung erster oder zweiter Instanz muss der Verteidiger die künftige Revision in seine Überlegungen mit einbeziehen. Es empfiehlt sich, alle für eine Revision auch nur entfernt in Betracht kommenden Vorgänge (z.B. Anträge und Beschlüsse) festzuhalten und zusammenzustellen. Dabei ist allerdings die Gefahr des Rügeverlustes durch Verwirkung u.a. sorgfältig zu beachten2 (Rz. 790 ff.). Für notwendige Protokollierung und für Sicherung der Freibeweise muss der Verteidiger Sorge tragen. Aus den Plädoyers sind die Rechtsausfüh1 Insoweit muss auf die eingangs genannten Einzeldarstellungen sowie auf die Standardkommentare verwiesen werden. 2 Vgl. dazu insbesondere auch Dahs, Revision, Rz. 402 ff.
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Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 892
rungen festzuhalten und zu überdenken. Für die mündliche Urteilsbegründung (Rz. 772) gilt dasselbe. Die Zeit bis zum Eingang der schriftlichen Urteilsgründe muss der Verteidiger nutzen. Er kann versuchen, das Sitzungsprotokoll schon jetzt zu erhalten (worauf kein Anspruch besteht) und es durchprüfen. Die Bearbeitung der materiellen Rechtsfragen kann eingeleitet werden. Mit diesen Mitteln gewinnt der Verteidiger Zeit für die demnächstige Ausarbeitung der Revisionsbegründung, für die ihm jedenfalls für die Anträge und Verfahrensrügen nur die allzu knappe, nicht verlängerbare Frist von einem Monat zur Verfügung steht (§ 345 StPO). Eine praktische, bedeutsame Frage der Vorbereitung ist in der Regel die 891 Verbindung zu anderen Verteidigern. Alle Verteidiger derselben Sache sind an dem Aufspüren von Revisionsgründen in gleicher Weise interessiert. Was der eine nicht findet, fällt vielleicht einem anderen auf. Der Gedankenaustausch kommt daher dem Revisionserfolg insgesamt zugute. Der Verteidiger muss aber wissen, dass die Verfahrensrügen nur zugunsten des Angeklagten wirken, dessen Verteidiger sie selbst formgerecht erhoben und begründet hat (Rz. 905 ff., 930). Es ist mehr als peinlich für den Verteidiger und für seinen Mandanten geradezu katastrophal, wenn seine Revision verworfen wird, während in derselben Hauptverhandlung die Revision eines aufmerksameren Mitverteidigers bei sonst gleicher Prozesslage zu vollem Erfolg führt. Das liegt daran, dass die Aufhebung des Urteils aus verfahrensrechtlichen Gründen sich gerade nicht auf die Mitangeklagten erstreckt (§ 357 StPO). Es darf allerdings noch viel weniger vorkommen, dass ein Verteidiger sich einfach auf die Revision seines Kollegen „bezieht“, oder gar, dass ein Verteidiger „für alle Kollegen“ die Prozessrügen vorbringt (Rz. 930). Solche Revisionen verfallen der Verwerfung. Diese, häufig als überzogen angesehene Formstrenge, kann und wird dazu führen, dass der Revisionsrichter gezwungen ist, auch eine an sich berechtigte Revision des Angeklagten an dem Versagen seines Verteidigers scheitern zu lassen. Der Verteidiger kann und sollte dem Mandanten daher einen Anwalts- 892 wechsel oder die Zuziehung eines im Revisionsrecht erfahrenen Kollegen vorschlagen, wenn er sich der Verantwortung nicht gewachsen sieht. Dies sollte aber möglichst frühzeitig geschehen, jedenfalls bald nach der Urteilsverkündung. Denn gerade die Vorbereitungsmaßnahmen und die Rechtsvorprüfungen bedürfen der sachkundigen Steuerung. Im Übrigen ist der neue Verteidiger häufig ungleich besser zur Nachprüfung der materiellen Rechtslage imstande, weil er unbefangen von den tatsächlichen Feststellungen des Urteils ausgehen kann, während dem ersten Verteidiger oft durch die Überzeugung von deren Unrichtigkeit der Blick auf die allein maßgeblichen Rechtsfragen verstellt ist (Rz. 958 ff.). Eine „informationelle Zusammenarbeit“ muss dabei selbstverständlich sein. Das gilt als eine Art „mandatsimmanente Folgepflicht“ auch dann, wenn der
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Rz. 893
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
Instanzverteidiger über die Beauftragung eines Kollegen für die Revision verärgert ist. 893
Der Pflichtverteidiger erster Instanz muss beachten, dass seine Bestellung sich zwar auf die Revisionsinstanz, aber nicht auf deren Hauptverhandlung erstreckt (Rz. 147)1. Er kann auch nicht ohne weiteres damit rechnen, dass das Revisionsgericht ihn dafür bestellt. Wenn der Angeklagte nicht auf freiem Fuß ist und auch nicht vorgeführt wird, muss ihm auf Antrag ein Pflichtverteidiger gestellt werden (§ 350 Abs. 3 StPO). Die Bestellung zum Pflichtverteidiger kann insoweit allerdings auch stillschweigend erfolgen2. Der Verteidiger muss es sich überlegen, ob er seine Beiordnung beantragen will. Er lädt sich damit die ganze Verantwortung auf, ohne ihr vielleicht gewachsen zu sein. Das Gericht ist im Übrigen nicht gehalten, dem Antrag zu entsprechen, und zieht vielleicht die Beiordnung eines ortsansässigen Anwalts vor. Auch sonst ist ein Antrag auf Beiordnung für die Hauptverhandlung geboten, wenn es sich um einen schwerwiegenden und schwierigen Fall handelt: Nach der Rechtsprechung des BVerfG wird solchen Anträgen durchweg stattgegeben werden müssen3. c) Zulässigkeit, Aussichten und Zweckmäßigkeit der Revision
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Hierzu gelten in erster Linie die allgemeinen Ausführungen über den Verteidiger im Rechtsmittelverfahren (Rz. 816 ff.). Hinsichtlich der Abgrenzung der Revision zur Berufung kommen außerdem die Bemerkungen zur Zulässigkeit der Berufung (Rz. 860 ff.) in Betracht. Der folgende Abschnitt behandelt nur die daran anknüpfenden Besonderheiten der Revision. ZurZulässigkeit der Revision enthält das Gesetz eine klare Auskunft (§§ 333, 335 StPO).
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Die Prüfung der Aussichten des Rechtsmittels ist bei der Revision besonders schwierig und verantwortungsvoll. Der Verteidiger muss unterscheiden zwischen der unmittelbaren und der mittelbaren Folge der Revision. Bei der verwirrenden Fülle der prozessualen Gegebenheiten lässt sich nur sehr schwer beurteilen, ob ein Urteil wegen eines gerügten Verfahrensfehlers aufgehoben werden wird. Man sollte deshalb nicht wegen mangelnder Aussicht eine Prozessrüge versäumen, sofern sie einigermaßen begründbar ist. Sie kann jederzeit zurückgenommen werden, z.B. aufgrund des Ergebnisses des Protokollberichtigungsverfahrens (Rz. 919). Auch die materielle Rüge kann selbst dann zur Aufhebung führen, wenn man zunächst keinen durchschlagenden Rechtsfehler erkennt. Ob der 1 BGH v. 3.3.1964 – 5 StR 54/64, BGHSt. 19, 258; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 140 StPO Rz. 8 u. 9. 2 Zu den Voraussetzungen BGH v. 19.12.1996 – 1 StR 76/96, NStZ 1997, 299. 3 BVerfG v. 19.10.1977 – 2 BvR 462/77, NJW 1978, 151; dazu Dahs, NJW 1978, 140.
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Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 896
Verteidiger in einem solchen Fall die allgemeine Sachrüge auch bei Fehlen einer konkreten Vorstellung einer Erfolgsaussicht ohne nähere Begründung erheben soll oder darf, mindestens wenn der Mandant dies verlangt, ist eine gesondert zu behandelnde Frage (Rz. 890). Viel wichtiger kann aber in diesen Fällen die Frage nach dem weiteren Schicksal der Sache sein. Manche „todsicheren“ Revisionen führen zwar zur Zurückverweisung und Neuverhandlung, aber dann zu dem sachlich gleichen Urteilsergebnis. In diesen Fällen stellt sich die Frage nach dem tatsächlichen Erfolg der Revision. Der Verteidiger muss diese letzte Auswirkung berücksichtigen, wenn er die Aussichten verantwortlich prüfen will. Die damit dem Verteidiger abverlangte Prognose ist jedoch schwierig. Das gilt besonders für den Fall, dass der Verteidiger die tatsächlichen Feststellungen des Urteils und auch die materiell-rechtliche Beurteilung für richtig hält, aber mit einer formalen Prozessrüge das Urteil zu Fall bringen kann. Die Möglichkeit liegt nahe, dass die neue Tatsachenverhandlung dem Mandanten dieselbe Verurteilung und sonst nichts als weitere Prozesslasten und -kosten einbringt. Anderseits weiß man nie, wie ein Verfahren laufen wird. Beweismittel können sich abgeschwächt haben, Zeugen können ihre Einstellung geändert haben, neue Beweismittel oder -ergebnisse können Gewicht bekommen haben, der Zeitablauf u.a. können den Strafausspruch beeinflussen, und der Verteidiger kann die Sache falsch beurteilt haben. Nimmt man hinzu, dass das so eingeschränkte Rechtsmittel der Revision keinen anderen Ausweg bietet, um zu einer zweiten Tatsachenverhandlung zu gelangen, wird der Verteidiger im Allgemeinen jede gesetzliche Möglichkeit nutzen müssen, um die Verurteilung seines Mandanten zunächst einmal zu beseitigen. Im Übrigen gelten hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der Revision die all- 896 gemeinen Grundsätze (Rz. 820 ff.). Bei bestehenden Zweifeln wird es in fast allen Fällen der Verteidigung eines nicht geständigen Mandanten geboten sein, die Revision vorsorglich einzulegen. Die endgültige Entscheidung kann dann bis zum Eingang der schriftlichen Urteilsgründe aufgeschoben werden. Wenn der Verteidiger trotz aller Gegenerwägungen die Durchführung der Revision nicht verantworten will, sollte er sich auch gegenüber seinem Mandanten durchzusetzen wissen (Rz. 152). Besser ist – auch gegenüber dem Mandanten – die Abgabe der Sache an einen „spezialisierten Revisionsanwalt“. Die Verteidigung niederlegen sollte er nur in äußersten Falle. Im Übrigen muss er auch jeweils besonders prüfen, ob nicht dem Tatrichter eine materiell-rechtlich fehlerhafte Beurteilung des festgestellten Sachverhalts zugunsten des Angeklagten unterlaufen ist, die das Revisionsgericht unter Umständen ohne Zurückverweisung korrigieren kann, was für den Angeklagten verheerende Folgen haben kann (z.B. Mord statt Totschlag). Das Verbot der Schlechterstellung wird dabei nicht verletzt (s. Rz. 821). Als weiteres Beispiel für die Revisionsinstanz dient der Fall, dass das Revisionsgericht in einer zunächst nur festgestellten strafbaren Gebührenüberhebung (§ 352 StGB) etwa eines Beamten die Elemente einer Unterschlagung erkennt und der
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Rz. 897
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
Beamte mit der entsprechenden Verurteilung sein Amt endgültig verliert, was bei Unterlassung der Revision nicht passiert wäre. d) Einlegung der Revision Literatur: Blaese/Wielop, Die Förmlichkeiten der Revision in Strafsachen, 3. Aufl. 1991; Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl. 2012, Rz. 21 ff.; Dahs, Die Begründung der Revision zu Protokoll (§ 345 II StPO) – ein Fossil, NStZ 1982, 345; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010, Rz. 108 ff.; vgl. auch das vor Rz. 860 angeführte Schrifttum.
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Die Frist zur Einlegung der Revision beträgt eine Woche. Sie beginnt grundsätzlich mit der Verkündung des Urteils, ausnahmsweise mit seiner Zustellung (§ 341 Abs. 1 und 2 StPO). Bei Versäumung der Frist gilt § 346 StPO. Hiernach verwirft der judex a quo die Revision als unzulässig. Dagegen kann dann gem. § 346 Abs. 2 StPO binnen einer Woche nach Zustellung des Beschlusses auf Entscheidung des Revisionsgerichtes angetragen werden. In diesem Verfahren wird geprüft, ob die Frist wirklich versäumt ist. Daneben kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den allgemeinen Vorschriften beantragt werden, wenn der Beschwerdeführer ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert war (§ 44 StPO; Rz. 1079 ff.).
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Zur Form der Revisionseinlegung bestimmt § 341 StPO, dass sie rechtswirksam schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle des iudex a quo erklärt werden kann. Sie könnte schon in der Hauptverhandlung sogleich nach der Urteilsverkündung zu Protokoll gegeben werden. Das sollte der Verteidiger jedoch unterlassen. Denn er müsste damit rechnen, an die Geschäftsstelle verwiesen zu werden1. Dagegen kann eine sachliche Information hierzu unbedenklich sein, was oft im Interesse des Mandanten liegt. Am einfachsten und sichersten ist die Einlegung der Revision in schriftlicher Form. Sie kann durch den Verurteilten ohne Mitwirkung eines Verteidigers oder eines Rechtsanwalts erfolgen. Adressat ist nur das Gericht, nicht die Staatsanwaltschaft. Im Übrigen gelten die allgemeinen Grundsätze der Rechtsmitteleinlegung (Rz. 826 ff.).
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Viele Verteidiger verbinden mit der Einlegung der Revision bereits die Revisionsanträge und eine formelle Kurzbegründung wie etwa: „Es wird die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt.“ Das ist teils fehlerhaft, teils gefährlich, weil damit für den Fall einer Versäumung der Revisionsbegründungsfrist der Weg der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 44 StPO; Rz. 1079 ff.) verbaut wird. Eine Wiedereinsetzung kommt nur in Betracht, wenn die Frist absolut versäumt ist. Zur Nachholung einzelner Rügen wird in aller Regel keine Wiedereinsetzung bewilligt (Rz. 911). Der Verlust der Wiedereinsetzung trifft den Verteidiger 1 So Nr. 142 Abs. 2 S. 2 RiStBV.
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Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 900
auch dann, wenn er bei der Einlegung der Revision nur die Sachrüge vorsorglich erhoben und damit die Revision „begründet“ hatte1. Die damit sichtbar werdende Verantwortung des Verteidigers ist für die Strenge des Revisionsrechts und die Gefährlichkeit dieser Materie besonders charakteristisch. Bei alldem ist andererseits zu beachten, dass ein Verschulden des Verteidigers auch in diesem Bereich für den Angeklagten nicht als eigenes Verschulden im Sinne des § 44 StPO zu gelten hat (Rz. 6, 906, 1081), wenn ihm nicht ein Mitverschulden zur Last fällt2. e) Begründung der Revision (Allgemeines) Literatur: Blaese/Wielop, Die Förmlichkeiten der Revision in Strafsachen, 3. Aufl. 1991; Burhoff, Verteidigerfehler in der Tatsachen- und Revisionsinstanz, StV 1997, 432; Dahs, Überspannung der Anforderungen an den Sachvortrag aus der Sicht des Revisionsführers, in: Grundprobleme des Revisionsverfahrens, 1991, S. 85; Dahs, Die Revisionsbegründung – Puzzle oder Glücksspiel?, StraFo 1995, 41; Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl. 2012, Rz. 50 ff.; Gollwitzer, Anforderungen an den Tatsachenvortrag einer Revisionsbegründung, JR 1996, 474; Gollwitzer, Zur Frage, ob das Revisionsgericht nur auf eine Verfahrensrüge zu prüfen hat, ob durch das Berufungsgericht die Vorschrift StPO § 328 Abs. 2 verletzt wurde, JR 1997, 432; Gribbohm, Das Scheitern der Revision nach § 344 StPO, NStZ 1983, 97; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010, Rz. 158 ff.; Hamm in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 603 ff.; Herdegen, Die Beruhensfrage im strafprozessualen Revisionsrecht, NStZ 1990, 513; Maatz, Mitwirkungspflicht des Verteidigers in der Hauptverhandlung und Rügeverlust, NStZ 1992, 513; Maul, Der notwendige Umfang des Tatsachenvortrags aus der Sicht des Revisionsrichters, in Grundprobleme des Revisionsverfahrens, 1991, S. 71; Mosbacher, Der Spielraum des Tatrichters bei Wertungs- und Wahrscheinlichkeitsurteilen, FS Seebode, S. 227 ff.; Park, Die Erwiderung der Verteidigung auf einen Revisionsverwerfungsantrag gem. § 349 Abs. 2 StPO, StV 1997, 550; Schlothauer/ Weider, Verteidigung im Revisionsverfahren, 2. Aufl. 2013; Schulze, Iudex non calculat? Zur Berechnung der Revisionsbegründungsfristen nach §§ 345 Abs. 1 S. 1, 43 Abs. 1 StPO, JR 1996, 51; Ventzke, Zu den formellen Anforderungen an die Revisionsrüge, dem Angeklagten sei nicht das letzte Wort gewährt worden, StV 1995, 177; Ventzke, Zur Rechtzeitigkeit der Revisionsbegründung in Strafsachen und zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei versäumter Begründungsfrist, StV 1997, 227; Widmaier, Gemeinsame Revisionsbegründung mehrerer Mitangeklagter bei gleichlautenden Verfahrensrügen, NStZ 1998, 99; Willms, Vorsorgliche Begründung der Revision?, NJW 1965, 2334. Vgl. auch Cierniak/Zimmermann, aus der Rechtsprechung des BGH zum Strafverfahrensrecht, NStZ-RR 2014, 97; 129; 165; Cirener, Zu Zulässigkeit von Verfahrensrügen in der Rechtsprechung des BGH, NStZ-RR 2014, 71; 100.
Hier handelt es sich um den schwierigsten Teil des Revisionsverfahrens. 900 Die dabei begangenen Fehler sind weitgehend irreparabel. Sie stellen das größte Kontingent der fehlerhaften Revisionen dar. Die Materie ist spe1 U.a. OLG Oldenburg v. 26.10.1967 – 1 ARs 61/67, NJW 1968, 64; Sarstedt, JR 1960, 146; Willms, NJW 1965, 2334. 2 BVerfG v. 13.4.1994 – 2 BvR 2107/93, NJW 1994, 1856; BGH v. 12.1.1993 – 5 StR 568/91, NJW 1994, 3112; BGH v. 13.5.1997 – 1 StR 142/97, NStZ 1997, 560; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 StPO Rz. 18.
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Rz. 901
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
ziell. Das liegt in erster Linie an der außerordentlichen Strenge der Formvorschriften und ihrer Auslegung in der Rechtsprechung. aa) Mindesterfordernisse 901
Die Revision kann wirksam nur darauf gestützt werden, dass eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist (§ 337 StPO). Aussichtslos sind daher Revisionen, die lediglich Angriffe auf tatsächliche Feststellungen enthalten. Deren Nachprüfung ist dem Revisionsgericht nicht gestattet. Es ist vielmehr daran gebunden. Darin liegt das Wesen der Revision. Wohl die meisten Revisionen verstoßen gegen dieses Prinzip und werden deshalb verworfen.
902
Als Rechtsnorm in diesem Sinne kommen Verfahrensvorschriften und materiell-rechtliche Rechtssätze in Betracht. Aus der Revisionsbegründung muss deshalb hervorgehen, ob die Revision auf Verfahrensfehler oder die Verletzung materiellen Rechts gestützt wird (§ 344 Abs. 2 StPO). Im erstgenannten Fall müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden, während im anderen Fall die „allgemeine Sachrüge“ ohne nähere Begründung genügt. bb) Revisionsanträge
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Sie gehören mit in die fristgebundene Revisionsbegründungsschrift. Sie bestimmen die Prüfungspflicht des Revisionsgerichts. Allerdings ist eine besondere Form nicht vorgeschrieben. Es genügt, dass der Umfang der Anfechtung des Urteils zu erkennen ist. Dennoch sollte der Verteidiger einen artikulierten Antrag formulieren. Bereits hierbei unterlaufen häufig Fehler. Der Antrag „freizusprechen“ kann falsch sein, wenn nur ein die sachliche Entscheidung nicht betreffender Verfahrensfehler gerügt wird (z.B. Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes). Hier kann das Revisionsgericht nur aufheben. Der Antrag auf Freisprechung ist überdies niemals erforderlich und für die Entscheidung des Revisionsgerichts bedeutungslos. Selbst der Antrag auf Zurückverweisung, der meist als Eventualantrag gestellt wird, ist für das Revisionsgericht eine Floskel. Der Antrag hat sich richtigerweise nur auf die Aufhebung des Urteils zu richten.
904
Häufig werden die Anträge auch in einer unlogischen Reihenfolge gestellt, die nicht dem Interesse des Mandanten entspricht, indem in erster Linie Aufhebung und Zurückverweisung und nur hilfsweise Freisprechung beantragt wird. Zwar ist eine Reihenfolge nicht vorgeschrieben. Die falsche Einordnung kann aber besonders wegen der Konkurrenz der Revisionsrügen sinnwidrig sein. Die Verfahrensrüge bedarf keiner Erörterung, wenn die Sachrüge durchgreift. Für den Fall einer erstrebten Zurückverweisung kann es ratsam sein zu beantragen, die Sache an ein anderes Gericht desselben Landes zu verweisen (§ 354 Abs. 2 StPO), wenn die Ortsatmosphäre der ersten Verhandlung einen Klimawechsel 538
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 906
wünschenswert macht. Geeignetenfalls entspricht der BGH solchen Anregungen, z.B. in öffentlichkeitswirksamen Sachen, die in erheblichem Umfang medial begleitet werden1. Dazu sollte man in der Revisionsbegründung etwas vortragen. Falsch ist die Formulierung: „Ich werde beantragen […]“, weil der Antrag einen essentiellen Bestandteil der schriftlichen Revisionsbegründung gem. § 344 StPO darstellt und nicht Ankündigung einer erst in der mündlichen Verhandlung wirksam werdenden Prozesshandlung ist. cc) Frist und Form Die Frist zur Rechtfertigung der Revision beträgt einen Monat. Sie be- 905 ginnt im Regelfall mit der wirksamen Zustellung des angefochtenen (vollständigen) Urteils (vgl. § 345 Abs. 1 StPO)2. Maßgebend ist bei Zustellung an mehrere Empfangsberechtigte auch hier die letzte Zustellung (§ 37 Abs. 2 StPO). Bei mehreren Verteidigern soll die Zustellung an einen genügen3. Wenn das Gericht gegen die versäumte Einlegungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt, beginnt die Frist mit der Zustellung des entsprechenden Beschlusses, falls dem Revisionsführer in der Zwischenzeit das Urteil zugestellt worden ist4. Der Verteidiger muss beachten, dass die Rechtfertigungsschrift vor Ablauf der Frist bei Gericht eingegangen sein muss. Es empfiehlt sich die Übersendung als Einschreiben und ggf. per Kurier, Fernschreiben, Telefax oder Computerfax5 (vgl. im Einzelnen Rz. 908, 826 ff.). Der Verteidiger sollte möglichst auch zwei Abschriften des Schriftsatzes beifügen, die für die Staatsanwaltschaft und den Generalstaatsanwalt bestimmt sind. Eine Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist gibt es im Strafprozess 906 nicht6. Das kann den Verteidiger hinsichtlich der fristgebundenen Prozessrügen in kaum zu bewältigende Situationen bringen. Die Frist von einem Monat reicht in umfangreichen Sachen für eine verantwortliche Prüfung und Bearbeitung einfach nicht aus. In der Praxis ist es auch nur in Ausnahmefällen möglich, dass ein Verteidiger für die Bearbeitung einer Revisionsbegründung von seinen sonstigen beruflichen Aufgaben „freigestellt“ wird. Die bewusste Versäumung der Revisionsbegründungsfrist mit anschließendem Gesuch um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Verschuldens des Verteidigers, das an sich nach der Rechtsprechung für den Angeklagten als unabwendbarer Zufall gilt, ist kein Ausweg aus dem Fristdilemma. Die Rechtsprechung steht nämlich 1 Seibert, Das andere Gericht (§ 354 Abs. 2 StPO), NJW 1968, 1316. 2 Zu den Einzelheiten Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 345 StPO Rz. 4 ff. 3 BGH v. 13.5.1987 – 2 StR 170/87, BGHSt. 34, 371; bei Miebach, NStZ 1989, 16. 4 RGSt. 76, 280; OLG Celle v. 2.2.1956 – 2 Ss 375/55, NJW 1956, 760. 5 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. StPO Rz. 139 ff. 6 Im Gegensatz dazu: § 551 Abs. 2 S. 4 f. ZPO, § 139 Abs. 3 S. 3 VwGO, § 120 Abs. 2 S. 3 FGO, § 164 Abs. 2 S. 2 SGG.
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Rz. 906
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
auf dem Standpunkt, dass in solchen Fällen in der Regel ein Mitverschulden des Angeklagten vorliegt, das der Wiedereinsetzung entgegensteht1. Ist der Verteidiger bereits in der Tatsacheninstanz tätig gewesen, so kann die Begründung wenigstens eines Teils der Verfahrensrügen langfristig vorbereitet werden (Rz. 512 ff., 890). Allerdings braucht ihm das in großen Sachen abschnitts- oder tageweise gefertigte Protokoll nicht schon während der Dauer der Hauptverhandlung überlassen zu werden2 (Rz. 710). Ersatzweise sind aber Notizen und Vermerke über mutmaßliche oder erkannte Verfahrensfehler während der Hauptverhandlung hilfreich, aufgrund deren einzelne Rügen schon vor Beginn der Begründungsfrist im Entwurf ausgearbeitet werden können. Die tatsächlichen Feststellungen zu den meisten absoluten Revisionsgründen des § 338 StPO können außerhalb des Hauptverhandlungsprotokolls getroffen werden, z.B. hinsichtlich der kraft Gesetzes ausgeschlossenen Richter (§ 338 Nr. 2 StPO), oft auch hinsichtlich der Rüge der Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes (§ 338 Nr. 6 StPO). Die Vorarbeiten für die Besetzungsrüge (§ 338 Nr. 1 StPO) und im Wesentlichen auch für die Rüge der Unzuständigkeit des Gerichts (§ 338 Nr. 4 StPO) müssen wegen der Rügepräklusion ohnehin schon vor bzw. während der Hauptverhandlung geleistet sein (Rz. 462 ff., 517 f.). Auch die Vorgänge um einen Beschluss im Sinne des § 338 Nr. 8 StPO muss der Verteidiger bereits in der Hauptverhandlung durch Notizen festgehalten haben. Auseinandersetzungen zwischen Verteidigung und Gericht über verfahrensrechtliche Fragen z.B. im Zusammenhang mit der Verhandlungsleitung (§ 238 Abs. 2 StPO), dem Fragerecht (§§ 240, 241 StPO) und dem Beweisantragsrecht (§§ 244, 245 StPO) müssen dem Verteidiger aus der Verteidigung in der Tatsacheninstanz jedenfalls in ihren Grundzügen noch so präsent sein, dass sie im Entwurf bearbeitet werden können (Rz. 512 ff., 890). Damit ist er auch hier in der Lage, die Verfahrensrügen bereits vor Einsicht in das Hauptverhandlungsprotokoll, die ihm gem. Nr. 160 RiStBV erst bei Beginn der Revisionsbegründungsfrist gewährt werden muss, „vorbearbeiten“ zu können. Dem sog. „Revisionsverteidiger“, d.h. dem erst für die Revisionsinstanz beauftragten Verteidiger stehen die aufgezeigten Möglichkeiten zur vorbereitenden Bearbeitung nur zum Teil zur Verfügung, weil er keine eigenen Erkenntnisse über den Verlauf der Hauptverhandlung der Vorinstanz hat. Er ist daher auf die Erteilung von Informationen durch den in der Tatsacheninstanz tätigen Verteidiger angewiesen. Dessen Kooperation ist indes nicht immer zu erreichen, weil die zusätzliche oder anderweitige Beauftragung eines Verteidigers für die Revision bei dem vorher tätigen Kollegen nicht selten Verstimmung auslöst, die ihn zum „Verstummen“ bringt, was auch „Kostengründe“ haben kann3. Wie der „Revisionsverteidiger“ in solchen Fällen die dekretierte „Informationsbeschaffungs1 BGH v. 21.12.1972 – 1 StR 267/72, BGHSt. 25, 89; OLG Frankfurt v. 5.3.1980 – 1 Ws (B) 44/80 OWiG, GA 1980, 427; vgl. auch OLG München v. 28.5.1973 – 2 Ws 258/73, AnwBl. 1973, 215. 2 BGH v. 29.10.1980 – 1 StE 4/78-1 StB 43/80, NJW 1981, 411 m.N. 3 BGH v. 23.11.2004 – 1 StR 379/04, StV 2006, 459 m. Anm. Ventzke.
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Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 909
pflicht“ erfüllen soll, ist nicht so recht ersichtlich. Da direkte oder indirekte Zwangsmittel nicht zur Verfügung stehen, müsste es genügen, dass er seine Bemühungen und ihren Misserfolg in der Revisionsbegründung darlegt. Solche Fallstrukturen sind insbesondere auch dann nicht selten, wenn Rechtsmissbrauch oder arglistiges Prozessverhalten (z.B. Rz. 651, 920) eine Rolle spielen können. Der Fristdruck hinsichtlich der allgemeinen Sachrüge ist begrenzt. Es ge- 907 nügt für die Wahrung der Frist, dass die Anfechtung wegen Verletzung des sachlichen Rechts „erklärt“ wird (§ 344 Abs. 2 StPO). Ein weiterer Begründungszwang besteht indes nicht. Die Erhebung der Sachrüge in dieser allgemeinen Form – in Verbindung mit dem Revisionsantrag – zwingt vielmehr das Revisionsgericht, nunmehr von Amts wegen das Urteil auf sachlich-rechtliche Fehler zu überprüfen (vgl. hierüber im Einzelnen Rz. 955 ff.). Das bedeutet, dass auch nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist Schriftsätze „nachgeschoben“ werden können, die sich auf die materiell-rechtliche Seite des Urteils beziehen. Sogar in der Hauptverhandlung können materiell-rechtliche Ausführungen nachgeholt werden. Dieses Verhältnis der Begründung von Verfahrens- und Sachrüge gibt die Rangfolge der Bearbeitung vor. Danach begeht der unter Zeitdruck stehende Verteidiger einen erheblichen Fehler, wenn er sich in der knappen Begründungsfrist ausschließlich mit der materiell-rechtlichen Lage beschäftigt, statt sich zunächst der fristgebundenen Begründung der Prozessrügen zuzuwenden. Selbst wenn nach Ablauf der Begründungsfrist die Akten zum Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht oder zur Bundesanwaltschaft beim BGH gelangt sind, können die Schriftsätze noch nachgereicht werden. Sie werden vom Revisionsgericht auch noch bis zur Hauptverhandlung entgegengenommen. In diesen Fällen tut der Verteidiger allerdings gut daran, sich telefonisch bestätigen zu lassen, dass die Schriftsätze eingegangen und vorgelegt worden sind. Um die Meinung der Staatsanwaltschaft zur Revision beeinflussen zu können, sollte die Möglichkeit der Nachreichung nicht ausgereizt werden. Daher empfiehlt es sich, durch Rückfrage bei der Geschäftsstelle der Tatsacheninstanz festzustellen, wann die Akten abgegeben worden sind. Da die Staatsanwaltschaften beim Revisionsgericht vielfach recht zügig arbeiten, muss der Verteidiger die ergänzende Revisionsbegründung dann schnellstens vorlegen, ehe vielleicht ein Antrag nach § 349 Abs. 2 StPO gestellt wird. Für die Revisionsrechtfertigung ist die Form der Erklärung zu Protokoll 908 der Geschäftsstelle des judex a quo oder einer vom Verteidiger unterzeichneten Schrift vorgeschrieben. Auch die schriftliche Rechtfertigung eines nicht zum Verteidiger bestellten Rechtsanwalts genügt (§ 345 Abs. 2 StPO). Da der Angeklagte selbst die Revision nicht wirksam begründen kann, 909 wird mit Recht gefordert, dass der Verteidiger nicht nur seine Unterschrift leistet, sondern für den Schriftsatz erkennbar die Verantwortung 541
Rz. 910
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
übernimmt1. Unzulässig ist daher die Revision, wenn der Verteidiger einen Schriftsatz seines Mandanten unterzeichnet2 oder auch nur auf diesen Bezug nimmt, etwa durch Formeln wie: „Nach Auffassung des Angeklagten […]“ oder „Auf Wunsch meines Mandanten trage ich noch vor […]“. An solchen Formulierungen scheitern nicht wenige Revisionen häufig. Wenn der Verteidiger sich außerstande sieht, eine Revision selbst zu begründen, weil sie ihm aussichtslos erscheint, oder wenn er überhaupt die Revision nicht weiter durchführen will, muss er den Mandanten an einen Kollegen oder an die Geschäftsstelle verweisen, wo dieser die Begründung zu Protokoll geben kann (§ 345 Abs. 2 Alt. 1 StPO)3. Daneben hat er zu erwägen, einen Revisionsantrag zu stellen und die allgemeine Sachrüge ohne Begründung im Einzelnen zu erheben oder die erhobene Sachrüge jedenfalls bestehen zu lassen. Damit sichert er dem Mandanten, der sich zu Unrecht verurteilt fühlt, die gerichtliche Nachprüfung von Amts wegen. Allerdings hat der Verteidiger seinen Entschluss in Einklang zu bringen mit seinen berufsrechtlichen Pflichten als Organ der Rechtspflege, die ihm ein nur Verzögerungszwecken dienendes Prozessverhalten verbieten können. Es kann andererseits nicht ausgeschlossen werden, dass Revisionsgerichte Rechtsfehler im Urteil entdecken, die dem Verteidiger verborgen geblieben sind. In keinem Falle wird es ihm als Missachtung des Gerichts angerechnet, wenn er die im Einzelnen nicht begründete Rüge vorsorglich aufrechterhält. 910
Die Folgen einer Verspätung oder einer äußeren Formwidrigkeit der Revisionsrechtfertigung regelt § 346 Abs. 1 StPO. Hiernach verwirft der iudex a quo die Revision als unzulässig. Hiergegen hilft wie bei der Einlegung (Rz. 897) der Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 346 Abs. 2 StPO) oder die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 44 StPO).
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Ein Sonderproblem ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung einzelner Revisionsrügen. Dies betrifft beispielsweise den Fall, dass nur die allgemeine Sachrüge fristgemäß erhoben worden ist und nachträglich die Voraussetzungen für eine Verfahrensrüge festgestellt werden oder umgekehrt, oder der Verteidiger einen weiteren Verfahrensfehler nach Fristablauf entdeckt. Die Rechtsprechung lehnt eine solche partielle Wiedereinsetzung grundsätzlich ab4. Ausnahmen werden
1 Dazu BVerfG v. 28.6.1983 – 1 BvL 31/82, BVerfGE 64, 152; BGH v. 20.6.1996 – 5 StR 48/96, NStZ 1997, 45; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 345 StPO Rz. 16 m.N. 2 BGH v. 2.8.1984 – 4 StR 120/83, NStZ 1984, 563; BGH v. 24.10.1973 – 2 StR 613/72, NJW 1974, 655 m. Anm. Meyer, JR 1974, 478; OLG Köln v. 25.2.1975 – Ss 290/74, NJW 1975, 890. 3 Zur Problematik dieses Verfahrens Dahs, Anm. zu OLG Hamm v. 5.2.1981 – 1 Ws 15/81, NStZ 1982, 345. 4 BGH v. 10.7.2012 – 1 StR 301/12, NStZ-RR 2012, 316 m.N.; i.E. Dahs, Revision, Rz. 556.
542
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 914
nur „bei besonderen Verfahrenslagen“ anerkannt1, z.B. bei Nichtgewährung der (notwendigen) Einsicht in die Verfahrensakten, insbesondere in das Hauptverhandlungsprotokoll2, verzögerlicher Postbeförderung3, schwerer Erkrankung des Verteidigers4. Keine Wiedereinsetzung ist gewährt worden, wenn der Verteidiger die Möglichkeit hatte, das Sitzungsprotokoll auf der Geschäftsstelle des Gerichts am Ort der Praxis einzusehen5, für die Rechtfertigung einer Rüge die Einsicht in das Protokoll nicht erforderlich war (fehlerhafte Ablehnung eines Hilfsbeweisantrages)6 oder ein Mitverschulden des Mandanten vorlag7. Der Verteidiger sollte in jedem Einzelfall die Gründe der Versäumung genau prüfen und in dubio den Antrag auf Wiedereinsetzung stellen. dd) Das „Aufspüren“ der Revisionsgründe Wegen der Knappheit der Begründungszeit muss der Verteidiger bei sei- 912 ner Arbeit planmäßig vorgehen. In großen Sachen liegen ihm ein Urteil von Hunderten von Seiten und Sitzungsprotokolle großen Umfanges vor, die nur schwer zu übersehen sind. Der Verteidiger muss zuerst die Verfahrensverstöße finden. Idealerweise hat er sie allerdings in der Tatsacheninstanz selbst bemerkt und für die Revision vorgemerkt. Vorab kommen die schon von Amts wegen zu beachtenden Prozessver- 913 stöße (Prozessvoraussetzungen, Verfahrenshindernisse) in Betracht, die sich aus den Akten ergeben können (Rz. 924). Beispiele: Ist die Strafverfolgung durch Verjährung ausgeschlossen (§§ 78 ff. StGB)? Ist ein erforderlicher Strafantrag – rechtswirksam – gestellt (§§ 77 ff. StGB)? Ergiebigste Quelle weiterer Rügen ist neben den Akten das Sitzungspro- 914 tokoll. Infolge des grundsätzlich absoluten Charakters der positiven und negativen Beweiskraft des Protokolls (§ 274 StPO; Rz. 709, 806 f.) lassen sich Verfahrensfehler damit beweisen, vorausgesetzt, dass sie die wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens betreffen8. Wichtig ist neben der von Amts wegen oder auf Antrag möglichen Berichtigung des Protokolls9
1 Vgl. die bei Dahs, Revision, Rz. 556 aufgeführten Fälle; zum Versehen der Kanzlei BGH v. 12.3.1996 – 1 StR 710/95, NStZ 1997, 45. 2 BGH v. 12.3.1996 – 1 StR 710/95, NStZ 1997, 45. 3 BGH v. 28.10.1980 – 1 StR 235/80, NStZ 1981, 110. 4 BGH v. 25.5.1965 – 3 StR 5/65, n.v. 5 Wobei an seine Bemühungen, die Akteneinsicht zu erreichen, hohe Anforderungen gestellt werden, BGH v. 31.3.2004 – 2 StR 482/03, StV 2005, 9. 6 OLG Hamm v. 27.1.1981 – 5 Ss OWi 2833/80, JMBl. NRW 1981, 167. 7 BGH v. 21.12.1972 – 1 StR 267/72, BGHSt. 25, 89 (92); OLG Frankfurt v. 5.3.1980 – 1 Ws (B) 44/80 OWiG, GA 1980, 427; i.Ü. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 StPO Rz. 18 m.N. 8 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 273 StPO Rz. 6. 9 Dahs, Revision, Rz. 522; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 271 StPO Rz. 22 ff.
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Rz. 915
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
das förmliche Berichtigungsverfahren im Falle der sog. „Rügeverkümmerung“ (Rz. 921)1. 915
Aus der Erfahrung empfiehlt es sich, das Protokoll in erster Linie in folgenden Beziehungen zu überprüfen, weil dort die meisten Fehler vorkommen2: – Haben nach dem Protokoll dieselben Richter an der Hauptverhandlung an allen Verhandlungstagen mitgewirkt, die im Urteilskopf benannt sind und das Urteil unterschrieben haben? (Hier kommen Widersprüche besonders dann vor, wenn das Protokoll vor der Sitzung schon vorbereitet war.) – Ist der Anklagesatz richtig verlesen worden (§ 243 Abs. 3 StPO)? – Hat das Gericht seiner Pflicht zur Belehrung des Angeklagten über das Schweigerecht genügt (§ 243 Abs. 4 S. 1 StPO)3? – Waren stets alle Personen anwesend, deren Anwesenheit in der Hauptverhandlung vorgeschrieben ist (§ 338 Nr. 5 StPO)4? Darauf ist besonders in den Fällen der notwendigen Verteidigung zu achten. – Ist bei Zeugen oder Sachverständigen gegen ein Eideshindernis (§ 60 StPO) vereidigt worden? – Sind die Zeugen über ihr Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden? Sind sie – wenn vereidigt – auch über das Recht zur Verweigerung des Eides belehrt worden (§ 61 StPO)? – Sind laut Protokoll uneidliche Aussagen im Urteil als eidlich gewertet worden? – Sind die im Urteil als Beweismittel verwerteten Urkunden ordnungsmäßig verlesen oder in sonst zulässiger Weise in die Hauptverhandlung eingeführt worden (Rz. 628)? Ist ggf. das Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO) gesetzmäßig durchgeführt worden? – Sind die Vorschriften über die Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung (z.B. § 247 StPO!) und bei der Urteilsverkündung richtig angewendet worden (Rz. 520, 936 ff.)? – Ist dem Angeklagten das letzte Wort richtig (evtl. auch wiederholt) gewährt worden (Rz. 765)?
1 Grundlegend BGH v. 23.4.2007 – GSSt 1/06, BGHSt. 51, 298 ff.; eingehend Dahs, Revision, Rz. 523; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 274 StPO Rz. 15 ff. 2 Vgl. hierzu auch die „Checkliste“ von Hamm in Beck’sches Formularbuch, S. 606 ff. 3 BGH v. 14.5.1974 – 1 StR 366/73, BGHSt. 25, 325. 4 Dazu Dahs, Volenti non fit iniuria – warum nicht auch bei § 247 StPO?, in FS Widmaier (2008), S. 15.
544
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 916
– Ist der Angeklagte auf Veränderungen des rechtlichen Gesichtspunktes oder tatsächlicher Umstände (§ 265 StPO) hingewiesen worden (Rz. 702 ff.)? – Hat nach einem evtl. Wiedereintritt in die Verhandlung eine erneute Beratung stattgefunden (Rz. 772)1? Das Protokoll hilft dem Verteidiger beim Aufspüren von Revisionsgründen auch hinsichtlich solcher Vorgänge, auf die sich die absolute Beweiskraft nicht erstreckt, die also nicht die „wesentlichen Förmlichkeiten“ der Hauptverhandlung betreffen, z.B. dass dem Angeklagten die Benutzung von Notizen oder das Mitschreiben untersagt worden ist. Hier bewährt es sich, wenn der Verteidiger in der Hauptverhandlung durch entsprechende Widersprüche (§ 238 Abs. 2 StPO) und Protokollierungsanträge für Beweissicherung gesorgt hat, um sein Rügerecht nicht zu verwirken (Rz. 806 ff.). Anhand des Hauptverhandlungsprotokolls und der Verfahrensakten ist auch festzustellen, ob die schriftlichen Urteilsgründe innerhalb der Frist des § 275 StPO zu den Akten gebracht worden sind. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift ist ein absoluter Revisionsgrund (§ 338 Nr. 7 StPO; Rz. 939). Die fehlerhafte Besetzung des Gerichts muss wegen der Rügepräklusion 916 (wenn sie eingreift2) schon früher, spätestens zu Beginn der Hauptverhandlung gerügt worden sein (Rz. 463 ff. und Rz. 517). Anträge und Rügen der Verteidigung müssen sich ebenso wie die diesbezüglichen Entscheidungen des Gerichts aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ergeben. Alle in der Tatsacheninstanz vorgetragenen Verfahrenstatsachen einschließlich der Auszüge aus dem Geschäftsverteilungsplan und ggf. späterer Änderungsbeschlüsse sind vollständig in die Revisionsbegründung aufzunehmen (§ 344 Abs. 2 StPO). Außerdem wird sich der Verteidiger mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Heranziehung des „falschen“ Richters objektiv-willkürlich war3. Die Richterbank ist auch dann nicht ordnungsgemäß besetzt, wenn ein Berufs- oder Laienrichter aus physischen, psychischen oder sprachlichen4 Gründen der Hauptverhandlung nicht folgen konnte, z.B. aus Krankheitsgründen oder weil er durch eine sachfremde Tätigkeit („Aktenlesen“) abgelenkt war: Auch der berühmte „schlafende Schöffe“ und der der deutschen Sprache nicht mächtige Schöffe5 gehören hierher. Diese Tatsachen müssen auf andere Weise als durch das Protokoll bewiesen werden (Freibeweis).
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Dahs, Revision, Rz. 388. Dahs, Revision, Rz. 122. Dahs, Revision, Rz. 126. Schöffe mit mangelnden Deutschkenntnissen. BGH v. 26.1.2011 – 2 StR 338/10, StraFo 2011, 152.
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Rz. 917
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
ee) Die unbeachtliche „Protokollrüge“ Literatur: Dahs, Das Schweigen des Verteidigers zu tatrichterlichen Verfahrensfehlern und die Revision, NStZ 2007, 241; Dahs, Revision, 8. Aufl. 2012, Rz. 118, 502, 522; Detter, Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo 2004, 329; Fischer, Strafverteidiger aus der Sicht des Richters – Rückblick und Ausblick, StV 2014, 47; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010, Rz. 292 ff.; Hassemer, Die Anwaltschaft und die Freiheit, AnwBl. 2008, 413, 418 f.; Jahn/Widmaier, Zum Verbot rügevernichtender Protokolländerungen, JR 2006, 166; Kohlhaas, Zur Beweiskraft des Sitzungsprotokolls nach § 274 StPO, NJW 1974, 23; Kury, Zum Umgang mit dem Hauptverhandlungsprotokoll: Ein Beitrag zur Aushöhlung der Protokollbeweiskraft, StraFo 2008, 185; Leitner, Was darf die Strafverteidigung?, StraFo 2008, 51; Park, Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo 2004, 335; Ranft, Hauptverhandlungsprotokoll und Verfahrensrüge im Strafprozess, JuS 1994, 867.
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Bei der Prüfung des Hauptverhandlungsprotokolls kommt es nicht selten vor, dass dieses hinsichtlich der Förmlichkeiten des Verfahrens einen Fehler beweiskräftig ergibt (§ 274 StPO), der tatsächlich nicht vorgekommen ist, z.B. wenn die tatsächliche Belehrung eines Zeugen über das Zeugnisverweigerungsrecht versehentlich nicht protokolliert wurde. Es kann dann die Beweiskraft des Protokolls im Grundsatz nicht, auch nicht durch Freibeweis, etwa dienstliche Äußerung der Gerichtsperson, entkräftet werden (Rz. 809). Die Rüge schlägt aber nur durch, wenn der Verteidiger den Fehler als in der Hauptverhandlung tatsächlich vorgekommen eindeutig behauptet. Wenn er nur auf das Protokoll „Bezug nimmt“, bleibt sein Vorbringen als „bloße Protokollrüge“ unbeachtlich. Denn er behauptet dann in Wirklichkeit nicht, dass der Fehler in der Hauptverhandlung tatsächlich vorgekommen ist, also der Zeuge fälschlich vernommen worden ist, sondern nur, dass dies im Protokoll so stehe. Auf dem Protokoll aber kann das Urteil nicht „beruhen“ (§ 337 StPO). Der Verteidiger hat das Protokoll allenfalls als Beweismittel anzugeben. Gefährlich wäre schon die Formulierung: „ausweislich des Protokolls ist der Zeuge über sein Weigerungsrecht nicht belehrt worden. Richtig ist dagegen: „Der Zeuge ist in der Hauptverhandlung gesetzwidrig über sein Zeugnisverweigerungsrecht nicht belehrt worden (§ 52 Abs. 3 StPO) und hat ausgesagt. Zum Beweis wird auf das Hauptverhandlungsprotokoll vom […] Bezug genommen.“ Die Nichtprotokollierung ist als solche kein Revisionsgrund, sondern immer nur die – durch die Nichtprotokollierung bewiesene – Tatsache der Nichtbelehrung.
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Der Verteidiger kommt nun allerdings, falls er um die seiner Revision dienliche Unrichtigkeit des Protokolls weiß, in Konflikt mit seiner allgemeinen Wahrheitspflicht. Hier handelt es sich um das Problem der sog. „unwahren Verfahrensrüge“, das an anderer Stelle erörtert wird (Rz. 920 ff.).
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Ein häufiger Fehler ist die Begründung einer Rüge, das Protokoll gebe bestimmte Vorgänge der Hauptverhandlung nicht zutreffend wieder oder 546
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 920
das Protokoll sei nicht unterschrieben oder unvollständig. Alles das sind unzulässige Protokollrügen. Wenn das Protokoll einen tatsächlich vorgekommenen Verfahrensfehler nicht ausweist, könnte der Verteidiger daran denken, im Wege des Freibeweises, insbesondere durch dienstliche Äußerungen der Prozessbeteiligten, den richtigen Hergang unter Beweis zu stellen, z.B. wenn der Vorsitzende dem Angeklagten das letzte Wort prozessordnungswidrig versagt hat. Den Versuch kann sich der Verteidiger aber sparen. Er scheitert an der Unwiderlegbarkeit des Protokolls, das die Erteilung des letzten Wortes ausweist (§ 274 StPO). Ein Versuch der Protokollberichtigung hat kaum bessere Aussicht (Rz. 843). ff) Die „unwahre Verfahrensrüge“, Protokollberichtigung und „Rügeverkümmerung“ Literatur: Bertheau, Rügeverkümmerung – Verkümmerung der Revision in Strafsachen, NJW 2010, 973; Cüppers, Gesetzlicher Zwang zur Lüge?, NJW 1950, 930 und 1951, 259; Dahs sen., Die unwahre Verfahrensrüge, AnwBl. 1951, 90; Dahs, Revision, 8. Aufl. 2012, Rz. 317 ff.; Dallinger, Gesetzlicher Zwang zur Lüge?, NJW 1951, 256; Denne-Niemann, Kritische Anmerkungen zur neuen Praxis der „Rügeverkümmerung“, wistra 2011, 213; Detter, Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo 2004, 329; Fischer, Strafverteidiger aus der Sicht des Richters – Rückblick und Ausblick, StV 2014, 47; Hamm, Verkümmerung der Form durch Große Senate oder: Die Pilatusfrage zum Hauptverhandlungsprotokoll, NJW 2007, 3166; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010, Rz. 292 ff.; Jahn/Widmaier, Zum Verbot rügevernichtender Protokollierungen, JR 2006, 166; Kalsbach, Standesrechtliche Grenzen der sog. unwahren Prozessrüge, AnwBl. 1951, 110; Knauer, Zur Wahrheitspflicht des (Revisions-)Verteidigers, FS Widmaier (2008), S. 291; Leitner, Was darf die Strafverteidigung?, StraFo 2008, 51; Lindemann/Reichling, Sieg der Wahrheit über die Form? Die neue Rechtsprechung des BGH zur „unwahren“ Verfahrensrüge, StV 2007, 152 ff.; Park, Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo 2004, 335; Satzger/Hanft, Erheben einer bewusst unwahren Protokollrüge im Rahmen der Revision als Rechtsmissbrauch?, NStZ 2007, 185; Schneidewin, Verfahrensrüge und Sitzungsprotokoll, MDR 1951, 193; Schünemann, Die Etablierung der Rügeverkümmerung durch den BGH und deren Tolerierung durch das BVerfG: 140 Jahre Rechtsprechung werden zu Makulatur, StV 2010, 538; Tepperwien, Die unwahre Verfahrensrüge – unzeitgemäßer Sieg der Form?, FS MeyerGoßner (2001), S. 595.
Unter dieser Bezeichnung wird eine Verteidigung verstanden, die unter 920 Ausnutzung der Beweiskraft des Verhandlungsprotokolls bewusst mit objektiv falschen verfahrensrechtlichen Angaben operiert. Wenn beispielsweise das Protokoll infolge eines Irrtums über die Zulassung der Öffentlichkeit zur Hauptverhandlung nichts aussagt oder sogar ihren Ausschluss positiv verzeichnet, so ist dies als Prozesstatsache an sich nach § 274 StPO absolut bewiesen, weil es sich um eine „wesentliche Förmlichkeit des Verfahrens“ handelt. Auf die Revision müsste folgerichtig – wenn auch die übrigen Voraussetzungen vorliegen – das Urteil wegen des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 6 StPO aufgehoben werden. So ist die revisionsgerichtliche Rechtsprechung auch fast 547
Rz. 921
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
100 Jahre verfahren. Die Rechtslage hat sich aber durch die neuere Rechtsprechung des BGH geändert: Wenn der Revisionsführer, d.h. sein Verteidiger die Unwahrheit der auf das Protokoll gestützten Rügebehauptung positiv kennt oder erfährt und sie trotzdem verfolgt, gilt dies als „Rechtsmissbrauch“ (vgl. dazu Rz. 651) und die Rüge verfällt dem Verdikt der Unzulässigkeit1. Dies als Ergebnis folgenden Verfahrens: Nach Vorlage der Revisionsbegründung hat der Vorsitzende im Benehmen mit dem Urkundsbeamten(-tin) der Geschäftsstelle von Amts wegen die Richtigkeit des Hauptverhandlungsprotokolls in Bezug auf die konkrete Revisionsrüge auf inhaltliche Richtigkeit und Vollständigkeit zu überprüfen. 921
Gelangen beide Urkundspersonen zu dem Ergebnis, dass das Hauptverhandlungsprotokoll hinsichtlich der erhobenen Revisionsrüge lückenhaft oder unzutreffend ist, so kann es (ungeachtet des Wortlauts des § 274 StPO) berichtigt werden.2 Damit wird der erhobenen Rüge der „verfahrensrechtliche Boden“ entzogen (sog. Rügeverkümmerung), wenn das nun folgende Berichtigungsverfahren dies rechtfertigt: Vor der von den Urkundspersonen beabsichtigten Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls ist dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.3 Widerspricht dieser substantiiert der Berichtigung, sind weitere Verfahrensbeteiligte, z.B. die richterlichen Beisitzer, der Staatsanwalt u.a., dazu zu befragen. Halten die Urkundspersonen danach trotz Widerspruchs des Beschwerdeführers nach Würdigung der Freibeweise an der Berichtigung fest, ist ihre diesbezügliche Entscheidung mit Gründen zu versehen. Auch zu dieser Entscheidung ist dem Beschwerdeführer rechtliches Gehör einzuräumen. Das Verfahren der Berichtigung und sein Ergebnis unterliegt in der Fortsetzung des Berichtigungsverfahrens letztlich der Kontrolle des Revisionsgerichts. Sind die verfahrensrechtlichen Vorgaben des Berichtigungsverfahrens – insbesondere die Anhörung des Verteidigers4 – nicht eingehalten oder die Begründung für die Berichtigung für das Revisionsgericht nicht überzeugend, gilt für das weitere Verfahren das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung.5 Eine weitere freibeweisliche Klärung der Beachtung der wesentlichen Förmlichkeiten zum Nachteil des Beschwerdeführers durch das Revisionsgericht ist nicht zulässig6. 1 BGH v. 11.8.2006 – 3 StR 284/05, NStZ 2007, 49 f. = BGHSt. 51, 88; verfassungsrechtlich gebilligt durch BVerfG v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248; vgl. auch BGH v. 28.6.2011 – 3 StR 485/10, StV 2012, 523. 2 BGH v. 23.4.2007 – GSSt 1/06, BGHSt. 51, 298; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 271 StPO Rz. 23, 26; vgl. hierzu auch Lindemann/Reichling, StV 2007, 152 ff. 3 BGH v. 23.4.2007 – GSSt 1/06, BGHSt. 51, 298; BGH v. 28.6.2011 – 3 StR 485/100, StV 2012, 523. 4 Vgl. BGH v. 28.6.2011 – 3 StR 485/10, StV 2012, 523 Rz. 28, 30. 5 So BVerfG v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248 (Rz. 8 f.); BGH v. 15.3.2011 – 1 StR 33/11, NStZ-RR 2011, 253; BGH v. 8.7.2009 – 2 StR 54/09, NStZ 2009, 582. 6 BGH v. 28.6.2011 – 3 StR 485/10, StV 2012, 523 Rz. 26.
548
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 924
Für den Verteidiger ergeben sich aus dieser Rechtslage folgende Kon- 922 sequenzen: Hat der Instanzverteidiger die Rüge in Kenntnis ihrer fehlenden verfahrensrechtlichen Grundlage, d.h. nur auf der Basis des ihm bewussten Protokollierungsfehlers erhoben, handelt er a priori rechtsmissbräuchlich. Ist er in „gutem Glauben“ an die Richtigkeit des Hauptverhandlungsprotokolls oder ist er sich insoweit nicht sicher, so ist die auf das nicht berichtigte Protokoll gestützte Rüge nicht ohne weiteres rechtsmissbräuchlich. Dann kommt es vielmehr auf das Ergebnis des Protokollberichtigungsverfahrens und die Überzeugungskraft des Berichtigungsbeschlusses an. Verbleiben insoweit keine vernünftigen Zweifel, sollte der Verteidiger die Rüge zurücknehmen, will er sich nicht dem Vorwurf des Rechtsmissbrauchs aussetzen. Ist die Berichtigung verfahrensfehlerhaft und/oder die Begründung der Berichtigungsentscheidung in der Sache rechtsfehlerhaft oder in der Begründung auch bei objektivierter Betrachtung nicht überzeugend oder fehlt gar eine substantielle Begründung, kann er unter Darlegung seiner rechtlichen Bedenken die Entscheidung dem Revisionsgericht überlassen. Schwierig kann es für den Revisionsverteidiger werden, dem nur das 923 Hauptverhandlungsprotokoll vorliegt und der trotz entsprechender Bemühungen keine (brauchbaren) Informationen vom Instanzverteidiger zu erhalten vermag (Rz. 906). Er kann seine Beurteilung dann lediglich und ausschließlich auf die Ergebnisse des Protokollberichtigungsverfahrens stützen. Man wird dann darauf vertrauen dürfen, dass erfahrene Revisionsrichter einen „dolus malus“ nur mit großer Zurückhaltung als erwiesen ansehen werden. f) Revisionsgründe Literatur: Dahs, Revision, 8. Aufl. 2012, Rz. 87 ff.; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010, Rz. 235, 312 ff.; Volk, Prozessvoraussetzungen im Strafrecht, 1978. Vgl. auch das vor Rz. 900 angeführte Schrifttum.
aa) Verfahrensvoraussetzungen und -hindernisse Ihre Bedeutung für die Revisionsaufgabe der Verteidigung ergibt sich vor- 924 nehmlich aus ihrer selbsttätigen Auswirkung auf die Entscheidung des Revisionsgerichts. Da es sich um von Amts wegen zu beachtende Umstände handelt, bedarf es keiner förmlichen Prozessrüge. Es ist daher unschädlich, wenn der Verteidiger den Mangel verspätet oder nicht formgerecht geltend macht oder ihn gar nicht bemerkt. Das Revisionsgericht muss das Verfahren durch Einstellung von Amts wegen beenden. Es empfiehlt sich natürlich trotzdem auch für den Verteidiger, diesen Prozessumständen nachzugehen. Es kann sich dabei ein so eklatanter Tatbestand ergeben, dass die Einstellung des Verfahrens außer Frage steht und weitere Begründungen entbehrlich sind. 549
Rz. 924
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
Bei der Prüfung sollten von den Prozessvoraussetzungen besonders beachtet werden: die Anklage, der Zulassungs- und Eröffnungsbeschluss, die Zuständigkeit, ein evtl. erforderlicher Strafantrag. Von den Verfahrenshindernissen kommen besonders in Betracht: Verjährung, Immunität, Straffreiheit, Rechtskraft und Teilrechtskraft sowie anderweitige Rechtshängigkeit. Vorsicht ist geboten, wenn Prozessvoraussetzungen fehlen1, die noch nachgeholt werden können (z.B. Fehlen der [vollständigen] Anklage oder des Eröffnungsbeschlusses). Hier kann es klüger sein, keine – wenn auch noch so gut begründete – Revision durchzuführen, weil sie im Ergebnis zu einer schwereren Verurteilung des Angeklagten führen kann. Das ist ausnahmsweise dann möglich, wenn das Revisionsgericht das Verfahren wegen Fehlens der Prozessvoraussetzungen einstellt und dann ein neues Verfahren in Gang kommt. Für das Prozesshindernis der Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten ist das Revisionsgericht allerdings in aller Regel auf den Sachvortrag der Verteidigung und den Freibeweis angewiesen. Das gilt nicht selten auch für die anderweitige Rechtshängigkeit und die res iudicata. bb) Prozessrügen Literatur: Amelung, Die Verwertbarkeit rechtswidrig gewonnener Beweismittel zugunsten des Angeklagten und deren Grenzen, StraFo 1999, 181; Baldus, Versäumte Gelegenheiten; zur Auslegung des § 338 Nr. 8 und des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO, Ehrengabe für Bruno Heusinger (1968), S. 373 ff.; Cirener, Die Zulässigkeit von Verfahrensrügen in der Rechtsprechung des BGH, NStZ-RR 2014, 33; 2014, 71; Dahs, Die Relativierung absoluter Revisionsgründe, GA 1976, 353; Dahs, Neue Aspekte zu § 344 II StPO, FS Salger (1994), S. 217 ff.; Dahs, Die Revisionsbegründung – Puzzle oder Glücksspiel?, StraFo 1995, 41; Dahs, Revision, 8. Aufl. 2012, Rz. 495 ff.; Foth, Tatgericht, Revisionsgericht – wer würdigt die Beweise?, DRiZ 1997, 201; Frommel, Zur Revisibilität von Verfahrensfehlern bei Ausschluss der Öffentlichkeit im Strafverfahren, StV 1990, 10; Hahn, Die Fristversäumung der Urteilsniederschrift als absoluter Revisionsgrund, ZRP 1976, 63; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010, Rz. 222 ff.; Hamm in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 626 ff.; Herdegen, Die Beruhensfrage im strafprozessualen Revisionsrecht, NStZ 1990, 513; Julius, Zur revisionsrechtlichen Überprüfung der Terminsbestimmung im Strafverfahren, StV 1990, 56; Katholnigg, Fehler bei der Schöffenwahl, JR 1990, 82; Kindhäuser, Zu den Konsequenzen einer Verletzung der Geschäftsverteilung im Strafprozess aus revisionsrechtlicher Sicht, JZ 1993, 478; Langkeit, BGH – Beschränkung der Öffentlichkeit durch das Hausrecht des Betriebsinhabers, WiB 1994, 701; Maatz, Die Fortsetzung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten, DRiZ 1991, 200; Mehle, Die „Relativierung“ der absoluten Revisionsgründe – vom Niedergang der Formenstrenge, FS Dahs (2005), S. 381; Miebach, Die Zulässigkeit von Verfahrensrügen in der Rechtsprechung des BGH, NStZ-RR 1998, 1; Pahlmann, § 338 Nr. 7 StPO ein absoluter Revisionsgrund, NJW 1979, 98; Park, Der Öffentlichkeitsausschluss und die Begründungsanforderungen des § 174 I 3 GVG, NJW 1996, 2213; Rieß, Zur Zuständigkeit der allgemeinen und besonderen Strafkammern, NJW 1979, 1536; G. Schäfer, Gedanken zu Beweiskraft des tatrichterlichen Verhandlungsprotokolls unter be1 Vgl. dazu i.E. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. StPO Rz. 141 ff.
550
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 926
sonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des BGH, FS 50 Jahre BGH, II (2000), S. 707; Schneiders, Verletzung der Öffentlichkeit durch Bitte an einen Zuhörer, den Sitzungssaal zu verlassen?, StV 1990, 91; Sieg, Zum Begriff des erkennenden Richters im Sinne des § 28 II 2 StPO, StV 1990, 283; Stein, § 338 Nr. 7 StPO und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, NJW 1980, 1086; Stein, Zulässigkeit eines Verhandelns über den Ausschluss der Öffentlichkeit in Abwesenheit des Angeklagten, StV 1995, 251; Widmaier, Wohin entwickeln sich die absoluten Revisionsgründe?, Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, 1991, S. 77; Widmaier, Überholende Kausalität bei Verfahrensrügen, FS Hanack (1999), S. 387. Vgl. auch das vor Rz. 816 angeführte Schrifttum sowie die Berichte von Cierniak/ Zimmermann, Aus der Rechtsprechung des BGH zum Strafverfahrensrecht, z.B. NStZ-RR 2012, 97, 129, 193, 232; 2014, 129.
Für die Wirksamkeit von Prozessrügen sind strenge Anforderungen zu be- 925 achten. Immer wieder wird verkannt, dass es eine „allgemeine Prozessrüge“ – analog der allgemeinen Sachrüge (Rz. 955 ff.) – nicht gibt. Es ist daher sinnlos, bei der Revisionseinlegung oder in der Begründungsschrift „vorsorglich“ zu erklären: „Es wird die Verletzung formellen Rechts gerügt.“ Entsprechende Erklärungen sind zudem gefährlich, weil sie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausschließen können. Worauf es dem Revisionsgericht ankommt, sind die (positiven und nega- 926 tiven) Tatsachen, die den Prozessfehler ausmachen und bis zum Urteil „erhalten“ geblieben sind bzw. fortgewirkt haben. Sie müssen präzise angegeben werden, da die Revision sonst verworfen wird (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO). Die „tatsachenfeindliche“ Revisionsinstanz öffnet hier also im Bereich der Prozessrüge dem Angreifer das Feld der Tatsachen und Tatsachenbeweise, allerdings nur der Prozesstatsachen (etwa eines Hinweises nach § 265 StPO), nicht der materiellen Falltatsachen (etwa einer Tötungshandlung). Das Revisionsgericht will genau wissen, was sich in der Hauptverhandlung ereignet bzw. nicht ereignet hat und wie es bewiesen werden soll. Nur wenn er den Verfahrensfehler bestimmt behauptet und darlegt, dass dieser bis zum Urteil fortgewirkt hat, wird seine Rüge geprüft. Stellt er ihn bloß als möglich oder wahrscheinlich hin, oder bittet er sogar nur um Prüfung, ob ein Fehler, etwa bei der Ablehnung eines Beweisantrages, vorgekommen sei, ist seine Rüge aussichtslos, weil unzulässig. Selbst wenn der Verteidiger sich des Prozessherganges selbst nicht mehr genau erinnert, muss er ihn bestimmt vortragen, sofern nur das Protokoll den Verfahrensfehler ausweist (Rz. 917, 920 ff.). Die Begründung muss auch im Einzelnen ganz konkret sein. Wenn z.B. die fehlerhafte Behandlung eines Beweisantrages gerügt wird, muss mitgeteilt werden, ob der Antrag überhaupt nicht beschieden, ob eine Ablehnung ohne Angabe von Gründen erfolgt oder in welchem Punkte die Begründung rechts- oder tatsachenwidrig sein soll. Bekämpft man die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuches, so müssen alle Tatsachen angegeben und bewiesen werden, aus denen die Befangenheit des Abgelehnten gefolgert werden soll.
551
Rz. 927
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
927
Außerdem ist vorzutragen, dass eine Heilung des Verfahrensfehlers nicht stattgefunden hat, z.B. durch Wiederholung des beanstandeten Verfahrensvorganges in ordnungsgemäßer Form1. In anderen Fällen kann der Rechtsfehler durch Verzicht der Verfahrensbeteiligten gegenstandslos geworden sein. Grundsätzlich verlangt das Revisionsgericht im Rahmen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO auch den vollständigen Vortrag darüber, wie sich die Hauptverhandlung nach dem gerügten Rechtsfehler in dieser Hinsicht weiterentwickelt hat. Der Verteidiger muss deshalb auch alle einschlägigen Negativtatsachen (d.h. alle Verfahrenstatsachen, die der Rüge entgegenstehen könnten) in die Revisionsbegründung aufnehmen, damit das Revisionsgericht ohne weitere Prüfung erkennen kann, dass es bei dem gerügten Rechtsfehler geblieben ist und der Rechtsfehler also bis zum Urteil fortbestanden hat2. Gibt der Fall dazu Anlass, muss der Verteidiger auch dazu Stellung nehmen, warum er (im Rahmen seiner verfahrensrechtlichen „Mit-Garantenpflicht“ – Rz. 1, 4) das Tatgericht nicht auf den Fehler hingewiesen hat3.
928
Aus diesen Beispielen ergibt sich zugleich, dass nicht nur das angefochtene Urteil der Revision unterliegt, sondern auch die der Urteilsfällung vorangegangenen Entscheidungen, die nicht selbständig mit der Beschwerde anfechtbar waren (§ 338 Nr. 3 und § 305 StPO; Rz. 845). Dazu gehören allerdings Entscheidungen aus dem Ermittlungsverfahren nicht, es sei denn, dass ihre Fehlerhaftigkeit (ausnahmsweise) noch bis zum Urteil weitergewirkt hat.
929
Für den Verteidiger besonders bedeutungsvoll ist die Revisionskontrolle der Entscheidungen des Tatrichters zur Bestellung, Auswahl und Mitwirkung eines Pflichtverteidigers. Zu diesen Fragen gibt es eine umfangreiche und differenzierende Rechtsprechung, auf die wegen aller Einzelheiten verwiesen werden muss (Rz. 145 ff.).
930
Ein sehr häufiger Fehler in Revisionsbegründungen ist die unzulässige Bezugnahme. Die Prozessrüge muss mit der vollständigen Begründung in der Begründungsschrift selbst enthalten sein. Eine Verweisung auf andere Schriftstücke ist unzulässig, insbesondere auf bestimmte Stellen der Akten, auf das Sitzungsprotokoll, auf schriftliche Beweisanträge oder sonstige Urkunden und Schriftsätze, erst recht auf solche von Mitverteidigern. Alles, was aus diesem Material verwertet werden soll, muss der Verteidiger in die Begründung als solche aufnehmen, andernfalls wird es nicht beachtet. Er darf also nicht vorbringen: „Der Verteidiger hat den aus der Anlage zum Sitzungsprotokoll Bl. 100 ersichtlichen Beweisantrag gestellt; die Strafkammer hat ihn mit der im Sitzungsprotokoll niedergelegten Begründung abgelehnt.“ Es muss vielmehr mindestens heißen: „Der Verteidiger hat in der Hauptverhandlung vom […] den Beweisantrag 1 I.E. Dahs, Revision, Rz. 402 ff. 2 Dazu Dahs in FS Salger (1995), S. 217 ff. 3 Vgl. dazu Dahs, Revision, Rz. 515, 405 m.N.
552
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 932
gestellt, den Zeugen X darüber zu vernehmen, dass er mit dem Angeklagten zur Tatzeit im Ausland gewesen ist; die Strafkammer hat den Beweisantrag am […] durch Beschluss […] abgelehnt mit der Begründung, dass sie vom Gegenteil der behaupteten Tatsachen überzeugt sei (Rz. 913 ff.). Darin liegt eine gesetzwidrige vorweggenommene Beweiswürdigung. Der Zeuge ist auch in der weiteren Hauptverhandlung nicht vernommen worden. Auf seine Vernehmung ist auch nicht verzichtet worden.“ (1) Absolute Revisionsgründe Sie sind im § 338 Nr. 1–7 StPO erschöpfend aufgezählt. Nr. 8 (Beschrän- 931 kung der Verteidigung) gehört nur scheinbar dazu, weil es sich dort um einen „wesentlichen Punkt“ handeln muss, was nicht von vornherein feststehen kann, sondern eben nur dann der Fall ist, wenn das Urteil auf dem Punkt „beruht“ (Rz. 942). Die Rüge der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (Nr. 1)1 932 muss, soweit gesetzliche Rügepräklusion greift, bereits in der Tatsacheninstanz in revisionsrechtlicher Form vollständig und umfassend erhoben worden sein (Rz. 463, 517, 916). In der Revisionsinstanz kann die Begründung der Rüge weder ganz noch teilweise durch einen abweichenden Sachvortrag „ersetzt“ werden, noch können auch nur einzelne Prozesstatsachen „nachgeschoben“ oder „ergänzt“ werden. Dagegen muss sich der Verteidiger bei der Bearbeitung der Revision mit der Frage befassen, ob die Gesetzespräklusion überhaupt Platz greift oder etwa Ausschlussgründe nach § 338 Nr. 1a–d StPO vorliegen. Kernpunkt seiner Prüfung ist im Übrigen die Frage, ob die Besetzungsrüge vom Gericht mit rechtlich einwandfreier Begründung zurückgewiesen worden ist. Insoweit hat er ggf. den einschlägigen Inhalt der Verfahrensakten sowie der Verwaltungsakten des Gerichts inklusive Geschäftsverteilungsplan sowie Änderungsbeschlüssen erneut zu überprüfen und die Ergebnisse des Freibeweises und die Begründung des Gerichtsbeschlusses genau zu bewerten und sich mit der Rechtsmeinung des Tatgerichts kritisch auseinanderzusetzen. Insgesamt ist die Bedeutung der Besetzungsrüge allerdings erheblich zurückgegangen, zumal der Revisionsverteidiger insoweit auf die kompetente und professionelle Arbeit des Instanzverteidigers angewiesen ist. Ferner haben die Gerichte, auch angesichts vereinfachter gesetzlicher Regelungen2, viel dazugelernt. Viele Revisionsschriften rügen den Revisionsgrund des „schlafenden Schöffen“. Nach der Rechtsprechung besteht der Grund nur, wenn der Richter „während eines nicht unerheblichen Zeitraums geschlafen hat“ und er „wesentlichen“ Verhandlungsvorgängen nicht gefolgt ist3. Wie 1 I.E. Dahs, Revision, Rz. 120 ff. 2 Vgl. nur BVerfG v. 3.5.2004 – 2 BvR 1825/02, StV 2005, 1; BGH v. 11.11.2003 – 5 StR 359/03, StV 2005, 2; BGH v. 23.12.1998 – 3 StR 343/98, StV 1999, 526 (zur „Zweierbesetzung“). 3 Nachw. bei Dahs, Revision, Rz. 155 f.
553
Rz. 933
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
soll aber das Revisionsgericht das feststellen? Eine Beweisaufnahme darüber und die Rüge entfallen häufig deshalb, weil der Verteidiger den „nicht unerheblichen Zeitraum“ bestimmt behaupten und darlegen muss, dass und welche wesentlichen Verfahrensvorgänge der Schöffe (oder Berufsrichter) nicht mitbekommen hat. Zudem müsste der Verteidiger damit zugeben, keine Unterbrechung der Hauptverhandlung beantragt zu haben, falls er den Vorgang bemerkt hat. Eine diesbezügliche anwaltliche Versicherung wird vom Revisionsgericht bei der Würdigung der Freibeweise in aller Regel unter Hinweis auf die entgegenstehenden dienstlichen Erklärungen von Richtern und Staatsanwalt überwunden. Damit wird die Frage, ob der Verteidiger durch sein Schweigen die Rüge wegen Arglist verwirkt hat, elegant umgangen. Übrigens ist auch Blindheit eines Richters nicht ohne weiteres Revisionsgrund1. Dagegen kann die „Dreierbesetzung“ der Strafkammer ebenso unzulässig sein wie die „Zweierbesetzung“2. Mangelnde Kenntnis der deutlichen Sprache bei einem Schöffen ist ebenfalls ein Revisionsgrund3. 933
Zur unbegründeten Zurückweisung einer Richterablehnung (§ 338 Nr. 3 StPO)4 ist zu beachten, dass das Gericht nicht nur die Rechtmäßigkeit der Entscheidung, sondern auch das Ermessen des Tatrichters kontrolliert5. Allerdings darf es dabei nur die in der Vorinstanz rechtzeitig vorgebrachten Gründe und Tatsachen berücksichtigen. Nachgeschobenes Vorbringen ist unbeachtlich. Häufig sind an sich begründete Rügen daran gescheitert, dass die Prüfung nach Beschwerdegrundsätzen durch das Revisionsgericht zwar die Begründung des angegriffenen Gerichtsbeschlusses als fehlerhaft erweist, das Gesuch jedoch aus anderen Erwägungen als unbegründet erkennt. Schließlich ist auch hier ggf. an den Vortrag von „Negativtatsachen“ zu denken, z.B. dass kein Rechtsmissbrauch des Verteidigers vorgelegen hat6.
934
Die Abwesenheit einer Person, deren Anwesenheit im Gesetz vorgeschrieben ist (§ 338 Nr. 5 StPO; Rz. 771), ist ein wichtiger Revisionsgrund. Er betrifft vor allem den Angeklagten selbst7 sowie in Fällen der notwendigen Verteidigung den Verteidiger (Rz. 507). Abwesenheit in unwesentlichen Teilen der Hauptverhandlung ist allerdings unschädlich. Die Verkündung der Urteilsformel, nicht dagegen der Urteilsgründe, ist
1 BGH v. 28.4.1953 – 5 StR 136/53, BGHSt. 4, 191; BGH v. 5.3.1954 – 5 StR 661/53, NJW 1954, 932; Dahs, Revision, Rz. 153. 2 BGH v. 11.1.2005 – 3 StR 488/04, StV 2005, 204. 3 BGH v. 26.1.2011 – 2 StR 338/10, NStZ-RR 2011, 349. 4 I.E. Dahs, Revision, Rz. 162 f. 5 Vgl. dazu BGH v. 3.11.2010 – 1 StR 500/10, NStZ 2011, 228. 6 Dahs, Revision, Rz. 170, 224, 403 ff. 7 Beispiele: BGH v. 28.7.2010 – 1 StR 643/09, NStZ 2011, 233; OLG Oldenburg v. 18.12.2009 – 1 Ss 196/09, StV 2011, 219; OLG Schleswig v. 16.3.2011 – 1 Ss 7/11 (19/11), StV 2011, 351; BGH v. 27.4.2010 – 5 StR 460/08, StV 2010, 562; BGH v. 18.1.2011 – 3 StR 504/10, NStZ-RR 2011, 151.
554
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 937
ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung1. Untaugliche Verteidigung kann nur ganz ausnahmsweise Revisionsgrund sein (Rz. 29 f.). Bei konkretem und für das Gericht erkennbarem Interessenwiderstreit in der Person des Verteidigers im Sinne des § 146 StPO ist der Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben2. Die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal nach § 247 StPO ist anfällig für revisionsrechtlich relevante Fehler3, in noch stärkerem Maße die Beurlaubung nach § 231c StPO4. Die Verhandlungsunfähigkeit (Rz. 514) steht der Abwesenheit gleich. Sie 935 ist nachträglich allerdings schwer zu beweisen, besonders wenn sie nicht geltend gemacht worden ist und das Gericht sie nicht selbst festgestellt hat. Der Verteidiger wird auch hier in der Regel an der Verwirkung seiner Rüge scheitern, wenn er es verpasst hat, eine Unterbrechung zu beantragen und einen Gerichtsbeschluss herbeizuführen (§§ 238 Abs. 2, 338 Nr. 8 StPO). Zur anwaltlichen Versicherung, sein Klient sei wegen Trunkenheit nicht verhandlungsfähig gewesen, hat der BGH einmal bemerkt: Der Senat erachtet es für ausgeschlossen, dass der Verteidiger das Gericht darauf nicht hingewiesen hätte. Sic! Wegen Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfah- 936 rens (§ 169 GVG, § 338 Nr. 6 StPO; Rz. 520 a.E.)5 wird immer wieder einmal gerügt, dass bestimmte Personen trotz Ausschlusses der Öffentlichkeit anwesend gewesen sind. Das ist eine Verkennung des Gesetzes. Es soll nur zur Vermeidung einer „Geheimjustiz“ die Öffentlichkeit des Verfahrens sichern, nicht deren Ausschluss. Nur die Abwesenheit der Öffentlichkeit oder eines Teils derselben kann deshalb ein Verfahrensverstoß sein. Der Verteidiger kann auch im Hauptverhandlungsprotokoll kontrollieren, ob bei der Urteilsverkündung die vorher ausgeschlossene Öffentlichkeit wiederhergestellt war. Revisionsträchtig ist häufig die zeitweilige Ausschließung der Öffentlichkeit durch Gerichtsbeschluss. Hier können dem Gericht viele Fehler unterlaufen6. In der neueren Rechtsprechung des BGH gibt es indes eine Tendenz, bloßen Verfahrensfehlern bei eindeutig richtiger Entscheidung ebenso den Erfolg zu versagen wie7 der Beweiskraft des Protokolls, wenn es der allgemeinen Lebenserfahrung widerspricht8. Zufällige Beeinträchtigungen der Öffentlichkeit sind nach herrschender 937 Meinung unbeachtlich. Nur wenn sie auf einer Anordnung des Gerichts 1 BGH v. 2.12.1960 – 4 StR 433/60, BGHSt. 15, 263; BGH v. 26.7.1961 – 2 StR 575/60, BGHSt. 16, 178; BGH bei Dallinger, MDR 1956, 11. 2 BGH v. 3.2.1981 – 5 StR 706/80, StV 1981, 117. 3 Vgl. Dahs, Revision, Rz. 175 ff., 187. 4 Dahs, Revision, Rz. 185. 5 Dahs, Revision, Rz. 197 ff. 6 Dahs, Revision, Rz. 203 ff. 7 Dazu Dahs, Revision, Rz. 211. 8 BGH v. 8.8.2001 – 2 StR 504/00, NStZ 2002, 270 m. Anm. Fezer = StV 2002, 525 m. Anm. Köberer.
555
Rz. 938
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
beruhen oder jedenfalls dem Gericht (Vorsitzenden) vorzuwerfen sind, begründen sie die Revision. Es hat deshalb z.B. keinen Sinn, den Justizwachtmeister anzuprangern, der aus Versehen die Saaltür nicht aufschließt. Der zwingende Revisionsgrund zwingt in diesem Fall nicht1. Auch wenn entgegen einer Verfügung des Vorsitzenden an einer Kontrollstelle Personen versehentlich angehalten werden und deshalb sogar Pressevertreter nicht an der Urteilsverkündung teilnehmen können, soll dies die Revision nicht begründen2. 938
Zu der Vorschrift über die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung gehört auch der S. 2 des § 169 GVG bezüglich der Film-, Fernseh- und Rundfunkaufnahmen während der Hauptverhandlung einschließlich der Urteilsverkündung. Sie sind grundsätzlich unzulässig (Rz. 113 ff., 520). Verstöße gegen dieses Verbot begründen regelmäßig die Revision, auch wenn der prozessuale Fehler sich erst während der Urteilsverkündung ereignet. Es handelt sich um einen absoluten Revisionsgrund im Sinne des § 338 Nr. 6 StPO. Das Verbot des § 169 S. 2 GVG gilt übrigens nicht für Verhandlungspausen in Abwesenheit des Angeklagten3 (Rz. 113).
939
Die letzten von den absoluten Revisionsgründen sind das Fehlen der Entscheidungsgründe und die verspätete Urteilsbegründung (§ 338 Nr. 7 StPO). Der erstere Fall kommt in der Praxis häufiger vor als man annimmt4, insbesondere bei Verlust der Akten, Tod, Abordnung, Ausscheiden aus dem Justizdienst5 des Strafrichters, Schöffengerichtsvorsitzenden und Vorsitzenden der kleinen Strafkammer oder Erkrankung, Verhinderung oder Versetzung des Berichterstatters im Kollegialgericht6. Das Fehlen der richterlichen Unterschrift fällt ebenfalls unter § 338 Nr. 7 StPO. Unzulänglichkeit der Entscheidungsgründe steht ihrem Fehlen nicht gleich (Rz. 954); anders kann es sein beim Fehlen wesentlicher Teile. Hier wird der Verteidiger sich aber oft mit der allgemeinen Sachrüge helfen können (Rz. 960). Für die rechtzeitige Urteilsbegründung ist in erster Linie der Eingangsvermerk der Geschäftsstelle maßgebend (§ 275 Abs. 1 S. 5 StPO), es sei denn, es kann auf andere Weise nachgewiesen werden, dass das fertig bearbeitete und vollständige Urteil rechtzeitig „zu den Akten gebracht“ worden ist7. Die Revision ist auch begründet, wenn das Ur1 BGH v. 28.11.1994 – 5 StR 611/94, NStZ 1995, 143. 2 BGH v. 31.8.1989 – I BGs 289/89-GBA 1 BJs 193/84-5-1 BJs 89/86-5, I BGs 289/89-GBA 1 BJs 194/84-5-1 BJs 89/86-5, BGHSt. 36, 242. 3 BGH v. 27.10.1969 – 2 StR 636/68, BGHSt. 23, 123. 4 Vgl. z.B. OLG Köln v. 18.4.1969 – Ss 41/69, MDR 1969, 864; OLG Schleswig, angeführt bei Ernesti u. Jürgensen, SchlHA 1969, 147; OLG Zweibrücken v. 16.10.1969 – Ss 137/69, NJW 1970, 959. 5 BGH v. 26.6.1992 – 3 StR 170/92, BGHR StPO § 338 Nr. 7 Entscheidungsgründe 2. 6 Z.B. BGH v. 27.4.1999 – 4 StR 141/99, StV 1999, 526. 7 Die Rspr. ist insoweit recht „großzügig“, vgl. i.E. BGH v. 5.7.1979 – 4 StR 272/79, BGHSt. 29, 43 (47); Kuckein in KK, § 338 StPO Rz. 95 ff.; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 338 StPO Rz. 55.
556
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 942
teil nicht innerhalb der Frist von allen Berufsrichtern unterschrieben oder aber im Falle der Verhinderung kein Vermerk nach § 275 Abs. 2 S. 2 StPO angebracht worden ist1. In der Anerkennung unvorhersehbarer und unabwendbarer Umstände für die Fristüberschreitung ist die Rechtsprechung eher streng2 und prüft auch die Dauer der Verhinderung sehr kritisch3, die übrigens gesondert gerügt werden kann. Zur unzulässigen Beschränkung der Verteidigung s. Rz. 942.
940
(2) Relative Revisionsgründe Hierher gehören solche Prozessverstöße, von denen im Einzelfall fest- 941 gestellt wird, dass das Urteil auf ihnen „beruht“ (§ 337 StPO). Wenn dies nicht der Fall ist, kann der Angeklagte durch den Fehler nicht beschwert sein. Der Nachweis des Beruhens braucht indessen in der Regel nicht geführt zu werden. Es genügt, dass das Urteil auf dem Verstoß beruhen kann, d.h., dass das Gegenteil nicht mit Sicherheit feststeht. Denn das Revisionsgericht kann von sich aus nicht ermitteln und erhebt darüber auch keinen (Frei-)Beweis, wie der Tatrichter bei Vermeidung des Verstoßes entschieden haben würde. Wenn z.B. das letzte Wort nicht gewährt oder ein notwendiger rechtlicher Hinweis unterblieben ist, wird in der Regel davon ausgegangen, dass der Verstoß das Urteil beeinflusst haben kann. Allerdings kann auf einem bloßen Protokollfehler das Urteil niemals beruhen (Rz. 917). Absolut unheilbare Mängel aus früheren Verfahrensstadien können unter bestimmen Voraussetzungen im Urteil fortwirken, z.B. Verstöße gegen §§ 136, 136a StPO und die Beweisverbote der §§ 52, 252 StPO4. Die Revisionsgerichte verfahren bei der Prüfung des „Beruhens“ im Allgemeinen großzügig. So wird z.B. bei unzulässiger Beschränkung des letzten Wortes des Angeklagten die Revision so gut wie immer erfolgreich sein (Rz. 952). Im Katalog der absoluten Revisionsgründe des § 338 StPO wird ein Fall 942 behandelt, der tatsächlich nur als relativer Revisionsgrund anzuerkennen ist. Es ist die Beschränkung der Verteidigung in „einem wesentlichen Punkt“ (§ 338 Nr. 8 StPO)5. Ob der Fehler „wesentlich“ war, kann nur im Zusammenhang des ganzen Urteils geprüft werden. Damit verliert der Revisionsgrund seinen absoluten Charakter und wird relativiert. Die Vorschrift ist so zu verstehen, dass die „Unzulässigkeit“ der Beschränkung sich aus einem bestimmten Verfahrensverstoß ergeben muss. Deshalb muss man die konkret verletzte andere Rechtsnorm ermitteln und 1 2 3 4
BGH v. 2.12.1975 – 1 StR 701/75, NJW 1976, 431. Vgl. nur BGH v. 27.10.2010 – 2 StR 331/10, StV 2011, 210 (211). Dahs, Revision, Rz. 213 f. BGH v. 27.2.1992 – 5 StR 190/91, BGHSt. 38, 214 = NStZ 1992, 294 m. Anm. Roxin, JZ 1992, 923; BGH bei Pfeiffer, NStZ 1981, 298. 5 Dazu Dahs, Revision, Rz. 216 f.
557
Rz. 943
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
angeben. Man kommt also z.B. nicht gegen den Gerichtsbeschluss an, der durch eine an sich zulässige Abtrennung des Verfahrens den Mitangeklagten zu einem gefährlichen Belastungszeugen macht. Ausnahmsweise kann die Rüge aber auch begründet sein, wenn im Einzelfall gegen keine konkrete, dem Schutz des Betroffenen dienende Verfahrensnorm, jedoch gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 6 MRK/Art. 20 Abs. 3 GG) verstoßen wurde, z.B. wenn ein kurzfristig gewählter oder bestellter Verteidiger sich nicht ausreichend vorbereiten konnte1 oder auch durch eine sachwidrige Sitzordnung, die eine „Flüsterverständigung“ zwischen Verteidiger und Klienten nicht gewährleistet, oder weil die äußeren Gegebenheiten im Sitzungssaal es nicht erlauben, die in der Verhandlung benötigten Unterlagen präsent zu halten u.a.2. Ausnahmsweise ist auch der stillschweigenden Ablehnung oder Übergehung eines Antrags die Bedeutung eines Beschlusses im Sinne des § 338 Nr. 8 StPO zugesprochen worden3. Die „Beschränkung der Verteidigung“ wird besonders gern im Rahmen der Revision geltend gemacht. In der Mehrzahl scheitert die Rüge. So wird oft übersehen, dass die Beschränkung der Verteidigung durch einen Beschluss in der Hauptverhandlung erfolgt sein muss (vgl. die Ausführungen Rz. 793 f.). Das häufige Vorbringen, man sei unterbrochen, zurechtgewiesen, mit Fragen zurückgewiesen, gegen Angriffe nicht in Schutz genommen, von der Presse diffamiert oder gar bedroht worden, geht ins Leere. Selbst schwerste Sachleitungsfehler des Vorsitzenden können ohne Gerichtsbeschluss nicht gerügt werden (§ 238 Abs. 2 StPO; Rz. 540). Ebenso haben Benachteiligungen außerhalb der Hauptverhandlung hier keinen Platz. 943
Als Revisionsgrund kann die unterlassene oder falsche Belehrung des Beschuldigten über seine Rechte gem. § 136 StPO in Frage kommen. Die Rechtsprechung folgert daraus im Allgemeinen kein Beweisverwertungsverbot, es sei denn, dass ein Fall des § 136a StPO angenommen wird (Rz. 253). Dagegen kann die unterlassene oder falsche Belehrung des Angeklagten in der Hauptverhandlung (§ 243 Abs. 4 S. 1 StPO) einen Revisionsgrund darstellen4. Unterlassene Belehrung sowie Fehler im Zusammenhang mit der Frage der Vereidigung von Zeugen werden häufig gerügt. Wichtig ist, dass im Konfliktfalle, also bei Widerspruch über die Vereidigung eine richterliche Entscheidung getroffen und protokolliert werden muss5. Jede Rüge in diesem Bereich bedarf besonders genauer Kenntnis des Gesetzes und der Rechtsprechung. Im Handbuch ist die Rechtslage besonders unter den 1 2 3 4
BGH v. 24.6.2009 – 5 StR 181/09, NStZ 2009, 650. Dahs, Revision Rz. 216. BGH – 4 StR 22/68 – bei Dallinger, MDR 1969, 195. BGH v. 27.2.1992 – 5 StR 190/91, BGHSt. 38, 214; BGH v. 29.10.1992 – 4 StR 126/92, BGHSt. 38, 372; BGH v. 14.5.1974 – 1 StR 366/73, BGHSt. 25, 325; ausf. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 136 StPO Rz. 20 ff. 5 BGH v. 15.2.2005 – 1 StR 584/04, StraFo 2005, 244 (zum alten Recht).
558
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 946
Rz. 570 ff., 593 dargestellt, worauf hier verwiesen wird. Das gilt auch für die Vernehmung von Verhörbeamten und Geständniszeugen. Bezüglich des § 55 StPO muss der Verteidiger wissen, dass der BGH an seiner Auffassung festhält, dass die Bestimmung nur den Schutz des Zeugen, nicht des Angeklagten bezweckt („Rechtskreistheorie“)1. Eine unterlassene Belehrung soll deshalb hier kein Revisionsgrund sein. Dagegen kann gerügt werden, dass die Belehrung über das Zeugnisver- 944 weigerungsrecht der Angehörigen nach § 52 StPO zwar erfolgt, die besondere Belehrung über die Vereidigung aber unterblieben sei (§ 63 StPO). Die gesetzwidrige Vereidigung eines Zeugen wird oft zur Aufhebung des Urteils führen müssen, weil das „Beruhen“ des Urteils auf dem Eid nicht auszuschließen sein wird. Dies soll allerdings nicht gelten, wenn das Gericht seinen Fehler bemerkt und die Beteiligten in der Hauptverhandlung darauf hingewiesen hat, dass es die Aussage als uneidliche werten wird2. Ohne einen solchen Hinweis ist der Rechtsfehler gegeben, auch wenn das Gericht die Aussage im Urteil als uneidlich gewertet hat. Viele Rügen betreffen den Teilnehmer der Tat (§ 60 Nr. 2 StPO). Er darf 945 in keinem Fall vereidigt werden. Ob aber ein Zeuge Teilnehmer im strafrechtlichen Sinne ist, kann eine der Revision zugängliche Rechtsfrage sein. Bei Angehörigen (§ 61 StPO) muss der Verteidiger die abschließende Aufzählung in § 52 Abs. 1 StPO beachten. Ein weites Feld der Möglichkeiten für Erfolg und Misserfolg der Revision 946 bietet die „Aufklärungsrüge“3. Sie ist deshalb so beliebt und auch wichtig, weil sie den einzigen Weg in die Falltatsachen darstellt. Ihre Grundlage hat die Rüge in der in § 244 Abs. 2 StPO begründeten Aufklärungspflicht des Gerichts. Diese ist zwar eine tragende Grundlage unseres Verfahrensrechts. Sie bedeutet aber nicht, dass das Gericht für alle Aufklärungslücken verantwortlich ist, die andere Prozessbeteiligte verschuldet haben. Besonders müssen die Verteidiger, die einen Beweisantrag versäumt haben, mit einem Scheitern der Aufklärungsrüge rechnen. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Aufklärungspflicht nur dann verletzt, wenn die Umstände das Gericht zum Gebrauch weiterer Beweismittel „drängen“4. Solche Umstände können sich z.B. aus den Akten ergeben (Urkunden)5, aus einem Beweisermittlungsantrag, den das Gericht als Beweisanregung zu behandeln hat (Rz. 692), aus sachlichen Anregungen 1 Vgl. dazu i.E. Senge in KK, § 55 StPO Rz. 19. 2 BGH v. 23.4.1953 – 4 StR 635/52, BGHSt. 4, 130. 3 Vgl. Dahs, Revision, Rz. 326 ff., 509 ff.; Schlothauer/Weider, Verteidigung im Revisionsverfahren, Rz. 1566 ff.; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 StPO Rz. 80 ff. 4 BGH v. 26.10.1989 – 1 StR 594/89, BGHR StPO § 344 Abs. 2 S. 2 Aufklärungsrüge 3; BGH v. 11.9.1990 – 1 StR 324/90, BGHR StPO § 344 Abs. 2 S. 2 Aufklärungsrüge 4; BGH bei Pfeiffer, NStZ 1981, 96 m.N. 5 Insoweit brauchen in der Revisionsbegründung für die behaupteten Tatsachen keine Fundstellen, z.B. in den Akten, angegeben werden, BGH v. 21.5.2003 – 4 StR 157/02, StraFo 2003, 384.
559
Rz. 947
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
etwa zu Gegenüberstellungen, Experimenten und anderem. Es kann sich auch aus den Umständen die Notwendigkeit einer Ortsbesichtigung oder der Zuziehung eines Sachverständigen und dergleichen ergeben. Der Verteidiger muss nun einerseits erkennen, dass die Aufklärungsrüge ihm zwar einzigartige Möglichkeiten bietet, den Sachverhalt in der Revisionsinstanz zu behandeln und Tatsachen einzuführen, insbesondere auch auf die der Revision sonst verschlossenen Akten zurückzugreifen (es gibt keine Prozessrüge der „Aktenwidrigkeit“), dass dies anderseits nur bei vollständiger Beherrschung der Materie gelingen kann. Der Verteidiger muss genau darlegen, welche Umstände das Gericht hätte aufklären, auf welchem Wege die Aufklärung hätte erfolgen, welche Umstände das Gericht zur Aufklärung hätten drängen müssen und was bei der Aufklärung für die Entscheidung wesentliches bewiesen worden wäre. Auch dass bestimmte Fragen an einen vernommenen Zeugen unterblieben sind, reicht nach feststehender Rechtsprechung grundsätzlich nicht aus, sofern der Zeuge überhaupt gehört worden ist1. Warum hat auch der Verteidiger die dem Angeklagten günstigen Fragen nicht selbst gestellt und sich über § 238 Abs. 2 (§ 241) StPO die Revision gesichert, wenn die Frage sich angeblich so „aufdrängte“?! (Rz. 787.) Die Aufklärungsrüge wegen Nichtvernehmung eines oder eines weiteren Sachverständigen (Rz. 682, 684) besonders bei Kinderaussagen oder geistig behinderten Personen bedarf besonders sorgfältiger Begründung aufgrund der einschlägigen Rechtsprechung. 947
Die meisten Erfolge bringt die Rüge wegen Ablehnung eines Beweisantrags (Rz. 661)2. Das erklärt sich aus der Neigung mancher Richter, Beweisanträge als eine Störaktion des Verteidigers (was sie ggf. auch sind, Rz. 651, 669) gegen eine schon gebildete oder in der Bildung begriffene Überzeugung des Gerichts zu empfinden. Sie sind ihnen häufig lästig. Ihre Beratung kommt auch unter Zeitdruck oft zu kurz: Auch will das Gericht verständlicherweise Vertagungen möglichst vermeiden. Der Umgang mit Beweisanträgen ist demnach fehleranfällig. Besonders Eventualbeweisanträge (Rz. 668) können manche Revisionsgründe auslösen3. Entweder wird vergessen, sie im Urteil überhaupt zu bescheiden, oder ihre Begründung ist in der dem Urteil gewidmeten Beratung unzulänglich ausgefallen. Vorsitzende schützen sich nicht selten gegen diese Gefahren und damit zugleich gegen die darauf abzielende „List“ des Verteidigers, indem sie auch über den nur hilfsweise gestellten Beweisantrag vorab gesondert beraten und ggf. auch entscheiden. Besondere Probleme bietet der Beweisantrag zu „negativen Tatsachen“4. 1 Dahs, Revision, Rz. 314, 478 ff. 2 Der Beweisantrag ist leider auch zu einem weiten Feld des Rechtsmissbrauchs geworden, vgl. dazu Dahs, Revision, Rz. 411; und z.B. BGH v. 27.3.2009 – 2 StR 302/08, BGHSt. 53, 257; BGH v. 23.9.2008 – 1 StR 484/08, BGHSt. 52, 355; BGH v. 9.5.2007 – 1 StR 32/07, BGHSt. 51, 333 (345). 3 Hamm, Rz. 602 ff. 4 Dazu OLG Jena v. 6.9.2004 – 1 Ss 138/04, StV 2005, 11 m.N.
560
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 951
Sehr schwierig sind für die Revision die Fragen des Urkundenbeweises 948 (Rz. 627), der mittelbaren „Zeugen vom Hörensagen“ und die Abgrenzung zum „Vorhalt“ der Urkunden (Rz. 636). Es muss auch hier auf die anderweitigen Ausführungen im Handbuch und in der „Revision im Strafprozess“1 Bezug genommen werden. Aus ihnen ergibt sich, dass in diesem Bereich durchaus Begründungsfehler vorkommen. Es soll sogar vorkommen, dass Gerichte sich weigern, Anträge überhaupt 949 entgegenzunehmen und darüber zu entscheiden. Das ist sowohl bei Verspätung von Beweisanträgen (§ 246 StPO) wie auch bei angeblichem Missbrauch des Antragsrechts unzulässig und führt – wenn ein Gerichtsbeschluss erwirkt worden ist – zur Aufhebung des Urteils nach § 338 Nr. 8 StPO2. Anders ist es, wenn Gerichte in Fällen des Rechtsmissbrauchs nach Fristsetzung Beweisanträge nur als Beweisermittlungsanträge entgegennehmen und erst im Urteil bescheiden (vgl. im Einzelnen Rz. 651, 661 f.)3. Die Anordnung, der Angeklagte dürfe wegen Rechtsmissbrauchs Beweisanträge künftig nur noch durch seinen Verteidiger stellen lassen, ist nur in Ausnahmefällen zulässig4. Der Versuch, über § 261 StPO im Wege der Prozessrüge Tatsachen über- 950 prüfen zu lassen, ist zum Scheitern verurteilt. Denn in Wirklichkeit schränkt dieser die freie Beweiswürdigung des Tatrichters in keiner Weise ein. Es betrifft nur die Fälle, in denen im Urteil Beweise verwertet worden sind, die in der Hauptverhandlung nicht (in zulässiger Weise) erhoben wurden, z.B. Lichtbilder, die nicht in Augenschein genommen worden sind, Aussagen von Zeugen, die weder gehört noch deren Bekundungen in sonst zulässiger Weise in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind5. Immer wieder übersieht der Tatrichter, auf die Veränderung des recht- 951 lichen Gesichtspunktes pp. (§ 265 StPO) hinzuweisen (Rz. 702 ff.)6. Der Verteidiger, der aus dem Studium von Urteil und Protokoll diese Entdeckung nach Hause nimmt, muss sich aber auf Überraschungen gefasst machen. Er kann vom Revisionsgericht plötzlich gefragt werden, wie er denn bei ordnungsmäßigem Hinweis nach § 265 StPO die Verteidigung im Einzelnen umgestellt haben würde. Wenn er keine Antwort weiß, beruht das Urteil nicht auf dem Verfahrensfehler und die Rüge scheitert.
1 Dahs, Revision, Rz. 126 ff. 2 BGH v. 14.5.1981 – 1 StR 160/81, NStZ 1981, 311; BGH v. 6.2.1979 – 5 StR 713/78, JR 1980, 218. 3 I.E. Dahs, Revision, Rz. 311, 411 m.N. 4 BGH v. 7.11.1991 – 4 StR 252/91, BGHSt. 38, 111 (113); BayObLG v. 5.3.2004 – 4St RR 22/04, StV 2005, 12. 5 I.E. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 261 Rz. 38a. 6 Dazu u.a. Michel, Richterliche Hinweis- und Protokollierungspflicht, MDR 1996, 773; Dahs, Revision, Rz. 337 ff.
561
Rz. 952
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
Auch sonst kann das Revisionsgericht feststellen, dass der Angeklagte sich nicht anders hätte verteidigen können. 952
Die Vorschriften über das „letzte Wort“ des Angeklagten (Rz. 765) werden von den Revisionsgerichten streng gehandhabt. Der Verteidiger sollte insoweit das Hauptverhandlungsprotokoll besonders sorgfältig prüfen. Wenn das letzte Wort nicht erteilt, in unzulässiger Weise entzogen oder beschränkt worden ist, wird das Revisionsgericht davon ausgehen, dass das Urteil auf dem Fehler beruhen „kann“ (Rz. 941). Das gilt insbesondere auch nach Wiedereintritt in die Verhandlung, falls das letzte Wort nicht erneut erteilt oder nicht erneut beraten1 worden ist2.
953
Als besonders beliebte „Prozessrüge“ wird auch die Verletzung der Denkgesetze oder Erfahrungssätze verwendet. Hier irrt der Verteidiger insofern, als diese Beanstandung keinen Verstoß gegen das Verfahren betrifft. Sie gehört vielmehr in den Bereich der allgemeinen Sachrüge, wo sie eine wichtige Rolle spielen kann. Sie ist daher auch nicht form- und fristgebunden (Rz. 907).
954
Auch eine ungenügende Begründung des Urteils wird häufig mit der Prozessrüge als Verstoß gegen § 267 StPO beanstandet. Darauf sollte sich der Verteidiger aber niemals beschränken. Unzulängliche Urteilsgründe sind – für sich allein genommen – selten ein Revisionsgrund, weil die Entscheidung nicht auf der Urteilsniederschrift beruhen kann, die erst nach der Hauptverhandlung fertiggestellt wird. Auch die Angabe der indiziellen Tatsachen (§ 267 Abs. 1 S. 2 StPO) ist nur durch eine Soll-Vorschrift geboten, die als solche nicht für revisibel angesehen wird. Unvollständigkeit der Entscheidungsgründe ist auch kein Aufhebungsgrund nach § 338 Nr. 7 StPO, weil der Fall des vollständigen „Fehlens“ von Gründen (Rz. 939) nicht vorliegt3. Dagegen begründen die Lückenhaftigkeit und Widersprüchlichkeit und auch andere wesentliche Begründungsmängel häufig die allgemeine Sachrüge (Rz. 960; 962). cc) Sachrüge Literatur: Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl. 2012, Rz. 414 ff.; Fezer, Die erweiterte Revision, 1974; Geerds, Revision beim Verstoß gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze, FS K. Peters (1974), S. 267; Hamm, Der strafprozessuale Beweis der Kausalität und seine revisionsrechtliche Überprüfung, StV 1997, 159; Hamm, Zur Revisibilität der Beweiswürdigung in Fällen von „Aussage gegen Aussage“, StraFo 2000, 253; Hamm, Ist Strafverteidigung noch Kampf?, NJW 2006, 2084; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010, Rz. 1261 ff.; Hamm in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 653 ff.; Herdegen, Die Überprüfung der tatsächlichen Feststellungen durch das Revisionsgericht 1 Vgl. i.E. Dahs, Revision, 387 f. 2 BGH v. 3.3.1981 – 5 StR 28/81, StV 1981, 221; BGH v. 1.10.1965 – 4 StR 351/65, BGHSt. 20, 273; Dahs, Revision, Rz. 382 ff. 3 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 267 StPO Rz. 42; RGSt. 43, 297; OLG Köln v. 28.4.1970 – Ss 56/70, JR 1970, 468 m. Anm. Kleinknecht.
562
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 957
aufgrund der Sachrüge, StV 1992, 527; Jähnke, Über die Befugnis des Revisionsgerichts zur Nachprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung, FS Hanack (1999), S. 335; Maier, Stefan, Aussage gegen Aussage und freie Beweiswürdigung, NStZ 2005, 246; Meyer-Goßner/Appl, Die Urteile in Strafsachen, 28. Aufl. 2008; Rieß, Zur Revisibilität der freien tatrichterlichen Überzeugung, GA 1978, 257; G. Schäfer, Freie Beweiswürdigung und revisionsrechtliche Kontrolle, StV 1995, 147; G. Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. 2000, Rz. 1752 ff.; G. Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 5. Aufl. 2012; Ventzke, „… bringt alles Palaver dem Revidenden nichts“, NStZ 2011, 481 (485 ff.); Volk, Kausalität im Strafrecht, NStZ 1996, 105; Wagner, Die Beweiswürdigungspflicht im tatrichterlichen Urteil im Falle der Verurteilung, ZStW 106 (1994), 259. Vgl. auch das vor Rz. 816 angeführte Schrifttum sowie die regelmäßigen Darstellungen von Detter zum Strafzumessungs- und Maßregelrecht, z.B. NStZ 2012, 135, 200 sowie speziell zum Maßregelrecht NStZ 2013, 26.
Sie betrifft die Verletzung materiellen Rechts durch seine falsche Anwen- 955 dung auf den vom Tatrichter festgestellten Sachverhalt (§ 337 Abs. 2 StPO). Zu ihrer formalen Wirksamkeit gehört, wie unter Rz. 907 dargestellt, ihre Erhebung in allgemeiner Form („Es wird die Verletzung materiellen Rechts gerügt“) binnen der gesetzlichen Frist. Die Begründung im Einzelnen kann bis zum Urteil nachgeschoben werden. Sie muss aber erkennen lassen, dass sie auch wirklich den festgestellten 956 Sachverhalt betrifft. Wenn der Verteidiger nur die Urteilsfeststellungen als falsch angreift und seine rechtlichen Schlussfolgerungen nur auf die von ihm als richtig angenommenen Tatsachen bezieht, dann ist diese Begründung so fehlerhaft, dass seine Revision unter Umständen überhaupt nicht als zulässige Sachrüge angesehen werden könnte, weil sie gar nicht den Sachverhalt des Urteils betreffe (§ 344 Abs. 2 StPO)1. Wer sich dagegen schützen will, sollte z.B. die Formulierung verwenden: „Es wird die Verletzung materiellen Rechts gerügt. Zur Ergänzung dieser Rüge wird vorgebracht […]“ oder „Die hiermit erhobene Sachrüge wird in einem gesonderten Schriftsatz näher ausgeführt werden.“ Sonst riskiert der Verteidiger, dass seine „Sachrüge“ durch nicht näher erläuterten Beschluss als unzulässig verworfen wird (§ 349 Abs. 1 StPO)2. Erweist sich die Sachrüge als zulässig, so kommt es darauf an, ob bei der 957 Anwendung materiellen Rechtsfehler unterlaufen sind. Der klassische Kernbereich betrifft die angewendeten Strafbestimmungen auf den festgestellten Sachverhalt (Subsumtion). Vorab ist aber nachzuprüfen, ob die Feststellung der Tatsachen im angefochtenen Urteil wirklich als solche hingenommen werden muss oder über die allgemeine Sachrüge beanstandet werden kann. Die Bindung des Revisionsgerichts an die Urteilsfeststellungen bedeutet zwar an sich die Hoffnungslosigkeit jedes Versuchs, diese zu korrigieren, mögen sie nach Ansicht des Verteidigers auch noch 1 RGSt. 67, 198; RGSt. 40, 99. 2 BGH v. 17.1.1992 – 3 StR 475/91, BGHR StPO § 344 Abs. 2 S. 1 Revisionsbegründung 2.
563
Rz. 958
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
so falsch sein. Der absolut zwingende Nachweis eines Rechtsfehlers bleibt für die Revision erfolglos, wenn der Tatrichter den unterstellten Sachverhalt so nicht festgestellt hat. Dies führt dazu, dass auch schwere Fehler in der Beweiswürdigung hingenommen werden müssen. Auch wenn sich der Verteidiger des Eindrucks nicht erwehren kann, dass die Entscheidungsgründe an den Urteilstenor „angepasst“ wurden; er muss diesen Fall verteidigen. Alles andere ist revisionsrechtlich vernichtend. 958
Wer sich von seinen Tatsachenvorstellungen nicht lösen kann, verstellt sich den Blick auf die Rechtsfehler des Urteils; nur auf diese kommt es an. Daher kann auch ein Verteidiger, der in der Tatsacheninstanz nicht tätig war und deshalb nur die Urteilsfeststellungen kennt, die Sachrüge meist vorurteilsloser und deshalb besser beurteilen und begründen (Rz. 892). Er befindet sich nämlich dabei in der gleichen Lage wie der Revisionsrichter, der ebenfalls in der Hauptverhandlung nicht anwesend war und dem auch der Blick in die Akten grundsätzlich verwehrt ist, weshalb er alles unterlassen und geistig ausblenden muss, was die Revision zum Tatsächlichen vorbringt.
959
Die von daher stammende Kritik an den Revisionsbegründungen der Verteidiger ist jedoch in mancher Beziehung einseitig und nicht gerecht. Der Verteidiger hat die paradoxe Aufgabe, seinem sich unschuldig fühlenden oder gebenden Mandanten klarzumachen, dass es – in der Revision – seinem Vorteil und dem Ziel des Freispruchs dienen soll, alles im Urteil ihm zur Last Gelegte – mag es auch völlig falsch sein – nicht nur widerspruchslos hinzunehmen, sondern darauf geradezu aufzubauen. Dieser soll also begreifen, dass nur darüber verhandelt wird, ob es sich um einen Diebstahl oder eine Unterschlagung, einen Treubruch oder einen Missbrauch (§ 266 StGB) handelt, dass er sich in dieser Instanz aber nicht dagegen wehren darf, überhaupt etwas getan zu haben. Was Strafprozessordnung und höchstrichterliche Rechtsprechung hier dem Stillhaltevermögen des Angeklagten einerseits und der Überzeugungskraft des Verteidigers anderseits abverlangen, ist nach den Erfahrungen der Verteidiger eine Zumutung, die sogar zur Zerstörung der Vertrauensbasis führen kann. Hier wird immer wieder die Frage laut, ob das Revisionsgericht letzten Endes nicht doch die gerechte Entscheidung anstrebe und deshalb auch an die Tatsachenfeststellungen herankäme, wenn es nur wolle. Hierauf wird in Abschnitt i) (Rz. 990) gesondert eingegangen. Hier sollen zunächst die Wege gewiesen werden, die (ausnahmsweise) zur Ausschaltung der Bindung des Revisionsgerichts führen können.
960
Das ist insbesondere dann möglich, wenn die mitgeteilten Tatsachen für die Feststellung des Straftatbestandes nicht ausreichen. Insoweit ist der Mindestinhalt der Urteilsbegründung in § 267 StPO vorgeschrieben. Diese Bestimmung ist nach ihrem Wortlaut recht eng. Insbesondere ist die Angabe der Beweismittel dort nicht vorgeschrieben, und bei Indizienbeweis ist die Angabe der indiziellen Tatsachen und deren Würdigung nur als „Soll-Vorschrift“ vorgesehen. Eine derartig kärgliche Urteilsbe564
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 962
gründung wäre hiernach mit einer verfahrensrechtlichen Rüge nicht zu bekämpfen (Rz. 954). Die Rechtsprechung hat hier aber im Rahmen der allgemeinen Sachrüge weitere Erfordernisse entwickelt. Die Tatrichter pflegen von sich aus ihr Urteil über § 267 StPO hinaus eingehend und mit einer umfassenden Beweiswürdigung zu begründen. Dazu erklärt der BGH: „Gibt der Tatrichter die für seine Überzeugungsbildung verwerteten Beweisanzeichen in den Urteilsgründen an, so muss er sie im Urteil lückenlos (!) zusammenfügen und unter allen (!) für ihre Beurteilung maßgeblichen Gesichtspunkten einzeln und in ihrer Gesamtheit würdigen“1. Geschieht das nicht, so kann das Revisionsgericht auf die Sachrüge das Urteil aufheben. Erst recht geschieht dies, wenn nur der Wortlaut des Strafgesetzes oder Leerformeln gebracht werden, die für die dem Revisionsgericht obliegende Nachprüfung der rechtlichen Subsumtion nicht ausreichen. Hat z.B. der wegen Diebstahls Angeklagte eine auf einer Hauswiese liegende Sache an sich genommen, bedarf es konkreter Darlegungen, aus welchen Umständen sich ein Gewahrsam des Hausbesitzers ergeben soll und wieso diese dem Täter bewusst gewesen sind. Fehlt es hier an der erforderlichen Genauigkeit, muss das Urteil wegen der Lückenhaftigkeit seiner Feststellungen aufgehoben werden. Auch die fehlende Wiedergabe der Einlassung des Angeklagten oder ihre fehlende Würdigung im Urteil kann ein sachlich-rechtlicher Mangel sein, weil das Revisionsgericht nicht nachprüfen kann, ob dem Schuldvorwurf (z.B. Fahrlässigkeit) eine rechtlich einwandfreie Beurteilung zugrunde liegt2. Das kommt besonders oft hinsichtlich der inneren Tatseite vor, die 961 leicht vernachlässigt wird. So muss bei Diebstahl das Urteil ausdrücklich feststellen, dass der Täter den fremden Gewahrsam erkannt hat. Eine solche Feststellung braucht allerdings meist nicht näher begründet zu werden, um bindend zu sein. Wenn aber der Tatrichter das Wissen des Täters um die tatsächlichen Verhältnisse erörtert, kann seine Schlussfolgerung angreifbar werden, so besonders im Falle der typischen Formulierung „Hiernach musste der Angeklagte ohne weiteres erkennen […]“. Diese Folgerung genügt nicht für die Feststellung des Vorsatzes. Denn sie passt auch auf die bloße Fahrlässigkeit. Dieser häufige Fehler ermöglicht meist die Aufhebung des Urteils. Wird ein Organisationsverschulden allein damit begründet, es sei ein fachlich ungeeigneter Mitarbeiter eingesetzt worden, so ist die Fahrlässigkeit nicht einwandfrei dargetan, wenn Feststellungen darüber fehlen, dass die mangelnde Eignung bekannt war. Hier sind auch Widersprüche des Urteils zu nennen, soweit sie die Ein- 962 deutigkeit der Tatsachenfeststellung aufheben. Wenn im vorgenannten Beispiel im ersten Teil des Urteils ein fremder Gewahrsam festgestellt ist, würde es einen damit unvereinbaren Widerspruch darstellen, wenn bei der Strafzumessung dem Täter zugutegehalten wird, dass er als Ort1 St. Rspr., vgl. nur BGH v. 18.12.1958 – 4 StR 399/58, BGHSt. 12, 311 (312). 2 BGH v. 31.10.1989 – 4 StR 538/89, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 18; OLG Düsseldorf v. 22.1.1985 – 5 Ss OWi 6/85-8/85 I, NStZ 1985, 323.
565
Rz. 963
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
sunkundiger die Hauswiese für freiliegend angesehen und deshalb den Gewahrsam nicht zuverlässig habe erkennen können. Ein solches Urteil könnte keinen Bestand haben. 963
Oft lässt sich auch dartun, dass im Urteil mancherlei naheliegende Möglichkeiten nicht erörtert sind1. Wenn ein Revisionsgericht an das Urteil herankommen will, leitet es daraus nicht selten ab, die Lücke könne auf eine fehlerhafte Rechtsauffassung zurückgehen. Ein Täter, der eine fremde Sache gegen den Willen des Eigentümers an sich genommen hat, ist wegen Diebstahls bestraft worden, wobei der Tatrichter im Urteil die Absicht der rechtswidrigen Zueignung festgestellt hat. Im Urteil ist nicht erörtert, ob der Täter nicht vielleicht darauf abgezielt haben könnte, dem Bestohlenen die Sache später wieder zurückzugeben. Damit könnte die „Absicht“ der rechtswidrigen Zueignung im Sinne des § 242 StGB und damit die Verurteilung entfallen. Wenn das Gericht allerdings nicht „will“, kann es ebenso die Begründung finden, die „Absicht“ sei als eine innere Tatsache für das Gericht bindend festgestellt.
964
Die Tatsachenfeststellungen brauchen auch dann nicht hingenommen zu werden, wenn sie auf Verstößen gegen die Denkgesetze oder gegen Erfahrungssätze beruhen. Sie ermöglichen die Aufhebung des Urteils, weil Denkgesetze als Rechtsnormen anzusehen sind2 oder weil ihre Verletzung mindestens bedeutet, dass die der Verurteilung zugrunde liegende Strafrechtsnorm nicht richtig, weil denkgesetzlich nicht richtig „angewendet“ worden ist (§ 337 Abs. 2 StPO)3.
965
Hier ergibt sich die Möglichkeit, sogar an die Beweiswürdigung des Gerichts heranzukommen, die sonst dem Revisionsrichter verschlossen ist. Ein beachtlicher Denkfehler liegt allerdings nur vor, wenn die Gesetze der Logik eindeutig verletzt sind. Wenn z.B. in einem Urteil eine Einzelstrafe von einem Jahr und 5 Monaten verhängt und diese bei späterer Zusammenrechnung mit 1,5 Jahren angenommen wird, so liegt der rechnerische Denkfehler eindeutig vor. Ebenso wäre es denkgesetzlich falsch, einen Angeklagten A nur aufgrund der Aussage des Mitangeklagten B mit der Begründung zu verurteilen, der Aussage des sich damit entlastenden Mitangeklagten B sei im Allgemeinen wenig zu glauben, im gegebenen Falle müsse die Aussage aber wahr sein, weil B die Tat „nicht allein“ durchgeführt haben könne. Das ist unlogisch. Deshalb kann hier die Beweiswürdigung zu Fall gebracht werden.
966
Es ist nachvollziehbar, dass in diesem Bereich die große Verlockung zu tatsächlichen Ausführungen liegt. Häufig sind es aber Revisionen, die Denkfehler offenbaren. So werden Schlussfolgerungen aus Tatsachen häufig nur deshalb als „unlogisch“ oder „widersprüchlich“ bezeichnet, 1 Z.B. BGH bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1984, 212; BGH v. 7.6.1979 – 4 StR 441/78, BGHSt. 29, 18; BGH v. 15.10.2009 – 4 StR 287/09. 2 BGH v. 18.3.1954 – 3 StR 87/53, BGHSt. 6, 70 (72); Dahs, Revision Rz. 434. 3 Hamm, Rz. 890.
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Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 969
weil der Revisionsführer aus den Tatsachen andere Schlüsse zieht als der Tatrichter. Das ist aber vollkommen unerheblich, solange die Schlussfolgerungen denkgesetzlich nicht unmöglich sind. Dass andere Folgerungen nähergelegen hätten, kann meist schwer überzeugen. Ebenso ist es nicht widersinnig, einem Zeugen in einem Punkt zu glauben und in einem anderen Punkt ihm den Glauben zu versagen. Der Tatrichter kann auch fünf Sachverständigengutachten verwerfen und einem anderen oder sogar keinem einzigen folgen. Er kann auch auf einem früheren Geständnis aufbauen, obwohl für den erfolgten Widerruf die besten Gründe vorgebracht worden sind. Es ist eben falsch, Feststellungen deshalb als Denkverstöße anzusehen, weil sie „nicht zwingend“ sind oder sehr fernliegen mögen. Sie dürfen nur nicht denkgesetzlich „unmöglich“ sein. Das Aufspüren von wirklichen Urteilsfehlern dieses Charakters kann 967 sich zu einer Art von Denksport entwickeln. Nur darf es auch hier nicht zu einem „Glasperlenspiel“ kommen, weil sonst der Boden vernünftiger Urteilsauslegung verlassen und nur noch dialektisch operiert würde. Wenn nichts Reales dahinter ist, wird das Revisionsgericht eine solche Gedankenspielerei nicht mitmachen und in aller Regel „aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe“, die Zurückweisung zu begründen wissen. Einer ähnlichen Beurteilung unterliegt die Revision wegen Verletzung 968 von Erfahrungssätzen1. Auch hier können nur Unmöglichkeiten, nicht bloße Unwahrscheinlichkeiten beanstandet werden. Wenn z.B. in einem Urteil festgestellt wird, dass eine Mutter ihre drei Kinder getötet und anschließend eine Tanzveranstaltung besucht habe, so nützt es nichts, dass solches der „Lebenserfahrung“ widerspricht. Auch die unwahrscheinlichsten Dinge kommen tatsächlich vor. Umgekehrt stellt manches Urteil „Erfahrungssätze“ auf, die es gar nicht gibt. So kann ein Angeklagter nicht mit dem alleinigen Argument überführt werden, nach der Lebenserfahrung habe jeder Autofahrer auf der Heimfahrt eine höhere Geschwindigkeit als auf der Hinfahrt zur Arbeit. Zwar kann der Tatrichter solche Erfahrungssätze mitverwerten, aber er darf sie nicht als zwingend behandeln. Zu den wirklich zwingenden Erfahrungssätzen gehören die naturgesetzli- 969 chen und allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisse, sofern sie einwandfrei gesichert sind, was der Verteidiger im einzelnen Fall nachprüfen muss. Hier kann das Revisionsgericht auch „aus eigener Wissenschaft“ urteilen, wenn es sich die erforderlichen Kenntnisse seinerseits verschafft hat. Lehrbücher unterschiedlicher Disziplinen auf dem Tisch des Revisionsgerichts können deshalb durchaus dazugehören. Auch kann der Senat selbst Sachverständige hören, wie dies in der Frage der Beweiskraft von Ergebnissen des „Lügendetektors“ geschehen ist2. 1 Dahs, Revision, Rz. 451. 2 BGH v. 17.12.1998 – 1 StR 156/98, BGHSt. 44, 308 = BGH v. 17.12.1998 – 1 StR 156/98, NJW 1999, 657.
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Rz. 970
970
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
Die Rüge der Verletzung des Rechtssatzes in dubio pro reo gehört zwar zum Standardinhalt vieler Revisionsbegründungen, wird aber sehr oft verkannt. Die Rüge ist nur dann begründet, wenn der Tatrichter noch Zweifel gehabt und trotzdem verurteilt hat. Nur wenn er noch andere Möglichkeiten gesehen und diese einfach beiseite geschoben hat, liegt ein Verfahrensfehler vor. Es spielt dagegen im Allgemeinen keine Rolle, ob der Tatrichter anderen, vielleicht näherliegenden Möglichkeiten den Vorrang hätte geben müssen. Ob der Tatrichter tatsächlich noch Zweifel gehabt hat, lässt sich aus den auch hier allein maßgebenden Entscheidungsgründen oft nur schwer nachweisen. Es genügt deshalb, wenn die Urteilsgründe die Möglichkeit des tatrichterlichen Zweifels nicht völlig ausschließen. Zweifel können sich auch dann ergeben, wenn der Tatrichter sich „mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit“ begnügt hat, wie es meist bei Indizienbeweisen der Fall ist (Rz. 13). Der Begriff stammt aus der Rechtsprechung1. Eine bloße Wahrscheinlichkeit begründet für sich allein die erforderliche Gewissheit nicht. Aber der Richter kann in sich den Denk- und Überzeugungsprozess vollziehen, die aus dem Sachverhalt entnommene hochgradige Wahrscheinlichkeit zu seiner vollen Gewissheit zu verdichten. Wenn z.B. die tödliche Wirkung eines Giftes in 999 von 1000 Fällen wissenschaftlich erwiesen ist, dann kann der Richter unter Umständen in sich die Überzeugung bilden, dass die Kausalität in allen 1000 Fällen und damit auch im zu entscheidenden Fall gegeben ist. Darin ist er frei. Wenn er diesen Schritt aber nicht vollzieht und sich mit der Wahrscheinlichkeit von 999 : 1 begnügt, dann verstößt er gegen den Grundsatz des in dubio pro reo, weil er bewusst in Kauf nimmt, einen möglicherweise Unschuldigen zu verurteilen. Ein Rechtsverstoß ist auch die Auswertung eines bloßen Verdachts zulasten des Angeklagten, z.B. die Verurteilung wegen Diebstahls mit der Begründung, dem Angeklagten sei die Tat auch zuzutrauen, weil gegen ihn ein anderes Ermittlungsverfahren anhängig gewesen und nur mangels Beweises eingestellt worden sei.
971
Der Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt zum Teil auch bei Verfahrensvoraussetzungen und -hindernissen2. Insbesondere muss eingestellt werden, wenn eine Verjährung zwar nicht erwiesen, aber auch nicht auszuschließen ist3.
972
Revisionen gegen die Strafzumessung (Rz. 756 ff.) sind relativ häufig erfolgreich. Die These, die Strafzumessung sei primär die Domäne des Tatrichters, in dessen Ermessen das Revisionsgericht nicht eingreifen dürfe, gilt heute nicht mehr uneingeschränkt. Zwar braucht der Tatrichter im 1 RGSt. 61, 202; dazu bedeutungsvoll BGH v. 9.2.1957 – 2 StR 508/56, BGHSt. 10, 208. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 261 StPO Rz. 34. 3 BGH v. 19.2.1963 – 1 StR 318/62, BGHSt. 18, 274.
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Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 974
Urteil die Strafzumessungskriterien des § 46 Abs. 1 und 2 StGB nicht katalogmäßig einzeln abzuhandeln, jedoch darf er sich aufdrängende Milderungsgründe nicht unerörtert lassen oder wertneutrale Aspekte, z.B. das Leugnen des Angeklagten oder dessen nach Lage der Sache vertretbares Verteidigungsverhalten1, nicht strafschärfend bewerten; insbesondere darf gegen das Verbot der Doppelbewertung des § 46 Abs. 3 StGB nicht verstoßen werden. Dass der Angeklagte disziplinar- oder berufsrechtliche Konsequenzen zu erwarten hat, ist relevant, wird aber häufig übersehen. Auch wird der Griff des Tatrichters „in die falsche Oktave“ des Strafrahmens zur Aufhebung führen, wenn sie nicht sehr stichhaltig begründet ist. Die in Revisionen beliebte Rüge „rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung“ ist als Verfahrensrüge geltend zu machen und liegt bei weitem nicht so oft vor, wie Revisionsführer meinen2. Wegen der Einzelheiten der im Strafausspruch vorkommenden Rechtsfehler wird auf das umfassende Werk von Gerhard Schäfer/Sander/van Gemmeren (Praxis der Strafzumessung, 5. Aufl. 2013, Schriftenreihe NJW-Praxis), die in der NStZ veröffentlichten aktuellen Rechtsprechungsberichte von Detter (z.B. NStZ 2012, 135 ff., 200) sowie auf die „Die Revision im Strafprozess“ (dort Rz. 468 ff.) verwiesen. Die Ausführungen zur Strafbemessung gelten sinngemäß auch für die Maßnahmen der Besserung und Sicherung sowie für Auflagen und Bußen bei der Strafaussetzung zur Bewährung. Als besondere Strafzumessungsfehler kommen im Übrigen für die Revi- 973 sion im Einzelnen in Betracht die Überschreitung des Strafrahmens, die Nichtberücksichtigung der Strafermäßigung bei Versuch oder unentschuldbarem Verbotsirrtum, die Berücksichtigung des Härteausgleichs und besonders häufig die unzulässige Verwendung gesetzlicher Tatbestandsmerkmale zur Strafschärfung (§ 46 Abs. 3 StGB). Ein typisches Beispiel hierfür ist der Hinweis im Urteil, der wegen einer Straftat aus § 174a StGB verurteilte Anstaltsarzt habe die Abhängigkeit seiner Patienten ausgenutzt. Dieses Moment durfte das Gericht nicht strafschärfend verwerten, weil es zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Die Begründung wäre allerdings nicht zu beanstanden, wenn dem Täter eine besonders raffinierte oder gemeine Art der Ausnutzung angelastet wird. Auch das Prozessverhalten des Angeklagten darf grundsätzlich nicht strafschärfend gewertet werden: Eine Ausnahme gilt, wenn es auf Rechtsfeindlichkeit oder Gefährlichkeit des Täters schließen lässt3. Abschließend sollen hier zwei praktische Hinweise nicht unterbleiben: 974 Der Verteidiger braucht nicht zu befürchten, dass eine Revision gegen den Schuldspruch unglaubwürdig wird, wenn er hilfsweise gegen die Strafzumessung Stellung nimmt. Das kann in der Hauptverhandlung un1 BGH v. 22.6.1999 – 1 StR 238/99, StV 1999, 536 m.N. 2 I.E. Dahs, Revision, Rz. 476. 3 BGH v. 12.12.1980 – 3 StR 458/80, StV 1981, 122.
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Rz. 975
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
terer Gerichte in der Tat ein Problem werden (Rz. 754). Der Revisionsrichter aber lässt sich dadurch nicht beirren. Andererseits empfiehlt es sich umgekehrt, auch wenn der Mandant mit einer Strafermäßigung zufrieden wäre, vorsorglich den Schuldspruch mit zu rügen. Manchmal ergibt sich erst bei der Prüfung des Strafmaßes der im Schuldspruch steckende Fehler. Dann ist aber die unterlassene Rüge nicht mehr nachzuholen. dd) Häufung und Konkurrenz von Revisionsrügen 975
Auch in der Revision geht Qualität vor Quantität. Revisionen, mit denen eine Fülle von Rügen erhoben, beinahe alle Verlesungen von Urkunden und Ablehnungen von Anträgen gerügt, wo Beschränkungen der Verteidigung, Verletzung aller möglichen anderen Bestimmungen behauptet und dazu noch pauschal ein ganzer Katalog von angeblich verletzten Bestimmungen ohne substantiierte Begründung aufgeführt werden, verraten nicht selten die Inkompetenz des Verfassers in diesem schwierigen Rechtsgebiet. In diese Kategorie gehört auch der summarische Vorwurf der Verletzung der Denkgesetze und Erfahrungssätze sowie des Grundsatzes in dubio pro reo. Die Spekulation, mit vorsorglichen Begründungen würden wohl auch die wirklichen Rechtsfehler umfasst, jedenfalls könnten sie nicht schaden, geht schon deshalb fehl, weil auf diese Weise dem Richter der Zugang zu den wirklichen Rechtsfehlern eher verschüttet als geöffnet wird. Vielmehr ist es die ureigenste Aufgabe des Revisionsverteidigers, den Kern der Sache – d.h. relevante Rechtsfehler des Urteils selbst – herauszuarbeiten und dem Revisionsgericht gesetzmäßig (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) zu präsentieren. Es gibt Verteidiger, die das vorzüglich können. Sie haben einen untrüglichen Instinkt für die schwachen Stellen eines Urteils. Sie erlegen es gewissermaßen mit einem „Blattschuss“. Andere hingegen beschießen das Urteil wie mit Schrot. Die Körner gehen in die Breite und schon deshalb zum großen Teil daneben. Im Übrigen prallen sie ab oder schlagen nicht durch.
976
Die Konkurrenz von Revisionsrügen bringt für den Verteidiger keine Schwierigkeiten, da der Vorrang des weitestreichenden Revisionsgrundes anerkannt ist1. Das Revisionsgericht kann danach ein Prozesshindernis oder eine durchgreifende Verfahrensrüge dahinstehen lassen, wenn der Angeklagte freizusprechen ist. Greifen mehrere Rügen durch, so hat diejenige Entscheidung den Vorzug, die das Verfahren der Enderledigung am nächsten bringt. Demzufolge bedürfen Verfahrensverstöße auch dann keiner Prüfung, wenn zwar kein Freispruch, aber eine Zurückverweisung aus materiell-rechtlichen Gründen erfolgen kann. Denn sie hilft dem An-
1 BGH v. 13.10.1959 – 1 StR 57/59, BGHSt. 13, 268 (273); BGH v. 14.5.1962 – 5 StR 51/62, BGHSt. 17, 253; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 352 StPO Rz. 9 ff.; Dahs, Revision, Rz. 610 ff. m.w.N.
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Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 978
geklagten und dem Tatrichter weiter als die Aufhebung aus nur formalen Gründen, auch wenn diese mit sachlich-rechtlichen Hinweisen für die neue Entscheidung verbunden sind, die den Tatrichter rechtlich nicht binden (§ 358 Abs. 1 StPO). Eine rechtliche Verpflichtung des Revisionsgerichts, in jedem Falle über den weitestgehenden Antrag zu entscheiden, besteht aber nicht. Der Verteidiger muss diesen Gesichtspunkt daher besonders hervorheben. g) Verfahren bis zur Hauptverhandlung Literatur: Dahs, Verfassungsrechtliche Gewährleistung umfassender Verteidigung im Revisionsverfahren, NJW 1978, 140; Dahs, Disziplinierung des Tatrichters durch Beschlüsse nach § 349 II StPO?, NStZ 1981, 205; Dahs, „Schriftliches Verfahren“ statt „offensichtlich unbegründet“, NStZ 2001, 298; Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl. 2012, Rz. 540 ff.; Fezer, Revisionsurteil oder Revisionsbeschluss – Strafverfahrensnorm und Strafverfahrenspraxis im dauerhaften Widerstreit?, StV 2007, 40; Fürstenau, Offensichtlich unbegründet? Missbrauch des § 349 Abs. 2 StPO, StraFo 2004, 38; Hamm, Verfahrensspaltung bei gegenläufigen Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft, StV 2000, 637; Hamm, Rechtsgespräch oder Urteilsabsprache? – Der Deal erreicht die Revision, FS Dahs (2005), S. 207; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010, Rz. 1229 ff.; Ignor, Eigene Sachentscheidungen des Revisionsgerichts, FS Dahs (2005), S. 281; Park, Die Erwiderung der Verteidigung auf einen Revisionsverwerfungsantrag gem. § 349 Abs. 1 StPO, StV 1997, 550; Widmaier, Der bestellte Verwerfungsantrag, NStZ 2001, 57; Widmaier, Bindungsumfang der teilaufhebenden Revisionsentscheidung, StraFo 2004, 366; Winkler, Bindungsumfang der teilaufhebenden Revisionsentscheidung, StraFo 2004, 369.
Nachdem der Verteidiger seine Revisionsbegründung abgegeben hat, 977 kann er zunächst den weiteren Verfahrensgang abwarten. Ergänzungen der Sachrüge sollte er allerdings baldmöglichst nachreichen (Rz. 907). Die Staatsanwaltschaft stellt, falls Verfahrensrügen das erforderlich machen, eine Gegenerklärung zu (§ 347 StPO). Deren Fassung gibt allerdings manchen Verteidigern Rätsel auf. Sie suchen dort vergeblich eine Stellungnahme zur Sache. Die Staatsanwaltschaft soll davon nämlich grundsätzlich absehen (§ 162 Abs. 1 RiStBV). Dafür stellt sie entsprechend § 162 Abs. 2 RiStBV zu den verfahrensrechtlichen Rügen alle Tatsachen unter Wiedergabe der Urkundeninhalte zusammen. Das soll der Erleichterung der Übersicht besonders der Staatsanwaltschaft beim Revisionsgericht dienen. Dem Verteidiger bringt sie damit nichts Neues. Er hat gut gearbeitet, wenn die Gegenerklärung sich auf den Satz beschränkt, die Revision habe die Verfahrenstatsachen vollständig und zutreffend vorgetragen. Vor der Hauptverhandlung erfährt der Verteidiger von der Sache an sich 978 nur dann etwas, wenn die Revisionsstaatsanwaltschaft die Verwerfung der Revision durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO beantragt. Zu dem Antrag kann der Verteidiger sich innerhalb von zwei Wochen äußern.
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Rz. 978
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
Diese Frist kann an sich nicht verlängert werden1. Der Verteidiger kann sich aber praktisch eine solche Verlängerung verschaffen, indem er sich trotz Fristablauf äußert, ehe der Senat entschieden hat. Er riskiert aber, dass nach Ablauf der Frist die Entscheidung bereits getroffen worden ist. Er kann auch Staatsanwalt und Senat bitten, seine Stellungnahme abzuwarten, sollte dann aber eine bestimmte – kurze – Frist nennen – und sie einhalten! In der Regel wird einem gut begründeten Verlängerungsantrag stillschweigend stattgegeben. Durch eine überzeugende Erwiderung und Auseinandersetzung mit den Argumenten des Verwerfungsantrages und pointierte Darstellung der Rechtsprobleme des Falles gelingt es in manchen Fällen dem Verteidiger, eine Hauptverhandlung durchzusetzen. In vielen anderen Fällen wird er stattdessen aber in Verlegenheit kommen können, wenn das Revisionsgericht seine angeblich begründete Revision einstimmig als „offensichtlich unbegründet“ (so ausdrücklich § 349 Abs. 2 StPO) verwirft. Wie soll er das dem durch das ihm rätselhafte Revisionsverfahren ohnehin schockierten Mandanten klarmachen? Der Senat kann ihm mit einer Begründung wenig helfen. Wie sollte er auch im Einzelnen das begründen können und müssen, was er einstimmig für „offensichtlich unbegründet“ ansieht? Der BGH ist allerdings in neuerer Zeit zu neutraleren Formulierungen übergegangen, z.B. dass die „Revision einstimmig verworfen wird, weil die Nachprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben habe. Für diese Schonung des Verteidigers gebührt ihm Dank. Überzeugter wäre der Dank, wenn die Revisionsgerichte die Begriffe „offensichtlich“ und „einstimmig“ allgemein restriktiver interpretieren würden. Als Konzession in dieser Richtung mag die neuere Rechtsprechung des BGH angesehen werden, wonach es für § 349 Abs. 2 StPO ausreicht, dass der Senat einhellig die Auffassung vertritt, dass die von der Revision aufgeworfenen Rechtsfragen zweifelsfrei zu beantworten sind und auch die Durchführung der Hauptverhandlung keine einschlägigen neuen Erkenntnisse erwarten lässt2. Der Antrag auf Verwerfung der Revision durch Beschluss muss für den Verteidiger stets Anlass sein, nochmals voll in die Sache „einzusteigen“. Manchmal gelingt es, neue Argumente zu finden, mindestens kann man sich mit den Erwägungen der Generalstaatsanwaltschaft bzw. Bundesanwaltschaft auseinandersetzen. Hat diese in ihrem Antrag unveröffentlichte Rechtsprechung zitiert, sind die Entscheidungen über elektronische Datenbanken in der Regel kurzfristig erreichbar; falls nicht, sollten diese unmittelbar angefordert werden. Unabhängig davon wie der Antrag nach § 349 Abs. 3 StPO durch den Verteidiger beurteilt wird, kann der Hinweis angebracht sein, dass bisher noch nicht entschiedene Rechtsfragen zur Beurteilung anstehen oder aus anderen Gründen die Entscheidung durch Beschluss der Sache nicht gerecht wird. Allein der 1 BGH v. 3.7.1990 – 4 StR 263/90, DRiZ 1990, 455; zur Zulässigkeit BVerfG v. 30.6.2014 – 2 BvR 792/11. 2 BGH v. 3.2.2004 – 5 StR 359/03, StV 2005, 3 m. Anm. Döllen u. Meyer-Mews.
572
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 980
Umfang des Verfahrens oder der Revisionsbegründung soll der Beschlussverwerfung allerdings nicht entgegenstehen. Dass im Übrigen das Revisionsgericht eine Revision auch (ohne Offensichtlichkeit) einstimmig für begründet erachten kann, ergibt sich aus § 349 Abs. 4 StPO. Es kommt durchaus vor, dass entgegen einem Antrag nach § 349 Abs. 2 StPO das Urteil durch Beschluss aufgehoben wird. In der Zeit vor der Hauptverhandlung muss der Verteidiger zunächst ent- 979 scheiden, ob er an der Hauptverhandlung teilnehmen will. Der Mandant will wissen, ob er erscheinen soll. Beides ist auch eine Kostenfrage. Davon abgesehen sollte der Verteidiger, wenn er nicht nur vorsorglich die allgemeine Sachrüge erhoben hat, sondern sachlich hinter seiner Revision steht, im Termin auftreten. Zwar ist seine Mitwirkung hier (ebenso wie für den Angeklagten) nicht gesetzlich vorgeschrieben. Er wird nicht einmal geladen, sondern von dem Termin nur „benachrichtigt“ (zuweilen allerdings mit dem Zusatz, dass die Anwesenheit eines Verteidigers geboten sei). Der Verteidiger sollte aber in der Regel von sich mehr halten, als die Strafprozessordnung es offensichtlich tut und sich nicht in der Rolle eines bloßen Statisten fühlen. Zwar prüft das Revisionsgericht alle Revisionsgründe von Amts wegen, und die auf objektive Rechtsfindung bedachte Staatsanwaltschaft wirkt dazu mit. Aber der Verteidiger kann je nach der Entwicklung der Verhandlung viel zum Erfolg beitragen, insbesondere kann er auf die mündliche Stellungnahme der Staatsanwaltschaft, die sich nicht immer vorher schriftlich äußert, erwidern. Entsprechendes gilt erst recht, wenn die Staatsanwaltschaft selbst eine Revision durchführt. Die Ansicht, der Verteidiger sei überflüssig, würde im Übrigen voraussetzen, dass das Urteil vor der Hauptverhandlung regelmäßig feststehe und durch Verhandlung oder Plädoyer nicht beeinflusst werden könnte. Das ist aber keineswegs der Fall. Im Übrigen würde auch in aller Regel der Mandant kein Verständnis für seinen Verteidiger haben, der selbst von seiner Verteidigung so wenig hält, dass er gar nicht erst zur Verhandlung fährt. Man darf es dann allerdings auch nicht so machen, wie ich es bei einem Verteidiger erlebt habe, der in Karlsruhe dem erstaunten Senat erklärte, er komme nur auf Wunsch seines Mandanten, er werde kein einziges Wort sagen. Andererseits habe ich es erlebt, dass der Bundesanwalt erklärt hat, an sich habe er die Zurückverweisung beantragen wollen, nach dem Ergebnis der Verhandlung beantrage er aber nunmehr Freispruch. Soll der Mandant an der Verhandlung teilnehmen? Das ist eine Kardinal- 980 frage der Beratung des Verteidigers vor der Revisionsverhandlung. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sollte man abraten. Häufig versteht der Mandant von dem „Rechtsstreit“ der Revisionsverhandlung so gut wie nichts. Die Rechtsfragen können von ihm zudem in der Regel nicht beantwortet werden. Entscheidend aber ist die Befangenheit des Verteidigers, wenn der Mandant anwesend ist. Sie wurzelt in der Tatsachenfeindlichkeit der Revision. Hält sich der Verteidiger daran gebunden, dann 573
Rz. 981
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
unterstellt er in der Verhandlung „festgestellte“ Handlungen des Angeklagten, die dieser ggf. gar nicht begangen hat. Dies ist für den Mandanten in der Regel nicht nachvollziehbar. Der Verteidiger läuft dann aber Gefahr, „für den Mandanten“ revisionswidrig zu verteidigen. Dies muss vermieden werden, so dass es in der Regel besser ist, auf die Anwesenheit des Mandanten zu verzichten. 981
Nach Bestimmung des Termins kann aus Anlass der Einreichung eines ergänzenden Schriftsatzes oder aus anderen Gründen evtl. ein (telefonisches) Gespräch mit der Revisionsstaatsanwaltschaft gesucht werden. Besonders wenn der Verteidiger den zuständigen Staatsanwalt oder Bundesanwalt kennt und dort Vertrauen genießt, kann eine zurückhaltende Frage nach dem Prozessstandpunkt der Staatsanwaltschaft sinnvoll sein. Die Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht fühlt sich ohnehin nur dem Recht verpflichtet. Sie kann sich durchaus bereit zeigen, ihre Rechtsauffassung und sogar die beabsichtigten Anträge dem Verteidiger zu offenbaren. Die Bereitschaft zur Auskunft bei der Bundesanwaltschaft ist verschieden je nach dem Charakter der Sache oder auch der Person des Bundesanwalts. Wenn der Verteidiger bis zur Hauptverhandlung eine solche Verbindung nicht gefunden hat, bietet sich ihm evtl. noch die Gelegenheit am Verhandlungstag 5 Minuten vor 9 Uhr. Wenn er sich dem im Sitzungssaal erscheinenden Staatsanwalt vorstellt, lassen sich in einem kurzen Gespräch die „Fronten“ manchmal rasch so abstecken, dass die Verhandlung im allseitigen Interesse abgekürzt oder aber auf die kritischen Punkte konzentriert werden kann.
982
Das Wissen um solche praktischen Details der Prozessplanung ist für den Verteidiger vielleicht ebenso wichtig wie eine komplizierte Rechtsvorbereitung. Dazu gehört auch die Verhandlungsplanung mit den Verteidigern in anderen Sachen. Der BGH terminiert meist alle Sachen auf 9 Uhr und folgt in der Reihenfolge nach Möglichkeit den Wünschen der Verteidiger, sofern die Sitzungsvertretung der Bundesanwaltschaft nicht beeinträchtigt wird. Der Verteidiger sollte hierüber orientiert sein, um die gegebenen Möglichkeiten richtig wahrnehmen zu können. h) Der Verteidiger in der Hauptverhandlung Literatur: Dahs sen., Die Verantwortung des Verteidigers in der Revisionsinstanz, AnwBl. 1963, 64; Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl. 2012, Rz. 600 ff.; Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010, Rz. 1398 ff.; Hanack, Die Verteidigung vor dem Revisionsgericht, FS Dünnebier (1982), S. 301; Nack, Aufhebungspraxis der Strafsenate des BGH, NStZ 1997, 153; Rissing-van Saan, Die Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht, StraFo 2010, 359; Seibert, Verteidigerauftreten vor dem Revisionsgericht, AnwBl. 1956, 21.
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Ihr Ablauf unterscheidet sich grundlegend von der Hauptverhandlung unterer Instanzen. Die Verhandlung beginnt mit dem Vortrag des Berichterstatters, den auch der Vorsitzende übernehmen kann. Dabei soll 574
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 986
auch das angefochtene Urteil verlesen oder vorgetragen werden1. Beim BGH ist es die Regel, dass der Urteilsinhalt nicht erörtert wird, weil das Urteil und die Revisionsbegründung allen Mitgliedern des Senats vorliegen. Das den Richtern ebenfalls durchweg vorliegende Votum des Berichterstatters des Senats soll zuweilen schon in Entscheidungsform abgefasst sein. Der Verteidiger hat danach hinzunehmen, dass jedes Mitglied des Senats das Urteil und die einschlägigen Rechtsfragen genau kennt und die Verlesung ganzer Passagen durch den Beschwerdeführer weder notwendig noch zielführend ist. Das schließt Zitate einzelner Urteilsstellen jedoch nicht aus, wenn sie zum Verständnis der Rechtsdiskussion erforderlich sind. In seinem Vortrag trägt der Berichterstatter in der Regel auch die Prozessrügen der Revision mit den wesentlichen Unterlagen vor. Die materiell-rechtliche Begründung der Revision dagegen überlässt der Berichterstatter dem Revisionsführer, dem sogleich nach dem Berichterstatter das Wort erteilt wird. Nicht selten wird auf Anregung des Vorsitzenden die Verhandlung zu- 984 nächst auf bestimmte Teile oder Punkte beschränkt. Das ist häufig ein gutes Zeichen. Das geschieht nämlich bei Konkurrenz von Revisionsrügen (Rz. 975) zugunsten derjenigen, die vorrangig ist, entweder weil sie am weitesten – etwa bis zum sofortigen Freispruch – durchgreifen kann oder weil sie mit großer Wahrscheinlichkeit begründet ist und eine weitere Verhandlung überflüssig machen kann. Der Verteidiger kann in geeigneten Fällen auch selbst ein „Rechtsgespräch“ darüber anregen. Dagegen ist es geradzu eine revisionsrechtliche Todsünde, wenn auf den Hinweis des Vorsitzenden, man möge sich auf die Sachrüge beschränken, der Verteidiger erwidert, er habe die Verfahrensrügen besonders ausgearbeitet und wolle sie deshalb auch vortragen. Das Plädoyer stellt den Verteidiger vor eine besonders schwierige Auf- 985 gabe. Es geht nicht nur um die allgemeinen Fragen des Plädoyers, die unter Rz. 714 ff. im Einzelnen behandelt sind. Das Plädoyer vor dem Revisionsgericht hat wesentliche Besonderheiten. Im prozessualen Teil darf der Verteidiger zu den Tatsachen nichts vortragen, was nicht schon in der schriftlichen Revisionsbegründung form- und fristgerecht vorgebracht war. In materiell-rechtlicher Hinsicht kann es ähnlich sein, wenn die schriftliche Begründung erschöpfend war. Auch in einer vorberatenen Sache ist der Senat jedoch noch nicht endgültig festgelegt und bereit, sich überzeugen zu lassen, was durchaus noch in der Hauptverhandlung gelingen kann. Das gilt besonders für die Fälle, in denen der Senat nicht einhelliger Meinung ist, was man zuweilen aus gestellten Fragen entnehmen kann. Das Plädoyer muss kurz und präzise sein. Gegen Plädoyers von mehr als 986 15 Minuten sind die Revisionsrichter grundsätzlich misstrauisch. Man 1 Zur Frage der Befangenheit aufgrund des Berichterstattervortrags vgl. BGH, NStZ-RR 2011, 98.
575
Rz. 987
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
bedenke dazu, dass der Sachverhalt für das Gericht feststeht und die Rechtsmaterie von den erfahrenen Revisionsrichtern absolut beherrscht wird. Die Funktion des Plädoyers liegt hier eigentlich darin, den schwachen Punkt des Verfahrens oder des Urteils plastisch herauszuarbeiten und in möglichst freier Rede überzeugend darzustellen. Damit kann der Verteidiger noch nicht entschlossene, aber auch schon „festgelegte“ Richter auf seine Seite bringen. Aus der Erfahrung ist über – allerdings sehr seltene – Fälle zu berichten, in denen ein Verteidiger durch sein treffsicheres Plädoyer so mitten ins Schwarze getroffen hat, dass der ganze Senat seine Meinung aufgegeben und der Revision stattgegeben hat. 987
Wer sich so Gehör verschafft, wird auch durch Zwischenfragen oder -bemerkungen zu einem „Rechtsgespräch“ kommen können. Solche Unterbrechungen des Verteidigers sind daher durchaus als positive Anzeichen für ihn und seine Sache zu begrüßen. Besonders wesentlich kann das Plädoyer werden als Erwiderung auf den Vortrag des Staatsanwalts als Revisionsgegner oder Revisionsführer. Hier können „neue“ Argumente zu einer Wende führen, wenn der Verteidiger schnell genug reagiert.
988
Die Revisionsverhandlung verliert etwas von ihrem Schrecken durch das Wissen um die Einstellung des Gerichts zum Verteidiger. Die Richter erkennen an, dass die Verteidiger nicht wie sie selbst das Revisionsrecht beherrschen. Sie sind meist verständnisvoll und wohlwollend, solange sie ernstes Bemühen und Verantwortungssinn erkennen.
989
Das geschieht freilich nicht, wenn der Verteidiger grobe Fehler macht, etwa indem er Tatfeststellungen angreift. Hierzu ist besonders auf die Ausführungen zur allgemeinen Sachrüge (Rz. 955) zu verweisen, die für die Hauptverhandlung in besonderem Maße gelten. Es wird immer wieder versucht, dem Revisionsgericht einen anderen als den im Urteil festgestellten Sachverhalt aufzudrängen, oder die Tatsachen werden verbogen und unterdrückt. Das ist die falsche Schussrichtung. Der Verteidiger geht gegen das Urteil an, statt davon auszugehen. Mit der falschen Etikette eines Verstoßes gegen die Denkgesetze („Der Sachverhalt ist doch unlogisch“) oder mit ähnlichen Marken versehen sollen die falschen Argumente durch die Sperre gebracht werden. Oft kommt auch der Revisionsführer unter schwachem Lächeln mit der Erklärung, man dürfe hier zwar „eigentlich“ keine Tatsachen behandeln, aber „in diesem krassen Falle“ müsse man dafür doch Verständnis haben. Wer es nicht fertigbringt, solches zu vermeiden und seine dem Urteil nicht entsprechenden Tatsachenvorstellungen ganz und gar aus dem Plädoyer zu verbannen, findet kein Gehör und kein Verständnis. i) Verletzung des rechtlichen Gehörs
990
In seltenen Fällen kommt es (auch) in der Revisionsinstanz zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), vornehmlich bei Beschlussentscheidungen nach § 249 Abs. 2 StPO. So kann es geschehen, 576
Der Verteidiger im Revisionsverfahren
Rz. 992
dass z.B. der Antrag des Generalbundesanwalts/Generalstaatsanwalts auf Verwerfung der Revision dem Revisionsführer irrtümlich nicht mitgeteilt wird (§ 349 Abs. 3 S. 1 StPO) oder dessen Gegenerklärung (§ 359 Abs. 3 S. 3 StPO) dem Senat nicht vorgelegt wird1. In solchen und vergleichbaren Fällen kann auf Antrag das Verfahren in den Stand vor der Verletzung des rechtlichen Gehörs zurückversetzt werden2. Dies kann zur Folge haben, dass über die Revision insgesamt neu entschieden werden muss. j) Praktische Erfahrungen und Ratschläge Revisionsgericht und Staatsanwalt schöpfen ihre rechtliche Beurteilung 991 zuweilen aus Quellen, die dem Verteidiger nicht bekannt sind. Das sind die noch nicht veröffentlichten Entscheidungen, die kurz vor der Hauptverhandlung über die einschlägige Rechtsfrage von demselben oder einem anderen Senat erlassen worden sind. Das ist für den Verteidiger ein Nachteil, wenn er davon nichts weiß. Schon seine schriftliche Revisionsbegründung kann aus diesem Grund teilweise oder gar vollständig ins Leere gegangen sein. Aber auch eine bis zu diesem Zeitpunkt noch offene Rechtsfrage kann bis zur Hauptverhandlung abschließend geklärt worden sein. Der Verteidiger muss versuchen, sich gegen solche bösen Überraschungen zu schützen. Dies kann durch eine telefonische Rückfrage bei dem Dezernenten der Revisionsstaatsanwaltschaft geschehen oder auch beim Berichterstatter des Senats. Im Übrigen muss empfohlen werden, die juristischen Datenbanken oder die Presseerklärungen des BGH im Internet sozusagen „bis zur letzten Minute“ abzufragen. Daneben sind natürlich die juristischen Zeitschriften ebenso zu verfolgen wie aktuelle Rechtsprechungs-Reports. Dass man auch sonst die einschlägige Judikatur völlig beherrschen sollte, ist wiederholt hervorgehoben worden. Zum Abschluss ist über die Erfahrungen in einer entscheidenden Grund- 992 frage der revisionsgerichtlichen Praxis zu berichten. Sie betrifft das Dilemma des Revisionsrichters, der sich in seiner Bindung an die Tatsachenfeststellungen zu einer Verwerfung der Revision gedrängt sieht, aber das ungute Gefühl oder gar die subjektive Überzeugung eines in der Sache falschen Urteils in sich spürt. Die Diskrepanz zwischen dem fristund formgebundenen Rechtsmittel und der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall bringt den Revisionsrichter in Konflikt. Die immer wieder gestellte Frage, ob ein Revisionsrichter, der durch die gläserne Form hindurch der Sache auf den Grund schaut, nicht Mittel und Wege zur Aufhebung eines ungerechten Urteils suchen und zu finden wissen werde, kann aus der Erfahrung „mit Vorsicht“ bejaht werden. Ebenso wird aber auch über manche nicht ganz unbegründete Revisions1 Zu den Einzelheiten Dahs, Revision, Rz. 359 ff. 2 Vgl. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 356a StPO Rz. 2 ff.
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Rz. 993
Der Verteidiger im Rechtsmittelverfahren
rüge hinwegzukommen sein, wenn damit ein im Ergebnis zweifelsfrei richtiges Urteil gehalten werden soll. So kann z.B. eine Beweiswürdigung als dem Revisionsgericht verschlossen behandelt, aber manchmal „bei gutem Willen“ auch als auf einem Denkverstoß beruhender Rechtsfehler angesehen werden (Rz. 963, 967). Hierauf kann und darf der Verteidiger sich jedoch nicht verlassen. Vielmehr kann seine Aufgabe „nur“ darin bestehen, dem Revisionsgericht die materielle Ungerechtigkeit im Rahmen der hierfür geltenden Regeln darzulegen. Eine Ausnahme kann man sich vielleicht in ganz extremen Fällen erlauben. Wenn man z.B. am Schluss eines revisionsgerechten Plädoyers zur Verteidigung eines aufgrund eines Schriftgutachtens verurteilten „Denunzianten“ so schnell, dass es keiner mehr beanstanden kann, als neue Tatsache glaubhaft anbringt, dass nach der Verhaftung des Angeklagten die denunzierenden Briefe weiterhin angekommen sind und der wirkliche Täter inzwischen festgenommen ist, so wird das in jedem Richter ungefähr so nachwirken müssen wie der angeblich Ermordete, der als „lebende Tatsache“ zur Entlastung des unschuldigen Angeklagten im Revisionsgericht erscheint. Er wird die Revision nur ungern verwerfen. Manchmal kann es nützlich sein, im Plädoyer knapp anzudeuten, worauf eine neue Tatsachenverhandlung abzielen werde. Damit wirkt der Verteidiger der Deutung entgegen, er treibe ohne materiales Verteidigungsziel nur ein geistreiches Gedankenspiel. k) Die Revision der Staatsanwaltschaft Literatur: Amelung, Die Verwertbarkeit rechtswidrig gewonnener Beweismittel zugunsten des Angeklagten und deren Grenzen, StraFo 1999, 181; Heghmanns, Das Arbeitsgebiet des Staatsanwalts, 4. Aufl. 2009; Nack, Aufhebungspraxis der Strafsenate des BGH, NStZ 1997, 153; Rieß, Statistische Beiträge zur Wirklichkeit des Strafverfahrens, FS Sarstedt (1981), S. 253; Schlothauer/Weider, Verteidigung im Revisionsverfahren, 2. Aufl. 2013, Rz. 105.
993
Revisionen der Staatsanwaltschaft sind zwar relativ selten1, für den Verteidiger aber besonders alarmierend2. Das bezieht sich nicht auf die Revisionen, die zunächst zur Fristwahrung erfolgen, nach Prüfung der schriftlichen Urteilsgründe aber häufig zurückgenommen werden. Von diesen Rechtsmitteln erfahren Verteidiger und Mandant von Amts wegen nichts (§ 347 StPO). Hat man sich die Kenntnis trotzdem verschafft (Rz. 784), ist es sinnlos, einen Antrag auf (kostenpflichtige) Verwerfung der Revision der Staatsanwaltschaft zu stellen und diesen evtl. noch mit einigen nichtssagenden Floskeln zu begründen. Ein solcher Antrag ist ohne jede verfahrensrechtliche Bedeutung.
1 Nur in etwa 5 % der Revisionsverfahren beim BGH ist die Staatsanwaltschaft Beschwerdeführerin, vgl. Nack, NStZ 1997, 153 (155). 2 50 % bis 60 % der Revisionen der Staatsanwaltschaft sind erfolgreich, Nack, NStZ 1997, 153 (155).
578
Allgemeines
Rz. 995
Die Staatsanwaltschaft soll ihre Revisionsbegründung nicht auf die all- 994 gemeine Sachrüge beschränken und das Rechtsmittel nur durchführen, wenn es aussichtsreich ist (Nr. 147 Abs. 1, 156 Abs. 2 RiStBV). Diese Entscheidung wird in aller Regel der Sachbearbeiter nicht allein treffen. Eine Erwiderung auf die Ausführungen der Staatsanwaltschaft wird durchweg angezeigt sein, weil dadurch der das Rechtsmittel prüfende Generalstaatsanwalt evtl. veranlasst werden kann, die Revision doch noch zurückzunehmen. In Revisionen an den BGH legt er seine Stellungnahme im sog. „Randbericht“ an die Bundesanwaltschaft nieder, den man ggf. ausdrücklich zur Einsichtnahme anfordern sollte. Die Revisionsstaatsanwaltschaft ist an die Rechtsauffassung der das 995 Rechtsmittel betreibenden Anklagebehörde nicht gebunden: Es kommt nicht ganz selten vor, dass sie die Revision „nicht vertritt“. Damit darf sich der Verteidiger aber nicht beruhigen, sondern muss in der Hauptverhandlung in jeder Hinsicht präsent sein; oft erfährt er überhaupt erst jetzt die Ansicht der Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht. Als Pflichtverteidiger muss er rechtzeitig die Beiordnung für die Revisionshauptverhandlung beantragen, die in der Regel erfolgen muss1. Revisionen der Staatsanwaltschaft werden oft dann durchgeführt, wenn neuartige oder kontroverse Rechtsfragen zur Entscheidung stehen. Die qualifizierte Mitwirkung des Verteidigers an einer solchen Verhandlung erfordert ein qualifiziertes Einarbeiten, um die Materie in der Rechtsdiskussion völlig zu beherrschen. Dass bei gelegentlich auch vorkommenden „Kopfsachen“ Form und Inhalt der Verteidigung absolut sachlich bleiben müssen, sollte keines Hinweises bedürfen.
V. Der Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren 1. Allgemeines Literatur: Arzt, Ausschließung und Ablehnung des Richters im Wiederaufnahmeverfahren, NJW 1971, 1112; Dahs sen., Wechsel des Staatsanwaltes im Wiederaufnahmeverfahren, DRiZ 1971, 83; Dahs sen., Denkschrift der Bundesrechtsanwaltskammer zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme des Verfahrens, 1971; Fornant, Die Neuheit bereits erörterter Tatsachen im Wiederaufnahmeverfahren, StraFo 2013, 235; Gössel, Über fehlerhafte Rechtsanwendung und den Tatsachenbegriff im Wiederaufnahmeverfahren, NStZ 1993, 565; Hanack, Zur Reform des Rechts der Wiederaufnahme des Verfahrens im Strafprozess, JZ 1973, 393; Joerden, Zur Frage des Beibringens neuer Tatsachen und neuer Beweismittel im Wiederaufnahmeverfahren, JZ 1994, 582; Marxen, Die Korrektur des Rechtsfolgenausspruchs im Wege der Wiederaufnahme, StV 1992, 543; Marxen/ Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, 3. Aufl. 2014; Peters, Fehlerquellen im Strafprozess. Eine Untersuchung der Wiederaufnahmeverfahren in der BRD, Bd. 1, 1970; Peters, Fehlerquellen im Strafprozess, Bd. 2, 1972; Bd. 3, 1974; Schünemann, Das strafprozessuale Wiederaufnahmeverfahren propter nova und der 1 BVerfG v. 19.10.1977 – 2 BvR 462/77, BVerfGE 46, 202; dazu Dahs, NJW 1978, 140; OLG Oldenburg v. 20.8.1980 – 2 Ws 298/80, AnwBl. 1981, 119.
579
Rz. 996
Der Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren
Grundsatz „in dubio pro reo“, ZStW 84, (1972), 870; Stern, Zur Verteidigung des Verurteilten in der Wiederaufnahme, NStZ 1993, 409; Strate, Der Verteidiger in der Wiederaufnahme, StV 1999, 228; Strate in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 709 ff.; Tiemann, Die erweiterte Darlegungslast im strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahren, 1992; Wasserburg, Zur Notwendigkeit einer Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, ZRP 1997, 412; WeberKlatt, Die Wiederaufnahme von Verfahren zu Ungunsten des Angeklagten, 1997.
996
Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens (§§ 359 ff. StGB), allgemein als „außerordentlicher Rechtsbehelf“ bezeichnet, bewegt immer wieder Rechtsprechung und Schrifttum1. Ihre Probleme werden vorwiegend unter den Stichwörtern „Beseitigung von Justizirrtümern“ und „Fehlurteile im Strafprozess“ behandelt. Die Wiederaufnahme ist naturgemäß für die Verfahren besonders wichtig, in denen die zweite Tatsacheninstanz fehlt. Hier bietet sie oft die einzige Chance, die Sachverhaltsfeststellung des früheren Urteils zu korrigieren. Dies ist ihr Zweck, darin zeigt sich ihr besonderer Charakter. Die Wiederaufnahme zielt ausschließlich darauf ab, rechtskräftige Entscheidungen zu beseitigen, die auf einer falschen, unvollständigen oder fehlerhaften Beweisgrundlage nach Maßgabe von § 359 Nr. 1, 2, 4–6 StPO beruhen. Deshalb ist jeder Wiederaufnahmeantrag aussichtslos, der sich gegen eine unrichtige rechtliche Beurteilung im früheren Verfahren wendet. Diese zu prüfen, ist allein Aufgabe der Revision (Rz. 885 ff.).
997
Auch die bloß unrichtige Beweiswürdigung reicht nicht aus, z.B. nicht die Behauptung, das Gericht habe einen Zeugen falsch verstanden und deshalb seine Bekundung falsch beurteilt. Denn damit wird nicht die Unvollständigkeit der Beweisführung angegriffen, sondern die Beweiswürdigung selbst. Anders ist es, wenn das Gericht – aus welchen Gründen auch immer – von relevanten Tatsachen oder Beweismitteln in der Hauptverhandlung keinen Gebrauch gemacht oder erörterte Tatsachen unter Verstoß gegen § 261 StPO der Entscheidung nicht zugrunde gelegt hat2. Eine Ausnahme gilt für die Wiederaufnahme nach § 79 BVerfGG gegen Urteile, die auf verfassungswidrigen Normen beruhen.
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Die Praxis beweist vor allem, dass selbst formell und materiell richtig begründete Wiederaufnahmegesuche häufig keinen Erfolg haben. Dies hat mehrere Gründe. Einer davon ist die starre und umständliche gesetzliche Regelung. Denn die Wiederaufnahme steht im Spannungsfeld zwischen Rechtskraft und materiell gerechter Entscheidung des Einzelfalles. Die (durchaus negativen) Erfahrungen bestätigen, dass Gerichte und Staatsanwaltschaften zu sehr auf den Bestand der Rechtskraft abstellen. Wenn überhaupt, wird die Wiederaufnahme in der Regel erst durch die höhere
1 Zum älteren Schrifttum vgl. die 7. Aufl. 2 Str., zust. OLG Frankfurt v. 20.1.1978 – 1 Ws 21/78, NJW 1978, 841; OLG Düsseldorf v. 23.6.1986 – 2 Ws 414/86, NJW 1987, 2030; a.A. OLG Celle v. 24.7.1961 – 3 Ws 459/61, NdsRpfl 1961, 231.
580
Allgemeines
Rz. 1000
Instanz angeordnet. Immer wieder zeigt sich das Beharrungsvermögen der Justiz, die in der Aufhebung einer rechtskräftigen richterlichen Entscheidung eine Art Verdammnis sieht. Viele Wiederaufnahmeanträge scheitern im Übrigen einfach deshalb, weil die Situation völlig verkannt wird. Sinn der Wiederaufnahme ist es allein, Urteile zu beseitigen, die durch unvollständige Tatsachenfeststellungen zustande gekommen sind, gleichviel, worauf der Mangel beruht. Nicht nur praktische Erfahrungen, auch wissenschaftliche Forschungen beweisen, dass die Wiederaufnahme als Angriff auf den richterlichen Spruch mehr oder weniger deutlich bedauert wird. Auf derselben Linie bewegt sich die Einstellung vieler Staatsanwaltschaften, die regelmäßig die Beschwerdemöglichkeiten gegen Wiederaufnahmeentscheidungen ausschöpfen. Das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft und seine Handhabung kennzeichnen das Bestreben, rechtskräftige Entscheidungen zu konservieren. Allerdings darf man nicht verkennen, dass das Gebot der Gerechtigkeit und die Möglichkeit gegeneinander abzuwägen sind, dass sich ein Schuldiger der verdienten Strafe entzieht, weil die Mittel, mit denen er überführt werden konnte, inzwischen an Beweiskraft verloren haben. Außer mit der grundsätzlich ablehnenden Haltung der Justizbehörden 999 muss der Verteidiger noch mit anderen Problemen fertig werden. Im Vordergrund steht hier das Verhältnis zur Öffentlichkeit, wenn die Sache öffentlichkeitswirksam durch die Medien begleitet wurde. Hält die breite Öffentlichkeit ein rechtskräftiges Urteil für falsch, so sieht sich der Verteidiger mit oder ohne sein Zutun im Brennpunkt der Ereignisse. Dass dieser Umstand nicht dazu genutzt werden darf, um für sich zu werben, ist selbstverständlich. Er muss immer abwägen, wo der vom Mandant autorisierte Austausch mit den Medien sinnvoll und wo dieser schädlich ist. Es ist schwierig, hier immer den richtigen Weg zu gehen. Der Verteidiger darf keinesfalls den Eindruck aufkommen lassen, es gehe nicht um die Sache, sondern um seine Person. Solcher Verdacht drängt sich auf, wenn bekannt wird, dass der Verteidiger die Wiederaufnahme „gebührenfrei“ betreibt, vielleicht sogar aus eigener Tasche die Aufwendungen bestreitet, die zur Beschaffung von Beweisunterlagen erforderlich sind. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings nichts dagegen einzuwenden, einem mittellosen Mandanten in einem aussichtsreichen Wiederaufnahmeverfahren ohne Honorarvorschüsse beizustehen. Es ist aber unzulässig, von vornherein auf Gebühren zu verzichten, das Verfahren selbst zu finanzieren und dies auch noch der Öffentlichkeit mitzuteilen. Nur ein nachträglicher Verzicht kann ausnahmsweise statthaft sein (Rz. 1191). Im Übrigen ist der Auftraggeber in geeigneten Fällen darauf hinzuweisen, 1000 dass ihm für das Wiederaufnahmeverfahren und seine Vorbereitung ein Offizialverteidiger beigeordnet werden kann (§§ 364a und 364b StPO). Allerdings soll es dafür auf die „hinreichende Erfolgsaussicht“ des Gesuchs ankommen (§ 364b Abs. 1 Nr. 1 StPO). Eine Bestellung zum Pflichtverteidiger im früheren Verfahren erstreckt sich von selbst auf das Wieder-
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Rz. 1001
Der Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren
aufnahmeverfahren; auf die Bestellung eines bestimmten Verteidigers besteht grundsätzlich kein Anspruch1. 2. Beratung und Vorbereitung 1001
Bevor der Verteidiger einen Wiederaufnahmeantrag einreicht, muss er sich über den Verfahrensgang klar sein. Zunächst hat er die Zulassung des Antrags durchzusetzen (§§ 366 f. StPO). Hält das Gericht den Antrag für unzulässig, so wird er verworfen (§ 368 StPO). Sonst werden, soweit erforderlich, im zweiten Abschnitt die Beweise erhoben und damit die Begründetheit geprüft (§ 369 StPO). Sind die Beweise nicht stichhaltig, wird der Antrag ebenfalls verworfen (§ 370 Abs. 1 StPO). Andernfalls ordnet das Gericht die Wiederaufnahme und die Erneuerung der Hauptverhandlung an, abgesehen von den seltenen Ausnahmen, in denen ohne neue Hauptverhandlung entschieden wird (§ 371 StPO). Man sieht, es hat seine Schwierigkeiten, ein Wiederaufnahmeverfahren in allen drei Abschnitten zum Erfolg zu führen.
1002
Diese Schwierigkeiten spiegeln sich auch in der Beratung des Mandanten wider. Wie bei den Rechtsmitteln (Rz. 817, 820) darf der Verteidiger den Auftraggeber über die Probleme des Verfahrens nicht im Unklaren lassen. Auch hier sollte der Mandant nicht zu einer bestimmten Entscheidung gedrängt werden. Vielmehr muss er selbst darüber befinden, ob das Wiederaufnahmeverfahren angestrengt werden soll. Zu diesem Zweck ist er vollständig aufzuklären, insbesondere über die Schwierigkeiten und Besonderheiten des Wiederaufnahmeverfahrens. Pflichtwidrig ist es, beim Mandanten und dessen Angehörigen falsche Hoffnungen zu erwecken, ihnen z.B. nicht zu sagen, dass die Zulassung des Antrags (§ 368 Abs. 2 und § 369 Abs. 1 StPO) noch lange nicht die Begründetheit der Wiederaufnahme und die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sichert. Häufig wird der Mandant das komplizierte Verfahren nicht verstehen und argumentieren, er sei unschuldig, also müsse ihm der Verteidiger auch helfen können. Es ist ein kaum lösbares Problem, solche Trugschlüsse zu beseitigen. Mandanten, die sich unschuldig verurteilt fühlen, sind Vernunftsgründen selten zugänglich. Daher ist es oft auch schwierig, die Zweckmäßigkeit der Wiederaufnahme zu erörtern. Hierzu gehören die Kosten, die bei Zeugenvernehmungen und Sachverständigengutachten im wahrsten Sinne des Wortes „ins Geld gehen“ können. Auch eigene Nachforschungen des Verteidigers (Rz. 1004) können erhebliche Aufwendungen notwendig machen. Eine Frage der Zweckmäßigkeit ist es auch, ob der Verteidiger einen Wiederaufnahmeantrag mit der neu festgestellten Schuldunfähigkeit des Mandanten begründet. Das kann nicht nur zur Vernichtung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Existenz führen, sondern auch zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt, selbst wenn sie früher nicht angeordnet war (§ 373 Abs. 2 S. 2 StPO). 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 364a StPO Rz. 2.
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Eigene „Ermittlungen“ des Verteidigers
Rz. 1004
Besonders nachteilig kann es sein, dass sich der Mandant in der neuen Hauptverhandlung noch einmal der Öffentlichkeit stellen muss. Der Verteidiger muss den Mandanten von vornherein darauf hinweisen, dass die erneute öffentliche Erörterung seines Falles in mehr oder weniger spektakulärer Verhandlung mit gesteigertem Medieninteresse in der Regel nicht zu vermeiden ist. Schon frühzeitig muss sich der Verteidiger mit der Frage der Vollstre- 1003 ckung befassen, die durch den Wiederaufnahmeantrag nicht gehemmt wird (§ 360 Abs. 1 StPO). Oft befindet sich der Mandant in Strafhaft, oder er beauftragt er den Verteidiger erst, wenn er zum Strafantritt geladen ist. In diesem Falle trägt der Verteidiger eine besondere Verantwortung. Einer Verzögerungstaktik des Mandanten darf er keinen Vorschub leisten. Er kommt dann in den Bereich der Strafvereitelung (Rz. 67, 1115), wenn er aussichtslose Wiederaufnahmeanträge nur einreicht, um die Vollstreckung hinauszuschieben. Es ist aber auch eine allgemeine Erfahrung, dass Anträge auf Strafaufschub oder Vollstreckungsunterbrechung (§ 360 Abs. 2 StPO) erst dann durchdringen, wenn das Gericht vom Erfolg der Wiederaufnahme praktisch schon überzeugt ist. Deshalb hat der Verteidiger während aller Abschnitte des Verfahrens zu prüfen, ob Vollstreckungsanträge in Betracht kommen. Spätestens gegen Ende der Probation (Rz. 1021) wird sich die Ansicht des Gerichts so weit gefestigt haben, dass die Aussichten für eine Vollstreckungsverschonung zu übersehen sind. In Zweifelsfällen gibt es noch einen anderen Weg, dem Mandanten die Freiheitsentziehung wenigstens zu erleichtern. Der Verteidiger kann beantragen, den Verurteilten aus der Strafhaft in die Untersuchungshaft zu überführen. Ordnet das Gericht die Wiederaufnahme an (§ 370 Abs. 2 StPO), so muss unverzüglich die Entlassung des verhafteten Mandanten beantragt werden, falls dies nicht von Amts wegen geschieht. Die Anordnung beseitigt die Rechtskraft, die Strafe darf nicht mehr vollstreckt werden. 3. Eigene „Ermittlungen“ des Verteidigers Zur erfolgreichen Durchsetzung der Wiederaufnahme sind eigene „Er- 1004 mittlungen“ (Rz. 313 ff.) meistens unerlässlich. Sonst kann der Verteidiger weder die Zulässigkeit (Rz. 1005) noch die Begründetheit (Rz. 1021) beurteilen und bewegt sich in allen Abschnitten der Wiederaufnahme auf unsicherem Boden. Um die Beweisgrundlage des anzugreifenden Urteils zu erschüttern, müssen alle Beweistatsachen wie ein Mosaik zusammengetragen werden. Dazu sind Findigkeit und Initiative erforderlich, der freilich Schranken gesetzt sind. Dem Verteidiger stehen die Machtmittel nicht zur Verfügung, wie sie Staatsanwalt und Polizei nutzen können. Auch scheitern die besten Bemühungen oft am Kostenproblem. Der Verteidiger, der auf eigene Faust – persönlich oder mit Hilfe von Rechercheuren (Rz. 321) – nachforscht, sieht sich einer weiteren Schwierigkeit gegenüber. Seine Maßnahmen werden von Gericht und Staatsan583
Rz. 1005
Der Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren
waltschaft häufig misstrauisch hinterfragt, da diese eine Art „Aufklärungsmonopol“ für sich beanspruchen. Dabei werden zwei Gesichtspunkte verkannt. Im Wiederaufnahmeverfahren hat der Antragsteller die Tatsachen und Beweismittel beizubringen1. Schon deshalb ist der Verteidiger befugt, selbst Nachforschungen anzustellen. In vielen Fällen führt die eigene Nachprüfung auch dazu, dass der Verteidiger von einem Wiederaufnahmeantrag abrät. So muss der gewissenhafte Verteidiger davon absehen, für eine an sich erhebliche neue Tatsache einen Zeugen zu benennen, von dem feststeht, dass er die Behauptung nicht bestätigen kann. Berüchtigt sind die „neuen“ Alibizeugen, die nach Jahr und Tag bekunden sollen, der Mandant sei zur Tatzeit gar nicht am Tatort gewesen. Der Verteidiger darf sich nicht auf die Angaben des Mandanten und der Angehörigen verlassen, er muss sich – wenn möglich – selbst überzeugen. Im Übrigen sind alle dem Verteidiger zur Verfügung stehenden Informationen auszuwerten. Dazu gehört nicht nur das Studium der Akten und Beiakten. Auch Veröffentlichungen über den Prozess enthalten oft Hinweise und Spuren, um eine unzulängliche Sachaufklärung zu belegen. Nicht zuletzt sind andere Verfahren bedeutsam, die denselben Sachverhalt betreffen, so Schadenersatzprozesse, Disziplinar- und Berufsgerichtsverfahren. Es kommt vor, dass in diesen Verfahren Feststellungen getroffen worden sind, die mit dem Strafurteil nicht übereinstimmen. So wurde beispielsweise2 ein Beamter wegen sexueller Handlungen mit Kindern verurteilt, im anschließenden Disziplinarverfahren jedoch freigesprochen, weil die erst in diesem Verfahren vorgenommene Ortsbesichtigung ergab, dass der von den Kindern angegebene Tatort möglicherweise gar nicht existierte. Im Rahmen seiner Nachforschungen hat der Verteidiger auch das Recht und ggf. die Pflicht zur außergerichtlichen Befragung von Zeugen (Rz. 217 ff.) und Sachverständigen (Rz. 223). Dass diese Befragung gerade für das Wiederaufnahmeverfahren von entscheidender Bedeutung sein kann, liegt auf der Hand. Hierbei sind selbstverständlich die Grenzen der außergerichtlichen Befragung einzuhalten. Insbesondere ist der Verdacht zu vermeiden, die Beweisperson solle in bestimmter Richtung beeinflusst werden. Unzulässig ist es auch, einen Wiederaufnahmeantrag auf die eidesstattliche Versicherung eines Zeugen zu stützen3. Wichtig ist auch hier, alle Hilfspersonen des Verteidigers in den Bereich des § 53a StPO einzubeziehen (Rz. 315). 4. Der Verteidiger in den Abschnitten des Verfahrens a) Zulassungsverfahren 1005
Nicht jedes „Fehlurteil“ ist mit einem Wiederaufnahmegesuch angreifbar. Die einzelnen Wiederaufnahmegründe sind in § 359 StPO enumera1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 359 StPO Rz. 21 ff. 2 OLG Frankfurt v. 13.7.1966 – 1 Ws 174/66, NJW 1966, 2423. 3 BGH v. 19.6.1962 – 5 StR 189/62, BGHSt. 17, 303.
584
Der Verteidiger in den Abschnitten des Verfahrens
Rz. 1009
tiv aufgeführt, soweit sie zugunsten des Verurteilten in Betracht kommen. Jeder Wiederaufnahmeantrag muss allgemeine und spezielle Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllen, wobei die Vollstreckung der angegriffenen Entscheidung und der Tod des Verurteilten nicht entgegenstehen (§ 361 StPO). Zu den allgemeinen Voraussetzungen gehört, dass eine rechtskräftige Entscheidung vorliegt. Bereits hier beginnen die Probleme. So muss der Verteidiger wissen, dass angefochten werden können rechtskräftige Urteile (§ 359 StPO), rechtskräftige Strafbefehle (§ 373a StPO) und rechtskräftige Bußgeldbescheide (§ 85 OWiG). Günstiger ist die Situation für die Verteidigung bei Teilrechtskraft des 1006 früheren Urteils, die nach überwiegender Ansicht für die Wiederaufnahme ausreicht1. Der Verteidiger sieht sich hier ähnlichen Fragen gegenüber wie bei der Teilanfechtung von Urteilen (Rz. 867). So ist es zulässig, die Wiederaufnahme nur gegen die Verurteilung wegen einer von mehreren selbständigen Taten zu beantragen2. Führt sie zum Erfolg, dann sind die Bestrafung wegen der Einzeltat und die Gesamtstrafe aufzuheben, die in der neuen Hauptverhandlung neu festzusetzen ist3. Anders liegt es, wenn nur das Urteil über eine Einzelstrafe rechtskräftig, über die Gesamtstrafe aber noch nicht entschieden ist. In diesem Fall soll die Wiederaufnahme nicht vor Rechtskraft der Gesamtstrafe statthaft sein4. Am häufigsten steht der Verteidiger vor der Frage, ob der rechtskräftige Schuldspruch angegriffen werden kann, ohne dass der Strafausspruch rechtskräftig ist. Das wird allgemein verneint5. Gegenüber einer rechtskräftigen Gesamtentscheidung kann es umge- 1007 kehrt nützlich sein, lediglich den Strafausspruch anzufechten. Allerdings darf damit nicht nur die Strafzumessung innerhalb desselben Strafgesetzes gemeint sein. Ein solcher Antrag wäre unzulässig (§ 363 Abs. 1 StPO). Dies gilt auch, wenn lediglich eine Strafmilderung wegen verminderter Schuldfähigkeit erreicht werden soll (§ 363 Abs. 2 StPO), eine gesetzliche Regelung, die verfassungsrechtlich gebilligt ist6. Statthaft ist die Wiederaufnahme gegen den Strafausspruch jedoch, sofern ihm ein „anderes“ Strafgesetz zugrunde gelegt werden soll (z.B. § 49 Abs. 2 StGB)7. Beschlüsse unterliegen nicht der Wiederaufnahme8.
1008
Aus der Anwendung der allgemeinen Rechtsmittelvorschriften ergibt 1009 sich, dass auch die Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten betreiben kann (§ 296 Abs. 2 StPO), und zwar auch ge1 2 3 4 5 6 7 8
Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 359 StPO Rz. 4. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 359 StPO Rz. 4. BGH v. 27.1.1960 – 604/59, BGHSt. 14, 85. Str., vgl. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 359 StPO Rz. 4 m.N. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 359 StPO Rz. 4 m.N. BVerfG v. 25.5.1956 – 1 BvR 128/56, NJW 1956, 1026. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 363 StPO Rz. 4. Vgl. i.E. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 359 StPO Rz. 5 m.N.
585
Rz. 1010
Der Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren
gen dessen ausdrücklichen Willen1. Hier sieht sich der Verteidiger denselben Problemen gegenüber, wie sie staatsanwaltschaftliche Rechtsmittel zugunsten des Mandanten mit sich bringen (Rz. 843). 1010
Zu den allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Wiederaufnahme zählen weiter Form und Inhalt des Wiederaufnahmeantrages. Hier muss der Verteidiger besonders sorgfältig arbeiten, wenn der Antrag Erfolg haben soll. Da eine mündliche Verhandlung nicht stattfindet (§ 367 Abs. 2 StPO), müssen allein die schriftlichen Darlegungen überzeugen. Zu jedem Wiederaufnahmeantrag gehören der gesetzliche Wiederaufnahmegrund und die Beweismittel (§ 366 StPO). Sonst wird der Antrag als unzulässig verworfen (§ 368 StPO). Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich das Gericht nur mit den vorgebrachten Wiederaufnahmegründen befassen darf2. Deshalb muss der Verteidiger, will er sichergehen, alle Wiederaufnahmegründe sogleich vorbringen. Eine Beschränkung der Wiederaufnahme kommt daher nicht in Betracht, zumal neue Wiederaufnahmegründe nicht im Beschwerdeverfahren nachgeschoben werden können (Rz. 1027). Praktisch ist der Wiederaufnahmeantrag wie eine Revision zu rechtfertigen (Rz. 900 ff., 925 ff.)3. Es sind also darzulegen: die rechtskräftige Entscheidung, die angefochten wird, der gesetzliche Wiederaufnahmegrund, dieser unter Umständen unter Anführung der neuen Tatsachen und Beweismittel und deren Erheblichkeit (Rz. 1017). Der Wiederaufnahmeantrag darf auch nicht auf andere Schriftstücke Bezug nehmen4; er muss in sich geschlossen und verständlich sein5.
1011
Letztlich ist die gerichtliche Zuständigkeit für den Wiederaufnahmeantrag zu beachten. Über das Gesuch entscheidet ein anderes Gericht mit gleicher sachlicher Zuständigkeit wie das Gericht, gegen dessen Entscheidung sich der Wiederaufnahmeantrag richtet (§ 367 Abs. 1 StPO, § 140a Abs. 1 S. 1 GVG). Bei einem Antrag gegen ein Berufungsurteil ist eine Strafkammer eines anderen Landgerichts zuständig (§ 140a Abs. 1 GVG); häufig gilt eine Konzentrationsmaxime (§ 140a Abs. 2 GVG). Für die Wiederaufnahme gegen Revisionsurteile ist nicht das Revisionsgericht zuständig, sondern die Vorinstanz, also ein anderes Landgericht oder Amtsgericht als das, gegen dessen nach Revision rechtskräftig gewordene Entscheidung sich die Wiederaufnahme richtet (§ 140a Abs. 1 S. 2 GVG).
1012
Die Richter, die an der angegriffenen Entscheidung beteiligt waren, sind im gesamten Wiederaufnahmeverfahren kraft Gesetzes (§ 23 Abs. 2 StPO) ausgeschlossen. 1 2 3 4 5
Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 365 StPO Rz. 2. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 366 StPO Rz. 2. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 366 StPO Rz. 4. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 366 StPO Rz. 1. OLG Hamburg v. 7.8.2003 – 2 Ws 212/03, StraFo 2003, 430; OLG Stuttgart v. 18.2.1965 – 3 Ws 196/64, NJW 1965, 1239.
586
Der Verteidiger in den Abschnitten des Verfahrens
Rz. 1015
Bei den speziellen Zulässigkeitsvoraussetzungen wird häufig der Zusam- 1013 menhang zwischen § 359 und § 364 StPO verkannt, soweit die Wiederaufnahme auf strafbare Handlungen gestützt werden soll, also auf Urkundenfälschung oder Aussagedelikte (§ 359 Nr. 1 und 2 StPO). Der Schuldige muss rechtskräftig verurteilt sein oder das Verfahren aus anderen Gründen als fehlendem Beweis nicht durchgeführt werden können (§ 364 StPO). Außerdem muss die strafbare Handlung das damalige Urteil ursächlich beeinflusst haben (§ 370 Abs. 1 StPO). All dies ist jedoch unerheblich, und hier liegt der Fehler vieler Wiederaufnahmeanträge, falls die Wiederaufnahme mit neuen Tatsachen oder Beweismitteln begründet wird (§ 359 Nr. 5 StPO). Soll z.B. mit einem „neuen“ Zeugen bewiesen werden, dass ein anderer Zeuge früher die Unwahrheit gesagt hat oder aus bestimmten Gründen unglaubwürdig ist, so braucht der damalige Zeuge nicht wegen eines Aussagedeliktes bestraft zu sein (§ 364 letzter Satz StPO). Materielle Rechtsfehler sind kein Grund für eine Wiederaufnahme des Verfahrens1. Außerdem muss der Verteidiger beachten, dass die Wiederaufnahme zu- 1014 ungunsten des Angeklagten nur statthaft ist, wenn er gerichtlich oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der strafbaren Handlung abgegeben hat (§ 362 Nr. 4 StPO). Neue Tatsachen und Beweismittel. Die Probleme der Praxis liegen in 1015 § 359 Nr. 5 StPO, dem Kernstück der Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten. Sie sind am besten zu meistern, wenn man von der gesetzlichen Grundlinie ausgeht und im Einzelfall die reichhaltige, nicht immer einheitliche Rechtsprechung vor allem der Oberlandesgerichte auswertet. Die Wiederaufnahme ist zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel vorhanden sind, die allein oder mit den vorher erhobenen Beweisen zum Freispruch oder zur Anwendung eines milderen Strafgesetzes oder zu einer wesentlich anderen Entscheidung über eine Maßregel der Sicherung und Besserung geeignet sind. Es ist zweckmäßig, den hier inhaltlich wiedergegebenen Gesetzestext aufzulösen und sich vor Augen zu halten: Die Wiederaufnahme dient der Überprüfung der Beweisführung im früheren Verfahren innerhalb der engen rechtlichen Grenzen. Zu diesem Zweck enthält § 359 Nr. 5 StPO eine Generalklausel, die auch dann zum Zuge kommt, wenn die anderen Wiederaufnahmegründe zugunsten des Verurteilten nicht durchgreifen. Keiner der Wiederaufnahmegründe schließt den anderen aus. Deshalb hat der Verteidiger in jedem Fall zu prüfen, ob neue Tatsachen oder Beweismittel vorliegen. Neu sind Tatsachen oder Beweismittel, wenn sie dem Gericht unbekannt waren, dessen Entscheidung angegriffen werden soll, und deshalb bei der Urteilsfindung nicht verwertet worden sind. Die Neuheit der Tatsachen muss unzweifelhaft feststehen; der Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt im 1 BGH v. 3.12.1992 – StB 6/92, BGHSt. 39, 75 (79); Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 359 StPO Rz. 25.
587
Rz. 1016
Der Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren
Wiederaufnahmeverfahren nicht. Der Verteidiger hat sich darauf einzustellen, dass bei aktenkundigen Tatsachen in der Regel vermutet wird, dass sie dem Gericht bekannt waren1, auch wenn dies ggf. tatsächlich nicht der Fall war. Auch hier sieht sich der Verteidiger einer stark „konservierenden“ Rechtsprechung gegenüber. So sollen Umstände nicht „neu“ sein, die in dem früheren Verfahren bloß aktenkundig waren, jedoch nicht zum Gegenstand der Verhandlung gemacht worden sind2. Diese Auffassung ist schwer akzeptabel3, zumindest sollte eine Klärung durch Freibeweis möglich sein. Im Übrigen schadet es nichts, dass der Mandant die Tatsachen und Beweismittel gekannt, sie aber damals nicht vorgebracht hat. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass „für früher behauptete Tatsachen neue Beweismittel und für neue Tatsachen frühere Beweismittel“ ausreichen. Im Allgemeinen lässt sich leicht feststellen, ob Umstände in diesem Sinne „neu“ sind, z.B. der damals nicht erreichbare oder unbekannte Zeuge. Schwieriger ist es häufiger, solche „Neuigkeiten“ überhaupt aufzufinden. Der Mandant kann sie in vielen Fällen nicht beibringen und ist auf die (eigenen) Ermittlungen des Verteidigers angewiesen (Rz. 1004, 1015). 1016
Die Wiederholung eines abgelehnten Wiederaufnahmeantrages ist nicht ausgeschlossen. Der Verteidiger muss aber beachten, dass einmal vorgebrachte und zurückgewiesene Wiederaufnahmegründe nicht noch einmal geltend gemacht werden können4.
1017
Das ist schon deshalb notwendig, weil die Erheblichkeit der neuen Tatsachen oder Beweismittel darzutun ist. Der Verteidiger muss eine Schlüssigkeitsprüfung vornehmen und sich dabei auf den Standpunkt des früher erkennenden Gerichts stellen. Erheblich sind neue Tatsachen und Beweismittel nur, wenn sie zum Freispruch des Mandanten, zur Einstellung des Verfahrens, zur Anwendung eines milderen Strafgesetzes oder zu einer wesentlich anderen Entscheidung über Maßnahmen der Sicherung und Besserung führen können. Der Verteidiger muss sich folglich fragen: Wie hätte das Gericht entschieden, wenn es die jetzt vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel gekannt hätte? Das Problem wird noch komplizierter, wenn die neuen Tatsachen oder Beweismittel nicht für sich allein, sondern nur in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen zu einer günstigeren Entscheidung führen sollen. Hier hilft nur eine genaue Analyse des damaligen Urteils, in das die neuen Tatsachen oder Beweismittel eingefügt werden müssen, manchmal eine Art „Puzzlespiel“, besonders wenn die Wiederaufnahme auf mehrere neue Umstände gestützt wird. Der Verteidiger darf sich nicht auf eine „Mithilfe“ des Ge1 OLG Frankfurt v. 20.1.1978 – 1 Ws 71/78, NJW 1978, 840; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 368 StPO Rz. 5. 2 Str.; bej. OLG Hamm v. 9.11.1956 – 3 Ws 275/56, GA 1957, 90; vern. OLG Frankfurt v. 20.1.1978 – 1 Ws 21/78, NJW 1978, 840; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 368 StPO Rz. 5; Marxem/Tiemann, S. 129. 3 Meyer, JZ 1968, 7. 4 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 372 StPO Rz. 9 m.N.
588
Der Verteidiger in den Abschnitten des Verfahrens
Rz. 1018
richts verlassen. Auch insoweit gilt im Zulassungsverfahren nicht der Grundsatz in dubio pro reo1. In der Probation müssen die aufgestellten Behauptungen „genügende Bestätigung“ finden (§ 370 StPO). Erst in der neuen Hauptverhandlung findet der Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ wieder Anwendung (Rz. 1021). Das bedeutet praktisch, dass die genügende Bestätigung der Behauptung dann anzunehmen ist, wenn mit einem Freispruch für den Angeklagten unter Berücksichtigung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ gerechnet werden kann2. Auch hieraus ergibt sich, dass die Rechtskraft über die materielle Gerechtigkeit gestellt wird. Nur so ist es zu erklären, dass schon im Zulassungsverfahren über die bloße Schlüssigkeitsprüfung hinaus gefragt wird, ob das Vorbringen des Antragstellers wahr sei, zumindest wahr sein könnte3. Meint das Gericht, ein behaupteter Umstand könne gar nicht bewiesen werden, bleibt die Wiederaufnahme bereits im Zulassungsverfahren stecken. Deshalb muss der Verteidiger in einigen praktisch wichtigen Fällen nähere Angaben darüber vortragen, wie der Wiederaufnahmegrund bewiesen werden wird. So ist bei früher vernommenen Zeugen zu prüfen, ob ihre abweichende neue Sachdarstellung lediglich auf anderweitiger Erinnerung beruht oder den ausdrücklichen Widerruf der früheren Aussage enthält. Die Behauptung, der Zeuge erinnere sich nunmehr anders, macht die Wiederaufnahme nicht zulässig. Das Gericht pflegt der früheren, dem Geschehenen näheren Bekundung mehr zu glauben. Beim Widerruf einer Zeugenaussage muss der Verteidiger, will er sichergehen, darlegen, warum und unter welchen Umständen der Zeuge seine Aussage widerrufen hat4. Ein Hauptfall der Wiederaufnahme ist der Angriff auf den Sachverständi- 1018 genbeweis, genauer gesagt: der Angriff auf die falsche Beweisgrundlage des früheren Urteils, die durch unrichtige Gutachten hervorgerufen ist. Allseits bekannte Verfahren machen immer wieder deutlich, welche Fehlerquellen der Sachverständigenbeweis enthält. Dass ein Sachverständiger lediglich anhand von Lichtbildern die Todesursache feststellt, ohne die Leiche je gesehen zu haben, ist nur ein Beispiel für viele Fälle, in denen der Gutachterbeweis zu objektiv falschen Ergebnissen führen kann. Dabei ist es äußerst schwierig, solche Fehler im Wiederaufnahmeverfahren auszuräumen. Die Rechtsprechung ist eng und klammert sich allzu sehr an die früheren Gutachten5. Andere Sachverständige mit besseren Erkenntnisquellen helfen der Verteidigung allein nichts. Es ist daher erforderlich darzulegen, dass der neue Sachverständige bei gründlicher Untersuchung zu einem für den Mandanten günstigeren Ergebnis kommen 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 368 StPO Rz. 10; OLG Braunschweig v. 30.1.1959 – Ws 200/58, NJW 1959, 1984 (str.). 2 OLG Köln v. 24.6.1968 – 2 Ws 451/68, NJW 1968, 2119. 3 OLG Celle v. 12.5.1966 – 4 Ws 527/64, GA 1967, 284; W. Schmidt, NJW 1958, 1332. 4 BGH v. 7.7.1976 – 5 (7) (2) StE 15/56, NJW 1977, 59; OLG Schleswig v. 22.5.2003 – 1 Ws 123/03, StraFo 2003, 385. 5 OLG Hamburg v. 3.5.1967 – 1 Ws 171/67, GA 1967, 250.
589
Rz. 1019
Der Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren
würde1. Mit anderen Worten: Allein die höhere Qualität und überlegene Forschungsmittel des Sachverständigen können die Wiederaufnahme nicht begründen. Der Verteidiger sollte dies nicht akzeptieren2. Er kann zahlreiche Beispiele aufzählen, in denen unrichtige Gutachten zu Fehlurteilen geführt haben. Zu diesem Zweck hat er sich eingehend mit dem früheren Sachverständigen, dem Gutachten und dem Fachgebiet zu beschäftigen (Rz. 226). 1019
Auch die Augenscheinseinnahme allein ist nicht ohne weiteres ein für die Wiederaufnahme geeignetes Beweismittel. Man muss schon sehr genau erläutern, warum z.B. die Tatortbesichtigung neue Tatsachen zutage fördern soll3. Gelingen wird dies meist nur in Verbindung mit anderen Umständen und Beweismitteln.
1020
Besonders schwierig ist die Frage zu lösen, ob der Widerruf eines Geständnisses als Wiederaufnahmegrund anerkannt wird. Die Grenzen werden hier sehr eng gezogen. Um missbräuchlichen Wiederaufnahmeanträgen entgegenzuwirken, fordert die Rechtsprechung die Darlegung, weshalb der Antragsteller seinerzeit ein Geständnis abgelegt und was ihn jetzt zum Widerruf veranlasst habe4. Hierzu muss der Verteidiger feststellen, welche Erklärung wahr ist, das frühere Geständnis oder der jetzige Widerruf. Der Verteidiger darf keinesfalls an einer Wiederaufnahme mitwirken, die auf dem Widerruf eines wahren Geständnisses beruht. War das Geständnis hingegen wirklich falsch, so muss der Verteidiger dagegen vorgehen, dass das Gericht nach dem Grundsatz vorgeht: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.“ Es wird häufig übersehen, dass unrichtige Geständnisse sehr verschiedene Gründe haben können, z.B. die Angst vor der Untersuchungshaft oder die Hoffnung, bald wieder auf freiem Fuß zu sein (Rz. 342). Insbesondere kann auch ein „besonderer Verfahrensdruck“ zu unrichtigen Geständnissen führen. Besondere Probleme ergeben sich, wenn der Verurteilte behauptet, er habe ein falsches Geständnis abgelegt, um gemäß einer von seinem Verteidiger getroffenen Absprache (Rz. 502) eine günstige Bestrafung zu erreichen (§ 257c StPO). In solchen Fällen sieht sich der Verteidiger einer mehrfach gesteigerten Darlegungslast5 und Skepsis des Gerichts gegenüber. Es entsteht häufig die unangenehme Situation, dass Vorwürfe gegen die Beteiligten der Absprache erhoben werden sollen. Dies ist – wenn möglich – zu vermeiden. Im Zweifelsfall sollte der maßgebliche Sachverhalt „neutral“ dargestellt werden. Man-
1 I.E. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 359 StPO Rz. 34 f.; OLG Bremen v. 10.9.1964 – Ws 172/64, NJW 1964, 2218. 2 Kurioser Fall: LG Karlsruhe v. 11.7.2002 – 3 Qs 49/02, NStZ 2003, 108 m. krit. Anm. Murmann, NStZ 2003, 618. 3 OLG Frankfurt v. 13.7.1966 – 1 Ws 174/66, NJW 1966, 2423. 4 Vgl. i.E. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 359 StPO Rz. 47; BGH v. 7.7.1976 – 5 (7) (2) StE 15/56, NJW 1977, 59 = JR 1977, 21 m. Anm. Peters; OLG Köln v. 7.9.1990 – 2 Ws 140/90, NStZ 1991, 96 m.N. 5 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 359 StPO Rz. 46 ff.
590
Der Verteidiger in den Abschnitten des Verfahrens
Rz. 1022
danten, die eine andere Verfahrensweise fordern, ist mit äußerster Vorsicht und großer Zurückhaltung zu begegnen. b) Probationsverfahren Die Aufgaben des Verteidigers während der „Probation“, die in Form ei- 1021 ner Beweisaufnahme stattfindet (§ 369 StPO), hängen von den einzelnen Wiederaufnahmegründen und Beweismitteln ab. Einfach liegen die Fälle, in denen die Wiederaufnahme durch Urkunden bewiesen werden soll, etwa Aufhebung eines zivilgerichtlichen Urteils, Urkundenfälschung, Aussagedelikte und strafbare Amtspflichtverletzungen von Richtern. Dann kann man auf die Strafakten Bezug nehmen, die im Allgemeinen sowohl die Zulässigkeit als auch die Begründetheit der Wiederaufnahme beweisen (Rz. 1013). Wie bei der Zulassung der Wiederaufnahme bieten die Verfahren die größten Schwierigkeiten, in denen der Antrag auf neue Tatsachen oder Beweismittel gestützt werden muss (§ 359 Nr. 5 StPO; Rz. 1015). Meist handelt es sich dabei um die Vernehmung von Zeugen (Rz. 567 ff.) und Sachverständigen (Rz. 616 ff.). Der Verteidiger sollte die Beweispersonen unbedingt selbst vorher außergerichtlich befragen (Rz. 1004), um festzustellen, ob die Behauptungen des Antrags „genügende Bestätigung“ finden (§ 370 Abs. 1 StPO). Das ist dann der Fall, wenn der Wiederaufnahmegrund wahrscheinlich bewiesen wird1, d.h. es reicht aus, wenn die tatsächlichen Feststellungen des angegriffenen Urteils erschüttert werden. Der volle Beweis ist in der Probation nicht erforderlich2. Etwaige Zweifel sind in der neuen Hauptverhandlung zu klären, wo wieder der Grundsatz in dubio pro reo gilt3. Dies bedeutet, dass es zur Begründetheit genügt, dass nach den Ermittlungen mit genügender Sicherheit zu erwarten ist, dass der Angeklagte – unter Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo – in der Hauptverhandlung freigesprochen wird (vgl. die andere Lage im Zulassungsverfahren: Rz. 1005 ff.). Im Idealfall, in dem bereits im Probationsverfahren der volle Beweis ge- 1022 lingt, ist ausnahmsweise ein abgekürztes Verfahren ohne neue Hauptverhandlung möglich (§ 371 Abs. 2 StPO). Bei Zeugenvernehmungen im Probationsverfahren scheitert der Beweis oft am Zeitablauf. Ein Zeuge, der sich nach langen Jahren nur noch schwach an bestimmte Vorgänge erinnert, ist kein gutes Beweismittel. Dies schlägt meist zum Nachteil des Mandanten aus. Handelt es sich um einen neuen, bisher nicht vernommenen Zeugen, so kann der Verteidiger mit ihm die Wiederaufnahme evtl. durchsetzen. Wurde der Zeuge bereits früher gehört und hatte damals eine genauere Erinnerung, so wird das Gericht darauf abstellen, dass die Wiederaufnahme die Rechtskraft nicht aushöhlen dürfe, nur weil der
1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 370 StPO Rz. 4. 2 BVerfG v. 20.6.1990 – 2 BvR 1110/89, NStZ 1990, 499. 3 OLG Bremen v. 3.9.1957 – Ws 132/57, NJW 1957, 1730; OLG Koblenz v. 25.4.2005 – 1 Ws 231/05, NStZ-RR 2007, 317 f.
591
Rz. 1023
Der Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren
Zeuge sich nun an nichts mehr erinnere. Im Zweifel wird für die Rechtskraft entschieden1. 1023
Aus der Erfahrung ergibt sich, wie wichtig das Anwesenheitsrecht des Verteidigers im Probationsverfahren ist (§ 369 Abs. 3 StPO). Praktisch bedeutet es seine Pflicht zur Anwesenheit. Es ist kaum ein Fall denkbar, in dem der Verteidiger der Beweisaufnahme guten Gewissens fernbleiben kann. Das Recht zur Anwesenheit bedeutet das Recht zur Mitwirkung, insbesondere durch Erklärungen (Rz. 526 ff.), Fragen (Rz. 530 ff.), Vorhalte und Anträge. Der Verteidiger befindet sich im Vorteil, wenn er schon eigene Ermittlungen angestellt und die Beweispersonen vorher befragt hat. Auch kann das Beweisergebnis nur richtig beurteilen, wer die Beweiserhebung miterlebt hat. Man darf auch nicht vergessen, dass die Staatsanwaltschaft Umstände und Beweismittel einführen kann, die gegen die Wiederaufnahme sprechen. Ihnen muss der Verteidiger seine besondere Aufmerksamkeit widmen. Unter Umständen hat er die Vereidigung von Zeugen und Sachverständigen zu beantragen, die das Gesetz in das Ermessen des Gerichts stellt (§ 369 Abs. 2 StPO).
1024
Ein besonderes Problem ist die Anwesenheit des Mandanten während der Beweisaufnahme, die grundsätzlich zweckmäßig, wenn nicht sogar geboten ist. Sie darf ihm nicht versagt werden (§ 369 Abs. 3 StPO). Schwierigkeiten, die sich bei Untersuchungshaft des Mandanten oder sonst ergeben können, muss der Verteidiger versuchen zu überwinden.
1025
Am Ende der Probation steht die Schlussanhörung (§ 369 Abs. 4 StPO). In der Schlusserklärung kann und muss der Verteidiger umfassend Stellung nehmen und eventuell beantragen, die Beweisaufnahme zu ergänzen2. Dazu muss er sich eine ausreichende Erklärungsfrist geben lassen, die sich nach dem Umfang der Sache richtet. Auch ist vor Abgabe der Erklärung Akteneinsicht zu nehmen. Sonst kann der Verteidiger die vielfach unterschätzten Möglichkeiten der Schlussanhörung nicht sachgerecht ausschöpfen. c) Erneuerung der Hauptverhandlung
1026
Für den dritten Abschnitt der Wiederaufnahme muss der Verteidiger wissen, dass eine neue Hauptverhandlung nicht zwingend ist. Sie kann beim abgekürzten Verfahren entfallen, so, wenn der Verurteilte verstorben ist (§ 371 Abs. 1 StPO). In anderen Fällen kann das Gericht sofort freisprechen, wenn dazu bereits im Probationsverfahren genügende Beweise beigebracht sind (§ 371 Abs. 2 StPO). Freilich hängt dieses vereinfachte Verfahren bei Offizialdelikten von der Zustimmung der Staatsanwaltschaft ab und scheitert hieran auch meist. Daher muss der Verteidiger mit einer erneuten Hauptverhandlung rechnen (§ 373 StPO). Dabei ist zu berück1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 370 StPO Rz. 4 a.E. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 369 StPO Rz. 13 a.E.
592
Entschdigung
Rz. 1029
sichtigen, dass eine völlig neue Hauptverhandlung stattfindet. Das hat Vorzüge und Nachteile. Bei einer Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten gelten der Grundsatz in dubio pro reo und das Verbot der reformatio in peius. Die frühere Entscheidung darf nach Art und Höhe der Strafe nicht zum Nachteil des Verurteilten geändert werden, abgesehen von einer Unterbringung (§ 373 Abs. 2 StPO). Diese darf auch dann angeordnet werden, wenn sie im damaligen Urteil nicht vorgesehen war. Die Gefahr, dass belastende Umstände erst in der neuen Hauptverhandlung zu einem Misserfolg der Wiederaufnahme führen, ist allerdings nicht groß. Denn die Einwendungen der Staatsanwaltschaft gegen die Wiederaufnahme werden schon im Probationsverfahren geprüft (Rz. 1021 ff.). Setzt sich das Gericht darüber hinweg und ordnet die Wiederaufnahme an, so fällt damit eine Vorentscheidung zugunsten des Mandanten. Das Gericht wird hiervon nur selten abweichen. 5. Rechtsmittel Häufig ordnet erst die höhere Instanz die Wiederaufnahme an. Um diese 1027 Chance zu wahren, wird der Verteidiger meist raten müssen, sofortige Beschwerde (§ 372 StPO) einzulegen, falls der Wiederaufnahmeantrag als unzulässig oder als unbegründet verworfen wird. Außer den Regeln für das Beschwerdeverfahren (Rz. 844 ff.) sind einige Besonderheiten zu beachten. Die sofortige Beschwerde ist nur statthaft, wenn das Gericht des ersten Rechtszuges die ablehnende Wiederaufnahmeentscheidung getroffen hat. Sonst ist für den Antragsteller ein Rechtsmittel ausgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft darf den Beschluss nicht anfechten, mit dem die Wiederaufnahme und die Erneuerung der Hauptverhandlung angeordnet werden (§ 372 S. 2 StPO). Der Verteidiger muss zudem berücksichtigen, dass er nach herrschender Ansicht1 in der Beschwerde keine Gründe nachschieben darf. Was nicht spätestens in der Schlusserklärung vorgebracht ist, kann im Beschwerdeverfahren nicht mehr nachgeholt werden. 6. Entschädigung Dem im erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren freigesprochenen Ange- 1028 klagten stehen Entschädigungsansprüche nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (§ 1 StrEG) zu (Rz. 372 ff.).
VI. Beteiligung des Verletzten Der durch die Straftat Verletzte/Geschädigte kann in verschiedener 1029 Rechtsstellung am Strafprozess beteiligt sein. Als „Opfer“ nach §§ 406d ff. StPO, als Nebenkläger (§§ 395 ff. StPO), Privatkläger (§§ 374 ff. StPO), Ad1 BGH v. 30.10.1996 – StB 19/96, BGHR StPO § 359 Neue Tatsache 6; w.N. bei Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 372 StPO Rz. 7.
593
Rz. 1030
Beteiligung des Verletzten
häsionskläger (§§ 403 ff. StPO) oder (außerhalb der §§ 406d ff. StPO) als „einfacher“ Zeuge, ggf. mit anwaltlichem Rechtsbeistand (Rz. 1160 ff.)1. Der Verteidiger muss dem Geschädigten, gleichgültig welche formalisierte Verfahrensposition dieser einnimmt, besondere Aufmerksamkeit widmen. Er kann nämlich für die richtige Verteidigungsstrategie ggf. wichtiger werden als Staatsanwaltschaft und Gericht. Dies deshalb, weil dem Verletzten häufig besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der Verteidiger kann schon vor Beginn des Verfahrens, insbesondere auch während des Ermittlungsverfahrens, mit dem Geschädigten/Verletzten in Verbindung treten, um entweder ein Strafverfahren zu vermeiden oder es nach seiner Einleitung möglichst bald und in günstiger Form für seinen Mandanten zu beenden. Auf diese Möglichkeiten bezieht sich das besondere Kapitel „Verteidiger und Geschädigter“ (Rz. 168 ff.). 1. Privatklage Literatur: Bohlander, Zu den Anforderungen an die Privatklageschrift nach § 381 StPO, NStZ 1994, 420; Feiber, Beschlagnahme im Privatklageverfahren, NJW 1964, 709; Gillmeister in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 1212 ff.; Husmann, Die Beleidigung und die Kontrolle des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung, MDR 1988, 727; Krehl, Die Einstellung des Privatklageverfahrens wegen geringer Schuld (§ 383 Abs. 2 StPO), NJW 1988, 3254; Reichert, Der Diebstahl geringwertiger Sachen als Privatklagedelikt, ZRP 1997, 492; Schroth, Die Rechte des Opfers im Strafprozess, 2. Aufl. 2011.
1030
Das Recht der Privatklage ist in den §§ 374–394 StPO übersichtlich zusammengefasst. Sie bieten keine wesentlichen Schwierigkeiten in der Rechtsanwendung und werden in Kommentaren, Lehrbüchern und Monographien unter Auswertung des Schrifttums und der Rechtsprechung erschöpfend behandelt. Die nachfolgenden Ausführungen sind daher auf die Funktionen des Verteidigers und des anwaltlichen Vertreters des Privatklägers beschränkt. a) Prozessvermeidung
1031
Der Hauptleitsatz für die anwaltliche Tätigkeit sollte nicht darauf ausgerichtet sein, wie Privatklageverfahren zu führen, sondern wie sie zu verhindern sind. Ist der Prozess im Gange, sollte es weniger darum gehen, ihn zu „gewinnen“, sondern ihn gut zu beenden. Die Empfehlung dieser auf Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechtsfriedens abgestellten Tendenz rechtfertigt sich durch die Natur der Sache und durch die praktischen Erfahrungen. Den weitaus größten Anteil an Privatklagefällen haben Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung sowie leichtere Körperverletzungen und Hausfriedensbruch. In aller Regel hat die Allgemeinheit an der strafrechtlichen Ahndung solcher Vorgänge kein Interesse. Die Betroffenen sehen häufig selbst nicht mehr, was sie sich mit dem gericht1 Dazu Ignor/Bertheau in Löwe/Rosenberg, Vor § 48 StPO Rz. 20.
594
Privatklage
Rz. 1033
lichen Verfahren antun. Der Anwalt muss in der Beratung solcher Mandanten in ruhiger Gelassenheit zu Werke gehen und sollte primär eine außergerichtliche Erledigung anstreben. Er muss dem Klienten das ihm noch unbekannte Bild des Prozesses darstellen: Eine Prozessdauer von nicht selten mehr als einem Jahr, die geringe Auswirkung des dann – vielleicht – ergehenden Urteils, das ganz unverhältnismäßige Kostenrisiko, die Ungewissheit des Beweisergebnisses und die ganze Unzulänglichkeit des staatlichen Ehrenschutzes. Oft wird gerade insoweit mit zivilprozessualen Mitteln (einstweilige Verfügung) mehr zu erreichen sein! b) Gütliche Regelung Die dargestellten und unter Umständen folgenschweren Nachteile des 1032 Privatklageverfahrens wurzeln tief im materiellen Beleidigungsrecht. Sie hängen primär mit dem Institut des Wahrheitsbeweises zusammen. Wer als Privatkläger in einem Verfahren wegen übler Nachrede oder Verleumdung auftritt, muss beachten, dass der Angeklagte diesen Beweis in jedem Stadium des Verfahrens antreten kann. Hat der Angeklagte beispielsweise seine zur Verhandlung stehende Äußerung zu rechtfertigen, dem Privatkläger seien „Kinderschändungen“ zuzutrauen, er nötige seine Angestellten zu sexuellen Handlungen und er führe auch sonst einen „sexbestimmten Lebenswandel“, so sieht sich der damit beleidigte und empört auf Bestrafung des Gegners drängende Privatkläger plötzlich einer verblüffenden Situation gegenüber. Er muss es über sich ergehen lassen, dass sein Widersacher in öffentlicher Verhandlung als der Ankläger auftritt, sein ganzes Privatleben ausbreitet, zahlreiche weitere ehrenrührige Behauptungen in konkreter Form aufstellt und dafür ein Heer von Zeugen gegen ihn aufmarschieren lässt. Dieser findet sich so unversehens in die Rolle eines Angeklagten versetzt. Seine intimsten Dinge kommen ins Rampenlicht. Andere Personen werden hineingezogen und bloßgestellt. Selbst wenn er sich zu guter Letzt reinwaschen kann, bleibt vieles hängen. Wer kann überhaupt eine solche öffentliche Wäsche vertragen?! Ein noch größeres Handicap ist die für den Privatkläger verheerende Aus- 1033 wirkung des § 193 StGB, ggf. i.V.m. Art. 5 GG, vor allem, wenn Medien und andere Publikationsorgane beteiligt sind. Gelingt nämlich dem Angeklagten der Wahrheitsbeweis nicht, so wird er trotzdem freigesprochen, wenn er in Wahrnehmung berechtigter Interessen und nicht leichtfertig gehandelt hat. Zwar ist der Privatkläger dann durch die Urteilsgründe rehabilitiert. Nach außen wirkt aber nur der Tenor: Freispruch und alle Kosten zulasten des Privatklägers. Für den Laien hat der Privatkläger also „verloren“. Das kommt im Wesentlichen daher, dass es im Strafprozess ein objektives Feststellungsverfahren noch nicht gibt. Solange dieses Verfahren fehlt, muss der Beleidigte seinen Entschluss zur Klage sorgfältig überlegen.
595
Rz. 1034
Beteiligung des Verletzten
1034
Unrecht kann auch in umgekehrter Weise geschehen. Ein Angeklagter, der den vollen Wahrheitsbeweis für seine schwerwiegenden Behauptungen erbracht hat, kann sich plötzlich um seinen Erfolg betrogen sehen. Wenn er im obigen Beispiel tateinheitlich eine Formalbeleidigung durch eine Wortentgleisung wie etwa durch den Ausdruck „Sexferkel“ begangen hat, wird er dafür bestraft. Damit hat er sich um den sonst voll verdienten Freispruch gebracht und muss alle Kosten tragen. Solche dem Laien unverständlichen Ergebnisse müssen den Anwalt zu vorsichtiger Beratung veranlassen. Oft genug will auch der Beleidiger den anderen geradezu zur Privatklage provozieren, um ihn dann in der Öffentlichkeit „fertigzumachen“. Man muss jetzt die begreifliche Erregung des Klienten zu zügeln und ihn zu kaltblütiger Abschätzung des Prozessherganges zu führen suchen, ehe es zu spät ist. Manchmal werden auch grobe Verleumdungen in einen Text hineinpraktiziert, der zwar den Tatsachen entspricht, aber in diesem Bereich den Gegner stark kompromittiert. Man denke z.B. an einen Brief, der einerseits die (falsche) Behauptung enthält, der Privatkläger habe als Lehrer mit einer Schülerin ein außereheliches Verhältnis, andererseits aber die (richtige) Kennzeichnung des Privatklägers ausdrückt, dieser führe überhaupt einen unmoralischen Lebenswandel. Der Privatkläger mag dann vielleicht eine Bestrafung wegen der unwahren Äußerungen bezüglich der Schülerin erzielen: Im Übrigen aber kann er der total Blamierte sein. Hier muss bedacht werden, dass die gerichtliche Verhandlung über den strafbaren Teil zwangsläufig auch den anderen Teil mit erfassen kann. Er könnte allerdings den Strafantrag ausdrücklich auf einzelne Teile des beleidigenden Schreibens beschränken. Das kann aber sehr peinlich wirken, weil damit das übrige eingesteckt würde. Die Beratung in solchem Dilemma ist vielfach eine äußerst schwierige Aufgabe.
1035
Dies alles gilt im besonderen Maße, wenn die Beleidigung durch Medien, insbesondere Presseerzeugnisse, Rundschreiben, Flugblätter usw. begangen worden ist und im denkbar weitesten Sinne dem sog. „öffentlichen Meinungskampf“ zugeordnet werden kann. Der Individualrechtsschutz in diesem Bereich ist durch die höchstrichterliche Rechtsprechung1 stark reduziert worden. Dies liegt vor allem an der Ausdehnung des durch Art. 5 GG geschützten Informationsinteresses der Öffentlichkeit2. Die Problematik kann wegen ihrer Vielschichtigkeit hier nicht ausgebreitet werden, jedoch ist sorgfältigste Prüfung und äußerste Zurückhaltung anzuraten, ehe man einen Mandanten in das „Fegefeuer“ eines solchen Prozesses laufen lässt (Rz. 1032 ff.).
1036
Der durch die Privatklage erstrebte Ehrenschutz leidet insbesondere auch unter den psychologischen Auswirkungen der Prozessdauer. In einer schnelllebigen Zeit vergisst die Umwelt auch aufsehenerregende Vorgänge schnell und das Interesse der Öffentlichkeit klingt ab. Zum Schluss 1 BGH v. 14.7.1981 – 1 StR 815/80, BGHSt. 30, 182 (185). 2 Vgl. dazu Fischer, § 193 StGB Rz. 17 ff.
596
Privatklage
Rz. 1040
streiten sie vielfach gar nicht mehr um ihre Ehre, sondern nur noch über Prozesskosten und das Prozessprestige. Die echte „Wiederherstellung der Ehre“ durch Richterspruch ist ohnehin häufig nicht zu erreichen. Selbst der öffentliche Widerruf hilft dem Betroffenen vielfach nichts, da er erst nach Rechtskraft verwirklicht wird. Vielmehr besteht die Gefahr gerade dann darin, dass ein bereits vergessenes Thema erneut an Interesse gewinnt. Der Mandant muss auch auf die Möglichkeit einer Widerklage (§ 388 1037 StPO) und die sich daraus für ihn ergebenden Risiken hingewiesen werden. Das gilt auch für die Fälle der § 199 StGB, § 338 StPO. Hier können nachgewiesene Straftaten für straffrei erklärt werden, wenn sie wechselseitig begangen sind. Dazu muss man die allgemein zu beobachtende Einstellung der Privat- 1038 klagerichter beachten, die sich oft nicht übermäßig beeilen, sondern in langem Schriftsatzwechsel mit weiträumigen Fristen den Prozess auf kleiner Flamme halten, bis es zu einem Vergleich oder zur Rücknahme der Privatklage kommt. Die Strafen sind im Übrigen in der Regel zu niedrig bemessen und befriedigen das Sühnebedürfnis nicht. Oft wird auch gerade der Zeitablauf im Verfahren, den das Gericht selbst zu vertreten hat, paradoxerweise für die niedrige Bemessung der Strafe oder gar für die Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit herangezogen. Insgesamt erweist sich der gerichtliche Ehrenschutz im Strafrecht als unzulänglich. Materielle Rechtsordnung und prozessuales Verfahren versagen in vielen Fällen. Wenn man diese Umstände einem Mandanten erklärt und ihn vor Durch- 1039 führung des Privatklageverfahrens warnen will, muss man das Unverständnis seines Klienten und sich hieraus ggf. ergebende Zweifel an der Richtigkeit der Beratung und der Person des Anwalts in Rechnung stellen. In seiner emotional orientierten Einstellung verliert er leicht das Vertrauen zu seinem Anwalt, und das Mandat gerät in die Krise. Hier kann es sinnvoll sein, dem Mandanten den Entwurf der Privatklage an die Hand zu geben, um ihm sodann aufzuzeigen, welche Risiken damit verbunden sind. Auch die Tendenz des Gesetzgebers ist erkennbar darauf ausgerichtet, 1040 die Privatklageverfahren zu erschweren oder sie in nicht streitiger Form zu erledigen. Deshalb ist zunächst für die meisten Fälle der Gebührenvorschuss (§ 379a StPO), unter Umständen Sicherheitsleistung für Prozesskosten (§ 379 StPO) und der Sühneversuch vorgeschrieben (§ 380 StPO). Diese Vorschriften müssen sorgfältig beachtet werden. Dazu gehören besonders auch die landesrechtlichen Bestimmungen und Anordnungen der Justizverwaltungen, die nicht ganz übereinstimmend ausgefallen sind1. Für den Sühneversuch sind Vergleichsbehörden, Schiedsstellen 1 Vgl. i.E. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 380 StPO Rz. 3, 16.
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Rz. 1041
Beteiligung des Verletzten
oder der Schiedsmann zuständig, deren Tätigkeit ebenfalls von einem Kostenvorschuss abhängig sein kann (§ 380 Abs. 2 StPO). Im Sühneverfahren ist die Vertretung durch Anwälte im Allgemeinen zulässig. Oft fragt der Mandant, ob seine eigene Anwesenheit im Sühnetermin vorgeschrieben oder opportun ist. Der Privatkläger muss in jedem Fall erscheinen. Dem Beklagten dagegen steht die Wahrnehmung des Termins frei. Sein Verteidiger sollte sie ihm aber empfehlen, wenn der Fall dazu geeignet ist. 1041
Das Sühneattest muss mit der Klage eingereicht werden (§ 380 Abs. 1 S. 3 StPO), sonst ist die Privatklage unzulässig. Die Nachreichung ist nur möglich, wenn der Sühneversuch vor der Privatklage durchgeführt war1. Die Befreiung vom Sühneversuch ist nach § 380 Abs. 4 StPO und nach den einschlägigen landesgesetzlichen Bestimmungen ausnahmsweise möglich, wenn die Parteien in verschiedenen Gerichtsbezirken oder auch in weiter entfernten Orten wohnen. Ist eine Privatklage mangels Sühneversuchs zurückgewiesen, kann sie bei Nachholung des Sühneversuchs erneut behandelt werden2.
1042
Der Verteidiger steht häufig vor der Frage, ob er den Schiedsmann als Zeugen für Vorgänge im Sühnetermin benennen soll. Verweigert der aufsichtsführende Amtsrichter die Aussagegenehmigung, so ist die Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsklage zu prüfen3. Hierbei muss der Verteidiger bedenken: Die Entscheidung in einem langwierigen Aufsichtsverfahren oder Verwaltungsprozess wird in aller Regel so spät ergehen, dass sie für das Privatklageverfahren bedeutungslos geworden ist.
1043
Zu den verfahrensrechtlichen Hürden gehört auch die gerichtliche Anforderung eines Gebührenvorschusses (§ 379a StPO), vor dessen Eingang keine richterliche Handlung erfolgt. Wird die Gebühr nicht innerhalb der gesetzten – oft sehr kurzen – Frist gezahlt, weist das Gericht die Privatklage als unzulässig zurück. Hier hilft ggf. der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Rz. 1079 ff.).
1044
Der auf Befriedung der Parteien abzielenden Tendenz des Privatklagerechts dient auch die in § 383 Abs. 2 StPO vorgesehene Einstellung des Verfahrens. Sie bietet dem Verteidiger des Beschuldigten eine beachtliche Möglichkeit, dem an sich schuldigen Mandanten eine Bestrafung zu ersparen. Einzige Voraussetzung dazu ist die Geringfügigkeit der Schuld. Auf die Folgen der Tat kommt es ebenso wenig an wie auf ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung. In letzterem liegt der Unterschied zur Einstellung nach § 153. Entsprechend dieser Bestimmung bedarf es nach § 383 StPO nicht der Zustimmung der Prozessbeteiligten. Die Einstellung nach § 383 Abs. 2 S. 1 StPO, die immer, auch in der Hauptver1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 380 StPO Rz. 9. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 380 StPO Rz. 12 m.N. 3 Bejahend BVerwG v. 14.2.1964 – VII C 93.61, NJW 1964, 1088.
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Privatklage
Rz. 1046
handlung, durch Beschluss erfolgt, ist entgegen der Regelung in § 153 StPO mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar (§ 383 Abs. 2 S. 2 StPO). Die Einstellung ist auch noch in der Berufungsinstanz möglich. Allerdings soll dem Beschuldigten die Beschwerde nicht zustehen, weil er nicht als beschwert gilt1. In der Praxis gibt es oft den Fall, dass der Beschuldigte selbst mit der Einstellung nicht einverstanden ist und eine völlige Rehabilitierung durch Freispruch anstrebt, weil die Einstellung die Annahme seiner (geringen) Schuld wie bei § 153 StPO voraussetzt (Rz. 329). Der Richter kann sich darüber hinwegsetzen. Manchmal liegt dies auch durchaus im Interesse des Beschuldigten, worüber sich Richter und Verteidiger verständigen können. Ein solches Agreement wird der Mandant nachträglich billigen können, wenn er eine Schuld nicht zugegeben und damit sein Gesicht nicht verloren hat. Die Richter machen von der Einstellung im Übrigen reichlich Gebrauch, 1045 besonders bei wechselseitigen Beleidigungen. Die Kosten des Verfahrens kann das Gericht nach § 471 Abs. 3 StPO einschließlich der notwendigen Auslagen und damit der Anwaltskosten einer der Parteien auferlegen oder nach pflichtgemäßem Ermessen verteilen. Auch Vergleiche sind im Privatklageverfahren jederzeit möglich. Der 1046 Vergleich als solcher ist allerdings in der Strafprozessordnung nicht geregelt. Er beendet daher das Verfahren auch nicht von selbst, mag er sogar gerichtlich protokolliert sein. Prozessual erledigt wird die Sache erst durch die dem Vergleich entsprechende Rücknahme der Privatklage (§ 391 StPO) oder durch Rücknahme des Strafantrags. Daraus entstehen in der Praxis beträchtliche Schwierigkeiten. Wer einen Antrag zurücknimmt, erscheint nach außen als der Schuldige. Auch trifft ihn nach §§ 470 und 471 StPO grundsätzlich die ganze Kostenlast. Diese Umstände verzerren das Bild der Wirklichkeit, wenn der Privatbeklagte, der der allein oder vorwiegend Schuldige ist, eine Ehrenerklärung abgegeben und die Wiedergutmachung oder sogar eine Bußzahlung oder dergleichen übernommen hat. In solchen Fällen sind Privatkläger oft nicht zu bewegen, die Klage „zurückzunehmen“. Die Aufgabe des Anwalts besteht dann darin, die Kostenübernahme durch den Beschuldigten im Vergleichswege herbeizuführen. Diese Vereinbarung respektiert das Gericht bei Antragsdelikten im Rahmen des § 470 StPO, indem diese Kosten dem Beschuldigten auferlegt werden. Handelt es sich nicht um ein Antragsdelikt oder kann der Antrag nicht zurückgenommen werden, ist eine Übernahme der Kosten durch den Beschuldigten gesetzlich nicht vorgesehen. Wird hier die Privatklage zurückgenommen und infolgedessen das Verfahren eingestellt, würden die Kosten nach § 471 Abs. 2 StPO dem Privatkläger zur Last fallen. Die Vergleichbarkeit der Rechtslage be1 Vgl. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 383 StPO Rz. 22. Über die Beschwerdebefugnis bezüglich der Kosten- und Auslagenentscheidung vgl. § 464 Abs. 3 StPO; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 464 StPO Rz. 22; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 153 StPO Rz. 34.
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Rz. 1047
Beteiligung des Verletzten
wirkt aber hier wohl die entsprechende Anwendbarkeit des für Antragsdelikte geltenden § 470 S. 2 StPO auch auf diese Fälle1. Hiernach wären auch hier dem Beschuldigten entsprechend der getroffenen Vereinbarung die Kosten zur Last zu legen. Ob das Gericht dieser Ansicht im Einzelfall folgt, kann indessen zweifelhaft sein. Der Anwalt sollte es durch ein Richtergespräch klären. Es ist in jedem Fall zu empfehlen, nicht nur die Privatklage, sondern auch den Strafantrag zurückzunehmen, um den Weg für die vereinbarte Kostenregelung auch im Gerichtsbeschluss mit Sicherheit freizumachen. 1047
Wenn eine Erledigung durch Rücknahme des Strafantrages nicht in Betracht kommt und der Richter bei Rücknahme der Privatklage sich einer entsprechenden Anwendung des § 470 S. 2 StPO verweigert, wird er den Privatkläger zur Tragung der Kosten des Verfahrens verurteilen. Damit bekommt das Protokoll über die durch Vergleich abgeschlossene Verhandlung einen paradoxen Inhalt. Dort sind zwar das Schuldbekenntnis des Beschuldigten, seine Ehrenerklärung und die Kostenübernahme festgelegt, zugleich ist aber die hierzu im Widerspruch stehende Kostenentscheidung protokolliert: „Die Kosten der zurückgenommenen Privatklage trägt der Privatkläger.“ Die Lösung hierfür ist: Man bewegt den Richter dazu, die Ehrenerklärung des Beschuldigten, seine Sühneleistungen und auch die Übernahme der Kosten in einer getrennten Niederschrift zu protokollieren. In eine zweite Niederschrift wird dann die Rücknahme und die den Privatkläger benachteiligende Kostenentscheidung aufgenommen. Der durch die erste Beurkundung rehabilitierte Privatkläger kann dieses Schriftstück verwenden, ohne durch das zweite Protokoll belastet zu erscheinen.
1048
Vergleiche sind auch noch in der Berufungs- und Revisionsinstanz möglich. Sie führen auch hier zur Einstellung des Verfahrens nach Rücknahme der Privatklage (§ 391 StPO). Eine Rücknahme des Strafantrags allerdings ist nach Rechtskraft eines auf Strafe lautenden Urteils nicht mehr möglich (§ 77d StGB). Im Übrigen kommt auch hier die Einstellung wegen Geringfügigkeit (§ 383 Abs. 2 StPO) wie in erster Instanz in Betracht.
1049
Wie der Anwalt des Privatklägers hat auch der Verteidiger des Beschuldigten mit diesem seine Schwierigkeiten, wenn er sich um eine einvernehmliche Erledigung bemüht. Der Beschuldigte kämpft in der Regel mit großer Verbissenheit und ist einer gütlichen Einigung nur selten zugänglich. Den meisten Menschen fehlt in dieser Situation die Fähigkeit, einen eigenen Fehler zu erkennen. Noch schwieriger ist es, ihn einzugestehen und sich zu entschuldigen. Der Verteidiger kann hier viel zur Befriedung tun. Praktisch spielt dabei die Formulierung von Ehrenerklärungen eine große Rolle. Sie müssen so beschaffen sein, dass möglichst beide Parteien ihr Gesicht behalten. Deshalb scheitert manche Einigung an der starren Forderung, der Gegner müsse eine Äußerung „zurücknehmen“ oder dies 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 471 StPO Rz. 4.
600
Privatklage
Rz. 1051
sogar „mit dem Ausdruck des Bedauerns“ tun. Dagegen wird die Erklärung: „Ich halte die Äußerung nicht aufrecht“ eher hingenommen. Sie kann durch den Zusatz erläutert werden „Ich habe mich inzwischen davon überzeugt […]“. Erprobter Text einer Ehrenerklärung in entsprechenden Fällen ist auch z.B. die Formulierung: Der Beschuldigte erklärt, dass er gegen den Privatkläger keine ehrenrührigen Vorwürfe erhebe, insbesondere nicht behaupte, dass dieser zu einer Schülerin sexuelle Beziehungen unterhalten habe oder noch unterhielte. Bei hoffnungslos zerstrittenen Parteien kann man manchmal einen verblüffenden Erfolg mit dem Formulierungsvorschlag erzielen: „Der dem Streit der Parteien zugrunde liegende Sachverhalt (die Äußerung) ist nicht mehr aktuell. Die Parteien sind daher an einer Fortsetzung des Privatklageverfahrens nicht interessiert.“ Aufgrund einer solchen Erklärung kann dann die Privatklage zurückgenommen oder das Gericht zur Einstellung nach § 383 Abs. 2 StPO veranlasst werden. Dabei ist die Kostenfrage mit der nötigen Sensibilität zu regeln. Besonders schwierig sind die Verhandlungen mit einem anwaltlichen Gegner, wenn dieser die Rücknahme eines Strafantrags seines Mandanten von der Zahlung seiner eigenen Kosten in Höhe eines die gesetzlichen Gebühren übersteigenden Honorars abhängig macht. Der die Verurteilung befürchtende Verteidiger und sein Mandant sind dazu häufig geneigt, obwohl der gegnerische Anwalt im Falle eines Urteils – jedenfalls vom Verurteilten – nur die gesetzlichen Gebühren erhalten würde. Sie stehen in dieser Situation unter offensichtlichem Druck. Dessen unangemessene Ausnutzung kann einerseits für den potentiellen Prozesssieger bedenklich sein. Den Verteidiger andererseits kann zu große Nachgiebigkeit in Probleme bringen, besonders wenn er für sich selbst ein erhebliches Honorar in Ansatz bringen und dafür im Honorar des Gegners einen Maßstab finden will (Rz. 1207). Manchmal glaubt ein Privatkläger, nicht auf den öffentlichen Widerruf 1050 des Beschuldigten verzichten zu können. Dieser kann in manchen Fällen auch wirklich geboten sein. In anderen ist er aber entbehrlich oder sogar schädlich, weil die Sache damit wieder aufgerührt wird. c) Streitiges Verfahren Die Erledigung einer Privatklage auf einem der hier aufgezeigten Wege 1051 gütlicher Regelung ist nicht immer möglich. Hierfür sind viele Gründe denkbar. Dabei ist beispielsweise an ehrenrührige Tatsachenbehauptungen von erheblicher Bedeutung zu denken (§§ 186, 187 StGB), die ohne Klarstellung des Sachverhalts nicht aus der Welt zu schaffen sind und deshalb auch nicht durch einen „faulen Vergleich“ überspielt werden sollten. Die Rehabilitierung des angegriffenen Mandanten zwingt den anwaltlichen Berater hier zur Klage. Die Staatsanwaltschaft übernimmt die Strafverfolgung auch in solchen Fällen nur, wenn sie ein öffentliches Interesse daran bejaht (§ 376 StPO). 601
Rz. 1052
Beteiligung des Verletzten
Das ist der Fall, wenn der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten hinaus gestört ist und der Allgemeinheit die Strafverfolgung ein Anliegen ist, besonders wegen der Stellung des Verletzten im öffentlichen Leben (Nr. 86 Abs. 2 RiStBV). Ist dies nicht der Fall und hilft insoweit auch eine Dienstaufsichtsbeschwerde nicht weiter, so muss der Privatklageweg beschritten werden. 1052
Der beauftragte Anwalt muss mit den Besonderheiten des Privatklageverfahrens vertraut sein, um häufig vorkommende Fehler zu vermeiden. Dazu muss der Vertreter des Privatklägers (und des Nebenklägers) wissen, dass sein Verschulden seinem Mandanten zugerechnet wird. Es gilt nicht als unverschuldet im Sinne des § 44 StPO (Rz. 1082), anders bei Verschulden des Verteidigers eines Beschuldigten (Rz. 6)1.
1053
Der in den meisten Fällen erforderliche Strafantrag ist an eine Frist von 3 Monaten gebunden, wobei der Tag der Kenntnisnahme nicht mitgerechnet wird (Rz. 427). Der Antrag muss also an dem Tag eingehen, der in der Bezifferung dem ersten Tag der Dreimonatsfrist entspricht (z.B. Kenntnisnahme: 27. Januar – Ablauf: 27. April). Der Antrag kann mit der Privatklage verbunden bei dem Amtsgericht gestellt werden. Auch die Einreichung der Privatklage als solche genügt, weil sie den Strafantrag beinhaltet. Praktisch kann man sich für die Privatklage eine beliebig längere Frist dadurch verschaffen, dass man den Strafantrag fristgerecht bei der Staatsanwaltschaft stellt. Mag diese dann die Strafverfolgung mangels öffentlichen Interesses auch ablehnen, die Antragsfrist ist jedenfalls gewahrt. Derselbe Effekt ist auch zu erzielen, indem der isolierte Strafantrag rechtzeitig bei dem Amtsgericht eingereicht wird, das für die Privatklage zuständig ist. Sonst zu beachtende berufsrechtliche Bedenken gegen die Stellung eines Strafantrags durch Anwälte (Rz. 8) bestehen schon deshalb nicht, weil der Privatkläger in der Rolle des Staatsanwalts Strafverfolgung betreibt. Der Verteidiger des Beschuldigten muss beachten, dass bei wechselseitiger Beleidigung der Strafantrag gegen den Privatkläger auch nach Fristablauf bis zur Beendigung des letzten Wortes im ersten Rechtszug noch gestellt werden kann (§ 77c StGB). Der Anwalt des Privatklägers muss darauf achten, dass er mit der Klage zugleich eine Anzeige im Sinne des § 164 StGB erstattet. Er ist zwar nicht wie der Staatsanwalt zur Objektivität, als Organ der Rechtspflege (Rz. 3 ff.) aber wohl der Wahrheit verpflichtet. Er kann daher unter Umständen in den Gefahrenbereich einer strafbaren Handlung durch falsche Verdächtigung oder Beleidigung (§§ 164, 185, 186 StGB) geraten.
1054
Der Anwalt des Privatklägers hat auch auf die ordnungsmäßige Zahlung angeforderter Gebührenvorschüsse (§ 379a StPO) zu achten, wenn dem Privatkläger nicht Prozesskostenhilfe bewilligt ist. Für den Beschuldigten kommt Prozesskostenhilfe nach Maßgabe des § 379 StPO in Be-
1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 StPO Rz. 18 f.
602
Privatklage
Rz. 1059
tracht. Mit einer Beiordnung wird im Übrigen der Anwalt nur in Ausnahmefällen rechnen dürfen. Im Verfahren hat der Privatkläger die Stellung des Staatsanwalts schon 1055 bei der Tatsachenermittlung. Ihm obliegen die Feststellung des Sachverhalts und die Sammlung der Beweise. Soweit ihm die Mittel hierzu nicht zur Verfügung stehen, wie etwa eine Durchsuchung oder Beschlagnahme, kann er sich der Hilfe des Gerichts bedienen. Auch kann die Staatsanwaltschaft Ermittlungen vornehmen, etwa zur Feststellung eines anonymen Briefschreibers, wenn der Privatkläger sonst nicht weiterkommt. Eine solche Mitwirkung der Staatsanwaltschaft bedeutet dagegen nicht die Übernahme der Strafverfolgung im Sinne des § 376 StPO. In der Hauptverhandlung muss der Verteidiger beachten, dass zwar grund- 1056 sätzlich die Vorschriften für das allgemeine Strafverfahren maßgebend sind (§ 384 Abs. 1 StPO). Die Anwesenheit der Parteien in der Hauptverhandlung ist gesetzlich aber nicht vorgeschrieben. Diese können sich vielmehr durch einen Anwalt vertreten lassen (§§ 378 und 387 StPO). Allerdings wird das persönliche Erscheinen vielfach angeordnet. Dieses kann zudem bei Gericht angezeigt werden, wenn dies für sachdienlich erachtet wird. Eine wesentliche Besonderheit des Verfahrens betrifft den Umfang der 1057 Beweisaufnahme. Es gilt zwar auch hier der Grundsatz der allgemeinen Aufklärungspflicht (§§ 384 Abs. 3, 244 Abs. 2 StPO). Das Gericht handelt aber in diesem Rahmen hier nach seinem Ermessen. Es ist bei der Beweiserhebung und bei der Entscheidung über Beweisanträge weder an die Grenzen des § 244 Abs. 3 StPO noch an § 245 StPO gebunden. Es kann also eine Beweiserhebung auch mit der Begründung unterlassen, dass der Sachverhalt mit genügender Sicherheit festgestellt sei und die Überzeugung des Gerichts bereits feststehe1. Diese Einschränkungen sind für die Verteidigung sehr bedeutungsvoll und zwingen zu sorgfältiger Verhandlungsplanung. Zuweilen stößt man auf die Auffassung, wegen der dem Richter einge- 1058 räumten Freiheit in der Beweisaufnahme könne er den Privatkläger auch als Zeugen vernehmen. Das ist unrichtig2. Das Gericht ist aber nicht gehindert, den freiwillig oder auf Anordnung (§ 387 Abs. 3 StPO) erschienenen Privatkläger zu hören und in einer Beweiswürdigung seinen Angaben zu folgen. Der Privatkläger erweist sich hier in der Doppelfunktion als Ankläger und Beweisperson. Der Verteidiger und sein Gegner müssen beachten, dass in dem prozes- 1059 sual zweitrangigen Privatklageverfahren materielles Beleidigungsrecht schwierigster Art zur Verhandlung stehen kann. Bereits die Abgrenzung der einfachen Beleidigung von den Tatbeständen der §§ 186, 187 StGB ge1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 384 StPO Rz. 13 f. 2 BayObLG v. 10.8.1961 – RReg. 4 St 190/61, NJW 1961, 2318.
603
Rz. 1060
Beteiligung des Verletzten
staltet sich oft schwierig. Sie ist anderseits von größter Bedeutung, besonders auch wegen des Wirkungsbereichs der §§ 192–193 StGB (z.B. Wahrnehmung berechtigter Interessen). Diese Bestimmung birgt eine erhebliche Fülle von Problemen, die hier nicht im Einzelnen behandelt werden können. Wer damit im Einzelfall zu tun hat, muss sich mit den Ergebnissen von Rechtsprechung und Schrifttum vertraut machen. In vielen Fällen wird bei der Beratung eines Privatklägers auch die Konkurrenz der Privatklage zu anderen rechtlichen Mitteln des Ehrenschutzes zu berücksichtigen sein. Insbesondere kommen die zivilrechtlichen Unterlassungs-, Widerrufs- und Schadensersatzklagen in Betracht. Oft werden eine einstweilige Verfügung und der Anspruch auf eine Gegendarstellung nach den Pressegesetzen anstelle oder neben einer Privatklage wirksame(-re) Abwehrmittel sein (Rz. 107, 109). 1060
Die bereits angesprochenen (Rz. 1035) Ehrverletzungen durch die Presse und andere Medien sind ein besonders schwieriges Kapitel. Für den Verteidiger ist es ebenso beruhigend wie für den durch die Presse Angegriffenen beunruhigend, dass Verurteilungen von Presseangehörigen selten zustande kommen. Das liegt vor allem an dem weiten Bereich der verfassungsrechtlich geschützten Pressefreiheit (Art. 5 GG) und der in der Rechtsprechung allgemein anerkannten Berechtigung der Presse zur Wahrnehmung der öffentlichen Informations-Interessen (§ 193 StGB). So wie im Strafverfahren der Verteidiger für seinen Mandanten gegen Presseberichte selten erfolgreich vorgehen (Rz. 105 ff.) kann, so stehen auch jedem anderen Betroffenen häufig nur unzureichende Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung. Die Vor- und Nachteile eines Vorgehens gegen die Presse müssen daher umfassend gegeneinander abgewogen werden. Erfolgversprechend ist ein solches Vorgehen häufig dann, wenn wider besseren Wissens oder leichtfertig falsche, ehrenrührige Informationen der Wahrheit zuwider verbreitet wurden. Nur bei sorgfältiger Beachtung ihrer Informationspflichten geht die Presse in diesen Fällen straffrei aus. In jedem Fall muss der Anwalt aber berücksichtigen, dass die Presse gewaltige Mittel zur Führung des Wahrheitsbeweises in Gang setzt und durch gesteuerte Berichterstattung den Beteiligten noch mehr ins Zwielicht bringen kann. In manchen Fällen könnte der Privatkläger vielleicht das „öffentliche Interesse“ für sich beanspruchen und die Staatsanwaltschaft zur Übernahme der Strafverfolgung veranlassen. Das hat natürlich seine Vorteile, führt aber zur Zuständigkeit des Erscheinungsortes gem. § 7 Abs. 2 StPO. Der Verletzte kann damit die für die Privatklage gegebene Zuständigkeit des Verbreitungsortes, die in der Regel auch an seinem eigenen Wohnsitz begründet ist verlieren, weil die Staatsanwaltschaften die Ermittlungen häufig an die Behörde des Erscheinungsortes abgeben. Damit kann ein wesentlicher Prozessvorteil entfallen.
1061
Ein heikles Kapitel sind politische Beleidigungsprozesse. Sowohl die Justifizierung der Politik wie Politisierung der Justiz sind bedenklich. Ver604
Nebenklage
Rz. 1062
leumdungsprozesse im politischen Bereich bringen erfahrungsgemäß wenig. Sie führen meist zu einer Verzerrung des Sachverhaltes und bergen die Gefahr des politischen Missbrauchs. Die Annahme, auf dem Prozesswege zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens oder auch nur zu überzeugenden und allseits anerkannten Tatsachenfeststellungen zu kommen, ist in der Regel falsch. Daran ändert auch § 178 StGB nicht viel, der den Politikern einen besonderen Ehrenschutz gewährleisten soll. Ist eine Privatklage gegen einen Abgeordneten des Deutschen Bundestages beabsichtigt, müssen die Bestimmungen über die Immunität beachtet werden. Vor der Einleitung des Verfahrens muss deren Aufhebung durch eine besondere Genehmigung des Parlaments herbeigeführt werden. Diese hat der Anwalt des Privatklägers sich selbst zu beschaffen (Nr. 192 Abs. 4 RiStBV). Handelt es sich um einen Landtagsabgeordneten, so gelten dieselben Vorschriften (§ 152a StGB; Rz. 247). 2. Nebenklage Literatur: Fabricius, Die Stellung des Nebenklagevertreters, NStZ 1994, 257; Franze, Die Nebenklage im verbundenen Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende/Erwachsende, StV 1996, 289; Gillmeister in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 1221 ff.; Gollwitzer, Die Stellung des Nebenklägers in der Hauptverhandlung, FS K. Schäfer (1980), S. 65; Kurth, Rechtsprechung zur Beteiligung des Verletzten am Verfahren, NStZ 1997, 1; Letzgus, Beschwerde gegen Nichtzulassung des Nebenklage bei fahrlässiger Körperverletzung, NStZ 1989, 352; Rieß, Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren, Gutachten z. 55. DJT (1984) (Bd. I Teil C); Rieß, Strafantrag und Nebenklage, NStZ 1989, 102; Schaal/Eisenberg, Rechte und Befugnisse von Verletzten im Strafverfahren gegen Jugendliche, NStZ 1988, 49; Schroth, Die Rechte des Opfers im Strafprozess, 2. Aufl. 2011.
Die Verfolgung der in § 374 StPO genannten Privatklagedelikte über- 1062 nimmt anstelle der Verletzten die Staatsanwaltschaft, wenn ein öffentliches Interesse vorliegt (§ 376 StPO). Die zur Privatklage Berechtigten, zu denen bei Getöteten auch Angehörige zu rechnen sind (§ 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO), können sich dem Offizialverfahren als Nebenkläger anschließen (§ 396 StPO). Diese Befugnis steht auch dem Verletzten zu, der durch Antrag gem. § 172 StPO bei dem Oberlandesgericht die Anklage erzwungen hat (Rz. 334 f.). Übernimmt die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach erhobener Privatklage (§ 377 Abs. 2 StPO), wird der Privatkläger zum Nebenkläger. Der Nebenkläger hat dieselben Rechte wie der Privatkläger (§ 397 Abs. 1 StPO). Für den Verletzten und seinen Anwalt ist das Institut der Nebenklage äußerst bedeutsam. Sie machen sich damit von der Staatsanwaltschaft unabhängig. Der Rechtsanwalt kann dem Geschädigten dabei die beruhigende Gewissheit vermitteln, dass dieser auch im Falle des Freispruchs des Angeklagten dessen Kosten ebenso wenig wie Gerichtskosten zu zahlen hat.
605
Rz. 1063
Beteiligung des Verletzten
1063
Praktisch bedeutsam ist die Befugnis des Verletzten und seines Anwalts, erst in der Hauptverhandlung seine Anschließung zu Protokoll zu erklären. Die Anschlusserklärung hat in jedem Fall konstitutive Wirkung. Der Zulassungsbeschluss des Gerichts hat nur deklarative Bedeutung1. (Über die Anfechtung des Zulassungsbeschlusses vgl. Rz. 846.) Häufig sucht der Verletzte den Anwalt erst auf, nachdem der Angeklagte in der Hauptverhandlung, in der der Verletzte nur als Zeuge gehört wurde, freigesprochen worden ist. Der Anwalt muss wissen, dass er sich in diesem Verfahrensstadium bestellen, den Anschluss als Nebenkläger erklären und zugleich das zulässige Rechtsmittel einlegen kann.
1064
Etwaige Fehler und Versäumnisse der Staatsanwaltschaft, die er als Vertreter eines Angeklagten zu rügen hat, muss er jetzt vermeiden helfen. So sollte er zur Verhütung unbegründeter Einstellung des Verfahrens oder eines Freispruchs rechtzeitig für die Ausschöpfung aller Beweise sorgen. Die häufig anzutreffende Praxis der Polizei, sich mit schriftlichen Erklärungen der Beschuldigten und Zeugen zu begnügen und diesen sogar eine solche Art der Aussage nahezulegen, muss er entgegenwirken. Allzu häufig sind die schriftlichen Erklärungen verwirrend und tragen nicht zur Aufklärung bei.
1065
In der Hauptverhandlung kann der Nebenkläger sich durch seinen Anwalt vertreten lassen. Anderseits hat er ein Anwesenheitsrecht, das der Anwalt ggf. durchzusetzen hat. Dieses Recht wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass sein Mandant zugleich Zeuge ist und als solcher den Sitzungssaal zunächst verlassen müsste. Seine Eigenschaft als Nebenkläger hat insoweit Vorrang. Die Gerichte haben ihn indessen bis zu seiner Zeugenvernehmung lieber nicht im Saal. Dies geschieht am leichtesten, indem sie den Nebenkläger einfach mit hinausschicken, wenn dieser oder sein Vertreter nicht widersprechen. Der Widerspruch muss sofort erklärt werden, andernfalls ist die Gelegenheit verpasst. Die Verfahrensrüge ist damit verwirkt. Ein Rechtsmittel kann darauf nicht gestützt werden (Rz. 790). Neben dieser Rechtsfrage stehen insbesondere Fragen der Opportunität. Das Bestreben des Gerichts, die Verhandlung zunächst in Abwesenheit des Nebenklägers zu beginnen, ist an sich berechtigt. Seine Zeugenaussage ist von größerem Wert, wenn er die vorangegangene Beweisaufnahme nicht kennt. Vorsitzende gehen deshalb häufig einen Kompromiss ein: Vernehmung des Angeklagten in Abwesenheit des Nebenklägers, dann dessen Vernehmung als erster Zeuge. Im Allgemeinen sollte man diesem Vorschlag zustimmen, weil damit die Aussage des Mandanten in ihrem Beweiswert gestärkt wird.
1066
Ebenso wie der Nebenkläger als Zeuge nicht ausgeschlossen ist, kann er in demselben Strafverfahren auch Angeklagter sein. In einem Unfallprozess z.B. kann dieselbe Person als Angeklagter für die Verletzung eines 1 BGH v. 18.10.1995 – 2 StR 470/95, BGHSt. 41, 288 f.; Meyer-Goßner in MeyerGoßner/Schmitt, § 396 StPO Rz. 13.
606
Vertretung des Verletzten nach Opferschutzgesetz
Rz. 1067
anderen verantwortlich gemacht werden und zugleich selbst Nebenkläger sein hinsichtlich der Verletzungen, die ihm ein Mitangeklagter zugefügt hat1. Mit dem Staatsanwalt kann der Vertreter des Nebenklägers in geeigneten Fällen eine Art von Arbeitsteilung vereinbaren. Der Staatsanwalt, besonders ein mit der Sache nicht vertrauter „Sitzungsstaatsanwalt“, ist in komplizierten Fällen, etwa auf zahlreiche Beiakten zurückgehenden Sachen, durchaus bereit, dem Anwalt des Nebenklägers während der Beweisaufnahme und im Plädoyer den Vorrang zu lassen und sich auf den Strafantrag (Strafmaß) zu beschränken. Das würde auch der allgemeinen Usance entsprechen, als anwaltlicher Vertreter des Nebenklägers oder Privatklägers zum Strafmaß nicht zu plädieren. In eine eigenartige Situation gerät der Vertreter des Nebenklägers, wenn der Staatsanwalt den Freispruch des Angeklagten beantragt oder nicht geneigt ist, gegen einen Freispruch Rechtsmittel einzulegen. Hier muss der Vertreter des Nebenklägers, wenn er die Verurteilung des Angeklagten anstrebt, nach seiner eigenen Verantwortung handeln und dem aus Sicht der Nebenklage „falschen“ Antrag der Staatsanwaltschaft durch den Antrag auf Verurteilung entgegentreten. Oft hilft es auch, während der Rechtsmittelfrist mit dem Staatsanwalt oder/und mit dem Abteilungsvorsteher zu verhandeln und sie für die Einlegung des Rechtsmittels zu gewinnen. Für das Vertrauen des Mandanten zu dem Erfolg des Rechtsmittels und auch für die Kostenfrage ist das sehr bedeutsam. In besonders folgenschweren Unfallsachen mit evtl. beträchtlichem 1067 Schuldgewicht – oder auch bei „drohendem“ Mitverschulden des Verletzten – erliegen manche Kollegen der Versuchung, richtig „auf die Pauke zu hauen“ und den Staatsanwalt an „Schärfe“ weit zu übertreffen. Das ist nicht nur ein Versuch billiger Effekthascherei, sondern es wird auch völlig verkannt, welche Tragik es für den Angeklagten bedeutet, durch einen Augenblick der Nachlässigkeit Dritte schwer und dauernd geschädigt zu haben. Der Anwalt sollte lieber daran denken, dass er am nächsten Tag vor demselben Richter möglicherweise die Gegenposition zu vertreten hat. Nicht zu Unrecht kritisieren Staatsanwälte, dass der zum Ankläger mutierende Verteidiger oft den Maßstab verliere, den er von ihnen stets einfordere. 3. Vertretung des Verletzten nach Opferschutzgesetz Literatur: Schäfer, H., Die Einsicht in Strafakten durch den Verletzten, wistra 1988, 216; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 4. Aufl. 2010, Rz. 311; Vogel, Rechte des Verletzten im Strafverfahren, wistra 1996, 219; Wallau, Rechtsschutz gegen die Akteneinsicht des „Verletzten“, FS Dahs (2005), S. 509. Vgl. i.Ü. das vor Rz. 168 angeführte Schrifttum.
1 BGH v. 15.11.1977 – 1 StR 287/77, NJW 1978, 330.
607
Rz. 1068
1068
Beteiligung des Verletzten
Außer dem Verletzten, der nebenklageberechtigt ist (Rz. 1062), kann sich auch der Verletzte1, der kein Recht zur Nebenklage hat, am Strafverfahren aktiv beteiligen. Diese Möglichkeit ist durch das Opferschutzgesetz geschaffen worden und in den §§ 406d–406h StPO geregelt. Der nebenklageberechtigte Verletzte, der einen Anschluss als Nebenkläger nicht erklärt hat, kann sich in der Hauptverhandlung durch einen Rechtsanwalt nach näherer Maßgabe des § 406g StPO vertreten lassen. Anderen Verletzten ist durch die §§ 406d, 406e, 406f StPO ebenfalls in gewissem Umfang ein status activus eingeräumt, wobei der Begriff des „Verletzten“ weit auszulegen ist2. Allerdings bedürfen sie zur Ausübung der Rechte ebenfalls des anwaltlichen Beistandes. Hier wird in der Praxis oft der Strafverteidiger angesprochen, weil man von ihm die Kompetenz und Professionalität erwartet, die erforderlich sind, um die Rechte des Verletzten insbesondere bei seiner Vernehmung als Zeuge wahrzunehmen (Rz. 1160 ff.). Jedem Strafverteidiger ist zu empfehlen, solche Mandate wahrzunehmen. Es kann für ihn nur nützlich sein, jedenfalls gelegentlich auch „die andere Seite“ zu sehen, d.h. den Strafprozess aus der Interessenlage des Opfers heraus zu führen, weil er damit der bei manchem Nur-Verteidiger zu beobachtenden Einseitigkeit vorbeugt. Die wichtigsten Rechte des Verletztenanwalts sind die Akteneinsicht (§ 406e StPO) (problematisch im Ermittlungsverfahren, dazu Rz. 171), das Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung bei Vernehmung seines Klienten, das Fragerecht3, das Beanstandungsrecht (§§ 238 Abs. 2, 242 StPO) und das Recht, den Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 171b GVG zu beantragen. Im Übrigen gelten die zum Zeugenbeistand gegebenen Hinweise (Rz. 1160 ff.) entsprechend. Der Mandant ist auf den Prozessgegenstand, den Verhandlungsgang sowie die zu erwartenden Fragen und Vorhalte vorzubereiten, ohne dass er auf bestimmte Verhaltensweisen „dressiert“ wird. Akteneinsicht vor der Verhandlung ist unerlässlich (vgl. dazu aber Rz. 1163), um den aktuellen Sachstand zu erfahren. Während seiner Vernehmung muss der Verletzte jederzeit das sichere Gefühl haben, dass sein anwaltlicher Beistand die Rechtmäßigkeit und Angemessenheit der Befragung überwacht und zu seinem Schutz eingreift, wenn die gerichtliche Fürsorgepflicht nicht ausreicht oder nicht umgesetzt wird. Einen Rechtsanspruch auf Anwesenheit vor und nach der Vernehmung des Verletzten soll er zwar nicht haben4, indes wird es möglich sein, sich Kenntnisse über den Verfahrensablauf durch die Entsendung dritter Personen als Zuhörer zu verschaffen. Man wird aber angesichts der Möglichkeit entsprechender Fragen sorgfältig überlegen müssen, ob durch die Benutzung dieses „Umweges“ der Beweiswert der Aussage des Verletzten – im Ergebnis zu dessen Lasten – beeinträchtigt werden kann. Ggf. kann es ausreichen, dass der Rechtsanwalt die Erkenntnisse über 1 Zum Begriff Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 172 StPO Rz. 9 ff. 2 OLG Hamburg v. 21.3.2012 – 2 Ws 11–12/12, NStZ-RR 2012, 320. 3 Nach Maßgabe BGH v. 11.11.2004 – 1 StR 424/04, NStZ 2005, 222 m. Anm. Ventzke, NStZ 2005, 396. 4 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 406f StPO Rz. 3.
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Adhsionsverfahren
Rz. 1069
den bisherigen Verhandlungsgang an den Mandanten (mit dessen Zustimmung) nicht berichtet, sie aber bei seiner Beratung berücksichtigt. Ein Beweisantragsrecht besteht nach Lage des Gesetzes nicht. Dies schließt freilich nicht aus, dass der Verletztenanwalt eine Beweisanregung schriftsätzlich oder mündlich vorträgt, wenn er bei Durchsicht der Akten Ermittlungslücken feststellt, die sich zum Nachteil des Klienten auswirken können. Ein Recht zum Schlussvortrag besteht nicht. 4. Adhäsionsverfahren Literatur: Gillmeister in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 1233 ff.; Köckerbauer, Die Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche im Strafverfahren – der Adhäsionsprozess, NStZ 1994, 305; Rieß, Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren, Gutachten zum 55. DJT (1984) (Bd. 1 Teil C); Rieß, Einige Bemerkungen über das sog. Adhäsionsverfahren, FS Dahs (2005), S. 425; Rössner/Klaus, Für eine opferbezogenen Anwendung des Adhäsionsverfahrens, NJ 1996, 288; Schönfeldt, Durchsetzung von Schadenersatzforderungen im Adhäsionsverfahren, NJ 1992, 448.
Der durch eine Straftat Geschädigte kann seinen Ersatzanspruch im Straf- 1069 prozess geltend machen. Das hierzu vorgesehene Adhäsionsverfahren wird – trotz der Verbesserungen im Opferrechtsreformgesetz v. 24.6.2004 – äußerst selten praktiziert. Es wird deshalb hier nicht näher behandelt. Die Bestimmungen der §§ 403–406c StPO und die gängigen Erläuterungsbücher geben im Einzelfall den notwendigen Aufschluss. Die Zweckmäßigkeit des Verfahrens wird allgemein unterschätzt. Es bietet dem Geschädigten durchaus Möglichkeiten, durch Mitwirkung im Strafverfahren die Überführung und Verurteilung eines Täters herbeizuführen und in zivilrechtlich einfach gelagerten Fällen Schadensersatz zu erhalten. Da das Strafurteil praktisch präjudiziell auf das Zivilverfahren einwirkt, kann der Beteiligung des Verletzten erhebliche Bedeutung zukommen. Welche Rechte der Adhäsionskläger in der Hauptverhandlung hat, ist weitestgehend ungeklärt. Es sollte allerdings versucht werden, das Frage- und Beweisantragsrecht durchzusetzen. Hierfür sprechen Sinn und Zweck des Adhäsionsverfahrens sowie das rechtsstaatliche Fairnessprinzip. Das Recht zum Schlussvortrag dürfte unstreitig sein. Im Übrigen muss versucht werden, über den Staatsanwalt an der Beweisaufnahme mitzuwirken.
VII. Strafbefehlsverfahren Literatur: Böttcher, „Der Strafbefehl auf dem Vormarsch?“, FS Odersky (1996), S. 299; Brachert/Staechelin, Die Reichweite der im Strafbefehlsverfahren erfolgten Pflichtverteidigerbestellung, StV 1995, 547; Otting, Ungenütztes Beschleunigungspotential des Strafbefehls, ZRP 1994, 488; Rieß, Das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege – ein Überblick –, AnwBl. 1993, 51; Schellenberg, Zur Verhängung
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Rz. 1070
Strafbefehlsverfahren
von Freiheitsstrafen im Strafbefehlsverfahren, NStZ 1994, 570; Schellenberg, Der Strafbefehl nach § 408a StPO in der Praxis, NStZ 1994, 370.
1070
Zu Recht hat man das Strafbefehlsverfahren ein „Kind der Praxis“ genannt Das trifft in einem doppelten Sinne zu. Es ist zugleich aus dem praktischen Bedürfnis entstanden, der großen Masse kleinerer Delikte in einem summarischen Prozess Herr zu werden, wie es dem eminent praktischen Anliegen besonders auch der Verteidiger dient, durch sachgemäßes Zusammenwirken von Staatsanwaltschaft und Gericht geeignete Fälle geräuschlos zu einer angemessenen Erledigung zu bringen (Rz. 179, 502). Damit ist sowohl dem Interesse der Justiz wie des Beschuldigten gedient. Ein Strafbefehl kommt nur für Vergehen in Betracht, wenn Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr (bei Strafaussetzung zur Bewährung), Geldstrafe, Verwarnung mit Strafvorbehalt und bestimmte Maßnahmen, u.a. Fahrverbot sowie Entziehung der Fahrerlaubnis bis zu zwei Jahren in Frage kommen. Im erstgenannten Fall muss der Beschuldigte einen Verteidiger haben (§ 407 Abs. 2 StPO).
1071
Zur Ausschöpfung der gebotenen Möglichkeiten muss der Verteidiger das Wesen dieses besonderen Verfahrens genau erfassen. Der Strafbefehl ist kein Urteil, sondern steht diesem „nur“ in seiner Wirkung gleich. Weder geht ihm eine Hauptverhandlung voraus noch beruht er überhaupt auf einer richterlichen Beweiserhebung. Die richterliche Überzeugung von der Schuld des Betroffenen beruht oft auf einer unzulänglichen Grundlage, weil der Richter seiner Entscheidung nur den von Staatsanwalt und Polizei zusammengebrachten Akteninhalt zugrunde legen kann. Wenn auf dieser Grundlage die Schuld- und Rechtsfrage beurteilt werden kann, wird der Richter den Strafbefehl erlassen. Das Wagnis solchen Verfahrens wird andererseits ausgeglichen durch die gesetzlich geforderte Übereinstimmung des Strafbefehls mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft (§ 408 Abs. 3 StPO), die dafür wiederum an den Strafbefehl gebunden ist, ohne Einspruch einlegen zu können. Der Strafbefehl ist danach nichts anderes als ein „Angebot“ an den Beschuldigten, sich durch Unterlassung des ihm zustehenden Einspruchs dem Verdikt zu unterwerfen. Lehnt der Beschuldigte eine solche Selbstunterwerfung ab, führt er mit dem Einspruch eine Hauptverhandlung herbei, für die der Strafbefehl nicht mehr Bedeutung hat als die Zulassung der Anklage im normalen Strafverfahren.
1072
Es liegt auf der Hand, dass die Eigenart dieses Verfahrens dem Verteidiger außergewöhnliche Möglichkeiten bietet, ihm aber andererseits auch weittragende Beratungsaufgaben auferlegt. Diese setzen zeitlich schon vor der Einleitung des Strafbefehlsverfahrens ein. Beabsichtigt der Verteidiger eine Erledigung der Sache durch Strafbefehl, muss er mit dem Staatsanwalt Kontakt aufnehmen, da ohne dessen Antrag kein Strafbefehl erlassen werden kann. Anderseits wird die Staatsanwaltschaft in der 610
Adhsionsverfahren
Rz. 1073
Regel keinen Strafbefehl beantragen, wenn sie mit einem Einspruch rechnen muss. Der Staatsanwalt wird auch oft zögern, von sich aus den Verteidiger zu befragen, weil er mit Recht erwarten kann, dass der Verteidiger an ihn herantritt. Das ist für diesen unter Umständen ein schwerer Gang. Wenn nämlich der Mandant seine Schuld bestreitet, kommt der Verteidiger bei seinem Gespräch mit dem Staatsanwalt in einen inneren Widerspruch. Er kann sich mit dem Hinweis helfen, dass er die Sache im Einzelnen noch nicht genau beurteilen könne und deshalb von der Information seines bestreitenden Mandanten ausgehen müsse, aber fragen wolle, ob die Staatsanwaltschaft ihrerseits eine Anklage erwäge und für diesen Fall auch an einen Strafbefehl denke. Damit vergibt der Verteidiger sich nichts und kann jetzt einiges erfahren. Der Staatsanwalt geht manchmal ähnliche Wege, indem er, um sich nicht festzulegen, jede offizielle Stellungnahme vorläufig ablehnt, aber als „ganz persönliche Meinung“ durchblicken lässt, dass der Strafbefehl nicht ausgeschlossen erscheine. Sind so die Positionen beiderseits aufgebaut, kann in ihrem Schutz das – gewissermaßen hypothetische – Gespräch jetzt oder in einer weiteren Besprechung auf das etwaige Strafmaß und Nebenfolgen bezogen werden. Solche unverbindlichen Gespräche sind unschätzbar und ein eindrucksvolles Beispiel für die Bedeutung und Notwendigkeit vertraulicher Besprechungen mit Richter und Staatsanwalt (Rz. 178 f.). Sie können zu einem kompletten „Aushandeln“ des Strafbefehls führen. Ist das gelungen, wird man im allgemeinen damit rechnen können, dass der Amtsrichter sich anschließt und den Strafbefehl nach Antrag erlässt, der mangels Einspruchs dann die Sache ohne Hauptverhandlung zu Ende bringt. Der Staatsanwalt pflegt in kritischen Fällen den Amtsrichter über die Absprache zu unterrichten. Auch der Verteidiger kann deshalb den Amtsrichter aufsuchen und ihm die Unterlassung des Einspruchs zusichern. Es kommt vor, dass Staatsanwalt und Verteidiger gemeinsam den Amtsrichter aufsuchen, um etwaige Bedenken zu zerstreuen. Hier setzen nun die Zweifel ein, die die Rechtsstaatlichkeit solcher Un- 1073 terwerfung betreffen und Staatsanwalt und Verteidiger in eine schwierige Lage bringen können. Denn der Beschuldigte kann nicht nur von der Frage seiner Schuld oder Nichtschuld ausgehen, sondern muss Vor- und Nachteile des Verfahrens abwägen. Wenn der Beschuldigte sich nicht unterwirft, weil er einen Freispruch anstrebt, muss er unter Umständen ein langes Verfahren durch mehrere Instanzen in Rechnung stellen. Die seelische Belastung eines öffentlichkeitswirksam geführten Strafprozesses, die Publizität der Verhandlung und Entscheidung und alle sonstigen Nachteile werden durch einen späteren Freispruch nur in den seltensten Fällen aufgewogen. Der Klient kann unter Umständen moralisch und wirtschaftlich ruiniert sein. Hinzu kommt: Eine zuverlässige Freisprechungsprognose lässt sich kaum stellen. Der Mandant gerät so in die „Verlockung“, die Sache mit dem Strafbefehl in einem Schlage loszuwerden. Manchmal ist ihm für den Fall solcher geräuschlosen Erledigung die Erhaltung seiner beruflichen Position oder der Aufbau einer neuen Exis-
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Rz. 1074
Strafbefehlsverfahren
tenz zugesichert – eine Chance, die bei Durchführung eines kompromittierenden Strafprozesses entfällt. Dazu kann der Verteidiger gelegentlich noch die Zusicherung der Staatsanwaltschaft erreichen, einer vorzeitigen Tilgung der Strafe im Bundeszentralregister zuzustimmen (Rz. 1126, 1128). Die Entscheidung darüber hat allerdings das Bundesamt für Justiz zu treffen. Das beschriebene Dilemma des Beschuldigten und der Verteidigung ist manchmal fatal. Denn offensichtlich befindet sich der um sein Recht kämpfende Beschuldigte in einer Rolle, die der Lage eines Genötigten verzweifelt ähnlich sieht. Staatsanwaltschaft und Verteidigung müssen dieses Verhalten jeweils zu vertreten wissen. 1074
Bei der Alternative Anklage oder Strafbefehl spielt es auch eine Rolle, wie der Staatsanwalt innerlich zu der Sache steht (Rz. 179). Er kann beispielsweise am Strafbefehl interessiert sein, weil Staatsanwaltschaft und Gericht überlastet sind. Er kann aber auch aus Gründen seines persönlichen Berufsprestiges an einer öffentlichen Verhandlung interessiert sein. Umgekehrt berichten Staatsanwälte gelegentlich, dass Verteidiger im Streben nach Publicity oder gar aus Honorargründen zu einer Hauptverhandlung tendieren und damit das wirkliche Interesse ihrer Klienten nicht mehr wahrnehmen. Sie meinen sogar, dass man deshalb solche Verhandlungen eigentlich nur mit wirtschaftlich unabhängigen Anwälten richtig führen könne. Handelt es sich nicht um kritische Fälle der hier erörterten Art, sondern um einfachere Tatbestände, sollte der Verteidiger immer die Erledigung durch Strafbefehl im Auge behalten und rechtzeitig bei der Staatsanwaltschaft vorstellig werden. Sonst kann es passieren, dass der Staatsanwalt, der mit einem Bestreiten des Beschuldigten oder sonstigen Komplikationen rechnet, die Anklage erhebt, um die Sache zur Hauptverhandlung zu bringen (s. Nr. 175 Abs. 3 RiStBV). Der Verteidiger hat dann die Gelegenheit verpasst, durch rechtzeitige Fühlungnahme mit dem Staatsanwalt eine Erledigung durch Strafbefehl zu vereinbaren. Allerdings besteht an sich auch nach Eröffnung des Hauptverfahrens noch die Möglichkeit, über § 408a StPO die Sache in das Strafbefehlsverfahren zu bringen. Das wird aber nur in Ausnahmefällen zu erreichen sein (Nr. 175a RiStBV).
1075
Bei der Beratung des Mandanten muss der Verteidiger auch bedenken, dass der Strafrichter nach § 420 Abs. 4 StPO den Umfang der Beweisaufnahme bestimmt, allerdings in den Grenzen der Amtsaufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO. Dadurch kann eine tatkräftige Gestaltung der Hauptverhandlung durch Beweisanträge der Verteidigung sehr eingeschränkt werden. Auf der anderen Seite muss dem Mandanten aber klargemacht werden, dass auch der im geräuschlos-schriftlichen Verfahren ergangene Strafbefehl in jeder Hinsicht die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils hat, z.B. Bewährungsauflagen bei Freiheitsstrafe, Eintragung im Bundeszentralregister (ggf. mit echtem Vorstrafencharakter), diszipli-
612
Adhsionsverfahren
Rz. 1077
narrechtliche oder berufsrechtliche Folgen1, evtl. auch zivilrechtliche oder arbeitsrechtliche Konsequenzen usw. Der Realitätssinn mancher Klienten für die negativen Folgen der Bestrafung ist wegen des vergleichsweise „soften“ Verfahrensablaufs erfahrungsgemäß gemindert. Der Verteidiger kann auch dem Beschuldigten empfehlen, nach Ablauf 1076 der Einspruchsfrist dem Gericht eine Erklärung zuzuleiten, mit der die strafbare Handlung (evtl. unter Darlegung der Gründe) bestritten wird und für die Unterwerfung ausschließlich der Opportunität zugeordnete Erwägungen dargelegt werden, z.B. die gesundheitlichen oder beruflichen Folgen einer (lang andauernden) Hauptverhandlung, die Vermeidung von Schaden für Familie oder Arbeitgeber (Unternehmen, Behörde) durch die (Medien-)Öffentlichkeit der Verhandlung. Es kann auch eine lapidare Erklärung des Inhalts in Betracht kommen, dass von einem Einspruch „aus Gründen, die außerhalb des Verfahrens liegen“, abgesehen werde, worin irgendeine Art von „Schuldanerkenntnis“ nicht zu sehen sei, oder dass der vertretene Rechtsstandpunkt aufrechterhalten bleibe. Von einer Erklärung dieser Art kann er auch gegenüber anderen – etwa seinem Arbeitgeber oder bei Bewerbungen – später Gebrauch machen. Auch die Staatsanwaltschaft kann an einer Erledigung durch Strafbefehl sogar in großen Sachen interessiert sein. Gerade in solchen Fällen sieht die Staatsanwaltschaft eine Prozessdauer von Jahren voraus (Rz. 67, 130). Man kann sie mit dem Argument beeinflussen, dass dem allgemeinen Interesse der Justiz die schnelle Erledigung dienlicher sei als eine höhere Bestrafung nach langer Zeit. Wenn es zur „streitigen“ Durchführung eines Strafbefehlsverfahrens 1077 kommt, hat der Verteidiger einige Besonderheiten zu beachten. Er muss wissen und kann darauf hinwirken, dass der Richter den Strafbefehl ablehnen oder Termin zur Hauptverhandlung bestimmen kann, wenn er Bedenken bekommt (§ 408 Abs. 3 StPO). Ist der Strafbefehl erlassen, hat der Verteidiger nochmals Gelegenheit zur Prüfung, ob die Unterwerfung nicht doch besser ist als die Durchführung des Verfahrens. Er muss dabei überlegen, dass die Staatsanwaltschaft gegen den Strafbefehl kein Einspruchsrecht hat und damit das Verfahren allein in der Hand des Verteidigers liegt. Wird der Einspruch eingelegt, sind Staatsanwaltschaft und Gericht wieder frei. In der Hauptverhandlung vor dem Strafrichter bestimmt dieser den Umfang der Beweisaufnahme (§§ 411 Abs. 2 S. 2, 420 StPO)2. Bei der Strafzumessung ist das Gericht an seinen Strafbefehl nicht gebunden, da das Verbot der Schlechterstellung (Rz. 821) hier nicht gilt – ein auch für die Beratung des Mandanten eminent wichtiger Punkt. Auch kann die Staatsanwaltschaft die Anklage bis zum Beginn der Verhandlung zur Sache in der Hauptverhandlung zurücknehmen, um sie un1 Dazu wichtig OLG Nürnberg v. 29.6.1995 – 8 U 4041/93 – 2 O 8643, StraFo 1997, 186 m. krit. Anm. Barton. 2 Zu den Einzelheiten Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 420 StPO Rz. 9 f.
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Rz. 1078
Allgemeine Rechtsbehelfe im Verfahren
ter anderen Vorzeichen (bei der Strafkammer) in wesentlich gefährlicherer Weise zu erheben. Nach diesem Zeitpunkt bedarf sie der Zustimmung des Angeklagten. In gleicher Weise ist die Rücknahme des Einspruchs des Angeklagten nach Beginn der Hauptverhandlung nur noch mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft zulässig (§ 411 Abs. 3, § 303 S. 1 StPO); nach Beginn der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils ist sie nicht mehr möglich. Zur Rücknahme kommt es besonders in den Fällen, in denen der Verteidiger nach Akteneinsicht oder (teilweise) durchgeführter Beweisaufnahme dem Mandanten raten muss, das Verfahren wegen Aussichtslosigkeit nicht (weiter) durchzuführen. Der Einspruch dient dann lediglich dem Zweck, die Erfolgsaussichten anhand der Akten zu prüfen oder die Validität der Beweismittel „anzutesten“. In der Hauptverhandlung kann sich der Mandant durch den Verteidiger vertreten lassen (§ 411 Abs. 2 StPO). Ist das persönliche Erscheinen des Angeklagten angeordnet (§ 236 StPO), kann bei ordnungsgemäßer Vertretung der Einspruch nicht verworfen, wohl aber in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt werden1. Der Übergang zum Strafbefehl im auf einer Anklageschrift beruhenden Strafprozess in der Hauptverhandlung ist zwar nach § 408a StPO zulässig, jedoch von einem Antrag der Staatsanwaltschaft abhängig, über den der Richter durch unanfechtbaren Beschluss entscheidet. Zu einer solchen Entwicklung wird es aber nur dann kommen, wenn sich die Sache in der Beweisaufnahme wesentlich anders darstellt als in der Anklage oder das Verfahren sich aus anderen Gründen „festfährt“ (Rz. 332, 502 ff.). 1078
Der Strafbefehl steht nach § 410 Abs. 3 StPO „einem rechtskräftigen Urteil gleich“. Das bedeutet, dass er nach Eintritt der formellen Rechtskraft vollstreckt werden kann und die Strafe im Bundeszentralregister eingetragen wird. Dagegen kann dieselbe Tat unter einem neuen rechtlichen Gesichtspunkt in einem anderen Verfahren nicht nochmals verfolgt werden, auch wenn sich nach dem Strafbefehl neue Tatsachen ergeben (z.B. Tod nach Körperverletzung). Damit bleibt nur die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten und zuungunsten des Verurteilten übrig (§ 373a StPO).
VIII. Allgemeine Rechtsbehelfe im Verfahren In diesem Kapitel werden in allgemeiner Form bestimmte Rechtsbehelfe erörtert, die der Verteidiger bei verschiedenen Anlässen nutzen kann oder muss. Im Handbuch sind diese Fälle im Einzelnen jeweils unter Hinweis auf die hier folgende allgemeine Darstellung der Rechtsbehelfe erwähnt.
1 OLG Hamburg v. 22.5.1968 – 1 Ss 58/68, NJW 1968, 1687; zust. Küper, NJW 1969, 493.
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Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Rz. 1079
1. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Literatur: Asper, Zur Zuständigkeit für die Entscheidung über eine Wiedereinsetzungsantrag nach Versäumen der Beschwerdefrist von StPO § 172 Abs. 1, NStZ 1991, 146; Klemke/Elbs, Einführung in die Praxis der Strafverteidigung, 3. Aufl. 2013; Michalke in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 674 ff.; G. Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. 2000, 70 ff.; Schmid, Wiedereinsetzung nach § 44 StPO bei Verschulden eines Dritten, der nicht Rechtsanwalt ist, NJW 1976, 941; Sieg, Zum Verschulden einer Säumnis bei zu niedrig eingeplanter Zeitreserve für die Anfahrt zu Gericht, StV 1994, 113; Ventzke, Zur Rechtzeitigkeit der Revisionsbegründung in Strafsachen und zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei versäumter Begründungsfrist, StV 1997, 227.
Selbst der gewissenhafteste Verteidiger kann eine Frist versäumen. Eige- 1079 ne Unachtsamkeit und Fehler des Personals können zu unangenehmen Situationen führen. Das Vertrauensverhältnis zum Mandanten wird (nachhaltig) gestört. Er erleidet Nachteile, die häufig nicht wiedergutzumachen sind. Dass eventuell Regressansprüche auf den Verteidiger zukommen und dass sein Ruf leidet, muss ebenfalls berücksichtigt werden. Aus diesen Gründen ist eine genaue Fristenkontrolle unerlässlich (Rz. 827 ff.). Hat sie versagt oder wird der Verteidiger erst nach Versäumung einer Frist beauftragt, so muss unverzüglich gehandelt werden. Der „Nothelfer“, die Wiedereinsetzung, ist nicht nur an die kurze Wochenfrist gebunden (§ 45 StPO). Oft bleibt dem Verteidiger nicht einmal diese knappe Zeitspanne, weil der Mandant erst in letzter Minute erscheint und die Wiedereinsetzungsfrist bereits läuft. Der Verteidiger erleichtert sich die Aufgabe, wenn er ein gewisses Schema zugrunde legt. Je nach Arbeitsstil und Büroorganisation wird er es erproben und abwandeln. In der Regel sind folgende Fragen zu lösen: Ist gegen die versäumte Frist Wiedereinsetzung überhaupt zulässig? Was ist der Grund der Versäumnis? Reicht er nach Gesetz und Rechtsprechung zur Wiedereinsetzung aus? Wie ist der Grund glaubhaft zu machen? Und schließlich sind Frist und Form des Wiedereinsetzungsgesuches einzuhalten und die versäumte Prozesshandlung nachzuholen. In dieser Reihenfolge sollen hier die praktischen Probleme der Wiedereinsetzung behandelt werden. Der Verteidiger wird im Zweifelsfall auch stets die Rechtsprechung prüfen müssen. Hauptanwendungsfall ist die Versäumnis einer gesetzlichen Frist, insbesondere der Rechtsmittelfristen einschließlich der Revisionsbegründungsfrist und der Einspruchsfrist gegen Strafbefehle und Bußgeldbescheide. Auch gegen die Versäumung der Hauptverhandlung kann unter Umständen mit Erfolg Wiedereinsetzung beantragt werden (§§ 235, 329 Abs. 3 StPO). Außerdem muss der Verteidiger wissen, dass absolute Ausschlussfristen der Wiedereinsetzung nicht unterliegen1, so nicht die Fristen für Strafantrag, Verjährung und Verfassungsbeschwerde. Schließlich
1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 42 StPO Rz. 6.
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Rz. 1080
Allgemeine Rechtsbehelfe im Verfahren
kann auch gegen die Frist zur Anbringung des Antrages nach §§ 44, 45 StPO die Wiedereinsetzung gewährt werden. 1080
Die Frage nach dem Grund der Fristversäumnis betrifft zunächst den Sachverhalt. Der Verteidiger hat festzustellen, warum die Frist nicht eingehalten worden ist. Im eigenen Bereich sind die Handakten und der Fristenkalender zu prüfen, dazu der Zeitpunkt der Aktenvorlage, der Bearbeitung und des Abgangs des die Frist wahrenden Schriftstücks sowie dessen Eingang beim zuständigen Gericht. Schwieriger wird es, wenn der Verteidiger bisher in der Sache nicht vertreten hat. Wie die Erfahrung beweist, sind die Angaben der Mandanten nicht immer zuverlässig. Vor allem können sie den Zustellungstag oft nicht genau mitteilen. Dann muss sich der Verteidiger an das Gericht wenden, notfalls telefonisch. Ggf. ist mit dem Kollegen Verbindung aufzunehmen, der bisher tätig war. Kennt man den Grund der Fristversäumnis, so ist zu prüfen, ob er zur Wiedereinsetzung ausreicht oder, wie das Gesetz sagt, die Frist ohne Verschulden nicht eingehalten werden konnte (§ 44 StPO). Hierzu gibt es eine reichhaltige Rechtsprechung. Die Chance der Verteidigung liegt oft auch darin, einen zweifelsfreien Wiedereinsetzungsgrund aufzuspüren, an den bisher keiner der Beteiligten gedacht hat. Am besten beginnt man mit der Rechtsmittelbelehrung. Fehlt sie, obwohl vorgeschrieben, so ist die Wiedereinsetzung kraft Gesetzes zu gewähren (§ 44 S. 2 StPO). Bei unrichtiger oder unvollständiger Belehrung wird die Wiedereinsetzung im Allgemeinen ebenfalls bewilligt1. Auch anderes amtliches Verschulden eröffnet die Wiedereinsetzung, z.B. Fehler der Post bei der Zustellung2 ebenso Fristversäumnisse, die auf einer Verzögerung der Briefbeförderung durch die Post beruhen3. Wichtig ist es sodann, den Fristbeginn zu ermitteln, vor allem bei nicht verkündeten Entscheidungen und bei Urteilszustellungen, die Begründungsfristen in Lauf zu setzen. Hierzu muss der Verteidiger beachten, dass förmliche Zustellung notwendig ist (Rz. 827) sowie Unterrichtung des „anderen Beteiligten“, dem nicht zugestellt wird (§ 145a Abs. 3 StPO). Wird z.B. der Verteidiger von der Zustellung eines Urteils an den Mandanten nicht benachrichtigt, so ist die Wiedereinsetzung zu gewähren4.
1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 StPO Rz. 23. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 StPO Rz. 16. 3 BVerfG v. 1.12.1982 – 1 BvR 607/82, BVerfGE 62, 334; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 44 StPO Rz. 16. 4 Zu den Einzelfällen vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 StPO Rz. 17; a.A. OLG Düsseldorf v. 27.1.1995 – 1 Ws (OWi) 63/95 u. 5 Ss (OWi) 487/94 – (OWi) 10/95 I, bei Korte, NStZ 1996, 320; OLG Frankfurt v. 11.12.1981 – 3 Ws 820/81, NJW 1982, 1297 nur unter der Voraussetzung, dass Angeklagter seinen Verteidiger mit der Einlegung eines Rechtsmittels in jedem Fall beauftragt hatte; ansonsten soll den Angeklagten eine eigene Pflicht zur Fristüberwachung treffen.
616
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Rz. 1083
Ferner hat der Verteidiger zu prüfen, ob ein (Mit-)Verschulden des Man- 1081 danten die Wiedereinsetzung ausschließt1. Das typische und leider häufige Beispiel ist der Betroffene, der sich um nichts kümmert und zu spät einen Anwalt aufsucht. Er wird sich nicht darauf berufen können, er habe die ihm nach Lage des Falles gerechterweise zuzumutende Sorgfalt angewandt2. In solchen Fällen ist Vorsicht am Platze. Der Verteidiger hat einerseits tatkräftig zu helfen, wenn die Fristversäumnis wirklich unverschuldet ist. Anderseits darf er sich für faule Ausreden nicht vorspannen lassen. Besonders häufig werden Fristen während der Urlaubszeit versäumt. In der Regel gehen Fristversäumnisse, die während der Urlaubszeit auftreten, nicht zulasten des Betroffenen3. Dies gilt auch bei verzögerlicher Postbeförderung4. Anders als im Zivilprozess steht freilich Verschulden des Verteidigers der 1082 Wiedereinsetzung nicht entgegen. Jedenfalls kann es dem Angeklagten nicht angelastet werden5, während andere Betroffene teilweise schlechtergestellt werden, z.B. Privatkläger und Nebenkläger6 (Rz. 1030 ff.), jedoch nicht im Bußgeldverfahren, in dem der Beschuldigte für Verschulden des Verteidigers nicht einzustehen hat7. Ein Verschulden des Verteidigers schließt die Wiedereinsetzung dann aus, wenn zugleich auch den Mandanten ein Verschulden an der Versäumung der Frist trifft8. Im Kostenverfahren9 soll dagegen das Verschulden des Verteidigers und seines Personals zulasten des Mandanten gehen, anders im Verfahren nach dem StrEG10 (Rz. 373). Der nächste Schritt des Verteidigers betrifft die Glaubhaftmachung des 1083 Wiedereinsetzungsgrundes (§ 45 Abs. 2 StPO). Sie ist einfach, wenn sich der Grund aus Urkunden ergibt, z.B. aus Zustellungsnachweisen oder aus einem Hauptverhandlungsprotokoll, das nichts über die Rechtsmit1 BGH v. 21.12.1972 – 1 StR 267/72, BGHSt. 25, 89 (93); BGH v. 25.5.1960 – 4 StR 193/60, BGHSt. 14, 306 (308); BGH v. 13.5.1997 – 1 StR 142/97, NStZ 1997, 560. 2 Dazu i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 StPO Rz. 10 ff. 3 BVerfG v. 6.10.1992 – 2 BvR 805/92, NJW 1993, 847; BVerfG v. 16.11.1972 – 2 BvR 21/72, BVerfGE 34, 154; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 StPO Rz. 14 m.N. 4 BGH v. 14.9.1993 – 5 StR 567/93, GA 1994, 75; BGH v. 3.12.1981 – IX ZR 54/80, AnwBl. 1982, 108. 5 BGH v. 25.5.1960 – 4 StR 193/60, BGHSt. 14, 306 (308); BGH v. 10.6.1960 – 2 StR 132/60, BGHSt. 14, 330 (332); BVerfG v. 13.4.1994 – 2 BvR 2107/93, NJW 1994, 1856. 6 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 44 StPO Rz. 19; Maul in KK, § 44 StPO Rz. 30. 7 Vgl. BVerfG v. 13.4.1994 – 2 BvR 2107/93, NJW 1994, 1856. 8 BGH v. 17.1.1995 – 1 StR 814/94, NStZ 1995, 352; BGH v. 21.12.1972 – 1 StR 267/72, BGHSt. 25, 89. 9 BGH v. 6.5.1975 – 5 StR 139/75, BGHSt. 26, 126. 10 BGH v. 11.3.1976 – III ZR 113/74, BGHZ 66, 122; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 10 StrEG Rz. 5.
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Rz. 1083
Allgemeine Rechtsbehelfe im Verfahren
telbelehrung enthält. Hierzu ist allerdings Akteneinsicht erforderlich, damit die Aktenstellen in dem Gesuch genau bezeichnet werden können. Im Übrigen muss der Verteidiger auf die einzelnen Wiedereinsetzungsgründe abstellen. Geeignet zur Glaubhaftmachung sind z.B. dienstliche Äußerungen der beteiligten Richter oder Beamten, auf die man sich berufen kann, ohne sie mit dem Gesuch vorlegen zu müssen. Ebenso genügt eine Erklärung des Verteidigers ohne eidesstattliche Versicherung, wenn und soweit es sich um eigene Unterlassungen oder eigene Wahrnehmungen handelt. Es ist selbstverständlich, dass man sich hierbei größter Objektivität zu befleißigen hat, obwohl es in der menschlichen Natur liegt, eigene Fehler zu verdecken. Der Verteidiger untersteht auch hier dem Gebot der Wahrheit und dem Verbot der Lüge (Rz. 46). Nur wegen dieser Berufspflichten wird seine einfache Erklärung als ausreichend anerkannt. Ob die Richtigkeit der Angaben „anwaltlich“ versichert werden muss1, erscheint mindestens fraglich. Man kann verlangen, dass der Erklärung eines Rechtsanwalts geglaubt wird2, wie ja auch dienstliche Äußerungen von Richtern und Staatsanwälten solche Klauseln nicht zu enthalten pflegen. Eine Erklärung des Verteidigers genügt auch, wenn der Mandant infolge Urlaubs während der allgemeinen Ferienzeit die Frist versäumt hat3. In anderen Fällen kommt nur die eidesstattliche Versicherung dritter Personen, evtl. auch des Mandanten in Betracht, das häufigste Mittel der Glaubhaftmachung. Meist wird der Verteidiger die Erklärung selbst formulieren. Dagegen bestehen keine grundsätzlichen Bedenken. Jedoch muss sehr gewissenhaft vorgegangen werden, damit nicht der Verdacht aufkommt, der Verteidiger habe an einer falschen eidesstattlichen Versicherung mitgewirkt. Man darf dem Erklärenden nichts in den Mund legen. Der Sachverhalt ist genau wiederzugeben. Das ist vor allem zu beherzigen, wenn eidesstattliche Versicherungen des eigenen Personals vorgelegt werden. Gerichte und Staatsanwaltschaften nehmen solche Angaben besonders unter die Lupe. Allzu leicht schleichen sich „Färbungen“ ein, weil jeder Beteiligte bemüht ist, seine Fehler wiedergutzumachen. Im Übrigen muss sich der Verteidiger vergewissern, ob das zuständige Gericht die eidesstattliche Versicherung des Betroffenen als Antragsteller zulässt, eine fast einhellig verneinte Frage4. Möglichst sollten Erklärungen Dritter beigebracht werden. Die Frage des (Mit-)Verschuldens des Mandanten muss im Wiedereinsetzungsgesuch auch dann behandelt werden, wenn das primäre Verschulden an der Versäumung der Frist an anderer Stelle liegt.
1 So OLG Köln v. 20.12.1963 – 1 Ws 76/63, NJW 1964, 1038; zust. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 26 StPO Rz. 11. 2 So BGH v. 29.8.2006 – 1 StR 371/06, NStZ 2007, 161. 3 BVerfG v. 2.7.1974 – 2 BvR 32/74, NJW 1974, 1902. 4 Vgl. die Darstellung bei Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 45 StPO Rz. 9.
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Anrufung des Oberlandesgerichts nach §§ 23 ff. EGGVG
Rz. 1085
Der Verteidiger muss schließlich die Wochenfrist für die Wiedereinset- 1084 zung einhalten, die mit der Beseitigung des Hindernisses zu laufen beginnt (§ 45 StPO). Hierbei wird oft übersehen, dass es nicht darauf ankommt, wann der Verteidiger von der Fristversäumnis erfährt. Maßgebend ist, wann der Mandant Kenntnis erhält1. Die Zeitpunkte können voneinander abweichen. Der vorsichtige Verteidiger wird deshalb die Wiedereinsetzung beantragen, sobald er die Fristversäumnis feststellt. Man darf auch nicht vergessen, dass Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist statthaft ist, wenn die Voraussetzungen vorliegen2. Form und Inhalt des Wiedereinsetzungsantrags richten sich nach dem 1085 Einzelfall (zur Zuständigkeit § 46 Abs. 1 StPO). Zweckmäßigerweise wird das Gesuch so aufgebaut, dass vorweg beantragt wird, Wiedereinsetzung gegen die bestimmt zu bezeichnende versäumte Frist oder Prozesshandlung zu gewähren. Dann folgt am besten die Nachholung der versäumten Prozesshandlung (§ 45 Abs. 2 StPO), was sonst leicht vergessen wird. Bedarf die Prozesshandlung näherer Ausführungen, etwa die Revisionsbegründung, so ist es meist richtig, sie in einen getrennten, jedoch gleichzeitig einzureichenden Schriftsatz aufzunehmen und im Wiedereinsetzungsgesuch darauf zu verweisen. Danach sind die Versäumnisgründe auseinanderzusetzen und ihre Glaubhaftmachung darzutun. Auf beigefügte Urkunden kann Bezug genommen werden, z.B. auf eidesstattliche Versicherungen. Der sachliche Inhalt des Gesuchs wird vom Einzelfall bestimmt3. Dabei gilt: Je genauer der Verteidiger den Sachverhalt darstellt und belegt, desto eher ist mit der Wiedereinsetzung zu rechnen. Zum Sonderproblem der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zum Nachholen einzelner Verfahrensrügen im Revisionsverfahren vgl. Rz. 899, 911. Wie die Praxis beweist, wird häufig übersehen, Vollstreckungsaufschub zu beantragen (§ 47 Abs. 2 StPO). Da das Wiedereinsetzungsgesuch die Vollstreckung nicht hemmt, muss der Verteidiger alles tun, um Nachteile für den Mandanten zu vermeiden. 2. Anrufung des Oberlandesgerichts nach §§ 23 ff. EGGVG Literatur: Heinrich, Die gerichtliche Nachprüfbarkeit von Entscheidungen der Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit der Anklageerhebung, NStZ 1996, 110; Mehle/Hiebl, Zum Rechtsmittel gegen die Verweigerung der Akteneinsicht des Verteidigers und zum Umfang der von StPO § 147 Abs. 3 erfassten Vernehmungsprotokolle, StV 1995, 571; Michalke/Hamm in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 701 ff.; Strubel/Sprenger, Die gerichtliche Nachprüfung staatsanwaltschaftlicher Verfügungen, NJW 1972, 1734; Welp, Zur An1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 45 StPO Rz. 3. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 45 StPO Rz. 3; OLG Düsseldorf v. 29.4.1981 – 5 Ws 30/81, NJW 1982, 60. 3 Muster bei Michalke in Beck’sches Formularbuch, S. 677 ff.
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Rz. 1086
Allgemeine Rechtsbehelfe im Verfahren
fechtbarkeit der Versagung von Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren nach EGGVG § 23, StV 1989, 194.
1086
Nach aller Erfahrung wissen viele Verteidiger die Möglichkeiten nicht auszunutzen, die in diesem besonderen Rechtsbehelf stecken. Das Verfahren ist an abgelegener Stelle geregelt und vielleicht deshalb weitgehend unbekannt. Der Rechtsbehelf hat für den Bereich der Strafrechtspflege größere Bedeutung als gemeinhin angenommen wird. Praktisch kann die Verteidigung in fast jedem Abschnitt eines Strafverfahrens vor der Frage stehen, ob ein Antrag nach §§ 23 ff. EGGVG, für den der Strafsenat des Oberlandesgerichts zuständig ist, zulässig oder angebracht ist. Allerdings ist dieser Rechtsbehelf auch keine „Allzweckwaffe“.
1087
Zunächst muss sich der Verteidiger über die Zulässigkeit des Antrags im Klaren sein, insbesondere darüber, dass es sich um den Rechtsschutz nur gegen Justizverwaltungsakte handelt. Was darunter im Rahmen der Strafrechtspflege zu verstehen ist, wird nicht einheitlich beantwortet. Sicher scheiden Rechtsprechungakte aus, desgleichen sämtliche richterlichen Maßnahmen im Eröffnungs- und Hauptverfahren. Der Antrag wird zudem nicht für zulässig gehalten gegenüber der Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft1 (Rz. 207), wohl aber gegen einen Vorführungsbefehl der Staatsanwaltschaft, der zur Vollstreckung eines Beschlusses nach § 81a StGB dient2, nicht jedoch bei Ablehnung der Ersetzung eines Staatsanwalts wegen Besorgnis der Befangenheit3 (Rz. 207). Auch gegen polizeiliche Maßnahmen innerhalb eines Ermittlungsverfahrens (Rz. 173) lassen die Strafsenate den Antrag nicht ohne weiteres zu, desgleichen nicht bei Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft4 (Rz. 334 f.) und Bejahung des öffentlichen Interesses5 (Rz. 429). Nicht zugelassen wird der Antrag gegen die Zurückweisung eines Zeugenbeistandes (Rz. 1160 ff.)6, gegen Beschränkungen bei Verteidigerbesuchen bei Untersuchungsgefangenen; hier gilt stets § 119 Abs. 6 StPO7. Umstritten ist die Zulässigkeit eines Antrages auf Gewährung der von der Staatsanwaltschaft nach § 147 Abs. 2, 5 StPO verweigerten Einsicht in die Ermittlungsakten (Rz. 269)8. Selbst in Auslieferungssachen9 und in Gnadensa1 BVerfG v. 28.12.1984 – 2 BvR 1541/84, NJW 1985, 1019; OLG Karlsruhe v. 4.11.1964 – 2 VAs 18/64, NJW 1965, 1545. 2 VerfGH Bayern v. 24.10.1968 – Vf. 78-VI-68, NJW 1969, 229; ebenso Genzel, NJW 1969, 1562. 3 Str., OLG Frankfurt v. 10.11.1998 – 3 VAs 37/98, NStZ-RR 1999, 81; OLG Hamm v. 24.10.1968 – 1 VAs 142/68, NJW 1969, 808; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 23 EGGVG Rz. 15. 4 OLG Hamm v. 23.9.1982 – 7 VAs 68/82, NStZ 1983, 38. 5 BGH v. 26.5.1961 – 2 StR 40/61, BGHSt. 16, 225. 6 OLG Hamburg v. 28.8.1984 – VAs 10/84, NStZ 1984, 566. 7 KG, GA 1977, 148. 8 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 147 StPO Rz. 39 m.N. 9 OLG Stuttgart v. 12.9.1989 – 4 VAs 9/89, StV 1990, 123; OLG Hamburg v. 14.2.1985 – VAs 17/83, GA 1985, 325.
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Anrufung des Oberlandesgerichts nach §§ 23 ff. EGGVG
Rz. 1089
chen1 (Rz. 1143) wird der besondere Rechtsbehelf versagt. Die Ablehnung der Gewährung der Akteneinsicht an Dritte2 richtet sich heute nach § 478 Abs. 3 StPO. Überwiegend zugelassen wird der Antrag vor allem gegen die Verweigerung der Einsicht in Spurenakten3 sowie für die Akteneinsicht außerhalb eines bestimmten Strafverfahrens4 (Rz. 274), z.B. für Versicherungsgesellschaften5 (Rz. 288), nach Abschluss des Verfahrens6, etwa zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrages7. Bedeutung kann der Antrag an den Strafsenat auch gewinnen im Rahmen der Untersuchungshaft, soweit nicht § 119 Abs. 6 S. 1 StPO eingreift8 (Rz. 364 ff., 370). Der Strafsenat kann nicht angerufen werden, wenn andere Rechtsbehel- 1088 fe, auch solche des Zivilrechtswegs, gegeben sind. Es gilt der Grundsatz der Subsidiarität (§ 23 Abs. 3 EGGVG). Schließlich hat der Verteidiger daran zu denken, dass in vielen Fällen das sog. Vorschaltverfahren durchgeführt werden muss, ehe der Antrag an das Oberlandesgericht gestellt wird (§ 24 Abs. 2 EGGVG); dazu gehören nicht die Dienstaufsichtsbeschwerde (Rz. 1091) und die Gegenvorstellung (Rz. 1099), ebenso die Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen in Gnadensachen, soweit sie überhaupt als Justizverwaltungsakte angesehen werden9 (Rz. 1087). Da aber auch hier noch manche Frage ungeklärt ist, wird der vorsichtige Verteidiger beide Wege gehen, nämlich den vorgeschriebenen förmlichen Rechtsbehelf einlegen und den Antrag an das Oberlandesgericht einreichen. Er kommt sonst leicht mit der Frist von einem Monat in Schwierigkeiten, die für den Antrag nach § 23 EGGVG einzuhalten ist (§ 26 Abs. 1 EGGVG). Sie beginnt mit der Zustellung oder Bekanntgabe des Justizverwaltungsaktes zu laufen. Hält der zuständige Strafsenat das Vorschaltverfahren nicht für notwendig, so kann er die Frist als versäumt betrachten. Allerdings ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand denkbar, die für dieses Verfahren besonders geregelt ist (§ 26 Abs. 3 EGGVG), aber z.B. bei unterbliebener Rechtsmittelbelehrung nicht überall gewährt wird10. Bevor der Verteidiger gerichtliche Entscheidung beantragt, muss er den 1089 Umfang der Nachprüfung kennen. Der Strafsenat hat nicht nur die Rechtsfragen, sondern auch die tatsächlichen Feststellungen der angefochtenen Entscheidung zu prüfen, ein Grundsatz, der oft übersehen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Vgl. i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 23 EGGVG Rz. 17. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 23 EGGVG Rz. 15. BVerfG v. 12.1.1983 – 2 BvR 864/81, BVerfGE 63, 45. KG v. 10.9.1992 – 4 VAs 12/92, NStZ 1993, 403. OLG Karlsruhe, AnwBl. 1962, 224. OLG Bremen v. 18.2.1964 – VAs 6/64, NJW 1964, 2175; OLG Bamberg, JVBl. 1965, 142. OLG Bremen, NJW 1964, 123. Vgl. i.E. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 23 EGGVG Rz. 18. Vgl. dazu Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 23 EGGVG Rz. 17 m.N. Bejahend OLG Hamburg, JVBl. 1962, 18; verneinend OLG Düsseldorf, NJW 1965, 24.
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Rz. 1090
Allgemeine Rechtsbehelfe im Verfahren
wird, weil die Strafsenate, abgesehen von den Staatsschutzsachen, sonst nur Revisionsgerichte sind. Im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG sind sie auch Tatsacheninstanz1. Aus diesem Grund ist es z.B. nicht ausgeschlossen und sogar geboten, mit dem Gesuch Beweisanträge zu verknüpfen. In welcher Weise freilich der Senat Beweise erhebt, soll nach § 29 Abs. 2 EGGVG i.V.m. § 308 Abs. 2 StPO seinem pflichtgemäßen Ermessen obliegen2. 1090
Aufbau und Inhalt des Gesuches hängen vom Einzelfall ab3. Es empfiehlt sich, zunächst die Zulässigkeit des Antrags darzulegen, die meist problematisch sein wird (Rz. 1087). Wie bei allen schriftlichen Verfahren kommt es darauf an, das Gericht durch übersichtlichen Aufbau und klare Sachdarstellung zu überzeugen (Rz. 859). 3. Dienstaufsichtsbeschwerde Literatur: Meyer-Goßner, Vor § 296 StPO Rz. 22; Paul in KK, Vor § 296 StPO Rz. 4.
1091
So unbekannt das Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG (Rz. 1086 ff.) zu sein scheint, so bekannt ist die Dienstaufsichtsbeschwerde. Von manchen Verteidigern wird sie als „Allheilmittel“ in jeder Verfahrenslage angesehen, von anderen hingegen überhaupt nicht eingesetzt. Nach aller Erfahrung muss davor gewarnt werden, diesen besonderen Rechtsbehelf über die Maßen zu strapazieren. Ein altes Juristenwort nennt die Dienstaufsichtsbeschwerden formlos, fristlos, fruchtlos (die drei „f“). Das liegt am Beharrungsvermögen der Justiz, dem man auch sonst öfter begegnet. Allzu häufige Dienstaufsichtsbeschwerden schaden dem Mandanten im Einzelfall und verbauen außerdem dem Verteidiger meist die Gelegenheit zu vertraulichen Gesprächen, einem wichtigen Mittel zur sachgerechten Führung der Verteidigung (Rz. 178). Vorsichtig und geschickt benutzt hingegen bietet die Dienstaufsichtsbeschwerde gute Möglichkeiten.
1092
Außer der eigentlichen Dienstaufsichtsbeschwerde gibt es praktisch auch noch andere Möglichkeiten der Beschwerdeführung. In einem Strafkammerfall hatte der Vorsitzende seine Voreingenommenheit gegen den Angeklagten in der Hauptverhandlung in deutlichster Form zu erkennen gegeben und zugleich auch die Prozessordnung vielfach verletzt. Der Verteidiger hatte zu Beginn eines neuen Verhandlungstages ums Wort gebeten und in aller Offenheit und Öffentlichkeit das Verhalten des Vorsitzenden in den einzelnen Punkten beanstandet und um eine Änderung der Verhandlungsführung ersucht. Von da an verlief die Verhandlung ordnungsgemäß. In einem anderen Falle hat der Verteidiger den Präsidenten 1 BGH v. 15.2.1972 – 5 AR (VS) 1/72, BGHSt. 24, 290; BVerfG v. 15.2.1967 – 2 BvR 658/65, NJW 1967, 923. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 308 StPO Rz. 6. 3 Muster bei Michalke/Hamm in Beck’sches Formularbuch, 5. Aufl. 2010, S. 701 ff.
622
Dienstaufsichtsbeschwerde
Rz. 1095
des Landgerichts über die unerträgliche Verhandlungsführung des Vorsitzenden unterrichtet und ihn gebeten, an der Hauptverhandlung als Zuhörer teilzunehmen. Das geschah und führte zu einer Aussprache zwischen allen Beteiligten und zu einer vollständigen Entschärfung des weiteren Verfahrens. Die beiden Fälle zeigen, dass man auf Wegen, die in der Prozessordnung nicht beschrieben sind, unter Umständen sehr viel weiter kommen kann als durch die Anwendung besonders vorgesehener Rechtsbehelfe. Richterliche Anordnungen unterliegen der Dienstaufsichtsbeschwerde, 1093 wenn sie den Verteidiger herabsetzen (Rz. 197). Unter Umständen ist es geboten, diesen Rechtsbehelf einzusetzen neben oder statt der Richterablehnung (Rz. 198 ff.) oder der Strafanzeige (Rz. 209). Gegen den sachlichen Inhalt des richterlichen Dienstgeschäftes ist die Dienstaufsichtsbeschwerde nicht statthaft, wohl aber gegen dessen äußerliche Erledigung (§ 26 Abs. 2 DRiG). Es darf dem Verteidiger nicht unterlaufen, eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Sachentscheidung und deren Begründung als solche anzubringen. Die Unabhängigkeit der Richter bedeutet die absolute Sicherung gegen Maßnahmen der Justizverwaltung im Wege der Dienstaufsicht, die sich auf die Sachentscheidung als solche beziehen. Sie können nur im Rechtsmittelverfahren angefochten werden. Daran scheitern zahlreiche Dienstaufsichtsbeschwerden von Prozessbeteiligten. Dem Verteidiger sollte kein solcher Missgriff passieren, auch wenn er die richterliche Sachentscheidung als unrichtig und unverantwortlich ansieht. Die hauptsächliche Bedeutung der Dienstaufsichtsbeschwerde liegt bei 1094 den staatsanwaltschaftlichen Anordnungen. Hier kann sich der Rechtsbehelf wegen der Weisungsgebundenheit (§ 146 GVG) sowohl gegen den sachlichen Inhalt als auch die äußerliche Erledigung des Dienstgeschäftes richten. Die einzelnen Fälle der Dienstaufsichtsbeschwerde sind im Handbuch jeweils an den zuständigen Stellen genannt. Der Verteidiger muss jede nachteilige Maßnahme des Staatsanwalts daraufhin prüfen, ob ein besonderer Rechtsbehelf nötig ist oder nur eine Dienstaufsichtsbeschwerde in Betracht kommt, z.B. bei Presseerklärungen der Staatsanwaltschaft. Das ist insbesondere auch dort der Fall, wo die Anrufung des Oberlandesgerichts nach §§ 23 ff. EGGVG nicht zulässig ist (Rz. 1087). Oft wird übersehen, dass die Dienstaufsichtsbeschwerde auch gegen poli- 1095 zeiliche Maßnahmen eingelegt werden kann. Der Verteidiger braucht nicht zu warten, bis die Polizei die Akten an die Staatsanwaltschaft abgegeben hat. Schon vorher kann er Beschwerde einlegen. Darüber entscheidet die Staatsanwaltschaft, sofern die Polizeibeamten als Ermittlungspersonen tätig geworden sind, sonst der polizeiliche Dienstvorgesetzte1. So kann dieser Rechtsbehelf geboten sein bei unwürdiger Behandlung des Beschuldigten, unzulässigem Druck o.Ä. Er kann ein wirksames Mittel 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 152 GVG Rz. 8, § 163 StPO Rz. 50.
623
Rz. 1096
Allgemeine Rechtsbehelfe im Verfahren
sein, um die Polizei zur gesetzmäßigen Ausübung ihrer Befugnisse anzuhalten, auch wenn der Rechtsbehelf in der Sache selbst erfolglos bleibt. 1096
Eine besondere Rolle spielt die Dienstaufsichtsbeschwerde beim Vollzug der Untersuchungshaft. Maßnahmen der Anstaltsleitung, die das erlaubte Maß des Freiheitsentzugs betreffen, unterstehen der Dienstaufsicht des Richters (Nr. 75 Abs. 1 UVollzO), sonst der vorgesetzten Vollzugsbehörde (Nr. 75 Abs. 2 UVollzO; Rz. 312, 339). Auch in Vollstreckungssachen kann die Dienstaufsichtsbeschwerde notwendig sein, um Maßnahmen der Vollstreckungsbehörden anzugreifen. Sie ist dann neben oder statt der Anrufung des Gerichts sowie neben der Beschwerde zulässig (§ 108 StVollzG).
1097
Der praktische Erfolg der Dienstaufsichtsbeschwerde hängt wesentlich davon ab, an welche Stelle sie adressiert wird. So ist zu überlegen, ob man die Beschwerde unmittelbar bei der Behörde einreicht, die darüber zu entscheiden hat, und dem „Betroffenen“ lediglich eine Abschrift zuleitet. Dieses Verfahren wird im Allgemeinen zweckmäßig sein, wenn polizeiliche Maßnahmen beanstandet werden (Rz. 1095). Die beim Staatsanwalt direkt eingelegte Beschwerde wirkt hier oft Wunder. Mindestens zwingt sie den Staatsanwalt, die polizeiliche Anordnung zu prüfen und seine Befugnisse als „Herr des Ermittlungsverfahrens“ geltend zu machen. Ehe der Verteidiger eine Dienstaufsichtsbeschwerde einlegt, sollte er jeweils überlegen, ob nicht mit dem Betroffenen sachlich über die zu rügende Pflichtverletzung zu reden ist. Dies hängt natürlich vom Gesprächspartner ab. Oft kann man aber so erreichen, dass der „Fall“ aus der Welt geschafft wird.
1098
Auf den Inhalt einer Dienstaufsichtsbeschwerde hat der Verteidiger besondere Sorgfalt zu verwenden. Bei diesem heiklen Rechtsbehelf ist es dringend erforderlich, sachlich-nüchtern zu formulieren. Man muss davon ausgehen, dass auf Dienstaufsichtsbeschwerden empfindlich reagiert wird und deshalb jedes Fehlgreifen im Ausdruck dem Verteidiger angekreidet wird, auch wenn die Beanstandung sachlich noch so berechtigt ist. Wird der Verteidiger durch die zu rügende Maßnahme nicht selbst betroffen, dann gibt es einen praktischen Weg, den Schwierigkeiten auszuweichen: Man kann es dem Mandanten überlassen, die Dienstaufsichtsbeschwerde im eigenen Namen einzulegen. Es bestehen keine Bedenken, eine solche Beschwerde für den Auftraggeber aufzusetzen. Freilich ist dann der Verteidiger für den sachlichen Inhalt und die sachliche Formulierung verantwortlich. 4. Gegenvorstellung Literatur: Hohmann, Die Gegenvorstellung – „Stiefkind“ der Strafverteidigung, JR 1991, 10; Meyer-Goßner, 56. Aufl., Vor § 296 StPO Rz. 23 ff.; Matt, Die Gegenvorstellung im Strafverfahren, MDR 1992, 820; Werner, Strafprozessuale Gegenvorstellung und Rechtsmittelsystem, NJW 1991, 19; Woesner, Die Gegenvorstellung im Strafverfahren, NJW 1960, 2129.
624
Gegenvorstellung
Rz. 1099
Als „Stiefkind unter den Rechtsbehelfen“ wird die Gegenvorstellung oft 1099 bezeichnet. Auch vielen Verteidigern ist sie nicht sehr vertraut. Da dieser Rechtsbehelf gesetzlich kaum geregelt ist – eine Ausnahme bildet § 33a StPO –, werden seine Möglichkeiten oft nicht erkannt oder nicht richtig ausgenutzt. Meist fehlt schon die Überlegung, ob nicht anstelle der förmlichen Beschwerde (Rz. 844 ff.) oder der ohnehin problematischen Dienstaufsichtsbeschwerde (Rz. 1091 ff.) eine Gegenvorstellung besser zum Ziel führt. Zunächst muss sich der Verteidiger über die Zulässigkeit der Gegenvorstellung im Klaren sein1. Sie ist nicht in jedem Falle statthaft. Es ist zu beachten: Richterliche Entscheidungen können mit diesem Rechtsbehelf nur angefochten werden, wenn das Gericht sie ändern darf. Damit sind Urteile der Gegenvorstellung ebenso entzogen wie Beschlüsse, die noch mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar sind. Die Gegenvorstellung kommt danach hauptsächlich für rechtskräftige Beschlüsse und Verfügungen in Betracht, insbesondere diejenigen des BGH und der Oberlandesgerichte (§ 304 Abs. 4 StPO). Überhaupt muss der Verteidiger wissen, dass das Institut der Gegenvorstellung im Wesentlichen aus der Frage entwickelt worden ist, ob und unter welchen Voraussetzungen rechtskräftige Entscheidungen überhaupt noch überprüft werden können. Letzten Endes beruht der Rechtsbehelf auf den Grundsätzen des rechtlichen Gehörs und des Petitionsrechts und findet darin zugleich seine Grenze2. Dieser Ansicht folgend hat der Gesetzgeber für einige praktisch wichtige Fälle die Nachholung des rechtlichen Gehörs von Amts wegen oder auf Antrag, eben die Gegenvorstellung, angeordnet, freilich immer unter der Voraussetzung, dass zum Nachteil des Betroffenen Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet sind, zu denen er nicht gehört worden ist (§ 33a i.V.m. § 47; § 311 Abs. 3 S. 2; §§ 311a, 356a i.V.m. § 47 StPO). In jedem dieser Fälle hat der Verteidiger die tatsächliche Grundlage der Entscheidung zu analysieren. Er muss im Einzelnen darlegen, welche nachteiligen Umstände ohne Anhörung zum Nachteil seines Mandanten verwendet sind und wieso er noch beschwert ist (§ 33a StPO). Hat der Antrag Erfolg, wird das Verfahren nach § 33a bzw. § 356a StPO durch Beschluss in den Stand vor Erlass der Entscheidung zurückversetzt. Diese „Rechtswohltat“ geht aber ins Leere, wenn faktische Überholung eingetreten, z.B. die Akteneinsicht an den „Verletzten“ nach § 406e StPO ohne Anhörung bereits gewährt ist. Die Gegenvorstellung kann gegenüber der Beschwerde vorteilhaft sein, weil sie nicht zur Vorlegung an das Beschwerdegericht zwingt, falls der Richter nicht anderweitig befinden will. Dabei sind der persönliche Kontakt und das Vertrauen, das der Verteidiger genießt, von ausschlaggebender Bedeutung. Nicht selten eignet sich eine sachlich vorgetragene Gegenvorstellung auch zur Anbahnung einer Verständigung über die Erledigung des Verfahrens. 1 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 296 StPO Rz. 23 f. 2 OLG Hamburg v. 6.8.1964 – 1 Ws 285/64, NJW 1965, 212.
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D. Vierter Hauptteil Der Verteidiger im Verfahren der Strafaussetzung zur Bewährung, der Strafvollstreckung, der Straftilgung und im Gnadenverfahren I. Verteidiger und Resozialisierung Literatur: Pollähne/Woynar, Verteidigung in Vollstreckung und Vollzug, 5. Aufl. 2014; Tondorf/Tondorf in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 915 ff.
Mit der Rechtskraft des Urteils findet die Tätigkeit des Verteidigers 1100 meist ihr Ende, es sei denn, dass er alsbald oder später mit einem Wiederaufnahmeverfahren befasst ist. Das ist nicht günstig, weil mit der Vollstreckung besonders einer Freiheitsstrafe für den Verurteilten tief einschneidende Veränderungen einsetzen, die ihm für sein späteres Leben zu schwerem Schaden, aber auch zum Nutzen gereichen können. Hier kann der Verteidiger sehr viel tun. Dem Strafvollzug ist in erster Linie die Aufgabe gestellt, die Wiedereingliederung des Verurteilten in die Gesellschaft (Resozialisierung) nach Verbüßung der Strafe vorzubereiten. Der Verteidiger kennt aus dem Verfahren und seinen unter Schweigepflicht anvertrauten Ergebnissen wie kaum ein anderer die äußeren und inneren Umstände der Straffälligkeit seines Mandanten und dessen Eigenschaften. Sein Rat, seine Erfahrung und sein Interesse sind wirksame Mittel, den Verurteilten aufzurichten und ihm Hilfestellungen zu geben. Dazu kann auch der Einsatz zur Vermittlung einer Wohnung, Arbeitsstelle oder eines Berufs beim offenen Vollzug oder nach der Entlassung gehören. Die Gesellschaft verschließt sich trotz aller gutgemeinten Aufklärung und Ermahnungen den „Vorbestraften“, von denen sie weiteres Unheil wittert. Registereintrag und Führungszeugnis verbauen auch den Gutgesinnten und Hilfswürdigen den Weg zur Rückkehr in ein „normales“ Leben unter rechtstreuen Mitbürgern. Sie wenden sich von ihnen ab. Wenn aber der Verteidiger sich für ihn einsetzt, die Umstände der Verurteilung – ggf. auch schriftlich gegenüber einem beispielsweise potentiellen Arbeitgeber – erläutert und sich vielleicht für den Bestraften sogar gewissermaßen „verbürgt“, wird manches Vorurteil abgebaut und mancher Arbeitgeber bewogen werden können, dem Verurteilten eine Chance zu geben. Dabei ist darauf hinzuwirken, dass seine Verurteilung unter seinen Arbeitskollegen nicht bekannt wird. Besonders auch im Zusammenwirken mit den verschiedenen Organisationen der Bewährungshilfe, Entlassenenfürsorge und Sozialarbeit kann manches geschehen, wie auch bei der Entscheidung über eine Aussetzung des Strafrestes (Rz. 1109) und ein Gnadengesuch das Votum eines vertrauenswürdigen Anwalts Bedeutung haben wird. Die Befassung mit diesen Aufgaben ist
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Rz. 1101
Strafaussetzung und Aussetzung des Strafrestes
sehr viel gewichtiger als die Kenntnis und Sicherung der rechtlichen Möglichkeiten, die allerdings dabei nicht vernachlässigt werden dürfen.
II. Strafaussetzung zur Bewährung und Aussetzung des Strafrestes 1. Allgemeines; Voraussetzungen der Strafaussetzung Literatur: Detter, Versäumnisse in der Strafzumessungsverteidigung, StraFo 1997, 193; Doleisch von Dolsperg, Strafaussetzung zur Bewährung – Probleme aus der Praxis, StraFo 2005, 45; Moltketin, Zu den Voraussetzungen der Versagung einer Strafaussetzung trotz positiver Verhaltensprognose zur Verteidigung der Rechtsordnung, NStZ 1991, 284; Müller-Dietz, Probleme der Sozialprognose, NJW 1973, 1065; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 5. Aufl. 2012; Terhorst, Bewährungsprognosen und der Grundsatz „in dubio pro reo“, MDR 1978, 973.
1101
Die Strafaussetzung zur Bewährung ist für den Mandanten des Verteidigers eine der wichtigsten Fragen und nimmt in der Beratung einen breiten Raum ein. Wer mit einer Freiheitsstrafe rechnet, will wissen, wie die Aussichten für eine Bewährung sind. Danach richten sich vielfach seine Dispositionen, besonders familiärer und beruflicher Art. In der Hauptverhandlung hat der Verteidiger die Umstände herauszuarbeiten, die für eine Strafaussetzung sprechen. Das erkennende Gericht hat zwar von Amts wegen über die Aussetzung zu befinden (§ 260 Abs. 4 S. 4 StPO) und den Angeklagten in geeigneten Fällen zu befragen, ob er zur Wiedergutmachung bereit ist, Zusagen für seine künftige Lebensführung machen oder sich mit Heilbehandlung, Entziehung oder Aufenthalt in einem Heim bzw. einer Anstalt einverstanden erklären will (§ 265a StPO). Auch müssen die Urteilsgründe Auskunft geben, warum die Strafaussetzung bewilligt oder nicht bewilligt worden ist (§ 267 Abs. 3 S. 4 StPO). Der Verteidiger darf sich jedoch nicht darauf verlassen, das Gericht werde schon alle günstigen Umstände herausfinden und berücksichtigen. Er muss an der Aufklärung in dieser Richtung mitwirken. Indessen sieht man sich oft einem schwer lösbaren Dilemma gegenüber. Besteht eine Chance auf Freispruch, so kann es falsch sein, während der Vernehmung des Mandanten und durch Beweisanträge die Strafaussetzung allzu sehr in den Vordergrund zu stellen und im Plädoyer pointiert zu erörtern. Leicht entsteht der Eindruck, der Verteidiger rechne mit einer Verurteilung des Mandanten zu einer Freiheitsstrafe. Es gibt aber Möglichkeiten, wenigstens im Plädoyer dieses Verteidigungsproblem zu lösen (Rz. 160, 754 ff.). In geeigneten Fällen kann man Strafmaß und Strafaussetzung zur Bewährung im Anschluss an die staatsanwaltschaftlichen Ausführungen behandeln, dann aber betonen, dass es hierauf nicht ankomme, weil der Mandant freizusprechen sei (Rz. 754).
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Strafaussetzung zur Bewhrung und Aussetzung des Strafrestes
Rz. 1103
Auf jeden Fall muss der Verteidiger die Voraussetzungen der Strafausset- 1102 zung sicher beherrschen1. Die Einzelheiten sind dem § 56 StGB und der einschlägigen Kommentarliteratur sowie den Rechtsprechungsberichten von Detter in NStZ (2012, 135 ff. sowie 200 ff.) zu entnehmen. Unter besonderen Umständen kann das Gericht auch eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren (§ 56 Abs. 2 StGB) zur Bewährung aussetzen. Dafür verlangt die Rechtsprechung heute nicht mehr eine „besondere Konfliktlage“, sondern Umstände, die von besonderem Gewicht sind2. Die besonderen Umstände müssen umso gewichtiger sein, je näher die Strafe an der Zweijahresgrenze liegt3. Jedoch können auch Umstände, die einzeln lediglich durchschnittliche Milderungsgründe wären, durch ihr Zusammentreffen dieses besondere Gewicht erlangen. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten wird lediglich dann nicht ausgesetzt, wenn die „Verteidigung der Rechtsordnung“, sie gebietet (§ 56 Abs. 3 StGB)4. Außerdem kann die Strafaussetzung nicht auf einen Teil der Strafe beschränkt und durch Anrechnung der Untersuchungshaft nicht ausgeschlossen werden (§ 56 Abs. 4 StGB). Außer der „Verteidigung der Rechtsordnung“ muss der Verteidiger der 1103 Zukunftsprognose seine Aufmerksamkeit widmen und dem Gericht begreiflich machen, dass der Mandant schon durch das Verfahren und die Verurteilung gewarnt sei und sich nunmehr an die Gesetze halten werde (§ 56 StGB). Dies wird umso schwerer, je öfter der Mandant bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Bei sog. Intensivtätern ist die Strafaussetzung nahezu ausgeschlossen. Persönlichkeit und Vorleben des Täters, günstige Einflüsse in Familie und Beruf sowie das Verhalten nach der Tat, insbesondere die Wiedergutmachung des angerichteten Schadens und Änderung der Lebensverhältnisse mögen als Stichworte genügen. Ein besonderes Kapitel ist das Verhalten des Mandanten im Verfahren, insbesondere die Art und Weise, wie er seine Verteidigung geführt hat. Das Gericht wird es als positiv werten, wenn entweder ein Geständnis abgelegt oder aber der tatsächliche Sachverhalt eingeräumt worden ist, etwa mit der Folge, dass Geschädigten – insbesondere geschädigten Kindern und Jugendlichen – eine Vernehmung in der Hauptverhandlung erspart werden konnte. Vor allem in mündlichen Urteilsbegründungen hört man gelegentlich die Wendung, der Angeklagte habe sich „angemessen verteidigt“. Soweit damit ein „prozessuales Wohlverhalten“ aus der Sicht des Gerichts gemeint ist, ist dies verfehlt – auch wenn man als Verteidiger kaum Widerspruch erheben wird. Selbstverständlich darf es nicht zulasten des Angeklagten gewertet werden, dass er nicht geständig gewesen ist, den Sachverhalt bestritten hat, Zeugenaussagen und andere 1 Vgl. dazu Detter, NStZ 2013, 390. 2 Vgl. nur BGH v. 15.2.1994 – 5 StR 692/93, wistra 1994, 193; BGH v. 24.8.1993 – 5 StR 229/93, wistra 1993, 297; Fischer, 61. Aufl. 2014, § 56 StGB Rz. 3 ff. 3 BGH v. 27.8.1986 – 3 StR 265/86, NStZ 1987, 21; BGH v. 21.3.1985 – 4 StR 53/85, wistra 1985, 147. 4 Vgl. dazu BGH v. 3.10.1989 – 1 StR 372/89, NJW 1990, 194 f.
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Rz. 1104
Strafaussetzung und Aussetzung des Strafrestes
Beweismittel angegriffen und bis zuletzt hartnäckig seine Unschuld beteuert hat. Dabei hat die Rechtspflege es auch hinzunehmen, dass als Konsequenz einer bestreitenden Verteidigung Zeugen angegriffen und ihre Aussagen als unrichtig bezeichnet worden sind. Die Grenze soll dort liegen, wo der Angeklagte durch sein Prozessverhalten eine „rechtsfeindliche Gesinnung“ offenbart hat. Mit dieser Beschreibung der Rechtslage ist aber nicht alles gesagt, was der Verteidiger bei der Beratung seines Klienten über sein Prozessverhalten während des Verfahrens und insbesondere über die Art und Weise seiner Verteidigung in der Hauptverhandlung zu sagen hat. Es muss ihm klargemacht werden, dass sein Verhalten gerade die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung unmerklich und revisionsrechtlich ungreifbar beeinflussen kann. Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass sich aggressive oder sonst „renitente“ Angeklagte die Strafaussetzung nicht selten verscherzen. Man wird darüber im Urteil nichts lesen, insbesondere wird das Gericht die Versagung nicht auf Einsichtslosigkeit während der Verhandlung1 stützen. Es ist aber nicht zu verhindern, dass solche und ähnliche Umstände die richterliche Überzeugungsbildung, wenn auch unausgesprochen, beeinflussen. Dies sollte gerade in der letztlich nach dem Ermessen des Gerichts zu entscheidenden Frage der Strafaussetzung zur Bewährung vermieden werden. 2. Bewährungszeit und Bewährungsauflagen Literatur: Bringewat, Die mündliche Anhörung gem. § 454 I Satz 3 StPO – eine mündliche Verhandlung eigener Art?, NStZ 1996, 17; Nix, Anfechtbarkeit von Bewährungsauflagen des Berufungsgerichts im Jugendstrafverfahren, NStZ 1993, 401; Schöch, Bewährungshilfe und Führungsaufsicht in der Strafrechtspflege, NStZ 1992, 364; Vollmering, Zur Anrechnung eines nach StGB § 56 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 an die Staatskasse als Bewährungsauflage gezahlten Geldbetrages auf die Strafe bei einem nachträglichen Widerruf der Strafaussetzung, NStZ 1997, 130.
1104
Über Bewährungszeit und Bewährungsauflagen ist durch gesonderten Beschluss zu entscheiden, der mit dem Urteil zu verkünden (§ 268a Abs. 1 StPO) und mit der einfachen Beschwerde anzufechten ist, falls die Anordnungen gesetzwidrig sind (§ 305a StPO; Rz. 848). An die Verkündung des Beschlusses schließt sich die richterliche Belehrung an (§ 268a Abs. 3 StPO). Beschluss und Belehrung werden häufig unter dem Eindruck des Urteils nicht richtig verstanden. Der Verteidiger sollte sich deshalb den wesentlichen Inhalt notieren, damit er eine Grundlage für die erste Beratung des
1 Dazu BGH v. 27.2.1992 – 1 StR 61/92, BGHR StGB § 56 Abs. 2 Umstände, besondere 12 und BGH v. 2.10.1991 – 3 StR 342/91, BGHR StGB § 56 Abs. 3 Verteidigung 12: Soweit der Täter weder Reue noch Schuldeinsicht erkennen lässt, darf das Verhalten dann nicht zur Prognose herangezogen werden, wenn ein anderes Verhalten die Verteidigungsposition gefährden würde.
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Strafaussetzung zur Bewhrung und Aussetzung des Strafrestes
Rz. 1106
Mandanten hat. Von Art und Umfang der Bewährungsauflagen wird es z.B. oft abhängen, ob das Urteil angefochten wird (Rz. 820). Im Übrigen ist zu beachten, dass die Bewährungszeit erst mit der Rechtskraft des Urteils zum Strafausspruch zu laufen beginnt (§ 56a Abs. 2 S. 1 StGB). Der Mandant muss auch erfahren, dass die Bewährungszeit sowohl verkürzt als auch verlängert werden kann. Letztendlich ist er über den Zweck der Bewährungszeit zu belehren, die, falls erfolgreich überstanden, zum Straferlass führt. Der Mandant ist jedoch darauf hinzuweisen, dass auch der Straferlass wegen einer während der Bewährungszeit begangenen vorsätzlichen Straftat unter bestimmten, in § 56f StGB abschließend aufgeführten Voraussetzungen widerrufen werden kann. Besondere Aufmerksamkeit muss der Verteidiger den Bewährungsauf- 1105 lagen und -weisungen (§§ 56b–56d StGB) widmen. Von Auflagen und Weisungen ist in der Regel abzusehen, wenn der Verurteilte entsprechende Zusagen macht, deren Erfüllung zu erwarten ist. Auflagen dürfen nur der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen (Wiedergutmachung des Schadens, Geldzahlung zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse, gemeinnützige Leistungen). Nach wie vor ist darauf zu achten, dass keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden (§ 56b Abs. 1 S. 2 StGB). Geldbußen z.B., die in so krassem Missverhältnis zur wirtschaftlichen Situation des Verurteilten stehen, dass sie rechtsmissbräuchlich erscheinen1, dürfen nicht hingenommen werden, zumal sie auch zugunsten der Staatskasse angeordnet werden können. Hier besteht immer die Gefahr, dass sie in Wahrheit zur Strafe neben der ausgesetzten Freiheitsstrafe werden. Weisungen während der Bewährungszeit (im Einzelnen § 56c StGB) sind 1106 nur statthaft, wenn der Verurteilte ihrer bedarf, um keine Straftaten mehr zu begehen. Unzumutbare Eingriffe in die Lebensführung sind unzulässig, ebenso Anordnungen, die gegen die Grundrechte verstoßen, z.B. die Weisung, einer bestimmten Religionsgemeinschaft beizutreten oder aus ihr auszutreten oder an einen Ausländer, nach Aussetzung des Strafrestes das Land zu verlassen u.Ä.2. Heilbehandlung, Entziehungskur und Heim- oder Anstaltsaufenthalt setzen die Einwilligung des Verurteilten voraus (§ 56c Abs. 3 StGB). Der schärfste Eingriff in die Lebensführung ist die Aufsicht und Leitung durch einen Bewährungshelfer (im Einzelnen § 56d StGB). Viele, vor allem jüngere Verurteilte, brauchen in der Bewährungszeit Aufsicht und Anleitung, insbesondere dann, wenn sie sich in einem gefährdeten Umfeld bewegen. Deshalb darf sich der Verteidiger nicht grundsätzlich gegen die Bewährungshilfe stellen. Ggf. wird er sogar auf den Mandanten einwirken, sich der erzieherischen Aufsicht zu unterwerfen. Es kann dem Mandanten auch sehr viel helfen, wenn der Verteidiger selbst mit dem Bewährungshelfer Verbindung aufnimmt oder mit der Gerichtshilfe (§§ 160 Abs. 3 S. 2, 463d StPO) zusammenarbeitet. 1 OLG Düsseldorf v. 2.9.1992 – 2 Ws 380/92, NStZ 1993, 136. 2 Fischer, § 56c StGB Rz. 2 ff.
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Rz. 1107
1107
Strafaussetzung und Aussetzung des Strafrestes
Verfahrensrechtlich sind die §§ 453–453c StPO zu beachten, die für sämtliche Nachtragsentscheidungen über die Strafaussetzung zur Bewährung gelten, auch für deren Widerruf (Rz. 1108). Wichtig ist die gerichtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammern (§ 78a GVG), mit der sich der Verteidiger vertraut machen muss: An und für sich ist das Gericht des ersten Rechtszuges zuständig (§ 56e StGB, § 453 StPO), das die Entscheidungen mit Bindungswirkung an das Amtsgericht abgeben kann, in dessen Bezirk der Verurteilte seinen Wohnsitz oder doch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 462a Abs. 2 StPO). Wird gegen den Verurteilten eine Freiheitsstrafe vollstreckt (Rz. 1114 ff.), geht die Zuständigkeit auf die Vollstreckungskammer über (§ 462a Abs. 1 S. 1 StPO). Diese Spruchkörper sind für den Verurteilten von hoher Bedeutung; sie entscheiden unabhängig von den erkennenden Gerichten. Was diese in den Urteilsgründen, insbesondere zum Strafausspruch an Vorstellungen oder „Empfehlungen“ zum Ausdruck gebracht haben, bindet sie nicht – ist nach praktischer Erfahrung sogar eher schädlich. Auch Absprachen, die (fehlerhaft) Modalitäten des Freiheitsentzuges oder einer „Halbstrafenverbüßung“ (§ 57 Abs. 2 StGB) zum Gegenstand haben, sind rechtlich ohne Bedeutung (Rz. 503). 3. Widerruf der Strafaussetzung Literatur: Blumenstein, Widerruf einer Strafaussetzung wegen neuer Straftat, die noch nicht rechtskräftig abgeurteilt ist?, NStZ 1992, 132; Budde, Zulässiger Bewährungswiderruf wegen erneuter Straftat vor Beginn der Bewährungszeit?, StV 1991, 23; Lembert, Die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Entscheidung über einen Bewährungswiderruf, NJW 2001, 3528; Ostendorf, Bewährungswiderruf bei eingestandenen, aber nicht rechtskräftig abgeurteilten neuen Straftaten, StV 1992, 288; Veen, Darf eine Strafaussetzung zur Bewährung trotz günstiger Sozialprognose aus generalpräventiven Gründen widerrufen werden?, NStZ 1995, 437; Wattenberg, Berücksichtigung eines möglichen Bewährungswiderrufs zur Begründung von Fluchtgefahr, StV 1996, 384.
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Der Widerruf der Strafaussetzung (§ 56f StGB) ist gerechtfertigt, wenn der Verurteilte durch die Begehung einer Straftat innerhalb der Bewährungszeit zeigt, dass sich die Erwartungen nicht erfüllt haben, die mit der Aussetzung verbunden waren. Im Übrigen kommen nur gröbliche, insbesondere mehrmalige Verstöße gegen Auflagen oder Weisungen sowie die beharrliche Entziehung der Aufsicht des Bewährungshelfers in Betracht. Auch ist zu berücksichtigen, dass die Aussetzung nicht widerrufen werden darf, wenn die Verlängerung der Bewährungszeit und die Erteilung weiterer Auflagen oder Weisungen bzw. die Beiordnung eines Bewährungshelfers ausreichen (§ 56f Abs. 2 StGB). 4. Aussetzung des Strafrestes Literatur: Bock/Schneider, Die Bedeutung des Leugnens einer Straftat in Verfahren nach § 57 StGB, NStZ 2003, 337; Kintzi, Zum Problem der Strafaussetzung im Falle der Schuldschwereklausel des StGB § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, JR 1993, 386; Mül-
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Strafaussetzung zur Bewhrung und Aussetzung des Strafrestes
Rz. 1109
ler-Dietz, Probleme der Sozialprognose, NJW 1973, 1065; Neubacher, Die Einholung eines Sachverständigengutachtens bei der Entscheidung über die Aussetzung eines Strafrestes, NStZ 2001, 449; Plähn, Zur Relevanz der Einwilligung des Verurteilten gemäß StGB § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, StV 1996, 221; Schwenn, Pflichtverteidiger im Vollstreckungsverfahren?, StrafV 1981, 203; Terhorst, Überprüfung eines Strafaussetzungsbeschlusses durch das Revisionsgericht, JR 1994, 41; Ullenbruch, Vollstreckung und erneute Aussetzung eines Strafrestes nach Bewährungswiderruf, NStZ 1999, 8.
Der Strafaussetzung verwandt ist die Aussetzung des Strafrestes (§ 57 1109 StGB). Es handelt sich um eine vorzeitige Entlassung aus zeitig bestimmter Strafhaft, wenn 2/3 der Strafe einschließlich angerechneter Untersuchungshaft, mindestens aber zwei Monate verbüßt sind, der Verurteilte der Entlassung zustimmt und eine günstige Zukunftsprognose gestellt werden kann. Liegen diese Voraussetzungen vor, so muss das Gericht den Strafrest aussetzen1. Nach § 57 Abs. 2 StGB kann das Gericht ferner nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe den Strafrest aussetzen, wenn der Verurteilte mindestens sechs Monate Freiheitsstrafe verbüßt hat, besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Verurteilten vorliegen und die sonstigen Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 StGB erfüllt sind. Hierbei handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des Gerichts2, die Ausnahmecharakter hat. Aus der Regelung des § 57 StGB ergeben sich ähnliche Fragen wie bei der Strafaussetzung zur Bewährung, auf die das Gesetz z.B. für Bewährungszeit, Bewährungsauflagen und Bewährungshilfen ausdrücklich verweist. Vor allem muss der Verteidiger mit den unterschiedlichen Voraussetzungen der Abs. 1 und 2 des § 57 StGB vertraut sein. Bei § 57 Abs. 2 StGB sollen außer der günstigen Zukunftsprognose auch Umstände der Schuldschwere und der Verteidigung der Rechtsordnung bzw. generalpräventive Momente bedeutsam sein3, während es nach § 57 Abs. 1 StGB nur darauf ankommt, dass die Erprobung verantwortet werden kann, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzuges keine Straftat mehr begehen wird (§ 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Es handelt sich deshalb um eine ausschließlich spezialpräventiv orientierte Prognose4. Hierfür soll die Chance des Erfolges, dessen Eintritt nicht einmal wahrscheinlich zu sein braucht, ausreichen5. Bei der Frage der Aussetzung des Strafrestes wird nach wie vor das „Wohlverhalten des Verurteilten“ im Strafvollzug eine entscheidende Rolle spielen. Deshalb hat der Verteidiger den Mandanten auf die Voraussetzungen
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OLG Zweibrücken v. 29.11.1973 – Ws 337/73, MDR 1974, 329. Fischer, § 57 StGB Rz. 14 ff. OLG München v. 5.9.1986 – 1 Ws 494/86, NStZ 1987, 74. BVerfG v. 4.6.1993 – 2 BvR 157/93, StV 1993, 597; BVerfG v. 14.6.1993 – 2 BvR 157/93, NJW 1994, 378; OLG Hamm v. 12.2.1988 – 2 Ws 26/88, StV 1988, 348. 5 Vgl. i.E. Fischer, § 57 StGB Rz. 12 m.N.; BGH v. 1.4.1970 – StB 5/70, JR 1970, 347 m. Anm. Meyer; OLG Karlsruhe v. 11.5.1992 – 2 Ws 75/92, StV 1993, 260; OLG Düsseldorf v. 5.1.1988 – 3 Ws 693/87, NStZ 1988, 272; a.M. OLG Köln v. 29.5.1970 – 2 Ws 408/70, MDR 1970, 861.
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Rz. 1110
Der Verteidiger im Verfahren der Strafvollstreckung
der Aussetzung der Reststrafe hinzuweisen und ihm klarzumachen, dass er mit einer Vergünstigung nur rechnen könne, wenn sein Verhalten keinen Anlass zu Tadel gibt. Praktisch ist nämlich für die Entscheidung über die bedingte Entlassung die Beurteilung der Strafvollzugsbehörde1 maßgebend, die anzuhören ist (§ 454 Abs. 1 StPO). Die Gründe für eine ungünstige Stellungnahme muss der Verteidiger genau untersuchen. Gelegentlich stellt man Fehlbeurteilungen fest, die auf unsachlichen Äußerungen oder fehlerhaften Erwägungen nachgeordneter Vollzugsbediensteter beruhen. Nicht selten wird auch übersehen, nachteilige Stellungnahmen, die der Entscheidung zugrunde gelegt werden sollen, dem Betroffenen vorher mitzuteilen. Dann (und in anderen Fällen) ist daran zu denken, dass gegen die Ablehnung der bedingten Entlassung sofortige Beschwerde (§ 311 StPO) eingelegt werden kann (§ 454 Abs. 3 StPO).
III. Strafvollstreckung 1. Allgemeine Grundlagen Literatur: Böhm, Strafvollzug, 3. Aufl. 2002; Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 11. Aufl. 2008; Funck, Zur Tatsachengrundlage von Entscheidungen zur Strafvollstreckung und zur eigenen Sachentscheidung der Beschwerdegerichte in Strafvollstreckungssachen, NStZ 1997, 150; Hauf, Strafvollzug, 1994; Kaiser/ Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl. 2003; Kuhn in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 795 ff.; Mitsch, Der Weg des Straftäters in den Strafvollzug, Jura 1994, 449; Müller/Dietz, Aufgaben und Möglichkeiten der Verteidigung im Strafvollzug, StV 1982, 83; Pohlmann/Jabel/Wolf, Strafvollstreckungsordnung, 8. Aufl. 2001; Pollähne/Woynar, Verteidigung in Vollstreckung und Vollzug, 5. Aufl. 2013; Röttle/Wagner/Leiß, Strafvollstreckung, 8. Aufl. 2009.
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Der Verteidiger hat in vielfältiger Weise mit den Problemen der Strafvollstreckung zu tun. Entweder nimmt der verurteilte Mandant den Verteidiger auch über die Rechtskraft hinaus weiter in Anspruch oder es handelt sich um „neue“ Auftraggeber. Jede Tätigkeit während der Strafvollstreckung setzt die genaue Kenntnis der gesetzlichen Regelung voraus, die in verschiedenen Gesetzen und Verwaltungsanordnungen niedergelegt ist. Die Grundregelung findet sich in den §§ 449 ff. StPO. Zu ihrer Ausführung sind heranzuziehen die Strafvollstreckungsordnung (StVollstrO) vom 1.4.2001, die Justizbeitreibungsordnung (JBeitrO) vom 11.3.1937 nebst der Einforderungs- und Beitreibungsanordnung (FBAO) vom 1.4.2001 sowie das Strafvollzugsgesetz vom 16.3.19762. Für die Rechtslage hinsichtlich der Untersuchungshaft-Vollzugsordnung (UVollzO) wird auf Rz. 340 verwiesen. Bei einigen der genannten Bestimmungen handelt es sich um Verwaltungsanordnungen, die den Richter nicht binden. Im Einzelfall wird der Verteidiger daher besonders unter dem Stichwort „Menschen-
1 Terhorst, MDR 1973, 627. 2 Auszug bei Meyer-Goßner, Anhang 10.
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Strafvollstreckung
Rz. 1113
würde und Verhältnismäßigkeit im Strafvollzug“ prüfen müssen, ob die einzelne Vollzugsmaßnahme und die zugrunde liegende spezielle Bestimmung der Verwaltungsanordnung dem Grundgesetz entsprechen. Überhaupt ist zu beachten, dass die Strafvollstreckung eine Angelegen- 1111 heit der Justizverwaltung ist. Vollstreckungsbehörde ist grundsätzlich die Staatsanwaltschaft (§ 451 Abs. 1 StPO). Der im Rahmen der Strafvollstreckung erforderliche gerichtliche Rechts- 1112 schutz wird hauptsächlich durch die Strafvollstreckungskammern gewährt. Ihre örtliche Zuständigkeit richtet sich regelmäßig nach dem Ort der Strafanstalt, in die der Verurteilte zu dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befasst wird, aufgenommen ist (§ 462a Abs. 1 StPO). Diese Zuständigkeit bleibt also auch dann bestehen, wenn der Verurteilte in eine andere Strafanstalt verlegt wird. Für nachträgliche Entscheidungen nach § 462a Abs. 1 S. 2 StPO bleibt diejenige Strafvollstreckungskammer zuständig, der auch schon die Zuständigkeit nach Abs. 1 S. 1 zugefallen war1. Die Einzelheiten sind freilich streitig2. Die sachliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer ist in § 462a StPO eingehend geregelt. Der Verteidiger muss mit dieser Regelung vertraut sein. Das Gericht des ersten Rechtszuges ist danach nur noch in wenigen Fällen zuständig, so etwa bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung, der Verwarnung mit Strafvorbehalt und in Fällen, in denen das Oberlandesgericht im ersten Rechtszuge entschieden hat (vgl. im Einzelnen § 462a StPO). In allen übrigen Fällen nachträglicher gerichtlicher Entscheidungen ist die Strafvollstreckungskammer zuständig. Gegen Entscheidungen der Vollstreckungsbehörden nach § 450a Abs. 3 S. 1, §§ 458–461 StPO kann die Strafvollstreckungskammer angerufen werden (§§ 462, 462a StPO). Gegen deren Entscheidung ist die sofortige Beschwerde statthaft (§ 462 Abs. 3 StPO). Die Strafvollstreckungskammer kann jedoch einzelne Entscheidungen nach §§ 462, 458 Abs. 1 StPO mit bindender Wirkung an das Gericht des ersten Rechtszuges abgeben (§ 462a Abs. 1 S. 3 StPO). Die Tatsache, dass die Strafvollstreckung der Justizverwaltung zuzuord- 1113 nen ist, bringt für den Verteidiger noch eine andere Schwierigkeit. Justizverwaltungsakte unterliegen dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung an das Oberlandesgericht nach §§ 23 ff. EGGVG (Rz. 1086 ff.), sofern nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist (§ 23 Abs. 3 EGGVG). Als „anderer Rechtsweg“ gilt auch das Verfahren nach §§ 458–461, 462, 462a StPO sowie das Verfahren nach den §§ 108 ff. StVollzG. Dagegen ist der Strafsenat des Oberlandesgerichts bei der Ablehnung einer Strafunter-
1 BGH v. 2.7.1975 – 2 ARs 167/75, NJW 1975, 1791; BGH v. 8.7.1975 – 2 ARs 181/75, NJW 1975, 1847. 2 Vgl. Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 462a StPO Rz. 12 ff.
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Rz. 1114
Der Verteidiger im Verfahren der Strafvollstreckung
brechung1 oder in den Fällen des § 23 Abs. 1 S. 2 EGGVG2 anzurufen (Rz. 1121). Der Verteidiger muss also jeweils die Zuständigkeit prüfen, damit er nicht zum falschen Rechtsbehelf greift. In allen Fällen ist die Dienstaufsichtsbeschwerde statthaft (§ 108 Abs. 3 StVollzG; Rz. 1096). Hinsichtlich der Einzelfragen des Strafvollzuges muss im Übrigen auf das einschlägige Schrifttum und die Rechtsprechungsübersicht von Roth, NStZ 2012, 430 verwiesen werden. 2. Vollzug von Freiheitsstrafen Literatur: Gatzweiler, Haftunfähigkeit – Chancen u. Versagen von Strafverteidigung u. Strafvollzug, StV 1996, 293; Groß, Zum Absehen von der Strafvollstreckung gegenüber. Ausländern nach § 456a StPO, StV 1987, 36; Müller-Dietz, Grundrechtsbeschränkungen im Strafvollzug, JuS 1976, 88 ff.; Nöldeke/Weichbrodt, Hungerstreik und Zwangsernährung, NStZ 1981, 281. Vgl. i.Ü. das vor Rz. 1134 angef. Schrifttum sowie die Rechtsprechungsübersicht von Roth, NStZ 2012, 430.
a) Allgemeines 1114
Die Aufgabe des Verteidigers bei der Vollstreckung von Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Maßregeln führt in die schwierige Problematik des Strafvollzuges. Gesetzliche Grundlage in der vom BVerfG geforderten Form3 ist das Strafvollzugsgesetz vom 16.3.19764. Der Verteidiger muss sich sowohl mit dem Strafvollzugsgesetz als auch mit der einschlägigen Rechtsprechung des BVerfG vertraut machen5. Die Problematik des heutigen Strafvollzuges hängt nicht nur mit den alltäglichen praktischen Fragen des Vollzuges zusammen, etwa dem Alter und der Überbelegung der Justizvollzugsanstalten. Die Erfahrung der Verteidiger bestätigt das Wort von Eb. Schmidt: Für die Gerechtigkeit staatlichen Strafens ist nicht nur der Richterspruch, sondern in weit größerem Maße das entscheidend, was der Verurteilte in der Strafanstalt erlebt. In den vertraulichen Besprechungen mit dem Verteidiger schildern die Häftlinge ihre Erlebnisse, oft in eruptiver und aufbegehrender Form, ebenso oft verzweifelt und resignierend. Besonders derjenige, der erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt, ist anfällig gegenüber den Schwächen des Strafvollzuges, empfindlich auch gegenüber vielleicht nur scheinbar ungerechten und gesetzwidrigen Anordnungen der Vollzugsbeamten und kann sich nur schwer an das Zusammensein mit Gefangenen ganz unterschiedlichen Alters, Charakters, Vorlebens und Bildungsstandes gewöhnen. Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben des Verteidigers, über diese Schwie1 BGH v. 19.11.1963 – 5 AR (Vs) 84/63, BGHSt. 19, 148; BGH v. 21.12.1990 – 2 ARs 570/90, NStZ 1991, 205. 2 Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, § 23 EGGVG Rz. 16. 3 BVerfG v. 14.3.1972 – 2 BvR 41/71, BVerfGE 33, 1. 4 Auszug als Anhang 10 bei Meyer-Goßner. 5 BVerfG v. 21.6.1977 – 1 BvL 14/76, BVerfGE 45, 187.
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Strafvollstreckung
Rz. 1115
rigkeiten hinwegzuhelfen und dadurch seinen Teil zur Resozialisierung nach der Strafverbüßung beizutragen. Dieser Beistand hat das praktische Ziel, dem Mandanten vor Augen zu halten, wie sich seine Zukunft gestalten kann. So kommt eine Aussetzung des Strafrestes nur bei Wohlverhalten in Frage (Rz. 1109). Auch sonstige Vergünstigungen hängen weitgehend davon ab, dass sich der Verurteilte in das Leben der Anstalt und in die „Gemeinschaft der Gefangenen“ einfügt, eine eigenartige und für den einzelnen oft gefährliche Schicksalsgemeinschaft. Von größter Wichtigkeit ist der persönliche Einsatz des Verteidigers 1115 durch Besprechungen mit dem Verurteilten, mit dem Leiter der Vollzugsanstalt, ggf. mit Sozialarbeitern, dem Anstaltspfarrer und mit den Angehörigen oder Freunden des Mandanten. Er kann dadurch über dessen Charakter vieles erfahren, aber auch vieles erklären, er kann seine Fähigkeiten und Neigungen auszuwerten suchen durch passende Beschäftigung in der Vollzugsanstalt und in der Vorbereitung auf einen Beruf seiner Zukunft in der Freiheit, insbesondere durch Suche nach einer Wohnung. Damit stärkt er die Zuversicht und wirkt der Verbitterung des Verurteilten entgegen, der sich nicht mehr hilflos im rechtsleeren Raum zu fühlen braucht. Freilich sieht sich der Verteidiger, der Aufträge in Strafvollzugssachen übernimmt, auch einem bestimmten Typ des Häftlings gegenüber, dem „Ganoven“, dem der „Knast“ nicht fremd ist, dafür aber alle Schlichen vertraut sind, die die Strafhaft erlaubt oder unerlaubt erleichtern. Die Erfahrungen mit dieser Art von Gefangenen sind unerschöpflich. Sie reichen von der relativ harmlosen Bitte, die Verbindung mit Angehörigen über das zulässige Maß hinaus herzustellen, bis zu abenteuerlichsten Honorarversprechungen, falls der Verteidiger den Häftling aus der Strafhaft „herauspauke“. Besonders häufig wird das Ansinnen gestellt, offenbar aussichtslose Wiederaufnahmeanträge (Rz. 996 ff.) einzureichen. Auch die Behauptung von Rechtsverkürzungen oder körperlicher Misshandlung in der Anstalt nimmt in dem Maße zu, in dem solche Fälle in der Öffentlichkeit erörtert werden. Das macht es für den Verteidiger sehr oft schwierig zu erkennen, welches Anliegen sachlich gerechtfertigt ist und den Einsatz des Verteidigers erfordert. Dazu braucht man Fingerspitzengefühl, Erfahrung und Verständnis für die psychische Situation des Gefangenen. Im Allgemeinen sind jedenfalls Vorsicht und gesunde Skepsis sinnvoll, vor allem bei „gefängniserfahrenen“ Häftlingen. Strafvereitelung in der Form der Vollstreckungsvereitelung (§ 258 Abs. 2 StGB) liegt nicht fern. Hierfür genügt die nur zeitweilige Entziehung aus der Strafverbüßung, etwa durch einen Antrag auf Strafunterbrechung oder ein Gnadengesuch, die auf erfundene Tatsachen gestützt werden1. Auch berufsrechtliche Verfehlungen im Zusammenhang mit dem Strafvollzug sind häufiger als man annehmen sollte. Hier spielt der mündliche und schriftliche Verkehr mit dem Gefangenen eine nicht unerhebliche Rolle 1 Fischer, § 258 StGB Rz. 16 ff.
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Rz. 1116
Der Verteidiger im Verfahren der Strafvollstreckung
(§ 148 StPO). Insoweit ist auf die Regeln und Erfahrungen zu verweisen, die den Verkehr mit dem Untersuchungsgefangenen betreffen (Rz. 364 ff.). Sie gelten auch für den Strafgefangenen. Dabei ist auf das „Briefgeheimnis“ zwischen Verteidiger und Mandant besonders zu achten. Es darf grundsätzlich nicht eingeschränkt werden; §§ 23, 26, 29 StVollzG. b) Einzelne Anträge 1116
Im Einzelnen kann die Tätigkeit des Verteidigers vor oder während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel ganz verschieden gestaltet sein. Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Vollstreckung überhaupt, Auslegung eines Strafurteils, Berechnung der Strafzeit, Absehen von der Vollstreckung bei Auslieferung sowie Aufschub und Aussetzung eines Berufsverbots sollen hier nur erwähnt werden. Sie kommen nicht so häufig vor. Auf einige andere Maßnahmen ist jedoch einzugehen.
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Dazu rechnet die nachträgliche Gesamtstrafenbildung, falls das erkennende Gericht verschiedene rechtskräftige Strafen nicht zusammengezogen hat (§ 460 StPO). Vielfach ist es zweckmäßig, dass der Verurteilte den Antrag stellt und sich nicht darauf verlässt, dass die Vollstreckungsbehörde tätig wird. Denn die nachträgliche Gesamtstrafe kann nur gebildet werden, solange die erste Strafe noch nicht verbüßt oder verjährt ist. In diesem Zusammenhang muss sich der Verteidiger mit der Frage befassen, ob rechtskräftige Einzelstrafen überhaupt vollstreckt werden dürfen, obwohl die Gesamtstrafe noch nicht rechtskräftig ist, z.B. bei nur teilweiser Anfechtung eines Urteils über mehrere Straftaten1.
1118
Der Strafaufschub („Strafausstand“) zählt zu den Anträgen, mit denen der Verteidiger am meisten zu tun hat. Nach § 455 StPO kommt er in Betracht bei Geisteskrankheiten und anderen mit naher Lebensgefahr verbundenen Erkrankungen sowie bei sonstiger Vollzugsuntauglichkeit. Er kann auch darauf beruhen, dass in der vorgesehenen Anstalt die notwendige ärztliche Behandlung des Verurteilten nicht sichergestellt werden kann2. In all diesen Fällen wird der Verteidiger zweckmäßigerweise mit dem Antrag ein ärztliches Attest vorlegen. Ggf. ist darauf hinzuweisen, dass der Mandant bereit ist, sich einer amtsärztlichen Untersuchung zu unterziehen.
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Daneben steht der vorübergehende Strafaufschub bis zu vier Monaten, wenn durch die sofortige Vollstreckung dem Verurteilten oder seiner Familie erhebliche Nachteile außerhalb des Strafzwecks erwachsen (§ 456 StPO). Diese Möglichkeit besteht übrigens auch für Geldstrafen. In der Praxis spielt sich die Sache meist so ab, dass der Verurteilte die Ladung 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 449 StPO Rz. 11. 2 BGH v. 19.11.1963 – 5 AR (VS) 84/63, BGHSt. 19, 148 (150); OLG Karlsruhe v. 17.9.1990 – 1 Ws 216/90, NStZ 1991, 53.
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Strafvollstreckung
Rz. 1121
zum Strafantritt (§ 27 StVollStrO) erhält und nunmehr einen Verteidiger mit der Bitte aufsucht, den Strafaufschub zu erwirken. Die vorgebrachten Gründe müssen genau geprüft werden. Sie können familiärer Art sein, z.B. schwere Erkrankungen in der Familie oder bevorstehende Niederkunft der Ehefrau. Oft handelt es sich um berufliche Gründe, etwa um den Wunsch, die Strafe während der Urlaubszeit zu verbüßen, damit die Stelle nicht verlorengeht. Immer ist zu beachten, dass nur erhebliche Nachteile außerhalb des Strafzwecks den Aufschub rechtfertigen. Mit dem Gesuch wird meist der Antrag verbunden werden müssen, den Strafantritt hinauszuschieben (§ 458 Abs. 3 StPO). In der Regel kommt die Ladung zum Strafantritt kurzfristig. Dem Verurteilten soll nur etwa eine Woche bleiben, um seine Angelegenheiten zu ordnen (§ 27 StVollStrO). Vergisst der Verteidiger diesen Antrag, so kann es passieren, dass Vollstreckungshaftbefehl ergeht und vollzogen wird (§ 457 Abs. 2 StPO, § 33 StVollStrO). Dem Strafaufschub ähnlich ist die Strafunterbrechung, der Strafausstand 1120 während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe gem. §§ 45, 46 StVollStrO. Sie setzt Vollzugsuntauglichkeit im Sinne einer geistigen oder körperlichen Erkrankung voraus und bedarf der förmlichen Anordnung. Über die Strafunterbrechung hinaus geht die Aussetzung des Strafrestes nach § 57 StGB, § 454 StPO, die der Strafaussetzung zur Bewährung gleichkommt und deshalb dort behandelt ist (Rz. 1109). Etwas anderes ist das Absehen von (weiterer) Vollstreckung bei Auslieferung und Ausweisung (§ 456a StPO i.V.m. § 21 StVollstrO), die bei entsprechender Fallgestaltung zu beachten ist1. Dasselbe gilt für nachträgliche Entscheidungen über die Strafaussetzung nach §§ 453–453c StPO (Rz. 1107). Besonders häufig wird der Verteidiger mit der Prüfung einzelner Voll- 1121 zugsmaßnahmen im Rahmen des Strafvollzugsgesetzes befasst. Bei der Anfechtbarkeit solcher Maßnahmen ist zu unterscheiden: Das Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG ist gegeben, soweit die Maßnahmen im Vollzug der Jugendstrafe, des Jugendarrestes und der Untersuchungshaft sowie derjenigen Freiheitsstrafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung, die außerhalb des Justizvollzuges vollzogen werden, getroffen worden sind (§ 23 Abs. 1 S. 2 EGGVG). Im Übrigen richtet sich die Anfechtbarkeit allein nach den §§ 108 ff. StVollzG (§ 23 Abs. 3 EGGVG). Der Gefangene hat zunächst das Recht der Beschwerde beim Anstaltsleiter (§ 108 Abs. 1 StVollzG). Danach kann gegen Maßnahmen zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzuges gerichtliche Entscheidung beantragt werden (§ 109 StVollzG), für die die Strafvollstre-
1 Vgl. dazu KG v. 9.3.2012 – 4 VAs 10/12, jurisPR-StrafR 14/2012 Anm. 2 (Groß) = jurisPR extra 2012, 207 m.N., insbesondere zur Überprüfung einer einschlägigen Entscheidung.
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Rz. 1122
Der Verteidiger im Verfahren der Strafvollstreckung
ckungskammer (§ 110 StVollzG) zuständig ist1. Das Verfahren ähnelt hier dem verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren. Gegen die gerichtliche Entscheidung ist die Rechtsbeschwerde an den Strafsenat des Oberlandesgerichts zulässig, wenn es geboten ist, die Nachprüfung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen (§§ 116 ff. StVollzG). Für die Rechtsbeschwerde gelten subsidiär die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Beschwerde (§ 116 Abs. 4 StVollzG), wobei allerdings darauf hingewiesen werden muss, dass sich die Zulässigkeit, die Form und Frist sowie die Begründung der Rechtsbeschwerde nach revisionsrechtlichen Grundsätzen richtet (§§ 116 Abs. 2, 118 StVollzG). Die Entscheidung des Strafsenats, die durch Beschluss ergeht, ist endgültig (§ 119 Abs. 5 StVollzG). Der Strafgefangene genießt damit weitgehenden Rechtsschutz, der jedoch nicht überstrapaziert werden sollte. Für den Verteidiger stellt sich in jedem Falle die Zweckmäßigkeitsfrage. Dem Mandanten ist klarzumachen, dass auch ein erfolgreiches Verfahren zu Nachteilen während der Strafhaft führen kann, ganz zu schweigen von einem erfolglosen Antrag. Es ist sogar nicht auszuschließen, dass der Häftling, der einen Angriff auf Vollzugsmaßnahmen wagt, in Zukunft streng behandelt wird, wenn auch im Rahmen der Zulässigkeit. Ebenso oft ist aber auch die Anfechtung eben aus diesem Grund notwendig, um eine korrekte Behandlung wenigstens für die Zukunft durchzusetzen, mag auch der vorliegende Antrag zurückgewiesen werden. Aus der umfangreichen Rechtsprechung, die noch heute von Bedeutung sein kann, seien als Beispiele für anfechtbare Vollzugsmaßnahmen genannt: Arbeitspflicht und -belohnung, Besuchs- und Schriftverkehr2, Glaubens-, Meinungs- und Informationsfreiheit, Gemeinschafts- oder Einzelhaft, Eheschließung während der Strafhaft, Grenzen des Waffengebrauchs3 sowie der wichtige Bereich der Hausstrafen, besonders auch für das Entweichen aus der Anstalt4. Der Verteidiger sollte sich mit den zum Teil diffizilen Einzelfragen in diesem Bereich gut vertraut machen. 3. Vollstreckung von Vermögensstrafen 1122
Im Allgemeinen wird der Verteidiger mit diesem Vollstreckungsverfahren weniger beschäftigt. Gleichwohl sollte er die gesetzlichen Grundlagen kennen. Die eine oder andere Frage ist doch gelegentlich zu beantworten. Die Vollstreckung einer Vermögensstrafe, insbesondere einer Geldstrafe, richtet sich grundsätzlich nach den Vorschriften der §§ 459 ff. StPO. Bei Geldstrafen gilt subsidiär die Justizbeitreibungsordnung. Für Geldstrafen sollte der Verteidiger an die Möglichkeit eines Strafaufschubs bis zu vier Monaten denken (§ 456 StPO; Rz. 1119). Meist wird es 1 Das Landesrecht kann die Vorschaltung eines Verwaltungsvorverfahrens anordnen (§ 109 Abs. 3 StVollzG). 2 KG v. 4.11.1970 – 2 VAs 41/70, NJW 1971, 476 m. Anm. Schmidt-Leichner. 3 BayVerfGH v. 26.2.1968 – Vf. 142-VII-67, NJW 1968, 1227. 4 OLG Celle v. 19.11.1968 – VAs 29/68, NJW 1969, 673.
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Strafvollstreckung
Rz. 1125
aber zweckmäßiger sein, Ratenzahlungen nach § 42 StGB zu beantragen, die nicht auf vier Monate beschränkt zu sein brauchen. Dazu müssen die wirtschaftlichen Verhältnisse des Mandanten offengelegt und bewiesen werden. Es empfiehlt sich, bestimmte angemessene monatliche Raten anzubieten und möglichst die erste Rate gleichzeitig zu überweisen. Das macht das Ratenzahlungsversprechen glaubwürdiger. Unter den Voraussetzungen des § 459d StPO kann das Gericht von der Vollstreckung der Geldstrafe absehen, wenn diese die Resozialisierung eines zu Freiheitsstrafe Verurteilten erschweren würde. Im Übrigen ist der Mandant darüber zu belehren, dass anstelle einer un- 1123 einbringlichen Geldstrafe die Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt werden kann (§ 43 StGB, § 50 StVollStrO), und zwar auf Anordnung der Vollstreckungsbehörde (§ 459e StPO). Hierzu muss der Verteidiger wissen, dass die Ersatzfreiheitsstrafe nicht vollstreckt wird, wenn die Vollstreckung für den Verurteilten eine unbillige Härte wäre (§ 459f StPO); auf die Verschuldensfrage kommt es dabei nicht an. Zuständig für die gerichtliche Entscheidung ist das Gericht des ersten Rechtszuges (§§ 462a Abs. 2, 462 StPO). Außerdem kann die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe jederzeit durch Zahlung der Geldstrafe abgewendet werden (§ 459e Abs. 4 StPO). In diesem Zusammenhang darf die Möglichkeit nicht übersehen werden, die Geldstrafe aus einer etwa geleisteten Sicherheit zu entnehmen, praktisch also zu verrechnen. Dies gilt besonders, wenn die Strafvollstreckung gegenüber Personen sichergestellt worden ist, die in der Bundesrepublik weder Wohnsitz noch Aufenthalt haben (§§ 127a, 132 StPO)1. Wichtig ist, dass eine Bezahlung der Geldstrafe durch Dritte nicht den Tatbestand der Strafvereitelung erfüllt2. 4. Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung Literatur: Kammeier, Maßregelvollzugsrecht, 1995; Kruis, Die Vollstreckung freiheitsentziehender Maßregeln und die Verhältnismäßigkeit, StV 1998, 94. Vgl. auch die Rechtsprechungsübersichten von Detter, z.B. in NStZ 2012, 135, 200 sowie zum Maßregelrecht NStZ 2013, 26.
Die „Maßregelvollstreckung“ richtet sich grundsätzlich nach den sons- 1124 tigen Vollstreckungsvorschriften (§ 463 StPO, § 53 StVollStrO). Praktisch wichtig ist die Vollstreckung der Maßregeln im Straßenver- 1125 kehrsrecht. Dazu gehört die Beschlagnahme des Führerscheins im Falle eines Fahrverbots (§ 463b StPO). Hierfür wird übrigens ein Vollstreckungsaufschub abgelehnt3. Noch bedeutsamer ist die vorzeitige Aufhebung der Sperre für die Fahrerlaubnisentziehung (§ 69a Abs. 7 StGB). 1 Dünnebier, Sicherstellung der Strafvollstreckung durch Sicherheitsleistung, NJW 1968, 1752. 2 So BGH v. 7.11.1990 – 2 StR 439/90, BGHSt. 37, 226. 3 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 456 StPO Rz. 2.
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Rz. 1126
Verteidiger und Straftilgung
Dabei ist die Mindestsperrfrist von drei Monaten bzw. einem Jahr zu beachten. Der Antrag auf Aufhebung kann jedoch vorher gestellt werden, damit der Mandant keine Zeit verliert. Im Allgemeinen wird eine „Vorfrist“ von einem Monat für angemessen gehalten. Die Sperre darf nur vorzeitig aufgehoben werden, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass der Kraftfahrer jetzt nicht mehr ungeeignet erscheint, ein Fahrzeug zu führen. Diese Voraussetzung zwingt den Verteidiger, Gründe vorzutragen, die nach dem Urteil eingetreten sein müssen, beispielsweise die aufgrund der Strafverbüßung gewonnene Einsicht in verkehrsgerechtes Verhalten oder die erfolgreiche Teilnahme an einem Nachschulungskurs o.Ä.1 (Rz. 418). Vielfach läuft es darauf hinaus, den Richter von inneren Tatsachen zu überzeugen, eben der inneren Wandlung des Täters. In manchen Fällen kann es daher geboten sein, den Richter zu bitten, den Mandanten vorzuladen, um einen persönlichen Eindruck zu gewinnen. Es ist auch passiert, dass ein Mandant ohne Einvernehmen mit dem Verteidiger in seiner Verzweiflung den Richter aufgesucht und durch seinen persönlichen Eindruck eine solche Stimmungsverbesserung bewirkt hat, dass die Sperre wieder aufgehoben wurde. Zu beachten ist jedoch, dass letztlich die Verwaltungsbehörde über die Wiedererteilung der rechtskräftig entzogenen Fahrerlaubnis entscheidet. Ein Nachschulungskurs als Grund für die Neuerteilung wird aber nicht allgemein anerkannt. Es empfiehlt sich daher, bei den zuständigen Behörden nachzufragen, bevor der Mandant viel Geld für einen „überflüssigen“ Nachschulungskurs ausgibt.
IV. Straftilgung Literatur: Götz, Das Bundeszentralregister, Kommentar, 4. Aufl. 2003; Hase, Bundeszentralregistergesetz, Kommentar, 2003; Pfeiffer, Die unbeschränkte Auskunft aus dem Bundeszentralregister und das Führungszeugnis, NStZ 2000, 402; Schwarz, Das Verwertungsverbot des § 49 Bundeszentralregistergesetz in der Verwaltungspraxis, NJW 1974, 209.
1126
Probleme der Straftilgung kommen auf den Verteidiger unter verschiedenen Aspekten zu. So will der Mandant wissen, ob eine Strafe offenbart werden müsse oder ob eine Verurteilung im Strafregister eingetragen werde und bejahendenfalls, wie lange sie vermerkt bleibt. Insbesondere im Arbeitsleben wird von Bewerbern häufig erwartet, einen Auszug aus dem Bundeszentralregister – meistens nicht älter als drei Monate – beizufügen. Der Beantwortung entsprechender Fragen kommt folglich vielmals erhebliche Bedeutung zu. Antwort auf diese und ähnliche Fragen findet der Verteidiger im Gesetz über das Zentralregister und das Erziehungsregister (Bundeszentralregistergesetz – BZRG)2 sowie im Gewerbe1 OLG Düsseldorf v. 9.1.1984 – 3 Ws 636/83, GA 1984, 232; Hentschel, NJW 1996, 628 (638); vgl. auch die bei Fischer, § 69a StGB Rz. 16 ff. angef. Rspr. 2 Anhang 7 bei Meyer-Goßner.
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Straftilgung
Rz. 1129
zentralregistergesetz, das besonders für Unternehmer und Handwerker Bedeutung hat. Das Bundeszentralregister wird durch das Bundesamt für Justiz in Bonn geführt (§ 1 BZRG). Es hat die Rechtsstellung des Betroffenen erheblich verbessert und zwar besonders durch die Verkürzung der Tilgungsfristen und die Beschränkung der Auskünfte aus dem Register. Der Inhalt des Zentralregisters ergibt sich aus § 3 BZRG. Danach werden 1127 eingetragen: strafgerichtliche Verurteilungen (§§ 4–8 BZRG), Vermerke über Schuldunfähigkeit (§ 11 BZRG), bestimmte Entscheidungen von Verwaltungsbehörden (§ 10 BZRG) sowie nachträgliche Entscheidungen, die namentlich Strafvollstreckung und Straferlass betreffen können (§§ 12–19 BZRG). Die strafgerichtlichen Verurteilungen umfassen alle Entscheidungen, durch die wegen einer rechtswidrigen Tat auf Strafe erkannt, eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet, jemand mit Strafvorbehalt verwarnt oder die Schuld eines Jugendlichen oder Heranwachsenden festgestellt worden ist. Das Zentralregister deckt damit den gesamten Bereich eines strafrechtlich relevanten Sachverhalts ab. Zur Sicherung des Informationsflusses sind Gerichte und Behörden verpflichtet, eintragungspflichtige Tatsachen mitzuteilen (§ 20 BZRG). Um das Register nutzbar zu machen, gibt es die Auskunft aus dem Zen- 1128 tralregister (§§ 30 ff. BZRG). Danach wird Personen über 14 Jahren auf Antrag ein Zeugnis über den sie betreffenden Inhalt des Zentralregisters erteilt (Führungszeugnis). Ebenso erhalten Behörden über eine bestimmte Person ein Führungszeugnis, soweit sie es zur Erledigung ihrer hoheitlichen Aufgaben benötigen und eine Aufforderung an den Betroffenen zur Vorlage des Führungszeugnisses nicht sachgemäß ist oder erfolglos bleibt (§ 31 BZRG). Jeder Verteidiger weiß, wie wichtig es für den Mandanten sein kann, wenn das Führungszeugnis seine „reine Weste“ beweist, wie nachteilig aber auch, wenn es eine „Latte von Vorstrafen“ mit allen Einzelheiten offenbart. Selbst die Eintragung einer einzigen Strafe entscheidet oft das Schicksal der neuen Sache. Im beruflichen Leben ist es darüber hinaus von überragender Bedeutung, ob eine Strafe zu nennen ist oder verschwiegen werden kann. Weniger belastende Verurteilungen werden überhaupt nicht in das Füh- 1129 rungszeugnis aufgenommen (§ 32 Abs. 2 BZRG). Hierher gehören z.B. auch Geldstrafen von nicht mehr als 90 Tagessätzen sowie Freiheitsstrafen von nicht mehr als drei Monaten, wenn im Register keine weitere Strafe eingetragen ist. Ebenso fallen hierunter die Verwarnung mit Strafvorbehalt sowie bestimmte geringfügige Verurteilungen nach Jugendstrafrecht. Die Einzelheiten sind § 32 BZRG zu entnehmen. Diese Aspekte sind insbesondere bei der Beratung über die Durchführung von Rechtsmittelverfahren wichtig. Nicht selten geht es dem Mandanten nämlich im Wesentlichen darum, sein Führungszeugnis „sauber“ zu halten. Zu beachten ist aber, dass in ein Führungszeugnis für Behörden (§ 31 BZRG) weitergehende Eintragungen erfolgen (§ 32 Abs. 3, 4 BZRG). Nach Ablauf einer Frist von drei bis fünf Jahren werden auch andere Verur643
Rz. 1130
Verteidiger und Straftilgung
teilungen nicht mehr in das Führungszeugnis aufgenommen (§§ 33, 34 BZRG). Die Frist beginnt mit dem Tag des ersten Urteils bzw. mit dem Tag der Unterzeichnung des Strafbefehls durch den Richter (§§ 5 Abs. 1 Nr. 4, 36 BZRG). Trotz der beschränkten Aufnahme von Verurteilungen in das Führungszeugnis dürfen bestimmten Behörden, namentlich Gerichten und Staatsanwaltschaften, Eintragungen für Zwecke der Rechtspflege bekannt gegeben werden (sog. unbeschränkte Auskunft aus dem Zentralregister, § 41 BZRG). Eine für die Wiedereingliederung des Verurteilten in das Berufsleben sehr bedeutsame Möglichkeit eröffnet § 39 Abs. 1 S. 1 BZRG. Danach kann das Bundesamt für Justiz anordnen, dass die Aufnahme einer an sich eintragungspflichtigen Strafe in ein Führungszeugnis unterbleibt. Auf diesem Wege kann es gelingen, auch bei einer gewichtigeren Verurteilung dem Mandanten wenigstens einmal ein Führungszeugnis zu verschaffen, das er ohne Bedenken bei einer Bewerbung vorlegen kann. Die Vorschrift des § 39 Abs. 1 S. 1 BZRG wird in der Praxis aber als Ausnahmevorschrift verstanden und selten angewendet. Eine sorgfältige und erschöpfende Begründung des Antrages ist daher erforderlich, wobei der Verteidiger besonders zu der Frage Stellung nehmen muss, ob das „öffentliche Interesse“ der begehrten Anordnung entgegensteht (§ 39 Abs. 1 S. 2 BZRG). 1130
Die Tilgung von Eintragungen über Verurteilungen (§ 34 BZRG, vgl. Rz. 1127) erfolgt nach Ablauf einer Frist von fünf, zehn oder fünfzehn Jahren. Dabei richtet sich die Tilgungsfrist nach der Schwere der Verurteilung (§§ 45, 46 BZRG). Allerdings wird eine zu tilgende Eintragung erst ein Jahr nach Eintritt der Tilgungsreife gelöscht, doch darf während dieser Zeit über die Eintragung keine Auskunft mehr erteilt werden (§ 45 Abs. 2 BZRG). Bei Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe, Anordnung der Sicherungsverwahrung oder der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist die Tilgung ausgeschlossen (§ 45 Abs. 3 BZRG). Der Verteidiger muss wissen, dass eine vorzeitige Tilgung auf Antrag oder von Amts wegen möglich ist, falls die Vollstreckung erledigt ist und das öffentliche Interesse der Anordnung nicht entgegensteht (§ 49 BZRG). Zuständig für die Anordnung ist das Bundesamt für Justiz, gegen dessen ablehnende Entscheidung die Beschwerde gegeben ist. Hilft das Bundesamt der Beschwerde nicht ab, entscheidet das Bundesministerium der Justiz (§ 49 Abs. 3 BZRG). Der Verteidiger wird diese vorzeitige Tilgung dann beantragen, wenn eine Strafe den Mandanten hindert, z.B. auszuwandern, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten oder eine berufliche Position zu finden, die seiner Vorbildung entspricht.
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Die Rechtswirkungen der Tilgung und Tilgungsreife bestehen im Verwertungsverbot des § 51 BZRG1, und in der eingeschränkten Offenbarungspflicht bei Verurteilungen des § 53 BZRG. Ist nämlich eine Verurteilung nicht in das Führungszeugnis aufzunehmen oder zu tilgen, darf 1 Zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung vgl. BVerfG v. 27.1.1973 – 2 BvL 12/72, 2 BvL 3/73, BVerfGE 36, 174.
644
Straftilgung
Rz. 1133
sich der Verurteilte als unbestraft bezeichnen und braucht den der Verurteilung zugrunde liegenden Sachverhalt nicht zu offenbaren1. Das ist besonders wichtig, wenn er in einem laufenden Verfahren nach Vorstrafen gefragt wird. Der Verurteilte ist aber auch als unbestraft zu behandeln, denn im Falle der Tilgung oder der Tilgungsreife dürfen die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden (§ 51 BZRG). Dies bedeutet primär, dass getilgte oder tilgungsreife Vorstrafen in einem neuen Strafverfahren nicht strafschärfend berücksichtigt werden dürfen2. Im Übrigen besteht, jedenfalls nach der Rechtsprechung, eine eindeutige Tendenz zur restriktiven Handhabung des § 51 BZRG. Danach gilt das Verwertungsverbot in einer Reihe von Fällen nicht, die der Verteidiger kennen muss: So wird § 51 BZRG nicht auf Bußgeldentscheidungen angewendet, die nicht in das Verkehrszentralregister einzutragen sind3, das sind die Verurteilungen zu Bußgeldern aufgrund anderer Gesetze. Ebenso wenig gilt die Vorschrift bei Verfahren, die durch Einstellung beendet worden sind4. Ferner dürfen auch der Sachverhalt bzw. einzelne Feststellungen von früheren freisprechenden Erkenntnissen ohne weiteres verwertet und vorgehalten werden5. Schließlich steht § 51 Abs. 1 BZRG einer indiziellen Verwertung der getilgten oder tilgungsreifen Verurteilung für den Schuldspruch nicht entgegen, wenn die Nichtverwertbarkeit die Rechtsstellung Dritter schmälern könnte, z.B. dann, wenn die neue Tat als (zivilrechtlich) unerlaubte Handlung Ansprüche Dritter begründet (§ 51 Abs. 1 BZRG). Die Bedeutung des § 51 BZRG leidet letztlich auch darunter, dass § 52 BZRG in bestimmten, dort näher bezeichneten Fällen Ausnahmen vom Verwertungsverbot zulässt. Der Verteidiger wird stets darauf zu achten haben, dass die gesetzlichen Grenzen des Verwertungsverbots eingehalten werden, damit das neue Gesetz dem Verurteilten nicht „Steine statt Brot“ gibt. In Bundeszentralregistersachen ist als Rechtsbehelf der Antrag auf ge- 1132 richtliche Entscheidung an den Strafsenat des Oberlandesgerichts gegeben (§§ 23 ff. EGGVG, Rz. 1087), jedoch erst nach Erschöpfung des Rechtsweges6. Das Verkehrszentralregister, das in den §§ 28–30 StVG, §§ 59–64 Fahr- 1133 erlaubnis-Verordnung – FeV – geregelt ist, wird beim Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg geführt (sog. „Verkehrssünderkartei“). Es bezieht sich auf Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, die im Zusammenhang mit der Teilnahme am Straßenverkehr begangen worden sind. Eingetragen 1 Eine Ausnahme gilt beim unbeschränkten Auskunftsrecht von Behörden, falls der Verurteilte hierüber belehrt worden ist (§ 53 Abs. 2 BZRG). 2 BGH v. 24.4.1985 – 2 StR 164/85, StV 1985, 322; BGH v. 19.7.1972 – 3 StR 66/72, BGHSt. 24, 378. 3 BayObLG v. 6.2.1973 – RReg. 1 St 511/72 OWi, NJW 1973, 1091. 4 BGH v. 6.12.1972 – 2 StR 499/72, NJW 1973, 289. 5 OLG Karlsruhe v. 5.1.1973 – 2 Ss (B) 166/72, NJW 1973, 291. 6 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 23 EGGVG Rz. 12 (Anh. A 2).
645
Rz. 1134
Der Verteidiger im Gnadenverfahren
werden (§ 28 StVG) z.B. Gerichtsurteile, die auf eine Strafe oder auf Maßnahmen erkennen oder einen Schuldspruch enthalten, Entscheidungen der Gerichte über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis sowie rechtskräftige Entscheidungen von Gerichten oder Verwaltungsbehörden wegen bestimmter Ordnungswidrigkeiten, wenn gegen den Betroffenen ein Fahrverbot oder eine Geldbuße von mindestens 40 Euro festgesetzt ist. Nicht eingetragen werden dagegen Einstellungen des Verfahrens nach § 47 OWiG, §§ 153, 153a StPO. Die Tilgung erfolgt nach Ablauf bestimmter Fristen (§ 29 StVG, § 63 FeV), die bei Ordnungswidrigkeiten nicht mehr als zwei Jahre betragen dürfen, sofern keine weiteren Eintragungen über den Betroffenen im Register enthalten sind (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 StVG). Die Auskunft aus dem Register ist nach § 30 StVG beschränkt. Sie darf nur für Zwecke der Strafverfolgung, für Verwaltungsmaßnahmen sowie zur Vorbereitung von Entscheidungen über eine Erlaubnis im Straßenoder Luftverkehr erteilt werden (§ 30 Abs. 1 Nr. 1–3 StVG).
V. Gnadenverfahren Literatur: Dahs, Vorauswirkungen von Rechtsreformen, ZRP 1970, 3; Eisenberg, Zur gerichtlichen Überprüfung eines Widerrufs der gnadenweise gewährten Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe, NStZ 1993, 54; Freuding, Das Gnadenrecht – Ein Überblick des Gnadenverfahrens am Beispiel der Gnadenordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (GnONW), StraFo 2009, 491 ff.; Knauth, Das verfassungsrechtliche Willkürverbot im Gnadenverfahren, StV 1981, 353; Kuhn in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 825 ff.; Meier, Vertraulich, aber unspektakulär: Die Gnadenpraxis in Deutschland, FS Schwind (2006), S. 1059; Müller-Dietz, Recht und Gnade, DRiZ 1987, 474; Pflieger, Gnade vor Recht?, ZRP 2008, 84; Rüping, Die Gnade im Rechtsstaat, FS Schaffstein (1975), S. 31 ff.; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, 2. Aufl. 1992; Schall, Gnade vor Recht oder Recht vor Gnade?, FS Herzberg (2008), S. 899; Schneider, Anmerkungen zum Begnadigungsrecht, MDR 1991, 101.
1134
Das Gnadenrecht ist eine vielseitige Materie, die der Verteidiger nur selten voll beherrscht. Das liegt vornehmlich an der Zersplitterung der maßgebenden Bestimmungen, der Zuständigkeit und der Rechtsmittel. Die Strafprozessordnung bestimmt in § 452 die Zuständigkeit des Bundes für die Urteile des BGH und der Länder in allen anderen Fällen. Man muss die für das betreffende Land geltende Gnadenordnung und sonstige Bestimmungen in Landesgesetzen, Verordnungen und allgemeinen Verfügungen zur Hand haben, wen man in einer Gnadensache tätig wird. Sie können hier im Einzelnen nicht aufgezählt werden (für Nordrhein-Westfalen: Gnadenordnung vom 26.11.1975, zuletzt geändert am 24.6.1987 [JMBlNW S. 169])1. Die landesrechtlichen Bestimmungen sind zusam-
1 GVBl. NJ 1976, 16 ff. (Nr. 321).
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Gnadenverfahren
Rz. 1136
mengestellt im Schönfelder1. Diese Bestimmungen gehen so in das Detail, dass hier auf eine ausführliche Darstellung verzichtet werden muss. Die nachfolgenden Ausführungen sind daher auf die aus praktischer Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse und Hinweise für ein zweckmäßiges Vorgehen des Verteidigers beschränkt. Als Auftraggeber in Gnadensachen treten Menschen verschiedenster Ty- 1135 pen an den Verteidiger heran. Oft sind es Verzweifelte, die nach rechtskräftiger Verurteilung nach dem Gnadengesuch wie ein Ertrinkender nach dem rettenden Strohhalm greifen. Häufig sind es auch labile Personen ohne Reue und Einsicht, die mit der Aufforderung zum Strafantritt zum Anwalt kommen, als ob er das Zauberwort beherrsche, das sie vor dem Zugriff des Staates schützen könne. In diesem Stadium sind Gnadengesuche meistens so gut wie aussichtslos. Die Mandanten können oder wollen nicht verstehen, dass der schwere Einbruch in ihr Berufsund Privatleben der Natur und dem Zweck der Strafe gemäß ist und als solcher zur Begnadigung nicht ausreichen kann. Auch die schwerwiegenden Auswirkungen auf die unschuldige Familie liegen in der Natur der Sache und sind vom Strafzweck im Allgemeinen gedeckt. Nur wenn darüber hinausgehende Umstände gegeben sind, die außerhalb der normalen Auswirkungen einer Strafvollstreckung liegen, kann ein Erfolg erwartet werden. Dabei ist sorgfältig abzuwägen, welche Maßnahmen einzuleiten sind. Es kann beantragt werden, von Strafvollstreckung ganz abzusehen, einen Strafausstand zu gewähren oder auch Strafunterbrechung zu bewilligen. Die Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB), die Aussetzung des Strafrestes (§ 57 StGB) und die Anordnung, dass die Vollstreckung der Geldstrafe ganz oder zum Teil unterbleibt (§§ 459d ff. StPO), stellen keine Gnadenentscheidungen dar: Solche können aber vorliegen, wenn die Anwendung der genannten Maßnahmen über die gesetzliche Regelung hinaus geboten erscheint. Im Einzelnen geben über diese Möglichkeiten die genannten Bestimmungen Aufschluss. Sie zeigen auch die verschiedenen Zuständigkeiten an, über die der Verteidiger sich zu orientieren hat (Staatsanwaltschaft, Generalstaatsanwalt, Amtsgericht, Gnadenbeauftragter beim Landgericht und andere). Zwar werden an falscher Stelle eingereichte Anträge zuständigkeitsgemäß weitergegeben. Der Verteidiger sollte aber im Auge behalten, mit der zuständigen Stelle ggf. auch Verbindung in einem persönlichen Gespräch zu finden. Ein solches kann für Entschluss und Zeitpunkt zum Gnadengesuch ebenso nützlich sein wie während des Verfahrens. Jede Gnadenstelle hat eine gewisse Gnadenpraxis, die eine gleichmäßige 1136 Behandlung gleichartiger Fälle sicherstellen soll. Der Verteidiger verbaut sich selbst den Weg zum Erfolg, wenn er sich damit nicht vertraut macht und sein Vorgehen danach ausrichtet. Das betrifft auch die ungeschriebenen Richtlinien der einzelnen Justizministerien, die einen „scharfen“ oder „weichen“ Kurs steuern können. Ein Besuch bei der zuständigen 1 Schönfelder, Anhang zu § 452 StPO.
647
Rz. 1137
Der Verteidiger im Gnadenverfahren
Gnadenstelle vor Einreichung des Gesuchs zur Erkundigung der allgemeinen Behördenpraxis und Vorbesprechung der konkreten Sache ist nicht selten überraschend ertragreich. Das gilt insbesondere dann, wenn das Gnadengesuch in einem anderen Bundesland einzureichen ist, dessen Gnadenpraxis dem Verteidiger nicht bekannt ist. Die sonst eher „in der Stille“ agierenden Beamten der Gnadenstellen schätzen die persönliche Vorsprache des Verteidigers und ein angemessenes Gespräch erfahrungsgemäß sehr. Die Wahl des Zeitpunktes für das Gnadengesuch ist eine der wichtigsten Aufgaben des Verteidigers. Man sollte ihn so fixieren, dass unter Einrechnung der Verfahrensdauer die Entscheidung zeitlich mit dem Beginn der Begnadigung zusammenfallen könnte. In manchen Fällen, besonders bei längerer Strafverbüßung, kann es auch richtig sein, ein Gnadengesuch zu einem an sich verfrühten Zeitpunkt einzureichen, um damit die Prüfung der Gnadenumstände einzuleiten und nach einer ersten Ablehnung alsbald zum richtigen Zeitpunkt das Gesuch zu wiederholen. Keinesfalls aber sollte der Verteidiger die Gnadenbehörde mit Anträgen „bombardieren“. 1137
Oft drängt der Mandant auch auf persönliche Fürsprache an höherer Stelle, etwa im Justizministerium oder bei dem Behördenchef, weil er sich hiervon oder von dem Prestige seines Verteidigers einen besonderen Erfolg verspricht. Häufig wird auch gefragt, ob dritte Personen, etwa politische Freunde oder hochgestellte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eingeschaltet werden sollten (sog. „politische Schiene“). Man kann vor solchen Versuchen nur dringend warnen. Sie bewirken bei einer der Legalität und der Unparteilichkeit verpflichteten Justiz in aller Regel nur eine verstärkte Abschirmung gegen unsachliche Beeinflussung. Anders kann es auf der unteren Ebene sein. Der Verteidiger kann viel zu einem Gnadenerweis beitragen, wenn er auch die vor der Entscheidung zu hörenden Stellen, insbesondere auch den Vorstand der Vollzugsanstalt persönlich aufsucht. Auch kann es nützlich sein, wenn Angehörige, etwa die Ehefrau, bei der Gnadenstelle persönlich vorsprechen, weil unmittelbar wirkende Eindrücke vermittelt werden und das Mitgefühl des Sachbearbeiters angesprochen wird. Das ist durchaus legitim, da es sich nicht um einen auf feste Normen gegründeten Rechtsspruch, sondern um eine Ermessensentscheidung im Bereich der Gnade handelt. Unter Umständen sollte der Verteidiger dem Mandanten oder den Angehörigen sogar raten, das Gnadengesuch selbst einzureichen und mit eigenen schlichten Worten zu begründen, besonders wenn dabei auch Gründe der Bedrückung oder Armut geltend gemacht werden sollen. Der spontane Notschrei des Betroffenen kann in einem solchen Falle wesentlich überzeugender wirken als die überlegte Formulierung eines wortgewandten Anwalts, die vielleicht als bloße Routineleistung eines dafür gut honorierten Verteidigers unterbewertet wird.
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Gnadenverfahren
Rz. 1140
Die Begründung des Gnadengesuchs wird meist aus den besonderen Um- 1138 ständen des einzelnen Falles abzuleiten sein. Vielfach enthalten die Urteilsgründe schon wertvolle Hinweise. Es kommt vor, dass das Gericht selbst in der Urteilsbegründung die Begnadigung angeregt hat. Im Einzelnen kommt alles in Betracht, was auch für die Strafzumessung und die Strafaussetzung zur Bewährung bedeutungsvoll ist (Rz. 755 f. und 1102 ff.). Ganz falsch ist der immer wieder anzutreffende Versuch, die sachliche Richtigkeit des rechtskräftigen Urteils anzugreifen. Das sollte einem Verteidiger nicht passieren. Die Gnadeninstanz muss in der Regel von dem Urteil ausgehen, statt dagegen anzugehen. Wichtig ist es, neben den Belastungen der Strafvollstreckung für den Betroffenen und Dritte auch darzustellen, was der Antragsteller bei Begnadigung für sich und andere, z.B. die Familie, Geschädigte, tun kann und wird (Rz. 1141). Gelegentlich kann allerdings auch die Aufgabe einer bestimmten beruflichen Tätigkeit (z.B. durch Verzicht auf Zulassung, Approbation u.a.) die Aussichten des Gesuchs fördern. Nur in Sonderfällen kommt der Gnadenerweis auch zur Korrektur von 1139 Fehlurteilen in Betracht. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Schuldspruch mit schwerwiegenden und für die Gnadenstelle nachvollziehbaren Argumenten zu erschüttern ist, ohne dass ein gesetzlicher Grund zur Wiederaufnahme dargetan werden kann. Urteile sind auch manchmal hinsichtlich des Strafmaßes ein offensichtlicher Fehlgriff, sei es im Vergleich mit anderen Entscheidungen oder wegen ungerechter Überbewertung der Generalprävention. Wieder anders liegt es, wenn ein ungerechtes Gesetz zur Verurteilung geführt hat, das der allgemeinen Rechtsauffassung nicht oder nicht mehr entspricht, oder inzwischen sogar aufgehoben ist1. Man spricht dann von einem korrigierenden Gnadenerweis. Das war beispielsweise der Fall bei Verurteilung wegen einfacher homosexueller Handlungen oder anderer Sexualdelikte, deren Strafbarkeit nach den bereits vorliegenden Gesetzentwürfen zur Strafrechtsreform entfallen sollte. Bis dahin konnte die Korrektur der auf dem noch geltenden Gesetz beruhenden ungerechten Urteile nur auf dem Gnadenwege erfolgen. Auch bei Trunkenheit am Steuer ist in großem Umfange im Wege der Gnadenentscheidung Strafaussetzung zur Bewährung nach rechtskräftiger Verurteilung bewilligt worden, nachdem ein Grundsatzurteil des BGH die Strafaussetzung für Ersttäter zur Regel gemacht hatte (Rz. 1102)2. In manchen Fällen ist auch die Begnadigung zu erreichen, weil der Ver- 1140 urteilte durch die Tatfolgen selbst schwerstens betroffen ist, diese Umstände zur Zeit des Urteils jedoch noch nicht eingetreten oder bekannt waren und somit nicht berücksichtigt werden konnten (§ 60 StGB). Hier ist zu denken an gesundheitliche Spätschäden des Täters oder naher Angehöriger aus einem schuldhaft verursachten Verkehrsunfall, Verlust der 1 Vgl. hierzu Dahs, ZRP 1970, 3. 2 BGH v. 19.7.1968 – 4 StR 4/68, NJW 1968, 1787.
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Rz. 1141
Der Verteidiger im Gnadenverfahren
beruflichen Stellung, durch Schadensersatzleistung, z.B. einen nachträglichen Täter-Opfer-Ausgleich gem. § 46a StGB, eingetretene wirtschaftliche Notsituation u.Ä. 1141
Wirksame Unterstützung des Gnadengesuchs bedeutet in jedem Falle die Wiedergutmachung des Schadens, der durch die Straftat angerichtet ist. Sie stellt einen echten Beitrag zur eigentlichen „Sühne“ dar, die der Täter in sich selbst zu vollziehen hat. Den Nachweis der Sühneleistung sollte der Verteidiger sich sehr angelegen sein lassen. Er kann unter Umständen sogar eine Erklärung des Geschädigten herbeiführen, der sich möglicherweise für eine Begnadigung des Täters einsetzt. Der Verteidiger kann sich auch um Leumundszeugnisse und Befürwortungen angesehener Personen (Bürgermeister, Pfarrer und andere) bemühen und auf jede Weise das Bild des Auftraggebers vervollständigen, um damit Lücken in der Persönlichkeitsdiagnose im gerichtlichen Urteil zu schließen.
1142
In der Praxis entstehen die größten Schwierigkeiten aus der zeitlichen Koinzidenz des Gnadengesuchs und der Strafvollstreckung. Diese wird durch das Gnadengesuch grundsätzlich nicht gehemmt. Sie kann aber eingestellt werden, wenn das Gnadengesuch Aussicht auf Erfolg verspricht. Damit kann aber nicht ohne weiteres gerechnet werden. Ist ein früheres Gesuch schon einmal abgewiesen worden, versprechen nur neue, schwerwiegende Gründe Aussicht auf eine Einstellung der Vollstreckung. Wenn Aufforderung zum Strafantritt und Gnadengesuch gleichzeitig laufen, ist die Situation sehr ungemütlich. Der Verteidiger kann dem Mandanten nicht raten, die Aufforderung zum Strafantritt zu ignorieren, solange ihm keine Einstellung der Vollstreckung zugesichert ist.
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Der Verteidiger muss schließlich über die Anfechtbarkeit von Gnadenentscheidungen Bescheid wissen. Statthaft ist die Beschwerde an die obere Gnadenbehörde, soweit sie von der jeweils maßgeblichen Gnadenordnung vorgesehen ist. Das BVerfG1 lehnt eine richterliche Nachprüfung ab. Der Widerruf eines Gnadenaktes ist dagegen auch vom BVerfG2 für justiziabel (§§ 23 ff. EGGVG)3 erklärt worden.
1144
Bei Begnadigung wird die Strafe im Zentralregister nicht getilgt (§ 14 BZRG). Eine Tilgung im Wege der Gnade ist jedoch möglich.
1 BVerfG v. 23.4.1969 – 2 BvR 552/63, BVerfGE 25, 352 ff.; BVerfG v. 3.7.2001 – 2 BvR 1039/01, NJW 2001, 3771; Einzelheiten bei Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, § 23 EGGVG Rz. 17. 2 BVerfG v. 12.1.1971 – 2 BvR 520/70, BVerfGE 30, 108 ff. 3 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 23 EGGVG Rz. 17.
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E. Fünfter Hauptteil Der Verteidiger in besonderen Funktionen I. Der Verteidiger als Rechtsberater und Rechtsvertreter von Wirtschaftsunternehmen in Strafsachen Literatur: Achenbach, Verbandsgeldbuße und Aufsichtspflichtverletzung (§§ 30 und 130 OWiG) – Grundlagen und aktuelle Probleme, NZWiSt 2012, 321 ff.; Achenbach/Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2012; Ignor/Sättele in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 1104 ff.; Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht (Handbuch), 5. Aufl. 2011; Rettenmaier/Palm, Das Ordnungswidrigkeitenrecht und die Aufsichtspflicht von Unternehmensverantwortlichen, NJOZ 2010, 1414 ff.; Taschke, Verteidigung von Unternehmen – Die wirtschaftsstrafrechtliche Unternehmensberatung, StV 2007, 495; Volk (Hrsg.), Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 2. Aufl. 2014.
Der anwaltliche Strafverteidiger wird seit Jahren zunehmend auch von 1145 Wirtschaftsunternehmen als Berater und Vertreter gesucht. Die ihm in diesem Bereich übertragenen Aufgaben betreffen nicht nur das klassische Wirtschaftsstrafrecht, sondern auch die strafrechtlich eher „jungen“ Gebiete des Bilanz-, Börsen- und Wertpapierhandelsstrafrechts, aber auch z.B. das Umweltstrafrecht. Diese Ausweitung des Mandatsspektrums hängt gewiss damit zusammen, dass das Wirtschaftsstrafrecht im weitesten Sinne, d.h. einschließlich des Korruptionsstrafrechts eine immer größere Bedeutung in der Praxis der (Schwerpunkt-)Staatsanwaltschaften und Gerichte und folgerichtig auch der Strafverteidiger gewonnen hat. Das Aufgabengebiet ist breit, vielschichtig, juristisch oft schwierig, mithin für den Strafverteidiger sehr interessant – nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. 1. Unternehmensberatung Unter diesem Begriff wird gemeinhin eine betriebswirtschaftlich-kauf- 1146 männische Beratungshilfe verstanden, die bei Umstrukturierungen oder Krisen, nicht zuletzt aber auch als Hilfe bei der allgemeinen Unternehmensführung in Anspruch genommen wird. Der spezifisch strafrechtliche Beratungsbedarf wird durch ähnliche oder andere Umstände ausgelöst: So kann in einem Unternehmen – mit oder ohne besonderen „Anstoß“ – das Bedürfnis gesehen werden, strafrechtliche Verantwortlichkeiten in der Hierarchie zu definieren, sie auf die konkreten Verhältnisse im Unternehmen zu übertragen, zu modifizieren und Empfehlungen zu geben, die einen allgemeinen oder auch nur speziellen Schutz, z.B. der Leitungsebene gegen strafrechtliche Verantwortlichkeiten für Fehlentwicklungen, Unglücksfälle u.a., bieten können. Insoweit wird der beratende Strafrechtler oft zunächst um ein Gutachten zum Ist-Zustand gebeten, in dem er dann z.B. feststellt, dass ein gravierender Organisati651
Rz. 1147
Der Verteidiger in besonderen Funktionen
onsmangel im Vorstand der AG bereits darin liegt, dass dasselbe Vorstandsmitglied zugleich für die Produktion und den Umweltschutz verantwortlich ist. Der Interessenkonflikt liegt hier auf der Hand! In der Regel betrifft das Thema der Beratung jedoch die Frage, ob die Organisations-, Auswahl-, Leitungs-, Instruktions- und Kontrollpflichten1 entsprechend den rechtlichen Anforderungen (§ 130 OWiG) geregelt sind und „funktionieren“. Erfahrungsgemäß entdeckt man in diesem Bereich nicht selten Unterschiede zwischen der „papierenen“ und „gelebten“ Organisation, d.h. die geforderten organisatorischen Anweisungen sind zwar getroffen, die Delegation von Aufgaben in der Vertikale der Hierarchie ist erfolgt – nur wird in der Praxis alles anders gemacht. Ebenso stößt man zuweilen auf eine an sich einwandfreie Organisationsstruktur, jedoch fehlt es an regelmäßigen Kontrollen, ob die Verantwortlichen ihre Aufgaben erfüllen oder einer sauberen Dokumentation durchgeführter Kontrollen und ihrer Ergebnisse sowie an der Berichterstattung „nach oben“ bis zur Unternehmensleitung (Compliance). Die an den Strafverteidiger gerichtete Frage geht auch nicht selten dahin, wie man es erreichen könne, dass – was auch immer im Unternehmen passiert –, jedenfalls „die Leitungsebene rausgehalten wird“. Die für die Mandantschaft oft wenig zufriedenstellende Antwort kann hier in aller Regel nur dahin gehen, dass die Letztverantwortung der Firmenleitung rechtlich nicht abgenommen werden kann, jedoch durch eine Reihe von Maßnahmen der beispielhaft genannten Art erreicht werden kann, dass faktisch die Gefahr strafrechtlicher Verstrickung „nach oben“ erheblich ausgedünnt wird. Dazu gehört allerdings auch der Hinweis, dass Ermittlungsbehörden in der Praxis zur sog. Top-down-Methode neigen, d.h. ihre Untersuchungen gerne auf der Leitungsebene beginnen. Bei der Beratung von Wirtschaftsunternehmen ist oft umfangreiche Überzeugungsarbeit zu leisten, wenn z.B. Aufsichtsbehörden des Umweltbereichs oder technischer Bereiche bisher entweder ignoriert oder nur als Hindernis für unternehmerisches Handeln betrachtet worden sind. Die Bedeutung dieser Behörden, nicht nur soweit sie als Ermittlungsbehörden für die Staatsanwaltschaft in Betracht kommen, muss ebenso deutlich werden wie die Empfehlung, diese ggf. präventiv-beratend zu befragen, um damit Vorkehrungen für eine im Falle des Falles in Betracht kommende strafrechtliche oder bußgeldrechtliche Überprüfung zu schaffen. Es ist nicht immer leicht, Unternehmen davon zu überzeugen, dass ein gutes Verhältnis zu den Ordnungs- und Aufsichtsbehörden, z.B. StUA, StAfA, EBA, BaFin, insbesondere auch der Gewerbeaufsicht, besser ist als eine noch so gute Strafverteidigung, wenn erst einmal ein Unglücksfall oder umweltbelastender Unfall o.Ä. geschehen oder die Zahlung von Schmiergeldern (insbesondere im Ausland) zur Erlangung von Aufträgen eingerissen ist. 1147
Zur Beratungsaufgabe des strafrechtlich beratenden Anwalts kann es dann auch gehören, alle in der „Verantwortungskette“ stehenden Per1 Rettenmaier/Palm, NJOZ 2010, 1414 ff.
652
Der Verteidiger als Rechtsberater von Unternehmen
Rz. 1149
sonen über die rechtlichen Konsequenzen der Organisations- und Verantwortungsstruktur zu unterrichten, ihnen die sie jeweils persönlich treffenden Pflichten vor Augen zu führen und – last but not least – auf mögliche strafrechtliche Sanktionen bei Pflichtverstößen oder Unterlassungen hinzuweisen. Dazu gehören auch die Belehrung über Eintragungen in das Gewerbezentralregister (§ 149 GewO) und das Verdikt der Unzuverlässigkeit mit ihren gewerberechtlichen Konsequenzen (vgl. § 149 Abs. 2 GewO). Dies gilt ebenso für Eintragungen in das von einigen Bundesländern geführte Korruptionsregister, verbunden mit dem Hinweis, dass eine solche Eintragung den Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge zur Folge haben kann. Ein anderer Bereich der strafrechtlichen Beratung kann darin bestehen, 1148 dass ein Wirtschaftsunternehmen eine Aufklärung darüber wünscht, welche strafrechtlichen Risiken in seinem speziellen Wirtschafts- und Handlungsbereich überhaupt in Betracht kommen, in die man ohne strafrechtlichen dolus aus Unkenntnis „hineinschlittern“ könnte. Das Spektrum reicht hier von § 266 StGB mit seinen kaum noch übersehbaren und für Kaufleute nicht mehr verständlichen Verfeinerungen und Verästelungen, z.B. wenn ein Bankinstitut einen Großkunden auch durch eine Absatzschwäche, die zu einer nicht immer ausreichenden Kreditsicherung führt, „durchfinanziert“ bis wieder fester Boden erreicht ist1. Es ist nicht auszuschließen, dass Strafverfolgungsbehörden in so strukturierten Fällen die Meinung vertreten, dass auf dem Wege der Durchfinanzierung zu einem bestimmten Zeitpunkt mangels ausreichender Kreditsicherheiten eine Untreue (im Sinne einer Vermögensgefährdung zum Nachteil des Kreditinstituts) begangen worden sei2. Sponsoring kann in Bezug auf das Vermögen der juristischen Person oder Korruptionsdelikte bedenklich sein. Der Geldwäschetatbestand des § 261 StGB und die ihn flankierenden zahlreichen Vorschriften können ebenfalls leicht zu strafrechtlicher Verstrickung führen, ebenso § 299 StGB oder ein allzu sorgloser Umgang mit den Vorschriften des Börsen- und Wertpapierhandelsgesetzes, z.B. der unverzüglichen Publikation besonderer Ereignisse (sog. Ad-hoc-Mitteilungen, u.a. nach § 21 WpHG). Daneben bietet das Recht der Ordnungswidrigkeiten ein weites Betätigungsfeld, in dem der beratende Strafverteidiger den Kaufmann und Unternehmer vor Fehltritten bewahren kann. Als weitere Gruppe sind die Fälle von Einzelberatungen verschiedenster 1149 Art zu nennen. So wird z.B. der Strafverteidiger nicht selten gefragt, ob es rechtsbedenklich sei, die Geldstrafe oder die Geldauflage nach § 153a StPO für einen Mitarbeiter zu bezahlen oder ob man damit in die Nähe von Strafvereitelung und Begünstigung gerate. Dass die Erstattung von Geldauflagen im Rahmen einer Verfahrenserledigung nach § 153a StPO 1 BGH v. 15.11.2001 – 1 StR 185/01, BGHSt. 47, 148. 2 Vgl. dazu Rettenmaier/Reichling in Schork/Groß (Hrsg.), Bankstrafrecht, NJWPraxis, Band 94, § 3.
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Rz. 1150
Der Verteidiger in besonderen Funktionen
bei einem betrieblich veranlassten Fehlverhalten unbedenklich ist, ist heute herrschende Auffassung1. Hier ist insbesondere die Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 19912 hilfreich, in der mit jeder wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen ist, dass weder die Zustimmung zur Einstellung noch die Leistung der Geldauflage die fortbestehende Unschuldsvermutung tangiert, somit die Frage eines Verschuldens offenbleibt und deshalb auch eine solche Einstellung dem Betroffenen in keinem rechtlich geordneten Verfahren jemals entgegengehalten werden darf3. Auch die Bezahlung einer Geldstrafe durch Dritte – nicht nur durch den Arbeitgeber im Rahmen seiner (fortwirkenden) Fürsorgepflicht – ist an sich strafrechtlich unbedenklich4. Allerdings muss zugleich die Prüfung anheim gegeben werden, welche Personen bzw. Gremien des Unternehmens dafür ihre Zustimmung geben müssen, z.B. der Aufsichtsrat. Zugleich muss geprüft werden, ob es sich bei dem in Rede stehenden Delikt um ein solches zum (wirtschaftlichen) Nachteil des Unternehmens gehandelt hat. Dann könnte nämlich die Bezahlung der Geldstrafe dem Unternehmensinteresse zuwiderlaufen und ihrerseits in den Bereich des § 266 StGB fallen. Entsprechende Überlegungen gelten übrigens auch für die Bezahlung der Gerichtskosten und der Verteidigerkosten. Ganz allgemein ist dem Verteidiger zu empfehlen, seine Ratschläge an Unternehmen auf jeden Fall schriftlich festzuhalten, am besten in einer Korrespondenz oder gutachtlichen Äußerung, mindestens aber in einem ausführlichen Aktenvermerk, damit er für den Fall eines Personalwechsels im Unternehmen, eines Unternehmensverkaufs oder sonst grundlegend geänderter Verhältnisse eine einwandfreie Dokumentation zur Verfügung hat. Hier wie auch sonst sollte der Verteidiger dem Element des Selbstschutzes einen durchaus hohen Stellenwert einräumen. 2. Verteidigung und Vertretung in Straf- und Bußgeldsachen Literatur: Achenbach, Verbandsgeldbuße und Aufsichtspflichtverletzung (§§ 30 und 130 OWiG) – Grundlagen und aktuelle Probleme, NZWiSt 2012, 321; Ignor/ Sättele in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 1104 ff.; Minoggio, Firmenverteidigung, 2005.
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Ein anderes Arbeitsgebiet ist die Beratung und Vertretung von Unternehmen in Strafsachen oder Bußgeldverfahren. Mit den Möglichkeiten des Krisenmanagements in Ermittlungsverfahren befasst sich das Handbuch 1 BGH v. 7.11.1990 – 2 StR 439/90, BGHSt. 37, 226; Fischer, § 258 StGB Rz. 32 m.N. (für Geldstrafe); vgl. auch Spatscheck/Ehnert, Übernahme von Geldsanktionen und Verteidigerhonorar, StraFo 2005, 265; Poller, Untreue durch Übernahme von Geldsanktionen, Verfahrenskosten und Verteidigerhonoraren, StraFo 2005, 274. 2 BVerfG v. 16.1.1991 – 1 BvR 1326/90, MDR 1991, 891. 3 Vgl. dazu Rettenmaier, Außerstrafrechtliche Folgen der Verfahrenseinstellung nach Erfüllung von Auflagen, NJW 2013, 123 ff. 4 BGH v. 7.11.1990 – 2 StR 439/90, BGHSt. 37, 226 m.N.
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Der Verteidiger fr Wirtschaftsunternehmen
Rz. 1151
eingehend unter C I. 1. an vielen Stellen (Rz. 233 ff., 236, 243), auf die hier verwiesen werden muss. Besonderheiten im Unternehmensbereich ergeben sich aus §§ 130, 30 OWiG. Die Bedeutung dieser Vorschriften wird durch die §§ 130 Abs. 3 und 30 Abs. 2 i.V.m. § 17 Abs. 4 OWiG deutlich, wonach eine Geldbuße von bis zu einer Million Euro oder auch darüber (weit) hinaus nach § 17 Abs. 4 OWiG verhängt werden kann. Hier liegt die Besonderheit vor, dass neben der Geldbuße gegen die Leitungsperson des Unternehmens, insbesondere seine Organe dieses selbst – wenn es sich um eine juristische Person handelt – eine selbständige Geldbuße nach § 30 OWiG festgesetzt werden kann. Diese nicht allgemein bekannte Möglichkeit trifft manches Unternehmen völlig unvorbereitet, jagt ihm einen gehörigen Schrecken ein und löst ein starkes Bedürfnis nach effektiver Verteidigung aus. Dazu muss der Verteidiger wissen, dass § 146 StPO der gleichzeitigen Verteidigung eines Organs und der juristischen Person nicht entgegensteht1 – was ihn natürlich nicht davon entbindet, im Einzelfall die Frage einer Interessenkollision zwischen der Verteidigung des Organs und der Gesellschaft sorgfältig zu prüfen. Die sog. Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG ist deshalb für Wirtschaftsunternehmen so gefährlich, weil sie zur Verurteilung des Organs – zivilrechtlich gesehen – streng akzessorisch ist, d.h. der Gesellschaft praktisch keine eigenen Verteidigungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die von der Verteidigung des Organs unabhängig sind. Überdies kann die Geldbuße gegen das Unternehmen auch selbständig nach § 30 Abs. 4 OWiG festgesetzt werden. Das bedeutet, dass das Unternehmen „auf Gedeih und Verderb“ von der effektiven Verteidigung seines Organs abhängig ist, weshalb diese besondere rechtliche Struktur es wiederum nahelegt, dass die Verteidigung des Organs und der Gesellschaft – wenn möglich – in einer Hand liegt oder jedenfalls koordiniert geführt wird. Wenn der Anwalt, der ausschließlich das Unternehmen im Sinne des 1151 § 30 OWiG vertritt, damit auch nicht im engeren begrifflichen Sinne „Verteidiger“ ist, sondern eben „Firmenvertreter“, so befindet er sich doch in der Position eines Quasi-Verteidigers mit der Folge, dass ihm das Recht auf unkontrollierten Verkehr (Korrespondenz) mit seiner Mandantin ebenso zusteht wie auch der einschlägige Schriftverkehr und sämtliche Verteidigungsunterlagen beschlagnahmefrei sind im Sinne des § 97 Abs. 1 i.V.m. § 148 StPO2. § 146 StPO greift nicht ein. 3. Unternehmen als Geschädigte Literatur: BRAK, Stellungnahme Nr. 35/2010 (2011), S. 1 ff.; Breßler/Kuhnke/ Schulz, Inhalte und Grenzen von Amnestien bei Internal Investigations, NZG 2009, 721; Dann, Geheime Mitarbeiterkontrollen: Straf- und arbeitsrechtliche Risiken bei unternehmensinterner Aufklärung, NJW 2008, 2945 ff.; Fritz/Nolden, Unterrichtungspflichten und Einsichtsrechte des Arbeitnehmers im Rahmen von un1 BVerfG v. 21.6.1977 – 2 BvR 70/75; 2 BvR 361/75, BVerfGE 45, 272 (288); BGH v. 14.10.1976 – KRB 1/76, DRiZ 1977, 24. 2 Das ergibt sich aus § 434 Abs. 2 StPO.
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Rz. 1152
Der Verteidiger in besonderen Funktionen
ternehmensinternen Untersuchungen, CCZ 2010, 170; Göpfert/Merten/Siegrist, Mitarbeiter als Wissensträger – Ein Beitrag zur aktuellen Compliance-Diskussion, NJW 2008, 1703 ff.; Hamm, Compliance vor Recht?, NJW 2010, 1332 ff.; Hauschka/Salvenmoser, Korruption, Datenschutz und Compliance, NJW 2010, 331 ff.; Ignor, Rechtsstaatliche Standards für interne Erhebungen in Unternehmen – Die „Thesen zum Unternehmensanwalt im Strafrecht“ des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, CCZ 2011, 143 ff.; Klengel/Mückenberger, Internal Investigations – typische Rechts- und Praxisprobleme unternehmensinterner Ermittlungen, CCZ 2008, 81 ff.; Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis (Hrsg.), Internal Investigations – Ermittlungen im Unternehmen, 2013; Leipold, Internal Investigations – Fluch und Segen zugleich?, FS Schiller (2014), 418; Leitner, Unternehmensinterne Ermittlungen im Konzern, FS Schiller (2014), 430; Mengel/Ullrich, Arbeitsrechtliche Aspekte unternehmensinterner Investigations, NZA 2006, 240 ff.; Michalke, Compliance oder die gute „alte“ Eigenmesskontrolle, FS Schiller (2014), S. 493; Momsen/Grützner, Wirtschaftsstrafrecht, 2013; Rödiger, Strafverfolgung von Unternehmen, Internal Investigations und strafrechtliche Verwertbarkeit von Mitarbeitergeständnissen, Diss. 2012; Rudkowski, Die Aufklärung von Compliance-Verstößen durch „Interviews“, NZA 2011, 612 ff.; Sidhu/v. Saucken/Ruhmannseder, NJW 2011, 881.
1152
Schließlich wird der Strafverteidiger von Wirtschaftsunternehmen in Anspruch genommen, wenn sie sich durch eigene Mitarbeiter und/oder Dritte in strafrechtlich relevanter Weise geschädigt fühlen. Ein solcher Auftrag bedingt zuweilen eigene Ermittlungshandlungen des Anwalts, um den aufgekommenen Verdacht näher zu prüfen und ggf. durch zusätzliche sachliche Erkenntnisse zu verfestigen. In diesem Rahmen wird dann auch die Frage gestellt, ob Strafanzeige erstattet werden soll oder man die Sache „unternehmensintern“ erledigen könne. Soweit es sich um entstandene Vermögensnachteile handelt, kommt hier wieder § 266 StGB ins Spiel, und der Verteidiger wird in dubio zur Strafanzeige raten müssen. Wenn ihm deren Ausarbeitung oder die Überprüfung eines entsprechenden Entwurfes z.B. der Rechtsabteilung aufgegeben wird, hat er darauf zu achten, dass alle Tatbestandsmerkmale des angezeigten Delikts durch Tatsachen, etwa vorhandene Unterlagen oder Benennung von Zeugen pp. belegt werden, was auch für den subjektiven Tatbestand gilt. Jede Polemik ist zu vermeiden; sie würde dem Anliegen des Unternehmens, die Staatsanwaltschaft zu einer ernsthaften Prüfung der Sache zu veranlassen, nur schaden. Ob der Anwalt die Strafanzeige unter seinem Briefkopf erstattet oder dies dem Unternehmen überlässt und sich anschließend zu den Akten als „Geschädigtenvertreter“ legitimiert, ist eine im Einzelfall zu entscheidende Frage. Jedenfalls sollte er im Interesse der Mandantin dafür sorgen, dass er Kontakt mit den Ermittlungsbehörden halten und das Verfahren im Sinne der Mandantin fördern kann.
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Firmeninterne Untersuchungen (sog. „Internal Investigations“) sind seit einigen Jahren ein besonderes Betätigungsfeld der strafrechtlichen Unternehmensberatung geworden. Dabei greifen die Unternehmen wegen der Ähnlichkeit der Vorgänge mit strafrechtlichen Ermittlungen nicht selten auf die Unterstützung des Strafverteidigers zurück. Dieser soll vermutete Verstöße gegen die gute, regelkonforme Unternehmensführung (Corpora656
Der Verteidiger und „Internal Investigations“
Rz. 1156
te Governance sowie Compliance) (zunächst) für die Unternehmensleitung aufklären und dieser damit eine Grundlage für die Entscheidung verschaffen, ob die gewonnenen Erkenntnisse den staatlichen Strafverfolgungsbehörden, insbesondere der Staatsanwaltschaft angezeigt werden oder ob Fehlverhalten oder Missstände unternehmensintern erledigt werden können. Mit Straf-Verteidigung hat dies zwar allenfalls indirekt zu tun (Vorwürfe gegen die Unternehmensleitung wegen der Duldung von strafrechtlichen Verstößen können abgewehrt werden), jedoch wird der Strafverteidiger wegen seiner speziellen Kenntnisse und Erfahrungen in Ermittlungsvorgängen hier nicht selten als eine Art hausinterner „Firmenstaatsanwalt“ beauftragt. Übernimmt der Rechtsanwalt einen solchen Auftrag, so ist er selbstver- 1154 ständlich als Strafverteidiger für die im Einzelfall betroffenen Personen gesperrt (§ 356 StGB). Auch eine interne Verteidigungsberatung kann nicht in Betracht kommen. Der Anwalt kann auch nicht abwarten, ob sich aus seinen Untersuchungen ein vorzugswürdiges Mandat auf der Seite der möglicherweise Betroffenen ergibt, sondern er muss bei Übernahme des Mandats eine Entweder-Oder-Entscheidung treffen. Übernimmt er das Untersuchungsmandat für die Unternehmensleitung, 1155 so wird er peinlich darauf zu achten haben, dass er sich – gerade wegen der arbeitsrechtlichen „Aussagepflicht“ der Mitarbeiter1 – nicht selbst in die Gefahr der Strafverfolgung bringt.2 Personenbezogene Daten dürfen nur im Einklang mit dem Bundesdatenschutzgesetz erhoben, behandelt und verwertet werden (§§ 4, 32 BDSG).3 Bei der Forderung nach Herausgabe von Dokumenten ist auf die Abgrenzung zu privaten Dateien und E-Mails besonders zu achten.4 Sowohl im Interesse der Vermeidung eigener strafrechtlicher Risiken als auch zur Schaffung einer belastbaren Tatsachengrundlage und strafrechtlichen Bewertung ist daher dringend zu empfehlen, das gesamte Vorgehen bei der Untersuchung ausführlich zu dokumentieren. Für die Durchführung von Mitarbeiterbefragungen können dabei z.B. die Thesen der Bundesrechtsanwaltskammer zum Unternehmensanwalt im Strafrecht5 Hilfe leisten.6 Im Rahmen der Untersuchung stellen nicht selten sog. Amnestiepro- 1156 gramme ein besonderes Problem dar. Im Rahmen solcher Programme kann den Arbeitnehmern in Aussicht gestellt werden, dass das Unternehmen auf arbeitsrechtliche Konsequenzen oder die Geltendmachung zivilrechtlicher Haftungs- und Schadensersatzansprüche verzich1 2 3 4
Dazu und zu den Folgen Rödiger, 294 ff. Hierzu i.E. Dann, NJW 2008, 2945 ff. Dazu Hauschka/Salvenmoser, NJW 2010, 331. Vgl. dazu Mengel/Ullrich, NZA 2006, 240 ff.; Göpfert/Merten/Siegrist, NJW 2008, 1703. 5 Stellungnahme der BRAK Nr. 35/2010 (2011), S. 1 ff. 6 Stellungnahme der BRAK Nr. 35/2010 (2011); Ignor, Rechtsstaatliche Standards für interne Erhebungen in Unternehmen […], CCZ 2011, 143 ff.
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Rz. 1157
Der Verteidiger in besonderen Funktionen
tet, wenn der Mitarbeiter bei der Aufklärung Hilfe leistet.1 Dabei hat der Anwalt gegenüber dem Mitarbeiter eindeutig klarzustellen, dass das Unternehmen keine strafrechtliche Amnestie erteilen kann. Allenfalls komme in Betracht, dass bei der Feststellung strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen auf die Erstattung einer Strafanzeige bzw. eines Strafantrages verzichtet wird. Dem befragten Mitarbeiter muss auch klar sein, dass seine Mitwirkung bei der Aufklärung aus strafprozessualer Sicht nur auf der Strafzumessungsebene (§ 46 StGB) Berücksichtigung finden kann. Hier wie auch sonst darf der Compliance-Ermittler keinesfalls den Eindruck gegenüber dem Mitarbeiter aufkommen lassen, er befinde sich in einer „quasi-behördlichen Vernehmungssituation“. Der befragte Mitarbeiter muss sich andererseits aber darüber im Klaren sein, dass seine Aussagen oder von ihm übergebene Unterlagen – je nach Entscheidung der Unternehmensleitung – Eingang in ein etwaiges Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft finden können.2 1157
Hat der verdächtigte Mitarbeiter einen von ihm beauftragten Verteidiger, so sind dessen Akten und Unterlagen dem Zugriff des Firmenanwalts entzogen. Es wäre ein nicht gerechtfertigter Bruch im Rechtssystem, wenn durch eine rein zivilrechtliche Vereinbarung inter partes (Anstellung) dem allgemeinen Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung faktisch der Boden entzogen werden könnte.3 Etwas anderes mag gelten, soweit es sich etwa um Urkunden oder andere Beweisstücke handelt, die im Eigentum des Unternehmens stehen, sich aber – befugt oder unbefugt – im Gewahrsam des verdächtigten/beschuldigten Mitarbeiters befinden. Die sich bei der Beratung und Vertretung im Zusammenhang mit internen Untersuchungen ergebenden Fragen sind komplex und zum Teil rechtlich nicht abschließend geklärt. Daher empfiehlt sich ein zurückhaltendes und umsichtiges Vorgehen des in diesem Bereich tätigen Rechtsanwalts. Die Attitüde eines „Superstaatsanwalts“ ist unangemessen, evtl. sogar gefährlich.
1158
Dass die erfolgreiche Beratung und Vertretung von Wirtschaftsunternehmen für den Strafverteidiger auch durchaus zulässige Werbungseffekte und willkommene Honorareffekte hat, liegt auf der Hand. Allerdings spielen gerade bei Unternehmensmandaten auch die anderweitig (Rz. 154) erörterten zweischneidigen Aspekte der „Ausschreibung“ des Mandats und der Unterbietung von Honoraren eine eher negative Rolle.
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Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass auch die Betreuung von Zeugen (vgl. Rz. 1160 ff.) und die Vertretung vor parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (dazu im Einzelnen Rz. 1173 ff.) in Bezug auf 1 Breßler/Kuhnke/Schulz, NZG 2009, 721. 2 So für die Anhörungsprotokolle LG Mannheim v. 3.7.2012 – 24 Qs 1, 2/12, NStZ 2012, 713 m. zust. Anm. Jahn/Kirsch, NStZ 2012, 718; verneinend LG Hamburg v. 15.10.2010 – 608 Qs 18/10, NJW 2011, 942 m. abl. Anm. Jahn/Kirsch, StV 2011, 151. 3 In diesem Sinne auch Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 55 StPO Rz. 1a.
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Der Verteidiger als Zeugenberater und anwaltlicher Zeugenbeistand
Rz. 1160
Mitarbeiter oder das Unternehmen als solches nicht selten in Betracht kommen wird und die Palette der „Sonderfunktionen“ des Strafverteidigers sinnfällig abrundet.
II. Der Verteidiger als Zeugenberater und anwaltlicher Zeugenbeistand Literatur: Adler, Für die Zurückverweisung eines anwaltlichen Zeugenbeistands wegen angeblicher Interessenkollision gibt es keine Rechtsgrundlage, StraFo 2002, 146; Dahs, „Informationelle Vorbereitung“ von Zeugenaussagen durch den anwaltlichen Zeugenbeistand, NStZ 2011, 200; Dahs, Zeugenbeistand zwischen Parteiverrat und Strafvereitelung, FS Puppe (2011), S. 1545; Dahs, Zum Persönlichkeitsschutz des „Verletzten“ als Zeuge im Strafprozess, NJW 1984, 1921; Dahs, Der Zeuge – zu Tode geschützt?, NJW 1998, 2332; Dahs, Als Zeuge vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, FS Rudolphi (2004), S. 597; Dahs/Langkeit, Das Schweigerecht des Beschuldigten und seine Auskunftsverweigerung als „verdächtiger Zeuge“, NStZ 1993, 213; Franke, Zeugenschutz vs. Aufklärungspflicht – Aufklärung durch Zeugenschutz?, StraFo 2000, 295; Griesbaum, Der gefährdete Zeuge, NStZ 1998, 433; Hamm, Kein Vereidigungsrecht von Untersuchungsausschüssen, ZRP 2002, 11; Hammerstein, Der Anwalt als Beistand „gefährdeter“ Zeugen, NStZ 1981, 125; Jung, Zeugenschutz, GA 1998, 313; König, Der Anwalt als Zeugenbeistand – Gegner oder Gehilfe der Verteidigung?, FS Rieß (2002), S. 243; Krause, Daniel, Die Befugnis zur Entbindung von der beruflichen Verschwiegenheitspflicht bei Mandatsverhältnissen juristischer Personen mit Wirtschaftsprüfern (§ 53 Abs. 1 Ziff. 3, Abs. 2 StPO), FS Dahs (2005), S. 349; Lohberger, Zur Rechtsstellung des Zeugenbeistands, BRAK-Symposium v. 10.10.2003, S. 79 ff.; Pasker, Zur Beiordnung eines Rechtsanwalts als Beistand für einen Zeugen, NJW 1993, 201; Plöd, Die Stellung des Zeugen in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, Berlin 2003; Schlag, Die Rechte des Zeugenbeistands – insbesondere unter dem Blickwinkel von Akteneinsichtsund Anwesenheitsrecht, FS Egon Müller (2003), S. 23; Schlothauer, Darf, soll, muss sich ein Zeuge auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung vorbereiten?, FS Dahs (2005), 457; Sieg, Zeugnisverweigerungsrecht über Inhalt eines Beratungsgesprächs mit Rechtsanwalt?, MDR 1992, 1027; Stange/Rilinger, § 68b StPO: Akteneinsichtsrecht des Beistandes, ein noch immer ungeklärter Rechtszustand, StraFo 2002, 224; Weigend, Empfehlen sich gesetzliche Änderungen, um Zeugen und andere nicht beschuldigte Personen im Strafprozess besser vor Nachteilen zu bewahren?, Gutachten C zum 62. DJT 1998; Weyand, Die Schutzinteressen des gefährdeten Zeugen und das Strafverfolgungsinteresse des Staates de lege lata; Diss. 2008; Wiefelspütz, Der Eid im Untersuchungsausschuss, ZRP 2002, 14.
Unter diesem Titel wird ein in der Praxis zunehmend bedeutsames Ar- 1160 beitsgebiet behandelt, das zwar nicht Strafverteidigung im engeren Sinne ist, aber dem als Strafverteidiger tätigen Anwalt zugewachsen ist und optimal wohl auch nur von ihm bewältigt werden kann. Es ist ebenso reizvoll wie schwierig! Mit der Betreuung von Zeugen im Strafprozess kann der Rechtsanwalt sowohl als mit der Sache noch nicht vertrauter Rechtsberater als auch im Verfahren bereits tätiger Verteidiger befasst werden. Seine Tätigkeit kann sich auf eine interne, vorbereitende Beratung beschränken oder 659
Rz. 1161
Der Verteidiger in besonderen Funktionen
auch den Beistand während der Vernehmung durch Ermittlungsbehörden oder Gerichte umfassen1. Er kann vom Mandanten (auf eigene Kosten) beauftragt oder im Rahmen des § 68b StPO oder für den Verletzten nach §§ 406f und 406g StPO (Rz. 1068) beigeordnet werden. Der Zeuge hat ein vollständiges Schweigerecht über alle Besprechungen mit seinem anwaltlichen Beistand vor oder während der Vernehmung2. 1161
Der in derselben Sache oder im Hinblick auf denselben Verfahrensgegenstand beauftragte Verteidiger muss zunächst die Frage einer Interessenkollision prüfen, wenn er neben dem Beschuldigten auch einem Zeugen oder in derselben Sache mehreren Zeugen beistehen soll. Dies gilt besonders dann, wenn der Zeuge über das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO beraten werden will. Dabei ist vor allem zu klären, ob der Mandant etwa nur „formell“ Zeuge, tatsächlich zumindest gefährdeter Zeuge und in Wirklichkeit Beschuldigter in derselben Sache (§ 264 StPO) ist, dessen Verfahren lediglich getrennt geführt wird, oder (vorübergehend) abgetrennt ist. In derartigen Fällen kann die Zeugenvernehmung unzulässig sein (Rz. 571)3. Der Verteidiger muss bei solchen Konstellationen unter Umständen sogar das Verbot der Mehrfachverteidigung (§ 146 StPO) beachten, das einem Beistand in der Verhandlung entgegenstehen kann, während es ansonsten die Doppelrolle von Verteidiger und Zeugenbeistand nicht erfasst4. Die Prüfung, ob eine Interessenkollision mit dem bestehenden Verteidigungsmandat in Betracht kommt, kann nicht sorgfältig genug sein5. Der Verteidiger muss alle in Betracht kommenden Konstellationen zwischen dem verteidigten Mandanten und dem potentiellen Zeugen-Mandanten ausloten. Bei dieser „Aufklärungsarbeit“ werden ihm seine Erfahrung – und Phantasie – hilfreich sein. Er muss dem Zeugen alle nach Lage der Sache in Betracht kommenden Varianten möglicher Kollisionen vor Augen führen und erklären. Im Zweifel ist der Verzicht auf das „Doppelmandat“ zu empfehlen. Tritt eine Interessenkollision erst bei der Vernehmung im Verfahren auf, so gerät man dadurch nicht nur ins Zwielicht, handelt ggf. berufsrechtlich bedenklich, sondern es müssen auch beide Mandate niedergelegt werden (§ 3 Abs. 4 BORA).
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Besteht die Gefahr einer Interessenkollision (Rz. 83 ff.) nicht, so ist umfassende sachliche Information und Vorbereitung des Zeugen geboten6. Nicht nur Zeugen ohne juristische Vorbildung sind sich über den Gang der Verhandlung, ihre Pflichten und Rechte als Zeuge, die praktische 1 BVerfG v. 8.10.1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105 ff.; zum „Verdächtigen“ und zur „Auskunftsperson“ vgl. Rz. 241. 2 OLG Düsseldorf v. 29.1.1991 – V 21/88, NStZ 1991, 504; LG Berlin v. 28.9.1993 – 531-1/93, StV 1994, 533; LG Heilbronn v. 3.2.2003 – 3 Ks 17 Js 23416/01, NStZ 2004, 100 m. Anm. S. Wagner. 3 BGH, JR 1969, 148 m. Anm. Gerlach. 4 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 48 StPO Rz. 11. 5 Zu Einzelheiten Dahs in FS Puppe (2011), S. 1545. 6 Dazu Dahs, NStZ 2011, 200.
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Der Verteidiger als Zeugenberater und anwaltlicher Zeugenbeistand
Rz. 1163
Durchführung der Befragung seitens des Gerichts und der Verfahrensbeteiligten, die Kriterien zulässiger und unzulässiger Fragen und Vorhalte nicht im Klaren. Persönliche Verbindungen zum Beschuldigten oder Geschädigten und/oder eigene Beziehungen zur Sache steigern erfahrungsgemäß die Unsicherheit und erzeugen eine der Qualität der Aussage höchst abträgliche nervöse und ängstliche Verfassung des Zeugen. Er muss daher nicht selten wie ein Beschuldigter – der er häufig auch leicht werden kann – intensiv auf seine Aufgabe vorbereitet und bei ihrer Ausführung betreut und unterstützt werden (Rz. 301, 302). Der Zeuge will in der Regel nicht nur über Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte belehrt werden, sondern möchte auch eine Empfehlung für zweckmäßiges Verhalten bekommen. Dagegen bestehen keine Bedenken, solange nicht der Beistand den Zeugen bewusst zu einer Falschaussage veranlasst. Dies gilt verschärft, wenn sogar unzulässige Mittel wie Täuschung, Drohung oder Nötigung eingesetzt werden. Es ist allerdings nicht recht ersichtlich, welches Motiv der Anwalt dafür haben sollte – es sei denn, er ließe sich in ein lügenhaftes Aussagekomplott einbinden. Etwas völlig anderes und unbedenklich sind dagegen Formulierungshilfen, die den Sachgehalt der Aussage nicht tangieren, den Zeugen aber davor bewahren, dass Passagen seiner Darstellung missverstanden werden. So ist z.B. der Hinweis darauf, im Rahmen der Aussage klarzustellen, was selbst erlebt, vom „Hörensagen“ oder was aus anderen dem Zeugen bekannten Umständen gefolgert wird, nicht zu beanstanden. Sachliche Grundlage jeder Zeugenberatung ist die Ermittlung des Sach- 1163 verhalts, auf den sich die Vernehmung voraussichtlich erstrecken wird. Ist der Anwalt als Verteidiger im Verfahren tätig, wird er die Materie kennen: Sonst kann sie mit Hilfe des Zeugen oft erarbeitet werden. Ist dies nicht möglich oder erscheint das Erinnerungsbild der Mandanten überprüfungs- oder ergänzungsbedürftig, so ist der Versuch zu erwägen, auf Anfrage Einsicht in die Verfahrensakten oder Teile derselben, z.B. Protokolle über frühere Vernehmungen des Zeugen zu erhalten. Allerdings ist ein Rechtsanspruch auf Akteneinsicht des Zeugenbeistandes außerhalb des § 475 StPO nicht anerkannt1. Bei kooperativer Haltung der Beteiligten ist hier jedoch manches Arrangement im Interesse der Sache (und des Zeugen) denkbar, z.B. wenn die Aussagebereitschaft gegenüber der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht daran geknüpft wird, dass dem Zeugen durch Überlassung von Einzelvorgängen aus den Akten in Kopie oder mündliche Information eine sachdienliche Vorbereitung seiner Aussage ermöglicht wird. Zuweilen kann auch Einsicht in Akten oder Unterlagen Dritter helfen, die nicht zu den Gerichtsakten gehören.
1 BVerfG v. 8.10.1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105 (116); Lohberger in FS Strauda (2006), S. 149; a.A. Hammerstein, NStZ 1981, 127; auch ein Beschwerderecht soll er nicht haben, OLG Hamburg v. 3.1.2002 – 2 Ws 258/01, StV 2002, 297; a.A. Adler, StraFo 2002, 146 (151) m.N.
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Rz. 1164
1164
Der Verteidiger in besonderen Funktionen
Rechtlich problematisch kann die „informationelle Vorbereitung“ der Zeugenaussage für den anwaltlichen Rechtsbeistand werden, wenn er es unternimmt oder akzeptiert, dass von in der Sache tätigen Strafverteidigern Aktenauszüge und Informationen aus Verteidigerbesprechungen zur Verfügung gestellt und in die Beratung eingebracht werden1. Besondere Probleme kann auch die Beratung des „verdächtigen“ Zeugen mit sich bringen, der sich auf das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO berufen kann. Er muss wissen, dass dieses Recht, einzelne Fragen nicht zu beantworten, zu einem totalen Aussageverweigerungsrecht „erstarken“ kann, wenn nämlich der Zeuge so sehr in das zu verhandelnde Geschehen einbezogen ist, dass jede Aussage für ihn gefährlich werden könnte. Hier gibt es ganz eindeutige Fälle, in denen die anwaltliche Empfehlung kein Problem ist. Andere dagegen können sehr schwierig liegen. Die Auskunftsverweigerung nach § 55 StPO wirkt auf Richter, Staatsanwalt und Öffentlichkeit oft sehr ungünstig und wird in der Presse negativ herausgestellt. Der Zeuge – zumal wenn er im öffentlichen Leben steht – kann ein Interesse daran haben, diesen Negativeffekt zu vermeiden, ohne sich andererseits für sein eigenes Verfahren das Grab zu schaufeln. Daran kann die Beratung anknüpfen: Der Zeuge sollte dem Gericht erklären, dass er keineswegs der vollständigen Aussage ausweichen, diese aber zurückstellen wolle, bis er sich im eigenen Verfahren zu verantworten haben werde. Er sei dort ganz zu Unrecht beschuldigt und werde sich mit ausführlichen Äußerungen zur Sache rechtfertigen. Damit entgeht der Zeuge in etwa der öffentlichen Missdeutung seiner Auskunftsverweigerung. In anderen Fällen will der Mandant seine Aussage als unter Wahrheitspflicht stehender Zeuge gerade dazu benutzen, einen gegen ihn bestehenden Verdacht zu zerstreuen – ein gefährliches Unterfangen. Hier sind Erfahrung, Können und Fingerspitzengefühl des anwaltlichen Beraters in höchstem Maße gefordert, ebenso wie sich ein guter Kontakt zu Staatsanwaltschaft und Gericht auszahlen kann.
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Dies setzt voraus, dass der anwaltliche Zeugenbeistand seine Beauftragung der vernehmenden Stelle rechtzeitig vor der Vernehmung anzeigt – was in der Regel ohnehin zweckmäßig sein wird. Da er keinen Anspruch auf Benachrichtigung vom Termin hat, muss er die Information durch den Mandanten sicherstellen. Ob bei Verhinderung des Beistandes eine Terminverlegung geboten ist, ist umstritten2. In diesen Rahmen gehört auch die Erwägung, dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft vor dem Termin die Zeugnis- oder Auskunftsverweigerung des Zeugen – ggf. mit Begründung – schriftlich anzukündigen – verbunden mit der Anfrage, ob der Zeuge gleichwohl erscheinen muss. Damit hat man nicht selten Er-
1 Vgl. dazu Dahs, NStZ 2011, 200; Dahs in FS Puppe (2011), S. 1545. 2 Verneinend BGH v. 19.5.1989 – StB 19/89, NStZ 1989, 484 m. Anm. Adler, StraFo 2002, 156 und Krehl, NStZ 1990, 193; abl. Burhoff, Handbuch Ermittlungsverfahren, Rz. 2068.
662
Der Verteidiger als Zeugenberater und anwaltlicher Zeugenbeistand
Rz. 1168
folg, zumindest wird die „Prozedur“ im Termin verkürzt. Allerdings entbindet nur ausdrücklicher Verzicht von der Erscheinenspflicht. Während der Vernehmung hat der anwaltliche Rechtsbeistand (der nicht 1166 in Amtstracht auftritt1) des Zeugen vor allem darauf hinzuwirken, dass sein Mandant im Zusammenhang aussagen kann (§ 69 Abs. 1 S. 1 StPO), unzulässige oder unnötig bloßstellende Fragen (§ 68a StPO) blockiert werden (§§ 241 Abs. 2 StPO) und jederzeit – auch durch Unterbrechung der Vernehmung – Gelegenheit gegeben wird, die Frage des Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrechts entsprechend der wechselnden Verfahrenslage neu zu beraten. Der Beistand sollte ebenso intervenieren, wenn der Zeuge die Frage (offenkundig) nicht (richtig) versteht, und um eine entsprechende Erläuterung bitten. Außerdem kann er im gegebenen Falle auf eine Ausschließung der Öffentlichkeit oder des Angeklagten zum Schutz des Zeugen hinwirken (§§ 172 Abs. 2, 174 GVG, § 247 StPO). Ein eigenes „Rederecht“ des anwaltlichen Zeugenbeistandes wird (bisher) nicht anerkannt2, jedoch ist mit geschickter Sachlichkeit auch hier manches erreichbar3, besonders wenn das Gericht die Alternative zahlreicher Beratungspausen für Zeuge und Beistand vor Augen hat. Die Beiordnung eines anwaltlichen Beistandes von Amts wegen oder auf Antrag ist in § 68b StPO geregelt. Der Ausschluss des Anwalts als Zeugenbeistand ist zulässig nach § 68b Abs. 1 S. 2, 3 StPO. Auch zu einer Teilnahme an der öffentlichen Beweisaufnahme vor und nach Vernehmung seines Mandanten soll er nicht berechtigt sein4. Der Zeuge wird oft ein Interesse daran haben, eine Kopie des Protokolls 1167 seiner Vernehmung, insbesondere vor der Ermittlungsbehörde, zu erhalten. Ein Rechtsanspruch darauf besteht nicht. Die Staatsanwaltschaft ist auch in der Regel zur Aushändigung nicht bereit. Ausnahmen kommen aber z.B. dann vor, wenn der aussage- oder auskunftsverweigerungsberechtigte Zeuge seine Aussage von der Überlassung einer Durchschrift abhängig macht, z.B. bei fremdsprachigen Zeugen, oder wenn die Materie der Aussage so kompliziert ist, dass eine Nachkontrolle sachlich geboten ist, z.B. bei fachlichen Erklärungen u.Ä. In entsprechend gelagerten Fällen sind mit dem Zeugen die Möglichkei- 1168 ten des Gesetzes zur Harmonisierung des Schutzes gefährdeter Zeugen (ZSHG) vom 11.12.20015 zu erörtern und ggf. zu aktivieren6. 1 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 68b StPO Rz. 5; a.A. Schlag in FS Egon Müller (2003), S. 35. 2 Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 68b StPO Rz. 4 f.; a.A. Thomas, NStZ 1992, 493; König in FS Rieß (2002), S. 254 f. 3 Vgl. i.E. Ignor/Bertheau in Löwe/Rosenberg, Vor § 48 StPO Rz. 22. 4 Die Frage ist streitig, vgl. BVerfG v. 8.10.1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105 und die bei Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 68b StPO Rz. 5 angef. Rspr. und Lit. 5 BGBl. I, 3510. 6 Zu den Einzelheiten Soiné/Engelke, NJW 2002, 470 ff.
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Rz. 1169
Der Verteidiger in besonderen Funktionen
III. Die Verteidigung von Ausländern Literatur: Dahs/Riedel, Ausländereigenschaft als Haftgrund?, StV 2003, 416; Freund, Die Anordnung von Untersuchungshaft wegen Flucht und Fluchtgefahr gegen EU-Ausländer (Diss.) 2010; Kretschmer, Ausländerstrafrecht, 2012; Kretschmer, Rechtsprechungsübersicht zum Ausländerstrafrecht, NStZ 2013, 570; Oetjen/ Endriß, Leitfaden zur Untersuchungshaft, 1999; Schmidt, Verteidigung von Ausländern – Transnationale Verteidigung, 3. Aufl. 2012.
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Die Verteidigung von Ausländern ist ein so vielschichtiger Bereich, dass hier nur auf die Grundlagen (und auch insoweit nur kursorisch) eingegangen werden kann. Das Studium geeigneter Fachliteratur ist im Einzelfall dringend anzuraten.
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Primäre und oft entscheidende Grundlage der Verteidigung eines Ausländers ist die Sicherstellung des Kontakts und der (einwandfreien) Kommunikation mit dem Mandanten. Bereits hier treten häufig erhebliche Schwierigkeiten auf. Ist der Verteidiger der Muttersprache des Mandanten nicht mächtig und verfügt dieser auch nicht über ausreichende Sprachkenntnisse, um sich in der hierfür erforderlichen Form mit seinem Verteidiger zu verständigen, so ist die jeweilige Hinzuziehung eines Dolmetschers unerlässlich. Können die Kosten für dessen Beauftragung von dem Mandanten nicht aufgebracht werden und kommt auch kein Familienangehöriger dafür in Betracht, stellt sich bereits hier die Frage, ob das Mandat geführt werden kann. Ist die Kommunikation dagegen sichergestellt, sind für die Verteidigung eines Ausländers, der sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, grundsätzlich zwei Ausgangssituationen zu unterscheiden: Die Verteidigung richtet sich gegen einen an die Ausländereigenschaft anknüpfenden Vorwurf – z.B. eine Straftat nach dem Aufenthalts-, Freizügigkeits- und Asylverfahrensgesetz – oder gegen eine Straftat nach dem StGB. In beiden Fällen hat der Verteidiger zu berücksichtigen, dass im schlimmsten Fall die Ausweisung oder zwangsweise Abschiebung nach dem Aufenthaltsgesetz droht. Mit den hierfür geltenden Voraussetzungen der §§ 55 ff. AufenthG muss der Verteidiger sich vertraut machen1. Dabei sind alle persönlichen Daten seines Mandanten für die ausländerrechtliche Behandlung besonders wichtig2. Sind die persönlichen Daten des Mandanten (dazu zählt auch: das Alter) festgestellt und der aufenthaltsrechtliche Status ermittelt, hat im Übrigen die Ausländereigenschaft insbesondere bei der Verteidigung von Fällen aus dem Kernstrafrecht (StGB) besondere Bedeutung3.
1 Zur Vermeidung der Ausweisung Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 3. Aufl. 2012, Kap. 1 Rz. 18 ff.; 130. 2 Schmidt, Verteidigung von Ausländern, 3. Aufl. 2012, Kap. 1 Rz. 130. 3 Hierzu grundlegend: BVerfG v. 19.10.1971 – 1 BvR 387/65, BVerfGE 32, 98 („Glaubensfreiheit“); BVerfG v. 18.1.2002 – 1 BvR 2284/95, NJW 2002, 1485 („Schächten“).
664
Der Verteidiger vor parlamentarischen Untersuchungsausschssen
Rz. 1173
Besonders im Hinblick auf die Prüfung etwaiger Rechtfertigungs-, Ent- 1171 schuldigungs- und Strafaufhebungsgründe sowie eines etwaigen Verbotsirrtums (§ 17 StGB) kann es sinnvoll sein, eine gutachtliche Rechtsauskunft zu der Frage einzuholen, wie der Sachverhalt im Herkunftsland des Mandanten strafrechtlich zu bewerten wäre. Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch Straftaten, die an die Auslän- 1172 dereigenschaft des Mandanten anknüpfen, insbesondere Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz (§§ 95, 96 und 97), das Freizügigkeitsgesetz (§ 9) sowie gegen das Asylverfahrensgesetz (§§ 84, 84a, 85). Hier wird der Mandant ein gesteigertes Interesse daran haben, von seinem Verteidiger über die Folgen der Feststellung einer Strafbarkeit ausführlich aufgeklärt zu werden.
IV. Der Verteidiger in Verfahren vor parlamentarischen Untersuchungsausschüssen Literatur: Dahs, Als Zeuge vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, FS Rudolphi (2004), S. 597; Glauben/Brocker, Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern, 2005; Hamm, Kein Vereidigungsrecht von Untersuchungsausschüssen, ZRP 2002, 11; Plöd, Die Stellung des Zeugen in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, Berlin 2003; Wiefelspütz, Der Eid im Untersuchungsausschuss, ZRP 2002, 14; Wiefelspütz, Das Untersuchungsausschuss-Gesetz des Bundes, ZParl 2002, 551. Vgl. auch das vor Rz. 1160 angeführte Schrifttum.
Die Überschrift des Kapitels mag auf den ersten Blick paradox erschei- 1173 nen, weil es in Verfahren vor parlamentarischen Untersuchungsausschüssen eine „Verteidigung“ im eigentlichen Sinne nicht gibt. Das liegt an der besonderen Konstruktion der Gesetze des Bundes und der Länder über parlamentarische Untersuchungsausschüsse (vgl. dazu Kapitel E II. Rz. 1160 ff.), die auch bei Skandalenqueten keinen „Betroffenen (= Beschuldigten)“ kennen, sondern alle vernommenen Personen als „Zeugen“ bezeichnen, auch wenn jedermann klar ist, dass sich die Untersuchung gerade gegen diese Person(en) richtet. Dementsprechend können die betroffenen Zeugen sich auch nur eines anwaltlichen Zeugenbeistandes (Rz. 1160) versichern, wobei es sinnvoll und zielführend ist, einen ausgewiesenen Strafverteidiger zu beauftragen. Denn die Tätigkeit des Zeugenbeistandes ist bei dieser Rechtslage in der Sache sehr häufig nichts anderes als Verteidigung gegen bekannte oder sich aus der Befragung selbst ergebende Vorwürfe. Die besondere Schwierigkeit der anwaltlichen Aufgabe besteht hier darin, dass für Verfahren vor Untersuchungsausschüssen1 zwar einerseits (Art. 24 Abs. 2 S. 1 GG) die „sinngemäße Anwendung der Vorschriften über den Strafprozess“ gilt, andererseits sei1 Wiefelspütz, ZParl 2002, 559 m.N.
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Rz. 1174
Der Verteidiger in besonderen Funktionen
ne Mitglieder – nicht einmal der Vorsitzende – irgendeine juristische Qualifikation, geschweige denn die Befähigung zum Richteramt (§ 5 DRiG) haben müssen. Schlimmer noch ist es, dass die Abgeordneten ihre Aufgabe nicht in einer Art quasi-richterlicher Neutralität, sondern bewusst als befangene Politiker mit parteipolitischer Interessenbindung und Zielsetzung erfüllen sollen1. Wenn auch am Ende der Untersuchung kein formeller Ausspruch einer Sanktion steht, so kann dennoch der sog. (nicht beschwerdefähige) „Schlussbericht“ für betroffene Personen, insbesondere wenn sie in der Öffentlichkeit stehen, schwerwiegende Konsequenzen haben. 1174
Die Aufgabe des anwaltlichen (Verteidiger-)Beistands ist vor diesem Hintergrund häufig ungleich schwieriger als vor einer Staatsanwaltschaft oder einem Gericht. Da er als Zeugenbeistand kein Rederecht hat und ihm auch in aller Regel nicht gestattet wird, das Wort für seinen Mandanten zu ergreifen2, beschränkt sich seine Tätigkeit auf die Vorbereitung des Mandanten auf die Aussage, die beratende Begleitung während der Vernehmung und die „Nachbereitung“ der – wie üblich – wörtlich protokollierten (§ 11 Abs. 2 PUAG) Bekundungen. Soweit der Mandant „Betroffener“ des Untersuchungsgegenstandes ist, kann die Frage eines vollständigen oder teilweisen Auskunftsverweigerungsrechts nach § 55 StPO eine herausragende Rolle spielen (Rz. 571). Da der Untersuchungsauftrag und der einschlägige Beweisbeschluss dem Zeugen mitgeteilt werden, ist (anders als im Strafverfahren) auch eine wesentlich bessere Vorbereitung des Zeugen auf die Sachfragen in der Vernehmung möglich – soweit eine solche ohne Akteneinsicht bewerkstelligt werden kann. Der Mandant muss auch wissen, dass er jederzeit die Vernehmung unterbrechen und sich mit seinem Beistand beraten kann, z.B. wenn ihm eine Frage oder ein Vorhalt unangemessen, sachfremd oder sonst unzulässig (Vorhalt aus dem Zusammenhang gerissener Bruchstücke einer Erklärung) erscheint. Die Beanstandung (§ 238 StPO) muss der Zeuge dann allerdings selbst geltend machen – falls man nicht doch den anwaltlichen Zeugenbeistand zu Wort kommen lässt, z.B. um weitere Unterbrechungen der Verhandlung zu vermeiden. Besonders schwierig ist es erfahrungsgemäß, den Mandanten auf die völlige parteipolitische Einseitigkeit (zuweilen sogar Gehässigkeit) von Fragen und Vorhalten einzustimmen und ihn zu überzeugen, deshalb nicht „aus der Haut zu fahren“. Ein Vorteil für den Zeugen kann es sein, dass nach § 26 PUAG des Bundes seine Vernehmung erst abgeschlossen ist, wenn er die schriftliche Niederschrift seiner Aussagen erhalten hat und seit Zustellung des Protokolls zwei Wochen verstrichen sind. Das bedeutet, dass bis zu diesem Zeitpunkt der Zeuge seine Aussagen berichtigen kann, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Auch soweit in den entsprechenden Gesetzen der Länder eine solche Vorschrift nicht existiert, bleibt aber häufig die Frage, ob der Zeuge definitiv entlassen und damit seine Vernehmung abge1 Im Folgenden wird jeweils von der Gesetzeslage nach dem PUAG ausgegangen. 2 Dazu i.E. Ignor/Bertheau in Löwe/Rosenberg, Vor § 48 StPO Rz. 22 ff.
666
Der Verteidiger vor parlamentarischen Untersuchungsausschssen
Rz. 1178
schlossen ist, offen; dann kann der Verteidiger in der „Nachbearbeitung“ der Bekundungen des Mandanten Klar- oder Richtigstellungen veranlassen. Dies setzt allerdings voraus, dass er zumindest etwaige kritische Passagen der Vernehmung sorgfältig notiert hat oder durch eine dritte Person hat mitschreiben lassen – was ohnehin zu empfehlen ist. Niemand kann auch verhindern, dass falschen, herabsetzenden oder 1175 sonst unangemessenen Passagen im Schlussbericht des Untersuchungsausschusses eine schriftliche anwaltliche Erwiderung für den betroffenen Zeugen entgegengesetzt wird. Zwar ist in der Regel nicht damit zu rechnen, dass diese Gegenerklärung als Anlage zum Schlussbericht genommen wird. Es besteht jedoch die Möglichkeit, die Gegenerklärung zumindest dem Präsidenten des Parlaments, den Vorsitzenden der Fraktionen oder auch allen Abgeordneten zukommen zu lassen, denen der Schlussbericht des Ausschusses zur Kenntnis gegeben wird. Die Hauptaufgabe des anwaltlichen Rechtsbeistandes besteht allerdings 1176 in der sorgfältigsten Vorbereitung des Mandanten für die Vernehmung, die nach Lage der Sache möglich ist, sowie darin, während der Vernehmung schon bei unglücklicher Wortwahl, missverständlichen Formulierungen oder auch erkennbaren Fehlern sofort einzugreifen und dafür Sorge zu tragen, dass eine unverzügliche Korrektur „zu doppeltem Protokoll“ (stenografisches und Tonband-Protokoll) erfolgt. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass die „politische Gegenseite“ des Zeugen sich die Protokolle sehr genau ansieht und – wenn es politisch opportun erscheint – wegen tatsächlicher oder scheinbarer Unrichtigkeiten Strafanzeige erstattet. Den Mandanten davor zu bewahren, ist die Hauptaufgabe seines Anwalts. Es ist daher notwendig, den Mandanten auf alle denkbaren Fragen vorzubereiten und sinnvolle Antworten zu entwickeln. Eine solche Vorbereitung gibt auch dem Mandanten die notwendige Sicherheit für die ihm in der Regel unbekannte Rolle. Außer der Betreuung von Zeugen spielt auch die Beratung und Vertre- 1177 tung von Unternehmen der Privatwirtschaft eine wichtige Rolle, wenn diese vom Untersuchungsausschuss zur Vorlage von Geschäftsunterlagen aufgefordert werden. Allerdings enthält § 18 PUAG keine Vorlagepflicht für Privatpersonen und private Wirtschaftsunternehmen. Aber auch soweit nach den allgemeinen Vorschriften (§§ 94, 95 StPO) Unterlagen angefordert werden, besteht insbesondere unter den Aspekten des Geschäfts- und Betriebsgeheimnisses keineswegs ein uneingeschränktes Zugriffsrecht von Untersuchungsausschüssen auf Akten und Unterlagen von Nicht-Regierungsstellen. In allen Konfliktfällen sollte der Verteidiger sich nicht scheuen, es auf ge- 1178 richtliche Entscheidungen (für die bei Untersuchungsausschüssen des Bundes der Ermittlungsrichter des BGH zuständig ist) ankommen zu lassen. Dies gilt z.B. dann, wenn eine der im Ausschuss vertretenen Parteien erklärt, sie werde wegen der politischen Bedeutung der Dokumente 667
Rz. 1179
Der Verteidiger in besonderen Funktionen
diese auf jeden Fall in die Öffentlichkeit bringen. Durch die Einschaltung des unabhängigen, neutralen Richters kann in das „parteiische“ Untersuchungsverfahren eine neutrale Rechtsinstanz „hineingezwungen“ werden, bei der die Rechte des Betroffenen allemal besser aufgehoben sind. 1179
Im Ergebnis erfordert die Beratung und Vertretung in parlamentarischen Untersuchungsverfahren hohe Kompetenz, extreme Sorgfalt und viel taktisches Geschick, um negative Folgen – gerade auch in der öffentlichen Berichterstattung – für den Mandanten zu vermeiden oder zu neutralisieren. Sie ist damit eine häufig sehr schwierige „Verteidigung im Vorfeld“ gegen die Gefahr einer falschen Aussage sowie eine über die Vernehmung weit hinausreichende Verteidigung der persönlichen und beruflichen Interessen des Mandanten gegen eine Institution, der man die Objektivität und Neutralität der strafrechtlichen Justizorgane oft nur wünschen kann! In diesem Umfeld mit Geschick und Erfolg zu agieren, ist für den Verteidiger oft eine größere Herausforderung als manche Verteidigung im „klassischen“ Strafprozess.
V. Der Verteidiger in eigener Sache Literatur: Beulke, Der Umfang und die Grenzen der erlaubten Strafverteidigertätigkeit, JR 1994, 116; Beulke/Ruhmannseder, Die Strafbarkeit des Verteidigers, 2. Aufl. 2010; Krekeler, Strafrechtliche Grenzen der Verteidigung, NStZ 1989, 146; Klussmann, Das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers in eigener Sache, NJW 1973, 1965; Wünsch, Richterprivileg – Verteidigerprivileg, StV 1997, 45.
1180
Die Berufsausübung und allgemeine Lebensführung des Rechtsanwalts muss den Anforderungen des § 43 BRAO entsprechen. Danach hat er sich „innerhalb und außerhalb seines Berufs der Achtung und des Vertrauens, welche seine Stellung erfordern, würdig zu erweisen“. Damit ist ihm wie dem Richter das honeste vivere vorgeschrieben. Er muss sich stets seiner herausgehobenen Stellung in der Rechtspflege (Rz. 3) bewusst sein. Das wird auch in der Öffentlichkeit so wahrgenommen. Besonders muss er sich davor hüten, mit den Strafgesetzen in Konflikt zu kommen. Die Berufsaufgabe, andere gegen die Strafverfolgung zu schützen, und die Verstrickung in ein eigenes Strafverfahren sind eine unangenehme Assoziation. Es ist eine kaum erträgliche Vorstellung, dass ein Rechtsanwalt sich als Beschuldigter oder Angeklagter vor denselben Justizorganen seines Wohnsitzes verantworten muss, mit denen er sonst als gleichberechtigter Verfahrenspartner an der Rechtspflege mitwirkt. Noch viel unangenehmer ist der Gedanke einer Strafvollstreckung, die ihn in der Vollzugsanstalt mit seinen verurteilten Klienten oft zweifelhaften Charakters zusammenführt.
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Dies gilt vor allem für Delikte, die im Rahmen der Berufsausübung als Rechtsanwalt begangen werden: Unkorrektheiten im Umgang mit fremden Geldern (z.B. Treuhandgeldern für Kaution oder Honorar – § 246 668
Der Verteidiger in eigener Sache
Rz. 1183
StGB) und Vermögensinteressen (z.B. aus der Staatskasse erstatteten Auslagen – § 266 StGB), in Gebühren- (§ 352 StGB) und Honorarangelegenheiten (§ 263, § 253 StGB); Schwatzhaftigkeit und Renommiersucht (§ 203 StGB), blinde „Raffgier“ nach Mandaten (§ 356, sogar § 331 StGB, bei Zuwendungen für Informationen über „mandatsgeeignete Festnahmen“ u.Ä.), sowie Ehrverletzungsdelikte (§§ 185 ff. StGB). Auch Anstiftung und Teilnahme an Klienten-Straftaten müssen hier genannt werden. Jeden Vorgang, der ihn auch nur in die Nähe des Verdachts der Geldwäsche (§ 261 StGB) bringen könnte, sollte er unbedingt meiden. Dazu gehören nicht nur entsprechende Vorsichtsmaßnahmen bei Honoraren, sondern auch organisatorische Vorkehrungen im Geschäftsbetrieb der Kanzlei zur Einhaltung der einschlägigen Vorschriften (vgl. im Einzelnen Rz. 1219). Die Warnungen betreffen auch steuerliche Verfehlungen des Verteidigers 1182 (Rz. 1232). Sie bringen ihn in die peinliche Lage, sich vor Staatsanwalt oder Gericht verantworten zu müssen. Dabei kann er nicht auf besondere Nachsicht der Justiz hoffen, die in Verfahren gegen Personen aus ihrem Bereich – wozu dann auch der Strafverteidiger gezählt wird, in aller Regel sehr streng vorgeht. Das „O.R.-Bar-Honorar“, die „stille“ Zuzahlung zu den Pflichtverteidigergebühren, die Barzahlung eines hohen Honorars durch Dritte (auch z.B. Firmen im Ausland) oder die Überweisung auf ein Auslandskonto des Verteidigers sind typische Beispiele, weshalb die Medien an Verfahren gegen Rechtsanwälte erfahrungsgemäß ein gesteigertes Interesse entwickeln. Die Erörterung seiner Einkommensverhältnisse, seiner Mandats- oder Lebensführung und seiner Honorarpraxis in öffentlicher Hauptverhandlung kann nur extrem unangenehm sein. Selbst wenn es nur zu einer Geldstrafe kommt, wird seine berufliche Reputation für immer dahin sein – von dem folgenden berufsgerichtlichen Verfahren mit zusätzlichen Sanktionen ganz abgesehen. Im Strafverfahren gegen einen Anwalt stehen diesem grundsätzlich die- 1183 selben Rechte wie anderen Beschuldigten zu. Das gilt auch für sein Schweigerecht. Auch wenn er nicht von der Schweigepflicht entbunden ist, wird ihm für die eigene Verteidigung eine „Befugnis“ zur Offenbarung zugebilligt, die ihn vor dem Tatbestand des § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB schützt1. Er bleibt aber seiner Wahrheitspflicht im Sinne eines Verbots der Lüge unterworfen (Rz. 46). Gericht, Zeugen, Sachverständige und in der Verhandlung anwesende Öffentlichkeit müssen es als überaus peinlich und mit dem Ansehen des Standes als unvereinbar empfinden, dass ein Anwalt durch Beweismittel einer Unwahrheit überführt werden muss.
1 BGH v. 9.10.1951 – 1 StR 159/51, BGHSt. 1, 366; Fischer, § 203 StGB Rz. 46 m.N.
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Rz. 1184
1184
Der Verteidiger in besonderen Funktionen
Im Übrigen sollte jeder Anwalt, der in eine Strafsache verwickelt wird, nicht in eigener Sache auftreten. Er hat meist keine genügende Distanz zur Sache und macht schon deshalb keine gute Figur. Ein hilfsbereiter Kollege wird sich finden lassen und die Verteidigung viel objektiver und wirksamer führen können. Ein Anwalt, der sich selbst verteidigt, hat einen Narren zum Klienten1. Ob der Verteidiger während der Dauer „seines“ Verfahrens die Strafpraxis ruhen oder durch einen Vertreter wahrnehmen lässt, ist eine Geschmacksfrage. Der Gefahr eines – unter Umständen ruinösen – vorläufigen Berufsverbots nach § 132a StPO i.V.m. § 70 StGB sollte besonders im Auge behalten werden.
1 Aus dem Englischen.
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F. Sechster Hauptteil Die Honorierung des Strafverteidigers Das Handbuch beschränkt sich auf die Darstellung von Honorarvereinbarungen und die damit zusammenhängenden Probleme und Erfahrungen. Auf die Abhandlung der gesetzlichen Gebühren und ihre Erstattung wird im Hinblick auf das umfassende Werk von Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 3. Aufl. 2012 oder von Leipold, Anwaltsvergütung in Strafsachen, 2004; Mertens/Stuff, Verteidigervergütung, 2010 sowie die Kommentierung von Gerold/Schmidt zum RVG, 21. Aufl. 2013 oder von Mayer/Kroiß, 6. Aufl. 2013 verzichtet, die allesamt u.a. das an die Stelle der BRAGO getretene Rechtsanwaltsvergütungsgesetz vom 5.5.2004 eingehend behandeln. Lfd. Publikationen der Rechtsprechung bei Kotz in NStZ-RR, z.B. 2014, 1.
I. Ein heikles Kapitel 1. Das Honorar als Strukturelement des freien Berufs Literatur: Beukelmann in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 1261 ff.; Burhoff, Die wichtigsten Änderungen und Neuerungen für die Abrechnung in Straf-/Bußgeldverfahren durch das 2. KostRMoG, StraFo 2013, 397; Feuerich/Weyland, BRAO, Kommentar, 8. Aufl. 2012; Hartung/Schons/ Enders, RVG, 2. Aufl. 2013; Kotz, Aus der Rechtsprechung zur Vergütung des in Straf- und Bußgeldsachen tätigen Rechtsanwalts, 2012, 1. Teil NStZ-RR 2012, 134, 2. Teil NStZ-RR 2013, 300; Krämer/Wilger, Wege zur optimalen Preisgestaltung für Anwälte, AnwBl. 2005, 447; Madert/Schons, Die Vergütungsvereinbarung des Rechtsanwalts, 3. Aufl. 2006; Scharf/Madert/Streck/Ahrend, Anwaltliche Honorargestaltungen, AnwBl. 1998, 434.
Von den an der Strafrechtspflege Beteiligten ist der Rechtsanwalt der ein- 1185 zige, der nicht im festen Gehalt des Staates steht. Das entspricht dem Wesen des freien Berufs. Insbesondere die Unabhängigkeit des Strafverteidigers und seine Schutzaufgabe (Rz. 9 ff.) erfordern die gänzliche Freiheit vom Staat (Rz. 7). Mit der Emanzipation des Anwaltsstandes und seiner Entwicklung zur freien Advokatur ist jede Form der Subordination aufgehoben. Der Durchbruch zur Berufsfreiheit bedeutet für die Tätigkeitsvergütung des Anwalts zugleich die Form der Einzelhonorierung des Mandats durch den Auftraggeber. Sie ist ein Strukturelement des freien Berufs. Die Freiheit des Verteidigers wäre nicht gewährleistet, wenn er die Aufgaben des funktionalen Gegenspielers gegenüber Staatsanwaltschaft und Gericht in direkter oder indirekter finanzieller Abhängigkeit vom Staat erfüllen sollte. Die Pflicht zu strengster Einseitigkeit und strenger Parteinahme in der Auseinandersetzung mit den Prozessorganen als die berufsethische Grundlage der Strafverteidigung (Rz. 11) schließt jede Form der finanziellen Abhängigkeit aus. Dies gilt auch für den Offi671
Rz. 1186
Die Honorierung des Strafverteidigers
zialverteidiger. Auch er steht nicht im Sold des Staates, wenn er auch für die einzelne Pflichtverteidigung gesetzlich bestimmte Gebühren aus der Staatskasse erhält. Allerdings ist das eine – unvermeidbare – Regelung, die für die innere Unabhängigkeit des Verteidigers gegenüber dem Gericht gefährlich werden kann. 1186
Der Verteidiger ist bei diesen Gegebenheiten darauf angewiesen, die Vergütung für seine Tätigkeit von seinem Mandanten zu beziehen. Sie ist das Entgelt im Rahmen des bürgerlich-rechtlichen Geschäftsbesorgungsvertrages, der ihn mit dem Mandanten verbindet (Rz. 120). Das entspricht der Regelung in allen freien Berufen (Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Ärzte, Architekten, Künstler und andere). Damit wird nun ein Element in das Verhältnis Verteidiger – Mandant hineingetragen, das nicht recht hineinpassen will und zu Belastungen und Konflikten führen kann. Das liegt im Wesen des Honorars als einer geldlichen Gegenleistung für geistige Arbeit und ideelle Leistung. Dieser Beziehung haftet aus der Natur der Sache heraus eine gewisse Peinlichkeit an. Zur Zeit der griechischen und römischen Antike und während des europäischen Mittelalters war schon der bloße Gedanke an eine materielle Entlohnung geistiger Leistung suspekt. So forderten manche Kultursysteme die Armut der Geistigen, was die eigentliche Unabhängigkeit bedeute und die Erkenntnis, „dass nur der Arme wahrhaft frei ist“1. Dies wird heute sicher nicht mehr so „eng“ gesehen.
1187
Gleichwohl ist die Geldseite des freien Berufes doch – gerade auch für den Strafverteidiger – besonders in der öffentlichen Meinung problematisch. Die Strafverteidigung ist als Institution auf einer sehr hohen Stufe der Skala berufsethischer Zielsetzungen etabliert. Gerade dass der Verteidiger für seine so idealen Zwecken zugeordnete Tätigkeit umfassend bezahlt wird, setzt ihn zuweilen einer gewissen Skepsis aus. Sie steigert sich in dem Maße wie die Verteidigung einem aus Sicht der Öffentlichkeit „Schuldigen“ dient, der mit Hilfe des „gerissenen“ Verteidigers der „verdienten“ Strafe entgehen will. Es drängt sich die Vorstellung auf, dass der Verteidiger umso einsatzbereiter und vielleicht sogar unbedenklicher die Verteidigung führt, je höher das Honorar ausfällt. Bedenklich für die Tagesarbeit des Verteidigers ist auch die immer wieder anzutreffende Geringschätzung, mit viel Geld könne man sich den Verteidiger gewissermaßen „einkaufen“, man könne ihn sich „nehmen“. Das Berufsethos des Anwalts wird als eine Frage des Honorars verstanden, so als ob der Verteidiger als Gewerbe eine Art geistige Prostitution betreibe. Der Verteidiger sollte solchen Auffassungen zwar mit Gelassenheit, aber entschieden entgegentreten. Das bewirkt er am sichersten durch korrektes Berufsverhalten und absolute Wahrung seiner Unabhängigkeit und Autorität, besonders auch gegenüber den Mandanten (Rz. 31, 152). Er 1 Feuchtwanger, Die freien Berufe, 1922, S. 66; Deneke, Die freien Berufe, 1956, S. 225.
672
Ein heikles Kapitel
Rz. 1191
muss anderseits bedenken, dass auch Richter und Staatsanwälte die Verteidiger im Lichte ihrer Honorierung betrachten, was sie auch bei ihnen suspekt machen kann, wenn der Verteidiger sich allzu geschäftig oder lautstark in Szene setzt. Außerdem haben die Genannten auch meist keine Vorstellung davon, dass vom Honorar des Verteidigers ihm weniger als 20 % verbleibt, wenn mehr als die Hälfte der Deckung seiner Unkosten dienen muss und von der anderen Hälfte bis zu 50 % Steuern gezahlt werden, die der Erfüllung der Staatszwecke dienen. In kleinen Sachen setzen infolge der sozialen Staffelung der Gebührenordnung je nach Fallgestaltung und Aufwand die Anwälte sogar zu. All dies wird häufig übersehen. 2. Der Honorarverzicht Jeder Anwalt ist grundsätzlich verpflichtet, seine Tätigkeit nur gegen 1188 Entgelt zu gewähren. Er muss mindestens die Gebühren fordern, die im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz vorgeschrieben sind (§ 49b BRAO, § 21 BORA). Diese Regelung dient einerseits einer gewissen Gleichmäßigkeit in der Honorierung der Verteidigung, andererseits ist sie das unentbehrliche Fundament der wirtschaftlichen Lebenssicherung der Rechtsanwälte. Die Bindung an die gesetzlichen Gebühren bedeutet, dass der Verteidiger den gesetzlichen Gebührenrahmen nicht unterschreiten darf (zur Gebührenteilung § 22 BORA). Er ist allerdings auch gehalten, über die Mindestgebühren hinaus innerhalb des Rahmens diejenige Gebühr zu verlangen, die nach den Kriterien des RVG für die betreffende Sache angemessen ist. Das ist besonders wichtig bei Aufträgen von Rechtsschutzversicherun- 1189 gen. Manche Gesellschaften bevorzugen bestimmte Rechtsanwälte, die sie ihren Versicherungsnehmern empfehlen. Sie erwarten oder versuchen, mit diesen für eine bestimmte Art von Mandanten oder alle Aufträge Gebühren in einem bestimmten Bereich zu vereinbaren. Manche Anwälte sollen sich darauf einlassen, um in der Menge der ihnen so zukommenden Mandate den Ausgleich zu finden und damit zugleich für ihre Praxis zu werben. Das ist berufsrechtlich bedenklich (§ 49b BRAO) und auch eine für die Unabhängigkeit des Berufsstandes bedenkliche Entwicklung. Wenn hier die Bindungen nicht beachtet werden, muss mit einem für den gesamten Berufsstand abträglichen Unterbieten wie im kaufmännischen Wettbewerb gerechnet werden. Einbrüche in dieses System müssen bei der wirtschaftlichen Not oder Schwäche eines Großteils der Anwälte auf die Dauer zu katastrophalen Auswirkungen führen. Sie sind ggf. auch als verbotene Werbung (§ 6 BORA) zu verurteilen, wenn 1190 sie dem Mandanten vorher versprochen werden oder weitere Mandate derselben oder anderer Auftraggeber geworben werden sollen (Rz. 92). Von der Gebührenordnung nach unten abweichende Vergütungen sind 1191 hiernach unzulässig. (Über Abweichungen nach oben vgl. Rz. 1195.) In 673
Rz. 1192
Die Honorierung des Strafverteidigers
§ 49b Abs. 1 gestattet die BRAO eine Ermäßigung oder Streichung von Gebühren in Ausnahmefällen, etwa bei Bedürftigkeit eines Mandanten. Soweit dies erst nach Erledigung des Auftrages zulässig sein soll, erscheint die Vorschrift zu eng. Dem Anwalt sollte die Betätigung nicht in dieser Allgemeinheit untersagt werden. Die Abgrenzung zum Verbotenen ist allerdings hauchdünn. Kostenlose Verteidigung des Unbemittelten, besonders in Sensationsfällen, etwa für das Wiederaufnahmeverfahren in einer Mordsache, macht Schlagzeilen. Die Publicity steht dabei häufiger Pate als die Humanität. 1192
Gebührenverzicht bei Verteidigung eines Kollegen ist heute nicht mehr üblich. In größeren und auswärtigen Sachen ohne besondere persönliche Beziehung zwischen Verteidiger und betroffenem Kollegen kann ein Honorarverzicht nicht erwartet werden. Es ist eine andere Frage, ob in der Bemessung der Höhe eines Honorars dem „kollegialen Gesichtspunkt“ Raum gegeben wird. Nicht wenige Anwälte – besonders in Sozietäten – lehnen auch dies ab.
1193
Auch Richter und Staatsanwälte kommen in die Lage, einen Anwalt als Verteidiger zu beauftragen. Ihr Verhalten in der Honorarfrage ist verschieden. Von der exakten Abrechnung der gesetzlichen Gebühren bis hin zu der Erwartung, dass das Mandat „günstig“ geführt werde, ist alles denkbar. Dem Verteidiger wird man wohl einen ihm nahegelegten Honorarverzicht in einem solchen Falle nicht verübeln, wenn er damit dem Mandanten nur eine Peinlichkeit ersparen will. Anbieten darf er ihn jedoch keinesfalls, wenn er Missdeutungen vermeiden will.
1194
Kein unzulässiger Honorarverzicht liegt vor, wenn der Verteidiger bei Mitwirkung eines anderen Verteidigers aufgrund eines ihm erteilten Auftrages einen Teil des Honorars oder der gesetzlichen Gebühren abgibt (§ 49b Abs. 3 S. 2, 3 BRAO, § 22 BORA). Diese Gebührenteilung (oder eine Honorarteilung), die in Zivilsachen seit langem üblich und zulässig ist, kommt besonders bei Vertretung im Verhandlungstermin vor (Rz. 461).
II. Vereinbarungshonorare 1. Die gesetzliche Zulässigkeit Literatur: Beukelmann, Neues zur Vergütungsvereinbarung eines Strafverteidigers, NJW-Spezial 2010, 440; Beukelmann in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 1261 ff.; Feuerich/Weyland, BRAO, Kommentar, 8. Aufl. 2012; Gerold/Schmidt, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 21. Aufl. 2013, § 4 Rz. 2 ff.; Henke, Honorarabrechnung nach Stundensätzen, AnwBl. 1999, 110; Heyl, Die Honorarvereinbarung, AnwBl. 1965, 295; Jahn, Unternehmen prüfen Anwaltshonorare strenger, AnwBl. 2004, 509; Knief, Das Preis-/Leistungsverhältnis der anwaltlichen Dienstleistungen – eine Auseinandersetzung mit der Zeitgebühr, AnwBl. 1989, 258; Kuhlen, Zum Anwendungsbereich des § 352 StGB bei Honorarvereinbarungen, JR 2007, 207; OLG Düsseldorf, NJW-RR 2007, 129.
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Vereinbarungshonorare
Rz. 1196
a) Wahlverteidiger Die Vereinbarung eines die gesetzlichen Gebühren übersteigenden Hono- 1195 rars ist für den Wahlverteidiger ohne besondere Voraussetzungen grundsätzlich zulässig. Die Vereinbarung sollte schriftlich getroffen werden, auch wenn der Betrag innerhalb des gesetzlichen Gebührenrahmens liegt. Denn dieser kann höher sein als die „gesetzliche Gebühr“, wenn man als solche nur einen bestimmten Betrag innerhalb des Rahmens ansehen will. Die Honorarvereinbarung darf nicht in der Vollmacht oder in einer Urkunde mit noch anderem Text enthalten sein1, sondern erfordert eine spezielle schriftliche Erklärung des Auftraggebers (§ 4 Abs. 1 S. 1 RVG) unter Hinweis darauf, dass die Vergütung von dem gesetzlichen Gebührenrahmen abweicht und etwaige Erstattungen auf der Grundlage des RVG diese Kosten ggf. nicht vollständig ausgleichen. Die freiwillige und vorbehaltlose Zahlung heilt den Mangel der schriftlichen Form (§ 4 Abs. 1 S. 2 RVG). Ein unangemessen hohes Vereinbarungshonorar kann vom Gericht nach Einholung eines Gutachtens des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer herabgesetzt werden (§ 4 Abs. 4 RVG). Wann ein solches, unangemessen hohes Verteidigerhonorar vorliegt, ist 1196 ebenso umstritten wie die Frage, welche Auswirkung die Anwendung sog. Zeittaktklauseln hierauf haben kann. Auf eine gefestigte Rechtsprechung kann insoweit (noch) nicht zurückgegriffen werden. Jedoch lassen sich aus der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung gewisse Eckpunkte für eine relativ rechtssichere Praxis individueller Vergütungsvereinbarung ableiten. Zwar hat das OLG Düsseldorf mit Urteil vom 18.2.20102 eine Zeittaktklausel, nach der jede angefangene Viertelstunde zu einem Viertel des Stundensatzes zu vergüten ist u.a. deshalb für nichtig erklärt (§ 307 Abs. 1 S. 1 BGB), weil hierdurch die zivilrechtlich vorausgesetzte Äquivalenz zwischen Leistung und Gegenleistung nicht ausreichend sichergestellt werde. Es bestehe die Gefahr erheblicher Rundungs- und Kumulationseffekte (sog. „Double Billing“) zulasten des Mandanten. In Anwendung der Rechtsprechung des BGH zur sog. Kappungsgrenze3 sei infolgedessen davon auszugehen, dass eine tatsächliche Vermutung für die Unangemessenheit des vereinbarten Honorars spreche, wenn die gesetzliche Vergütung um mehr als das Fünffache überschritten werde. Dagegen hat das BVerfG judiziert4, dass eine Überschreitung der gesetzlichen Gebühren um einen bestimmten Faktor (hier: das Fünffache) zur Bestimmung der Unangemessenheit einer Vergütungsvereinbarung nicht allein ausschlaggebend sein kann. Die Bindung an starre Grenzen könne sich sowohl zulasten der Berufsfreiheit des tätigen Rechtsanwalts (§ 12 Abs. 1 S. 2 GG) als auch zulasten der Mandatsbearbeitung auswirken, wenn zu befürchten sei, dass der angefallene Zeitauf1 Zu den Modalitäten der Honorarvereinbarung umfassend Beukelmann in Beck’sches Formularbuch, 5. Aufl. 2010, S. 1261 ff. 2 OLG Düsseldorf v. 18.2.2010 – I-24 U 183/05, NJW 2011, 3311 ff. 3 BGH v. 19.5.2009 – IX ZR 174/06 (OLG Düsseldorf). 4 BVerfG v. 15.6.2009 – 1 BvR 1342/07, NJW-RR 2010, 259 ff.
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Rz. 1197
Die Honorierung des Strafverteidigers
wand auf der Grundlage der Annahme einer etwaigen Unangemessenheit nicht vergütet werde. Insbesondere könne das Vertrauen des Rechtsuchenden auch bei einer deutlichen Überschreitung der gesetzlichen Vergütung nicht beeinträchtigt sein, wenn die Vergütung im konkreten Fall unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Leistung und des Aufwandes des Rechtsanwalts, aber auch der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers angemessen sei. Danach können also Zeittaktklauseln zulässigerweise vereinbart werden. Um der durch die obergerichtliche Rechtsprechung angesprochenen Gefahr unerwünschter Rundungs- und Kumulierungseffekte entgegenzuwirken, scheint es ratsam, kleine Zeittakte, beispielsweise sechs Minuten, zu wählen. Hinsichtlich der Höhe des Stundensatzes empfiehlt es sich, bereits im Rahmen der (individuellen) Vergütungsvereinbarung auf die Umstände des Einzelfalles zur Begründung des jeweiligen Stundensatzes hinzuweisen. Was die Höhe des Stundensatzes angeht, verbietet sich jede schematische Betrachtung und ein pauschaler Rückgriff auf das Fünffache der jeweils in Ansatz zu bringenden gesetzlichen Höchstgebühren zur Bestimmung der Angemessenheit. So hat der BGH 20101 ein Zeithonorar in Höhe von 250 Euro für „erforderlich“ gehalten und ein Stundenhonorar in Höhe von 500 Euro nicht beanstandet2. 1197
Die Rechtsschutzversicherung zahlt nach ihren Bedingungen dem Verteidiger grundsätzlich nur die gesetzlichen Gebühren. Anderseits stellt sie dem Versicherungsnehmer die Auswahl des Verteidigers frei. Der Verteidiger ist weder durch Gesetz noch Vertrag gehindert, anstelle der gesetzlichen Gebühr ein Honorar zu vereinbaren, wenn auch die Versicherung das nicht gerne sieht und zu vermeiden versucht. Die praktischen Erfahrungen beweisen indes, dass die Versicherungen den betreffenden Anwalt häufig nicht mehr empfehlen und in ihrem Bereich meiden. Anders sieht es bei bestimmten Spezial-Rechtsschutzversicherungen aus, die häufig von Unternehmen für die Angehörigen ihrer Leitungsebenen abgeschlossen werden (sog. Directors & Officers-Versicherungen). Sie übernehmen auch Vereinbarungshonorare, wobei die Modalitäten je nach Vertragsinhalt unterschiedlich sind. Vielfach ist die Abrechnung auf dieser Basis unproblematisch. Der Verteidiger sollte sich aber bei Honorargesprächen primär an seinen Mandanten halten und es diesem überlassen, intern die Honorarerstattung mit seiner Versicherung zu regeln. Im Übrigen sind aber auch die Erfahrungen mit direkten Verhandlungen zwischen Verteidiger und Manager-Rechtsschutzversicherungen nicht nur schlecht. Im Hinblick auf die Abrechnung einzelner Tätigkeiten des Verteidigers ist nach der Rechtsprechung des BGH3 zu berücksichtigen, dass die wäh1 BGH v. 4.2.2010 – IX ZR 18/09, NJW 2010, 1364 ff.; im Anschluss daran OLG Frankfurt v. 12.1.2011 – 4 U 3/08, AnwBl. 2011, 300. 2 Vgl. BGH v. 8.11.2007 – IX ZR 5/06, NJW 2008, 1307 ff. 3 BGH v. 4.2.2010 – I X ZR 18/09, NJW 2010, 1256 f.
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Vereinbarungshonorare
Rz. 1199
rend des abgerechneten Zeitintervalls erbrachten Leistungen konkret und in nachprüfbarer Weise dargelegt werden müssen. Erforderlich ist danach eine über pauschale Angaben hinausgehende Darlegung der Verteidigertätigkeit, die einer tatsächlichen Kontrolle zugänglich ist. Beispielhaft nennt der BGH die Angabe, welche Akten und Schriftstücke einer Durchsicht unterzogen bzw. welcher Schriftsatz vorbereitet und verfasst wurde. Dies gilt gleichermaßen für die Beurteilung von Rechts- oder Tatfragen und zu diesem Zweck durchgeführter Literaturrecherchen. Auch der Gesprächspartner einer fernmündlichen Unterredung soll nach Ansicht des BGH genannt werden. Ungenügend sollen danach Angaben sein, die sich allgemein auf Aktenbearbeitung, Literaturrecherche oder Telefongespräche beschränken. Der Verteidiger ist folglich gehalten, eine nachvollziehbare Dokumentationslage zu schaffen – so mühsam das auch sein kann! Ob in der Bitte des Mandanten, sich zum Zwecke der Abrechnung mit der Versicherung in Verbindung zu setzen, eine Entbindung von der auch insoweit geltenden anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht zu sehen ist, ist – soweit ersichtlich – ungeklärt. Es ist daher anzuraten, sich eine Entbindung von der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht erteilen zu lassen und diese zu dokumentieren. b) Pflichtverteidiger Auch dem Pflichtverteidiger ist eine Honorarvereinbarung ebenso wie 1198 die Annahme zusätzlicher Vergütungen erlaubt1. Das folgt schon daraus, dass er nicht wegen Armut des Mandanten, sondern wegen der gesetzlichen Notwendigkeit der Verteidigung beigeordnet wird (§ 140 StPO). Allerdings ist das Gebot der Anrechnung auf die aus der Staatskasse zu zahlenden Gebühren zu beachten. Wenn ein Wahlverteidiger eine Honorarvereinbarung trifft, dieses Man- 1199 dat beendet wird und er sich zum Pflichtverteidiger bestellen lässt, kann der Verteidiger einen entsprechenden Teil des Honorars für die schon geleistete Arbeit beanspruchen (§ 628 BGB). Pflichtverteidigungen werden im Übrigen nur in seltenen Ausnahmefällen für Honorarvereinbarungen geeignet sein, weil leistungsfähige Beschuldigte in aller Regel ein Wahlverteidigermandat erteilen. Natürlich ist der Verteidiger berechtigt, die finanziellen Möglichkeiten seines Klienten zu klären. Keinesfalls darf er aber seine Tätigkeit von der Zahlung eines Honorars abhängig machen oder vom Abschluss einer Honorarvereinbarung2. Unzulässig wären auch Andeutungen des Verteidigers, mit den Staatsgebühren komme er nicht auf seine Kosten oder eine Honorarvereinbarung werde der Verteidi-
1 BGH v. 3.5.1979 – III ZR 59/78, AnwBl. 1980, 465. 2 Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Bd. 8, 1992, Thesen zur Strafverteidigung, These 62.
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Rz. 1200
Die Honorierung des Strafverteidigers
gungsleistung sehr zugute kommen. Nur völlig freiwillige Angebote sind erlaubt. 2. Berufsrechtliche Grenzen a) Das Gebot der Angemessenheit 1200
Die Herabsetzung eines nicht angemessenen Vereinbarungshonorars ermöglicht § 3a Abs. 2 S. 1 RVG. Sie obliegt dem Gericht im zivilen Gebührenprozess des Verteidigers nach Einholung eines (gem. § 3a Abs. 2 S. 3 RVG kostenlosen) Gutachtens des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer (§ 3a Abs. 2 S. 2 RVG). Diese formale Vorschrift erfasst nicht den inneren Problembereich der Honorarvereinbarung. Die wenigsten Fälle werden nach dieser Bestimmung behandelt. Sie spielen sich in der Regel vielmehr in der Abgeschlossenheit des Sprechzimmers ab. Die mit einer Strafverfolgung überzogenen Menschen befinden sich oft in schwerer seelischer oder materieller Not. Sie sehen im Verteidiger ihre einzige Rettung. In dieser Zwangslage sind sie vielfach bereit, jede Honorarforderung des Verteidigers zu bewilligen. Der anständige Anwalt nutzt das nicht aus. Er bleibt in den angemessenen Grenzen. Nicht dass ein einmal anerkanntes oder sogar gezahltes Honorar so gut wie nie zu gerichtlicher Nachprüfung kommt, ist maßgebend; der Verteidiger muss vielmehr auch vor dem Forum seines Gewissens bestehen können, indem er nach diesem moralischen Maßstab seinen Anspruch bestimmt. Er braucht anderseits nicht zu ignorieren, dass manche Klienten den Verteidiger auszunutzen versuchen. Kommen sie durch die Leistung des Verteidigers von der Strafverfolgung frei, so wissen sie häufig nichts mehr von ihrer Zusage am Anfang, als sie noch „den Kopf in der Schlinge“ hatten. Dies alles bedeutet für die Praxis den dringenden Rat, die Honorarvereinbarung rechtzeitig und formgerecht1, aber auch in würdiger Weise und zu einem angemessenen Betrag zu treffen.
1201
Es kommt vor, dass Verteidiger die Honorarvereinbarung ohne Grund aufschieben, bis das Mandat in voller Entwicklung ist oder sogar die Hauptverhandlung vor der Tür steht. Es besteht zwar kein Verbot, ist aber hochgradig unfair, den Mandanten in dieser Zwangslage zu einem Honorarversprechen zu drängen2. Diesem bleibt nichts anderes übrig als die Zustimmung, wenn er nicht seinen Verteidiger im letzten Augenblick verlieren und damit alles aufs Spiel setzen will. Eine so zustande gebrachte Honorarvereinbarung kann ein unsittliches Rechtsgeschäft oder sogar strafrechtlich relevant (§§ 253, 240 StPO) sein und zerstört in jedem Falle das Vertrauen des Klienten.
1 Dazu Beukelmann in Beck’sches Formularbuch, 5. Aufl. 2010, S. 1261 ff. 2 Vgl. dazu EhrGH NW v. 26.11.1980 – (2) 6 EVY 10/80, BRAK-Mitt. 1981, 38.
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Vereinbarungshonorare
Rz. 1203
In Strafsachen, deren weitere Entwicklung sich im Ermittlungsverfahren 1202 nicht genau übersehen lässt, kann es zweckmäßig sein, die Vereinbarung von Pauschalhonoraren jeweils für bestimmte überschaubare Verfahrensabschnitte zu treffen, z.B. Ermittlungsverfahren bis zur Abschlussentscheidung der Staatsanwaltschaft, Haftverfahren, Beschwerdeverfahren, Zwischenverfahren, Hauptverfahren bis zum Beginn der Hauptverhandlung u.a. Die Dauer der Hauptverhandlung sowie die Zahl und Dauer der Verhandlungstage ist oft ungewiss; große Strafsachen werden sogar für eine unbestimmte Zeitspanne terminiert, z.B. „ab 1.2. jeweils Dienstag und Donnerstag bis auf weiteres“. In solchen und anderen Fällen hat es sich bewährt, das Honorar auf der Basis von Hauptverhandlungstagen zu bemessen. Dabei müssen die regelmäßig erforderlichen Vor- und Nachbesprechungen und die sonstige Terminsvorbereitung durch den Verteidiger ebenfalls Berücksichtigung finden. Das Problem der unterschiedlichen Dauer der Verhandlung an den Sitzungstagen ist damit allerdings nicht gelöst. Auch gehen die Erfahrungen der Praxis dahin, dass es bei der Vereinbarung eines Pauschalhonorars für die gesamte Hauptverhandlung zu Meinungsverschiedenheiten kommt, wenn sich die Verhandlung überraschend verlängert oder verkürzt. Nur in den Fällen, in denen Verhandlungsdauer und Verteidigungsaufwand einigermaßen zuverlässig abzuschätzen sind, ist deshalb die Vereinbarung eines Gesamthonorars zu empfehlen. Ungeachtet der eher „strengen“ Rechtsprechung hat sich seit einigen 1203 Jahren in der Praxis die Honorarvereinbarung nach Aufwandszeiten (Zeittaktklauseln) mehr und mehr durchgesetzt (Rz. 1196 ff.). In solchen Fällen wird in der rechtlich gebotenen Form (§ 3a Abs. 1 RVG) vereinbart, dass die für die Verteidigung aufgewendete Zeit nach einem feststehenden Honorarsatz abgerechnet wird, wobei sich für die Bruchteile von Stunden verschiedene Modalitäten entwickelt haben, z.B. die Abrechnung nach Minuten1, nach begonnener 1/10-Stunde (= 6 Minuten) oder nach angefangener Viertelstunde. Bei letzterer Modalität ist es allerdings angemessen, „Kurzvorgänge“, z.B. kurze Telefonate sowie organisatorische Maßnahmen u.Ä. von der Berechnung auszuschließen2. Auch erscheint die Abrechnung von Arbeitszeiten des Sekretariats mindestens unangemessen. Die Bemessung des Stundenhonorars hängt von den in § 12 BRAGO genannten Kriterien, jedoch auch von der fachlichen Qualifikation des Verteidigers, seiner Reputation in der Rechtspflege, Erfahrung und Spezialkenntnissen ab. Damit ist ein weites Spektrum angemessener Stundensätze eröffnet, wobei der für die jeweilige Kanzlei maßgebende Unkostensatz pro Stunde besondere Berücksichtigung zu finden hat3. Eine Differenzierung des Aufwands kann z.B. in Betracht
1 Dazu BGH v. 30.9.2004 – I ZR 261/02, AnwBl. 2005, 359. 2 Vgl. hierzu OLG Düsseldorf v. 7.6.2011 – 24 U 183/05, NJW 2011, 3311 ff. 3 Madert hält einen Stundensatz von weniger als 200 Euro für „nicht mehr angemessen“.
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Rz. 1204
Die Honorierung des Strafverteidigers
kommen, wenn Reisezeiten gesondert, d.h. zu einem geringeren Satz, vergütet werden sollen. Andererseits ist zu beachten, dass in der anwaltlichen Praxis gerade Reisezeiten für Aktenstudium, Konzeption von Schriftsätzen usw. oder einfach zum „Nachdenken“ über die Verteidigung genutzt werden. Es spricht daher vieles dafür, einem einheitlichen Stundensatz für Zeitaufwand den Vorzug zu geben. 1204
Werden anwaltliche oder andere juristische Mitarbeiter in die Bearbeitung einbezogen, so darf deren Zeitaufwand selbstverständlich nicht „stillschweigend“ in die Abrechnung des Stundenhonorars des beauftragten Verteidigers einbezogen werden. Ist dieser Fall nicht schon – wie zu empfehlen – in der Grundvereinbarung geregelt, so ist eine ergänzende Absprache geboten. Je korrekter der Verteidiger in solchen und anderen Honorarfragen vorgeht, desto eher wird er nach aller Erfahrung die Zustimmung des Mandanten gewinnen.
1205
Indes ist nicht jedes Mandat in gleicher Weise für eine Honorarvereinbarung auf Zeitbasis geeignet. Es gibt Fälle, die ein Verteidiger aufgrund seines Spezialwissens und guter Beziehungen zu Justizbehörden mit einem zeitlich geringen Aufwand in einem frühen Verfahrensstadium zur Erledigung bringen kann, die in der Hand eines anderen Verteidigers zu einem monatelangen Prozedieren, evtl. bis zu einer Hauptverhandlung, geführt hätten. Hier ist der Vereinbarung eines Pauschalhonorars der Vorzug zu geben. Das Problem liegt allerdings darin, den Gang der Sache einschließlich der Möglichkeit ihrer raschen Erledigung bei Übernahme des Mandats oder kurz danach zuverlässig abzuschätzen. Anders ist es bei Ermittlungsverfahren, die absehbar eine lange Laufzeit haben und mit Sicherheit umfangreichen Beratungs- und Bearbeitungsbedarf erzeugen werden. Gerade wegen der Unübersichtlichkeit der Entwicklung solcher Verfahren – zumal wenn mehrere Beschuldigte mit mehreren Verteidigern beteiligt sind –, hat das zeitgebundene Aufwandshonorar hier seine besondere Berechtigung. Auch Streitigkeiten über Pauschalhonorare pro Hauptverhandlungstag können vermieden werden, wenn auch insoweit nach Zeiteinheiten abgerechnet wird. Nach den Erfahrungen der Praxis leuchtet dem Klienten eine Honorarvereinbarung auf einer derartigen Zeitbasis viel besser ein als die geheimnisvoll ermittelte Gesamtsumme eines Pauschalhonorars. Heute wird in der Regel vom Klienten erwartet, dass in einer Honoraraufstellung jede Einzelbearbeitung mit Datum, Dauer und Gegenstand der Bearbeitung in einer Kurzbezeichnung festgehalten werden, was von der „öffentlichen Hand“ immer und auch von Unternehmen bzw. ihren Versicherungen durchweg gewünscht wird und von der Rechtsprechung als erforderliche Grundlage zur Abrechnung anerkannt ist1. Dass hier die Ehrlichkeit und Seriosität des Verteidigers – wie auch sonst in Honorarfragen – besonders gefordert ist, versteht sich von selbst.
1 BGH v. 4.2.2010 – IX ZR 18/09, NJW 2010, 1256 f.
680
Vereinbarungshonorare
Rz. 1209
Die zu erstattenden Kosten und Auslagen des Verteidigers müssen eben- 1206 falls in die Honorarvereinbarung aufgenommen werden und dafür – soweit möglich – dem Mandanten Belege zur Verfügung gestellt werden. Diese werden z.B. von Unternehmen häufig benötigt, um die Kosten als betrieblich verursachte Belastungen steuerlich in Ansatz bringen zu können. Freilich können solche Nachweise im Einzelfall zu Auseinandersetzungen mit dem Klienten führen, z.B. die Höhe der Hotelkosten. Es soll Verteidiger geben, die angesichts solcher in ihrer Kanzlei nur „durchlaufenden“ Posten das Niveau der ansonsten privat von ihnen benutzten Hotels kräftig überschreiten. Auch insoweit ist die innere Seriosität des Anwalts in besonderem Maße gefordert. Schließlich darf die „jeweils geltende“ Mehrwertsteuer (auch auf Kosten und Auslagen) als Bestandteil der Honorarvereinbarung nicht vergessen werden. Vielfach spielt bei der Bemessung des Honorars die Kollegialität mehre- 1207 rer Verteidiger eine Rolle. Die Klienten pflegen sich häufig über die Honoraransprüche ihrer Anwälte zu unterhalten. Es kann misslich sein, wenn sich dabei erhebliche Abweichungen ergeben, misslich für denjenigen, der zu hoch gegriffen hat, noch misslicher für den, der zu bescheiden geblieben ist. Das führt zu dem Wunsch nach Solidarität in Honorarabsprachen. Diese sind grundsätzlich nicht bedenklich, wenn sie nicht als eine Art Preiskartell die Mandanten auf unangemessene Kosten treiben sollen. Anderseits kann der einzelne Verteidiger in Verlegenheit kommen, der für seinen Fall, seinen Klienten und für sich selbst eigene Maßstäbe anwenden will. Die Kollegialität verpflichtet ihn nicht zur Beteiligung an der Absprache. Der gewissen Peinlichkeit der Situation entgeht er am besten, indem sein Mandant ihn nicht von der Schweigepflicht entbindet und ihm damit die Preisgabe der Honorarvereinbarung nicht gestattet. Schwierig kann die Situation allerdings auch dann werden, wenn ein Ver- 1208 teidigungsmandat etwa durch einen in der Sache bereits beauftragten Kollegen oder die Rechtsabteilung eines Unternehmens übertragen wird mit der „Vorgabe“ eines bestimmten Stundenhonorars, das deutlich unterhalb des sonst bei dem angesprochenen Verteidiger üblichen Satzes liegt. Lässt er sich darauf ein, wofür es viele Gründe geben kann, so muss er nicht nur damit rechnen, dass auch für künftige Mandate aus dieser Quelle der reduzierte Stundensatz „festgeschrieben“ wird, sondern auch, dass Dritte – auf welchem Wege auch immer – davon Kenntnis erhalten. Die Geheimhaltung eines „Ausnahmesatzes“ ist kaum sicherzustellen, was der Verteidiger bedenken muss. Der Verteidiger sollte entsprechend der allgemeinen „Mischkalkulation“ 1209 seiner Praxis sich auch in der Honorarfrage eine gewisse Flexibilität erhalten: Wird ihm glaubhaft gemacht, dass nur ein bestimmter Betrag zur Verfügung steht – was auch bei Behörden der Fall sein kann –, so muss er die Bedeutung des Mandats (und seiner Außenwirkung) gegen den finanziellen Aspekt abwägen. Daneben sollte es selbstverständlich sein, dass 681
Rz. 1210
Die Honorierung des Strafverteidigers
auch Mandate aus rein sozialen Gründen zu „Unterpreisen“ geführt werden. b) Äußere Form und Umstände der Honorarvereinbarung Literatur: Es wird auf das vor Rz. 1185 angeführte Schrifttum verwiesen.
1210
Über die gesetzlichen Vorschriften zur Honorarvereinbarung (§ 3a RVG) hinaus ist aus den praktischen Erfahrungen vielerlei nutzbar zu machen. So ist die Verwendung eines vorgedruckten Honorarscheins eine problematische Sache. Sie wird oft als die Manifestation vorhandenen Misstrauens gedeutet und als anstößig empfunden. Auch für den Anwalt ist die durch den Honorarschein formalisierte Konnexität zwischen Verteidigungsleistung und Bezahlung nichts Schönes. Vorzuziehen ist die Honorarvereinbarung im Rahmen des Schriftverkehrs. Die Bestätigung des Mandats in Briefform oder durch Einverständniserklärung und Unterzeichnung einer Abschrift des – möglichst detailliert zu formulierenden (§ 3a Abs. 1 RVG) – anwaltlichen Honorarbriefs genügt. Im Übrigen sollte man die auf Kosten bezügliche Korrespondenz von der allgemeinen Sachkorrespondenz auf jeden Fall trennen. Wird die Honorarvereinbarung gleichwohl mittels vorgedruckten Honorarscheins praktiziert, so bewährt es sich, dass dem Mandanten dieser Honorarschein nicht in der Anwaltskanzlei im Anschluss an die Übertragung des Verteidigungsmandats zur Unterzeichnung vorgelegt wird, sondern mit der schriftlichen Mandatsbestätigung die Honorarvereinbarung (mit Doppel) übersandt wird mit der Bitte um Prüfung, Unterzeichnung und alsbaldige Rücksendung. Damit wird dem Mandanten Überlegungszeit eingeräumt und der in der Praxis nicht seltene spätere Einwand abgeschnitten, er sei mit der Honorarvereinbarung „überfahren“ worden. Für den Verteidiger ist es von Vorteil, dass die Honorarfrage relativ frühzeitig nach Bestätigung des Mandats geregelt wird und er das Risiko vermeidet, das Mandat, evtl. sogar zur Unzeit, wegen nicht gezahlten Honorars niederlegen zu müssen. Es kann aber auch zweckmäßig sein, damit zu warten, bis der Verteidiger erste „Leistungen“ ggf. abschnittsweise (Auswertung der Ermittlungsakte, Besprechung mit Mandant und Behörden, Anfertigung eines Schriftsatzes) erbracht und dem Mandanten darüber berichtet hat. Die große Mehrzahl der Klienten hat im Übrigen durchaus Verständnis dafür, dass jede Arbeit ihren Lohn verdient.
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Schriftliche Honorarversprechen sollte der Verteidiger sich in jedem Falle nur in angemessener Form geben lassen. Mit der Hand geschriebene unansehnliche Zettel, wie sie manchmal in der Untersuchungshaft als Honorarvereinbarung von Klienten unterschrieben werden, sind rechtlich problematisch oder wirken zumindest wenig sympathisch. Der Verteidiger muss es auch vermeiden, sich Honorarerklärungen gewissermaßen zwischen Tür und Angel erteilen zu lassen, etwa im Flur der Vollzugsanstalt oder des Gerichts. Er muss immer daran denken, dass der ver682
Vereinbarungshonorare
Rz. 1214
pflichtende Charakter später häufig bestritten wird und dann die Erörterung solcher Umstände zu Problemen führen kann („Überrumpelung“). Das gilt vor allem, wenn der Verteidiger die Vorlage des Honorarscheins mit dem mindestens als „drohend“ empfundenen Hinweis begleitet, er werde nicht auftreten, falls die Unterschrift nicht erteilt werde. Dies kann Konsequenzen doppelter Art haben: Zum einen hat es strafrechtliche Verurteilungen wegen Nötigung gegeben, zum anderen ist eine berufsrechtliche Ahndung unter dem Gesichtspunkt der Niederlegung des Mandats zur Unzeit möglich1. In selbstverschuldete Schwierigkeiten bei der Honorarberechnung bringt 1212 sich der Verteidiger, der durch weitgehende Lockerung der professionellen Distanz zum Klienten in Abhängigkeit geraten ist (über die vielfachen Varianten vgl. Rz. 155 ff.). Durch allzu enge persönliche Beziehungen verbaut er sich selbst unter Umständen den Weg zu einer angemessenen Honorierung. So ist es schon passiert, dass ein – zunächst sehr geschmeichelter – Anwalt einen charmanten Abend mit einer bezaubernden Klientin als ein schweres Handikap für seinen Honoraranspruch erkennen musste. Er hatte sich den Weg zur Liquidation selbst verbaut! Auf jeden Fall muss der Mandant darauf hingewiesen werden, dass der 1213 vereinbarte Betrag von der gesetzlichen Regelung abweicht (§ 3a Abs. 1 S. 3 RVG) und eine Erstattung, etwa durch die Staatskasse, nur in Höhe der gesetzlichen Gebühren in Betracht kommt. Dies gilt nach § 3a Abs. 1 S. 4 RVG nur dann nicht, wenn es sich um Fälle von Beratung, Gutachten oder Mediation im Sinne des § 34 RVG handelt. Hieraus etwa zu erwartenden Bedenken kann der Verteidiger zutreffendenfalls mit dem Hinweis begegnen, dass in Fällen solcher Art und Bedeutung die Vereinbarung eines Honorars vielfach üblich und auch hier angemessen sei. Ebenso kann es richtig sein, den Klienten über die gesetzlichen Gebühren und ihre Unzulänglichkeit für die Anwaltspraxis zu informieren. Wenn der Verteidiger im Zweifel über den angemessenen Honorarbetrag ist, z.B. weil er die finanziellen Verhältnisse des Mandanten oder – insbesondere – Bedeutung und Schwierigkeit der Sache nicht übersieht, wird er einen Fehlgriff nach oben wie nach unten vermeiden können, wenn er einen Rahmenvorschlag macht. Innerhalb desselben kann er je nach der Reaktion des Mandanten leichter zu einem beiderseits als angemessen empfundenen Betrag kommen. Zu Anfang eines Verfahrens lässt sich die Höhe des Gesamthonorars in 1214 der Regel noch nicht abschätzen, weil die Dauer des Mandats, der Prozessverlauf und der Umfang der Bearbeitung nicht vorauszusehen sind. Hier wird häufig der Fehler begangen, nur einen „Honorarvorschuss“ oder sogar nur einen „Kostenvorschuss“ anzufordern. Der Verteidiger
1 Vgl. dazu Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Bd. 8, 1992, Thesen zur Strafverteidigung, S. 31.
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Rz. 1215
Die Honorierung des Strafverteidigers
kann es erleben, dass nach demnächstiger Beendigung der Verteidigung, etwa durch eine Einstellung des Verfahrens, das Honorar bis auf einen kleinen gesetzlichen Gebührenbetrag zurückgezahlt werden muss, weil keine Honorarvereinbarung getroffen wurde. Der Verteidiger kann einen solchen Verlust vermeiden, wenn er den Betrag vereinbart und als vorläufiges „Vereinbarungsteilhonorar“ oder als „Honorarteilbetrag“ entgegennimmt. In diesem Falle kann er auch mit der Weiterentwicklung der Sache jederzeit neue Honorarvereinbarungen vorschlagen, wenn es notwendig ist. Die Mandanten begrüßen dieses Verfahren der Aufstückelung des Vereinbarungshonorars, weil damit die Kosten für sie besser überschaubar bleiben. Es kann im Übrigen auch der Ausdruck „vorläufiges Honorar“ oder sogar nur „Vereinbarungshonorar“ verwendet werden, sofern im Begleitbrief klargestellt ist, dass je nach der Entwicklung der Sache mit einer weiteren Honorarvereinbarung zu rechnen ist, was der Mandant schriftlich bestätigen müsste. Auch bei der Vereinbarung von Honoraren auf Zeitbasis (Rz. 1203) kommen Abschlagszahlungen in Betracht, die vom Verteidiger treuhänderisch verwaltet werden und aus denen er nach Erteilung der jeweiligen Abrechnung entsprechende Entnahmen tätigen darf – was ebenfalls der Vereinbarung bedarf. Diese Methode bewährt sich besonders in Fällen, in denen mit einer evtl. Inhaftierung des Mandanten und ihren nicht untypischen Folgen für seine Liquidität gerechnet werden muss. Abschlagszahlungen sind schließlich empfehlenswert, wenn außenstehende Dritte für das Honorar aufkommen sollen. 1215
Honorarvereinbarungen mit Mandanten in der Haftanstalt sind ein besonderes Kapitel. Sie können ganz unbedenklich sein, z.B. wenn der Klient ungeachtet seiner Inhaftierung über ausreichende finanzielle Möglichkeiten verfügt und das Honorar so bemessen ist, dass der Anschein einer Ausnutzung der bestehenden Drucksituation vermieden wird. Der in Haft befindliche Mandant fühlt sich nämlich oft unfrei in einem doppelten Sinn – auch gegenüber der Honorarforderung seines Verteidigers. Späteren Einwendungen dieser Art sollte man vorbeugen. Das geht am besten, wenn die Kostenfrage mit dritten Personen (Rz. 1221) geregelt werden kann. Allerdings wird ein solcher oder ein anderer Weg nicht immer zur Verfügung stehen. c) Das Erfolgshonorar Literatur: Beukelmann in Hamm/Leipold, Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 1266 ff.; Feuerich/Weyland, BRAO, Kommentar, 8. Aufl. 2012.
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Nach der Bundesrechtsanwaltsordnung galt bis 2006 ein gesetzliches Verbot des Erfolgshonorars. Nach § 49b Abs. 2 BRAO a.F. waren Erfolgshonorare (für Rechtsanwälte, jedoch nicht für Hochschullehrer – § 138 Abs. 1 StPO) unzulässig und entsprechende Vereinbarungen nach § 134
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Vereinbarungshonorare
Rz. 1218
BGB nichtig. Im Strafverfahren bedeutete dies für den Verteidiger das Verbot, innerhalb oder außerhalb des gesetzlichen Rahmens dem günstigen Ausgang des Verfahrens oder dem sonst erzielten Erfolg der Verteidigung Bedeutung für die Höhe des Vereinbarungshonorars beizumessen. Diese Rechtslage hat sich durch die Entscheidung des BVerfG vom 1217 12.12.20061 geändert, in der dem Gesetzgeber der Auftrag erteilt wurde, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, die zumindest Ausnahmen für den Fall zulässt, dass der Rechtsanwalt mit der Vereinbarung einer erfolgsbasierten Vergütung besonderen Umständen in der Person des Auftraggebers Rechnung trägt, die diesen sonst davon abhielten, seine Rechte zu verfolgen. Der Gesetzgeber hat hierauf mit der Einfügung des neuen § 4a RVG reagiert. Danach ist ein Erfolgshonorar unter den zuvor beschriebenen Voraussetzungen nunmehr möglich, wobei die Vereinbarung gem. § 4a Abs. 2 Nr. 1, 2 RVG die voraussichtliche gesetzliche Vergütung und ggf. die erfolgsunabhängige vertragliche Vergütung, zu der der Rechtsanwalt bereit wäre, den Auftrag zu übernehmen sowie die Angabe, welche Vergütung bei Eintritt welcher Bedingung gelten soll, enthalten muss. Ferner sind nach § 4a Abs. 3 RVG die wesentlichen Gründe anzugeben, die für die Bemessung des Erfolgshonorars bestimmend sind. Die Vereinbarung muss schließlich den Hinweis enthalten, dass die Vereinbarung des Erfolgshonorars keinen Einfluss auf die ggf. vom Auftraggeber zu zahlenden Gerichtskosten, Verwaltungskosten etc. und die von ihm zu erstattenden Kosten anderer Beteiligter hat2. Eine ober- oder höchstrichterliche Rechtsprechung zu Inhalt und Umfang einer solchen Vereinbarung liegt bisher nicht vor. Muster einer Erfolgshonorarvereinbarung können den einschlägigen Formularbüchern entnommen werden3. In allen Fällen ist ein „Markten“ um das Honorar zu vermeiden. Der Ver- 1218 teidiger kann das Problem im Übrigen auch so angehen, dass er sich von dem Mandanten schriftlich oder mündlich bestätigen lässt, dass bei günstigem Ausgang des Verfahrens die Honorarfrage nochmals angesprochen werden soll. Das kann eine praktikable Lösung sein. Allerdings muss dem Verteidiger klar sein, dass er damit keinen Anspruch auf das nachträgliche Honorar gewinnt, sondern der Mandant bestenfalls eine gewisse moralische Bindung verspürt. Das Verfahren funktioniert nur bei honorigen Mandanten, die zu ihrem Wort stehen. Es gibt auch solche.
1 BVerfG v. 12.12.2006 – 1 BvR 2576/04, NJW 2007, 979 ff. 2 Zu den Erwägungen des Gesetzgebers BT-Drucks. 16/8916 v. 23.4.2008, dort S. 17. 3 Vgl. Beukelmann in Hamm/Leipold, Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. 2010, S. 1266 ff.
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Rz. 1219
Die Honorierung des Strafverteidigers
III. Kostenzahlung und Kostensicherung 1. Aufgaben der Kanzlei 1219
Den Geldverkehr in bar – wenn er denn überhaupt praktiziert wird – sollte der Anwalt möglichst dem Büro überlassen, besonders wenn er dafür geeignete Mitarbeiter zur Verfügung hat. Das betrifft sowohl die Führung des (elektronischen) Kassenbuchs und der Bankkonten wie den Umgang mit Bargeld. Wenn er selbst – was die Ausnahme sein sollte – damit befasst wird, muss er sich absolut korrekt verhalten. Er ist für ordnungsmäßige Quittierung und Verbuchung verantwortlich. Man kann auch die schriftlichen Kostenanforderungen über das Büro gehen lassen, wenn man großen Wert darauf legt, eine Verquickung der Sach- und Geldfragen zu vermeiden (Rz. 1210). Andererseits sollte der Verteidiger jedenfalls bei Honorarvereinbarungen durchaus zeigen, dass er selbst dahintersteht, gerade wenn zur Bemessung des Honorars auch seine berufliche Reputation beigetragen hat oder beitragen soll. In diesem Bereich ist manches eine Frage des Geschmacks. Der Verteidiger sollte es jedenfalls vermeiden, im Gerichtsflur oder gar im Gerichtssaal mit seinem Mandanten Geldgeschäfte abzuwickeln oder sogar Barbeträge entgegenzunehmen. Allerdings ist es ihm schwerlich zuzumuten, ein Mandat wegen nicht fristgemäßer Honorarzahlung niederzulegen, obwohl er voraussieht, dass der Mandant nach seiner Gewohnheit „im letzten Moment“ in bar zahlen wird. Auch die Entgegennahme von Sachwerten als Honorar kann anstößig sein, auch wenn sie nicht unzulässig ist. Zum Problem von Verteidigerhonorar und Geldwäsche (§ 261 StGB) vgl. Rz. 1227.
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Wenn der Mandant nicht zahlungsfähig ist, kann eine Sicherung der Kostenforderung durch Übereignung oder dergleichen unumgänglich sein. Aber auch solche Geschäfte passen nicht gut zum Ethos des Strafverteidigers und erfordern zudem besondere Vorsicht. Vor allen Dingen darf die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit des Mandanten nicht zu sehr beeinträchtigt werden. Auch der Anschein einer Ausnutzung der bedrängten Lage des Mandanten ist zu vermeiden – auch wenn ein „böser Anschein“ berufsrechtlich nicht sanktioniert ist. Eine Sicherung kann auch durch eine Geldempfangsvollmacht gegeben werden, die den Verteidiger ermächtigt, Zahlungen aus der Staatskasse (Kautionen, Erstattungsbeträge bei Freispruch) in Empfang zu nehmen. Der Verteidiger muss aber darauf achten, die Auszahlung an sich selbst besonders zu beantragen, damit die Staatskasse nicht versehentlich an den Mandanten auszahlt1. Insgesamt kann nur dringend empfohlen werden, die Honorarfrage rechtzeitig vor der Hauptverhandlung – notfalls auch unter Ankündigung der Mandatsniederlegung oder des Nichtauftretens in der Verhandlung – zu erledigen. Übrigens: Ein wegen Nichtzahlung niedergelegtes oder „suspendiertes“ Mandat kann ebenso schnell wieder aufgenommen werden! (Vgl. aber Rz. 1210.) 1 Was merkwürdig oft vorkommt.
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Kostenzahlung und Kostensicherung
Rz. 1222
2. Zahlung durch Dritte Gegen ihre Annahme bestehen an sich keine Bedenken1. Sie wird – abge- 1221 sehen von der Zahlung durch Haftpflichtgesellschaften und Rechtsschutzversicherungen – oft von Angehörigen oder Freunden, auch vom aktuellen oder früheren Arbeitgeber des Klienten bewirkt (Rz. 142), was auf der Basis der (nachwirkenden) Fürsorgepflicht an sich unbedenklich ist. Allerdings darf gegenüber dem Dritten ohne Zustimmung des Mandanten der Auftragsinhalt nicht offengelegt werden. Der Verteidiger muss dem Mandanten die Zahlung Dritter mitteilen und entsprechend gutschreiben oder als Zusatzhonorar vereinbaren. Besondere Vorsicht kann geboten sein, wenn der Dritte mit der Zahlung für sich bestimmte Zwecke verfolgt, etwa wenn er selbst an der Sache beteiligt oder verdächtig ist und die Verteidigung in seinem Sinne steuern will (Rz. 32). Der Verteidiger darf sich auch nicht in einen Gewissenskonflikt drängen oder von sensationssüchtigen Medien „einkassieren“ lassen (Rz. 142). Die Übernahme des Honorars durch Medien gegen die Veröffentlichung der „story“ des Mandanten ist ein besonderes Problem. Die Entgegennahme der Zahlung z.B. einer Zeitung ist zwar nicht unzulässig, wenn die Verhandlungen und die Information durch den Klienten oder Dritte erfolgen. Der Verteidiger sollte jedoch an einer einschlägigen Publikation nicht mitwirken. Das gilt auch dann, wenn ihm für den Abschluss des Vertrages mit der Zeitung oder Zeitschrift ein gesonderter zivilrechtlicher Auftrag erteilt wird. Das Interesse der Medien geht fast ausnahmslos dahin, das Schicksal des Beschuldigten unter Sensationsgesichtspunkten „auszuschlachten“. Je „reißerischer“ die story, desto höher der Preis! Dies ist für eine sachgerechte, ausschließlich an den Interessen des Mandanten zu orientierende Verteidigung in aller Regel kontraproduktiv. Es ist vorgekommen, dass ein Verteidiger, der dem Gericht in der Hauptverhandlung sein Verhandlungskonzept darlegte, die Antwort erhielt: „Die Einlassung Ihres Mandanten und Ihre Verteidigungsargumentation haben wir schon der illustrierten Presse entnommen.“ Wünsche der Medien und das Honorarinteresse der Verteidiger müssen im Übrigen nahezu zwangsläufig zu unlösbaren Konflikten mit seiner umfassenden Schutzaufgabe (Rz. 9 ff.) und dem Verbot unangemessener Werbung (Rz. 92 ff.) führen. 3. Honorare aus dem „Milieu“ Die Verteidigung von Angehörigen des Milieus ist eine Gewissensent- 1222 scheidung, zumindest eine Geschmacksfrage. Das gilt insbesondere be1 BGH v. 7.11.1990 – 2 StR 439/90BGHSt. 37, 226; Beukelmann in Beck’sches Formularbuch, S. 1265 ff.; vgl. aber Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Bd. 8, 1992, Thesen zur Strafverteidigung, These 64 (S. 96); vgl. dazu BVerfG v. 30.3.2004 – 2 BvR 1520/01, NJW 2004, 1305.
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Rz. 1223
Die Honorierung des Strafverteidigers
züglich der Art und Weise, wie die Vertretung geführt wird (Rz. 128). Hier geht es aber auch noch um die Zwielichtigkeit des Verteidigerhonorars. Es ist manchmal ganz offenkundig, dass das Honorar des Verteidigers unmittelbar aus dem Erlös von Straftaten (auch außerhalb des § 261 StGB) stammt. Richter, Staatsanwalt und Öffentlichkeit sehen hierin häufig eine bedenkliche Nähe zur Strafvereitelung und auch der Hehlerei. Wenn der betreffende Verteidiger auch noch häufiger aus solchen Kreisen mandatiert wird, kann er in den Ruf eines komplizenhaft tätigen „Syndikatsanwalts“ kommen. Hier tun sich also Fallgruben auf, die der Verteidiger richtig sehen muss, wenn er die – auch solchen Beschuldigten selbstverständlich zustehende – Verteidigung führen will.
IV. Probleme der Niederlegung der Verteidigung aus Kostengründen Die Niederlegung der Verteidigung aus allgemeinen Gründen ist in Abschnitt B II 4 (Rz. 161 ff.) behandelt. Der nachstehende Abschnitt betrifft das Problem nur im Zusammenhang mit der Kostenfrage. 1223
Der Wahlverteidiger kann nach § 9 RVG einen angemessenen Vorschuss auf seine Kosten oder sein Honorar verlangen. Er kann auch die Annahme und grundsätzlich auch die Durchführung des Auftrages von der Erledigung seiner vollen Kostenforderung abhängig machen. Kommt der Mandant seiner Zahlungspflicht nicht nach, so kann der Verteidiger grundsätzlich das Mandat kündigen und die Verteidigung niederlegen. Er darf das aber „nicht zur Unzeit“ tun, es sei denn, dass zwingende Gründe vorliegen1. Hier sind vielerlei Varianten denkbar. Wenn es sich nur noch um einen kleinen Kostenrest handelt, wird der Verteidiger nicht niederlegen dürfen. Dasselbe gilt häufig, wenn der Mandant ohne Verschulden zahlungsschwach geworden ist, wenn die spätere Zahlung wahrscheinlich ist oder wenn Sicherheit geleistet wird. Auch die rechtzeitige Anforderung und Androhung der Niederlegung ist von Bedeutung. Besonders wichtig ist die Auswirkung der Niederlegung auf das Verfahren, z.B. wenn damit die Hauptverhandlung kurz vor ihrem Beginn oder während ihres Ablaufs gesprengt wird (Rz. 161 a.E.). Hier muss besonders beachtet werden, dass dem Verteidiger vom Gericht unter Umständen nach § 145 Abs. 4 StPO die Kosten des Termins auferlegt werden können.
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Im Falle der Niederlegung muss der Wahlverteidiger ggf. damit rechnen, dass er vom Vorsitzenden zum Pflichtverteidiger bestellt wird. Das wird jeder Verteidiger überlegen müssen, wenn er – besonders in einer größeren Sache – den Auftrag eines „vielversprechenden“ Mandanten annimmt, der auf diesem Umweg zu „seinem“ Pflichtverteidiger auf Staatskosten kommen will (Rz. 147). 1 Dazu Strafrechtsausschuss der BRAK, Schriftenreihe der BRAK, Bd. 8, 1992, Thesen zur Strafverteidigung, These 8 (S. 31).
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Probleme der Niederlegung der Verteidigung aus Kostengrnden
Rz. 1226
Andererseits soll es Fälle geben, in denen der Wahlverteidiger geradezu darauf „spekuliert“, nach Niederlegung des Mandats (aus Kostengründen) zum Pflichtverteidiger bestellt zu werden, zumal wenn er schon längere Zeit im Verfahren tätig ist und die Hauptverhandlung bevorsteht. Diese Rechnung geht aber keineswegs immer auf, wenn Anlass zu der Annahme besteht, der Verteidiger und/oder sein Mandant versuchten auf diese Weise, die Auswahlmöglichkeit des Vorsitzenden nach § 142 StPO abzuschneiden und ihm einen bestimmten Pflichtverteidiger „aufzuzwingen“1. Wird durch die Bestellung eines anderen Verteidigers eine Absetzung des Hauptverhandlungstermins erforderlich, kann dies für den früheren Wahlverteidiger sehr teuer werden (§ 145 Abs. 4). Wenn die Niederlegung erfolgt, können schwierige Verrechnungen not- 1225 wendig werden. Dem Verteidiger gebührt von dem gezahlten Honorar unter Umständen nur ein bestimmter Teilbetrag, so dass er den Mehrbetrag zur Verfügung stellen muss (§ 628 BGB). Hat er zu wenig erhalten, wird er seine Unterlagen dem Mandanten oder seinem Nachfolger herausgeben müssen, wenn sonst schwerwiegende Nachteile für die Sache eintreten würden. Es kommt hier jedoch jeweils auf den Einzelfall an. Keinen Anspruch hat der Verteidiger darauf, dass sein Nachfolger seinen Gebührenschutz übernimmt; unbedenklich ist jedoch die kollegiale Bitte, sich für die Erledigung der Kosten einzusetzen. Bedenklich ist es, einen Mandanten an einer Honorarvereinbarung mit Androhung oder Ausführung der Niederlegung festzuhalten, wenn der Mandant inzwischen ohne Verschulden zahlungsschwächer geworden ist. Die Niederlegung muss in der für den Mandanten schonendsten Form vollzogen werden. Bei Gericht und Staatsanwaltschaft darf nicht der Eindruck entstehen, dass der Verteidiger in der Sache selbst Bedenken bekommen hat, weiter mitzumachen, etwa weil er von der Schuld des Mandanten wisse oder überzeugt sei. Die Erklärung, dass die Niederlegung „aus Gründen, die nicht in der Sache selbst liegen“, erfolge, ist empfehlenswert. Sie wird in der Regel richtig verstanden. Hinsichtlich des Umfanges der Auslagenerstattung durch die Staatskasse 1226 muss der Mandant belehrt werden, dass nur die gesetzlichen Gebühren, nicht aber Vereinbarungshonorare erstattet werden (§ 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO). Es gibt Fälle (vgl. Rz. 1049 – Privatklageverfahren), in denen der Prozessgegner auch Vereinbarungshonorare zu erstatten hat, die über den gesetzlichen Gebührenrahmen hinausgehen. Das ist dann der Fall, wenn der unterliegende Gegner eine entsprechende Verpflichtung als Gegenleistung für die Rücknahme des Strafantrags oder einer Privatklage oder die Zustimmung zu einer Einstellung des Verfahrens übernommen hat. Bei derartigen Kostenvereinbarungen müssen sich aber Anwalt und Mandant sehr davor hüten, unter dem Druck des laufenden Verfahrens unangemessene Forderungen zu stellen oder sich damit einverstanden zu erklären (vgl. im Einzelnen Rz. 1047, 1215). 1 Zu den Einzelheiten vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, § 142 StPO Rz. 7.
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Rz. 1227
Die Honorierung des Strafverteidigers
V. Verteidigerhonorar und Geldwäsche Literatur: Beulke, Gedanken zur Diskussion über die Strafbarkeit des Verteidigers wegen Geldwäsche, FS Rudolphi (2004), S. 391 ff.; Dahs/Krause/Widmaier, Strafbarkeit des Verteidigers wegen Geldwäsche durch die Annahme des Honorars, NStZ 2004, 261; Fischer, Ersatzhehlerei als Beruf und rechtsstaatliche Verteidigung, NStZ 2004, 473 ff.; Grüner/Wasserburg, Geldwäsche durch Annahme des Verteidigerhonorars?, GA 2000, 430 ff.; Hamm, Geldwäsche durch Annahme von Verteidigerhonorar?, NJW 2000, 636 ff.; Hassemer, Professionelle Adäquanz, wistra 1995, 41 ff., 81 ff.; Matt, Geldwäsche durch Honorarannahme eines Strafverteidigers, GA 2002, 137 ff.; Matt, Verfassungsrechtliche Beschränkungen der Strafverfolgung von Strafverteidigern, JR 2004, 321 ff.; Müssig, Strafverteidiger als „Organ der Rechtspflege“ und die Strafbarkeit wegen Geldwäsche, wistra 2005, 201 ff.; Wohlers, Strafverteidigung vor den Schranken der Strafgerichtsbarkeit, StV 2001, 420 ff.; Wohlers, Geldwäscherei durch die Annahme von Verteidigerhonoraren, SchwZStR 2002, 197 ff.
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Was früher vielleicht mehr als eine Frage des Geschmacks, des Rufs oder der Mandatspolitik, jedenfalls als ureigenste Angelegenheit vom Strafverteidiger zu ver- und beantworten war – die Frage nach der Herkunft des Honorars –, hat seit der Etablierung des § 261 StGB für den Strafverteidiger unmittelbar strafrechtliche Bedeutung erhalten. Schlaglichtartig wurde dies (spätestens) durch das Urteil des BGH deutlich1, wonach der Geldwäschestraftatbestand uneingeschränkt auch auf Strafverteidiger Anwendung finde, ohne dass grundrechtliche Garantien des Art. 12 GG (für den Strafverteidiger) einerseits und prozessuale Schutzinteressen (des Beschuldigten) andererseits überhaupt berührt sein sollten. Die der Entscheidung folgende Diskussion hat erkennbar gemacht, dass mit § 261 StGB ein Straftatbestand geschaffen wurde, der in den Händen möglicherweise misslauniger Ermittlungsbehörden durchaus ein Instrument zur „Disziplinierung“ einer Wahlverteidigung darstellen könnte: Droht der Strafverteidiger wegen einer Honorarvereinbarung – einem an sich sozial- und rollenadäquaten Verhalten – selbst in die Beschuldigtenrolle gedrängt zu werden, so ist damit das für eine effektive Strafverteidigung notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Mandant unmittelbar betroffen und seine Basis unterminiert. – Das BVerfG hat hier indes einiges zurechtgerückt2. Nach heutigem Rechtszustand ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen dem, was der Strafverteidiger schon aus Klugheitsgründen unternimmt oder vermeidet, um auch weiterhin die Integrität seiner Person für seine Mandanten gegenüber den Ermittlungsbehörden in die Waagschale werfen zu können, und dem, was er aus Gründen des strafrechtlichen Gesellschaftsschutzes an Eingriffen und Einwirkungen in das
1 BGH v. 4.7.2001 – 2 StR 513/00, BGHSt. 47, 68 ff. 2 BVerfG v. 30.3.2004 – 2 BvR 1520/01, 2 BvR 1521/01, wistra 2004, 217 ff. = NStZ 2004, 259 ff.; BVerfG v. 14.1.2005 – 2 BvR 1975/03, wistra 2005, 217; dazu Dahs/ Krause/Widmaier, NStZ 2004, 261.
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Verteidigerhonorar und Geldwsche
Rz. 1229
Mandatsverhältnis verpflichtet ist hinzunehmen. Nur von Letzterem soll hier die Rede sein. Nach dem Wortlaut der Strafvorschrift macht sich der Strafverteidiger 1228 wegen Geldwäsche strafbar, wenn er Honorar aus Mitteln entgegennimmt, deren deliktische Herkunft er kennt oder billigend vermutet hat, vermuten musste bzw. leichtfertig nicht bedacht hat. Das mit dem Gesetzeswortlaut begründete Strafbarkeitsrisiko für den Wahlverteidiger ist angesichts des mehrfach erweiterten Vortatenkatalogs des § 261 Abs. 1 StGB evident: Es sind die Kernbereiche forensisch relevanter Straftatvorwürfe und damit der Strafverteidigung, die als geldwäscherelevante Vortaten zu berücksichtigen sind. Keineswegs beschränkt sich das Spektrum auf sog. „Milieu-Straftaten“. Nach dem Gesetzeswortlaut macht sich auch derjenige strafbar, der für seinen der Steuerhinterziehung verdächtigen Mandanten eine Absprache mit den Steuerbehörden herbeiführte, wenn er bei der Honorarabrechnung leichtfertig nicht bedachte, dass die Summe der (möglicherweise deliktisch bedingten) Steuerschulden die mageren Aktiva des kleinen (Familien-)Unternehmens überstieg und deshalb sein aus Unternehmensmitteln beglichenes Honorar aus „kontaminierten“ Quellen stammen musste (§ 261 Abs. 1 S. 3 StGB). Kurz: Angesichts der aufgezählten Straftaten ließe sich kaum jemals sicher ausschließen, dass die Honorarmittel des Mandanten etwas mit der Vortat zu tun haben. Das BVerfG hat insoweit freilich eine deutliche Grenze gezogen: Der 1229 Straftatbestand kommt aus verfassungsrechtlichen Gründen nur in Betracht, wenn Strafverteidiger „im Zeitpunkt der Annahme ihres Honorars sichere Kenntnis von dessen Herkunft hatten“1. Auch wenn das BVerfG die Abgrenzung zwischen deliktischer und rollenadäquater Honorarannahme (erst – und insoweit traditionellen Ansätzen folgend2) auf der Ebene des subjektiven Tatbestandes ansetzt; das Strafbarkeitsrisiko des Strafverteidigers bestimmt sich entscheidend nach objektiven Kriterien3: Honorarvereinbarung und -entgegennahme sind für sich sozial unauffällig bzw. sozialadäquat und geben per se – auch bei Verdacht einer Katalogtat – noch keine Anhaltspunkte für die (prozessuale und materielle) Zuschreibung einer qualifizierten Vorsatzform4. 1 BVerfG v. 30.3.2004 – 2 BvR 1520/01, NStZ 2004, 259 ff. 2 BGH v. 1.8.2000 – 5 StR 624/99, BGHSt. 46, 107 (112 ff.); BGH v. 13.4.1988 – 3 StR 33/88, BGHR StGB § 27 Abs. 1 Hilfeleisten 3; BGH v. 20.9.1999 – 5 StR 729/98, BGHR StGB § 27 Abs. 1 Hilfeleisten 20; BGH v. 8.3.2001 – 4 StR 453/00, BGHR StGB § 27 Abs. 1 Hilfeleisten 22; BGH v. 18.6.2003 – 5 StR 489/02, BGHR StGB § 27 Abs. 1 Hilfeleisten 24; Übersicht bei Fischer, § 27 StGB Rz. 18 ff.; Joecks in MK, § 27 Rz. 43 ff.; vgl. auch Kempf in Brüssow/Gatzweiler/Krekeler/ Mehle (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis I, 4. Aufl. 2007, S. 57; Hamm, NJW 2000, 636 (637 f.); vgl. auch Matt, GA 2002, 137 (145); Wasserburg, GA 2000, 430 (438 ff.). 3 So schon Beulke in FS Rudolphi (2004), S. 391, 401 ff.; vgl. auch Müssig, wistra 2005, 201 ff. 4 BVerfG v. 30.3.2004 – 2 BvR 1520/01, 2 BvR 1521/01, wistra 2004, 217 (225 f.).
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Rz. 1230
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Insoweit kommt den Umständen des Einzelfalles maßgebliche Bedeutung zu; etwa dann, wenn das Verhalten des Strafverteidigers ohne den Zusammenhang mit der Tatbestandsverwirklichung nicht mehr als sozial sinnvoll, d.h. als rollenadäquat verstanden werden kann. So sind selbstverständlich Handlungen erfasst, die darauf abzielen, die tatsächlichen Grundlagen, die Gegenstand des Verfahrens sind, zugunsten des Beschuldigten zu beeinflussen, wenn also der Verteidiger den bemakelten Gegenstand „verbirgt, dessen Herkunft verschleiert oder die Ermittlung der Herkunft, das Auffinden, den Verfall, die Einziehung oder Sicherstellung eines solchen Gegenstandes vereitelt oder gefährdet“ (§ 261 Abs. 1 StGB). Eindeutig sind auch Fälle, in denen Verteidigerhonorare der Umgehung des Geldwäscheverbots dienen sollen, wenn der Geldtransfer etwa in der Absicht erfolgt, dem Mandanten Teile davon wirtschaftlich zuzuführen (sog. „kick-back“; z.B. die Übertragung von Geschäftsanteilen mit der Abrede, Gewinne daraus zu einem bestimmten Anteil zurückzuführen, ähnliche „treuhänderische“ Abreden oder die Vereinbarung der Rückführung von Geldbeträgen)1. Widerlegt ist die Regelvermutung der Rollenadäquanz auch bei drastisch inadäquatem bzw. deliktischem Kontext, so wenn etwa hohe Bargeldbeträge (in „bankunüblicher Stückelung“) unter konspirativen Umständen als „Honorar“ übergeben werden, oder (krass) im Fall der Hehlerei2. Dem Strafverteidiger ist daher dringend zu empfehlen, alle Honorarzahlungen zu quittieren, (hohe) Bargeldbeträge nicht entgegenzunehmen, insbesondere Honorare nicht unter konspirativen Umständen entgegenzunehmen und Treuhandgelder nur bei klarer, vom Verteidigerauftrag umfassten Zweckbindung zu akzeptieren (z.B. zum Zweck der Schadenswiedergutmachung). 1230
Umgekehrt ist der Strafverteidiger nicht zu (inquisitorischen) Nachforschungen über die legalen oder illegalen Einnahmequellen des Mandanten verpflichtet. Die Honorarvereinbarung ist auch beim Vorwurf einer Katalogstraftat grundsätzlich rollen- bzw. sozialadäquat und darf nicht per se zum Anlass von Ermittlungsmaßnahmen (gegen den Verteidiger) genommen werden3. Insbesondere ist der Strafverteidiger in einschlägigen Fällen (Katalogtat) nicht verpflichtet – zur Vermeidung eigener Strafbarkeitsrisiken –, einen Beiordnungsantrag zu stellen. Unabhängig davon, dass der Vorwurf einer Katalogtat nicht zwingend die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung (im Ermittlungsverfahren!) erfüllt, dürfte die Signalwirkung eines solchen Vorgehens für den – vermeintlich – wohlhabenden Mandanten jede Verteidigungsstrategie konterkarieren. Heikel ist der Fall, dass der Strafverteidiger nachträglich die deliktische Herkunft der Honorarmittel sicher erkennt, etwa, wenn sich das Ermittlungsverfahren unerwartet ausdehnt. Selbstverständlich führt 1 OLG Hamburg v. 6.1.2000 – 2 Ws 185/99, wistra 2000, 105 (113 ff.). 2 Vgl. Fischer, NStZ 2004, 473 (475). 3 BVerfG v. 30.3.2004 – 2 BvR 1520/01, 2 BvR 1521/01, wistra 2004, 217 (225 f.); LG Berlin v. 24.7.2003 – 502 Qs 49/03, NJW 2003, 2694 f.
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Steuersnden
Rz. 1232
die nachträgliche Kenntnis nicht zur Strafbarkeit. Sind allerdings für die Zukunft unbelastete Honorarmittel nicht aufweisbar, so bleibt wohl nur die Niederlegung des Mandats: Auch hier wird die Signalwirkung eines Beiordnungsantrages jedenfalls in dieser Situation als Alternative ausscheiden. Soweit in einem (umfangreichen) Ermittlungsverfahren Vermögenswerte des Beschuldigten auf Veranlassung der Ermittlungsbehörden beschlagnahmt wurden (§§ 111b ff. StPO), kann der Strafverteidiger in der Regel davon ausgehen, dass weitere Vermögenswerte nicht belastet sind. Im Übrigen ist auch auf die Möglichkeit einer Freigabe von beschlagnahmten Vermögenswerten zur Begleichung von Honorarforderungen zu verweisen; nach den Erfahrungen der Praxis wird dieses von den Ermittlungsbehörden häufig gebilligt. Für den nicht ausschließbaren Fall, dass dem Mandanten nach allen Anzeichen – zunächst – nur belastete Mittel zur Verfügung stehen, muss eine eindeutige, nachvollziehbare Erklärung zur unbelasteten Herkunft der Honorarmittel vorliegen; anderenfalls – wenn eine Beiordnung nicht in Betracht kommt – bleibt nur die Ablehnung des Mandats. Auch die Honorarzahlung durch Dritte, insbesondere auch die Versicherung (Rz. 1221) bleibt grundsätzlich unbedenklich (vgl. aber Rz. 1222). Ohne praktische Relevanz für den Strafverteidiger ist die nach dem Geld- 1231 wäschegesetz (GwG) bestehende Anzeigepflicht bei sog. „Verdachtsfällen“ (Tatsachenfeststellungen im Rahmen beruflicher Tätigkeit, die auf Geldwäsche oder die Finanzierung terroristischer Vereinigungen schließen lassen). Nach § 11 Abs. 3 S. 1 GwG besteht diese Pflicht nicht, wenn die Informationen „im Rahmen der Rechtsberatung oder der Prozessvertretung“ erhalten wurden; für den Strafverteidiger dürfte dies der Regelfall sein1.
VI. Steuersünden Die Vereinbarung und Zahlung von Kosten und Honoraren werfen ver- 1232 schiedene Fragen steuerlicher Natur auf. Vergehen werden nicht als Kavaliersdelikt betrachtet. Mandanten und auch Anwälte behandeln die Vorgänge gleichwohl häufig mit bedenklicher Laxheit. Es liegt auf der Hand, dass eine strafrechtliche Verfehlung in jedem Falle für einen Anwalt, der selbst beruflich als Strafverteidiger auftritt, eine mehr als peinliche Sache ist (Rz . 1180 ff.). Er sollte sich deshalb um besonders korrektes Verhalten bemühen. Dabei muss er sowohl die Steuer-
1 Ebenso wie die Gegenausnahme, d.h. die Instrumentalisierung des Mandats für Zwecke der Geldwäsche (§ 11 Abs. 3 S. 2 GwG), im Rahmen der Strafverteidigung keine Rolle spielen dürfte: „Selten dürften Täter der organisierten Kriminalität den Weg über Mandatierung und Honorierung des Strafverteidigers wählen, um ihre Verbrechensgewinne zu waschen“, so BVerfG v. 30.3.2004 – 2 BvR 1520/01, 2 BvR 1521/01, wistra 2004, 217 (224).
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Rz. 1233
Die Honorierung des Strafverteidigers
pflichten seiner Klienten wie auch seine eigenen Steuerpflichten beachten. 1233
Ein Hauptfall steuerlichen Missverhaltens betrifft die Beteiligung an Steuerunehrlichkeiten des Mandanten. Dem Verteidiger wird nicht selten zugemutet, das für die Strafverteidigung gezahlte Honorar fälschlich als Beratungs- oder Vertretungshonorar in zivilrechtlichen Angelegenheiten in Rechnung zu stellen, damit es für den Mandanten steuerlich absetzbar wird. Auch verlangt man von ihm, das Honorar für die Verteidigung des einzelnen Mandanten nicht ihm, sondern dem ihm gehörenden Unternehmen anzulasten und dort in einer für die Absetzung geeigneten Weise (z.B. als Beratungshonorar) anzufordern. Die Klientel gibt sich oft recht verständnislos, wenn der Verteidiger solche Manipulationen ablehnt, die ggf. als Beihilfe zum Steuerbetrug zu werten wären. Anders ist es, wenn das Strafverfahren auf ein „betriebliches Handeln“ des Mandanten zurückgeht, z.B. beim Vorwurf der fahrlässigen Gewässerverunreinigung, der fahrlässigen Körperverletzung bei Betriebsunfall, Bilanz- und Börsendelikten, Korruption usw. Hier kommt die steuerrechtliche Berücksichtigung der Verteidigerkosten als betriebliche Aufwendung in Betracht1, so dass die Rechnung zwar an das Unternehmen gerichtet, der Gegenstand des Mandats, d.h. die konkrete Beratungsleistung (bspw. Verteidigung des X in dem Ermittlungsverfahren Y), dabei aber nicht verfälscht werden darf.
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Wenn der Anwalt bezüglich der eigenen Steuerpflicht sich inkorrekt verhält oder gar Steuerhinterziehung begeht, so kann er in eine sehr schwierige Lage geraten. Seine Buchführung kann ggf. verworfen und er damit der Schätzung des Finanzamtes ausgeliefert werden. Mangelnde Aufklärbarkeit geht zu seinen Lasten. Die Steuerbehörde kann bei Schätzung bis an die oberste Grenze des Möglichen gehen. Außerdem verliert der Anwalt sein Ansehen bei den Finanzbehörden, was besonders schlimm sein kann, wenn er etwa als Fachanwalt für Steuerrecht, gar als Steuerberater oder sonst bei den Finanzämtern auftritt oder als Verteidiger in Steuerstrafsachen tätig wird. Schlimmer noch wirkt der Verlust an Ansehen bei dem Klienten, wenn das Vergehen im Einvernehmen mit diesem vor sich geht. Solche Fälle spielen sich meist in der Weise ab, dass Bargeldbeträge ohne Quittung und ohne Rechnung übergeben werden („OR-Sachen“). Manche Klienten legen es geradezu darauf an, ihrem Verteidiger auf diese Weise Beträge aufzudrängen, weil sie ohnehin in aller Regel bei ihrer Einkommensteuer nicht absetzbar sind. Der Verteidiger gibt sich damit ganz in die Hand des Mandanten, macht sich erpressbar und büßt seine Autorität ein. Bei späteren Differenzen kann er sich dem Druck und der Anzeigedrohung des treulos gewordenen Mandanten in unangenehmster Weise ausgelie1 BFH v. 19.2.1982 – VI R 31/78, BFHE 135, 449; FG Düsseldorf v. 23.11.1988 – 7 K 281/83 E, EFG 1989, 227 = AnwBl. 1989, 393.
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Steuersnden
Rz. 1235
fert sehen. Insbesondere auch bei der späteren Schlussabrechnung kann er es erleben, dass der Klient plötzlich die Anrechnung der ohne Quittung gezahlten Beträge oder sogar deren Rückzahlung verlangt. In diesem Zeitpunkt lassen sich ein fortlaufend geführtes Kassenbuch und die Buchhaltung schon nicht mehr in Ordnung bringen, und das Büro nimmt von dem Missverhalten Kenntnis. Der Anwalt setzt damit seine Autorität auch gegenüber seinen Angestellten in bedenklicher Weise aufs Spiel und muss im Falle von Arbeitsstreitigkeiten oder sonstigen Differenzen immer damit rechnen, mit seinen Steuersünden öffentlich konfrontiert zu werden. Es kann sogar passieren, dass der Klient Zahlungen behauptet, die er gar nicht geleistet hat, ohne dass der Anwalt dies infolge Fehlens von Unterlagen wirksam zurückweisen kann. Auch kommt es vor, dass der Klient die Kosten bei seiner Steuererklärung doch mit absetzt oder wenigstens als außergewöhnliche Belastung anmeldet. Dann ist mit Kontrollmitteilungen zu rechnen, die bei der Buch- und Betriebsprüfung des Finanzamtes den Anwalt bloßstellen. Besondere Vorsicht ist auch bei Zahlungen von Auslandsklienten gebo- 1235 ten, die Kosten und Honorare in Strafsachen auf ein Auslandskonto des Verteidigers überweisen wollen, was übrigens auch von Inlandsklienten angeboten wird („Haben Sie ein Schweizer Konto – dann kann ich das Honorar aus Luxemburg überweisen“). Damit begibt sich der Verteidiger ganz in die Hand seines Klienten, der durch die Zahlungsbelege jederzeit einen Steuerbetrug des Verteidigers aufdecken könnte. Diesen Möglichkeiten und Gefahren ist unter den Anwälten der Strafverteidiger besonders ausgesetzt, weil er es nicht immer mit vertrauenswürdiger, sondern auch mit straffälliger Klientel zu tun hat. Diese Gefahren gilt es durch ein steuerehrliches Verhalten unbedingt zu vermeiden und sich ein ruhiges Steuergewissen zu erhalten.
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Stichwortregister (Die Zahlen verweisen auf die Randzahlen.) Abhängigkeit – des Verteidigers 7 Abhilfeverfahren 474 Ablehnung des Mandats 31, 138 Ablehnung des Richters 198 ff. – Ablehnungsgründe 552, 657 – ehrenamtliche Richter 198 ff., 201 – Fristen 205 – Revision bei Zurückverweisung 933 – Verfahren 205 f. – wegen Verletzung von Verfahrensabsprachen 204 – Zeitpunkt 205, 467 – Zweckmäßigkeit 198 Ablehnung des Sachverständigen 229 ff., 626, 846 Ablehnung des Staatsanwalts 207 f. Ablehnung von Beweisanträgen 474 Abschluss der Ermittlungen – der Polizei 299 – der Staatsanwaltschaft 253 Abschriften – aus zur Einsicht überlassenen Akten 276 – polizeilicher Vernehmungsprotokolle 299 Absehen von Strafe 331 Absprachen – unter Verteidigern 72, s.a. Mehrere Verteidiger – s.a. Verfahrensabsprachen, Verständigung Abtrennung – eines Verfahrens 602 Abwesenheit – des Angeklagten 482 ff., 565 – notwendiger Verfahrensbeteiligter als Revisionsgrund 934 Adhäsionsverfahren 1069 Agreement – s. Verfahrensabsprachen Aktenauszug – Art und Umfang 277 f. – Aushändigung an Mandant 71, 280 ff. – Aushändigung an Mitverteidiger 275, 284 – Auswertung in anderen Verfahren 281
– für Justizbehörden 291 – in Staatsschutzsachen 279 – für Versicherungsgesellschaft 89, 288 – s.a. Akteneinsicht Aktenbeiziehung 262, 687, 698 Akteneinsicht 259 ff. – Abschriften 276 – Behandlung der Akten 184, 275 – Beiakten 261 – Datenspeicher 276 – Dritter 274, 283, 286 – elektronische Dateien 263 – Fotokopien 272, 276 – Gefährdung des Untersuchungszwecks 266 ff. – vor der Hauptverhandlung 428, 469 – Mitteilung an den Verteidiger 266 – Ort 260, 271 – Rückgabe der Akten 275 – Spurenakten 262 – Umfang 262 ff. – Untersuchungshaftverfahren 289, 344, 352, 356 – Verfahrensverzögerung 75 – des Verletzten 171, 336 – Verlust der Akten 291 – Vernehmungsprotokolle 270 – Versagung 266 ff. – verspätete – 469 – „Verteidigerteam“ 134 – Verwertung 280 ff. – Videoaufzeichnungen 264 – s.a. Aktenauszug Akteninhalt 63 – Information Dritter 89, 283 – Information des Mandanten 280 – Information der Mitverteidiger 284 – Information der Presse 286 – Information von Zeugen 1164 f. – Nachvollzug 583 – für Versicherung 288 – Verwertung 280 ff. Aktenvorlage – an das Berufungsgericht 870 Aktenwidrigkeit 946 Alibibeweis 658, 1004 Amnestie 823
697
Stichwortregister Amnestieprogramme – in Unternehmen 1156 Amtshaftung – s. Regress Amtsrichteroriginale 196, 812 Amtstracht 508 Amtsverschwiegenheit 574 Anarchistischer Straftäter 129 Anbiederung 182 Änderung der Anklage 702 ff. Angehörige 696 Angeklagter – Einlassung s. dort – persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse 492 Anhörung – informatorische 293 Anklage 420 ff. – Statistik 1 Anklageschrift 423 Anknüpfungsfragen 534, 592 Anknüpfungstatsachen 317 Annahmeberufung 861 Anrechnung der Untersuchungshaft 371, 775, 820, 834 Anrempelei = Benehmen im Gericht 186 Antrag auf gerichtliche Entscheidung – (§§ 23 ff. EGGVG) 1086 ff., 1121 Anwalt des Vertrauens 146, 460 Anwaltswechsel 892 Anwesenheitsrechte des Verteidigers – in der Berufungsverhandlung 878 – bei Beschlagnahme 390 – bei Durchsicht aufgefundener Papiere 384 – bei Durchsicht beschlagnahmter Postsendungen 394 – bei Durchsuchung 383 – bei Gegenüberstellungen 300 – in der Hauptverhandlung 511 – bei kommissarischer Vernehmung 485 – bei polizeilicher Vernehmung 298 – im Probationsverfahren 1023 – bei richterlichen Untersuchungshandlungen im Ermittlungsverfahren 257, 310 – bei richterlicher Vernehmung 308 ff. – bei staatsanwaltlicher Vernehmung 257, 301 – bei Urteilsverkündung 771 – bei Vernehmung von Mitbeschuldigten 310 Arroganz des Mandanten 152
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Arzt – ärztliche Berichte 407 – als sachverständiger Zeuge 407 – s.a. Sachverständiger Ärztliche Atteste 607 Assistent – als Gutachter 624 Assistenz eines Referendars, Assessors 160 Aufenthaltsort des Mandanten 69 Auferlegung der Kosten – zu Lasten des Verteidigers 195, 804 Aufhebung der Pflichtverteidigung 123, 164 Aufklärungsmonopol 1004 Aufklärungspflicht – Bedeutung 1, 662 ff. – Einzelfälle 571, 581, 613, 691 – Revision 946 Aufklärungsrüge 661, 692, 946 Auflagen – bei Einstellung wegen Geringfügigkeit 329 – bei Haftverschonung 361 – bei Strafaussetzung zur Bewährung 755, 779, 848, 972, 1105 Auftreten des Verteidigers 501 ff. Augenscheinsbeweis 641 ff. – Beweisantrag 688 Augenscheinseinnahme – des Tat- und Unfallortes 318, 472 Ausbleiben – des Angeklagten 515, 846, 869 – des Verteidigers 805 Aushändigung – des Aktenauszuges an Mandanten 280 – von Aktenauszügen an Sachverständigen 283 – des beschlagnahmten Führerscheins 417 – von Originalakten an den Beschuldigten 282 Auskunft – aus dem Bundeszentralregister 1128 f., s.a. Bundeszentralregister – aus dem Verkehrszentralregister 1133 Auskunftsperson 293 Auskunftsverweigerung – des Zeugen 570 f., 575 Auslagen 1160 Ausländer – Haftgrund 345 – Verteidigung 1169 ff.
Stichwortregister Auslandsreise des Mandanten 65 Auslieferungsrecht 66 „Ausrichtung“ – des Mandats 87 Aussagegenehmigung 574, 1042 Aussagekomplott 611 Aussagepsychologie 695 ff. – Aussageehrlichkeit 599 ff. – Aussagekonstanz 606 – Aussagerichtigkeit 605 – Aussagetüchtigkeit 597 – bei Kindern und Jugendlichen 608 ff. Aussageverhalten 294, 486 ff., 491 Aussageverweigerung des Zeugen 575 ff. Ausscheidung nebensächlicher Punkte 706 Ausschließung – von Gerichtsberichterstattern 111 – der Öffentlichkeit 520, 545, 556, 936 – des Richters 199 – des Staatsanwalts 207 Ausschließung des Verteidigers 40 ff. – Ausschließungstatbestände 40 – Beschwerderecht 41 – Entscheidungszuständigkeit 41 – des Pflichtverteidigers 42 Außergerichtliche Befragung – von Sachverständigen 223 – von Zeugen 217 f., 472, 643, 655 Aussetzung – der Berufungsverhandlung 879 – des Strafrestes 1040 ff., 1109 ff., 1120 – der Vollziehung in Beschwerdeverfahren 655 – des Vollzugs Haftbefehls 361 f. Aussetzung der Hauptverhandlung – wegen Abwesenheit des Angeklagten 516 – wegen Abwesenheit des Pflichtverteidigers 195 – Antrag auf zur Rügeerhaltung 457 – wegen Beweisantrags 656, 666 – wegen mangelnder Vorbereitungsmöglichkeit des Verteidigers 147, 448, 458, 469, 512, 521, 695, 705 – wegen veränderter Sach- oder Rechtslage 74, 705 f. – wegen Verfahrensfehler bei der Ladung 457, 512, 521 Austauschbarkeit von Beweismitteln 680 Auswahl – des Sachverständigen 614
Autorität – des Verteidigers 152, 159 f. Basisverteidigung – s. Sockelverteidigung Beanstandung des Verteidigers – wegen Beschränkung des Fragerechts 533 ff. – Gerichtsbeschluss 540, 557 – Protokollierung 542, 557 – Rechtsgrundlage 539 ff. – der Sach- und Verhandlungsleitung 189, 194, 539 – unzulässiger Fragen an Zeugen 212, 579, 1164 – von Verlesungen 583, 637 – der Vernehmung des Angeklagten 550, 552 – der Vernehmung des Beschuldigten 189, 303, 550 – wegen Versagung des Erklärungsrechts 527 – von Vorhalten 539, 552, 554, 576, 637 Beauftragung – durch die Presse 93, 142 Beeinflussung – von Mitangeklagten 470 – von Zeugen 218, 346 Befangenheit – des Richters 198 ff., 568, s.a. Ablehnung des Richters – des Sachverständigen 229 Beförderung – von Schriftstücken 367 Befragung – Bloßstellung 545 – dritter Personen durch den Sachverständigen 619 – Fangfragen 535 – Fragenkatalog 537 – von Kindern und Jugendlichen 566, 591 – des Mandanten durch den Verteidiger 530 f., 560, 587 – des Mandanten durch den Verteidiger eines Mitangeklagten 562, 587 – von Mitangeklagten 538 – selbstgeladener Zeugen und Sachverständiger 475 – Suggestivfragen 536 – unmittelbare Fragen des Mandanten 538 – Vernehmungstechnik 588 ff. – von Zeugen 567 ff., 581, 585
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Stichwortregister Befundtatsachen 325, 619 Behandlung – des Zeugen 211 ff. Beiakten 261 Beihilfe – zum Meineid 74, 215 Beisitzer 464, 916 Beistand 5, 9 Belastende Indizien 734 Belehrung des Beschuldigten – durch die Polizei 201, 250, 292, 407 – über seine Rechte bei kommissarischer Vernehmung 482 – durch den Richter 494, 546 – durch den Verteidiger 292 f., 369, 399 Belehrung des Zeugen – über Auskunftsverweigerungsrecht 570 ff., 1161 a.E. – unterlassene – als Revisionsgrund 943 f. – über Wahrheitspflicht 579 – zeugnisverweigerungsberechtigter Angehöriger über Beschlagnahmeverbot 398 – über Zeugnisverweigerungsrecht 61, 570, 573, 587, 620, 1161 a.E. Beleidigungsprozesse 1032 f. Benehmen – im Gerichtssaal 186, 501 f. Benennung – von Sachverständigen 682 ff. – des Staatsanwalts als Zeuge 207 – von Zeugen 73, 681 Beratung – des Angeklagten nach der Hauptverhandlung 778 ff. – des Angeklagten vor der Hauptverhandlung 486 ff. – über Aussageverweigerungsrecht 172, 486, 539, 570, 576, 1163 f. – des Beschuldigten vor der Vernehmung 292, 301 ff., 312 – über Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels 816 ff., 864, 1001 ff., 1115 – präventive – 236 ff., 391 – im Privatklageverfahren 1039, 1059 – von Zeugen 1161 ff. Beratungsfunktion – des Verteidigers 17 ff. Beratungsmandat – des Verteidigers 84 Berichterstattung – sensationelle 519
700
Berichtigung – des Urteils 773 Berufsgeheimnis 48, 572 Berufspflichten des Rechtsanwalts 44 ff., 59 ff., 94 – Achtung der anderen Prozessbeteiligten 197 ff., 709 – Amtstracht 508 – außergerichtliche Befragung von Zeugen 217 – Belehrungspflicht bei Honorarvereinbarung 1213 – Kollegialität 154, 167, 470, 525, 562, 816, 1207 – Lebensführung 1180 ff. – öffentliches Wirken 117 – Pflicht zur Sachlichkeit 118, 172, 177, 198, 501, 747, 1161 – Treuepflicht 37, 53, 83 ff., 137 – Unabhängigkeit 28 ff., 143, 152 ff., 175, 1187 – Verkehr mit Strafgefangenen 1115 – Verkehr mit Untersuchungs- und Strafgefangenen 364 ff., 1115 – Verschwiegenheitspflicht 48 ff. – Wahrheitspflicht 46 ff., 53, 60, 77 ff., 99, 159, 184, 902 – Werbeverbot 92 ff. Berufsverbot 1184 Berufsvergehen (Einzelfälle) – Aufbewahrung von belastendem Material 65, 398 – bei außergerichtlicher Befragung von Zeugen 218 – Betrug 1233 – Drohung mit Rechtsmitteln und Dienstaufsichtsbeschwerden 190 – Erfolgshonorar 1216 ff. – Gefährdung des Zwecks der Untersuchungshaft 365 ff. – Hehlerei 1222 – heimliche Tonaufnahme 217, 643 – Honorarverzicht 1188 ff. – Kassiberbeförderung 306 ff. – leichtfertiges Ablehnungsgesuch 197 – Mandatsniederlegung zur Unzeit 161, 1223 – Parteiverrat 83 ff. – Prozessverschleppung 67, 425, 466, 653, 823 – Reklame 99 f., 115, 1190 – Sicherheitsleistung für Mandanten 362 – steuerliche Verfehlungen 1182, 1233 – Strafvereitelung s. dort
Stichwortregister – Strafvollzug 1115, 1201 – Unterschlagung 1180 – Verdunkelung des Sachverhalts 67, 201, 274, 280 – verletzendes Benehmen im Gerichtssaal 186 – Werben um Praxis 92 ff., 99, 138, 142, 175, 362, 368, 1086 Berufung 860 ff. – Annahme – 861 – Aussichten 864 – Berufungsfrist 869 – Berufungsverhandlung 846 ff. – Beschränkung 866 ff. – Beweisanträge 875, 882 – Einlegung 869 – Einstellung des Verfahrens 864, 874 – Ladung von Beweispersonen 875, 882 – Schlussvortrag 883 f. – schriftliche Berufungsrechtfertigung 873 – der Staatsanwaltschaft 879 – Verlesung von Schriftstücken 880, 882 – Verwerfung 871, 876 – Vorbereitung der Berufungsverhandlung 875 – Zulässigkeit 861 ff. – Zweckmäßigkeit 861, 865 – Zwischenberatung 712 f. „Berühmter“ Anwalt 746 Beschlagnahme 390 ff. – Rückgabe von Sachen 400 Beschlagnahmeverbote 395 f. Beschränkung – der Auskunft aus dem Bundeszentralregister 1128 ff. – der Berufung 866 ff. – des Fragerechts 532 – des Rechtsmittels 841, 866 ff., 1010 – der Revisionsverhandlung 984 – des Verfahrensstoffs 179, 432, 769 – der Verteidigung 793, 942 Beschuldigter 293 – flüchtiger – 70 – Freiheitsrechte 338 – schriftliche Erklärung 60, 201 – unwahre Aussagen 60 Beschwer 818, 844 Beschwerde 844 ff., 1121 – Abhilfeverfahren 856 – weitere – 359 Beschwerdeschrift 859
Besetzung des Gerichts – Prüfung 191, 463 ff. – Revision 916 ff. – Rüge 464 Besichtigung von Tatorten 319 Besprechung – der Einlassung 486 – erste – mit dem Mandanten 60 – mit dem Mandanten vor der Hauptverhandlung 449 ff., 487 f. – mit dem Mandanten während der Hauptverhandlung 508, 563 – mit dem Richter im Eröffnungsverfahren 437 – mit Richter oder Staatsanwalt zur Vorbereitung der Hauptverhandlung 468, 717 – vertrauliche – mit Richter oder Staatsanwalt 63, 178 – mit Zeugen 61, 217, 472, 1161 ff. Bestechungssachen 84 Bestellung – eines Vertreters s. Vertretung Bestimmte Tatsachen – für Fluchtgefahr 323 Bestreiten – des Angeklagten 371 Besuch – in der Haftanstalt 135, 343 – in der Wohnung des Mandanten 152 Betriebsgeheimnisse 238 Beurlaubung – des Angeklagten 483, 515 Bewährungsauflagen 758, 778, 820, 848, 1044 f. Bewährungshelfer 1106, 1108 Beweisanregung 659 f., 663 f., 688 Beweisanträge außerhalb der Hauptverhandlung – im Eröffnungsverfahren 438 – Eröffnungsverfahren 445 – im polizeilichen Ermittlungsverfahren 298 – vorweggenommene Beweisanträge 473, 875 – Wiederholung abgelehnter – in der Hauptverhandlung 474, 525, 668, 799 – Zweifel an der Beweisbehauptung 59, 654 Beweisanträge des Staatsanwalts 693 ff. Beweisanträge des Verteidigers im Berufungsverfahren 875
701
Stichwortregister Beweisanträge des Verteidigers in der Hauptverhandlung 59, 648 ff. – Ablehnung wegen Wahrunterstellung 663 ff. – affirmative Anträge 660, 685 – Ankündigung 664, 671 – Begründung 678 – „Blaue“ 59, 654 – Form und Inhalt 673 – Kostenfolgen 656 – Rechtsmissbrauch 651 – Verspätung 666, 669 – nach Wiedereröffnung der Verhandlung 668, 767 – Wiederholung früherer Beweisanträge 474, 525, 668 – Zeitpunkt 666, 671, 701 – Zurückstellung der Entscheidung 667 – Zweckmäßigkeit 658 ff., 678, 764 – Zweifel an der Beweisbehauptung 59, 654 Beweisbehauptung 674 Beweiserheblichkeit 657 ff. – Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Gründen 657 – Erwiesenheit von Tatsachen 660, 696 – Indizien 657 – Offenkundigkeit von Tatsachen 659, 690, 696 – privates Wissen des Gerichts 690 – Wahrunterstellung 660, 663 ff. Beweiserhebung – eigene – durch Verteidiger 313 f. – über Strafzumessungstatsachen 652 – Unzulässigkeit 676 – Widerspruch gegen – 492 – über Zusatztatsachen 619 Beweiserhebungsanspruch 661 Beweisermittlungsantrag 662, 687, 692 Beweisführung 10 – durch den Staatsanwalt 693 ff. – durch den Verteidiger 697 ff. Beweiskraft – des Protokolls 673, 806 ff., 914 f., 920 – von Urkunden 628 Beweismittel 73, 270, 653 f., 676 – präsente – 629, 697 ff. Beweisverbote 529, 620, 675 – Umgehung 452 – s.a. Verwertungsverbote Beweiswert – von Sachverständigengutachten 618
702
– von Zeugenaussagen 569, 579, 595 ff. Beweiswürdigung 13, 494, 677, 873, 950 Bildaufnahmen 93, 113 ff. Bindungswirkung – der Urteilsfeststellungen 959 f. Bitte um Entschuldigung 170 Blankovollmacht 64 Blinder Richter 932 Bloßstellung – des Angeklagten 545 – des Zeugen 212 Blutprobe 404, 406 Boulevardpresse 100 Briefverkehr – mit Strafgefangenen 1115 – mit Untersuchungsgefangenen 341, 344, 369 Bundeszentralregister 780, 1126 ff. – Auskunft 1128 – Führungszeugnis 1128 – Inhalt des Registers 1127 – Rechtsbehelf 1132 – Rechtswirkungen der Tilgung 1131 – Tilgung 780, 1144 – Tilgungsfristen 1130 – Verkehrszentralregister 781 – Verwertung 287 – über Zeugen 287 Buße – s. Geldbuße captatio benevolentiae 730 cause célèbre 607, 999 Chaosverteidigung – s. Konfliktverteidigung Compliance 1146, 1153 Corporate Governance 1153 Dank – für dienstliche Handlungen 182 Darlehen – des Mandanten 31 Dateien 263, 384, 753 Deal – s. Verständigung Delegation – der Verteidigung 125, 160, 461, 771, 878 Denksport 967 Dienstaufsichtsbeschwerde 190, 209, 1063 ff., 1091 ff. Dienstliche Äußerung 809, 919, 1065, 1083
Stichwortregister Dieselbe Rechtssache 86 – s.a. Parteiverrat Distanz – vom Mandanten 16, 155, 1212 DNA-Analyse 411, 646 – Massentest 411 – s.a. Genetischer Fingerabdruck Doppelakten 360, 363 Doppelfunktion – des Nebenklägers 1066 – des Privatklägers 1058 Doppelverteidigung 124 Doppelverwertung 757 Doppelzustellung 827 Dringender Tatverdacht 344 Druckwerke – periodische 393 Dunkelziffer 738 Durchsuchung 11, 383 ff. – Art und Weise 387 – Rechtmäßigkeit 387 – Rechtsmittel 387 – richterliche Überprüfung 387 f. – Verfahrensverstöße 386 – von Verteidigern 263 – vorbeugende Maßnahmen 388 f. EDV 453, 645 Ehrenamtliche Richter – s. Laienrichter Ehrenerklärung – in Privatklagesachen 329, 522, 1049, 1129 Ehrenschutz 108 ff., 1032 ff., 1059 ff. Eidesstattliche Versicherung 220, 1083 Eigene Ermittlungen – des Verteidigers 313 ff., 472 – s.a. Ermittlungen Eigene Sachkunde des Gerichts 712 f. Eigenes Strafverfahren 1180 ff. Eigenmächtiges Fernbleiben – des Angeklagten 515, 565 Einfache Beschwerde 844 Einfühlungsvermögen 649 Eingeständnis vorhandener Schuld 18, 247, 490, 564, 712 Einlassung des Angeklagten 486 ff., 543 – Änderung 497 – Besprechung mit dem Verteidiger 491 ff., 499, 549 – Form und Inhalt 496 – in der Hauptverhandlung 491 ff. – letztes Wort 500, 765 f. – zur Person 492
– – – – –
zur Sache 493, 496 Schweigen 494 f., 546 teilweise – 495 Vorbereitung 496 Widerruf eines Geständnisses 498, 554, 638 – zeitweise – 495 Einschätzung des Verteidigers – durch das Gericht 723 Einseitigkeit – des Verteidigers 11 Einstellung des Gerichts 717, 988 Einstellung der Strafvollstreckung 1143 Einstellung des Verfahrens 323 f. – bei Absehen von Strafe oder Straffreierklärung 331 – bei Änderung der Anklage 706 – Anfechtung 330, 334 f., 818 – auf Anregung der Strafverfolgungsorgane 577 – in der Berufungsinstanz 864 – Einverständnis des Verletzten 170 – Erfüllung von Auflagen 329 – im Ermittlungsverfahren 274, 323 – im Eröffnungsverfahren 432 f. – bei geringfügigen Vermögensdelikten 329 – wegen Geringfügigkeit 328 ff. – in der Hauptverhandlung 522 f., 564 – bei Ladendiebstahl 329 – mangels hinreichenden Tatverdachts 323 ff. – bei Nötigung oder Erpressung 179, 333 – im Privatklageverfahren 1044, 1048 – Statistik 1 Einstweilige Unterbringung 381, 846 Einwendungen gegen das Verfahren 422 ff. – gegen Eröffnung 422 ff. – Geltendmachung 435 ff. – Rechtsmittelinstanz 877, 924, 971 – Zeitpunkt des Vorbringens 422, 527 Eloquenz 714 Entbindung – vom Erscheinen in der Berufungsverhandlung 876 – vom Erscheinen in der Hauptverhandlung 482 – von der Schweigepflicht 574 Entfernung – des Angeklagten aus der Hauptverhandlung 529, 545, 557
703
Stichwortregister – des Verteidigers aus dem Gerichtssaal 195 Entlassenenfürsorge 1100 Entlassung – aus der Haftanstalt 777 – vorzeitige – des Zeugen 594 Entlastende Umstände – Beeidigung entlastender Aussagen 593 – Beweisantrag des Staatsanwalts 696 – Entbindung von der Schweigepflicht wegen Kenntnis – 574 – Ermittlung durch den Staatsanwalt 10, 254, 323 – Frage des Staatsanwalts 559 Entlastungsbeweisanträge 292 Entlastungsmaterial – Hinweis auf – 298, 640, 652, 655, 664 – Sicherstellung 266 – Zurückhaltung 254, 319 f., 358, 440 Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen 332, 372 ff. – bei der Beschlagnahme 400 – bei Einstellung 332 – bei erfolgreichem Wiederaufnahmeverfahren 1028 – Ersatz der Verteidigungskosten 376 – Fristen 372 – mitwirkendes Verschulden 372 – Nachweis des Schadens 372 – Rechtsmittel 377 – Regressrisiko 373 – Steuerpflicht 377 – Vergleich 374 – des Verletzten 169, 428 – bei vorläufiger Entziehung der Fahrerlaubnis 419 Entschuldigungserklärung 169 Entziehung – des Fragerechts 532 – des Mandats 163 Entziehung der Fahrerlaubnis – Anrechnung der Wegnahmezeit 414 – Aufhebung 447, 777, 824, 1125 – Beginn der Sperrfrist 416, 774, 783, 825 – Eintragung in das Verkehrszentralregister 781 – Nachschulung 418 – Prüfungsrecht der Verkehrsbehörde 415 – Rechtsmittelverzicht bei – 774, 825 – vorläufige 412 ff., 846 Entziehungsanstalt 381, 971, 1002
704
Erfahrungen – psychologische – 649 – in Revisionssachen 888, 959 ff., 991 ff. Erfolgshonorar 1216 Erinnerungslücken 637 Erkennungsdienstliche Maßnahmen 408, 785 Erklärungen des Verteidigers – bei Beginn der Hauptverhandlung 513 – in der Hauptverhandlung 429, 526 f., 539, 593, 635, 700, 770 Erklärungsfrist 436 Erklärungsrecht – des Angeklagten 528 – des Verteidigers 303, 311, 513, 526 f., 539 Erleichterungen – für den Angeklagten 514 Ermächtigung – zur Rechtsmittelrücknahme 835 Ermittlungen des Verteidigers – entlastende Umstände 313 ff., 470, 472 – zur Vorbereitung der Wiederaufnahme 1004, 1015, 1023 Ermittlungsergebnisse 357 Ermittlungsrichter 258 Ermittlungsverfahren 233 ff. – Mitgestaltung 243 – urteilsprägende Bedeutung 234 Erneute Urteilsberatung 770 Eröffnungsbeschluss 421, 423 Eröffnungsrede – des Verteidigers (opening statement) 513 Eröffnungsverfahren 420 ff. Ersatz der Verteidigungskosten – durch Prozessgegner 1047, 1049 – durch die Staatskasse 1199, 1226 Ersatzfreiheitsstrafe 1123 Erstattung der Kosten 1191 ff. – eines auswärtigen Verteidigers 1201 – Privatklage 1047, 1049 – durch andere Prozessbeteiligte 1047, 1049 – der Verteidigung 979, 1226 Erste Besprechung – mit dem Mandanten 60 Erwiesene Tatsachen 660 Eventualbeweisantrag – s. Hilfsbeweisantrag Exklusiv-Informationen 92
Stichwortregister Exploration – von Kindern 610 – von Zeugen 479 Fachgebiet – des Sachverständigen 226 ff., 614, 686 Fahndungsbuch 65 f. Fahreignungsregister 781 Fahrerlaubnis – s. Entziehung Fahrverbot 414, 416, 750, 782 Faires Verfahren – Recht auf – 112, 127, 172, 203 Falschaussagen 249 Falschbezeichnung – eines Rechtsmittels 826, 863 Falscher Verdacht 94 Falsches Geständnis 342 Fangfragen 535, 553, 579 „Faule“ Mandate 134 favor judicis 192 ff., 710 Fehler – in Wiederaufnahmeanträgen 1013 Fehlurteile 13, 996 „Fensterredner“ 727 Fernseh- und Bildaufnahmen – im Gerichtssaal 93, 113 ff., 520, 791, 938 Finanzielle – Möglichkeiten des Mandanten 88, 1200, 1209 Fingerspitzengefühl 130 ff., 141 Fluchtgefahr 345, 361, 775 „Flüsterverständigung“ 508, 942 Forensische Rede 716 – s.a. Plädoyer Formalbeleidigung 1034 Formelle Kurzbegründung 899 Formenstrenge 891 Förmlichkeiten der Hauptverhandlung 806 Formulierungshilfe 60, 1162, 1176 Fortdauer – der Haft 776 Fotokopien – von Beweisurkunden 271 – der zur Einsicht überlassenen Akten 307 Fotos – Aufnahmen im Gerichtssaal 113 ff., 468 – als präsentes Beweismittel 698 – des Verteidigers 92 f., 115
Fragen – Beanstandung 566, 1174 – ungeeignete – 532 – unzulässige – 189, 535 f., 553, 559, 1166 – s.a. Befragung Fragenkatalog 537 Fragerecht des Angeklagten 538 Fragerecht des Sachverständigen 620 Fragerecht des Staatsanwalts 560 Fragerecht des Verteidigers 526 ff. – in der Hauptverhandlung 530 ff. – bei polizeilichen Vernehmungen 298 – bei richterlichen Vernehmungen im Ermittlungsverfahren 311 – bei staatsanwaltlichen Vernehmungen 302 Fragerecht des Verteidigers eines Mitangeklagten 562 Freibeweis – anwaltliche Versicherung 932 – Bedeutung 809, 919 – dienstliche Äußerung 932 – als Mittel zur Feststellung von Verfahrensfehlern 637 – Mittel zur Feststellung von Verfahrensfehlern 806, 816 – Sicherung des – 787, 809, 890 Freiheit – der Verteidigung 112 Freispruch 736, 742, 818 Frist 1084 – für Ablehnungsgesuch 205 – Berechnung der Rechtsmittelfrist 828 f. – Berufungsfrist 869 – für Beschwerdebegründung 857 – für Revisionsbegründung 905 ff. – Revisionsfristen 897, 907, 955 – Sperrfrist bei Entziehung der Fahrerlaubnis 416, 774, 783 – Verlängerung bei Akteneinsicht 196, 275 – Wiedereinsetzungsfrist 1079 Fristenkontrolle 828, 858, 1079 Führerschein – Beschlagnahme 1125 – Rückgabe 412, 417, 777 – Wegnahme 413, 416 Führungsanspruch – des Verteidigers 152, 161, 343, 896 Führungszeugnis 780, 1100, 1128 f. – s.a. Bundeszentralregister
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Stichwortregister Ganoven 128, 1222 Gedankenlose Formeln 1002 Gefahr – strafgerichtlicher Verfolgung 571 Gefährdung – des Untersuchungszwecks 266 Gefängnismandate 95 Gegendarstellung 107 Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft 977 Gegenüberstellung von Zeugen 300, 531, 586 – s.a. Wahlgegenüberstellung Gegenvorstellung 107, 851, 1099 Gehilfe – des Gerichts 222, 616 Geldauflage – Bezahlung durch Dritte 1149 Geldbuße – nach § 30 OWiG 1150 Geldempfangsvollmacht 1220 Geldstrafe – Bezahlung durch Dritte 1149 Geldverkehr 1219 Geldwäsche 1227 ff. Gemeinschaftlicher Verteidiger 83 – s.a. mehrere Verteidiger Genetischer Fingerabdruck 411, 646 – s.a. DNA-Analyse Gerechte Entscheidung 886 Gerichtsarzt 227, 622 Gerichtsbeschluss zur Erhaltung des Rügerechts 542, 557, 793 ff., 942 Gerichtsbesetzung 463 ff., 517, 890, 916, 932 Gerichtshilfe 1106 Gerichtsreporter 93, 111 Gesamtstrafenbildung 824, 1117, 1125 Geschädigter 168 ff. Geschäftsbesorgungsvertrag 120 Geschäftsgeheimnisse 238 Geschäftsräume 270 Geschäftsverteilungsplan 916 – Aufstellung 464 Geschenke – des Mandanten 31 – an Richter oder Staatsanwalt 182 Geschwätzigkeit 129 Gesetze der Logik 965 Gesetzesänderung 823 Gesetzlichkeit des Verfahrens 9 Gespräch – mit Richter oder Staatsanwalt s. Besprechung Geständnis 342, 498
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– – – – –
Beweiswert 251 falsches – 342, 498 Hinwirken auf – 61, 498, 552, 560 vor der Polizei 247 ff., 260, 292 Vernehmung von Verhörspersonen über früheres – 249, 498, 554, 582, 637 – Vorhalt eines früheren – 554, 638 – Widerruf 61, 342, 498, 638 – als Wiederaufnahmegrund 1014 Geständniszeuge 582 Gewerbezentralregister 1126, 1146 Glaubwürdigkeit 596 ff. – Kinderaussagen 608 ff. – Zeugen 532 Glaubwürdigkeitsgutachten – in Sexualprozessen 613 Gnade(n) – -entscheidungen 1088, 1143 – -erweis 824 – -gesuch 1138 ff. – -praxis 1136 – -recht 1134 ff. – -verfahren 1135 ff. Graphologische Gutachten 226 Großverfahren 68 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – bei Beschlagnahme 393 – bei körperlicher Untersuchung 402, 405, 408 – bei Verhängung der Untersuchungshaft 350 Grundsätze des anwaltlichen Berufsrechts 38 Gruppeninteressen 600 Gutachten des Kammervorstands – bei Vereinbarungshonoraren 1195, 1200 Gutachten öffentlicher Behörden 639 Gutachter – s. Sachverständiger Güter- und Pflichtenabwägung 573 Gutgläubigkeit 90 Haftbefehl 63 f., 344 ff., 775 – Aufhebung 363, 776 – gegen Ausländer im Ausland 345 – Aussetzung des Vollzugs 356, 776 – Entschädigung 372 – wegen Fluchtgefahr 345, 361, 775 – „posthumer“ – 775 – Rechtsbehelfe 352 ff. – Regress bei unzulässigem – 378 – bei Tötungsdelikten 348 – vorbeugende Maßnahmen 380
Stichwortregister Haftbeschwerde 350, 359 ff., 378 – nach Urteilsverkündung 775 – wegen Verdunkelungsgefahr 346, 775 Haftdauer 363 ff. Haftentlassung 777 Haftentschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen 332 – s.a. Entschädigung Haftgründe 344 ff. Haftpflichtversicherung 88 Haftprüfung 355 ff., 363 Haftpsychose 354 Haftrichter 294 Haftunfähigkeit 339, 345 Haftung des Verteidigers 165 ff. Haftverschonung 361, 771 Handakten des Verteidigers – Beschlagnahmefreiheit 51, 447 – Vorbereitung für Hauptverhandlung 451 f. – Vorlage an Kammervorstand 57 Handy 509 Hauptverfahren 448 ff. Hauptverhandlung 448 ff., 501 – Auftreten des Verteidigers 186, 501, 508 – Aussetzung s. dort – Berufungsinstanz 876 ff. – Beweisanträge 525, 650 ff. – Erklärung des Verteidigers zu Beginn der – 513 – Ermittlungen der Staatsanwaltschaft 694 – Nachvollzug der Akten 196 – Plädoyer 714 ff. – Revisionsinstanz 447 ff. – „Tarnung“ 451 – Technische Vorbereitung 449 – Unterbrechung s. dort – Verfahrensabsprache 502 ff. – Vernehmung des Angeklagten 543 ff. – Vernehmung von Sachverständigen 616 ff., 697 f. – Vernehmung von Zeugen 568 ff., 655 – Vorbereitung 448 ff. Hauptverteidiger – s. mehrere Verteidiger „Hausanwalt“ – der Haftanstalt 95 Hausstrafen der Vollzugsanstalt 366, 1088 Hemmung der Rechtskraft – durch Rechtsmittel 865 Hilfsbeweisantrag 685
– Bescheidung vor Urteilsverkündung 668 – auf Ladung des Zeugen bei Leumundszeugnis 640 – Nichtbeachtung als Revisionsgrund 947 – im Plädoyer 750, 767 – Problematik 668 – bzgl. Strafzumessungstatsachen 652 – nach Wiedereröffnung der Verhandlung 767 – Zurückweisung wegen Verschleppungsabsicht 670 Hinweispflicht des Gerichts – Aussetzungsantrag 705 – wegen veränderter Sachlage 704 – wegen Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes 702 – wegen Veränderung der Verfahrenslage 704 Hinweisrecht des Verteidigers 302, 311 Hirnkammerluftfüllung 404 Höflichkeitsfloskeln 182 Höflichkeitsformen 16 Honorar 1185 ff. – Absprachen 1207, 1207 – Anrechnung auf Gebühren aus der Staatskasse 1198 f. – Bemessung 1202 ff. – betriebliches Handeln 1233 – Erfolgshonorar 1216 ff., 1216 f. – Ermäßigung 1191 f. – Flexibilität 1209 – und Geldwäsche 1227 ff. – Honorierung und freier Beruf 1185 – aus dem „Milieu“ 1222 – öffentliche Meinung 1187 – Pauschalhonorar 1205 – Sachwerte 1220 – Schriftform 1211 – Steuersünden 1232 ff. – Übernahme durch die Presse 1221 – „Vorgabe“ 1208 – Vorschuss 1214 – nach Zeitaufwand 1202 f. – Zeithonorar 1196 f. Honorarabsprachen – mehrerer Verteidiger 1207 Honorarvereinbarung 1185 ff. – Angemessenheit 1200 ff. – Belehrung des Mandanten 1213 – Bemessung 1202 ff. – Erstattungsfähigkeit 1226 – Form und Umstände 1195 ff., 1210 – Herabsetzung 1200
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Stichwortregister – – – – – –
juristische Mitarbeiter 1204 Kosten und Auslagen 1206 nachträgliche – 1217 f. Niederlegung des Mandats 1223 ff. Pflichtverteidiger 1198 ff. Rechtsschutzversicherung 1189, 1197 – Schriftform 1210 f. – Teilhonorar 1214 – Übernahme durch die Presse 1221 – Vorschuss 1214 – Wahlverteidiger 1195 – Zahlung durch Dritte 1221 – Zeitbasis 1202 f. – Zeitpunkt 1210 – zusätzliche – 1217 Honorarverzicht 1188 ff., 1192 Honorarvorschuss 1214 Humor 759 Immunität 247, 1061 in dubio pro reo – Bedeutung 651 – bzgl. Beruhens des Urteils auf Verfahrensfehler 941 – bzgl. Entschuldigung des Ausbleibens in Berufungshauptverhandlung 876 – im Plädoyer 739 – bei Verfahrensvoraussetzungen und -hindernissen 971 – Verletzung als Revisionsgrund 13, 970 – im Wiederaufnahmeverfahren 1017, 1021 Indiskretionen – des Mandanten 58 – der Polizei 174 – des Verteidigers 48 ff., 92, 94, 286 Indizienbeweis – Behandlung im Plädoyer 734 – Problematik 657 – Revision wegen unzureichendem – 970 Information – des Sachverständigen 283, 478 Information des Mandanten – über Akteninhalt 280 ff. – juristischer Mitarbeiter 283 f. – Probleme 63 – Recht und Pflicht 292 Information des Zeugen – zur Vorbereitung 1164 f. Informationeller Schutzbereich des Verteidigungsmandats 315
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Informationen an die Öffentlichkeit 97 ff., 496, 513 Informatorische Ortsbesichtigung 690 Interesse der Öffentlichkeit an der Strafverfolgung 420 Interessenkollision 83 ff., 112, 137, 161, 1150, 1161 – latente – 87 Internal Investigations 1153 ff. Ironie 760 Juristische Mitarbeiter 283, 1204 Justizförmigkeit 2 ff. Justizielles Unrecht 14 Justizirrtum 738 Justizpressestelle 102 Justizverwaltungsakt 1087 Kammervorstand – Auskunft über Berufsrecht 35, 90 – Berufsaufsicht 35, 40 – Gutachten des – bei Vereinbarungshonorar 1200 – Pflicht zur Auskunft und Handaktenvorlage gegenüber dem – 57 – Vermittlung bei Differenzen mit dem Gericht 209 Kapitalsachen 887 Kavalierseid 78 Kinderaussagen 608 ff. Kinderzeugen 566, 570, 584, 610, 616 Klageerzwingung 334 ff. Klient – s. Mandant Kniffe 7 Kollegialität 125, 149, 470, 816, 1207 Kollusion 72 Kommissarische Vernehmung – des Angeklagten 482 – von Zeugen oder Sachverständigen 484 Konfliktverteidigung 39, 75, 198, 450, 702, 810 Konkurrenz – von Revisionsrügen 904, 975 ff., 984 Körperliche Untersuchung – des Beschuldigten 402 ff. – von Zeugen 410 Korrektur des Strafmaßes – in der Berufungsinstanz 865 – durch Gnadenerweis 1139 Korrektur von Fehlurteilen 996, 1139 Kosten – Ersatz von Verteidigungskosten 1213 – Nebenklage 1062
Stichwortregister – Niederlegung der Verteidigung aus Kostengründen 147, 162, 1209 f., 1223 f. – Privatklage 1021 ff. – vorsorgliches Rechtsmittel 834 – Zurücknahme des Rechtsmittels 838 Kostenanforderung 1219 Kostenerstattung – s. Erstattung der Kosten Kostensicherung 1220 Kostenzahlung durch Dritte 1149, 1221 Krankenhaus – psychiatrisches 381, 402 ff., 448, 1002 Kriminalpolitische Beurteilung – des Täters 20, 756 Krisenmanagement 110, 236 Kritik an Kollegen 816 Kunst – der Beweiserhebung 568, 588 Ladung – Förmlichkeiten 458 – durch den Gerichtsvollzieher 476 – zur richterlichen Vernehmung 258 – Rüge von Mängeln 457, 512, 521, 877 – zum Strafantritt 865, 1119 – des Verteidigers 458 – von Zeugen und Sachverständigen durch den Verteidiger 476 ff., 697 Ladungsfrist 457, 877 Laienrichter – Befangenheit 100, 201, 203, 516 – Behandlung im Plädoyer 719, 746 – Besetzungsfehler bei – als Revisionsgrund 465, 916 – Einstellung und Überzeugungsbildung 191, 597, 686, 712, 848, 880 – Kenntnis der Anklageschrift 201, 516 – Nachforschungen über Person der – 191, 456 – schlafender – 932 Laptop 453, 510 Lebensführung – des Rechtsanwalts 1180 Lebenslauf – des Angeklagten 544 Letztes Wort – in der Berufungsverhandlung 884 – Erörterung bei Vorbereitung der Hauptverhandlung 500
– Form und Inhalt 765 – Revision wegen Beeinträchtigung 920, 941, 952 – Rügeverlust bei Beeinträchtigung 804 Leugnen – des Angeklagten 497, 765 Leumundszeuge 640, 665, 753 Leumundszeugnis 640, 665, 753, 1141 Lichtbilder – als Beweismittel 484, 641, 666, 689, 698 Lichtbildvorlagen 300 Mandant 119 ff., 1222 – Anarchist 129 – Angehörige 126 – „fauler“ – 134 – und Fortentwicklung des Rechts 743 – „Knastologen“ 135 – politisch exponierte Persönlichkeiten 131 – Schwerverbrecher 127 – Sexualtäter 127 – Terrorist 129 – Unterwelt 128, 1209 Mandant und Verteidiger 87 ff. – Autorität 154, 159 f. – Distanz 16, 155, 1212 – Führungsanspruch 152, 161, 343, 896 – persönliche Beziehungen 31, 155 f., 158, 1212 – steuerliche Unkorrektheiten 31, 1232 ff. – Treuepflicht 37, 63 f., 83 – Umgang mit dem Mandanten 16, 31 f. – Unabhängigkeit 31, 83, 152 – ungeschriebene Regeln 39 – „Vereinnahmung“ 134 – Verhalten in Verhandlungspausen 157 – Vertrauenskrise 149, 1039 – Weisungen 31 Mandat 223 ff. – Auftrag durch dritte Personen 32, 142 ff., 1146, 1149 – „Ausschreibung“ 154 – „Bewerbung“ 154 – Entziehung 163 – „faule“ Mandate 134 – Gefängnismandate 95 – Geschäftsbesorgungsvertrag 120, 1186
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Stichwortregister – informationeller Schutzbereich 315 – Interessenkollision 137, 1161 – Niederlegung 161 ff., 197, 770, 803 – Pflichtverteidigung 16 ff. – politischer Parteien 131 – „Seilschaft“ 134 – Sozietät 137 – Unternehmen 1145 ff. – aus der Unterwelt 127 – „Vergabemethoden“ 154 – „Verteidigerteam“ 134 – Vollmacht 121, 125, 835 – „Vorsingen“ 124 – Wahlverteidigung 120 ff. – Wirtschaftsstrafsachen 130 Mängel – in Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss 421, 423 – des Strafantrags 427 f., 971 Mangelnder Sühneversuch 1041 f. Massentest 411 Maßregeln der Besserung und Sicherung 652, 758, 972, 1124 f. Materielles Beleidigungsrecht 1032 Medien 92 ff., 142 f., 239, 482, 519 – Abwehrmaßnahmen 104 ff. – als Aufklärungsgehilfen 48 Medienecho 92 Mehrere Taten 448 Mehrere Verteidiger – Absprachen 72 – Aufteilung des Plädoyers 762 – Befragung durch Verteidiger eines Mitangeklagten 562 – gemeinsames Mandat 122 – Haupt- und Mitverteidiger 122, 148, 762, 1194 – Honorar 1194, 1207 – Interessenkollision 137 – Koordinierung 72, 462, 547, 562, 891 – Reihenfolge der Vernehmungen 447 – Revision 891 – „Seilschaft“ 134 – Vertretung durch Mitverteidiger 461 Mehrfachverteidigung 124, 257 Meineid 74, 215 Meinungsäußerung 187 Menschenwürde 2, 211, 545, 1110 Mienenspiel und Gestik – eines Richters als Ablehnungsgrund 201 Missachtung des Gerichts 720 Missbrauch prozessualer Rechte 195 MiStra 781
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Mitarbeiter – des Verteidigers 64, 283, 1204 Mitschreiben – der Hauptverhandlung 454 „Mitternachtssitzungen“ 726 Mitverschulden des Mandanten bei Fristversäumung 6, 911 Mitverteidiger – s. mehrere Verteidiger Mitwirkung des Verteidigers – bei Beweisaufnahme 501, 526 ff., 745 – bei Vernehmungen 292 ff., 299 ff., 308 ff. Mobilfunk – Überwachung 401 Mobiltelefon 509 Moralisierende Äußerungen 752 Mündliche Besprechung – in der Haftanstalt 366 Mündliche Verhandlung – über Haftbefehl 351, 355 ff. Nachholung – einzelner Revisionsrügen 911 – von Verfahrensvoraussetzungen 924 Nachplädoyer 768 „Nachschieben“ der Einlassung 494 Nachschulung 418, 1125 „Nachsorge“ 274, 326, 778 ff. Nacht- und Notdienst – Verteidigung 248 Nachtbriefkasten 829 Nachtragsanklage 707 Nachvollziehung – des Akteninhalts 196, 553, 583 Naturgesetzliche Erkenntnisse 969 Nebendelikte 524 Nebenklage 1062 ff. – Anschlusserklärung 1063 – Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung 1065 – Bedeutung 1062 – nach Klageerzwingung 335 – Kostentragung 1062 – Nebenkläger als Angeklagter 1066 – Opportunitätsfragen 1065 – Rechtsmittel des Nebenklägers 1066 – Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaft 1064 Nichtauftreten – im Termin 162, 1220 Nichtveröffentlichte Entscheidungen 991 Niederlegung der Verteidigung 130 ff., 1223 ff.
Stichwortregister – Bestellung zum Pflichtverteidiger 164, 1224 – Form 161, 1225 – wegen Gefährdung der Freiheit der Verteidigung 112 – im Gerichtssaal 186 – bei Interessenkollision 83 f., 137 – bei Konflikt zwischen Wahrheitsund Verschwiegenheitspflicht 80 – aus Kostengründen 1223 ff. – durch Pflichtverteidiger 164 – des schuldigen Angeklagten 81 – zur Unzeit 148, 161, 186, 354, 1223 – als Verteidigerwaffe 186, 197, 803 – wegen Vertrauenskrise 161, 354, 822 Niederlegungsanzeige 161 Niederschrift – s. Protokoll Notwendige Verteidigung – s. Pflichtverteidiger Obergutachter 622, 684 Objektive Wahrheit 12 Observation 401 Offenbarungspflicht – des Verteidigers 48, 57 Offenbarungsrecht – des Verteidigers 57 Offenkundige Tatsachen 659, 690, 696 Offensichtlich unbegründete Revision 978 Öffentlicher Widerruf 1050 Öffentliches Interesse – an der Strafverfolgung 325, 421, 429, 1051 – an der Strafvollstreckung 1102 Öffentliches Wirken – des Verteidigers 117 Öffentlichkeit 97 ff. – Ausschließung 520, 936 – Bedeutung im Strafverfahren 97, 999 – Bildaufnahmen, Rundfunk und Fernsehen 113 ff., 520, 791, 938 – elektronische – 97 – Informationen des Verteidigers an die – 101 ff., 111, 476, 513 Offizialdelikt 170, 179 Offizialverteidiger – s. Pflichtverteidiger opening statement 513 Ordnungsstrafgewalt 30, 194 Ordnungswidrigkeit 1146, 1150 f. Organ der Rechtspflege 3 f., 30 f., 59, 183 Organhaftung 1146 ff., 1150 f.
Organstellung – des Verteidigers 3 ff., 526 Originalakten 282, 291 Örtlicher Anwalt 122, 148, 762 Ortstermin 485, 688 ff. Parlamentarischer Untersuchungsausschuss 98, 1159, 1173 ff. Parteigutachter 480 Parteiverrat 83 ff. – Anwaltssozietäten 87 – Ausrichtung des Mandats 87 – Begriff „dieselbe Rechtssache“ 86 – Bestechungssachen 84 – böser Anschein 91 – Gefährdung der Rechtspflege 85 – gemeinschaftliche Verteidigung 83 – Gutgläubigkeit 90 – Haftpflichtversicherung 88 – Missverständnisse 85 – zivilrechtlicher Schadensersatzprozess 88 Person – der Richter 456 Personal – des Anwalts 49 f., 1210, 1219 Personen der Zeitgeschichte 114 Persönliche Differenzen – zwischen Richter und Verteidiger 202 Persönlicher Eindruck – des Angeklagten 491 Persönlicher Verkehr – mit dem Mandanten 16, 31, 155, 158, 1200, 1212 – mit Richter und Staatsanwalt 182 f. Persönliches Wissen – des Verteidigers 78 Persönlichkeitsdiagnose 490 Pflichtverteidiger 42, 145 ff. – aufgenötigter – 149 – Aufhebung der Pflichtverteidigung 148 f., 164 – Ausschließung 42 – Auswahl 146, 1224 – Bestellung 146 ff., 1211, 1224 – Honorarvereinbarung 1198 f. – Kooperation 149 – in der Revisionsinstanz 893, 995 – zur Verfahrenssicherung 149 – bei Verhinderung des Wahlverteidigers 118, 130, 427 – des Vertrauens 146 – Vertretung 121, 150, 452 – Wiederaufnahmeverfahren 1026
711
Stichwortregister – zusätzlicher – 149 Plädoyer 80, 714 ff. – Adressaten 716 f. – Anfang 730 – Anrede 719 – Anträge 736, 742, 749, 752 – Aufbau 729 ff. – in der Berufungsinstanz 883 – Dauer 724 ff. – Erwiderung auf Staatsanwalt 752, 884 – Form und Gehalt 721 ff., 728 – Gesten 720 – Glaubwürdigkeit 723 – Hilfsbeweisanträge 750 – im Hinblick auf den Staatsanwalt 751 ff. – mehrere Verteidiger 762 – „Nachplädoyer“ 768 – Person des Angeklagten 757 – persönliche Überzeugung des Verteidigers 731 f. – psychologische Betrachtungen 738, 740 – Rechtsfragen 741, 812 – in der Revisionsinstanz 985 ff. – Schluss 763 – schriftliche Fixierung 718 – Schuld und Strafmaß 754 ff. – schuldiger Angeklagter 735 – Strafaussetzung zur Bewährung 755, 1040 – Strafzumessung 756 ff. – Tonstärke 720 – überführter Angeklagter 735 – Unterbrechung 748 – bei Verständigung 733, 811 – Vorbereitung 717 ff. – Wirkung 724 ff., 746 f., 753 Plumpe Vertraulichkeiten – des Mandanten 156 Politisch exponierte Persönlichkeiten 131 Politische Beleidigungsprozesse 1061 „Politische Schiene“ 152 Polizei und Verteidiger 172 ff. Polizeibeamte – als Sachverständige 230 – als Zeugen 598, 600 Polizeiliche Formulierungen 251 Polizeiliche Indiskretionen 174 Polizeiliche Protokolle 250 f., 299, 602, 606, 634, 638 Polizeiliche Vernehmungen 249 f., 269 ff.
712
– Anwesenheit des Verteidigers 298 – Aussageverweigerung 292 ff. – Belehrungspflicht 173, 292 – schriftliche Äußerungen 201, 632 – unzulässige Vernehmungsmittel 253 Polizeiliche Wegnahme – des Führerscheins 413 Polizeilicher Gewährsmann 647 Polizeiliches Ermittlungsverfahren 265 ff. Polygraphentest 409 Postbeförderung 369, 833 Postbeschlagnahme 394 Postkontrolle 367 Präklusionsvorschriften 462 ff., 797 ff. Präsente Beweismittel 475 ff., 697 ff. – Ankündigung 437, 446, 676 – Bedeutung 697 – Ladung 476 ff. – Parteigutachter 480 – Protokollierung 699 – Sachverständige 477 ff. – Urkunden 629, 698 – Verzicht 700 Presse (Medien) 97 ff. – Angriffe gegen den Verteidiger 112 – als Aufklärungsgehilfin 49 – Beleidigung durch die Presse 1060 – „Stillhalteabkommen“ 106 Presse und Verteidiger 99 ff., 1221 Pressebeschlagnahme 393 Pressedelikte 108 Presseerklärungen 101 f., 174, 382 Presseermittlungen 582, 607 Pressefeldzug 112 Pressekonferenz 102 Pressemandate 93 Privatdetektiv 321 Private Freundschaften – mit Richter und Staatsanwalt 182 Privates Geständnis 78 Privates Wissen – des Gerichts 690 f. Privatgutachten 480 Privatklage 1030 ff. – Beweisaufnahme 1057 – Effekthascherei 1067 – Ehrenerklärung 1049 – Hauptverhandlung 1056 – Kostenerstattung 1016, 1045, 1047 – Kostentragung 1046 f. – Kostenvereinbarungen 1046 – öffentlicher Meinungskampf 1035 – Prozessdauer 1031, 1036 – Rücknahme 1046
Stichwortregister – Stellung des Privatklägers 1055 – Strafantrag 1053 – Strafzumessung 1038 – streitiges Verfahren 1051 ff. – Sühneversuch 1040 ff. – Vergleich 1046 ff. – Widerklage 1037 Privatklagerichter 1038 Prominente Persönlichkeiten 421 Protokoll 709 ff. – Abschriften 299 – Beweiskraft 806 ff., 914 ff. – Blutentnahme 407 – Einsicht 270, 710 – Fixierung der Prozessvorgänge 806 ff. – Fotokopie 710 – polizeiliches – 249 f., 276, 634 – richterliches – 633, 638 – Tonprotokoll 711 – Überprüfung auf Revisionsgründe 890, 915, 951 f. – Verlesung 632, 691 Protokollberichtigung 847, 919 – Verfahren 921 Protokollierung – Beweisanträge 673 – Erklärungen 709 – Förmlichkeiten der Hauptverhandlung 806 – Präsentieren von Beweismitteln 699 – Prozessvorgänge 702, 709, 795, 807 – Sachverständigengutachten 325 – zur Sicherung der Verfahrensrüge 542, 806 – strafbare Handlungen 195, 808 – Verlesung von Urkunden 584 – Vorhalte 592 – wörtliche – 584 – Zeugenaussagen 580, 584 Protokollierung von Zeugenaussagen – durch den Verteidiger 217 Protokollrüge 917 ff., 941 Prozesshindernisse – s. Verfahrenshindernisse Prozessprognose 21 Prozessrüge – s. Verfahrensrüge Prozesssabotage 75, 450, 558, 672 Prozesssport 810 Prozesssubjekt 2 Prozessuale Erklärungen – des Verteidigers 557 Prozessuale Überholung 797 ff., 819, 844 Prozessualer Protest 811
Prozessverhalten der Angeklagten 973 Prozessverhütung 157, 1031 Prozessverschleppung 67, 130, 187, 425, 629, 653 Prozessvoraussetzungen 422, 452, 521, 924, 971 Psychiatrie 614 Psychologische Betrachtungen 738, 740 Psychologischer Sachverständiger 615 Pünktlichkeit 507, 878 „Rabattinstanz“ 865 Ratenzahlung 779, 1122 Ratschläge – für den Mandanten 486 ff. Räumlichkeiten der Hauptverhandlung 455 – technische Hilfsmittel 453 Reaktionsbereitschaft 737 Rechercheure 315 Recht – der Erwiderung 752 – zur freien Meinungsäußerung 187 – zum Schweigen 498 Rechtliches Gehör 421, 857, 1099 – Nachholung 421 – Nichtgewährung 200 Rechtsanwaltskammer – als Beratungsinstanz 36 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz 1188, 1195 Rechtsauffassung – der Verteidigung günstige – 73, 441 Rechtsausführungen – des Verteidigers 441, 452, 741, 743 f., 812 Rechtsbeschwerde 1121 Rechtsfolgenzumessungstatsachen 545 Rechtsfrieden 1031 Rechtsgespräch 748, 853, 987 Rechtsgutachten 746 Rechtsmissbrauch 651 Rechtsmittel 816 ff. – Abwägung zwischen mehreren – 862 ff. – Aussichten 817 f. – beiderseitige – 829, 841, 863, 879 – Beschränkung 838, 841, 866 ff. – Beschwer 818, 844 – Falschbezeichnung 826, 863 – Frist 827, 858, 865, 869, 897 – Hinausschieben der Rechtskraft 834 – der Staatsanwaltschaft zugunsten des Angeklagten 336 a.E., 841, 843
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Stichwortregister – der Staatsanwaltschaft zuungunsten des Angeklagten 784, 993 ff. – unbestimmte Anfechtung des Urteils 863 – vorsorgliches – 817, 833 ff., 842 – Zeitpunkt 829 – Zurücknahme 817, 835 ff., 840 – Zusammenhang mit – der Staatsanwaltschaft 821, 829, 834, 838 ff. – Zweckmäßigkeit 778 ff., 820 ff. Rechtsmittelbelehrung – durch das Gericht 774, 827, 858 – Unterlassung als Wiedereinsetzungsgrund 1080 Rechtsmitteleinlegung – Computerfax 831, 905 – E-Mail 831 – Fernschreiber 905 – Kurierdienst 905 – Telebrief 830 – Telefax 830, 905 – Telefon 832 – Telegramm 905 Rechtsmittelverzicht 774, 796, 825 Rechtsschutz gegen vollzogene Zwangsmaßnahmen 402, 408 Rechtsschutzversicherung 88, 144, 288, 1189, 1197 Rechtssicherheit 15, 886 Redaktionsgeheimnis 393 Redekunst 715, 721 Referendar – Assistenz bei Wahlverteidigung 160 – Pflichtverteidigung 150 – Vertretung durch – 127, 160, 461, 771, 1194 reformatio in peius 821, 896, 1026 Regress – Entziehung der Fahrerlaubnis 419 – Ermittlungsverfahren 323 – bei falscher Beratung 179, 774, 837, 1075 – Haftbefehl 378 – bei Presseerklärungen 379 – bei unmittelbarem Zwang 408 – Unterbringung 381 – bei unzulässiger Beschlagnahme 400, s.a. Entschädigung – Wegnahme des Führerscheins 419 Reihenfolge – der Vernehmungen 585, 1065 Reklameverbot 99 ff., 115, 142, 368, 955, 968, 999 Rekonstruktion der Akten 291 Reservierung des Mandats 139
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Resozialisierung 1039, 1100, 1114 f. – Revision 972 Respektlosigkeit – des Mandanten 152 Revision 885 f. – Anträge 903 f. – anwaltliche Versicherung 932 – Aufspüren der Revisionsgründe 912 ff., 967 – Aussichten 895, 925 – Begründung 900 ff., 960, 994 – Charakter 886 ff. – dienstliche Äußerung 932 – Einlegung 897 ff. – Form 898, 908 f. – formelle Kurzbegründung 899 – Formstrenge 889, 891, 900, 906 – Fristen 897, 905 ff., 955 – Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft 977 – Hauptverhandlung 983 ff. – Heilung von Verfahrensfehlern 927 – Konkurrenz von Revisionsrügen 796, 984 – Nachholen von Rügen 911 – Negativtatsachen 927 – Pflichtverteidiger 893, 995 – zu Protokoll der Geschäftsstelle 909 – Protokollberichtigung 847, 919 – „Protokollrüge“ 917 – Prozessrüge s. Verfahrensrüge – Rechtsverletzung 901 – Revisionsgründe, absolute 931 ff. – Rügepräklusion 462, 463 f., 517 ff., 916 – Sachrüge 955 ff. – der Staatsanwaltschaft 994 ff. – Strafzumessung 972 ff. – Übergang zur Berufung 863 – „unwahre“ – 920 ff. – Verfahren bis zur Hauptverhandlung 977 ff. – Verfahrenshindernisse 924, 971 – Verfahrensrüge 925 ff. – verspätete Urteilsbegründung als Revisionsgrund 939 – Verwerfung 871, 910, 978 – Vorbereitung 880, 890 ff., 912 – Zulässigkeit 862, 878 – Zurückverweisung 863, 872 – Zweckmäßigkeit 896 Revisionsbegründungsfrist 905 f. Revisionsgründe 817 ff., 894, 924 ff., 941 ff., 955 ff. „Revisionssicherheit“ 744
Stichwortregister Revisionsverhandlung 893, 983 ff. Rhetorik 715, 721 Richter – als Zeuge 672 Richter und Verteidiger 176 ff. – Achtungsanspruch 177 – Beanstandung der Sach- und Verhandlungsleitung 189, 539 ff. – Drohung mit Rechtsmitteln 190 – favor judicis 192 – Fehlverhalten des Richters 196 ff. – Fehlverhalten des Verteidigers 194 f. – Funktionsteilung 176 – persönlicher Umgang 182 – Strafanzeige 209 – Unabhängigkeit 7, 30, 177, 194 – unzulässige Maßnahmen 190, 195, 197 – Urteilsschelte 187 – Verfahrensabsprache 179 – Verständigung s. dort – vertrauliche Besprechungen 58, 144, 178 ff., 197 – Vorwurf der Rechtsbeugung 188 – wirtschaftliche Beziehungen 183 Richterausschluss 199 – s.a. Ablehnung Richterliche Protokolle 633, 635, 638 Richterliche Überzeugung 12 Richtung – der Verteidigung 873, 881, 989 Richtungswechsel – der Verteidigung 490, 564, 712 Robe 508 Rollentausch 602 – Mitangeklagter als Zeuge 602 Routinegutachten 639 Rücknahme – der Anklage 1077 – des Einspruchs 1077 – der Privatklage 1046 – des Rechtsmittels 788, 952 – des Strafantrags 135, 397, 1046 ff. Rügepräklusion – s. Präklusionsvorschriften u. Rügeverlust Rügeverlust 462 f., 517, 858, 890, 916, 932, 935, 946 Rügeverzicht 791 f. Rundfunk 97 ff., 113 ff., 117, 607 Rundfunkaufnahmen im Gerichtssaal 113 ff., 520, 938 Sachbeweis 314, 622, 646 ff. Sachkunde – des Gerichts 616, 650, 682
Sachleitung 539 Sachliche Unzuständigkeit 431 Sachrüge (Revision) 955 ff., 977 – Beweiswürdigung 965 – Ergänzungen 907 – Form 907 – in dubio pro reo 970 – innere Tatsachen 961 – Lückenhaftigkeit der Tatsachenfeststellungen 938, 954, 960 f. – Nichtberücksichtigung naheliegender Möglichkeiten 963 – Rechtsfehler 955 f., 958 – Strafaussetzung zur Bewährung 974 – Strafzumessung 972 ff. – Subsumtionsfehler 957 – Verletzung von Erfahrungssätzen 968 f. – Verstoß gegen Denkgesetze 964 – Verwendung gesetzlicher Tatbestandsmerkmale zur Strafschärfung 973 – Widersprüche des Urteils 962 Sachverständigengutachten – Akteneinsicht 270, 283, 623 – Glaubwürdigkeit von Kinderaussagen 618 – Überprüfung 226 f., 621 ff. Sachverständiger 221 ff., 613 ff. – Ablehnung 229 ff., 326 – Antrag auf Vereidigung 325 – Aufgabe 221, 616, 618 – Auseinandersetzung mit – 325 – außergerichtliche Hinzuziehung 223, 446, 479 – Auswahl 228, 614, 624 – Benennung 682 ff. – Bestehen auf Anwesenheit 624 – eigene Sachkunde des Gerichts 682, 683 – Erzwingung der Protokollierung wesentlicher Teile des Gutachtens 228, 325 – Gehilfe des Verteidigers 224, 314 ff., 479 – Haftung 225 – Informationserteilung 478 – kommissarische Vernehmung 484 – kriminaltechnischer – 622 – Leitung 617 – Notwendigkeit der Beweiserhebung über Zusatztatsachen 619 – Polizeibeamter als – 230 – Prüfung vor der Benennung 223, 472 – Reservierung 479
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Stichwortregister – – – –
Selbstladung 477 ff., 682 in Staatsschutzsachen 230 Stellung 221 ff., 586, 618 Überprüfung der Sachkunde 226 f., 621, 624, 684 f. – Ungenauigkeiten 227 – Vernehmung als Zeuge 231, 326, 619 f. – Vernehmung gerichtlich geladener – 618 ff. – Verwertbarkeit von Befundtatsachen 619 – Vorgabe von Anknüpfungstatsachen 617 Sachverständiger Zeuge 407, 580, 620 Sanatorium 381 Schadensersatzklage – gegen die Presse 109, 1059 Schallplatten – als Beweismittel 641 Schiedsmann 1040, 1042 Schlafender Schöffe 932 Schlagfertigkeit 760 Schlagzeilen 607 Schlussbericht der Polizei 320 Schlussvortrag – des Staatsanwalts 556, 751 f., 987 – des Verteidigers 714 ff., 985 f. Schöffe – s. ehrenamtliche Richter Schriftform – der Honorarvereinbarung 1195, 1210 ff. Schriftgutachten 226 f. Schriftliche Äußerung – von Beweispersonen 634 – im Ermittlungsverfahren statt Vernehmung 298, 309, 312 Schriftliches Gutachten – im Ermittlungsverfahren statt Vernehmung 624 Schriftsachverständiger 479 Schuldiger Angeklagter 731 Schuldigerklärung 490, 712 Schuldinterlokut 490, 652, 754 Schuldunfähigkeit 53, 403, 696, 818, 820, 1002 – Mandant 53 – „Schuss vor den Bug“ 186 Schutz – des Mandanten vor der Presse 105 ff. – des persönlichen Lebensbereiches 519 Schutzschrift 440 ff., 768 – Modulsystem 72
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Schweigen – des Beschuldigten bzw. Angeklagten 292 ff., 494 f., 546 f., 620 Schweigepflicht 48 ff. – des Anwalts 48, 50, 81, 162, 572 – Entbindung 395, 554, 574 – des Kanzleipersonals 49, 574 – Verletzung 573 – Widerruf der Entbindung 574 Schwerverbrecher 127 Selbstbelastung 571 Selbstladung durch den Verteidiger 475 ff., 697 ff. – Kosten 477 – Sachverständige 478 – Verfahren 476 f. Selbstleseverfahren 628, 628, 628 Selbstunterwerfung 1071 Selbstverständnis – des Verteidigers 23 ff. Selbstverteidigung 9 „Sensationsmache“ 93 f. Sensationsprozesse 88, 607 Serienstraftaten 68 Sexualstraftäter 133 Sicherheitsleistung 362, 1123 Sitzordnung 488, 508 Sitzungsniederschrift – s. Protokoll Sitzungspause 157, 564, 712 Sitzungspolizeiliche Maßnahmen 194 Sitzungssaal 455, 844, 876 Sitzungsvertreter – der Staatsanwaltschaft 522, 751 Skizzen 484, 641, 689, 698 Sockelverteidigung 72, 241, 470 Sofortige Beschwerde 849, 858 – Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens 420 – Aussetzung des Strafrestes 1109 – Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer 1112 – Strafvollstreckung 1111 – Unterbringungsbeschluss 403 – Verwerfung der Berufung 871 – Widerruf der Strafaussetzung 1108 Sofortige Verlesung 576 Sozialarbeit 1100 Soziale Gerichtshilfe 1106 Sozietät 87, 151 Sperrerklärung 574 „Spitzel“ 582 Sprechschein 366 Sprungrevision 862 Spurenakten 262
Stichwortregister Staatsanwalt – als Zeuge 671 Staatsanwaltschaft 10, 257, 993 ff. – Ermittlungen während der Hauptverhandlung 694 – Ermittlungsbehörden 10 – Ermittlungspersonen 10 Staatsanwaltschaft und Verteidiger 176 ff. – s.a. Richter und Verteidiger Staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren 254 Staatsschutzsachen – Abhören des Fernsprechverkehrs 644 – Ablehnung von Sachverständigen des Verfassungsschutzes 230 – Akteneinsicht 279 – anonyme Zeugen 582, 677 – Verteidigung von Terroristen 129 „Standesrecht“ 38 Staranwalt 93, 746 Steuerliche Verfehlungen – des Mandanten 1230 – des Verteidigers 1234 Story – des Mandanten 103 Strafantrag 8 – „Abkaufen“ 169 – Antragsfrist 427, 1053 – Mängel 427 f. – Rücknahme 168, 428, 522, 1046 f. Strafanzeige – gegen Polizeibeamte 173 – gegen Presse 108 – gegen Richter oder Staatsanwalt 209 – durch den Verteidiger 8 – gegen Zeugen 216, 573 Strafaufschub 824, 1003, 1113, 1118 f., 1122 Strafaussetzung zur Bewährung 1101 ff. – Behandlung im Plädoyer 755 – Belehrung 1104 – Bewährungsauflagen 758, 779, 820, 848, 1105 – Bewährungshelfer 1106 – Bewährungszeit 1104, 1107 – Beweisanträge 652 – Ermessensentscheidung des Gerichts 1109 – Nachtragsentscheidungen 1107, 1120 – öffentliches Interesse an der Strafvollstreckung 1041 – Rechtsmittel 820, 848, 1104, 1107 f.
– Voraussetzungen 1102 ff. – Widerruf 1108 – Zukunftsprognose 1103 Strafausspruch 18 – Beratung 19, 21 Strafbefehl 1070 ff. – Beratung 1075 – beschränkte Rechtskraftwirkung 393, 424, 1078 – Besprechung mit Staatsanwaltschaft 1072 – Opportunität 1073 ff. – Rechtsstaatlichkeit 1073 – Verfahren 1077 Straferlass 1104 Straffreierklärung 331 Strafprozessvollmacht 121 „Strafpunkte“ – im Fahreignungsregister 781 Strafregister – s. Bundeszentralregister Strafunterbrechung 1120, 1124 – 1113 Strafvereitelung 59 ff. – Aufbewahrung von instrumenta et producta sceleris 65, 398 – Beeinflussung von Zeugen 218, 346, 1162 – Behauptung entlastender Umstände wider besseres Wissen 73, 653 – Belehrung über Auslieferungsrecht 65 – Belehrung über Einlassung 60 f., 250 – Benennung falschaussagender Zeugen 74, 653 – Beweisanträge in Verschleppungsabsicht 671 – Formulierungshilfe bei schriftlichen Äußerungen 201 – „Herausschmuggeln“ von Schriftstücken aus der JVA 67, 367 – Honorar 1222 – Rat, Geständnis zu widerrufen 61, 498 – Rat, in der Hauptverhandlung nicht zu erscheinen 459 – Verbindung zu Mitangeklagten 470 – Verletzung der Wahrheitspflicht 47 – Verteidigerbesprechungen 72, 471, s.a. Sockelverteidigung – bei Verwertung des Akteninhalts 152, 280 – Verzögerung des Verfahrens 67, 130, 425, 653 – Vollstreckungsvereitelung 1115
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Stichwortregister Strafverteidiger 1234 – „Besuchsverteidiger“ 343 – Glaubensbekenntnis 19 – Minimalstandard 39 – öffentlich-rechtliche Komponente 4 – steuerliche Verfehlungen 1182 – Strafbarkeit 47 – Strafverteidiger und Öffentlichkeit/ Medien 97 ff. – Verteidiger in eigener Sache 1180 ff. Strafvollstreckung 1110 ff. – Aussetzung des Strafrestes 824, 1109, 1114, 1120 – Ersatzfreiheitsstrafe 1123 – Freiheitsstrafen 1114 ff. – Gesamtstrafenbildung 824, 1117 – Ladung zum Strafantritt 865, 1119 – Maßregeln der Besserung und Sicherung 1124 f. – Ratenzahlung 824, 1122 – Rechtsgrundlagen 1110 – Rechtsmittel 1087, 1112 ff., 1121 – Vermögensstrafen 1122 – Verwaltungsanordnungen 1110 – Vollstreckungsaufschub 1085, 1125 – Vollstreckungsbehörde 1111 – bei Wiederaufnahme des Verfahrens 1003 Strafvollstreckungskammern 1107, 1112 Strafvollzug 1110 f. – Freiheitsstrafen 1114 ff. – Rechtsmittel 1087, 1113, 1121 – Unzulänglichkeiten 1114 – Vollzugsmaßnahmen 1110, 1113, 1121 – Vollzugsuntauglichkeit 1118, 1120 – Wohlverhalten 1109, 1114 Strafzumessung – Anrechnung der Untersuchungshaft 371, 756, 774, 820, 834, 837, 973 – Aufgabe des Verteidigers 22 – Behandlung im Plädoyer 755 ff. – Berufung 865 – Beweiserhebung über Tatsachen zur – 652, 754, 767 – Doppelverwertung von Tatsachen 757 – Revision 757, 972 – Strafbefehlsverfahren 1077 Stresssituation 489, 605 Suggestivfragen 536, 553, 561, 699, 1086 Sühneattest 1041 Sühneleistung 1141
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Sühneversuch 1040 Sympathien 35 Syndikatsanwalt 1222 Syndikusanwalt 140 f., 397 Tagebuchaufzeichnungen 630 Tagespresse 117 Tagessatzsystem 491 Talkshow 93 Täter-Opfer-Ausgleich 18 Tatfolgen 1140 Teilhonorar 1199, 1214, 1225 Teilnahme – an falscher Aussage 215 – des Mandanten an der Revisionsverhandlung 980 – des Verteidigers an Vernehmungen der Staatsanwaltschaft 302 f. Teilrechtskraft 867 „Teilschweigen“ 494 f. Telefax – für Rechtsmittel 830 Telefonische Rechtsmitteleinlegung 832 Telefonverkehr 401 Telegraphische Revisionsrechtfertigung 905 Terminkalender 512 Terminkollisionen 161, 437, 460 f., 507 Terminplan 437 Terminsnachricht 358, 979 Terminsnotizen 451 Terminverlegung 258 Terminvertreter 485 Terminwahrnehmung 484 Terrorist 129 Theoretische Möglichkeit 618 Therapeutische Befragung 615 Tilgung – s. Bundeszentralregister Tonaufnahmen 401 ff. – behördliche – 644 – während der Hauptverhandlung 424, 709 – private – 643 – Verbot heimlicher – 217, 643 f. – Verwertbarkeit als Beweismittel 642 ff. – s.a. Überwachung des Fernmeldeverkehrs Tonprotokoll 711 Tonträger 305, 642 ff., 711 Tötungsdelikte 348 Trennscheibe 44, 364
Stichwortregister Trennung – von Verfahren 602 Treuepflicht des Anwalts 37 ff., 83 ff., 137 Überführter Angeklagter 735 f. Übergang auf anderes Rechtsmittel 863 Übergang zum Strafbefehl 1077 Überholtes Gesetz 78 – s.a. Gesetzesänderung Überlassung der Akten – in die Kanzlei 271 Übernahme des Honorars – durch Dritte 142 ff., 1221 – durch die Presse 1221 Überobjektivität 324 Überwachung des Telefonverkehrs 401 Überwachung des Verteidigers 30, 364 Überzeugungsbildung – des Richters 745 Überzeugungskraft – des Plädoyers 722 ff. Umfangstrafsachen 712 – s.a. Großverfahren Umgang mit dem Mandanten 16, 31 Unabhängigkeit des Anwalts 28 ff., 152, 177, 194, 1187 – vom Kostenträger 32 Unabwendbarer Zufall 1080 Unbeholfenheit – des Angeklagten 543 Unbequemer Verteidiger 178, 747 Unbestimmte Anfechtung – des Urteils 863 Unbrauchbarmachung 390 Unerreichbare Beweismittel 676 Unfallflucht 61 Unfallskizze 484 Ungebühr – vor Gericht 488 Ungeeignete Beweismittel 677 Ungeeignete Fragen 355, 532 Unkontrollierter Beweisantrag 655 Unmittelbarer Zwang 408 Unrichtige Adressierung – eines Schriftstücks 829 Unschuldsvermutung 1 Unterbilanz – des Ehrenschutzes 110, 1060 Unterbrechung der Hauptverhandlung – zur Besprechung mit dem Mandanten 523, 564 – zur Einholung der Zustimmung der Staatsanwaltschaft Einstellung 522
– mangels hinreichender Vorbereitungszeit 512 – mangels Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten 426 – bei Nachtragsanklage 707 – des Plädoyers 748 – bei Ungebühr des Verteidigers 195 Unterbringung – in einer Psychiatrie oder Entziehungsanstalt 381, 402 ff., 448, 1002 Unterlassungsklage – gegen die Presse 109, 109 ff. Untersuchung – s. körperliche Untersuchung Untersuchungsausschuss, Parlamentarischer 2, 98, 157 ff. Untersuchungshaft 65, 337 ff. – Anrechnung 371, 834 – Auslieferung 66 – Aussetzung des Haftbefehls 361 f. – Dauer der Haft über 6 Monate 363 – Fortdauer 447, 776 – Haftgründe 344 ff. – Problematik 312 ff. – Rechtsbehelfe 352 ff. – Restrisiko 66 – Verhaltensmaßregeln für den Beschuldigten 337, 341 f. – Verkehr mit dem verhafteten Beschuldigten 341, 364 – Vorbeugung 380 ff. Untersuchungshaftvollzugsordnung 339, 340, 364 Untervollmacht 125, 150 Unwahre Verfahrensrüge 920 ff. Unwahrheiten – des Verteidigers 159 Unzulässige Fragen – Beanstandung 557 – des Richters 189, 535, 550, 557 – des Staatsanwalts 559 – des Verteidigers 530 ff., 560 f. Unzuständigkeit – des Gerichts 431 Urkundenbeweis 327 ff. – ärztliche Atteste 639 – Bekanntgabe des wesentlichen Inhalts 687 – im Berufungsverfahren 882 – Beweisantrag 882 – Beweiskraft 327 – Beweisverbote 630 – Ersetzung der Verlesung 327 – Gutachten öffentlicher Behörden 639
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Stichwortregister – Leumundszeugnisse 640, 753 – Niederschriften über frühere Vernehmungen 632 – durch präsente Beweismittel 629 – Selbstleseverfahren 628 – Unzulässigkeit 327, 631, 634 f., 638 – Verlesungszwang 687 – Verwertbarkeit nichtrichterlicher Protokolle 634, 636 ff. – Verwertbarkeit richterlicher Protokolle 633, 636, 638 – Verwertbarkeit von Urkunden 327 ff., 407, 630 ff. – Vorhalt von Urkunden 636 ff. – wörtliche Verlesung 687 Urteilsbegründung – verspätete – als Revisionsgrund 915, 939 Urteilsberatung 770 Urteilsberichtigung 773 Urteilsprägende Kraft des Vorverfahrens 234, 448 Urteilsschelte 187, 883 Urteilsverkündung – Anwesenheitspflicht des Verteidigers 771 – Bedeutung der mündlichen Urteilsbegründung 772 – Rechtsmittelbelehrung 774 – Unterbrechung 773 – Verschiebung 771 Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes 702 ff. Verbindungsaufnahme mit – anderen Verteidigern 72, 470 f., 547, 562 – dem Ermittlungsrichter 256 – dem Gericht 468, 484, 502 ff. – dem Haftrichter 357 – der Polizei 2 – der Staatsanwaltschaft 257, 299, 328, 357, 468, 522 – Zeugen und Mitbeschuldigten 217 f., 346, 470 Verbot der Lüge 7, 47 Verbrauch der Strafklage 424 Verdächtiger 293 Verdeckte Verteidigung 245 Verdunklungsgefahr 346 ff., 361, 470 f., 775 Vereidigung – von Sachverständigen 325 – unzulässige – als Revisionsgrund 943
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– von Zeugen 325, 484, 528, 593, 943 Vereidigungsverbote 593 f. Vereinbarungshonorar – 1195 f. Verfahrensabsprache 16, 177 ff., 204, 306, 354, 437, 502 ff., 774, 1020, 1099 – s.a. Verständigung Verfahrenshindernisse 422 ff., 521, 877, 924, 971 Verfahrensrüge (Revision) 925 ff. – Ablehnung eines Beweisantrages 947 – Abwesenheit eines notwendigen Verfahrensbeteiligten 934 – Anforderungen 925 ff. – Aufklärungsrüge 787, 946 – Belehrungen, fehlerhafte oder unterlassene 943 f. – Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensverstoß 941 – Beschränkung der Verteidigung 112, 566, 793 f., 931, 1002 – Besetzung des Gerichts 932 – Beweiswürdigung, freie 950 – Bezugnahme, unzulässige 929 – Entscheidungen vor der Urteilsfällung 930 – Eventualbeweisantrag 947 – Fehlen der Entscheidungsgründe 954 – Fernseh-, Film- und Rundfunkaufnahmen im Gerichtssaal 938 – genaue Angabe der Tatsachen 926 – letztes Wort 765, 952 – Öffentlichkeit des Verfahrens 936 ff. – Protokollfehler 941 – Revisionsgründe, absolute 931 ff. – Revisionsgründe, relative 941 ff. – Richterablehnung 198 ff., 933 – Unvollständigkeit der Entscheidungsgründe 939, 954 – unwahre – 918, 920 ff. – Urkundenbeweis 948 – Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes 951 – Vereidigung, gesetzeswidrige 944 f. – Verhandlungsunfähigkeit 935 – verspätete Absetzung des Urteils 939 – Wahrunterstellung 663 ff. Verfahrenssicherung 149 Verfahrensverzögerung 75 – s.a. Konfliktverteidigung Verfall 390 Verfolgungspflicht 1 Vergleich – bei Privatklage 1046
Stichwortregister – mit der Staatsanwaltschaft bei Rechtsmitteln 842 Verhalten in Verhandlungspausen 157 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 392 ff. – s.a. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Verhandlungsunfähigkeit – des Angeklagten 425 f., 514, 521, 924 – des Mandanten 54 – schuldhafte Herbeiführung 426, 514, 516 Verhinderung – des Mandanten 459 – des Verteidigers s. Terminkollisionen Verhörspersonen 293, 576, 581, 583, 637 Verjährung des Strafverfolgung 126, 430, 521 Verkehr – mit dem Strafgefangenen 1115 – mit dem Untersuchungsgefangenen 364 ff. Verkehrsstrafsachen – Augenscheinsbeweis 689 – Beschlagnahme des Führerscheins 1125 – Blutprobe 404, 406 f. – Entbindung vom Erscheinen in der Hauptverhandlung 482 – Entziehung der Fahrerlaubnis 412 ff., 447, 777, 824, 846, 1125 – Fahrverbot 384 f., 750, 1090 – Maßregelvollstreckung 1133 – öffentliches Interesse an der Strafverfolgung 398 – Ortsbesichtigung 484, 688, 690 – Vernehmung des Polizeibeamten 637 – Verwertung von Lichtbildern und Skizzen 484, 641, 689, 698 – vorweggenommener Augenschein 484 Verkehrszentralregister – s. Fahreignungsregister Verlassen des Sitzungssaales 804 Verlesung von Niederschriften und sonstigen Schriftstücken – des angefochtenen Urteils 879 – zur Aufklärung von Widersprüchen 637 – in der Berufungsverhandlung 882 – über frühere Vernehmungen des Beschuldigten 249
– über frühere Vernehmungen des Zeugen 571, 576, 592, 632 f. – über kommissarische Vernehmungen 480 – polizeiliche Protokolle 634 – richterliche Protokolle 633 – zur Vorbereitung der Beweiserhebung 635, 640 – Zustimmung des Verteidigers 633 – zum Zwecke des Urkundenbeweises 628, 639, 667, 699 – zum Zwecke des Vorhalts 636 ff. Verlesungsverbote 546, 576, 583, 636 ff., 675 Verlöbnis 570 Verlust des Rügerechts 790 ff. Vermögensstrafen 1122 Vernehmung des Angeklagten – in der Hauptverhandlung 486 ff., 543 ff. Vernehmung des Beschuldigten – im Ermittlungsverfahren 249 ff., 292 ff., 308 Vernehmung von Sachverständigen 616 ff. Vernehmung von Verhörspersonen 249, 494, 571, 576, 636 ff. Vernehmung von Zeugen 567 ff. – Amtsverschwiegenheit 574 – Auskunftsverweigerung des Zeugen 571 – Beweiswert von Zeugenaussagen 569, 579, 581, 586, 588, 595, 873 – Entbindung von der Schweigepflicht 574 – informatorische – 577 – jugendliche Zeugen 566 – zur Person 569 – Protokoll 1167, 1174 – Reihenfolge 585 – durch den Richter 569 ff. – zur Sache 579 ff. – Sperrerklärung 574 – Trennung von Bericht und Verhör 579 – Verlesung früherer Aussagen s. dort – durch den Verteidiger 588 f. – Verwertungsverbote s. dort – Verzicht 699 – Vorfeld der Vernehmung 577 – Vorhalte 579, 583, 592, 636 ff. – vorzeitige Entlassung von Zeugen 531, 594 – wiederholte – im Berufungsverfahren 882
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Stichwortregister – Zeugnisverweigerungsrechte 570 ff. Vernehmungsmethoden – Anknüpfungsfragen 534, 592 – Fangfragen 535, 579 – Suggestivfragen 536, 553, 561, 579 – Unzulässigkeit polizeilicher – 250 ff. Vernehmungsprotokolle – Einsicht 270 – Vorhalte s. dort Vernehmungstechnik 252, 568, 588 f. Versäumung – der Beschwerdefrist 858 – der Hauptverhandlung 869, 878, 1051, 1079 – der Rechtsmittelfrist 828, 865, 897, 1079 – der Revisionsbegründungsfrist 894, 905, 911, 925 Verschleppungsabsicht 669 – s.a. Prozesssabotage Verschulden – amtliches – 1080 – des Mandanten 1081 – des Verteidigers 6, 834, 906, 1052 f. Verschwiegenheitspflicht 48 ff., 63 Verspätetes Vorbringen 495 Verspätung des Verteidigers 507 Verstandesreife 609 Verständigung 21, 177 ff., 327, 330, 354, 388, 434, 437, 468, 502, 548, 564 – mit Gericht oder Staatsanwalt 179 – s.a. Verfahrensabsprache Vertagung – der Hauptverhandlung 458, 512, 878 Verteidiger – Abhängigkeit 7 – Aufgaben im Ermittlungsverfahren 17 ff., 233 ff. – aus der Sicht des Richters 1, 3 – Ausschließung 40 ff. – „Ausschreibung“ von Mandanten 154 – Berufsauftrag 1 ff. – Berufungspflichten s. dort – Besprechungen 471 – Bindung an Berufsrecht 38 ff. – Delegation der Verteidigung 160 – Denken in Verfahrensrisiken 328 – Dienstleister 24 – eigene Ermittlungen 313 ff., 472, 984, 1004, 1015 – in eigener Sache 1180 ff. – Eigeninteressen 16 – Einseitigkeit 11 – Fehler 6
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– – – – – –
Firmenanwalt 124, 1145 ff. als Firmenvertreter 1145 ff. freier Beruf 3, 1185 Haftung, zivilrechtliche 165 f. Honorar 1185 ff. Konfliktsituationen 59 ff., 76, 104, 181, 398 – Kontrollfunktion 13 – Krisenmanagement 110, 236, 388 – Lebensführung 1180 ff. – als Marionette der Presse 142 – Medien 33, 97 ff., 112, 142, 239, 1035, 1060 – öffentlich-rechtliche Komponente 4 – Organ der Rechtspflege 3 ff., 59 – vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss 1173 ff. – persönliche Überzeugung 728, 731 – persönliches Wissen 78 – präventive Beratung 389 – Presseerklärung 102, 174 – Pressekonferenz 102 – proaktive Verteidigung 237 – Rechtsstellung 1, 3 – Sachkunde 226 ff. – Schutzaufgabe 9 ff., 59 – Selbstverständnis 23 ff., 23 ff. – Seriosität 4 – „Softy“ 193 – Strafanzeige 8 – Strafvereitelung 59 ff., 255 – Unabhängigkeit 3, 28 ff., 152, 177, 194, 1185 – als Unternehmensberater 1145 ff. – Verhältnis zu den Verfahrensbeteiligten 118 ff. – Verschulden 6 – Verschwiegenheitspflicht 48 ff. – Widerstreit der Berufspflichten 44 ff. – als Zeuge 574 – als Zeugenbeistand 1173 Verteidiger in eigener Sache 1180 ff. Verteidiger und Geschädigter 168 ff., 1152 Verteidiger und Mandant 119 ff. Verteidiger und Öffentlichkeit 97 ff., 999 Verteidiger und Polizei 172 ff., 256 Verteidiger und Presse 97 ff. Verteidiger und Richter 186 ff. Verteidiger und Sachverständiger 221 ff. Verteidiger und Staatsanwalt 185 Verteidiger, Staatsanwalt und Richter 118, 176 ff., 257 ff.
Stichwortregister Verteidiger und Zeuge 211 ff. – außergerichtliche Anhörung 217 ff. Verteidigerbesprechungen 49, 72, 470, 547, 762, 891 Verteidigung 120 ff. – von Anarchisten und Terroristen 129 – im Auftrag Dritter 142 ff., 1149 – Delegation 160 – flankierende – 101 – Form der – 80 – im Hinblick auf die Revision 890 – informationeller Schutzbereich der – 315 – informelle Programme 39 – juristischer Personen 244, 382 – Konflikte der – 45, 60 – legale Mittel 79 – und Medien 97 ff. – mehrerer Beschuldigter 83 f. – Nachsorge 274, 326, 326, 336 – Nacht- und Notdienst 248 – Niederlegung der – 41, 186 – öffentlich-rechtliche Komponente 4 – proaktive – 237 – des schuldigen Angeklagten 79, 731 – in Sexualstrafsachen 133 – Strafanzeige 8, 1152 – und Strafrechtsschutzversicherung 144, 1189 – und Strafvereitelung 59 ff. – verdeckte – 245 – Weisungen des Mandanten 5 – wider besseres Wissen 78 Verteidigung der Rechtsordnung 1041 ff. Verteidigung des schuldigen Angeklagten 77 ff., 731 Verteidigung und Strafvereitelung 59 ff. – s.a. Strafvereitelung Verteidigungs- und Beratungsauftrag 64 Verteidigungsplan 72, 451, 513, 559, 592, 696 Verteidigungsstrategie 449, 667 Verteidigungs-Team 167 – Gehilfen 167 – „Leadership“ 167 – „Seilschaft“ 167 – Syndikusanwalt 140 f., 397 Verteidigungswaffen 802 ff. – Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung 802 – Antrag auf Protokollierung 542
– Ausbleiben in der Hauptverhandlung 805 – Aussageverweigerung 547 – Beweisantrag, affirmativer 660 – Niederlegung der Verteidigung 158, 186, 197, 803, 805 – Präsentieren von Beweismitteln 697 – Verlassen des Sitzungssaales 195, 804, 935 Vertrauenskrise 1039 Vertrauensverhältnis – zwischen Mandant und Verteidiger 16, 17, 52, 490 f., 959 Vertrauliche Besprechung – mit Richter oder Staatsanwalt 63, 178 – s.a. Verständigung Vertretung – durch anderen Anwalt 160, 461, 511 – von Kollegen 1192 – des Mandanten 1056, 1065, 1077 – der Presse 143 – durch Referendar 125, 160, 256, 461 – von Richtern und Staatsanwälten 1193 – im Verhandlungstermin 461 Vertretungsverbot 40 Verwertbarkeit – nichtrichterlicher Protokolle 634, 636 ff. – von Untersuchungsergebnissen 395 f., 405 ff. – von Vernehmungsergebnissen 551, 571, 573 f., 944 Verwertungsverbot 634 – bei beschlagnahmten Gegenständen 395 f. – Protokoll über frühere Vernehmung bei berechtigter Aussageverweigerung 576 – bei unterlassener Belehrung über Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht 570 – Untersuchungsergebnisse 405 f., 410, 617 – Widerspruch gegen Verwertbarkeit 529 – Zusatztatsachen Verwirkung von Verteidigungsrechten 709 – Antrag auf Gerichtsbeschluss 793, 795, 806, 935 – arglistiges Verhalten 932 – Beschränkung der Verteidigung 794 f., 942
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Stichwortregister – Fixierung der Prozessvorgänge 699, 709, 787, 806 – „Konservierung“ von Verfahrensfehlern für Revisionszwecke 423 – Nichtanrufung des Gerichts 793, 946 – Nichtwiederholung übergangener Beweisanträge 787, 799 – Opportunitätsfragen 542, 637, 810 – Präklusionsvorschriften 797 – Rügeverlust durch Unaufmerksamkeit 542, 787, 793, 1065 – Rügeverzicht 791 f. – Überholung durch Prozessablauf 797 ff., 941 – Unterlassen der Beanstandung 793 – verpasste Gelegenheiten 802 ff. Verzicht – auf Beweismittel 700 – auf Rechtsmittel 774, 825 Verzögerungstaktik 67, 425, 823 Videoaufzeichnung 264 V-Mann 582, 677 Vollmacht 121, 125, 835 Vollstreckung – s. Strafvollstreckung Vollstreckungsbefehl 1119 Vollstreckungsvereitelung 1115 Vollzug – s. Strafvollzug Vollzug der Untersuchungshaft 340 ff., 364 ff. Vorbereitung des Verteidigers auf die Hauptverhandlung 448 ff. – Aufnahme der Verbindung mit Mitangeklagten 470 f. – Aussetzung zwecks – 448, 457 – Befragung eigener Beweispersonen 472 – Beratung des Mandanten 486 ff., 543, 765 – Besprechung mit Gericht und Staatsanwalt 437, 468, 482 – Feststellungen über Person der Richter 456, 463, 466 – Mängel der Ladung 457 – Pflicht zur – 437, 448, 457, 588 – Plan für die Hauptverhandlung 437, 449 ff. – technische Hilfsmittel 451 ff. – Terminkollisionen 437, 460 f. – Verhinderung des Mandanten 459 – vorbereitende Aufzeichnungen 451 ff.
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– Vorbereitung von Ablehnungsgesuchen 466 – vorweggenommene Beweisanträge 473 f. Vorbereitung des Zeugen – Information 1164 f. Voreingenommenheit 196 Vorführung 309, 426, 483, 879 Vorhalt gegenüber Angeklagten 551 f., 638 – früheres Geständnis 490, 498 – polizeiliche Protokolle 249 – Protokolle früherer Vernehmungen bei Zeugen 576 f., 636 ff. – seitens des Verteidigers 531, 592 – gegenüber Zeugen 583 Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis 412 ff. – Anrechnung auf Sperrfrist 414 f. – Aufhebung 777, 824 – Eintragung in die „Verkehrssünderkartei“ 1133 – Rechtsmittel 413, 846 – Rechtsmittelverzicht bei – 742, 796 – Rückgabe des Führerscheins 412, 417, 777 – Voraussetzungen 412 Vorrang – des weitestreichenden Revisionsgrundes 976 Vorstrafen 545 Vortrag – des Berichterstatters in der Revision 983 Vorweggenommene Beweiswürdigung 679 Vorwurf der Rechtsbeugung 188 Vorzeitige Entlassung – des Zeugen 594 Waffengleichheit 487 Wahlgegenüberstellung 300 Wahlverteidiger 120 ff. – Beschränkung 123 – Bestellung 121 – Bestellung zum Pflichtverteidiger 164, 1198 f. – Honorarvereinbarung 1195 ff. – mehrere Verteidiger 122 f. – Niederlegung der Verteidigung 161 ff., 1223 ff. – Übertragung der Verteidigung auf Referendar 125, 160 – Untervollmacht 125 – Verbot der Doppelverteidigung 124
Stichwortregister – Vertretung 461, 771, 1194 – Vollmacht 88, 90, 810 – Zurückweisung 123 – s.a. Mandat Wahrheitsbeweis 1027 f. Wahrheitspflicht – des Verteidigers 7, 46, 53, 60, 159, 653, 918 Wahrnehmung – berechtigter Interessen 1033 – einer Person 631 Wahrscheinlichkeit – in der Beweiswürdigung 13, 970 Wahrunterstellung – von Tatsachen 640, 663 ff. Wechsel des Verteidigers 816, 822, 892 Wechselseitige Beleidigungen 1037, 1045, 1053 Wegfall – der Beschwer 818 Weisungen – des Mandanten 31 Werbung um Praxis 92 ff., 200, 999 white collar crimes 130, 1187 Widerruf – der Ermächtigung zur Rechtsmittelrücknahme 836 – eines Geständnisses 61, 342, 498, 554, 638, 1020 – der Strafaussetzung 1108 – einer Zeugenaussage 1017 Widerrufsklage – gegen Beleidiger 1059 – gegen Presse Widerspruchspflicht 529 Wiederaufnahme des Verfahrens 996 ff. – Alibizeugen 1004 – Angriff auf Sachverständigenbeweis 1018 – Augenscheinseinnahme 1019 – außergerichtliche Befragung von Zeugen 1004, 1017, 1021, 1023 – Befragung von Sachverständigen 1021 – Beratung des Mandanten 1002, 1004, 1115 – beschränkt auf den Strafausspruch 1007 – Beschränkung 1010 – Beweismittel 997, 1004, 1013, 1015, 1019, 1021 – eigene Ermittlungen des Verteidigers 1004, 1017, 1019 – Erheblichkeit neuer Tatsachen und Beweismittel 1017
– Erneuerung der Hauptverhandlung 1026 – fehlerhafte Beweisgrundlage 998, 1018 – in dubio pro reo 1017, 1021 – neue Tatsachen 1001, 1013, 1015, 1019, 1021 – Pflichtverteidigung 1000 – Probationsverfahren 1021 ff. – bei rechtskräftigen Beschlüssen 1008 – bei rechtskräftigem Schuldspruch 1006 – Rechtsmittel 1027 – reformatio in peius 1026 – Schlussanhörung 1025 – bei Teilrechtskraft 1006 – unrichtige Beweiswürdigung 1073 – Urkundenbeweis 1021 – Verfahrengang 1001 – verfassungswidrige Norm 898 – Verteidigung von Beweispersonen 1023 – Vollstreckung 1003 – Vorbereitung 1003, 1087 – Widerruf einer Zeugenaussage 1017 – Widerruf eines Geständnisses 1020 – Wiederaufnahmeantrag 1005 ff. – Wiederaufnahmegründe 1005, 1010 – wiederholter Antrag 1016 – zugunsten des Verurteilten 1005, 1009, 1014 – Zulassungsverfahren 1005 ff. – Zuständigkeit 1011 – zuungunsten des Verurteilten 1014 Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand 1079 ff. – Form 1085 – Frist 1083 – Fristversäumung 1056 – Glaubhaftmachung 1083 – Nachholung der versäumten Prozesshandlung 1085 – Nachholung einzelner Revisionsrügen 911 – unanwendbarer Zufall 1080 – Verschulden des Mandanten 1081 – Verschulden des Verteidigers 1082 – verzögerliche Postbeförderung 911 – Zulässigkeit 1079 Wiedererkennen – einer Person 598 – s.a. Wahlgegenüberstellung Wiedereröffnung der Verhandlung 766 ff.
725
Stichwortregister Wiedergutmachung des Schadens 1101, 1103, 1105, 1141 Wiederholte Vernehmung – in der Berufungsinstanz 875 Wiederholte Vorladung 882 Wiederholungsgefahr 349 Wirtschaftsstrafsachen 68, 130, 347, 1187 Wissenschaftliche Erkenntnisse 909 Wunschvorstellungen 597 f. Zahlungserleichterung – s. Ratenzahlung Zeitgewinn 823 Zentralregister – s. Bundeszentralregister Zeuge 211 ff., 531 ff., 567 ff. – außergerichtliche Befragung 217 f. – Befragung durch den Verteidiger 211 ff., 588 ff., 596 ff., 1160 ff. – Benennung 475, 589, 681 – Beratung und Beistand 1055 ff. – Entstehungsgeschichte der Aussage 610 – gefährdeter Zeuge 582, 1168 – gesperrter Zeuge 574 – Geständniszeuge 582 – vom Hörensagen 570, 576, 581, 598 – Informationen zur Vorbereitung 1164 f. – Kinder als – 566, 570, 610, 616 – kommissarische Vernehmung 484 – körperliche Untersuchung 410 – Mitangeklagter als – 601 – Nebenkläger als – 603 – Polizeibeamter als – 603 – Richter als – 672 – sachverständiger – 407, 619, 887 – Sachverständiger als – 231, 326, 619 f. – Selbstladung 697 – Staatsanwalt als – 671 – Tatverdächtiger als – 292, 601 – Verdächtiger als – 571, 1058 – Vereidigung 593 – Verhörspersonen als – 249, 472, 494, 498, 554, 571, 574 ff., 583, 585, 636 f. – Verletzter als – 603 – Vernehmung 568 ff. – und Verteidiger 211 ff. – Vorstrafen 213, 287 Zeugenbeistand 1087 ff. – Rederecht 1166, 1178 Zeugenvernehmung – s. Vernehmung
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Zeugnisverweigerungsrecht 570 ff., 1164, 1166 – von Angehörigen 570 f. – der Presse 572 – gegenüber Sachverständigen 619 – der Träger von Berufsgeheimnissen 64, 572 – von Verlobten Zivilrechtliche Haftung – des Verteidigers 165 ff. Zufallsfunde 417 Zufallsprognose 18, 490, 1103 Zurücknahme – s. Rücknahme Zurückverweisung – an anderes Gericht 904 – durch das Revisionsgericht 203 Zusammenarbeit – mit der Polizei 173 Zusammenhängender Bericht – der Einlassung 550 Zusatztatsachen 619 Zuständigkeitsprüfung 462, 518 Zuständigkeitswahl – durch den Verteidiger 431 Zustellung – von Beschlüssen 858 – Doppelzustellung 827 – fehlerhafte – 1080 – des Urteils 827 Zwangsmaßnahmen – Kenntnis von bevorstehenden – 63 – Rechtsschutz 383, 408, 985 – bei Wahlgegenüberstellung 300 „Zwangsverteidiger“ 149 Zweite Tatsacheninstanz 860 Zweite Tatsachenverhandlung 895 Zweiteilung des Verfahrens 754 Zwischenberatung 807 Zwischenplädoyer 527, 594, 695 Zwischenstreit – über Aussageverweigerung 575 Zwischenverfahren 420 ff. – Anträge 407, 445 ff., 488 – Einwendungen gegen die Eröffnung 422 ff. – Erklärungsfrist 436 – Geltendmachung der Einwendungen 435 ff. – Gespräch mit dem Gericht 437 – Schutzschrift 440 ff. – Verteidigungschancen 420 f. – Vorlage von Gutachten 446