Handbuch Poetikvorlesungen: Geschichte – Praktiken – Poetiken 9783110647884, 9783110644760

This collection provides a systematic overview of lectures on poetics, investigating the still little-known Anglo-Americ

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German Pages 550 Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1 Die Gattung Poetikvorlesung und ihre Geschichte
1.1 Die Poetikvorlesung als Gattung
1.2 Forschungsüberblick
1.3 Gattungsgeschichte
1.3.1 Geschichte der anglo-amerikanischen Vorlesungen über Poetik: Die Frühphase der Gattung, 1892–1941
1.3.2 Geschichte der anglo-amerikanischen Vorlesungen über Poetik: Verbreitung und Ausdifferenzierung der Gattung, 1947–2018
1.3.3 Vorgeschichte(n) der deutschsprachigen Poetikvorlesungen: Verwandte Vorläufer
1.3.4 Geschichte der deutschsprachigen Poetikvorlesungen ab 1959
2 Praktiken der Inszenierung, Organisation und Rezeptionen von Poetikvorlesungen
2.1 Praktiken der Inszenierung
2.1.1 Verhältnis zur Öffentlichkeit und Habitus
2.1.2 Das Zögern auf den Punkt bringen: Zur Performativität deutschsprachiger Poetikvorlesungen
2.1.3 Kanon, Selbstkanonisierung und Rekurs auf den antiken Begriff des poeta doctus
2.1.4 Ereignisorientierte Poetikvorlesungen – „Werkstattberichte“. Der Schreibprozess zwischen Idealisierung und Scheitern
2.1.5 Werkpolitik: Werkbegriffe, Werkpolitiken und Selbstkommentierungen
2.1.6 Ringen um authentisches Sprechen und rhetorische Verweigerung einer Poetik. Zum Verhältnis von Authentizität, Fiktion und theoretischer Reflexion in Poetikvorlesungen
2.2 Organisation und Rezeption der Poetikvorlesungen
2.2.1 Prinzipien und Praktiken der Organisation der Poetikvorlesung
2.2.2 Medialisierungen der Veranstaltungen und Digitalisierung der literarischen Öffentlichkeit im ausgehenden 20. und im 21. Jahrhundert
2.2.3 Poetikvorlesungen und die deutschen Verlage: Synergien, Strategien und Disharmonien
2.2.4 Verschiedene Rezeptionen der Poetikvorlesungen durch die Literaturkritik, die Literaturwissenschaft und die Öffentlichkeit
3 Poetiken
3.1 Gattungsspezifische Poetiken
3.1.1 Poetiken des Romans
3.1.2 Poetiken des Dramas
3.1.3 Poetiken der Lyrik
3.2 (Schreib‐)Haltungen in deutschsprachigen Poetikvorlesungen
3.3 Linguistische Argumente: Literatur und Spracherweiterung
3.4 Anthropologische Argumente: Kunst und Humanität
3.5 Intertextuelle Argumente: Einflussangst, Vorbilder, Autodidakten, Lektüreverhalten, Text als Intertext
3.6 Religiöse Argumente: Schreiben als Schöpfung, Totenerweckung, Darstellung des Unsagbaren und Suchbewegung
3.7 Historische oder gedächtnistheoretische Argumente: Zeugenschaft, Gedächtnis, kollektive Identität
3.8 Epistemologische Argumente: Literatur, Wissen und Wissenschaften
3.9 Biographische Argumente: Literatur und Leben, Repräsentationen der Erfahrungswelt
3.10 Transkulturalität: Grenzüberschreitende Reflexionen von Poetik und Ästhetik
3.11 Transmediale Argumente
3.11.1 Poetics of Music
3.11.2 Poetiken der bildenden Kunst
3.11.3 Poetics of Architecture: Academic Lectures’ Role in Architecture as Communication
3.11.4 Poetiken des Films
Liste der Poetikprofessuren an Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz
Liste der Poetikprofessuren an Universitäten in den USA
Beiträger und Beiträgerinnen
Autorenregister
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Handbuch Poetikvorlesungen: Geschichte – Praktiken – Poetiken
 9783110647884, 9783110644760

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Handbuch Poetikvorlesungen

Handbuch Poetikvorlesungen

Geschichte – Praktiken – Poetiken Herausgegeben von Gundela Hachmann, Julia Schöll und Johanna Bohley

ISBN 978-3-11-064476-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064788-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064501-9 Library of Congress Control Number: 2022934105 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Viele Gedanken aus dem Kopf. CSA Images/getty images. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Johanna Bohley, Gundela Hachmann, Julia Schöll Einleitung IX

1 Die Gattung Poetikvorlesung und ihre Geschichte Julia Schöll 1.1 Die Poetikvorlesung als Gattung Kevin Kempke 1.2 Forschungsüberblick

27

1.3

35

Gattungsgeschichte

3

Gundela Hachmann 1.3.1 Geschichte der anglo-amerikanischen Vorlesungen über Poetik: Die Frühphase der Gattung, 1892 – 1941 37 Gundela Hachmann 1.3.2 Geschichte der anglo-amerikanischen Vorlesungen über Poetik: Verbreitung und Ausdifferenzierung der Gattung, 1947 – 2018 57 Johanna Bohley 1.3.3 Vorgeschichte(n) der deutschsprachigen Poetikvorlesungen: Verwandte Vorläufer 81 Johanna Bohley 1.3.4 Geschichte der deutschsprachigen Poetikvorlesungen ab 1959

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2 Praktiken der Inszenierung, Organisation und Rezeptionen von Poetikvorlesungen 2.1

Praktiken der Inszenierung

107

VI

Inhalt

Sabine Kyora 2.1.1 Verhältnis zur Öffentlichkeit und Habitus

109

Ulrike Steierwald 2.1.2 Das Zögern auf den Punkt bringen: Zur Performativität deutschsprachiger Poetikvorlesungen 125 Friederike Reents 2.1.3 Kanon, Selbstkanonisierung und Rekurs auf den antiken Begriff des poeta doctus 147 Julia Genz 2.1.4 Ereignisorientierte Poetikvorlesungen – „Werkstattberichte“. Der 167 Schreibprozess zwischen Idealisierung und Scheitern Kevin Kempke 2.1.5 Werkpolitik: Werkbegriffe, Werkpolitiken und Selbstkommentierungen 179 Katharina Meiser und Gundela Hachmann 2.1.6 Ringen um authentisches Sprechen und rhetorische Verweigerung einer Poetik. Zum Verhältnis von Authentizität, Fiktion und theoretischer Reflexion in Poetikvorlesungen 193 2.2

Organisation und Rezeption der Poetikvorlesungen

209

Carolin Bohn 2.2.1 Prinzipien und Praktiken der Organisation der Poetikvorlesung 211 Thomas Ernst 2.2.2 Medialisierungen der Veranstaltungen und Digitalisierung der literarischen Öffentlichkeit im ausgehenden 20. und im 21. Jahrhundert 223 Gundela Hachmann 2.2.3 Poetikvorlesungen und die deutschen Verlage: Synergien, Strategien und Disharmonien 233

VII

Inhalt

Claudia Dürr und Kevin Kempke 2.2.4 Verschiedene Rezeptionen der Poetikvorlesungen durch die Literaturkritik, die Literaturwissenschaft und die Öffentlichkeit 249

3 Poetiken 3.1

Gattungsspezifische Poetiken

Marie Gunreben 3.1.1 Poetiken des Romans

263

Johannes Birgfeld 3.1.2 Poetiken des Dramas

279

Doren Wohlleben 3.1.3 Poetiken der Lyrik

261

297

Stephanie Waldow 3.2 (Schreib‐)Haltungen in deutschsprachigen Poetikvorlesungen Jadwiga Kita-Huber 3.3 Linguistische Argumente: Literatur und Spracherweiterung Gundela Hachmann 3.4 Anthropologische Argumente: Kunst und Humanität

313

327

345

Monika Schmitz-Emans 3.5 Intertextuelle Argumente: Einflussangst, Vorbilder, Autodidakten, Lektüreverhalten, Text als Intertext 361 Silke Horstkotte 3.6 Religiöse Argumente: Schreiben als Schöpfung, Totenerweckung, Darstellung des Unsagbaren und Suchbewegung 381 Florian Lehmann 3.7 Historische oder gedächtnistheoretische Argumente: Zeugenschaft, Gedächtnis, kollektive Identität 393

VIII

Inhalt

Stefan Willer 3.8 Epistemologische Argumente: Literatur, Wissen und 407 Wissenschaften Susanne Komfort-Hein 3.9 Biographische Argumente: Literatur und Leben, Repräsentationen der Erfahrungswelt 421 Melanie David-Erb, Andreas Erb und Rolf Parr 3.10 Transkulturalität: Grenzüberschreitende Reflexionen von Poetik und 439 Ästhetik 3.11

Transmediale Argumente

John T. Hamilton 3.11.1 Poetics of Music

455

457

Juliane Blank 3.11.2 Poetiken der bildenden Kunst

469

Christina Svendsen 3.11.3 Poetics of Architecture: Academic Lectures’ Role in Architecture as 489 Communication Felix T. Gregor 3.11.4 Poetiken des Films

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Liste der Poetikprofessuren an Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz 519 Liste der Poetikprofessuren an Universitäten in den USA Beiträger und Beiträgerinnen Autorenregister

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Johanna Bohley, Gundela Hachmann, Julia Schöll

Einleitung Als die Universität Frankfurt am Main 1959 die erste deutsche Poetikprofessur einrichtet, schließt dieser Gründungsakt an die Tradition eines Formats aus dem anglo-amerikanischen Raum an, in dem literarische Autor*innen, aber auch Kunstschaffende aus anderen Disziplinen sowie Kritiker*innen und Wissenschaftler*innen vor Publikum über die Bedingungen und Möglichkeiten künstlerischer Produktion in Vergangenheit und Gegenwart nachdenken. Als dieses Format ab 1959 auch in Deutschland etabliert wird, ist ein akademisches Interesse an der Literatur der Gegenwart und ihren Autor*innen keine Selbstverständlichkeit, und die Tatsache, dass in den folgenden Jahren und Jahrzehnten immer mehr Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz Poetikprofessuren einrichten und sich diese Kommunikationsform zu einem ausgesprochenen Erfolgsmodell entwickelt, trägt nicht unwesentlich dazu bei, dass sich auch die Gegenwartsliteraturforschung als eine anerkannte akademische Disziplin etablieren kann. Bis heute sind es mehr als 30 Institutionen, die Poetikprofessor*innen einladen. Als erste Poetikprofessorin Deutschlands begründet Ingeborg Bachmann mit ihren Vorlesungen wiederum eine spezifische Tradition, die bis heute einen wichtigen Referenzpunkt für viele Autor*innen bietet. Im 21. Jahrhundert treten viele andere ihre Nachfolge an und nehmen explizit in ihren Poetikvorlesungen auf Bachmanns längst zum Kult gewordenen Text Bezug. Im Verlauf ihrer Geschichte entwickelt sich die Poetikprofessur zu einem zentralen medialen Ort für die Reflexion über die ästhetischen, gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bedingungen literarischen Schreibens in der Gegenwart. Zudem dienen Poetikvorlesungen auktorialer Selbstdarstellung und Selbstinterpretation, sie sind Medien der Werkbiographie und Autofiktion, zugleich öffentliche Events, universitäre Bildungsveranstaltungen und wichtige Ereignisse für den Literaturmarkt. Nicht zuletzt fungieren sie auch als eine Art akademischer Ritterschlag für Gegenwartsautor*innen. Wie „Poetik“ vermittelt werden soll, wird dabei nicht festgelegt. Die Universitäten, die primär als Veranstalter von Poetikvorlesungen auftreten, reichern mit diesen Veranstaltungen ihr Bildungsangebot an, doch im Gegensatz zur konventionalisierten akademischen Vorlesung haben die Poetikdozent*innen deutlich mehr Gestaltungsfreiheit und nutzen diese auch. In den Kategorien der Aristotelischen Poetik geht hier die theōria (genaue Beobachtung, Reflexion) mit Erfahrungen der poiēsis (Schaffen, Kreieren, Dichten) und der technē (Kunst, Kunstfertigkeit) eine Verbindung ein. Poetikvorlesungen sind weder Schreibhttps://doi.org/10.1515/9783110647884-001

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Johanna Bohley, Gundela Hachmann, Julia Schöll

schulen noch Kreativitätsratgebersitzungen, sondern sie nehmen inhaltlich primär eine Vermittlungsfunktion zwischen den wissenschaftlichen Interessen der Akademie und den individuellen Arbeitserfahrungen und Überzeugungen meist aus der Literatur und auch aus anderen Künsten ein. Im Gegensatz zu der Aristotelischen Poetik versucht man in Poetikvorlesungen keine verbindlichen Regeln oder universal gültigen Grundsätze zu formulieren, sondern bietet vielmehr individuelle Autor- bzw. Werk- oder auch Werkstattpoetiken an. Das Ziel des Handbuchs ist es, die Bedeutung und Funktion von Poetikvorlesungen, ihre historische Entwicklung der Gattung, die geläufigen Formen und Konventionen bei der Organisation, ihre verbreiteten Praktiken bei der Inszenierung sowie zentrale poetologische Inhalte an jeweils repräsentativen Beispielen zu erforschen. Um das weite Spektrum der Gattung abzubilden, werden im Vergleich mit den angelsächsischen Vorbildern gelegentlich auch solche Poetikvorlesungen berücksichtigt, die sich eher an der Peripherie der Gattung befinden, weil sie von Komponist*innen, Regisseur*innen, Architekt*innen oder bildenden Künstler*innen vorgetragen werden. Der Poetikbegriff wird hier zum Teil bewusst über die Grenzen der Literatur und des Mediums Sprache hinaus erweitert, um Anknüpfungspunkte und Gemeinsamkeiten zwischen den Künsten in den Blick zu nehmen. In der bisher vorliegenden Forschungsliteratur wurden in der Regel die Poetikdozentur in Frankfurt am Main oder einzelne Aspekte der Poetikvorlesungen untersucht. Das vorliegende Handbuch unternimmt die erste umfassende und grundlegende wissenschaftliche Darstellung der Gattung Poetikvorlesung. Die hier versammelten Artikel sollen als Basismaterial und Anregung für zukünftige literaturwissenschaftliche Forschungen dienen. Das Handbuch beleuchtet Poetikvorlesungen aus verschiedenen Perspektiven: So werden zunächst die Geschichte und die Theorie dieses Genres erläutert. Im darauffolgenden Teil kommen die institutionellen Organisationsformen und Praktiken in den Blick, die sich oft als Praktiken der Subjektivierung erweisen. Der letzte Teil dient dazu, die Vielfalt der poetologischen Argumentationen und Dimensionen nachzuzeichnen und an zentralen Beispielen zu erläutern. Unser Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen, die unter den komplizierten Arbeitsbedingungen der Pandemie Beiträge für das Handbuch verfasst haben. Dr. Carolin Bohn und Philipp Schlüter danken wir für ihre immer genaue und geduldige Redaktion und Korrektur der Beiträge. Auch danken wir der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und dem College of Humanities and Social Sciences an der Louisiana State University für ihre finanzielle Unterstützung. Wir sind zudem dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach sowie dem dort ansässigen SiegfriedUnseld-Archiv sehr verbunden, dass sie unsere Forschungen zur Geschichte der Poetikvorlesungen ermöglicht haben. Wir wissen es zu schätzen, dass Almut

Einleitung

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Gehebe-Gernhardt uns die Bildrechte eingeräumt hat. Und nicht zuletzt möchten wir uns beim Verlag Walter De Gruyter, insbesondere beim Lektorat von Marcus Böhm und Anja Michalski, herzlich für die sehr kooperative Zusammenarbeit bedanken. Gundela Hachmann, Julia Schöll und Johanna Bohley Baton Rouge, Braunschweig und Jena im November 2021

1 Die Gattung Poetikvorlesung und ihre Geschichte

Julia Schöll

1.1 Die Poetikvorlesung als Gattung Die These, dass es sich bei Poetikvorlesungen um eine selbstständige Gattung handelt, bildet einen der zentralen Ausgangspunkte des vorliegenden Handbuchs, sie zu verifizieren ist eines seiner wichtigen Anliegen. Der Frage, inwiefern Poetikvorlesungen eine eigene Gattung darstellen, wurde in der Forschung lange Zeit nur am Rande oder nicht systematisch nachgegangen, erst in jüngster Zeit wurde sie grundlegend diskutiert (Kempke 2021). Im Folgenden wird dargestellt, auf welchen gattungstheoretischen Prämissen die Ausgangsfrage basiert und welche inhaltlichen, ästhetischen, formalen und medientheoretischen Argumente für die genannte These sprechen. Gattungen definieren sich nicht zuletzt wesentlich durch ihre gemeinsame Gattungsgeschichte. Neumanns und Nünnings Kritik, es werde bei der Definition neuer Gattungen vielfach zu wenig deutlich gemacht, ob es sich um eine „ahistorisch-typologische oder um eine historische Kategorienbildung“ handle (Neumann und Nünning 2007, 2), ließe sich somit entgegenhalten: Keine Gattungsdefinition funktioniert ausschließlich historisch oder ausschließlich ahistorisch. Das bürgerliche Trauerspiel etwa ist zwar definitorisch eng an eine Epoche, zum anderen aber auch an formale und ästhetische Kriterien geknüpft. Eine Gattung wiederum, die sich rein formal beschreiben ließe, ohne dass historische Entwicklungen für deren Genese eine Rolle spielten, ist kaum denkbar. Der im vorliegenden Handbuch beschrittene Weg, die Gattungsfrage zu klären, besteht darin, inhaltliche, ästhetisch-formale, mediale und historische Ebene parallel zu verhandeln – differenzierend und zugleich aufeinander bezogen, lässt sich ein Gattungsbegriff sinnvoll doch nur auf der Basis einer Pluralität der zugrundliegenden Definitionskriterien ableiten (Hempfer 1973, 9). Inwiefern die historische Dimension für textuelle und paratextuelle Gemeinsamkeiten und Differenzen innerhalb der Gattung Poetikvorlesung eine Rolle spielt und sich eine eigene Gattungsgeschichte herausgebildet hat, ist Gegenstand der folgenden Kapitel (siehe 1.3.1 bis 1.3.4). Im vorliegenden Beitrag wird die Gattungsfrage zunächst im Hinblick auf inhaltliche, ästhetische, formale und medientheoretische Argumente beantwortet.

1 Gattungstheorie Die Diskussion der Frage nach der Gattung hat sich zuallererst mit Begrifflichkeiten auseinanderzusetzen, die im Hinblick auf die Poetikvorlesung bislang https://doi.org/10.1515/9783110647884-002

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Julia Schöll

wenig diskutiert wurden. Aktuelle theoretische Abhandlungen zum Poetik-Begriff sowie dem Verhältnis von Poetik und Poetologie, wie etwa Geisenhanslükes Einführung Poetik (Geisenhanslüke 2018) oder der von Ralf Simon herausgegebene Band Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität (Simon 2018), schenken der Poetikvorlesung keine besondere Beachtung, deren Erkenntnisse lassen sich gleichwohl auch auf die Poetikvorlesung beziehen. Der auf Platon und Aristoteles zurückgehende Begriff Poetik bezeichnet zunächst, wie Geisenhanslüke feststellt, „[…] in einer allgemeinen Bedeutung die Dichtkunst überhaupt, und das heißt sowohl die von der Philosophie erarbeitete Theorie der Dichtkunst als auch das im engeren Sinne technische Wissen um die Dichtkunst, über das die Dichter selber verfügen“ (Geisenhanslüke 2018, 13). Im Gegensatz zur Poesie, der Versdichtung im engeren Sinne, ist der Begriff Poetik somit deutlich weiter gefasst und meint die „herstellende, dichterische Kunst“ im Allgemeinen, die ars poetica, ebenso wie die „Reflexion über Entstehung, Wesen, Form, Verfahren, Gegenstände, Klassifizierung, Wirkung, Bewertung und Funktion von Dichtung bzw. Lit[eratur]“ (Metzler 2007, 592). Der Begriff Poetik kann sich also sowohl auf die dichterische Kunst selbst als auch auf die Poetologie im engeren Sinne beziehen, und beide Aspekte kommen in Poetikvorlesungen zum Tragen. Als Beitrag zur Poetologie verstanden, unterscheidet sich die Poetikvorlesung von anderen poetologischen Äußerungen insofern, als sich hier nicht die akademische Philosophie äußert, wie von Geisenhanslüke angenommen, oder die Literaturwissenschaft, sondern die Produzent*innen selbst über Literatur und literarisches Schreiben nachdenken. Poetikvorlesungen betrachten ihren Gegenstand nicht von außen, sondern sind Poetologien ‚von innen‘, was sie in die Nähe der sogenannten „Werkstattberichte“ rückt. In seiner Studie zur Frankfurter Stiftungsgastdozentur Poetik erklärt Ulrich Volk dieses Kriterium entsprechend zu einer der Mindestbedingungen, um von einer Poetikvorlesung sprechen zu können (Volk 2003, 47). Auch Geisenhanslüke verweist in seiner Studie darauf, dass es sich bei der Poetik um eine Poetologie handle, die „aus der Literatur selbst gewonnen“ sei: „In der Poetik geht es um eine Theorie der Literatur, die nicht einfach Theorie von etwas ist, sondern die zugleich auf eine bestimmte Weise von ihrem Gegenstand affiziert ist. Die Grenze zwischen Theorie und Gegenstand, die den meisten Wissenschaften eingeschrieben ist, ist in der Poetik auf eigentümliche Art und Weise aufgehoben“ (Geisenhanslüke 2018, 14). Die Grenze zwischen Poetologie und Poetik, so ließe sich analog formulieren, ist in der ‚Poetik von innen‘ der Poetikvorlesungen aufgehoben. Diese Eigentümlichkeit der Poetik trifft auf Poetikvorlesungen in besonderer Weise zu: Sie sind nicht nur von ihrem Gegenstand stärker affiziert als eine explizit wissenschaftliche Betrachtungsweise es erlaubte, vielmehr besteht gerade

1.1 Die Poetikvorlesung als Gattung

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in der Ununterscheidbarkeit zwischen Gegenstand und Analyse, zwischen Literatur und Poetologie eines ihrer genuinen Gattungsmerkmale. Sie führen das schon mit der Frühromantik virulent gewordene Axiom, dass Poetik und Poetologie sich nicht nur nah, sondern letztlich identisch seien, wie es u. a. das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus formuliert, performativ vor Augen. Das Nachdenken über ‚die Dichtkunst‘ ist in den Poetikvorlesungen zugleich ein dichterischer Akt, die Poetikvorlesung selbst somit als hybrides poetisches Konstrukt zu verstehen, als poetologische und poetische Äußerung zugleich. Diesen hybriden, theoretisch-literarischen Gattungsbegriff gilt es für die Poetikvorlesung zu etablieren. Die Forschung der jüngeren Zeit zu den Poetikvorlesungen (Volk 2003; Wohlleben 2005; Hachmann 2014; Bohley 2017; Kempke 2021) macht deutlich, dass es nach mehr als 60 Jahren ihrer deutschsprachigen Geschichte an der Zeit ist, die Poetikvorlesung als selbstständige Gattung wahrzunehmen, sie als Forschungsgegenstand in Literatur- und Medienwissenschaft zu etablieren und sie in den Kontext ihrer anglo-amerikanischen Gattungsherkunft zu stellen. Zwei Fragen sind – wie im Falle jeder gattungstheoretischen Klassifikation – entscheidend für die Installation der Poetikvorlesung als Gattung: die Frage nach Differenz und Ähnlichkeit. Unterscheiden sich Poetikvorlesungen hinreichend von anderen poetologischen Äußerungen, etwa durch ihre Literarizität, um ein eigenes, abgrenzbares Textkorpus zu bilden? Und stehen die entsprechenden Texte untereinander in „genügend enger literarischer Beziehung“ (Warren und Wellek 1959, 257), um die These einer eigenständigen Gattung zu rechtfertigen? Diese grundlegenden Fragen zu beantworten, treten die Beiträge dieses Handbuchs an.

2 Gattungstheoretische Gemeinsamkeiten von Poetikvorlesungen Die gattungstheoretischen Gemeinsamkeiten der Poetikvorlesungen sind vielfältig und werden in den Beiträgen dieses Handbuchs differenziert und detailliert diskutiert. Ein kleinster gemeinsamer Nenner findet sich bereits in Ulrich Volks Studie zur Frankfurter Poetikvorlesung. Volk reduziert die von ihm formulierten „Mindestbedingungen“ für Poetikvorlesungen – die er nicht explizit als Gattungsdefinition ausweist – auf folgende Kriterien: „1. Der Vortragende ist selbst Schriftsteller, d. h. er tritt nicht von außen an die Dichtung heran (wie ein Philosoph oder Philologe), sondern er lebt in, mit und durch die Dichtung selbst. 2. Der Vortragende spricht in Form theoretischer Reflexion entweder über seine eigene Dichtung oder über allgemeine Probleme der Dichtung. Seine Reflexion

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Julia Schöll

dient der Erhellung oder Verteidigung seines eigenen Tuns und der Rechtfertigung der Kunst als solcher. 3. Der Vortragende wendet sich an eine breitere Öffentlichkeit“ (Volk 2003, 47– 48). Dieser Kriterienkatalog erscheint als kleinster gemeinsamer Nenner durchaus plausibel, wenn auch von einem eher romantischen Autorschaftsbegriff geprägt – ob Autor*innen „in, mit und durch die Dichtung“ leben, ließe sich durchaus in Zweifel ziehen. Auch zeigt eine ganze Reihe von Poetikvorlesungen, dass natürlich auch Literaturschaffende in der Lage sind, Literatur „von außen“ zu betrachten, zumal sie vielfach zugleich (teils sogar promovierte) Literaturwissenschaftler*innen sind. Systematischer als Volk hat jüngst Kempke die Gattungsfrage diskutiert, wenn auch ebenfalls mit dem Fokus auf der Frankfurter Poetikprofessur. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Tatsache, dass die Gattung zuallererst durch den institutionellen Rahmen bestimmt sei. Die Universität als gastgebende Institution und die damit verbundene „eindeutige institutionelle Gebundenheit“ sorge bereits für eine klare Zuordnung von Texten zum Gattungskorpus (Kempke 2021, 15). Bei den rein äußeren Gegebenheiten bleibt Kempke indes nicht stehen, sondern diskutiert diverse inhaltliche Kategorisierungsversuche (Lützeler 1994; Wohlleben 2005; Bohley 2017), die in der Regel die große inhaltliche Offenheit der Gattung betonten (Kempke 2021, 37). Die Poetikvorlesung werde gattungstypologisch mal in die Nähe des Essays, mal in die Nähe der „Autorpoetik“ oder des „Werkstattgesprächs“ gerückt. Wohlleben etwa lokalisiert die Poetikvorlesung zwischen poetologischem Essay und essayistischer Erzählung und verweist auf den zunächst mündlichen Charakter des Genres. Zugleich würdigt sie die Poetikvorlesung als performative Poetologie und durchaus ernstzunehmende „Literatur-Theorie avant la lettre“ (Wohlleben 2005, 40 – 55). Kempke wiederum betont, dass der Aspekt der Medialität bei der Gattungsdefinition eine entscheidende Rolle spiele. Wie Wohlleben, die den performativen Charakter der Poetikvorlesungen hervorhebt, unterstreicht auch Kempke, dass es sich um Texte handle, die zuallererst für den mündlichen Vortrag konzipiert seien und erst im Anschluss für eine Druckfassung bearbeitet werden: „Eine Poetikvorlesung existiert in aller Regel zweimal, einerseits als öffentlicher Livevortrag in einem (universitären) Hörsaal, andrerseits als Text in einem Buch“ (Kempke 2021, 46). Sie existiert zugleich, so ließe sich ergänzen, als Redemanuskript, von dem durchaus abgewichen werden kann, sowie heute auch in Form von Video- und Audioaufnahmen, die einige gastgebende Universitäten im Anschluss im Internet zur Verfügung stellen (u. a. die Universitäten Duisburg-Essen und Bamberg). Konstitutives Gattungsmerkmal sei daher, so Kempke, die „doppelte bzw. dreifache Medialität zwischen performativer Livesituation und medialer bzw. konzeptueller Schriftlichkeit“ (2021, 46).

1.1 Die Poetikvorlesung als Gattung

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In der Forschung zu den Poetikvorlesungen wird stets betont, das Korpus sei zu heterogen, um auf einen gattungskonstituierenden Nenner gebracht zu werden. Inhaltliche Aspekte allein taugten wenig zur Gattungsbestimmung, betont auch Kempke in seiner neuen Studie (2021, 47). Gegen diese Position lassen sich zwei Argumente ins Feld führen: Zum einen betrifft das Problem der Heterogenität des Materials jede Gattung, gleichwohl werden in allen Gattungsdefinitionen auch inhaltliche Aspekte für Genre-Kategorisierungen herangezogen; zum anderen handelt es sich in der Regel um inhaltliche Bestimmungen, welche an formale Kriterien rückgebunden sind. Für das vorliegende Korpus gilt, dass auffallend viele Themen und rhetorische Topoi in verschiedenen Poetikvorlesungen immer wieder auftauchen, sodass diese durchaus zur näheren Bestimmung der Gattung taugen. Legt man Hempfers Differenzierung zwischen „Schreibweisen“ als „ahistorische Konstanten“ (das Narrative, das Dramatische, das Satirische etc.) und „Gattungen“ als „historisch konkrete Realisationen dieser allgemeinen Schreibweisen“ zugrunde (Hempfer 1973, 26 – 28), so ergibt sich das Bild einer Gattung Poetikvorlesung, die sich unterschiedlicher Schreibweisen bedient – als Poetikvorlesung bleibt sie indes immer erkennbar. Zudem sind Gattungen immer Konstruktionen, die sowohl von außen als auch von innen bestimmt werden; auch diesem Umstand ist im Folgenden Rechnung zu tragen, zumal nicht wenige Poetidozent*innen explizit darüber reflektieren, welcher Gattung ihre Vorlesungen eigentlich zuzurechnen sind.

3 Autorschaftsentwürfe in Poetikvorlesungen Poetikvorlesungen verstehen sich als poetologische Positionierungen, zuallererst aber sind sie Äußerungen eines auktorialen Subjekts. Der oder die Schreibende oder Kunstschaffende tritt vor ein Publikum und entwirft ein öffentliches Bild von Autorschaft – der eigenen wie der Autorschaft an sich. Kaum ein Poetikdozierender tritt seine Vorlesungsreihe an, ohne zunächst die Situation – ‚der Autor‘ vor seinem Publikum stehend – zu apostrophieren: „Sie sind hier und ich bin ebenfalls hier / da Sie die Mehrheit abgeben / scheinen Sie etwas von mir zu erwarten / was könnte es sein“ (Kirsch 2019, 6), so beginnt Sarah Kirsch ihre Frankfurter Poetikvorlesung Von Haupt- und Nebendrachen. Von Dichtern und Prosaschreibern (1996/97). Den Fragesatz: „was könnte es sein“, schließt Kirsch nicht mit einem Fragezeichen, als würde zwar etwas von ihr als Poetikdozentin erwartet, was sie indes lieber nicht zu genau wissen möchte. Gleichwohl spielt sie diese Erwartungen im Folgenden durch – seien es Belehrungen, Unterhaltung oder gar „Publikumsbeschimpfungen“, die man von ihr erwartet –, um im Fol-

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Julia Schöll

genden möglichst unabhängig von diesen vermeintlichen Erwartungen in ein lyrisches Sprechen über Lyrik zu wechseln (Kirsch 2019). Die Frage, welche Erwartungen des Publikums sich an die Referent*innen richten, bildet vielfach den Ausgangspunkt des poetologischen Sprechens. Jurek Becker beginnt seine Frankfurter Vorlesungen Warnung vor dem Schriftsteller (1989) mit einer fast entschuldigenden Erklärung hinsichtlich der Publikumserwartungen: „Da der Titel dieser Vorlesungen Ihre Erwartungen unmöglich in eine bestimmte Richtung gelenkt haben kann, sondern höchstens zu dunklen Vermutungen Anlaß gewesen ist, sollte ich zu Beginn doch wenigstens andeuten, was auf Sie zukommt“ (Becker 1990, 9). Ein ganzes Bündel angenommener Publikumserwartungen kann Poetikvorlesungen vorausgehen: „Neugier und Interesse“, mutmaßt Ingeborg Bachmann in der ersten Frankfurter Poetikvorlesung (1959/60), habe die Zuhörer*innen in den Saal geführt (Bachmann 1993, 182), besonders das Interesse an „Werkstattgeheimnissen“ (die Bachmann selbst in Anführungszeichen setzt), deren Enthüllung auch der Grund sei, warum sich Autor*innen für die Selbstzeugnisse ihrer Kolleg*innen interessierten. Wo sich die Poetikdozierenden ihrem Gegenstand, der Literatur und den Bedingungen ihrer Produktion, eher aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nähern, wird in vielen Vorlesungen durchaus der Anspruch deutlich, dies in anderer Form zu tun als Literaturforschende des akademischen Betriebs – es sei denn, sie entstammen selbst dem akademischen Milieu und halten entsprechend als Poetikdozierende eine dezidiert literaturwissenschaftliche Vorlesung, wie etwa Dirk von Petersdorff 2013 in Tübingen (Enzensberger und Petersdorff 2014).Wo dies nicht der Fall ist, erfolgt oft eine bewusste Abgrenzung gegenüber dem akademischen Betrieb und seinen Wissensformationen, etwa, wie bei Bachmann, im Rekurs auf die praktische Erfahrung, die man als Autor*in vorzuweisen habe: „Und doch ist ja die Erfahrung die einzige Lehrmeisterin“ (Bachmann 1993, 184). Oder die Abgrenzung wird ironisch zugespitzt, wie bei Juli Zeh: „Ich bin doch nicht mein eigener Deutsch-Leistungskurs“ (Zeh 2015, 8). Wolfgang Hildesheimer beginnt 1967 seine Frankfurter Vorlesungen Prosa des Absurden mit dem Hinweis: „Es ist nicht das erste Mal, daß anstatt des Vertreters einer Wissenschaft ein Vertreter des Objekts dieser Wissenschaft vor Ihnen steht. Dies sei ein primärer Hinweis auf meine mangelnde Methodik und meine mangelnde Kompetenz, von der Theorie einer Sache zu sprechen, bloß weil ich sie praktisch ausübe“ (Hildesheimer 1973, 55). Im Folgenden wird indes deutlich, dass Hildesheimers poetologischem Sprechen durchaus ein Anspruch auf auktoriale Souveränität zugrunde liegt. Wenn der Autor vermeintlich bescheiden darauf verweist, er sei nicht kompetent, eine Sache von außen zu betrachten, von der er nur „Facetten der Innenseite“ kenne, so ist dieser Bescheidenheitstopos als rein rhetorische Figur zu verstehen. Bei Hildesheimer untermauert er den An-

1.1 Die Poetikvorlesung als Gattung

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spruch, seine vollständig subjektive Sicht eines durchaus philosophischen Themas darzulegen: „Aspekte und Grenzen der dichterischen Freiheit“ (Hildesheimer 1973, 55 – 56). 1989 konstatiert Jurek Becker zu Beginn seiner Frankfurter Poetikvorlesung Warnung vor dem Schriftsteller den bei Schriftsteller*innen vorliegenden Mangel an literaturwissenschaftlicher Expertise, betont aber zugleich, dass dies auch gar nicht erwartet werde: „Vielmehr hält mich meine Unfähigkeit zu methodischem Vorgehen auf diesem Gebiet [der Germanistik; JS] zurück, ich möchte nicht vor Ihnen dastehen wie ein Vogel, der sich als Ornithologe gebärdet. Überhaupt ist es ja wohl eher Sinn dieser Dozentur, den Vögeln ein wenig bei ihrem Zwitschern zuzuhören und bei ihrem Flattern zuzusehen, und nicht so sehr, sie als dilettierende Vogelkundler zu erleben“ (Becker 1990, 9). Und Georg M. Oswald erklärt in seiner Tübinger Poetikvorlesung (2010) das Sprechen über das eigene Schreiben gar zur Hybris: „Der Aufgabe, über das eigene Schreiben und die eigenen Bücher zu sprechen, haftet leicht etwas Größenwahnsinniges an. Allein schon die pompöse Substantivierung des Verbs ‚schreiben‘ müsste einem anzeigen, dass man ab sofort besser den Mund hielte“ (Zeh und Oswald 2011, 31). Daniel Kehlmann geht in seiner Göttinger Poetikvorlesung Diese sehr ernsten Scherze (2006) noch einen Schritt weiter und stellt besagten Bescheidenheitstopos explizit aus, indem er dessen rein rhetorische Funktion negiert: „Ich habe keine Ahnung. Dies ist keine rhetorische Wendung. Keine originelle Anfangsphrase, der gleich ein unauffälliges ‚aber‘ folgen wird. Ich weiß es wirklich nicht. Es gibt keine Professionalität beim Schreiben“ (Kehlmann 2007, 5). Im Folgenden gestaltet er die Vorlesung als Selbst-Interview, in dem er die Rolle des Interviewers wie des Interviewten selbst übernimmt und in ein postmodernes Autorschaftsspiel eintritt, das schon durch seine stilistische Form eine poetologische Aussage darstellt. Dies, ebenso wie die durchaus professionellen Aussagen hinsichtlich der eigenen schriftstellerischen Tätigkeit, die er in dieser wie seinen anderen Poetikvorlesungen trifft, widerlegen die Bescheidenheitsformel von der eigenen Unwissenheit vollständig und auf performativem Wege.

4 Die Poetikvorlesung als autofiktionale Gattung Mit seinem Selbst-Interview unterstreicht Kehlmann die grundsätzliche Anlage jeder Poetikprofessur, die der philosophischen Anlage jeder essenziellen Subjektkonstitution entspricht: Das Subjekt (hier der Autor oder die Autorin) spaltet sich in betrachtendes Subjekt und betrachtetes Objekt und schafft somit die Grundlage des eigenen Selbstentwurfs – wenn sich dieser Prozess der Autoreferentialität auch nicht immer so bewusst und explizit ausgestellt findet wie im Falle Kehlmanns. Während die Autor*innen des deutschsprachigen Raums zu-

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nächst die Poetikprofessur in der Nachfolge Bachmanns dazu nutzen, um über das Schreiben anderer sowie das Schreiben an sich nachzudenken, verschiebt sich der Fokus im Verlauf der Jahre, besonders nach der Pause der Frankfurter Poetikdozentur (1968 – 1979) und noch deutlicher in den 2000er Jahren dahingehend, die Vorlesungen zunehmend als Medium der professionellen wie persönlichen Selbstbespiegelung zu nutzen. Der auf Serge Doubrovsky zurückgehende Begriff der Autofiktion bezeichnet ursprünglich eine hybride Gattung zwischen fiktionalem Erzähltext und Autobiographie, er wird im deutschsprachigen Diskursfeld indes im weiteren Sinne als Bezeichnung einer autobiographische Faktizität und Fiktion vermischenden Schreibweise und als ein grundlegendes Diskursmodell verstanden (Zipfel 2009; Ott und Weiser 2013; Wagner-Egelhaaf 2018). Die diesem Diskursmodell zugrundeliegende These besagt, dass das Subjekt dem Schreiben nicht vorausgeht, sondern sich erst über das Schreiben konstituiert – ein Prozess, der an Poetikvorlesungen besonders gut nachvollziehbar wird. Das Sprechen über Autorschaft bildet die Grundlage der Konstruktion des schreibenden Subjekts. Poetikvorlesungen schreiben indes nicht nur am Diskursmodell Autorschaft mit, eine ganze Reihe Poetikdozierender versteht die Gattung zudem als Aufforderung, neben der Werkbiographie auch Persönliches preiszugeben, als ließe sich das Werk nur vor der Folie der Genese des schreibenden Individuums plausibel erklären. „Mit der Poetikvorlesung zieht die Literatur nicht nur als Gegenstand und Referent analytischer Arbeit, nicht nur als Text, sondern auch als Autorenstimme und -person in den Hörsaal ein“, wie Natalie Binczek betont (Binczek 2018, 250). Vor die Zuhörenden tritt ein Vortragender, der sich nicht nur als Gattungswesen Autor versteht, sondern auch die eigene, individuelle Zugehörigkeit zu dieser Kategorie betont. Neben die Frage, was ‚den Autor’ grundsätzlich ausmacht und mit welchem Anspruch er agiert, tritt somit in Poetikvorlesungen die Ergründung der eigenen Autor*innenbiographie, der Rückblick auf die eigene Genese als schreibendes Subjekt, die als Erklärungsfolie dem eigenen Schreiben zugrunde gelegt wird. Uwe Timm rekurriert in allen seinen Poetikvorlesungen ganz selbstverständlich neben dem Werk auch auf die eigene Person. In den autobiographischen Erzählungen seiner Paderborner Poetikvorlesung Erzählen und kein Ende (1991/92) etwa beschreibt er die Genese des Autors Uwe Timm entlang der sprachlichen Entwicklung des Kindes, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Uwe Timm (Timm 1993, 34– 59). Seine Poetikvorlesungen sind immer auch autofiktionale Texte, weil Timm sein literarisches Schreiben grundsätzlich an die Reflexion über die eigene Person knüpft, die indes immer an die Reflexion über Gesellschaft rückgebunden sein muss, wie er in seiner Frankfurter Poetikvorlesung Von Anfang und Ende (2009) betont: „Das Nachdenken, das Schreiben, diese

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dialogische Form mit sich selbst, ist eine Möglichkeit der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung durch Selbstdeutung, wobei diese ohne eine Befragung äußerer Einflüsse, gesellschaftlicher und geschichtlicher Konnotationen des Ich, Gefahr läuft, im Partikularen, Beliebigen stecken zu bleiben“ (Timm 2009, 71). Aus dieser Perspektive erscheint es plausibel, das Nachdenken über das eigene Schreiben in Poetikvorlesungen mit dem Nachdenken über die eigene Person zu verbinden. An Timms Frankfurter Vorlesung werden zudem die fiktionalen Anteile des autofiktionalen Erzählens in Poetikvorlesungen besonders evident. Bereits in seinen der Poetikvorlesung vorausgegangenen autofiktionalen Erinnerungstexten (u. a. Am Beispiel meines Bruders (2003), Der Freund und der Fremde (2005)) reflektierte er über gegenwärtige Gedächtnistheorien und die Unzuverlässigkeit von Erinnerung. In der Poetikvorlesung wird dieser Prozess noch einmal grundlegender theoretisch beleuchtet, indem Timm explizit auf die entsprechenden Theorien rekurriert (u. a. von Aleida und Jan Assmann, Clifford Geertz, Hayden White), welche seinen Anspruch untermauern, der Autor sei nicht nur Objekt, sondern vor allem schreibend auch kreatives Subjekt der Geschichte, „[…] dass er ist, woran er sich erinnert und was er über sich erzählt, und dass er seine Welt auf diese Weise erzählend gestaltet“ (Schöll 2020, 97). „Die Literatur ist nämlich ein Hilfsmittel, um ein Ich sichtbar zu machen“ (Maier 2006, 27), so formuliert es Andreas Maier in seiner schlicht Ich betitelten Frankfurter Poetikvorlesung aus dem Jahr 2006. Diesen Prozess der Sichtbarmachung des Ichs wiederum aus einer transzendentalphilosophischen Metaperspektive zu beleuchten, tritt seine Poetikvorlesung an: „[…] es ist eine einfache phänomenologische Feststellung, daß ich nur ein einziges Ich kenne, nämlich meines. Alles andere ist etwas, materialistisch gesagt, das mir über die Sinne zugetragen wird. Ich bevölkere die Welt mit Menschen im Grunde nur durch Induktionsschlüsse“ (Maier 2006, 26). An Maiers Vorlesung wird besonders deutlich, dass auktoriale Ich-Bezogenheit im 21. Jahrhundert nur mehr in einer an Dekonstruktion und Postmoderne geschulter Form denkbar und kommunizierbar ist, in Maiers Fall in Form eines sich selbst kritisch analysierenden Narzissmus, einer Zurschaustellung des eigenen „Ich-Rauschs“ (Maier 2006, 13). Autofiktionales self-fashioning in Poetikvorlesungen der Gegenwart wird stets vor der Folie der Erkenntnis inszeniert, dass ‚das Ich’ als substanzielle und authentische Entität nicht existiert, sondern allenfalls in Form einer divergenten Vielzahl von Bildern und medialen Inszenierungen dieses Ichs, für welche die Poetikvorlesung eine ideale Bühne bietet (siehe hierzu auch Kap. 2.1.5 und 3.1.1).

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5 Gattungsmerkmal Intertextualität Die Gattungstheorie unterscheidet grundsätzlich zwischen deskriptiven und normativen bzw. präskriptiven Systematiken (Dunker 2010, 12). Der normative Ansatz scheidet für die Poetikvorlesung auf den ersten Blick aus, finden sich doch weder in Poetikvorlesungen selbst noch in der Forschung über Poetikvorlesungen ernstgemeinte Hinweise darauf, was eine ‚richtige‘ oder ‚gute‘ Poetikvorlesung ausmacht. Schon Warren und Wellek (im Original 1942) werfen die Frage auf, ob es überhaupt noch zeitgemäß sei, gattungstheoretisch zu argumentieren. Wenn, dann sei dies allenfalls noch in deskriptiver Form möglich: „Die moderne Gattungstheorie ist zweifellos beschreibender Natur. Sie beschränkt nicht die Anzahl möglicher Arten und schreibt den Dichtern keine Regeln vor“ (Warren und Wellek 1959, 267). Gleichwohl weisen auch Warren und Wellek bereits darauf hin, dass eine literarische Gattung keine bloße Ordnungskategorie sei, sondern als ästhetische Konvention die Form des Kunstwerks beeinflusse. Gattungen bilden einen präskriptiven Rahmen für Literatur, sie üben „Zwang“ auf das Schreiben aus, wie Warren und Wellek es im Rekurs auf Pearson ausdrücken (Warren und Wellek 1959, 256). Alle Autor*innen, die auf eine Poetikprofessur berufen werden, haben eine Vorstellung davon, was der Begriff Poetikprofessur bedeutet, mögen auch die institutionellen Rahmenbedingungen jeweils erheblich differieren. Nicht wenige Poetikprofessor*innen stellen sich eingangs die Gattungsfrage, die damit einhergehende vermeintliche Ratlosigkeit lässt sich indes als rhetorische Floskel oder ironische Koketterie verstehen. Selbst ein*e Autor*in, die noch keine Poetikvorlesung live gehört hat, weiß um das große Korpus an publizierten Poetikvorlesungen, das Poetikdozierenden Orientierung bietet. Besonders die unter dem Titel Probleme zeitgenössischer Dichtung publizierten Frankfurter Vorlesungen Ingeborg Bachmanns aus dem Wintersemester 1959/60 – als der diskurstiftende Urtext der Gattung für den deutschsprachigen Literaturbetrieb – eröffnen einen weiten Referenzraum expliziter wie impliziter Intertextualität. „Insbesondere schnell in den Status von Klassikern erhobene Vorlesungen wie die von Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson oder Christa Wolf“, so Kempke in seiner Studie, „werden von nachfolgenden Poetikdozent*innen immer wieder genannt und produktiv rezipiert“ (Kempke 2021, 61). In seiner Frankfurter Poetikvorlesung Kommt, Geister (2014) rekurriert etwa Daniel Kehlmann explizit und ausführlich auf Ingeborg Bachmanns Vorträge und kennzeichnet diese wiederum, im Kontext der Nachkriegszeit, als Versuch, einen durch Drittes Reich und Krieg abgerissenen intertextuellen Faden aufzunehmen und an „eine unerreichbar fern gewordene Weltliteratur“ anzuschließen (Kehl-

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mann 2015, 10). Auch Ingeborg Bachmann selbst, deren Vorlesungen zum Prätext so vieler folgender Poetikvorlesungen wurden, reihte sich bereits ein in eine Tradition des Interesses von Literat*innen für die poetologischen Konzepte anderer Literat*innen: „Nicht zuletzt haben die Schriftsteller selbst immer das größte Interesse bewiesen für die Zeugnisse anderer Schriftsteller, für Tagebücher, Arbeitsbücher, Briefwechsel und die theoretischen Mitteilungen, neuerdings mehr und mehr für die Enthüllung von ‚Werkstattgeheimnissen‘“ (Bachmann 1993, 182). Kein*e Poetikprofessor*in startet das Unternehmen Poetikvorlesung somit aus einem unbeschriebenen Raum heraus, umgekehrt beeinflusst jeder Text wiederum die folgenden. Jede literarische Äußerung formt die Gattung, an der sie teilhat, und so muss auch die Gattung Poetikvorlesung immer im ästhetisch-formalen wie historischen Kontext ihrer Tradition betrachtet werden, auf die sie sich explizit und implizit bezieht. Diese Bezugnahme geschieht nicht nur im ästhetisch-poetologischen Sinne, sondern auch im Sinne jener historischen, politischen und kulturellen Zeitgenossenschaft, in die Daniel Kehlmann bereits die BachmannVorlesungen stellte. Heinrich Böll, der 1964 unter dem Titel Zur Ästhetik des Humanen in der Literatur in Frankfurt referierte, bezeichnet sich selbst als einen in dieser Hinsicht „Gebundenen“: „Gebunden also an die Zeit und Zeitgenossenschaft, doch ohne Verbündete – natürlich zählt private Freundschaft, auch Leserschaft, aber sie ersetzt nicht das Bündnis; für einen, der veröffentlicht, ist nur der ein Verbündeter, der so öffentlich ist wie er selbst. Das ist eine Position der Verletzlichkeit – in der sich auch alle befanden, die vor mir hier gesprochen haben und nach mir hier sprechen werden“ (Böll 1966, 10). Auch die ‚Klassikerin‘ Christa Wolf, die zu Beginn ihrer Frankfurter Vorlesung Voraussetzung einer Erzählung: Kassandra (1982) explizit leugnet, über eine eigene Poetik zu verfügen, präsentiert das Folgende als ein schwer zu entwirrendes „Gewebe“ intertextueller Bezüge inner- und außerhalb des eigenen Werks: „Vieles, das meiste vielleicht und Wichtigstes, bleibt ungesagt, wohl auch ungewußt, und das Gewebe – das übrigens, falls ich eine Poetik hätte, als ästhetisches Gebilde in ihrem Zentrum stünde – das Gewebe, das ich Ihnen nun vorlegen will, ist nicht ganz ordentlich geworden, nicht mit einem Blick überschaubar, manche seiner Motive sind nicht ausgeführt, manche seiner Fäden verschlungen“ (Wolf 1983, 12). Auch die vielzitierten Klassiker*innen unter den Poetikdozierenden schreiben sich somit ein in das intertextuelle Netzwerk, welches die Gattung konstituiert und sich als rhizome im Sinne Deleuzes und Guattaris beschreiben lässt, als ein dichtes Geflecht an explizit wie implizit aufeinander bezogener Texten, welche von diversen Prätexten gespeist werden und selbst wiederum zu Prätexten avancieren, sei es für die Vorlesungen anderer Poetikdozierender oder für eigene

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folgende Poetikvorlesungen, ist es doch im Zuge des Booms der Poetikprofessuren im 21. Jahrhundert Usus geworden, Autor*innen in immer kürzeren Intervallen auf Poetikprofessuren an verschiedenen Universitäten zu berufen. Mehrfachverwertungen der Vorlesungstexte ebenso wie selbstreferenzielle Bezüge sind infolgedessen immer häufiger der Fall. Durch das enge Textgewebe, das im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute aus den sich aufeinander beziehenden Vorträgen im deutschsprachigen Raum entstand, avancierte die Poetikvorlesung zu einer sich intertextuell konstituierenden Gattung, in deren genealogische Linie sich aktuelle und kommende Poetikdozent*innen explizit wie implizit einschreiben. Ironischerweise kann selbst eine Poetikvorlesung wie die des Frankfurter Poetikdozenten Rainald Goetz (Praxis, 1998), die sich der Tradition explizit verweigert und antritt, alles anders zu machen als die Poetikdozent*innen vor ihm, diesen Versuch nur vor dem Hintergrund einer gründlichen Kenntnis jener Tradition unternehmen.

6 Schreibschulen und literarische Praxis Die Poetik, so Geisenhanslüke, bildet das Bindeglied zwischen Rhetorik und Philosophie, sie vermittelt „zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen der Rhetorik, die sich ganz auf die Frage nach der poetischen Verfasstheit der Sprache konzentriert, und der Philosophie, die einen Zugang zur Welt zu gewinnen versucht, der eher durch die logische Funktion der Sprache zu vermitteln ist.“ (2018, 10). Poetikvorlesungen übernehmen in diesem Sinne eine vermittelnde Funktion zwischen der Weltsicht des Dozierenden, allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Statements sowie dem Nachdenken über Literatur an sich auf der einen Seite und einer Reflexion literarischer Techniken und rhetorischer Strategien sowie stilistischen Überlegungen auf der anderen Seite. Das für die Begriffsdefinition der Poetik „grundlegende Problem der Unterscheidung zwischen einer Theorie der Poesie und einer Lehre von der poetischen Technik“ (Geisenhanslüke 2018, 15) löst die Gattung Poetikvorlesung insofern, als sie immer Theorie der Literatur und literarische Praxis zugleich ist, und in vielen Fällen dieses hybride Gattungsmerkmal sogar explizit ausstellt. Seit ihren Anfängen sucht die deutschsprachige Poetikvorlesung den Graben zwischen literarischer Theorie und literarischer Praxis zu überbrücken, auch wenn zu Beginn der deutschsprachigen Tradition Ingeborg Bachmann eher ironisch auf die „Werkstattgeheimnisse“ verwies, die vermeintlich in ihrer Poetikvorlesung enthüllt würden (Bachmann 1993, 182).

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Helmut Heißenbüttel fragt in seiner Frankfurter Poetikvorlesung aus dem Jahr 1963 unter der Überschrift Grundbegriffe einer Poetik im 20. Jahrhundert sehr grundsätzlich nach den ästhetischen Voraussetzungen der Literatur seiner Zeit und deren Innovationspotenzial: „Hinter diesem Titel verbirgt sich die Frage nach Kategorien und Kriterien der neueren Literatur. Zugespitzt: die Frage, ob und wie weit die Literatur des 20. Jahrhunderts besonderer Kategorien und Kriterien bedarf, ob und wie weit diese Literatur als etwas Besonderes und neu zu Beurteilendes anzusehen ist“ (Heißenbüttel 1966, 123). Was auf diese Ankündigung folgt, ist eine Grundlagenpoetologie, die selbst vor der großen Frage, was Literatur an sich sei, nicht zurückschreckt – ein aus heutiger Perspektive fast anmaßend erscheinender Anspruch, der nur im Kontext der Neupositionierung der deutschen Literatur nach 1945 verständlich wird. Heißenbüttels Poetikvorlesung ist zugleich eine literaturwissenschaftliche Gattungstheorie der Lyrik wie der Epik seiner Zeit, die durchaus grundlegende gattungstheoretische Thesen präsentiert, wenn er etwa die moderne Lyrik als eine „neue Grammatisierung“ des literarischen Sprachgebrauchs charakterisiert oder eine „Theorie der Erzählung im Jahr 1963“ entwickelt (Heißenbüttel 1966, 144 und 180) und seine Überlegungen in dem selbstbewussten Anspruch gipfeln lässt: „Mein Vorschlag […] besteht, aufs Ganze gesehen, darin, eine neue literarische Typologie zu bilden“ (Heißenbüttel 1966, 196). Poetikvorlesungen folgen, so wurde bereits deutlich, ritualisierten Rhetoriken. So geht der Darlegung der eigenen Poetik vielfach die Versicherung voraus, keine Poetik zu haben, wie schon am Beispiel Christa Wolfs zu sehen war. „Eine Poetik kann ich Ihnen nicht bieten“, versichert sie zu Beginn ihrer Frankfurter Vorlesungen (Wolf 2008, 7). Gleichwohl entwickelt sie im Anschluss eine dezidierte „Werkstattpoetik“ (Bohley 2017, 243). Ähnlich versichert in jüngerer Zeit Juli Zeh zu Beginn ihrer Frankfurter Vorlesung Treideln (2013): „Ich habe keine Poetik. Niemand hat eine Poetik, jedenfalls nicht, solange er Bücher schreibt“ (Zeh 2015, 11). Gleichwohl folgt ihre „Anti-Poetikvorlesung“ einem durchaus vertrauten poetologischen Programm, nämlich „sowohl das Sprechen über das Schreiben als auch die Bedingungen und Motive für das Schreiben selbst kritisch auf den Punkt zu bringen“, wie Bohley feststellt (Bohley 2017, 244), wenn auch in Form der ungewöhnlichen Schreibweise einer fiktiven Email-Korrespondenz. Hans Christoph Buch weitet in seiner Berner Poetikvorlesung Boat People (2014) den Befund der Nicht-Poetik sogar auf das gesamte Genre aus: „In der Regel haben Poetikvorlesungen nicht viel mit Poetik und noch weniger mit Poesie zu tun.“ Vielmehr wolle das Publikum „dem Dichter“ über die Schulter schauen, „eine Mischung aus Writer’s Workshop und Atelierbesuch“ (Buch 2014, 9). Dem gegenüber stehen Poetikvorlesungen, die sich in einen bescheideneren Habitus kleiden, gleichwohl grundsätzliche poetologische Entwürfe präsentieren.

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Jenny Erpenbeck etwa nimmt in ihrer 4. Bamberger Poetikvorlesung, Variationen über einen Satz (2013), die Frage nach der poetischen Praxis explizit ernst und führt anhand eines Ausschnitts aus dem Entstehungsprozess ihres Romans Aller Tage Abend (2012) die Genese eines einzelnen literarischen Satzes vor. Erpenbecks Pointe besteht darin, dass der Ausgangssatz, der geschrieben, korrigiert und in einem langwierigen Prozess immer wieder revidiert und umgeschrieben wird, mit jenem Satz identisch ist, der am Ende dieses Prozesses steht und vom schreibenden Subjekt für gut befunden wird (Erpenbeck 2018, 255). Literatur, so wird hier deutlich, bedeutet stilistische Präzision und geduldiges Arbeiten, womit zugleich eine Art poetologisches Programm formuliert ist: ein Plädoyer für ein besonnenes, sorgfältiges, sich dem Zeitdruck des Marktes entziehendes literarisches Schaffen, wie es sich auch eine ganze Reihe anderer Autor*innen in ihren Poetikvorlesungen wünscht (z. B. Röggla 2015). Poetikvorlesungen vermitteln Poetiken im Sinne der technē, wie etwa die Terézia Moras, die ihre 2014 gehaltene Frankfurter Poetikvorlesung Nicht sterben, neben ihrer Tochter, explizit an „Studenten in Schreibklassen“ adressiert (Mora 2014, 6). Wie Erpenbeck in ihrer exemplarischen Sitzung diskutiert auch Mora anhand des eigenen Schreibprozesses, den sie durchaus kritisch betrachtet, dezidiert literarische Techniken und schriftstellerisches Handwerkszeug. Daniel Kehlmann sinniert über Figur und Stimme (Kehlmann 2015, 124), Juli Zeh über Emails als Kommunikationsmedium (Zeh 2015), Kermani über die Schriftlichkeit an sich (Kermani 2012). Helmut Heißenbüttel reflektiert die Poetik Gottscheds und analysiert eigene Texte wie die von Kolleg*innen durchaus mit dem Anspruch zu zeigen, was gute Literatur ausmacht und wie sie produziert wird (Heißenbüttel 1966). Georg M. Oswald stellt an den Ausgangspunkt seiner Tübinger Poetikvorlesungen (2010) sechs grundlegende Fragen des literarischen Schaffens, die er im Folgenden beantwortet: „Die sechs einfachen Fragen lauten: Was tue ich? Wie tue ich es? Warum tue ich es? Was habe ich davon, dass ich es tue? Was haben die anderen davon, dass ich es tue? Was werde ich künftig tun?“ (Zeh und Oswald 2011, 32). Und Heinrich Böll unternimmt es, den griechischen Begriff poieo im Lexikon nachzuschlagen, um dessen Bedeutungsvielfalt zu zeigen: „schaffen kann es bedeuten, veranlassen, auch machen, bereiten, stiften, veranstalten, leisten, opfern, dichten, erdichten – zu etwas machen, als etwas darstellen, zu etwas erklären, als etwas erachten – tun, handeln, geschäftig sein, sich abmühen, sich wirksam äußern, regen, wirken, einwirken, gelten, verrichten, ausrichten, unternehmen, vorhaben, leisten, treiben, verfahren, sich Mühe geben, aufbieten, bewerkstelligen, erzeugen, bauen, aufschlagen, errichten, anstellen, anlegen, erheben, verschaffen, anschaffen, erwerben, bringen, leisten ausführen, betreiben, zeigen, fassen, liefern, richten, fällen, tragen, sich einlassen […]“ (Böll 1966, 49 – 50).

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Mit dieser nur vordergründig technischen Begriffsbestimmung macht Böll deutlich, dass die Gattung Poetikvorlesung natürlich nicht nur der Reflexion poetischer technē dient, sondern dass in ihr die Produktion literarischer Texte als eine grundlegende Kulturtechnik, als ein Handeln in der Welt – durchaus im philosophischen Sinne – begreifbar gemacht werden kann. Und nicht zuletzt zeigt Böll mit seinem Text, was eine Poetikvorlesung darüber hinaus noch sein kann: ein wunderbares Stück Literatur.

7 Philosophische Essayistik Poetologie war seit jeher nicht nur eine Reflexion über die ästhetische, rhetorische, formale und stilistische Verfasstheit des literarischen Kunstwerks, sondern mit dieser ging stets ein Nachdenken über den Kontext einher, in dem das literarische Produkt entsteht, präsentiert wird und seine Wirkung entfaltet. „Die Poetik stellt das sprachliche Kunstwerk in den Mittelpunkt, nicht um dieses zu mystifizieren, sondern um aus der Reflexion auf die Sprache heraus Zugang zu übergreifenden Fragen der Philosophie, der Geschichte, der Politik und der Ethik zu gewinnen“, so Geisenhanslüke (2018, 9). Die Welt als Bezugsrahmen der Literatur, als Medium des sozialen, gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen, religiösen und moralischen ‚Framings‘, spielt auch in Poetikvorlesungen eine zentrale Rolle. Keine Poetikvorlesung bezieht sich ausschließlich auf das literarische Kunstwerk selbst, sogar die hermetischsten Ansätze stellen immer zugleich einen Bezug zum Außen her. Literatur, im Sinne der poiesis, schafft Zugänge zur Welt, und poetologisches Sprechen wiederum reflektiert über diese Zugänge zur Welt. Es liegt somit nahe, die Poetikvorlesung als Textform in die Nähe des Essays zu rücken, jener ebenso freien wie philosophischen Gattung, deren definitorische Eingrenzung Interpret*innen seit jeher beschäftigt. Wie vage die Gattungsmerkmale des Essays sind, fasst Christian Schärf pointiert zusammen: „Zoologisch gesprochen erwies sich der Essay als Gattung, die man phylogenetisch auf dem Papier glaubte festhalten zu können, deren Phänotypen sich jedoch allein in Abweichungen präsentierten, wobei man noch nicht einmal genau sagen konnte, wovon sie eigentlich abwichen“ (Schärf 1999, 14). Ulrich Volk nennt in seiner Definition der Poetikvorlesung explizit den Essay als formale und inhaltliche Gattungsreferenz (Volk 2003, 48), Johanna Bohley charakterisiert die Poetikvorlesung als Nachfolgegattung des in den 1950er Jahren wegfallenden Großessays deutschsprachiger Intellektueller (Bohley 2017, 251). Explizit betont auch Doren Wohlleben die gattungsreferenzielle Nähe zwischen Essay und Poetikvorlesung: Beide bewegten sich zwischen literarischem Genre

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und Wissenschaft, seien Ausdruck des Künstlers ebenso wie Medium des poeta doctus (Wohlleben 2005, 28 – 30). Der Essay sei Ort der Utopie und Schauplatz einer „geistigen Erfahrung“, die weiß, dass ihr Gegenstand niemals ganz zu erfassen ist (Wohlleben 2005, 30 – 34). Dies trifft auch auf die Poetikvorlesung zu, die zugleich durch ihren Bekenntnischarakter, ihre Affinität zur Ethik sowie ihren dialogischen Charakter dem Essay nahesteht. Essay wie Poetikvorlesung lassen sich als Gattungen verstehen, welche die „Assoziationsfähigkeit des Lesers“ in Anspruch nehmen und seine Mitarbeit einfordern (Wohlleben 2005, 28 – 36). Auch von Seiten der Poetikdozierenden selbst wurde die Nähe zum Essay wiederholt proklamiert, etwa von Daniel Kehlmann, der in seiner Frankfurter Poetikvorlesung Kommt, Geister (2014) den Essay explizit als Referenz nennt und diesen in die Nähe der confessions rückt: „Wenn es stimmt, dass die unpersönlichsten Gattungen die persönlichsten Bekenntnisse erlauben, so gibt es wohl eine Textart, die noch bekenntnishafter sein kann als eine Erzählung: ein literaturtheoretischer Essay. Hier kommt der Autor selbst gar nicht in Betracht, somit geht es womöglich am intimsten um ihn“ (Kehlmann 2015, 23). Genau diese vermeintliche Unpersönlichkeit, die das Eigentliche über die literarische Person enthüllt, kennzeichne Bachmanns Poetikvorlesung, in deren Tradition sich der Sprechende hier bewusst stellt – und der damit zugleich durchaus selbstbewusst einen entsprechend elitären Habitus kommuniziert. Während die frühe Essayforschung der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts sich auf die Gattungsdefinition und somit auf die Abgrenzung des Essays zu anderen Gattungen konzentrierte bzw. auf dessen Etablierung als vierte Großgattung, rückt in der jüngeren Forschung die Beschreibung des Essays als eines genuin modernen und übergreifenden „Reflexionstypus“ in den Vordergrund (Jander 2008, 16 – 17). Als eine solch grundlegende Diskursformation verstanden, steht die Poetikvorlesung dem Essay unzweifelhaft nahe. Gleichwohl lassen sich wesentliche Unterschiede zwischen Essay und Poetikvorlesung feststellen, nicht zuletzt aufgrund des performativen Charakters der Poetikvorlesung: Der Essay ist eine schriftliche Textform, während die Poetikvorlesung erst durch den mündlichen Vortrag der Autor*innen ihre ganz eigene Gestalt als Gattung gewinnt (siehe Unterkapitel 8). Poetikvorlesung wie Essay bieten dem oder der Vortragenden die Möglichkeit, grundsätzliche philosophische Fragen zu stellen. Bereits Ingeborg Bachmann stellte eine existenziell philosophische Frage an den Anfang ihrer poetologischen Überlegungen: „Die erste und schlimmste dieser Fragen, […] die den Schriftsteller zu bewegen hat, betrifft die Rechtfertigung seiner Existenz. […] Warum schreiben? Wozu? Und wozu, seit kein Auftrag mehr da ist von oben und überhaupt kein Auftrag mehr kommt, keiner mehr täuscht“ (Bachmann 1993, 186). Der Autor sei, so Bachmann, „erkenntnissüchtiger, deutungssüchtiger und sinnsüchtiger als die

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anderen“ (Bachmann 1993, 186 – 187). Von diesem Subjekt sei im Folgenden die Rede: „Meine Damen und Herren, vom Ich möchte ich sprechen, von seinem Aufenthalt in der Dichtung, also von den Angelegenheiten des Menschen in der Dichtung, sofern er vorgeht mit einem Ich oder seinem Ich oder sich hinter dem Ich verbirgt“ (Bachmann 1993, 217). Grundsätzliche ontologische Fragen tauchen im Folgenden in vielen Poetikvorlesungen auf, verbunden mit der Frage nach der Verfasstheit der Welt als sprachliches Konstrukt. Helmut Heißenbüttel verknüpft in seiner Frankfurter Poetikvorlesung Grundbegriffe einer Poetik im 20. Jahrhundert (1963) die Frage nach der Literatur an sich mit der Frage nach den philosophischen Grundlagen des literarischen Sprechens seiner Zeit (Heißenbüttel 1966). Wolfgang Hildesheimer proklamiert 1967: „Ich bin Schriftsteller, das ist nicht nur ein Beruf, sondern die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen“ (Hildesheimer 1973, 63). Jiří Gruša erzählt in seiner Dresdner Poetikvorlesung Das Gesicht – der Schriftsteller – der Fall (2000) seine politische wie literarische Biographie und diskutiert Sprache als ein Medium in Zeiten politischer Unterdrückung, die auch vor dem Werkzeug und Arbeitsmaterial des Dichters nicht Halt mache: „Auch bei uns, den Dissidenten, wurde die Sprache entstellt.“ Und: „[…] erst jetzt, nach zwanzig Jahren, komme ich dazu, werde beredsamer – in einer anderen Sprache“ (Gruša 2000, 34– 35). Literarisches und politisches Sprechen, so macht Gruša deutlich, sind nicht unabhängig voneinander zu denken. Zwar ist grundsätzlich kaum ein gesellschaftliches, politisches oder zwischenmenschliches Problem denkbar, das nicht Gegenstand von Poetikvorlesungen werden kann, gleichwohl überwiegen hier natürlich Überlegungen, welche speziell die Situation des Schreibens reflektieren: von der Sprache politischer Dissidenten bis zu den Möglichkeiten der Literatur nach Auschwitz, vom auktorialen Subjektbegriff bis zur Vergeblichkeit des eigenen Tuns, von der Kritik am Literaturmarkt bis zur grundsätzlichen Infragestellung des kapitalistischen Systems. Die eigene politische Machtlosigkeit wird dabei durchaus kritisch mitgedacht. Durs Grünbein nimmt in seiner Frankfurter Vorlesung Vom Stellenwert der Worte (2009/2010) die Lage des Vorlesungsraums hinter dem IG-Farben-Haus – ein Ort, „schaurig und geschichtsbeladen“ – zum Anlass, die Vergeblichkeit des eigenen Tuns zu reflektieren: „Es hat etwas Heimtückisches, einem Dichter die Realitätsferne seiner Kunst vor Augen zu führen, ihre essenzielle Vergeblichkeit, indem man ihn an einen solchen Tatort einbestellt. Die Architektur als brutales Faktum entlarvt die moralische Folgenlosigkeit seiner luftigen Poeterei, bevor er noch ein Wort gesagt hat“ (Grünbein 2010, 8).Während Daniel Kehlmann in seiner Göttinger Vorlesung Diese sehr ernsten Scherze (2006) die politische Machtlosigkeit der Literatur eher begrüßt: „Wir müssen dankbar sein für jeden Autor, dem Macht versagt bleibt. Mein Gott, Hölderlin und Kleist waren für Patriotismus und

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deutsche Nation, Kipling fürs englische Imperium, Claudel und Yeats halbe Faschisten, Pound und Benn ganze, von Céline und Jünger mag ich gar nicht reden, und Aragón, Éluard, Brecht, Heinrich Mann, Feuchtwanger und viele Dutzend andere der ersten Geister Europas schrieben Ergebenheitsadressen an und Hymnen auf Joseph Stalin“ (Kehlmann 2007, 8). Die Institution Autorschaft ist auch dort, wo sie sich explizit der Politik verweigert, niemals unpolitisch zu denken, solange sie eine öffentliche Institution darstellt.

8 Medialität, literarische Öffentlichkeit und Literaturmarkt Rüdiger Zymner legt bei seiner Diskussion der Frage, inwiefern Gattungen als überzeitlich-fixiert oder als dynamisch anzusehen sind, Wert auf die Feststellung, dass Gattungen nicht von selbst entstünden, sondern stets als „spezifische Wahrnehmungs- und Strukturierungsleistungen von Menschen“ in „bestimmten kommunikativen, historisch und kulturell spezifischen Kontexten“ zu verstehen seien (Zymner 2007, 104). Wenn man mit Zymner Gattungen als „kommunikativ etablierte und sozial geteilte Kategorisierungen“ begreift, die in „sozialen, kommunikativen Prozessen“ eingeführt werden (2007, 104), so trifft diese Gattungsdefinition für die Gattung Poetikvorlesung in besonderem Maße zu. Die kommunikative Situation – Autor*in steht vor einem Publikum in einem Hörsaal im Rahmen eines akademischen Settings – ist konstitutiv für die Gattung. Ohne diese Ausgangssituation kann von einer Poetikvorlesung schwerlich die Rede sein.Wenn ein Text der Gattung Poetikvorlesung zugeordnet ist, lässt sich voraussetzen, das dem Text eine Vortragssituation vorausgegangen ist, auf die sich der oder die Vortragende willentlich eingelassen hat. Zu diesem Setting gehört genuin ein Publikum, das – im Gegensatz zur üblichen Schreibsituation – real anwesend ist und die Dozierenden nötigt, sich mit dieser Präsenz auseinanderzusetzen. Betrachtet man mit Hempfer Gattungen als „Phänomene sprachlicher Kommunikation“ (Hempfer 1973, 128), so sind für die Bestimmung jeder Gattung beide Seiten dieser Kommunikationssituation zu berücksichtigen, ganz besonders aber für die Poetikprofessur als einer kommunikativen Situation, in der die andere Seite (zumindest potenziell) antworten kann. Ist somit immer und grundsätzlich zu fragen, inwiefern Leser*innenerwartungen eine Gattung prägen, so spitzt sich im Fall der Poetikvorlesung durch die reale Präsenz des Publikums dieses Problem deutlich zu. Auch die direkte Ansprache der Zuhörenden in den meisten Poetikvorlesungen ist für die Gattung Poetikvorlesung somit konstitutiv. Ingeborg Bachmanns zu Beginn der ersten deutsch-

1.1 Die Poetikvorlesung als Gattung

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sprachigen Poetikvorlesung angeführte Frage, „Woraufhin schreiben, für wen sich ausdrücken und was ausdrücken vor den Menschen, in dieser Welt?“ (Bachmann 1993, 186), wird gestellt in Bezug auf ein Publikum, das zumindest in Teilen gerade vor ihr steht. Aus der performativen Situation ergibt sich ein weiteres gattungskonstituierendes Moment: die ursprüngliche Mündlichkeit der in der Regel erst später im Druck publizierten Texte. Schmitz-Emans kennzeichnet Poetikvorlesungen als „Prozesse mündlicher Performanz“ (Schmitz-Emans 2018, 227) und diskutiert das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit anhand ausgewählter Frankfurter Poetikvorlesungen, die dieser spannungsreichen medialen Beziehung auf besondere Weise Rechnung tragen: Ernst Jandls Poetikvorlesung Das Öffnen und Schließen des Mundes (1984/85), in welcher der Poetikprofessor die Vorlesung als Rezitation inszeniert; Navid Kermanis Vorlesung Über den Zufall (2010), in der der Vortragende von Schauspielern unterstützt wird; und Juli Zehs Vorlesung Treideln (2013), in der die Autorin ihren Text in Form einer Email-Erzählung vorträgt (Schmitz-Emans 2018). Kempke, der die mediale Form als Gattungskriterium in den Mittelpunkt stellt, nennt als mediale Sonderfälle neben Navid Kermani noch Rainald Goetz’ Frankfurter Vorlesungen Praxis (1998), die teilweise in den Band Abfall für alle Eingang fanden (Goetz 1999), sowie Terézia Moras Vorlesungen Nicht Sterben aus dem Jahr 2014 (Kempke 2021, 171– 268). Auch außerhalb der Frankfurter Vorlesungsreihe werden selbstverständlich performative Experimente mit der medialen Form unternommen, etwa in Daniel Kehlmanns Göttinger Poetikvorlesung Diese sehr ernsten Scherze (2006), die der Autor als jenes bereits erwähnte Selbst-Interview präsentiert. Hanns-Josef Ortheils Bamberger Poetikvorlesung Wie Romane entstehen (2007) wiederum ließe sich als Beispiel dafür nennen, wie eine im klassischen Format gehaltene Vorlesung über die medialen Bedingungen des literarischen Produktionsprozesses reflektiert, indem sie etwa das eigene exzessive, fast manische Notatsystem erläutert (Ortheil und Siblewski 2008). Poetikvorlesungen sind Auftragstexte, bestellte und für die Gelegenheit produzierte Texte. Wo diese Logik absichtlich gestört werden soll, wie beispielsweise bei Rainald Goetz, der den Text nicht vorab produziert, sondern ihn aus der Situation heraus entstehen lassen will, kann Unverständnis beim Publikum die Folge sein (siehe ausführlich Kempke 2021, 174– 199). Gerade bei medial besonders gestalteten Poetikvorlesungen könnten, so Kempke, am Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit immer wieder „ästhetische Reibungseffekte“ entstehen (2021, 191) – wobei zu ergänzen ist, dass die schriftliche Publikation zwar für die Professur in Frankfurt am Main, aber durchaus nicht bei allen Poetikvorlesungen die Regel darstellt.

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Als Auftragstexte bedienen Poetikvorlesungen immer auch die Ansprüche des Literaturmarktes, sie sind Medien der Arbeit an der Etablierung der eigenen Person als Marke (Kempke 2021, 440). Nicht zuletzt haben Verlage stets ein ausgeprägtes Interesse an der logistischen wie finanziellen Unterstützung von Poetikprofessuren gezeigt oder, wie in Frankfurt am Main, deren Einrichtung überhaupt erst ermöglicht. Die enge Verzahnung von Literaturproduktion, öffentlichkeitswirksamen Auftritten, medialer Inszenierung und der Etablierung einer Marke in und durch Poetikvorlesungen widerstrebt nach wie vor vielen Akteuren im Literaturbetrieb, wie etwa Kempke feststellt: „Die Entwicklung der Form Poetikvorlesungen hält offenbar erhebliches Kränkungspotenzial für autonomieästhetische Konzeptionen von Literatur bereit“ (2021, 441). Wer sich zu offensiv vermarktet, macht sich als Produzent*in ernstzunehmender literarischer Texte verdächtig, selbst im 21. Jahrhundert, in dem ‚der Autor‘ eine öffentliche Figur darstellt, Autor*innennamen als Label fungieren und Schreibende sich dem ökonomischen Feld des Literaturbetriebs kaum mehr entziehen können (Schöll 2017, 212 – 215). Davon zeugt nicht zuletzt die Tatsache, dass immer wieder die gleichen, auf dem Markt erfolgreichen Autor*innen auf Poetikprofessuren berufen werden, um sich dann dort mit einem Publikum konfrontiert zu sehen, das für diesen Erfolg wesentlich mit verantwortlich ist. Eine Möglichkeit der Selbstbehauptung gegenüber den Ansprüchen des Marktes besteht im Angriff. Kathrin Röggla etwa attackiert in ihrer Saarbrücker Poetikvorlesung Die falsche Frage (2014) den Literaturbetrieb und reflektiert zugleich die eigene Gefangenheit in dessen Mechanismen: „Anscheinend komme ich ja aus dem Marktdenken nicht raus, es hält mich fest, das Messen und Vergleichen, der Druck, der mich zur ständigen Sichtbarkeit zwingt“ (Röggla 2015, 17). Die Lyrikerin Sarah Kirsch wiederum wählt einen anderen Weg, indem sie in ihren Frankfurter Vorlesungen Von Haupt- und Nebendrachen (1996/1997) die Behauptung der eigenen Kunst gegenüber den vielfältigen Ansprüchen von außen in ein poetisches Bild kleidet: „Ich lese gleich einen Text / und dann wieder einen und noch ein paar andere und auch Texte zu Texten / und Sie könnten annehmen es geschähe sie zu belehren / oder Sie bei Laune zu halten / oder mich für die Möglichkeit die ich hier hab gebührend zu bedanken / oder ne Weile später / alle oder die meisten grob schockieren Publikumsbeschimpfungen sich eine gängige / sehr ergiebige Kunst-Art Kunst-Kunst meinetwegen / aber es könnte ja auch sein daß ich diesen Text steigen lasse / wie einen schönen beweglichen phantastischen Drachen […]“ (Kirsch 2019, 6). Die Poetikvorlesung als Gattung bildet die Schnittstelle zwischen Universität, Literaturbetrieb und Leserschaft und zugleich zwischen dem offenen Raum der literarischen Öffentlichkeit und dem weitgehend geschlossenen Raum literarischer Produktion. Poetikvorlesungen dienen der marktgerechten Profilierung von

1.1 Die Poetikvorlesung als Gattung

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Universitäten und Verlagen ebenso wie der Selbstinszenierung von Autor*innen und deren Positionierung innerhalb des literarischen Feldes.

9 Gattungskonstitution In der Zusammenschau, die das vorliegende Handbuch erstmals vornimmt, werden Poetikvorlesungen als selbstständige poetologische, aber auch literarische Gattung erkennbar, welche sich durch eine ganze Reihe inhaltlicher, formaler, stilistischer und medialer Gemeinsamkeiten bestimmen lässt. In Poetikvorlesungen werden poetische und poetologische Konzepte konstituiert, philosophische und politische Statements formuliert, literaturtheoretische Autorschaftsmodelle entworfen und zugleich konkrete kreative Subjekte präsentiert. Die Gattung Poetikvorlesung hat sich als Medium einer öffentlich präsentierten Selbstreflexion etabliert, die schon aufgrund der medialen Situation, der unmittelbaren Anwesenheit eines Publikums, größten Wert auf Form und performative Inszenierung legt. Schmitz-Emans kennzeichnet die Poetikvorlesung in ihrem Beitrag zurecht als „Einpersonenstück“ (siehe Kapitel 3.5). Nicht zuletzt aber konstituiert sich die Poetikvorlesung durch ihre mittlerweile mehr als sechzig Jahre umfassende Geschichte im deutschsprachigen Raum als eine Gattung, die sich aktuell größerer Beliebtheit denn je erfreut – und zugleich als ein internationales Phänomen mit einer deutlich weiter zurückreichenden Geschichte, die in diesem Handbuch erstmals erschlossen wird.

Literaturverzeichnis Bachmann, Ingeborg. Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung. München 1993. Becker, Jurek. Warnung vor dem Schriftsteller. Drei Vorlesungen in Frankfurt. Frankfurt a. M. 1990. Binczek, Natalie. „Textgerede im Hörsaal. Die Frankfurter Poetikvorlesung von Thomas Meinecke“. Textgerede. Interferenzen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Gegenwartsliteratur. Hrsg. von David-Christopher Assmann und Nicola Menzel. Paderborn 2018: 249 – 264. Böll, Heinrich. Frankfurter Vorlesungen. Köln/Berlin 1966. Bohley, Johanna. „Dichter am Pult – Altes/Neues aus Poetikvorlesungen 2010 – 2015“. Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000 – 2015. Hrsg. von Corina Caduff und Ulrike Vedder. Paderborn 2017: 243 – 254. Buch, Hans Christoph. Boat People. Literatur als Geisterschiff. Berner Poetikvorlesung. Frankfurt a. M. 2014. Doubrovsky, Serge. „Nah am Text“. Kultur & Gespenster: Autofiktion 7 (2008): 123 – 133.

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1.1 Die Poetikvorlesung als Gattung

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Schriftlichkeit in der Gegenwartsliteratur. Hrsg. von David-Christopher Assmann und Nicola Menzel. Paderborn 2018: 227 – 247. Schöll, Julia. „Die Rückkehr des Autors als moralische Instanz. Auktoriale Inszenierung im 21. Jahrhundert“. Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000 – 2015. Hrsg. von Corina Caduff und Ulrike Vedder. Paderborn 2017: 211–221. Schöll, Julia. „Das lustvoll Unabgeschlossene. Uwe Timms Poetologie als Prozess“. Wunschort und Widerstand. Zum Werk Uwe Timms. Hrsg. von Martin Hielscher und Friedhelm Marx. Göttingen 2020: 87 – 106. Simon, Ralf (Hrsg.). Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität. Berlin/Boston 2018. Timm, Uwe. Erzählen und kein Ende. Köln 1993. Timm, Uwe. Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt. Frankfurter Poetikvorlesungen. Köln 2009. Volk, Ulrich. Der poetologische Diskurs der Gegenwart. Untersuchungen zum zeitgenössischen Verständnis von Poetik, dargestellt an ausgewählten Beispielen der Frankfurter Stiftungsgastdozentur Poetik. Frankfurt a. M. 2003. Wagner-Egelhaaf, Martina. „Einführung“. Sich selbst erzählen. Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft. Hrsg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Sonja Arnold, Stephanie Catani, Anita Gröger, Klaus Schenk und Christoph Jürgensen. Kiel 2018: 15 – 18. Wagner-Egelhaaf, Martina. „Introduction. Autobiography/Autofiction Across Disciplines“. Autobiography/Autofiction. Volume I: Theory and Concepts. Hrsg. von Martina Wagner-Egelhaaf. Berlin/Boston 2019: 1–7. Warren, Austin und René Wellek. Theorie der Literatur. Bad Homburg vor der Höhe 1959. Wohlleben, Doren. Schwindel der Wahrheit. Ethik und Ästhetik der Lüge in Poetik-Vorlesungen und Romanen der Gegenwart. Freiburg i. Br./Berlin 2005. Wolf, Christa. Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 2008. Zeh, Juli. Treideln. Frankfurter Poetikvorlesungen. München 2015. Zipfel, Frank. „Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?“ Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Hrsg. von Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer. Berlin/New York 2009: 284 – 314. Zymner, Rüdiger. „Gattungsvervielfältigung: Zu einem Aspekt der Gattungsdynamik“. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Hrsg. von Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning. Trier 2007: 101–116.

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1.2 Forschungsüberblick Obwohl die Poetikvorlesung zu den fest etablierten und institutionell gut verankerten Gattungen der (deutschsprachigen) Gegenwartsliteratur gehört, ist die Forschungslage noch vergleichsweise überschaubar – mindestens, wenn man sich auf den deutschsprachigen Raum konzentriert und nach Arbeiten sucht, die sich spezifisch mit der Gattung auseinandersetzen (Kempke 2021). Insbesondere in der älteren Forschung werden Poetikvorlesungen vor allem im Rahmen autorphilologischer Studien thematisiert. Dort interessieren sie dann besonders in ihrer Funktion als poetologische Texte, mit denen sich die Poetik oder andere Werke der jeweils behandelten Autor*innen erschließen und deuten lassen. In ihren formalen Voraussetzungen oder Spezifika wird die Poetikvorlesung dabei eher selten betrachtet. Solche Gebrauchsweisen der Poetikvorlesung als Reservoir und Probierstein autorphilologischer Zugriffe sind bis heute häufig zu beobachten, tragen aber oft eher wenig zur Analyse des Formats ‚Poetikvorlesung‘ bei. In diesem Forschungsüberblick soll es hingegen vor allem um solche Studien gehen, die systematische oder historische Perspektiven auf die Poetikvorlesung als Gattung eröffnen. Solche Arbeiten sind seltener, aber durchaus vorhanden. In monographischer Form haben sich Ulrich Volk (Volk 2003), Doren Wohlleben (Wohlleben 2005) und Kevin Kempke (Kempke 2021) mit Poetikvorlesungen beschäftigt. In diesen drei Arbeiten stehen jeweils Frankfurter Poetikvorlesungen im Mittelpunkt, allerdings lassen sich aus allen drei Studien – in unterschiedlichem Ausmaß und in verschiedenen Graden der Explizitheit – auch verallgemeinerbare Thesen über die Poetikvorlesung als Form und als Teil des (gegenwärtigen) Literaturbetriebs ableiten. Einige der wichtigsten Forschungstendenzen, mit denen sich auch die drei genannten Monographien auseinandersetzen, lassen sich auf Paul Michael Lützelers kurzen Text zu „Poetikvorlesungen und Postmoderne“ aus dem Jahr 1994 zurückführen (Lützeler 1994). Als Einleitung zu einem Sammelband verfasst, der wissenschaftliche Beiträge zu Frankfurter Poetikvorlesungen der 1980er und frühen 1990er-Jahre versammelt, unternimmt Lützeler den Versuch, eine synthetisierende Perspektive auf die teilweise sehr disparaten poetologischen und literaturwissenschaftlichen Positionen der behandelten Primär- und Sekundärtexte anzubieten. Diese Heterogenität ist für Lützeler zugleich eine konstitutive Eigenschaft des Gegenstandes: Die prinzipielle Schwierigkeit, die Poetikvorlesung als Form zu systematisieren, wird von Lützeler als eines ihrer kennzeichnenden Merkmale in den Blick genommen. Bei der Poetikvorlesung handele es sich um eine Gattung, die sich weniger durch bestimmte Gattungsmerkmale, https://doi.org/10.1515/9783110647884-003

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sondern vor allem durch ihre formale und inhaltliche Füllungsfreiheit auszeichne: „Auch die Poetikvorlesungen der Autoren gehören als neue Textsorte in den Bereich der literarischen Essayistik. Der Essay als Proteus unter den dichterischen Gattungen (Rohner) zeigt erneut, wie wandlungsreich er ist: Neben Artikel, Abhandlung, Versuch, Betrachtung, Reportage, Streitschrift, Studie, Epistel oder Vortrag kann er sich auch die Form der Poetikvorlesung geben“ (Lützeler 1994, 8). Lützeler ordnet die Poetikvorlesung also dem Bereich der ‚literarischen Essayistik‘ zu und sieht in der Poetikvorlesung eine von vielen Spielarten des Essays. Zudem versteht er die Poetikvorlesung als typisch postmoderne Gattung, da in ihr charakteristische formale Aspekte wie Selbstreflexivität realisiert seien und sich außerdem bestimmte Bruchstücke poststrukturalistischer Theoriebildung und des literarisch-theoretischen Zeitgeistes finden ließen (Lützeler 1994, 10 – 13). Mit Blick auf die Frankfurter Poetikvorlesungen skizziert Lützeler zudem Ansätze einer gattungsgeschichtlichen Perspektive auf das Textkorpus, indem er Vorlesungen der frühen 1980er und ihre Bevorzugung autobiographischer Formate als Ausdruck der sogenannten ‚Neuen Subjektivität‘ einordnet und von Vorlesungen der späten 1980er, in denen sich eher autorsubjektkritische Perspektiven finden ließen, abgrenzt. Lützelers Beschreibung der Poetikvorlesung ist forschungsgeschichtlich in mehrfacher Hinsicht folgenreich: Zum einen wird auch in weiteren Arbeiten oft die Schwierigkeit der gattungstheoretischen Einordnung von Poetikvorlesungen betont (z. B. Schmitz-Emans 2008) oder die Flexibilität der Gattung als ‚Form für nichts‘ (Bohley 2012) als charakteristisches Merkmal herausgestellt, zum anderen arbeitet sich auch die spätere Forschung wiederholt an der Einordnung der Poetikvorlesung als Essay ab (Wohlleben 2005; Kempke 2021). So wird die Poetikvorlesung auch bei Wohlleben als Unterkategorie des Essays eingeordnet, die sich mit diesem typische Eigenschaften teile: Sie stehe zwischen „Leben und Theorie, Anschaulichkeit und Reflexion, Dichtung und Wissenschaft, Objektivitätsanspruch und Subjektivitätscharakter“ (Wohlleben 2005, 26). Wohlleben siedelt die Poetikvorlesung als Gattung ferner „zwischen poetologischem Essay und essayistischer Erzählung“ an (Wohlleben 2005, 40) und versucht sie als Zwitter aus Literatur und Theorie zu nobilitieren. Sie stützt sich dabei insbesondere auf Gründungsdokumente der Frankfurter Poetikdozentur, in denen herausgestellt wird, dass es sich bei Poetikvorlesungen um eine offene Form handele, die nicht durch einen festen Regelkatalog oder eine bestimmte disziplinäre Einhegung begrenzt sein solle (Bohley 2012, 227– 228). Das Attribut der Offenheit, wie es bei Wohlleben und Bohley prominent diskutiert wird, kann sich also auf die programmatische Ausrichtung der Frankfurter Poetikvorlesungen durch ihre Gründer stützen. Zu fragen wäre allerdings, ob damit nicht institutionelle Selbstbeschreibungen fortgeschrieben werden, die den Blick auf Regelmäßigkeiten und

1.2 Forschungsüberblick

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(implizite) Gattungsnormen, die sich im historischen Verlauf herausbilden, tendenziell verstellen.Wegweisend ist Wohllebens Arbeit insofern, als die Diskussion der Poetikvorlesungen stets vor dem Hintergrund von Autorschaftskonzepten geführt wird und damit eine erste Perspektive auf die Poetikvorlesung als Element auktorialer Praktiken eröffnet. An Lützelers gattungshistorische Hinweise im Hinblick auf die Frankfurter Poetikdozentur knüpft zunächst vor allem Ulrich Volk in seiner Monographie über den „poetologische[n] Diskurs der Gegenwart“ an (Volk 2003). Volk zeichnet in seiner Arbeit die Entwicklung der Frankfurter Poetikvorlesungen von 1959 bis 2002 nach und versucht dabei die Darstellung realhistorischer Fakten und Eckdaten der Institutionengeschichte mit der Herausarbeitung gattungshistorischer Trends und dem close reading einer Vielzahl von einzelnen Vorlesungen zu verbinden. Während hier aus gattungshistorischer Perspektive erstmals zentrale Fakten und Kontexte zur Frankfurter Poetikdozentur gesammelt und ausgewertet werden, hat die Arbeit ein Manko in ihrem sehr engen und starren Begriff von Poetik (Kempke 2021, 69 – 71). Volk liest die Poetikvorlesungen hinsichtlich ihrer theoretischen Reflexion über eigene oder fremde Dichtung und ihres Beitrags zur Geschichte der Poetik (Schmitz-Emans, Lindemann und Schmeling 2009), widmet sich aber nicht den Vorlesungen als „künstlerische Performances“, weil in diesen Autor*innen lediglich, so kritisiert er, „sich und ihr Schaffen selbstverliebt feierten und bühnengerecht inszenierten“ (Volk 2003, 87). Aspekte von Poetikvorlesungen, die die neuere Forschung in den Mittelpunkt stellt – z. B. ihre konstitutive Intermedialität und die daraus entstehenden Kontinuitäten und Unterschiede zwischen Manuskript, Aufführung/Vortrag und Buchveröffentlichung, ihre Verschränkung mit anderen auktorialen Praktiken und ihr Eingebundensein in komplexe kommunikative Handlungen – bleiben damit bei Volk unberücksichtigt. Zudem wird eine normative Trennung von primären und sekundären Formen des Literarischen vorgenommen (die Poetikvorlesung gehört zur zweiten Gruppe). Später werden solche Unterscheidungen in der Forschung vor dem Hintergrund einer Tendenz zur „Entparatextualisierung“ (Hoffmann 2011, 316) vermeintlicher Vermittlungsformate in der Gegenwartsliteratur auf den Prüfstand gestellt und analytisch gerahmt (Kempke 2021, 270 – 341) – auch dort, wo Poetikvorlesungen weiterhin als Epitexte betrachtet werden. Eine solche Einschätzung der Poetikvorlesung findet sich auch in einem Essay von Matteo Galli, in dem er die ‚Ausbreitung der epitextuellen Zone‘ in der gegenwärtigen Literatur kulturkritisch beklagt und die Poetikvorlesung als Paradebeispiel dieser Entwicklung in den Blick nimmt (Galli 2014). Forschungsgeschichtlich bedeutsam ist hier vor allem, dass Galli ein wichtiges hermeneutisches und literatursoziologisches Problem adressiert: das Verhältnis der Germanistik zu Poetikvorlesungen. Galli kritisiert, dass durch Vermittlungsfor-

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mate wie die Poetikvorlesung auktoriale Strategien der Selbstdeutung und -inszenierung immer mehr Raum einnähmen und auch die Arbeit der Literaturwissenschaft zunehmend prägten. Gallis Einwurf lenkt den Blick damit auf methodische Probleme und eröffnet zugleich fachgeschichtliche und literatursoziologische Perspektiven: Zumeist sind es germanistische Institute, die Poetikvorlesungen ausrichten und sich damit auch als literaturbetrieblicher Akteur profilieren. Durch die Einladungen zu Poetikdozenturen werden Autor*innen zudem zur Erzeugung poetologischen (und dann auch wieder literaturwissenschaftlich verwertbaren) Materials in dieser spezifischen Form erst eigentlich aufgefordert. Im Umgang mit diesen Texten ergeben sich insofern verschiedene (u. a. literaturtheoretische) Fragen, die für eine Gegenwartsliteraturforschung, die ‚am lebenden Objekt‘ operiert, dringlich sind, z. B. wie man mit den teilweise feedbackartigen Strukturen zwischen der Literatur und ihrer wissenschaftlichen Begleitung produktiv umgehen kann und welche Rolle Selbstkommentare von Autor*innen für die literaturwissenschaftliche Forschung haben (sollen) (Spoerhase 2014; Kempke 2021). Neben diesen Grundfragen des Formats Poetikvorlesung sind auch weitere systematische Aspekte der Gattung im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte in verschiedenen Artikeln und Einzelbeiträgen analysiert worden. Insbesondere die spezifische Medialität der Gattung und ihre Folgen für die ästhetische Gestalt von Poetikvorlesungen wurde dabei mehrmals als charakteristisches Merkmal herausgestellt (Schmitz-Emans 2008; Klingenböck 2015; Schmitz-Emans 2018; Binczek 2018; Dürr 2018; Kempke 2019; Kempke 2021). Als konstitutiv für die Gattung erweist sich dabei das Verhältnis zwischen Aufführung und Buch, zwischen Auftritt und Schrift (Schmitz-Emans 2018; Kempke 2021, 171– 268). Ein weiterer relevanter Forschungsstrang analysiert verschiedene Aspekte von Autorschaftkonstruktionen, die für die ästhetische Gestalt von Poetikvorlesungen ebenso relevant sind wie für die werkpolitischen und inszenatorischen Funktionen, die Poetikvorlesungen für Autor*innen haben können. Es liegen dabei sowohl Beiträge vor, die sich mit den spezifischen Bedingungen der Sprecher*innenposition der Poetikvorlesung und ihren subjekttheoretischen Grundlagen befassen (Schöll 2012; Jäger 2019), als auch Texte, die Perspektiven auf Poetikvorlesungen als Element von auktorialen Inszenierungsstrategien und als Format für Selbstaussagen entwickeln (Hachmann 2014; Schöll 2017; Hachmann 2018; Komfort-Hein 2019; Kempke 2019; Kempke 2021, 341– 437). Vereinzelt werden dabei auch literatursoziologische Überlegungen angestellt, etwa hinsichtlich des Zusammenhangs von Autorschaftskonzepten, formalen Bildungskriterien und der Einladungs- und Auszeichnungspraxis von Poetikdozenturen (Hachmann 2014), bezüglich der Funktion und Stellung von Poetikvorlesungen im literarischen Feld der Gegenwart und ihres Verhältnisses zur Germanistik (Eke 2016), oder im Hin-

1.2 Forschungsüberblick

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blick auf eine Beschreibung der Poetikvorlesung als Netzwerk (Binczek 2019). Daneben liegen Arbeiten vor, die Poetikvorlesungen aus einem bestimmten Zeitraum miteinander vergleichen, um inhaltliche und formale Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten (Bohley 2017), gewisse rhetorisch-inszenatorische Topoi analysieren (Kempke 2020) oder versuchen, Poetikvorlesungen nach thematischen Gesichtspunkten zu ordnen und in den Blick zu nehmen (Prostka 2015; Bausch 2016; Kyora 2016; Biendarra 2017; Hachmann 2018). Zudem liegt eine Analyse der feuilletonistischen Rezeption von Frankfurter Poetikvorlesungen vor (Dürr 2017). Eine die ältere Forschung synthetisierende Perspektive versucht der Verfasser dieses Forschungsüberblicks in seiner Monographie über die Frankfurter Poetikdozentur zu entwickeln (Kempke 2021). Im Mittelpunkt steht dabei einerseits die Beschreibung der Poetikvorlesung als Gattung (sowohl gattungstheoretisch als auch -historisch), andererseits die Analyse der Poetikvorlesung als Institution des Literaturbetriebs der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit in Deutschland. Neben einer Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen und -kontexte der Frankfurter Poetikdozentur Ende der 1950er-Jahre, enthält die Studie u. a. Überlegungen zu den medialen Bedingungen der Form ‚Poetikvorlesung‘ und ihren Folgen für die jeweilige (Text‐)Gestalt, eine Problematisierung der Kategorien von Text und Paratext mit Blick auf die gegenwärtig zu beobachtenden literarischen und literaturwissenschaftlichen Umgangsformen mit Poetikvorlesungen sowie eine Einordnung der werkpolitischen und inszenatorischen Funktionen der Gattung, die von Autor*innen gegenwärtig genutzt werden. Die Erforschung von Poetikvorlesungen hat noch in ganz unterschiedliche Richtungen Potenzial. Der Ausdifferenzierungsprozess, der durch die massenhafte Ausbreitung von Poetikdozenturen in den letzten Jahren zu beobachten ist, ist bisher nur ansatzweise untersucht worden. Publikationen zu anderen Poetikdozenturen als der Frankfurter entstehen bislang häufig im Zuge von Selbsthistorisierungsbemühungen der entsprechenden Institutionen (z. B. Allkemper, Eke und Steinecke 2012 für die Paderborner Poetikdozentur) und sind selten Teil übergreifender oder kritisch-vergleichender Einordnungen. Ortsspezifische Besonderheiten bestimmter Dozenturen hinsichtlich Organisation, Einladungspraxis und Formatzuschnitt könnten dabei ebenso gewinnbringend in den Blick genommen werden wie die literatursoziologischen Kontexte dieser Unterschiede. Methodisch könnten dabei etwa ethnographische Ansätze oder literaturwissenschaftliche Adaptionen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) erfolgversprechend zur Anwendung kommen. Auch textanalytisch wäre die bisherige Forschung noch um weitere kontextsensible Interpretationen zu ergänzen, die weitere Poetikvorlesungen jeweils sowohl im Werk ihrer Autor*innen als auch hinsichtlich ihrer ortund zeitgebundenen Zweckbindungen kontextualisieren. Denn auch formal

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werden Poetikvorlesungen im Zeitalter der Digitalisierung teilweise immer ambitionierter. Wünschenswert erscheint ferner eine Perspektive auf die Rezeption von Poetikvorlesungen auch über das Feuilleton hinaus sowie eine stärker komparatistische Ausweitung des Untersuchungsbereiches, um sowohl die Bedeutung von poetologischen Formaten in einem globalisierten Literaturmarkt als auch die regionalen Spezifika bestimmter nationaler Formate in vergleichender Perspektive herauszuarbeiten.

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1.2 Forschungsüberblick

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1.3 Gattungsgeschichte

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1.3.1 Geschichte der anglo-amerikanischen Vorlesungen über Poetik: Die Frühphase der Gattung, 1892 – 1941 1 Überblick Die Ursprünge der institutionalisierten Poetikvorlesungen lassen sich sehr gut in der akademischen Kultur Großbritanniens und in den USA beobachten. Hier kann man sehen, wie poetische und poetologische Reflexionen zunehmend häufig zum Gegenstand von öffentlichen, populärwissenschaftlichen Vorträgen werden, die im Rahmen fest institutionalisierter und regelmäßiger Vorlesungsreihen stattfinden. Großbritannien und die USA bieten sich deshalb an, weil hier finanziell gut gestellte Universitäten durch Spenden gesicherte Veranstaltungsreihen verlässlich stattfinden lassen können. Speziell geht es im Folgenden um die Romanes Lectures an der Oxford University und die Charles Eliot Norton Lectures in Poetry an der Harvard University. In diesen Reihen entsteht eine Kontinuität, innerhalb derer sich über einen langen Zeitraum hinweg thematische wie organisatorische Entwicklungslinien abzeichnen. Innerhalb dieser Vorlesungsreihen etabliert sich erst allmählich ein Verständnis davon, was eine Poetikvorlesung sein kann und zu leisten vermag. Untersucht werden im Folgenden solche Vorlesungen aus diesen speziellen Vorlesungsreihen, die sich mit Fragen der Poetik oder Poetologie beschäftigen, um daran nachzuvollziehen, wie die Gattung allmählich Konturen gewinnt, wie sich organisatorische Routinen einstellen, wie sich thematische Schwerpunkte und übergreifende Fragestellungen herauskristallisieren, und wie diese sich im Laufe der Zeit verschieben. Es handelt sich bei den nachfolgend diskutierten Vorlesungen naturgemäß ausschließlich um englischsprachige Vorträge und Veröffentlichungen. Der besseren Lesbarkeit willen werden Zitate von der Verfasserin des Beitrags ins Deutsche übersetzt. Anfänglich dominiert in den Vorlesungen noch eine tendenziell normative Poetik, die sich stark an Aristotelesʼ Vorgaben aus seiner Poetik orientiert und bei der die Literatur der griechisch-römischen Antike ebenso wie die der großen Meister wie Shakespeare als Maßstab gelten. Zu Beginn des 20. Jahrhundert setzt sich dann allmählich ein neues Paradigma künstlerischer Individualität und Expressivität durch, welches zunehmend auch die autofiktive Konstruktion der Dozenten notwendig werden lässt. Mit diesem Paradigmenwechsel geht eine https://doi.org/10.1515/9783110647884-004

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deutliche Erweiterung dessen einher, wie man ‚Poetik‘ verstehen kann. So treten in diesen Vorlesungsreihen nicht nur Lyriker, Dramatiker und Prosaautoren auf, sondern auch Komponisten und bildende Künstler. Literatur- und Kunstwissenschaftler sind ebenfalls unter diesen Dozenten, zumal einige von ihnen gleichzeitig praktizierende Künstler und Kritiker sind. Das Gespräch über Literatur wird auf diese Weise oftmals in den allgemeineren Kontext eines Gesprächs über Kunst generell gestellt und bleibt auch in unmittelbarer Nähe zum wissenschaftlichen Diskurs. Dies führt letztendlich zu einer grundsätzlichen thematischen und formalen Offenheit, die auch den Vortragenden häufig Verständnis- und Definitionsschwierigkeiten bereitet. Diese Schwierigkeiten sollen jedoch nicht mithilfe retrospektiver Definitionen und systematischer Abgrenzungen nivelliert, sondern anhand eines historischen Überblicks über die Themenschwerpunkte der Poetikvorlesungen in ihrer Frühphase rekonstruiert werden.

2 Romanes Lectures 2.1 Die Akademie und die Öffentlichkeit in Großbritannien Die erste Vorlesungsreihe, die einen starken, wenn auch nicht ausschließlich poetologischen Fokus hat, sind die Romanes Lectures, die seit 1892 an der Universität Oxford stattfinden. Der Evolutionsbiologe George John Romanes (1848 – 1894) gründete und finanzierte eine jährliche, öffentliche Vorlesung eines Dozenten, der entweder „allgemeines Ansehen in Kunst, Literatur oder Wissenschaft“ genießt oder ein „spezielles Anrecht, Themen von hohem, aktuellem Interesse zu diskutieren“ (E. Romanes 1908, 292) besitzt. Er besteht in seinen Anweisungen ausdrücklich darauf, dass auch nicht-englischsprachige Dozenten oder solche, die aus Alters- oder Gesundheitsgründen nicht selbständig vortragen können, berücksichtigt werden und entsprechende Hilfen in Form von Übersetzern oder Sprechern erhalten. Die thematische Vielfalt der Vorlesungsreihe geht wohl auf Romanesʼ eigene Interessen zurück, zu denen neben seinen wissenschaftlichen Arbeiten auch das Verfassen von Gedichten (G. J. Romanes 1896), intensive Bibellektüre und das Rezipieren klassischer Musik gehörte – für Beethoven hegte er angeblich ebenso viel Respekt und Bewunderung wie für seinen Freund und Kollegen Charles Darwin (E. Romanes 1908, 142– 148). Romanes diente bei seiner Stiftung die jährliche Rede Lectures an der Universität Cambridge als Modell (E. Romanes 1908, 291). Finanziert durch eine Spende des Richters Sir Robert Rede (†1519) waren diese von 1524 an zunächst nicht-öffentliche Vorlesungen zu Mathematik,

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Logik, Rhetorik und Philosophie, und von 1858 an jährlich stattfindende, öffentliche Vorträge, die vom Vize-Kanzler eingeladene Wissenschaftler hielten („The Rede Lecture at Cambridge“ 1871). Romanes selbst gab in diesem Zusammenhang 1885 einen Vortrag zur Vereinbarkeit von Evolutionslehre und Religion (E. Romanes 1908, 160). Poetologische Vorträge sind unter den Rede Lectures bis heute ausgesprochen selten vertreten, der Vortrag des Dichters und Kritikers Matthew Arnold Literature and Science, 1882, oder C.P. Snows berühmter Vortrag Two Cultures, 1959, sind unter den wenigen Ausnahmen. Darin unterschieden sie sich von den Romanes Lectures in Oxford, bei denen literarische und kunsttheoretische Betrachtungen im gleichen Verhältnis zu wissenschaftlichen Vorträgen standen. Die Romanes Lectures haben sich von vornherein als stärker humanistisch orientierte Veranstaltung profiliert. Diese beiden Vortragsreihen, die Romanes und die Rede Lectures, veranschaulichen Kernaspekte jenes Strukturwandels, den Jürgen Habermas für das 19. Jahrhundert beschreibt (Habermas 1990). Wissenschaftliche Institutionen wenden sich an eine breitere Öffentlichkeit aus Wissenschaftlern und Studenten verschiedener Disziplinen ebenso wie akademisch interessierten Bürgern. Sie erstellen so institutionelle Rahmen für einen öffentlichen Diskurs über Wissenschaft und Kultur, also Foren für das öffentliche Räsonnement (Habermas 1990, 252), das jedoch in monologischer Form bleibt und nicht die Dynamik des Streitgesprächs annehmen kann, wie Habermas es der Debattenkultur des 18. Jahrhunderts attestiert. Darüber hinaus instrumentalisieren diese Institutionen die neuen Foren gleichzeitig zu dem Zweck der eigenen institutionellen Profilierung. Im Hintergrund dieser Vorlesungsreihen steht selbstverständlich auch die Konkurrenz zwischen den beiden berühmten britischen Bildungseinrichtungen und ihr Bemühen, den eigenen Ruf innerhalb einer erweiterten wissenschafts- und kulturinteressierten Öffentlichkeit zu stärken. Solche Initiativen bleiben aber an die Spenden von einzelnen Geldgebern gebunden, deren Namen sie dann tragen. Die Geschichte der Poetikvorlesungen ist in diesem Sinne eng mit der Geschichte der Universitäten verbunden. Die erste Romanes Lecture von William E. Gladstone, An Academic Sketch, 1892 gehalten, widmet sich nicht zufällig genau diesem Thema. Gladstone bietet einen detaillierten Überblick über die historischen Entwicklungen der europäischen Universitäten, mit besonderem Schwerpunkt auf den Unterschieden zwischen den beiden englischen Institutionen in Cambridge und Oxford.

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2.2 Mit Kultur gegen Anarchie Um nun die Rolle der Poetik in dieser ersten Vorlesungsreihe und den damit verbundenen Bildungsauftrag der britischen Intellektuellen zu verstehen, lohnt sich ein kurzer Blick auf die Schriften von Matthew Arnold (1822– 1888), angesehener Dichter, Professor of Poetry in Oxford und engagierter Kulturkritiker. Arnold veröffentlichte in den Jahren 1867 und 1868 eine Reihe von sechs Essays in der damals sehr erfolgreichen Kulturzeitschrift Cornhill Magazine, die er später in dem Band Culture and Anarchy. An Essay in Political and Social Criticism (1994 [1869]) herausbrachte. Die Schrift galt bald als Arnolds einflussreichstes Werk (Dawson 1904, 42; Trilling 1939, 251) und wird auch heute noch als wichtiger historischer Referenztext für moderne Intellektuelle gehandelt (z. B. bei Said 1996, 29). Arnold präsentiert sein Argument schon im Titel als düstere Alternative: entweder Kultur oder Anarchie, entweder die englische Bevölkerung bilde und orientiere sich an der Hochkultur oder das Land werde in Chaos versinken. Er reagiert damit auf einschneidende Veränderungen des Wahlrechts im Reform Act von 1867, der die Zahl der wahlberechtigten Männer in England und Wales verdoppelt hatte (Marcus 1994, 166). Diese Strukturveränderung hatte eben jenen von Habermas beschriebenen Effekt, die Öffentlichkeit zu erweitern, und Arnold fürchtet den neuen Einfluss der Arbeiterklasse mit geringer Bildung. Er fordert die britischen Intellektuellen und Politiker deshalb dazu auf, daran zu arbeiten, den Bildungsstand und das Selbstverständnis der Nation zu heben. Zum Zweck der kulturellen Orientierung und als Bildungsmaßstab führt er den Hellenismus an. Diesen differenziert er – ganz im Sinne des im 19. Jahrhundert verbreiteten Antisemitismus – sorgfältig vom Hebraismus, wenngleich er deren gemeinsamen Ursprünge und die Beziehung zum Christentum einräumt. Nur der Hellenismus verkörpert für ihn die „Liebe zur Perfektion“ (Arnold 1994, 31), für Arnold das Hauptziel von Bildung und Gegenmittel gegen die vermeintliche Tendenz zum kulturellen Verfall. Religion erscheint ihm als das beste Mittel, um dieses Ziel fest im Bewusstsein einzelner Individuen zu verankern und mit dem Nationalbewusstsein zu koppeln, griechisch-römische Dichtung als das beste Mittel, um die angestrebte Schönheit und Perfektion anschaulich zu machen. Er ermahnt die akademische Bildungselite, das nationale Gespräch über Kultur, Religion und Nation nicht der wachsenden Zahl der Journalisten zu überlassen. Mit dieser Kulturtheorie antwortet Arnold auch auf den damals hochaktuellen Liberalismus, vor allem nach John Stuart Mill, aus einer literatur- und kunstwissenschaftlichen Perspektive (Trilling 1939, 259 – 261). Arnolds Kulturkritik ebenso wie seine Dichtung stellen lange zentrale Referenztexte für viele Poetikvorlesungen dar. Bis in die 1960er Jahre hinein nehmen einzelne britische und amerikanische Poetikdozenten explizit Stellung zu dem

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von Arnold geprägten kulturtheoretischen Ansatz oder seiner Dichtung. Einige verorten sich in seiner Tradition (Jebb 1907, 533, 534; Garrod 1931, Kap. 2– 5; Binyon 1939, 11– 12), bei anderen lassen sich teilweise vergleichbare Argumentationen erkennen (Muir 1993 [1962], 29; Frye 1964, 153), nur T.S. Eliot und Jorge L. Borges nutzen ihre Poetikvorlesungen, um sich kritisch von Arnold zu distanzieren (Eliot 1933, 33; Borges 2000, 66 – 68). Der Kunsthistoriker William Hunt (1827– 1910) verbindet ebenfalls britischen Nationalismus mit christlich motiviertem Philhellenismus. Er eröffnet seinen Vortrag The Obligations of the Universities Towards Art 1895 mit einer Warnung vor der realistischen Schule der Malerei aus Frankreich und vor den schlechten Einflüssen von Journalisten, die ohne ausreichend Expertise zu besitzen, die englische Jugend zu einem „falschen Geschmack“ (Hunt 1895, 9) anleiteten. Er prophezeit, ähnlich wie Arnold, „Ruin und Chaos“, wenn die englische Nation nicht „die Waffen ritterlicher Kunst“ (Hunt 1895, 14) ergreife und gegen die verirrte hedonistische Philosophie kämpfe. Er spricht auch vom „Anti-Christ der Kunst“ (1895, 28) aus Frankreich und stellt dem die vermeintlich „wahre“ Kunst gegenüber, welche „Gottes Harmonie der Sphären interpretiert“ und überhaupt wie „alle großen Kunstwerke der Vergangenheit aus religiösen Gedanken geboren“ (Hunt 1895, 18) worden sei. Sein kämpferischer, dramatischer Ton rührt daher, dass er der darstellenden Kunst und der Literatur zwei elementare, repräsentative Funktionen innerhalb der Gesellschaft zuordnet. Zum einen müsse die Kunst das britische Volk zum religiös legitimierten Nationalbewusstsein anleiten, zum anderen den vermeintlich erhabenen Charakter der britischen Nation gegenüber dem Rest der Welt ausstellen (Hunt 1895, 41– 42). Richard Claverhouse Jebb (1841– 1905) bezieht sich 1899 in Humanism in Education auf eine Kontroverse zwischen Arnold und dem Evolutionsbiologen Thomas Henry Huxley (1825 – 1895), welche in den 1880ern öffentlich über die Bedeutung der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften an Schulen und Universitäten gestritten hatten (Jebb 1907, 536 – 538). Huxley war damals als strenger Positivist aufgetreten, Arnold als Verteidiger der humanistischen Bildung (Roos 1977). Jebb, selbst Altphilologe, argumentiert mit der Renaissance. So wie man kulturgeschichtlich von der antiken Kunst und Literatur als „überragende Produkte des menschliches Geistes“ und „Mittel zur Selbstkultivierung“ (Jebb 1907, 506) profitiert habe, so erführen auch zeitgenössische Schüler antiker Kunst „eine kleine Renaissance an sich selbst“ (Jebb 1907, 526). Als Kronzeugen führt er John Stuart Mill an, den berühmten Theoretiker des Liberalismus, der ebenfalls den literarischen Reichtum der Antike gepriesen habe. Die frühen britischen Poetikvorlesungen von Hunt und Jebb zeigen sehr gut, wie eine Beziehung zwischen der sozial-politischen, globalen Ordnung einerseits und den Inhalten und Funktionen der Literatur und der Kunst andererseits her-

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gestellt wird, um den Status quo der Gesellschaftsordnung in Großbritannien zu bewahren. Die forcierte Anstrengung (nicht nur britischer Intellektueller), Ästhetik, Kunst und Wissenschaft an den Nationalismus zu koppeln, beschimpft der französische Kritiker Julien Benda 1928 als „Verrat“ der Intellektuellen an der Öffentlichkeit (Benda 1975). Er sieht darin eine Ursache des in Europa weitverbreiteten Hasses und enormer Gewalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Benda kritisiert scharf, dass europäische Intellektuelle ihren Einfluss nicht häufiger dazu nutzten, ihr Laienpublikum von dem abzubringen, was er als materialistisches, realistisches, nationalistisches Denken beschreibt, und es stattdessen zu einem idealistischen, theoretischen Denken anleiteten. Für ein Verständnis der Gattung Poetikvorlesung ist diese Kontroverse insofern interessant, als sie die grundsätzliche Schwierigkeit abbildet, sich über die Rolle und Funktion von Intellektuellen gegenüber der Öffentlichkeit zu verständigen. Hatte der von Arnold geprägte britisch-nationalistische Philhellenismus und die damit verbundene normative Poetik lange Zeit Maßstäbe gesetzt, so nimmt die Verbindlichkeit dieses Paradigmas nun allmählich ab, und es lassen sich neue Herangehensweisen an die Poetikvorlesung und ihre möglichen Funktionen beobachten.

2.3 Nachlassende Bedeutung der normativen Poetik Zu der Frage, wie die normative Poetik allmählich an Bedeutung verliert und einem neuen Paradigma weicht, hat der französische Theoretiker Jacques Rancière in den letzten Jahren mehrere einflussreiche Arbeiten veröffentlicht. Sein begrifflicher Rahmen soll hier dabei helfen, den graduellen Wechsel, der in der Ästhetik und Literatur des 19. Jahrhunderts seinen Anfang nimmt, auch innerhalb der Poetikvorlesungen nachzuvollziehen. Rancière spricht zunächst vom „System der Repräsentation“ (Rancière 2010, 26; 2011, 20), in welchem man bis zur Romantik in Anlehnung an die Aristotelische Poetik die poetischen Gattungen (Epik, Lyrik, Komödie, Tragödie) und die ihnen entsprechenden Inhalte dazu nutzte, die gesellschaftliche Ordnung abzubilden und als Norm zu etablieren. Rancière führt nun aus, dass dieses System der Repräsentation seit der europäischen Romantik allmählich einem expressiven, anti-aristotelischen Paradigma gewichen sei. Homogenität und konzeptionelle Einheitlichkeit wie in der Aristotelischen Poetik gingen damit verloren. Vielmehr würden nun Spannungen und Widersprüche zum Kern poetischer Praxis und Theorien. Sprache würde von ihrer darstellenden Funktion befreit und mit einer neuen Expressivität versehen, die Gattungen verlören ihre Verbindlichkeit, und Stil werde von seiner bloß schmückenden Anstandsfunktion zum elementaren Merkmal des Künstlerischen schlechthin erhoben. Rancière beschreibt, wie im Zuge dieses Paradigmenwechsels die schlichte

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Frage „Was ist Literatur?“ zunehmend schwierig zu beantworten sei (Rancière 2010, 7; 2011, 5 – 7). Dichtung erkenne man zwar daran, dass sich in ihr Poetizität manifestiere, doch diese sei nicht auf literarische Texte beschränkt, sondern durchaus übertragbar, könne sich auch in anderen Formen und Medien manifestieren (Rancière 2010, 51– 52; 2011, 40). Ein gutes Beispiel für den von Rancière beschriebenen Übergang zu einer neuen Expressivität bietet der Geologe und Schriftsteller Archibald Geikie (1835 – 1924) in seiner Romanes Lecture Types of Scenery and Their Influence on Literature von 1898. In einer eigenwilligen Mischung aus geologischer Landschaftskunde und Literaturkritik diskutiert er drei für die britischen Inseln charakteristische Landschaftstypen und ihren Einfluss auf die englische Literatur, insbesondere Lyrik. Im Modus der repräsentativen Ästhetik appelliert er einerseits an Nationalstolz und Heimatverbundenheit, wie es auch Arnold, Hunt und Jebb tun, andererseits gleitet Geikie aber auch unversehens in eine expressive Poetik über, wenn er Landschaften Attribute wie „poetisches Genie“ und „Individualität“ zuschreibt (Geikie 1898, 23). Er verleiht den eigentlich unbelebten Objekten Subjektivität und das Vermögen zur Expressivität, ähnlich wie es Rancière in Victor Hugos Notre-Dame de Paris nachweist, woran er seine These einer Poesie der „‚stummen‘ Sprache“ (parole ‚muette‘) (Rancière 2010, 49; 2011, 39) entwickelt. Erscheint der Wechsel von einer repräsentativen zu einer expressiven Ästhetik bei Geikie noch relativ marginal, so stehen die Schwierigkeiten beim Übergang zu einer neuen ästhetischen Gesinnung im Mittelpunkt der explizit anti-aristotelischen Poetikvorlesung Criticism and Beauty, die der ehemalige britische Ministerpräsidenten Arthur James Balfour (1848 – 1930) 1909 hält. Dieser beklagt schon im Vorwort, dass er „den Dichter, den Schriftsteller, den Maler, den Bildhauer, den Musiker, den Architekten und […] den Historiker“ (1910, 4) nicht zusammenfassend mit einem Begriff benennen könne. Er will deshalb „Kunst“ und „Künstler“ in diesem weiten Sinne verstanden wissen. Die Tradition, die klassische Meisterwerke als Vorbilder vorgibt und als Maßstab der Kunstfertigkeit einsetzt, hält er für nicht haltbar, vermeintliche Kunstexperten bezichtigt er einer willkürlichen „Aristokratie des Geschmacks“ (Balfour 1910, 21). So gelangt er zu dem Fazit, dass es weder universelle ästhetische Standards noch eine Rechtfertigung dafür gebe, große Kunst mit tiefgehenden Einsichten oder guter Moral zu assoziieren. Im Sinne der frühen Psychologien vor Freud, welche das Individuum über sinnliche Wahrnehmungen zu definieren versuchten, argumentiert er für einen ästhetischen Partikularismus, dessen einziges Kriterium individuelle, ästhetisch-sinnliche Erfahrungen seien. Die Spannungen zwischen einem ästhetischen Konservatismus, der die humanistischen Ideale der Renaissance beschwört, und dem progressiven Bedürf-

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nis, die Ästhetik den sich radikal verändernden Menschen- und Weltbildern anzupassen, werden vor allem bei Gattungsbestimmungen akut. So argumentiert der Historiker und Philologe John B. Bury 1911 in Romances of Chivalry on Greek Soil gegen die Idee unumstößlicher Gattungskonventionen, indem er die negativen Folgen des poetischen Philhellenismus für ein Verständnis griechischer Literatur anführt. Eine monolithische Verehrung der Antike mache griechische Schriftsteller zu „Sklaven der Tradition“ (Bury 1911, 3). Er setzt dagegen den produktiven Einfluss der höfischen Dichtung aus Frankreich auf die griechische Literatur des Mittelalters, der eine griechische Variante höfischer Epen hervorbrachte.

2.4 Die Suche nach neuen Poetiken und Ästhetiken Einige Poetikdozenten erkennen und nutzen die neuen Freiheiten, die das Verschieben ästhetischer Paradigmen und Konventionen eröffnet, sehr bewusst und gestalten ihre Poetikvorlesungen als aktive Suche nach alternativen ästhetischen Modellen. So sehen sie unter anderem den Bedarf, das Selbstverständnis der Künstler neu zu definieren. Ein sehr gutes Beispiel dafür bietet die Vorlesung Shakespeare and Spiritual Life des Dichters John Masefield (1878 – 1967) von 1924. Indem er einen speziellen Begriff der Spiritualität entwirft, löst er die enge Verbindung zwischen Religion und Kunst, welche die national-konservativen Poetikdozenten so entschieden beschworen hatten. Spirituelles Leben ist für ihn alles Vorgestellte, Nicht-Körperliche, welches die Menschen beeinflusst oder den Eindruck erzeugt, sie zu beeinflussen (Masefield 1924, 3), und beinhaltet Traditionen, Aberglauben, Volkssagen und mythologische Weltentwürfe. Nicht Religion, sondern Spiritualität, so argumentiert er, habe Shakespeares exzeptionelle künstlerische Leistung ermöglicht, die darauf beruhe, dass er Bilder aus der Phantasie und Sprache seiner Mitmenschen aufgenommen, verfeinert und zu großen Kunstwerken verarbeitet habe (Masefield 1924, 4– 5, 20 – 21, 30 – 31). Im Zuge dieser anti-institutionellen Poetik gelangt Masefield bereits früh zu einem neuen Selbstverständnis des modernen Künstlers. Er definiert Kunst als ein ständiges Bemühen um Grenzverschiebungen und Transgressionen (Masefield 1924, 18) und den Künstler als Menschen, der vergangene Identitäten zerstört, um sich wiederholt neu zu erfinden. Die christliche Symbolik umdeutend bestimmt er die Arbeit der Künstler wie folgt: „Sie sitzen ständig Gericht über sich selbst und vernichten ihre Vergangenheiten, indem sie das Gegenteil erschaffen. Sie wissen besser als jeder andere, dass sie nur errettet werden können, wenn sie wiedergeboren werden. […] Der große Künstler ist so unerwartet wie das Leben und folgt keiner Formel: Sein Morgen ist nicht wie sein Gestern, und seine Nacht könnte mit Kometen erstrahlen.“ (Masefield 1924, 16). Hier wird die Konstruktion einer

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Künstleridentität zum ersten Mal zentraler Teil des kreativen Prozesses und somit der Kunst selbst, ein Topos, der im Laufe des 20. Jahrhunderts innerhalb der Gattung Poetikvorlesungen an Bedeutung gewinnt. Bestimmungen und Verortungen der literarischen Gattungen werden nun immer häufiger anhand von Shakespeare und immer seltener anhand von Beispielen der griechisch-römischen Antike diskutiert. Die Grenzen zwischen den Gattungen werden dabei durchlässiger. Der Romancier und Dramatiker John Galsworthy (1867– 1933) erklärt 1931 in The Creation of Character in Literature, dass Shakespeare zuallererst Dichter sei. Aber, so argumentiert er weiter, seine besonderen Fähigkeiten darin, Charaktere zu modellieren, machten ihn eigentlich eher zu einem Romancier als zu einem Dramatiker (1931, 299 – 300). In der Vorlesung On Poetry in Drama von 1937 gebraucht der Schauspieler und Dramatiker Harley Granville-Barker (1877– 1946) Shakespeare als Modell, um die Affinität zwischen Lyrik und Drama historisch nachzuvollziehen. Sein Fazit ist durchaus exemplarisch für die neue Poetik, die sich von den antiken Konventionen verabschiedet: „Die Buchhändler liegen richtig, wenn sie Lyrik und Drama zusammen katalogisieren, obwohl ich mich einst wunderte, warum sie es taten. […] Einige Dichter mögen sich als schlechte Dramatiker erwiesen haben; aber welcher große Dramatiker war kein Dichter?“ (Granville-Barker 1937, 39). Daneben nutzt man in den 1930er Jahren die Romanes Lectures, um die Freiheit der Kunst und die Notwendigkeit ästhetischer Innovationen zu diskutieren. Damit problematisieren die Dozenten auch eine Beziehung zwischen Künstlern und Öffentlichkeit, die oft als zu restriktiv empfunden wird. Gerade Galsworthy betont in The Creation of Character in Literature, wie entscheidend es sei, dass ein Schriftsteller bei der Gestaltung seiner Charaktere volle Freiheit genieße und ihn weder formelle Regeln poetischer Praxis noch öffentliche Meinungen, finanzielle Überlegungen oder Verlegerinteressen einschränkten (Galsworthy 1931, 296 – 303). Hatte Archibald Geikie der Landschaft Subjektivität unterstellt, so schreibt Galsworthy dem künstlerischen Geist nun eine Vulkanlandschaft ein. Für ihn stellt das Unterbewusste die „Lava der Erfahrung“ dar, welche vom bewussten Denken wie einer Kruste eingeschlossen wird, dieses aber zuweilen durchlöchert und darunter hervorquillt. Das kreative Genie verstünde es nun, „die herauskommende Lava zu Charakteren der Fiktion, zu Bildern, Musik oder was sonst noch zu formen“ (Galsworthy 1931, 293). Diese ursprüngliche, natürliche Energie des Kreativen steht hier also den literaturbetrieblichen und formal-ästhetischen Bedingungen oder Konventionen gegenüber. Dem Aufbruch nach neuen ästhetischen Freiheiten, der sich in Poetikvorlesungen der 1920er und 1930er abzeichnet, begegnet man aber auch mit dem Ruf nach Zurückhaltung und Mäßigung. Noch 1933 argumentiert der Musikwissenschaftler und Pädogoge Henry Hadow (1859 – 1937) in seiner Vorlesung The Place

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of Music Among the Arts für eine normative Ästhetik. Er beklagt die neue Freiheit, welche viele Künstler seit dem Ersten Weltkrieg seiner Meinung nach als „Rechtfertigung für Verwirrung und Anarchie“ (Hadow 1933, 8) missbrauchten, so zum Beispiel bei solcher Musik, die „unter der Kontrolle irgendwelcher externer Theorien, politisch oder soziologisch oder mathematisch“ (Hadow 1933, 11) stehe, wie die „bolschewikische Musik“ oder die Zwölftonmusik. Obwohl er an einer regelgeleiteten, konservativen Ästhetik festhalten will, sieht er aber auch die Schwierigkeit zu erklären, inwiefern Musik als Repräsentation verstanden werde könne. Auch der Komponist Donald Francis Tovey (1875 – 1940) ruft in Normality and Freedom in Music 1936 zur Mäßigung auf. Seine Devise lautet: „Freiheit kehrt wieder mit der Normalität ein“ (Tovey 1949, 201). Er plädiert dafür, Normalität und nicht etwa Innovation oder Revolution, als ästhetischen Standard zu setzen. Unter ‚normal‘ versteht er Kunst, die natürlich oder logisch aus der Beschaffenheit der Instrumente, der Dynamik der Methode und den Bedingungen der Produktion heraus entsteht. Ästhetische Theorien oder ein ständiges Verlangen nach Innovation hält er für eine unsinnige Einschränkung der Künstler. Auch Laurence Binyon wägt 1939 in Art and Freedom sorgfältig zwischen einer absoluten Beliebigkeit künstlerischer Mittel und Methoden sowie lähmenden, äußerlichen Limitationen durch Politik, Geldgeber, Publikumsgeschmack, Traditionen oder ästhetische Theorien ab. Auf Matthew Arnold Bezug nehmend warnt er vor den Extremen wie der künstlerischen Anarchie, dem Totalitarismus oder auch dem Theoriekonformismus und plädiert für einen Mittelweg. Wie der Rhythmus beim Tanz sollten nur wenige Regel- und Gesetzmäßigkeit die künstlerische Freiheit strukturell festlegen, sodass Künstlern Gestaltungsfreiheit innerhalb eines klar definierten Rahmens eingeräumt werde (Binyon 1939, 37). In den 1940er Jahren versiegt dann das Interesse der Organisatoren der Romanes Lectures an Fragen der Poetik oder Ästhetik. Politische, historische und naturwissenschaftliche Themen stehen auf dem Programm, was vermutlich auch dem öffentlichen Interesse entspricht. Erst in den 1950er Jahren finden in diesem Rahmen wieder Vorlesungen statt, die als Poetikvorlesungen verstanden werden können.

3 Charles Eliot Norton Lectures 3.1 Etablierung der Poetikvorlesungen Zeitgleich zu der Phase der poetischen Innovationen und Suche nach neuen Ästhetiken, die man in den 1920er und 1930er Jahren unter den Romanes Lectures

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in Oxford beobachten kann, findet in den Vereinigten Staaten eine für die Gattung entscheidende Entwicklung statt. 1925 entsteht zum ersten Mal an der Harvard Universität in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts eine Vorlesungsreihe, die sich ausschließlich mit Fragen der Poetik beschäftigt. Anders als die Romanes Lectures wird diese Vorlesungsreihe nicht nach dem Geldgeber und Gründer, dem Geschäftsmann Charles Chauncey Stillman, benannt, sondern trägt den Namen Charles Eliot Norton Lectures zu Ehren eines ehemaligen Kunst- und Literaturwissenschaftlers an der Harvard Universität („C. C. Stillman ’98 Endows Professorhsip of Poetry“ 1925). Charles Eliot Norton (1827– 1908) hatte sich vor allem als Dante-Forscher und Herausgeber der Zeitschrift North American Review einen Namen gemacht, war aber auch in der Archäologie sehr einflussreich. So benannte das Archeological Institute of America die Charles Eliot Norton Memorial Lectures nach ihm. Als engagierter Intellektueller setzte er sich für die humanistische Bildungstradition ein und arbeitete daran, das Profil der amerikanischen Bildungsinstitutionen gerade auch im Ausland bekannt zu machen, so zum Beispiel in einem aufwendig illustrierten Band über amerikanische Elitehochschulen (Norton 1895). Sein Biograf nennt ihn „das amerikanische Pendant zu John Ruskin und Matthew Arnold“ (Turner 1999, xi), welche Norton beide persönlich auf seinen Europareisen kennen- und schätzen gelernt hatte (Turner 1999, 135). Stillmans Konzeption der von ihm finanzierten Vorlesungsreihe trägt sowohl der humanistisch orientierten Interdisziplinarität Eliots als auch seiner Ausrichtung am europäischen Intellektualismus Rechnung. Neu an dieser Vorlesungsreihe ist nicht nur der Fokus auf Poetik, sondern auch die explizite Definition dieses Begriffs, der einer Ausweitung und Emanzipation der Poetik und Ästhetik im 20. Jahrhundert entspricht. Stillman, der als Student Nortons Literaturkurse belegt hatte, will mit seiner Stiftung Nortons Vermächtnis als vielseitiger Kritiker und Geisteswissenschaftler weiterleben lassen. Stillman legte 1925 fest, „dass der Begriff ‚Poesie‘ zusammen mit Versdichtung alle poetischen Ausdrucksformen in Sprache, Musik oder in den Bildenden Künsten einschließen solle, worunter auch Architektur fallen kann.“ („C. C. Stillman ’98 Endows Professorhsip of Poetry“ 1925). Neu ist auch, dass die Vorlesungen nicht auf je einzelne Veranstaltungen beschränkt sind und mit einem Stipendium gekoppelt werden. Jeder Dozent wird für ein akademisches Jahr auf den Lehrstuhl, den Charles Eliot Norton Chair of Poetry, berufen und hält in dieser Zeit in der Regel acht Vorlesungen. Primäre Kriterien bei der Auswahl der Poetikdozenten sind deren hohe Auszeichnungen und internationales Ansehen. Die Poetikvorlesungen dienen auch hier unter anderem der Werbung für die veranstaltende Hochschule, die ihren Ruf mit Hilfe von weltbekannten Künstlern und Kritikern symbolisch aufwerten will. In den ersten Jahren setzen die Organisatoren der Norton Lectures zunächst darauf, die Tradition der Romanes Lectures zu

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imitieren. Von 1925 bis 1931 erhalten nur britische Kunstkritiker und Schriftsteller mit engen Verbindungen nach Oxford den Ruf zum Poetikdozenten. Erst 1931 lädt man mit dem isländischen Kritiker Sigurður Nordal einen nicht-britischen Dozenten ein, der erste Amerikaner ist 1935 Robert Frost. Dabei kommen ausschließlich männliche Künstler, Kritiker und Wissenschaftler zu Wort. Die Orientierung der Organisatoren an der Reputation und dem Bekanntheitsgrad der designierten Dozenten führt unweigerlich dazu, dass bestehende Strukturen der Benachteiligung von Frauen in den Literatur-, Kunst- und Wissenschaftsbetrieben hier weiter fortgeführt werden. Besonders für die Charles Eliot Norton Lectures muss man dabei auch bemerken, dass das Publikum ebenfalls überwiegend männlich gewesen sein dürfte. Die Harvard Universität nahm zu dieser Zeit Frauen nur am speziell designierten Radcliffe College auf, welches noch bis zur offiziellen Zusammenführung 1972 sowohl räumlich als auch organisatorisch weitgehend getrennt vom sonstigen Universitätsbetrieb operierte. Dass Stillman, Nortons Lehre folgend, ein breites Verständnis von Poetik für die Vorlesungsreihe festgelegt hat, bereitet den ersten Poetikdozenten der Norton Lectures allerdings Schwierigkeiten. Der Altphilologe Gilbert Murray (1866 – 1957) bezieht sich in seinen Vorlesungen The Classical Tradition in Poetry, die er 1926 – 1927 hält, zwar speziell auf den weiten Poetikbegriff Nortons, preist diesen als „hohe Verantwortung“ und gesteht auch ein, dass sich vieles in der Poetik verändert habe, will sich aber nicht darauf einlassen (Murray 1927, x).Vielmehr begibt er sich auf die Suche nach „einer zentralen und andauernden Tradition“ (Murray 1927, xi), welche er in der griechischen Literatur der Antike zu finden meint. So spricht er über antike Gattungscharakteristiken, Stilformen, Metrik und Charaktertypen und beschreibt deren Einfluss auf die Weltliteratur, vor allem aber auf englischsprachige Autoren. Der oben beschriebene Paradigmenwechsel, den Rancière als den Übergang von einer repräsentativen zu einer expressiven Poetik charakterisiert, widerstrebt Murray ganz und gar. Den italienischen Philosophen Benedetto Croce zitierend führt er aus, dass er keiner Theorie zustimmen könne, wonach Kunst keine Repräsentation der Wirklichkeit, sondern Expression subjektiver Erfahrungen sei. Entschlossen verkündet er, „ich falle zurück in die väterlichen Arme des Aristoteles“ (Murray 1927, 242). Murrays poetisches Motto gilt auch für die nachfolgenden Inhaber des Norton Lehrstuhls in den ersten Jahren dieser Poetikdozentur. Diese widmen sich der Diskussion alter Meister und antiker Traditionen in Malerei, Bildhauerkunst und Literatur. Die kunsthistorischen Vorlesungen geben zwar Zeugnis von dem breiten Poetikbegriff, den die Organisatoren der Norton Lectures anlegen, doch weder adaptieren noch reflektieren die Dozenten diesen Begriff. Ein zeitgenössischer deutscher Rezensent bemerkt über die Veröffentlichung von Arthur M. Hinds (1880 – 1957) Vorlesung Rembrandt von 1930 – 1931 (Hind 1938), die Ästhetik „hat

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in ihrer […] Natürlichkeit, in dem Sinn für das Hohe und klassisch Gestimmte (der Begriff ‚Dignity‘ spielt dabei eine große Rolle) einen gewinnenden Charakter“ (Rosenberg 1932, 387). Ganz ähnliche ästhetische Kriterien legt auch Eric Maclagan (1879 – 1951) in seinen Vorlesungen Italian Sculpture of the Renaissance an, die er 1927– 1928 hielt. Um seine ausführliche Diskussion italienischer Skulpturen des 15. und 16. Jahrhunderts zu rechtfertigen, konzipiert er die Kunstgeschichte der Skulpturen als eine Geschichte des Lichts, das im Römischen Reich der Spätantike seinen Anfang genommen, sich dann verstärkt gegen die dunklen Einflüsse vermeintlich barbarischer Völker durchgesetzt und in der italienischen Renaissance einen erneuten Höhepunkt erreicht habe (Maclagan 1935, 25 – 28). Ebenso wird eine ästhetisch konservative Haltung bei Heathcode William Garrod (1878 – 1960) deutlich. Dessen Poetikvorlesungen Poetry and the Criticism of Life, die er 1931– 1932 hielt, sind überwiegend dem Werk und der Kulturkritik von Matthew Arnold sowie, wenngleich weniger ausführlich, der Dichtung von Emerson und Clough gewidmet. Garrod hebt mehrfach die Freundschaft und intellektuellen Affinitäten zwischen Charles Eliot Norton und Arnold hervor und stellt sich selbst in deren Tradition. Er beklagt die „Unbrauchbarkeit ästhetischer Theorien“ seiner Gegenwart (Garrod 1931, 7), und beruft sich stattdessen auf eine antike Moralästhetik. Aristoteles ist für ihn „eine Art Gesetzgeber“ (Garrod 1931, 152), die Funktion der Kritiker bestehe darin, die Einhaltung solcher Gesetze zu überwachen.

3.2 Emanzipation und Internationalisierung Die ersten Jahre der Norton Lectures boten im Wesentlichen ausführliche Replikationen ästhetisch konservativer Poetikprogramme, wie man sie in den britischen Romanes Lectures schon gehört hatte. Das ändert sich 1931. Die Norton Lectures emanzipieren sich in den 1930er Jahren von dem britischen Vorbild und dessen Poetikdozenten. Nun werden auch amerikanische ebenso wie international anerkannte Künstler, Musiker und Autoren aus dem Ausland eingeladen. Mit dieser programmatischen Wende der Organisatoren stellt sich ein Wandel in den vorgestellten Poetiken ein. Einerseits begeben sich die Poetikdozenten nun ganz bewusst und gezielt auf die Suche nach neuen ästhetischen Modellen, Terminologien und Prinzipien, andererseits wird die Perspektive des Künstlers auf die Kunst zunehmend wichtig, wo vorher vornehmlich Kritiker das Wort erhalten hatten. Daraus ergibt sich ein neues Interesse an der Produktion sowie an der Persönlichkeit und kreativen Sozialisation der Künstler. Eine wahrscheinlich auch für die Organisatoren unerwartete Folge dieser programmatischen Wende ist die Weigerung einzelner Poetikdozenten, ihre Vorlesungen im Druck zu veröffentlichen. Stillman hatte in den Rahmenbedingungen

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für den Lehrstuhl neben dem mündlichen Vortrag auch die Veröffentlichung der Vorlesungen festgelegt, bevorzugt im Universitätsverlag Harvard University Press. Nichtsdestotrotz bleiben die Norton Lectures des isländischen Mythenforschers Sigurður Nordal von 1931– 1932, des amerikanischen Dichters Robert Frost von 1935 – 1936, und des schwedischen Kunsthistorikers Johnny Roosval von 1936 – 1937 unveröffentlicht. Die Hintergründe dafür sind nicht immer klar, nur bei Frost teilweise dokumentiert. Der Herausgeber von Frosts Prosawerk, Mark Richardson, beschreibt, dass dieser der Veröffentlichung seiner Prosaschriften grundsätzlich immer skeptisch gegenüberstand. Obwohl Frost zahlreiche Vorträge und Reden hielt, blockierte oder verzögerte er häufig die Druckfassungen. Das Manuskript seiner Norton Lectures ließ er komplett verschwinden und gestand einem Freund 1938 in einem Brief, dass er für die Veröffentlichung einfach nicht bereit gewesen sei (Richardson 2007, ix–x). Bei Frost macht sich also ein Zweifel daran bemerkbar, ob die essayistische Reflexion der poetischen Praxis gleichberechtigt neben dem lyrischen Werk bestehen solle. Auch dem britischen Schriftsteller T.S. Eliot (1888 – 1965) widerstrebt der Druck seiner Poetikvorlesungen The Use of Poetry and the Use of Criticism, die er 1932– 1933 hielt. Er entschuldigt sich im Vorwort für „ein weiteres unnötiges Buch“ (Eliot 1933, 11). Er rät dringend zur Zurückhaltung beim Beantworten der Fragen, „was Dichtung ist, oder was sie tut oder tun sollte, oder welchen Zweck sie hat“, sowie, „ist dies ein gutes Gedicht“ (Eliot 1933, 15 – 16). Arnolds Poetik zum Beispiel, wonach Dichtung eine Anwendung schöner Ideen für das Leben darstelle, verspottet er mit den Worten, „als ob Ideen die Lotion für die entzündete Haut einer leidenden Menschheit wären“ (Eliot 1933, 112). Genauso scheut er aber auch vor psychologischen, soziologischen und kommunikationstheoretischen Ästhetiken zurück (Eliot 1933, 26 – 27). Er entwirft einen historisch relativierenden Literatur- und Kritikbegriff. Indem er britische Dichter wie Dryden, Wordsworth, Coleridge, Shelley, Keats und Arnold diskutiert, die auch als Kritiker tätig waren, zeigt er, wie die Begriffe von Dichtung und Kritik in Abhängigkeit zueinander sich ständig wandeln. Aus diesem Grund reflektiert er seine eigene literarische Sozialisation in einem Einschub, der den Titel „Über die Entwicklung des Geschmacks in der Dichtung“ trägt (Eliot 1933, 32– 36). Damit schließt Eliot als erster Poetikdozent eine ausführliche Autofiktion in seine Poetikvorlesungen ein. In den kunsthistorischen Poetikvorlesungen setzt sich in den 1930ern schließlich der weite, verschiedene Künste umfassende Begriff der Poetik durch, der bei der Gründung der Norton Lectures anvisiert worden war. Die Begriffe ‚Geist‘ und ‚Menschlichkeit‘ stehen dabei im Mittelpunkt. Laurence Binyon, der auch schon eine Romanes Lecture vorgetragen hatte, nimmt in The Spirit of Man in Asian Art (1933 – 1934) eine kulturanthropologische Perspektive ein. Er will mit diesem Vortrag das westliche, oftmals auf das Erbe der griechisch-römischen

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Antike beschränkte Kulturverständnis erweitern und verfolgt dazu die Frage, „wie der menschliche Geist, ob in China oder Indien, in Persien oder Japan, durch kreative Kunst seine Beziehung zur Welt und zum Universum ausgedrückt hat“ (Binyon 2013 [1935], 3). Er lädt sein Publikum ein, über eine ganzheitliche „Kunst des Lebens“ und die „Geschichte des menschliches Glücks“ (Binyon 2013 [1935], 4) nachzudenken, die sich hier abzeichne. In Painter and Poet. Studies in the Literary Relations of English Painting, gehalten 1937– 1938, verfolgt der amerikanische Anglist Chauncey Brewster Tinker (1876 – 1963) die Beziehungen zwischen englischen Gedichten und Gemälden im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Er zeigt, wie sich in dieser Zeit eine Lehrmeinung durchsetzte, nach der „die verschiedenen Künste alle ein Bestreben des Geistes repräsentieren“ (Tinker 1939, 6), und beschreibt Motive, Themen und historische Bezüge, die in der Malerei und der Dichtung gleichermaßen auftreten. Mit dem Schweizer Architekturhistoriker Sigfried Giedion (1888 – 1968) sowie dem russischen Musiker und Komponisten Igor Strawinsky (1882– 1971) erscheinen am Ende der 30er Jahre zum ersten Mal Poetiken der Architektur und der Musik unter den Norton Lectures. Giedion präsentiert in seinen Vorlesungen Space, Time, and Architecture. The Growth of a New Tradition, die er 1938 – 1939 hielt, eine ausführliche Geschichte der westlichen Architektur und diskutiert die Bedeutung dieser Entwicklungen für die moderne Architektur, insbesondere für die Städteplanung. Sein erklärtes Ziel ist dabei, ein Gegenmittel gegen jenes kulturelle Leiden seiner Zeit zu finden, dass er als „gespaltene Persönlichkeit“ (Giedion 1967, 13) bezeichnet. Seine Gegenwart leide unter der Spezialisierung und Trennung, die sich seit dem 19. Jahrhundert in den Künsten und Wissenschaften beobachten ließe und welche in den Individuen zu einer gefährlichen Trennung von Denken und Gefühl führe. Seine Kulturgeschichte der Architektur dient ihm deshalb dazu, Gemeinsamkeiten in wissenschaftlichen, künstlerischen, kognitiven und emotionalen Methoden zu suchen. Als Modell für eine solche ganzheitliche Methodologie betont er dabei vor allem die organische Architektur von Antoni Gaudí und später Frank Lloyd Wright, welche er als harmonische Verbindung von Rationalität und Emotion ebenso wie von Technik und Natur versteht (1967, 872– 881). Die Suche nach einer Einheit motiviert auch Igor Strawinsky in seinen Poetikvorlesungen von 1939 – 1940, Poetics of Music in the Form of Six Lessons. Anders als die meisten Poetikdozenten spricht er den impliziten Poetikbegriff der Norton Lectures offen an. Er liefert die Definition, „Poetik ist die Untersuchung von Arbeit, die zu machen ist“, indem er sich auf das griechische Verb poieîn für ‚machen‘ oder ‚schaffen‘ bezieht (Stravinsky 1947, 4). Die Leistung eines Komponisten fasst er als „Geist, der ordnet, Leben spendet und erschafft“ (Stravinsky 1947, 24), der also Inspiration mit Ordnung und handwerklicher Technik verbindet. Das Potenzial der Musik, zu vereinen, sieht Strawinsky in je-

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nen Ausnahmemomenten, in denen ein Publikum so intensiv und aktiv an der Musik teilhabe, dass es sich mit dem schaffenden Geist des Komponisten identifizieren könne (Stravinsky 1947, 134). Die Phase der Internationalisierung und Emanzipation der Norton Lectures kulminiert in den Poetikvorlesungen Literary Currents in Hispanic America, die der südamerikanische Philologe Pedro Henriquez-Ureña (1884 – 1946) in den Jahren 1940 – 1941 hielt. Dieser entwickelt eine postkoloniale Perspektive auf die Kunst der spanischsprechenden Länder Amerikas, indem er deren Kulturgeschichte als eine fortlaufende „Suche nach Ausdruck“ (Henríquez-Ureña 1945, vi), einer Anstrengung der Emanzipation von und Auseinandersetzung mit kolonialen Klischees und Wahrnehmungsmustern, konzipiert. Der von Eliot hergestellte Zusammenhang zwischen dem Literatur- oder Kunstbegriff einerseits sowie der Eigenmythologisierung und dem Subjektverständnis des Poetikdozenten andererseits wird sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als ein wesentliches Merkmal der Gattung Poetikvorlesung herauskristallisieren. Igor Strawinsky bringt es für sein Publikum einige Jahre später auf die Formel: „Mich selbst Ihnen zu erklären, bedeutet auch mich selbst mir selbst zu erklären“ (Stravinsky 1947, 7, meine Hervorhebung, G.H.). Der Grund für solche Selbstkonstruktionen und Bekenntnisse ist die grundsätzliche Offenheit der Form von Poetikvorlesungen, welche zwischen akademischen, populärwissenschaftlichen und ästhetischen Diskursen angesiedelt, aber nicht klar definiert sind. Diese Herausforderung war in den Romanes Lectures in Oxford noch nicht so deutlich wahrgenommen worden. Hier entschuldigen sich manche lediglich dafür, keine Philosophen zu sein (Binyon 1939, 8; Galsworthy 1931, 291– 292), also keine streng akademischen Vorträge zu halten. Das Bedürfnis zur Selbsterläuterung nimmt in den Norton Lectures in Harvard deutlich zu. Viele merken in der Einleitung des Vortrags oder in einem Vorwort zum veröffentlichten Text an, welchen Status die vorgetragenen Inhalte haben sollen. Strawinsky zum Beispiel betrachtet seine Thesen als „Bekenntnisse […] zwischen einem akademischen Seminar […] und dem was man eine Entschuldigung für die eigenen allgemeinen Ideen nennen könnte“ (Stravinsky 1947, 5, Hervorhebung im Original). Die Künstler unter den Poetikdozenten gestalten relativ frei ihre jeweilige Interpretation der Gattung. Die Wissenschaftler unter ihnen wählen in der Regel zwischen zwei Optionen: Entweder sie dementieren den rein wissenschaftlichen Status der Vorlesung, begrüßen ein Laienpublikum (Tinker 1939, vii; Binyon 2013 [1935], 3) und veröffentlichen den Vortrag mehr oder minder unverändert; oder sie verstehen die Vorlesung lediglich als Anlass und Ausgangspunkt einer umfangreichen wissenschaftlichen Arbeit, welche sie als stark erweiterte und revidierte Version des Vortrags veröffentlichen (Giedion 1967, v–x; Hind 1938). Dass diese Vorlesungen

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regelmäßig in bedeutenden Medien wie der New York Times angekündigt wurden, verhalf ihnen zudem ihren Bekanntheitsgrad zu steigern. Nach Henriquez-Ureñas Poetikvorlesungen führen die Bedingungen des Zweiten Weltkriegs und vor allem auch die US-amerikanische Beteiligung am Krieg zu einer Unterbrechung der Norton Lectures bis 1947. Dennoch lässt sich sagen, dass sich die Gattung zu diesem Zeitpunkt voll etabliert und die ganze thematische Spannbreite entwickelt hat. Die engen ästhetischen Maßstäbe einer repräsentativen Poetik, welche die Anfangsphase der Gattung dominierten, sind nun endgültig überwunden und haben einem expressiven Paradigma Platz gemacht, welches eine Vielfalt an Poetikbegriffen ermöglicht. Damit hat die Gattung Poetikvorlesung auch ihre Funktion und ihren Platz im literarischen Feld gefunden, wenngleich sich diese Vorlesungen im anglo-amerikanischen Raum nie primär auf dieses Feld verlagern, wie es im deutschsprachigen Raum später zu beobachten ist. Poetikvorlesungen geben den jeweiligen Dozenten und später auch Dozentinnen Anlass dazu, ein individuelles Kunstverständnis und ästhetische Theoreme darzulegen, wo traditionelle Ästhetiken ihre Verbindlichkeit verloren haben. Damit treten künstlerisches Selbstbild und Kunstverständnis ebenso wie die eigene Kunstrezeption und Methoden der Produktion in ein Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Die Darlegung eines individuellen Poetik- oder Kunstbegriffs und die selbstbestimmte Setzung des Poetikdozent*innen als Künstler*innen oder als Kritiker*innen sind von nun an zentrale Inhalte.

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1.3.2 Geschichte der anglo-amerikanischen Vorlesungen über Poetik: Verbreitung und Ausdifferenzierung der Gattung, 1947 – 2018 1 Überblick In den Nachkriegsjahren sind es vor allem die Charles Eliot Norton Lectures in Harvard, die Poetikvorlesungen im anglo-amerikanischen Raum veranstalten. In den britischen Romanes Lectures in Oxford dominieren technische, historische oder politische Vorträge. Die Norton Lectures haben sich als primäres Modell und Forum für Poetikvorlesungen gegenüber dem britischen Vorläufer durchgesetzt. Da das Modell und seine Konventionen vor dem Kriegseintritt der USA 1941 bereits gut etabliert waren, können die Organisatoren und Poetikdozenten an der Harvard Universität daran problemlos wieder anschließen. Von 1947 an wird alle ein bis zwei Jahre ein berühmter Künstler, Wissenschaftler oder Kritiker eingeladen. Die Auswahlkriterien bei der Vergabe dieser Dozenturen bleiben sehr stark an internationalem Ruhm und akademischer Reputation orientiert. Obwohl der Frauenanteil in dieser Zeit in den verschiedenen Künsten ebenso wie in den Geisteswissenschaften deutlich zunimmt, sind noch bis 1979 Jahre keine Frauen unter den Norton-Professoren. Die Poetikvorlesung bleibt hier wie auch in Großbritannien lange eine männlich dominierte Gattung. Den Grundsatz einer internationalen Ausrichtung bei der Auswahl der Poetikdozenten, der sich in den 1930er durchgesetzt hat, führen die Organisatoren der Norton Lectures fort. Auch wenn Dozenten mit britischer oder US-amerikanischer Staatsbürgerschaft überwiegen, so sind viele davon erst kürzlich aus anderen Ländern emigriert. Das thematische Spektrum der Vorlesungen weitet sich in der Nachkriegszeit zunehmend aus. Fragen zur gesellschaftlichen Bedeutung und zum Nutzen von Kunst werden nun immer wichtiger, da die einst geknüpfte Verbindung von Ästhetik und Moral nicht länger unhinterfragt bleibt. Die Poetikdozenten sehen sich häufig in der Verantwortung, die Funktionen von Kunst, Literatur, Musik, Malerei und Design zu rechtfertigen. Das geschieht bis in die 1960er Jahren vor allem anhand von praxisnahen Diskussionen ästhetischer Kernbegriffe wie Imagination und Künstler, wird aber auch immer wieder durch Reflexionen zu dem soziologischen Begriff Öffentlichkeit ergänzt. In den 1970er Jahren nehmen diese Diskussionen dann unter dem Einfluss der akademischen Theoriewende einen https://doi.org/10.1515/9783110647884-005

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deutlich weniger praxisbezogenen, stärker wissenschaftlich orientierten Charakter an. Zeitgleich mit der Zuwendung zu stärker theoretischen Perspektiven weitet sich die Gattung dann auch in neuen Vorlesungsreihen aus. Einige akademische Institutionen in den USA und in Kanada adaptieren Reihenkonzeptionen, die ähnlich wie die britischen Romanes Lectures sowohl poetische als auch naturund sozialwissenschaftliche Themen an eine breite Öffentlichkeit vermitteln, um so das institutionelle Profil auf dem Bildungsmarkt zu stärken. Hier sind vor allem die Tanner Lectures on Human Values, eine Kooperation verschiedener Institutionen, und die als Radiovorlesungen abgehaltenen Massey Lectures in Toronto zu nennen. Der Bedarf an solchen Veranstaltungen bleibt aber relativ gering, da die poetische oder poetologische Lehre im anglo-amerikanischen Raum grundsätzlich in Form von Creative Writing-Programmen bereits einen Platz an den Universitäten hat. Die ersten Kurse dieser Art entstehen seit 1880. Dabei gilt Charles Eliot Norton, nach dem Poetikvorlesungen in Cambridge in Massachusetts benannt werden, als ein zentraler Wegbereiter (McGurl 2009, 94). Fest etablierte Studiengänge dieser Art entstehen dann allmählich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit 1975 ist die Zahl deutlich angestiegen, sodass heute kreatives Schreiben ein regulärer Teil des akademischen Lehrangebots an nahezu jeder Hochschule in Kanada und den USA, und an sehr vielen in Großbritannien, ist (McGurl 2009, 25). Etablierte Schriftsteller übernehmen in diesen Programmen die Lehre und decken damit weitgehend den Bedarf an Stellungnahmen zum kreativen Arbeitsprozess oder zu individuell relevanten ästhetischen Konzeptionen ab. Darin unterscheidet sich die anglo-amerikanische Universitätslandschaft von denen deutschsprachiger Länder, wo solch praxisnahe Lehrangebote für angehende Schriftsteller immer noch die Ausnahme bilden. Zudem entsteht hier eine natürliche Nähe zwischen akademischen und poetisch-kreativen Diskursen, was auch ein Grund dafür sein könnte, dass man innerhalb der Vorlesungsreihen zur Poetik die Literatur selbstverständlicher in die Nähe sowohl zur Literaturkritik und -wissenschaft als auch zu anderen Kunstformen rückt. Seit den 1990ern lädt man dann gerade die Schriftstellerdozenten und andere Künstler mit akademischen Lehraufträgen als Poetikdozenten ein. Diese vermögen eben zwischen den Theoriediskursen und den Praxiserfahrungen zu vermitteln, sodass das Themenspektrum in den Poetikvorlesungen seither wieder stärker den kreativen Arbeitsprozess beinhaltet. Dabei werden in dieser Zeit zum ersten Mal auch Filmregisseure eingeladen. Die Vorlesungsreihen stehen allerdings zunehmend in Konkurrenz zu online übermittelten Vorträgen im TED Format, die seit den 1990er Jahren weltweit eine rasant wachsende Internet-Öffentlichkeit erreichen. Unter diesem Druck wird die Veranstaltungsorganisation an

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den amerikanischen, britischen und kanadischen Hochschulen an spezielle Organisationsbüros ausgelagert und entsprechend professionalisiert. Das ermöglicht dann auch, dass – zusätzlich zur Druckfassung der Vorlesungen – Videos, Tonaufnahmen und Bilder öffentlich zugänglich gemacht werden. Damit schaffen die Organisatoren neben dem lokalen und dem Lesepublikum auch eine Internetöffentlichkeit. Im Folgenden sollen nun die wichtigsten organisatorischen und thematischen Entwicklungen von 1947 bis 2019 rekonstruiert werden. Im Vordergrund stehen dabei inhaltliche Anknüpfungspunkte und thematische Gemeinsamkeiten zwischen den ausgesprochen heterogenen Vorlesungen zur Poetik, ein Begriff, der in den Norton Lectures sehr weit gefasst wird. Kreativität generell wird hier ausgestellt und anschaulich gemacht, weshalb Schriftsteller, Komponisten, Maler, Architekten und Regisseure zu Wort kommen. Methodische Ansätze variieren vom Werkstattbericht über Reflexionen einer eigenen Lebensphilosophie bis hin zu kunst- oder literaturwissenschaftlichen Abhandlungen. Vermutlich gerade weil im Zeitraum von 1947 bis 2018 immer mehr anglo-amerikanische Hochschulen Kurse zum Kreativen Schreiben anbieten, in denen Schriftsteller oder Schriftstellerinnen ihr Arbeitswissen zum Erschaffen von Literatur vermitteln, widmet man diese außerordentlichen Vorlesungsreihen weitergehenden Fragen zu Kreativität und Genese der Kreativen.

2 Imagination als Schwerpunkthema der Nachkriegsepoche In den 1940er Jahren tragen die Poetikdozenten der Norton Lectures während ihrer Gastprofessur in Cambridge bis zu 12 Einzelvorträge vor.Von 1950 an liegt die Zahl dann aber konstant bei 6 Veranstaltungen, die im Laufe eines Jahres stattfinden. Thematisch dominieren vom Ende der 1940er bis zum Ende der 1960er Jahre zwei Kunstformen den Diskurs: Dichtung und Musik.Von den 18 Norton Lectures, die in dieser Zeit stattfinden, beschäftigen sich 7 schwerpunktmäßig mit Lyrik, 5 mit Musik, 2 mit Malerei, 2 mit Architektur, eine mit Drama und eine mit Kulturanthropologie. Nur vereinzelt werden in den Vorlesungen zur Lyrik auch einzelne Romane, Dramen oder Epen zitiert oder diskutiert. Im Großen und Ganzen definieren die Poetikdozenten die Gattung zu dieser Zeit als Forum dafür, sich zu technischen und ästhetischen Fragen einer spezifischen Kunstform zu äußern. Poetologisch sind die Norton Lectures sehr heterogen und geben einen Einblick in die Vielfalt ästhetischer Konzepte und Theoreme. Auch wenn sich die Poetikdozenten thematisch meistens auf eine spezielle Kunstform konzentrieren,

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so unternehmen viele doch den Versuch, ihre Überlegungen in einen größeren gesellschaftlichen oder kulturtheoretischen Zusammenhang zu stellen und sich an ein breites Publikum aus Laien und Experten gleichermaßen zu richten. Allgemein gesprochen lassen sich für diese Zeit drei wesentliche Problemkomplexe identifizieren: Zum einen diskutieren viele Poetikdozenten den Begriff der Imagination, um damit die Relevanz des Ästhetischen und das Wesen von Kunst näher zu bestimmen; zum anderen setzt man sich intensiv mit der Beziehung zwischen Künstlern und der Öffentlichkeit auseinander, welche man als zunehmend problematisch wahrnimmt. Letzteres wiederum veranlasst viele Poetikdozenten, auch ihren persönlichen Werdegang zum Künstler oder ihre Motivationen und Arbeitsweisen erklärend zu beschreiben. Die ersten Vorlesungen der Nachkriegszeit Early Netherlandish Painting, die der deutsch-amerikanische Kunsthistoriker Erwin Panofsky (1892– 1968) in den Jahren 1947– 1948 hielt, bilden hier noch eine Ausnahme. Panofskys umfang- und einflussreiche Druckfassung – ein Band mit Text, ein zweiter mit Bildreproduktionen, beide jeweils über 500 Seiten – verfolgt spezielle Forschungsinteressen und lässt Fragen gesellschaftlicher Relevanz der Kunst außer Acht (Panofsky 1953). Warum der Begriff der Imagination in diesen Jahren eine so zentrale Rolle in den Poetikvorlesungen einnimmt, wird gerade in der Romanes Lecture von 1947 Creative Man des britischen Politikers Viscount Samuel (1870 – 1963) deutlich. Mit Bezug auf die Kulturanthropologie seiner Zeit beschreibt Samuel die Imagination als eine Fähigkeit, die in der Evolutions- und Kulturgeschichte der Menschheit eine entscheidende Rolle spiele, weil sie die kognitive Voraussetzung für das Entstehen der Künste, Religionen, Politik und Wissenschaften, kurz aller Kultur, darstelle (Samuel 1947, 12 – 15). Zum einen kann er anhand dieses Imaginationsbegriffs ein Kunstverständnis entwickeln, das weder dem Kulturzentrismus der Gattungspoetik noch der Beliebigkeit eines Paradigmas reiner Expressivität verfällt, und zum anderen lassen sich damit Verbindungen der Künste zu anderen Gesellschaftsbereichen herstellen. Die Poetikvorlesungen The Romantic Imagination (1948 – 1949) des britischen Literaturwissenschaftlers C. M. Bowra verfolgen die Ursprünge des Begriffs ‚Imagination‘ in der Literatur und Theorie der englischen Romantik und beschreiben das kreative Potenzial, das dieser Begriff für die Autoren erschloss (Bowra 1961). Sowohl Samuel als auch Bowra warnen aber vor Missbrauch oder uneingeschränktem Einsatz der Imagination. Samuel fordert eine strenge Kontrolle der Imagination durch die Vernunft (Samuel 1947, 22), Bowra warnt vor Realitätsverlust, ästhetischem Solipsismus und stilistischer Manieriertheit (Bowra 1961, 273 – 277). Dennoch bedienen sich viele Poetikdozenten des Begriffs ‚Imagination‘, um Charakter und Funktion der Kunst zu bestimmen, und so kristallisiert er sich in den 1950er und 1960er Jahren zu einem Kernbegriff der Poetikvorlesungen her-

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aus. Der amerikanische Komponist Aaron Copeland (1900 – 1990) nutzt ihn in Music and Imagination in den Jahren 1951– 1952 ganz im Sinne romantischer Ästhetik, um Bezüge zwischen Musik und Dichtung herzustellen. Darüber hinaus dient ihm der Begriff auch dazu, die Rolle des Zuhörers bei einem musikalischen Kunstwerk zu betonen. Sowohl das Komponieren als auch das Zuhören bedarf seiner Meinung nach eines geschulten, imaginierenden Geistes (imaginative mind), und ein kreativer ebenso wie ein interpretierender imaginierender Geist müssten zusammen wirken, damit ein Kunstwerk realisiert werde (Copeland 1952, 40). Als erster der Komponisten unter den Poetikdozenten beendet er ganz im Sinne seiner rezeptionsästhetischen Position jeden seiner Vorträge mit einem kurzen Klavierkonzert (Programm seiner Kurzkonzerte, Copeland 1952, 112– 114). Der britische Kunsthistoriker und Literaturkritiker Herbert Read (1893 – 1968) liefert 1953 – 1954 in Icon and Idea: The Function of Art in the Development of Human Consciousness eine kurze Kulturgeschichte der Imagination. Er zeichnet die Entstehung und Evolution von Bildlichkeit und Repräsentation nach und besteht darauf, dass darstellende Kunst, Literatur, Theater und Musik in ihrer Weise alle Bilder entstehen lassen (Read 1955, 126). Read versteht „Geistesgeschichte als Kunstgeschichte“ (Read 1955, 53) und plädiert deshalb auch für ein Bildungskonzept, das ästhetische Bildung priorisiert. Der schottische Schriftsteller Edwin Muir (1887– 1959) beschreibt 1955 – 1956 in The Estate of Poetry die Imagination als mentale Fähigkeit, welche die Grundlage für zwischenmenschliche Beziehungen ebenso wie für Selbstwahrnehmungen bildet und welche die Künste in gleicher Weise wie die Wissenschaften ermögliche und vorantreibe (Muir 1993, 78 – 93). Muirs Verständnis der Imagination bietet auch einen guten Rahmen, um etwa die Poetikvorlesungen Tragedy in the Art of Music von 1962– 1963 des deutsch-amerikanischen Musikologen Leo Schrade (1903 – 1964) zu kontextualisieren. Dieser beschreibt das Vermögen und die Möglichkeiten mit Hilfe von Musik dem Tragischen Ausdruck zu verleihen. Er stellt das Potenzial der Musik heraus, Emotionen zu imaginieren und nachvollziehbar zu machen, und versteht deshalb Musikgeschichte primär als eine Geschichte der Tragödie (Schrade 1964, 129). Doch die häufig gezogenen Parallelen zwischen den Wissenschaften und der Kunst, welche beide auf das mentale Vermögen zur Imagination angewiesen seien, treffen auch innerhalb der Gattung Poetikvorlesung auf Widerstand. Der brasilianisch-britische Biologie Peter Medawar (1915 – 1987) nutzt seine Romanes Lecture unter dem Titel Science and Literature 1968 dazu, diese Parallelen zu relativieren, indem er auf die Diskursunterschiede zwischen Literatur und Wissenschaft ebenso wie auf den radikal unterschiedlichen Stellenwert der kritischen Vernunft in diesen Disziplinen hinweist (Medawar 1969, 534).

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3 Spannungen zwischen Künstlern und Öffentlichkeit in den 1950er und 1960er Jahren 3.1 Balanceakte zwischen Beziehung zu und Freiheit von der Öffentlichkeit Der zweite große Problemkomplex in dieser Zeit ist das Verhältnis zwischen Kunst und Künstlern einerseits und Publikum und Öffentlichkeit andererseits. Die Architekturvorlesungen unter den Norton Lectures bieten hier zentrale Metaphern. Zwar widmen sich die Architekten hauptsächlich technischen Fragen der Konstruktion und des Designs, doch geht es immer auch darum, welche Interaktionen und Wechselwirkungen architektonische Räume zwischen Kunst und Öffentlichkeit entstehen lassen. Der italienische Architekt Pier Luigi Nervi (1891– 1971) präsentiert 1961– 1962 in Aesthetics and Technology in Building primär Anwendungen des Stahlbetons, doch er bemerkt auch, dass Räume und Gebäude für öffentliche Veranstaltungen immer größer werden, dass die Öffentlichkeit sich also ausweitet und weniger exklusiv ist, und er glaubt, dass die notwendige statische und strukturelle Korrektheit der Architektur eine „stille erzieherische Handlung“ (Nervi 1965, 187) auf diese Öffentlichkeit ausüben könne. Auch der litauisch-amerikanische Kunsthistoriker Meyer Shapiro (1904 – 1996) spricht 1966 – 1967 in Romanesque Architectural Sculpture kommunikative Funktionen der Architektur an. Er macht auf die Bedeutung spätmittelalterlicher Architekturskulpturen aufmerksam, die auf den Außenseiten von Gebäuden angebracht Interaktionen und Interpretationen jenseits von liturgischen oder rituellen Ordnungen ermöglichten und einem volksnahen Kunstbegriff Vorschub leisteten (Schapiro 2006, 5). Diese beiden Metaphern, die Ausweitung der Öffentlichkeit sowie die künstlerische Zuwendung zu ihr, beschäftigen die Poetikdozenten, weil diese auch im Kern die Poetikvorlesung als Gattung bestimmen. Zum einen sehen viele Poetikdozenten mit Besorgnis, dass die Öffentlichkeit in zunehmendem Maße ein Spannungsverhältnis oder sogar eine Kluft zwischen Laien und Künstlern beklagt, zum anderen scheuen sie aber vor einem allzu engen Öffentlichkeitsbezug zurück, da sie eine Einschränkung ihrer künstlerischen Freiheit ebenso wie den Verlust einer übergeordneten Perspektive befürchten. So widmet sich der amerikanische Schriftsteller Thornton Wilder (1897– 1975) in American Characteristic“ 1950 – 1951 der Beziehung amerikanischer Schriftsteller zur Öffentlichkeit. Er betont eine repräsentative Funktion, wonach Literatur und öffentliche Vorträge von Intellektuellen dabei helfen können, dem nationalen Selbstbewusstsein und einer Unabhängigkeitsgesinnung Ausdruck zu

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verleihen, die unter Amerikanern besonders ausgeprägt sei (Wilder 1979, 5 – 12). Dennoch warnt er vor einem Kalkül der Publikumsinteressen beim Schreiben. Er zitiert Emily Dickinson und Henry Thoreau als Beispiele dafür, dass Dichtung nur dort höchste Qualität erreiche, wo der Dichter oder die Dichterin nicht für ein konkretes Publikum schreibe, sondern sich bewusst davon distanziere und eine natürliche Affinität für das Partikulare in eine Perspektive auf das universell Menschliche wende (Wilder 1979, 62 – 63). In The Estate of Poetry schlägt Muir eine ähnliche Mischung von mitfühlender Zugewandtheit und universalisierender Ästhetisierung vor, welche die Beziehung eines Dichters zur Öffentlichkeit charakterisieren sollen. Weder die enge Verbundenheit von Volk und Dichtung, wie man sie aus der Folklore oder Balladendichtung kennt, noch die Exklusivität einer ästhetischen Avantgarde erscheinen ihm als mögliche Modelle für die Gegenwart. Er sieht die Verantwortung der Dichtung darin, „ein wahres Bild des Lebens zu erhalten“ (Muir 1993, 108), welches in der Auseinandersetzung mit einzelnen Menschen eine poetische Wahrheit aufzeige. Der litauisch-amerikanische Künstler Ben Shahn (1898 – 1969) beschreibt 1956 – 1957 in The Shape of Content ganz explizit eine notwendige Spannung in der Haltung eines Künstlers zur Gesellschaft, da dieser für ihn „gleichzeitig losgelöst und zutiefst involviert“ (Shahn 1961, 91) sein müsse. Als Nonkonformisten und Außenseiter seien Künstler Kritiker des Status quo und könnten Innovationen hervorbringen, als mitfühlende Beobachter hingegen könnten sie Realitäten und menschlichen Schicksale nachvollziehen und mittels ihrer Kunst angemessen repräsentieren. Über diese Beobachterfunktion hinaus würden Künstler aber auch mit ihrer Kunst Gemeinschaften schaffen, indem sie Motive und Bilder zur Identifikation bereitstellten. Fragen danach, wie Kunst Gemeinschaften und kollektive Identitäten bildet und beeinflusst, kommen von da an häufiger auf, wenn es um das Verhältnis von Künstlern und Öffentlichkeit geht. Der mexikanische Komponist Carlos Chávez (1899 – 1978) beschreibt 1958 – 1959 in Musical Thought dieses Verhältnis als eine große Chance. Im Gegensatz zum exklusiven, homogenen und musikalisch vorgebildeten Musikpublikum des 19. Jahrhundert biete die heterogene, breite Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert den Künstlern die Möglichkeit, ihr eigenes Publikum zu bilden und die Fähigkeit, Musik zu verstehen, zu kultivieren. Gleichzeitig mahnt er aber an, dass Publikumsinteressen dem kreativen Prozess immer nachgeordnet bleiben sollten (Chávez 1961, 91– 93). Auch der irische Dichter Cecil Day-Lewis (1904 – 1972) verfolgt 1964– 1965 in The Lyric Impulse den Gedanken einer Bildungsfunktion der Kunst. Lyrische Sprache müsse seiner Meinung nach dazu beitragen, die Gemeinsprache zu verbessern. Der Lyriker stehe einem „Augiasstall“ gegenüber. Er müsse die Sprache „reinigen“ und „anheben“, da die Welt „vom Wort überbevölkert“ werde (Day Lewis 1965, 23). Dabei

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erscheint ihm gerade die Verbindung von Lyrik und Musik dienlich, um mit einer möglichst breiten Öffentlichkeit zu kommunizieren (1965, 50 – 51). Der Komponist Roger Sessions (1896 – 1985) definiert 1968 – 1969 in Questions about Music noch einmal neu die Kluft zwischen Künstlern und Öffentlichkeit „nicht so sehr als unüberbrückbaren Abgrund, sondern eher als zunehmende Verzögerung zwischen dem Erscheinen eines neuen Werks, Komponisten oder Stils, und seiner vollen Akzeptanz durch große Teile der musikalisch gebildeten Öffentlichkeit“ (2014, 7). Sessions widerstrebt die Idee einer formal-diskursiven Erziehung der Öffentlichkeit durch Künstler, aber er beschreibt ausführlich Transformationen, die auch unerfahrene Zuhörer erleben können, wenn sie „bereitwillig Gehör schenken“ (2014, 13) und sich darauf einlassen, unvertraute Musik zu erfahren. In diesen Theoremen zur gesellschaftlichen Funktion von Kunst zeichnet sich das – wohl vergebliche – Bemühen ab, sowohl mögliche bildungsbürgerliche Erwartungen der Elitehochschulangehörigen zu bedienen, als auch einer Freiheit der Kunst das Wort zu reden, welche sich anschickt, die Ideale des Bildungsbürgertums zu überwinden.

3.2 Erläuterungen zur Genese des Künstlers und der Kunst Die Versuche, das Verhältnis zwischen Kunst und Künstlern einerseits und Publikum und Öffentlichkeit andererseits zu bestimmen, drehen sich im Kern um zwei Fragen, die Sessions folgendermaßen formuliert: „Einerseits werden wir gefragt (höflich ausgedrückt), für wen wir eigentlich schreiben – schreiben wir für uns selbst oder möglicherweise für unsere Kollegen, oder für das, was oft die ‚allgemeine Öffentlichkeit‘ genannt wird? Andererseits werden wir gefragt (und diesmal gebe ich die Frage in weniger höflicher Form wieder), warum wir – wo wir doch hartnäckig Musik schreiben, die so ‚kompliziert‘, so ‚hässlich‘ und so ‚unverständlich‘ ist – erwarten, dass ein normaler Mensch das verstehen könne“ (Sessions 2014, 8). Fragen des zweiten von Sessions genannten Typs führen dazu, dass viele Poetikdozenten sich in der Verantwortung sehen, sich selbst und ihre künstlerische Arbeit erklärend zu beschreiben. Man versucht Verständnis zu wecken, indem man die Genese der Künstleridentität oder den Prozess beim Erschaffen der Werke erläutert. Autofiktionen und Werkstatt- oder Arbeitsberichte werden so reguläre Bestandteile der Norton Lectures, was unter anderem auch daran liegt, dass die Organisatoren der Norton Lectures in der Nachkriegsperiode dazu übergehen, häufiger Kunstschaffende und weniger häufig Kunst- oder Literaturwissenschaftler einzuladen. Exemplarisch sollen hier vier Norton Lectures genannt werden, in denen diese Aspekte schwerpunktmäßig diskutiert werden.

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Im Vorwort zur Veröffentlichung von A Composer’s World. Horizons and Limitations von 1949 – 1950 erklärt der deutsch-amerikanische Musiker und Komponist Paul Hindemith (1895 – 1963), dass er seine Vorlesung für ein Laienpublikum hält und als „Wegweiser durch das kleine Universum, welches der Arbeitsplatz eines Musik schreibenden Menschen ist“ (Hindemith 1952, vi), verstanden wissen will. Hindemith bespricht keine spezifischen Werke, Musiker oder Komponisten, sondern widmet sich ausführlich den komplexen Überlegungen und Entscheidungen, die ein Komponist beim Verfassen, Inszenieren und Verbreiten seiner Musik anstellt: von musiktheoretischen Überzeugungen über intellektuelle wie emotionale Effekte sowie Stile, Techniken und Instrumente bis hin zu den Bedingungen des Kulturbetriebs und des Bildungssystems. Er präsentiert den Komponisten als schwer arbeitenden Spezialisten, der für „einen Sieg gegen widrige externe Kräfte und eine endgültige Allianz mit der Geisteshoheit (spiritual sovereignty)“ (Hindemith 1952, 220) kämpft. Der Autor als Leser/Schüler anderer Autoren steht dann in den Poetikvorlesungen von E. E. Cummings, Jorge Guillen und Jorge Luis Borges im Vordergrund. Diese machen deutlich, dass Schriftsteller zu sein nicht, etwa nur ein Beruf ist, sondern dass Literatur für sie eine Lebensform darstellt, in der Rezeption und Produktion sich wechselseitig bedingen und ergänzen. In i: six non-lectures, gehalten 1952– 1953, will E. E. Cummings (1894 – 1962) sich auf keinem Fall als Dozent oder Lehrer, der konkretes Wissen vermittelt, verstanden wissen, sondern rückt demonstrativ die eigene Person, „ich“, als einzigen mitzuteilende Inhalt in den Mittelpunkt seiner Vorträge, die er wiederrum nicht als Vorlesungen, sondern als „non-lectures“, ‚Unlesungen‘ oder Nicht-Lesungen, bezeichnet (Cummings 1953, 3). Er widmet sich ausführlich Erzählungen über seine Kindheit, Jugend, Studium und Familie, was er aber als „unpoetisches Geplauder“ (Cummings 1953, 6) herunterspielt. Gelegentlich fügt er Zitate aus eigenen Texten ein, entscheidender ist für ihn jedoch, dass er die letzte Viertelstunde jedes Vortrags mit der Lesung der Texte anderer Autoren füllt. So inszeniert er sich performativ primär als Leser und Kenner guter Literatur. Der spanische Dichter Jorge Guillén (1893 – 1984) fokussiert in seinen Vorlesungen von 1957– 1958 Language and Poetry: Some Poets of Spain ausschließlich auf seine literarischen Vorbilder, allerdings, wie der Herausgeber der Druckfassung vermutet, zu dem Zweck der Selbstdarstellung: „[D]ie augenscheinlichen Themen [der Vorlesungen] sind die Gedichte anderer Männer, aber die Figur, die sie festhalten und identifizieren, ist weder Becquer noch Juan dela Cruz, sondern Jorge Guillén. Wir sehen in den Bildern anderer Dichter, was dieser Dichter ist“ (Macleish 1961, x). Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899 – 1986) weist zehn Jahre später, 1967– 1968, in This Craft of Verse ausdrücklich darauf hin, dass er sich in erster Linie als Leser verstehe (Borges 2000, 97). Borges, zu diesem

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Zeitpunkt fast ganz erblindet, führt aus dem Gedächtnis ein breites Spektrum von Autoren und Texten an, mit denen er sich im Laufe seines Lebens auseinandergesetzt hat (Mihăilescu 2000). Anhand dieser Beispiele erläutert er dann, wie er seine eigenen poetischen Präferenzen ausgebildet hat und wie diese in sein Schreiben eingegangen sind. So räumt er zum Beispiel der Musikalität und Metaphorizität in der Lyrik den Vorrang gegenüber dargestellten Inhalten ein und hält Charakterschilderungen in Narrativen für relevanter als Handlungsstrukturen. Sein freier Vortrag praktiziert jenen Publikumsbezug, den so viele Poetikdozenten thematisieren, allerdings hat das Fehlen eines Redemanuskripts lange das Erscheinen der Druckversion verzögert.

4 Ausweitung der Poetikvorlesungen in der Ära der Theorie In den 1960er und 1970er Jahren etablieren sich in Nordamerika zwei weitere, zentrale Vorlesungsreihen, in denen unter anderem auch Vorlesungen zur Poetik gehalten werden. Der kanadische Sender CBC Radio startet 1961 die Massey Lectures, eine Radiosendungsreihe, die von dem kanadischen Gouverneur Vincent Massey (1887– 1967) finanziert und nach ihm benannt wird. Die Massey Lectures gleichen inhaltlich eher den britischen Romanes Lectures, da sich hier Intellektuelle, Wissenschaftler und Amtsinhaber aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu relevanten Problemen ihrer Gegenwart äußern. Als Radiovortrag sind sie den Reith Lectures nachempfunden, welche die BBC seit 1948 organisiert (wobei die Reith Lectures sehr selten Vorträge zu den Künsten einschließen). Die Massey Lectures finden jährlich statt und bestehen in der Regel aus fünf Vorlesungen, die vor einem Publikum in Toronto gehalten und live im Radio übertragen werden. In den ersten 12 Jahren haben die Massey Lectures einen fast ausschließlich politischen Fokus. Die einzige Ausnahme bildet Northrop Fryes Vorlesung von 1962 The Educated Imagination (Frye 1964). Erst in den 1970ern und 1980ern erweitern die Organisatoren das Themenspektrum und laden vermehrt Autoren, Kulturjournalisten, Künstler oder Geisteswissenschaftler ein, die sich zu Fragen der Poetik äußern. Außerdem nehmen Vorlesungsreihen, die sich an ein allgemeines Publikum richten, in den 1970er Jahren an amerikanischen Universitäten stark zu. Viele Universitäten oder einzelne Fakultäten beginnen solche Reihen regelmäßig zu veranstalten. Am besten etabliert und die stärkste Verbreitung haben die Tanner Lectures on Human Values, die seit 1976 stattfinden. Die Hauptorganisation obliegt der University of Utah, in Salt Lake City, doch insgesamt neun amerikanische und

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britische Hochschulen (Oxford, Cambridge, Princeton, Harvard, Stanford, Yale, University of Utah, University of Michigan, University of California at Berkeley) sind ständige Mitglieder eines Konsortiums, das diese Vorlesungsreihe gemeinschaftlich verwaltet und an den eigenen Campus-Standorten organisiert. Daneben können sich auch andere Institutionen als Veranstaltungsort bewerben, weshalb gelegentlich Tanner Lectures an anderen Hochschulen im In- und Ausland stattfinden („Participating Universities“ 2018). Die Finanzierung der Tanner Lectures geht auf eine Spende des Professors und Industriellen Obert Tanner zurück, der von 1974 bis 1993 in Utah Philosophie lehrte („The Tanners“ 2018). Jeder Dozent hält zwei Vorlesungen, das Themenspektrum erfasst verschiedene Bereiche der Kunst sowie Geistes- und Sozialwissenschaften. Die meisten Tanner-Dozenten sind Wissenschaftler, nur vereinzelt werden Künstler oder Politiker eingeladen. Gleichzeitig zur Verbreitung des Vorlesungskonzepts finden aber auch inhaltliche Vorzeichenwechsel statt. In den 1970er Jahren verschieben sich die Inhalte der Norton Lectures zu sehr viel stärker theoretischen Fragestellungen, was wohl zu einem erheblichen Teil auf die theoretische Wende in den Geisteswissenschaften zurückgeht, aber auch gesellschaftspolitische Hintergründe haben könnte. Die öffentlichen Zweifel an dem gesellschaftlichen Nutzen von Literatur und Poetik, die in Frankfurt dazu führte, dass die Stiftungsgastdozentur von 1968 bis 1979 ausgesetzt wurde, haben vielleicht auch die Organisatoren von anderen Vorlesungsreihen beunruhigt. So lädt man vermehrt wieder Kritiker und Geisteswissenschaftler ein, die sich zu allgemeineren theoretischen Fragestellungen äußern. Das ändert ihren Charakter, da sie sich eher zu einer akademischen Vorlesungsreihe hin entwickeln. Fragen nach der konkreten Beziehung zwischen Künstlern und ihrem Publikum treten in den 70ern und 80ern völlig in den Hintergrund. Stattdessen präsentieren viele Poetikdozenten nun ideengeschichtliche oder theoriebezogene Argumente, in denen sie die Funktion und den gesellschaftlichen Nutzen von Kunst verteidigen. Explizit politische Diskussionen finden allerdings – den gesellschaftlichen Ereignissen der 1960er und 1970er Jahre zum Trotz – so gut wie gar nicht statt. Exemplarisch zeigt sich diese Vermeidungsstrategie in den kanadischen Massey Lectures der britischen Schriftstellerin Doris Lessing Prisons We Choose To Live Inside von 1985. Lessing widmet sich darin anthropologischen Fragen zum Barbarismus und der Gewalt unter Menschen. In ihren Anekdoten und Reflexionen zum allgemein Menschlichen liegt nur unterschwellig ein politscher Kommentar vor, sie vermeidet aber ausdrückliche Stellungnahmen. Auch literatursoziologische Aspekte der Narrativität oder Fiktionalisierung von Realitäten spielen kaum eine Rolle. Die politische Dimension ihrer Poetik zu diskutieren, bleibt hier den Interpreten überlassen.

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Viele Dozenten wählen literaturtheoretische oder ideengeschichtliche Themen und positionieren sich damit jenseits tagespolitischer Kontroversen. Paradigmatisch für diese Haltung sind vor allem die literaturhistorischen Vorlesungen Sincerity and Authenticity, 1969 – 1970, von Lionel Trilling, Children of the Mire. Modern Poetry from Romanticism to the Avant-Garde, 1970 – 1971, von Octavio Paz und In Defence of the Imagination, 1979 – 1980, von Helen Gardner. Trilling (1905 – 1975) verfolgt Diskurse zur Aufrichtigkeit (sincerity) und der Authentizität in der Literatur und Philosophie seit der Aufklärung, weil er diese als zentral für ein modernes Literaturverständnis hält und daran erläutern kann, inwiefern Literatur die Moralvorstellungen einer Gesellschaft widerspiegelt. Paz (1914– 1998) unterbreitet einen kulturhistorischen Überblick über Tendenzen in der Dichtung seit der Romantik, um zu erklären, wie diese dazu beiträgt, ein modernes Menschenbild und Selbstverständnis zu gestalten. Ganz ähnlich argumentiert er auch in seinen Tanner Lectures „Poetry and Modernity“, die er 1989 in Salt Lake City, Utah, hielt (Paz 1989). Gardner (1908 – 1986), die erste Frau unter den Norton Professoren, nimmt ebenfalls die Romantik als prägende Literaturepoche in den Blick und knüpft an den Diskurs zur Funktion der Imagination an. Sie bezieht sich ausdrücklich auf Percy B. Shelleys Essay A Defence of Poetry (1821) und setzt sich resolut von den Literaturtheorien der 1970er Jahre ab, insbesondere von dem Autorbegriff des Poststrukturalismus, den sie für allzu schwach hält. Poetikdozenten, die über poetische Prinzipien ihrer Arbeit als Künstler reflektieren, werden in dieser Zeit weniger oft gehört. Zu nennen wären hier die Tanner Lectures von 1981 A Writer from Chicago des amerikanischen Novellisten Saul Below und von 1983 A Writer from Mexico des mexikanischen Schriftstellers Carlos Fuentes, in denen es jeweils um den Einfluss der Heimatkultur auf das Schreiben geht. Der tschechische Dichter Czesław Miłosz lenkt 1981– 1982 in seinen Norton Lectures The Witness of Poetry ähnlich die Aufmerksamkeit auf die Verbindung von Orten, Zeiten und Literatur. Er bespricht die seiner Meinung nach häufig vernachlässigte, osteuropäische Dichtung und geht der darin vorherrschenden düsteren Grundstimmung sowie ihrer Funktion der historischen Zeugenschaft nach. Eine innovative Variante, die eigene Schreibpraxis gleichzeitig zu beschreiben wie auch ästhetisch und kulturhistorisch zu reflektieren, bieten die Norton Lectures Six Memos for the Next Millenium, geplant für 1985 – 1986, des italienischen Schriftstellers Italo Calvino. Diese Vorlesungen sind insofern bemerkenswert, weil sie als einzige nie als mündlicher Vortrag, sondern nur als Druckversion von 5 der 6 geplanten Vorlesungen veröffentlicht wurden, da Calvino am 19. September 1985 vorzeitig verstarb. Calvino erläutert anhand von einer Vielzahl literarischer Texte vermeintliche Kriterien für das Verfassen guter Texte, nämlich Leichtigkeit, Schnelligkeit, Exaktheit, Sichtbarkeit und Vielfältigkeit (Calvino

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1988), doch entgegen dem augenscheinlichen Gestus zur Schreibanleitung handelt es sich dabei um ästhetisch komplexe Reflexionen zur Literarizität. Er verbindet Elemente des Werkstattberichts mit vielfältigen Beispielen aus der Weltliteratur ebenso wie mit ästhetischer Theorie und führt auf diese Weise eine hybride Methode vor, die tatsächlich für die nachfolgenden Schriftstellergeneration wichtig werden wird. Umberto Eco deutet später seinen Vorgänger Calvino unter Einfluss der Rezeptionstheorie zu einer Theorieabhandlung um. In seinen Tanner Lectures von 1990 Interpretation and Overinterpretation. World, History, Texts, Cambridge, England, sowie seinen Norton Lectures von 1991– 1992 Six Walks in the Fictional Woods nutzt er Calvinos Poetikvorlesungen als Anlass, seine Theorie des idealen Lesers zu erläutern (Eco 1994; 1990). Auch die Norton Lectures zur Musik nehmen in den 1970er und 1980er Jahren einen stark theoretischen Charakter an. Der Pianist und Dirigent Leonard Bernstein (1918 – 1990) entwickelt in seiner Vorlesung The Unanswered Question von 1973 – 1974 eine vorläufige Theorie einer universellen Musikgrammatik analog zur Theorie der Generativen Grammatik von Noam Chomsky, um damit der seines Erachtens bislang unbeantworteten Frage „Woher Musik?“ (Bernstein 1976, 5) nachzugehen. Mit dieser Theorie einer angeborenen, kulturübergreifenden Musikalität begründet er dann seine Vorliebe für die Neoklassik mit Strawinsky als Hauptvertreter und distanziert sich von der Zwölftonmusik in der Tradition Arnold Schönbergs. Die Neoklassik versteht er als eine die Musik übergreifende Entwicklung und Reaktion auf die Romantik, weshalb er viele Beispiele aus der romantischen und modernistischen Literatur anführt (Bernstein 1976, 371– 421). Auch der Pianist Charles Rosen (1927– 2012) unternimmt 1980 – 1981 in The Romantic Generation den Versuch, eine die Musik übergreifende Perspektive zu entwickeln. Er beschreibt Parallelen und Wechselwirkungen in Musik, Literatur und Malerei der Romantik, um die Bedeutung dieser Epoche für die Gegenwart zu beschreiben. Er argumentiert, dass Kernbegriffe romantischer Ästhetik wie Fragment, Ironie, Sprache der Musik (Rosen 1993, Kap. 2) oder Landschaften und Ruinen (1993, Kap. 3) viele spätromantische Kompositionen anregten. Eine Vorlesung zur anhaltenden Bedeutung romantischer Musik und Theorie hält dann 1984 zum Beispiel auch der Musikwissenschaftler Leonard Meyer in seinen Tanner Lectures mit dem Titel Music and Ideology in the Nineteenth Century. Den deutlich poetischen und theoretischen Impetus dieser Poetikvorlesungen zur Musik verstärkt der amerikanische Komponist John Cage (1912– 1992) 1988 – 1989 in seinen experimentellen Vorlesungen I–VI. Cage entwickelt anhand einer computergestützten Methode, die er „Mesostik“ nennt, Theoriefragmente zu Texten, die graphisch zentriert um Kernbegriffe wie „Methode“, „Struktur“, „Intention“ oder „Nicht-Verstehen“ arrangiert sind (Cage 1990, 1– 6). In Fußnoten fügt er der Druckversion dann noch Fragen und Antworten aus dem Gespräch mit seinem

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Publikum bei. Die Druckfassung liefert somit ein vielstimmiges Arrangement und zollt damit als einzige der hier diskutierten Vorlesungen (über bloße Anredeformeln hinaus) der Oralität des Vortrags Tribut. Die Vorlesungen zur gestaltenden Kunst dagegen widersetzen sich der Tendenz zu einer theoretischen Position der Poetizität aller Künste. Von den Norton Lectures von 1970 – 1971 des amerikanischen Designers Charles Eames (1907– 1978), „Problems Relating to Visual Communication and the Visual Environment“ ist nur ein 6-minütiges Video veröffentlicht, worin er die Ästhetik von Grundstoffen in großen Mengen, wie Holz, Papier, Kreide und Seil, mit sorgfältig gestalteten Dias aufzeigt und kommentiert (Eames Demetrios 1993). Der amerikanische Kunsthistoriker James Cahill (1926 – 2014) beschreibt 1978 – 1979 in „The Compelling Image: Nature and Style in Seventeenth-Century Chinese Painting“ die Attraktion der Gemälde der Ming Dynastie (Cahill 1982). Der amerikanische Künstler Frank Stella (geb. 1936) nutzt seine Vorlesung 1983 – 1984 unter dem mehrdeutigen Titel „Working Space“, um den abstrakten Stil seiner Malerei dem Publikum näher zu bringen, indem er das Arbeiten in und mit Räumen und räumlichen Dimensionen beschreibt (Stella 1987). Ein wichtiger Theoriekomplex, auf den eine Reihe von Poetikdozenten in den 1970er und 1980er Jahren eingehen, ist das Verhältnis von Religion und Mythologie zur Kunst. Der amerikanische Schriftsteller und Literaturwissenschaft George Steiner (geb. 1929) nennt dieses Interesse schon im Titel seiner Massey Lectures von 1974 „Nostalgia for the Absolute“. Damit bezeichnet er das Bedürfnis, jene philosophische und moralische Leere zu füllen, die der Bedeutungsverlust der Religionen seit dem 19. Jahrhundert immer deutlicher bemerkbar gemacht habe (Steiner 2007, 1– 6). Mehrere Norton-Professoren suchen nun nach einem Kompromiss zwischen einem solchen Bedürfnis nach absoluten Werten und einer Position säkularisierter Aufgeklärtheit, indem sie eine neue Lesart religiöser und mythologischer Texte anbieten. Der kanadische Literaturwissenschafter Northrop Frye (1912– 1991) unternimmt 1974– 1975 in „The Secular Scripture: A Study of the Structure of Romance“ einen Strukturvergleich zwischen einfach verständlicher und populärer Literatur – er gebraucht dafür die Bezeichnung Romance – und dem, was er das „mythologische Universum“ nennt (Frye 1976). Der britische Literaturwissenschaftler Frank Kermode (1919 – 2010) schlägt 1977– 1978 in „The Genesis of Secrecy: On the Interpretation of Narrative“ eine Interpretationsmethode vor, welche auf der biblischen Exegese als hermeneutischem Modell des Textverstehens beruht (Kermode 1979). Der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom (1930 – 2019) untersucht dann zehn Jahre später, 1987– 1988, in „Ruin the Sacred Truths: Poetry and Belief from the Bible to the Present“ Affinitäten zwischen Dichtung und Glauben als antithetische Wissensformen, die

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an verschiedenen Stellen im Spektrum zwischen Wahrheit und Bedeutung angesiedelt sind (Bloom 1989).

5 Rückbesinnung auf Techniken und Arbeitserfahrungen seit den 1990er Jahren In den 1990er und 2000er Jahren widmen sich die Poetikdozenten wieder verstärkt praktischen Aspekten des Schreibens, Malens oder Komponierens. Diskussionen der Literatur- oder Ästhetiktheorien nehmen ab, dienen lediglich als Referenz- und Kontrastpunkte für die persönlichen Poetiken. Die Autoren, Musiker und Künstler sind einerseits mit den Theoriediskussionen der 70er und 80er Jahre vertraut und nehmen Impulse davon auf, andererseits widerstrebt ihnen aber eine allzu theorielastige Perspektive, welche von individuellen Motivationen und Erfahrungen abstrahiert. Im Gegensatz zur Nachkriegsphase, in der Poetiken der Lyrik stark dominierten, äußert man sich in den 1990er und im beginnenden 21. Jahrhundert schwerpunktmäßig zur literarischen Prosa, hier vor allem dem Roman, wobei sich allerdings nur wenige ausschließlich mit einer literarischen Gattung auseinandersetzen. Mit der Zuwendung gerade zum Gegenwartsroman geht auch einher, dass einzelne Dozenten sich verstärkt gesellschaftskritisch äußern. Der aus den 1960er Jahren bekannte Topos vom Autor als verarbeitender Leser wird dabei wieder aktuell. Besonders deutlich wird das in den Tanner Lectures „Reading and Writing“, Yale University 1991, des kanadischen Schriftstellers und Journalisten Robertson Davies (1913 – 1995). Besorgt um den Verfall der Lese- und Schreibfähigkeiten unter seinen Zeitgenossen macht er Leseverhalten zum Gegenstand seiner Reflexion. Zum einen animiert er seine Zuhörer, eine in die Tiefe gehende Lesepraxis zu kultivieren (Davies 1991, 71– 73), zum anderen beschreibt er Leseerfahrungen und -routinen als Mittel, eine „literarische Atmosphäre“ (Davies 1991, 96) zu erschaffen, innerhalb derer der kreative Schreibprozess sich entfalten kann. In seinen Norton Lectures „The Naive and the Sentimental Novelist“ von 2009 – 2010 bezieht sich Orhan Pamuk (geb. 1952) sowohl auf Horazʼ Diktum „ut pictura poiesis“ als auch auf Friedrich Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung, um seine Kriterien für gute Belletristik zu entwickeln (Pamuk 2011, 13 – 18, 95 – 96). Rückblickend auf seine eigenen Lektüren und Leseerfahrungen betont er dabei das Vermögen, individuelle Sichtweisen und Perspektiven anschaulich zu machen, und verfolgt Parallelen zwischen Visualisierungen in der Literatur, der darstellenden Kunst und dem Film.

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Durch Lektüre informierte, poetische Selbstreflektion erweist sich als besonders fruchtbar für Verfasser postkolonialer Texte, die sich kritisch mit dem Rassismus auseinandersetzen. In diesen Stellungnahmen zu Fragen der Rassendiskriminierung, der Apartheit, der Geschichte der Sklaverei und der Kolonisation kommen sehr viel deutlicher als bisher die politischen Dimensionen der Literatur zur Sprache. Auch die südafrikanische Schriftstellerin Nadine Gordimer (1923 – 2014) präsentiert sich in ihren Norton Lectures „Writing and Being“ von 1994– 1995 zuallererst als Leserin, allerdings als Leserin mit politischem Programm. Sie setzt sich kritisch mit dem Autorbegriff bei Roland Barthes auseinander, um dann anhand von eigenen wie fremden Romanen zu diskutieren, auf welche Weisen verschiedene Autoren aus Afrika und dem Nahen Osten Erfahrungen, Lektüren und politische Meinungen in ihre Narrative einfließen lassen (Gordimer 1995, 16 – 19). Gerade Kolonisation, Rassismus und politische Verfolgung, welche sie unter dem Apartheitsregime miterlebt hat, stellen für sie Schlüsselerfahrungen dar, die ihr Schreiben und ihre Lektüre informieren und motivieren (Gordimer 1995, 114– 115). Gleichzeitig widerstrebt ihr aber auch die unter Lesern verbreitete Annahme, dass Romane die Realität der Autoren mimetisch abbilden würden, zumal diese Auffassung häufig mit dem Vorwurf einhergehe, Autoren plünderten unzulässig die Biographien ihrer Mitmenschen (Gordimer 1995, 4– 7). Salman Rushdie (geb. 1947) verfolgt in seinen Tanner Lectures „Step Across This Line“, Yale University 2002, das Thema „Grenzen“ sowie „Grenzerfahrung“ und „Überwinden von Grenzen in der Weltliteratur und -geschichte“. Er setzt seine eigene Biographie und sein politisches Engagement in Beziehung zu ästhetischen, politischen und historischen Grenzüberschreitungen und liefert so eine implizite Rechtfertigung für jene Transgressionen und Tabubrüche, für die er berühmt geworden ist (Rushdie 2004). Auch Toni Morrison (1931– 2019) präsentiert sich als Leserin und Kennerin der Geschichte in ihren Poetikvorlesungen, um so Kritik am Literaturbetrieb ebenso wie an gesellschaftlichen Missständen zu entwickeln. In ihren Tanner Lectures „Unspeakable Things Unspoken: The Afro-American Presence in American Literature“, gehalten in Ann Arbor, Michigan, 1988, kritisiert Morrison den Kanon amerikanischer Literatur und plädiert dafür, mehr afro-amerikanische Schriftsteller darin aufzunehmen (Morrison 1988, 126 – 127). In ihren Norton Lectures „The Origin of Others“ von 2015 – 2016 liest sie vor allem historische Dokumente und reflektiert die Widerstände und Herausforderungen, die sie dabei erfahren hat, sich kritisch mit dem sozialen Konstrukt „Rasse“ auseinanderzusetzen. Einerseits erklärt sie, wie historische Zeugnisse brutaler und entwürdigender Sklavenmisshandlungen ihre Überzeugung nähren, dass die Literatur die fundamentale Aufgabe übernehmen sollte, Mechanismen des „Othering“ zu hinterfragen und auszusetzen (Morrison 2017, 15, 38 – 39); andererseits möchte sie ver-

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meiden, in eine afro-amerikanische Nische gedrängt zu werden (Morrison 2017, 51). Morrison verweist damit indirekt auch auf eine soziale Funktion der Literatur, in der Narrative Wahrnehmungen des Selbst und der Anderen ermöglichen und so dazu beitragen, Gemeinschaften und gemeinschaftliche Identitäten auszubilden. Eine solche soziale Funktion der Literatur spielt ebenfalls eine zentrale Rolle in den Massey Lectures „The City of Words“ von 2007 des argentinisch-kanadischen Schriftstellers Alberto Manguel (geb. 1948). Vom Gilgamesh-Epos über Cervantes Don Quixote bis hin zu Alfred Döblins literarischem Werk verfolgt Manguel, wie Fiktionen und Narrative „unserem Realitätssinn Worte verleihen, sowie dem Beobachtungslernen, der Übermittlung von Erinnerungen, als Anleitung oder als Warnung dienen können“ (Manguel 2007, 10), und dadurch Gefühle der Identifikation und der Zusammengehörigkeit entstehen lassen. Manguels Poetikvorlesung steht in der Tradition jener Massey Lectures, in denen der narrative turn der 1990er Jahre zu einer neuen Wertschätzung von Erzählverfahren und Fiktionalisierungen führt. Auch hier macht sich die Tendenz zu einer eher angewandten, theoretisch informierten, aber nicht theorielastigen Poetik deutlich bemerkbar. Der kanadische Journalist Robert Fulford (geb. 1932) verfolgt 1999 in „Triumph of Narrative“ den Stellenwert der Narration weit über die Literatur hinaus und beschreibt die Geschichte der Erzähltechniken als Triumphzug (Fulford 1999). Der Literaturwissenschaftler Hugh Kenner (1923 – 2003) stellt 1997 unter dem Stichwort „The Elsewhere Community“ Begegnungen wie Reiseerfahrungen, Schriftstellerfreundschaften und Mentorenverhältnisse unter Schriftstellern der Moderne zusammen, um auf die Bedeutung von Vernetzung und Weltwissen hinzuweisen (Kenner 1998). Der kanadische Schriftsteller Thomas King (geb. 1943) stellt seine Überlegungen zu Erzählverfahren 2003 in Bezug zu einer postkolonialen Perspektive auf die Situation der kanadischen Bevölkerung indianischer Abstammung. Unter dem ironischen Titel „The Truth About Stories“ macht er auf die Schwierigkeiten aufmerksam, seine indianische Herkunft und das Kulturerbe einheimischer Stämme mit seiner Identität als moderner, urbaner Schriftsteller und Intellektueller zu vereinen. Dabei inszeniert er widersprüchliche, ambivalente und unentscheidbare Erfahrungen und Positionen, um zu demonstrieren, wie gerade Narrative dieser Art Komplexität Ausdruck verleihen können (King 2011). Im Zuge dieser neuen Wertschätzung narrativer Verfahren lässt sich gerade in den kanadischen Massey Lectures auch eine neue Affinität zur Wissenspoetik beobachten. Über die Grenzen von Kunstformen und Gattungen hinweg verfolgen mehrere Poetikdozenten medien- und diskursübergreifend die Darstellungen bestimmter Themenkomplexe, um Wissenskonstellationen nachzuzeichnen. Die ersten Vorlesungen dieser Art hält schon 1974 der amerikanische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler George Steiner. In seinen Massey Lectures „Nostal-

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gia for the Absolute“ präsentiert er einen ideengeschichtlichen Überblick über Erfahrungen mit und Reaktionen auf Werteverluste(n) in der Moderne (Steiner 2007). In seinen Norton Lectures „Lessons of the Master“ nimmt er 2001– 2002 Beschreibungen von Lehrer-Schüler-Interaktionen in den Blick, um einen humanistisch-künstlerischen Bildungsbegriff vom wissenschaftlich-technischen abzugrenzen (Steiner 2003). Während Steiner selbstreflexiv das Wissen über die Wissensvermittlung untersucht, verfolgen verschiedene Poetikdozenten in den Massey Lectures Themen wie „Winter“, „Blut“ und „Schulden“ in ihren historischen, ästhetischen, politischen und ökonomischen Dimensionen. Die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood (geb. 1939) verfolgt 2008 in „Payback. Debt and the Shadow Side of Wealth“ im Stil einer kulturwissenschaftlichen Essayistik Konstruktionen und Zusammenhänge von moralischer Schuld und finanziellen Schulden in Literatur, Film und Ökonomie (Atwood 2009). Der kanadische Journalist Adam Gopnik (geb. 1956) kontrastiert 2011 in „Winter. Five Windows on the Season“ poetische, technische und wissenschaftliche Perspektiven auf eine Jahreszeit, um die Konstruktivität von Naturphänomenen herauszustellen (Gopnik 2011). Der kanadische Schriftsteller Lawrence Hill (geb. 1957) diskutiert 2013 in „Blood. The Stuff of Life“ in ähnlicher Weise die Künstlichkeit des vermeintlich Natürlichen, indem er naturwissenschaftliche, politische und ästhetische Diskurse zu Körperlichkeit, Sterblichkeit und biologischem Essentialismus gegenüberstellt (Hill 2013). Wissenspoetische Poetiken bleiben aber nicht auf die Massey Lectures beschränkt. In seinen Tanner Lectures „Shakespeare and the End of Life History“, gehalten in Princeton, New Jersey, 2012, nimmt der amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt (geb. 1943) die Darstellung des alternden King Lear zum Anlass, die Evolution der natur- und sozialwissenschaftlichen Life Studies zu verfolgen (Greenblatt 2012). Die Musiker unter den Poetikdozenten suchen in dieser Zeit wieder verstärkt nach Beziehungen zwischen Musik und Literatur. In seinen Norton Lectures „Concerto Conversations“ von 1997– 1998 macht der amerikanische Musikologe Joseph Kerman (1924– 2014) den deutschen Begriff Klangkörper zum Ausganspunkt seiner Überlegungen und beschreibt Musik anhand von räumlich-materiellen Metaphern wie Textur, Polarität und Reziprozität (Kerman 1999). Angeregt von der Literaturkritik Frank Kermodes macht sich Kerman auf die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen Literatur und Musik. Beide Künste antworteten, so meint er, auf „einen Bedarf, menschlich von der Bedeutung eines Lebens mit Bezug zur Zeit zu sprechen, einen Bedarf, im Augenblick der Existenz zu einem Anfang und einem Ende zu gehören, sich dazu in Beziehung zu setzen“ (1999, 125 – 126). Der israelische Dirigent und Pianist Daniel Barenboim (geb. 1942) erläutert 2006 – 2007 in „Sound and Thought“ wie er Prinzipien der Komposition in

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der praktischen Philosophie Spinozas ebenso wie in seinem politisch-kulturellem Engagement reflektiert sieht. Dabei bedient er sich sowohl musikologischer Analysen einzelner Stücke von Bach und Beethoven als auch philosophischer Erörterungen zu Spinozas Ethik sowie Narrative über seine Zusammenarbeit mit israelischen und palästinensischen Musikern im West Eastern Divan Orchestra (Barenboim 2008). Er führt seine Poetik mittels eines Montagestils vor, bei dem ästhetische, ethische, politische und literarische Element zueinander in Beziehung gesetzt werden. Ein transdisziplinärer Ansatz motiviert auch die Norton Lectures „The Ethics of Jazz“ von 2013 – 2014 des amerikanischen Jazzpianisten Herbie Hancock (geb. 1940). Auf dem Youtube-Kanal des Mahindra Humanities Center sieht man Hancock am Klavier spielend erläutern, inwiefern seine Kompositionen und Improvisationen auf einer buddhistischen Ethik beruhen (Herbie Hancock: The Ethics of Jazz 2014). Die Dozenten aus der darstellenden Kunst halten sich der Tradition ihrer Vorgänger folgend eher damit zurück, über die Grenzen der Malerei hinweg nach übergeordneten poetischen Prinzipien zu suchen. Die Kunsthistorikerin Linda Nochlin (1931– 2017) verfolgt 2003 – 2004 in „Bathers, Bodies, Beauty: The Visceral Eye“ Darstellungen von Bade- oder Todesszenen, in denen historisch primär weibliche Körper inszeniert wurden. Unter dem Schlagwort visceral eye (verinnerlichtes Auge) plädiert sie für eine Bildbetrachtung, die sich sowohl der eigenen kulturellen Prägung als auch der historischen Sichtweisen und Sehkonventionen bewusst wird, um zu analysieren, inwiefern Gemälde alternative oder gegenläufige Perspektiven, Sichtformationen oder Sehpraktiken anbieten (Nochlin 2006). Der südafrikanische Künstler William Kentridge (geb. 1955) präsentiert seine Vorlesung von 2011– 2012 schon im Titel „Six Drawing Lessons“ als Werkstattbericht. Seine Beschreibungen von Materialien und Arbeitsweisen ergänzt er aber auch mit theoretischen Reflexionen zur platonischen Philosophie oder zum Verhältnis von Aufklärung und Rassismus (Kentridge 2014). Auch diese Vorlesungen zur Kunst versuchen also Praktiken, Praxis und theoretische Impulse miteinander in Beziehung zu setzen.

6 Professionalisierung der Poetikvorlesungen in der Medienkonkurrenz Im 21. Jahrhundert lässt sich beobachten, wie ein neuigkeits- und informationshungriges Online-Publikum Videoaufnahmen von Lesungen und Vorträgen rezipiert und damit öffentlichen Vorträgen gerade populärwissenschaftlicher Art Vorschub leistet. Die Universitäten sehen sich in der Konkurrenz zu gestylten und

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straff durchorganisierten Veranstaltungen wie den TED Talks. Diese begannen 1984 in Kalifornien als elitäre Konferenz zu Technologie, Erziehung und Design. Die Veranstaltung wuchs im 21. Jahrhundert zu einer der wichtigsten populärwissenschaftlichen Veranstaltungsreihen für die Vermittlung von akademischen und technischen Innovationen an ein breites Publikum. Das online zugängliche Videoformat und die mit 18 Minuten relativ kurze Dauer trugen dazu bei, es zu einem globalen Phänomen werden zu lassen. Seit 2011 regt das universitäre TEDxProgramm zur Nachahmung an, indem an Hochschulen Vorträge und Konferenzen nach dem TED-Modell veranstaltet werden. Die Veranstaltungsorganisation der Poetikvorlesungen an den Universitäten wird daran anschließend auch zunehmend professionalisiert. So übernimmt an der Harvard University seit 2011 das neu gegründete Mahindra Humanities Center die Organisation der Charles Eliot Norton Lectures. In Oxford existiert seit einiger Zeit ein Event Office, welches ausschließlich mit der Betreuung und Organisation von universitären Veranstaltungen wie den Romanes Lectures beauftragt ist. Die Bereitstellung zugänglicher Videoaufnahmen online wird auf diese Weise häufiger, was gerade bei Musikern wie Herbie Hancock eine Veröffentlichung im Druck überflüssig macht. Doch nicht nur organisatorisch, auch inhaltlich machen sich im Zuge der Konkurrenz zu den vielfältigen Vortragsangeboten im Internet Veränderungen bei den Poetikvorlesungen bemerkbar. Am deutlichsten wird dies bei Isabel Allende (geb. 1942). Die chilenische Schriftstellerin hält sowohl 2007 einen TED Talk, „Tales of Passion“, als auch 2009 die Tanner Lecture „In the Hearts of Women“ in Salt Lake City, Utah, über Missbrauch und Diskriminierung von Frauen weltweit, um für die Unterstützung von Frauenrechtsgruppen zu werben. Ihre Tätigkeit als Schriftstellerin erwähnt sie lediglich als Erläuterung dafür, dass sie diverse Anekdoten über weibliche Leiden und Leidenschaft erzählt (Tales of Passion 2007; Allende 2009). Die Poetik tritt also eine Symbiose mit ihrem Aktivismus ein. Auf der anderen Seite beeinflussen poetische Konzept auch zusehends den neuen Vortragsstil. Diverse TED Talks und TED Talk Ratgeber widmen sich jener narrativen Vortragstechnik, die als „Storytelling“ in Politik, Management und Pädagogik popularisiert wird (Hachmann 2018, 7– 11). Damit kündigt sich an, dass ein breit angelegtes Verständnis von Poetik vermehrt auch auf andere Gesellschaftsbereiche Einfluss nimmt. Eine weitere Veränderung der letzten Jahre ist, dass Organisatoren auch Regisseure einladen. 2010 gibt der amerikanische Filmregisseur Spike Lee die Tanner Lectures „America through My Lens: Evolving Nature of Race and Class in the Films of Spike Lee“ in Salt Lake City, Utah (Lee 2010). 2013 trägt Claude Lanzmann seine Tanner Lecture „Resurrection“ in der Residenz des US-amerikanischen Botschafters in Paris vor, in der er von den Herausforderungen seines Großprojekts Shoah (1985) berichtet (Lanzmann 2013). 2018 halten dann die Re-

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gisseure Wim Wenders, Agnès Varda und Frederick Wiseman in einer Ringvorlesung nacheinander je zwei Norton Lectures unter dem Oberthema „Cinema“. Insbesondere Wenders geht auf den Poetikbegriff ein und sucht nach Anschlussmomenten zwischen Film und anderen Künsten, indem er seine zweite Vorlesung unter dem Titel „Poetry in Motion“, 9. April 2018, den poetischen Aspekten des Films und des Tanztheaters von Pina Bausch widmet (Zuzovsky 2018). Der Begriff Poetik erweist sich im 21. Jahrhundert in den anglo-amerikanischen Poetikvorlesungen als noch elastischer und erweiterungsfähiger als zuvor. Eine Poetik, die als selbst reflektierendes, kreatives Schaffen verstanden wird, steht im Mittelpunkt dieser Vorlesungsreihen. Sowohl die Aufnahme vielfältiger Kunstformen als auch zahlreicher Kunst- und Literaturwissenschaftler verleiht den anglo-amerikanischen Poetikvorlesungen grundsätzlich ein breiteres Themenspektrum, als man es in den deutschsprachigen Pendants beobachtet, wo der Schwerpunkt sehr viel stärker – wenn auch nicht ausschließlich – auf Vorträgen zu literarischen Formen liegt. Dass man so den Poetikbegriff von der sprachlichen Form loslöst, und dieser dabei seine Konturen verliert, lässt sich natürlich bedauern, hinterfragen oder ablehnen. Es sei aber darauf hingewiesen, dass Poetikvorlesungen einen Anspruch auf terminologische Genauigkeit weder erheben noch voraussetzen und dass keine Anstrengung zur wissenschaftlichen Systematik eingefordert werden kann. Als Forum der Selbstexplikation ebenso wie zur Reflexion von Kunst generell bieten diese Vorlesungsreihen Gelegenheiten, Kreativität sprachlich und performativ Ausdruck zu verleihen und dabei Methoden, Funktionen und Motivationen künstlerischer Expressivität zu verbalisieren. Die Vielfältigkeit der Stile, die Heterogenität der Inhalte und die Idiosynkrasien ihrer Methoden, die zwischen Fiktion, Wissenschaftlichkeit, Autofiktion, Essayistik und Rezitation changieren, machen gerade das Wesen dieser medial hybriden Veranstaltungen aus.

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Johanna Bohley

1.3.3 Vorgeschichte(n) der deutschsprachigen Poetikvorlesungen: Verwandte Vorläufer Der Versuch, die deutschsprachigen Poetikvorlesungen und das ihnen zugrundeliegende Gründungsmodell der Frankfurter Stiftungsgastdozentur für Poetik aus dem Jahr 1959 von seiner historischen Entstehung her einzuordnen, begegnet zunächst der Schwierigkeit, dass sich aufgrund ihrer besonderen Bezeichnung keine direkten Vorläuferformate ausfindig machen lassen. Als Vorlesungen, die Literatur-Produzierende an einer Universität halten, in denen sie Aussagen zur Literatur und Poetik treffen, grenzen sich Poetikvorlesungen vor allem von ihrem besonderen Zuschnitt her von anderen Dichterreden wie z. B. Akademie- und Preisreden ab, da diese unter anderen Vorzeichen stattfinden und zumeist als kürzere Reden konzipiert sind. Auch da sie als Festreden auf einen Abend beschränkt und thematisch auf die Auszeichnung bezogen sind, differieren sie vom größeren Format. Dennoch ergäbe sich ein falsches Bild, wenn man Poetikvorlesungen ausschließlich als Einzel- bzw. Originalformat ab ihrer Entstehung bzw. Gründung betrachten würde und ihre ferner verwandten Traditionslinien ganz unberücksichtigt ließe. Denn ihr besonderes Ansehen ist auch auf ihren akademischen Veranstaltungsort und darauf zurückzuführen, dass sie mit einer langjährigen Kultur-, Ideen- und Institutionengeschichte in Verbindung gebracht werden. In diesem Sinne werden sie als von Dichtern gehaltene öffentliche Vorträge an einer Universität einer langjährigen akademischen Vorlesungs- und Vortragskultur zugerechnet, deren Einfluss gleichermaßen deren Inhalte und Wahrnehmungen steuert. Ebenso reihen sich Poetikvorlesungen besonders durch ihre eigene Bezeichnung in die Poetiken von der Antike bis zur Gegenwart ein. Schlussendlich zählen sie zu anderen Vortrags- und Redeformen von Dichtern und Schriftstellern und bilden daher ferne Verwandtschaften mit Akademie- und Preisreden, anderen Vorlese- und Vortragsformaten von Schriftstellern, Dichterund Autorenlesungen, Werkstattgesprächen, Interviews u.w., von deren Aussagegehalt her sie sich nur bedingt abgrenzen lassen (s.o.).

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1 Lehrstühle für Schöne Künste Deutschsprachige Poetikvorlesungen folgen einer paradoxalen Logik, nach der sie, obwohl in ihnen so formelhaft wie nachdrücklich darauf hingewiesen wird, keine Poetik zu formulieren, dennoch als Dichtungstheorie(n) rezipiert und unter diesem Aspekt bewertet werden. Sowohl Kritiken und Rezensionen als auch literaturwissenschaftliche Forschungen beziehen sich auf die zentralen Aussagen einer Poetik im Sinne einer Dichtungstheorie und werten sie daraufhin aus. Damit steht das Reden über das Schreiben, auch wenn es im Sinne einer autorspezifischen Poetologie erfolgt, in einer historischen und theoretischen Verwandtschaft zur Poetik und kann somit selbst als Poetik aufgefasst werden (s. Kap. 2.1 Gattung). Historisch reichen sowohl die Dichterrede als auch das allgemeine Sprechen über Dichtung im Sinne einer Poetik bis in die Antike zurück. Die Anfänge für das Nachdenken über Dichtung werden auf Homer in der „Ilias“ und „Odyssee“ sowie Hesiods „Theogonie“ auf die Zeit um 700 v.Chr. datiert (Zymner 2007, 592). Als der der Gattung Poetikvorlesung am nächsten stehende, verwandte historische Vorläufer gelten die Lehrstühle für Schöne Künste dar, die belegen, dass Vorlesungen über Dichtung von Dichtern an Universitäten keine Erfindung des 20. Jahrhunderts sind. In den Artistenfakultäten des 16. Jahrhunderts, die wiederum als Vorgänger der Philosophischen Fakultäten gesehen werden können, lehrten ebenfalls Dichter-Philologen bzw. Poeta Laureata. Ebenso wurden Lehrstühle für Rhetorik und Schöne Künste an Universitäten mit Dichtern besetzt, die als Poetae Docti einem bestimmten Gelehrtentypus entsprachen. An den Universitäten und insbesondere an der Universität Königsberg gab es um 1730 Professuren für Deutsche Rhetorik um 1730, in denen neben Rhetorikvorlesungen auch Rhetorikübungen stattfanden (Weimar 2003, 40). Im Zuge der Aufklärung etabliert sich ein Typus des Poeta philosophicus. Auf einem Lehrstuhl für Ästhetik und Theorie der schönen Wissenschaften begründete Johann Christoph Gottsched eine rhetorische Poetik (Weimar 2003) mit normativ-präskriptiven Anteilen. Deskriptive Poetiken wie Nachahmungsästhetiken folgten. Johann Georg Sulzers „Allgemeine Theorie der schönen Künste“ (1771– 1774) entwickelte eine Wirkungsästhetik (Till 2004, 530), bei der der Künstler „– durch eine empirische Psychologie angeleitet – die in der Welt beobachtbaren Kausalitäten von Ursache und Wirkung erforschen und in das Kunstwerk umsetzen“ (Till 2004, 530) sollte. Sowohl die Poetikdefinitionen im Umfeld von Aristoteles als auch die normativen Poetiken des 18. Jahrhunderts bilden Vorläuferformate, die mit Poetikvorlesungen insofern verwandt sind, als sie zentrale Definitionen des Literarischen und der Poetik sowie ebenso gelehrte Aussagen von Dichtern betreffen.

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Dies berührt entweder Kontinuitäten in der Frage, was Dichtung bzw. Literatur ist oder Reflexionen zu wirkungs- oder produktionsästhetischen Fragen. Sowohl diese klassischen als auch die auf den Lehrstühlen für die Schönen Künste entwickelten normativen Poetiken formulieren im Sprechen über Dichtung grundlegende Parameter. Sowohl durch Abgrenzungen, Kontinuitäten als auch Identifikationen können sich Poetikvorlesungen zu diesen Vorläufern in Beziehung setzen, selbst wenn sich der Modus im Sprechen über Poetik im Hinblick auf normative Aussagen in Poetikvorlesungen gewandelt hat.

2 Romantische Dichterreden, Dichterlesungen, Akademiereden, Preisreden, Radio Eine Mischform gelehrter und öffentlichkeitswirksamer Vorlesungen etabliert sich mit spezifischen Vorlesungsformaten, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt wurden. Wie Sean Franzel in Connected by the Ear. The Media, Pedagogy, and Politics of the Romantic Lecture (2013) gezeigt hat, emanzipierten sich in der Sattelzeit um 1800 die universitären Vorlesungen von einer traditionellen Lehre hin zu sowohl gelehrten als auch unterhaltenden Redeformaten und öffneten sich für die Gesellschaft. Im 18. Jahrhundert zeichnet sich bereits die Entwicklung ab, das Fachwissen an eine gebildete Öffentlichkeit weiterzugeben. Diese frühen Wissenspopularisierungen lassen sich auf den Wissenszuwachs sowie auf ein bürgerliches Interesse an Bildung zurückführen. Die Vorlesungen über naturwissenschaftliche, literarische und philosophische Fachgegenstände für die Gesellschaft wurden in Form von gleichermaßen gelehrten wie unterhaltenden Vorlesungen dargeboten. Sowohl der Gegenstand selbst als auch die Redekunst des Gelehrten gerieten dabei zum besonderen Ereignis, bei dem der wissenschaftliche Gelehrte in idealisch begeisterter Weise sein Wissen vermittelte. Diese Entwicklungen setzen mit den Vorlesungen von Karl Philipp Moritz und Johann Gottfried Herder, ebenso Friedrich Schiller, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder Alexander von Humboldt ein. Die Brüder August und Friedrich Schlegel führten diese Tradition weiter und etablierten wirkungskräftige Vorlesungszyklen zur Literatur in Wien, Dresden und Berlin. Die Themen umfassten dabei das weite Spektrum von der Geschichte der Nationalliteratur und Literaturgeschichte zur romantischen Literaturkritik. Daraus ergab sich der Umstand, dass sich Friedrich Schlegel selbst in eben jene Literaturgeschichte einordnete, die seine Vorlesungen als Literatur schrieben (Polaschegg 2019, 104).

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Ab 1800 bildet sich im Zuge der Napoleonischen Befreiungskriege mit Johann Gottlieb Fichte und Adam Müller der Typus des romantischen politischen Intellektuellen aus, der ebenso als Staatsredner in Erscheinung trat (Franzel 2013, 175). In der romantischen Vorlesung wird der romantische Gelehrte „monumentalisiert“, indem er sowohl sich selbst als auch seiner Rede ein Denkmal setzt. Seine Vorlesung ist somit doppelt dialogisch konzipiert und darauf festgelegt, beides, sowohl ein Ideal der Rede als auch ihres Gegenstands, zu repräsentieren. Hierzu stellt Franzel fest: „Romantic visions of the lecture as dialogue thus become a lens through which to appreciate both the ideal and the ideology of the Romantic scholar, both the limitations and the utopianism of imagining scholarly instruction as ideal public speech, a contradiction that helps to account for the lecture’s prominent and vexed role in the academic, cultural, and political life of the past two hundred years“ (Franzel 2013, 220). Aufgrund dieser nicht unproblematischen historischen Traditionen erklärt sich der Anti-Inszenierungsgestus einiger Poetikvorlesungen, der sich sowohl als formelhafter Bescheidenheitstopos als auch als generelle Verweigerungsgeste gegenüber dem Genre selbst äußert. Denn mit ihm werden intentional jene Einflüsse einer monumentalisierenden Vorläufertradition abgewehrt, wenngleich es sich auch bei Poetikvorlesungen um gelehrte Reden von Dichtern handelt, die auf das Ideal ihres Gegenstands Literatur bezogen ist. Ein weiterer historischer Einfluss zeigt sich in Dichterlesungen sowie Rezitationen. Parallel zur neuen Lesekultur, den Buchmarktentwicklungen des 18. Jahrhunderts und den romantischen Dichterreden bildet sich eine spezifische Rezitationskunst heraus. Diese vereint eine klassisch-romantische Schriftkultur mit der Stimme und wird von Lothar Müller als „Echoräume der Literatur“ (Müller 2007) bis in das 20. Jahrhundert nachgezeichnet. Als Rezitations- und Redekunst bestimmt sie neben dem Theater auch die Lesegesellschaften, Teezirkel, Salons des 18. Jahrhunderts und öffentliche Dichterlesungen, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert entstehen. Ende des 19. Jahrhunderts finden Autorenlesungen und Vortragsabende der „Freien litterarischen Gesellschaften“ und weiterer Lesevereine, Lesekränzchen sowie akademisch-dramatischer Vereine statt. Diese Lesungen wurden anfangs ebenfalls als Vorlesungen bezeichnet (Tgahrt, 1984, 266 – 68). Im 20. Jahrhundert kommen weitere Vortragsformate bei den Expressionisten, Dadaisten und dem literarischen Kabarett hinzu. Rainer Maria Rilke begibt sich 1919 auf eine Schweizer Vortragsreise, wo er in Zürich vor sechshundert Menschen spricht (Tgahrt, 1995, 313 – 315). Berühmt wurden Else LaskersSchülers Lesungen, wie denn auch Franz Kafkas Äußerungen zum Vorlesen vor seinen Schwestern sowie im Rahmen des Prager Autorenabends hinlänglich anekdotisch bekannt sind.

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Wenngleich von diesen Ereignissen noch keine Tonaufnahmen existieren, erhält kurz darauf mit der Erfindung des Radios die Stimme des Dichters eine neue, weitreichende Funktion. Alfred Döblin erkannte in seiner Rede „Literatur und Rundfunk“ im Akustischen eine wichtige Säule der Literatur (Döblin 1929). Seinen Versuch, den Hörfunk für die Literatur zu öffnen, stellte er bei einer Tagung der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste im Jahr 1929 in Kassel vor. Sowohl das neue Genre von Dichterreden im Radio als auch die Zunahme der Jubiläen- und Festreden sowie der in Akademien gehaltenen Reden lassen sich als direkte Vorläufer der Poetikvorlesungen sehen. Dennoch sind sie weniger als individuelle Poetik zu verstehen, sondern bleiben als pragmatische Textsorte anlassbezogen. So lässt sich mit dem neuen Redeformat ebenso ein gewandeltes Bild des Schriftstellers konstatieren, das die Fragen zur Literatur im literarischen Kontext behandelt. Prominent hierfür ist das Jubiläum zu Goethes 100. Todestag, zu dem nicht nur Thomas Mann seine Rede „Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters. Rede zum 100. Todestag Goethes“ 1932 in der Preussischen Akademie der Künste zu Berlin (Mann 1932), sondern neben vielen weiteren Gottfried Benn, Friedrich Gundolf, Emil Ludwig, Jakob Wassermann und Hermann Hesse Reden hielten. Eine weitere verwandte Variante, die sich der öffentlichen Anordnung und Thematik von Poetikvorlesungen annähert, stellt der Georg-Büchner-Preis dar, der 1923 gegründet wurde und ebenfalls jährlich von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben wird. Als feierliche Festvorträge, die auf das Leben und Werk Georg Büchners bezogen sind, gehen von ihnen häufig literarisch-gesellschaftliche Debatten aus. Auch diesen Erwartungshorizont teilt sich das Format mit den Poetikvorlesungen.

Literaturverzeichnis Döblin, Alfred. „Literatur und Rundfunk“. Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Olten/Freiburg im Breisgau 1989: 251 – 260. Franzel, Sean. Connected by the Ear. The Media, Pedagogy, and Politics of the Romantic Lecture. Evanston, IL 2013. Mann, Thomas. Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters. Rede zum 100. Todestag Goethes, gehalten am 18. 3. 1932 in der Preussischen Akademie der Künste zu Berlin. Berlin 1932. Müller, Lothar. Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kafka. Berlin 2007. Polaschegg, Andrea. „Unbotmäßige Literaturgeschichtsschreibung deutsch. Friedrich Schlegels Wiener Vorlesungen ‚Geschichte der alten und neuen Literatur‘ (1812)“. Über Wissenschaft reden. Studien zu Sprachgebrauch, Darstellung und Adressierung in der

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deutschsprachigen Wissenschaftsprosa um 1800. Hrsg. von Claude Haas und Daniel Weidner. Berlin 2019: 100 – 124. Tgahrt, Reinhard (Hrsg.). Dichter lesen. Bd. 2: Jahrhundertwende. Stuttgart/Marbach 1989. Tgahrt, Reinhard (Hrsg.). Dichter lesen. Bd. 3: Vom Expressionismus in die Weimarer Republik. Stuttgart/Marbach 1995. Till, Dietmar. Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2004. Weimar, Klaus. Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2003. Zymner, Rüdiger. „Poetik“. Metzler Lexikon Literatur. Hrsg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. Stuttgart 2007: 592 – 594.

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1.3.4 Geschichte der deutschsprachigen Poetikvorlesungen ab 1959 Die erste Poetikvorlesung in Deutschland wurde mit der Frankfurter Stiftungsgastdozentur für Poetik im November 1959 ins Leben gerufen. Anfangs als offenes Format konzipiert und als „Frankfurter Vorlesungen“ bezeichnet, finden die Reden von Schriftstellern an der Universität bis heute seit nunmehr über sechzig Jahren regelmäßig statt. Innerhalb der ab 1980 einsetzenden Pluralität unterschiedlicher Poetikvorlesungen bildet die Frankfurter Gründung die maßgebliche Orientierung für die Gattung. Als Vorbilder für die Poetikvorlesungen nannte der Anglist Helmut Viebrock in seiner Gründungsrede die Oxforder und HarvardLectures nach dem Vorbild des englischen Chair of Poetry und des amerikanischen Poet in Residence. Doch der von der Universität Oxford stammende Chair of Poetry besetzt in langjähriger jahrhundertelanger Tradition die Lehrstuhlformate für Poesie vor allem mit Wissenschaftlern und weniger mit Dichtern (s. hierzu 2.2.1). In Abgrenzung hierzu stellen die Frankfurter Poetikvorlesungen ein akademischwissenschaftliches Format dar, bei dem als Versuch eines wirklichkeitsnäheren Sprechens über Dichtung „in Frankfurt der Dichter selbst zu Wort“ kommt (Volk 2003, 81). Die Vorlesungen waren vom Prinzip her als offene Versuchsanordnung angelegt, da vorgesehen war, dass sich die Poetikvorlesung erst „in freier, noch zu findender Form“ (Volk 2003, 81) entwickelt. An zweiter Stelle war die Vorgabe formuliert, dass die Vorlesungen von ihren Inhalten her eine „Brücke zwischen Dichtkunst und der Wissenschaft bilden“ (Volk 2003, 82). Drittens zielte die Poetikdozentur nicht nur auf Adressaten wie die allgemeine Öffentlichkeit ab, sondern auf die Zielgruppe der Studierenden, da die Vorlesung ebenso als „Praxisgespräch zwischen dem Dozenten und seinem (studentischen) Publikum“ (Volk 2003, 82) konzipiert war. Insbesondere war dies zusätzlich durch die von den eingeladenen Dozenten unterrichteten Seminare gegeben, die in die universitäre Lehre integriert waren. Somit ruhte die Veranstaltung auf dem sprechenden Schreibenden, der im Austausch mit dem Publikum und besonders mit den Studierenden steht. Abgesehen vom Veranstaltungsformat der relativ freien thematischen Gestaltung haben die Vorlesungen verschiedene Dichterbilder, Literaturtraditionen, Literaturdefinitionen, Debatten, Poetiken und vor allem Poetologien hervorgebracht. Eine konzise Historiographie des so umfangreichen wie vielseitigen Genres steht noch aus, sodass die nachfolgenden Einteilungen dessen institutionellen und medialen Rahmen lediglich skizzieren. https://doi.org/10.1515/9783110647884-007

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1 Institutionelle und mediale Praxis Bereits in der Nachkriegszeit wurden vielfältige gesellschaftliche und öffentliche sowie mediale Literaturformate initiiert, die vor den Frankfurter Poetikvorlesungen und bereits seit dem Nachkrieg den Literaturbetrieb in der bundesrepublikanischen Demokratie in den Zeiten des Kalten Kriegs geprägt haben. Zu den zeitlich unmittelbaren Vorläufern, die eine intensive literarische Diskussions- und Vermittlungskultur geprägt haben, zählen z. B. die regelmäßig stattfindenden Jahrestagungen der Gruppe 47 sowie von den US-amerikanischen Re-EducationProgrammen ausgehenden Gründungen, zu denen die Dichterlesungs-, Lese- und Schulungsformate, wie sie um Walter Höllerer u. a. mit den Förderungen der FordFoundation möglich waren, zuzurechnen sind, wie z. B. das – wenngleich später als die Vorlesungen gegründete – Literarische Colloquium Berlin, Radio- und Fernsehsendungen zur Literatur sowie im Radio und Fernsehen übertragene Lesungen. In diesem Zusammenhang steht ebenso der besondere Bildungsauftrag der literarischen Rundfunkprogramme der 1950er Jahre und ihrer literarischen Redakteure (Hans Magnus Enzensberger, Alfred Andersch, Helmut Heißenbüttel). Unmittelbar vor der Gründung der Frankfurter Poetikvorlesungen fanden Diskussionen um die Rolle der Künstler als öffentlich wirksame Intellektuelle in den 1950er Jahren statt. Auch die Poetologien in der Neuen Musik sowie die Manifestkultur um experimentelle Literatur bezeugen den in den 1950er Jahren geführten literarisch-künstlerischen, ästhetischen Diskurs, in den sich die Gründung der Poetikvorlesungen einfügt. In der DDR überwogen in der Nachkriegszeit und in den fünfziger Jahren die Erziehung zum Sozialismus, die den Kulturbetrieb bestimmte. Aus dieser Leitdoktrin ging der Bitterfelder Weg hervor, in dem Autoren in die Betriebe und Produktion gesandt wurden und sich an einer Produktions- und Arbeitsliteratur orientierten, während Arbeiter zur Feder greifen und im Schreiben gefördert werden sollten. In den Poetenseminaren wurden junge Schriftsteller in gattungsspezifischen Seminargruppen bzw. in Schreibwerkstätten von Autoren unterrichtet. Diametral entgegengesetzt dazu wird das Schreiben in den Frankfurter Poetikvorlesungen als akademische Diskussion um Literatur verstanden und hierzu bekannte und erfolgreiche Autoren als Poetikdozenten eingeladen. Demgemäß wählte die Auswahlkommission jene Schriftsteller als Dozenten aus, die „zu den repräsentativen Autoren des deutschsprachigen Raums“ (Volk 2001, 73 – 85) zählen. In den ersten Jahren unterstützten und finanzierten die „Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt“ und der S. Fischer Verlag die Frankfurter Poetikvorlesungen. Ab 1962 trat der Suhr-

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kamp-Verlag als Hauptmäzen hinzu. Dabei gehörte der Verleger Siegfried Unseld bis zu seinem Tod zur sechsköpfigen Kommission, die für die Auswahl der Vortragenden zuständig war. Seit dem Umzug des Suhrkamp-Verlags nach Berlin wird die Vorlesungsreihe vom S. Fischer Verlag sowie vom Verlag Schöffling & Co. mitfinanziert. Topographisch sind die Vorlesungen im Hörsaal VI, dem sogenannten Adorno-Hörsaal, des alten Hauptgebäudes der Goethe-Universität in Frankfurt Bockenheim verwurzelt, wo sie fünfzig Jahre lang stattfanden. Zum festen Inventar der Vorlesungen in der ersten Phase zählten die Gründer Theodor W. Adorno, Helmut Viebrock und der Verleger Siegfried Unseld, die in den ersten Sitzreihen saßen und von deren Kunst- und Literaturverständnis die Veranstaltungen bzw. Diskussionen geprägt waren. Allein die Organisatoren deckten eine große intellektuelle Bandbreite ab, die von der kritischen Theorie über werkimmanente und regelpoetische Vorstellungen bis zu verlegerischen Interessen reichte. Besonders Adornos Einfluss wurde insofern zentral, als seine Vorstellungen der akademischen Rede ihrem Ansatz nach der „freien Reflexion“ (Adorno 1961, 10) folgte. So legte er es wenig später allgemein für die philosophische Vorlesung in Anlehnung an Kant in seinem Vortrag „Die Einheit von Forschung und Lehre unter den gesellschaftlichen Bedingungen des 19. und 20. Jahrhunderts“ fest. Demzufolge wurde die Vorlesung per se als aktive Partizipation am Denkprozess verstanden. Adornos Bestimmungen der Vorlesungen stehen damit in klarer Abgrenzung zur romantischen Vorlesung, die auf die Monumentalisierung des Gelehrten sowie die Erzeugung kollektiver Dynamiken und Emotionen abzielte. Adornos Modell folgt einer individualistischen Ethik, die die Rede eng an das kritische Lesen und Schreiben bindet, um somit gerade der Gefahr bzw. Nähe zu akklamatorischer Massenwerbung zu entgehen (Franzel 2013, 171). Von den meisten Vorlesungen wurden Tonmitschnitte und Fernsehaufzeichnungen angefertigt, die für spätere Rundfunk- bzw. Fernsehübertragungen zur Verfügung standen. Die Wirkung und das Nachleben von Poetikvorlesungen beschränken sich damit nicht allein auf die Publikation, sondern betreffen besonders bei der Frankfurter Poetikvorlesung ebenso die gehaltene Rede im Hörsaal selbst: Zum einen zieht sie bereits während der Veranstaltung bzw. kurz nachdem sie im Hörsaal gehalten wurde, ein großes mediales Interesse auf sich, das sich im günstigen Fall in der Berichterstattung in den Feuilletons der Zeitungen, mittels digitaler E-Paper, Blogs sowie in den sozialen Netzwerken und einschlägigen Kanälen niederschlägt. Bei den Frankfurter Poetikvorlesungen erhält sie als ein zwei Mal im Jahr sowohl beständig wiederkehrendes als auch stets neu besetztes kulturelles Ereignis eine so kurze wie ebenso intensive mediale Aufmerksamkeit. Da die meisten Poetikvorlesungen dokumentiert und für eine Nachwelt archiviert

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werden, ist damit ebenso das Nachleben gesichert. Indem die Veranstaltung auf Ton- und Bildträgern analog bzw. digital aufgezeichnet wird, kann sie ebenso im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und dem Fernsehen gesendet werden. Im digitalen Zeitalter stellen einige veranstaltende Universitäten (wie es an den Universitäten in Heidelberg oder Wien und vor allem seit der Coronapandemie praktiziert wird) einen Mitschnitt bzw. Stream ihrer Poetikvorlesungen im Internet zur Verfügung. Sowohl die unmittelbaren Reaktionen in der Presse und in den sozialen Medien als auch die Aufzeichnungs- inklusive Sendepraxis entwickeln ein starkes Wirkungspotenzial: Einerseits werden Poetikvorlesungen damit sowohl als einmaliges (in Bezug auf die eingeladenen Poetikdozenten) als auch als wiederkehrendes Ereignis (Regelmäßigkeit der Veranstaltung) markiert. Andererseits formen sie durch die Aufzeichnungen und Möglichkeiten ihrer Verbreitung in Rundfunk- und Fernsehsendungen, DVDs, Internetstreams sowie schließlich drittens durch die Veröffentlichung ein umfangreiches literarisches Archiv von Autorpoetiken. Dieses Archiv vereint sowohl das Ereignis der Poetikvorlesung selbst sowie die von einzelnen, repräsentativen Dichtern zu bestimmten Zeiten getroffenen Aussagen über Dichtung. Dieses aus der mehrfachen Inszenierung der Veranstaltung resultierende, vielschichtige Archiv setzt dabei einen spezifischen Literaturvermittlungs- und Bildungsauftrag um, der die kritische und literaturwissenschaftliche Rezeption stets mitlenkt. Ebenso gibt es Autoren, die gerade diese Verbreitung bewusst verweigern wie z. B. jüngst Christian Kracht. Ferner kann das Format als mehrfach hybride Textform, die sowohl aus einer Rede, die aspektisch unter „Künste[n] der Mündlichkeit“ (Schmitz-Emans 2018, 227) zu rezipieren ist, inklusive ihrer medialen Inszenierung und Presse als auch nach dem Text der Veröffentlichung untersucht werden. Ihre sowohl mündlichen als auch schriftlichen Überlieferungen bilden mit dem Ereignis und der jeweiligen Kunst der Rede ein literaturgeschichtliches Archiv dichtungstheoretischer Autorpoetiken bzw. Poetologien von Autoren für den – ab der Jahrtausendwende aufkommenden – Forschungsgegenstand Gegenwartsliteratur (s. weiter unten „Praxis und Poetiken III: 1990 – 2020“).

2 Poetik der Poetikvorlesungen Sowohl die Wahl als auch die Vorstellung der Themen wurden den eingeladenen Dozenten in Frankfurt freigestellt. Gewünscht waren jedoch Stellungnahmen „zu Problemen der allgemeinen oder eigenen Poetik […] und zugleich die Aufgaben, die Bedeutung und den Sinn von Poetik in der Gegenwart darzustellen“ (Volk 2002, 27). Spielten in den angelsächsischen Vorlesungen beim Sprechen über das Schreiben zunächst die normativen Poetiken und sodann die Imagination the-

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matisch zentrale Rollen, konzentrieren sich deutschsprachige Poetikvorlesungen ausgehend von den orientierenden Aussagen zum Schreiben als je allgemeine bzw. eigene Poetik, ebenso auf Aussagen zur Literatur und zur Rolle des Schriftstellers. Ein weiterer Unterschied zu den angelsächsischen Vorlesungen zeigt sich darin, dass deutschsprachige Poetikvorlesungen in ihrer expliziten Formatverweigerung zumeist Auskünfte über den Autor geben. Diese stehen zusammen mit anderen Schwerpunkten in einer literarischen Tradition der Identitätsdebatten, die auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zurückzuführen ist (Braun 2020). Ein gemeinsames Merkmal der in Deutschland, der Schweiz und Österreich veranstalteten Poetikvorlesungen liegt darin, dass das Modell der Frankfurter Poetikvorlesungen als verbindlich gilt und weitgehend so übernommen wird, dass Autoren an Universitäten und Hochschulen öffentliche Vorträge über Literatur halten, die in der Regel veröffentlicht werden. Die Einladungs-,Vortrags- und Seminarformate können bei anderen Poetikdozenturen wiederum leicht abweichen, indem sie sich auf nur einen Vortrag und ein Seminar beschränken oder auch auf einen längeren Aufenthalt hin angelegt sind. Poetikvorlesungen finden in regelmäßigen Abständen mindestens einmal jährlich bis zu zwei Mal im Jahr jedes akademische Semester statt. Die Vortragenden werden von Berufsgruppen mit Literaturwissen wie Professoren, Verlegern, Literaturexperten und Literaturkritikern ausgewählt. In Poetikvorlesungen sprechen Schriftsteller über Literatur in einer Aussagestruktur mit „metaliterarischem Anspruch“ (Richter 2004, 13). Poetikdozenten, die sowohl als Professor als auch als Dichter in der Öffentlichkeit stehen, äußern sich als poeta doctus, poeta doctus docens (Hachmann 2014) bzw. „Dichter über Dichtung“ (Allemann 1963). Das Sprechen über Poetik bleibt bis auf seltene Ausnahmen den literarischen Künsten vorbehalten, denn anders als im angelsächsischen Bereich finden im Vorlesungsformat seltener bildende, musikalische oder darstellende Künstlern Berücksichtigung. Ein weiterer gemeinsamer Nenner von Poetikvorlesungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz bildet das Sprechen über das eigene Schreiben im Sinne einer Poetologie bzw. Autorpoetik. Thematisch geben Poetikvorlesungen somit Auskunft sowohl über subjektive als auch soziale Voraussetzungen der literarischen Praxis, den Akt des Schreibens sowie Wirkungsabsichten (Bickenbach 2004). In erster Linie handelt es sich bei Poetikvorlesungen daher um Autorpoetiken, die sich auf das Sprechen über immanente dichterische Regeln konzentrieren, denen ein Autor folgt. Zweitens können in Poetikvorlesungen ebenso Werkpoetiken entwickelt werden, die Aussagen zur Poetizität und zu den Maximen eines poetischen Texts treffen. Drittens können die dichterischen Regeln literarischer Gattungen untersucht und hierzu spezifische Poetologien entwickelt werden.

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Somit kann die Dichterrede in einer Poetikvorlesung als epitextuelle Autorpoetik verstanden werden. Dies unterscheidet sie von textimmanenten, literarischen Poetologien und ebenso von literarischen Texten. Denn primär betrifft sie nichtliterarische Äußerungen von Autoren über ihr Schreiben und über Literatur. Ebenso können in Poetikvorlesungen literarische bzw. fiktive Äußerungen beispielsweise bei autofiktionalen Entwürfen vorkommen (zum Definitionszusammenhang von Literatur und Fiktionalität: Hecken 2017, 3). Dennoch gilt für das Format, dass es als „Texttypus der Autorenpoetik zum Anlass und zum Medium dichterischer Selbstbeschreibungen und Selbstentwürfe“ (Schmitz-Emans 2017, 225) wird. Interessanterweise wird das Genre der Autorpoetik in der deutschen Nachkriegsliteratur und prominent unter der Fragestellung, wie ein Gedicht bzw. wie Literatur entsteht, mit den Reden Gottfried Benns Probleme der Lyrik (1951), Ingeborg Bachmanns Frankfurter Vorlesungen (1959) und Paul Celans BüchnerPreisrede (1960) behandelt (Bickenbach 2004). Durch ihre multiplen Aussageformen und Vieldeutigkeiten grenzen sich Poetikvorlesungen von regelgeleiteten Poetiken mit normativen oder deskriptiven bzw. theoretischen oder praktischen Aussagen über Dichtung ab, wie sie allgemein unter der Bezeichnung „Poetik“ subsumiert werden (Fricke 2007, 100 – 101). Um die in Poetikvorlesungen geäußerten Theorien zum Schreiben und zur Poesie von normativen Regelpoetiken klarer zu unterscheiden, schlägt Harald Fricke vor, für die in Poetikvorlesungen entwickelten Schreibtheorien eher die Begriffe „Poetologie(n)“ oder „Schreibweise(n)“ sowie im Fall der entwickelten literarischen Dichtungstheorien den Begriff „Poetizität“ zu verwenden (Fricke 2007, 100 – 101). Vor allem, da die Begriffsverwendung ‚Poetologien‘ bzw. ‚Poetizität‘ in Poetikvorlesungen nicht konsequent umgesetzt wird, hat dies zur Folge, dass selbst offene oder auch das Format verweigernde Auslegungen des Genres sowie selbst stark individuelle Autor- oder Werkpoetiken zumindest eine auf eine zeitliche Dauer begrenzte und für diese geltende, normsetzende Poetik entwickeln. Die definitorische Leerstelle des Genres, sowohl als Poetologie als auch als Poetik rezipierbar zu sein, bestimmt die Geschichte der Gattung maßgeblich.Während in den ersten Jahren die Poetologie dominiert, zeichnet sich in den letzten Jahren eine Tendenz zu temporären Poetiken ab: Während Poetikvorlesungen in ihrer ersten Phase (1959 – 1968) noch vom Diskurs des Poetischen und der Wiederaufnahme der Moderne in den Diskurs des Literarischen bestimmt ist, zeichnet sich in ihrer zweiten Phase (1976 – 1989) anfänglich ein Diskurs über das Schreiben ab, aus dem verstärkt Bestimmungen dessen hervorgehen, um was es sich bei Literatur handelt. In der dritten Phase (1990–heute) lässt sich zu Beginn ein Diskurs der Verständigung über interkulturelle Phänomene festhalten, der sich in der aktuellen Gegenwart zu einem polyphonen Kollektiv aus Literatur und Literaturwissenschaft geöffnet hat.

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3 Praxis und Poetiken I: 1959 – 1968 Die Gründungsveranstaltung mit Ingeborg Bachmanns Poetikvorlesungen Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung findet auch in späteren Poetikvorlesungen häufig Erwähnung, wie diese denn auch intensiv beforscht sind. Zur Zeit ihrer Frankfurter Poetikvorlesung war Ingeborg Bachmann im besonderen als Lyrikerin für ihre beiden Gedichtbände Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des Großen Bären (1956) bekannt. Kurze Zeit vor den Poetikvorlesungen waren ihr Hörspiel Der gute Gott von Manhattan sowie die Erzählungen von Das dreißigste Jahr (1961) entstanden. Bachmanns Vorlesungen setzen mit der Frage nach der Legitimation der schriftstellerischen Existenz ein, die mit dem Sprachzweifel bzw. der Sprachkrise zwischen Krise und Hoffnung als Thematik der Moderne verstanden werden kann, den sie in allen Vorlesungen anklingen lässt, die sich jedoch besonders in der letzten Vorlesung eindeutig auf die Utopie bezieht. Ihre Formel des „Ich ohne Gewähr“ (Bachmann 1987, 451) bestimmt den Ort für die personale Ich-Identität in der Nach-Moderne vor dem Hintergrund vom „Verlust seiner Eindeutigkeit“ (von der Lühe 1982, 113), aus dem die Notwendigkeit des schreibenden Ich resultiert. Deutlich zeigt sich, dass das Thema und der Gegenstand dezidiert an die Traditionen der Moderne anschließen und Bachmann sich somit mit ihren Gedichten darin selbst verortet. Auch vom Titel her bezieht sie sich auf die theoretischen Diskussionen um die Lyrik aus den 1950er Jahren, wie sie mit Hugo Friedrichs Struktur der modernen Lyrik und Walter Höllerers Theorie der modernen Lyrik vorlagen (Lampart 2013, 266), sowie speziell auf Gottfried Benns Vorlesung mit dem ähnlich lautenden Titel Probleme deutscher Dichtung, die er an der Universität Marburg am 21. 8.1951 hielt und die neben den Zeitschriften- und weiteren Veröffentlichungen ebenso als Radiomitschnitt erhalten ist. Vor allem letztere erläutert das für Bachmann zentrale Thema des Schweigens und setzt es über den Titel hinaus in einen expliziten Bezug zu den in den Lyriktheorien und -diskussionen der 1950er Jahre zentralen Fragen nach dem lyrischen Ich. Lampart macht in diesem Zusammenhang auf die Identität von literarischem und wissenschaftlichem Diskurs aufmerksam: „Denn was Bachmann an historischen Informationen über zeitgenössische Literatur und literarisch-kulturelle Diskussionen mitteilt, unterscheidet sich keineswegs so gravierend vom akademischen Kanon“ (Lampart 2013, 267). Die Wahl von Ingeborg Bachmann, Marie Luise Kaschnitz und Karl Krolow zeigt, dass Autoren ausgesucht wurden, die in den 1950er Jahren für die literarische Gattung des Gedichts maßgebend waren. Ebenfalls mit dem bekannten Naturlyriker Rudolf Alexander Schröder, der jedoch absagte, war ein weiterer

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Vertreter des Gedichts vorgesehen. Die fünfte Poetikdozentur von Helmut Heißenbüttel als Vertreter der experimentellen Lyrik sowie die siebte mit dem Lyriker Hans Magnus Enzensberger spiegeln eine Einheit von Lyrikern allein über die Einladungspraxis und somit den Versuch wieder, programmhaft im Format der Vorlesungen über Tendenzen moderner Lyrik zu reflektieren. Desweiteren strengte man eine Einladung des in der DDR lebenden Lyrikers Peter Huchel erst für das Sommersemester 1965, sodann für das Wintersemester 1965/66 an. Diese kam jedoch nicht zustande, da die Reise nicht genehmigt wurde und gegen Huchel in den Jahren 1963 – 1971 ein Ausreise- und wiederholt ein Besuchsverbot verhängt wurde. Die starke Konzentration auf die Lyrik stellte somit einen besonderen Schwerpunkt für die erste Phase dar. Von der Schwierigkeit im Umgang mit der Offenheit der Gattung und den Fragen an das Publikum sowie der Irritation, gerade keine Regelpoetik vom Katheder zu formulieren, sind die Reaktionen der Presse bestimmt. Im Fall von Bachmanns Vorlesungen spielen diese Irritationen auf Seiten der Studierenden eine zentrale Rolle. So bezieht sich „Der Spiegel“ vor allem auf Bachmanns Kritik an der Germanistik und bemängelt eine fehlende Seriosität (Unbekannt 1960, 52). Günther Rühle bringt in der Frankfurter Post das Missverhältnis im Kommunikationsverhältnis zwischen Vortrag und Publikum zum Ausdruck und zieht die Bilanz, dass Ingeborg Bachmann zwar „Kunde durch Fragen [gab], aber man erwartete Antworten“ (Rühle 1960). Auch die Frankfurter Vorlesungen hatten somit Anteil an einer Neuformierung der akademischen und öffentlichen Rede. In diesem Zusammenhang stehen Adornos Bestimmungen des Vortrags als gleichermaßen freie Reflexion wie Partizipation am Denkprozess (Adorno 1962). Eine erklärende Erläuterung für das Format lieferte Karl Krolow im Nachgang zu seinen Vorlesungen und veröffentlichte einen Erfahrungsbericht, für den er die Bedingungen und Themen seiner Poetikvorlesungen darlegte. Hierbei verwies er nochmals darauf, dass das Format, den Veranstaltern zufolge, auf ein besseres Verständnis für die zeitgenössische Literatur ausgerichtet sein sollte (Krolow 1961, 47). Von Seiten der Akademie wurde Mitte der 1960er Jahre als Reaktion auf die neue Öffentlichkeit eine Preisfrage ausgelobt, die in Erfahrung zu bringen versuchte, welche Maßstäbe an die Kunst der öffentlichen Rede angelegt werden können (Margass 1965). In der ersten Phase zeichnet sich die zentrale Bedeutung Theodor W. Adornos für die Poetikvorlesungen ab, da zum einen im Hinblick auf die Diskussionskultur der Veranstaltungen angemerkt wird, dass „die ästhetische Bildung der Frankfurter Studenten durch Th. W. Adorno fühlbar wurde“ (Stiftungs-Gastdozentur Poetik der Universität Frankfurt, 7). Zum anderen enthalten seine eigenen Dankesworte für Marie Luise Kaschnitz Hinweise, wie das Format der Poetikvorlesungen zu rezipieren sei und formulieren mehr noch eine Aufforderung an die

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Literaturwissenschaften: „Adorno deutete die Dozentur dahingehend, daß der Dichter […] nicht die Distanz zur Dichtung wahren brauche, die den Wissenschaftler immer davon trenne. Der Dichter habe das Recht, immer in der Sache zu bleiben. Er dürfe über das Geheimnis seines Erlebens reden, das Dichtung ist. Damit aber fordert er zugleich die Wissenschaft von der Dichtung heraus, zu sagen, worin ihr Ziel, ihre Legitimierung, ihr Sinn beruht“ (Stiftungs-Gastdozentur Poetik der Universität Frankfurt, 7). Gewissermaßen begleitet die Frage Adornos, die sich an die Literaturwissenschaft richtet, die Poetikvorlesungen nicht nur in ihrer ersten Phase, sondern ebenso in den nachfolgenden Phasen. Die Tatsache, dass diese Frage von den Literaturwissenschaften weitgehend unbeantwortet bleibt, hat zur Folge, dass bereits Ende der ersten Phase mit den Vorlesungen von Helmut Heißenbüttel und Hans Magnus Enzensberger u. a. vor allem Fragen zur Literatur und ihrer methodischen Bestimmung den poetologischen Diskurs definieren. Die Tatsache, dass die Äußerungen zur Standortbestimmung der Literatur und Definition der Literatur in dieser Phase von Seiten der eingeladenen Dozenten zunehmen, kann als Reaktion auf die fehlende selbstlegitimierende Antwort der Literaturwissenschaft gesehen werden. Sie setzt sich bis zu den Poetikvorlesungen im neuen Jahrtausend fort.

4 Praxis und Poetiken II: 1975 – 1989 In den Jahren von 1968 bis 1979 pausierten die Frankfurter Poetikvorlesungen vorrangig aus politischen Gründen. Unvereinbar erschien das Format mit der Studentenbewegung, die einen anderen Öffentlichkeitsdiskurs entwickelte, zu dem die ästhetischen Fragen der Poetikvorlesungen wenig beizutragen hatten. Erst im Sommersemester 1979 wurden die Vorlesungen mit Uwe Johnson wieder aufgenommen und konzipierten sich ebenfalls nochmals neu. In der Zwischenzeit rief die Universität Duisburg-Essen eine zweite Poetikdozentur ins Leben und Martin Walser wurde als erster „Poet in Residence“ (Wintersemester 1975/76) eingeladen. Diese einzige Neugründung in den 1970er Jahren war vom Titel her weitaus enger an das amerikanische Vorbild angelehnt, wobei die Gemeinsamkeit bestehen blieb, dass Gastdozenten für Lesungen und Seminare an die Universität eingeladen wurden. Diese erweiterte sowie neu zusammengestellte, zweite Phase der Poetikvorlesungen (Wohlleben, 182) wirkte sich auch thematisch auf die Autorpoetik aus, die anfangs von Poetologien des Schreibens und im weiteren Verlauf schwerpunktmäßig vom Sprechen über Literatur bestimmt sind. Im Zusammenhang mit der Neuen Subjektivität nehmen der Einfluss eines Erzählens vom Schreiben und Äußerungen zum Schriftstellerberuf sowie ebenso bekennendere, private Äuße-

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rungen zu. Weniger als die erste, auf die Lyrik konzentriertere Phase sind in der zweiten Phase prominenter die Prosa und Epik vertreten. Gleichwohl fallen in diese mehr erzählerisch dominante Phase ebenso Vorlesungen von Lyrikern wie Ernst Jandl, Peter Rühmkorf, Günter Kunert, Ludwig Harig und Hilde Domin. Auch für die zweite Phase steht die erste wieder aufgenommene Frankfurter Poetikvorlesung Pate. Uwe Johnsons im Sommersemester 1979 vorgetragenen „Bemerkungen zur Poetik“, die später in erweiterter Fassung unter dem Titel Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen (1980) publiziert wurden, fielen in eine ebenso in den Vorlesungen thematisierte Schreibkrise vor der Fertigstellung des vierten Buchs der Jahrestage. Siegfried Unseld, dem die Vorlesungen gewidmet sind, hatte Johnson gebeten, die Vorlesungen zu halten, um seine Schreibkrise zu überwinden. Wie in den überarbeiteten und erweiterten Poetikvorlesungen unter dem Titel Begleitumstände nachzulesen ist, gibt Johnson zu Beginn den Hinweis, „keine Poetik […] als Lehrbuch“ (1980, 14) zu entwickeln. Vielmehr stellen seine Reden in ihrer „exzessive[n] Intertextualität“ (Larsen 2007, 101) einen auch für die Entstehung und Deutung der Jahrestage zentralen poetologischen Text dar. Mit Johnsons Vorlesungen wurde im Sinne einer Autorenwerkstatt das Thema ‚Schreiben‘ besonders prominent geführt. Zudem warnen seine Vorlesungen – vermutlich an die im Publikum sitzenden Studierenden gerichtet – vor den Schwierigkeiten des Berufs des Schriftstellers (Larsen 2007, 100). Ähnlich wie Johnson nimmt wenig später auch Christa Wolf einen aktuellen, gerade im Entstehen befindlichen Text zum Anlass, um Kontexte und Recherchen im literarischen Produktionsprozess aufzuzeigen. Mit Christa Wolf wurde die erste Autorin eingeladen, die zum Zeitpunkt der Vorlesungen in der DDR lebte, und für die Stiftungsgastdozentur eine Reiseerlaubnis nach Frankfurt erhielt. Eine bereits für den Herbst 1979 getroffene Zusage zieht sie zurück und Adolf Muschg spricht an ihrer Stelle über „Literatur als Therapie“, wofür er dezidiert anthropologische Argumente entwickelt. Im Frühjahr 1982 schließlich hält Wolf ihre Poetikvorlesungen (Wolf 2016, 184) mit dem Titel Kassandra. Voraussetzungen einer Erzählung (1982). Hierbei bilden die ersten vier Vorlesungen einen kommentierenden, mit verschiedenen Medien (wie einem Brief) arbeitenden Hauptteil, der schließlich von der Erzählung selbst, die quasi zeitgleich zur Poetikvorlesung entsteht, ergänzt und zum Ausklang und Endpunkt der insgesamt fünf Vorlesungen wird. Somit definieren ihre Poetikvorlesungen das Genre als Werkstattbericht und Dichterlesung. Wolfs gleichfalls formelhafter Anfang, „Eine Poetik kann ich Ihnen nicht bieten“ (Wolf 1983, 7), nimmt Uwe Johnsons Topos auf und wird als „Anti-Poetik“ ebenso für das Genre konstitutiv. In der DDR-Ausgabe ihrer Vorlesungen finden sich im Gegensatz zur Ausgabe in der Bundesrepublik zensierte bzw. gestrichene Stellen, die sich auf Passagen beziehen, in denen Christa Wolf die Bedrohung des

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Friedens durch das atomare Wettrüsten thematisiert. Über die kommentierende sowie produktionsästhetische Anordnung als „Werkstattpoetik“ hinaus stehen ihre Vorlesungen thematisch für eine Wahrheitssuche ein, die sich gegen Entfremdungserscheinungen in der Ästhetik und Kunst richtet (Wolf 1983, 9). In den 1980er Jahren lassen sich weitere Neugründungen verzeichnen. In Deutschland wird in einem Zusammenschluss von Akademie und Universität die Poetik-Dozentur der Akademie der Wissenschaften und der Literatur an der Universität Mainz (1980) ins Leben gerufen, sodann folgen die Paderborner Gastdozentur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller am Institut für Germanistik und Vergleichenden Literaturwissenschaften der Universität Paderborn (1983), die Grimm-Poetikprofessur an der Universität Kassel (1985), die Bamberger Poetikprofessur (1986), die Münchner Poetikvorlesungen (1987), in Österreich entstehen die Innsbrucker Poetik-Vorlesungen (1984) und die Grazer Poetikvorlesungen (1985/86). Die Formate ähneln vom Grundmodell den Frankfurter Poetikvorlesungen, setzen jedoch jeweils in Einladungspraxis, Vermittlung und Forschung unterschiedliche Schwerpunkte. Gegen Ende der zweiten Phase verändert sich ab 1980 das vorherrschende Bild der Werkstattpoetiken nochmals und nähert sich wissenschaftlichen Diskursen an. So entwickelt Martin Walser in seinen Vorlesungen in Frankfurt im Wintersemester 1980/81 eine Literaturgeschichte über den Ironiebegriff, in die er sich selbst einschreibt. Peter Rühmkorfs Vorlesungen vom Sommersemester 1980 in Frankfurt legen eine Kulturanthropologie des Reims vor und setzen sich mit der literarischen Gattung der Parodie auseinander. Ebenso stellen sie literaturtheoretische Reflexionen dar, die das Gedicht als Ausdruck für Subjektivität auffassen. Weitere Schwerpunkte dieser Phase lassen sich im Hinblick auf das Erzählen festhalten. Peter Bichsel hebt in seinen Frankfurter Vorlesungen Der Leser. Das Erzählen von 1982 die anthropologische und soziokulturelle Bedeutung des Erzählens hervor und entwickelt in Anlehnung bzw. Fortsetzung zu Christa Wolf eine Poetikvorlesung, die aus Erzählungen besteht und sich damit gewissermaßen ihrer Theoretisierung und Poetik entzieht. Die unveröffentlichten Vorlesungen von Wolfgang Koeppen stellen rhetorisch die Frage nach dem ‚Dichter als unnützen Menschen‘ (1982/83) und bestimmen den Schriftsteller im Wesentlichen als Leser. Legion wurden schließlich Ernst Jandls auch als DVD zu rezipierende Frankfurter Poetikvorlesungen (1984/85), die das Genre um intermediale Phänomene erweitern, einen Fokus auf das Sprachmaterial legen bzw. die Sprache als ästhetisches Medium vorstellen. Thematisch ergänzt werden sie von Ludwig Harigs unveröffentlichten Frankfurter Vorlesungen, mit denen ebenfalls das Spektrum experimenteller Literatur aufgegriffen wird, und die vom Sprachspiel handeln. Die zweite Phase klingt mit Günter Grassʼ Vorlesungen Schreiben nach Auschwitz (1989/90) aus, die eine gesellschaftliche

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Debatte auslösen und besonders deutlich belegen, dass das Genre vom Thema der Identitätsdebatte bestimmt ist. Ebenfalls in den 1980er Jahren setzen die ersten literaturwissenschaftlichen Forschungen zum wissenschaftlich weitgehend noch unerkundeten Gebiet der Poetikvorlesungen ein. Hierzu zählen der von Horst Dieter Schlosser und Hans Dieter Zimmermann herausgegebene Band Poetik, in dem wissenschaftliche Essays zu den Frankfurter Poetikvorlesungen versammelt sind (Schlosser, Zimmermann 1988).

5 Praxis und Poetiken III: 1990 – 2020 Nach der Wende bestimmen ab den 1990er Jahren konzeptuelle Schwerpunkte die Gründungen von Poetikvorlesungen, die sowohl ein Profil für die eigene Institution entwickeln als auch einer interkulturellen Diskussion zuträglich sind. Dies lässt sich aus universitäts- und institutionengeschichtlicher Sicht im Zusammenhang mit dem ab 1988 einsetzenden Bologna-Prozess sehen, bei dem beschlossen wurde, die Universitäten in ihrem Selbstverständnis als eigenständige, gesellschaftliche Kerninstitutionen sowie den Informationsaustausch der Universitäten untereinander zu stärken. Demzufolge entstehen in Deutschland in der Folge stärker auf einen internationalen Dialog ausgerichtete Poetikvorlesungen, wie z. B. die Internationalen Jenaer Poetikvorlesungen „Literatur zur Beförderung von Humanität“ (1993), die Tübinger Poetik-Dozentur (1996), die Liliencron-Dozentur für Lyrik an der Christian-Albrechts-Universität Kiel (1997), die Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur an der Freien Universität Berlin (1998) und die Dresdner Poetikdozentur zur Literatur Mitteleuropas (1998). In der Schweiz wird die Zürcher Poetikvorlesung (1996) gegründet. Von literaturwissenschaftlicher Seite aus unternimmt Paul Michael Lützelers Poetik der Autoren. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Lützeler 1994) den ersten Versuch, Poetikvorlesungen als Gattung in den literaturwissenschaftlichen Diskurs zu integrieren. Hatte die zweite Phase deutlich gemacht, dass weitaus mehr Männern als Frauen die Ehre zuteilwurde, Poetikvorlesungen halten zu dürfen, stehen in Frankfurt ab Ende der 1990er Jahre erstmals wieder sowie darauffolgend wesentlich mehr Autorinnen am Pult. So waren bei den Frankfurter Poetikvorlesungen zwar in der ersten, kurzen Phase von 1959 – 1968 mit Ingeborg Bachmann (1959/60) und Marie Luise Kaschnitz (1960) zwei Autorinnen vertreten. Dieser Anteil bestätigte sich in der zweiten Phase von 1975 bzw. 1979 – 1989 mit den Vorlesungen von Christa Wolf (1982) und Hilde Domin (1987/88). Erst ab Ende der 1990er Jahre weicht die bei der Einladungspraxis der Organisatoren und Ent-

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scheidungsträger bis dato vorherrschende Auswahl männlicher, intellektueller Autoren einem anderen Verständnis und es werden Sarah Kirsch (1996/98) und Marlene Streeruwitz (1997/98) eingeladen, wovon letztere eine explizit feministische Poetik entwickelt. Ab der Jahrtausendwende weicht dieses geschlechterspezifische Ungleichgewicht der achtziger Jahre einem mittlerweile paritätischen Modell. Zwei Frankfurter Vorlesungen von Wolfgang Hilbig und W. G. Sebald skizzieren zentrale Entwicklungen für den ersten Abschnitt der dritten Phase. Wolfgang Hilbigs Poetikvorlesungen stehen hier paradigmatisch für einen neuen Umgang mit Poetikvorlesungen ein. Zwar wird auch in Hilbigs Vorlesungen – wie ebenso bei Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson, Christa Wolf u. a. – keine Poetik formuliert, sondern u. a. Kritik an der Literaturkritik bzw. dem Literaturbetrieb geübt. Während die Poetik in den Vorlesungen verweigert wird, verlagern sich Aussagen zur Poetik in seine literarischen Texte, die poetologisch organisiert sind (Polaschegg 2009, 184). Zum anderen lösen W. G. Sebalds Züricher Vorlesungen Luftkrieg und Literatur (1997) eine intensive gesellschaftliche Debatte aus, deren Diskussion um ein angemessenes Erinnern sowie die Darstellung des Luftkriegs kreist. Das Beispiel der Erinnerungskulturen zeigt, dass Themen aus den Poetikvorlesungen mit dem literaturwissenschaftlichen Diskurs enggeführt werden und in die literaturwissenschaftlichen Forschungen einfließen. Ab der Jahrtausendwende vervielfacht sich die Zahl der Neugründungen von Vorlesungsreihen zur Poetik. Hierbei kann eine Zäsur zwischen erstem und zweitem Jahrzehnt gezogen werden: Im ersten Jahrzehnt tauchen in Deutschland weitere Formate auf und es zeichnet sich eine neue Tendenz in den Gründungen ab. Diametral zum Jahrzehnt zuvor werden die Schwerpunkte stärker durch örtliche und literarische Schwerpunkte sowie durch Autorennamen profiliert wie es z. B. bei den Lichtenberg-Poetikvorlesungen Göttingen (2000) der Fall ist. Die Dresdner Poetikdozentur zur Literatur Mitteleuropas (1998 – 2003) wird in Dresdner Chamisso-Poetikdozentur (2000) umbenannt. Weitere, an Hochschulnamen orientierte Poesie & Poetik-Vorlesungen finden sich an der Martin-LutherUniversität Halle/Wittenberg (2002/3) wie auch mit den Gießener Poetikvorlesungen (2003), der Poetikdozentur der Fachhochschule Wiesbaden (2004), die eine Poetikdozentur an junge Autoren vergibt, und wiederum der spezifisch auf einen ausgewählten Literaturbereich ausgerichteten Oldenburger Poetik-Professur für Kinder- und Jugendliteratur (2004). In Berlin folgte auf die bereits seit Ende der 90er Jahre etablierte Samuel-Fischer-Gastprofessur die mit dem Berliner Literaturpreis verbundene Heiner Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin (2005), die seit 2017 umbenannt ist in Gastprofessur für deutschsprachige Poetik der Stiftung Preußische Seehandlung an der Freien Universität Berlin, sowie die August-Wilhelm-Schle-

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gel-Gastprofessur für Poetik der Übersetzung an der Freien Universität Berlin (2007). Ebenso entstehen am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig die Leipziger Poetikvorlesungen (2007), darüber hinaus das Erlanger Poetik-Kolleg (2007), die Hildesheimer Poetik-Dozentur (2008), die Poetikvorlesungen an der Universität Rostock (2008), die Augsburger Bert-Brecht-Gastprofessur (2008), die SiegfriedUnseld-Professur (2009) als DAAD-Gastlehrstuhl für Autoren aus Mittel- und Osteuropa an der Humboldt-Universität zu Berlin und die Poetikdozentur der Universität Koblenz-Landau (2009). Über weitere spezifische Schwerpunktsetzungen unterscheiden sich diese Neugründungen von den Frankfurter Vorlesungen. Ihre Akzent- und Profilbildungen folgen strategisch einer institutionellen Profilbildung und damit einhergehenden Sichtbarkeit im Feld. Als verbindendes gemeinsames Merkmal zeichnet sich auch weiterhin nach der Jahrtausendwende das Bemühen ab, als Universität über Literatur bzw. als Schriftsteller über das eigene Schreiben in die Gesellschaft zu wirken. Erstmalig werden Poetikvorlesungen zum literaturwissenschaftlichen Gegenstand und in zwei umfangreicheren Qualifikationsarbeiten von Ulrich Volk mit dem Fokus auf dem poetologischen Diskurs (Volk 2003) und von Doren Wohlleben im Hinblick auf den Topos der Lüge (Wohlleben 2005) untersucht. Das Handbuch über „Poetiken“ versammelt und registriert die zentralen Entwicklungen im poetologischen Diskurs der Gegenwartsliteratur (Schmitz-Emans 2009). Ab dem zweiten Jahrzehnt nehmen die Gründungen nochmals an Fahrt auf. Es kommen die Dozentur für Weltliteratur an der Universität zu Köln (2011) hinzu, die Hamburger Gastdozentur für Interkulturelle Poetik (INPOET) (2011) und die Thomas-Kling-Poetikdozentur an der Universität Bonn (2011), die Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik (2012), die Siegfried Unseld-Vorlesung am Dahlem Humanities Center der Freien Universität Berlin (2012), die Poetikvorlesungen der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin (2012) sowie das Jenaer Lyrikgespräch (2013), das Nachwuchslyriker zu Lesung und Werkstattgespräch einlädt und studentisch organisiert wird. In Österreich werden die Klagenfurter Vorlesungen zur Poetik (2002), die Stefan-Zweig-Poetikvorlesung in Salzburg (2009) und die Ernst-Jandl-Poetikdozentur Wien (2010) ins Leben gerufen, in der Schweiz folgen mit der Berner Gastprofessur (2014) und der Universität St. Gallen (2019) die jüngsten Gründungen. Auch literaturwissenschaftliche Forschungen zu Poetikvorlesungen nehmen seit dem zweiten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende zu und zeugen von einer verstärkten und zeitnaheren Aufnahme der Poetologien in den wissenschaftlichen Diskurs. Hierzu korrespondiert die bei der Bamberger Poetikvorlesung schon länger etablierte Veröffentlichungspraxis, die Poetikvorlesungen mit einer wissenschaftlichen Monographie zu verbinden. Weitere Veröffentlichungs- und Veranstaltungserweiterungen, bei denen Literatur und Wissenschaft in einen stärkeren Dialog

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treten, werden eingerichtet. Unlängst ergänzten die Frankfurter Organisatoren die Poetikvorlesungen von Christoph Ransmayr (2020) um eine begleitende wissenschaftliche Vortragsreihe. Aufgrund kürzerer Veröffentlichungsintervalle auf dem Literaturmarkt, der medialen Präsenz von Autoren im gesellschaftlichen Diskurs u. a. ändern sich ebenso der Habitus und die Bedeutung von Poetikvorlesungen. Autoren erreichen ihre Leser mittlerweile über Social Networks, Blogs, You-Tube-Clips, Buchtrailer, Amazon- oder Autorenhomepages, Twitter, Instagram und weitere. Eine Poetikvorlesung gilt weiterhin als Ehrung und sichert eine kurze Aufmerksamkeit im literarischen Feld. Die Vielzahl der vor allem nach der Jahrtausendwende zugenommenen Neugründungen erklärt sich ebenso durch einen grundlegenden Paradigmenwechsel innerhalb der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, zu deren Gegenstand ebenso die aktuelle Gegenwartsliteratur zählt. Mit dieser neuen institutionellen Verankerung und der Vielzahl der Formate veränderten sich die Rahmenbedingungen für Poetikvorlesungen dahingehend, dass die Vorlesungen orientierende Maßstäbe im literarischen Feld bilden und das für die Untersuchungen der aktuellen Gegenwartsliteratur nötige, kommentierend-erläuternde Material zur Verfügung stellen. Ein weiterer sich anschließender Faktor ist, dass der Schriftstellerberuf ebenso durch Schreibschulen zunehmend akademischer wird (Paul Jandl 2005). Da in modularisierten Studiengängen wenig Zeit und Raum für Literaturerläuterungen und das Entwickeln von Lesebiographien eingeräumt werden kann, zudem das Schreiben akademisiert wird und dennoch die Kenntnis oder der Überblick über die Gegenwartsliteraturen zu einer Angelegenheit von Experten werden muss, erscheinen Poetikvorlesungen daher als das Genre, in dem eine grundlegende Verständigung über Literatur-, Schreib- und Kulturreflexionen stattfindet und die der Außenwirkung von Universitäten zuarbeitet. Die Transformationen sowohl im akademischen als auch literarischen Feld haben somit das Profil von Poetikvorlesungen verändert. Denn sie werden nicht mehr ausschließlich als epitextuelle Literatur eingestuft, sondern bilden den Gegenstandsbereich Gegenwartsliteratur selbst: „Poetik-Dozenturen sind Teil dessen, was wir als Gegenwartsliteratur bezeichnen“ (Kimmich 2011, 93). Damit hat sich die Gattung vom ehemaligen Epitext zum literarischen Volltext gewandelt. Schriftsteller und Werk sowie performative Aspekte von Poetikvorlesungen selbst rücken in den Fokus der Forschungen, die Vorlesungen selbst werden in ihrer Performativität zum lesbaren und analysierbaren Text, denn als „Texte und Vorträge eines literarischen Autors sind Poetikvorlesungen jedoch immer auch als Literatur, als Erzählung lesbar“ (Binczek 2019, 106).

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Adornos zentrale Grundfrage an die Wissenschaft von der Dichtung bzw. seine Nachfrage zu ihrer Legitimierung und Sinnhaftigkeit löst der so erweiterte Literaturbegriff nicht, da dieser den Untersuchungsgegenstand ‚Literatur‘ im Fach Literaturwissenschaft auch weiterhin nicht in einem extensional präzisen Sinn bestimmt (Weimar 1989, 2007). Auch wenn der erweiterte literarische Textbegriff unmittelbar auf eine sehr weit gefasste Gegenwartsliteratur reagieren und ihre Thesen in den wissenschaftlichen Diskurs aufnehmen kann, können im neu definierten polyphonischen Kollektiv von Literatur und ihrer Wissenschaft die einzelnen Stimmen kaum voneinander unterschieden werden. Auf diese Problematik weist Matteo Galli hin, wenn er feststellt: „Urteile und Kriterien der Kritik werden ungeprüft übernommen, der Erfolg auf dem Markt und im literarischen Feld gibt oft genug die Wahl der Untersuchungsgegenstände vor“ (Galli 2014, 65). Gleichwohl entstehen literaturwissenschaftliche Qualifikationsarbeiten zum Genre (Kempke 2021; Braun 2021), zahlreiche Forschungsaufsätze sowie dieses Handbuch, die weitere Untersuchungsfragen an den Gegenstand herantragen. Zusammenfassend lässt sich zur Entwicklung und Geschichte der Gattung der deutschsprachigen Poetikvorlesung festhalten: Was als „offenes“ Format, permissive Ästhetik, Autorenpoetik, Poetologie, Anti-Poetik, epitextuelle Literatur begann, verselbständigte sich im Laufe der Jahrzehnte dynamisch und bildet nunmehr ein Poetik-Hybrid, bei dem die Literatur, die Universität und die Gesellschaft in einen Dialog treten. Tatsächlich, so scheint es, standen sich die Literatur und die Wissenschaft wohl selten näher.

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. „Die Einheit von Forschung und Lehre unter den gesellschaftlichen Bedingungen des 19. und 20. Jahrhunderts“. Die Einheit von Forschung und Lehre als Problem der modernen Hochschule [Mainzer Universitätsgespräche, Wintersemester 1961/1962]. Hrsg. von Erhard Denninger, Günter Eifler und Gerd Roellecke. Mainz 1962: 5 – 10. Allemann, Beda. „Dichter über Dichtung“. Definitionen. Essays zur Literatur. Hrsg. von Adolf Frisé. Frankfurt a. M. 1963: 9 – 34. Bachmann, Ingeborg. „Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung“. Ausgewählte Werke in drei Bänden. Bd. 1: Gedichte, Hörspiele, Schriften. Berlin/Weimar 1987: 397 – 484. Bickenbach, Matthias. „Autorpoetik“. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart 2004: 39. Binczek, Natalie. „Netzwerke der Literatur. Die Poetikvorlesung als ‚ein Ensemble von Beziehungen‘ in Marcel Beyers ‚Das blindgeweinte Jahrhundert‘“. Zeitschrift für Germanistik 29/1 (2019): 100 – 111.

1.3.4 Geschichte der deutschsprachigen Poetikvorlesungen ab 1959

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2 Praktiken der Inszenierung, Organisation und Rezeptionen von Poetikvorlesungen

2.1 Praktiken der Inszenierung

Sabine Kyora

2.1.1 Verhältnis zur Öffentlichkeit und Habitus

Poetikvorlesungen finden in einem festgelegten Format statt, das auch die Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, ihre Ansprache der Öffentlichkeit und ihren Habitus mit definiert. Der universitäre Rahmen, der Raum in der Universität, der meist ein Hörsaal ist, und die Vorlesung als universitäre Veranstaltung legen eine bestimmte Haltung und einen bestimmten Vortragsstil nahe. Die frontale Situation, die im Gegensatz zu den meisten Autorenlesungen auch das Pult einschließt, lädt zum professoralen oder zumindest akademischen Habitus ein. Gleichzeitig wird der universitäre Rahmen dadurch aufgebrochen, dass entweder auch die breitere Öffentlichkeit zugelassen ist oder der Schriftsteller sich im Redegestus zumindest an sie wendet, indem er seine Leser adressiert. Die eingeladenen Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind meist etabliert und der Öffentlichkeit bekannt. Gerade ihr bereits vorliegendes Werk hat dazu beigetragen, dass sie eingeladen wurden, um ihre Poetik vorzustellen. Insofern ist die Einladung ein Zeichen für eine erkennbare Positionierung im literarischen Feld, aber auch für das Ansehen, das die Schriftstellerin oder der Schriftsteller bereits erreicht hat und das durch die Einladung noch einmal zusätzlich verstärkt wird. Aus dieser Grundsituation folgt aber auch, dass ein ausgeformter Habitus als Zeichen des erreichten Standortes im literarischen Feld in Poetikvorlesungen besonders gut erkennbar ist. Die Positionierung der Schriftstellerinnen und Schriftsteller innerhalb des literarischen Felds wird in Poetikvorlesungen, die nicht einem bestimmten Genre wie z. B. der Kinder- und Jugendliteratur zugeordnet sind, in fast allen Fällen dem Feld der „reinen Produktion, bestimmt für einen eingeschränkten Markt“ (Bourdieu 2001, 198) zuzuordnen sein. Eingeschränkt ist der Markt nach Bourdieu deswegen, weil Literatur in diesem Sektor von vornherein nur für das Publikum der Intellektuellen und für andere Schriftsteller produziert wird. So sind das Ansehen und der Erfolg der Autorin oder des Autors nicht vom ökonomischen Gewinn abhängig. Im Gegenteil, je besser sich ihre oder seine Bücher verkaufen, desto verdächtiger ist sie oder er, die Kunst an den Kommerz verraten zu haben (Bourdieu 2001, 238). Zudem sind als Vortragende eher Autorinnen und Autoren der „arrivierte[n] Avantgarde“ (Bourdieu 2001, 198) zu erwarten, das heißt die Autorinnen und Autoren, deren innovatives Potenzial im literarischen Feld, und dort im Feld der reinen Produktion, bereits anerkannt ist.

https://doi.org/10.1515/9783110647884-008

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Sabine Kyora

Die Autorinnen und Autoren, die zu Poetikvorlesungen eingeladen werden, sind in dieser Hinsicht also eine relativ homogene Gruppe. Sie sind etabliert, schreiben keine Massenliteratur und wollen das auch nicht, sie sind gemäßigt innovativ und haben sich innerhalb des literarischen Feldes einen Namen gemacht, ohne dass sie meistens viel ökonomisches Kapital angesammelt hätten. So sind Poetikvorlesungen ebenso eine Ehre für sie wie auch eine Möglichkeit, Autorinnen und Autoren der reinen Produktion finanziell zu fördern. Obwohl der ähnliche Standort der Autorinnen und Autoren im literarischen Feld zu einem Teil ihren Habitus bestimmt, der auch in der Inszenierung und den Praktiken ihrer Autorschaft sichtbar wird, lässt sich gleichzeitig feststellen, dass sie trotz der für alle identischen (akademischen) Rahmenbedingungen und ihrer grundsätzlichen Ansiedlung im Bereich der reinen Produktion ihre Poetikvorlesung unterschiedlich ausfüllen. Nach Bourdieu speist sich der Habitus eines Schriftstellers aus der Zugehörigkeit zu einer Klasse, einem Geschlecht und einer (spezifischen) Positionierung im literarischen Feld. Der Begriff des Habitus beschreibt kein statisches Verhalten, sondern eine Mischung von vorgefundenen Bedingungen und subjektiven Handlungsmöglichkeiten, die flexibles Agieren erlaubt (Bourdieu 1996, 154). In einer Poetikvorlesung sind die oben skizzierten Formate und die Einladungsmodalitäten die Bedingungen, die den Habitus mitbestimmen, sie treffen auf die Art, wie jede Schriftstellerin und jeder Schriftsteller sich in ihnen selbst präsentiert. Diese Präsentation ist wiederum von den gesellschaftlichen Zugehörigkeiten, die sie oder er mitbringt, abhängig. Bourdieu fasst diese Voraussetzungen unter dem Begriff der Klasse zusammen, der durch die Teilhabe an sozialem, symbolischem und kulturellem sowie ökonomischem Kapital definiert ist (Bourdieu 1983, 185). Vor allem die ersten drei Kapitalformen sind im Hinblick auf Autorinnen und Autoren entscheidend und werden häufig auch in den Poetikvorlesungen angesprochen. Soziales Kapital meint im Wesentlichen die gesellschaftliche Herkunft, kulturelles Kapital die eigene Bildung und symbolisches Kapital das Prestige, das sich z.T. aus den ersten beiden Kapitalsorten ergibt, das aber auch mit der erfolgreichen Positionierung im literarischen Feld einhergeht, die sich etwa an Literaturpreisen und einem renommierten Verlag ablesen lässt. Insgesamt ist der Habitus „die kreative Kapazität“ (Bourdieu 1996, 154) jedes Einzelnen, auch jedes einzelnen Schriftstellers, die ihn „dazu befähigt, auf der Grundlage seiner spezifischen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata den öffentlichen (auch den literarischen) Diskurs zu beeinflussen“ (John-Wenndorf 2014, 32). Berücksichtigt man diese Elemente des Habitus bei Bourdieu lässt sich eine Typologie der Habitusformen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern darstellen. Sie sind im literarischen Feld durch „die performativen, sozialen/politischen

2.1.1 Verhältnis zur Öffentlichkeit und Habitus

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und ästhetischen Aspekte“ (Jürgensen und Kaiser 2011, 13) bestimmt. Übertragen auf Poetikvorlesungen heißt dieses: Wichtig ist die Art, wie die Autorinnen und Autoren sich auf der ‚Bühne‘ inszenieren, welche sozialen Zugehörigkeiten oder politischen Anliegen sie ansprechen und welche Autorschaftsentwürfe sie entwickeln.

1 E. E. Cummingsʼ Poetikvorlesungen i. six nonlectures (1953) als Prototyp des intellektuellen Habitus E. E. Cummingsʼ Vorlesungen, die er im Wintersemester 1952/53 im Rahmen der Charles Eliot Norton Lectures an der Harvard University gehalten hat, zeigen sehr deutlich den Habitus des intellektuellen Schriftstellers. Cummings (1894 – 1962) ist zu diesem Zeitpunkt im literarischen Feld vor allem als sprachlich innovativer Lyriker gegenwärtig, der die avantgardistischen Tendenzen der 1910er Jahre aufnimmt und zur Generation von Ezra Pound und John dos Passos gehört, mit denen er auch bekannt war; in den 1950er Jahren wird er im literarischen Feld in den USA durch Preise und Mitgliedschaften zunehmend anerkannt (Sawyer-Laçonne 2004, 506 – 509, 516). Auch die Norton Lectures waren für Cummings ein Erfolg, sodass er in der Folge auch an andere Universitäten eingeladen wurde, um Vorträge zu halten (Sawyer-Laçonne 2004, 506). Cummings reagiert auf das akademische Umfeld, indem er „Nichtvorträge“ hält. Er erklärt dieses Vorhaben damit, dass er kein Wissen vermitteln will, wie es von einem akademischen Lehrer erwartet wird, er habe nicht „the remotest intention of posing as a lecturer“ (Cummings 2005, 6). Er inszeniert sich dagegen als Lernender, der mit der „selfdiscovery“, der Selbstfindung als Schriftsteller (Cummings 2005, 8), beschäftigt ist und deswegen nur vom subjektiven Standort aus sprechen kann. Diese Inszenierung führt einerseits den Bruch mit den akademischen Erwartungen vor, dient andererseits aber auch dem Ausstellen der eigenen Kreativität, etwa wenn Cummings im zweiten Teil seiner Vorlesungen ausführlich aus seinem Werk zitiert, es aber kaum kommentiert. In den ersten drei Vorlesungen erzählt er dagegen aus seiner Biographie und stellt seine ‚Selbstfindung‘ dar. Dabei bedient Cummings die Bedingungen des literarischen Feldes insofern, als er die Voraussetzungen seiner Dichterlaufbahn benennt, die im literarischen Feld zu einer erfolgreichen Positionierung als kreativer Intellektueller häufig dazugehören. Der Habitus des kreativen Intellektuellen, so wie Cummings ihn vorführt und wie er auch das gegenwärtige literarische Feld noch beherrscht (John-Wenndorf 2014, 29), ist gekennzeichnet durch

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Sabine Kyora

bestimmte Facetten des sozialen, kulturellen und symbolischen Kapitals, während das ökonomische Kapital kaum erwähnt wird, aber deutlich vorhanden ist. Das soziale Kapital auf dem Weg zur Etablierung als literarischer Autor zeigt sich am Netz von Beziehungen, das Cummings von Kindesbeinen an pflegt. Als Sohn eines Harvard-Professors und einer an Literatur interessierten Mutter wird er in die intellektuelle Gemeinschaft von Harvard quasi hineingeboren: So wird ihm sein erster Gedichtband mit den Sonetten von Dante Gabriel Rosetti von Professor Royce geschenkt (Cummings 2005, 42). Sein Weg an die Universität ist quasi vorgezeichnet, dort findet er Freunde, die ihn bei seiner Dichterwerdung unterstützen (Cummings 2005, 70). Er verfügt aber auch über das kulturelle Kapital des Universitätsabschlusses, der von der Familie selbstverständlich finanziert wird. Die Einführung in die Hochliteratur leistet ebenfalls die Familie, Cummings benutzt diese hochliterarische Prägung dazu, sich und die von der Familie vermittelte Bildung von der populären Kultur und Literatur deutlich abzugrenzen (Cummings 2005, 38). Schließlich demonstriert er sein symbolisches Kapital durch das Zitieren aus den eigenen, in dreißig Jahren Autorschaft entstandenen Werken. Hier macht Cummings ganz im Sinne der „reinen Produktion“ nach Bourdieu klar, dass es ihm nicht um (ökonomischen) Erfolg geht, sondern nur um den Ansporn zur weiteren Verwirklichung seiner Kreativität (Cummings 2005, 106; Sawyer-Laçonne 2004, 500 – 501). Darüber hinaus zeigt sich Cummings als männlicher Intellektueller und im literarischen Feld als Autor mit unverwechselbarer Individualität. Nicht nur sind alle seine Unterstützer männlich, auch die Einführung in die Literatur geht vor allem von seinem Onkel aus. Die erste Veröffentlichung läuft ebenfalls über einen Herausgeber einer literarischen Zeitung. Deswegen bezeichnet er seinen Werdegang als „the male American stance of my adolescence“ (Cummings 2005, 60). Cummingsʼ Habitus ist neben dem Ansammeln der ‚richtigen‘ Kapitalsorten also auch von seiner Männlichkeit bestimmt, die deutlich mit der Vorstellung von autonomer Subjektivität als Motor seiner Literatur korrespondiert. Ablesbar ist dieses Konzept nicht nur in der Argumentation, sondern auch am sprachlichen Stil sowohl der „nonlectures“ wie auch der zitierten Werke. Dieser Zusammenhang zeigt auch die körperliche Seite des Habitus, auf die Bourdieu immer wieder hinweist. Ausdruck der Individualität ist nämlich ein Wortspiel mit „Stehen“: „Over- and under-standing will make their appearance later: during the next thirty minutes, a particular human being will merely stand for thirty years.“ (Cummings 2005, 81). Die dreißig Jahre, für die das Individuum in der Öffentlichkeit des Hörsaals (ein)steht, sind gekennzeichnet durch die Werke, die es durch seine individuelle Kreativität geschaffen hat. Die dreißig Minuten werden nämlich von Cummings durch Zitate aus seinem Werk gefüllt, das wiederum wie

2.1.1 Verhältnis zur Öffentlichkeit und Habitus

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die zitierte Formulierung durch Wortspiele und Wortneubildungen zu charakterisieren ist und damit den individuellen Sprachgebrauch ausstellt. Damit zeigt der Habitus von Cummings alle Kennzeichen, die es ihm im literarischen Feld möglich machen, sich als Schriftsteller der reinen Produktion zu positionieren und sich mit dieser Positionierung zu behaupten. Das Wissen um seinen sicheren Standort führt zu der Souveränität, die auch ironische Brechungen und Übertreibungen zulässt – etwa wenn er erzählt, seine Mutter hätte ihm als Baby einen Pullover mit dem großen Buchstaben H angezogen, weil dieser seine zukünftige Universität bezeichnete (Cummings 2005, 34). Bourdieu beschreibt ein solches Auftreten als Element des bourgeoisen Habitus, denn dieser setzt durch „die Ungezwungenheit, diese Art Gleichgültigkeit gegenüber dem vergegenständlichenden Blick der anderen und darin Neutralisierung von deren Macht, die aus der Gewißheit gewonnene Selbstsicherheit voraus, […] in der Lage zu sein, die Normen der Wahrnehmung des eigenen Körpers durchzusetzen“ (Bourdieu 1984, 331). Die Sicherheit, mit der Cummings über sein soziales und kulturelles Kapital verfügt – er ist in Harvard sozusagen zu Hause – ermöglicht „die Ungezwungenheit“, mit der er am Pult steht. Gerade diese Selbstsicherheit macht damit den ironischen Gestus und den Bruch mit Erwartungen der Zuhörer möglich. Deswegen kann er seine Vorlesungen „nonlectures“ nennen und erklären, dass er weder als Dichter über Dichter sprechen werde, noch vorhabe sich als akademisch Vortragender auszugeben. Dieser kontrollierte Bruch mit den vermuteten Erwartungen der Zuhörer und dem akademischen Habitus ist auch bei anderen Autorinnen und Autoren sichtbar, selbst dann wenn er anders als bei Cummings eingebettet ist – eben weil er Teil des Habitus des kreativen Intellektuellen ist. Cummings offener Umgang mit seiner Biographie als Teil seines Habitus ist allerdings eher die Ausnahme. So zeigen sich zwar Parallelen mit der Vorlesung, die Jonathan Franzen im Wintersemester 2009/10 im Rahmen der Tübinger Poetik-Dozentur gehalten hat (Franzen und Haslett 2010). Dort berichtet er über die Voraussetzungen für die Konzeption seines Romans Korrekturen und damit für dessen Erfolg im literarischen Feld. Entscheidend für die Befreiung seiner Kreativität, die er für die Fertigstellung gebraucht hat, ist seiner Ansicht nach die Loslösung von seiner Frau und die endgültige Trennung von ihr. Darüber hinaus wird dieser deutliche Zusammenhang von Werk und Biographie als Teil der Positionierung im literarischen Feld im deutschsprachigen Raum aber in der Regel nicht so deutlich vorgenommen. Eines der wenigen Beispiele ist Günter Grassʼ Frankfurter Poetik-Vorlesung von 1990 unter dem Titel Schreiben nach Auschwitz (Grass 1997, 235 – 256). Grass bindet hier sein Werk an seine Erfahrungen im Nationalsozialismus und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Er verknüpft dabei seine Biographie, sein Werk und die politische Entwicklung der BRD. Ähnlich wie Cummings nutzt er diesen Zusammenhang vor allem dazu,

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seine Entwicklung zum und als Dichter zu beschreiben, und zitiert dafür auch aus dem eigenen Werk. Gleichzeitig ist der souveräne Habitus des kreativen Intellektuellen dadurch gebrochen, dass Grass sich politisch für sein Mitläufertum im Nationalsozialismus rechtfertigt und sich mit Adornos Diktum, dass nach Auschwitz keine Gedichte mehr möglich seien, auseinandersetzt. Möglicherweise ist die Profilierung des Zusammenhangs von Biographie und Werk deswegen in den deutschsprachigen Poetikvorlesungen eher selten, weil Ingeborg Bachmann in ihren Poetikvorlesungen ein einflussreiches Gegenmodell angeboten hat.

2 Das Gegenmodell: Der akademische Habitus in Ingeborg Bachmanns Frankfurter Poetikvorlesungen (1959/60) Ingeborg Bachmann hält im Wintersemester 1959/60 die ersten Frankfurter Poetikvorlesungen unter dem Titel Probleme zeitgenössischer Dichtung und schafft damit den „Prototyp“ (Wohlleben 2005, 63 – 64) der Poetikvorlesung im deutschsprachigen literarischen Feld. Schon der Titel zeigt den Kontrast zu Cummings Konzentration auf seine eigenen Erfahrungen und seinen subjektiven Blick auf die Literatur. In Bachmanns Vorträgen findet sich weder eine direkte Darstellung des eigenen Werdegangs noch des eigenen sozialen und kulturellen Kapitals, alles, was als privat verstanden werden könnte, bleibt im Verborgenen (Weigel 2014, 13 – 14). Stattdessen ist die Bildung eines akademischen Habitus vom Standort der Schriftstellerin aus zu erkennen: So versucht Bachmann, einerseits von dem als subjektiv verstandenen eigenen Zugang zur Poesie und zur Poetik zu abstrahieren, sich aber andererseits von der etablierten Literaturwissenschaft abzugrenzen (Bannasch 2016, 254). Damit bietet sie zwar eine Perspektive auf „grundlegende Fragen der Literaturwissenschaft“ (Bannasch 2016, 257), allerdings als Positionierung im literarischen Feld, nicht im Feld der Wissenschaft, von dem sie sich durch die Ablehnung von bestimmten literaturwissenschaftlichen Richtungen distanziert (Bachmann 1978, 183 – 184). Bereits die Einladung an Bachmann begründet eine Tradition, die akademisch gebildete Schriftsteller und Schriftstellerinnen bevorzugt, vor allem „solche mit geisteswissenschaftlichen Doktortiteln“ (Hachmann 2014, 140; Wohlleben 2005, 47– 51), wie auch Bachmann als Doktorin der Philosophie einen solchen besitzt. Sie selbst spricht davon, dass „es noch nicht allzulange her [ist], daß ich selbst auf einer Bank in einem Hörsaal saß“ (Bachmann 1978, 255). Das Wissen um akademische Konventionen, um die Situation im Hörsaal und den Standort „allein heroben“ (Bachmann 1978, 217), also am Pult, beeinflusst – wie Bachmann

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selbst bemerkt – das Sprechen und das Verhältnis zwischen Sprecherin und Zuhörerinnen und Zuhörern (Bachmann 1978, 217). Diese Grundkonstellation steht wiederum im Kontrast zu ihrer „Abneigung gegen die Literatur, wie die Wissenschaft sie behandelt“. „Daß das Literaturstudium für Schriftsteller jedoch nicht vonnöten und unerheblich ist“ (Bachmann 1978, 255), stellt sie zusätzlich klar. Damit hebt sich die Form des akademischen Sprechens, die den Bachmannschen Habitus bestimmt, deutlich vom disziplinspezifischen Sprechen im wissenschaftlichen Diskurs ab – diese Differenz wird auch an den Reaktionen der Literaturkritiker erkennbar, die Bachmanns Auftritt als unsicher beschreiben, weil er dem (anscheinend erwarteten) professoralen, männlichen Gestus nicht entspricht (von der Lühe 1982, 123 – 125). Tatsächlich führt sie jedoch eine spezifische Variante des akademischen Habitus im literarischen Feld vor und ein, die im deutschsprachigen Raum in den späteren Poetikvorlesungen von Autorinnen und Autoren nuanciert und weiterentwickelt wird. Wie alle Äußerungen zum Werdegang, die über die schon zitierten hinausgeht, spart Bachmann ebenso den direkten Bezug zu eigenen Werken aus, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bereits eine anerkannte Lyrikerin der Gegenwartsliteratur ist. So hat sie nicht nur 1953 gleich zu Beginn ihrer Karriere den Preis der Gruppe 47 gewonnen, sondern auch 1957 den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen und im Jahr 1959 den renommierten Hörspielpreis der Kriegsblinden. Insofern gehört auch sie zur ‚arrivierten Avantgarde‘. Ihre Integration in das literarische Feld wird in ihrer Darstellung allerdings eher über die Nennung von Autorinnen und Autoren, die sie als wichtig herausstellt, deutlich, als über die Offenlegung von kulturellem und sozialem Kapital; die Nennung ihres Studiums, ohne ihre Disziplin oder ihren Doktortitel zu erwähnen, ist der einzige konkrete Hinweis in diesem Bereich. Das symbolische Kapital, das Bachmann als Expertin für Dichtung ausweist, wird vor allem über Zitate und Namen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern generiert, die kanonisch für die (internationale) Moderne und die europäische Hochliteratur ab 1800 sind. Die Kategorie des Neuen als Motor der Literatur (Weigel 2014, 13) zeigt die Anbindung an die Avantgarde im Bourdieuschen Sinn. Trotz der nur indirekten Darstellungsweise der eigenen Poetik wird allerdings Bachmanns Haltung zum und ihre Positionierung im literarischen Feld erkennbar: Sie grenzt sich von der Populärkultur (Bachmann 1978, 197) und von dem „reinen Kunsthimmel“ der lʼart pour l’art (Bachmann 1978, 204) ab; sie besteht auf der Autonomie der (wichtigen) Literatur (Volk 2003, 112) trotz ihrer Zugehörigkeit zum literarischen Feld, das sie als „Netz von Gunst und Ungunst“ bezeichnet, das anzeigt, „daß die Literatur heute eine Börse ist“ (Bachmann 1978, 186). Bachmann verortet sich im literarischen Feld zum Zeitpunkt ihrer Rede durch das Zitieren vor allem von Lyrikern wie Celan, Eich, Kaschnitz sowie Nelly Sachs

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und in Abgrenzung zu dem 1956 gestorbenen Gottfried Benn. Diese Auswahl hat sicher mit den Positionskämpfen im Feld zu tun: Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, zu denen Bachmann sich zählte, suchten nach 1945 einerseits die Abgrenzung vom Nationalsozialismus, andererseits aber auch eine „neue Sprache“. Die Ausgrenzung Celans (im Gegensatz zur Integration Bachmanns), mitgetragen durch die Gruppe 47 und vorangetrieben durch einzelne Kritiker wie etwa Günter Blöcker (Weigel 2014, 20 – 21), wird in Bachmanns Argumentation vor allem deswegen konterkariert, weil er selbstverständlich neben anderen Lyrikerinnen und Lyrikern steht und ebenso selbstverständlich deutschsprachige jüdische Autorinnen wie Sachs integriert sind. Man könnte also sagen, dass Bachmann sich gegen Tendenzen in der Gruppe 47 wendet, sie tut es aber nicht direkt, sondern stellt – durchaus sachlich, akademisch argumentierend – ihren Blick auf die Gegenwartslyrik vor. Die Modifikation des akademischen Habitus im literarischen Feld meidet also die offene Polemik und abstrahiert von persönlichen Beziehungen ebenso wie von der Zugehörigkeit zu einer Religion oder zu einem Geschlecht. Weder markiert Bachmann ihren Zugang als weiblichen noch wird über Schwierigkeiten von Schriftstellerinnen gesprochen, sich im literarischen Feld zu behaupten. Der Kanon, den Bachmann außerhalb der Gegenwartsliteratur zitiert, bleibt männlich, ohne dass dieses sichtbar reflektiert würde. Auch dieser Umgang mit der Geschlechtszugehörigkeit entspricht eher einem zeitgenössischen akademischen Habitus, in dem der Standort des Sprechers geschlechtlich unmarkiert ist. Dass Cummings wiederum seinen Standort als männlich markiert, macht den intendierten Bruch mit akademischen Konventionen durch seine „Nicht-Vorlesungen“ noch einmal deutlicher. Gleichzeitig wird am vorgeführten Habitus in beiden Fällen auch die performative Hervorbringung des Autorschaftsentwurfs erkennbar, die die Positionierung im literarischen Feld bestimmt. Während dem kreativen Intellektuellen Cummings eher das (avantgardistische) Genie entspricht, entwirft sich Bachmann als poeta docta, also als moderne, gelehrte Dichterin, sie verkörpert den akademischen Habitus im literarischen Feld.

3 Nuancierungen: Sozial-politisches Engagement Die beiden vorgestellten Modelle lassen sich als Pole denken, zwischen denen sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller bewegen und denen sie entsprechende Nuancierungen hinzufügen. Dabei sind auch in der Ausdifferenzierung des Formats Mischformen möglich. Ein Beispiel für die Verbindung des akademischen Habitus mit Charakteristika der kreativen Intellektuellen zeigen die Frankfurter Poetikvorlesungen von Ulrike Draesner unter dem Titel Grammatik der Gespenster

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von 2015. Sie führt einerseits ihre Praxis als Autorin vor, zitiert aus eigenen Texten und wechselt zu biographischen Erfahrungen, andererseits bindet sie ihre Texte in die literaturwissenschaftliche Diskussion von Gattungen ein. Als eigener Typus der Weiterentwicklung und Nuancierung des akademischen Habitus sind politisch-gesellschaftliche Orientierungen erkennbar, wie Heinrich Böll sie in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen formuliert oder wie sie Christa Wolf und Marlene Streeruwitz durch feministische Konzepte vornehmen. Bölls Habitus knüpft an die von Bachmann vorgeführte Variante des akademischen Habitus insofern an, als er ebenfalls weder aus seinem eigenen Werk zitiert noch seinen Werdegang im Einzelnen nachzeichnet. Bei seiner Positionierung im literarischen Feld stellt er allerdings an wenigen Stellen direkt und noch einmal unpersönlich den Bezug zu seiner Biographie her, vor allem zur Kriegserfahrung und zur Generationszugehörigkeit (Volk 2003, 118 – 120). Wie bei Bachmann bleibt darüber hinaus das Private verborgen, der Umgang mit der Geschlechtszugehörigkeit entspricht ebenso ihrer Konzeption. Bei Böll hat allerdings diese Nicht-Markierung einen anderen Grund, denn es geht ihm um die „Ästhetik des Humanen“ (Böll 1966, 9), die im allgemein Menschlichen keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern macht. Darüber hinaus wird bei ihm deutlicher als bei Bachmann, dass er sich, obwohl er Elemente des Akademischen übernimmt, gleichermaßen von der Wissenschaft und ihren Mechanismen abgrenzt, weil er sie als Institution versteht, die wie die Macht Unterordnung verlangt (Böll 1966, 32). Selbst wenn der Schriftsteller also Vorlesungen hält, ist er der Institution Universität gegenüber nicht zur Unterordnung verpflichtet, sondern allein an seine Verantwortung für die „Ästhetik des Humanen“ gebunden. Zu dieser Abgrenzung passt, dass Böll darauf hinweist, dass der Autor auch ohne den Gang durch die Institutionen gebildet sein kann (Böll 1966, 33) und er selbst nur kurz studiert hat (Böll 1966, 37). Sein soziales und kulturelles Kapital leitet er also nicht von institutionalisierten Bildungsgängen ab, der Zugang zum literarischen Feld ist von ihnen nicht abhängig. Sein symbolisches Kapital macht er – wie Bachmann auch – durch das souveräne Anzitieren der literarischen Tradition und deren Bewertung deutlich. Böll lehnt in seiner Positionierung im literarischen Feld zwar wie Bachmann auch die Literatur ab, „die das Nichtssagende in musterhafter Schönheit ausdrückt“ (Böll 1966, 19), also die Tradition der l’art pour l’art – Beispiele dafür sind bei ihm George und Benn – und er besteht ebenso auf der Autonomie der Literatur gegenüber anderen Feldern wie Macht, Wissenschaft oder Kirche. Innerhalb dieses autonomen Feldes der Literatur geht es ihm aber um die Verwirklichung des Humanen und um die Verantwortung, die der Schriftsteller dafür trägt. Er versteht darunter „die Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land“ (Böll 1966, 42). Diese Bewohnbarkeit ist nur in einer solidari-

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schen Gemeinschaft möglich, die der Unterordnung des Einzelnen unter eine Institution, die ihm Befehle erteilt, ausschließt (Böll 1966, 46 – 48). Die Sprache, die ihr entspricht, vereint Moral und Stil und lehnt Pathos ebenso ab wie die Anknüpfung an die Vorkriegsavantgarden (Böll 1966, 78, 80). Als letztes historisches Beispiel, bei dem diese Verknüpfung von Humanität, wie er sie versteht, und Sprache noch geglückt ist, nennt Böll Adalbert Stifter. Sein Auftrag an die junge Generation, die im Hörsaal vor ihm sitzt, ist, genau diese Verknüpfung von Sprache und Gesellschaft wiederherzustellen (Böll 1966, 53). Das heißt aber auch, dass Bölls Habitus neben der Anknüpfung ans akademische Sprechen auch von seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation, der Kriegsgeneration, abhängig ist und sein moralischer Impetus sich von diesem Ort her speist. Verbunden mit der Ablehnung der Avantgarde ist die ästhetische Verortung eher im Bereich eines Realismus zu finden, der dem Alltäglichen und den Außenseitern der Gesellschaft verpflichtet ist (Sowinski 1993, 147). Nicht umsonst versteht Böll sich als „Autor der kleinen Leute“ (Böll 1966, 17). Christa Wolf und Marlene Streeruwitz variieren den akademischen Habitus wie Böll durch ein sozial-politisches Anliegen, das bei beiden jedoch dadurch grundiert ist, dass die Geschlechtszughörigkeit markiert und als politischer Standort benutzt wird. In Wolfs Frankfurter Poetikvorlesungen Voraussetzungen einer Erzählung. Kassandra im Sommersemester 1982 wird durch die Orientierung an der Entstehung des Romans Kassandra die Kritik am seit der Antike bestehenden Patriarchat deutlich, das zudem auch für die aktuellen Aufrüstungsbestrebungen der Großmächte verantwortlich gemacht wird. Wolf ist die erste DDRAutorin, die die Frankfurter Vorlesungen hält, schon das zeigt ihr symbolisches Kapital an. Sie ist aber auch Büchner-Preisträgerin (1980), schließlich ist sie als promovierte Germanistin ebenfalls mit dem entsprechenden sozialen Kapital ausgestattet. Erkennbar wird die akademische Sozialisation schon in dem geschilderten Vorgehen bei der Annäherung an Kassandra: Wolf recherchiert die entsprechende archäologische und altphilologische Literatur, liest sich in Mythos-Interpretationen ein und rezipiert literarische Bearbeitungen von Mythen. Wolf ist eine der wenigen Autorinnen, die gleichermaßen im literarischen Feld der BRD wie der DDR präsent sind. Sie nutzt diese Situation, indem sie sich einerseits feministisch äußert – und damit an aktuelle Debatten in der BRD und an die Prosa ihrer Vorgängerin Ingeborg Bachmann anschließt (Opitz-Wiemers 2016, 172) –, gleichzeitig ist aber der Blick auf die Geschichte, in die sie die mythische Figur einbettet, durchaus geprägt von der materialistischen Perspektive, etwa wenn sie die Darstellung des troianischen Kriegs bei Homer als Krieg um Seehandelswege liest und die Odyssee als „Verherrlichung eines Raubkrieges“ (Wolf 1983, 19). Darüber hinaus ist bei Wolf, aber auch bei Streeruwitz erkennbar, dass durch das programmatische Einbeziehen des weiblichen Standortes in den

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akademischen Habitus dieser in Richtung der kreativen Intellektualität geöffnet wird. Wie Cummings betont Wolf, sie wolle nicht ihre Poetik beschreiben, wie Cummings erzählt sie auch von der privaten Griechenlandreise und inszeniert sich in der Identifikation mit der Priesterin Kassandra als Seherin, was weder mit einem akademischen Habitus vereinbar ist noch mit dem Autorschaftsentwurf des Poeta Doctus oder Docta, der mit ihm häufig korrespondiert. Diese Öffnung wird jedoch an das politisch-gesellschaftliche Anliegen rückgebunden, denn es motiviert die Darstellung der Griechenlandreise, die Einfühlung in die Figur und die Konfrontation einer (männlichen) Poetik mit dem Wolfschen „Gewebe“, das „nicht ganz ordentlich geworden“ ist (Wolf 1983, 7). Die Annäherung an die Seherin – wahrscheinlich auch beeinflusst durch die Tradition des Poeta Vates – findet sich ebenfalls in Robert Menasses Frankfurter Poetikvorlesungen (Menasse 2006, 59 – 63), Menasse nutzt die ‚Begegnung‘ mit Kassandra in Athen 2004, um ähnlich wie Wolf seinen antikapitalistischen Widerspruch zur gegenwärtigen Gesellschaft zu formulieren. Streeruwitz schließt in ihren Tübinger Poetikvorlesungen 1997 insofern an Wolf an, als sie auf die unterschiedlichen Voraussetzungen für Autorinnen und Autoren im Umgang mit der literarischen Tradition, aber auch bei der Positionierung im literarischen Feld aufmerksam macht. Sie geht aber noch über die politischen Einschätzungen Wolfs hinaus, weil sie schon die Ausdrucksmittel von Autorinnen von der männlich dominierten Sprache absetzt. Sie erklärt die weibliche Sprache als nicht vorhanden, damit haben Autorinnen einen fundamental anderen Zugang zur Literatur (Kernmayer 2008, 31) – erkennbar wird hier die Aufnahme von dekonstruktiven und psychoanalytischen Theorien, besonders die Aussagen von Jacques Lacan über das Verhältnis des Weiblichen zur symbolischen Ordnung. Dieser akademische Hintergrund und ihr eigenes, damit verbundenes soziales Kapital wird von Streeruwitz in der ersten Vorlesung angesprochen, indem sie ihre Dissertation zum Drama erwähnt (Streeruwitz 2014, 13). Sie argumentiert aber auch ausgehend von Literaturtheorien und zeigt damit ihre literaturwissenschaftliche Professionalität (Kernmayer 2008, 37). Ihr akademischer Habitus ist also an der Literaturwissenschaft und ihren neueren Perspektiven orientiert – in dieser Hinsicht unterscheidet sie sich von Bachmann. Deutlich wird aber vor allem die Kopplung des akademischen Habitus an die feministischen Perspektive. Diese feministische Perspektive führt allerdings zur Problematisierung eines Aspekts des akademischen Habitus: Streeruwitz will eigentlich nichts zu ihrer Person sagen (Kernmayer 2008, 54), wird aber von der Literaturkritik häufig auf die Frau oder „Dame“ (Kernmayer 2008, 55 – 56) reduziert. Das im akademischen Kontext propagierte Absehen von der eigenen Person, vom Geschlecht oder von der Körperlichkeit, gilt nach den Erfahrungen von Streeruwitz nicht für Schrift-

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stellerinnen. Sie antwortet darauf mit der Darstellung von biographischen Episoden, die etwa die Erfahrung des kleinen Mädchens nachzeichnen (Kernmayer 2008, 16 – 17) und das Persönliche programmatisch ins Spiel bringen. Die Vorstellung von Autorschaft und Literatur, die Streeruwitz aufbaut, ist dezidiert eine gegen den Mainstream, vor allem verkörpert durch die männlich dominierte Literaturkritik, auf Seiten der theoretisch grundierten, an Erkenntnis orientierten Avantgarde. Das zeigt sich vor allem an ihren Ausführungen zur Syntax, die sie durch asyntaktisch gesetzte Punkte unterbricht (Streeruwitz 2014, 79). Diese „Poetik der Brechung“ (Kernmayer 2008, 39) entkonventionalisiert die Sprache und den Leseprozess. Damit unterscheidet sich ihre Positionierung deutlich von der Wolfs als Seherin und Kritikerin der gesellschaftlichen Zustände und von Bölls Verständnis als Autor der kleinen Leute. In den Poetikvorlesungen verändert sich zwischen 1959 und 1997 also der akademische Habitus von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, auch durch die Entwicklungen in der Literaturwissenschaft, deren Bezug zum Feminismus ab den 1980er Jahren und zu den dort diskutierten Literaturtheorien. Böll, Wolf und Streeruwitz sprechen aber ebenfalls über das Verhältnis der Literatur zum Feld der Macht: Bölls Institutionenkritik wie die Patriarchats- und Sprachkritik der Autorinnen relativieren die Autonomiekonzepte von Bachmann und Cummings.

4 Der schriftstellerische Habitus = „Praxis“ Ausgehend vom Habitus des kreativen Intellektuellen und als dessen Nuancierung kann die schriftstellerische Praxis in den Vordergrund der Poetikvorlesungen treten. Diese Entwicklung kann als viertes Modell innerhalb des Habitus von Schriftstellerinnen und Schriftstellern verstanden werden. Schon bei Cummings ersetzen die in ihrer chronologischen Abfolge zitierten eigenen Texte im zweiten Teil seiner Vorlesungen das Sprechen über sie und ihre Poetik. Darüber hinaus ähnelt die Stilistik der Vorlesungen seinen Werken, während etwa bei Bachmann und insgesamt beim akademischen Habitus die eigene dichterische Sprache völlig zurückgenommen wird. Dagegen können Autorinnen und Autoren ihre Arbeitsund Schreibweise so in den Vordergrund stellen, dass die Unterschiede zum sonstigen Werk kaum noch erkennbar sind (Wohlleben 2005, 55 – 59). So sind Gertrude Steins 1934 an der University of Chicago gehaltenen Vorlesungen Narration. Four lectures by Gertrude Stein (1935) beispielsweise anstatt einer stringenten Argumentation gekennzeichnet durch die Wiederholungsstrukturen ihrer Prosawerke, sodass ihr Bericht über das Erzählen zum Erzählen selbst wird. In dieser Art der Vorlesung lässt sich also die (akademische) MetaEbene des Sprechens über etwas, etwa die eigene Poetik, nicht mehr vom Ge-

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genstand trennen. Nun könnte man diese Art des Vorgehens als Teil des avantgardistischen Habitus von Stein lesen, die als zu diesem Zeitpunkt bereits anerkannte Schriftstellerin ihre experimentelle Schreibweise auch auf ein Format überträgt, das üblicherweise anders ausgefüllt wird. Allerdings sind Steins Vorlesungen zwar ein frühes Beispiel, aber sie ist nicht die Einzige, die so verfährt. Darüber hinaus ist diese Vortragsweise nicht notwendig mit einem (neo)avantgardistischen Werkverständnis verknüpft: So übernimmt Helmut Heißenbüttel als Vertreter der konkreten Poesie in seinen Frankfurter Vorlesungen über Poetik, 1963, den akademischen Habitus und wählt nur als Beispiele für seine Ausführungen experimentelle Texte, während Juli Zeh in ihren Frankfurter Vorlesungen Treideln (2013) als Verfasserin von realistischen Romanen autofiktional erzählt. Möglicherweise zeigt sich an diesem Unterschied allerdings auch eine Entwicklung, die bei Zehs Vorlesungen 2013 in der Positionierung im literarischen Feld eine andere Habitusform ermöglicht, vielleicht sogar verlangt, und damit auf die Ausbreitung des Genres Poetikvorlesungen reagiert. Seit den 1990er Jahren wird die Profilierung des eigenen sprachlichen Gestus und das Vorführen der poetischen Praxis in den Poetikvorlesungen jedenfalls häufiger. Rainald Goetz‘ im Sommersemester 1998 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen Praxis lassen diesen Gestus und den dazu gehörigen Habitus besonders deutlich werden. Veröffentlicht wurden die Vorlesungen in der an sein InternetTagebuch anschließenden Druckfassung von Abfall für alle. Roman eines Jahres innerhalb des Jahresverlaufs und damit zwischen allen anderen Texten, die Goetz für das Internet-Tagebuch geschrieben hat. Auch der Titel Praxis zeigt, dass Goetz den Unterschied zwischen poetischer Praxis und poetologischer Aussage nicht machen will, zumal der Begriff auch innerhalb des Tagebuchs an anderen Stellen auftaucht, also nicht der Poetikvorlesung vorbehalten ist. Zunächst hat Goetz dort vorgehabt, über das Zitieren von Zeitungstexten, das Spielen von Musik und das Zeigen von Fernsehausschnitten den Prozess der Textwerdung in seiner Arbeit live vorzuführen. Diese work-in-progress-Variante der Vorlesungen lässt sich allerdings gegen die Situation und den von ihr geforderten Habitus nicht durchsetzen (Peters 2007, 133), sodass Goetz in seiner zweiten Vorlesung vom Scheitern seines eigentlichen Vorhabens spricht und mit einem Manuskript arbeitet. Er versucht aber weiter darzustellen, wie seine Texte entstehen. Soziales und kulturelles Kapital wird bei dieser Vorgehensweise innerhalb der Vorlesungen wenig erkennbar, während es im Tagebuch durchaus ausbuchstabiert wird, besonders über die vielen Kontakte Goetzʼ in das literarische Feld, also zu Lektoren, Kritikern und Literaturwissenschaftlern, die meist nur mit dem Vornamen auftauchen und so die entsprechende vertraute Arbeitsbeziehung signalisieren. Allerdings spricht auch Goetz über die Universität als Ort der Vorlesungen (Goetz 1999, 268 – 269), der ihn besonders gereizt hat.

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Sein symbolisches Kapital schöpft Goetz aus den Kontexten, in die er seine Projekte stellt, so bezeichnet er die Theoretiker Luhmann und Foucault als „Fixsterne“ seiner Arbeit (Goetz 1999, 232), Andy Warhols Popism als Lieblingsbuch (Goetz 1999, 236) und erzählt zum Ende der ersten Vorlesung eine Anekdote über Stockhausen (Goetz 1999, 236/237). Die Metapher des Labors, die er für seine Arbeitsweise findet, lässt zudem seine Positionierung als Avantgarde-Autor deutlich werden. Denn sie steht in der Tradition der Avantgarde von Benn und den Futuristen bis zu den Neo-Avantgarden in Westdeutschland – nicht umsonst wird Hubert Fichte gleich zu Beginn und Benn in der zweiten Vorlesung ins Spiel gebracht, Schumacher macht zudem auf die Parallelen zu Rolf Dieter Brinkmann aufmerksam (Schumacher 2003, 126 – 127). Goetzʼ Vorlesungen lassen deutlich werden, dass, auch wenn der eigene Produktionsprozess im Vordergrund steht, kaum noch ohne Markierung der geschlechtlichen Identität geredet werden kann. Erkennbar wird dies, als Goetz über einen von Streeruwitzʼ Romanen spricht – sie ist seine direkte Vorgängerin im „Amt“ –, mit der unterdrückten Frau im Roman sympathisiert und kritisch über „ein derart männliches Wort“ (Goetz 1999, 264) reflektiert, das ihm zum Roman einfällt. Von Goetzʼ Vorlesungen ausgehend, fällt in den 2010er Jahre die Ausdifferenzierung dieser spezifischen Variante des Habitus der kreativen Intellektualität auf. So kann einerseits die „Praxis“ in der Vorlesung inszeniert werden, indem autofiktionale Texte vorgelesen werden (Juli Zeh, Treideln, Frankfurt 2013; Marcel Beyer, XX, Göttingen 2014) oder im Gegenteil keinerlei selbstverfasste Texte mehr wie bei Thomas Meinecke in Ich als Text (Frankfurt 2012). Meinecke zitiert nur noch aus der Sekundärliteratur zu seinen Texten und spielt Musik ab – einerseits führt er damit seine Arbeitsweise und seinen Autorschaftsentwurf als DJ performativ vor, andererseits wird der Schriftsteller so zur Figur des literarischen Feldes, das ihn definiert und fortlaufend beschreibt, die empirische Person hat dazu nichts zu sagen. Die Möglichkeiten der Inszenierung und Positionierung im literarischen Feld nehmen also deutlich zu, je eingeführter sich das Format der Poetikvorlesung auch im deutschsprachigen Raum zeigt. Der Habitus der Vortragenden kann sich dabei an den Vorgängerinnen und Vorgängern orientieren, er kann zudem traditionelle Autorschaftsentwürfe wieder aufnehmen. Gleichwohl ist er in den letzten Jahren deutlich an der poetischen „Praxis“ der Vortragenden orientiert. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller schaffen es dadurch, einerseits einen anerkannten Habitus wie den des Poeta doctus mit der Betonung von Originalität und Individualität zu verbinden, um andererseits die individuellen Eigenarten ihres Habitus zu betonen und so ihre Stellung im literarischen Feld zu behaupten.

2.1.1 Verhältnis zur Öffentlichkeit und Habitus

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Literaturverzeichnis Bachmann, Ingeborg. „Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung.“ Werke Vierter Band: Essays, Reden, Vermischte Schriften, Anhang. Hrsg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München/Zürich 1978. Bannasch, Bettina. „Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen“. Bachmann-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. 2. Aufl. Stuttgart 2020: 248 – 261. Beyer, Marcel. XX. Lichtenberg-Poetikvorlesungen. Göttingen 2015. Böll, Heinrich. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Köln/Berlin 1966. Bourdieu, Pierre. Die feinen Unterschiede. Zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 3. durchgesehene Aufl. Frankfurt a. M. 1984. Bourdieu, Pierre. Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 2001. Bourdieu, Pierre. „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital.“ Soziale Ungleichheiten. Hrsg. von Reinhard Kreckel. Göttingen 1983: 183 – 198. Bourdieu, Pierre. Reflexive Anthropologie. Frankfurt a. M. 1996. Cummings, E. E. i. six nonlectures. ich. sechs nichtvorträge. Ebenhausen b. München 2005. Draesner, Ulrike. Grammatik der Gespenster. Frankfurter Poetikvorlesungen. Stuttgart 2018. Franzen, Jonathan und Adam Haslett. Are we feeling better now? Fiktion und Autobiographie. Tübinger Poetik-Dozentur 2009. Künzelsau 2010. Goetz, Rainald. Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt a. M. 1999. Grass, Günter. „Schreiben nach Auschwitz. Frankfurter Poetik-Vorlesung.“ Werkausgabe. Essays und Reden III. Hrsg. von Daniela Hermes. Göttingen 1997: 235 – 256. Hachmann, Gundela. „Poeta docta docens: Poetikvorlesungen als Inszenierung von Bildung.“ Subjektform Autor. Hrsg. von Sabine Kyora. Bielefeld 2014: 137 – 155. Heißenbüttel, Helmut. „Frankfurter Vorlesungen über Poetik 1963.“ Über Literatur. Texte und Dokumente zur Literatur. Olten/Freiburg i.Br. 1966. John-Wenndorf, Caroline. Der öffentliche Autor. Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern. Bielefeld 2014. Jürgensen, Christoph und Gerhard Kaiser. „Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese.“ Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Hrsg. von Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser. Heidelberg 2011: 9 – 30. Kernmayer, Hildegard. „Poetik des Schweigens. Poetik der Brechung. Poetik des Banalen. Écriture féminine. Zu Marlene Streeruwitzʼ Poetologischen Konzepten.“ Marlene Streeruwitz. Hrsg. von Günther A. Höfler und Gerhard Melzer. Granz 2008: 29 – 45. Meinecke, Thomas. Ich als Text. Frankfurt a. M. 2011. Menasse, Robert. Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurt a. M. 2006. Opitz-Wiemers, Carola. „‚Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra‘ – Frankfurter Poetik-Vorlesungen.“ Christa Wolf-Handbuch. Hrsg. von Carola Hilmes und Ilse Nagelschmidt. Stuttgart 2016: 171 – 177. Peters, Sibylle. „Theater des Textes: Rainald Goetzʼ Frankfurter Poetikvorlesungen und das Stück Jeff Koons“. Vom Drama zum Theatertext. Hrsg. von Hans-Peter Bayerdörfer. Berlin/ New York: 132 – 141. Sawyer-Laçonne, Christopher. E.E. Cummings: a biography. Naperville, IL 2004.

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Schumacher, Eckhard. Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003. Sowinski, Bernhard. Heinrich Böll. Stuttgart/Weimar 1993. Stein, Gertrude. Narration. Four Lectures by Gertrude Stein. Chicago 1969. Streeruwitz, Marlene. Poetik. Tübinger und Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M. 2014. Volk, Ulrich. Der poetologische Diskurs der Gegenwart. Untersuchungen zum zeitgenössischen Verständnis von Poetik, dargestellt an ausgewählten Beispielen der Frankfurter Stiftungsgastdozentur. Frankfurt a. M. u. a. 2003. von der Lühe, Irmela. „‚Ich ohne Gewähr‘. Ingeborg Bachmanns Frankfurter Vorlesungen zur Poetik“. Entwürfe von Frauen. Hrsg. von Irmela von der Lühe. Berlin 1982: 106 – 131. Weigel, Sigrid. „Öffentlichkeit und Verborgenheit. Zur literaturpolitischen und persönlichen Konstellation von Ingeborg Bachmanns Frankfurter Poetik-Vorlesung.“ Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetisch-historische Korrelationen. Hrsg. von Gernot Wimmer. Berlin/New York 2014: 7 – 23. Wohlleben, Doren. Schwindel der Wahrheit. Ethik und Ästhetik der Lüge in Poetik-Vorlesungen und Romanen der Gegenwart. Freiburg i.Br. 2005. Wolf, Christa. Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Darmstadt/Neuwied 1983. Zeh, Juli. Treideln. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 2013.

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2.1.2 Das Zögern auf den Punkt bringen: Zur Performativität deutschsprachiger Poetikvorlesungen

Die Geschichte der deutschsprachigen Poetikvorlesung, die 1959/1960 mit Ingeborg Bachmanns Frankfurter Vorlesungen begann, scheint überschaubar. Doch lässt diese mittlerweile boomende Vortragspraxis sehr unterschiedliche Phasen im Selbst- und Fremdverständnis von Autorschaft erkennen. Die von Wissenschaftsbetrieb und Literaturmarkt erst verhalten, dann umso effektiver ins Repertoire aufgenommene poetologische Positionierung von Schriftsteller/innen in universitärem Rahmen soll hier unter dem Aspekt performativer Ästhetik skizziert werden. Die Poetikvorlesung erweist sich dabei als eine antizipierende Form. Epistemologische und ästhetische Paradigmenwechsel werden darin verhandelt, bevor sie in den wissenschaftlichen Diskurs einwandern. So sind auch Veränderungen im Stellenwert performativer Kulturen wesentlich früher erkennbar. Die Poetiken des Schreibens und Sprechens als Handlungsakte, der Legenden um den eigenen Körper (Kirchhoff 2012) verhandeln die Spannung zwischen repräsentativer Aussage und Formen der Präsenz. Solche Fragen werden in den Kulturwissenschaften oft Jahre bis Jahrzehnte später als Forschungsbedarf und als innovative Beschreibungskategorien neu gefasst. Begreift man den Entwurfsgestus des Performativen als eine die Zukunft antizipieren wollende Ästhetik der Ereignishaftigkeit, können wir von einer dezidiert performativen Gattung sprechen, die als ein Seismograph für sich anbahnende kulturelle Turns in Theorie und Praxis der Literatur wie Literaturwissenschaft zu betrachten ist.

1 Bühne / Partizipation Wollte man den Aufführungscharakter der Poetikvorlesung als einer theatralen Konstellation auf Gestik, Mimik oder Rhetorik der jeweiligen (Selbst‐)Inszenierung reduzieren, wären die Beschreibungsmöglichkeiten flugs umrissen und ebenso schnell erschöpft. Die interessante spezifische Performativität einer vor Publikum vorgetragenen Poetologie zeigt sich vielmehr in der allen Beteiligten bewussten, körperlich präsenten Positionierung einer Stimme. Es geht in auktorialer und ästhetischer Selbstreferenz um Äußerung und zugleich Entäußerung. Jenseits des Schreibtisches, der geschlossenen Werkstatt sollen und können Auskünfte über das eigene literarische Verfahren einen maximalen Aktualitätshttps://doi.org/10.1515/9783110647884-009

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wert generieren und also als ein Akt der Preisgabe und des Sich-Preisgebens gesehen und gehört werden. Im Vergleich zu den frühneuzeitlichen Regelpoetiken liegen die normativen Implikationen der vergleichsweise jungen Gattung ‚Poetikvorlesung‘ daher nicht mehr in formalen oder semantischen Bestimmungen der Literatur begründet, sondern im Anspruch des Publikums, die Performanz poetischer Rede als ‚authentisch‘-präsent und im Rahmen der räumlich-theatralen Konstellation eines Vortrags miterleben zu können. Dieser Anspruch, Literatur quasi ‚in statu nascendi‘ zu vollziehen beziehungsweise mitzuvollziehen, schließt seitens der Poet/innen immer schon dessen Abwehr, spielerische Relativierung oder Unterwanderung ein. Der im akademischen Rahmen frontal gehaltene Vortrag eines/er Schriftsteller/in vor Publikum unterscheidet sich auf den ersten Blick in keiner Weise von anderen Vorlesungen. Auf semantischer Ebene gewinnt er seine Spannung durch den doppelten Bühnenboden der poetologischen Rede über das eigene Werk aber umso mehr. Es entsteht eine selbstreferenzielle Argumentationsbewegung, die das eigene Schreiben ja nicht interpretieren oder analysieren, sondern jenseits der Publikation eines literarischen Textes positionieren und präsent machen kann und soll. Der Inszenierungseffekt liegt in der Relationierung von Schreiben, mündlicher Selbstreflexion und physischer Präsenz. Dabei haben sich die medialen, kultursoziologischen und literaturtheoretischen Parameter dieser performativen Konstellation innerhalb der letzten sechs Jahrzehnte stark verändert. Gleichwohl lässt sich zu Beginn nahezu aller Poetikvorlesungen ein Kontinuum ausfindig machen, denn immer wieder machen die Autor*innen auf die scheinbar außergewöhnliche Situierung der eigenen Rede – also auf den Bühneneffekt – aufmerksam. Die mit jeder Performativität einhergehende Zurschaustellung wird durch die Öffnung der Vorlesung für ein breiteres, außeruniversitäres Publikum und den Werbeeffekt für die einladende Hochschulinstitution noch forciert. Die gleichzeitige Einbindung und Einhegung des Vorgetragenen in den literaturwissenschaftlichen, akademischen Verhandlungsraum widersprechen meiner These einer ‚Geburt der Poetikvorlesung aus dem Geist des Performativen‘ nicht. Die zahlreichen audiovisuellen Dokumentationen, die mittlerweile in Verlagsprogrammen fest verankerten Publikationsreihen und nicht zuletzt die mit diesem Handbuch der Poetikvorlesungen sich abzeichnende Kanonisierung einer Textgattung sind zwar klare Anzeichen einer Etablierung, die dem Bewegungsmodus des Performativen zu widersprechen scheint. Das Phänomen der Verschriftlichung, die Einwanderung mündlicher, auf präsente, interaktive Ereignishaftigkeit zielender Rede in tradierbare Texte beweist aber lediglich einmal mehr, dass eine Ästhetik des Performativen in Theorie und Praxis immer als kulturhistorisches Phänomen eines Wechselspiels von künstlerischem Entwurf und institutionali-

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Abb 2.1.2: Aus Robert Gernhardts „Hier spricht der Dichter“, © Gehebe-Gernhardt

siertem Wissen zu beschreiben ist. Die Binärkonstruktion von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die die Kulturwissenschaften noch im späten 20. Jahrhundert als eine aufzulösende Dichotomie beschäftigte, ist heute Wissenschaftsgeschichte. Dennoch wird in der in jeder Poetikvorlesung mitschwingenden Spannung zwischen Text und Rede deutlich, dass es bei der Lektüre oder im Nachvollziehen audiovisueller Vorlesungsdokumentationen immer nur um Rekonstruktionen dieser für jedes Vortragen spezifischen Performanz geht. Die Stimme im Text beziehungsweise die Textur der Rede erzeugen die poetologische Grundtonart dieser Gattung. Begreift man deren Geschichte selbst als performativen Prozess, zeigt sich in ihm die enge Verschränkung mündlicher, schriftlicher und audiovisueller Traditionsbildung. Selbstverständlich ist bei der Lektüre der Vorlesungen an den Überarbeitungsstatus, auch an Mixturen oft unterschiedlicher Quellen für die Druckfassung zu denken. Aber im Lektürevorgang ist die Stimme, rezeptionsästhetisch betrachtet, ja ohnehin eine andere als die des/der Autor/in. Die vergleichsweise junge Praxis deutschsprachiger Poetikvorlesungen ist häufig durch einen kritisch-theoretischen Rechtfertigungsgestus der Autor/innen

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bestimmt. Im angloamerikanischen Sprachbereich können die in akademische Zusammenhänge integrierten Auftritte von Schriftsteller/innen bekanntlich auf eine wesentlich längere Geschichte zurückblicken. Das gelassenere, oft ironische Spiel mit Selbstauskunft und Selbstkommentierung war dort, auch bei Lesungen, immer schon Teil des Literaturbetriebs. Die wesentlich pragmatischere Einbindung von Repräsentant/innen künstlerischer Produktivität in unterschiedliche Kontexte diente nicht nur der Vermarktung, sondern war Ausdruck eines anderen gesellschaftlichen Selbstverständnisses der Künste wie Wissenschaften. In Deutschland hatten sich diese im 19. Jahrhundert in Tradition des Idealismus voneinander abgegrenzt, sich aber auch beide durch die konkurrierende Beanspruchung eines weniger politisch als poetologisch beziehungsweise (wissenschafts‐)ethisch begründeten Freiheitsbegriffs profiliert. Daher schienen Grenzzonen der Überlagerung von Künsten und Wissenschaften im universitären Rahmen suspekt. Die mit dem Event- und Ereignischarakter öffentlicher Veranstaltungen einhergehende Offenlegung systemischer Abhängigkeiten von ökonomischen oder gesellschaftlichen Erwartungshaltungen galt es im Interesse beider Seiten zu vermeiden. Dem Markt und Betrieb widersprechende Autonomiekonzepte und der Anspruch auf den Status eines „Sonderdiskurses“ (Eke 2016, 21) finden sich seit dem 18. Jahrhundert nicht nur in der Literatur, sondern auch im Selbstverständnis der deutschen Wissenschaft. Im angloamerikanischen Bereich zeigt sich die ganz andere Wissenschaftsund Kunstauffassung unter anderem in der Denomination von Stiftungsprofessuren für Poetry. Deren Programm umfasst so unterschiedliche künstlerische ‚Disziplinen‘ wie Musik, Malerei, Film, Tanz und eben Poetry. Die Positionierungen zu Fragen nach sprachlicher Verkörperung, sprachlichem Handeln und Partizipation oder nach dem Verhältnis von Performanz und Evidenz in der produktions- wie rezeptionsästhetischen Ereignishaftigkeit der Künste sind in zeitlicher Parallelität zur Performance Art zu sehen. Zu erinnern ist beispielsweise an die untitled events auf den Sommerakademien des Black Mountain College, die Wege einer performativen Kultur jenseits von Manifesten und Programmatiken vorzeichneten (Fischer-Lichte 1998) und auf deren Paradigma der Ereignishaftigkeit die folgende Generation sich immer wieder berief. Als Experimentallabor für transdisziplinäre Projekte war das 1933 in North Carolina gegründete College lange Zeit Garant für eine widerspruchsfreie Institutionalisierungsmöglichkeit künstlerisch-performativer Praxis, die in Form universitärer Lehre auch lehr- und tradierbar schien. Partizipative wie marktorientierte Aspekte musikalischer, literarischer oder gestalterischer Veranstaltungspraxis lieferten für die Poetry Lectures also ganz andere Voraussetzungen. Eine große Breitenwirkung hatten beispielsweise die Charles Eliot Norton Lectures des Komponisten Aaron Copland. Seine Poetikvor-

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lesung Music and Imagination, 1951/1952 in Harvard, knüpfte an literarische Vorbilder (Coleridge, Auden, Sartre oder Claudel) an und dachte die Künste im Sinne rezeptionsästhetischer Vorstellungskraft zusammen. Jeder Termin war mit der Aufführung einer eigenen Komposition verbunden. Die wechselseitige Aufmerksamkeit galt „The Gifted Listener“ (Copland 1952, 7– 20) bis hin zum sogenannten „everyday citizen“ (Copland 1952, 111). Die im wahrsten Sinne des Wortes bühnenreife Versuchsanordnung gelang durch ein partizipatives Denken, eine Zusammenschau von Komposition, Interpretation, Rezeption und Lehre der Musik – „The artist should feel himself affirmed and buoyed up by his community“ (Copland 1952, 111). Identifikationseffekte des Performativen zielten hier nicht zuletzt auf Gründungs- und Begründungspotenziale einer eigenen, spezifisch ‚amerikanischen‘ Musiktradition nach dem Zweiten Weltkrieg. Bei allem Einfluss dieser Traditionen auf den kontinentalen Wissenschaftswie Kunstbetrieb blieben bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Metaebenen der Kommentierung, Legitimation und kulturtheoretischen Selbstkritik in deutschsprachigen Poetikvorlesungen wesentlich raumgreifender. Reflexionen über die Ideologiegefahr ‚authentischer‘ Identifikationsangebote und einen durch die Präsenz der Autor/innen-Stimme beglaubigten Anspruch, das Publikum ‚mitnehmen‘ zu können, sind dabei bis heute zu finden. So richtet sich Ulrike Draesner in ihren Frankfurter Vorlesungen 2016/2017 an alle, „die sich für Leben interessieren. […] Ich möchte darüber sprechen, wie wir Leben schreiben“, – aber: „Ich möchte in diesen Vorlesungen versuchen, Sie dorthin mitzunehmen, wo ich selbst in Relation zu einem Text stehe, während ich ihn schreibe. Das ist unmöglich, denn solange ich hier stehe, schreibe ich nicht, während ich, als ich diese Vorlesungen schrieb, nichts als diese Vorlesungen schrieb“ (Draesner 2018, 16 und 19). Die in deutscher und englischer Sprache schreibende Autorin zeigt sich in ihren Vorlesungen als eine die unterschiedlichen Traditionen im Selbstverständnis von Wissenschaft wie Kunst zusammenführende Poetologin. Sprechenderweise wird Draesner bald darauf Professorin im Studiengang „Literarisches Schreiben“ des Deutschen Literaturinstituts der Universität Leipzig, einer von lediglich drei deutschen Universitäten, an der Dichtung im Sinne des ‚Tuns‘, der actio, gelehrt wird. Im Bewusstsein der unterschiedlichen Gattungstraditionen lohnt der Aufriss einer spezifischen Geschichte deutschsprachiger Poetikvorlesungen unter Aspekten des Performativen, auch oder gerade weil Theorie, Praxis und Betrieb sich in den letzten zwanzig Jahren internationalisiert haben, Fragen nach Ursprung und Einfluss in der globalisierten Kulturpraxis nicht mehr regional bzw. sprachlich festzumachen sind.

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2 Sprechakte / Zögern Hohe Erwartungen an stimmliche und körperliche Präsenz von Künstler/innen, die nicht nur als Produzent/innen, sondern auch als Akteur/innen und Teilhaber/ innen eines ästhetischen Prozesses wahrgenommen werden sollen, sind kein Phänomen des 20. oder 21. Jahrhunderts. In entsprechenden Exponierungen schwingt seit der Romantik die Erwartungskonstellation des Der Dichter spricht unterschwellig mit. Bezeichnenderweise liegt dem so überschriebenen Klavierstück von Robert Schumann aus dem Zyklus „Kinderszenen“, op. 15, (2018 [1838], 45 – 57) kein Gedicht, ja gar kein Text zugrunde. Der Titel lässt vielmehr das performative Potenzial von Topoi erkennen. Die Macht der Topoi liegt in der Wiedererkennbarkeit von Sentenzen, die ihre rhetorische Wirksamkeit in einer Form entsubjektivierter Behauptung entfalten. Die Ästhetik des Performativen macht die Akteur/innen zu theatralen Figuren. So zeugt der szenische Topos des Der Dichter spricht als Titel von Lyrik-Anthologien von ‚großer‘ literarischer Produktivität – auch jenseits einzelner Autorschaft. Es ist der Stellen- und Schwingungswert der Worte selbst, der mathematische Gradmesser für deren „Ortssinn“ (Grünbein 2010, 53), der die Positionierung der Dichter/innen in den einzelnen Poetikvorlesungen bestimmt. Wie wir sehen werden, verschieben sich die impliziten Topoi im Laufe von sechs Jahrzehnten vom Der Dichter spricht zum Ich ohne Gewähr, vom Schreiben ist Handwerk zum To be continued. Kaum lässt sich heute die innovative und unzeitgemäße Provokation ermessen, die Ingeborg Bachmanns fünf Vorlesungen über Probleme zeitgenössischer Dichtung auf dem im Vergleich zu 1968 ‚vorrevolutionären‘ Campus FrankfurtBockenheim 1959/1960 darstellten. Denn die Erwartungen an die nach englischem Vorbild neu eingerichtete Stiftungsgastdozentur für Poetik waren hoch, widerstreitend und in den Widersprüchen symptomatisch für die Spaltungen in der innerdeutschen Germanistik nach 1945. Einerseits wirkten kulturkonservative Hoffnungen auf ein richtungsweisendes Bildungs- und Literaturverständnis aus dem 19. Jahrhundert nach. Andererseits waren die Augen – nach Nationalsozialismus und Shoah – auf eine politische, kritische Positionierung der Künste gerichtet, die die poetologischen Fragen nach dem ‚Wie?‘ künstlerischer Produktivität hinter gesellschaftlich relevante Themen zurückstellen wollten. Sprechenderweise wurde die Frankfurter Poetikvorlesung im ‚politischen Jahrzehnt‘ 1968 bis 1978 eingestellt. Eigentlich traf bereits auf die Nachkriegsgesellschaft zu, was Durs Grünbein noch 2009 in seiner Frankfurter Vorlesung Vom Stellenwert der Worte formulierte – „[…] es gibt keine Manifeste im Namen der Dichtkunst mehr. […] es gibt, sehr viel länger schon, auch keine normenbildenden, maßstabsetzenden Poetiken mehr“ (2010, 9). Fünfzig Jahre zuvor jedoch

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machte Ingeborg Bachmanns ähnliche Bilanz des in Frage gestellten Wertes der Worte in der zeitgenössischen Dichtung einen ganz anderen Problemhorizont auf. Denn das Selbstverständnis einer sich in räumlich ungewohntem Kontext vor Publikum positionierenden Dichterin ist da noch unzeitgemäß im besten Sinne. 1959 hat der Nimbus des Der Dichter spricht einen äußerst prekären Status. Mit ihrem im wörtlichen Sinne Aufriss der „Probleme zeitgenössischer Dichtung“, ihrem „Aufreißen einer Vertikale“ (2011, 23), erteilt Ingeborg Bachmann den zeitgenössischen kulturkonservativen, ästhetizistischen wie aber auch politischen Erwartungshaltungen, die der Literatur eine vermeintlich geklärte referenzielle Funktion normativ auferlegen möchten, eine klare Absage. Sie formuliert vielmehr Fragen aus einem performativen Verständnis von Poesie als Poiesis, das erst zwei Jahrzehnte später in den Blick der Kulturwissenschaften geraten wird. Man kann diese fünf Reden als ‚Aufschläge‘ – aufwerfend wie aufprallend – verstehen, und ihre Initiationswirkung auf die Poetikvorlesungen der 1980er bis 1990er Jahre war immens. Literarisches Sprechen wie Schreiben werden handlungsbezogen als konfrontative Akte jenseits Orientierung gebender „Urteile, Meinungen, Verhandlungen über Gegenstände“ (Bachmann 2011, 9) stark gemacht. Die Hoffnung, „daß sich von diesem Lehrstuhl aus zwar nichts lehren, vielleicht aber etwas erwecken läßt“ (Bachmann 2011, 10), könnte zunächst als Reaktivierungsversuch der idealistisch aufgeladenen Verkündigungsgeste des sagenden, weissagenden ‚Dichters‘ missverstanden werden. Es geht jedoch um „Denkversuche“ (Bachmann 2011, 22), um ein unausweichliches Denken, das keinen Anspruch auf Verkündung oder Belehrung stellt, sondern im wahrsten Sinne des Wortes zögernd vorgetragen wird. Bereits Schumanns „Der Dichter spricht“ (2018 [1838], 57) ist eine mit Fermaten durchsetzte musikalische Figuration des Zögerns. Durch ihr ostinates Innehalten entsteht eine Spannung in der Aussage, die zugleich deren Verneinung oder Veränderung einschließt und damit das poetische Potenzial des Ausdrucks, des sprechenden Dichters, umso hör- und sichtbarer macht. Es ist diese Geste des permanenten Zögerns, mit der sich Ingeborg Bachmann auch extremen Gefährdungen aussetzt. Ihre Vortragsstimme wird nicht durch Pausen unterbrochen, sondern ist ein der Melodik sich verweigernder, in zahlreichen Schleifen mäandernder Redestrom – ein unaufhörliches Zögern. Die Performativität, in der die ‚Dozentin‘ sich als eine in der Sprache umherschweifende Dichterin zeigt, kommt in der direkten Anrede des Publikums zu Beginn der zweiten Vorlesung, „Über Gedichte“, besonders gut zum Ausdruck: „Meine Damen und Herren, […]. Anfangs scheint einem das Anfangen am schwersten – hat man aber erst einmal zu reden begonnen, ein paar Dinge herausgesagt, so stellt sich das Weitergehen als noch schwieriger heraus. Darum wünschte ich, daß wir uns lieber zu einem Streifzug aufmachen als etwas abhandeln, und bei dem Hin- und Herstreifen

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versuchen, uns nach einem Wort zu bücken, eins wieder aufzuheben, das im Anfang fallen gelassen wurde“ (Bachmann 2011, 31). Eine künstlerische Zeitgenossenschaft zu Bachmanns Vorlesung ist nicht nur in den Programmen der Performance Art zu sehen, sondern auch in den zeitgleichen Ausformulierungen der Sprechakttheorie. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach de Saussures Differenzierung von Sprachstruktur (langue) und Sprachhandlung (parole) greift John L. Austin in den William James Lectures, Harvard 1955, die Frage nach Handeln durch und Handlung in der Sprache erneut auf. Seine folgenreiche Klärung How to Do Things with Words (Austin 1962) führt in den nächsten Jahrzehnten zu unzähligen poetologischen Reformulierungen und Neufassungen von Autorschaft. Sprechen und Schreiben erscheinen jetzt weniger als autonome Setzungen, vielmehr als eine den Verführungs- und Bemächtigungskräften der Wörter und Sätze selbst geschuldete Produktivität (Kleinschmidt 2012, 187). Ästhetische, epistemologische und mimetische Dimensionen der Literatur – in den akademischen Methodendiskussionen der Germanistik noch lange Zeit gegeneinander ausgespielt – werden in Ingeborg Bachmanns Poetologie schon in den 1950er Jahren zusammengedacht. Jeder Sprechakt generiert Neues – „[…] fast jedes Wort ein Vorgriff, eine Vorwegnahme, ein Vorlaut, um der Verstimmung oder Verstummung zuvorzukommen. […] Die Worte greifen vor, auch weil sie verführen wollen, verleiten, auch mich, als Schreibende. Wozu sie verführen, wohin sie führen oder entführen, das werde ich vielleicht immer offenlassen müssen, weil, wenn überhaupt, nicht ich, sondern der Text den Schluß zieht, und möglicherweise für jeden einen anderen“ (Duden 1999, 20 – 21). Ob der hier von Anne Duden formulierte „Vorgriff“ als Fluchtpunkt des Schreibens einen Ausblick, eine Zukunft gewährt, bleibt eine offene Frage, die die poetologische Reflexion in vielen Poetikvorlesungen bis heute antreibt. Aber schon Ingeborg Bachmanns ‚Aufschlag‘ vierzig Jahre zuvor verlässt sich nicht auf einen abgesicherten Status ritualisierten Vortragens und Verkündens. Vielmehr kommt der wirklichkeitsbegründende Anspruch der Dichtung in seiner ganzen Labilität zur Sprache. Einerseits nimmt Bachmann (implizit) den romantischen Topos des weissagenden, ‚sprechenden‘ Dichters auf, andererseits verknüpft sie ihn mit dem performativen Gestus der Präsentmachung durchlittener Traumata und einer beim Wort genommenen Sprache literarischer Vorgänger (Celan, Kafka oder Char). Im Bewusstsein für die Performativität des in eine fest institutionalisierte, hierarchische Konstellation eingebundenen Vortragens wird der Topos des Der Dichter spricht durch einen neuen, das „Ich ohne Gewähr!“ (Bachmann 2011, 54), abgelöst. „Aber schon wenn Sie hier allein heroben stehen und sagen zu vielen unten ‚Ich sage Ihnen‘, so verändert sich das Ich unversehens, es entgleitet dem Sprecher, es wird formal und rhetorisch“ (Bachmann 2011, 53).

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Während in den Poetikvorlesungen der 2010er Jahre die Anteile an Eigenzitaten rasant anwachsen werden und so eher einer Präsentmachung des eigenen Werkes dienen, öffnet Bachmann für die zeitgenössische Dichtung einen polyphonen Raum, in dem das eigene Schreiben in den zahlreichen Stimmen der um 1960 bereits kanonisierten Moderne (Hofmannsthal, Kafka, Proust) scheinbar aufgeht. Diese polyphonen Meditationen rücken das performative Moment, den zeigenden Gestus, in den Fokus der Aufmerksamkeit und grenzen sich klar vom monologischen Verkündigungsgestus ab (Wilke 2006, 257).

3 Körper / Einschreibungen „Als sie […] schließlich das Lehrerpodium betreten mußte, stand Ingeborg Bachmann zunächst wortlos und bleich hinter dem Pult und suchte nach ihrer Brille – einer sehr modernen, dickrandigen Brille, von der Eingeweihte behaupten, sie trage sie nur zum Schutz gegen die Außenwelt und nicht etwa zur Stärkung des Sehvermögens. Auch die Haare, ehemals in ultra-kurzem Pagenschnitt, sind möglicherweise aus dem gleichen Grund länger geworden. […] Ihre zaghafte, leise Stimme verlor sich in dem riesigen Hörsaal V, ihre willkürlichen Betonungen […] lenkten ab, ihr nervöses Hantieren mit Brille und Taschentuch irritierte. Sogar die ersten Bankreihen, für die Ehrengäste reserviert, lichteten sich im Laufe des Semesters“ (Besprechung im Spiegel, zit. n. Wilke 2006, 255). Solch unverhohlen misogyn gefärbte Reaktionen auf die erste Frankfurter Poetikvorlesung sind symptomatisch für die Ablehnung der zeitgenössischen Kritik und der etablierten Germanistik gegenüber den als Provokation empfundenen stimmlichen wie körperlichen Konfrontationen mit einer radikalen Poetologie, gegenüber den mit einer konsequenten Geste des Zögerns vorgetragenen künstlerischen Behauptungsversuchen. Bachmanns Vorlesungen machen den Körper in der Relation von Wahrnehmung und Wahrgenommenwerden nicht ‚zum Thema‘, sondern stellen ihn zur Schau. Mit ähnlichen Selbstentäußerungen werden in den 1960er und 1970er Jahren zahlreiche Texte, Bilder, Videos oder Installationen den machtvoll zurichtenden Blicken, der auf die Repräsentation kommensurabler Identitäten abzielenden Erwartungshaltung des Publikums begegnen. Das forcierte Wechselspiel von Verbergen und Entblößen, von Verstummen und Entäußern in der Performance Art verlor mit deren zunehmender Etablierung und Kanonisierung in den 1980er Jahren seine Wirksamkeit als Provokation oder Kritik. So stellt Ernst Jandl Das Öffnen und Schließen des Mundes, Frankfurt 1984/ 1985, nicht mehr als einen um den utopischen Fluchtpunkt der Literatur ringenden Akt dar, sondern setzt in spielerischen, ironischen Übergängen von Lesung und Vorlesung auf die konkrete, unwiderlegbare und damit widerständige

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Körperlichkeit seiner experimentellen, physiologisch-phonetisch arbeitenden Lyrik. Das Bewusstsein von Performance- und Inszenierungseffekten eines ‚sprechenden Dichters‘ ist zur Zeit seiner Poetikvorlesung zwar immer noch nicht Standard, aber an den Publikumsreaktionen der heute auch als Videodokumentation greifbaren Veranstaltungen lässt sich geradezu ein ‚Kult‘-Status performativer künstlerischer Praxis erkennen. Sie ist im universitären Rahmen angekommen. Die Zuhörer/innen bzw. Zuschauer/innen gehen im wahrsten Sinne des Wortes mit, die ersten Reihen lichten sich nicht. Es ist die Zeit, in der sich an den Universitäten im deutschsprachigen Raum erste Ansätze einer modifizierten Adaption der angloamerikanischen Cultural Studies abzeichnen, Kulturen des Performativen als ein mögliches Forschungsfeld allmählich am Horizont der Geisteswissenschaften auftauchen. Die Selbstverständlichkeit, mit der Jandl den konkret-physischen, kommunikativen Konnex von Vortragendem und Publikum ironisch bewusstmacht, kennzeichnet ihn als angloamerikanisch sozialisierten Autor. Nicht zuletzt in seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit John Cages Kompositionen und auch Vorträgen, die er ins Deutsche übersetzte (Stuckatz 2016, 201– 228), wird das produktive Movens der Stille als einer Konstellation sprachlicher wie musikalischer Präsenzerfahrung deutlich. Die Zitate aus Cages Vorträgen in den Frankfurter Vorlesungen zielen auf die performative Grenzlage zwischen Musik und Sprache im Aufführungsmodus der Stimme. In den 1960er Jahren hatte Jandl in England und den USA an zahlreichen Ausstellungen teilgenommen und sich durch viele Radiosendungen und Vortragsreisen eine Stimme verschafft (Stuckatz 2016, 49 – 56). Ein Höhepunkt war 1965 der legendäre Lesungsmarathon Wholly Communion – International Poetry Incarnation vor 7000 Zuhörer/innen in der Londoner Royal Albert Hall; dabei waren auch Allen Ginsberg, Michael Horovitz, Adrian Mitchell oder Lawrence Ferlinghetti (Stuckatz 2016, 53). Diese Dimensionen einer Poetry Incarnation ließen sich 1985 zwar sicherlich nicht in den Frankfurter Hörsaal übertragen, gleichwohl ist in Jandls Poetologie noch die Hoffnung auf den Ereignischarakter einer Literatur-Vorlesung in universitärer ‚Gemeinschaft‘ zu spüren. Heute kaum noch nachvollziehbar, darf man an die Begeisterung erinnern, mit der Aaron Copland 1951/1952 auch für Musikaufführungen ganz auf den dialogischen Raum der Universität und nicht auf konventionelle, ‚museale‘ Konzertsäle gesetzt hatte: „[…] concert halls have been turned into musical museums – auditory museums of a most limited kind“ (Copland 1952, 19). Ernst Jandls offener, ruhiger Habitus und seine in ironisch-distanzierter Ernsthaftigkeit eines konventionellen Vortrags abgelesene Rede stehen in Kontrast zu Ingeborg Bachmanns Gesten des Verbergens, Zögerns und zugleich verletzlichen Preisgebens. Dennoch ist auch in Jandls Vorlesungen das Zögern als

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das jeder sprachlichen Artikulation inhärente zeitliche Moment einer Zäsur immer präsent. Die poetologisch-antizipierende Positionierung der Rede liegt nicht mehr in einer Parallele zur Ästhetik der Performance Art begründet, sondern in der physischen Konkretisierung des sprachlichen Stimmkörpers, der sich jenseits von Preisgabe wie Provokation in einer ganz pragmatischen Haltung artikuliert. So werden die Grenzen zwischen Körper, Stimme, Sprache und Text derart verschoben, dass Erwartungen an sprachliche Repräsentationen, an repräsentative Behauptungen grundsätzlich unterlaufen werden. Sprechenderweise sind die Fotos der Lippenbewegungen eines schnurrbartgezierten Mundes auf dem Cover der Erstausgabe von Jandls Vorlesungen (1985) nicht einer künstlerischen Performance oder dem mittlerweile umfangreichen Fundus der Body Art entnommen – man denke nur an Bruce Naumans Video Lip Sync (Lippensynchronizität, 1969). Die Abbildungen stammen vielmehr aus Daniel Jonesʼ Lehrbuch An Outline of English Phonetics (1909), das die Lippenstellung jeder Lautartikulation mittels einer Fotografie visualisierte. „dem schnurrbart von daniel jones“ (Jandl 1985, 10) sind in der ersten Vorlesung „drei visuelle lippengedichte“ gewidmet. „das visuelle lippengedicht ist die umkehrung des visuellen papiergedichtes. der rezitator ist das papier des visuellen lippengedichtes. das visuelle lippengedicht wird ohne tonbildung gesprochen. es wird mit den lippen in die luft geschrieben.“ (Jandl 1985, 10). Die Medialität von Körper, Schrift, Ton und Bild gehen im Text scheinbar vollständig ineinander auf. Mit seinen in der gedruckten Version als „(Vorführung)“ (1985, u. a. 11) bezeichneten physiologisch-phonetischen Demonstrationen antizipiert Jandl eine Ästhetik, die die Verbindung von Körpersprache und Textkörper in der physischen Präsenz des Vorlesens zu einer eigenen Ausdrucksform werden lässt. In der Geschichte der Poetikvorlesungen lassen sich in den Frankfurter Beiträgen, insbesondere aber auch an den vielen seit den späten 1980er Jahren gegründeten Dozenturen (Bamberg, Dresden, Innsbruck, München, Tübingen oder Zürich) zahlreiche Beispiele für solche Verhandlungen einer „orthopädische[n] Wahrheit“ (Kirchhoff 2012, 51– 87) finden – einmal mehr ein Symptom für eine dezidiert performative, auf ‚leibhaftige‘ Präsenz, Ereignis und Interaktion angelegte Textgattung. Retrospektiv lässt sich diese Phase in allen Disziplinen der (westlichen) Kunst als eine der physiologischen Anatomien, der „Sehnsucht nach verkörperter, nicht metaphysischer Freiheit“ (Kirchhoff 2012, 49) bezeichnen. Jeder Verbalisierungsvorgang ist ein physischer, performativer Akt – ob im Sprechen, Schreiben, Lesen oder auch in den stummen körperlichen Einschreibungsprozessen. „ReMembering the Body“ (Brandstetter und Völckers 2000), die wahrnehmungsästhetische Dimension des Körpers, gerät schließlich in den 1990er Jahren in den Fokus der Kulturwissenschaften. Akademische Beschreibungsformen für die „Hervorbringung von Ereignissen“ (Brandstetter 2006, 298) durch bewegte,

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bewegende und zugleich zugerichtete Körper begründen nun universitär verankerte Forschungsprojekte. In den Semestern 1995/1996 und 1996 lässt Anne Duden in Paderborn und Zürich das „Schreiben als Gewaltakt“ (1996, 10) zur Sprache kommen. Sie führt die in den Kognitions- und Neurowissenschaften zeitgleich neu gefassten Körperkonzepte des sprachlichen Bewusstseins in die radikale Konsequenz einer ‚Körper-Sprache‘ des Embodied Mind. „Es geht auch um eine Art sich umkehrende Transsubstantiation, eine Umkehrung der Wandlung: das Fleisch wird Wort […]“ (Duden 1999, 39). In der Performativität des Sprechens sollen die Narrative, das zeitliche Nacheinander jeder Handlung, in einem Augenblick des Aufstands überwunden werden. Der Gestus des Zögerns scheint hier durch das Organ der Stimme transsubstituiert. Die Physiologie der Rede wird in unabsehbaren syntaktischen Kaskaden freigesetzt. „Nachts probte die Zunge den Aufstand; […] erzeugte nächtlich Rachengesänge, die in den Innenverliesen, im Kehlturm und im Schlundraum die Wandungen begurgelten, bevor sie wieder ganz still wurden“ (Duden 1999, 35). Was in zahlreichen Poetikvorlesungen, auf einer Bühne für den literarischen „Aufstand“ (Duden 1999, 35), gegen Ende des 20. Jahrhunderts sicht- und hörbar wurde, weist auf die ‚Wiederkehr‘ der Lyrik als einer nach musikalisch-stimmlicher Aufführungspraxis verlangenden Gattung hin. War sie zuvor aus marktstrategischen Gründen zu einer eher marginalisierten Form geworden, so ist sie nun wieder eine Art ‚Leitgattung‘ der Poetik. Michael Lentz‘ Vorlesungen Atmen Ordnung Abgrund, Frankfurt 2012/2013, knüpfen zwar an Jandls ‚Vorführungen‘ an, können Konzepte der Aktionskunst knapp dreißig Jahre später allerdings nur als eine historische Praxis verstehen und modifizieren. Die Körperlichkeit stimmlicher Artikulation ist inzwischen bewusster, expliziter Bestandteil jeder Poetologie. „‚Hoc est corpus meum‘, sagt die Stimme. Hokuspokus – die Verdammnis der Rhetorik“ (Lentz 2013, 268). Die Rehabilitation der Rhetorik als eines ‚Hand-Werks‘ der Literatur unter neuen physischen, pragmatischen Vorzeichen wird zum Dreh- und Angelpunkt vieler Poetikvorlesungen der 2010er Jahre. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird ein weiterer, an frühneuzeitliche Regelpoetiken erinnernder Topos erkennbar, der an die konkrete Materialbasis eines ernüchterten Werkbegriffs anknüpft – Schreiben ist Handwerk. „Schreiben ist Handwerk plus eigener Abgrund, das eine ohne das andere ist nichts“ (Kirchhoff 2012, 187). Sprechenderweise stammt diese klare Bilanz aus Bodo Kirchhoffs Essay „Auf dem Weg zu einer Sprache der Sexualität“ (2012, 167– 189). In der erweiterten Edition seiner Frankfurter Poetikvorlesung von 1994/1995 ersetzt der Essay die monologische Performance „Der Ansager einer Stripteasenummer gibt nicht auf“, die Kirchhoff 1995 als fünfte Vorlesung in theatralischer Form „gehalten“ hatte und die als Text in der Erstausgabe dokumentiert ist. In dem Essay

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aus dem Jahr 2012 führt er seinen 2010 veröffentlichten Spiegel-Beitrag „Sprachloses Kind“ fort, der mit den Worten begann: „Ich bin missbraucht worden, […] ein Wort (Missbrauch), das nicht viel taugt, das nicht weiterhilft, das nur die ganze Misere der Sprachlosigkeit zeigt“ (Kirchhoff 2012, 167– 168). In den 17 Jahren, die zwischen Performance und Essay liegen, lassen sich erneut Grenzverschiebungen in der Ästhetik des Performativen und damit im Selbstverständnis der Künste erkennen. „Das Schreiben entlastet mich zwar vom eigenen Körper, löst mich, ein gutes Stück, aus der Vergletscherung durch das Körpersein, doch es verwandelt mich in keinen Geist.“ (Kirchhoff 2012, 135). Kirchhoff hatte 1994/1995 die Legenden um den eigenen Körper noch als utopische ästhetische Versuche, dem „Schmerz eine Welt [zu] geben“ (2012, 126 – 166) und die „Wahrheit über meine Erfahrung als Körper zu sagen [Virginia Woolf]“ (2012, 91), gekennzeichnet. Der Autor bleibe immer Teil einer Fiktion und enttäusche damit letztlich das Publikum (Kirchhoff 2012, 135 – 136). In den 2010er Jahren werden für ihn wie für viele andere Autor/innen die Fragen nach Wirklichkeit und Verantwortung literarischen Schreibens relevant. Die Versuche, dem Schmerz, den physischen Einschreibungen erlittener Traumata nicht nur eine fiktionale Welt, sondern eine reale Stimme zu geben, prägen auch die Poetikvorlesungen der letzten Jahre. Schreiben ist Handwerk: Die Konzentration auf Physis und Material des eigenen Sprechens und Schreibens zielt auf das Phänomen einer nicht zu widerlegenden ‚Machbarkeit‘ des literarischen Textes bei vollem Bewusstsein für die kontingente Ordnung einer Sprache des Möglichen. Jenseits des metaphysischen Denkens werden Bereiche der Ethik für die Künste umso dringlicher. Ingeborg Bachmann und Ernst Jandl bleiben dabei für viele deutschsprachige Autor/innen Vorbilder. Die Antwort auf die Frage „Kunst als Veränderndes…? […] die Frage, die zu den ersten, zweifelvollen, furchtbaren Fragen gehört“ (Bachmann 2011, 24), muss weiterhin offenbleiben.

4 Bewegung / Verlauf Mit ihrer Etablierung in Literatur- und Wissenschaftsbetrieb scheint sich die Poetikvorlesung im 21. Jahrhundert weit von den avantgardistischen Zielen performativer Ästhetik entfernt zu haben. Begriffe wie ‚Unmittelbarkeit‘ und ‚Authentizität‘ sind nicht einmal mehr als utopische Fluchtpunkte für die Ereignishaftigkeit künstlerischer Aktion stark zu machen. Die positive Aufladung von ‚Erlebnis‘ und ‚Präsenz‘ ist als eine zu instrumentalisierende Zielsetzung längst in die Werbesprache eingewandert. Dekonstruktionen, die das Denken in Repräsentation oder die referenziellen Funktionsweisen der Sprache betreffen, geraten allmählich auch im wissenschaftlichen Diskurs in das eigene Sprechen und

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Schreiben umkreisende Endlosschleifen. Hingegen werden in den Poetologien Erneuerungen kulturhistorisch versierter Realismuskonzepte und sprachsensible Reformulierungen von ‚Autorschaft‘ jenseits subjektzentrierter Geniegedanken erkennbar. Umso interessanter ist unter performativen Aspekten die Konstellation des doppelten Bühnenbodens der poetischen wie poetologischen Rede über das eigene Werk. Die Poetikvorlesung bleibt auch in den letzten beiden Jahrzehnten ein Seismograph für sich anbahnende Verschiebungen in der Geschichte der Ästhetik und soziokulturellen Praxis. „um ein gedicht zu machen / habe ich nichts // eine ganze sprache / ein ganzes leben / ein ganzes denken / ein ganzes erinnern // um ein gedicht zu machen / habe ich nichts //. Und nun erst – eine Vorlesung! Nein – fünf!“ (Jandl 1985, 5). Die Frage nach dem Ganzen, die hier als Szenario zu Beginn der Poetikvorlesung in den Raum gestellt wird, ist bedrohlich. Jandls vitale Transformationen des Fragmentarischen und der Versäumnisse, seine Überwölbung der fehlenden Worte und Lücken im Sprechen führen jedoch in die fließende Rede (1985, 5). Schon Jandl gelang es also, das Zögern, das zeitlich immer verschobene Zum-Ausdruck-Kommen gegenüber dem ‚Ganzen‘, der Sprache, zu überwinden. Kurz wäre die Liste der Poetikvorlesungen, ließe man diejenigen aus, die sich mit dem „Anfang des Ganzen“ befassen (Polaschegg 2020, 15). Aus der Paradoxie, dass der poetische Sprachraum keinen Anfang besitzt und also auch kein Ende kennt, entwickeln sich die mal verhalten, mal expressiv-hedonistisch vorgetragenen Poetiken über die Gewinnung der literarischen Form. Wie lässt sich das Zögern, das verhaltene Stocken gegenüber dem sie begründenden wie bedrohenden Ganzen auf den Punkt bringen? „Im Schweigen ist das Ganze noch ein Ganzes. Vollkommen und unverletzt. […] Denn die Formulierung verkleinert die Welt. Ohne Formulierung jedoch ist die Welt nicht ertragbar“ (Krauß 2004, 23). Die die Geschichte deutschsprachiger Poetikvorlesungen durchziehende Figuration des Zögerns, ihr performativ-antizipierender Entwurfscharakter des Vorläufigen muss – wie jedes Kunstwerk auch – in eine Form gebracht werden. Literatur erscheint als Manifestation immer schon im zeitlichen Vollzug des Schreibens oder Lesens, in jedem Fall im Verlauf einer Wahrnehmung von Schrift und Zeichenhaftigkeit (Steierwald 2016, 63). Mit entlastender, pathosfreier Ironie hatte Jandl schon Mitte der 1980er Jahre eine nüchterne Konsequenz gezogen: „Um Ihr leeres Sitzen vor dem leeren Blatt so auf dieses Blatt zu projizieren, daß es sich allmählich mit der Leere Ihres davor Sitzens füllt, müssen Sie das Nichts als solches zu benennen trachten […]“ (1985, 124). Der aus diesen Benennungen sich ergebenden Fülle von linearen, verschachtelten, genealogischen, gegenläufigen oder seriellen Verlaufsformen sind viele Poetikvorlesungen der letzten Jahre gewidmet. Sie antizipieren das gegenwärtig in der Literaturwissenschaft wieder wachsende Interesse an systemati-

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schen Beschreibungen von Formen oder Gattungen unter historischen, kulturanthropologischen, ästhetischen wie epistemologischen Vorzeichen. Zugegeben, der seismographische Wert der Poetologien ist gesunken, ihr zeitlicher Vorlauf zu Trendwenden in den wissenschaftlichen Betrachtungsweisen hat sich extrem verkürzt. Die Angleichung der Diskurse, die Nivellierung der Grenze zwischen ‚Primär‘- und ‚Sekundär‘-Texten, entspricht aber nur konsequent der universitären Sozialisation der meisten Autor/innen. Als oftmals promovierte oder habilitierte Literaturwissenschaftler/innen stehen sie heute auch als Dichter/innen – ob kritisch oder affirmativ – mit dem aktuellen Horizont, der Zeitgeschichte ihres Fachs immer schon bzw. noch in Verbindung. Das Bewusstsein für die Materialität des sprachlichen Kunstwerks hat den Schrecken vor den normativen Implikationen der historischen Regelpoetiken genommen. Poetologische Texttraditionen werden als ein spielerisch-performativ zu handhabendes, unerschöpfliches Reservoir der Aufrisse, Formverläufe und Modalitäten fruchtbar gemacht. Michael Lentzʼ fünf Frankfurter Vorlesungen 2012/2013 sind nach dem Grundmuster antiker Rhetorik – inventio, dispositio, elocutio, memoria, actio – strukturiert und machen die Bahnen und Bahnungen der Literatur als Verlaufskunst an deren konsequenter Einbettung in die rhetorische Verfasstheit fest. „Weil ich [sonst] nicht Maß halten kann. Weil die Erfahrung lehrt, dass ein regelpoetisch angefertigtes Prokrustesbett allemal überraschendere, scharfsinnigere, rätselhaftere Ergebnisse zeitigt als die pure Not literarischen Produzierens. Einbildungskraft schafft noch keine Worte, fessellose Imagination fängt keinen Text“ (Lentz 2013, 22). Lentz ist genialer Rhetoriker wie Performer seiner Kunst. Die Mimesis ist in Rekurs auf Jean Piaget und Walter Benjamin als ein ästhetischer wie anthropologischer Grundbegriff rehabilitiert (Lentz 2013, 269 – 270). Dies entspricht der theoretisch wie kulturhistorisch versierten Reaktivierung von Fragen der Mimesis in den Literaturwissenschaften. Lentz‘ Poetik zielt dabei auf die Verwandlungen und Umwertungen, die die rhetorisch gefasste, verfasste Stimme leisten kann: „Die performative Stimme wertet die rhetorischen Ideale der stimmlichen, mimischen und gestischen Angemessenheit, das die Stimme begleitende Gebärdenspiel sowie das Alphabet der Körperhaltung oft um. Die Stimme hat sich eine eigene Textur erschaffen, die Stimme ist der Text“ (2013, 268). Das metaphysische Denken eines oralen Ursprungs der Literatur hinter dem Buchstabengitter der Worte wird verabschiedet zugunsten eines Interesses an materialen Sprachkonstellationen (Maye et al. 2013, 348) – oder, um es mit Thomas Kling zu formulieren: „Sprach-Räume mit der Stimme gestalten, Sprache mit der Stimme der Schrift gestalten: Sprachinstallation“ (Kling 2020, 50). Eine Auswertung von Feuilleton-Besprechungen der letzten zwei Jahrzehnte dokumentiert, wie sehr das in Michael Lentzʼ Vorlesung hörbar werdende Be-

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wusstsein für die konzeptionellen, konstruktiven Aspekte jeder Performance die Kritik überzeugte, hingegen erwartbare Überraschungseffekte und theatrale Posen – wie von Rainald Goetz in Praxis, Frankfurt 1998, oder Clemens Meyer in Der Untergang der Äkschn GmbH, Frankfurt 2015 – eher enttäuschten (Dürr 2017). In den Selbstdarstellungen Letzterer sind Relikte der Happening- und Popkultur der 1960er und -70er Jahre zu erkennen. Man ist an Thomas Klings ironisch zu verstehende „Wünsche für den professionellen Vortrag des Gedichts“ erinnert: „Bittebitte keine Mätzchen (Performance) mehr!“ (Kling 2001, 143). Dennoch liegen im Zitatcharakter, im Wiederaufrufen von aktionskünstlerischen Selbstbehauptungsversuchen auch innovative Potenziale, die den neuen medialen Rahmenbedingungen künstlerischer Positionierung Rechnung tragen. Parallel zu den zahlreichen als ‚autofiktional‘ eingestuften Romanen werden einige Poetikvorlesungen zu ironischen Spielen mit den Konstruktionen wie Dekonstruktionen von Autorschaft. Die Texte der Avantgarden, der Performance-Kunst und Pop-Kultur wie deren mittlerweile unabsehbare, flächendeckende Erklärungsmuster sind nur noch Versatzstücke eines Materiallagers. Autor/innen erscheinen als in zusammengestellten Zitaten, im Kolportageformat, aufzurufende Figuren. Thomas Meinecke nimmt für sich in Anspruch, die handwerkliche Kunst, bereits „Vorformuliertes“ immer wieder neu zusammenzustellen, perfekt zu beherrschen – eben wie „großer Pop“ (2012, 297). In seinen fünf Frankfurter Poetikvorlesungen Ich als Text, 2011/2012, jongliert er mit Ausschnitten aus den zahllosen Kritiken, Interviews und Kommentaren, die seine literarischen Publikationen flankieren. In nahtloser Aneinanderreihung werden den Zitaten Autor, Titel und Ort der Erstveröffentlichung philologisch-akademisch korrekt vorausgeschickt; ja in der letzten Vorlesung verweist Meinecke bereits auf ein Interview, das mit ihm über den ersten Termin geführt wurde (2012, 335 – 336). Auch ein Zitat aus Rainald Goetzʼ Abfall für alle, aus den als „Roman“ edierten Blogeinträgen eines Jahres, darf nicht fehlen (Meinecke 2012, 24– 26). Goetz hatte seine eigene Frankfurter Vorlesung Praxis, 1998, in diesen Internetblog integriert (Goetz 1999). Heute verweist die Adresse www.rainaldgoetz.de nur auf die Verlagsseite des Autors. Die Hoffnung auf scheinbar grenzenlose Handlungsspielräume in einer performativen, virtuell sich fortschreibenden künstlerischen Lebens-‚Praxis‘ im Netz ist heute, angesichts der Omnipräsenz von Selbstdarstellungen im Social Web, sehr gedämpft. Wenn sich ein Schriftsteller im Rahmen einer Poetikvorlesung physisch präsent in den Zitatreigen von Kommentaren zum eigenen Leben und Werk einreiht, nimmt diese Inszenierung natürlich paradoxe Züge an. In der von Meinecke aufgezeigten Gleichzeitigkeit von Produktion, Kommentierung, Reproduktion und Verwertung erscheint der Literaturbetrieb als ein temporär äußerst verdichtetes Marktgeschehen mit ökonomisch effizienter Bühnenwirksamkeit. Auch die

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historische Popkultur lebte im und durch den Aufführungscharakter der immer erneut aufgerufenen Reproduktion der Kunst als Ware. Dabei legt Meinecke selbst keinerlei Wert auf Effekte mündlicher, präsenter Kommunikation; der Vortrag ist ein schlichtes Vorlesen der Kritiken und Interviews (Binczek 2018, 253 – 254). Der Bühneneffekt des – laut Autor – ‚Patchworks‘ entsteht allein durch einen Plattenspieler und einen Beamer, über den die Schallplattenetiketten der eingespielten Musiktitel projiziert werden (Meinecke 2012, 335 – 336). Der ‚Dichter‘ wird zum ‚Popinterpreten‘ und DJ, aber im Jahr 2011 ist diese Rolle schon als historisches Label und Etikett durchschaut und wird inszenatorisch transformiert. Wie an Michael Lentzʼ Vorlesung Atmen Ordnung Abgrund zu sehen ist, zeichnen sich auch jenseits von Popkultur und ‚Äkschn GmbH‘ Möglichkeiten ab, der Ästhetik des Performativen eine Stimme zu geben. Ulrike Draesner nimmt die Fragen nach „Atem, Stimme, Körperlichkeit“ (2018, 124– 128) in ihrer Grammatik der Gespenster, Frankfurt 2016/2017, wieder auf. Die Sehnsuchtsbegriffe ‚Authentizität‘ und ‚Präsenz‘, die in den Verkörperungen der Body Art ihren Ausdruck gefunden hatten, sind mittlerweile als eine dem Denken der Repräsentation sich entziehende Körperlichkeit hinlänglich beschrieben. Jetzt stehen eher linguistisch-sprachanalytisch gefasste Aspekte des Performativen auf dem Programm. Die „Kinesik“ der Literatur, ihr Bewegungsverhalten, umfasst die ihr eigene Sprechhaltung, Perspektivierung, formale Gestalt und kommunikative Relevanz (Draesner 2018, 137– 138). Aus dem physiologisch-dynamischen Movens der menschlichen Stimme ergeben sich die „Wege der Transzendierung von Mimesis“ in reduzierender oder explosiver actio (Draesner 2018, 105). Performative Effekte werden also bei Lentz wie bei Draesner an Grammatik, Struktur und Modalität der Sprache und deren Transformationen festgemacht. Yōko Tawada gelang diese Sondierung sprachlicher Verwandlungen (2018) bereits 1998 in ihren Tübinger Poetikvorlesungen. Vergleiche der Alphabetschriften mit den japanischen Ideogrammen machen Sprachrhythmus, Kombinatorik oder Polyvalenzen des Schreibens wie Lesens hör- und sichtbar. Übersetzungen, Metamorphosen des Sprachmaterials, werden zu einer performativen Kunst par excellence. Die Klarheit von Tawadas Poetologie schien in einer Parallele zu dem der Vortragenden zugeschriebenen Habitus zu stehen. „Konzentriert und sparsam, präzise und überlegt wie ihre Gestik, Mimik und Sprechweise ist auch die Schreibweise dieser Autorin“ (Jürgen Wertheimer über Yōko Tawada, Tawada 2018, 56). Wertheimer hatte die Tübinger Vorlesungsreihe dezidiert unter das antizipierende Motto Zukunft! Zukunft? (Wertheimer 2000) gestellt. Unter performativen Aspekten ist interessant, dass der Literaturwissenschaftler in seiner Beschreibung einer, so wörtlich, „diskrete[n] postmoderne[n] Schamanin der dichterischen Rede“ (Tawada 2018, 55) vor lauter Begeisterung regelrecht aus der Rolle fällt und sich von Erwartungen an wissenschaftlich präzises Argumentieren weit

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entfernt. Die Theatralität emotional und ‚persönlich‘ gestimmter Redeweisen ist an der Wende zum 21. Jahrhundert längst als ein Habitus des/der Wissenschaftler/ in sanktioniert.

5 (Kein) Schluss: Antizipationen des Vorläufigen Ob der Stellenwert der Effekte des Mündlichen in den letzten Jahren extrem gestiegen ist (Assmann und Menzel 2018, 4), lässt sich angesichts des großen, heterogenen Befundes an Poetikvorlesungen der letzten beiden Jahrzehnte nicht pauschal festhalten. Interessant sind jedoch die unterschiedlichen Publikationsformate, die eine binäre Unterscheidung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit unter performativen Aspekten einmal mehr als obsolet erscheinen lassen (Assmann und Menzel 2018, 7). Zwar ist die Tonlage der Ansprachen oder der explizit als Mündlichkeit verschriftlichten Vorträge in den meisten Veröffentlichungen nicht zu überlesen, aber in den vergangenen zwanzig Jahren ist das Bewusstsein für die performative Konstruktion jedes Sprechens so selbstverständlich geworden, dass sie für eine spezifische Beschreibung kaum mehr taugt. Interessant bleiben die Widersprüchlichkeiten, die in der Rezeption, Konservierung und Vermarktung der mündlichen Rede aufbrechen können. So lässt Christoph Ransmayr seine Poetikvorlesungen nicht aufzeichnen und fordert auch das Publikum auf, seine Worte nicht mitzuschreiben oder aufzunehmen, sondern schlicht im analogen Modus zuzuhören. Andererseits sieht er kein Problem darin, im Laufe der Jahre „in Theatern, Sälen, Innenhöfen oder Wohnzimmern zu Gehör gebracht[e]“ Ansprachen, die bereits in Feuilletons abgedruckt wurden, als „Gerede“ in konservierender Buchform nochmals zu publizieren (Ransmayr 2014, 97). Und in Zeiten der Covid-19-Pandemie verzichtet auch er nicht auf digitalsynchrone Übertragungstechniken. Das audiovisuelle Format, synchron wie asynchron, hat in den letzten Jahren das Paradox aufgezeigt, dass die Faszination performativer Ästhetik in dem Maße abnimmt, wie die mediale Präsenz digitaler Simulation wächst. Wollte man eine Zeit festhalten, in der der Reiz des Performativen nun wirklich an den Nullpunkt gekommen zu sein schien, so ist es das Frühjahr 2020, in dem pandemiebedingt die Universitäten geschlossen wurden. Die Notwendigkeit einer digitalen Übertragung fast aller größeren Veranstaltungsformate machte die Distanzwirkung jedes ‚übertragenen‘ Sinns und damit jeder Kommunikation bewusst. Wiederum zeigt sich, wie stark die kulturelle Praxis der Vorlesung an einen gemeinsamen Rahmen räumlicher Präsenz gebunden ist. Als performative Gattung wird sie in absehbarer Zeit vielleicht nur noch im historischen Rückblick zu beschreiben sein.

2.1.2 Das Zögern auf den Punkt bringen

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Selbstverständlich kann und möchte dieser Handbuchartikel keine Definition der Performativität deutschsprachiger Poetikvorlesungen liefern, sondern die Geschichte ihrer antizipierenden Entwürfe und Wirksamkeiten in den (selbst‐) bewussten Positionierungen der Stimme eines/er Dichter/in skizzieren. Und was antizipiert diese performative Gattung heute? Monika Rinck nennt ihre aufgrund der Covid-19-Pandemie ins Wintersemester 2020/2021 verschobene Frankfurter Poetikvorlesung Vorhersagen. Poesie und Prognose. Einer Vorhersage des Vorhersehens scheint kaum noch etwas hinzuzufügen zu sein. In der digitalen Aufzeichnung einer an eine TV-Nachrichtensendung erinnernden „Sprachinstallation“ (Kling 2020, 50) unterbricht Rinck ihre Vorhersagen immer wieder durch das zögernde Ostinato eines „Es sei denn… Es sei denn… Es sei denn…“. Und natürlich sind der antizipierende Gestus und das innovative Potenzial der Performativität nicht auf einem kontinuierlichen Zeitstrahl zu verankern, sondern markieren einmal mehr den potenziell unendlich sich fortsetzenden Bewegungsmodus der Literatur. Vielleicht zeichnet sich heute ein neuer Topos im Selbstverständnis deutschsprachiger Poetikvorlesungen ab: To be continued – – –, der sich bereits in Ingeborg Bachmanns unhintergehbarer Vorhersage vor sechs Jahrzehnten, in den letzten Sätzen ihrer Vorlesung, ausmachen lässt: „Ließen sich eines Tages die Fragen richtig formulieren, die auf die Gedankenstriche folgen wollen, so könnten wir vielleicht die Geschichte der Literatur und unsere Geschichte mit ihr noch einmal und neu schreiben. Der Schreibende aber, der sich in dieser ungeschriebenen Geschichte seit je aufhält, hat selten die Worte dafür und lebt in der Hoffnung auf den stetigen verschwiegenen Pakt […]: ‚Auf den Zusammenbruch aller Beweise antwortet der Dichter mit einer Salve Zukunft [René Char]‘“ (Bachmann 2011, 116 – 117).

Literaturverzeichnis Assmann, David-Christopher und Nicola Menzel. „Zum Textgerede der Gegenwartsliteratur: Eine Einleitung“. Textgerede: Interferenzen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Gegenwartsliteratur. Hrsg. von David-Christopher Assmann und Nicola Menzel. Paderborn 2018: 1 – 16. Austin, J.L. How to Do Things with Words. Oxford 1962. Bachmann, Ingeborg. Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung. München/Zürich 2011. Binczek, Natalie. „Textgerede im Hörsaal: Die Frankfurter Poetikvorlesung von Thomas Meinecke“. Textgerede: Interferenzen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Gegenwartsliteratur. Hrsg. von David-Christopher Assmann und Nicola Menzel. Paderborn 2018: 249 – 264.

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Brandstetter, Gabriele. „Inventur: Tanz. Performance und die Listen der Wissenschaft“. „Intellektuelle Anschauung“: Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen. Hrsg. von Sibylle Peters und Martin Jörg Schäfer. Bielefeld 2006: 295 – 300. Copland, Aaron. Music and Imagination. Cambridge, MA 1952. Draesner, Ulrike. Grammatik der Gespenster: Frankfurter Poetikvorlesungen. Stuttgart 2018. Duden, Anne. Zungengewahrsam oder Der uferlose Mund des schreienden Schweigens. Paderborner Universitätsreden 51. Paderborn 1996. Duden, Anne. Zungengewahrsam: Kleine Schriften zur Poetik und zur Kunst. Köln 1999. Dürr, Claudia. „Das Experiment von Frankfurt heute: Zur Kritik von Poetikvorlesungen im Feuilleton“. literaturkritik.at. Sommer 2017. https://www.uibk.ac.at/literaturkritik/ zeitschrift/das-experiment-von-frankfurt-heute.html (1. August 2020). Eke, Norbert Otto. „Reden über Dichtung: Poetik-Vorlesungen und Poetik-Dozenturen im literarischen Feld“. Poetik des Gegenwartsromans. TEXT + KRITIK Sonderband. Hrsg. von Nadine Jessica Schmidt und Kalina Kupczynska. München 2016: 18 – 29. Fischer-Lichte, Erika. „Auf dem Wege zu einer performativen Kultur“. Kulturen des Performativen. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte und Doris Kolesch. Paragrana, Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie 7.1 (1998): 13 – 29. Gernhardt, Robert. Hier spricht der Dichter: 120 Bildgedichte. Zürich 1985. Goetz, Rainald. Abfall für alle: Roman eines Jahres. Frankfurt a. M. 1999. Grünbein, Durs. Vom Stellenwert der Worte: Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Frankfurt a. M. 2010. Jandl, Ernst. Das Öffnen und Schließen des Mundes: Frankfurter Poetik-Vorlesung. Darmstadt/Neuwied 1985. Kirchhoff, Bodo. Legenden um den eigenen Körper. Erw. Neuaufl. Frankfurt a. M. 2012. Kleinschmidt, Erich. „Die Sagbarkeit der Wörter: Zu einer Poetologie der Figuralität bei Anne Duden“. Poetologisch-poetische Interventionen – Gegenwartsliteratur schreiben. Hrsg. von Norbert Otto Eke, Alo Allkemper und Hartmut Steinecke. München 2012: 185 – 204. Kling, Thomas. Botenstoffe. Köln 2001. Kling, Thomas. „Itinerar“. Werke in vier Bänden. Bd. 4: Essays 1974 – 2005. Hrsg. von Frieder von Ammon. Frankfurt a. M. 2020: 7 – 59. Krauß, Angela. Die Gesamtliebe und die Einzelliebe: Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 2004. Lentz, Michael. Atmen Ordnung Abgrund: Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 2013. Maye, Harun, Peter von Möllendorff und Monika Schausten. „Vortrag/Lesung“. Literature’s Media / Handbuch Medien der Literatur. Hrsg. von Natalie Binczek, Till Dembeck und Jörgen Schäfer. Berlin 2013: 333 – 351. Meinecke, Thomas. Ich als Text: Frankfurter Poetikvorlesungen. Berlin 2012. Meyer, Clemens. Der Untergang der Äkschn GmbH: Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 2016. Nauman, Bruce. Lip Sync. Video (schwarz-weiß, Ton). 57 Min. 1969. Polaschegg, Andrea. Der Anfang des Ganzen: Eine Medientheorie der Literatur als Verlaufskunst. Göttingen 2020. Ransmayr, Christoph. Gerede: Elf Ansprachen. Frankfurt a. M. 2014. Brandstetter, Gabriele und Hortensia Völckers (Hrsg.). ReMembering the Body: Körperbilder in Bewegung. Ostfildern 2000.

2.1.2 Das Zögern auf den Punkt bringen

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Schumann, Robert. „Der Dichter spricht“. Kinderszenen. Sämtliche Klavierwerke. Hrsg. von Clara Schumann. Bd. 3. Leipzig 2018 [1838]: 57. Steierwald, Ulrike. Wie anfangen? Literarische Entwürfe des Beginnens. Berlin 2016. Stuckatz, Katja. Ernst Jandl und die internationale Avantgarde. Berlin/Boston 2016. Tawada, Yōko. Verwandlungen: Tübinger Poetikvorlesungen. Neuausg. Tübingen 2018. Wilke, Tobias. „Auftrittsweisen der Stimme: Polyphonie und/als Poetologie bei Ingeborg Bachmann“. Re-acting to Ingeborg Bachmann: New Essays and Performances. With CD and DVD. Hrsg. von Bernadette Cronin und Caitríona Leahy. Würzburg 2006: 255 – 266. Wertheimer, Jürgen (Hrsg.). Zukunft? Zukunft! Tübinger Poetik-Vorlesungen. Tübingen 2000.

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2.1.3 Kanon, Selbstkanonisierung und Rekurs auf den antiken Begriff des poeta doctus 1 Kanondebatte versus Selbstkanonisierung Dass der Beginn der institutionalisierten Poetikvorlesungen (im Wintersemester 1959/60 an der Goethe-Universität in Frankfurt) mitten in die „Schlüsselperiode“ der Geschichte der literarischen Vortragskunst (Meyer-Kalkus 2020, 1050), nämlich in die Zeit nach 1945 fällt, ist sicher kein Zufall. Wie die klassische, die inszenierte oder die Studio-Lesung, Gruppenlesungen oder solche an literaturfernen Orten, sind auch die Poetikvorlesungen zunächst einmal „Live-Formate“ (Meyer-Kalkus 2020, 1018 f.), mit der Besonderheit, dass sie in literarischen Institutionen stattfinden und in aller Regel im Anschluss daran auch veröffentlicht werden. Die Vortragenden sind sich bei derlei Auftritten der Geschichte der Vortragskunst sicherlich ebenso bewusst wie der Traditionslinie, in der sie literarisch stehen bzw. in der sie gerne stehen würden, wie auch ihrer eigenen Platzierung im gegenwärtigen literarischen Feld. Bezugnahmen auf den Kanon, also auf diejenigen Werke, denen ein besonderer Wert bzw. ein normsetzender und zeitüberdauernder Rang zugeschrieben wird, sind dabei unterschiedlich stark ausgeprägt. Solche dienen entweder der Klärung von Wertungs- und Kanonisierungsfragen im Allgemeinen (siehe Abschnitt 9) oder aber, am anderen Ende der Skala, der Selbstkanonisierung und -historisierung (siehe Abschnitte 4, 5, 6 und 8). Diese beiden Formen der Auseinandersetzung mit dem Kanon (also quasi objektive Klärung oder tendenziell subjektive Selbstverortung) gehen einher mit oder zielen auf „(Wertungs)Handlungen“, die es zu beschreiben, zu analysieren, zu beeinflussen oder zu verändern gilt: „dauerhafte Präsenz im Druck, am Markt; Aufnahme in Klassikerreihen“, Erstellen von „Gesamtausgabe(n), insbesondere Kritische[n] Ausgaben“, anhaltende Pflege in den literaturvermittelnden Institutionen (Schule, Universität, Literaturkritik, literarische Gesellschaften, u. a.)“, „regelmäßige und ausführliche Behandlung in Literaturgeschichten, Lexika u. a.“ sowie um „wiederholte Verarbeitung durch nachfolgende Autoren“ (von Heydebrand und Winko 1996, 222– 223). Als öffentlich in Erscheinung tretender Poetikdozent erhöht man offensichtlich seine Präsenz am Markt (und meistens auch im Druck), man wird – wenn vorhanden – in eine entsprechende Reihe aufgenommen, man leistet der Pflege des Werkes in literaturvermittelnden Institutionen (etwa durch https://doi.org/10.1515/9783110647884-010

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begleitende Seminare oder parallel stattfindende Tagungen) Vorschub und wird dadurch idealerweise auch von nachfolgenden Autoren wiederum stärker rezipiert. Um der besseren Lesbarkeit Willen wird im Folgenden einheitlich die Bezeichnung Poetikdozent, Dichter, Autor etc. verwendet, womit gleichermaßen die weibliche Form, also die Poetikdozentin, Dichterin oder Autorin gemeint ist.

2 Poeta doctus docens Von den vier klassischen, seit jeher klischeehaft verdichteten und entsprechend auch karikierten Dichtertypen – dem dilettantischen Nichtskönner, dem leicht verständlich schreibenden, erfolgreichen Schriftsteller, dem auf Inspiration setzenden ‚seherischen Dichter‘ (poeta vates) und dem gelehrten Dichter (poeta doctus) (Barner 1981, 730) – eignet sich naheliegenderweise der poeta doctus am besten für das Halten von Poetikvorlesungen an einer Universität (vgl. Kempke 2021, 289 – 303). Er, wie keiner der anderen drei, steht schließlich auch etymologisch dem Poetikdozenten (poeta docens) am nächsten (Hachmann 2014). In der Partizipialform des Verbums docere, lat. lehren, unterrichten, also als docens, erfüllt der Gelehrte (doctus) den ihm von einer Bildungseinrichtung erteilten Auftrag, sein poetologisches Wissen darzulegen. Bevor jedoch im Folgenden im Rahmen von Fallbeispielen vor allem der poeta doctus als paradigmatischer Poetikdozent näher betrachtet wird, ist einschränkend darauf hinzuweisen, dass eine eindeutige Zuordnung zu jedweder Form von Dichtertypologie den Eigenheiten des/der Einzelnen natürlich nicht gerecht werden kann, es neben den genannten Typen noch zahlreiche andere, vor allem auch Hybridformen gibt, was im Besonderen auf Vertreter der jüngeren Dichtergeneration zutrifft. So entsprechen etwa Poetry-Slammer mit ausgestellter Performanz und dem Anspruch auf Authentizität wohl am ehesten noch dem Typus des poeta vates, auch wenn sie, vielfach selbstironisch, mit Elementen der anderen Typen spielen, was auch bei ihnen auf eine Kenntnis der Tradition schließen lässt. Bislang sind jedoch solcherart Autoren als Poetikdozenten m.W. noch nicht in Erscheinung getreten, was sich auch als Hinweis auf die nach wie vor geltende akademische Vorstellung davon, wie eine Poetikvorlesung ausgestaltet sein sollte, lesbar ist. Die Zahl an institutionalisierten Poetikvorlesungen, bei denen der Dichter in den Lehrbetrieb einer Hochschule mit Vorlesungen und Teilnahme an Seminaren integriert ist, hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Aufgrund der universitären Anbindung bringen sie dem Autor vor allem „großes symbolisches Kapital“ und legitimieren seine „Präsenz im literarischen Feld“ (Galli 2004, 63). Trotz der von Seiten der Literaturwissenschaft anfangs noch vorgebrachten Kritik,

2.1.3 Kanon, Selbstkanonisierung und Rekurs

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„das Reden über die Dichtung [sei] wichtiger geworden als die Dichtung selbst“ (Barner 1981, 751), gilt die Einladung, im akademischen Rahmen Vorlesungen zu halten, „als eindeutiges Zeichen der literaturwissenschaftlichen Hoffähigkeit“ (Galli 2004, 63). So gesehen ist es vielleicht kein Zufall, dass „im gegenwärtigen Literaturbetrieb“ der gelehrte Typus „nicht die Ausnahme, sondern die Regel“ ist (Hachmann 2014, 137). Das Genre der universitären Poetikdozentur begünstigt diese Entwicklung, da sich der Dichter dabei, anders als bei seinem poetischen Werk, explizit an ein akademisches Publikum richtet und dabei sein Wissen ausbreitet bzw. davon ausgeht, dass ein gewisses Bildungsniveau von ihm erwartet wird. Hinzu kommt, dass eine geisteswissenschaftliche Ausbildung bzw. ein entsprechender Abschluss oder sogar Titel, neben der Absolvierung in der Regel an Hochschulen angeschlossener Schreibschulen „nahezu selbstverständlich[…]“ (Hachmann 2014, 137) zum Werdegang eines heutigen Schriftstellers gehören (Krones 2011). Ein akademisch ausgebildeter Autor scheint für die Übernahme einer Poetikdozentur „am ehesten qualifiziert zu sein.“ Jedenfalls „belegt [dies] die Auswahl, die in der Regel auf das Ideal eines poeta doctus festgelegt ist“ (Bohley 2011, 234). Allerdings sind bei diesem Ergebnis diejenigen Autoren natürlich nicht mitabgebildet, die, aus welchen Gründen auch immer, die Einladung, eine Poetikdozentur zu übernehmen, ausgeschlagen haben (was gar nicht mal so selten der Fall ist). Der Typus „non-poeta-doctus“ scheut vielleicht ein solches Amt, weil er sich dieses aufgrund (geglaubt) mangelnder Gelehrtheit nicht zutraut, möglicherweise aber auch, weil er keine Poetik zu haben meint, diese nicht preisgeben oder aber auch nicht als poeta doctus (unter vielen anderen) gehandelt werden möchte. Vorbehalte gegenüber der Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung gibt es so auch nicht nur seitens der Literaturwissenschaft, sondern auch seitens mancher Dichter, auch solcher, die bereits Poetikdozenturen innehatten. So kritisiert etwa Durs Grünbein in seinem Gedicht Zeichentheorie, das er zum Wiederabdruck den Trierer Poetikvorlesungen (Reents und Fechner 2022) beigegeben hat, nicht nur die aktuelle Lyrikproduktion („Nun, da es Gedichte wie Packpapier gibt“, „Nun, da es keinen Kult mehr um Verse gibt“), sondern auch die zunehmende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Strukturen und Paratexten der Literatur, zu denen Poetikvorlesungen gehören. Kenntnisreich spricht er vom „Studium der Flechten […]/ der Flecken und Risse in allen Texturen“, das nun „beginnen“ könne und von der „Bestimmung der Nebensachen“ (Grünbein 2019), also der Untersuchung der Nebentexte. Damit stellt er sich im Gedicht gewissermaßen metagelehrt über die Dichtung und deren Wissenschaft und macht dieses zum gelehrten Neben- oder Beitext der Poetikvorlesungen seiner Dichterkollegen. Der poeta doctus verkörpert also den gebildeten und intellektuellen Dichter, der in seinem Werk (und in seinem Auftreten) die Kenntnis der Tradition, also

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etwa literarhistorisches Wissen und Bildungsgut bei seinem Publikum nicht nur voraussetzt, sondern darauf ex- oder implizit Bezug nimmt, indem er dieses in Reflexionen oder mit Hilfe von Zitaten durchscheinen lässt. Schon der Dichtertypus der Antike war von Haus aus ein gelehrter; so bezogen sich im antiken Griechenland die Dichter regelmäßig auf die homerischen Epen, im antiken Rom wiederum auf die griechische Dichtung. Und auch die Vorstellung vom Originalgenie (etwa des Sturm und Drang) oder des Dichter-Sehers, die quasi genialisch aus reiner Inspiration heraus oder eben auf Grund seherischer Fähigkeiten seine Werke schuf, diente in weiten Teilen der Mythenbildung bzw. Selbstinszenierung, als dass dies der Realität entsprach. Denn um Regeln zu brechen und Neues zu erschaffen, ist die Kenntnis der Tradition unverzichtbar. Im Rahmen der sogenannten Höhenkamm- oder Hochliteratur war und ist der poeta doctus die Regel. So gehört im Hinblick auf ein Reüssieren auf dem Buchmarkt regelmäßig die mediale Ausbreitung vom intellektuellen Bildungsgang des Autors. Die paratextuell gebotenen Informationen auf Klappentexten, in Katalogen oder Interviews dienen dabei weniger als Alleinstellungsmerkmal denn als (vermeintliche) Qualitätsgarantie. Aller Abwehr biographisch grundierter Lesarten zum Trotz setzen buchhändlerische Vermarktungsstrategien und Selbstaussagen der Autoren auf die Wahrnehmung des Autor als ,Marke‘ (Neuhaus 2001) im Lichte seiner Bildungsgeschichte und sozialen Herkunft. Und wie das Einschreiben des Subjekts in den literarischen Text im Zuge der Postmoderne geläufig wurde, lässt sich dies auch in den Poetikvorlesungen vieler Autoren beobachten. Im Gegensatz zu den Poetiken vom Barock bis in die Moderne hinein geht es in Poetikvorlesungen heute in aller Regel weder um Normativität noch um Objektivität. Sie stehen im Zeichen der „postmodernen literarischen Kondition“ (Lützeler 1994, 10), gehen zunehmend in kritischer Selbstauskunft auf und werden „immer mehr zur Autobiographie und fügen[n] sich zur postmodernen Infragestellung der Autonomie des Subjekts, seiner Historisierung und Fragmentarisierung“ (Galli 2014, 61– 62).

3 Dialog im „Gebirg“ (Celan) vs. Monolog im „Olymp“ (Benn) Synchron wie diachron müssen nicht nur poetik-, sondern auch gattungstheoretische Abgrenzungen im Blick behalten werden. Auch wenn es institutionalisierte Poetikvorlesungen erst seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gab, so gibt es Poetiken seit der Antike, im deutschsprachigen Raum seit Opitz und Gottsched. Wie moderne Poetiken nun explizit als Vorlesung oder auch als Rede konzipiert

2.1.3 Kanon, Selbstkanonisierung und Rekurs

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waren, lässt sich an der auch in dieser Hinsicht lohnenden Gegenüberstellung von Gottfried Benn und Paul Celan studieren: Denn während Benns Probleme der Lyrik (Marburg, 1951) im universitären Rahmen, auf Einladung des Rektors der Philipps-Universität in Marburg, im Rahmen eines Internationalen Ferienkurses, „Wissen und […] Erfahrungen […] zur Verfügung zu stellen“ (Benn 2001, 260), erfolgte, trug Celan seinen Meridian (Darmstadt, 1960) anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises bei der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vor. So gesehen ist der Meridian vom Anlass her keine Poetikvorlesung, sondern eine Preisrede, die jedoch inhaltlich durchaus Celans Poetik darlegt. Dass im Rahmen solcher poetologischer Selbstverlautbarungen der Kanon mehr oder weniger explizit mitgedacht bzw. mitunter auch zum Ausweis der Preiswürdigkeit oder auch der Selbstkanonisierung in Stellung gebracht wird, ist wenig überraschend. In Preisreden wird in aller Regel mindestens auf den Namensgeber des Preises Bezug genommen, weshalb Celan in seinem Meridian verschiedene Büchner-Szenen (an)zitiert, um dessen Verspottung der „Nur-Kunst“ (Celan 2005, 17) noch weiter zuzuspitzen. Das kanonisierte Werk Büchners, dessen Kenntnis zum Verständnis der Rede unabdingbar ist, dient Celan als Grundlage, man könnte auch sagen als Baukasten, mit Hilfe dessen er seine eigene Poetik darlegt. Aber nicht nur er ist intimer Kenner des Büchnerschen Werkes, sondern er thematisiert mehrmals auch das von ihm unterstellte Wissen seiner Zuhörer: Gleich zu Beginn, als er – ohne daraus zu zitieren – auf das Kunstgespräch zwischen Camille und Danton zu sprechen kommt, supponiert er in Einschüben wie „Die Kunst, das ist, Sie erinnern sich…“ (Celan 1993, 187), „Das ist, Sie wissen es längst, sie kommt ja, die so oft Zitierte, mit jedem neuen Jahr zu Ihnen – das ist Lucile“ (Celan 1993, 188 – 189) dass der Zuhörer weiß, worauf er anspielt. Dies ist performativ auch als Ins-Werk-Setzen seiner dialogischen Poetik und Dichtung zu verstehen, die, anders als Benns Idee monologischer Kunst, von einem Gegenüber ausgeht. Celan spricht zwar als poeta doctus (neben Büchner bezieht er sich auch auf den historischen Lenz, auf Herausgeber und Interpreten), aber stets auf Augenhöhe mit seinen Zuhörern, es geht ihm um „Begegnungen, Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du“ (Celan 1993, 201). Anders als bei dem Halten einer Preisrede ist der Kreis derer, auf die man sich traditionshalber beziehen kann, beim Verfassen einer Poetikvorlesung von vornherein weiter. Die Art und Weise der Bezugnahme verweist auf den Rahmen, in dem der Dozent sich und seine Poetik verorten möchte. Anders als Celan, der, wie gesagt, direkt mit dem Kunstgespräch aus Dantons Tod beginnt, steigt Benn mit Gelegenheitsgedichten unbekannter Autoren ein, um davon das abzuheben, was für ihn moderne Lyrik ausmacht, und wer solche seiner Meinung nach verfasst hat: „Außer Valéry nenne ich Eliot, Mallarmé, Baudelaire, Ezra Pound, auch Poe, und dann die Surrealisten“ (Benn 2001, 11). Das auch im weiteren Verlauf

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praktizierte name-dropping, wie etwa die Nennung von Tolstoi, Flaubert, Balzac, Dostojewski, Hamsun, Joseph Conrad, Joyce (Benn 2001, 11), unterstreicht den Gestus eines Dichters, der sich zum Kreis der Weltliteraten, weniger zu dem der nur deutschsprachigen Literatur zählt – auch wenn er später „George, Rilke, Hofmannsthal“, sowie „Heym, Trakl, Werfel“ nennt (Benn 2001, 12– 13). Erst über Nietzsches Artistik spannt er den Bogen von der Antike über Flaubert, Novalis, Schiller und Goethe, um von da aus vorzuführen, wie – und hierbei bemüht er die „rätselhaften Worte“ Nietzsches vom „Olymp des Scheins“ (Benn 2001, 15) – ein Gedicht entsteht. Wenn Benn also auf den ersten sechs Seiten seine Gewährsleute ausschließlich männlichen Geschlechts in evokativ wohlkomponierter Weise herbeizitiert, könnte man dies mit seinen eigenen Worten auch als „Andichten“ bezeichnen, was so im gelungenen modernen Gedicht nicht vorkommen dürfe, denn das sei „eine primitive Art, seine lyrische Substanz zu dokumentieren“ (Benn 2001, 17). Inwieweit diese Art der Dokumentation poetologischer Substanz, also qua name-dropping, seinerseits primitiv oder aber im Rahmen einer Poetikvorlesung unabdingbar ist, sei dahingestellt. Im Nachhinein jedenfalls kokettiert er damit, froh zu sein, dass sein Brieffreund F.W. Oelze nicht nach Marburg gekommen war: „Ein Glück, dass Sie nicht da waren! Ging schief! Zu grosser Hörsaal, zu viel Leute u. miserable Akustik, die hintre Hälfte schrie ,lauter‘, peinliche Sache, ich musste kürzen. Schlechte Organisation. Einmal u nie wieder“ (Benn 1980, 117).

4 Poeta doctus vates: Durs Grünbein Benns Marburger Rede Probleme der Lyrik galt vielen als „ars poetica“ der Nachkriegsgeneration (Friedrich 1956, 117). Zahlreiche Dichter haben sich darauf bezogen, was ihnen mitunter die Bezeichnung als Benn-Adepten oder -Epigonen einbrachte. Durs Grünbein wird seit seinem Debut Grauzone morgens (1988) regelmäßig in eine Linie mit Benn gestellt, auch wenn er dies immer wieder abwehrte. Aufgrund seiner intensiven Antike- (Arend 2010) und sonstiger KlassikerRezeption (Eskin 2002) wird er nach wie vor als der deutschsprachige poeta doctus gehandelt, was ihm bei Dichterkollegen mitunter auch entsprechenden Spott eingebracht hat (Gsella 2004, 28), ihm selbst allerdings auch nicht behagt. Er habe sich, wie er 2020 im Anschluss an eine Lesung zugab, immerzu dagegen „sträuben müssen, […] in die Gelehrtenwelt abgedrängt“ zu werden. Bei der Vorstellung seiner Person sei der „abschreckend[e]“ und „ungenaue[…]“ „Schlüsselbegriff des poeta doctus […] fast immer [gefallen] und hat mich fast immer aufzucken lassen“ (Grünbein 2020).

2.1.3 Kanon, Selbstkanonisierung und Rekurs

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Elf Jahre vor diesem Bekenntnis hat er sich im Wintersemester 2009/2010 in seiner Frankfurter Poetikvorlesung Vom Stellenwert der Worte (2009) innerhalb des, wie er es darlegt, heruntergekommenen Literaturbetriebs („eine ununterbrochene Frankfurter Buchmesse“, Grünbein 2009, 7) auch schon entsprechend positioniert, in dem es „keine normenbildenden, maßstabsetzenden Poetiken“ (Grünbein 2009, 9) mehr gebe. Unter Abgrenzung von Hugo Friedrichs Die Struktur der modernen Lyrik (und damit implizit von Benn) überfliegt er darin die Literaturszene und markiert durch die Nennung ausgewählter Größen (zwei Mal Celan, kein Mal Benn) sein Terrain, bevor er seine „persönliche[…] Psychopoetik“ (Grünbein 2009, 15) skizziert. Ähnlich wie Benn in seinen Problemen der Lyrik geht er vom Kleinen, vom Unbedeutenden zum Großen, bei ihm ist es ein eigenes Jugendgedicht, anhand dessen Genese er seinen Werdegang schildert und wie er sich in dem „Riesenheer der toten Schriftsteller“ (Grünbein 2009, 26) positioniert. Unter den Epikern nennt er den polnischen Autor Bruno Schulz, den Italiener Carlo Emilie Gadda und den Russen Isaac Babel, um dann in der Lyrik auf die großen, vor allem deutschen Namen zu setzen: Hölderlin, Trakl, Novalis, zu denen sich „die Vorliebe wie von selbst“ ergab, später dann Heym, van Hoddis, Goll – und Benn „für eine gewisse Zeit“ (Grünbein 2009, 28). Mit der einzigen Dichterin, Annette von Droste-Hülshoff, habe er „eine kurze und heftige Affäre“ (Grünbein 2009, 28) gehabt. Solche plump vertraulichen Aneignungen gehen nicht recht zusammen mit der Äußerung, „Einflüsse [spielen sich] unter Künstlern, die auf der Hut sind, im Unbewußten ab“ (Grünbein 2009, 32, Hervorhebung F.R.). Auf der Hut war er an dieser Stelle zwar vor der Harold Bloomschen „Einfluß-Angst“, nicht aber vor dem nebenbei entglittenen Sexismus. Dem Verdacht des poetischen „Import-Export-Handels“, den man einem sich offensichtlich als poeta doctus gerierenden Dichter zu unterstellen geneigt ist, entzieht er sich geschickt, in dem er – und da ist er dann doch wieder bei Benn – das dichterische Wort als Rauschmittel beschreibt, „das in einem Traumzustand versetzte Wort, das seine Echos durch Zeiten und Räume von überall her empfängt“ (Grünbein 2009, 32), und präsentiert sich damit als poeta doctus vates, der über ein „strömungsoffene[s] Ich“ (Grünbein 2009, 35) verfügt, wobei er offen lässt, „aus wie vielen Stimmen sich die eigene Stimme zusammensetzt[…]“ (Grünbein 2009, 37). Und just an diesem Punkt lässt er wieder den poeta doctus hervortreten, der sein Wissen über die abendländische Philosophie etwa durch Nennung von Descartes und Blake und die Antike darbietet, indem er etwa schreibt „Die Römer wußten…“ oder „nach griechischer Auffassung“ (Grünbein 2009, 37). In einer Doppelbewegung von bewusst und unbewusst, von doctus und vates bezeichnet er „den Einbruch der Antike in meine Arbeiten“ als „Wendepunkt“ (Grünbein 2009, 40 f.), so als seien Wissen und Bildung einfach nur über ihn gekommen. Und das sind sie natürlich nicht, wie er auch im Gespräch zugibt,

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denn „die Kenntnis der Literaturen, der Dichtungsgeschichte, auch der Stellenkenntnis hat mich oft davor bewahrt, einfach ins Ungefähre zu schweifen […], Banalitäten aufzublähen.“ Auch wenn er „lieber ein poeta vates“ sei, komme er nicht umhin zuzugeben, dass eine „Beteiligung nach beiden Seiten“ (Grünbein 2020) vorliege, er also ein poeta doctus vates ist. Unabhängig davon, ob Grünbein nun eher ein doctus oder eher ein vates ist, geht seine Poetik mit einem ausgeprägten Willen zur Selbsthistorisierung einher: Diese liegt dann vor, wenn sich ein Autor „als literarhistorische Größe setzt[…] und die (posthume) Tradition der eigenen Werkbiographie vorbereitet[…]“ (Stockinger 2010, 255). Anders als bei der Selbstinszenierung geht es bei der Selbsthistorisierung aber nicht nur um die gegenwärtige Wirkung, die der Autor mit einem Werk oder seinem Auftreten erzielen möchte, also um die aktuelle Platzierung im literarischen Feld, sondern auch um die zukünftige Platzierung innerhalb der Literatur- und Geistesgeschichte (vgl. Reents 2018). Diese Form von Selbsthistorisierung versteht sich als eine auf sich selbst verweisende, aber nicht auf der Stelle tretende Rückversicherung, bei der „im Rückverweis Neues oder zumindest das Alte neu in den Blick“ (Breidbach 2011, 52) genommen wird, ohne dabei epigonal erscheinen zu wollen. Denn, so noch einmal Grünbein, „worum es beim Schreiben möglicherweise insgeheim ging: […] Darum, sein Schicksal herauszufordern und zu gewinnen, und sein einmaliges Leben und Wesen auf die Landkarte zu setzen“ (Grünbein 2009, 32).

5 Dichter-Denker „durch und durch“: Walter Jens Einen werkpolitischen und zugleich selbsthistorisierenden Gestus mit ausgeprägtem Nachlassbewusstsein im Hinblick auf die „Gemachtwordenheit“ des Autors findet man schon in früheren Phasen der Literaturgeschichte (Martus 2006; Sina und Spoerhase 2017), vergleichsweise neu aber ist das Format der Poetikvorlesung als Plattform, auf der eine „frei konstruierende Darstellung einer Autor-Person und des Werkes zu dem Zweck der Vermarktung und Verortung im literarischen Feld“ (Hachmann 2014, 150) möglich ist. Und es ist vor allem der poeta doctus, der sich dank seines Traditionsbewusstseins und seines Bildungsgrads nicht nur auf der „literarischen“, sondern eben auch auf der literarhistorischen Landkarte „etabliert“ und sich nicht zuletzt durch die Publikation und wissenschaftliche Rezeption seiner Vorlesungen „vor Auslöschung zumindest vorübergehend […]schützt“ (Hachmann 2014, 149). Die wissenschaftliche Rahmung der Poetikvorlesungen durch deren Publikation, Dokumentation und begleitende Tagungen und Seminare zum Werk sind inzwischen die Regel, bei denen die Teilnahme der Poetikdozenten häufig wie

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selbstverständlich dazu gehört. Länger zurückliegende Vorlesungen erfahren, da mittlerweile offenbar vergriffen, sogar Neuauflagen, wie etwa die Frankfurter Poetikvorlesungen von Walter Jens, die mehr als zwei Jahrzehnte später in der Reihe rowohlt repertoire (2016) neu aufgelegt wurde. Mitunter werden die Vorlesungen auch von Ausstellungen begleitet, von denen bebilderte Begleithefte Zeugnis ablegen. So auch bei Walter Jens’ Vorlesung „Arbeit mit Mythen“ (Frankfurt, 1992), der dadurch schon im Vorfeld (und im Nachhinein) in Bild und Text als Prototyp des gelehrten Dichters präsentiert wird: Jens sei, heißt es im Vorwort des Heftes, „seinem Wesen nach […] durch und durch ,poeta doctus‘, seiner Berufung nach der Aufklärung verpflichtet, seiner menschlichen Substanz nach christlich-humanistisch fundiert“ (Dugall und Reisch 1992). Die Ausstellung habe „sich der Aufgabe [ge]stellt, in die Werkstatt des Gelehrten, Redners und Schreibers zu führen, seine Werke im Umriß und Überblick zu zeigen und sein Leben in Briefen, Fotos und Dokumenten anschaulich werden zu lassen“ (Dugall und Reisch 1992). So zeigt bereits die Titelseite den dozierend-gestikulierenden Gelehrten im Seminargespräch, in der rechten Hand einen taktstockartigen Stift, vor ihm die abgelegte Brille und Papiere, im unscharf gestellten Hintergrund zwei konzentrierte Seminarteilnehmer; darunter, als einzige Textzeile auf dem Cover, Jens‘ beglaubigende Signatur. Weitere Abbildungen im Heft zeigen ihn in ähnlichen Haltungen: am Schreib- oder Lesepult gelehnt, dahinter ein dicht bestücktes Bücherregal; mit überschlagenen Beinen, elegant gekleidet, mit der Rechten gestikulierend, offenbar beim Entwickeln ernsthafter Gedanken; oder auch mit weißem Kragen vor laufenden Mikros als frisch berufener Professor bei seiner Tübinger Antrittsvorlesung im Jahr 1965, die dann auch in voller Länge unter dem, auf Thomas Mann spielenden Titel „Von deutscher Rede“ abgedruckt ist (Jens 1992, 9 – 20). Solcher Art Gelehrtenposen werden so auch in dem Begleitband zur Frankfurter Poetikvorlesung nicht nur professoral, sondern auch künstlerisch beglaubigt – durch beigegebene Schreiben oder Zeichnungen etwa von Wolfgang Koeppen, Horst Janssen und Hans Mayer oder durch Aufnahmen bei der Gruppe 47. Es ist weniger die Art und Weise der (Selbst‐)Inszenierung (im Vorwort findet sich der „Dank an Prof. Walter Jens und an seine Gattin, die das Vorhaben mit Materialien und Auskünften unterstützt haben“, Dugall und Reisch 1992), die außergewöhnlich ist, als vielmehr die dadurch vorgenommene Kontextualisierung der Poetikvorlesungen. Wie dies Hand in Hand geht, lässt sich denn auch in den Vorlesungen mit dem Titel Mythen der Dichter studieren, die an zur Schau gestellter Gelehrtheit nicht zu wünschen übriglassen. In „vier Diskurse[n]“ umkreist er den Dichter-Denker von Odysseus, Antigone und Elektra, Don Juan und Hamlet. Dramaturgisch und rhetorisch versiert zeichnet er darin „[d]as Doppelgesicht des Intellektuellen“ (Jens 1993, 9), skizziert den „Aufstand gegen das ,verteufelt Hu-

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mane‘“ (Jens 1993, 39), nähert sich der Figur des „Dämon und Schwerenöter“ (Jens 1993, 69), um beim „Genie des Poeten“ (Jens 1993, 99) zu landen. Wie geschickt er dabei verfährt, lässt sich gleich zu Beginn studieren: Er beginnt die Vorlesung wie einen Geschichtsroman über die simultan geschilderten Ereignisse am 1. 8.1917, am Ende des Ersten Weltkriegs, dem jedoch ein anderes, offenbar gewichtigeres Ereignis oder genauer eine Erkenntnis entgegengesetzt wird, nämlich diejenige, dass Kunst, aber auch deren Vermittlung, über allem steht: Er zitiert aus dem Tagebuch des vermögenden Georges Borach, der in Zürich von James Joyce im Englischen unterrichtet wird und damit nebenbei die Entstehung von Ulysses finanziert, und der just an diesem Tag notiert, dass „J.J. meint: Das Schönste und alles umfassende Thema ist die Odyssee. Es ist größer und menschlicher als Hamlet, Don Quichote, Dante, Faust“ (Jens 1993, 11). Jens schlüpft also in seinem ersten Diskurs nicht nur in die Rolle des historiographischen Dichters (Weltkriegsbericht), des wissbegierigen Schülers (Borach), des gebildeten und bildenden Dichters (Joyce), sondern auch in den äußerst facettenreich ausgeleuchteten Odysseus selbst. Nicht nur die Ausstellung und deren Begleitheft, sondern vor allem auch Aufbau und Gehalt der Vorlesungen zeugen davon, dass Walter Jens als poeta doctus „durch und durch“ gelten kann.

6 Die Durchstreichung des poeta doctus: Hermann Burger und Christian Kracht Gelehrte Distanz zum Typus des gelehrten Dichters nimmt etwa Hermann Burger in seiner schon vom Titel her sehr wohl gelehrten, nämlich an Kleist anknüpfenden Poetikvorlesung Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben (Frankfurt 1985/86) ein. In der ersten Vorlesung „Vorstudien“ beschreibt er seinen Bildungsgang (vier Semester Architektur, dann Germanistik) und erwähnt einen von ihm für die Studentenzeitung verfassten Artikel, in dem er der Frage nachgeht, ob man „trotz Germanistik“ (Burger 1986, 14) schreiben könne. Denn „der Germanist ging immer von gesetzten, unverrückbaren Worten aus, der Schriftsteller hingegen vom leeren Blatt“ (Burger 1986, 15). Zur Verdeutlichung der „Germanistenproblematik“ zitiert er aus seiner Schrift Der Büchernarr, die von einem Leser erzählt, der von der Lektüre derart ausgesogen ist, „daß es kein Zurück mehr gibt“ (Burger 1986, 18), er distanziert sich vom Typ „Knecht und Glasperlenspieler“, „Diener und Lakai[…] der Literatur, der selbst noch auf einer literarischen Exkursion […] literarische Kreuzworträtsel löst und jedem Dichter gegenüber in die Rolle Eckermanns schlüpft“ (Burger 1986, 19). Denn – Schopenhauer zitierend – „[d]aher kommt es, daß wer sehr viel und fast den ganzen

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Tag liest, dazwischen aber sich in gedankenlosem Zeitvertreib erholt, die Fähigkeit selbst zu denken, allmählich verliert – wie einer, der immer reitet, zuletzt das Gehen verlernt. Solches ist aber der Fall sehr vieler Gelehrten: sie haben sich dumm gelesen“ (Burger 1986, 20). Für den Dichter sei es daher viel wichtiger zu schreiben – und dabei, muss man ergänzen – die richtigen Bücher zu lesen: Denn um das Handwerkszeug zu lernen, „imitierte [er] eine Ausbildungsphase der Maler und kopierte“ Texte von Grass, aber auch von „Musil, Broch, Kafka und Thomas Mann“ (Burger 1986, 17). Eine ganz andere Art von inszenierter Distanznahme war bei Christian Krachts Frankfurter Poetikvorlesungen mit dem sprechenden Titel Emigration (Frankfurt 2018) zu studieren. Der längst in alle Welt emigrierte Kracht kehrte zwar für die Vorlesungen in den Raum der deutschsprachigen Literaturszene zurück, entzog sich dieser aber zugleich: Durch die technischen Restriktionen während der Vorlesungen (Verbot von Video- und Tonaufnahmen) und deren gezielte Nicht-Publikation steuerte er von Beginn an deren Rezeption. Nicht zuletzt durch die Verweigerung bekamen sie sofort den Charakter eines Happenings oder Events und wurden umgehend „in den Klassikerstatus“ (Kempke 2019, 228) erhoben. Es ist die „Geste des Sichentziehens“ (Wiele 2018), die zu Krachts Kunst des „omnipräsenten Verschwinden[s]“ (Schumacher 2009) zählt, die allerdings aufmerksamkeitsökonomisch nur Wirkung zeigt, wenn man wie er „noch immer Popstar-Status“ hat (Wiele 2018). Mit „hohe[m] Gattungsbewusstsein“ und hohem werkpolitischem Anspruch inszenierte er in Frankfurt nicht nur die „Durchstreichung des eigenen Textes“ (Kempke 2019, 229), sondern auch die bisheriger literaturwissenschaftlicher (und -kritischer) Auseinandersetzung mit seinem Werk, der er die (auto)biographische Lesart entgegensetzte und damit die Herrschaft über sein Werk zurückverlangte. Es gehört zur Krachtschen Selbstinszenierung, dass er die ihm zugeschriebenen Popstarallüren nicht nur bestätigt, sondern sich gleichzeitig auch als poeta doctus präsentiert, der reichlich Spuren der von ihm gelesenen Autoren für die Literaturwissenschaft auslegt: Die Palette reicht von Hubert Fichte,William Butler Yeats, Klaus Theweleit, Alice Schwarzer bis hin zu seinem eigenen Werk. So las er am Ende der Vorlesung die Schlussszene aus seinem Debut Faserland, bei der nicht ganz klar ist, ob sich der bindungsunfähige Ich-Erzähler das Leben nimmt, was sich dank der nun im Rahmen der Poetikvorlesung induzierten autobiographischen Lesart doch anders lesen lässt. Dieser nun in den Frankfurter Hörsaal geholten suizidalen Figur gegenüber stand der Autor Kracht, der als Poetikdozent dem Zuhörer sein vom Missbrauch gezeichnetes Leben zur Neudeutung seines Werkes anbietet – um auch diese Lesart gleich wieder in Frage zu stellen, indem er hinzufügt: „Alles, was sich zu ernst nimmt, ist reif für die Parodie – das gilt auch für diese Vorlesungsreihe.“ Krachts ausgeprägtes Gattungsbewusstsein, der zwi-

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schen Fakten und Fiktionen, zwischen Ernst und Ironie schwankende, werkpolitisch durchgestrichene Text, mit anderen Worten: das Spiel mit dem Leser, Kritiker und Interpreten, denen er „immer schon einen Schritt voraus“ ist, macht Krachts Frankfurter Auftritt zu einer Art „Meta-Poetikvorlesung“ (Kempke 2019, 229). Dass das wohl inszenierte, nicht nur „literarische Verwirrspiel“ (Adorjan 2021) nach der Poetikvorlesung in Frankfurt auch auf der literarischen Ebene weitergeht, zeigte sein darauffolgender Roman Eurotrash (2021), der als Fortsetzung von Faserland einen Autor namens Christian Kracht als Figur einführt, der 25 Jahre zuvor einen Roman namens Faserland geschrieben hat.

7 Textklone: Poeta docta transformata: Ulrike Draesner Jenseits der Selbstinszenierung als geistesgeschichtlich gebildete poeta docta, die „ihre eigene Schreibpraxis mit der von Horaz […], [dem] Urvater der poetae docti [vergleicht]“ (Hachmann 2014, 138), setzt Ulrike Draesner auch auf naturwissenschaftliches Wissen, wie dies in der Literaturgeschichte u. a. bereits in der Lehrdichtung, aber auch, in der wechselseitigen Befruchtung von Wissen und Literatur, in den Poetiken des 20. und 21. Jahrhundert etwa in Benns „hyperämischer Theorie der Dichtung“ oder in Daniel Falbs Anthropozän. Geologie der Dichtung zu studieren ist. In ihren Poetikvorlesungen Zauber im Zoo. Vier Reden von Herkunft und Literatur (Bamberg 2006) geht es Draesner indes weniger darum zu zeigen, auf welche Wissensspeicher ihre Werke intertextuell verweisen, sondern wie „dies poetisch bewerkstelligt und poetologisch begründet wird“ (Braun 2014, 18). Sprachoriginell skizziert sie, „wie wir davon sprechen, wer man wird, indem man erfindet, wer man war“ (Draesner 2007, 8). Dieses „poetische[…] Transformationsprogramm“ mittels „Mehrfachkodierung“ (Braun 2014, 38) lässt sich sowohl in ihren literarischen Werken (Braun 2014) wie auch in ihren Poetikvorlesungen studieren: Gleich zu Beginn wird das den Titel der ersten Vorlesung bildenden „Zeugen“ mehrfach kodiert: Es geht um die von ihr aufgerufenen Zeugen der (Literatur‐)Geschichte („Immer kommen wir irgendwoher“, Draesner 2007, 6, in ihrem Fall von der „Odyssee“), aber auch das Zeugen eines neuen Lebewesens, eines Klons: „Plötzlich waren wir Natefakte, also Geborene, weil auch der Begriff ,Artefakt‘ menschenanwendbar wurde“ (Draesner 2007, 10). Gezeugt werden nicht nur Lebewesen und Klone, sondern auch Texte oder auch Textklone, in denen Zeugnis abgelegt wird: „Aus Zellpüree ein Eigenmix: der Klon. Zellen zu Figuren, Buchstaben, Wörtern und Sätzen geformt – Zauber im Zoo, in der Tat“ (Draesner 2007, 10). Wie dieser Zauber funktioniert, zeigt sie anhand ihrer „klonenden Ra-

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dikalübersetzungen“ von Shakespearesonetten und bezieht sich dabei auf Fachbegriffe unterschiedlicher Disziplinen (Philosophie, Hebammenkunde, Vererbungslehre): „dort fand ich, wie man kopiert, und schaute doch, überrascht, nicht allein Chemie, nicht nur Wörter, sondern Träume an“ (Draesner 2007, 11). Auch wenn die Darstellung von Draesners Bildungsgang (verschiedene Studiengänge, Hochbegabtenförderung, Promotion, wissenschaftliche Assistentin) Teil ihrer paratextuellen Selbstinszenierung ist (Hachmann 2014, 138), und sie auch im Rahmen von Zauber im Zoo auf ihren besonderen Werdegang zu sprechen kommt (Draesner 2007, 77– 78), sie sich also durchaus als poeta docta positioniert, so ist ihre poetologische Rede doch sehr viel weniger dozierend als vielmehr erzählend, poetisierend und transformierend. Exemplarisch sei dafür auf den Schluss der vierten Vorlesung mit dem Titel „Zielen“ verwiesen, wo Draesner von einem Jahrzehnte zurückliegenden Zoobesuch berichtet, bei dem ihr ein zur „Muse“ verklärtes Lama offenbar sehr gezielt ins Gesicht gespuckt hat: „Sprache, Nichtsprache. Über der Kruppe des Lamas, das schaute, als wunderte es sich über sein Spucken und den Blick aus meinen Augen, der es traf und noch immer trifft, hier – über der Kruppe des Lamas stand ein Mückenschwarm. Bis heute tanzt er, pulst auf, pulst ab. Und leuchtet aus sich, unverständlich überwältigend in seinem Licht“ (Draesner 2007, 107). Sie inszeniert hier den feuchten Musenkuss des Lamas als Erweckungserlebnis einer Dichterin, die mit den begrenzten, aber pulsierenden Mitteln der Sprache bzw. Nichtsprache versucht, ,Kuss‘ und Blick des Lamas wie auch den Tanz der Mücken „unverständlich überwältigend“ zum Leuchten zu bringen. Der Weg über die Natur und ihre Wissenschaften macht Ulrike Draesner, jenseits der paratextuellen Inszenierung, zu einer poeta docta der besonderen Art, einer poeta docta transformata, da sie nur bedingt bzw. über Ecken den literatur- und geistesgeschichtlichen Kanon aufruft, sich stattdessen mit Beobachtung, Kenntnis und Bildern aus der Natur(wissenschaft) wappnet, um diese in ihre dichterisch-poetologische Sprache zu transformieren.

8 Selbstkrönung: Felicitas Hoppe „Literatur soll, so die Tradition, docere et delectare“ (Draesner 2007, 58), heißt es am Rande bei Draesner, was dem dozierenden Poeten eine heitere, oder besser gesagt: erheiternde Dimension hinzufügt, die durchaus auch Draesners Texten eigen ist: die des Vergnügens, die von „pleasure“, wie es auch Frank Kermode in seinen Tanner Lectures (Berkeley 2001/2002) in die Kanondiskussion mit einbringt (Kermode 2004). Eine Form, den Zuhörer zu erfreuen, ist bekanntermaßen das Komische. In der Geschichte und auch in der Gegenwart der deutschsprachigen Literatur aber hat es die Komik nicht einfach, schnell wird das Eine der Unter-

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haltungsliteratur, das Andere der ernsthaften, der Hochliteratur zugewiesen. Preis- oder gar kanonwürdig und damit geeignet für die Übernahme einer Poetikvorlesung ist eher der ernste, der seriöse Autor, nicht der Komiker. So gesehen ist es nicht überraschend, dass der Anteil an komischen Poetikdozenten oder denjenigen, die sich der Komik widmen, ausgesprochen gering ist. Einer der wenigen, neben Robert Gernhardt oder Ernst Jandl, ist Wilhelm Genazino, der in seiner Paderborner Universitätsrede (1998) Über das Komische über den „außen geleitete[n] Humor“ sprach (Genazino 1998), in seiner letzten Poetikvorlesung an der Heidelberger Universität (Heidelberg 2014) dann aber auch wieder ganz frei von Komik nicht zuletzt über Formfragen bei Joyce, Proust, Woolf, Böll, Simmel und Adorno sinnierte (Genazino 2020). Leichtfüßiger, da selbstironisch und sprachgewitzt, übernahm dagegen die ebenfalls Büchner-Preis-Trägerin Felicitas Hoppe die Heidelberger Dozentur, die schon mit dem Titel Kröne dich selbst – sonst krönt sich keiner! (Heidelberg 2016) äußerst amüsant vorführt, wie das reale Subjekt, Felicitas Hoppe, verschwindet und das öffentliche, die Autor-Person, sich selbstdarstellerisch in Erscheinung bringt (Schöll 2011, 292). Dieser ironisch ummantelte Akt der Selbstkanonisierung geht einher mit einer listigen Indienstnahme ihrer „Helfershelfer, die, in die Kostüme von Wissenschaft und Kritik genäht, endlich sagen dürfen, was Hoppe niemals über sich sagen könnte“ (Hoppe 2018, 20). Indem sie „Kritikerpassagen“ vorträgt, übersteigt sie die an ihr geübte, von ihr gekonnt auseinandergenommene Kritik und schließt scheinbar naiv, sie (das reale Subjekt oder die Autor-Person?) sei mit ihrem autobiographischen Roman Hoppe „unfreiwillig historischer geworden als in all ihren anderen Werken zuvor“ (Hoppe 2018, 24). Dass Felicitas Hoppe auch das Kostüm der poeta docta zu schneidern und zu tragen und damit die Bühne zu betreten in der Lage ist, zeigt sie in der dritten Vorlesung Und jetzt darf endlich der Held auf die Bühne: Über Werkstatt- und Frauenarbeit. Gelehrt berichtet sie von ihrer Nacherzählung und Neudeutung der Geschichte der Nibelungen und verweist dabei auf die unterschätzte Rolle der großen Frauenfiguren der Geschichte, die „[i]n Wahrheit […] den Mittelpunkt der Erzählung [bilden]“ (Hoppe 2018, 51). Als Poetikdozentin, so könnte man folgern, aber darf auch sie „endlich […] auf die Bühne“, nicht nur, um von „Werkstatt- und Frauenarbeit“ zu berichten, sondern vor allem auch, um sich performativ dabei selbst zu krönen. Es handelt sich um nichts weniger als um einen mit offenem Visier geführten Akt der Selbstkanonisierung und -historisierung, unter der Tarnkappe von Gewitztheit und Komik, die den Verdacht von Überheblichkeit und Selbstüberschätzung zerstreuen.

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9 Canon Fodder oder Canon building: Toni Morrison und Maxim Biller Wortspielerisch beginnen auch die Tanner Lectures on Human Values von Toni Morrison aus dem Jahr 1988, denen sie, vor dem Hintergrund der rezenten „canon debate“ den Titel „Canon Fodder“ hatte geben wollen. Es geht ihr um Kanonfutter, verbunden mit der Frage, wer hier als Futter eben nicht für Kanonen, sondern für den Kanon fungiert. Aber dann entschied sie sich, wie sie betont, für den seriösen Titel Unspeakable things unspoken: The Afro American Presence in American Literature (Ann Arbor 1988) und konstatiert nüchtern, dass Literatur und Literaturkritik jedenfalls nicht mehr „the protected preserve of the thoughts and works and analytical strategies of white men“ (Morrison 1988, 124) seien. Diese Rahmung – wer fungiert (abwertend gemeint) im übertragenen Sinne als Kanonenfutter, und wer nährt, positiv zu verstehen, den Kanon – rückt ihr Anliegen im Hinblick auf den afroamerikanischen Anteil am Kanon in ein mehrdeutiges Licht. Es geht hier nicht nur um die ästhetisch begründbare Kanonisierung bestimmter Literaturen, sondern um Macht und Machtverschiebung zu Gunsten von Minderheiten (Frauen, Schwarze). Denn: „Canon building is empire building. Canon defense is national defense“ (Morrison 1988, 132). Dass Toni Morrison als Dichterin mit afroamerikanischen Wurzeln pro domo spricht, tut dem Anliegen ihrer Lectures keinen Abbruch, im Gegenteil, es geht um Authentizität, die man ihr, nicht zuletzt auch als Pulitzerpreisträgerin (und späterer Nobelpreisträgerin) zugesteht. Die Inszenierung als poeta docta dank ihrer gelehrt-differenzierten Herangehensweise an die Kanondebatte um die Anerkennung afroamerikanischer Literatur zeigt, dass es bei politisch-existenziell motivierten Poetikvorlesungen weniger um die Historisierung des eigenen Werks oder der eigenen Person, sondern um eine adäquate Anerkennung einer ganzen Kultur geht, die nicht nach gängigen Labeln funktioniert und die afroamerikanische Literatur etwa nicht nur als „imitative, excessive, […] unintellectual, though very often ,moving‘, ,passionate‘“ (Morrison 1988, 124) einstuft. Um die existenziell-politische Stigmatisierung und Ausgrenzung in seinem Fall deutsch-jüdischer Literatur geht es auch in Maxim Billers Heidelberger Poetikvorlesungen Literatur und Politik (Heidelberg 2018). Nachdem ihm in seinem „Selbstporträt“ Der gebrauchte Jude (2009) Thomas Mann „als literarisches Vorbild untauglich“ geworden war und er sich Franz Kafka bzw. einer „Galerie ausnahmslos jüdischer nordamerikanischer Autoren“ (Penke 2020, 128) zugewandt hat, berichtet er in seinen Vorlesungen zunächst von seiner Freundschaft zu jüdischen Kollegen, die allerdings nur mit Vornamen genannt werden – etwa „Babara“ (Honigmann), „Robert“ (Schindel) – sowie von seinem unerfüllt ge-

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bliebenen Wunsch nach einer deutschsprachigen Literatengruppe. Aber er findet nicht nur bei den deutschen Kollegen wenig Anschluss, sondern er beklagt vor allem, dass „deutsche Germanisten“ amerikanisch-jüdische Literatur etwa von Philip Roth als „Provokationskultur des 20. Jahrhunderts“ (Biller 2019, 63) hoch schätzten, sein deutsch-jüdisches Schreiben dagegen als „lächerlich, frech, obszön und überflüssig“ abtäten (Biller 2019, 71). Dadurch verrieten seine Kritiker indes mehr über sich selbst, als über die von ihnen analysierte Literatur, da sie nach wie vor „am literaturwissenschaftlichen Gängelband ihrer verlogenen Erzieher“ (Biller 2019, 72), also entsprechend geprägter Elternhäuser und Lehrer hingen. Indem er ihnen unterstellt, sie würden sich „direkt aus der ideologischen Asservatenkammer von Treitschke, Houston Stewart Chamberlain und solchen längst vergessenen NS-Germanisten wie Jost Trier oder Josef Nadler“ (Biller 2019, 63) bedienen, tritt er nicht nur in politisch-existenzieller, sondern auch in historisch-kritischer Hinsicht als poeta doctus criticus auf, der als deutsch-jüdischer Autor und Kritiker in eigener Sache die geltenden Wertungs- und Kanonisierungsmechanismen sowie entsprechende Strategien polemisch hinterfragt. Billers Versuch, sich auf der literarischen Deutschlandkarte zu etablieren und damit – hier zeigt sich nolens volens die Kontaminiertheit der deutschen Sprache – „vor Auslöschung zumindest vorübergehend geschützt zu sein“ (Hachmann 2014, 149), bleibt ambivalent. Während die jüdisch-amerikanischen Vorbilder (Bernard Malamud, Saul Bellow, Norman Mailer, Philip Roth etc.) seiner Selbstfindung dienten und dienen („von ihnen allen lernte ich, ich selbst zu sein“, Biller 2009, 22), so heißt es in Literatur und Politik, dass er es früher „gut und richtig“, auch inspirierend fand, „ein jüdischer Schriftsteller in Deutschland“ zu sein. Dem sei aber nun am Ende der letzten Vorlesung nicht mehr so, auch wenn er „hoffe, es wird sich wieder ändern“ (Biller 2018, 74).

10 Kanon und Geschlecht Im Rahmen von Poetikvorlesungen sind Bezugnahmen auf den Kanon nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Dies scheint damit zusammenzuhängen, dass der poeta doctus nicht nur auf dem Buchmarkt, sondern auch als Poetikdozent im Universitätsbetrieb der am häufigsten vorkommende Typus Schriftsteller ist. Dieser kennt nicht nur die Tradition, in deren Linie er sich häufig selbstinszenatorisch stellt, sondern er weiß werkpolitisch gesehen auch um die Kanonisierungsmechanismen, die er sich im Zuge der Etablierung im literarischen Feld, der Selbstkanonisierung und -historisierung zu Nutze macht. Deutlich markierte Strategien der Selbstkanonisierung sind tendenziell eher bei Poetikdozenten zu beobachten, als bei Poetikdozentinnen. Letztere scheinen sich eher ironisch,

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poetisch-erzählerisch oder aber klärend mit Kanonisierungsfragen auseinanderzusetzen, als dass sie unverhohlen mit Nachlassbewusstsein und Selbsthistorisierung ins literarische Feld ziehen, was bei ihren männlichen Kollegen nach wie vor stärker ausgeprägt zu sein scheint.

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2.1.4 Ereignisorientierte Poetikvorlesungen – „Werkstattberichte“. Der Schreibprozess zwischen Idealisierung und Scheitern 1 Schreiben als Ereignis Die Gattung Poetikvorlesung spielt grundsätzlich mit der Erwartung des Publikums, einen Einblick in die Werkstatt von Autorinnen und Autoren zu erhalten und ihnen bei der Entstehung eines Textes gleichsam zusehen zu können. Da nicht alle Poetikvorlesungen diese Erwartung auch erfüllen, soll im Folgenden der Werkstattbericht als ein Typus von Poetikvorlesungen vorgestellt werden. Dieser Typus beleuchtet Schreiben als Ereignis, d. h. als individuelle, prozesshafte und nicht unbedingt an einem Ergebnis ausgerichtete Erfahrung. Die ereignisorientierte Betrachtung von Literatur findet sich bereits in Ansätzen bei Roland Barthes, etwa im Aufsatz Écrire : verbe intransitif? (1994 [1970]) und in der Vorlesung Die Vorbereitung des Romans (2008; dazu Genz und Gévaudan 2017, 78‒88). Sie stimmt mit Wilhelm von Humboldts (1998 [1836]) sprachtheoretischer Unterscheidung zwischen enérgeia und érgon überein, die schon bei Aristoteles vorkommt, bei der es im weitesten Sinne um Semiose (bzw. Kommunikation) als Tätigkeit (der Zeichenproduktion) und als Werk (zeichenhaftes Produkt) geht. Der ereignisorientierte Ansatz greift auf die Weiterentwicklung der Begriffe enérgeia und érgon in den linguistischen Grundlagenwerken von Karl Bühler (1965 [1934]) und Eugenio Coseriu (1952, 1955/56) zurück und überträgt die Unterscheidung auf alle zeichenhaften Prozesse (Genz und Gévaudan 2016, 21). Literaturwissenschaftlich gesehen bezieht sich enérgeia (Tätigkeit) auf das Verfassen und Lesen von Literatur und érgon (Werk) auf den fertigen Text. Damit lassen sich jeweils verschiedene Konzeptionen der Autorschaft verknüpfen. Ereignisorientierte Poetikvorlesungen haben weniger das érgon, das fertige Werk im Blick, als vielmehr die enérgeia, den Prozess des Schreibens und Lesens. Ahnherr dieser Fokussierung auf die enérgeia wiederum ist Heinrich von Kleist, der (ohne die aristotelische Terminologie zu gebrauchen) in einem vermutlich 1805‒1806 entstandenen Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden sprach. Kleist schlug vor, bei Problemen, die durch eigenes Nachdenken nicht gelöst werden könnten, durch die Schilderung dieser Sachverhalte gegenüber einer anderen Person auf spontane Lösungen während des Sprechens https://doi.org/10.1515/9783110647884-011

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zu stoßen. Auf diesen Titel spielen einige Poetikvorlesungen an, besonders offensichtlich die im Wintersemester 1985/86 in Frankfurt a. M. gehaltene Vorlesung Vom allmählichen Verfertigen der Idee beim Schreiben von Hermann Burger, die unter dem Titel Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben 1986 publiziert wurde. Etwas versteckter klingt der Titel bei Christa Wolfs erstem Vortrag aus den 1982 in Frankfurt a. M. gehaltenen Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra (2004 [1983]) an, der mit „Ein Reisebericht über das zufällige Auftauchen und die allmähliche Verfertigung einer Gestalt“ überschrieben ist. Sehr frei abgewandelt in der Betonung der Prozesshaftigkeit taucht er im Titel der von Monika Maron im Wintersemester 2004/2005 in Frankfurt a. M. gehaltenen Poetikvorlesung auf: Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche (2005) oder in Jonathan Franzens erstem Vortrag seiner 2009 in Tübingen gehaltenen Poetikvorlesung „Description of a struggle. How I (mostly) fail to write“ (Franzen und Haslett 2010), dessen Haupttitel wiederum auf Franz Kafkas Erzählung Beschreibung eines Kampfes anspielt. Kreist die Thematisierung der enérgeia in diesen Beispielen um die Überwindung von Widerständen beim Schreiben, so schwingt bei Maron und Franzen ein daraus abgeleiteter Aspekt der Ereignisorientierung mit, der auch für Hermann Burger, Angela Krauß oder Christa Wolf mehr (Burger) oder weniger (Krauß, Wolf) eine Rolle spielt: die Thematisierung des Scheiterns.

2 Scheitern In einer auf Erfolg ausgerichteten Gesellschaft ist Scheitern zunächst eine individuelle Erfahrung, die man gemeinhin nicht mit anderen teilt und die sich erst in jüngster Zeit gesteigerter öffentlicher Aufmerksamkeit erfreut (etwa in sogenannten Fuckup-Nights, also Veranstaltungen, in denen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen öffentlich über ihr berufliches Scheitern sprechen). Lange Zeit war dagegen „fremdes Scheitern“ fast ausschließlich über die künstlerische Reflexion einem größeren Publikum zugänglich, und dies zumeist posthum mit der Veröffentlichung von Tagebüchern und Briefen der Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Mit der Thematisierung von Versagensängsten, Misserfolgen, Scheitern und anderen unangenehmen existenziellen Problemen in Poetikvorlesungen ist es schon Jahrzehnte vor der Etablierung von gesellschaftlichen Events, die das Scheitern zelebrieren, möglich, mit einem größeren Publikum in einer Face-toFace-Kommunikation eine sehr persönliche Erfahrung zu teilen, um den Stellenwert des Scheiterns für das eigene Werk sowie Bewältigungsstrategien zu kommunizieren. Ein jüngeres Beispiel ist Christian Krachts (bislang) unveröffentlichte und nicht aufgezeichnete Frankfurter Poetikvorlesung Emigration aus

2.1.4 Ereignisorientierte Poetikvorlesungen – „Werkstattberichte“

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dem Sommersemester 2018, die insofern eine Erfahrung des Scheiterns thematisiert, als Kracht von seiner Missbrauchserfahrung als Schüler in einem Internat in Kanada berichtete, von deren Wahrheit er seine Eltern als Jugendlicher nicht überzeugen konnte, woraufhin er die Erfahrung verdrängte. Sowohl das große Medienecho auf diese Veranstaltung als auch die dadurch ermöglichte neue Sicht des Autors auf seine eigenen Werke sind wiederum Belege dafür, wie man auch mit der Inszenierung des Scheiterns Erfolg erzielen kann (siehe auch Kap 2.1.3). Dabei ist die Form des Scheiterns nicht nur individuell-psychologisch, sondern auch historisch und kulturell bedingt. So etwa ist die Erfahrung eines Scheiterns, das Künstler sich selbst zurechnen, erst in der Renaissance möglich, wie Eberhard Ostermann (1991, 20‒21) in seiner Monographie über das Fragment ausführt. Und die sprichwörtliche „Angst vor dem weißen Blatt“ kann erst in Kulturen empfunden werden, in denen Schrift nicht mehr als Verschriftlichung einer mündlichen Äußerung gilt, also zum Beispiel in Kulturen, in denen Dichtung nicht mehr als „Sprachrohr einer ursprünglichen Sprechinstanz“ fungiert, sondern gleich „zu Papier“ gebracht wird (Bernhard Teuber, zit. nach Ruf 2016, 122). (Künstlerische) Schreibkrisen sagen also viel über kulturelle Vorstellungen von Literatur, Schreiben, Kreativität sowie über historisch und kulturell bedingte kreativitätshemmende Mythen und Überzeugungen aus. In literarischer Hinsicht ist Scheitern eine Kategorie, die sich einerseits im Hinblick auf das Werk aufdrängt (ein fertiges Stück erweist sich in der Rezeption als gescheitert, fällt beim Publikum und/oder den Kritikern durch etc.). Aber auch der Schreibprozess selbst kann durch den Erfolgsdruck beeinträchtigt werden und ins Stocken geraten ‒ es sei denn, man betrachtet Schreiben wie Roland Barthes als intransitives Verb und schreibt um des Schreibens willen (Barthes 1994 [1970]). Jeder, der sich künstlerisch betätigt, bewegt sich in den Parametern von Scheitern und Erfolg. Gerade in Bezug auf Literatur und Kunst ist es sinnvoll, zwischen einem unkreativen und einem kreativen Prozess des Scheiterns zu unterscheiden. Letzteres wäre eine Erfahrung, in der das Scheitern in eine andere Erlebnisqualität transformiert und Voraussetzung für neue Ereignisse wird, wie dies bei den hier besprochenen Poetikvorlesungen der Fall ist. Scheitern wird in den Poetikvorlesungen dabei auf mehreren Ebenen thematisiert. Zunächst einmal positionieren sich diese Poetikvorlesungen implizit gegen ältere Regel- und Anweisungspoetiken, die am Gelingen orientiert sind und Wortmaterial und oder Techniken aufzeigen, mit denen (bei Vorhandensein einer gewissen natürlichen Begabung) die Verfertigung eines literarischen Textes wahrscheinlich wird (Jung 2007, 58 – 72; Stüssel 1993, 1‒5). Die hier untersuchten individuellen Poetikvorlesungen gehen dagegen von der Erfahrung des potenziellen Scheiterns aus und berichten vom Scheitern auf vielen Ebenen: So werden Roman- oder andere

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Schreibprojekte thematisiert, die in einem bestimmten Stadium ins Stocken gerieten. Das Scheitern bezieht sich dabei auf die enérgeia, nicht auf das érgon (etwa einem misslungenen, bei Kritik und Lesern durchgefallenen Werk, das nicht Gegenstand einer Poetikvorlesung sein kann). Daneben wird Scheitern als Motiv in bestimmten Werken thematisiert, z. B. als Scheitern bestimmter Figuren wie Diabelli, Schildknecht oder Schöllkopf bei Hermann Burger. In den Scheiter-Erfahrungen der Figuren spiegeln sich, wie Burger offen zugibt, auch biographische Krisenerfahrungen: „Damit hatte ich meine Rolle und meine Methode gefunden. Der Lehrer wurde zu einem Wissenschaftler in Sachen eigener Verzweiflung. Damit, Sie sehen es, war der Germanist untergebracht. […] Er dozierte den eigenen Untergang“ (Burger 1986, 29‒30). Biographisch motiviert ist auch Angela Krauß’ Aufarbeitung fremden Scheiterns – als Reaktion auf den Selbstmord ihres Vaters und das Scheitern des Sozialismus (Krauß 2004, 46). Auch der Auftrag, eine Poetikdozentur zu übernehmen, kann zur Krisenerfahrung werden, wie Monika Maron gleich zu Beginn ihrer ersten Poetikvorlesung klarstellt, die bezeichnenderweise mit „Vom Scheitern I-III“ betitelt ist: „Worüber zu sprechen ich mich hier aufgefordert fühle, ist etwas sehr Intimes, über das ich öffentlich eigentlich gar nicht sprechen möchte“ (Maron 2005, 5). Gerade das Sprechen über Bücher, Schreiben und ihr Verhältnis zu beidem empfindet sie als „exhibitionistisch“ (Maron 2005, 5). Maron entkommt diesem Dilemma, indem sie über eigene Schreibkrisen, das Stocken im Schreibfluss eines bestimmten Werks (Endmoränen) reflektiert und analysiert. Mit einer Fehleranalyse im Aufbau dieses Werks vermeidet sie weitgehend Biographisches, gewinnt Material für ihre Poetikvorlesung und bewältigt letztlich auch ihre Schreibblockade bezüglich des Romans. Damit sind die Poetikvorlesungen, die das Scheitern thematisieren, letztlich am Gelingen orientiert (John und Langhof 2014a, 325). Erfolg und Scheitern verweisen dabei jeweils aufeinander: „Erfolg wird aber nur dann honoriert, wenn auch die Möglichkeit des Scheiterns gegeben ist. Scheitern ist allerdings die andere, abgeschattete Seite jener Münze, mit der man ‒ auf Erfolg hoffend ‒ sein Glück bestimmt […]“ (John und Langhof 2014b, 2).

3 érgon-Fixierung versus enérgeia-Fixierung Mit der Konzentration auf die enérgeia geht in den Poetikvorlesungen oftmals eine Abgrenzung von Vertretern einer érgon-Fixierung einher. Deutlich wird dies beispielsweise in Hermann Burgers Kritik am Germanistikstudium: „Der Germanist, wie er damals in Zürich ausgebildet wurde […], lernte im Umgang mit Meisterwerken das Staunen, die Ehrfurcht vor der Evidenz. […] Der Germanist ging immer von gesetzten, unverrückbaren Worten aus, der Schriftsteller hingegen vom leeren

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Blatt“ (Burger 1986, 14‒15). Diese (germanistische) Fixierung auf das érgon, das gelungene Werk, das nur noch bestaunt werden kann, macht Burger für das Scheitern angehender Schriftsteller verantwortlich (Burger 1986, 15) – ähnlich wie Lutz von Werder, der die Orientierung des Schulunterrichts an der Hochliteratur dafür kritisiert, dass „jeder Schulabsolvent ein literarisches Minderwertigkeitsgefühl und ein rigides, d. h. strenges literarisches Über-Ich“ erwirbt, das ihn „bei der Planung und Durchführung von Schreibplänen auf Fehlplanungen“ programmiert (Werder 2001, 47). Auch für Christa Wolf ist das érgon (das Werk) eher negativ mit Mortifikation konnotiert. Hierunter zählt sie offenbar auch die Textgattung Poetikvorlesung, die zwangsläufig der enérgeia, der lebendigen Erfahrung, entgegengesetzt ist: „Wenn ich ein poetologisches Problem jetzt schon formulieren darf, so ist es dies: Es gibt keine Poetik, und es kann keine geben, die verhindert, daß die lebendige Erfahrung ungezählter Subjekte in Kunst-Objekten ertötet und begraben wird“ (Wolf 2004 [1983], 10). Angela Krauß assoziiert mit dem Schreiben als Handlung (enérgeia) ähnlich wie Wolf „Lebendigkeit“ und fasst Schreiben als „Erkenntnisweg“ auf: „Etwas aufzuschreiben, was ich kenne, um es anderen mitzuteilen, ist mir bis heute fremd […]. Schreiben ist mir Suche, Entdeckung, Erkenntnis“ (Krauß 2004, 25).

4 Verschiedene Rollen des Schriftstellers Lockert man dagegen die Bindung zwischen Autor und fertigem Werk, werden auch andere Sichtweisen auf den Schriftsteller denkbar. In seiner Vorlesung Die Vorbereitung des Romans (1978‒1979) unterscheidet Roland Barthes vier Rollen des Schriftstellers, die er mit Persona, Scriptor, Auctor und Scribens benennt. Persona ist demnach die bürgerliche, zivile, alltägliche Privatperson, die „lebt“, ohne zu schreiben, Scriptor der Schriftsteller als soziale Imago, derjenige, von dem man spricht oder den man kommentiert, Auctor ist das Ich als Urheber des Werkes, der seine Verantwortlichkeit übernimmt sowie das Ich, das sich gesellschaftlich oder mystisch als Schriftsteller denkt, Scribens ist dagegen das Ich in seiner Schreibpraxis, das dabei ist zu schreiben, das das Schreiben Tag für Tag lebt (Barthes 2008, 325). In dieser Unterteilung sind nur Scriptor und Auctor sehr eng mit dem érgon verbunden, der Scribens ist enérgeia-fixiert. Die Persona berührt dagegen ein philosophisches Problem, das Aristoteles (IX.1, 1046b–1047a) im Streit mit den Megarikern, ob ein Baumeister auch Baumeister sei, wenn er nicht baut, erörtert hatte. In diesem Sinne verkörpert die Persona die Potenzialität des Schriftstellers, der auch Schriftsteller sein kann, ohne jeweils die Aktualitätsbedingung des Schreibens erfüllen zu müssen.

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Diese Auffächerung in verschiedene Rollen kann auch als psychologische Strategie gegen das Scheitern im Sinne einer Erhöhung der Selbstkomplexität verstanden werden (Rüdiger und Schütz 2014, 270‒271): So scheitert man nicht an der Gesamtvorstellung, kein „Schriftsteller“ sein zu können, sondern nur auf Teilgebieten, etwa in der Rolle des Schriftstellers als soziale Imago, indem das eigene Werk beispielsweise nicht die entsprechende Anerkennung erhält. Dagegen kann man in der Rolle des Scribens oder der Persona sehr wohl erfolgreich sein und über diese Verkörperungen ins Schreiben kommen. Hermann Burger zeichnet in seiner Poetikvorlesung nach, wie die Persona über die enérgeia nebenbei zum érgon gelangt: „Zuerst möchte ich Ihnen von den Schwierigkeiten erzählen, etwas werden zu wollen, was man im Augenblick, da man diesen Wunsch verspürt, im Grunde immer schon ist: Schriftsteller“ (Burger 1986, 11). Dies ist, wie sich unschwer erkennen lässt, die Denkfigur des Schriftstellers ohne Werk bzw. eines Werks aus Zeichen in posse, aus Zeichen mit einem potenziellen Charakter, die im Gegensatz zu Zeichen in actu (noch) nicht realisiert sind (Genz und Gévaudan 2016, 33‒34). Um von einem Werk in posse zu einem in actu zu gelangen, sieht sich Burger auf sich selbst verwiesen. Er lernt wie Peter Bichsel, auf den er sich beruft, zunächst als Leser von Literatur, als Beobachter fremder Techniken. Seine Art des Lesens grenzt er von dem Lesen ab, das mit einer érgonFixierung einhergeht. Damit bricht er mit dem „heilige[n] Tabu der Germanisten“, das in einem „Kärrner“-Dienst am Text (Burger 1986, 19) bestehe. In einer Verkehrung des Leseakts, indem man dem Gelesenen seine Welt entgegenhalte, bleibe man dagegen unbeschadet Leser, ansonsten bestehe die Gefahr, die Fähigkeit des Selbstdenkens zu verlernen (Burger 1986, 20). Für Christa Wolf ist der Akt des Lesens zwar auch ein Akt der Verlebendigung, nicht der verehrenden Mortifizierung, allerdings gerät ihre Lektüre der Orestie nicht zum Behaupten der eigenen Welt, sondern zu einem bedingungslosen Verschmelzungsakt: „Kassandra. Ich sah sie gleich. Sie, die Gefangene, nahm mich gefangen […]. Ihr glaubte ich jedes Wort, das gab es noch, bedingungsloses Vertrauen. Dreitausend Jahre – weggeschmolzen“ (Wolf 2004 [1983], 13‒14). Das bedingungslose Vertrauen gilt jedoch nur der mythologischen Figur Kassandra, nicht dem Text des Aischylos, den sie korrigiert. Ihre Lektüre lässt sie eine Reihe kritischer Fragen zur Überlieferung stellen. Ähnlich wie Burger behandelt sie die Texte, die sie inspirieren sollen, nicht als unverrückbares érgon, sondern macht sie zum Teil ihres Schreibprozesses, ihrer enérgeia. Angela Krauß lockert die Beziehung zwischen Autoren und Werken dagegen nicht wie Roland Barthes in Hinblick auf verschiedene Autorrollen, sondern auf die Werke. In Umkehrung des Gedankens vom Schriftsteller ohne Werk gibt es für sie Werke ohne Autoren: „Gedichte sind Szenen des täglichen Lebens, sie existieren auch ungeschrieben jederzeit und überall um uns herum…“ (Krauß 2004,

2.1.4 Ereignisorientierte Poetikvorlesungen – „Werkstattberichte“

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41). Auch sie betont, ähnlich wie Burger und Wolf, den je individuellen Leseakt, mit dem ein Buch zum Leben erweckt wird („dieses eine [Buch] aber, das wir gerade lesen, existiert nicht noch ein zweites Mal. […] Erst indem wir es lesen […] erst da wird dieses Buch einmalig und ein Teil von uns selbst […]“ Krauß 2004, 9‒ 10). Thomas Meineckes Ich als Text (2012) verabsolutiert die Leserrolle sogar bis an die Grenze der Funktion einer Poetikvorlesung: Er inszeniert sich und sein Werk ausschließlich über Zitate aus Rezensionen, Interviews, Vorträgen und Antrittsvorlesungen von „Berufslesern“, d. h. Literaturwissenschaftlern und Kritikern, sowie Ausschnitten aus eigenen Romanen. Obwohl es ausschließlich um Meineckes Werk geht, tritt dieses hinter die enérgeia der Lektüre, des Sammelns und Zusammenstellens fremder Sekundärwerke, zurück. Die Rolle des Autors geht in der des Kompilators von Musik und Text auf und dokumentiert darüber hinaus das Scheitern von Kritikern und Wissenschaftlern, seine Texte adäquat zu beschreiben und zu verstehen. Die Aufwertung der Leserrolle bei Burger, Wolf, Krauß und Meinecke (wobei Letzterer diese Aufwertung im gleichen Zug wieder einschränkt) entspricht dabei auch der Ereignisorientierung, die von einem Primat der Rezeption ausgeht (Genz und Gévaudan 2016, 25‒27). Nicht nur durch Lektüre, sondern auch durch Stilübungen wird der Schritt vom Schreiben in posse zum Schreiben in actu bewerkstelligt. Neben dem Studium durch Lesen absolviert Burger gleichsam „Trockenübungen“ mithilfe der Dokumentation Prosaschreiben des Literarischen Colloquiums Berlin von 1964 (Burger 1986, 17). Es handelt sich dabei um Stilübungen über ein beliebiges Thema. Am Ende dieser Übungen steht – ähnlich wie bei Raymond Queneaus Excercices de style (1947) – dann doch noch ein érgon in Form eines Bändchens mit zehn Prosastücken namens Bork. Wichtig ist jedoch nicht nur die Lektüre der Texte anderer Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Burger beschreibt sich als Schriftsteller auch immer als sein erster Leser: „Der Leser guckt mir schon beim Entwurf über die Schulter, und zwar ist es ein idealisierter Leser, an den ich mich halten kann. Er sagt mir: Da liegst du richtig, da begehst du einen Narrenweg“ (Burger 1986, 107). Die Schreibübungen des Scribens überbrücken dabei die Zeit bis zur Findung des eigenen Themas: „Ich gebärdete mich, in der Rückschau komisch anzusehen, wie einer, der für den springenden Funken bereit sein will, indem er täglich ‚sich ausdrücken‘ trainiert“ (Burger 1986, 17). Den ‚springenden Funken‘ erhält Burger unerwarteter Weise durch einen Besuch bei einem befreundeten Dorfschullehrer, dessen bizarre Unterrichtsbedingungen ihn zu seinem Roman Schilten inspirieren. Durch die Denkfigur des Scribens, dessen, der täglich schreibt, oder, wie Burger es mit Ernst Jandl ausdrückt, „schreibend ist“ (Burger 1986, 99), der sich entschließt, „der einen Haut eine zweite, textuelle überzuziehen“ (Burger 1986, 15), verknüpft sich die Schreibpraxis mit dem täglichen Leben. Schreibideen werden im Alltag gefunden, wie auch bestimmte Er-

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fahrungen im Leben nur deshalb gemacht werden, um die Romanhandlungen weiterzuentwickeln. Die Scribens-Rolle geht in der Persona auf und umgekehrt. Burger berichtet beispielsweise von Rechercheschwierigkeiten. Da der Magier, den er interviewt, zur Geheimhaltung seiner Kunst verpflichtet ist, tritt er kurzerhand pro forma in einen magischen Ring ein, um „Diabelli“ schreiben zu können. Auch weist er sich in den „Heilstollen“ in Böckstein bei Bad Gastein ein, um die mysteriöse Heilkur in Die künstliche Mutter schreibend zu beenden. In Wolfs Poetikvorlesung werden dagegen Lektüreeindrücke der Orestie und Fragen an den Text mit dem Geschehen auf dem Flughafen von Berlin-Schönefeld überblendet. Die enérgeia des Lesens wird nahtlos in das Alltagsgeschehen eingebettet (Wolf 2004 [1983], 16). Schreibkrisen, die das érgon betreffen, können durch die Konzentration auf die enérgeia und das Einnehmen einer Scribens-Haltung überwunden werden. Bezieht sich die Krise jedoch gerade auf die Rolle des Scribens und die Konzentration auf die enérgeia, so wird der Selbstentwurf mitunter stärker in Frage gestellt als bei Autoren, die auf das érgon ausgerichtet sind und die sich eher mit der Rolle des Auctors und Scriptors identifizieren: Burger spricht ironisch von seiner Bewunderung für seine Kollegen, „die ohne Gewissensbisse einem Schriftstellerverband angehören können. Sie sind sich ihrer schriftstellerischen Identität offenbar immer sicher“ (Burger 1986, 101). Für einen Schriftsteller, der sich in der Potenzialität betrachtet („Schreibend-Sein heißt auch, auf die Ausführung verzichten können“, Burger 1986, 106), ist eine durchgängige gefestigte Berufsidentität dagegen schwierig: „Obwohl ich es auch in diesen trockenen Zeiten bin, fällt es mir dann besonders schwer, mich als Schriftsteller zu bekennen“ (Burger 1986, 106). Poetikvorlesungen, die sich auf die Darstellung der Rolle des Scribens einlassen, zeigen, dass ein stark mit dem Schreiben verquickter Alltag oftmals auch eine Lösung für die ins Stocken geratenen Geschichten liefert. So besucht Burger etwa eine Magiervorführung, in der der Trick mit der zersägten Jungfrau gezeigt wird, an dem seine erste Geschichte „Die Illusion“ einst gescheitert ist. Durch einen Zwischenruf aus dem Publikum erhält er den entscheidenden Impuls für die Fortsetzung seiner Romanhandlung (Burger 1986, 68). Die Poetikvorlesungen dieses Typs sind daher häufig biographisch fokussiert: Christa Wolf erklärt den Schreibprozess zu Kassandra über eine Reise nach Griechenland, ihre Poetikvorlesung präsentiert sich über lange Strecken als Reisebericht, in den immer wieder Versatzstücke über die Kassandra-Mythologie eingelassen sind. Auch Marons Vorlesung ist (neben Langzitaten aus dem literarischen Werk) über größere Strecken eine Beschreibung von Reisen nach Mexiko und New York. Fokussiert die Poetikvorlesung dagegen nicht auf ein einzelnes Werk, sondern

2.1.4 Ereignisorientierte Poetikvorlesungen – „Werkstattberichte“

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entscheidet sich für eine Gesamtschau wie bei Hermann Burger, so wird der Text zur Biobibliographie, zur Lebens-, Lesens- und Schreibens-Erzählung. In der Lösung des Autors von seinem Werk und der stärkeren Bindung an die enérgeia sowie an die Haltung des Scribens wird allerdings auch Monika Marons Problem mit dem Format Poetikvorlesung verständlich: „Warum ist es mir eigentlich zu intim, von meinen poetischen Vorstellungen, vom Gelingen und Mißlingen des Schreibens zu erzählen? […] Wenn ich über das Schreiben spreche, muß ich über mich sprechen […]. Wenn ich einen Roman schreibe, spreche ich nicht über mich, auch nicht, wenn es so scheint“ (Maron 2004, 7). Der Schreibprozess ist so stark in den Lebensprozess verwoben, dass Maron, die nicht über sich sprechen möchte, den Ausweg findet, längere Passagen aus Endmoränen zu zitieren ‒ die Poetikvorlesung wird streckenweise zur Lesung. Die Verquickung von Leben und Schreiben erklärt z.T. auch das merkwürdige Phänomen, dass scheinbar Fiktives seine Entsprechung in der Realität erhält, etwa Burgers Erfindung des Auer-Aplanalpschen Heilstollens in Die künstliche Mutter, der plötzlich ganz ähnlich in Österreich existiert: „Hier in diesen vier Kurwochen fand ich sozusagen die Requisiten und Kulissen zu meinem Roman […], das war so konkret, daß es bis zur Kenntlichkeit verfremdet werden konnte […], und bereits nach der dritten Einfahrt hatte ich das zentrale Problem der ‚Künstlichen Mutter‘ gelöst“ (Burger 1986, 85‒86). Burger wirft die Frage auf, „[h]olt uns die Realität ein, weil die Fiktion so zwingend ist […], oder integrieren wir Schriftsteller zwangsläufig die Realität mit unserer Phantasie?“ (Burger 1986, 83), und beantwortet sie gleichsam selbst mit der Scribens-Existenz, dem „Schreiben als Existenzform“, was „heißt, die komplementären Erfindungen suchen zu diesem Leben, das als Rohfassung nicht genügt“ (Burger 1986, 105‒106). An anderer Stelle spricht er treffend davon, dass die Geschichten, die er erzähle, „Alternativenergien“ seines Lebens seien (Burger 1986, 100) und der Prozess des Lesens auch dazu diene, an solchen Alternativenergien teilzuhaben (Burger 1986, 100). In einer enérgeia-betonten Auffassung des Schreibens stellt sich allerdings das Problem, die Figuren nach Beendigung eines Projekts wieder loszuwerden, das sowohl Burger als auch Maron thematisieren. Maron erkennt gerade darin eine der Ursachen für das Versiegen des Schreibflusses von Endmoränen (Maron 2004, 12), während Burger verallgemeinernd von der Vermischung eines „seinsmäßige[n] mit einem poetologische[n] Problem“ spricht: „der Autor will seine Figur loswerden, mit der er vier Jahre lang zusammengelebt hat. Das ist gar nicht so leicht. Viele Schriftsteller können ihre Arbeit nicht beenden, weil sie dieses Problem nicht gelöst haben“ (Burger 1986, 40). Die Beseitigung der Figur stelle gerade die Voraussetzung dafür dar, „damit sie im Text ihr Eigenleben führt. Der Autor zieht seine Hand aus der Puppe zurück, und siehe, sie tanzt!“ (Burger 1986,

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40). Um érgon zu werden, muss die enérgeia zu einem Abschluss kommen, müssen sich enérgeia und gelebtes Leben wieder voneinander trennen.

5 Problem: Literatur als Therapie oder andere Art der Lebensbewältigung? Adolf Muschg, auf dessen im Wintersemester 1979/80 gehaltene und für den Druck stark überarbeitete Poetikvorlesung Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare (1981) die Überschrift anspielt, benennt mit dieser Lesart ein Generationenproblem der Spät-68er, „die angesichts unerfüllter Menschheitsbedürfnisse“ sich nun endlich den eigenen Bedürfnissen zuwenden sollten (Muschg 1981, 18). Damit konstatiert er auch einen Funktionswandel der Poetikvorlesungen, die kurz zuvor, nach einer Pause zwischen 1969 und 1978, wieder aufgenommen worden waren. Tatsächlich könnte in der bisher fokussierten engen Verquickung von Schreiben und Leben in der enérgeia leicht der Eindruck entstehen, die so entstandene Literatur sei nichts anderes als eine Art der Therapie oder eine andere Form der Lebensbewältigung, zumal Burger selbst in der Poetikvorlesung mitteilt, dass der biographische Hintergrund seiner gestörten Mutterbeziehung durch Diabelli sowie eine vierjährige Psychotherapie aufgedeckt wurde (Burger 1986, 73) und „Schreiben […] eine lebensrettende ‒ oder -verlängernde ‒ Langzeitmaßnahme als Reaktion auf eine höchste Notsituation“ sei (Burger 1986, 73). Jedoch betont er an anderer Stelle seiner Poetikvorlesung mehrfach, dass sein Schreiben nicht nur eine heteronome Funktion wie die Psychoanalyse erfülle und er sich von einer allzu „starken Psychologisierung im Erzählen“ abgrenze: „Ich stellte eine Therapie dar, ohne sie psychologisch zu begründen […]. Literatur heißt, daß man eine Erfindung stehen lassen können muß und darauf verzichtet, dem Leser Deutungen zu suggerieren“ (Burger 1986, 86‒87). Das érgon begünstigt zwar gewisse Formen der Rezeption (und schließt andere aus). Es erfüllt jedoch nur jeweils die Funktion, die ihm der Leser bzw. die Leserin in der enérgeia gibt (dies schließt auch Burger als ersten Leser seines Textes ein): „Literatur funktioniert zwar nicht als Therapie, aber eine Krankheitsund Therapiegeschichte wird literarisch umgesetzt, und der Leser weiß nie, habe ich es nun mit höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen oder mit Nonsens zu tun“ (Burger 1986, 87). Auch Muschg verneint die therapeutische Funktion von Literatur: „Ich nehme mir aus der Literatur anderer, was ich brauchen kann, ich freue mich, wenn Leser in meinen Büchern etwas für sich finden. Lebenshilfe? Wenn damit ein Rezept gemeint ist, hat es das Kunstwerk ohnehin nicht zu bieten“

2.1.4 Ereignisorientierte Poetikvorlesungen – „Werkstattberichte“

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(Muschg 1981, 19). Sowohl Muschg als auch Wolf sehen in Literatur und in der Lektüre „ein Stück Freiheit, Bewegungsfreiheit der Phantasie“ (Muschg 1981, 20) bzw. ein Eröffnen von Möglichkeiten (Wolf 2004 [1983], 124). Literatur ist in diesem Sinne keine Therapie, jedoch hilft Lesen (und Schreiben) in seiner Zeichenhaftigkeit in posse, Denkmöglichkeiten offenzuhalten, gerade dann, wenn es Psychologisches thematisiert und den Lesenden und Schreibenden ein Sich-andersEntwerfen ermöglicht.

Literaturverzeichnis Aristoteles. Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie. Übers. und hrsg. von Franz F. Schwarz. Stuttgart 2005. Barthes, Roland. „Écrire: verbe intransitif?“. Œuvres complètes. Bd. 2. 1966‒1973. Hrsg. von Éric Marty. Paris 1994 [1970]: 973‒980. Barthes, Roland. Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978‒1979 und 1979‒1980. Hrsg. von Éric Marty. Frankfurt a. M. 2008. Bühler, Karl. Sprachtheorie, Stuttgart [Jena] 1965 [1934]. Burger, Hermann. Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Frankfurter Poetikvorlesung. Frankfurt a. M. 1986. Coseriu, Eugenio. „Determinación y entorno. Dos problemas de una lingüística del hablar“. Romanistisches Jahrbuch 7 (1955/1956): 24‒54 http://www.romling.uni-tuebingen.de/ coseriu/publi/coseriu21.pdf (14. August 2020). Coseriu, Eugenio. „Sistema, norma y habla“. Revista de la Facultad de Humanidades y Ciencias 9 (1952): 113‒181. Franzen, Jonathan und Adam Haslett. Are we feeling better now? Fiktion und Autobiographie. Tübinger Poetik-Dozentur 2009. Hrsg. von Dorothee Kimmich und Philipp A. Ostrowicz. Künzelsau 2010. Genz, Julia und Paul Gévaudan. „Roland Barthes als Vorläufer einer ereignisorientierten Literaturwissenschaft“. Journal Phänomenologie 47 (2017): 78‒88. Genz, Julia und Paul Gévaudan. Medialität, Materialität, Kodierung. Grundzüge einer allgemeinen Theorie der Medien. Bielefeld 2016. Humboldt, Wilhelm von. Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Paderborn u. a. 1998 [1836]. John, René und Antonia Langhof (2014). „Einsichten ins Scheitern als Motor des Erfolgs“. Scheitern – ein Desiderat der Moderne? Hrsg. von René John und Antonia Langhof. Wiesbaden 2014: 323 – 338. [= 2014 a] John, René und Antonia Langhof. „Die heimliche Prominenz des Scheiterns“. Scheitern – ein Desiderat der Moderne? Hrsg. von René John und Antonia Langhof. Wiesbaden 2014: 1 – 7. [= 2014 b] Jung, Werner. Poetik. Eine Einführung. Paderborn 2007. Krauß, Angela. Die Gesamtliebe und die Einzelliebe. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 2004.

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2.1.5 Werkpolitik: Werkbegriffe, Werkpolitiken und Selbstkommentierungen Poetikvorlesungen sind, neben vielem anderen, für Autor*innen Mittel der Werkkonstitution und Elemente von Werkpolitiken (Kempke 2021). Unter Werkpolitik ist mit Steffen Martus eine spezifische kommunikative Praxis zwischen Autor*innen, Kritik und Literaturwissenschaft zu verstehen, die darauf abzielt, verschiedene Texte einer Autorfunktion zu einem ‚Werk‘ zu verbinden, sie zueinander in Beziehung zu setzen, als Teil eines Ganzen zu perspektivieren, dahingehende (Anschluss-)Lektüren wahrscheinlich zu machen und die Rezeption entsprechend zu formatieren (Martus 2007, 6). Unter diesen Begriff fallen also nicht alle aufmerksamkeitsleitenden und rezeptionsleitenden Strategien schlechthin, sondern speziell jene, die darauf gerichtet sind, die Texte eines Autors/einer Autorin zu einer werkförmigen Einheit zu schließen und entsprechende Anschlusskommunikationen hervorzurufen. Poetikvorlesungen sind daher als Werkmedien in den Blick zu nehmen (Dembeck et al. 2013). Werkpolitik vollzieht sich dabei stets als „Verhandlung zwischen Autoren, Vermittlern und Lesern“ (Martus 2011, 186), ist also in einen komplexen Prozess von Zuschreibungen eingebunden. Poetikvorlesungen sind schon produktionsseitig von einer mehrfachen Adressierung geprägt, die auch und gerade in werkpolitischer Hinsicht wichtig ist: Zu den möglichen Adressaten gehören andere Autor*innen, die breite Öffentlichkeit, die feuilletonistische Literaturkritik sowie ‚das Archiv‘ bzw. die Literaturwissenschaft (siehe auch Kapitel 2.2.4). Für das Gelingen von Werkpolitiken sind besonders die letztgenannten Adressat*innengruppen und hier speziell die Philologie zentral: Seit es Poetikvorlesungen gibt, nutzen Autor*innen diese Gattung, um zu versuchen, rezeptionssteuernd einzugreifen und dabei auf ihr Weiterleben in der und durch die Literaturwissenschaft einzuwirken. Im Verlauf der Gattungsgeschichte hat sich diese Funktionalisierung konventionalisiert und gehört rezeptionsseitig nun zur Erwartung an dieses Format. Für Autor*innen wiederum gehört diese Rezeptionserwartung zum entscheidenden Gattungswissen, das die Produktion von Poetikvorlesungen und ihre konkrete Ausgestaltung wesentlich prägt (Klausnitzer 2014). Wenn Autor*innen an Universitäten poetologische Vorträge halten (zu denen sie in der Regel von den dortigen germanistischen Instituten eingeladen werden), dann können sie sicher sein, auf ein philologisches Publikum zu treffen, das als https://doi.org/10.1515/9783110647884-012

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etwaiger werkpolitischer Erfüllungsgehilfe zu adressieren ist. Produktion und Rezeption sind in dieser Gemengelage aufs Engste aufeinander bezogen. Auktoriale Strategien sind darauf angewiesen, dass die offerierten Deutungsangebote angenommen werden, während umgekehrt die Literaturwissenschaft ein Interesse daran hat (bzw. haben kann), das von den Autor*innen produzierte Material selbst zu verwerten und dabei (u. a. werkbiographische) Zusammenhänge zu stiften. Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei Poetikvorlesungen um eine Textform, deren Bedarf mindestens teilweise von literaturwissenschaftlichen Akteur*innen erzeugt wird (Spoerhase 2014, Griem 2015). Erst dadurch, dass es gegenwärtig eine so große Anzahl von Poetikdozenturen (über 30 im deutschsprachigen Raum) mit ihrem entsprechenden Bedarf an poetologischen Texten gibt, werden Autor*innen überhaupt dazu ermuntert, sich dieser Textform so extensiv zu widmen. Gerade deshalb sind Werkpolitiken in Poetikvorlesungen nur vor dem Hintergrund der wechselseitigen Beziehungen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft zu verstehen. Der „begehrten Zumutung“ (Dehrmann 2015, 13) für die Literatur, durch die Philologie beobachtet zu werden, entspricht aufseiten der Literaturwissenschaft die direkte Adressierung in literarischen Texten durch die Autor*innen. Insbesondere mit Blick auf die Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte lässt sich eine Veränderung hinsichtlich der Werkkonzeptionen sowie der Rolle von Poetikvorlesungen darin beobachten. Ist Werkpolitik immer schon als Phänomen des „Schreibens unter Bedingungen der Philologie“ (Martus 2007, 9) zu verstehen, gilt dies in den letzten Jahrzehnten in zunehmendem Maße (König 2001, Buschmeier 2008, Behrs 2013, Dehrmann 2015). In der Gegenwartsliteratur kommt es einerseits zu einer „Intensivierung von Werkpolitiken“, andererseits zu vielfältigen „Rückkopplungen zwischen literarischer und philologischer Werkpraxis“ (Danneberg et al. 2019, 14). Natürlich wurde in Poetikvorlesungen bereits Werkpolitik betrieben, lange bevor in der Literaturwissenschaft der entsprechende Begriff geprägt wurde. Doch ist zu beobachten, dass sich die Literatur und ihre Wissenschaft insbesondere ca. seit der Jahrtausendwende auf vielfältige Weise annähern und sich dabei immer wieder in Feedbackschleifen begeben, die sich aus der Antizipation von Anschlusskommunikation und der Antizipation dieser Antizipation ergeben. Auch institutionell sind immer mehr doppelte Bindungen in beide Richtungen festzustellen. Nicht nur gibt es immer mehr „Schriftstellerwissenschaftler“ (Gendolla und Riha 1991), d. h. Autor*innen, die einen literaturwissenschaftlichen Studiengang absolviert haben und die ihr universitär erworbenes philologisches Wissen gewinnbringend für ihre ästhetischen, werkstrategischen und kommunikativen Ziele nutzen, sondern auch immer mehr Veranstaltungen, Gastdozenturen und hybride Formate, bei denen sich Autor*innen und Wissenschaftler*innen begegnen und in Austausch miteinander

2.1.5 Werkpolitik: Werkbegriffe, Werkpolitiken und Selbstkommentierungen

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treten (von den ‚Tagungen mit Autor*in‘ ganz zu schweigen) (Danneberg et al. 2019, 15). Ferner lassen sich auch die sogenannten ‚Schreibschulen’ an der Schnittstelle zwischen Literatur und Universität verorten. Es handelt sich dabei um akademische Institute bzw. Studiengänge, an denen in einer Mischung aus Kreativem Schreiben und literaturwissenschaftlicher Theoretisierung literarisches Schreiben gelehrt wird (Kempke et. al 2019). Die Frage, ob und auf welche Weise Poetikvorlesungen Teil von auktorialen Werkpolitiken und Selbstdeutungen werden, ist aufs Engste mit der Frage verbunden, welchen generischen Status solche Vorlesungen eigentlich einnehmen bzw. auf welche Weise Poetikvorlesungen werkstrategisch funktionalisiert werden (können): Sind sie (primärer) Text – und damit Teil des Werks im engeren Sinn – oder sind sie (sekundärer) Epitext und damit vor allem ein funktionales Instrument zur Herstellung von Werkzusammenhängen? Das grundlegende Problem, vor das sich die (philologische) Rezeption gestellt sieht, lässt sich paratexttheoretisch formulieren. Welche Teile einer Poetikvorlesung sind tatsächlich epitextuell zur Erklärung anderer Texte heranzuziehen und welche nicht? Als besonders relevantes werkpolitisches Mittel in Poetikvorlesungen sind natürlich explizite Lektüreanweisungen anzusehen, die in Poetikvorlesungen entsprechend immer wieder auftauchen. Werkpolitik in diesem Sinne zielt vornehmlich auf professionelle Leser*innen aus Kritik und Literaturwissenschaft, die – so die Hoffnung auf Autor*innenseite – diese Deutungsangebote annehmen und in eigenen Texten fortschreiben. Oft mit Erfolg: Die Versuche etwa, Ingeborg Bachmanns Werk mithilfe der von ihr selbst in den Frankfurter Poetikvorlesungen entwickelten Kategorien zu deuten, sind Legion. Das entspricht einer werkzentrierten Lesart: In philologischen Textumgangsformen, bei denen das (Gesamt‐)Werk eines Autors bzw. einer Autorin zum „privilegierten Kontext seiner selbst“ (Martus 2007, 27) wird, erstreckt sich der für einen Text relevante Epitext potenziell auf das jeweilige gesamte Schrifttum, inklusive aller Skizzen,Vorarbeiten und Paralipomena – und damit natürlich auch auf Poetikvorlesungen (Spoerhase 2007, 300). Die Autor*innen müssen daher nicht zwingend Selbstdeutungen vorlegen, um mit Poetikvorlesungen Werkpolitik zu betreiben – Werkpolitik kann unter diesen Umständen auch in Texten vollzogen werden, die gar keine Selbstdeutungen im engeren Sinn enthalten. Unter den Bedingungen einer philologisch „tendenziell selektionslose[n] Aufmerksamkeit“ (Martus 2007, 2) können ja potenziell alle schriftlichen Zeichen, die sich der gleichen Autorfunktion zurechnen lassen, aufeinander bezogen und auf diese Weise parallel gelesen werden. Poetikvorlesungen hätten vor diesem Hintergrund eine per se konventionell explikative Funktion für die (literarischen) Texte ihrer Autor*innen. Nicht nur explizite Selbstkommentare zu eigenen Texten wären dann relevant, sondern jegliche Aussage über „die politische Lage, die Musik, das Geld, de[n] Sport, die Frauen,

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die Katzen oder die Hunde“ (Genette 1989, 330) könnte dann auf die literarischen Texte des jeweiligen Trägers der Autorfunktion bezogen werden. In diesem Rahmen wäre auch begrifflich zu unterscheiden zwischen einer weiten Form von Selbstkommentaren und spezifischen Selbstinterpretationen, auch wenn die Übergänge fließend sein können. Unter letzteren wären dann jedenfalls vor allem explizite, deutende Lektüren eigener Texte zu fassen, während unter dem Oberbegriff des Selbstkommentars alle möglichen (als solche aufgefassten) Selbstaussagen zu verstehen wären. Entsprechende Differenzierungen am Einzelfall vorzunehmen ist insbesondere bei der Rekonstruktion werkpolitischer Strategien geboten. Die werkpolitische Maxime, dass alles zum philologischen Argument werden kann, ist bei Poetikvorlesungen in verschärfter Weise in Anschlag zu bringen, stehen diese doch als konventioneller Teil des Epitextes von vornherein unter dem Verdacht, rezeptionssteuernd eingreifen zu wollen und damit einen entsprechenden Lektüremodus zu provozieren (Gerstenbräun-Krug 2018). Damit stehen Poetikvorlesungen in einem komplexen Geflecht von produktions- und rezeptionsseitigen Erwartungen und Erwartungserwartungen, die sich mitunter auch in selbstreflexiven Volten an der Textoberfläche der Vorlesungen zeigen. Die jeweilige Funktionalisierung – Text oder Epitext, Lektürehinweis oder nicht – muss dabei als Ergebnis der pragmatischen Interessen der Kommunikationsteilnehmer*innen in den Blick genommen werden; sie erfolgt relational. Es geht hier also weniger um die Autor*innenintention (Gerstenbräun-Krug 2018) sondern vielmehr um die Autor*innenfunktion als Referent der Zuordnung. Insofern ergeben sich in systematischer Hinsicht verschiedene Möglichkeiten, wie sich Werkpolitik in Poetikvorlesungen entfalten kann, welchen Status die Vorlesungen in den Werkästhetiken der jeweiligen Autor*innen einnehmen und inwiefern sie dabei als Werkmedien fungieren (Dembeck 2013). Als klassische Werkmedien werden Poetikvorlesungen im Lauf der Gattungsgeschichte immer wieder (und auch heute noch regelmäßig) benutzt. Die auktorialen Funktionalisierungsstrategien unterscheiden sich dabei nicht grundsätzlich von denen anderer poetologischer Gattungen. Gleichwohl lässt sich konstatieren, dass insbesondere die Frankfurter Poetikvorlesungen nach ihrer Gründung 1959 schnell zu einem herausgehobenen Programmplatz für Poetik werden und daher insbesondere bis ungefähr zur Jahrtausendwende aufmerksamkeitsstrategische Prominenz versprechen und andere poetologische Formate tendenziell verdrängen (Bohley 2017, 251). Poetikvorlesungen sind daher immer wieder für poetologische Grundsatztexte genutzt worden, die – vor dem Hintergrund der oben entwickelten Kategorien werkkonstituierender Lektüren – zur ästhetischen Einheit des jeweiligen Gesamtwerkes beigetragen haben. Aber auch das Mittel, vermeintliche Fehllektüren zu adressieren und die Rezipient*innen in andere, selbstgewählte

2.1.5 Werkpolitik: Werkbegriffe, Werkpolitiken und Selbstkommentierungen

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interpretatorische Richtungen zu lenken, gehört ins Arsenal typischer Poetikvorlesungsgesten. Die Funktion der Lektüreanleitung findet sich in Poetikvorlesungen zudem häufig noch gedoppelt: Geben die Vorlesungen als Ganzes etwa Berichte von Werkentstehungen oder Lektüreanweisungen für andere Texte der gleichen Autorfunktion, finden sich in den Eingangspassagen der Vorlesungstexte sehr oft Gebrauchsanweisungen für diese Vorlesungen selbst (Kempke 2020, 179 – 184). Hier sollen dagegen vor allem drei Varianten fokussiert werden, die für Poetikvorlesungen als Medium von Werkpolitiken besonders relevant und interessant sind: (1) die Poetikvorlesung als Werkmedium und als Element einer werkästhetischen Einheit, (2) die Poetikvorlesung als Versuch, die mediale Spezifik des Formats (sie besteht aus einem Live-Vortrag und einer späteren Buchveröffentlichung) für werkpolitische Strategien zu nutzen (insbesondere hinsichtlich einer poetologischen Verschaltung von Leben, Werk und Autor*infigur) sowie (3) die Selbstreflexion werkpolitischer Maßnahmen innerhalb der Poetikvorlesung mit dem Ziel der entautomatisierenden Thematisierung der Gattung. Diese Varianten (vor allem die letzten beiden) machen dabei von den medialen Besonderheiten der Form ‚Poetikvorlesung‘ Gebrauch und sind daher auch besonders charakteristisch für die werkpolitischen Optionen, die speziell diese Gattung im Gegensatz zu anderen ermöglicht. (1) Christa Wolfs Frankfurter Poetikvorlesungen von 1982 (Buchveröffentlichung 1983) gehören zu den berühmtesten Gattungsvertretern. Das liegt einerseits an der politischen Konstellation (Wolf war die erste und einzige Autor*in, die als aktive DDR-Bürgerin eine Vorlesung in Frankfurt hielt), andererseits an dem damals innovativen Einsatz der Form. Unter dem Titel Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra sprach Wolf über die Arbeit an ihrer Kassandra-Erzählung, die ein Jahr später (zeitgleich mit der Buchversion der Vorlesungen) erschien. Die Poetikvorlesungen treten mit dem Anspruch auf, entstehungsgeschichtliche Hintergründe der Erzählung zu beleuchten und auch kontextuelle Hinweise zur richtigen Lektüre des Kassandra-Textes zu geben. Während die ersten zwei Vorlesungen als Bericht einer Recherchereise gestaltet sind (Wolf berichtet davon, wie sie bei einem Griechenlandaufenthalt mit dem Kassandra-Stoff in Berührung gekommen sei), eröffnet die dritte Vorlesung einen Blick in Wolfs Arbeitstagebuch, in dem von der Verarbeitung der Reiseeindrücke im Kontext weiterer historischer Forschungen und tagespolitischer Überlegungen zu lesen ist. Die vierte Vorlesung ist als Brief der Autorin an ihre Freundin A. gestaltet, in dem (u. a. in Auseinandersetzung mit Ingeborg Bachmann) Möglichkeiten feministischer Schreibweisen ausgelotet werden. In der letzten der fünf Frankfurter Vorlesungen präsentiert Wolf schließlich eine „Arbeitsfassung der Erzählung“ (Wolf 2000, 197). Zum Zeitpunkt der Vorträge, die

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1982 in Frankfurt stattfanden, war die Erzählung noch nicht veröffentlicht. Werkgenetisch erscheint die in der letzten Vorlesung vorgetragene Version der Kassandra-Erzählung daher als Vorstufe zu der Endfassung des Textes. Somit schildern die Vorlesungen vorausblickend Genese und Kostprobe eines Textes, der erst ein Jahr später auf dem Buchmarkt erhältlich sein wird. Diese Endfassung erscheint 1983, genau wie die Buchfassung der Frankfurter Vorlesungen.Während die ostdeutsche Ausgabe im Aufbau-Verlag beide Texte enthielt (allerdings mit politisch motivierten Kürzungen in den Vorlesungen), erschienen Vorlesungen und Erzählung im westdeutschen Luchterhand Verlag separat (Hilzinger 2000, 434). Diese separate Veröffentlichung sei, so Sonja Hilzinger, gegen die „ausdrückliche[] Intention der Autorin“ geschehen, „der ja gerade an der Komplexität des gesamten Projektes lag“ (Hilzinger 2011, 232). Statt in Form eines späten Selbstkommentars dem Werk (mit teilweise großem zeitlichen Abstand) einen Entstehungsbericht zur Seite zu stellen und ihn damit erst ex post werkpolitisch zu perspektivieren, präfiguriert Wolf mit ihrer prospektiven Darstellung und ihrer Verschaltung von Vorlesungen und Erzählung bereits die initiale Aufnahme ihres ‚Kassandra-Projekts‘. Letzteres mit Erfolg: In der Forschung setzt sich schnell die Ansicht durch, dass Vorlesungen und Erzählung als „Einheit“ (Hörnigk 1989, 235) zu betrachten seien. Das kann darauf hindeuten, dass Wolfs suggestive Darstellungstechnik von Erfolg gekrönt war oder wenigstens darauf, dass die Vorschaltung eines Entstehungsberichtes vor das eigentliche Werk (bzw. bei zeitgleicher Veröffentlichung die Möglichkeit der Parallellektüre) die Rezeption auf bestimmte Weise steuert. In der von der Autorin werkpolitisch intendierten Lesart sind Werk und Beiwerk nicht klar voneinander zu trennen, ein in neuesten Poetiken charakteristischer Effekt der „Entparatextualisierung“ (Hoffmann 2011, 316) (als Umwertung vermeintlich sekundärer Vermittlungsformate zu primären Formen) einerseits, der Neuordnung von Werkzusammenhängen andererseits. Wolfs letzte Vorlesung, die den Text in einer Bearbeitungsstufe als work-in-progress vorstellt, ist in dieser Geste gattungsgeschichtlich einflussreich – bis heute werden immer wieder unveröffentlichte Teile fiktionaler Texte in Poetikvorlesungen präsentiert. (2) Zentral für den Werkbegriff ist typischerweise der Akt der Veröffentlichung – genauer gesagt die schriftliche Veröffentlichung, denn erst dadurch wird die nötige „Zerdehnung von Kommunikationssituationen“ (Martus 2007, 20), die eine zeitlich versetzte Rezeption erlaubt, letztlich gewährleistet. Werkpolitik muss auf diese Weise eine Wirkungsdimension über den Moment hinaus besitzen – das bedeutet aber nicht, dass nicht auch performative Geschehnisse Werkcharakter haben sowie als werkpolitisches Instrument eingesetzt werden können (Danneberg et. al 2019, 9). Ist Martus’ Konzept der Werkpolitik noch dezidiert auf das schriftliche Œuvre als Werk bezogen, sind in der Gegenwartsliteratur auch per-

2.1.5 Werkpolitik: Werkbegriffe, Werkpolitiken und Selbstkommentierungen

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formative Praktiken (speziell solche, die sich auf die Autor*innenfiguren beziehen) von entscheidender Bedeutung für die Erzeugung werkförmiger Strukturen. Poetikvorlesungen sind in ihrer medialen Hybridität (Auftritt und Buch) dafür ein besonders einschlägiges Beispiel. Das schriftliche Werk im klassischen Sinn und die physische Verkörperung durch die Autor*innen in der Öffentlichkeit gehen dabei eine enge Verbindung ein – Autor*innenfiguren werden selbst zum Teil des Werks. Das ist insbesondere für Poetikvorlesungen von entscheidender Bedeutung, treten bei ihnen doch Autor*innen selbst physisch in Erscheinung. Dabei entstehen Präsenzeffekte, die für das Wirkungspotenzial der Gattung entscheidend sind, schließlich sind sie ganz wesentlich an der Suggestion beteiligt, von den Autor*innen autorisierte Aussagen über Produktionsprozess und Bedeutung ihrer literarischen Texte zu bekommen (Schmitz-Emans 2008, Dürr 2017, SchmitzEmans 2018). Der Autor bzw. die Autorin wird dabei einerseits „zum vorzeigbaren Signifikat seiner [bzw. ihrer; KK] Signifikanten“ (Maye 2007, 166), andererseits selbst zum ästhetischen Signifikanten. Das gilt auch für die Buchversionen von Poetikvorlesungen, in denen die unmittelbare ‚Liveness‘ der Vorlesung zwar notwendigerweise wegfällt, aber als mediale Spur vorhanden ist – die Texte verweisen quasi-dokumentarisch darauf, dass zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort vorgelesen wurde. Häufig wird auch durch paratextuelle Hinweise oder textuelle Mündlichkeitsmarker auf die Vortragssituation verwiesen. Die auktoriale Praxis, Autor*innenfiguren zum Teil des Werkes zu machen, lässt sich vor allem bei autofiktionalen Werkkonzeptionen beobachten (Kreknin 2014, Pottbeckers 2017, Hachmann 2018, Jäger 2019). Ein besonders einschlägiges Beispiel stellen hier Andreas Maiers Frankfurter Poetikvorlesungen Ich von 2005 dar. Werkästhetisch- und politisch kommt diesen Vorlesungen in Maiers Œuvre eine zentrale Stellung zu, da Maier in ihnen die autofiktionale Wende seines Werkes einläutet. In Ich schildert Maier autobiographisch wichtige Etappen seines schriftstellerischen Werdegangs von der Kindheit bis in die Erzählgegenwart und arbeitet dabei mit einer Engführung von Werk und Leben. Grundlage ist für Maier ein gänzlich biographisch gefärbter Literaturbegriff, der dazu führt, dass in seinen Texten die „literarische Form […] auch nichts anderes ist, als ich selbst bin“ (Maier 2006, 7). Insofern ist auch die autobiographische Form der Poetikvorlesungen, die der Chronologie von Maiers Leben folgt, die geeignete Form, um zugleich das Verständnis seiner „teils sehr mißverstandenen Bücher“ (Maier 2006, 8) zu fördern. Einerseits treten die Vorlesungen daher mit dem (typisch werkpolitischen) Anspruch auf, Verfahrensweisen und Bedeutung der drei bis dahin erschienenen Romane Maiers Wäldchestag (2000), Klausen (2002) und Kirillow (2005) zu erläutern. So wird z. B. die Form seiner Dialogführung überraschend auf den Einfluss durch die Fernsehserie Familie Hesselbach bezogen

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(Maier 2006, 119 – 122). Auch korrigiert Maier Lesarten, die ihn – die stoffliche Dimension seiner Romane überbetonend – zum Autor eines Buches „über die Wetterau“ (Maier 2006, 135), „eines Frankfurtroman[s]“ oder eines „Gorlebenroman[s]“ machen und bei alldem seinen Ruf als „Gerüchtemaier“ (Maier 2006, 136) festschreiben. Andererseits nutzt Maier die Frankfurter Poetikvorlesungen (sowie die im gleichen Zeitraum erscheinenden Kolumnen in der Zeitschrift Volltext) dazu, eine autofiktionale Erzählerfigur zu etablieren, die den Kern des elfteiligen Romanzyklus’ Ortsumgehung darstellt. Dieses Romanprojekt, von dem bis jetzt (Stand 2022) acht Bände erschienen sind, hat – poetologisch auf den Spuren von Proust, Kempowski und Kurzeck wandelnd – ein konservatorisches Ziel: die Heimat im Moment ihrer absehbaren Vernichtung durch eine Ortsumgehungsstraße sprachlich-ästhetisch zu bewahren. Andreas Maier perspektiviert die Arbeit an diesem Zyklus selbstidentifikatorisch, indem er sie epitextuell immer wieder als Lebenswerk kennzeichnet und behauptet, bis zu seinem Tode daran arbeiten zu wollen. Die Romane der Ortsumgehung haben einen autodiegetischen Erzähler, den man vor allem deshalb mit ‚Andreas Maier‘ identifizieren kann, weil die verschiedenen Texte dieser Autorfunktion durch Autobiographeme miteinander verbunden sind. Das autobiographische Material, das Maier in den Ortsumgehungs-Romanen präsentiert, hatte er teilweise zuerst in den Frankfurter Poetikvorlesungen vorgestellt. Die Romane erscheinen als episch ausgebreitete Version der in den Poetikvorlesungen enthaltenen (bruchstückhaften) Lebenserzählung. Episoden, Geschehnisse und bestimmte Figureneigenschaften aus Ich tauchen in den Romanen wieder auf. Das war vorher nicht der Fall: Zwar hatten auch die drei frühen Romane Maiers einen Ich-Erzähler, dieser war aber nicht über Autobiographeme auf die Autorfunktion bezogen. Die Romane der Ortsumgehung hingegen zitieren teilweise wörtlich aus Ich, legen also eine Identität der jeweiligen Sprechinstanzen nahe und konstituieren Maiers Autofiktion. Autofiktion lässt sich mit Kreknin als „graduell feststellbare Rezeptionsmöglichkeit von Texten“ (Kreknin 2014, 168) verstehen, die vor allem dadurch bestimmt ist, inwiefern der Träger der Autorfunktion und die textuelle Autor-Figur ununterscheidbar werden (Kreknin 2014, 169). In Maiers Entwurf seiner Autorfigur ab den Frankfurter Poetikvorlesungen ist das der Fall, mit nur einer Ausnahme: Nach 2005 gibt es nur einen Text Maiers, der sich noch nach anderen Maßstäben lesen lässt. Der 2009 erschienene Roman Sanssouci bildet noch eine letzte Übergangsform zwischen den unterschiedlichen Werkteilen: Zwar ist dieser Roman heterodiegetisch und wiederum mit typischen Merkmalen der ersten drei Romane erzählt, enthält aber schlüsselromanartige Elemente, die einen Bezug zur „Potsdamer Posse“ um die Stadtschreiberstelle Maiers im Jahr 2004 herstellen – auch hier herrscht also schon der Bezug auf die Autorfigur vor, die im Weiteren

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bestimmend für Maiers Werk wird (Assmann 2014, 183 – 250). Mögliche Metapositionen sind dabei bereits in die Texte integriert und stützen die Autofiktion, anstatt sie ins Wanken zu bringen. Zum werkästhetischen Schlüsselmoment werden die Frankfurter Poetikvorlesungen dabei insbesondere, weil sie den autofiktionalen Entwurf auf einer Medienreflexion der Gattung Poetikvorlesung aufbauen. Es geht dabei vor allem, dem Titel Ich entsprechend, um die verschiedenen funktionalen Rollen des Subjekts der Literatur zwischen Text, Betrieb und Auftritt. Maier bleibt allerdings nicht dabei stehen, das Bedingungsverhältnis von Leben und Literatur durch eine konsequente Engführung von Text und Biographie zu plausibilisieren, sondern er unternimmt eine Reflexion über verschiedene Formen des ‚Ich‘ in der Literatur (Assmann 2014, 168). Konstitutiv dafür ist die vermeintliche Aufsplitterung der jeweils als Ich bezeichneten Textfunktion. Einerseits wird zwischen dem kleingeschriebenen ich (als Autor der Vorlesungen und Maier als Privatperson) und dem emphatisch verstandenen großgeschriebenen Ich (als Summe der Autorfunktion Maiers und als auktoriales Aussagesubjekt des Textes) differenziert: „Auch im Text dieser Vorlesungen mit dem kurzen Titel Ich, dem kürzesten, den eine Frankfurter Poetikvorlesungsreihe jemals hatte, redet ein Ich, nämlich ich, aber dennoch ein Text-Ich, und ich schreibe diese Vorlesungen in Rom immer sehr schnell“ (Maier 2006, 112). Wenn es keinen Ausweg aus der Ich-Perspektive gibt, heißt das andererseits auch, dass das Ich notwendig zum „Text-Ich“ (Maier 2006, 112) wird. Maier setzt darüber hinaus dasjenige Ich, das den Text der Poetikvorlesungen einige Monate vor dem Vortrag geschrieben habe, in Kontrast zu demjenigen Ich, das ‚jetzt‘, d. h. im Hörsaal, den Text vorträgt, sowie zu dem Ich, das dann als Autor des gedruckten Buches fungiert: „Eben in Rom war ich also noch ein Ich, und heute liege ich schon als Buch vor Ihnen, auf dem Ich steht, vorausgesetzt, der Verlag hat erreicht, was er wollte, nämlich aus mir am letzten Tag der Vorlesung schon ein Buch mit dem Titel Ich gemacht zu haben. So schließt sich der Kreis. In den Büchern suchte ich immer ein Ich und jetzt bin ich ein Buch geworden. Ein Buch, auf dem Ich steht“ (Maier 2006, 127).Weiter verkompliziert wird die Lage noch dadurch, dass der abgedruckte Text ja implizit auf ein konkretes Ereignis verweist: den Vortrag im Hörsaal. Die durch die Groß- bzw. Kleinschreibung vollzogene Trennung verschiedener Dimensionen des deiktischen Ausdrucks wird durch die vermeintliche Einheit Maiers als Person im Hörsaal konterkariert. Welches Ich spricht hier, welches schreibt und welches liegt als Buch auf dem Tisch? Maier bringt hier eine Eigenschaft der Poetikvorlesungen an die Textoberfläche, die für die Gattung zentral ist: Textuelle Kategorien der (Selbst)-Adressierung treffen auf die performative Präsenz des Autors im öffentlichen Vortrag. Die von Kreknin herausgearbeitete Problematik einer „Kopplung

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von Autorfunktion und ‚individuellem Subjekt‘“ (Kreknin 2014, 38) in Autofiktionen wird hier prägnant sichtbar, indem Maier darauf beharrt, dass beide (in seiner Literatur, aber auch generell) ununterscheidbar voneinander seien. Entsprechend wird in Ich eine Metaposition zum eigenen Werk sowohl eingenommen wie auch zugleich wieder unterlaufen. Der autobiographische und autodiegetische Erzählmodus, der mit den Poetikvorlesungen textuell etabliert und körperlich beglaubigt wird, strahlt auf die Ortsumgehungs-Romane ab. Die Poetikvorlesung ist dazu werkästhetisch nötig, weil sie ein Funktionspotenzial eröffnet, das in anderen Formaten, z. B. in einem Interview, nicht gegeben wäre. Indem Maier durch unterschiedliche, einander tendenziell widersprechende Aussagen den Fiktionalitäts- oder Faktualitätsstatus seiner Vorlesungen in der Schwebe lässt, wird die Verabsolutierung der Ich-Perspektive im autobiographischen Roman vorbereitet. In Maiers Werkästhetik und Werkpolitik kommt den Frankfurter Poetikvorlesungen eine herausgehobene Stellung zu. Zugleich zeigt sich an ihnen auch das spezifische Potenzial, das sich werkpolitisch aus den verschiedenen Medialitäten der Poetikvorlesung ergibt. (3) Mit Christian Krachts Poetikvorlesungen erreichen werkpolitische Funktionalisierungen der Gattung noch eine weitere Komplexitätssteigerung und werden auf einen besonders hohen Reflexionsgrad getrieben. Christian Kracht hat in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen Emigration von 2018 nicht nur die Medialität der Vorlesung, sondern auch die kommunikativen Verflechtungen zwischen Autor*innen und ihren professionellen Leser*innen zum Thema gemacht (Kempke 2019). Dass Krachts Poetikvorlesungen als Paradebeispiel für die werkpolitischen Möglichkeiten der Form gelten können, ist auf den ersten Blick paradox, denn das scheinbar wichtigste Element – der Text – fehlt. Kracht hat eine Veröffentlichung des Textes ebenso abgelehnt wie die sonst üblichen Videoaufnahmen für das Archiv. Dadurch ergibt sich ein Materialproblem: die Auseinandersetzungen mit Krachts Vorlesung müssen sich auf Medienberichte oder ‚Zeugenaussagen‘ stützen (Dürr 2018). Dieser medialen Verknappung und der Akzentverlagerung auf das Live-Event entspricht ein gewisser Nachrichten-, wenn nicht Sensationswert der Vorlesungen. Im ersten seiner drei Vorträge sprach Christian Kracht erstmals davon, als Jugendlicher in einem kanadischen Internat sexuell missbraucht worden zu sein – eine Nachricht, die in den deutschsprachigen Feuilletons umgehend ein starkes Echo auslöste. Werkpolitisch bedeutsam war diese Offenbarung insofern, als Kracht den sexuellen Missbrauch zum geheimen Zentrum seines Werks erklärte und in den Vorlesungen eine entsprechende Selbstlektüre seiner literarischen Texte vorlegte. Kracht tritt mit dem selbsterklärten Anspruch auf, kritische und literaturwissenschaftliche Fehllektüren seiner Werke – darunter der häufige Bezug auf Pop- und Camp-Konzepte – zu korrigieren und setzt

2.1.5 Werkpolitik: Werkbegriffe, Werkpolitiken und Selbstkommentierungen

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diesen vermeintlichen Fehlinterpretationen eigene Deutungen und Kommentare entgegen – zu jedem seiner Romane nennt Kracht zwei zentrale Einflüsse und steigt auch – immer vor dem Hintergrund der Missbrauchserzählung – in die Stellenlektüre ein. Dabei gelangt er zu verblüffenden Lesarten, etwa wenn er auf eine Stelle im Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) hinweisen kann, die bis in die Details der Namensgebung mit der Missbrauchserzählung übereinstimmt – und das obwohl Kracht selbst erst 2017 zu der Erkenntnis gekommen sei, dass er sich den Missbrauch als Kind nicht nur eingebildet habe. Kracht plausibilisiert damit zum wiederholten Mal seine These, dass es sich beim Missbrauch um die bisher (auch ihm selbst verborgene) Urszene seines literarischen Schaffens handele. Auch zum weiteren biographischen Material, das Kracht in seinen Vorlesungen zur Sprache brachte (etwa die Beziehung zu den Eltern), hatte er passende Romanstellen bereit. Dieser retrospektiven Umwertung des Werks folgt in der letzten Vorlesung eine Weichenstellung für die künftige Werkpolitik. Kracht thematisierte seine mögliche Konversion zur anglikanischen Kirche und brachte sich (schon durch umfangreiche Gedichtrezitationen in den vorigen Vorlesungen vorbereitet) in Stellung, zu einer Art Wiedergänger T.S. Eliots zu werden. Am Ende seiner letzten Vorlesung verwies Kracht schließlich ganz explizit darauf, dass die Archive offen seien und erteilte der Literaturwissenschaft damit die Aufgabe, den von ihm ausgelegten Spuren zu folgen – werkpolitischer und nachlassbewusster kann es kaum werden. Und doch: Gegen eine Lesart, die die Poetikvorlesungen für bare Münze nimmt und als (durch die Missbrauchserzählung maximal authentifizierten) unverschleierten werkpolitischen Eingriffsversuch interpretiert, spricht der überaus gattungssensible und -reflexive Umgang mit der Form der Poetikvorlesung. Der mediale Entzug, die ständigen Formzitate bestimmter Gattungstopoi, die Motivstruktur o. ä. lassen sich, insbesondere vor dem Hintergrund von Krachts bekannter Strategie des „omnipräsente[n] Verschwindens“ (Schumacher 2009), kaum wie ein ungebrochener Eingriffsversuch lesen. Stattdessen geht es Kracht ganz wesentlich um eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Image und der Funktion, die eine Poetikvorlesung in werkästhetischer und -politischer Hinsicht einnehmen kann. Indem Krachts Vorlesungen den Blick auf die Feedbackstrukturen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft lenken, entautomatisieren sie die Wahrnehmung werkpolitischer Verfahren. Werkpolitische Potenziale und Verwendungsweisen der Gattung Poetikvorlesung werden von Kracht praktisch, d. h. im Vollzug reflektiert, indem er gleichzeitig über werkpolitische Strategien spricht und sie kommunikativ umsetzt. Seine Vorlesungen lassen sich insofern erstens als Akt der Werkpolitik lesen, zweitens als Reflexion dieses spezifischen Aktes und drittens als Reflexion

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über die Möglichkeiten und Bedingungen von Werkpolitik (in Poetikvorlesungen) generell.

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Katharina Meiser und Gundela Hachmann

2.1.6 Ringen um authentisches Sprechen und rhetorische Verweigerung einer Poetik. Zum Verhältnis von Authentizität, Fiktion und theoretischer Reflexion in Poetikvorlesungen 1 Zweifeln als Topos „Glauben Sie keinem Poetikdozenten […], seien Sie skeptisch gegenüber einer Universität, die Ihnen Schriftsteller einlädt, damit diese hier vor Ihnen stehen und tun, als wüßten sie irgend etwas“ (Kehlmann 2011, 5 – 7). Mit diesen Worten warnt Daniel Kehlmann gleich zu Beginn seiner Göttinger Poetikvorlesung Diese sehr ernsten Scherze, 2011, sein Publikum vor dem, was er im Begriff ist darzubieten. Mit dieser rhetorischen Geste des Zweifelns an der eigenen Kompetenz oder Berechtigung, eine Poetikvorlesung zu halten, steht Kehlmann bei weitem nicht allein da. Immer wieder sehen sich Poetikdozentinnen und -dozenten in der Pflicht, ihr Publikum darauf hinzuweisen, dass man ihrer Rede nicht uneingeschränkt vertrauen oder Glauben schenken könne. Bei einigen geschieht das bereits im Titel: Die von E. E. Cummings gehaltenen Charles Eliot Norton Lectures ich. sechs nichtvorträge, 1952– 1953, Dieter Wellershoffs in Salzburg gehaltene Vorlesungen „Die Auflösung des Kunstbegriffs“, 1974, Jurek Beckers Frankfurter Vorlesungen „Warnung vor dem Schriftsteller“, 1990, oder etwa Markus Orths in Bamberg vorgetragene „unterirdische Poetik-Erzählung“, 2019, signalisieren Vorbehalte gegenüber der (eigenen) Kunst und/oder Poetik(vorlesung). Andere Poetikdozentinnen und -dozenten drücken ihre Zweifel an der eigenen Legitimation, Qualifikation oder kritischen Distanz mit Bemerkungen über das wissenschaftliche oder rhetorische Laientum aus. Das ähnelt der dubitatio (von lat. zweifeln, schwanken, zögern) der klassischen Rhetorik (Groddeck 1995, 188 – 189) und kommt so häufig in Poetikvorlesungen vor, dass es wie ein formaler Topos (Kopperschmidt 1991, 53 – 54) gattungsprägend ist. Dabei handelt es sich aber nicht um eine fundamentale Aporie oder profunde Verweigerung, sondern vielmehr um eine Geste, mittels derer die Rede über Poetik als uneigentliche markiert wird. Jorge Luis Borges beispielsweise leitet seine Norton Lectures 1967– 1968 mit Bescheidenheitsbekundungen ein und möchte sein Publikum „anhttps://doi.org/10.1515/9783110647884-013

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standshalber auf das vorbereiten“, was es von ihm „erwarten – oder genauer: nicht erwarten“ (Borges 2013, 7) kann. Peter Bichsel bietet „Behauptungen“ an, die nicht auf Wissen beruhen, sondern „ihren Ursprung in der Unsicherheit“ (Bichsel 1997, 7) haben; und Rolf Hochhuth warnt, dass er „erstens kein Wissenschaftler“ (Hochhuth 2001, 11) sei und es ihm zweitens sehr an Objektivität mangele. Wolfgang Hildesheimer spricht ebenfalls über seine „mangelnde Methodik“ und „mangelnde Kompetenz“, von der Theorie einer Sache zu sprechen, „bloß weil […] [er] sie praktisch“ (Hildesheimer 1973, 55) ausübe. Robert Menasse wendet ein, einen „Dichter einzuladen, eine Poetikvorlesung zu halten“, sei „etwa so sinnvoll, wie einen Kannibalen als Ernährungsberater zu engagieren […]“ (Menasse 2006, 9), und Jurek Becker möchte auch nicht vor seinem Publikum stehen „wie ein Vogel, der sich als Ornithologe gebärdet“ (Becker 1990, 9). All diesen vermeintlichen Warnungen und Bekenntnissen zum Trotz präsentieren diese Schriftsteller dennoch genau das, was sie bekunden nicht vortragen zu können – nur eben unter dem Vorzeichen der Uneigentlichkeit. Viele Poetikdozentinnen und -dozenten reagieren mit solchen rhetorischen Gesten des Selbstzweifels auf jene Schwierigkeit, dass die „Grenze zwischen Theorie und Gegenstand, die den meisten Wissenschaften eingeschrieben ist, […] in der Poetik auf eigentümliche Art und Weise aufgehoben ist“ und zu der Frage führt, „wer für die Poetik eigentlich zuständig ist“ (Geisenhanslüke 2018, 14). Ebenso wie Daniel Kehlmann bezweifeln zum Beispiel auch Thomas Glavinic oder Juli Zeh die eigene Kompetenz beziehungsweise Zuständigkeit in Fragen der Poetik. Thomas Glavinic gesteht in seinen Bamberger Vorlesungen „Meine Schreibmaschine und ich“, 2012, dass „von Wissen“ in Bezug auf sein eigenes Schreiben „keine Rede sein“ könne (Glavinic 2014, 47). Juli Zeh prangert in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen „Treideln“, 2013, in aller Schärfe die inszenierte Authentizität und den Konstruktionscharakter jeder Poetik(vorlesung) an: „Ich habe keine Poetik. Niemand hat eine Poetik, jedenfalls nicht, solange er Bücher schreibt. […] Poetik ist das, was die Autoren erfinden, wenn sie zu Poetikvorlesungen eingeladen werden. Erst war die Poetikvorlesung, dann die Poetik. Poetikvorlesungen besitzen die Glaubwürdigkeit einer Teleshopping-Präsentation“ (Zeh 2013, 11, 12– 13). Diese Poetikdozentinnen und -dozenten nutzen die Unsicherheit über die Zuständigkeit zur Poetik, um ihre Aussagen zur kreativen Arbeit und Kunst einer glaubhaften Selbstinszenierung unterzuordnen. Die vermeintliche Aufklärung des Publikums über die Unmöglichkeit einer Poetik dient der Inszenierung einer Autorenperson, die den Erwartungen zum Trotz ehrlich und von literaturbetrieblichen Routinen unberührt erscheinen soll. In solchen Gesten des Zweifelns bildet sich ein Ringen darum ab, wie Menschen, deren Kernkompetenzen die Kreativität und das Schreiben sind, authentisch und glaubhaft von einer übergeordneten Perspektive aus über eben diese

2.1.6 Ringen um authentisches Sprechen und rhetorische Verweigerung

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Kompetenzen sprechen können. Die von ihnen meist im Titel oder zum Auftakt der Vorlesung oder Vorlesungsreihe geäußerten Probleme des authentischen Sprechens über Poetik, der authentischen schriftstellerischen Selbstrepräsentation und der eigenen literarischen Einschätzung sowie auch der Funktionszuschreibung bezeichnen gattungskonstituierende materiale Topoi (Kopperschmidt 1991, 53 – 54). Die Vorlesenden begründen ihre Zweifel am Sprechen über Poetik mit unterschiedlichen Argumenten, gewichten diese entsprechend, reflektieren die ihnen zugrunde liegende Problematik unterschiedlich intensiv und beantworten sie mit entsprechend individuellen Modulationsverfahren des Gattungsmusters. Im Folgenden soll es nun darum gehen, grob drei verschiedene Themenkomplexe herauszuarbeiten, auch wenn diese innerhalb der einzelnen Poetikvorlesungen nicht immer klar voneinander abzugrenzen sind: Es geht zunächst um primär epistemologische Zweifel an einer authentischen Poetik, dann um vorrangig modernisierungs- respektive gattungsbedingte Zweifel an Poetik(vorlesungen) und schließlich um die Möglichkeit einer authentischen Selbstrepräsentation sowie der eigenen Legitimation. Im Rahmen der Vorlesungen stellt die übergreifende Glaubwürdigkeitsfrage zwar nicht selten den reflexiven Ausgangspunkt der poetologischen Rede dar, leitet dann aber meist nicht die sprachliche Haupthandlung. Sie fungiert beim Gros der Vorlesungen allein deshalb nicht als primäres Thema, weil die Poetikvorlesung in ihrem Vollzug immer schon ein Überwinden der geäußerten Zweifel bedeutet, ja weil die Negation der Poetik oder der Zweifel an der Poetik paradoxerweise im Vollzug der Vorlesung über Poetik erfolgen müssen. Diesem Umstand entspricht auf rhetorischer Ebene die dubitatio, die als gespielter Zweifel immer auch eine captatio benevolentiae ist, indem sie den bescheidenen, die Voraussetzungen der Rede reflektierenden oder unsicheren Redner gerade durch sein Ringen mit der zugrunde liegenden Thematik in besonderem Maße glaubwürdig erscheinen lässt (Ueding und Steinbrink 1986, 287). Gleichzeitig entbindet so ein „negativer Pakt“ (Bohley 2011, 239) die Poetikdozentinnen und -dozenten von Normen oder Erwartungen, an denen sie sonst gemessen werden könnten. Der Zweifel an der Poetik bereitet die Realisierung der Poetikvorlesung im Modus der uneigentlichen Rede vor, was wiederum nicht bedeutet, dass es sich stets um rhetorische Finten handeln muss. Anhand des performativen Widerspruchs, der implizit mitschwingt, teils aber auch explizit thematisiert, reflektiert (z. B. Heißenbüttel 1966 und Wellershoff 1976) und/oder ironisch ausgehalten wird (z. B. Kehlmann 2011 und Zeh 2013), offenbaren sich gattungskonstituierende Aporien – und damit nicht zuletzt zentrale Probleme von (modernen) Poetik(en) überhaupt.

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2 Inkommensurabilität: Der Unsagbarkeitstopos Die Unvereinbarkeit der singulären, erkenntnistheoretisch inkommensurablen Literatur mit dem theoretisch-analytischen Erklärungsanspruch der Poetik und Ästhetik begleitet die poetologische Reflexion seit ihren Anfängen, ja sie bezeichnet ihre zentrale Aporie (Barck 2010). „Das Phänomen ‚Literatur‘ – so scheint es – entzieht sich auf Grund seiner Eigenart als ein widerständig Individuelles und auf Verstehen angewiesenes Gebilde […] einem strengen theoretischen Zugriff. Kunst und Literatur scheinen nicht […] unter ein Allgemeines subsumierbar.“ (Harth und vom Hofe 1982, 9). Schon für Platons berühmte Kritik an den Dichtern in der Politeia war es wesentlich, die dialektischen Erkenntnisverfahren von der spezifisch dichterischen Erkenntnis zu unterscheiden (Wiegmann 2002, 1507). Auch Aristoteles‘ poetische Tätigkeit des Hervorbringens unterscheidet sich durch ihr auf Herstellung gerichtetes Wissen sowohl von der „episteme, die auf das unveränderliche Sein bezogen ist“ als auch vom „bloßen Erfahrungswissen (emereia)“ (Wiegmann 2002, 1508). Die epistemologischen Fragen werden von den Dozentinnen und Dozenten unterschiedlich beantwortet. So weist Ingo Schulze eingangs in seiner Leipziger Poetikvorlesung Tausend Geschichten sind nicht genug, 2006, darauf hin, dass „Literatur immer komplexer“ sei als „das Reden über Literatur“ (Schulze 2008, 9), und entwickelt seine Poetik als literarische Biografie und nicht als theoretische Reflexion. Helmut Heißenbüttel geht in seinen Frankfurter Vorlesungen über Poetik, 1966, zwar auch auf eigene Texte, aber auch auf die wissenschaftstheoretische Problematik des Redens über Literatur ein und diskutiert so die Abhängigkeit metasprachlicher Terminologien von kulturellen, sozialen und religiösen Kontexten: „Was bedeuten die Wörter ‚Poesie‘ und ‚Dichtung‘? Sie geben keinerlei Hinweis auf das Wesen der Sache, weil sie späte, abgeleitete Bezeichnungen sind“ (1966, 130). Mit der „Vereinbarkeit von Theorie und Geschichte der Dichtung“ spricht er „neben der Frage nach den unterschiedlichen Begründungen einer Theorie der Literatur eines der Hauptprobleme der Poetik“ (Geisenhanslüke 2018, 17) an. „Bei Homer“, so Heißenbüttel, sei „der Dichter der ‚göttliche Sänger‘, bei den Römern heißt er vates, ‚Wahrsager‘ […]. Wenn wir den Dichter einen Schöpfer nennen, verwenden wir eine Metapher. Die griechischen Wörter für Dichtung und Dichter haben eine technologische, nicht metaphysische oder gar religiöse Bedeutung“ (1966, 131). Indem die Wissenschaft aber „einfach auf das zurückweicht, was bloß von der Gewohnheit und dem öffentlichen Bewußtsein anerkannt ist, auf das konventionell Etablierte“, könne sie die Eigenwertigkeit insbesondere der zeitgenössischen Literatur nicht abbilden (1966, 130). Heißenbüttel stützt seine Argumentation deshalb maßgeblich auf die Diagnose, dass es „für die Literatur

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des 20. Jahrhunderts“ gar „keine Regeln“, „keine Poetik“, sondern „nur Tendenzen“ (1966, 139) gebe. Ihm zufolge besteht „das Wesen der Literatur im 20. Jahrhundert“ in der „Halluzinatorik multipler Welten“ (1966, 204). So wird bei ihm das Ringen um die Möglichkeit einer Poetik zum zentralen Thema, wobei sein abschließender Vorschlag darin besteht, „eine neue literarische Typologie zu bilden“, also „das Abgesonderte der Details und der Detaileinsichten auf einzelne Zentren hin zu sammeln und dort zu sinnvollen und vergleichbaren Komplexen auszubauen, die fähig sind, die Fülle der einander widerstrebenden Einzelerscheinungen auf sich zu ziehen und zu ordnen“ (Heißenbüttel 1966, 196). Damit liegt mit seinen Poetikvorlesungen der Versuch vor, der Glaubwürdigkeitsproblematik metareflexiv qua Ausführungen über literarische Traditionen zu begegnen. Sten Nadolny erprobt einen Mittelweg über die Reflexion der Voraussetzungen von Poetik, die bei ihm zur Grundlage poetologischer Reflexionen werden. Er beginnt seine Münchener Vorlesungen Das Erzählen und die guten Absichten, 1990, mit dem Eingeständnis, er wisse nur „daß [s]eine Schriftstellerei aus einer Liebe“ entstehe und es schwer sei, „Liebe zu erklären“. Er warnt bereits im Vorhinein, „daß [er] […] scheitere, ziemlich sicher scheitere bei dem Versuch, […] [seiner Zuhörerschaft] zu erklären, was [er] […] beruflich treibe.“ „Probieren“ will er „es trotzdem“ (Nadolny 1997, 23 – 24). Nadolny moduliert das Gattungsmuster einerseits theoretisch-explikativ, indem er poetologische Topoi kritisch auf ihre Zeitgemäßheit untersucht. Andererseits ersetzt er theoretische Argumentation teils durch schriftstellerische Praxis, indem er narrativ-fiktionalisierend verfährt, wenn er zum Beispiel eine fingierte Selbstbefragung vornimmt (Nadolny 1997, 60 – 62) oder einen ‚Proberoman‘ „Glashütte bis Hautflügler“ (1997, 27) entwirft. Er pflegt einen pragmatischen, um die Subjektivität seiner Aussagen wissenden, publikumsbezogenen und unterhaltenden Stil und verhandelt trotz der anfangs geäußerten Zweifel poetologische Probleme. Er gibt Einblicke in seine Werkstatt (Nadolny 1997, 81– 82), diskutiert das produktionsästhetische Verhältnis von Inspiration und Handwerk (1997, 36, 42, 62, 77), sucht nach Korrelationen zwischen Literatur und Politik (1997, 117– 120), fragt nach der Beziehung von Literatur und Moral (1997, 116 – 117), äußert sich zu Kritiken am Kulturbetrieb (1997, 111– 112) und macht seine Zweifel an einer Ästhetik deutlich, die sich auf eine absolute Wahrheit beruft (1997, 123 – 125). Durch die Integration diverser poetologischer Diskurse bei gleichzeitiger Balance zwischen Theorie und Praxis, Explikation und Unterhaltung füllt er das Gattungsmuster gerade vor dem Hintergrund der erkannten Problematik mit einer individuellen Poetik. Dass diese keine Allgemeingültigkeit beansprucht, zeigt, wie diese ihre Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen zu reflektieren bemüht ist.

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Auch für Ingeborg Bachmann geht es um die Grenzen dessen, was gesagt werden kann, sowohl in der Literatur als auch in einer Poetikvorlesung. Sie thematisiert in ihren Frankfurter Vorlesungen Probleme zeitgenössischer Dichtung, 1959 – 1960, einleitend die prinzipielle Kluft zwischen schriftstellerischer Praxis und Theorie der Literatur. Alles, „was über Werke gesagt wird“, sei „schwächer als die Werke“ selbst (Bachmann 1982, 182), sodass alle Erklärungsansprüche nur mehr Verlegenheitslösungen seien: „Da sind die Rettungsringe bereit gemacht – einfühlende Interpretation, Historismus, Formalismus, sozialistischer Realismus […]. Auch die Psychologie, die Psychoanalyse, Existenzphilosophie, die Soziologie, bieten sich an, haben Fragen an die Literatur zu stellen“ (1982, 184). Die verwirrende Pluralität und Disparatheit der Antworten auf die poetologischen Kernfragen nach Entstehung, Wesen, Sinn und Funktion der Literatur will Bachmann selbst mit einem erfahrungsbasierten Sprechen über Literatur beantworten, das wissenschaftliche Ansprüche zurückweist; sie möchte keineswegs belehren, sondern beim Publikum etwas „erwecken“ (1982, 183): „Überall Fundiertes, Standorte, Gesichtspunkte, Devisen […]. Und doch ist ja die Erfahrung die einzige Lehrmeisterin. Wie gering sie auch sein mag – vielleicht wird sie nicht schlechter beraten als ein Wissen, das durch so viele Hände geht […]“ (1982, 184). Freilich sind Bachmanns Vorlesungen sehr viel mehr als ein Erfahrungsbericht; sie liefern in der kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit ästhetisch-poetologischen, philosophischen, sprachkritischen und soziologischen Aspekten eine Betrachtung der Literatur, ihrer Voraussetzungen und ihrer Potenziale und enden mit einer reflektierten Eigenwertbestimmung. Die Kardinalsfrage, „warum […] sich die Literatur […] immer der Literaturforschung“ entziehe, warum der Mensch sie nicht letztgültig „zu fassen“ (Bachmann 1982, 267) bekomme, wendet Bachmann in eine Eigenwertbestimmung der Literatur. Demnach zeichnet sich Literatur durch Unabgeschlossenheit, Offenheit und Lebendigkeit aus und impliziert spezifische, nämlich utopische Potenziale, weil sie ihre Voraussetzungen in sich selbst trägt (Bachmann 1982, 260, 271). Jorges Luis Borges bekennt zu Beginn seiner Vorlesungen ebenfalls, dass er „keine Offenbarungen“, sondern „nur Zweifel […], nur altehrwürdige Ratlosigkeiten“ (Borges 2013, 7) bieten könne. Auch er löst das Problem, indem er die Inkommensurabilität der Literatur zum zentralen Argument erhebt. Dafür rekurriert er, rezeptionsästhetisch anhand von Beispielen der Weltliteratur argumentierend (Borges 2013, 69), auf die ästhetische Erfahrung, die dem Menschen naturgemäß zu eigen sei. Definitorisch-metasprachliche und rationale Ansprüche der Poetik zurückweisend, vergegenwärtigt er sein (auch beim Publikum vorausgesetztes) ‚Verständnis‘ von Literatur, indem er weniger abstrakt-theoretisch als vielmehr konkret-exemplarisch argumentiert (Borges 2013, 72). Denn ihm zufolge sei es ein „sehr weit verbreiteter Fehler […], wenn wir glauben, wir wüßten

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nichts von etwas, weil wir es nicht definieren können […]. […] [W]ir wissen, was Dichtung ist. Wir wissen es so gut, daß wir es nicht mit anderen Worten definieren können“ (2013, 19). Demgemäß kann er im letzten Teil seiner Vorlesungen, in denen er auf die eigene Poetik zu sprechen kommt, auch nicht von einem dichterischen Credo im eigentlichen Sinn sprechen, denn: „als ich in mich ging, stellte ich fest, daß ich da nur eine schwankende Form von Glauben habe“ (Borges 2013, 73). Das Dichterische sei so individuell, dass eine abstrahierende Betrachtung und metasprachliche Explikation in rezeptionsästhetischer Hinsicht beziehungsweise in Bezug auf generelle poetologische Fragen nicht zielführend ist: „Ich nehme an, es sollte so viele Credos geben, so viele Religionen geben, wie es Dichter gibt“ (2013, 73). Damit bleiben Borgesʼ Vorlesungen reflektierte Versuche, über etwas zu reden, das eigentlich nicht zu formulieren ist, sie umkreisen die Problematik deshalb mehr exemplarisch; Borges argumentiert bewusst subjektiv, anstatt theoretisch ‚bewältigen‘ zu wollen. Eine die Aporie der Poetik (als Theorie der Literatur) ebenfalls exponierende, dezidiert antitheoretische Haltung zeigt auch E. E. Cummings, der aus seinen so benannten „nicht-vorträge[n]“ alles Rhetorisch-Apodiktische ausschließen will, stattdessen Sinnlichkeit und Subjektivität in den Vordergrund stellt: „Denn während ein echter Vorträger den Regeln des geistigen Anstands gehorchen und seine persönlichen Eigenarten in gemeinschaftlich akzeptable Allgemeinheiten kleiden muss, bleibt ein echter Unwissender geradezu unanständig frei, zu reden, wie er fühlt“ (Cummings 2005, 7). Er argumentiert im Unterschied zu Borges produktionsästhetisch, sodass Poetik bei ihm in seiner künstlerischen Subjektivität und seinem exklusiven ästhetischen Weltzugang aufgeht. Während die Poetikvorlesungen von Heißenbüttel, Nadolny, Bachmann und Borges trotz der zur Kenntnis genommenen erkenntnistheoretischen Problematik einen mehr oder weniger ausgeprägten rhetorischen Anspruch auf eine vom Publikum nachvollziehbare Argumentation implizieren, bei allem Zweifel an der Vermittelbarkeit poetologischer Prämissen also den Versuch poetologischen Redens darstellen, dient das Argument der ästhetischen Eigenwertigkeit und Unvergleichbarkeit der Literatur bei Cummings der Betonung der Irrationalität und Inkommensurabilität der eigenen schriftstellerischen Existenz. Seine Anti-Poetik besteht in einer starken Mystifizierung und Aufwertung des Künstler-Daseins gegenüber allem NichtÄsthetischen und gewinnt damit die Qualität einer Legitimierung des eigenen Künstlertums. Ahnungslosigkeit, Unmessbarkeit, Grenzenlosigkeit, Rätselhaftigkeit, Unbestimmbarkeit und Vagheit des künstlerischen Lebens stellt Cummings über ein vernunftgeleitetes Leben und über Wissenschaft und Faktenwissen, sodass er am Ende die Behauptung einer „unwiderstehlichen Wahrheit“ der Literatur der „Lüge“ des Lebens entgegengestellt, ja Kunst mit ‚wahrem‘ Sein gleichsetzt, wohingegen er das oberflächliche Leben der einfachen Leute als

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Scheinleben bezeichnet (Cummings 2005, 83, 93, 105, 115). Solchermaßen steht der Unsagbarkeitstopos in Cummings Vorlesungen nicht im Zeichen authentischen Selbstzweifels oder eines Zweifels an der Poetik, sondern im Dienst einer Statusund Legitimitätsbekundung. Ex negativo weisen Cummings Vorlesungen damit auf zentrale Vorbehalte hin, denen Poetiken – und Poetikvorlesungen – seit dem 20. Jahrhundert vermehrt begegnen: auf die Fragen nämlich nach der Legitimierbarkeit der Literatur einerseits und nach der Positionierung des Schriftstellers andererseits – Fragen, die oft im Rückgriff auf den naheliegenden Unsagbarkeitstopos beantwortet werden.

3 Gattungsbedingte Inauthentizität Die Gründe für das Ringen der Poetikdozenten um authentisches Sprechen über eine oder die je eigene (durch das Gattungsmuster immer schon als existent vorausgesetzte) Poetik liegen neben der allgemeinen Problematik der Diskrepanz zwischen ästhetischem Eigenwert und begrifflicher Explikation auch darin begründet, dass sich Autorinnen und Autoren der Autonomisierungs- und Modernisierungsprozesse bewusst sind, denen sie unterliegen. Dieses Bewusstsein ist zum Beispiel auch Bachmanns Vorlesungen eingeschrieben, in denen die Autorin die „Frage nach der Rechtfertigung“ der schriftstellerischen „Existenz“ als die „erste und schlimmste“ (Bachmann 1982, 186) Frage bezeichnet, mit der sich moderne Schriftstellerinnen und Schriftsteller konfrontiert sähen. Auch Jurek Becker gesteht in seinen Poetikvorlesungen, dass das „Bedürfnis nach Büchern […] durchaus nicht offenkundig, ihr Gebrauchswert alles andere als augenfällig“ (Becker 1990, 13) sei; und wenn Reinhard Baumgart in seinen Poetikvorlesungen konstatiert, dass Bücher „auf die Frage nach ihrem pragmatischen Nutzen keine Antwort mehr“ gäben, „wenn unter Berufung auf den älteren Humanismus von ihnen Bildung fürs Individuum oder gar Weltsinngebung erwartet […] werde“ (Baumgart 1970, 95), ist er sich des Umstands bewusst, dass Literatur sich „von tradierten Zwängen moralischer, politischer oder religiöser Provenienz“ abgelöst hat, an keinen „Wirklichkeitsbegriff, es sei denn ein ästhetischer, an keinen technischen Regelbegriff, es sei denn ein eigengesetzter“ (Plumpe 1993, 17), mehr gebunden ist. Die zunehmende Befreiung der Literatur wie auch anderer Künste aus heteronomen Form- und Funktionsvorgaben, die sich seit Beginn der Moderne beobachten lässt, ermöglichte einerseits stilistische und konzeptionelle Vielfalt, konfrontiert die Kunstschaffenden aber andererseits auch mit einem beachtlichen Legitimierungsdefizit der Kunst (Liessmann 1999, 12– 13). Ausgehend von einem Begriff der Poetik als regelgeleiteter Lehre, als Praxistheorie oder verbal vermit-

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telbarer Praxis (Fricke 2007, 100 – 101) kann in der Moderne von Poetik streng genommen gar nicht mehr die Rede sein. Seine Frankfurter Poetikvorlesungen Vom Stellenwert der Worte, 2009, eröffnet Durs Grünbein mit der Feststellung, „Es gibt keine literarischen Manifeste mehr“, und erläutert, dass „jeder Autor an seiner eigenen, nur für ihn gültigen Poetik“ (Grünbein 2010, 751) schreiben müsse. Mit dem Anspruch von Poetikvorlesungen, „eine spezifische Form des in Deutschland oft vermissten intellektuellen Diskurses“ anzubieten, „der Literatur, Wissenschaft und Öffentlichkeit verknüpft“ (Tübinger Poetik-Dozentur 2021), werden die Schriftstellerinnen und Schriftsteller als Dozierende aber gleichsam qua Gattung in eine poeta-doctus-Situation manövriert, die ein authentisches Sprechen über ihre spezifische Poetik von vornherein deutlich erschwert, weil sie, so konstatiert es Daniel Kehlmann, „in die Rolle der selbstbewußten Auskunftgeber“ (Kehlmann 2011, 5) gedrängt werden. Die Aporie der Gattung, die aus der Ambivalenz von Repräsentationsanspruch bei gleichzeitigem Subjektivitätsanspruch im Sinne einer nicht-normativen, individuellen Autorinnen- und Autorpoetik resultiert, spricht Robert Menasse in seinen Frankfurter Vorlesungen explizit an. Er erklärt, dass „jeder Dichter glaubt, sehr gute Gründe dafür zu haben, warum er so schreibt, wie er schreibt“, und damit folglich immer auch „ein Interesse daran“ habe, dass „diese Gründe als vernünftige oder gar eherne ästhetische Gesetze anerkannt werden […].“ Jede Poetik habe deshalb „grundsätzlich eine fixe Idee: sie will normativ werden“ (Menasse 2006, 9 – 10). Bei dieser Grundstruktur, Literatur auf gewisse Gesetze und Regeln festzulegen, schließe Poetik aber gerade das aus, was die zeitgenössische Literatur zuallererst auszeichne, namentlich ästhetische Freiheit und kontinuierliche ästhetische Innovation. Aufgrund dessen will Menasse in seinen Poetikvorlesungen auf das Formulieren einer Poetik verzichten. Sein Auftreten auf dem Frankfurter Podium als öffentlicher Redner und poeta doctus steht aber im Widerspruch zu seiner eigenen Pluralitätsprämisse und dem Credo der Unmöglichkeit einer zeitgenössischen Poetik. Dass er die engagierte Literatur zur einzig gültigen Form erklärt, spiegelt die Ambivalenz der Gattung wider, die das Glaubwürdigkeits-Dilemma in nuce impliziert (Menasse 2006, 9 – 10, 13). Dieter Wellershoff macht die Legitimationsprobleme der modernen Schriftstellerinnen und Schriftsteller zum zentralen Thema seiner Salzburger Poetikvorlesungen, in deren Vorwort er konstatiert, dass die „Entgrenzung der Kunst […] zu Unsicherheiten und ideologischen Reaktionen der Künstler und Schriftsteller, der Kritiker und des Publikums geführt“ habe, die „als Teil der Legitimationskrise verstanden werden müssen, in die alle Bereiche der Gesellschaft geraten sind“ (Wellershoff 1976, 10). Er nutzt seine Poetikvorlesungen, um die Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Schriftstellers und der Legitimität der Literatur aus einer differenzierten kunstsoziologischen Metaperspektive heraus in den Blick zu

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nehmen. Seine Vorlesungen mit Untertiteln wie „Der Kompetenzzweifel der Schriftsteller“, „Agonie der Literatur zwischen Markt und politischer Praxis“ oder „Probleme moderner Ästhetik“ liefern einen Problemaufriss der Poetik in der Moderne, an dessen Ende die Verteidigung einer autonomen, von „dogmatische[m] Praktizismus“ freien und gerade dadurch kritischen und die menschliche Erfahrung erweiternden Literatur steht, nicht aber eine eigene, individuelle Autorinnen- und Autorpoetik (Wellershoff 1976, 79). Ein weiterer Grund für diese Art Authentizitätszweifel entsteht durch marktökonomische Abhängigkeitsverhältnisse der Autorinnen und Autoren. Die existenzielle Abhängigkeit vom Markt bedingt, dass der öffentlich zur Schau gestellte Künstlerhabitus (Müller-Jentsch 2012, 88) und das „Reden über Dichtung“ zu „nahezu unvermeidbaren Faktoren für den Erfolg von literarischen Werken“ werden (Hachmann 2014, 139). Schriftstellerinnen und Schriftsteller positionieren sich mit ihrer individuellen Autorpoetik im kulturellen Feld vermarktungsfähig und pflegen ein entsprechendes Image (John-Wenndorf 2014); ihre gesellschaftliche Legitimation und Relevanz müssen sie sich autonom und „immer wieder neu reflexiv erkämpfen“ (Volk 2003, 30). Einerseits bedürfen sie für die „Rechtfertigung“ ihrer „Existenz“ (Bachmann 1982, 186) der Öffentlichkeit; andererseits beraubt diese sie wiederum latent der Subjektivität und Authentizität (JohnWenndorf 2014), denn mit dem eigenen existenziellen Bedürfnis und/oder Anspruch, ihr Image durch öffentliche Selbstbekundungen zu pflegen, um im Geschäft zu bleiben, manövrieren sie sich in eine Situation, in der sie Authentizität marktgerecht inszenieren und konstruieren. Dabei helfen ihnen oft „Topoi, die bis in die Antike zurückreichen“ und ihnen eine „Sonderstellung“ zuweisen, die in der modernen bürgerlichen Gesellschaft in den […] [ihnen] zugeschriebenen Werten der Authentizität und Autonomie gründen“ (Müller-Jentsch 2012, 88). Dem topisch verankerten Bild einer Schriftstellerpersönlichkeit, die die Freiheit genießt, ihre „Individualität und Originalität auszuleben“, und die durch „unentfremdete Arbeit“ und „Selbstverwirklichung […] Zugang zum ‚wahren und wirklichen Sein‘“ (Müller-Jentsch 2012, 88) hat, entspricht zum Beispiel in aller Deutlichkeit E. E. Cummings Selbstbild in dessen Charles Eliot Norton Lectures. Das Problem, dass eine öffentlich vorgetragene Autorinnen- und Autorpoetik immer auch eine Autorfiktion ist, macht Juli Zeh in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen Treideln, 2013, explizit zum Thema: „Jeder Autor weiß, dass das Schreiben von Büchern hierzulande nicht genug ist. Er muss sich seine Leser verdienen, indem er Auskunft gibt. […] Hinter dem Text soll ein Mensch aus Fleisch und Blut sichtbar werden.“ Weil dies aber „eigentlich nicht möglich“ sei, werde „der Textinszenierung eine Autorinszenierung hinzugefügt. Eine Fiktion hinter der Fiktion“ (Zeh 2013, 15). Den Widerspruch, dass sie diese Aporie erkennt, die Einladung nach Frankfurt aber dennoch annimmt, löst Zeh rhetorisch mit

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einer konsequent ironischen Haltung. Ihre Poetikvorlesungen erschienen in Buchform, noch bevor Zeh sie in Frankfurt öffentlich (vor)las, und haben die Form eines E-Mail-Romans, welcher aus Kommunikationen der Autorin an diverse Adressaten besteht, aber nie deren Antworten wiedergibt. Zeh gestaltet ihr Ringen um die Einladung nach Frankfurt als vermeintlich authentische Empörung und Ablehnung, löst aber den Widersprich, dass sie dennoch dort spricht, indem sie die Poetikvorlesung als Fiktion gestaltet. Anhand des probehalber entworfenen Romans „Treideln“ veranschaulicht sie einerseits, dass poetologische Reflexionen nicht zielführend sind, da diese die literarische Produktion hemmen; andererseits präsentiert sie zahlreiche poetologische Reflexionen. Ebenso stehen die Beschwerden der Verfasserin über den Zwang zur öffentlichen Darstellung des Privatlebens den Einblicken in ein solches Privatleben gegenüber, welches sie in ihren fiktiven Korrespondenzen narrativ entwirft.

4 Authentische Poetiken? Dekonstruktion, Fiktion, Ironie, Metareflexion Das Bewusstsein um die Authentizitätsprobleme prägt den Vollzug des Gattungsmusters Poetikvorlesung, ja tritt auffallend häufig als Voraussetzung des poetologischen Sprechens an sich auf. Während die dubitatio in den meisten Poetikvorlesungen als einleitende captatio benevolentiae dient, nicht aber sprachhandlungsleitend ist, bestehen auf der anderen Seite der Skala nur wenige Poetikvorlesungen in Gänze aus einer theoretisch-reflexiven Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des authentischen Sprechens über den jeweiligen Gegenstand, wie es etwa bei Helmut Heißenbüttel (1966) oder Dieter Wellershoff (1976) der Fall ist. Die Mehrzahl der Poetikdozentinnen und -dozenten beantwortet das zu Beginn der Rede formulierte Bewusstsein um die mit der Gattung einhergehenden Widerstände damit, eine sich selbst reflektierende Individualpoetik vorzutragen, die dem traditionellen Gattungsmuster der öffentlichen Rede entspricht, ohne dabei einer grundsätzlichen Normativität das Wort zu reden. Wird dies weniger reflektiert, kommt es dabei manchmal zu impliziten Widersprüchen, so bei Robert Menasse oder etwa auch bei Andreas Maier, der sich über den ökonomisch organisierten Kulturbetrieb und die Veröffentlichung jener Vorlesungen beschwert, die er gerade hält (und für die er entlohnt wird): „Übrigens wird im Betrieb aus allem ein Buch gemacht, radikal und rücksichtslos, und also wird auch aus dieser Vorlesung ein Buch gemacht, denn das ist der Betrieb“ (Maier 2006, 126).Wird auf diese Widersprüche eingegangen, kommt es sowohl zu explizierten Glaubwürdigkeitsproblemen (z. B. Nadolny 1997) als auch zur Re-

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kurrenz auf entsprechende rhetorische Mittel, die das Authentizitätsproblem relativieren sollen. So ironisiert zum Beispiel Daniel Kehlmann die Vorlesungssituation im Rückgriff auf Platons dialogische Methode „durch die Einführung eines Befragers“, um „den Monolog mit seiner unausweichlichen Anmutung von Selbstgerechtigkeit in ein Gespräch“ (Kehlmann 2011, 25) zu verwandeln. Indem Kehlmann fiktionalisierende, polyvokale Elemente einsetzt, vermeidet er Ansprüche auf Authentizität oder Normativität, und kann so seine poetologischen Überlegungen als temporäre, unverbindliche und ebenso argumentativ relevante Thesen ausstellen. Vermehrt seit den 2000er Jahren beziehen Poetikdozentinnen und -dozenten aus der gattungskonstituierenden Authentizitätsproblematik auch ein ganz neues kreatives Potenzial und tragen damit zur Ausdifferenzierung der Gattung im Sinn ihrer ästhetischen Innovation und Modernisierung bei. Exzellente Beispiele dafür bieten Zehs Frankfurter Vorlesungen Treideln (2013). Die Autorin gewinnt gerade aus der vehementen Gattungsnegation den kreativen Impetus für ihre individuelle und innovative Form der Gattungserfüllung. Die Ablehnung der Poetik(vorlesung) führt zu deren Transformation durch ironisch-reflexive Überbietung, über die genuin schriftstellerische Leistung der Fiktionalisierung ebenso wie über die autoreflexive Doppelstruktur des Romans „Treideln“. Gerade aus ihrer Ablehnung der Dozentur resultiert die performativ angelegte Poetik in Form des autopoetologischen E-Mail-Romans. So diskutiert Zeh ästhetische und poetologische Fragen metasprachlich und stellt schriftstellerische Verfahren beispielhaft an der fiktiven Figur ‚Treidel‘ aus. Zeh inszeniert ein Vabanquespiel zwischen Gattungsnegation und Gattungserfüllung, Autorfiktion und Autorpoetik, Autorinszenierung und Authentizität, indem sie aus ihrem Wissen um die ihren Vorlesungen zugrunde liegenden Widersprüche ästhetische Impulse gewinnt und ihre E-Mail-schreibende Protagonistin selbstironisch inszeniert. Auch Markus Orths wählt in seinen Bamberger Poetikvorlesungen „Von der ganz normalen Verrücktheit der Welt“, 2018, den Weg der Fiktionalisierung, um dem Glaubwürdigkeitsdilemma der Gattung spielerisch zu entgehen. Der Titel der Druckfassung Der bescheidenste Autor der Welt (2019) gibt Hinweis darauf, dass Orths daran gelegen ist, topische Selbstzuschreibungsmuster selbstironisch zu vermeiden. Entsprechend verdeutlicht er mit dem Untertitel „Poetik-Erzählung in vier Teilen“, dass er sich dafür nicht die traditionelle Form der Rede, sondern Narration und Fiktion nutzbar macht. „Wie heißt das? […] Poetikrezeptur?“, fragt ihn seine Mutter im einleitenden (fiktiven) Dialog. „Ich muss den Leuten dort erklären, wie das geht mit dem Schreiben“, antwortet der Sohn; und als die Mutter daraufhin fragt, wie es denn gehe, antwortet er: „Keine Ahnung“ (Orths 2019, 10). Dass er sehr wohl um seine poetologischen Prämissen weiß und diese auch intersubjektiv zu vermitteln vermag, beweist seine Poetik-Erzählung in vollem

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Umfang, denn sie gibt Antworten auf einschlägige poetologische Fragen. Orths stellt zum einen seine Schreibverfahren poetisch dar, nämlich im Erzähltext selbst, der „zwischen mittelalterlicher Âventiure, Abenteuer- und Entwicklungsroman, Gothic Novel und TV-Serie“ oszilliert (Bartl und Zilles 2019, 165); zum anderen reflektiert und kommentiert er poetologische Fragen auch durch unterschiedliche Erzählinstanzen innerhalb der Erzählungen. „Im Ganzen“ begleiten die Zuhörerinnen und Zuhörer „einen Autor namens Markus Orths und seinen skurrilen Weggefährten Wolfgang durch verschiedene Abenteuer auf der Suche nach dem Sinn seines Schreibens. Das wird wiederum von einem zweiten Erzähler und einem erfundenen Autor (beide mit dem Namen Markus Orths) kommentiert und von dem wirklichen (?) Autor Markus Orths in Bamberg am Rednerpult vorgetragen“ (Bartl und Zilles 2019, 165). Indem Orths sich ironisch vom Gattungsmuster der Rede distanziert, sich also bewusst nicht als Redner inszeniert, sondern in seiner öffentlichen Rolle seinem poetischen Handwerk auch praktisch verpflichtet bleibt, gewinnt seine Poetik eine Glaubwürdigkeit, die Orths „eigenes, künstlerisches Potenzial offenlegt“ (Bartl und Zilles 2019, 173). Eine bisher singuläre und auf den ersten Blick zunächst offensichtliche Verweigerung des Gattungsmusters unternimmt Thomas Meinecke in seinen Frankfurter Vorlesungen Ich als Text, 2011– 2012. Er stellt Authentizität gerade dadurch her, dass er die Erwartung einer solchen kreativ-innovativ unterläuft, ohne damit an poetologischer Selbstaussage einzubüßen. Meinecke eröffnete seine Vorlesungen in Frankfurt mit dem vielsagenden Song False Start von Bikini Kill, in welchem es unter anderem heißt: „Refer to new perspexion“ und „See yourself as others see you“. Anstelle von eigenen poetologischen Ausführungen las Meinecke Rezensionen, Interviews sowie wissenschaftliche Arbeiten zu fünf seiner Romane von Tomboy bis Lookalikes vor, verweigerte sich damit „dem intimen, offenbarenden Sprechen, das man mit diesem Genre gemeinhin verbindet“ (Höppner 2013), und setzte sich dem Authentizitätsproblem damit gar nicht erst aus. Dabei ist seine offenkundige Verweigerung einer öffentlich vorgetragenen Autorpoetik eine genuin poetologische Antwort auf die Aporien moderner Poetik. Denn die Textmontage und die Verknüpfung heterogener Diskurse und widerstrebender, sich verändernder Meinungen lesen sich als Kommentar zur eigenen schriftstellerischen Praxis. Im Sinne postmoderner Theorien lässt sich dies als Autorpoetik verstehen, die mit Diversität, Heterogenität, Pluralität und Offenheit die neuen, nicht fixierbaren Voraussetzungen für Poetik(en) performativ aufzeigen. Meinecke macht sich in seinen Vorlesungen mithin selbst zur erzählten Figur, die seine Interpretation der Gattung Poetikvorlesung in einem Interview mit Jens-Christian Rabe in der Süddeutschen Zeitung vom 7./8. Januar 2012 als einen Metakommentar formuliert: „Ich wollte nicht von einem Sockel darüber dozieren, wie ich schreibe

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[…]. Wenn ich etwas neu geschrieben hätte, wäre ich bei einem zu hohen Ton gelandet. Davor hatte ich Angst“ (Meinecke 2012, 336). Indem Autorinnen und Autoren wie Juli Zeh, Markus Orths oder Thomas Meinecke die der Poetikvorlesung inhärenten Aporien innerhalb der Gattung reflexiv verarbeiten und kreativ nutzbar machen, formulieren sie ihre spezifisch künstlerischen Antworten auf die Doppelbödigkeit des Autonomisierungsprozesses der Literatur, der Autorinnen und Autoren zwar in künstlerisch-ästhetischer Hinsicht freisetzt, sie aber auch einem ständigen Zwang zur Legitimation ihres Seins und Tuns aussetzt; – ein Zwang, der nicht zuletzt konstitutiv für die Aktualität und Popularität von Poetikvorlesungen ist. Individuelle Poetiken bleiben zwar einerseits unweigerlich an tradierte poetologische Prämissen, an musterhafte schriftstellerische Selbstzuschreibungen und Fremdbilder gebunden, andererseits haben sie jedoch die Möglichkeit, diese zu unterlaufen und neues ästhetisches Potenzial aufzuzeigen. Im Fadenkreuz altgedienter poetologischer Topoi und damit zusammenhängender gesellschaftlicher Funktionserwartungen bedingten Legitimitäts- und Freiheitsdruck immer die Frage nach der Möglichkeit authentischer Selbstrepräsentation. Schriftstellerinnen und Schriftsteller werden dem Anspruch des Publikums auf eine gewisse Repräsentativität der Poetik gerecht, müssen also an sie herangetragenen Fremdbildern entsprechen. Die Vortragenden wechseln deshalb zwischen Individualpoetik und Repräsentativitätsanspruch, zwischen Normbildungs- und Traditionsnegation auf der einen Seite und eigenem und/oder von außen an sie herangetragenen Normativitätsanspruch auf der anderen Seite. Es stellt sich ihnen das im modernen Kulturbetrieb zentrale Problem des Anspruchs auf eine authentische Autorpersönlichkeit bei gleichzeitigem Zwang zur öffentlichen, imagefördernden Selbstinszenierung, sodass Poetikvorlesungen zwischen dem Versuch einer authentischen Autorpoetik und einer teils bewussten, teils unbewussten Autorfiktion oszillieren. Auch wenn das gattungsprägende Ringen um Authentizität im Sinn eines Metadiskurses thematisiert, reflektiert, ironisch und/oder fiktionalisierend gebrochen oder dekonstruiert wird, können die ihm zugrunde liegenden Aporien im Sinn eines Erhalts der Gattung und eines Beitrags zur Gattung freilich nie gänzlich ausgeräumt werden.

Literaturverzeichnis Bachmann, Ingeborg. „Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung.“ Werke. Hrsg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. Vierter Band. Essays, Reden, Vermischte Schriften, Anhang. München/Zürich 1982: 182 – 271.

2.1.6 Ringen um authentisches Sprechen und rhetorische Verweigerung

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2.2 Organisation und Rezeption der Poetikvorlesungen

Carolin Bohn

2.2.1 Prinzipien und Praktiken der Organisation der Poetikvorlesung

Poetikvorlesungen sind mittlerweile „eines der charakteristischsten Formate der Gegenwartsliteratur.“ (Kempke 2021, 9). Sie zeichnen sich durch Vielschichtigkeit, (mediale) Hybridiät und ihre Schnittstellenfunktion aus. Bestandteile einer Poetikvorlesung sind nicht nur eine Reihe von Live-Vorträgen der Autor*innen und ein (publizierter) Text, der sowohl literarisch-ästhetische als auch poetologischreflexive Qualitäten aufweist, sondern auch das Fach der (germanistischen) Literaturwissenschaft und seine Vertreter*innen, der Literaturbetrieb allgemein und im Speziellen Verlage, Literaturhäuser, die mediale Archivierbarkeit bzw. Bezeugbarkeit der stattgefundenen Vorlesung, das vorab verfasste Skript, die Öffentlichkeit live vor Ort und zeitversetzt die Leserschaft der poetologischen Überlegungen bzw. der literarischen Werke von eingeladenen Autor*innen; in den letzten Jahren schließlich auch vermehrt Rezipient*innen von im Internet veröffentlichten Aufnahmen oder Follower von in sozialen Medien geposteten (Live‐) Kommentaren im Rahmen einer aktuellen oder vergangenen Veranstaltung. Zum Diskurszusammenhang der Poetikvorlesung gehört auch, dass sie sich im Zwischenraum von universitärer Institution und antiakademischem Habitus ereignet. Im Zuge einer stärkeren Berücksichtigung partizipativ gestalteter Kulturereignisse wird schließlich mit angrenzenden Institutionen kooperiert – seien es die Kulturabteilung der Stadt, ein Museum, das Theater oder eine Galerie. Auch können Schulen im Rahmen eines Begleitprogramms Teil einer Poetikvorlesung werden. Eine in diesem „Format“ realisierte Gegenwartsliteratur zeichnet sich durch „die kommunikative Nähe von Produktion, Rezeption und Erforschung“ (Horstkotte 2016, 381) aus. Was als Epochenbezeichnung diente – Gegenwart –, benennt hier neue (mediale) Horizonte und komplexe Verflechtungen unterschiedlicher Diskurse bzw. Teilsysteme. Anhand einiger der genannten Aspekte werden im Folgenden Prinzipien der Organisation einer Poetikvorlesung exemplarisch vorgestellt. Sie orientieren sich an konstitutiven und ökonomischen Bedingungen. Anschließend werden die Erwartungen der Institution an Poetikprofessor*innen sowie die Rollen von Universitäten, Verlagen und Literaturhäusern skizziert; schließlich werden Formen und Effekte kultureller und medialer Öffentlichkeit von Poetikvorlesungen konturiert.

https://doi.org/10.1515/9783110647884-014

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1 Organisations- und Finanzierungsformen 1959 wird die Frankfurter Poetikvorlesung gegründet, um einen gemeinsamen Raum für Literatur,Verlag und Wissenschaft zu etablieren und deren gegenseitige Annährung zu ermöglichen (Viebrock 1988). Auch sollten interessierte Studierende jenseits des akademischen Zugangs eine Perspektive auf Literatur gewinnen können, die auf der Sichtweise des „über sein kreatives Wirken reflektierenden Schriftstellers“ (Zur Geschichte der Frankfurter Poetikvorlesungen, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 31.08. 2021) basiert. Zunächst als ein exploratives und experimentelles Projekt gedacht, hat sich die Frankfurter Poetikvorlesung als ein Erfolgsmodell erwiesen: Die Institution blickt auf eine inzwischen lange Liste hochkarätiger Gäste zurück und ist zu einer über Deutschland hinaus bekannten Marke der deutschsprachigen Literatur geworden (Kempke 2021, 14). Seit 1959 setzt sich die Gastdozentur, mit einer Unterbrechung in den Jahren 1968 bis 1979, durchgehend fort. Anhand des Frankfurter Modells lassen sich allgemeine Prinzipien der Organisationsstruktur einer institutionalisierten Poetikvorlesung nachvollziehen: Einladende Institution ist die Goethe-Universität Frankfurt, die Geschäftsführung der Poetikdozentur liegt in Händen des Instituts für deutsche Literatur und ihrer Didaktik und ist aktuell verknüpft mit der Professur für Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Gegenwartsliteratur und Literaturtheorie. Die Finanzierung der Stiftungsgastdozentur – seinerzeit ein Novum in der Bundesrepublik – wurde eingangs vom S. Fischer Verlag und von 1961 an vom Suhrkamp Verlag gesichert. Von 1979 an sind weitere Partner und Förderer hinzugekommen. Durch ihre finanzielle Unterstützung haben sie auch Mitspracherecht in der Kommission bzw. prägen und erweitern sie das Format (siehe auch Kapitel 2.2.3). Heute stehen hinter den Frankfurter Poetikvorlesungen die Verlage S. Fischer, Schöffling & Co. und Suhrkamp sowie die Stadt Frankfurt am Main, das Literaturhaus Frankfurt und die Vereinigung der Freunde und Förderer der Universität. Während die der Öffentlichkeit zugänglichen drei bis fünf Poetik-Vorlesungen in den Hörsälen der Universität stattfinden, umfasst das Programm seit ein paar Jahren auch eine (Literatur‐)Lesung sowie eine Begleitausstellung, die den „Dialog zwischen universitärer Vortragsreihe und urbanem Raum“ (Zur Geschichte der Frankfurter Poetikvorlesungen, 31.08. 2021) eröffnen. Die Lesung findet im Literaturhaus der Stadt Frankfurt statt, die Ausstellung ist seit 2012 im „Fenster zur Stadt“ im Haus des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zu sehen: (seinerzeit) neu inszenierter Kultur-Hotspot und zugleich ein Restaurant. Nicht unwichtig und deshalb nennenswert ist die hier sichtbar werdende Verknüpfung von Universität, Literaturszene, Stadtkultur und zur Gesellschaft: die Geselligkeit. Neben Vertre-

2.2.1 Prinzipien und Praktiken der Organisation der Poetikvorlesung

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ter*innen der schon genannten, geldgebenden Verlage und anderen unterstützenden Institutionen bildet sich das Komitee der Poetikvorlesung aus Vertreter*innen der Frankfurter Germanistik und der philosophischen Fakultät sowie einer Person aus dem Präsidium der Goethe-Universität. Die Poetikvorlesung umfasst eine mehrteilige Serie, die in einem Zeitraum von einigen Tagen oder Wochen abgehalten wird und jeweils im Sommer- oder Wintersemester angesiedelt ist. Bis 2017 umfasst die Serie meist fünf, seit 2018 tendenziell drei Vorlesungstermine von je 45 – 90 Minuten. Die meisten Poetikdozenturen werden begleitet von einer oder mehreren wissenschaftlichen Veranstaltungen in Form internationaler Tagungen, Kolloquien, (studentischer) Workshops oder auch flankierender oder vorbereitender Vorlesungen von Seiten akademischer Vertreter*innen, wie beispielsweise die Vortragsreihe „Christoph Ransmayrs Poetik“ mit den Professorinnen Monika Schmitz-Emans, Doren Wohlleben und Eva Maria Konrad im Wintersemester 2020, die dem Vortrag des eingeladenen Autors voranging. Die Poetikvorlesungen werden als dezidiert universitäre Lehrveranstaltung im regulären Vorlesungsverzeichnis eingetragen, Veranstaltungsort ist der Hörsaal oder Seminarraum. Seit den achtziger Jahren gründen sich nach dem Frankfurter Vorbild – und in Absetzung von ihm – weitere Poetikprofessuren, wie in Mainz (1980), Paderborn (1983), Bamberg (1986) oder Heidelberg (1993). Ihre Finanzierungsmodelle und Programmatiken sind unterschiedlich, doch was die genannten Dozenturen gemein haben, ist, dass sie sich im Vergleich zur Frankfurter Poetikvorlesung unabhängig von Verlagen finanzieren: Die Johannes Gutenberg-Universität Mainz kooperiert zum Beispiel mit der Akademie der Wissenschaften und der Literatur; die Paderborner Gastdozentur wird finanziert vom Präsidium der Universität (Eke 2012, 25); die Heidelberger Poetikdozentur geht aus einer Kooperation mit dem Kulturamt der Stadt hervor. Seit den 2000er Jahren ‚explodiert‘ regelrecht die Anzahl der Poetikprofessuren an deutschen Universitäten. Manche haben spezifische programmatische Ausrichtungen und sichtbare kultur- und gesellschaftspolitische Intentionen, wie die Dresdner Chamisso-Poetikdozentur (2000 – 2011 und 2020) und die Braunschweiger Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt (seit 2015). Finanziert werden Poetikvorlesungen also zum Beispiel im Rahmen einer Stiftungsprofessur, in Form von Kooperationen zwischen einer geisteswissenschaftlichen Fakultät und einem oder mehreren Lehrstühlen, aber auch Kooperationen mit der Stadt, Verlagen, Buchhandlungen und anderen Kulturträgern ermöglichen einen breiteren und stabilen finanziellen Zuschuss. Die außeruniversitären Kooperationen beeinflussen ggf. die Auswahl der Autor*innen, die Ausrichtung und das Programm der Poetikdozentur sowie die Zielgruppen. Verschiedene (Mit‐)Träger können also das Format ‚stemmen‘ und gestalten, die

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primäre und unverzichtbare Institution für das Format der Poetikvorlesung hingegen bleibt in der Regel die Universität.

2 Erwartungen von Seiten der Institution an die Poetikprofessor*innen Universitäre Institutionen haben meist die folgenden strukturellen Erwartungen: der*die Poetikdozent*in hält drei bis fünf Vorträge im universitären Hörsaal und eine Lesung aus dem (neuesten) Werk, ebenfalls in der Universität oder aber im städtischen Raum. Erwartet wird hier in der Regel die physische Präsenz der eingeladenen Autor*innen bei den eigenen Poetikvorlesungen, was seit der Corona-Pandemie 2020/2021, aber auch allgemein in Zeiten globaler Vernetzung und Digitalisierung, nicht (mehr) so selbstverständlich und unhinterfragt ist, wie es zunächst scheinen mag bzw. wie es bisher war. Die Poetikdozentur wird stellenweise begleitet von einem wissenschaftlichen Programm – zum Beispiel in Bamberg durchgehend seit 2005. Die Poetikdozent*innen sind idealerweise bei diesen Tagungen ebenfalls anwesend. Die eingeladenen Literat*innen oder auch Literaturkritiker*innen (zuweilen auch Filmemacher, wie Alexander Kluge mit seiner Frankfurter Poetikvorlesung Theorie der Erzählung von 2012 oder Dominik Graf, ebenfalls in Frankfurt, mit Der Erzähler im Kino von 2015), die von der Jury als wegweisend und bedeutend anerkannt und deshalb ausgewählt werden, äußern sich im Vorlesungszyklus „theoretisch darstellend“ über eine „selbst zu stellende Frage der zeitgenössischen Literatur“ (Zur Geschichte der Frankfurter Poetikvorlesungen, 31.08. 2021). Im Rahmen einer Poetikvorlesung wird meist erwartet, dass die Autor*innen sich in eine „Metaposition“ (Kreknin 2014, 31) versetzen und von hier aus über das eigene Werk und literarische Produktionsprozesse sprechen. Die Rede besteht aus unveröffentlichten Reflexionen, in jüngerer Zeit auch aus zum Teil unveröffentlichten Texten (Kempke 2021, 35 und 282– 289; Beyer 2017; Grünbein 2010), die zum Anlass der Poetikvorlesung geschrieben bzw. vorbereitet oder gesammelt wurden. Häufig werden die hier erstmals verlesenen Skripte, die als quasi-okkasionelle Texte auf die örtlichen und räumlichen Gegebenheiten der Vortragssituation reagieren, im Anschluss an die Veranstaltungsreihe zeitnah publiziert – teilweise exklusiv, oft mit Rekurs auf die Poetikvorlesung im Untertitel. Die Buchpublikationen der Vorlesungen explizieren mehr oder weniger die Aufführungssituation – je nachdem, ob Hinweise auf Raum und Zeit des Vortrags genannt, hervorgehoben oder getilgt sind. Aus den insgesamt rund 80 Frankfurter Poetikvorlesungen sind bis 2021 beispielsweise 67 Buchveröffentlichungen her-

2.2.1 Prinzipien und Praktiken der Organisation der Poetikvorlesung

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vorgegangen; meist erscheinen die Publikationen im Stammverlag der Autor*innen (Kempke 2021, 20). Stellenweise wird von den Poetikdozent*innen noch eine zusätzliche Lehrveranstaltung im Rahmen des Semesterprogramms erwartet; häufig ist die Poetikprofessur auch durch das Angebot von entsprechenden Autorenseminaren in die literaturwissenschaftliche Lehre eingebettet. Poetikprofessor*innen haben also auf dem literarischen Markt bereits reüssiert, sind feuilletonfähig und ihre literarische Qualität wird von der Jury als herausragend bzw. preiswürdig beurteilt; zusätzlich sollten sie mit analytischem Geschick und ggf. literaturtheoretischem Wissen ausgestattet sein; bestenfalls können sie mit Studierenden umgehen und haben ggf. Erfahrung im Lehren. Es ist zu beobachten, dass immer wieder die gleichen Autor*innen zu Poetikvorlesungen eingeladen werden, wie beispielsweise Daniel Kehlmann, Marcel Beyer, Felicitas Hoppe oder Kathrin Röggla. Es können gewisse Gemeinsamkeiten unter den Poetikvorlesungen festgestellt werden, die sich als Traditionslinien beschreiben lassen. Doch wird von Poetikdozent*innen nicht erwartet, dass sie sich inhaltlich an bestimmte Traditionen halten. Alle haben die Freiheit, ihre Poetikvorlesung zu gestalten, wie sie es für angemessen halten. Einige wählen (wissentlich oder unwissentlich) ähnliche Strategien, um über sich selbst und das eigene Werk zu sprechen, andere wählen durchaus individuelle Herangehensweisen. Wiederholt treten gleichwohl bestimmte Phänomene auf: „die ‚Angst‘ vor der Aufgabenstellung, die Ehrung der Institution […], die Selbstlektüre, die literaturhistorische Verortung, die Rezitation eigener und fremder Texte“ (Kempke und Zeh 2018). Neben der formalen bzw. strukturellen Typik realisieren Poetikvorlesungen häufig eine ästhetische Reflexion und/oder einen Werkstattbericht: Poetikvorlesungen können sich in etwa prospektiv zu einer geplanten oder simultan zu einer entstehenden Erzählung äußern, wie Christa Wolf es in ihren Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra im Sommersemester 1982 in Frankfurt exemplarisch realisiert hat (Kempke 2021, 230 – 234). Häufiger allerdings wählen die Poetikvorlesungen eine retrospektive Herangehensweise. Je nach Anlage der Vorlesung wird bei einem Werkstattbericht z. B. eher die Entstehung eines abgeschlossenen, einzelnen Textes betrachtet; der Fokus liegt hier tendenziell auf technischen Fragen der Produktion und zum Beispiel auf sprachlichen Details. Eine breiter angelegte Vorlesungsreihe könnte sich beispielsweise der Genese mehrerer Texte zuwenden, um im Rückblick und im Modus des Selbstkommentars die eigene schriftstellerische Entwicklung und Herausbildung des ästhetischen Stils nachzuvollziehen. Es kommt in beiden skizzierten Formen, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern fließend ineinander übergehen können, zu entstehungsgeschichtlichen Querverweisen innerhalb des eigenen Werks, zu Bezugnahmen auf die Lebensumstände, Zeitgeschichte, (Sozial‐)Politik. Auch wird oft der den eigenen Stil prägende Kanon

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vorgestellt, einzelne Textstellen können close-readings unterzogen werden, es kommt zu Korrekturen bestehender (literaturwissenschaftlicher) Interpretationen und – durchaus wirkungsträchtig rezipiert oder auch nicht – zu Leselenkungen und Lektü reanweisungen der eigenen Texte. In der Poetikvorlesung können Verfahrensweisen und zugrundeliegende ästhetische Überzeugungen vorgestellt, aber eben auch vorgeführt werden. Bei aller Variabilität: Die Poetikvorlesung ist, auch oder gerade, wenn sie autobiographisch oder auf eine pragmatische Werkentstehungsgeschichte ausgerichtet ist oder durch einen gekonnten, gut informierten theoretischen Zugriff überzeugt, immer (auch) stilisierte Erzählung – und keine literaturwissenschaftliche Forschung. Die Poetikvorlesung vereint Literarizität bzw. Poesie und reflektierende Beschreibung eines (vielfach des eigenen) Kunstwerks. Sie daher allein als Spielform des Essays zu identifizieren, würde die performative und ereignishafte Seite der Poetikvorlesung außer Acht lassen.

3 Rolle der Universitäten, Verlage, Literaturhäuser Poetikvorlesungen sind auch als ein Mittel zu verstehen, um die Wahrnehmung von Autor*innen in der Öffentlichkeit zu gestalten und sie in Abgrenzung zur Konkurrenz nicht nur in ihrer textuellen, sondern auch habituellen Dimension im literarischen Feld zu verorten. Die Poetikvorlesung dient dazu,Werbung in eigener Sache zu machen – auch den Universitäten (Kempke 2021, 348; Hachmann 2014, 150; Wegmann 2011). In Form von Medienpräsenz und durch das Profil einer Vorbildfunktion in Sachen Gegenwartsliteratur und -kultur haben beispielweise die Frankfurter Poetikvorlesungen der Goethe-Universität Prestigegewinn verschafft. Die Rolle der Universitäten ist bei den Poetikdozenturen nicht einfach nur die des Gastgebers,Veranstaltungsorts und ggf. Geldgebers. Die Verknüpfung von Publikum, Literaturszene bzw. Literaturproduktion und Literaturwissenschaft sowie die Verbindung von poetologischer Textproduktion und körperlicher Präsenz im festen institutionellen Rahmen bedingen das spezifische Format der Poetikvorlesungen und unterscheiden sie von anderen gängigen Formaten der Autorschaftsinszenierung, wie beispielsweise Lesung, Autor*innen-Interview, Autor*innen-Blog, oder auch Buchcover bzw. -trailer. Die an einigen Institutionen (nicht an allen) zur Konvention gewordene Buchveröffentlichung lässt Poetikvorlesungen vermehrt formalisiert auftreten und entfacht damit einhergehend ein größeres Wirkungspotenzial. Einige Universitäten bzw. die Vertreter*innen der entsprechenden universitären Institutionen – Germanist*innen bzw. Literaturwissenschaftler*innen – entwerfen begleitend zu Poetikvorlesungen ein wissen-

2.2.1 Prinzipien und Praktiken der Organisation der Poetikvorlesung

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schaftliches Programm, das das Werk der Poetikdozent*innen oder daran angrenzende Aspekte erforscht, publizieren regelmäßig die Ergebnisse und kreieren so ein hybrides Forschungsfeld, das zugleich Öffentlichkeitsarbeit für ihr Fach leistet und die Bindung des universitären mit dem regionalen Standort stärkt. Ablesbar wird dies beispielsweise an der Braunschweiger Ricarda Huch Poetikdozentur, der bis 2021 eine Kooperation von Stadt und Universität zugrunde lag: ausgewählte Einzelveranstaltungen der eingeladenen Autor*innen fanden im Stadtraum statt, wie die Preisverleihung im Roten Salon des Stadtschlosses oder eine der Vorlesungen in einer Buchhandlung; Regionalsender berichteten über die Poetikdozent*innen und an einigen Stellen zeigen auch die aus der Poetikdozentur hervorgehenden Publikationen den Bezug zur Stadt Braunschweig (Bohn, Meinecke, Toepfer, Wahrig 2022). Autor*innen profitieren durch ihre Benennung als Poetikprofessor*in finanziell, ebenso aber auch hinsichtlich des kulturellen Kapitals und der geschaffenen Öffentlichkeit; umgekehrt wird ein Autor*innenname mit der Marke der Poetikvorlesung verknüpft, das Autor*innenprofil schmückt das der universitären Institution und konturiert so ihre Programmatik und Auswahldramaturgie mit (Neuhaus 2011). Neben den Fachpublikationen liegt in der Buchveröffentlichung der als Poetikvorlesungen gehaltenen Vorträge inzwischen die wichtigste Funktion der Verlage im Rahmen einer Poetikprofessur (siehe auch Kapitel 2.2.3). Während in den ersten Jahren der Frankfurter Poetikvorlesungen (1959 – 1968) der Suhrkamp Verlag – und in Person Siegfried Unseld – das Profil, die Autor*innen-Auswahl und das institutionelle Experiment, in dem sich Wissenschaft, Literatur, Verlag und Öffentlichkeit treffen, maßgeblich (mit)geformt hat, schwindet dieser konzeptionelle Einfluss in den aktuellen Poetikdozenturen. Die finanzielle Unterstützung durch Verlage ist inzwischen weniger die Regel und nicht unbedingt an ein Mitspracherecht bei der Auswahl geknüpft. Literaturhäuser und ähnliche kulturelle Einrichtungen widmen sich der Vermittlung von und fördern den Diskurs bzw. Diskussionen über (Gegenwarts‐) Literatur. Finanziert werden sie von Stiftungen, öffentlichen oder privaten Trägern. Sie sind regional verankert und prägen das Kulturprofil in ihrer Stadt bzw. in ihrem Land. Dennoch agieren sie durch Kooperationen durchaus international und mehrsprachig, insofern sie neben Ausstellungen, Workshops, Symposien, Vorträgen und Lesungen auch beispielsweise Programmschwerpunkte zu Sprachgebieten und Literaturübersetzungen lancieren. Literaturhäuser nehmen Poetikvorlesungen vermehrt zum Anlass, Lesungen oder Diskussionen zu oder mit Poetikdozent*innen zu veranstalten. In Form von Kooperationen mit Universitäten gestalten sie auch stellenweise das Programm der Vorlesungsserie mit und bieten alternativ zum Hörsaal Veranstaltungsräume, die für ein städtisches, nicht-wissenschaftliches Publikum einen niedrigschwelligen Zugang ermöglicht.

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Neben ihrer wichtigen Rolle als Brücke zwischen Wissenschaft und Universität einerseits sowie Stadt, Literaturszene und lokaler Leserschaft andererseits können Literaturhäuser auch, wenn eine breitere Öffentlichkeit angestrebt wird, beim Organisations- und Veranstaltungsmanagement unterstützen, als Schnittstelle zu anderen städtischen Kultureinrichtungen weitere Kooperationen erleichtern sowie den Buchhandel oder öffentliche Medien einbinden. Einige Poetikprofessuren basieren grundlegend auf einer Kooperation zwischen Universität und Literaturhäusern bzw. städtischen Kultureinrichtungen, wie beispielsweise die Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Seit dem Wintersemester 2011/12 wird sie von der Universität des Saarlandes, dem Saarländischen Staatstheater, der Landeshauptstadt Saarbrücken und dem VHS Regionalverband Saarbrücken ausgerichtet; als Veranstaltungsorte werden das Saarländische Staatstheater, das Theater im Schlosskeller und die Stadtgalerie Saarbrücken genutzt.

4 Formen kultureller und medialer Öffentlichkeit Die Etablierung und Besetzung einer Poetikvorlesung ist auch immer kulturpolitische und literaturbetriebliche Gestaltung und Förderung, sei es in Form der Ausgestaltung der Marke der Poetikdozentur durch arrivierte oder angesagte Autor*innennamen oder der Förderung von Aufmerksamkeit für noch weniger beachtete, aber wegen ihrer ästhetischen Findigkeit und Könnerschaft preiswürdige Autor*innen. Durch die Besetzung einer Poetikprofessur können so auch aktuelle, aber noch nicht unbedingt in der Mitte der Gesellschaft angekommene Diskurse, die beispielsweise Geschlechterverhältnisse, latenten Rassismus, soziale und strukturelle Ungerechtigkeit oder die Klimaveränderung thematisieren, eine breitere Öffentlichkeit erreichen. Ein Beispiel hierfür ist wieder die Braunschweiger Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt von 2015 – 2020. Die Werke und poetologischen Überlegungen der eingeladenen Autor*innen waren an der Schnittstelle zwischen Genderproblematik und Poetiken der Gegenwartsliteratur angesiedelt und reflektierten z. B. über Fallstricke, die hinter einem Begriff wie „Genderliteratur“ lauern (wie die Kritikerin Kristina Maift-Zinke 2015), beschrieben Emanzipationsprozesse des Schreibens (wie die Autorin Marica Bodrozic 2017), eröffneten raffiniert in den Zwischenräumen der Vielsprachigkeit Denkräume für neuartige kulturelle Prozesse und geschlechtliche Identitäten (wie die Lyrikerin Uljana Wolf 2018) und setzten sich mit Ästhetiken der Inklusion auseinander (wie Autor*in Sasha Salzmann 2020). In medialer Hinsicht und in Bezug auf ihren hybriden Charakter spielt die Gegenwärtigkeit der Poetikvorlesung eine ausschlaggebende Rolle: Poetikvorlesungen kann man nicht nur nachträglich lesen, man kann auch persönlich an

2.2.1 Prinzipien und Praktiken der Organisation der Poetikvorlesung

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ihnen teilnehmen. Ihre Form ist ein Ensemble aus Text, Ereignis, Aufführung/ Performanz. Gerade dadurch kann sie ins Gespräch einer weitaus größeren Öffentlichkeit gelangen und eine vielseitigere Wirkung entfachen als ein einzelnes, wenn auch gutes Buch. Der Eventcharakter der Poetikvorlesung, der als Diskussionsimpuls dienen, aber auch als Werbe- und schließlich Kaufimpuls verstanden werden kann, fördert spezifische Formen von kultureller und medialer Kommunikation. Einerseits bilden sich im Rahmen von Poetikdozenturen ungewöhnliche Begegnungsräume: Hier treffen sich Künstler*innen, die in die Dozent*innenrolle schlüpfen, professionelle Literaturwissenschaftler*innen, deren Distanz zu ihrem (nicht mehr ganz) objektivierten Gegenstand ins Schwanken gerät, Hochschulpersonal, Studierende, Journalist*innen bzw. Literaturkritiker*innen sowie Leser*innen und Bürger*innen, die gerade nicht den professionellen Umgang mit Literatur pflegen. Andererseits sind Poetikvorlesungen verknüpft mit der regionalen Tagespresse und ggf. dem überregionalen Feuilleton (Dürr 2017), mit medialen Aufzeichnungen für eine simultane oder nachträgliche digitale Bereitstellung oder zu Archivierungszwecken, mit privaten Gedächtnisstützen per Handykamera, mit digitalen Kommunikationsplattformen und Kommentierungsfunktionen.Während in der prädigitalen Medienökonomie die Kontrolle von Kommunikationsakten mit der Öffentlichkeit noch gelingen konnte, ist seit der Digitalisierung und Social Media die Lage unübersichtlich (siehe auch Kapitel 2.2.2). Christian Kracht hat 2018 in seiner Frankfurter Poetikvorlesung „Emigration“ gewissermaßen kongenial auf diese Situation reagiert. Seine ästhetischinszenatorische Umsetzung des empfindlichen Themas von selbst erlebtem, sexuellem Missbrauch wählt – gerade in Zeiten medialer Omnipräsenz – die „Zeichenverknappung“ (Kempke 2021, 361, 365, 367). Während seiner Vorlesung, die nachträglich nicht veröffentlicht wurde, waren jegliche Aufnahmen untersagt. Das Ereignis seiner Poetikvorlesung wird so, örtlich und zeitlich arretiert, zum unwiederholbaren und einzigartigen Live-Event. Durch seine medialen Restriktionen kreiert Kracht eine interessierte, beinah altmodische kulturelle Öffentlichkeit, die nicht in die Kommunikation der digitalen Medien ausfasert. Ex negativo zeigt sich das Phänomen medialer bzw. digitaler Entgrenzung hier gleichwohl umso deutlicher. Dieses Beispiel führt auch vor, in welchem Ausmaß Poetikvorlesungen in öffentlichen Inszenierungszusammenhängen stehen. Nicht zuletzt sind sie als eine besondere Form der Autor*inneninszenierung zu verstehen, in der sich den schriftorientierten bzw. symbolischen Zeichen der literarischen Arbeiten sowie der Selbstauslegung die physische Präsenz, habituelle und performative Aspekte an die Seite stellen (Jürgensen und Kaiser 2011; Kyora 2014; Schaffrick und Willand 2014). Die so entstehende spezifische autobiographische Qualität lässt die Poetikvorlesung zu einer Bühne des authentischen Auftritts werden: eine Au-

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tor*innenfigur hat hier die Chance, sich auf mehreren Ebenen eine Kontur zu geben, um eine wiedererkennbare Gestalt zu gewinnen. Davon profitiert das Image der Literat*innen, mit ihm der Literaturbetrieb und -markt inklusive Verlage. Schließlich profitieren in Bezug auf die eigene Öffentlichkeitswirkung auch die einladenden Gastgeber-Institutionen und örtlichen Kulturszenen, auf deren Initiative die Einrichtung der Poetikdozentur gründet und die die literaturwissenschaftliche Expertise sowohl für die Auswahl der Dozent*innen wie auch für die aktuellen Diskurse stellen und sichtbar machen. Der das spezifische Format der Poetikvorlesung bedingende, universitäre Rahmen hebt es von anderen Formen der Kulturarbeit ab und ebnet den Weg zu einer Literaturvermittlung, die mit wissenschaftlichem Anspruch und aktuellen Forschungsfragen einhergeht sowie Expertentum mit Öffentlichkeit verbindet.

Literaturverzeichnis Beyer, Marcel. Das blindgeweinte Jahrhundert. Bild und Ton. Berlin 2017. Bohn, Carolin, Thomas Meinecke, Regina Toepfer und Bettina Wahrig. Ozeanisch schreiben. Drei Ensembles mit Thomas Meinecke. Aus der Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt, 2019. Berlin 2022. Dürr, Claudia. „Das Experiment von Frankfurt heute. Zur Kritik von Poetikvorlesungen im Feuilleton“. literaturkritik.at, 03. 08. 2017. https://www.uibk.ac.at/literaturkritik/ zeitschrift/das-experiment-von-frankfurt-heute.html (2. November 2021). Eke, Norbert Otto. „Poetologisch-poetische Interventionen. Gegenwartsliteratur schreiben. Dreißig Jahre Paderborner Gastdozentur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller“. Poetologisch-poetische Interventionen. Gegenwartsliteratur schreiben. Hrsg. von Alo Allkemper, Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke. München 2012: 9 – 26. Grünbein, Durs. Der Stellenwert der Worte: Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Berlin 2010. Hachmann, Gundela. „Poeta doctus docens. Poetikvorlesungen als Inszenierung von Bildung“. Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung. Hrsg. von Sabine Kyora. Bielefeld 2014: 137 – 155. Horstkotte, Silke. „Zeitgemäße Betrachtungen: Die Aktualität der Gegenwartsliteratur und die Aktualisierungsstrategien der Gegenwartsliteraturwissenschaft“. Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Jü rgen Brokoff, Ursula Geitner und Kerstin Stü ssel. Göttingen 2016: 371 – 388. Jürgensen, Christoph und Gerhard R. Kaiser (Hrsg.). Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011. Kempke, Kevin und Miriam Zeh. „Blitz und Donner – Christian Krachts Frankfurter Poetikvorlesungen als werkbiographische Zäsur“. Merkur, 16. 5. 2018. https://www. merkur-zeitschrift.de/2018/05/16/blitz-und-donner-christian-krachts-frankfurterpoetikvorlesungen-als-werkbiographische-zaesur (31. August 2021). Kempke, Kevin. Vorlesungsszenen der Gegenwartsliteratur. Die Frankfurter Poetikvorlesungen als Gattung und Institution. Göttingen 2021.

2.2.1 Prinzipien und Praktiken der Organisation der Poetikvorlesung

221

Kreknin, Innokentij. Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst. Berlin/Boston 2014. Kyora, Sabine (Hrsg.). Subjektform Autor: Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2014. Neuhaus, Stefan. „Der Autor als Marke. Strategien der Personalisierung im Literaturbetrieb“. Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre. 61.2 (2011): 313 – 328. Schaffrick, Matthias und Marcus Willand (Hrsg.). Theorien und Praktiken der Autorschaft. Berlin/Boston 2014. Viebrock, Helmut: „Dichter auf dem Lehrstuhl“. Poetik. Hrsg. von Horst Dieter Schlosser und Hans Dieter Zimmermann. Frankfurt a. M. 1988: 288 – 294. Wegmann, Thomas. Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850 – 2000. Göttingen 2011. Zur Geschichte der Frankfurter Poetikvorlesungen. https://www.uni-frankfurt.de/45664892/ ueber_die_poetikdozentur (31. August 2021).

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2.2.2 Medialisierungen der Veranstaltungen und Digitalisierung der literarischen Öffentlichkeit im ausgehenden 20. und im 21. Jahrhundert 1 Poetikvorlesungen in der digitalen Gesellschaft

Bereits im 20. Jahrhundert haben sich die gesellschaftliche Bedeutung der Literatur und die öffentliche Rolle von Autor*innen durch Konkurrenzmedien wie den Film, das Radio und das Fernsehen gewandelt. Mit der Verbreitung des Personal Computer (ab den 1980er Jahren), des World Wide Web (1990er Jahre), des Smartphone und der Sozialen Medien (ab etwa 2005 bis 2010) haben sich diese Entwicklungen noch einmal verschärft. Literatur und Autorschaft sind davon auf drei Ebenen tangiert. Erstens verändert sich die mediale Formatierung der Literatur selbst: Neben das gedruckte Buch treten digitale (Offline‐)Formate wie das auf Laptops und Smartphones lesbare E-Book, es entwickeln sich jedoch auch neue Online-Formate der Netzliteratur wie Fan Fiction, Twitteratur, Instapoesie oder interaktive narrative Computerspiele; auch die Literaturvermittlung geht in Sozialen Medien andere Wege und tritt in Konkurrenz zu den etablierten Feuilletons (Böck et al. 2017; Ernst 2022a). Zweitens werden die veränderten Medienverhältnisse auch literarästhetisch reflektiert, indem literarische Texte die neuen und neuesten Medien inhaltlich aufgreifen und thematisieren (Hayer 2016). Drittens ist die buchökonomische Wertschöpfung literarischer Texte und ihrer Autorschaft in der digitalen Gesellschaft noch prekärer geworden, wie Carolin Amlinger konstatiert: Während die feste Verlagsbindung noch bis in die 1990er Jahre den Autor*innen Planungssicherheit gegeben habe, kam es seither „zu einer schleichenden Umformung der Wirtschafts- und Arbeitsorganisation im literarischen Feld, die zweckrationale, auf ökonomische Rentabilität ausgerichtete Handlungsnormen beförderte“ (Amlinger 2016). In einer digitalen Gesellschaft der Sozialen Medien resultiert daraus die Notwendigkeit für Autor*innen, sich wesentlich stärker selbst zu vermarkten und zum Beispiel durch eine Homepage und in Sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Instagram Präsenz und Nähe zu den Leser*innen zu zeigen. In diesem Zuhttps://doi.org/10.1515/9783110647884-015

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sammenhang ist das Format der Poetikvorlesungen ganz besonders attraktiv, dessen eigentlicher Wert schon immer vor allem im Erwerb symbolischen Kapitals (Eke 2016, 23 – 24) bestand: Selbstvermarktung und öffentliche Aufmerksamkeit. Juli Zeh hat für ihre Poetikvorlesungen einen Stundenlohn von fünf Euro errechnet, weshalb die Forschung konstatiert, dass Poetikvorlesungen „für die Autoren mit einem hohen zeitlichen Aufwand verbunden [sind], der verhältnismäßig schlecht bezahlt wird.“ Allerdings vergrößerten die Poetikvorlesungen „die Bekanntheit und den Marktwert ihrer Autoren“ (Bohley 2017, 247). Poetikvorlesungen erreichen dies in mehreren Schritten und bezogen auf verschiedene Zielgruppen: Die Performanz selbst ermöglicht den Autor*innen, einen lokalen Zuhörer*innenkreis zu adressieren; in der Rezeption kann zugleich durch Zeitungsartikel oder Aktivitäten in den Sozialen und anderen Medien auch eine überregionale Leserschaft erreicht werden; schließlich kann sowohl die Veröffentlichung der gedruckten und ggf. von Literaturkritiker*innen und Literaturwissenschaftler*innen analysierten oder kommentierten Poetikvorlesungen wie auch deren auditive oder audio-visuelle Verbreitung für eine nachhaltige Präsenz der Autor*innen sorgen.

2 Die Medialisierung von Poetikvorlesungen und ihre Präsenzen in der digitalen Öffentlichkeit Es ist eine interessante Beobachtung der germanistischen Forschung, dass sich die Poetikvorlesung als Genre inhaltlich durch eine „ausgesprochene Offenheit“ (Hachmann 2014, 149) auszeichne und dass die Autor*innen, was eigentlich kontraintuitiv erscheint, eher weniger Auskunft über das eigene Schreiben geben als vielmehr „formulieren, keine Poetik zu haben“ (Bohley 2017, 252). In den letzten Jahren seien zudem unterhaltende Elemente immer stärker geworden (Bohley 2017, 254). Formal lässt sich festhalten, dass Poetikvorlesungen vor allem „planvolle Arrangements“ eines mehrfachen „Medienwechsel[s] zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit“ (Schmitz-Emans 2018, 227) darstellen. Teil dieses planvollen Medienwechsels ist die Mischung mündlicher und schriftlicher Vereinbarungen zwischen der veranstaltenden Institution und dem*der Autor*in, die Produktion eines Manuskripts, das dann mündlich vorgelesen und schließlich im Regelfall in gedruckter Form veröffentlicht wird. Dieses normalisierte „Abfolgemuster ‚Manuskriptschreiben-Vortrag-Buch‘“ (Schmitz-Emans 2018, 228) lässt wiederum eine Vielzahl möglicher Abweichungen zu, über die zunächst die Autor*innen selbst nachdenken, die teilweise aber auch von den ausrichtenden Institutionen mitbestimmt werden. Schließlich geht

2.2.2 Medialisierungen der Veranstaltungen

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es bei den Poetikvorlesungen „längst nicht nur um die Marke des Autors oder der Autorin; auch die Marke der jeweiligen Institution soll so in Symbiose mit den einzelnen Autorennamen auf dem Bildungsmarkt positioniert und profiliert werden“ (Hachmann 2014, 141). Daher ist schon die Poetikvorlesung selbst immer auch ein mediales Setting, das der Verstärkung der Stimme sowie der schriftlichen, auditiven und/oder audiovisuellen Aufzeichnung und Archivierung der Performanz dient: Mikrofone, Verstärker, Kameras, Laptops, Smartphones und Notizzettel sind die technischen Vehikel des Publikums, das als „Halböffentlichkeit“ selbst zum Verstärker-Medium werden kann (Jäger 2019, 195). Durch diese „(all‐)gegenwärtigen Aufzeichnungsmedien“ finden die Poetikvorlesungen inzwischen nicht nur in der konkreten Performanz im Hörsaal, sondern teilweise zeitgleich in der Medienöffentlichkeit statt (Jäger 2019, 204– 205). Für die Frankfurter Poetikvorlesungen lässt sich zeigen, dass insbesondere in den letzten Jahren durch diese veränderte Mediensituation „einige bezeichnende Neuerungen“ (Bohley 2017, 249) zu vermerken sind: Einerseits werden andere Medien in der Performanz selbst genutzt, zum Beispiel eingespielte Lieder oder Videoclips, andererseits werden die Poetikvorlesungen nicht mehr nur in gedruckter Form, sondern vermehrt auch in audiovisuellen Formaten veröffentlicht, insbesondere als DVD oder auf Sozialen Medien wie Youtube (Bohley 2017, 249 – 250). Thomas Meinecke, der nicht nur Schriftsteller ist, sondern auch als Musiker und DJ arbeitet, hat in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen Ich als Text im Januar und Februar 2012 Songs als Teil seiner Performanz eingespielt (Gräbe 2012; Meinecke 2012); in Kathrin Rögglas Essenpoetik waren 2014 in Duisburg-Essen verschiedene Songs und Videoclips ein bedeutsamer Teil der Vorlesung (Röggla 2014b). Während in der Vergangenheit viele Poetikvorlesungen bei namhaften Verlagen wie Suhrkamp oder S. Fischer in Buchform veröffentlicht wurden (oft in Begleitung von literaturkritischen und -wissenschaftlichen Essays), hat sich die Veröffentlichungsform inzwischen diversifiziert: Beispielsweise erschienen Alexander Kluges Frankfurter Poetikvorlesungen Theorie der Erzählung (2012) nur noch als DVD in der film edition suhrkamp (mit einem ausführlichen Booklet), zahllose Poetikvorlesungen sind inzwischen über die Videoplattform Youtube abrufbar. Insbesondere die Poetikvorlesungen von Rainald Goetz (FU Berlin, 2012, 38.700 Aufrufe, 179 Likes/7 Dislikes, 2 Kommentare), Michael Köhlmeier (Wien, 24.10. 2017, 20.200 Aufrufe, 134 Likes/13 Dislikes, 10 Kommentare) und Sibylle Lewitscharoff (Wien, 19.4. 2016, 7.900 Aufrufe, 69 Likes/2 Dislikes, 5 Kommentare) (Kluge 2013; Suhrkamp Verlag 2012; Universität Wien 2016, 2017) haben bislang hohe Zugriffszahlen erzielt, die um ein Vielfaches die Publikumsgröße bei der Hörsaalperformanz übersteigen.

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Die Dokumentation von Poetikvorlesungen im audiovisuellen Medium der DVD oder auf einer sozialen Plattform wie Youtube, auf der sie zugleich Teil der Bewertungs- und Aufmerksamkeitsökonomie in Sozialen Medien und zum interaktiven Gegenstand von ‚(Dis‐)Likes‘ und Kommentaren werden, ist ein widersprüchlicher Akt. Während die Poetikvorlesung als Genre den Wert der literarischen Rede und Selbstreflexion in der Gesellschaft hervorhebt, präferieren diese Dokumentationsformen zugleich die audiovisuelle Rezeptionsweise bzw. die Präsenz in Sozialen Medien und somit Konkurrenzmedien, die in vielen Poetikvorlesungen selbst kritisch thematisiert werden. Wenngleich manche Poetikvorlesungen inhaltlich abgrenzend die eigene Form der ‚Bildung‘ den ‚Bildern‘ der Konkurrenzmedien entgegenstellen, suchen diese Formen der Dokumentation gerade die intermediale Verbindung mit anderen Medienformaten (Hachmann 2014, 152– 153 und 155) oder integrieren sich in die crossmediale Formatierung der Sozialen Medien.

3 Medialisierung in Poetikvorlesungen: Thomas Meineckes Ich als Text Thomas Meineckes Frankfurter Poetikvorlesungen Ich als Text (10. Januar bis 7. Februar 2012) werden als eine „in die Annalen eingehende Poetikdozentur“ (Bohley 2017, 250) bewertet. Sie sind ein besonders prägnantes Beispiel dafür, wie ein Autor seine Rolle als ‚Selbsterklärer‘ im Rahmen einer Poetikvorlesung programmatisch dekonstruiert. Meinecke „verweigert […] die Konstruktion eines Verhältnisses zwischen seiner empirischen Person und den entstehenden Texten“, indem er die „Konstellation von Autorschaft, Biographie und Textproduktion“ (Kyora 2016, 33) strategisch subvertiert. Dazu nutzt er literarästhetische Formen der (Selbst‐)Medialisierung, indem er sich auf drei Ebenen an literarischen, philosophischen, journalistischen, musikalischen und audiovisuellen Archiven bedient und seine intertextuelle Romanpoetik zum multimodalen Verfahren seiner Poetikvorlesungen macht. Erstens besteht deren Haupttext aus zahlreichen Rezensionen sowie literaturund kulturwissenschaftlichen Arbeiten fremder Autor*innen über seine Romane und Bücher wie Tomboy, Hellblau, Musik, Ratzinger-Funktion, Jungfrau und Lookalikes sowie aus Interviewauszügen. Es ist also ein Text, der komplett aus markierten (Fremd‐)Zitaten kompiliert ist, die gleichsam den ‚Autor Thomas Meinecke‘ be- und erschreiben: das Autor-Ich als Summe der über diesen Autor und seine Werke verfassten Epitexte. Zweitens wird der Text gegliedert durch Kapitelüberschriften, die selbst aus zitierten Titeln verschiedener Medienformate be-

2.2.2 Medialisierungen der Veranstaltungen

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stehen und jeweils einen thematischen Assoziationsraum eröffnen. Der erste Titel „GESCHLECHT UND CHARAKTER / PARIS IS BURNING / GENDER TROUBLE / DIE IMAGINIERTE WEIBLICHKEIT / KUNSTSTOFF / I WANNA BE YOUR JOEY RAMONE“ (Meinecke 2012, 7) zitiert beispielsweise drei Buchtitel (von Otto Weininger, Judith Butler und Silvia Bovenschen), einen Filmtitel (von Jennie Livingston), ein Elektroalbum (Move D) und einen Songtitel (Sleater Kinney), um das Thema des dekonstruktiven Feminismus einzuführen – und auch der Text zerfällt in die Heterogenität der zitierten Medienarchive (Ernst 2021). Schließlich hat der AutorDJ Meinecke drittens in der Performanz einige Songtitel eingespielt, die seinen Vortrag ergänzt haben, unter anderem in der ersten Vorlesung False Start von Bikini Kill und in der zweiten Nudnick, the Flying Schissel von Mickey Katz (Meinecke 2012, 7 und 91). Durch die Medienmischung und die Bezugnahmen auf vor allem popkulturelle Archive wird der hochkulturelle Charakter des literarischen Vortrags relativiert.

4 Medialisierungen von Poetikvorlesungen: Kathrin Rögglas Essenpoetik Kaum eine Autorin der Gegenwartsliteratur hat bereits so viele Poetikvorlesungen gehalten wie Kathrin Röggla: 2014 an der Universität Duisburg-Essen und an der Universität des Saarlandes, 2017 an der Universität Bamberg, 2019 an der Universität zu Köln und 2021 an der Universität Graz. In ganz besonderer Weise arbeitet sie in ihrer Essenpoetik mit Medialisierungen; zunächst einmal, ähnlich wie Meinecke, in einer literarästhetischen Weise. (Disclaimer: Als wiss. Mitarbeiter der Universität Duisburg-Essen war ich 2014 in die technische Begleitung und Dokumentation der Essenpoetik eingebunden.) In ihrer ersten Vorlesung mit dem Titel Literatur und Politik – Betrieb und System (1.12. 2014) inszeniert Röggla ihr schriftstellerisches Alltagsleben zwischen Schreibprozessen, Podiumsdiskussionen, Verhandlungen über Theaterprojekte, Gespräche mit der Lektorin und Reflexionen über das eigene Schriftstellerleben: ein Tagebuch der Ich-Erzählerin ‚Kathrin Röggla‘ in sechzehn Einträgen. Diese Einblicke in den hektischen Alltag einer Autorin reflektieren zugleich den Wandel des Schriftstellerlebens in den letzten zwanzig Jahren (Stuhlmann 2017, 83) und dessen Fragmentierung und mediale Diversifizierung. Folgerichtig wird Rögglas Vortrag immer wieder unterbrochen von kurzen Audiound Videoclips wie dem Song Pollesch ist durch von Die Radierer sowie Auszügen aus Inszenierungen eigener Arbeiten (Sie haben so viel Liebe gegeben, Herr Kinski; Draußen tobt die Dunkelziffer) und der Arbeiten anderer Autoren und Künstler wie

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Heiner Müller und Heiner Goebbels (Der Mann im Fahrstuhl) oder René Pollesch (Mädchen in Uniform). Das Autorinnen-Ich konstatiert: „Es ist eine Art Collage, die viel mehr über mein Arbeiten erzählen kann als es ein gebundener Vortrag vermöchte“ (Röggla 2015a, 2). Daneben ist die mediale und rechtliche Form, in die Röggla diese Poetikvorlesungen überführt, besonders interessant. Während sie andere Poetikvorlesungen in der gedruckten Buchform veröffentlicht und auf diese Weise den Mechanismen des traditionellen Buchmarktes übergibt (Röggla 2015c; Gross, Günter und Pethes 2020), wird die Essenpoetik sowohl in der schriftlichen (auf dem Repositorium der Universität Duisburg-Essen) als auch in der audio-visuellen Form (auf der kommerziellen Videoplattform Youtube) frei verfügbar gemacht unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 2.0 (Röggla 2015a; Röggla 2015b). Auf diese Weise geht die Autorin, die offenbar in ausreichender Weise ökonomisches Kapital vom Rektorat der Universität Duisburg-Essen für die Produktion und Performanz ihrer Essenpoetik erhalten hat, produktiv mit den offenen Kanälen des digitalen Publizierens um, um ihr symbolisches Kapital durch eine größere Reichweite zu steigern. Tatsächlich ist alleine das Video der ersten Poetikvorlesung inzwischen über 1.800fach abgerufen worden und hat damit den ursprünglichen Zuhörer*innenkreis um das etwa Zwölffache multipliziert. Diese Form der freien Online-Veröffentlichung hat jedoch zugleich den paradoxen Effekt, dass sie ohne die den Vorlesungsverlauf unterbrechenden 21 Audio- und Videoclips (neben den bereits genannten Clips gehören dazu u. a. noch Auszüge aus Filmen von Alexander Kluge oder Lesungen von Hubert Fichte) auskommen muss, da die Clips nicht open access zur Verfügung stehen. Dies wirkt insbesondere dann irritierend, wenn es sich bei den eingespielten Videoclips um Inszenierungen von Theatertexten Rögglas handelt, die diese aber nicht einmal in Auszügen vorführen darf. Damit markieren die fehlenden oder nur verlinkten Clips in der schriftlichen wie der audio-visuellen Online-Dokumentation Leerstellen, die zugleich die Spannung zwischen der frei verfügbaren Essenpoetik einerseits sowie den medial wie rechtlich unter dem Dach des geistigen Eigentums geschützten filmischen, dramatischen und literarischen Produktionen repräsentieren. Diese Leerstellen verweisen zugleich auf die prekäre Situation der etablierten literarischen Geschäftsmodelle in der digitalen Gesellschaft (vgl. ausführlicher Ernst 2022b).

2.2.2 Medialisierungen der Veranstaltungen

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5 Vernetzung in Sozialen Medien: Hashtag #Poetikvorlesung Die Vermittlung von Inhalten und in diesem Fall von Poetikvorlesungen wird in Sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder Instagram zwar auch über Autor*innennamen organisiert, vor allem aber über die Nutzung von Hashtags, die Postings zu ähnlichen Themen digital vernetzen. Thematisch verbundene Inhalte werden auf diese Weise leichter auffindbar und sind zudem, nach den Regeln der jeweiligen Plattform, durch die Nutzer*innen bewertbar. Auf Twitter gibt es bereits eine ganze Reihe von Tweets, die das Hashtag #Poetikvorlesung nutzen, dabei sind zwei Auffälligkeiten hervorzuheben: Erstens handelt es sich bei den meisten Postings um Text-Bild-Kombinationen, die einen sachlichen oder wertenden Text von max. 280 Zeichen aus einer Poetikvorlesung heraus (meist auch noch geographisch verortet) oder über eine veröffentlichte Poetikvorlesung mit einem Foto aus dem Hörsaal bzw. vom Buchcover oder aus dem Buch kombinieren (vgl. Twitter 2021). Zweitens ergibt sich – zumindest bei den ‚Top-Tweets‘ – eine sehr breite Streuung: Es ist weniger so, dass z. B. auf Twitter während laufender Vorlesungen eine Diskussion über die Vorlesung stattfindet, eher werden einzelne prägnante Zitate oder Momente oder das ganze Setting in einem Tweet abgebildet und gepostet. Besonders große Aufmerksamkeit erhielt beispielsweise ein Tweet der Literaturkritikerin Miriam Zeh aus der Frankfurter Poetikvorlesung von Christoph Ransmayr am 7. 3. 2020, in dem sie ein aus den Zuhörer*innenreihen gemachtes Foto des Settings mit Ransmayr auf der Bühne kombinierte mit dem Text: „Ein Trend setzt sich fort: Christoph Ransmayr beginnt seine #poetikvorlesung @goetheuni […] mit der Bitte, Smartphones und Aufnahmegeräte für die nächsten 90 Minuten aus der Hand zu legen. Aura des Augenblicks, wer fühltʼs schon?“ (Zeh 2020). Indem Zeh diesen Tweet aus dem Hörsaal versendet, übertritt sie die vom Autor gesetzten medialen Schranken; unter dem Posting diskutieren einzelne Kommentare dann auch, dass während der Poetikvorlesungen von Christian Kracht solche Aufnahmen offiziell verboten gewesen seien, eine solche Beschränkung sei zugleich ein hinreichender „Grund, einfach zu gehen…“ (Franzen 2021). In der Forschungsliteratur wird vorgeschlagen, Poetikvorlesungen und die Vernetzungen ihrer Autor*innen mit Kategorien der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour zu lesen (Binczek 2019; Latour 2007). Neben diesen qualitativen Ansätzen eignet sich auch die digitale und quantitative Methode der Netzwerkanalyse, um solche Formen der Kommunikation und in diesem konkreten Fall der Poetikvorlesungsvermittlung in Sozialen Medien genauer zu untersuchen: Wer

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kommuniziert was wann mit wem und erhält dafür welche Aufmerksamkeit und Bewertung? Diese Fragen werden in den nächsten Jahren die Forschung der Digital Humanities und der Netzliteraturwissenschaft genauer beschäftigen; das medialisierte literarische Ereignis #Poetikvorlesung ist dafür ein besonders gut geeigneter Gegenstand.

Literaturverzeichnis Amlinger, Carolin. „Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit“. Soziopolis, 1. 2. 2016. https://www.soziopolis.de/schreiben.html (15. Juli 2021). Binczek, Natalie. „Netzwerke der Literatur. Die Poetikvorlesung als ‚ein Ensemble von Beziehungen‘ in Marcel Beyers ‚Das blindgeweinte Jahrhundert‘“. Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 29.1 (2019): 100 – 111. Böck, Sebastian, Julian Ingelmann, Kai Matuszkiewicz und Friederike Schruhl (Hrsg.). Lesen X.0. Rezeptionsprozesse in der digitalen Gegenwart. Göttingen 2017. https://www.vrelibrary.de/doi/pdf/10.14220/9783737007450 (15. Juli 2021). Bohley, Johanna. „Dichter am Pult – Altes/Neues aus Poetikvorlesungen 2010 – 2015“. Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000 – 2015. Hrsg. von Corina Caduff und Ulrike Vedder. Paderborn 2017: 243 – 254. Eke, Norbert Otto. „‚Reden‘ über Dichtung. Poetik-Vorlesungen und Poetik-Dozenturen im literarischen Feld“. Poetik des Gegenwartsromans. Hrsg. von Nadine J. Schmidt und Kalina Kupcyńska. München 2016: 18 – 29. Ernst, Thomas. Netzliteraturwissenschaft. Berlin/Boston 2022. [= 2022a, in Arbeit]. Ernst, Thomas. „Pop, Plagiat und Persönlichkeitsrechte: Thomas Meineckes Romanpoetik und das Recht“. Text + Kritik 232 (2021): 46 – 56. Ernst, Thomas. „Precarious Authorship in the Digital Society: Literary Value Chains and Kathrin Rögglaʼs ‘Essenpoetik’“. Literary Representations of Precarious Work, 1840 to the Present. Hrsg. von Bart Philipsen und Michiel Rys. London 2022: 193 – 209 [= 2022b]. Franzen, Johannes: Inzwischen ein Grund. [Tweet, 7. 3. 2020.] https://twitter.com/Johannes42/ status/1236349510999252994 (15. Juli 2021). Gräbe, Thorsten. „Ausdenken ist verboten. Thomas Meineckes Poetikvorlesung“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. 2. 2012. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/ thomas-meineckes-poetikvorlesung-ausdenken-ist-verboten-11642364.html (15. Juli 2021). Gross, Pola, Manuela Günter und Nicolas Pethes (Hrsg.). Kathrin Röggla. transLIT 2019. Köln 2019. Hachmann, Gundela. „Poeta doctus docens. Poetikvorlesungen als Inszenierung von Bildung“. Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung. Hrsg. von Sabine Kyora. Bielefeld 2014: 137 – 155. Hayer, Björn. Mediale Existenzen – Existenzielle Medien? Die digitalen Medien in der Gegenwartsliteratur. Würzburg 2016. Jäger, Maren. „Man wird ja wohl noch ‚Ich‘ sagen dürfen! Zur Institutionalisierung von Individualität im Genre der Poetikvorlesung“. Ichtexte. Beiträge zur Philologie des Individuellen. Hrsg. von Christopher Busch, Till Dembeck und Maren Jäger. Paderborn 2019: 185 – 213.

2.2.2 Medialisierungen der Veranstaltungen

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Kluge, Alexander. Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen 2012. Berlin 2013 (DVD mit Booklet, ca. 360 Min.). Kyora, Sabine. „Vom Guten, Wahren, und Schönen!? Roman-Poetiken von Autorinnen und Autoren in den Frankfurter Vorlesungen (2010 – 2015)“. Poetik des Gegenwartsromans. TEXT + KRITIK Sonderband. Hrsg. von Nadine Jessica Schmidt und Kalina Kupczyńska. München 2016: 30 – 39. Latour, Bruno. Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a. M. 2007. Meinecke, Thomas. Ich als Text. Frankfurter Poetikvorlesungen. Berlin 2012. Röggla, Kathrin. Essenpoetik. http://roeggla.net/wp-content/uploads/2015/12/roegglaessenpoetik.pdf (15. Juli 2021). [= 2015a] Röggla, Kathrin. Literatur und Politik – Betrieb und System (1. Vorlesung) (1. 12. 2014, DU-Essen). https://www.youtube.com/watch?v=Q5UEut9i48g (15. Juli 2021). [= 2015b] Röggla, Kathrin. Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Hrsg. von Johannes Birgfeld, Berlin 2015. [= 2015c] Schmitz-Emans, Monika. „Oralität und Schriftlichkeit, Zeitlichkeit und Performanz im Spiegel Frankfurter Poetikvorlesungen.“ Textgerede. Interferenzen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Gegenwartsliteratur. Hrsg. von David-Christopher Assmann und Nicola Menzel. Paderborn 2018: 227 – 247. Stuhlmann, Andreas. „‚Kleine Textmonster‘. Zu Kathrin Rögglas poetischem Verfahren“. Kathrin Röggla. Hrsg. von Iuditha Balint, Tanja Nusser und Rolf Parr. München 2017: 79 – 106. Suhrkamp-Verlag. Antrittsvorlesung von Rainald Goetz im Rahmen der Heiner Müller-Gastprofessur. Youtube.com, 17. 8. 2012, https://www.youtube.com/watch?v=tJk2_ Yopxcw (15. Juli 2021). Twitter: #Poetikvorlesung. https://twitter.com/search?q=%23poetikvorlesung&src=typed_ query (15. Juli 2021). Universität Wien. Michael Köhlmeier – Poetikvorlesung: Satan und Madonna (24. 10. 2017). Youtube.com, 5. 11. 2017, https://www.youtube.com/watch?v=sNsYnxnDlkw (15. Juli 2021). Universität Wien. Sibylle Lewitscharoff – Poetikvorlesung – Mit Dante über Dante hinaus (19. 4. 2016). Youtube.com, 13. 5. 2016, https://www.youtube.com/watch?v=RSnTVLQyYUA (15. Juli 2021). Zeh, Miriam. Ein Trend setzt sich fort. [Tweet, 7. 2. 2020.] https://twitter.com/miriamzeh/ status/1236346851101683713 (15. Juli 2021).

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2.2.3 Poetikvorlesungen und die deutschen Verlage: Synergien, Strategien und Disharmonien Ein entscheidendes Charakteristikum der Poetikvorlesungen besteht darin, dass diese hybride Textsorte, die sowohl Veranstaltung als auch Text ist, deutlich in verschiedene Interessenlagen innerhalb des literarischen Feldes eingebunden ist. Da es dabei über die sprachliche Form hinaus immer auch um die Performanz des Vortrags und die mediale Inszenierung dessen geht, unterscheidet sie sich deutlich von poetologischen Essays. Neben den Interessen des Autors oder der Autorin, sich selbst, das eigene Werk, oder die Literatur und Kunst generell der Öffentlichkeit gegenüber in einer bestimmten Weise darzustellen, spielen hier auch die Interessen der zuständigen Verlage und die der als Veranstalter auftretenden Institutionen, in den allermeisten Fällen Universitäten, eine entscheidende Rolle. Besonders aussagekräftig für die Rolle der Verlage in der Anfangsphase der deutschen Poetikvorlesungen ist eine subtile Verschiebung in der Wortwahl, ein kleiner Unterschied in der Beschreibung des Organisators Viebrock und der des Suhrkamp Verlegers Siegfried Unseld.Viebrock, der als Professor für Anglistik mit anglo-amerikanischen Vorlesungstraditionen und Poetikveranstaltungen vertraut war, hatte in den 1950er Jahren die Idee zur Institution einer Poetikvorlesung in Frankfurt aufgebracht und konnte, da er in den Jahren 1958 – 1959 auch Rektor war, seinen Einfluss an der Goethe-Universität und bei den Frankfurter Verlagen Fischer und später Suhrkamp entsprechend geltend machen. Rückblickend beschreibt er seine damalige Konzeption: „Die Dozentur stellte so eine Dreiecksbeziehung zwischen der kreativen Literatur, den sie fördernden Verlagen und der Universität dar“ (Viebrock 1988, 288). Siegfried Unseld, der die Finanzierung der Frankfurter Poetikvorlesung 1961 vom Fischer Verlag übernahm, charakterisiert das anvisierte Verhältnis in seinem Rückblick leicht verändert als „Dreiecksbeziehung […]: Universität, Schriftsteller und Verleger“. Außerdem erweitert er dieses dann noch zu einer Vierecksbeziehung, indem er auch die Stadt Frankfurt als Interessengruppe benennt: „Die Verleger sollen an der Wahl der Dozenten beteiligt sein, den Kontakt zwischen Universität und Stadt herstellen und die Stiftung finanzieren“ (1984, 1). Die vermutlich unwillkürlich auftretenden Verschiebungen von „Verlag“ zu „Verleger“ und von „Literatur“ zu „Schriftsteller“ reflektieren sehr gut das Selbstverständnis, mit dem Unseld sich für die Frankfurter Poetikvorlesungen einsetzte. Die Stiftungsgastdozentur wird in der Anfangsphase in erheblichem https://doi.org/10.1515/9783110647884-016

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Maße von dem sehr involvierten Verleger Siegfried Unseld geprägt. Sein Engagement für diese Institution lässt erkennen, dass es ihm dabei unter anderem, wenn auch nicht ausschließlich, darum ging, die Autoren des eigenen Verlags zu profilieren. Unselds Zusammenarbeit mit der Universität in dieser Zeit beschreibt man wohl tatsächlich besser als Arbeit an den Beziehungen zwischen Verleger und Schriftsteller als an den Beziehungen zwischen Verlag und Literatur. Die Evolution dieser engen und intensiven Zusammenarbeit, die Unseld in den 1960er Jahren begann, soll im Folgenden anhand von Verlagskommunikationen und Stellungnahmen nachvollzogen werden. Es böte sich allerdings ein verzerrtes Bild von der Rolle der Verlage bei den Poetikvorlesungen, wenn man es bei dem Engagement des Suhrkamp-Verlegers in der Frühphase beließe. Die Funktionen und Aufgaben, welche die Verlage übernehmen, erweisen sich durchweg als dynamisch, unterliegen ständigen Veränderungen und Verschiebungen. Auch das lässt Unselds Charakterisierung der Poetikvorlesungen ja schon erahnen, wenn er die Stadt Frankfurt als eine vierte Interessengruppe benennt und damit das besagte Dreieck sprengt. Die Öffnung der Dreiecksbeziehung konkretisiert sich zum ersten Mal 1979, indem der Frankfurter Magistrat involviert wird. Zusätzlich haben sich aber auch die Verhältnisse und Strukturen an der Universität so sehr verändert, dass man hier nur unter neuen Bedingungen die Poetikvorlesungen wiederaufleben zu lassen bereit ist. Diese Veränderungen sind der Anfang einer grundsätzlichen Ausweitung und Vernetzung der Poetikvorlesung in den 1980er und 1990er Jahren. Andere Akteure und Institutionen treten auf. Universitäten in anderen Städten, neue Verlage, Stadtverwaltungen, Literaturhäuser und Bibliotheken lernen den Nutzen dieser Veranstaltungen schätzen und engagieren sich, sodass viele neue Veranstaltungsreihen dieser Art entstehen und auch die Frankfurter Stiftungsgastdozentur ihren Charakter ändert. Neben der Beteiligung an der Veranstaltungsorganisation kommt den Verlagen schließlich auch eine wichtige Funktion bei der Nachbearbeitung und Veröffentlichung der Texte zu. Hier ist es schwierig, zu allgemein gültigen Aussagen und überblickshaften Thesen zu gelangen, da zum einen die Lektoratsarbeit kaum dokumentiert wird und zum anderen die damit verbundenen Entscheidungen wohl selten systematisch, sondern eher auf der Basis der jeweiligen Einzelfälle gefällt werden dürften. Nichtsdestotrotz werde ich anhand des Beispiels von Elisabeth Borchers nachempfinden, wie sich die Interessen eines Verlags auch in der Edition des Drucktextes niederschlagen können. Mit diesem letzten Teil widme ich mich dann doch noch einmal dem eingangs ausgeklammerten Verhältnis von Verlag und Literatur, welches Viebrock ursprünglich in seiner Konzeption der Dreiecksbeziehung anvisiert hatte.

2.2.3 Poetikvorlesungen und die deutschen Verlage

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Das nachfolgende Kapitel nimmt nun eine Ecke des besagten Dreiecks in den Blick und fragt, wie die Verlage in Deutschland ihre Position innerhalb dieser Dreiecksbeziehung ausgefüllt und wahrgenommen haben. Es soll darum gehen, welche Synergieeffekte man sich von diesem Interessendreieck versprach, welche verlegerischen Strategien man dazu anwandte, und wie die verschiedenen Akteure auf Interessenkonflikte reagierten und dadurch Veränderungen bewirkten. Damit soll auch ein Stück deutsche Verlagsgeschichte beleuchtet und eine kleine Ergänzung zu den Verlagschroniken von Suhrkamp (Suhrkamp Verlag 1990) und S. Fischer (Stach 1986) geliefert werden. Meine Darstellung beruht auf Dokumenten aus dem Siegfried-Unseld-Archiv des Suhrkamp Verlags, welche am Deutschen Litertaturmuseum in Marbach zum Zeitpunkt des Forschungsprojektes zugänglich waren. Die noch ausstehende Erschließung der Bestände im Archiv des Fischer Verlages ebenso wie der noch unerschlossenen Bestände im Siegfried-Unseld-Archiv könnten in Zukunft weitere Details zutage bringen, die hier noch unberücksichtigt sind.

1 Der Suhrkamp Verlag und die Frankfurter Poetikvorlesungen 1959 bis 1979 Um das Engagement des Suhrkamp Verlegers Unseld bei der Planung der Frankfurter Poetikvorlesungen zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Dokumente der Gründungsphase. In den Jahren 1959 und 1960 finanziert der S. Fischer Verlag die Stiftungsgastdozentur. Die Gründe dafür, warum man diese Förderung auslaufen ließ, sind nicht bekannt – in den Verlagsgeschichten von Suhrkamp und S. Fischer werden die Poetikvorlesungen nicht erwähnt, entsprechenden Dokumente im S.-Fischer-Archiv, falls vorhanden, sind bisher nicht erschlossen. Bermann Fischers Entscheidung, sich von 1963 an aus der aktiven Verlagstätigkeit zurückzuziehen (Stach 1986, 167), könnte ein wesentlicher Faktor gewesen sein. 1961 übernimmt Unseld auf jeden Fall die Stiftungsfinanzierung. Die Grundlage für Unselds Einfluss wird bereits in den ersten Gesprächen mit dem Rektor der Universität, Karl Hax, gelegt, welcher seine Verhandlungen dem Stiftungsgremium gegenüber so zusammenfasst: „Herr Dr. Unseld vertrat den Standpunkt, dass die Wirkung dieser Gastdozentur entscheidend bestimmt wird durch die Auswahl geeigneter Persönlichkeiten. […] Allerdings glaube er, dass diese Verhandlungen relativ viel Zeit erfordern, weil sie nicht auf schriftlichem Wege, sondern in Form persönlicher Besprechungen erfolgen müssten. Nur so könne man wirklich erste Persönlichkeiten gewinnen, wobei auch die Zusammensetzung der gesamten Gruppe für die Entscheidung des Einzelnen von erheblicher Bedeutung sei. […]

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Herr Dr. Unseld nennt die Namen folgender Persönlichkeiten: Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch. Herr Dr. Unseld ist bereit, mit den genannten Herren bei nächster Gelegenheit persönlich zu sprechen. Er erbittet dazu aber die Zustimmung der Kommission“ (Hax 1961). Hier wird der Grundstein für Unselds Engagement nicht nur finanzieller, sondern auch organisatorischer und programmatischer Art gelegt. Programmatisch ist zweifellos relevant, dass Unseld nur männliche Schriftsteller als zukünftige Poetikdozenten vorschlägt, obwohl Ingeborg Bachmann und Marie-Luise Kaschnitz 1959 und 1960 bereits hervorragende Vorlesungen in Frankfurt gehalten haben. Letztlich setzt sich das auf männliche Dozenten konzentrierte Programm durch, denn erst 1982 hat mit Christa Wolf wieder eine Frau die Poetikdozentur inne. Organisatorisch setzt man in Frankfurt stärker als bei den anglo-amerikanischen Vorgängerveranstaltungen auf das persönliche Netzwerk und die kommunikativen Fähigkeiten des Verlegers. Ein Blick zu den Charles Eliot Norton Lectures an der Harvard Universität oder auch den Romanes Lectures in Oxford zeigt, dass in den anglo-amerikanischen Vorlesungsreihen, die zu dieser Zeit stattfinden, die zuständigen Professoren diese Kommunikationen durchführen, die in Frankfurt der Verleger Unseld übernimmt. Da unter den ausgewählten Dozenten Intellektuelle und Künstler aus verschiedenen Ländern vertreten sind, werden diese Kommunikationen zumindest teilweise schriftlich erfolgt sein. Generell geht dort primär die Initiative von den akademischen Einrichtungen und ihren Führungskräften aus, die Verlage Clarendon Press bzw. Harvard University Press sind nur in sekundärer Hinsicht in diese Prozesse involviert, und die Stifter sind entweder verstorben, wie im Fall von George John Romanes, oder unbeteiligt an der inhaltlichen Arbeit, wie der Geschäftsmann Chauncey Stillman in Harvard (siehe auch Kapitel 1.3.1). Die Unterschiede können verschiedene Gründe haben. Zum einen hat es an britischen und amerikanischen Hochschulen schon länger Tradition, Schriftsteller und Künstler einzuladen, zum anderen konnten die Eliteuniversitäten Oxford und Harvard mit großzügigen Stipendien immer schon attraktivere Angebote machen, als es der Universität Frankfurt möglich war. Unseld spielt daher von Anfang an eine starke Rolle innerhalb des Stiftungsgremiums, dem anfangs „Mitglieder des Lehrkörpers der Universität, der jeweilige und die früheren Stifter, angehören und das unter dem Vorsitz des Rektors berät“ (Viebrock 1988, 288). Er verpflichtet sich zur Finanzierung der Vorlesungsreihe mit 10.000 DM für ein Jahr, also 5.000 DM pro Semester, preist in seiner Zusage an den Rektor die „befruchtende Wirkung für das akademische wie auch für das literarische Leben“ und nennt die Poetikvorlesungen „eine Art Forschungsstätte für neue und unbekannte Räume und Welten“ (Unseld 1961). Er appelliert also einerseits an die akademischen Wertekategorien und Interessen,

2.2.3 Poetikvorlesungen und die deutschen Verlage

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setzt andererseits aber auch ein striktes zeitliches Limit, hier noch auf ein Jahr, in späteren Vereinbarungen auf zwei Jahre begrenzt (Viebrock 1962). Das führt dazu – intendiert oder nicht –, dass die Universität kontinuierlich in der Pflicht steht, ihre Beziehung zum Stifter zu pflegen. Gepaart mit Unselds Funktion als Kontaktperson in der Literaturszene entsteht so ein relatives Ungleichgewicht der Kräfte innerhalb des Stiftungsgremiums. Der Verleger führt von da an tatsächlich einen erheblichen Teil der Kommunikationen durch, wie sich Protokollen der Kommissionssitzungen entnehmen lässt. Große Teile dieser Protokolle fassen Unselds Berichte von oder der weiteren Planung für seine Gespräche und Korrespondenzen zusammen. Dagegen werden Kommentare des vorherigen Stifters, Gottfried Bermann Fischer, nur äußerst selten aufgeführt (Viebrock 1962, 1963; Rüegg 1966). Gerade bei den Gesprächen darüber, wen man als Poetikdozent in Betracht zieht, verfolgen die beiden Verleger natürlich immer auch Eigeninteressen. In den Listen, die Unseld immer wieder entwirft, zeigt sich, wie er plant. So etwa in der handschriftlichen Notiz, welche er auf einem Schreiben des Rektors macht: „Martin Walser (Bachmann, Böll, Enzensberger); Stephan Hermlin; Paul Celan (Versuch); Michael Hamburger“ (handschriftliche Notiz auf Rüegg 1965). Er ist darum bemüht, die SuhrkampAutoren Walser, der für ihn eine logische Fortsetzung in der Reihe BachmannBöll-Enzensberger darstellt, und Celan sowie deren Übersetzer Hamburger einzubringen. Bermann Fischer insistiert aus einem solchen Verlagsinteresse heraus auf einer Nominierung Peter Huchels (Viebrock 1963). Von einigen Ausnahmen abgesehen, verfährt man nach der Nominierung der Kommission in der Regel so, dass Unseld die nominierten Autoren als erstes kontaktiert, und, sobald er eine inoffizielle Zusage erhält, den Rektor und das Gremium informiert, worauf der Rektor dann eine offizielle Einladung verschickt. Unseld verfolgt die Kommunikationen des Rektorats bezüglich der Poetikvorlesungen sehr genau und interveniert auch, so zum Beispiel indem er den Rektor 1964 darauf hinweist, dass er versäumt habe, die Stiftungsgastdozentur Poetik ins Jahrbuch der Universität aufzunehmen (Unseld 1965). Unseld versteht schon sehr früh, dass die mediale Weiterverarbeitung ein wichtiger Aspekt für den Erfolg der Veranstaltungsreihe ist. Die beteiligten Universitätsdozenten scheinen das Engagement des Verlegers Unseld bei der Planung der Frankfurter Poetikvorlesungen begrüßt zu haben. Die Verhandlungen mit den Autoren erweisen sich zum Teil als schwierig, und man traut nur Unseld zu, die Hürden zu überwinden. So schreibt zum Beispiel Paul Stöcklein, seinerzeit Germanist und Mitglied im Stiftungsgremium, an Unseld: „Zu schade, daß Enzensberger zwar zugesagt hat, aber sich immer weiter in die Zukunft hineinverlegt hat. Könnten Sie ihm nicht bestimmen, daß er schon im Winter kommt! Es wäre doch so sehr nach meinem Herzen. Und auch im Sinne der

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Kommission, […] Kurz, ich setze meine Hoffnung auf Ihren Einfluß auf Enzensberger“ (Stöcklein 1963). Doch solche Zeugnisse dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Unselds Einfluss begrenzt war. Enzensberger hielt seine Poetikvorlesung letztendlich erst ein Jahr später, im Wintersemester 1964/65, und die immer wieder diskutierten Autoren Paul Celan und Max Frisch ließen sich zum Beispiel überhaupt nicht von ihm überreden. Unseld versteht es, seine verlegerischen Interessen mit denen der Poetikvorlesungen geschickt zu verbinden. So schreibt er in einem Bericht über eine Berlinreise 1978: „Gespräch mit Christa Wolf über die Gast-Dozentur Poetik. Erste Begegnung mit dieser überaus sympathischen 49-jährigen Schriftstellerin. […] Da sie Schriftstellerin in der DDR ist, ist ihr die Frage der Verlagsbeziehung nicht so vordringlich. Aber sie sei – und gedenke dies zu bleiben – Luchterhand-Autorin“ (1978). Hier zeigt sich also wie Unseld den Gesprächsanlass Poetikvorlesungen mit dem Versuch verbindet, die Autorin für sich anzuwerben. Für den Verleger ergänzen sich sein Engagement für die Stiftungsgastdozentur mit den von ihm vertretenen Verlagsinteressen in einer Symbiose. Die Kehrseite von Unselds zweifellos einflussreicher Rolle bei der Planung und Ausführung der Frankfurter Poetikvorlesungen zeigt sich 1968, als die Vorlesungsreihe komplett ausgesetzt wird. Die Hintergründe werden von den beteiligten Personen nur spärlich erläutert. Unseld selbst beschreibt seine Entscheidung folgendermaßen: „Hans Erich Nossack hielt die letzte ‚Poetik‘-Vorlesung. Es trat eine mehr als zehnjährige Pause ein. Die Institution Universität und die Instanz Literatur wurden in Zweifel gezogen. Hatten sie noch eine gesellschaftlich relevante Funktion? Ich mußte mich damals von der von Hans Magnus Enzensberger im Suhrkamp Verlag herausgegebenen Zeitschrift Kursbuch trennen, als in der Nummer 15 vom November 1968 Yaak Karsunkes ‚Anachronistische Polemik‘, Karl Markus Michels ‚Ein Kranz für die Literatur‘ und Walter Boehlichs ‚Autodafé‘ erschienen. Erst war es die bürgerliche Literatur, dann die Literatur überhaupt, die tot war“ (Unseld 1984, 4). Es scheint, dass ein fundamentales Zerwürfnis zwischen Enzensberger und Unseld, wenn auch nicht der einzige, so doch ein wesentlicher Grund dafür gewesen ist, dass er entschied, die finanzielle Unterstützung der Stiftungsgastdozentur zu beenden. Anders als bei den anglo-amerikanischen Vorlesungsreihen, wo großzügige Stiftungen langfristig Stabilität sichern, zeigt sich hier, wie sehr die deutschen Poetikvorlesungen von einer einzelnen Person abhängig waren.

2.2.3 Poetikvorlesungen und die deutschen Verlage

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2 Ausweitungen, Verschiebungen, Veränderungen seit 1979 In den späten 1970er Jahren nimmt Unseld Gespräche mit der Universität Frankfurt wieder auf, um ein Wiedereinsetzen der Poetikvorlesungen zu verhandeln. Er überredet Uwe Johnson in „langen Gesprächen“ (Unseld 2002, 28) dazu, als Poetikdozent anzutreten. Der Präsident, zu diesem Zeitpunkt Hans-Jürgen Krupp, entwirft daraufhin eine Art Satzung für die Stiftungsgastdozentur, in der er Verfahrensweisen und Beteiligungen neu festlegt. So darf nun zum Beispiel der Kreis der Freunde und Förderer einen Vertreter in die Kommission entsenden. Dieser hatte schon in früheren Jahren die Erstattung der Reise- und Unterhaltskosten der Poetikdozenten getragen, aber bis dahin nie Mitspracherecht erhalten. Außerdem einigt man sich auch auf „3 Vertreter des Lehrkörpers der J.W. Goethe-Universität, die der Präsident nach Anhörung des Senats vorschlägt“ (Krupp 1977). Man sieht hier also die deutliche Tendenz zu einer etwas breiteren Partizipation. Der Suhrkamp Verlag verpflichtet sich im Zuge dieser Verhandlungen zunächst zu der Stiftung von 20.000 DM für vier Semester (Marré 1977), welche die Dozentenhonorare abdecken sollten. Auf Unselds Initiative hin wird zudem die besagte Dreiecksbeziehung zwischen Universität, Verlag bzw. Verleger und Literatur bzw. Schriftstellern um eine weitere Interessengruppe erweitert: die Stadtverwaltung. Unseld veranstaltet begleitend zur Gastdozentur von Uwe Johnson 1979 einen großangelegten Festempfang, zu dem er ausdrücklich den Bürgermeister und, als dieser verhindert ist, den Kulturdezernenten der Stadt Frankfurt als Redner einlädt. Er erläutert in seinem Brief: „Ich halte sie [die Frankfurter PV] für eine wichtige Einrichtung für Autoren, für die Universität und ihre Studenten, aber auch für die Stadt Frankfurt. Wir sollten ja alles tun – über die formalen Beziehungen hinaus – die Verbindung zwischen den Bürgern der Stadt und dieser Universität zu fördern und zu aktivieren.“ Er geht nun soweit, die Stadt Frankfurt als Mitveranstalter dieses Empfangs nennen zu wollen und bittet darum „die Einladung des Suhrkamp Verlages in Verbindung mit der Universität wie auch mit dem Magistrat der Stadt Frankfurt“ aussprechen zu dürfen (Unseld 1979). Die der Akte beigelegte Einladungskarte bezeugt, dass Unselds Bitte stattgegeben wird. Diese erste Anstrengung, die Poetikvorlesungen auch kulturpolitisch zu instrumentalisieren, ebenso wie das Einführen vielfältigerer Mitspracherechte und Verfahrensweisen, leiten einen ganz grundsätzlichen Wandel dieser Institution ein, der zu dem Veranstaltungs- und Medienkonglomerat geführt hat, als welches sich Poetikvorlesungen heute präsentieren (siehe auch Kapitel 2.2.2). Besagter Kulturdezernent der Stadt Frankfurt, Hilmar Hoffmann zum Beispiel, trägt von da

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an zu der Einrichtung regelmäßiger Ausstellungen in der Frankfurter Stadt- und Universitätsbibliothek bei. Mit Bilddokumenten und Texten werden hier die Poetikdozenten porträtiert, entsprechende Ausstellungskataloge dienen der Verbreitung dieser Materialien über das lokale Publikum hinaus. Peter Rühmkorfs Poetikvorlesungen von 1980 waren die ersten, die in dieser Weise medialisiert wurden (Paschek und Bohn 1980). Für die Finanzierung solcher Ausstellungen beschließt man 1993 zum ersten Mal, an nicht-universitäre Sponsoren, auch aus der Wirtschaft, heranzutreten (Schlosser 1992). So erweitert sich der Kreis der Involvierten immer mehr, später schließen sich Literaturhäuser, Buchhandlungen und Fernsehsender an, indem auch sie Poetikvorlesungen zum Anlass nehmen, Lesungen oder Diskussionen zu oder mit einem Poetikdozenten zu veranstalten bzw. auszustrahlen. Das Feld der Akteure der Poetikvorlesungen erweitert sich nicht nur lokal, sondern auch bundesweit. Andere Universitäten beginnen, Veranstaltungen zur Poetik zu halten. Den Anfang machen die Universitäten in Mainz 1980 und Paderborn 1983, mittlerweile gibt es über 30 solcher Veranstaltungsreihen im deutschsprachigen Raum. In Mainz und Paderborn entwickelt man zudem neue Finanzierungs- und Organisationsmodelle, bei denen Verlage nicht involviert werden. Die Mainzer Poetikdozentur ist eine Kooperation der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur („Poetikdozentur | Mainz“), welche durch die Unterstützung des damaligen Landtagspräsidenten von Rheinland-Pfalz, Albrecht Martin, zustande kam (Hillebrand 2002a, 6). In Paderborn sichert das Präsidium der Universität die Finanzierung der Gastdozentur (Eke 2012, 25), in München das Kultusministerium. Der Kritik der FAZ, dass ein Verlag, „bei dem stets die Tendenz bestehen wird, seine eigenen Schriftsteller zu lancieren“ (Schostack 1987), die Entscheidungen beeinflusse, will man sich hier wohl nicht aussetzen. Diese neuen Finanzierungsmodelle haben seither viele andere Universitäten, die Poetikvorlesungen anbieten, adaptiert. Die Universitäten entwickeln in dieser Zeit ein neues Selbstbewusstsein als Veranstalter von Poetikdozenturen, was sich später dann auch darin niederschlägt, dass die zuständigen Germanisten wie Horst Dieter Schlosser und Hans Dieter Zimmermann in Frankfurt (1988), Bruno Hillebrand in Mainz (2002b), sowie Alo Allkemper, Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke in Paderborn (2012) mit Konferenzen und Veröffentlichungen dazu beitragen, das Thema als Forschungsgegenstand zu etablieren. In Bamberg geht man 2005 zum Beispiel dazu über, begleitend zu den Poetikvorlesungen immer auch Forschungskolloquia abzuhalten („Poetikprofessur Bamberg“ 2021) und deren Ergebnisse regelmäßig zu veröffentlichen.

2.2.3 Poetikvorlesungen und die deutschen Verlage

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Die Beteiligung deutscher Verlage an der Organisation wird in den 1980er Jahren komplexer und vielfältiger. Andere Verleger nehmen den Nutzen dieser öffentlichkeitswirksamen Inszenierung wahr und versuchen ihre Autoren dort zu platzieren. Außerdem kann der Suhrkamp Verlag langfristig die zusätzlichen Kosten, die durch Zusatzveranstaltungen und wachsende Honorarerwartungen der Poetikdozenten in Frankfurt entstehen, nicht allein auffangen. 1981 nimmt die Kommission Kontakt zu Hans Altenhein, dem Verleger des Darmstädter Herrmann-Luchterhand-Verlags, auf, um ihn für eine Teilfinanzierung bei Festempfängen zu gewinnen (Schlosser 1981), woran dieser sich 1983 beteiligt (Schlosser 1983). Der Präsident der Universität tritt 1982 auch wieder an den S. Fischer-Verlag heran (Schlosser 1982), der dann schließlich 1986 einen Empfang anlässlich der Poetikvorlesung von Hermann Burger mitfinanziert (Schlosser 1985). So werden immer wieder die Heimatverlage der Autoren gebeten, sich an der Finanzierung zu beteiligen, doch bleiben diese Beteiligungen zunächst ohne Mitspracherecht. So schreibt der Luchterhand Verleger Altenhein 1984 an die Frankfurter Kommission. „Ich möchte Sie auf einen möglichen Kandidaten für die Poetik-Dozentur aufmerksam machen: es ist der in Berlin/DDR lebende, gerade vierzig-jährige, Schriftsteller Christoph Hein“, und erinnert in einem Postskriptum außerdem an eine vorhergegangene Empfehlung für Gabriele Wohmann (Altenhein 1984). Der Verleger versucht hier seine Beteiligung zumindest in inoffizielle Mitsprache münden zu lassen. Gerade in persönlichen Gesprächen dürften dieser Art Vorschläge häufiger vorgekommen sein. Die Mitspracherechte einzelner Verlage aufgrund finanzieller Beteiligung bleiben als Modell auch bestehen, aber die Bedingungen verändern sich für Verlage. Steigende Veranstaltungskosten, Strukturveränderungen in der Verlagsbranche, das Ableben Siegfried Unselds 2002 und andere Faktoren führen zu grundsätzlichen Veränderungen. Die Frankfurter Poetikvorlesungen werden gegenwärtig zum Beispiel gemeinschaftlich von den Verlagen S. Fischer, Schöffling & Co. und Suhrkamp sowie der Stadt Frankfurt am Main, dem Literaturhaus Frankfurt und der Vereinigung der Freunde und Förderer der Universität finanziert und geplant („Frankfurter Poetikvorlesungen“). An anderen Orten beschränkt man die Beteiligung der Verlage auf die eigentliche Kernkompetenz, und zwar die Veröffentlichung der Druckversionen der Poetikvorlesungen – sofern das die Veranstalter und Autoren denn wünschen, was nicht immer der Fall ist. Bei vielen Vorlesungsreihen hat sich die schriftliche Veröffentlichung als routinemäßige Praxis etabliert. So erscheinen zum Beispiel die Texte der Heidelberger Poetikdozentur regelmäßig im Universitätsverlag Winter („Poetikdozentur – Universität Heidelberg“), die der Bamberger Poetikprofessur derzeit bei Königshausen & Neumann in der Reihe „Literatur und Gegenwart“ („Poetikprofessur – Otto-Friedrich-Universität Bamberg“). Der Suhrkamp Verlag hat viele der Frank-

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furter Poetikvorlesungen aber zum Teil auch solche, die in anderen Städten gehalten wurden, in seiner Taschenbuchreihe edition veröffentlicht. Die Veröffentlichung innerhalb dieser Reihen bieten die Veranstalter den Autoren im Vorfeld der Veranstaltung als Option an, es hängt aber natürlich von den vertraglichen Beziehungen und der Bereitschaft von Verlag und Autoren ab, ob das so realisiert werden kann. Generell lässt sich festhalten, dass sich die gegenwärtigen Poetikvorlesungen gegenüber den 1960er Jahren deutlich von verlegerischen Einflüssen emanzipiert haben, und die starke Hierarchie einem Gleichgewicht der Kräfte im Viereck aus Literatur, Verlagen, Universitäten und der Öffentlichkeit gewichen ist.

3 Edition und Veröffentlichungen der Texte Die wesentlichste Funktion der Verlage besteht gegenwärtig tatsächlich darin, die als Poetikvorlesungen gehaltenen Vorträge zu veröffentlichen. Es soll deshalb jetzt in einem letzten Abschnitt noch einmal um die inhaltliche Betreuung und Nachbereitung der Poetiken gehen, die das Lektorat eines Verlages leistet. Dabei kann, wie eingangs schon erwähnt, keine systematische Analyse durchgeführt werden, sondern es soll lediglich darum gehen, an einem Einzelbeispiel zu erläutern, wie sich auch auf dieser Ebene Verlagsinteressen niederschlagen können. Als Material dienen zwei redigierte Typoskripte der Poetikvorlesungen von Elisabeth Borchers, die sie im Sommersemester 2003 unter dem Titel Lichtwelten. Abgedunkelte Räume in Frankfurt hielt. Borchers war zu der Zeit Lektorin im Suhrkamp Verlag und hat mit dem dortigen Lektorat sowohl bei der Vor- wie auch der Nachbereitung ihrer Vorträge zusammengearbeitet. Das erste Typoskript ist auf den 14. Dezember 2002 bzw. den 20. Januar 2003 datiert. Es handelt sich hier um eine formlose Zusammenstellung von fünf Kapiteln, die ein Lektor mit handschriftlichen Kommentaren und Korrekturen versehen hat. Die Art der Kommentare lässt vermuten, dass diese Bearbeitung vor den Veranstaltungen im April und Mai 2003 erfolgte. Das zweite Typoskript ist undatiert, aber es enthält bereits eine für die Reihe Edition Suhrkamp typische Titelei, ist also im Verlag erstellt worden. Das zweite Typoskript ist mit handschriftlichen Kommentaren und Korrekturen von zwei verschiedenen Händen versehen und vermutlich in der Nachbereitung der Vorlesungen entstanden.

3.1 Vom ersten Entwurf zur Vorlesung Die Änderungsvorschläge, die der Lektor im ersten Typoskript macht, laufen grob gesprochen darauf hinaus, den Text etwas zu glätten. Borchers baut ihre Vorträge

2.2.3 Poetikvorlesungen und die deutschen Verlage

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um eine Reihe von Beobachtungen zu eigenen Texten ebenso wie denen anderer Schriftsteller auf, um so bestimmte Themenkonstellationen nachzuzeichnen, die für ihre Arbeit als Dichterin relevant sind. Darunter sind Themen wie Kindheit, Licht und Dunkel, oder der Stellenwert von Gedichten, aber auch Einblicke in ihre Arbeit als Lektorin. Dabei fügt sie gern kleine ideengeschichtliche Randbemerkungen ein, mit denen sie generalisierende, gerade auch für die Gegenwart relevante Kontexte andeutet. Dem redigierenden Lektor missfällt dieses Verfahren offensichtlich. Wiederholt schlägt er vor, solche Passagen zu streichen. Um einige Beispiele zu nennen: Die folgende Randbemerkung über Joseph von Eichendorff ist im Typoskript gestrichen: „Kürzlich las ich die Interpretation eines seiner Gedichte, und hier hieß es: Daß Eichendorffs heilsgewisses Ausruhen in unbeschädigter Natur nicht mehr zumutbar sei, da wir uns im Zeitalter fortgesetzter ökologischer Desaster befänden. (Nur die menschliche Einsamkeit, die ganz gegenwärtig artikuliert sei, treffe uns noch.)“ (2003b, 5). Ein Deleatur erscheint auch neben der Bemerkung zu Theodor Adornos Kritik einer Übersetzung Walter Benjamins: „Im übrigen urteilte Theodor W. Adorno: ‚Zwei der vollkommensten Übersetzungen der deutschen Sprache.‘ Dieses Urteil sei zu widerlegen, so lassen sich Kenner vernehmen. Dieses Adorno-Zitat lediglich en passant, als Beweis dafür, daß sowohl Benjamin und Hessel überboten werden können als auch Adorno“ (2003c, 7– 8). Auch eine provokative Anmerkung zu Ehescheidungen, die Borchers im Zusammenhang ihrer Reflexionen über Else Lasker-Schüler anstellt, möchte der Lektor lieber streichen: „Die erste Scheidung in Preußen war der Auftakt zum Zeitalter der Scheidungen, das nicht nur bis heute anhält, das sich wohlgefällt und immer geringere Gründe für ausreichend erachtet, um vollzogen zu werden“ (2003d, 16). Bei Borchers mystischer Interpretation des französischen Romans Paulina 1880 von Piere Jean Jouve, dessen Übersetzung sie als Lektorin betreute, werden die Änderungsvorschläge des Lektors nachdrücklicher. Einmal notiert er „bißchen kompliziert!“ (2003c, 21– 22). Einzelne Passagen in Borchers Überlegungen zu Autorinnen, welche schweren Depressionen erlagen, sind mit Wellenlinien und Kommentaren versehen. So steht „verstehe ich nicht!“ (2003d, 7– 8) neben einer mystischen Bemerkung zu Hertha Kräftners Tod oder ein ganzer Abschnitt wird kommentiert, „Ich würde die Passage über Plath rausnehmen – es genügt, was bisher zu lesen/hören war …“ (Borchers 2003d, 23 – 24). Die zunehmende Emphase der Änderungsvorschläge drückt eine gewisse Besorgnis darüber aus, dass die Vorträge ihr Publikum überfordern können. Borchers übernimmt die genannten Streichungen nicht und besteht so auf der Komplexität, bewusst das Risiko eingehend, dass ihre Leser oder Zuhörer dies als

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Herausforderung oder gar Provokation empfinden. Sie modifiziert den Wortlaut der vom Lektor gestrichenen Passagen an der einen oder anderen Stelle oder fügt einen erläuternden Zusatz hinzu, hält aber im Kern am Stil und der Substanz dieser kleinen Exkurse oder Randbemerkungen fest. Nur in Ausnahmen folgt sie den Änderungsvorschlägen. So streicht sie beispielsweise eine kritische Bemerkung über Lektoratsbewerberinnen oder kürzt vereinzelt Passagen, die nichts substanziell Neues beitragen. Am entschiedensten ändert sie den Entwurf des letzten Kapitels, das im Autorentyposkript mit 31 Seiten deutlich länger als die anderen Kapitel ist, die zwischen 16 und 25 Seiten umfassen. Vermutlich in dem Bemühen, die Länge ihrer Vorlesungszeit nicht zu überschreiten, eliminiert sie etwa fünf Seiten mit Ausführungen zu Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner.

3.2 Von der Vorlesung zum Druck Stand in der ersten Korrekturphase des Lektorats der Versuch im Vordergrund, den Text zu glätten, so geht es in der Nachbereitung der Vorlesungen darum, Markierungen des Textes als mündlicher Vortrag zu entfernen, und die endgültige Druckfassung zu gestalten. Zwei verschiedene Lektoren redigieren das Verlagstyposkript, um es für den Satz vorzubereiten. Die erste Hand entfernt systematisch alle Nennungen der Daten, an denen die fünf Veranstaltungen stattfanden, sowie die Begrüßungen an das Publikum am Beginn jeder Vorlesung. Anders verfährt man mit Borchers Einleitungsabsatz in ihrer ersten Vorlesung. Obwohl die Passage explizit auf Ort und Zeit der Vorlesung Bezug nimmt, wird sie nicht gestrichen: „Wenn ich die erste und zweite Reihe auf- und abgehe, komme ich nicht umhin, Siegfried Unseld zu vermissen – nicht aber nur ihn. Zugleich ist mir die Vorstellung lieb, daß diese beiden Abwesenden dennoch zugegen sind“. In dieser kurzen Hommage beschwört sie gewissermaßen den Geist des 2002 verstorbenen Suhrkamp Verlegers herauf (2003a, 10) – sie benennt die zweite vermisste Person allerdings nicht. Diese Strategie begrüßt das Suhrkamp Lektorat natürlich, da sie das Verlagsprofil stärkt. Dem Verlagstyposkript sind aber auch interne Debatten darüber zu entnehmen, ob und wie sich Vortrag und Druck von Poetikvorlesungen unterscheiden sollten. So macht die zweite Hand beim Redigieren erneut den Vorschlag, die im ersten Typoskript kritisierte Bemerkung zu Theodor Adornos Übersetzungskritik herauszunehmen, mit der Begründung: „Solche Abschweifungen sind beim Vortrag sicher gut, in Schriftstücken wirken sie etwas überflüssig“ (2003a, 52). Der Kommentar ist dann aber wieder gestrichen worden. Zur Vorstellung eines glatten, einfach zu lesenden Textes gesellt sich dann noch die Forderung nach exakten Textverweisen. So lautet eine weitere handschriftliche Anmerkung: „Wäre ein

2.2.3 Poetikvorlesungen und die deutschen Verlage

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Verzeichnis der Quellen nicht angebracht? (vielleicht kommen einige Leser auf den Geschmack und wollen die zitierten Texte/Autoren selbst lesen, v. a. die Sachen von Fr. Borchers selbst.) – Fr. Borchers fragen“ (2003a, 76). Borchers hat diesem Vorschlag letztlich nicht aufgenommen, und die Druckversion enthält keine Quellenangaben. Auch die Anstrengung, Texthinweise eigenständig zu verfolgen, meint sie offensichtlich ihren Lesern zumuten zu können. Die hier aufkommenden Fragen und Korrekturen drehen sich im Kern darum, welchen Status gedruckte Poetikvorlesungen eigentlich haben. Sollen Sie die gehaltenen Reden möglichst akkurat abbilden oder etwa verlängert, verbessert oder verschönert wiedergeben? Aufgrund des eingangs erwähnten hybriden Charakters der Poetikvorlesungen – ihrer Doppelfunktion als Veranstaltung und Text sowie der Verortung im Interessenviereck von Öffentlichkeit, Universität, Verlagen und Literatur – gibt es darauf aber keine eindeutige Antwort. Die Entscheidungen, die im Fall von Borchers Textversion gefällt worden sind, entsprechen den Vorstellungen und Wünschen der Autorin, sind aber keineswegs allgemeingültig. Einige Poetikdozenten wie Uwe Johnson oder Rolf Hochhuth nutzen die Druckversion, um weiter ausgearbeitete Versionen ihrer Vorlesungen vorzulegen, eine Praxis, die ja bei akademischen Vorträgen auch verbreitet ist. Im Fall des damals schon fast erblindeten Jorge Luis Borges, der seine Poetikvorlesungen frei aus dem Gedächtnis vortrug, hat der Herausgeber Tonaufnahmen transkribiert und alle Stellen korrigiert, in denen Borges Zitate fehlerhaft wiedergab (Mihăilescu 2000, 143 – 45). Dieses Verlangen, einen möglichst umfassenden, möglichst akkuraten und möglichst glatten, leicht zugänglichen Text zu veröffentlichen, ist, gerade aus der Sicht der Verlage, natürlich verständlich. Auch der Wunsch, den Drucktext aus seiner Verortung an den konkreten Raum und die historische Zeit der Performanz zu lösen, lässt sich gut nachvollziehen. Wie Borchers Typoskripte sehr schön zeigen, möchte der Verlag einen möglichst allgemeingültigen, dauerhaft aktuellen Text, der auch zukünftigen Lesern nicht schon aufgrund seiner Datierung als überaltert oder überholt erscheint. Der Drucktext soll, soweit es geht, die Dualität der Poetikvorlesung als Schrift und Performanz verleugnen, um sie aus ihrer Gegenwart zu lösen und von der Vorläufigkeit einer poetologischen Momentaufnahme zu befreien. Nur eine kleine Notiz im Autorenporträt verweist dann noch auf die Textgenese. Demgegenüber steht ein ebenfalls berechtigtes und verständliches Bedürfnis, die zeit- und ideengeschichtliche Verortung der Vorträge wie auch der Poetikdozentin selbst, getreu abzubilden. Die auch in der Druckfassung erhaltene Eröffnung, in der Borchers den Geist Siegfried Unselds heraufbeschwört, ist das beste Beispiel dafür. Hier steht das Verlangen nach einem zeitlos gültigen Text hinter dem Bedürfnis zur Erinnerung an die eigene Verlagsgeschichte zurück. Es wäre durchaus denkbar, dass ein ähnliches historisch-biographisches Interesse dabei

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Pate stehen könnte, Borges‘ Poetikvorlesungen, zum Beispiel, mitsamt aller Fehler zu veröffentlichen. Ein solches Editionsverfahren würde Borges‘ enorme Gedächtnisleistung und seine tiefe Verankerung in einem Leben für und mit der Literatur noch eindrucksvoller vorführen, als es ein korrigierter, verlegerisch geglätteter Text zu leisten vermag. Auch Borchers Entschluss, der Druckversion ihrer Poetikvorlesungen keine Quellennachweise anzuhängen, ist ja ein Bekenntnis zu einer nicht-akademischen Rezeption, bei der Literatur ein selbstverständlicher Teil des Denkens und Lebens ist.

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2.2.3 Poetikvorlesungen und die deutschen Verlage

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Claudia Dürr und Kevin Kempke

2.2.4 Verschiedene Rezeptionen der Poetikvorlesungen durch die Literaturkritik, die Literaturwissenschaft und die Öffentlichkeit Die Poetikvorlesung gilt seit ihren deutschsprachigen Anfängen in den 1950erJahren als Format der Vermittlung: zwischen Dichtkunst und Wissenschaft, zwischen Theorie und Praxis; sie richtet sich sowohl an ein konkretes Publikum vor Ort im Hörsaal als auch an Leser*innen der – häufig gedruckten – Vorlesungen. Laut Helmut Viebrock, seinerzeit Professor für Anglistik und einer der Gründer der Frankfurter Poetikdozentur, sei es das Ziel gewesen, mit Poetikvorlesungen eine „Brücke zwischen der Dichtkunst und der Wissenschaft“ zu schlagen. Das Vorhaben war darauf ausgerichtet, „die bedeutendsten schöpferischen Kräfte der Dichtung und Literaturkritik in Kontakt mit der akademischen Jugend zu bringen“ (Viebrock 1959). Literaturkritiker*innen sind indes im Lauf der Institutionengeschichte nur selten nach Frankfurt eingeladen worden – eine seltene Ausnahme stellt z. B. Reinhard Baumgart (Aussichten des Romans, 1966) dar. Genannt werden in diesen frühen institutionellen Selbstbeschreibungen aber tatsächlich diejenigen Diskurs-Institutionen, die als vornehmliche Rezipient*innen der Form gelten können: die Literaturkritik und die Literaturwissenschaft. Dort werden Poetikvorlesungen besonders genau gelesen, während sie umgekehrt und – in einer gattungstypischen Volte zwischen Erwartungen und Erwartungserwartungen – von Autor*innen auch dazu genutzt werden, die professionellen Leser*innen direkt und indirekt zu adressieren. Mittlerweile ist das einstmals als Experiment gestartete Projekt als Institution etabliert und die Feststellung des Booms ähnlicher Vorlesungsreihen ebenso fixer Bestandteil germanistischer Erörterungen des Phänomens wie die Frage nach der Einordnung des Genres. Dabei lag der Fokus bislang auf der Analyse der publizierten Vorlesungen und ihrer Klassifikation als Essays mit variierenden literaturtheoretischen, autobiographischen, selbstreflexiven und literarischen Anteilen. Die hybride Form der Gattung, die die Germanistik mit taxonomischen Herausforderungen konfrontiert, sowie die Vielfältigkeit der Umsetzung führte auf Seiten der Forschung lange vor allem zu Einzelstudien, die Poetikvorlesungen in den meisten Fällen als Paratexte zu den eigentlichen Werken der Autor*innen behandeln. Erst in den letzten Jahren gibt es vermehrt Studien, die versuchen, https://doi.org/10.1515/9783110647884-017

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gattungs- und medientypische Erscheinungsformen der Poetikvorlesung zu systematisieren (siehe auch Kapitel 1.2; Schmitz-Emans 2018; Kempke 2021), aus vergleichenden Analysen ästhetische Trends abzuleiten (Kyora 2016; Hachmann 2014) oder Poetikvorlesungen im Zusammenhang mit Autorschaft zu diskutieren (Herrmann und Horstkotte 2016, 206; Kempke 2021). Da die wissenschaftliche Rezeption von Poetikvorlesungen an mehreren anderen Stellen dieses Handbuchs intensiv analysiert wird (dazu auch Kap. 1.2 und 2.1.5), soll der Fokus in diesem Beitrag vor allem auf der literaturkritischen Rezeption von Poetikvorlesungen liegen, mit einem kleinen Seitenblick auf Rezeptionszeugnisse einer breiteren Öffentlichkeit.

1 Formen der Poetikvorlesungskritik Poetikvorlesungskritik ist wie das Format, dem es sich widmet, ein Hybrid. Auch ist analytisch zu unterscheiden zwischen Rezensionen der Vorlesungen als Veranstaltungen einerseits und der Buchveröffentlichung andererseits. Die Vorlesungsrezensionen sind Literatur- und Poetikbesprechung, Veranstaltungskritik und Autor*innenporträt, nicht zuletzt Information: Sie verweisen auf begleitende Ausstellungen, anschließende Lesungen und demnächst erscheinende Bücher (die Ausführungen zu den Vorlesungsrezensionen folgen Claudia Dürrs Auswertung für literaturkritik.at; Dürr 2017). Sie fokussieren auf die Vorlesung, halten die Möglichkeit oder Ausrichtung auf eine gedruckte Version aber latent präsent – und zeichnen sich vor allem durch ihre Vermittlungsleistung aus. Auch das Feuilleton betont entsprechend die potenzielle Offenheit des Genres und bewertet zunehmend, wie die Autor*innen die Aufgabenstellung bewältigen. Eine besonders positiv konnotierte Zuschreibung ist die Klassifikation der Poetikvorlesung als Werkstattbericht, der Einblick in ansonsten verborgene kreative Prozesse gewährt. Ebenfalls lobend erwähnt wird die anschauliche Kombination von Theorie und Praxis. Bei Poetikvorlesungen mit ausgeprägt performativem Charakter und/ oder theatralischen Aspekten diskutieren Rezensionen die Poetikvorlesung eher als künstlerisch-konzeptionelles Werk. Der Tenor der Literaturkritik ist wohlwollend mit überwiegend deskriptiven Anteilen. Mit wenigen Ausnahmen ähneln sich die Rezensionen in ihrer Bewertung und Argumentation – was angesichts einer überschaubaren Anzahl an berichtenden Medien und Kritiker*innen wenig verwundert.

2.2.4 Verschiedene Rezeptionen der Poetikvorlesungen

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2 Wertungskriterien und ihre Entwicklung Die genannten Wertungskriterien haben sich dabei im Laufe der Jahrzehnte eingependelt. Insbesondere in den ersten Jahren der Frankfurter Poetikdozentur dienen die Rezensionen aber noch einer Verständigung über grundlegende Eigenschaften und Leistungen des neuen Formats. 1959 erschien die Tatsache, dass eine Schriftstellerin, namentlich „Dr. Ingeborg Bachmann“, „Poetik“ in einer Universität las, so ungewöhnlich, dass die FAZ den Begriff Poetik unter Anführungszeichen und den akademischen Titel vor den Namen der Dichterin setzte. Das Experiment von Frankfurt nannte der Bericht das Vorhaben, Studierenden Fragen zeitgenössischer Literatur aus der Perspektive von Schriftsteller*innen zu vermitteln (Schwab-Felisch 1959). Die Vortragende Bachmann „bekannte, daß sie bis zuletzt fast unfähig gewesen sei, einen Ansatz zu finden für diesen Versuch, der ihr nicht recht geheuer sei“ (Schwab-Felisch 1959; Bachmann 2005 [1959], 254). Insbesondere die FAZ wird in den ersten Jahren der Dozentur dann auch zum Forum für die literaturkritische Vermessung der neuen Form. Aufschlussreich ist ein Artikel von Günter Rühle, der 1961 unter dem Titel Dichter in der Universität. Zu dem Versuch einer Gastdozentur für Poetik die ersten drei Dozenturen (Ingeborg Bachmann, Marie Luise Kaschnitz, Karl Krolow) vergleichend einordnet. Rühle arbeitet heraus, was die Dozentur in seinen Augen leistet und was nicht. Sie schaffe es, Wissenschaft und ‚Dichtung‘ miteinander zu verbinden und die „interpretatorische Selbstgefälligkeit“ der Literaturwissenschaft produktiv zu stören. Nicht zum Funktionsspektrum der Poetikvorlesung gehöre hingegen „Handfertiges über gegenwärtige Literatur“ zu formulieren, „Anweisungen zum Machen von literarischen Gebilden [zu] geben“ (Rühle 1961) sowie einen normativen Literaturbegriff zu entwickeln. So kommt Rühle zu dem Schluss, dass vor allem Krolow als gelungenes Beispiel für einen Poetikdozenten anzusehen sei. Seine tendenziell professorale Interpretation der Rolle sei besser zu bewerten als die Thematisierung der „dichterischen Existenz“ im „existenziellen“ Modus, wie sie Bachmann betrieben habe. Die angestrebte Verbindung von Schriftsteller und Wissenschaftler sieht Rühle jedenfalls nicht in Bachmann, sondern in Krolow verwirklicht – während heute insbesondere Bachmanns Vorlesungen als Prototyp der Gattung Poetikvorlesung wahrgenommen werden. Die Frage, inwiefern die Autor*innen als Schriftsteller*innen oder als Wissenschaftler*innen auftreten, spielt in Poetikvorlesungen allerdings bis heute immer wieder eine Rolle. Die Abgrenzung der häufig selbst geisteswissenschaftlich (aus‐)gebildeten Poetikdozent*innen von der literaturwissenschaftlichen Methodik findet sich in den Vorlesungen ebenso häufig wie bestimmte distanzierende Eingangsfloskeln und

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schreibt somit die Erwartungen an das Genre von Vorlesung zu Vorlesung mit (Kempke 2020).

3 Öffentlichkeitswirksamkeit: Poetikdozenturen im Feuilleton Das Rezensionsgeschehen im deutschsprachigen Raum fokussiert sich ganz deutlich auf die Frankfurter Poetikdozentur. Das Netz an intertextuellen Verweisen auf andere in Frankfurt gehaltene Vorlesungen ist dabei nicht nur in diesen selbst (Kempke 2021), sondern auch in den Rezensionen dicht – sowohl in Form wertender Vergleiche mit kurz zurückliegenden Vorlesungen als auch im Evozieren der prominenten Ahnenreihe. Im Zeitraum von 2001 bis 2015 erschienen im deutschsprachigen Feuilleton 180 Artikel zu den Frankfurter Poetikvorlesungen. Im Schnitt können Dozent*innen vier Berichte in drei Zeitungen zu ihren Vorlesungen erwarten, zusätzlich vorab mindestens eine Ankündigung, im besten Fall noch eine Buchrezension danach. In überregionalen Feuilletons sind die Frankfurter Poetikvorlesungen die einzige deutschsprachige Dozentur, über die zuverlässig und mit Regelmäßigkeit berichtet wird, obwohl oder gerade weil sich in den letzten 30 Jahren die Anzahl an Poetikdozenturen stark vergrößert hat. Entsprechend wird in den Artikeln auch die Sonderstellung der Frankfurter Poetikdozentur wiederholt hervorgehoben. Auch wenn andere Poetikdozenturen als die Frankfurter insbesondere im überregionalen Feuilleton in geringerer Zahl, Ausführlichkeit und Regelmäßigkeit besprochen werden, werden einzelne Vorlesungen natürlich dennoch mit Artikeln bedacht. Generell lassen die Besprechungen indes ähnliche Tendenzen erkennen wie beim Frankfurter Urgestein. Prominenz und Provokation führen auch bei Poetikvorlesungen zu erhöhter feuilletonistischer Aufmerksamkeit. Das Interesse richtet sich in diesem Fall auf den Nachrichten- und Debattenwert der Vorlesungen. Als etwa Maxim Biller 2018 in Heidelberg der deutschen Gegenwartsliteratur Erstarrung im Schuldkomplex vorwarf (Delius 2018), erschienen nicht nur Essays und Repliken, sondern noch vor der zweiten Vorlesung auch ein Abdruck der ersten (Biller 2018), sodass sich die Diskussion – anders als bei Kracht (Dürr 2018; Kempke 2019) – auch für Nicht-Dabeigewesene öffnete. Einzelne Aufmerksamkeitsspitzen lassen sich bei Neugründungen von Dozenturen beobachten, bei denen die Besprechungen dann gerne auch noch einmal grundsätzlichen Charakter in ihrer Evaluation von Form und Format der Poetikvorlesung annehmen und die Einrichtung derselben begrüßen. „Sie entspricht offenbar einem Desiderat“, konstatierte etwa die SZ bei Gründung der

2.2.4 Verschiedene Rezeptionen der Poetikvorlesungen

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(kurzlebigen) Münchener Poetikdozentur (Schirnding 1988). Aber auch in anderen Beiträgen werden Geschichte und Form der Poetikvorlesung angeschnitten, in der jüngeren Vergangenheit auch öfter im Rahmen einer eher kritischen Einschätzung von Poetikdozenturen. Jan Wiele etwa geht in seiner Besprechung der Heidelberger Vorlesungen von Lutz Seiler zunächst auf die „Inflation von Poetikvorlesungen“ und die daraus entstehenden Probleme ein, um auf dieser Folie die Leistungen Seilers umso positiver hervorzuheben: Diesem sei es gelungen, praktisch zu demonstrieren, wie die Poetikvorlesung als „Form der Metaliteratur, die, ohnehin ja von manchen als die einzige noch mögliche Form des Erzählens erachtet, in ihrer Freiheit und Unbegrenztheit die einzelnen Gattungen noch übertreffen kann“ (Wiele 2015). Anlässlich Thomas Glavinics Auftritt in Bamberg wiederum betont Johanna Roth eingangs die lange Tradition der „Poetikprofessur als Sprachrohr literarischen Selbstverständnisses“, um abschließend festzustellen, man sei mit der diesmaligen Wahl des Dozenten „an die Grenzen dieser Form der wissenschaftlichen und sprichwörtlichen Annäherung an den Autor“ gestoßen (Roth 2012).

4 Autorschaft zwischen Performance und Publikation Auch wenn die konkrete Poetikvorlesung Interaktion und Spontaneität eher suggeriert denn praktisch einlöst, betonen Rezensionen häufig die geteilte Erfahrung im Hörsaal, indem sie den räumlichen Kontext erwähnen und die kommunikative Situation skizzieren – und sei es nur, um Anzahl (fast immer sehr zahlreich), Alter (meist alt) und Milieuzugehörigkeit des Publikums (Frankfurter Westend-Bildungsbürgertum; zu selten studentisch) sowie die Reaktionen der Zuhörer*innen zu erwähnen. Das Urteil der Rezensent*innen kann sich davon unterscheiden, Erkenntnisgewinn ist wichtiger als Unterhaltsamkeit.Während die Germanistik für die Poetikvorlesungen des 21. Jahrhunderts einerseits den Abgesang auf „autobiografisch-subjektive Kategorien wie Selbstauskünfte, autobiografischer Pakt, Reflexion auf das eigene Schreiben oder auch Werkstattpoetiken“ (Bohley 2012, 242) angestimmt hat, sind diese Aspekte in der Rezeption des Feuilletons positiv besetzt und in Poetikvorlesungen weiterhin überaus häufig zu finden. Der literaturwissenschaftliche Befund, dass mit dem persönlichen Hervortreten von Autor*innen in der Vorlesungssituation in den letzten Jahren paradoxerweise Autorschaftskonzepte einhergingen, die die Verbindung von Autor*in und Text eher zurücknehmen (Kyora 2016, 34), bringt die Spannung des Formats zwischen Performance und Publikation auf den Punkt. Das Autor-Ich

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mag sich dabei als autofiktionale Erfindung aufheben wollen, die physische Präsenz ist unhintergehbar. Die performative Poetik, das Zusammenfallen von Ausführung und Aufführung (auch wenn es sich um vorbereitete Texte handelt), lässt Werte wie Echtheit und Glaubwürdigkeit, „Authentizität im Sinne einer Begegnung“ (Wohlleben 2005, 45) noch lange nicht passé erscheinen (Dürr 2017). Die Vorlesungen von Christian Kracht und ihre Aufnahme im Feuilleton vermitteln davon ein anschauliches Bild – die Verbindung von ‚Authentizität‘ und Präsenz wird dabei zugleich ausgestellt und reflektiert (Dürr 2018; Kempke 2019). In jedem Fall ist die spezifische Verbindung von Auftritt, poetologischem Text und Autor*infigur eine der zentralen Herausforderungen für eine Gegenwartsliteraturwissenschaft. Carlos Spoerhase sieht die Gefahr, dass es durch Formate wie Poetikvorlesungen zu einer, „unkontrollierte[n] Aufwertung autorzentrierter Interpretationsverfahren“ komme (Spoerhase 2014, 22), während Matteo Galli kulturkritisch beklagt, dass die „Präsenz des Autors“ in vermittelnden Formaten „an die Stelle des Œuvres“ getreten sei (Galli 2014, 63).

5 Poetikvorlesung und das Prinzip der Dialogizität Angesichts der Darstellung der Poetikvorlesung im Feuilleton als eine der meist beachteten und angesehensten Ehrungen des Literaturbetriebs überrascht es, dass die Auswahl der Autor*innen nur in Ausnahmefällen kommentiert wird, und dass die die Dozent*innen bestimmenden Gremien und ihre Kriterien unerwähnt bleiben. Die Wahl steht nicht zur Debatte. Mit Erhalt der Einladung dürfen Autor*innen erwarten, unter Nennung bisheriger Publikationen, Auszeichnungen und andernorts gehaltenen Vorlesungen vorteilhaft präsentiert zu werden. Ihnen öffnet sich ein Raum, die Aufnahme in eine Reihe, an der offenbar wenig auszusetzen ist – ausgenommen ein wenig Verstaubtheit und ergrautes Publikum (ein Umstand, der freilich selten bemängelt wird). Hauptadressat vieler Vorlesungen ist aber sowieso ‚das Archiv‘ und die professionelle Leserschaft in Feuilleton und Universität. Genau wie auch das Verhältnis zwischen Poetikdozent*innen und Literaturwissenschaft von Dialogizität und gegenseitigen Adressierungen geprägt ist, setzen sich Autor*innen in ihren Vorlesungen auch immer wieder explizit mit Literaturkritik auseinander. Ein einschlägiges Beispiel dafür sind Uwe Johnsons Begleitumstände von 1979, genauer: die Buchversion dieser Vorlesungen (Johnson 1980). In ausführlicher Länge und unter Heranziehung einer großen Anzahl von Dokumenten und Belegen nutzt Johnson die Vorlesungen im Buch einerseits dazu, seine Erfahrungen

2.2.4 Verschiedene Rezeptionen der Poetikvorlesungen

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als politisches Subjekt zwischen DDR und BRD in ihrer Relevanz für seine Arbeit aufzuzeigen, andererseits verfolgt er den Anspruch, einige Debatten und Streitfragen aus seiner Sicht klarzustellen und seine Rezeption kritisch zu kommentieren – vor allem in der letzten Vorlesung, die im Buch quantitativ fast die Hälfte des Gesamtumfangs ausmacht, also ganz erheblich erweitert wurde. Dazu wird eine Vielzahl von Dokumenten (teilweise in ausführlichen Zitaten) herangezogen, um Urteile in Rezensionen zu korrigieren, Leseanweisungen zu geben und alte Streitfälle, wie die Posse um einen Artikel über die Berliner Stadtbahn, noch einmal umfassend aufzurollen. Im letzten Teil seiner Vorlesungen collagiert Johnson über sieben Druckseiten Urteile (zumeist literaturkritischer Art) über die bis dahin erschienenen Bände seines Romanzyklus’ Jahrestage. Ziel dieses Verfahrens ist es, das Versagen einzelner Kritiker*innen bzw. der Kritik im Ganzen in Szene setzen, der es nicht gelungen sei, sein Romanprojekt angemessen zu würdigen und häufig sogar explizite Fehldeutungen und Missverständnisse verursacht habe (Johnson 1980, 429 – 435). Die tendenziöse Anordnung der Zitate verfolgt das Darstellungsziel einer Selbstentlarvung der Kritik, der Widersprüchlichkeit ihrer Urteile und ihrer ungenauen Lektüren (vgl. Lassen 2000, 106 – 114). Wolfgang Hilbig hingegen stellt seine ganze Vorlesungsreihe unter den Titel Abriß der Kritik (Hilbig 1995) und geht im Laufe seiner Vorträge auf verschiedene Dimensionen des Kritikbegriffs ein. Vor allem in den ersten beiden Vorlesungen geht es dabei auch um Literaturkritik im engeren Sinn, speziell im Vergleich der Situation in der BRD und der (1995 schon ehemaligen) DDR. Literaturkritik wird dabei in einem größeren gesellschaftlichen, historischen und ideengeschichtlichen Kontext verortet. Hilbigs Urteil über den Stand der Kritik ist negativ: Kritik habe als Motor der Entwicklung an Bedeutung verloren und sei Teil einer massenmedialen Aufmerksamkeitsökonomie geworden (vgl. z. B. Hilbig 1995, 10 – 13, 88 – 91). Derart ausführliche Auseinandersetzungen mit der Literaturkritik (wie bei Hilbig) oder der Kritik am eigenen Werk (wie bei Johnson) sind in Poetikvorlesungen eher die Ausnahme. Die Zurückweisung bestimmter Positionen, die im Feuilleton oder in der Wissenschaft vertreten wurden, gehört allerdings zu den topischen Situationen der Gattung und ist entsprechend häufig zu finden, z. B. bei Hermann Lenz, Andreas Maier oder Christian Kracht. Interessant ist schließlich auch eine Verfahrensweise in Marlene Streeruwitz Frankfurter Vorlesungen Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen. von 1998. Nicht nur reagierte Streeruwitz im Verlauf der fünfwöchigen Dozentur jeweils auf die feuilletonistische Rezeption ihrer Vorlesungen, sondern baute in den veröffentlichten Text der ersten Vorlesung eine Rezension ein, die sich auf ebendiese Vorlesung (als LiveVortrag) bezog – sie arbeitete also mit einem Verfahren, das sich den zeitlichen

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Claudia Dürr und Kevin Kempke

Abstand zwischen Aufführung und Veröffentlichung der Vorlesung zunutze macht (Streeruwitz 1998, 27– 29).

6 Rezeption: Live, digital, nachträglich Während die Studierenden bei Bachmanns erster Vorlesung noch in der Überzahl waren, hat sich das Verhältnis im Lauf der Zeit umgekehrt. „Studenten, eigentlich sind in der Minderheit. Ich würde mir ehrlich gesagt mehr erwarten, oder dass es mehr Studierende interessieren würde, weil es doch grade ein sehr ungewöhnliches Angebot ist, grade jetzt für Literaturwissenschaftler. Der Großteil des Publikums macht doch tatsächlich so das einschlägige Kulturpublikum aus dem Frankfurter Westend aus“ (Roth 2005). Reaktionszeugnisse der breiteren Öffentlichkeit sind im Untersuchungszeitraum eher verstreut zu finden. Insbesondere in den letzten Jahren sind aber auch neue Formen der Rezeption von Poetikvorlesungen zu beobachten, speziell in den digitalen sozialen Medien. Vor allem auf Twitter sind dabei immer wieder Stellungnahmen von professionellen und nichtprofessionellen Akteur*innen zu lesen, die im Gegensatz zur Berichterstattung im Feuilleton nicht rückblickend die geteilte Erfahrung im Hörsaal evozieren; medienspezifisch ist vielmehr die „Liveness“, die auf Seiten der Rezeption zur Dokumentation instantaner Reaktionen auf die Vorlesungen führt. Dass der Reiz des Genres für die Öffentlichkeit in der physischen Präsenz der Schriftsteller*innen besteht und die Poetikvorlesung auch als Event in den Blick zu nehmen ist, lässt sich kaum besser als durch Tweets mit dem Hinweis „Jetzt“ und einem Schnappschuss aus dem Hörsaal veranschaulichen (Parr 2018). Nicht selten thematisieren Beiträge auf Twitter die – ihrer Praxis entgegenstehende – Bitte zahlreicher Dozent*innen, wie etwa Christoph Ransmayr, die Veranstaltung nur vor Ort mitzuerleben und „Smartphones und Aufnahmegeräte für die nächsten 90 Minuten aus der Hand zu legen. Aura des Augenblicks, wer fühlt’s schon?“ (Zeh 2018). In sozialen Medien kann auf diese Weise dann auch live aus der Vorlesung berichtet werden. Bei Christian Krachts Poetikvorlesung wurde das ‚Dabei-Gewesen-Sein‘ mit noch mehr Bedeutung aufgeladen als bei anderen Dozenturen. Denn anders als in der langen Geschichte der Frankfurter Poetikdozentur üblich, hatte der Autor einen audiovisuellen Mitschnitt durch die Veranstalter und die Wiedergabe relativ langer Zitate aus dem Vortrag wegen Verletzung der Urheberrechte untersagt – letzteres wurde wiederum per Gerichtsbeschluss aufgehoben. Damit erhielt die ‚Ohrenzeugenschaft‘ des Publikums noch mehr Gewicht als bei anderen Vorlesungen (Dürr 2018). Es wird zu sehen sein, ob sich aus dieser versuchten Aufwertung des Augenblicks im Kontrast zur Ubiquität digitaler (Aufzeichnungs)

2.2.4 Verschiedene Rezeptionen der Poetikvorlesungen

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medien eine Tendenz herausbilden wird. Ebenso offen ist, inwiefern Poetikdozenturen in Zukunft auch (live) digital übertragen werden und welche Folgen das für die Rezeption haben wird – nachträglich online gestellte Videoaufzeichnungen sind bei einigen Poetikdozenturen bereits üblich (zum Beispiel in DuisburgEssen oder in Wien). Das potenzielle Publikum für Poetikvorlesungen erweitert sich auf diese Weise jedenfalls deutlich – und damit möglicherweise auch die zu erwartenden öffentlichen Reaktionen auch jenseits von Literaturkritik und -wissenschaft.

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Claudia Dürr und Kevin Kempke

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3 Poetiken

3.1 Gattungsspezifische Poetiken

Marie Gunreben

3.1.1 Poetiken des Romans Der Roman ist die meistgelesene literarische Gattung der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart. Die Mehrzahl der deutschsprachigen sowie ein großer Anteil englischsprachiger Autor*innen, die sich im Rahmen von Poetikvorlesungen über literarische Texte im Allgemeinen und die eigene literarische Produktion im Besonderen äußern, schreiben Romane. Einen zunehmend hohen Stellenwert nehmen Überlegungen zum Roman auch in Poetikvorlesungen ein, wobei diese Entwicklung, so Sabine Kyora, zum einen die „Situation auf dem Buchmarkt“ wiederspiegelt, zum anderen „ein gestiegenes Interesse an der Reflexion von Romanformen oder an neueren Entwicklungen innerhalb der Prosapoetik“ (Kyora 2016, 30) vermuten lässt. An den Poetikvorlesungen von Louis Begley, Felicitas Hoppe, Daniel Kehlmann, Terézia Mora, Orhan Pamuk, Ulrich Peltzer und Frank Witzel lässt sich exemplarisch verfolgen, welche Themen im Zentrum der Romanpoetiken stehen: Dabei handelt es sich erstens um die Koppelung des Romans an sein Personal, zweitens um die Form respektive Formlosigkeit der Gattung, drittens um den (vermeintlichen) Realismus des Romans sowie viertens und letztens um das für den Roman zugleich problematische und produktive Verhältnis von Fakten und Fiktion.

1 Figuren Die besondere Disposition des Romans zur Darstellung komplexer Charaktere bildet seit jeher einen zentralen Topos in den Theorien des Romans. Schon Friedrich von Blanckenburg fordert in seinem Versuch über den Roman (1774), ein Roman solle die „innere Geschichte“ (Blanckenburg 1774, 384) eines Menschen enthalten; nach Georg Lukács erzählt der Roman die „Geschichte einer Seele, die da auszieht, sich kennenzulernen“ (Lukács 2000 [1920], 78), und auch E. M. Forster sieht in der sich selbst der Kontrolle des Autors oder der Autorin entziehenden Eigendynamik der Charaktere die differentia specifica der Gattung (Forster 2000 [1927], 73). Zeitgenössische Roman-Autor*innen positionieren sich zu dieser theoriegeschichtlich wirkmächtigen Koppelung, die sie teils mit Bezug auf eigene Texte und Figuren untermauern, teils differenzieren oder kritisch relativieren. Zugleich schlägt sich die zunehmende Betonung ethischer Fragestellungen, die „Verbindung zwischen Autorschaft und Humanum“ (Kyora 2016, 31), in den poetologischen Reflexionen zur Funktion und literarischen Gestaltung von Figuren nieder. https://doi.org/10.1515/9783110647884-018

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Für Terézia Mora (Frankfurter Poetikvorlesungen 2013/2014; Nicht sterben, 2014) sind Figuren zunächst produktionsästhetisch von Bedeutung, wie sie im Hinblick auf ihre Romane Alle Tage (2004), Der einzige Mann auf dem Kontinent (2009) und Das Ungeheuer (2013) erläutert. Sowohl im Fall des „Roman[s] Abel Nemas“ (Mora 2014, 37) als auch bei den „Darius-Kopp-Romanen“ (Mora 2014, 35) habe das plötzliche ‚Auftauchen‘ einer von Beginn an durchaus eigenmächtigen Figur jeweils die Initialzündung des Schreibens dargestellt: „An dieser Stelle war es, dass Abel Nema hereinkam und sich auf das Futon unter der Dachschräge gegenüber setzte“ (Mora 2014, 34). „Hier kam Darius Kopp herein, in der einen Hand ein Pizzastück, in der anderen ein halbes Glas lauwarmen Whiskys“ (Mora 2014, 35). Für die weitere Arbeit am Roman gilt es nach Mora, deren Frankfurter Poetikvorlesungen sich zugleich als „inszenierte Werkbiographie“ (Komfort-Hein 2019, 86) und poetologische Hilfestellung für angehende Romanautor*innen lesen lassen, die dergestalt erfundene oder gefundene Figur mit Kontext auszustatten, sie in Beziehung zu setzen zu „dem, was sie mitbringt“, sowie „[m]it der Gegenwart, in der du den Roman dieser Figur schreibst“ (Mora 2014, 48). Wenngleich die Metapher vom ‚Eintreten‘ der Figur ein Moment des Unverfügbaren impliziert, erscheinen Romanfiguren dennoch nicht aus dem Nichts. Vielmehr entstehen sie auf der Basis von realen Personen und Beobachtungen unterschiedlicher Provenienz: So setzt sich die Figur Abel Nemas zusammen aus einem „ungarischen Studenten, nennen wir ihn Gábor, der dringend eine Aufenthaltserlaubnis brauchte,“ und einem „Linguisten und Hobbymusiker, nennen wir ihn Attila, der zu der ungarischsprachigen Minderheit in der Vojvodina gehörte, bei Ausbruch des Balkankrieges weder in die serbische noch in die kroatische Armee einzogen werden wollte und so in Berlin hängenblieb“ (Mora 2014, 35 und 36). Die dergestalt aus realen Elementen und Vorbildern komponierte Figur ist jedoch mehr als die Summe ihrer Teile; als emergente fiktionalisierte Entität verkörpert sie allgemeinere Problemlagen – im Fall von Abel Nema etwa die Anpassungsund Identitätsprobleme eines traumatisierten Migranten. In seinen Heidelberger Poetikvorlesungen (Between Facts and Fiction, 2006) die 2008 unter dem Titel Zwischen Fakten und Fiktionen erschienen sind, beschreibt Louis Begley auf ähnliche Weise die produktionsästhetische Amalgamierung von diversen realen Modellen zu einer eigenständigen fiktiven Figur und warnt zugleich davor, die Bedeutung der Vorbilder zu überschätzen. So komme es vor, „daß eine sehr starke, für den Autor entscheidende Romangestalt durch anscheinend farblose, unwichtige Begegnungen inspiriert“ (Begley 2008, 27) würde. Die Sehnsucht vieler Leser*innen nach Dechiffrierung, die Suche nach den realen Quellen trage, so argumentiert er im Anschluss an Marcel Proust, wenig zum Verständnis eines Romans bei.

3.1.1 Poetiken des Romans

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Orhan Pamuk erhebt in seinen 2009 gehaltenen Norton Lectures (The Naive and the Sentimental Novelist, erschienen 2010) Einspruch gegen jenes mystische Eigenleben der Figur, wie es von E. M. Forster in Aspects of the Novel (1927) proklamiert und von Seiten vieler Autor*innen (darunter Terézia Mora) für das eigene Schreiben bekräftigt wurde. Wenn es ein mysteriöses Element im Kosmos des Romans gebe, welches allmählich die Führung über den Handlungsverlauf übernehmen könne, dann sei das nicht die Figur, sondern jenes ‚geheime Zentrum‘ des Romans, das seinen Grundstein, seinen Kern und seine Essenz bilde (siehe Abschnitt 2). Dennoch betont auch Pamuk die enge Verwobenheit von Roman und Figur, die er jedoch in erster Linie über Momente der Wahrnehmung und Perspektivierung fasst. Im Unterschied zum vormodernen Roman, der die Welt aus der Perspektive des/r Leser*in beschreibe, zeichne sich die moderne Novel dadurch aus, dass sie die ‚Landschaft‘ des Romans aus der Sicht der Hauptfiguren zeige: „Whatever the writer’s intention may be, the features that I am calling the ‚landscape‘ of the novel – the objects, words, dialogues, and everything which is visible – should be seen as integral to, and an extension of, the hero’s emotions“ (Pamuk 2011 [2010], 105). Von Bedeutung sind damit auch die spezifischen narrativen Techniken zur Erzeugung von psychologischer Transparenz: „Likewise, as we sense that the landscape within the novel is an extension of, a part of, the mental state of the novel’s protagonists, we realize that we identify with these protagonists via a seamless transition“ (Pamuk 2011 [2010], 11). Die spezifischen Vorteile literarisch-fiktionaler Erzähltechniken betont auch Terézia Mora – im Unterschied etwa zur filmischen Narration verfüge die literarische Erzählung über die Möglichkeit, umstandslos zwischen verschiedenen inneren und äußeren Perspektiven hin- und herzuspringen: „Versuch mal mit einem Film von einer Einstellung zur nächsten von den Gedanken (nicht den Worten) einer Figur zu denen einer anderen zu wechseln“ (Mora 2014, 76). Doch just diese besondere Lizenz der epischen Fiktion, in der – so Käte Hamburgers berühmtes Diktum – die „Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann“ (Hamburger 1977 [1957], 77), ließ sich für ihren ersten Roman-Protagonisten Abel Nema nicht in Anschlag bringen: Die Undurchdringbarkeit dieser Figur verbot es, „das, was die Literatur besser kann als alle anderen Künste“ (Mora 2014, 75), zu nutzen und Einsicht in den Bewusstseinsstrom dieser Figur zu gewähren. Mit den genuinen narrativ-fiktionalen Lizenzen des Romans zur Erzeugung und Darstellung von Innerlichkeit geht zugleich ein besonderes wirkungsästhetisches Potenzial einher. Terézia Mora und Orhan Pamuk betonen die Eignung des Romans, empathische Lektüren in Gang zu setzen und koppeln diese Fähigkeit wiederum an Figuren. Dabei argumentieren beide in Übereinstimmung mit jün-

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geren kognitionswissenschaftlich orientierten Literaturtheorien, die im evolutionsbiologisch gegründeten Interesse an fremden Gedanken- und Gefühlswelten den Ursprungsgrund des Erzählens und des Interesses am Erzählen sehen: So vertritt etwa Lisa Zunshine die These, dass wir vorrangig deshalb lesen (oder, allgemeiner gefasst, Erzählungen folgen), weil es uns Freude bereitet, uns in fremde Psychen hineinzuversetzen, die mentalen Zustände fiktiver Charaktere ‚anzuprobieren‘ und auf diese Weise unsere Imaginations- und MindreadingKompetenzen zu trainieren (Zunshine 2004, 129 – 133). Ebenjenes Potenzial der Literatur (insbesondere des Romans), die Imagination und Empathie der Schreibenden ebenso wie der Lesenden zu fordern und zu erweitern, unterstreicht auch Mora: „Ich halte große Stücke auf die Einfühlung“, schreibt sie in Nicht sterben: „Ich halte es mit denen, die der Ansicht sind, dass das Ausmaß unserer Beseelung mit unserer Empathiefähigkeit zu tun hat“ (Mora 2014, 66 und 67). Figuren erfüllen demnach die Funktion, „Erfahrungen die menschliche Natur betreffend“ (Mora 2014, 67) zu transformieren und zu speichern. Dass wir an fiktiven Figuren interessiert sind und uns mittels unserer Theory of Mind in sie einfühlen können, lässt sich nach Mora darauf zurückführen, dass wir von Kindheit an von ‚Figuren‘ umgeben sind: von imaginären Gefährt*innen, mentalen Modellen, abstrahierten Typen, in denen unser anthropologisches Wissen gespeichert ist. Auch Orhan Pamuk hebt die Bedeutung von Identifikation und Empathie für die Produktion und Rezeption von Romanen hervor. Ebenso wie Mora begründet er das Interesse an (fiktiven) Figuren mit einer allgemeinmenschlichen Neugierde, die sowohl alltägliche Klatsch und Tratsch-Geschichten als auch die Literatur antreibt. Darüber hinaus hat literarische Empathie bei Pamuk eine dezidiert ethische und politische Dimension, geht sie doch mit der Aufgabe einher, sich immer aufs Neue mit abweichenden und unbekannten Haltungen auseinanderzusetzen: „Another reason I love the art of writing is that it forces me to go beyond my own point of view and become someone else“ (Pamuk 2011 [2010], 72). Ebenso wie der Autor werden auch seine Leser*innen animiert, sich in der Lektüre eines Romans mit unbekannten Lebensrealitäten und fremden Perspektiven zu beschäftigen und auf diese Weise ihren Verstehenshorizont zu erweitern: „The art of the novel becomes political not when the author expresses political views, but when we make an effort to understand someone who is different from us in terms of culture, class, and gender“ (Pamuk 2001 [2010], 69).

3.1.1 Poetiken des Romans

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2 Form und Formlosigkeit des Romans Im Vergleich zu Epos und Drama, die seit der Antike Gegenstand poetologischer Beschreibungen und Normierungen waren, handelt es sich beim Roman um eine poetologisch weniger konturierte Gattung. Die spezifische Formlosigkeit und Offenheit des modernen Romans spielte in der Theorie- und Gattungsgeschichte des Romans seit seinen Anfängen im 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle und wurde mal als Ansporn zur formaltheoretischen Bestimmung, mal als gattungsspezifische ästhetische Chance gewertet. Zeitgenössische Romanautor*innen gehen dieser Spannung zwischen Form und Formlosigkeit in ihren Poetikvorlesungen nach, wobei sie theoretische Positionen, berühmte Vorbilder und eigene poetologische Überlegungen miteinander ins Gespräch bringen. Orhan Pamuk erinnert mit Verweis auf die Romane von Rabelais, Sterne, Borges, Nabokov und anderen daran, „that anything and everything could be included in a novel: lists and inventories, melodramatic radio plays, strange poems and poetic commentaries, the mixed-up parts of various novels, essays on history and science, […] and anything else that might come to mind“ (Pamuk 2011 [2010], 169). Noch deutlicher fällt das Plädoyer für eine ‚Poetik der Entgrenzung‘ bei Frank Witzel aus, der in seinen Heidelberger Poetikvorlesungen von 2017 (Über den Roman – hinaus, 2018) sein Verständnis des Romans als einer per se polyphonen, vieldeutigen und offenen Gattung erläutert. Die grundsätzliche Unabschließbarkeit des Romans begründet Witzel mit dessen ontologisch-epistemologischer Zwischenposition. Der Roman weise insofern über sich hinaus, als er sich gewissermaßen ‚im Sprung‘ zwischen Ästhetik und Transzendenz befinde: „Denn wenn er das Ästhetische völlig abstreift, dann ist er kein Roman mehr […]. Hat er das Transzendente völlig erreicht, so ist er bestenfalls unvermittelbare mystische Erfahrung, aber eben nicht länger Roman“ (Witzel 2018, 43). Dem doppelten Anspruch, einem Stoff ästhetisch und ethisch gerecht zu werden und diesen Stoff zugleich zu transzendieren, kann Witzels Romanautor nur nachkommen, indem er sich von der einsträngig-linearen Narration des traditionellen „Vektor-Roman[s]“ (Witzel 2018, 43) verabschiedet und den Roman als „Klammer“ begreift, „in der alles aufgehoben ist, was ich als Autor zu einem Thema zu sagen habe“ (Witzel 2018, 24). Für die Arbeit an den eigenen Romanen, insbesondere an Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 (2015), bedeutete das zum einen, zwar an einem linearen Narrativ festzuhalten, dieses aber zugleich durch Nebenstränge, Subtexte und Assoziationsketten aufzubrechen, zum anderen, die für den Roman konstitutive „Lücke, die den Roman in seiner Vieldeutigkeit und Vielschichtigkeit im Leser entstehen lässt“ (Witzel

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2018, 30), bewusst offenzuhalten. Was bei Witzel als konstitutive Leerstelle erscheint, umschreibt Orhan Pamuk als „secret center“ (Pamuk 2011 [2010], 24) im Beziehungsnetz des Romans, in dem die vielfältigen Fäden des Erzählens zusammenlaufen. Während Pamuk und Witzel in ihren Poetikvorlesungen somit die formale Vielschichtigkeit und Offenheit des Romans hervorheben, betont Mora die Notwendigkeit der formalen Konturierung – zumindest für das eigene Schreiben. Dem „Anspruch nach Totalität“ (Mora 2014, 54), den der Roman stellt, lässt sich aus ihrer Sicht nur mit einem formalen Entschluss begegnen, wobei die Form selbst Teil der Aussage eines Romans ist: „Wenn es stimmt, dass es keine formalen Probleme gibt, wenn also die Form Inhalt ist, dann musst du hier die Form finden, die du mit denselben Worten beschreiben kannst wie den Inhalt“ (Mora 2014, 54). Im Folgenden schildert sie ihre Suche nach einem geeigneten „Organisationsprinzip“ (Mora 2014, 54) für die Geschichte Abel Nemas, nach einer Form, die der Orientierungslosigkeit des Protagonisten entspricht. Sie findet diese Form in der Architektur des Irrgartens, der als Strukturprinzip von Alle Tage fungieren wird: „Die Kapitel werden die Kehren sein, immer wieder ein gleicher Weg, ein neuer Versuch, bis zum Zentrum vorzudringen“ (Mora 2014, 56). Für Mora bildet „das Nachdenken über einen strukturellen Aufbau“ (Mora 2014, 145), der im Fall von Alle Tage der Irrgarten, im Fall von Das Ungeheuer das fragmentierte Tagebuch der Protagonistin sein wird, eine frühe Phase in der Arbeit an einem Roman, wobei sie betont, dass dieser konzept- und strukturorientierte Weg ein individueller sei: „Ebenso, wie es für mich nicht vorstellbar ist, wie ein Roman entstehen kann, indem man ‚einfach drauflosschreibt‘, wird es für andere Autoren unvorstellbar sein, wie man erst eine Matrix aufstellt, die man dann ‚ausfüllt‘“ (Mora 2014, 57). Als ein solcher Autor zeigt sich Frank Witzel, wenn er in seinen Poetikvorlesungen jedes vorgegebene Strukturprinzip für den Roman prinzipiell ablehnt: „Nichts, aber auch gar nichts ist im Prozess des Schreibens auszuschließen, denn der Ausschluss, das vorgeschriebene Rezept, das allein noch auszufüllende Konzept führt zwangsläufig in die Irre des geschlossenen Narrativs, das keine Holzwege, keine unnötigen Abschweifungen, keine Schlenker […] kennt“ (Witzel 2018, 93). Interessanterweise findet sich das Bild des Irrgartens bei beiden Autor*innen – bei Witzel erscheint er als diejenige Struktur, die sich ohne vorhergehenden Plan im Schreiben des Romans beinahe von selbst ergibt, bei Mora fungiert er als „formale Vision“ (Mora 2014, 57), die sie für Alle Tage bewusst wählt. Darüber hinaus haben die genannten Autor*innen, die hier exemplarisch für die Betonung der Form respektive der Formlosigkeit des Romans stehen können, miteinander gemein, dass sie die Frage nach der Form an die grundsätzliche ‚Totalität‘ der Gattung koppeln: Sowohl die Vorstellung einer transzendentalen und jede formale Schließung übersteigenden Unabschließbarkeit des Romans als auch die

3.1.1 Poetiken des Romans

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Suche nach einer geeigneten formalen Architektur lassen sich als Antworten auf das zugleich produktive und problematische Potenzial des Romans verstehen, prinzipiell alles einschließen und „die ganze Welt darstellen“ (Mora 2014, 54) zu können.

3 Realismen Mit der formalen Durchlässigkeit des Romans sowie mit seiner „Gesinnung zur Totalität“ (Lukács 2000, 47) verbindet sich zudem die Frage nach seinem Realismus, oder, weiter gefasst, nach seiner Beziehung zur Wirklichkeit. Spätestens seit Ian Watts berühmter Studie The Rise of the Novel (1957), in der er den Aufstieg des modernen Romans im 18. Jahrhundert verortet und mit dessen revolutionär neuem, dezidiert realistischem Wirklichkeitsbezug begründet (Watt 1972 [1957], 9 – 37), gilt der Roman als besonders wirklichkeitsnahe und -affine Gattung, die sich jedoch zugleich aufgrund dieser Authentizitätssuggestion dafür anbietet, mit dem realistischen Paradigma zu spielen oder zu brechen. Die Frage, inwiefern sich in der Gegenwartsliteratur eine „Rückkehr des Realen“ (Tommek 2016, 76) und eine Abkehr von avantgardistischen und postmodernen Erzählformen beobachten lässt, wird sowohl in der aktuellen literaturwissenschaftlichen Forschung als auch im Rahmen von Poetikvorlesungen intensiv diskutiert: „Der Bezug zur Realität“, schreibt Sabine Kyora über die Frankfurter Poetikvorlesungen der 2010er Jahre, „ist anscheinend so bestimmend auch für den gegenwärtigen Roman, dass dieses Verhältnis durchgehend erörtert wird“ (Kyora 2016, 34). Orhan Pamuks Norton Lectures liefern ein Plädoyer für den realistischen Roman im engeren Sinne: Der Roman solle, heißt es in The Naive and the Sentimental Novelist, so wirklichkeitsnah und lebendig erzählt sein, „[t]hat we substitute novels for reality, or at least that we confuse them with real life“ (Pamuk 2011 [2010], 3). Zum ‚Realitätseffekt‘ des Romans tragen bei Pamuk zwei Momente bei: Zum einen liefert der Roman eine „accurate depiction of life“ (Pamuk 2011 [2010], 67), wobei ‚Leben‘ im allgemeinen, anthropologischen Sinne verstanden wird. Dass wir uns in fiktiven Figuren wiederkennen und empathisch mit ihnen mitempfinden können, lässt sich nach Pamuk darauf zurückführen, dass Romane Ähnlichkeit herstellen, indem sie sinnliche Empfindungen und Erfahrungen schildern, die allgemein zugänglich sind: „[W]e are always comparing the sensory details of the narrative with our own life experience, and depicting them in our mind through knowledge. One of the essential pleasures we find in reading novels […] is that of comparing our life with the lives of others“ (Pamuk 2011 [2010], 47). Zum anderen lebt der Realismus des Romans bei Pamuk von seiner Nähe zur konkreten Alltagswirklichkeit. Damit hat er allerdings auch ein kürzeres ‚Halt-

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barkeitsdatum‘ als andere Gattungen, kann die Ähnlichkeit zwischen Schreibenden, fiktiven Figuren und Lesenden doch abnehmen, wenn sich Alltagserfahrungen ändern und die gemeinsame Wissens- und Erfahrungsbasis schwindet: „When no one ever again travels by night train with a novel for a companion, readers will have difficulty understanding Anna’s situation on the train; and when tens of thousands of such details disappear and fade, readers will have difficulty understanding Anna Karenina the novel“ (Pamuk 2011 [2010], 46). Im Aufsammeln und Transformieren von Alltagsbeobachtungen und Alltagsgesprächen erscheint Pamuks Romanautor als registrierender Chronist und teilnehmender Beobachter seiner Zeit. Das bedeutet zwar zum einen, dass Romane zum Veralten tendieren, zum anderen jedoch auch, dass sie als Instanzen des kulturellen Gedächtnisses Aufschluss über vergangene Alltagswirklichkeiten geben können. Diese „archival quality“ (Pamuk 2011 [2010], 130) des Romans resultiert bei Pamuk aus seiner spezifischen Wirklichkeits- und Alltagsnähe, die ihn Gewohnheiten, Lebensweisen und sprachliche Ausdrucksformen für künftige Leser*innen bewahren lässt. Ebenso wie Orhan Pamuk beschreibt auch Ulrich Peltzer in seinen 2010/2011 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen (Angefangen wird mittendrin, 2011) die Auseinandersetzung mit der Realität als eine vorrangige Aufgabe von Romanschriftsteller*innen, unternähmen sie es doch, die „Symptome der Welt, […] einer Welt ‚in‘ der Welt“ (Peltzer 2011, 9), zu lesen und in Literatur zu transformieren. Der Romanautor tritt hier nicht als Chronist zeitgenössischer Alltagserfahrungen und Sprachnuancen in Erscheinung, sondern als Diagnostiker, der seinen Blick auf die ‚Symptome‘ der Gegenwart, auf die Risse und Brüche in der gesellschaftlichen Struktur richtet. Während die Lebens- und Alltagsnähe des Pamukschen Romans eine Authentizität suggeriert, welche die Differenzen zwischen fiktiver und tatsächlicher Welt vergessen lassen kann, findet Peltzer in collagierten und fragmentarischen Erzähl- und Darstellungsformen den angemessenen Ausdruck für eine ebenfalls zunehmend instabile und fragmentierte Realität. Der Brüchigkeit moderner Wirklichkeiten kann man ihm zufolge nur „habhaft“ werden, indem man diese Brüchigkeit ins eigene Erzählen übernimmt: „Dass eine ‚komplette Darstellung‘, ein mimetisches Abbild, das Vollständigkeit schon in seinem Programm beansprucht, zum Scheitern verurteilt ist, sollte nicht erläutert werden müssen, zu disparat, zu prekär, zu mobil zeigt sich heute jede Realität […]“ (Peltzer 2011, 33). Als Vorbild für die Absage an die „mimetische Gesamtschau“ (Peltzer 2011, 157) des konventionellen realistischen Romans fungiert James Joyces Ulysses (1922), der auch erkennbar Spuren in Peltzers Das bessere Leben (2015) hinterlassen hat. Als ein Gründungstext der europäischen Moderne ist Ulysses für Peltzer in doppelter Hinsicht richtungsweisend: zum einen, in dem er es unternimmt, „[d]ie Gegenwart zu schildern, nichts als den Alltag

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der Zeit in sämtlichen Facetten“ (Peltzer 2011, 28), zum anderen, indem er sich zu dieser Gegenwartsschilderung „des inneren Monologs als eines Instruments größtmöglicher Unmittelbarkeit und Drastik“ (Peltzer 2011, 28 und 29) bedient. Das Bewusstsein der Figuren, das in all seiner assoziativen Sprunghaftigkeit und Disparatheit den Leser*innen zugänglich gemacht wird, dient hier nicht in erster Linie der Evokation von Empathie, sondern der Erzeugung von Permeabilität: Da eine ordnende Instanz, die zwischen Figuren und Publikum vermitteln könnte, in Joyces Roman fehlt, sehen sich die Leser*innen der ‚Realität‘, wie sie von den Figuren wahrgenommen wird, ungeschützt ausgeliefert. Die dem Roman gestellte Aufgabe, Alltag und Realität einzufangen und der Wirklichkeit habhaft zu werden, hat bei Peltzer – und hier trifft er sich wiederum mit Pamuk – zudem eine politische Dimension, wie er anhand von Mark Twains Huckleberry Finn (1884) erläutert. Dessen für den modernen Roman wegweisende Strategie bestehe darin, „sich […] einem verdrängten oder denunzierten Alltag zuzuwenden und die Un-Erhörten, die in ihrer Stummheit Verbannten sprechen zu lassen, sprechend zu machen“ (Peltzer 2011, 128). In der „Situierung eines Romans an den Peripherien seiner Zeit“ (Peltzer 2011, 135) sieht Peltzer ein essenzielles Charakteristikum moderner Erzählliteratur, wobei das Sprechen von den Rändern der Gesellschaft für ihn zugleich bedeutet, auch die Sprache an ihren Rand zu treiben, dorthin, „wo die herrschenden Signifikanten ignoriert, umgedeutet oder unterwühlt werden“ (Peltzer, 128). Orhan Pamuk und Ulrich Peltzer können exemplarisch für zwei unterschiedliche Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Roman und Wirklichkeit stehen: für ein Verständnis, das in der Authentizitätssuggestion und der tendenziellen ‚Verwechselbarkeit‘ von Fiktion und Realität das Wesen realistischen Erzählens ausmacht, einerseits, sowie für eine Perspektive, die der Fluidität moderner Wirklichkeiten durch brüchige und disparate Sprach- und Erzählformen zu begegnen sucht, auf der anderen Seite. Daniel Kehlmann skizziert in seinen Göttinger Poetikvorlesungen (2006) eine dritte Option, die sich als ‚magisch-realistische‘ Option beschreiben lässt. „Ich fand Literatur immer am faszinierendsten“, heißt es in Diese sehr ernsten Scherze (2007), „wenn sie nicht die Regeln der Syntax bricht, sondern die der Wirklichkeit“ (Kehlmann 2016 [2007], 15). Die eigene literarische Strategie, mit der (nur vermeintlich stabilen) Wirklichkeit zu spielen, verortet er in der Tradition des südamerikanischen magischen Realismus. Autoren wie Gabriel García Márquez, Luis Borges oder Alejo Carpentier hätten „die größte literarische Revolution der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts“ angestoßen, indem sie „an Kafka anknüpften und die Grenzen zwischen Tages- und Nachtwirklichkeit, zwischen Wachen und Traum durchlässig machten“ (Kehlmann 2016 [2007], 14). Weitere Vorbilder sind Leo Perutz und Kurt Gödel, die als einander unbekannte Geistesverwandte auf zwei verschiede-

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nen Gebieten an dem Problem der Wirklichkeit gearbeitet hätten. Dabei besteht Gödels Verdienst nach Kehlmann darin, die Vagheit und Offenheit der Logik nachgewiesen zu haben: „Was die Quantenphysik für unsere Wahrnehmung der physischen Welt unternimmt – sie zeigt, dass die Realität nicht abgeschlossen ist, sondern im Kleinsten offen, sie verschwindet gewissermaßen unter dem schärfsten Mikroskop in die Vagheit –, leistet Gödels Beweis für die logischen Sätze: Sie öffnen einen Irrgarten, in dem es allezeit dunkle Bereiche gib.“ (Kehlmann 2016 [2015], 142). Perutz’ Romane inszenierten die Unverlässlichkeit der Wirklichkeit wiederum auf literarische Weise, indem sie die narrative Kausalität durchbrächen und mit verschiedenen Deutungen des Erzählten spielten. Das Konzept eines „irreale[n] Realismus“ (Kehlmann 2016 [2015], 149), das Kehlmann bei Perutz ausfindig macht und implizit auch für die eigenen Romane in Anschlag bringt, unterscheidet sich insofern von den zuvor skizzierten Realismus-Konzepten, als ihm ein gänzlich anderes Verständnis von Realität zugrunde liegt: Die Wirklichkeit wird diesem Verständnis nach nicht erst in den Beschleunigungs- und Fragmentierungserfahrungen des modernen Menschen brüchig, sondern sie ist aufgrund ihrer physikalisch-ontologischen Beschaffenheit schon immer vage, offen und unwahrscheinlich – weshalb ein Erzählen, das dieser ‚irrealen Realität‘ angemessen sein will, selbst irreal, gebrochen und ‚magisch‘ sein muss.

4 Fakten und Fiktionen Die Etablierung der Fiktionalität steht in enger Verbindung mit dem Aufstieg des Romans im 18. und 19. Jahrhundert (Gallagher 2006, 336 – 363). Der Roman als diejenige literarische Form, der aufgrund ihrer Verfasstheit in Prosa und ihrer wirklichkeitsnahen Stoffe ihre Literarizität am wenigsten anzusehen ist, wirft bereits in den poetologisch-rhetorischen Debatten der frühen Neuzeit die Frage auf, worin – wenn nicht im Vers – ein Kriterium für die Unterscheidung zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten bestehen könnte. Autor*innen und Theoretiker*innen der beginnenden Moderne finden dieses Kriterium in Fiktionalität als jener gesellschaftlich vereinbarten und gemeinhin akzeptierten Eigenschaft literarischer Texte, keinen Anspruch auf Referenzialität und Gültigkeit zu erheben (weshalb sie denn auch nicht an einem solchen Anspruch gemessen werden sollten). Dennoch ist die Frage der Fiktionalität damit nicht endgültig geklärt, sondern stellt sich im Verlauf der Moderne in immer neuer Weise und unter immer neuen Rahmenbedingungen – und in der mitunter als ‚postfaktisch‘ beschriebenen Gegenwart des beginnenden 21. Jahrhunderts noch einmal mit besonderem

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Nachdruck. Einen entsprechend großen Raum nehmen Überlegungen zum Verhältnis von Fakten und Fiktionen in zeitgenössischen Poetikvorlesungen ein. Dabei schließen die Autor*innen an zentrale Konzepte der Fiktionalitätstheorie an: So verweist etwa Daniel Kehlmann, von seinem imaginären Interviewpartner in Diese sehr ernsten Scherze nach der Differenz zwischen Journalismus und Literatur gefragt, auf Samuel Coleridges berühmte Definition, nach der Fiktionalität in einer „willing suspension of disbelief“ bestehe: „Der Hauptunterschied ist schon einmal, daß auf einem Roman das Wort ‚Roman‘ steht. Mithin, daß schon vor dem ersten Wort ein Pakt zwischen Erzähler und Leser geschlossen wird, der besagt, daß der Leser alles hinnehmen und nichts glauben wird“ (Kehlmann 2016 [2007], 27). Der dergestalt geschlossene Fiktionsvertrag legitimiere den Autor oder die Autorin sowohl zur freien Erfindung als auch zu einem schöpferisch-transformierenden Umgang mit der Wirklichkeit – könne er oder sie doch auf die ‚Fiktionskompetenz‘ des Publikums vertrauen. In Übereinstimmung mit der jüngeren literaturwissenschaftlichen Forschung, die Fiktionalität als historisch gewachsene „gesellschaftliche Institution“ (Franzen et al. 2018, 10 – 12) begreift, betont Orhan Pamuk allerdings die Vagheit und Instabilität jenes ‚Fiktionsvertrags‘: Zum einen seien Vorstellungen von Fiktionalität historisch und kulturell variabel – das westliche Verständnis von Fiktionalität finde etwa keine glatte Entsprechung in der Rezeptionshaltung türkischer Leser*innen (Pamuk 2011 [2010], 43). Zum anderen erfülle Fiktionalität in verschiedenen Zeiten und Kontexten ganz unterschiedliche Funktionen: Während Daniel Defoe die Fiktionalität seines Romans hätte abstreiten und die Wahrhaftigkeit von Robinson Crusoe betonen müssen, um in einer Zeit geringer Fiktionstoleranz mit seinem Roman erfolgreich zu sein, nutzten Autor*innen in repressiven politischen Systemen Fiktionalität, um kritische Aussagen über die Wirklichkeit zu formulieren, die sonst unaussprechlich wären – verschleierte Fiktionalität also im einen, verschleierte Faktualität im anderen Fall (Pamuk 2011 [2010], 34– 39). Dass die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen durchlässig und verhandelbar ist, stellt aus Pamuks Sicht allerdings kein Problem dar: „On the contrary, the art of the novel draws its power from the absence of a perfect consensus between writer and reader on the understanding of fiction“ (Pamuk 2011 [2010], 35). Die dem Roman inhärente Ungewissheit, zu welchem Grad das Erzählte faktisch (oder auf Fakten beruhend) respektive fiktiv ist, macht nach Pamuk einen beträchtlichen Teil seiner Attraktivität aus. Besonders spannungsvoll wird die von Pamuk beschriebene Ununterscheidbarkeit zwischen Fiktionalität und Faktualität an zwei Gattungsgrenzen: an der Grenze zur Autobiographie sowie an der Grenze zur Historiographie. Die enge Verbindung von „Autorschaft, Biographie und Textproduktion“ ist, so Sabine Kyora, ein „Klischee“, das von den meisten Autor*innen für das eigene

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Schreiben abgewehrt wird (Kyora 2016, 32). Eine solche Abwehr formuliert auch Louis Begley, wenn er in seinen Heidelberger Poetikvorlesungen zwischen einer produktions- und einer rezeptionsästhetischen Herangehensweise an das Fiktionalitätsproblem unterscheidet: In einer ausführlichen Auflistung gibt Begley Auskunft darüber, welche realen Personen und eigenen Erfahrungen auf welche Weise in seine Romane eingegangen sind. Insbesondere im Fall von Wartime Lies (1991) baue die im Roman erzählte Geschichte in der Tat auf den eigenen Lebenserinnerungen auf – allerdings sei dieser Roman dennoch nicht autobiographisch, da Erlebtes im Schreiben zu einer neuen fiktionalen Wahrheit transformiert würde: „Wenn ich die Geschichte überzeugend erzählen wollte, mußte ich die Erinnerungen mit meiner Einbildungskraft verdichten und umwandeln“ (Begley 2008, 13). Die Fiktion erfüllt bei Begley nicht nur die Funktion, das Selbsterlebte in eine überzeugende Geschichte zu verwandeln, sondern sie dient auch der eigenen Immunisierung, der „psychische[n] Abschirmung, durch die es mir überhaupt möglich wurde, Themen in Angriff zu nehmen […], die ich sonst für unzugänglich, wenn nicht sogar verboten gehalten hätte“ (Begley 2008, 14 und 15). So bedeutsam also autobiographische Erfahrungen und reale Begegnungen als Basis und Quelle für die Produktion eines Romans sind, so wenig sollten sie Begley zufolge für dessen Leser*innen von Interesse sein. Denn zum einen führe die Frage nach dem ‚realen Kern‘ eines Romans ins Leere, weil der künstlerische Schaffensprozess zwar im „Ausborgen,Verschmelzen und Transponieren“ (Begley 2008, 74) von Lebens- und Wirklichkeitselementen bestehe, diese jedoch, seien sie einmal fiktionalisiert und literarisiert, eine „eigene Realität“ erhielten, „die oft in seiner [des Autors, M.G.] Vorstellung viel lebendiger wird als das, was er seinem Gedächtnis entnimmt“ (Begley 2008, 73). Zum anderen geht die autobiographische Frage Begley zufolge auch insofern am eigentlichen Gegenstand des Interesses vorbei, als sie gewissermaßen auf die falsche Instanz zielt, nämlich auf den Autor/die Autorin als Alltagsmenschen, der mit dem schöpferischen Ich des Schreibenden nicht unbedingt viel zu tun haben muss. Die Idee einer doppelten Identität des Autors/der Autorin übernimmt Begley von Marcel Proust: „Ein Romanautor, dessen Werk gelungen ist, wächst über seine menschliche Unzulänglichkeit hinaus; das schreibende Ich ist, wie Marcel Proust gesagt hat, verschieden von jenem Ich, das ‚wir in unseren Gewohnheiten, in unseren Lastern zutage treten lassen‘“ (Begley 2008, 90). Die Biographie des ‚Alltags-Ichs‘ hinter dem Text ist demnach für das Verständnis eines literarischen Textes belanglos – die Biographie des ‚Schöpfer-Ichs‘ wiederum ist der literarische Text selbst. „Die Bücher sind genug“ (Begley 2008, 92). Orhan Pamuk beantwortet die Frage nach dem Autobiographischen auf andere Weise. Im Unterschied zu Begley hält er sie für berechtigt, mehr noch, er sieht das Faszinationspotenzial des Romans unter anderem auch in seinem changie-

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renden, Erlebtes mit Erfundenem verbindenden Charakter begründet: „At every detail, the writer thinks the reader will think that this detail was experienced. And the reader thinks that the writer wrote with the thought that the reader will think that it has been experienced. The writer, in turn, thinks that the reader thinks he wrote that detail thinking the reader will have thought of this, too. This play of mirrors is valid for the writer’s imagination as well“ (Pamuk 2011 [2010], 53). Zwar betont auch Pamuk, dass die Figuren und Ereignisse in seinen Romanen letztlich erfunden seien, dennoch basiere der Roman eben auf vielen kleinen Lebensbeobachtungen und -erfahrungen des Autors oder der Autorin. Ebenso wenig wie bei Begley sind auch bei Pamuk Romane eins zu eins ‚rückübersetzbar‘ in Realität, allerdings hält er an ihrer autobiographischen Dimension fest: Wenn der Roman eine „depiction of life“ (Pamuk 2011 [2010], 67) liefern soll, so setzt das voraus, dass auch das Leben seines Schöpfers/seiner Schöpferin in ihn eingegangen ist. Damit sind Romane für Leser*innen zwar nicht in allen Einzelheiten dechiffrierbar, jedoch ermöglichen sie durchaus intime Einsichten in die Weltwahrnehmung derjenigen, die sie verfasst haben (Pamuk 2011 [2010], 50 – 52). Während der Umgang mit autobiographischem Material lediglich die Romanautor*innen selbst betrifft, geht die Literarisierung historischer Ereignisse und Personen über den Dunstkreis des Selbsterlebten hinaus. Im Fall des historischen Romans hat die Fiktionalitätsfrage somit nicht nur eine ästhetische und epistemologische, sondern auch eine ethische Dimension. Daniel Kehlmann betont grundsätzlich die dem Roman qua Fiktionsvertrag verbrieften Lizenzen zum freien und kreativen Umgang mit der Historie: „[E]s ist seit alters her eine Domäne der Literatur, ihre eigenen Versionen historischer Personen nachzuerschaffen“ (Kehlmann 2016 [2007], 26). Allerdings gelte es, die richtige Distanz zur historischen Person zu finden – nähere man sich ihr zu sehr an, verfasse man eine Biographie, entferne man sich zu weit von ihr, verliere man das Recht auf die Verwendung ihres Namens. Die erzählerische Freiheit, die sich ein Autor/eine Autorin bei der Literarisierung eines historischen Menschen nehmen darf, ist nach Kehlmann zugleich auch eine Frage des zeitlichen Abstands: „Persönlichkeitsrechte werden von der vergehenden Zeit getilgt. Nicht nur in juridischer, auch in moralischer Hinsicht. […] Prüfen Sie Ihr Gefühl. Mit Einstein läßt sich wenig anstellen, ohne daß man es als problematisch empfände. Mit Humboldt deutlich mehr. Mit Cicero alles“ (Kehlmann 2016 [2007], 28). Felicitas Hoppe zieht die ethischen Grenzen für den historischen Roman enger. In der ersten ihrer 2009 gehaltenen Göttinger Poetikvorlesungen, die 2010 unter dem Titel Abenteuer – was ist das? erschienen sind, widmet sie sich verschiedenen literarischen Annäherungen an Johanna von Orleans (1412– 1431) als jener historischen Figur, die auch im Zentrum ihres eigenen Romans Johanna (2006) steht. Die literarischen Bearbeitungen von Schiller (Die Jungfrau von Or-

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léans) bis Brecht (Die heilige Johanna der Schlachthöfe) sind Hoppe zufolge auf je eigene Weise problematisch: Während Schiller Johanna eine Liebesgeschichte andichte, um die unberührbare Jungfrau zur ‚berührbaren‘, dramentauglichen Figur umzugestalten, instrumentalisiere Brecht die historische Figur für die eigenen ideologischen Zwecke. Die Skepsis gegenüber solchen Versuchen, die historische Johanna von Orléans, die in den überlieferten Verhörprotokollen „mit einer Stimme [spricht], die literarisch kaum zu übertreffen ist“ (Hoppe 2010, 13), literarisch ‚nutzbar‘ zu machen, konvergiert bei Hoppe mit einer grundsätzlichen Ablehnung des konventionellen historischen Romans: „Das Problem des historischen Romans, der floriert, sobald wir nicht weiterwissen und uns, wie Orpheus, nach verlorener Liebe umdrehen, ist, dass er ein Zwitter ist, Fake, Vorspiegelung falscher Tatsachen“ (Hoppe 2010, 27). Für die eigene Auseinandersetzung mit Johanna von Orléans wählt die Autorin daher eine andere Strategie. Dem historischen Narrativ verweigert sich Hoppe, indem sie Johanna in ihrem gleichnamigen Roman nicht auftreten lässt: „Präsenz durch Abwesenheit. Platz für die eigene Vorstellungskraft“ (Hoppe 2010, 23). Stattdessen spielt der Roman in der Gegenwart und erzählt von den Versuchen dreier Historiker*innen, der historischen Person wissenschaftlich-analytisch, imaginativ und emotional ‚habhaft‘ zu werden. Auf diese Weise tritt sowohl die noch immer ungebrochene Faszinationskraft der historischen Figur zu Tage als auch ihre eigentümliche Widerspenstigkeit, die sich jeder historiographischen und literarischen Festschreibung entzieht: „Das Nichtfertigwerden ist ein Beweis für Qualität, ein Beweis für die Gegenwärtigkeit des Stoffes und der Figuren. Der Roman als Gespräch also. Als Dialog“ (Hoppe 2010, 26). Mit ihrer Strategie, den Fokus nicht auf den historischen Stoff selbst zu richten, sondern auf die Art und Weise, wie Historie vermittelt und erzählt wird, lässt sich Hoppe im Kontext eines ‚neuen‘ historischen Erzählens verorten, das in der Forschung seit Linda Hutcheons A Poetics of Postmodernism (1988) unter dem Schlagwort ‚historiographische Metafiktion‘ diskutiert wird. Es gehört zur Signatur dieses „‚anderen‘ historischen Romans“ (Catani 2016, 281), die eigenen Erzähl- und Fiktionalisierungsstrategien zu reflektieren und zugleich nach den grundsätzlichen Bedingungen der Möglichkeit von historischem Wissen zu fragen. Die hier exemplarisch betrachteten Poetikvorlesungen sind durchaus heterogen und widersprüchlich; sie entwerfen kein einheitliches Bild des Gegenwartsromans, seiner Gegenstände, Poetik und poetologischen Kontur. Allerdings weisen sie Gemeinsamkeiten auf in den Schwerpunkten, welche die jeweiligen Autor*innen setzen, in den Aspekten und Fragen also, die im Hinblick auf den zeitgenössischen Roman als virulent und diskussionswürdig erachtet werden und unterschiedliche Antworten provozieren. Als zentrales ‚produktives Problem‘ des Romans erscheint nach wie vor sein Bezug zur Wirklichkeit, der sich in unter-

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schiedlicher Weise fassen und diskursivieren lässt – als Frage nach der Beziehung zwischen Schreibenden, Lesenden und Figuren, als ethische oder politische Aufgabe, als Suche nach der angemessenen Form für die ‚Totalität‘ der Welt oder als Auslotung der Lizenzen von Fiktionalität.

Literaturverzeichnis Begley, Louis. Zwischen Fakten und Fiktionen. Heidelberger Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 2008. Blanckenburg, Friedrich von. Versuch über den Roman. Leibniz/Liegnitz 1774. Catani, Stephanie. Geschichte im Text. Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen 2016. Forster, E. M. Aspects of the Novel. London 2000 [1927]. Franzen, Johannes et al. „Geschichte der Fiktionalität. Zur Einleitung“. Geschichte der Fiktionalität. Diachrone Perspektiven auf ein kulturelles Konzept. Hrsg. von Johannes Franzen, Patrick Galke-Janzen, Frauke Janzen und Marc Wurich. Baden-Baden 2018: 7 – 18. Gallagher, Catherine. „The Rise of Fictionality“. The Novel. Bd. 1: History, Geography and Culture. Hrsg. von Franco Moretti. Princeton, NJ 2006: 336 – 363. Hamburger, Käte. Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1977 [1957]. Hoppe, Felicitas. Abenteuer – was ist das? Göttingen 2010. Hutcheon, Linda. A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. New York/London 1988. Kehlmann, Daniel. Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen. Göttingen 2016 [2007]. Kehlmann, Daniel. Kommt, Geister. Frankfurter Vorlesungen. Reinbek bei Hamburg 2016 [2015]. Komfort-Hein, Susanne. „‚Der Ort, an dem wir uns befinden, ist die Literatur. Die Zeit ebenfalls.‘ Autorschaft und Werkpolitik in Terézia Moras Frankfurter Poetikvorlesungen“. Terézia Mora. Hrsg. von Klaus Siblewski. München 2019: 81 – 90. Kyora, Sabine. „‚Vom Guten, Wahren und Schönen‘? Roman-Poetiken von Autorinnen und Autoren in den Frankfurter Vorlesungen (2010 – 2015)“. Poetik des Gegenwartsromans. Hrsg. von Kalina Kupcýnska und Nadine J. Schmidt. München 2016: 30 – 39. Lukács, Georg. Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Vergleich über die Formen der großen Epik. München 2000 [1920]. Mora, Terézia. Nicht sterben. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. München 2014. Pamuk, Orhan. The Naive and the Sentimental Novelist. The Charles Eliot Norton Lectures 2009. London 2011 [2010]. Peltzer, Ulrich. Angefangen wird mittendrin. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 2011. Tommek, Heribert. „Formen des Realismus im Gegenwartsroman“. Poetik des Gegenwartsromans. Hrsg. von Kalina Kupcýnska und Nadine J. Schmidt. München 2016: 75 – 87. Watt, Ian. The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding. Harmondsworth u. a. 1972 [1957]. Witzel, Frank. Über den Roman – hinaus. Heidelberg 2018.

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Zunshine, Lisa. „Richardson’s Clarissa and a Theory of Mind“. The Work of Fiction. Cognition, Culture and Complexity. Hrsg. von Ellen Spolsky und Alan Richardson. London 2004: 127 – 146.

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3.1.2 Poetiken des Dramas 1 Geringes Interesse an Poetikvorlesungen zu Drama und Theater Im 20. und 21. Jahrhundert werden Poetiken des Dramas und Theaters unter DramatikerInnen und Theatermachenden vielstimmig, vielgestaltig und hochkomplex diskutiert. Interviews, Gespräche und Einzelvorträge, Essays, programmatische Aufsätze, dramatisierte poetologische Reflexionen und Manifeste dominieren dabei den reichen Diskurs (etwa: Dürrenmatt 1955, Ionesco 1960, Reinshagen 1972, Hildesheimer 1976, Boal 1979, Piscator 1986, Brauneck 1998, Gob Squad 2010, Düffel und Siblewski 2012, Pollesch 2012). In den Poetikvorlesungen des gleichen Zeitraums hingegen führen Reflexionen über Drama und Theater – bis zum Beginn der ausschließlich DramatikerInnen und Theatermachenden gewidmeten jährlichen Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik im Jahr 2012 und den seit 2017 jährlich in Mersch (Luxemburg) gehaltenen Reden vom Theater – ein irritierendes Schattendasein: In den 1892 begonnenen jährlichen Romanes Lectures in Oxford werden Drama und Theater nur drei Mal zum Thema (1924 John Masefield: Shakespeare & Spiritual Life; 1937 Harley Granville-Barker: On Poetry in Drama; 1977 Peter Hall: Form and Freedom in the Theatre [ungedr.]). Zu den Charles Eliot Norton Lectures an der HarvardUniversität wird 1932– 1933 mit T. S. Eliot ein profilierter Dramatiker eingeladen, dessen Vorträge über The Use of Poetry and the Use of Criticism jedoch nicht um die Poetik des Dramas kreisen. Ihm folgt 1960 – 1961 der Theaterforscher und ‐kritiker (sowie Autor nur weniger Stücke) Eric Bentley, dessen vier Vorlesungen zu Springs of Pathos sich am Beispiel des Melodramas, der Farce, der Tragödie und der Komödie mit dem „emotional content of the drama“ befassen (Anonymus 1961). Kein Vortrag der 1961 begründeten Massey Lectures oder der seit 1978 abgehaltenen Tanner Lectures on Human Values widmet sich Poetiken des Dramas und/oder des Theaters. Kaum anders verhält es sich im deutschen Sprachraum. Unter den Vortragenden der von 1949 bis heute schätzungsweise 400 bis 500 gehaltenen Vorträge im Rahmen von über 30 Dozenturen (siehe hier auch Einleitung und Kapitel 1.3.4) befinden sich (von Saarbrücken abgesehen) nur 24 DramatikerInnen bzw. AutorInnen, die auch als TheaterautorInnen profiliert sind: Lukas Bärfuss, Volker Braun, Tankred Dorst, John von Düffel, Friedrich Dürrenmatt, Werner Fritsch, Rainald Goetz, Günter Grass, Wolfgang Hildesheimer, Rolf Hochhuth, Daniel https://doi.org/10.1515/9783110647884-019

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Kehlmann, Heinar Kipphardt, Helmut Krausser, Dea Loher, Albert Ostermaier, Emine S. Özdamar, Moritz Rinke, Kathrin Röggla, Sascha Marianna Salzmann, Einar Schleef, Marlene Streeruwitz, Yōko Tawada, Peter Turrini und Juli Zeh, sowie der Regisseur Claus Peymann. (Dass viele dieser AutorInnen noch stärker als Prosa- denn als BühnenautorInnen arbeiten und meist auch oder vor allem als ProsaautorInnen eingeladen werden, ist dabei weiter zu bedenken). Dazu kommen die InhaberInnen der Saarbrücker Dozentur Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel (= Rimini Protokoll), Roland Schimmelpfennig, Kathrin Röggla, Albert Ostermaier, Falk Richter, Milo Rau, She She Pop und Rebekka Kricheldorf, sowie in Mersch Olivier Garofalo, Rafael David Kohn, Daniel Dumont und Larisa Faber. Im Gesamtfeld der Poetikvorlesungen ist die Dramatik – durchaus der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierten Dominanz der Prosa als führender literarischer Gattung in der Gunst des Publikums, bei Kritik und Forschung entsprechend – somit erheblich unterrepräsentiert, wie auch ein exemplarischer Blick auf DramatikerInnen zeigt, die nicht eingeladen wurden (oder – womöglich – Einladungen ausgeschlagen haben). Keine Poetikvorlesungen liegen im deutschen Sprachraum etwa vor von Herbert Achternbusch, Sibylle Berg, Marieluise Fleißer, Max Frisch, Peter Hacks, Peter Handke, Lutz Hübner, Hans Henny Jahnn, Elfriede Jelinek, Franz Xaver Kroetz, Marius von Mayenburg, Heiner Müller, Armin Petras, Klaus Pohl, René Pollesch, Gerlind Reinshagen, Werner Schwab, Botho Strauß, George Tabori, Theresia Walser, Peter Weiss oder Urs Widmer et al. Diese erhebliche Unterrepräsentanz findet eine ebenfalls irritierende Parallele in dem seit mehr als 20 Jahren zu beobachtenden konsequenten Desinteresse deutschsprachiger Literaturkritik am deutschsprachigen Theatertext: Obgleich Theaterinszenierungen eine intensive Begleitung durch die Theaterkritik erfahren, werden gedruckte Theatertexte ebenso wie poetologische Reflexionen mit Blick auf Drama und Theater (Poetikvorlesungen ebenso wie poetologische Essays, Manifeste etc.) von den deutschsprachigen Feuilletons weitestgehend ignoriert und fast nie besprochen. Dem dramatischen Text ebenso wie der Poetik des Dramas wird im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert in Debatten um die Literatur, wie sie sich in Poetikvorlesungen und in der Literaturkritik spiegeln, nur noch eine Nebenrolle zugebilligt: In Abwandlung einer These Uwe Timms aus seinen Paderborner Poetikvorlesungen aus dem Wintersemester 1991/92 besteht im Feuilleton offenbar Konsens, dass nicht das „Theater“, wie Timm formuliert hatte, sondern dass der Dramentext und Poetiken des Dramas „als Anstalt[en] eines kritischen ästhetischen Diskurses fast ganz ausgeschieden“ sind (Timm 1993, 130). Dass diese Haltung für die Entwicklung von Bühnentexten und die Kompetenz der Theaterkritik fatal ist, liegt auf der Hand: Bühnentext und Bühnentheorie müssen auf die Kommentierung durch ein kompetentes und kritisches

3.1.2 Poetiken des Dramas

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Publikum verzichten, und die Theaterkritik beraubt sich der Möglichkeit, in ihrer Urteilsfindung die theoretischen Reflexionen der TheaterautorInnen mitzubedenken. Sie agiert, indem sie die wenigen vorhanden Vorlesungen kaum zur Kenntnis nimmt, bewusst uninformiert.

2 Anfänge: Beiträge zur Geschichte oder zur allgemeinen Theorie des Dramas Die frühesten Vorträge, die zum Feld der Poetikvorlesungen gezählt werden können und Drama und/oder Theater zum Gegenstand haben, sind für die Gattung ohne prägende Wirkung geblieben. John Masefields Romanes Lecture Shakespeare and Spiritual Life aus dem Jahr 1924 ist primär ein Beitrag zur Shakespeare-Philologie und enthält keine explizite Reflexion des Vortragenden über sein eigenes Werk oder über Drama und Theater im Allgemeinen: Masefield versteht unter „Spiritual Life […] all imagined or apprehended Life which, without known, sensible, physical character, affects, or is imagined to affect, the lives of men and women in this world“ (Masefield 1924, 3). Der Bedeutung dieser Instanzen für Shakespeares Leben und Werk geht er in biographischer Hinsicht, dann in chronologischer Betrachtung einzelner Werke und Werkphasen nach. Die Vorlesung ist stark essayistisch und von pathetischem Ton sowie einer Vielzahl diskutabler, auch dubioser, aber stets absolut vorgetragener Thesen geprägt. So konstatiert Masefield u. a.: „To the extraordinary man extraordinary things are done, which ordinary people call coincidences. They are not coincidences: they come from the Helpers that attend all kindled imaginations“ (Masefield 1924, 14– 15); „All life is an attempt to get beyond the barriers of self“ (1924, 18); „Poets always do the best that they can at each time“ (1924, 23); oder: „In that mood […] [Shakespeare’s] mind became pure energy and its thoughts partook of the nature of pure energy: they became indestructible“ (1924, 26). In Masefields Thesen artikulieren sich starke weltanschauliche, ästhetische und poetologische Überzeugungen. Beiträge zu einer gattungsspezifischen Poetik des Dramas und Theaters sind sie nicht, blieben aber innerhalb der Shakespeare-Rezeption nicht ohne Wirkung (Viswanathan 1980, 70, 96). Einer Shakespeare streifenden, aber weit über ihn hinaus fokussierten Fragestellung geht der britische Regisseur, Schauspieler und Dramatiker Herley Granville-Barker nach. Auch wenn er eine kurze Geschichte des „Poetic Drama“ skizziert (Granville-Barker 1937, 3 – 15), geht es ihm um die Bestimmung der Bedeutung der Poesie bzw. des Poetischen für das Drama. „[P]oetry“, so GranvilleBarker, sei „patterned language“ (1937, 16), „the expression of the imagination,

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and that which lifts the veil from the hidden beauty of the world“ (1937, 15 – 16). Sprache im Theater habe mindestens vier Ebenen: „[T]he dramatist must learn to express himself in this fourfold language; of speech, of action, of presentation of character in the person of the actor, and […] of a use of the background which will set this in relief“ (1937, 17). Auf allen diesen Ebenen könne der Dichter Muster erzeugen, vom „pattern“ als „construction“, zum „pattern of character“, „of events“ (1937, 23) oder „of […] scenes“ (1937, 26). Um die Abhängigkeit vom Schauspieler als „the most potentially powerful of the forces engaged“ im Theater zu mindern (1937, 29), müsse der Dramatiker über die Muster hinaus auch im zweiten Sinn poetisch dichten und „lift the veil from the hidden beauty“ (1937, 30). Wahrscheinlichkeit der Handlung, Figuren mit großer Wirklichkeitsnähe seien dafür zentral, sowie: „He has to give this histrionic body a spirit which will be inalienably the character’s own and the essential thing in it, a spirit which will, by comparison, reduce the actor’s solid reality to the value of mere appearance“ (1937, 30 – 31). Versteht man Poesie nun mit Granville-Barker als im weiten Sinne musterbildend und verborgene Schönheit entbergend, sowie Dramatik, weil sie Muster bildet und Schönheit offenlegt, als poetisch, dann ist Granville-Barkers Resümee schlüssig: „The theatre, if it is to survive, needs poets“ (1937, 42). Für die Entwicklung des Dramas und seiner Poetik nach 1945 sind diese Positionen nicht nur aufgrund ihres normativen Anspruchs gleichwohl wenig anschlussfähig.

3 Neuansatz nach 1945 Bieten also die historisch frühesten Poetikvorlesungen von DramatikerInnen, soweit sie sich mit Drama und Theater befassen, vor allem allgemeine, auch literaturhistorische Erwägungen zum Gegenstand unter Absehung vom eigenen Werk des Vortragenden, formiert sich die Gattung der Poetikvorlesungen zu Drama und Theater nach 1945 neu. Nun stehen ohne Ausnahme das je eigene Werk und die je eigene Konzeption von Drama und Theater im Mittelpunkt. Die Vorlesungen erläutern die spezifischen konzeptionellen Ansätze der Vortragenden, Eigenheiten ihrer Textproduktion, ihrer Werkgeschichte, ihrer Bühnenarbeiten. Varianz innerhalb der Gattung besteht besonders darin, wie stark der Fokus innerhalb der Vorlesungen überhaupt auf Drama und Theater liegt, in welchem Verhältnis Anekdotisches und abstrahierende Reflexion zueinander stehen, wie genau die eigene Konzeption begrifflich gefasst wird und wie stark oder schwach die eigenen poetologischen Reflexionen als normativ formuliert werden.

3.1.2 Poetiken des Dramas

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3.1 Kursorische Einlassungen zu Drama und Theater Nicht wenige Poetikvorlesungen von AutorInnen, die primär oder sekundär als DramatikerInnnen bekannt geworden sind, fokussieren sich nur teilweise auf die Poetik des Dramas: In seiner Frankfurter Poetikvorlesung vom 13. Februar 1990 Schreiben nach Auschwitz diskutiert Günter Grass seine Anfänge als Lyriker und Dramatiker und zitiert länger aus Onkel, Onkel (1958) und Die Plebejer proben den Aufstand (1966) (Grass 1990, 21, 26 – 28). Beide Stücke jedoch werden nur im Kontext einer generellen Reflexion über die Suche nach dem eigenen künstlerischen Weg im Wissen und trotz des Wissens um „Auschwitz als Zäsur und unheilbarer Bruch der Zivilisationsgeschichte“ (Grass 1990, 14) angesprochen. Dramenpoetologische Fragen jenseits einer knappen und offenbleibenden Überlegung, ob „das Askese-Gebot“ „nach Auschwitz“ für die von Grass rückblickend als „Ausformung von Magersucht“ charakterisierte Gestaltung seiner „Theaterdialoge“ verantwortlich gewesen sei, werden nicht diskutiert (Grass 1990, 22). Marlene Streeruwitz war, als sie im Wintersemester 1995/96 die Tübinger Poetik-Dozentur und zwei Jahre später im Wintersemester 1997/98 auch die Frankfurter Poetikvorlesungen übernahm, seit Ende der 1980er Jahre als Hörspielautorin und vor allem seit den frühen 1990er Jahren als Dramatikerin etabliert. Gleichwohl stehen in den gedruckten Fassungen beider Vortragsreihen nicht Fragen einer Poetik des Dramas im Mittelpunkt, sondern eine umfassende Kritik der Sprache aus feministischer Sicht, Überlegungen zum „Ausschluss eines weiblichen Schreibens aus dem hochkulturellen Kanon“ und zur „gesellschaftliche[n] Funktion einer klassischen (männlichen) Ästhetik“ (Schößler 2004, 23) sowie die Reflexion über die Möglichkeiten einer nicht der patriarchalischen Ordnung zuspielenden Sprache der Literatur: „Wenn Frauen keinen Blick haben, dann können sie nichts sehen. Dann gibt es nichts zu beschreiben. Wenn also das Gesehene über den Männerblick wahrgenommen wird, dann kann dieses Gesehene auch nur mit der Männersprache beschrieben werden. Alles geborgt. Alles geliehen. Aus zweiter Hand“ (Streeruwitz 1997, 22). Bei einer „nicht patriarchalen Poetik“ gehe es „um die Bildung einer Solidargemeinschaft“ und um „Entkolonialisierung“, darum, „[d]aß nicht einfach nur neu gedacht werden kann. Sondern, wie anders gedacht werden kann. Wie ein Anders-Denken möglich werden kann, obwohl wir keine andere Sprache als die patriarchale kennen. Und wie anders geschrieben werden kann. Obwohl wir keine andere Sprache als die patriarchale können“ (Streeruwitz 1998, 22). Die Ausführungen zu den schriftstellerisch konkreten Konsequenzen dieser fundamentalen Überlegungen fallen im Bereich des Dramas kurz und wenig konkret aus. Sie habe, notiert Streeruwitz zunächst generell, „durch die Not-

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wendigkeit des Akts der Beschreibung eines Unsagbaren im Ausdruck zu Kunstmitteln wie Stille, Pause, dem Punkt als Würgemal und dem Zitat als Fluchtmittel gefunden, um damit dem Unsagbaren zur Erscheinung zu verhelfen“ (Streeruwitz 1997, 48). Die „Wurzeln des Theaters“ allerdings lägen „ausschließlich im machterhaltenden, affirmativen Schauspiel“ (1997, 65). Das Publikum konstituiere sich als „Masse, die der Macht zusieht oder ihr applaudiert“ (1997, 66), Theater sei in „der heutigen Form […] eine Institution des Bürgerlichen“ (1997, 67). Ziel des Theaters müsse es daher sein, „ein Theaterpublikum zu vereinzeln und jeden und jede auf sich selbst zurückzuverweisen“ (1997, 70), sei eine „Poetik des Schweigens“ (1997, 71). Streeruwitz schreibe „theaterauflösende Stücke“ (1997, 72) mit einem „komplizierteren geometrischen Verlauf“ (1997, 74), wobei Streeruwitz ihre ‚nicht patriarchale Poetik‘ am differenziertesten mit Blick auf Sprache und Stückaufbau konkretisiert: „Der vollständige Satz ist eine Lüge. Im Entfremdeten kann nur Zerbrochenes der Versuch eines Ausdrucks sein. […] Mit dem Punkt kann der vollständige Satz verhindert werden. Der Punkt beendet den Versuch. Sätze sollen sich nicht formen. […] Im Stakkato des Gestammels. In den Pausen zwischen den Wortgruppen ist das Suchen zu finden. Nach sich. Nach Ausdruck. Sind die Sprachleeren preisgegeben. Keine Zuflucht, sich ein Sätzchen mit nach Hause zu nehmen […]. Die formalen Strukturen der Dekonstruktion, Schnitt, Wechsel der Einstellung, Einschübe, Zitate, Collagierung linearer und räumlicher Natur machen jede Verführung in ein zusammenhängend Beruhigendes zunichte. Die Machtlosigkeit sich selbst gegenüber kann auf der Bühne Revue passieren“ (Streeruwitz 1997, 76, 81; zur Bedeutung der Interpunktion bei Streeruwitz: Bücker 2015, 115 – 117). Viel konkreter entwickeln sich die Ausführungen zur nicht-patriarchalen Poetik des Dramas bzw. der „Poetik der Fraktur“ (Schößler 2004, 106) und zur Umsetzung ihres „dekonstruktiven Anliegen[s]“ (2004, 106) im Speziellen nicht. Als Rainald Goetz am 28.04.1998 in Frankfurt zur ersten seiner fünf Frankfurter Poetikvorlesungen antritt (Goetz 1999, 229 – 237, 252– 275, 287– 309, 320 – 340, 351– 372), ist er als Prosaautor etabliert und einer der wichtigsten Dramatiker der 1990er Jahre (den Mülheimer Dramatikerpreis erhält er 1988, 1993 und 2000). Gleichwohl sind auch seine Reflexionen zu Drama und Theater ausgesprochen knapp: Goetz reiht sich ein in eine Gruppe von DramatikerInnen, die – wie Marlene Streeruwitz – am „literarische[n] Kunstwerk Theaterschauspiel“ nicht dessen Eigenwert betonen, sondern es als „literarische[n] Grenzfall“ mit „Partiturcharakter“ begreifen, der „auf die Erscheinungsbringung durch die Theateraufführung ausgerichtet“ sei (Streeruwitz 1997, 72). So notiert Goetz: „Von seiten des Autors her gesehen ist ein Theaterstück ein Text, der so geschrieben ist, daß er seine Erfüllung erst erfährt, wenn er auf der Bühne realisiert wird, als Theaterstück“ (Goetz 1999, 229). Ebenfalls wenig originell, gleichwohl emphatisch feiert

3.1.2 Poetiken des Dramas

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er die „Liveness“ des Theaters, die leibliche „Präsenz“ der Akteure, des „wirklichen Körper[s]“ (Fischer-Lichte 2004, 114): „Die Bühne ist der einzige Kunstort, für den wirklich das LEBEN die Form der Kunst ist. Das ganz reale, menschliche, fleischliche Leben, der Atem und die Spucke, der Geruch der Körper und der Husten der Langeweile. […] [D]ieses Leben ist das Material und der Gegenstand, das Arbeitsinstrument und die künstlerische Endgestalt, Ausgangspunkt und Ziel und Mitte, ALLES wirklich dieser ganz speziellen Kunst, die auf der Bühne sich ereignet. Banalität, klar, trotzdem wichtig“ (Goetz 1999, 270). Goetz erkennt und betont die „Fremdheit und Unerreichbarkeit […] der Zuschauer, des Publikums, […] die totale Unhomogenität dieses Kollektivs als Ganzes“, fügt jedoch keine weiterführenden Überlegungen für eine darauf aufbauende Poetik des Dramas an (Goetz 1999, 274). Jeweils knapp äußert sich Goetz zu Theaterschaffenden (Castorf, Kresnik, Schleef), beschreibt Ideen, Pläne, Handlungsentwürfe für zukünftige Theaterstücke, lobt, es gäbe „so viele Arten von tollem Theater“ (Goetz 1999, 274). Nur schemenhaft vermittelt er seinen Wunsch, „[e]in Theaterstück [zu] schreiben, das durchaus ein klassisches Drama sein soll, und doch alles ganz anders macht, auf irgendeine Art“ (Goetz 1999, 230 – 231), um sich schließlich – ohne Gründe, weitere Erläuterungen oder Ausformulierung der Konsequenzen für die Dramaturgie seiner Stücke – gegen Brecht zu positionieren: „Daß die Bühne doch der Ort sein muß, wo ein Moment der BEZAUBERUNG einen atemlos macht, für einen Augenblick zumindest. Ein Moment der Berührung, der Rührung muß einen fassen. Ja. Ohne Erschütterung kein Theater. Das wäre die sogenannte Ent-fremdungs-Aufgabe, die sich heute, via Medien, an der Stelle, wo früher Brechts Verfremdungs-Effekt stand, dem Theater allabendlich stellt. Man könnte auch von der Kategorie des MITLEIDS sprechen“ (Goetz 1999, 273 – 274). Nicht untypisch für Goetz fügen sich gedankliche Splitter zueinander, doch nicht zu einer differenzierten Poetik des Dramas.

3.2 Vorlesungen mit starkem Fokus auf die Dramatik Sind Poetikvorlesungen, in denen das Theater und die Dramatik tatsächlich im Mittelpunkt stehen, bis zum Beginn der Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik rar, so zählen Tankred Dorsts im November 2003 gehaltene vier Frankfurter Poetikvorlesungen zu jenem Segment dieser Gruppe, in dem besonders Anekdotisches aus der eigenen Werkstatt und Theatererfahrung im Zentrum steht: In der zweiten, dem Stück Merlin gewidmeten Vorlesung etwa (Dorst 2005, 43 – 61) werden erste Ansatzpunkte zum Stück ebenso wie verschiedene Aufführungen detailliert behandelt, konkrete oder grundlegende konzeptionelle Probleme und ihre Lösung bzw. dramaturgische Entscheidungen jedoch kaum ausgeführt und

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nur kursorisch diskutiert. Gleiches gilt für die den Deutschen Stücken von Dorst und Ursula Ehler sowie den zum Vortragszeitpunkt noch abzuschließenden Projekten gewidmeten dritten und vierten Vorlesungen. Es ist in Dorsts Fall der Auftakt zur Vorlesungsreihe, in dem grundlegendere theater- und dramentheoretische Thesen und Positionen – jedoch eher mäandernd und assoziativ als streng argumentativ – vorgetragen werden: etwa zur Abhängigkeit aller Dramen von der Aufführung bzw. zur Rolle des Dramatikers nur als „erste[r] Bewegende[r]“ eines Theaterstücks (Dorst 2005, 12, 19 et al.), zu Entwicklungen der Regie in den vorausgegangenen Jahrzehnten (2005, 11– 15, 33, 47, 58 – 59, et al.), zum eigenen Festhalten an einer Handlung im Drama (2005, 21– 22), zu wiederkehrenden Motiven im eigenen Werk (2005, 35 – 37), zu konzeptionellen Defiziten des Dokumentartheaters (2005, 15 – 17), zum politischen Theater, zum Verhältnis von Theater und Film (2005, 76) oder zur Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Peter Zadek. In der Summe wird eine schriftstellerische Praxis erkennbar, in der Dorst und seine Partnerin Ehler Stoffe eher finden als konstruieren (2005, 22– 33, 43 – 44, et al.), in der einzelne Texte über einen langen Zeitraum entstehen, und die auch den Mut zu Neuem hat, etwa zur Inszenierung subjektiver Wahrnehmungen einer Figur in eine ansonsten naturalistisch funktionierende Szene hinein (2005, 74– 75). Systematische Reflexionen über eine etwaige Wirkabsicht als Dramatiker, über die Beziehung von Bühne und Publikum, spezifisch auch über das von Dorst und Ehler praktizierte Schreiben zu zweit (2005, 76 – 78), über Bühnensprache und dramaturgische Mittel oder eine theoretische Haltung zu den diversen Theaterrevolutionen im 20. Jahrhundert erfolgen dabei nur am Rand. Ein Versuch, die eigene Poetik des Dramas begrifflich zu fassen, unterbleibt weitestgehend. Ganz anders entwirft Rolf Hochhuth seine Poetikvorlesungen als die bis heute wohl umfangreichsten eines Dramatikers: Auf über 300 eng bedruckten Seiten bietet er 2001 „atemlos, […] voller nebensächlicher Fakten, und […] exkursiven Blasenbildungen“ (Arnold 2002) die ausufernde Dokumentation seiner 1996 gehaltenen fünf Frankfurter Poetikvorlesungen unter dem programmatischen Titel Die Geburt der Tragödie aus dem Krieg. Gleich zwei Vorträge befassen sich gar nicht mit Dramatik, sondern mit Memoiren, Tagebüchern und Briefen (Hochhuth 2001, 125 – 248). Ansonsten stehen starke Thesen zum Theater und Drama weit jenseits des eigenen Werks im Mittelpunkt. Zentral ist für Hochhuth dabei die unter Verweis auf Phrynichos’ verschollene Tragödie Fall von Milet und auf Aischylos’ Die Perser entwickelte These von der Geburt der Tragödie aus dem Krieg: Phrynichos’ die griechische Niederlage von 494 in Griechenland auf die Bühne bringende „erste aller Dramen“ überhaupt sei „geboren“ aus dem „Entsetzen des Krieges“ und dem „Anlaß, der Oberschicht der Polis eine höchst unangenehme Wahrheit ins Gesicht zu sagen“ (Hochhuth 2001, 17). Das Stück habe direkt in die

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Tagespolitik Griechenlands eingegriffen (Hochhuth 2001, 13 – 14) und so die potenziell positive „Wechselwirkung, die von der Politik auf die Literatur ausgehen kann und umgekehrt“ (2001, 14), belegt, sei aber, weil es „zu stark wirkte“, gleich verboten worden (2001, 15). So wird dieses erste Drama für Hochhuth zum Beleg der Macht und des Auftrags von Drama und Theater schlechthin: Als Medium besonderer Wirkkraft sind sie von Beginn an und essenziell politisch und finden ihre eigenste Bestimmung darin, wenn sie „Politik nicht bloß darstellen, sondern Politik sind“ und dabei „auch die Wege weisen, Katastrophen zu verhindern“ (2001, 18). So entstehen Tragödien, wie Hochhuth gegen Nietzsche betont, nicht „aus dem Geiste der Musik“, sondern „aus Kriegen und in den gesellschaftlichen Zerreißproben der Diktaturen und der Arbeitswelt“ (2001, 19). Diese zu thematisieren ist ihre Aufgabe, wahlweise „eine hautnah aktuelle Bedrohung“ zeigend (2001, 21) oder ein „überpersönliches Ziel“ verfolgend (2001, 18). In einer zweiten zentralen Debatte positioniert sich Hochhuth scharf gegen Thesen von der „Abdankung des Subjekts“ (Hochhuth 2001, 56), wonach „Personen […] nicht mehr sie selber, sondern allein noch Bestandteile der Maschinerie“ seien (2001, 57), gegen die „Verdächtigung des Individuums als ‚impotente Charakter-Maske‘“ (2001, 63). Hochhuth findet hier den „Kern aller Auseinandersetzungen über Theater, nämlich bei der Frage, wie weit die Freiheit, sich zu entscheiden, den einzelnen und den Mächten noch gegeben oder nicht mehr gegeben ist“ (2001, 62), denn: „wenn einzelne nichts mehr zu sagen hätten, nichts zu verantworten, also auch gar nicht schuldig werden könnten, so wäre kein Drama mehr möglich, das, wie gesagt, die Freiheit der Entscheidung voraussetzt“ (2001, 65). Folglich „müssen wir uns hüten“, so Hochhuth weiter, „wollen wir überhaupt Menschen und ihre Probleme von heute noch auf die Bühne stellen, die Haftbarkeit des einzelnen zu bestreiten“ (2001, 67). Obwohl Hochhuth sich hier vor allem in der Opposition zu Adorno inszeniert, bezieht er Position innerhalb einer breiteren theaterpoetologischen Debatte seit Ende des Zweiten Weltkriegs über das Subjekt bzw. das „Verschwinden des Subjektes“ (Garofalo 2020, 9 mit Blick auf Sibylle Bergs Stücke: „Der Mensch scheint zu existieren, seine Identität hat er längst verloren“), in der Friedrich Dürrenmatt 1955 betont hatte: „Die heutige Welt […] läßt sich dagegen schwerlich in der Form des geschichtlichen Dramas Schillers bewältigen, […] weil wir keine tragischen Helden, sondern nur Tragödien vorfinden, die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden. […] Der heutige Staat ist […] unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden“ (Dürrenmatt 1955, 34 – 35), und: „Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr“ (1955, 37).

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Trug Dürrenmatt seine Thesen nicht in einer Poetikvorlesung im engen Sinne vor, setzte sich die Debatte in den Poetikvorlesungen von DramatikerInnen fort: 2003 erinnert Tankred Dorst an die späten 1960er Jahre, in denen er „die Meinung einiger Theatermacher“ geteilt habe, „daß das wellmade play unsere Wirklichkeit nicht mehr fassen könnte“, sodass er „also nicht mehr das individuelle Drama des Revolutionärs […] Toller erzählen, sondern den ganzen Strom von Geschichte zeigen“ wollte (Dorst 2005, 16). Kathrin Röggla verweist 2014 auf ihr Interesse, „im Theater über Kommunikationsformen nachzudenken, über Arten des Sprechens“ (Röggla 2014, 82), Falk Richter 2018 auf den „disconnect“, den Bruch, „die Erfahrung schlagartig über den Menschen einbrechender grundlegender Veränderungen“ als Grunderfahrung zeitgenössischen Lebens (Richter 2018, 99) sowie als Begründung dafür, dass „das klassische Dramentheater als Tradition, als Anknüpfungspunkt“ für viele DramatikerInnen nicht mehr „interessant [sei], die Fabel, die Handlung, die Figuren mit ihrer Figurentreue, die Dialektik, die immer schon Bescheid weiß, wohin die Reise geht“ (Röggla 2014, 82). Ähnlich führen auch weitere Ausführungen Hochhuths hinein in zentrale Debatten: Obgleich seine normativ gemeinte Bestimmung des Dramas als grundlegend politisch gerade im 21. Jahrhundert von vielen Theatermachenden für ihre Bühnenarbeiten geteilt wird, markieren Hochhuths Positionen doch deutlich Differenzen zwischen ihm und VertreterInnen der Theaterpraxis im 21. Jahrhundert. Dass „Konflikte auf der Bühne […] immer personifizierte, an einzelnen exemplifizierte Konflikte“ seien (Hochhuth 2001, 88), korrespondiert zwar durchaus mit dem Fokus etwa auf einzelne ExpertInnen des Alltags im Theater von Rimini Protokoll, nur hat das Regiekollektiv kaum noch Interesse an exemplarischen Konflikten auf der Bühne: „Dialog“, so betonen Rimini Protokoll in ihren Poetikvorlesungen, erscheint „[b]ei uns öfter als Monolog, der eigentlich ein Dialog mit dem Publikum ist“ (Rimini Protokoll 2012, 27). Sieht Hochhuth „nur ein Zentrum […] für den Dramatiker […]: der sich […] gleichbleibende Mensch, wie er war und ist und immer sein wird“ (Hochhuth 2001, 103, 277), betonen DramatikerInnen nach Hochhuth Pluralität statt Universalität (Rimini Protokoll), untersuchen, „wie das gesellschaftliche System im einzelnen Menschen bereits vorhanden ist und wie das System in ihm lebt, seine Handlungen bestimmt“ (Richter 2018, 89), oder sie machen Theater gerade auf Basis der gegenteiligen Annahme, dass (im Licht technologischer Revolutionen) „the vision of eternal man is no longer defensible, and certainly not useful“ (Dorsen 2012). Für Hochhuth gibt es, wie es auch andere DramatikerInnen betonen (Dorst 2005, 37; Schimmelpfennig 2014, 20), keine gültige Theorie des Dramas (Hochhuth 2001, 43, 67); für jeden Stoff sei die „nur ihm gemäße“ Form stets neu zu finden (2001, 71, 79). Hochhuth aber fordert zudem, DramatikerInnen müssten

3.1.2 Poetiken des Dramas

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sich von Theorien aller Art fernhalten: „Theorie und Philosophie [sind] die zwei ganz großen Feindinnen jeder dichterischen Produktion“ (Hochhuth 2001, 72). Hier wählt Hochhuth dezidiert einen anderen Weg als jüngere KollegInnen wie Rainald Goetz (1999, 232, 301– 302), René Pollesch (Bergmann 2014, Birgfeld 2015), Falk Richter (2018, 34, 89, 91, 143 et al.) oder Kathrin Röggla („ich brauche Theorie und systemische Überlegungen“, Röggla 2014, 18). Grundsätzlich sind Hochhuths Forderungen nach „Sozialkritik“ (Hochhuth 2001, 96) und „Gesellschaftskritik“ (2001, 121), vielleicht sogar die nach „Einsichten in das sogenannte Böse“ (2001, 96), sowie seine Forderungen, politisches Theater möge auch „Modelle“ schaffen, eine neue Wirklichkeit projizieren, Ideen vorwegnehmen (2001, 284) und „Mitleid“ praktizieren (2001, 298), anschlussfähig, wenn beispielweise Milo Rau in seinen Saarbrücker Poetikvorlesungen als Grundlegung seiner Konzeption eines politischen Theaters fragt: „was sind die Mittel, ja: die Wirkmittel von dokumentarischen und fiktiven theatralen Versuchsanordnungen, um Mitleid zu erzeugen, zu reflektieren und vielleicht sogar auf eine höhere, politische Ebene – die der Solidarität zu bringen […]?“ (Rau 2019, 80). Raus Projekte der Moskauer Prozesse, des Kongo Tribunals oder der General Assembly sind unter dem Schutz der Kunst und des Theaters realisierte Projektionen neuer Ideen und einer neuen Wirklichkeit (Rau 2019, 119 – 136, Birgfeld und Frank 2018). Hochhuths 1996 in Frankfurt unter dem Eindruck wachsender Arbeitslosenzahlen in Europa formulierte Forderung, im Theater der Gegenwart müsse der zurückgekehrte „Klassenkampf“ (Hochhuth 2001, 36), der neuerliche „Wirtschaftskrieg“ (2001, 251), genauer: die „Katastrophe der Epoche“, die rasant wachsende „Arbeitslosigkeit“ (2001, 260) stehen, hat sich im Detail womöglich historisch überholt, teilt mit späterem politischen Theater aber das Engagement gegen soziale Missstände. Hochhuths durchaus normativ vorgetragene Vorstellungen allerdings, moralphilosophische Grundsätze auf der Bühne „durch einen Menschen [zu] veranschaulichen“ (2001, 89), „die Jetzt-Zeit […] überzeitlich zu gestalten“, „dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben“ (2001, 104), sowie sein Fortschreiben der alten Debatte über das Verhältnis von Literatur und historia, Drama und Geschichtsschreibung (Wessels 2005), finden sich in Poetikvorlesungen der im postdramatischen Kontext arbeitenden DramatikerInnen so nicht mehr wieder. Hier dominiert vielmehr die Skepsis gegenüber allen Ansprüchen auf Einsichten überzeitlicher Geltung, gegenüber der Darstellbarkeit komplexer Verhältnisse an einzelnen Figuren und ihrer Entwicklung, gegenüber der Relevanz einer poetischen Sprache.

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4 Poetikvorlesungen zu Drama und Theater im 21. Jahrhundert Besonders die im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gehaltenen Poetikvorlesungen von DramatikerInnen belegen eine große Breite des konzeptuellen Zugangs zum Theater in der jüngeren Generation von Theatermachenden. Obgleich Regietheater einerseits und postdramatische Entwicklungen andererseits starke Rahmenbedingungen der Theaterarbeit darstellen, zeigen die Poetikvorlesungen vor allem poetologische Vielfalt. In seinen Saarbrücker Vorlesungen von 2016 fordert Falk Richter zunächst – hier durchaus mit Nähe zu Hochhuth –, dass sich das Theater nicht nur „mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen auseinandersetzen“, sondern sich auch einmischen solle „in gesellschaftliche Diskussionen“, dass es „den politischen Diskurs in einer Gesellschaft vorantreiben, Ideen liefern, aktuellen Strömungen in der Gesellschaft nachspüren, gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen ein Forum bieten“ möge (Richter 2018, 118). Richters Blick aber ist weder auf überzeitliche Fragestellungen noch auf Exemplarizität der Bühnenfiguren gerichtet: Er versteht sich als „Chronist“ seiner Zeit, der versuche, „seismographische Arbeit zu leisten und zu fragen: Wie verschiebt sich gerade in unserer Gesellschaft die Art zu denken, zu fühlen, zu kommunizieren? Welchen Verunsicherungen, welchen neuen Aufgaben sind Menschen in komplexen westlichen Gesellschaften ausgesetzt?“ (Richter 2018, 7). Und nicht Theater als Medium der Repräsentation, sondern sein Charakter als Live-Art ist für Richter zentral: „Das Theater ist der besondere Ort, an dem Menschen zusammenkommen, gemeinsam eine Inszenierung zur selben Zeit erleben […], ohne dabei gestört oder unterbrochen zu werden. […] Sie können nicht, wie im Fernsehen, umschalten. Sie erfahren andere Zeitverläufe – eventuell lassen sie sich für einen Zeitraum von zehn oder gar fünfzehn Minuten eines Monologs nur auf die Gedankengänge eines Menschen bzw. einer Figur ein“ (Richter 2018, 118). Statt Figuren auf ihre Repräsentativität hin zu konzipieren, kann das Theater umgekehrt „einen persönlichen Blick auf das Individuum ermöglichen“ (Richter 2018, 22), es so aus „Zuschreibungen“ lösen und „sich auf die ganz eigene und eigenwillige und widersprüchliche Geschichte eines jeden einzelnen Menschen“ (2018, 21) konzentrieren. Richters Vorlesungen führen differenziert in ein Theaterkonzept ein, das seinen politischen Charakter in der Betonung und Ausstellung von Individualität, Komplexität und „Vielfalt“ als „Reichtum“ (Richter 2018, 80) sieht. Ein bewusst gewählter collageartiger Aufbau der Stücke soll zu einem steten Wechsel von Einfühlung und Unterbrechung, Abbruch bzw. Bruch führen, sodass der Zusehende „unentwegt den Modus zwischen Beobachtung, Sich-Einlassen,

3.1.2 Poetiken des Dramas

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Versinken in Empathie, Distanz wahren, Bewerten, Zwischenbilanz ziehen“ schwankt (Richter 2018, 96). Schließlich entwirft Richter sein Theater als ein „choreografisches“ (2018, 5), in dem Tanz systematisch Ausdruckssprache ist „für das ohnmächtig gewordene, sich machtlos, sprachlos und zugerichtet fühlende Subjekt in der neoliberalen Gesellschaft der Gegenwart“ (Birgfeld 2018a, 178), aber auch Ausdruck ist der Blickwendung Richters auf das Individuum als ein gesellschaftliches und fühlendes, auf „das Innen und das Außen“ (Richter 2018, 7). Nicht weniger differenziert, wenngleich inhaltlich stark abweichend, profilieren auch Roland Schimmelpfennig und Milo Rau in ihren 2013 bzw. 2017 in Saarbrücken gehaltenen Poetikvorlesungen ihre Konzepte vom Theater. „[E]ntscheidende Grundlage“ des Theaters ist für Schimmelpfennig „der Text“ (Schimmelpfennig 2014, 48), ein Bühnentext als „Komposition, verdichtete Sprache“ (49). Thema des Theaters ist „nicht die Sprache“, sondern „der Mensch“ in seiner „Vergänglichkeit“ und „Endlichkeit“ (2014, 18). „Theater erzählt Geschichten. Immer“ (2014, 20), und es ist „Spiel“: „Der Mensch spielt. Der Mensch, der Schauspieler, spielt, er sei jemand anderes. Er nimmt Rollen an. Der Zuschauer identifiziert sich mit der Rolle, die ein anderer für ihn spielt, für ihn annimmt. Das ist ein Moment großer menschlicher Leichtigkeit und Freiheit“ (2014, 20). Damit sind entscheidende Eckdaten des Theatermodells von Roland Schimmelpfennig skizziert: Theater müsse verständlich sein, also mit Bildern arbeiten, denen der Zuhörer „folgen“ könne (2014, 59), damit Theater seine wesentliche Funktion erfülle könne: Dialog zu sein, über das „WIR“ (2014, 60) nachzudenken, „Freiheit des Denkens“ und „Freiheit der Phantasie“ (2014, 86) zu ermöglichen: „Egal, ob im Theater am Abend vor 30 oder vor 99 oder vor 400 oder 1000 Zuschauern gespielt wird: An einem Theaterabend treffen die Biographien und die Phantasie all dieser vielen einzelnen Zuschauer zusammen, um gemeinsam einer Geschichte zu folgen. Was für ein Potenzial“ (2014, 48). „Einer spricht, und hunderte hören zu. Aber das ist keine Einbahnstraße, sondern ein vitaler Prozess, denn nicht nur wird im Theater quasi vor den Augen der ‚Öffentlichkeit‘ ein Stück ‚verhandelt‘. Diese Handlung oder ‚Verhandlung‘ wird ja im Prinzip nicht anders als bei Platon auch auf der Bühne ‚dialogisch‘ geführt. Es geht im Theater automatisch um das WIR, um das ‚Miteinander‘, und um das ‚Miteinandersprechen‘“ (2014, 60). Schimmelpfennig hat für seine Theaterpraxis das „narrative[] Theater“ entwickelt (2014, 72): „Ich verabschiedete mich von einem Theater der ‚Illusion‘ und fand eine Lösung, eine uralte Spielweise […]. Das bedeutete: Erzählung. […] Die Erzählung auf dem Theater […] erlaubt […] einen ganz anderen Luxus der Ausführlichkeit im Detail“ (2014, 72– 73). Milo Rau hingegen erläutert in seinen Vorlesungen sein Modell eines Theaters der Revolution, also einer Form von Bühn-

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enarbeit, die unmittelbar auf die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse zielt (Birgfeld 2019). Und in direkter Abkehr von Traditionen des postdramatischen Theaters, gleichwohl unter Nutzung einiger ihrer, vor allem selbstreferenzieller Techniken, setzt Rau für seine Absichten auf ausgesprochen tradierte Verfahren des Theaters: auf „Immersion“ (Rau 2019, 23 et al.), „Katharsis“ (2019, 62, 95 et al.) und „Mimesis“ (32 et al.). Sein Theater des „globale[n] Realimus“ (2019, 118), des Reenactmens (23) und der Intervention ist dezidiert politisches Theater, das schmerzhafteste gesellschaftliche Entwicklungen (Kindesmissbrauch und -mord, Hassverbrechen, Genozid) zur Darstellung bringt und alle verfügbaren Mittel einsetzt, die davon evozierten Affekte als Triebkraft menschlichen und darin politischen Handelns zu nutzen: „Was ist das: Katharsis, also dass man versteht, dass das, was auf der Bühne erzählt wird, dieses syrische oder afrikanische oder längst vergangene oder virtuelle Elend ein Schicksal ist, das uns alle, das mich betrifft?“ (2019, 62).

5 Formale und inhaltliche Entwicklungen Die Poetikvorlesungen im Bereich des Dramas haben keine gattungsspezifische Form entwickelt. Vielmehr ist eine beachtliche Vielfalt der Präsentationsformen zu konstatieren. Sie reicht vom scheinbar ‚bloßen‘ Abdruck der Vortragstexte wie im Fall Tankred Dorsts oder Marlene Streeruwitz’ (Dorst 2005; Streeruwitz 1997 und 1998) über Rolf Hochhuths ausufernde Textflut (Hochhuth 2001) einerseits und Günter Grass’ Reduktion seiner Dozentur auf einen einzigen Frankfurter Vortrag (Grass 1990) andererseits bis zu Rimini Protokolls lexikalisch aufgebautem ABCDarium (Rimini Protokoll 2012), She She Pops Verflechtung der Vorträge mit Sammlungen von an das Publikum gerichteten Erläuterungstexten zu ihren Bühnenarbeiten (She She Pop 2018), Milo Raus Anreicherung der Vortragsdokumentation mit Interviews, oder Roland Schimmelpfennigs (Schimmelpfennig 2014) und Kathrin Rögglas (Röggla 2015) Ergänzung der Vorträge um Bildmaterial. Bei den jüngeren InhaberInnen von Poetikdozenturen und Poetikprofessuren für Dramatik ist eine hohe Bereitschaft, aus eigenen Texten zu zitieren und diese Zitate argumentativ zu nutzen, zu beobachten (Ostermaier 2016). Inhaltlich ist – über die hier schon skizzierten Entwicklungen hinaus – in Bezug auf die Gattung der Poetikvorlesung im Allgemeinen noch hervorzuheben: Die Existenz so vieler Poetikvorlesungen insgesamt hat ihre historische Legitimität in dem Verschwinden verbindlicher ästhetischer Positionen: „Mit der Abwendung von Norm- und Regelpoetiken, wie sie im ausgehenden 18. Jahrhundert im Zeichen der Autonomieästhetik erfolgt, wird der Weg frei für individuell-besondere, dezidiert anti-systematische Reflexion über Literatur“ (Schmitz-Emans

3.1.2 Poetiken des Dramas

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2008, 377). Dem entspricht, dass nach 1945 der Fokus in Poetikvorlesungen allgemein wie speziell in solchen zur Poetik von Drama und Theater auf dem eigenen Werk und dessen Entwicklung liegt. Dass sich ausdrückliche Bezugnahmen auf Vorlesungen oder dramenpoetische Positionen von ZeitgenossInnen nur in geringem Umfang finden, ist ein durchaus bemerkenswertes Merkmal der Gattung, mindert aber den Rang der Vorlesungen selbst nicht: Vielmehr ist hervorzuheben, dass sich die Gattung der Poetikvorlesung als zentraler Ort wesentlicher ästhetischer Debatten im Feld von Drama und Theater etabliert hat. Dies allerdings gilt vor allem für das 21. Jahrhundert, seit sich die Poetikdozenturen und -professuren auch dezidiert der Dramatik zuwenden und diese nicht, wie es für die Mehrheit der Institutionen zu beklagen ist, weitgehend ignorieren.

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3.1.2 Poetiken des Dramas

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Röggla, Kathrin. Die falsche Frage. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Mit einem Nachwort und hrsg. von Johannes Birgfeld. Berlin 2015. Schimmelpfennig, Roland. Ja und Nein. Vorlesungen über Dramatik. / Sí y no. Conferencias sobre dramática. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. / Cátedra poética de dramática (Universidad del Sarre). Hrsg. von Johannes Birgfeld. Berlin 2014. Schmitz-Emans, Monika. „Reflexionen über Präsenz. Poetikvorlesungen als Experimente mit dem Ich und mit der Zeit“. Komparatistik als Humanwissenschaft. Hrsg. von Claudia Schmitt, Schmitz-Emans, Monika und Christian Winterhalter. Würzburg 2008: 377 – 386. Schößler, Franziska. Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre. Tübingen 2004. She She Pop. Sich fremd werden. Beiträge zu einer Poetik der Performance. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Mit einem Nachwort hrsg. von Johannes Birgfeld. Mit einem Beitrag von Aenne Quinones. Berlin 2018. Streeruwitz, Marlene. Sein. Und Schein. Und Erscheinen. Tübinger Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 1997. Streeruwitz, Marlene. Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen: Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 1998. Timm, Uwe. Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags. Köln 1993. Viswanathan, S. The Shakespeare Play as a Poem. A Critical Tradition in Perspective. Cambridge 1980. Wessels, Antje. „Literatur und Geschichtswissenschaft. Rolf Hochhuths Julia oder Der Weg zur Macht“. Poetica 37 (2005), 1/2: 211 – 238.

Doren Wohlleben

3.1.3 Poetiken der Lyrik Für die Entstehung und Vermittlung der Poetiken deutschsprachiger Lyrik nach 1945 kann die Bedeutung der Poetikvorlesungen kaum zu hoch eingeschätzt werden: Poetikvorlesungen sind seit der Einrichtung der Frankfurter Poetikdozentur im Jahr 1959 der Ort, an dem Autor*innen auf Einladung einer Universität über Bedingungen, Möglichkeiten und Probleme zeitgenössischer Dichtung (Bachmann 1993, 181– 271) reflektieren. Dichtung – überwiegend die eigene, aber auch die Dichtung literarischer Vorbilder – wird theoretisiert und rezitiert zugleich. Ausführung und Aufführung fallen in diesem performativen Akt zusammen: Anders als bei vielen Lesungen ist der Text in den meisten Fällen vorab nicht bekannt. Das Publikum findet sich vielmehr im Hörsaal ein und wird zum Adressaten sowie Zeugen einer erst- und einmalig mündlich vorgetragenen Poetik: Letztere ist überhaupt nur anlässlich dieser öffentlichen, universitären Veranstaltung verfasst worden, die sich häufig über mehrere Abende erstreckt. Für viele Zuhörer*innen, die das inzwischen deutschlandweit institutionalisierte Ritual der Poetikvorlesung von Semester zu Semester regelmäßig mitverfolgen, handelt es sich dabei um eine Erstbegegnung mit den entsprechenden Autor*innen: Literarisches Werk und reflektierter Werkstattbericht, poetische Lesung und poetologische Vorlesung werden ihnen gleichzeitig präsentiert – Poetik und Performanz sind untrennbar miteinander verbunden. Schöpfer*in, Rezitator*in und Interpret*in treten bei den Poetikdozenturen bis heute in Personalunion vor das Publikum, was zu polemisierenden bis kokettierenden Abwehrhaltungen der Autor*innen führt: „Weil ich mich als Praktiker einfach erachte. Und nicht auch noch die Literaturwissenschaftlerin mime, da steh mir Gott! bei“ (Kirsch 2019, 8) oder „Ich bin doch nicht mein eigener Deutsch-Leistungskurs“ (Zeh 2015, 8). Zugleich garantiert genau diese Personalunion beim Publikum die langwährende Faszinationskraft der literarischen Institution ‚Poetik-Dozentur‘ (Plachta 2019, 140 – 152). Selbstbewusste Autor*innen beteuern gerne ihre den Literaturwissenschaftler*innen überlegene Expertise in der lyrischen Praxis: „Was den Schaffensprozeß als solchen angeht, ist der Lyriker im sokratischen Sinne ein Fachmann“, so die Exillyrikerin und promovierte Politikwissenschaftlerin Hilde Domin: „Die entscheidenden Neuformulierungen über den Schaffensprozeß, die Lyriktheorie dieses Jahrhunderts ist durchweg den Lyrikern selbst verdankt (Mehr den Franzosen und auch den Angelsachsen als den Deutschen.)“ (Domin 1981, 44). Dennoch sind Lyriker*innen bei Poetikvorlesungen auffällig seltener vertreten als Prosaautor*innen: Beispielsweise sind unter den 18 Dozentinnen der Frankfurter Poetikdozentur bis zum Jahr 2020 zwar https://doi.org/10.1515/9783110647884-020

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immerhin die Hälfte auch auf dem Gebiet der Lyrik tätig, bei den 65 Dozenten ist aber nur ein kleiner Prozentsatz durch Gedichte bekannt geworden, der überwiegende Teil reüssierte im Bereich der Prosa (Schlosser und Zimmermann 1988). Generell finden in den letzten Dekaden Poetiken der Lyrik, selbst in der Literaturwissenschaft, sehr viel weniger Beachtung als Poetiken von Prosawerken, insbesondere des Romans. Umso stärker ist man auf die Werkstattberichte der Autor*innen selbst angewiesen, die nicht nur Einblicke in die eigenen Schaffensprozesse gewähren, sondern diese literaturhistorisch wie literaturtheoretisch, in einer Synthese von Poesie und Theorie, reflektieren. Von „Autorenpoetik“ wird – in Abgrenzung zur Normpoetik des 18. Jahrhunderts – in diesem Kontext gerne gesprochen: Sie etablierte sich nach den kaum bemerkbaren Anfängen einer Lyrikpoetik in der Zeit von 1750 bis 1850 – zu nennen wären hier besonders Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé – mit dem Beginn der modernen Lyrik als eine „auch anthologisierte Reflexionsform“ (Brandmeyer 2011, 1). Mit der Poetikvorlesung ist die Autorenpoetik „im Raum der Wissenschaft angekommen, d. h. dort, wo ansonsten die mit Produktionspoetik nicht befassten universitären Konkurrenten lehren“ (Brandmeyer 2011, 8). Dieses in deutscher Tradition leider stärker als in angelsächsischer Tradition ausgeprägte Konkurrenzverhältnis wird mit der durch Verlage und öffentliche Medien unterstützten Poetikdozentur in eine triadische, nun synergetische Beziehung von Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik überführt. Mehr noch: Die Poetikvorlesungen lassen sich „als eine Literatur-Theorie avant la lettre beschreiben, die ihre Verführungskraft aus ihrer eigenwilligen Verbindung von literarischer Assoziation, literaturwissenschaftlicher Interpretation und literaturtheoretischer Reflexion erhält“ (Wohlleben 2005, 54). Bei der ersten Poetikvorlesung Ingeborg Bachmanns geschah dies in Form des literarischen Essays, der aufgrund seiner fehlenden wissenschaftlichen argumentativen Stringenz im Hörsaal zunächst Irritationen auslöste.Vermutlich war Bachmann hierzu von Theodor W. Adorno, Kommissionsmitglied der Poetikdozentur, ermutigt worden, der zeitgleich an seinem berühmt gewordenen Aufsatz Der Essay als Form (1960) arbeitete: Der Essay, heißt es bei Adorno, verfahre „methodisch-unmethodisch“ und solle zum „Schauplatz geistiger Erfahrung“ (Adorno 1974, 21) werden. Seit den frühen achtziger Jahren wurde der poetologische Essay vermehrt durch poetische Formen, sei es, wie bei Christa Wolf (1982) und Peter Bichsel (1981/82), die (autobiographische) Erzählung oder, wie bei Peter Rühmkorf (1980) und Ernst Jandl (1984/85), die lyrische Vortrags- und Reimkunst, erweitert (Wohlleben 2005, 23 – 59). Mit der Jahrtausendwende nahmen – wie dies für die Gegenwartslyrik generell bezeichnend ist (Lampart 2011, 14– 22; Zemanek 2016, 476 – 477) – multimediale Auftritte der Autor*innen zu, die den Ereignischarakter der Vorlesungen sowie Performativität, Materialität und Medialität im

3.1.3 Poetiken der Lyrik

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Wechselspiel mit anderen Künsten in den Fokus rückten. Auch im Film, insbesondere in Dokumentationen und Biopics, werden heutzutage Gegenwartspoetiken mit anderen Mitteln fortgesetzt und neue Vermittlungsformate experimentell erprobt (Hoffmann und Wohlleben 2020). Infolgedessen ist in der Literatur- und Medienwissenschaft eine Sensibilität für die Inszenierungspraktiken von Autorschaft, die Bedeutsamkeit der Poetikvorlesungen für den Literaturbetrieb sowie deren Rolle im literarischen Feld (Eke 2016, 21– 26) geweckt worden. Besonders die lyrische Vortragskunst (Meyer-Kalkus 2020) sowie die (digitale) Lyrikperformanz im Raum gewinnen an Interesse und erweitern den bislang überwiegend rhetorisch textwissenschaftlichen Poetik-Begriff hin zu einem inszenierungspraktisch intermedialen. Zudem rückt der Konnex von Poetik und Politik wieder stärker ins Bewusstsein: Lyrik wird nämlich seit Beginn der Institution ‚Poetikdozentur‘ (Plachta 2019, 140 – 152) nicht nur von einer Vielzahl von Menschen im öffentlichen Raum gehört und als ästhetisches, mediales Ereignis erfahren, sondern von den Poetikdozent*innen zugleich in ihrer gesellschaftspolitischen und existenziellen Relevanz ethisch reflektiert sowie in Begleitseminaren mit Studierenden zeitkritisch diskutiert. Poetikvorlesungen sind folglich auch ein Stück kulturelle Zeitgeschichte und lebendige Literaturgeschichte der Gegenwart. Der Ausschreibungstext der Frankfurter Poetikdozentur vom 2. Juli 1959 sah von vornherein vor, dass sowohl in der Vorlesung als auch im Begleitseminar „Fragen zeitgenössischer Dichtung“ (Frankfurter Archiv der Stiftungsgastdozentur) verhandelt werden sollten. Hiermit wurde dann die erste Vorlesungsreihe Ingeborg Bachmanns im Herbst 1959 in Frankfurt am Main überschrieben. Sie ist als Hörfunkaufnahme für den Zürcher und Bayerischen Rundfunk im Frühjahr 1960 leicht abgewandelt worden in „Probleme zeitgenössischer Dichtung“. Bachmanns Vorlesung wurde fortan zum wichtigsten Referenztext: erstens für die im deutschsprachigen Raum neu etablierte Textsorte Poetikvorlesung, die Ende des 20. Jahrhunderts eine Konjunktur erfuhr, sich im 21. Jahrhundert ungebrochener Beliebtheit erfreut und inzwischen an knapp 30 weiteren Universitäten initiiert worden ist; und zweitens für den Umgang mit Gegenwartslyrik, in der folgende Aspekte „aufgegriffen und weitergedacht“ werden: „Die Abgrenzung vom Ästhetizismus, die utopische Wirkungsabsicht, das Begehen unvertrauten Geländes“, so Paul Michael Lützeler in seiner Poetik der Autoren (1994), „die Traumdimension der Literatur, die Vorstellung, die eigene Zeit repräsentieren zu müssen, der Versuch, wie Paul Celan in der Welt nach Auschwitz nicht die Sprache zu verlieren“ (Lützeler 1994, 8 – 9). Ingeborg Bachmann hielt sich in ihrer ersten Vorlesung Fragen und Scheinfragen, in der sie sich mit kanonisierten Prosa-Autoren der klassischen Moderne wie Marcel Proust und Robert Musil beschäftigt, allerdings kaum an diesen Gegenwartsbezug, in ihrer zweiten, die nachträglich mit Über Gedichte betitelt

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worden ist, umso mehr: Hier wendet sie sich zeitgenössischen Lyriker*innen wie Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Marie Luise Kaschnitz oder Paul Celan zu und trägt so vor einer breiten Öffentlichkeit zu deren Kanonisierung bei. Bereits in ihrer ersten Poetikvorlesung beteuerte Bachmann, dass „alles, was über Werke gesagt wird, […] schwächer [sei] als die Werke“ (Bachmann 1993, 182). Sie stört sich an der Modeerscheinung ihrer Lyrikkollegen, an der Inszenierung und „Enthüllung von ,Werkstattgeheimnissen‘“ (Bachmann 1993, 182) mitzuwirken. Nicht „lehren“ wolle sie, sondern ein „Mitdenken“ „erwecken“ „von der Verzweiflung und der Hoffnung, mit der einige wenige – oder sind es schon viele? – mit sich selber und der neuen Literatur ins Gericht gehen“ (Bachmann 1993, 183). Von Anfang an ist Bachmanns Poetik also auf einen Dialog mit Zuhörer*innen, Dichterkolleg*innen, aber auch mit Literaturkritik und Literaturwissenschaft angelegt. Klassifiziert werden könne diese „neue Literatur“ mangels historischer und somit auch hermeneutischer Distanz allerdings nicht: „nicht einmal die Richtung oder Richtungen lassen sich verläßlich angeben“ (Bachmann 1993, 185). Umso bemerkenswerter ist es, dass sich Bachmann in der zweiten Vorlesung dennoch der Herausforderung stellt, von „den neuen Formen“, „von der neuen Sprache“ „in den neuen Gedichten“ zu sprechen (Bachmann 1993, 211), also eine Poetik der Gegenwartslyrik zu skizzieren. Sich selbst, „[d]as schreibende Ich“ (Bachmann 1993, 217), welches Thema der dritten Vorlesung sein wird, nimmt sie dabei zunächst völlig zurück. Ebenso wenig zitiert sie auch nur ein einziges eigenes Gedicht. Eine indirekte Selbstzuordnung findet allerdings statt, indem Bachmann auf eine wenige Monate zuvor erschienene, sie beeindruckende philologische Neuerscheinung, Manierismus in der Literatur (1959), des seinerzeit noch „Außenseiter[s]“ (Bachmann 1993, 211), später bekannten Kulturhistorikers Gustav René Hocke referiert. Bachmann lernte Hocke 1953/54 in Rom kennen: Beide verband das psychologische Interesse an der Angst, die „Problematik des modernen Menschen“ (Hocke 1969, 7) sowie die Faszination neuer lyrischer Stilformen als Ausdruck eines neuen Denkens. Nicht nur Bachmann bewirbt explizit Hockes komparatistische literaturhistorische Monographie, auch Hocke zitiert Gedichtbände Bachmanns als Beispiele der „metaphorischen Situation des deutschen Manierismus im 20. Jahrhundert“ (Hocke 1969, 118). Unter Manierismus versteht Hocke eine transepochale literaturwissenschaftliche Stil-Kategorie, eine „Ausdrucksgebärde“, deren enigmatische Ausdrucksformen „mit einem problematischen Verhältnis zum eigenen Ich, zur Gesellschaft“ zusammenhingen und die sich erneut in der zeitgenössischen Lyrik manifestierten (Hocke 1969, 301). Diese „verborgene Tradition auch für die Moderne“ überzeugt Bachmann, die eine Art ‚Abstract‘ – sie selbst spricht von „Schattenriß“ (Bachmann 1993, 212) – liefert und hiermit indirekt eine literaturhistorische und systematische Selbstverortung

3.1.3 Poetiken der Lyrik

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vornimmt: „Diese drei Epochen [1. graeco-orientalischer Ursprung, 2. ca. 1550 – 1650, 3. seit Baudelaire] werden unter den Oberbegriff des ,Manierismus‘ gebracht“, summiert sie, „um die antiklassische Konstante in der europäischen Geistesgeschichte zu bezeichnen“. Die Dichter, die ,modern‘ sein wollten, charakterisiert Bachmann wie folgt: „sie scheuen die Unmittelbarkeit, lieben die Dunkelheit, lassen sinnliche Bildhaftigkeit nur in verkleidenden abstrusen Metaphern gelten, ein intellektuelles Zeichensystem wird für das Einfangen von Realem oder Überrealem verwendet“. Deren Werke seien „enigmatisch, hieroglyphisch und entziehen sich daher einer ästhetischen Kontrolle mit klassizistischen Maßstäben“ (Bachmann 1993, 211– 212). Eine dezidierte Selbstpositionierung zu dem von Hocke selbst wie seinen Kritikern häufig diskreditierten Begriff des Manierismus nimmt Bachmann nicht vor. Vielmehr macht sie diesen Oberbegriff für die Lyrikpoetik ihrer Zeit zunächst „auf einem Umweg“ (Bachmann 1993, 211) fruchtbar, um sich gegen Ende ihrer Ausführungen wiederum von ihm abzuwenden: Weniger um den Kategorisierungs- und Klassifizierungsversuch geht es Bachmann als um die – quasi postmoderne – Erkenntnis, dass selbst die „neuen Sprachübungsplätze“, „Metaphernlabore und die Wortkernspaltung“ der Moderne sich auf literaturhistorische Traditionen zurückführen ließen, dass „einem da immer schon jemand zuvorgekommen ist“ (Bachmann 1993, 212). Die „formalen Experimente“ seien jedoch nur von Bedeutung, wenn sie „in der Folge eines neuen Denkens“ entstünden (Bachmann 1993, 212). Damit distanziert sich Bachmann von der „Radikalität eines jeden Ästhetizismus“ (1993, 214) genauso wie von dem „reinen Kunsthimmel“ (1993, 204) eines George-Kreises sowie jeglicher elitären Genieästhetik: „von einem heiligen Gesang, von einer Sendung, einer auserwählten Gemeinschaft von Künstlern“ (1993, 203). Es komme darauf an – beispielhaft führt Bachmann hier Günter Eichs im selben Jahr erschienenes Gedicht verteidigung der wölfe gegen die lämmer (1959) an –, dass einer wirklich „von der Sprache geraubt wird und von der Wahrheit geraubt wird“ (Bachmann 1993, 213). Zeitgenössische Lyrik müsse also existenziell verankert sein, einen Bezug zur Wirklichkeit mit ihrer ganzen Leiderfahrung herstellen und eine ethische Dimension aufweisen (Wohlleben 2005, 63 – 93). Das Enigmatische bezieht sich hier gerade nicht auf eine hermetisch-esoterische, sondern auf eine hermeneutisch-alteritäre Funktion des Rätsels, das auf ein dialogisches Du gerichtet ist (Wohlleben 2014, 70 – 97). So heißt es gegen Ende von Bachmanns zweiter Vorlesung im Rückgriff auf Paul Celans jüngsten Gedichtband Sprachgitter (1959) in dezidierter Gegenbewegung zu der die Unmittelbarkeit scheuenden manieristischen Literatur: „Aber plötzlich, wegen der strengen Einschränkung, ist es wieder möglich, etwas zu sagen, sehr direkt, unverschlüsselt. Es ist dem möglich, der von sich sagt, daß er wirklichkeitswund und wirklichkeitssuchend mit seinem Dasein zur Sprache geht“

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(Bachmann 1993, 216). Bachmann nimmt in ihrer zweiten Poetikvorlesung Über Gedichte ihres Essay-Zyklus’ folglich einen „Streifzug“ (1993, 200) vor, der sich weder auf eine rein literarische und somit, aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, interpretationsbedürftige Ausdrucksweise festlegen lässt noch auf eine rein literaturwissenschaftliche (Bannasch 2020, 254– 257), die thesenorientiert neue poetologische Richtungen aufzeigt. Sie richtet sich gegen eine Theoretisierung von Gegenwartsliteratur, die meint, objektive Urteile fällen zu können, zeigt sich aber zugleich – beispielhaft in ihrer Rezeption der Monographie Hockes – von dieser inspiriert. Entscheidend sei letztlich der existenzielle Wirklichkeitsbezug von Dichtung, die „theoretische Umsorge“ (Bachmann 1993, 193). Diese Haltung einer umsorgenden Welthaftigkeit, die sich in der deutschsprachigen Nachkriegspoetik immer auch gegen das Verdikt Adornos richtete, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch, setzte sich in den Poetiken der Lyrik der zweiten Phase der Frankfurter Poetikdozentur fort, die im Sommersemester 1979 nach einer elfjährigen Pause wiederbegründet worden ist. (Unter‐)Titel wie Adolf Muschgs Literatur als Therapie? (1979/80), Günter Kunerts Das Gedicht als Arche Noah (1981) oder Hilde Domins Das Gedicht als Augenblick von Freiheit (1987/88) geben diese soteriologische, gesellschaftspolitische Funktion zu erkennen: „Nein, nicht trotz, sondern wegen Auschwitz waren Gedichte nötig und nötiger denn je. Noch ehe der fatale Satz formuliert war, war er schon von großen Dichtern widerlegt“ (Domin 1993, 19), so die Exillyrikerin Hilde Domin knapp vier Jahrzehnte nach Adornos Diktum und drei Jahrzehnte nach Bachmanns Dozentur. Anders als ihr Vorgänger Kunert, der im Obertitel Vor der Sintflut seine Untergangsprophetie zu erkennen gibt und dabei explizit auf die mythische Figur Kassandra und implizit auf seine Vorrednerin Christa Wolf sowie deren Poetikvorlesungen Kassandra. Voraussetzungen einer Erzählung (1982) verweist (Kunert 1985, 10), geht es Domin um den „Neubeginn“ (Domin 1993, 85) nach der Apokalypse. Gleich zu Beginn ihrer Vorlesungsreihe stellt Domin einen expliziten genealogischen sowie komparatistischen Bezug zu den Titeln ihrer Vorredner her („Vergleichend, wie die andern das Thema formuliert haben, stelle ich fest“; Domin 1993, 7) und betont somit die intertextuelle Verweisstruktur der Poetikvorlesungen. Auch geht sie auf deren noch junge Gattungsgeschichte ein, die sie zu ihren eigenen biobibliographischen Entwicklungen in Bezug setzt: „Genau in dem Moment, in dem die Poetikdozentur unterbrochen oder, besser, abgebrochen wurde, im Frühjahr 1968, erschien mein Buch Wozu Lyrik heute. Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft.“ „WOZU“ sei auf dem Umschlag, vorwärts wie rückwärts, „dick und provozierend“ zu lesen gewesen: „Das Buch erschien also gleichzeitig mit dem Ende der Vorlesungsreihe ,Poetik‘“, stellt Domin im Nachhinein voller Stolz fest („Der Zeitpunkt konnte nicht passender sein“): „Dies Buch, eine Streitschrift, so wurde in einer Besprechung festgestellt, wolle ,die

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angedrohte Hinrichtung der Poesie noch im letzten Augenblick verhindern und das Messer des Henkers gleichsam über dem Hals des Opfers aufhalten‘“ (Domin 1993, 8 – 9). Die Krise der Politik führt Domin folglich parallel mit der Krise der Poetik der Lyrik zusammen. Im Zuge der 1968er-Bewegung sei letztere als „aktionsfeindlich“ (Domin 1993, 12) ins Hintertreffen geraten. Erst ab 1973 habe Lyrik – über den Umweg der Werbung – als spielerisches Sprachmaterial erneut Aufmerksamkeit erlangt. Nach einer literaturhistorischen Skizze der „Phasen der deutschen Nachkriegslyrik“ in ihrer ersten Vorlesung kommt Domin in der zweiten Vorlesung auf die für sie selbst sehr viel wichtigere existenzielle, soteriologische Dimension von Lyrik zu sprechen: Sie beginnt bezeichnenderweise mit einer Hommage an Ingeborg Bachmann und Paul Celan und präsentiert sich dabei – wie einst Bachmann – zunächst als Leserin, nicht als Autorin: „Für mich gab es damals nur die Stimmen der andern“ (Domin 1993, 30). Über die Stimmen der anderen, besonders der fremdsprachigen Lyriker, die sie mit ihrem Ehemann und Altphilologen Erwin Palm ins Deutsche übersetzte, fand die gebürtige Hilde Löwenstein kurz vor ihrer Rückkehr aus dem Exil in der Dominikanischen Republik nach Deutschland zu ihrer eigenen poetischen Stimme und gab sich den Künstlernamen Domin. Ihren ersten Gedichtband Nur eine Rose als Stütze (1959) führt sie in ihrer Poetikvorlesung wiederum über eine Leserstimme ein, diejenige des bekannten Tübinger Altphilologen und Rhetorikers Walter Jens, der in der Zeit die ,Rose‘ mit der „deutschen Sprache“ gleichsetzte als „Halt […] in den Jahren des Exils“: „Also wußte Walter Jens mehr über den Titel als ich, wie ja oft Leser einem Autor etwas über das eigene Gedicht beibringen, das er mit Erstaunen lernt“ (Domin 1993, 32). Mit „Autor und Leser als Zwillinge“ überschreibt Domin folgerichtig auch ihre dritte Vorlesung. In ihr charakterisiert sie das „Schreiben“ wie „demnach auch das Lesen“ als „ein Training in Wahrhaftigkeit“ (Domin 1993, 51). Sie verweist hiermit erneut auf die existenzielle wie auch auf die ethische Funktion von Lyrik: Lyrik – so die Essenz von Domins Poetik, in der sie sich, Bachmann vergleichbar, vehement gegen jeglichen Vorwurf des Hermetischen verwehrt – sei das „Modell von Begegnung überhaupt: mit den andern, mit der Wirklichkeit“ (Domin 1993, 53). Enigmatik und Ambiguität stünden dem nicht entgegen, im Gegenteil: Das Gedicht müsse „voller Vieldeutigkeiten und Paradoxe sein […], wenn es heute wahr sein will“ (Domin 1993, 63). Denn, „das Unmögliche zu tun“ – dies das Motto ihrer fünften und letzten Poetikvorlesung – sei die „Widerständigkeit“, versinnbildlicht in Sisyphos (Domin 1993, 85): eine „conditio humana“, deren „Extremerfahrung“ das Exil darstelle (Domin 1993, 95). So schlägt Domin am Ende doch den Bogen von der allgemeinen existenziellen Situation des Menschen hin zur besonderen, konkreten politischen Situation ihrer Gegenwart: „Nicht um des

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Poetologischen willen, auch nicht zum Thema Poesie von Ausländern, sondern um des Politischen willen, lese ich Ihnen dies Gedicht eines andern bei uns lebenden Türken, Kemal Kurt“ (1993, 99). Mit der Ermutigung zum „immer mögliche[n] Neuanfang“, zur „zweite[n] Chance“ (Domin 1993, 99 – 100) lässt Domin ihre Poetikvorlesung ausklingen, ein Konzept, das dem Natalitätskonzept, dem Prinzip der zweiten Geburt, Hannah Arendts, mit der sie in Briefkontakt stand, nicht unähnlich ist (Arendt und Domin 2010). Als Helmut Viebrock, der Initiator der Frankfurter Poetikdozentur, sie im Anschluss an die Vorlesungsreihe dafür lobte, dass ihr das „für die Studenten Wichtigste“ gelänge: „das Vertrauen zu sich, das Berühren des Grundwassers“, antwortete Hilde Domin stolz: „Gerade das hatte ich mir vorgenommen, den Mut zum Leben zu stärken: ein Dennoch gegen die fatale ,No-future‘-Panik“ (1993, Ankündigungstext). Nur auf den ersten Blick scheinen die von zahlreichen humoristischen Lautund Sprechgedichten sowie von visuellen Gedichten durchzogenen Frankfurter Poetikvorlesungen Ernst Jandls Das Öffnen und Schließen des Mundes (1984/85) weniger politisch oder existenziell grundiert zu sein. Sie sind bis heute, zumal als audiovisuelles Material, im Kontext einer wortspielerischen Lyrik-Tradition sehr beliebt. Als sie der Suhrkamp-Verlag als DVD mit Booklet nach 25 Jahren erstmals in ihrer Gesamtlänge auflegte, waren sie bald ausverkauft. Späteren lyrischen Sprachinstallateuren wie Thomas Kling, Marcel Beyer oder Jan Wagner sowie deren Poetiken boten sie eine Steilvorlage. Doch bereits die zeitgenössischen literaturkritischen Stimmen, darunter bekannte Lyriker und ehemalige Poetikdozenten wie Karl Krolow und Helmut Heißenbüttel (Estermann 1984, 37– 65), erkannten die immer auch existenzielle Grundschicht von Jandls Lyrik: „In dieser verbalisierenden Reduktion“, so Heißenbüttel in einer Rezension in der Deutschen Zeitung vom 20.10.1978, die im Begleitheft der Ausstellung zu Jandls Poetikvorlesungen wiedergegeben wurde, „liegt aber bereits der Zwang verborgen, das nun auch auf das eigene personale Existenzial zu beziehen, von dem zu reden, was für den Redenden am Grunde ist“ (Estermann 1984, 53). Und dieses „existenzielle Rudiment“ stehe gerade nicht im Widerspruch zu dem „traditionelle[n] Mittel, Metrum und Reim“, sondern gewinne durch sie erst „Ausdrucksfunktion: Zugleich wird sichtbar, hörbar, ablesbar, was noch Subjekt, was noch Vorhandensein in dieser Welt sein kann“ (Estermann 1984, 53). Oder ähnlich Karl Krolow, der knapp zwei Jahrzehnte zuvor unter dem Titel Aspekte deutscher Lyrik in diesen Jahren (1960/61) die Frankfurter Poetikvorlesungen gehalten hatte, in den Nürnberger Nachrichten vom 06.01.1979: „Das Spiel schlägt um in Ernst und gelegentlich (wie schon bei Gomringer) in momentane ,Mystik‘, so seltsam dies auch klingt“, und kurz darauf: „Das Spiel heißt Leben und Kunst“ (Estermann 1984, 53). Als antworte Ernst Jandl fünf Jahre später auf seine lyrischen Vorbilder und Rezensenten, zitiert er in seiner vierten Vorlesung mit der Kapitelüberschrift Die

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Humanisten das „vielleicht schönste deutsche Jagdgedicht“ (Jandl 1985, 90) von Helmut Heißenbüttel, überschrieben mit „Politische Grammatik“: „Verfolger verfolgen die Verfolgten. Verfolgte aber werden Verfolger. Und weil Verfolgte Verfolger werden werden aus Verfolgten verfolgende Verfolgte und aus Verfolgern verfolgte Verfolger […]“ (Jandl 1985, 90). Jandl kommentiert Heißenbüttels Gedicht politisch und ästhetisch, hierbei an Krolows Dialektik von Leben und Kunst erinnernd: „Zweifellos so, fast nur so, läßt sich politische Erkenntnis mit den Mitteln der Sprache zu Kunst machen, richtiger gesagt: läßt sich aus Sprache, unter Anwendung politischer Erkenntnis, Kunst machen“ (Jandl 1985, 91). Wie aus Sprache Kunst entsteht, reflektiert Jandl und führt es zugleich unter Einsatz all seiner Körperkräfte performativ vor: Keine Poetikvorlesung davor und danach war von solch einer eindrucksvollen Theatralität geprägt, einer Theatralität, die auf das Sprechereignis vor einem präsenten Publikum angewiesen ist. Die Lektüre eines nachträglichen Textes sei, so Jandls initiale Überlegungen zu seiner performativen Poetik der Lyrik, allenfalls ein unbefriedigendes Surrogat. „Das Gedicht sagt etwas, und es stellt es zugleich hörbar und sichtbar dar. Es bedarf also eines hörbaren und sichtbaren Sprechers, und es bedarf eines Publikums“, dies Jandl nach der „[a]nschaulich dargestellt[en]“ Rezitation seines mit einer philologischen Fußnote versehenen Gedichts der mund („er ist offen / er ist weiter offen / er ist sehr weit offen / er ist zu“): „Auf Videoband bekommt jeder es ebenfalls komplett; auf Schallplatte nur noch einen Teil davon; noch viel weniger auf der Buchseite, dafür aber die unerläßliche Sprechanweisung als Fußnote für die vier Phasen: offen, weiter offen, sehr weit offen, zu“. Bei seinem Resümee betont Jandl nicht nur die Bedeutung der Akustik, sondern auch die der Mimik für die Lyrik: „Es ist ein Sprechgedicht, mit einem bedeutungsvollen mimischen Aspekt“ (Jandl 1985, 6). Sein im programmatischen Auftaktgedicht poetologisch thematisierter Mund sei wiederum auf Ohren gerichtet, diejenigen der Zuhörer*innen: „die etwas aus meinem Inneren in Ihr Inneres zu transportieren haben werden“ (Jandl 1985, 6). Mit einer solchen innigen Verbindung von Empfindsamkeit, Hermeneutik und Kulturtechnik lässt sich Jandls Lyrikpoetik zurückführen bis auf die Theorien der Deklamation im 18. Jahrhundert. Bereits Friedrich Gottlieb Klopstock, der an den Beginn der modernen Dichterlesung gesetzt wird (Maye 2012), betonte die immer auch hermeneutische Dimension des lauten Lesens. „Man kennt die Werke der Dichter, und selbst einige Stücke im prosaischen nicht genug, wenn man nicht weiß, dass sie durch Hülfe der Vorlesung am richtigsten verstanden, und am lebhaftesten empfunden werden“, so Klopstocks hermeneutische Rechtfertigung der Lesung: „Dieses ist so wahr, dass die Vorlesung, wenn nicht das einzige, doch das kürzeste Mittel ist, Schriften, die einige Schwierigkeit haben, den Ungeübten verständlich zu machen. Man entbehrt daher sehr viel, wenn man sich in einen einsamen Winkel setzt, und den Schall

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sieht“ (Klopstock 1989, 274). Georg Wilhelm Friedrich Hegel ging noch einen Schritt weiter und wollte eine – von Jacques Derrida in seiner Kritik am Phonozentrismus später stark kritisierte – metaphysische Komponente in der lyrischen Vortragskunst erkennen: „Denn in [der Stimme] wird nicht wie beim Lachen ein vorhandenes Äußerliches bloß formiert oder wie beim Weinen ein real Materielles hervorgetrieben“, schreibt Hegel in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, „sondern eine ideelle, eine sozusagen unkörperliche Leiblichkeit, also ein solches Materielles erzeugt, in welchem die Innerlichkeit des Subjekts durchaus den Charakter der Innerlichkeit behält, die für sich seiende Idealität der Seele eine ihr völlig entsprechende äußerliche Realität bekommt“. Diese Realität werde unmittelbar in ihrem Entstehen aufgehoben, „da das Sichverbreiten des Tones ebensosehr sein Verschwinden ist“. Durch die Stimme erhalte die Empfindung eine „Verleiblichung, in welcher sie nicht weniger schnell dahinstirbt als sich äußert“. Und dies sei Hegel zufolge „der Grund der in der Stimme vorhandenen höheren Kraft der Entäußerung des innerlich Empfundenen“ (Hegel 1986, 115 – 116). Hegel wird ebenfalls zu Beginn des Vortrags Von der Lehrbarkeit des Poetischen oder Jeder kann Gedichte schreiben von Helmut Heißenbüttel an- und aufgerufen, den Bruno Hillebrand anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums der Poetikdozentur der Akademie der Wissenschaften und der Literatur an der Universität Mainz in seinem Sammelband Wo steht die Dichtung heute? herausgab (Heißenbüttel 2002, 33 – 53). „Erschrecken Sie nicht, meine Damen und Herren, wenn ich mit Hegel beginne“, setzt Heißenbüttel an und fährt ironisch, mit rhetorischem Bescheidenheitstopos fort: „Was er formuliert hat, ist ja nicht so schwierig, wie man es seiner Philosophie insgesamt, das heißt seinem philosophischen System, nachsagt. Man muß ihn nur wörtlich nehmen. Ich brauche auch, wenn ich vom Poetischen und von der Poesie reden will, einen Anfang“ (Heißenbüttel 2002, 33). Diesen Anfang findet Heißenbüttel in Hegels Berliner Vorlesungen zur Ästhetik aus dem Wintersemester 1828/29, aus denen er direkt zitiert, um die „redende Kunst“, von Heißenbüttel übersetzt mit „Poesie“ sowie mit dem „Poetische[n]“, zu erläutern: Die redende Kunst habe „in Anschauung ihres Inhalts sowohl als auch der Weise, denselben zu exponieren, ein unermeßliches und weiteres Feld als die übrigen Künste“ (Heißenbüttel 2002, 33). Heißenbüttel fragt daraufhin in direkter Anlehnung an Hegel, wie die künstlerische Phantasie einen Inhalt poetisch mache, und unterstreicht – in Abgrenzung zur bildenden Kunst – die „innerliche Anschauung und Empfindung derselben“ (2002, 34). Über Hegels Begriff des Geistes nähert sich Heißenbüttel in essayistischen Umkreisungen allmählich seiner Leitfrage, „was wir denn eigentlich, wenn von Gedicht und Poesie die Rede ist, noch als Gedicht, als das Dichterische, das Poetische akzeptieren“ (2002, 45). Er problematisiert die streng systematisierende,

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generalisierende Gattungstheorie: „Dieses Gedicht, das allgemeingültig definiert werden kann, gebe es gar nicht. Schon das System, in das Hegel die eigene Erfahrung vom Gedicht und vom Poetischen eingeschnürt hat, habe nur für einen Bruchteil historischer Wirklichkeit Geltung gehabt“ (Heißenbüttel 2002, 49). Stattdessen plädiert Heißenbüttel für eine hermeneutische Interpretationspraxis, die jedem einzelnen Gedicht stets von neuem durch individuelle Aneignungsprozesse gerecht wird: „im eindringlichsten Lesen, im Einüben des jeweiligen Textes, im Versuch, sich darin einzunisten, ihn aber ebenso aufzunehmen in das eigene sprachliche Haus“ (Heißenbüttel 2002, 51). Nur so – und hier besinnt er sich seiner Rolle als Poetik-Dozent – sei Lyrik lehrbar, und zwar als innere „Einstellung“: „Was lehrbar ist, ist die Aufforderung zur vorurteilsfreien Hinwendung unter Berücksichtigung von allem, was man weiß, und von nichts“ (Heißenbüttel 2002, 51). Die Lyrikpoetik bedürfe des Hegelschen Geistes, dies Heißenbüttels Fazit in Frageform, allerdings allein als wirksamer Fiktion: „Kann ich sagen, die Fiktion bestand darin, daß es den Geist gibt und er es tut, daß dann, wenn wir diese Fiktion durchschauen, es jeder selber machen kann?“ (Heißenbüttel 2002, 53). Mit Wirksame Fiktionen betitelte Monika Rinck ihre Lichtenberg Poetikvorlesung, die sie im Januar 2019 in Göttingen hielt, und fügte zunächst den Untertitel hinzu „Eine Vorlesung über Lyrik zwischen Fiktion und Non-Fiction“ (Rinck 2019, 5). Rinck, ein in der Literaturkritik vielfach gerühmtes Talent in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik, Übersetzerin und zugleich versierte Essayistin, versteht es besonders gut, Lyrik zu theoretisieren und im Gegenzug Theorie zu poetisieren, sprich: poetisch zu denken (Metz 2018, 73 – 156). Für die Rolle der Poetikdozentin als Theoretikerin poetischer Praxis ist sie somit prädestiniert und wurde in kurzer Zeit an gleich drei renommierten Orten eingeladen: Münster (2015), Göttingen (2019) und Frankfurt am Main (2020). Auch Rinck dienen in ihrer Göttinger Vorlesung Hegels Vorlesungen über die Ästhetik als wichtige Referenz, um das (Spannungs‐)Verhältnis zwischen Kunstwerk und Poesie zu beleuchten. „Die Poesie löst das Kunstwerk auf“, lautet Rincks poetologisches Statement, bei dem sie sich auf Hegels Definition der Poesie als „diejenige besondere Kunst“ bezieht, „an welcher zugleich die Kunst sich aufzulösen beginnt und für das philosophische Erkennen ihren Übergangspunkt […] zur Prosa des wissenschaftlichen Denkens erhält“ (Hegel 1843, 232; Rinck 2019, 20). Die Dialektik zwischen dichterischem und philosophischem bzw. wissenschaftlichem Denken benötigt Rinck für ihre Ausgangüberlegung, „ob Gedichtbände zu den Neuerscheinungen auf das Non-Fiction-Regal gestellt werden sollen“ (Rinck 2019, 11). In einer rhetorischen Frage behauptet sie gleich zu Beginn, „dass gerade die bewusste Setzung einer poetischen Form dazu in der Lage ist,Wirklichkeit auf ernste und reelle Weise sprachlich zu repräsentieren“, und perspektiviert den „Lyrik-

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band als Sachbuch“ (Rinck 2019, 10). Hiermit schließt sie indirekt an das Konzept einer Wissenspoetik an, die sich seit den 1990er Jahren in der Gegenwartslyrik, beispielsweise bei den poetae docti wie Durs Grünbein, besonderer Beliebtheit erfreut. Explizit nimmt Monika Rinck Bezug auf Fiktionsdebatten von Aristoteles’ Poetik bis Ruth Klügers Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur (2006). Sie kontextualisiert diese literaturtheoretisch im kritischen Rückgriff auf Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung (1968), Gérard Genettes Fiktion und Diktion (1992) bis hin zu Thomas Strässles Fake und Fiktion: Über die Erfindung von Wahrheit (2019) (Rinck 2019, 21– 25). Das Erlebnis, so konstatiert Rinck im Anschluss an Hamburger, könne zwar fiktiv im Sinne von erfunden sein, „aber das Erlebnis- und mit ihm das Aussagesubjekt, das lyrische Ich, kann nur als ein reales und niemals als ein fiktives vorgefunden werden“ (Hamburger 1968, 222; Rinck 2019, 39). Rinck komplementiert diese produktionsästhetische Perspektive Hamburgers durch eine rezeptionsästhetische: „Zumal das Erlebnisfeld des aussagenden Ichs, sobald ich das Gedicht lese und deute, auch mein Erlebnisfeld als Leserin ist“ (Rinck 2019, 39). Denn nur durch die Deutung, argumentiert Rinck in Anlehnung an Ruth Klüger, wolle Literatur über die Wirklichkeit hinaus zur Wahrheit werden, könne mit diesem Anspruch aber zugleich der Lüge überführt werden. Die Frage, wie man in der Literatur lüge, beantwortet Rinck mit einem Zitat aus dem Essayband Eiscafé Europa (2018) der Jungschriftstellerin Enis Maci: „Die Frage nach der Anzahl verbindlicher Realitäten ist eine Frage nach der Anzahl sagbarer Lügen“ (Maci 2018, 43). Rinck greift hiermit auf den antiken Topos zurück, die Dichter lögen, der in der Fiktionalitätsdebatte der siebziger Jahre erledigt zu sein schien, in den Poetikvorlesungen aber seit nunmehr 60 Jahren stets von neuem produktiv gemacht worden ist (Wohlleben 2005, 11– 22, 209 – 235). Doch geht es ihr hierbei weder um eine Wiederholung des Platonischen Vorwurfs noch um einen Freispruch der Literatur mit Verweis auf das „von vornherein als fiktiv gekennzeichnete Feld“ (Rinck 2019, 42). Vielmehr beteuert Rinck, hierin der ersten Poetikdozentin Ingeborg Bachmann geistesverwandt, sowohl den existenziellen Realitätsbezug von Lyrik als auch die menschliche „Urteilskraft“, die im Politischen wie im Ästhetischen gültig sei: „schon melden sich aufs Neue alte Zweifel an, ob es die Grenze, die das fiktionale Erzählen von jeder Wirklichkeitsaussage trennt, überhaupt gibt. Die Urteilskraft bewegt sich auf beiden Feldern. Mancher lügt, mancher schweigt, andere tun beides zur gleichen Zeit“ (Rinck 2019, 43). Fiktionalitätstheorien, in der Philologie traditionellerweise eher an der Gattung Prosa verhandelt, macht Rinck in ihrer Göttinger Vorlesung für Poetiken der Lyrik fruchtbar, geht es ihr letztlich doch immer um ein „Offenhalten der Räume“: „Dichtung, so verstanden, verweist auf informationell nicht auflösbare Relationen und öffnet sich auf die unbekannten Möglichkeiten der Zukunft, indem sie ein Bündnis mit der Offenheit der Realität eingeht“ (Rinck 2019, 99).

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Monika Rinck, die das ,Sekundäre‘, die Literaturwissenschaft, nicht als Widerpart der Literatur betrachtet, sondern im Gegenteil als wichtigen Impulsgeber und Dialogpartner, ist, wie viele Poetikdozent*innen vor ihr, ein wunderbares Beispiel dafür, dass Poetikvorlesungen als eine Literatur-Theorie avant la lettre wiederum neue Debatten im akademischen Diskurs initiieren und etablierte Grenzziehungen von Gattungen und Medien hinterfragen. Die Poetikvorlesung als Vermittlungsformat wird zugleich selbstkritisch beleuchtet und innovativ umgestaltet: Als Rinck ihre Frankfurter Poetikvorlesungen Poesie und Prognose im November/Dezember 2020 pandemiebedingt kurzfristig in den digitalen Raum verlegen musste, arbeitete sie – dem ehemaligen Poetikdozenten, Filmregisseur, Essayisten und Schriftsteller Alexander Kluge nicht unähnlich (Kluge 2013) – mit einer Diashow: Bücher klassischer akademischer Vorlesungen wurden genauso eingeblendet wie literarische Neuerscheinungen, Objekte der bildenden Kunst und Landschaftsfotografien. Wäre mehr Zeit zum Produzieren geblieben, so kommentierte sie in ihrer digitalen Abschlusslesung die von ihr als allzu improvisiert wahrgenommenen Poetik-Videos, wäre wohl der experimentelle Filmessay das adäquateste Medium für eine lyrische Poetik der Gegenwart. Doch gleich welche dichterische, essayistische oder performative Ausdrucksform in den letzten Jahrzehnten letztlich gewählt worden ist, in einem sind sich die Poetikvorlesungen alle gleich: ein wichtiges Medium der Literaturvermittlung zu sein, das zeitkritisch und zukunftsweisend neue öffentliche Räume dichterischen Denkens erschließt.

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Stephanie Waldow

3.2 (Schreib‐)Haltungen in deutschsprachigen Poetikvorlesungen 1 Poetik und Politik – Haltung finden – Haltung einnehmen Insbesondere in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels, nach historischen Zäsuren und nicht zuletzt in Zeiten der Globalisierung und Medialisierung, so wie wir sie in der Gegenwart vorfinden, kommt dem Nachdenken über den Zusammenhang von Poetik und Politik eine gewichtige Rolle zu. Es wird nach neuen Ausdrucksformen gesucht, der Raum der Literatur in der Gesellschaft neu definiert, zur Reflexion angeregt und nicht selten der Literatur auch eine Form des Widerstands zugesprochen. Ebenso wird das Verhältnis von Autor*in, Text und Leser*in vor diesem Hintergrund immer wieder neu diskutiert und dezidiert die Frage nach einer Möglichkeit des ,Haltung-Findens‘ gestellt (Wild 2016; Kurbacher et al. 2016). Zentral scheint hier die Gattung der Poetikvorlesung zu sein, denn nicht erst der Begriff der (Schreib‐)Haltung, der in dem Zusammenhang häufig verhandelt wird, macht auf die Wechselwirksamkeit zwischen literarischer Produktion und gesellschaftlicher Bezugnahme aufmerksam. Auch die Inszenierungsformen der Schreibenden im öffentlichen Raum sprechen dafür, dass die Poetikvorlesung nicht selten dafür genutzt wird, sich selbst als öffentliche Intellektuelle zu positionieren und Prozesse des ,Haltung-Findens‘ transparent zu machen. Haltung wird in dem Zusammenhang aber nicht als moralische Setzung, sondern als ethische Notwendigkeit verstanden, sich mit den heterogenen Werthaltungen einer Gesellschaft produktiv auseinanderzusetzen. Haltung finden bedeutet also nicht für sich zu reklamieren, auf der richtigen Seite zu stehen. Haltung, sei sie politisch oder ästhetisch, bezieht immer auch das Gegenargument mit ein, öffnet sich der Kritik und dies nicht, um einen Konsens zu erzwingen, sondern gerade, um die Brüchigkeit der Diskurse und die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit aufzuzeigen (Steinweg 2020, 135 – 136). Oder anders formuliert: Denken ist gerade in seiner Selbstreflexivität ein gesellschaftliches Verhalten, und ein Austragungsort dieses Reflexionsprozesses scheint die Poetikvorlesung zu sein. Ethische Reflexion und moralische Setzung in ihrem Zusammenspiel zu betrachten und auf ihre gesellschaftliche Notwendigkeit hin zu befragen wäre also eine zentrale Aufgabe der Poetikvorlesungen. Oder mit Matthias Politycki gefragt: Wie kann Haltung definiert werden, wenn man das Grundsätzliche behttps://doi.org/10.1515/9783110647884-021

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tonen und zugleich das Bewegliche bewahren möchte (Politycki und Sommer 2019, 47)? Es geht also vor allem um die Ambivalenz von Prozess und Position, um die Ambivalenz von Haltung finden und Haltung einnehmen. Das schreibende Subjekt ist, wie Streeruwitz 2014 in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen. deutlich macht, immer auch eines, das sich in gesellschaftlichen Konstellationen befindet. Insofern bedeutet Schreiben auch Widerstand gegenüber gesellschaftlichen Zuschreibungen, ein sich Freischreiben, um aus dieser Konstellation heraus eine eigene Haltung zu finden. Streeruwitz drückt ihre Haltung vor allem in ihrer Autorposition aus, die für sie die „schwierigste Findung“ darstellt. Haltung bedeutet für sie, sich von „dem literarischen Kanon der Väter“ (Streeruwitz 2014, 139) zu emanzipieren und den „Bogen der Geschichte zu zerschlagen“, um die herrschenden gesellschaftlichen Machtdiskurse, die sich bis hinein in die Sprache widerspiegeln, zu durchkreuzen. „Es ging um die Frage, wie kann ein Text die Haltung der Schreibenden tragen und dennoch zu verstehen sein“ (Streeruwitz 2014, 141). Wenn auch Haltung, wie Streeruwitz zeigt, nicht ohne eine geistige Reflexion und Erneuerung auskommt, so ist in dem Begriff auch eine körperliche Präsenz, eine Positionierung im öffentlichen Raum mitgedacht, etwa in der Weise, wie sie Robert Menasse in seiner fünften Frankfurter Poetikvorlesung Die Rettung des Menschen durch die Zerstörung der Welt von 2006 vornimmt. Gleich zu Beginn heißt es: „Ich muss Ihnen heute etwas gestehen: ICH BIN GOTT“ (Menasse 2006, 115). Damit ist der Anspruch des schöpferischen Geistes auf Erschaffung einer eigenen Welt verbunden, in der der Mensch ‚lustwandeln‘ kann. Wenn auch Robert Menasses Ausruf sicherlich ein extremes Beispiel ist und der Satz selbstverständlich als ironische Provokation gelesen werden muss, zeigt er dennoch auf, dass hier die Forderung nach einer Stimme im Raum steht, die sich Gehör verschaffen will und die als solche eine Haltung einnimmt. Zu vermuten ist also, dass insbesondere Poetikvorlesungen öffentliche Podien bieten, auf denen sich die Schriftsteller*innen als Intellektuelle geradezu inszenieren (Meiser 2018, 164). Röhnert geht sogar davon aus, dass die Poetikvorlesung ein Forum ist, das sich durch eine direkte Einflussnahme auf Lebenswelt und Gesellschaft auszeichnet und hier soziale und politische Fragen aufgegriffen werden (Röhnert 2018, 164). Die in der Poetikvorlesung zur Sprache gebrachte Autorposition nimmt eine Gewichtung in der Welt vor und darin drückt sich die Haltung der Schreibenden aus. Betrachtet man aber weiterhin die aktuelle Debatte um Monika Maron, die aufgrund ihrer rechtskonservativen Äußerungen in die Kritik geraten ist und im Anschluss daran von ihrem Verlag gekündigt wurde, und nimmt man das Statement von Durs Grünbein zur Debatte ernst, „wir müssen wieder lernen, über Texte

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zu reden, nicht über Haltungen“ (Grünbein, 2020), liegt die Vermutung nahe, dass hier zwischen literarischem Text und gesellschaftlicher Haltung getrennt werden kann. Haltung also eine Frage der Gattung? Ist Haltung also nur innerhalb einer Poetikvorlesung verhandelbar und hat sie im literarischen Text nichts zu suchen? Und wäre dann zu unterscheiden zwischen der Schriftstellerin Monika Maron und der gesellschaftspolitischen Autorin? Gemäß Matthias Polityckis Aussage im Rahmen der Augsburger Gespräche zu Literatur und Engagement im Jahr 2020: „Als Schriftsteller kann man mich nicht anrufen, als Autor schon“, wäre diese Vermutung naheliegend. Auch andere Autor*innen, wie etwa Juli Zeh, die sich ganz dezidiert im öffentlichen Diskurs als Intellektuelle politisch positioniert, spricht sich in ihrer Tübinger Poetikdozentur Aufgedrängte Bereicherung von 2011 klar für eine Trennung von Politik und Literatur aus. Irrtum, Missverständnis und das Aneinandervorbeireden seien keine Fehler, sondern gerade der Bereich, in dem sich das Kunstvolle des Textes, seine Vielstimmigkeit und Vieldeutigkeit zu voller Blüte entfalten kann. Kitsch, den Zeh hier mit inhaltlicher Eindeutigkeit gleichsetzt, setze – wie die Politik – auf schlichte Symbolik und berechenbare Effekte (Zeh und Oswald 2011, 76). Damit steht sie scheinbar in der Tradition von Peter Handke, der in seinem Essay Die Literatur ist romantisch von 1966 erklärt hatte: „Eine engagierte Literatur gibt es nicht. Der Begriff ist ein Widerspruch in sich. Es gibt engagierte Menschen, aber keine engagierten Schriftsteller“ (Handke 1966, 43). In ähnlicher Weise äußert sich auch Thomas Glavinic in seiner Bamberger Poetikvorlesung Meine Schreibmaschine und ich aus dem Jahr 2014. Dort macht er unmissverständlich deutlich, dass er „keine Ideologien mag und auch keine Literatur, die sich in den Dienst einer Sache stelle.“ Ein Roman solle nur „sich selbst verpflichtet sein“ (Glavinic 2014, 36). Wo aber wäre dann der viel beschworene Ort des Politischen in der Literatur und müsste man nicht auch unterscheiden zwischen ‚der Politik‘ und ‚dem Politischen‘? Will man den Zusammenhang von Poetik und Politik genauer untersuchen, so scheint es unerlässlich, sich zunächst kurz Begriff und Konzepte des Politischen bzw. der Politik anzuschauen. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts bezeichnet der Begriff Politik nicht mehr unbedingt nur einen festen Ort oder eine feste Disziplin. Der Begriff Politik ist also nicht mehr an eine Institution gebunden, wie etwa den Staat, sondern betrifft alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und Handelns. Dieser Begriffswandel ist letztlich schon in der Zeit des Vormärz nachweisbar, er wird aber erst ab dem späten 19. Jahrhundert Gegenstand einer politischen Reflexion (Palonen 1985, 1989). Mit dieser kritischen Reflexion geht die Aufwertung des Begriffs des Politischen einher, wie er in den 1960er und 70er Jahren stark gemacht wird und wie er auch gegenwärtig diskutiert wird. Demnach lässt sich das Politische potenziell in allen gesellschaftlichen

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Bereichen finden und auch mit anderen Begriffen verbinden, wie dem der Macht, der Gerechtigkeit, des Dialogs oder – und hier liegt das Hauptaugenmerk – auch der Ästhetik (Rancière 2000). Das Politische fungiert als ein Imaginäres, welches kulturelle und gesellschaftliche Antizipationen einer Gesellschaft hervorbringt und kritisch reflektiert. Resümiert man die poetologischen Debatten über den Begriff der politischen Literatur, wie sie im Grunde seit dem 19. Jahrhundert – mit verschiedenen Stoßrichtungen und in diversen Hochkonjunkturen der Diskussion – geführt wurden, so lässt sich dieser Diagnose entsprechend zwar zunächst eine dichotomische Struktur feststellen. Seit der Sattelzeit (Schiller, Goethe) – und bis zu Sartre, Adorno oder Enzensberger – dominiert eine oftmals polemische Entgegensetzung von Begriffen wie ästhetischer Autonomie und Engagement, von sog. reiner Kunst und Tendenzliteratur, von Poesie und Politik den Diskurs. Andererseits lässt sich aber auch zeigen, dass es schon sehr früh Ansätze gegeben hat, die einer solchen Oppositionsbildung programmatisch entgegenzuwirken suchten – von der romantischen progressiven Universalpoesie über Brechts Eingreifendem Denken bis hin zu Foucaults Konzept des Ethos und zur Dichtung nach 1945. In dem Zusammenhang steht auch die Beobachtung, dass sich die Literatur im späten 20. und beginnenden 21. Jahrhundert nicht nur von der Tradition der Dichotomisierung zwischen autonomer Ästhetik und Engagement abwendet, sondern auch von einer damit häufig einhergehenden normativen Bezugnahme. Abwendet also von einem moralischen Anspruch auf Stellungnahme im Text und sich hinwendet erstens zu einer ethischen Reflexion, die stets im Austausch mit dem Leser, der Leserin stattfindet und zweitens Räume des Politischen im Text selbst eröffnet. Entsprechend beklagt Kathrin Röggla in ihrer Bamberger Poetikvorlesung Literatur im Ausnahmezustand von 2019 auch, dass der öffentliche politische Austausch von einem Aufklärungsgebot durchdrungen sei, der die eigentliche Auseinandersetzung sogar behindere. Stattdessen fordert sie eine Poetik des Affekts, des Fehlers als unmittelbaren Ausdruck des Politischen in der poetischen Sprache (Röggla 2019, 55). Auch Marlene Streeruwitz hinterfragt in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen. das Vorhandensein des normativ Guten und sieht ihre Aufgabe als Schreibende vielmehr darin, diesen normativen Ort zu zerstören und ihm Orte der ethischen Reflexion schreibend entgegenzusetzen (Streeruwitz 2014, 104). Der literarische Akt wird nicht mehr länger, wie noch etwa bei Schiller oder Lenz, als ein Ort verstanden, der auf gesellschaftspolitische Umwälzungen reagiert, sondern der literarische Akt wird selbst zu einem Moment gesellschaftlicher Produktion. Literarische Texte greifen nicht nur in gesellschaftliche Diskurse ein, sondern eröffnen selbst Räume des Politischen, sie eröffnen im Text eine politische Wirklichkeit, die ethisch ausgehandelt wird. Hier zeigt sich ihre spezifisch nar-

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rative Ethik. Literatur selbst wird also zum politischen Spielfeld und bittet die Rezipienten mit auf dieses Spielfeld. In diesem Sinne formuliert Ingo Schulze in seiner Leipziger Poetikvorlesung Tausend Geschichten sind nicht genug von 2007 den Wunsch, eine Literatur lesen zu wollen, die nichts für selbstverständlich nimmt und grundsätzliche Fragen stellt (Schulze 2008, 58). Der sog. politische Impetus der Literatur zeigt sich also nicht (allein) in einer inhaltlichen Fokussierung oder einer programmatischen Positionierung der Texte, wie dies Autor*innen wie Zeh oder Glavinic zunächst unterstellen, sondern präsentiert sich vielmehr durch eine Arbeit an der Sprache, durch eine diskurskritische Verfahrensweise und durch subversive Strukturen wie z. B. die Ironie, die Empathie, der Affekt, wie im Folgenden noch näher erläutert werden soll. Beide Dimensionen – inhaltliche und formale – können sich dabei durchdringen, müssen es aber nicht zwangsläufig. Was bedeutet dieser Befund nun für die Poetikvorlesung? Diese Gattung scheint ganz besonders dafür geeignet zu sein, unterschiedliche Formen einer gesellschaftlichen Teilhabe der Literatur auszuprobieren, zu diskutieren, nach Orten des Politischen in der Literatur zu fragen und eine Positionsbestimmung des Schreibenden selbst vorzunehmen. Die Poetikvorlesung scheint, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll, ein zentraler Ort zu sein, um die Dichotomie von Politik und Ästhetik zu hinterfragen, denn immer wieder wird deutlich, dass die Haltung der Schriftsteller*innen untrennbar mit einer (Schreib‐)Haltung verknüpft ist, sich sogar allererst in ihr kristallisiert. Als solche können Poetikvorlesungen als Gattungen des ‚eingreifenden Denkens‘ und als Orte einer ethischen Reflexion verstanden werden.

2 Haltung vor dem Hintergrund einer historischen Zäsur Das Bedürfnis nach Parteinahme, so macht Jurek Becker in seiner Frankfurter Poetikvorlesung Warnung vor dem Schriftsteller von 1990 deutlich, ist von jeher eine wichtige Voraussetzung für das Schreiben gewesen. Aus diesem Grund sind für ihn gesellschaftliche Auseinandersetzungen insbesondere für die Literatur eine zentrale Aufgabe, weil in ihr jene Auseinandersetzungen reflektiert und kritisch hinterfragt werden (Becker 1990, 51). (Schreib‐)Haltungen, so wird hier deutlich, entwickeln sich vor dem Hintergrund historischer Zäsuren und vor gesellschaftlich als einschneidend erlebter Ereignisse. Daher scheint eine wichtige Aufgabe von Poetikvorlesungen zu sein, über diese historischen und gesellschaftlichen Zäsuren zu reflektieren und auf der

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Basis dessen zu einer eigenen (Schreib‐)Haltung zu finden. Die erste und sicherlich größte historische Zäsur ist der Zweite Weltkrieg und mit ihm die Shoa. Mehr noch, erst vor diesem Hintergrund entwickelt sich die Gattung der Poetikvorlesung, weil Schreiben, gemäß Adornos Diktum, nur noch als selbstreflexives Schreiben möglich zu sein scheint und somit Literatur stets ihre eigene Poetologie hinterfragt. Im Mittelpunkt steht die existenzielle Frage: „Warum schreiben?“ (Bachmann 1978, 186). Die erste und sicherlich bedeutendste Poetikvorlesung in Deutschland stammt von Ingeborg Bachmann. An ihren sog. Frankfurter Vorlesungen zu Fragen zeitgenössischer Dichtung, die in der Zeit zwischen 1959 und 1960 entstanden sind, haben sich nachfolgende Schriftsteller*innen u. a. auch in ihren poetischen Texten abgearbeitet, man denke hier nur an Elfriede Jelinek oder Sybille Berg. Schreiben, und das gilt nicht nur für Bachmann, sondern auch für viele ihrer Schriftsteller*innenkolleg*innen, wird als Umgang mit der Schuld verstanden. Aus der Sprachkrise heraus, aus einer existenziellen Not heraus, wird eine Sprachsuche betrieben, die der Sprache der Täter etwas entgegenzusetzen weiß und eine „neue Gangart der Sprache“ auffinden möchte (Bachmann 1978, 192). Im Anschluss an Hugo v. Hofmannsthal macht Bachmann deutlich, dass das „Vertrauensverhältnis zwischen Ich, Sprache und Ding“ fundamental erschüttert ist (Bachmann 1978, 188). Somit verleiht die Poetikvorlesung einerseits dem Sprachzweifel Ausdruck, fungiert aber auch als Möglichkeit der sprachlichen Selbstvergewisserung und setzt ein Zeichen der Hoffnung, eine angemessene Sprache zu finden. Im Dialog mit anderen Texten, aber auch im Dialog mit den Zuhörenden wird um (Schreib‐)Haltung gerungen. Gemeinsam wird Aufklärung verhandelt, da auch die Wahrheit nicht mehr gesichert scheint, es wird aber auch Mut gefasst und zu einem Mitdenken aufgefordert, um die Unsicherheit der Verhältnisse meistern zu können. Wie sollte also diese neue Sprache verfasst sein und gibt es überhaupt ein Entrinnen aus der sog. alten Sprache? Immer wieder macht Bachmann darauf aufmerksam, dass man sich anstrengen muss mit der vorhandenen Sprache, denn wir haben nur diese und so ist die Auseinandersetzung mit Vergangenheit entscheidend, wenn es darum geht, Richtung zu nehmen auf eine zukünftige Sprachmöglichkeit. Erinnerung erweist sich als ethische Notwendigkeit, um einen neuen Umgang mit Sprache zu erproben (Bachmann 1978, 191). Auch Günter Grass macht darauf aufmerksam, dass Schreiben nach Ausschwitz, so auch der Titel seiner Frankfurter Vorlesung 1989/90, immer ein Schreiben aus der Schuld heraus sein muss, bei dem letztlich immer das Schweigen mit eingeschrieben ist. Schreiben ist der stets zum Scheitern verurteilte Versuch, das Unmögliche zu beschreiben. Schreiben steht damit immer im Bezug zur Geschichte, bei dem sich das Ich in seinem Gewordensein zur Welt verhält.

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Insofern versteht Grass Schreiben auch als eine Art Bürgschaft. „Die Schuld wird nicht aufhören, gegenwärtig zu bleiben und die Schande wird sich weder verdrängen noch bewältigen lassen“, so Grass in seiner Poetikvorlesung von 1990. Auschwitz wird nie zu begreifen sein und kein Wort reicht für eine Beschreibung aus (Grass 1990, 9 – 10). (Schreib‐)Haltung bedeutet hier also immer ein Verhalten zur Schuld und zur eigenen Geschichte mitzudenken, insofern wird der Schreibprozess als ein Aufarbeitungsprozess verstanden. Vor diesem Hintergrund kommt der Poetikvorlesung eine ganz besondere Bedeutung zu, im Grunde ist sie auch als Rechtfertigung des Schreibenden zu lesen, warum dennoch, trotz der Schuld und trotz des Misstrauens gegenüber der Sprache, das poetische Wort Gewicht hat. Für Grass stellt insbesondere das autobiographische Schreiben eine Möglichkeit der Rechtfertigung dar. Er beschreibt sehr ausführlich seine Auseinandersetzung mit Adornos Diktum und arbeitet hier auch seine eigene (Schreib‐)Geschichte auf (Grass 1990, 15). Vor diesem Hintergrund entwickelt Grass eine Poetik der Askese als einzig mögliche Schreibweise, die ethisch vertretbar scheint. In Rekurs auf Adorno und unter Verzicht auf die „reine Farbe“, skizziert Grass ein Schreiben, welches „mit den Mitteln der beschädigten Sprache“ die „Graustufen“ hervortreten lässt als Ausdruck des Misstrauens „allem Klingklang gegenüber.“ „Askese hieß aber auch“, so Grass, „seinen Standort zu bestimmen“ (Grass 1990, 18 – 19). Das Programm, das Grass hier entwirft, lautet: Askese als Haltung. Hier wird deutlich, dass das Politische bis ins Innerste des Schreibprozesses hineinreicht, es bestimmt die eigene Poetologie mit und zeigt das Eingebundensein des Schreibenden in die Gesellschaft. Wie eng diese Verzahnung zwischen politischer Augenzeugenschaft und Schreibprozess tatsächlich ist, zeigt sich auch an dem Perspektivwechsel von der ersten in die dritte Person, den Grass in seiner Poetikvorlesung vornimmt. „Ich habe zugesehen. Vom Potsdamer Platz aus sah ich Panzer und Menschen gegeneinandergestellt. Ein Jahrzehnt später schrieb der Augenzeuge jener lapidar totalen Konfrontation in komplexer Form ein deutsches Trauerspiel: Die Plebejer proben den Aufstand“ (Grass 1990, 25). Der damals fünfundzwanzigjährige Augenzeuge des 17. Juni 1953 brauchte erst den zeitlichen Abstand, um schreibend reagieren zu können. Jener Abstand ist es auch, der aus der Augenzeugenschaft eine Autorschaft werden lässt, hier markiert durch den Wechsel der Perspektive. Und die Poetikvorlesung scheint ein Ort zu sein, an dem dieser Umschlag reflektiert wird. Hilde Domin, die als unmittelbare Zeugin ihrer eigenen Erfahrungen aus dem Exil zurückkommt versteht sich als „Ruferin.“ In diesem Ruf kulminiert das Eingebundensein des Ichs in eine Geschichte und in die konkrete politische Situation der Zeit. Aus diesem Eingebundensein entwickelt sich ihr Konzept von Autorschaft, das auf eine enge Verschränkung von gesellschaftlicher Teilhabe und

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ästhetischer Haltung aufbaut. Aber der Begriff der Ruferin macht noch etwas anderes deutlich: Er verleiht ihr als Dichterin eine Aufgabe, denn bei aller Freiheit, die Domin für die Sprache in Anspruch nimmt, stellt sie sich als Autorin dennoch die existenzielle Frage, warum Schreiben ausgerechnet in der „Sprache der Täter“. Sie versteht sich als „Zeuge ihrer eigenen Erfahrungen“, die sie mit anderen teilen möchte. Auf diese Weise bekommt ihr Sprach-Ruf, so wird in ihrer 1987/88 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesung Das Gedicht als Augenblick von Freiheit deutlich, eine „objektive Dimension“ (Domin 1988, 36). Für Domin ist Sprache, insbesondere vor dem Hintergrund ihrer Exilerfahrung, vor allem Ausdruck von Heimat. Hier spielt das Gedicht eine herausgehobene Rolle, in ihm sind Nähe und Distanz, so wie es Domin im Exil erlebt hat, als Bewegungen beide aufgehoben. Dabei geht es ihr auch um den Aspekt der Spracherziehung, denn ein aufmerksamer und kritischer Umgang mit der eigenen Sprache im Kontext fremder Sprachen kann einen anderen Blick auf das eigene Wort eröffnen. Dieser andere Blick, der durch die Erfahrung der Fremdheit entsteht, so macht Domin deutlich, zeigt auf, dass Dichtung nicht klassen-, altersoder geschlechtsspezifisch ist, sondern Mehrsprachigkeit wird hier zur politischen Freiheit erklärt. Somit schreibt Domin, genauso wie Bachmann und Grass, im Bewusstsein dieser großen historischen Zäsur und versteht Dichtung als wirklichkeitsverändernde Kraft, als einen Akt der Freiheit. Eine Freiheit, die aus der Begegnung mit der Andersartigkeit der Sprache resultiert und auf die einzulassen, ein Geschenk für den Schreibenden darstellt. „Dichtung entsteht zwar unter Notwendigkeit. Aber dennoch in Freiheit. Sie ist geradezu eine Manifestation von Freiheit. […] Es ist eine Selbstrettung, wobei der Begriff des Geschenks oder der Gnade durchaus verwendbar ist“ (Domin 1988, 46). Wenn für die bisher vorgestellten Schriftsteller*innen der Zweite Weltkrieg, die Shoa und das Exil zentrale historische Zäsuren darstellen, mit denen sich eine ganze Generation schreibend auseinandergesetzt hat, so ist es für gegenwärtige Autor*innen, insbesondere im deutschsprachigen Raum, sicherlich die Zeit der 1990er Jahre als eine Phase der Neujustierung nach den politischen Umwälzungen der Jahre 1989/90. Aber auch die zunehmende Bedrohung durch Terroranschläge, Klimakatastrophen oder die sogenannte ‚Flüchtlingskrise’ lassen die Literatur immer mehr zu einem Raum des Politischen werden, und dieser Umstand spiegelt sich auch in den Poetikvorlesungen wider. Aufgegriffen werden u. a. Fragen nach der Grenze bzw. Grenzüberschreitung, nach Möglichkeiten der Identitätskonstruktion vor dem Hintergrund transnationaler Prozesse, nach Umgangsweisen mit dem Fremden sowie mit anderen Kultur- und Religionszugehörigkeiten. Allerdings scheinen gegenwärtige Schreibweisen in Abgrenzung zu den politischen Schreibweisen der 1960er und 70er Jahre ihren Fokus stärker auf die

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Reflexion von Normen und Werten zu legen, statt moralische Ansprüche zu generieren. Hier zeigt sich deren ethische Relevanz. Robert Menasse etwa bezeichnet den 11. September als historische Zäsur, zum einen im Hinblick auf die Globalisierung, vor allem aber auch im Hinblick auf die klare Einteilung in moralische Kategorien, denn nichts habe die „Vereinheitlichung der Welt so radikal befördert wie die neue Spaltung der Welt in gut und böse.“ Der 11. September sei eine moralische Zäsur, allerdings eine, die es in der Literatur ethisch zu reflektieren gelte (Menasse 2006, 99 – 100). Aber noch etwas scheint spezifisch für die Situation der Gegenwart: Erstmals können wir die Folgen unseres globalen Handelns und Wirkens nicht in letzter Konsequenz voraussehen. Wir befinden uns in einer Gesellschaft, die selbst ihre eigene Gegenwart in großen Teilen nicht erfassen kann, geschweige denn ihre Zukunft. Man denke hier nur an die Folgen des Klimawandels, die Auswirkungen der Globalisierung und auch der Digitalisierung (Beck 2007). Neu ist vor allem, dass allein die antizipierte Katastrophe bereits in der Gegenwart Handlungsmuster auslöst, die das tatsächliche Eintreten der Katastrophe fast zweitrangig werden lassen, wie u. a. Kathrin Röggla in ihrer Bamberger Poetikvorlesung Literatur im Ausnahmezustand von 2019 deutlich macht. Erkennbar ist dies z. B. an dem zunehmenden Sicherheitsbedürfnis, mit dem sich eine Gesellschaft vor vermeintlichen zukünftigen Übergriffen schützen möchte, mit denen sie aber fundamental in die eigene gegenwärtige gesellschaftliche Handlungsstruktur eingreift. In dieser Gemengelage dienen Poetikvorlesungen als Medium der Antizipation, sie reflektieren nicht nur zukünftige Weltvorstellungen, sondern auch gegenwärtige Standpunkte. Auf diese Weise kommt ihnen eine ethische Funktion zu: Sie sind Schauplatz und Austragungsort gegenwärtiger Normen und Werte und zeigen nicht selten die unmittelbaren Konsequenzen unseres Handels in der Zukunft auf. „Schriftsteller haben zu meinen, daß ohne ihre Texte die Zukunft nicht erreicht werden kann, daß ohne sie der Menschenvernunft ein entscheidendes Stück fehlt – es gehört zu ihrem Handwerkszeug“ heißt es dementsprechend schon bei Jurek Becker (Becker 1990, 60). Zukunft wird als Produkt einer gesellschaftlichen Anstrengung begriffen und kommt damit einer kollektiven Absichtserklärung gleich. Engagierte Literatur heute, so Robert Menasse, bedeute, Geschichte immer wieder neu zu erzählen, sie durchzuarbeiten und auf dieser Basis einen Möglichkeitsraum für die Zukunft zu erstellen (Menasse 2006, 129). Hier steht die Forderung im Raum, dass Literatur daran gemessen werden sollte, ob und was sie von ihrer Gesellschaft und ihrer Historie zu erzählen weiß. Somit bewegt sich Literatur immer zwischen dem, was noch nicht geschrieben wurde und dem, was die aktuelle soziale Realität ausmacht. Von diesem Zwischenraum aus entfaltet sie ihre Wirkung. „Deshalb ist es

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so wichtig, Bewußtsein von der Zukunft zu erlangen: weil Engagement keinen Sinn ergibt, ohne den Anspruch, aus der Zukunft unser gemeinsames, weitestgehend beabsichtigtes und verantwortbares historisches Produkt zu machen“ (Menasse 2006, 64). Literatur ist nach Robert Menasse also ein (gesellschaftlicher) Möglichkeitsraum, sie ist gleichzeitig Ausdruck der Zeit und Widerstand gegen die Zeit, darin liegt ihre gesellschaftliche Funktion (Menasse 2006, 12– 13, 45). Engagement drückt sich also in der Suche nach einer (Schreib‐)Haltung aus.

3 Die Suche nach einer (Schreib‐)Haltung Diese Antizipationsleistung findet nicht nur auf der inhaltlichen Ebene statt, sondern vor allem auch über ästhetische Strukturen. Der Umgang mit Sprache und ihrer Imaginationskraft wird zur entscheidenden Trägersubstanz der Antizipationen. Literatur wird somit zum gesellschaftlichen Reflexionsraum. Dazu ist es unerlässlich, auch die konkreten Gestaltungsmittel und die literarischen Strategien in den Blick zu nehmen, die hier zur Anwendung kommen. Die Poetikvorlesung scheint der geeignete Ort, diese Strategien nicht nur vorzustellen, sondern sie auch auf ihre Anwendbarkeit und ihre Wirkungsweise hin zu überprüfen. Insofern ist die Poetikvorlesung ein zentrales Medium, eine eigene (Schreib‐)Haltung zu entwickeln. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Gegebenheiten werden Grenzen und Möglichkeiten des eigenen Schreibens hinterfragt, ausprobiert und entworfen. Wie bereits für die Literatur nach 1945 und hier insbesondere an den Vorlesungen von Ingeborg Bachmann deutlich gemacht werden konnte, ist die Frage nach der Wahrheit oder vielmehr des ‚Wahrsprechens‘ auch für die Literatur der Gegenwart immer noch von zentraler Bedeutung. Das Vertrauen in die öffentliche Kommunikation scheint verloren, Wahrheit allein ein Resultat des wirkmächtigsten Diskurses zu sein. Immer wieder wird auf unterschiedliche Weise in den Poetikvorlesungen darauf hingewiesen, dass die Wahrheit ihre metaphysische Anbindung verloren hat. So macht auch Kathrin Röggla in ihren Bamberger Vorlesungen Literatur im Ausnahmezustand (2019) deutlich, dass Wahrheit zum ideellen Bezugspunkt für das Schreiben wird und somit der Schreibprozess fortan vom Begehren, die Welt mit ihrem eigentlichen Gehalt zu erfassen, geprägt ist (Röggla 2019, 24). Dabei scheint es wichtig, dass die Wahrheit stets die Einbettung ins Soziale braucht und nicht ohne Bezug zur Gerechtigkeit auskommt (Röggla 2019, 33). Kathrin Röggla nutzt die Poetikvorlesung dezidiert dazu, (Schreib‐)Haltungen zu reflektieren, die von dem Begehren des ‚Wahrsprechens‘ getrieben sind und die

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sich damit als eminent ethische Schreibweisen auszeichnen. Sie stellen gängige Sprachvereinbarungen in Frage und entwerfen neue Umgangsweisen mit Sprache. Als solche sind sie Zwischengeschichten, weil sie die von der Gesellschaft als eindeutig erklärten Identitäten hinterfragen, sich zwischen den Fakten bewegen und gegen das Postfaktische anschreiben. Gerade das Spiel mit unterschiedlichen Sprachgesten, auch der Einbezug des Witzes und der Ironie, stellen die herrschenden Sprachgewohnheiten in Frage (Röggla 2019, 38). Fiktionalität ist also unbedingt wichtig, um Wirklichkeit, hier insbesondere soziale Wirklichkeit, allererst sichtbar zu machen. Der vermeintlich einen Geschichte werden eine Vielzahl von Geschichten zur Seite gestellt (Röggla 2019, 47). Röggla bringt hier den Begriff der „Unschärfe“ ins Spiel, der als Gegendiskurs fungiert (Röggla 2019, 59). Das Stottern wird zum Widerstand, als Form des Entgleisens, denn im Stottern, so Röggla, zeigt sich die eigentliche Sprache, entbunden vom gesellschaftlichen Sprachgestus. Zusammengenommen bilden also Stottern, Unschärfen, Parenthesen und Wucherungen eine Poetik des Fehlers, die hier höchst ethisch aufgeladen ist, weil sie dem herrschenden Sprachgestus Widerstand leistet (Röggla 2019, 64). Durch die Inszenierung des Fehlers wird permanent eine Lücke aufrechterhalten, die zu Verstörungen führt. Diese vibrierende Semantik fungiert hier als Form der Sprachsuche als sog. „Poetik des Fehlers“. Mit ihr verbunden ist eine Empathie, die die Leser*innen dazu auffordert, diese Fehler wieder zurechtzurücken und so den Text aktiv mitzugestalten (Röggla 2019, 64). Im Raum steht die Forderung, dass sich Sprache auf ein Hier und Jetzt einlässt, im Sinne einer Gegenwärtigkeit. Gerade dieses Einlassen auf den präsentischen Moment bringt die Empathie, die für Röggla zum Schreiben unbedingt dazugehört, mit sich. Indem Grenzen sichtbar gemacht, der Andere in seiner Andersheit weiterhin erkennbar bleibt, werden Konflikte zu handlungstreibenden Momenten, wird Schreiben sozial relevant und zum Abbild von Krisensituationen. Empathie wird zu einem Erzählmodus erklärt, der die Übersetzung zwischen Ich und Anderem zur Voraussetzung des Schreibens erklärt und somit von äußerster ethischer Relevanz ist. „Empathie ist also ein Medium der Übersetzung zwischen mir und dem anderen, erscheint wie eine Form des Gedankenlesens“ (Röggla 2019, 41). Durch die Referenz auf einen Anderen wird auch das gesellschaftlich Nicht-Integrierbare markiert (Röggla 2019, 46). Es geht also weniger um die Einfühlung in eine andere Person, sondern vielmehr um das Moment der Beziehung zwischen Ich und Anderem. Diese Beziehung wird mit der Sprache, in der Literatur hergestellt. Röggla bezeichnet diesen Punkt als eine „Verbindungslandschaft“, zwischen Schreibenden und Lesenden, aber auch zwischen Poetik und Politik sowie Innen und Außen. Auf diese Weise wird Sprache zu einem „Komplexitätsspeicher“ (Röggla 2019, 57).

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4 Fazit: Haltung finden – Haltung zeigen Die Künste nehmen also nicht einfach Bezug auf eine externe politische Wirklichkeit, sondern sind selbst an der Modellierung von Gesellschaft beteiligt und eröffnen in diesem Sinne allererst Räume des Politischen. Der Schreibakt und auch der performative Akt des Sprechens, wie er in der Poetikvorlesung zum Tragen kommt, können als politisch begriffen werden, als Formen des „eingreifenden Denkens“ (Brecht 1967). Oder mit Rancière gesprochen: Literatur fungiert hier als wahrhafter Raum des Politischen, weil sie in die Tiefen der Gesellschaft eindringt. In diesem Sinne präsentiert sie nicht nur das vermeintlich Sichtbare, sondern auch das Unsichtbare einer Gesellschaft (Rancière 2008). Literatur sei überhaupt die wahrhafte Szene des Politischen, weil sie den Radau den Rednern überlasse, um in die Tiefen der Gesellschaft reflektierend eindringen zu können. Die gewählte Autorposition als Konglomerat aus öffentlicher Person, die sich in der Poetikvorlesung performativ zu erkennen gibt, und der (Schreib‐)Haltung, die sich im Text präsentiert, scheint hier ein wichtiges Moment zu sein. Autorschaft ist – im Anschluss an Foucault – also weder bei der Stimme des Textes, noch bei der realen Person zu finden, sondern im Dazwischen (Foucault 1996, 241). Sie stellt den Kreuzungspunkt dar zwischen der Gesellschaft, den Erfahrungen des schreibenden Ich und der literarischen Figur (Menasse 2006, 114). Auf diesen Kreuzungspunkt verweist die Poetikvorlesung. Und dieser Punkt scheint allein in der Korrespondenz mit den Lesenden und den Zuhörenden seine volle Wirkmacht zu entfalten. Es wird also ein Raum gesucht, „in dem der Leser und die Leserin den Text über ihr Eigenes vollenden und damit zu ihrem Text machen können“ (Streeruwitz 2014, 142). Oder mit Robert Menasse formuliert, aus „Ich bin Gott“ wird „Wir sind Gott!“ (Menasse 2006, 142). Weitergedacht bedeutet dies erstens auch, dass die Literatur Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern dass sie wesentlich – durch den Austausch mit den Lesenden – an ihrer Konstitution beteiligt ist. Und zweitens entfaltet sich in ihr auch das jeweilige Selbstverständnis einer Kultur, das – in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Zirkulationsprozessen – dann auch tradiert wird. Es geht also nicht vorrangig um eine politische Intention des Schreibenden und auch nicht um eine Repräsentation von wie auch immer gearteter Politik im Text, sondern um eine Semantik des politischen Schreibens (Morgenroth et al. 2012). Politik und Poetik müssen, so der Anspruch der hier vorgestellten Poetikvorlesungen, in der Literatur zusammengehen. Dementsprechend bedient sich die Literatur nicht auf dem Feld der Politik, sondern gegenwärtiges engagiertes Schreiben verfasst selbst eine Poetik politischer Theorie (Rancière 2008). Das Politische wird also zum ästhetischen Be-

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standteil der Künste. Oder mit Roland Barthes gesprochen, zeigt sich in der Wahl des Tons sein Ethos (Barthes 2006 [1953]).

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Stephanie Waldow

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3.3 Linguistische Argumente: Literatur und Spracherweiterung Auch im Hinblick auf das Thema Literatur und Spracherweiterung bilden Poetikvorlesungen Höhepunkte ästhetischer und literaturpraktischer Darstellung. Die Gattung wird zum historisch wandelbaren Schauplatz für die Entwicklung, Bewusstmachung und Versprachlichung linguistischer Argumente, die sich in literarischen Texten widerspiegeln. In ihrem 2012 gegebenen Interview erklärt Marlene Streeruwitz, dass sie in den 90er Jahren gleich zwei Poetikdozenturen annahm, weil es ihr in einer Zeit der Neuorientierung „dringlich“ schien, „das eigene Arbeiten theoretisch zu hinterfragen und das auch öffentlich zu tun“ (Streeruwitz 2014, 231). Das öffentliche, also für Reaktionen und Korrektive offene Hinterfragen eigener theoretischer Grundlagen bzw. ‚Erwecken‘ statt ‚Lehren‘ (Wohlleben 2005, 53) wurde bereits in der ersten Frankfurter Poetikvorlesung vorgeführt, in der Ingeborg Bachmann das Problemfeld der Spracherweiterung in und durch Literatur umriss. Die Sprachreflexion bzw. das Reflektieren des eigenen Arbeitsmaterials durch Schreibende stellt einen poetischen Topos dar, der von der Antike (Aristoteles) über die Regelpoetiken des 17. und 18. Jahrhunderts (Opitz, Gottsched), die Programme der Romantik (Humboldt, Novalis) und der klassischen Moderne (Hoffmannsthal, George) bis hin zu den Poetik-Manifesten der Nachkriegszeit (Bachmann, Heißenbüttel) und den diversen, nur individuell gültigen Autorenpoetiken der Gegenwart (Grünbein, Cotten) reicht. Umso brisanter erscheinen die Fragen, wie sich das althergebrachte Thema in der Poetikvorlesung profiliert, welche gattungs- aber auch literaturgeschichtlichen (Akzent‐)Verschiebungen zu erkennen sind und welche Möglichkeiten und Fragen durch die Gattung selbst gewonnen werden. Prozesse der Spracherweiterung bleiben in der Gegenwart durch außersprachliche Faktoren bedingt, die in Literatur ihre Artikulationen finden. Die Literatur reagiert auf Entwicklungen in Bereichen wie Biologie, Physik, Informatik und Mathematik, durch die sie neue Gegenstände und Instrumente gewinnt (Heydenreich und Mecke 2015, 23 – 49). Neben solchen seit je beobachtbaren und zuweilen reflektierten Transformationsprozessen wird in der Poetikvorlesung auch die konkrete Arbeit am Sprachmaterial thematisiert und vorgeführt. Diese Problematik wird im vorliegenden Beitrag anhand der Poetikvorlesungen von Ingeborg Bachmann (1959/1960), Helmut Heißenbüttel (1963), Marlene Streeruwitz (1995/96, 1998), Durs Grünbein (2009), Jenny Erpenbeck (2013) und Ulrike Draesner (2018) behandelt.

https://doi.org/10.1515/9783110647884-022

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1 Ingeborg Bachmann: Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung In der ersten deutschsprachigen Poetikvorlesung, die Bachmann an der Universität Frankfurt im Wintersemester 1959/1960 hielt, tritt das Thema der Spracherweiterung als eines der Probleme der zeitgenössischen Dichtung im Kontext der Suche nach einer neuen Sprache auf. Dabei greift Bachmann keine bestehenden ästhetischen Diskurse auf, sondern entfaltet sie erst; ihre Vorlesungen werden somit als „Quintessenz ihrer ästhetischen Grundüberzeugungen“ und „Schlüsseltexte für das literarische Selbstverständnis […] der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart“ (Umschlagstext des Verlags, S. 2) betrachtet. Wie P. M. Lützeler festhält, „steckte“ Bachmann „gleichsam das Terrain ab, auf dem in den nachfolgenden Jahren die wichtigsten Kontroversen zur Gegenwartsliteratur ausgetragen wurden“ (Lützeler 1994, 8), inbegriffen den Versuch, „in der Welt nach Auschwitz nicht die Sprache zu verlieren“ (Lützeler 1994, 9), der zum Movens ihrer ästhetischen Bestrebungen wurde. Bachmanns Vorlesungen fallen zum einen in die Zeit der Konstituierung einer „eigenständigen Nachkriegsliteratur“ in der Bundesrepublik, die das Jahr 1959 mit Werken von Heinrich Böll, Günter Grass oder Uwe Johnson markiert, gefolgt von Blochs Prinzip Hoffnung (1959) und Gadamers Wahrheit und Methode (1960) (Volk 2003, 79). Zum anderen erwächst ihre Reflexion aus existenziellen Problemen der unmittelbaren Nachkriegszeit und dem veränderten Umgang mit der belasteten deutschen Sprache, die einer Erneuerung bedurfte (Volk 2003, 99). Mit ihrer dialektischen Grundspannung zwischen Sprachskepsis und Sprachhoffnung, worin sich Bachmanns Nähe zu Martin Heidegger zeigt, zeichnen sich die Poetikvorlesungen durch eine originelle Ästhetik, aber auch große utopische Hoffnungen und gesellschaftliche Veränderung aus (Volk 2003, 94). Zu Beginn der ersten Vorlesung werden Schwierigkeiten bei der Findung einer Sprache diagnostiziert, mit der – nicht zuletzt wegen der fehlenden zeitlichen Distanz – über die Gegenwart gesprochen werden könne bzw. eine Darstellung möglich sei (Bachmann 1980, 9). Zeugnisse für ein schwer erschüttertes „Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding“ (1980, 12), das zum Schweigen bzw. Verstummen führen kann, findet Bachmann bei Hugo v. Hofmannsthal und Rainer M. Rilke, bei denen sie zugleich allgemeine Voraussetzungen für die neue Dichtung, wie z. B. die Selbstzweifel der Produzierenden, erkennt (1980, 14). Die Not der Schriftsteller „mit sich und der Wirklichkeit“ (1980, 14) nähme in der Gegenwart andere Formen an, handle es sich nicht um religiöse bzw. metaphysische, sondern primär soziale, mitmenschliche und politische Konflikte, die alle in den „Konflikt mit der Sprache“ münden (1980, 15). Bach-

3.3 Linguistische Argumente: Literatur und Spracherweiterung

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mann zufolge beginnen literarische Neuerungen mit einem neuen, der Erkenntnis vorausgehenden Denken, genauso wie „jede[] formulierbare[] Moral“ auf ‚moralischen Trieben’ aufbaut (1980, 15). Die „Existenz“ des Dichters sei in der Gegenwart nicht dadurch zu rechtfertigen, dass er Entdeckungen großer Geister wiederholt, sondern dass er eine neue Sprache entwickelt, die neuen Denkformen entspricht (1980, 10). Mit dieser Sprache wird „der Wirklichkeit immer dort begegnet“, so Bachmann, „wo ein moralischer, erkenntnishafter Ruck geschieht, und nicht, wo man versucht, die Sprache an sich neu zu machen“ (1980, 16). Die so verstandene neue Sprache entsteht also nicht aus bloßem Willen zum Experimentieren, was hier eine Kritik am Ästhetizismus bedeutet (zu finden bereits bei H. v. Hofmannsthal), sondern durch die aus moralischen Gründen bewirkte Rückkoppelung an die Wirklichkeit bzw. die Lebenswelt, genauer gesagt an die Erfahrungen der Nachkriegszeit, die neue sprachliche Herausforderungen mit sich bringen. Dabei handelt es sich weniger um die Erschaffung neuer Wörter als vielmehr um einen neuen, d. h. nichtselbstverständlichen, Gebrauch der gewohnten Sprache, die dadurch erneuert wird. Wie Bachmann weiter präzisiert, soll der Dichter zunächst die Zeichen der Sprache „im Rahmen der ihm gezogenen Grenzen“ „fixieren“ und sie dann „unter einem Ritual wieder lebendig machen“, d. h., der Sprache eine „Gangart geben“, die sie nur „im sprachlichen Kunstwerk“ erhält (1980, 16). Mit der neuen „Gangart“ der Sprache sind nicht ästhetische Qualitäten gemeint, sondern eine Veränderung, welche auf „neue Fassungskraft“ und eben nicht auf „ästhetische Befriedigung“ abzielt (1980, 16). Der Impuls bzw. der „notwendig[e] Antrieb“ zu dieser Veränderung komme von aktuellen sozialen, mitmenschlichen und politischen Konflikten (1980, 14); sie geben eine „Stoßkraft für ein Denken“, das mit der Sprache die „Realität“ erreichen will (1980, 16). Wie Arturo Larcati festhält, soll die neue Sprache in Bachmanns Verständnis die Realität nicht wie im überkommenen Repräsentationsmodell repräsentieren, sondern sie erschließen (Larcati 2006, 244). Der Sprache einen neuen Gang zu geben, bedeutet eine innovative Arbeit am Wort, die – so Larcati – aus zwei Phasen besteht: (1) der Befreiung der Worte von „Verkrustungen“, „die im Laufe eines bestimmten, epistemologisch und ideologisch problematischen Gebrauchs der Sprache entstanden“ (2006, 247) und (2) der neuen „innovativen Sinngebung am Leitfaden der authentischen, moralischen Sprache“, d. h. der „Restitution des vollen Lebens der Worte im aktualisierten Gebrauch“ (2006, 247). Steht im Zentrum des neuen Umgangs mit der Sprache die Kategorie der Veränderung, so erhält die Literatur bei Bachmann die Funktion, den Leser zu verändern: „[D]ie verändernde Wirkung, die von neuen Werken ausgeht, erzieht uns zu neuer Wahrnehmung, neuem Gefühl, neuem Bewußtsein“ (Bachmann 1980, 19). Beispielhaft für die verändernde Funktion der Literatur werden Gedichte von Günter

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Eich, H. M. Enzensberger, Luise Kaschnitz, Nelly Sachs und Paul Celan als neue Antworten auf die aktuellen Probleme angeführt. Im Kontext der Spracherweiterung ist auch die letzte Poetikvorlesung zu deuten, in der Literatur als ein „Sammelsurium von Vergangenem und Vorgefundenem“ und zugleich als das „Erhoffte“ und „Erwünschte“ bestimmt wird: „ein nach vorn geöffnetes Reich von unbekannten Grenzen“ (Bachmann 1980, 82). Gewisse literarische Texte, die Bachmann als „herrlich“ bezeichnet, steigern die Erwartung auf das noch zu Schreibende, was auch eine Erweiterung im linguistischen Sinn bedeutet. Entdeckt ein Dichter die Literatur vergangener Epochen für sich, gewinnt er immer Neues dazu. Literatur als etwas Ungeschlossenes wird gleichzeitig als ein „Verstoß gegen die schlechte Sprache“ des Lebens verstanden, welcher diesem Leben „ein Utopia der Sprache“ gegenüberstellt (Bachmann 1980, 92). Literatur ist in ihrer Entwicklung – so Bachmann – auf Sprache als Utopie bzw. auf einen „Sprachtraum“ gerichtet, der die „Hoffnung auf die ganze Sprache, den ganzen Ausdruck für den sich verändernden Menschen und die sich verändernde Welt“ (1980, 92) bedeutet. An diesem Traum, der durch „jede Vokabel, jede Syntax, jede Periode, Interpunktion, Metapher und jedes Symbol“ ansatzweise erfüllt wird, beteiligen sich auch die „vulgärsten und präziösesten“ Sprachen der Menschen (Bachmann 1980, 92). Die „erahnte“ Sprache wird den Menschen in der Dichtung, allerdings nur fragmentarisch („in einer Zeile oder einer Szene“), gegeben (Bachmann 1980, 95). Bachmann formuliert mit ihrer Poetikvorlesung eine „Sprachreform“, die nicht aus künstlerischen, sondern moralischen Beweggründen erfolgen soll, was sie mit der Literatur und den Problemen unmittelbar nach 1945 verbindet (Volk 2003, 100). In ihren metaphorischen Ausführungen werden im Kontext der Spracherweiterung die Konzepte der ‚neuen Gangart der Sprache‘ und der Utopie besonders aufschlussreich. Hier ist die Perspektive einer Entwicklung auch im linguistischen Sinn gegeben: als innovative Sinn-Verleihung an gewohnte Worte und eine utopische Öffnung der Sprache, die sich keinem Bereich verschließen will.

2 Helmut Heißenbüttel: Frankfurter Vorlesungen über Poetik (1963) Einen anderen Ansatz im Hinblick auf Spracherweiterung vertritt der dem Wiener Kreis nahstehende, bedeutende Vertreter der konkreten Poesie in Deutschland Helmut Heißenbüttel, der in seinen Frankfurter Vorlesungen 1963 aus der Per-

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spektive eines Lesers, eines Buchrezensenten und eines Schriftstellers die „Grundbegriffe einer Poetik im 20. Jahrhundert“ darlegt (Heißenbüttel 1995, 134). In kritischer Anknüpfung an Robert Curtiusʼ monumentales Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) sieht Heißenbüttel die Aufgabe der Literaturwissenschaft in der Rekonstruktion der „Geschichte der literarischen Terminologie“ (1995, 142), die nicht ohne Rücksicht auf ihren kulturell-religiösen Ursprung und ihr Nachleben perpetuiert werden soll. Eine systematisch-regulative Poetik, wie sie J. G. Gottsched mit seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst (1729) vorlegte, lässt sich allerdings – so Heißenbüttel in Abgrenzung zu Curtius – auf die gegenwärtige Literatur nicht übertragen, da verbindliche Ordnungsprinzipien fehlen: „es gibt keine Poetik für die Literatur des 20. Jahrhunderts, weil ich nicht mehr mit dem regelnden Vorverständnis von einer vernünftig und natürlich eingerichteten Welt rechnen kann, ein solches Vorverständnis […] vielmehr als Vorurteil bekämpfen muß“ (Heißenbüttel 1995, 150). Vorgeschlagen wird eine neue literarische Typologie, die durch ihren fragmentarisch-unsystematischen Charakter der neueren Literatur Rechnung tragen kann. In der ersten, als „ist Literatur meßbar?“ betitelten Vorlesung stellt Heißenbüttel mit deutlicher Anspielung an den Theoretiker Max Bense, der Literatur als einen Gebrauchsgegenstand und als machbar betrachtete, die generelle Frage nach Kriterien und Kategorien für neuere Literatur. Unterscheidet sich Literatur von anderen Gegenständen dadurch, dass der Schriftsteller zugleich ihr „Erfinder“ und „Hersteller“ ist, so verfügt er über die Freiheit, „[z]u machen, was […] [ihm] nur machbar scheint“, womit „[a]lle Manipulationen innerhalb und außerhalb und an den Grenzen der Sprache“ gemeint sind (Heißenbüttel 1995, 151). Diesen „Ruf nach Freiheit“ erkennt Heißenbüttel bereits bei Marinetti und Chlebnikow, im Dadaismus und Surrealismus (1995, 152). Dabei ist das Probieren, das er gegen das Experimentieren streng abgrenzt (1995, 152), kein bloßes Hantieren, dem auch Bachmann kritisch gegenübersteht, denn der Schriftsteller weiß bei der Probe noch nicht, was er gerade macht: „[e]rst das Gemachte erweist, was es ist“ (1995, 152). Im Sinne der Spracherweiterung wird das Probieren als ein Versuch definiert, in einer Welt heimisch zu werden, „die sich noch der Sprache zu entziehen scheint“, sowie als eine Überschreitung der „Grenze zu dem, was noch nicht sagbar ist“ (Heißenbüttel 1995, 244). In der „Literatur und Grammatik“ betitelten zweiten Vorlesung wird von der romantischen Opposition gegen die Regeln respektive die Grammatik ausgegangen, erkannte diese Epoche als erste in der Ausnahme, d. h. in der Sanktionierung des Regelbruchs, das Besondere der Poesie (Heißenbüttel 1995, 153). Während bis zur Romantik die „sprachliche Realisation“ mit der grammatischen identisch war und das Werk an Regeln gemessen werden konnte (1995, 154), wird die Grammatik nun zum formalen Aspekt bzw. stilistischen Mittel und die Sprache als etwas

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verstanden, das auch außerhalb der gebundenen Rede existiert (1995, 155). Das „Dichterische“ bzw. „Literarische“ wird Heißenbüttel zufolge im sogenannten „Bedeutungshof“ der Sprache realisiert, d. h. in dem jeweils „neu organisierten“ und einzelwerkspezifischen „Illusionsraum der Sprache“, in dem sich auch das Unnennbare und Undefinierbare situiert (Heißenbüttel 1995, 156). Während in literarischen Werken des 19. Jahrhunderts zwischen der grammatischen Rede und den ‚Bedeutungshöfen‘ der Sprache prinzipiell ein Gleichgewicht bestand, wurde es um die Jahrhundertwende durch antigrammatische Entwicklungen unterlaufen. Beispiele hierzu finden sich in der Artistik, der poésie pure und im Formalismus (Nietzsche, Benn, Valéry, René Char), welche auch auf die neuere Lyrik einwirken (Heißenbüttel 1995, 159). Die neuen wirkungskräftigen Prinzipien in der Literatur des 20. Jahrhunderts sind Heißenbüttel zufolge antigrammatisch, wobei er zwei Tendenzen identifiziert: die Sprachreproduktion, die in eine offene und eine verdeckte Reproduktion zerfällt (in der ersten werden Sprachteile klar voneinander abgegrenzt, in der zweiten auch „Bedeutungs- und Ideenbereiche“ zitathaft wiederholt), sowie die anti- bzw. freisyntaktische Sprachveränderung (1995, 162). Das zweite Prinzip besagt, dass sich „die Sprache durch syntaktische, ja vokabuläre Destruktion und Reduktion, durch alogische Koppelungen, durch neue syntagmatische Verfahren, durch Benutzung phonetischer Unbestimmtheiten und typographischer Ergänzungen“ (Heißenbüttel 1995, 166) der grammatisch-syntaktischen Logik entzieht. Die Worte werden weniger in ihren konventionellen Bedeutungen als vielmehr „irreal“ oder „konkret“ verwendet. Die „antigrammatische Umbildung“ erschöpft sich nicht in Detaildestruktionen, sondern stellt ein offenes „Exerzitium“ dar, bei dem die Irritation wegen der Ungewissheit des Endes das einzige „Orientierungsmittel“ und zugleich das Kriterium literarischer Werke ist (1995, 167); hier kommt es auch zur Erweiterung des Erfahrungsbereichs. Die Thesen werden an Gedichten der konkreten Poesie veranschaulicht, insbesondere am Gedichtband Konstellationen (1953) von Eugen Gomringer, der durch die Verbindung von „Sprachreduktion‘ und „rigoroser Sprachreglementierung“ den „verbalen Reiz“ von Gedichten herausstellt (Krolow 1969). Solche Werke sind für Heißenbüttel nicht ‚über‘ etwas, sondern Realitäten an sich, wo der antigrammatischen bzw. experimentellen Sprachveränderung neue poetische Möglichkeiten abgewonnen werden. Gemeinsam sind den neuen Schreibweisen dabei „eine neue Wörtlichkeit im Sprachgebrauch“ (Heißenbüttel 1995, 176), die Verwischung der Realbezüge der Wörter und das Suspendieren der überlieferten Sprache sowie die Ersetzung der alten symbolischen Ausdrucksweise durch „eine sprachliche Reproduktion der Welt“ (1995, 179). Beispiele finden sich vor allem in der phonetischen Lyrik des russischen Formalismus, in Laut-, Klang-, Simultan- und visuellen Gedichten sowie in der écriture automatique (Heißenbüttel 1995, 177).

3.3 Linguistische Argumente: Literatur und Spracherweiterung

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In der letzten, dem Halluzinatorischen der Literatur gewidmeten Poetikvorlesung nimmt Heißenbüttel die Idee der neuen, am Sprachmaterial orientierten Typologie für die Gegenwartsliteratur erneut auf. Ihr Ausgangspunkt ist, dass mit Hilfe neuer literarischer Verfahren, welche Grammatik und Konventionen außen vor lassen, „ganz neue und unbekannte Sprachwelten“ erfunden werden bzw. die konservierte Sprache in ihrer Materialität neu herausgestellt wird (Heißenbüttel 1995, 215). Durch antigrammatische Methoden werden neue „Sprechfelder“ hergestellt und gleichzeitig sprachliche Nuancierungen in ihren zufälligen Verknüpfungen reproduziert, wodurch das „sprachliche Vermittlungsbild der Realität“ aufgefangen wird (Heißenbüttel 1995, 216). Die neue Fähigkeit der Literatur ist nach Heißenbüttel, der damit genauso wie Bachmann eine utopische Dimension aufreißt, „auf ein Ziel gerichtet, das vorerst nur hypothetisch zu erkennen ist“ (1995, 215). In der autonomen „Welt aus Sprache“, durch die sich die Literatur des 20. Jahrhunderts von der früheren unterscheide, würde nicht mehr das Befinden des Subjekts verhandelt, sondern die Sprache vervielfacht, sodass „alles Benennbare und Sagbare“ sowie „die Räume neuer Spracherfindung“ […] „zu etwas Neuem“ zusammengefügt werden (Heißenbüttel 1995, 221). Die Reduktion der literarischen Produktion auf verschiedene Methoden der Sprachverwendung, womit auch „normative[] Gattungsgrenzen“ aufgehoben werden (Havemann 2009, 181), bedeutet überdies, dass jeder diese Methoden benutzen kann. Das Gelingen von Literatur hänge nicht von einer besonderen „Gabe“ ab, sondern von der „Einstellung“ gegenüber der Sprache, „die jeder einnehmen kann“ (Heißenbüttel 1995, 219). Wie Johanna Bohley schreibt: „Zu diesem Zeitpunkt zielt [Heißenbüttels] Werkpoetik auf eine neuere, gar zukünftige Literatur von übermorgen ab, die […] auf ihr Material reflektiert, neue Wahrnehmungsformen kreiert, kritisches Bewusstsein lehrt und vom Rezipienten ein ‚Mitspiel‘ einfordert als reflektorische Leistung und Mitarbeit am Werk“ (Bohley 2012/2013, 40).

3 Marlene Streeruwitz: Tübinger und Frankfurter Poetikvorlesungen (1995/96, 1998) Das Problem der Spracherweiterung wird auch in den Poetikvorlesungen Marlene Streeruwitzʼ thematisiert, die wie ein autobiographischer Erfahrungs- und Werkstattbericht angelegt sind. Dieser Gestus unterscheidet sie neben Aspekten wie Patriarchatskritik und Frauenemanzipation von den bereits besprochenen, auch wenn starke Gemeinsamkeiten im Hinblick auf das Utopische und die Problematik der neuen Sprache mit ihrem Erkenntnis- und Transformationspotenzial zu verzeichnen sind. Als erste Tübinger Poetikdozentin liefert Streeruwitz 1995/96

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eine „Streitschrift zur feministischen Literaturtheorie und Sprachkritik“ (2014, 2), die sie in den 1997/98 folgenden Frankfurter Poetikvorlesungen ergänzt und ausdifferenziert. Auch zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung werden sie als „noch immer zukunftsweisend“ betrachtet, da die „nichtpatriarchalische“, „(geschlechter‐)gerechte Sprache“ und die „nicht patriarchale Poetik“ immer noch eine Aufgabe darstellen (Löchel 2014). Sprachkritik bleibt bei Streeruwitz dabei immer Macht- und Gesellschaftskritik. In der Tübinger Poetikvorlesung Sein. Und Schein. Und Erscheinen verläuft die Argumentation in drei Schritten, in denen sich Streeruwitz „von einer immer sprachlich und gesellschaftsdifferent verfaßten Sozialisation jeder und jedes einzelnen zu ihrer eigenen, feministisch grundierten Poetik“ (Kramatschek/ Hanuschek 2020) vorarbeitet. Im ersten Teil beschreibt sie, wie das Sein von der vorgeschriebenen patriarchalen Sprache konstituiert wird (Streeruwitz 1997, 32), während die Erfahrungswelten von Frauen unterdrückt und verschwiegen werden, was zur „weibliche[n] Sprachlosigkeit“ führe (1997, 33). Im zweiten Teil werden Mechanismen der gegenwärtigen Mediengesellschaft eruiert, die mit ihrer (Bilder)Sprache und ihren ‚Selbstzerstörungsaufträgen‘ wie dem Schönheitskult diese Sprachlosigkeit noch verfestigt. Da die bestehende Sprache die menschliche Existenz nicht vollständig beschreibt, sind eine neue Sprache und eine Poetik nötig, die den Lebenswirklichkeiten entsprechen (1997, 46). Dieser Wunsch rückt Streeruwitz‘ Ansatz an den Bachmanns (und auch Draesners) heran, entfernt ihn aber von Heißenbüttel, dem Gesellschaftskritik in diesem Sinn fremd ist. Streeruwitz‘ Sprachkritik setzt an der durch Abstraktion unüberbrückbaren Kluft zwischen dem, was zu sagen und zu fragen ist und dem, was sagbar ist. Schreiben bedeutet, „dem Unsagbaren zur Erscheinung zu verhelfen“ bzw. das Unsagbare „in ein Beschreibbares zu zwingen“ (Streeruwitz 1997, 48), ein später auch bei Draesner auftauchendes Motiv. Im dritten Teil wird Streeruwitz‘ eigene Poetik, die sich der durch die frühe Erziehung bewirkten „sprachunfähigen Leere“ von Frauen (1997, 71) stellen kann, beleuchtet und an eigenen Theaterstücken veranschaulicht. Das sprachlich-darstellerische Äquivalent für die beschriebene Leere ist bei Streeruwitz insbesondere in der eigenwilligen Interpunktion und Satzzerstückelung zu finden; gegriffen wird zu Mitteln wie Stille, Pause, Zitat und Punkt, die auch in der Poetikvorlesung selbst kunstvoll eingesetzt werden: „Der vollständige Satz ist eine Lüge. Im Entfremdeten kann nur Zerbrochenes der Versuch eines Ausdrucks sein“ (Streeruwitz 1997, 76). Die neue Sprache kann „im Stakkato des Gestammels“ sowie „in den Pausen zwischen den Wortgruppen“ gewonnen werden, da gerade hier „die Sprachleeren“ aufgedeckt werden und die Suche nach sich und nach Ausdruck stattfindet (1997, 76).Während der ganze Satz die Masse auszeichnet, bleibt jeder/jede in der Verweigerung der einfachen, fließenden Sprache bzw. „[i]n dem, was nicht gesagt werden kann“ oder darf,

3.3 Linguistische Argumente: Literatur und Spracherweiterung

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allein (1997, 76). In Streeruwitz‘ Theaterstücken, wie dem beispielhaft angeführten Waikiki Beach, erhalten Lebenswirklichkeiten auch durch Einbeziehung szenischer Mittel und dekonstruktiver Strukturen ein sprachliches Äquivalent. Ihr Theater, wie später auch ihre Prosa, wo sie die „Alltagssprache in all ihrer Unvollständigkeit“ abbildet und dabei „das Lächerliche ihrer Hülsenhaftigkeit“ ausstellt (Kramatschek und Hanuschek 2020), versteht sie als eine Expedition ins Jetzt, wo die „richtigen Fragen […] aufzuspüren [wären]“ (Streeruwitz 1997, 83). Damit wird ebenso an die durch Fragen aufstörende Poetikvorlesung Bachmanns angeknüpft. In den 1998 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen fordert Streeruwitz explizit eine „Poetik der Entkolonialisierung“, die vor allem Frauen ein „Zur-eigenen-Sprache-Kommen“ (Kramatschek und Hanuschek 2020) ermögliche. Gemeint ist eine Poetik, der es „zuerst einmal ums Leben gehen muß“ und in der ein „Anders-Denken“ realisierbar wäre (Streeruwitz 1998, 22). Um nicht von der „Grammatik des Patriarchats“ überwältigt zu werden, sei vor allem ein „andere[r] Entwurf von Selbst“ nötig, das „sich eine eigene Sprache bahnt“ (1998, 32). Die neue Sprache ist „mit Hilfe der entledigenden Sprache“ zu gewinnen, indem das Alte verworfen wird (1998, 33), mit dem Ziel, ein Bewusstsein von Freiheit zu entwickeln bzw. sich zu befreien. Mit Bezug auf ihre eigene Biographie zeigt Streeruwitz, dass jede individuelle Sprachfindung in der Lebenswirklichkeit und Erinnerung eines/einer Einzelnen verortet ist und jeweils eine Rebellion gegen die Geschichte bzw. das „Geheimnis des ersten Vaters“, mit denen die Bibel und die nachfolgende Literatur sowie ihr erster Autor gemeint sind, bedeutet (Streeruwitz 1998, 45). In der neuen Poetik sollen nicht nur neue Mittel für die Beschreibung dieser Befreiung und Abgrenzung (1998, 55) gefunden werden, sondern Literatur soll auch als ein Ort erscheinen, an dem die „Kontingenz [der Autorin] mit der des Lesers in eins fällt“ bzw. an dem „die Geschichte des Lesers und der Leserin ihren Platz findet“ (1998, 55). Auch die nicht zu erzählende Geschichte, die über keine Sprache verfügt, soll im Text einen Raum erhalten. In Streeruwitz‘ Werken geschieht dies insbesondere auf der Ebene der Syntax: im „Punkt in der zerrissenen Sprache“, der die Bewegung des Textes gewährt (Streeruwitz 1998, 55 f). Die neue Poetik wird überdies im Titel der Poetikvorlesungen selbst in Szene gesetzt, denn die Liste der Modalverben intendiert eine neue Sprache der Modalität, die sich der Eindeutigkeit des phallogozentrischen Diskurses widersetzen soll. Die Fähigkeit zur Erinnerung bildet bei Streeruwitz die Grundlage für die neue „persönliche Sprache“ als Gegenentwurf zum patriarchalen Modell (Streeruwitz 2014, 209), da sie – indem sie verschiedene Sinne anspricht – die Teilnahme „an der Unmittelbarkeit von Leben in allen sinnlichen Wahrnehmungsformen“ (2014, 209) ermöglicht. Die Aufgabe der Literatur bestünde deshalb darin, „neue Erin-

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nerungen zu formulieren, die als eigene Erinnerung des Textes, klar markiert in einem anti-idealistischen Gestus, sich auf Leben bezieht, wie es ist, zu Erinnerung werden kann, die von jeder und jedem als quasi-eigene Erinnerung rezipiert werden kann“ (2014, 218). Der Leser/die Leserin soll in einer Erzählung, die sich auf ein nichtidealisiertes Leben bezieht, sich selbst erkennen und die verbalisierte Erinnerung als eigene rezipieren. Der Weg aus der Sprachlosigkeit führt somit über die Verlagerung der Zentren vom „Nicht-Erinnerbaren“ auf ein „Erinnerbares“, vom „Nicht-Sprechbaren“ auf ein „Sprache schaffendes Sprechbares“ (Streeruwitz 2014, 221). In Streeruwitzʼ eigenen Werken situieren sich die neuen Sprachmöglichkeiten an der Grenze zur Alltagssprache und zum Banalen, wo die Erinnerung und die Sprache des (unterdrückten) Ichs zu finden wären. Ist die Entwicklung der neuen Sprache an eine Revolution der Gesellschaft und Kultur gekoppelt, haftet auch dieser Poetik – genauso wie der Bachmanns und Heißenbüttels – Utopisches an.

4 Durs Grünbein: Vom Stellenwert der Worte (2009) In seiner als „Skizze zu einer persönlichen Psychopoetik“ (Grünbein 2010, 15) konzipierten Frankfurter Poetikvorlesung 2009 spricht Durs Grünbein vom „Stellenwert der Worte“, womit er sein poetisches Prinzip umschreibt. Im Zentrum steht das genaue Wort, das durch die Position im Gedichtganzen und im Werk des/ der Einzelnen sowie durch dessen/deren konkrete Lebenssituation bestimmt wird. Zu Beginn wird konstatiert, dass es gegenwärtig „keine normbildenden, maßstabsetzenden Poetiken mehr [gibt]“ (Grünbein 2010, 9); Gedichte entstehen vielmehr „aus Hundert Zufällen“ (2010, 25), „[erfinden] sich jedesmal neu“ (2010, 26). So behandelt auch Grünbein in seiner Poetikvorlesung seine individuelle Bildungsgeschichte, die durch den „Widerstand gegen die vorherrschende Sprachlogik und das eiserne Gehäuse der Grammatik“ (2010, 27) geprägt ist. Zu den unvergesslichen ersten Faszinationen werden die „kühl kalkulierten Dissonanzen“ eines Benn-Gedichts, die ihm den Eindruck der „geradezu plakative[n] Neuheit“ vermittelten, und „ein schwebendes Klangbild“ eines kurzen HölderlinGedichts (Grünbein 2010, 29 – 30) gezählt, das ihn durch eine neue, strengere Ordnung der Worte und einen sich daraus ergebenden „semantischen Schwingungszustand“ bestach (2010, 31). Die zweite Vorlesung beschäftigt sich mit der individuellen poetischen Stimme eines Dichters sowie seiner Beziehung zur Sprache, „d[em] einzige[n] nichtexklusive[n], immer verfügbare[n], künstleri-

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sche[n] Material“ (Grünbein 2010, 35). Die Sprache wird weniger als ein rohes, zu bearbeitendes „Gesteinsmaterial“ bzw. ein allgemein zur Verfügung stehender „Mitteilungslärm“, sondern vielmehr als die „tief psychisch bedingte Art der Phrasierung und Kadenzierung, Betonung und Ausdrucksschwankung“ eines/ einer Dichtenden verstanden (2010, 35). Das Gedicht bzw. „die poetische Stimme“ balanciert „zwischen der Lust am Noch-nie-Gesagten und einem Reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist“ (Grünbein 2010, 36). Der Versuch, etwas Neues zu sagen und damit die sprachlichen Möglichkeiten zu erweitern, ist beim poetischen Schreiben mit einkalkuliert. Anders als Bachmann, Heißenbüttel und Streeruwitz durchschreitet Grünbein in seinen Poetikvorlesungen die einzelnen Stationen seiner Entwicklung als Dichter, indem er eigene, wichtige Etappen markierende Gedichte bespricht. Dabei schlägt er weder etwas Grundsätzliches noch eine Typologie vor; die im 21. Jahrhundert aufkommenden individuellen Poetiken lassen sich nur rückwirkend aus den „immer neuen Versuchsanordnungen“ rekonstruieren und erheben so keinen allgemeinen Geltungsanspruch (Grünbein 2010, 50). Abschließend formuliert Grünbein „Ansätze zu einem zukünftigen persönlichen Manifest“ (2010, 51), wobei er – anders als etwa Heißenbüttel – nicht an das „hundertprozentig gemachte, vollständig durchkalkulierte Gedicht“ glaubt und stattdessen subjektive Momente wie die Eingebung und den Schreibbeginn als entscheidend für den Produktionsprozess herausstellt (2010, 51). Ausgehend von der These, „Poesie ist Subjektmagie als Sprachereignis“ (Grünbein 2010, 52), die auf die Schwächung bzw. Auflösung des Subjekts in der Gegenwartslyrik Bezug nimmt („In Zeiten schwächer werdender oder sich auflösender Subjekte deutet vieles darauf hin, daß [die Poesie] sich ganz auf das reine Sprachereignis reduziert“), entwickelt er eine „Theorie vom Ortssinn der Worte“ (Grünbein 2010, 53), mit dem das gegenseitige Sich-Bedingen von Schwingungs- und Stellenwert der Worte im Vers gemeint ist. Der Ortssinn bedeutet auch die existenzielle Verankerung des/ der Einzelnen in Zeit und Raum: Die Sprache spiegelt das Existenzielle. Genauso wie in mathematischen Gleichungen kommt es auch in der Poesie auf das einzelne Wort an, über dessen „Auftrittszeit“ im Satz/Vers der/die Dichtende entscheidet: „Der Stellenwert ergibt sich aus dem Bedeutungszusammenhang im Gedicht, seiner semantischen Architektur, aber auch, da jedes Gedicht zugleich ein dramatisches Ereignis ist, aus seiner Dramaturgie, […] der inneren Struktur, die auf eine größtmögliche Wirkkraft der Worte angelegt ist“ (2010, 53 – 54). Der Stellenwert wird also semantisch, kontextuell, prosodisch und erst dann grammatisch bestimmt, wobei der Vers als das „widerständigste Prinzip gegen die Nichtigkeit und Vergänglichkeit alles Gesagten“ (Grünbein 2010, 54) und zugleich die „Charakterzeichnung“ (2010, 40) des/der Sprechenden ausgestellt wird. Im Vers wird die Sprache „in einem Akt höchster Konzentration“ zugespitzt, der über

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ihre Regeln, ihre Geschichte und ihren „inneren Zellenbau“ (2010, 40) Auskunft gibt. Grünbein vertritt die These, dass die Zukunft der Poesie im Satz liege (2010, 55). In allen sprachlichen Revolutionen, die Prozesse der Formveränderung auf der einen und der Überlieferung auf der anderen Seite einschließen, zeige sich die Neuerung („[d]as unerhört Neue“) in den „Feinstrukturen der Verse“ (2010, 56). Hier, und nicht in der „plakativen Ästhetik des Gedichts“, ist Spracherweiterung möglich. Die Poetikvorlesung distanziert sich vom Konstruktivismus, von der Rede über das Machbare bzw. Messbare am Gedicht, und entfaltet ein magisches bzw. subjektmagisches Sprachverständnis. Gedichte werden metaphorisch und in deutlicher Anknüpfung an die frühe lyrische Moderne (Rimbaud, Baudelaire) als Einzelzeichnungen bzw. Kleinmusikstücke bestimmt, die jeweils von einer Formel, einem „gesetzlichen Kalkül“ (Hölderlin, zit. n. Durs Grünbein) getragen werden. Die Kraft der Poesie liege in der Möglichkeit unendlicher Kombinationen und in der Unberechenbarkeit jedes nächsten Gedichts (Grünbein 2010, 59), womit die Perspektive auf Spracherweiterung eröffnet wird. Am Problemfeld „Satz“ arbeitet sich auch Jenny Erpenbeck in ihrer vierten Bamberger Poetikvorlesung (2013) ab, in der sie eigenen Veränderungen an einem einzigen Satz aus dem Roman Aller Tage Abend (2012) nachgeht. Auch wenn ihr Ausgangspunkt, bedingt durch die Gattungswahl, anders ist, lässt sich ihre Analyse mit Grünbeins Thesen zur Zukunft der Poesie im Satz verbinden. Erpenbeck will anhand der sprachlichen Änderungen an dem als missverständlich gedeuteten Basissatz die Leitfrage beantworten, wie „das Denken und das Schreiben tatsächlich vor sich [gehen], und um wieviel […] ein Satz mehr als die Summe seiner Worte [ist]“ (Erpenbeck 2018, 225). Bei ihrer Rekonstruktion eigener Gedankengänge und Übersetzungsverläufe von „Erfahrungen in Worte“ (2018, 233) berücksichtigt sie neben der Semantik vor allem das Tempo, „die Bewegung des Inhalts, den der Satz erzählt“ (2018, 244). Die nacheinander folgenden Versionen verwirft sie mit Argumenten wie „[d]a fließt nichts, da schwimmt nichts, da schwebt auch keine Seele“ (Erpenbeck 2018, 251), um nach vierzehn Umformulierungen automatisch zu ihrer Ausgangsversion zurückzukommen. Nach den vorgeführten gedanklichen Prozessen sei aber ein solcher Satz, so die Pointe, „auch wenn er sich selbst aufs Haar gleicht […] dennoch ein anderer“ (Erpenbeck 2018, 255). Sowohl Grünbein als auch Erpenbeck eruieren linguistische Möglichkeiten des Satzes/Verses mit dem Fokus auf Klang, Prosodie und Wortfolge unter Einbeziehung existenzieller Dimensionen.

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5 Ulrike Draesner: Grammatik der Gespenster. Frankfurter Poetikvorlesungen (2018) Mit ihren 2017 gehaltenen, sich an einzelnen Gattungen (Novelle – Essay – Roman – Gedicht – Nature Writing) orientierenden Poetikvorlesungen leistet Ulrike Draesner, wie Simon Scharf festhält, eine „doppelte Reflexion von eigener literarischer Arbeit vor dem Horizont einer literaturtheoretischen Rahmenüberlegung mit Blick auf die existenziellen Grundbedingungen künstlerischen Agierens insgesamt“ (Scharf 2018), womit sie die von Bachmann begründete Tradition aufnimmt. Literatur hat hier, so Scharf weiter, die Funktion, „eine neue Sprache zu etablieren, die jene Wissens- und Erfahrungslücken füllt, die die Lebenswirklichkeit Tag für Tag neu aufreißt“ (2018). Die Frage, wie Literatur zur Lebenswirklichkeit steht, beschäftigte, obwohl mit anderen Voraussetzungen, auch Marlene Streeruwitz. Das die gesamte Poetikvorlesung leitende Interesse („wie wir Leben schreiben“) wird gleich zu Beginn signalisiert und mit dem titelgebenden GespensterMotiv enggeführt (Draesner 2018, 16). Die Gespenster werden definiert als „jene, die es nicht gibt“, die aber „messbar real in Nervensystemen, als Produkt unserer Nerven, unserer Psyche, unserer Seele“ existieren (2018). Um sie zu ermitteln, greift Draesner vor allem zu literarischen Tendenzen der ersten Dezennien des 21. Jahrhunderts: dem biographischen und historischen Erzählen (2018, 30). Schreiben wird dabei generell als Übersetzen des Lebens in sprachliche Form aufgefasst, welches auf interdisziplinären Recherchen und Modellen gründet (Draesner 2018, 40). In Anknüpfung an das poststrukturalistische Sprachdenken (Jacques Lacan, Michel Foucault, Jacques Derrida) entwickelt Draesner die für ihre Ausführungen zentrale Metapher des grammatischen Netzes, die Parallelen zu Christa Wolfs Gewebemetaphern aus ihrer 1982 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesung Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra aufweist (Wolf 1986, 7). Draesner zufolge sind einzelsprachliche Grammatiken Netze, die von Sprachbenutzern über die Welt geworfen werden, um diese Welt sprachlich zur Erscheinung zu bringen. Das grammatische Netz ist ein kompliziertes „vielschichtig verwobenes“ Regelwerk, das „Verknüpfungswege“ vorgibt und äußeren Einwirkungen ausgesetzt ist (Draesner 2018, 44). Als besonders spannend erweisen sich an ihm sprachliche „Lücken“ und „Blindheiten“, d. h. die konkrete Art und Weise, wie etwas unterstützt oder „unterschlagen“ wird (2018, 46). In diesem Kontext wird auch das entscheidende linguistische Argument formuliert: Die Grammatik kann eine „Schreib-Kraft“ und eine Quelle von Innovationen werden, gerade wenn man ihre Lücken ausnutzt, in ihnen „sprechen hört, was sie zu verschweigen sucht“; dar-

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aus ergeben sich der spezifische Rhythmus und die Eigenheit jeder Sprache (Draesner 2018, 47). Anhand ihres autobiographisch gefärbten Romans über Flucht und Vertreibung Sieben Sprünge vom Rand der Welt (2014) behandelt Draesner exemplarisch das Genre des historischen Romans. Prosa wird hier als eine „Kunstform der Zeit“ definiert, in der Zeiten – durch die Grammatik – auf zwei Wegen vorgegeben werden: in der Morphologie der Verben und im Satz, „in der Rhythmisierung des Sprachflusses […] zwischen Sätzen, im Aufbau, der Gliederung“ (Draesner 2018, 86 – 87). Dabei sind vor allem Bruchlinien oder Übergänge „zwischen Sprache und Stummheit, Artikulation und Schweigen“ (2018, 97) beachtenswert, bei denen es meist um Dreifaches geht: (1) das ‚Flüstern‘ von Stimmen aus der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, (2) das, was über Gestik, Mimik und den Körperausdruck übermittelt wird, sowie (3) das Gebrochene wie stottern, weinen oder räuspern (ebd.), wodurch Romane zu „Räume[n] der Polyphonie“ werden (2018, 105). Die Herausforderung eines historischen Romans, der über das Wissen der Dokumente und Geschichtsbücher hinaus will, besteht im Finden einer geeigneten Sprache, die die „gebrochenen Gesänge“, „die stotternden Silben der Sehnsucht und Verletzung, des trügerischen Gedächtnisses“ wachrufen kann (Draesner 2018, 101). In Draesners Verständnis strukturiert Literatur das Wahrgenommene bzw. Erlebte auf ihre jeweils eigene Art und Weise, indem sie auch Stimmen integriert, die Abseitiges, noch Unausgesprochenes oder Unterdrücktes, ja Gespenstisches aus der Lebenserfahrung transportieren. Indem Literatur „Gespensterstellen“ enthält und auch unterdrückte Stimmen hervorlockt, sammelt sie ein bestimmtes („körperliches, emotionales und rationales“) Wissen über das Subjekt und produziert zugleich ein noch „ungewusste[s] Wissen“, zu dem der/die Schreibende erst nach dem Schreiben kommt (2018, 149). Damit scheint Draesners poetische Theorie auf einer ähnlichen Erkenntnis bzw. gedanklichen Konstruktion wie die Poetik Streeruwitz‘ zu gründen, auch wenn sie nicht feministisch oder gesellschaftskritisch vorgeht. Zwar wird in der Gespenstermetapher Sprachkritik wahrnehmbar, die Unzulänglichkeiten der Sprache werden jedoch eher als eine Chance betrachtet, die sich in neuen Schreibweisen, wie der Mehrsprachigkeit, realisiert: „Gespenstererzählen macht hörbar, was keine Stimme hat, sich nicht einfach in Begriffen domestizieren lässt, durch unsere Raster und/oder die Grammatik der Sprache fällt. Es ist mehrstimmig“ (Draesner 2018, 108). Draesners polyglotte, in verschiedenen Gattungen erkennbare Poetik zeigt sich, wie sie selbst gesteht, im „Mit- und Gegeneinanderarbeiten verschiedener Sprachen“ (2018, 152), sowohl innerhalb einer Sprache (wenn von Deutsch ins Gedichtdeutsch übersetzt wird) als auch zwischen verschiedenen Sprachen. Dabei kann eine der Sprachen unsichtbar bleiben, wenn aus ihren Formen bzw. ihrer Gram-

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matik frei übersetzt wird, und verborgene, auf der Werkoberfläche unsichtbare Strukturen und Motivfelder gebildet werden (Draesner 2018, 152). In der letzten dem Genre Nature Writing als Teil von Life Writing gewidmeten Vorlesung verdeutlicht Draesner nochmals ihre Theorie mehrsprachigen Schreibens, das auch im Sinne der Spracherweiterung zu verstehen ist. Die Grundlage dafür, dass alles immer auch anders gesagt werden kann, bilden grammatikalische Regeln, die insofern durchsichtig sind, als jeder Sprechakt die Regel zugleich bestätigt und bricht (Draesner 2018, 179). Die Regelbrüche erfolgen auf verschiedenen Sprachebenen: „Die Andersartigkeit des Sagens bewegt sich in einer Matrix mit der Möglichkeit, diese Matrix zu verändern. Sie betrifft Phoneme, Laute, die Aussprache, […] die Semantik“ (2018, 179). Wie dies in der Syntax funktionieren kann, veranschaulicht Draesner erneut mit Hilfe der Netz-Metapher: Die Aufgabe der Syntax bestehe in der Knotenverbindung und Eröffnung neuer Wege im „vielfältigen, mehrdimensionalen Gestell“ der Sprache (2018, 179). Sprachen als Netze bewegen durch die Figur des/der Sprechenden, die als Variable ein Teil der Sprache und somit mitten im Spiel ist, „Unternetze von Sprache wie geometrische Körper oder Wolken quer in- und durcheinander“ (Draesner 2018, 180). Mehr noch: Sprachen legen sich übereinander als Netze, wodurch Schichtungen und Brechungen, Verbindungen und Distanzen, aber auch Eigentümlichkeiten und „unendliche Möglichkeiten“ entstehen, die unterschiedlich zum Vorschein kommen. In diesem Sinn bedeute polyglottes Schreiben das Übersetzen von Sprache in Sprache auf der Basis eines nicht sichtbaren zweiten Sprachnetzes (2018, 182). Die unsichtbar bleibende Sprache könne als ein „Blickpunkt“ bzw. eine „Denk- und Atemluft“ für die Betrachtung der eigenen Schreibsprache genutzt werden (Draesner 2018, 185). Damit erfüllt Literatur in dieser Poetik vor allem eine Vermittlungsfunktion; sie wird als „Dolmetscherin aus einem Reich flüsternder, zeitzerkratzter, nacktherziger Stimmen“ (2018, 189) sowie aus anderen Sprachen und Sprachebenen aufgefasst.

6 Fazit Thesen zur Literatur und Spracherweiterung stellte bereits Ingeborg Bachmann in der ersten deutschsprachigen Poetikvorlesung 1959/60 dar und etablierte somit einen thematischen Schwerpunkt. Die besprochenen Beispiele machen eine Verschiebung vom grundsätzlichen Charakter der Reflexion zur individuellen Autorenpoetik deutlich, wenngleich auch in den jüngeren Poetikvorlesungen allgemeine Entwicklungen fokussiert werden bzw. die eigene Poetik als Äußerung einer allgemeinen Tendenz betrachtet wird. Trotz der unterschiedlichen sprachtheoretischen, kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen lassen sich im

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Rahmen des Schwerpunkts in allen hier behandelten Poetikvorlesungen bestimmte Dominanten ermitteln wie das Problem der sprachlichen Wirklichkeitserschließung, der sprachlichen Innovation und das utopische Moment der Spracherweiterung. Das ebenso wiederkehrende Thema des Unsagbaren bzw. des noch Nicht-Sprechbaren wird meist als ein emanzipatorisches Bestreben ausgestellt, dessen gewünschte Effekte wie Veränderung oder Integration über die linguistischen Aspekte hinaus auch das Leben betreffen. In allen hier besprochenen Poetikvorlesungen wird auch die Grammatik bzw. das Verhältnis von grammatikalischen Regeln und Lebenswirklichkeit explizit thematisiert, wobei der Regelbruch als die linguistische Voraussetzung für jede Innovation betrachtet wird. Die Reflexionen werden des Weiteren von utopischer Wirkungsabsicht geleitet: Grünbein und Heißenbüttel treffen Aussagen über die Zukunft der Poesie, Bachmann und in ihrer Nachfolge Streeruwitz schlagen jeweils eine neue erwünschte Sprache vor, Streeruwitz und Draesner entwerfen ausdrücklich eine neue antipatriarchale und eine polyglotte Poetik. Während jedoch Bachmann, Streeruwitz und Draesner eine Poetik des Suchens in Szene setzen und für ihre Argumente aus der Gattung selbst innovative Akzente gewinnen, treten Heißenbüttel und Grünbein eher in der Rolle eines poeta doctus auf und halten das Gegebene bzw. sich Abzeichnende – sei es allgemeiner, sei es individueller Natur – fest. Mit ihren linguistischen Argumenten leisten sie alle einen originellen Beitrag zur gegenwärtigen, „subjektiv bestimmten objektiven Poetik“ (Volk 2003, 262) im deutschsprachigen Raum.

Literaturverzeichnis Bachmann, Ingeborg. Probleme zeitgenössischer Dichtung. Frankfurter Vorlesungen. München 1980. Bohley, Johanna. „Helmut Heißenbüttels Poetiken“. Helmut Heißenbüttel: Literatur für alle. Begleitheft zur Ausstellung in den Literaturhäusern Berlin und Stuttgart sowie in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Hamburg 2012/13: 41 – 42. Draesner, Ulrike. Grammatik der Gespenster. Frankfurter Poetikvorlesungen. Stuttgart 2018. Erpenbeck, Jenny. „Variationen über einen Satz. Bamberger Vorlesung IV“. Kein Roman. Texte und Reden 1992 bis 2018. München 2018, 224 – 255. Krolow, Karl. Georg-Büchner-Preis 1969. Laudatio von Karl Krolow. https://www. deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/helmut-heissenbuettel/ laudatio (16. Juni 2020). Grünbein, Durs. Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Frankfurt a. M. 2010. Havemann, Miriam. „Heißenbüttel, Helmut“. Poetiken. Autoren – Texte – Begriffe. Hrsg. von Monika Schmitz-Emans, Uwe Lindemann und Manfred Schmeling. Berlin 2009: 180 – 181.

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Heißenbüttel, Helmut. „Frankfurter Vorlesungen über Poetik 1963“. Über Literatur. 2. unveränderte Aufl. Stuttgart 1995. 134 – 224. Heydenreich, Aura und Klaus Mecke. „Auf der Suche nach Sprache. Ulrike Draesner im Dialog zu ‚Mitgift‘ und ‚Vorliebe‘“. Physik und Poetik. Produktionsästhetik und Werkgenese. Autorinnen und Autoren im Dialog. Hrsg. von Aura Heydenreich und Klaus Mecke. Berlin 2015: 23 – 49. Kramatschek, Claudia und Sven Hanuschek. „Marlene Streeruwitz“. Munzinger Online. (16. Juni 2020). Larcati, Arturo. Ingeborg Bachmanns Poetik. Darmstadt 2006. Löchel, Rolf. „Der Hirte ist dein Herr. Die Tübinger und Frankfurter Poetik-Vorlesungen von Marlene Streeruwitz liegen nun in einem Band vor“. literaturkritik.de. Nr. 6, Juni 2014. https://literaturkritik.de/id/19309 (12. Juni 2020). Lützeler, Paul Michael. Poetik der Autoren. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Frankfurt a. M. 1994. Scharf, Simon. „Gesagtes und Nicht-Gesagtes. Die Poetikvorlesungen Katja Lange-Müllers und Ulrike Draesners führen einen qualitativ äußerst unterschiedlichen Dialog mit Ingeborg Bachmann“. literaturkritik.de https://literaturkritik.de/lange-mueller-problem-alskatalysator-draesner-grammatik-gespenster-gesagtes-nicht-gesagtes,24744.html (15. Juni 2020). „Statt eines Nachworts. Marlene Streeruwitz im Gespräch mit Christian Metz“. Marlene Streeruwitz: Poetik. Tübinger und Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M. 2014, 231 – 256. Streeruwitz, Marlene. Sein. Und Schein. Und Erscheinen. Tübinger Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 1997. Streeruwitz, Marlene. Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 1998. Volk, Ulrich. Der poetologische Diskurs der Gegenwart. Untersuchungen zum zeitgenössischen Verständnis von Poetik, dargestellt an ausgewählten Beispielen der Frankfurter Stiftungsgastdozentur Poetik. Frankfurt a. M. 2003. Wolf, Christa. Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetikvorlesungen. Darmstadt 1986.

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3.4 Anthropologische Argumente: Kunst und Humanität 1 Literarische Anthropologie: Eine kurze Begriffsbestimmung Den Terminus literarische Anthropologie verwendet man grundsätzlich in zwei unterschiedlichen Bedeutungen. Man beschreibt damit im weiteren Sinne einmal eine kulturanthropologisch orientierte Literatur, die im 18. Jahrhundert im europäischen Kulturraum entsteht, als Schriftsteller beginnen, sich aktiv mit der sich etablierenden Ethnologie auseinanderzusetzen und die wissenschaftlichen Fragen auch literarisch zu verarbeiten. Zum anderen bezeichnet der Begriff im engeren Sinne einen methodischen Zugang zur Literatur, welcher sich in den 1990er Jahren, vor allem im Zuge des Trends der Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft etabliert hat (Kiening 2007). Im Dialog mit anderen Forschungsdisziplinen versucht man, die spezifischen Leistungen literarischer Praktiken und Texte für die Kulturentwicklung der Menschen zu beschreiben. Methodisch divergieren zwei grundsätzlich verschiedene Vorgehensweisen, eine historischkulturanthropologische und eine phänomenologisch-transzendentale Ausrichtung (Schlaeger 2008). Der literarischen Anthropologie als kulturwissenschaftlicher Methode kommt es grundsätzlich darauf an, Wechselwirkungen zwischen natürlicher Disposition und kulturellen Praktiken in der menschlichen Kulturentwicklung nachzuvollziehen. Im Hintergrund steht prinzipiell die „Frage nach dem menschlichen Ursprung; nach dem emergenten Ereignis seiner Verwandlung aus einem Natur- in ein Kulturwesen“ (Neumann 2009, 93), welches immer in irgendeiner Form narrativ behandelt werden muss. Den kulturanthropologisch orientierten Wissenschaftlern dienen Ergebnisse natur- oder sozialwissenschaftlicher Forschungen dazu, entweder verschiedene Entwicklungsstufen der Evolution menschlicher Kulturen zu rekonstruieren oder durch Kulturvergleiche auf geographisch wie historisch konstante Eigenschaften oder Verhaltensweisen rückzuschließen, also anthropologische Universalien aufzudecken. Untersuchungen zum Grenzbereich zwischen Mensch und Tier, die ja bereits in der anthropologisch orientierten Literatur und Philosophie seit der Aufklärung eine wichtige Rolle spielten (Neumann 2009; Eibl 2009), nimmt die kulturanthropologisch ausgerichtete Literaturwissenschaft im Dialog mit der Evolutionsbiologie (Boyd 2009), Humanhttps://doi.org/10.1515/9783110647884-023

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Soziobiologie (Gottschall 2012) oder evolutionären Psychologie (Eibl 2016) neu auf, um zu literaturtheoretischen oder literatursoziologischen Aussagen über Zusammenhänge von Fiktion und Kognition, Sprache und Weltverstehen, Narrativität und Kommunikation oder auch Spiel und Imaginationsvermögen zu gelangen. Die transzendental ausgerichtete Literaturanthropologie vermeidet den Dialog mit den Natur- und Sozialwissenschaften und distanziert sich von der Annahme, dass die Evolutionslehre das dominante Erklärungsmodell der Kulturentwicklung biete (Iser 2000). Man ist dabei darum bemüht, Menschen ausgehend von ihrer grundsätzlichen Fiktions- und Ästhetikbedürftigkeit als sich selbst formierende Kulturwesen zu beobachten und Ästhetik nicht ontologisch zu kontextualisieren (Iser 1989). Man zieht phänomenologische und existentialistische Perspektiven der Neurowissenschaft oder Humanbiologie vor, wie Iser es gerade in seiner Rezeptionsästhetik wegweisend vorgeführt hat.

2 Poetikvorlesungen mit anthropologischen Argumenten Die Poetikvorlesungen, die sich Fragen und Problemen der Literaturanthropologie widmen, gehen der Etablierung dieser Herangehensweise als Forschungsgebiet mit spezifischer Methodologie in den 1990er Jahren voraus. Speziell handelt es sich um The Estate of Poetry, Cambridge, MA, 1955 – 1956, des schottischen Dichters und Übersetzers Edwin Muir, The Educated Imagination, Toronto 1962, des kanadischen Literaturwissenschaftlers Northrop Frye und die Frankfurter Poetikvorlesungen Über den Reim, 1980, des deutschen Dichters Peter Rühmkorf. Diese Poetiken sind weder in Reaktion auf den literaturwissenschaftlichen Trend entstanden noch orientieren sie sich daran. Dennoch haben die Poetikvorlesungen im Rahmen der oben genannten Unterscheidung zwischen Literatur, die ethnologische und ethnographische Themen verhandelt, und Literaturwissenschaft, die sich methodisch und theoretisch im Kontext einer umfassenden Theorie menschlicher Kulturgenese positioniert, tendenziell mehr Ähnlichkeiten mit letzterem Diskurs. Auch dabei geht es zentral um die Frage nach der Verwandlung des Menschen von einem Natur- in ein Kulturwesen, und ebenso diskutiert man die Funktionen literarischer Sprache und der Fiktionalisierung bzw. Narrativierung. Menschen brauchen Literatur, so könnte man die Thesen dieser Poetikvorlesungen verkürzt zusammenfassen, um ihre innere wie äußere Natur sowohl zu verstehen als auch zu verändern und um Zusammengehörigkeit in sozialen Gemeinschaften zu befördern. Die Poetikdozenten gehen dabei weder strikt kulturanthropologisch noch transzendental-phänomenologisch vor, in ih-

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ren Poetiken sind aber, so soll nachfolgend gezeigt werden, schon Argumentationen und Theoreme angelegt, die später in der kulturwissenschaftlichen Literaturanthropologie voll entfaltet werden. Bevor die Gemeinsamkeiten und poetologischen Anknüpfungspunkte in den Blick kommen, sei erst auf einige Unterschiede zwischen diesen Poetikvorlesungen und der kulturwissenschaftlichen Literaturanthropologie hingewiesen. Keiner der Poetikdozenten legt die Evolution als Metanarrativ und kulturgeschichtliches Paradigma an, und keiner wählt eine streng phänomenologische Perspektive. Muir, Frye und Rühmkorf entwickeln jeweils einen eigenen Modus, um den Grenzbereich zwischen Natur und Kultur zu erforschen und Kulturentwicklungen narrativ behandelbar zu machen. Muir kontrastiert einen volkstümlichen Umgang mit Dichtung auf den schottischen Orkney Inseln mit dem Literaturverständnis im britischen Kulturbetrieb Mitte des 20. Jahrhunderts. Frye entwirft eine Art Robinsonade, indem seine Überlegungen zu Sprache und Literatur ihren Ausgangspunkt bei einem fiktiven Gestrandeten auf einer einsamen Insel nehmen. Rühmkorf bedient sich einer Mischung aus linguistischen Kulturvergleichen und einem Verfahren, das er selbst eine „Poetologie der Alltagssprache“ nennt. Dabei kommen gelegentlich auch Referenzen zur Ethnologie und Psychologie zur Sprache, grundsätzlich spielen die Sozial- und Naturwissenschaften in allen drei Poetikvorlesungen aber eine untergeordnete Rolle. Fryes Mini-Robinsonade bietet noch am ehesten Bezugspunkte zu dem Evolutionsnarrativ, da ihm das spekulative Szenario letztlich dazu dient, ontogenetische Entwicklungen zu illustrieren. Diese Poetiken lassen sich daher auch nicht dem Literary Darwinism (auch Biopoetics oder Evocriticism genannt) zuordnen, jener Sonderform der literarischen Anthropologie, welche die darwinistische Evolutionslehre in einen soziobiologischen Literaturpragmatismus übersetzt. Hierbei versteht man Kunst generell als Ansammlung biologischer Adaptionsstrategien, die zu einer Höherentwicklung und Optimierung der Spezies Mensch beitragen. Evolutionäre Funktionen der Kunst sind demnach: „(1) den Verstand in Modi, die zentral für die menschliche Kognition sind – Sicht, Klang und Sozietät – zu verbessern und zu kalibrieren, was sie Stück für Stück mittels ihres Vermögens tun kann, uns dazu zu motivieren, wieder und wieder an diesen sehr intensiven Trainingsübungen teilzunehmen; (2) den Status der talentierten Künstler zu heben; (3) die Koordination und Kooperation der Gemeinschaften, in unserer sehr sozialen Spezies, zu verbessern; und (4) Kreativität auf der individuellen und gemeinschaftlichen Ebene zu fördern“ (Boyd 2009, 381, Hervorhebung im Text, Übs. G.H.). Fiktionen kommen in diesem Kunstverständnis die Rolle von Problemszenarien zu, die „wie ein Flugsimulator“ (Gottschall 2012, 58, Übs. G.H.) virtuelle Realitäten erzeugen, mittels derer Menschen risikofrei ihre kognitiven, emotionalen und sozialen Fä-

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higkeiten trainieren, um sich auf die realweltliche Anwendung vorzubereiten. Auch wenn sich der Positivismus und die teleologische Zweckorientierung der Literaturdarwinisten letztlich nicht durchgesetzt hat (Eibl 2016, 13 – 17), so bilden sie doch ein wesentliches Segment innerhalb dieses Forschungsfelds. Man täte Frye, Muir und Rühmkorf Unrecht, wenn man sie solchen Theorien der Nutzenmaximierung literarischer Praktiken zuordnete. Gerade Muir und Rühmkorf gehen davon aus, dass eine einstige Einheit und Integration in sozialen und medialen Zusammenhängen einer zunehmenden medialen Verarmung und sozialen Desintegration weiche. Sie beschreiben also im Hinblick auf die Literatur eine regressive Kulturentwicklung. Lyrik und außerliterarische lyrische Sprache sind für sie ethologische Atavismen, keine Mittel der evolutionären Fitnessmaximierung. Überdies sind ihre wiederholten Verweise auf spezifische Praktiken der Literaturinszenierung auch Hinweise darauf, dass Literaturrezeption nicht uniform verläuft. Vielleicht gerade weil diese Poetikdozenten noch nicht von der modernen Neurowissenschaft beeinflusst werden, bestehen sie darauf, dass unterschiedliche Kontexte und Konventionen sowie Erfahrungs- und Erwartungshorizonte auch unterschiedliche Rezeptionen und Literaturverständnisse erzeugen. Innerhalb der kognitiven Literaturwissenschaft hingegen steht, wie die Herausgeberin des einschlägigen Handbuchs feststellt, die „Revision unserer Annahmen über neurotypische Beschäftigung mit Dichtung, Prosa und Drama“ (Zunshine 2015, 3, Übs. G.H.) noch aus. Es ist daher wichtig festzuhalten, dass diese Poetikvorlesungen, wenn sie auch im Wesentlichen literaturanthropologisch argumentieren, keine biologische, sondern eine ästhetische Perspektive einnehmen. Sie stellen den Menschen als ein gleichermaßen kultur- wie naturbedürftiges Wesen dar, das Literatur benutzt, um zwischen diesen gegenläufigen Tendenzen zu vermitteln.

2.1 Fiktionsbedürftigkeit und Weltverstehen Ein zentraler Topos der Literaturanthropologie ist die grundsätzliche Fiktionsbedürftigkeit des Menschen. Demnach können Menschen gar nicht anders, als Fiktionen zu entwerfen, um sich über sich selbst und ihre Welt sprachlich verständigen zu können. Dieses Fiktionsbedürfnis gilt deshalb als ein elementarer Faktor, der die Entwicklung des Menschen zum Kulturwesen begünstigt. Als ästhetische Prämisse oder als Ausgangspunkt für literaturtheoretische ebenso wie literaturpraktische Reflexionen tritt dieses Theorem in Poetikvorlesungen verschiedentlich am Rande auf. Italo Calvino zum Beispiel spricht davon, dass Literatur die „existenzielle Funktion“ habe, sich auf „die Suche nach Leichtigkeit als Reaktion auf die Schwere des Lebens“ zu begeben, was für ihn „ein beständiges

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Merkmal in der Anthropologie“ darstellt (Calvino 1988, 26 – 27, Übs. G.H.). Nachfolgend soll es um eine Poetologie gehen, die diese Prämisse zum zentralen Gegenstand macht. Northrop Frye entfaltet sein anthropologisches Literaturverständnis vor dem Hintergrund einer strukturalistischen Mythentheorie, die dann in einer grob skizzierten Theorie der Gattungsgenese mündet. Das Konzept der Zwischenwelten von Karl Eibl dient wiederum dazu, die Ausführungen von Northrop Frye literaturwissenschaftlich zu kontextualisieren. Frye widmet sich in seinen Poetikvorlesungen den Fragen, „Wozu lernen wir Literatur zu verstehen? Hilft sie uns, klarer zu denken oder einfühlsamer zu werden, oder ein besseres Leben zu leben, als wir es ohne sie könnten?“ (1964, 13, durchweg Übs. G.H.). Zur Beantwortung wendet er sich dem Grenzbereich zwischen Natur und Kultur zu, welchen er diskursiv behandelbar macht, indem er das klassische Ausgangsszenario der Robinsonade aufruft: „Nehmen Sie einmal an, Sie wären als Schiffsbrüchiger auf einer unbewohnten Insel in der Südsee“ (Frye 1964, 16). Mit diesen Worten beginnt er sein Szenario davon, wie ein Mann sich in eine unbekannte Naturlandschaft geworfen findet, was ihm dazu dient, über dessen mentale Prozesse zu spekulieren und so eine (hypothetische) Psychologie der Kulturentwicklung zu entwerfen. Er differenziert dabei drei mentale Ebenen, denen jeweils bestimmte Weisen des Sprachgebrauchs korrespondieren. Frye geht zunächst von der Differenzierung und Setzung des Subjekts gegenüber der objektiven Welt mit Hilfe des Intellekts aus, welche von variierenden Emotionen wie Empathie, Angst oder Freude verkompliziert würden. Beschreibende, monologische Sprache entsteht seiner Theorie nach dort, wo das Bewusstsein die Dinge der Welt kennenlernen und benennen wolle, was letztendlich zu dem Denken führe, welches den Wissenschaften zugrunde liege. Die Entstehung von Kultur als Zivilisation siedelt Frye auf einer zweiten Ebene des Denkens an, dem praktischen Sinn, welcher zwischen dem menschlichen Willen und den naturgegebenen Notwendigkeiten vermittele und Sprache als Medium sozialer Interaktionen einsetze. Künste wie Literatur und Musik entstünden dann auf der dritten Ebene, der Imagination, die „eine Vision oder ein Modell in Ihrem Geist (mind) von all dem, was Sie erschaffen wollen“ (1964, 21) entstehen lasse. Diese dritte Ebene informiere zwar auch die Wissenschaften, vor allem mittels der imaginativen Sprache der Mathematik, im Gegensatz zur Kunst nähmen diese darin aber nicht ihren Ausgang. Erst mit Hilfe der Imagination, so erklärt Frye die grundsätzliche Fiktionsbedürftigkeit, werde „unser praktisches Leben wirklich menschlich“ (1964, 22), erst damit also realisierten die Menschen ihr volles kognitives und emotionales Potenzial. Gleichzeitig führe die Kulturentwicklung aber auch zu einer Entfremdung von der ursprünglich direkten Verbindung zur natürlichen Umwelt.

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Literatur schreibt Frye nun speziell die Aufgabe zu, die entstandene Trennung zwischen menschlich konstruierten, möglichen Welten der Imagination und der natürlichen Umwelt wieder zu überbrücken. Die Literatur ist genau das Medium, welches den Doppelcharakter des Menschen als Natur- und Kulturwesen verbindet und somit die Kultivierung erträglicher werden lässt. Frye macht einen „Impuls, die menschliche mit der natürlichen Welt zu identifizieren“ (1964, 39) als anthropologische Universalie geltend und verweist auf literarische Stilmittel der Analogie, wie Metapher, Allegorie und Vergleich, in denen eine solche Identifikationsleistung strukturell angelegt ist. Einmal mehr das Szenario der einsamen Insel bemühend, entwirft er zur Veranschaulichung eine spekulative Gründungsszene, bei welcher das Bedürfnis, Imaginiertes schriftlich zu fixieren, sich erst zum Mythos entwickelt und dann in der Literatur mündet. Ausgangspunkt der Imagination ist demnach der Gedanke: „Ich fühle mich getrennt und abgeschnitten von der Welt um mich herum, aber manchmal habe ich das Gefühl gehabt, dass sie eigentlich ein Teil von mir selbst ist, und ich hoffe, dieses Gefühl wieder zu haben.“ Er bezeichnet diesen Gedanken als einen vagen, unscharfen Grundriss jenes narrativen Archetyps „davon, wie der Mensch einst in einem goldenen Zeitalter oder dem Garten Eden oder auf den Hesperiden oder in einem glücklichen Inselkönigreich im Atlantik lebte, wie diese Welt verloren ging, und wie wir eines Tages zurückkehren könnten“. Dichtung könne nun diesem Gefühl des Identitätsverlustes mit der „Sprache der Identifikation, also Metaphern“ begegnen und die Imagination wieder an diesen Ort zurückführen (Frye 1964, 52– 53). In dieser Weise verweist er auf die Gemeinsamkeiten von Literatur, Religion, Wissenschaften und Philosophie im Mythos und zeichnet grob einige Entwicklungslinien von mythischen Stoffen und Charakteren bis zu den literarischen Gattungen und Konventionen der Gegenwart. Frye positioniert sich damit in der Tradition der strukturalistischen Stoffanalyse, die später von den Literaturanthropologen wieder aufgenommen wird, so zum Beispiel von Gottschall, der mit Bezug zu Noam Chomsky für eine „Universalgrammatik der Erzählungen der Welt“ (universal grammar in world fiction) (Gottschall 2012, 55, Übs. G.H.) argumentiert. Fryes Thesen zur Imagination ähneln aber auch in mancher Hinsicht der literaturwissenschaftlichen Theorie der Zwischenwelt von Eibl. Anders als Frye bezieht sich Eibls „bio-anthropologischer Ansatz“ auf die Erkenntnisse der evolutionären Psychologie und Neurophysiologie. Ähnlich wie Frye geht er von der „Besonderheit des biologischen Gattungswesens Mensch“ aus, welche er in der „Funktion der Vergegenständlichung – also der mentalen ‚Herstellung‘ von Gegenständen“ (Eibl 2016, 29) sieht. Als Zwischenwelt bezeichnet er nun die Gesamtheit solcher mentalen Vergegenständlichungen, welche als sprachliche Konstruktionen das Wissen über die Welt beinhaltet und Wissensbestände ver-

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ändern kann, indem neue Beziehungen geknüpft werden. Er betont deshalb besonders den „Organisationsmodus“ (Eibl 2016, 54) der Kunst, also die Konstruktion von Zusammenhängen wie Analogie, Gegensätzen, Teleologie oder Kausalität, welche auch bei Fryes strukturalistischem Ansatz eine wichtige Rolle spielen. Obschon Eibl nicht in der gleichen Weise wie Frye von einem authentischen Naturzustand ausgeht, beschreibt er ebenfalls eine Art Entfremdungseffekt, welchen die Literatur, wenn auch nicht aufheben, so doch zumindest lindern könne. „Das – oft nur diffuse – Wissen, dass wir in Zwischenwelten leben, macht unsere Umwelten in besonderem Maße prekär und verleiht grundsätzlich allen unseren Weltkonstruktionen (allen Sinnproduktionen im Luhmannschen Sinne) einen Hauch von Ironie.“ Solche Literatur, welche mit Mitteln wie narrativen Kausalitäten, formalen Gestaltabschlüssen oder linguistischer Harmonie Deutungsangebote wie Gerechtigkeit oder Ordnung bereitstelle, erzeuge deshalb eine „Funktionslust“, die zumindest den Eindruck entstehen lasse, „dass wir uns mit der Welt im Einklang befinden“ (Eibl 2016, 59). Damit übernimmt die Literatur die Doppelfunktion, sowohl die Kulturentwicklung zu befördern als auch ein Gefühl der Natur- und Realitätsverbundenheit zu erzeugen.

2.2 Literatur und Gemeinschaft Die Art und Weise, wie Fryes Thesen zur Fiktionsbedürftigkeit des Menschen in einer Gattungstheorie münden, weist schon daraufhin, dass ein zweiter wichtiger Problemkomplex der Literaturanthropologie darin besteht, zu erklären, wie die Formen, Themen und sprachlichen Mittel der Literatur zu der Verwandlung des Menschen vom Natur- zum Kulturwesen beitragen. Rüdiger Zymner prägt dafür den Begriff „poetogene Strukturen“, welche er über eine Doppelpräsenz außerhalb und innerhalb der Literatur definiert. Als „Nichtkunst“ müssten diese zum einen „am Menschen im allgemeinen (als biologische Dispositionen oder anthropologische Universalien) bzw. an oder in menschlichem Verhalten im besonderen (als historisch-sozial differierende Praktiken) beobachtbar“ sein; zum anderen müssten sie „sich ebenso oder in kontextuell geeigneten Transformationen in der Dichtkunst“ (Zymner 2004, 13) finden lassen. In dem oben zitierten Beispiel aus Fryes Poetikvorlesung beschreibt dieser, wie ein fundamentales Verlangen nach Naturverbundenheit einmal direkt als Thema in der Literatur auftritt und zum anderen in Form von Stilmitteln sprachlicher Identifikation poetisch transformiert wird. Das wäre also nach Zymner eine poetogene Struktur. Auch Peter Rühmkorf und Edwin Muir richten ihre Aufmerksamkeit auf die sprachlichen Formen und thematischen Inhalte der Literatur, die sich in Beziehung zu außerliterarischen Praktiken und Phänomenen setzen lassen. Zwar ist

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der Begriff ‚poetogene Struktur‘ den Vorlesungen nachträglich, doch weist Rühmkorfs Poetik eine solche konzeptionelle Affinität auf, dass sie noch 24 Jahre nach der Frankfurter Vorlesung als Kernbeispiel zur Illustration dessen dient, wie sich diese (poetogenen Strukturen) in der Lyrik manifestieren (Moenninghoff 2004). In Muirs und Rühmkorfs Poetikvorlesungen kommen allerdings auch wiederholt performative Aspekte der Literaturrezeption und -inszenierung in den Blick, die mit dem Begriff der poetogenen Strukturen nur unzureichend zu erfassen wären. Gerade um Aspekte kollektiver Identität und Werteverhandlungen zu erläutern, entwerfen die beiden Lyriker unabhängig voneinander und auf ganz verschiedenen Argumentationswegen ähnliche Literaturverständnisse, welche literarische Praktiken und Rituale in den Blick rücken. Die Kunst, insbesondere die „Wortkunst“, gilt Rühmkorf als „Kommunion und Kommunikation“, die „keinem edleren Zwecke und keinem höheren Ziel als Gemeinschaft zu stiften“ (Rühmkorf 1981, 15) diene; und Muir insistiert, dass die schottischen Balladen und Lieder seiner Kindheit „nicht nur Mittel der Kommunikation, sondern auch Mittel der Partizipation an etwas sind, das allen gehöre und von allen geteilt werde“ (Muir 1993, 11, durchweg Übs. G.H.). Beide evozieren ein eucharistisches Ritual, also eine gemeinschaftliche Erfahrung und kollektive Inkorporation von Symbolen, und benennen darin den argumentativen Fluchtpunkt ihrer Poetologien. Mit einer solchen ästhetischen Prämisse stehen sie innerhalb der Gattung Poetikvorlesungen nicht allein dar. Auch Heinrich Böll, zum Beispiel, geht „von der Voraussetzung aus, daß Sprache, Liebe, Gebundenheit den Menschen zum Menschen machen, daß sie den Menschen zu sich selbst, zu anderen, zu Gott in Beziehung setzen“ (Böll 2002, 142) und argumentiert, dass die Literatur ein zentrales Medium sei, um diese Aspekte des Menschseins zu verhandeln. Stärker als andere betont Rühmkorf dabei das Vermögen zur kulturellen Vielfältigkeit und Heterogenität, wenn er sich „vorzugsweise eine Gemeinschaft der Ungläubigen, Abseitigen, Ausscherenden“ (Rühmkorf 1981, 15) wünscht.

2.2.1 Nachahmung des Mysteriums Natur und soziale Inszenierung Muir gestaltet seine Poetikvorlesung zentral um einen Vergleich zwischen den volkstümlichen, literarischen Praktiken, die er als Kind in der Zeit von 1887 bis 1901 auf den schottischen Orkney Inseln erfahren hat (McLeish 1993 [1962]), und der literaturkritisch informierten Literaturrezeption, die er als Schriftsteller und Übersetzer in Großbritannien erlernt hat. Ersteres gilt ihm als Beispiel archaischer Literaturpraktiken und Ausdruck einer relativ starken Naturverbundenheit, letzteres als Resultat eines Entfremdungsprozesses. Er kreiert einen Gegensatz zwi-

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schen Kultivierung und Zivilisation, indem er von den Orkney Inseln als einer „unkultivierten, aber in einem wirklichen Sinne zivilisierten Gemeinschaft“ spricht, „zivilisierter als man es jetzt einfach finden kann“ (Muir 1993 [1962], 10). Die schon im Titel genannte Metapher vom „Anwesen der Dichtung“ dient ihm dazu, die Verlusterfahrung räumlich zu fassen. Die Dichtung, so meint er, habe im Laufe der Kulturgeschichte zunehmend an Grund innerhalb der Gemeinschaft verloren, sodass ihr ursprünglich weitläufiges Anwesen stark geschrumpft sei. Grund dafür sei, dass die Menschen die natürlicheren Weisen der Literaturrezeption verlernt und mit kritischen Methoden sowie Bildungsansprüchen ersetzt hätten. Muir gründet sein Verständnis der Natürlichkeit und Zivilisiertheit der schottischen Balladen und Lieder unter anderem auf bestimmte poetogene Strukturen. Reim und Metrum der Balladen ließen diese „sowohl fremdartig als auch natürlich“ erscheinen, sodass dieses zwischen Sprache und Musik angesiedelte Medium einem „natürlichen Mysterium“ Ausdruck verleihe, „so natürlich, dass es uns niemals eingefallen wäre, es zu hinterfragen, oder wir auch nur das Bedürfnis gehabt hätten, es zu untersuchen“ (1993 [1962], 10). Die Themen und Geschichten der Balladen seien auf der „Ebene der tragischen Akzeptanz“ angesiedelt und entstammten einer Tradition, die „ebenso uralt wie unbestreitbar“ sei, denn, so erläutert er, „die frühe tragische Welt, die sie heraufbeschwören, war die poetische Grundnahrung der Landbevölkerung für Hunderte von Jahren“. Ganz anders als die Literatur des 18. Jahrhundert „mit ihren humanitären Leidenschaften und weitreichenden Hoffnungen für die Menschheit“, so erklärt er, „stellt diese Dichtung das Leben so dar, wie es der Landbevölkerung erschien“ (1993 [1962], 13) mit all der Härte und den Schwierigkeiten des ländlichen Lebens. Auf diese Weise erzählten sie von typisch menschlichen Schicksalen und Verhaltensweisen. Das Tragische gilt Muir generell als der Kern anthropologischer Universalien, wie er dann im Rückgriff auf Platons Dialog Ion noch weiter ausführt, denn es beschreibe „das Muster unseres Lebens“ (1993 [1962], 29), und bringe innerhalb dieses Musters unveränderliche, menschliche Dispositionen und sich immer wiederholende Erfahrungen zum Ausdruck. Eben diese Darstellung der menschlichen Natur verfolgt Muir dann an weiteren Beispielen aus der Literaturgeschichte: Homerische Epen und William Wordsworths Balladen dienen ihm zur Veranschaulichung jener „Empfindungen, die uns an die Natur binden und die Natur an uns“ (1993 [1962], 40). Neben diesen strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Leben und Dichtung betont Muir auch die Weisen der Produktion und Rezeption der Balladen und Lieder als Faktor der Natürlichkeit. Er nennt die schottischen Volksdichtungen sowohl „natürlich“ als auch „zivilisiert“, da diese als Gemeinschaftsprodukte organisch in einer generationsübergreifenden Kooperation entstünden und tra-

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diert würden. „Die Autoren, wenn man sie denn so nennen will, wussten nichts über Dichtung außer durch Hinterlassenschaft“ (1993 [1962], 11) und hätten aber dennoch über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg an der Verbesserung der Balladen gearbeitet, indem sie diese nicht einfach nur weitergereicht, sondern immer auch modifiziert und verinnerlicht hätten. Diese Form einer flexiblen, produzierenden Rezeption ist natürlich nur im Rahmen der mündlichen Überlieferung möglich, weshalb die Druckfassung der Balladen seiner Meinung nach entscheidend dazu beigetragen hat, „einen charakteristischen Modus des Fortführens der Dichtung, ebenso wie die gemeinschaftliche Teilhabe, die sie am Leben erhielt, zu töten“ (1993 [1962], 15). Was diese Art der Dichtung so eng mit dem Leben und der Natur der Menschen verbinde, sei vor allem die „natürliche Rezeption“ (natural response) (1993 [1962], 69) eines Publikums mit einer speziellen Affinität dazu, welches sich nicht den Methoden akademischer Literaturkritik bedienen müsse. Platons Dialog mit dem Rhapsoden Ion dient ihm zur Untermauerung seiner These, dass Dichtung die Gemeinschaft und die Gemeinschaft die Dichtung formt, wo diese vor einem geneigten und involvierten Publikum inszeniert wird. Die gesellschaftliche Funktion von Dichtung entwickelt Muir vor dem Hintergrund dieses kulturpessimistischen Resümees. In der zweiten Hälfte seiner Poetikvorlesungen nimmt er die Moderne in den Blick und konzentriert seine Argumentation auf das Vermögen der poetischen Imagination, die menschliche Natur zu erfassen. Er appelliert an Dichter und Publikum, dass sie sich der grundsätzlichen anthropologischen und sozialen Funktionen von Literatur bewusst werden sollten. Er setzt sich detailliert mit Kierkegaards Kritik der Öffentlichkeit auseinander und muss mit Bedauern eingestehen, dass das Verhältnis von Lyrikern und Publikum sich radikal verändert habe und dass moderne Dichtung niemals den gleichen organischen Publikumsbezug wie die schottischen Balladen und Lieder genießen könne. Dabei warnt er sehr deutlich vor der Entfremdung und dem Verlust eines Naturbezugs in einem Literaturbetrieb, der das Lesepublikum zunehmend anonymisiere und die Dichter isoliere. Gerade deshalb insistiert er auf der anthropologischen Bedeutung der Dichtung, insbesondere für den sozialen Zusammenhalt. W.B. Yeats, der sich neben seiner Arbeit als Dichter auch kulturpolitisch sehr stark in seiner irischen Heimat engagierte, ist für ihn ein Beispiel des „öffentlichen Poeten“ (public poet) (1993 [1962], 54), weil es ihm gelang, eine besonders enge Beziehung zu seiner Öffentlichkeit herzustellen, indem er sowohl zu diesen Menschen als auch für sie sprach. Aus diesem Grund besteht Muir mit Nachdruck darauf, dass die Aufgabe der Dichtung sei, „ein wahres Bild des Lebens“ (1993, 107) zu kreieren, mit anderen Worten, poetogene Strukturen zu erschaffen. Ohne diese Ausdrücke der poetischen Imagination, die er strikt von der wissenschaftlich-philosophischen unterscheidet, so argumentiert

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Muir, „würden wir einander nicht verstehen oder gar wissen, was Liebe und Freundschaft und Leben sind“ (1993 [1962], 108). Wenn auch als konkrete Realität unerreichbar, so soll das von Muir nachgezeichnete Ideal der sozialen Integrationskraft der Dichtung weiterhin als Orientierung dienen. Wie schon bei Frye gilt auch bei Muir, dass die Literatur letztlich das Vermögen besitze, die Menschen an eine ursprüngliche Natur zurückzubinden, wenngleich sie niemals vollständig zu diesem Zustand zurückkehren können.

2.2.2 Über akustische, körperliche und soziale Resonanzen Auch Peter Rühmkorf geht es in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen darum, ein anthropologisches Grundbedürfnis zur lyrischen Sprache zu demonstrieren. Ausführlich zeichnet er die kulturelle Verbreitung der beiden lyrischen Grundmuster Reim und Doppelung in verschiedenen historischen, sozialen, medialen und ethnischen Kontexten nach. Er nennt seine Arbeit im Untertitel der Veröffentlichung eine „Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven“ und vor allem Johann Gottlieb Herder steht dabei Pate, diese Sammlungen von Reim- und Doppelungsvarianten anthropologisch zu deuten. Rühmkorfs anthropologisches Verständnis basiert wesentlich auf der Konzeption von Menschen und Gemeinschaften als Resonanzkörpern und -räumen. Er spricht von der Dichtung als einer „Schwingkörper-Manufaktur“ (Rühmkorf 1981, 122), deren Produkte mit Tönen, Klängen und Bewegungen sensorische Reize auslösen, die sowohl individuelle Körper als auch soziale Körper anregen und zueinander in Beziehung setzen. Herder folgend spekuliert Rühmkorf, dass „die sinnliche Ordnung der Welt durch Gleichklang, Gleichmaß und Symmetrie“ einer anthropologischen Universalie korrespondieren müsse, da „im inneren Menschen ein entsprechender Gleichgewichtssinn zu vermuten sei, der die Welt auf zwei Beine zu stellen und harmonische Grundverhältnisse nachzubilden trachte“ (1981, 61). Er geht von einem „antiquarisch-allgemeinen und doch zugleich äußerst privaten Resonanzkörper“ (Rühmkorf 1981, 40) des Menschen aus, der von der poetischen Sprache angeregt und zum Schwingen gebracht werden könne, was wiederum soziale Resonanzen erzeuge. In diesem Sinne ist auch der kryptische Titel agar agar – zaurzaurim zu verstehen, den die Buchveröffentlichung seiner Poetikvorlesungen trägt: agar agar – ein dem Malaysischen entstammender Name für ein Bindemittel – und zaurzaurim – Lettisch für „durch und durch“ – sind das A und Z der durchdringenden Bindungseffekte und Resonanzen, welche die von Rühmkorf spielerisch postulierten „menschlichen Anklangsnerven“ stimulieren.

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Um die sprachlichen und sozialen Prozesse genauer zu verfolgen, mittels derer lyrische Sprache gemeinschaftsbildend wirkt, kann Rühmkorf nicht anders als sich auf Magie zu berufen. Er beschreibt, wie Reime als „Binde- und Beschwörungsmittel“ (1981, 20) dienen können und bezieht sich unter anderem auf die Merseburger Zaubersprüche als Beleg. Im Gestus eines Amateuranthropologen erläutert er anhand des Rituals der Runendeutung eine grundsätzliche Doppelrolle „in der Figur des Dichtermagiers“, welcher sein Publikum zu bannen und zu binden verstehe, indem er „die fragmentarischen Götterwinke zu plausiblen Reimordnungen zu bringen vermochte“ (Rühmkorf 1981, 21). Sich auf mittelhochdeutsche Wortspiele mit rîmen (reimen) und lîmen (leimen) beziehend, erklärt er, wie verbal und lautlich hergestellte Bezüge ordnend oder heilend in die Welt zurückwirken sollen, indem Unverbundenes zueinander in Beziehung gesetzt oder Zerbrochenes wieder zusammengefügt werde. Diese Position des Dichters und diese Funktion von Dichtung verallgemeinert er dann bis in die Gegenwart. „Gerade wer als lyrischer Verfasser letzten Endes mit der Neuverfassung des Individuums und seines immer wieder problematisch werdenden Innenlebens beschäftigt ist, kann den Restaurationsabsichten einer alten Heil- und Weihekunst gar nicht unbefangen begegnen“ (1981, 23). Die Frage nach der Wortmagie, also „mit den Worten Wirkung tun, beziehungsweise mit der Sprache Welt heraufzubeschwören“ (Rühmkorf 1981, 54), bildet den roten Faden für seine umfangreiche Darstellung der Allpräsenz von Reimen und Doppelungen. In einer „Poetologie des Alltagsleben“ (1981, 51) zitiert Rühmkorf Kinderpsychologen und Ethnologen, und zählt Beispiele aus Kinderreimen, Werbungen, Fernsehshows, Nachrichten und Illustrierten ebenso wie aus etwa einem Dutzend verschiedener Sprachen auf, um zu belegen, dass Wörter zu reimen und Laute zu doppeln nicht bloß als Kulturpraktik auf der ganzen Welt und in vielen verschiedenen Medien verbreitet ist, sondern eben im Menschen instinktiv veranlagt sein muss, weil es einem tiefsitzenden Bedürfnis entspricht. Und „Zusammenklang“ schaffe Zusammenhang, wie Rühmkorf immer wieder demonstriert. Er beschreibt aber auch das Gegenteil, die Herstellung von Widersprüchen und Komik im Reim. Vor allem in der Kindersprache beobachtet Rühmkorf einen „Umlautungstrieb […], der im Zusammenklang zugleich den Mißklang sucht“ (1981, 77), da hier der „Elternlust am gelungenen Übereinklang die Lust des Kindes am Auseinanderklang“ (1981, 79) gegenüberstehe, mittels derer Kinder sich sprachliche Freiräume verschafften. Der Reim, so hält er fest, „findet tatsächlich in zweimaligem Anlauf seinen Zugang zu unserem Seelenleben: einmal als einverständnisvoller Wiederholungstrieb und einmal als Entzweiungslust“ (1981, 78). Diese Doppelleistung bildet den Ausgangspunkt für seine Thesen zur Lyrik, welche er von einer simplizistischen und einseitigen Ordnungslogik des Reims, wie sie in den Massenmedien beliebt sei, abgrenzen will. Die wahre

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Leistung der Dichtung bestehe in dem Erschaffen eines Gleichgewichts aus den beiden gegenläufigen Tendenzen von Übereinklang und Entzweiung, indem man hier dem Chaos oder den Missständen in der Welt mit sprachlichen Balanceakten begegne, sie sowohl nachbildend aufnehmen als auch spielerisch verkehren könne. Er nennt den Reim „eine utopische Schlichtungsstelle, die noch die tollsten Widersprüche in die Wucht bringt“, weil er ja gleichermaßen „ein Showfreak an Disproportion und ein Ausbund an Ausgleichsvermögen“ (1981, 147) sein könne. Rühmkorf bezieht sich auf Aussagen und Beispiele von Goethe, Friedrich Schlegel, Heine, Rilke, Ringelnatz, Benn und anderen, aber primär dienen ihm seine eigenen Texte der Illustration. Doch Rühmkorfs Poetik lässt sich nicht allein auf solche poetogenen Strukturen reduzieren, denn auch er betont die Notwendigkeit von Praktiken der Literaturrezeption. Vergleichbar zu Muirs idealisierter Volksdichtung erläutert Rühmkorf die soziale Dimension der Lyrik mit Hilfe einer früheren Kulturstufe, innerhalb derer die Künste miteinander ebenso wie innerhalb der Gemeinschaft fest integriert gewesen sein sollen. „Früher […], als die unterschiedlichen Künste noch an allen Ecken und Enden zusammenhingen: die Lyrik direkt mit den Saiten der Leier und der phrygische Dudelsack mit den Nervenenden der Tanzenden, oder dann, als die attische Tragödie völlig selbstverständlich in den satyrischen Maskenzug überging und die Phallophorenprozession in öffentliche Lustbarkeiten, hatte das Wort Beteiligung noch einen richtig sinnlichen Sinn“ (1981, 15). Die so skizzierte Kulturphase behandelt er nicht als historische Realität, sondern er stellt sie als idealisierendes Wunschdenken aus. Dahinter steht Rühmkorfs These, dass Kunst grundsätzlich „der Bedrückung und dem Mangel entspringt“ (1981, 23). Mit deutlich sarkastischem Ton stellt er diesem Ideal sozial-sinnlicher und medialer Integration der Dichtung eine vergleichsweise armselige Realität des gegenwärtigen Literaturbetriebs gegenüber. In dem von „Animationsdezernenten“ und „Planstelleninhabern“ gesteuerten Betrieb „wird die immerhin mögliche Anteilnahme eines resonanzwilligen Publikums schon im Vorhinein versprayt“ (Rühmkorf 1981, 15). Dennoch räumt er ein, dass „mediale Schwingungszonen“ (1981, 15) auch gegenwärtig möglich seien, und führt Lyrikfestivals an, bei denen sich durch kombinierte Inszenierungen von Dichtung, Musik und Tanz „archaische Menschengelüste“ (1981, 16) offenbart hätten. Insofern kann man schon sagen, dass er grundsätzlich von einer „Poetik des Mangels“ (Bohn 1988, 161) ausgehe. Letztlich begibt er sich aber auf die Suche nach möglichen Erfahrungen oder Erscheinungen der Fülle, wo Kunst „der Bedürftigkeit wenigstens den Fetisch einer verlorengegangenen Ganzheit zu entbieten sucht“ (Rühmkorf 1981, 23). Mit einer überwältigenden „Fülle des Reimmaterials“ (Moenninghoff 2004, 245) macht er seine Poetikvorlesungen zu einer Schwingkörpersammlung, um nicht

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nur zu erklären, sondern auch zu demonstrieren, wo er das Potenzial von Reimen sieht.

3 Resümee In den anthropologisch argumentierenden Poetikvorlesungen von Muir, Frye und Rühmkorf lassen sich also zentrale Theoreme beobachten, die auch den literaturwissenschaftlichen Diskurs zur literarischen Anthropologie strukturieren. Gemeinsam ist allen Argumentationen, dass sie belegen wollen, welche Funktionen Literatur zu verfassen und zu rezipieren bei der Verwandlung des Menschen vom Natur- zum Kulturwesen übernehmen. Dabei schreiben alle drei Poetikdozenten der Literatur eine Doppelrolle zu. Diese soll sowohl der Kulturentwicklung als auch der Vergewisserung einer natürlichen Disposition der Menschen dienen, sowohl die Genese zum Kulturwesen befördern als auch Aspekte des Naturwesens erhalten. Frye sieht den Ursprung einer grundsätzlichen Fiktionsbedürftigkeit des Menschen in Methoden des Weltverstehens und des Verhandelns zwischen menschlichem Willen und naturgegebener Notwendigkeit. Er betont das Vermögen der Imagination, durch Medien der Kunst, insbesondere der Literatur, sprachliche Abstraktionen, sozio-kulturell geformte Ansprüche und physischemotionale Bedürfnisse zueinander in Beziehung zu setzen. Literatur bietet also eine Methode, die unterschiedlichen Erfordernisse von zivilisatorischem Fortschritt und natürlicher Veranlagung auszuhandeln. Sein Literaturbegriff fokussiert sehr stark auf Stilmittel des Vergleichs und Textsorten wie Mythen und Parabeln, in denen Analogieverhältnisse zwischen Sprache, menschlichem Denken und Welt strukturell angelegt sind und neue Ordnungen konstruiert werden. Man kann diese Poetik deshalb konzeptionell in die Nähe der Zwischenwelttheorie rücken, da diese in ähnlicher Weise eine sprachlich-kognitive Konstruktion von Welt zum Kern des Literaturverständnisses macht. Muir und Rühmkorf betonen stärker als Frye die soziale Funktion von Literatur, beide ziehen dazu Vergleiche zwischen Poesierezeption und Eucharistie. Als Lyriker stützen sie ihre Thesen nicht nur auf Fragen der sprachlichen Repräsentation, sondern beziehen sich auch auf Aspekte der Präsenz, Oralität und Musikalität von Literatur. Die Zwitterstellung der Lyrik zwischen Text und Musik, die Oralität ihrer Inszenierung und klangliche Wirkung kommen hier neben Aspekten der Fiktionalisierung zur Diskussion. Beide stützen ihre Thesen auf das Vermögen der Dichtung, Kernaspekte der menschlichen Natur zu kommunizieren, was man in der literaturanthropologischen Theorie später als poetogene Strukturen bezeichnet.

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Muir erinnert mit Nachdruck an ein organisches Verhältnis einer Gemeinschaft zur Lyrik, welches nur dort möglich war, wo Dichtung für ein Publikum inszeniert wurde, innerhalb der Gemeinschaft eine rituell verankerte Präsenz genoss, und die Oralität des Vortrages die Sprachgestalt der Dichtung flexibel gestalten ließ. Gerade in den performativen Aspekten der Lyrik sieht er deshalb das Potenzial, gemeinschaftsbildend zu wirken. Das anthropologische Literaturverständnis bildet für ihn die Grundlage dafür, die Beziehungen zwischen Lesepublikum und Dichtern, die er im modernen Literaturbetrieb zunehmend durch Entfremdung und Anonymität bedroht sieht, aufrecht zu erhalten. Eine Verpflichtung zu poetogenen Strukturen, die sich einem „wahren Bild“ der Menschen und ihrer Natur annähern, bildet deshalb den Kern seiner Poetik. Für Rühmkorf ist die Klangqualität der lyrischen Sprache der zentrale Ausdruck eines menschlichen Bedürfnisses zur akustischen Harmonie, weshalb er den Reim und die Doppelung in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt. Auch seine Argumentation bezieht sich ähnlich wie bei Frye auf einen Organisationsmodus der Kunst, indem er erläutert, wie akustische Zusammenhänge zur Konstruktion von semantischen Beziehungen und Ordnungsmustern dienen. Dabei betont er ähnlich wie Muir und viel deutlicher als Frye die Konstruktion von sozialen Zusammenhängen. Entscheidend für seine Theorie der sozialen Bindungen ist allerdings auch die sensorische Dimension der Lyrik, die gerade in der performativen Inszenierung zur vollen Entfaltung kommen kann. Dichtung wirkt für ihn gemeinschaftsbildend, wo sie emotional-sensorisch oder kognitiv-semantisch Beziehungen knüpft und damit Gruppenidentitäten zu formen hilft.

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3.5 Intertextuelle Argumente: Einflussangst, Vorbilder, Autodidakten, Lektüreverhalten, Text als Intertext Rekurse auf Werke und Schreibweisen anderer Autoren finden sich in Poetikvorlesungen in großer Variationsbreite. Dabei erschließen sich in vielen Fällen zentrale Aspekte der jeweils entwickelten Poetik. Antike oder Avantgarde, Klassiker oder Außenseiter der Literaturgeschichte – die Wahl der Referenztexte kann Schlüsselfunktion haben. Verweise auf fremde Texte und Schreibweisen sind allerdings nicht nur dann aufschlussreich, wenn sich die Poetikdozenten explizit zu anderen Dichtern äußern, diese womöglich als Impulsgeber des eigenen Schreibens ausweisen oder zur Profilierung eigener Thesen heranziehen, wenn sie fremde Texte paraphrasieren, interpretieren, zitieren. Vielmehr deuten auch eher allgemein gehaltene Übersichtsdarstellungen zur Literaturgeschichte oder zu poetologischen Fragen auf eine Selbstverortung in umfassenden Intertexten hin. Manchmal gestaltet sich gerade die Referenz auf Fremdliterarisches als eine Form des Selbstporträts – auf rhetorischer und kompositorischer ebenso wie auf inhaltlicher Ebene; im Modus der Einbeziehung des Anderen artikuliert sich Eigenes. Die Nennung von Vorgängern (übrigens nicht nur von geschätzten), das Zitieren anderer Stimmen im eigenen Text vollzieht sich, explizit oder implizit, innerhalb eines Spannungsfeldes tendenziell gegenläufiger Grundannahmen über Eigentum von Autoren an ihren Texten und deren autorenspezifische Besonderheit. Insgesamt auf der Basis eines eher starken Autorkonzepts situiert, wollen Poetikvorlesungen den vortragenden Dichtern Gelegenheit bieten, ihre jeweils besonderen Schreibmotive, Themen und Texte vorzustellen – und zwar aus einer durch keine inhaltlichen Vorgaben eingeengten individuell zu bestimmenden Position heraus. Eine so konzipierte Dichterpoetik entspricht einem Literaturverständnis, für das die Orientierung an kanonischen Vorbildern, Mustern und Regelwerken überholt erscheint. An keine Vorgaben gebunden zu sein, nicht beim Schreiben literarischer Texte, aber auch nicht, wenn es darum geht, grundlegende poetologische Fragen zu erörtern, ist eine Chance zur individuellen Profilierung, aber auch eine erhebliche Herausforderung. In den Einpersonenstücken der Vortragsreihen bieten sich weite Spielräume zur Selbstinszenierung, die allerdings durchaus auch das Sprechen über andere und das Zitieren fremder Stimmen zulässt. https://doi.org/10.1515/9783110647884-024

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Der insgesamt autorenzentrierten Grundausrichtung von Poetikdozenturen gegenüber stehen andere Tendenzen: Die seit den 1960er Jahren wachsende Sensibilität für die intertextuelle Prägung literarischer Werke lenkt ein theoretisch ausführlich erörtertes Interesse auf die ‚Hypotexte‘ der Werke, also auf die Texte anderer, insofern diese in ihnen ‚präsent‘ sind, sowie auf die ‚Architexte‘, denen sie durch Formen und Konventionen verpflichtet sind (Genette 1982). Radikalere Intertextualitätskonzepte, verbunden mit einer fundamentalen Kritik des AutorKonzepts, legen es dann sogar nahe, Texte vorrangig als Echos anderer Texte zu betrachten, und zwar unabhängig von bewusstem Kalkül des Schreibenden. Eine besondere Akzentuierung findet die Vorstellung unausweichlicher Prägung literarischen Schreibens durch Vorgängertexte im Zeichen der gelegentlich beschworenen „Einflussangst“ (Bloom 1973), also des unbehaglichen Gefühls, die Größen der Literatur nicht einholen, geschweige denn überbieten zu können. Die Überzeugung, unausweichlich stets nachzuahmen und zu zitieren, kann neben Beklemmungen aber auch kreative Impulse auslösen, Spielfreude angesichts des reichen Text-Materials, auf das rekurriert werden kann. In Poetikvorlesungen profilieren sich Verweise auf andere Autoren und Werke vor diesem spannungsvollen diskursiven Hintergrund und implizieren unterschiedliche literatur- und texttheoretische Grundannahmen. Nicht zuletzt erscheint der akademische Rahmen, innerhalb dessen Poetikvorlesungen stattfinden, als maßgeblicher Faktor für die Umgangsweisen der Vortragenden mit den Namen und Werken anderer, mit der Literaturgeschichte und ihren Zeugnissen. Erkennbar ist in vielen Fällen eine Neigung, dem Publikum durch Referenz auf angenommene literaturgeschichtlich-poetologische Interessen entgegenzukommen, durch Rekurs auf gemeinsame Wissensbestände die Kommunikation zu erleichtern, sich in einem disziplinär kartierten Gelände literarischer Gegenstände zu verorten, professionell oder doch im Rekurs auf professionelle Darstellungsmodi. Schon Ingeborg Bachmanns Frankfurter Pionier-Vorlesung von 1959/1960 nennt zur Explikation ihrer Poetik Autoren, die dem Publikum geläufig sind. Ausführlich kommentiert wird in Vorlesung 1 über die Fragwürdigkeit dichterischen Sprechens etwa Hofmannthals Chandosbrief; weitere Hinweise gelten Rilke, Benn, Thomas Mann, Broch und anderen Vertretern der Moderne. Vorlesung 2, die der Lyrik gilt, nennt einen internationalen DichterKreis (Eliot, Auden, Dylan Thomas, Apollinaire, Eluard, Aragon, Ungaretti, Günter Eich und die Futuristen, Karl Kraus und Hans Magnus Enzensberger). Vorlesung 3 über „Das schreibende Ich“ verweist auf Céline, Joyce, Svevo und Proust, schließlich auf Beckett; Vorlesung 4 über den „Umgang mit Namen“ u. a. auf Kafka und Joyce; Vorlesung 5 über „Literatur als Utopie“ fokussiert Flauberts Bouvard et Pécuchet. Kurz: ein Schnelldurchgang durch die literarische Moderne und viele ihrer Hauptwerke wird geboten, der auf entsprechendes Vorwissen setzt.

3.5 Intertextuelle Argumente

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Andere sind ihr darin gefolgt; die dominante Adressierung eines literaturhistorisch kompetenten Publikums liegt beim Veranstaltungstypus Poetikvorlesung ja auch nahe. Die folgenden Beispiele rücken solche Vorlesungen in den Blick, bei denen der Bezug zu den literarischen Werken anderer für die je persönliche Argumentation zentrale Bedeutung besitzt, über die Skizzierung von Strömungen und Tendenzen hinausgeht und für die Entwicklung eigener Positionen unabdingbar erscheint. Als Eckpunkte des Spektrums an Verfahrensweisen, die diesem Kriterium schon nicht mehr unterliegen, sei mit Karl Krolow zunächst ein Autor vorgestellt, der sich auf die Ausführungen anderer inhaltlich so stark konzentriert, dass die Formulierung eigener Positionen allenfalls mittelbar erfolgt – und später dann mit Thomas Meinecke ein Poetikdozent, der vorgefundene Texte demonstrativ kompilatorisch behandelt.

1 Karl Krolow Karl Krolow etwa widmet 1960/1961 seine Frankfurter Poetikvorlesungen den „Fragen zeitgenössischer Dichtung“ (Krolow 1961) und versteht seine Vorträge als Vermittlung aktuellen Literaturwissens, nicht primär als Darlegung der eigenen Poetik, also auch nicht als Kommentierung der eigenen Werke und als Abriss der eigenen Autorenbiographie. Für die durch die Zeitnähe zum Gegenstand bedingte Perspektivik der Ausführungen entschuldigt er sich sogar, da er ja als eigene Aufgabe die Erschließung von Zugängen zu ganzen literarischen Strömungen begreift: „Vorlesungen solcher Art sind aus dem erfüllten Augenblick heraus gesprochen und gemeint. Sie wollen Unmittelbarkeit der Reaktionen zeigen und geben Stichworte für die Beschäftigung mit einer sensiblen Materie, die zu ordnen erst dann möglich sein wird, wenn die verwirrende Nähe gegenüber dem Stoff aus der Entfernung entsprechend ruhigerer Betrachtung gewichen ist“ (Krolow 1961, 6). Trotz des Verzichts darauf, dezidiert eigene Vorbilder, persönliche intertextuelle Prägungen oder auch Einflussängste zu erörtern, lassen sich aber aus den einzelnen Vortragsthemen Krolows und aus dem Gestus, mit dem er über die Texte anderer schreibt, Rückschlüsse auf sein eigenes Selbstverständnis als Dichter ziehen. So behandelt er anschließend an die Vorlesungen über das zeitgenössische Gedicht, über Natur- und über Liebeslyrik in je eigenen Vorlesungen „Das politische als das öffentliche Gedicht“ (Krolow 1961, Kap. 4), „Das Gedicht als Spiel“ (Kap. 5) und „Verstummen, Schweigen und Leere im zeitgenössischen deutschen Gedicht“ (Kap. 6).

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2 Christa Wolf Christa Wolfs Frankfurter Poetikvorlesung von 1982 („Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra“; Wolf 1984) bietet ein Gegenmodell dazu, gilt sie doch vor allem der Genese eines eigenen Textes, der Erzählung Kassandra. Das Titelwort „Voraussetzungen“ verweist dabei allerdings nicht nur auf persönlich-biographische Schreibmotive und Arbeitsprozesse, sondern auch auf die Geschichte der Figur Kassandra, über die Wolf schreibt. Die Seherin Kassandra ist eine aus der griechisch-mythischen Überlieferung stammende Figur, die in der Literaturgeschichte schon vorher mehrfach dargestellt wurde, sodass Wolfs Schreiben sich unausweichlich innerhalb dieses Bezugsrahmens, dieser „Voraussetzungen“, situiert, auch wenn es ihr primär um eine Neuinterpretation der Seherin aus den Wissens- und Problemhorizonten der eigenen Zeit heraus geht. Entsprechend ihrem Willen zum Neuansatz betont Wolf einleitend, sie habe keine Poetik zu bieten und auch nie das Bedürfnis verspürt, einem literarischen Vorbild nachzueifern. Und doch folgt ihre Poetikvorlesung zugleich mit der Spur Kassandras auch der von antiken Texten. Wolf liest auf der Griechenlandreise, von der sie erzählt, die Orestie des Aischylos, aus der in der Poetikvorlesung wiederholt zitiert wird, um der Figur Kassandra näher zu kommen; auch Homers Ilias wird als Bezugstext genutzt und genannt.Vor allem Aischylos’ Text stellt ihr nach eigenem Bericht die gesuchte Figur wie lebendig vor Augen, sodass sie in deren Bann gerät (Wolf 1984, 10). Kassandra, so wird suggeriert, spricht selbst durch den zitierten antiken Rollentext; Wolf, so die weitere Suggestion, hört der Seherin zu, die mehr weiß als andere. Dabei wird allerdings zwischen der Botschaft Kassandras und möglichen Intentionen des antiken Autors explizit unterschieden: „Undistanziert, nach dem Grund von Ergriffenheit nicht fragend, fragte ich auch nicht, was die Absicht des Aischylos mit dieser Figur gewesen sein mochte“ (Wolf 1984, 10). Ein prägendes, dabei genuin literarisches Stilmittel Wolfs bei der Auseinandersetzung mit der Seherin ist es, diese wie ein reales Subjekt des Handelns und Sprechens zu betrachten, sich hypothetisch in ihre Psyche zu versetzen, ihre imaginäre Präsenz bei der Lektüre durch Zitate in der Vorlesung zu re-inszenieren. Die Idee, Vergangenes zu evozieren, seine unterschwellige Präsenz zu demonstrieren, steht im Zentrum der Wolfschen Poetik und bestimmt ihre Vorlesungen: Figuren wie Kassandra haben eine eigene Gegenwart. Die auktorial-gestalterische Arbeit, die in die Darstellung einer Figur einfließt (und die Wolf selbst ja durch ihre Vorlesungen nachdrücklich demonstriert und expliziert), wird bezogen auf literarische Vorläufer noch am ehesten anlässlich von Schillers Kassandra thematisiert, deren „kaum übertreffbare Biederkeit“ Wolf kritisiert (Wolf 1984, 141).

3.5 Intertextuelle Argumente

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3 Christoph Meckel Christoph Meckels Frankfurter Vorlesungen Von den Luftgeschäften der Poesie, 1988/1989, basiert auf der einfallsreich ausgesponnenen Grundidee eines wiederholten Zusammentreffens mit einem literarischen Vorläufer, dem Dichter Cecco d’Angiolieri, einem „Antiklassiker“, „Antipode[n] und Feindfreund des Dante Alighieri“ (Meckel 1989, 13). Meckel hat Angiolieris Gedichte selbst übersetzt (nach einer Ausgabe der Rime von 1979; Meckel 1989, 15) und flicht sie in seine Vorlesungen ein; der andere bekommt wie ein lebendiges Gegenüber das Wort erteilt, nimmt es sich manchmal, wie es scheint, auch selbst. In der Folge von „Nächten“, als welche die fünf Vorlesungen tituliert sind, erscheint Meckel der Kollege aus der Frührenaissance zunehmend vertrauter, ja als ein alter ego seiner selbst – unbeschadet der realen historischen Biographie Angiolieris. („Ich habe mir seine Verse zu eigen gemacht, sein Leben und seine Biographie, die wenigen Daten und die Kommentare“; Meckel 1989, 13). So wie die Grenze zwischen Erfahrung und Imagination, zwischen Gegenwart und Damals, verwischt erscheint, so auch die Grenze zwischen eigener Stimme und der des Anderen. Der Zeitgenosse liest und zitiert Texte seines Vorfahren – und schreibt selbst neue in dessen Namen. Angiolieri, der nur Sonette hinterlassen hat, repräsentiert einen Dichtertypus, in dem sich Meckel selbst wiedererkennt, den er auch in anderen historischen Poeten verkörpert sieht und in einzelnen selbsterschaffenen Dichterfiguren porträtiert: den Wort-Künstler, den antibürgerlichen Artisten poetischer „Luftgeschäfte“, den frühen „poète maudit“ (Meckel 1989, 14), der angesichts der Bodenlosigkeit seiner Existenz allein in der Sprache zuhause ist – in einem Raum, in dem geläufige Grenzziehungen nicht gelten. War Dante „Verfasser eines Weltgedichts“, so ist Cecco „Verfasser eines Ichgedichts“ (Meckel 1989, 80); dies vor allem macht seine Anschlussfähigkeit für den modernen Lyriker aus. Cecco hat sich selbst dichtend in eine Kunstfigur verwandelt („Die Kunstfigur geht aus der Person hervor, ihr Dasein verschwindet in Dasein und Wortlaut der Verse“; Meckel 1989, 81), und indem Meckel schreibend diese literarische Transformation einer realen Person fortsetzt, kann er deren Lebensgeschichte weitererzählen, als Ceccos Sprachrohr. Konsequent performiert Meckel seine Identifikation mit dem Vorläufer durch rhetorische Mittel. Dass er seine Vorlesung zu weiten Teilen als Schilderung imaginärer Begegnungen und Dialoge mit diesem anlegt, ist also mehr als nur eine Hommage an den hinter dem großen Zeitgenossen Dante nahezu verschwundenen Sonettdichter aus Siena; gerade in diesem findet Meckel das literarische Sprachrohr der Poetik, die er selbst vertritt, dabei aber nicht theoretisch explizieren, sondern in poetisch-literarischer Form vermitteln will („Was zur Literatur geäußert wird, kann wieder nur Bestandteil von Literatur

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sein“; Meckel 1989, 24). Einen anderen Dichter zur literarischen Kunstfigur werden zu lassen, sie beschreibend zu evozieren, sie auftreten und selbst reden zu lassen, all dies wie vor den Augen des Publikums: Meckels Umgang mit seiner Bezugsfigur nutzt die Möglichkeit einer solchen Anknüpfung an Vorgänger besonders konsequent. Modelliert wird so eine Lyrik, die das Echo anderer Lyrik ist, dadurch aber nicht fremdbestimmt, sondern auf besondere Weise bei sich, schon weil sich der Typus des Dichter-Artisten ebenfalls wiederholt und einer das Echo des anderen ist.

4 Peter Härtling Peter Härtling stellt seine Frankfurter Poetikvorlesungen von 1983/1984 unter den Titel „Der spanische Soldat oder Finden und Erfinden“ (Härtling 1984). Als Vorbild würdigt Härtling Theodor Fontane. Dieser sei „aufs Finden aus“ gewesen, und Härtling legt dar, wie Fontane „Anekdoten aufriß und umwandelte, wie durchtrieben er das Terrain zwischen Wirklichkeit und Phantasie nutzte“ (Härtling 1984, 8). Hieran orientiere er sich für das eigene Schreiben: „[…] ich will nicht erfinden, was sich finden läßt“ (Härtling 1984, 21). Ein solches Fundstück ist die Figur des spanischen Soldaten, der von Robert Capa im Moment seines Todes fotografiert wurde; ausgehend von einem realen Moment soll Imagination sich entfalten, gebunden an einen faktischen Kern. Die auf Härtlings Recherchen beruhende Doppelerzählung über den Weg des Fotografen Capa und den des spanischen Soldaten bildet den Abschluss der Vorlesungen. Mit seinen 1994 im Salzburger Mozarteum gehaltenen Poetikvorlesungen „Das wandernde Wasser: Musik und Poesie der Romantik“ wendet sich Härtling in die Romantik zurück. Seine hier entwickelte Poetik orientiert sich an musikalischen und poetischen Werken über Wasserwelten und Wasserwesen; der Text der Vorlesungen ist der Idee eines ‚Flusses‘ verbunden, der Komponisten mit ihren Hörern, Dichter mit ihren Lesern, Dichter und Komponisten verbindet – und der auch Textform und Schreibstil der Vorlesungen bestimmt. Kierkegaards Bemerkung, „Wiederholung und Erinnerung“ seien „dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung“, sein Konzept des Erinnerns „nach vorwärts“, steht programmatisch über einer Poetik, die sich der Tradition in diesem Sinn verbunden weiß (Härtling 1994, 14). Im Zeichen der Frage nach einer „verbindenden und verbündenden Ästhetik“ (Härtling 1994, 10) der Literatur und der Musik steht die erste Vorlesung, „Melusine“, wo zugleich mit dem Vorstellungsbild des „wandernden Wassers“ die Melusine als ein „Zwischenwesen“ herbeizitiert wird, deren aus Legenden stammende „wechselhafte[…] Gestalt“ musikalische, literarische und musiktheatrale Werke über Jahrhunderte hinweg inspiriert hat (Härt-

3.5 Intertextuelle Argumente

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ling 1994, 15). Der meist mit Wasser konnotierte weibliche Elementargeist repräsentiert nicht nur eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch zwischen Musik und Literatur. Härtling revoziert die Wasserfrau durch Nacherzählung deutscher, französischer und böhmischer Texte über Melusine, Malesina, Undine, Rusalka, die schöne Lau, erinnert an literarische und musikalische Gestaltungen der Figur bei Grillparzer, Dvorak, Fontane, Yvan Goll, Aribert Reimann und anderen, zitiert die Stimmen, die andere der Wasserfrau gegeben haben. Als Zeuge für „Undines immerwährende Wiederkehr“ (Härtling 1994, 2. Vorlesung, 31– 57) kommt vor allem Fouqué ausführlich zu Wort; seine Akzentuierung der Fremdheit Undines gibt das Stichwort für den Rekurs auf Wilhelm Müller und Schubert (Härtling 1994, 38) und auf Hoffmanns Zauberoper Undine (41), auf die Undine Lortzings (51), auf das Schauspiel Ondine von Giraudoux (54), schließlich auf Ingeborg Bachmanns Undinenfigur (56). Wird die 3. Vorlesung („Wassermusik“) als ein „biedermeierliches Intermezzo“ angekündigt, das sich Mörikes Schöne[r] Lau widmet, so verdeutlicht dies die Orientierung des poetologischen Diskurses selbst am Modell einer musikalischen Komposition, deren dominantes Formprinzip das der Variation über ein Thema ist: über Wasser, Fluss und Wanderung. Die beiden folgenden Vorlesungen, unter dem gemeinsamen Titel Das wandernde Wasser, gelten Wilhelm Müller und betonen (nicht zuletzt durch ausführliche Fremdzitate über das Wasser aus Sachtexten und Gedichten) die eigene Einbindung in einen die Jahrhunderte übergreifenden Schreib-Fluss. Müller, so die letzte Vorlesung („Das Verschwinden des wandernden Wassers/Coda“; Härtling 1994, 109 – 121), erscheint als Repräsentant einer durch Fremdheitserfahrungen geprägten Moderne. Härtlings Kommentare zu Müllers Gedichten gelten vor allem dem Austausch zwischen dem Wanderer und dem ihn begleitenden Bach, ihrer Kommunikation, bei welcher der Bach mitspricht, als Ratgeber, aber auch fremd, abgründig. Im Bild dieses Miteinanders spiegelt sich die Beziehung des Gegenwartsdichters zu seinem Vor-Wanderer, den ein flüssiger Strom aus fremden Worten begleitet – ein Fluss, der ihn leitet und zugleich irritiert. In Härtlings Schreib- und Zitierstil manifestiert sich seine Poetik des Flusses zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

5 Rolf Hochhuth Rolf Hochhuth spricht als Poetikdozent in Frankfurt 1996 über „Politik in der Literatur“ publiziert als Die Geburt der Tragödie aus dem Krieg (Hochhuth 2001). Der thematische Schwerpunkt dieser zu einer umfangreichen Buchfassung ausgearbeiteten Vorlesungen liegt auf der Beziehung von Literatur und Politik, auf dem Bestimmtsein des Literarischen durch Politik, aber auch auf der Möglichkeit

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zu deren kritischer Reflexion, ja zum „Widerstand gegen herrschende Tendenzen und Personen“ (Hochhuth 2001, 55) – was aber für Hochhuth ein Wissen der Literatur um die eigene Einbindung in politische Wirkungszusammenhänge voraussetzt. In der Formel von der „Geburt der Tragödie aus dem Krieg“, einem modifizierten Nietzsche-Zitat (Hochhuth 2001, 12), einer Variation auch über Piscators Notiz über die „Geburt des Dramas aus der Politik“ (Hochhuth 2001, 49), artikuliert sich pointiert Hochhuths Einspruch gegen autonomieästhetische Positionen. Zur Plausibilisierung seiner Kernthese von der politischen Dimension der Literatur greift er bis auf die Anfänge der abendländischen Literatur zurück, auf die griechischen Dionysien, die frühen Tragödien und deren legitimatorische Funktion im Kampf um konkrete Machtverhältnisse. Der Krieg wird zum „Ursprung“ des Dramas in doppeltem Sinn: Man verfasst Dramen, um Konfliktsituationen für die eigene Seite zu entscheiden, und man stellt Kriege dar. Kriege sind auch „Initialzünder für das Epos“ (Hochhuth 2001, 16), sie lösen die „homerischen Epen“ (15) ebenso aus wie die „ersten Dramen“ bei Aischylos und seinem Vorgänger Phrynichos (16), wobei die literarische Darstellung von Konflikten und Gewalt oft weitere Konflikte, weitere Gewalt nach sich zieht, Dramen daher verboten werden, unangenehme Wahrheiten der Zensur verfallen (Hochhuth 2001, 17). Hochhuth, der allen fünf Teilen seines Buchs jeweils eine Serie von Fremdzitaten voranstellt, die das jeweilige Thema umreißen, entwickelt seine Kernthese im Durchgang durch die Literaturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, zu der auch sein eigenes Wirken als politischer Autor und Theatermacher gehört. Die Geschichte des Zusammenspiels von Literatur und Politik verläuft für ihn in Kreisen, die sich um konstante Zentren bilden; es geht also dezidiert nicht um die Suggestion literaturgeschichtlicher Fortschritte, nicht um historische Differenzen, sondern um die Repetition von Grundmustern. Wenig interessiert an konventionellen Epochen- und Gattungskonzepten, kommentiert Hochhuth von den ersten Vorlesungen an belesen und mittels vieler Zitate und Paraphasen die politische Dimension zahlreicher literarischer Texte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Er berücksichtigt zunächst vor allem dramatische, darunter Lessings Schauspiele, Goethes Clavigo, Schillers Dramen, Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit. Sein großangelegtes, materialreiches, eloquent präsentiertes Panorama der ersten beiden Vorlesungen ließe sich als Basis für eine Geschichte der modernen dramatischen Literatur nutzen, möchte eine solche aber nicht sein. Um andere Textsorten – „Memoiren, Tagebücher, Briefe“ – geht es ähnlich materialreich und beispielorientiert in den Vorlesungen III und IV; das Schreiben über sich selbst und das eigene Leben erscheint dabei als facettenreich genutzter Anlass der Darstellung gesellschaftlicher Machtstrukturen und politischer Kräfteverhältnisse. In der fünften Vorlesung schließlich bekräftigt

3.5 Intertextuelle Argumente

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Hochhuth die These vom inneren Bedingungs- und Wirkungszusammenhang zwischen Krieg und Literatur – um den eigenen Text nachdrücklicher als zuvor als Polemik (und damit als eine Art performative Bekräftigung der Leitthese) zu gestalten: Nachdrücklicher Widerspruch gilt dem Kritiker Reich-Ranicki als einem „Falschmünzer“, der in literaturhistorischen Darstellungen Zusammenhänge entstelle, um seine im Kern autonomieästhetische Position zu verteidigen – und sie gegenüber den Intentionen (und Qualitäten) solcher Autoren stark zu machen, die sich als politische Autoren, ihre Werke als Beitrag zu politischen Diskussionen verstehen und die (wie Hochhuth selbst) an anderen Autoren deren politische Orientierung würdigen. Hochhuths eloquente Kritik am nicht minder eloquenten „Professor Reich-Ranicki“ und dessen „Ablehnung der Politik schlechthin in der Literatur“ (Hochhuth 2001, 259) steht im Zeichen einer mehrschichtigen Referenz auf andere: Sie bezieht polemisch Position gegen einen (mehrfach zitierten, ausführlich kommentierten) Kontrahenten, und dies im Namen einer Autorengemeinschaft, deren politisch-zeitkritische Intentionen es für Hochhuth zu erkennen und zu respektieren gilt – vom 20. Jahrhundert (mit den Brüdern Thomas und Heinrich Mann) zurück bis zur Antike.

6 Hugh Kenner Hugh Kenners Poetikvorlesungen (The Elsewhere Community, im Rahmen der CBC Massey Lectures, Toronto 1997; Kenner 1998) gelten sehr konsequent der Darstellung des eigenen Wegs zur Literatur, als Leser und Interpret wie als Autor. Auf diesem Weg haben verschiedene Mentorenfiguren eine wichtige Rolle gespielt, denen er persönlich begegnete. Das, was andere Dichter dem angehenden Dichter Kenner vermittelten, unter welchen Rahmenbedingungen und wie, bestimmt Inhalt und Verlauf der Vorlesungsreihe. Leitend ist die Vorstellung einer inoffiziellen, aber wirkmächtigen Gemeinschaft der Dichter und poetisch kompetenten Leser, die sich von der übrigen Gesellschaft abhebt – einer Gemeinschaft, deren Ort ein ‚anderer‘ ist, einer „Elsewhere Community“. Deren Geschichte beginnt für Kenner im Umfeld der romantischen Dichter. Vorlesung I „Reflections in the Grand Tour“ legt mit ihren kulturhistorischen und autobiographischen Bemerkungen zur Institution der Bildungsreise junger Dichter die Basis für Thematisierungen des bildenden Einflusses anderer. Ein Repräsentant der von großen Dichtern lernenden jungen Adepten ist hier Paddy Cavanagh, der lernbegierig aus der Provinz zu seinem Vorbild George William Russell („Æ“) aufbrach und später selbst für Seamus Heaney zum Impulsgeber wurde (Kenner 1998, 9). Kenners eigenes Vorbild war Samuel Beckett, den er ausführlich würdigt. Im Hin und Her zwischen Namen und Gedichtzitaten ver-

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schiedener Autoren (darunter Milton, Wordsworth, Henry James) wird die Idee eines die Jahrhunderte überspannenden Netzwerks auch durch den Textduktus nachvollzogen. Kapitel II „Portrait of a Mentor“ gilt der auf die späten 1940er Jahre zurückdatierenden Freundschaft mit Marshall McLuhan, der zum wichtigsten Mentor Kenners wurde, unter anderem, indem er ihn mit Literaturkritikern (wie Cleanth Brooks) und Dichtern bekannt machte. Unter den Dichtern, die Kenner durch McLuhans Vermittlung nachhaltig beeindruckten und seine Arbeit wie sein Verständnis moderner Literatur prägten, ragt Ezra Pound heraus; auch er wird zum persönlichen Mentor (Kenner 1998, 40). Werk und Biographie Pounds finden sich bei Kenner mit einer Ausführlichkeit dargestellt, die seiner Poetik des ‚Mentorats‘ durch Mitglieder der „Elsewhere Community“ entspricht. Von Pound, der einer ganzen Reihe junger Dichter zum Vorbild wurde und das Studium bei persönlichen Vorbildern selbst explizit propagierte (Kenner 1998, 45), führt ein Weg zu dessen eigenem Mentor,W.B.Yeats (Kenner 1998, 43). Kapitel III „And I See for myself“ gilt konsequent der Spurensuche Kenners nach dem bereits verstorbenen Yeats, aber auch weiteren Kontextaufnahmen zu Mitgliedern der „Elsewhere Community“, etwa zu Charles Tomlinson und zu Wyndham Lewis in London, schließlich auch zu T. S. Eliot und zu William Carlos Williams, dem großen USamerikanischen Modernisten. Das Kapitel schildert all diese Begegnungen und Besuche episodisch, in seiner Nichtlinearität wie planlos, tatsächlich aber in Entsprechung zur Netzstruktur der imaginierten Community. In „The Quest for the Past“ (Kap. IV) erweitert sich der Blick hin auf umfassende kulturelle Erbschaften und deren Bedeutung für die moderne Literatur, als deren Sinnbild die Reise erscheint; der Bogen spannt sich von Homers Epen zu Joyces Ulysses, von Odysseus aber auch zur Divina Commedia und zurück zu mittelalterlichen angelsächsischen Seefahrerpoemen. Gerade in Dichtern wie Joyce und Pound personifiziert sich für Kenner ein poetisches Prinzip: das ständige Unterwegssein, die permanente Suchbewegung über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg (Kenner 1998, 84). Vorlesung V „And Now, the Invisible Tourist“ bekräftigt zusammenfassend Kenners emphatisch positive Würdigung von ‚Einflüssen‘ und Vorbildern. Um die Existenz einer „Elsewhere Community“ zu wissen oder sie doch zu ahnen heißt vor allem eines: zu wissen, dass man nicht allein ist (Kenner 1989, 86). „This Elsewhere combines both virtual and actual presences: all the sorts of things that have populated these talks. They include physical journeys to an Elsewhere in which, like Grand Tour denizens flocking to Rome, we can imaginatively join communities of the past, and notably a past in which we can say our present culture has its roots. And they include great thinkers and artists of our own time, who irresistibly draw us into their communities […]“ (Kenner 1998, 105).

3.5 Intertextuelle Argumente

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7 Durs Grünbein Durs Grünbein spricht in seiner Frankfurter Poetikvorlesung 2009 Vom Stellenwert der Worte. „Es gibt keine literarischen Manifeste mehr“ (Grünbein 2010, 7): Mit dieser These beginnt die erste Vorlesung, „Jenseits der Avantgarden“; gemeint sind „Manifeste im Namen der Dichtkunst“ (Grünbein 2010, 9). Anders als in den letzten 150 Jahren, so Grünbein, in denen Manifeste über Dichtung „unter den Bedingungen der Moderne“ die Funktion einer „Poetik“ (gemeint ist hier offenbar eine normierende Poetik) einnahmen und in unterschiedlichen Formen und Medialitäten zirkulierten (Grünbein 2010, 9). Die in solchen Manifesten artikulierte Aufbruchsstimmung der Moderne habe insbesondere dem Gedicht und dessen neuen Spielformen gegolten, sei unterdessen jedoch versiegt. Die Konsequenz daraus zieht Grünbein mit der Form seines Sprechens über Dichtung: An die Stelle der Bekräftigung modernistischer Manifeste tritt der dezidiert individuelle Bericht über eine (die eigene) Lese- und Schreibbiographie, und dies in einer sich nicht als definitiv verstehenden Form (Vorlesung 1: „Jenseits der Avantgarden“; Grünbein 2010, 7– 14). Vorlesung 2 bietet laut Titel die „Skizze zu einer persönlichen Psychopoetik“ (Grünbein 2010, 15 – 51). Und selbst hier fallen erst verzögert Namen von Autoren, deren Lektüre innerhalb des LeserSelbstporträts eine Rolle spielen; der erste Klang, der den angehenden Lyriker initiiert und auf den er mit einem frühen Gedicht reagiert, sind hingegen die Flügelgeräusche einer Taube (und nicht etwa die Worte eines impulsgebenden Poeten). Vollzieht sich mit den ersten eigenen Schreibversuchen der Eintritt „in den weltweiten Luftraum der Menschheitsdichtung“ (Grünbein 2010, 17), so fallen im Folgenden zu dessen Beschreibung auch die Namen anderer, die gleichfalls in diesem Luftraum unterwegs sind. Genannt werden Strömungen wie die SamizdatDichter, aber auch Einzelne, die vor dem Hintergrund der lyrischen Tradition und ihrer Formensprache eigene Wege suchten, darunter Rimbaud und Auden. Das ihm empfohlene „zentrale Poetenseminar“ der FDJ lehnt der angehende junge Dichter ab, das Mentorat des ihn gründlich lektorierenden Heiner Müllers hingegen hilft ihm weiter (Grünbein 2010, 21). Rückblickend auf frühe Versuche, Basis und Ansatzpunkt für das eigene Schreiben zu finden, betrachtet Grünbein „Rezepturen und Regeln“ als verderblich; „jeder Versuch einer Poetik für den praktizierenden Autor“ als „ein gefährliches Unternehmen“ (Grünbein 2010, 26). Allenfalls lasse sich sagen, „wer aus dem Riesenheer der toten Schriftsteller es war, der ihn als erster beiseite nahm mit seinen Büchern“, auch wenn dies „heute keine Rolle mehr spielen [mag]“ (Grünbein 2010, 26). Grünbeins Leserbiographie beginnt mit den Epikern: mit früh gelesenen antiken Epen sowie den „Großromanciers der Weltliteratur“, die ihm

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„zur Phantasiebildung […] nützlich wurden“, darunter vor allem die „Außenseiter“ (Grünbein 2010, 26). „Meister der Kunstprosa“ wie Bruno Schulz, Carlo Emilio Gadda und Isaac Babel vermitteln ein erstes Gefühl für das „Abenteuerliche“ der literarischen Arbeit; erst dann erfolgt die Hinwendung zur Lyrik, die ihn dauerhaft prägt (Grünbein 2010, 27). Romantische und moderne Lyriker, Expressionisten, Symbolisten, verschiedenste Wort- und Klangzauberer werden zu Liebesobjekten und Rauschmitteln, verursachen faszinierenden Schwindel und lehren das „stereometrische“ Lesen (Grünbein 2010, 29). Insgesamt bezieht Grünbein zur Idee starker Prägungen durch Vorbilder eine ablehnende Position: „[…] man übernimmt nichts direkt von anderen. Das poetische Handwerk ist kein Import-Export-Handel.“ (2010, 32). Zwar nehme man das, was einem an anderen Dichtern „wertvoll“ erscheine, „mit auf die eigene Reise“, lasse sich von diesen bei analoger „Einstellung zur Sache“ vielleicht „ein Leben lang begleiten“, doch gerade bei jungen Dichtern sei jene Sache noch „im Werden“ und daher von der Einengung durch Fremdeinflüsse bedroht („wahrscheinlich besteht darin jene latente Gefahr, die ein amerikanischer Literaturprofessor mit der Formel von der ‚Einfluß-Angst‘ dramatisierend umschrieb“; Grünbein 2010, 32). An große Autoren wie Marcel Proust und Seamus Heaney wird gleichwohl erinnert, um die eigene Arbeit zu explizieren – in der Überzeugung von einer inneren Konvergenz der Haltungen und Interessen, jenseits bewusster Wahl von Vorbildern und Mustern. „Vorbei sind die Zeiten, da Poetik noch Regelwerk hieß und die Dichtung überschaubar in Gattungen aufgeteilt stand.“ Heute schreibe „jeder Autor an seiner eigenen, nur für ihn selbst gültigen Poetik“, wenn auch meist nicht explizit (Grünbein 2010, 50). Im Extremfall, eine gewisse Qualität vorausgesetzt, gibt es am Ende so viele Poetiken, wie es Autoren mit überzeugender Formfindung gibt.“ Und daher werde jemand, der „schließlich eine Poetik“ habe, diese „hüten wie die Kochrezepte der Großmutter“ (Grünbein 2010, 51). Nur einige Thesen zur Dichtung werden „in den Raum gestellt“, „aus den Tiefen verschiedener Notizbücher gefischt“, eigener Aufzeichnungen (Grünbein 2010, 51), die als Vorlesung 3 („Vom Stellenwert der Worte“; Grünbein 2010, 52– 59) den Zyklus abrunden.

8 Yōko Tawada Schon Yōko Tawadas Tübinger Poetikvorlesung („Verwandlungen“ 1997/1998; Tawada 1998) stehen im Zeichen der Themen und Schreibweisen, die auch ihr literarisches Œuvre charakterisieren; eine klare Abgrenzung gibt es hier nicht. Insbesondere die Gegenüberstellung des japanischen und des westlichen Kulturund Sprachraums, die aus deren Differenzen resultierenden Irritationen und

3.5 Intertextuelle Argumente

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produktiven Impulse wegen explizit erörtert; letztere werden dabei zugleich durch die Darstellung selbst sinnfällig. Tawadas besonderes Interesse gilt Wörtern und Grammatiken, Schriftzeichen und Schriftsystemen, deren Materialität und Sinnlichkeit; ein damit verbundenes weiteres Kernthema sind Versuche, Texte und andere Zeichenkomplexe zu interpretieren, produktive, dabei aber unabschließbare Versuche. Die Hamburger Gastprofessur für Interkulturelle Poetik 2011, unter das Leitwort „Hamburg: Mein Hafen der Literatur“ gestellt und unter dem Titel Fremde Wasser publiziert (Tübingen 2012), ist von vornherein darauf angelegt, über Wasserwelten und Wasserwege zu sprechen, erhält unter dem Eindruck der Tsunamikatastrophe von Fukushima dann aber innerhalb dieses Rahmens eine besondere Akzentuierung. Politische und ökologische Themen werden immer wieder berührt. Der Themenkreis um Sprache, Wörter und Zeichen bildet eine Brücke zwischen kulturtheoretischen und historischen Erörterungen einerseits, poetologisch-sprachreflexiven Bemerkungen andererseits, zwischen einer an selbsterlebte Szenen anknüpfenden Weltbeobachtung und der Beschäftigung mit dem eigenen Leben als Schriftstellerin. In einem den eigentlichen Poetikvorlesungen in der Buchausgabe vorangestellten Gespräch mit Ortrud Gutjahr beschreibt Tawada ihre frühen Leseerfahrungen, zu denen neben japanischen Autoren auch die Russen Dostojewski und Tschechow gehörten (Ortjahr 2012, 24– 25). Das Erlernen des Russischen, später auch des Deutschen und anderer westlicher Sprachen wirkte sich über die Registrierung sprachlicher Differenzen produktiv auf Tawadas Schreiben aus. Wichtige Impulse ergaben sich auch aus dem bei Sigrid Weigel absolvierten Studium, das Tawada mit Texten von Roland Barthes, Julia Kristeva, Edward Said und Tzvetan Todorov in Berührung brachte und das in ihre Dissertation mündete, die unter anderem Walter Benjamin verpflichtet ist. Deuten Tawadas Ausführungen auch zunächst darauf hin, dass kulturtheoretische Werke, historische Schriften über die Kulturkontakte zwischen Asien und Europa sowie Sprachlehrbücher deutlicher auf ihre Arbeit gewirkt haben als literarische Autoren westlicher oder auch japanischer Provenienz, so geben die Ausführungen der dritten Vorlesung „Urage – Die schwarzen Schiffe der Moderne“ doch Hinweise auf eine literarische Traditionslinie, in der die Autorin sich verortet. Angeregt durch eine Veranstaltung über das Theaterstück Die Judith von Shimoda von Bertolt Brecht, geht sie dessen Entstehungsgeschichte nach und umreißt den verarbeiteten historischen Stoff, der im mittleren 19. Jahrhundert spielt: die Beziehung des erkrankten amerikanischen Konsuls Harris zu der widerwillig und unter politischem Zwang seine Pflege übernehmenden Japanerin Okichi. Harris’ Vertrauen gewinnend, trägt Okichi indirekt zur Milderung der Konflikte zwischen den Japanern und den mit Misstrauen betrachteten Ameri-

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kanern bei. Okichis Geschichte, die bereits den Stoff zu einem Theaterstück Yamamoto Yuzos abgab und ins Englische übersetzt wurde, bietet die Basis für Brechts Bearbeitung des Stoffs; als Mittler fungieren der englische Übersetzer Glenn W. Shaw und die estnisch-finnische Autorin Hella Wuolijoki, die das Stück zwar nicht selbst inszenieren konnte, Brecht aber darauf aufmerksam machte. Tawada kommentiert die verschiedenen Gestaltungsformen der Figuren, insbesondere die Verwandlungen der Okichi-Figur, und arbeitet Stilisierungen heraus. Nicht als literarische Vorbilder sind ihr Yamamoto und Brecht wichtig, sondern als Bearbeiter eines ergiebigen Stoffs über eine Mittlerin zwischen Ost und West. Tawadas Bemerkungen hierzu illustrieren exemplarisch, wie sich ihre poetologische Reflexion an konkrete Erfahrungen und Textlektüren knüpft – und wie zwischen den Zeilen, die sich der Ausformulierung einer expliziten Poetik verweigern, Poetologisches anklingt.

9 Thomas Meinecke Prägend für Thomas Meineckes Poetikvorlesungen (Ich als Text, Frankfurter Poetikvorlesung 2011/2012; Berlin 2012) ist die Ästhetik der Montage, des Sampling, wie sie sein Schreiben und seine Performanzen insgesamt prägt. Seine Vorlesungen bestehen aus einer Aneinanderreihung von (weitestgehend) fremden Texten, und zwar solcher über Meinecke und seine Arbeiten; sie bieten also eine umfangreiche Kompilation langer Fremdzitate, was in der Buchform durch die paratextuelle Rahmung noch unterstrichen wird, die jeweils über zitierte Fremdautoren, Titel und Publikationsanlässe informiert. Versammelt finden sich Besprechungen zu einzelnen Texten Meineckes und Porträts des Autors insgesamt, Rezensionen und Interviews, literaturwissenschaftliche Interpretationen und andere metatextuelle Spielformen. Das Gesamtarrangement steht hinsichtlich der Frage nach jenem „Ich“, das vom Titel der Vorlesungen ja als vertextetes („als Text“) vorgestellt wird, im Zeichen einer gewollten Ambivalenz: Zum einen scheint das „Ich“ des Poetikdozenten Meinecke, der in Frankfurt doch die Gelegenheit hat, in frei wählbarer Form von sich selbst und seinen Arbeiten zu sprechen, hier hinter den Texten anderer zu verschwinden; dieses Ich scheint unter Verzicht auf die Rolle dessen, der das Wort führt, andere zu Wort kommen zu lassen, allenfalls als Partner in (wieder) abgedruckten Interviews selbst an den Formulierungen beteiligt zu sein. Zum anderen signalisiert die Textsammlung, dass Meinecke eigentlich gar nicht als „Ich“ von sich selbst sprechen muss, weil das doch so viele offenbar ständig tun. Was einerseits als Bescheidenheitsgeste interpretiert werden könnte, nämlich den anderen die Autorität zu überlassen, das anstehende Thema ‚Thomas Meinecke‘ zu verbalisieren, ist andererseits eine

3.5 Intertextuelle Argumente

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Art Selbstinszenierung: Ein Autor errichtet sich selbst in Gestalt einer Anthologie aus Zitaten ein buchförmiges Meinecke-Denkmal. Hinter der umfangreichen Textsammlung steckt die auktorial agierende Instanz eines Sammlers und Arrangeurs. Nicht in beliebiger oder auch in eher kontingent-chronologischer Folge sind die Texte angeordnet, sondern sie wurden thematisch locker gruppiert, und auch in der paratextuellen Strukturierung des Gesamtkomplexes wird indirekt der Autor selbst vernehmbar, wenn auch wiederum in der Maske von Zitaten. So etwa trägt Vorlesung III vom 24. Januar 2012 den aus Titelzitaten montierten Titel „Oops oh my / Heterosexueller Darkroom / Requiem für einen Jungfräulichen König / Bouvard und Pécuchet / Gold Diggers of 1933 / Zuckerzeit“ (Meinecke 2012, 163); der Poetikdozent inszeniert sich als DJ im ‚Meinecke‘-Stil. Hier findet sich dann auch ein Beitrag Meineckes über sich selbst, also ein (umfangreiches) Selbstzitat, mit dem der Poetikdozent sich dann erkennbar unter die vielen Stimmen einreiht, die im Buch zu Wort kommen; in der Passage aus dem 2004 erschienenen Roman Musik geht es um ein Romanprojekt und um denkbare Schreibweisen, bei deren Entwicklung auch „Suchmaschinen“ beteiligt werden könnten (Meinecke 2012, 163). Manches klingt wie ein Selbstverweis der Poetikvorlesungen („Es gibt eine vage Vorstellung von einem Sound, einer Ästhetik, die sich beim Schreiben, das bei mir in erster Linie eine Mitschrift ist, entwickeln könnte“; Meinecke 2012, 163). Es geht um die Vielleser Bouvard und Pécuchet – und damit um Flaubert als den Erfinder von Figuren, die den Autor Meinecke interessieren, der sich hier selbst zitiert – um Flaubert, der für sein Buch über die beiden Vielleser selbst über 1500 Bücher gelesen zu haben angab – um Flaubert schließlich auch als Pionier der Idee einer Entgrenzung zwischen literarischem und wissenschaftlich-sachbezogenem Schreiben, einem ‚darlegenden‘ Schreiben (Meinecke 2012, 166), wie es Meinecke mit seiner Poetikvorlesung praktiziert. Meineckes in Ich als Text kompilatorisch dokumentiertes Interesse an den Texten anderer ist zunächst einmal ein Interesse an Bespiegelungen der eigenen Arbeit in den Reaktionen anderer, dann aber auch an den Gelegenheiten, die der Austausch mit anderen zur Explikation eigener Leitideen und Verfahrensweisen bietet (etwa in Interviews). Dabei profiliert sich eine Poetik des Zitierens und der Aneignung, wobei wiederum Affinitäten zu den Zitierten ein Leitkriterium bilden; so erinnert Meinecke daran, wie er zwei Seiten von Elfriede Jelinek „direkt abgeschrieben“, dies allerdings auch kenntlich gemacht habe (2012, 255). Anlässlich aktueller Plagiatsvorwürfe gegen Helene Hegemann fordert er einen differenzierteren Umgang mit Begriffen wie „Plagiat und Abklatsch“ (2012, 255), erörtert den Begriff des literarischen „Palimpsests“ (2012, 256), deckt nicht markierte Fremdzitate in eigenen Werken auf (2012, 256). Ich als Text als im Buch stark angewachsene Montage von Zitaten über das Zitieren gibt in zahlreichen Vari-

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anten eine spezifische Antwort auf die Frage nach der Signifikanz von Fremdtexten: Diese sind als potenzielles Zitatmaterial latente Bestandteile selbstverfasster Texte, und „das sogenannte Eigene […] gibt es so gar nicht“ (Meinecke 2012, 257).

10 Daniel Kehlmann Daniel Kehlmanns Vorlesungen stehen im Zeichen eines Rufs: „Kommt, Geister!“ (Frankfurter Poetikvorlesung 2014; Kehlmann 2015). Als Motto steht über ihnen das Bild einer Geistererscheinung: „Der tote Perutz an meinem Tisch, / freundlich – im Kaffeehaus. / (Elias Canetti: / das Buch gegen den Tod)“ (Kehlmann 2015, 7). Geister sind Mahner, sie erinnern an Unerledigtes, Unbewältigtes und dadurch Wirkmächtiges. In dieser Funktion beschwört Kehlmann die Geister früherer Autoren; einen roten Faden seiner zahlreichen Referenzen auf Vorläufer bilden u. a. Reminiszenzen an Ingeborg Bachmanns Frankfurter Vorlesungen. Im Bild des Gespensts modelliert Kehlmann die Rolle literarischer Vorgänger als Wiedergänger, die sich herbeizitieren lassen. Solch literarisches Nach-Leben erscheint als Remedium gegen Verharmlosung und Verdrängung historischer Erfahrungen und Schrecken. Vorlesung 1 „Illyrien“ beschwört die Erinnerung an Nachkriegsdeutschland und seine Unterhaltungskultur herauf und widmet sich insgesamt der Diskrepanz zwischen geschichtlicher Erfahrung und ihrer nur unzulänglichen Durchdringung und Aufarbeitung.Vor dem kontrastiven Hintergrund einer durch Peter Alexander und Geza von Cziffra repräsentierten Unterhaltungskultur erinnerte sich Ingeborg Bachmann (woran nun Kehlmann seinerseits erinnert) in ihrer Poetikvorlesung mit Texten wie Unter Mördern und Irren daran, dass die scheinbar heile Wirtschaftswunderwelt nicht heil ist, nachdem furchtbare Verbrechen geschahen und sich aus den Schrecken der Geschichte nicht einmal etwas lernen lässt. Kehlmanns Interesse gilt Momenten, in denen in die „hektische Fröhlichkeit etwas Gespenstisches einzudringen“ scheint (Kehlmann 2015, 21). Bachmanns poetische Evokationen einer anderen Wirklichkeit, die der „Phantasiegeographie der Dichtung“ (Kehlmann 2015, 24) unterliegt, werden zu Orientierungshilfen, insbesondere das Bild des „am Meer“ liegenden Böhmen bei Shakespeare (2015, 26), das poetische „Illyrien“ Shakespearescher Figuren. Autoren wie Böll und Sebald sowie der Kabarettist Georg Kreisler haben ein Sensorium für das ‚Gespenstische‘ der historisch-faktischen Welt, dem Kehlmanns eigenes Interesse gilt (auch und gerade in seinen Erzähltexten). Unter dem Titel „Elben, Spinnen, Schicksalsschwestern“ berichtet Kehlmann in der zweiten Vorlesung über seine Erstlektüre von Jeremias Gotthelfs verstörender Erzählung Die Schwarze Spinne zu Kinder-

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zeiten, deutet die Spinne als Hinweis auf alles, „dem man nicht ins Gesicht sehen will“ (Kehlmann 2015, 51), und setzt sie vergleichend in eine Beziehung zum Bild der Spinne Kankra bei Tolkien, die ebenfalls auf Dunkles verweise, ohne es sichtbar werden zu lassen. Das Böse selbst lasse sich nicht ins Gesicht sehen (Kehlmann 2015, 53). Wenn laut Kehlmanns Befund Tolkiens Figuren, etwa die Elben, auf dialektische Weise eine Brücke zwischen mythischer Zeit und Moderne schlagen, so spricht er damit ein auch durch eigene Texte verfolgtes Konzept an (Kehlmann 2015, 58). Die in phantastischen Wesen verkörperten Schrecken einer postmetaphysisch-ernüchterten Welt werden als das zentrale Thema der Fantasywie der Horrorliteratur herausgestellt. Vorlesung 3, „Robin Goodfellows Reise um die Erde in vierzig Minuten“, deren Titel auf den „Puck“ des Sommernachtstraums anspielt, wendet sich zunächst erneut Shakespeares Figurenwelt zu, vor allem den Spielfiguren sowie der poetischen Selbstbespiegelung des Dichters in manchen seiner Charaktere. „Teutsche Sorgen oder die Entdeckung der Stimme“ (Vorlesung 4) erinnert an die Zeit des 30-jährigen Kriegs mit ihren bei Grimmelshausen geschilderten Schrecken; dabei wird mit Simplicissimus im Kalbfell ein weiterer halb dämonischer, halb komischer Repräsentant des Figurentypus des Narren in Erinnerung gerufen (Kehlmann 2015, 105). Die Analysen zu Grimmelshausens Roman gelten den spezifischen Modi der Verarbeitung historischen Grauens im Zeichen abgründigen Humors und existenzieller Ironie; zugleich erscheint der Held als eine Figur ohne „solides Ich“, die auf den modernen Roman und eine Zeit tiefgreifender Verunsicherung vorausdeutet (Kehlmann 2015, 121). Mit Vorlesung 5 „Unvollständigkeit“ wird als ein Vertreter moderner literarischer Phantastik Leo Perutz beschworen, der mit seinen Doppelgänger- und Revenant-Geschichten der Verunsicherung an Welt und Ich auf eigene Weise Ausdruck gibt und seine Erzählungen gern im Grenzland zwischen Leben und Tod spielen lässt. Die in seinen Werken manifeste metaphysische Verunsicherung schafft Anschlussstellen zu Borges und Nabokov. Mit Gödel und Hilbert werden ein Logiker und ein Mathematiker zu Bezugsgrößen, die sich dem Unbestimmten und Unentscheidbaren aus rationaler und wissenskritischer Haltung zuwandten. Kehlmann nennt, beschreibt, zitiert eine erhebliche Zahl von Autoren von der Shakespearezeit bis zur Moderne, und dies im Zeichen der These thematischer Kontinuitäten seit Shakespeares Zeiten. Literatur erscheint vor allem als Artikulation einer nachmetaphysischen Verunsicherung und als Reaktion auf historische Schrecken, die durch keine Heilsgewissheit mehr kompensiert werden können, und zu den brisantesten Themen dieser neuzeitlichen Literatur gehört die Entfremdung des Ichs von sich selbst – eines Ichs, das zum Tier, zum Halbmenschen, zum Gespenst, zum Doppelgänger wird. Doppelgängerei ist auch bei der Konzeption der Vorlesungen mit ihren vielen literaturgeschichtlichen Referenzen im Spiel: Kehlmann bezieht sich auf seine Vorläufer, um solche Themen

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zur Sprache zu bringen, die ihn selbst als Schriftsteller beschäftige, spricht von Stoffen und Strategien, die ihm selbst naheliegen. Die in den Vorlesungen gerufenen Dichter-Geister sind willkommen, auch wenn Geistern etwas Beunruhigendes anhaften mag. Ihnen stehen andere Geister gegenüber, die Gespenster einer Welt der Lügen, der Illusionen und der Gewalt, die Kehlmann unter Berufung auf die guten Geister der Literaturgeschichte zumindest depotenzieren möchte, wenn er an der Möglichkeit eines Exorzismus auch zweifelt.

11 Fazit Breit ist, wie die genannten Vorlesungen exemplarisch zeigen, das Spektrum der Modellierungen des Bezugs eigener Arbeiten zu denen von Vorläufern, von Hypound Intertexten, wie sie in Poetikvorlesungen erfolgen: In allerlei Formen werden Werke anderer positiv gewürdigt, die das eigenen Schreiben motiviert und ihm Impulse gegeben haben; mit Hugh Kenners Konzept einer Elsewhere Community rückt die zeit- und raumübergreifende Kommunikationsgemeinschaft der Dichter sogar ins Zentrum einer Poetikvorlesung. Bei Durs Grünbein, wo immerhin das Stichwort ‚Einflussangst‘ fällt, bestimmt dann allerdings doch nicht primär die Abwehrhaltung gegenüber Vorläufern den Vortrag (allenfalls die gegen FDJ-Veranstaltungen für junge Dichter), sondern vielmehr die Rekonstruktion der eigenen dichterischen Entwicklung im dezent angedeuteten historischen Resonanzraum der Lyrik. Auffällig sind die Entsprechungen zwischen der jeweiligen Positionierung der Autoren zur Frage der Fremdimpulse und ihren Schreibstrategien als Poetikdozenten. Nicht nur Zahl und Provenienz der Textzitate lassen poetologisch signifikante Rückschlüsse zu, sondern auch die jeweils behandelten Textformen, Stile, Themen, Motive. Wenn Tawada in ihren Hamburger Vorlesungen Variationen über Häfen, Seewege und das Meer bietet, so korrespondiert dies inhaltlich und textstilistisch mit dem Konzept eines Austauschs zwischen Europa und Japan, das in den beiden Stücken über eine Japanerin und einen Amerikaner dominiert, auf die sie rekurriert. Kenners Vorlesung mit ihren literaturhistorischbiographischen Informationen über moderne Dichter lässt die Lektüre der Poetikvorlesung selbst zur Bildungsreise werden. Das Bild des Flusses oder Stroms erscheint gerade anlässlich der Frage nach der Beziehung des eigenen Schreibens zu dem anderer in diversen Variationen: als Textfluss, als Lebensraum einer Grenzgängerin wie Melusine, als Verkehrsraum, den Europa mit anderen Kontinenten verbindet. Im Bild der Geister und Doppelgänger wird die Bedeutung der anderen, der anderen Dichter, der anderen Stimmen besonders prägnant modelliert, so in Meckels Angiolierifigur; selbst Wolfs Kassandra ist, als Abspaltung und Sprachrohr der Autorin inszeniert, deren poetisches Double.

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Literaturverzeichnis Bachmann, Ingeborg. „Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung“. Werke. Bd. 4: Essays. Reden. Vermischte Schriften. Anhang. Hrsg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München u. a. 1978: 182 – 271. Bloom, Harold. The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry. New York 1973. Grünbein, Durs. Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung. Frankfurt a. M. 2010. Gutjahr, Ortrud (Hrsg.). Yōko Tawada. Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Hamburger Gastprofessur für Interkulturelle Poetik. Tübingen 2012. Genette, Gérard. Palimpsestes: La littérature au second degré. Paris 1982. Härtling, Peter. Der spanische Soldat oder Finden und Erfinden. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Darmstadt u. a. 1984. Härtling, Peter. Das wandernde Wasser. Musik und Poesie der Romantik. Salzburger Vorlesungen 1994. Stuttgart 1994. Hochhuth, Rolf. Die Geburt der Tragödie aus dem Krieg. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 2001. Kehlmann, Daniel. Kommt, Geister! Frankfurter Vorlesungen. Reinbek bei Hamburg 2015. Kenner, Hugh. The Elsewhere Community. Concord, ON 1997. Krolow, Karl. Aspekte zeitgenössischer deutscher Lyrik. Gütersloh 1961. Meckel, Christoph. Von den Luftgeschäften der Poesie. Poesie als Element und Form von Sprache. Frankfurt a. M. 1989. Meinecke, Thomas. Ich als Text. Berlin 2012. Tawada, Yōko. Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesungen. Tübingen 1998. Tawada, Yōko. „Hamburger Poetikvorlesungen (Fremde Wasser)“. Hamburger Gastprofessur für Interkulturelle Poetik. Yōko Tawada: Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Hrsg. von Ortrud Gutjahr. Tübingen 2012: 49 – 122. Wolf, Christa. Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. 7. Aufl. Darmstadt 1984 [1983].

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3.6 Religiöse Argumente: Schreiben als Schöpfung, Totenerweckung, Darstellung des Unsagbaren und Suchbewegung Literatur ist seit ihren Anfängen mit Religion verwoben. Die ältesten überlieferten Texte wie die homerischen Epen, die Psalmen oder die Veden erzählen von Göttern oder rufen den einen Gott an. Sie dienen der religiösen Überlieferung und dem Kult. Einer vieldiskutierten These Heinz Schlaffers zufolge sind vor allem Gedichte ursprünglich als „ungewöhnliche, doch wohlbedachte Wege zu dem hochgestimmten, wenn auch vergeblich angestrebten Ziel zu erkennen, mit außermenschlichen Wesen – mit Geistern, Göttern, beseelten Dingen – in eine nutzbringende Verbindung zu treten“ (Schlaffer 2012, 10). Auch wenn dieser ursprüngliche Zweck, so Schlaffer weiter, sich in der Moderne als unerfüllbar erwiesen habe, lebe er fort „in der Erinnerung an eine untergegangene Denk- und Sprechweise, von der die Imagination trotzdem angezogen wird; im Versuch, das Vergangene dennoch zu wiederholen; in der Rebellion gegen solche Wiederholung; im zweckfreien Spiel, das ironisch die alten Zwecke und Mittel zitiert“ (Schlaffer 2012, 12). Seit der Aufklärung wird das religiöse Erbe der Literatur zudem in Form von Inspirationspoetiken und des Geniegedankens aktualisiert und kunstreligiös re-interpretiert. Dank der „Verweltlichung transzendenter Glaubensgehalte durch die poetische Einbildungskraft“, die sich im 18. Jahrhundert etwa in Klopstocks Konzept der Heiligen Poesie oder in der Wertschätzung der Psalmen als Literatur ausdrückt, hält sich die „Vorstellung […], daß sich Texte der Einwirkung einer höheren, ihrem realen Produzenten gegenüber äußeren Macht verdanken,“ bis in die Moderne (Jacob 2002, 324, 311). In diese Traditionslinie über die Neue Mythologie um 1800 und die Heilige Autorschaft um 1900 schreiben sich eine Reihe gegenwärtiger Autorinnen und Autoren in ihren Poetikvorlesungen ein. Besonders nennenswert sind die Frankfurter und Heidelberger Vorlesungen von Patrick Roth (2002, 2005) sowie die Frankfurter und Zürcher Vorlesungen von Sibylle Lewitscharoff (2012). Roth hatte bereits mit seiner in den 1990er Jahren erschienenen Christus-Trilogie (1991, 1993, 1996, 2003) zu einer neuen Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft und Literaturtheologie auf das Religionsthema in der Gegenwartsliteratur beigetragen (Kopp-Marx 2010; Kopp-Marx and Langenhorst 2014; Langenhorst 2005, 2009). https://doi.org/10.1515/9783110647884-025

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Auch Lewitscharoff behandelt in ihren Romanen vielfach religiöse Themen wie Wundergeschichten oder das Leben nach dem Tod (Portmann 2009; Horstkotte 2013b; Stauffer 2015; Weidner 2017). Neben der Funktion, sich durch die Berufung auf Topoi der Inspirationspoetik in eine spezifisch kunstreligiöse Tradition einzuschreiben, dient das Religiöse bei Roth und Lewitscharoff zudem der Verklärung des eigenen Schreibens. Seit 2016 existiert an der Universität Wien eine eigene Poetikdozentur (Literatur und Religion), die von Jan-Heiner Tück, Inhaber des Lehrstuhls für katholische Dogmatik, verantwortet wird und bei der (Stand: Dezember 2020) Thomas Hürlimann, Sibylle Lewitscharoff, Christian Lehnert, Nora Gomringer, Alois Brandstetter, Felicitas Hoppe, Michael Köhlmeier, Andreas Maier, Marion Poschmann, Hartmut Lange, Ilija Trojanow, Barbara Frischmuth, Uwe Kolbe, Maja Haderlap, Barbara Honigmann und Patrick Roth zu Gast waren. Die in bisher zwei Bänden einer eigenen Buchreihe veröffentlichten Vorlesungen sind inhaltlich und formal außerordentlich heterogen; die behandelten Themen reichen von der Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Biographie über Reflexionen über das Unsagbare bis hin zur Darstellung der globalen Vielfalt religiöser Wege (Tück und Mayer 2017, 2019). Deutlicher als die durch Glaubensvorstellungen des Christentums und der Antike (sowie deren säkularisierte Derivate) geprägten Poetiken von Lewitscharoff und Roth präsentieren die Wiener Vorlesungen folglich das Spektrum pluraler Religiositäten und Säkularitäten in einer globalisierten Spätmoderne (Burchardt et al. 2015). Vier Themen- und Motivbereiche sind innerhalb der Bandbreite religiöser Argumente in Poetikvorlesungen besonders markant und sollen im Folgenden jeweils in einem eigenen Abschnitt beleuchtet werden: Schreiben als Schöpfung (Sibylle Lewitscharoff), Schreiben als Totenerweckung (Patrick Roth), Schreiben als Darstellung des Unsagbaren (Christian Lehnert) und Schreiben als religiöse Suchbewegung (Marion Poschmann und Ilija Trojanow).

1 Schreiben als Schöpfung Sibylle Lewitscharoffs Band Vom Guten, Wahren und Schönen (2012) vereinigt Vorlesungen, die im Jahr 2011 in Frankfurt und Zürich gehalten wurden. Bereits die erste Vorlesung rekurriert wiederholt und emphatisch auf den genieästhetischen Topos des Autors als zweiter Schöpfer, indem sie etwa das „Aussprechen der Namen“ von Romanfiguren als „Schöpfungsakt“ beschreibt (Lewitscharoff 2012, 12; Horstkotte 2014). Damit zitiert Lewitscharoff ein kabbalistisch-sprachmagisches Verständnis von Autorschaft, wie es durch das Hamann-Motto „Rede, dass ich dich sehe“ seit der Romantik an die Literatur vermittelt wurde, und sie

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beruft sich explizit auf die „Namensvergabe im Alten Testament“ und deren Ähnlichkeit mit der Namensvergabe an die Figuren eines Romans (Lewitscharoff 2012, 21). An anderen Stellen distanzieren sich die Vorlesungen aber auch von diesem Topos oder ironisieren ihn: „Nichts liegt mir ferner, als im Schöpfer eines Kunstwerks einen Gott am Werk zu sehen. Solche hochzielenden Vergleiche sind schlicht albern“ (Lewitscharoff 2012, 21). Auch in ihren Romanen bedient Lewitscharoff immer wieder, wenn auch ironisch gebrochen, die Analogie von literarischer Autorschaft und Schöpfungsdenken – beispielsweise durch die sprachliche Hervorhebung des Erzählaktes oder durch narrative Metalepsen (besonders auffällig in Blumenberg, Lewitscharoff 2011). Die Häufigkeit dieser Anspielungen scheint dabei darauf hinzudeuten, dass es Lewitscharoff mit der Analogie, trotz aller offensichtlichen Ironie, wenigstens teilweise ernst ist. Ähnliche Ambivalenzen kennzeichnen den Umgang mit den biblischen Themen Schuld und Erlösung in Lewitscharoffs Vorlesungen. So bezeichnet die Autorin als Grundfunktion des Erzählens das Umschleichen einer „immer neu sich anhäufende[n] Schuld“: „In unseren Erzählungen müssen wir auf indirekte Weise, nicht in Form einer penetranten Selbstanklage, auch Zeugnis wider uns selbst ablegen.“ Im Gegensatz zur Religion könne das Erzählen aber nicht „erlösen“, sondern nur „Linderung verschaffen“, „Linderung im ästhetischen Vergnügen, welches sie gewährt“ (Lewitscharoff 2012, 57). Das Schreiben übernimmt also in abgeschwächter Form die Funktion der Religion, und zwar primär in Bezug auf die Autorin, während die Wirkung auf Lesende nur eine geringe Rolle zu spielen scheint. Neben der Modellfunktion biblischer Geschichten dient die Bibel Lewitscharoff auch als Stofffundus oder „Abgrund, in dem die psychologischen und metaphysischen Fragen sich tummeln, ihre Arme emporrecken und nach dem Leser fassen“ (Lewitscharoff 2012, 103), wobei mit dem Leser an dieser Stelle die bibellesende Autorin selbst gemeint ist, die in ihren Vorlesungen häufig und ausführlich biblische Geschichten erwähnt (und nicht die Leserinnen und Leser von Lewitscharoffs Romanen). Das Bibellesen dient zudem als Bildungs- und Distinktionsmerkmal, durch das eine „zeugnisbekräftigende Gemeinschaft gläubiger Menschen“ gestiftet wird (Lewitscharoff 2012, 59). Lewitscharoffs intertextuelle Methode, poetologische Themen „von der biblischen Seite her anzupacken“ (Lewitscharoff 2012, 57), ist also durch Ambiguitäten und ironisch gebrochene Bezugnahmen gekennzeichnet. Kai Sina weist in einem Beitrag zu Lewitscharoffs Poetikvorlesungen auf den Widerspruch hin, dass die Literatur „hier im engsten Verhältnis zur Religion gedacht [wird], ohne dass es der Literatur – womöglich gar in einem missionarischen Sinne – um die Vermittlung religiöser Inhalte ginge“ (Sina 2014, 33). Auch seien für Lewitscharoff nur bestimmte Aspekte des Christentums anschlussfähig, „während andere Ele-

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mente für sie eher die nüchtern-distanzierte Perspektive der Wissenschaft nahezulegen scheinen“ (Sina 2014, 33). Die Literatur erhält in diesem Zusammenhang eine Kompensationsfunktion für eine entzauberte Moderne, die „durch die ‚Bezauberung‘ der Literatur ausgeglichen“ werden soll (Sina 2014, 34). Auffällig ist zudem, dass sich bei Lewitscharoff neben direkten Rückgriffen auf die Bibel auch indirekte Bezugnahmen auf eine bereits säkularisierte intertextuelle Aneignung religiöser Gehalte finden. So etwa beim Rekurs auf Walter Benjamins marxistische Relektüre des jüdischen Messianismus, durch den Lewitscharoff dem eigenen Erzählstil eine „Erlösung von Schmutz und Schuld“ zuspricht (Lewitscharoff 2012, 122): „Wie etwas erzählt wird, entscheidet sehr wohl darüber, ob darin die winzigen messianischen Sprengkapseln enthalten sind, deren die Literatur so bedürftig ist“ (Lewitscharoff 2012, 121).

2 Schreiben als Totenerweckung Neben Schöpfungsanalogien ist der Topos des Schreibens als Totenerweckung ein zweiter wichtiger Bezugspunkt für Religiöses in Poetikvorlesungen der Gegenwart. In ihren Zürcher Vorlesungen gibt Sibylle Lewitscharoff als entscheidende Motivation für das eigene Schreiben an, dass sie „durch das Schreiben die Lizenz habe, freimütig, manchmal auch übermütig, mit den Toten zu sprechen“ (Lewitscharoff 2012, 115). Das ist ganz wörtlich zu verstehen: In ihren Romanen Consummatus (2006), Von oben (2019) und im letzten Kapitel von Blumenberg (2011) führt Lewitscharoff die literarische Tradition der Totengespräche als Satiregattung seit der Antike fort. Für Patrick Roth dagegen fungiert der Topos der Totenerweckung als Metapher für den eigenen Schreibprozess. Auch wenn Roth sich bereits mit dem Titel seiner Poetikvorlesungen Ins Tal der Schatten (2002) auf die Orpheus-Mythe und auf die Auferstehung Christi bezieht, bezeichnet „Totenerweckung“ für ihn keinen transzendenten, sondern einen immanenten Vorgang, der in der Psyche des Autors stattfindet und von Lesenden nachvollzogen werden kann (Roth 2002, 14). Der Schreibprozess beginnt für Roth mit einer „Totensuche“ nach dem „was, tief in mir vergraben, kein Bewußtsein mehr streift“ (Roth 2002, 12). Im Schreiben wird dieser im Ich verborgene Gehalt wie in einem alchemischen Prozess verwandelt. Grundgehalt dieses Prozesses ist die Inspiration im Traum; damit greift Roth die in der Antike verbreitete und in biblischen Texten vielfach präsente Vorstellung einer prophetischen Funktion von Träumen auf. In der ersten Frankfurter Vorlesung „Orpheus nach Hollywood“ (2002) deutet Roth einen eigenen Traum, in dem sich der Mulholland Drive in Los Angeles in eine riesige Schlange verwandelt und ihm das Traumwort „Orphys“ zuflüstert, in Bezug auf die Or-

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pheus-Mythe (Roth 2002, 18). Wie Roth, ist Orpheus einer, der Tote sucht; für Roth wird sein Mythos zur Matrix für „alle Phasen der notwendigen Arbeit des ‚sein Totes‘ suchenden Schriftstellers. Der sucht ein Totes, das es wieder lebendig zu machen, zu erinnern, zu erstellen, wieder ans Licht, an den Tag, an die Oberfläche zu führen gilt“ (Roth 2002, 19). Beim Schreiben werde der in einer „Orpheussekunde“ (Roth 2002, 43) aus dem Unbewussten des Schriftstellers herauferinnerte Stoff dann in mehreren Phasen eines „kontinuierlichen Ab- und Auftauchens, des Träumens und Wachträumens und der Seelenrede einerseits, des rationalen Wägens andererseits“ transformiert und angereichert (Roth 2002, 54). In der zweiten Heidelberger Vorlesung „Traum und Alchemie“ (2005) bezeichnet Roth das Schreiben explizit als „Erfahrungskunst“, bei der Trauminhalte transformiert werden wie die materia in der Alchemie (Roth 2005, 28). In dieser Version der Inspirationspoetik kommt die Inspiration also nicht von außen, sondern aus dem eigenen Inneren. Da es der Schriftsteller selbst ist, der den Stoff belebt, rückt er an die Stelle Gottes: „Was ich davon im Traum beobachtet hatte, erinnerte mich an den Schöpfungsvorgang in Genesis. Sie kennen das Bild: Gott bläst dem Stoff – dem Klumpen Erde – lebendigen Odem ein, behaucht-beseelt so das Leblose, holt’s aus dem Dunkel: ‚Sunrise‘ des Menschen“ (Roth 2005, 35). Roth identifiziert diesen Transformationsprozess in der vierten Frankfurter Vorlesung (2002) auch mit der tiefenpsychologischen Technik der Aktiven Imagination. Dieser Begriff stammt von C.G. Jung, der in seinen Schriften aus den 1910er Jahren zwischen dem gerichteten, rationalen Denken und dem Phantasieren unterschied, in dem uralte mythologische Themen in der Gegenwart fortleben (Jung 2011). Von Jung bezieht Roth die Vorstellung, dass Träume und Phantasien ein Medium bereitstellen, in dem Probleme und Fragen des Einzelnen mit Hilfe kollektiver Symbole durchgespielt und Lösungen gefunden werden, die in die Zukunft weisen (Jung 1995; zu Roth und Jung siehe Horstkotte 2013a). Mythen dienen als Bilderreservoire für diese Traumarbeit – soweit die von Roth in den Vorlesungen und in Interviews verbreitete Entstehungslegende seiner Texte (siehe Roth 2012). Tatsächlich haben die in Roths Romanen verarbeiteten Mythen ihren Ursprung aber nicht im Unbewussten, sondern in Intertexten, mit denen der Autor sich intensiv auseinandergesetzt hat. Wichtige Quellen sind neben den biblischen Schriften dabei gnostische Texte wie insbesondere das sogenannte Thomas-Evangelium sowie die Arbeiten C.G. Jungs, aber auch Hollywood-Filme. Die Tiefenpsychologie Jungs ist geprägt durch die gnostische Vorstellung einer verloren gegangenen Einheit von Wörtern, Dingen und Bedeutungen, die es durch die Technik der Aktiven Imagination wieder herzustellen gelte; auch Roth stellt sich in die Tradition der (durch Jung gedeuteten) Gnosis und präsentiert seine Romane als moderne Offenbarungsschriften (Horstkotte 2013a, 151).

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Ähnlich wie die ironische Brechung des biblischen Schöpfungsgedankens bei Sibylle Lewitscharoff lässt sich auch die Neukombination und -interpretation gnostischer und neo-gnostischer Motive, die Patrick Roth im Lichte der Tiefenpsychologie und in Verbindung mit dem als Traummaschine gedeuteten Medium Film verwendet, als postsäkulare Poetik beschreiben. Damit sind literarische Verfahren gemeint, die sich in ambivalenter Form auf religiöse Gehalte und Vorstellungen beziehen oder eine Ambivalenz im Umgang mit dem Religiösen ausdrücken (Hodkinson und Horstkotte 2020; Kaufmann 2009; Mączyńska 2009). Autorinnen und Autoren postsäkularer Literatur sind oft nicht explizit religiös gebunden oder artikulieren keine eindeutige religiöse Perspektive (McClure 2007, 2). Stattdessen werden religiöse, spirituelle und säkulare Positionen zusammengeführt und ineinander transformiert (Corrigan 2015, 18). So wird in den Poetikvorlesungen Roths der Inkarnationsgedanke aus dem Johannes-Evangelium (Jh 1,14) zu einer Metapher für das Erzählen: „Was uns berührt, ungehört war und sie in diesem Klang wieder hörbar macht, sichtbar wird, vor unseren Augen gleichsam erscheint, ist ein Totes, das im Klang noch des Namens eine Hoffnung ausspricht: der Klang, gleichsam der Geist, könne Form annehmen, stofflich werden im Ausgesprochensein, unter uns wohnen“ (Roth 2002, 33). Auch die Auferstehung findet für Roth nicht im Fleisch, sondern im literarischen Schreibprozess statt: „Das Bild vom Zweifler, der Jesus die Hand in die Seite taucht, ist ein Bild vom Wort, das noch nicht geschrieben ist, das noch eins ist, ungetrennt vom Beschreiber und seiner Schrift, ungetrennt von der Aussage, daß, was geschrieben werden soll, auferstanden ist“ (Roth 2002, 14). Gott selbst wird dabei zu einem passiven Objekt der schriftstellerischen Anverwandlung und der Autor zum eigentlichen Schöpfer, der den „unbekannte[n] Gott in uns – denn wir sind sein Gefäß –“ wandelt und zum Leben erweckt (Roth 2005, 89). So wird das Schreiben in der Inspirationspoetik Patrick Roths zum Erlösungswerk und der Autor zu einem tiefenpsychologisch neu gedeuteten Messias.

3 Schreiben als Darstellung des Unsagbaren Obwohl sie von einer katholischen Dogmatik-Professur verantwortet werden, lassen sich auch in den Wiener Poetikvorlesungen Literatur und Religion zahlreiche Motive und Strategien postsäkularer Poetiken identifizieren. Im Vorwort zum ersten Band der Schriftenreihe charakterisiert der Veranstalter Jan-Heiner Tück die Poetikdozentur als einen „offene[n] Austausch, der nicht durch weltanschauliche Reviermarkierungen erschwert oder durch dogmatische Punktsetzungen eingeschränkt“ werden solle (Tück und Mayer 2017, 14). Tatsächlich inszenieren viele der bisher publizierten Vorlesungen Ambivalenzen und

3.6 Religiöse Argumente

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Suchbewegungen zwischen dem Religiösen und Säkularen oder jenseits dieses Gegensatzes. So skizziert Thomas Hürlimann (2017) die Biographie eines Glaubensverlustes, Andreas Maier (2019) berichtet von Gesprächsversuchen mit Atheisten, Hartmut Lange (2019) reflektiert über Transzendenzbegehren und Nora Gomringer (2017) collagiert Begebenheiten, Zitate und Internetfundstücke. Ein Topos, der in mehreren Vorlesungen begegnet, ist der des Schreibens als Darstellung von Unsagbarem. Wie andere religiös vorgeprägte poetologische Topoi hat auch dieser eine lange Geschichte, die von der negativen Theologie der Spätantike über die frühromantische Zauberformel des „geheimen Wortes“ in die Gegenwart reicht. In dieser Tradition wird der Poesie seit der Romantik die Fähigkeit zugesprochen, das zu sagen, was eigentlich nicht gesagt werden kann und dadurch dasjenige zur Erscheinung zu bringen, was einer säkularen Moderne nicht mehr zugänglich ist. In diesem Sinne bezeichnet Christian Lehnert in seiner Vorlesung „Teilchen. Cherubinischer Staub. Zur Verwandtschaft von poetischer und religiöser Rede“ (2017) die Poesie als „sprachliche Darstellung des Apeiron“, des ursprünglichen, ungeschiedenen und unbeschränkten Urelements der Vorsokratiker: „Sie [die Dichtung] ist die schnelle Gattung des Augenblicks und sie lebt davon, dass im Kleinsten etwas aufscheint, aufleuchtet, was es vorher nicht gab – ein Bild, eine Beschreibung, ein Klangraum. In den Worten ist plötzlich etwas da, was vorher so nicht da war. Der Leser sieht es. Wo kommt es her?“ (Lehnert 2017, 100). Lehnert arbeitet als evangelischer Pfarrer und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD; in der Poetikvorlesung markiert er die eigene Position explizit „als Dichter und als religiöser Mensch“ (Lehnert 2017, 99). Aus dieser Position heraus scheint ihm die Schöpfungskraft der Poesie eine innere Verwandtschaft poetischer und religiöser Rede zu begründen, denn auch die religiöse Sprache bringe „in Bildern und Metaphern immer wieder ihren Gott hervor, spricht ihn hinein in unsere Wirklichkeit und lässt ihn sprechen. Aber alle Rede von Gott ist doch auch schnell verblasst – sie zeigt so viel, wie sie verbirgt. Sie sagt nicht ‚etwas‘ aus, sondern spricht sich hinein in einen Raum, der sich der Sprache immer wieder entzieht“ (Lehnert 2017, 100–101). Ausgerechnet da, wo die Poesie mit dem ihr eigenen Vermögen, das Unsagbare zur Sprache zur bringen, sich der religiösen Erfahrung zuwendet, deren Wesen darin besteht, sich gewöhnlicher menschlicher Sprache und menschlichen Begriffen zu entziehen, muss sie dieser Argumentation zufolge notwendig scheitern. Gerade die Poesie kann nur gebrochen von Gott sprechen, will sie nicht der Gefahr erliegen, sich einen Götzen zu erschaffen. Im Gegensatz zur religiösen Rede, die immer mit unzulänglichen Ausdrucksformen arbeitet, schreibt Lehnert der Dichtung dennoch das Vermögen zu, eine „eigene Wirklichkeit in und mit der Sprache“ zu schaffen (Lehnert 2017, 103): „Die Wörter verwandeln sich in etwas

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anderes als Wörter: Der Leser sieht etwas. Das poetische Bild, wenn es denn lebendig ist und das Lesen gelingt, wächst im Inneren des Lesers auf, und er kann gar nicht mehr sicher sagen, was im Lesen in ihn hinein dringt und was aus seinem Inneren hervorkommt – beides verschwimmt“ (Lehnert 2017, 105). Mit dem Titel seiner Vorlesung bezieht Lehnert sich auf den Barockmystiker Johannes Scheffler, genannt Angelus Silesius, und auf dessen EpigrammSammlung Der cherubinische Wandersmann (Cherubinischer Staub ist auch der Titel eines Gedichtbands von Christian Lehnert, 2018). Im Vortrag zitiert er zudem die Natursprachtheorie Jakob Böhmes, die für die Romantiker wichtig war (Lehnert 2017, 114). Die beiden frühneuzeitlichen Autoren dienen ihm als Gewährsleute für eine sprachmagische Sicht der Poesie, nach der diese „bis heute in meinem Empfinden von einer solchen magischen Sehnsucht bestimmt [ist], dass Wort und Sache eins würden in einer gemeinsamen Lebens- und Schöpfungskraft. Die Poesie könnte man so die Sakramentalform der Sprache nennen, die reale Verwandlungsform der Welt“ (Lehnert 2017, 115). So ist die Reflexion über die Schwierigkeit, von Gott zu sprechen, bei Christian Lehnert zugleich eine Reflexion über das Gottesverhältnis, über das eigene Selbstverhältnis und über die poetische Sprache, in der das Ich sich ins Verhältnis zu sich selbst, zu Gott und zu seiner Welt setzt – und diese Aspekte gehören für Lehnert untrennbar zueinander.

4 Schreiben als Suchbewegung In ganz ähnlicher Weise wie Christian Lehnert bezeichnet auch Marion Poschmann in ihrer Wiener Poetikvorlesung „Figuren des Unaussprechlichen“ (2019) „das unablässige Bemühen darum, dem Namenlosen einen Namen zu geben, das Unaussprechliche entgegen aller Unmöglichkeit dennoch auszusprechen“ als „[eine] der auffälligsten Gemeinsamkeiten von Literatur und Religion“ (Poschmann 2019, 72). Stärker als Lehnert stellt Poschmann ihr Bemühen, „das in Worte fassen zu wollen, was sich in Worten nicht fassen lässt“ (Poschmann 2019, 71), dabei in einen globalen und religiös pluralen Kontext. In ihrer Poetikvorlesung „Figuren des Unaussprechlichen“ bezieht sie sich auf ihren Roman Die Kieferninseln (2017), der in Japan spielt, und auf die japanische Ästhetik, die schon für Roland Barthes als Anderes des Westens diente (Barthes 1981). Über den westlichen Bezug auf Japan – im Roman repräsentiert durch die Japan-Reise des deutschen Bartforschers Silvester – gelangt Poschmann zu einer interkulturellen Version negativer Theologie, nach der „[die] Erscheinungen […] nicht in Spannung zu einem wie auch immer gearteten Gott [stehen], sie stehen im Verhältnis zur Leere, zum Nichts, zum Formlosen. Aber dieses Formlose findet eine Form im künstlerischen Ausdruck, die Sprachfiguren werden gemessen am

3.6 Religiöse Argumente

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Grad, in dem sich in oder mit ihnen Unaussprechliches finden oder erspüren läßt“ (Poschmann 2019, 91). Poschmann verwendet religiöse Argumente folglich vor dem Hintergrund eines offenen Gottesbildes („wie auch immer gearteten Gott“) und der Relativität von Glaubenssystemen: „Jedes Gottesbild entsteht aus Zuschreibungen. Keins dieser Bilder ist allumfassend, jede Zuschreibung bleibt begrenzt, bruchstückhaft und subjektiv. Genau diese Art von Problemlage begegnet interessanterweise auch jedem, der ernsthaft mit Sprache umgeht, denn die Schwierigkeit, etwas über die Welt, die Wirklichkeit auszusagen, trifft sich in ihrer strukturellen Aporie mit dem Sprechen über Gott“ (Poschmann 2019, 75). Die auch von anderen Gegenwartsautoren konstatierte Strukturäquivalenz poetischer und religiöser Rede wird in diesem Kontext zu einem Argument für religiöse und sprachliche Pluralität: Erst alle Zuschreibungen können (möglicherweise) ein umfassendes Bild ergeben. Schreiben wird dabei zu einer Suchbewegung, die aus der doppelten Erkenntnis der Unzulänglichkeit des Ausdrucks und der Begrenztheit von Gottesbildern in die Ferne führt. Allerdings wird in der Vorlesung nicht deutlich, inwieweit die Überlegungen zur japanischen Ästhetik und Religion – besonders über die „Poetik der Naturnähe, der Betrachtungskunst, der Direktheit und dynamischen Spontaneität, aber auch der zärtlichen Zugewandtheit und der subtilen Einfühlung“ des Dichters Bashō (Poschmann 2019, 95) – sich auch auf Poschmanns eigenes Schreiben auswirken, denn sie bezieht sich in ihren Erläuterungen zum Roman Die Kieferninseln primär auf den Protagonisten Silvester. Der aber erscheint im Roman zumindest passagenweise als lächerliche Figur; nach Japan gerät er nur zufällig, weil er auf der Flucht vor seiner Frau den ersten verfügbaren Interkontinentalflug gebucht hat. Alles, was in Die Kieferninseln über Japan gesagt wird, erscheint somit unter dem Vorbehalt der Ironie. Auch der Japan-Diskurs in der Poetikvorlesung gerät somit in eine Zone der Ambivalenz zwischen Begeisterung und Ironisierung. Damit steht der Topos des Schreibens als religiöser Suchbewegung bei Poschmann in einem postsäkularen Horizont. Ähnliches gilt auch für Ilija Trojanow, der in seiner Wiener Vorlesung „Von Vielfalt und Wanderschaft“ (2019) emphatisch für religiösen Pluralismus und „Wahlfreiheit“ eintritt: „Wenn Religion nicht hauptsächlich Glaube ist, sondern hoch kultivierte, lebensnutze (!) Gewohnheit, dann sind die Konventionen, Bräuche und Einsichten einer jeden Religion für jeden Menschen zugänglich, unabhängig von seiner jeweiligen Herkunft, Prägung und Überzeugung. Die Türen der Religionen sind offen und ein jeder kann eintreten“ (Trojanow 2019, 109). Dass die „Frommen“, so Trojanow, „kein Vorrecht auf Spiritualität“ haben (Trojanow 2019, 109), ist auch Thema im Roman Der Weltensammler (2006), auf den Trojanow sich in der Vorlesung bezieht. Aber im Roman erweist sich die Wahlfreiheit als eine leere, haltlose Freiheit: Der Protagonist Richard Francis Burton

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wechselt die Religionen wie die Kleider und findet doch keine, die ihm wirklich passt. Auch findet er keine Anerkennung bei religiös praktizierenden Figuren, und seine Motive für die Hadj, die Pilgerfahrt nach Mekka, sind bestenfalls ambivalent, umfassen Spionage für das britische Empire und die Publikation eines illustrierten Reiseberichts ebenso wie die Suche nach religiösen Erlebnissen. Da die Romanerzählung enge inhaltliche, teilweise sogar wörtliche Parallelen zu Trojanows zwei Jahre zuvor publiziertem, autobiographischem Hadj-Bericht Zu den heiligen Quellen des Islam (2004) aufweist, kann das an der Figur Burton dargestellte Scheitern der religiösen Identifikation auch auf die postsäkulare Situation des Autors Trojanow bezogen werden (Horstkotte 2020). Auch wenn die meisten Autorinnen und Autoren, die in ihren Poetikvorlesungen religiöse Argumente verwenden, christlich sozialisiert wurden und auf christliche sowie antik geprägte Semantiken zurückgreifen, demonstrieren die Vorträge von Poschmann und Trojanow, dass ein religiös pluraler Kontext in der Gegenwartsliteratur an Bedeutung zunimmt. Auffällig ist, wie sowohl die stark geprägten Topoi der Schöpfung und der Totenerweckung wie auch die schwächeren oder religiös offeneren der Unsagbarkeit und der Suchbewegung immer wieder gebrochen werden. Im Rahmen des Selbstverständigungsdiskurses von Poetikvorlesungen dienen religiöse Argumente dazu, Verbindungen zu unterschiedlichen Traditionen von der Bibel über die romantische Kunstreligion bis hin zur Tiefenpsychologie herzustellen. Mit dem Verweis auf Religionen jenseits des Christentums wie Islam, Buddhismus oder Shinto positionieren sich Autorinnen und Autoren der Gegenwart in einem postsäkularen Feld der Pluralisierung und Individualisierung des Glaubens sowie des Synkretismus und religiösen Nomadentums. Die Ambivalenz der Texte reflektiert dabei die Offenheit der postsäkularen Situation.

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3.7 Historische oder gedächtnistheoretische Argumente: Zeugenschaft, Gedächtnis, kollektive Identität 1 Einleitung Der Vorgang des Erinnerns und die Ausbildung von (kollektiver) Identität stehen in einem notwendigen und reziproken Zusammenhang, das zeigen die im folgenden untersuchten Poetikvorlesungen. Aleida Assmann bezieht sich auf Maurice Halbwachs’ These, dass die „gemeinsamen Erinnerungen als wichtigstes Mittel der Kohäsion“ (Assmann 2006 [1999], 131) von sozialen Gruppen gelten, wenn sie in Erinnerungsräume (1999) über die Differenz von Gedächtnis und Geschichte schreibt und die beiden Begriffe als „zwei Modi der Erinnerung“ (Assmann 2006 [1999], 134) versteht. Gedächtnis und Geschichte sind, so auch in den hier untersuchten Poetikvorlesungen, aufeinander bezogen. In Anlehnung an den mittelalterlichen Lehrdichter Thomasin von Zerclaere erscheinen für Assmann zudem auch Memoria und Imaginatio als Komplementärbegriffe: „Die Dichter gelten als Experten dieser Kombination von Memoria und Imaginatio. Sie malen vergangene Heldentaten, so als wären sie gegenwärtig […]. Dichtung inszeniert (kollektive) Erinnerung als fingierte Gegenwart, sie holt (gemeinsame) Vergangenheit wie mit einem Zauberstab in die Gegenwart zurück.“ (Assmann 2006 [1999], 103 – 104). Autor:innen ‚sprechen‘ aber nicht nur durch ihre literarischen Texte zu den Leser:innen, sie nehmen auch die vielfach gebotenen Gelegenheiten zur öffentlichen Rede wahr. Dazu gehören unter anderem die an den Universitäten eingerichteten, in der individuellen Ausgestaltung gänzlich heterogenen Poetikdozenturen. Das dort Gesprochene (und anschließend oft auch Publizierte) steht indes nicht im Modus der Fiktion – zumindest nicht ausschließlich. Reden Autor:innen – noch dazu, wenn das eigene Werk im Mittelpunkt steht – in öffentlichen Vorträgen über Erinnerungskultur, so ist dies ein diskursiv anderes Sprechen als zum Beispiel die Niederschrift eines Gedichts und muss auch anderen Ansprüchen genügen und Widersprüchen statthalten. Paradigmatisch für ihre gedächtnistheoretischen und identitätspolitischen Argumentationen stehen die Poetikvorlesungen von vier Autor:innen: Czesław Miłosz, Günter Grass, W. G. Sebald und Toni Morrison. Hierbei drängt sich die https://doi.org/10.1515/9783110647884-026

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Frage auf: Wer darf eigentlich an was erinnern? Drei der vier Autor:innen (alle bis auf Sebald) galten zu Lebzeiten, freilich nie unumstritten, als moralische Autoritäten (dieselben drei haben übrigens den Nobelpreis für Literatur erhalten) und für alle vier ist ein Sprechen zu konstatieren, das sich über die Authentizität des eigenen Erlebens und Erinnerns definiert. So unterschiedlich der Fokus der einzelnen Vorlesungen ist, der von den Bombenangriffen auf Hamburg bis zur Segregation in den USA reicht, so ist ihnen gemeinsam, dass ihre Autor:innen ihre poetologischen sowie literatur- und kulturhistorischen Beobachtungen eng an die eigene Erfahrungswelt anbinden. Miłosz spricht von seiner Heimat Polen, dem Land, aus dem er zur Zeit der Vorlesung seit dreißig Jahren exiliert war. Grass verhandelt die Frage nach der Möglichkeit von künstlerischem Schaffen nach Auschwitz zunächst entlang der eigenen jugendlichen Treue gegenüber der nationalsozialistischen Propaganda. Durch das Verdrängen des Kriegs und der Täterschaft in der Nachkriegsgesellschaft setzt Sebald, der noch in den Krieg hineingeboren wurde, in seiner Poetikvorlesung die Luftangriffe mit den späteren eigenen Lebensstationen in Beziehung. Morrison ist als afroamerikanische Autorin selbst vom Rassismus betroffen, über den sie schreibt; ihre persönlichen Erlebnisse erfüllen mehr als einen anekdotischen Zweck. All diese Vorlesungen aus vier Jahrzehnten befragen den Zusammenhang von Literatur – der eigenen wie jener ‚der Anderen‘. So geht es darum, welche Funktion Literatur als Erinnerungsmedium hat (Miłosz), ob sie an einer Erinnerungskultur teilhat (Sebald), wie sie das Erinnerte repräsentieren darf (Grass) oder auf welche Weise sie zur Komplizin im Aufbau von Identität wird, die auf Ausgrenzung basiert (Morrison). Dass alle vier Autor:innen sich eingehend mit diesen Fragen befassen, nimmt nicht wunder, da Erinnerung, Gedächtnis und Identität doch wesentliche Themen ihres literarischen Schaffens darstellen. Bei ihnen stehen Konflikte um die (nationale) Erinnerungskultur, die Ausbildung von kollektiver Identität, die Zuverlässigkeit des individuellen Erinnerns, der Konnex von Trauma und Gedächtnis, die Erbschaft der Erinnerungen der Anderen (Postmemory) im Kontext des 19. und 20. Jahrhundert im Mittelpunkt der Romane, Erzählungen, Dramen und Gedichte.

2 Czesław Miłosz: Die Dichtkunst zwischen Erfahrung und Geschichte 1981 und 1982 sprach Czesław Miłosz im Rahmen der Charles Eliot Norton Lectures an der Universität Harvard, mit der er thematisch an seine Nobelpreisrede aus

3.7 Historische oder gedächtnistheoretische Argumente

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dem Vorjahr anknüpft, in sechs Vorträgen über The Witness of Poetry. Als langjähriger Professor am Department of Slavic Languages and Literatures an der University of California in Berkeley ist Miłosz die Rede vor akademischem Publikum nicht fremd und so tritt er in Harvard auch als poeta doctus auf, der den großen literaturhistorischen Bogen von der Aufklärung bis in das 20. Jahrhundert versiert zu spannen weiß und dabei zahlreiche Gewährsleute aus der europäischen und amerikanischen Literatur aufzurufen vermag. Miłosz stellt seine Vorlesung unausgesprochen in die Tradition einer Apologie, die wie schon einst bei Philip Sidneys Defence of Poesy (posthum 1595) um den Platz des Poetischen im historischen und philosophischen Feld streitet und für eine distinkte Realität der Dichtung wirbt. Wo der Romantiker Percy Bysshe Shelley 250 Jahre nach Sidney in seiner eigenen Defence of Poetry (posthum 1840) der Literatur noch eine moralische Funktion und gesetzgebende Kraft attestiert, kann Miłosz davon im letzten Fünftel des 20. Jahrhunderts sicherlich nicht sprechen. Stattdessen besteht er nachdrücklich auf einer erinnernden Aufgabe von Literatur. Dass seine mäandernden, formlosen Ausführungen seinen Zuhörer: innen einiges zugemutet haben, lassen zeitgenössische Reaktionen wie in der New York Times vermuten: „What Mr. Miłosz’s Harvard audience made of his brilliant but scattered observations is anybody‘s guess“ (Kazin 1983). Miłosz adressiert in der Vorlesung neben seiner eng mit seinem Werk verwobenen Biographie als polnischer Exilschriftsteller die verschiedenen Probleme und Funktionen zeitgenössischer Literatur, indem er Aspekte seiner Lebensgeschichte mit theoretischen Reflexionen über Dichtung verknüpft. Seine Ausgansposition ist ein Verständnis von Dichtung als Zeugin. Was der Genitiv des amerikanischen Titels noch offen lässt, nämlich wer eigentlich wen oder was bezeugt, stellt Miłosz eingangs klar: Die Dichtkunst sei die Zeugin, „not because we witness it, but because it witnesses us“ (Miłosz 1983, 4). Miłosz ruft damit den Topos einer politisch-historischen Zeugenschaft der Literatur auf, dem ein dezidiert engagiertes Kunstverständnis inhärent ist (Kotonen 2017, 164). Die Literatur des 20. Jahrhunderts „testifies to serious disturbances in our perception of the world“ (1983, 17), so Miłosz. Sie kann in seinen Augen eine zuverlässigere Zeugin sein als der Journalismus (Miłosz 1983, 16), obgleich dies auf einer anderen Ebene geschieht, wie er einräumt. Der nicht unumstrittene Begriff der Authentizität wird hier von Miłosz als Grund angeführt. „[P]oetry is a palimpsest“, schreibt er, und sie „provides testimony to its epoch“ (Miłosz 1983, 11). Die Denkfigur des Palimpsests, die sich an romantischen Vorstellungen eines Gedächtnisbilds orientiert (Assmann 2006 [1999], 154), bietet sich an, um das Verhältnis von Dichtung und Realität nicht als ausschließlich mimetisch zu beschreiben, denn „what sort of testimony about our century is being established by poetry“ (Miłosz 1983, 11) ließe sich mit Gewissheit noch nicht sagen.

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Doch was kann die Dichtung als ästhetisches Medium wirklich bezeugen? Literatur steht für Miłosz zwischen allgemeiner Geschichte und individueller Erfahrung des Einzelnen. Die Dichterfigur wird so zur romantischen Mittlerin zwischen dem Universalen und dem Singulären. Miłosz lehnt ein marxistisches Verständnis von Literatur als Spiegel der Gesellschaft ab, ebenso den Wunsch nach autotelischer Dichtung im Sinne von l’art pour l’art. Ein „[f]undamental antagonism between Art and the world“ (Miłosz 1983, 49), so wie er seit Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrscht, ist aus seiner Perspektive problematisch. So gebe es eine Tendenz seit Mallarmé, dass Dichter:innen sich von der Gesellschaft isolieren, doch Miłosz verdeutlicht die Notwendigkeit, dass Autor:innen an der „great human family“ (1983, 49) Anteil nehmen und haben müssen. Sein Ideal einer weltverbundenen Literatur sieht er noch in der Romantik verwirklicht. Es nimmt daher kaum wunder, dass sich Miłosz anerkennend auf den polnischen Autor Adam Mickiewicz bezieht, in dessen Tradition er sich stellt (Miłosz 1983, 12). Ebenso wichtig ist für ihn sein entfernter Verwandter, der auf Französisch schreibende litauische Dichter und Diplomat Oscar Miłosz (Miłosz 1983, 24). Miłosz würdigt ausführlich dessen literarische Programmatik. So habe er von ihm gelernt, sich literarischer Moden zu entziehen und dass Dichtung keinem persönlichen Selbstzweck dienen dürfe. Es gehe darum, „personal experiences“ (Miłosz 1983, 27) zu verallgemeinern. Eine seiner Vorlesungen, „Ruins and Poetry“ betitelt, ist jenen polnischen Literat:innen gewidmet, die, im Sinne seines gewünschten „passionate pursuit of the Real“ (Miłosz 1983, 25), ein Zeugnis ihre Epoche abgelegt und insbesondere den Erfahrungen des Krieges Ausdruck verliehen haben. Diesen Autor:innen fühlt Miłosz sich verbunden. Seine späte Lyrik, etwa Gedichte wie Sarajevo (1995), zeugen von diesem politischen Verständnis des Schreibens. Dichter würden verzweifeln, wenn sie erführen, „that their words refer only to words and not a reality which must be described as faithfully as possible.“ (Miłosz 1983, 49). In diesem Realitätsappell liegt auch die erinnernde Funktion der Dichtung begründet, die Miłosz lakonisch wie folgt versteht: „To make present what is gone by“ (1983, 114).

3 Günter Grass: Adorno schreibend widerlegen Nur wenige Monate nach dem Mauerfall und im Jahr der deutschen Einheit war Günter Grass eingeladen, im Rahmen der renommierten Stiftungsgastdozentur für Poetik der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, die seit 1959 besteht, über sein Werk aus 35 Jahren zu sprechen. Am 13. Februar 1990 hielt Grass seine Vorlesung über das Schreiben nach Auschwitz in Frankfurt und mit einer Einführung von Christoph Hein nochmals am 25. Februar in der Deutschen Staats-

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oper in (Ost‐)Berlin, wo die Vortragsreihe als Nachdenken über Deutschland stattfand. Dass Grass genau in jener Zeit, in der die Nachkriegsordnung sich dem Ende zuneigte, seinen Blick vehement auf Auschwitz, das zur Metonymie für den Holocaust gewordene Vernichtungslager, richtet und von dort ausgehend seine (Werk‐)Biographie erzählt, erscheint nur konsequent. Es ist kein Schlussstrich, den Grass, der am Ende der Vorlesung „dem deutschen Verlangen nach Wiedervereinigung“ (Grass 1990, 41) mit kritischen Worten begegnet, ziehen möchte, sondern vielmehr eine Zwischenbilanz, die Auschwitz als fortwährenden Auftrag an Kultur und Gesellschaft begreift. Grass beginnt die Vorlesung mit einer biographischen Einlassung zu seinem „Zustand im Mai 1945“ (Grass 1990, 7), als er siebzehn Jahre alt war. Freilich spart er das Eingeständnis seiner jugendlichen Mitgliedschaft bei der Waffen-SS aus, die er erst im Jahr 2006 mit der Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel publik macht, und spricht hier nur allgemein von „Luftwaffenhelferzeit“ (Grass 1990, 8). Seine erste Reaktion, als er von den NS-Verbrechen, die „unter dem Begriff Auschwitz summiert sind“, hört, ist nicht nur Abwehr, sondern Leugnung (Grass 1990, 8). Doch die „zwingende Gegenständlichkeit“ (Grass 1990, 9) des Beweismaterials – Grass nennt hier insbesondere Fotografien – führt schließlich zu der Erkenntnis, dass sich die „Schande […] weder verdrängen noch bewältigen“ (Grass 1990, 9) werden lasse. Daher verweigert sich Auschwitz der (ästhetischen) Abstraktion und ist auch sprachlich „nie zu begreifen“ (Grass 1990, 9). Aus diesem nichtsprachlichen ‚Unbegriff‘ resultiert für Grass dessen konstante Gegenwärtigkeit. Grass setzt sich für ein Verständnis des Holocausts als einzigartiges sowie universales Ereignis ein und nimmt damit implizit Bezug auf den 1986 durch Ernst Nolte ausgelösten Historikerstreit über die, so Nolte, „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ (1987, 39). Damit stellte Nolte die Singularität des Holocausts im Kontext anderer Genozide in Frage und zweifelte dessen identitätsstiftende Bedeutung für die deutsche Erinnerungskultur an. „Das Ungeheure“, so Grass, „auf den Namen Auschwitz gebracht, ist […] eben nicht vergleichbar“ (Grass 1990, 9). Es handle sich bei Auschwitz um eine „Zäsur“ (Grass 1990, 10, 14) in der Menschheitsgeschichte. Gerade aufgrund der Unfassbarkeit des Geschehenen fragt sich insbesondere ein Schriftsteller, so Grass in Nachgang von Adorno, wie Schreiben nach Ausschwitz noch möglich war und ist. Adorno formulierte bekanntlich den Satz: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ (Adorno 1977, 30). Er steht im 1951 publizierten Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft geschrieben und hat sich seither als aphoristisches Verdikt verselbständigt. Grass versteht Adornos berühmtes Diktum ausdrücklich nicht als eine „Verbotstafel“, sondern als „Maßstab“ (Grass 1990, 14), weil man sonst den Kontext, in dem es verlautbart wurde, verkenne. Auf diesen geht Grass jedoch nicht näher ein; er betont mithin nicht, dass Adorno tatsächlich aus-

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drücklich von Lyrik im Speziellen und nicht von Literatur im Allgemeinen sprach. Er erläutert außerdem auch nicht, dass Adorno mit dem Satz ein tiefes Misstrauen gegenüber der Kultur insgesamt ausdrückte – auch gegenüber dem Prozess ihrer Reflexion, also der Kulturkritik. Dies fresse, so Adorno, auch die „Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ (Adorno 1977, 30). Weiterhin lässt Grass Adornos eigenen Umgang mit seiner apodiktisch klingenden These, die er mehrfach kritisch reflektierte und auch teils revidierte bzw. zu disambiguieren suchte, unerwähnt. Die Erkenntnis, dass Auschwitz „kein Ende hat“ (Grass 1990, 30), verdankt Grass den Gesprächen mit Paul Celan, mit dem er in den späten 1950er Jahren in Paris ein freundschaftliches Verhältnis pflegte.Wenn Auschwitz kein Ende hat, so gibt es auch kein Schreiben danach, sondern nur darin. Aus dieser Perspektive erhält auch Adornos Satz eine neue Dimension des Verstehens dergestalt, dass das Schreiben eingedenk Auschwitz sein muss und keinen Schlussstrich ziehen darf. Grass führt sein eigenes, 1960 veröffentlichtes Gedicht Askese als ein „programmatisches“ (Grass 1990, 16) an, das diesem eigenen Maßstab entspreche. Das fünfstrophige Gedicht gebraucht wiederholt das Modalverb „sollen“ in imperativer Form, indem es dem adressierten „Du“ Gebote auferlegt, etwa: „du sollst die graue Farbe lieben“. Am Ende steht die Aufforderung: „Schreib Askese“, was Grass als eine indirekte Antwort auf Adorno verstanden wissen will, „indem es als metaphorisch umschriebener Reflex in eigener Sache Grenzen setzt“ (Grass 1990, 18). Die alten Gewissheiten, so ließe sich Grass’ Gedicht deuten, sind nunmehr vorüber; stattdessen bricht eine Zeit der Grautöne an. Grass formuliert ein Programm der Skepsis und eine Aufforderung zur Kritik, die auch Adorno Genüge tun soll, um letztlich dessen Gebot „schreibend zu wiederlegen“ (Grass 1990, 18) und es damit dennoch zu befolgen. Dieses paradoxe Vorgehen erinnert an Hugo von Hofmannsthals Ein Brief (1902), dessen sprachskeptische Klage im performativen Widerspruch zum Sprechakt selbst steht. Der „Verzicht auf reine Farbe“ und „Grau und dessen unendliche Abstufungen“ (Grass 1990, 18) markieren bei Grass den dauernden Zweifel. Verse wie „Du sollst dich mit dem Abendblatt, / in Sacktusch wie Kartoffeln kleiden / und diesen Anzug immer wieder wenden / und nie in neuem Anzug sein“ (Grass 1990, 16) sind eine direkte Absage an einen Schlussstrich unter Auschwitz. Im Mittelpunkt des Gedichts steht die Verwendung von „beschädigter Sprache“ (Grass 1990, 19). Grass dringt so in den Kernbereich der Literatur vor, indem er anerkennt, dass die Sprache selbst nicht unschuldig sein kann und es notwendig ist, diese Einsicht – freilich im eigenen Medium – zur Darstellung zu bringen. Das bedeutet für ihn, dass man sich nicht „artistisch, kunstverliebt bis ins Künstliche“, „mit […] blumig plusternden Genitivmeta-

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phern“, „angerilkte[r]“ Sprache oder mit „Klingklang“ (Grass 1990, 19) äußern dürfe. Grass formuliert das Gebot einer realistischen Sprache. Damit verbunden ist auch eine Kritik an der Gruppe 47. Grass moniert die Eindeutigkeit mancher Texte, die sich „mit Hilfe positiver Helden“ gegen den Nationalsozialismus aussprachen – er bezeichnet das als „nachgeholte[n] Antifaschismus“ (Grass 1990, 22). Die ihm selbst entgegengebrachte Kritik hingegen empfindet Grass etwas larmoyant als ungerechtfertigt, etwa wenn er sich beschwert, er sei seit der Blechtrommel (1959) auf ein einziges Thema, Danzig, festgelegt worden. Wozu auch immer er geschrieben habe, habe es geheißen: „Er sollte lieber bei Danzig und seinen Kaschuben bleiben.“ (Grass 1990, 33). Dabei will er nicht stehen bleiben. Er plädiert dafür, sich mit der eigenen Gegenwart zu befassen, und schlägt den Neologismus „Vergegenkunft“ (Grass 1990, 33) vor, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schreibend verquickt werden. Grass plädiert für eine engagierte Literatur, in der der Autor sich „als Zeitgenosse sieht“ (Grass 1990, 36). Der atomare Konflikt in den 1980er Jahren zum Beispiel veranlasst ihn, die Rättin (1986) zu schreiben; aus heutiger Perspektive ließe sich auch die Novelle Im Krebsgang (2002) ergänzen, die den historischen Stoff um die Versenkung der Wilhelm Gustloff mit Neonazis und dem Internet als Radikalisierungsraum verbindet. Zwar entfernt Grass sich zwischenzeitlich vom Bezug zum Titel der Vorlesung, kommt aber am Ende noch einmal darauf zurück. Er bilanziert, dass die Voraussetzung für Ausschwitz auch „ein starkes, […] geeinte[s] Deutschland gewesen ist“ (Grass 1990, 41), weshalb man sich vor der Einheit fürchten müsse. Er folgert (die Wortwahl ist unglücklich), man müsse Ausschwitz bzw. die Einsicht, die es ermögliche, „als Gewinn!“ (Grass 1990, 42) in der deutschen Geschichte platzieren, womit sicherlich ein Bekenntnis zu dessen Unumstößlichkeit in der deutschen Erinnerungskultur gemeint ist.

4 W. G. Sebald: Poetologie und Polemik Als eine Poetikvorlesung, die auch jenseits des germanistischen Fachpublikums zahlreiche Reaktionen provoziert hat, gelten die im Oktober, November und Dezember 1997 im Zürcher Puppentheater gehaltenen drei Vorträge W. G. Sebalds mit dem Titel Luftkrieg und Literatur. Zur Geschichte und Naturgeschichte der Zerstörung. Die Alliteration des Haupttitels ist indes das einzig Wohlige an Sebalds Vorlesung. In ihr vertritt er die umstrittene These, dass die Zerstörung deutscher Städte durch die Alliierten im zweiten Weltkrieg in der Nachkriegsliteratur keinen erinnernden Platz gehabt hätte. Sebald bezieht sich insbesondere auf die soge-

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nannte Operation Gomorrha, eine Serie von Flächenbombardements auf Hamburg im Jahr 1943. 1999 veröffentlichte Sebald eine überarbeitete Schriftfassung der Vorlesung, in der er auf „extensive Selbstzitate“ (Sebald 2003, 5), also auf die poetologische Schau auf das eigene Werk, leider verzichtet. Diesen Konnex herzustellen, bleibt so den Kenner:innen von Sebalds Schriften überlassen. Im eigens für die Veröffentlichung verfassten dritten Teil verarbeitet er bereits die kritischen Reaktionen auf seine Vorträge, indem er oftmals süffisant Leserbriefe paraphrasiert und kommentiert. Teils wörtlich übereinstimmend übernimmt Sebald zudem Passagen aus seinem Aufsatz Zwischen Geschichte und Naturgeschichte über die Autoren Hermann Kasack, Hans Erich Nossack und Alexander Kluge aus dem Jahr 1982 in die Vorlesung. Mithin handelt es sich damit um einen Gegenstand, der Sebald beinahe zwei Jahrzehnte beschäftigte. Die Druckausgabe umfasst außerdem einen Wiederabdruck von Sebalds Aufsatz über Alfred Andersch (erstmals 1993 in Lettre Internationale), ein Autor der Gruppe 47, dessen Verhalten während der NS-Zeit von ihm mit großer Schärfe als moralisch bigott kritisiert wird. Diese Debatte soll im Folgenden aber keine Rolle spielen, wenngleich sie sicherlich eng verwoben mit den Diskursen der Zürcher Poetikvorlesung ist. Sebald beginnt in seinem Vorwort mit der Feststellung, die Luftangriffe im Deutschen Reich hätten, obwohl er, Jahrgang 1944, vor dem Kriegsgeschehen in Sicherheit gewesen sei, „Spuren in meinem Gedächtnis hinterlassen“ (Sebald 2003, 5). Auch wenn er sich bemüht, diese Spuren durch Verknüpfungen des Luftkriegs mit seiner Biographie zu plausibilisieren (Sebald 2003, 75 – 84), folgt dies jedoch nur einer assoziativ-literarischen, weniger einer kausalen Logik, worauf Nicolas Pethes (2017, 97) zurecht hinweist. Die nun folgende Prämisse der Vorlesung lautet, dass die Bomben auf Deutschland ein Tabu in der Nachkriegsliteratur gewesen seien. Es handle sich um eine „einzigartige Vernichtungsaktion“ (Sebald 2003, 11), die „kaum eine Schmerzenspur hinterlassen zu haben“ (2003, 12) scheint. Benjamins wiederkehrender erinnerungspoetischer Begriff der Spur als „Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ“ (Benjamin 1982, 560) ist auch für Sebalds Prosa relevant, z. B. für die im Roman Austerlitz (2001) erzählte Lebensgeschichte der gleichnamigen Hauptfigur. Sebald nimmt an, dass die von ihm konstatierte kollektive Verdrängung der Bombardements der Motor des Nachkriegserfolgs der Deutschen war (Sebald 2003, 19 – 20), ohne jedoch explizit auf den anderen wesentlichen Verdrängungsakt nach 1945 zu verweisen: die Morde in den deutschen Konzentrationslagern. Es ist typisch für Sebalds Texte, dass Gespensterfiguren als anwesend Abwesende einen Einfluss auf die Gegenwart haben. So spricht er von einem „bis

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heute nicht zum Versiegen gekommene[n] Strom psychischer Energie, dessen Quelle das von uns allen gehütete Geheimnis der in die Grundfesten unseres Staatswesens eingemauerten Leichen ist“ (Sebald 2003, 20). Sebald interessiert sich demnach für die „Unfähigkeit zu Trauern“ (Alexander und Margarete Mitscherlich 2007 [1967]), nämlich dafür wie die Menschen im Angesicht der Katastrophe einfach weitermachten und an ihrer „kleinbürgerlichen Kaffeeordnung“ (Sebald 2003, 48) festhielten, obwohl die Nachbarstadt in Schutt und Asche lag. Dieser Vorgang, nämlich das Unglück durch eine ostentative Praxis des Alltäglichen zu verschleiern, ist in vielen seiner Erzähltexte präsent, so etwa – dort indes als bewusste Täuschung – in der ‚Potemkinschen Lebensweise‘ der Insassen des KZs Theresienstadt im NS-Propagandafilm Theresienstadt (1945), der in Austerlitz prominent Erwähnung findet (Sebald 2008 [2001], 335 – 359). Für das behauptete Tabu der Sprachlosigkeit im Nachgang der Bombardements sind für Sebald auch verschiedene Autorenmilieus verantwortlich: Die Autoren der sogenannten ‚inneren Emigration‘ wollten sich einen neuen Ruf erwerben, die heimgekehrten jüngeren Autoren waren vornehmlich auf Kriegsberichte fixiert; beide wagten jedoch keine Beschäftigung mit den „allerorten sichtbaren Schrecken der Zeit“ (Sebald 2003, 17) – nicht einmal Heinrich Böll, dessen Der Engel schwieg ja erst posthum 1992 veröffentlicht wurde. Auch viele Augenzeugenberichte seien, so Sebald, oft formelhaft, weshalb diese für ihn auch nicht als Gegenargument für eine doch vorhandene Erinnerungskultur gelten können. Scharf und bisweilen polemisch urteilt Sebald über die wenigen Versuche der Nachkriegsliteratur, den Bombenkrieg zu literarisieren. An Kasack (Die Stadt hinter dem Strom, 1947) und Nossack (Nekyia: Bericht eines Überlebenden, 1947) kritisiert er „die Versuchung, die realen Schrecken der Zeit durch Abstraktionskunst und metaphysische Schwindel zum Verschwinden zu bringen“ (Sebald 2003, 56). Insbesondere ersterem attestiert er mangelnden Realismus. Peter de Mendelssohn (Die Kathedrale, erst 1983 veröffentlicht) erscheint ihm schlicht peinlich und er unterstellt ihm eine „fatale Neigung zum Melodramatischen“ (Sebald 2003, 60). Auch Arno Schmidt (Aus dem Leben eines Fauns, 1953) ist nicht vor Kritik gefeit: Seine manieristische Kunstsprache – sie sei „eifrig und verbissen“ – vermöge es nicht, das Dargestellte zu zeigen (Sebald 2003, 64). Ausführlich und positiv bezieht Sebald sich hingegen auf Kluges Bericht über den Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 von 1977, an dem er sowohl dessen Ironie als auch Fortschrittskritik schätzt und dessen Blick auf die Stadt in Trümmern er mit der „Entsetzensstarre des Engels der Geschichte“ (Sebald 2003, 73) von Benjamin vergleicht. Wesentlich für Sebald ist die Idee einer noch zu schreibenden Naturgeschichte der Zerstörung – ein Ausdruck, den er sich vom

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britischen Kriegsberichterstatter Solly Zuckerman borgt (Sebald 2003, 38). Mit Blick auf Sebalds eigenes Werk darf dieses selbst als eine solche Geschichte verstanden werden, insofern es die Katastrophen des 20. Jahrhunderts im Sinne Adornos als ein Scheitern und zugleich als eine Konsequenz der Aufklärung versteht. Das alles hat Sebald im Feuilleton wie in der literaturwissenschaftlichen Rezeption sowohl Zustimmung als auch deutliche Kritik eingebracht; in einer umfangreichen Studie hat Volker Hage zudem die Kernthese Sebalds relativiert und sieht das Problem weniger in der geringen Textproduktion von (Augenzeugen‐)Berichten, sondern eher in ihrer mangelnden Rezeption (Hage 2003, 119). Den vereinzelten Vorwürfen, die NS-Verbrechen mit dem Gegennarrativ eines deutschen Opfermythos zu relativieren, tritt Sebald zumindest gen Ende des Textes deutlich entgegen: „Die Mehrheit der Deutschen weiß heute, so hofft man zumindest, daß wir die Vernichtung der Städte, in denen wir einst lebten, geradezu provozierten“ (Sebald 2003, 109). Die Vorlesungen sind, trotz ihrer Überarbeitung für die Buchfassung, eine Kombination aus Poetologie, literaturwissenschaftlicher bzw. kulturhistorischer Analyse, geschichtsphilosophischer Überlegung, Literaturkritik bis hin zur Polemik, literarischem Text (v. a. wenn Sebald kunstvoll den Luftangriff auf Hamburg beschreibt), Autobiographie und Intertext zum eigenen Werk. In jedem Fall bleibt der Text, u. a. auch bedingt durch diese Mannigfaltigkeit, inkonsistent in seiner Argumentation. Je nachdem aus welcher Perspektive man ihn rezipiert, ergeben sich Schwierigkeiten sowie ebenso auch Gewinnbringendes. Diese Multimodalität macht ihn angreifbar, aber zugleich auch seinen intellektuellen Reiz aus.

5 Toni Morrison: Die Literatur der Zugehörigkeit Mit den Geistern der Vergangenheit ihrer Heimat, den Vereinigten Staaten, lässt sich auch Toni Morrison ein: Rassismus und Kolonialismus sind die Gegenstände ihrer Norton Lectures, die sie im März und April 2016 im Sanders Theatre der Universität Harvard hielt. Es gehe bei Morrisons Vorträgen, so der Autor und Journalist Ta-Nehisi Coates, um die „literature of belonging“ (Morrison 2017, VII). Zugehörigkeit und Identität sind zweifellos Themen, die bestimmend für Morrisons mit zahlreichen renommierten Preisen bedachtes Œuvre sind. Mit Blick auf ihr eigenes Schreiben, etwa in ihren Romanen wie Beloved (1988) oder Paradise (1997), untersucht Morrison, wie die rassistisch-kolonialistische Ideologie ein kontingentes Phänomen wie Hautfarbe erst zum Differenzbegriff Race diskursiviert; eine Kategorie, deren Wirkmacht die (US‐)Geschichte wie keine zweite ge-

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prägt hat: „Race has been a constant arbiter of difference, as have wealth, class, and gender“ (Morrison 2017, 3). Der „thrill of belonging“ (Morrison 2017, 15), also das Bedürfnis, Teil von etwas Größerem als einem selbst zu sein, ist ein wesentlicher Grund für den Prozess des Othering, so Morrison. An dieser Stelle kommt das für die Vorlesungen titelgebende Andere ins Spiel. Die Autorin fragt nach dem Ursprung von Alterität und nach den psychohistorischen Ursachen dafür, dass bestimmte Gruppen, hier der weiße Bevölkerungsteil der USA, andere Menschen als das Fremde ausgrenzen (und zugleich durch die Praxis der Sklaverei über sie verfügen wollten). Dies verbindet Morrison mit Re-Lektüren ihrer eigenen Texte, derer anderer, vornehmlich US-amerikanischer Autor:innen (z. B. William Faulkner, Ernest Hemingway, Hariett Beecher Stowe und Flannery O’Connor) sowie historischer Quellen, etwa dem Tagebuch eines Sklavenhalters oder den eugenischen Theorien Samuel Cartwrights. Ihren ersten Vortrag eröffnet Morrison mit einer Kindheitserinnerung. Der Ungenauigkeit des Datums („1932 or 1933“ [Morrison 2017, 1]) setzt sie die exakte Beschreibung des Erinnerten selbst entgegen: Ihre Urgroßmutter kommt zu Besuch, das Ungeheuerliche geschieht. Sie schaut die Urenkelinnen, Morrison und ihre Schwester, an, und empört sich gegenüber der Mutter: „These children have been tampered with“ (Morrison 2017, 2). Ihr Schwarzsein sei verpfuscht, nicht rein. Othering anhand der Hautfarbe, das verdeutlicht Morrison, findet auch innerhalb Schwarzer Communities und Familien statt; sie nennt es „racial self-loathing“ (Morrison 2017, 14). Dies ist das erste Mal, dass sie sich als Andere fühlt und es ist offenbar ein Moment, der ihr Schreiben maßgeblich beeinflusst hat, z. B. ihr Debut The Bluest Eye (1970). Weiterhin untersucht Morrison in ihrer ersten Vorlesung literarische Versuche, die Sklaverei zu romantisieren. Uncle Tom’s Cabin, Beecher Stowes Erfolgsroman von 1852, dient ihr als Beispiel. Die Angst, die weiße Menschen verspürt hätten, wenn sie sich den Häusern Schwarzer Menschen näherten, kennt und antizipiert Beecher Stowe, weshalb sie das räumliche Setting der Hütte von Tom literarisch als locus amoenus mit einem einladenden und kultivierten Garten ausstaffiert. Diese kultivierende Zähmung überträgt sich somit auch auf ihre ‚glücklichen‘ Bewohnerinnen, sodass von ihnen für die Weißen keine Gefahr ausgehen könne (Morrison 2017, 10 – 14). Jener literarischen Sentimentalisierung von Sklaverei hält sie in der zweiten Vorlesung eine Lektüre von Flannery O’Connors Kurzgeschichte mit dem (rassistischen) Titel The Artificial Nigger (1955) entgegen. Zwei Weiße, ein Junge und sein Großvater, verlaufen sich in einer Schwarzen Nachbarschaft. Dort hält sie das angsteinflößende Fremde zusammen. Doch als sie wieder in eine weiße Gegend kommen, sind sie voneinander entfremdet: „When finally they enter an all-white

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neighborhood, their fear of not belonging, of becoming, themselves, the stranger, destabilizes them“ (Morrison 2017, 23). Ohne das Fremde werden sie einander selbst zum Fremden. Nur die Begegnung mit der titelgebenden Statuette eines Schwarzen Mannes – ein sog. lawn jockey, typischerweise in Vorgärten zur Zierde ausgestellt – führt Großvater und Enkel wieder zusammen. Die Figur ist eine Metapher für das Fremde, das beide in Abgrenzung geradezu benötigen. Morrison liest das in der Geschichte geschehene als eine erfolgreiche Ausbildung zum Rassismus des Jungen durch den Alten, als eine Illusion von Macht durch die Erfindung eines Anderen (Morrison 2017, 19 – 24). Sie folgt damit dem US-Politologen Bruce Baum, den sie zitiert: „Race, in short, is an effect of power“ (Morrison 2017, 25). In ihrem dritten Vortrag diskutiert sie, wie Faulkner und Hemingway rassifizierte Topoi für ihre Plots und Figuren nutzen. So unterhält sich im HemingwayRoman The Garden of Eden (1986) ein junges Liebespaar, das darüber phantasiert, weiter gen Süden zu reisen. Morrison zitiert die weibliche Figur: „I want us to get darker […]. Doesn’t it make you excited to have me getting so dark?“ Er liebe dies, antwortet der Mann (Morrison 2017, 45 – 47). Diesem offensichtlichen erotisierten color fetish setzt Morrison ihren eigenen literarischen Umgang mit Hautfarbe entgegen. Sie entscheidet sich, ein Verwirrspiel daraus zu machen, etwa indem sie die Hautfarbe von Protagonistinnen gar nicht erst nennt („technique of racial erasure; Morrison 2017, 52“) oder den Fetisch wiederum offensiv thematisiert. Die letzten drei Vorträge knüpfen noch einmal an die Hierarchisierung von Hautfarbe an, die sich innerhalb Schwarzer Communities herausbilden kann. „Once blackness is accepted as socially, poetically, and medically defined, how does that definition affect black people?“ (2017, 58), fragt Morrison. Es gebe dann ein „color coding“ (Morrison 2017, 64) untereinander, ein Thema, das sie in ihrem Roman Paradise aufgreift. Einen besonderen Platz räumt sie Laye Camaras Roman Le Regard du Roi (1954) ein, der es vermöge, jenes Afrika, das Joseph Conrad und anderen nur als ein kolonialer Spiel- und Schauplatz diente, auf eine neue Weise darzustellen. Bei diesem Positivbeispiel scheitere der rassistische Blick. Morrison positioniert in den Harvarder Vorträgen ihr Werk im literarischen Feld der USA des 19. und 20. Jahrhunderts. In Abgrenzung zu anderen Autor:innen profiliert sie ihren eigenen literarischen Umgang mit der Dichotomie von Eigenem und Fremden. Da Morrison 2019 starb und ihren letzten Roman nicht vollenden konnte, liest sich die Vorlesung auch als poetologische Bilanz eines Lebenswerks.

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6 Fazit Den untersuchten Poetikvorlesungen ist eine auffällige Gemeinsamkeit zu eigen: die implizite oder explizite Aufforderung, Literatur am Realen auszurichten. So spricht Miłosz, wie bereits zitiert, vom „passionate pursuit of the Real“ (Miłosz 1983, 25), einem Streben nach Realität, das die Literatur zu befolgen habe. Interessant daran ist freilich das Wort ‚leidenschaftlich‘, weil es die affektive Qualität des Schreibens verdeutlicht und somit klar über die journalistische Berichterstattung hinausgeht. Nur wie dieses affektive Schreiben schriftstellerisch zum Ausdruck kommen soll, darin lässt sich bei den hier untersuchten Autor: innen keine klare Übereinstimmung herstellen. Grass erteilt jedweder gekünstelten Sprache eine deutliche Absage und fordert eine angemessene Wortwahl, die sich aus der Konfrontation mit Auschwitz herleitet (die graue Farbe soll dies metaphorisch illustrieren). Ähnliches kritisiert Sebald. Ihm gilt die bisherige Literarisierung eines spezifischen historischen und somit realen Ereignisses, der Luftangriffe, als nicht gelungen. Bei den wenigen von ihm vorgestellten Versuchen kritisiert er insbesondere ihre symbolistische oder manieristische Ästhetik. Die Realität des Geschehenen erfordert für Sebald somit einen Realismus der Literatur. Im Subtext äußert sich auch Morrison hierzu; ihre Kritik zielt ja unter anderem auf den Gebrauch rassifizierter Topoi anderer Autor:innen, also auf das negative Potenzial der Fiktion, real erlebbare (post‐)koloniale Mechanismen und Diskurse der Unterdrückung durch die sprachliche Reproduktion von Stereotypen, Klischees und Vorurteilen zu stützen. Keine:r der vier Autor:innen arbeitet indes eine dezidierte realistische Poetik heraus und ob ihr eigenes Werk den oben skizzierten Ansprüchen stets gerecht wird, bleibt mehr als fraglich. Die aristotelische Legitimation literarischer Autonomie argumentiert bekanntlich dergestalt, dass die historische und literarische Wahrscheinlichkeit voneinander geschieden sind. Das gilt für die hier untersuchten Poetologien, insbesondere im Anbetracht der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, nur eingeschränkt. Literarisches Schreiben vollzieht sich in der Wirklichkeit; jegliche Fiktionalisierung ist mithin abhängig von dieser Wirklichkeit und die Mimesis muss sich, in diesem Sinne ganz platonisch, an ihr messen lassen. Wenn eingangs mit Aleida Assmanns Bezug auf Thomasin von Zerclaere festgestellt wurde, dass die Dichter Expert:innen für die Verschränkung von Memoria und Imaginatio sind, so heben die hier gelesenen Poetikvorlesungen doch ganz offensichtlich die äußerst hohen Anforderungen der Memoria hervor, denen die Imaginatio genügen muss. So ist tatsächlich ein spezifisch dichterisches Expert:innentum nötig, um dies zu verwirklichen.

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Stefan Willer

3.8 Epistemologische Argumente: Literatur, Wissen und Wissenschaften Poetikvorlesungen stehen in einer gattungskonstitutiven Spannung zwischen Literatur und Wissenschaft. Sie sind Kommunikationen über Literatur, die im Rahmen wissenschaftlicher Institutionen stattfinden, aber von Personen verfertigt werden, die in der Regel nicht diesen Institutionen angehören. Daraus wird in vielen Poetikvorlesungen ein Gegensatz zwischen wissenschaftlicher Wissensproduktion und autorschaftlich-poetologischer Selbstreflexion abgeleitet, den die vortragenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller wiederum auf verschiedene Weise betonen oder überbrücken können, etwa durch den Bezug auf eigene Erfahrungen im Wissenschaftssystem (Studium, Forschung, Lehre), durch die Bemühung um Wissenschaftlichkeit des Vortrags oder durch deren Verweigerung. Von solchen eher habituellen Fragen zu unterscheiden sind ausdrückliche Reflexionen des Verhältnisses von Literatur und Wissenschaft. Bei diesen geht es nicht nur um die Auseinandersetzung mit der Situation der jeweiligen Poetikvorlesung, sondern um generelle Probleme literarischer Wissensproduktion und Erkenntnisgewinnung, also um eine epistemologische Argumentation. Die dabei verhandelten Probleme sind komplex. Sie betreffen die Abgrenzbarkeit der Entitäten ‚Literatur‘ und ‚Wissenschaft‘ als solcher und die Eigentümlichkeiten des literarischen oder des wissenschaftlichen Weltbezugs, außerdem die Notwendigkeit interner Differenzierungen (z. B. zwischen verschiedenen literarischen Gattungen oder verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen) und die Erwägung eines genuinen ‚Wissens der Literatur‘. Epistemologische Argumentationen haben eine lange Tradition in der (Vor‐) Geschichte der Poetikvorlesungen, wie im Folgenden zunächst an den britischen Debatten über Literature and Science gezeigt werden soll, die von Matthew Arnold, C.P. Snow und Peter Medawar im Rahmen traditionsreicher Vortragsreihen geführt wurden. In einem zweiten Schritt geht es um die Frankfurter Poetikvorlesungen von Helmut Heißenbüttel (1963) und Friedrich Dürrenmatt (1984) sowie Ulrich Woelks Mainzer Vorlesung über Literatur und Physik (1993) in ihren durchaus unterschiedlichen Programmatiken szientifischer Literatur. Schließlich werden einige neuere Positionsbestimmungen gesichtet: die wissenspoetologisch ausgelegten Massey Lectures von Adam Gopnik (Winter. Five Windows on the Season, 2011) und Lawrence Hill (Blood: The Stuff of Life, 2013) und Monika Rincks Frankfurter Vorlesungen über Poesie und Zukunftswissen (Vorhersagen. Poesie und Prognose, 2020). https://doi.org/10.1515/9783110647884-027

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1 Literature and Science: Arnold, Snow, Medawar Im Jahr 1880 hielt der Biologe Thomas Henry Huxley den Festvortrag zur Eröffnung des Mason Science College in Birmingham, einer Stiftung des Industriellen Josiah Mason. Huxley, bekannt als streitbarer Verfechter der Darwin’schen Evolutionstheorie, begrüßte Masons Entscheidung, „mere literary instruction and education“ vom neuen College auszuschließen (Huxley 1882, 12). In seinem pointierten Vortrag mit dem Titel Science and Culture wendet er sich gegen die Einschätzung des Lyrikers und Kritikers Matthew Arnold, Kultur bedeute „to know the best that has been thought and said in the world“ (Arnold 1869, X). Dagegen setzt Huxley den ebenfalls von Arnold stammenden Ausdruck „criticism of life“, für den er seinerseits allerdings keinerlei kritische Praxis ins Feld führt, sondern die von den Naturwissenschaften zu ermittelnde „definite order with which nothing interferes“ (Huxley 1882, 16 und 21). Auch wenn er sich in erster Linie gegen die Verengung des literarischen Kanons auf die griechisch-römische Antike ausspricht, will Huxley von kultureller Bildung in seiner eigenen Argumentation insgesamt absehen („[l]eaving aside the existence of a great and characteristically modern literature, of modern painting, and, especially, of modern music“), um desto klarer „natural knowledge“ als entscheidenden kulturellen Gegenwartsfaktor hervorzuheben (Huxley 1882, 21). Matthew Arnolds mit Literature and Science überschriebene Replik entstand zwei Jahre später, als er von der University of Cambridge eingeladen wurde, die traditionsreiche Sir Robert Rede’s Lecture zu halten (White 2005, Vanvelk 2015). Arnold nutzt diesen Rahmen selbst als Argument, indem er sich in einer Reihe von „great names“ und „powerful single minds“ verortet (Arnold 1882, 218). Gegen den von Huxley beschriebenen Fortschrittstrend der Wissenschaften stehen also die großen Einzelbegabungen der kulturellen Tradition. Der Sache nach argumentiert Arnold für die Notwendigkeit, jegliches Wissen auf den erkennenden Menschen in seinem „sense for conduct“ und „sense for beauty“ zu beziehen, während die Naturwissenschaften nur „pieces of knowledge“ anzubieten hätten (Arnold 1882, 223 und 225). Das eigentliche Medium der Beziehungsstiftung ist für Arnold die Literatur, sofern man sie in den Traditionen des griechischen Altertums und der humanistischen Gelehrsamkeit auffasse, denn so, als humane letters, seien sie weitaus mehr als bloße belles lettres. Arnold bekräftigt also den von Huxley attackierten Traditionalismus, weist aber den Vorwurf eines zu engen Literaturbegriffs von sich: „All knowledge that reaches us through books is literature“ (Arnold 1882, 220). Im Jahr nach Matthew Arnold wurde niemand anderes als Huxley zum nächsten Vortragenden der Rede Lectures bestimmt – durchaus passend zum

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offen-diskursiven Charakter der Reihe, in der sich bis heute Vortragende aus den Natur- und Geisteswissenschaften abwechseln, ergänzt durch Praktiker aus Politik und Kultur, darunter immer wieder auch Schriftsteller. Einer von ihnen, C. P. Snow, hielt 1959 die wohl bekannteste aller Rede Lectures: The Two Cultures. Snow war nicht nur der Autor des bis dahin schon acht Bände umfassenden (später auf elf Bände erweiterten) Romanzyklus Strangers and Brothers, sondern auch ausgebildeter Physiker. Er spricht also – wie er besonders zu Beginn des Vortrags betont – für beide von ihm als polar entgegengesetzt begriffenen ‚Kulturen‘: „Literary intellectuals at one pole – at the other scientists, and as the most representative, the physical scientists. Between the two a gulf of mutual incomprehension“ (Snow 1969, 4; Collini 1969, Kreuzer 1969, Cohen 2001). Auch wenn sich Snow nicht explizit auf die Huxley-Arnold-Debatte beruft, nimmt er die daraus bekannten Positionsbestimmungen vor, etwa wenn er die Literaten auf „traditional culture“ und die Wissenschaftler auf „natural order“ verpflichtet (Snow 1969, 14). Der Vortrag wurde oft als schematische Festlegung der zwei Kulturen verstanden, so schon in der wütenden Entgegnung des Literaturkritikers F. R. Leavis in seiner Richmond Lecture von 1962 (ebenfalls in Cambridge). Snows eigentliches Thema ist aber das Dilemma der Sprachlosigkeit zwischen den Vertretern beider Kulturen (Barck 2003). Indem er exemplarische Zitate kontrastiert (T. S. Eliot mit Ernest Rutherford, George Orwell mit J. D. Bernal; Snow 1969, 5 und 101) will er aufzeigen, wie groß der Abstand geworden ist, deutet aber auch an, dass er durch wechselseitige Kenntnisnahme überbrückt werden könnte. Hinzu kommt ein Systemvergleich, demzufolge das Zwei-Kulturen-Problem vor allem in Großbritannien existiert, in den USA hingegen kaum und in der Sowjetunion gar nicht. Das hat nach Snow gravierende Auswirkungen auf den Umgang mit der „scientific revolution“ – worunter er nicht einfach wissenschaftlichen Fortschritt versteht, sondern „the application of real science to industry“ (Snow 1969, 29). Ablesbar sei das wiederum an der zeitgenössischen Literatur: Während in englischen Romanen die wissenschaftlich-technische Realität keine Rolle spiele, könnten sowjetische Romanautoren bei ihren Lesern offenbar Grundkenntnisse der industriellen Produktion voraussetzen (Snow 1969, 36 – 37). Die Literatur selbst wird so zum Gradmesser ihrer eigenen Nähe oder Distanz zu Fragen der scientific revolution. Als der Biologe und Wissenschaftsphilosoph Peter Medawar knapp zehn Jahre später für seine Oxforder Romanes Lecture das Thema Science and Literature wählte, antizipierte er angesichts des ‚abgedroschenen Themas‘ („hackneyed subject“) den Überdruss des Publikums: „Must we go into that again?“ (Medawar 1969, 529). Als Vorläufer nennt er außer Snow u. a. auch Aldous Huxley (den Enkel T. H. Huxleys), der seinem letzten Buch den Arnold’schen Titel Literature and Science gegeben und darin für den Ausgleich beider Entitäten auf der Grundlage

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eines gemeinsamen Fundaments im ‚Wissen‘ votiert hatte: „The precondition of any fruitful relationship between literature and science is knowledge“ (Huxley 1963, 71). Medawars Revision der Frage beruht hingegen auf Abgrenzungs-, ja Ausschlussbewegungen: „where they might be expected to cooperate, they compete“ (Medawar 1969, 530). Er benennt zwar mögliche Konvergenzpunkte – den Einsatz von Imagination, die Bedeutung des Stils, die Reflexion über wahrheitsfähige Aussagen –, distanziert sich aber deutlich von Versuchen der Grenzüberschreitung v. a. von wissenschaftlicher Seite, die er als methodisch und sprachlich unklar, metaphysisch und mythologisierend abwertet. Das Kooperationsverbot zwischen Literatur und Wissenschaft wird damit nicht nur diagnostiziert, sondern erneut festgeschrieben.

2 Szientifische Literatur: Heißenbüttel, Dürrenmatt, Woelk An dem von Helmut Kreuzer 1969 herausgegebenen C. P. Snow-Sammelband Dialog über die „zwei Kulturen“ beteiligte sich der Schriftsteller und Rundfunkredakteur Helmut Heißenbüttel mit einem Plädoyer für die „Übertragung von Methoden, die wissenschaftlich entwickelt worden sind, auf die künstlerische Praxis“, wobei er betonte, dass solche Übertragungen in eben dieser Praxis schon „seit mindestens 50 Jahren“ (Heißenbüttel 1969, 201) zu beobachten seien. Zuvor war Heißenbüttel in seinen 13 Hypothesen über Literatur und Wissenschaft als vergleichbare Tätigkeiten (1965) über dieses Übertragungsmodell bereits hinausgegangen, als er dort feststellte, Wissenschaft und Literatur seien „etwas gleich Fortschreitendes“, bewegten sich „parallel“ und seien „vergleichbarer als je vorher“ (Heißenbüttel 1966, 225 und 233 – 234.). Der Vergleichspunkt ist auch hier ein methodischer. Es sind also weder Subjektivitätsentwürfe noch Imaginationsfähigkeit oder Stil, in denen Literatur und Wissenschaft vergleichbar werden, sondern Verfahrenstechniken, vor allem die „vielfältig mögliche Kombinatorik des Rekapitulierbaren“ (Heißenbüttel 1966, 232). Auf wissenschaftlicher Seite stehen dafür Informationstheorie und Kybernetik ein, auf literarischer die kombinatorische Arbeit mit vorgefundenen Materialien, also ein spezifisch modernistischer Ansatz, für den Heißenbüttel mit seiner Material- und Zitatästhetik selbst einstehen konnte (Kyora 2011). In seiner noch etwas früheren, 1963 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesung bietet Heißenbüttel keine so klar konturierten Einschätzungen zum Verhältnis von Literatur und Wissenschaft. Eher schweifend spricht er in den insgesamt sechs Teilen der Vorlesung über Kanonfragen, Traditionen der Poetik, poetolo-

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gische und grammatische Regelhaftigkeit, romantische und zeitgenössische Lyrik, Erzähltheorie, Allegorik sowie abschließend über das ‚Halluzinatorische‘ in der Literatur. Nur kurz ist im letztgenannten Abschnitt von den „neu entwickelten wissenschaftlichen Disziplinen“ wie der Kybernetik die Rede, die inzwischen „die literarische Progression einzuholen“ vermocht hätten (Heißenbüttel 1966, 212). Profilierter erscheint demgegenüber die Auseinandersetzung mit der Literaturwissenschaft als derjenigen Disziplin, durch die sich Heißenbüttel mit seinem Vorhaben, „Grundbegriffe einer Poetik im 20. Jahrhundert“ zu bieten, besonders herausgefordert sieht – auch wenn er einleitend betont, „nicht mit wissenschaftlichem oder mit philosophischem Anspruch“ aufzutreten (Heißenbüttel 1966, 134– 135.). In seiner ersten Vorlesung „Ist Literatur meßbar?“ nimmt Heißenbüttel einen doppelten Anlauf: zunächst über eines seiner eigenen Gedichte mitsamt einer Leserbriefreaktion, die er als vorurteilsbeladen charakterisiert, dann über einen Artikel von Max Wehrli aus dem Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, dem er entnimmt, dass Literaturwissenschaft eine „Zusammenfassung von Textkritik, Literarhistorie und Lehre vom Wortkunstwerk“ sei, ein disziplinär unreines „Gemisch“, dessen Bestandteile sich noch dazu „nur durch angrenzende Nachbarwissenschaften bestimmen“ ließen (Heißenbüttel 1966, 139). Worin Heißenbüttel den Zusammenhang zwischen beiden Unzulänglichkeiten sieht, ist nicht ganz klar. Es scheint, dass er die Anwürfe des Leserbriefschreibers gegen sein konkretistisches Gedicht darauf zurückführt, dass „[d]ie Wissenschaft […] auf das zurückweicht, was bloß von der Gewohnheit und dem öffentlichen Bewußtsein anerkannt ist, auf das konventionell Etablierte“ (Heißenbüttel 1966, 141). Demnach ginge es um das Desiderat einer aufmerksamen Gegenwartsliteraturwissenschaft, an der sich das öffentliche Lesebewusstein sowie die ebenfalls als unzureichend erwähnte Literaturkritik ausbilden könnten. Damit ist jedoch das zuvor genannte Problem der ‚gemischten‘ Literaturwissenschaft noch gar nicht in den Blick genommen. Heißenbüttel verortet es in der ersten Vorlesung zuerst in den „möglichen Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und Gegenstand“, sieht dann den Ausweg eher auf der Gegenstandsseite, wenn er Ernst Robert Curtius dafür lobt, dass er als „einer der wenigen […] sachlich die Frage nach den Abgrenzungen der Literatur“ gestellt habe, arbeitet aber seinerseits weniger an einer solchen Definition des Literaturbegriffs, sondern verschiebt die Diskussion auf das Problem einer „wirklichen und wahrhaften Poetik“ (mit einem überraschend ausführlichen Gottsched-Referat) und schließlich auf die produktive Freiheit des Schriftstellers, der immer „Erfinder und Hersteller zugleich“ sei (Heißenbüttel 1966, 140, 143 – 144 und 151). Die Kritik der Literaturwissenschaft als ‚Gemisch‘ fällt also selbst eher inkohärent aus. Etwas einschlägiger ist der in der letzten Vorlesung angestellte Ausblick auf eine „neue

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literarische Typologie“, die die „formalen und stofflichen Bindungen“, vor allem aber die „sprachaufschlüsselnden, sprachreproduzierenden, sprachweltverdoppelnden Methoden“ der Literatur erschließen soll (Heißenbüttel 1966, 214, 216 und 219). Auch wenn es hier bei Andeutungen bleibt, nähern diese sich doch Heißenbüttels späterem Programm einer szientifischen literarischen Methodik an. Epistemologisch reichhaltiger sind die Überlegungen, die Friedrich Dürrenmatt in seiner als Einzelvortrag gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesung von 1984 anstellt. Von den fünf Teilüberschriften des Vortrags thematisieren die ersten drei die epistemologische Problemlage (Kunst und Wissenschaft oder Platon oder Einfall, Vision und Idee), während die beiden anderen die Vortragssituation benennen (oder Die Schwierigkeit einer Anrede oder Anfang und Ende einer Rede). In der Vorlesung selbst steht die Reflexion über die Rede am Anfang. Dürrenmatt fragt sich, ob er die Studierenden mit „meine Damen und Herren“ anreden könne und ob sie tatsächlich „Zuhörer“ seien, falls sie „bei meiner Rede einschlafen“, kommt von dort zu „Publikum“ als Allgemeinbegriff und zur Publikumsadressierung als Fiktion, um daraus zu folgern, der „fingierte Zuhörer, der alle Zuhörer vertritt“, sei er selbst, „und Sie haben sich in nichts aufgelöst“ (Dürrenmatt 1988, 70 – 72). Aus der etwas koketten Selbstbeobachtung des Vorlesenden wird philosophische Begriffsarbeit. Damit kommt Dürrenmatt von der „Schwierigkeit meiner Anrede“ zur „Schwierigkeit meiner Rede“ und dehnt den Horizont der autorschaftlichen Selbstaussage („Warum schreiben Sie eigentlich?“) auf die „Geschichte des menschlichen Geistes“ aus (Dürrenmatt 1988, 73 – 74). Dürrenmatt entwickelt seine Überlegungen dann aber nicht nur im Rekurs auf Menschliches, sondern auch auf Kosmologisches. Zunächst geschieht das in einem analogischen und sprunghaften Wechsel von makro- und mikrokosmischen Perspektiven. Innerhalb weniger Zeilen spricht er vom „Sonnensystem“ mit seiner „Unmenge von Planetoiden“, von „Eisklumpen, Eiskörnern und Eiskristallen“, dann von „Urmotiven, Urerinnerungen, Urängsten und Urwünschen der Menschheit“ sowie von der „Gesamtheit alles menschlichen Denkens, Tüftelns, Glaubens, Meinens, Träumens, Fürchtens, Aberglaubens, Metaphysierens und Phantasierens“. Er erwähnt aber auch „Schwärme[ ] von Folianten, Schwarten, Schmökern, Klassikerausgaben, Taschenbüchern, von Saturnringen und Reportagen, Filmen, Fernsehserien usw. usw.“, „Bakterien, Bazillen, Viren usw.“ (Dürrenmatt 1988, 74– 75). Mit diesen heterogenen, in der Geste des „usw.“ vermeintlich nach Belieben fortsetzbaren Listen scheint Dürrenmatt eine Verfügungsgewalt über das Viel-Wissen zu suggerieren, mit der er das adressierte Publikum gleichsam überrumpelt. Diese Vermutung ist auch in der Folge nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn ausführlich von antiken Atomtheorien, platonischer Ideenlehre, aristoteli-

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scher und Newton’scher Physik, aktueller Kernforschung und Astronomie die Rede ist. Dennoch beschränkt sich Dürrenmatt nicht auf die Selbstinszenierung als Polyhistor. Vielmehr richtet sich sein poetologisches Interesse auf die Entstehung neuen Wissens. Darin konvergiert die Poetikvorlesung mit Dürrenmatts auch anderweitig vertretenen Einschätzungen einer quasi-naturwissenschaftlichen, experimentellen Poetik (Kriens 2014, Bloch 2017). Der Experimentbegriff selbst ist im Frankfurter Text nur am Rand vertreten (Dürrenmatt 1988, 87), zentral ist hingegen die titelgebende Trias von Einfall, Idee und Vision. Unter diesen ist der Einfall anthropologisch elementar (etwa der, „einen dürren Ast in einen von einem Blitz angezündeten brennenden Baum zu stecken und den brennenden Ast fortzutragen“), die Vision am umgreifendsten und die Idee eher nachgeordnet: „Die Vision besitzt ein breiteres Spektrum als die Idee oder der Einfall“; „die Vision deutet auf etwas Sinnliches hin, […] die Idee hat etwas Abgeleitetes, Intellektuelles“; aber auch: „Die Idee war Platons Vision“ (Dürrenmatt 1988, 74– 80). Darüber hinaus wird das ‚visionäre‘ Denken im Text der Vorlesung selbst produktiv, indem Dürrenmatt seine Reflexionen über die unvermittelte Entstehung wissenschaftlicher Innovation mit literarischen Visionen – Imaginationen, Erinnerungen, Assoziationen – verbindet. So entwirft er die dem vorsokratischen Philosophen Leukipp von Milet zugeschriebene Atomistik in einer konkret gestalteten, zugleich nur als denkbar ausgewiesenen Szene: „Vielleicht lag Leukipp an irgendeinem Strand […]. Es war zu heiß, um zu grübeln, und das Gastmahl vorige Nacht hatte ihn ohnehin faul gemacht. Doch als er mit seiner Rechten Sand schöpfte […], überraschte ihn eine Vision: Atome, leerer Raum“ (Dürrenmatt 1988, 79). In solchen Imaginationen bringt sich auch der Vortragende mit ins Bild: „[W]ie ich darüber nachdenke […], daß der gleiche Mann, den die Vision von den Atomen überfiel, sich vorstellte, […] daß sich unzählige Welten in dem unendlich Leeren aus zahllosen Atomen bildeten, tauchen die stillen Kuppeln über den Tannenwäldern eines Berges in der Nähe San Diegos vor mir auf, Mount Palomar“ (Dürrenmatt 1988, 89) – woraufhin er seinen Besuch in jener Sternwarte schildert, so wie er zuvor schon eine Besichtigung des Kernforschungszentrums CERN bei Genf erwähnt hatte. Dürrenmatt spricht in seiner Poetikvorlesung also als wissenschaftlich vielseitig interessierter und ideengeschichtlich bestens informierter Autor, der aber das so erschlossene Wissen als in Bewegung begriffen betrachtet und weiter in Bewegung bringt. Die durch Visionen und Einfälle entstandenen Ideen und größeren Theoriegebäude sind immer wieder in neue Visionen verwandelbar: ein „geistiges Spielmodell“ (Dürrenmatt 1988, 80). Das gilt schon auf dem Feld der Wissenschaften selbst, noch mehr aber auf dem der Literatur oder, im weiteren Sinne, der Kunst. In den Schlusspassagen der Vorlesung entwickelt Dürrenmatt

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daraus eine Reihe von Dichotomien: „Die Wissenschaft interpretiert, die Kunst stellt dar, die Wissenschaft zielt auf das Eindeutige, die Kunst auf das Mehrdeutige, die erstere auf den Begriff, die letztere auf das Bild, die eine auf die Idee, die andere auf die Vision“ (Dürrenmatt 1988, 92). Damit scheint der zuvor bemerkte visionäre Charakter epistemischer Innovation zurückgenommen zu werden. Eher wird man aber folgern können, dass mit ‚Kunst‘ ein dynamisches, kreatives Potenzial auch innerhalb der Wissenschaften gemeint ist. Dürrenmatt entwirft eine Poetik wissenschaftlich affizierter Literatur, die zugleich eine Poetik des Wissens ist. Gegenüber Dürrenmatts Verve und Überschwang liest sich Ulrich Woelks Mainzer Poetikvorlesung von 1993 über Literatur und Physik (ebenfalls ein Einzelvortrag) deutlich zurückhaltender, was die wechselseitigen Bezüge von Literatur und Wissenschaft betrifft. Zwar thematisiert Woelk als studierter, promovierter und längere Zeit universitär angestellter Astrophysiker auch in seinen Romanen durchaus physikalisches Wissen (Rasch 2009), doch in der Vorlesung spricht er zunächst von zwei deutlich unterschiedenen, wenn nicht unvereinbaren Bereichen. Das betrifft zum einen die jeweiligen Gegenstände: Die Astrophysik untersuche Objekte, „die uns, zumindest räumlich, am fernsten liegen“, während man von der Literatur erwarte, dass sie sich „mit dem beschäftigt, was uns am nächsten liegt, mit uns selbst, den Menschen“. Zum anderen erscheint die „strikte Trennung“ in autorschaftlicher Perspektive als Grundbedingung dafür, „überhaupt zum Schreiben zu kommen“ (Woelk 1994, 3). Das letztere Argument wird deutlich als eigene Erfahrung gekennzeichnet, so wie Woelk seine Vorlesung insgesamt stark subjektiv färbt. Das zeigt sich auch in der Entgegensetzung zwischen Forschung als „Klosterdisziplin“ und der „Klage, [literarisches] Schreiben sei zum Volkssport geworden“, sowie in der Beobachtung einer in der Literaturkritik angeblich weit verbreiteten „E- und U-Kategorisierung“: Beides ist möglicherweise persönlich bedeutsam, erscheint aber als darüber hinausgehende Diagnose nicht unbedingt stichhaltig (Woelk 1994, 5). Dennoch gewinnt Woelk aus dem Kontrast von ‚ernst‘ und ‚unterhaltsam‘ ein Argument für den spannungsvollen Zusammenhang von Literatur und Physik jenseits des vorigen Trennungsbefunds. Demnach sind in der Physik auch die Experten an allgemeinverständlichen und populären Darstellungen ihres Fachs interessiert (genannt wird Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit), weil es „einfach Spaß“ mache, „das, was man weiß […], noch einmal in der Alltagssprache dargestellt zu bekommen“. Der literarisch entscheidende Punkt ist hier nicht etwa die Alltagssprache, sondern das zeitliche Moment des „noch einmal“. Denn nach Woelk gilt auch für die Literatur: „Man will nichts Neues erfahren, sondern etwas Altes“ (Woelk 1994, 7). Damit scheint im Zentrum der Vorlesung eine Kritik der Innovation zu stehen. Woelk nimmt allerdings keine traditions-

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ästhetische Position ein und macht auch nicht wirklich klar, wie sich Neues und Altes poetologisch zueinander verhalten. Durchaus bestreitbar ist die Aussage, ein Autor wie Flaubert finde sich „auch heute noch in den Buchhandlungen“, weil er „Schicksale“ darstelle, „die wir kennen“ (Woelk 1994, 8). Und wenn kurz danach für die eigene Gegenwart die massenmediale „Bekanntmachung von allem“ beklagt und demgegenüber eine „radikale Suche nach einer neuen Form und Ästhetik“ gefordert wird (Woelk 1994, 9), hat sich das innovationskritische Argument in sein Gegenteil verkehrt. Nicht nur hier sind bei Woelk die aus der Physik gewonnenen poetologischen Folgerungen eher aphoristischen als systematischen Zuschnitts. Dazu trägt auch das punktuelle Einspielen physikalischer Metaphern und Vergleiche bei, wenn es etwa heißt, die „Zerfallszeit“ der Innovation entspreche der Dauer einer Generation, wenn die Heisenberg’sche „Unschärferelation“ mit ihrer Unmöglichkeit, „eine Beobachtung vom Beobachter zu trennen“, auf die literarische Kommunikation übertragen wird („In derselben Abhängigkeit befinden sich auch Autor und Leser“) oder wenn von einem „Kraftfeld“ literarischer Lebens- und Erkenntnisentwürfe die Rede ist (Woelk 1994, 8, 11 und 13). Gegen Ende der Vorlesung wird das begriffliche Doppel „Einfachheit und Komplexität“ als gemeinsames physikalisches und literarisches Grundmuster benannt. Die Lebens- (oder Todes‐) Entwürfe von Goethes Werther, Kafkas K. und Frischs Faber lassen sich demnach „als Strategien der Einfachheit gegen die unentwirrbaren Verhältnisse interpretieren; dieselbe Strategie, die der Physiker auf seiner Suche nach einer einheitlichen Wurzel der Dinge verfolgt“ (Woelk 1994, 13). Dass diese Identitätsbekundung in die Nähe der „Banalität“ kommt, registriert der Vortragende selbst; auch deshalb zieht er sich trotz aller „Analogien und Parallelen“ letztlich auf die „unüberbrückbare Differenz“ zwischen Literatur und physikalischer Wissenschaft zurück (Woelk 1994, 13).

3 Neue wissenspoetologische Ansätze: Gopnik, Hill, Rinck Im Anhang zu seinem 2013 erschienenen Buch Blood: The Stuff of Life dankt der kanadische Autor Lawrence Hill auf mehreren Seiten nicht nur seiner Frau, seinen Kindern, diversen Verlagsmitarbeitern und befreundeten Einzelpersonen, sondern auch zahlreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Departments kanadischer (sowie US-amerikanischer und mexikanischer) Universitäten, zumeist der University of Toronto, sowie schließlich dem „staff at the University of Toronto’s Robarts Library“. Hill fügt hinzu: „Please note

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that I accepted the invitation to write this book and deliver the 2013 Massey Lectures first and foremost to score a fully loaded University of Toronto library card. Thank you for that. Could I get another, next year?“ (Hill 2013, 358 – 359). Die augenzwinkernde Bemerkung legt nahe, dass Hill die Vortragsverpflichtung für die renommierten Massey Lectures der University of Toronto nur angenommen habe, um für die Produktion seines umfangreichen literarischen Sachbuchs zum Thema Blut institutionelle Unterstützung zu erhalten: durch die Ausstellung eines Bibliotheksausweises und durch den Kontakt mit einer Vielzahl von Gelehrten. Der Zusammenhang zwischen Buch und Vorlesungsreihe gehört bei den Massey Lectures aber in der Tat zum intermedialen Programm, an dem außerdem die Canadian Broadcasting Company beteiligt ist. Die vor Ort gehaltenen Vorträge werden im Rundfunk ausgestrahlt und erscheinen in Buchform in einer Reihe des Verlags Anansi Press. Letzteres geschieht, wie der Schriftsteller Adam Gopnik im Vorwort zu seinem Buch Winter: Five Windows on a Season erläutert, nicht nachträglich, sondern in etwa zeitgleich mit der fünfteiligen Vorlesung: „Part of the pleasure of the Massey Lectures, I’ve learned, is that they are published parallel with their delivery“ (Gopnik 2011, XI). Angesichts des engen Wechselverhältnisses von Vortragsreihe und Buch hat sich Gopnik nach eigenem Bekunden für eine aufwendige Produktionsweise entschieden: Er habe versucht, seinem Buch einen mündlichen Stil zu verleihen, weil es ja schließlich ohnehin vorgetragen werden sollte („given that […] eventually I would speak these [chapters]“). Daher habe er im Freundeskreis Probevorlesungen gehalten („a series of mock-Masseys“), aus denen dann die Kapitel des Buches entstanden seien, zwar präzisiert und ausgearbeitet, aber trotzdem immer noch als Vortragstexte erkennbar. „These are, then, the amended transcripts of lectures I once gave, designed to be the vocal templates of lectures I have yet to deliver“ (Gopnik 2011. XI–XII). Vorlage und Ausführung, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Vor- und Nachzeitigkeit geraten auf diese Weise in eine so komplizierte wie spielerische Beziehung. In Gopniks Sichtweise ist die mehrfache soziale Rahmung des Buchprojekts seinem Thema Winter angemessen: „winter, a season long seen as a sign of nature’s withdrawal from grace, has become for us a time of human warmth“ (Gopnik 2011, XII). In seinen fünf Kapiteln durchläuft Gopnik eine Fülle von poetischen Texten, musikalischen Werken und Bildern, um verschiedene kulturprägende und -stiftende Aspekte der Jahreszeit zu benennen: winterliche Emotionen, die ‚radikalen‘ Wintererfahrungen von Polarexpeditionen, winterliche Feste, Wintersport. Auf ähnlich multiperspektivische Weise beleuchtet Lawrence Hill sein Thema Blood, vor allem im Hinblick auf „Blood and Belonging“ (so der Titel des dritten Kapitels), also auf Diskurse und körperliche Praktiken der Identitätsbildung durch Blut, darunter Nationalismus, Rassismus und Ge-

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schlechterkonstruktionen. Die Vielzahl von Perspektiven korreliert mit der vielfältigen Expertise, auf die Hill sich stützt: zwischen Literaturwissenschaft und Geographie, Medizin und First Nation Studies. Unter Hills und Gopniks Vorgängern bei den Massey Lectures waren seit den 1960er Jahren bereits mehrere Schriftstellerinnen und Schriftsteller (Doris Lessing, Carlos Fuentes, Margaret Atwood); öfter waren die Vortragenden aber Gelehrte, Intellektuelle und Politiker (darunter Martin Luther King, Jr. und Willy Brandt). Um Poetikvorlesungen im engeren Sinn handelt es sich also nicht. Trotzdem bieten Hill mit Blood und Gopnik mit Winter poetologische Statements zum Zusammenhang von Literatur und Wissen: nicht durch epistemologische Reflexion, wohl aber durch wissenspoetische Praxis. Sie zeigen, wie bestimmte kulturelle Überlieferungen und wissenschaftliche Diskurse das Verständnis ihrer Themengebiete informieren, und sie erweisen sich selbst als belesene Autoren, die in der Lage sind, über das von ihnen versammelte Wissen literarisch zu verfügen. Ein anthologisierender Zugriff und ein gewisser Eklektizismus sind dabei unverkennbar. Allerdings nähern sich beide ihren Themen auf betont idiosynkratische Weise, in einer Mischung aus essayistischem und autobiographischem Zugriff, wie exemplarisch die jeweils ersten Sätze zeigen: „I recall my first snowstorm as though it were yesterday“ (Gopnik 2011, 1); „One summer morning, when I was a child, I was on all fours, playing hide-and-seek on a Toronto schoolyard, when my left wrist began to tingle“ (Hill 2013, 1). Deutlich stärker erkenntniskritisch angelegt ist die im Herbst 2020 gehaltene Frankfurter Poetikvorlesung der Lyrikerin Monika Rinck unter dem Titel Vorhersagen. Poesie und Prognose. Mit diesem Zusammenhang ist eine epistemologische Grenzbestimmung schlechthin aufgerufen, führt doch die Beschäftigung mit Zukünften immer in Bereiche des Unsicheren und Unbekannten, in denen das Wissen-Können als solches zur Debatte steht (Weidner und Willer 2013, Bühler und Willer 2016). Noch dazu hielt Rinck ihre Vorlesung im Zeichen der CoronaPandemie, die sich extrem verunsichernd auf jegliche Zukunftsplanung und auch auf Konzepte wie Risikoabschätzung oder Prävention ausgewirkt hat. Durch die Einschränkung öffentlicher Veranstaltungen war eine Präsenzvorlesung ausgeschlossen, sodass nur die Ausstrahlung per Videostream blieb (Rinck 2020). Rinck erwähnt mehrmals den damit einhergehenden Ausfall des gemeinsamen Denkens und der Improvisation. Für dieses eigentliche Potenzial akademischer Vorlesungen beruft sie sich auf die des Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich. Nicht nur darin betont sie ihre eigene geisteswissenschaftliche Prägung, sondern auch im geradezu philologischen Zuschnitt ihrer Darstellung, die zahlreiche Bezüge zur Geschichte des Zukunftswissens sowie zu deren literatur- und kulturwissenschaftlicher Erforschung enthält (wobei Rinck bisweilen mit ironischen Volten ihr eigenes zitierendes Vorgehen unterläuft).

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Im Rahmen der Frankfurter Poetikvorlesungen waren es, beginnend mit Ingeborg Bachmann, oft speziell die Lyrikerinnen und Lyriker, die eine Neigung zur „Formatverweigerung“ zugunsten eines performativen poetischen Sprechens offenbarten (Braun 2020). Rinck verweigert sich ihrerseits dieser topischen Verweigerung, indem sie über weite Strecken entschieden analytisch und historisierend vorgeht. Ausführlich erläutert sie „historische, quasi-historische, legendäre und fiktionale Grundlagen“ der Zukunftserkenntnis, darunter die Geschichte antiker Orakelsprüche und ihrer Deutungen, und wirft damit die generelle Frage auf, wie Zukunft ‚lesbar‘ gemacht werden soll und wie gegenwärtige Situationen in Zukünfte extrapoliert werden, etwa in diagrammatischen Zukunftsprojektionen. Den Bezug auf die Zukunft im beginnenden 21. Jahrhundert kennzeichnet sie als einen „Neofuturismus“, der sich „der Zukunft nicht mehr ganz sicher sein“ könne. Dem aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurs mit seinem „vorauseilenden Konservatismus“ oder radikalen Nullwachstumsprogrammen steht sie skeptisch gegenüber, betont aber trotzdem nachdrücklich den Klimawandel als Bedingung allen heutigen Zukunftsdenkens und -handelns. Bei allem wissenschaftlich informierten, auch durchaus didaktischen Vorgehen ist Rincks Interesse am ‚Vorhersagen‘ das einer Lyrikerin, wie der Titel (zugleich das wiederholte Motto) der ersten Vorlesung verdeutlicht: „Die Vorhersage erfolgt in Versen. Immer wieder vollführt sie Gedanken im poetischen Duktus, etwa indem sie die einleitend getroffene Feststellung, jede Aussage im Futur müsse mit der Ergänzung „es sei denn“ begleitet werden, selbst beherzigt und selbst die Ankündigung der folgenden Vorlesung mit dem Kehrvers „es sei denn, es sei denn“ versieht. Zu diesem Verfahren gehören auch Einwürfe von Floskeln wie „Das hätte ich dir vorher sagen können“ oder vermeintliche Versprecher wie „Der Text/Test ist negativ“, die dann mit sprachtheoretischem Gewicht versehen werden. Besonders prominent ist die Lektüre lyrischer Texte von Kolleginnen und Kollegen wie Anja Utler, Ann Cotten oder Fabian Falb; auch auf ihre eigene Gedichtproduktion kommt Rinck mehrmals zu sprechen. Damit beansprucht sie aber kein Reservat poetischer Prognosen, die mit epistemologischen Problemen nichts zu tun hätten. Stattdessen soll die Konzentration auf das lyrische Vorhersagen helfen, das Poetische in der Prognostik selbst scharfzustellen, also nach den Verfertigungsweisen des Zukunftswissens zu fragen. Damit lässt Monika Rinck den gegenseitigen Ausschluss von ‚Literatur‘ und ‚Wissen‘ weit hinter sich und macht Vorschläge für die weitere Beschreibung und Gestaltung ihres Wechselverhältnisses.

3.8 Epistemologische Argumente: Literatur, Wissen und Wissenschaften

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3.9 Biographische Argumente: Literatur und Leben, Repräsentationen der Erfahrungswelt 1 Literatur und Leben auf der Bühne der Poetikvorlesung

„Das Zeitalter der Poetikvorlesungen“, so Matteo Galli in einer schon alarmistischen kulturkritischen Diagnose des inzwischen allgegenwärtigen Phänomens Poetikvorlesung, lebe nach Jahren poststrukturalistischen Einflusses von der „ReInthronisierung des Autors“ (Galli 2014, 62) und der wachsenden hermeneutischen Deutungsmacht auktorialer Epitexte. Ein in der Tat aktuell signifikantes Phänomen ist der im literarischen Feld erfolgreiche (nicht nur auktoriale) paratextuelle Einsatz biographischer Narrative zur Beglaubigung einer vorgeblich mit Leben gesättigten Literatur (Kempke 2019 a), in der Autor*in und Werk als untrennbare auto(r)biographische Liaison lebensweltlicher Verortung erscheinen. In den „kapitalbildenden Tauschprozesse[n]“ (Eke 2016, 24) des Feldes wird nicht nur Literatur, sondern auch ein mit biographischen Daten gefüttertes öffentliches Autor*in-Image unter Marktbedingungen und dem forcierten Druck aufmerksamkeitsökonomischer Konkurrenz produziert, vermittelt und rezipiert. Auffällig scheint die bis in die akademische Ausbildung von Schriftsteller*innen reichende produktionsästhetische Konjunktur des Biographischen als „entscheidende Ressource […] literarischer Imagination und Produktivität“ (Haslinger und Treichel 2005, 8). Das gegenwärtig so viel beschworene „Erfahrungsparadigma als Produktionsmodus“ (Kempke 2019 a, 61) nobilitiert neben dem Kreativitäts-Topos der Begabung die Faktoren Herkunft und Sozialisation, mithin die Welthaltigkeit eines Lebenslaufes als entscheidende Vorgeschichte schriftstellerischer Existenz. Die Beziehung von Literatur und ‚Leben‘, und zwar im quantitativen Sinn der Lebenserfahrung als auch im qualitativen Sinn erlebter Intensität, stehen hoch im Kurs. Die u. a. im lebensphilosophischen Resonanzraum Nietzsches und der Avantgarden um 1900 mit vitalistischen Denkfiguren gefeierte „moderne Obsession“ eines „intensiven Lebens“ (Garcia 2017) bedient offenbar bis heute nachhaltig die Vorstellung, dass ein „aufregender Lebenslauf […] zu guter Literatur“ führe (Kempke 2019 a, 60), dass zumindest im aufmerksamkeitsökonomischen Wettbewerb bestimmten Biographien eine größere ästhetische Produktivität zugeschrieben wird. Der in der literarischen Kommunikation lange wirkmächtig https://doi.org/10.1515/9783110647884-028

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gebliebene, vor allem mit Wilhelm Diltheys Schrift Das Erlebnis und die Dichtung (Dilthey 1985 [1906]) verknüpfte, produktionsästhetische Einsatz des Erlebnisbegriffs wurde literaturwissenschaftlich in seiner Fragwürdigkeit zu einem geradezu „literaturtheoretischen Gemeinplatz“ (Lessau und Zügel 2019, 15). Daneben steht die derzeit zu beobachtende Präsenz des Begriffs im literarischen Feld. Besonders ausgeprägt scheint das Begehren, eine mit Erleben gesättigte Literatur von jenen Autor*innen zu erhalten, die eine migrantische Biographie aufweisen. So ist die Rezeption dieser Literatur zumeist an die Erwartung gekoppelt, authentische Erfahrungen von Alterität und Kulturwechsel zu verarbeiten und statt referenzieller Mehrdeutigkeit der Fiktion den (auto)biographischen „Klartext“ (Wegmann 1996) zu bieten. Relevanz und Beglaubigung einer Verschränkung von Leben und Literatur werden entscheidend über die paratextuelle Kommunikation inszeniert. Ein maßgebliches Kriterium des Erfolgs ist „die Story, nicht des Buches, sondern um das Buch herum, die Legende vom Leben und Schreiben des Autors“, bemerkt John von Düffel in seiner Bamberger Poetikvorlesung Wovon ich schreibe. Eine kleine Poetik des Lebens (2008), und fügt hinzu: „Der Autor wird zusehends selbst zu einer Geschichte, und die Geschichte seiner Person, seiner Arbeitsweise und Lebensform wird immer mehr zum Verkaufsargument für ein Buch“ (von Düffel 2009, 45 – 46). Von Düffels Analyse ist insofern eine aufschlussreiche Selbstbeobachtung, als seine Poetikvorlesung Auskunft über die eigene Geschichte einer „Arbeitsweise und Lebensform“ zu geben verspricht und letztlich zwischen den Zeilen den kompetitiven Sog medialer Aufmerksamkeit unter Marktbedingungen für dieses Genre ins Spiel bringt. Dabei geht es immer auch in dem zwischen Literaturmarkt und Akademie, zwischen philologischem Vortrag, literarischer Performance und Autor*inneninszenierung angesiedelten hybriden Format der Poetikvorlesung um die Aushandlung der Funktionen des biographischen Narrativs für die literarische Kommunikation und um die Frage nach der Beziehung zwischen der (auto)biographischen Performanz der Autorpersona und dem literarischen Werk. Erfolg versprechend erscheint auch im Format der zwischen „Venia legendi“ und „self-branding“ (Jäger 2019, 187) aufgespannten Form der Poetikvorlesung die Kongruenz bzw. ästhetische Kohärenz signalisierende Vermittlung zwischen Werk und Autor*in, denn auch „schriftstellerische (Selbst‐)Darstellungspraktiken“ sind als „literarische Praktiken“ (Leucht und Wieland 2016, 8) zu begreifen. Wenn John von Düffel von der „Legende vom Leben und Schreiben des Autors“ spricht, benutzt er einen Begriff, den einst der russische Literaturwissenschaftler Boris Tomaševskij zur theoretischen Reflektion der literarischen Funktionalisierung von Autorbiographien bemühte, und der in der aktuellen germanistischen Autorschaftstheorie eine Renaissance erfahren hat. Nach Tomaševskij stellen die „biografischen Legenden […] die literarische Konzeption

3.9 Biographische Argumente

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des Lebens des Dichters“ als einen „wahrnehmbare[n] Hintergrund des literarischen Werks“ dar (Tomaševskij 2000 [russ. 1923], 56 – 57). Damit ist nicht einem naiven Biographismus das Wort geredet, sondern die im Entwurf der biographischen Legende mobilisierten und auf das Werk bezogenen Verfahren sowie deren Historizität geraten in den Blick. Die von Tomaševskij allerdings behauptete klare Differenz zur „reale[n] amtliche[n] Biographie“ (2000 [russ. 1923], 57) ist insofern problematisch, als man, in welchem Maße auch immer, stets von einer Verschränkung von Faktischem und Fiktionalem ausgehen muss (Leucht und Wieland 2016, 23 – 24). Auch die im Medium der Poetikvorlesung inszenierte biographische Legende lebt vom Versprechen der Referentialität über Authentizitätssignale und vom Einsatz wiederkehrender Topoi, performativer und narrativer Muster. Dazu gehören u. a. die Lesebiographie, der Rekurs auf Kindheitserinnerungen und zu artistischen Urszenen aufgeladene Lebensmomente, die von der Geburt des/der Autor*in zeugen. Nicht von ungefähr ist das hybride Format der Poetikvorlesung zur beliebten Bühne (auto)biographischer Argumente geworden, legt doch offenbar ihre spezifische „Vermittlungssituation […] solche Formen produktions- wie rezeptionsästhetisch besonders nahe“ (Kempke 2021, 403), sei es als bestätigende oder prüfende Reflexion, Problematisierung oder Suspendierung literaturwissenschaftlicher Zugänge (Jäger 2019, 200). Oder anders gesagt: im Spannungsfeld von poetologischem Kommentar, autobiographischem Bekenntnis und literarischer Performance. Die Darstellung (auto)biographischer Welthaltigkeit des Werkes schöpft ihre besondere Wirkmacht in der Situation physischer Anwesenheit der Poetikdozent*innen im Hörsaal aus, zehrt mithin vom Authentizitätseffekt der vermeintlichen Beglaubigung ungebrochener „Präsenz eines Subjekts der Rede“ (Schmitz-Emans 2008, 380) durch den sichtbaren Körper und die hörbare Stimme, was die Bereitschaft der Rezipient*innen fördert, einen autobiographischen Pakt einzugehen. Die textuelle Materialität des Vortrags bzw. des publizierten Textes, die ästhetische Form und die performative Qualität solcher öffentlichen Auftritte von Autor*innen weisen jedoch darauf hin, dass „physische Anwesenheit und Entzug nicht selten auf paradoxe Weise zusammenfallen“ (Komfort-Hein 2019, 83). Die in der Schwebe bleibende Konstellation zwischen ‚eigentlichem’, autobiographischem Modus des Zeugnisses und uneigentlichem, poetischem Sprechen gehört seit jeher zum Repertoire selbstreflexiver bis experimenteller Inszenierungen des poetologischen Werkstattberichts und des Schriftstellerlebens in der Poetikvorlesung. Schon Ingeborg Bachmanns Vorlesung spricht nachdrücklich von der Rolle einer Autorpersona, einem „Ich ohne Gewähr“ und dessen „Aufenthalt in der Dichtung“ (Bachmann [1959] 2005, 287), dem ein Authentizitätsversprechen und Artifizialität gleichermaßen eignen.

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Die seit den 1990er Jahren geradezu rapide ansteigende Zahl der Poetikdozenturen im deutschsprachigen Raum scheint zugleich die wachsende Konjunktur von autobiographisch bzw. autofiktional ausgerichteten Poetikvorlesungen (und vice versa) zu bestätigen: die Verbindung poetologischer Reflexion mit dem (inszenierten) Bekenntnis des persönlich Erlebten, die Verschränkung von Leben und Literatur, Auto(r)biographie und Werkgenese. Kevin Kempke verweist auf verschiedene Realisierungsformen zwischen der „deiktischen Benennung der eigenen Person bis zur autobiographischen ‚Beichte‘ mit skandalösem Charakter“ (Kempke 2021, 404). Uwe Johnsons Frankfurter Poetikvorlesungen Begleitumstände (1979) kann als einflussreicher Impuls für die nachfolgende Gattungsgeschichte gelten. Paul Michael Lützeler spricht gar von einer Zäsur der autobiographischen Formierung von Poetologie nach den Frankfurter Anfangsjahren der Gattung, die wesentlich im Zeichen aktualisierender Reformulierung der Beziehung von Ethik und Ästhetik standen, und nach der signifikanten Pause im Zuge der Ereignisse von ‚1968‘: „Von nun an [d.i. seit 1979] ist von Utopie selten und von persönlichen Erlebnissen häufig, von allgemeiner Humanität weniger, von individuellen Werkstattproblemen mehr die Rede“ (Lützeler 1994, 9). Von Letzterem, der „Enthüllung von ‚Werkstattgeheimnissen‘“ (Bachmann 2005 [1959], 253), distanzierte sich Ingeborg Bachmanns Entwurf einer Poetik der Erweckung und der Literatur als eines utopischen Unterwegsseins noch entschieden, indem sie es als zeitgenössische Modeerscheinung abwehrte. Anhand der Entwicklung der Institution Poetikvorlesung ab Ende der 1970er Jahre lässt sich bestätigen, dass die rahmenden biographischen Umstände der Textentstehung sowie das autobiographische Making-Of eines Schriftstellerlebens zunehmend ins Zentrum der poetologischen Diskurse gerückt sind. „Die Textproduktion erscheint […] als Teil des Lebensvollzuges“ (Kempke 2021, 244) und umgekehrt. Hier gilt es, gattungsgeschichtliche Entwicklungen des Formats Poetikvorlesung jeweils in den prägenden zeitgenössischen, historisch-sozialen und medialen Kontexten hinsichtlich der Veränderungen des Literaturbetriebs und mithin auch des Literaturbegriffs zu betrachten und einflussreiche Paradigmenwechsel der literatur- und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung einzubeziehen. So artikulieren sich etwa Johnsons Begleitumstände im Resonanzraum der diskursiven Strömung sogenannter Neuer Subjektivität der 1970er Jahre. Die in dieser Zeit ebenso wachsende Bedeutung von Poetikvorlesungen als Making-Ofs ist in ihren Korrespondenzen u. a. zum beliebten Format der sogenannten Werkstattgespräche mit Autor*innen zu sehen (Lützeler 1994, 9; Kempke 2021, 243 – 244). Die forciert selbstreflexiven Tendenzen postmoderner Literatur der 1980er Jahre, die Hochzeit der Erinnerungs- und Zeugenschaftsliteratur ab den 1990er Jahren, die im Zuge poststrukturalistischer Problematisierung des Subjekts und des Autors experimenteller

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werdenden Formen des Autobiographischen als Autofiktionen, die eine Grenze zwischen Literatur und ‚Leben‘ suspendieren: All das findet auch seinen Niederschlag in Konjunkturen (auto)biographischer Narrative und Bekenntnisdiskurse bzw. autofiktionaler Maskenspiele als Poetikvorlesung. „In welcher Maske auch immer ist das Ich bis heute Hauptdarsteller in Poetikvorlesungen; und bis heute ist es Objekt der Begierde“, so unlängst Maren Jäger (2019, 207); mit der Sehnsucht nach dem unverwechselbar Singulären, Authentischen – ließe sich ergänzen, folgt man David Shields Beobachtung eines zeitgenössischen „Reality Hunger“ (Shields 2010). Das trifft offenbar besonders in einer verstärkt digital geprägten Lebenswelt zu, in der sich die Wahrnehmung performativer Qualität und narrativer Konstruktion von Identität geschärft hat, biographische (Selbst‐) Inszenierungspraktiken in den sozialen Medien sich durch die unauflösbare Verschränkung von fiktionalem Konstrukt und Lebensrealität in einer digitalen Existenz auszeichnen. Das erhöht den Unterscheidungsdruck zwischen künstlerisch-literarischer und alltäglicher Praxis, mithin auch den Singularisierungsdruck für die poetologischen Diskurse der auf die Verflechtung von Autor- und Werkbiographie gerichteten Poetikvorlesungen.

2 Recherchen zur Auto(r)biographie des Werkes. Uwe Johnson: Begleitumstände Dass sich die philologische Schreibszene-Forschung nicht von ungefähr durch den programmatischen Titel hat inspirieren lassen, unter dem Johnsons Frankfurter Poetikvorlesung als erweiterte Fassung 1980 publiziert wurde, dokumentiert Martin Stingelins Rede von den „Begleitumständen“, jenen den literarischen Schreibprozess rahmenden Praktiken und Gegebenheiten: Neben „Schreibwerkzeugen“ und „Schreibgewohnheiten“ geraten u. a. die „soziale […] Situation“ und die „biographisch[e] Lebenslage“ (Stingelin 2004, 16) in den Blick. Johnsons Vorlesung ist, indem sie „Werk und Leben im Sinne einer Präformierung durch äußere ‚Begleitumstände‘ poetologisch“ verschränkt (Kempke 2021, 408), für eine Variante der Poetikvorlesung in Form des autobiographischen Werkstattberichts viel erinnertes und variiertes Vorbild geworden, obgleich Johnson Referenzen auf vorgeblich Privates nur sehr reduziert ausspielt. So kündigt er zu Beginn an, „dass ich von einem anderen Subjekt sprechen werde als dem, was heute nachmittag auf dem Flughafen Rhein/Main kontrolliert wurde auf seine Identität mit einem Reisepass. Das Subjekt wird hier lediglich vorkommen als das Medium der Arbeit […]“ (Johnson 1980, 24). In Aussicht gestellt werden „meine Erfahrungen im Berufe des Schriftstellers.“ Die individuelle Erfahrung, die hier nicht zum „Fall“,

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nicht zum „Beispielhafte[n]“ hochgerechnet werden soll, reklamiert in Johnsons Positionierung eine Alternative zur gattungsbezogenen Erwartung, im Rahmen der Poetikvorlesung die „Lehre vom Schreiben“ (Johnson 1980, 11) bzw. eine theoretische Reflexion der eigenen Poetik zu vermitteln. Johnsons hermeneutische Spurensuche des Autorlebens im Werk spielt dabei jedoch auf ein berühmtes autobiographisches Vorbild der Verschränkung von Leben, Werk und Autorschaft an: die in Goethes Dichtung und Wahrheit mit Blick auf die eigenen „Dichtwerke“ verkündete Absicht, „Zeit und Umstände zu vergegenwärtigen, unter welchen ich sie hervorgebracht“ (Goethe 1998 [1811– 1833], 8). Die deutliche Referenz inspirierte eine Rezeption von Johnsons Poetikvorlesung als autobiographische Erzählung (Gillett 2010, 16). Orientieren sich die Begleitumstände bis zur Arbeit an Jahrestage chronologisch an prägenden Lebensstationen Johnsons seit der Kindheit im Kontext der Werkgenese, so kann dem artikulierten programmatischen Anspruch zufolge von einer auf die Verbindung von Leben und Werk schauenden „Erfahrungspoetik“ (Felsner 2010, 67) allein hinsichtlich einer Begrenzung auf die (öffentliche) Autorpersona gesprochen werden, also erklärtermaßen unter Abzug dessen, was Tomaševskij als „reale, amtliche Biographie“ (Tomaševskij 2000 [russ. 1923], 57) fasst. Das subjektiv Erfahrene ist in Johnsons Vorlesung in seiner historisch-gesellschaftlichen Verortung aufgesucht und in die Form einer hermeneutischen Recherche werkpolitisch bedeutsamer Momente gegossen: Narrative Passagen autobiographischen Erinnerns sind um ein textuelles Archiv der Montage heterogenen dokumentarischen Materials zur politischen Zeitgeschichte ergänzt, das den Lebenslauf der Autorpersona Johnson in einem das Private als Politisches deutenden Resonanzraum zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus, DDR und BRD ausstellt. Dabei geht es darum, dem ästhetisch wie politisch Relevanten für die eigene literarische Produktion nachzuspüren, als Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit wie der aktuellen deutsch-deutschen Gegenwart, die „einem Schriftsteller für seinen Fall gerade zwei verschiedene deutsche Erfahrungen zugewiesen hat, als sein Material.“ (Johnson 1980, 337). Einem ähnlichen Konzept der „Begleitumstände“ des Eigenen im Kontext einer von Umbrüchen und totalitärer Gewalt durchzogenen deutschen Geschichte folgt u. a. in einem expliziten Bezug auf Johnson Hans Mayers Poetikvorlesung Gelebte Literatur (Mayer 1987, 65). Für den jüdischen Exilanten Mayer und dessen Erfahrung gewaltsamer Entortung steht das im Zeichen eines „Leiden[s] an Deutschland: das kam nach der Rückkehr in die deutsche Fremde im Oktober 1945. Es hat mich bis heute nicht verlassen.“ (Mayer 1987, 24). Nicht von ungefähr nennt Mayer sein „gelebte Literatur“ repräsentierendes Buch Außenseiter ein „ebenso hoch persönliches wie eminent deutsches Buch“ (Mayer 1987, 77). „Gelebte Literatur“ ist zudem bei Mayer wie auch Johnson mit der zur eigenen Autorschaft führenden Lese(r)biographie verbunden.

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Dass das vergangene Selbst auch fremd und unzugänglich bleibt, dokumentiert in Johnsons Vorlesung der Wechsel zwischen einer homodiegetischen und heterodiegetischen Aussageinstanz, der neben das Ich mit verfremdender Distanzierungsgeste auch ein Er rückt, womit die mögliche Interpretation der Poetikvorlesung als eines auktorialen biographischen „Klartexts“ (Wegmann 1996) durchkreuzt wird. Vielmehr erscheint das Ich, wie in vielen modernen autobiographischen Texten, als ein nicht mit sich identisches, nicht als „verlässliche Instanz […], sondern stellt nurmehr eine Redeperspektive dar“ (Wagner-Egelhaaf 2005, 64). Der Text weist offensiv auf das Spannungsfeld zwischen vorgeblich authentischer Referenz und literarischer Performanz, mithin auch auf die hybride Form der Poetikvorlesung zwischen auktorialem epitextuellem Kommentar und literarischem Text. In Johnsons autobiographischem Entwurf der Autorpersona Johnson wird das persönlich Erlebte als ein produktionsästhetischer Erfahrungsspeicher seiner Texte ausgewiesen, der mit seiner fiktionalisierenden Transformation in Literatur als vermeintliches Leben vor dem Text unverfügbar wird.Vielmehr erscheint umgekehrt die persönliche Erfahrung seines Urhebers im Modus prägender literarischer Imagination, – als ein Leben in potenziellen literarischen Schreibszenen. Ein Beispiel, das von den Recherchen des Autors für die Jahrestage in New York handelt: „Wie verhext verwandelte sich das bisher ‚privat‘ verbrachte Jahr in eine Zeit des vorbereitenden Trainings: der morgendliche Weg auf der Ubahn bis zum Times Square […]“. Dieser habe sich als „eine Sammlung von Anhaltspunkten für die Art [erwiesen], in der eine Frau das Gedränge in den rasenden Eisenkästen verträgt, und zwar diese“ (Johnson 1980, 411). Gemeint ist die Protagonistin Gesine Cresspahl. Einige Aufmerksamkeit in der Rezeption hat das auffällige Figurenkonzept in Johnsons Vorlesung erfahren (vgl. Lassen 2000, 115), denn dabei treten die Figuren seiner literarischen Texte offenbar als gleichsam autonome Akteure, jenseits der erfindenden Verfügungsgewalt ihres Autors, in sein Leben, „in sich stimmig aus eigenem, in ihrem eigenen Recht, dem Urheber ebenbürtig“ (Johnson 1980, 127– 128), womit autofiktionale Interferenzen von Fiktion und auktorialer Lebenswelt mobilisiert werden. Das erzählte produktionsästhetische Szenario suggeriert ein Vertragsverhältnis zwischen Autor und Figur, „in ihrem Namen“ zu schreiben, „für sie und an ihrer Stelle“ (Johnson 1980, 425) und gibt sich als „Modifikation der traditionellen Inspirationslehre“ (Lassen 2000, 117): „Er hörte seine Leute reden. […]; ihm wurde deutlich vorgesprochen, und gehorsam schrieb er nach“ (Johnson 1980, 133). Die Imagination dieses den Text generierenden ‚Nachschreibens‘, des produktionsästhetischen intersubjektiven Gründungspaktes (mit seinen literarischen Figuren), findet sich auch so in Johnsons Romanen, etwa in Jahrestage als Fiktion einer Auftragsarbeit der Protagonistin Cresspahl (Johnson 1970 – 1983, u. a. 1426 – 1247). Literarischer Text und Poetikvorlesung verschränken sich so zu einem autofiktionalen Werk.

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3 Das ‚Chamisso-Phänomen‘: Vladimir Vertlibs Spiegel im fremden Wort Neben häufig exotisierenden, problematischen biographistischen Rezeptionen sind kulturpolitische Bemühungen um eine Sichtbarkeit jener Literatur von Autor*innen zu beachten, deren Biographie und deren Schreiben mit einem Sprachund Kulturwechsel zu tun haben. Die von der Robert-Bosch-Stiftung von 1985 bis 2017 verantworteten alljährlichen Auszeichnungen mit dem Chamisso-Preis ehrten entsprechend „Deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache“ (Dürig 2017, 51); die von 2000 – 2011 stattfindenden Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen wurden programmatisch an jene Autor*innen vergeben, die durch ihren biographischen Kulturwechsel „prädestiniert“ scheinen, „Fragen nach Migrationserfahrungen, freiwilliger oder erzwungener Mobilität sowie nach Alteritäts- und Identitätskonzepten in das Zentrum biographischer und poetologischer Reflexion zu stellen.“ (Dresdner Chamisso-Poetikdozentur). 2006 übernahm Vladimir Vertlib die Chamisso-Dozentur, die unter dem Titel Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur (Vertlib 2008) publiziert wurde. Verhandeln seine Texte Verfolgungs-, Migrations- und Fluchterfahrungen, die aktuelle und historische Phänomene (eines totalitären 20. Jahrhunderts) so aufeinander beziehen, dass vergangene Erfahrungen in aktuellen Konstellationen als rekonzeptionalisierte und transfomierte erscheinen, so sind diese zugleich immer wieder bevorzugt als autobiographische gelesen worden. Insbesondere wurde das durch die signifikanten Ähnlichkeiten, etwa seiner frühen Erzählung Abschiebung (1995) und des Romans Zwischenstationen (1999), mit der Biographie des in der ehemaligen Sowjetunion geborenen Autors provoziert. Diese stellt eine höchst wechselvolle Odyssee fortlaufender Migrationen dar, die der Autor als Kind erlebte. Die „mehr als zehn Jahre dauernde […] Pendelroute zwischen verschiedenen Exilstationen“, auf der Flucht vor Antisemitismus und politischer Repression, war „ursprünglich nur als Übersiedlung aus der UdSSR nach Israel geplant“ (Vertlib 2008, 13). Die vielfache Überschreitung von nationalkulturellen Grenzen verhandeln auch Vertlibs Romane. „Ein deutsch schreibender jüdischer Russe, der zur Zeit in Österreich lebt“ (Vertlib 2008, 139): Mit jener Formel denkt Vertlib in der Poetikvorlesung über die sich der Rezeption seiner Texte stellenden Verortungsprobleme und seine „schriftstellerische Heimat“ (Vertlib 2008, 59) in einem lebensweltlich pluralen Zugleich und Dazwischen nach. Die mit dem Sprach- und Kulturwechsel verbundenen Lebens- und Schreiberfahrungen werden unter der Bedingung als entscheidende literarische Ressource vorgestellt, dass sich die singuläre Erfahrung zu einer exemplarischen hochrechnen, das vermeintlich Eigene sich im Spiegel des Fremden erkennen

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lässt. Ihren „Mehrwert an Erkenntnis“ (Vertlib 2008, 39) vermag die Literatur migrantischer Autor*innen Vertlib zufolge dann auszuspielen, wenn die kollektive Allgemeingültigkeit individueller Exil- und Fremdheitserfahrungen aufscheint und das selbst erlittene Exil sich zeige als „zugespitzte Form jener Erfahrung von Fremdsein und Identitätsverlust, die zu den wesentlichen Merkmalen unserer Zeit gehört“ (Vertlib 2008, 60). Das sichtbar zu machen, sei eine der „wichtigsten Aufgaben zeitgenössischer Kunst“. Auf programmatische wie provozierende Weise werden Exil und Kreativität in einen Zusammenhang gebracht, und zwar im Hinblick auf das Potenzial von Sprache und literarischer Kommunikation zur Überschreitung politischer und kultureller Grenzen, zur intertextuellen Vielstimmigkeit und transhistorischen Erinnerung. In diesem Spannungsfeld zwischen Singularität und Exemplarität und mit forcierter Aufmerksamkeit auf die ästhetisch-fiktionalen Dimensionen der Verarbeitung von Exil- und Migrationserfahrung erschließt sich auch der Untertitel von Vertlibs Poetikvorlesung: „Die Erfindung des Lebens als Literatur“. Das literarisierte, ästhetisch verdichtete eigene Leben steht in einem kollektiven Resonanzraum erzählter Lebensgeschichten. So spricht die Vorlesung u. a. davon, wie in einem Verfahren fortlaufender Transformationen, der „Mischung aus Erlebtem, Hinzugedachtem und Assoziiertem“ (Vertlib 2008, 24) aus „Emigrationserfahrungen und Familienlegenden historische Texte entstehen“ (Vertlib 2008, 10). Sei es die Übersetzung (aus dem Russischen) und Bearbeitung eigener Tagebücher für die Erzählung Abschiebung oder von Audiokassetten mit Lebenserinnerungen der Großmutter, die als Material des Romans Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur dienen: Literatur und Leben werden in Vertlibs Werkstattbericht über die Erörterung der grundlegenden Bedeutung von narrativem Emplotment und Fiktion aufeinander bezogen. Eine wichtige Beglaubigungsfunktion für die fiktionale Zeugenschaft kommt dabei Biographemen, den genannten biographischen Bruchstücken, zu (Niefanger 2012). Den Aspekt einer vom Autor nicht kontrollierbaren semiotischen Dynamik von Biographemen hebt dagegen John von Düffel in seiner Poetikvorlesung am Beispiel des in die Buddenbrooks von Thomas Mann eingeflossenen biographischen „Erfahrungsspeicher[s]“ der Familie des Autors hervor, die dessen Figuren „als Matrix“ gedient hätte (von Düffel 2009, 36). Komplexe Dimensionen gewinnt bei Vertlib das Nachdenken über die Beziehung von (auto)biographischer Referenz und literarischer Performanz mit Blick auf die mit der Migration einhergehenden Herausforderungen sprachlicher wie kultureller Übersetzungsleistungen. So ist von einem langen, abgründigen Weg des „Zuwanderer[s]“ (Vertlib 2008, 52) zur deutschen Sprache die Rede, die wesentlich über die Lesebiographie die mit Nationalsozialismus und Holocaust verbundene „Sprache der anderen“ als „einen Teil der eigenen Identität“ (Vertlib

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2008, 58) erlebbar werden lässt, der jedoch der Bruch und mangelndes Sprachvertrauen eingeschrieben bleiben. Besonders akzentuiert wird die Lektüre Stefan Zweigs, die es dem in Österreich lebenden russischen Migranten erlaubt habe, die gegenwärtige Lebenswelt über den Umweg historischer und sprachlicher Fremdheit seiner „utopischen Gegenwelt einzuverleiben […]. Zweig steht somit am Beginn meiner Annäherung an Österreich“ (Vertlib 2008, 58). Diese Annäherung wird als eine unabschließbare ausgewiesen. Sie integriert die Erfahrung von Fremdheit und einer fragilen Identität auch als produktiven Faktor der eigenen literarischen Autorschaft auf unsicherem Gelände und in einer Sprache, in der kein Wort „seine Fremdheit zur Gänze verloren“ (Vertlib 2008, 59) habe. Darin äußert sich die von Vertlib mehrfach angesprochene Unwiderruflichkeit der eigenen Erfahrung von Emigration und Exil, die sich keines Bezugs auf eine ursprüngliche Dazugehörigkeit versichern kann. Diese bleibt auf das landlos Imaginäre verwiesen. Heimat sei, so Vertlib, für diejenigen, die „eine Emigration durchmachen mussten“, eine „reale Fiktion“ (Vertlib 2008, 59). Damit verbindet er die Vorstellung einer im Medium der Literatur erlesenen, erschriebenen und vielfach übertragenen transhistorischen und transnationalen Schicksalsgemeinschaft des Exiliertseins, in der das selbst Erlittene erst zu einem Mitteilbaren wird. Poetologisch gewendet erscheint das als sich fortlaufend wandelndes „Schattenbild“ aus der „Summe der Einzelbilder“ von Migrationserfahrungen. Vertlibs Argumentation entfaltet einen Begriff engagierter Literatur, die auf Intervention setzt. In dem Sinne gewinnt die titelgebende Formel von der „Erfindung des Lebens als Literatur“ in der Vorlesung ihre auch politischen Konturen. Ihr institutioneller Rahmen als Chamisso-Vorlesung und auch die Auszeichnung Vertlibs mit dem Chamisso-Förderpreis (2001) sind selbst Gegenstand der Reflexionen und werden von Vertlib in ihrer höchst ambivalenten kulturpolitischen Funktion erörtert, die später auch Thema einer Debatte war, als der Chamisso-Preis 2017 eingestellt wurde (u. a. Trojanow und Oliver 2016). Die Argumente Vertlibs kreisen um das Spannungsfeld zwischen problematischer Nobilitierung eines Sonderfalls erfolgreich in die deutschsprachige Literatur integrierter migrantischer „Lebens- und Schreiberfahrungen“ (Vertlib 2008, 160) und als aufmerksamkeitsökonomisches Förderinstrument jener Literatur, die eine Bereicherung des „Diskurs[es] über die Möglichkeiten und Grenzen des Kulturund Sprachwechsels“ (Vertlib 2008, 161) bedeutet.

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4 Autorschaft und/als Autofiktion. Terézia Mora: Nicht sterben Unter dem Titel Nicht sterben werden in Moras Frankfurter Poetikvorlesung, 2014, Autorbiographie und Werkbiographie untrennbar miteinander verwoben, – ein Lebensweg in Schreibszenen und Schreibszenen als Lebensweg. Zwischen den frühen Erzählungen Seltsame Materie und dem 2015 erschienenen Roman Das Ungeheuer zeichnet Moras Poetikvorlesung den Weg zum Schreiben zunächst in einem existenziellen Sinn als Migration zum Überleben aus, als Aufbruch zu einem „Aufenthalt in der Dichtung“ (Bachmann 2005 [1959], 287), um es mit einem Bachmann-Zitat zu formulieren. „Aus der Höhle kommen und überleben, nicht irgendwie, sondern in einer neuen Qualität. Der Bestien draußen und drinnen Herr werden“ heißt es metaphorisch über den Weg „zum ersten Buch“ (Mora 2014, 6). Weiter heißt es zur Genese dieser Autorschaft: „Was mich anbelangt: Meine ersten Narrative waren die der Repression“ (Mora 2014, 10). Die Herkunft der eigenen Autorschaft wird aus dem Aufbruch ins Unbekannte in einem autobiographischen, einem historisch-politischen und anthropologischen Sinn entfaltet. Letzteres illustriert eine kurze Episode über den mit der Tochter gesehenen Steinzeit-Animationsfilm Croods, der von den tödlichen Gefahren für die ihre Höhle verlassenen Menschen handelt und dem Zwang, in einem ungeschützen Draußen andere Strategien und Narrative des Überlebens zu entwickeln. Unzugehörigkeit und mehrfache Fremdheit werden als existenzieller Grund des eigenen Schreibens entworfen: zunächst für die Angehörige einer deutschsprachigen Minderheit die erfahrene „Tyrannei“ (Mora 2014, 10) des realexistierenden Sozialismus in einem westungarischen Dorf der 1970er und 1980er Jahre, sodann für die im Nachwende-Berlin ankommende Migrantin mit ihrem „Minderheitendeutsch aus dem ländlichen Ungarn“ (Mora 2014, 12). In mehrfachem Sinn entwirft sich ihre Autorschaft als die einer Grenzüberschreitung: politisch, kulturell und sprachlich. Als Akt der Verweigerung einer identitätsstiftenden Reduktion „auf die (fremde) Herkunft, auf das, was vermeintlich zurückgelassen wurde“ (Komfort-Hein 2019, 85), begründet Mora in einem Gespräch mit der Zeitschrift Literaturen, ihre Wahl des von jeder Spur kultureller Herkunft gereinigten Pseudonyms für ihr schreibendes Ich: „Ich wollte einen Namen wählen, dem man nicht sofort anhört, wo er herkommt. Ich wollte mich maskieren. […]. Man sollte nicht wissen, wer diesen Text geschrieben hat, aber diesen Text dennoch als gültig erkennen“ (Mora et al. 2005, 30). Die an den ortlosen Namen gebundene Autorschaft gibt sich so als Störfaktor für die identifizierende und auf biographische Erfahrungen reduzierende Zuschreibung ihrer Texte als deutschsprachige Migrationsliteratur.

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Im Falle Moras lässt sich diesbezüglich eine paradoxe Doppeladressierung über die Auszeichnung mit Literaturpreisen im bundesdeutschen Literaturbetrieb beobachten, die den Weg einer Autorin von einem vorgeblich fremden Außen ins Zentrum deutschsprachiger Gegenwartsliteratur suggerieren: Der Weg führt vom Chamisso-Preis (2010) bis zum Deutschen Buchpreis (2013) bzw. zu der renommiertesten nationalen Nobilitierung, dem Georg-Büchner-Preis (2018). Auch jene autobiographischen Referenzen werden im Maskenspiel des Pseudonyms irritiert, die die Poetikvorlesung als ursprüngliche Produktivkraft erlittenen Lebens zunächst zu bekennen scheint, was sich dann auch hier relativ bald als autofiktionales Rollenspiel vor dem Auditorium bzw. vor dem Auge der Leser*innen der publizierten Vorlesung zu erkennen gibt. Autobiographische Referenz wie Entzug werden, wie diese Beobachtungen zeigen, also in Moras Vorlesung gleichermaßen befeuert, nicht zuletzt durch metaleptische Wendungen, die die Autorin als Doppelgängerin ihrer Figuren und als literarische Gemeinschaft mit diesen ihr privates Leben inszenieren. So ist etwa die Rede von einer Wahlverwandtschaft mit ihrem Protagonisten des Romans Alle Tage, Abel Nema, einem in die deutsche Großstadt B. am Ende des 20. Jahrhunderts gespülten Migranten, der in „hermeneutisch unauflösbarer Fremdheit verharrt“ (Komfort-Hein 2019, 87), „[a]ls wäre er an jedem Platz falsch“ (Mora 2014, 41), und der wie seine Urheberin einen Namen ohne Hinweis auf seine Herkunft trägt. Die Poetikvorlesung erzählt die Fiktion einer die eigene literarische Welt bewohnenden Autorfigur und umgekehrt die Werkgenese als eine sich schrittweise vollziehende Belebung der literarischen Fiktion mit dem grenzüberschreitenden Eintreten der Figuren in das Leben der Autorin. Diese metaleptische Strategie erinnert an Uwe Johnsons Vorlesung. Ein Beispiel Moras: „Von meiner Beobachtungsposition aus – 28 Jahre alt, davon 19 im kommunistischen Ungarn und 9 in Ostberlin nach dem Mauerfall – war folgendes zu sehen: […]. An dieser Stelle war es, dass Abel Nema hereinkam […]“ (Mora 2014, 34). Der unkontrollierbare Rest der literarischen Fiktion durchkreuzt buchstäblich die Vorstellung von Urheberschaft und Autorbiographie jenseits der Textgrenzen, womit die Urheberin zugleich als dessen Geschöpf erscheint und das Ich als ein literarisches kenntlich wird (Komfort-Hein 2019, 89). Darüber hinaus werden historisch-politische wie individuell biographische Zäsuren, die mit produktionsästhetischen Entscheidungen verbunden sind, als Überblendung von poetologischem Kommentar und literarischer Autofiktion vorgeführt. In Bezug auf die schriftstellerische Arbeit nach ihrem Debütband Seltsame Materie, der Erzählungen aus einer dörflichen ungarischen Lebenswelt an der Grenze zu Österreich versammelt, heißt es etwa: „Ich bin aus der SELTSAMEN MATERIE ausgezogen, um anwesend sein zu können in meinem Leben, in meiner Zeit. Ich habe neben der Unfreiheit des Systems auch die Unfreiheit der Kindheit hinter mir gelassen […]“ (Mora 2014, 32). Die Überblendung von Autor- und Werkbiographie

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suggeriert hier buchstäblich ein sich aus den bereits erwähnten frühen Narrativen der „Repression“ befreiendes, sich die Welt aneignendes literarisches Textleben, das „alles, von überallher, […] kurz jeden Ort, an dem ich bis dahin gewesen war, nicht als Schriftstellerin, sondern einfach nur so“ (Mora 2014, 98), zu integrieren sucht. Der Titel von Moras Poetikvorlesungen, Nicht sterben, gibt sich so als Hinweis auf die „Transformation einer ‚unfreien‘ negativen Ästhetik des Entkommens in eine komplexe, weltzugewandte Ästhetik des Überdauerns […] und in ästhetische Produktivität als zugleich fortlaufende performative Selbstschöpfung eines Ich“ (Komfort-Hein 2019, 88). Die Poetikvorlesung unterläuft dabei in ihrem ästhetischen Verfahren die konventionellen Genre-Erwartungen, den auktorialen poetologischen Kommentar zum literarischen Werk zu liefern, und stellt sich diesem vielmehr ebenbürtig zur Seite. So wird der Rahmen einer immer schon literarisierten Welt nicht überschritten, der das Leben jenseits der Literatur als ein unverfügbares erscheinen lässt. Irritierende Mehrdeutigkeit gewinnen in dem Sinne auch Passagen wie die folgende, in der ein Werkstattbericht über den Beginn der Arbeit am Roman Alle Tage zugleich den Fiktionspakt für das Auditorium bzw. die Leser*innen nahelegt: Die vermeintlich erinnerte Selbstaufforderung der Autorin, zunächst Zeit, Ort und Handlung festzulegen, begleitet die nicht mehr nur auf den Fiktionsrahmen des Romans verweisende Feststellung: „Der Ort, an dem wir uns befinden, ist die Literatur“ (Mora 2014, 59). Das im Präsens performativ beschworene Hier und Jetzt der Arbeit am Roman kann auch als selbstreflexiver Kommentar auf das Verhältnis von Literatur und (Autor‐)Leben sowie auf die mündliche und schriftliche Rezeptionssituation der Poetikvorlesung selbst gedeutet werden. Diese wiederum erscheint als Bühne eines literarischen Resonanzraums und stellt offensiv die unsicheren Grenzen zwischen kommentierendem Epitext und ästhetischer Form aus.

5 Selbstoffenbarung im Medium der Poetikvorlesung? Christian Kracht: Emigration Im Rahmen seiner Frankfurter Poetikvorlesung mit dem Titel Emigration, 2018, gibt Christian Kracht vor seinem Auditorium ein geradezu irritierendes Bekenntnis – angesichts seines wohlbekannten Images „omnipräsente[n] Verschwinden[s]“ (Schumacher 2009), eines virtuosen autofiktionalen Rollenspiels, mit dem sich der Autor jeweils den Protagonisten und der Ästhetik seiner Romane anverwandelt, sowie der Verschwiegenheit, was die eigene Lebensgeschichte angeht: Im Alter von zwölf Jahren sei er während seines Aufenthalts in einem ka-

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nadischen Internat sexuell missbraucht worden. Die schweren Zeichen dieser erzählten Gewalterfahrung schlagen sofort hohe Wellen im Feuilleton, erzeugen sie doch dort den Effekt einer bahnbrechenden hermeneutischen Zäsur für die Lektüre seines Werkes. Ijoma Mangolds Kommentar mag insofern als symptomatische Reaktion angesichts der ethischen wie ästhetischen Herausforderung gewertet werden: „Selten dürfte eine Poetik-Vorlesung das Bild eines Autors so fundamental verändert haben. Es sind immer noch dieselben Romane, aber man liest sie anders.“ (Mangold 2018, 35). Krachts demonstrierte Verschränkungen von Leben und Werk befeuern diese Deutung der hermeneutischen Freilegung des in der Kindheit Erlittenen als „Urszene seines Schreibens und […] bislang verborgene[s] Zentrum seines Werkes“ (Kempke 2019 b, 231) und führen damit einen Einspruch gegen die bisherige Rezeption und Etikettierung seines Œuvres in Literaturwissenschaft und Literaturkritik auf, vor allem die Zuschreibungen Pop, Dandy und Camp betreffend. Sorgt die auktoriale biographische Nachlese des eigenen Werkes, die ausgewählte Stellen seiner Romane hinsichtlich des Missbrauchserlebnisses kommentiert, für Spekulationen, ob Kracht nicht auch hier die Strategie fortsetze, die eigene Autorpersona zu verrätseln, so unpassend scheinen angesichts des in der Poetikvorlesung verhandelten Themas des Missbrauchs wiederum die für Krachts Schreiben signifikante ästhetische Vorbehaltlichkeit und das selbstreferenzielle Spiel mit Ambivalenzen. Zusätzliches Irritationspotenzial entsteht dadurch, dass der Text der Poetikvorlesung über das unwiederholbare Live-Ereignis im Hörsaal hinaus als autorisierter unzugänglich bleibt. Weder erlaubte der Autor den Veranstalter*innen den sonst für die Frankfurter Institution üblichen audiovisuellen Mitschnitt, noch existiert (bis heute) eine Buchpublikation der Vorlesung. „Die Selbstentblößung war gekoppelt an die Schaffung eines Geheimnisses, die Offenlegung war zugleich Verrätselung,“ merkt Claudia Dürr (2018) wenig später mit dem entscheidenden Verweis auf die Poetikvorlesung als Ort und Medium der Krachtʼschen Offenbarung und die daraus resultierenden Differenzen zu persönlichen Zeugnissen der zeitgenössischen #MeToo-Debatte an. Durch überdeutliche Referenzen – Kracht gibt an, durch die Debatte zur hermeneutischen Spurenlese des im eigenen Werk verborgenen Traumas gefunden zu haben – wird die Poetikvorlesung als Poetikvorlesung jedoch „selbst zu einem #MeToo-Fall“ (Taylor 2019, 242) und damit Teil eines mehrfach medialisierten Bekenntnisdiskurses im digitalen Zeitalter. Vor dem Auditorium ist die Rede vom therapeutischen Vermögen der Kunst, Wunden des erlittenen Missbrauchs zu heilen. Dass die Dimensionen des Poetischen eine wichtige Funktion erfüllen, stellen auch zahlreiche Zitationen anderer literarischer Texte in Krachts Vorlesung aus, die gleichsam im fremden das eigene Bekenntnis aufscheinen lassen. Gibt sich so ein auktoriales Szenario von Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten des traumatischen Erlebnisses in und

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durch Literatur zu erkennen, so führt Krachts Poetikvorlesung im Gewand seines Bekenntnisses ein komplexes, hochreflexives Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, von autobiographischem Bekenntnis und literarischer Performanz vor (Taylor 2019, 243 – 244; Kreknin 2019, 224). Eine nicht unerhebliche Rolle spielt die Tatsache, dass Krachts Missbrauchserfahrung zuerst im Medium einer Poetikvorlesung artikuliert wird, womit das Genre, seine institutionellen Gegebenheiten sowie gattungsgeschichtliche Topoi (produktions- und rezeptionsästhetische Konsequenzen schriftstellerischer Initiationserlebnisse in der Kindheit z. B.) aufgerufen werden. Ein unübersehbarer gattungsgeschichtlicher Vorläufer liegt mit Bodo Kirchhoffs Frankfurter Poetikvorlesung Legenden um den eigenen Körper, 1994 – 1995, vor, die, ebenfalls poststrukturalistisch informiert, eine auktoriale Vorgeschichte der Kindheit und des dort erfahrenen Missbrauchs als poetologisch folgenreich für das eigene Werk entwirft, wenngleich das bei Kirchhoff weniger prominent im Zentrum steht (Kempke 2021, 397– 398). Auch fehlte Kirchhoffs Vorlesung die mediale Kontextualisierung einer akutellen Missbrauchsdebatte. Krachts Vorlesung rückt darüber hinaus nachdrücklich die Bedeutung des institutionellen Ortes in den Fokus und kann mit Fug und Recht als metareflexive Poetikvorlesung betrachtet werden (Kempke 2019 b und Kreknin 2019). So hebt Innokentij Kreknin überzeugend mit Blick auf Foucaults Überlegungen zu Techniken des Selbst und die sie regulierend prägenden Rahmungen die in Krachts Vorlesung ausgestellte Vermittlung intimer autobiographischer Offenbarung mit der akribischen Beobachtung und Reflexion ihrer (ästhetischen) Form und der sie hervorbringenden wie zugleich kontrollierenden institutionellen Gegebenheiten hervor.

6 (Autor‐)biographie auf der Bühne der Poetikvorlesung Indem Krachts Vorlesung die Rezeption vor ein Dilemma stellt – folgt man der mit dem traumatischen autobiographischen Bekenntnis begründeten auktorialen Neudeutung des Werkes oder interpretiert man auch die Vorlesung als Fortsetzung der Krachtʼschen Strategie ästhetischer Vorbehaltlichkeit – provoziert sie mit der Frage nach der Gültigkeit des dort über die biographische Welthaltigkeit des eigenen Werkes Gesagte grundsätzlich auch die Frage nach dem Status und der Funktion des hybriden Genres Poetikvorlesung sowie seines institutionellen Rahmens in der literarischen Kommunikation. Das Sprechen über den biographischen Gehalt literarischer Texte ereignet sich auf der Bühne einer Poetikvor-

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lesung im Spannungsfeld zwischen Akademie, Literatur und Literaturbetrieb, zwischen epitextuellem auktorialen Kommentar, ästhetischer Performance und Inszenierung eines Autor-Images unter den Bedingungen aufmerksamkeitsökonomischer Konkurrenz. Die exemplarischen Fallstudien veranschaulichen, dass es dabei sowohl um eine Auseinandersetzung mit literaturwissenschaftlicher Theoriebildung als auch mit produktionsästhetischen Konjunkturen und Rahmenbedingungen im literarischen Feld geht. Authentizitätseffekte wie offensiv ausgestellte Artifizialität prägen gleichermaßen die Inszenierungen von Autorund/als Werkbiographie und aktualisieren dabei immer auch signifikante Topoi der Gattungsgeschichte.

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3.10 Transkulturalität: Grenzüberschreitende Reflexionen von Poetik und Ästhetik 1 Sprachliche, literarische und kulturelle Grenzüberschreitungen Die Tatsache, dass Literatur zeitliche und räumliche Grenzen überschreitet, ist bereits ihrer schriftlichen medialen Verfasstheit inhärent. Sobald sie in unterschiedlichen Sprachräumen Leserinnen und Leser findet, wird sprachliche, womöglich aber auch kulturelle Übersetzung nötig. Damit einher gehen transkulturelle Überlegungen, die die Übersetzenden anstellen, die dann unter anderem in Poetikvorlesungen vorgestellt und oft auch mit dem Publikum diskutiert werden. Doch nicht nur die literarischen Texte, sondern auch ihre Verfasserinnen und Verfasser können sich zwischen Sprachräumen und Kulturen bewegen; und vielfach verstehen sie sich gleich selbst als kulturelle Hybride. Die Germanistik hat Phänomene wie diese unter der Kategorie ‚interkulturelle deutschsprachige Gegenwartsliteratur‘ subsumiert (Todorow 2004, 25; Chiellino 2007) und damit eine Reihe von zum Teil bereits seit dem ‚Wirtschaftswunder‘ der westdeutschen Nachkriegszeit auftretenden und nicht selten ideologisch gefärbten Bezeichnungen wie ‚Gastarbeiterliteratur‘, ‚Migrationsliteratur‘ (Rösch 2004; Schenk et al. 2004; Abel et al. 2006), ‚mehr- und transkulturelle Literatur‘ (Ewert 2017, 49) oder ‚(postkoloniale) Weltliteratur‘ (Ezli et al. 2009; Richter 2017) zu vereinheitlichen gesucht. Das Label ‚interkulturelle Literatur‘, das ein heterogenes diskursives Feld zu ordnen bemüht ist, wird begründet durch die Beobachtung, dass Autorinnen und Autoren, deren Erstsprache eine andere als die deutsche ist, in der globalisierten Welt aus den verschiedensten Gründen nach Deutschland migrieren, dort auf Deutsch zu schreiben beginnen, dadurch zu Akteurinnen und Akteuren im Feld der deutschsprachigen Literatur werden und sich ebenso selbst darin verorten müssen, wie sie auch durch andere in diesem Feld platziert werden (Amodeo 1996). „Der Schriftsteller fremder Muttersprache verschreibt sich dem Deutschen. Es wird zu seinem Refugium und zu seinem Fluchtpunkt des Seins. Es erscheint ihm nicht selbstverständlich, sondern birgt Eigenheiten, Rätsel und Geheimnisse“ (Rabinovici 2019, 25) Vor diesem Hintergrund lässt sich nun für die Zeit seit etwa Mitte der 1980er Jahre und den deutschsprachigen Raum feststellen, dass sich sowohl die Vergabe https://doi.org/10.1515/9783110647884-029

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von Poetikdozenturen als auch diese selbst verstärkt an Phänomenen der Multi-, Inter- und Transkulturalität (Maillard 2006; Welsch 2010; Heimböckel und Weinberg 2014), der literarischen Mehrsprachigkeit (Dembeck und Parr 2017), an Poetiken der Verschiedenheit bzw. des Diversen (Wintersteiner 2006a; 2006b), an Fragen des literarischen Übersetzens (Rathjen 2019), an TransArea-Studies (Ette 2005) und schließlich an „Poetik[en] der Bewegung“ (Ette 2012) orientiert haben, bis hin zu speziell interkulturell ausgerichteten Poets in Residence wie der Salzburger Stefan-Zweig-Poetikvorlesung (eingeladen werden Autorinnen und Autoren, „für die die Vermittlung zwischen den Kulturen ein zentraler Aspekt ihrer künstlerischen Arbeit ist“; Mora 2016, 112), der Chamisso-Poetikdozentur für Migrantenliteratur an der Technischen Universität Dresden (2001– 2011) und INPOET. Hamburger Gastprofessur für Interkulturelle Poetik (seit 2011). All das geschah zum einen dadurch, dass das Schreiben der Poetikdozentinnen und -dozenten auch auf der Metaebene poetischer Selbstreflexion als – in welcher Hinsicht auch immer – ‚grenzüberschreitend‘ wahrgenommen wurde, zum anderen dadurch, dass ihre Texte und Ästhetiken (hier verstanden als Summe der Schreibverfahren) in den zahlreichen Terminologien und Theorien der Grenzüberschreitung und des ‚Dazwischen‘ verortet und als multi-, inter-, trans-, pluri- und polykulturell oder ganz einfach als mehrsprachig ausgewiesen wurden. So heißt es beispielsweise zum Konzept der Dozentur für Interkulturelle Poetik an der Universität Hamburg, dass „renommierte Autorinnen und Autoren“ eingeladen werden, „die sich mit kultur-differenten Erfahrungshorizonten und Wertorientierungen in ihren Werken beschäftigen und für die literarische Gestaltung von tiefgreifenden Veränderungsprozessen wie beispielsweise infolge von Migration, Mauerfall und Globalisierung neue Ausdrucksformen finden“. Diese „setzen sich in ihren Vorlesungen im Rahmen der Gastprofessur an der Universität Hamburg mit dem Potential der ästhetischen Inszenierung von Interkulturalität auseinander!“ (Webseite INPOET). Das Spektrum der vielen zur Debatte stehenden ‚Inter‘-Phänomene wird im Folgenden mit der bewusst weit angelegten Formulierung ‚grenzüberschreitende Reflexionen von Poetik und Ästhetik‘ umrissen. Das ist erstens dadurch motiviert, dass die Einzelphänomene (literarische Mehrsprachigkeit, literarisches Übersetzen, literarische Formen der Interkulturalität usw.) in den einschlägigen Poetikdozenturen selten trennscharf, dafür aber häufig miteinander verknüpft und sich überlappend anzutreffen sind. Zweitens trägt die Formulierung der Diskussion um den Interkulturalitätsbegriff Rechnung, denn Kulturen kann es nur dann geben, „wenn sich ein Punkt angeben läßt, an dem die eine Kultur aufhört und die nächste anfängt“, was häufig mit der Metaphorik der ‚Grenze‘ verdeutlicht wird. Das heißt aber nicht, „daß interkulturelle Begegnungen an und auf dieser Grenze stattfinden. Die Be-

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gegnung zweier Kulturen findet vielmehr statt, wenn eine Kultur in das abgegrenzte Terrain der anderen einbricht“ (Rieger et al. 1999, 11; dazu auch Heimböckel und Weinberg 2014, 129 – 130), wenn also Grenzüberschreitungen – in unserem Falle literarische – stattfinden. Ein solches „‚Überschreiten von Grenzen‘“ meint dann immer auch die „Reflexion und das Außer-Kraft-Setzen von voraus-gesetzten Grenzziehungen“ (Heimböckel und Weinberg 2014, 124; Amodeo und Hörner 2010) und mit ihnen das Suspendieren jeglicher Vorstellungen von geschlossenen Container-Kulturen. Damit aber wird „die interkulturelle Aktivität“ zu einem Wagnis, was nicht zuletzt auch für die in Poetik und Ästhetik grenzüberschreitend agierenden Poetikdozentinnen und -dozenten gilt (Amodeo und Hörner 2010, 132; SchmitzEmans 2008). Für Yōko Tawada etwa ist es ein „künstlerisches Experiment, eine andere Sprache zu sprechen und dabei die körperlichen Anstrengungen zu beobachten“ (Tawada 1998, 10 – 11; dazu Gutjahr 2012b, 9). Mit und in solchen Vorlesungen haben Poetikdozentinnen und -dozenten – anders als im Fall der Fremdverortung – selbst das Wort und können sich und ihr grenzüberschreitendes literarisches Schaffen in die verschiedensten Kontexte stellen. Dazu sind Poetikvorlesungen in besonderer Weise geeignet, da sie an der Schnittstelle von Literatur und Literaturbetrieb angesiedelt sind und über Poetik und Ästhetik des eigenen Schreibens hinaus häufig auch die Produktionsbedingungen von Literatur reflektieren. Poetikdozenturen sind Formen der „Institutionalisierung dichterischer Selbstexplikation“ im Literaturbetrieb (Schmitz-Emans 2019, 256). Auf der Folie dieser Vorüberlegungen lassen sich für die nachfolgende Analyse einer Reihe konkreter Poetikvorlesungen und ihres ‚Dazwischenseins‘, ihres je verschiedenen grenzüberschreitenden Charakters, einige Leitfragen formulieren: (a) Wie konzipieren und reflektieren die Poetikdozentinnen und -dozenten ihre Grenzüberschreitungen? Stellen sie sich als grenzüberschreitende Personen dar, beispielsweise mit Eltern aus zwei Ländern, einer Herkunft aus einem mehrkulturellen Land, mit Tätigkeiten als Autorinnen und Autoren und Übersetzerinnen und Übersetzer, was immer sprachliches und zugleich kulturelles Übersetzen meint? Heben sie auf grenzüberschreitende Inhalte ihrer Texte ab? Oder auf deren Mehrsprachigkeit? – (b) An welchen (impliziten) Prämissen, Überlegungen, reflektierten oder nicht-reflektierten Überzeugungen orientieren sich die Poetikdozentinnen und -dozenten dabei? – (c) Auf welche literatur- und kulturwissenschaftlichen Theorien und Autoritäten wird zurückgegriffen, um sich selbst zu positionieren? – (d) Wie werden die Überlegungen in den Poetikvorlesungen auf die eigenen literarischen Texte bezogen? – (e) Und umgekehrt: Lässt sich zeigen, dass die Poetikdozenturen auf die ihnen nachfolgende Textproduktion zurückwirken? – (f) Welche typischen Argumentationsmuster lassen sich herausarbeiten?

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Entlang von Fragen wie diesen werden im Folgenden Argumentationslinien und ihre Kombinationen für eine Reihe von Poetikdozentinnen und -dozenten und die in ihren Vorlesungen entwickelten Ästhetiken bzw. Poetiken nachgezeichnet und analysiert. Ziel ist es, erste durchgehende roten Fäden und mit ihnen eine heuristische Typologie von Argumentationsmustern herauszuarbeiten. Für die Analyse ausgewählt wurden die Poetikvorlesungen von Yōko Tawada (Tübingen 1998, Essen 2005 und Hamburg 2011), Terézia Mora (Frankfurt a. M. 2014 und Salzburg 2014), Herta Müller (Paderborn 1989 bis 1991, Bonn 1985 und 1995, Tübingen 2001, Zürich 2007 und Leipzig 2009), Doran Rabonivici (Salzburg 2019) und Alida Bremer (Essen 2019).

2 Grenzpoetik aus der Beobachtung von Sprache und Schrift: Yōko Tawada (Tübingen 1998) Yōko Tawadas unter dem Titel Verwandlungen publizierte drei Tübinger PoetikVorlesungen von 1998 sind geeignet, sowohl die Form deutlich zu machen, in der Tawada über Poetik und Ästhetik spricht, als auch die Argumentationsmuster, derer sie sich bedient, um über sprachliche Grenzüberschreitungen zu reflektieren. Zu Beginn ihrer Poetikvorlesungen wird zunächst eine Unterscheidung getroffen und damit ein Leitgegensatz etabliert, an den in den nachfolgenden Überlegungen wie an ein Leitmotiv immer wieder neu angeknüpft werden kann: „Ein Zeichen ist ein Bild, das mehrmals übermalt wurde. / Dagegen ist jeder Buchstabe des Alphabets ein Rätsel.“ (Tawada 1998, 30). Oder: „Menschen sprechen nicht nur unterschiedliche Sprachen, sondern haben auch verschiedene Stimmen. In Schweden zum Beispiel spricht man leiser als in Deutschland, und in Ostasien sind die Stimmen meist höher als in Europa. In Kalifornien habe ich oft gehört, daß vom Scheitel aus gesprochen wird, während in der Steiermark das Sprechen zwischen Bauch und Schlüsselbein beginnt. Es gibt noch viel mehr Differenzen und interessante Details“ (Tawada 1998, 7). Gleichsam biographische ‚Tiefe‘ erhält die jeweilige Unterscheidung in einem meist sehr schnell folgenden zweiten Schritt dadurch, dass der behandelte Gegensatz durch eigene Erfahrungen und Erlebnisse verifiziert wird: „Bevor ich nach Hamburg kam, hatte meine Stimme keine Bedeutung für mich. […] Ich sprach so unauffällig, wie man normalerweise seine Muttersprache spricht, und meine Sprache wurde von meinen Gesprächspartnern wie geschriebene Sätze aufgenommen. Nie hatte ich das Gefühl, dass meine Worte aus meinem Körper kamen.

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Meine Handschrift hingegen bedeutet für mich viel. […] Die mit weichem Bleistift langsam ins Papier eingetragene Kinderschrift wurde durch nichts zerstört, während meine Stimme vom Gesamtklang der Gemeinschaft geschluckt wurde“ (Tawada 1998, 10). Im dritten Schritt wird dann gezeigt, welche Rolle der Leitgegensatz in bekannten literarischen Texten spielt, oder es werden Autoritäten der Sekundärliteratur mit prägnanten Stellen zitiert, die ebenfalls als Belege für den Umgang mit dem Leitgegensatz gelten können, wobei gern auf zwischen Wissenschaft und Literatur changierende essayistische Texte zurückgegriffen wird, bei Tawada z. B. auf Julia Kristeva und Walter Benjamin (1998, 8, 45). Daran schließt sich als vierter Schritt an, ein literarisches Verfahren in den Blick zu nehmen, das geeignet ist, die mit dem Leitgegensatz verbundene Problematik aufzulösen und sie zugleich ästhetisch fruchtbar zu machen. So heißt es in Stimme eines Vogels oder das Problem der Fremdheit, dass aus der „Not“ sprachlicher Unsicherheiten ein gewollt „experimentelle[s] Sprechen entstehen“ kann: „Man kann zum Beispiel Zäsuren der Verlegenheit, die einen Satz ungeschickt auseinanderschneiden, bewußt als ein den Rhythmus gestaltendes Element einsetzen. Man kann eine monotone Sprachmelodie oder zwanghafte Wiederholungen eines Wortes oder eines Satzbaus dafür nutzen, dem Text einen rituellen Charakter zu verleihen“ (Tawada 1998, 11). Und in Schrift einer Schildkröte oder das Problem des Übersetzens heißt es, dass die „Buchstaben des Alphabets […] unfaßbare Phantasietiere“ seien, da schon allein „durch Kombinationen“ (Tawada 1998, 30) neue Wörter gebildet werden könnten: „Wenn man die Buchstaben anders aneinanderreiht, entsteht ein ganz anderer Sinn.“ (Tawada 1998, 30). Wendungen wie diese sind bei Tawada nur selten explizit auf ihre eigenen Texte bezogen, doch schwingt das Angebot, genau dies zu tun, stets mit; und geht man ihre Poetikvorlesungen durch, dann findet sich eine ganze Reihe solcher und ähnlicher Formulierungen, die insgesamt Tawadas Poetik des Fremden und die Ästhetik ihrer Texte ausmachen. Zwischenschritte bei all dem können Metaphern, Sinnbilder und (Ding‐) Symbole sein, in die die verhandelten Gegensätze wie auch die sie ‚lösenden‘ literarischen Verfahren gefasst werden, oder kurze eigene Texte, die das zur Debatte stehende Problem bzw. die aufgeworfene Frage literarisch aufgreifen und auf einer weiteren Ebene verifizieren. Im fünften, bei Tawada nicht immer realisierten Schritt wird der entwickelte Gedankengang dann häufig noch einmal auf eine prägnante Formel gebracht, die sich bisweilen wie ein poetologischer Merksatz liest. So endet die erste der Tübinger Vorlesungen etwa mit der Feststellung: „Wer mit einer fremden Zunge spricht, ist ein Ornithologe und ein Vogel in einer Person.“ (Tawada 1998, 22). Damit sind auch hier wieder Tawadas eigene Poetik und ihre eigenen Texte mit

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ihrem permanenten Changieren zwischen analytisch-philologischem Argumentieren (Ornithologe) und Sprachspiel (Vogel), zwischen „Poesie und Präzision, Phantasmagorie und Ordnung, wortrauschartiger Assoziationsflut und strenge[r] Konstruktion“ charakterisiert (Wertheimer 1999, 61). Und an einer anderen Stelle heißt es: „Ein Vogel, der eine menschliche Sprache nachahmend spricht, versteht weder den Inhalt noch die sogenannte Grammatik der Sprache […]. Aber eine konzentrierte Nachahmung kann – wie Träume – klare Abbilder der fremden Sprache darstellen“ (Tawada 1998, 22). Abstrakt lässt sich ein solches, hier vereinfacht dargestelltes Vorgehen als eine Ästhetik der permanenten Transformation oder – wie Jürgen Wertheimer es genannt hat – als eine „Ästhetik der Verwandlungen“ (1998, 61) bezeichnen, die gerade auch mit Blick auf die von Tawada bevorzugt verhandelten Gegenstände ‚Sprache‘, ‚Stimme‘ und ‚Schrift‘ deutlich wird: „Was macht man, wenn man von fremden Stimmen umgeben ist? Einige Menschen versuchen bewußt oder unbewußt, ihre Stimme der neuen Umgebung anzupassen. Tonhöhe und Lautstärke werden korrigiert, der neue Sprachrhythmus wird nachgeahmt und auf das Einund Ausatmen geachtet. Jeder Konsonant, jeder Vokal und vielleicht auch jedes Komma durchlaufen die Fleischzellen und verwandeln die sprechende Person. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum die Emigranten in der zweiten oder dritten Generation andere Gesichter bekommen als diejenigen, die im Lande der Vorfahren geblieben sind“ (Tawada 1998, 8). Stimme in ihrer Materialität, Sprache und Schrift sind Themen, um die es bei Tawada in Form von Vergleichen geht, die in der Regel verschiedene Kulturen umfassen (Schmitz-Emans 2012) und jene Grenzüberschreitungen zur Voraussetzung haben, von denen Rieger et al. (1999, 11) und Heimböckel und Weinberg (2014, 129 – 130) sprechen. Aus ihnen entwickelt Tawada ihre „bilingual-interkulturellen Schreibverfahren“, ihre „interkulturelle Poetik und Sprachtheorie“ (Gutjahr 2012b, 8) sowie ihren ganz eigenen „Ort in einem kulturellen Dazwischen“ (Gutjahr 2012b, 12).

3 Biographisch argumentierende Grenzüberschreitungen: Terézia Mora (Salzburg 2014) und Doran Rabinovici (Salzburg 2019) Anders als bei Yōko Tawada sind Terézia Moras Poetikvorlesungen, insbesondere die in Salzburg unter dem Titel Der geheime Text gehaltenen (Mora 2016), dadurch

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gekennzeichnet, dass ihre literarischen Selbstpositionierungen in einem gleich dreifachen Rückblick entwickelt werden: erstens auf die eigene Biographie, zweitens auf die vor allem ungarische literarische Sozialisation (was hat Mora gelesen und was zitiert bzw. beerbt sie mal direkter, mal eher unbewusst?) und drittens auf das eigene Schreiben und die eigenen Texte. Miteinander verbunden sind diese drei Formen von Rückblicken dadurch, dass die beiden letzten meist aus demjenigen auf die eigene Biographie entwickelt werden. Dadurch entsteht über die drei Salzburger Poetikvorlesungen hinweg ein charakteristischer Rhythmus des Wechsels von biographischen Passagen, Reflexionen der mehrsprachigen und damit auch mehrkulturellen literarischen Sozialisation sowie Bezügen auf die eigenen Texte. Insgesamt wird dabei auch hier keine ausgefeilte Poetik entwickelt, sondern es werden viele einzelne aus eigener Erfahrung resultierende Ratschläge zum Schreiben gegeben, die sich mal nach außen, also an das (Lese‐)Publikum richten, mal eher den Charakter von Selbstermahnungen im Duktus eines ‚So musst Du es machen!‘ haben. Damit erhalten die Poetikvorlesungen von Mora den Status einer poetologischen Selbstvergewisserung. Insgesamt – und darin Tawadas Poetikvorlesungen durchaus ähnlich – können die poetologischen Stellen, auch wenn sie nur punktuell anzutreffen und bisweilen eben als Ratschläge getarnt sind, jedoch durchaus Aufschluss über die Ästhetik und Poetik Moras geben. So wird das Spektrum der intertextuellen Bezüge, der impliziten Zitate, des Beerbens von Figuren, Themen und Schreibweisen (wie etwa Sprachspielen) aus der ungarischen, russischen und anglo-amerikanischen Literatur als zugleich wichtiges materielles Reservoir für das Schreiben Moras deutlich, aber auch als dasjenige Element, über das Literaturen und Kulturen mal grenzüberschreitend verbunden, mal voneinander getrennt werden: „Ich bin also, wenn es darum geht, über die Auswirkungen meiner (privaten) Zweisprachigkeit auf mein einsprachiges deutsches Schreiben zu sprechen, teils erfreut (weil es eine Öffnung gibt), teils besorgt (weil die Öffnung selektiv ist)“ (Mora 2016, 8 – 9). Es gibt aber auch eher kleinere Bemerkungen zur Poetik, wie etwa die, „dass es reichen kann, wenn die zentralen Elemente“ eines Textes „herausragend sind“, dass Ressentiments jeglicher Art vermieden werden müssen, da sie „dem Text anzusehen sein werden“ (Mora 2016, 61), dass es „die Sprache“ sei, die „alles trägt“ (Mora 2016, 62), dass es nützlich sei, „sich immer klar zu machen, welche Funktionen eine Figur in einer Szene, einem Kapitel, im ganzen Werk“ habe (Mora 2016, 68), dass „Lesen hilft“ (Mora 2016, 78) und man dann, wenn man etwas verstehen will, versuchen sollte es zu übersetzen (Mora 2016, 53). Sich selbst positioniert Mora damit mal als „Sprachmischerin“ (Mora 2016, 21), mal als Sprach-Spielerin (Mora 2016, 25 – 26), mal als ‚kulturelle Übersetzerin‘

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(„Mit zwei Sprachen aufzuwachsen heißt, von Anfang an in der Übertragung zu leben.“ [Mora 2016, 9; auch 53 – 54]), die sich als solche der „Machart“ von Texten annähert (Mora 2016, 53), mal aber auch als diejenige, die aus den Einzelteilen ihrer beiden Sprachen wieder eine neue Ordnung entwickelt: „Mit der Zeit wurden meine beiden Sprachen immer mehr in ihre Einzelteile zerlegt, so lange, bis sich nichts mehr weiter zerlegen ließ und ich zwangsläufig wieder anfangen musste, die Teile nach einer neuen Ordnung wieder zusammenzusetzen“ (Mora 2016, 28). ‚Neue Ordnung‘ meint aber nicht einfach Sprachmischung oder Mehrsprachigkeit auf den verschiedenen Ebenen literarischen Schreibens. Vielmehr beinhaltet „die Entscheidung für das Deutsche als Schreibsprache“ für Mora, „die Perspektive“, sich „mit jedem deutschen Satz […] von der Möglichkeit zu entfernen, ungarische Sätze zu schreiben“ (Mora 2016, 30). Poetologische Konsequenz daraus ist, „dass man, wenn man schon sein Mitgebrachtes unbedingt integrieren will“, dies „organischer“ als bloß aufgesetzt tun muss, „auch um den Preis, dass es dadurch weniger sichtbar wird“ (Mora 2016, 37). Noch stärker als bei Mora ist bei Doran Rabinovici (2019) die eigene Biographie Grundlage seiner Poetik, bei zugleich weniger ins Detail gehender Reflexion von Mehrsprachigkeit als sie bei Tawada oder auch Mora anzutreffen ist, dafür aber mit zahlreichen Überlegungen zur Fremdverortung von als grenzüberschreitend markierten Schriftstellerinnen und Schriftstellern durch Wissenschaft und Publikum sowie zu ihrer Selbstverortung. Begleitet wird all dies von Analysen der aktuellen politischen Situation in Deutschland, Europa und der Welt, die vielfach an den Nationalsozialismus rückgekoppelt werden. Dies geschieht auch bei Rabinovici mit Bezug auf eigene Texte, literarische ebenso wie essayistische. Seine eigene Position gewinnt er dabei in Form einer diskurstaktischen Rückspiegelung, die darin besteht, die sogenannten interkulturellen Schriftsteller und ihre sogenannte Migrationsliteratur als den eigentlichen Normalfall darzustellen. Denn die „Autoren und Autorinnen, die im Deutschen schreiben, obgleich es nicht ihre Erstsprache ist“, „künden“ zum einen „vom Leben der Moderne zwischen den verschiedenen Ländern und zwischen den unterschiedlichen Gesellschaften in einer Region“. Zum andern sind sie „längst keine kleine Minderheit mehr, sondern sie sind es, die das Selbstverständnis dessen färben, was das Dasein der Mehrheit ausmacht“: „Ihre Lyrik und ihre Prosa erhellen, dass niemand mehr in der ursprünglichen Heimat lebt“ (Rabinovici 2019, 21– 22). Dennoch sieht Rabinovici sehr genau auch die Gefahren der Verortung von Schriftstellerinnen bzw. Schriftstellern und ihrer Texte als Migrantenliteratur. Es gelte, diese Autorinnen und Autoren zu lesen, aber zugleich würden sie „durch diese Einordnung ausgesondert und ausgegrenzt. […] Es ist, als würde das, was sie schreiben, nur als autobiographischer Bericht, als Schrift aus der Fremde angesehen werden“ (Rabinovici 2019, 29 – 30): „Ihre literarische Arbeit wird nicht

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selten ausgeblendet. Ihr eigener Stil wird nicht als Kunstgriff erkannt, sondern das Neue, das Innovative, das Sprachspiel im Text wird zum Fehler und zur Unbeholfenheit erklärt. Ihre Wortwahl steht unter dem Verdacht, nichts als ein Jargon zu sein. Ihre Literatur wird oft nicht ernst genommen“ (Rabinovoci 2019, 30). So treffend diese Beobachtungen auch sind, wird man andererseits doch sagen müssen, dass Rabinovici das Podium der Poetikvorlesung nicht nutzt, um eben diese eigenen ästhetisch-literarischen Verfahren vorzustellen. Genretheoretisch betrachtet, überschreitet er dasjenige der Poetikvorlesung damit tendenziell in Richtung des gesellschaftspolitischen Essays.

4 Auseinandergehaltene Zweisprachigkeit: Herta Müller (Tübingen 2001, Zürich 2007, Leipzig 2009) Anders als Tawada, Mora und Rabinovici nimmt Herta Müller die mit der interkulturellen Germanistik gleichsam parat gehaltene Positionierung eines Schreibens zwischen den Sprachen nicht direkt an. In ihrer Leipziger Poetikvorlesung darauf angesprochen, dass sich ihre Texte „aus mehreren Sprachen“ speisen, „zumindest dem Deutschen und dem Rumänischen“, welches sie allererst habe „erlernen“ müssen, und dass „diese Sprache des Dazwischen […] neben der Syntaxordnung“ ihrer „Sätze eine großartige Besonderheit“ ihrer „Prosa“ sei, was sie beim Schreiben auch reflektiere, antwortete Müller: „Nein, es ist ja kein Reflektieren, sondern ich habe ja, sagen wir, die letzten fünfzehn Jahre in Rumänien schon so gut Rumänisch gesprochen, daß die Sprache wie eine zweite Sprache war. Eine zweite hinzugekommene Sprache. Ich habe das Rumänische genauso wie das Deutsche parat gehabt. Und dadurch habe ich auch zwei Stationen von allen Dingen im Kopf parat gehabt. Das waren zwei Gleise. Wenn ich rumänisch war, dann war ich rumänisch. Ich war nicht deutsch auf rumänisch [sic!], und ich war nicht rumänisch [sic!] auf deutsch [sic!]. Sondern ich war entweder das oder das, je nach der Situation, in der ich mich befand“ (Müller 2010, 39 – 40). Macht dieses Zitat einerseits einen gewissen Widerstand gegen die Fremdverortung als ‚Autorin zwischen zwei Sprachen‘ deutlich, so beschreibt Müller ihre Mehrsprachigkeit andererseits jedoch durchaus als ein für ihre Ästhetik und Poetik konstitutives Element. Insbesondere macht sie in der ersten Tübinger Vorlesung deutlich, dass und wie sie davon profitiert, die Welt vermittelt durch zwei Sprachsysteme betrachten zu können, und illustriert dies unter anderem an der rumänischen und der deutschen Bezeichnung für ‚Lilie‘, die im Deutschen feminin, im Rumänischen maskulin ist: „Wenn man beide Sichtweisen kennt, tun

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sie sich im Kopf zusammen. Die feminine und maskuline Sicht sind aufgebrochen, es schaukeln sich in der Lilie eine Frau und ein Mann ineinander. Der Gegenstand vollführt in sich selbst ein kleines Spektakel, weil er sich selbst nicht mehr genau kennt. […] Aus der abgeschlossenen Lilie beider Sprachen wurde durchs Zusammentreffen zweier Lilienansichten ein rätselhaftes, niemals endendes Geschehen. Eine doppelbödige Lilie ist immer unruhig im Kopf und sagt deshalb ständig etwas Unerwartetes von sich und der Welt. Man sieht in ihr mehr als in der einsprachigen Lilie“ (Müller 2003, 25). Müller stellt es als eine Bereicherung dar, durch ihre Mehrsprachigkeit Dinge in der Schwebe zu halten. Was in der einen Sprache selbstverständlich ist, hebt die andere auf. Eindimensionale Sichtweisen dadurch relativieren zu können, eröffnet der Autorin Assoziationsräume, in denen sie über die Sprache mit den Dingen spielen und sie in neue Kontexte setzen bzw. neu kombinieren kann. Mehrsprachigkeit ist keine letztlich ‚stigmatische‘ Fremdzuschreibung mehr, sondern dient als Basis für die eigene Ästhetik und Poetik. Auf der Folie der doppelten Perspektive auf ihre Mehrsprachigkeit, zum einen als tendenzielle Ablehnung der Fremdzuschreibung einer gleichsam vorgefertigten Position im Literaturbetrieb, zum anderen als Basis eigener ästhetischer literarischer Verfahren, verwundert es nicht, dass sich in den Vorlesungen von Müller kaum einmal dezidiert poetologische Elemente finden, die auf ihr ‚Dazwischen‘ und „die Ambivalenz ihrer Zugehörigkeitsgefühle“ (Acker und Fleig 2019, 154) hinsichtlich der Sprachen Bezug nähmen. Vielmehr stehen Müllers Vorlesungen dem Genre des literarisch-autobiographischen Essays sehr viel näher als dem bei einer Poetikdozentur zu erwartenden Reflektieren des eigenen Schreibens auf einer wie dann auch immer konkret gearteten Metaebene. Müllers Poetikvorlesungen „erzählen und schreiben Literatur weiter“ und reflektieren die spezifisch grenzüberschreitenden „Produktionsbedingungen von Literatur“ eher in Form von „Anekdoten, Erinnerungen an die Kindheit, die Zeit in der rumänischen Stadt, aber auch an die Auswanderung und das Ankommen sowie an das Leben in der Bundesrepublik“ (Wernli 2017, 79) als mit Blick auf ästhetische Verfahren oder poetologische Konzeptionen. Die Grenzüberschreitung, die Herta Müller interessiert, ist somit nicht inter-, trans- oder multikultureller Art. Es ist vielmehr diejenige zwischen dem „Gelebte[n]“ und der Sprache, in die es gefasst wird – ein Prozess, den Müller in die Metapher vom „Umzug“ gekleidet hat: „Wenn ich Gelebtes in die Sätze stelle, fängt ein gespenstischer Umzug an. Die Innereien der Tatsachen werden in Wörter verpackt, sie lernen laufen und ziehen an einen beim Umzug noch nicht bekannten Ort.“ (Müller 2003, 85). „Man schleppt das Gelebte beim Schreiben in ein anderes Metier“ (Müller 2003, 86).

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Dass Müller eher zurückhaltend in der Formulierung poetischer Maximen ist, heißt jedoch nicht, dass man für ihr primäres literarisches Schreiben ebenso wie für ihre Poetikvorlesungen nicht doch so etwas wie eine poetische Theorie ihrer Schreibpraxis rekonstruieren kann. Das ist mit Beschreibungen wie „Poetik der Risse“ (Roberg 1997, 34) durchaus versucht worden, nur hat man es dabei nicht mehr mit einer im Rahmen von Poetikvorlesungen entwickelten Autorinnenpoetik zu tun.

5 Biographisch reflektiertes Übersetzen: Alida Bremer (Essen 2019) Eine noch einmal anders akzentuierte Rolle spielt sprachliches und kulturelles Übersetzen bei Alida Bremer, die sich durch die Formel „Literaturübersetzer[in] als Kuppler in der Zwischenwelt“ (Ette 2005, 117) charakterisieren lässt. Sie gehört zu den wenigen Übersetzenden, in deren Arbeiten vorwiegend eine andere als ihre Erstsprache die Zielsprache ist. In der Regel übersetzt sie vom Kroatischen ins Deutsche. Ihr biographischer Ausgangspunkt hierzu ist eng mit dem Zerfall Jugoslawiens verbunden: Das Interesse Deutschlands an kroatischen Medienberichten war in der Zeit des Krieges groß und als Übersetzerin literarischer Texte bedauerte sie die monothematische Fokussierung auf Krieg und Nationenzerfall, mit der das Publikum in Deutschland kroatische Literatur rezipierte. So wurden von kroatischen Autorinnen und Autoren fast ausschließlich Kriegsgeschichten gelesen, andere Texte zwanghaft nach politischen Aussagen durchsucht. Schriftstellerinnen und Schriftsteller galten so in erster Linie als Zeuginnen und Zeugen des Krieges und die Erwartungshaltungen waren zumeist an Stereotypen ausgerichtet. Ebendiese Vorurteile abzubauen ist für Bremer ein Hauptziel ihrer Arbeit. Als Übersetzerin von Texten aus dem Balkan sieht sie sich aber gerade in diesem Punkt mit besonderen Herausforderungen konfrontiert, weil diese Literatur in Deutschland eben nur wenig gelesen wird und dadurch gesellschaftliche, kulturelle, politische Kontexte weitestgehend unbekannt sind: „Während sogar die durchschnittlich gebildeten Leser eines französischen oder englischen Gegenwartsromans eine klare Vorstellung von den Literaturtraditionen haben, aus denen dieses Werk hervorgeht, fallen die zeitgenössischen Werke der kroatischen Literatur in einen geschichtslosen Raum“ (Bremer 2020, 66). Die Ursache für eine letztlich ahistorische Rezeption sieht Bremer in den Mechanismen des Buchmarktes, die darüber entscheiden, was rezipiert wird: Welches Buch in den Kanon avanciert, hängt wesentlich von der Sprache ab, in der das Original verfasst wurde, und hierbei haben, so Bremer, eigentlich nur die

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dominanten europäischen Sprachen Chancen. Die politische Dimension des literarischen Übersetzens tritt in Bremers Vorlesung damit deutlich zutage. Sie schreibt gegen Stereotype, für Kontextbildung und Individualisierung von europäischen Stimmen jenseits der Machtzentren. Entspricht die literarische Topographie Europas ihrer politischen, so bewegt sich die Übersetzung aber, wie Bremer es umschreibt, ungeniert jenseits aller Grenzen, in ihr „leben die Texte ihr kosmopolitisches Leben“ (Bremer 2020, 67). Dennoch wird der Übersetzung oft weniger Wert beigemessen als dem Original. Bremer vergleicht das mit einer verbreiteten und diskriminierenden Sichtweise von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft auf Eingewanderte. Sie hält dagegen: „Heimat und Original sind unerreichbare Ideale, die nur dann zur vollen Entfaltung kommen, wenn sie aufgegeben werden“ (Bremer 2020, 67). Das geschieht auch bei Alida Bremer nicht zuletzt durch literarisches und übersetzerisches ‚Dazwischensein‘. Ihre Vorlesungen machen deutlich, wie Übersetzungen als eine Form von nicht nur sprachlicher, sondern auch kultureller Übertragung verstanden werden kann. Sie ermöglichen ihr, sich gleichsam beim schreibenden Denken beobachtbar zu machen, womit „die Aufmerksamkeit […] auf die Performanz als solche“ gelenkt wird (Schmitz-Emans 2019, 257). Zugleich wird, und das gilt für Übersetzerinnen und Übersetzer grundsätzlich, das Sprecher- bzw. Sprecherinnen-Ich aufgespaltet, und zwar einerseits in die Person, die in ihrer Muttersprache denkt, spricht und schreibt, und andererseits in die Person, die in der deutschen Sprache denkt, spricht und schreibt. Auf diese Weise kann eine Art indirekter Dialog inszeniert und auf den Ebenen von Vokabular, Klang, Rhythmus, Metrik und Sprachbildern performiert werden. Die Poetikdozentinnen und -dozenten sprechen dann auf einer Metaebene über ihr sprachliches Alter Ego, was in der Situation der Poetikvorlesung zugleich heißt, nicht direkt über sich selbst sprechen zu müssen: An die Stelle der Autorinnen und Autoren tritt dann das verdoppelte ‚Ich‘. Yōko Tawada, Terézia Mora, Herta Müller und Alida Bremer kennen und beobachten in diesem Sinne die Doppelung in eine einerseits intime sowie andererseits theoretisch jeweils belesene Kennerin zweier verschiedener Sprach- und Schriftsysteme.

Literaturverzeichnis Abel, Julia, Hansjörg Bay, Andreas Blödorn und Christof Hamann (Hrsg.). Literatur und Migration. TEXT + KRITIK Sonderband IX. München 2006). Acker, Marion und Anne Fleig. „Zugehörigkeit als geteiltes Gefühl in Herta Müllers Poetik-Vorlesungen.“ Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als kulturhistorisches

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3.10 Transkulturalität: Grenzüberschreitende Reflexionen von Poetik und Ästhetik

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3.11 Transmediale Argumente

John T. Hamilton

3.11.1 Poetics of Music The Charles Eliot Norton Professorship of Poetry at Harvard University was deliberately established with an expansive conception of poetry and poetics in mind – a fitting conception for upholding the spirit of the art historian, literary critic, archaeologist, and philanthropist whom the endowment memorializes. The bequest of 1925, formulated by the principal donor and one of Norton’s former students, Charles Chauncey Stillman, is perfectly clear that „poetry shall be interpreted in the broadest sense, including, together with Verse, all poetic expression in Language, Music, or the Fine Arts, under which term Architecture may be included“ (Eliot 2015, 742 FN2). Initially lauded as a visionary of the highest cultivation, then vilified as an over-privileged aesthete or a parochial reactionary, before being redeemed more recently as an inspired and inspiring proponent of social reform and civil rights, Norton’s reputation has suffered great vicissitudes over the century since his death in 1908 (Dowling 2007). Nonetheless, the Lectures presented in his name have consistently respected the original terms of the gift by inviting prominent scholars and artists from a wide variety of fields to reflect on the poetics of the work they either study or practice. In what follows, a cursory review of a sampling of the Norton Lectures presented by composers in the twentieth century should afford key insights into how a poetics of music might appear. Upon discussing some of the ramifications of expanding the idea of poetry and poetics to include musical works (siehe Abschnitt 1), the present article outlines the tension between two conflicting but not necessarily opposed ideals, composition as a craft and composition as an outpouring of personal expression (siehe Abschnitt 2), which leads to ways the art of listening has been characterized (siehe Abschnitt 3), before reflecting on the shared role of the voice in music and poetry (siehe Abschnitt 4).

1 Poetry, expanded The impetus for an enlarged view of poetics reaches back to the basic conception of poetry derived from the ancient Greek verb ποιεîν [poiein], which simply means „to make, to produce, to bring something into existence.“ Igor Stravinsky, who in 1939 – 1940 holds the distinction of being the first composer – and the first person without an academic affiliation – to give the Norton Lectures, explicitly alludes to this broader sense of poiein as way to legitimize his own position as a Professor of Poetry. This emphasis sets the focus on the composer’s craft, on how music is https://doi.org/10.1515/9783110647884-030

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made. „I shall talk about making in the field of music“ (Stravinsky 1947, 4). Certainly, a ποίημα [poiēma] not only can refer to what we would call a „poem“ – that is, a piece of verbal art – but also and more fundamentally to anything that has been made, to any work that has been produced by an art or τέχνη [technē] in accordance with a specific knowledge or ἐπιστήμη [epistēmē]. Aristotle’s term ποιητική [poiētikē] is concerned with how works in general, and tragedies in particular, are designed and constructed, the materials used, and the methods applied, just as πολιτική [politikē] pertains to how the polis is organized and maintained. Yet it is important to underscore that poiētikē, like politikē, is a substantive form of an adjective. Poiētikos describes someone who is „capable of making things,“ someone who is „creative“. Hence, when Socrates asserts, in Plato’s Republic, that Homer is ποιητικώτατος [poiētikōtatos, „most poetic“] (Rep. 10, 607a), he is saying that this poet should be considered as being the most capable of creating a sound poetic work. As a substantive, then, poiētikē is an adjective that has been detached or abstracted from any other noun it might have modified, even if the noun technē or epistēmē is implied. As Michael Davis remarks, „By referring to poiētikē itself, or the poetic itself, Aristotle transforms what was adjectival, and so dependent for its existence on what it modified, into an independent substance“ (Davis 1992, 6). A poetics, in other words, reflects on the capacity in itself, namely, how an artist brings something into existence that has not existed beforehand. This „made thing“ – the poiēma – may be an epic, tragic, or lyric poem, but it may just as well be a painting, a sculpture, or a musical work. While this more expansive sense of poetry has justified the invitation of musical and visual artists and practitioners for the annual Norton Chair, it has also invariably constituted a daunting but ideally fruitful challenge. For the assignment not only seems to expect of its honored guests that they consider their work in relation to and in terms of what is generally defined as poetry but also compels those who usually engage in non-verbal materials to verbalize precisely what it is that they do. Fully aware of both the intimidating and exhilarating nature of the task, in accepting the Norton Chair for the 1949 – 1950 academic year, Paul Hindemith opens with a citation from Thomas Morley’s 1597 treatise on musical composition, Plaine and Easie Introduction: „It is no maruayle to see a Snayle after a Rayne to creep out of his shell, and wander all about, seeking the moysture“ (Hindemith 1952, iii). To explicate this sentence, for which he retains the archaic orthography, Hindemith attends to a strictly programmatic scheme: „Is a composer writing a book not like that Snayle, creeping out of his abode of settled professionalism and solid experience, seeking what corresponds to the moisture, looking for readers instead of listeners and forfeiting musical security for doubtful successes in a field

3.11.1 Poetics of Music

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through which he can only roam unsupported by professional know-how but at the same time free of professional inhibitions?“ (Hindemith 1952, iii). The „rain“ that has lured Hindemith, the snail-like composer, away from the comforts of his métier was the Norton invitation itself, a call to take an exhilarating gamble that promises a liberating perspective precisely because it requires a certain degree of risk. Long accustomed to dealing with tones, rhythms, and the peculiarities of dozens upon dozens of various instruments, the musician is now compelled to traffic in words. With striking consistency, the composers who accepted the Poetry chair at Harvard rehearse Hindemith’s concerns by emphatically acknowledging their position vis-à-vis poetry in the stricter sense. Aaron Copland, for example, opens his 1951 lectures rather cautiously, with both a conjecture and a confession: „Perhaps I had better begin by frankly admitting that when I was a younger man I used to harbor a secret feeling of commiseration for poets. To my mind poets were men who were trying to make music with nothing but words at their command“ (Copland 1952, 1). As one might well expect from a composer, yet unlike Hindemith’s full turn to allegory, Copland’s gambit beautifully performs what it aims to convey. His use of the subjunctive („had better“) here expresses an action that one should take in regard to the particular situation at hand with the implication that there would be negative consequences, if the direction proposed were not adopted. The statement’s tone thus expresses a sincere desire on the part of the speaker not only to communicate but to do so in a manner that is fitting. The sentence, in other words, is directed outward, mindful rather than negligent of the present circumstances at hand. The frankness of Copland’s admission maintains the initial mood of sincerity and sets up the confession, which further reinforces the ethos of the speaker for the benefit of his audience. With subtle gestures, Copland is humbling himself before the public, calling attention to a youthful sentiment for which he feels a pang of guilt. As a musician, having once elevated himself over poets who are condemned „to make music with nothing but words,“ he is now anxious that he would not be adequately equipped to submit his musical practice to poetic-verbal analysis.What ultimately encourages him, however, recalls what Stravinsky emphasized, that the concept of poetry extends well past the conventional acceptation of poetry. As Copland puts it, poetry relates to a vast area of creative imagination, „where the meanings behind the notes and the meaning beyond words spring from some common source“ (Copland 1952, 1). Consequently, the composer should not be regarded as an outsider in relation to poetics, as a snail out of his shell, but rather as an especially apt expert, as someone perhaps better positioned to assess the music of poetry in general.

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2 Composition: Craft or Expression Remaining true to the Aristotelian idea of poetics, most of the Norton composers stress the notion of craftsmanship. For Stravinsky and Hindemith, music is a craft insofar as it is an art, the product of a creative human will and not something merely given in nature. „Art in the true sense is a way of fashioning works according to certain methods acquired by apprenticeship or by inventiveness“ (Stravinsky 1947, 24). Together with the rigorously craftlike conception of musical composition comes an emphasis on design and form, analogous to a shoemaker who intimately understands the materials and tools of his trade. In this view, composition should be neither a vehicle for personal expression nor an occasion for philosophical reflection but rather a purely objective practice, the result of difficult, meticulous labor and decidedly not the outgrowth of some divine or superhuman, romantic genius. As the composer asserted, quite notoriously, in his Autobiography, „music is, by its very nature, essentially powerless to express anything at all“ (Stravinsky 1936, 83). In a similar vein, Hindemith adopts Augustine’s straightforward definition of music as „the science of modulating (modeling, shaping, assembling) well“ – Musica est scientia bene modulandi (Hindemith 1952, 23) – a science grounded in controlled experimentation and precise methods with an aim towards calculable results. It is Hindemith’s conviction that Augustine’s ancient definition retains its pertinence for modern composers insofar as it „reminds us that music is not something nebulous, is not created out of nothing by the artist’s unconscious furor, is not hazy utterance, hazily perceived“ (Hindemith 1952, 24). The scientific basis of musical craftsmanship demands that composers „must keep [their] feet on the solid ground of our earth, although with [their] imagination [they] may rove through the universe“ (Hindemith 1952, 24). The dismissal of genial expression and romantic Schwärmerei is concomitant with a general disdain for celebrity performers and star conductors who promulgate a detrimentally vain cult of personality. Stravinsky laments the fact that, in contrast to „the craftsman of the plastic arts whose finished work is presented to the public eye in an always identical form, the composer runs a perilous risk every time his music is played“ (Stravinsky 1947, 123). Ambitious conductors who impose their interpretive wills fail to remain faithful to the compositional text, just as virtuosic performers call attention to themselves and thereby distract from the merits of the musical piece. For this reason, both Stravinsky and Hindemith insist on a literalist respect for the score, emphasizing the virtues of „execution“ over the transgressive, subjective intentions of „interpretation.“ Nonetheless, Hindemith is not willing to go as far as Stravinsky’s radical formalism, which aims to

3.11.1 Poetics of Music

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preserve music’s ultimate independence from all realization and reception. For Hindemith, music is written to be played and heard, despite the risks and contingencies involved (Rust 2014, 56). In Copland’s opinion, such vicissitudes are not only unavoidable but also potentially invigorating. Although the score must be treated with pious attentiveness, perfect fidelity is ultimately impossible. Thus, a successful interpretation is one that has discovered a „happy balance“ between textual fidelity and personal preferences (Copland 1952, 60). Copland’s redemption of musical interpretation coincides with a telling qualification of the craftsmanship ideal espoused by his Norton predecessors. If, as Hindemith admits, music is to be played and heard, then composition is a mode of communication; and what, then, is being communicated, if not some form of „self-expression“? (Copland 1952, 50). And although he appreciates Stravinsky’s artisanal procedures in compositional technique, Copland tersely reminds his audience of something he takes to be selfevident: „amidst all the talk of the craftsman-like approach we must always remember that a work of art is not a pair of shoes“ (Copland 1952, 54). In his 1958 – 1959 lectures, Carlos Chávez likewise underscores the communicative-expressive aspects of composition: „Art is as much a means of communication as language; they have a common origin and have served identical purposes“ (Chávez 1961, 20). Yet, as Copland also emphasizes, art differs from verbal communication by not being confined to utilitarian ends. The music of poetry as well as the poetry of music, has little to do with straightforward, vehicular prose. „This does not mean that music has no meaning whatsoever, […] it only means that music has a musical meaning“ (Chávez 1961, 4). Moreover, for Chávez, musical material cannot be reduced to merely numerical, objective and universal properties. Rather, it is always embedded in a specific culture and is, by extension, personally and uniquely expressive. Indeed, as Chávez proclaims at the very outset of his presentation, „all music is autobiographical“ (Chávez 1961, 5). The entirety of a musician’s individual, social and national culture invariably shape the compositional process insofar as it invites the composer to grapple with and transform these environmental influences. „A composer transforms, in terms of music, whatever he absorbs from the outside and whatever he is congenitally“ (Chávez 1961, 5). Hence, in his own compositional work, Chávez has frequently turned to indigenous, pre-Hispanic motifs and allusions, to otherwise suppressed undercurrents that permeate Mexican national experience. That said, the simple inclusion of „national folk themes does not guarantee his acquiring a style of his own, or even a ‘national’ style“ (Chávez 1961, 14). The modern composer should not merely reproduce what is culturally given. Innovation and the invention of „new techniques“ are required to attain a level of achievement that earns the composer the right to the title of „artist“, as opposed to the „artisan“, who simply

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adheres to „pre-established techniques“ (Chávez 1961, 33). These new, transformational techniques are precisely what should liberate art – music and poetry – from any utilitarian purpose and elevate it to a purely aesthetic status. The motivating suggestion of Leonard Bernstein’s lectures of 1973 – 1974, that music functions in ways that are analogous to verbal language, corroborate the expressive features that Chávez accentuates. Drawing on Noam Chomsky’s linguistic theories, Bernstein contemplates the admittedly imperfect correspondences between music and language as a way to understand how expression negotiates with received forms and innate human competencies, moving from structural analogies („notes“ as „phonemes“, „motives“ as „morphemes“, „phrases“ as „words“, and of course „movements“ as sentences“) to more grammatical-syntactic parallels like considering a chord or a harmonic setting as an adjectival modifier and rhythm as the musical counterpart of a verb (Bernstein 1976, 57– 63). Eventually, the lectures go on to reflect on the possibility of metaphors, rhetorical figures, and even ambiguity in musical language, which enables one to identify Bernstein’s approach as a bona fide poetics of music – a poetics based on patterns and therefore on repetition: „All figures of speech, and all metaphors, in speech and music alike, depend ultimately on repetition, which is then subjected to variation, or as the linguists say, transformation“ (Bernstein 1976, 145 – 147). However, like Chávez and Copland, Bernstein is prudent to stress that music does not communicate conceptual content like verbal languages. Music is meaningful but without signifying in the strict sense. That is to say, music is nonreferential, operating by way of a single articulation, in which the tone, chord, or rhythmic pattern mean exactly what they are within the context of the musical piece. In contrast, verbal language, especially as prose, is referential, engaging in a double articulation, in which words and sentences point to ideational content beyond their material presence. In adducing this distinction, Bernstein characterizes musical form as a surface-phenomenon; there are no hidden, unseen depths to which the surface might refer or symbolize. Musical material is not symptomatic, it does not point to some underlying cause or conceptual intent. For Bernstein, this non-referential, non-symptomatic function is the very principle that one characterizes as „aesthetic“, which contrasts with the referential function that is strictly „communicative“ (Bernstein 1976, 79). However, should prosaic language undergo certain transformations, it too might attain the aesthetic status of poetry. „Language must therefore reach even higher than its linguistic surface structure, the prose sentence, to find the true equivalent of musical surface structure. And that equivalent must of course be poetry“ (Bernstein 1976, 79). Bernstein’s emphasis on the single articulation of the surface discloses what

3.11.1 Poetics of Music

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Copland portrayed as the „music of poetry“, which again implies that the professor of poetry is in fact already a professor of music. Conceptions of compositional craft, therefore, are not necessarily linked to an outright rejection of music’s expressive-interpretive potential. On this point, Charles Rosen, who presented the Norton Lectures in 1980 – 1981, evokes the achievement of Frédéric Chopin in asserting that there is no contradiction between craft and feeling (Rosen 1995, 279 – 285). Daniel Barenboim concurs in his lectures from 2006: „It is impossible to separate rational understanding from emotional involvement in music“ (Barenboim 2008, 54). Roger Sessions as well is eager to uphold the scientific essence of composition which should certainly override any facile infatuation with genial spontaneity, yet not at the expense of restricting expressivity by exclusively reinforcing the primacy of the composer’s theoretical control and mastery. In his lectures from 1968 – 1969, Sessions ascribes the requirement of balancing composition and interpretation to music’s temporal, progressive and nonstatic quality, which is a mark not only of music’s scientific basis in physical vibrations but also of the composer’s thoroughly practical approach, a timebound engagement that must ultimately eschew theoretical stability. „Since the composer was very often naively regarded as a mysterious and romantic figure who worked under the guidance of a quasi-supernatural force called ‘inspiration’, it occurred far too seldom to people to focus on the rather important fact that, like any other artist in any other field, he must be a craftsman as well and that, no matter how great his gifts, his craft has to be learned and cultivated, not through ‘theory’ in any real sense of the word, but through practice“ (Sessions 1971, 74). On this basis, Sessions can maintain a definition of „craft“ that is more or less in accord with the formulations offered by Stravinsky and Hindemith: „Craft implies complete intimacy, to the point of identification, with the materials of one’s art, intimacy to the point not only where the artist can shape them as he likes in service to his conception, but where he can do so without any difficulty arising from a lack of precision or fluency in the handling of them“ (Sessions 1971, 75). Yet, insofar as music unfolds in time, every performance inevitably introduces a host of variables and circumstantial contingencies so that no particular performance is ever exactly the same. Stravinsky, who absolutely insists on music’s involvement with and modification of temporal experience, nonetheless shudders at the thought of variations that depart from the composer’s intention, whereas Sessions celebrates the inexhaustible alterations that performance entails. „[Music] must be on each occasion reinvested with fresh energy. Otherwise we experience it, to an increasing degree, as static; its impact, as movement, diminishes, and in the end we cease to experience it as movement at all“ (Sessions 1971, 58).

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3 The Art of Listening The fundamental temporality that music shares with poetry calls for a level of attentiveness that every one of the Norton lecturers emphasizes. Sessions is especially clear on this point: „Our total awareness of movement – which in essence signifies our awareness of time as a process – demands sustained attention, which is limited to the duration of the specific act of movement in question; it holds us captive, as it were, for the duration“ (Sessions 1971, 57). In distinction from the aesthetic experience of most visual art, in which the spectator approaches the work and determines the time of observation, a live musical performance places the listener in a relatively vulnerable position, in which the sound approaches the audience and dictates the temporal duration. Thus, comparatists of the arts have long noted how sound calls for a certain degree of subjective surrender, how, in Plato’s formulation, „more than anything else rhythm and harmony find their way to the inmost soul and take strongest hold upon it“ (Rep. 3, 401d). All the same, attentiveness implies levels of training and discernment that raise listening to a more active capacity, which the composers are keen to cultivate. In his nuanced analyses of musical examples, Bernstein presupposes an audience that is already capable of grasping refined distinctions and complex patterns. Correlatively, Copland characterizes listening as a talent, „the ability to open oneself up to musical experience“ and the „ability to evaluate critically that experience“ (Copland 1952, 8). This balancing of abandonment and critical judgment is of key importance to Copland, who portrays the ideal listener as someone who „would combine the preparation of a trained professional with the innocence of the intuitive amateur“ (Copland 1952, 9). As a corollary to this ideal, Copland makes a plea for constant innovation in concert programs. „Filling our halls with familiar sounds induces a sense of security in our audiences; they are gradually losing all need to exercise freely their own musical judgment“ (Copland 1952, 17). In the opinions of Stravinsky and Hindemith, the listener’s capacity of judgment further deteriorates under the ubiquitous influence of radio broadcasting, which insidiously promotes passivity. „Today radio brings music into the home at all hours of the day and night. It relieves the listener of all effort except that of turning a dial. […] In music, as in everything else, inactivity leads gradually to the paralysis, to the atrophying of faculties“ (Stravinsky 1947, 135). Hindemith adds to this general disdain by vividly depicting the radio as a „GeräuschvertreibungsZapfstelle“ (cited in Rust 2014, 48). Sessions shares these deep suspicions about broadcasting, as well as sound recordings, for the very reasons outlined above:

3.11.1 Poetics of Music

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live performances alone, in his view, can preserve a musical piece from becoming static. As Stravinsky notes, variety and stark contrasts promote attentiveness by keeping the listener alert. Still, he warns against too great a devotion to this approach insofar as it typically smuggles in the very subjectivism that he is determined to restrict. In his discussion of the relationship between music and temporality – observations that he derives from the philosophical work of his friend and collaborator, Pierre Souvtchinsky – Stravinsky distinguishes between two general compositional designs which correlate to two different experiences of time: subjective „psychological time“ and objective „ontological time.“ Music that attends to psychological time tends to be destabilizing and disturbing, battling against the invariant regularity of ontological time, whereas music that more closely aligns itself with ontological time comes across as calming, limiting variety in favor of similarity. Given Stravinsky’s preferences for an objective compositional technique, it is no surprise that his own works find greater satisfaction in proceeding „by similarity rather than by contrast.“ „Music“, he continues, „thus gains strength in the measure that it does not succumb to the seductions of variety“ (Stravinsky 1947, 31– 32). In accord with the composer’s neo-classical ideals, variety should always remain in the service of similarity. This inclination to the same, however, should not be understood as a fall into lethargic listening. On the contrary, and in an especially phenomenological sense, it requires an even higher degree of attentive discernment. „Contrast is everywhere. One has only to take note of it. Similarity is hidden; it must be sought out, and it is found only after the most exhaustive efforts“ (Stravinsky 1947, 32).

4 The Voice of Music and Poetry As most of the Norton Lecturers indicate, sound and time are the material conditions that music shares with poetry, conditions that come together in the articulatory apparatus of the voice. In Aristotle’s classic definition, the „voice“ (φωνή [phōnē]) is any sound determined to be intentional and therefore meaningful (De anima 2, 8). As such, the phōnē occupies a middle position in Aristotle’s classification of three types of sound. To begin, any sound is simply a „noise“ (ψόφος [psophos]) until it can be ascertained to be driven by some intention, at which point it is heard specifically as a „voice“; and it is only when the recipient learns the semantic content of this voice that the sound becomes a „word“ (λόγος [logos]). Definitive, logical meaning is grounded in the double articulation that stabilizes the sound’s ideational content or referent; and because of this stabilization, the logos possesses a kind of permanence that contrasts with the eva-

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nescence of noises and the voice. Just as the mere noise fades into an intended voice, the determination of that intention causes the voice itself to fade into the word. Hence, as Adriana Cavarero remarks, unambiguous meaning is produced in the wake of the lost voice; signification requires a certain „devocalization“ (Cavarero 2005, 33 – 46). As soon as the voice is heard it is gone. If the voice persists in language, it persists only as an absence. Italo Calvino’s short story, Un re in ascolto [A King Listens], which the author had recently finished before he planned to give his own Norton Lectures in 1985, provides a clear illustration of Aristotle’s trifold sequence. Sitting upon his throne, where he is condemned to remain if he wants to retain his crown, Calvino’s paranoid king hears many noises entering into his court which he relentlessly tries to decipher. „The palace is the ear of the king“ (Calvino 1988 [1984], 38). Knocking, for example, is heard beneath the throne room. The first step is to assess whether the noise is a meaningful message or simply accidental. Once the king decides that the sound is being performed by a conscious subject, the noise becomes a voice. The second step, then, is to determine what this voice intends, to understand what the knocking is aiming to convey to the sovereign. Only when that intended meaning becomes fixed in the king’s mind, the voice becomes a definitive word. But the narrator mocks the monarch’s attempts to stabilize a voice that is inherently evanescent. „Only your imagination imposes raving words on those formless reverberations“ (Calvino 1988 [1984], 47). Calvino passed away shortly before he was to begin his appointment as the Norton Professor. In 1993 – 1994, Luciano Berio’s Norton Lectures paid homage to his friend by entitling his series Remembering the Future, which is the final phrase of Calvino’s libretto for Berio’s operatic setting Un re in ascolto. For Berio, Calvino’s poetic line, in penombra un ricordo al future [„in the shadows a memory for the future“], emblematizes music’s phonic evanescence, always somehow poised between two negative domains, the no-longer and the not-yet. In his lectures, Berio spells out the pitfalls of striving to fix the meaning of musical and poetic material, which essentially means robbing artworks of their voice. „It is the pinning down per se – as if to prove the permanent legitimacy of a detail – that deprives the narrative of its dynamic and still unknown potentials. It may happen in music, too, that the capacity to identify, to remember, and to hold together a network of references can become poisonous unless it is balanced by a willingness to forget and to communicate even without addressees and without a conscious relation to specific listening codes“ (Berio 2006, 5 – 6). Ultimately, it is a commitment to the phonic evanescence of musical phenomena, an emphatic desire to keep musical sound from settling into any stable significance, that drives the purist formalism proffered by Stravinsky and Hindemith. Their insistence on music’s non-referential, non-mimetic functioning,

3.11.1 Poetics of Music

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which ultimately hearkens back to the views expressed in Eduard Hanslick’s Vom Musikalisch-Schönen (1854), is essentially a device to save music from petrifying stillness. Decades afterward, Berio would concur: „Only a reckless spirit, today, would try to give a total explanation of music“ – which is not to say that the search for meaning should not persist – as Berio qualifies his statement: „but anyone who would never pose the problem is even more reckless“ (Berio 2006, 9 – 10). In Bernstein’s view, phonic qualities are precisely what distinguishes vehicular prose and aesthetic poetry, and thereby further link poetry more closely to music. One of the more telling examples is Bernstein’s discussion of Claude Debussy’s Prélude à l’Après-midi d’un Faune, based of course on Stéphane Mallarmé’s poem. Bernstein initially marvels at the „drowsy numbness“ and „delicious wash of vagueness“ (Bernstein 1976, 241) that permeates Debussy’s impressionistic setting, yet upon closer observation discovers the underlying structures and referential play between varying tonalities. In sum, Debussy’s piece is a fitting analogue to Mallarmé’s poem, „where the images and symbols pile up in such alliterative profusion with such seeming irrelevance and incongruity, that, reading it, we often feel awash in sound, ravishing sound to be sure, but we feel equally at sea as far as comprehension is concerned“ (Bernstein 1976, 253). For Bernstein, these effects, which are in the end perfectly and rigorously crafted, signals the triumph of „phonology“ over „semantics“ (Bernstein 1976, 253). The composers who have accepted the Norton lectureship almost invariably discover that drafting a poetics of music hardly constitutes a digression away from more serious artistic work but rather strikes at the very core of their creative beliefs and intuitions. The musical snail evoked by Hindemith who ventures out of his comfortable shell of melodies, harmonies and rhythms almost invariably discovers that the moist realm of poetry and words is equally inviting and often refreshing.

Literaturverzeichnis Barenboim, Daniel. Music Quickens Time. New York 2008. Berio, Luciano. Remembering the Future. Cambridge, MA 2006. Bernstein, Leonard. The Unanswered Question: Six Talks at Harvard. Cambridge, MA 1976. Calvino, Italo. „A King Listens“. Under the Jaguar Sun. Trans. by William Weaver, New York 1988. Cavarero, Adriana. For More than One Voice: Toward a Philosophy of Vocal Expression. Trans. by Paul A. Kottman, Stanford 2005. Chávez, Carlos. Musical Thought. Cambridge, MA 1961. Copland, Aaron. Music and Imagination. Cambridge, MA 1952.

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Davis, Michael. Aristotle’s Poetics: The Poetry of Philosophy. Lanham 1992. Dowling, Linda. Charles Eliot Norton: The Art of Reform in Nineteenth-Century America. Durham/New Hampshire 2007. Eliot, T. S. The Letters of T. S. Eliot. Ed. by Valerie Eliot and John Haffenden, New Haven 2015. Hindemith, Paul. A Composer’s World: Horizons and Limitations. Mainz 1952. Rosen, Charles. The Romantic Generation. Cambridge, MA 1995. Rust, Sarah. Musikalische Poetiken des 20. Jahrhunderts: Igor Stravinsky und die Charles Eliot Norton Lectures. Würzburg 2014. Sessions, Roger. Questions about Music. Cambridge, MA 1971. Stravinsky, Igor. Stravinsky: An Autobiography. Trans. by Norman Collins, New York 1936. Stravinsky, Igor. Poetics of Music in the Form of Six Lessons. Trans. by Arthur Knodel and Ingolf Dahl, Cambridge, MA 1947.

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3.11.2 Poetiken der bildenden Kunst Wenn hier von „Poetiken der bildenden Kunst“ die Rede ist, so liegt diesem Begriff ein weiterer Poetikbegriff zugrunde, der nicht auf Literatur beschränkt ist (Pott 2004, 3 – 5). Der breitere Zugriff auf das Konzept der Poetik ist ein Erbe der britischen und US-amerikanischen Tradition, an der sich das deutschsprachige Format der Poetikvorlesung ursprünglich orientierte (Bohley 2011, 232). Zu nennen sind hier die thematisch recht breit angelegten Romanes Lectures der University of Oxford, die seit 1892 jährlich von einer „most distinguished public figure from the arts, science or literature“ (Homepage der University of Oxford) übernommen werden. Besondere Breitenwirksamkeit entfalteten die Charles Eliot Norton Lectures, die 1925 im Rahmen einer „Professorship in Poetry“ an der Harvard University etabliert wurden. In seiner Einladung an T.S. Eliot für das Wintersemester 1932/1933 skizzierte der damalige Ausrichter der Vorlesungsreihe, Kenneth B. Murdock, deren Grundprinzipien: „the term Poetry shall be interpreted in the broadest sense, including, together with Verse, all poetic expression in Language, Music or the Fine Arts“ (Eliot 2015, 742; Herv. J. B.). Dieser integrative Begriff ihres Gegenstands, der seit der Romantik im englischsprachigen Raum als Bezeichnung für „the intellectual or emotional essence common to all art“ (Bright 1985, 259) eine gewisse Tradition hat, gehört bis heute zu den Charakteristika der Vorlesungsreihe. Anders als in deutschsprachigen Poetikvorlesungen gehören die ‚schönen Künste‘ explizit zu den Gegenständen der genannten Vorlesungen. Unter den bisherigen Dozierenden sind neben Literaturschaffenden auch Kunsthistoriker*innen sowie bildende Künstler*innen zu finden. Die Vorlesungen reflektieren das eigene Schaffen der Vortragenden und/oder stellen Werke anderer Kunstschaffender vor. Damit sind die ‚kunstoffenen‘ Vorlesungsformate aus dem englischsprachigen Raum ebenso heterogen wie die deutschsprachigen Poetikvorlesungen, die Volk in „spezifische“, d. h. selbstreflexive, und (thematisch) „gebundene“ Formate unterteilt (Volk 2003, 64; dazu auch Bohley 2017, 253).

1 „Poetik“ und bildende Kunst – Definitionen und Gattungsgrenzen Nur ein kleiner Teil der Vorlesungen fokussiert explizit auf die ‚Poetik‘ der bildenden Kunst im Sinne einer Reflexion ihrer schöpferischen ‚Gemachtheit‘ oder https://doi.org/10.1515/9783110647884-031

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legt gar eine eigene Poetik vor. Vor diesem Hintergrund ist anzumerken, dass der Begriff „Poetik“ als Bezeichnung eines Programms der künstlerischen Produktion im kunstwissenschaftlichen Diskurs keine vergleichbare Karriere hinter sich hat, wie es etwa für den (deutsch- und englischsprachigen) literaturwissenschaftlichen Diskurs festzustellen ist. Wie Sandra Pott festhält, wird in den Literaturwissenschaften mit dem Begriff „Poetik“ der Wissensbereich um die Produktion, Rezeption, Darstellungsformen, die Gegenstände und das Selbstverständnis künstlerischer Medien bezeichnet (Pott 2004, 6). Die Verwendung des Begriffs „Poetik“ im Kontext von Prinzipien künstlerischen Handelns geht auf Aristotelesʼ Ausführungen zu poiesis und praxis als Formen des Handelns zurück. Poiesis (‚Herstellen‘) zeichnet sich laut Aristoteles durch die Ausrichtung auf ein Ziel bzw. Produkt aus und ist somit ein zweckgebundener Prozess, während praxis Handeln als Selbstzweck beschreibt (Aristoteles 2020, 1140a–1140b). Valeska von Rosen bemerkt 2011 eine aktuelle Konjunktur des Poiesis-Begriffs in den Kunst- und Kulturwissenschaften und will den aristotelischen poiesis-Begriff für die Kunst der Frühen Neuzeit fruchtbar machen. Sie hält fest, er sei gewinnbringend auf das „Verfertigtsein“ der bildenden Kunst anzuwenden, sowie „auf die Denkmuster oder -formen, welche die Produktionsvorgänge begleiten, rahmen oder reflektieren“ (von Rosen 2011, 10). Andererseits wird in der neueren Kunstphilosophie die Ausrichtung am Werk – als Ziel bzw. Produkt der Handlung – kritisch diskutiert (Zill 2003, 40) und Kunsthandeln zunehmend in einem praxologischen Rahmen gefasst (Haarmann 2015, 216). Die von Pott (2004, 6) genannten Wissensbereiche der Poetik (wer schafft Kunst mit welcher Wirkabsicht, wie und in welchem Rahmen?) werden in den Kunstwissenschaften natürlich ebenfalls verhandelt; dies geschieht aber eher im Kontext der Kunsttheorie, des künstlerischen „Verfertigtseins“ bzw. der künstlerischen „Praxis“ und nicht explizit unter dem Schirm des „Poetik“-Begriffs. Vielleicht aus diesem Grund kommen Poetikvorlesungen über bildende Kunst in der literaturwissenschaftlichen Forschung quasi nicht vor – sie werden einfach nicht erfasst. In der Kunstgeschichte werden diese Vorlesungen, wenn überhaupt, dann vor allem als Quellen herangezogen und nicht als Texte untersucht (z. B. Pohl 1993, 7– 8; Stemmrich 2012, 61– 62; Breidbach 2017, 275 – 276). Als Texte weisen die hier untersuchten Vorlesungen, die vor allem aus dem Kontext der Charles Eliot Norton Lectures stammen, die folgenden grundlegenden Merkmale auf: Entsprechend der seriellen Organisation der Vorlesungen sind die Texte in meist sechs übertitelte Abschnitte unterteilt. Wiederkehrende Themen sind das Verhältnis der bildenden Kunst (vor allem der Malerei) zu anderen Künsten (vor allem der Literatur), die Rolle der Kunst und des Künstlers/der Künstlerin sowie zeitgenössische kunsttheoretische und kulturgeschichtliche Debatten. Auch Poetikvorlesungen mit „gebundenem“ Themenschwerpunkt beinhalten oft ein

3.11.2 Poetiken der bildenden Kunst

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Moment persönlicher Positionierung – sei es in Form von Erfahrungsberichten, Formulierungen eines künstlerischen Credos, Plädoyers und Forderungen für die Zukunft der bildenden Kunst, Reflexion eigener Perspektiven oder Bekundungen von Unzufriedenheit bzw. Unverständnis in Bezug auf beobachtete Entwicklungen. Ein Großteil integriert zahlreiche Abbildungen in den Druck, darunter oft auch Abbildungen eigener Werke der vortragenden Künstler*innen. Somit weisen die Vorträge oft ein hohes, mitunter selbstreflexives Maß an Anschaulichkeit auf, das im Druck nur unzureichend wiedergegeben werden kann. Ein gemeinsamer Rahmen der hier behandelten Vorlesungen, der eine Vergleichbarkeit miteinander und mit den deutschsprachigen Poetikvorlesungen gewährleistet, ist der akademische Veranstaltungsort, mit dem eine gebildete Öffentlichkeit als Publikum gesetzt ist. Darüber hinaus werden die Vorlesungen regelmäßig nachträglich im Druck veröffentlicht. Als Texte sind sie somit zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Schmitz-Emans 2008, 384) angesiedelt. Im Hinblick auf die Veröffentlichung sind Poetikvorlesungen über bildende Kunst auch vom Format der Künstler*innenvorlesung (artist’s lecture/conférence d’artiste) zu unterscheiden, wie sie an europäischen Kunstakademien gehalten und von Galerien und Museen veranstaltet werden. Diese richten sich stärker an ein fachlich vorgebildetes Publikum – die Angehörigen und Schüler*innen der Akademie bzw. die Besucher*innen der Ausstellungsorte – und sind primär als Vortragsereignisse angelegt. Die nachträgliche Publikation der Vorlesungen im Druck, die ein wichtiges Merkmal der aktuellen Gattung Poetikvorlesung darstellt (Bohley 2011, 230), erfolgt nur in Ausnahmefällen. Wenn Vorträge von Künstler*innen in Audio- und Videoformaten aufgezeichnet werden und digital zur Verfügung gestellt werden, ist dies nicht als Äquivalent zur Publikation des Vorlesungstextes zu betrachten. Denn man bewahrt den performativen Charakter des Vortrags und erlaubt keine Überarbeitungen. Darüber hinaus entfällt die ‚Nobilitierung‘ des Vortragstextes, die mit dem institutionalisierten Druck der Vorlesung als Text einhergeht und ihre Wahrnehmung als Teil der Literatur unterstützt (Lützeler 1994, 7). Aufgrund der weniger formalisierten und literarischen Rahmung sind Künstler*innenvorträge somit, auch wenn sie als Werkstatteinblicke und Reflexionen über die ‚Gemachtheit‘ von bildender Kunst inhaltlich den Poetikvorlesungen nahestehen, nicht als solche zu behandeln. Neben der institutionellen Rahmung der Poetikvorlesungen ist – bei aller Heterogenität der Themenschwerpunkte – auch die Ausrichtung auf Fragen der künstlerischen ‚Gemachtheit‘ (Pott 2004, 6) als Gattungsmerkmal stark zu machen. Im Folgenden werden vor allem solche Vorlesungen vorgestellt, die sich in diesem Sinne grundlegender mit den Verfahren des (eigenen) künstlerischen Schaffens auseinandersetzen. Dieser Fokus empfiehlt sich zum einen aufgrund seiner Aktualität für die Kunstwissenschaften, die sich im Zuge eines ‚material

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turn‘ seit einigen Jahren vermehrt für das ‚Machen‘ bzw. ‚Gemachtwerden‘ von Kunstwerken interessieren (Wagner 2013, 38 – 39). Zum anderen erlaubt dieser Fokus eine Vergleichbarkeit mit den Schwerpunkten der Forschung zu literarisch orientierten Poetikvorlesungen.

2 Bildende Kunst als Thema von Poetikvorlesungen Bildende Kunst ist in Poetikvorlesungen der anglophonen Länder ein randständiges, aber immer wieder vertretenes Thema. Im deutschsprachigen Raum sind Poetikvorlesungen stärker auf den Bereich der Literatur eingeschränkt und beziehen „tendenziell nicht andere Gattungen, Künste oder Wissenschaften ein“ (Bohley 2011, 235). Dass die Leipziger Poetikvorlesung 2017 erstmals von dem Maler Michael Triegel (*1968) übernommen wurde, stellt somit eine Ausnahme dar, die möglicherweise als zukunftsträchtig zu deuten ist. Im Kontext der Konjunktur, die Poetikvorlesungen laut Bohley seit den „nuller Jahren“ erleben (2011, 231), wäre es nicht überraschend, wenn die im deutschsprachigen Raum traditionell literaturfixierten Poetikvorlesungen dem inzwischen eingetretenen Inflationseffekt (Bohley 2011, 236) mit einer Ausweitung auf andere Künste begegneten. In thematisch „gebundenen“ Poetikvorlesungen (Volk 2003, 64) aus dem englischsprachigen Raum wird bildende Kunst aus der Außenperspektive der Forschung bzw. Kritik betrachtet. Dabei sind die Betrachtungen vom Kanon der westlichen Kunstgeschichte geprägt. Das heißt, dass Werke von nicht-weißen Menschen und/oder Künstlerinnen kaum berücksichtigt werden. In Bezug auf die Kategorie Gender stellen die Norton Lectures (Bathers, Bodies, and Beauties. The Visceral Eye, Harvard 2003/2004) der Kunsthistorikerin Linda Nochlin (1931– 2017) eine Ausnahme in mehrfacher Hinsicht dar. Als eine der wenigen weiblichen Vortragenden nimmt sie die Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts in den Blick und bezieht dabei auch Werke von Malerinnen mit ein. Sie reflektiert aus feministischer Sicht die westlichen Sehgewohnheiten und ihre kulturgeschichtliche Einbettung sowie Fragen der (realistischen) Repräsentation des menschlichen Körpers im Hinblick auf die Kategorien Alter und Gender. In den Vorlesungen des weißen südafrikanischen Multimedia-Künstlers William Kentridge (*1955) hingegen werden traditionelle künstlerische Techniken und Medien der afrikanischen Kunst (Erinnerungsobjekte, Linolschnitt) in ihrem kolonialgeschichtlichen Kontext beleuchtet (Six Drawing Lessons, Harvard 2011/12).

3.11.2 Poetiken der bildenden Kunst

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Auch wenn der Literaturwissenschaftler Chauncey Brewster Tinker (1876 – 1963) in seinen Norton Lectures (Painter and Poet. Studies in the Literary Relations of English Painting, Harvard 1937/1938) nach ‚poetischen‘ Eigenschaften englischer Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts fragt (Tinker 1969, 7), sind diese Vorlesungen doch in die Rubrik der „gebundenen“ Poetikvorlesungen (Volk 2003, 64) einzuordnen. Denn er sucht die ‚Poetizität‘ der Malerei anhand zeitgenössischer Forderungen des Dichters William Collins (1721– 1759) nach Geschmack, Können, Genie und Einfachheit des Kunstwerks nachzuweisen (Tinker 1969, 4). Hier steht nicht die poiesis der englischen Malerei im Vordergrund, sondern ihre kulturgeschichtliche Bedeutung, ihr Verhältnis zu Traditionen und die Individualität der behandelten Künstler. Etliche Poetikvorlesungen behandeln bildende Kunst als Teil einer Vergleichskonstellation. Besonders traditionsreich ist die intermediale Konstellation Literatur/Malerei, in der es eine lange Tradition des gegenseitigen Verweisens und des Austauschs gibt, die mit Horaz’ Diktum ut pictura poesis begrifflich fixiert wurde (Arnulf 2017, 46). Dementsprechend bedienen sich etliche Autor*innen des Vergleichs mit der bildenden Kunst, um Verfahrensweisen der Literatur deutlicher in den Blick zu nehmen oder um persönliche Herangehensweisen an die Konzeption literarischer Texte zu veranschaulichen. Ein prominentes Beispiel bietet der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk (*1952): In seinen Norton Lectures (The Naive and the Sentimental Novelist, Harvard 2009/2010) leitet Pamuk als ehemaliger Maler sein Schreiben aus einer visuellen Konzeption her und betrachtet Romane im Sinne von ut pictura poesis als „essentially visual literary fictions“ (Pamuk 2010, 92). Aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind auch Poetikvorlesungen zu verzeichnen, in denen über Literatur und bildende Kunst unter dem gemeinsamen Nenner ‚der Künste‘ gesprochen wird. Dazu gehört nicht nur Tinker, der explizit die Rede von den „sister arts“ Malerei und Poesie aufgreift (1969, 5), sondern auch Laurence Binyons unter dem Einfluss der sich zuspitzenden politischen Situation in Europa entstandene Romanes Lecture (Art and Freedom, Oxford 1939). Binyon stellt systematisch Literatur, Malerei, Musik, Theater und Tanz nebeneinander. Er verweist auf die ‚innere Freiheit‘ der Künste, die auch in „this new age of the Despots“ von den äußeren Umständen unberührt bleibe (Binyon 1939, 30). Die vergleichende Perspektive wird somit auch mit einer utopischen Ausrichtung verbunden, wie sie für Poetikvorlesungen charakteristisch ist (Bohley 2011, 228). Diese integrative Vorstellung von ‚Schwesterkünsten‘ mit gemeinsamen Interessen, Funktionen und Themen findet sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich seltener. Eine Ausnahme stellt Pamuks bewusster Rückgriff auf ein historisches gemeinsames Modell „der Künste“ dar: „I thought of what Schiller called ‚poetry‘ as being art and literature in the most general sense. I will do the

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same during these talks, in keeping with the spirit and tradition of the Norton Lectures“ (Pamuk 2010, 17). In seiner vierten Vorlesung „Words, Images, Objects“ bietet Pamuk einen Überblick über die Geschichte der Beziehungen von Literatur und bildender Kunst. Dabei greift er auf die bekanntesten Theoreme der westlichen Text-Bild-Debatte zurück: neben Horaz’ Diktum ut pictura poesis und der Rede von den „Schwesterkünsten“ werden auch Gotthold Ephraim Lessings Unterscheidung zwischen Malerei und Dichtung als ‚Raum‘- bzw. ‚Zeitkunst‘ im Laokoon-Aufsatz (Lessing 1990 [1766], 114) sowie der Begriff der Ekphrasis (Kunstbeschreibung) als Bausteine der westlichen Kunsttheorie verhandelt. Die tendenziell unkritische Verwendung dieser Bausteine scheint zum einen darin begründet, dass Pamuk nicht primär an Kunsttheorie, sondern an der theoretisch unbelasteten Wahrnehmung von Literatur interessiert ist. Zum anderen positioniert sich der Autor am Rand des westlichen Kulturkreises, dem diese Theorien zuzuordnen sind: Wiederholt betont er seine Sozialisierung im Istanbul der 1960er Jahre und verweist darauf, dass die Türkei zu dieser Zeit weder eine der westlichen Kunst vergleichbare Bildkultur noch eine nennenswerte Romantradition hatte (Pamuk 2010, 116 und 188).

3 Vortragssituation und akademische Rahmung In Poetikvorlesungen werden häufig zu Beginn die Vortragssituation (SchmitzEmans 2008, 381), die Befähigung des/der Vortragenden zum Formulieren einer ‚Poetik‘ (Bohley 2016, 243) sowie der Modus der Vorlesung reflektiert.Vortragende aus der bildenden Kunst bemerken dabei oft eine Diskrepanz zwischen der eigenen Arbeit und dem Modus des verbalen Vortrags. Diese Diskrepanz wird teilweise im Hinblick auf die akademisch gerahmte Vortragssituation zugespitzt. In diesem Zusammenhang kommt häufig die bescheidene Herabsetzung der eigenen Artikulationsfähigkeit und des eigenen Wissens zum Einsatz. Zu diesem Zweck verwenden auch Vortragende aus der bildenden Kunst die rhetorische Figur der captatio benevolentiae, mit der sie um das Wohlwollen des Publikums werben (Bohley 2011, 237). So drückt der US-amerikanische Maler, Grafiker und Fotograf Ben Shahn (1898 – 1969) bereits im ersten Satz seiner Norton Lectures (The Shape of Content, Harvard 1956/1957) ernsthafte Zweifel aus „as to whether I ought to be here at all“ (Shahn 1957, 3). Diese Zweifel führt er auf die Diskrepanz zwischen Kunst und Theorie, visuellem und verbalem Modus des Ausdrucks zurück: „I am not a lecturer about art nor a scholar of art. lt is my chosen role to paint pictures, not to talk about them. / What can any artist bring to the general knowledge or the theoretical view of art that has not already been fully expounded? What can he say in

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words that he could not far more skillfully present in pictorial form?“ (Shahn 1957, 3). Die skeptische Haltung gegenüber dem theoretischen Diskurs wird in der ersten Vorlesung „Artists in Colleges“ auch zum Thema des Vortrags: Mit kritischem Blick auf die „liberal education“ an den Colleges der Ostküste der USA in den 1950er Jahren wirft Shahn der Universität als Bildungsinstitution vor, sie würde kreative Arbeit nicht genug würdigen und zu wenig fördern, ja sie sogar fürchten (Shahn 1957, 21). Auch die Einrichtung von artist in residence-Programmen begrüßt Shan nicht uneingeschränkt. Er fürchtet, der kreative Ansatz der bildenden Kunst werde vom dominierenden theoretischen Ansatz der Universität verdrängt. Dabei kontrastiert er Wissenschaft und Kunst als zwei unvereinbare Systeme – das eine kategorisierend, verbal und theoretisch, das andere kreativ, visuell und praktisch (Shahn 1957, 21 und 23). Aus seiner Selbstzuordnung zum System der bildenden Kunst ergibt sich eine unauflösbare Spannung zur Vortragssituation im Rahmen einer Poetikdozentur an einer der Universitäten, die Shahn kritisiert. Das kritische Hinterfragen der eigenen Befähigung prägt auch den Einstieg in William Kentridges erste Vorlesung. Die Frage „do you have anything to say?“ (Kentridge 2014, 3) wird zum Auslöser einer Reihe von künstlerischen Reflexionen im Medium Zeichnung/Collage über mögliche Vorlesungsthemen, die er systematisch in den Vortrag einbezieht. Am Ende dieser assoziativen Phase formuliert Kentridge die Erkenntnis, dass die praktische künstlerische Tätigkeit in den verbalen Vorlesungsmodus übersetzt werden muss: „Beating into my head the need to find a connection between the activity I practiced, drawing, and the words of the lecture“ (Kentridge 2014, 4). Die Bewegung vom Bild zum Text wird in den Vorlesungen immer wieder neu performativ vollzogen, indem Kentridge jede einzelne Vorlesung auf eigenen Werken basiert und sie damit als „a demonstration rather than an argument“ konzipiert (Kentridge 2014, 184). Dabei konstatiert er allerdings entschieden zeitliche und konzeptuelle Vorrangigkeit des Bildes vor dem Wort (Kentridge 2014, 6). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die verbale Ausführung der Vorlesung vom Vortragenden immer wieder ironisch-selbstkritisch evaluiert wird. Indem der Künstler die Diskrepanz zwischen Entstehung und Vortrag als Dialog zwischen seinem „Johannesburg Self“ und dem „Harvard Self“ reflektiert (Kentridge 2014, 181), stellt er die „Doppelbödigkeit des Vortragstextes“ (Schmitz-Emans 2008, 386) aus.

4 Rolle des Künstlers Seit den 1950er Jahren wird in Poetikvorlesungen auch zunehmend die Rolle des Künstlers thematisiert und problematisiert. (Das Maskulinum „Künstler“ wird im

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Folgenden nicht generisch verwendet, sondern verweist auch auf die vollständige Abwesenheit von Künstlerinnen in den untersuchten Vorlesungen). Die Frage, nach der Bedeutung des individuellen Künstlers in der Kunstgeschichte wird dabei vor dem Hintergrund der medienübergreifenden Debatte um Autorschaft gestellt, die in den späten 1960ern maßgeblich durch Roland Barthes und Michel Foucault befördert wurde. Hinterfragt werden in diesem Zusammenhang die „metaphysische Position von Autor und Künstler“, die Vorstellung „autonomer Kreativität“ sowie der „Personenkult“ der traditionellen Literatur- und Kunstgeschichte (Wetzel 2000, 481). Seit den 1950er Jahren wird der Künstler als Problem auch in Poetikvorlesungen über bildende Kunst zum Thema. So kritisiert Shahn Fehlvorstellungen des akademischen Diskurses (siehe auch Abschnitt 3) über den Schaffensprozess: Diese gestehen dem Künstler zu wenig Handlungsgewalt und Autorität in Bezug auf sein eigenes Schaffen zu oder entfernen ihn gar ganz aus der Gleichung. Während die überkommene „romantic misconception“ vom ‚wahnsinnigen Genie‘ künstlerische Arbeit auf einen gedankenlosen Schaffenstrieb reduziere (Shahn 1957, 26), verbanne die zeitgenössische Strömung des New Criticism das Denken und Schaffen des Künstlers ganz aus der rezeptionsorientierten Betrachtung von Kunst und beanspruche die Deutungshoheit über das Kunstwerk für die Theorie und die Kunstkritik (Shahn 1957, 26). Letztere Position degradiere den Künstler zu einem bloßen Handwerker – „the fellow who puts the paint on“ (Shahn 1957, 27). Die aus der Geniedebatte des späten 18. Jahrhunderts ererbte Dichotomie zwischen den Künstler-Stereotypen Genie und Handwerker (Kampmann 2006, 29) wird hier in eine umfassende Kritik am zeitgenössischen akademischen Diskurs über bildende Kunst eingebunden. Shahn will zwischen den extremen Künstlerbildern vermitteln, indem er betont, dass der Künstler im Schaffensprozess sowohl die Rolle des „imaginer/producer“ als auch des „critic“ (1957, 39 – 42) einnehme, also sowohl geistig-körperlich schaffend als auch auswertend und einordnend an seinem Werk beteiligt sei. Die Poetik, die er entwirft, lässt sich als Poetik des kreativen und denkenden Künstlers kategorisieren. Diese Poetik fokussiert vor allem auf die Rolle des Künstlers in der aktuellen Gesellschaft. Dabei zeigt sie sich beeinflusst von der kulturpolitischen Atmosphäre der USA im Kalten Krieg. In der vierten Vorlesung „On Nonconformity“, Harvard 1956/1957, beleuchtet Shahn das zwiespältige Verhältnis der US-amerikanischen Gesellschaft zum nonkonformistischen Künstler, der von der Öffentlichkeit gleichzeitig als ‚Bürgerschreck‘ gefürchtet und als außergewöhnliche Persönlichkeit verehrt wird (Shahn 1957, 83 und 87). Als Außenseiter und Beobachter der Gesellschaft erfüllt der Künstler in seinem kreativen Nonkonformismus laut Shahn eine Korrektivfunktion zu konservativen Elementen. Eine gesunde Gesellschaft ist demnach eine, in der es eine Balance gibt zwischen „the two

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opposing elements, the conservative and the creative (or radical, or visionary, or whatever term is best applied to the dissident“ (Shahn 1957, 97). Diese Balance ist eine utopische Konstruktion, wie sie in Poetikvorlesungen häufiger aufgerufen wird (Bohley 2011, 228). Dass die Realität in den 1950ern in den USA anders aussieht, weist Shahn anhand der anti-kommunistischen „civic crusades“ (1957, 103) gegen moderne Kunst durch den Kongressabgeordneten George A. Dondero nach (Krenn 2005, 98 – 99). Als sozialkritischer und politisch aktiver Künstler fordert Shahn mehr soziales Engagement in der zeitgenössischen Kunst. Diese Forderung bindet er an eine Diskussion des Verhältnisses von Inhalt und Form (siehe Abschnitt 6.1), in der er Abstraktion als neue Form von realitätsabgewandtem und politisch ‚unverdächtigem‘ Konformismus anklagt (Shahn 1957, 103). William Kentridge spricht mehr als 50 Jahre später nicht mehr abstrakt über ‚den Künstler‘ als gesellschaftliche Rolle, sondern fokussiert auf die konkreten Handlungsrollen des Künstlers im eigenen Schaffensprozess: Diese Rollen benennt er – ähnlich wie Shahn – als „artist as maker“ (kreative Instanz) und „artist as viewer“ (kritisch-bewertende Instanz) (Kentridge 2014, 20 u. ö.). Diese Spaltung führt Kentridge in einem Film vor, der ihn in beiden Rollen zeigt (Kentridge 2020, 45:39 – 48:29). In Film und Text wird Kunst als ein fortlaufender Prozess des visuellen Suchens, Findens und Überprüfens entworfen, der nicht notwendigerweise auf ein abgeschlossenes ‚Werk‘ abzielt. Durch die assoziativ mit dem Vortrag verbundenen Ausschnitte aus eigenen Filmen und animierten Zeichnungen wird die Vorlesung selbst zu einer multimedial inszenierten Performance, die den unabschließbaren Prozess künstlerischer Arbeit nicht nur dokumentiert, sondern auch performativ vorführt. Die künstlerische Arbeit beginnt für Kentridge trotz aller multimedialen Erweiterung mit der Zeichnung, die der Künstler gleichermaßen erzeugt und die ihm zur Erkenntnis einer Form verhilft: „The shape we will find only when we start to draw – a mixture of making and looking“ (Kentridge 1957, 20). Die Vorstellung der Zeichnung als Grundlage der Künste geht bis auf die Kunsttheorie der Renaissance zurück (Vasari 2006, 98; dazu Feser 2010, 214– 215). Zeichnung wird hier jedoch weniger im Rahmen einer konzeptuellen Verbindung von Zeichnung und Idee (Kurbjuhn 2014, 77) im Geist des Künstlers betrachtet, sondern vielmehr als materieller Ausgangspunkt des Schaffens. Kentridge entwirft die Arbeit des Künstlers als physische Aktivität, als immer wieder neu ansetzendes Machen („making“), das fortlaufend zu betrachten und neu zusammenzufügen ist. Zentral für den künstlerischen Prozess ist das Atelier („studio“) des Künstlers als physischer und psychologischer Raum des Experimentierens (Esner 2013, 125). Dass Kentridge sich so stark an den Ort seines Ateliers in Johannesburg bindet, ist mit einer Gegenbewegung zur sogenannten „Post Studio-Ära“ (Diers und Wagner

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2010, vii) in Verbindung zu bringen. Kentridge entwirft eine ‚Werkstattpoetik‘ im Wortsinn – eine Poetik des Ateliers. In dieser kommt dem Künstler die Rolle eines Suchenden zu, der im Raum des Ateliers mit Materialien unterschiedlichster Art arbeitet, um Zusammenhänge zu verstehen. Diese Arbeit bezeichnet er als „practical epistemology“ (Kentridge 2014, 99). Kentridges Poetik des Ateliers unterminiert traditionelle und quasi-mythologische Vorstellungen vom Künstler als sich selbst genügendem Genie, dessen Werk in seinem Kopf entsteht und im Atelier nur noch ausgeführt wird (Esner 2013, 122). Kentridge entwirft vielmehr einen Künstler, für den das materielle Schaffen als fortlaufender Prozess wichtiger ist als die gedankliche Konzeption („to let making jump ahead of thinking“; Kentridge 2014, 49). In diesem Sinne entwirft er das ‚Machen‘ als materiell gebundenen Prozess der kontinuierlichen Anreicherung, Schichtung und Verbindung von Ideen und Materialien, den er im Raum des Ateliers verankert.

5 Künstlerische Entwicklung und Ausbildung Im 20. Jahrhundert ist es eine verbreitete Praxis, dass Vortragende das eigene Schaffen und ihre autobiographischen Erfahrungen im Feld ihrer Kunst reflektieren (Bohley 2011, 242). In Poetikvorlesungen über bildende Kunst geschieht dies oftmals mit konkretem Bezug auf die (künstlerische) Entwicklung des/der Vortragenden. So rekonstruiert Ben Shahn seine Laufbahn als Abgrenzung von der Welle der Abstraktion, die die US-amerikanische Kunst der Nachkriegszeit bestimmt hatte (Wood 2004, 229). Dabei beschreibt Shahn seine künstlerische Entwicklung von der Ausbildung an der Kunstakademie über die Arbeit mit faktualem Material hin zu einem von sozialer Empathie und Einfachheit geprägten „personal realism“ (Shahn 1957, 48). Die Untersuchung des eigenen Schaffens gipfelt in Shahns Bekenntnis zu einer universellen und einfachen Bildsprache, mit deren Hilfe ein „emotional image“ entstehen könne (Shahn 1957, 55). Gelenkt werde die Suche nach dem universell wirksamen Bild durch den Willen des Künstlers, sein „intending self“ (Shahn 1957, 51). Damit entwirft Shahn am Beispiel seiner eigenen Laufbahn eine individualistische und humanistische Poetik des Künstlers, die er in konkrete Empfehlungen zur künstlerischen Ausbildung überführt. Diese Empfehlungen sind nicht spezifisch auf die bildende Kunst ausgerichtet, sondern fokussieren eine Schulung der Wahrnehmungsfähigkeit („perceptiveness“, Shahn 1957, 132) durch die breite Auseinandersetzung mit allen möglichen kulturellen Produkten (bildende Kunst, Musik, Werbung, Reden von Politiker*innen etc.; Shahn 1957, 130 – 131). Darüber hinaus fordert Shahn aber auch immer wieder zu praktischer Übung auf, wenn er wie ein Mantra wiederholt:

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„And paint and paint and draw and draw“ (Shahn 1957, 130 und 142). Als ahistorische Funktion von Kunst bestimmt Shahn die humanistische Aufgabe „to express man in his individualness and his variety“ (1957, 138). Unter dieser Prämisse beantwortet Shahn die imaginierten Fragen eines jungen Künstlers – „What shall I paint?“, „How shall I paint it?“ und „What security can I have as a painter?“ (Shahn 1957, 140) – jeweils mit einem Verweis auf die Bedeutung des Ausdrucks der eigenen Persönlichkeit sowie der individuellen Überzeugungen und Meinungen. Die Ausbildung des Künstlers als Mensch dient Shahn zufolge eben der Stärkung der Persönlichkeit und der eigenen Überzeugungen, die dem Künstler im Angesicht existenzieller Fragen Orientierung und Sicherheit geben. Der US-amerikanische Maler und Bildhauer Frank Stella (*1936) beschreibt in seinen Norton Lectures (Working Space, Harvard 1983/1984) seine persönliche Entwicklung in der reichen Kunstszene der späten 1950er in New York – dem Zentrum der abstrakten Malerei, die Shahn aus der Entfernung skeptisch betrachtet. In seiner letzten Vorlesung „The Dutch Savannah“ beleuchtet er einen frühen Wendepunkt für sein Schaffen und illustriert diesen mit zahlreichen eigenen Gemälden. Als zentrale Bedingung seiner künstlerischen Entwicklung benennt Stella den direkten und ständigen Kontakt zur aktuellen Kunstszene: Die unendlichen Möglichkeiten der Anschauung bezeichnet er als „literal pictorial support“ (Stella 1986, 153). Seine eigene Position entwickelt Stella aus der Auseinandersetzung mit den Reaktionen anderer Künstler*innen und der Kritik. Die Verbindungen, die die Kritik zwischen seinem Werk und der italienischen Renaissance zieht, lehnt Stella als abstrakter Künstler zunächst entrüstet ab, um sie im Rückblick jedoch programmatisch zu vertiefen (siehe Abschnitt 6.2): Seine Wende macht er maßgeblich an der Erkenntnis fest, Teil einer lebendigen und weiter wachsenden Kunstgeschichte zu sein, die von Epochen- und Stilgrenzen überwindenden Berührungen geprägt ist (Stella 1986, 158). Stella geht es nicht um konkrete künstlerische Praktiken oder um Ausbildungsempfehlungen, sondern um individuelle Entstehungsprozesse als Quellen für künstlerische Maximen. Eine solche Maxime stellt sein entschiedenes Bekenntnis zur Abstraktion als der einzig gültigen künstlerischen Strömung des 20. Jahrhunderts dar (siehe Abschnitt 6.2). Dieses leitet er aus der Beschreibung von individuellen Lösungen für künstlerische Aufgaben ab. Orhan Pamuk reflektiert seine Entwicklung vom Maler zum Schriftsteller als bloße Verlagerung in einen anderen Modus, in dem aber grundlegend dasselbe geschieht: Es wird eine detaillierte Welt entworfen, die entweder über direkte Anschauung oder über die Imagination der Leser*innen auch visuell zugänglich ist. Den Übergang vom Malen zum Schreiben, den Pamuk im Alter von 22 Jahren vollzieht (Pamuk 2010, 16), bringt er mit Schillers Begriffspaar des Naiven und Sentimentalischen in Verbindung: „[F]or a reason I could not make out, I now

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wanted to paint with words. I have always felt more childlike and naive when I paint, and more adult and sentimental when I write novels. It was as if I wrote novels only with my intellect, and produced paintings solely with my talent“ (Pamuk 2010, 117). Die Entwicklung vom Maler zum Autor rahmt Pamuk als bewusste Entscheidung für einen stärker (selbst‐)reflexiven, kritischen Zugang zur Kunst, der dem Künstler nicht von selbst – ‚natürlich‘ – zufällt, sondern von ihm intellektuell erarbeitet werden muss. Gemäß der Tradition der Aufwertung des Künstlers als geistig Schaffendem (Wetzel 2000, 507) gesteht Pamuk dem ‚sentimentalischen‘ Künstler einen höheren Verdienst zu. Dennoch beansprucht der Autor weiterhin den für ihn ‚natürlichen‘ (Pamuk 2010, 93) visuellen Ansatz der Malerei: Nicht nur führt er sein Schreiben auf „the formation of a picture, an image, in my mind“ (Pamuk 2010, 93) zurück, er betont die Bedeutung der „visual imagination“ auch für die Rezeption von Romanen (Pamuk 2010, 185). Eine ungewöhnliche Variante des autobiographischen Rückblicks weisen Linda Nochlins Vorlesungen auf: Die Kunsthistorikerin bezieht ihre Erfahrungen als Frau und Wissenschaftlerin im fortgeschrittenen Alter in Betrachtungen über Alter und Sterblichkeit ein. So richtet sie den Blick auch auf ihren eigenen Körper als Gegenstand von Porträts und thematisiert so den künstlerischen Umgang mit dem Prozess des Alterns (Nochlin 2006, 219 – 220 und 278). Die Reflexion des eigenen Blicks ist zentraler Teil von Nochlins im Grunde kulturwissenschaftlicher Methode: Die Metapher des „visceral eye“ – sinngemäß übersetzt etwa des „Sehens aus dem Bauch heraus“ – steht dabei für ein kulturell gelerntes und historisch gewachsenes Sehen, das immer auch an individuelle Erfahrungen von Körperlichkeit gebunden ist (Nochlin 2006, 14– 15). Im Epilog reflektiert Nochlin schließlich ihre persönliche Position zu zwei Ikonen der Kunstgeschichte und rahmt diese ebenfalls als Erfahrungen von und im Alter: Die Erinnerung an eine der letzten Vorlesungen von Erwin Panofsky (1892– 1968), die sie als öffentliche Einübung in „the advent of his own mortality“ wahrnimmt (Nochlin 2006, 296), wird ergänzt durch eine wissenschaftliche Liebeserklärung an Aby Warburg (1866 – 1929). Dessen „imaginary presence“ in ihren „latter years“ (Nochlin 2006, 298) bringt Nochlin dazu, einen Gedichtzyklus mit dem Titel Dear Aby zu verfassen. Diesen Gedichten, die den Epilog der Vorlesungen im Druck beenden, schreibt sie eine gewissermaßen poetologische Aussagekraft zu: „They are not by any means polished poems, but they say something about my relation to history, to mortality, to art, to language, and to that ‚visceral eye‘, that runs as a leitmotif through all the essays“ (Nochlin 2006, 302). Dass Nochlin ausgerechnet die unwissenschaftliche Form des Gedichts wählt, um diesen grundlegenden Gedanken Ausdruck zu verleihen, ist eine im Rahmen von thematisch „gebundenen“ Poetikvorlesungen seltene Umsetzung des freieren und persönlichen Zugriffs auf

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„poetic expression“ (Eliot 2015, 742; siehe Anm. 2), wie sie im Vorlesungsprogramm anvisiert wird.

6 Kunst im Spiegel zeitgenössischer Debatten Die Reflexionen über das eigene Schaffen und die Prinzipien bildender Kunst berühren in Poetikvorlesungen immer wieder zeitgenössische kunsttheoretische und kulturgeschichtliche Debatten. Dabei sind die Vorlesungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker an Fragen der künstlerischen Darstellung interessiert, während im 21. Jahrhundert auch Anschluss an übergeordnete kulturgeschichtliche Fragestellungen gesucht wird.

6.1 Form und Inhalt (Ben Shahn) Shahns Thesen zur Rolle des Künstlers beziehen wichtige Impulse aus der zeitgenössischen Debatte um den „Kampf zwischen Abstraktion und Figuration“ (Beyme 2005, 356). In Bezug auf die Malerei lauten die polarisierenden Fragen: Besteht die Zukunft der bildenden Kunst in der wiedererkennbaren Darstellung von Personen und Objekten? Oder ist sie vielmehr in der Ablösung von diesen figurativen Traditionen der malerischen Repräsentation zu Gunsten eines freieren, ‚reineren‘ Umgangs mit Form und Farbe (Barasch 2000, 293) zu suchen? Shahn stellt sich in seinen Vorlesungen – wie auch in seinem Werk – gegen den Mainstream des abstrakten Modernismus (Pohl 1989, 2– 3). Dabei richtet sich seine Kritik aber keineswegs gegen Abstraktion selbst, sondern gegen die ‚Doktrin‘ der Kunstkritik. Diese betrachte Abstraktion fälschlicherweise als inhaltsfeindlich und lege die Kunst zu sehr auf Gegensatzpaare wie „paint alone“ und „idea alone“ bzw. – so im Titel von Shahns Vorlesungen – „shape“ und „content“ fest, wobei die Kategorie der Form weitgehend aus dem Diskurs verdrängt worden sei (Shahn 1957, 65). Dem setzt Shahn einen Abstraktionsbegriff entgegen, der das Verhältnis von Darstellung und Gegenstand als eines der Komprimierung begreift: „To abstract is to draw out the essence of a matter“ (Shahn 1957, 74). Kern von Shahns Poetik des Künstlers (siehe Abschnitt 4) ist – wiederum gegen den Trend – die ‚untrennbare‘ Verbindung von Form und Inhalt, genauer: Form als „embodiment of content“, als „the very shape of content“ (Shahn 1957, 81 und 62). Shahns Verteidigung der Kategorie Inhalt geht einher mit einem Bekenntnis zur kritischen und empathischen Darstellung sozialer Realität und somit zu politischem Engagement, das in den Debatten der 1940er Jahre tendenziell von der (abstrakten, reinen) Kunst getrennt wurde (Pohl 1989, 5). In seinen Arbeiten, vor

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allem im Medium Druckgrafik und Wandmalerei, setzt sich Shahn, der oft der Strömung des „social realism“ zugeordnet wird, dieses Label aber ablehnt (Shahn 1957, 56), mit der sozialen Realität der ärmeren Bevölkerungsschichten in den USA auseinander. Sein Bekenntnis zu künstlerischem Inhalt von sozialer Relevanz ist auch als persönliche Positionierung im kulturpolitischen Feld der USA im Kalten Krieg zu verstehen (siehe Abschnitt 4), in dem Shahn wiederholt als ‚kommunistisch‘ angegriffen wurde. Die theoretische Debatte um Abstraktion und Figuration wird somit an eine konkrete und tagesaktuelle kulturpolitische Situation angeschlossen, die über das Gebiet der bildenden Kunst hinaus auch für das gebildete Publikum der Vorlesungen spürbar war.

6.2 Abstraktion (Frank Stella) Während Shahn als Abstraktionsskeptiker auftritt, positioniert sich Frank Stella als überzeugter Abstraktionist (1986, 164). Allerdings nähert er sich dem Thema ebenfalls aus einer kritischen Perspektive, wenn er eine gegenwärtige Krise der abstrakten Kunst diagnostiziert. Diese führt er darauf zurück, dass die abstrakte Kunst des späteren 20. Jahrhunderts keine überzeugenden und zukunftsträchtigen Lösungen für den Umgang mit dem Bildraum gefunden habe. Die Erzeugung von Bildraum (siehe dazu Dunning 1991) betrachtet Stella als zeitlose Aufgabe der Künstler*innen bzw. als Wunsch der Kunst selbst: „What painting wants more than anything else is working space – space to grow with and expand into, pictorial space that is capable of direction and movement, pictorial space that encourages unlimited orientation and extension“ (1986, 35). Die zeitgenössische abstrakte Malerei erzeuge aber – im Gegensatz etwa zur Malerei des 16. Jahrhunderts, die die Voraussetzungen für „self-sufficiency and self-containment“ moderner Kunst geschaffen habe (Stella 1986, 17) – keinen eigenen Raum, sondern illustriere ihn nur. Die Schuld an dieser degenerativen Entwicklung weist Stella, ähnlich wie Shahn fast 30 Jahre vor ihm, der Kunstkritik zu und etabliert damit eine Medienkonkurrenz zwischen genuin künstlerischer und kritisch-verbaler (hier: literarischer) Kunsterfahrung: „abstract painting in its effort to be ‚advanced‘, to be smart, to anticipate critical accolades, has managed simply to accommodate itself to the neatness of literary taste. […] Essentially, abstract art has rendered itself space-blind in order to assure its visibility to an audience that can only read“ (Stella 1986, 46). In der Gegenüberstellung von räumlicher und literarischer Wahrnehmung scheint auch Lessings Charakterisierung der Malerei als ‚Raum-Kunst‘ auf, die fundamental von der zeitlich organisierten Dichtung zu unterscheiden sei (Lessing 1990 [1766], 114).

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Damit abstrakte Malerei diese ‚Raumblindheit‘ überwinden kann, so Stella, bedarf es eines innovativen, reformatorischen Impulses in Bezug auf die Erzeugung und Behandlung von Bildraum, wie er im 16. Jahrhundert von Caravaggio und Rubens ausging (Stella 1986, 46). Um diese ‚Energie‘ zu generieren, müsse die notorisch vergangenheitsscheue abstrakte Kunst ihre Quellen und Wurzeln verstehen. Zu diesen Quellen zählt Stella nicht nur die abstrakte Kunst des frühen 20. Jahrhunderts, sondern auch die „mechanics of representation“, von denen sie sich abgesetzt und vermeintlich befreit hat (Stella 1986, 113). Der vergleichende Blick ermöglicht dem Künstler eine historische Verortung seines eigenen Werks in einer lebendigen Kunstgeschichte (siehe Abschnitt 5), die Stella als dynamisches Gefüge von Impuls und Erregung („excitement“; 1986, 28 u. ö.) bzw. als Dialog zwischen Gemälden über Epochengrenzen hinweg begreift. Wie dieser Dialog historische und ästhetische Argumente für Bildlösungen liefern kann (Stemmrich 2012, 61), führt er anhand zahlreicher zum Teil ungewöhnlicher Vergleiche zwischen Werken des 16. und des 20. Jahrhunderts in seinen Vorlesungen vor. Dass Stella in den Vorlesungen nur Probleme der abstrakten Malerei präsentiert, für die er selbst eine Lösung hat, wurde in der zeitgenössischen Rezeption durchaus kritisch diskutiert (Storr 1985, 11– 15; Stemmrich 2012, 61).

6.3 Kolonialismus (William Kentridge) Wie Orhan Pamuk positioniert sich der weiße Südafrikaner William Kentridge am äußersten Rand der westlichen Tradition. Im Rückblick auf seine künstlerische Entwicklung seit der Kindheit betont der Johannesburger Künstler die Distanz zur europäischen und US-amerikanischen Kultur, die dennoch das Maß aller Dinge darstellen: „The productive misunderstanding and mistranslation were both very real. The sense of being at the edge of tradition, at the corner of the great works, both instilled a colonial fear of misunderstanding, of being less smart, less wise, than those in the centers, Europe and the United States, and also made for freedom in the leaps that had to be made“ (Kentridge 2014, 85). Der Begriff „mistranslation“ ruft Homi K. Bhabhas postkolonialistische Kritik am Konzept der Übersetzung auf. Bhabha hält im Rahmen seiner Vorstellung von kultureller Hybridität fest: „Im Akt der Übersetzung wird der ‚gegebene‘ Inhalt fremd und verfremdet“ (Bhabha 2011 [2000], 244). Damit betont er die Beweglichkeit und Instabilität kultureller Konzepte, die selbst innerhalb einer Kultur immer schon einer Übersetzung unterliegen (Struve 2013, 132). In diesem Sinne begreift auch Kentridge die koloniale Distanz zu den westlichen Traditionen und die Möglichkeit der ‚falschen Übersetzung‘ als Freiheit im Umgang mit diesen kulturellen Richtlinien.

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Kentridge geht bis zu seinen ersten Versuchen im Zeichnen zurück, um die Bedeutung der westlichen Tradition für den Blick des werdenden Künstlers zu illustrieren: Er beschreibt, wie er im Alter von neun Jahren Landschaften zeichnen wollte, dabei aber nicht an die Landschaft um seine Heimatstadt Johannesburg dachte, sondern an die ‚malerische‘ Landschaft auf Gemälden und in englischen Kinderbüchern. Gegen diese künstlerische Vision wirkt die Realität defizitär: „lt was our landscape, our lives that were at fault, rather than the fiction“ (Kentridge 2014, 82). Das visuelle Wissen über ‚malerische‘ Landschaft konfrontiert Kentridge mit verbotenen Wissensinhalten aus der Realität. Die Fotografien des Massakers von Sharpeville (1960), die Kentridge zufällig als Kind im Büro seines Vaters, eines Rechtsanwalts, findet, verbucht er unter der Kategorie „THIS SHOULD NOT BE SEEN“ (Kentridge 2014, 84; Herv. im Orig.). Dennoch geht auch dieses Wissen in sein visuelles Gedächtnis ein und prägt den spezifisch postkolonialistischen, doppelten Blick auf zwei Welten, die sich nicht zu einem Ganzen verbinden. Dieser Blick ist der Ausgangspunkt, von dem aus die künstlerische Entwicklung Kentridges ihren Anfang nimmt: „So when I was at the art lesson, this too I had seen – the violence, the bodies in the veld [Hochland nördlich von Johannesburg; J.B.]. Not only the Cézanne, the Poussin, the Tinus de Jongh. lt was not that the two worlds could not come together, but there was no need for them to: the one was art, the other was life, family, friends, school, the city, the world“ (Kentridge 2014, 84). In das Werk des erwachsenen Kentridge gehen jedoch, wie die zahlreichen Ausschnitte aus eigenen Arbeiten illustrieren, beide Blickpunkte ein. Die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte betrachtet Kentridge als künstlerische Verpflichtung. In seiner zweiten Vorlesung „A Brief History of Colonial Revolts“ (Harvard 2012), erinnert der Künstler unter anderem an den Genozid an den Herero durch die Deutschen im Jahr 1904 und verweist auf das nach wie vor kolonialistisch geprägte Gedenken an dieses Ereignis. Mit Blick auf die neueste Geschichte bemerkt er mahnend: „This is not old history. lt is where we still are embedded“. In diesem Zusammenhang stelle sich „a set of questions and actions, questions of seeing, understanding, and the use of violence“, an denen der Künstler im Atelier arbeitet (Kentridge 2014, 39). Die koloniale und postkoloniale Geschichte Südafrikas betrachtet Kentridge unter der Prämisse eines Aufklärungsinteresses, das von vornherein von Gewalt begleitet ist – allerdings ohne sich explizit auf Horkheimers und Adornos Konzept einer „Dialektik der Aufklärung“ zu beziehen (Adorno 1981 [1944]; siehe dazu auch Tricoire 2018, 30 – 32): „every act of enlightenment, all the missions to save souls, all the best impulses, are so dogged by the weight of what follows them: their shadow, the violence that has accompanied enlightenment“ (Kentridge 2014, 48). Als Beispiel für die geschichtliche Perversion von ursprünglich von aufklärerischen Interessen getra-

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genen kulturellen Produkten nennt Kentridge Mozarts Oper Die Zauberflöte, die auch in Deutschland zur NS-Zeit inszeniert wurde. Die Konfrontation mit der Gewalt, die der westlichen Kulturgeschichte inhärent ist, bestimmt als schmerzhafte Quelle unbeantwortbarer Fragen Kentridges Poetik (2014, 49).

7 Fazit Der Begriff der „Poetik“ wird nur selten im Sinne eines Programms der künstlerischen Verfasstheit mit bildender Kunst in Verbindung gebracht. Dennoch lohnt sich eine Untersuchung von institutionalisierten Vorlesungen über bildende Kunst unter dem begrifflichen Schirm der Poetikvorlesungen, wie sie seit der Jahrtausendwende in den Literaturwissenschaften vermehrtes Interesse auf sich gezogen haben. Als besonders produktiv erweist sich der heuristische Rahmen „Poetiken der bildenden Kunst“ für Vorlesungen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, die sich dezidiert der Reflexion von Grundfragen der schöpferischen Produktion widmen. Zu diesen Grundfragen gehören z. B. die Frage nach den Agent*innen von Kunstschaffen, nach der Rezeption von Kunst, ihren Darstellungsformen und ihrem Selbstverständnis (Pott 2004, 6). Diese thematische Übereinstimmung von Poetikvorlesungen über Literatur und über Bildende Kunst gibt Anlass zu einer Überprüfung der medienspezifischen Ausprägung der verhandelten Grundfragen. In Bezug auf die bildende Kunst stellt sich, wie in diesem Artikel gezeigt wurde, die Frage nach der Rolle des Künstlers/der Künstlerin nicht einfach analog zur Debatte um die Rolle des Autors/der Autorin in der Literatur, sondern vor dem Hintergrund einer kulturgeschichtlich folgenreichen Unterscheidung von Künstler und Handwerker, von der aus Kunstschaffen im Spannungsfeld von Imagination/Kreativität, körperlichem Schaffen und Reflexion diskutiert wird. Die Künstlertypen und Modelle künstlerischen Schaffens, die auf dieser Basis verhandelt werden, beziehen in wesentlich stärkerem Maße Fragen der Materialität und des performativen Umgangs mit dem Material mit ein. Damit werden Konzepte des Schaffens von bildender Kunst und ihrer ‚Gemachtheit‘ zwischen den konzeptuellen Polen von poiesis und praxis diskutiert, die für die Literatur nicht in derselben Weise prägend sind. Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen bildende Kunst entsteht und der Wert, der ihr von dieser Gesellschaft beigemessen wird, werden im Hinblick auf das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft (Shahn), Kunst und historisch-politischer Reflexion (Kentridge) sowie im Kontext von kulturgeschichtlicher Innovation (Stella) beleuchtet. Die hier untersuchten Diskussionen von Darstellungsformen und Kunstströmungen schließlich stellen sich weitgehend als diskursive Arbeit an den Konzepten Repräsentation und Ab-

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straktion dar, die die Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt haben. Indem sie Fragen der künstlerischen ‚Gemachtheit‘ systematisch zu beantworten suchen und dabei Wissensbereiche aufgreifen, die in der Literaturwissenschaft mit dem Begriff „Poetik“ in Verbindung gebracht werden, qualifizieren sich die untersuchten Vorlesungen als Poetikvorlesungen über bildende Kunst und als Poetiken der bildenden Kunst. Wie diese Ausführungen gezeigt haben, darf der aus der Literatur in heuristischem Sinne übernommene Begriff der Poetik nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den Beiträgen medienspezifische Probleme und Aufgaben der bildenden Kunst verhandelt werden, die zum Teil keine Entsprechung in literaturwissenschaftlichen Debatten haben. Dennoch eröffnet die Kategorie der „Poetik“ eine neue vergleichende Perspektive auf Modi deskriptiver Theoriebildung in selbstbezüglichen Diskursen über Literatur und bildende Kunst seit dem 20. Jahrhundert.

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3.11.3 Poetics of Architecture: Academic Lectures’ Role in Architecture as Communication

The public lecture has long been a key genre for architects to master, one that predates its enshrinement in universities as Vorlesungen [academic lectures]. The giants who haunt this chapter include Georg Simmel, who first presented “The Metropolis and Mental Life” in 1903 as a lecture organized by the Gehe Foundation as part of a series of talks held for the First German Municipal Exhibition in Dresden, an event that, like the Berlin Trade Exhibition of 1896, the Vienna Imperial Jubilee of 1898, and the Paris Exposition Universelle of 1900 were designed to offer a vision of the city of the future. Another ghost haunting the topic is Adolf Loos, modernist architect and public polemicist whose lectures in Vienna’s coffeehouses were frequently quickly transcribed into essays such as Ornament and Crime, a key modernist text popularly misremembered as “Ornament as Crime.” Public lectures have been an important genre for architects in part for practical reasons: they are events that mediate between a visionary and his peers; the practitioner and potential clients; and a builder and the public who will use, reshape, move through, and inhabit his works. They have another major benefit, however. Architecture is already a medium of communication based on nonverbal signs, from bridges and flying buttresses to LED screens or the flamboyantly visible piping of Paris’s Centre Pompidou. When an architect is asked to translate his thinking from building elements into a different medium, the interdisciplinary frictions of moving between one system of meaning to another release new creative energies. Because architecture is a collective art form, requiring many specialists to work together on its production and affecting multitudes of people after its completion, public lectures by architects have historically been moments where a Zeitgeist is recognized and periodization of eras is articulated. In their exhibition and coffeehouse lectures, Simmel and Loos generated two of the most important texts of the prewar modernist movement (alongside Charles Baudelaire’s Painter of Modern Life and, more distantly, Le Corbusier’s Towards a New Architecture). In the context of academic lectures, three lectures by architects stand out as creating a consensus around an era in collective life: Siegfried Giedion’s 1938 – 1939 Norton Lectures, Space, Time and Architecture” Pier Luigi Nervi’s 1961– 1962 Norton Lectures “Aesthetics and Time in Building,” and Robert Venturi and Denise Scott Brown’s 2004 Massey https://doi.org/10.1515/9783110647884-032

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Lectures, Architecture as Signs and Systems” which expanded on the work of their previous book, Learning from Las Vegas. These architects and architectural historians articulated the spirit of their eras, acting as barometers of the collision of forces exerted by economics, engineering, historical tradition and fashion. They made visible to the general public the ways in which architecture is a form of communication, a set of “readable” signs in addition to a build environment conditioning how we think, feel, and experience a space. The architects chosen for these lectures primarily built communal and group spaces – from office buildings and military airplane hangars to stadiums, college campus buildings, and monuments. This put them in a position to gauge a culture’s attitude to both mental or aesthetic goals and its response to the physical necessities of material culture. As they shifted from active architectural practice to reflecting on their own past work and its relationship to architectural history, the slippage was natural from commenting on structures built for masses of people to analyzing a collective “spirit” or ethos of an era, in a provocative, implicitly Hegelian fashion. Giedion defines postwar modernism in a way that also casts into legibility the modernist movement since the turn of the century, while Venturi and Scott Brown move beyond the term postmodernism, first coined by them in their book Learning from Las Vegas (and quickly adopted by others in fields ranging from literature and philosophy to music), in favor of the less interdisciplinarily successful but nonetheless suggestive phrase “a mannerist time” (Venturi and Scott Brown 2004). The architects also go beyond reminding listeners that architecture is a communicative medium, and emphasize its expressive capabilities, offering listeners a multimedia Architekturpoetik or poetics of architecture. Architectural critic Siegfried Giedion’s Architekturpoetik is a pure functionalism in which architecture becomes sculptural, not simply enclosing interiors but shaping our perceptions of the space around the building, acting as forms that “emanate and model space” (Giedion 1941 [1967], xlvii), as a Giacometti sculpture might. The new building materials steel and cement were central to this new aesthetic since steel could create artificially high and light structures while cement is fluid and moldable, linking the supposed opposite qualities of being geometric or organic. Giedion’s peer, the architect Pier Luigi Nervi, in his 1961– 1962 Norton Lectures Aesthetics and Technology in Building, expressed and extended this idea so well that many followed a 1957 Times Magazine headline in describing his work as a “poetry of concrete” (Nervi 2018, 12). While the modernists Giedion and Nervi foment a materialist poetics of steel and concrete volumes, former University of Pennsylvania professors Robert Venturi and Denise Scott Brown rebel against these forerunners and their Penn colleague Louis Kahn, instead celebrating a love of signs and surfaces appropriate to an Information Age, what they

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term “decorated sheds” (Venturi, Scott Brown and Izenour 1972, 87). These lofted boxes covered in screens or signs are easily reconfigured to new purposes – a heretical poetics of mobile semiotic surfaces, often neon, video, or digital. Before investigating the specific lectures given by Giedion, Nervi, and the couple Venturi and Scott Brown, let us first consider the role of the genre of the lecture itself in their work. The Charles Eliot Norton Lectures, endowed by businessman C. C. Stillman at Harvard in 1925, are among the most prestigious academic lecture series in America. They are also transformative due to their deliberately interdisciplinary nature: the lecturer holds a temporary poetry professorship at Harvard yet in the terms of the gift, “the word ‘poetry’ is to be understood in the broadest sense” (Harvard University Press website, 2021). A Harvard Crimson article from May 18, 1925 makes this even more explicit: “It is the intention of the giver that the term ‘Poetry’ shall include, together with Verse, all poetic expression in language, music, or in the Fine Arts, under which term architecture may be included.” When the Norton Lecturer is a practitioner of a nonverbal art such as music or architecture, the translation necessary on the part of both speaker and listener results in a fortuitously generative process that critic Harold Bloom once called a “poetic misreading or misprision” (Bloom 1973, 14). Interrupting as it does a career of active practice, the lecture series also gives architects the time to reflect upon their place within a tradition and the ever-changing stream of modern culture, as well as a set of unpredictable new interlocutors. It is perhaps unsurprising, then, that academic lectures by architects have had an intellectual influence far beyond the field of art history or design. To understand the public lectures by early modernist figures such as Viennese architect Adolf Loos, a culturally active figure who was a prototype of the urban public intellectual, Janet Stewart proposes following Ludwig Wittgenstein’s concept of the “language game” from Philosophical Investigations (Stewart 2009, 14) and treating the public lecture as a network of language games embedded in what Wittgenstein calls a “form of life,” which for her is urban life. “Employing the figure of the network means that we can foreground the role of circulation, both of people and of discourse, in public speaking as an activity” (Stewart 2009, 14). The lecture is not a single game played on a singular occasion, but rather “a series of games where a number of different roles might be assumed by any given individual: where speakers in one situation might be members of the audience elsewhere, and vice versa; where anyone, speaker or member of the audience, might also be responsible for the organization of the event; where members of the audience may engage in conversation about the event either with each other or with others who did not experience the event in real time; where members of the audience might also be reporters, translating the event

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into textual form and so facilitating its circulation to a wider urban public; where members of the original audience might, as members of this wider urban public, subsequently encounter the event mediated through text” (Stewart 2009, 14). For Stewart, framing the public lecture as a complex multiplayer game allows her to sidestep the standard binary speaker-audience model in thinking about how discourse can generate a “form of life” that is, for her, distinctively urban. She joins with Michael Warner in “understanding the public as ‘the social space created by the reflexive circulation of discourse’” (Stewart 2009, 14). Warner focuses on this model of social space, examining the notion of a public as a social construction that is self-organized and that “exists by virtue of being addressed” (his emphasis, Warner 2002, 49) whether it is the self-witnessing public of a live event or the self-generated public that comes into being through the circulation of written texts, as when we speak of a novel’s public (a concept in return related to the broader notion of a public as a social totality – a nation’s public, the reading public, and so on). Stewart’s attention to the many different “language games” occurring in rapid and overlapping succession at an academic lecture series or Vorlesung enlarges our understanding of what is included in the genre, and the many ways in which it goes beyond an event located at a single (or serial) point in time. Warner’s notion of a public produced and organized by the discourse that addresses it raises the important question of what public is produced by architecture lectures, and specifically lectures given by architects in universities in an honorary position designed to honor “poetics.” Later in this essay, we will see that the architects were prompted by the occasion to consider the bigger picture in which their work fits into; to test out new categorizations of the architecture and social life contemporaneous to them; to elevate the ordinary and the everyday to a higher level of importance and aesthetic potential; to reconcile a split between science and art that roils contemporary society in addition to creating dissonance within architecture as an activity; and, finally to share specific aesthetic positions that animate a “poetics” of their work. Warner’s theoretical model of discourse, however, suggests that the Norton and Massey lecture series may have created a public of diverse individuals interested in humanities discourse that crosses disciplinary boundaries – a space where a public intellectual might operate freely. More specifically, Giedion, Nervi, and Venturi/Scott Brown attempted to create a public more consciously aware of the nonverbal ways in which architecture functions as a medium of communication. The experience of architectural lectures brought into being a public able to read and appreciate their (at the time shocking modernist) work. Giedion, in particular, wrote against a glib understanding of architecture as competing styles, claiming instead that “contemporary architecture worthy of

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the name sees its main task as the interpretation of a new way of life valid for our period” (Giedion 1941 [1967], xxxiii). Architecture can communicate structure, hierarchies of value among people and places, and implicit suggestions on what uses a space affords those entering it. In The Poetics of Space, phenomenologist Gaston Bachelard explored the psychological and aesthetic impact of domestic spaces (attics, stairs, bedroom doors). In their Norton and Massey lectures, Giedion, Nervi, and Venturi/Scott Brown provide a similar service for public spaces, ranging from monuments and town halls to such apparently humble everyday structures as airplane hangars or water towers. They thereby create a public ready to understand on a conscious level the impact architecture has always had on them unconsciously, and, despite the long history of ornamentation in architecture, primed to see the aesthetic aspects of functionalist and minimalist modernist structures. This new public, formed of both purchasers and users of architecture, will see that a sign can be simultaneously functional and beautiful – an awareness that harkens back to Roman architect Vitruvius’ triad of qualities for successful architecture, “commodity, firmness, and delight” (Wotton 1624, 201). The reviews of architectural history that one finds in both Giedion and Venturi/Scott Brown’s lectures have the explicit goal of demonstrating to audiences that a Gothic cathedral can be as efficient in its communication as a Las Vegas strip hotel, and vice versa that cement and steel modernist structures can be a source of meaning and beauty if noticed and valued, rather than becoming part of the habitual background of experience. Giedion, Nervi, and Venturi/ Scott Brown seek to create the public for which their architecture can be fully experienced. Of course, the language game networks at play in academic lectures given by Giedion, Nervi, and Venturi/Scott Brown differ from the talks in coffeehouses or lectures at an Exhibition given by Adolf Loos or Georg Simmel not merely in setting. The Wittgensteinian model of language games influencing a form of life usefully foregrounds the iterative nature and complicated temporality of the lectures but does not fully explore the interplay between oral and written communication at work, nor the role of the lecturer himself as celebrity, authorial voice, or star. Norm Friesen’s historical analysis of the pedagogical lecture and its surprising endurance despite cyclical calls to do away with it clarifies the role and the persistence not just of classroom pedagogical lectures but also prestigious public lectures by pointing to its complex mediatic dynamics. Citing Sean Franzel, he points out the lecture format’s extraordinary adaptability and “intermediality […] as ‘a site where differences between media are negotiated’ […] as the media coevolve” (Friesen 2011, 95). He critiques scholars such as Marshall McLuhan and Walter Ong who see the lecture as a residual vestige from ancient oral cultures or “human orality,” pointing out that its popularity even in contem-

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porary culture in the form of TED talks, lecture series, keynotes at fan conferences, and so on suggests the genre has a much more complex function than efficient transmission. While in the Middle Ages lecturers read rare manuscripts aloud to listeners, by the Romantic era our current communicative model for lectures took hold, one in which a lecturer “speak[s] his mind and stand[s] as authentic origin of his speech – as the author of his spoken thoughts and words” (Friesen 2011, 98). This Romantic model, valuing as it does spontaneity, creativity, originality, the (illusion) of off-the-cuff remarks, and the authentic presence of the lecturer with his public makes sense of the academic tradition of a speaker reading aloud a written text composed in advance, instead of simply circulating it in written form. A lecture brings the audience in to a simultaneous experience of the text, connects them to its author, and animates the spirit of the text over the letter. The power of a lecture is, therefore, the speaker’s ability to bring his multiple selves together, linking his lecturing self, which Friesen cites sociologist Erving Goffman, in his chapter “The Lecture” from Forms of Talk (1981), as calling the “animator-as-self,” with his “textual self” (the externalized words previously authored by the speaker) and the “physical self” (Friesen 2011, 99). This brilliant analysis complicates the language game networks of the academic lecture even further by showing in Borgesian fashion the multiple and non-identical performative selves that take different roles in different aspects of the production, animation, and propagation of a lecture. For any lecturer, the lecture connects these multiple selves. Since philosophical and scholarly debate has long been conceived of as an ongoing asynchronous conversation between the dead, the physically scattered living, and those yet to come, an academic lecturer brings quotations from others as well as quotations from his past self or selves into “a living present for conversation” (Friesen 2011, 102). Hence the richness of these lectures not only as a publicity campaign for new projects but also an incubator for new ideas and a reflective moment for taking stock from which new clarity on the overall trajectory and significance of work can be considered, on its own terms and within a recognized tradition. Lectures contributed to celebritizing certain architects as “starchitects” who could represent a whole movement, such as modernism, in their person. These architects were reinstated as “authors” not just of their words but also of their architectural works (which traditionally might have remained unmarked). They also mobilize and connect a large and temporally complex network of conversation and commentary into a single place, differentially but widely accessible to the audience and (as feedback) to the performer. The particular richness of the “living present” for conversation created by architectural lectures is of course its early transmediality. Architects rely on images

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as much as words to make their points – such as Le Corbusier’s stunning juxtaposition of a series of classical Greek temples and race cars to explain the value of a “standard” or “type” in Towards a New Architecture (Le Corbusier 1986, 141), a work that itself was a lecture before it became a landmark written text. Siegfried Giedion’s Space, Time and Architecture is punctuated with historical images of domes, arches, and even Neolithic tumuli to contextualize the otherwise potentially alienating fluid vaulted, domed, fluted, ridged, or rippling modernist forms created from steel-reinforced concrete. Likewise, Robert Venturi and Denise Scott Brown’s fold-out panoramic map of the Las Vegas strip, meticulously documented in both photographic and sketch form, was as important as their text in Learning from Las Vegas in making the claim that commercial American vernacular architecture was an aesthetic worth taking seriously and using as a model for future architecture. Their Massey Lecture book Architecture as Signs and Symbols: For a Mannerist Time (2004) also obviously relies heavily on images and visual juxtapositions to make points. Their argument that words (for example, neon signs) are often images and that images, too, often function as readable semiotic systems naturally relied on a transmedial approach. Friesen makes the point that after the invention of the printing press, “the subsequent introduction of audio, video, and visual aids for the lecture (overhead projectors, Powerpoint, even the teleprompters) further enhanced the lecture’s possibilities, being arrayed around the lecturer and the lecture in support of her and the lecturing performance, sustaining and reinforcing the lecturer’s position as the authentic origin of her words” (Friesen 2011, 101). Architectural lectures pioneer the integration of multiple media, word and image, in their lectures, complicating what Friesen calls the “illusion of pure orality” (Friesen 2011, 101) in such a bold way that it opens up the form for others. Indeed, by projecting primarily buildings and outdoor spaces that any listener could (or might already have) visited independently, including major landmarks and even college campus buildings (such as Nervi’s Leverone Field House at Dartmouth, Harvard’s Sever Hall (a favorite of Giedion’s), and Venturi and Scott Brown’s Loker Commons at Harvard), these lecturers helped to make the built environment speak, adding another layer to the strata of communication networks at play and enriching even further the lecture’s already complex relationality, a relationality requiring “thick description” in anthropological terms (Geretz 1973, 314). Architectural lecturers, too, were aware of the tiered audiences and interdisciplinary opportunities of giving an academic public lecture. Siegfried Giedion and Pier Luigi Nervi had perhaps the boldest ambitions: in their own ways each sought to reconcile a division they felt in modern culture between art and science. This division was especially salient to them because it is replicated inside the architectural profession in the tension between architects or designers

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and engineers. As an architectural historian and an engineer who designed, Giedion and Nervi approach the divide from opposite sides. As a theoretician, Giedion was especially sweeping in his diagnosis of this, writing that the question of whether art and science have anything in common “would not be raised except in a period where thinking and feeling proceed on different levels in opposition to each other […] thought and feeling could be entirely separated only by cutting men in two” (Giedion 1941, 12– 13). Giedion calls this a “split personality” in moderns caused by a “split civilization”, a schism that began in the nineteenth century and which is dysfunctional for culture. He suggests the appreciation of architecture as a site for understanding the problem and simultaneously for healing it since it “is the product of all sorts of factors – social, economic, scientific, technical, ethnological,” and aesthetic, and unites all in one “organism” (Giedion 1941, 19). Nervi, in his 1961– 1962 Norton Lectures later published by Harvard University Press as Aesthetics and Technology in Building, reiterates the diagnosis from the point of view of an engineer whose earliest works of art were the astonishing vaulted and cross-hatched concrete Orvieto airplane hangars (1935). Nervi writes: “Rather than technology as well as an art, architecture is and must be a synthesis of technology and art” (His emphasis, Nervi 2018, 99). For Nervi, the architect’s role is as an intermediary, a bridger of communicative gaps: he understands, coordinates, and brokers compromises between various specialists. The public, in gazing on architecture or making use of it, also enjoys both aspects of the building. Nervi was directly influenced by Giedion in this intellectual position and by Charles Snow’s 1959 Rede Lecture in Cambridge on the “two cultures” of humanities and science, which he hoped to contradict (Nervi 2018, 12). He claimed that not just the architect but architecture itself shows the intrinsic connectedness of these two sides. Using engineering terminology, he posits “the existence of a full and intrinsic agreement between aesthetic expression and the static and construction requirements or suggestions. A structure that does not follow the simplest and most efficient schemes or a construction detail that does not consider the specific characteristics of the material with which it is built will with great difficulty achieve great aesthetic expression” (Nervi 2018, 100). Nervi’s specialty was creating coperture or roof shells for buildings, primarily with poured concrete. When a 1957 Time Magazine cover hailed Nervi as a “poet of concrete” (Nervi 2018, 12), he was pleased by the pun and the recognition of concrete, a human-engineered artificial substance, as a thing of beauty. Nervi would later be critiqued for his uncritical “technological optimism” and his Hegelian belief in a “stile di verità” or “truthful style” derived from “correct building” (2018, 109), where correctness meant the most economical align-

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ment between the affordances of a given building material and a building’s static requirements. Architecture critic Nikolaus Pevsner also accused him of being a strict Functionalist from the Thirties (Nervi 2018, 19). However Nervi’s statement of architecture’s peculiar role in the arts remains illuminating: “Architecture has a twofold essence, physical and aesthetic – it has an objective structure and also produces a subjective emotion”; architecture is also “dominated by laws outside a designer’s personality” to a degree unlike any other art (2018, 101). This openness to a wide range of unprejudged external conditions is a key factor in why non-architects are often so interested in architectural lectures and why architects and critics of the field have been so skilled in sensing the directions in which a culture is moving. Architects were among the first in the modernist movements of the twentieth century to take the everyday seriously and elevate it as a value. Nervi’s version of this was rather rigid; as an engineer he felt his calculations based on the material properties of the world could lead him in almost Heideggerian fashion to uncover “’form types’ – a structural essence, a necessary absence of all decoration, a purity of line and shape more than sufficient to define an authentic style, a style I have termed the truthful style” (Nervi 2018, 202). Nervi located this in ordinary everyday objects pared down to their essential function: typewriters, telephones, clothing, and particularly in products of industrial design (Sewing machines were an especial favorite). “It is clear that this style can never change, but that it will continually become more exact and determining, unless mankind voluntarily, or because of some terrible happening, renounces technology and goes back to retrace from the beginning the path already traveled through the centuries. How can we help but be struck by the thought that it is precisely our age that has found the direction which mankind will never be able to abandon?” (Nervi 2018, 202). Giedion’s elevation of the everyday was radical yet more subtle than Nervi’s. Giedion too insisted on adjusting one’s eyes to see the aesthetic forms of factories, grain silos, turbines, and other industrial structures. He, too, helped the general public grasp the importance of material qualities in architecture: on the volumetric, textural, moral, and aesthetic qualities of modern building materials such as steel, glass, brick, and above all the magically strong and fluid reinforced concrete that would be formed into so many light and gravity-defying domes, undulating walls, flexible ground plans, and cantilevered floating blocks – what in Nervi’s hands would become known as a poetry of concrete. Giedion’s was a materialist turn in aesthetic history analogous in some ways to Marx’s materialist turn in political and economic history. The everyday is key to architecture in part because it is a holistic “organism” for Giedion. Paying attention to the material substrate can reveal unconscious or collective thought processes about what a culture is working towards. Giedion describes the organic connec-

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tion between construction and architecture in a passage made famous by Walter Benjamin’s citation of it in the Arcades Project: “The new potentialities of a period are shown much more clearly in its engineering constructions than in its strictly architectural works. For a hundred years architecture lay smothered in a dead, eclectic atmosphere in spite of its continual efforts at escape. All that while, construction played the role of architecture’s subconscious, contained things which it prophesied and half revealed long before they became realities” (Giedion 2018, 24). Giedion’s belief that a culture reveals itself in apparently mechanical or nonaesthetic, non-philosophical, non-self-aware processes is fascinating to test and lends support to another idea, derived from his mentor, the architectural historian Heinrich Wölfflin, who in turn derived it from Hegel, that the spirit of an age leaves its organic mark in all areas of contemporaneous human endeavor – or, to put it in Giedion’s more down-to-earth terms, that “architecture is an index to a period… architecture can give us insight into this process [of a period becoming self-conscious of itself, C. S.] just because it is so bound up with the life of a period as a whole” (Giedion 1941, 19). Indeed, Giedion began his first Norton lecture at Harvard by describing himself as a “disciple of Heinrich Wölfflin” (Giedion 1941, 2), who was in turn a pupil of Jacob Burckhardt. Burckhardt’s landmark attempt to identify a unifying spirit across fields of human inquiry and endeavor in the Renaissance was followed by Wölfflin’s deeply persuasive attempt to do the same for the Baroque age. Giedion explicitly positions himself as the figure to perform this service for Modernism. In 1940, he wrote that his book based on the Norton lectures was “intended for those who are alarmed by the state of our culture and anxious to find a way out of the apparent chaos of its contradictory tendencies” (Leach 2015, 286). His contemporaries widely judged him to have succeeded in making modernism comprehensible to those living through the shock of it. For Giedion, modernity was characterized by an explosive development of science and technology, and modernism as its formal expression. The dominant characteristic of modernism, as modernity’s expression, was a minimalist functionalism: function elevated to a guiding artistic principle. Robert Venturi and Denise Scott Brown rebel against what they see as the rigid ideology of modernism’s minimalism and functionalism, first in Learning from Las Vegas (1972) and again in their later book based on the Massey lectures (2004), but they do follow Siegfried Giedion’s lead firstly in their use of the academic lecture as a platform for big-picture reflection and interdisciplinary communication, and secondly in their elevation of the ordinary or everyday, the interest in materiality, and their desire to use architecture as a launchpad to understand a new period in cultural history, inaugurated by the arrival of new

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forms of life. Instead of industrialism, car culture, neon signs, and neon’s successor the LED video screen are the technological developments that drive the new forms of life and new architecture that inspire them. They took Las Vegas as an exemplary case study on Las Vegas at a time when it was considered a non-city (the outgrowth of a strip), and praised vernacular commercial American architecture at a time when it was not considered part of the architectural tradition. Popular “low-brow” culture is reintegrated into the art and architectural tradition. Cheekily, Venturi and Scott Brown compared modernism to a “duck” (expressive in form and volume) and dubbed the grass-roots style of their new era “the decorated shed” because it was a simple, multi-use box covered with imagery and signage – a return to the ornamentation that modernism had rejected (Venturi, Scott Brown and Izenour 1972, 87). The materiality of the style they celebrate is not concrete or an alternate construction material such as neon, but signs themselves – the joy in colorful surfaces covered in words, pictures, cartoons, and symbols. In their early work, they also continue Giedion’s interest in periodicity by declaring this a distinct new era of “postmodernism” – a term that would be giddily adopted in other disciplines based on their work (for example, it did not reach literary studies until 1979 in the François Lyotard’s The Postmodern Condition). In the 2004 Architecture as Signs and Symbols, Venturi and Scott Brown rely heavily on concepts from their earlier book even as they attempt to redress its faults and chart the evolution of their thinking since its composition. In particular, they no longer think of architecture as “Space” (ducks or decorated sheds) but rather “[acknowledge it] as Sign” (Venturi and Scott Brown 2004, 9). Indeed, for them buildings have been absorbed into an “electronic technology” that digitally covers their surfaces with changing mobile text and moving images at the same time as it reprograms their interiors. Tokyo is a rival inspiration to Las Vegas. Venturi and Scott Brown also rebel in terms of periodization, claiming we are no longer in a postmodern age but a Mannerist one. In claiming Mannerism, Venturi and Scott Brown insist it is a gesture both “perverse” and “positive”, appropriate for “our current perversely complex and contradictory era, our neo-Byzantine era” (Venturi and Scott Brown 2004, 9). As before in Learning from Las Vegas, which they developed out of the audio-visual lectures of a seminar from their early teaching career, the goal of their 2003 Massey lectures and 2004 book is to understand our era as much as it is to name an architectural style championed by this husband-and-wife team who are both professors of architectural history and urban planning and practicing architects. Unlike the Norton Lectures, the William E. Massey Sr. Lectures have no explicit goal or ground rule other than being sponsored by Harvard University’s American Studies department. (Note: They are distinct from the well-

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known Massey Lectures sponsored by the Canadian Broadcasting Company). Yet Venturi and Scott Brown follow Siegfried Giedion in choosing a subtitle for their lecture series that mark them as deeply concerned with language in both its functional and poetic aspects, and the overlap they see between language or semiotic systems and architecture. Moreover, they go beyond describing their own architectural style to explicitly offer a new period label for contemporary culture. Ironically, like “postmodernism,” the term that they choose, “Mannerism,” is both an original statement and an ambiguous continuation or repetition of the past. Mannerism is, of course, the period said to follow Wölfflin’s period of study, the Baroque. They quote Nikolaus Pevsner as stating that Mannerism is “indeed full of mannerisms” and hard to define (Venturi and Scott Brown 2004, 74), and then go on to create a rebellious new definition of a mannerism for now. “Mannerism as Convention Tweaked – or as Modified Convention Acknowledging Ambiguity. Mannerism for architecture of our time that acknowledges conventional order rather than original expression but breaks the conventional order to accommodate complexity and contradiction and thereby engages ambiguity – engages ambiguity unambiguously. Mannerism as complexity and contradiction applied to convention – as acknowledging a conventional order that is then modified or broken to accommodate valid exceptions and acknowledge unambiguous ambiguities for an evolving era of complexity and contradiction – rather than acknowledging no order or acknowledging a totality of exceptions of acknowledging a new order so as to be original” (Venturi and Scott Brown 2004, 75). Their definition, boring to the point of comedy, clearly tweaks conventions of the lecture format requiring clarity, brevity, and linear thinking of speakers, in addition to subverting conventions of architectural criticism. They continue it with a long alphabet of Mannerism’s characteristics that includes “Accommodations; Ambiguity; Boredom; Both-and; Breaks; Chaos; Complexity; […] Difficult Whole; Discontinuity; Disorder; Dissonance; Distortion; Diversity; Dualities; Dumbness; Eclectic; Everyday; […] Syncopation; Tension; Terribilità; Vernacular; Wit; Wrestling” (Venturi and Scott Brown 2004, 75 – 77). They go on to discuss the explicit Mannerism of the past and implicit Mannerism (St. Paul’s Cathedral, Covent Garden, Sir John Soane’s house and museum, Luigi Moretti’s Casa del Girasole, and so on) before giving descriptions and visual images of the new Mannerism, which they see as “a communication for today’s and tomorrow’s multiculturalism” (Venturi and Scott Brown 2004, 93). Both their Massey lectures and the book produced from the communicative experience of the lectures are designed to give an impression of spontaneity; they “sit at the confluence” of lecture notes, a slideshow, and apparent “free talk” (Friesen 2011, 101). We are given an experience of accessibility, free flow,

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and presence. Venturi and Scott Brown’s reconfiguring of what “context” might mean in architecture and their attempt to relate current forms to the Information Age makeover of our culture were provocative even if the rebellious stance they take over and over again ultimately begins to grow stale (a possibility they of course already provided for in their choice of label). Each of these architectural lectures demonstrates the importance of architecture’s interdisciplinary position and its hybrid status as art and shelter – something we gaze at and also enter, to inhabit. This position enables architectural critics and historians to have an unusually sensitive and holistic gaze on contemporary culture as an evolving whole, and a thumb on the shifts in Zeitgeist and cultural periods. The genre of the academic lecture supercharges this role of the architectural critic by funding a pause in work for him or her to reflect; creating an opportunity for myriad sources of unpredictable feedback in the progression from the lectures as events to their appearance as a published book; and discursively creating an interdisciplinary “general public” initiated into the history, conventions, and legibility of architecture. Through these lectures, the public learns to experience the built environment around them as a hedge of forms and signs that communicate with them – a form of language. Architects gain a larger place in the general culture, architects help specialists parse and understand major shifts in contemporary culture, and the public is inspired to experience their own everyday environment as aesthetic. In this newly framed perspective, even functional, industrial, or, now, digitalized objects are more likely to be seen for themselves instead of habitually passed over in our perception. Thanks to the transmission of underlying attitudes in architecture, the forms of everyday life can be raised to the level of consciousness, seen in the new context, and appreciated as immersive art form, a poetics where our attention is drawn not to the materiality of language but the soar, heft, and texture of materiality in the built world.

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3.11.4 Poetiken des Films 1 Grundsätze filmischer Poetiken Auf welche Weise untersuchen und beschreiben Filmemacher:innen ihre eigenen künstlerischen Poetiken? Und zu welcher allgemeinen Poetik des Films gelangen sie so? Bereits 1989 konstatierte David Bordwell im Kontext der neoformalistischen Filmanalyse (Bordwell 1985; Bordwell et al. 1985; Thompson 1988, 1995), dass das kinematographische Medium distinkte, mithin einzigartige Poetiken besitzt. Sich mit diesen auseinanderzusetzen, erfordert deshalb, all jene Prozesse zu untersuchen, die für einen Film konstitutiv sind: neben den allgemeinen Kompositionsregeln etwa dessen handwerkliche Elemente, Funktionen, Effekte oder Gebrauchsweisen. Gerade in der Philosophie und Literatur, so Bordwells Kritik, stellen poetologische Forschungsarbeiten meist interpretative Werkanalysen dar. Um nicht ebenfalls zu einer Wissenschaft zu werden, die bloß Inhalte deutet, muss die Filmforschung für ihn deshalb von anderen Voraussetzungen ausgehen: „[N]o privileged semantic field, no core of procedures for identifying or interpreting textual features, no map of the flow of meaning, and no unique rhetorical tactics“ (Bordwell 1985, 370) kann (und darf) sie als Merkmale oder Funktionen einer filmischen Poetik identifizieren und beschreiben. Nach Bordwell muss die poetologische Analyse folglich mehr sein als die methodische und semantische Interpretation einzelner Werke. Hermann Kappelhoff und Matthias Grotkopp führen diesen Gedanken fort. Sie schreiben, dass es bei der Betrachtung filmischer Poetiken notwendigerweise um die poietike techne einzelner Filmemacher:innen wie auch um die „Geschichte der Erfahrungsformen filmischer Bilder selbst als der poiesis der sich wandelnden Vermögen des Wahrnehmens, Denkens und Fühlens“ (Kappelhoff und Grotkopp 2018, 16) gehen muss. Versucht man davon ausgehend eine allgemeine Definition für die medialen Poetiken des Films zu finden, dann scheint das vor allem im Zusammenspiel von schöpferischem Subjekt und ästhetischem Medium möglich zu sein; nämlich dann, wenn Künstler:innen in einen produktiven Dialog mit ihrem eigenen Werk treten. Dieser Akt der Introspektion, dem die Vorstellung einer beschreibbaren schöpferisch-künstlerischen Poetik vorausgeht, charakterisiert das Selbstverständnis zahlreicher Poetikvorlesungen, die an verschiedenen wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen stattfinden. Doch die Gegenstände und Personen, die dort öffentlichkeitswirksam zur Verhandlung kommen, bieten oft nur einen Einblick in die produktive Arbeit der Literatur: Der Auftritt des künstlerischen https://doi.org/10.1515/9783110647884-033

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Subjekts im Rahmen von Poetikvorlesungen, etwa in Frankfurt, Heidelberg oder Bamberg, ist ein ‚literarisches Ereignis‘, da (fast) ausschließlich schriftstellerisch tätige Autor:innen über sich und über ihre Texte Auskunft geben. Demgegenüber ereilt Filmemacher:innen selten der Ruf auf eine Poetikdozentur. Die Orte ihrer Selbstreflexion sind eher ‚Masterclasses‘ an Filmhochschulen wie der ifs – internationale filmschule köln, der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf oder der Hochschule für Fernsehen und Film München. Dort kommen sie mit Studierenden zusammen, um über ihre persönlichen Arbeitsweisen im Dienst einer praxisorientierten Ausbildung zu sprechen. Das hat zur Konsequenz, dass ein Publikum, das der jeweiligen Filmhochschule nicht angehört, kaum eine Teilnahmemöglichkeit besitzt. Zu sehr scheint die filmische Poetik in den Augen der einladenden Institutionen eine Angelegenheit der handwerklichen Aus- und Fortbildung zu sein, die nur angehende Filmpraktiker:innen betrifft. Deshalb muss der Blick auf jene Vorlesungen gerichtet werden, in denen sich einzelne Filmemacher:innen öffentlich präsentieren und diskutieren. In den rar gesäten Beispielen fällt dabei bis auf wenige Ausnahmen auf, dass nicht nur eine gewisse Affinität, sondern bisweilen sogar eine produktive Komplizenschaft zwischen den filmischen und literarischen Arbeiten der vortragenden Künstler:innen existiert: Patrick Roth, Alexander Kluge sowie Wim Wenders, die stellvertretend im Fokus dieses Beitrags stehen, verbinden in ihrem Nachdenken über die eigenen Poetiken immer wieder Fragen der Techniken des Films und des Filmemachens mit jenen des literarischen Schreibens. In ihren Ausführungen verweisen sie außerdem auf eine ästhetische und materielle Multimedialität des persönlichen Werks, die von ihnen zugleich als ein Originalitätsmerkmal der eigenen Arbeitsweise skizziert wird.

2 Patrick Roth: Drehbücher und filmische Poetiken des Schreibens Noch ehe man sich mit Patrick Roths Vorlesungsreihe Ins Tal der Schatten aus dem Wintersemester 2001/02 auseinandersetzen kann, ist im entsprechenden Sammelband zu lesen, dass die traditionelle Poetikvorlesung an der Goethe-Universität Frankfurt als eine Institution der poetischen Selbstvergewisserung verstanden werden muss. Die Vorlesungen, so heißt es, „gestatten aufschlußreiche Einblicke in die Werkstatt des Schreibens und sind zugleich luzide, in ihrer Offenheit oft überraschende Selbstporträts“ (Roth 2002, 2). Für den Schriftsteller Roth stellt das insofern eine interessante Charakterisierung dar als er auch Drehbuchautor gewesen ist, der bis 2012 in den USA gelebt hat. In seinen Poe-

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tikvorlesungen nimmt er beide Rollen ein, die er zugleich voneinander differenziert. Trotz dieser Unterscheidung ist, so Roths künstlerische Selbstreflexion, dem Schreiben für Filme und dem Schreiben von Romanen gemein, dass es sich bei beidem um literarische Tätigkeiten mit jeweils eigenen Mitteln und Intentionen handelt. Diese Verwandtschaft zwischen Roman und Film, die für Roth auf dem Schreibakt selbst beruht, unterscheidet seine literarische Filmpoetik wesentlich von den medialen Filmpoetiken Alexander Kluges und Wim Wenders’. Die erste von Roths fünf Vorlesungen trägt den bedeutungsvollen Titel „Orpheus nach Hollywood“. In ihr geht der Literat, der sich in seinen Selbstbeschreibungen beständig als Hollywood-Drehbuchautor inszeniert, dessen Texte aber nicht zu Filmen, sondern zu Büchern werden, folgender Frage nach: Wie kommt man zur (Er‐)Findung eines Stoffs und von dort zum Akt des Schreibens? Ins Tal der Schatten, der Vorlesungsreihentitel, erscheint für Roth dabei als eine Metapher, die dieses Suchen und Finden exakt ausdrückt: „Das Bild des Titels kündigt eine Katabasis an, einen finalen Abstieg ins Dunkel. Damit beginnt alles, beginnt die Suche nach dem Stoff“ (Roth 2002, 12), schreibt er nicht nur zum künstlerischen Entdeckungsakt, sondern auch über Hollywood, jenem Ort seiner schriftstellerischen Reise, an dem zahlreiche Stoffe entstanden sind. Daneben gibt es weitere Inspirationsquellen, die Roths Arbeiten prägen: Filme, Literatur, die Bibel oder etwa die Tiefenpsychologie, ein beliebtes Sujet im Hollywoodkino. Sie stehen im Fokus seiner einzelnen Vorlesungen. Literarisches Schreiben ist für Patrick Roth ein Akt der Totensuche. Es ist die Ergründung dessen, was in einem Autor:innensubjekt tief verborgen und unbewusst schlummert. Totensuche bedeutet also nicht die Suche nach dem Verstorbenen, sondern die Suche nach etwas, das vom eigenen Ich unabhängig geworden ist. Denn was zunächst tot erscheint, so Roth, kann schnell wieder sehr lebendig werden (Roth 2002, 12). Ohne es explizit auszuführen, verweist er mit diesem Bild auf ein historisches Diskursmerkmal des Films. In seinen Frühtagen wurde ihm oft das Vermögen zugeschrieben, die Figuren auf der Kinoleinwand mittels der sich wiederholenden Bildprojektion stetig zu verlebendigen; eine Eigenschaft des kinematographischen Mediums, die André Bazin gleichzeitig als einen Akt der Einbalsamierung des Lebens beschrieben hat. Mit Blick auf das fotographische Moment eines jeden Films meint er damit nicht nur die Konservation sowie Verlebendigung eines bildlichen Punkts in der Zeit, sondern auch einer visuellen Dauer im Moment der filmischen Bewegung (Bazin 2009, 39). Für Roth stellt das Schreiben eine vergleichbare Kulturtechnik der Verlebendigung dar: „Schreiben ist Totensuche. […] Schreiben ist Totenerweckung. Im Leser, im Autor. Der Autor sucht nach Totem – das heißt: nach etwas, das ihm tot ist, nach einer, die er vergessen hat, nach einem, der tot in ihm liegt. […] Aber etwas ist da. Sonst gäbe es keine Suche – sonst käm es erst gar nicht dazu“ (Roth 2002, 14). Die

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Suche nach dem Ausgangspunkt des Schreibprozesses findet sich für Roth adäquat im mythischen Bild des Orpheus und dessen Abstieg in die Unterwelt ausgedrückt. Es ist für ihn außerdem eine persönliche Metapher, die sein schriftstellerisches Schreiben, damit Suchen und Finden verdeutlicht (Roth 2002, 19). Hollywood stellt eine weitere Metapher dar, die für Roth wiederum die Bedeutung des Fiktionalen, d. h. der medial-populären „Fiction“, für die Realität seines Schreibens zum Ausdruck bringt. Die Namensgeschichte Hollywoods entlarvt nämlich, dass das reale Hollywood ein Stück weit selbst nur Fiktion ist. Denn seine Geschichte hängt mit zahlreichen anderen Geschichten zusammen, die für das Kino der „Traumfabrik“ entstanden sind: „Hollywood war ein Traum, der aus Unwirklichkeit wirklich wurde. Hergenommen wurde der Name, um wachzurufen, was unsichtbar ersehnt worden war – und begraben werden mußte, aus welchen Gründen auch immer“ (Roth 2002, 33). Die Vorliebe des Autors Roth liegt im Geschichtenerzählen selbst. Wenn er den Film sowie Los Angeles und Hollywood als wesentliche Inspirationsquellen beschreibt, dann referiert er damit auf den Akt der Imagination, der in der „Traumfabrik“ stetig stattfindet. Die Grundlagen seiner eigenen Poetik stellen, so das Ende der ersten Vorlesung, letztlich die Fiktionen anderer Autor:innen dar. Auf ihnen baut Roth mit seinen persönlichen Arbeiten immer wieder auf. In „Dissolve: Mit Joy(ce) ins Bett der Toten“ sowie „Mulholland Drive: Magdalena am Grab“, der zweiten und dritten Poetikvorlesung, skizziert Roth die eigene Poetik mehr und mehr als eine filmische Poetik des Schreibens. Dafür ist in der zweiten Vorlesung die titelgebende Filmtechnik des Dissolves, der Überblendung, bezeichnend. Für Roth beschreibt sie einen kurzen Moment der Vorahnung, in dem sich ein Wandel abzeichnet, der sich noch nicht vollzogen hat, sondern erst im Begriff ist, sich zu vollziehen: „Fast zögernd zunächst und vom Auge für einen ersten Sekundenbruchteil nur als Störung erkannt, wird etwas gesehen, das sich dann durchsetzt“, schreibt er und fährt fort: „Der Dissolve, jener optische Trick, wird dann zum Mittel erzählerischer Re-velation [sic!]: dieses verhangen-verhüllte andere Bild – da kommt es herauf! –, diese andere Schicht, die vorher nicht zu sehen war, von jener ersten Schicht verdeckt, […] scheint jetzt durch!“ (Roth 2002, 49 – 50). Roth geht es um die Vorstellung einer Gleichzeitigkeit des Erzählens, die sich im Film in eine optische Sichtbarkeit übersetzt: Im Dissolve erscheinen zwei unterschiedliche Bilder im selben Projektionsmoment; sie existieren nicht nur parallel nebeneinander, sondern überlagern sich wörtlich auf der Leinwand. Auch für das literarische Schreiben gewinnt die Überblendung, so Roth, an Gewicht. Sie erscheint als eine narrative Vorahnung im Text, der er sich als Schriftsteller verbunden und verpflichtet fühlt: „Als Schriftsteller lege ich es darauf an, diese andere – unten schon immer wartende – Schicht, Bedeutungs-

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schicht, im Geschriebenen durchscheinen zu lassen, als hielte ich die beschriebene Handlung in einem dauernden oder immer wieder ansatzweise aufscheinenden Dissolve“ (Roth 2002, 54). Der Schriftsteller Roth wird an dieser Stelle zum Filmemacher Roth; beide sind interessiert und fasziniert vom Spiel der Schichten, seien sie nun visuell-sichtbar oder eben narrativ-lesbar. Am Ende wird das Schreiben, das Arbeiten und Denken für Roth im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Arbeit mit dem Ende. Seine methodische Praxis beschreibt er als ein ‚Vom-Ende-her-Sehen‘, dessen Fokus auf „scheinbar Weggeworfenes, Nichtiges, Alltägliches“ (Roth 2002, 73) gerichtet werden kann – wenn nicht sogar: gerichtet werden muss. Was daraufhin passiert, beschreibt Roth in seiner dritten Vorlesung. Es vollzieht sich ein Wiedererkennen, eine Rückkehr nach dem Erreichen des Endes: „Wiedererkennen, das ist der Weg ans Grab, an ein Uns-Totes, das ist der Weg hinab und wieder zurück an den Tag. Wiedererkennen, das ist der Augenblick der Auferstehung des einen im anderen“, (Roth 2002, 90) erläutert er, indem er ein weiteres Mal auf den Orpheusmythos Bezug nimmt. Gerade wenn es um eine Poetik des Wiedererkennens geht, ist für Roth die körperliche und damit leibliche Erfahrung dieses Akts wesentlich. Sie scheint sowohl im Mythos als auch in der literarischen Praxis, im Schreiben auf. Noch deutlicher wirkt sie für ihn aber im Film und der Schauspielerei. Besonders die (Aus‐)Wirkungen des künstlerischen Wiedererkennens als einer affektiven Erfahrung hat er im Schauspiel selbst erlebt: „[I]ch [besaß] […] ein geradezu physisches Wissen […], das mit jedem Vers, den ich wiederlas, tiefer spürbar, physisch erinnert wurde: über den Körper, matter / materia. Im Körper, denn ich hatte die Szene ja körperlich erlebt, sie mir eben nicht nur vorgestellt, sondern dargestellt“ (Roth 2002, 107, Hervorhebung i. O.). Die filmische Poetik Roths ist folglich auch eine körperliche, die sowohl gelesen und damit auf der Textebene verstanden sowie leiblich erlebt und erfahren werden möchte: Wiedererkennen bedeutet für ihn eine individuelle Körpererfahrung; die Körper des Films und des Texts werden zu den eigenen, ein Transsubstantiationsprozess, der für Roth eine gleichermaßen religiöse Dimension besitzt. Die beiden letzten Poetikvorlesungen Roths, „Aktive Imagination“ und „No Fiction“, stellen eine poetologische Synthese des Vorausgegangenen dar. Dabei kreist sein Interesse in besonderer Weise um die Rolle des Stoffes, sobald dieser durch ihn selbst, den Schriftsteller und Drehbuchschreiber, gefunden und erfahren wurde. Es sind im Folgenden Ansätze der Tiefenpsychologie, die für Roth das weitere künstlerische Prozessieren erklären: „Der psychologische Aspekt der Stoff-Findung, die Suche nach Selbsterkenntnis, erfordert eine Reise nach unten – den Abstieg ins Tal der Schatten, ins Unbewußte also – und den so not-wendigen [sic!] Aufstieg der Bewußtwerdung“ (Roth 2002, 122). Nicht nur die Arbeiten von C.G. Jung und dessen Konzept der „aktiven Imagination“, sondern auch der

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Umgang Hollywoods mit dem ästhetischen und tiefenpsychologisch interessanten Phänomen des Träumens, etwa in den Filmen von Alfred Hitchcock, gereichen Roth zu weiteren Charakterisierungen der eigenen schriftstellerischen Poetik. Denn das Handeln im Alltag, was ebenso das Schreiben als eine alltägliche Praxis einschließt, erscheint in seiner kritischen Selbstreflexion als ein beständiger Versuch, die eigenen Träume zu verwirklichen. Dabei ist es wichtig, den Traum nicht nur als Traum zu behandeln, als eine geistige „picture show“, die den Fiktionen des Films gleicht; sondern Schreiben und Handeln müssen auch als „Interpretation [erscheinen], auf den Traum zu antworten, sich handelnd – der Einsicht, die er erlaubt, verpflichtet – auf ihn einzustellen, aus ihm Konsequenz zu ziehen“ (Roth 2002, 127). Für Roth wird die ‚imaginatio vera‘ gegenüber der ‚imaginatio phantastica‘ deshalb zu einem wichtigen Unterscheidungsbegriff, den man nicht ignorieren darf. Am Ende kann es, so beschließt Roth seine letzte Vorlesung sowie sein poetologisches Selbstresümee, in der Auseinandersetzung mit den Werken von Schriftsteller:innen nicht mehr bloß um eine Suche nach der kreativen Erfindung von Fiktion gehen. Denn die Fiktion des Autors ist, „wenn sie als psychischer Stoff aus den Tiefenschichten heraufgeführt wurde, nicht weniger real [als das Reale an sich, FTG]. Ist ebenfalls erlebt. Ist erlitten. Und ist eben nichts Erklügeltes, keine Gedankengeburt, sondern Kern-Realität: No fiction“ (Roth 2002, 143). Literarisches Schreiben kann und muss für Roth als eine Wirklichkeitserfahrung beschrieben und verstanden werden, genauso wie die Filmbilder die mechanische Verlebendigung eines in ihnen auf Dauer fortexistierenden Lebens darstellen (Tedjasukmana 2014).

3 Alexander Kluge: Die Poetik des Schreibens in Bildern Alexander Kluges Frankfurter Poetikvorlesungen fanden im Sommersemester 2012 an vier aufeinanderfolgenden Terminen statt. In ihnen geht er s/einer „Theorie der Erzählung“ nach, die er nach eigenem Bekunden an die Frankfurter Poetikvorlesungen von Helmut Heißenbüttel anlehnt, die dieser im Sommersemester 1963 unter dem Obertitel „Grundbegriffe einer Poetik im 20. Jahrhundert“ hielt. Für die Beschäftigung mit der eigenen, persönlichen Erzähltheorie möchte Kluge den Begriff der Theorie dabei vor allem mit Bezug auf den Standort der Poetikvorlesung, Frankfurt am Main, als eine Fortführung der „Kritischen Theorie“ und sich selbst als ihren „Hofpoeten“ verstanden wissen. Denn die Ideen der Frankfurter Schule sind für ihn politische und insbesondere praktische Konzepte, denen er mit den Vorlesungen und mit jeder seiner einzelnen Arbeiten stetig von

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neuem Tribut zollt (Kluge 2013, 1. Vorlesung; Reichmann 2009, 6; Streckhardt 2016). Für die Auseinandersetzung mit den von Kluge in Frankfurt vorgelegten Überlegungen ist es wichtig zu berücksichtigen – in gewisser Weise auch als Prämisse seiner eigenen als Erzählungen dargebotenen Erzähltheorie –, welcher Veröffentlichungsweg für die Poetikvorlesungen durch ihn und den SuhrkampVerlag gewählt wurde; dieser ist nämlich eng mit Kluges Idee einer medialen Poetik verbunden: Während andere (Frankfurter) Poetikvorlesungen vornehmlich in gedruckter Form verlegt werden, sind Kluges Vorlesungen ausschließlich auf DVD in der Reihe „filmedition Suhrkamp“ erschienen. Diese Medienwahl ist für sein künstlerisches Werk, das Thomas Elsaesser als das Ergebnis einer Arbeit im Medienverbund beschrieben hat (Elsaesser 2012, 24), von Bedeutung: Erst durch die DVD, die Vortrag, Film sowie weiteres Supplement kombiniert, kann das Publikum Kluges poetologische Selbstanalysen unmittelbar in Form einer aktiven Medienarbeit beiwohnen. Seine mediale Poetik offenbart sich dadurch zugleich als eine filmische Poetik in actu. Nicht von ungefähr beschreibt Georg Stanitzek Kluges Arbeiten deshalb als Hypertexte, die häufig die Grenzen des Einzelmediums überwinden (Stanitzek 2011, 289). In der ersten Vorlesung vom 5.6. 2012 mit dem Titel „Das Rumoren der verschluckten Welt / Die Lebensläufe und das Wirkliche / Der Erzählraum besteht aus Zeitperspektiven“ interessieren Kluge zuvorderst jene Zusammenhänge, die zwischen Lebensläufen und Erzählungen sowie ihren zeitlichen Dimensionen bestehen – und damit ihren Wert für eine Theorie der Erzählung ausmachen. Für Kluge ist dabei für das Verhältnis von Theorie und Erzählung bedeutend, dass beide notwendigerweise von einem Moment der Kooperation ausgehen, d. h. einer Tätigkeit des Gemeinsamen und Gemeinschaftlichen, die sich im 21. Jahrhundert jedoch völlig anders entwickelt hat, als es sich Kluge zunächst vorgestellt hatte: Neue „Lebensläufe“ sind entstanden, die zu neuen Erzählungen geführt haben. Entsprechend konstatiert Kluge, dass der Erzählraum, in dem wir heute leben, erleben und erzählen, als die Summe der eigenen, vielfältigen Lebensläufe betrachtet werden muss. Jedes Individuum trägt mehrere Lebensläufe in sich; mit ihnen zusammen blickt es auf die Welt und wird dort von Menschen mit gleichfalls mannigfaltigen Lebensläufen zurückangeschaut (Kluge 2013, 1. Vorlesung). Kluge versucht mit dieser allgemeinen Diagnose, die auch eine Selbstbeobachtung ist, das Leben bereits an dessen Basis als eine Verquickung von Geschichten und Erzählungen zu begreifen. Doch was bedeutet das Erzählen in und mit Lebensläufen für die Wirklichkeit und Realität, in der sich ein Subjekt befindet? Was für eine Theorie des Erzählens kann davon ausgehend konzipiert werden? Das fragt Kluge in seinem weiteren, öffentlichen Nachdenken. Für sich und für sein Verständnis des Erzählens sieht er

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an diesem Punkt eine nicht unerhebliche Differenz, die benannt werden muss: die Realität wird in gleichen Teilen von Härte und Brüchigkeit geprägt; Wirklichkeit ist dann einfach zu handhaben, wenn es um das bloße Aufzählen, Bilanzieren und Registrieren geht. Demgegenüber führen Gefühle zu einem „Antirealismus“: Am Ende des Tages sind Menschen dazu in der Lage, eine Wirklichkeit zu leugnen, die es nicht gut mit ihnen meint. In diesem Prozess offenbart sich für Kluge die Erzählung als eine Form der stillen Post. Mit jeder neuen Mitteilung führt sie zu einer neuen Beschreibung der Wirklichkeit. Eben dadurch, so Kluge, schaffen sich die Menschen angesichts der Wirklichkeit, die sie umgibt, einen persönlichen Ausweg, um weiterhin lebendig zu bleiben (Kluge 2013, 1. Vorlesung). Diese Beobachtung verdeutlicht, weshalb Kluge die Erzählung mit der Theorie und diese wiederum mit einer praktischen, damit auch politischen Handlungsorientierung in Verbindung bringt. Erzählen ist für ihn nicht nur Kunst, Amüsement und Zeitvertreib. Sie ist auch ein menschlicher Überlebensmodus. Nichts anderes als ein emotionales Bergwerk stellt für Kluge deshalb der Mensch dar. Das Subjektive (der Erzählung) ist letztlich genauso hart und stabil wie das Objektive (der Wirklichkeit), so der Schluss seiner ersten Vorlesung. In der zweiten Vorlesung, „Das Handwerkszeug für Text und Film“, geht Kluge den Arbeitsweisen in seinem Werk nach, die von Kluge-Forscher:innen oft als ein intermedialer Komplex verstanden werden (Cheon 2007, 7). Der Begriff der Poetik nimmt dabei eine besondere Rolle ein, weil er für ihn einen Gegenpol zum Begriff der Emotion darstellt. Auf den für Kluges Fernseharbeiten typischen Texttafeln, die der 2. Vorlesung auf der DVD vorangestellt sind, heißt es entsprechend: „Die Poetik selbst / Eine besondere Intensität des Gefühls nennen wir Denken / Einen besonderen Intensitätsgrad der Beobachtung und der Hingabefähigkeit der Sinne nennen wir Emotion“. Kluge verweist mit der Verbindung von Gefühlen und dem Denken sowie von Emotionen und dem Sinnlichen auf den künstlerischen Konflikt zwischen Ratio und Emotio, den es für ihn zu überwinden gilt. Zur Emotion heißt es daher weiter: „[S]ie ist dann nicht sentimental, sondern besteht aus Unterscheidungsvermögen und ist, gerade in ihrer poetischen Natur, die Schwester des Denkens“ (Kluge 2013, 2. Vorlesung). All das steht für Kluge in einem Zusammenhang mit der Erzählung, sei es die literarische oder die filmische. Denn beiden ist das gleiche Handwerkszeug, d. h. die Möglichkeit der Montage gegeben: „Zunächst geht es um die einzelnen Sätze / Sie verbinden sich durch Montage / Man kann auch von Architektur des Zusammenhangs und von Konstellationen sprechen“ (Kluge 2013, 2. Vorlesung). Im Unterschied zur Erzählung ist die Rolle der Poetik für Kluge nicht einfach zu beurteilen. Für ihn ist sie dezidiert kein Handwerkszeug im Sinne der Montage. Vielmehr ist sie der Ausdruck eines Widerstreits, eines Kriegs zwischen Subjektivität und Objektivität. Zum Poetischen gehört deshalb die Sucht (nicht Suche)

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nach einer Wahrheit in den objektiven Verhältnissen (Kluge 2013, 2. Vorlesung). Die Emotion erscheint für Kluge wiederum als das Unterscheidungsvermögen des Denkens, wodurch sich nachfolgende Beziehungskette ergibt: Poetik = Denken vs. Emotion (Schwester des Denkens) = Unterscheidungsvermögen. Die Erzählung zeigt sich hier nicht als eine objektive Information dieser Verhältnisse, sondern als subjektive Narration, als ein Ausdrucksvermögen derselben. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die konkreten Gegenstände einer Erzählung: Nicht nur die Literatur ist für Kluge eine Erscheinung des Poetischen. Auch die Mathematik besitzt für ihn zum Beispiel eine Poetik und Poesie, die gleichermaßen fasziniert. Doch letztlich, so Kluge, ist es das persönliche Arbeiten, das bestimmt, was poetisch ist. In diesem Prozess erscheint das Schreiben als eine körperliche Erfahrung, da für Kluge körperliches Bewusstsein und körperliche Konzentration (Anspannung) sowie Aufmerksamkeit wesentliche Merkmale der Poesie darstellen: Sie stehen am Beginn des poetischen Arbeitens, das so zu einem sinnlichen wird. In ihm gewinnt die Mündlichkeit einen besonderen Stellenwert, weil das Ohr, so Kluge, nicht derart träge ist wie das Auge, das 16 Bilder pro Sekunde nicht mehr voneinander unterscheiden kann – und damit erst die optische Illusion des Films ermöglicht (Kluge 2013, 2. Vorlesung). Das Sammeln, das Finden und der archäologische Blick stellen für Kluge weitere Prinzipien des Poetischen dar. Es sind Wege eines Umgangs mit der Welt, die nicht nur durch vielfältige, sondern zugleich auch zerrissene Lebensläufe gekennzeichnet ist. Und ein weiteres Mal erscheint für Kluge die Montage, die Grundform des Films, als ein Handwerkzeug auf, dem es möglich ist, die Fragmente der Wirklichkeit miteinander zu verbinden – was für ihn, Kluge, nicht gleichbedeutend mit einem Verständnis der Wirklichkeit ist. Im Film etwa drückt sich das über die Anwesenheit unsichtbarer, mithin imaginativer Bilder aus, die das sichtbare, visuelle Bild überschreiten; filmische Epiphanien, die für Kluge zu einem guten Kino führen, das sich u. a. im Werk von Jean-Luc Godard, Sergej Eisenstein oder Kluge selbst offenbart. All das ist für ihn filmspezifisch und kann auf diese Weise nicht in der Literatur gefunden werden. Doch im Internet, dem Medium der Gegenwart, können die Rohstoffe der Poesie ein weiteres Mal vorgefunden werden, so Kluge am Ende der zweiten Vorlesung. Dort benötigen sie „Oasen“, „Gärten“ im Netz, an denen sie zusammenkommen und das Internet schiffbar für menschliche Gefühle machen (Kluge 2013, 2. Vorlesung). Während die ersten beiden Vorlesungen Kluges vor allem der Theorie und damit der Konzeptualisierung seines eigenen Werks gewidmet sind, beschäftigen sich die beiden letzten Vorlesungen, „Die Wirklichkeitsmassen, die auf ihre Erzählung warten“ und „Die Unabweisbarkeit des Erzählens / Der Unterschied von Narration und Information“, mit dem Erzählen an sich, indem sie das Format der Vorlesung wörtlich begreifen: als einen Raum, in dem etwas vorgelesen wird, in

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dem die Wirklichkeit der Poetikvorlesung mit der Poetik der Erzählung zusammenfällt. Neben verschiedenen Kurzgeschichten, die Kluge seinem Publikum präsentiert, werden auch Filme und Sequenzen integriert, die aus den TV-Reihen 10 vor 11, Prime-Time/Spätausgabe oder News & Stories bekannt sind. Die Erzählung ist für ihn dabei eine persönliche Haltung, die nur schwer zum Gegenstand der Theorie werden kann (Kluge 2013, 4.Vorlesung). Und gleichzeitig vermag sie es jedoch, die Gegenstände, von denen sie erzählt, zu einer gemeinsamen Welt zusammenzuführen – unter der Bedingung, dass es ein Nicht-Erzähltes gibt, das im 21. Jahrhundert um ein Vielfaches größer geworden ist als es zuvor war: Texte, Bilder und Geschichten müssen für Kluge heute notwendigerweise über sich hinausweisen und Momente des Unheimlichen zulassen (Kluge 2013, 3. Vorlesung). Letztlich konstatiert Kluge, dass die Möglichkeitsformen der Gegenwart explodiert sind. Alles, was den Menschen in ihr in Bewegung setzt, muss, so sein Rückgriff auf Friedrich Engels, erst durch dessen Kopf hindurchgehen. In der Konsequenz bedeutet das für die Erzählung, dass linearen Erzählformen heute konstellative Erzählweisen gegenüberstehen. Wenn man daher mit den Stoffen, den Ereignissen – und wie sich ebenso ergänzen ließe: Medien – des 21. Jahrhunderts umgehen möchte, muss man ausnahmslos konstellativ, damit im Verbund von einzelnen Formen und Artefakten erzählen, die sich gravitativ auf ein gemeinsames Narrativ beziehen (Kluge 2013, 3. Vorlesung). Eine Erzählung ist so stets die Summe einzelner Teile. In diesem Sinne wird die Poetik, die Kluge zu Vorlesungsbeginn als eine Praxis der Theorie beschrieben hat, für ihn auch politisch. Und eben aus diesem Grund muss für ihn das Politische von jenem Klischee befreit werden, dass man immer schon zu wissen glaubt, was überhaupt politisch ist. Die Politik der Poetik, die Kluge in seiner letzten Vorlesung als ein Poetikmodell im Allgemeinen, sowie bezogen auf das eigene Werk im Speziellen, skizziert, muss kein Gemeinwesen im altgriechischen Sinne erschaffen; die Politik der Poetik ist für Kluge vielmehr auf verantwortungslose Weise frei. Dass das auch realiter zu einer praktischen Theorie führen kann, sieht Kluge abschließend in den Arbeiten von James Joyce, Kurt Schwitters, Hans G. Helms, Arno Schmidt oder Reinhard Jirgl belegt. In ihnen lässt sich eine Befreiung der Wörter vom Joch der Einheitlichkeit erkennen, die für ihn, Kluge, zum adäquaten Ausdruck der fragmentarischen Wirklichkeit der Gegenwart wird (Kluge 2013, 4. Vorlesung). Ihrer Verhandlung ist auch seine Poetik verpflichtet.

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4 Wim Wenders: Film/Geschichten erzählen Die Charles Eliot Norton Lectures an der Harvard University widmen sich seit 1925 der Auseinandersetzung mit dem Poetischen im weitesten Sinne: nicht nur Literatur, sondern auch andere Künste wie Malerei, Architektur oder Musik werden von den eingeladenen Vortragenden in zumeist sechs Vorlesungen untersucht. Erwin Panofsky, Leonard Bernstein, John Cage oder Herbie Hancock zeugen als Gäste der Norton Lectures vom weitgefassten Poetikbegriff, der im Rahmen der Vorlesungsreihe vertreten wird. 2017– 2018 stand im Gegensatz zu den Vorjahren nicht eine einzelne Künstler:in im Vordergrund, sondern ein Thema: Wide Angle: The Norton Lectures on Cinema. In diesem ging es um die Poetiken des Films wie auch des Filmemachens. Dazu wurden der US-amerikanische Dokumentarfilmer Frederick Wiseman, die belgisch-französische Regisseurin Agnès Varda sowie der deutsche Autorenfilmer Wim Wenders eingeladen. In jeweils zwei Vorlesungen gingen sie dem eigenen kinematographischen Werk als auch einer allgemeinen Poetik des Films auf die Spur. Gerade Wenders’ Vorlesungen versuchen Antworten zu finden, indem sie sich mit dem Sichtbaren und Unsichtbaren des Films sowie mit einer Poetik der Bewegung im Filmmedium beschäftigen. „The Visibile and the Invisible“ lautet der Titel von Wenders erster NortonVorlesung, die er ursprünglich als zweite geplant hat. In seiner Einführung erklärt er, dass ihm in der Auseinandersetzung mit den Poetiken des Films und seinen eigenen Arbeiten schnell die Erkenntnis ereilt hat, dass er nicht um das Sichtbare und das Unsichtbare im Film als Vorlesungsthemen herumkommen kann (Wenders 02.04. 2018). Wenders persönlich-professionelle Beschäftigung mit dem Film begann 1967/68, als er an der 1966 neu gegründeten Hochschule für Fernsehen und Film in München angenommen wurde. Die Poetik seiner Arbeiten aus dieser Zeit, studentische Kurzfilme wie Same Player Shoots Again (BRD 1968), ist, so Wenders Selbstdiagnose, noch ganz der Auseinandersetzung mit dem Sichtbaren verpflichtet. Er erklärt, dass für ihn damals die Welt des Films noch die Welt der sichtbaren Materialität gewesen ist. Seine Werke zeichnet deshalb eine Faszination mit materiellen Objekten und Oberflächen aus, die all das einschließen, was mit dem Blick der Kamera erfasst werden kann. Diese Obsession, wie Wenders weiter beschreibt, hat dazu geführt, dass in seinem bekannten Frühwerk Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (BRD 1970), basierend auf einer Erzählung von Peter Handke, zahlreiche Bilder existieren, deren alleinige Bedeutung in der filmisch sichtbaren Existenz von visueller Materialität liegt: Ein Apfel wurde im Film nur deshalb gefilmt, weil es sich um einen Apfel handelte (Wenders 02.04. 2018). Wenders frühe Filmpoetik ist damit eine Poetik des Materiellen sui generis. Keine

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Metaphysik, kein „Dahinter“ interessiert ihn in der Frühphase seines Filmschaffens. Erst mit Der Himmel über Berlin (BRD 1987) setzt eine Verschiebung in seiner persönlichen Filmpoetik ein, so Wenders. An die Seite des Sichtbaren tritt das Unsichtbare, nicht nur inhaltlich, wenn der Film von einer Welt erzählt, in der Engel unerkannt, mithin unsichtbar neben den Menschen existieren, in deren Leben intervenieren und versuchen, vom Unsichtbaren ins Sichtbare überzutreten; auch ästhetisch – und damit poetisch – hat das Unsichtbare für Wenders an diesem Punkt eine neue Bedeutung erlangt: die für das Kino einzigartige Funktion, Personen, Räume, Orte und Dinge zu verbinden und damit auch zu bewahren – eine Perspektive auf das Filmmedium, die schon zuvor im Rekurs auf Bazin vorgestellt wurde. Dass das ästhetische Filmerzählen als ein theoretisches Konzept überdies auch eine politische Praxis bedeutet, ist eine Haltung, die Wenders mit Alexander Kluge teilt. Seinen Film Invisible Crimes, den er als Beitrag für das Omnibusprojekt Invisibles (Spanien 2007) gedreht hat, versteht Wenders genau in diesem Sinn: In der filmischen Auseinandersetzung mit den Erfahrungen von „Ärzte ohne Grenzen“ in den Krisen- und Katastrophenregionen der Welt offenbart sich für ihn das besondere Vermögen des Filmmediums. Es kann sowohl durch die visuelle Anwesenheit als auch durch die visuelle Abwesenheit von Menschen und Dingen die komplexen Verhältnisse der Gegenwart zeigen – und damit bezeugen. Das hat für Wenders zur Konsequenz, dass das, was ein Film zeigt, d. h. was sich auch immer in einem Film materialisiert, zum Film selbst wird. Und gleichzeitig wird der Film wiederum zum Gegenstand der eigenen Darstellung, da er sich nur schwer von den Objekten seines Blicks distanzieren kann (Wenders 02.04. 2018). Woran sich das Publikum am Ende eines Films, eines Kinobesuchs erinnert, hat mit diesem Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu tun: Nicht konkrete Szenen, Montagetechniken oder Lichtverhältnisse bleiben laut Wenders im Kopf zurück, sondern eine innere Bewegung. Damit ist die emotionale Berührung des Publikums durch einen Film gemeint. Auch Kluge verwies auf dieses Moment, das er als ein wesentliches Charakteristikum nicht nur der eigenen, sondern einer filmischen, multimedialen Poetik im Allgemeinen beschrieb. In seiner zweiten Vorlesung „Poetry in Motion“ widmet sich Wenders deshalb noch stärker dem Aspekt der Bewegung und des „In-Bewegung-Setzens“. Bevor er jedoch dorthin kommt, beschließt er seine erste Vorlesung mit der nicht allzu einfachen Frage, was Filme für ihn – wie auch für andere – eigentlich sind. Neben der persönlich-emotionalen Erfahrung stellen Filme für Wenders das Ergebnis einer kollaborativen Anstrengung und Unternehmung dar. Gerade im gegenwärtigen Wandel vom Analogen zum Digitalen ist es wichtig, so Wenders weiter, dem historisch-kulturellen Mediengedächtnis Film diesen Übergang mit

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Vorsicht und Umsicht zu ermöglichen – denn Filme existieren nur dann, wenn Menschen sie auch ansehen können. Dabei darf das ‚Sehen‘ nicht mit einem physisch-biologischen Vorgang verwechselt werden. Es bedeutet vielmehr einen un/bewussten Prozess des Denkens, so Wenders, der Filme als eine Form der ästhetischen und emotionalen Erfahrung erst zum Leben erweckt (Wenders 02.04. 2018). Im Film geht es wie in der Literatur um ein „Zwischen-den-ZeilenLesen“, das im Film zu einem „Zwischen-den-Bildern-Lesen“ wird. Kollaborationen entstehen für Wenders dabei nicht nur zwischen einzelnen Akteur:innen im Produktionsprozess des Films; auch das Publikum ist durch ein körperliches und emotionales Investment fortwährend involviert. Angesichts der Umstände in der gegenwärtigen Welt kann es eben deshalb nicht mehr in und mit Filmen um die bloße Materialität des Sichtbaren gehen, sondern im Gegenteil um die Bedeutungen des Unsichtbaren. Was das für die Poetik des modernen Films in seinen und anderen Werken bedeutet, betrachtet Wenders in der zweiten NortonVorlesung. In der Lyrik, so der Autorenfilmer, finden Dinge einen Ausdruck, für die es eigentlich keine adäquaten Worte gibt. Die verwandtschaftliche Beziehung von „Poem“ und „Poetic“ im Englischen wirft für Wenders die Frage auf, ob es für sie im Filmischen eine Entsprechung gibt: Können einzelne Bilder etwas ausdrücken, was mit konventionellen Bildern nicht gesagt werden kann? Gibt es Analogien zur Dichtung und zu Gedichten im Filmischen, etwa Reime, Rhythmus oder lyrische Räume? Diese Überlegungen treiben Wenders in der Beschäftigung mit einer Poetik des Films in seinem eigenen Werk um. In der zweiten Norton-Lecture kommt er immer wieder auf den japanischen Filmemacher Yasujiro Ozu, sein künstlerisches Idol, zurück, um Antworten zu finden (Wenders 09.04. 2018). Für Wenders muss die Frage einer Poetik des Films entlang der folgenden Unterscheidung betrachtet werden: 1. Filme von Filmschaffenden, die ‚zuhause‘ bleiben und 2. Filme von Filmschaffenden, die in die Welt gehen. In beiden Gruppen von Filmemacher:innen findet für Wenders eine ‚Poetik in Bewegung‘ statt, die sich jedoch unterschiedlich entfaltet und Bewegung jeweils anders auffasst. Ozu besitzt für ihn vor allem mit Blick auf die erste Kategorie eine herausgehobene Position: Denn das Sujet aller seiner Filme ist, nicht mehr, aber auch nicht weniger, die japanische Familie. Mit Sorgfalt und Detailliebe, so Wenders, transzendiert jeder Film des Japaners den zunächst engen Raum seiner Beobachtungsgegenstände: aus der japanischen Familie wurde die Familie an sich und aus dem japanischen Vater wurde in Ozus Filmen eine Beschäftigung mit dem Vater an sich. In diesen gewöhnlichen und alltäglichen Themen sieht Wenders eine Poetik des Ordinären und Unspektakulären. Sie führt für ihn zugleich zu einer eigenen Form der (filmischen) Poesie (Wenders 09.04. 2018). So kehren in Ozus Filmen beispielsweise Figuren stetig zu den immer gleichen Orten zurück.

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Ihre kreisenden Bewegungen nach Hause, zurück in den Raum der Familie, stellen für Wenders das filmische Äquivalent für einen lyrischen Reim dar. Der Film ist deshalb wie das Gedicht die Form und Rahmung eines Inhalts, während die Figuren als filmische Stilmittel des lyrischen Ausdrucks erscheinen. Wenders konstatiert, dass in den Filmen Ozus, jenem Filmemacher, der nur ‚zuhause‘ geblieben ist, eine „Poetry in Motion“ deutlich zutage tritt: als visuell-materielle (= sichtbare) wie auch ästhetisch-argumentative (= unsichtbare) Bewegungen. Eine andere Form der „Poetry in Motion“ entdeckt Wenders in seinen eigenen Filmen, die Beispiele eines Filmemachers sind, der hinaus in die Welt gezogen ist. Im Lauf der Zeit (BRD 1976), ein Roadmovie mit Rüdiger Vogler und Hanns Zischler in den Hauptrollen, ist für ihn ein explizites Beispiel, das die Freiheit der filmischen Bewegung in seinem Werk verdeutlicht. Dieser Film, so Wenders, hat ihm gezeigt, dass „Poetry“ und damit Poetik in Bewegung auch bedeutet, Glück zu haben und Zufälle in der praktischen, damit poetischen Arbeit zuzulassen (Wenders 09.04. 2018). Noch deutlicher als in seinen fiktionalen Spielfilmen kommt das seiner Ansicht nach in der 3D-Dokumentation Pina (D 2011) zum Ausdruck, die der verstorbenen Choreographin Pina Bausch gewidmet ist. Die Bewegung des Zufalls ist in Pina eine Bewegung des Filmbildes, dem sich das Publikum mittels der 3D-Filmtechnik immersiv stellen kann. Für Wenders stellt 3D eine technische Lösung dar, ein filmpoetischer Trick, der ermöglicht, woran er zuvor gescheitert war: die verlustfreie Übersetzung einer Bewegungskunst (Tanz) in eine andere Bewegungskunst (Film). Am Ende seiner zweiten Norton-Vorlesung resümiert Wenders, dass der Film eine vollständige Kunst ist, in der die Story jedoch allzu oft die Oberhand gewinnt und so viele Dinge verhindert. Das ist für ihn gerade im gewöhnlichen Mainstream-Film zu beobachten: Die ästhetische und künstlerische Poetik des Films wird in diesem durch eine visuell und narrativ standardisierte und normalisierte Ökonomie des Erzählens stark reguliert und bisweilen sogar unmöglich gemacht. Nur wenige Ausnahmen, etwa einzelne Szenen in American Beauty (Sam Mendes, USA 1999), zeugen im populären Kino noch davon, dass es eine Poetik des Films gibt und dass sie möglich ist. Jede Intention, jeder bewusste Wille, so Wenders, kann nicht in dem Maße poetisch sein wie der Zufall, wie die Freiheit ohne ein Skript etwas künstlerisch zu erschaffen: Risse und Lücken sind für ihn deshalb letztlich immer poetischer als die Intention einer vorab formulierten Story.

5 Was bleibt: Poetiken des Films in Bewegung Das Erzählen stellt sowohl für Patrick Roth als auch für Alexander Kluge und Wim Wenders einen künstlerischen, mithin poetischen Akt dar, der nicht nur mit den

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Erfahrungen des Lebens verbunden ist, sondern sich aus diesen erst konstituiert: Erzählen bedeutet für sie, in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk und der eigenen Poetologie, die Welt zu erfahren; nicht nur intellektuell und philosophisch, sondern in einem weitaus größeren Maße auch körperlich. Der Akt des Erzählens wird für sie zu einer Bewegung des Subjekts, indem sich die Medien der Erzählung selber in Bewegung setzen. Dafür wenden sich Roth, Kluge und Wenders in unterschiedlichen Graden dem Film zu, jenem Erzählmedium der Moderne par excellence, das für den französischen Philosophen Gilles Deleuze mittels affektiver Bewegungs-Bilder (Deleuze 1989) sowie reflexiver Zeit-Bilder (Deleuze 1991) ein zutiefst philosophisches Medium darstellt. Das mehrdeutige „In-Bewegung-Setzen“ des Films (d. h. seiner Figuren und Bilder, aber auch seines Publikums) ist für alle drei hier besprochenen Künstler ein Prozess, durch den die Welt, in der sie und wir uns befinden, erfahrbar und veränderbar wird. Er schlägt sich in ihren jeweiligen Poetiken nieder und zeigt sich im Zusammenspiel bzw. Widerstreit zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren: Für Patrick Roth drückt es sich im metaphorischen Bild des Ab- und Aufstiegs in das sogenannte „Tal der Schatten“ aus, das sowohl den Prozess der Stofffindung als auch der Stoffentwicklung beschreibt. Bei Kluge und Wenders sind das Sichtbare und das Unsichtbare wiederum konkrete mediale Erscheinungen. Sie stehen für das Verhältnis der Bilder im Film, die nicht nur tatsächlich sichtbar sind, sondern auch über das optische Bild hinausgehen. Die Bilder des Films besitzen eine unsichtbare Bedeutung, bisweilen verschwinden sie sogar als Einzelerscheinung völlig, wenn das Publikum sie nicht mehr punktuell, sondern graduell, gravitativ und konstellativ (Kluge), in Bewegung wahrnimmt. Letztlich beruht die Poetik des Films bei Roth, Kluge und Wenders auf der Wahrnehmung, Anerkennung und Arbeit mit einer Bewegung des Lebens und der Welt, die im Moment der Erzählung zusammenkommen.

Literaturverzeichnis Bazin, André. „Die Ontologie des photographischen Bildes“. Was ist Film? Hrsg. von Robert Fischer. Berlin 2009 [1945]: 33 – 42. Bordwell, David. Narration in the Fiction Film. Madison, WI 1985. Bordwell, David, Janet Staiger und Kristin Thompson. The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960. London/New York 1985. Bordwell, David. „Historical poetics of cinema“. The Cinematic Text. Methods and Approaches. Hrsg. von R. Barton Palmer. New York 1989: 369 – 398. Cheon, Hyun Soon. Intermedialität von Text und Bild bei Alexander Kluge. Zur Korrespondenz von Früher Neuzeit und Moderne. Würzburg 2007. Deleuze, Gilles. Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt 1989.

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Deleuze, Gilles. Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt 1991. Elsaesser, Thomas. „The Stubborn Persistence of Alexander Kluge“. Alexander Kluge. Raw Materials for the Imagination. Hrsg. von Tara Forrest. Amsterdam 2012: 22 – 29. Kluge, Alexander. Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen. Berlin 2013. Reichmann, Wolfgang. Der Chronist Alexander Kluge. Poetik und Erzählstrategien. Bielefeld 2009. Roth, Patrick. Ins Tal der Schatten. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt 2002. Stanitzek, Georg: Essay – BRD. Berlin 2011. Streckhardt, Christoph. Kaleidoskop Kluge. Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln. Tübingen 2016. Tedjasukmana, Chris. Mechanische Verlebendigung. Ästhetische Erfahrung im Kino. Paderborn 2014. Thompson, Kristin. Breaking the Glass Armor: Neoformalist Film Analysis. Princeton, NJ 1988. Thompson, Kristin. „Neoformalistische Filmanalyse. Ein Ansatz, viele Methoden“. Montage AV 4.1 (1995): 23 – 62. Wenders, Wim. The Visible and the Invisible. https://mahindrahumanities.fas.harvard.edu/ event/wim-wenders-visible-and-invisible. https://www.youtube.com/watch?v=_0nGS_ RfONA.Vortrag am 02. 04. 2018 (16. Oktober 2020). Wenders, Wim. Poetry in Motion. https://mahindrahumanities.fas.harvard.edu/event/wimwenders-poetry-motion. https://www.youtube.com/watch?v=_0nGS_RfONA. Vortrag am 09. 04. 2018 (16. Oktober 2020).

Liste der Poetikprofessuren an Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz Augsburger Bert-Brecht-Gastprofessur 2008 Felicitas Hoppe

Bamberger Poetikprofessur 1986 1987 1989 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004

Eugen Gomringer Barbara Bronnen Lutz Rathenow Tankred Dorst Ingomar von Kieseritzky Gerhard Köpf Giwi Margwelaschwili Hans Joachim Schädlich Zsuzsanna Gahse Gerhard C. Krischker Michael Krüger Doris Runge Marcel Beyer Jan Koneffke Hans Wollschläger Adolf Muschg Bernhard Setzwein

2005 Uwe Timm 2006 Ulrike Draesner 2007 Hanns-Josef Ortheil 2008 John von Düffel 2009 Wilhelm Genazino 2010 Robert Schindel 2011 Anette Pehnt 2012 Thomas Glavinic 2013 Jenny Erpenbeck 2014 Peter Stamm 2015 Lukas Bärfuss 2016 Clemens Setz 2017 Kathrin Röggla 2018 Markus Orths 2019 Michael Köhlmeier 2020/2021 Jan Wagner 2021 Silke Scheuermann

Ricarda Huch-Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt der Technischen Universität Braunschweig 2015 Kristina Maidt-Zinke 2016 Annette Pehnt 2017 Marica Bodrožić

2018 Uljana Wolf 2019 Thomas Meinecke 2020 Sasha Marianna Salzmann

August Wilhelm von Schlegel-Gastprofessur für Poetik der Übersetzung der Freien Universität Berlin 2007/2008 2008/2009 2009/2010 2010/2011 2011/2012 2012/2013

Frank Günther Burkhart Kroeber Stefan Weidner Susanne Lange Olaf Kühl Rosemarie Tietze

https://doi.org/10.1515/9783110647884-033

2013/2014 2014/2015 2015/2016 2016/2017 2017/2018 2018/2019

Elisabeth Edl Anne Birkenhauer Frank Heibert Christian Hansen Esther Kinsky Gabriele Leupold

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Poetikprofessuren in Deutschland, Österreich und der Schweiz

2019/2020 Uljana Wolf 2020/2021 Andreas Tretner

2021/2022

Karin Betz

Gastprofessur für deutschsprachige Poetik der Stiftung Preussische Seehandlung an der Freien Universität Berlin [bis 2016 Heiner Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik der Freien Universität Berlin] 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

Herta Müller Durs Grünbein Ilija Trojanow Ulrich Peltzer Dea Loher Sibylle Lewitscharoff Thomas Lehr Rainald Goetz Lukas Bärfuss

2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021

Hans-Joachim Schädlich Olga Martynova Feridun Zaimoglu Ilma Rakusa Mario Poschmann Clemens J. Setz Thomas Meinecke Monika Rinck

Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur der Freien Universität Berlin 1998 Vladimir Sorokin 1999 Valentin Yves Mudimbe 1999/2000 Kenzaburo Oe 2000/2001 Scott Bradfield 2001 Sergio Ramírez 2001/2002 Marlene Streeruwitz 2002 Robert Hass 2002/2003 Yann Martel 2003 Alberto Manguel 2003/2004 Etgar Keret 2004 Feridun Zaimoglu 2004/2005 Nora Amin 2005 Michèle Métail 2005/2006 Amit Chaudhuri 2006 Dubravka Ugrešić 2006/2007 Fernando Pérez 2007 Nuruddin Farah 2007/2008 Sjón (Sigurjón Birgir Sigurðsson) 2008 László Krasznihorkai 2008/2009 Raoul Schrott 2009 Richard Powers 2009/2010 Mircea Cărtărescu 2010 Tomas Venclova

2010/2011 Sara Stridsberg 2011 Daniel Kehlmann, Adam Thirlwell 2011/2012 Nedim Gürsel 2012 Abdelwahab Meddeb 2012/2013 Andrew Sean Greer 2013 Javier Cercas 2013/2014 David Hinton 2014 Héctor Abad 2014/2015 Cécile Wajsbrot 2015 Viktor Jerofejew 2015/2016 Alice Oswald 2016 Teresa Präauer 2016/2017 Abdourahman Waberi 2017 Lavinia Greenlaw 2017/2018 Joshua Cohen 2018 Édouard Louis 2018/2019 Louis-Philippe Dalembert 2019 Rawi Hage, Madeleine Thien 2019/2020 Bernardo Carvalho 2020 Lina Meruane [pandemiebedingte Absage] 2020/2021 Samanta Schweblin 2021 Juan Gabriel Vásquez

Poetikprofessuren in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Thomas Kling-Poetikdozentur der Universität Bonn 2011 2012 2013 2014 2015

Stefan Weidner Barbara Köhler Oswald Egger Norbert Scheuer Marion Poschmann

2016 2017 2018 2019 2021

Esther Kinsky Christoph Peters Anja Utler Marcel Beyer Ulrike Almut Sandig

Dresdner Chamisso-Poetikdozentur 2000 2001 2004 2005 2006 2007

Yüksel Pazarkaya Carmine Gino Chiellino Adel Karasholi Illma Rakusa Vladimir Vertlib José F. A. Oliver

2008 2009 2010 2011 2020

Zsuzsanna Gahse Hussain Al-Mozany Ota Filip Francesco Micieli Artur Becker

Dresdner Poetikdozentur zur Literatur Mitteleuropas 1998 Gert Neumann 1999 Jiří Gruša 2000 Stefan Chwin

2001 Peter Härtling 2003 Petr Borkovec

Poet in Residence der Universität Duisburg-Essen 1975/1976 Martin Walser 1976 Peter Rühmkorf 1976/1977 Rolf Hochhuth 1977 Heinar Kipphardt 1977/1978 Herbert Heckmann 1978 Günther Herburger 1978/1979 Jurek Becker 1979 Nicolas Born 1979/1980 Reinhard Lettau 1980 Peter Bichsel 1980/1981 Hans Christoph Buch 1981/1982 Elmar Tophoven 1983/1984 Wilhelm Genazino 1984/1985 Rolf Haufs 1986/1987 Guntram Vesper 1987/1988 Dieter Wellershoff 1988/1989 Jürg Laederach 1989/1990 Günter Grass 1990/1991 Wilhelm Genazino 1991/1992 Peter Rühmkorf 1992/1993 Cees Nooteboom

1993/1994 Ursula Krechel 1994/1995 Uwe Kolbe 1995/1996 Keto von Waberer 1996/1997 Jochen Schimmang 1997/1998 Martin R. Dean 1998/1999 Thomas Meinecke 1999/2000 Ralf Rothmann 2000 Emine Sevgi Özdamar 2000/2001 Kirsten Boie 2001 Volker Braun 2001/2002 Robert Gernhardt 2002 Mike Nicol 2003 Friedrich Christian Delius 2003/2004 Brigitte Burmeister 2004 Georg Klein 2004/2005 Andreas Steinhöfel 2005 Yōko Tawada 2005/2006 Dagmar Leupold 2006 Friedrich Ani 2006/2007 Reto Finger 2006/2007 Hans-Ulrich Treichel

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Poetikprofessuren in Deutschland, Österreich und der Schweiz

2007 Terézia Mora 2007/2008 Zafer Senocak 2008 Jürgen Lodemann 2009 Barbara Köhler 2009/2010 Klaus Händl 2010 John von Düffel 2010/2011 Judith Kuckart 2011 Norbert Hummelt 2011/2012 Norbert Scheuer 2012 Guy Helminger 2012/2013 Reinhard Jirgl 2013 Antje Rávic Strubel 2013/2014 Bernhard Jaumann 2014/2015 Søren F. Fauth, Jürgen Nendza, Steffen Popp, Sabine Scho, Tom Schulz

2014/2015 Kathrin Röggla 2015 Marion Poschmann 2015/2016 Klaus Modick 2016 Lukas Bärfuss 2016/2017 Dorothee Elmiger, Reto Hänny 2017 Christof Hamann 2017/2018 Jörg Albrecht, Rainer Komers, Jonas Lüscher, Kathrin Passig 2018 Peter Wawerzinek 2018/2019 Peter Stamm 2019 Esther Kinsky 2019/2020 Alida Bremer 2020/2021 Sabine Gruber 2021 Michael Roes

Frankfurter Poetikvorlesungen 1959/1960 Ingeborg Bachmann 1960 Marie Luise Kaschnitz 1960/1961 Karl Krolow 1961 Pierre Bertaux, Yves Bonnefoy, Mathias Braun, Cecil Day Lewis 1963 Helmut Heißenbüttel 1964 Heinrich Böll 1964/1965 Hans Magnus Enzensberger 1966/1967 Reinhard Baumgart 1967 Wolfgang Hildesheimer 1967/1968 Hans Erich Nossack 1979 Uwe Johnson 1979/1980 Adolf Muschg 1980 Peter Rühmkorf 1980/1981 Martin Walser 1981 Günter Kunert 1981/1982 Peter Bichsel 1982 Christa Wolf 1982/1983 Wolfgang Koeppen 1983/1984 Peter Härtling 1984 Paul Nizon 1984/1985 Ernst Jandl 1985 Peter Härtling, Wolfgang Hildesheimer, Adolf Muschg 1985/1986 Hermann Burger 1986 Hermann Lenz 1986/1987 Hans Mayer 1987 Ludwig Harig

1987/1988 Hilde Domin 1988 Peter Sloterdijk 1988/1989 Christoph Meckel 1989 Jurek Becker 1989/1990 Günter Grass 1990 Hans Christoph Buch 1990/1991 Karl Dedecius 1992 Walter Jens 1992/1993 Dieter Kühn 1993 Klaus Hensel, Franz Hodjak, Werner Söllner, Richard Wagner 1993/1994 Oskar Pastior 1994/1995 Bodo Kirchhoff 1995 Wolfgang Hilbig 1995/1996 Dieter Wellershoff 1996 Rolf Hochhuth 1996/1997 Sarah Kirsch 1997/1998 Marlene Streeruwitz 1998 Rainald Goetz 1998/1999 Eva Demski 1999 Einar Schleef 1999/2000 Hans-Ulrich Treichel 2001 Robert Gernhardt 2001/2002 Patrick Roth 2003 Elisabeth Borchers 2003/2004 Tankred Dorst 2004 Angela Krauß 2004/2005 Monika Maron

Poetikprofessuren in Deutschland, Österreich und der Schweiz

2005 Robert Menasse 2005/2006 Wilhelm Genazino 2006 Andreas Maier 2006/2007 Urs Widmer 2007 Josef Winkler 2007/2008 Walter Kempowski [Absage wegen Tod des Dozenten] 2008 Eva Demski, Wilhelm Genazino, Andreas Maier, Urs Widmer, Josef Winkler 2008/2009 Werner Fritsch 2009 Uwe Timm 2009/2010 Durs Grünbein 2010 Navid Kermani 2010/2011 Ulrich Peltzer 2011 Sibylle Lewitscharoff 2011/2012 Thomas Meinecke 2012 Alexander Kluge 2012/2013 Michael Lentz

2013 Juli Zeh 2013/2014 Terézia Mora 2014 Daniel Kehlmann 2014/2015 Dominik Graf, Wolfgang Rihm 2015 Clemens Meyer 2015/2016 Marcel Beyer 2016 Katja Lange-Müller 2016/2017 Ulrike Draesner 2017 Michael Kleeberg 2017/2018 Silke Scheuermann 2018 Christian Kracht 2019 Guntram Vesper [krankheitsbedingte Absage] 2020 Christoph Ransmayr 2020/2021 Monika Rinck 2021 Judith Hermann [pandemiebedingte Absage] 2021/2022 Judith Hermann

Poetikvorlesung der Justus-Liebig-Universität Gießen 2002 Peter Kurzeck

Lichtenberg Poetikvorlesung Göttingen [bis 2011 Göttinger Poetikvorlesung] 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

Peter Rühmkorf Sten Nadolny Sarah Kirsch Friedrich Christian Delius Wilhelm Genazino Feridun Zaimoglu Raoul Schrott Daniel Kehlmann Eckhard Henscheid Peter Schneider

2009 2010 2011 2014 2016 2017 2018 2019 2020

Felicitas Hoppe John von Düffel Navid Kermani Marcel Beyer Carolin Emke Lukas Bärfuss Maxim Biller Monika Rinck Dietmar Dath

Grazer Vorlesungen zur Kunst des Schreibens 1985/1986 Klaus Hoffer 1987 Michael Scharang 1988 Libuše Moníková [Entfall] 1989 Julian Schutting 1990 Urs Widmer

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1991 Anselm Glück 1992 Evelyn Schlag 1993 Ilma Rakusa 1994 Franz Josef Czernin 1995 Peter Rosei 1996/1997 Raoul Schrott

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Poetikprofessuren in Deutschland, Österreich und der Schweiz

1998/1999 Anna Mitgutsch 2001 Franz Schuh 2017 Daniela Strigl 2018 Kathrin Passig

2019 Konrad Paul Liessmann 2020 Klaus Reichert 2021 Kathrin Röggla

Poesie & Poetik – Vorlesungen der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2001/2002 Wilhelm Bartsch, Karlhans Frank, Dorothea Iser, Christa Kozik, Klaus Meyer, Dieter Mucke, Henning Pawel, Thomas Rosenlöcher, Regina Rusch, Christina Seidel 2002/2003 Hannes Hüttner, Jürgen Jankofsky, Martin Meißner, Anja Tuckermann, Albert Wendt 2005/2006 Konrad Potthoff, Günter Saalmann, Thomas Schallnau 2006/2007 Georg Bydlinski, Paul Maar, Siegfried Maaß 2007/2008 Christoph Kuhn, Melanie Peter, Manfred Schlüter 2008/2009 Peter Abraham, Daniela Danz, Jacky Gleich 2009/2010 Birgit Herkula, Doris MeißnerJohannknecht, André Schinkel 2010/2011 Uschi Flacke, Elisabeth Nitz, Frantz Wittkamp

2011/2012 Juliane Blech, Heike Ellermann, Michael Ritter 2012/2013 Ingo Cesaro, Hans Joachim Gelberg, Diana Kokot, Henriette Sauvant 2013/2014 Sebastian Meschenmoser, Danilo Pockrandt, Suse Weisse 2014/2015 Isabel Pin, Thilo Reffert, Martina Wildner 2015/2016 Eva Muszinsky, Arne Rautenberg, Simone Trieder 2016/2017 Reiner Bonack, Stefanie Harjes, Ute Wegmann 2017/2018 Aljoscha Blau, Susan Kreller, Susanne Laschütza 2018/2019 Nikolaus Heidelbach, Johannes Herwig, Dagmar Petrick 2019/2020 Franziska Gehm, Uwe-Michael Gutzschhahn, Gundela Ihlefeldt 2020/2021 Thomas Bachmann, Andrea Karimé, Tobias Krejtschi

INPOET – Hamburger Gastdozentur für Interkulturelle Poetik 2011 Yōko Tawada 2012 Felicitas Hoppe

2014 Emine Sevgi Özdamar 2016 Zafer Senocak

Heidelberger Poetikdozentur 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001

Martin Walser Ulla Hahn Dieter Kühn Volker Braun Brigitte Kronauer Hanns-Josef Ortheil Michael Rutschky Eckhard Henscheid Ulla Berkéwicz

2003 2004 2006 2007 2008 2010 2012 2014 2015

Alexa Hennig von Lange Patrick Roth Louis Begley Alban Nikolai Herbst Peter Bieri Bernhard Schlink Patrick Roth Wilhelm Genazino Lutz Seiler

Poetikprofessuren in Deutschland, Österreich und der Schweiz

2016 Felicitas Hoppe 2017 Frank Witzel 2018 Maxim Biller

525

2019 Ulf Stolterfoht 2020/2021 [pandemiebedingte Absage] 2022 Nora Gomringer

Poetikdozentur am Literaturinstitut Hildesheim [bis 2011: Poetikdozentur der Universität Hildesheim] 2008 Patrick Roth 2009 Ulf Stolterfoht 2010/2011 Tobias Hülswitt

2018/2019 Melinda Nadj Abonji 2019 Esther Kinsky 2020/2021 Arne Rautenberg

Innsbrucker Poetik-Vorlesung 1984 Ernst Schönwiese 1985 Michael Scharag 1986 Julian Schutting 1986 Peter Rosei 1988 Marie-Thérèse Kerschbaumer 1989 Michael Köhlmeier 1990 Gerhard Jaschke 1991 Ingrid Puganigg 1992 Egon A.Prantl 1994 Renate Welsh 1995 Robert Schindel 1996/1997 Friederike Mayröcker 1997 Waltraud Anna Mitgutsch 1998 Christoph W. Aigner 1998/1999 Boško Tomašević 2000 Tuvia Rübner 2002 Martin Pichler

2005 Gert Jonke 2006 Franz Josef Czernin, Raoul Schrott 2007 Felicitas Hoppe 2008/2009 Ludwig Laher 2008 Kathrin Röggla 2010 Sepp Mall 2011 Alois Hotschnig 2012 Nevfel Cumart 2013 Andrea Winkler 2014 Elisabeth Reichart 2015 Erich Hackl 2016 Barbara Hundegger 2017 Anna Kim 2018 Julian Schuttig 2019 Oswald Egger 2021 Christoph W. Bauer

Internationale Jenaer Poetik-Vorlesungen „Zu Beförderung der Humanität“ 1993/1994 Wolf Biermann, Elazar Benyoëtz, Adolf Endler, Jürgen Fuchs, Pavel Kohout, Ludvîk Kundera, Herta Müller, Andrzej Szczypiorski 1995/1996 Marcos Aguinis, Milo Dor, István Eörsi, Daniil Granin, Uwe Grüning, Jiří Gruša, Imre Kertész, Lew Kopelew, Gott-

fried Meinhold, Lutz Rathenow, Tadeusz Różewicz, Hans Joachim Schädlich, Gabriele Stötzer, Joachim Walther 1999/2000 Bogdan Bogdanović, Tankred Dorst, Ivan Klima, Günter Kunert, Reiner Kunze, Hugo Loetscher 2001 Adolf Muschg, Ingo Schulze

526

Poetikprofessuren in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Poetik-Dozentur der Universität Koblenz-Landau 2010 Eugen Gomringer, Nora Gomringer 2011/2012 Karlheinz Ott, Theresia Walser 2012/2013 Tom Buhrow, Abbas Khider, Sabine Stamer 2013 Daniel Kehlmann 2013/2014 Éric-Emmanuel Schmitt 2014 Sibylle Lewitscharoff

2014/2015 Rafik Schami 2015/2016 Judith Holofernes 2016/2017 Friedrich Christian Delius 2017/2018 Sebastian Fitzek 2018/2019 Claus Peymann 2021 Regine Dura, Hans-Werner Kroesinger 2021/2022 Marc-Uwe Kling

Dozentur für Weltliteratur an der Universität zu Köln [2015 ersetzt durch das Literaturfestival Poetica] 2010 2011 2012 2013 2015

Daniel Kehlmann Péter Esterházy Sibylle Lewitscharoff Michael Lentz Yeşim Ağaoğlu, Jürgen Becker, Marcel Beyer, John Burnside, Lars Gustafsson, Yang Lian, Aleš Šteger, Pia Tafdrup, Adam Zagajewski 2016 Jurij Andruchowytsch, Bernardo Atxaga, Heinrich Detering, Lavinia Greenlaw, Georgi Gospodinow, Durs Grünbein, Navid Kermani, Michael Krüger, Martin Mosebach, Paul Muldoon, Ilma Rakusa, Monika Rinck, Ana Ristović, Sjón (Sigurjón Birgir Sigurðsson) 2017 Javier Bello, Michael Donhauser, Nurduran Duman, Maricela Guerrero, Gila

Lustiger, Angelika Meier, Zeruya Shalev, Eleni Sikelianos, Galsan Tschinag, Stefan Weidner, Lorenz Wilkens 2018 Jeffrey Angles, Anneke Brassinga, Teju Cole, Bei Dao, Kim Hyesoon, Hiromi Itō, Barbara Köhler, Morten Søndergaard, Monique Truong, Jan Wagner 2019 Mircea Cărtărescu, Oswald Egger, Christian Kracht, Mara Lee, Lebogang Mashile, Agi Mishol, Marion Poschmann, Jo Shapcott 2020 Xi Chuan, Tadeusz Dąbrowski, Erik Lindner, Luljeta Lleshanaku, Agi Mishol, Helen Mort, Herta Müller, Sergio Raimondi, Serhij Zhadan 2021 [pandemiebedingte Absage]

Leipziger Poetikvorlesung 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

Ingo Schulze Uwe Tellkamp Herta Müller Harry Rowohlt Brigitte Kronauer Herbert Grönemeyer Hartmut Lange

2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020

Dea Loher Karl Heinz Bohrer Doris Dörrie Michael Triegel Hans-Ulrich Treichel Adriana Hölszky pandemiebedingte Absage

Poetikprofessuren in Deutschland, Österreich und der Schweiz

527

Poetikdozentur der Akademie der Wissenschaften und der Literatur an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1980/1981 Jürgen Becker 1981/1982 Helmut Heißenbüttel 1982 Hans Jürgen Fröhlich 1982/1983 Hans Bender 1983 Walter Helmut Fritz 1983/1984 Paul Wühr 1984 Herbert Heckmann 1984/1985 Klaus Hoffer 1985 Ludwig Harig 1985/1986 Ralf Thenior 1986 Guntram Vesper 1986/1987 Christoph Meckel 1987 Eva Zeller 1987/1988 Franz Mon 1988 Gabriele Wohmann 1988/1989 Hans-Jürgen Heise 1989 Paul Wühr 1989/1990 Hilde Domin 1990 Dieter Hoffmann 1990/1991 Heinz Czechowski 1991 Zsuzsanna Gahse 1991/1992 Walter Helmut Fritz, Wulf Kirsten, Rainer Malkowski, Franz Mon, Guntram Vesper, Uwe Wittstock 1992 Harald Hartung, Herbert Heckmann 1992/1993 Elisabeth Borchers 1993 Ulrich Woelk 1993/1994 Michael Zeiler 1994 Dagmar Leupold 1994/1995 Harald Hartung 1995 Arnold Stadler 1995/1996 Durs Grünbein 1995 Hugo Dittberner 1996/1997 Thomas Kling 1997 Herbert Rosendorfer 1997/1998 Robert Schindel 1998 Brigitte Oleschinski 1998/1999 Matthias Politycki 1999 Zoe Jenny 2000 Marlene Streeruwitz

2000/2001 Daniel Kehlmann 2001 Rüdiger Safranski 2001/2002 Albert von Schirnding 2002 Thomas Hettche, Malin Schwerdtfeger 2001/2002 Andreas Maier 2003 Anne Weber 2003/2004 Michael Lentz 2004 Christoph Peters 2004/2005 Heinrich Detering 2005 Ulrike Draesner 2005/2006 Karl-Heinz Ott 2006 Hans Ulrich Treichel 2007 Felicitas Hoppe, Silke Scheuermann 2007/2008 Antje Rávic Strubel 2008 Anja Utler 2008/2009 Dirk von Petersdorff 2009 Franz Josef Czernin 2009/2010 Terézia Mora 2010 Angela Krauß 2010/2011 Steffen Jacobs 2011 Marcel Beyer 2011/2012 Ulrich Peltzer 2012 Lars Gustafsson 2012/2013 Hans Thill 2013 Jan Wagner 2013/2014 Navid Kermani 2014 Lutz Seiler 2014/2015 Ursula Krechel 2015/2016 Hanns-Josef Ortheil 2016 Yōko Tawada 2016/2017 Ulrike Almut Sandig 2017 Teresa Präauer 2017/2018 Marion Poschmann 2018 Philipp Schönthaler 2018/2019 Thomas Meinecke 2019 Sasha Maria Salzmann 2019/2020 Ernst Wilhelm Händler 2020/2021 Ernst-Wilhelm Händler 2021 Deniz Utlu

528

Poetikprofessuren in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Münchner Poetikvorlesungen 1987 Horst Bienek 1988 Hugo Loetscher 1989 Reiner Kunze

1990 Barbara Frischmuth, Sten Nadolny 2007/2008 Helmut Krausser

Oldenburger Poetikprofessur für Kinder- und Jugendliteratur 2004/2005 2005/2006 2006/2007 2007/2008

Paul Maar Mirjam Pressler Kerstin Boie Jutta Richter

2009 Lutz van Dijk 2010 Alexa Hennig von Lange 2011 Andreas Steinhöfel

Paderborner Gastdozentur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller 1983/1984 1984/1985 1985/1986 1986/1987 1987/1988 1988/1989 1989/1990 1990/1991 1991/1992 1993/1994 1994/1995 1995/1996 1996/1997 1997/1998 1998/1999 1999/2000 2000/2001 2001/2002 2002/2003

Max von Grün Erich Loest Peter Rühmkorf Peter Schneider Dieter Wellershoff Eva Demski Herta Müller Günter Kunert Uwe Timm Hanns-Josef Ortheil Friedrich Christian Delius Anne Duden Hartmut Lange Wilhelm Genazino Volker Braun Angela Krauß Arnold Stadler Josef Haslinger Marcel Beyer

2003/2004 2004/2005 2005/2006 2006/2007 2007/2008 2008/2009 2009/2010 2010/2011 2011/2012 2012/2013 2013/2014 2014/2015 2015/2016 2016/2017 2017/2018 2018/2019 2019/2020 2020/2021

Robert Schindel Ulrich Woelk Robert Menasse Judith Kuckart Werner Fritsch Albert Ostermaier Lea Singer Kathrin Röggla Doron Rabinovici Georg Klein Moritz Rinke Christoph Peters Thomas Brussig Marlene Streeruwitz Markus Orths Michael Roes Michael Kumpfmüller Feridun Zaimoglu

Poetikvorlesung an der Universität Rostock 2008 Ralf Thenior 2009 Heike Geißler 2010 Judith Zander

2011 Rolf Lappert 2012 Werner Fritsch

Saarbrücker Poetik-Dozentur für Dramatik 2012 Rimini Protokoll

2013 Roland Schimmelpfennig

Poetikprofessuren in Deutschland, Österreich und der Schweiz

2014 2015 2016 2017

Kathrin Röggla Albert Ostermaier Falk Richter Milo Rau

529

2018 She She Pop 2019 Rebekka Kricheldorf 2020 [pandemiebedingte Absage]

Stefan-Zweig-Poetikvorlesung Salzburg 2008 2010 2011 2012 2013 2014

Dzevad Karahasan Juri Andruchowytsch Ilma Rakusa Feridun Zaimoglu Ilija Trojanow Terézia Mora

2016 2017 2018 2019 2021

Maja Haderlap Ann Cotten Doron Rabinovici Zsuzsanna Gahse Jaroslav Rudiš

Tübinger Poetik-Dozentur 1996 João Ubaldo Ribeiro, Marlene Streeruwitz 1997 Tankred Dorst, Aleksandar Tišma 1998 Jacques Roubaud, Andrzej Szczypiorški, Yōko Tawada 1999 Günter Grass, Gerhard Köpf, Aras Ören 2000 Anna Maria Carpi, Batya Gur, Barbara Honigmann, Zoe Jenny, Herta Müller, Yōko Tawada, Dubravka Ugrešić, Alissa Walser 2001 Herta Müller, Peter Rühmkorf 2002 Juan Goytisolo, Amos Oz 2003 Susan Sontag, Peter Turrini, Adam Zagajewski 2004 André Heller 2005 Peter Bieri, Lars Gustafsson, Ruth Klüger, Doron Rabinovici 2006 Péter Esterházy, Terézia Mora 2007 llija Trojanow, Feridun Zaimoglu 2008 Kiran Nagarkar, Christoph Peters

2009 Jonathan Franzen 2010 Georg M. Oswald, Ilija Trojanow, Juli Zeh 2011 Dieter Asmus, Otto A. Böhmer, Brigitte Kronauer 2012 Christoph Ransmayr, Raoul Schrott 2013 Hans Magnus Enzensberger, Dirk von Petersdorff 2014 Priya Basil, Nii Parkes, Taiye Selasi, Chika Unigwe 2015 Kathrin Passig, Clemens Setz 2016 Vittorio Gallese, Siri Hustvedt 2017 Friedrich Ani, Arne Dahl, Håkan Nesser, Wolfgang Schorlau 2018 Uwe Timm, Frank Witzel 2019 Karl Ove Knausgård, Judith Schalansky 2020 Thomas Hettche, Eva Manesse [pandemiebedingte Absage]

Wiener Ernst-Jandl-Vorlesungen zur Poetik 2010 2011 2012 2013 2014 2015

Alexander Nitzberg Brigitte Kronauer Ferdinand Schmatz Marcel Beyer Elfriede Czurda Peter Rosei

2016 2017 2018 2019 2020 2021

Barbara Köhler Valeri Scherstjanoi Peter Waterhouse Michael Lentz Michael Donhauser Franzobel

530

Poetikprofessuren in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Poetikdozentur: Junge Autoren der Fachhochschule Wiesbaden 2004/2005 Peter Stamm 2005 Felicitas Hoppe 2005/2006 Daniel Kehlmann 2006 Julia Franck 2006/2007 Albert Ostermaier 2007 Sudabeh Mohafez 2007/2008 Andreas Maier 2008 Annette Pehnt 2008/2009 Michael Lentz 2009 Ulrike Draesner 2009/2010 Marcel Beyer

2010/2011 2011/2012 2012/2013 2013/2014 2014/2015 2015/2016 2016/2017 2017/2018 2018/2019 2020/2021 2021/2022

Antje Rávic Strubel Thomas Glavinic Silke Scheuermann Thomas von Steinaecker Marica Bodrožić Kristof Magnusson Judith Schalansky Jan Wagner Nora Bossong Saša Stanišić Nino Haratischwili

Zürcher Poetikvorlesung 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

Anne Duden Winfried Georg Sebald Volker Braun Monika Maron Robert Schindel Ralph Dutli Barbara Honigmann Franz Hohler Christoph Ransmayr Hanns-Josef Ortheil Durs Grünbein Herta Müller Michael Donhauser

2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021

Marcel Beyer Paulus Hochgatterer Sibylle Lewitscharoff Brigitte Kronauer Lukas Bärfuss Georg Klein Aris Fioretos Kathrin Röggla Saša Stanišić Melinda Nadj Abonji Marion Poschmann Madame Nielsen Teresa Präauer

Liste der Poetikprofessuren an Universitäten in den USA Charles Eliot Norton Lectures, Harvard University 1926/1927 Gilbert Murray 1927/1928 Eric Maclagan 1929/1930 H. W. Garrod 1930/1931 Arthur M. Hind 1931/1932 Sigurður Nordal 1932/1933 T. S. Eliot 1933/1934 Laurence Binyon 1935/1936 Robert Frost 1936/1937 Johnny Roosval 1937/1938 Chauncey Brewster Tinker 1938/1939 Sigfried Giedion 1939/1940 Igor Strawinsky 1940/1941 Pedro Henriquez Ureña 1947/1948 Erwin Panofsky 1948/1949 C. M. Bowra 1949/1950 Paul Hindemith 1950/1951 Thornton Wilder 1951/1952 Aaron Copland 1952/1953 E. E. Cummings 1953/1954 Herbert Read 1955/1956 Edwin Muir 1956/1957 Ben Shahn 1957/1958 Jorge Guillén 1958/1959 Carlos Chávez 1960/1961 Eric Bentley 1961/1962 Félix Candela, Buckminster Fuller, Pier Luigi Nervi 1962/1963 Leo Schrade 1964/1965 Cecil Day-Lewis 1966/1967 Meyer Schapiro 1967/1968 Jorge Luis Borges

https://doi.org/10.1515/9783110647884-033

1968/1969 Roger Sessions 1969/1970 Lionel Trilling 1970/1971 Charles Eames 1971/1972 Octavio Paz 1973/1974 Leonard Bernstein 1974/1975 Northrop Frye 1977/1978 Frank Kermode 1978/1979 James Cahill 1979/1980 Helen Gardner 1980/1981 Charles Rosen 1981/1982 Czesław Miłosz 1983/1984 Frank Stella 1985/1986 Italo Calvino 1987/1988 Harold Bloom 1988/1989 John Cage 1989/1990 John Ashbery 1992/1993 Umberto Eco 1993/1994 Luciano Berio 1994/1995 Nadine Gordimer 1995/1996 Leo Steinberg 1997/1998 Joseph Kerman 2001/2002 George Steiner 2003/2004 Linda Nochlin 2006/2007 Daniel Barenboim 2009/2010 Orhan Pamuk 2011/2012 William Kentridge 2013/2014 Herbie Hancock 2015/2016 Toni Morrison 2017/2018 Agnès Varda, Wim Wenders, Frederick Wiseman 2021/2022 Laurie Anderson

Beiträger und Beiträgerinnen Birgfeld, Johannes, Dr., Universität des Saarlandes Blank, Juliane, PD Dr., Universität des Saarlandes Bohley, Johanna, Dr., Friedrich-Schiller-Universität Jena Bohn, Carolin, Dr., Technische Universität Braunschweig David-Erb, Melanie, Dr., Goethe-Universität Frankfurt am Main Dürr, Claudia, Dr., Universität Klagenfurth Erb, Andreas, Dr., Universität Duisburg-Essen Ernst, Thomas, Prof. Dr., Universiteit Antwerpen Genz, Julia, Prof. Dr., Universität Witten/Herdecke Gregor, Felix T., Dr., Universität Bayreuth Gunreben, Marie, Dr., Universität Konstanz Hachmann, Gundela, Dr., Associate Professor, Louisiana State University Hamilton, John T., Prof. Dr., William R. Kenan Professor of German and Comparative Literature, Harvard University Horstkotte, Silke, Prof. Dr., Universität Leipzig Kempke, Kevin, Dr., Universität Stuttgart Kita-Huber, Jadwiga, Prof. Dr., Uniwersytet Jagielloński w Krakowie Komfort-Hein, Susanne, Prof. Dr., Goethe-Universität Frankfurt am Main Kyora, Sabine, Prof. Dr., Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Lehmann, Florian, M.A., Universität Duisburg-Essen Meiser, Katharina, Dr., Universität des Saarlandes Parr, Rolf, Prof. Dr., Universität Duisburg-Essen

https://doi.org/10.1515/9783110647884-034

534

Beiträger und Beiträgerinnen

Reents, Friederike, Prof. Dr., Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Schmitz-Emans, Monika, Prof. Dr., Ruhr-Universität Bochum Schöll, Julia, Prof. Dr., Technische Universität Braunschweig Steierwald, Ulrike, Prof. Dr., Leuphana Universität Lüneburg Svendsen, Christina, Dr., Assistant Professor, Baldwin Wallace University Waldow, Stephanie, Prof. Dr., Universität Augsburg Willer, Stefan, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin Wohlleben, Doren, Prof. Dr., Philipps-Universität Marburg

Autorenregister Allende, Isabel 76 Aristoteles 4, 37, 48 f., 82, 167, 171, 196, 308, 327, 470 Arnold, Matthew 39 – 43, 46 f., 49 f., 286, 407 – 409 Atwood, Margaret 74, 417 Bachmann, Ingeborg 8, 10, 12 – 14, 18 – 21, 92 – 94, 98 f., 114 – 120, 125, 130 – 134, 137, 143, 181, 183, 198 – 200, 202, 236 f., 251, 256, 297 – 303, 308, 318, 320, 322, 327 – 331, 333 – 337, 339, 341 f., 362, 367, 376, 418, 423 f., 431 Balfour, Arthur James 43 Barenboim, Daniel 74 f., 463 Bärfuss, Lukas 279 Baumgart, Reinhard 200, 249 Becker, Jurek 8 f., 193 f., 200, 244, 317, 321 Begley, Louis 263 f., 274 f. Bellow, Saul 162 Benda, Julien 42 Bernstein, Leonard 69, 462, 464, 467, 513 Beyer, Marcel 122, 214 f., 304 Bichsel, Peter 97, 172, 194, 298 Biller, Maxim 161 f., 252 Binyon, Laurence 41, 46, 50 – 52, 473 Bloom, Harold 70 f., 153, 362, 491 Bodrožić, Marica 218 Böll, Heinrich 13, 16 f., 117 f., 120, 160, 236 f., 328, 352, 376, 401 Borchers, Elisabeth 234, 242 – 246 Borges, Jorge Luis 41, 65, 193 f., 198 f., 245 f., 267, 271, 377 Bowra, Cecil Maurice 60 Braun, Volker 91, 102, 158, 279, 418 Bremer, Alida 442, 449 f. Buch, Hans Christoph 15 Burger, Hermann 156 f., 168, 170 – 176, 241 Bury, John B. 44 Cage, John 69, 134, 513 Cahill, James 70 Calvino, Italo 68 f., 348 f., 466 https://doi.org/10.1515/9783110647884-035

Chávez, Carlos 63, 461 f. Chiellino, Carmine Gino 439 Cotten, Ann 327, 418 Cummings, Edward Estlin 65, 111 – 114, 116, 119 f., 193, 199 f., 202 Davies, Robertson 71 Day-Lewis, Cecil 63 Domin, Hilde 96, 98, 297, 302 – 304, 319 f. Dorst, Tankred 279, 285 f., 288, 292 Draesner, Ulrike 116, 129, 141, 158 f., 327, 334, 339 – 342 Duden, Anne 132, 136 Düffel, John von 279, 422, 429 Eames, Charles 70 Eco, Umberto 69 Eliot, Thomas Stearns 41, 47, 50, 52, 151, 189, 279, 362, 370, 409, 457, 469, 481 Enzensberger, Hans Magnus 8, 88, 94 f., 236 – 238, 300, 316, 330, 362 Erpenbeck, Jenny 16, 327, 338 Franzen, Jonathan 113, 168, 229, 273 Frischmuth, Barbara 382 Fritsch, Werner 279 Frost, Robert 48, 50 Frye, Northrop 41, 66, 70, 346 – 351, 355, 358 f. Fulford, Robert 73 Galsworthy, John 45, 52 Gardner, Helen 68 Garrod, Heathcode William 41, 49 Gaudi, Antoni 51 Geikie, Archibald 43, 45 Genazino, Wilhelm 160 Gernhardt, Robert 127, 160 Giedion, Sigfried 51 f., 489 – 493, 495 – 500 Gladstone, William E. 39 Glavinic, Thomas 194, 253, 315, 317 Goetz, Rainald 14, 21, 121 f., 140, 225, 279, 284 f., 289

536

Autorenregister

Gomringer, Eugen 304, 332 Gomringer, Nora 304, 382, 387 Gopnik, Adam 74, 407, 415 – 417 Gordimer, Nadine 72 Graf, Dominik 214 Granville-Barker, Harley 45, 279, 281 f. Grass, Günter 113 f., 157, 279, 283, 292, 318 – 320, 328, 393 f., 396 – 399, 405 Greenblatt, Stephen 74 Grünbein, Durs 19, 130, 149, 152 – 154, 201, 214, 308, 314 f., 327, 336 – 338, 342, 371 f., 378 Gruša, Jiří 19 Guillen, Jorge 65 Habermas, Jürgen 39 f. Haderlap, Maja 382 Hadow, Henry 45 f. Hamann, Christof 382 Hancock, Herbie 75 f., 513 Harig, Ludwig 96 f. Härtling, Peter 366 f. Haslinger, Josef 421 Heißenbüttel, Helmut 15 f., 19, 88, 94 f., 121, 195 – 197, 199, 203, 304 – 307, 327, 330 – 334, 336 f., 342, 407, 410 – 412, 508 Henriquez-Ureña, Pedro 52 f. Hilbig, Wolfgang 99, 255 Hildesheimer, Wolfgang 8 f., 19, 100, 194, 279 Hill, Lawrence 74, 407, 415 – 417 Hind, Arthur M. 48, 52 Hindemith, Paul 65, 458 – 461, 463 f., 466 f. Hochhuth, Rolf 194, 245, 279, 286 – 290, 292, 367 – 369 Honigmann, Barbara 161, 382 Hoppe, Felicitas 159 f., 215, 263, 275 f., 382 Hugo, Victor 43 Hunt, William 41, 43 Huxley, Thomas Henry 41, 408 – 410 Jandl, Ernst 21, 96 f., 100, 133 – 138, 160, 173, 298, 304 f. Jebb, Richard Claverhouse 41, 43 Jens, Walter 154 – 156, 303 Jirgl, Reinhard 512

Johnson, Uwe 12, 95 f., 99, 239, 245, 254 f., 328, 424 – 427, 432 Kaschnitz, Marie Luise 93 f., 98, 115, 236, 251, 300, 330 Kehlmann, Daniel 9, 12 f., 16, 18 – 21, 193 – 195, 201, 204, 215, 263, 271 – 273, 275, 280, 376 – 378 Kempowski, Walter 186 Kentridge, William 75, 472, 475, 477 f., 483 – 485 Kerman, Joseph 74 Kermani, Navid 16, 21 Kermode, Frank 70, 74, 159 King, Thomas 73 f. Kipphardt, Heinar 280 Kirchhoff, Bodo 125, 135 – 137, 435 Kirsch, Sarah 7 f., 22, 99, 297 Kling, Thomas 100, 139 f., 143, 304 Kluge, Alexander 214, 225, 228, 309, 400 f., 504 f., 508 – 512, 514, 516 f. Klüger, Ruth 308 Koeppen, Wolfgang 97, 155 Köhlmeier, Michael 225, 382 Kolbe, Uwe 382 Kracht, Christian 90, 156 – 158, 168 f., 188 f., 219, 229, 252, 254 – 256, 433 – 435 Krauß, Angela 138, 168, 170 – 173 Krausser, Helmut 280 Kricheldorf, Rebekka 280 Krolow, Karl 93 f., 251, 304 f., 332, 363 Kunert, Günter 96, 302 Kurzeck, Peter 186 Lange, Hartmut 382, 387 Lanzmann, Claude 76 Lee, Spike 76 Lentz, Michael 136, 139, 141 Lenz, Hermann 151, 255, 316 Lessing, Doris 67, 417 Lewitscharoff, Sibylle 225, 381 – 384, 386 Liessmann, Konrad Paul 200 Loher, Dea 280 Maclagan, Eric

49

Autorenregister

Maier, Andreas 11, 185 – 188, 203, 255, 382, 387 Manguel, Alberto 73 Maron, Monika 168, 170, 174 f., 314 f. Masefield, John 44, 279, 281 Massey, Vincent 58, 66 f., 70, 73 f., 279, 369, 407, 416 f., 489, 492 f., 495, 498 – 500 Mayer, Hans 155, 426 Meckel, Christoph 365 f., 378 Medawar, Peter 61, 407 – 410 Meinecke, Thomas 122, 140 f., 173, 205 f., 217, 225 – 227, 363, 374 – 376 Menasse, Robert 119, 194, 201, 203, 314, 321 f., 324 Meyer, Clemens 140 Meyer, Leonard 69 Mill, John Stuart 40 f. Miłosz, Czesław 68, 393 – 396, 405 Mora, Terézia 16, 21, 263 – 266, 268 f., 431 – 433, 440, 442, 444 – 447, 450 Morrison, Toni 72 f., 161, 393 f., 402 – 405 Muir, Edwin 41, 61, 63, 346 – 348, 351 – 355, 357 – 359 Müller, Herta 442, 447 – 450 Murray, Gilbert 48 Muschg, Adolf 96, 176 f., 302 Nadolny, Sten 197, 199, 203 Nervi, Pier Luigi 62, 489 – 493, 495 – 497 Nochlin, Linda 75, 472, 480 Nordal, Sigurður 48, 50 Norton, Charles Eliot 37, 46 – 53, 57 – 59, 62, 64, 67 – 72, 74 – 77, 111, 128, 193, 202, 236, 265, 269, 279, 394, 402, 457 – 461, 463 – 467, 469 f., 472 – 474, 479, 489 – 493, 496, 498 f., 513, 515 f. Nossack, Hans Erich 238, 400 f. Oliver, José Francisco Agüera 430 Ortheil, Hanns-Josef 21 Orths, Markus 193, 204 – 206 Ostermaier, Albert 280, 292 Oswald, Georg M. 9, 16, 315 Özdamar, Emine Sevgi 280

537

Pamuk, Orhan 71, 263, 265 – 271, 273 – 275, 473 f., 479 f., 483 Panofsky, Erwin 60, 480, 513 Paz, Octavio 68 Peltzer, Ulrich 263, 270 f. Petersdorff, Dirk von 8 Peymann, Claus 280 Politycki, Matthias 313 – 315 Poschmann, Marion 382, 388 – 390 Rabinovici, Doron 439, 444, 446 f. Rancière, Jacques 42 f., 48, 316, 324 Ransmayr, Christoph 101, 142, 213, 229, 256 Rau, Milo 280, 289, 291 f. Read, Herbert 61 Richter, Falk 91, 280, 288 – 291, 439 Rimini Protokoll, Künstlergruppe 280, 288, 292 Rinck, Monika 143, 307 – 309, 407, 415, 417 f. Rinke, Moritz 280 Röggla, Kathrin 16, 22, 215, 225, 227 f., 280, 288 f., 292, 316, 321 – 323 Romanes, George John 37 – 39, 43, 45 – 47, 49 f., 52, 57 f., 60 f., 66, 76, 236, 279, 281, 409, 469, 473 Roosval, Johnny 50 Rosen, Charles 69, 463, 470 Roth, Patrick 381 f., 384 – 386, 504 – 508, 516 f. Rühmkorf, Peter 96 f., 240, 298, 346 – 348, 351 f., 355 – 359 Rushdie, Salman 72 Ruskin, John 47 Salzmann, Sasha Marianna 218, 280 Samuel, Viscount 60, 98 f. Schimmelpfennig, Roland 280, 288, 291 f. Schindel, Robert 161 Schirnding, Albert von 253 Schleef, Einar 280, 285 Schrade, Leo 61 Schulze, Ingo 196, 317 Sebald, Winfried Georg 99, 376, 393 f., 399 – 402, 405 Seiler, Lutz 253

538

Autorenregister

Sessions, Roger 64, 463 f. Shahn, Ben 63, 474 – 479, 481 f., 485 Shakespeare, William 37, 44 f., 74, 159, 279, 281, 376 f. Shapiro, Meyer 62 She She Pop, Performance-Kollektiv 280, 292 Snow, C. P. 39, 407 – 410, 496 Steiner, George 70, 73 f. Stella, Frank 70, 479, 482 f., 485 Stillman, Charles Chauncey 47 – 49, 236, 457, 491 Strawinsky, Igor 51 f., 69 Streeruwitz, Marlene 99, 117 – 120, 255 f., 280, 283 f., 292, 314, 316, 324, 327, 333 – 337, 339 f., 342 Tanner, Obert 58, 66 – 69, 71 f., 74, 76, 159, 161, 279 Tawada, Yōko 141, 280, 372 – 374, 378, 441 – 447, 450 Timm, Uwe 10 f., 280 Tinker, Chauncey Brewster 51 f., 473 Tovey, Donald Francis 46 Treichel, Hans-Ulrich 421 Triegel, Michael 472 Trilling, Lionel 40, 68

Trojanow, Ilija 382, 389 f., 430 Turrini, Peter 280 Utler, Anja

418

Varda, Agnès 77, 513 Vertlib, Vladimir 428 – 430 Wagner, Jan 304, 427, 472, 477 Walser, Martin 95, 97, 237 Walser, Theresia 280 Wellershoff, Dieter 193, 195, 201 – 203 Wenders, Wim 77, 504 f., 513 – 517 Widmer, Urs 280 Wilder, Thornton 62 f. Wiseman, Frederick 77, 513 Witzel, Frank 263, 267 f. Woelk, Ulrich 407, 410, 414 f. Wohmann, Gabriele 241 Wolf, Christa 12 f., 13, 15, 96 – 99, 117 – 120, 168, 171 – 174, 177, 183 f., 215, 236, 238, 298, 302, 339, 364, 378 Wolf, Uljana 218 Wright, Frank Lloyd 51 Zeh, Juli 8 f., 15 f., 21, 121 f., 194 f., 202 – 204, 206, 215, 224, 256, 280, 297, 315, 317