Räume in der Kunst: Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe [1. Aufl.] 9783839415955

Der aktuelle Raumdiskurs wird in diesem Band aus einer interdisziplinären Perspektive erkundet. Die künstlerischen, kuns

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German Pages 304 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Räume in der Kunst. Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe
The Silence
Der audio-visuelle Raum. Pina Bauschs Choreographie »Blaubart – Beim Anhören einer Tonband-Aufnahme von Béla Bartóks Oper ›Herzog Blaubarts Burg‹«
Choreographien der Leere. Zur Eröff nung des Jüdischen Museums und des Neuen Museums in Berlin
»Ich habe immer umgekehrt gedacht: Jeder Raum ist ein isolier ter Raum, ein Haus, ein Wohnzimmer.«
Michel Foucaults Panoptismus
»Es ist, als wollten die Wände die Werke ansaugen« Skulptur und Raum im Wilhelm-Lehmbruck-Museum
»Tatort Paderborn«
Venezia 2007. Kunst im öff entlichen Raum: La Biennale di Venezia
Interventionen im öffentlichen Raum skulpturale Fragen – Standpunkte im freien Fall
Die Skulptur und ihr Gegenüber. Interventionen in den ästhetischen Erfahrungsraum des Betrachters in Werken von Franz Erhard Walther, Erwin Wurm und Studierenden des Faches Kunst
Bühne, Labor, Wohnzimmer. Raumerkundungen und -bewegungen im Werk von Sigmar Polke
Politisierung des Raums. Stereoskopie im »Dritten Reich«
Quellcode der Orientierung: Ein Entwurf des Leon Battista Alberti
Was ist Raum um 1300? Zum ›festen‹ Mutterhaus Giottos
Zu den Autorinnen und Autoren
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Räume in der Kunst: Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe [1. Aufl.]
 9783839415955

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Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.) Räume in der Kunst

Image | Band 11

Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.)

Räume in der Kunst Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Paderborn/ Kulturwissenschaftliche Fakultät

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Entstanden im Rahmen der »SILOGESPRÄCHE«, Fach Kunst/Universität Paderborn, 2008-2009 Innenlayout Beitrag Evanthia Tsantila: Thomas Stricker, Hartmut Wilkening Lektorat: Sabiene Autsch, Sara Hornäk Korrektorat: Jens Ossadnik, Aach Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1595-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Räume in der Kunst Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe Sabiene Autsch, Sara Hornäk | 7

The Silence Evanthia Tsantila | 17

Der audio-visuelle Raum Pina Bauschs Choreographie »Blaubart – Beim Anhören einer Tonband-Aufnahme von Béla Bartóks Oper ›Herzog Blaubarts Burg‹« Petra Maria Meyer | 29

Choreographien der Leere Zur Eröffnung des Jüdischen Museums und des Neuen Museums in Berlin Isa Wortelkamp | 53

»Ich habe immer umgekehrt gedacht: Jeder Raum ist ein isolierter Raum, ein Haus, ein Wohnzimmer.« Jan Hoet im Gespräch mit Sabiene Autsch | 69

Michel Foucaults Panoptismus Hartmut Wilkening | 83

»Es ist, als wollten die Wände die Werke ansaugen« Skulptur und Raum im Wilhelm-Lehmbruck-Museum Christoph Brockhaus im Gespräch mit Sara Hornäk | 97

»Tatort Paderborn« Andrea Brockmann | 119

Venezia 2007 Kunst im öffentlichen Raum: La Biennale di Venezia Gabriele Huber | 135

Interventionen im öffentlichen Raum skulpturale Fragen – Standpunkte im freien Fall Thomas Stricker | 153

Die Skulptur und ihr Gegenüber Interventionen in den ästhetischen Erfahrungsraum des Betrachters in Werken von Franz Erhard Walther, Erwin Wurm und Studierenden des Faches Kunst Sara Hornäk | 165

Bühne, Labor, Wohnzimmer Raumerkundungen und -bewegungen im Werk von Sigmar Polke Sabiene Autsch | 187

Politisierung des Raums Stereoskopie im »Dritten Reich« Jens Schröter | 211

Quellcode der Orientierung: Ein Entwurf des Leon Battista Alberti Tristan Thielmann | 231

Was ist Raum um 1300? Zum ›festen‹ Mutterhaus Giottos Karin Leonhard | 251

Zu den Autorinnen und Autoren | 295

Räume in der Kunst Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe Sabiene Autsch, Sara Hornäk

Ob wir in einer »Epoche des Raums« leben, sei zunächst einmal dahingestellt. Sicher scheint jedoch, dass unser Alltagsleben und unsere Lebensräume, unsere Sprache und Kultur, Erfahrungen und Erinnerungen stark von Kategorien des Raums dominiert und in Relation zu ihm diskutiert werden. Daraus hat sich ein Bewusstsein von Raum, ein »Denken im Räumlichen«, als eine Ordnungs- bzw. Orientierungsgröße herauskristallisiert, die wir im Kontext der Kunst erörtern. Wie lassen sich räumliche Veränderungen in Lebenswelten ästhetisch erfahren, Raumprozesse und Raumkonstellationen künstlerisch erforschen, analysieren und visualisieren? Mitte der 1980er Jahre setzte im deutschsprachigen Raum eine verstärkte Beschäftigung und disziplinübergreifende Verwendung von Raum und Räumlichkeit in den Kultur- und Sozialwissenschaften ein. Damit sind jene Umschläge, also turns, angesprochen, die den Paradigmensprung im Sinne von dynamischen Richtungswechseln und Neuorientierungen markieren und dabei die soziale Konstituierung des Räumlichen, d.h. die Produktion von Raum, in den Blick gerückt haben (vgl. H. Lefebvre). Kategorienkritik und Methodenerweiterung der turns haben dazu geführt, dass der etablierte Theoriekanon der Leitwissenschaften aufgebrochen wurde. Der spatial turn, verstanden als »Wende zum Raum«, ist zugleich eng verbunden mit einem Perspektivenwechsel, der sich auch infolge medialer Technologien und digital basierter Kommunikations- und Vermittlungsprozesse seit den 1990er Jahren in den Kulturwissenschaften entwickelte. Mit diesem Richtungswechsel setzte eine Freilegung neuer Gegen-

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standsbereiche und Themen sowie eine Neubewertung von Sprache und Text, von Bildern, Symbolen und Ritualen, von Räumen und Territorien ein, die quer durch die Disziplinen, durch Theorie und Praxis verlaufen. Analog zur begrifflichen Überprüfung der Herkunft von Raumkonzepten und der Bestimmung bzw. der Abgrenzung des Konzeptes Raum hat daraufhin eine Modellierung eigenständiger kultureller, sozialer oder ästhetischer Räumlichkeit stattgefunden. So transformierte der Raum vom Erkenntnisobjekt zum Erkenntnismittel, vom Gegenstand zu einer Analysekategorie für räumlich-historische und politisch-kulturelle Zusammenhänge: gemeint sind Raumhierarchien, Raumrepräsentation, Verräumlichung und Verortung von Kultur, Praktiken der Raumerschließung und -beherrschung, Raumwirkung von Subjekten, Medien der Raumaufzeichnung usw. Unübersehbar ist die Rückbindung dieser Raumreflexionen zum einen an globale und gesellschaftliche Entwicklungen von Mobilität, Migration, Grenzproblemen, ethnischer Ausgrenzung usw. und zum anderen an Diskurse vor allem in philosophischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Diese Theorien richten sich auf raumkonstituierende Praktiken und hinterfragen Repräsentationstechniken und -formen, wodurch wiederum Überlappungen zu anderen turns und deren Gegenstandsbereichen ersichtlich werden. Kennzeichnend für diese ist ein gesteigertes Visualisierungsbedürfnis, womit zugleich jene Disziplinen angesprochen und herausgefordert wurden, die sich mit Formen von Bildlichkeit beschäftigen. Der ikonische Paradigmenwechsel, der innerhalb der Kunstwissenschaft und einer sich formierenden kritischen Bildwissenschaft daraufhin einsetzte, leitete aber nicht nur ein neues Denken über Bilder, sondern vielmehr ein kritisches Denken mit Bildern ein. Infolge der vielfach elektronisch und digital produzierten Bilder entstand eine kritische Bildanalyse, die sich verstärkt auf Räume der Wahrnehmung, der Geste, Bewegung und des Klangs jenseits von Sprache und Text, als dem bislang dominierenden Medium der Erkenntnis, bezog. Bilder spielten als Repräsentationstechniken eine zunehmend wichtige Rolle für die Inszenierung von menschlichem Handeln. Dies erweiterte den Blick um performative Prozesse (»Ikonologie des Performativen« vgl. Wulf/ Zirfas, Fischer-Lichte) einerseits und um Körper und Geschlecht andererseits, die wiederum in eine anthropologisch ausgerichtete Bildwissenschaft mündeten (vgl. H. Belting). Bild-Handlungen werden dabei als Bild-Verkörperungen verstanden, die entscheidend den Bildraum zu verändern beginnen und Anteil an der Bildkonstituie-

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rung haben. Auch für die Auseinandersetzung mit einer Kunst, die im 20. Jahrhundert und insbesondere seit den späten 1960er Jahren beginnt, ganz neue Raumformen und Ortsbezüge zu erproben, werden andere Kategorien benötigt. Verstärkt widmeten sich Künstlerinnen und Künstler dem Betrachterraum und erweiterten dadurch den Bild- oder Ausstellungsraum um Handlungs- und Erfahrungsräume. Ortsspezifität ist nicht länger allein formal bestimmt, sondern zugleich historisch, soziologisch oder kulturell orientiert. Lässt sich also unsere Zeit wirklich als eine »Epoche des Raumes« begreifen, als »Epoche des Simultanen […], des Nebeneinander, des Auseinander«, wie Michel Foucault 1967 in »Andere Räume« in Abgrenzung zu einem auf Sukzessivität basierenden Zeitbegriff behauptet hat? Der Raum, in dem wir leben, ist nicht im Begriff zu verschwinden, er ist auch nicht »leer«, sondern kann vielmehr als ein durch soziale, kulturelle, topografische Beziehungen strukturierter Ort verstanden werden. Michel Foucault hat diesen Raumbegriff im Hinblick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse geprägt und damit entscheidend zu einer neuen Akzentuierung im Raumdiskurs beigetragen. Bereits Maurice Merleau-Ponty hatte 1945 den »geometrischen Raum« in der »Phänomenologie der Wahrnehmung« von einem »anthropologischen Raum« abgegrenzt, damit die existentielle Dimension des Raumes akzentuiert und den Menschen und dessen Wahrnehmung in den Blick gerückt. Unter philosophischer und pädagogischer Perspektive untersuchte Otto Friedrich Bollnow das Wechselverhältnis von »Mensch und Raum« (1963). Wie Räume menschliches Verhalten und Erleben beeinflussen, auf welche Weise Atmosphären wirken oder Stimmungen entstehen, analysierte Bollnow und ermöglichte dadurch eine neue Sichtweise auf den Raum, die für eine Erschließung von Räumen aus ästhetischer Perspektive eine wichtige Grundlage bildet. Der Raum hat sich verändert: Nicht mehr das Abgeschlossene, Statische und materiell bzw. physikalisch-topografisch Fixierbare, also die Schachtel oder der Behälter, sondern das Synchrone, Fließende, Überlappende bilden neue Leitkategorien in räumlichen Theorien und Diskursen sowie in künstlerischen Strategien. Damit ist zugleich die Grundidee der SILOGESPRÄCHE zum Thema Raum angesprochen. Die hier versammelten Beiträge, die aus der 2008 bis 2009 durchgeführten Reihe der SILOGESPRÄCHE zu »Die Kunst und der Raum – Räume für die Kunst« hervorgegangen sind, beziehen sich auf einen Raumbegriff, der als Schnittstelle das »Dazwischen«,

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das Konstellative und die Übergänge betont. Raum wird so zu einem »Zwischenraum«, der aus künstlerischer Perspektive das Offene und Mögliche, das Situationistische und Gestische betont. Zwischenräume entziehen sich zugleich einer festen Planung oder Festlegung; sie können allenfalls als Möglichkeit initiiert werden. Bei der Erforschung von Raumdispositionen in medialen und künstlerischen Arbeiten fällt vor allem auf, dass diese zunehmend ausgerichtet sind auf Interaktion mit dem Betrachter unter Beteiligung der Sinne und des Körpers. Sie machen damit auch auf Einschreibungen durch Aktivitäten, Emotionen, Geschichten oder Erinnerungen, auf körperliche und mentale Aneignungen aufmerksam, wodurch raumbildende Praktiken in den Mittelpunkt rücken. Mit anderen Worten: Raum entsteht hier vielfach erst in Interaktion, durch Partizipation oder Projektion. Am Beispiel von Tanz, Theater und intermedialen Kunstformen, die sich infolge technologischer Entwicklungen und digitaler Visualisierungen immens ausgeweitet haben und als Raumbilder nicht nur zu einer Unschärfe der bildlichen Evidenz, sondern auch des Bildraums geführt haben, werden diese Veränderungen von den Autorinnen und Autoren im Folgenden aus kunstwissenschaftlicher, medienästhetischer und künstlerischer Perspektive thematisiert. Dabei widmen sie sich oftmals mehreren Aspekten des Raumes, weshalb wir bei der Zusammenstellung der Beiträge auf eine chronologische Ordnung und Hierarchisierung zugunsten einer produktiven Durchmischung verzichtet haben. Evanthia Tsantila untersucht mit ihrer künstlerischen Arbeit, was es bedeutet, kontinuierlich von einem Medium in ein anderes zu wechseln und dabei mit Zeit, Erinnerung und Orientierung neu konfrontiert zu werden. In ihrer begehbaren Multimedia-Installation »The Silence«, die in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin zu sehen war, stellt sie die vorgegebenen Gewohnheiten von Innenund Außenraum und die daran gebundenen vertrauten und domestizierten Sehweisen in Frage. Gemeinsam mit drei Schauspielerinnen wurde eine Sequenz aus Ingmar Bergmans Film »The Silence« (1963) rekonstruiert, die zu zeigen versucht, dass Kommunikation nicht nur an Sprache scheitern kann. Ein weiteres Zitat repräsentiert die räumliche Orientierung an der Architektur des russischen Avantgardisten Konstantin Melnikow, dessen in den späten 1920er Jahren erbautes Wohnhaus in Moskau mit dem Grundriss aus sich kreuzenden Zylin-

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dern Tsantila aufgreift, wodurch eine gleichsam multiperspektivische Raumatmosphäre hervorgerufen wird. Mit Blick auf Pina Bauschs Choreographie »Blaubart – Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper ›Herzog Blaubarts Burg‹« wendet sich Petra Maria Meyer dem audio-visuellen Raum zu. Raumwahrnehmung ist immer durch Sehen und Hören zugleich bestimmt. Die Akustik ist verantwortlich für die Orientierung im Raum. Auf welche Weise ein Raum Atmosphären bildet und Stimmungen aufbaut, verdeutlicht Meyer am TanzTheater Pina Bauschs. Als Resultat performativer Vorgänge wird der Raum hier zum Bewegungsraum, zum Erinnerungs- oder Affektraum. Auf Basis der Raumtheorien von Merleau-Ponty, de Certeau, Bollnow oder Böhme verdeutlicht Meyer, auf welche Weise menschliches Erleben und Handeln bei Pina Bausch in akustisch und visuell wahrnehmbarer Raumorganisation aufgeht. Was geschieht, wenn der leere Museumsraum vom Tanz gefüllt und die Architektur zum Exponat wird, analysiert Isa Wortelkamp am Beispiel von Sasha Waltz. Als »Choreografie der Leere« reagierte diese auf die spezifische Geschichte, Architektur und Situation des Jüdischen Museums (1999) und des Neuen Museums (2009) in Berlin. Museen, die Leere zeigen, so Wortelkamp, geben eigenen Bewegungen und Bildern Raum. Unter dem Begriff der »Musealisierung des Tanzes« zeichnet Wortelkamp eine Reihe von Paradoxien nach, unter deren Einfluss das Museum selbst nur noch als Passage, d.h. als Durchgangsort zu verstehen ist, der Raum für den Betrachter und seine Wahrnehmung lässt. Das Interview von Sabiene Autsch mit Jan Hoet ist einzuordnen in Zusammenhänge von Museumsräumen und Museumsarchitekturen, die in den 1990er Jahren verstärkt unter der Einflussnahme eines postmodernen Denkens entstanden sind. Jan Hoet, der als Leiter der documenta 9 (1992) eine Expansion des Ausstellungsraums vornahm und eine Vielzahl versprengter Ereignisstätten zu einem »topografischen Beziehungsgeflecht« formierte, sah sich als künstlerischer Direktor des MARTa Herford (2003-2008) mit der Herausforderung von Kunst, Raum und Architektur an einem spezifischen Standort erneut konfrontiert. Aus dem Spannungsfeld von Bildender Kunst und neuen Medien, von Architektur und Design und in der kritischen Befragung des White Cubes hat Jan Hoet eine kuratorische Haltung entwickelt, die das Räumliche, das Konstellative und Zusam-

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menhängende betont, was er im Gespräch selbst als »dialektische Opportunität« bezeichnet. Michel Foucaults Panoptismus bildet den Ausgangspunkt einer Skulptur von Hartmut Wilkening. In seinem Bild- und Textbeitrag stellt er seine künstlerische Gestaltung des Innenhofes eines Pflegeheims durch das monumentale Foucault-Porträt aus Beton dar. Die Skulptur ist im Kontext des von Jeremy Bentham konzipierten Baus »Penitentiary Panopticon« und Foucaults Werk »Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses« (1975) zu betrachten. Der Aspekt des Einschließens und die Frage von Machtverhältnissen in Räumen sind Wilkenings künstlerischer Intervention immanent. Die Architektur von Gefängnissen, an die das Pflegeheim mit seinem Festungscharakter erinnert, thematisiert Wilkening in weiteren ortsbezogenen künstlerischen Arbeiten. In dem von Sara Hornäk geführten Gespräch mit Christoph Brockhaus stehen Überlegungen zum raumgreifenden Charakter der Skulptur im Zentrum. Während im »Lehmbruck-Trakt« des Wilhelm-Lehmbruck-Museums über die plastische Gliederung, die Lichtführung und die Materialität der Architektur enge Bezüge zum Werk Wilhelm Lehmbrucks hergestellt werden, bieten andere Gebäudeteile Raum für das Environment oder die interaktive Skulptur. Am Beispiel von Giacomettis »Frau auf dem Wagen« erläutert Brockhaus seine Überlegungen zur Verortung der Skulptur: Bildhafter Eindruck und haptische Begierde zugleich bestimmen die Wahrnehmung des Werkes. Die Präsentation muss das Verhältnis von Raum, Werk und Betrachter genau ausloten, um der Spannung von Nähe und Distanz gerecht zu werden. Andrea Brockmann, die das Public Art Project »Tatort Paderborn« im Jahr 2007 betreute, resümiert am Beispiel von Standort und den insgesamt zwölf künstlerischen Positionen die kuratorischen Entscheidungen. Aus dem Spannungsverhältnis von öffentlichem Raum, künstlerischen Interventionen und Publikum ist die Entwicklung eines »ästhetischen Aktionsraums« verwirklicht worden, der wiederum neue emotionale Raumerlebnisse hervorrufen kann. Über den Begriff der Atmosphäre zeichnet Brockmann die künstlerischen Arbeiten in ihrem interventionistischen Charakter nach und versucht dabei auf jene Transformationen aufmerksam zu machen, die aus der Konfrontation und dem Dialog gleichermaßen entstehen. Am Beispiel der Biennale von Venedig, die 1895 gegründet wurde und ausstellungsästhetisch den Typus der Weltausstellung fort-

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schreibt, diskutiert die Kunsthistorikerin Gabriele Huber in ihrem Beitrag das Verhältnis von Kunst und Öffentlichkeit. Mit Blick auf die spezifischen nationalen und ökonomischen Interessen sowie den topographischen Besonderheiten repräsentiert Venedig vor allem durch die Architektur der einzelnen Länderpavillons jene Ortsbezogenheit, die mit dem musealen Raum und einem damit verbundenen tradierten Kunstverständnis vergleichbar ist. In der Akzentuierung ihrer Perspektive auf den Raum macht Huber sodann auf widersprüchliche Strukturen aufmerksam, die letztlich aus der Beziehung von Kunst und öffentlichem Raum resultieren. Thomas Stricker interveniert in den öffentlichen Raum vom Schulhof über den Park bis hin zum Slum und überzieht dabei ganze Landschaftsstriche mit seinen Werken. In seinem Projekt »blüht es oder blüht es nicht?« brachte der Künstler ein leuchtend gelbes Rapsfeld zum Blühen, dessen spezifische Form sich über die Felder verschiedener Landwirte erstreckte, auf deren enge Mitarbeit er bei der Realisation des Werkes angewiesen war. Unter dem Titel »skulpturale Fragen – Standpunkte im freien Fall« stellt Thomas Stricker in seiner Bildreihe verschiedene Arbeiten vor, in denen er skulpturale Form- und Materialfragen als Raumfragen erforscht und dabei neben topographischen immer auch soziale Dimensionen des Raumes, kulturelle und historische Bedingungen eines Ortes tangiert. Inwieweit die Skulptur als Raumkunst spezifische Erfahrungsund Handlungsräume eröffnet, untersucht der Beitrag von Sara Hornäk am Beispiel interventionistischer Praktiken im Werk von Franz Erhard Walther und Erwin Wurm. Handlungsprozesse gehen bei beiden Künstlern in unterschiedlicher Weise in Formprozesse über. Als »Raumkunst« befindet sich die Skulptur im Raum, den sie mit dem Betrachtenden in seiner Körperlichkeit teilt. Neben das autonome Objekt treten neue Skulpturkonzepte, die performative Strukturen und Erfahrungsmomente integrieren. Ein Projekt von Studierenden des Faches Kunst der Uni Paderborn zur »Skulptur und ihrem Gegenüber«, in dem Partizipation künstlerisch erprobt wird, führt in Anbindung an kunsttheoretische Aspekte eines erweiterten Skulpturbegriffs zu Überlegungen zur Lehre von Kunst im Spannungsfeld von Theorie und Praxis. Als Antwort auf die vielzitierte »Transformabilität« und »Multivalenz«, die aus einer verstärkten Erforschung der künstlerischen Strategien, d.h. aus dem Gebrauch und dem Umgang mit Materialien und Dingen resultiert, unternimmt Sabiene Autsch demgegenüber

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eine Raumerkundung im Werk von Sigmar Polke. An ausgewählten Arbeiten werden Bühne, Labor und Wohnzimmer als exemplarische Architekturen für jene Bild-Handlungen verstanden, die den interaktiven »Umschlag« von Raum, Material und Autorschaft in das Bild anzeigen. Vor allem aus der Analogie zu epochalen Umbrüchen der 1960er und der 1990er Jahre wird die Frage nach der Konstituierung von Bildordnung und Bildraum diskutiert, die letztlich Anteil haben an der Flüchtigkeit und Instabilität der Räume. Die Stereoskopie als Medium, Kulturtechnik und Dispositiv steht im Mittelpunkt des Beitrags von Jens Schröter. In seiner medien- und kulturgeschichtlichen Analyse des heute eher unüblichen Begriffs des »Raumbildes« spannt er den Bogen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Dabei versucht er zu zeigen, dass mit der Stereoskopie exemplarisch das Verschwinden und Auftauchen einer bestimmten medialen Form nachgezeichnet werden kann, an der eine Mediengeschichte des Raums als eine seiner »politischen Zurechtmachungen« ablesbar ist. Die Geschichte der Stereoskopie erhält medienästhetisch aus der Analogie von Medium und Raum ihre besondere Brisanz. Aus der Perspektive der Funktionalisierung der Stereoskopie im ›Dritten Reich‹ und der daraus resultierenden Prägung eines »kollektiven Bildhaushalts« erhalten die abschließend auf ihre medienästhetische Qualität hin befragten stereoskopischen Landschaftsaufnahmen von Thomas Ruff aus den 1990er Jahren, die das Ruhrgebiet zeigen, eine neue Akzentuierung auch innerhalb fotogeschichtlicher Kontinuitäten und Traditionen. Tristan Thielmann sieht eine Verbindung zwischen aktuellen Navigationssystemen, sogenannten Mashup-Praktiken und historischen Vorbildern. Diese findet in der »Digitaltechnologie« von Leon Battista Alberti ihren Ausgangspunkt. Am Beispiel von Koordinatensystemen zeichnet Thielmann Kontinuitäten nach, wonach der historische Medienentwurf Albertis gerade in der Entkoppelung von der Medienproduktion eine Differenzierung, d.h. einen Rundumblick, theoretisch möglich und deutlich macht, wie er für aktuelle Verfahren z.B. von Google Maps oder Google Earth kennzeichnend ist. Rückblickend auf die abendländische Raumdiskussion, die zeitgenössische Raumtheorien bis heute prägt, rekonstruiert Karin Leonhard die Paradigmen der Raumkonstruktion in der Malerei der Frühen Neuzeit exemplarisch im Werk Giottos. Die Revision des bis dahin geltenden Bild- und Raumbegriffs ergibt sich dadurch, dass der Maler um 1300 erstmals Bildräume konzipiert, in denen Handlun-

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gen verortet sind. Diese beruhen auf der Beweglichkeit und Aktionsmöglichkeit von menschlichen Körpern, denen innere Wirkkräfte zugestanden werden. Bilderzählungen ermöglichen die Darstellung sozialer Räume innerhalb geometrischer Raumkästen, die im Werk Giottos zwischen topologischen Ortsmodellen und zentralperspektivischen Raumcontainern angesiedelt sind. Leonhard zeigt damit den engen Zusammenhang von Raum- und Bewegungstheorien auf. Mit der Zusammenführung unterschiedlicher Positionen aus den Bezugsfeldern der Kunst hoffen wir, zu jener notwendigen Interdisziplinarität beizutragen, die bei aktuellen Erkundungen von Räumen als Handlungs-, Erfahrungs- und Zwischenräumen sinnvoll und hilfreich erscheint. Durch die gewählte konstellative Abfolge von Textund Bildbeiträgen ist ein Wechsel von Zugängen und Blickweisen intendiert, um so das diskursive Wechselspiel von Theorie und Praxis, von künstlerischer Produktion in der Kunst- und Mediengeschichte und umgekehrt wahrnehmbar zu machen. Unser Dank gilt an dieser Stelle der Universität Paderborn und der Fakultät für Kulturwissenschaften für die Bereitstellung finanzieller Mittel. Wir danken außerdem den Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes, ferner Anna Heiny, Sarah Henneke und Tim Pickartz bei der Druckvorbereitung sowie der Projektbetreuung durch Johanna Tönsing und Jörg Burkhard vom transcript Verlag.

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The Silence Evanthia Tsantila

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Drei Menschen haben eine Auseinandersetzung, in der ein wesentliches Kommunikationsmittel scheitert: Die Sprache ist nicht imstande, die Komplexität der Beziehungen untereinander zu vermitteln. Ort dieses Geschehens ist ein Hotelzimmer. Das Projekt »The Silence« hinterfragt das Verhältnis von Raum, Zeit und Narration. Eine Sequenz des Films von Ingmar Bergman wird in den realen Raum und die reale Zeit verschoben und zusammen mit zwei Schauspielern und einer nichtprofessionellen Darstellerin als Installation rekonstruiert. Die zylindrische Raumkonstruktion entstand anfangs in der Imagination; sie fand ihre Analogie im berühmten Wohnhaus von Konstantin Melnikow in Moskau. Ich untersuche die Verwirrung, die einen befällt, wenn man dieses Haus umrundet, das Gefühl, im Kreis zu gehen, eingeschlossen zwischen Mauern, ein Gefühl, das Gegenstände und Personen als Déjà-vu erscheinen lässt. Zum ersten Mal präsentiere ich ein Projekt im Kontext der Institution Theater. Die Zusammenarbeit mit Schauspielern und die Einordnung in Strukturen und Mechanismen des Theaters bedeuten eine zusätzliche Herausforderung bei der Anstrengung, die Autonomie jeder dieser künstlerischen Praktiken und jedes Kunstwerks zu spezifizieren. Wie lässt sich Zeit in einem Objekt abbilden? Was nicht ausgesprochen werden kann, ist doch in der Sprache enthalten. Was nicht erscheinen kann, hinterlässt doch Spuren. Aus den abwesenden Fragmenten könnte sich ein Raum auftun und erfasst werden.

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THE SILENCE Eine Installation von Evanthia Tsantila

Darsteller: Susanne Simon, Alexander Simon und Frau Wolff Sound Composition: Dimitri Kourtakis Dramaturgische Beratung: Jutta Wangemann Video und Editing: Hannah Groninger Konstruktion: Adam Marshall, Teske Clijsen Sound Engineer: Markus Stemler

Das Projekt wurde mit Mitteln des Hauptstadtkulturfonds ermöglicht und entstand mit Hilfe der Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz Berlin. Courtesy the State Museum of Contemporary Art-Costakis Collection Thessaloniki, Greece © Evanthia Tsantila

photo credits: Abbildung 18-23: Installationsansicht Kunstmuseum Thun, 2008 Fotos: Davi Aebi Abbildung 25-27: Installationsansicht Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz Berlin Fotos: Evanthia Tsantila

Der audio-visuelle Raum Pina Bauschs Choreographie »Blaubart – Beim Anhören einer Tonband-Aufnahme von Béla Bartóks Oper ›Herzog Blaubarts Burg‹« Petra Maria Meyer

Über den Hörsinn, diesen besonderen Sinn der Aufmerksamkeit, der eine gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit zeitlicher Veränderungen erlaubt, verläuft auch die Orientierung im Raum und eine Vergewisserung über soziale und kulturelle Geschehnisse. Zugleich erschafft die akustische Ebene immer auch Räume, dimensioniert sie und bestimmt sie in ihrer Stimmung. Geräusche charakterisieren Umgebungen, grenzen sie voneinander ab oder setzen sie in Beziehung zueinander. Akustisch lassen sich Situationen versinnlichen und Bewegungen erkennbar machen. Für die Raumwahrnehmung sind insofern sowohl Hören als auch Sehen von zentraler Bedeutung. Rauminszenierungen erfolgen entsprechend audio-visuell und vielfältig, was im Weiteren an einem Beispiel aus dem Bereich des TanzTheaters deutlich gemacht werden soll. Um den Horizont zu markieren, vor dem sich Räume heute reflektieren lassen, widme ich mich einleitend zunächst der »Wende zu neuen Raumfragen«, einem »spatial« oder »topographical turn«. Kurze Überlegungen zu den Wandlungsprozessen von Theaterräumen leiten dann zum konkreten Beispiel über.

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» SPATIAL TURN « Man mag von den verschiedenen, proklamierten »turns« halten, was man will – sie womöglich berechtigt für Durchsetzungsstrategien fachpolitischer Interessen halten – ihre Auswirkungen sind jedoch immer auch fruchtbar zu nennen, denn sie haben zur Akzeptanz und Ausdifferenzierung von vielfältigen Erscheinungsformen geführt. Das gilt auch für den sogenannten »spatial turn«, den man mal mit Michel Foucaults Vortrags-Typoskript »Des espaces autres«/»Andere Räume« von 1964,1 ein anderes Mal mit Edward Sojas Studie »Postmodern Geographies« von 19892 verbindet. Bereits Foucault hat deutlich gemacht, dass wir nicht in einem leeren Raum leben, den man irgendwie füllen kann, sondern immer schon mit »einer Gemengelage von Beziehungen, die Plazierungen definieren«, konfrontiert sind, d.h. mit einer gesellschaftlich geprägten relationalen Verortung, die sich ebenso machtvoll auswirkt, wie sie Machtverhältnisse sichtbar macht. Ebenso wie der Geograph und Architekt Soja, der die soziale Konstruktion von Raum, die permanente Formung und Umformung, Transformationen insbesondere bezogen auf geographische Landschaften3 herausstellte, hat auch der Philosoph Foucault einen Betrachtungswechsel bewirkt, durch den historisches und soziales Geschehen als gleichsam raumgestaltendes Einwirken erfasst wird. Mit stärkerer Betonung auf die kulturellen Praktiken, in die sowohl soziale als auch technische einbezogen sind, hat Sigrid Weigel von einem »topographical turn«4 gesprochen. Einigkeit herrscht darüber, dass die kulturelle bzw. soziale Organisation von Raum erst eine wahrnehmbare Raumorganisation schafft, an der die Künste in veränderter und verändernder Weise mitarbeiten können. Selbstreflexive Arbeit und Veränderung der Raumwahrnehmung durch die Künste haben 1 | Foucault hat den Vortrag am Cercle d´Etudes Architecturales, Paris am 14. März 1967 gehalten. Vgl. zur deutschen Übersetzung: Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis, Leipzig: Reclam 1990, S. 34-46. 2 | Edward Soja: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London u.a.: Verso 1989. 3 | Vgl. ebd. 4 | Vgl. Sigrid Weigel: »Zum topographical turn – Kartographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik 2/2 (2002), S. 151-165.

D ER AUDIO - VISUELLE R AUM

eine neue Zentralstellung erlangt. Auch Michel de Certeaus wichtige Unterscheidung zwischen Ort und Raum, die er im Anschluss an Foucault vornahm, hat zur Präzisierung dieser künstlerischen Arbeit beigetragen. Den Raum als »Geflecht von beweglichen Elementen« verstehend, der von Bewegungen erfüllt ist, geht er davon aus, dass der Raum durch diese Aktivitäten erst erzeugt wird. Bei Certeau erweist sich der Raum als Resultat performativer Vorgänge. »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.«5 So wird er durch einen Akt in jedem Moment geschaffen und immer wieder neu geschaffen, d.h. transformiert. Marc Augé hat diese Überlegung aus der Perspektive des Ethnologen aufgegriffen und den Fokus auf »Orte und Nicht-Orte«,6 die heute ubiquitären Passagen, Durchgänge und Zwischenräume gerichtet, die eine Transformation von Räumen stetig dynamisieren. Beide verweisen auf eine bereits zuvor von Maurice Merleau-Ponty vorgenommene Unterscheidung eines »geometrischen Raumes« (der wie der Ort bei Certeau und Augé verstanden werden kann) von einem »anthropologischen Raum«.7 Merleau-Ponty ging es bei dieser Unterscheidung, die er in der »Phänomenologie der Wahrnehmung« vornimmt, darum, einen in Länge, Breite und Höhe messbaren »geometrischen Raum« von einem erlebbaren Raum8 zu unterscheiden, 5 | Vgl. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 218. 6 | Vgl. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 1994. Franz. »Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité«, Paris 1992. 7 | Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1965. 8 | Parallel zur philosophischen Neubetrachtung der Zeit, die Henri Bergson wegweisend ermöglichte, lässt sich nun auch der Raum aus neuer Perspektive betrachten. Hat Bergson eine »räumliche Zeit« der Physik von einer »erlebten Zeit« des Bewusstseins als zwei komplementäre Aspekte von Zeit unterschieden, so wird eine parallele Unterscheidung heute auch bezogen auf den Raum vorgenommen. Vgl. Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Hamburg 1994. Vgl. zu Henri Bergsons Zeitphilosophie u.a. auch: Petra Maria Meyer: »Intensität der Zeit in John Cages Textkompositionen«, in: Günther Heeg/Anno Mungen (Hg.), Stillstand und Bewegung. Intermediale Studien zur Theatralität von Text, Bild und Musik, München 2004, S. 227-237. Sowie Dies.: »Medialisierung und Mediatisierung des Körpers. Valie Export und

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der »existenziell« ist bzw. wo »die Existenz räumlich« ist.9 Diese andere Räumlichkeit wird mit einem anderen Verhältnis zur Welt verbunden, das man in der Wahrnehmung, insbesondere jedoch im Traum einnimmt und das durch ein Begehren gesetzt ist, welches von einer spezifischen »Richtung der Existenz« geprägt ist.10 Aus dieser Perspektive steht der Raum immer schon im Spannungsfeld von materiellen, sozio-kulturell und medial durchformten und imaginären Räumen. Stimmungen können sich in diesem Spannungsfeld wandeln. Dabei ist es nicht nur der Mensch im Raum, der eine Stimmung bedingt, vielmehr können auch Räume den Menschen umstimmen. In der anthropologischen Raumtheorie von Otto Friedrich Bollnow, die den Raum am menschlichen Erleben und Verhalten orientiert, lässt sich der Raumeindruck auf eine Gestimmtheit zurückführen. Räume sind nach Bollnow »gestimmt«.11 Das gilt im doppelten Sinne, da sie sowohl wie ein Instrument gestimmt sind als auch atmosphärisch anmuten. Räume können insofern insbesondere durch Lichtstimmung und Musik Gefühle beeinflussen. Gernot Böhme hat die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz aufgegriffen, in der ein »Gefühlsraum« neue Bedeutung erhält, und eine Philosophie der Atmosphärenkonstruktion in die Debatte eingebracht, die wiederum interdisziplinär wegweisend wurde.12 Je nach Fragestellung erscheinen unterschiedliche Ansätze für wechselnde Disziplinen fruchtbar Nan Hoover mit Henri Bergson und Maurice Merleau-Ponty bedacht«, in: Petra Maria Meyer (Hg.), Performance im medialen Wandel, München: Fink 2006, S. 223-257. 9 | Auch Franz Xaver Baier unterscheidet einen messbaren, geometrischen Raum als »ungelebten Raum« von einem »gelebten Raum«. Er bezieht sich in seinen Überlegungen jedoch auf die Analysen zu Dasein und Lebenswelt von Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre. Vgl. Franz Xaver Baier, Der Raum, Köln: König 2000. 10 | Vgl. zu Merleau-Pontys Raumverständnis auch: Petra Maria Meyer, »Der Raum, der Dir einwohnt. Zu existentiellen Klang- und Bildräumen«, in: Ralf Bohn, Heiner Willharm (Hg.), Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, Bielefeld: transcript 2009, S. 105-134. 11 | Vgl. Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart/Bern/Köln: König 1989 (Erstaufl. 1963). 12 | Der philosophisch ausgerichtete Architekt und Raumtheoretiker Ludwig Fromm hat in diesem Zusammenhang wichtige phänomenologische Überlegungen in die architektonische und szenographische Diskussion

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und auch kombinierbar, denn durchgehend werden eine Philosophie des Leibes und der Phänomenologie zentral. Einigkeit herrscht bei all den unterschiedlichen Ansätzen zudem dahingehend, dass Raum untrennbar mit Existenz, Verhaltensweisen und der Konstitution von Sinnzusammenhängen verbunden ist, durch die er erst geschaffen und permanent umgestaltet wird. Die menschliche Wahrnehmung erhält somit konstitutive Relevanz. Die »Phänomenologie der Wahrnehmung« von Maurice Merleau-Ponty hat auch in diesem Zusammenhang neue Bedeutsamkeit erlangt. Da der französische Philosoph keineswegs von einer einseitigen Beziehung zwischen Subjekt und Welt ausgeht, sondern das Wahrnehmungsfeld, das in jede Reflexion einwirkt, immer auch der Welt zuschreibt, wird eine wechselseitige Beeinflussung denkbar, die zwischen der »Bühne der Einbildung«13 und dem »Schauspiel der Welt«14 besteht. Merleau-Pontys Theatermetaphorik, auf die er immer wieder zurückgreift, korrespondiert zudem mit der Modellfunktion von Theater für Raumkonzepte auch außerhalb des Theaters, von der im Bereich der Diskursfelder zu »Theatralität« und »Szenographie« interdisziplinär ausgegangen wird. »Bühnenkunst ist Raumkunst«,15 so lautet eine frühe Selbstdefinition zu Beginn der theaterwissenschaftlichen Forschung, die Max Herrmann formulierte. Herrmann thematisierte bereits einen verwandelten »imaginären Kunstraum«, der zum Erlebnis für ein konstitutiv wahrnehmendes Publikum wird, dem er eine »mitschöpferische Tätigkeit«16 zuspricht. Es würde im vorliegenden Kontext zu weit führen, auf die historisch wechselnde Verhältnisbestimmung von Bühnengeschehen und Zuschauerraum und eine auch im Gegenwartstheater facettenreiche, unterschiedlich ermöglichte Wechselwirkung zwischen Bühnengeschehen und Publikumseingebracht. Vgl. u.a. Ludwig Fromm: Verräumlichungen, Kiel: MuthesiusKunsthochschule 2009. 13 | Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1966, S. 6. 14 | Ebd., S. 5. 15 | Max Herrmann: »Das theatralische Raumerlebnis« (1931), wieder abgedruckt in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorien. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 501-514, hier S. 501. 16 | Ebd., S. 508.

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wahrnehmung einzugehen. Stattdessen sei insbesondere auf die Bedeutung der auditiven Ebene für die Theaterkünste hingewiesen. Obwohl die Theatergeschichtsschreibung diese Ebene unter dem Primat des Optischen lange vernachlässigte, so hat doch ein »acoustic turn« hier immer schon stattgefunden.17 Im Theater des 20. und 21. Jahrhunderts erfolgt eine akustische Inszenierung auf allen Ebenen. Sowohl die Zeit- und Raumstrukturierung, ein Stimmungsaufbau und eine Atmosphärengestaltung oder Spannungserzeugung als auch die Figurencharakterisierung werden akustisch vorgenommen. Parallel zum Kino ist Sounddesign immer wichtiger geworden und werden »Sound-Plots« medienübergreifend erstellt. Ein gesteigertes Bewusstsein dafür, dass Theaterkünste bezogen auf die akustische Ebene im intersensorischen Wechselspiel mit allen anderen Sinneskanälen besondere Möglichkeiten auch hinsichtlich raumgenerierender Klanggestaltung in der Live-Performance haben, ist der neuen Begriffsprägung »Sounddesign« lange vorausgegangen. Ein Beispiel aus dem Bereich TanzTheater im 20. Jahrhundert soll das verdeutlichen. Gerade in den Choreographien von Pina Bausch, in denen Zeit-Raumstrukturen auch über Montageverfahren realisiert werden, hat die akustische Ebene Facettenreichtum erhalten. Der weitere Gedankengang impliziert zudem die These, dass sich ein Wandel der Raumkonzepte von einem territorial bestimmten Raum, der durch codierte Zeichen des Raumes als bestimmte Lokalität identifizierbar ist, zu einem performativen Raum vollzogen hat, der sich im medialen Wandel weiter ausdifferenziert.

S ZENOGR APHIE UND TANZTHE ATER VON P INA B AUSCH Die Zusammenführung tänzerischer und theatraler Mittel in sinngenerierender Funktion mag missverständlich sein, deshalb sei vorab darauf hingewiesen, dass die tanzgeschichtliche Entwicklung des TanzTheaters aus dem Ausdruckstanz und Modern Dance in Abkehr vom klassischen Ballett bereits sowohl eine Abkehr von der dramatischen »Handlung« im üblichen Sinne als auch von bisherigen Raumkonzepten nahelegt. 17 | Vgl.: Petra Maria Meyer (Hg.): »acoustic turn«, München: Fink 2008, darin insbesondere: Dies.: Stimme, Geste und audio-visuelle Konzepte. Akustische Kunst – Performance – ›Theater der Ohren‹, S. 291-351.

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Während im antiken Griechenland unter skênographia eine Kunst der Ausschmückung des Theaters verstanden wurde, die den Bühnenraum mit malerischem Dekor ausgestaltete, überwindet ein modernes Verständnis von Szenographie nicht nur Konzepte der Dekoration, sondern auch Verfahren der Illusionsbildung, in denen über Zeichen von Zeichen der jeweiligen Kultur Orte erkennbar gemacht werden. Ein hinzukommender ästhetischer und texttheoretischer Wandel führte gleichsam zu einer Loslösung von im Nebentext der Dramentexte angegebenen Lokalitäten. Die damit verbundene Neubestimmung des Raumes erfolgt in mehrfacher Ausrichtung. Raum wird als sozio-kulturell geprägter Schauplatz, der gesellschaftliche Strukturen sichtbar macht, wichtiger. Bei anderen Vertretern wird Raum als atmosphärischer Wirkungsbereich, als »Gefühlsraum« (Schmitz) ausschlaggebend, in dem Klänge, Farben und Formen in plurimedialen Wechselspielen auftreten. Dabei wird der Raumbegriff auch ins Imaginäre unbegrenzt. Nicht mehr wiedererkennbare, benennbare Orte, sondern Traumgespinste oder szenische Phantasmagorien sowie geistige Räume entstehen. Hinzu kommen virtuelle Räume, die im Rückgriff auf avancierte Medientechniken heute durch intermediale Wechselspiele multiple Räume auf der Theaterbühne möglich machen.18 Im Bereich des Tanzes sind im 20. Jahrhundert zudem zwei unterschiedliche Tendenzen wegweisend geworden. Einerseits sind Vertreter eines abstrakten Postmodern Dance – wie beispielsweise Merce Cunningham – an Motionen und nicht an Emotionen interessiert. Andererseits verfolgt das TanzTheater von Pina Bausch psychologische und physische Interessen in bewusster Aufhebung der Trennung beider Bereiche. Pina Bauschs Stücke weisen eine dem Theater gemäße Bezogenheit auf das Gesellschaftssystem und soziale, insbesondere auch geschlechtsspezifische Rollen in überspitzter, zur Kenntlichkeit verfremdeter Darstellung auf. In den Stücken der Pina Bausch gehen Körper und körperliche Aktionen häufig von theatralen Zeichen, von Zeichen eines kulturellen Verhaltenscodes aus, um mit den Mitteln der Bewegungssprache gleichsam über kulturell 18 | Vgl. dazu Petra Maria Meyer: Intermedialität des Theaters, Düsseldorf: Parerga Verlag 2001 sowie Dies.: »Der Körper als Interface zwischen den Medien im Gegenwartstanz«, in: Hajo Kurzenberger/Annemarie Matzke (Hg.), TheorieTheaterPraxis, Theater der Zeit, Recherchen 17, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 286-296.

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Codiertes zurückzuverweisen oder auch demaskierend zurückzuverweisen auf Spuren eines Körpergedächtnisses. Zugleich setzt sie im Anschluss an die Ausdruckstanzbewegung einer dekorativen Szene und Illusion des Handlungsballetts einen innerlichen Schauplatz seelisch-gedanklicher Prozesse entgegen. Daraus ergeben sich nicht nur ungewöhnliche tänzerische Bewegungsverläufe, durch die Intensitäten freigesetzt werden, sondern auch andere Raumkonzepte. Der Bühnenraum ihrer Choreographien kann leer oder spärlich möbliert sein, da er immer schon mit Phantasmen gefüllt ist. In ihm agiert der Tänzerkörper als mediales Dazwischen. Er bildet sich performativ als zentrales Medium auf der Bühne selber aus, indem er als Mittler und Übermittler sozio-kultureller und medialer Durchformung agiert. Zugleich formen und transformieren die Tänzerkörper kraft ihrer Bewegungen auch den Raum. In der Choreographie »Nelken« werden auf dem Boden verstreute Nelken zertreten, in »Café Müller« werden zahlreiche auf der Bühne verteilte Stühle verrückt, in der Choreographie »Arien« wird Wasser durch die Bewegungen der TänzerInnen in alle Richtungen verspritzt. Diese Aktionen im Raum setzen gleichzeitig bezeichnende Geräusche frei, gestalten einen Hörraum. Auf diese Weise erweist sich auch die Bühne als »Ort, mit dem man etwas macht«, als audio-visueller Raum, der sich performativ entfaltet.

»B L AUBART – B EIM A NHÖREN EINER TONBANDAUFNAHME VON B ÉL A B ARTÓKS O PER ›H ERZOG B L AUBARTS B URG ‹« Schon der Titel der Choreographie, die hier näher betrachtet werden soll und die Pina Bausch 1977 auf die Bühne brachte, betont die audio-visuelle Strukturierung. Ein am Genre der Tonbandkomposition orientierter, veränderter Umgang mit der Opernvorlage, die nicht mehr werkgetreu interpretiert und handlungsdramaturgisch nachvollzogen wird, sondern zum Material einer von der Vorlage emanzipierten Inszenierung eines eigenständigen Stückes avanciert, eröffnet auch einen neuen Hörraum im szenischen Anschauungsraum, der hier unabhängig von einer möglichen musikwissenschaftlichen Betrachtung der Oper von Interesse ist.19 19 | Es wird hier weder eine Analyse von Bartóks Oper noch der tänzerischen Phrasierung von Bauschs Choreographie angestrebt. Vielmehr wird

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Zunächst seien Stoffgeschichte und Inhalt kurz skizziert. Ursprünglich als Märchenstoff von Charles Perrault (1628-1703) in die Sagenwelt eingebracht, wurde der Stoff von Ludwig Tieck aufgegriffen und 1797 zum Volksmärchen mit Breitenwirkung. 1910 griff der heute zumeist als Filmtheoretiker bekannte, aber insbesondere auch an Märchen interessierte ungarische Autor Béla Balázs den Stoff auf.20 Nach einer Lektüre von Maurice Maeterlincks symbolistischem Bühnenmärchen »Blaubart und Ariadne« (1899) schrieb er das Mysterienspiel »Herzog Blaubarts Burg« und betonte bereits in seinen »Anmerkungen zum Text« die zentrale Raumkonzeption. Da die Bühne hier nicht lediglich Ort der Dialoge und Handlungen sei, sondern selber zum Handlungsmotor avanciere, der »selbständig« an den Geschehnissen teilnehme, nennt er sein Stück eine »Bühnenballade«. »Blaubarts Burg« will Balázs nicht als konkreten Ort, als reale Festung aus Stein verstanden wissen. Vielmehr handelt es sich um einen Raum, der »Blaubarts Seele« versinnlichen soll.21 Der Bühnenraum wird zum polyvalenten Gefühlsraum, dem die Kritiker mit Unverständnis gegenüberstehen. Sie beanstanden das Fehlen von Handlung, die Armut des Bühnengeschehens und eine allzu rätselhaft gezeichnete Blaubart-Figur.22 Die Geschichte von Herzog Blaubart, dessen junge Frau Judith ihm auf seine dunkle, fensterlose Burg folgt, um diesen unheilvollen Schauplatz mit ihrer jugendlichen Unbekümmertheit zu erhellen, der Fokus auf das besondere audio-visuelle und performative Raumkonzept gerichtet, das m.W. bislang vernachlässigt wurde. 20 | Vgl. zu seinen filmtheoretischen Reflexionen u.a.: Béla Balázs: »Der sichtbare Mensch« (1924), in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 2001, S. 224-233 und Ders.: »Zur Kunstphilosophie des Films« (1938), in: Albersmeier 2001, S. 201-223. Vgl. auch zum Dramatiker, Dichter, Märchenautor und Novellist Balázs: Hanno Loewy: Béla Balázs – Märchen, Ritual und Film, Berlin: Vorwerk 2003. 21 | Vgl. Béla Balázs, »Herzog Blaubarts Burg. Anmerkungen zum Text«, in: Ders., Ausgewählte Artikel und Studien, Budapest 1968, zit. n. Gabriella Rácz, Changierende Klangräume der Seele. Béla Bartók/Béla Balázs: Herzog Blaubarts Burg, www.kakanien.ac.at/beitr/emerg/Gracz1.pdf, 30.05.09. 22 | Vgl. zu diesen Kritiken: Veronika Jezovsek: »Divergierende Schichten eines ästhetischen Manifests? Anmerkungen zu Herzog Blaubarts Burg«, in: Studia Musicologica, 48/1-2, 2007, S. 147-162.

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verdichtet sich jedoch im Raumkonzept. Bekanntlich sind es hier sieben Türen, die Judith nicht ablässt, öffnen zu wollen, obwohl sie Blaubart daran zu hindern bemüht ist. Nur widerstrebend öffnet Blaubart die Türen und so dringt Judith gegen alle Widerstände in sein verschlossenes Inneres vor, findet die berühmten »Leichen im Keller«: »blutige Schatten«, »Tränenweiher«, die drei früheren Ehefrauen Blaubarts. Der ersten Ehefrau gehört der Morgen, der zweiten der Mittag, der dritten der Abend. Die Nacht wird nun Judith gehören, die in diese eintaucht, während sich die siebte Türe hinter ihr wieder schließt. Blaubart bleibt allein zurück. Nach einer Lesung der »Bühnenballade« von Balázs begann Béla Bartók seine mehrjährige Arbeit an der Vertonung dieses »Dramas der Entblößung«, das 1918 in Budapest zur Uraufführung kam. Balázs, der mit dem Komponisten Zoltán Kodály befreundet war, hatte auch Kontakt zu Bartók und widmete sein Mysterienspiel beiden Komponisten. Alle drei verband die Suche nach einer Erneuerung der Künste, der Musik, der Literatur und des Theaters durch die Tradition der »ungarischen Volksseele«. Gemeinsam wollten sie nicht nur die »einfachen Formen« in Märchen und Volksliedern wiederbeleben, sondern auch die Oper und das TanzTheater reformieren.23 In diesem Zusammenhang schrieb Balázs 1917 für Bartók auch das Ballett »Der hölzerne Prinz«. Die von Bartók als »psychologische Programmmusik« bezeichnete Oper »Herzog Blaubarts Burg« zielt auf eine »klangfarbensymbolische Tiefendimension«,24 die der Arbeit einer Pina Bausch, die über das Körpergedächtnis25 immer auch am Unbewussten ihrer Tänzer sowie am kollektiven Unbewussten arbeitet, ebenso wie die Gründe und Abgründe von Liebesdramen deutlich entgegenkommt. Gerade 23 | Vgl. Hanno Loewy: Béla Balázs – Märchen, Ritual und Film, Berlin: Vorwerk 2003, S. 40ff. 24 | Zu Einzelheiten einer besonderen Synthese zwischen der musikalischen Komposition und dem skizzenhaften Libretto vgl.: Gabriella Rácz, Changierende Klangräume der Seele. Béla Bartók/Béla Balázs: Herzog Blaubarts Burg, a.a.O. 25 | Vgl. Petra Maria Meyer: »Körpergedächtnis als Gegengedächtnis. Unter Berücksichtigung der Dauer im Tanz«, Vortrag auf dem Symposion »Spuren. Körpergedächtnisse in Medien, Somatik, Tanz und Philosophie«, am 6.12.2008 in der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg. (http://mbody. metaspace.de/)

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der Umstand, dass Balázs weniger eine traditionelle Handlungsdramaturgie verfolgt, als vielmehr Ritualisierungsgeschehen und problematische Geschlechterkonstellationen im Gefühlsraum evoziert, macht auch das Libretto zur besonders geeigneten Grundlage einer Choreographie von Pina Bausch, die gleichsam das Bestreben, das TanzTheater zu revolutionieren, überaus erfolgreich fortsetzt.

E IN AUDIO - VISUELLER E RINNERUNGS - UND A FFEK TR AUM Die zahlreichen Symbole im Libretto, in dem sich Balázs beispielsweise auf den Symbolgehalt der »Nacht« als Übergang zum nächsten Tag, als seelischen Zustand oder als Tod stützt, werden im TanzTheater der Pina Bausch auf die andere körpersprachliche Ebene der Symptome verlegt. Der Ausdruckstanz, der innere Schauplätze seelisch gedanklicher Prozesse zu entäußern sucht, ergänzt die Symbolsprache von Balázs und die »psychologische Programmmusik« von Bartók durch eine materiell körperliche Ebene, die auch mit der »Todesästhetik«26 von Balázs korrespondiert, da die existenzielle Ebene der Körper- und Bewegungskunst durch gesteigerte Verausgabung immer wieder auch bezogen auf die Schwelle zwischen Leben und Tod spürbar wird. Auf der materiellen Ebene wird gleichsam Bartóks Komposition transformiert. Schon mit Blick ins Programmheft zur Choreographie ahnt das Publikum die Transformation. Im Unterschied zu Bartóks Oper, die eine Länge von 60 Minuten hat, dauert die Choreographie von Pina Bausch ca. 120 Minuten. Der musikalische Verlauf, die musikalische Bewegung des Blaubart-Stückes wird von Tonband eingespielt und mittels Cut-up-Methode27 neu komponiert. Die Oper wird dabei zum Rohmaterial, aus dem veränderte Formen einer Tonbandkomposition in einem selbst26 | Vgl. Béla Bálazs: Halálesztétika (Todesästhetik), Budapest: Papirusz 1907/8. 27 | In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die »Cut-up-Methode« durch den Maler Brion Gysin und den Schriftsteller William S. Burroughs propagiert. Dabei wurde die Montagetechnik zunächst auf den Prozess des Schreibens übertragen. Tonbandkompositionen nach diesem Verfahren oder auch filmische Spielarten – wie der Non-Camera-Film – folgten in den 60er Jahren. Vgl. dazu auch: William Burroughs: Electronic Revolution/Elektronische Revolution, Bonn: Expanded Media Editions 1986.

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referentiellen Prozess generiert werden können. Dabei werden nicht nur kompositorische, sondern auch psycho-logische Möglichkeiten ausgeschöpft. Ein Tonband kann sowohl dazu beitragen, zwanghafte Assoziationsabläufe zu wiederholen als auch festgelegte Assoziationsreihen zu unterbrechen und umzuleiten. In diesem Sinne wird die Medientechnik hier thematisch und szenisch. Das Tonbandgerät ist auf einem fahrbaren Tisch auf der Bühne platziert und wird von Jan Minarik bedient, der u.a. den Blaubart figuriert. Von Figuration lässt sich hier sprechen, weil Blaubart im Verlauf der Choreographie durch diverse Tänzer transfiguriert wird. Jeder Tänzer kann hier Blaubart werden.28 Abbildung 1: Beatrice Libonati, Jan Minarik in Pina Bauschs Choreographie »Blaubart – Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper ›Herzog Blaubarts Burg‹«, Foto: Ulli Weiss

In der Anfangssequenz der Choreographie sieht man den Tänzer Jan Minarik das Tonbandgerät starten und zu einer auf dem Bühnenboden liegenden Frau (Beatrice Libonati) herübergehen. Der Boden 28 | Unter den neuen, auch medial veränderten Bedingungen der Theaterkünste haben sich auch die Figurenkonzepte verändert. In diesem Zusammenhang geht man zunehmend von dynamischeren Konzepten aus, die sich von einer lange dominanten Tradition durch eine veränderte Begrifflichkeit der Figuration und Transfiguration absetzen.

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ist mit Laub bedeckt und die Tänzerin, die u.a. Judith figuriert, liegt auf dem Rücken. Sie hält beide Arme gerade nach oben gestreckt, während sich Jan Minarik auf sie legt. Gemeinsam rutschen sie geräuschvoll über den Boden, dann steht Jan Minarik auf, stoppt das Tonbandgerät, spult zurück und startet die Musiksequenz erneut. Wieder geht er zu der am Boden liegenden Frau, wieder legt er sich auf sie und wieder rutschen sie über den Boden, immer wieder und immer wieder. Eine Klangmaschine wird zum Stimulator des Begehrens und zur Energiequelle der Erinnerung gleichermaßen. Dadurch, dass sowohl der musikalische Verlauf als auch der kontinuierliche Handlungsverlauf abbricht und neu ansetzt, entsteht eine andere intensive zeitliche Ordnung körperlicher Bewegungen, die auch als Erinnerungsbewegung verstanden werden kann. In Variation des Freud’schen Verfahrens –, erinnern, wiederholen, durcharbeiten – könnte man hier von wiederholen, durcharbeiten, erinnern reden – ein Verfahren, das ein intensives Eindringen in die Erinnerungsbewegung des Körpers erlaubt, die Pina Bausch im Probenprozess zusammen mit ihren Tänzern freizusetzen sucht. Durch dieses doppelte Verfahren, das sich auf das menschliche Körpergedächtnis ebenso wie auf eine gestörte, dadurch veränderte Reproduktionstechnik des Tonbandes als Gedächtnismedium stützt, werden nicht nur die durch Kenntnis der Bartók-Oper via Erinnerung gegebenen Erwartungen gestört. Vielmehr wird auch eine enorme Intensitätssteigerung der Bewegungsverläufe bewirkt. Medienwissenschaftlich betrachtet bewirkt die Störung der technischen Reproduzierbarkeit eine gesteigerte Bewusstmachung der auf der Bühne ausgestellten Medientechnik und eine Reflexion der medienspezifisch anderen Intensität von Wiederholung und Differenz im Theater. Da zu jeder Reproduktion, die in Anfang und Ende leicht bis deutlich variiert, also nie genau die gleiche Musiksequenz wiederholt, mehrmals eine gleiche, niemals identische, szenische Aktion auf der Bühne vollzogen wird, überführt die Choreographie die Reproduktionstechnik zugleich in die Wiederholungsstruktur des Theaters, in dem sich nichts wiederholt. Eine neue Zeiterfahrung, die das intermediale Wechselspiel ermöglicht, wird ebenfalls sinnfällig: Mit Hilfe der Tonbandmontage ist eine Betonung der Zeit ebenso möglich wie ihre Manipulation durch Zeitraffung und -dehnung, Zeitsprünge vor und zurück, Simultaneität von Vergangenem und Gegenwärtigem. In Wechselwirkung mit den choreographierten Bewegungen werden

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diese Zeitphänomene als Dauer im Sinne von Henri Bergson erfahrbar.29 Diese Konzeption eines besonderen Erinnerungsraumes geht mit der eines veränderten Hörraumes einher. Pina Bauschs künstlerische Erinnerungsarbeit nutzt ein intermediales Verfahren auch dazu, um an die Bartók-Oper in unserem kulturellen Gedächtnis auf neue Weise zu erinnern.30 Trifft man in Pina Bauschs Choreographien gewöhnlich auf Collagen aus verschiedenen Musikeinspielungen unterschiedlicher Genres (Unterhaltungsmusik, Jazz oder klassische Musik), so wird hier eine Komposition durch Zerstückelung und Montage mittels einer Ästhetik der Unterbrechung neu erstellt. Wie die anderen musikalischen Versatzstücke gleicht auch die Bartók-Oper einem musikalischen Fundstück, das hier als Tonbandkomposition in neuer Form »konkreter Klänge« (im Sinne von Pierre Schaeffer) ans Hörerohr dringt.31 Durch den Einsatz des Tonbandes wird das »musikalisch Schöne« – ganz im Sinne der Neuen Musik – an die Art und Weise rückgebunden, in der der Ton oder die Stimme erklingt. Dadurch werden beide als Erklingende erst wahrnehmbar. Die Kunstform Oper, die sich insbesondere auch auf die menschliche Stimme als mediales Dazwischen stützt, das zwischen Körper und Sprache agiert, eignet sich sowohl zur Negation der Äußerlichkeit als auch zur Bewusstmachung der Physis. Da die Stimme in sich erzitternd kaum erklungen schon wieder verklungen ist, suggeriert sie, einen direkten Weg in die Innerlichkeit zu bahnen. Wo immer diese Suggestion gestört wird, 29 | Ich gehe diesem Aspekt in der Choreographie von Pina Bausch in einem anderen Zusammenhang nach, so dass er hier ausgespart wird: Vgl. Theresa Georgen/Petra Maria Meyer (Hg.): Intuition. Erinnerungs-, Erkenntnis- und Entscheidungsfähigkeiten der Künste, erscheint München 2010. 30 | Zu einer künstlerischen Erinnerungsarbeit am kulturellen Gedächtnis, die sich auf das andere Reproduktionsmedium Video stützt und eine andere, intensive Wiederholungsstruktur freisetzt, vgl. die instruktiven Überlegungen von Sigrid Schade: »Gedächtnis-Lücke-Kunst. Zu Vera Frenkels Inszenierung von Erinnerung in der Videoinstallation From the Transit Bar«, in: Claudia Öhlschläger/Birgit Wiens (Hg.), Körper-Gedächtnis-Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung, Berlin: Schmidt 1997, S. 57-72. 31 | Vgl. dazu Pierre Schaeffer: »La musique concrète/Die konkrete Musik«, in: Petra Maria Meyer (Hg.), acoustic turn, München: Fink 2008, S. 381-384.

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durch die Rauheit/Körnigkeit der Stimme (Barthes) oder die Differenz-Erfahrung ihrer medientechnischen Reproduzierbarkeit, wird auch »die Differenz (im eigenen) Körper«32 hörbar. Dieses Vorgehen kommt auch der tänzerischen Verstärkung der Physis entgegen. In diesem Sinne erscheint es konsequent, dass in Pina Bauschs Choreographie das Komponieren bzw. die Formung und Umformung der Organisation von Tönen, Klängen und Geräuschen in der Zeit (componere) an mediale Voraussetzungen in einem gleichsam selbstreflexiven inszenatorischen Verfahren gebunden wird. Obgleich Bartóks Komposition hier eine Transformation erfährt, zerstückelt und neu komponiert wurde, bleibt in jedem Fragment das Gedächtnis im Material gewahrt. Basale Themenschwerpunkte33 werden eindringlich versinnlicht und die Schmerzlichkeit der Szene eines scheiternden Geschlechterverhältnisses nimmt mit jeder Wiederholung eher zu, nicht ab. Diese gesteigerte Schmerzlichkeit wird auch auf der akustischen Ebene spürbar. Konnotationen, gefühlsbedingte Nebenbedeutungen des Blätterraschelns lassen Assoziationen zu Vergewaltigungen zu und ergänzen hier geräuschhaft Bässe und Celli von Tonband, die mit volksliedähnlicher Melodie ans Hörerohr dringen.34 Zur reichen Farb-, Klang- und Empfindungspalette der nie illustrativen, sondern spannungsvoll intensiven Musik von Bartók kommen vielfache Körpergeräusche des über Blätter rutschenden und rennenden Körpers, seiner Wallungen und bewegten Atmung, der vielfachen körperlichen Begegnungen etc. zu Gehör. Tanz bringt hier das Wirken des Körpers selber audio-visuell auf die Bühne. Die32 | Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 427. Vgl. zudem ausführlich zu einer philosophisch wechselnden Einschätzung auch der Stimme: Petra Maria Meyer, »Minimalia zur philosophischen Bedeutung des Hörens und des Hörbaren«, in: Dies.: acoustic turn, München: Fink 2008, S. 47-73. 33 | Vgl. zu den weitreichenden Motiven in Libretto und Oper, die einer gesonderten Reflexion bedürfen: Veronika Jezovsek: »Divergierende Schichten eines ästhetischen Manifests? Anmerkungen zu Herzog Blaubarts Burg«, in: Studia Musicologica 48/1-2 (2007). 34 | Béla Bartók hat nach Loewy kein einfaches Wiederfinden der Volksmusik angestrebt, sondern »Neue Musik«, die sich sowohl gegen die »Welt der Musikakademien« als auch gegen eine folkloristische Tradition des ›Volksstückes‹ richtete: Vgl. Hanno Loewy: Béla Balázs – Märchen, Ritual und Film, Berlin: Vorwerk 2003, S. 42.

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se akustischen Begleitgeräusche, auch Laute und Schreie, die den Tumult im Körper begleiten, die Geräuschhaftigkeit, die eine Physis von Mensch und Dingen auf die Bühne bringt, setzen der transzendierenden Kraft der Opernmusik konkrete Diesseitigkeit entgegen. Mit einer intermedialen Intervention bringt Pina Bausch die Musik gleichsam auf den Boden der Physis des Menschen sowie der Dingund Apparatewelt zurück. Diese andere Inszenierung wirkt sich auch auf ein hier keinesfalls armes Bühnengeschehen aus. Während bei Bartók jede Tür in Blaubarts Schloss ein spezifisches musikalisches Motiv aufweist und die persona von Judith und Blaubart durch die je unterschiedlichen Melodien hindurchtönen, betont Pina Bausch die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit der Figuren auch durch Transfigurationen, durch plurale Akteure, die prinzipiell alle zu Blaubart oder Judith werden können. Dabei wird die strukturierende Machtposition des Blaubarts, der Wiederholungszwang in seinem Regiment betont, der den Verlauf der Musik ebenso wie den Ablauf des Bühnengeschehens zu steuern vermag. Wenn Jan Minarik als Blaubart unter schwarzem schweren Mantel breitschultrig oder im leichten rot und weiß gestreiften Seidenmorgenrock, der die nackte Brust eher ausstellt als verdeckt, immer wieder auf die Tonbandmaschine stürzt, wird er Teil einer Maschinerie, die Affekte und Aktionen auf der Bühne steuert.35 Musik und Sprache affizieren die Körper und geben ununterbrochen unterbrochene Impulse zu Serien von Zusammenstößen, unerfüllten, unerfüllbaren Berührungen von Körpern, die vergeblich bemüht sind, das Begehren des anderen zu wecken und das eigene zu entdecken. Kontakte werden geknüpft, reißen wieder ab. Körper begegnen sich, um sich immer wieder zu verfehlen in immer neuen Anläufen. Mit dem Abreißen der Stimme zerschellen auch die Bilder und Phantasmen.

35 | In diesem Zusammenhang wäre eine Relektüre einer wichtigen Studie instruktiv, die das diskursive Feld in der Zeit, in der Pina Bauschs Choreographie entstand, beeinflusste: Klaus Theweleit, männerphantasien. 1: frauen, fluten, körper, geschichte und 2: männerkörper – zur psychoanalyse des weißen terrors, Frankfurt a.M.: Roter Stern 1977 und 1978. Ein solcher Exkurs würde hier jedoch zu weit führen.

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TONBAND – S PUR – K ÖRPERGEDÄCHTNIS Das Tonband wird zur Erinnerungsmaschine, die gerade durch permanente Unterbrechung einem ununterbrochenen Aufruf gleichkommt, sich an eine immer andere gleiche Geschichte zu erinnern, eine Gedächtnisarbeit zu leisten, die gerade in den Erinnerungslücken, in den immer neuen Anläufen aus der Latenz heraus über sich hinaus zu einer »Erinnerung des Neuen« gelangt. Von Bartóks Musik wie vom »Drama der Entblößung« bleiben Spuren, fragmentarisierte Sequenzen auf der Tonspur und die Spuren, die das Körpergedächtnis durch die Bewegungen der TänzerInnen choreographisch zieht. Spuren werden von Sigmund Freud über Henri Bergson bis Jacques Derrida als Gedächtnismedienmetaphern eines dynamischen Prozesses der zeitlich veränderlichen Einschreibungen oder Markierungen verstanden.36 Die Spur, das ist das kaum Merkbare, Geringe, Unscheinbare, das aus der Latenz, aus dem Verborgenen heraus Wirksamkeit hat. Pina Bausch arbeitet mit dieser Wirksamkeit, die sie bei ihren Tänzern freizusetzen sucht, indem sie sie bittet, ihre individuellen Erfahrungen und Erinnerungen schon im Probenprozess einzubringen. Die Intensitäten der tänzerischen Bewegung37 generieren sich somit immer auch aus den Spuren eines Körpergedächtnisses, kraft dessen sich in einem von Pina Bausch eröffneten Affektraum der Liebe nicht überzeitliche Gefühle, sondern leibliche Empfindungen freisetzen. Indem die Choreographin und Tänzerin Pina Bausch immer auch die Einschreibungen von Sozialisation ins Körpergedächtnis durch ihre TänzerInnen vorführen lässt, macht sie gleichsam den Doppelcharakter von Körperlichkeit bewusst, sowohl phänomenologisch erfassbarer Leib als auch semiotisierter und medial durchformter Körper zu sein. Individuelles und sozio-kulturell sowie medial durchformtes Allgemeines lassen sich nicht strikt trennen. Auch das verdeutlichen wechselnde Szenen in diesem Affekt36 | Vgl. dazu ausführlicher meinen Vortrag: »Körpergedächtnis als Gegengedächtnis und Dauer im Tanz«, gehalten auf dem Symposion »Spuren. Körpergedächtnisse in Medien, Somatik, Tanz und Philosophie«, am 6.12.2008, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg. (http://mbody.metaspace.de/) 37 | Dadurch knüpft Pina Bausch zugleich an eine avantgardistische Theaterpraxis an, in der seit Antonin Artaud solche Intensitäten einem Körpergedächtnis abgewonnen werden.

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raum, in dem die facettenreiche Gewalt zwischen den Geschlechtern mit intermedialer Strategie versinnlicht wird. Abbildung 2: Marlis Alt, Jan Minarik in Pina Bauschs Choreographie »Blaubart – Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper ›Herzog Blaubarts Burg‹«, Foto: Ulli Weiss

Das Tonband wird von Blaubart zwischenzeitlich wie ein Kanonenwagen geführt zur Waffe, mit der er Judith (Marlis Alt) bedrängt, sie in die Ecke zwingt, einschließt, ihr keine Abwehrchance lässt. Wenn der Zuschauer zudem mit dem imperativen Ton von Band die Worte »küss mich« vernimmt, erblickt er Judith, durch eine fahrbare Befehlsmaschine abgeriegelt von der Welt, im Zwinger der Worte. Als hätte er die Mechanik des Tonbandgerätes inkorporiert, bedarf der Blaubart-Figurant am Ende weder der Maschine noch der Musik mehr. Die Aktionen der Tänzer dirigiert er nun durch Händeklatschen. Später wird die Truppe der Mannsbilder zur Variation der Befehlsmaschine gruppiert und der Kasernenton in vielfältiger Form wieder aufgegriffen.

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V OM TERRITORIAL BESTIMMTEN ZUM PERFORMATIV GENERIERTEN R AUM Im Raumkonzept von Pina Bauschs Choreographie »Blaubart« ist bereits der Wandel vom territorial bestimmten Raum, der durch codierte Zeichen des Raumes als bestimmte Lokalität identifizierbar ist, zum performativen Raum erkennbar. Erneut auf die Differenzierung zwischen Ort und Raum von Michel de Certeau Bezug nehmend, lässt sich das folgendermaßen verdeutlichen. Auf einer Zeichnung des Bühnenbildners Rolf Borzik sieht man den reduziert markierten Ort der Blaubart’schen Burg als »momentane Konstellation von festen Punkten«,38 in dem die Türen an Blaubarts Burg erinnern. Man sieht aber auch einen offenen, weitläufigen Raum, der durch das fahrbare Tonbandgerät deutlich als Bewegungsraum, der sich bewegen und verwandeln lässt, erkennbar wird. Abbildung 3: Zeichnung zur Szenographie von Rolf Borzik

Mit dem beweglichen Tonbandgestell sind gleichsam »Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit«39 in das Raumkonzept des Bühnenbildners integriert. Dass etwas mit dem Ort gemacht wird, erfährt das Publikum in zweifacher Weise szenographisch und choreographisch. 38 | Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 218. 39 | Ebd.; S. 218.

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Szenographisch wird das Tonband als musikalischer Klangkörper und handhabbares Ding auf der Bühne zentral, da es über seinen Requisitenstatus hinaus zum Mit-Akteur wird, der eine Transformation von Bartóks Oper ermöglicht. Zu der Transformation und Bewusstmachung der medientechnischen Verfasstheit der Musik, die sich einer intermedialen Strategie verdankt, kommt eine choreographische Arbeit am performativ generierten Raum durch die Bewegung der Tänzer hinzu. Dabei ist die audio-visuelle Betonung der Physis des menschlichen Körpers und des Räumlichen zentral. Borziks Raumkonzeptionen boten stets viel Raum für gehen, tänzeln, stolzieren, schlurfen, hasten, rennen, für gehende Schrittfolgen und rutschende Körper. Dabei geht es immer auch um die spezifische Bewegung selber und ihren akustischen Ausdruck, um ihren performativen audio-visuellen Verlauf. In der realisierten szenischen Umsetzung wird das Raumkonzept entsprechend durch einen geräuschhaft genutzten und betanzten, laubbedeckten Boden ergänzt, in dem sich gleichsam Natur- und Kulturraum, innen und außen einander durchdringen. Die leibliche Ausdruckskraft der TänzerInnen, die verdeutlichen, dass ihnen das, was sie am eigenen Leibe erfahren haben, wieder und immer wieder nahegeht, entfaltet zugleich einen erlebbaren Existenzraum. Als »Mittel überhaupt, eine Welt zu haben«,40 generiert der Leib nach Maurice Merleau-Ponty sowohl alltägliche als auch tänzerische Ausdrucksräume über Gesten oder einen motorischen Habitus. Die Ausdrucksräume von Pina Bausch sind in diesem Sinne auch von einem existenziellen Anspruch geprägt, der sich sowohl in Alltagsbewegungen als auch in abstrakten Bewegungsphrasierungen ausformt. Die Choreographie »Blaubart – Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper ›Herzog Blaubarts Burg‹« als prototypisches Beispiel für den audio-visuellen Raum zu thematisieren, erscheint schon deshalb naheliegend, weil hier insbesondere durch eine akustische Inszenierung das Raum-Zeitgefühl der Bartók-Oper entschieden 40 | »Der Leib ist unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben. Bald beschränkt er sich auf die zur Erhaltung des Lebens erforderlichen Gesten und setzt korrelativ um uns herum eine biologische Welt; bald spielt er auf diesen ersten Gesten und geht von ihrem unmittelbaren zu einem übertragenen Sinne ihrer über, durch sie hindurch einen neuen Bedeutungskern bekundend: so im Falle eines motorischen Habitus wie etwa des Tanzes.« Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1966, S. 176.

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verändert und die transzendierende Kraft von Musik paradoxiert wird. Das Wechselspiel von hör- und sichtbarem Bewegungsraum lässt bereits eine Ebene der Dazwischenwahrnehmung41 spürbar werden, auf der sich der intermedial generierte, differenzielle Raum immer wieder anders performativ konstituiert. Auf der Ebene der Wahrnehmung zwischen Hören und Sehen erweist sich die Choreographie von Pina Bausch zugleich als intensive Konfrontation mit Widerständigkeit, die ausgetragen wird. Sie zerstückelt den Opern-Corpus,42 transformiert den durch Bartók gestimmten Hörraum, reichert ihn mit Geräuschen und Lauten des physischen Aktionsraumes an und entfaltet einen spannungsreichen audio-visuellen Anschauungsraum, der immer schon Raum der Phantasmen und Imaginationen ist.43

L ITER ATUR Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 1994. Baier, Franz Xaver: Der Raum, Köln: König 2000. Bálazs, Béla: Halálesztétika (Todesästhetik), Budapest: Papirusz 1907/8. Balázs, Béla: »Herzog Blaubarts Burg. Anmerkungen zum Text«, in: Ders., Ausgewählte Artikel und Studien, Budapest 1968. Zit. nach Gabriella Rácz: Changierende Klangräume der Seele. Béla Bartók/ 41 | In Gegenwartschoreographien, die avancierte Medientechniken zur Generierung relationaler Zeit-Räume mit wechselnden audio-visuellen Raum-Zeiten nutzen, werden Ebenen des Dazwischenwahrgenommenen zentral, die den Wahrnehmungsprozess dynamisieren. Vgl. dazu: Petra Maria Meyer: »Der Raum, der Dir einwohnt. Zu existentiellen Klang- und Bildräumen«, in: Bohn/Willharm 2009. 42 | Zum Fragmentarischen, das verschiedene Ebenen der Choreographien von Pina Bausch durchdringt, vgl. Susanne Schlicher, TanzTheater, Reinbek bei Hamburg 1987. Schlicher widmet sich in ihrer wichtigen Studie zu verschiedenen Vertretern des TanzTheaters, Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Hans Kresnik und Susanne Linke, der hier reflektierten Choreographie nur sehr kurz. 43 | Die Unterscheidung zwischen »gestimmtem Raum«, »Aktionsraum« und »Anschauungsraum« entnehme ich Elisabeth Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a.M. 1977.

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Béla Balázs: Herzog Blaubarts Burg. (www.kakanien.ac.at/beitr/ emerg/Gracz1.pdf , 30.05.09.) Balázs, Béla: »Zur Kunstphilosophie des Films« (1938), in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 2001, S. 201-223. Balázs, Béla: »Der sichtbare Mensch« (1924), in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 2001, S. 224-233. Bergson, Henri: Zeit und Freiheit, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1994. Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart, Bern, Köln: Kohlhammer 1989 (Erstaufl. 1963). Burroughs, William: Electronic Revolution/Elektronische Revolution, Bonn: Media Editions 1986. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988. Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Fromm, Ludwig: Verräumlichungen, Kiel: Muthesius-Kunsthochschule 2009. Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis, Leipzig: Reclam 1990, S. 34-46. Georgen, Theresa/Meyer, Petra Maria: Intuition. Erinnerungs-, Erkenntnis- und Entscheidungsfähigkeiten der Künste, erscheint München 2010. Herrmann, Max: »Das theatralische Raumerlebnis« (1931). Wieder abgedruckt in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 501-514. Jezovsek, Veronika: »Divergierende Schichten eines ästhetischen Manifests? Anmerkungen zu Herzog Blaubarts Burg«, in: Studia Musicologica 48/1-2 (2007), S. 147-162. Loewy, Hanno: Béla Balázs – Märchen, Ritual und Film, Berlin: Vorwerk 2003. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1965. Meyer, Petra Maria: acoustic turn, München: Fink 2008. Meyer, Petra Maria: »Intensität der Zeit in John Cages Textkompositionen«, in: Günther Heeg/Anno Mungen (Hg.), Stillstand und Bewegung. Intermediale Studien zur Theatralität von Text, Bild und Musik, München: epodium 2004, S. 227-237.

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Meyer, Petra Maria: Intermedialität des Theaters, Düsseldorf: Parerga Verlag 2001. Meyer, Petra Maria: »Der Körper als Interface zwischen den Medien im Gegenwartstanz«, in: Hajo Kurzenberger/Annemarie Matzke (Hg.), TheorieTheaterPraxis. Theater der Zeit. Recherchen 17, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 286-296. Meyer, Petra Maria: »Körpergedächtnis als Gegengedächtnis. Unter Berücksichtigung der Dauer im Tanz«, Vortrag auf dem Symposion »Spuren. Körpergedächtnisse in Medien, Somatik, Tanz und Philosophie« am 6.12.2008 in der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg. (http://mbody.metaspace.de/) Meyer, Petra Maria: »Medialisierung und Mediatisierung des Körpers. Valie Export und Nan Hoover mit Henri Bergson und Maurice Merleau-Ponty bedacht«, in: Petra Maria Meyer (Hg.), Performance im medialen Wandel, München: Fink 2006, S. 223-257. Meyer, Petra Maria: »Minimalia zur philosophischen Bedeutung des Hörens und des Hörbaren«, in: Petra Maria Meyer (Hg.), acoustic turn, München: Fink 2008, S. 47-73. Meyer, Petra Maria: »Der Raum, der Dir einwohnt. Zu existentiellen Klang- und Bildräumen«, in: Ralf Bohn/Heiner Willharm (Hg.), Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, Bielefeld: transcript 2009, S. 105-134. Meyer, Petra Maria: »Stimme, Geste und audio-visuelle Konzepte. Akustische Kunst – Performance – »Theater der Ohren«, in: Petra Maria Meyer (Hg.), acoustic turn, München: Fink 2008, S. 291351. Rácz, Gabriella: Changierende Klangräume der Seele. Béla Bartók/ Béla Balázs: Herzog Blaubarts Burg. (www.kakanien.ac.at/beitr/ emerg/Gracz1.pdf, 30.05.09.) Schade, Sigrid: »Gedächtnis-Lücke-Kunst. Zu Vera Frenkels Inszenierung von Erinnerung in der Videoinstallation From the Transit Bar«, in: Claudia Öhlschläger/Birgit Wiens (Hg.), Körper-Gedächtnis-Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung, Berlin: Schmidt 1997, S. 57-72. Schaeffer, Pierre: »La musique concrète/Die konkrete Musik«, in: Petra Maria Meyer (Hg.), acoustic turn, München: Fink 2008, S. 381384. Soja, Edward: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London u.a.: Verso 1989.

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Ströker, Elisabeth: Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a.M.: Klostermann 1977. Weigel, Sigrid: »Zum topographical turn – Kartographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik 2/2 (2002), S. 151-165.

A BBILDUNGEN Abb. 1: Foto: Ulli Weiss. Abb. 2: Programmheft zu »Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von …«, hg. von den Wuppertaler Bühnen zur Wiederaufnahme von Pina Bauschs Stück am 29. März 1981, ohne Seitenangaben. Foto: Ulli Weiss. Abb. 3: Tanztheater Wuppertal Pina Bausch GmbH (Hg.): Rolf Borzik und das Tanztheater, a.a.O., S. 73.

Choreographien der Leere Zur Eröffnung des Jüdischen Museums und des Neuen Museums in Berlin Isa Wortelkamp

In einem leeren Museum ist nichts zu sehen, verwehrt niemand die Sicht. Blicke wandern über die Wände, Schritte hallen auf dem Boden. Die Leere des Museums ist umgeben von einer Hülle, die sich von der Außenwelt abgrenzt und einen Ort der Stille und Ruhe anbietet. Jenseits der Stadt, die nach dem Besuch anders wahrnehmbar wird. Im Gang durch die Leere vermag sich der Gehende seiner Bewegungen selbst bewusst zu werden – entlang der Wände, über Schwellen, durch Türen und Flure. Mit jedem Schritt eröffnet sich dem Blick eine andere Sicht, die nichts verstellt und die sich im Stillstand und in Bewegung je anders verhält: Im Stillstand vermag das Auge über die Leere der Wände, in die Tiefe und Höhe des Raumes zu wandern. In der Bewegung nähert sich der Körper den Dingen, kommt auf sie zu, verändert seine Haltung zum Raum, den er ergeht und in dem er vergeht. Die Zeit des Museums wird durchdrungen von der Lebenszeit, die der Besucher mit sich bringt. In einen Ort und in einer Ordnung, die sich dem Vergehen entgegensetzen. Michel Foucault zählt das Museum zu den Heterotopien sich endlos akkumulierender Zeit: »Museen und Bibliotheken sind Heterotopien, in denen die Zeit nicht aufhört, sich auf den Gipfel ihrer selber zu stapeln und zu drängen, während im 17. und noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Museen und die Bibliotheken Ausdruck einer individuellen Wahl waren. Doch die Idee, alles zu akkumulieren, die Idee, eine Art Generalarchiv zusammenzutragen, der Wille an einem Ort alle Zeiten, alle Epochen, alle Formen,

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alle Geschmäcker einzuschließen, die Idee, einen Ort aller Zeiten zu installieren, der selber außer der Zeit und sicher vor ihrem Zahn sein soll, das Projekt, solchermaßen eine fortwährende und unbegrenzte Anhäufung der Zeit an einem unerschütterlichen Ort zu organisieren – all das gehört unserer Modernität an.«1 Die Idee eines Museums als Speicher der Zeit vermittelt sich auch noch oder gerade in leeren Museen, deren Räume, nicht nur leer-, sondern auch bereitstehen, Zeit und Geschichte zu bewahren. Leerstellen einer kommenden Ausstellung, in denen der Augenblick der Zurschaustellung und der Schaulust aufgeschoben ist. Leere Museen halten den Dingen Raum und Zeit offen, sind für sie da und verweisen so auf eine Anwesenheit in der Abwesenheit. In der Gegenwart der Leere macht sich die Gegenwart der Zeit bemerkbar zwischen Vergangenem und noch Kommendem. Der Besucher der Leere bewegt sich zwischen diesen Zeiten, in denen er nichts sieht. Was er zu sehen vermag, ist, dass er und wie er nichts sieht. Nichts, außer dem Raum selbst. Durch seine Weg- und Bewegungsführung wird sein Gang geleitet – der Blick in die Leere ist nicht ohne Halt, vollzieht sich ausgehend von einem Körper, der von der Architektur des Museums bewegt ist. Die Bewegung durch die leeren Räume eines Museums scheint auf eine Sehnsucht zu antworten, die sich in der gegenwärtig zunehmender Zurschaustellung leerer musealer Bauten ablesen lässt. Das liegt, wie hier am Beispiel des Jüdischen Museums und dem Neuen Museum in Berlin zu zeigen sein wird, nicht zuletzt in der Architektur der Museen begründet, die den Besuchern als Sehenswürdigkeit er- und geöffnet wird. Die Architektur des Museums wird selbst zum Exponat und in beiden Fällen zur Ausstellung seiner eigenen Geschichte.

1 | Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck/Peter Gente/ Heidi Paris (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1992, S. 34-46, hier S. 43.

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J ÜDISCHES M USEUM B ERLIN Abbildung 1: Daniel Libeskind, Innenansicht Jüdisches Museum Berlin, der Holocaust-Turm

Im Jüdischen Museum Berlin von Daniel Libeskind beginnt der Weg in die Leere zugleich mit einem Blick in die Tiefe. Steinern und schwarz führt eine Treppe im barocken Bau des Kollegienhauses in ein unteres Geschoss. Mit dem Abstieg, der sich kühl und dunkel von der Umgebung abgrenzt, vollzieht sich der Einstieg in einen anderen Raum. Hier beginnt der Parcours durch die verschiedenen Achsen des Gebäudes, die in ihren Überschneidungen und Überkreuzungen die Übersicht und Einsicht in die Wegführung verwehren. Sie vermittelt sich als eine in der Architektur enthaltene Choreographie, welche die Bewegung durch die Leere rhythmisiert und strukturiert. In der teils unmerklichen, teils merklichen Steigung des Bodens zeigt sich der Gang als ein Gehen, bei dem der Körper im allmählichen Auf- und Anstieg sein Gewicht leicht nach vorne verlagert. Gleichzeitig sind die Wände entlang der Wege geneigt und nehmen dem Körper den gewohnten Halt der Senk- und Aufrechten. Angesichts der fehlenden rechten Winkel zwischen Boden und Wand ist die Wahrnehmung der eigenen Ausrichtung des Körpers und seiner Bewegung verunsichert, muss er sich des eigenen Lotes neu vergewissern. In einem Turm lässt die Schräge des Bodens und die Höhe des Raumes die Nähe zur Wand suchen. An ihr lehnend, die Hände im Rücken, kann man die Grenzen des Körpers an der Begrenzung des Raumes erfahren, der – wenn man

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sich bis in seinen äußersten spitzen Winkel bewegt – den Körper fest von vorne und hinten umfasst. Dieser Halt wird in einem Raum außerhalb des Gebäudes verwehrt: Ein von Mauern umgrenztes Stelenfeld erschließt sich im Umhergehen als quadratische Grundfläche, die über Eck gekippt ist und im Zentrum eine Neigung des Körpers zu jeder Richtung erfordert. Mit der Neigung des Bodens muss der Körper abermals sein Gleichgewicht gegen die jeweilige Steigung nach vorne verlagern. Dabei erscheint der Boden, folgt man der Ausrichtung der Stelen, die sich senkrecht vom Boden erheben, als gerade Ebene. Erst wenn man den Horizont der Umgebung außerhalb des Stelenfeldes als das, was er gewohnheitsmäßig ist und besagt, nämlich als Horizontale, wahrnimmt, so wird der im Verhältnis zu den senkrechten Stelen und dem angepassten Stand ebene Boden wieder als schiefe Ebene bewusst. Im Wechsel der Wahrnehmungen kommt es zu einem Gefühl des Unwohlseins bis hin zum Schwindel, der noch auf dem weiteren Weg vorbei an Schrägen, über Steigungen und Neigungen im Inneren des Gebäudes nachwirkt. Am Ende eines anderen Ganges wird, zunächst nur als Ausschnitt zwischen Boden und Decke, eine Treppe sichtbar, die sich erst in der Bewegung auf sie zu in ihrer ganzen Dimension von Höhe und Weite erschließt. Die weite Öffnung des Raumes nach oben, welche die aufsteigende Bewegung des Körpers hervorhebt, wird nur von den Verstrebungen der Betonträger durchbrochen, die sich zwischen die weißen Wände stemmen, Abstand und Verbindung zugleich haltend. Der Aufstieg endet vor einer Wand. Entgegen einem gewohnten Durch- und Übergang am Ende einer Treppe führt die letzte Stufe in den Stillstand. Über einen seitlichen Zugang gelangt man in die oberen weitläufigen Räume des Gebäudes, in denen hin und wieder schwarze Blöcke den Weg durchqueren, die, unbegehbar, durch schmale Fenster nur die Einsicht in ein Innen ermöglichen, das leer bleibt. An den Außenwänden der oberen Räume geben schwarz eingefasste Fensterschlitze in Linien, Achsen und Winkeln den Blick nach draußen frei. Wie Einschnitte durchziehen sie die Wandflächen und erinnern in ihren Überschneidungen und -kreuzungen im Rückblick und vermeintlichen Überblick an die Weg- und Bewegungsführung: Die Erinnerung an den zurückliegenden Parcours, die hier wachgerufen wird, ist geprägt von einem Gefühl der Desorientierung und Instabilität, des Schwindels und Wankens. Diese Übertragung entsteht hier in der Un- und Umordnung von gewohnten Gängen, in der Ver- und

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Umkehrung der vertrauten Verhältnisse in der räumlichen Wahrnehmung. Im Jüdischen Museum wird der Besucher auf seine gewohnten Erfahrungen, auf seine Gewissheiten verwiesen und in seinen mit den Gewohnheiten des Sehens verbundenen Erwartungen von Haltungen und Handlungen verunsichert. Im Umgang mit dem Raum geraten hier Grundfeste ins Wanken und damit auf eigentümliche Weise die Gefühle und Gedanken in Bewegung – in Räumen, in denen die Wege in ihren Überkreuzungen und Überschneidungen unüberschaubar werden oder vor einer Wand enden; in Räumen, in denen Wände sich gegen den Körper neigen und das rechte oder als richtig erachtete Maß von Körper und Raum unterlaufen. Diese Körper-Erfahrungen treten im Jüdischen Museum in eine Beziehung zu jenen historischen Ereignissen, für die seine Architektur einsteht. Eine Geschichte, die sich hier im Dialog zwischen den Linien vergegenwärtigt. In einem Gebäude, das mit seinen Leerräumen im Zeichen des Holocaust auf die Leerstellen von Geschichte – als Schichtung und Schreibung von Geschichte, als Archivierung und Musealisierung – verweist. In der Anwesenheit der diese Leere schwarz umgrenzenden Wände ist das Abwesende in die Architektur eingebaut – ist das Immaterielle im Materiellen markiert. Im unbegehbaren Raum vergegenwärtigt sich das Undenkbare, stellt sich in den Weg, stellt still. Die Choreographie der Architektur trägt, indem sie den Besucher in seinen Bewegungen durch das Gebäude immer wieder neu ab- und umlenkt, ihn anund aufhält, schräg und still stellt, zu einem Gefühl der Leere bei. Der Verlust von Orientierung und Balance macht mit der Leere auch die eigene Fülle – das Einnehmen von Raum – bewusst. Die Abwesenheit verweist auf die Anwesenheit eines gehenden und sehenden Körpers im Museum.

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N EUES M USEUM B ERLIN Abbildung 2: August Stüler/David Chipperfield, Neues Museum Berlin, Haupttreppenhaus mit neuer Treppe aus Fertigteilbeton

Im Neuen Museum zeigt sich die Leere weniger mittels der Bewegung des Betrachters als durch den Anblick und die Ansicht des Gebäudes, das hier ausgestellt wird. Das Exponat ist das Resultat des Sanierungskonzeptes und Rekonstruktionsprozesses des zwischen 1843 und 1855 von Friedrich August Stüler errichteten Gebäudes durch den Architekten David Chipperfield. Es ist zugleich Dokument eines klassizistischen Museumsbaus, dessen Zweck es nach Stüler sein soll, »[…] ausser dem Genusse schöner Kunstwerke auch eine möglichst klare und ausgedehnte Uebersicht der Kunstübungen verschiedener Völker und Zeiten zu gewähren«.2 Die Architektur solle zum »Träger der Skulptur und der Malerei«3 werden. Dieses Anliegen vermittelt sich durch die offenen und klaren Räume, die weniger den Körper als den Blick lenken. Der Gang durch das Neue Museum ermöglicht eine weite Sicht in die mehrere Räume durchziehenden Fluchten. Das Gehen wird zu einem Schreiten über Schwellen, die den Blick in im2 | Friedrich August Stüler: Das neue Museum in Berlin: 24 Tafeln, Berlin: Ernst & Korn 1862, Erläuterungen Tafeln I – XII. 3 | Ebd.

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mer neue Räume öffnen. Diese Leere gibt nicht nur der Bewegung, sondern auch der Geschichte Raum: der Geschichte des Krieges, der mit der Bombardierung von 1943 und 1945 eine Ruine hinterließ. Bruchstücke der Erinnerung. Bilder einer anderen Zeit, in denen man brandgeschwärzte Säulenhallen und durch Risse im Gewölbe den Himmel zu sehen vermeint. In diesem Museum liegen die Spuren der Geschichten offen: die des Baus und die der Arbeit mit den Bruchstücken und Leerstellen der vergangenen Zeit. In den Versatzstücken von Altem und Neuem, die sich in der Gegenüberstellung voneinander abgrenzen und so ihre Grenzen zeigen und befragen zugleich. Sichtbar wird keine Ganzheit, keine Geschichte – sondern eine Schichtung von Zeit: zwischen den Rändern des verbliebenen Putzes, der das Gemäuer an manchen Stellen verdeckt und an anderen offen legt; zwischen den Resten des Steines, der sich alt neben dem Neuen hervorhebt, zwischen den Fugen zugemauerter Fenster, die durch die Versetzungen und Veränderungen an den Wänden entstanden sind. An ihnen sind Fresken, deren Malereien den Blick ins Freie öffnen – irgendwohin, in die Weite von Landschaften. Und mitten in diesen Schichten der Zeit hebt sich weiß das Neue ab, wie eine feine Zäsur in dem Gemäuer der Geschichte, in ihren Verläufen und Übergängen. In dieser Rekonstruktion zeigt sich eine Arbeit mit Geschichte, die sich nicht im Sinne der Wiederherstellung eines Verlorengegangenen vollzieht, sondern im Umgang mit den hinterlassenen Leerstellen und Bruchstücken. Rekonstruktion markiert so jene Konstruktion, die ihr Begriff impliziert. Es ist eine Arbeit, die sich ihrer eigenen Bewegungen und jenen des »dokumentarischen Gewebes« bewusst ist, das Foucault in der Archäologie des Wissens folgendermaßen beschreibt: »Das Dokument ist also für die Geschichte nicht mehr jene untätige Materie, durch die hindurch sie das zu rekonstruieren versucht, was die Menschen gesagt oder getan haben, was Vergangenheit ist und wovon nur die Spur verbleibt: sie sucht nach der Bestimmung von Einheiten, Mengen, Serien, Beziehungen in dem dokumentarischen Gewebe selbst.«4 Und diese Suche vollzieht sich auch mit der Bewegung des Besuchers durch das leere Neue Museum. Ihm kommt die Verbindung all jener Elemente zu, die hier offen gelegt und zu sehen gege-

4 | Michel Foucault: Die Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 14.

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ben sind. Durch diese Verbindung entstehen Bezüge, entwickeln sich Bilder, vermittelt sich Geschichte – füllt sich die Leere. Museen, die Leere zeigen, geben eigenen Bewegungen und Bildern Raum. Diese Leere bleibt bestehen, bis eine Ausstellung übernimmt, den Dingen einen Ort und eine Ordnung zu geben. Bis dahin kommen sowohl im Jüdischen Museum als auch im Neuen Museum zahlreiche Besucher dem Angebot nach, die leeren Ausstellungsräume zu begehen. Das Jüdische Museum Berlin zog zwischen Februar 1999 und Juli 2000 mehr als 200.000 Besucher an. Im Frühjahr 2009 nahmen in Berlin Tausende das Angebot wahr, das Neue Museum zu besuchen – Monate vor dem Einzug der ägyptischen und der vor- und frühgeschichtlichen Sammlungen, darunter die Büste Berlins ägyptischer Königin Nofretete. Der Augenblick der Stille rückt in weite Ferne. Die Einsamkeit in verlassenen Ruinen bleibt das Bild einer romantischen Sehnsucht. Die Bewegung durch die leeren Räume des Museums wird zur Massenbewegung. Nicht mehr der Blick auf ein Bild, sondern auf eine Leerstelle wird verstellt.

V ON DER L EERE ZUR F ÜLLE An diese Stelle rückt der Tanz. Die Berliner Choreographin Sasha Waltz wird für das Jahr 1999 mit der Eröffnung des Jüdischen Museums und 2009 für die des Neuen Museums in Berlin beauftragt. Unter dem Titel »Dialoge« entwickelt sie für beide Museen Choreographien, die sich auf die spezifische Situation, ihre Architektur und Geschichte beziehen. Und wieder stehen Menschen vor einem leeren Museum Schlange. 10 000 Zuschauer besuchen die insgesamt zehn Aufführungen.5 Die Leere sorgt für die Fülle in den Räumen. Vortritt hat der Tanz, dem die Besucher des Jüdischen Museums und des Neuen Museums folgen. Der Umgang mit dem Raum entspricht dabei den Gegebenheiten und der Umgebung der Architektur, die in 5 | Vgl. »Überwältigender Erfolg im Neuen Museum: Sasha Waltz & Guests ›Dialoge 09‹ begeisterte mehr als 10.000 Zuschauer«, Evelyn Finger, www. sashawaltz.de/a01_01.php?w=72. An anderer Stelle beginnt ein Artikel: »Das Volk zieht ein. Zu Hunderten strömt es die Treppen hinauf.« Michaela Schlagenwerth: »Ein lebender Fries. Bravouröse Eröffnung des Neuen Museums mit ›Dialoge 09‹ durch Sasha Waltz«, in: Berliner Zeitung vom 20.3.2009. Letzter Zugriff am 18. Juni 2009.

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beiden Fällen dem Tanz überlassen wird. Die Choreographie der Leere bringt Bewegung in den Raum. Im Jüdischen Museum Berlin umfasst diese Bewegung nicht nur die Tänzer, sondern auch den Besucher. Dies ist auch in der Architektur begründet, die als zeitgenössischer Bau selbst auf die Bewegung gerichtet ist. Die Geschichte des Ortes – als Ort für die Geschichte der Juden in Deutschland – ist in verschiedener Form in der Gestaltung des Gebäudes enthalten. Der Bezug des Tanzes auf den Raum ist immer auch ein Bezug auf diese Geschichte. Sie vermittelt sich in erster Linie durch die Komposition und die Struktur der Architektur, die durch die Choreographie aufgegriffen wird. Dabei eröffnet der Tanz den Bau, indem er Blicke und den Bewegungen des Betrachters die Räume bahnt. Der Tanz bewegt dazu, sich in den Ort zu begeben und sich auf ihn einzulassen: sich der Enge oder Weite, den Höhen und Tiefen, Fluchten, Schrägen und Winkeln auszusetzen. Was dem im Wege steht, ist die Fülle, die der Tanz mit sich bringt: die Fülle der Tänzer, die Fülle der Besucher, die erst nach dem Ende der Aufführung wieder die Möglichkeit haben, die Leere zu erfahren. Während der Aufführung ist ihr Weg in steter Begleitung und Leitung. Zur rechten Zeit und am rechten Ort wird der Besucher durch die Choreographin, Sasha Waltz, selbst dazu angehalten, weiterzugehen, als könne er den Tänzern nicht folgen oder als könnten die Tänzer nicht führen. Im Neuen Museum legt die Choreographie der Leere wie in einem Rekonstruktionsprozess die Geschichte des Gebäudes in mehreren Schichten offen. Alt verbindet sich mit Neuem. Historische Zitate mit der Tanzkonzeption von Sasha Waltz. Auf den vier Ebenen des monumentalen Gebäudes setzt sie gemeinsam mit 70 beteiligten Künstlern Tanz und Musik ins Verhältnis zur Architektur. Weniger die Architektur als vielmehr seine Geschichte als Museumsbau und Ausstellungsort wird hier zur Grundlage der Choreographie. Im Griechischen Hof bewegen sich unter dem Fries vom Untergang Pompejis Tänzer auf einem Mauervorsprung. Körper erheben sich wie zum Leben erwachte Mumien aus Sandschächten. Tänzerinnen bewegen sich auf Sockeln. Fragmente von Geschichten werden wachgerufen, wie sie in Bildern von Wandmalereien, Vasenbildern oder Friesen aus Museen bekannt sind und in der Ausstellung zu sehen sein werden. Zur Aufführung sind die Räume mit Besuchern und Tänzern gefüllt. Man nimmt sich Raum und Sicht. Ein Raumplan, den man zum Eintritt erhält, gibt Übersicht. Zusätzlich weisen schwarz gekleidete Auf-

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seher den Massen den Weg, verwehren oder gewähren Bewegung. An Ort und Stelle des Tanzes wird man auf Abstand gehalten. Im Griechischen Hof schieben Tänzer das Publikum mit der Bitte zurück, dem Tanz Platz zu machen. Es riecht nach Menschen. Und das Raunen dröhnt in den Ohren.

M USE ALISIERUNG DES TANZES Ein Paradox: mit der Leere zu werben und die Fülle zuzulassen. Ein weiteres Paradox, dass Tanz, der genuin Leere hinterlässt, im Museum Raum füllt und Wege verstellt, als sei er selbst Gegenstand. Bewegung führt hier zum Stillstand. Flüchtigkeit zum Bleiben. Der Körper des Tänzers wird zum Exponat, die Aufführung zur Ausstellung.6 Es kommt zu einer Musealisierung des Tanzes, die sich vor dem Hintergrund von Zuschreibungen zu vollziehen scheint, in denen die Bewegtheit und Lebendigkeit des Tanzes dem Raum und der Kunst des Museums entgegengesetzt wird. So ist, bezogen auf die Choreographien im Jüdischen Museum und im Neuen Museum, von einer Verlebendigung des Museums von Statuen, Friesen und Malereien durch den Tanz die Rede.7 Tänzer hauchen den leeren Räumen des Museums Leben ein und lassen die »[…] betongewordenen Metaphern des Architekten Daniel Libeskind für wenige Stunden wieder aus Fleisch und Blut« erscheinen.8 Die Vorstellung von einer lebendigen und belebenden Eigenschaft ist es auch, die in den letzten Jahren verschiedene Kuratoren dazu veranlasst hat, den Tanz in die 6 | Sasha Waltz bezeichnet ihre Choreographie im Neuen Museum als eine »temporäre Ausstellung«, www.sashawaltz.de/a03.php?w=1&ID=62&t=1 vom 18. Juni 2009. 7 | Vgl. Die Zeit vom 26.03.2009 Nr. 14 – 26. März 2009, www.zeit. de/2009/14/Dialoge-09, Neues Museum Berlin. »Schön ist der Mensch. Atemberaubend: Die Choreografin Sasha Waltz erweckt das Neue Museum in Berlin zum Leben.« Von Evelyn Finger. Des Weiteren ist die Rede von »dem unheimlichen Motiv der Statuenbelebung«. Oder: »Ein lebender Fries. Bravouröse Eröffnung des Neuen Museums mit ›Dialoge 09‹ durch Sasha Waltz«, Berliner Zeitung, Michaela Schlagenwerth, 20.3.2009. 8 | Katrin Bettina Müller: »Brüche im Fluß. Deconstructing Libeskind: Sasha Waltz und Gäste tanzen im Jüdischen Museum«, www.sashawaltz.de/ a03.php?w=&ID=40&t=4 vom 18. Juni 2009.

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Museen für zeitgenössische Kunst einzubeziehen.9 Es soll zu einer Verlebendigung der künstlerischen Werke und einer lebendigeren Teilnahme des Betrachters kommen.10 Als wären die Dinge des Museums tot, als wäre es die Aufgabe des Tanzes – gleich einer Muse – das Museum wach zu küssen.11 Tanz, der dem Ort und dieser Ordnung eines Museums folgt, erscheint selbst als Teil einer unbewegten und unbelebten Ausstellung. Er führt nicht nur zu seiner eigenen, sondern auch zur Musealisierung des Besuchers, dem beim Anblick des Tanzes der Stillstand droht. Je größer das Spektakel, desto größer auch die Stagnation.12 Der Eindruck der lebendigen und belebenden Gegenwart des Tanzes erhebt sich jedoch – so der Gedanke und Einwand dieses Textes 9 | Im Frankfurter Museum für Moderne Kunst posiert ein Tänzer auf einer Go-Go-Dancing-Platform (Elaine Sturtevant). In der Kunsthalle BadenBaden finden im Rahmen einer Eröffnung choreographische Interventionen des Tänzerkollektivs Vanessa le Mat und Prue Lang statt. Im Museum für Gegenwartskunst Siegen widmet sich eine ganze Ausstellung mit dem Titel »Tanzen, Sehen« dem Umgang der bildenden Kunst mit dem Tanz seit den 1960er Jahren bis heute. Auf der documenta 12 im Jahr 2007 sind mit Trisha Browns Performances Floor of the forest (1970), Accumulation (1971), dem Video Roof and Fire Piece (1973) erstmals in der documentaGeschichte Tanz-Performances im Museumsraum zu sehen. 10 |Hier folgt der Text Äußerungen von Udo Kittelmann, Astrid Ihle, Eva Schmidt, Roger M. Buergel im filmischen Beitrag von Carolyn Brandl, »Tanz im Museum? Über Tanz und Performance im klassischen Museums- und Ausstellungsbetrieb«, www.artsite.tv/tanzimmuseum0.html, 18. Juni 2009. 11 | Hier liegt eine etymologische Beziehung vor: »Museum n (< 16. Jh.). Entlehnt aus 1. museum Ort für gelehrte ›Beschäftigung‹, dieses über 1. museum aus gr. mouseion, einer Ableitung von mousaf. ›Muse‹.« Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Lexikon der deutschen Sprache, Berlin: New York 1999. Auch Waldenfels spielt den Bezug zur Muse an: »Gebrauchsdinge und Kunstwerke versammeln sich an einem Ort, der außerhalb des alltäglichen und profanen Lebens liegt und mit dem historisch zufälligen Namen des ›Museion‹ den emphatischen Sinn einer ›Museumsstätte‹ verbindet.« Vgl. Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 230. 12 | »Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, daß es zum Bild wird.« Vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, übers. von Jean-Jaques Raspaud, Berlin: Ed. Tiamat 1996, S. 27.

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– vor dem Hintergrund seines unentwegten Vergehens, der Eindruck seiner Anwesenheit vor der Abwesenheit.13 Jenseits der Dichotomien von belebt und unbelebt, von gegenwärtig und vergangen, von lebendig und tot, wäre mit Gerald Siegmund zu fragen, wie die Präsenz des Tanzes im Museum beschaffen sein müsste, »[…] um sich von der Gegenwart des Spektakels abzusetzen«.14 Es hieße, Tanz innerhalb jener Strategien einer Museumskultur zu reflektieren, die mit dem Ereignis von Lebendigkeit wirbt und damit die Kunst in den eigenen Räumen totsagt. Dabei versucht, wie Siegmund herausstellt, gerade die gegenwärtige Tanzforschung den »Warencharakter des zum Markenzeichen oder Bild erstarrten Stils eines Choreographen, der auch die Körper der Tänzer zur Ware macht«, dahingehend zu umgehen, dass sie auf dem Live-Charakter des Tanzes insistiert.15 »Demnach kann die unhintergehbare Präsenz der Performance oder Aufführung kein Objekt produzieren, weil sie in der Zeit vergeht und verschwindet. Weil sie verschwindet, widersteht sie dem bloßen Konsum von Gegenständen und nimmt daher eine kritische Position innerhalb der Ökonomie des Marktes ein.«16 Das kritische Potential des Tanzes, und auch hier folge ich Siegmund, scheint jedoch weniger in seiner Präsenz als in seiner Absenz zu liegen: »Am Horizont der Abwesenheit, die das Bild öffnet auf das, was sich dem Subjekt entzieht, scheint der Tod als die radikalste Abwesenheit auf. Er eröffnet die Vorstellung einer Welt, in der die Spiegelung des Subjekts verhindert wird, einer Welt des Anderen mithin, in der das Subjekt als geschlossenes in Frage gestellt wird, weil es augenscheinlich darin abwesend ist.«17 Nicht die Anwesenheit, sondern die Abwesenheit führt zu einer Infragestellung des Lebens und der Verlebendigung des Museums durch den Tanz. Sie lässt auch der Leere Raum – hält sie offen für die Bewegungen des Betrachters. Vielleicht liegt an dieser Leer-Stelle der Raum für den Tanz im Museum. Indem dieser selbst auf die Still13 | Diese Präsenz aber, so auch die grundlegende These in der Theorie der Abwesenheit von Gerald Siegmund, wird hervorgerufen durch Absenz: »Was wir in einem Tanzstück begegnen, ist in erster Linie die Abwesenheit, nicht die Präsenz der Bewegung und der Körper.« Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes, Bielefeld: transcript 2006, S. 58. 14 | Ebd., S. 21. 15 | Ebd. 16 | Ebd. 17 | Ebd., S. 22.

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Stellung und auf das Vergehen und Verschwinden im Raum verweist, entzieht er sich der Zuschreibung der Verlebendigung und der damit einhergehenden Totsagung des Gegenstandes. Auf diese Weise entginge Tanz jener Musealisierung, die Waldenfels als Symptom einer weit um sich greifenden Verunsicherung beschreibt. Anstelle einer Suche von Ersatzordnungen und der Auslieferung des Sichtbaren – »dem Belieben der Schausteller und der Schaulustigen« – spricht Waldenfels von der Notwendigkeit von »offenen und durchlässigen Institutionen, in denen Ordnungen gestiftet und verändert und nicht aufbewahrt und gesichert werden«.18 Nicht in der Wiederholung und Bestätigung einer musealen Ordnung und ihres Ortes, sondern in der Befragung und Verlagerung dieser. »Mit Rückgriffen auf vorgeordnete oder gar verordnete Sehenswürdigkeiten ist nichts gewonnen als eine Scheinlösung. Maßstäbe dafür, was als sehenswürdig gelten kann, lassen sich nur aus den Fragwürdigkeiten der Erfahrung und im produktiven Umgang mit dem Sichtbaren entwickeln.«19 Dieser produktive Umgang mit dem Sichtbaren bestünde darin, sich kritisch zur Institution des Museums zu verhalten und zu ihren Ordnungen des Sehens, nach denen bestimmte Erfahrungsbereiche und -aspekte in den Bereich des Sehenswürdigen erhoben werden. Wie am Beispiel des Jüdischen Museums und des Neuen Museums das Museum selbst. Was heißt es, wenn ein Museum mit seiner Leere wirbt? Was geschieht, wenn die Architektur zum Exponat wird? Und worin ist das kritische Potential einer Choreographie der Leere zu suchen? Wie vermag Tanz die leerstehenden Räume eines Museums einzuweihen, ohne sie als ›Aura des Heiligen‹ zu enthüllen und ihre Leere zu verstellen? »Was sich anbietet, ist das Museum als Passage, als Durchgangsort. Wir verweilen bei der Darbietung von Sichtbarem, das selbst sichtbar macht und uns die Welt anders sehen läßt, in gesteigerter, zugespitzter oder verfremdeter Form, ohne unsere Welt gegen eine andere zu vertauschen. Eine solche Stätte hätte ihren Ort und ihre Zeit weder innerhalb noch außerhalb, sondern in den Lücken und Pausen eines Alltags, der – solange er nicht erstarrt – über sich selbst hinaustreibt.«20 Tanz würde in diesem Sinne mit dem Angebot arbeiten können, das die Leere eines Museums per se 18 | Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 233. 19 | Ebd., S. 240. 20 | Ebd., S. 233.

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formuliert: ein Raum für Bewegung zu sein – ein Durchgangsort und eine Passage, in der die Schritte passieren, sich das Vergehen ereignet. Als solches lässt das Museum Raum für das Sichtbare ebenso wie für das Sehen, dem sich nichts in den Blick stellt, nichts zu sehen ist. Dazu tragen auch der eigene Weg und die Bewegung des Körpers bei, mit dem sich das Auge seine Stelle sucht, an der es sich aufhält. Weder zur Bewegung noch zum Stillstand gezwungen. Vielmehr ginge es um einen Dialog, der jedoch nur dann stattfindet, wenn zwischen Choreographie und Architektur, zwischen Tanz und Museum Raum für die Bewegung bleibt: für die Bewegung des Betrachters, dessen Wahrnehmung sowohl im Anblick von Tanz als auch im Anblick einer Statue, eines Bildes oder eines Frieses selbst lebendig und vergänglich ist. Wenn dieser Raum gegeben ist, dann kann man Maurice Merleau-Ponty folgen und ins Museum gehen wie der Maler: »in der Freude am Dialog […]«21 .

L ITER ATUR Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, übers. von Jean-Jaques Raspaud, Berlin: Ed. Tiamat 1996. Foucault, Michel: Die Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1992, S. 34-46. Kluge, Alexander: Etymologisches Lexikon der deutschen Sprache, Berlin: New York 1999. Merleau-Ponty, Maurice: Die Prosa der Welt, übers. von R. Giuliani, München: Fink 1984. Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes, Bielefeld: transcript 2006. Stüler, Friedrich August: Das neue Museum in Berlin: 24 Tafeln, Berlin: Ernst & Korn 1862. Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990.

21 | Maurice Merleau-Ponty: Die Prosa der Welt, übers. von R. Giuliani, München: Fink 1984.

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A BBILDUNGEN Abb. 1: © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe. www.jmberlin.de/main/DE/06-Presse/03-Fotodownload/02-Libeskind-BauInnenansichten/auswahl-libeskind-bau-innenansichten.php (20.11.2009). Abb. 2: Foto: Ute Zscharnt. www.bdonline.co.uk/…/i/Neues_JvB_N5_ ready.jpg (20.11.2009).

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»Ich habe immer umgekehrt gedacht: Jeder Raum ist ein isolierter Raum, ein Haus, ein Wohnzimmer.« Jan Hoet im Gespräch mit Sabiene Autsch

Sabiene Autsch: Bei der Vorbereitung fiel mir auf, wie stark Ihre Biografie über einen Begriff von Raum zu definieren ist, der wie eine Bedingung von Leben, aber auch von Kunst in einem ganz spezifisch dialektischen Sinne verstanden werden kann: eine Biografie oder eine Lebensgeschichte räumlich zu denken, d.h. sie als einen Lebens- oder Handlungsraum aufzufassen, der durch vielschichtige, dynamische und oft auch sehr widersprüchliche Prozesse geprägt wird. Eine solche Vorstellung von Raum als ein Produkt ganz unterschiedlicher Wechselwirkungen und vor allen Dingen Wechselbewegungen zwischen den Subjekten, zwischen Körpern, Mentalitäten und Haltungen, lässt sich so in Beziehung bringen zu Ihrem künstlerisch-kuratorischen Denken im Allgemeinen und zu Ihrer im Jahr 2003 aufgenommenen Arbeit als künstlerischer Direktor des MARTa Herford im Besonderen. Dieser Tätigkeit sind eine Vielzahl von Projekten und internationalen Ausstellungen mit Künstlern vorausgegangen, die alle ganz stark raumbezogen arbeiten bzw. arbeiteten: Josef Beuys, Jannis Kounellis, Daniel Buren, Hans Haacke oder Bruce Nauman – um nur einige zu nennen. Sie entwickelten somit ein Gespür für räumliche Dispositionen, für Konstellationen und Zusammenhänge: zum einen im Spannungsfeld von bildender Kunst und neuen Medien, Architektur und Design und zum anderen als kritische Befragung des White Cube, des sogenannten neutralen Ausstellungsraumes.

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Abbildung 1: Jan Hoet im Gespräch mit Sabiene Autsch

Jan Hoet: Ich freue mich sehr, über die Dialektik und Opportunität etwas zu sagen und über meine persönlichen Hintergründe, meine Absichten, meine Erfahrungen. Aber Sie haben das schon sehr richtig herausgestellt, dass ich den Eindruck habe, dass fast schon alles gesagt ist. Es war in jedem Fall schön gebündelt und mit einer sehr guten Annäherung an eine ambivalente Haltung, die ich immer gehabt habe. Eine ambivalente Haltung gegenüber der Kunst, den Künstlern und dem Museum. Ich bin in einer Periode aufgewachsen, in der man Museum als Friedhöfe bezeichnet hat, aufgewachsen mit Künstlern, die nie die Chance bekamen, in Museen auszustellen. Meine Eltern waren Sammler, die kannten Künstler wie Giacometti. Das waren Freunde von zu Hause und ich hatte immer Kontakt mit diesen Künstlern, flämische Expressionisten, Magritte […], und die waren alle gegen Museen! Nicht weil die gegen Museen sind, die eine Institution sind, die Kunst bewahrt, sondern weil die nicht in das Museum hineinkonnten. Es war wirklich ein Zwiespalt zwischen Museen als Institution – übrigens: Es gab damals auch viele Direktoren, die mit meinen Eltern befreundet waren, der Direktor von Brüssel zum Beispiel, der Direktor von Antwerpen, und die sagten: Ein Museum gehört der Geschichte. Und zeitgenössische Kunst hat nichts mit Geschichte zu tun! Das war eine radikale Haltung damals. Aber wenn man als junger Knabe begeistert ist von Kunst und dem Geist, der hinter den Köpfen der Künstler liegt, dann ist man revolutionär. Man ist sowohl für die Museen, weil man will, dass die Künstler da reinkommen, aber auch gegen die Museen, weil die das nicht wollen. Das ist diese ganz ambivalente Haltung.

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Abbildung 2: Ausstellungsansicht Chambres d’Amis, 1986

1975 beginnt Ihre Arbeit im institutionellen Kontext, das heißt am Museum für zeitgenössische Kunst in Gent, dessen Leitung Sie übernehmen. In Gent haben Sie 1986 ein ganz spannendes Projekt realisiert: Chambres d’Amis, wo Genter Bürger überzeugt werden konnten, ihre Wohnungen für eine Kunstinstallation völlig leer zu räumen, wodurch die Privatwohnung öffentlich wurde und für einen begrenzten Zeitraum in einen Schauraum transformierte. Dabei wurden die Grenzen zwischen innen und außen, privat und öffentlich, zwischen Besucher und Bewohner, Kunst und Leben zunehmend durchlässig. In einem Interview sagten Sie damals dazu: »Mit der Kunst muss man zu den Menschen gehen.« Abbildung 3: Ausstellungsansicht Chambres d’Amis, 1986 (Mario Merz)

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1982 habe ich damit angefangen. Ich habe 160 Leute in Gent gefunden, die bereit waren, ihre Wohnung für die Kunst zur Verfügung zu stellen. Und ich habe 65 Künstler von der ganzen Welt eingeladen. Verschiedene Künstler haben so in 75 Häusern gearbeitet. Einige Künstler haben auch in mehreren Häusern gearbeitet. Umso mehr Einwohner ich fand, die mit der Ausstellung einverstanden waren, desto mehr fand ich zur Struktur der Stadt. Ich erkannte die Altstadt, den Bezirk des 19. Jahrhunderts, die Patriziahäuser des 18. Jahrhunderts usw. Ich hatte die ganze Struktur der Stadt auf einmal vor Augen. Durch das Kunstprojekt wurde die ganze Historie und Kultur der Stadt deutlich, von der Altstadt bis zum Jetzt, Appartement, Arbeiterwohnungen mit normalen Leuten. In den drei Monaten hatten wir allerdings auch ein paar schwierige Momente. Zum Beispiel stellte Mario Merz in einer Wohnung aus, in der eine Familie mit drei Kindern lebte. Mario Merz hatte einen großen Tisch gemacht, der wie ein Drache im Raum stand. Aber der Tisch war höher als die Stühle. Entweder war der Tisch zum Sitzen zu niedrig oder zu hoch und nur mit viel Mühe konnte man zwischen dem Tisch und der Wand sitzen. Das heißt, man bekam plötzlich ein beengtes Gefühl gegenüber der Arbeit von Mario Merz. Jeden Tag kamen 2500 Besucher, so dass die Eigentümer der Wohnung das nicht mehr aushalten konnten und ich sie in den Urlaub ans Meer geschickt habe. Ich habe auch nicht gedacht, dass so viele Besucher kommen würden, aber ich hatte 140.000 Besucher in den Häusern. Können Sie sich das vorstellen? Das war ein großer Erfolg. Erst mit Holland, dann Deutschland und dann Frankreich und dann Belgien. Es hat gedauert, bis die Belgier selbst gekommen sind. Es war auch viel Marketing dabei im Spiel. Außerdem hat es viel gekostet, also musste ich Erfolg haben. Auch meine Eltern mussten noch helfen, bestimmte Dinge zu bezahlen, sonst wäre es einfach nicht möglich gewesen. Ich habe immer mein Budget überschritten, auch in Herford. Aber ich sorge dafür, dass es nie mehr als 10% sind. Ich würde die Leute strafen, die 10% von dem, was sie haben, sparen würden. Man sollte immer einen Schritt weiter gehen. Es gibt viel zu viel Angst in der Welt: Angst seinen Job zu verlieren, Angst vor Radikalität, Angst zu weit zu gehen usw. Aktuell spürt man immer mehr das Problem von Angst. Man muss vorangehen, aber darf dabei nicht übertreiben. Die Politik überschreitet sowieso immer ihr Budget, nur in der Kunst darf man das nicht. Die Kunst muss immer Opfer sein, doch das wollte ich nie. Auch auf der documenta nicht – und die documenta war ein Gewinn!

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1992 wurden Sie zum Leiter der documenta IX berufen, die Sie selbst als eine »documenta der Orte« bezeichnet haben. Im Vorwort des Kataloges haben Sie sich nicht nur darüber ausgelassen, warum Sie eigentlich überhaupt keine Ausstellungstexte schreiben wollen, sondern, und das fand ich ganz eindrücklich, vielmehr auch Ihre kuratorische Haltung umschrieben, die sich stets aus einer ganz spezifischen Raum- und Ortlosigkeit entwickelt; also nicht mehr im Raum oder am Ort anzusetzen, sondern genau den anderen Weg zu gehen. Dazu habe ich ein Zitat aus dem Vorwort zum Katalog der documenta IX, das die Gedanken, die auch zum MARTa hinführen, sehr schön bündelt: »Alles ist in Bewegung, nur weniges bereits definitiv, die Energie, die mich im Augenblick voranbringt, ist eine der Beweglichkeit, des Mitgehens, der immer wieder neuen Einlassung, eine Energie nicht von innen, sondern von außen. Meine Ausstellung ist ein Angebot, eine Herausforderung, sie ist Einladung und Argumentationen, die erfahrbar werden, in der individuellen Begegnung mit der Kunst.« JazzBaseball-Boxen lauteten die sinnlich-körperbezogenen Leitmotive einer im postmodernen Gestus des Pluralen auftretenden Kunst, die sich innerhalb eines offenen und vom Künstler selbst geschaffenen Raums präsentieren. Abbildung 4: Bodycheck/Physical Sculpture No. 5, documenta IX, 1992

Sehen Sie, zum Beispiel ist Belgien ein typisches Land für die surrealistische Idee. Da hatten wir also das autonome Museum an diesem schönen Park, der inspiriert ist durch den Central Park in New York. Dort hatte man jetzt ein Museum für alte Kunst und für zeitgenössische Kunst. Aber in der ganzen Periode, bevor wir das neue Gebäude hatten, wollte ich der Bevölkerung immer zeigen, dass ein

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Museum als eine Art Laboratorium gesehen werden muss. Ich meine damit den Geist, in dem die Museen entstanden sind, das waren die Wunderkammern. Nur weil die Sammler zu viele Dinge hatten, man sammelte schließlich alles von Dinosauriern über Krokodile und Porzellan bis hin zu Malerei, Radierungen und Skulpturen und so weiter. Alles. Aber das wurde immer größer und größer, also hat man es im 19. Jahrhundert gespalten in Malerei, Skulpturenparks, Radierungen, Designmuseum usw. Man hat alles aufgeteilt, das ist die Klassifizierung des 19. Jahrhunderts. Die ganze Gesellschaft war klassifiziert. Alles bekam so sein eigenes Erscheinungsbild. Und was wäre das »Gegenmodell« dazu? Ich wollte immer, dass die Ideen wie in einem Laboratorium auch in einem Museum visuell fassbar werden. Ich bin der Meinung, dass ein Kunstwerk im Atelier des Künstlers beginnt. Das ist meine absolute Überzeugung. Es fängt immer im Atelier des Künstlers an, egal wo es sich befindet. Der Künstler kann auch Nomade sein. Aber er hat auch immer einen Ort, wo die Dinge entstehen. Und für Kuratoren ist es ein unglaubliches Privileg, dass wir die Kunst nicht nur im Museum sehen oder bei Sammlern zu Hause, sondern auch in Ateliers. Diese Erfahrung, ein Kunstwerk das entsteht, zu sehen, d.h. das noch nicht fertig ist, wo man die ganze Welt des Künstlers sieht. Man spürt die Dinge visuell-psychologisch, wenn man in das Atelier eines Künstlers kommt. Und ich war bereits in etlichen Künstler-Ateliers gewesen. Die Atmosphäre dieser Ateliers ist phänomenal. Das Atelier von Mario Merz ist so groß wie der Raum hier. Seine Blätter hatten eine bestimmte Größe, und dann war es ihm noch nicht groß genug, musste er ein Stück drankleben, und so weiter. Eine unglaubliche Erfahrung! Wenn man die Ateliers der Künstler sieht, versteht man alles, was die machen. Dann wird das alles physisch. Die Dinge werden erklärbar und viel einfacher. Ich verstehe natürlich, dass wir alle durch die Theorie die Dinge tragen müssen, aber für die meisten Leute bleibt Theorie unverständlich, leer. Dass das Atelier eine besondere Authentizität von Künstler und künstlerischer Arbeit transportiert, ist unbestreitbar. Aber der Weg des Kunstwerks und der des Betrachters geht selten über die spezifische Erfahrungswelt eines Ateliers, es sei denn, man wählt das Atelier zum Ort der Präsentation und Vermittlung aus. Was heißt das denn aktuell für das Museum?

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Wir wollen ja die Menschen in ein Museum holen. Wenn wir allein arbeiten mit Fachleuten und Kunstbegeisterten, ist das zu wenig! Aber wir können die Museen nicht mehr bezahlen. Entschuldigung, es ist richtig: Wir können die Museen nicht mehr bezahlen. Wir leben in einer Zeit, in der auch Museen industrielle Orte sind. Das muss funktionieren. Schade, aber es ist so. Man kann die Tauben nicht reinlassen, indem man einfach die Fenster öffnet. Man muss mehr tun, als einfach nur die Fenster zu öffnen. Man muss provozieren, herausfordern, man muss ab und zu auch attackieren dürfen! Die Leute sollen denken: Was ist das jetzt, ist der verrückt? Warum sollen wir jetzt unbedingt das Museum besuchen? Man muss die Leute regelrecht reinziehen. Das wollte ich schon, als ich noch jung war. Als ich Schüler, später Student war – niemand wusste etwas von Kunst in der Klasse! Und dann holte ich die Jungs nach Hause, meine Eltern hatten gerade ein Bild gekauft, und ich musste das erklären. Was war das? Ein Giacometti – so dünn! Das musste ich erklären. Dieser Blick der Augen bei Giacometti. Immer diese Erklärungen. Aber auf diese Weise fing es an, dann kam Interesse, Neugier, Leidenschaft bei mir. Für alles braucht es eine Erklärung! Natürlich gibt es Dinge, die einfacher sind: Fußball ist eigentlich einfach. Da ist ein Tor da und es gibt die Spieler und Gegenspieler. Das ist viel einfacher. Auch wenn man nicht weiß, wie Fußball funktioniert und was Fußball bedeutet, ist es immer einfacher, das zu erklären. Selbst die Abseits-Regel kann man erklären. Das ist einfach. Kunst ist demgegenüber schwieriger, und warum? Weil es um gesellschaftliche Verhältnisse geht. Um Kontexte zwischen der Vision des Künstlers, des Individuums und der Gesellschaft. Und das bedeutet immer Spannung. Man muss zwischen Kunst und Kultur unterscheiden. Wir sind alle Teil der Kultur, das hat mit Konsens zu tun, auch mit Wiedererkennen. Kunst hingegen ist ein Kommentar, ein »Judgement on Culture«. Und zwar ein sehr persönliches Judgement. Das kann radikal sein, das kann revolutionär sein, das kann aber auch Mode sein. Moden sind nicht unbedingt mit modern gleichzusetzen. Was sehen Sie gegenwärtig als Mode an? Leipziger Schule ist zurzeit Mode. In meiner Überzeugung ist die Leipziger Schule nur eine Mode. Glauben Sie nicht? Das ist meine Meinung. Die Amerikaner lieben das, weil endlich mal jemand meint, malen zu können. Das ist es. Man kann das sehen und regel-

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recht wiedererkennen in der Welt. Das ist wie ein »Aha-Erlebnis«, in dem man sich wiederfinden kann. Ok, ich sage es nur, um zu verdeutlichen, es kann Mode sein, es kann Kommentar sein, Urteil oder eine Information über die Gesellschaft sein. Es kann auch einen dokumentarischen Aspekt haben. Das sind die Referenzen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Künstler und Gesellschaft deutlicher machen, aber uns trotzdem irritieren und dabei Fragen stellen. Das erste Mal, als ich Marcel Broodthaers gesehen habe in den frühen 60er Jahren, hat er gerade angefangen zu malen, weil er erst Sekretär und Dichter war. Er sagte: »Ich will kein Dichter mehr sein, ich will Geld verdienen.« Und daraufhin hat er bildende Kunst gemacht. Er hat gesehen, dass die bildenden Künstler insbesondere der Pop Art alle reich waren und dass er arm war. Aber er hat über seine Kunst einen Kommentar gegeben, weil alle gesagt haben, Pop Art sei international. Und er sagte, nein, Pop Art ist national. Er wollte es beweisen und machte eine Ausstellung unter dem Titel »Pop Art ist national« in Brüssel. Mit Ei, Muschel und Frites. Motivisch mit allem, was die Belgier produzieren und gerne haben. Damit zeigte er, dass Pop Art lokal ist und gab somit einen Kommentar zur Kunst. In diesen, wie auch in den nachfolgenden Ausstellungsprojekten, kommt es immer wieder zu einer betonten Aufhebung von Kunst und Alltag, womit eine kuratorische Praxis korrespondiert, die mittels inszenierter Erfahrungsräume auch die Grenzen zwischen den Gattungen, also zwischen Kunst, Design, Architektur, aufzuheben versucht. Damit wird zugleich jener Grundgedanke antizipiert, den Sie zehn Jahre später für das MARTa formulierten. Aber was ist das MARTa Herford? Ein Forum, ein Laboratorium, ein Feld, ein Zentrum, ein Museum für zeitgenössische Kunst und Design? Durch Ausstellungen innerhalb und außerhalb des musealen Raums, so ist zu lesen, ist beabsichtigt, wichtige Theorien und Positionen durch solche Ausstellungskonzepte zu hinterfragen, die auf einen Austausch der traditionell getrennten Bereiche Kunst und Design abzielen. Dieser Austausch, das ist eigentlich das Spannende am MARTa Herford, findet statt in der ansprechenden und selbstsprechenden Architektur des Frank Gehry, den Sie zunächst über sein Wohnhaus kennengelernt haben, wo sein Konzept oder seine Architektur in einer sehr dekonstruktivistischen Weise, d.h. in einer sehr skulpturalen Weise vorbereitet wurde, die Gehry später in Bilbao oder auch in Herford realisiert hat.

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Das Problem ist, ich wollte Frank Gehry haben, weil ich ihn seit 1981 sehr gut kenne. Ich möchte auch kritische Fragen zu Frank Gehry stellen. Meine persönlichen Probleme. Gehry fand ich am stärksten in den 80er Jahren, im – wie Sie gesagt haben – Dekonstruktivismus. Er hat die Dinge auseinandergenommen. Jetzt finde ich ihn, wie auch das MARTa zeigt, viel konstruierter. Der Besucher kommt in das Foyer, dann in einen großen Raum und darauf folgt ein kleiner Raum dahinter. Perfekt strukturiert wie ein altes Museum, mit Ausnahme des Innenraumes mit dem Kubus in der Mitte. Nur die Gewölbe sind gewellt, aber die Mauern sind gerade. Abbildung 5: Frank Gehry, Skizzen und Modell zum MARTa Herford

Gehry selbst steht für die sehr skulpturale Richtung in der Architektur und – das vermutet man gar nicht, wenn man diese verschachtelten Räume von außen betrachtet – die von ganz einfachen und reinen Formen und Geometrien ausgeht, diese aber zugleich in ihrer Stabilität und Instabilität zu hinterfragen versucht. Daraus entstehen die konkaven und konvexen Bauelemente, die von außen schon ganz spannend wirken und im Inneren den Betrachter erst mal nicht in einen Raum, sondern eher in eine Passage hineinschicken und damit auch ein Raumverständnis hervorrufen, das sich loslöst vom klassischen Raum im Sinne von geraden Wänden, Fußboden und Decke, sondern hier passiert etwas völlig anderes. Gehry wollte das Museum sowohl drinnen als auch draußen schief haben. Das habe ich verhindert. Ich habe viele Gespräche mit Gehry gehabt und gesagt: »Wir können kein Bild an eine schiefe Wand hängen!« Er hat dann darüber nachgedacht und Verständnis dafür gehabt. »Ok«, sagte er, »wir machen die Außenseite, wie wir wollen, und die Innenwände machen wir gerade mit Ausnahme von einem Raum, der als Zitat von dem ›Außen‹ fungiert.« Dem habe ich zugestimmt und gesagt: »Dann stellen wir dort eine Skulptur auf oder nutzen den Raum für eine Installation, so dass man die Wände nicht

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so spürt. Da muss man ein bisschen basteln.« Kunst ist auch basteln! Ich habe gesehen, wie sich die Arbeit richtig prozesshaft entwickelt. Wenn man nah mit dem Künstler lebt, lernt man, wie einfach eigentlich alles ist. Man muss das Gefühl haben, dass es einfach und klar ist. Dass man in der Tat sagen kann: Mein Kind kann das auch. Das finde ich völlig normal. Das ist das Großartige an Kunst, dass es einfach ist und dennoch eine Komplexität an Inhalt bewahrt. Das ist das Phantastische. Mit dem Bau von MARTa Herford wurde ja auch eine lange Zeit zurückliegende architektonische Debatte reaktiviert: Ist das Museum nun ein autonomes Kunstwerk oder ist es vielmehr Hülle und Behälter für die Kunst, die es präsentiert? Das ist, denke ich, auch eine spannende Frage für diejenigen, die Ausstellungen konzipieren, also die Kuratoren, die kuratorische Entscheidungen fällen müssen. Keine Frage, das Museum als Raumkunstwerk stellt Anforderungen, kuratorische Anforderungen, aber auch Anforderungen an den Betrachter, der seinen Weg finden muss in diesen architektonisch und künstlerisch stark aufgeladenen Räumen wie dem MARTa. Welches Verständnis von Raum ist mit der »fließenden Architektur« verbunden, die mehr als Passagen, als Dispositive und Kontaktzonen verstanden werden können, die über das klassische Verständnis des White Cube hinausgehen? MARTa ist Anachronismus. Es ist zum einen ein White Cube und zur gleichen Zeit die Distanz davon, aus der eine ungeheure Dynamik geschöpft wird. Diese Widersprüche von White Cube, mit seinem strengen Konzept und dieser Dynamik, machen das MARTa aus. In diesem Zusammenhang muss über Buren oder auch Baselitz gesprochen werden, der sagte, ein Museum, das sind vier Wände und Licht von oben. Also ein völlig isolierter Raum, ungestört von Türen, Säulen etc. Das ist letztlich auch die Idee des White Cube. Ich habe immer umgekehrt gedacht: Jeder Raum ist ein isolierter Raum, ein Haus, ein Wohnzimmer. Aber er muss einen Kontext haben, Referenzen von Wiedererkennungselementen. Aber ich will auch keine klassische bürgerliche Ausstellung, wobei man noch immer von der Idee ausgeht, dass über einem Buffet ein wunderschönes Bild hängt. Ich wollte hingegen die Negation des Raumes. Auf solche Weise, dass sich die Kunst nicht im Raum befindet, sondern dass sich das Kunstwerk mit dem Raum selber auflöst. Dass man als Besucher den Eindruck hat, dass man in dem Kunstwerk, also im Raum und in der Kunst als

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Gesamtkunstwerk, steht – nicht davor oder dahinter. Das Kunstwerk muss lateral, in einem Dreiecksverhältnis, betrachtet werden. Der Betrachter soll Kunstwerk und Kontext betrachten. Diese Betrachtung wollte ich immer. Und ich finde, viele Museen sind nicht lateral. Zum Beispiel der Louvre, der das 19. Jahrhundert beispielhaft kennzeichnet: perfekte Gebäude und Architekturen seiner Zeit. Und in dieser Zeit sieht man auch die Bilder in den Gebäuden. Alte Kunst in alten Gebäuden. Man darf nicht vergessen, dass Architektur heute ein radikaler Bruch mit allem, was wir heute unter Architektur verstehen, ist. Ich denke an Gehry und andere. Das sind gefährliche Architekten. Mit den »gefährlichen Architekten« sind die sogenannten Stararchitekten gemeint? Ja, genau. Das ist die Kehrseite, die auch ich erfahren habe. Politiker sind diejenigen, die Stararchitekten wollen. Wenn ich einen Stararchitekten für eine Stadt bekommen habe, dann darf er so viel Geld aus dem Fenster schmeißen, wie er will. Darüber müssen Sie mal nachdenken. Ist das nicht unglaublich? Und das ist schade. Wenn ich einen einfach guten, dezenten Architekt frage, der eine perfekte Arbeit abgibt und das Museum so baut, wie es nach meiner Ansicht sein muss, dann kostet das wahrscheinlich nur die Hälfte wie bei Gehry, aber dann haben wir so viele Schwierigkeiten mit der Stadt. Verstehen Sie den Unterschied? Das ist falsches Denken in unserer Gesellschaft. Die technische Ausrüstung muss der Architekt machen, die Idee steuert der Künstler bei. Dann hätte man keine 31 Millionen investieren müssen, wahrscheinlich hätte man es schon für 15 Millionen bekommen. Obgleich es nicht ganz einfach ist, einen dezenten Architekten zu finden – aber es ist möglich. Das Problem ist auch, dass die Stadt, im Fall von Gehry, in der Praxis keinen guten Bauherrn mehr abgibt. Die Stadt muss auch als Erwartungsträger, Ideengeber und Zielsetzer fungieren. Die Stadt muss ihre Ziele mit den Zielen des Architekten in Konfrontation bringen. Dieses Verhältnis ist in der Zusammenarbeit mit einem Stararchitekten wie Gehry nicht mehr gegeben. An die Stelle tritt die Installation von Vermittlern und Koordinatoren, sogenannte »Subbüros«. Wie sieht Ihre Arbeit als Künstlerischer Leiter in Bezug auf die Wechselausstellungen aus, die im MARTa realisiert werden bzw. wurden?

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Ich suche die Künstler aus. Zum Beispiel habe ich jetzt Ad Absurdum gemacht. Wie kommt es zu einer Ausstellung mit dem Namen Ad Absurdum mit Design, Malerei, Skulptur, Installation etc.? Ich bin auf die Idee gekommen, weil ich in meinem ganzen Leben Fragen über Kunst stelle, wobei ich in einem Moment überzeugt bin, in dem nächsten nicht mehr überzeugt bin. Ich kannte zum Beispiel René Magritte und seine Bilder. Perfekt ausgeführte Bilder. Magritte ist eigentlich kein Maler. Er wollte nicht in Paris ausstellen, weil Paris das Zentrum der Kunst in den 30er Jahren war. Kunst, Kommerz und Paris gehörten zusammen. Belgische Sammler kauften, weil es ein Bild aus Paris war. Man wollte eine große Ausstellung von Magritte machen. Erst wollte er nicht, doch dann hat er doch dort ausgestellt und ganz andere Bilder gemalt. Er wollte sich damit lustig über Paris machen. So hat er die Periode Vache gemacht. Fast kitschige Bilder, aber weil es Magritte ist mit seinem Kitsch, ist es natürlich mehr als Kitsch. Es ist ein Kommentar, ein irritierter. Überzeugung und Verzweiflung, zum Beispiel, ist das noch Kunst? Wie oft haben wir uns alle diese Frage schon nicht mehr gestellt: Ist das noch Kunst? Und: Wo geht die Kunst hin? Diese Ideen lassen sich nur im Museum umsetzen, sie funktionieren nur dort. Ich hätte das Gebäude des MARTa gerne noch klassischer gehabt. Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich schätze den Architekten. Gehry ist ein hervorragender Architekt. Aber als ich die Pläne gesehen habe, habe ich zum Beispiel gesagt, wo ist die Bibliothek? Da sagt Gehry, er wäre nicht gefragt worden, zusätzlich noch eine Bibliothek zu bauen. Ich sagte, wie soll ich ein Museum leiten, das keine Bibliothek hat? Und wo sind die Büros? Nur Seminarräume sind eingeplant, aber dann noch nicht mal für MARTa, sondern für die Hochverbände, die Finanziers, die zum Bau des Gebäudes einen kleinen Teil an Geldern für die 4. Etage bereitgestellt haben, aber vom Rest von Marta keine Ahnung haben. Das ist Herford! Insofern haben die Leute lange gedacht, das Gebäude sei von der Möbelindustrie dort hingesetzt worden. Kunstkritiker habe ich lange Zeit nicht nach Herford bekommen, da diese sagten: Das interessiert uns nicht, das ist doch privat. Aber es ist nicht privat. Es ist die Stadt. Es sind öffentliche Gelder verwendet worden. Deswegen habe ich das Konzept verwendet, die wollten sonst ein Möbelhaus daraus machen. Ein Schaufenster für die Möbelindustrie, ich sagte, das kann man nicht machen mit öffentlichen Geldern, das Ganze muss abstrakt sein. Man kann Kunst bringen, man kann Design bringen, man kann alles bringen, das

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über Kultur nachdenkt. Das Konzept, so wie es verwirklicht wurde, durchzubekommen, hat sehr viel Mühe gekostet. Ein junger Mann von beispielsweise 35 Jahren wäre nach zwei Monaten wieder weg gewesen. Eine andere Ausstellung, die Sie zeigten, war über den Schweizer Max Bill. Ja, Max Bill! Ich mag Max Bill, weil er einer der Prototypen von Künstlern ist, der sich sein ganzes Leben in der Geometrie abgesichert hat. Die Herforder machen das auch, sich ständig absichern. Und es hat funktioniert: Plötzlich kommen die Herforder, ist doch komisch, oder? Ich bin somit ständig auf der Suche danach, was hier funktionieren könnte. Man sagte mir, Max Bill wird nicht gelingen, weil er so geometrisch ist, aber ich sagte, genau das wird gelingen. Die Kunst Max Bills funktioniert hervorragend in der Architektur des MARTa. Ein großer Vorteil ist die Höhe. Unsere Blicke werden in die Höhe abgelenkt und nicht so sehr auf die Wände gerichtet. Das ist ein Vorteil. Die Kunstwerke sind auch ausgewählt für die Räume. Kleine Bilder der Künstler von Magritte und de Chirico hängen an den runden Wänden. Das sind natürliche Dinge, die muss man erst mal erfahren. Ich bin Ausstellungsmacher! Ich muss das ja auch ein klein bisschen verstehen. Wie und wo wird die Zeit nach MARTa Herford für Sie weitergehen? Welche Pläne und Visionen haben Sie? In Rom! Dort mache ich ein Projekt mit dauerhaften Ergebnissen. Ich stelle mir ein Duo, bestehend aus einem Künstler und einem Architekten, vor, also Bauen und Dekorieren. Immer ein anderes Duo. Selbstverständlich muss man in Rom mit den Italienern anfangen. Jedes Land hat seine Chauvinismen. Das ist so. Aber das Ganze soll auch international sein. Es wird also gut weitergehen!

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A BBILDUNGEN Abb. 1: Foto: Angela Bruning Abb. 2: http://members.home.nl/kunstna1945/belangrijke%20tentoon stellingen.htm (28.04.2010) Abb. 3: www.smak.be/collectie_kunstenaar.php?kunstwerk_id=498&l= m&kunstenaar_id=296 (28.04.2010) Abb. 4: www.krcf.org/krcfhome/Banditweb/banditpage5.htm (28.04.2010) Abb. 5: www.martaherford.de/pages/de/marta/architektur/modellan sichten.html?showIMG=23&offset=0 (28.04.2010)

Michel Foucaults Panoptismus Hartmut Wilkening

Abb. 1

Im Mai 2008 wurde ich von der niederländischen Stiftung SKOR, einer Organisation für Kunst im öffentlichen Raum1 , eingeladen, eine Idee für ein Kunstwerk in einem neu zu bauenden Pflegeheim zu skizzieren. T’ Gooregt, ein Dachverband von mehreren Pflegeheimen in der niederländischen Provinz Groningen, hatte bereits einen Neubau in Auftrag gegeben, suchte aber noch nach einem Künstler bzw. einer Künstlerin für die Realisation eines Kunstwerks im Gebäude. T’Gooregt wendete sich an SKOR und sie einigten sich auf eine KoAuftraggeberschaft für dieses Kunstprojekt. Nach einigen orientierenden Gesprächen mit verschiedenen Künstlern wurde ich von den beiden Organisationen mit der Ausarbeitung eines Kunstentwurfs beauftragt. Der Auftrag war frei von inhaltlichen Auflagen. Ich erhielt Informationen über die Neubau-Architektur und das Konzept der räumlichen Nutzung: Das neue Pflegeheim sollte ein überaltertes Hochhaus ersetzen und damit nicht nur eine modernere Versorgung gewährleisten, sondern auch verschiedene soziale Funktionen, wie einen Kartenspiel-Club, Leseabende, Theatervorstellungen usw., in das Gebäude integrieren. Das beauftragte Architektenbüro richtete in seinem Entwurf (Abb. 2) einen zentralen Innenhof ein, in dem diese Veranstaltungen Platz finden sollten. Die Wohneinheiten der Pflegebedürftigen ordneten sie in fünf Stockwerken ellipsenförmig um den ebenfalls ellipsenförmigen Hof an. Jener überdachte Innenhof ist nicht nur für alle Bewohner gut erreichbar, er wird auch zum allgegenwärtig sichtbaren Zentrum des Gebäudes. Die Außenform des Pflegeheims ist geschlossen. Kaum ein architektonisches Element gibt Aufschluss über die Funktion des Gebäudes. Eine unverzierte Fassade ohne Balkone, mit monotonen Reihen von kleinen Fenstern gibt dem Gebäude einen gefängnisartigen Charakter. Passend dazu trägt der Neubau den Namen De Burcht, ins Deutsche übersetzt: Die Festung. Der Grundriss der Festung erinnerte mich direkt an einen Entwurf von Jeremy Bentham für ein Gefängnis aus dem Jahre 1787 (Abb. 3). Bentham erfand einen mehrgeschossigen kreisrunden Kuppelbau 1 | SKOR, Stichting Kunst en Openbare Ruimte, Stiftung für Kunst im öffentlichen Raum, mit Sitz in Amsterdam.

mit dem Namen Penitentiary Panopticon.2 Seine Idee wird als ein Wendepunkt in der Geschichte der Strafen angesehen, da das Gebäude die Delinquenten einerseits dem Blick der Öffentlichkeit entzog, sie aber andererseits im Gefängnis an eine organisierte Sichtbarkeit bloßstellte.3 Der Philosoph Michel Foucault gebraucht in seinem Buch »Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses«4 das Panoptikum von Bentham als Sinnbild für die modernen Gesellschaften. Die Mechanismen, die diese Gesellschaften konstituieren, bezeichnet er mit dem Begriff »Panoptismus«. Diesen bestimmt er sowohl konkret als die optische Anordnung, die das Gefängnis charakterisiert, er bezieht ihn Abb. 2 aber ebenfalls auf Schulen, Fabriken, Kasernen und Krankenanstalten. Foucault definiert Panoptismus darüber hinaus auch abstrakt, als eine Technologie, die irgendeiner menschlichen Mannigfaltigkeit eine Verhaltensweise aufzwingt.5 Foucaults Panoptismus kann also nicht mit einem bestimmten Apparat oder System identifiziert werden, wie etwa einer Regierung, einem Schul- oder Gesundheitssystem, Panoptismus weist vielmehr auf einen Typus von Macht, der alle Arten von Institutionen durchzieht und darum in unendlich vielen Einzelformen erscheint. Das Prinzip von Benthams Panoptikum umschreibt er so: »[...] an der Peripherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen; das Ringebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die Fenster des Turms gerichtet ist, und eines nach außen, so dass die Zelle auf bei2 | Panopticon, von griechisch ›pan‹ = gesamt und ›optikós‹ = schauen. 3 | Bekannte Beispiele für Benthams Konzept sind die Gefängnisse Kilmainham, Arnheim und Presidio Modelo. 4 | Titel der Orginalausgabe: Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris 1975. 5 | Vgl. Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 51.

den Seiten von Licht durchdrungen wird. Es genügt demnach, einen Aufseher im Turm aufzustellen und in jeder Zelle einen Irren, einen Kranken, einen Sträfling, einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen. Vor dem Gegenlicht lassen sich vom Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes genau ausnehmen. Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar.«6 Vergleicht man Foucaults Definition für das Panoptikum mit dem Entwurf des Pflegeheims, sind Übereinstimmungen zu finden: In der Festung ist ebenfalls eine sorgfältige Überwachung vorgesehen. Die Bewegungen der Bewohner sind in der vorgegebenen Architektur gut zu überschauen. Darüber hinaus wird ihr Verhalten unter anderem in den Tagebüchern der professionellen Begleiter und in den medizinischen Dossiers der Ärzte und Psychologen festgehalten. Mir wurde deutlich, dass der Kunstentwurf in jedem Fall etwas mit dem Panoptismus zu tun haben würde. Schon vor längerer Zeit hatte ich mich mit dem Panoptikum auseinandergesetzt. Foucaults Buch über die Geschichte der Gefängnisse las ich zum ersten Mal 1997, als ich eingeladen war, ein Kunstwerk Abb. 3 für eine Haftanstalt zu entwerfen, nämlich die Justizvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim. Zu diesem Zeitpunkt näherte ich mich dem Auftrag mit der Grundüberzeugung, dass es möglich wäre, ein Gefängnis von außen zu betrachten. Ich war auf der Suche nach einer Freiheit, die außerhalb der Haft bestehen könnte und beschäftigte mich mit möglichen Strategien aus der Gefangenensituation auszubrechen. Besonders interessierte ich mich für die verborgenen Informationssysteme unter den Gefangenen. Stammheim war ein Gefängnis für Verdächtige, die Insassen befanden sich hier in Untersuchungs6 | Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 256f.

haft, bis ihr Urteil durch den Richter ausgesprochen wurde. Darum galten in Stammheim besondere Einschränkungen der Kommunikation. Es gehörte beispielsweise zu den Aufgaben der Wärter, wilde Tauben zu verjagen, da die Anstaltsleitung besorgt war, dass diese Vögel von den Gefangenen gezähmt und als Nachrichtenüberbringer untereinander benutzt würden. Diese Geschichte faszinierte mich. Das klassische Symbol der Taube als Überbringer von Freiheit und Frieden war den praktischen Kontrollpraktiken der Anstalt zum Opfer gefallen. In meinem Kunstwerk wollte ich den Konkurrenzstreit zwischen den (potentiellen) RaffiAbb. 4 nessen der Delinquenten und den Überwachungstechniken der Wärter versinnbildlichen. Ich organisierte zusammen mit zwei Brieftaubenvereinen einen Wettflug von 5000 Brieftauben, die vor der Anstalt aufgelassen wurden (Abb. 4). Die meisten der Gefangenen und einige Wärter beteiligten sich an dieser Taubenwette. Der Symbolgehalt des Projektes basierte auf der Vorstellung, dass der Flug vom Gefängnis in die äußere Freiheit in irgendeiner Weise möglich wäre. Dem späteren Kunstprojekt im Pflegeheim näherte ich mich grundsätzlich anders. Zum Zeitpunkt des Auftrags für die Haftanstalt in Stammheim war ich Student an der Rijksakademie in Amsterdam. Durch Foucault kam ich zu der Entdeckung, dass auch die Architektur dieser Kunstakademie einem Panoptikum gleicht: Das Institut ist in einer ehemaligen Kavalleriekaserne7 untergebracht. Im Ringgebäude der denkmalgeschützten Kaserne befinden sich die Ateliers der Studenten und im Zentrum des vorherigen Exerzierplatzes stehen zwei Neubautürme8, in denen die Büros für das Personal und die Direktion untergebracht sind (Abb. 5). Ein hoher eiserner Zaun trennt die Ateliers von der Außenwelt und das Eingangstor lässt sich nur mit einem Magnetstrei-

7 | Kavalleriekaserne an der Sarphatistraat aus dem Jahre 1864. 8 | 1992 gebaut durch den Architekten Koen van Velsen.

fen öffnen, der auch die An- und Abwesenheit der Studenten und des Personals registriert. Ich profitierte von der Rijksakademie. In den Werkstätten konnte ich große Arbeiten realisieren, und ich kam in Kontakt mit renommierten Künstlern und Kunstkritikern, die an der Akademie dozierten. Zugleich merkte ich, dass ich immer weniger Kontakte außerhalb der Akademie unterhielt und immer mehr zu einem Teilnehmer einer professionell organisierten, akademischen Sub-Gesellschaft wurde. Da die Situation aber zeitlich begrenzt war, lebte ich in der Vorstellung, dass ich ohne Weiteres wieder aus dieser Sub-Gesellschaft in ›die Freiheit‹ heraustreten könnte. Tatsächlich setzten sich aber die Strukturen der akademischen Sub-Gesellschaft auch nach dem Abschluss an der Akademie im Berufsleben durch. Ein gutes Jahrzehnt nach dem Kunstauftrag in Stammheim und der Studienzeit an der Rijksakademie habe ich Foucaults Panoptismus nochmals studiert. Aus heutiger Sicht überzeugen Abb. 5 mich der immanente Charakter und die Grenzenlosigkeit der Disziplingesellschaft, die Foucault beschreibt. In der Zeit nach seinen Untersuchungen hat sich die Gesellschaft weiterentwickelt. Bei der Betrachtung der Festung (De Burcht) bekomme ich den Eindruck, dass Foucaults Analyse an Überzeugungskraft gewonnen hat. Im Vergleich der Architektur des Pflegeheims mit dem Grundriss der Rijksakademie fällt auf, dass im Zentrum der erstgenannten ein symbolisches Kontrollelement fehlt. In der Festung besteht das Zentrum aus einem zunächst leeren Raum. Dieser ist frei gehalten für Gemeinschaftsaktivitäten, welche die Heimleitung organisiert. Wegen der architektonischen Beschaffenheit des Gebäudes sind diese Veranstaltungen auf den Galerien aller Stockwerke sicht- und hörbar. Wenn die Bewohner ihre Zimmertür öffnen, treten sie unmittelbar in Kontakt mit dem Gemeinschaftsraum und dem Ereignis, das zu diesem Zeitpunkt organisiert wird. Die Teilnehmer der Veranstaltung wiederum werden automatisch zu öffentlichen Figuren, da sie von

überall aus sichtbar sind. So verteilt sich die organisierte Praxis des Pflegeheims im Raum. Während der gemeinsamen, begleiteten Aktivitäten, der Leseabende und Musikvorstellungen verbindet sich die geplante Ordnung des Pflegeheims mit dem Leben der Bewohner, und die Bewohner werden selbst zu Trägern der Ordnung, ohne dass ein sichtbares Instrument sie zur Disziplin ermahnt. In dem Kunstauftrag wollte ich nicht nur den Prozess des Einschließens, der sich auch schon an der Architektur ablesen lässt, versinnbildlichen, sondern ich wollte auch die Immanenz der Machtverhältnisse im Auge behalten. Im Gegensatz zu meinem Kunstprojekt in Stammheim, in dem die Idee der Freiheit eine Rolle spielte, fußte der Entwurf für die Festung auf der Vorstellung, dass sich unsere Gesellschaft in die Sub-Gesellschaft der Pflegebedürftigen mit einschließt. Ich schlug den Auftraggebern vor, für die Festung ein Monument von Foucault aus Beton herzustellen und dieses noch in der Rohbauperiode im Mittelpunkt des Gebäudes zu installie- Abb. 6 ren (Abb. 8). Es sollte so groß sein, dass es nach der Fertigstellung des Gebäudes nicht mehr heraustransportiert werden könnte. Das Monument würde zu einem architektonischen Bestandteil des Gebäudes werden. Oder anders ausgedrückt: Der monumentale Foucault würde das Schicksal der Pflegebedürftigen teilen, das Gebäude nie mehr heil oder lebend verlassen zu können. Der Vorschlag gefiel den Auftraggebern. Wir suchten nach technischen Lösungen und einem Zeitpunkt, zu dem das Monument in den Rohbau integriert werden konnte. Die Tragekraft der Betondecke im Zentrum des Gebäudes musste in der Planung noch angepasst werden, um das Gewicht der Skulptur tragen zu können. Außerdem musste die Skulptur fertig gestellt sein, bevor mit den Bauarbeiten am Dach über dem Innenhof begonnen wurde. Die einzige Möglichkeit, das Foucault-Monument in das Gebäude zu transportieren, war ja der Weg mit dem Kran, über die Rohbauwände, durch das noch offene Dach.

Der erste Juli 2009 wurde der Tag der Lancierung der Skulptur (Abb. 1, 8, 9). Das Modell fertigte ich in meinem Amsterdamer Atelier an, dort wurde auch die Negativform hergestellt. Das Negativ bestand aus acht Einzelteilen, die wir zu einer Betonfabrik in Eindhoven transportierten. Dort wurden die Einzelteile wieder aneinandergefügt und das Ganze in einen Container mit Sand eingegraben. Eine Stahlarmierung wurde im Inneren angebracht, und anschließend wurde diese Kopfform mit Beton vollgegossen. Die Skulptur sollte eine kolossale Ausstrahlung haben, darum wurde das Bildnis massiv gegossen. Nach drei Tagen konnte der Guss gedreht und ausgeschalt werden (Abb. 6, 7). Das Material Beton ist etwas anderes als die Brieftauben des Kunstwerks für Stammheim. Ich wollte mit diesem schweren Material arbeiten, um anzudeuten, dass panoptische Anstalten im Wesen eine Form der Konzentration bedeuten. Die Konzentration Abb. 7 von Menschen in Anstalten hat wesentlich etwas mit der Produktion von Wissen und mit der Produktion von Macht zu tun. Bei allen beschriebenen Instituten, der Haftanstalt, der Akademie und der Pflegeanstalt, wird Wissen generiert. In dem Pflegeheim konzentriert sich das Wissen um die Lebenserfahrungen der Bewohner und um das Ausklingen ihres Lebens. Ihr geistiger und körperlicher Zustand wird in ihren letzten Lebensjahren begleitet und ist die Quelle medizinischer und psychologischer Kenntnis. In der Haftanstalt wird ein Wettstreit gehalten zwischen der Vertiefung eines verborgenen Wissens (der Delinquenten) und einer Technik des Aushörens (der Staatsanwaltschaft). Die Akademie ist eine Kreativitätsmaschine, in der neues Wissen sich im Widerstand gegen traditionelles Wissen festigt, das wiederum weitere Proteste und weitere Kreativität hervorrufen wird. Die monumental schwere Skulptur von Michel Foucault im Zentrum des panoptischen Pflegeheims ist eine Metapher dafür, wie ein Denken des Außen aus dem Inneren des Wissens und der Macht entsteht und dass es ein Außen des Wissens und der Macht letztendlich nicht unbedingt geben kann.

Abb. 8

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»Es ist, als wollten die Wände die Werke ansaugen« Skulptur und Raum im Wilhelm-Lehmbruck-Museum Christoph Brockhaus im Gespräch mit Sara Hornäk

Sara Hornäk: Die Skulptur steht durch ihren raumgreifenden Charakter in einem besonderen Verhältnis zu den verschiedenen Dimensionen des Raumes. Sie positioniert sich zu Boden, Wand und Decke. Auf welche Weise hat dieser die Skulptur auszeichnende Raumbezug in der Architektur des Lehmbruck-Museums Berücksichtigung gefunden? Christoph Brockhaus: Die Architektur des Lehmbruck-Museums stammt von Manfred Lehmbruck, dem Sohn des Bildhauers, der ursprünglich selber die Intention verfolgte, Bildhauer zu werden, und sich erst später dazu entschlossen hat, Architekt zu werden. Seine wesentlichen Bauten sind Kulturbauten gewesen, und als das Lehmbruck-Museum 1964 eröffnet wurde, standen dort auf einmal zwei konträre Bauteile, die sofort in die internationale Diskussion gerieten, weil der eine Bau, nämlich der Lehmbruck-Trakt, der das Lebenswerk des Künstlers aufnehmen sollte, eine sehr individuelle Gestaltung erfahren hat, die ganz auf das Werk von Lehmbruck ausgerichtet ist, während der zweite Bauteil eine praktisch neutrale Glashalle geworden ist, die alle Möglichkeiten der Flexibilität von Raumgestaltung und des Zusammenspiels von Kunst und Raum beinhalten sollte. Das Entscheidende beim Lehmbruck-Trakt ist, dass zum einen der Bau in die Erde hineingelegt worden ist, womit Manfred Lehmbruck zum Ausdruck bringen wollte, dass, wie bei Maillol, auch bei Lehmbruck die Erdgebundenheit der Figur zum Ausdruck gebracht

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wird. In der Tat wurde das Museum, um das noch zu verdeutlichen, mit einem reinen Sandboden eröffnet, der dann aus praktischen Gründen verändert werden musste. Zum anderen aber ist die vertikale Gegenrichtung, also die Öffnung des Raumes in den Himmel hinein, auch als Ausdruck des Übersinnlichen in der Skulptur von Wilhelm Lehmbruck, Form geworden durch einen zentralen Lichthof, der kein Dach hat und sich dem Himmel vollkommen öffnet. Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Architektur des Lehmbruck-Traktes besteht darin, dass jeweils die Hauptwerke ab 1910 in eine besondere Lichtsituation hineingeführt sind: der »Torso der Großen Stehenden« (1910), die »Kniende« (1911), die »Große Sinnende« (1913), »Der Gestürzte« (1915) und »Emporsteigender Jüngling« (1913/14). Über den meisten dieser Skulpturen öffnen sich Okuli, entweder in runder oder in quadratischer Form. Das Grundquadrat ist eine Ausgangsform für die Maßverhältnisse in diesem Raum. Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass Nord- und Südseite gegenüberliegend durch konvex und konkav schwingende Betonwände gestaltet sind, wobei die Verschalung durch den Architekten selber vorgenommen worden ist. Darüber erscheint das Dach wie schwebend. Durch die Glasfenster ist es von den Wänden abgesetzt. Dies ist ein Teil einer architektonischen Konzeption, die darin besteht, dass es Momente der Konzentration auf bestimmte Skulpturen gibt. Gleichzeitig jedoch wird durch den Blick aus dem Fenster in den Park hinein die Möglichkeit eines fließenden Übergangs nicht nur zwischen Boden und Himmel, sondern auch horizontal zwischen Innen- und Außenraum eröffnet. Das steht in einem sehr ausgewogenen Verhältnis zueinander. Ein weiterer Punkt ist die Materialsprache der 1960er Jahre, also der Wechsel von Beton zu Glas, von Stahl zu Kieselwand, um Oberflächenstrukturen zu entwickeln, an denen sich das Auge hier und dort festhalten kann, bei gleichzeitig fließenden Ebenen durch den Raum hindurch. Man kann sich erst gar nicht vorstellen, dass dieser Raum im Grunde genommen vom Erdinneren über kleine Treppen auf eine Bühne, über weitere Treppen auf Zwischengalerien führt und von dort wieder auf eine obere Galerie. Es gibt also vier Geschosse, die in einem Raum zusammengeführt sind und die man mit einem Blick überschauen kann. Zur Präsentation des Lebenswerkes von Wilhelm Lehmbruck durch den Architekten muss man Folgendes wissen: Manfred Lehmbruck verstand diese architektonische Aufgabe als sein Hauptwerk. Er hat mehrmals Umplanungen architektonischer Art vorgenommen,

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er hat jede einzelne Skulptur seines Vaters maßstäblich in Holz geschnitzt und an Modellen die Präsentation der Skulpturen im Raum ausprobiert. Seine Grundkonzeption bestand darin, gleich neben der Eingangshalle auf der oberen Galerie das Frühwerk bis 1910 zusammenzuführen. Die Hälfte des plastischen Werkes von Lehmbruck ist in dieser Zeit entstanden. Der viel größere Teil des Raumes ist dem eigentlichen Hauptwerk, das zwischen 1910 und 1918 entstanden ist, gewidmet. Die kleineren Skulpturen hat Manfred Lehmbruck in einzigartiger Weise auf Betonsockel gestellt, um die Materialverbundenheit zwischen Betonsockel und Betonwand so herzustellen. Beton ist für ihn ein natürlicher Stoff gewesen, der von dessen Grundstoff Sand bestimmt wird. Die sogenannte Glashalle des Lehmbruck-Museums besteht aus einer vollkommen verglasten Fassade zum Skulpturenhof und zum Kantpark hin. Aber schon an dieser Stelle kann man erkennen, dass es auch eine Gemeinsamkeit mit dem Lehmbruck-Trakt gibt: das Arbeiten auf verschiedenen Ebenen. Das hat zur Folge, dass der Besucher keinen eindeutigen Rundgang vorgeschrieben bekommt, sondern seinen Weg innerhalb der Halle selber definieren kann. Es gibt eine untere Galerie mit einer Holzdecke, die im Wesentlichen für die wechselnden Ausstellungen von Grafiken, also Arbeiten auf Papier, gedacht war. Es gibt einen Kopfraum, der lange Zeit als Bibliothek genutzt worden ist und heute Ausstellungswerkstatt der Museumspädagogik ist; integriert in den Gesamtrundgang des Museums und zwar ganz bewusst. Und es gibt eine sogenannte Straßengalerie, die sehr schmal und lang gestaltet ist. Und darüber dann auf der Ebene des Skulpturenhofes einen plattierten Raum mit einer Kunstlichtdecke, so dass hier in diesem Raum in besonderer Weise das Kunstlicht und das Seitenlicht gemeinsam zur Wirkung gelangen. Dazu kommt dann am Ende eine obere Galerie, die durch Stützen rhythmisiert und relativ schmal ist, wie die Straßengalerie darunter. Sie endet in einem Kopfraum, den man auch separat innerhalb des Rundganges sehen kann. Innerhalb des Museumsbaus fällt die ungewöhnliche Materialität der unterschiedlichen Gebäudeteile auf. Welche Konzeption hat Manfred Lehmbruck bei der Verwendung der Materialien im Innenraum verfolgt?

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Die Erweiterung des Anbaus von 1985 bis 1987 nach den Plänen von Manfred Lehmbruck gemeinsam mit seinem Assistenten Klaus Hänsch hat den Raum des Museums verdoppelt. In den Anbau gelangt man über einen Gang, in dem notdürftig eine Cafeteria untergebracht ist. Auch hier existieren Materialwechsel, aber nicht in der gleichen Intensität, wie das im Lehmbruck-Trakt der Fall ist. Es gibt eine Kombination von Materialien aus Kunststein; der eine ist anthrazitfarben und zieht sich in der gleichen Proportion von der Halle durch die Scheibe auf den Skulpturenhof fort, und es gibt einen helleren Farbton unter diesen Kunststeinen. Darüber hinaus wird ein Teppichboden verwendet. Das ist schon einmal eine markante Zusammenstellung sehr unterschiedlicher Farben und Materialien in Verbindung mit den Kieselwänden, die man zum Teil aus dem Lehmbruck-Trakt kennt. Die Dominanz von dunkelbraunen Ziegelwänden läuft unserer heutigen Ästhetik so zuwider, dass wir sie verkleidet haben. Aber in einer Weise, dass man die Holzwände jederzeit wieder abtragen kann, um die Materialität der Architektur immer wieder deutlich machen zu können. Diese dunkelbraunen Ziegelsteine haben eine so starke Struktur und sind so tief in ihrer Farbigkeit, dass sie sich für die Präsentation sowohl von Bildern wie für Skulpturen im Raum nicht mehr eignen. Eine andere Zeit mag darüber wieder anders denken. Mir war nur wichtig, dass man in den Treppenhäusern jeweils die reale Materialität der Architektur wiedererkennen kann und den ursprünglichen Raum gegenüber dem, was man de facto sieht, vorstellen kann. Zur Zeit der Eröffnung des Museums waren die inzwischen im Zuge der Sanierung herausgenommenen Metallschienen in den Böden ganz wichtig, in die man flexible Wände einstellen konnte. Eine Besonderheit besteht auch in der Lichtdecke, die aus einer Unzahl von Röhren besteht und abgedeckt wird durch ein Plexiglasmaterial, das wiederum das Raster des Bodens aufnimmt und mit ihm korrespondiert. Anders als in den unteren, kleineren Räumen existieren oben überhaupt keine Sockel. Damit hat sich in der Skulptur und ihrem Verhältnis zum Raum Wesentliches verändert. Es entsteht eine größere Nähe zum Betrachter, dadurch dass der Sockel als Distanz schaffendes, rahmendes Element wegfällt. In den uns umgebenden Arbeiten wird dies besonders deutlich. Inwiefern hängt das mit den Environments oder den interaktiven Skulpturen, die hier in der Glashalle ausgestellt sind, zusammen?

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Das Sockelproblem ist eines der zentralen Themen für die Bildhauer schon im ganzen 20. Jahrhundert gewesen. Seit Rodin »Die Bürger von Calais« faktisch auf den Boden gestellt hat, gibt es eine Vorstellung, dass zwischen dem Körper des Betrachters und dem Körper der skulpturalen Figur eine Wechselwirkung entsteht. Constantin Brancusi und Julio González haben dieses Thema aufgegriffen und nach Zwischenlösungen gesucht, wie sich bei kleinen Skulpturen mit einem Zwischensockel, der sich trennt von der Hauptfigur und gleichzeitig Teil von ihr ist, eine Verbindung zum Raum hin schafft. Manchmal hat Brancusi die eigentlichen Sockel in einem anderen Material wie beispielsweise Holz gestaltet und damit eine Verbindung von der Kernskulptur über den Zwischensockel zu einem Übergangssockel in den Raum hinein gestaltet. Für uns heutige Betrachter von Skulpturen spielt der Minimalismus eine zentrale Rolle, weil in dem Moment, als die Skulptur sockellos war oder an geometrische, stereometrische Formen gebunden war, der Sockel plötzlich wie eine Skulptur wahrgenommen wird und bei Kleinplastiken, die sich im Wesentlichen auf das Auge des Betrachters und seine Armlänge beziehen, eine ästhetische Eigenständigkeit entwickelt, wie das in der Vergangenheit von den Menschen sicherlich nicht in gleichem Maße wahrgenommen wurde. Daher muss man sich fragen, wie groß ein Sockel für eine Kleinplastik sein darf? Muss es eine Haube geben? Kann man auf eine Haube verzichten? Sowohl in der Größe als auch im Verhältnis mit den Raummaterialien und Raumfarben spielt die Sockelentscheidung eine herausragende Rolle. Es gibt eine Phase in der Entwicklung der Skulptur, zu Beginn der 1960er Jahre, in der wir es mit Abstraktionen von Figürlichkeit in einer Zwischengröße zu tun haben. Wir wissen dabei oft nicht genau, ob die Figur auf den Boden oder auf den Sockel gehört. Und wenn sie auf einen Sockel gehört, in welcher Höhe? Einen solchen Fall haben wir beispielsweise bei Wilhelm Loth. Dabei sind wir jedoch in der glücklichen Lage, dass wir aus Fotos, die er selber gemacht hat, wissen, dass er in jedem Fall an einen Sockel gedacht hat. Aber das Foto des Sockels erzählt nichts über die Höhe des Sockels. Wenn ich nun darüber nachdenke, wie ich diese Arbeit präsentiere, dann muss ich unterschiedliche Kriterien berücksichtigen. Das eine ist, dass ich aus der Sicht des Künstlers auf seine Skulptur eine ganz bestimmte Perspektive, was die Höhe der Skulptur betrifft, wahrnehmen kann und versuche, die Höhe des Sockels da-

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raufhin abzustimmen. Gleichzeitig aber muss auch eine Skulptur von Fritz Wotruba, mehr oder weniger aus derselben Zeit, oder von Lynn Chadwick oder von Henri Laurens, die ihren eigenen Sockel vom Künstler bekommen hat, so in den Kontext passen, dass die plastische Gewichtung im Raum und die Korrespondenz der Werke untereinander noch stimmig bleibt. Das mit ausgestellte Foto macht deutlich, dass Loth offensichtlich einen Blick mit leichter Aufsicht haben wollte. Wichtig scheint mir der leichte Blick auf die Skulptur zu sein. Ich versuche eine Sockelhöhe zu wählen, die in das Gesamtgefüge passt und zudem die Größenunterschiede der Betrachter berücksichtigt. Ich glaube, dass die Skulptur in ihrer Proportion, in der Mischung aus durchbrochener Kernskulptur und linearen, grafischen Elementen, die in den Raum hineingreifen, auf dem Boden verloren wirken würde, wohingegen sie auf dem Sockel eine für sich definierte Begrenzung bekommt, die in dieser Größenordnung mit den Proportionen und den Maßen der Skulptur korrespondiert. Würde ich den Sockel höher machen, käme das Verhältnis zwischen dem Volumen des Sockels und dem Volumen der Skulptur in eine Fehllage. Die Sockel, die ursprünglich auf den Fotos abgebildet sind, haben etwas Provisorisches, das man nicht mehr nachempfinden kann. Hier handelt es sich wahrscheinlich um eine Ateliersituation. Das Werk von Brancusi beispielsweise erschließt sich uns noch einmal anders durch dessen fotografische Atelieraufnahmen, die besondere Einblicke in sein skulpturales Werk sowie seinen Arbeitsprozess ermöglichen. Ich habe fast das gesamte plastische Werk von Loth, fotografiert von ihm selber, aus dem Archiv von Eduard Trier für die Sammlung angeboten bekommen. Ich habe sie genommen, weil das eines der wenigen Beispiele ist, an denen man sieht, wie der Bildhauer das Fotografieren seiner eigenen Skulpturen im Sinne einer Interpretation reflektiert, wie das Generationen vor ihm auch schon gemacht haben. Entweder haben sie selber fotografiert oder fotografieren lassen. Es wird uns heute immer wichtiger, an solches Material zu gelangen und damit den Blick des Bildhauers mit reflektieren zu können. Zu diesem Thema habe ich eine ganze Sammlung aufgebaut. Wie gehen Sie mit der Schwierigkeit der Präsentation von Skulpturen in diesem ungewöhnlich schmalen Ausstellungsraum um?

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Diese sogenannte Straßengalerie ist nach außen hin völlig verglast und vom Architekten wie bei allen Glasscheiben mit Rollos versehen, so dass man die Skulpturen vor dem Licht schützen und dennoch die Erweiterung des Raumes nach außen wahrnehmen kann, ohne dass das Licht stört. Dieser Raum ist sehr schwer zu bespielen, weil er langgestreckt und relativ schmal ist. Man hat eine völlig andere Sicht, wenn man im Raum steht, als wenn man von draußen in den Raum hineinschaut. Für einen Rundgang hat es sich für mich sehr früh gezeigt, dass man diesen Raum mit kleinformatigen Figuren am besten beherrschen kann. Dafür kommt die klassische Moderne der Skulptur besonders gut zur Wirkung. Erst in dem Moment, als die braunen Steinwände verkleidet waren, fing der Raum an, eine Einheit zu bilden. Und erst mit einer Neupräsentation der Sammlungen habe ich auf ein altes Mittel, das der Architekt mitgedacht hat, zurückgegriffen und einige Wandpaneele rhythmisierend in den Raum hineingestellt. Allerdings dann auch in Abstimmung mit den Raumsprüngen, die die Architektur vorgegeben hat. Ein weiteres Kernproblem ist die Tatsache, dass je schmaler der Raum ist, desto häufiger muss man mit den Skulpturen nahe an die Wand rücken, obwohl sie von allen Seiten umgangen werden wollen. Aber zum Schutz der Skulpturen und zur im museologischen Sinne ökonomischen Präsentation einer vorhandenen Sammlung greift man zu folgendem Mittel: Man stellt einerseits zentrale Werke mitten in den Raum hinein, die man dann auch sehr leicht von allen Seiten umschreiten kann, zu denen man auch eine Sichtdistanz entwickeln kann, und stellt andere Werke näher an die Wand heran. Möglichst nur so weit, dass man zumindest, wenn man möchte, sie auch von der Rückseite betrachten kann. Es ist immer mein Versuch, so weit von der Wand abzurücken, dass man den Blick auf die Rückseite hat. Es gibt Arbeiten wie den Chadwick, denen tut es gut, einen Rückhalt zu haben. Trotzdem würde ich immer noch sagen, in den freien Raum gestellt, mit viel Luftraum, ohne seitliche Begrenzung einer Wand, würde sich die Arbeit viel besser entfalten können. Wenn man einem Ideal des Verhältnisses von Skulptur und Raum folgen würde, müsste man jede Sammlung auf zehn Prozent dessen reduzieren, was man ausstellt. Wenn man aber ein Museum auch gleichzeitig als Studiensammlung begreift, wird man versuchen, ein verträgliches, quantitatives Verhältnis zwischen ausgestellter Skulptur und vorhandenen Räumen zu gewinnen.

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Der Betrachter steht der Skulptur nicht nur mit seinem Körper gegenüber, sondern baut über die Wahrnehmung, über das Auge ein Verhältnis zur Skulptur auf. Giacometti, der in der Straßengalerie mit der »Frau auf dem Wagen« (1942/43) sehr exponiert vertreten ist, hat dieses Verhältnis für sich zum Thema gemacht. Abbildung 1: Alberto Giacometti, Frau auf dem Wagen, Gips, bemalt, (neuer) Holzwagen, 173,5 x 40 x 36,5 cm, 1942/43

Das Erstaunliche ist, dass die »Frau auf dem Wagen« von Giacometti ein weißer Gips ist, der teilweise bezeichnet und etwa lebensgroß ist. Sie war die erste lebensgroße Skulptur, die Giacometti geschaffen hat, nachdem er sich vom Surrealismus frei gemacht hatte. Diese Skulptur stand früher in der Glashalle und hatte die größte Sichtentfernung von allen Skulpturen. Und obwohl weiß und obwohl so zart, behielt sie über sämtliche Entfernungen im Raum fast eine gleiche, intensive Präsenz. Trotzdem gewinne ich mit jedem Schritt, den ich mich der Skulptur nähere, weitere Einblicke in die Gestaltungsvorgänge ihrer Oberfläche: ihre Bewegung, ihre Zerklüftung usw. Ein Giacometti braucht mindestens zwei sehr unterschiedliche Standpunkte, um vernünftig wahrgenommen zu werden. Das eine ist die Distanz und das andere ist die absolute Nähe. Das trifft für viele seiner Skulpturen zu, jedoch nicht für alle. Den »Wald« (1950) von Giacometti muss ich nicht aus einer weiten Distanz wahrnehmen. Das ist eine Kleinplastik, die sozusagen in einem Kubus ihren Raum finden kann und

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bei der ich aus der Nahsicht all das wahrnehmen kann, was ich wahrnehmen muss, um den räumlichen Kontext einer solchen Skulptur zu begreifen. Die »Frau auf dem Wagen« hat natürlich noch etwas sehr Spezifisches. Da gibt es die Frage nach der Bildhaftigkeit, dem Nichthaptischen. Das Auge übernimmt die Funktion des Haptischen von den Händen in der Betrachtung der Werke von Giacometti. Das ist eine Ausnahmesituation, die nicht vergleichbar ist beispielsweise mit Zadkine. In Ossip Zadkines »Orpheus« (1948) hat man ein ganz anderes Zusammenspiel von visueller Wahrnehmung und haptischer Begierde. Könnten Sie bitte erläutern, inwiefern das Haptische bei Giacomettis »Frau auf dem Wagen« Ihres Erachtens eine so geringe Rolle spielt? Möchten Sie diese anfassen? Es hat sehr viel zu tun mit der Vorstellung der Erscheinung einer Skulptur, die körperlich selbst so reduziert ist, wie sie viel mehr nicht hätte reduziert werden können. Und durch die Bezeichnung mit Bleistiftlinien wird diese bildhafte Erscheinung noch unterstrichen, während Sie bei Zadkine eine Oberflächenbewegung wahrnehmen aus der Nähe heraus, bei der Sie sofort wieder beginnen, mit den Fingern wahrzunehmen, wie eine solche Oberfläche im Wechsel von glatt zu bewegt aussieht. Gleichzeitig besitzt auch er wieder sehr bildhafte Elemente durch die Silhouette der Figur. Durch die Drehung aber ist wieder ein Bewegungsmoment aufgenommen, das einen um die Figur herum zieht. Im Unterschied zu den oberen Räumen präsentieren Sie die Sammlung im unteren Geschoss unter thematischen Schwerpunkten. Auch hier existieren schwierige Raumgegebenheiten, die Kompromisse erzwingen, insofern als die Ausstellungsfläche der einzelnen Räume klein ist und die Decken niedrig sind. Anhand der Präsentation des Werkes »Die Blonde Negerin« (1926) von Constantin Brancusi lässt sich zeigen, wie wir hoffen, die richtige Höhe für die Skulptur gefunden zu haben und welche Folgen dies hat. Gerade, weil diese Skulptur unter einer Haube präsentiert wird. Im Grunde genommen habe ich die Skulptur in ihrer Höhe so definiert, dass ich bei einem Vergleichsstück den von Brancusi gestalteten Sockel, der bis zum Boden geführt ist, als Maß für den weiß gestrichenen

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Abbildung 2: Constantin Brancusi, Die blonde Negerin, polierte Bronze auf zweiteiligem Sandsteinsockel, 68 x 28,2 x 27,9 cm, 1926

Sockel genutzt habe und damit auf die Gesamthöhe gekommen bin. Das ist zur Wahrnehmung der Skulptur für einen erwachsenen Menschen sehr gut nachvollziehbar und überzeugend, führt aber in einem Raum, der eine relativ niedrige Decke hat, auch wiederum zu einem Problem. Gerade wenn eine Skulptur wie diese sehr vertikal gestreckt ist, braucht sie auch eine weitere Entfaltung in der Höhe des Raumes. Da sind wir hier sicherlich schon an eine Grenze gestoßen. Ich habe mir ein wenig damit geholfen, dass ich die Oberkante der Plexiglashaube möglichst hoch gestellt habe, die weit über dem ist, was ein normaler Mensch an Augenhöhe besitzt. Dies ist ein Hilfsmittel, aber nicht das überzeugendste. Das sehe ich selbst kritisch, aber es gibt bei einer Sammlungspräsentation selten eine ideale Konstellation, bei der man das Gefühl hat, dass jedem einzelnen Werk im Raum ideale Position gegeben worden ist. Das ist ein Ideal, dem man nachläuft, aber dieses ist nie wirklich erreichbar. Kompromisse muss man immer eingehen. Es darf nur keine Beeinträchtigungen größerer Art geben. Dann würde man sich an einem Werk versündigen. In diesem Raum habe ich versucht, drei Werke zusammenzuführen: »Die

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blonde Negerin« von Brancusi mit dem Mehrfigurenbild »Fünfzehnergruppe« (1929) von Oskar Schlemmer und der Arbeit »Weiblicher Torso« (1924/25) von Ewald Mataré. Drei Werke, die fast zur selben Zeit in den späten 20er Jahren entstanden sind und von denen jedes Werk auf seine Art eine Geometrisierung bzw. Stereometrisierung der menschlichen Figur zum Inhalt hat. Andere Sammlungsräume, gerade hier im unteren Bereich, sind sehr stark themenbezogen wie beispielsweise die Zusammenstellung von Skulpturen zum Thema »Kopf, Maske« oder zum Thema »Tierdarstellungen« in der unmittelbaren Nachbarschaft. Skulpturen werden in diesen Räumen gemeinsam mit Malerei und Zeichnung präsentiert. Wie verhalten sich diese zueinander? Anhand des Raumes der Köpfe lässt sich zeigen, wie man es schaffen kann, in einem relativ kleinen Raum mit relativ kleinen Werken aus einer relativ großen Zeitspanne einen Erlebnisraum zu machen, der einerseits Vergleichsmöglichkeiten geradezu provoziert, etwa wenn es um die Portraits von Rodin, Rosso und Lehmbruck geht, zu denen die Metallplastiken von Uhlmann, González und Holub hinzukommen, bei denen auch der Sprung von der gestalteten Metallplastik zum Fundobjekt und seinen Möglichkeiten zum Thema wird. Gleichzeitig stellt man mitten in den Raum hinein ein größeres Werk, eine Bodenskulptur von Croissant, um diesem Raum ein Gewicht zu geben und eine Relation zwischen der Masse in der Mitte des Raumes und den kleinen Gewichten um die Wände herum zu erzeugen. Die Herstellung dieses Spannungsverhältnisses und das Binden unterschiedlicher Werkgruppen im Raum durch eine zentrale Figur ist ein kleiner Trick, um dem Raum auf diese Art und Weise eine Einheit zu geben. Diese zentrale Figur auf dem Boden wirkt wie ein Sammler, wie ein Mediator, wie ein Magnet, wie ein Anziehungspunkt, der den Raum definiert und gleichzeitig den kleinen Skulpturen wieder Energie zurückgibt. Auf diese Art und Weise entsteht ein Energiefeld. Was ich sehr gerne mache: Da, wo man Skulpturen in den Raum stellt, entstehen automatisch Lücken. Man könnte es anders sagen: Die meisten Skulpturen in den Gemäldegalerien geben das negative Beispiel, dass Skulpturen oft wie schlecht abgestellte Palmen irgendwo in den Ecken stehen, weil in den Ecken keine Bilder hängen. Und das ist natürlich tödlich. Aber etwas, das vom Publikum sehr gerne angenommen wird, was sich auch auf die äs-

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thetische Raumwirkung sehr positiv auswirkt, ist die Ergänzung von skulpturalen Werken durch Zeichnungen oder Arbeiten auf Papier. Manchmal kann man einen Entwurf zu einer Skulptur zeigen, die in den Schaffensprozess hineinführt, und manchmal kann man etwas Analoges zeigen. Das Arrangement aus Zeichnungen und Skulpturen in einem Raum darf niemals derart sein, dass sich ein Bild oder eine Zeichnung hinter eine Skulptur schiebt und ihr somit den neutralen Raum, den sie zu ihrer Entfaltung benötigt, nimmt. Das Bild wird in dem Moment, in dem es in einem Skulpturenraum hängt, auch zu einem Stück Skulptur, im Grunde genommen wie ein Relief, also auch ein Körper. Und dies gilt für gerahmte Zeichnungen genauso. Es gibt demnach Raumschichten: die Wand, die Zeichnung, die Skulptur vor der Wand und dann im Zentrum noch einmal eine weitere. Alles muss in einem Maß, in einem Gewichtverhältnis zueinander gesehen werden. In der Glashalle vereinigen Sie Werke, anhand derer die Erweiterung des Skulpturbegriffs in den Bereich des Interaktiven in den späten 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts sehr deutlich zum Ausdruck gelangt. Bei der Präsentation einer Skulptur ist es wichtig, zu bedenken, in welcher Größenordnung sich eine Skulptur zum Raum verhält. Ich kann eine relativ kleine Skulptur in einem kleinen Raum sehr groß wirken lassen. Ich kann aber auch umgekehrt eine relativ große Skulptur in einem sehr großen Raum sehr verloren erscheinen lassen. Wenn es richtig ist, dass in einem Museum die Skulptur den Raum definiert, dann muss diese Definition des Raumes immer auch gesehen werden in Korrespondenzen, in Nachbarschaften und in Dialogen. Der Raum, in dem wir jetzt stehen und in dem sich die Arbeiten von Franz Erhard Walther und Klaus Rinke befinden, ist für mich zusammen mit dem Tinguely-Raum und dem Raum von Miquel Navarro nebenan das Herzstück der Sammlungspräsentation. Ungefähr in der Mitte der Sammlung gelegen, wird in diesem Raum das höchste Maß an Interaktivität zwischen Betrachter und Werk ermöglicht.

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Abbildung 3: Christoph Brockhaus in der Skulptur »Auszubauende Stelle« von Franz Erhard Walther, Baumwollstoff, Holz, 275 x 305 x 47 cm, 1981

Die Wandarbeit von Franz Erhard Walther, »Auszubauende Stelle« (1981), ist so angelegt, dass sich ein Besucher oder ein Betrachter, wenn er sich die Schuhe ausgezogen hat, unter das Dach in die Skulptur hineinstellen kann und damit seine eigene Maßstäblichkeit in ein Verhältnis bringt zum Werk und dieses zusammen in ein Verhältnis zum Raum. Das heißt, gegenüber der Wand muss eine möglichst große Entfernung da sein, damit ich aus dem Rückhalt der vorhandenen Wand eine weite Perspektive für mein Denken, für mein Sehen, für mein Empfinden entwickeln kann. Wie wird der Aspekt der Interaktivität zwischen Betrachter und Werk innerhalb des Museums berücksichtigt und den Besuchern kommuniziert? Die Aufsichten sollen dies wissen und die Besucher, die anfangen wollen, damit zu arbeiten, ermuntern, es weiter zu tun oder sich so verhalten, dass das Werk nicht zerstört wird, aber dass man es trotzdem anders legen kann. Manchmal schreiben wir es auch dran und bei Navarro müssen wir dann noch dazuschreiben: »Eltern haften für

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ihre Kinder«. Sie müssen sehen, wie sie damit klarkommen. Dies ist natürlich ein Grenzbereich, aber über den Saalzettel wird dazu ermuntert. Skulptur und Beschriftung, also Information, stellt ein weiteres Problem dar. Natürlich versucht man, ästhetisch so unauffällig wie möglich, Beschriftungen für Objekte vorzunehmen. Gleichzeitig muss man sich überlegen, wie verteile ich Informationen insgesamt unter dem Aspekt, dass ein Mensch mal durch diese Sammlung hindurchgeht und mal etwas nachlesen möchte, aber nicht jede Beschriftung auch wirklich liest, lesen kann oder auch nicht lesen soll, im rein ökonomischen Wahrnehmungssinne also möglichst viel sieht, aber nur so viel liest, wie er braucht, um ein positives Erlebnis von einem Museumsbesuch zu haben. Die Beschriftung und die Saalzettel sind eigentlich für die Einzelbesucher gedacht, die ohne Führung durch das Haus gehen und davon nach eigener Entscheidung Gebrauch machen können. Die einen machen davon mehr, die anderen weniger Gebrauch. Jetzt darf es nicht so sein, dass man bei einem relativ umfassenden Angebot den Raum in seiner Würde visuell zerstört. Die Dominanz des Werkes im Raum muss erhalten bleiben. Bei Skulpturen gibt es immer wieder Probleme. Wenn ich eine Skulptur im Raum habe, frage ich mich nach dem Ort der Beschriftung, um dem Besucher eine Orientierung vermitteln zu können. Also bündele ich zum Beispiel zwei Beschriftungen, versehen mit Kommentaren, und einem Saalständer, um die Skulptur und die Wand möglichst wenig zu stören. Auf welche Weise verorten Sie eine installative Arbeit, wie beispielsweise die Fässer von Klaus Rinke, innerhalb der Architektur des Museums? Eine sehr reflektierte Möglichkeit, sich mit Aktionsskulptur auseinanderzusetzen, ist das Environment »Zwölf Fass geschöpftes Rheinwasser« (1969) von Klaus Rinke. Über identische Tonnen, in denen sich Rheinwasser befindet, mit der Schöpfkelle rechts und den Fotos darüber und der Liste der Orte, die er angefahren hat am Rhein, ergibt sich plötzlich eine Dimension, die nur in unserer Vorstellung groß und weit, verändert und relativiert wird, aber in dem, was wir sehen, eine Konstanz behält.

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Abbildung 4: Klaus Rinke, Zwölf Fass geschöpftes Rheinwasser, Installation aus 12 verzinkten 60-Liter-Fässern mit Rheinwasser, 12 Aktionsfotografien, Schöpfkelle und Texttafel, ca. 224 x 1060 x 70 cm, 1969

Das, was Klaus Rinke mit dieser Aktionsskulptur geschaffen hat, ist eigentlich ein Environment, das letztlich unabhängig vom realen Präsentationsraum existiert. Das Maß ergibt sich aus dem notwendigen Abstand der Fässer zueinander. Die Zuordnung von Fass und Fotografie ergibt sich auch aus der Arbeit selber. Insofern hat sie ihre Größe und ihren Raum, die sie sich selber durch die Gestaltung des Bildhauers geschaffen hat. Dazu kommen links die Tafel und rechts die Schöpfkelle. Und nur da hat man etwas Spielraum, wie man mit diesen beiden Objektteilen des Environments umgeht. Aber eigentlich ist nur die Raumwirkung innerhalb des Environments und nicht so sehr die Wirkung des Environments zum Gesamtraum wichtig. Die Wand hat eine solche Breite, dass ich gesagt habe, in der Breite ist es eine ideale Präsentation für diese Aktionsskulptur. Aber dreimal so lang hätte die Wand nicht sein dürfen, weil dann das Missverhältnis von einer zu langen Wand und dem Environment selber entstanden wäre. Interessant sind zwei Werke, die wir fast gleichzeitig sehen. Das Gegenstück zu den Fässern von Klaus Rinke ist die Rauminstallation

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»Salle de récréation plastique« (1970/71) auf der Empore darüber von Berto Lardera. Abbildung 5: Berto Lardera, Salle de récréation plastique, 333 x 231 x 332 cm, 1970/71

Er schafft eine Rauminstallation, die die Maße des Raumes selbst definiert wie in einer Box. Was wir jetzt aus Stellwänden und unter Nutzung der realen Raumstruktur konstruiert haben, könnte man wie einen White Cube irgendwo in eine Halle, in einen Raum hineinsetzen. Der Raum hat einen Zugang und wenn ich mich in diesem Raum befinde, dann habe ich genau das richtige Körper- und Sehverhältnis zwischen Betrachter und Werk, das der Künstler gewollt hat. Ich kann es nicht verändern. Ich kann mich in diesem Raum bewegen, die Elemente an den Wänden, wie vom Künstler vorgesehen, verändern. Ich sah die Installation immer im Depot in Teilen an der Wand hängen. Irgendwann habe ich Fotos dieses Raumes gefunden und mir unter didaktischen Aspekten überlegt, wie ich diesen Raum als Typus von Rauminstallation sinnvoll in den Kontext der Sammlung integrieren kann. Die Rahmenkonstruktion war noch erhalten und auch die Türöffnung stammt von der ersten Installation. Daraus ergab sich das Schließen dieses Raumes im Raum. Man könnte dem Raum auch eine ganz andere Wirkung geben. Ich habe mir auch schon einmal überlegt, ihn von den Seitenwänden zu befreien und

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ihn als Raum im Raum hier in die Halle zu stellen, so dass man zusätzlich den Blick von oben in den Raum richten kann, was sicherlich ein Gewinn sein könnte. Man sollte es einmal ausprobieren. Das Problem hier in diesem ganzen Haus ist wirklich, einerseits dem Anspruch zu genügen, einen repräsentativen, akzentuierten Überblick über die Geschichte der Skulptur von Lehmbruck bis heute zu geben und dies auf drei unterschiedliche Raumarchitekturen verteilt unter Einbeziehung des Skulpturenhofes und des Kantparks. Und auf der anderen Seite wiederum nur so viel zu zeigen, dass jedes einzelne plastische Werk eine möglichst authentische Wirkung entfalten kann oder in Dialoge mit Nachbarwerken eintritt, die sinnstiftend sind. Manchmal ist es so, dass man einen monografischen Raum baut oder hat, wie im Falle Lehmbruck. Manchmal gibt die Sammlung ein Optimum her, in dem man stilistische Zusammenhänge herstellt, zum Beispiel vom Konstruktivismus bis zum Minimalismus. Und manchmal ist es sinnvoller, wie in der unteren Etage bei den Themen Tierplastik oder Kopf, in der Kenntnis, wie die Werke zueinander und im Raum wirken, übergreifend ein Thema zu stellen. Wichtig ist bei der Entwicklung von Sammlungspräsentationen, dass man niemals auf den Gedanken kommt, dass einen etwas an der Architektur stört. Man kann nicht ohne die Vergewaltigung der Wirkung von Kunst gegen Architektur arbeiten. Man muss sie am Anfang sehr genau analysieren, und zwar in allen ihren Aspekten: in ihren Proportionen, in ihrer Farbigkeit, in ihren Lichtverhältnissen und immer auch den Nachbarraum mit im Blick haben oder den anderen Raum, den ich gleichzeitig noch mitsehe, wenn ich mich in einem Raum befinde. Dann muss man versuchen, einen Rundgang dramaturgisch und von der Erkenntnismöglichkeit her zu entwickeln, so dass ich am Ende durchaus auch mit Rückbezügen oder Erinnerungen an etwas, das man bereits einmal gesehen hat, ein gewisses Maß an Geschlossenheit erreiche. Inwiefern spielt die Chronologie bei der Präsentation der Sammlung eine Rolle? Der große Bogen wird von Lehmbruck bis zur zeitgenössischen Skulptur hergestellt. Im Erweiterungsbau gibt es beispielsweise einen Dreiecksraum, in dem das Thema »Skulptur und Linie« thematisiert wird, und dann fange ich plötzlich bei einem Eckrelief von Vladimir E. Tatlin an und lande bei Antony Caro und habe ein halbes

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Jahrhundert darin versammelt. Aber all dies muss von den Werken ausgehend möglich sein. In Bezug darauf ist in der Vergangenheit in vielen großen Häusern sehr gesündigt worden. Es darf nie so sein, dass man ein Thema stellt und plötzlich beim dritten Vergleich das Thema und die Zusammenstellung der Werke verflacht erscheinen. Es ist immer schlecht, Sekundärqualitäten eines Kunstwerks in einen Bezug zueinander zu stellen, weil man dann die eigentlichen Qualitäten gar nicht wahrnimmt. Dann lieber einen Spannungsbogen aufstellen oder einen antipodischen Dialog von Gegensätzen, die auf den ersten Blick als Gegensätze wirken und bei denen man im Nachdenken plötzlich auf neue Dinge kommt. Fließende Linienbewegungen auf dem Boden bei Gerhard Hoehme oder ein flüssiges Material in einer Tonne bei Rinke, das ich mir nur vorstellen kann oder über das Foto wahrnehme. Das sind Dinge, die sich gegenseitig ergänzen. Am einfachsten sind natürlich monografische Räume, aber das gibt diese Sammlung hier nicht her. Sie ist anders strukturiert und im Grunde genommen an bestimmten Punkten handbuchartig entwickelt worden. Gerhard Händler hat sich aus meiner Sicht in geradezu vorbildlicher Weise die europäische Plastik des 20. Jahrhunderts bis zu einem Zeitpunkt, Mitte der 1950er Jahre, vorgenommen und hat gesagt, er brauche von bestimmten Bildhauern zunächst einmal ein Werk. Er ist damit so weit gegangen, wie er kommen konnte, und manchmal hat es das Schicksal erlaubt, dass ein zweites oder drittes Stück dazugekommen ist; mal als Schenkung, mal gesucht, mal weil der Markt es ermöglichte. So haben wir, Siegfried Salzmann und ich, in der Nachfolge dieses Konzept in gewisser Weise weiterverfolgt, wobei ich mir nach den 1960er/1970er Jahren, in denen die Funktion von Skulptur im Raum eine ständige Veränderung erfuhr, auch ganz andere Gedanken zum Thema von Präsenz einer Skulptur in einer Skulpturensammlung machen musste. Ein Thema wie »Skulptur und Fotografie« habe ich völlig neu aufgearbeitet. Es erweitert den Blick auf Skulptur im 20. Jahrhundert, der immer dringender geworden ist. Steht die von Ihnen beschriebene Entwicklung der Skulptur in den Raum hinein der zu beobachtenden Tendenz zur autonomen, in sich geschlossenen Skulptur entgegen oder sind solche Kategorisierungen in Ihren Augen obsolet?

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Die Zeiten der Avantgarden sind vorbei, die Zeiten der Innovationen sind zunächst einmal vorbei, und was heute gültig ist, ist das gleichberechtigte Nebeneinander aller Formen von Skulptur und aller Kombinationen von Gattungen. Es wird eine Frage der Qualität sein, was dann die Skulptur der Zukunft macht. Wir haben im Augenblick wieder viele konservative Kernskulpturen, wir haben auch wieder die Figuration, aber wir haben sie neben der Abstraktion, neben der medialen Installation und neben allem anderen auch. Der Anbau zeichnet sich durch dreieckige Raumformen aus, die für das Ausstellen von Skulpturen eine große Herausforderung darstellen. Eigentlich war der Anbau für eine Sammlung des deutschen Expressionismus im Wesentlichen von Malerei und Zeichnung gedacht. Die Diagonalität in der Architektur hat etwas mit der Dynamik des Expressionismus zu tun oder dem Versuch, dies architektonisch umzusetzen. Aber weder der Luftraum noch die Dreiecksräume waren begründbar in einer Sammlung zeitgenössischer Skulptur. Hier kann man sehen, wie wichtig Raumformen für die Wahrnehmung von Skulptur werden, weil in den Dreiecksräumen eine Wirkung besteht, die man vielleicht so beschreiben kann: Es ist, als wollten die Wände die Werke ansaugen. Sie lassen einer Plastik, die im Raum steht, kaum Luft zum Atmen. Man kann also immer nur sehr wenige Werke in den Raum hineinstellen. Alles, was zur Wand hin orientiert ist, findet auch seine Festigkeit im Raum. Aber darum überwiegen Wandobjekte und Reliefs auch hier in den Präsentationen. Ganz anders war es in der Mitte, was wohl die schwierigste Aufgabe war. Wie kann man diesen Luftraum über drei Geschosse so beherrschen, dass er beides ermöglicht: sowohl eine plastische Definition als auch eine Möglichkeit, in den angrenzenden Seitenräumen für sich wirkende Installationen dazuzugeben. Es war sicherlich ein Glücksfall, dass ich zu gegebener Zeit mit Mario Merz zusammenkam und die Arbeit »8-5-3« (1985), die er für eine Ausstellung in einer Kirche in Paris gemacht hatte, in ihren Proportionen als dreiteiliges Iglu so genau in diesen Luftraum hineinpasste. Sie spielt mit Symmetrie und Asymmetrie, wirkt mit ihrer Öffnung in den Luftraum dennoch gleichzeitig geschlossen, ist in sich selber und so stark strukturiert, dass man in den angrenzenden Dreiecksräumen eigene Themen verfolgen kann.

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Abbildung 6: Mario Merz, 8-5-3, Dreiteilige Iglu-Installation, Stahlkonstruktion, Glas, Stein, Reisig, Neon, 800 x 500 x 300 cm, 1985

Mit anderen Worten: Durch die Großinstallationen in diesem dritten Bauabschnitt ist natürlich auch etwas vorgegeben und festgeschrieben, an dem man nicht ohne Weiteres vorbei kann. Das heißt, die oberen Dreiecksräume sind für mich der Bereich, wo wechselnde Präsentationen zu Themen der internationalen zeitgenössischen Skulptur stattfinden können, und im unteren Bereich gibt es Raumteile, die durch die vorhandenen Installationen festgeschrieben sind und dann natürlich auch nur in relativierter Weise Ergänzungen erlauben und zulassen. Wo man mit großen Bildhauern unserer Gegenwart noch persönlich arbeiten kann, um ortsbezogene Werke schaffen zu lassen, mache ich es am liebsten. Aber ich muss in einem Museum immer auch gleichzeitig daran denken, dass veränderte Möglichkeiten geschaffen werden, so dass man im Sinne des Zuordnens von Werkdialogen Räume gedanklich frei lässt oder neu definieren muss. Mit der Wandzeichnung von Richard Long ist auch eine Vorgabe geschaffen, aber sie korrespondiert formal mit dem, was hier bei Mario Merz passiert, und bezieht sich wiederum auf die Bodenarbeit. Auf diese Art und Weise verspannt sie den Raum über mehrere Etagen.

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Man darf nicht alles wollen. Das ist der größte Feind guter Architektur, weil es nie funktioniert. Transkription: Sarah Henneke

A BBILDUNGEN Abb. 1: Christoph Brockhaus (Hg.): »Das Jahrhundert moderner Skulptur. Sammlungskatalog 1: Tafelband. Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum – Zentrum internationaler Skulptur«, Köln: König 2006, S. 81. Abb. 2: Ebd., S. 55. Abb. 3: Foto: Sara Hornäk. Abb. 4: Brockhaus 2006, S. 217. Abb. 5: Christoph Brockhaus (Hg.): »Wilhelm Lehmbruck Museum. Zentrum internationaler Skulptur Duisburg. Prestel-Museumsführer«. München: Prestel 2008, S. 104. Abb. 6: Brockhaus 2006, S. 137.

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»Tatort Paderborn« Andrea Brockmann

A NNÄHERUNG Paderborn ist ein geistlicher und weltlicher Erinnerungsort. Naturräumlich verdankt der Ort seinen Ursprung den im tiefer gelegenen Teil der Stadt entspringenden mehr als zweihundert Quellen, die zu fünf Quellarmen zusammenfließen und sich noch vor der Stadtmauer zur Pader vereinigen. Bereits in vorrömischer Zeit boten sich an dieser Stelle günstige Siedlungsmöglichkeiten. Fünf Jahre nach Beginn der Sachsenkriege hielt Karl der Große hier, auf sächsischem Boden, im Jahr 777 einen Reichstag ab. Und 799 fand in Paderborn das denkwürdige Treffen zwischen Karl dem Großen und Papst Leo III. statt, bei dem der Papst den Frankenkönig um Unterstützung bat. Um 806 wurde Paderborn Sitz eines Bischofs und damit zum kirchlichen Mittelpunkt des eroberten Sachsenlandes erhoben. Die Bischöfe verstanden es in der Folgezeit, ihren Besitz zu mehren und erhielten 1217 den Titel Reichsfürsten. Damit waren sie auch weltliche Machthaber. Erst mit dem Reichsdeputationshauptschluss 1803 wurde das Fürstbistum aufgehoben und in eine rein geistliche Institution zurückverwandelt. Der König von Preußen ließ Stadt und Hochstift besetzen und in den aufstrebenden preußischen Staat eingliedern. Geistliche und weltliche Macht standen somit in Paderborn in einem besonderen Wechselspiel, das sich bis heute in verschiedenen Erinnerungs- und Geschichtsorten der Stadt, Sitz des Erzbistums Paderborn, manifestiert. Erinnerungsorte können ebenso materieller wie immaterieller Natur sein. Zu ihnen gehören reale wie mythische Gestalten und Ereignisse, Gebäude und Denkmäler, Institutionen und Begriffe, Bücher und Kunstwerke. Erinnerungsorte sind sie nicht

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A NDREA B ROCKMANN

aufgrund ihrer materiellen Gegenständlichkeit, sondern wegen ihrer symbolischen Funktion.1 Es handelt sich um Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert. Eine derartige Erinnerungsarbeit, die einen Perspektivenwechsel und eine kritische Reflexion anstößt, ist auch ein Verfahren der bildenden Kunst, die mit ihren Interventionen Orte und das kulturelle Gedächtnis, das sich darin materialisiert, neu oder anders positioniert. »Wir verstehen also ›Ort‹ als Metapher, als Topos im buchstäblichen Wortsinn. Der Ort wird allerdings nicht als eine abgeschlossene Realität angesehen, sondern im Gegenteil stets als Ort in einem Raum (sei er real, sozial, politisch, kulturell oder imaginär). Mit anderen Worten: Wir sprechen von einem Ort, der seine Bedeutung und seinen Sinn erst durch seine Bezüge und seine Stellung inmitten sich immer neu formierender Konstellationen und Beziehungen erhält.«2 Die Auseinandersetzung mit dem Ort und seinen sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen betreibt die zeitgenössische bildende Kunst seit Beginn der 1990er Jahre in Form von site-specific art, die den Raum konzeptuell und gestalterisch mit in die Arbeit integriert oder die Vernutzung der Natur und Landschaft durch den Menschen vor Ort, der zu einem Tatort wird, thematisiert.3 Ein Ziel des Public-Art-Projekts »Tatort Paderborn« war also mithin die schöpferische Wiederaneignung und Neuinterpretation von Orten, die im Stadtbild Paderborns selbstverständlich geworden sind, die mit einer bestimmten Funktion besetzt wurden und heute in ihrer Historizität und Widmung nicht mehr hinterfragt werden.

1 | Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität, München: Beck 1999, S. 52f. 2 | François Etienne/Hagen Schulze: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München: Beck 2002, S. 9-26, hier S. 18. 3 | Vgl. Douglas Crimp: »Serra’s Public Sculpture: Redefining Site Specifity«, in: Rosalind Krauss (Hg.): Richard Serra/Sculpture, New York: Museum of Modern Art 1986, S. 42.

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TATORT PADERBORN Im Zuge der verschiedenen Initiativen um »Kunst im öffentlichen Raum«4 oder »new genre public art«5 entwickelte sich auch in Paderborn die Diskussion um ein groß angelegtes Kunstprojekt im öffentlichen Raum, das jenseits der bekannten Skulpturenpfade und -wege eine bewusste Intervention in den Stadt- und gesellschaftlichen Raum darstellt. Die kulturpolitische Diskussion führte im Jahr 2002 dazu, im »Stadtentwicklungsbericht 2010« auch einen Akzent im zeitgenössischen Kunstschaffen zu setzen und Rahmenbedingungen für ein hochrangiges Public-Art-Projekt zu schaffen. Im Jahr 2004 wurde zunächst die auf ein Jahr angelegte Kunstausstellung »7 Türme – 7 Lichter« durchgeführt, die mit Lichtinstallationen renommierter Künstler wie James Turrell, François Morellet oder Jakob Mattner Stadtgeschichte wieder lebendig und bewegt machte. Einige der Arbeiten gehören noch heute zum Stadtbild. Parallel entwickelte die Stadt Paderborn unter dem Titel »Tatort Paderborn – Irdische Macht und Himmlische Mächte« ein weiteres Kunstprojekt, das wiederum den öffentlichen Raum nutzen sollte, um unter der für die Stadt Paderborn sehr spezifischen und identitätsbildenden Themenstellung der Spurensuche nach klerikal-geistlichen und politisch-weltlichen Erinnerungsorten mit temporären Kunstinstallationen die Wahrnehmung dieser Orte neu auszurichten. Organisatorisch wurde die Ausstellung hauptverantwortlich vom Kulturamt der Stadt Paderborn betreut. Kuratorin dieses ambitionierten Projekts war Ingrid Raschke-Stuwe.6 Ursprünglich bestand die Absicht, »Tatort Paderborn« zeitgleich mit der kulturhistorischen Ausstellung »Canossa 1077 – Erschütterung der Welt« im Jahr 2006 stattfinden zu lassen, um mit Mitteln und Formen der zeitgenössischen bildenden Kunst das Thema der Verflechtung von Kirche und Staat, das die Canossa-Ausstellung mit historischer Perspektive zum Inhalt hatte, nachzuspüren. Doch schließlich entschied man sich dafür, die beiden Ausstellungen zeit4 | Florian Matzner (Hg.): Public Art. Kunst im öffentlichen Raum. Ein Handbuch, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2004. 5 | Suzanne Lacy (Hg.): Mapping the Terrain: New Genre Public Art, Seattle: Bay Press 1995. 6 | Siehe auch www.paderborn.de/microsite/tatort-paderborn/index.php vom 6. Juni 2009.

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lich auseinanderzuziehen. So wurde das Ausstellungsprojekt »Tatort Paderborn« um ein Jahr versetzt und schließlich am 17. Mai 2007 eröffnet, es endete am 2. September 2007.

K ONZEP T Eingeladen waren zwölf Künstlerinnen und Künstler, die bei persönlichen Besuchen in der Stadt Paderborn für sie interessante, spannende oder kontroverse Orte aufspürten und unter der gegebenen Themenstellung ihre Werkideen daran entwickelten, die sie dann in einer Vorarbeit im Atelier oder direkt vor Ort realisiert haben. Abbildung 1: Tadashi Kawamata beim Aufbau seiner Installation »View point terrace at Paderborn«

Zum Konzept schreibt die Kuratorin Ingrid Raschke-Stuwe: »Während die kulturhistorische ›Canossa‹-Ausstellung die geschichtlichen Bezüge des christlichen Mittelalters im späten 11. und Anfang des 12. Jahrhunderts, eine Schwellenepoche mit grundlegenden Umwälzungen, auslotete, spüren in dem Public Art Project ›Tatort Paderborn – Irdische Macht und Himmlische Mächte‹ zeitgenössische Bildende Künstler und Künstlerinnen dem besonderen Verhältnis von geistlicher und weltlicher Autorität an diesem Standort nach, untersuch-

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ten geschichtsträchtige, aber auch scheinbar geschichtslose Orte und ›neuralgische Punkte‹ […]. Die besondere Konzentration von Geschichte, Religion und Kultur manifestiert sich in Paderborn in Baustilen diverser Epochen, von Ausgrabungen aus der Karolingerzeit über die Gotik bis hin zur Nachkriegsarchitektur. Die Komplexität dieses Ortes mit seiner vielfachen historischen Aufladung einerseits und auf der anderen Seite der gelungenen Hineinwendung in das 21. Jahrhundert lässt die Stadt in gewisser Weise wie einen Kristallisationspunkt zwischen zwei Welten – mit einem religiösen und einem irdischen Pol – erscheinen. Für die Künstler galt es also, mit neu zu erstellenden künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum, und dazu müssen ja auch neben öffentlichen Plätzen und Anlagen umfriedete oder kirchliche Innenräume gezählt werden, dem besonderen Spannungsverhältnis zwischen Kirche und Staat, Religion und Politik nachzuspüren.«7

Z WÖLF P OSITIONEN Ausgehend vom Maspernplatz, dem zentralen Parkplatz an der Paderhalle, wurde ein Rundgang entlang der zwölf Projekte konzipiert, der sich während der Ausstellungszeit wie nachfolgend beschrieben erschloss: Auf einer Grünfläche an der Stadtbibliothek, im Hintergrund der mächtige Dom, erwartet die Besucher des »Tatorts« ein riesiger Totenschädel, der im Rotterdamer Atelier des niederländischen Künstlers Joep van Lieshout konstruiert und gebaut wurde. Im traditionellen Symbol des Todes, dem Vanitas-Zeichen für die Vergänglichkeit, befindet sich eine begehbare, kleine Wellness-Anlage mit Bad und Sauna. »Wellness-Skull« lautet der Titel dieser Arbeit, die ihre Wirkung aus dem elementaren Spannungsverhältnis Diesseits – Jenseits, Gesundheit – Krankheit, Jugend – Alter, Leben – Tod bezieht. Zwischen Dom und heute evangelischer Abdinghofkirche steht auf einem gemauerten Sockel »Die Glocke« des dänischen Künstlers Henrik Plenge Jakobsen. 140 cm im Durchmesser und 1700 kg 7 | Ingrid Raschke-Stuwe: »Tatort Paderborn – Irdische Macht und Himmlische Mächte«, in: Stadt Paderborn (Hg.), Tatort Paderborn. Irdische Macht und Himmlische Mächte, Katalog, Paderborn: 2007, S. 10-23, hier S. 1415.

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schwer wurde sie am 28. April 2007 in der Eifeler Glockengießerei von Hans August Mark in Brockscheid im traditionellen Verfahren in Bronze gegossen. Eine Kirchenglocke, so könnte man auf den ersten Blick vermuten, doch zur Irritation führt die Umschrift: »Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?« Es handelt sich um ein Zitat von Friedrich Nietzsche, aus »Die fröhliche Wissenschaft« (1882). Das Zitat ist bis heute umstritten und viel diskutiert und wird häufig als antireligiös oder gar blasphemisch eingestuft. Doch Nietzsche hat mit seiner Diagnose der damaligen Gegenwart als Scheinwelt fraglos einer neuen Epoche der modernen Kulturkritik den Weg geebnet: Nietzsche diagnostizierte und prognostizierte ein Bewusstsein, das ohne Glauben an den christlichen Gott auszukommen gedenkt. Gut 100 Jahre später hat der vorausgesagte Autoritäts- und Sinnverlust des biblisch-kirchlich tradierten Gottesglaubens viele Menschen in der säkularisierten Welt erreicht. Nietzsche ist also nicht am heutigen Zustand der Welt schuld, er hat ihn ›nur‹ vorausgesagt. Eva-Maria Joeressen hat in Kooperation mit dem Musiker und Komponisten Klaus Kessner die architektur- und kulturhistorisch sehr bedeutende Bartholomäuskapelle an der Kaiserpfalz mit Szenen der Stadtgeschichte zum Thema »Irdische Macht und Himmlische Mächte« durch die trans-mediale Installation »still« verändert und einen sich ständig erneuernden Erlebnisraum mit abstrakten und doch greifbar erscheinenden Projektionen geschaffen. Mit Hilfe spezieller Kompositionsprogramme sind aus Hunderten von Aufnahmen aus Paderborn (von Fenstern, Kanaldeckeln, Ornamenten etc.) bewegte Abläufe entstanden, die auf die Wände der Bartholomäuskapelle projiziert werden, es entsteht eine pulsierende Leinwand. Es handelt sich um eine komplexe Choreographie, die Aufnahmen werden kurz eingeblendet und verfremdet. Keine Aufnahme hat den originalen Hintergrundton behalten, sondern verschiedene Klänge, wie z.B. Baustellenlärm oder das Plätschern der Pader und andere synthetische Klänge, werden über die Bilder gelegt. So entsteht ein Bild-Ton-Gewebe, das über das sinnliche Spüren hinausgeht und eine abstrakte Auseinandersetzung mit dem Thema sucht. Ein Mann stützt sich lässig mit einem Arm an eine Häuserwand. An sich nichts Ungewöhnliches. Frappierend jedoch, wenn dieses zweieinhalb Meter über dem Boden passiert. Völlig losgelöst von der Erde, der Schwerkraft scheinbar entzogen, schwebt der Performance-

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Künstler Johan Lorbeer an einem historischen Gebäude am Domplatz über dem alltäglichen Treiben. Abbildung 2: Johan Lorbeer: Tarzan/Standbein, Markt 14

Johan Lorbeer ist durch sein performatives Werk bekannt geworden. Während seiner mehrere Stunden dauernden Vorführungen nimmt er surreal verfremdete Positionen ein, die den Gesetzen der Schwerkraft widersprechen. Als Johan Lorbeer in den 1970er Jahren an der Nürnberger Kunstakademie studierte, fühlte er sich der Aktionskunst verbunden, die sich gerade als Protest gegen die Konzepte der konkreten Kunst und der monochromen Malerei formierte. In Performances u.a. im Wohnzimmer seiner Eltern, auf der Baustelle oder in Künstlerhäusern, rebellierte er auf subtile Weise gegen jede »objektive« Gestaltungsregel des kleinbürgerlichen und akademischen Geschmacks. Im »Proletarischen Wandbild« klebt Lorbeer als Straßenkehrer in greller Schutzkleidung senkrecht an einer Hauswand. In diesen inszenierten Performance-Stills, in denen er eigentlich umfallen müsste, tritt der irreale, bildhafte und konkrete Aspekt seiner Aufführungen zu Tage: Lorbeer setzt das »Leben selbst« in die Kunst ein, jedoch als ein theatralisches Standbild wider die Kunst, das sich gleichermaßen vom Lebenskontext distanziert. Diese unendliche Erkenntnisschleife macht den Reiz seiner Arbeiten aus. Zum »Campo Santo« hat Horst Gläsker den Vorplatz der Marktkirche, die ehemalige Jesuitenkirche, verwandelt. Zunächst ist es die

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Farbigkeit, die das Auge beschäftigt. Die 2800 Steinplatten sind in 99 abgestuften Farbtönen in ein ineinandergreifendes Mosaik verwandelt worden. Aber es handelt sich nicht nur um eine Farbkomposition, die wirkkräftig den Raum beherrscht, sondern es ist vielmehr ein farbiges Labyrinth. Betritt man den Vorplatz von der rechten Eingangspforte, so trifft man auf eine gelbe Linie, einen Weg, eine Art Pilgerweg vorbei an Wörtern, die die menschlichen Tugenden und Laster benennen: Liebe, Askese, Barmherzigkeit usw. auf der einen Seite und Bosheit, Wolllust, Aggression etc. auf der anderen Seite. Insgesamt sind es 60 aufgemalte Begriffe, die den Menschen zum Nachdenken über das eigene Tun anregen sollen und die auch die Kräfte zwischen irdischen und himmlischen Mächten beschreiben. So greift Horst Gläsker zum einen den mythologischen Labyrinth-Gedanken auf, anderseits spielt er auf den christlichen Pilgerweg an. Abbildung 3: Horst Gläsker: Campo Santo/Labyrinth, Vorplatz der Marktkirche

Damit nichts danebengeht, jetzt und in Zukunft, wachen überall und über allem goldene, ein wenig nachdenkliche Schutzengel. Ottmar Hörl hat seine Multiple-Skulptur, bestehend aus 350 Objekten, an unterschiedlichen Gebäuden und auf Mauern in städtischem und kirchlichem Besitz, im gesamten Innenstadtbereich verteilt. Schutz und Sicherheit für alle und alles, jedenfalls so lange, wie die En-

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gel ihren Platz behaupten konnten und nicht Opfer von Vandalismus und Diebstahl wurden. Ottmar Hörls bevorzugtes Arbeitsfeld ist der öffentliche Raum. Besonders öffentlichkeitswirksam zeigte sich Hörls Strategie der neuartigen Durchdringung des öffentlichen Raums bisher in seinen großen Interventionen in den Stadträumen von München, Berlin, Nürnberg oder Athen. Bei all diesen Arbeiten bevölkerte er öffentliche Plätze in äußerst präziser Disposition mit mehreren hundert oder gar mehreren tausend symbolträchtigen Figuren. In seiner Groß-Skulptur »Berlin-Bearlin« (2000) füllte er die Allee »Unter den Linden« mit 10.000 Bären. Bei seinem »Großen Hasenstück« (2003) installierte er 7000 Feldhasen auf dem Nürnberger Hauptmarkt und erwies so Albrecht Dürer seine Reverenz. In dem Projekt »Eulen nach Athen tragen« (2004) ließ Hörl anlässlich der Olympischen Spiele über 10.000 Eulen in die griechische Hauptstadt bringen. Dagmar Demming führte Interviews mit Paderborner Jugendlichen, befragte sie nach ihren Träumen und Ängsten. Aus diesem Ausgangmaterial richtete sie eine Licht- und Toninstallation am Busbahnhof Königsplatz ein. Über Bewegungsmelder setzt der Besucher in Gang, was die Jugendlichen unter dem Titel »aktuelle Ausgrabungen« der Künstlerin anvertraut haben, und choreographiert sozusagen durch seine eigenen Bewegungen ein vielfarbiges Lichtballett, welches diesen Ort in ungewohntem Licht erscheinen lässt. So gewinnt die Inszenierung den Charakter einer öffentlichen Reflexionsbühne mit erstaunlichen optischen Eigenschaften. Bislang hatte niemand das unterirdische Oval, auf dem kantige Betonpfeiler die oberirdische Welt halten, als Bühne und Aktionsraum erkannt. Nun beginnen in rhythmisch gesetzten Abständen rote, grüne, blaue, gelbe Neonfarben wie die Säulen eines Tanzclubs zu leuchten und Stimmen von jungen Menschen erzählen von ihren prägendsten Erlebnissen. Tadashi Kawamata, bekannt für seine begehbaren Konstruktionen, hat unübersehbar den Vorplatz des Rathauses, gewissermaßen das Zentrum weltlicher Macht in Paderborn, um eine Konstruktion aus Gerüstelementen und Holz zu einer riesigen Terrasse, Plattform oder überdimensionalen Tribüne erweitert, die quasi über dem Paderquellgebiet schwebt. Eine wesentliche Zielsetzung des Künstlers ist es, Raum zu schaffen, gedanklichen Freiraum für Meditation, Besinnung und Kontemplation. Die Terrasse in Paderborn (ca. 700 qm) ist betretbar und baut ganz auf die Qualitäten des Ortes. Tadashi Kawamata geht es in seinen Projekten stets um jene veränderte

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Perspektive, die sich dort einstellt, wo ein neuer Blick gefordert ist, der gleichermaßen Störung wie Neuorientierung ist. Die temporäre Installation bietet die Erfahrung einer veränderten Sicht, ist ein neuer Zugang zum Thema Stadt. Kawamata setzt darauf, dass das Beobachten von künstlerischen Aktionen, das Nachdenken über die Zusammenhänge und das Erkennen der ästhetischen Aussage auch Bewusstseinsprozesse auslösen. Aber neben diesem geistigen, intellektuellen Akt kann man einfach den Ausblick von der Plattform genießen, auf das Wasser schauen, spazieren gehen, flanieren, diskutieren, sich auf den Bänken ausruhen, die Sonne genießen. Kawamatas bevorzugtes Material ist Holz, aber nicht der sorgsam ausgesuchte Stamm, sondern einfaches, manchmal auch gebrauchtes Holz, das nach Abbau der Installation wieder verwendet werden kann, ein Kreislauf von Abbau und Aufbau. Die Turmuhr des japanischen Künstlers Tatzu Nishi befindet sich gegenüber, hoch an einer Außenwand der Stadtverwaltung. Sie zeigt, mit bewusst ungelenk gemalten Ziffern, die Zeit an. Zeit ist für den Künstler nichts Neutrales: Mal ist sie gut und mal ist sie schlecht, denn jeder durchlebt gute und schlechte Zeiten, aber jeder Einzelne individuell und unabhängig von der Zeit des anderen. Zeit ist auch unter diesem Gesichtspunkt relativ, und nur der, der die Macht hat, die Zeit zu steuern und sie zu beherrschen, hat in der Vorstellung des Künstlers Tatzu Nishi die größte Macht. Abbildung 4: Tatzu Nishi: Turmuhr, Fassade der Stadtverwaltung

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Im ehemaligen Garten des Abdinghofklosters hat der Künstler Robert Scheipner ein »soul ship« als begehbare Skulptur gestaltet. Wie ein unerwartet gelandetes Ufo lädt es den Besucher zum Eintreten ein. Innen sitzt der Betrachter in einem kuppelartigen dunklen Raum, während über ihm ein projiziertes Videobild langsam im Kreis wandert und der Eindruck eines 360-Grad-Panoramas erweckt wird. Wie in Traumsequenzen wandern die ständig wechselnden Bilder vorbei. Die Elemente Wasser und Feuer spielen in den Bildsequenzen eine besondere Rolle. Dazu sind mysteriöse Stimmen zu hören, wie von Außerirdischen. Fern eines Nutzungsgedankens ist der Bereich innerhalb des Kreuzgangs ein Ort der Einkehr und Besinnung, dessen gestaltete Details an die göttliche Weltschöpfung gemahnen sollen. Aus dem Schatten des Arkadenganges hervortretend können die Pflanzen, Düfte und Geräusche der Natur in der Stille und Abgeschiedenheit besonders eindringlich wirken und ein Bild des Paradieses und der »Himmlischen Mächte« hervorrufen. In Konfrontation, als Störung und Intervention zu dieser geistigen und religiösen Bestimmung, lässt Robert Scheipner sein »soul ship« als neuartigen, dem Bereich der Science-Fiction entlehnten Körper im Klostergarten, im symbolischen Kreuzungspunkt der vier Wege, landen und lädt zum Betreten dieses fremdartigen »Seelenschiffes« ein, das nun zum neuen Symbol in der Mitte der Welt, des Kosmos, des menschlichen Lebens wird. Yvonne Goulbier verwandelt die Abtskapelle der Abdinghofkirche mit der Lichtinstallation »Schönheit erblüht in der Stille Deiner Gegenwärtigkeit« in einen poetischen Lichtraum und verstärkt die Aura von Stille, Meditation und Kontemplation. Ihre Installation besteht aus einem Geflecht von Ästen, die um die Mittelstütze mit einem Stecksystem befestigt sind. Die Äste sind in Bronze gegossen und mit einer roten, fluoreszierenden Farbe bemalt. Zwischen den Ästen hängen kleine, leichte Gaze-Stofffetzen. Vier Schwarzlichtquellen sind an den Wänden befestigt, die Fenster sind mit Spezialfolie abgedunkelt, so entsteht im Dunkel des sakralen Raumes eine ganz eigene Stimmung, die zwischen Poesie, Spiritualität und Gottesnähe schwingt. Neben der Aura des Raumes beschäftigt sich das Auge vor allem mit der Mittelsäule, der Geästkranz wirkt wie eine Bekrönung. Es könnte eine Dornenkrone darstellen, vielleicht den brennenden Dornbusch, oder aber es ist der Atem der Seele, Gedankenfetzen unseres Geistes, der durch den Raum und die Zeit weht.

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Den Aufbau der Ausstellung, die Reaktionen der Menschen auf die künstlerischen Beiträge, Kirchenräume und markante städtische Plätze, aber auch typische Großereignisse der Stadt, wie das LiboriFest, hat der Zeichner Matthias Beckmann in seinen kleinformatigen Blättern festgehalten. Matthias Beckmann hat eine besondere Arbeitsweise: Über einen längeren Zeitraum besucht er als Chronist die Orte, die ihn beschäftigen, notiert hier auch das skurrile Aufeinandertreffen von Aura und Alltag. Dabei gibt es für ihn keine Hierarchie der Dinge. Er nimmt alles gleich ernst, das Bedeutungsvolle wie das scheinbar Nebensächliche. Über diese Darstellung seiner persönlichen Betrachterhaltung hinaus sind seine Zeichnungen einfühlsame Kommentare zum Umgang mit Kunst in Museen, Ausstellungshäusern oder auch im öffentlichen Raum. Er hat den Aufbauprozess in Paderborn ständig begleitet und von den verschiedenen Kunst-Tatorten seine Eindrücke mit dem Stift dokumentiert. In seiner Arbeit konzentriert er den Blick auf bestimmte Details und Bewegungen und hält für einen kurzen Moment die Zeit an, um dann diesem zu Kunst gewordenen Augenblick eine lange Dauer zu geben.

K RE ATIVE S TADT Das Ausstellungsprojekt »Tatort Paderborn« war eine bewusst eingeleitete Initiative der Stadt Paderborn, die ihre Identität zwischen einer modernen Stadt mit eigener Universität, High-Tech-Industrie, zeitgemäßer Infrastruktur und dem kulturellen, vornehmlich sakral geprägten Erbe finden und aushandeln muss. Dahinter steht auch die Einsicht, dass eine Stadt als Mosaik verschiedener Lebenswelten und ihrer Geschichten zu verstehen ist. Und eine erfolgreiche Politik für eine kreative Stadt muss sich mit neugieriger Offenheit auf die Auseinandersetzung mit Fremdheit, mit Neuem, mit Ungewöhnlichem, auch mit Streitbarem einlassen: »Die kreative Stadt beruht auf internalisierten Spannungsverhältnissen: zwischen Nähe und Ferne, zwischen Vertrautem und Fremdem, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Schönheit und Hässlichkeit, Sünde und Heiligkeit. Das sündige Babel ist untergegangen, das heilige Jerusalem wäre wohl sterbenslangweilig. Die kreative Stadt wird beides sein müssen.«8 8 | Walter Siebel: »Was macht eine Stadt kreativ?«, in: Jahrbuch für Kulturpolitik 2008, Bd. 8, S. 273-284, hier S. 283.

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Abbildung 5: Vordergrund Ottmar Hörl: Schutzengel für Paderborn, im Hintergrund Henrik Plenge Jakobsen: Glocke, zwischen Dom und Abdinghofkirche

Mit dem Public-Art-Projekt »Tatort Paderborn« wurde die Möglichkeit genutzt, den heterogenen öffentlichen Raum als ästhetischen Aktionsraum und Spannungsfläche im Sinne einer kommunikativen und kontroversen Auseinandersetzung um Positionen der zeitgenössischen Kunst einzusetzen. In dieser Initiative wird somit auch die kreative Rolle der Stadt deutlich, denn Kreativität als schöpferischer Akt lebt von Spannungsverhältnissen.

A TMOSPHÄREN Eine Besonderheit des »Tatort Paderborn«-Projekts sind mithin emotionale Raumerlebnisse, denn einige der ausgewählten Orte kennzeichnen spezifische Atmosphären, die je nach persönlicher Disposition entscheidend sind für die Wahrnehmung der Kunst: »Räume und Orte können von bestimmten Atmosphären und Stimmungen erfüllt sein, die der Mensch mehr oder minder deutlich wahrnimmt. Wenn er sich von ihnen ergriffen fühlt, erkennt er solche Atmosphären nicht wie die Dinge oder deren Eigenschaften, sondern er findet sich in sie eingebettet, spürt sich von ihnen umgeben und durchdrungen. Von solchem leibhaftigen Betroffensein her nimmt der Mensch solche Raumstimmungen wahr und je nach eigener Gemütslage wird er

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gefühlsmäßig auf sie reagieren. Solche Stimmungen gehen zum Teil von den Gegenständen aus, ihrer räumlichen Beschaffenheit, den Gegebenheiten von Licht, Klang und Geruch.«9 Insbesondere sakrale Räume werden mittels ihrer Raumatmosphären zum Gefühlsraum, dessen Eigenschaft die künstlerische Arbeit beeinflusst bzw. wechselseitig mitbestimmt, wie in der Arbeit von Yvonne Goulbier. Die Künstlerin gibt keine eindeutigen Hinweise zum inhaltlich ikonographischen Gehalt ihrer Installation in der intimen Abtskapelle der Abdinghofkirche, denn ihr Ziel liegt jenseits der rein dinglichen Deutung: Es ist das Innehalten für eine neue Qualität des Seins. Erst die Irritation des Verstandes, die Raum schafft für die Öffnung des Geistes. Folgt der Betrachter dem Zauber der schwebenden, rot leuchtenden Krone aus Zweigen, so erfährt er gerade aufgrund der Wandlung der Architektur eine Verstärkung der mystisch-sakralen Aussage des Ortes. Demgegenüber erscheint der von Dagmar Demming gewählte Busbahnhof in nüchterner, nahezu kalter Atmosphäre. Der Busbahnhof wurde Ende der 1970er Jahre erbaut, an die Stelle älterer Fachwerkbausubstanz. Oberhalb befindet sich der geschäftige Königsplatz, unten ist der Ort dunkel, wartende Menschen hängen ihren Gedanken nach. Die Installation von Dagmar Demming bricht diese Atmosphäre, indem Licht und Töne die Wahrnehmung irritieren, die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Plötzlich ist etwas anders: Der Beobachter beginnt sich mit der Klangcollage zu beschäftigen, lässt sein eigenes Ich hinter sich, beginnt am »Unort« Busbahnhof, der sonst im grauen Dunkel des Alltags liegt, zu fragen: Was höre ich da? Was sehe ich? Was bedeutet es? Derart entsteht eine dialogische Struktur zwischen dem Betrachter-Ich und dem Raum. Der Dialograum wird zum atmosphärischen Raum: »Atmosphären sind zwar nicht objektiv und mit Messgeräten der Wissenschaft erfassbar, aber gleichwohl erfahrbar. An den Kunstwerken werden die mit und an den Werken verbundenen Atmosphären erlebt und vergegenwärtigt.«10

9 | Josef Meyer zu Schlochtern: Interventionen. Autonome Gegenwartskunst in sakralen Räumen, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2007, S. 29. 10 | Paolo Bianchi/Gerhard Dirmoser: »Die Ausstellung als Dialograum. Panorama atmosphärischer Gestaltungsmöglichkeiten von Displays«, in: Kunstforum International, Bd. 186, Juni-Juli 2007, S. 82-101, hier S. 89.

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L ITER ATUR Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität, München: Beck 1999. Bianchi, Paolo/Dirmoser, Gerhard: »Die Ausstellung als Dialograum. Panorama atmosphärischer Gestaltungsmöglichkeiten von Displays«, in: Kunstforum international, Bd. 186, Juni-Juli 2007, S. 82-101. Crimp, Douglas: »Serra’s Public Sculpture: Redefining Site Specifity«, in: Rosalind Krauss (Hg.): Richard Serra/Sculpture, New York: Museum of Modern Art 1986. Etienne, François/Hagen, Schulze: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München: Beck 2002, S. 9-26. Lacy, Suzanne (Hg.): Mapping the Terrain: New Genre Public Art, Seattle: Bay Press 1995. Matzner, Florian (Hg.): Public Art. Kunst im öffentlichen Raum. Ein Handbuch, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2004. Meyer zu Schlochtern, Josef: Interventionen. Autonome Gegenwartskunst in sakralen Räumen, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2007. Raschke-Stuwe, Ingrid: »Tatort Paderborn – Irdische Macht und Himmlische Mächte«, in: Stadt Paderborn (Hg.), Tatort Paderborn. Irdische Macht und Himmlische Mächte, Katalog, Paderborn: 2007, S. 10-23. Siebel, Walter: »Was macht eine Stadt kreativ?«, in: Jahrbuch für Kulturpolitik 2008, Bd. 8, S. 273-284. www.paderborn.de/microsite/tatort-paderborn/index.php vom 6. Juni 2009.

A BBILDUNGEN Abb. 1: Tadashi Kawamata beim Aufbau seiner Installation »View point terrace at Paderborn« Foto: Andrea Brockmann. Abb. 2: Johan Lorbeer: Tarzan/Standbein, Markt 14. Foto: Andrea Brockmann. Abb. 3: Horst Gläsker: Campo Santo/Labyrinth, Vorplatz der Marktkirche. Foto: Andrea Brockmann. Abb. 4: Tatzu Nishi: Turmuhr, Fassade der Stadtverwaltung. Foto: Andrea Brockmann.

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Abb. 5: Vordergrund Ottmar Hörl: Schutzengel für Paderborn, im Hintergrund Henrik Plenge Jakobsen: Glocke, zwischen Dom und Abdinghofkirche. Foto: Andrea Brockmann.

Venezia 2007 Kunst im öffentlichen Raum: La Biennale di Venezia Gabriele Huber

»Den Rat, nach Italien zu reisen, darf man nicht jedem geben. In diesem Land gibt es keine Freuden der Eitelkeit …«

Was sich hier so als mutwillig unzutreffende Bemerkung von Stendhal über den »Stiefel« liest, wird den heutigen Leser/Leserin möglicherweise überraschen. Doch Stendhal war bekanntlich ein großer Individualist, die Widmungen seiner Texte gelten stets den »happy few«, seiner, wie er glaubte, kleinen, eingeschworenen Fan-Gruppe. Doch gerade auf Stendhal bezieht sich Robert Storr, der künstlerische Direktor der Biennale 2007, wenn er in seinem einleitenden Text im Katalog schreibt, diese Ausstellung sei eben nicht den happy few gewidmet, sondern für ein breites Publikum angelegt. Storr, ein amerikanischer Künstler und Kunstkritiker und erster amerikanischer Direktor der Biennale in Venedig, erläutert eben dort, was er alles von dem Betrachter, der Betrachterin erwartet: Zwar sei die Ausstellung nicht für »wenige »Auserwählte«1 gemacht, verlange 1 | Das eingangs erwähnte Zitat aus: Stendhal, »Wanderungen in Rom«, S. 750: »Den Rat, nach Italien zu reisen, darf man nicht jedem geben. In diesem Land gibt es keine Freuden der Eitelkeit …«. Mit der Widmung: To The happy few. Frankfurt, Berlin, Wien 1982, übersetzt von Friedrich von Oppeln-Bronikowski; die Zitate/Paraphrasen von Storr: Katalog Biennale: 52. Esposizione Internationale d’Arte pensa con i sensi – senti con la mente. L’arte al presente 3 voll. Marsilio ed. Veneto – Verona 2007, vol. I, unpag.)

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aber die Lust an der Unsicherheit, Lust an der Desorientierung, ungeteilte Aufmerksamkeit, Offenheit, Bedürfnis nach Konfrontation, ausreichend Zeit und Konzentration, kurz, Storr erstellt eine Liste, die viel vom Publikum verlangt. Der/die gewünschte BetrachterIn soll sich der Kunst aller Welt uneingeschränkt und mit großem intellektuellem Aufwand widmen. Kann man eine solche Aufmerksamkeit für die nicht eben immer leicht zu verstehende zeitgenössische Kunst von den nicht »happy few« erwarten? Walter Benjamin hatte bereits in den 1920er Jahren beobachtet bzw. programmatisch formuliert, dass der Betrachter die Kunst, und speziell die Kunst im öffentlichen Raum, zerstreut wahrnimmt. Abbildung 1: Eine Besucherin der venezianischen Biennale 1964 benutzt den Spiegel von Jim Dines »Weißem Badezimmer«, um ihr Erscheinungsbild zu korrigieren

Bei seinen Beobachtungen bezog er sich v.a. auf Architektur, was jedoch auch auf Skulptur anwendbar ist. (Vlt. Besser: Diese Erkenntnis lässt sich auch auf die Skulptur beziehen) Wer hält sich schon, speziell in seit Jahrzehnten vertrauten Orten, damit auf, Architektur und Denkmäler seiner Stadt ausführlich zu studieren? Man könnte das erweitern: Sollte das zutreffen, so stellt sich die Frage, was bedeutet dieses für die »Flut« von Kunst, speziell bei Großausstellungen: Kann er/sie diese konzentriert und mit all den von Storr geforderten irritierenden »Lüsten« wahrnehmen? Haben die hoch gespannten Er-

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wartungen Storrs eine »reale Basis« und inwieweit lässt sich der anspruchsvolle Titel »Pensa con i sensi – senti con la mente« (Mit den Sinnen denken – mit dem Verstand fühlen) eben für die nicht »happy few« realisieren?

Ö FFENTLICHE K UNSTR ÄUME UND - PROJEK TE Zunächst stellt sich jedoch die Frage, was unter öffentlichem Raum zu verstehen ist: Meint dies die Kunst, die von allen tagtäglich nach Wunsch oder Gelegenheit in einem Raum, der allen zugänglich ist, betrachtet werden kann wie etwa Architekturen, Skulpturen und Denkmäler, Kunstwerke und Bilder in Kirchen oder anderen öffentlichen Gebäuden, Mosaiken in der U-Bahn usw. (z.B. in Moskau oder Rom)? Damit wären allerdings Ausstellungen, Gedenkstätten, für deren Besuch Eintrittsgelder verlangt werden, ausgeschlossen. Und: Was passiert, wenn eine Architektur wie der schiefe Turm von Pisa oder eine Institution plötzlich nur gegen eine Gebühr besichtigt werden können? Das Problem ist an dieser Stelle nicht generell zu klären. Daher werde ich mich in meinem Text nicht auf eine Definition beziehen, die ausgrenzt, sondern die Kunst der Großausstellungen wie etwa der documenta und der Biennale, die aus einem »mixtum compositum« solcher Orte bestehen, mit einbeziehen. Die Rezeption von Kunst im öffentlichen Raum (wie gerade definiert) ist von ihrer Darbietung, von ihrer »Inszenierung« (Arnold Bode) abhängig, so zunächst zum Erscheinungsbild. Im Gegensatz zu der wohl wichtigsten zyklischen Großausstellung Europas, der documenta in Kassel, ist die räumliche Anordnung in Venedig eine grundsätzlich andere. Zwar war die documenta, 1955 von Bode und Haftmann begründet (im selben Jahr, als die Bundesgartenschau in Kassel stattfand), bereits von Anfang an als eine Alternative zur italienischen Biennale angelegt, doch verfolgten beide grundsätzlich andere Strukturen im Umgang mit Kunst. Architektonischer, besser szenographischer Ausgangspunkt für Kassel war u.a. eine aufsehenerregende Ausstellung der Werke Picassos in Mailand 1953, in den Ruinen des Palazzo Reale, die Bode die Anregung gab,

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ebenso die Ruinen des Fridericianum in ästhetischem Sinne zu nutzen.2 Die Unterschiede sind jedoch gravierend: Die Biennale in Venedig mit Gründungsjahr 1895 wurde als Hommage an das italienische Königspaar realisiert in Anlehnung an die Institution »Weltausstellung«, die im 19. Jahrhundert ›en vogue‹ war. Im Gegensatz dazu war die erste documenta der Versuch einer Rehabilitierung, eine »Dokumentation« derjenigen Kunst, die in Deutschland in den Jahren des Nationalsozialismus unterdrückt und zerstört worden war. Die Biennale hatte also in diesem Sinne keinen Nachholbedarf3 und bewahrte sich ihre räumliche Struktur – cum grano salis – über die Zeiten hinweg. Daraus folgt ein grundsätzlich anderer Bezug von Ausstellungsstruktur und Öffentlichkeit: Auch die venezianische Biennale »besetzt« wie andere Großausstellungen den Stadtraum, oder zumindest Teile von ihm, doch ihre Vorgehensweise ist eine andere: Die Trennung nach nationalen Gruppen ist etwa der documenta weitestgehend fremd, während ein Großteil der Biennale in den giardini, den von Napoleon 1808-12 angelegten Gärten, aus nationalen Pavillons besteht. Ungeachtet aller Diskussionen um den White Cube oder den spatial turn ist die räumliche Disposition der Biennale noch immer Frucht des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die eben neben einer zentralen Ausstellungshalle im Sinne, man möchte fast sagen, des Kolonialismus Länderpavillons einrichtet bzw. einrichten lässt: Die einzelnen Pavillons unterstehen der jeweiligen Länderhoheit, d.h. die interessierten Staaten mussten sich einkaufen und die Gebäude auf eigene Kosten bauen; dafür unterstehen sie prinzipiell den jeweils von den Ländern bestimmten Kommissaren in Eigenverantwortung. Die räumliche Struktur entspricht dabei der Struktur ihrer Organisation: In Kassel bei der documenta ein einziger Verantwortlicher mit seinem Team, und neben anderen Räumen wie etwa der Orangerie, dem Ottoneum sowie der Galerie zur »Schönen Aussicht« etc. ist das 2 | Harald Kimpel: »documenta. Mythos und Wirklichkeit«, Köln: DuMont 1997, S. 297-299. 3 | Die erste Ausstellung von 1895 natürlich nicht; während des Krieges fanden die Ausstellungen von 1944 und 1946 nicht statt. Die erste NachkriegsBiennale war die von 1948, doch war die Situation in Italien nach Mussolini eine andere als die in Deutschland nach Hitler, da der italienische Faschismus die moderne Kunst keineswegs in Grund und Boden verdammt hatte wie Hitler.

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Fridericianum der zentrale Kunstraum. In Venedig gibt es neben dem künstlerischen Direktor in Form der nationalen Kommissare eine Vielzahl von künstlerisch Verantwortlichen und viele gleichrangige Pavillons mit Ausnahme des padiglione Italia, »des Hauptgebäudes«. Dort fanden sich zunächst, historisch gesehen, vorwiegend italienische Künstler, doch hat sich diese Einschränkung im Laufe ihrer Geschichte aufgelöst und es werden zunehmend auch nicht-italienische Künstler ausgestellt. So scheint zum einen eine bestimmte Diskussion um »Kunst im öffentlichen Raum« in Venedig kaum Fuß gefasst zu haben, zum anderen haben sich bestimmte Strukturen der Biennale weltweit verbreitet, und von der italienischen Forschung und Kunstkritik wird gerne im Vergleich zu Kassel die in Form der Länderkommissare demokratische Struktur betont, wobei hier gleich einzuwenden wäre, dass Demokratie hier Hand in Hand geht mit finanziellen Ressourcen, wie angedeutet – nur ein Staat, der sich das leisten kann, kann einen eigenen Pavillon bauen und bespielen. Aus der genannten Struktur folgen (u.a.) zwei Dinge: Zum einen, könnte man in aller Vorsicht formulieren, ist hier ein erster Schritt gemacht, den unterschiedlichen Ethnographien durch die mehr oder minder selbst bestimmten Kommissare größeren Spielraum zu lassen, zum anderen ist schlicht durch die räumliche Struktur ein anderes Verhältnis Kunst und öffentlicher Raum angelegt – Gärten und Pavillons konstruieren ein anderes Ambiente als etwa bei der documenta.

K UNST UND G ARTEN Reflektiert man über das Verhältnis Kunst und öffentlicher Raum, so wird unmittelbar einleuchtend, dass Kunstwerke, die im Weichbild der Stadt zu sehen sind, durch ihre andere Umgebung auch anders wahrgenommen werden als solche, die – wie in Venedig – v.a. innerhalb des »geschützten« Raumes der giardini zu sehen sind, wo sich 2007 77 Länderpavillons befanden, viele mittlerweile allerdings auch außerhalb der giardini.4 4 | Trotz Bundesgartenschau war die Idee, diese auch als Kunstraum zu bespielen, 1955 für Kassel wohl abwegig. Auch wurden einige der ausgestellten Skulpturen mit weißen Wänden hinterfangen, möglicherweise um

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»Garten« weckt als solcher den Begriff eines modernen »laikalen« (Kunst-)Paradieses. Die Kunstwerke in Gärten sind darüber hinaus nicht mit Verkehr konfrontiert und befinden sich in einer umzäunten, geschützten Zone. Im Sommer lädt gutes Wetter das Publikum zum Verweilen im Freien ein, zwischen der virtuellen Reise von einem zu einem anderen Land oder Kontinent. Kunst in Konfrontation mit einer Stadt wie Kassel erzeugt, zumal wenn ärmere Randbezirke miteinbezogen werden, eine andere Inszenierung und damit Rezeption. Im Übrigen bildet eine »malerische« Stadt wie Venedig mit ihrem speziellen natürlichen Licht ein anderes Ambiente, einen anderen »Rahmen«. Sie ist, zumindest in der Wahrnehmung vieler Touristen, als solche schon ein Freilicht-Museum und steht damit im scharfen Kontrast zu dem architektonischen ambientalen Chaos moderner Groß- und Kleinstädte mit ihrem Krach, ihrem Verkehrsdurcheinander und, um es mit Mitscherlich zu sagen, ihrer »Unwirtlichkeit«. Trotz der Unterschiede möchte ich die giardini zu den über die ganze Welt verstreuten Künstlergärten in Beziehung setzen, und zwar hinsichtlich ihrer Inszenierung wie ihrer Rezeption. Beide laden abseits der Hektik der Städte zur Meditation ein sowie zur Reflexion über das Verhältnis zwischen Kunst und Natur, eines der uralten, quasi mythischen »Probleme« jeder Kunstbetrachtung, ja eigentlich der legendäre Ursprung von Kunst überhaupt, wie etwa bei Plinius d.Ä. Buch XXV, Naturkunde, nachzulesen. Im Laufe der Jahrhunderte ergab sich daraus die Streitfrage, wem der höhere/höchste Rang gebühre: der Natur oder der Kunst? In der Konfrontation der geschaffenen Natur und der geschaffenen Kunst spielte in der Kunsttheorie und Ästhetik der »Rang« eine entscheidende Rolle, wie es etwa bei dem Philosophen Baruch Spinoza formuliert wird. Unter dem Stichwort »natura naturans« (für ihn Gott) und »natura naturata«, der schaffenden bzw. der geschaffenen Natur, expliziert er das Argument: Kommt dem geschaffenen Kunstwerk derselbe Rang zu wie der geschaffenen Natur, oder steht es gar über ihr? Der Künstler wäre damit entweder zu verstehen als »Kopist« der Natur (Mimesis-Theorie) oder als ein

den Effekt »au plein air« zu reduzieren. Darüber hinaus spielt der Auepark speziell bei den späteren documenta-Ausstellungen eine wichtige Rolle, ist aber nicht das »Herzstück« der Ausstellung.

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Schöpfer wie Gott, der in seinen Werken gar die Unvollkommenheit der Natur korrigieren könne.5 Interpretiert man die giardini der Biennale als Künstlergärten im weitesten Sinn, als einen der Kunst gewidmeten lieblichen Ort, einen »locus amoenus«6, kann man vermuten, dass ein solches dem (durchaus auch kritischen) Vergnügen gewidmetes Ambiente von Anfang an vermutlich weniger Aggressionen weckt als zeitgenössische Werke der Kunst inmitten der Stadt, wie man das von »Bilderstürmern« des 20. Jahrhunderts kennt, etwa in Rom bei der teilweisen Zerstörung des Vier-Ströme-Brunnens von Bernini auf der Piazza Navona, der eines Nachts erklettert wurde, dem Gewicht seines Eroberers nicht standhielt und eine der Figuren so Schaden erlitt. Die Abgrenzungen (oder Ausgrenzungen) scheinen dagegen innerhalb der giardini klar gezogen, die als Orte für die Kunst verstanden werden und dennoch Teil eines einzigen großen Museums »Venedig« sind.

M ATERIAL , H ALTBARKEIT UND O RTSBEZOGENHEIT Kunst im öffentlichen Raum muss eine solche sein, die dem Wetter trotzen kann, Bilder, Ölgemälde schließen sich daher in der Regel von alleine aus, Skulptur und Architektur sind gefragt. Damit nehmen sie in diesem Falle im paragone, dem Wettstreit, welcher der Künste der höchste Rang gebühre, einen eindeutig höheren Stellenwert als die Malerei ein, welche die am wenigsten haltbare der Künste ist. Das Material nimmt in der jahrhundertelangen Diskussion oder teilweise eher in dem Streit eine zentrale Rolle ein: Je länger sich ein Kunstwerk hält, je unvergänglicher es ist, desto bedeutender ist es. Was hätten wohl die Künstler vergangener Jahrhunderte über Werke der zeitgenössischen Kunst gedacht, die bereits einige Jahre nach ihrer 5 | Vgl. auch Barnett Newmans Texte: »Der erste Mensch war ein Künstler«, 1947, und »Das Erhabene jetzt«, 1948; u.a. wiederabgedruckt in: Charles Harrison/Paul Wood (Hg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, die deutsche Ausgabe ergänzt von Sebastian Zeidler, Ostfeldern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2003, Vol. 2. 6 | Vgl. auch Raymond Roussel: »Locus solus«, Paris 1914, in dessen Mittelpunkt der Garten des Ich-Erzählers steht, wo allerlei phantastische Kunstwerke und ausgefallene mechanische Erfindungen zu bewundern sind.

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Vollendung der Restaurierung bedurften oder gar für die Zerstörung geschaffen wurden? Im Fall der Kunst im öffentlichen Raum werden diese alten Argumente wieder wichtig. Im Zusammenhang Kunst und öffentliche Räume spielt die Hauptrolle innerhalb der giardini der venezianischen Biennale aber die Architektur im Form der nationalen Pavillons. Sie wurden so weit möglich von namhaften Architekten entworfen: Den österreichischen padiglione entwarf der Architekt Josef Hoffmann zusammen mit Robert Kramreiter 1934 (Hans Hollein renovierte ihn 1984); den finnischen Avar Aalto 1956 (restauriert 1976-1982 von Frederigh Fogh mit Elsa Makiniemi), den auch im Bereich der giardini befindlichen padiglione del libro entwarf James Stirling 1991. Die Gesamtheit der Pavillons kreiert dabei eine Art Kunstdorf, das zusätzlich auch Zeit-Geschichte dokumentiert, so z.B. wenn politische Veränderungen eintreten und sich dies auch in einer neu restaurierten Architektur spiegelt (Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien, Pavillon von 1922 resp.1952), wie dem deutschen Pavillon von 1909, der 1938 umgebaut wurde, oder auch wenn bei der Spaltung eines Landes (Tschechoslowakei, Jugoslawien) getrennte Pavillons entstehen etc.7 Die Geschichte der Erstellung bzw. der Umbauten spielt für die Frage des Ortes innerhalb der venezianischen Gärten eine wichtige Rolle. Der erste Pavillon war der belgische, bereits 1907 entstanden, Deutschland folgte 1909, doch musste der Bau von Daniele Doghi, wie angedeutet, 1938 einem Neubau von Ernst Haiger weichen; ebenfalls von 1909 ist der ungarische Palast (1958, restauriert). Es folgten das damalige Russland (1914), Spanien (1922), die Tschechoslowakei (1926). Europa und Asien (im Fall von Russland) dominierten somit zunächst. Die USA, welche die Kunstszene in Venedig spätestens ab 1964 dominierten, waren erst ab 1930 mit einem neoklassizistischen Kunsttempel vertreten (der seine ehemalige Form im Unterschied zu vielen andern bis heute bewahrt hat). Architektur steht in engem Zusammenhang mit nationaler Selbstinszenierung. So steht etwa der 7 | Vgl. Enzo Di Martino: »La Biennale di Venezia. 1895-1995. Cento anni di arte e cultura«, Mailand: Giorgio Mondadori 1995, S. 126-127, 84; zu den getrennten Pavillons und Veränderungen politischer Art: Katalog Biennale 52. Esposizione Internationale d’Arte: pensa con i sensi – senti con la mente. L’arte al presente. 3 Bände, Verona: Marsilio 2007.

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streng ornamentlose Bau von Hoffmann8 im Gegensatz zu dem amerikanischen mit einer Tempelfront in einer dorischen MonumentalOrdnung gestaltet, der in der Architektursprache »männlichen« Ordnung. Hinter der Säulenstellung erkennt man eine getreppte Kuppel, die an das römische Pantheon denken lässt, zugespitzt formuliert, eine Demonstration der Wichtigkeit und Würde der Kunst, aber auch von Stärke und Macht Amerikas, was nicht notwendigerweise mit der Realität zusammenfallen muss. Abbildung 2: Der amerikanische Pavillon 1970, ein Unbekannter bläst die »Trompete Jerichos« aus Protest gegen die amerikanische Politik

Deutlich setzen sich viele der später hinzugekommenen Pavillons davon ab mit eher schlichter Architektur (etwa Australien, Philipp Cox, 1988, um nur einen zu nennen) oder mit einem möglicherweise sogar ephemeren Charakter wie etwa dem Pavillon der Rom (2007)9 . In den venezianischen giardini entsteht vermittels der Pavillons ein kleines geschichtlich-architektonisches Handbuch, Ausdruck der zeitbedingten Staatsideologie und ihrer künstlerischen Umsetzung. Die Aufarbeitung der Geschichte dieser Bauten und ihre Interpretation ist ein bisher vernachlässigter Gesichtspunkt der Forschung, 8 | Vgl. auch seinen Text »Ornament und Verbrechen«, Wien 1908. 9 | Vgl. Katalog Biennale 52, S. 288-291.

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sowohl bei Darstellungen der Geschichte der Biennale sowie zeitgenössischen Kritiken. Eine Ausnahme bildet Enzo Di Martino, der wichtige Materialien gesammelt und weitreichende Vorarbeiten dazu gemacht hat.

E PHEMERE UND DAUERHAF TE A RCHITEK TUR – DAS V ORBILD DER W ELTAUSSTELLUNGEN Bauten können entweder für lange Zeit angelegt oder temporär sein: Die venezianischen Pavillons sind dabei auf Dauer angelegt und folgen häufig einer geographischen Zu-Ordnung, wobei es zentrale und eher abgelegene Stellen gibt (das hängt natürlich auch davon ab, wann der entsprechende Pavillon gebaut wurde). Die hinsichtlich der nationalen Bindung verwandten Pavillons der Weltausstellungen gehören dagegen zur Gattung der ephemeren Architektur, bei denen die Ortswahl jeweils für die Zeit der Ausstellung getroffen wird. Beide haben jedoch gemein, dass neben der nationalen »Sortierung« der Ort eine wichtige Rolle in der Interpretation spielt. Kann man in Venedig die wirtschaftliche und politische Macht der Staaten (bzw. die Rolle, die sie in diesem Zusammenhang der Kunst einräumten) an der historischen Reihenfolge ablesen, so liegt das im Fall der Pavillons der Weltausstellungen anders, zeigt aber die Wichtigkeit des Ortes von einem anderen Blickwinkel, verdeutlicht nämlich das Verhältnis von Architektur und Selbstrepräsentation der Nationen krasser: Am spektakulärsten war das vielleicht in der Pariser Weltausstellung 1937 zu sehen mit der programmatischideologischen Gegenüberstellung des deutschen und des russischen Baus. Die Pavillons in Venedig und die der Weltausstellungen waren für einen bestimmten Ort und in Hinsicht auf die unmittelbare Umgebung entworfen (wie das oft auch bei Skulpturen im öffentlichen Raum gilt).

B E WEGLICHKEIT UND K OMMERZIALISIERUNG Ortsbezogenheit als solche ist eine Referenz auf »alte« Kunst im Allgemeinen, waren doch – selbstverständlich bei der Architektur – auch Marmor-Statuen und Bronzen in der Regel für einen bestimmten Ort entworfen, auch wenn ihre Aufstellungsorte wechselten, wie

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etwa das Reiterstandbild Marc Aurels in Rom, das zunächst bei S. Giovanni in Laterano stand, dann auf das Kapitol gebracht wurde; cum grano salis gilt das auch für die Malerei wie etwa die Fresken der Kirchen oder Palazzi und ebenso für die Kunst im öffentlichen Raum: Als man lernte, sie abzunehmen, wurde das als eine wichtige Etappe zur Kommerzialisierung definiert: Nicht der Betrachter muss die Reise zu eigentlich ortsgebundenen Bildern machen, sondern diese werden »beweglich«, können auf Reisen gehen mit all den Nachteilen für ihren Erhaltungszustand. Insofern wären schwergewichtige Skulpturen und natürlich Architekturen die am wenigsten kommerziellen Kunstwerke, da sie nicht für einen Markt frei transportierbar und verfügbar sind oder nur mit Mühe. Schwergewichtige Skulpturen seien, so der berühmte italienische Künstler Enrico Baj, »killer art«. Abbildung 3: Brigida Martini betrachtet die monumentale Skulptur Titus Livius (1942) von Arturo Martini in der Biennale von 1962, zum Glück unversehrt

Für Leinwand-Bilder sollte sich diese Ortsgebundenheit mit der »Emanzipation« der Künstler ändern, die nun nicht mehr ausschließlich für Auftraggeber malten, sondern in eigener Regie Werke entwarfen und realisierten. Kunst, für einen bestimmten Ort kreiert, bedeutet somit als solches einen Rückbezug und ein Anknüpfen an Traditionen, natürlich im Sinne einer Neudefinition.

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Wie die meisten Großausstellungen im Bereich der Kunst ist auch die Biennale in Venedig 2007, und nicht nur diese, als solche reich an Gegenstrategien gegen die Kommerzialisierung, paradoxerweise und nur im Sinne der Unmöglichkeit, sie an einen anderen Ort zu verlagern. Dass sie eine Menge Besucher anzieht und Venedig davon selbstverständlich profitiert, steht auf einem anderen Blatt. Eine andere »Gegenstrategie«, die eigentlich einmaligen Performances, Happenings, ephemeren Installationen etc. zu unterlaufen, sind natürlich Photos wie auch die allgegenwärtigen Videos, welche die Einmaligkeit und die Ortsbezogenheit in ihr Gegenteil verkehrten (so in Venedig 2007 etwa bei Installationen im ägyptischen Pavillon und beim Premio per la Giovane Arte Italiana 2006/2007). Die venezianische Biennale besteht so hinsichtlich »Kunst im öffentlichen Raum« aus einer nicht immer widerspruchsfreien Struktur: Kind des 19. Jahrhunderts mit ihrer nationalen Emphase, könnte sie sich dagegen vielleicht leichter gegen autoritäre Führungsstrategien und den Eurozentrismus wehren, da die einzelnen Nationen ein Wort mitzusprechen haben, eher als bei anderen derartigen Veranstaltungen. Andererseits stellt sie einen Großteil der Werke in das Herzstück der giardini, die zum einen Schutz bieten, aber bei denen man die Gefahr läuft, die Konfrontation mit unserem »Hier und Heute« abzuschwächen. Doch quasi automatisch nehmen die ausstellenden Künstler Position zu (traditionellen) großen Fragen, die nach wie vor aktuell sind: Natur als unsere sehr zerstörte Umwelt ist in den letzten Jahren deutlich mehr ins Interessenfeld nicht nur der Kunst getreten, auch wenn dies nicht immer explizit vorgetragen wird. Ebenso automatisch sind Fragen um die Kolonisation und ihre Folgen bildlich präsent: Pavillons wie die in Venedig finden sich so in keiner anderen Ausstellung und können verstanden werden als ein bildlicher Ausdruck der Kunst, aber auch der politischen Geschichte seit 1895. Sie sind Kunst im öffentlichen Raum per se, qua Architektur. Welchen unterschiedlichen Zugang die in ihnen ausgestellten Künstler zum Problem des Raumes und des Wechselspiels verschiedener Kulturen haben, möchte ich an drei Fallbeispielen analysieren, in denen die Künstler zeigen, wie das Verhältnis innen und außen einnehmen kann und welche Antworten sie auf die Frage nach dem Ort und der Rezeption anbieten können. Hinzuweisen ist aber zunächst auf einen bisher vernachlässigten Punkt, nämlich die »anderen« Biennalen, welche die visuellen Küns-

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te in Venedig seit langen Jahren in einen unauflöslichen Zusammenhang mit anderen Formen der Kunst stellen: Eine Reihe von begleitenden Veranstaltungen sind während der Ausstellung zu sehen, um die Biennale der arti visivi zu ergänzen, die vielleicht für das große Publikum z.T. wichtiger geworden sind als sie selbst: Theater, Film, Musik etc. finden ein breites Forum in der Lagunenstadt. Doch auch im Bereich der Biennale der arti visivi finden an den verschiedensten Stellen der Stadt zusätzliche Ausstellungen statt, etwa Kirchen (im katholischen Italien ein klassischer öffentlicher Ort, da sie als Kult-Orte im Gegensatz zu protestantischen Kirchen lange Stunden am Tag geöffnet sind). Eine seit langem in die Biennale eingebundene Kirche ist San Stae am canale grande, die – säkularisiert – einen Ort für kleinere Ausstellungen bietet und wo nicht immer notwendigerweise religiöse Kunst ausgestellt war und ist. Für die Biennale 2007 hat man zusätzlich eine nicht-säkularisierte Kirche miteinbezogen, San Lio10: Hier war das Stichwort Kunst a regola d’arte: Das Projekt bestand darin, die Kirche nach den Regeln der Liturgie des Vatikan II (1962-1965) mit zeitgenössischen Werken auszustatten, um sie dem modernen Kult anzupassen; in diesem Fall, den Versuch zu unternehmen, mit zeitgenössischer Kunst Liturgie wie Kirche für die Gläubigen attraktiver zu machen. Zwölf verschiedene Künstler schufen Werke wie ein Kreuz, einen Altar, ein Tabernakel, einen Ambo, ein Bild Mariens sowie des hlg. Antonio und der madre Teresa von Kalkutta, ein Taufbecken etc., um den Kirchenraum zu modernisieren – eigentlich in der Tradition von Kirchenausstattungen seit Jahrhunderten, die damals eben auch »zeitgenössische« Künstler für diese Arbeiten heranzogen und auch hier die Werke für einen bestimmten Ort schufen, ein für das 21. Jh. ebenso traditionelles wie erstaunliches Projekt, da zeitgenössische Kunst, speziell die im öffentlichen Raum, oft auf Probleme des Unverständnisses stößt, gleichzeitig aber signalisiert, dass es einen Bedarf dafür gibt. Das Gotteshaus wird Haus der Kunst, zumindest vorübergehend.11

10 | Vgl. Katalog Biennale 52, S. 212-215. 11 | Der Jesuitenpater Friedhelm Menneckes macht in »seiner« Kirche, St. Peter in Köln, seiner »Kunststation«, regelmäßig Ausstellungen zeitgenössischer Kunst mit wechselnden KünstlerInnen.

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Wenn man so will, ist die venezianische Biennale in Bezug auf Öffentlichkeit, öffentlichen Raum ein Event der großen und kleinen Häuser, der »Hüllen«, die Kunstwerke ver- und enthüllen, und dies setzt sie von anderen Events ab, die Skulpturen »unverhüllt« in großem Maßstab in die Öffentlichkeit bringen (Kassel, Münster). Was sich als ureigenste Form der öffentlichen Kunsträume verstehen lässt, sind eben schützende Bauten für die Kunst, Galerien, Museen, Pavillons, ist Architektur mehr als Skulptur. Dort in der heimlich-unheimlichen Atmosphäre nehmen die Künstler dann aber häufig Bezug auf das Verhältnis innen – außen, etwa im Projekt »Ruin Russia«: Ein junger Photograph, Stas Polnarev, zeigt in einer Serie von Photographien von 2006-2007 den Abriss des Hotels »Russia« in Moskau auf dramatische Weise. Bis auf die Grundmauern wird das zwischen 1964 und 1967 erbaute Hotel zwischen Kreml und Rotem Platz zerstört, »Russland ruiniert«.12 Abbildung 4: Stas Polnarev, Ruin Russia, Photographie einer Serie, 2006-2007

Wird in diesen Fotos gezeigt, wie sich Russland, das Vaterland, zerstört, zeigt sich umgekehrt »Aufbau« in dem portugiesischen Pavil-

12 | Vgl. Katalog Biennale 52, S. 296-299.

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lon.13 Angela Ferreira zeigt im selben Medium, der Photographie von 1996, das »Maison tropicale« von Jean Prouvé in Brazzaville im Kongo: Es wurde in den 1950er Jahren in Frankreich vorfabriziert und in die französische Kolonie nach Afrika geschafft und dort aufgebaut. Seine Architektur entspricht dem Stil der Moderne, dem sogenannten International Style. Die Künstlerin selbst, in Mozambique 1958 geboren, in der portugiesischen Kolonie aufgewachsen, hat in Afrika studiert und lebt seit den 90er Jahren zwischen Afrika und Portugal. Das Haus kam »kürzlich« nach Frankreich zurück und wurde in Paris ausgestellt. Es ist Zeuge des gescheiterten Versuchs, solche rationale, europäische Architektur in Afrika heimisch werden zu lassen, Zeuge des Missglückens einer Utopie und »ästhetischer« Ausdruck des Scheiterns von künstlerischer Kolonialisierung (wie auch der politisch-wirtschaftlichen) überhaupt. In einem Roman mit dem Titel »An der Biegung des großen Flusses« von 1979 beschreibt V.S. Naipaul (geb. 1932 in Trinidad) den Versuch des »Präsidenten, des »großen Mannes, in einer nicht genannten Stadt im Herzen Afrikas, eine moderne »Domäne«, eine Enklave europäischer Architektur heimisch zu machen, ein Polytechnikum nach europäischem Beispiel und mit europäischen Gelehrten zu gründen und funktionieren zu lassen. Nach einigen Jahren scheiterte der Versuch. Ich meine, das maison tropicale stellte in kleiner Form ebenso einen solchen Versuch dar, europäische Kultur zu exportieren, der zum Scheitern verurteilt war. Europäische Architektur konnte das »Althergebrachte« (das »Ortgebundene«) nicht verdrängen, auch wenn – oder vielleicht gerade deshalb – längst eine Vermischung der Kulturen stattgefunden hatte. Der europäische Kolonialismus und seine Folgen, seien sie wirtschaftlich, seien sie kulturell, können nur sehr bedingt hier Wurzeln schlagen. Ein russischer Künstler, der nach China, nach Macau, gegangen war, zeigt einen ironischen Kommentar zu den Problemen der Immigration, des schwierigen Prozesses der Mischung unterschiedlicher Kulturen: Konstantin Bessmertny zeigte eine Installation mit dem Titel »Si monumentum requiris, circumspice« (2007) (190 x 400 cm)14 . Eine Art Kasten auf Rädern, gebaut aus den unterschiedlichsten Materialen – (Abfall) Karton, mechanischen Teilen, recyceltem Material, Schrott –, stellte er in der parrocchia San Martin bei den corderie (Teil 13 | Vgl. ebd., S. 98, 99. 14 | Vgl. ebd., S. 292-295.

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der Biennale), in der Nähe des Zoll- und Umschlagsplatzes des venezianischen Hafens, auf. Abbildung 5a: Konstantin Bessmertny, Si monumentum requiris, circumspice, 2007, vor San Marco, Venedig

Abbildung 5b: Konstantin Bessmertny, Si monumentum requiris, circumspice, 2007, in der Parocchia S. Martin, Venedig

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Auf dem Dach trug er eine Art Flügel, seine beiden Türen waren weit geöffnet, luden zum Eintreten, zumindest aber zum Hineinschauen ein: der Innenraum, zu einem großen Teil durch einen großen Kristall-Lüster, kitschige Tapeten und ebenso kitschige Bilder von Venedig und Macau. Außen war er in verschiedenen Sprachen »beschriftet«. Auf dem Photo im Katalog scheinen sich die vorderen Räder abzuheben, der Flug kann beginnen. Mit diesem »Traumflugzeug« kann man starten – vielleicht zum International Airport nach Macau, oder wohin es einem gefällt, würden einem nur die Gegenstände im Innenraum genügend Platz lassen, so dass man eintreten könnte. Kunst im öffentlichen Raum, in Venedig v.a. durch die Pavillons vertreten, aber auch durch andere ortsgebundene Dinge, findet hier seinen ironischen Kommentar: Man muss nur das Schrott-TraumFlug-Schiff besteigen und kann sich dann einfach davonmachen. Dies wäre dann doch wieder im Sinne von Stendhals eingangs zitierter Italienkritik: »… ein jeder muss (in Italien) aus eigenen Mitteln leben; man kann sich nicht mehr auf die anderen stützen. Je glänzender die gesellschaftliche Stellung in Paris ist, desto rascher wird man sich in Italien langweilen«.15 Langweilen sich die Künstler in Venedig?

L ITER ATUR Di Martino, Enzo: La Biennale di Venezia. 1895-1995. Cento anni di arte e cultura, Mailand: Giorgio Mondadori 1995. Katalog Biennale 52. Esposizione Internationale d’Arte: pensa con i sensi – senti con la mente. L’arte al presente. 3 Bände, Verona: Marsilio 2007. Kimpel, Harald: documenta. Mythos und Wirklichkeit, Köln: DuMont 1997. Mulas, Ugo: Vent’anni di Biennale. Testo di Tommaso Trini, Mailand: Mondadori 1988.

15 | Siehe Anm. 1.

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A BBILDUNGEN Abb. 1: La Biennale di Venezia. 52. Esposizione Internationale d’Arte; pensa con i sensi; senti con la mente; arte al presente – la Biennale di Venezia. A cura di Robert Storr, Venezia: Marsilio 2007, Seite 136. Abb. 2: La Biennale di Venezia. 52. Esposizione Internationale d’Arte; pensa con i sensi; senti con la mente; arte al presente – la Biennale di Venezia. A cura di Robert Storr, Venezia: Marsilio 2007, Seite 143. Abb. 3: La Biennale di Venezia. 52. Esposizione Internationale d’Arte; pensa con i sensi; senti con la mente; arte al presente – la Biennale di Venezia. A cura di Robert Storr, Venezia: Marsilio 2007, Seite 145. Abb. 4: La Biennale di Venezia. 52. Esposizione Internationale d’Arte; pensa con i sensi; senti con la mente; arte al presente – la Biennale di Venezia. A cura di Robert Storr, Venezia: Marsilio 2007, Seite 148. Abb. 5a: La Biennale di Venezia. 52. Esposizione Internationale d’Arte; pensa con i sensi; senti con la mente; arte al presente – la Biennale di Venezia. A cura di Robert Storr, Venezia: Marsilio 2007, Seite 150. Abb. 5b: La Biennale di Venezia. 52. Esposizione Internationale d’Arte; pensa con i sensi; senti con la mente; arte al presente – la Biennale di Venezia. A cura di Robert Storr, Venezia: Marsilio 2007, Seite 150.

Interventionen im öffentlichen Raum skulpturale Fragen – Standpunkte im freien Fall Thomas Stricker

Intervention auf dem Schulhof. Und sie dreht sich doch. Thomas Stricker 1999 skulpturale Frage 10/108 Heilpädagogische Schule, Flawil, Schweiz. Rosskastanie, Edelstahl.

Eine Skulptur, die einen Standpunkt bezieht, der sich auf dem Grat von drop-sculpture und social-sculpture befindet. Eine skulpturale Untersuchung, inwieweit Stabilität und Eigenständigkeit mit Bewegung und Veränderung zu tun haben. Kinetik in Bezug auf Veränderung, innere Beweglichkeit und Wachstum. Nicht visuelle Bewegung also, sondern wahrnehmbare Zeiträume, natürliche Veränderung, andauernde Neuorientierung. Ein visuelles Experiment über kontinuierliche Flexibilität und natürliche Rhythmen, über Schönheit und Anderssein.

Intervention im Park. Die Meteoritenwerkstatt. Thomas Stricker 2000 skulpturale Frage 14/108 Ein Projekt im Rahmen der Ausstellung Außendienst. www.meteoritenwerkstatt.de

In der Meteoritenwerkstatt entstand in einem aufwendigen Prozess eine unregelmäßige organische Form, die schließlich mit Palladium überzogen wurde. Während der Prozess der Herstellung öffentlich geschah und reges Echo in der Bevölkerung fand, wirkt das Ergebnis wie eine geschichtslose unvermittelte Setzung. Stricker erweiterte damit seine poetische, an traditionellen handwerklichen Verfahren orientierte bildhauerische Praxis zu einem pointierten Statement über die Spannungen zwischen der Strategie der Ortsspezifik und dem Konzept der drop-sculpture im öffentlichen Raum.

Intervention im ländlichen Raum. Blüht es oder blüht es nicht? Thomas Stricker 2002 – 2004 skulpturale Frage 22/108 Ein Projekt im Rahmen der Skulptur Biennale Münsterland 2003. www.bluehtes.de

In der Landschaft, welche von der Kreuzkirche in Stromberg zu überblicken ist, soll ein riesiges, leuchtend gelbes Kreuz aus Raps blühen. Die Arbeit nimmt Bezug auf die Geschichte des Heiligen Kreuzes in der Kreuzkirche, welches dreimal gestohlen und zerstört, jedoch jedesmal wieder aufgefunden wurde. Das Wunder von Stromberg. Eine Arbeit, die nur dann verwirklicht werden sollte, wenn sie von der Bevölkerung des Münsterlandes auch gewollt wird.

Intervention auf der anderen Seite. Das Land fliesst wirklich. Thomas Stricker 2001 skulpturale Frage 15/108 Kanal/Wasserbauamt, Düsseldorf und Gemeinde Kivaa, Kenia. Zweiteiliger Brunnen.

Auf der neugeschaffenen Verkehrsinsel in der Zufahrt zu den Gebäuden wurde ein Brunnen für Trinkwasser gebaut. Einerseits eine Brunnenstube, die Fassung der Quelle in Düsseldorf. Andererseits wurde auf der anderen Seite der Erde in Kivaa (Kenia) ein Brunnen gebohrt, welcher stündlich an die 1000 l sauberes Wasser für Mensch und Vieh zur Verfügung stellt. Eine Skulptur vor den Toren einer Düsseldorfer Firma, welche 160 Familien in Kivaa mit frischem Trinkwasser versorgt. Ein visuelles, gesellschaftliches Experiment über materielle Wanderungen, über Flüsse und Mangel, über Schönheit und Menschlichkeit.

Intervention im Slum. Primary Schoolgarden Kalkfeld. Thomas Stricker 2007 skulpturale Frage 36/108 Ein Projekt im Rahmen des Arbeitsaufenthaltes im Etaneno Museum im Busch, Namibia.

Die Arbeit konnte durch die bereits bestehenden Kontakte von Alfonso Hüppi und Holger Bunk zur benachbarten Schule in Kalkfeld spontan realisiert werden. Der Lehrplan der Schule forderte den theoretischen und praktischen Unterricht von Agrikultur. Und wie ich an verschiedenen Gärtchen im Ort sehen konnte, war eigentlich auch das Know-how vor Ort. Also eine vernetzende, kommunikative und soziale Skulptur, die als kleines – an der Einweihung hieß es – als »paradiesisches« Gärtchen wächst, solange weiter gegossen, kommuniziert und jetzt auch praktisch unterrichtet wird.

Die Skulptur und ihr Gegenüber Interventionen in den ästhetischen Erfahrungsraum des Betrachters in Werken von Franz Erhard Walther, Erwin Wurm und Studierenden des Faches Kunst Sara Hornäk

D URCH F ÄDEN SCHREITEN UND BLICKEN Im Durchschreiten der Installation der Studentin Svenja Kies wird der Betrachter von langen weißen Fäden gestreift. Die dabei entstehende Wahrnehmung der eigenen physischen Existenz geht einher mit dem Erleben eines veränderten Raumgefühls. Mit dem Instrument des Körpers macht der Betrachter, der zum Akteur wird, neue Erfahrungen. Neben dem taktilen Moment der Berührung fordert die Arbeit der Studentin zugleich die optische Wahrnehmung heraus. Der Blick des Benutzers sowie der Blick des Zuschauers changieren zwischen Sehen und Nichtsehen, zwischen Transparenz und Verschwinden. Svenja Kies involviert den Betrachter als Gegenüber der Plastik auf vielfältige Weise. Es existieren zwei Rezipienten: der durch die Arbeit Schreitende und der außenstehend Verbleibende.

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Abbildung 1: Svenja Kies, …augenblicklich…, 2008

Bezogen auf ein mit Studierenden des Faches Kunst durchgeführtes partizipatives Projekt stellt sich die kunsttheoretisch relevante Frage, was das Kunstwerk ohne einen Betrachter sei, der die Kunst rezipiert und erlebt, neu. Als »Raumkunst« unterscheidet sich die Skulptur dadurch von der Malerei, dass man sich ihr nähern, sie umrunden oder – wie im genannten Beispiel – durchschreiten kann. Denn sie befindet sich im Raum und tritt dadurch in unmittelbare Beziehung zum Betrachter. »Die Wahrnehmungsunterschiede zwischen Malerei und Skulptur bestehen darin, daß ich mich zur Fläche nur distanziert, nie kooperativ verhalten kann.«1 Kooperation und Kommunikation bestimmen das Verhältnis von Werk und Betrachter: »Ein Gemälde betrachte ich; mit einer Statue muß ich reden.«2 Der Skulptur ist durch diesen raumgreifenden Charakter ein interaktives Moment immer schon in1 | Max Imdahl: »Konkrete Plastik«, in: Gottfried Boehm (Hg.), Max Imdahl: Gesammelte Schriften, Bd.1, Zur Kunst der Moderne, Frankfurt a .M.: Suhrkamp 1996, S. 312-315, hier S. 313. 2 | Denis Diderot: »Bemerkungen über die Skulptur und über Buchardon« (1763), in: Ästhetische Schriften, Frankfurt a.M.: Euro. Verl.-Anst. 1968, S. 485-492, hier S. 486.

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härent. Und doch hat sich die Skulptur im Hinblick auf genau dieses Moment verändert. Das interaktive Moment avanciert in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem der zentralen Themen der Kunst. Die Plastik wird zur »Handlungsform«3 . Neben das hermetisch abgeschlossene autonome Objekt treten neue Skulpturkonzepte, die durch die bewusste Intervention in den Raum den Übergang zum Performativen oder Installativen markieren und damit ganz neue Raumkonzepte hervorbringen. In diesem Beitrag geht es um die Frage, auf welche Art und Weise eine Skulptur in den Raum, und zwar den physikalischen, den sozialen, den kulturellen oder den ästhetischen Erfahrungsraum des Betrachters, eingreift. Dass der Kunstraum auch einen Lebensraum darstellt, wird an den vorzustellenden Arbeiten deutlich gemacht. Mit dem Raum ist also nicht nur der geometrisch messbare Raum bezeichnet, sondern ein Erlebnisraum umfasst, der existentielle Erfahrungen ermöglicht. Anhand des »1. Werksatzes« (1967) von Franz Erhard Walther und den »One Minute Sculptures« (1997) Erwin Wurms werden zwei künstlerische Möglichkeiten thematisiert, den Betrachter als Gegenüber der Skulptur ins Werk einzubinden. Davon ausgehend wird ein an der Universität Paderborn durchgeführtes studentisches Projekt beschrieben, das sich den Handlungsaspekt der Skulptur zu eigen macht. Die theoretische und gestalterische Auseinandersetzung der Studierenden mit dem Raum in seinen verschiedenen Facetten eröffnet zugleich die Frage nach dem Raum künstlerischer Praxis unter vermittlungstheoretischer Perspektive.

H ANDLUNGS F ORMEN I – F R ANZ E RHARD W ALTHER : M IT DEM K ÖRPER FORMEN UND KOMMUNIZIEREN Bei allen Unterschieden besteht die Gemeinsamkeit der künstlerischen Ansätze von Franz Erhard Walther und Erwin Wurm darin, durch verschiedene Formen in den physischen und psychischen Raum des Betrachters zu intervenieren.

3 | Manfred Schneckenburger: »Plastik als Handlungsform«, in: Kunstforum International, Bd. 34, 1979, S. 20-115.

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Abbildung 2: Franz Erhard Walther, Kurz vor der Dämmerung, 1. Werksatz, 1967

Auf dem Foto »Kurz vor der Dämmerung« (1967) mit dokumentarischem Charakter sind junge Menschen zu sehen, die seltsam anmutend durch die Landschaft laufen, eingefasst in eine weiße Stoffbahn, die die neun Teilnehmenden zu einem sich bewegenden Gebilde zusammenzieht. Zwischen 1963 und 1969 schuf Franz Erhard Walther seinen »1. Werksatz« aus textilen Objekten, die benutzbar sind und den Betrachter zur Teilnahme an seinem Kunstwerk auffordern. Aus den von Walther genähten Stücken formen die Benutzer mit ihren Körpern Skulpturen und treten in einen körperorientierten Kommunikationsprozess ein. Es existieren zu diesen Arbeiten präzise Handlungsanweisungen, die sich auf die erforderlichen körperlichen Aktionen und Positionen beziehen. Auf den eingepackten Werken oder aber auf den Zeichnungen, die zu den Werken entstanden sind, lassen sich die von Walther verfassten Anleitungen nachlesen. Das Kunstwerk entspricht einem Prozess und keinem fertigen Werk. Erst im Gebrauch der Werkstücke entsteht überhaupt die Skulptur.4 F.E. 4 | »Walther hat die Instrumentalisierung der Plastik nicht nur am konsequentesten gedacht und praktiziert, sondern sie auch am frühesten zur Grundlage seines gesamten Werkes gemacht. Seine Skulpturen als ›Handlungsanweisungen‹ oder ›Handlungsfelder‹ beziehen sich stets auf körperliche Positionen, Konstellationen, Bewegung, Gegenbewegung, In sich

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Walther beschreibt diesen Prozess folgendermaßen: »Die Objekte (diese Bezeichnung wählte ich 1962, da ich keine bessere wußte) – als Instrumente für etwas. Wichtig sind nicht die Objekte, sondern das, was man damit tut, was damit und dadurch möglich ist. Wir, die Benutzer, haben es zu leisten. Unsere Fähigkeiten (und Unfähigkeiten) zählen, unsere Bewegung.«5 Der Betrachter steht den Werken nicht länger passiv gegenüber, sondern wird von Walther in das Werk eingebunden. Die Verbindung von Körper und Handlung bildet bei ihm den Mittelpunkt seiner Arbeit. Die Erfahrung der Benutzung ist an den Körper gebunden. Indem er den Raum erfährt, erlebt er seinen Körper. »Der Körper wird eingesetzt und im Einsatz erfahren. Er ist Instrument und Sensorium zugleich.«6 Das Ereignis körperlich-räumlicher Existenz steht am Anfang. Das bloße Handeln, die reine Aktion, macht allerdings noch keine Skulptur aus. Die Bildhauerei besteht aus Formgebungsprozessen, in denen es um Volumen, Proportion und Materialität geht. Walther löst seine These »Ich denke in Formen, auch wo ich handle«7 ein, indem seine genähten Stoffobjekte durch den Körper neu und umgeformt werden. Dabei entstehen Bilder von plastischer und räumlicher Qualität. Der bei Walther intendierte Einbezug des Betrachters ist auch als gesellschaftspolitisches Zeitzeugnis der späten 60er Jahre zu werten, in denen in der Kunst vielfach interventionistische Praktiken entwickelt werden, die den Raumbegriff in der Bildhauerei so weit fassen, dass er den Lebensraum impliziert. Dadurch, dass die Kunst in den Raum des Betrachters eindringt, greift sie unmittelbar in unser Dasein ein. Stehen, Bei sich Stehen. […] Sie erscheinen als künstlerische Praxis analog zu Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung, die eine ›Phänomenologie des Leibes‹ ist. In der Konzentration auf das Gefühl des eigenen Körpers, der zum ›inneren Erfahrungsraum‹ wird und zur äußeren Welt vermittelt, liegt der wichtigste Ansatz, den F.E. Walther seit 1961 ausbildet. Seine lang jährige Arbeit trifft sich hier, ungeachtet ihrer eigenen ›therapeutischen‹ Zentralidee, mit jüngeren Entwicklungen.« (Vgl. ebd., S. 30). 5 | Germano Celant (Hg.): »Ars Povera«, Tübingen: Studio Wasmuth 1969, S. 133. 6 | M. Schneckenburger: »Plastik als Handlungsform«, S. 30. 7 | Franz Erhard Walther: »Der andere Werkbegriff«, in: Kunstforum International, Bd. 29, 1978, S. 102-103, hier S. 103.

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Mit demokratischem Anspruch werden Hierarchisierungen von Subjekt und Objekt, von Werk und Betrachter mit künstlerischen Mitteln hinterfragt. »Die Verschmelzung von Kunst und Leben war eine der fruchtbarsten Utopien des 20. Jahrhunderts. […] Der Wunsch, die Grenzen der ästhetischen Kontemplation, Reflexion, Fassion niederzureißen und ein aktiveres Engagement zu verankern, wurde zum Glaubensartikel.«8 Im Rückblick erscheint diese Form interaktiver Kunst, die im Kontext von Performance und Happening zu sehen ist, wegweisend für die Öffnung des Skulpturbegriffs in den Raum des Betrachters. Der Rezipient bekommt eine grundlegend neue, aktive Rolle zugewiesen. Für die Aufbrüche in den späten 60er Jahren stellvertretend wird ein neuer Skulpturbegriff, ein »anderer Werkbegriff«9 sichtbar, der interessanterweise auch dreißig Jahre später noch wirksam ist. Jedoch nimmt er hier andere Formen an.

H ANDLUNGS F ORMEN II – E RWIN W URM : S KULP TUR SEIN Erwin Wurm bindet den Betrachter in seinen 1997 entstandenen »One Minute Sculptures« so ein, dass die Skulptur erst in der Teilnahme realisiert wird. Auch hier besteht die Skulptur also in einer Handlung. Was auf den ersten Blick sehr ähnlich erscheint, verfolgt bei genauerem Hinsehen eine andere Zielrichtung. Wenn Wurm eine Frau auf Apfelsinen liegen lässt, einen Mann auf einer Tür reiten, 8 | M. Schneckenburger: »Plastik als Handlungsform«, S. 20. 9 | Vgl. Franz Erhard Walther: »Der andere Werkbegriff«, in: Kunstforum International, Bd. 29, 1978, S. 102-103, hier S. 102f.: »In dem, was ich also mache und was ich vorschlagen will als Idee, im anderen Werkbegriff ist Werk in der Arbeit, im gemachten Ding nicht vorhanden, sondern wird in Arbeit damit, in Bezugnahme darauf in Tätigkeit, und zwar in physischer Tätigkeit, die mentale Tätigkeit einschließt, hervorgerufen. Werk entsteht also in dieser Vorstellung in realer Tätigkeit. Was ich nenne, im Handlungsprozeß. Im Handeln an diesen Dingen, im Handeln an vorgegebenen Strukturen entsteht dieses Werk oder die Vorstellung von Werk oder der Ideenzusammenhang von Werk.«

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Abbildung 3: Erwin Wurm, One Minute Sculptures, c-print, 45 x 30 cm, 1997

eine Frau einen Putzeimer überziehen oder einen Mann ein Hemd am Kleiderbügel im Mund halten lässt, dann wird das Kunstwerk und sein Wert auf ironische Weise zur Diskussion gestellt. Wurm lässt die Besucher seiner Ausstellungen mit vorgegebenen Gegenständen aus dem Alltag posieren und eröffnet damit einen kunstphilosophischen Diskurs über die Frage, was oder wer die Kunst zur Kunst macht. Teils komische, teils peinliche Situationen entstehen. Die »One Minute Sculptures« von Wurm werden vom Betrachter vervollständigt. Erst dieser macht sie zu einem Kunstwerk. Er nimmt eine Doppelrolle ein, indem er einerseits zum Künstler wird, der das Werk herstellt, und andererseits als Kunstwerk erscheint. Der Betrachter verbleibt nicht länger außen, sondern steht, indem er selbst zum Kunstwerk wird, im Mittelpunkt der Ausstellung, wird selbst zum angeschauten Objekt, eine nicht immer angenehme Position. In der vorgegebenen Position verharrend, bildet sein Körper zusammen mit den an ihm, unter ihm, über ihm deponierten Gegenständen eine Minute lang die Skulptur. Die von Wurm inszenierten Performances, die nicht nur im Museum, sondern auch in privaten Räumen lokalisiert sind, innen sowie außen, werden fotografisch dokumentiert. Auch hier besitzt die fotografische Dokumentation einen hohen Stellenwert. Bei Wurm bildet das Foto und nicht die Skulptur das eigentliche Werk. Auch hier existieren Zeichnungen, die als genaue Anleitung dazu dienen, wie die

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Skulpturen nachzustellen sind: sogenannte Gebrauchsanweisungen. Zwar ist die Vergänglichkeit des Prozesses der temporär angelegten Werke sowohl bei Walther als auch bei Wurm zentral. Doch können sich beide den Bedingungen des Kunstbetriebs nicht entziehen, benötigen ausstellbares Material, das neben den eigentlich performativen Akt tritt und als Dokumentation der Prozesse dient. Die Fotografie und das Video rücken damit neben der eigentlichen Skulptur in den Vordergrund. Wurm erweitert den Skulpturbegriff in Richtung Performance und bleibt doch dem Readymade verhaftet. Beide gehen eine eigentümliche Verbindung ein, wenn der gewöhnliche Gegenstand eines Plastikeimers dadurch zur Kunst erhoben wird, dass er auf dem Kopf einer Ausstellungsbesucherin steckt. Im Mittelpunkt steht die Aufführungsanweisung, die festlegt, was sich zwischen Mensch und Ding innerhalb der Benutzung ereignet. Die Alltäglichkeit der Gegenstandswelt rückt durch die Benutzung in den Fokus der Betrachtung. Wenn Walther und Wurm den traditionellen Skulpturbegriff auch auf unterschiedliche Arten erweitern, kann doch nicht übersehen werden, dass beide, indem sie dem Betrachter mit ihren Werken neue Körper-, Ding-, Raum- und Zeiterfahrungen eröffnen, an traditionell grundlegende Problemstellungen der Bildhauerei anknüpfen. Innerhalb des Skulpturdiskurses geht es nicht erst seit Walther und Wurm um skulpturale Qualitäten der Dingwelt und eine Untersuchung ihrer Objekthaftigkeit. Bei Walther besitzen die Ausgangsmaterialien, die genähten und in Regalen verstauten Stoffpakete mit sichtbaren Beschriftungen und Zeichnungen auf ihren Oberflächen selbst künstlerischen Charakter. Anders bei Erwin Wurm: Die von ihm verwendeten Alltagsgegenstände – Eimer, Stift, Tür, Apfelsine – sind ohne den Benutzer nicht kunstverdächtig. Wurm knüpft implizit an Andy Warhols Ästhetisierung des Gebrauchsgegenstandes an. Die Abgrenzung des Gewöhnlichen vom Kunstwerk entsteht bei ihm jedoch nicht durch den Kontext allein, sondern vor allem durch die von seinen gezeichneten Anleitungen vorgegebenen Transformationen durch den menschlichen Körper. Der Betrachter wird in den Skulpturen Erwin Wurms zum handelnden Subjekt und als Benutzer doch zugleich zum Objekt degradiert. Abfotografiert gibt er sich durch die eingenommenen Posen der Lächerlichkeit preis, ist den Zuschauern ausgeliefert. Die ursprüngliche Aktion ist wiederum in eine Haltung passiver Verharrung

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verkehrt. Hier geht es anders als bei Walther eben nicht um die in der Bewegung und Begegnung gemachten Erfahrungen zwischenmenschlicher Kommunikations- und Handlungsformen, sondern um den Stillstand aller Bewegung. Der Akt selbst, einen Eimer überzustülpen, ist nicht sichtbar, sondern in der Fotografie nur als schon vergangenes Ereignis imaginierbar.

S KULP TUR ALS R AUMKUNST Die Intervention des Kunstwerks bei Walther und Wurm zielt auf den Raum des Betrachters. Anders als ein Bild befindet sich die Skulptur bereits im physikalischen Raum, den sie mit dem Betrachter in seiner Körperlichkeit teilt. Insofern als die Skulptur ein Pendant zum Körper des Betrachters darstellt, wurde ihr in Mythen und Erzählungen immer wieder eine Verlebendigung zugeschrieben. Von der Galatea des Pygmalion bis hin zum von Oskar Kokoschka in Auftrag gegebenen und inszenierten Puppenfetisch Alma Mahlers zeugen die Geschichten von einem Verwischen der Realitätsgrenzen. Eine Plastik besitzt trotz ihrer Artifizialität also eine andere Wirklichkeit als ein Bild. »Die reale Existenz im realen Raum gibt der Plastik den Charakter von direkter Präsenz. […] Das Dargestellte gewinnt innerhalb des Realraums eine Qualität des Unvergänglichen. […] Sie hat ihre Bestimmung jedoch nicht darin, in die reale Umwelt integriert zu werden, sondern sie hat ihre Bestimmung darin, sich die reale Umwelt zu subsumieren wie unter einen Bezugswert. Die reale Umwelt tritt in Relation zum Artefakt. […] Die Plastik irrealisiert mich auf eine reale Weise, die Malerei irrealisiert mich auf eine irreale Weise. Irrealisierung würde heißen, dass ich aus den mitgebrachten Mechanismen meiner Existenz herausgehoben werde.«10 Die Kategorie des Raums wird also stets angeführt, wenn es um die Unterscheidung von Skulptur und Malerei geht. Durch ihre Dreidimensionalität ist die Skulptur im wirklichen Raum lokalisiert, sie ist greifbar und muss dadurch keine Tiefe oder Plastizität vortäuschen. Donald Judd begründet mit Hilfe dieses spezifischen Raumbezugs der Bildhauerei die Überfälligkeit des nachahmenden Prinzips in der 10 | M. Imdahl: »Konkrete Plastik«, S. 313.

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Kunst und die von ihm geforderte Ablösung von illusionistischen Tendenzen in der Kunst. »Drei Dimensionen sind wirklicher Raum. Dadurch ist Schluß mit dem Problem des Illusionismus und des buchstäblichen Raums, Raum in und um Markierungen und Farben – dies bedeutet die Befreiung von einem der augenfälligsten Relikte der europäischen Kunst, gegen das am meisten einzuwenden ist.«11 Definitionsgemäß ist der Raum durch seine drei Dimensionen und damit auch der Einbezug des in diesem Raum befindlichen Betrachters konstitutiv für die Bildhauerei. Handelt es sich bei den vielfältigen Weisen des Einbezugs des Betrachters in den letzten Jahrzehnten also wirklich um neue Formen der Skulptur oder spricht nicht beinahe jedes Kunstwerk, und erst recht jede Skulptur, aufgrund der von ihm ausgehenden Wirkung, der dazugehörigen Erlebnisqualität und dem ihm eigenen Erkenntnispotential, dem Betrachter eine aktive Rolle zu? Eine Skulptur von Giovanni da Bologna beispielsweise zwingt den Betrachter dazu, die Arbeit zu umrunden, sich selbst in Bewegung zu setzen, um ihre Vielansichtigkeit wahrzunehmen. Die figura serpentinata überträgt die ihr eigene Drehbewegung auf den Betrachter, der in der Umrundung die in den Raum geschraubte Bewegung nachzuvollziehen sucht. Mit dem Aufbrechen der in sich ruhenden und geschlossenen Form in die dritte Dimension des Raumes und mit der Dynamisierung des Volumens erschließen sich dem Betrachter neue Perspektiven und Zugriffsweisen auf die Skulptur. Und dennoch wird der Betrachter hier nicht zum aktiv Mithandelnden, sondern bleibt trotz des raumgreifenden Charakters außen vor. Eine Plastik von Walther oder Wurm dagegen fordert die Aktion eines »Benutzers«, sie agiert in Raum und Zeit, schreitet in die Lebenswirklichkeit des Betrachters ein, ruht nicht länger autonom in sich. Es sind genau diese bei Walther und Wurm beschriebenen kooperativen, interaktiven Momente, die von den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts an ausdrücklich zum Inhalt gemacht werden und dadurch eine das Verhältnis von Werk und Betrachter neu bestimmende Form annehmen.

11 | Donald Judd: »Spezifische Objekte«, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel: Verl. der Kunst 1995, S. 59-73, hier S. 68.

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Schon in frühen Bildhauertheorien wird der Einbezug des Betrachters diskutiert. Adolf von Hildebrand fasst die Plastik als Fernbild auf. Henry Moore dagegen weist auf die Notwendigkeit unmittelbarer Begegnungsmöglichkeiten hin.12 Durch das Umschreiten seiner Plastiken eröffnen sich immer neue Blickweisen und Durchblicke. Der erste Schritt der Öffnung der Skulptur auf den Raum hin besteht in der Loslösung von skulpturalen Aspekten wie Volumen, Masse oder Körper. Es ist nach Ansicht von Clement Greenberg Constantin Brancusi, der, beeinflusst vom Kubismus, »eine für die europäische Zivilisation völlig neuartige Skulptur [schafft], die Skulptur als Zeichnung im Raum und als Einschließung von Raum, die sich nicht mehr auf die kompakte Masse und auf Menschen- und Tierformen beschränkt«13 . Auch Antoine Pevsner, Alexander Calder oder Henry Moore machen die Auflösung des Volumens zu ihrem Thema, indem sie mit der Plastik den Raum durchdringen. Doch bleibt der Raum hier in erster Linie auf den geometrischen Raum bezogen. Noch rückt nicht der Raum in seinen sozialen, kulturellen oder topologischen Facetten in den Blick. Mit dem Übergang von Körper- zu Raumbezogenheit aber verändert sich zugleich die Rolle des Betrachters in der Skulptur: »Sobald das plastische Gebilde das Körpervolumen durch das Raumvolumen ersetzt, ist es auf den Menschen als Mitakteur angewiesen […].«14 »Folgerichtig wächst aus dem Schritt vom Objekt zum Raum der Schritt vom Betrachter zum Handelnden, vom passiven Sehen zum Tun oder Sein. Unser physisches Engagement wird zu einem notwendigen Bestandteil der plastischen Struktur, die erst in der symbiotischen Interaktion von Werk und Rezipient voll zu sich selber kommt. Diese Plastik will benutzt, durchschritten, erstiegen, ertastet werden. Sie will nicht nur, wie frühere Kunstwerke, in einer ästhetischen oder geistigen Auseinandersetzung erlebt, sondern – wörtlich – gelebt werden. Das meint Morris, wenn er von ›existence art‹ spricht. Erfahrungen müssen gemacht, sie können nicht durch ästhetische Notationen ersetzt werden.«15 12 | Vgl. Eduard Trier: Bildhauertheorien, Berlin: Gebr. Mann 1992, S. 239. 13 | Clement Greenberg: »Die neue Skulptur (1949)«, in: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 163-173, hier S. 168. 14 | Werner Hofmann: »Ausschweifungen der Vernunft«, in: Walter Pichler (Katalog); Kestnergesellschaft Hannover, 1977, S. 5-9, hier S. 8. 15 | M. Schneckenburger: »Plastik als Handlungsform«, S. 28.

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Die Betonung der Horizontalen in der amerikanischen Bildhauerei, in den Bodenskulpturen der Minimal Art oder in den sich in den Naturraum erstreckenden Arbeiten der Land Art macht den Bruch mit dem Prinzip der Vertikale in der Bildhauerei deutlich. Das Vertikalitätsprinzip resultiert aus der bis ins 19. Jahrhundert an das Denkmal geknüpften Tradition der zur Repräsentation dienenden Sockelskulptur und hält den Blick des Betrachters im Emporschauen auf Distanz. Der Verzicht auf den Sockel dagegen bewirkt, dass das Werk in den Raum übergeht, ohne distanzschaffende ästhetische Grenzen aufzubauen. Schon Rodin wollte seine Bürger von Calais (1884-1886) ursprünglich direkt auf dem Boden, auf Augenhöhe des Betrachters platzieren, um sie in das Leben der Stadt Calais und ihrer Bewohner integrieren zu können. Ohne Sockel aber konnte er das Aufstellen der Plastik zunächst nicht durchsetzen. Das die Arbeit leicht erhöhende Podest stellt damit einen Kompromiss dar. Abbildung 4: Auguste Rodin, Die Bürger von Calais, Bronze, 1884 bis 1886, Basel/Kunstmuseum

Entgegen der Vertikalen verweist die Horizontale auf die Umgebung, auf unsere Lebenswelt, und das heißt auf den Raum des Betrachters. Carl Andre beschreibt seinen Versuch, eine Skulptur als Ort aufzufassen und sich dabei der Horizontalität zuzuwenden, wie folgt: »Alles, was ich tue, ist Brancusis Endlose Säule auf die Erde zu legen, statt in den Himmel zu stellen. Die meisten Skulpturen sind priapeisch, in ihnen reckt sich das männliche Organ in die Luft. In meiner Arbeit

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ist Priapus am Boden. Die engagierte Haltung ist die, am Boden entlang zu laufen.«16 Gemeinsam ist den vielfältigen Ansätzen der neuen Skulptur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die implizite Kritik an einem scheinbar überkommenen Kunstbegriff, an Werken, die unantastbar im White Cube präsentiert werden und in ihrer Selbstreferenzialität die Lebenswirklichkeit des Betrachters nicht erreichen. Der einsetzende Wandel innerhalb der Skulptur blieb jedoch nicht unumstritten. Unter dem Vorwurf der Funktionalisierung und Instrumentalisierung riefen die Neuerungen Gegenpositionen in Kunst und Kunstkritik hervor. Die Autonomie, die sich die Plastik im 20. Jahrhundert mühsam erkämpft hatte, drohte dadurch verloren zu gehen, dass die Objekte entweder zu Vehikeln für bestimmte Erfahrungen gemacht wurden oder als Objekte selbst, wie in der Performance oder Konzeptkunst, ganz verschwanden. Anthony Caro fordert, die Skulptur in ihrer Spezifik ernst zu nehmen und vom Environment oder von der Architektur zu unterscheiden: »When it’s sculpture, it’s to be looked at. Sculpture, for me, is something outside of which you are. It’s not something you can get inside; it’s not architecture or environment.«17 Eine Plastik, die unmittelbar in den Betrachterraum interveniert und die Erlebnisqualität des Werkes in den Mittelpunkt stellt, kann in die Nähe des Theatralischen rücken. Eben dieses Moment wurde einer Reihe von Künstlerinnen und Künstlern in den vehement geführten Disputen der amerikanischen Kunstkritik der 60er Jahre von Clement Greenberg oder Michael Fried zum Vorwurf gemacht. Fried spricht von einer »aggressiven Aufdringlichkeit der Kunstwerke«18 und behauptet: »Der Erfolg, ja das Überleben der Künste hängt mehr und mehr davon ab, ob es ihnen gelingt, das Theater zu überwin-

16 | David Bourdon: »The razed Sites of Carl Andre«, in: Artforum, Vol. 5, No. 2, October 1966, S. 15. 17 | Anthony Caro: »An Interview with Anthony Caro«, in: Artforum, June 1972, S. 56-58, hier S. 57. 18 | Michael Fried: »Kunst und Objekthaftigkeit«, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 334-374, hier S. 345.

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den.«19 Denn die »Kunst degeneriert, wenn sie sich den Bedingungen des Theaters annähert«20.

F ÄDEN – F AHRSTÜHLE – S PIEGEL P ARTIZIPATIVE P ROJEK TE VON S TUDIERENDEN Im Rahmen eines im Sommersemester 2008 durchgeführten Projektes mit Studierenden »Die Skulptur und ihr Gegenüber – Interventionen in den ästhetischen Erfahrungsraum des Betrachters«, in dem die Erweiterung des Skulpturbegriffs im späten 20. und beginnenden 21. Jahrhundert im Zentrum stand, wurden von den künstlerischen Ansätzen von Franz Erhard Walther und Erwin Wurm ausgehend zwei Leitfragen bearbeitet: Was ist das Kunstwerk ohne einen Betrachter, der die Kunst rezipiert und erlebt? Auf welche Weise kann Kunst in unser Leben, in den physikalischen Raum und damit auch in den ästhetischen Erfahrungsraum des Betrachters eingreifen? Im Laufe des Semesters wurden eine Reihe exemplarisch ausgewählter Kunstwerke untersucht, die durch die bewusste Intervention in den Raum und den Einbezug des Betrachters gekennzeichnet sind, um sich der Vielfalt von Interventionsmöglichkeiten auf der einen und dem Facettenreichtum des Raumbegriffs auf der anderen Seite zu nähern. Raum umfasst den architektonischen, den urbanen, den institutionellen, den kulturellen oder eben den Handlungsraum. Werke von Richard Serra, Alice Aycock und Bruce Nauman wurden herangezogen, um die physische Kraft und psychologische Wirkung räumlicher Erfahrung und die Schaffung neuer Wahrnehmungssituationen zu verdeutlichen. Um den Raum als Bühne performativer und aktionistischer Strategien kennenzulernen, wurden Arbeiten von Marina Abramovich und John Bock in den Blick genommen. In Bezug auf einen Raum der Wahrnehmung – der Selbst- und Fremdwahrnehmung – betrachteten die Studierenden die Pavillons Dan Grahams, die den Betrachter als Gegenüber innerhalb der Glasund Spiegelräume sinnbildhaft vereinnahmen. Unter dem Aspekt des heimlichen und teils übergriffigen Einbezugs des Betrachters 19 | Vgl. ebd., S. 359. 20 | Vgl. ebd., S. 360.

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standen Arbeiten von Sophie Calle im Zentrum, die gezielt in die Privatsphäre der unfreiwillig Beteiligten eindringen. Die räumliche Intervention als Dekonstruktion architektonischer Gegebenheiten bei Gordon Matta Clark stellt ein weiteres Beispiel für die vielfältigen Formen der Erweiterung des Skulpturbegriffs dar. Exemplarisch herausgegriffen für künstlerische Eingriffe im Außenraum, unterschieden in Landschaft und urbanen Raum, wurden Robert Smithson und Mary Miss. Ausgewählte Arbeiten von Joep van Lieshout und Andrea Zittel dienten dazu, durch die von beiden konstruierten mobilen Wohn- oder Büroeinheiten Orte des Wohnens, das heißt soziale Räume in der Kunst aufzuzeigen, die von den Betrachtern begangen und belebt werden. Auf je unterschiedliche Weise betreiben beide die Verbindung von Kunst, Leben und Arbeit und sind damit im Kontext grundlegend neuer orts- und handlungsbezogener künstlerischer Raumstrategien zu betrachten. Wie institutionelle, kulturelle und soziale Räume unserer Gesellschaft innerhalb eines künstlerischen Diskurses aufgegriffen werden, untersuchten die Studierenden im Werk von Andrea Fraser und Thomas Hirschhorn. Parallel zur Erarbeitung der vielfältigen Möglichkeiten, künstlerisch vom Raum Besitz zu ergreifen, fand die eigene künstlerische Auseinandersetzung mit Partizipationsformen statt. Das von Walther geborgte Zitat »Das, was wir Werke nennen, sollte in Handlungen entstehen …«21 eröffnete dazu eigene Erfahrungsräume künstlerischen Schaffens. Im eingangs vorgestellten partizipativen Projekt von Svenja Kies erzeugt die Studentin im Durchschreiten ihrer Installation eine Veränderung der Wahrnehmung des Betrachters. Sie schafft einen Ort, der durch die Berührung mit den sich an den Körper anschmiegenden Fäden Raum spürbar macht.22 21 | F.E. Walther, zitiert nach http://kunstmuseum.bonn.de/ausstellungen/ index.htm vom 10.07.2009. 22 | »Wir erfahren uns oft selbst erst durch unser Gegenüber und durch räumliche Begrenzungen, von denen unser Körper abhängig ist. Das Ausmaß unseres Körpervolumens wird uns manchmal erst bewusst, wenn wir in Berührung mit der ›Außenwelt‹ kommen. Wir stoßen uns, geraten in einen Regenschauer oder aber werden von Passanten angerempelt. […] Wie kann ich einen Ort schaffen, in dem Raum spürbar wird und der Betrachter in jedem Moment, in dem er diesen durchschreitet, ›sein‹ kann? In dem Mo-

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Abbildung 5: Christian Lohre, Fahrstuhl X, 2008

Christian Lohre verwendet ein interaktives Moment, indem er in einem Fahrstuhlprojekt mehrere Tage lang die mitfahrenden Studierenden, Lehrenden und Hochschulmitarbeiter in den geborgenen Raum eines Wohnzimmers einlädt. Die mit Tapete, Teppich, Tisch, Stühlen, Bild, Geweih und Lampe ausgestattete Fahrstuhlkabine steht in starkem Kontrast zur Architektur der Universität. Der Student erschafft damit abseits des hektischen Alltagslebens auf dem Campus einen Kommunikationsraum für kunsttheoretische Gespräche zwischen den Stockwerken. ment, in dem sich die Fäden um den Betrachter legen, wird der Betrachter sich selbst ausgesetzt. Er zieht die Fäden mit sich und kann die Richtungen, die er einschlägt, spüren. Gleichzeitig ist er aber auch Teil der Installation – sowie andere ›Passanten‹, die er durch die Fadenwand nur ›schleierhaft‹ erkennen kann.« (Svenja Kies, Projektbeschreibung)

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Ein weiteres studentisches Projekt besteht in einer auf dem Boden liegenden Landschaft aus einer flachen, aus Teppich ausgeschnittenen Baumsilhouette und einer halbplastischen Bank, auf welcher der Betrachter liegend Platz nimmt. Der Liegende betrachtet sich dann innerhalb der großen Spiegelfläche, die im 45-Grad-Winkel zum Boden aufgebaut ist, auf einer Bank unter einem Baum im Raum sitzend. Isabelle Ziemann hat diesen Raum im Raum konstruiert, der eine absurde Situation erzeugt: Während der Spiegel dem Teilnehmenden sowie dem von außen Zuschauenden einen aufrecht sitzenden Menschen präsentiert, kommt dieses, einer realen Situation entsprechende Bild nur durch die komplizierte Anordnung der Bodenfläche zur schräggestellten Spiegelfläche zustande. Die Wahrnehmung entspricht einer Täuschung. Das Stehen von Baum und Bank wird in der Spiegelung bloß suggeriert. Welches Bild ist hier das wirkliche? Die den liegenden Menschen aufnehmende Bühne oder das diese Situation widerspiegelnde Bild, das aber das Bild in der Spiegelung entscheidend verändert und insofern einer Korrektur entspricht, als es den Liegenden in einen Sitzenden verwandelt? Abbildung 6: Isabelle Ziemann, o.T., 2008

Allen drei studentischen Werken ist gemeinsam, dass sie in ihren Arbeiten auf unterschiedliche Weise die Praxis des Ausstellungsraumes und des Ausstellungsbetriebes hinterfragen, indem sie unter-

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schiedliche Partizipationsformen entwickeln, in denen der Betrachter zum aktiv Mitwirkenden des Kunstwerks wird. Die Arbeiten von Franz Erhard Walther und Erwin Wurm wurden innerhalb des Seminars thematisiert, um anhand dieser künstlerischen Beispiele unterschiedliche Aspekte partizipativer und handlungsorientierter Kunst zu akzentuieren. Dabei wurden zugleich offene Impulse gesetzt, eigene künstlerische Ausdrucksweisen zu entwickeln, neue skulpturale Handlungsformen zu erforschen und damit einen Dialog zwischen der eigenen und der fremden Gestaltung zu initiieren.

K UNST LEHREN – E RFAHRUNGSR ÄUME ÖFFNEN Übergeordnet ist die Frage, auf welche Weise in der Kunst unbelebter zu belebtem Raum wird. Doch ist diese Verlebendigung des künstlerischen Raumes überhaupt erstrebenswert? Steht die Qualität eines Kunstwerks in irgendeiner Relation zum Verhältnis, das ein Werk zum Betrachter aufbaut, sei dieser Einbezug physischer oder psychischer Art? Immer schwingt bei partizipativen Kunstwerken ein gewisser Mitmachcharakter mit, der die Grenze zur »TrimmDich-Pfad-Kunst«23 leicht überschreitet. Bei Erwin Wurm wird eine Popularisierung nicht nur in Kauf genommen, sondern bewusst eingesetzt. Wenn er den Red Hot Chili Peppers in ihrem Video »Can’t Stop« zugesteht, seine künstlerischen Strategien mit namentlichem Bezug zu ihm zu vereinnahmen und zu vermarkten, dann macht sich Wurm diese Medialisierung für seine eigene künstlerische Konzeption zunutze. Auch F.E. Walther reizt das partizipative Moment aus. Dem künstlerischen Einbezug des Betrachters liegt ein implizit didaktisches Moment zugrunde, das Walther nutzt, wenn er beispielsweise 2002 im Kunstmuseum Bonn eine Ausstellung »Mit dem Körper formen« für Kinder ab fünf Jahren konzipiert. Unter seiner Anleitung benutzen die Kinder seine Stoffobjekte und machen körperbezogene Erfahrungen, die ihnen eine Heranführung an skulpturale Elemente wie Körper, Raum oder Zeit ermöglichen, die nicht nur für Walthers Skulpturen konstituierend sind.

23 | M. Schneckenburger: »Plastik als Handlungsform«, S. 10.

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Die Thematisierung des Verhältnisses vom Raum der Kunst zum menschlichen Lebens- oder Erfahrungsraum eröffnet den Diskurs über den Werkcharakter, über Autorschaft, über Funktionen von Kunst, über Einbindungsmöglichkeiten künstlerischer Ausdrucksformen in die Gesellschaft oder den Eigenwert von Kunst. Ein solcher kunsttheoretischer Diskurs ist für die Lehre der Kunst und Kunstvermittlung grundlegend. Eine Kunstdidaktik, die aus Kunstpraxis und Kunstwissenschaft erwächst, bedarf derartiger künstlerischer Problemstellungen. Sie ermöglichen es, eigene künstlerische Forschung zu betreiben, eigene Problemstellungen und Lösungsmodelle zu entwickeln und diese dann im eigenen Tun sowie in der Rezeption bestehender Werke kritisch zu reflektieren.

L ITER ATUR Bourdon, David: »The razed Sites of Carl Andre«, in: Artforum, Vol. 5, No.2, October 1966. Diderot, Denis: »Bemerkungen über die Skulptur und über Buchardon« (1763), in: Ästhetische Schriften, Frankfurt a.M.: Euro. Verl.Anst. 1968, S. 485-492. Caro, Anthony: »An Interview with Anthony Caro«, in: Artforum, June 1972, S. 56-58. Fried, Michael: »Kunst und Objekthaftigkeit«, in: Gregor Stremmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 334-374. Greenberg, Clement: »Die neue Skulptur (1949)«, in: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 163-173. Greenberg, Clement: »Skulptur in unserer Zeit (1958)«, in: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 255-264. Greenberg, Clement: »Neuerdings die Skulptur (1967)«, in: Gregor Stremmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 324-333. Hofmann, Werner: »Ausschweifungen der Vernunft«, in: Walter Pichler (Katalog), Kestnergesellschaft Hannover, 1977, S. 5-9. Imdahl, Max: »Konkrete Plastik«, in: Gottfried Boehm (Hg.), Max Imdahl: Gesammelte Schriften, Bd.1, Zur Kunst der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 312-315.

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Judd, Donald: »Spezifische Objekte«, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 59-73. Köb, Edelbert (Hg.): Erwin Wurm – One Minute Sculptures, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 1999. König, Kaspar (Hg.): Franz Erhard Walther. Objekte, benutzen, Köln: König 1968. Krauss, Rosalind E.: »Skulptur im erweiterten Feld«, in: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 2000, S. 331-346. Lange, Susanne: Der 1. Werksatz (1963-1969) von Franz Erhard Walther, Frankfurt a.M.: Schriften zur Sammlung des Museums für Moderne Kunst Frankfurt a.M. 1991. von Marlin, Constanze: »Neue Formen. Der erweiterte Skulpturbegriff in den 1960er Jahren«, in: Marc Wellmann (Hg.), Die Macht des Dinglichen – Skulptur heute! Köln: Wienand 2007, S. 18- 22. Möntmann, Nina: Kunst als sozialer Raum. Andrea Fraser, Martha Rosler, Rirkrit Tiravanija, Renée Green, Köln: König 2002. Morris, Robert: »Anmerkungen über Skulptur«, in: Gregor Stremmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/ Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 92-120. Pohlen, Annelie: »Skulptur ’85«, in: Kunstforum International, Bd. 79, 1985, S. 60-205. Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Schneckenburger, Manfred: »Plastik als Handlungsform«, in: Kunstforum International Bd. 34, 1979, S. 20-115. Trier, Eduard: Bildhauertheorien, Berlin: Gebr. Mann 1992. Celant, Germano (Hg.): Ars Povera, Tübingen: Studio Wasmuth 1969. Wiehager, Renate (Hg.): Franz Erhard Walther: Antwort der Körper, Bd. 1-3, Stuttgart: Ed. Cantz 1993. Walther, Franz Erhard: »Der andere Werkbegriff«, in: Kunstforum International, Bd. 29, 1978, 102-103. Wurm, Erwin: Erwin Wurm – The artist who swallowed the world, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2006.

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A BBILDUNGEN Abb. 1: Fotos: Sara Hornäk, Svenja Kies. Abb. 2: Susanne Lange: Der erste Werksatz (1963-1969) von Franz Erhard Walther, Frankfurt a.M.: Schriften zur Sammlung des Museums für Moderne Kunst Frankfurt a.M. 1991, S. 49. Abb. 3: Erwin Wurm: The artist who swallowed the world, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2008, S. 98-99. Abb. 4: A. Haudiquet: Rodin. Les Bourgeois de Calais, Paris 2001, Tafel IX. Abb. 5: Foto: Saskia Kellweries. Abb. 6: Foto: Sara Hornäk.

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Bühne, Labor, Wohnzimmer Raumerkundungen und -bewegungen im Werk von Sigmar Polke Sabiene Autsch

R AUM ALS M OTIV IM K ONTE X T DER KOLLEK TIVEN M ENTALITÄT DER 1960 ER J AHRE 1963 planen Manfred Kuttner, Konrad Lueg, Sigmar Polke und Gerhard Richter eine Ausstellung in einem leer stehenden Metzgerladen in der Kaiserstraße 31 A in Düsseldorf. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Galerie 22, die für die erste Präsentation von Robert Rauschenberg und Cy Twombly in Deutschland drei Jahre zuvor verantwortlich war, sollte sich die selbstorganisierte Schau in einem kunstfremden, wenngleich alltagsweltlich vertrauten Raum behaupten.1 Nichts Außergewöhnliches, mag man denken, angesichts der allgemeinen Aufbruch- bzw. Umbruchstimmung jener ereignisreichen Zeit, in der künstlerische Aktionen, Happenings und Performances in Bezugnahme auf das Reale zugleich das »Neue«, d.h. das Ende der Malerei, begründen helfen sollten. Die Motivation dazu kann zum einen aus einer spezifischen Generationshaltung zurückgeführt, zum anderen als Reaktion auf die vergleichsweise rigide Postulierung und Zur-

1 | Martin Hentschel weist auf den spezifischen Charakter dieser Kunstausstellung hin, die »keinen kommerziellen, sondern einen ausschließlich demonstrativen Charakter trägt.« Martin Hentschel: Solve et Coagula. Zum Werk Sigmar Polkes, in: Martin Hentschel (Hg.), Die drei Lügen der Malerei, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 1997, S. 41-91, hier S. 41.

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schaustellung der »Abstraktion als Weltsprache« auf der documenta 2 (1959) verstanden werden.2 »Die Künstler, die in der ersten Hälfte der sechziger Jahre zu neuen Ufern aufbrechen, sind in der Regel in den dreißiger Jahren geboren und haben den Zweiten Weltkrieg als Heranwachsende erlebt, mit der Ausnahme von Joseph Beuys […]. Es ist eine Generation, die sich entschieden vom Klima der fünfziger Jahre mit seinem Glauben an die internationale Sprache der Abstraktion löst und parallel zum abstrakten Expressionismus, dem Informel, dem Nouveau Réalisme und der Pop Art zu einer eigenständigen Bildsprache findet.«3 Nichts Außergewöhnliches mag man auch in Bezug auf den Standort Düsseldorf denken, wo die 1960er Jahre, wie Zeitgenossen immer wieder betonen, scheinbar etwas früher als anderswo begannen. Dies kann u.a. auf das bestehende dichte, personell durchaus kontrovers besetzte Netzwerk zwischen Akademie, Kunstverein, Kunstgalerie und Künstlergemeinschaften sowie der geografischen Nähe zu Paris als Standortvorteil zurückgeführt werden.4 Trotz der bestehenden unterschiedlichen Positionen, die in Düsseldorf, anders 2 | Klaus Schrenk: Wie aus der Einbahnstraße eine Schnellstraße wurde – Aufbrüche, in: Klaus Schrenk (Hg.), Aufbrüche. Manifeste, Manifestationen. Positionen in der bildenden Kunst zu Beginn der 60er Jahre in Berlin, Düsseldorf und München, Köln: DuMont 1984, S. 9-18, hier S. 9. Aus gesamtgesellschaftlicher und politischer Perspektive führen insbesondere Autoren aus dem angelsächsischen Raum die spezifische Situation in Deutschland in diesem Zusammenhang an und sehen den Kalten Krieg und das Wirtschaftswunder u.a. in der Pop-Figuration von Sigmar Polke gespiegelt, worin zugleich die »cultural identity« of »the new modernity in West Germany« repräsentiert ist. Vgl. u.a. Serge Guillbaut: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg [orig. How New York stole the idea of modern art, 1983], Dresden: Philo & Philo Fine Arts, 1997. 3 | Klaus Schrenk: Wie aus der Einbahnstraße eine Schnellstraße wurde – Aufbrüche, 1984, S. 11. 4 | Karl Ruhrberg: Aufstand und Einverständnis. Düsseldorf in den sechziger Jahren, in: Klaus Schrenk (Hg.), Aufbrüche. Manifeste, Manifestationen. Positionen in der bildenden Kunst zu Beginn der 60er Jahre in Berlin, Düsseldorf und München, Köln: DuMont 1984, S. 86-129. Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung namhafter Galeristen in dieser Zeit, allen voran Jean-Pierre Wilhelm und Alfred Schmela, die insbesondere die internatio-

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als z.B. in Berlin, insbesondere durch ihre Gegensätzlichkeit wichtige Impulse für die Entwicklung der Gegenwartskunst lieferten, kristallisierte sich im Streben nach künstlerischer Unabhängigkeit ein Konsens im gemeinsamen Bestreben nach einer möglichst »authentischen« Bildsprache heraus. Abbildung 1: Einladungskarte Demonstrative Ausstellung, 1963

Unter dem Terminus Neo-Dada wurden jene neuen Phänomene, künstlerischen Strategien und Ausdrucksformen zusammengefasst, die aus dem Umfeld von Fluxus und Pop Art stammen.5 In zahlreichen Manifesten und Manifestationen wurde unter diesem Etikett eine künstlerische Neuorientierung verbalisiert, durch die die allgemeine Skepsis gegenüber den offiziellen Kulturvorstellungen Verbreitung und Akzeptanz finden sollte. Die dafür gewählten künstlerischen Ausdrucksformen (Selbstaufhebung der Kunst im Leben, Verneinale Neuorientierung mittragen. Vgl. K. Schrenk: Wie aus der Einbahnstraße eine Schnellstraße wurde – Aufbrüche, 1984, S. 13. 5 | Die vielfältigen Kunstströmungen der Zeit finden sich wie folgt zusammengefasst auf der Einladungskarte zur Ausstellung in der Kaiserstraße in Düsseldorf: »Pop Art, Junk Culture, Nouveau Realisme, Common Object Painting, Neo Dada, New Vulgarismus, Antikunst, Know-Nothing-Genre«. Vgl. M. Hentschel: Die drei Lügen der Malerei, 1997, S. 41.

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nung des Künstlers als auktoriales Subjekt, Einsatz von Zufallstechniken usw.), ferner die Strategien und Motive aus der Welt des Alltags und der Trivialität, der Reklame und Werbung können als Suche nach Verbindung zur Öffentlichkeit, stärker aber noch als Suche einer ganzen Generation nach ihrer eigenen gesellschaftlichen und politischen Identität betrachtet werden. Aus der historischen Rückschau kann die Aktion in Düsseldorf daher als programmatischer Ausdruck einer skeptischen Haltung gegenüber jenen Institutionen interpretiert werden, in denen die Produktion, Distribution und Rezeption von Kunst traditionellerweise stattfindet. Die Formate der traditionellen Kunstpräsentation (Museum, Ausstellung, Galerie etc.) scheinen immer dann verstärkt in den Blick zu geraten, wenn die Kunst sich aus den konservierenden und wohlgeordneten Räumen der Hochkultur zurückzieht und eine intensivere Verbindung zum »lebendigen Alltag« und dem »wirklichen Leben« des Kunstkonsumenten sucht. »Das Museum war die geeignetste Stätte, um die Entfernung von der Faktizität, die trostreiche Erhebung in eine würdigere Welt zugleich mit der zeitlichen Beschränkung auf das Feiertägliche im Individuum zu reproduzieren.«6 In einer 1970 erschienenen Anthologie von Uwe M. Schneede und Gisela Brackert wurden unter dem anspielungsreichen Titel Kunst im Käfig daraufhin zukunftsweisende Ziele der Kunst und ihrer Vermittlung genannt, die nicht länger allein auf Bildung und Ästhetik abzielten.7 Der Metzgerladen in Düsseldorf symbolisiert daher zugleich auch jenen Kontextwechsel, der sich in der Kunst der 1960er Jahre vor allem im Umkreis von Fluxus, Konzeptkunst, Minimal und Land Art als eine »aesthetic of negation« vollzog.8 Analog zu 6 | Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: Kultur und Gesellschaft I (1965), 11. Auflage, Frankfurt a.M. 1973, S. 56-101, hier S. 99. 7 | Uwe M. Schneede: Sieben Abschnitte über Kunst, in: Gisela Brackert (Hg.), Kunst im Käfig. Thesen zum Thema Kunstausstellung, Frankfurt a.M.: Kölling Verlag 1970, S. 34-47. 8 | »›The aesthetic of negation‹ developed by Fluxus initially provided creative space and the means for a critique against the institutionalisation of art. It legitimised multi and intermedia approaches to art: boundaries of all descriptions wer to be violated in the search for new creative possibilities. But just as quickly it became conventional and formulaic. […] What greater evidence of the institutionalisation of the avant-garde could there have been than when a young artist like Sigmar Polke experienced revolutionary

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einer spezifisch inhaltlich begründeten diskursiven Raumbezogenheit dieser Kunstrichtungen kann von einer Raumlosigkeit in Bezug auf die Repräsentationsform einer Kunst gesprochen werden, die zunehmend beginnt, sich auch außerhalb der für die Kunst separierten Räume zu verorten. Die dafür kennzeichnenden Projekte im nicht-institutionellen Raum zielen insgesamt ab auf eine neue Qualität in der Beziehung zwischen Kunst und Alltag, so dass sie »verschiedenen Ansprüchen und Inbesitznahmen offenstehen. Sie sind nicht für bestimmte Funktionen institutionalisiert.«9 Mit Blick auf die spezifische Atmosphäre der 1960er Jahre, d.h. auf die knapp skizzierte Relevanz von Umbruchszenarien, von Generationen und Manifestationen, rücken damit zugleich jene Räume in den Blick, die m.E. für die Konstituierung von kollektiven Mentalitäten und Haltungen von zentraler Bedeutung sind. Neben Akademie, Atelier und Ausstellung als sogenannte Zeigeräume sind es in jenen Jahren immer auch das Gefängnis, die Zelle oder der Gerichtssaal und die Aula der Universität, denen als Versammlungsräume besondere mediale Aufmerksamkeit zuteil wird. Kunst und Öffentlichkeit gehen mit Blick auf die inhärente Verschränkung von Sichtbarkeit und Spektakel dabei eine ungewöhnliche Allianz ein, die im gemeinsamen Bestreben nach Ordnung, d.h. dem Menschen einen Platz im Verhältnis zu dieser Ordnung zuzuweisen, kulminiert.10 Der nun mehrfach zitierte Metzgerladen dient im Folgenden als Ausgangspunkt für eine Erkundung von Räumen im künstlerischen Dada in the museum and then discovered the transgressive power of Fluxus in his studies at the art academy?« David Thistlewood (Hg.): Sigmar Polke. Back to Postmodernity [Tate Gallery Critical Forum Series, Vol. 4.], Liverpool: University Press, 1996, S. 33-34. 9 | Ausführlicher dazu siehe Claudia Büttner: Art goes Public. Von der Gruppenausstellung im Freien zum Projekt im nicht-institutionellen Raum, München: Verlag Silke Schreiber 1997, S. 10. 10 | Diese Überlegungen gehen zurück auf Überlegungen zur Ausstellung von Tony Bennett (»The Exhibition Complex«) und Michel Foucaults Thesen zu Macht, Überwachung und Disziplinierung. Tony Bennett: »The Exhibition Complex«, in: David Boswell, Jessica Evans (Hg.), Representing the Nation: A Reader. Histories, Heritage and Museums, London/New York: Routledge 1999. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1977.

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Werk von Sigmar Polke (Jahrgang 1941), einem wichtigen Kommentator seiner Zeit.11 Unter dem Aspekt des Zeigens und Vermittelns wurden bzw. werden dem Motiv des Raums in seinem Werk bislang allerdings nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. In den zahlreich erschienenen Publikationen, die stets unterschiedliche Facetten im umfangreichen Werk und den damit verbundenen vielschichtigen künstlerischen Strategien aufgreifen und thematisieren, fällt auf, dass sie einer Argumentationslogik folgen, die auf zwei zentrale diskursive Felder zurückgeführt werden können. Dabei handelt es sich um die »Transformabilität« und »Multivalenz der Dinge« (M. Hentschel) einerseits und die »Ästhetik des Flüssigen« (B. Curiger) andererseits. Diese Lesart mag seine Berechtigung haben. Jedoch hat sie sich, so der Eindruck, als Deutungskonstrukt derart verfestigt, wodurch andere Themen und damit andere Aspekte, Verbindungen und Konstellationen gar nicht in den Blick geraten können. Die folgenden Ausführungen nehmen daher bewusst eine andere Perspektive ein, um die Relevanz von Raum und Räumlichkeit als Bild-Handlungen für die Konstituierung von Ordnung aufzuzeigen, an die sich die Frage nach der spezifischen Zeitgenossenschaft und der dafür repräsentativen »Un-Ordnung« anschließt.12 11 | In einem Interview zwischen Götz Adriani und den Sammlern Josef Froehlich, Frieder Burda und Rainer Speck thematisiert dieser vor dem Hintergrund der eigenen Generationszugehörigkeit das Thema »Zeitzeugenschaft«: »Wir gehören derselben Generation an wie Polke und können als Miterlebende der bundesrepublikanischen Gründerzeit zumindest in Ansätzen seine Intentionen bis zu den Anfängen zurückverfolgen. […] Sigmar Polke war ein Zeitzeuge par excellence, dem es immer wieder gelungen ist, mit Unzeitgemäßem dem Zeitgeist Paroli zu bieten. Doch trotz jenes spöttisch formulierten Kapitalistischen Realismus west-östlicher Prägung, den er 1963 mitinitiiert hat und der inzwischen zu einem weltumspannenden ›Realistischen Kapitalismus‹ mutiert ist, blieben unmittelbar politische Themen bei ihm die Ausnahme.« Das Triumvirat der Sammler. Götz Adriani im Gespräch mit Frieder Burda, Josef Froehlich und Rainer Speck, in: Götz Adriani (Hg.), Polke. Eine Retrospektive. Die Sammlungen F. Burda, J. Froehlich, R. Speck, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2007, S. 93-138, hier S. 118ff. 12 | Methodische Impulse erhält diese Perspektive durch Diskurse zur Performativität, die durch repräsentationskritische Überlegungen ergänzt werden, die sich im Bereich der körperzentrierten Bildanthropologie entwickelten und ikonische Prozesse als kulturelle Performativität verstehen.

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S CHAU -R AUM : B ÜHNE In einem frühen Text des amerikanischen Happening-Künstlers Allan Kaprow von 1959, der betitelt ist mit Assemblage, Environments & Happenings und nach mehreren Überarbeitungen im Jahr 1965 publiziert wurde, stellt Kaprow Bewegung und Ausdehnung als zentrale Kennzeichen der damaligen Avantgardeaktivitäten, d.h. der »synthetischen Performancekunst«, besonders heraus.13 Der Anspruch nach Verflüssigung der Trennlinien zwischen Kunst und Leben, so Kaprows gedanklicher Ausgangspunkt, rufe jene Vielfalt an Materialien und Objekten und eine damit verbundene Fülle an neuen Formaten hervor. Diese Formate allerdings sind im Begriff, sich von den bislang »akzeptierten Nomen der Malerei« zunehmend zu lösen.14 Dadurch sei zugleich deutlich geworden, dass auch der Raum immer ein Rahmen im Sinne von Rahmung und Begrenzung gewesen sei, was fortan, so Kaprow weiter, nicht mehr mit den Formen und dem Ausdruck der neuen Arbeiten zu vereinbaren sei.15 Besonders im Ereignischarakter der neuen Kunstformen, d.h. in Environment und Happening, sieht Kaprow das »neue« Potenzial von Kunst begründet, das zugleich mit einer Absage an die klassischen Präsentationsformen und -orte, Galerie und Museum, korrespondiert.

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass sich Raum und Räumlichkeit abseits des Bildraumes und durch Interaktion, d.h. vor allem in und durch Bewegungen des Betrachters/des Körpers, konstituiert. Siehe dazu u.a. Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: Fink Verlag 2001 und Ders.: (Hg.): Bildfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München: Fink Verlag 2007. 13 | Allan Kaprow: Assemblage, Environment & Happenings. New York: Abrams 1965, S. 151-155, 183-184, 187-196, 207-208. Im Folgenden zitiert aus: Charles Harrison/Paul Wood (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews. Band II 1940 – 1991, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2003, S. 862-869. 14 | Vgl. ebd., S. 863. 15 | »Wenn es in der Kunst Maßstäbe und Grenzen geben muss, dann sollten sie neuer Art sein. Statt gegen die Grenzen des typischen Innenraums zu kämpfen, überlegen viele Leute daher, gleich im Freien zu arbeiten.« Ebd., S. 864.

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»Die Happenings wurden von einem kleinen intimen Personenkreis in Lofts, Klassenzimmern, Turnhallen und einigen OffbeatGalerien vorgeführt. Zunächst musste man Platz für die Aktivitäten schaffen. Die Zuschauer saßen sehr nahe am Geschehen, bei dem die Künstler und ihre Freunde mit assemblierten Environment-Konstruktionen agierten. Das Publikum wechselte gelegentlich die Sitzplätze wie bei der Reise nach Jerusalem, drehte sich herum, um etwas zu sehen, was hinter ihm ablief, oder stand in dichtgedrängten, aber zwanglosen Gruppen herum. […] Aber wie flexibel diese Techniken auch in der Praxis waren: stets gab es da den (gewöhnlich statischen) Raum des Publikums und den anderen, in dem die Vorführung lief.«16 Abbildung 2: Sigmar Polke, Schattenkabinett, 2005

Dieses Zitat von Allan Kaprow kann unterlegt werden mit der Arbeit »Schattenkabinett« von Sigmar Polke, die aus dem Jahr 2005 stammt. Die Arbeit visualisiert, wenn auch zeitversetzt, m.E. dennoch sehr anschaulich das Bestreben nach Ereignishaftigkeit und dem experimentell-aktionistischen Charakter von Kunst, die in den zeitgenössischen Kunsttexten der 1960er Jahre vor allem durch die Überlegungen zum fließenden, multiplen Raum zugleich auch eine Präzisierung der Ausstellungsästhetik bewirkte. Um die konventionelle Theaterpraxis und die Statik des Aufführungsraums zu umgehen, sollten, wie Kaprow es vorschlägt, Happenings »an verschiedenen weit voneinander entfernten, manchmal auch beweglichen und sich veränderten 16 | Ebd., S. 865.

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Schauplätzen stattfinden. […] Größere Flexibilität lässt sich erreichen, indem man den Schauplatz selbst bewegt.«17 Doch was bewegt sich in dieser rund 40 Jahre später entstandenen übergroßen Arbeit, die deutlich in der Architektur eines flächigen und wenig plastisch ausgearbeiteten Theaterraums auftritt? Inwieweit fließen Bewegung und Ausdehnung trotz Flächigkeit und Begrenzung durch bzw. in das bildnerische Format mit ein? Die Arbeit Sigmar Polkes ist gekennzeichnet durch eine ausschnitthafte, figürliche Komposition, so dass eine Zweiteilung des Bildes in einen von Schatten repräsentierten oberen Teil und in einen durch Raster, Punkte und Wellenlinien montierten unteren Teil entsteht, in dem partiell Personen im Profil zu erkennen sind. Diese Zweiteilung wird zusätzlich durch einen schweren, dunklen Balken unterstrichen, der sich aus der Gestaltung der Silhouetten gleichsam im Bild nach unten erstreckt. Bildet dieser Balken einerseits die Grundlage für die wie auf Stelzen oder Stöcke aufgespießten Schattenfiguren, so markiert er andererseits eine Barriere zu den überwiegend sitzenden Personen im unteren Bereich. Diese erscheinen aufgrund ihrer Haltung und Platzierung in einem räumlichen Ambiente, eben so wie Besucher in einer Aufführung, was besonders gut im mittleren Bildteil zu erkennen ist. Auffällig dabei ist, dass jede Person durch die eingenommene Körperhaltung in eine andere Richtung weist, so dass hier eine Distanzierung, zugleich aber auch eine eigenwillige Rhythmisierung entsteht, wie sie durch den wellenartig geformten Balken zusätzlich unterstrichen wird. Diese Rhythmisierung erfährt eine Steigerung durch die Schwarz/Weiß gestaltete und fragmentierte Konturierung der Personen im rechten Bildteil, was im linken Bildteil dann in eine zunehmende Abstraktion übergeht. Zusätzlich akzentuiert wird dieser Eindruck durch den technisch erzeugten Prozess des Verwackelns, wie er durch zu schnelle Handhabung beim Fotografieren oder Kopieren entsteht. Im »Schattenkabinett« hat Polke unterschiedliche Medien versammelt, die als ›Stellvertreter‹ fungieren und dieser Szenerie zunächst einen dominierenden technischen Charakter verleihen. Die technische Perfektion und figürliche Formation wird allerdings an einigen Stellen durch Störungen und Irregularitäten unterlaufen, wodurch die technisch-mechanische Qualität in eine malerisch-manuelle Textur transformiert wird und dadurch an einigen Stellen wie zufällig wirkt. Deutlich wird dieses im unteren Bildbereich in der Erzeugung 17 | Ebd., S. 866-867.

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sogenannter Wackler und Verzerrungen. An einigen Stellen zu erkennen ist außerdem Polkes Rastertechnik, die, wie bereits erwähnt, in eine malerische Textur überführt wird. Das Montageprinzip unterstreicht die dadurch ausgelöste Rhythmisierung und vereinigt, was zunächst unvereinbar scheint. Bemerkenswert ist letztlich auch, dass die wie flüchtig wirkenden Identitäten der Zuschauer (ist es nicht Jackie Kennedy, die man in der Bildmitte glaubt zu erkennen?) durch jene Techniken und Medien in das Bild integriert werden, die aus dem Bereich der Presse und Publizistik stammen und zur Bildung von Öffentlichkeit beitragen, die aber hier, repräsentiert durch die überwiegend gesichtslosen Zuschauer, vielmehr als anonyme Masse zum Ausdruck kommt.18 Die für das »Schattenkabinett« entwickelte Konstruktion des Räumlichen als Bühne ist eine technisch erzeugte Konstruktion, bei der Polke motivisch auf den architektonisch-geometrischen Theaterraum zurückgreift. Dieser ist durch das Ausloten von Höhe, Breite, Länge, Volumen gekennzeichnet und erscheint mit Blick auf diese Merkmale als öffentlicher Raum, d.h. er ist fest, stabil, unverrückbar und somit auch unveränderbar. Dieser fest installierte Bühnenraum aber, so scheint es, gerät bei Polke in zunehmende Bewegung: Zum einen durch Bezugnahme auf historische Raumkonstruktionen, insbesondere auf barocke Zeige- und Aufführungspraktiken, die dann vor allem durch ihre Verortung in die zeitgenössischen Kunstformen der 1960er Jahre, in Fluxus und Happening, zugleich neue synästhetische Qualitäten ausbilden.19 Zum anderen durch die Malerei in 18 | Kontrastierend dazu verhält es sich mit den Schattenfiguren, insbesondere die durch Umkehrung von Schwarz/Weiß zu erkennende Darstellung des weißen Kopfes auf schwarzem Grund im rechten oberen Bildbereich. Die dabei vorgenommene gestalterische Überformung des Kopfes verleiht dieser Figur in ihrer fratzenartigen Physiognomie zugleich individuelle Züge. Damit nimmt Polke Bezug auf die Verbreitung von Bildnissilhouetten im 18. Jahrhundert, die in bestimmten Kreisen als Schattenrissbildnisse oder Scherenschnitte immer weniger der Unterhaltung wie z.B. in den Schattenspielen, sondern verstärkt physiognomischen Studien dienten. 19 | Mit der Wahl des Titels »Schattenkabinett« wird außerdem eine Beziehung zur politischen Kultur suggeriert, die jedoch unterlaufen wird durch den dargestellten Spiel- und Aufführungscharakter. Dabei sind es vor allem die Schattenspiele, die in den verschiedenen Kulturen und Religionsbereichen Asiens, des Orients und in Nordafrika als Oral History eine lange Tra-

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Verbindung mit neuen Reproduktionstechniken, wodurch eine spezifische Wahrnehmungsaktivierung und Körperbewegung des Betrachters initiiert wird, wodurch auch Bezüge zu filmischen Verfahren erkennbar werden.20 Auf diese Weise trägt die für das »Schattenkabinett« – wie auch weitere, vor allem ab 2002 entstandene Arbeiten wie z.B. »Zirkusfiguren« oder »Me and my buddies would vote for you« – charakteristische Anverwandlung vorgefundener Bilder durch unterschiedliche technisch-reproduktive Verfahren und Medien zur Transformation in das künstlerische Bild bei. Die Übergänge und Wechselwirkungen zwischen den Bildebenen und dem Realraum, ferner die Eigendynamik von Formen und Formationen, von Materialien, Transparenten und Motiven, die als Fragmente eine nur noch in Übergängen, d.h. eine als konstellativ wahrnehmbare Bilderscheinung bedingen, werden in ihren stets unvorhersehbaren Reaktionen zusätzlich provoziert. Die Präsenz und Teilhabe des Betrachters als Zuschauer oder Voyeurist wie auch die gesamte Szenerie, die in einem Raum aufgeführt wird, der zugleich Schau- als auch Zwischenraum ist, unterliegt dem in der künstlerischen Transformation angelegten dialektischen Prozess von Konstruktion und Dekonstruktion und bedingt darin dition ausgebildet haben, was Polke wiederum auf seinen ausgedehnten Reisen in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren kennengelernt haben dürfte. Schattenspiele mit Volks- und Jagdszenen sowie pflanzlichen Motiven und Ornamenten waren auch in Europa bis weit ins 18. Jahrhundert verbreitet. Dabei kamen auch farbige und bewegliche Figuren, aber auch solche zum Einsatz, bei denen die als Zeichnung angelegte Darstellung aus Papier, Pergament oder Stoff ausgeschnitten und auf schwarzen oder farbigen Untergrund gelegt wird. Eine andere Variante basiert auf der durch eine Lichtquelle unterstützten Projektion von Schatten auf einen beweglichen Schirm, womit eine filmische Erzählung antizipiert wird. 20 | Darin erinnert Polkes Arbeit auch an das »live cinematic image« von William Kentridges theatralischen Multimedia-Performances, die außerdem die Strukturen des Brecht’schen Theaters und die Idee des Verfremdungseffekts nutzen. Anders jedoch als bei Kentridge, der traditionelle Animationstechniken modifiziert, indem er aus einer einzigen Zeichnung, zumeist in Kohle, durch wiederholtes Bearbeiten mehrere aufeinanderfolgende Erzählungen entwickelt, entfaltet sich Bewegung und Erzählung bei Polke hier durch Adaption unterschiedlicher Medien bzw. Techniken und deren Transformation ins Malerische.

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letztlich ein »transitorisches Bilderleben« (M. Hentschel), d.h. eine sich aus dem Bild lösende und ungeachtet aller Bedeutung und Sinnbezüge eigene Bewegung des Sehens.21

F ARB -R AUM : L ABOR Mit dem Verweis auf den szenischen Aufführungs- und öffentlichen Versammlungscharakter der Bühne, auf der Bewegung regelrecht exponiert wird und sich konstituiert aus der spielerischen Choreografie mit der Wahrnehmungsleistung des Betrachters, lässt sich ein Bogen schlagen zum Labor als einem weiteren Raum, der vor allem in den Arbeiten der 1980er Jahre zu finden ist. Anders jedoch als bei dem Bühnenraum, der als Motiv im Bild auszumachen ist, ist das Labor weder explizit Thema noch Motiv, d.h. kein topografisch zu lokalisierender und physikalisch konstanter Raum. Das Labor konstituiert sich vielmehr im experimentellen Durchspielen von bzw. mit unterschiedlichen Farbbewegungen, d.h. im sogenannten Changeament. Was sich im Labor abspielt, unterliegt außerdem zumeist größter Geheimhaltung. Nicht Öffentlichkeit, sondern Individualität, Zurückgezogenheit und Abgeschlossenheit kennzeichnen den Lebens- und Arbeitsprozess des Laboranten, was ihm zugleich den Nimbus des Wissenden, Forschenden und Schöpferischen verschafft. Die damit angesprochene Konstellation von Wissenschaft und Zauberei verweist nicht nur auf eine Haltung, die das Künstlersubjekt thematisiert und in den Mittelpunkt rückt. Sie ist zudem auch Ausgangspunkt einer inzwischen leicht überstrapazierten Lesart, die die »Hermetische Kunst« und mit ihr auch jenes alchemistische Denken besonders betont, womit Polkes künstlerische Haltung eine schlüssige Legitimation erfahren hat.22 21 | Vgl. Hartmut Böhme: Punkt, Linie, Fluss. Elementarästhetik bei Sigmar Polke, in: Bice Curiger (Hg.), Sigmar Polke. Werke und Tage [= Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunsthaus Zürich vom 8.4. – 19.6.2005], Köln: DuMont 2005, S. 29-41, hier S. 37. 22 | Die Hermetische Kunst basiert auf der substanziellen Verwandlung bzw. Auflösung von Bestehendem und der Neuzusammensetzung der geschaffenen Elemente, womit auf ein spezifisches Naturverständnis bzw. auf ein naturphilosophisches System rekurriert wird, das ausgeht vom Gedanken der belebten Materie. Demzufolge gehen alle Teile aus denselben Elementen hervor und können somit immer in etwas anderes transformiert

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Als Beispiel für eine weitere Arbeit, die Raum und Räumlichkeit im Medium der Malerei, aber unter ganz spezifischen Bedingungen thematisiert, soll ein Wandbild näher betrachtet werden. Die Arbeit ist betitelt mit »Athanor« und wurde 1986 für den deutschen Pavillon auf der 42. Biennale in Venedig in der großen Konche realisiert. Abbildung 3: Sigmar Polke, Athanor, 1986

werden. Die Idee der Transformation und Wandelbarkeit des Materiellen, genauer die Verwandlung der »Materia prima« in eine »Materia secunda«, bestimmte die Lehre und Praxis der Alchemisten. Ziel dabei war die Vervollkommnung niederer Metalle wie Kupfer, Zinn, Eisen und Blei in Edelmetalle wie Silber und Gold. Ulli Seegers: Alchemie des Sehens: Hermetische Kunst im 20. Jahrhundert: Antonin Artaud, Yves Klein, Sigmar Polke, Köln: Verlag Walther König 2003. Hartmut Böhme nimmt demgegenüber eine kritische Haltung ein und räumt im Zusammenhang mit der Alchemie ein, dass die Analogie zu Polke aufgrund der Überkomplexität der Alchemie zu kurz gegriffen sei. Allerdings könne, so Böhme, der Aspekt des Zerlegens von primären Elementen heraus gestellt werden, »um daraus das Werk wie eine Resurrektion aus primordialen Formgesten hervorgehen zu lassen.« Vgl. H. Böhme, Punkt, Linie, Fluss, 2005, S. 39.

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Zu sehen sind zwei Abbildungen einer mehrteiligen Installation, die aus Wandbild, Farbtafeln und Objekten besteht (Abb. 3). Die beiden Arbeiten unterscheiden sich durch eine farblich changierende, d.h. bläulich-grüne und rot-gelbliche Farbgebung. Polke schuf das Wandbild mit dem hydrosensiblen Farbstoff Kobalt (II)-Chlorid, das je nach Luftfeuchtigkeit des venezianischen Lagunenklimas die Farbe wechselt. Die Wandmalerei, auf diese Weise programmatisch der Veränderung ausgesetzt, erscheint aufgrund chemischer und physikalischer Prozesse vormittags bei feuchter Luft rötlich, während sie in den Nachmittagsstunden eine bläuliche Farbe annimmt. Das Werk tritt so in Dialog mit den klimatischen Bedingungen seiner Umgebung, was ein zeitliches Changieren zwischen Gestaltlosigkeit und Gestalthaftigkeit bewirkt, und transformiert auf diese Weise in einen Farbraum.23 Bemerkenswert dafür ist die zu beobachtende räumliche Beschaffenheit und Veränderung: Die Wand als Träger der Installation wird »nun als Membran in das Live-Geschehen einbezogen und zum physisch atmenden Teil des Werks gemacht […].«24 Deutlich wird dabei eine grundlegende Vorstellung von Material bzw. Malerei als einem nunmehr lebendigen, wandlungsfähigen Stoff. Polke räumt der Farbe damit ein Eigenleben ein und unterwirft sie auf diese Weise einer ungewöhnlichen Vorstellung von Interaktion. Die so initiierten Formprozesse können auf eine Selbstbewegung der Stoffe in einem vom Künstler initiierten Bewegungszusammenhang zurückgeführt werden, wodurch sich Raum im Sinne eines Farbraums konstituiert. Anders als bei den motivisch angelegten und szenisch montierten Bühnenräumen wie in der Arbeit »Schattenkabinett« werden in diesen sublimen und changierenden Bildern die in Pigmenten, Gift und Lack eingefrorenen Erscheinungen bzw. Abstraktionen ebenso wie der Raum durch deren Ausdehnungen spektakulär evoziert. Durch das »körperlose Erscheinen der Farbe« reklamieren die Arbeiten für sich einen anthropologisch begründeten Wahrnehmungsprozess, wodurch der Betrachter nicht mehr einzig über die im Bild initiier23 | »Die Naturzeit wirkt hier geradezu als Movens und Katalysator aller Metamorphosen, die das Bild durchläuft.« Vgl. dazu ausführlicher M. Hentschel: Die drei Lügen der Malerei, 1997, bes. S. 82ff. 24 | Vgl. Bice Curiger: Werke und Tage. »Wer hier nichts erkennen kann, muss selber pendeln«, in: Bice Curiger (Hg.), Sigmar Polke. Werke und Tage [= Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunsthaus Zürich vom 8.4. – 19.6.2005], Köln 2005, S. 9-27, hier S. 19.

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te Bewegung des Sehens, sondern jetzt mitsamt dem ganzen Körper in Interaktion mit den Arbeiten tritt. So erhält das Labor nunmehr öffentlichen Schau-Charakter durch die Präsenz und Teilhabe von Bild und Betrachter. Damit wird das Labor zugleich abgelöst von der alchemistischen Metaphorik von Abgeschiedenheit und Normativität wissenschaftlicher Vernunft.

I NNEN -R AUM : W OHNZIMMER Bereits mit diesen Beispielen konnte verdeutlicht werden, dass Raum und Räumlichkeit bei Polke stets durch spezifische Strategien gewonnen werden, die in der »Strategie des Durchkreuzens« (Siegfried Gohr) gebündelt zum Ausdruck kommen. Dieses Durchkreuzen von Realität und Ästhetischem, von Bild und Betrachterrolle, Erwartung und Erfahrung usw. bewirkt dabei zugleich ein Auseinandertreten von Bildgrund, Farbe/Material und Figuration, wodurch letztlich Raum für neue, andere, eigene Bewegungen entsteht. Wie die Bühne ist auch das Labor nicht ein physikalisch fester oder konstanter Raum, sondern vielmehr eine Zone, für die Übergänge kennzeichnend sind und Erfahrungen durch Bewegungen initiiert werden. Das Einlassen auf Polkes Bilderwelten impliziert somit stets Unsicherheit, da die vermeintlich vertrauten Markierungen in diesen Zonen abgebaut und traditionell leitende Orientierungen im Bild folglich ignoriert werden. Der Betrachter lässt sich damit ein auf ein ungesichertes Terrain, für das andere Bild- und Wahrnehmungswerkzeuge beansprucht werden, die zugleich mit einer Aufwertung von Zeichen korrespondieren.25 Diese Zeichen- und Formelhaftigkeit ist für die frühen Arbeiten der 1960er Jahre kennzeichnend, die in einer spezifischen Rastertechnik gearbeitet sind. Die Räume, die Polke darin entwirft, sind vor25 | Auf diesen Aspekt hat bereits Benjamin Buchloh in einem Aufsatz von 1976 aufmerksam gemacht, in dem er auf die »Sprachlosigkeit« von Polkes Peinture hingewiesen hat. Diese, so Buchloh, könne demzufolge nur noch als formale Zeichensprache verstanden werden, die allerdings weniger darauf abzielt, Lösungen anzubieten, sondern vielmehr Fragen zu stellen. Dazu B.H.D. Buchloh: Polke und das Große Triviale (mythisch oder physisch?), in: Sigmar Polke. Bilder, Tücher, Objekte. Werkauswahl 1962-1971 [= Ausstellungskatalog Kunsthalle Tübingen], Tübingen 1976, S. 135-150.

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nehmlich jene Innenräume, wodurch die »Ikonografie des deutschen Alltags« (R. Krüger) visualisiert oder sagen wir besser: mit vertrauten Motiven wie Tisch, Blumenvase, Wandschmuck in eine gleichsam »objektive« Erscheinung von Punkten zerlegt wird, in der Kontingenz gleichsam eingeschrieben ist. Abbildung 4: Sigmar Polke, Wochenendhaus, 1967/1968

Die Punktordnung der Rasterung, die zunächst streng im Sinne eines ornamentalen Rapports auftritt, weist bei genauem Hinsehen an einigen Stellen Irregularitäten auf (Abb. 4): Einige Punkte fallen aufgrund ihrer markanten Betonung aus ihren Ordinaten, d.h. aus der Ordnung, und geraten dadurch in den Blick des Betrachters. Während die Punktordnung auf eine apparativ erzeugte Struktur des Druckrasters verweist, die jegliche subjektivistische Ausdrucksqualität eliminiert, kommt durch die als Fehler identifizierten Punkte die produktive Malerei und mit ihr das Moment der sinnlichen Erfahrung ins Spiel. Dadurch haben wir es in der Bildlichkeit mit der Interferenz von zwei unterschiedlichen Modalitäten (Fotografie/ Malerei) und Praktiken (Zerlegen und Zusammensetzen) zu tun, wodurch die Frage nach dem Realitätsgehalt des Bildes zunehmend in den Mittelpunkt rückt, wie es im folgenden Beispiel deutlich wird.

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Abbildung 5 : Sigmar Polke, Interieur, 1966

Der durch Rasterpunkte in unterschiedlicher Konzentration abgebildete Bildausschnitt zeigt einen menschenleeren Innenraum: Schreibtisch, Stuhl und die rechts ins Bild hineinragende Chaiselongue formieren sich durch die Konfiguration der Rasterpunkte. Sie gehören darüber hinaus zum motivischen Repertoire eines Arbeitsraums, der aus einer leicht erhöhten Betrachterperspektive den Blick durch aufgezogene Vorhänge nach draußen freigibt. Der Bildausschnitt vermittelt zudem eine spezifische Ernsthaftigkeit, der durch die Reminiszenz an Darstellungen des Interieurs der Romantik und des Biedermeier außerdem einen Anspruch auf zeitlose Bedeutung, objektive Gültigkeit und Innerlichkeit suggeriert. Dass Polke hierbei auch auf ein Foto aus einer Zeitung oder, wie bei anderen Arbeiten, aus Lehrbüchern oder Werbekatalogen zurückgegriffen hat, ist zu vermuten. Die Umsetzung des Punktgefüges erfolgt mit Hilfe einer Lochscheibe, deren Zwischenräume anschließend ausgemalt werden, so dass aus dem abstrakten Punktefeld das Figurative hervortritt. In Übertragung des technischen Verfahrens auf den Bildinhalt wird deutlich, dass die mit dem Raum applizierte Ordnung, Ruhe und Harmonie aufgrund der Rasterung in ihrer Identität zerlegbar, d.h. brüchig, ist.26 26 | Die Standardisierung und Normierung einer »bürgerlichen« Wohnkultur mit all ihren tradierten Verweisen und symbolischen Bezügen wird in der Interferenz von Technik und Malerei dadurch in ihrem Realitätsgehalt zunehmend der Auflösung ausgesetzt. Das gesellschaftliche Leben einer nor-

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Abbildung 6: Sigmar Polke, Bilderbuch, 1981

Vor diesem Hintergrund führt Polke nicht nur einen aus der Geschichte begründeten gesamtgesellschaftlichen Diskurs über Wohnund Geschmacksfragen, sondern er leitet vielmehr eine rezeptionsästhetische Untersuchung über die bildlich umgesetzte Wirklichkeit und, wie Buchloh es formuliert, ihrer »Umbildung in ein Bewusstsein von Wirklichkeit« ein. Denn das Rastersystem als malerisches Verfahren oder – wie in Abbildung 6 – die eingefügten Textausschnitte reflektieren stets auch einen Anspruch an Wirklichkeit. Inwieweit darin zugleich ein emanzipatorischer Grundzug im Sinne einer vom »illusionistischen Zwang befreiten Wahrnehmung« begründet liegt, ist zu vermuten, kann aber in diesem Zusammenhang nicht weiter vertieft werden.27 Die bereits mehrfach angesprochene Konstruktion des Raums wird insbesondere in den Beispielen deutlich, die im Medium einer mierten Wohn- und Geschmackskultur zu unterwerfen, wie es z.B. durch den Deutschen Werkbund oder das Bauhaus in der Ablehnung des durchschnittlichen Dekors der Warenwelt postuliert/praktiziert wurde, kann letztlich nur durch künstlerisches Intervenieren, d.h. durch künstlerische Originalität, begegnet werden. 27 | Dazu Daniel Buchloh: Polke und das Große Triviale (mythisch oder physisch?), in: Sigmar Polke. Bilder, Tücher, Objekte. Werkauswahl 19621971 [= Ausstellungskatalog Kunsthalle Tübingen], Tübingen: Kunsthalle 1976, S. 135-150, hier S. 142.

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»kombinierten Rastertechnik« auftreten (vgl. Abb. 6). Auf den ersten Blick scheint es, als finde hier eine Trennung von außen und innen, von öffentlich und privat statt, womit immer auch eine spezifische Räumlichkeit suggeriert wird. Erst bei genauerer Betrachtung wird ersichtlich, dass Raum hier einerseits durch Prozesse des Auflösens und Zusammensetzens, des De- und Rekonstruierens entsteht und andererseits auch mit einer Vorstellung von Räumlichkeit besetzt ist, die wir z.B. mit Interieur oder Innenraum, d.h. mit Zeichen von Raum wie Tisch, Stuhl, Vase usw., assoziieren. Raum und Räumlichkeit, das zeigt der Umgang mit dem Innenraum, wird bei Polke nicht durch perspektivische Tricks, sondern vielmehr im spielerischen Gegen- und Miteinander verschiedener Handlungen erzeugt, was David Campell auf eine zeitspezifisch begründete, d.h. dialektische Haltung zurückführt. »The singular quality Polke’s work has always possessed is its dialectical attitude, fuelling aesthetic mobility and a multiplicity of speculative approaches. […] There is a restlessness about this – issues are engaged and disengaged, recurring in different aesthetic, cognitive and political contexts. Paintings which posses very different formal characteristics seem related, as if sharing a ›genetic pool‹. What further evidence of a dialectical imagination could there be than when an artist, at the height of the Cold war an in West Germany, names his art practice ›Capital Realism‹?«28

P OLKES R ÄUME – E INIGE ABSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN Ausgehend vom eingangs erwähnten Metzgerladen können die Beispiele motivisch ergänzt werden um »Kartoffelhäuser« (1967), »Schwimmbäder« (1988), »Klassenzimmer« (1995), »Weißer Raum« (1995), ferner um topografische Räume wie »Mönchengladbach« (1992) oder »gestrickte Alpen« (1963), oder aber auch um biografische Räume, d.h. um Lebensräume (Reisen) oder um Arbeits- oder Kunsträume (Atelier, Museums- oder Ausstellungsraum). Bühne, Labor und Wohnzimmer weisen strukturelle Homologien auf, wonach der »Raum« stets als flüchtig, instabil, transitorisch, performativ zum 28 | David Campell: Plotting Polke, in: David Thistlewood (Hg.), Sigmar Polke. Back to Postmodernity [Tate Gallery Critical Forum Series, Vol. 4.], Liverpool: University Press, 1996, S. 21-39, hier S. 26.

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Ausdruck kommt. Raum wird, und das haben die Beispiele verdeutlicht, erst durch bzw. in Interaktion hervorgebracht und kann daher als Konstellation verstanden werden. Der »konstellative Raum« verhält sich stets zu etwas anderem (d.h. zu Motiv, Material, Technik, Betrachter etc.) und bezieht aus bzw. in der Interaktion seine Identität. Die räumlichen Identitäten von Bühne, Labor, Wohnzimmer haben wir als montierte, farbchangierende oder gerasterte Identitäten kennengelernt, die stets im Übergang, im Wandel, begriffen sind und genau darin eine Haltung, ein Handeln einfordern, womit eine Verlagerung des Blicks auf das Gestische korrespondiert. Die Räume bei Polke fordern somit eine Haltung ein, die auf dem gestischen Potenzial von Köperbewegungen basiert und darin auf die Bewegung, d.h. die Veränderung der Bilder, antwortet. Auge und Körper, Sehen und Bewegen schlagen um in Material und Materialprozesse und haben so Anteil am Kunstwerk. Bühne, Labor und Wohnzimmer sind in dieser Lesart »Gymnastikschulen«, Trainingslager für Deutungs- und Wahrnehmungsweisen, für eine Körpersensibilisierung von ästhetisch begründeten Prozessen insgesamt, die umso notwendiger erscheint, wenn die Idee der Visualität infrage gestellt ist bzw. Fragen stellt. Diesen Aspekt des »Umschlagens« von Raum, Material, Autorschaft und Authentizität in das Medium Bild unter kultureller physischer und psychischer Disposition des Betrachters kann als der eigentliche »Aufbruch« bzw. Umbruch eines künstlerischen Repräsentanten der 1960er Jahre verstanden werden, der dafür eigene Bild-Ordnungen entwickelt, in die das Motiv des Raums eingeordnet gehört.

L ITER ATUR Adriani, Götz (Hg.): Polke. Eine Retrospektive. Die Sammlungen F. Burda, J. Froehlich, R. Speck, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2007. Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: Fink Verlag 2001. Ders.: (Hg.): Bildfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München: Fink Verlag 2007. Bennett Tony: »The Exhibition Complex«, in: David Boswell, Jessica Evans (Hg.), Representing the Nation: A Reader. Histories, Heritage and Museums, London/New York: Routledge 1999.

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Buchloh, Daniel: Polke und das Große Triviale (mythisch oder physisch?), in: Sigmar Polke, Bilder, Tücher, Objekte. Werkauswahl 1962-1971 [= Ausstellungskatalog Kunsthalle Tübingen], Tübingen: Kunsthalle (u.a.) 1976, S. 135-150. Büttner, Claudia: Art goes Public. Von der Gruppenausstellung im Freien zum Projekt im nicht-institutionellen Raum, München: Verlag Silke Schreiber 1997. Böhme, Hartmut: Punkt, Linie, Fluss. Elementarästhetik bei Sigmar Polke, in: Bice Curiger (Hg.), Sigmar Polke. Werke und Tage [= Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunsthaus Zürich vom 8.4. – 19.6.2005], Köln: DuMont 2005, S. 29-41. Campell, David: Plotting Polke, in: David Thistlewood (Hg.), Sigmar Polke. Back to Postmodernity [Tate Gallery Critical Forum Series, Vol. 4.], Liverpool: University Press, 1996, S. 21-39. Curiger, Bice: Werke und Tage. »Wer hier nichts erkennen kann, muss selber pendeln«, in: Bice Curiger (Hg.), Sigmar Polke. Werke und Tage [= Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunsthaus Zürich vom 8.4. – 19.6.2005], Köln: DuMont 2005, S. 9-27. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1977. Guillbaut, Serge: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg [orig. How New York stole the idea of modern art, 1983], Dresden: Philo & Philo Fine Arts, 1997. Harrison, Charles/Wood, Paul (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews. Band II 1940 – 1991, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2003. Hentschel, Martin: Solve et Coagula. Zum Werk Sigmar Polkes, in: Martin Hentschel (Hg.), Die drei Lügen der Malerei, OstfildernRuit: Hatje Cantz Verlag 1997, S. 41-91. Kaprow, Allan: Assemblage, Environment & Happenings. New York: Abrams 1965, S. 151-155, 183-184, 187-196, 207-208, in: Charles Harrison/Paul Wood (Hg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews. Band II 1940 – 1991, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2003, S. 862-869. Marcuse, Herbert: Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: Kultur und Gesellschaft I (1965), 11. Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 56-101

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Ruhrberg, Karl: Aufstand und Einverständnis. Düsseldorf in den sechziger Jahren, in: Klaus Schrenk (Hg.), Aufbrüche. Manifeste, Manifestationen. Positionen in der bildenden Kunst zu Beginn der 60er Jahre in Berlin, Düsseldorf und München, Köln: DuMont 1984, S. 86-129. Schneede, Uwe M.: Sieben Abschnitte über Kunst, in: Gisela Brackert (Hg.), Kunst im Käfig. Thesen zum Thema Kunstausstellung, Frankfurt a.M.: Kölling Verlag 1970, S. 34-47. Schrenk, Klaus: Wie aus der Einbahnstraße eine Schnellstraße wurde – Aufbrüche, in: Klaus Schrenk (Hg.), Aufbrüche. Manifeste, Manifestationen. Positionen in der bildenden Kunst zu Beginn der 60er Jahre in Berlin, Düsseldorf und München, Köln: DuMont 1984, S. 9-18. Seegers, Ulli: Alchemie des Sehens: Hermetische Kunst im 20. Jahrhundert: Antonin Artaud, Yves Klein, Sigmar Polke, Köln: Walther König 2003. Thistlewood, David (Hg.): Sigmar Polke. Back to Postmodernity [Tate Gallery Critical Forum Series, Vol. 4.], Liverpool: University Press, 1996.

A BBILDUNGEN Abb. 1: Demonstrative Ausstellung (1963), (zusammen mit Konrad Lueg, Manfred Kuttner, Gerd Richter), Offsetdruck in Schwarz auf Papier mit jeweils einem unterschiedlichen Zeitschriftenausschnitt (5,4 x 5,9 cm) beklebt, 21 x 20, 5 cm, Auflagenhöhe unbekannt. Erschienen als Einladung der selbst organisierten Ausstellung in einem ehemaligen Laden in der Kaiserstraße 31A, Düsseldorf. Jürgen Becker/Claus von der Osten (Hg.): Sigmar Polke. Die Editionen 1963-2000. Catalogue Raisonné, OstfildernRuit: Verlag Hatje Cantz 2000, S. 11. Abb. 2: Sigmar Polke, Schattenkabinett (2005), Mischtechnik auf Stoff, 300 x 480 cm, (Privatsammlung). Abb. 3: Sigmar Polke, Athanor (1986), Wandgemälde mit hydrosensibler Farbe, Blattgold, Bergkristall, Zinnober und Meteorit. Installation auf der 42. Biennale Venedig 1986. Gloria Moure: Sigmar Polke. Paintings, Photographs and Films, Barcelona: Editiones Poligrafia 2005, S. 242-243.

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Abb. 4: Sigmar Polke, Wochenendhaus (1967/68), Siebdruck in Schwarz, Rot und Grün auf Karton, 59,5 x 83,8 cm. 80 Exemplare signiert, datiert, nummeriert. Beitrag in: Mappe Grafik des Kapitalistischen Realismus, René Block für den Stolpe-Verlag, Berlin. Jürgen Becker/Claus von der Osten (Hg.): Sigmar Polke. Die Editionen 1963-2000. Catalogue Raisonné, Ostfildern-Ruit: Verlag Hatje Cantz 2000, S. 16. Abb. 5: Sigmar Polke, Interieur (1966), Acryl auf Nessel, 160 x 140 cm. Rückseitig bezeichnet: Polke 66. Götz Adriani (Hg.), Polke. Eine Retrospektive. Die Sammlungen F. Burda, J. Froehlich, R. Speck, Ostfildern-Ruit: Verlag Hatje Cantz 2007, S. 26. Abb. 6: Sigmar Polke, Bilderbuch (1981), Offsetdruck in Schwarz und vierfarbig auf Papier, 33 x 22,6 cm. 1000 Exemplare, nummeriert. Beitrag in: Das Bilderbuch (o.P.), Edition Pfefferle, Grünwald. Jürgen Becker/Claus von der Osten (Hg.): Sigmar Polke. Die Editionen 1963-2000. Catalogue Raisonné, Ostfildern-Ruit: Verlag Hatje Cantz 2000, S. 191.

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Politisierung des Raums Stereoskopie im »Dritten Reich« Jens Schröter

»Das faustische Weltgefühl aber erlebte die Tiefe anders. Hier erscheint als Inbegriff des wahren Seins der reine wirkende Raum.« Oswald Spengler

Der Begriff des ›Raumbildes‹ geht mindestens bis ins Jahr 1867 zurück, als ihn Hermann von Helmholtz in seinem Handbuch der physiologischen Optik verwendete.1 Er bezieht sich auf die damals relativ neue Technik der Stereoskopie. Das Stereoskop war 1838 von Charles Wheatstone im Rahmen seiner Erforschung des binokularen Sehens erfunden worden. Das Wheatstone-Stereoskop ist eine Vorrichtung, in der zwei Bilder auf je einen Spiegel fallen, so dass jedes Auge ein anderes Bild sieht. Die Bilder müssen bei der Aufnahme von zwei verschiedenen, um den Augenabstand horizontal versetzten Blickpunkten aus aufgenommen werden. So entsteht ein räumlicher Bildeindruck. In verschiedenen Formen war das Stereoskop im 19. Jahrhundert ein populäres Massenmedium. Einer der wenigen ernsthaften Versuche, das Stereoskop medienhistorisch einzuordnen, stammt von dem amerikanischen Kunsthistoriker Jonathan Crary und findet sich in dessen überaus bekannter Studie Techniques of the Observer von 1990. Er argumentiert darin, 1 | Vgl. Hermann von Helmholtz: Handbuch der physiologischen Optik, Hamburg/Leipzig: 1867/1896, S. 798.

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dass im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Art Umbruch stattfindet, in dessen Folge die körperlichen Bedingungen des Sehens, z.B. eben die Binokularität, in den Blick rücken. Ein Ergebnis dieser Erforschungen des Sehens in der physiologischen Optik ist eben das Stereoskop – und das ist ja auch plausibel, denkt man an dessen Herkunft aus der Erforschung des Sehens bei Wheatstone. Crary deklariert das Stereoskop geradezu zum Emblem des – wie er es nennt – modernen Sehregimes. Ich habe mit Crarys Ansatz erhebliche Probleme – die sowohl systematischer als auch historischer Natur sind, aber das sei hier nicht ausgeführt.2 Es geht mir hier nur um einen Punkt: Crary behauptet am Ende des 4. Kapitels seiner Studie, dass das Stereoskop am Ende des 19. Jahrhunderts verschwunden sei. Für das Stereoskop als populäres Massenmedium ist das einleuchtend. Heute sitzen die Leute vorm Fernseher oder vorm Rechner, aber nicht mehr zum gemeinsamen Stereoskop-Schauen im Wohnzimmer. Aber dennoch ist das nur die halbe Wahrheit: Die stereoskopische Betrachtungsweise mag zwar durch die Konkurrenz mit der ab 1889 bestehenden Möglichkeit, selbst Fotos zu machen, mit dem Aufkommen der Fotopostkarte und dem Kino als populäres Medium aus den Wohnzimmern verschwunden sein. Aber aus der europäischen und amerikanischen Kultur verschwindet sie mitnichten! Crary konzentriert sich allein auf den massenmedialen und populären Einsatz der Stereoskopie, ohne ihre immer wichtigere Rolle in diversen wissenschaftlichen, medizinischen oder militärischen Praktiken zur Kenntnis zu nehmen. So kam die Stereoskopie massiv im Ersten Weltkrieg in der Luftaufklärung zum Einsatz, da bei Fotografien aus großer Höhe andernfalls die räumliche Struktur des Terrains sehr schwer zu verstehen ist. Schon Helmholtz wusste in seinem Handbuch der physiologischen Optik: »Eine perspectivische Zeichnung eines Hauses oder eines physikalischen Apparates verstehen wir ohne Schwierigkeit, selbst wenn sie recht verwickelte Verhältnisse darstellt. Ist sie gut schattirt, so wird der Überblick noch leichter. Aber die vollkommenste Zeichnung oder selbst Photographie eines Meteorsteins, eines Eisklumpens, mancher anatomischen Präparate und ähnlicher unregelmäßiger Gegenstände giebt kaum ein Bild von ihrer körperlichen Form. Namentlich Photographien von Landschaften, Felsen, Gletschern bieten dem Auge oft 2 | Vgl. Jens Schröter: 3D. Zur Geschichte, Theorie und Medienästhetik des technisch-transplanen Bildes, München: Fink 2009, Kapitel 1.

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nichts als ein halbverständliches Gewirr grauer Flecken, während dieselben Photographien bei passender stereoskopischer Combination die allerschlagendste Naturwahrheit wiedergeben.«3 Ein anderes Beispiel für den Einsatz der Stereoskopie, um mehr Rauminformation zu erlangen, kommt aus der Physik. Abbildung 1: Frühe Blasenkammer des CERN, rechts sind die beiden Kameras für die Stereoaufnahmen erkennbar

Abb. 1 zeigt die schematische Darstellung einer Wasserstoff-Blasenkammer des CERN aus den 1960er Jahren. Um die Teilchenspuren in dem Volumen aus flüssigem Wasserstoff in einer räumlich klaren Weise auf Bilder zu bannen, wird – wie man sieht – Stereoskopie eingesetzt. Es gäbe noch viel mehr Beispiele, aber ich will es dabei belassen. Ich möchte nur festhalten: Die Stereoskopie ist nicht verschwunden, sie wird nur in – den öffentlichen Blicken eher entzogenen – militärischen, wissenschaftlichen, vermessungstechnischen oder medizinischen Praktiken eingesetzt, in denen mehr Rauminformation benötigt wird. So erklärt sich auch leicht, warum stereoskopisches 3-D-Kino immer mal wieder ein paar Popularitäts-Schübe hatte, so z.B. am Beginn der 1950er Jahre in den USA, um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden. Das Verfahren wurde zu die3 | H. v. Helmholtz: Handbuch der physiologischen Optik, S. 769-770. Rechtschreibung wie in der Quelle.

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ser Zeit von den Filmstudios in Hollywood lanciert, um dem neuen Konkurrenten Fernsehen widerstehen zu können – eine zusätzliche Attraktion eben. Da jedoch Filme, zumal aus Hollywood, ihren Raum diegetisch und narrativ konstruieren4 , ist die zusätzliche Rauminformation überflüssig. Da der Einsatz von Stereoskopie im kommerziellen Kino aufwendig, kostspielig und störanfällig ist, wurde schnell und gerne wieder darauf verzichtet. Man sieht: Die Verwendung oder Nichtverwendung eines Verfahrens ist von den diskursiven Praktiken abhängig – im Falle der Stereoskopie vom Bedarf an Rauminformation. Aber es muss nicht unbedingt Rauminformation im konkreten Sinne sein. Es gibt einen historisch hochinteressanten Fall, in dem es eher eine ›Raumideologie‹ war, die der Stereoskopie zur erneuten Popularität verhalf – und das war während des sogenannten »Dritten Reichs«. Am 14. Januar 1935 gründete sich der Raumbild-Verlag Otto Schönstein in Dießen am Ammersee. Er gab eine Zeitschrift – Das Raumbild – heraus, deren erstes Heft am 15. Januar 1935 erschien. Im selben Jahr kam der Bildband Venedig – ein Raumerlebnis mit 60 Stereobildern der Stadt heraus. Die Bilder konnten mit einem mitgelieferten Stereobetrachter angesehen werden. Otto Schönstein hatte damit jedoch keinen wirtschaftlichen Erfolg – von einem Stereo-Boom im »Dritten Reich« zu sprechen wäre sicher übertrieben. Allerdings erhielt der Verlag gewissen Auftrieb, als Schönstein 1936 mit niemand Geringerem als Heinrich Hoffmann, dem ›Reichsberichterstatter der NSDAP‹, also dem Leibfotografen Adolf Hitlers, ins Geschäft kam.5 Hoffmann hatte nämlich die Idee, die Olympischen Spiele in Berlin 1936 stereoskopisch aufzunehmen und auf dieser Basis ein ›Raumbild-Bildalbum‹ herauszubringen. Der Band erschien 1936.

4 | Vgl. David Bordwell: Narration in the Fiction Film, Cambridge/MA: 1985, S. 99-146 und 156-204. 5 | Vgl. Rudolf Herz: Hoffmann & Hitler. Fotografie als Medium des FührerMythos, München: Münchener Stadtmuseum 1994.

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Abbildung 2: Leni Riefenstahl bei der Olympiade 1936, Stereobild aus dem Raumbild-Verlag

1938 gab die ›Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums‹ ein Gutachten heraus, in dem die Publikation eines Raumbildalbums mit dem Titel Deutsche Gaue zur finanziellen Förderung empfohlen wurde. Abbildung 3: Gutachten

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Ausdrücklich werden die Vorteile des Raumbilds vor dem Flachbild hervorgehoben – nämlich die ›Körperhaftigkeit‹. Insgesamt erschienen rund 24 ›Raumbild-Alben‹, oftmals mit Stereobildern einzig von Heinrich Hoffmann, zu Themen wie dem Reichsparteitag der Ehre; München. Hauptstadt der Bewegung; Hitler – Mussolini. Der Staatsbesuch des Führers in Italien; Großdeutschlands Wiedergeburt; Die Soldaten des Führers im Felde usw.6 Abbildung 4: Stereobild vom Reichsparteitag der NSDAP 1937

Heinrich Hoffmann stieg schon bald als Teilhaber in den Verlag ein. Das Verhältnis von Schönstein und Hoffmann war jedoch keineswegs spannungsfrei. Hoffmann verlangte schon ab 1937, dass Schönstein in eine untergeordnete, eher technische Funktion zurücktreten solle. Es kam zum Konflikt, in dessen Folge Hoffmann ab dem 1. Januar 1939 vom stillen Teilhaber zum Geschäftsführer aufstieg. Schönstein konnte aufgrund der hohen Position Hoffmanns nichts dagegen ausrichten. In diesem Jahr enthielt das Juli-Heft des Raumbilds einen Artikel mit dem Titel Der Führer besucht den Raumbild-Verlag.7 Der Besuch am 1. Juli 1939 erfolgte anlässlich des hundertsten Jahrestages der Erfindung der Fotografie. Besonders betont wurde die »persönliche Anteilnahme, die der Führer an der Arbeit des Raumbild-Verlages nimmt. […] Professor Heinrich Hoffmann wurde einst von ihm selbst mit dem Auftrag bedacht, diesem Zweig der modernen Bildbericht6 | Vgl. Dieter Lorenz: Der Raumbild-Verlag Otto Schönstein. Zur Geschichte der Stereoskopie, Berlin: DHM 2001, S. 52-53. 7 | Vgl. Pitter Gern: »Der Führer besucht den Raumbild-Verlag«, in: Das Raumbild. Stereoskopisches Magazin für Zeit und Raum, Nr. 7 (1939), S. 145-149.

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erstattung seine besondere Aufmerksamkeit zu widmen.«8 Weiterhin soll Hitler bei seinem Besuch die Worte ausgesprochen haben: »Ich bin überzeugt, daß die Raumbildwerke eine große Zukunft haben werden.«9 Einige der Raumbild-Alben wurden vom ›Führer‹ begutachtet: Abbildung 5: Hitler schaut durch einen Stereobetrachter

»Seine Hände hielten den Betrachter und wählten aus der Fülle der Bilder einzelne Proben, seine Augen aber, die das Raumerlebnis als eines der schönsten Gefühle kennen, betrachteten eingehend und prüfend das Werk.«10 Abschließend wird zum ›Raumbild‹ – also zur Stereoskopie – angemerkt: »Im Hinblick auf die internationale Photographie darf man hier von einer typisch deutschen Erscheinungsform sprechen, die sich nicht damit begnügt, aus rein ästhetischen Gründen den Raum festzuhalten, sondern als ›Raumbild‹ in erster Linie einen kraftvollen Inhalt sucht, der als vornehmste Aufgabe den Charakter eines Raumerlebnisses hervorheben will und seine innere Dynamik. Hier den Weg zu bereiten ist die neue Aufgabe, die der Verlag und seine Freunde sich vorgenommen haben. Um dieser Aufgabe willen ist es nötig, daß weitere Kräfte Anteil an diesen Arbeiten nehmen, damit das 8 | Ebd., S. 145. 9 | Ebd., S. 146. 10 | Ebd., S. 147-148.

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Raumbildwerk der Überzeugung des Führers gerecht wird und vollendet, was es begonnen: Ein Dokument zu sein deutscher Größe und deutscher Kultur!« 11 Insofern hier ›das Raumerlebnis als eines der schönsten Gefühle‹ benannt und als die ›vornehmste Aufgabe‹ der Herstellung und des Vertriebs von Stereoskopien die Hervorhebung des ›Charakters eines Raumerlebnisses‹ bezeichnet wird, drängt sich die bislang in der, ohnehin raren, Literatur zum Schönstein-Verlag12 nicht diskutierte Frage auf, wie das Verhältnis zwischen dem ›Raumbild‹ der Stereoskopie und dem Diskurs des Raums im Nationalsozialismus zu bestimmen ist. In der Ideologie der NSDAP wird die zentrale Rolle, die die Semantik des ›Raums‹ schon ab Ende des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum gespielt hatte, nochmals gesteigert. Und das hatte sehr konkrete Folgen: Da das deutsche Volk angeblich ein ›Volk ohne Raum‹13 sei, sah sich der Nationalsozialis-

11 | Ebd., S. 148-149. 12 | Vgl. neben der oben genannten Publikation von Lorenz auch Dieter Lorenz: »Der Raumbild-Verlag Otto Schönstein. Zur Geschichte der Stereoskopie«, in: Kultur und Technik, Nr. 4 (1983), S. 210-220; Richard C. Ryder: »›Blitzkrieg‹ in the West: The Fateful Spring of 1940«, in: Stereo World, Vol. 15, Nr. 2 (1988), S. 20-26; Richard C. Ryder: »Anschluss!«, in: Stereo World, Vol. 17, Nr. 1 (1990), S. 22-29. Vgl. neuerdings Sebastian Fitzner: »›Raumrausch und Raumsehnsucht‹. Zur Inszenierung der Stereofotografie im Dritten Reich«, in: Fotogeschichte, Jg. 28, H. 109 (2008), S. 25-37. Fitzner und ich sind unabhängig voneinander zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt. Vgl. auch meine frühere Publikation zum Thema: Jens Schröter: »Der Pilz im nationalsozialistischen Raumbild. Anmerkungen zu einem Fund aus der Zeit des Dritten Reichs«, in: Der Tintling. Die Pilzzeitschrift, Jg. 10, Nr. 3 (2005), S. 33-39. 13 | Vgl. zu diesem 1926 in Hans Grimms gleichnamigem Roman geprägten und in der Folge höchst einflussreichen Syntagma die ausführliche Darstellung bei Hans-Ulrich Wagner: »›Volk ohne Raum‹. Zur Geschichte eines Schlagwortes«, in: Sprachwissenschaft, Nr. 17 (1992), S. 68-109. Vgl. schon Dieter Lattmann: »Raum als Traum: Hans Grimm und seine Saga von der Volkheit«, in: Karl Schwedhelm (Hg.): Propheten des Nationalismus, München: List 1969, S. 243-263, und Peter Zimmermann: »Kampf um den Lebensraum. Ein Mythos der Kolonial- und der Blut-und-Boden-Literatur«, in: Horst Denkler/Karl Prümm (Hg.): Die deutsche Literatur im Dritten Reich, Stuttgart: Reclam 1976, S. 165-182.

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mus berechtigt, einen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen Osteuropa und die UdSSR zu führen. Nicht dass die Stereoskopie entscheidenden Anteil am »Kult des Raumes«14 hatte, aber ›Raum‹ war ein so starker Begriff – nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beschrieb Gerhard Storz, was für einen »bösen und furchtbaren Zauber«15 dieses Wort verursacht habe –, dass die Wortfügung ›Raumbild‹ nicht neutral und unbelastet geblieben sein kann. These ist hier, dass die Unterstützung für das ›Raumbild‹ seitens der NSDAP tatsächlich durch die Raumideologie begünstigt wurde. Immerhin wurden der ›Raumbild‹-Verlag ab April 1942 als ›Wehrwirtschaftsbetrieb‹ und manche Mitarbeiter als ›unabkömmlich‹ eingestuft – d.h. sie mussten nicht an die Front. Als kurz danach München häufiger von Luftangriffen getroffen wurde, stufte man den Verlag gar als ›kriegswichtigen Betrieb‹ ein. Im Editorial der Ausgabe der Zeitschrift Das Raumbild vom 15. Dezember 1936 wurde der Zusammenhang zwischen dem ›Kult des Raums‹ und dem stereoskopischen Bild explizit hergestellt: »Über allen Einzelinteressen und -forschungen am Raumbild darf eines nicht vergessen werden: das Raumgefühl und die Raumgesinnung unserer Zeit. Raumgestaltung ist Lebensgestaltung, Raumfragen sind Schicksalsfragen. Immer deutlicher wird das jetzt in Deutschland sichtbar: Raumordnung in Wirtschafts- und Wehraufbau; anschauliches Raumdenken in politischer Geschichte und Kulturphilosophie; neue Raumgesinnung und Raumgestaltung in Bild- und Baukunst; das Streben zum Raumfilm [!]16; Raumbezwingung in Sport und Technik. […] Es ist kein Zufall, daß der Raumbildgedanke und die Raumbildforschung die Unterstützung staatlicher Stellen findet.«

14 | Werner Köster: Die Rede über den ›Raum‹. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts, Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2002, S. 12. 15 | Ebd., S. 7. 16 | Für ein zeitgenössisches, deutsches Beispiel der Bemühungen um den Raumfilm – interessanterweise auf der Basis von Parallax-Barriere- bzw. integral-fotografischen Verfahren – vgl. Walter Hesse: »Der vollkommene plastische Film«, in: Kinotechnik. Zeitschrift für die Technik im Film, Jg. 21, Nr. 3 (1939), S. 61-67. Zu den Verfahren siehe Schröter: 3D, Kapitel 5.

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Daraus wird ein – um es mit Goebbels zu sagen – ›volksaufklärerisches‹ Programm abgeleitet: »Richtiges Raumsehen wieder zu erwecken, das Raumerleben anzuregen, die Raumerkenntnis zu vertiefen und durch Schulung des Auges eine neue Raumgesinnung, die die Grundlage ist für politische, technische und künstlerische Raumgestaltung, zu ermöglichen, ist das höchste Ziel dieser Zeitschrift.«17 Es könnte kaum deutlicher gesagt werden, dass das stereoskopische Bild also in Beschlag genommen werden soll, um eine neue ›Raumgesinnung‹ zu erzeugen – in zahlreichen weiteren Beiträgen in der Zeitschrift wird immer wieder die Rolle herausgestellt, die das Betrachten transplaner Bilder für die rechte ›Raumgesinnung‹ und die Erfahrung von ›Anschaulichkeit‹18 haben kann. 1935 fordert ein Herr von Aufschnaiter: »Gerade unsere Zeit fordert das Raumbild! […] Die Zeit fordert das Raumbild!«19 1937 sinniert ein Herr Schoepf über »die Erziehung zur Raumvorstellung und Raumanschauung«.20 Ein Autor betont in einem Artikel mit dem Titel »Bücher, die den Raum erleben lassen«: »Die Arbeit Schönsteins bedeutet nichts geringe17 | Anonym: »Editorial: Rückblick und Vorschau«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, Jg. 2, Nr. 12 (1936), S. 265-266. In verschiedenen Aufsätzen des Raumbilds wurden Anregungen gegeben, wie man für die Stereoskopie werben könne, vgl. anonym: »Für das Raumbild werben – aber wie?«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, H. 8 (1935), S. 173-175. 18 | Die ›Anschaulichkeit‹ war ein positiv besetztes Kriterium der NS-Ideologie, das z.B. in der ›deutschen Physik‹ gegen die ›abstrakte‹, ›jüdische Physik‹ mobilisiert wurde, vgl. Steffen Richter: »Die ›Deutsche Physik‹«, in: Herbert Mehrtens/Ders. (Hg.): Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 116-141, hier S. 119 und 124/125. Vgl. dazu, wie das »Raumbild eine vergleichend anschauliche Betrachtung ermöglicht«; Kurt-Lothar Tank: »Zur Ästhetik des Raumbildes«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, Jg. 1, H. 1 (1935), S. 8-12, hier S. 11. 19 | Herman Lüscher: »Mehr Raum dem Raumbild!«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, Jg. 2, H. 2 (1936), S. 43. 20 | Herrmann Schoepf: »Das Raumbild als Anschauungsmittel«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, Jg. 3 (1937), S. 5-6, hier S. 5.

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res, als die Erziehung unserer Generation, die daran gewohnt war, flächenhaft zu sehen, zum raumhaften Bild, zur plastischen Schau, eine Umschulung, die sicherlich viele schöpferische Kräfte weckt.«21 Dies ist, so der Autor, notwendig, »weil wir modernen, zum begrifflichen Denken neigenden Menschen die alte Weisheit vergessen haben, daß alles wirkliche Verstehen mit dem Anschauen beginnen muß.« Hansen diskutiert die Rolle der ›Stereoskopie im Dienste der Volksbildung‹.22 In diesem Sinne hatte 1937 ein gewisser Carl Thinius geschrieben: »Mit der Einführung des Raumbildes […] wäre es gegeben, gerade durch die optisch-plastische Beeinflussung […] unserem Volk alles Große und Gewaltige ins Bewusstsein zu hämmern.«23 Insofern also der »ideologisch dominante Bedeutungshorizont« des ›Raums‹ »auch im ästhetischen Diskurs […] der Kunstkritik«24 auffindbar ist, kommt es zu einer Politik des Raumbildes. Ob eine Technologie wie die Stereoskopie benutzt wird oder nicht, wird nicht von der Technik selbst diktiert. Es zeigt sich, dass technische Elemente an semantische Elemente anschlussfähig sein müssen, um potentiell durchsetzbar zu sein. Wenn es einen ›Kult um den Raum‹ gibt, dann sind die positive Wertung und finanzielle Förderung eines ›Raumbildes‹ nicht mehr so abwegig. So kann die fast vergessene

21 | Hans Laber: »Von Gutenberg zu Schönstein … Bücher, die den Raum erleben lassen. Das ›Raumbild-Werk‹, eine Neuerscheinung auf dem Büchermarkt«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, Jg. 3 (1937), S. 22-23, hier S. 22. 22 | Vgl. Fritz Hansen: »Die Stereoskopie im Dienste der Volksbildung«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, Jg. 3, H. 9 (1937), S. 161-163. 23 | Carl Thinius: »Der Wert der plastischen Bildbetrachtung«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, Jg. 3, H. 3 (1937), S. 41-45, hier S. 42. 24 | Köster: Die Rede über den Raum, S. 11. Leider verfolgt er diese Fragestellung nicht weiter. Auffällig ist z.B., dass Hans Jantzen die Frage nach dem Raumbegriff in der Kunstgeschichte eben 1938 in München stellt; vgl. Hans Jantzen: Über den kunstgeschichtlichen Raumbegriff, München, Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1938.

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Stereoskopie25 noch einmal von hohen staatlichen Stellen gefördert und unterstützt werden.26 Bekanntlich fand der Nationalsozialismus 1945 sein Ende – und mit ihm der ›Kult des Raums‹. Otto Schönsteins Verlag, nach seiner Ernennung zum ›kriegswichtigen‹ Betrieb 1942 nach Oberaudorf am Inn ausgelagert, versuchte nach 1945 wieder Fuß zu fassen, was misslang.27 Passend zur neuen Zeit spielte die Stereoskopie als aus den USA gekommene Technik – dem Viewmaster – eine Rolle, dessen großer Vorteil vor allem war, dass er sich auf den gerade erfundenen Farbfilm stützen, also der Raumillusion noch eine Farbdimension 25 | Vielleicht nicht zufällig taucht die Stereoskopie schon um 1928 bei Ernst Jünger auf: »Mit der Stereoskopie, einer optischen Installation aus dem 19. Jahrhundert, mit der die photographische Abbildungsillusion eine erhebliche Steigerung erfuhr, modelliert Jünger 1928 im Abenteuerlichen Herzen seine Wahrnehmungstheorie, die wiederum zum Grundprinzip seiner Poetik erhoben wird.«, vgl. Karl Prümm: »Gefährliche Augenblicke. Ernst Jünger als Medientheoretiker«, in: Lutz Hagestedt (Hg.), Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, Berlin u.a.: de Gruyter 2004, S. 349-370, hier 356. 26 | Vgl. Paul von Aufschnaiter: »Bewegtheit und Raumbild«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, Jg. 1, Nr. 4 (1935), S. 78-79, hier S. 78: »Daß dieses weite Feld des Raumbildes […] in den letzten 20 bis 30 Jahren etwas in Vergessenheit geriet, ist wohl kein Zufall, denn nichts hat sich für die Unruhe und Dynamik der letzten 20 Jahre so ausdrucks- und entwicklungsfähig gezeigt wie das Flachbild, das Kleinbild, die ›Knipserei‹ und der Film.« Der Autor suggeriert, dass das ›Flachbild‹ mit der – vom NS verdammten – unruhigen Zeit der Weimarer Republik in Verbindung stünde. Vgl. im selben Sinne Tank: Zur Ästhetik des Raumbildes, S. 8-9, der betont, dass sich aus dem »Weltbild eines Zeitabschnittes ohne künstliches Mühen die Raumauffassung herauslesen läßt« und im Anschluss an diese »Theorie des Raums« den Futurismus als Ausdruck einer durch den ›Relativismus‹ verursachten »Raumverwirrung« interpretiert. Den ›Relativismus‹ definiert er eindeutig unter Bezug auf die Zeit der Weimarer Republik: »Im Politischen: Parteien- und Interessenatomisierung, in der Wissenschaft: Relativitätstheorie und Triebanalysen, in der Musik: Atonalität, im Schrifttum: der Assoziationsroman, in der Malerei: Futurismus.« Demgegenüber finden die »Jungen« ›heute‹ (1935) »eine neu gegliederte und geordnete, entkomplizierte Welt vor. In dieser Welt hat der Raum eine zentrale Bedeutung.« 27 | Vgl. detailliert Lorenz: Der Raumbild-Verlag, S. 5-7.

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hinzufügen konnte. Zunächst ebenfalls als Mittel der vor allem militärischen Erziehung und Ausbildung gedacht, endete der Viewmaster dann doch in den Kinderzimmern: Es gab hauptsächlich in den USA in den 1950er Jahren mit dem Viewmaster und einigen Kinofilmen28 noch einmal einen kurzen 3-D-Boom, aber dann verschwand die Stereoskopie endgültig wieder in Spezialanwendungen der Naturwissenschaft – und in die Kinderzimmer.29 Die Produktion des Raums war nicht mehr – wie noch im ›Dritten Reich‹ – Staatsraison und zentrales Ideologem. 1958 verstarb Otto Schönstein.30 Epilog: Die Allianz von Stereoskopie und Raum hatte im Zweiten Weltkrieg noch einen ganz anderen Beiklang: »Alle Fliegeraufnahmen in unserer Wehrmacht werden stereoskopisch gemacht.«31 Das galt auch für die Alliierten.32 Der räumliche Eindruck aus großer Höhe kann aber nur über eine Ausweitung des Augenabstands zwischen den beiden Stereoaufnahmen hergestellt werden, dabei stellen sich leicht hyperstereoskopische Effekte ein, in der die Höhenunterschiede stark übertrieben wirken.33

28 | Vgl. R. M. Hayes: 3D-Movies. A History and Filmography of Stereoscopic Cinema, Jefferson/NC: McFarland & Company 1989. 29 | Als ihr virtuell-optisches Double, d.h. auf Computerbasis, wird die Stereoskopie im Head Mounted Display ab Mitte der 1960er Jahre zurückkehren, siehe Jens Schröter: »Von grafischen, multimedialen, ultimativen und operativen Displays. Zur Arbeit Ivan E. Sutherlands«, in: Thielmann, Tristan/Ders. (Hg.): Display II: Digital, Marburg: Schüren 2007, S. 33-48. 30 | Sein Archiv stereoskopischer Bilder befindet sich heute am Deutschen Historischen Museum, Berlin. Vgl. Lorenz: Der Raumbild-Verlag, S. 8-10. 31 | Lüscher: Mehr Raum dem Raumbild, S. 43. 32 | Vgl. z.B. Amrom H. Katz: »Aerial Photographic Equipment and Application to Reconaissance«, in: Journal of the Optical Society of America, Vol. 38, Nr. 7 (1948), S. 604-610, insb. 607 zu den USA. 33 | Newhall unterstreicht, wie sehr die ›unrealistische‹ hyperstereoskopische Übertreibung der Höhen und Tiefen operatives Wissen über die räumliche Struktur der Szene vermitteln kann; vgl. Beaumont Newhall: Air-Born Camera. The World from the Air and Outer Space, New York: Hastings House 1969, S. 49 und S. 53. Vgl. grundsätzlich Walter A. Treece: »Estimation of Vertical Exaggeration in Stereoscopic Viewing of Aerial Photographs«, in: Photogrammetric Engineering, Vol. 21, Nr. 4 (1955), S. 518-527.

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Hier soll abschließend eine Nachwirkung dieser Geschichte im künstlerischen Feld erwähnt werden. Der bekannte deutsche Fotograf Thomas Ruff hat in den Jahren 1994-1996 eine Reihe stereoskopischer Arbeiten gemacht (einige auch später), die gezielt solche Effekte ausnützen. In einer Reihe von Ruffs Arbeiten wird das stereoskopische Bildpaar in einer Schatulle dargeboten, die beiden Bilder werden durch zwischen sie gestellte Spiegel (fast wie in Wheatstones allererstem Stereoskop) in die Augen der BetrachterInnen gelenkt. Beim Blick in diesen Spiegel von oben zeigen sich sehr plastisch wirkende Stadtansichten miniaturhaft verkleinert, man glaubt mit einem Finger die Hochhäuserchen abbrechen zu können.34 Abbildung 6: Thomas Ruff, Ruhrgebiet 1, 1996

Zu Ruhrgebiet I von 1996 bemerkt eine Kommentatorin: »Die Industrieanlage in Ruhrgebiet I, 1996 bietet sich offen, erkundbar und ungeschützt dem Blick von oben dar, wodurch sich in Thema, Blickstruktur und technischem Verfahren die Assoziation mit militärischem Aufklärungsbildmaterial einstellt.«35 In der Tat: Das Ruhrgebiet war 34 | Vgl. schon Helmholtz: Handbuch der physiologischen Optik, S. 794, dadurch, wie durch hyperstereoskopische Effekte »die Landschaft […] das Ansehen [erhält], als wenn der Beobachter nicht die natürliche Landschaft, sondern ein sehr zierliches und genaues Modell derselben vor sich hätte«. 35 | Annette Urban: »Versuchsanordnung über Photographie. Die Nachtbilder und Stereoaufnahmen von Thomas Ruff«, in: Monika Steinhauser (in Zusammenarbeit mit Ludger Derenthal) (Hg.), Ansicht Aussicht Einsicht. Architekturphotographie, Ausstellungskatalog, Düsseldorf: Richter 2000, S. 106-113, hier 112.

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eine der am stärksten von den Bombardements der Allierten betroffenen Regionen im ›Dritten Reich‹. Das – jedenfalls von manchen Nationalsozialisten – zur Schule einer ›faustischen Raumgesinnung‹ hochgejubelte Raumbild kehrt mit vernichtender Wucht zurück: Ruff zitiert den stereoskopischen Blick der Luftaufklärung, der Industrieanlagen ausspäht, die dann gegebenenfalls zerstört werden. Seine Medienästhetik des stereoskopischen Bildes besteht einerseits darin, die in die Geschichte der Stereoskopie eingeschriebene Operationalisierung als Raumkontrolltechnik aufzurufen und dadurch die eigentümliche Dialektik dieser Operationalisierung zu verdeutlichen. Obwohl aus der Erforschung des menschlichen Sehens hervorgegangen, verschiebt erstens die Hyperstereoskopie die menschlichen Maßstäbe – in Ruffs Arbeit kommen sich die BetrachterInnen riesenhaft gegenüber der Architektur vor. Zweitens können die aus der Erforschung des menschlichen Sehens hervorgegangenen Technologien genutzt werden, um menschliches Leben auszulöschen. Durch diese Hinweise setzt sich Ruff dezidiert von seinen Lehrern, dem Ehepaar Becher, ab. Diese fotografierten je isolierte Industrieanlagen (auch aus dem Ruhrgebiet) aus einigen verschiedenen, aber immer wiederkehrenden Blickwinkeln und reihten sie in ihren ›Abwicklungen‹ zu seriellen Typologien. Einerseits dokumentierten sie quasi ›archäologisch‹ die Anlagen je individuell für die Nachwelt, während sie andererseits in der Isolierung der einzelnen Bauten bei gleichzeitiger Serialisierung verschiedener Exempel ähnlicher Bauten transindividuelle Morphologien erzeugten. Ruff dagegen hält nicht einzelne Teile der Anlage aus zugleich archivarischen wie formalen Gründen fest, sondern zeigt die räumliche Verortung der Anlagen. Sie werden nicht isoliert, sondern bleiben lokal – und damit auch historisch – verortet. Damit thematisiert Ruff das, wogegen die Bechers mit ihrem gigantischen Archivierungsprojekt anarbeiteten: jene zerstörerischen Kräfte, die Industrieanlagen (und – zumeist binokular sehende – Menschen) vernichten und somit aus der Geschichte tilgen. Buchloh unterstreicht die »archivalische Struktur« des Werks der Bechers. Ihren Versuch, durch Betonung der Handwerklichkeit an die ›Neue Sachlichkeit‹ der Weimarer Republik anzuschließen, wertet er außerordentlich kritisch. Denn trotz des »offensichtlichen Verlangens der Bechers, sich in einen historisch neutralen und geopolitisch objektiven Geschichtsraum zu begeben (das Feld der sachlichen, ›universell‹ gültigen Bedingungen der industriellen ›Produktion‹), befindet sich ihre Arbeit letztlich in einem höchst geladenen geschichtlichen Feld […].« Insbe-

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sondere betont er den »Anteil, […] [den] die Industrieproduktion […] an der weltgeschichtlichen Katastrophe des deutschen Faschismus«36 hatte. Die Bechers verdrängen in seinen Augen das, was – m.E. – Ruff in seinen Stereoskopien des Ruhrgebiets evoziert. Abschließend kann man sagen, dass der Raum – weit davon entfernt etwas bloß Leeres und Neutrales zu sein – selbst Ort diskursiver und politischer Auseinandersetzungen ist. Gerade am Beispiel des Nationalsozialismus und der dort vorgenommenen Funktionalisierung der Stereoskopie kann man seine Politisierung ablesen. Eine Mediengeschichte des Raums wäre also immer auch eine Geschichte seiner politischen Zurechtmachungen.

L ITER ATUR Anonym: »Editorial: Rückblick und Vorschau«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, Jg. 2, Nr. 12 (1936). Anonym: »Für das Raumbild werben – aber wie?«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, H. 8 (1935). Aufschnaiter, Paul von: »Bewegtheit und Raumbild«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, Jg. 1, Nr. 4 (1935). Bordwell, David: Narration in the Fiction Film, Cambridge/MA: 1985. Buchloh, Benjamin: »Warburgs Vorbild? Das Ende der Collage/Fotomontage im Nachkriegseuropa«, in: Ingrid Schaffner (Hg.): Deep Storage: Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, München/New York: Prestel 1997. Crary, Jonathan: Techniques of the Observer, Cambridge: MIT Press 1990.

36 | Benjamin Buchloh: »Warburgs Vorbild? Das Ende der Collage/Fotomontage im Nachkriegseuropa«, in: Ingrid Schaffner/Matthias Winzen (Hg.): Deep Storage: Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, München/ New York: Prestel 1997, S. 50-60, hier S. 56-57.

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Fitzner, Sebastian: »›Raumrausch und Raumsehnsucht‹. Zur Inszenierung der Stereofotografie im Dritten Reich«, in: Fotogeschichte, Jg. 28, H. 109 (2008). Gern, Pitter: »Der Führer besucht den Raumbild-Verlag«, in: Das Raumbild. Stereoskopisches Magazin für Zeit und Raum, Nr. 7 (1939). Hansen, Fritz: »Die Stereoskopie im Dienste der Volksbildung«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, Jg. 3, H. 9 (1937). Hayes, R.M.: 3D-Movies. A History and Filmography of Stereoscopic Cinema, Jefferson/NC: 1989. Helmholtz, Hermann von: Handbuch der physiologischen Optik, Hamburg/Leipzig: 1867/1896. Herz, Rudolf: Hoffmann & Hitler. Fotografie als Medium des FührerMythos, München: 1994. Hesse, Walter: »Der vollkommene plastische Film«, in: Kinotechnik. Zeitschrift für die Technik im Film, Jg. 21, Nr. 3 (1939). Katz, Amrom H.: »Aerial Photographic Equipment and Application to Reconaissance«, in: Journal of the Optical Society of America, Vol. 38, Nr. 7 (1948). Köster, Werner: Die Rede über den ›Raum‹. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts, Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2002. Laber, Hans: »Von Gutenberg zu Schönstein … Bücher, die den Raum erleben lassen. Das ›Raumbild-Werk‹, eine Neuerscheinung auf dem Büchermarkt«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, Jg. 3 (1937). Lattmann, Dieter: »Raum als Traum: Hans Grimm und seine Saga von der Volkheit«, in: Karl Schwedhelm (Hg.): Propheten des Nationalismus, München: List 1969. Lorenz, Dieter: »Der Raumbild-Verlag Otto Schönstein. Zur Geschichte der Stereoskopie«, in: Kultur und Technik, Nr. 4 (1983). Lorenz, Dieter: Der Raumbild-Verlag Otto Schönstein. Zur Geschichte der Stereoskopie, Berlin: 2001, S. 52-53. Lüscher: »Mehr Raum dem Raumbild!«, in: Das Raumbild. Monatszeitschrift für die gesamte Stereoskopie und ihre Grenzgebiete, Jg. 2, H. 2 (1936). Newhall, Beaumont: Air-Born Camera. The World from the Air and Outer Space, New York 1969.

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Karl Prümm (Hg.): Die deutsche Literatur im Dritten Reich, Stuttgart: Reclam 1976.

A BBILDUNGEN Abb. 1: Früngel, F./Köhler, H./Reinhard, H.P.: »The Illumination of the CERN 2-Meter Hydrogen Bubble Chamber«, in: Applied Optics, Vol. 2, No. 10, October 1963, S. 1017-1024, hier S. 1018. Abb. 2: Dieter Lorenz: Der Raumbild-Verlag Otto Schönstein. Zur Geschichte der Stereoskopie, Berlin: 2001, S. 35. Abb. 3: Dieter Lorenz: Der Raumbild-Verlag Otto Schönstein. Zur Geschichte der Stereoskopie, Berlin: 2001, S. 4. Abb. 4: Dieter Lorenz: Der Raumbild-Verlag Otto Schönstein. Zur Geschichte der Stereoskopie, Berlin: 2001, S. 33. Abb. 5: Quelle: Bayerische Staatsbibliothek München/Fotoarchiv Hoffmann (Bildnummer: hoff-26107). Abb. 6: Bätzner, Nike/Nekes, Werner/Schmidt, Eva (2008) (Hg.): Blickmaschinen, Köln, S. 142.

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Quellcode der Orientierung: Ein Entwurf des Leon Battista Alberti Tristan Thielmann

Mit dem spatial turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften ist sowohl eine Erweiterung als auch eine Resituierung der Mapping-Praktiken und Mapping-Diskurse verbunden, die derzeit in einer Vielzahl von Ausstellungen und Publikationen ihren Niederschlag finden.1 Im anglo-amerikanischen Sprachraum nahm diese Entwicklung vor allem durch Stephen Halls Buch Mapping the Next Millennium ihren Ausgangspunkt.2 Seither haben sich Karten bei der Beschreibung und Konstruktion sozio-räumlicher Identi- und Entitäten zu einem multi-disziplinären Gegenstandsbereich von Mapping-Studien entwickelt, die unter Leitbegriffen wie Medien- oder Metageographie firmieren. Während ›Mediengeographie‹ die ästhetisch wahrnehmbaren virulenten Geographien der Medien und Medienwissenschaft in den Fokus nimmt,3 steht ›Metageographie‹ für ein nicht notwen1 | Vgl. u.a. Janet Abrams/Peter Hall (Hg.): Else/Where: Mapping. New Cartographies of Networks and Territories, Minneapolis, MN: University of Minnesota Press 2006; Angela Lammert (Hg.): Räume der Zeichnung [Akademie der Künste Berlin], Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2007; Katharine Harmon: The Map as Art. Contemporary Artists Explore Cartography, New York: Princeton Architectural Press 2009; Armen Avanessian/Franck Hofmann (Hg.): Raum in den Künsten. Konstruktion – Bewegung – Politik, München: Fink 2010. 2 | Vgl. Stephen S. Hall: Mapping the Next Millennium: How Computer-Driven Cartography is Revolutionizing the Face of Science, New York: Vintage 1993. 3 | Vgl. Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld: transcript 2009.

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digerweise sichtbares Zeichensystem, das geographisches Wissen organisiert und visualisiert; ein Gradnetz, das eine topographische Karte nur noch erahnen lässt. Oder um es in den Worten Eric Gordons auszudrücken: »Metageography is the culturally accepted misrepresentation of abstracted territory.«4 Sie beschreibt die Art und Weise, wie Neue Medien räumlich organisiert werden und dadurch kulturellen Ausdrucksformen eine neue ›Heimat‹ bieten. Trotz der asynoptischen Vielfalt künstlerischer Raumumbrüche5 scheint die Vielheit der Synopsen von Raum-Medien und Medien-Räumen dabei einer Ordnung zu gehorchen: der des Rasters. Dies belegt symptomatisch beispielsweise das Degree Confluence Project, bei dem das scheinbar invisible Raster selbst Gegenstand künstlerischer Praxis ist (vgl. Abb. 1). So geht es bei dem seit 1996 praktizierten Kollektiv-Projekt www.confluence.org darum, Schnittpunkte ganzzahliger Breiten- und Längengrade im Koordinatengitter, sogenannte Konfluenzpunkte, mit einem GPS-Empfänger physisch zu finden und fotografisch zu dokumentieren. Dabei spielt das Raster als Kulturtechnik eine doppelte Rolle: »Es ist ein diagrammatisches Bildgebungsverfahren, das nach dem Prinzip arbeitet, Daten unter bestimmten Adressen abzuspeichern, das heißt, es ist repräsentational und zielt darauf, eine hohe mimetische Evidenz zu erzeugen. Aber zugleich ist das Raster auch ein ›Realitätsgebungsverfahren‹, eine Technik, Welt als Welt von Objekten zu konstituieren, die von einem Subjekt vorgestellt werden […].«6 Da es jedem Punkt auf der Erde eine Koordinate zuweist, macht das Raster zudem eine mediengestützte Orientierung im Raum-Zeit-Gefüge möglich. Doch seit wann sind Daten als »Geschicke ihrer Adressen«7 ansteuerbar? 4 | Eric Gordon: »The Metageography of the Internet: Mapping from Web 1.0 to 2.0«, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld: transcript 2009, S. 397-411, hier S. 401. 5 | Ein Überblick findet sich bei Michaela Ott: »Ästhetik/Kunstgeschichte«, in: Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 14-29. 6 | Bernhard Siegert: »(Nicht) Am Ort. Zum Raster als Kulturtechnik«, in: Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar 49, 3 (2003), S. 92-104, hier S. 93. 7 | Bernhard Siegert: »Weiße Flecken und finstre Herzen. Von der symbolischen Weltordnung zur Weltentwurfsordnung«, in: Daniel Gethmann/Susan-

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Abbildung 1: Kartenausschnitt (Europa und Nordafrika) des Degree Confluence Project

A USGANGSPUNK T Wenn nach dem mythologischen Ursprung von mobilen computergesteuerten Navigationssystemen gefragt wird, kommt man nicht selten auf einen Ausschnitt in dem James-Bond-Klassiker Goldfinger zu sprechen (vgl. Abb. 6). 20 Jahre bevor das erste automobile Navigationssystem in Kalifornien käuflich zu erwerben war,8 schien hier die filmische Phantasie ihrer Zeit voraus. Wie dieser Aufsatz zu zeigen ne Hauser (Hg.), Kulturtechnik Entwerfen. Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science, Bielefeld: transcript 2009, S. 19-47, hier S. 46. 8 | Vgl. Tristan Thielmann: »Der ETAK Navigator: Tour de Latour durch die Mediengeschichte der Autonavigationssysteme«, in: Georg Kneer et al. (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 180-219.

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versucht, kann der koordinative Nullpunkt für eine derart kartographische Orientierung aber vielmehr in den Traktaten des Poeten, Mathematikers, Kunst- und Architekturtheoretikers Leon Battista Alberti gesucht und gefunden werden. In Medienentwurfs- und -nutzungskontexten, welcher Art auch immer, erscheint uns das Raster als scheinbar universale, weil antinatürliche Kulturtechnik.9 Bereits vor Alberti hat Claudius Ptolemäus ca. 140 n. Chr. nicht nur das Verfahren der Rasterung in die Theorie der Bildgebungstechniken eingeführt, sondern auch als Erster Anleitungen dazu gegeben, wie auf der Grundlage einer Projektion Bilder hergestellt werden können.10 Durch ein Gittersystem, das die Heterogenität der Erdoberfläche auf eine durchgängige geometrische Einheitlichkeit reduzierte, war eine universal anwendbare Visualisierung geschaffen, Orte anhand ihrer Koordinaten zu kartieren, in ihrer Relation zu bestimmen und deren Entfernung zu messen.11 Doch zu welchem Zweck? Ptolemäische Karten waren nicht als navigatorische Hilfsmittel gedacht.12 Sie waren für die Schiffsnavigation (zumindest außerhalb europäischer Gewässer) wenig zuverlässig, da mit dem Raster nicht die Konvergenz der Meridiane in den höheren Breitengraden berücksichtigt werden konnte. So waren die ptolemäischen Sammelwerke eher für die »Rechen(schafts)zentren«13 jener Zeit – Bibliotheken und Schiffsreedereien – bestimmt. Als »immutable mobiles«14 , die aus- und zurückgesandt 9 | Vgl. Rosalind Krauss: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 2000, S. 51ff. 10 | Vgl. Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, München: Fink 2002, S. 93. 11 | Vgl. ebd., S. 103; Leo Bagrow/Raleigh Skelton: Meister der Kartographie, 4. Aufl. Berlin: Safari-Verlag 1973, S. 143. 12 | Vgl. Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, S. 103; Samuel Y. Edgerton: Giotto und die Erfindung der dritten Dimension, München: Fink 2004, S. 146. 13 | Bruno Latour: »Die Logistik der immutable mobiles«, in: Jörg Döring/ Tristan Thielmann (Hg.): Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld: transcript 2009, S. 111-144, hier S. 137ff. 14 | Unter immutable mobiles versteht Bruno Latour (ebd.) jene Objekte, die mobil, aber auch unveränderlich sind, die Formkonstanz über Variationen hinweg ermöglichen und somit zur Herstellung von optischer Konsistenz dienen.

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wurden, um Wissen zu akkumulieren, dienten stattdessen Portolankarten, die mit ihrem Netz von Kompasslinien zuverlässig Auskunft über einen einzuhaltenden Kurs gaben. Das Raster der in der Geographia des Ptolemäus gezeigten Mappae mundi15 erlaubte es zwar, »das geographische Wissen zu sammeln, zu vergleichen und zu korrigieren«16, hatte aber für die Reisenden jener Zeit – Kaufmänner und Seeleute – keine praktische Funktion. Nicht von ungefähr dienten die Mappae mundi daher in erster Linie zur Vermittlung von Heilsgeschichte,17 denn die Stärke des Gitternetz-Messsystems bestand vor allem darin, »dem Geist ein abstraktes, von einem unabänderlichen Rahmen aus horizontalen und vertikalen Koordinaten geregeltes Bild des Raums zu geben«.18 Oder um es mit Bruno Latour bzw. in den Worten Bernhard Siegerts auszudrücken: »... das ptolemäische Raster entdeckt die Kulturtechnik der optischen Konsistenz«19, und zwar auf dreierlei Weise: a) durch die Geometrisierung des behandelten Raums; b) durch einen Index räumlicher Beziehungen, der Daten/Informationen ordnet, systematisiert und damit leichter abrufbar werden lässt; und c) stellt das Raster die Frage der Datenkopierung fundamental neu. Während die sich schneidenden strahlenförmigen Kompass-/ Rumbenlinien der Portolankarten den Kartenzeichnern als Kopierhilfe dienten,20 konnten die Kopisten ptolemäischer Karten auf einen ›Quellcode‹ – eine Software würde man heute sagen – zurückgreifen. Für das Ptolemäische Raster gab es kein piktorales Original. Ptolemäus gab lediglich schriftliche Anleitungen zur Anfertigung von Karten und erstellte Tabellen, welche die Koordinaten von ca. 8000 Orten enthielten, zeichnete bis auf wenige grobe Skizzen aber keine Karten selbst. Spätere Kompilatoren fertigten unter seinem Namen ›Geographien‹ an, die im Laufe der Jahrhunderte durch verschiedene handgezeichnete Karten ergänzt wurden. Wie Samuel Edgerton dar15 | Vgl. J. Lennart Berggren/Alexander Jones: Ptolemy’s Geography: An Annotated Translation of the Theoretical Chapters, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2000, plate 6. 16 | Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, S. 103. 17 | Vgl. Peter Barber: Das Buch der Karten. Meilensteine der Kartografie aus drei Jahrtausenden, Darmstadt: Primus 2006, S. 62, 138. 18 | Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, S. 102. 19 | Bernhard Siegert: Weiße Flecken und finstre Herzen, S. 38. 20 | Ebd., S. 62.

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gelegt hat, war Leon Battista Alberti vom Gitternetz des Ptolemäus so fasziniert, dass er unter dessen Zuhilfenahme eine spezielle Kompositionsmethode für die Malerei entwickelte.21 Hierbei experimentierte er sowohl mit Kartesischen Koordinatensystemen, bei denen sich die Richtungsachsen orthogonal schneiden, als auch mit Polar-/Kreiskoordinatensystemen. Mit Hilfe eines polständigen Koordinatensystems erläutert Alberti in Descriptio urbis Romae (vermutlich zwischen 1443 und 1446)22 ein Verfahren, diskrete Elemente (Punkte) »innerhalb des räumlichen Gefüges der Stadt Rom zu übertragen bzw. zu adressieren«23 und damit in Form eines maßstabsgetreuen Orientierungsplans (vgl. Abb. 2) übertragbar zu machen.24 Dazu »baute er ein diskusförmiges Messinstrument und brachte es auf den Kapitolinischen Hügel, der genau das Zentrum der Karte bilden sollte.«25

21 | Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, S. 85ff. 22 | Vgl. Ulrich Pfisterer: »Leon Battista Alberti: De Statua. Zu Oskar Bätschmanns und Christoph Schäublins Neuausgabe von Albertis kleineren kunsttheoretischen Schriften«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 66 (2003), S. 533-545, hier S. 535. 23 | Annett Zinsmeister: »Analogien im Digitalen. Raumdarstellung zwischen Messen und Zählen«, in: Angela Lammert (Hg.): Räume der Zeichnung [Akademie der Künste Berlin], Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2007, S. 258-267, hier S. 260. 24 | Vgl. Leon Battista Alberti: »Descriptio vrbis Romae«, in: Mario Carpo/ Francesco Furlan (Hg.): Leon Battista Alberti’s Delineation of the City of Rome (Descriptio vrbis Romae), übers. v. Peter Hicks, Tempe, AZ: Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies 2007, S. 77-87. 25 | Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, S. 105. Es ist schwer vorstellbar, dass Albertis ›Programm‹ nicht unter der Annahme entwickelt wurde, zumindest theoretisch von jedwedem Punkt aus durchgeführt zu werden. Vgl. hierzu Branko Mitrovi ć: »Leon Battista Alberti and the Homogeneity of Space«, in: Journal of the Society of Architectural Historians 63 (2004), S. 424-440, hier S. 432.

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Abbildung 2: Plan der Stadt Rom aus dem 15. Jahrhundert, hg. von Giovanni Orlandi (1968). Stadtmauer und Tiber kartiert nach Albertis »Descriptio urbis Romae« (schwarz) und nach dem tatsächlichen Verlauf (grau)

Abbildung 3: Radius nach Albertis »Descriptio urbis Romae« als Rekonstruktion der Ecole d’Architecture Grenoble

Auf der von ihm entworfenen Scheibe waren nummerierte Radien eingezeichnet, die als Meridiane dienten und so angeordnet wurden, dass der Nullgrad nach Norden zeigte.26 Neben dem skalierten Rad 26 | Vgl. Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, S. 105.

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(von ihm horizon genannt) war das Instrument noch mit einem Lineal (von ihm als radius bezeichnet) ausgestattet, das in der Radmitte befestigt war und mit dem man den Abstand von einem festgelegten Orientierungspunkt zum Kreismittelpunkt ermitteln konnte (vgl. Abb. 3). Auf diese Weise konnte jeder Orientierungspunkt einer Koordinate zugewiesen werden. Da hierdurch räumliche Objekte in diskrete Zeichen (Zahlen) übersetzt wurden, wird Albertis Verfahren auch von Mario Carpo und Annett Zinsmeister als Geburtsstunde der digitalen Darstellungstechnik bezeichnet.27 Carpo und Zinsmeister heben dabei allerdings nicht auf Albertis geodätische Praktik ab, wie sie in dem Ex ludis rerum mathematicarum oder auch Ludi rerum mathematicarum (Mathematische Spiele) genannten Traktat ausführlich beschrieben wurde, sondern auf sein Abbildverfahren. Demnach erfand Alberti die ›Digitaltechnik‹ vor allem deshalb, um keine handgezeichneten Kopien des Römischen Stadtplans anfertigen zu müssen28 und somit, um »im Kampf um syntaktische Genauigkeit jedwede Gefahr semantischer Bildhaftigkeit«29 zu tilgen. Doch wenn Alberti als Referenz für die Antizipation von Digitalisierungsverfahren dienen kann, dann vor allem deshalb, weil sich bei Alberti vermutlich erstmals zwei grundlegende Prinzipien digitaler Technologien belegen lassen: Hardware- und Software-Probleme.

A USGANGSPROBLEM Zunächst zu seinem Hardware-Problem: »Albertis Drama und ein Grund seines Misserfolges besteht darin, dass er schon zu seiner Zeit moderne Bilder zu entwerfen und sie bis zu einem gewissen Grad sogar zu erzeugen vermochte, sie aber nicht reproduzieren konnte. Albertis Bilder sind häufig als Träger von präzisen quantitativen Informationen konzipiert, die messbare Daten aufnehmen sollen, die man anwenden und nach denen man sich richten kann. Aber 27 | Vgl. Annett Zinsmeister: Analogien im Digitalen, S. 261. 28 | Vgl. Mario Carpo: »Aufstieg und Fall der identischen Reproduzierbarkeit. Zu Leon Battista Albertis unzeitgemäßer Entdeckung digitaler Technologien in der Frührenaissance«, in: Daniel Gethmann/Susanne Hauser (Hg.), Kulturtechnik Entwerfen. Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science, Bielefeld: transcript 2009, S. 49-63, hier S. 54f. 29 | Annett Zinsmeister: Analogien im Digitalen, S. 262.

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diese nützliche Präzision, die Alberti einer Originalzeichnung einzuschreiben vermochte, konnte auf keine brauchbare Weise übermittelt werden und wäre beim Kopieren verloren gegangen. Alberti konnte Malen und Zeichnen als das Lesen von Spuren konzipieren, die von den Sehstrahlen auf einer Bildoberfläche im Querschnitt der Sehpyramide hinterlassen wurden. Aber wenn diese Spuren durch mechanische oder geometrische Verfahren einmal erfasst und aufgezeichnet waren, besaß Alberti so gut wie keine Möglichkeit mehr, um sie zu reproduzieren […].«30 Dies ist insofern erstaunlich, als ihm die Drucktechniken jener Zeit wie Holschnitt und Kupferstich wohlbekannt waren. So entwickelte Alberti zwar einen Analog-Digital-Wandler, versäumte es aber, einen Digital-Analog-Wandler zu entwerfen, der seine Erfindung hätte gebrauchsfähig werden lassen. Alberti blieb damit in der Entwicklung seiner ›Digitaltechnologie‹ scheinbar auf halbem Weg stehen. »Aber das Fehlen hinreichender Prozessoren war nicht der einzige Grund für Albertis Scheitern: Denn wie wir heute wissen, sind die Algorithmen, die Alberti für die identische Reproduktion des Stadtbildes einsetzte, in Wirklichkeit geeigneter, um Mutationen der Reproduktion des Gleichen zu erzeugen, also kontrollierte Variationen derselben allgemeinen Matrix oder Funktion.«31 Die Kultur der algorithmisch kontrollierten digitalen Variation war noch weit außerhalb von Albertis Vorstellung. Insofern sei seine ›Software‹, so Carpo, vielmehr ein Vorgriff auf das Zeitalter des mechanisch reproduzierten Identischen als des Digitalen, wie man pauschal betrachtet vermuten könnte. Doch dass Alberti seine ›Digitaltechnologie‹ nicht zu Ende dekliniert habe, greift nicht in jeder Hinsicht. Vielleicht war Alberti seiner Zeit auch so weit voraus, dass er bereits die Nichtnotwendigkeit erkannte, die Transformation von Daten in Zeichen auf einem ›Bildträger‹ zu fixieren. Denn seine Methode erlaubt es nicht nur, dass »jeder beliebige mit mittelmäßiger Begabung« (»quivis vel mediocri ingenio praeditus«32) die Skalierung der Karte ändern konnte, sondern auch die Karte jederzeit mit neuen ›Sehenswürdigkeiten‹ zu er-

30 | Mario Carpo: Aufstieg und Fall der identischen Reproduzierbarkeit, S. 60. 31 | Ebd., S. 61. 32 | Leon Battista Alberti: Descriptio urbis Romae, S. 77.

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weitern.33 Es handelt sich bei der von ihm entworfenen ›Software‹ schließlich um eine Anleitung zur Schaffung eines Kartenhybrids, der »die zukünftigen Möglichkeiten einer auf Messung beruhenden Kartographie«34 inkludiert. Abbildung 4: Skizze aus den Mathematischen Spielen

Unklar ist hingegen, ob das von Alberti beschriebene Verfahren eine vorherige Vermessung, etwa durch Peilung und Triangulation wie in Albertis Ex ludis rerum mathematicarum beschrieben (vgl. Abb. 4), voraussetzt oder ob es sich beim horizon zugleich um ein geodätisches wie kartographisches Instrument handelt. Da De statua, Descriptio urbis Romae und Ex ludis rerum mathematicarum etwa im gleichen Zeitraum zwischen 1443 und 1450 geschrieben wurden,35 liegt es nahe, diese Schriften daher in ihrer Wechselwirkung zu beleuchten. So wird insbesondere im Vergleich von De statua (Über das Standbild) 33 | Vgl. Mario Carpo/Francesco Furlan: »Introduction: The Reproducibility and Transmission of the Technico-Scientific Illustrations in the Work of Alberti and in His Sources«, in: Dies.: Leon Battista Alberti’s Delineation of the City of Rome (Descriptio urbis Romae), übers. v. Peter Hicks, Tempe, AZ: Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies 2007, S. 1-39, hier S. 25f. 34 | Steffen Bogen/Felix Thürlemann: Rom: Eine Stadt in Karten von der Antike bis heute, Darmstadt: Primus 2009, Kapitel 8: Leon Battista Alberti. Eine Methode der Vermessung. 35 | Vgl. Carpo/Furlan: Introduction, S. 19; Pfisterer: Leon Battista Alberti, S. 538f.

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und Descriptio urbis Romae (Panorama der Stadt Rom) immer wieder darauf abgehoben, dass in beiden Trakten grundsätzlich »dasselbe System«36 Verwendung findet: eine Scheibe mit Gradeinteilung, auf der in der Mitte ein bewegliches Lineal angebracht ist. Beim finitorium genannten Instrument in De statua kommen zusätzlich ›lediglich‹ zwei Lote zum Einsatz (vgl. Abb. 5). Abbildung 5: Finitorium veröffentlicht in: Opuscoli morali di Leon Batista Alberti gentil’huomo firentino, Venezia: Francesco de’Franceschi 1568

Während sich bei Carpo der horizon damit von einem 2-D-Übertragungs- zu einem 3-D-Messinstrument weiterentwickelte (von einem Bildübersetzungsverfahren in Descriptio urbis Romae zu einem Körpertranskribierungstool in De statua),37 wird für Franco Borsi die Vermessung einzelner Punkte im Vergleich der Traktate lediglich von einer Statue auf eine Landschaft ausgedehnt. »This instrument may have been tried out first on the human figure and then used in establishing the city’s planimetry which would have been quite con-

36 | Mario Carpo: Architecture in the Age of Printing: Orality, Writing, Typography, and Printed Images in the History of Architectural Theory, Cambridge, MA: MIT Press 2001, S. 122. 37 | Ebd.

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sistent with Alberti’s concept of the close relationship between man and city.«38 Auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Instrumente deuten darauf hin, dass der horizon in Descriptio urbis Romae und das finitorium in De statua zur Vermessung räumlicher Objekte (Landschaften wie Skulpturen) dienten. So ist der horizon im Panorama der Stadt Rom wie auch in den Mathematischen Spielen in 48 Gradeinheiten unterteilt, während das skalierte Rad in Über das Standbild aus 32 gradi besteht. Diese Differenz wird von Franco Borsi darauf zurückgeführt, dass zur Vermessung einer Landschaft im Gegensatz zu menschlichen Körpern kleinere Gradeinheiten notwendig sind, um die größeren Distanzen exakter erfassen zu können.39 In jedem Fall setzt das von Alberti skizzierte kartographische Verfahren eine Vermessung voraus, die in Descriptio urbis Romae nicht näher beschrieben ist. In den Ludi rerum mathematicarum ist jedoch ein Instrument abgebildet, das Alberti nach eigenem Bekunden bereits zu dem »Zweck einsetzte, ›ein Bild von einem Gelände‹ herzustellen, ›wie ich es tat, als ich mein Porträt von Rom machte‹. Man nehme, schlägt Alberti vor, eine hölzerne Scheibe, deren Rand in 48 gradi und 192 Minuten unterteilt ist und an deren Mittelpunkt ein Senklot befestigt ist. Nun lege man diese fest auf eine ebene Stelle, von der aus viele andere Orte zu sehen sind, etwa ein Turm oder ein Campanile. Mit Hilfe des Senklots bestimme man die Richtung, in der man eine gegebene Struktur, beispielsweise ein Tor, sieht. Dann notiere man die Winkel in einer Tabelle.«40 Auch wenn sich Steffen Bogen und Felix Thürlemann gegen die Gleichsetzung von Kartenreproduktion und Messverfahren in Descriptio urbis Romae aussprechen, konstatieren sie doch, dass der von Alberti entworfene radius an die Alidade erinnert, ein drehbares Lineal mit Visiervorrichtung, das die Rückseite von Astrolabien jener Zeit zierte und zur Messung der Stern-/Sonnenhöhe über dem Horizont diente.41 38 | Franco Borsi: Leon Battista Alberti. Complete Edition, Oxford: Phaidon 1977, S. 304. 39 | Vgl. ebd., S. 307. 40 | Anthony Grafton: Leon Battista Alberti. Baumeister der Renaissance, Berlin: Berlin Verlag 2002, S. 347. Zitat im Zitat aus Albertis Ex ludis rerum mathematicarum. 41 | Vgl. Michael Eissenhauer (Hg.): Der Ptolemäus von Kassel: Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel und die Astronomie (Kataloge der Muse-

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Astrolabien waren bis in die Neuzeit hinein ein beliebtes astronomisches Instrument. Anthony Grafton vergleicht den in Descriptio urbis Romae beschriebenen horizon daher nicht von ungefähr mit einem Astrolabium, das Alberti statt auf den Himmel auf die Erde ausrichtete.42 Dabei wird scheinbar unterschlagen, dass man mit dem horizon und radius nicht peilen konnte und sollte. Aber eine Visierscheibe war vielleicht auch gar nicht notwendig, da der skalierte ›Horizont‹ ja nicht wie ein Astrolabium gen Himmel gerichtet wurde, sondern plan auf der ebenen Fläche eines Turms zu befestigen war.43 Für eine Peilung mit dem Astrolabium waren Absehen bzw. Dioptern, die auf den Alidaden angebracht waren, nicht unbedingt erforderlich. Man konnte auch über den Rand (Limbus) der Astrolabien einen bestimmten Punkt anvisieren und an der oberen Ablesekante der Alidade eine Winkelmessung vornehmen.44 D.h. ein Lotgewicht, wie es bei Quadranten oder auch beim horizon in Albertis Mathematischen Spielen zum Einsatz kam, wäre für eine Landschaftsvermessung nicht notwendig gewesen. Die Astrolabscheiben (sowohl die Ortsscheiben als auch deren Mater) hatten keine Visiervorrichtung, diese etablierte sich erst mit den sechseckigen Astrolabien.45 Bedenkt man zudem, dass auf den Astrolabien auch geographische Tabellen verzeichnet waren, die Städtenamen einer Ortsbreite zuordneten,46 dann kann man zu Recht davon sprechen, dass Alberti seine Instrumente und Methoden mehr oder weniger direkt aus der Welt der Astronomie übernahm.47

umslandschaft Hessen-Kassel 38), Kassel: Museumslandschaft HessenKassel 2007, S. 227. 42 | Anthony Grafton: Leon Battista Alberti, S. 347. 43 | Aus gutem Grund bildet in Decriptio urbis Romae der Turm des Kapitols den Mittelpunkt des Stadtplans (vgl. Abb. 2 und 3). Der Kapitolinische Hügel ist zwar mit 46 m Höhe der kleinste der sieben Hügel Roms; er wird aber von allen Seiten von steilen Abhängen umgeben, so dass von diesem Standpunkt aus viele Landmarken angepeilt werden können. 44 | Vgl. Monika Meyer-Haßfurther/Ingo Meyer-Haßfurther: 500 Jahre Navigation. Navigationsinstrumente vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, Hamburg: Palstek/Heel 2005, S. 135f. 45 | Vgl. Michael Eissenhauer: Der Ptolemäus von Kassel, S. 228. 46 | Vgl. ebd., S. 219. 47 | Vgl. Anthony Grafton: Leon Battista Alberti, S. 351.

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Der horizon konnte sowohl zur Datenerfassung als auch zur Datenreproduktion eingesetzt werden, je nachdem ob dieser mit einem Lineal (radius) oder einem Senklot ausgerüstet war. Mit der gleichen skalierten Scheibe konnten demnach sowohl Daten codiert als auch decodiert werden. »Auch die Bezeichnung der Scheibe als horizon und die Justierung der Nord-Süd-Achse legt nahe, mit ihr im Gelände peilen und messen zu können.«48 Eine Einteilung in Himmelsrichtungen wäre ansonsten auch nicht notwendig gewesen. Man muss also davon ausgehen, dass die in den Mathematischen Spielen beschriebene Scheibe auch im Panorama der Stadt Rom zum Einsatz kam, zumal Alberti die Stellen, die am weitesten vom Kapitol entfernt sind, als auges (Singular aux) bezeichnet – also mit einem astronomischen Fachbegriff, der eigentlich den am weitesten von der Erde entfernten Punkt eines Planeten bezeichnet. Hieran erkennt man, dass Alberti sich nicht nur geographischen, sondern auch astronomischen Wissens bediente. Die Astronomie diente ihm wohl auch als Vorbild für die von ihm entworfene Polarkreiskarte, denn die Himmelskarten jener Zeit waren in aller Regel ebenfalls rund.49

A USGANGSKREIS Auch wenn Albertis Descriptio urbis Romae ansonsten lediglich ein kreatives Plagiat der kartographischen Methoden Ptolemäus’ darstellt,50 so ist die Kreisform seines Koordinatensystems originell.51 Die Tatsache, dass die verzeichneten Gebäude lediglich durch einen dimensionslosen Punkt lokalisiert werden,52 deutet zudem auf eine andere als nur politisch-motivierte Funktionsweise hin.

48 | Bogen/Thürlemann: Rom, Kapitel 8. 49 | Vgl. Anthony Grafton: Leon Battista Alberti, S. 353f. 50 | Mario Carpo: Architecture in the Age of Printing, S. 122f. 51 | Vgl. Bogen/Thürlemann: Rom, Kapitel 8. 52 | John A. Pinto: »Origins and Development of the Ichnographic City Plan«, in: Journal of the Society of Architectural Historians 35, 1 (1976), S. 35-50, hier S. 38.

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Koordinatenangaben sind nicht nur ein Stellenname, sondern auch eine Wegbeschreibung.53 So ist beispielsweise 50° 53' nördliche Breite, 8° 1' östliche Länge (für Siegen) die Anweisung, vom Ursprung des Koordinatensystems zuerst 50° 53' nach Norden und danach 8° 1' in östliche Richtung zu gehen. Dazu muss man den Ursprung des Koordinatensystems vorab schon kennen und vor allem vorab schon dort sein, um dann – vom Nullpunkt ausgehend – die genannte Stelle finden zu können. Während sich dies bei Kartesischen Koordinatensystemen offensichtlich als ein Problem erweist, hat Alberti hierfür eine Lösung gefunden: In seinem Kreiskoordinatensystem wird der Ursprung des Systems immer mitgeführt. Es hat die Koordinate 0° 0', 0° 0'. Dank Alberti kann man nicht nur jede Stelle im Umkreis benennen, ohne sie mit dem Finger auf einer Karte zeigen zu müssen und somit zugleich anwesend zu sein, man kann sein eigenes lokales Wissen mobilisieren. Damit schlägt Alberti nicht nur eine Brücke von der räumlich-ausgedehnten zur symbolisch-gedachten Welt, in deren Mitte das Kapitol das »Sinnbild einer zentral kontrollierten civitas«54 darstellt; er ist zugleich der ›Urheber‹ des Gründungsmythos jedweder landgestützten navigatorischen Praxis und Orientierung. Im Navigationssystem wie auch in Albertis kartographischer Anleitung bin ich immer im Bilde. Während bei James Bonds Navigationssystem der Zielpunkt über den kreisrunden Bildschirm wandert und durch die Verfolgung eines bewegten Peilsenders in die Mitte des ›Visiers‹ gebracht werden will (vgl. Abb. 6), orientiert sich Albertis ›Navigationssystem‹ schon immer auf mich als Medienprosumer. Wie bei heutigen Navis – so auch der Titel eines anderen, bis heute verschollenen Traktats des Renaissancegelehrten55 – bleibt der IchPunkt beharrlich in der Mitte des Displays. Albertis »mobile Egozentrik«56 sagt zwar nicht »Ich bin hier«, doch aber »Von hier aus bin ich geschaffen worden«. Auf diese Weise transportiert Alberti immer ein Tracking des Medienkonstrukteurs zum Zeitpunkt der Software-Programmierung mit sich.

53 | Vgl. Manfred Sommer: Suchen und Finden. Lebensweltliche Formen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 291ff. 54 | Bogen/Thürlemann: Rom, Kapitel 8. 55 | Vgl. Ulrich Pfisterer: Leon Battista Alberti, S. 538. 56 | Manfred Sommer: Suchen und Finden, S. 382f.

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Abbildung 6: Screenshot aus James Bond 007 – Goldfinger (USA 1964)

Kreisrunde Karten dienten von jeher schon immer zur »Orientierung in der Welt, und die fällt den Menschen leichter, wenn sie von ihrem eigenen Standort im Zentrum der Karte mit dem Finger oder den Blicken durch die Welt wandern«.57 Neu bei Alberti ist allerdings die Fokussierung auf die Mobilisierung lokalen Wissens, visualisiert durch einen zumindest theoretisch möglichen Rundumblick von einem erhöhten Standpunkt aus. Dadurch nimmt seine Karte den Charakter einer Wegskizze an, in der eine großräumige Orientierung auch irrelevant erscheint.58 Während das Kartesische Koordinatensystem lediglich eine geometrische Formenwelt mit einer arithmetischen Zahlenwelt verknüpft,59 gelingt es Alberti durch die Verwendung eines Kreiskoordinatensystems auch die leibliche Erfahrungswelt in seine Konstruktion einfließen zu lassen. Indem das von ihm entworfene Medium bzw. seine Anleitung zum Entwurf eines Mediums eine leibliche Erfahrung vermittelt, geht es damit sogar über die heutigen Navigationssysteme hinaus, bei denen ich meiner Position nur dadurch bewusst werde, indem ein Medium seine Position feststellt. Seit Alberti bergen die Koordinatenangaben nicht nur Bezeichnungen in sich, die uns als lokalisierbare individuelle Medienrezi57 | Ute Schneider: »Zentrierte Welten«, in: du 762 (2005) – Weltkarten. Eine Vermessenheit, S. 60-63, hier S. 63. 58 | Vgl. Manfred Sommer: Suchen und Finden, S. 384. 59 | Vgl. ebd., S. 290f.

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pienten ausweisen, sondern uns auch als Konstrukteure der eigenen Medienpraxis konzipieren. Das Wegweisende an Alberti ist, dass er den Medienentwurf von der Medienproduktion entkoppelt und damit eine Differenzierung etabliert hat, die bis in die heutigen MashupPraktiken mit Google Maps oder Google Earth ihre Fortsetzung findet.

L ITER ATUR Abrams, Janet/Hall, Peter: Else/Where: Mapping. New Cartographies of Networks and Territories, Minneapolis, MN: University of Minnesota Press 2006. Alberti, Leon Battista: »Descriptio vrbis Romae«, in: Carpo, Mario/ Furlan, Francesco (Hg.), Leon Battista Alberti’s Delineation of the City of Rome (Descriptio vrbis Romae), übers. v. Peter Hicks, Tempe, AZ: Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies 2007, S. 77-87. Avanessian, Armen/Hofmann, Frank (Hg.): Raum in den Künsten. Konstruktion – Bewegung – Politik, München: Fink 2010. Bagrow, Leo/Skelton, Raleigh: Meister der Kartographie, 4. Aufl. Berlin: Safari-Verlag 1973. Barber, Peter: Das Buch der Karten. Meilensteine der Kartografie aus drei Jahrtausenden, Darmstadt: Primus 2006. Bartoli, Cosimo (Hg.): Opuscoli morali di Leon Batista Alberti gentil’huomo firentino, Venezia: Francesco de’Franceschi 1568. Berggren, J. Lennart/Jones, Alexander: Ptolemy’s Geography: An Annotated Translation of the Theoretical Chapters, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2000. Bogen, Steffen/Thürlemann, Felix: Rom: Eine Stadt in Karten von der Antike bis heute, Darmstadt: Primus 2009. Borsi, Franco: Leon Battista Alberti. Complete Edition, Oxford: Phaidon 1977. Carpo, Mario: Architecture in the Age of Printing: Orality, Writing, Typography, and Printed Images in the History of Architectural Theory, Cambridge, MA: MIT Press 2001. Carpo, Mario: »Aufstieg und Fall der identischen Reproduzierbarkeit. Zu Leon Battista Albertis unzeitgemäßer Entdeckung digitaler Technologien in der Frührenaissance«, in: Gethmann, Daniel/ Hauser, Susanne (Hg.), Kulturtechnik Entwerfen. Praktiken, Kon-

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A BBILDUNGEN Abb. 1: www.orbitals.com/dcp/dcp80sp.htm (1 Juli 2009). Abb. 2: Mario Carpo/Francesco Furlan: Leon Battista Alberti’s Delineation of the City of Rome (Descriptio vrbis Romae), übers. v. Peter Hicks, Tempe, AZ: Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies 2007, figure 5. Abb. 3: Bruno Queysanne: Alberti et Raphael. Descriptio urbis Romae ou comment faire le portrait de Rome, Paris: Éditions de la Villette 2002, S. 17. Abb. 4: Bruno Queysanne: Alberti et Raphael, S. 39. Abb. 5: Carpo/Furlan: Introduction, S. 34. Abb. 6: Screenshot aus James Bond 007 – Goldfinger (USA 1964).

Was ist Raum um 1300? Zum ›festen‹ Mutterhaus Giottos Karin Leonhard

Abbildung 1a + b: Giotto, Verkündigung an Anna; Geburt der Maria, 1305/06; Padua, Arenakapelle

D AS M UT TERHAUS DER M ARIA »Sehen wir uns das Mutterhaus der Maria näher an. Als erste Beobachtung ist festzuhalten, dass es in beiden Fresken als dieselbe Architektur erscheint. Schon das ist auffällig. Aus der mittelalterlichen Malerei ist mir, mit Ausnahme eines einzigen Beispiels, kein anderes Werk bekannt, das zur Visualisierung desselben Handlungsorts die architektonische Kulisse detailgetreu wiederholt. Ab 1300 wird dies

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die Norm.«1 So konstatierte Wolfgang Kemp den anschaulichen Befund eines festen Mutterhauses Giottos in den beiden Fresken der Verkündigung an Anna und Geburt der Maria in der Arenakapelle in Padua von 1305/06. Seitdem geistert der Satz ein wenig ruhelos durch die Kunstgeschichte, denn was genau ist darin behauptet worden? Wenn im Folgenden versucht werden soll, von ihm ausgehend das ›feste Haus‹ noch einmal zu untersuchen, so geschieht dies, um zu rekonstruieren, welchen Stand innerhalb der abendländischen Raumdiskussion man für die Zeit um 1300 annehmen kann, d.h. innerhalb welcher Paradigmen sich eine Malerei bewegen konnte, die in und mit Räumen handelt, argumentiert und erzählt. Keineswegs soll damit das Phänomen Giotto erklärt sein. Vielmehr sollen Grundfragen und -thesen der mittelalterlichen Debatte herausgearbeitet werden, zwischen denen sich (Bild-)Räume generell aufspannen ließen. Entscheidend wird zum Beispiel, welche Rolle der Raum als Medium in den Konzepten der Philosophen des späten 13. Jahrhunderts jeweils spielte und inwieweit ihre Vorstellungen um 1300 in eine Krise gerieten. Dabei soll sogleich festgestellt werden, dass der Paradigmenwechsel nicht nur ein raumphilosophischer oder physikalischer war, sondern eng verbunden mit einer ökonomisch-sozialen Strukturveränderung der bürgerlichen Stadtkultur. Die Veränderungen waren zu großen Teilen an den neu gegründeten Franziskanerorden gebunden und bewirkten, wie zu zeigen sein wird, ebenso eine Revision wie Dynamisierung der scholastischen Raum- und Werttheorie.2 Denn um 1 | Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München: Verlag C.H. Beck 1996, S. 18. 2 | Dabei wird keine franziskanische Kunsttheorie oder ›Weltanschauung‹ anvisiert. Belting hatte gemeint, dass es sich Thode »leichtgemacht [hat], als er seinerseits die Kunst der Franzlegende auf den Begriff einer franziskanischen Weltanschauung brachte. Wollte man an dieser Position festhalten, so müsste man sich dazu entschließen, das Zeitalter insgesamt als ein franziskanisches zu verstehen und hätte damit doch nicht mehr gewonnen als eine Leerformel, die nicht einmal einer geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise genügen könnte. Außerdem setzt die ›franziskanische Erklärung‹ die Existenz einer genuin franziskanischen Kunst voraus, und die müsste ihrerseits erst bewiesen werden.« (Hans Belting: Die Oberkirche von San Francesco in Assisi: Ihre Dekoration als Aufgabe und die Genese einer neuen Wandmalerei, Berlin: Mann, 1977, S. 14f.; Henry Thode: Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien, Berlin: G.

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1300 wird man sich entschließen, den Raum nicht mehr vorrangig als Medium aufzufassen, sondern den darin befindlichen Körpern eigene Kräfte zuzugestehen.

R AUM ALS A MME Aristoteles’ Organon war zwar der Standardtext in der Logik, aber erst in der Mitte des 12. Jahrhunderts verdrängte seine Physik den Timaios des Platon, der in der Spätantike in Italien und dann wieder bis 1255 an der Pariser Universität als Lehrbuch in den Disziplinen Kosmologie, Physik, Mathematik und Optik diente und der bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts der einzige dem Mittelalter bekannte platonische Dialog war.3 Platons Timaios können wir als Initialtext der frühen Raumdebatten nehmen, auch wenn er in der weit verbreiteten lateinischen Übersetzung des Chalcidius zunächst nur unvollständig überliefert war.4 Doch es war Platon, der die Frage Grote 1885). Dieser Beitrag versucht dagegen, eine Raumdiskussion des späten 13. Jahrhunderts zu rekonstruieren, an der u.a. die Philosophen des franziskanischen Ordens aktiv teilgenommen haben und die zu einer Revision des aristotelischen Topos- und Dynamikbegriffs führte. 3 | Vgl. Detlef Thiel: »Chóra, locus, materia. Die Rezeption des platonischen Timaios (48a-53c) durch Nikolaus von Kues«, in: Jan A. Aertsen/Andreas Speer (Hg.), Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter. Miscellanea Mediaevalia 25, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1998, S. 52-73, hier: S. 56; Raymond Klibansky: The Continuity of the Platonic Tradition during the Middle Ages. Outlines of a Corpus Platonicum Medii Aevi, London: The Warburg Institute 1939, 1950, London, München: Kraus International Publications 1981, S. 62; Thomas Leinkauf/Carlos Steel (Hg.): Platons Timaios als Grundtext der Kosmologie in Spätantike, Mittelalter und Renaissance, Leuven UP 2005; Thomas Leinkauf: »Aspekte und Perspektiven der Rezeption des Timaios in Renaissance und Früher Neuzeit«, in: Ders.: Timaios als Grundtext, S. 363-385. 4 | Die lateinische Paraphrasen-Übersetzung des Neuplatonikers Chalcidius (4./5. Jh.) bricht nach 53d ab, ist also nur bis etwa zur Mitte des Timaios erhalten; der medizinische Teil des Werkes und die dahin überleitende Elemente- und Sinneslehre fehlt. Die astronomische und physikalische erste Hälfte war (neben Zitatstellen zur Unsterblichkeit der Seele aus dem Phaidros bei Cicero) der einzige unmittelbare Platontext der Scholastik des

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nach dem richtigen Raumbegriff erstmals aufwarf, die in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte und der Bildenden Künste nicht mehr verstummen sollte. Es ist immer wieder darauf hingewiesen worden, wie er seine Formulierung des Raumes (chóra) bewusst offen und unentschieden gelassen hat, um »begreiflich zu machen bzw. zu zeigen, inwieweit das unbegriffen bleiben muss – worin etwas entsteht«5 , während Aristoteles in seiner Physik (212a 20ff.) zu einer sehr viel eindeutigeren Bestimmung des Raumes als hýle und tópos überging und damit den von Platon versuchten Begriff nicht mehr weiterentwickelte.6 Auf die Umdeutungen und Akzentverlagerungen bei Aristoteles und den lateinischen Übersetzern komme ich später noch einmal zurück; sie sind entscheidend für das Verständnis der vielschichtig gewordenen Diskussion des späten 13. Jahrhunderts. Für den Moment sei nur festgehalten, dass, so unterschiedlich ihre Konzepte auch waren, für Platon und Aristoteles gleichermaßen feststand, dass der Raum ein Medium ist. Für Platon war er sogar das »Aufnehmende alles Werdens« (genéseos hypodoché) wie eine »Amme« (hoîon tithéne) (48e-49a); für Aristoteles der notwendige aktive Mittler für jede Form von Bewegung. Platons Kritik an den Atomisten war gewesen, dass eine Rückführung auf die vier Elemente und dann noch einmal auf die Bausteine der einzelnen Atome bereits genügen sollte, um die Entstehung und Zusammensetzung der materiellen Welt zu erklären. Für Platon sind die göttlichen Ideen das Seiende, und die vier Elemente, zusammengesetzt aus Atomen, sind allenfalls Abbilder dieser Ideen im Raum. Aus diesem Grund bleibt es bei Platon auch unentschieden, auf welche Weise wir uns den Raum zu denken haben: zum Früh- und Hochmittelalters. Siehe auch J.C.M. van Winden: Calcidius on Matter. His Doctrine and Sources; a Chapter in the History of Platonism, Leiden, Bosten: E.J. Brill Publisher 1959; Stephen Gersh: Middle Platonism and Neoplatonism: The Latin Tradition, Publications in Medieval Studies 23, Paris: University of Notre Dame Press 1986, S. 421-492. 5 | D. Thiel: Rezeption, S. 59. Zur »unbestimmten Bestimmung« des Raumes bei Platon siehe v.a. Tim. 51a-b. 6 | So z.B. Wolfgang Breidert: »Raum«, in: Lexikon des Mittelalters, München/Zürich: Artemis 1995, Bd. 7, S. 478ff. Vgl. Aristoteles, Physik 212a 20ff., wo der Begriff des Ortes eines Körpers als die erste unbewegte Grenze des Umfassenden eingeführt wird.

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einen als geometrische Quantität, wie ihn schon die Atomisten verstanden hatten, zum anderen als biologische Entität, die den Raum in »das Aufnehmende alles Werdens« verwandelte, in ein gleichsam wie eine neutrale Prägemasse operierendes receptaculum. In der gedanklichen Verschränkung einer geometrischen Ausdehnung und Struktur des Raumes und dessen gleichzeitiger Füllung (nicht aber Gleichsetzung7) mit einer den Sinnen zugänglichen prima materia, aus der die gegenständliche Welt geboren und geformt wird, bereitete aber die Raumdefinition Platons schon seinen Schülern Schwierigkeiten.8 Zu Anfang des Timaios, an dem die Kosmogonie erläutert wird, tritt ein Demiurg auf den Plan, der im Laufe der Beschreibung verschiedene Beinamen erhält – er ist Schöpfer, Macher, Vater, Erzeuger, der Zusammenfügende, vor allem aber ein poiétes, d.h. ein Nachbildner. Letztendlich ist keine kohärente Deutung des Demiurgen möglich, weil er auf verschiedenen Ebenen eingeführt wird und damit auch verschiedene Funktionen ausübt. Wichtig ist festzuhal7 | Platon hat hier unterscheiden wollen, vgl. Tim. 51a-b: »Demnach wollen wir die Amme und Aufnehmende alles gewordenen Sichtbaren und durchaus sinnlich Wahrnehmbaren weder Erde, noch Luft, noch Feuer noch Wasser nennen, noch mit dem Namen dessen, was aus diesen und woraus diese entstanden; sondern wenn wir behaupten, es sei ein unsichtbares, gestaltloses, allempfängliches Wesen, auf irgendeine höchst unzugängliche Weise am Denkbaren teilnehmend und äußerst schwierig zu erfassen, so werden wir keine irrige Behauptung aussprechen.« Die Unterscheidung zwischen Raum und Materie wird jedoch bereits von Aristoteles verunklärt und in den mittelalterlichen Kommentaren aufgehoben. 8 | Zur Verschränkung der biologisch-prokreativen und mathematischquantitativen Raumkonzeption in Platos Timaios vgl. Kyung Jik Lee: Platons Raumbegriff, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001; Thomas S. Hall: »The Biology of the Timaeus in Historical Perspective«, in: Arion 4 (1965), S. 109-122; zur Kosmologie und Raumtheorie Platons allgemein: Karen Gloy: Studien zur platonischen Naturphilosophie im Timaios, Würzburg: Königshausen & Neumann 1986; Jairo Escobar Moncada: Chora und Chronos. Logos und Ananke in der Elementenlehre von Platons ›Timaios‹, Wuppertal: Deimling 1994; Giovanni Reale: »Platons protologische Begründung des Kosmos«, in: Enno Rudolph (Hg.), Polis und Kosmos. Naturphilosophie und Politische Philosophie bei Plato, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996.

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ten, dass die Vielzahl der Namen, die Platons Demiurg erhält, auf zwei grundsätzliche Konzeptionen der Welterschaffung rückführbar ist. Zum einen ist der Demiurg der Vater der Welt, ihr biologischer Erzeuger, und die Welt erscheint als »beseeltes und in Wahrheit und Vernunft begabtes Lebewesen« (30c); ein anderes Mal tritt er als Geometer und Baumeister auf, und seine Arbeit gleicht einer handwerklich-kunstvollen Tätigkeit (der Demiurg als theós aisthetós) – der Kosmos wird als eine Art Gerüst dargestellt, das nach einem vorab existierenden Plan gebaut werden muss. Beide Konzeptionen werden von Platon ohne gegenseitige Ableitung nebeneinandergestellt (32d-39e). Der Demiurg stellt nach dem Modell der Ideen im Raum (als Medium der Herstellung) die sinnlichen Dinge her. Deswegen taucht an mehreren Stellen im Timaios das Wort mímesis auf. Der Demiurg betreibt mímesis, weil er die Ideen sinnlich nachbildet – die Welt, so lautet ein Satz, ist ein »nach einem Vorbild geschaffenes Abbild« (29b), ebenso wie die bewegte Zeit ein Abbild der unbewegten Ewigkeit darstellt (37d). Die Bilder der Ideen werden in den Raum der Welt gestempelt und gliedern diesen, wie es in einer aufschlussreichen und für die mittelalterliche Rezeption entscheidenden Stelle heißt. Es entsteht eine Ordnung (táxis), an der die gesamte sinnliche Welt teilhat. Ontologisch verbleibt diese jedoch in der Region der Erscheinungen (phántasmata), unabhängig davon, ob wir uns das Sein mit mathematischen oder mit biologischen Modellen zurechtlegen. Genau in der Mitte des Textes lässt Platon den Timaios drei Gattungen des Seins unterscheiden:9 Neben der ersten Gattung des »Woher des Werdenden« und der zweiten des »Werdenden« selbst führt er jene dunkle dritte Gattung des »Worin des Werdenden« ein, die er als chóra, den Raum, bezeichnet. Sie vermittelt zwischen dem »denkbaren (noëtón) und stets in derselben Weise seienden Wesen«10 des Vorbilds und seinem Abbild wie eine Kindswärterin zwischen dem Vater und seinem Sohn, den sie ernährt und aufzieht.11 Die dritte 9 | Vgl. dazu Thiel: Rezeption, S. 58. 10 | Timaios 29b. 11 | Timaios 50d-51b: »Im Augenblick müssen wir uns drei Gattungen denken: das Werdende, das, worin es wird, und das, woher nachgebildet das Werdende geboren wird. Und wirklich kann man auch in angemessener

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Gattung des Raumes wird für Platon zur entscheidenden Kategorie, um die göttlichen Urbilder ins sinnliche Abbild übertragen zu können. Der Raum ist das Medium oder, wie es eben ganz explizit heißt, »das Aufnehmende und die Amme des Werdens«12 . Platon schreibt an einer Stelle, das Werden sei ein Sprössling, dessen Vater die Idee und dessen Mutter der Raum ist (50d). Der Raum ermöglicht es, dass die vier Elemente, die sich ständig mischen müssen, ineinander übergehen und sich verwandeln können (im Raum ist also gleichzeitig die Zeit), obwohl er selbst unvergänglich ist. Vielmehr gewähre er allem Werdenden eine Stätte oder Stelle (hédra, 52ab); in der lateinischen Übersetzung werden diese bezeichnenderweise zu sedes.13 In seiner Fähigkeit, alle Körper in sich aufzunehmen, gleiche der Raum einer neutralen Prägemasse wie z.B. einer Salbe, die als Grundsubstanz geruchlos sein müsse, oder dem Gold, aus dem sich zahllose Figuren (schémata) bilden ließen und das immer wieder eingeschmolzen und neu geformt werden könne (50b). Die große »Aufnehmerin« erscheine zwar durch das Eintretende immer wieder anders, aber sie bleibe stets dieselbe und gehe aus ihrem eigenen Wesen nicht heraus. Ganz im Gegenteil sei offensichtlich, dass das räumliche Medium »gestaltlos aller der Formen entbehrt, welche es in sich aufzunehmen bestimmt ist. (…). Wer es unternimmt, in etwas Weichem Gestalten zu formen, der lässt durchaus keine Gestalt sichtbar bleiben, sondern ebnet vorher den Stoff bis zur möglichsten

Weise das Aufnehmende der Mutter, das Woher dem Vater, die zwischen diesen liegende Natur aber dem Geborenen vergleichen und erkennen, dass, da es ein Gepräge werden sollte, in welchem eine bunte Mannigfaltigkeit zu sehen wäre, eben dasjenige, worin herausgeprägt es hineintritt, wohl in keiner anderen Weise dazu wohl vorbereitet sein dürfte, als wenn es gestaltlos aller der Formen entbehrt, welche es in sich aufzunehmen bestimmt ist.« 12 | Timaios, 51a. 13 | Vgl. Anm. 4. Durch die lat. Übersetzung in sedes gewinnen die Raumstellen eine Anschaulichkeit, die dem platonischen Begriff fremd gewesen war.

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Glätte.«14 Als solche biete es »die absolute Möglichkeit zu allem und [sei] nichts von allem wirklich.«15 Die zweierlei Konzepte der platonischen Raumtheorie finden wir in einigen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Illustrationen zur Kosmogonie wieder. Noch Keplers berühmte Darstellung der in Himmelssphären eingeschriebenen platonischen Körper in seinem Mysterium Cosmographicum baut sowohl auf den Vorstellungen des Kosmos als geometrisches Gerüst wie als weibliche Gebärmutter auf.16 An dieser Stelle ist es jedoch nur wichtig darauf hinzuweisen, dass Zeugungslegenden und Geburtsmetaphern, bei denen es um Väter, Mütter, Nachkommen und ernährende Ammen im Sinne einer kreativen Genealogie geht, Platons Dialog durchwegs durchziehen. Der Raum als dritte, vermittelnde Gattung zwischen göttlicher Idee und sinnlichem Bild ist bei ihm sowohl eine Art Zeugungs- und Geburtsraum wie auch ein geometrischer Raumkasten (genauer: ein »glatt und ebenmäßig und vom Mittelpunkt aus nach allen Richtungen

14 | Timaios 50e. Vgl. auch 50b-c: »Dieselbe Rede gilt nun auch von jener Natur, die alle Körper in sich aufnimmt; diese ist als stets dieselbe zu bezeichnen, denn sie tritt aus ihrem eigenen Wesen durchaus nicht heraus. Nimmt sie doch stets alles in sich auf und hat sich nie und in keiner Weise irgendeinem der Eintretenden ähnlich gestaltet; denn ihrer Natur nach ist sie für alles der Ausprägungsstoff, der durch das Eintretende in Bewegung gesetzt und umgestaltet wird und durch dieses bald so, bald anders erscheint.« 15 | Nikolaus v. Kues, De docta ignorantia II, n. 132, über die Eigenschaften der Materie und die »Platoniker, die die Materie Mangel (carentia) nannten, »da sie aller Form ermangelt«. »Und da sie ermangelt, begehrt sie (appetit). Und dadurch ist sie Eignung (aptitudo), da sie der Notwendigkeit gehorcht, die ihr befiehlt, das heißt sie zum Wirklichsein heranzieht, so wie das Wachs dem Künstler [gehorcht], der aus ihm irgendetwas machen will.« (Thiel: Rezeption, S. 62). Mit einem Abstecher zu Derrida: Detlef Thiel: »Der Ort der ursprünglichen Einschreibung. Anmerkungen zu J. Derridas Arbeiten über Platons chóra«, in: prima philosophia 8 (1995), S. 215-243. 16 | Zu Keplers Platonik siehe u.a. Eric J. Aiton/Alistair M. Duncan/Judith V. Field: Johannes Kepler. The Harmony of the World, Philadelphia: American Philosophical Society 1997.

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gleicher Körper«17), in dem sich sechs Bewegungsrichtungen festlegen lassen.

R AUM ALS »N EST INEINANDERGESCHACHTELTER Ö RTER « Wenn wir an Aristoteles denken, der als Schüler Platons diese Bewegungsrichtungen ebenso kannte, aber sie anders erklären wollte, hat sich der Tenor schon stark geändert. Bei Platon hatte das Medium die Rolle eines permanent stoßenden aktiven Bewegers erhalten,18 und auch bei Aristoteles ist z.B. das Luftmedium bei einem Ballwurf nicht passiv, sondern nimmt eine aktiv zu verstehende Bewegung an, bei der das Medium der werfenden Hand das angrenzende Medium bewegt, und dieses wiederum das nächste Medium anstößt, sprich: den Gegenstand von Ort zu Ort verschiebt. Die Fortbewegungskraft (die eine Reproduktionskraft ist, weil sie ständig erneuert werden muss) sitzt im Medium selbst und ist auf ein vorab bestimmtes Ziel angelegt, wobei die Bewegung während ihrer Dauer schrittweise er-

17 | Timaios 49a; 34b. 18 | Im Timaios (59a; 79abc; 80c) hatte Platon die Bewegung eines Pfeils durch antiperistasis erklärt, d.h. durch die zirkuläre oder wechselseitige Ersetzung einer fehlenden Raumeinheit. Demnach könne ein abgeschossener Pfeil den Raum durchqueren, weil seine Spitze Luft verdränge und diese in einer Zirkelbewegung an das Ende des Pfeils, an die Stelle der dort entstandenen Raumlücke gesogen würde. Dadurch drücke sie wiederum von hinten gegen den Pfeil und treibe ihn voran. Die Erklärung wird mit dem Atmungsvorgang verglichen: »So also: Da es keinen leeren Raum gibt, in welchem etwa ein Bewegtes einzudringen vermöchte, unser Hauch aber von uns nach außen sich bewegt, so ist das, was daraus folgt, jedem einleuchtend, dass er nicht in das Leere dringt, sondern das ihm Nächste aus seiner Stelle verdrängt; dem Verdrängten aber weicht der ihm Nächste, und dieser Notwendigkeit zufolge wird alle Luft im Kreise nach der Stelle, von wo der Hauch kam, getrieben, dringt da ein, erfüllt sie und folgt dem Hauche, und das alles erfolgt zugleich, da es keinen leeren Raum gibt, wie das Umdrehen einer Scheibe« (79b). In seiner Physik kritisiert Aristoteles Platons Bewegungstheorie aus zwei Gründen: Zum einen würde auf diese Weise das Kontinuitätsprinzip verletzt, demzufolge die Ursache der Wirkung vorausgehen müsse, zum anderen wäre die Annahme eines Vakuums unvermeidlich.

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lahmt.19 Der Raum jedenfalls ist für Aristoteles ein Bewegungsmedium, denn ohne ihn kann kein Ortswechsel und damit keine zeitliche Veränderung stattfinden, ohne Raum gäbe es keine Veränderung innerhalb der Welt. Anders als bei Platon gibt es für Aristoteles und dessen qualitativ ausgerichtete Naturphilosophie aber eine Raumtheorie allenfalls als Voraussetzung einer durchdachten Topologie. Das Verhältnis zwischen Materie und Quantität, das Platon so beschäftigt und zu einer biologisch-mathematischen Doppelkonzeption geführt hatte, wird von ihm nicht mehr eigens thematisiert. Ihn interessieren die Orte und Stellungen der Körper weit mehr als die Vorstellung einer räumlichen Ausgedehntheit, die jetzt unter die Akzidentien der körperlichen Substanzen fällt. Für Aristoteles ist der Raum nicht mehr als die Gesamtheit bzw. ein »Nest ineinander geschachtelter Örter«, so dass er den chóra-Begriff seines Lehrers – und damit das ›Worin des Werdens‹ – mit hýle und tópos ersetzen kann.20 Denn was bei Platon 19 | »Beim Wurf wird immer auch dem Medium, das die werfende Hand und das geworfene Ding berührt, eine zugleich passive und aktive Bewegung mitgeteilt. Wenn die werfende Hand aufhört, das Medium zu bewegen, hört zugleich auch das Medium auf, bewegt zu werden. Aber das Ende seines Bewegtwerdens ist nicht notwendig auch das Ende seines Bewegens. Vielmehr ist es in diesem Augenblick noch fähig, ein anderes, angrenzendes Medium zu bewegen, das nun seinerseits bewegt. Im Laufe der Wurfbewegung nähern sich zeitlich das Ende des Bewegtwerdens und das Ende des Bewegens desselben Teils des Mediums mit abnehmender Geschwindigkeit dieses Teils des Mediums, bis diese Zeitpunkte schließlich zusammenfallen und die Gesamtbewegung aller Teile des bewegten Mediums und des geworfenen Dings aufhört.« (Michael Wolff: Geschichte der Impetustheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 21.) Dazu auch: Abel B. Franco: »Avempace, Projectile Motion, and Impetus Theory«, in: Journal of the History of Ideas, vol. 64, no. 4 (Okt. 2003), S. 521-546; Stillman Drake: »Impetus Theory Reappraised«, in: Journal of the History of Ideas, vol. 36, no. 1 (Jan.Mar. 1975), S. 27-46. 20 | Die Substanzen streben ihren natürlichen Orten zu. Auf diese Weise wird die gesamte Bewegung der Materie erklärt. Aus Neigung, d.i. dem jeweiligen Hingezogensein der Körper zu verschiedenen qualitativ beschaffenen Orten, differenziere sich die Bewegung der einzelnen Körper (je nachdem ob sie beispielsweise schwer oder leicht, erdhaft oder luftig sind) in sechs vektoriale Ausrichtungen: nach oben und unten, links und rechts, vorne und

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einmal als chóra und prima materia unterschieden und in eine offene, wenngleich dunkle Interaktion gebracht worden war, wird von Aristoteles kurzerhand gleichgesetzt: »Aus diesem Grunde lässt ja auch Platon Stoff und Raum dasselbe sein«21, heißt es an einer berühmten Stelle in der Physik. Dem wird als Korrektur der eigene tópos-Begriff entgegengehalten, der zunächst wie eine Rettung der kategorialen Unabhängigkeit der räumlichen Ausdehnung anmutet: »Denn die Formbestimmung und der Stoff finden sich nicht getrennt von dem Dinge; der Raum aber kann dies. (…) Nämlich es scheint so etwas zu sein der Raum, wie das Gefäß. Denn es ist das Gefäß ein beweglicher Raum; das Gefäß aber ist nichts von dem Dinge.«22 Tatsächlich aber geht die Vorstellung einer reinen Dimensionalität in diesen Zeilen verloren. Die Vision eines unendlichen, von einem Mittelpunkt sich hinten. Der aristotelische Raum ist also ebenfalls (wie der platonische) nach sechs Richtungen differenziert, denen eine symmetrische oder sternförmige Weltordnung unterliegt. In diese Richtungen wandern die Körper durch den Raum, der als solcher von ihm kaum thematisiert wird, sondern ein Raum qualitativ besetzter Örter ist. In seiner Kosmologie unterteilt Aristoteles dann drei Bewegungsarten: 1) die künstliche Bewegung (hervorgerufen durch einen äußeren Beweger), 2) die Selbstbewegung (als Triebzweck oder angestrebter Zweck) und 3) die natürliche Bewegung, die eine Zwischenstellung zwischen 1) und 2) einnimmt und eine Bewegung auf ein bestimmtes, der Natur entsprechendes Ziel meint (z.B. ein Stein, der aufgrund seiner Schwere zu Boden fällt etc.). Ihnen allen liegt ein irreflexiv-intransitiver Bewegungsbegriff zugrunde, vgl. Michael Wolff: Impetustheorie, S. 23. 21 | Aristoteles, Physik, 209b 13-16. »Darum nennt auch Platon Raum und Stoff Dasselbe in dem Timäus. Das Aufnehmende nämlich und der Raum sei Eines und Dasselbe. Auf verschiedene Weise zwar spricht er hier von dem Aufnehmenden, und in den sogenannten ungeschriebenen Lehren, aber dennoch lehrte er allgemein, dass Ort und Raum mit jenem Dasselbe sei. Es behaupten zwar nämlich alle, dass etwas sei der Raum; was er aber sei, hat jener allein unternommen zu erklären. – Natürlich wohl muss, sobald man es hienach betrachtet, schwierig zu sein scheinen, zu erforschen, was der Raum ist; wenn er von diesen beiden eines ist, sei es Stoff, sei es Formbestimmung. Nun aber dass keines von diesen beiden der Raum sein kann, ist nicht schwer zu sehen. (…) Nämlich es scheint so etwas zu sein der Raum, wie das Gefäß. Denn es ist das Gefäß ein beweglicher Raum; das Gefäß aber ist nichts von dem Dinge.« 22 | Ebd.

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gleichmäßig in alle Richtungen erstreckenden Raumes, der Platon vor Augen gestanden haben muss, wird von Aristoteles auf die Vorstellung kleiner Raumeinheiten oder ›Gefäße‹ einer Körperwelt reduziert. Zwar kann und muss man sich die tópoi getrennt von den Dingen – als immobile Platzhalter für die Körperwelt – vorstellen, aber sie sind realiter immer stofflich gefüllt, da es kein Vakuum gibt. Dabei hatte eigentlich gerade Aristoteles Platon vorgeworfen, Ausdehnung und Materie gleichzusetzen. Mit dieser Behauptung, die im 13. Jahrhundert heftige Diskussionen nach sich zog, hat er eine Interpretationslinie aufgemacht, die sich durch die lateinischen Übersetzungen des hýle-Begriffs in materia oder silva schnell verfestigte.23 Die platonische »unbestimmte Bestimmung« des Raumes weicht dem aristotelischen Hylemorphismus oder wird selbst materialistisch umgedeutet, so dass sich die Amme des Werdens, die die wachsenden Formen im Weltraum aufzieht, im Anschluss recht einfach in eine natura lactans oder terra nutrix verwandeln kann. In einer illuminierten Handschrift der Historia naturalis sehen wir beispielsweise die zur Natura gewordene »Amme«, wie sie den wohlgeordneten Kosmos ernährt. »Die Welt und alles das, was man mit einem anderen Wort »Himmel« zu nennen beliebte, in dessen Umfassung jegliches sein Leben führt, betrachtet man zutreffend als ein göttliches Wesen, das ewig ist, unermeßlich, weder erzeugt noch jemals vergehend. (…) Heilig ist diese Welt, ewig, unermeßlich, ganz im Ganzen, vielmehr selbst das Ganze, unbegrenzt und doch einer begrenzten ähnlich, aller Dinge sicher und doch einer unsicheren ähnlich, draußen und drinnen jegliches in sich umfassend, gleicherweise ein Werk der Natur und die Natur selber«24 , lauten die daneben stehenden Eingangszeilen zum zweiten Buch der Historia. Einer zeitgenössischen Beschreibung zufolge stelle die Illustration deshalb 23 | So bei Cicero, der hýle mit materia übersetzt: De nat. deorum III 39, 92; de fin. I 18; Acad. II 118; I 6 und I 24, siehe Wolfgang Detel: »Materie«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, 870ff. Die Übersetzung als silva wiederum geht auf Chalcidius zurück. 24 | »Natura als Amme des Kosmos«, Frontispiz des 2. Buches der Historia naturalis, zwischen 1485-1530 entstanden, Parma, Biblioteca Palatina, MS Inc. Pal. 1158, fol. 15; Roderich König (Hg.): Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde (Naturalis Historiae libri XXXVII), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973ff., Buch 2, S. 14-23.

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»nach antiker Auffassung eine wunderbar schöne sitzende Frau dar, die vor dem Busen eine Weltkugel hält, auf die sie aus ihren Brüsten Milch spritzt.«25 Eine ähnliche Darstellung einer natura lactans findet sich weiterhin in einer griechischen Abschrift der aristotelischen Physik, was gar nicht mehr zu passen scheint.26 Die Ikonographie von Maria lactans schöpft aus demselben Bilderpool, während auch Christus aufgrund seiner inkorporierenden Funktion zuweilen als Hebamme bezeichnet wird.27 »Raum« ist mit »Natur« oder »Materie« gleichgesetzt worden. Innerhalb der Raumdiskussion, und verstärkt seit der gleichzeitigen Lektüre des Timaios und der Physik an den Universitäten ab etwa der Mitte des 12. Jahrhunderts, verflechten sich platonische und aristotelische Motive auf schwer entwirrbare Weise.28 Am unklaren Verhält25 | Das Zitat bezieht sich auf ein verloren gegangenes Titelblatt einer illuminierten Plinius-Ausgabe, die sich im Besitz des Kardinals Johann von Aragon (1456-1485), dem Sohn Ferdinands I., befand. Sie stellte »nach antiker Auffassung eine wunderbar schöne sitzende Frau dar, die vor dem Busen eine Weltkugel hält, auf die sie aus ihren Brüsten Milch spritzt.« (Brief des Pietro Summonte an Marc-Antonio Micchiel vom 20. März 1524, der darin auch den Namen des Malers – Gaspare Romano – erwähnt). Vgl. dazu Hermann Walter: »An illustrated Incunable of Pliny’s Natural History in the Biblioteca Palatina«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Bd. 53, S. 208-216; Wolfgang Kemp: Natura. Ikonographische Studien zur Geschichte und Verbreitung einer Allegorie, Bamberg: Schmacht, 1973, v.a. S. 17-25; Horst Bredekamp: »Kulturtechnik zwischen Mutter und Stiefmutter Natur«, in: Sibylle Krämer/Horst Bredekamp (Hg.): Bild – Schrift – Zahl, München, Paderborn: Fink Verlag 2003, S. 128f. Summontes Brief in: Roberto Pane: Il Rinacimento nell’Italia meridionale, Mailand: Edizioni di Comunità 1975, S. 63-71. Die Illustration in Parma sowie eine zweite in Wien (Anm. 26) beziehen sich auf dieses frühere Beispiel. 26 | »Natura lactans« als Frontispiz zur aristotelischen Physik, Wien, ÖNB MS phil. gr. 2, fol. 1, ca. 1500. Eine Abbildung z.B. in: Karin Leonhard: »Raum als Medium und als Amme«, in: Reflex. Tübinger Beiträge zum Bildwissen, Bd. 2, Hg. von Barbara Lange, URN: http://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:bsz:21-opus-44841. 27 | So in: Domenico Cavalca: Lo Specchio della Croce, Mitte 15. Jahrhundert. 28 | Zur Rezeption der aristotelischen Physik in Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. z.B. Sven Müller: »Naturgemäße Ortsbewegung. Aristoteles’ Physik und ihre Rezeption bis Newton«, Tübingen: Mohr 2006.

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nis zwischen Ausdehnung und Materie entzündete sich dann jene Raumdebatte, die mit der Pariser Verurteilung von 1277 ihren ersten Höhepunkt erreichte. Abbildung 2: Natura als Amme des Kosmos, Frontispiz des 2. Buches der Historia naturalis, zwischen 1485-1530 entstanden, Parma, Biblioteca Palatina, MS Inc. Pal. 1158, fol. 15

D AS R AUM -U RTEIL VON 1277 Aristoteles hatte, anders als Platon, einer Raumtheorie in seiner Physik keinen eigenen Platz zukommen lassen. Umso interessanter ist, dass »die spätere philosophische Tradition bei der Analyse der wahrnehmbaren Substanzen der dreidimensionalen Ausdehnung eine zentrale Rolle zu[weist]. Die wichtigsten Anhaltspunkte für die mittelalterlichen Diskussionen sind die Positionen des Avicenna und des Averroës.«29 Denn seit etwa 1230 waren durch die Übersetzungen des Michael Scotus die Aristoteles-Kommentare des Averroës der 29 | Silvia Donati: »Materie und räumliche Ausdehnung in einigen ungedruckten Physikkommentaren aus der Zeit von etwa 1250 — 1270«, in: Aertsen/Speer (Hg.): Raum, S. 17-51, hier S. 21. Vgl. auch ebd., S. 22: »Als

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lateinischen Welt zugänglich geworden, und mit ihnen eine Form des radikalisierten Aristotelismus, die zu den folgenschweren Pariser Verurteilungen führte. Dazu Folgendes: Ende des 13. Jahrhunderts (1270 und 1277), bei einem Treffen der Doktoren der Sorbonne und unter dem Vorsitz des Pariser Bischofs Étienne Tempier (Stephanus von Orléans), kam es zur Inkrimination einiger als Irrglaube bezeichneter theologischer und philosophischer Lehrsätze. Bekanntlich war den Verurteilungen eine kritische Auseinandersetzung mit den naturphilosophischen und metaphysischen Schriften des Aristoteles vorausgegangen. Diese waren schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Paris und später auch in Toulouse von kirchlichen Autoritäten verboten worden: 1210 auf der Pariser Synode für den Lehrbetrieb an der Artistenfakultät, dem folgte 1215 das Verbot des päpstlichen Legaten sowie 1231 die von Papst Gregor IX. veranlasste Zensur der Physik des Aristoteles.30 1230 folgten wie gesagt die Übersetzungen der Aristoteles-Kommentare des Averroës, die bald schon Kritik hervorriefen. »Gegen 1265 bildete sich eine Opposition um den Franziskanergeneral Bonaventura und einige Professoren der Theologischen Fakultät; 1270 erstellte Aegidius Romanus eine Liste von 95 »Irrlehren der Philosophen«. Zur selben Zeit kursierte an der Theologischen Fakultät eine Liste von fünfzehn Irrtümern; die ersten dreizehn dieser auf Aristoteles bzw. die Aristotelesinterpretation des Averroës zurückgehenden Thesen (u.a. die Ewigkeit der Welt betreffend) verurteilte Tempier am 10. Dezember 1270. Am 18. Januar 1277 richtete Papst Johannes XXI., der in Paris ausgebildete Arzt und Logiker Petrus Hispanus, ein Schreiben an Tempier, in dem er ihn aufforderte, Gerüchten über neuerliche Irrlehren an der Universität Paris nachzugehen. Am 7. März 1277 veröffentlichte Tempier ohne weitere Rücksprache mit dem Papst einen Syllabus von 219 an der Artistenfakultät diskutierten Irrlehren und stellte ihre Verteidigung unter die Strafe der Exkommunikation. Etwa ein Drittel dieser Thesen lassen sich in den Werken der »Averroisten« Siger von

dritte Quelle für die mittelalterlichen Diskussionen stellt neben Avicenna und Averroes Avicebron dar.« 30 | Papst Gregor IX. war ein engagierter Unterstützer des Franziskanerordens und legte 1228 den Grundstein zu San Francesco in Assisi.

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Brabant und Boetius von Dacien nachweisen, die in erster Linie von der Verurteilung betroffen gewesen zu sein scheinen.«31 Was war geschehen? Das Pariser Urteil markiert, wie immer wieder festgestellt worden ist, einen Höhepunkt in den Auseinandersetzungen um die Aneignung griechischer und arabischer Philosophie im lateinischen Westen bzw. der augustinisch-monastischen Theologie mit den philosophischen Strömungen des Hochmittelalters. Auf die Raumdebatte bezogen soll uns jedoch nur interessieren, warum die averroistische, das aristotelische tópos-Konzept radikal übersteigende Annahme einer unbewegten räumlichen Dimensionalität jenseits der Körperwelt für Aufsehen sorgte bzw. dazu beitrug, der Diskussion um das Verhältnis von Ausdehnung und Materie eine neue Richtung zu geben.32 Einiges muss vorausgeschickt werden. Zur Zeit der Pariser Beschlüsse, und nach einem langen Kampf gegen die Autoritäten, hatte sich die Lehre des Aristoteles an der artes-Fakultät weitgehend durchgesetzt. Mitte des 13. Jahrhunderts wurden die aristotelischen Schriften an der Artistenfakultät Grundlage der scholastischen Wissenschaft und am 19. März 1255 als Lehrbücher vorgeschrieben (d.i. seine Logik, Physik, De anima, Metaphysik und Nikomachische Ethik).33 Dies geschah nicht zuletzt aufgrund des verstärkten Interesses der Päpste an der Naturphilosophie. Johannes XXI. (1276-77) war vor seiner Wahl zum Papst ein bedeutender Arzt und Naturwissenschaftler gewesen und hatte ein Traktat zur Augenheilkunde verfasst. Der vor ihm amtierende Clemens IV. (1265-68) residierte als Papst erst gar nicht in Rom, sondern in Viterbo, wo er Naturphilosophen und Perspektivisten wie Witello oder Wilhelm von Moerbeke um sich versam31 | Ausgehend von Aristoteles und Averroës betrachteten Boetius von Dacien und Siger von Brabant die philosophische Vernunfterkenntnis unabhängig von der Theologie. Ihnen standen Heinrich von Gent, die Augustiner oder der Franziskaner Bonaventura mit der Verteidigung der Lehren des Augustinus gegenüber, siehe dazu z.B. Bernd Goebel: »Étienne Tempier«, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, 14 Bände (+ bisher 16 reine Ergänzungsbände), Hamm: Bautz 1975ff., Band XXII (2003), Spalten 1332-1339. 32 | Das Verzeichnis der verurteilten Lehrmeinungen war weit verbreitet; Handschriften von Sentenzenkommentaren enthielten nicht selten den Text; er wurde früh gedruckt. 33 | Ebd.

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melte. Witello schrieb dort nach 126934 seine Perspectiva, während der Franziskaner und Schüler Grossetestes Roger Bacon zur gleichen Zeit »sein Opus maius, zusammen mit einem Exzerpt, dem Opus minus, und der Schrift De multiplicatione specierum an Clemens IV. nach Viterbo schickte.«35 1277 kam der franziskanische Optiktheoretiker und spätere Erzbischof von Canterbury John Peckham auf Einladung von Johannes XXI. an den dortigen Papsthof. Seine Perspectiva communis, die zum »verbreitetsten Buch des Mittelalters über die Perspektive«36 werden sollte, hatte er damals schon im Handgepäck oder schrieb sie kurz nach seiner Ankunft.37 Die Verbindungen zwischen dem Papst-

34 | Sicher zwischen 1269-1278, nach Klaus Bergdolt: »Bacon und Giotto. Zum Einfluß der franziskanischen Naturphilosophie auf die Bildende Kunst am Ende des 13. Jahrhunderts«, in: Medizinhistorisches Journal 24 (1989), S. 25-41, S. 30. 35 | Nach Bergdolt: Bacon und Giotto, S. 28. Obwohl im mittelalterlichen Denken verwurzelt und vom franziskanischen Augustinismus stark beeinflusst, übte Bacon Kritik an der theologischen und scholastischen Lehre. Er suchte eine neue Form der Erfahrungswissenschaft auf Grund der aristotelisch-arabischen Naturphilosophie. Zwischen 1254 und 1257 wurde er des Joachimitismus verdächtigt. Nach Eintritt in den Franziskanerorden in den 1250er Jahren wurde er um 1257 in den Pariser Konvent versetzt. Dort geriet er 1260 in Konflikt mit Bonaventura, gewann aber 1263 die Gönnerschaft des Kardinals Gui de Foulques, der ihm nach seiner Papstwahl (1265; Clemens IV.) Schutz und Förderung angedeihen ließ. Bis 1268 legte er Clemens IV. auf dessen Aufforderung die drei großen Hauptwerke vor: »Opus maius«, »Opus minus« und »Opus tertium«, letztere mit Einleitungen, in denen Roger für die Reform der Wissenschaft und der Kirche eintrat. Weitere Verdächtigungen und neue Anklagen veranlassten den Ordensgeneral Hieronymus von Asculi 1278 (später Papst Nikolaus IV.), über Bacon Schreibverbot und Klosterhaft zu verhängen. 36 | Bergdolt: Bacon und Giotto, S. 29. 37 | John Peckham (um 1220/25-1292), der einen durch Avicenna vermittelten Aristotelismus mit dem ethisch-pragmatischen Wissensbegriff von Augustinus und Bonaventura verband, gehörte wie Bacon dem Franziskanerkonvent in Paris an und lehrte 1269-71 sowie 1277-79 an der päpstlichen Universität. Seine Lehre richtete sich ebenso gegen die spekulative Theologie der Thomaner wie gegen averroistische Tendenzen.

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hof und einer naturphilosophisch orientierten Theologie ließen sich noch fortsetzen.38 Wir merken, wie sich der Zirkel enger schließt. Vieles konzentriert sich um das Jahr 1277. Während zu Anfang des Jahrhunderts die aristotelische Naturphilosophie vehementen Angriffen ausgesetzt war, galt es jetzt, sie mit den christlichen Glaubenslehren in Verbindung zu bringen und gegen irreführende Kommentare zu verteidigen. Dem Pariser Verdikt zufolge betrafen diese vor allem Fragen zur Willensfreiheit und Unsterblichkeit der Seele, zur Erkennbarkeit Gottes, zum Wissenschaftscharakter der Philosophie – und eben auch zur Raumfrage in der Physik und Kosmologie.

D IE P OSITIONEN VON A VICENNA UND A VERROËS 39 Im Pariser Verdikt von 1277 wurde beschlossen, dass die fundamentale Frage, ob die Bewegung der Erdkörper die Existenz eines räumlich Unbeweglichen voraussetze oder nicht, zu Ungunsten der anschließend als Häretiker verurteilten Befürworter eines bewegungslosen Körpers als notwendige Voraussetzung für die Existenz der physischen Bewegung ausfiel. Die Diskussion war wie gesagt durch den Aristoteles-Kommentar des Averroës entfacht worden, in dem die Vorstellung einer unbewegten Dimensionalität vor jeder Bewegung vertreten wurde.40 Averroës hatte mit seinem Gedanken an die neu38 | Vgl. Bergdolt: Bacon und Giotto, S. 32: Wilhelm von Moerbeke war Übersetzer wichtiger naturwissenschaftlicher Werke aus der Antike und hatte selbst eine Abhandlung über perspektivische Fragen verfasst. Bis 1277 residierte er als päpstlicher Beichtvater in Viterbo. Moerbeke ist auch für die Raumfrage eine interessante Figur, hatte er doch mit seiner Übersetzung (1271) des De Caelo-Kommentars von Simplicius dem scholastischen Publikum beide Positionen – die aristotelische sowie die stoische bzw. atomistische – bezüglich der Frage der (Un-)Endlichkeit des Kosmos bekannt gemacht. 39 | Averroës, eigentlich Abu’l-Walid Ibn Rushd (1126-1198); Avicenna, eigentlich Abu’Ali al-Husain ibn’Abd Allah ibn Sina al Qanuni (980-1037); Robert Grosseteste (vor 1170-1253). 40 | Johannes Philoponos (Grammatikos Christianos) (ca. 490-ca. 570) hatte bereits eine wichtige Kritik an der aristotelischen Bewegungslehre vorgebracht; siehe dazu z.B. Clemens Scholten: Antike Naturphilosophie

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platonische Physik-Kritik des Johannes Philoponos angeknüpft, der sich den Raum als reine Quantität, ohne jede qualitative Unterscheidung dachte, was gänzlich unvereinbar mit der aristotelischen Dynamik war. Entsprechend meint die Existenz von dimensiones indeterminatae, wie Averroës sie nannte, die Existenz von Quantität in der Materie vor jeder substantiellen Form. Eine bewegungslose Ausdehnung war für ihn die notwendige Voraussetzung für das Verständnis von Bewegung, d.h. man musste sich einen endlosen Raum jenseits des rotierenden Kosmos denken, um Bewegung überhaupt erkennen zu können. Die »Anerkennung eines absolut unbeweglichen Körpers, unbeweglich selbst für den Schöpfer des Universums, [galt] als unvereinbar mit den Grundlehren der christlichen Theologie.«41 Im Beschluss heißt es, nur Gott könne die Fähigkeit zugestanden werden, die Körper durch den Raum zu bewegen, das gesamte Universum sei von ihm angeschoben, beweglich und im Werden und müsse es aus besagten Gründen notwendig sein. Gott sei der alleinige unbewegte erste Beweger.42 Der Versuch, ihm ein festes Mutterhaus auf die Seite zu stellen, musste aus genealogischen Gründen scheitern, weil Raum und Zeit nur nachträglich existieren konnten und die Welt in ständiger Genese begriffen sein musste. Eine Amme des Werdens dagegen, die sich selbst nicht wesentlich änderte und wie eine maternale Gottheit das Werden und Vergehen der Körperwelt begleitete, widersprach dem theologischen Allmachtsargument, das die Raumdebatte des 13. Jahrhunderts von Anfang an begleitete. Das Verdikt bedeutete fürs Erste eine Absage an die Präexistenz eines unbewegten Raumkontinuums, das das materielle Universum bedingte und umfasste, wenngleich »die intuitiv erfasste Konzeption eines weithin ausgespannten Raumes […] tatsächlich während all der und christliche Kosmologie in der Schrift De Opificio Mundi des Johannes Philoponos, Bonn 1994. 41 | Max Jammer: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, S. 62. 42 | Beschluss der Pariser Fakultät, die »die Lehre des Damaskios als die allein orthodoxe Lehre betrachteten«, vgl. Jammer: Problem des Raumes, S. 63. Zur Verurteilung siehe außerdem: Vgl. auch Edward Grant: »The Condemnation of 1277, God’s Absolute Power, and Physical Thought in the Late Middle Ages«, in: Viator 10 (1979), S. 211-244; Kurt Flasch: Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277, Mainz 1989 (Excerpta classica, 6).

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Jahrhunderte geschlummert zu haben« scheint.43 Es erschöpft sich allerdings nicht darin. Wir können das Problem auf ein nächstes Themenfeld überblenden, das für die Philosophen des ausgehenden 13. Jahrhunderts von größter Dringlichkeit war. Denn die Frage, auf welche Weise man sich das Verhältnis zwischen Ausdehnung und Materie zu denken hatte, war nicht zufriedenstellend gelöst oder blieb insofern ungeklärt, als sie aufs engste mit dem Problem der Formgebung und Vervielfältigung der materiellen Substanzen verbunden war. Die grundsätzliche Frage lautete: Wie kann sich eine vollkommen undifferenzierte prima materia in die Vielheit der Formen aufspalten und differenzieren? Die aristotelische Antwort war gewesen, dass sich die Materie durch ein hinzukommendes formales Prinzip teilt und differenziert. Hýle und morphé können ohne das jeweils andere nicht gedacht werden, das formale Prinzip dehnt die Materie aus und gestaltet sie. Auf die Raumfrage bezogen bedeutete es, dass räumliche Ausdehnung lediglich in einem zweiten Schritt und damit als akzidentielle Bestimmung der Körperhaftigkeit erscheint, als Folge einer zuvor in die Materie eingeführten ersten substantiellen Form. Diese Auslegung war u.a. von Avicebron, Avicenna, Grosseteste oder Peckham vertreten worden, seit Mitte des 12. Jahrhunderts entwickelte sie sich zur Standardinterpretation des Verhältnisses von Ausdehnung und Materie.44 Eine andere Position hatte Averroës in seinem Physik-Kommentar vertreten. Für ihn gibt es eine undifferenzierte Materie einerseits, deren Teilbarkeit andererseits innerhalb der Quantität stattfindet; seiner Meinung nach ist es sogar so, dass die räumliche Ausgedehntheit (di43 | Jammer: Problem des Raumes, S. 78. Die Annahme eines Vakuums jenseits der körperlichen Welt war z.B. seit der Verurteilung von 1277 möglich geworden, hatte der Bischof Tempier doch in der 49. These die Annahme verurteilt, Gott könne den Himmel nicht in einer geradlinigen Bewegung bewegen, da er dann ein Vakuum zurückließe (»quod Deus non possit movere celum motu recto, et ratio est, quia tunc relinqueret vacuum«, vgl. Heinrich Denifle/Émile Chatelain: Chartularium Universitatis Parisiensis, Paris: Université de Paris 1889-97, 4 Bde., Bd. I, S. 546). An dieser Stelle begann der aristotelische Endlichkeitsgedanke vom geschlossenen Kosmos aufzuweichen. 44 | Avicebron, eigentlich Solomon ibn Gabirol (ca. 1020-1050). Siehe außerdem Anm. 39.

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mensiones indeterminatae) der substantiellen Form vorausgeht. Dieser Annahme schlossen sich u.a. Thomas von Aquin und Roger Bacon an, wobei letzterer noch weitergehen und eine Position vorbereiten wird, die bereits Unterschiede in der Materie selbst festlegen will. Für Thomas jedenfalls war die Annahme einer materia signata quantitate deshalb entscheidend, weil er der Dimensionalität aufgrund ihrer Teilbarkeit ein inneres Individuationsprinzip zuschreiben kann, das die einzelnen Teile der Materie durch ihre unterschiedlichen räumlichen Lagen voneinander abhebt und aufeinander Bezug nehmen lässt. Durch solche Differenzen in der Komposition von Materie und Form, die alleine durch die innere Teilbarkeit des Raumes ermöglicht wird, kann eine Hierarchie des Seins herausgearbeitet werden. Der Gedanke birgt insofern Sprengkraft, als er letztlich nicht nur kosmologisch, theologisch oder physikalisch, sondern auch sozialpolitisch gedeutet werden kann. Einige Philosophen dieser und der nächsten Generation, wenngleich nicht Thomas selbst, sind daran interessiert, die verantwortliche Instanz für die Differenzierung der körperlichen Substanzen nicht mehr als externe, sondern bereits der Materie potentiell innewohnende zu verstehen, welche dadurch autonomisiert wird.45 Es wird immer wieder deutlich, wie sehr die Raumfrage des 13. Jahrhunderts als Frage nach dem Verhältnis von Materie und Ausdehnung, Teil und Ganzem mit dem Verhältnis von individuellem und universalem Sein bzw. zwischen externer und interner Strukturbildung und Gewaltenverteilung zu tun hat und dadurch politisierbar wird.46

45 | Dies noch nicht bei Thomas. Die thomistische Staatstheorie gründete sich auf der Bevorzugung einer Monarchie vor einer aristokratischen Elite, aus der leicht Tyrannis entstehen könnte. Die Vorstellung einer in sich organisierten Materie wird vor allem im Kontext der bürgerlich-kaufmännischen Stadtkultur und der Stadtrepubliken gestärkt werden. Mit dem Gedanken, die dreidimensionale Ausdehnung nicht mehr als bloße Eigenschaft, sondern als der Substanz der Körper unmittelbar zugehörig zu verstehen, haben wir es bereits mit einer »Auflösung des aristotelischen Substanzbegriffs und Vorbereitung eines modernen Körperbegriffs« (Wolff: Impetustheorie, S. 151) zu tun, der zur cartesischen Gleichsetzung von Ausdehnung und Materie (res extensa) überleitet. 46 | Goebel: Étienne Tempier, Spalten 1332-1339.

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E IN NEUER I MPE TUS »Alle angeführten Probleme werden von den Pariser Philosophen im Zusammenhang mit der Frage diskutiert, ob es außerhalb des geschlossenen Kosmos einen – endlichen oder unendlichen – Raum geben könne«47, ob dieser gefüllt oder ungefüllt vorstellbar sei, ob die Existenz oder Zerstörung eines solchen Raumes Auswirkung auf den geschlossenen Kosmos habe und man sich andere mögliche Welten vorstellen könne.48 Die Verurteilung der averroistischen Auffassung hatte das Interesse an Raum- und Bewegungsfragen gesteigert. In den folgenden Diskussionen war ein Vakuum zumindest denkbar 47 | Jürgen Sarnowsky: »Si extra mundum fieret aliquod corpus…« Extrakosmische Phänomene und die Raumvorstellungen der ›Pariser Schule‹ des 14. Jahrhunderts«, in: Aertsen/Speer: Raum, S. 130-144, hier S. 143. 48 | Hier traf sich die Diskussion mit den bereits in der Antike vorgetragenen Gedankenexperimenten um die Existenz eines extrakosmischen Raumes »bei den von Aristoteles bekämpften Atomisten und bei den Stoikern, die von einem endlosen leeren Raum ausgingen. Eine charakteristische Begründung bietet Lukrez in seinem Lehrgedicht »De rerum natura« an: »Wäre der Kosmos endlich, könnte man sich an sein Ende begeben und von dort aus eine Lanze schleudern; da es aber keinen vernünftigen Grund dafür geben kann, warum die Bewegung der Lanze am Ende der Welt aufhört, muss es ein unendliches Weltall geben.« (Sarnowsky: Si extra mundum, S. 132). Weitere beliebte Beispiele sind die am Weltrand ausgestreck te Hand (Simplicius in seinem De Caelo-Kommentar) oder die unendlich wach sende Bohne (Buridan in seinem Physik-Kommentar), vgl. Sarnowsky: Si extra mundum; Jammer: Problem des Raumes, S. 11; außerdem: Alexandre Koyré: »Le vide et l’espace infini au XIVe siècle«, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen-âge 24 (1949), S. 45-91; David J. Furley: »Aristotle and the Atomists on Motion in a Void«, in: Peter K. Machamer/Robert G. Turnbull (Hg.): Motion and Time, Space and Matter, Interrelations in the History and Philosophy of Science, Columbus (Ohio): Ohio State University 1976, 2 Bde., Bd. 2, S. 83-100; Alexander Gosztonyi: Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften, Freiburg, München: Verlag Karl Alber 1976; Edward Grant: Much Ado about Nothing. Theories of Space and Vacuum from the Middle Ages to the Scientific Revolution, Cambridge: Cambridge University Press 1981, S. 105-147; ders.: Place and Space in Medieval Physical Thought, in: Machamer/Turnbull: Motion and Time, S. 137-167.

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geworden,49 es stellten sich Fragen nach dem ›Außerhalb‹ der Welt und dem ›Worin‹ der Körperwelt. Vor allem aber ergaben sich neue Ansatzpunkte für eine Theorie der Bewegung, die die aristotelische Dynamik revidieren sollte. Innerhalb der Pariser Schule war es vor allem Nicole Oresme, der die aristotelischen Vorgaben teilweise aufgab, die Vorstellung eines endlosen Raumes aufgriff und damit so etwas wie eine ideale, stillgestellte Dimensionalität meinte, die sich zum Universum verhalte wie die Ewigkeit zur Zeit. Sie erinnert an jenen Zeugungs- und Geburtsraum, der die substantiellen Formen hervorbringt, ohne sich selbst wesentlich anzugleichen oder zu verändern: »Ceste espasse est infinie et individible, et est le immensité de Dieu et est Dieu meismes…«50 Gott ist zum Raum oder der unendliche Raum göttlich geworden, während sich in ihm die Entstehung und die Geschichte der Welt abspielen. Oresme gehörte außerdem als jüngstes Mitglied zu jenen Vertretern der sogenannten Impetustheorie, die in der Nachfolge des spätantiken Aristoteles-Kommentators und -kritikers Johannes Philoponos (Grammatikos) aus Alexandrien und in Auseinandersetzung mit den Pariser Verurteilungen von 1277 ein entscheidend verändertes Raum- und Bewegungsverständnis entwickelten. Sowohl Averroës wie Avicenna hatten sich kritisch mit Philoponos auseinandergesetzt, der den aristotelischen Bewegungsdurch den Kraftbegriff ersetzt und damit ein vollkommen verändertes Verhältnis von Beweger und Bewegtem angedacht hatte. In Anknüpfung daran entwickelten die Impetustheoretiker ein Konzept der körperlichen Krafthervorbringung und -übertragung, das die Bewegungslehre von Grund auf revidierte. Diese Revision, die gleichzeitig 49 | Vgl. Anm. 46 und 47. Dadurch auch Rückgriffe auf die atomistische Physik, derzufolge Bewegung im Plenum nicht denkbar ist, d.h. kein Körper ohne räumliche Leere bewegt werden kann. 50 | Nicole Oresme (vor 1330-1382). Zitat aus: Ders.: Livre du Ciel, 1, 24, 176. Vgl. Sarnowsky: Si extra mundum, S. 144, demzufolge Oresme »als einziger Philosoph der ›Pariser Schule‹ des 14. Jahrhunderts für seine Konzeption von Ort und Raum zumindest teilweise den Boden der aristotelischen Vorgaben verlassen« hat (Ebd., S. 144). Zu Oresmes Position vgl. auch: Dana B. Durand: »Nicole Oresme and the Mediaeval Origins of Modern Science«, in: Speculum, vol. 16, no. 2 (Apr. 1941), S. 167-185; Marshall Clagett: »Nicole Oresme and Medieval Scientific Thought«, in: Proceedings of the American Philosophical Society, vol. 108, no. 4 (Aug. 1964), S. 198309.

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eine raumtheoretische war, konnte zunächst in zwei Regionen verzeichnet werden – in den Städten der Toskana, v.a. Florenz, sowie der Provence; in der darauffolgenden Generation dann in Paris.51 Unter den lateinischen Vertretern der als Impetustheorie bekannt gewordenen Physik des 14. Jahrhunderts – Petrus Johannis Olivi, Franciscus de Marchia, Johannes Buridan, Nikolaus von Oresme52 – wurde diskutiert, wie ein Raum sich als unkörperliches Volumen, das sich in Länge, Breite und Tiefe erstreckte, aufgefasst werden konnte, das messbar war und als reine Dimensionalität alle Körper nacheinander aufnahm, während es selbst unbeweglich blieb. Der Gedanke mutet wie ein Rückgriff auf die platonische »Amme« an und ist es in gewisser Weise auch: Platons große »Aufnehmerin alles Werdens« war, wie wir wissen, durch vollkommene Neutralität ausgezeichnet gewesen. In Abgrenzung zur aristotelischen Physik war der Raum jetzt nicht mehr Wirkursache aller Bewegung oder schob die Körper im Sinne eines Mediums sukzessive voran. Wenn zuvor galt: »Oben und unten, links und rechts, nahe und fern sind nicht nur symbolischer Ausdruck der Dignität des ›Ortes‹ im Kosmos, sondern gelten für das Subjekt als Bewegungsimpulse, Bewegungsrichtungen«53 , so wurden für Impetustheoretiker die sechs Bewegungsrichtungen jetzt nicht mehr durch innere Qualitäten des Raumes oder Ortes veranlasst, sondern die Tendenz zur Bewegung in die eine oder andere Richtung lag in den sich bewegenden Körpern selbst. Dass die Körper mit einer eigenen physikalischen Kraft ausgestattet wurden, war die entscheidende Neuerung des 14. Jahrhunderts. In den älteren Dynamiken wurde die Gegenwart eines den Gegenstand bewegenden und berührenden anderen Dinges vorausgesetzt.54 Der Luftraum beispielsweise hatte während des Ballwurfs aktiv zu ver51 | Nach Wolff: Impetustheorie, S. 170f. 52 | Petrus Johannis Olivi (1248-1298), Franciscus de Marchia (ca. 1290nach 1344), Johannes Buridan (um 1300-kurz nach 1358), Nikolaus von Oresme (vor 1330-1382). 53 | Dagobert Frey: »Giotto und die maniera greca. Bildgesetzlichkeit und psychologische Deutung«, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch, Bd. 14, Köln 1952, S. 73-98. 54 | Anneliese Maier nennt es das »Prinzip der Berührungskausalität« (Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturphilosophie, Rom: Edizioni di Storia e Letteratura 1951, S. 115), Hans Blumenberg eine »begleitende

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mitteln, d.h. den Ball ständig zu berühren und voranzuschieben. An dieser Stelle setzte die entscheidende Änderung ein: Bei äußerlicher Anlehnung an die physikalische Bewegungslehre des Aristoteles, aber in tatsächlicher Abkehr von ihr, entwickelte die Impetustheorie einen physikalischen Kraftbegriff, demzufolge eine unkörperliche Kraft im Bewegungsvorgang jeweils den Beweger verließ, um als vis impressa auf den bewegten Körper überzugehen (d.i. vollständig auf ihn übertragen zu werden). Die Körper waren von diesem Moment an mit einer eigenen »agency« ausgestattet worden, und eben das ist das Neue an dieser Vorstellung: Es gibt nun tatkräftige Körper; Körper, die eine eigene Wirkkraft besitzen und selbst produktiv werden können. Sie handeln innerhalb eines räumlichen Kontinuums, aber mit der ihnen eigenen Aktivität.55 Im Gegensatz zu den älteren Theorien haben wir es mit dem Raum nicht mehr mit einem Bewegungsmedium zu tun – ganz im Gegenteil übt das Medium jetzt Widerstand aus und ist damit alles andere als eine notwendige Bedingung der Bewegung, wie Aristoteles und Platon behauptet hatten.56

Kausalität« (Die kopernikanische Wende, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965, S. 21f.). 55 | »Die moderne Wissenschaft der Natur wurzelt in einer neuen Gestaltung des Kraftbegriffs.« (Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft [1906] 1974, S. 352) 56 | Der Raum stellte jetzt sogar den Grund dafür dar, dass körperliche Bewegungen ermüden, dass also zum Beispiel ein geworfener Ball in einer Kurve wieder zu Boden fällt; Bewegungen in Luft und Wasser führen zur Retardation eines Körpers usw. Das Konzept war bereits von Philoponos vorgeschlagen worden: »Die Aufhebung der Vorstellung eines Mediums als notwendiger Bedingung von Bewegung führt Ph. zu einer Theorie des absolut leeren, dreidimensional ausgedehnten, homogenen Raums aus. Diese Raumtheorie ist insofern neuartig, als in ihr der Begriff des Leeren nicht mehr, wie in der Atomistik der Antike, bloß auf die Intervalle zwischen den Atomen, sondern gerade auf den ›erfüllten‹ Raum bezogen wird: »Der Raum ist (…) eine bestimmte Ausdehnung, messbar an drei Dimensionen, unkörperlich seiner eigentlichen Natur nach und verschieden von dem in ihm enthaltenen Körper.« (Hieronymus Vitelli (Hg.): Ioannis Philoponi in Aristotelis Physicorum libros octo, Berlin: Reimer 1887, Bd. XVI/XVII, S. 567). »Von einer atomistisch strukturierten Körperwelt geht Philoponos nicht aus.

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W AHRNEHMUNGSR ÄUME Mit dem Provençale Petrus Johannis Olivi, dessen Lebenszeit noch ganz in das 13. Jahrhundert fällt, haben wir den ersten Impetustheoretiker des lateinischen Mittelalters vor uns. Er ist eine für uns besonders interessante Figur, und das aus mindestens zwei Gründen: Zum einen setzte er sich mit wahrnehmungstheoretischen Fragestellungen auseinander, zum anderen verband er seine Überlegungen zur Impetustheorie mit dem Ziel einer ökonomischen Emanzipation der Handwerker und Kaufleute, d.h. der Stärkung einer merkantilen Stadtstruktur. Kommen wir zunächst zu Ersterem. Die Rolle des Raumes als (Nicht-)Medium sowie das Ungenügen eines Denkens in Berührungskausalitäten wird von Olivi nicht zuletzt in Zusammenhang mit optischen Theorien diskutiert. Wird Optik als Bewegungstheorie der Lichtstrahlen verstanden, gibt es eine direkte Verbindung zur Raumfrage. Soweit wir wissen, kam Olivi um 1268 im Franziskanerkonvent in Paris an, als sich dort gerade die beiden lateinischen Perspektivisten Roger Bacon und John Peckham aufhielten: »Olivi was, in fact, in an ideal position to study perspectivist theory.«57 Er folgt darin der platonisch-aristotelischen Philosophie.« (Wolff: Impetustheorie, S. 147) 57 | Katherine H. Tachau hat dazu eine erste umfassende Studie vorgelegt: Vision and Certitude in the Age of Ockham. Optics, Epistemology and the Foundation of Semantics 1250-1345, Leiden, Boston: Brill 1988; hier: S. 40. Siehe außerdem Leen Spruit: Species intelligibilis: From Perception to Knowledge, 2 Bde., Leiden, Boston: Brill 1993; David C. Lindberg: Theories of Vision from al-Kindi to Kepler, Chicago, London: The Universiy of Chicago Press 1976; ders.: Studies in the history of medieval optics, London: Variorum Reprints 1983; ders.: Roger Bacon’s Philosophy of Nature (mit Übersetzung von De multiplicatione specierum und De speculis concurentibus), Chicago: St Augustine’s Press 1997; ders.: Roger Bacon and the Origins of Perspectiva in the Middle Ages (mit Übersetzung der Perspectiva), Oxford: Clarendon Press 1996; zur Unterscheidung von aspectus und obtutus oder intuitio, siehe Saleh B. Omar: Ibn al-Haytham’s Optics: A Study of the Origins of Experimental Science, Minneapolis/Chicago: Bibliotheca Islamica 1977; Frank Büttner: »Das messende Auge: Meßkunst und visuelle Evidenz im 16. Jahrhundert«, in: Gabriele Wimböck/Karin Leonhard/Markus Friedrich (Hg.): Evidentia: Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, Münster: LIT 2007, S. 263-290; Überlegungen zur visuellen Wahr-

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Seine eigene Auseinandersetzung mit wahrnehmungstheoretischen Fragen mündete jedoch rasch in einer Kritik an Bacon und Peckham. Er war zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Verbreitungstheorie der spezies oder allgemeiner: die Vorstellung, es während des Sehakts mit einem materiellen Berührungsvorgang zu tun zu haben, als optische Theorie nicht haltbar war, genauer, dass räumliche Bezüge und quantitative Verhältnisse über z.B. Bacons Modell der Multiplikation der spezies nicht repräsentiert werden können.58 Die spezies-Theorie der Perspektivisten hatte die assimilierende Aufnahme äußerer, vorab konstituerter Gegenstände in Auge und Geist propagiert.59 Damit eine solche Aufnahme ermöglicht werden nehmung bei Bacon und dem hl. Franziskus bei Suzannah Biernoff: »Carnal Relations: Embodied Sight in Merleau-Ponty, Roger Bacon and St Francis«, in: Journal of Visual Culture, vol. 4, no. 1 (2005), S. 39-52. Eine Verbindung zwischen Giottos Paduafresken und den Schriften von Peckham und Witello bei Paul Hills: The Light of Early Italian Painting, New Haven, CT: Yale University Press 1987, v.a. Kapitel 4. 58 | Nach Bacon ›vervielfältigt‹ und sendet jedes sichtbare Objekt Bilder (species) durch das transparente Luftmedium. Die species werden in alle Richtungen geschickt, so dass sie auf diese Weise auch das Auge des Betrachters erreichen und sich dort »einprägen« können. Im Auge multiplizieren sie sich noch einmal entlang der optischen Nerven, bis sie zu den inneren Sinnen gelangen. Bacons physikalische Erklärung des Sehvorgangs endet mit den inneren Seelenvermögen des Betrachters, die die sinnlichen Eindrücke aufnehmen und bewerten. Olivi dagegen argumentiert, dass räumliche Abstände nicht als Objekte verstanden werden können, die species aussenden, und dass unsere topologische oder räumliche Wahrnehmung der Welt mit Bacons Modell nicht erklärt werden kann, vgl. Tachau: Vision and Certitude, S. 43: »Olivi’s objection rests on the claim that the quantity of distance, like the position of an object, is not a thing capable of generating a representation of itself; on the Baconian model it is not visible per se«, vgl. Olivi: »De sensibus autem particularibus probatur hoc duplici via. Prima est, probando quod per nullam speciem ab exterioribus obiectis receptam possunt ipsa et eorum situm et distantiam sentire« (Olivi: II Sent. q.73 (III: 82)). 59 | Johannes Buridan: »In Aristotelis tres libros de anima«, in: Quaestiones et decisiones physicales insignium vivorum, hg. v. Georg Lokert, Paris: I. Badii & C. Resch 1518, Liber ii, Quaestio xvi, fols xiii r – xiv r ; weiterführend: Graziella Federici-Vescovini: Studi sulla prospettiva medievale,

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konnte (damit sich die spezies verbreiten konnten), war die vermittelnde Instanz eines Mediums notwendig gewesen. Darin lag Olivis Kritik: Nicht eine Berührungskette vom Gegenstand ausgehender und sich im Medium multiplizierender spezies führt zur Wahrnehmung der sichtbaren Welt. Vielmehr geht diese unvermittelt vonstatten, weil sich die intellektuelle Aufmerksamkeit aktiv auf die Gegenstände ausrichtet und die Gegenstände damit direkt geschaut werden können. Für Olivi kann der räumliche Abstand zwischen Objekt und Betrachter weder als Eigenschaft der wahrgenommenen körperlichen Substanz noch als Akzidens des zwischen Betrachter und Objekt liegenden Mediums verstanden werden. Die Wahrnehmung räumlicher Entfernungen, Größen und Relationen ist für ihn nicht mehr über Substanzen erklärbar, sondern wird erst über den Betrachter eingeführt und mittels seiner Erkenntnisfähigkeit bemessbar.60 Die derzeitigen Berührungstheorien, so folgert Olivi, können über die optische, epistemologische und psychologische Dimension visueller Wahrnehmung nicht gleichzeitig Auskunft geben, so dass innerhalb der Optiktheorie eine Revision der Verwendung (wenngleich nicht Abschaffung61) der aristotelischen Kategorien von Substanz und Qualität erforderlich wird. Bestimmte Wahrnehmungsformen jedenfalls, wie z.B. die Position, Quantität oder der Abstand der Gegenstände zum Betrachter, sind aus ihnen nicht ableitbar. Erst in Loslösung vom Turin: Giappichelli 1965, S. 145-160; Lindberg: Theories of Vision, S. 133135; Thomas Frangenberg: »Perspectivist Aristotelianism: Three Case-Studies of Cinquecento Visual Theory«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, vol. 54 (1991), S. 137-158, hier: S. 143. 60 | Nach Tachau: Vision and Certitude, S. 43. Man fühlt sich zu Recht an die Diskussion um das Verhältnis von Materie und Ausdehnung zur Zeit der Pariser Verurteilungen erinnert, in dessen traditioneller Auslegung durch Avicebron, Avicenna, Grosseteste und Peckham Quantität lediglich als eine akzidentielle Bestimmung der Körperhaftigkeit verstanden wurde (siehe Anm. 45). Umgekehrt will sie Olivi aber auch nicht (wie später Oresme) zur reinen Dimensionalität erklären. 61 | Zu Olivis Festhalten an den aristotelischen Kategorien von Substanz und Qualität siehe Anneliese Maier: Metaphysische Hintergründe der spätscholastischen Naturphilosophie, Rom: Edizioni di Storia e Letteratura 1955, S. 151-175; David Burr: »Quantity and Eucharistic Presence: The Debate from Olivi to Ockham«, in: Collectanea Franciscana 44 (1974), S. 5-44.

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Substanzdenken kann so etwas wie Perspektivität, kann quantifizierendes Sehen möglich werden. Olivis Gedanken werden von Johannes Buridan aufgegriffen, der in seinem De anima-Kommentar die Beurteilung der Größe eines wahrgenommen Objekts jenseits der Kategorien von Substanz und Akzidens denken will. Diese Überlegungen spiegeln die innerhalb der Raumdebatte gleichzeitig stattfindende kategoriale Auflösung wider. Der Dominikanermönch Dietrich von Freiberg geht dann sogar so weit zu behaupten, dass Kategorien wie Substanz und Form nicht im Vorhinein existieren, sondern erst in der intellektuellen Anschauung des Menschen konstituiert werden. Damit wird dem Intellekt eine produktive, seinsbegründende, und nicht bloß eine rezeptive Funktion zugeschrieben. Es gibt jedoch noch einen anderen, bereits von Philoponos vorgebrachten Schnittpunkt zwischen Optik und Impetustheorie, der die Theoretiker des späten 13. und 14. Jahrhunderts nachhaltig beschäftigen sollte. Er betraf das naturphilosophische Problem der Lichstrahlendurchdringung in einem Luftvolumen, d.h. das Phänomen, »dass zwei oder mehr Lichtstrahlen verschiedener Farben zugleich ein bestimmtes Luftvolumen durchlaufen können, ohne sich gegenseitig zu stören. Eine Lösung ergibt sich, wenn nämlich mit Hilfe der Impetustheorie »die ›Energeia‹ des Lichts, dessen Wesen nach Aristoteles’ Definition im 7. Kapitel des 2. Buchs von De anima die ›Wirklichkeit‹ der Transparenz des Mediums ist, nicht als diese Wirklichkeit, sondern als übertragbare, fortpflanzungsfähige Energie, als beweglicher Lichtstrahl umgedeutet wird.«62 Schon Philoponos hatte die Möglichkeit ausgeschlossen, dass das Luftvolumen selbst eine der Farben annimmt. Hindurchlaufen können nur die »Energien« der Farben, die erst im Sehenden wieder die Färbung erzeugen, die der farbige Körper besitzt. Vergleichbare Fragen stellten sich in den Theorien des 13. und 14. Jahrhunderts zur Farbentstehung im Regenbogen, in denen eine Differenzierung in objektive und erscheinende Farben und in Vorgänge von reflexio und refractio erarbeitet wurde, die das aristotelische Substanzdenken systematisch aufbrach und letztendlich zu den bewegungsenergetischen Erklärungen bei Descartes und Newton führen wird. Für Impetustheoretiker jedenfalls ist entscheidend, dass man Farberscheinungen nicht als Einfärbung und »Verwirklichung« des Mediums versteht, sondern ihnen Energien in derselben Weise 62 | Dazu u.a. Wolff: Impetustheorie, S. 132; allg.: Tachau: Vision and Certitude.

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zuschreibt wie z.B. dem Zimmermann die Arbeitskraft: Mit seiner Axt vollführt er eine schlagartige Übertragung seiner Tätigkeit auf einen äußeren Gegenstand, so dass er selbst nicht mehr davon erfüllt ist. Ähnlich muss man sich den Durchlauf der Lichtenergie durch den Raum vorstellen.63 Von diesem Gedanken, der die Luftvolumina zu vibrierenden Durchgangsräumen – zu Passagen – macht, werden langsam auch die Räume der Maler erfüllt.

K R ÄF TEÖKONOMIE UND S TADTR AUM Es ist wichtig zu notieren, dass eine solche Neuorientierung in Physik und Optik eng mit der radikalen Fraktion des noch jungen Franziskanerordens zusammenhängt, den sogenannten Spiritualen, zu deren Vorreitern Petrus Johannis Olivi gehörte. Um 1248 in Sérignan im Languedoc geboren, studierte er um 1268 unter anderem bei Bonaventura Theologie in Paris. Unter dem Einfluss der Spiritualenbewegung in Südfrankreich war er schon früh für die Armut des Ordens und eine Erneuerung der Kirche eingetreten, was ihm eine Anzeige beim Ordensgeneral Girolami d’Ascoli (dem späteren Papst Nikolaus IV.) einbrachte und seine Schriften für einige Zeit auf die schwarze Liste setzte: 1285 verbot das Generalkapitel in Mailand seine Lektüre; 1287 wurde er in Montpellier rehabilitiert. Im selben Jahr war er vom damaligen Generalminister Kardinal Matteo de Acquasparta als Lektor an das Ordenskolleg Santa Croce in Florenz berufen worden, wo er für zwei Jahre lehrte, bevor er zurück nach Montpellier ging. Nicht zufällig entwickelte sich eine Verbindung mit den Bankiersfamilien der Bardi und Peruzzi in Florenz, denn den Spiritualen war es trotz 63 | Wolff: Impetustheorie, S. 132. Vgl. auch Samuel Sambursky: »Philoponus’ Interpretation of Aristotle’s Theory of Light«, in: Osiris, vol. 13 (1958), S. 114ff. Eine mit perspektivischen Gesetzmäßigkeiten zusammengebrachte Erklärung der proportionalen Abnahme der Lichtintensität mit Hilfe der Impetustheorie dann bei Leonardo da Vinci, vgl. Martin Kemp: The Marvellous Works of Nature and Man, Cambridge, Mass: Harvard University Press, 1981, und v.a. Frank Fehrenbach: Licht und Wasser. Zur Dynamik naturphilosophischer Leitbilder im Werk Leonardo da Vincis, Tübingen 1997; ders.: »Blick der Engel und lebendige Kraft: Bildzeit, Sprachzeit und Naturzeit bei Leonardo«, in: Ders. (Hg.): Leonardo da Vinci: Natur im Übergang, München 2002, S. 169-206.

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(oder gerade wegen) des von ihnen radikal verfochtenen Armutsgebots der Kirche um einen Aufschwung der Städte im Sinne eines Gleichgewichts der Kräfte zu tun. Halten wir an dieser Stelle ein und fügen hinzu: Die raumtheoretische Veränderung der Impetustheoretiker ist von Anfang an eng verknüpft mit einer ökonomischen Veränderung der bürgerlichen Stadtkulturen in Richtung einer dynamischen Werttheorie. Die Zusammenhänge hat vor allem Michael Wolff herausgearbeitet, dessen wichtige Studie zur Geschichte der Impetustheorie sich nicht nur auf die revidierte Anschauung in der Mechanik des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts, sondern ebenso auf die veränderte Einschätzung der Tätigkeit des Handwerkers, des Kaufmanns und des Kreditgebers bezog, sowie Frank Fehrenbach, dessen neuere Studien den Zusammenhang von Geldtheorie und ästhetischer Lebendigkeit, ausgehend von Olivi, zum Untersuchungsgegenstand haben.64 Petrus Johannis Olivi ist ein früher Kronzeuge dieses veränderten Ökonomieverständnisses, das sich innerhalb seiner Schriften im größeren Kontext der »Wirkungszusammenhänge bei Tätigkeiten«65 findet und Ansätze zu einer Impetustheorie aufweist. Denn für Olivi beinhalten die Waren die Arbeitskraft der Hersteller, weil diese auf sie übertragen wurden, und man bezahlt neben dem Materialwert nun also zugleich für die Produktion (verstanden als Kraft). Geldverleih und Zins werden gebilligt, ja sogar aufgewertet, weil sich das Geld selbst als produktiv erweist und mit einer genuinen Zeugungskraft ausgestattet ist.66 64 | Frank Fehrenbach: »Numisma ex numismate. Die Bildnisse von Jacopo und Ottavio Strada«, in: Christine Ott/Ulrich Pfisterer (Hg.), Biologia della Creatività (in Vorbereitung); ders.: Living images. The concept of impetus in Italian Renaissance Art (CAA conference, New York, February 16, 2007; Einsicht in das Manuskript). 65 | Wolff: Impetustheorie, S. 185. 66 | Ebd., S. 191: »Olivi betrachtet das Geld nicht mehr nur als bloßen Gegenstand des Austauschs. Geld in den Händen des Kaufmanns oder des Kreditgebers, also Geld als Kapital, ist für diese etwas Ähnliches wie das Werkzeug für den Handwerker. Geld ist ein instrumentelles Mittel merkantiler Tätigkeit, ein Mittel, das Kraft nicht nur in sich aufnimmt, sondern (…) auch transportiert und selbständig, ›samenartig‹ fortwirken lässt. Aufgrund des instrumentellen Charakters des Geldes sind für Olivi die Tätigkeiten des Handwerkers, des Kaufmanns und des Kreditgebers Tätigkeiten von grundsätzlich derselben Art.« Voraussetzung war eine Neukonzeption des Rau-

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Im Unterschied zu Aristoteles schreibt Olivi dem Geldkapital eine Tendenz zum Wachstum zu, und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem er einem sich bewegenden Körper eine ihm zunehmende Fortpflanzungskraft attestiert oder annimmt, dass die Arbeitskraft eines Handwerkers sich im Artefakt ansammelt: Eine vis impressa versieht die Gegenstände mit einer akkumulierbaren kinetischen Energie und emanzipiert sie vom Umraum. Bewegung existiert, nicht weil ein Raummedium die Gegenstände durch stetige Berührung vorantreibt, und auch nicht, weil diese nach ihren »natürlichen Örtern« streben, sondern allein aufgrund der eingepflanzten Kraft, die sich wie ein Nominalwert vom Träger loslösen und übertragen lässt: »Der neue Kraftbegriff wurzelt, statt in der vagen Analogie zum sinnlichen Begehren begründet zu sein, in dem reinen Erkenntnisgesetz der Zahl«, wird Cassirer später kommentieren, denn es geht um die Berechenbarkeit dynamischer Prozesse und Werte.67 mes als sich über alles gleichmäßig ausbreitendes, qualitätsloses Kontinuum, in dem sich Körper selbständig fortbewegen konnten (ein Raum, der neutral alle Körper nacheinander in sich aufnahm, vergleichbar dem Gold, das über Prägung einen Nominalwert erhält). Aristoteles hatte im 1. Buch seiner Politeia (10. Kapitel, 1258b 4-8) den Zins mit Zeugen und Gebären in Verbindung gesetzt und seine Widernatürlichkeit herausgestellt: »Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins aber vermehrt es sich aber durch sich selbst. Daher hat es auch seinen Namen: das Geborene ist gleicher Art wie das Gebärende, und durch den Zins entsteht Geld aus Geld. Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur.« Die Vorstellung, dass sich ein Vermögen vom Urheber trennen und unabhängig von ihm fortwirken kann, wird dagegen die dynamische Werttheorie des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts bestimmen – Geld darf sich vermehren, wenn es durch Arbeit (labor) und Fleiß (industria) verändert wurde (Wolff: Impetustheorie, S. 181). 67 | Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 358. Olivi, der zuerst in Florenz, später in Südfrankreichs wirtschaftlich entwickelten Städten wirkte, gehört zu den bedeutendsten Ökonomen des Mittelalters. Darüber hinaus ist die spätere Abhängigkeit einer der fortschrittlichsten Wirtschaftstheoretiker des Quattrocentos, des Observanten San Bernardino von Siena, von seinem Ordensbruder Olivi unumstritten, so dass feststeht, dass die Anfänge theoretischer Überlegungen zum Begriff des Kapitals ins 13. Jahrhundert zurückreichen und mit den Franziskanern in Zusammenhang gebracht werden können. Wolff: Impetustheorie, S. 174 und 178. Dazu auch ders.:

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V OM E RKENNEN ZUM H ANDELN Ernst Cassirer hatte für die Physik der Zeit um 1300 einen Übergang vom Substanz- zum Funktions- und Kraftbegriff festgestellt; Wolfgang Achtner hat ihn in Hinblick auf die Wandlungen in Naturverständnis, Ethik und Anthropologie vor kurzem noch einmal als Dynamisierungsprozess beschrieben, der »vom Erkennen zum Handeln« führte, also einen Paradigmenwechsel von der theoría zur prâxis ein-

»Mehrwert und Impetus bei Petrus Johannis Olivi. Wissenschaftlicher Paradigmenwechsel im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen im späten Mittelalter«, in: Jürgen Miethke/Klaus Schreiner (Hg.), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Konstanz 1994, S. 413-423; Stefano Magazzini: »San Bernardino da Siena Rilegge Olivi: Il Mercante Cristiano«, in: Studi Francescani, Anno 105 (2008), nr. 1-2, S. 127-148; sowie die einschlägige Studie von Raymond de Roover: San Bernardino of Siena and Sant’Antonio of Florence. The Two Great Economic Thinkers of the Middle Ages, Boston: Baker Library 1967. Sant’Antonio von Florenz (A. Pierozzi oder auch A. de Forciglioni) wiederum war Erzbischof von Florenz und stand in engem Kontakt mit den Medici. Dazu auch vgl. Wolff: Impetustheorie, S. 174: »Die Franziskaner unterstützen die Auffassung von der Berechtigung bürgerlicher Geldgeber, Entschädigung zu kassieren und Staatsschuldscheine auf dem Markt zu kaufen. Die Mitglieder der Signoria von Florenz, für die zum Beispiel die Einführung der florentinischen Goldwährung 1252, der ersten Goldwährung im Westen Europas, ein großes Anleihengeschäft bedeutete, zeigten sich besonders dankbar gegenüber den Franziskanern. Florenz auch war eine Zeitlang das Betätigungsfeld Olivis. Erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts kehrte er in die Provence nach Montpellier zurück. Die progressive Haltung der Spiritualen in der Frage öffentlicher Schulden erklärt auch, warum sie gute Beziehungen zu denjenigen Fürstenhäusern Italiens und Frankreichs hatten, die mit florentinischen Geldgebern, den Bardi und Peruzzi, die größten Leihgeschäfte durchführten.« Nach: Marvin Becker: »Florentine Politics and the Diffusion of Heresy in the Trecento. A Socioeconomic Inquiry«, in: Speculum XXXIV (1959), S. 68f. und Anm. 52. Eine Verbindung zu Giotto u.a. bei Anne Derbes und Mark Sandona: The usurer’s heart: Giotto, Enrico Scrovegni, and the Arena Chapel in Padua, Pennsylvania State University Press, 2008.

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leitete.68 Innerhalb der Bildräume wiederum, die um 1300 entstehen, ist eine Tendenz zur Narratologisierung zu beobachten: Gemeint ist die Beobachtung, »dass von nun an für und durch Bilderzählungen Räume eingerichtet werden.«69 Wir müssen allerdings damit einverstanden sein, dass die sozialhistorische Genese der Raumkonstruktion vor das philosophische Konzept zu stellen ist: »Wenn auch die Uhren der kunsthistorischen Raumgeschichten anders melden: Der vielbeschworene Systemraum der Renaissance hat sich noch nicht gezeigt. Man wird kaum davon sprechen können, »dass ein eindeutiges und widerspruchsfreies Raumgebilde (…) konstruiert werden konnte, innerhalb dessen die Körper und ihre freiräumlichen Intervalle gesetzmäßig zum ›corpus generaliter sumptum‹70 verbunden waren. Das Raumkonzept der Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts hat andere Verpflichtungen, als den Weisungen eines philosophischen Raumbegriffs nachzukommen. Es hat Verpflichtungen gegenüber dem sozialen Raum, dessen Konfigurationen es aufnimmt, übersetzt und mitgestaltet.«71 Dieser Vorbehalt ist wichtig und sollte zugleich differenziert werden, denn es gilt ja gerade, diverse Zwischenschritte und Paralösungen der gemalten Räume zu entdecken, die keine einheitliche Gesetzlichkeit (im Sinne der späteren zentralperspektivischen Container) aufweisen, aber dennoch etwas anderes sind als topologische Gebilde aristotelischer Prägung.72 Sehen wir uns dazu noch einmal das feste Mutterhaus 68 | Vgl. Wolfgang Achtner: Vom Erkennen zum Handeln. Die Dynamisierung von Mensch und Natur im ausgehenden Mittelalter, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2008. 69 | Kemp: Räume der Maler, S. 9. 70 | Theodor Hetzer: Giotto. Seine Stellung in der europäischen Kunst, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1960 (1941), S. 122. 71 | Kemp: Räume der Maler, S. 75. 72 | Innerhalb der Kunstgeschichte haben v.a. die neueren Forschungen zur Messkunst geholfen, die Polarität Aggregatraum – Systemraum aufzubrechen, vgl. Frank Büttner: »Die Rationalisierung der Mimesis. Anfänge der konstruierten Perspektive bei Brunelleschi und Alberti«, in: Andreas Kablitz/Gerhard Neumann (Hg.), Mimesis und Simulation, Freiburg: Rombach 1998, S. 55-87, hier: S. 87: »Nach Panofsky ist die Perspektive eine ›symbolische Form‹ im Sinne des von Ernst Cassirer geprägten Begriffs, in deren Ausbildung und Entwicklung sich der Übergang vom mittelalterlichen ›Aggregatraum‹ zum modernen ›Systemraum‹ ablesen lässt. Die Erfindung

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Giottos an. Als gemalte Wochenstube ist es ein Raum der Frauen, in dem, wenn man so will, lebendige Körper den Leib der Mutter verlassen, um in einen sozialen Raum überzugehen. Schwellen zum wechselseitigen Austausch werden eingerichtet, während das Haus als solches unverändert bestehen bleibt. Es erscheint als Raumkasten, der »lateral zur Handlungsachse und frontal zur Sichtachse« geöffnet wurde, um eine Aktion, »wie sie demonstrativ durch die Öffnung hindurch geschieht«, aufzuzeigen.73 Was dadurch erreicht wird, ist eine neuartige Transparenz und Durchlässigkeit des Raumes, durch die nicht nur die Körper und Gegenstände, sondern – auch wenn dies in den optischen Theorien der Zeit als Gedanke gerade erst aufblitzt – sogar noch das Licht und die Farben als Kräfte geschickt werden können. Das Raummedium als solches wird durchsichtig bzw. verwirklicht sich allenfalls in der Aufgabe, die Körper und Farben nacheinander aufzunehmen, während es selbst unbeweglich verharrt. In diesem Sinne entwickeln sich die Räume des Trecento zunehmend zu Durchgangsräumen, d.h. zu empfänglichen, sich davon jedoch schon ein wenig unbeeindruckt gebenden Medien. Zum anderen aber schwingt weiterhin die platonische Auffassung des Raumes als »Amme und Aufnehmerin alles Werdens« mit, die sich in den vermehrten Darstellungen von Verkündigungs-, Geburtsund Ammenszenen des Tre- und Quattrocento zuweilen auffallend in den Vordergrund drängt. In den gemalten Mutterhäusern der Maria warten grundsätzlich die Mägde und Kindswärterinnen darauf, das Neugeborene entgegenzunehmen und zu ernähren, sei es bei Giotto, Agnolo Gaddi, Filippo Lippi oder ganz prominent in Paolo Uccellos Natività im Dom zu Prato, bei der Anna weit in den Hintergrund gerückt wurde.74 der Perspektive jedoch setzt einen wie auch immer gearteten Raumbegriff keineswegs voraus. (…) Die Systematisierung und Rationalisierung der Gegenstände, ihrer Orte und ihrer wechselseitigen Beziehungen im Bild ist das, was die Perspektive nach den Intentionen ihrer Begründer leisten sollte. In ihren Wirkungen reichte die Theorie der Perspektive aber weit über die anfänglich leitenden Vorstellungen hinaus, denn durch die Perspektivkonstruktion und ihre Theorie wurde der Begriff des Systemraums überhaupt erst denkbar.« 73 | Ebd., S. 45. 74 | »Die Trennung von Mutter und Kind ist stehendes Faktum der Geburtsikonographie (…). Auffälliger wird sie jedoch noch bei Giotto. (…) Bei

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Abbildung 3: Paolo Uccello, Geburt Mariens, 1435/36, Dom zu Prato, Cappella dell’Aussunta

Wolfgang Kemp hat auf diese Geburtsikonographie Bezug genommen und in einer zwingenden Geste auf die sozialhistorische Situation des Ammenwesens (baliato) hingewiesen. Die Amme hatte in der toskanischen Stadtgesellschaft, als Zwischenglied zwischen zeugender Form (Vater) und empfangender Materie (Mutter), tatsächlich eine fundamentale, weil großziehende und nutritive Funktion eingenommen. der Geburt der Maria kommt es zum einzigen Fall einer Simultandarstellung im umfangreichen Zyklus der Arenakapelle. Dies muß an sich schon aufhorchen lassen, denn Giottos Kunst steht ja als ein frühes und in ihrer Zeit konsequentestes Beispiel für den ›distinguierenden‹ oder ›monoszenischen Stil‹, der die Erzählmomente auf selbständige Bildfelder verteilt. Zweimal taucht in dieser Geburtsdarstellung das neugeborene Kind auf: Es wird der Mutter angereicht, und gleichzeitig wird es von einer Dienerin im Vordergrund gehalten und gefüttert. Seine Doppelexistenz steht für die beiden Formen des Kindseins im Trecento.« (Kemp: Räume der Maler, S. 48). Vgl. außerdem die Thematisierung der Amme in Leon Battista Alberti: Della Famiglia, Florenz [1433-1441], Turin: Einaudi 1969. Lit.: Haas, Louis: The Renaissance man and his children. Childbirth and early childhood in Florence 1300-1600, Basingstoke 1998; Naomi J. Miller/Naomi Yavneh (Hg.), Maternal Measures. Figuring Caregiving in Early Modern Period, Aldershot: Ashgate Publishing Company 2000; Rudolph M. Bell: How to Do It: Guides to Good Living for Renaissance Italians, Chicago, London: University of Chicago Press 1999.

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Wir stoßen an allen Ecken auf eine Zeugungs-, auf eine Kraft- und Fortpflanzungsmetaphorik, die auf einer theoretischen Ebene in Verbindung mit dem Raum als Reproduktionsmedium gebracht werden kann. Erinnern wir uns zum Beispiel an Simone Martinis Erweckung eines Kindes, in der als Folge einer Reihe wundersamer Errettungen von Kindern die Geschichte eines Unglücksfalls (die Amme bewegt das Kind in einer Hängematte, um es zu beruhigen, ein Seil der Aufhängung reißt, das Kind wird gegen eine Mauer geschleudert, sein Kopf zerbirst wie eine »gläserne Phiole«75) erzählt wird. Abbildung 4: Simone Martini, Der sel. Agostino Novello erweckt ein Kind zum Leben, 20er Jahre des 14. Jahrhunderts, Siena, San Agostino

Besonders beindruckend ist in der Erzählung die Rückkehr des Kindes ins Leben: Die Schwägerin fügt, ein Gelübde darbringend, den Kopf wieder zusammen, »als wäre er aus Wachs«76, und sogleich »fing der Knabe an zu weinen und an der Brustwarze zu saugen und war gerettet.«77 Amme, Mutter, Schwägerin sind noch immer 75 | Ebd., S. 58. 76 | Acta Sanctorum Maii IV, S. 621; Max Seidel: »Ikonographie und Historiographie. ›Conversation Angelorum in silvis‹. Eremiten-Bilder von Simone Martini und Pietro Lorenzetti«, in: Städel-Jahrbuch 10 (1985), S. 77ff. 77 | Ebd.

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metaphorische Verkörperungen des wachsweichen Prägematerials des Mediums, in das die Körper als lebendige Wesen ein- und austreten können. Aber Kemp hatte auch anschaulich geschildert, wie die Amme mit großem Eifer die Hängematte in Schwung versetzt hat und das Kind – einem Wurfgeschoss ähnlich – »nicht gegen die Wand, sondern durch den offenen Durchgang und damit in den Bereich des nächsten Handlungsortes« fällt. Er hatte weiter argumentiert, dass die ganze Geschichte von Anfang bis Ende durch solche Öffnungen durchprozessiert und der Tod als Herausfallen, »im doppelten Sinne: aus der Wiege, aus dem Haus«78 wirkmächtig in Szene gesetzt wurde. Damit ist schon ein bildlicher Zwischenbereich aufgemacht zwischen Räumen, die ihr Wesen aus Orten, und solchen, die es aus ›dem‹ Raum beziehen, der zum festen Haus, zum transparenten Durchgangsort von Körpern geworden ist.79 Der Raum zwischen den einzelnen Gegenständen wird passierbar und frei. Zunehmend sind es einzelne Körper, die sich in ihrer Bewegung fortpflanzen, und das Revolutionäre ist, dass sie den Raum als Medium nicht mehr benötigen, sondern sich mit der ihnen eingegebenen Kraft (vis impressa) von alleine bewegen können. Narration kann entstehen, weil die Körper eigenständig und interaktiv werden; Räume werden zu Erzählräumen. Es ist im Übrigen auffällig, dass in diesen Räumen inzwischen auch viel gelaufen und getanzt wird. Die späteren nymphae Ghirlandaios, die Warburg bespricht, oder Filippo Lippis sich leichtfüßig durch den Raum schwingende Salome im Dom zu Prato sind bereits versierte Vertreterinnen einer dynamisierten Körperwelt, deren Bewegungen fließend und kontinuierlich erscheinen, weil sie als eigener innerer Zustand des Bewegten gedeutet werden können.

78 | Kemp: Räume der Maler, S. 60. 79 | Dies in Bezug auf Kemp, der noch »für Lippis Fresken weiterhin gelten [lässt], dass »die Räume«, um mit Heidegger zu sprechen, »ihr Wesen aus Orten und nicht aus ›dem‹ Raum« beziehen.« (Kemp: Räume der Maler, S. 75; das Zitat aus: Martin Heidegger: »Bauen Wohnen Denken«, in: O. Bartning (Hg.), Mensch und Raum, Darmstadt: Neue Darmstädter Verlagsanstalt 1951, S. 79).

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Abbildung 5: Domenico Ghirlandaio, Geburt Johannes, 1486-90, Cappella Tornabuoni, Santa Maria Novella, Florenz.

So heißt es beispielsweise im Tanztraktat des Domenico da Piacenza, der das abwechselnde Spiel von Bewegung und Einhalt im Tanzen bespricht, »dass, nicht anders als diejenigen, die ein Geschoss fortschleudern, es nicht mehr aufhalten können«, auch der Tänzer »den Körperteil in eine gewisse [permanente] Bewegung bringt.«80 Der plötzliche Stillstand zwischen zwei Bewegungen dient einer kurzen 80 | Nach Giorgio Agamben: Nymphae, Berlin: Merve Verlag 2005, S. 1112. Domenico da Piacenzas De arte saltandi & choreas ducendi. Dela arte di ballare et danzare ist in der Handschriftenabteilung der Bibliothek Nationale in Paris einzusehen (fonds it. 972). Man könnte an dieser Stelle einen Ausflug zu Agambens Rhythmiktheorie starten. In seinem Nymphae-Buch zitiert er aus jenem Tanztraktat aus dem Cinquecento, dem zugleich eine Bildtheorie zugrunde liegt: Im Einhalten nach jeder Tanzeinheit, und wie um sich zu versichern, erlangt der Tänzer über seine Schritte ein ›Bild‹. Die flüssige Bewegung wird arretiert, um sie für einen kurzen Augenblick ins Simultane – das Bild – zu überführen. Dann aber zieht es den Körper in die nächste Bewegung. In der zitierten Stelle geht es zum einen um die Tänzerbewegung, zum anderen um die Bewegung des (Bild-)Gedächtnisses, die mit der Stoßkraft eines Geschosses verglichen wird. Über den Zusammenhang von Tanz, Bewegungstheorie und Bildgedächtnis des 15. Jahrhunderts wird eine eigene Studie vorbereitet.

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Bewusstwerdung des raumzeitlichen Ablaufs: »Im nächsten Augenblick aber hebe man die Flügel wie ein Falke, der von der Beute in Bewegung gesetzt wird«.81 Denn dass Bewegung von keinem Medium sukzessive aufrechterhalten werden muss, sondern den Körpern wie eine Eigenschaft zukommt und auf eine inhärente Kraft des Trägers schließen lässt, wird das gesamte 14. Jahrhundert über diskutiert und für immer wahrscheinlicher befunden. Olivi beispielsweise und später die Franziskaner des 14. Jahrhunderts hatten sich ausgiebig mit der Frage beschäftigt, ob man die Bewegung eines Körpers als eine permanente Eigenschaft (wie z.B. die Farbe) verstehen könne.82 In der Forschung ist dabei immer wieder auf die doppelte Wurzel des Wortes permanens hingewiesen worden: »Wird es auf ›permaneo‹ zurückgeführt, steht es im Gegensatz zu ›zeitlich begrenzt‹. Bringt man es jedoch mit ›permano‹ (als mit ›hindurchfließen‹) zusammen, kontrastiert es mit ›sukzessive‹ und bezeichnet ›gegenwärtig sein totum simul‹.«83 Es bedeutet, dass alles Bewegte von einem Movens erfüllt ist; ein Handlungsmoment fließt durch die Körper und motiviert sie zu Aktionen. Gleichermaßen sich aktiv auf Gegenstände ausrichtend (sich ihnen zuwendend und sie ›in den Blick nehmend‹) hatte Olivi den visuellen Wahrnehmungsakt verstanden.84 Bewegungen durchlaufen den Raum im Sinne direkter Bezugnahmen und Kräfteübertragungen. Die eilenden, sich im Lauf zuweilen verausgabenden 81 | Wie Anm. 79. 82 | Vgl. auch Wolff: Impetustheorie, S. 218: »Das ›permanente‹ Sein des Impetus soll allerdings nicht dessen Unzerstörbarkeit oder Unvergänglichkeit bedeuten. Der Impetus ist vielmehr wie alles, was einem Körper eingeprägt werden kann, vergänglich und zerstörbar durch etwas, was ihm entgegenwirkt.« 83 | Ebd., S. 219, Anm. 10. Die Unterscheidung nach Drake: Impetus Theory, S. 32ff. Auf anderer Ebene haben Olivi und die frühen Ökonomen dies mit der Münzprägung verglichen, weil hier das Material zum Träger einer spezifischen Kraft gerät. Dabei diskutieren sie, dass sich der aufgeprägte Wert (als Kraft) ändern kann und grundsätzlich vom Material losgelöst existiert. Auf diese Weise kann, und das ist eine weitreichende Konsequenz, jede physische Bewegung oder Erregung vom Träger gelöst und auf einen anderen übertragen werden (der dann wiederum davon erfüllt ist). 84 | Petrus Johannis Olivi: »Quaestiones«, in: Bernhard Jansen (Hg.): secundum librum Sententiarum, 3 Bde., Firenze-Quaracchi 1922, Bd. II., q. 73 (III, 66-67).

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Figuren des Quattrocento sind ebenso Zöglinge einer »Amme des Werdens«, die diese Veränderungen ermöglicht, wie Bewohner eines ökonomisierten Stadtraums, in dem sich Handlungen, Austausch, Transaktionen inzwischen von alleine motivieren sollen und müssen. Als Raum der Praxis, der Bewegung, Handlung und Erzählung sollte der frühneuzeitliche, sich perspektivierende Raum in diesem Beitrag beschrieben werden. Innerhalb der Malerei gibt es erst langsam »ein eindeutiges und widerspruchsfreies Raumgebilde«85 im Sinne eines geometrischen Raumkastens. Wir müssen deshalb genau hinsehen und Feinheiten ausmachen. Denn neben der Alternative eines topologischen Ortsmodells und eines Raumcontainers, die sich in unserer kunsthistorischen Betrachtung meist noch als unvereinbare Blöcke gegenüberstehen, haben über lange Zeit Paralösungen überwogen wie z.B. die Vorstellung eines festen Mutterhauses, das materiell gefüllt und von dynamischen Abläufen durchzogen ist.86 Dieser Raum wird als Plenum gedacht, aber ohne eigene Qualitäten außer denen, die ihm die Körper temporär (z.B. über Bewegung) zutragen. Wenn man so will, hat das feste Mutterhaus seine Kinder emanzipiert, indem es ihnen keine Orte und Richtungen mehr vorgibt, selbst jedoch unsichtbar und unverrückbar auf seinem Platz besteht. Dieses feste Haus kann man beliebig passieren und durchlaufen, aber sehen kann man es nicht.

85 | Wie Anm. 69. 86 | Die Vorstellung der Existenz eines leeren Raumes bahnt sich auch innerhalb der wissenschaftlichen Raumdiskussion erst langsam an. Vgl. dazu die weitere Diskussion bei Francesco Patrizi, Bernardino Telesius, Tommaso Campanella und Pico della Mirandola, die sich erneut auf Philoponos’ Theorie des Raumes beziehen. Patrizi wird sich dann gegen die Wahl von Substanz oder Akzidens wenden, um den Raum apriorisch zu bestimmen. Damit erscheint er (mit Gassendi und Charleton) als Vorbereiter des »absoluten Raumes« Newtons (z.B. Wolff: Impetustheorie, S. 148ff.; Jammer: Problem des Raumes, S. 97; Edith Dudley Sylla: »Imaginary Space: John Dumbleton and Isaac Newton«, in: Aertsen/Speer: Raum und Raumvorstellungen, S. 220, Anm. 22).

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L ITER ATUR Büttner, Frank: »Die Rationalisierung der Mimesis. Anfänge der konstruierten Perspektive bei Brunelleschi und Alberti«, in: Andreas Kablitz/Gerhard Neumann (Hg.): Mimesis und Simulation, Freiburg: Rombach 1998, S. 55-87. Derbes, Anne/Sandona, Mark: The usurer’s heart: Giotto, Enrico Scrovegni, and the Arena Chapel in Padua, Pennsylvania State University Press, 2008. Donati, Silvia: »Materie und räumliche Ausdehnung in einigen ungedruckten Physikkommentaren aus der Zeit von etwa 1250 – 1270«, in: Aertsen/Speer (Hg.): Raum, S. 17-51. Fehrenbach, Frank: »Numisma ex numismate. Die Bildnisse von Jacopo und Ottavio Strada«, in: Christine Ott/Ulrich Pfisterer (Hg.): Biologia della Creatività (in Vorbereitung). Fehrenbach, Frank: Licht und Wasser. Zur Dynamik naturphilosophischer Leitbilder im Werk Leonardo da Vincis, Tübingen: Wasmuth Ernst Verlag 1997. Flasch, Kurt: Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277, Mainz 1989 (Excerpta classica, 6). Grant, Edward: »The Condemnation of 1277, God’s Absolute Power, and Physical Thought in the Late Middle Ages«, in: Viator 10 (1979), S. 211-244. Grant, Edward: Much Ado about Nothing. Theories of Space and Vacuum from the Middle Ages to the Scientific Revolution, Cambridge: Cambridge University Press 1981. Jammer, Max: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960. Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München: Verlag C.H. Beck 1996. Leinkauf, Thomas/Steel, Carlos (Hg.): Platons Timaios als Grundtext der Kosmologie in Spätantike, Mittelalter und Renaissance, Leuven: UP 2005. Lindberg, David C.: Roger Bacon’s Philosophy of Nature (mit Übersetzung von De multiplicatione specierum und De speculis concurentibus), Chicago: St Augustine’s Press 1997. Lindberg, David C.: Theories of Vision from al-Kindi to Kepler, Chicago, London: The University of Chicago Press 1976.

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Maier, Anneliese: Metaphysische Hintergründe der spätscholastischen Naturphilosophie, Rom: Edizioni di Storia e Letteratura 1955, S. 151-175. Maier, Anneliese: Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturphilosophie, Rom: Edizioni di Storia e Letteratura 1951. Miller, Naomi J./Yavneh, Naomi (Hg.): Maternal Measures. Figuring Caregiving in Early Modern Period, Aldershot: Ashgate Publishing Company 2000. Roover, Raymond de: San Bernardino of Siena and Sant’Antonio of Florence. The Two Great Economic Thinkers of the Middle Ages, Boston: Baker Library 1967. Sarnowsky, Jürgen: »Si extra mundum fieret aliquod corpus… Extrakosmische Phänomene und die Raumvorstellungen der ›Pariser Schule‹ des 14. Jahrhunderts«, in: Jan A. Aertsen/Andreas Speer (Hg.): Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter. Miscellanea Mediaevalia 25, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1998, S. 130144. Spruit, Leen: Species intelligibilis: From Perception to Knowledge, 2 Bde., Leiden, Boston: Brill 1993. Tachau, Katherine H.: Vision and Certitude in the Age of Ockham. Optics, Epistemology and the Foundation of Semantics 1250-1345, Leiden, Boston: Brill 1988. Thiel, Detlef: »Chóra, locus, materia. Die Rezeption des platonischen Timaios (48a-53c) durch Nikolaus von Kues«, in: Aertsen/Speer: Raum, S. 52-73. Wolff, Michael: Geschichte der Impetustheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978. Wolff, Michael: »Mehrwert und Impetus bei Petrus Johannis Olivi. Wissenschaftlicher Paradigmenwechsel im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen im späten Mittelalter«, in: Jürgen Miethke/ Klaus Schreiner (Hg.): Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Konstanz 1994, S. 413-423.

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A BBILDUNGEN Abb. 1a + b: Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München: Verlag C.H. Beck 1996, S. 17. Abb. 2: Johannes Kepler: Mysterium Cosmographicum, Frankfurt: Gottfried Tampach 1621, begleitende Tafel zu Seite 26. Abb. 3: Hermann Walter: »An illustrated Incunable of Pliny’s Natural History in the Biblioteca Palatina«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, London: The Warburg Institute 1990, S. 221. Abb. 4: Horst Bredekamp: »Kulturtechnik zwischen Mutter und Stiefmutter Natur«, in: Sibylle Krämer/Horst Bredekamp (Hg.): Bild – Schrift – Zahl, München, Paderborn: Fink Verlag 2003, S. 130. Abb. 5: Fotoarchiv der Autorin.

Zu den Autorinnen und Autoren

Sabiene Autsch (Dr. phil.), seit 2008 Professorin für »Kunst, Kunstgeschichte und ihre Didaktik« an der Universität Paderborn, 2008 Habilitation an der Universität/Kunsthochschule Kassel, 1998 Promotion an der Universität Siegen, Studium der Kunst, Kunstgeschichte und Geschichte an den Universitäten Siegen und Wien. Mitglied des Wissenschaftlichen Forschungskollegs (DFG) »Spielformen der Angst«. Eigene künstlerische Arbeiten und Ausstellungen im In- und Ausland. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Geschichte der documenta, Atelier- und Ausstellungskonzepte, Kuratorische Praxis, Didaktik der Kunstgeschichte, Angsttopografien in der Gegenwartskunst. Publikationen (Auswahl): »Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten« (zusammen mit P. Seibert/M. Grisko, Bielefeld 2005); »Ausstellungsgesten im 20. Jahrhundert«, Bielefeld 2010/11; »Polke für Alle. Künstlerische Strategien im Werk von Sigmar Polke«. Ein studentisches Projekt, Paderborn 2010; »Literatur ausstellen«, in: Handbuch zur Theorie u. Praxis von Ausstellungen. Frankfurt a.M. 2010. Christoph Brockhaus (Dr. phil.), von 1985-2010 Direktor der Stiftung Wilhelm-Lehmbruck-Museum in Duisburg. Studium der Europäischen und Südostasiatischen Kunstgeschichte und der Vergleichenden Religionswissenschaft in Hamburg, Wien, Austin/Texas und Heidelberg. 1980-84 Leiter der Grafik- und Fotosammlung am Museum Ludwig und Sonderbeauftragter für den Neubau des Wallraf-Richartz-Museum und des Museum Ludwig in Köln. Zahlreiche Ausstellungen und Projekte zur Skulptur des 20. und 21. Jahrhunderts. Publikationen (Auswahl): »Das Jahrhundert moderner Skulptur«. Sammlungskatalog der Stiftung Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg, Köln 2006; »Pit Kroke, Ludus architectonicus«, Oberhausen 2008; Wilhelm Lehmbruck, Aristide Maillol et Auguste Rodin;

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Wilhelm Lehmbruck, entre espoir et désespoir: Les oeuvres majeures des années de guerre, in: Oublier Rodin? La sculpture à Paris 19051914, Paris/Madrid 2009. Andrea Brockmann (Dr. phil.), seit 2007 Geschäftsführerin und künstlerische Leiterin des Kunstvereins Galerie Münsterland e.V., Emsdetten, 2007 Projektassistenz »Tatort Paderborn«, Public-Art-Projekt der Stadt Paderborn, 2006 Galeriemitarbeiterin, Samuelis-BaumgarteGalerie, Bielefeld. Magister- und Promotionsstudium der Neueren Geschichte, Kunstgeschichte und Kommunikationswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 2005 Promotion. Beiträge in Ausstellungskatalogen. Publikationen (Auswahl): »Diese Landschaft ist NIRGENDWO, Ulrich Möckel, Christoph Seidel«, Bd. 1: Das Quellenbuch, Bielefeld 2009; »Bilder machen Geschichte«, in: Andreas Rosenthal (…) angesichts der Güte, Kat. DA, Kunsthaus Kloster Gravenhorst, 2008, S. 49-59. Jan Hoet (Dr. h.c. der Universität Gent), Kunsthistoriker und Kurator zahlreicher internationaler Ausstellungen. Von 2001 bis 2008 künstlerischer Direktor des MARTa Herford, ein Museum für zeitgenössische Kunst und Design, Kurator des Projekts »colossal« im Osnabrücker Land, 2001 Gastprofessur an der Universität Göttingen. Seit 1999 war er Direktor des neu eröffneten Stedelijk Museum voor Actuele Kunst (S.M.A.K.) in Gent in Belgien. 1992 wurde er zum künstlerischen Leiter der documenta IX, Kassel berufen, 1986 entwickelte er mit der Ausstellung »Chambres d’Amis« in Gent ein Ausstellungskonzept, womit die Grenze zwischen Kunst und Alltag aufgehoben werden sollte. Zahlreiche Beiträge in Ausstellungskatalogen, Auszeichnungen und Ehrungen. Sara Hornäk (Dr. phil.), seit 2006 Professorin für »Kunst und ihre Didaktik/Schwerpunkt Bildhauerei« an der Universität Paderborn. Studium der Kunst und Philosophie an der Kunstakademie und der Universität in Düsseldorf, 1. und 2. Staatsexamen, 2000-2006 Studienrätin Gymnasium Mettmann, 2003 Promotion: »Spinoza, Vermeer und die Immanenz in Philosophie und Malerei« (Würzburg 2004), 2003-2006 Lehrbeauftragte an der Kunstakademie Düsseldorf. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Bildhauerei in Praxis, Theorie und Didaktik; Theorien künstlerischer Praxis; Ästhetische Grundlegung der Kunstpädagogik; Raumdiskurse in kunstwissen-

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schaftlichen und kunstpädagogischen Kontexten; eigene künstlerische Arbeit. Aktuelle Publikationen: »Skulptur vor Ort. Eingriffe in den öffentlichen Raum Paderborns. Ein Projekt von Studierenden im Fach Kunst an der Universität Paderborn«, Paderborn 2008; »Abdruck und Abformung – Zur Präsenz des Abwesenden in der Kunst. Lehr- und Lernprozesse im Spannungsfeld künstlerischer Praxis, Kunstgeschichte und Kunsttheorie«, in: Bering/Niehoff (Hg.): Orientierung Kunstpädagogik, Oberhausen 2010. Gabriele Huber (Dr. phil.), Kunsthistorikerin. Internationale Gastprofessuren und Lehrtätigkeiten u.a. in Chongqing (China) (2005/2006), 1997 Preis der italienischen Handelskammer Deutschland für die Habilitationsschrift, 1995 Habilitation, 1991-94 DFG HabilitationsStipendiatin in Rom, anschließend Assistentin an der Universität/ Kunsthochschule Kassel. 1988 Promotion; Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie in Heidelberg. Publikationen (Auswahl): »Do you remember?«. La Memoria nell’opera di Fabrizio Bertuccioli, in: Ausstellungskatalog Fabrizio Bertuccioli – tra vissuto e pensato, Rom 2009; »Kunst und Utopie. Kunst und Kultur der 10er Jahre in Deutschland«, in: Werner Faulstich: Das zweite Jahrzehnt Kulturgeschichte des 20. Jh. Bd. 2, München 2007, S. 141-162. Karin Leonhard (Dr. phil.), Kunsthistorikerin. 2009-2011 Postdoctoral Fellow am Kunsthistorischen Institut in Florenz, 2004-2006 interdisziplinäres Projekt der VW-Stiftung »Historische Wahrnehmungsformen in Bild und Text« am Institut für Germanistik der Universität Leipzig, 2001 Promotion. Seit 2004 wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der KU Eichstätt-Ingolstadt. Forschungsschwerpunkte: Raum- und Wahrnehmungstheorien der Frühen Neuzeit; Wissenschafts- und Wahrnehmungsgeschichte des 17. Jh.; Methoden und Geschichte der Kunstgeschichte bzw. Bildwissenschaften; Barock und Postmoderne. Publikationen (Auswahl): »Das gemalte Zimmer. Zur Interieurmalerei J. Vermeers«, München 2005; »Shell collecting. On 17th Century Conchology, Curiosity Cabinets and Stillife Painting«, in: Intersections, Leiden 2007; »Über Links und Rechts und Symmetrie im Barock«, Vorbereitung einer Habilitationsschrift zum empirischen Naturbegriff im 17. Jahrhundert, in: Stephan Günzel (Hg.) Topologie, Weimar 2007.

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Petra Maria Meyer (Dr. phil.), Professorin für »Kultur- und Medienwissenschaften« an der Muthesius-Kunsthochschule in Kiel. Promotion an der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf; Habilitation in Theaterwissenschaft mit medienwissenschaftlicher Ausrichtung an der Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz. 2004-2008 Intendantin des »Center for Interdisciplinary Studies« an der Muthesius-Kunsthochschule, Kiel. Vertretungsprofessuren und Gastdozenturen im In- und Ausland. Tätigkeit als Autorin, Dramaturgin und Lektorin im »Studio Akustische Kunst« (WDR, Köln). Forschungsschwerpunkte: Intermedialität, Medienphilosophie, Ästhetik und Philosophie des Leibes, Gegenwartstanz und -theater, Szenographie und Akustische Kunst. Publikationen (Auswahl): »Intermedialität des Theaters. Entwurf einer Semiotik der Überraschung«, Düsseldorf 2001; »acoustic turn«, München 2008; »Gegenbilder. Zu abweichenden Strategien der Kriegsdarstellung«, München 2009. Jens Schröter (Dr. phil.), seit 2008 Professor für »Theorie und Praxis multimedialer Systeme« an der Universität Siegen. 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt »Virtualisierung von Skulptur. Rekonstruktion, Präsentation, Installation« des Siegener Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs »Medienumbrüche«. Leiter der Graduiertenschule »Locating Media« an der Universität Siegen. 1999-2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter, Stiftungsprofessur Theorie und Geschichte der Fotografie, Universität Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte digitaler Medien, Digitale Kunst, Theorie und Geschichte der Fotografie, Dreidimensionale Bilder, Intermedialität. Publikationen (Auswahl): (zusammen mit Albert Kümmel): »Äther. Ein Medium der Moderne«, Bielefeld 2008; Hg. (zusammen mit Stefan Rieger) »Das holographische Wissen«, Berlin: 2009; »3D. Geschichte, Theorie und Medienästhetik des technischtransplanen Bildes«, München 2009. Thomas Stricker, freischaffender Künstler, lebt und arbeitet in Düsseldorf. 1986-1993 Studium an der Kunstakademie Düsseldorf bei Klaus Rinke. Gastlehraufträge in Norwegen und Paderborn. Arbeitsaufenthalte in der Mongolei (1994), Australien (2003), Namibia (2007), Mexico (2009). Ausstellungen und Projekte im öffentlichen Raum (Auswahl): »blüht es oder blüht es nicht?«, Stromberg (200204); »Himmel oben, Himmel unten«, U-Bahnhof der Wehrhahnlinie, Düsseldorf (2002, geplante Fertigstellung 2014); »Heimspiel«,

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Kunstmuseum und Kunsthalle St. Gallen (2004); »kleine Welten« Düsseldorf (2006-07); »permanent lightning« Stadtgarten Grevenbroich, im Rahmen des Sparda-Kunstpreises NRW (2009); »Gedächtnislandschaft«, Bundesarchiv Berlin, in Zusammenarbeit mit Pauli-Landschaftsarchitekten, St. Gallen (2009-2011); »Residual«, Universidad Nacional Autonoma de Mexico und Goethe-Institut in Mexiko-City (2010); »Über Wasser gehen«, ein Projekt der Kulturhauptstadt Ruhr an der Seseke (2010). Tristan Thielmann (Dr. phil.), ausgebildeter Medienwissenschaftler und Mediengestalter. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt »Kulturgeographie des Medienumbruchs analog/ digital« der Universität Siegen und Fellow der »Software Studies Initiative« an der University of California San Diego. Publikationen (Auswahl): Tristan Thielmann (Hg.): Locative Media and Mediated Localities, in: Aether Special Issue No. 5; Jörg Döring und Tristan Thielmann (Hg.): »Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften«, Bielefeld 2008; Tristan Thielmann und Jörg Döring (Hg.): »Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion«, Bielefeld 2009. Evanthia Tsantila, freischaffende Künstlerin, lebt und arbeitet in Berlin. 1991-1997 Studium an der Kunstakademie Düsseldorf bei Jannis Kounellis, Meisterschülerin (2006). J.F. Costopoulos Foundation Fund Award; Hauptstadtkulturfonds Berlin für das Projekt »The Silence« (2005); Internationales Atelierprogramm Künstlerhaus Bethanien Berlin, unterstützt durch das griechische Ministerium für Kultur Athen (2004); »Thessaloniki 97«, Projekt mit 32 Künstlerinnen und Künstlern der Kunstakademie Düsseldorf und der Kunstschule Thessaloniki (gemeinsam mit J. Kounellis) (1997); Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland, zahlreiche Projekte, Workshops, Biennalen. Bibliographie (Auswahl): Jan-Erik Lundstrom, Evanthia Tsantila: »The Silence« (Ausstellungskatalog) (2007); Kalliopi Minioudaki, Evanthia Tsantila: »Standing« (Ausstellungskatalog) (2007); Jennifer Higgie, The Grand Promenade Review, FRIEZE 103 (2006); Jan-Erik Lundstrom, Evanthia Tsantila: »The Silence«; Susane Simon, Evanthia Tsantila, in: DIE ZEIT vom 2.5.2006. Hartmut Wilkening, freischaffender Künstler, lebt und arbeitet in Amsterdam. Studium an den Kunstakademien in Stuttgart, Düssel-

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dorf und Amsterdam. Arbeitsaufenthalte in Keramikwerkstätten in China und Holland. Gastdozent an der Gerrit Rietveld Akademie Amsterdam, Stint Lucas Akademie Gent und an der Universität Paderborn. Kunstaufträge unter anderem in Zusammenarbeit mit dem staatlichen Hochbauamt Stuttgart, der Stadt Amsterdam und der niederländischen Stiftung SKOR. Zahlreiche nationale und internationale Ausstellungen. Einzelausstellungen (Auswahl): Galerie Rodolphe Janssen in Brüssel (2001), Chinese European Art Center Xiamen, TENT Rotterdam (2005). Isa Wortelkamp (Dr. phil.), Juniorprofessorin für Tanzwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, 2003 Promotion an der Universität Basel, 1993-1998 Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen. Forschungsschwerpunkte: Untersuchung der Verhältnisse von Aufführung und Aufzeichnung, Choreographie und Architektur sowie von Bild und Bewegung. Publikationen (Auswahl): »›Man walking down the wall‹. Zur Wahrnehmung von Stadtarchitektur in den equipment pieces von Trisha Brown«, in: Yvonne Hardt (Hg.): Tanz – Metropole – Provinz, Münster 2007; »Tanz der Figuren – Zur Darstellung von Bewegung in den Bildern von Hans von Marées«, in: Henri Schoenmakers u.a. (Hg.): Theater und Medien. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld 2008.

Image Thomas Abel, Martin Roman Deppner (Hg.) Undisziplinierte Bilder Fotografie als dialogische Struktur Dezember 2010, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1491-6

Elize Bisanz Die Überwindung des Ikonischen Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft Januar 2010, 184 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1362-9

Lars Blunck (Hg.) Die fotografische Wirklichkeit Inszenierung – Fiktion – Narration August 2010, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1369-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Image Kirsten Einfeldt Moderne Kunst in Mexiko Raum, Material und nationale Identität September 2010, 462 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1503-6

Matilda Felix Nadelstiche Sticken in der Kunst der Gegenwart Oktober 2010, 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1216-5

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts Juli 2010, 256 Seiten, kart., 135 Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1

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