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German Pages 270 Year 2014
Christoph Wulf Bilder des Menschen
Edition Kulturwissenschaft | Band 61
Christoph Wulf (Dr. phil.) ist Professor für Anthropologie und Erziehung und Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie an der Freien Universität Berlin.
Christoph Wulf
Bilder des Menschen Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Danksagung | 7 Einleitung: Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur | 9
I. BILD UND IMAGINATION 1. 2. 3. 4.
Die Welt als Bild – Das große Bild ohne Form | 21 Imagination und die Genese des Menschen | 35 Ikonische Formen der Imagination | 51 Theorien und Konzepte der Imagination | 69
II. IMAGINATION UND IMAGINÄRES 5. 6. 7. 8.
Kollektivität und Dynamik des Imaginären | 89 Imaginäres, Symbolisches und Reales | 101 Die Performativität der Imagination | 111 Bilder als Handlungen | 123
III. IMAGINATION UND PRAKTIKEN DES KÖRPERS 9. 10. 11. 12.
Die Welt des Spiels | 139 Anthropologie des Tanzes | 147 Die Unhintergehbarkeit der Rituale | 153 Gesten als Sprache | 175
13. 14. 15. 16.
Kulturelles Lernen als mimetisches Lernen | 191 Immaterielles kulturelles Erbe | 203 Familienrituale | 211 Das Glück der Familie | 221
Ausblick: Die Macht der Bilder | 243
Literatur | 247 Abbildungsnachweis | 267
Danksagung
Teile dieses Buches konnte ich während längerer Forschungsaufenthalte an den Universitäten von Kyoto, Tokyo und Stanford schreiben. Den Kollegen Shoko Suzuki, Yasuo Imai und Elliot Eisner danke ich für Ihre Einladungen. Dank schulde ich auch Dr. Michael Sonntag für Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung des Manuskripts und Fanny Franke, die ihm dabei half. Ich widme dieses Buch meinem Bruder Hans Wulf.
Berlin im Juli 2014
Christoph Wulf
Einleitung: Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur
Wenn von „Bildern des Menschen“ die Rede ist, so hat dies zwei Bedeutungen, die einer näheren Untersuchung bedürfen. Einmal gilt es herauszuarbeiten, welche zentrale Rolle Bilder und mit ihnen die Imagination und das Imaginäre für die Konstitution des Menschen spielen. Zum anderen soll deutlich werden, dass mit der Bearbeitung dieser Frage bestimmte Bilder vom Menschen entwickelt werden, die ebenfalls zum Gegenstand historischer, kulturanthropologischer und philosophischer Untersuchung werden. Die Komplexität des Themas ist beträchtlich, zumal die Untersuchung der „Bilder des Menschen“ nicht ohne sich immer wieder verändernde Bilder auskommt. Zum Thema werden Bilder, die der Mensch von sich selbst entwirft, und deren Bedeutung für seine Wahrnehmung der Welt und der anderen Menschen, für seine Erinnerungen und seine Zukunftsprojektionen es darzulegen gilt. Die „Bilder des Menschen“ werden durch soziale und kulturelle Praktiken des alltäglichen Lebens und durch die Künste erzeugt. Sie werden Teil des kollektiven und individuellen sozialen und kulturellen Imaginären und wirken dadurch an der Gestaltung des menschlichen Handelns mit. Die Erzeugung von Bildern ist ein Merkmal, das wir als Menschen gemeinsam haben, dessen Ausgestaltung jedoch in der Geschichte und in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich ist. Da Bilder und das Imaginäre etwas sichtbar machen, was ohne sie unsichtbar bliebe, stellt ihre Erforschung einen wichtigen Bereich der Anthropologie dar. Was wir als „Bild“ bezeichnen, ist sehr unterschiedlich, so dass das Spektrum des Begriffs weit gespannt ist und eine Reihe von Präzisierungen erfordert. Einmal meinen wir das Ergebnis visueller Wahrnehmungsprozesse. Unter dem Einfluss der Neurowissenschaften und ihrer Verbildlichungsstrategien werden oft auch die Ergebnisse der Wahrnehmung mit anderen Sinnen als „Bilder“ bezeichnet. Sodann sprechen wir von mentalen oder „inneren“ Bildern, die etwas vergegenwärtigen, was selbst nicht anwesend ist. Dazu gehören z. B. Erinnerungsbilder, die sich von den Wahrnehmungsbildern durch ihre Unschärfe unter-
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scheiden. Entsprechendes gilt für Bildentwürfe zukünftiger Situationen, für Träume, Halluzinationen oder Visionen. Auch viele ästhetische Produkte sind Bilder. Sie sind Produkte eines auf die Erzeugung eines Bildes gerichteten Prozesses. Als Metaphern sind Bilder schließlich auch ein konstitutives Element der Sprache. Bilder schaffen, Bilder als Bilder erkennen, mit Bildern fantasievoll umgehen ist eine universelle Fähigkeit aller Menschen. Je nach historischer Zeit und Kultur ist sie jedoch unterschiedlich ausgeprägt. Denn welche Bilder wir sehen und wie wir Bilder sehen, wird durch komplexe historische und kulturelle Prozesse bestimmt. Wie wir Bilder wahrnehmen und mit ihnen umgehen, wird zudem durch unsere lebensgeschichtliche Einmaligkeit und Subjektivität beeinflusst. Bilder sind das Ergebnis energetischer Prozesse. Diese verwandeln die Welt der Gegenstände, Handlungen und anderen Menschen in Bilder. Mit Hilfe der Imagination werden diese eingebildet und Teil des kollektiven und individuellen Imaginären. Viele dieser Prozesse sind mimetisch und führen zu einer Anähnlichung an andere Menschen, Umwelten, Vorstellungen und Bilder. In mimetischen Prozessen wird die Außenwelt zur „Innenwelt“, die eine Welt der Bilder ist. Diese Welt der imaginären Bilder wirkt bei der Gestaltung der Außenwelt mit. Da diese Bilder performativ sind, tragen sie zur Emergenz von Handlungen und zur Inszenierung und Aufführung unseres Verhältnisses zu anderen Menschen und zur uns umgebenden Welt bei. Das Imaginäre ist der Ort der Bilder und als solcher das Ziel der Bilder erzeugenden mimetischen Prozesse. Zugleich ist es der Ausgangspunkt der mimetischen und performativen Energien der Bilder.
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UND I MAGINATION
Nicht weniger als die Sprache ist die Imagination eine conditio humana, eine Bedingung des Menschen, deren Grundlagen in der Konstitution des menschlichen Körpers liegen (Jonas 1994; Belting 2001; Hüppauf/Wulf 2006; Wulf 2013). Die Performativität, d. h. der inszenatorische Charakter menschlichen Handelns, ist eine Folge der prinzipiellen Offenheit und Rolle, die die Imagination bei der Ausgestaltung dieser Offenheit spielt. Mit ihrer Hilfe werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander verwoben. Die Imagination erzeugt die Welt des Menschen, die soziale und kulturelle, die symbolische und die imaginäre. Sie ermöglicht Geschichte und Kultur und damit geschichtliche und kulturelle Diversität. Sie schafft die Welt der Bilder und des Imaginären und ist beteiligt an der Erzeugung der Praktiken des Körpers, in deren Spektrum z. B. Tänze, Rituale und Gesten eine wichtige Rolle spielen. Für deren Inszenierungen und Aufführungen bedarf es nicht nur eines Bewusstseins dieser Praktiken. Vielmehr müs-
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sen sie inkorporiert und Teil eines praktischen, körperbasierten, impliziten Wissens sein, dessen dynamischer Charakter soziale und kulturelle Veränderungen und Gestaltungen möglich macht. Dabei sind mimetische, auf der Imagination beruhende Prozesse von zentraler Bedeutung. In ihnen findet kulturelles Lernen statt, das soziale und kulturelle Identität erzeugt, die eine zentrale Voraussetzung für Wohlbefinden und Glück bildet. Für alle Formen des sozialen und kulturellen Handelns spielt die Imagination eine zentrale Rolle. Mithilfe von Bildern, Schemata, Modellen steuert sie das menschliche Verhalten und Handeln. Bilder sind bestimmende Momente des Handelns, deren Bedeutung kontinuierlich zunimmt. Dies führt zu der Frage, was ein Bild ausmacht und welche Arten von Bildern sich unterscheiden lassen. Beispielsweise lassen sich mentale Bilder von manuell und technisch erzeugten sowie bewegte von unbewegten Bildern unterscheiden. Ein Blick in das traditionelle Bildverständnis Chinas macht deutlich, wie sehr das europäische Bildverständnis historisch und kulturell bedingt ist. In einem Spiel zwischen Sein und Nicht-Sein konstituiert sich das Halbdunkel und das Halbhelle des chinesischen Bildes. Dieses Hin und Her zwischen Sein und Nicht-Sein findet sich auch bei der traditionellen chinesischen Totenverehrung, bei der den Toten geopfert wird, als seien sie anwesend. Die chinesische Malerei will nicht nur sichtbar machen; sie will auch verbergen. Diese Bewegung des Erscheinens und des Verschwindens ist für lange Perioden der chinesischen Malerei charakteristisch. Nicht nur in der europäischen und in der chinesischen Kunst hat die Imagination eine zentrale Bedeutung. Sie spielt in der Genese des Homo sapiens sapiens und seiner Kulturen eine zentrale Rolle. Zeugnisse der ästhetischen Gestaltung von Knochenschabern reichen z. B. mehrere hunderttausend Jahre zurück. Der Zugang der Menschen zur Welt und der Welt ins „Innere“ der Menschen vollzieht sich mithilfe der Imagination im Medium der Bilder. Magische, repräsentative und Simulationsbilder lassen sich unterscheiden. Die magischen Bilder haben keinen Verweisungscharakter; sie sind, was sie darstellen. Die Statue des „goldenen Kalbs“ ist das Heilige; bei einer Reliquie ist der Körperteil das Heilige. Anders verhält es sich bei den repräsentativen, oft auf mimetischen Prozessen beruhenden Bildern. Sie verweisen auf etwas, das sie darstellen, selbst aber nicht sind. Fotos gehören dazu, die Situationen zeigen, die vergangen und nicht gegenwärtig sind. Simulationsbilder sind Bilder, die durch die neuen Verfahren der elektronischen Medien möglich werden und die eine wachsende Rolle im Leben der Menschen spielen. Die Differenz zwischen den Wahrnehmungs- und den mentalen Bildern ist wichtig. Jede Vorstellung ist Ausdruck der Tatsache, dass ein Objekt fehlt. Bei Erinnerungsbildern und Zukunftsprojektionen ist dies
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offensichtlich. Auf beide haben die auf vorhandene Gegenstände bezogenen Wahrnehmungsbilder Einfluss. Pathologische Bilder, Visionen und Träume unterscheiden sich ebenfalls von Wahrnehmungs- und Erinnerungsbildern. In allen Fällen ist die Imagination an der Erzeugung dieser Bilder beteiligt. Unter Bezug auf Philosophen wie Kant und die Autoren des „ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus“ gilt es eine Präzisierung des Begriffs der Imagination zu erarbeiten. Mithilfe der Imagination entstehen mentale bzw. „innere“ Bilderwelten, in denen sich Emotionen kristallisieren. Die Dynamik der Imagination verbindet Menschen und erzeugt Gemeinschaft. Ihr ludischer Charakter schafft Verbindungen zwischen Bildern und lässt neue Bilder emergieren. Zwischen diesen Bildern, der Wahrnehmung dieser Bilder und den in der Imagination erzeugten Bildern besteht eine wichtige Differenz.
I MAGINATION UND I MAGINÄRES Mithilfe der Imagination erzeugen Individuen, Gemeinschaften und Kulturen das Imaginäre. Dieses lässt sich als eine materialisierte Bilder-, Ton-, Tast-, Geruchs- und Geschmackswelt begreifen. Sie bildet die Voraussetzung dafür, dass Menschen die Welt in einer historisch und kulturell geprägten Weise wahrnehmen. Die Imagination erinnert und erzeugt, kombiniert und projiziert Bilder. Sie schafft Realität. Zugleich dient ihr die Realität dazu, Bilder hervorzubringen. Die Bilder der Imagination haben eine die Wahrnehmung, Erinnerung und Zukunft strukturierende Dynamik. Die Vernetzung der Bilder folgt den dialektischen und rhythmischen Bewegungen der Einbildungskraft. Nicht nur das alltägliche Leben, sondern auch Literatur, Kunst und darstellende Künste enthalten ein unerschöpfliches Reservoir von Bildern. Einige scheinen stabil und wenig veränderbar zu sein. Andere hingegen unterliegen dem historischen und kulturellen Wandel. Die Imagination hat eine symbolisierende Dynamik, die kontinuierlich neue Bedeutungen erzeugt und dazu Bilder verwendet. Mithilfe dieser von der Imagination geschaffenen Bilder erfolgen Deutungen der Welt (Hüppauf/Wulf 2006). Im Unterschied zu der im Allgemeinen gebräuchlichen Verwendung des Begriffs des Imaginären betont Jacques Lacan vor allem den Verblendungscharakter des Imaginären. Begehren, Wünsche und Leidenschaft spielen eine zentrale Rolle dabei, dass sich Menschen nicht aus dem Imaginären befreien können. Für sie gibt es keine direkte Beziehung zum Realen. Als sprechende Wesen können Menschen nur über die symbolische Ordnung und die Imagination eine vielfältig
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gebrochene Beziehung zum Realen entwickeln. Mit ihrer Hilfe können sie versuchen, sich gegen die Zwänge des Imaginären zu behaupten.„Das gesellschaftlich wirksame Imaginäre stellt einen Weltinnenraum dar, der eine starke Tendenz hat, sich zu verschließen und eine gewissermaßen unendliche Immanenz auszubilden; demgegenüber ist die menschliche Fantasie, Imagination, Einbildungskraft das einzige Vermögen, das geschlossene Räume aufsprengen und auf Zeit hin überschreiten kann, weil es mit der diskontinuierlichen Zeiterfahrung selbst identisch ist“ (Kamper 1986, S. 32f.). Dieser Zwangscharakter des Imaginären bildet die Grenzen menschlicher Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten. So wichtig diese Verdeutlichung des Zwangscharakters des Imaginären ist, er macht nur einen Teil des Bedeutungsspektrums des Imaginären aus, das nach der hier vertretenen Auffassung die Vielfalt und Ambivalenz kulturellen Bildwissens bezeichnet. Die Imagination hat eine starke performative Kraft, die soziale und kulturelle Handlungen inszeniert und aufführt. Mit ihr schafft sie das Imaginäre, das Bilder der Erinnerung, der Gegenwart und der Zukunft umfasst. Mithilfe mimetischer Bewegungen kann der ikonische Charakter der Bilder erfasst werden. Im Nachschaffen ihres Bildcharakters werden die Bilder ins Imaginäre aufgenommen. Als Teil der mentalen Welt sind sie Zeugnisse der Außenwelt. Welche Bilder, Strukturen und Modelle Bestandteil des Imaginären werden, hängt von vielen Faktoren ab. In diesen Bildern sind Anwesenheit und Abwesenheit der Außenwelt unauflösbar miteinander verwoben. Aus dem Imaginären emergierende Bilder werden von der Imagination in neue Kontexte übertragen. Es entstehen Bildnetze, mit denen wir die Welt umspannen und die unsere Sicht der Welt bestimmen. Der performative Charakter der Imagination bewirkt, dass die Bilder des Sozialen einen zentralen Teil des Imaginären ausmachen. In ihnen sind die Machtstrukturen der sozialen Verhältnisse und gesellschaftlichen Strukturen repräsentiert. Viele dieser Prozesse haben in der Kindheit der Menschen ihre Anfänge und vollziehen sich weitgehend unbewusst. Schon in dieser Zeit wird die Wahrnehmung sozialer Konstellationen und Arrangements gelernt. Beim visuellen Begreifen der Welt spielen diese frühen Seherfahrungen und die aus ihnen resultierenden Bilder eine wichtige, nicht ersetzbare Rolle. Ein begreifendes Sehen sozialer Handlungen entsteht dadurch, dass biographisch geprägte historische und kulturelle Schemata und mentale Bilder bei jeder Wahrnehmung mitwirken. Wir sehen soziale Handlungen und setzen uns in ihrer Wahrnehmung zu ihnen in Beziehung. Dadurch gewinnen diese Handlungen für uns Bedeutungen. Wenn sich Handlungen anderer Menschen auf uns richten, geht der Impuls zur Anknüpfung einer Beziehung von ihnen aus; erwartet wird dann eine Antwort unse-
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rerseits. In jedem Fall bildet sich eine Beziehung, für deren Entstehung die Bilder unseres Imaginären eine wichtige Voraussetzung bilden. Wir treten in ein Handlungsspiel ein und handeln bezogen auf die uns in diesem sozialen Arrangement entgegen gebrachten Erwartungen, sei es, dass wir auf sie eingehen, sie modifizieren oder ihnen zuwider handeln. Unser Handeln ist weniger aufgrund von Ähnlichkeit als vielmehr aufgrund erzeugter Entsprechungen mimetisch. In ein Handlungsspiel eingelassen, nehmen wir die Handlungen der anderen wahr und handeln in mimetischem Bezug auf sie.
I MAGINATION UND P RAKTIKEN
DES
K ÖRPERS
Von dieser Perspektive aus wird der Zusammenhang zwischen der Imagination und den Praktiken des Körpers untersucht. Am Beispiel des Spiels und des Tanzes wird die Bedeutung von Bewegung und Performativität für ästhetische und soziale Prozesse erforscht. In einer Analyse der anthropologischen Bedeutung von Gesten und Ritualen wird herausgearbeitet, wie eng Imagination und Körperpraktiken verwoben sind. Ludisches, tänzerisches, gestisches und rituelles Wissen werden in mimetischen Prozessen erworben, in deren Verlauf die dazu erforderlichen Praktiken inkorporiert und zu einem festen Bestandteil des Imaginären werden. Als soziale Wesen benötigen Menschen Gemeinschaft erzeugende kulturelle Praktiken. In diesen Praktiken werden soziale Beziehungen inszeniert und entfalten dynamisch ihren performativen Charakter. Bei Spielen lassen sich regelgeleitete von freien Spielen unterscheiden. Besonders in freien Spielen, in denen die Regeln von den Spielern im Verlauf des Spiels erfunden werden, kommt der Bilder, Schemata und Modelle entwickelnden Imagination eine zentrale Rolle zu. Bilder, Erinnerungen und Emotionen werden in den ludischen Praktiken des Körpers zur Darstellung gebracht. Sie emergieren in den Inszenierungen des Körpers und überraschen durch ihre Formen nicht selten die Spielenden selbst. Im Spiel koppeln sich die Spielenden von den Zwängen der Lebenswelt ab und tun so, als sei ihr spielerisches Handeln „Ernst“. Dieses Als-ob ist für Spiele konstitutiv. Die Spielenden müssen an die „fiktive Realität“ ihres Spiels glauben, um überhaupt spielen zu können. Mit Hilfe dieser Fiktion entsteht die Dynamik des Spiels, die wesentlich dadurch bestimmt wird, dass sich die Körper der Spielenden verdoppeln. Einerseits haben die Spielenden ihren individuellen Körper, mit dem sie in die jeweilige Spielwelt eintreten; andererseits wird dieser von dem Körper überlagert, den die Rolle des Spiels vorschreibt. In dieser Verdoppelung entsteht ein Spiel-Körper, der sich nach den Regeln und Kriterien des je-
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weiligen Spiels bewegt. Jede Inszenierung eines Spiels ist einmalig. Zwar finden Bezugnahmen auf vorherige Inszenierungen, auf gleiche oder ähnliche Spiele statt, doch unterscheidet sich jede Aufführung durch die beteiligten Spieler, Orte und Zeitverläufe. Mit Hilfe der Imagination werden Spiele inszeniert und aufgeführt. Sie sind performativ und daher körperlich und häufig expressiv und ostentativ (Gebauer/Wulf 1998a). Neben dem Spiel gehört der Tanz zu den wichtigen kulturellen Praktiken. Er ist ein Handlungsfeld, in dem Menschen sich darstellen, ausdrücken, etwas über sich erfahren. Im Tanz steht der Körper im Mittelpunkt; in ihm werden Bewegungen inszeniert und aufgeführt. Aus dem Verhältnis von Körper und Bewegung ergeben sich rhythmische Figurationen. Tänze sind vielfältig und lassen sich nicht unter wenige Prinzipien subsumieren. Für ihre Entwicklung und Gestaltung bedarf es der Imagination von Figurationen sowie ihrer körperlichen Realisierung mithilfe der Bewegungsfantasie. Tänzerische Figurationen entstehen im Zusammenspiel von Bewegung, Rhythmus und Raum und erzeugen ein Wissen vom Menschen, das es anderenfalls nicht gäbe. Sie schaffen kollektive ästhetische Erfahrungen und mit ihrer Hilfe Gemeinschaft. In vielen Kulturen sind sie mit Opfer, Ekstase und Tod verbunden. Der zeitgenössische Tanz arbeitet an den Rändern der gesellschaftlich funktionalisierten Bewegungen und der Disziplinierungsstrategien aktueller Körperpolitiken. Bei seinen Inszenierungen erfolgen kontinuierlich Rückgriffe der Imagination auf Strukturen, Schemata und Bilder des Imaginären (Brandstetter/Wulf 2007). Neben Spiel und Tanz gehören Rituale zu den wirkungsvollsten das Imaginäre der Menschen gestaltenden Praktiken. Für ihre Inszenierung und Aufführung bedarf es eines praktischen körperbasierten Wissens, in dem Bilder, Schemata, Aufführungen, Körperbilder und Körperbewegungen eine zentrale Rolle spielen. Dieses praktische Wissen ist ein implizites Wissen, das dem Bewusstsein nur partiell verfügbar ist. Für den Prozess der Interpretation ritueller Bilder, Bewegungen und Erfahrungen ist die Einbildungskraft von konstitutiver Bedeutung. Sie hat ihre Wirkungen nicht nur über erinnerbare Bilder, sondern auch über den Nachvollzug von Bewegungen, sozialen Praktiken und die Performativität von Ritualen. Rituale verdichten und inszenieren soziales Geschehen. Sie erzeugen Gefühle der Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft und schreiben diese mithilfe von Bildern ins Imaginäre ein. Rituale und mentale Bilder von Ritualen werden Ausgangspunkte für weitere Rituale und soziale Praktiken (Wulf 2005b, 2013; Wulf/Zirfas 2004a, 2004c). Rituale machen etwas sichtbar, was ohne sie nicht sichtbar wäre. Sie erzeugen Bilder, die Eingang ins Imaginäre der Menschen finden und auch dort ihre Wirkungen entfalten. Beispielsweise spielen sie für die Gestaltung von Über-
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gängen von einer sozialen Position zu einer anderen eine wichtige Rolle. Sie entfalten eine magische Kraft, die dadurch entsteht, dass alle Ritualteilnehmer an die Angemessenheit des rituellen Arrangements glauben, in dem der Statusübergang erfolgt. Bei diesen Ritualen sind die Ritualteilnehmer in der ersten Phase noch mit der Ausgangssituation verbunden. In der zweiten, der mittleren oder liminalen Phase, vollziehen sie den Übergang. In der dritten Phase erfolgt die Anbildung an die neue Situation. Diese rituellen Handlungssequenzen führen zu den entsprechenden sich im Imaginären der Beteiligten festsetzenden Bildsequenzen. Am Beispiel eines Hochzeitsrituals lässt sich dieser Prozess verdeutlichen. In seinem Verlauf wird der Übergang von der Situation des unverheirateten Paares in den sozialen Status eines Ehepaares inszeniert und aufgeführt. In allen Phasen des rituellen Arrangements werden Bilder erzeugt, die sich ins Imaginäre der Ritualteilnehmer einschreiben und sie miteinander verbinden. Rituale sind dynamisch. Wären sie das nicht, würden sie zu Stereotypen verkommen und ihre soziale Funktion einbüßen. Aus ihrer Dynamik und Performativität entstehen ihre sozialen Wirkungen. Rituale erzeugen Gefühle; sie sind expressiv und demonstrativ und schaffen Ordnungen. Viele von ihnen enthalten implizite Hierarchien und Machtstrukturen und mit ihnen verbundene imaginäre Bilder (Wulf/Althans u. a. 2001, 2004, 2007, 2011). Gesten sind häufig zentrale Bestandteile von Ritualen. Im ikonischen Charakter einer Geste wie im Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Toten des Warschauer Ghettoaufstands verdichtet sich die Bedeutung eines Rituals. Gesten sind oft Handlungen ohne Worte, in denen das Arrangement der Körper Bedeutungen hervorbringt. Dabei wird auf geläufige Muster, Schemata und Bilder zurückgegriffen. Einige von ihnen sind inkorporiert und bilden ein implizites Wissen. Andere werden in den Interaktionen zwischen Menschen bewusst eingesetzt. Gesten sind mit der oralen Sprache verbunden, ohne ihr untergeordnet zu sein. Sie zeigen sich in unterschiedlichen „Aufführungsformen“ (Kendon 2004; McNeill 1992, 2005; Wulf/Fischer-Lichte 2010), zu denen gehören: erstens unspezifische Schlaggesten, die dazu dienen, sprachliche Bedeutungen hervorzubringen; zweitens ikonische Gesten, die durch ihren Bildcharakter bestimmt sind. Drittens metaphorische Gesten, die ebenfalls eine ikonische Grundstruktur haben, deren Verständnis an eine Vertrautheit mit ihrem kulturellen Kontext gebunden ist. Ein Beispiel dafür sind Gesten in indischen Tänzen, die sich ohne Kenntnis ihrer kulturellen Bedeutung nicht erschließen lassen. In umfangreichen ethnographischen Untersuchungen wurde die Rolle von Gesten und ihren Bildern im Imaginären in Erziehung, Bildung und Sozialisation in Familien, Schulen, in Peerkulturen und Medien erforscht (Wulf/Althans u. a. 2011). Die soziale und kulturelle Bedeutung von Gesten beruht darauf, dass sie
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stammesgeschichtlich viel älter als die orale Sprache sind und ausgeprägte ikonische Elemente enthalten. Gesten vermitteln gesellschaftliche Werte in elementarer körpergebundener Form. Wegen ihres performativen und ikonischen Charakters spielt der Kontext für die Interpretation und Analyse der Komplexität von Gesten eine zentrale Rolle (Wulf/Zirfas 2005, 2007).
M IMESIS
UND KULTURELLES
L ERNEN
Mit Hilfe der Imagination erzeugen mimetische Prozesse Bilder von Spielen, Tänzen, Ritualen, Gesten und anderen sozialen und kulturellen Handlungen und machen diese zu einem Teil des kollektiven und individuellen Imaginären. Mimetische Prozesse sind Formen produktiver Nachahmung, in denen eine Anähnlichung an ein Gegenüber erfolgt. Der mimetische Impuls bewirkt, dass sich mimetisch verhaltende Menschen gleichsam einen ikonischen „Abdruck“ von den Menschen nehmen, denen sie ähnlich werden wollen. In der Kindheit sind diese Prozesse besonders wichtig. In mimetischen Prozessen lernen Kinder zu fühlen, ihre Gefühle auszudrücken und zu modifizieren. Aus Berichten über „wilde Kinder“, die außerhalb der menschlichen Gemeinschaft groß wurden, wissen wir, dass der aufrechte Gang und die Fähigkeit zu sprechen, mimetisch erworben werden. Fehlen dazu die sozialen Möglichkeiten, bleiben diese Potentiale unentwickelt. Kinder haben jedoch nicht nur ein mimetisches Verhältnis zu anderen Menschen; sie haben es auch zu ihrer Umwelt, der sie sich anähneln und die sie in Form mentaler Bilder in ihr Imaginäres aufnehmen. Mit Hilfe von Imagination und Bewegung werden Bilder anderer Menschen und anderer Welten inkorporiert. Auch für die Hervorbringung, Vermittlung und Veränderung des für die Identitätsbildung so wichtigen immateriellen kulturellen Erbes spielen mimetische Prozesse eine wichtige Rolle. Das Medium des immateriellen kulturellen Erbes ist der menschliche Körper mit seiner Zeitlichkeit und Vergänglichkeit. Spiel, Tanz, Ritual, Geste und traditionelle Lebens- und Arbeitsformen sind wichtige Bestandteile immateriellen kulturellen Erbes. In mimetischen Prozessen werden sie Teil des praktischen Wissens, das für die Performativität dieser kulturellen Formen notwendig ist und von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Performances in den Künsten sind ein gutes Beispiel dafür. Sie zu inszenieren und aufzuführen, erfolgt mithilfe der Imagination in mimetischen Prozessen. In diesen kommt es zum Erwerb eines Handlungswissens, das es möglich macht, ein neues körperbasiertes Wissen zu erzeugen und neue performances zu gestalten (Wulf 2005a, 2013).
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Auch Familienrituale sind Formen kulturellen Wissens, die zur Schaffung sozialer und kultureller Identität beitragen. Ihr Spektrum reicht von Ritualen bei großen Ereignissen wie Hochzeiten, Geburten, Beerdigungen über die sich jährlich bei Familienfesten wiederholenden Rituale bis hin zu Alltagsritualen wie gemeinsamen Mahlzeiten, Ausflügen und Einkäufen. Neben den rituellen Praktiken sind es die entsprechenden mentalen Bilder, die die Nachhaltigkeit der Wirkungen dieser Rituale ausmachen. Dies bestätigen ethnographische Untersuchungen darüber, woran sich Menschen in ihrer Kindheit besonders gut erinnern. In diesen werden häufig Bilder ritueller Situationen und Arrangements genannt, in denen sie als Kinder intensive Gefühle erlebt haben. Familienrituale und die aus ihnen hervorgehenden mentalen Bilder inszenieren das kollektiv geteilte symbolische und imaginäre Wissen der Familie und bekräftigen die Selbstdarstellung und Reproduktion der Familienordnung. Sie bilden soziale Praktiken, die für die Herausbildung eines Familienstils und einer Familienidentität von zentraler Bedeutung sind. Im Rahmen deutsch-japanischer ethnographischer Forschungen wurde auch untersucht, wie wichtig die mentalen Bilder vom Glück dafür sind, dass in Familien Gefühle des Glücks entstehen (Wulf/Suzuki/Zirfas u. a. 2011; Paragrana 2013). Dabei war es besonders wichtig herauszufinden, wie Familien im Rahmen des Weihnachts- bzw. Neujahrsrituals ihr Glück herstellen und welche Rolle dabei mentale bzw. „innere“ Bilder spielen. Mit welchen Elementen und Bildern werden an Weihnachten bzw. Neujahr Gefühle der Zufriedenheit, des Wohlbefindens, der Zusammengehörigkeit und des Glücks geschaffen? Trotz großer kultureller Differenzen lassen sich fünf transkulturelle Verhaltens- und Vorstellungskomplexe identifizieren, die für die Schaffung familiären Glücks wichtig sind. Dazu gehören im kollektiven und individuellen Imaginären verankerte religiöse Vorstellungen und Praktiken sowie Vorstellungen, Erinnerungen und Praktiken gemeinsamen familiären Essens und Trinkens. In diesen Zusammenhang gehört auch der Austausch von Geschenken. In den christlichen Familien besteht zwischen dem wechselseitigen Geschenkaustausch und dem Geschenk Gottes in Gestalt seines Sohnes zur Erlösung der Menschen eine wichtige Analogie, die die transzendentale Dimension des Schenkens deutlich macht. Die spezifischen Narrationen und mentalen Bilder jeder Familie, mit denen sich die Familienmitglieder ihrer Einmaligkeit versichern, und die offenen, im Voraus nicht festgelegten Zeitphasen, in denen Unvorhergesehenes geschehen kann, tragen ebenfalls wesentlich zum Wohlbefinden und familiären Glück bei.
I. Bild und Imagination
Die Welt als Bild – Das große Bild ohne Form
Im Alltagsbewusstsein gehen wir davon aus, dass unsere Wahrnehmung der Welt „natürlich“ ist und es keine Alternative zur ihr gibt. Unsere Art und Weise, die Welt zu sehen, erscheint uns zuverlässig und gut begründet. Sie verleiht uns Sicherheit und Handlungsfähigkeit. Nur schwer begreifen wir, dass die Ordnung unserer Sinne nicht schon immer so war, wie wir sie heute erfahren, sondern dass sie das Ergebnis historischer und kultureller Wandlungsprozesse ist. Im Weiteren soll dies verdeutlicht werden. Mit der Durchsetzung der Zentralperspektive und der Entstehung des kontrollierenden Blicks in der Renaissance nimmt eine Entwicklung ihren Anfang, in deren Folge sich ein grundsätzlicher Mentalitätswandel vollzieht: Unsere Wahrnehmung der Welt ist in der europäischen Neuzeit dadurch gekennzeichnet, dass die Welt den Menschen als Objekt gegenübersteht und dadurch zum Bild wird. Ein Beispiel aus einer anderen Kultur zeigt den kulturellen Charakter der europäischen Ordnung der Sinne. Schließlich wird der historisch-kulturelle Charakter der europäischen Bilder und ihrer Wahrnehmung durch die Darstellung chinesischer Bild- und Wahrnehmungsordnungen weiter verdeutlicht.
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ALS
B ILD
Nach wie vor fällt es schwer zu begreifen, dass unsere Art, die Welt als Bild und in Bildern zu sehen, historisch und kulturell bedingt ist. Diesen Sachverhalt sah bereits Heidegger, als er betonte, dass die Wahrnehmung der Welt als Bild das Ergebnis der historischen Entwicklungen ist, die wir als Neuzeit bezeichnen. Während sich der Mensch der Antike als Teil der Physis, als Teil der Natur, und der mittelalterliche Mensch sich als Teil der von Gott geschaffenen Welt begreift, tritt der moderne Mensch aus dieser Einbettung heraus. Damit tritt ihm die Welt als Objekt entgegen und wird ihm zum Bild. Der Mensch macht sich nicht
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nur ein Bild von der Welt und entwirft ein Weltbild; die Welt selbst wird ihm zum Bild. Im Weltbildaufsatz Heideggers von 1938 heißt es dazu: „Aber noch fehlt eine entscheidende Bestimmung im Wesen des Bildes. ‚Wir sind über etwas im Bilde‘ meint nicht nur, dass das Seiende uns überhaupt vorgestellt ist, sondern dass es in all dem, was zu ihm gehört und in ihm zusammensteht, als System vor uns steht. ‚Im Bilde sein‘, darin schwingt mit: das Bescheid-Wissen, das Gerüstetsein und sich darauf Einrichten. Wo die Welt zum Bilde wird, ist das Seiende im Ganzen angesetzt als jenes, worauf der Mensch sich einrichtet, was er deshalb entsprechend vor sich bringen und vor sich haben und somit in einem entschiedenen Sinne vor sich stellen will. Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher kein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, dass es erst und nur seiend ist, insofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist“ (Heidegger 1980, S. 87). In einer bislang nicht gekannten Weise stellt sich der Mensch der Welt gegenüber. Damit ist sein Versuch verbunden, sich ein Bild von der Welt zu machen, sich über sie zu orientieren und sich selbst in dieser neuen Stellung zu begreifen. Mit dieser neu bezogenen Stellung wird das Seiende zu einer Welt der Gegenstände und entwickelt der Mensch ein neues Verhältnis zu sich selbst. „Jene Art des Menschseins beginnt, die den Bereich der menschlichen Vermögen als den Maß- und Vollzugraum für die Bewältigung des Seienden im Ganzen besetzt. Das Zeitalter, das sich aus diesem Geschehnis bestimmt, ist nicht nur für die rückschauende Betrachtung ein neues gegenüber den voraufgegangenen, sondern es setzt sich selbst als das neue. Neu zu sein gehört zur Welt, die zum Bild geworden“ (ebd., S. 90.). Weltverhältnis und Selbstverhältnis bedingen einander. In der Neuzeit wird die Welt zum Bild, und der Mensch zum Subjekt. Je mehr sich der Mensch die Welt erobert, desto mehr bildet sich das Subjekt heraus, desto mehr wird die Auseinandersetzung mit der Welt zur Anthropologie. „Die für das Wesen der Neuzeit entscheidende Verschränkung der beiden Vorgänge, dass die Welt zum Bild und der Mensch zum Subjectum wird, wirft zugleich ein Licht auf den im ersten Anschein fast widersinnigen Grundvorgang der neuzeitlichen Geschichte. Je umfassender nämlich und durchgreifender die Welt als eroberte zur Verfügung steht, je objektiver das Objekt erscheint, um so subjektiver, d. h. vordringlicher erhebt sich das Subjectum, um so unaufhaltsamer wandelt sich die WeltBetrachtung und Welt-Lehre zu einer Lehre vom Menschen, zur Anthropologie“ (ebd., S. 91). Wie Bilder gesehen und begriffen werden, ist also nicht nur eine Angelegenheit der Ästhetik, sondern auch eine der Anthropologie, der Historischen Anth-
D IE W ELT
ALS
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ropologie. Erst dieses neue Verständnis des Verhältnisses von Subjekt und Bild ermöglicht die Entstehung von Kunst und Ästhetik im neuzeitlichen Sinne. Die Herausbildung eines solchen kulturellen Subsystems ist eng an diese Entwicklung gebunden. In vielen anderen Kulturen gibt es keinen in vergleichbarer Weise ausdifferenzierten Bereich der Kunst, der so nachhaltige Auswirkungen auf das Bildverständnis hat. Zweifellos bedarf diese Sicht Heideggers weiterer Differenzierung. Doch kann sie in unserem Zusammenhang zunächst einmal als ein Argument dienen, den historisch-kulturellen Charakter unseres neuzeitlichen westlichen Bildverständnisses zu begreifen. Je nach kulturellem Kontext werden Bilder unterschiedlich erlebt. So wurden sie vor dem „Zeitalter der Kunst“ (Belting) anders wahrgenommen als seit der Renaissance und in der heutigen Zeit, in der sich die Grenzen zwischen Bildern der Kunst und Bildern des Alltags aufgelöst haben und unter dem Einfluss der digitalen Medien neue Bilder entstanden sind.
F ORMEN UND T YPEN
VON
B ILDERN
Menschen deuten sich und die Welt nicht nur mit der Sprache, sondern auch mit Bildern. Dabei kommt es nicht nur in den Metaphern zu Überschneidungen zwischen Sprache und Bild, zwischen sprachlichen und ikonischen Bildern. Bilder liegen zwischen dem Konkreten und dem Abstrakten, dem Realen und dem Irrealen. Sie erlauben es, die Welt zu verinnerlichen und zu verkörperlichen; sie sind eingespannt zwischen der Welt des Sinnlichen und des Imaginären. Sie stellen Repräsentationen dar, ohne sich darin zu erschöpfen. Sie sind Medien und als solche sind sie dadurch charakterisiert, dass sie einen Charakter des „Dazwischen“ haben. Trotz dieser Merkmale sind Bilder nicht gleich Bilder. Je nach Kriterium lassen sich viele Typen und Formen von Bildern unterscheiden und viele Perspektiven zu ihrer Einordnung und zu ihrem Verständnis entwickeln. Neben der Unterscheidung zwischen sprachlichen und ikonischen Bildern und zwischen Bildern der Präsentation, Repräsentation und Simulation spielen Art und Intensität der Imagination bei der Erzeugung und Unterscheidung verschiedener Typen von Bildern eine wichtige Rolle. Bringen Bilder etwas zur Erscheinung oder sind sie Verkörperungen der Außenwelt in der menschlichen Innenwelt? Sind sie eher das Ergebnis reproduktiver oder produktiver Imagination? Inwiefern bedingen ihre Historizität und Kulturalität ihre Möglichkeiten, etwas auszudrücken und darzustellen? Bilder können als sinnlich eng mit der Wahrnehmung verbundene Repräsentationen begriffen werden, die sich auf alle Objekte der Anschauung beziehen
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und an deren Erscheinen gebunden sind. Sobald man sich von der reinen Wahrnehmung löst, entstehen Bilder. Davon unterscheidet sich ein anderes Verständnis des Bildes, bei dem im Sinne der empirischen Tradition davon ausgegangen wird, dass es keine Repräsentationen einschließlich abstrakter Gedanken und Ideen gibt, die ihren Ausgangspunkt nicht in den Bildern der Wahrnehmung haben. Zwischen beiden Auffassungen liegt eine Position, nach der das entscheidende Kriterium der Bilder darin besteht, dass sie mit Hilfe der Imagination abwesende Menschen und Dinge „anwesend“ machen. Damit steht das Bild zwischen der Wahrnehmung der Objekte und der Vorstellung der wahrgenommenen Objekte. Unter Bild wird von dieser Position aus im Sinne der kognitiven Psychologie „eine geistige Vorstellungsmodalität“ verstanden, „deren Eigenart darin besteht, die perzeptive Information in einer Form zu bewahren, die eine hochgradig strukturelle Gleichheit mit der Perzeption aufweist“ (Denis 1989, S. 9). Um Unsichtbares sichtbar zu machen, benötigen Bilder Medien. Zu den wichtigsten Medien der Bilder gehört der menschliche Körper. Mit seinen Sinnen und seinen Bewegungen schafft er multisensorielle Bilder. Mit ihrer Hilfe wird die Außenwelt mit ihren Objekten zur menschlichen Innenwelt und nach den Bildern der Innenwelt gestaltet. In der Wahrnehmung der Welt überschneiden sich die verschiedenen Sinne und erzeugen eine multisensorielle Komplexität. So wichtig die „Bilder“ bzw. die Spuren des Tastens, Riechens und Schmeckens im Körper sind und so sehr es in den Kulturwissenschaften allmählich zu einer Aufwertung dieser Sinne kam (Kamper/Wulf 1984; Michaels/Wulf 2014), so deutlich ist die besondere Bedeutung des Hörens (Paragrana 2007) und des Sehens und der über diese beiden Sinne vermittelten akustischen und visuellen Bilder sowie der auf ihrer wechselseitigen Überschneidung beruhenden optischen und akustischen Bipolarität. Hinzu kommen die senso-motorischen Bewegungsbilder, die eng mit der Bewegungsfantasie verbunden und für das Imaginäre des Körpers besonders wichtig sind. Denn als Bewegungsbilder finden Haltungen, Gesten und andere Formen des Körperausdrucks nicht nur Eingang in die innere Bilderwelt; sie werden auch Teil des „Bewegungsgedächtnisses“, das z. B. in Tanz und Sport eine zentrale Rolle spielt (Paragrana 2010a). Hinzu kommen die mit den körperlichen Reflexen und Muskelbewegungen verbundenen kinetischen Bewegungsbilder und die durch Emotionen erzeugten Bilder körperlichen Ausdrucks. In diesen in mimetischen Prozessen wahrgenommenen und verarbeiteten Bildern des menschlichen Körpers drücken sich seine Gefühle und mit ihnen seine Veränderungen aus. Diese Bilder spielen für die Selbstentwürfe und Selbstbilder der Menschen eine zentrale Rolle.
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Die wechselseitige Verschränkung akustischer und ikonischer Bilder spielt für die Kulturentwicklung eine erhebliche Bedeutung. Nicht nur, dass die visuellen und die sprachlichen Bilder schwerpunktmäßig an je anderen Stellen im Gehirn gebildet werden (Changeux 2002), sie haben auch ein anderes Verhältnis zu den Objekten. Während die ikonischen Bilder vor aller Interpretation Repräsentationen der Objekte sind, auf die sie sich beziehen, fehlt dieser sinnliche Bezug bei den sprachlichen Bildern. Sie werden durch willkürliche konventionelle Zeichen hervorgerufen und unterscheiden sich durch ihren eher abstrakten Charakter von den visuellen Bildern, in denen es ein Repräsentationsverhältnis zur Welt der Menschen und Objekte gibt. Ikonische Bilder sind unmittelbar an die Anschauung gebunden, sprachliche Bilder müssen eine innere Anschauung erst erzeugen. Während in ikonischen Bildern Relationen simultan dargestellt werden, entstehen die sprachlichen Bilder im zeitlichen Verlauf des Redens, Schreibens und Lesens. Beim Sprechen kommt es zu einer kontinuierlichen Überlagerung zwischen sprachlichen Zeichen und mit ihrer Hilfe hervorgerufenen inneren Bildern. Ikonische und sprachliche Bilder verweisen aufeinander und ergänzen sich mit Hilfe der Imagination. Diese bewirkt, dass in der Anschauung der Bilder sprachliche Deutungen entstehen, die der Reflexion unterworfen werden, und dass im Sprechen Bilder erzeugt werden, die der Rede Sinn geben. Wie das Verhältnis zwischen ikonischen und verbalen Bildern zu verstehen ist und wie es gestaltet werden kann, ist in der Geschichte dieses Verhältnisses unterschiedlich gesehen worden und ist auch heute noch ein zentrales Anliegen der Sprach- und der Bildwissenschaft. Je nach dem zugrunde gelegten Kriterium lassen sich unterschiedliche Typologien von Bildern entwickeln. Bereits 1994 hat Mitchell vorgeschlagen, Bilder in der folgenden Weise zu unterscheiden: – – – – –
graphisch: Gemälde, Zeichnungen etc.; optisch: Spiegel, Projektionen; perzeptuell: Sinnesdaten, „Formen“, Erscheinungen; geistig: Träume, Erinnerungen, Ideen, Vorstellungsbilder (Phantasma); sprachlich: Metaphern, Beschreibungen (Mitchell 1994, S. 20).
Dabei sind noch nicht die durch die Neuen Medien erzeugten bewegten und die digitalen Bilder berücksichtigt. Versucht man diese in eine Typologie der Bilder einzuarbeiten, so ergibt sich angeregt von Mitchells Überlegungen folgende Typologie, die die Besonderheiten der Neuen Medien einbezieht und sich dazu eignet, eine Orientierung über die Unterschiedlichkeit der Bilder im heutigen Bilderkosmos zu geben (Großklaus 2004, S. 9). Sie geht von der grundsätzlichen
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Differenz intern/extern aus: Danach lassen sich Bilder, die sich immateriell im Inneren des menschlichen Körpers konstituieren und für die der menschliche Körper das Medium ist, von extern erzeugten manuellen Bildern unterscheiden. Unter den manuell geschaffenen Bildern lassen sich unbewegte und bewegte Bilder unterscheiden. Anders verhält es sich mit den technischen Bildern, für deren Entstehung Geräte benötigt werden und bei denen sich analoge von digitalen Bildern unterscheiden lassen. Damit ergibt sich folgende Typologie der Bilder: Abb. 1: Medienbilder, Großklaus 2009, S. 9
Bei den mentalen Bildern lassen sich Untergruppen nach ihrem Verhältnis zur Zeit (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft), nach dem Grad des Bewusstseins (Wach- und Schlafzustand) sowie nach ihrem Wahrheitsgrad (wahr, falsch, illusionär) bilden (Wunenburger 1995). Bei der ersten Gruppe geht es darum, wie Wahrnehmungsbilder von Erinnerungs- und Vorstellungsbildern zu unterscheiden sind. Welche Rolle spielen z. B. die inneren, aus der Erinnerung und der Vorstellung stammenden Bilder für die Wahrnehmung? In welchem Ausmaß bestimmen sie diese? Welche Rolle spielt unser Begehren für die Art und Weise, in der wir die Welt wahrnehmen? Schon bei der Wahrnehmung kommt es zu einer (mimetischen) Verdoppelung der Bilder, bei der mentale Bilder erzeugt werden, in denen die Außenwelt zur Innenwelt wird. Dabei ist strittig, in wie weit die „eigene“ Qualität der Dinge und Menschen in die innere Bilderwelt gelangt und inwieweit dieser Prozess ein „Konstruktionsprozess“ ist, der wesentlich von den kollektiven und individuellen historisch-kulturellen Voraussetzungen bestimmt wird. Dass beide Aspekte für die Wahrnehmung konstitutiv sind, ist unstrittig. Die Frage ist aber, wie die Anteile dieser Aspekte verteilt sind. Eine allgemeine Antwort auf diese Frage ist nicht möglich. Nur in Einzelfallana-
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lysen kann das Verhältnis der beiden Aspekte der Wahrnehmung bestimmt werden. Bei diesem Versuch stößt man auf Situationen wie die mit der proustschen Madeleine, in denen nicht mehr entschieden werden kann, ob es sich um eine Wahrnehmung oder um Erinnerung handelt. Erinnerungsbilder können sehr unterschiedlich sein. In manchen Fällen werden die Objekte, auf die sich die Erinnerung beziehen, insgesamt erinnert; in anderen Fällen sind sie nur in Ausschnitten der Erinnerung zugänglich. In wieder anderen Fällen entziehen sie sich ganz der Erinnerung oder werden durch Deckerinnerungen überlagert. In solchen Fällen wird deutlich, wie sehr Erinnerungsbilder immer wieder neu und damit auch anders rekonstruiert werden. Dass dabei mimetische Prozesse eine zentrale Rolle spielen, ist offensichtlich. So lässt sich der Rekonstruktionsprozess der Erinnerung als ein mimetischer Prozess beschreiben, in dem sich der Erinnernde auf vorhandene Spuren bezieht und in einer Anähnlichung an diese seine Erinnerung schafft. Da es sich um einen Rekonstruktionsprozess handelt, versteht es sich von selbst, dass dieser jedes Mal unterschiedlich ausfällt. In diesen Zusammenhängen spielen motorische Prozesse eine wichtige Rolle, die wesentlich zur Entstehung und Ausformung von Erinnerungen beitragen. Noch wichtiger sind die soziale Rahmung der Erinnerung und die Einbeziehung aktueller sozialer Faktoren in die Erinnerung (Halbwachs). Nur in eingeschränktem Maße lassen sich Erinnerungsbilder vom Bewusstsein erzeugen. Viele von ihnen folgen eher der Dynamik des „mémoire involonté“ (Bergson), in dem Impulsivität, Spontaneität und Sprunghaftigkeit der Imagination eine zentrale Rolle spielen. Die auf die Zukunft gerichteten projektiven Bilder bringen die Imagination in besonderer Weise ins Spiel. Dabei geht es um bildliche Entwürfe von Situationen, Handlungen und sozialem Verhalten, die noch nicht Wirklichkeit geworden ist. Diese antizipativen Bilder haben einen „Als-ob-Charakter“. Sie tun so, als seien ihre Inhalte wirklich und sehen davon ab, dass sie erst verwirklicht werden müssen. In diese Entwürfe der Zukunft gehen Bilder vergangener Erfahrungen ein, die sich mit kollektiven und individuellen Bildwelten mischen. Diese projektiven Bilder können verschiedene Ausgangspunkte haben. Eine Handlungsnotwendigkeit, ein Wunsch oder ein Begehren kann zur Entstehung antizipativer Bilder führen. In vielen Fällen spielt das Begehren eine besonders wichtige Rolle. Von den Bildern des Begehrens und der Projektion ist es nur ein kleiner Schritt zu den unbewussten Bildern und den Bildern der Nacht- und der Tagträume. Dass Traumbilder lediglich der Wunscherfüllung dienen, wird heute kaum noch angenommen. Zwar dienen sie in vielen Fällen zur Verarbeitung von Konflikten und zur Antizipation von Problemlösungen, doch erschöpfen sie sich
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nicht darin. Traumbilder sind Formen des Ausdrucks und der Darstellung, bei denen auch kollektive Momente eine wichtige Rolle spielen. Selbst wenn man die Vorstellungen C. G. Jungs von der leiblichen Verankerung der Archetypen nicht teilt, ist die Frage nach der Existenz universeller Traumbilder (Jung, Bachelard, Durand) in der anthropologischen Forschung von Bedeutung. Solche Hintergrundbilder beeinflussen die Emotionen und Orientierungen der Menschen in der Welt. Als Archetypen bzw. als Schemata strukturieren sie die Wahrnehmung, die Hervorbringung von Bildern mit Hilfe der Imagination sowie die Erzeugung von Lebensentwürfen. In ihnen verbindet sich das Allgemeine mit dem Besonderen. Neben den Kräften, die die inneren Bilder hervorbringen und strukturieren, lassen sich auch dauerhafte Typen von Bildern unterscheiden. Desgleichen strukturieren Prototypen die Produktion von Bildern. Dabei reicht das Spektrum von der Herstellung von Ikonen bis zur Erzeugung von Bildern der Werbung. Bilder dienen auch als Modelle, mit deren Hilfe komplexe Zusammenhänge vereinfacht werden. Entsprechendes gilt für Stereotypen und Klischees. Auch hier geht es um Vereinfachungen, um unzulässige, den Situationen und Konstellationen nicht gerecht werdende Vergröberungen. Von diesen verschiedenen Arten mentaler Bilder lassen sich Bilder unterscheiden, die sich eines Mediums bedienen, um sichtbar zu werden und um sich zu materialisieren. Bilder können auf Flüssigkeiten wie Wasser erscheinen oder auf Stein, Leinwand, Papier, Film usw.; sie können unbewegt oder bewegt sein. Bilder können aber auch durch Formen der Repräsentation erzeugt werden. Dazu dienen Figuren, Konturen, Spuren, die sich auf einen Bezugspunkt oder ein Wort beziehen, ohne diese jedoch zu kopieren. Dieser Bezugspunkt kann sichtbar oder auch fiktiv sein. Zu den Formen der Bezugnahme gehören auch Skizzen, Schemata, Silhouetten sowie Vereinfachungen durch Geometrisierungen wie Monogramme, Diagramme, Piktogramme, Pläne und Karten. Differenzen zwischen Bildern können auch durch Unterschiede in der technischen, sich verschiedener Medien bedienenden Produktion bestimmt werden. Das Spektrum reicht von einfachen Instrumenten wie Bleistift und Pinsel über Fotoapparat und Kamera bis hin zum Computer. Bilder können schließlich unter dem Gesichtspunkt der Reproduktion untersucht werden. Zu den frühesten und einfachsten Formen bildlicher Reproduktion gehören Spiegelbilder. Es folgen der Buch- und Bilddruck und heute die neuen Formen massenmedialer Bildproduktion. Unabhängig davon, welches Kriterium für die Untergliederung der Bilderwelten gewählt wird, jedes erfasst nur einen Ausschnitt der Komplexität der Bilder (Wunenburger 1995, S. 49f.).
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Mit dieser Ausweitung des Spektrums der Bilder geht eine Ausdifferenzierung der Sinne einher. Sie führt zur Verselbständigung der Sinne, vor allem jedoch des Sehsinns und der von ihm wahrgenommenen Bilder. Mit ihr einher geht eine Hypertrophie des Sehsinns zu Lasten der anderen Sinne. Diese Entwicklung führt zu einer wachsenden Abwertung des Hörsinns und vor allem der Nahsinne, des Tastens, Riechens und Schmeckens. Diese Entwicklung ist ein Merkmal der europäischen Neuzeit, dessen kulturspezifischer Charakter häufig übersehen wird. In vielen anderen Kulturen hat der Sehsinn nicht die gleiche Bedeutung wie in der europäischen Neuzeit; hier dominieren andere Sinne. Trotz der Dominanz bestimmter Formen des Sehens in der europäischen Kultur hat es immer wieder Versuche gegeben, die „Einheit der Sinne“ herauszustellen und die zentrale Bedeutung der wenig beachteten Nahsinne hervorzukehren. Erwin Straus (1956) hat die Einheit der Sinne darin gesehen, dass sie bei aller kulturell bedingten Unterschiedlichkeit im Empfinden des Menschen verschränkt sind. Empfinden begreift Straus als ein „sympathetisches Erleben“, in dem sich Mensch und Welt verschränken und in dem sowohl die Einheit als auch die Vielheit der Sinne eine Rolle spielen. Zwar vermitteln die einzelnen Sinne unterschiedliche Empfindungen, doch liegt ihre Gemeinsamkeit in der sich jeweils vollziehenden Verbindung zwischen Welt und Mensch. Ein Differenzkriterium zwischen den Sinnen liegt darin, dass ihnen „jeweils verschiedene Formen des Räumlichen zugehören“ (Straus 1956, S. 212) und dass ihnen ein unterschiedliches Verhältnis zur Zeit inhärent ist. Sehen ereignet sich, weil es einen inneren Zusammenhang zwischen Empfinden und Bewegen gibt. Sehen schafft Empfindungen durch Bewegung, ohne die es zu einem Starren wird, in dessen Verlauf weder Sehbilder noch Empfindungen entstehen. In der Bewegung entstehen Empfindungen. Beim Tanz wird dies besonders deutlich; hier ist die Einheit von Musik und Bewegung konstitutiv. Hören ist an die zeitliche Abfolge der Geräusche und Töne gebunden. Mit Hilfe von Bewegung wird es möglich, der Flüchtigkeit der Töne und ihrer Zeitlichkeit im Raum zu folgen. Mit der Fokussierung des Sehens seit der griechischen Antike, der Intensivierung dieser Entwicklung infolge des Übergangs zur Literalität und dem Bedeutungsgewinn des Sehens im Zusammenhang mit der Erfindung der Neuen Medien verlieren vor allem die Nahsinne an Bedeutung. Für diese Entwicklung gibt es viele weitere Gründe, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Die von Norbert Elias und Michel Foucault herausgearbeiteten Zusammenhänge zwischen Modernisierung und Disziplinierung, Wissenschaftsentwicklung und Individualisierung gehören dazu, ohne schon ausreichende Erklärungen zu bieten.
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Deutlich wird die Kulturalität der Hypertrophie des Sehens in der europäischen Kultur, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Gewichtung zwischen den Sinnen prinzipiell auch ganz anders sein kann. An einem Beispiel lässt sich dies verdeutlichen: „Blut hat eine Vielfalt sensorischer Eigenschaften: Es ist warm, dickflüssig, rot, salzig und hat einen Geruch. Die Prominenz dieser Eigenschaften hängt jedoch von der sensorischen Ordnung ab, innerhalb derer sie wahrgenommen werden. So neigen Nordamerikaner dazu, sich Blut in Form seiner visuellen Erscheinung, seines Rots vorzustellen. In Südindien geben Anhänger der Siddha-Medizin der taktilen Dimension des Bluts den Vorrang, dem Puls, den es im Körper hervorruft [...] Das gilt auch für Guatemala, wiewohl es dort vom Puls heißt, er sei die ,Stimme‘ des Blutes, was ein audio-taktiles Wahrnehmungsschema nahelegt. [...] Unter den Ainu in Japan ist der Geruch des Blutes seine hervorstechendste Eigenschaft, da er Geister abwehren soll. Im Mythos der Wauwalak-Schwestern, wie er im nördlichen Australien erzählt wird, gibt es Bezüge auf den Geruch des Blutes wie darauf, dass ,Blut Geräusche enthält‘ [...], was auf eine audio-olfaktorische Tendenz verweist“ (Howes 1991, S. 260).
Schon dieses Beispiel zeigt, wie unterschiedlich sinnliche Wahrnehmungen sind. Die jeweiligen Sinnesordnungen entscheiden darüber, wie etwas wahrgenommen wird und welche Rolle dabei die einzelnen Sinne spielen. Eine nähere Untersuchung dieser Unterschiede zeigt, dass mit der Sinnesordnung auch eine Reihe anderer kultureller Charakteristika verbunden sind. So gibt es z. B. sprachliche Unterschiede im Hinblick auf die Vielfalt der mit den Sinnen verbundenen Wörter. Auf das Sehen beziehen sich z. B. in den indogermanischen Sprachen weit mehr Wörter als auf das Riechen oder Schmecken. Auch sind die Sinne in unterschiedlicher Weise an der Ausformung der aisthetischen und der ästhetischen Normen einer Gesellschaft beteiligt. Auch hier dominiert ein Sehen in unserer Kultur, das das Angeschaute zum Gegenstand macht. Anders verhält es sich bei den Navajo-Indianern, die nicht wie die die amerikanischen Touristen versuchen, sich bei ihren Sandzeichnungen von oben einen Überblick zu verschaffen, sondern die sich mitten in die Sandbilder hinein begeben. Auch die Wahrnehmung von Schönheit, die in der europäischen Kultur vor allem über das Sehen organisiert ist, erfolgt in anderen Kulturen häufig stärker auch über die anderen Sinne wie etwa das Hören und Riechen. In der Regel korrespondieren die Differenzen im kulturellen Gebrauch der Sinne mit der Art und Weise, wie diese in den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern gebraucht werden. Die Sinnesordnung ist eine Folge der Inszenierung und Aufführung der Sinne und ihrer jeweiligen Performanz (Wulf/Zirfas 2005).
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Wie unterschiedlich das Verhältnis der Sinne zueinander in anderen Kulturen sein kann, verdeutlicht kulturanthropologische Forschung (Michaels/Wulf 2014). Mit den Unterschieden im Sehen korrespondieren gravierende Unterschiede im Bildverständnis, die wiederum auf das Sehen und die gesellschaftliche Sinnesordnung zurückwirken. Wie unterschiedlich das Verständnis von Bildern sein kann, soll am Beispiel des chinesischen Bildes dargestellt werden (Obert 2006; Jullien 2005; Escande 2003; Bush 1971). Seine Alterität verdeutlicht noch einmal, wie in Europa die Welt zum Objekt und Bild gegenüber wird und dieser Prozess zur Herausbildung des europäischen Subjekts beiträgt. Folgt man François Julliens Deutung, dann konstituiert sich das chinesische Landschaftsbild aus einem Spiel zwischen Gegenwart und Abwesenheit; es erscheint und verschwindet in einer Bewegung, die sich zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein verortet. Verallgemeinert formuliert das Laotse so (§ 40): „In der Welt werden alle Wesen und Dinge aus dem ‚es gibt‘ geboren, und das ‚es gibt‘ wird aus dem ‚es gibt nicht‘ geboren.“ In diesem Spiel zwischen Sein und NichtSein konstituiert sich das Halbdunkel und das Halbhelle des chinesischen Bildes. Dieses Spiel zwischen Sein und Nicht-Sein lässt sich auch in den chinesischen Ritualen der Totenverehrung feststellen, in denen den Toten geopfert wird, als seien sie anwesend. Dieses „als sei“ ist konstitutiv für die Geheimnisse des Bildes und der Malerei. So heißt es dazu in einem von Wang Wie überlieferten Text: „Von Pagoden, deren Spitzen sich im Himmel verlieren, braucht man die unteren Hallen nicht zu zeigen: es ist als gäbe es – als gäbe es nicht; sei es oben, sei es unten“ (zit. n. Jullien 2005, S. 25). Diese Bewegung des Erscheinens und Verschwindens ist für die chinesische Malerei charakteristisch, die nicht darauf zielt, Gegenstände abzubilden, sondern der es darum geht, Bewegungen zu vollziehen, die den Betrachter des Bildes erfassen und auf ihn einwirken. Die chinesische Malerei begnügt sich nicht damit, etwas sichtbar zu machen; sie will auch verschleiern und verbergen und die gleichzeitige Präsenz beider Bewegungen im Bild erfahrbar machen. „Da am Anfang alles Realen die ebenso entgegengesetzten wie komplementären Faktoren yin und yang stehen, und da aus ihrem Wechsel der ‚Weg‘ (dao) entsteht – ‚einmal yin, einmal yang‘ (‚bald yin, bald yang‘), wie es in einer kanonischen Formel heißt –, kommt es dem yang zu, das Manifeste zu befördern, da die Rolle des Faktors yang darin besteht, ‚nach außen auszubreiten‘ und zu entfalten; dagegen ist das Verborgene yin, da die Rolle des Faktors yin darin besteht, ‚in die Figuration zu verschließen‘ “ (Jullien 2005, S. 30). Entbergen und Verbergen, Form und Formlosigkeit konstituieren das chinesische Bild. Doch wie muss man diese Formlosigkeit begreifen, von der die
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bildlichen Formen abhängen und ohne die sie nicht entstünden? In den chinesischen Bildern geht es dem Maler nicht darum zu malen, was er sieht, sondern zur Darstellung zu bringen, was ihm gegeben wird und was er empfängt. Dabei gilt es die Opposition zwischen Gegenwart und Abwesenheit aufzulösen. Denn das tao ist der Grund des Sichtbaren; es ist an der Grenze des Sichtbaren, als ob es existierte. Dementsprechend ist Malen ein Geschehen an der Grenze des Nicht-Malens, das Entstehen eines Bildes ein Ereignis an der Grenze des NichtBildes, in den Worten Laotses (§ 41): „Das große Bild hat keine Form“. Aufgrund der bisherigen Ausführungen überrascht es nicht, dass im Chinesischen xiang sowohl Bild als auch Phänomen bedeutet, es also keine eindeutige Unterscheidung gibt zwischen dem, was erscheint, und dem, was als das Bild geschaffen wird. Es gibt kein Repräsentationsverhältnis zwischen den Erscheinungen der Welt und den Bildern. Dass es deshalb auch kein mimetisches Verhältnis zwischen den Phänomenen der Welt und dem Malen geben soll, wie es Jullien (2005, S. 322ff.) behauptet, lässt sich nur daraus erklären, dass dieser Überlegung ein viel zu enger Mimesisbegriff zugrunde liegt, der Mimesis eher auf die natura naturata als auf die natura naturans bezieht. Im Unterschied zu dieser Auffassung spielen nach meinem Verständnis von Mimesis (Wulf 2013, 2009, 2005b) in diesem Prozess des Schaffens chinesischer Bilder, der als ein Hin- und Her zwischen Entbergen und Verbergen beschrieben wird, mimetische Prozesse eine zentrale Rolle. Gerade die Vorstellung eines Objekts, das dem Subjekt gegenüber steht und für das im Chinesischen erst unter dem Einfluss der westlichen Kultur der Neologismus dui-xiang (Phänomen gegenüber) geprägt wurde, legt es nahe, beim Malen eines Bildes von einem mimetischen Prozess auf der Suche nach einem Bild zwischen Erscheinung und Nicht-Erscheinung auszugehen. Der mimetische Prozess richtet sich dabei nicht auf ein Objekt, sondern auf das „große Bild, das keine Form hat“ und in Begegnung mit dem das chinesische Landschaftsbild entsteht. Das chinesische Bild ist keine Reproduktion, keine Repräsentation, keine Wiederholung; es ist eher ein Reflex von etwas, was weder Bild noch Objekt ist. „Dem Neuling, der glaubt, dass, Ähnlichkeit‘ reichen würde, um zur ,Wahrheit‘ zu gelangen, ruft der Alte in Erinnerung, dass man zunächst in vollem Umfang die ,Phänomene‘ (xiang) der Wesen und Dinge berücksichtigen müsse, um sowohl zur ,Blüte‘ (der äußeren Ähnlichkeit) als auch zur ,Frucht‘ (die der Energie-Hauch darstellt) zu gelangen. Die Ähnlichkeit hängt in ihrer Oberflächlichkeit zwar davon ab, dass man die materielle Form trifft, wobei sie jedoch den Energie-Hauch vernachlässigt, der sie durchdringt und erzittern lässt (,erzittern‘ ist hier nicht metaphorisch, mehr oder weniger poetisch gemeint, sondern bringt das Vibrieren der Realität zum Ausdruck)“ (Jullien 2005, S. 268). Die der Kraft
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der natura naturans ähnelnde Atemenergie bringt das Bild hervor; sie beseelt seine Formen und lässt es zwischen Leere und Fülle entstehen. Diese strömende Kraft schafft das Bild an der Grenze zum Nicht-Sichtbaren, unabhängig davon, ob es nun Wolken, Wind und Regen oder Flüsse, Wege und Bäume darstellt. Fremd ist dieser Malerei das immer gleiche Objekt, um dessen Konstitution sich Alberti und die Renaissancemalerei mit der Zentralperspektive und dem mit ihr verbundenen immer gleichen Blick so nachhaltig bemühten. In der europäischen Renaissancemalerei drückt sich die gottähnliche schöpferische Kraft des Malers im „desegno“ aus, der das künstlerische Werk aus dem Nichts hervorbringt. Im Unterschied dazu schreibt sich der chinesische Maler keine die Dinge hervorbringende Kraft zu. In seinem Tun artikuliert sich die Energie der Natur; ihm obliegt es lediglich als Teil dieser Kraft, diese Energie in immer wieder neuen Bildern zum Ausdruck zu bringen, zu modifizieren und zu transformieren. Während die Intensivierung der Differenz zwischen Subjekt und Objekt, Bild und Phänomen – auch nach Auffassung Heideggers – wesentlich die Herausbildung der neuzeitlichen europäischen Kultur vorangetrieben hat, war es eher ein Anliegen der chinesischen Kultur, diese Differenzen nicht zu vergrößern. Im Unterschied zum europäischen suchte der traditionelle chinesische Maler eher den Einklang mit der Natur; „und seine Malerei wird danach eingeschätzt, inwiefern sie es schafft, dass zwischen den Blättern eines Bambus oder in einer Felsstruktur ‚Leben‘ sich ausdrückt, indem sie den ihr zugrundeliegenden Schwung klärt und durch das wiedergefundene Fließen wieder disponibel und von aller Spezifizierung frei zu werden beginnt“ (Jullien 2005, S. 276). Während in der europäischen Kultur der Mensch als Bild schaffender, als Homo pictor begriffen wird (Boehm 2001), sind Bilder in der chinesischen Malerei „von der ethischen Dimension des vollzughaften menschlichen Seins-zurWelt, nicht von der Gegebenheitsweise einer Gegenständlichkeit her verstanden“ worden. „Der Umgang mit Bildern ist wesentlich für das Gelingen des guten Lebens in der Welt“ (Obert 2006, S. 145). Somit geht es bei den chinesischen Bildern um den „Menschen und sein Wohnen in Bildern“ sowie um ihre performative Dimension, mit der sie „eine Gemeinschaft zwischen Menschen“ stiften. Diese Bildwahrnehmung lässt sich „in erster Linie als ein ethisch verfasstes Antwortgeschehen“ verstehen. In der chinesischen Malerei wird das Bild „hauptsächlich im Hinblick auf seine Wirksamkeit, nicht auf sein Erscheinen wahrgenommen. Es könnte daher besser als ein ‚Wirkbild‘ bezeichnet werden“. Die Wirkung des Bildes wird durch das qi (jap. ki) möglich, „worunter eine unendliche Bewegtheit und Übertragungen vielfältiger Art bis hin zu einer ursprünglichen Selbstbezüglichkeit in dem, was ‚Leben‘ heißt, gedacht werden“ (ebd., S. 149). Qi bezeichnet die sich in unterschiedlichen Formen zeigende Lebens-
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kraft, die eng mit dem Atem verbunden gedacht wird, mit dem Ausdruck erzeugt wird. „Ein ‚Ausdruck‘ ist eine Äußerung, worin die ikonische Differenz zum Verschwinden gebracht ist, insofern der Ausdruck nach Art einer medialen Figur unmittelbar das Sich-Zeigen von etwas verkörpert. Was im ausdruckhaften Zeigen gezeigt wird, verkörpert zugleich dasjenige, das da zeigt“ (ebd.). Nach chinesischer Vorstellung sind Bilder von einem Atem durchzogen, der ihnen zugleich Ausdruck verleiht. Dieser Ausdruck wird vom Betrachter der Bilder empfunden; über ihn wirken die Bilder und haben Einfluss auf ihre Betrachter. Da es sich bei chinesischen Landschaftsbildern oft um Rollbilder handelt, werden sie anders als die zentralperspektivischen Bilder der Renaissance betrachtet. Sie können nicht in einem Blick simultan wahrgenommen werden, sondern müssen aufgerollt und dabei „er-fahren“ bzw. gelesen werden. „Vor solchen Bildern wird im Erscheinen weder ein denotativ symbolisiertes oder unmittelbar präsentiertes Sein noch das Erscheinen selbst gesucht. Das Erscheinen wirkt performativ über sich hinaus, um ein Mitsein des Betrachters mit der Bild-Welt auszulösen. Die Bildbetrachtung soll das Weltverhältnis des Betrachters dergestalt verwandeln, dass er über die Anschauung in das wirkliche Weltgeschehen eingehen kann“ (ebd., S. 152). Bei diesen Bildern geht es nicht um eine Darstellung der Welt im Bild, sondern darum, dass das Bild so auf den Betrachter wirkt, dass es zu einem „Wohnen“ im Bild kommt. Statt eines distanzierten Verhältnisses, in dem sich Bild und Betrachter gegenüber stehen, soll sich ein Weltverhältnis entwickeln. Infolge eines komplexen mimetischen Prozesses entsteht eine Bildbeziehung, in der das Bild zu einem Ort des Lebens wird.
Imagination und die Genese des Menschen
Im Rahmen der visuellen Kultur der Moderne sind Bilder mithilfe der Massenmedien in alle Bereiche menschlichen Lebens eingedrungen und üben dort ihren Einfluss aus. Mit der Ausbreitung der visuellen Kultur ist die Einsicht unabweisbar geworden, dass Bilder für das Verständnis der Gegenwart eine zentrale Rolle spielen. Mit dem „pictorial turn“ in den Kulturwissenschaften haben Bilder eine neue Aufmerksamkeit erhalten. Was ist ein Bild, so lautet die entscheidende Frage, an die weitere, nicht weniger wichtige anschließen: Wie werden Bilder gebraucht? und Was machen die Bilder mit uns? Ist es überhaupt sinnvoll, von dem Bild zu sprechen?1 Bedarf es nicht umfangreicher Differenzierungen zwischen mehreren Arten von Bildern? So stellt sich z. B. die Frage, ob digitale Bilder noch Bilder sind, bei denen es um Präsenz oder Repräsentation geht. Häufig sind digitale, d. h. mathematisch erzeugte Bilder Simulationen, bei denen aufgrund der digitalen informationstechnologischen Verfahren ihrer Erzeugung der Abbildcharakter in Frage steht. Besonders kompliziert ist die Situation bei den bildgebenden Verfahren der Naturwissenschaften. Hier sind die Bilder das Ergebnis komplexer Berechnungen, deren unterschiedliche ikonische Darstellungen oft (noch) nicht miteinander kompatibel sind. In allen Wissenschaften sind Bilder neben die Sprache getreten und machen deutlich, dass sie ikonische Informationen vermitteln, die sich nicht auf Sprache reduzieren lassen. Anders ausgedrückt: Bilder haben einen Wert an sich, der durch nichts ersetzbar ist.
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Vgl. hierzu folgende grundlegende Schriften zur Theorie des Bildes: Belting 1990, 2008; Boehm 1994a, b; Kämpf/Schott 1995; Schäfer/Wulf 1999; Böhme 2001; Maar/ Burda 2004; Großklaus 2004; Wiesing 2005, 2008; Wulf/Zirfas 2005; Pilarczyk/ Mietzner 2005; Hüppauf/Wulf 2006; Imai/Wulf 2007; Debray 2007; Sachs-Hombach 2003, 2005; Sachs-Hombach/Schirra 2013; Bohn 1996; Didi-Huberman 1990, 1999; Marin 1993; Mondzain 1996; Frey 1999; Schäfer/Wimmer 1999; Rautzenberg 2009; Bredekamp 2010; Waldenfels 2010; Mersch 2002, 2010; Finke/Halawa 2012.
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Diesen in den Bereichen der Kultur und Wissenschaft stärker ins Bewusstsein gebracht zu haben, ist eine Folge des „pictorial turn“. Welche anthropologische Bedeutung hat diese Fähigkeit, Bilder zu erzeugen? Wie lässt sich diese Kompetenz begreifen, Bilder zu schaffen, zu erinnern und umzustrukturieren? Welche Bedeutung hat sie für die phylogenetische und ontogenetische Menschwerdung? Imagination ist eine conditio humana, ohne die die Menschen weder phylogenetisch noch ontogenetisch zu Menschen werden (vgl. Hüppauf/Wulf 2006; Wulf 2010a). In einer ersten Annäherung lässt sich Imagination als eine Kraft beschreiben, die die Welt den Menschen im Sinne des griechischen phainestai zur Erscheinung bringt.2 Dabei sind zwei Bedeutungsdimensionen zu unterscheiden. Einmal bedeutet „zur Erscheinung bringen“, die Welt erscheint den Menschen in einer durch die Bedingungen des Menschseins gegebenen Art und Weise und wird so wahrgenommen. Zum anderen bedeutet „zur Erscheinung bringen“, mit Hilfe mentaler Bilder die Welt zu entwerfen und sie nach diesen Entwürfen zu schaffen. Es geht hier also um das Medium, das die Menschen mit der Welt und die Welt mit den Menschen verbindet. Es hat eine Brückenfunktion zwischen außen und innen, zwischen innen und außen; es ist chiastisch und entfaltet seine Bedeutung in dieser Funktion. Im römischen Denken wird die Fantasie der Griechen zur Imagination. Hier betont die Sprache das Charakteristikum der Imagination, die Außenwelt in Bilder zu verwandeln und diese in die innere Bilderwelt zu überführen. In der deutschen Sprache wird Imagination bei Paracelsus zur Einbildungskraft, zu einer Kraft, die Welt in den Menschen einbildet und seine Innenwelt dadurch welthaltig macht. Ohne diese Möglichkeit gäbe es keine menschliche Kulturwelt, kein Imaginäres (vgl. Iser 1991; Žižek 1997; Sartre 1971; Seel 2000) und keine Sprache.
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Über die Ursprünge der Fantasie ist wenig bekannt. Ihre ersten Spuren reichen weit zurück. Zweifellos steht sie in engem Zusammenhang mit der starken Vergrößerung des menschlichen Gehirns, die ihre Anfänge bereits beim Homo erectus, also vor 800-500 000 Jahren hat. Bei ihm finden entscheidende Entwicklun-
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Mit dem griechischen phainestai ist der Begriff der Phantasie verwandt, bei dem der Akzent darauf liegt, dass etwas erscheint bzw. zur Erscheinung gebracht wird; im Unterschied dazu liegt der Akzent bei dem lateinischen imaginatio auf dem Prozess der Ein-bildung bzw. Verkörperung von Bildern, der auch im deutschen Begriff der Einbildungskraft akzentuiert wird.
I MAGINATION
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gen statt. Der Homo erectus richtet sich auf; die Hände werden freigesetzt. Das Zusammenspiel zwischen Gehirnwachstum, Freisetzung der Hände, Entwicklung der vorderen Schädelpartie und der Sprache führt zu einer neuen, für den Menschen charakteristischen evolutiven Komplexität, in der die Fantasie eine wichtige Rolle spielt. Doch nicht nur die Vergrößerung des Gehirns, die in Bezug auf das Körpergewicht bei den Australopithecinen den Faktor 3, beim Homo erectus den Faktor 4,5 und beim Homo sapiens den Faktor 7,2 erreicht, sondern vor allem die Qualität der neuronalen Vernetzung spielt bei der Entstehung der Fantasieleistungen eine wichtige Rolle. Diese Entwicklung des Gehirns ist in eine Reihe weiterer Veränderungen eingebettet. Unter ihnen sind der aufrechte Gang, der Wechsel des Lebensraums mit der Zunahme der Fleischnahrung in Folge der Jagd, die Kultivierung des Feuers und die allmähliche Entwicklung von Sprache und Kultur besonders wichtig. Die Menschwerdung lässt sich als eine mehrdimensionale Morphogenese aus den Wechselwirkungen ökologischer, genetischer, zerebraler, sozialer und kultureller Faktoren begreifen, in deren Rahmen sich auch die Imagination herausbildet, die für die weitere Entwicklung der Menschen eine wichtige Rolle einnimmt. Man kann in dem Prozess, in dem ein Stück Natur mit Hilfe der Imagination zu einem ästhetisch gestalteten Werkzeug gemacht wird, die Imagination mit ihren Möglichkeiten Bilder zu entwerfen, am Werk sehen (Abb. 2). Abb. 2: Faustkeil, © Archäologisches Museum Frankfurt
In diesem Prozess wird nach einem mentalen Bild ein Stein ausgesucht und so bearbeitet, dass ein Werkzeug entsteht, welches bestimmte Funktionen erfüllen und zugleich ästhetischen Ansprüchen genügen muss. Eine andere Stufe ästhetischer Gestaltung wird erreicht, wenn Menschen ihre innere Wirklichkeit in Zeichnungen übersetzen, wie dies in den Knochenritzungen in Bilzingsleben im
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Kreis Artern in Thüringen in Deutschland (Abb. 3) vor etwa 300 000 Jahren in der Altsteinzeit geschah (vgl. Le Tensorer 2001). Abb. 3: Knochenritzungen in Bilzingsleben (aus Le Tensorer 2001)
Manche Interpreten haben in diesen Zeichen Figuren sehen wollen, andere haben sich darauf beschränkt, hier kaum deutbare Zeichen zu sehen. Eine abermals neue Stufe der Bildgestaltung verdeutlichen die Tier- und Menschenstatuetten (Abb. 4), die vor ca. 35 000 Jahren im Donau- und Rheingebiet entstanden, in denen der Homo pictor, der Mensch der Bilder sichtbar wird. Abb. 4: Tierstatuette aus Vogelherdhöhle (Mammut), © Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Universität Tübingen
In den Felsmalereien dieser Zeit (Abb. 5), die weitgehend auf Europa beschränkt sind und im frankokantabrischen Raum ihre schönsten Ausprägungen gefunden haben, werden komplexe Werke der Imagination sichtbar. Folgt man André
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Leroi-Gourhans Deutung, scheint sich die Kunst „gewissermaßen von einer wirklichen Schrift loszulösen und einen Weg einzuschlagen, auf dem sie, ausgehend vom Abstrakten, Schritt für Schritt die Darstellungsweisen von Form und Bewegung herausarbeitet, um am Ende der Kurve zum Realismus zu finden und schließlich zu verlöschen“ (Leroi-Gourhan 1980, S. 243). Bei diesen Felsmalereien handelt es sich um Bilder vor dem Zeitalter der Kunst, über deren Deutung viel gerätselt wurde, die sich jedoch nach wie vor der Interpretation entziehen. Gewiss ist aber, dass diese Bilder von ihren Zeitgenossen ganz anders wahrgenommen wurden, als wir heute diese Bilder sehen. Diese Begrenztheit unserer Möglichkeiten, solche Felsbilder zu begreifen, ist ein Beispiel für die allgemeineren methodologischen Überlegungen, auf die sich eine angemessene Konzeption Historischer Anthropologie stützt (Wulf 2013, 2010a). Mit der Relativierung unserer Möglichkeiten, diese Felsbilder zu begreifen, werden unsere Überlegungen in methodischer Hinsicht auf unsere Konzeption Historischer Anthropologie bezogen (Wulf 2009, 2010a). Nach dieser gilt es die Historizität und Kulturalität der Werke und die Historizität und Kulturalität ihrer Betrachter aufeinander zu beziehen. Erst so entsteht ein die eigene Geschichtlichkeit als konstitutives Element einbeziehendes Verständnis dieser Werke. Wie wurden diese Bilder wahrgenommen? Wurden sie nach dem Modell von Lebewesen gesehen? Machte die Präsenz der Tiere im Bild eine Vergegenwärtigung der abwesenden Tiere möglich? Wir wissen es nicht. Für den heutigen Betrachter bringen diese Bilder etwas in die Gegenwart; sie präsentieren abwesende Tiere und Figuren und intensivieren die Darstellung durch den Akt des Zeigens, die Geste des Deiktischen, die wir nur unzulänglich begreifen. Die Felsbilder ermöglichen Wiederholung und Wiederbelebung und intensivieren so die Wahrnehmung. Wir sehen Bilder als Bilder und die auf ihnen dargestellten Dinge als Bildgegenstände. Zugleich sehen wir auch ihren Verweis auf die Welt außerhalb des Bildes. Was wir als Bild sehen, verweist auf ein Außen, das in einer Beziehung zum Dargestellten steht. Manchmal ist diese Beziehung magisch; manchmal ist sie durch Ähnlichkeit gekennzeichnet, manchmal auch durch eine kausale Bezugnahme. Diese Überlagerung unterschiedlicher Bilder in der Wahrnehmung ist eine Folge der Einbildungskraft, die erst den Blick auf das Bild und den Rückblick des Bildes auf seinen Betrachter ermöglicht.
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Abb. 5: Detail (Löwen) aus der Höhle von Chauvet in Vallon Pont-d’Arc (Ardèche)
T OTENBILDER UND I MAGINATION Zu den weiteren Spuren einer entwickelten Imagination gehören Grabbeilagen aus den Gräbern der Neandertaler. Dazu zählen Farben, Ausrüstungen und Proviant, die den Schluss zulassen, dass die Neandertaler an ein Weiterleben nach dem Tode glaubten. In der Felshöhle La Ferrassie im französischen Département Dordogne wurden Spuren eines Mannes, einer Frau und von Kindern gefunden, die mit Ocker bestreut waren. In der Höhle von Shanidar im Norden des Iraks wurden unter und über den Skeletten Pollen von Rosen, Nelken und Hyazinthen entdeckt, woraus sich folgern lässt, dass die Toten auf Blumen gebettet wurden. Aus diesen Funden lässt sich schließen: Die Lebenden sorgten sich um die Gestorbenen und begriffen diese als nach wie vor zu ihnen gehörig. Sie kannten Schmerz und Trauer und hatten Vorstellungen von der Endlichkeit des menschlichen Lebens, die sie mithilfe des Glaubens an ein jenseitiges Leben zu kompensieren hofften. Die Neandertaler hatten nicht nur ausgeprägte Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft, sondern auch Vorstellungen von einem Imagi-
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nären und der Möglichkeit der Toten, in einer jenseitigen Welt weiterzuleben. Der Tod stellt eine Grenze dar, die die Produktion imaginärer Bilder stark herausfordert. Dies gilt für diese frühen Zeiten menschlicher Entwicklung und ist nach wie vor gültig. Große Teile des religiösen Imaginären sind Antworten auf die Vergänglichkeit der Menschen und ihre Auslöschung durch den Tod. Die Erfahrung des Todes und die Produktion von Bildwerken sind eng miteinander verbunden. Das zeigt das Bildwerk eines Totenschädels von der melanesischen Insel Neuirland (Abb. 6), der im Totenkult wahrscheinlich auf einer geschnitzten Holzfigur angebracht und der Schädel des Menschen war, an den man sich im Totenritus erinnerte. Abb. 6: Totenschädel aus Neuirland / Neuguinea. Schädel mit Kalk geweißtem Gesicht und roter Bemalung. Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim © rem, Foto: Jean Christen
Er war mit Wachs und Kreidepaste überformt und mit Ocker bemalt. Der Schädel wurde so präpariert, dass er keine einfache Mumie darstellt, sondern in einen anderen imaginären Zusammenhang versetzt wurde, in dem er zum Träger anderer Kräfte wird, die ohne Imagination nicht erfahren werden können.
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Abb. 7: Totenschädel aus Jericho, © British Museum
Totenschädel und Totenbilder werden erst möglich, wenn eine kollektive Vorstellungswelt, ein kollektives Imaginäres über ein Jenseits vorliegt. Das zeigen frühe Werke wie der Totenschädel aus Jericho von vor ca. 7000 Jahren (Abb. 7). Mit ihrer Hilfe hat die Gemeinschaft Bilder des Verstorbenen geschaffen, durch die der abwesende Verstorbene in der Gemeinschaft wieder anwesend ist, allerdings nur als Bild. Im Bild überlagern sich die Abwesenheit des Verstorbenen und seine Anwesenheit im Bild. Das Bild verweist auf ein Abwesendes und macht es im Bild sichtbar. Ein Bild findet seinen Sinn darin, etwas abzubilden, das abwesend ist, also nur im Bild anwesend sein kann. „Das Bild eines Toten ist also keine Anomalie, sondern geradezu der Ursinn dessen, was ein Bild ohnehin ist. Der Tote ist immer schon ein Abwesender, der Tod eine unerträgliche Abwesenheit, die man mit einem Bild füllen wollte, um sie zu ertragen. Deshalb haben die Menschen ihre Toten, die nirgendwo sind, an einen ausgewählten Ort (das Grab) gebannt und ihnen im Bild einen unsterblichen Körper gegeben: einen symbolischen Körper, mit dem sie resozialisiert werden, während sich ihr sterblicher Körper in Nichts auflöst“ (Belting 2001, S. 144). Das Bild bringt etwas zur Erscheinung, das nicht im Bild ist, sondern nur im Bild erscheinen kann. Das griechische Wort phantasia bringt genau dies zum Ausdruck. Die Fantasie bringt im Bild etwas zur Erscheinung, was nicht ist und schafft damit den Bereich der Ästhetik avant la lettre. Was wir im Bild sehen, sind nicht nur Formen, Farben und Figurationen, also die ikonischen Elemente des Bildes; was wir im Bild sehen, sehen wir als das Bild. Dieses sehen in und sehen als ist nur mit Hilfe der Fantasie möglich, die die Welt zur Erscheinung bringt und für das menschliche Verhältnis zur Welt konstitutiv ist.
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Ohne die Imagination gäbe es auch keine Erinnerungen und keine Projektionen von Zukünftigem. Nach der Definition Kants im § 24 der Kritik der reinen Vernunft ist die Imagination das Vermögen, „einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“ (Kant 1983, S. 116). Nach Kants Auffassung ist die Einbildungskraft an sinnlich Wahrgenommenes gebunden. Damit Begriffe Realität bezeichnen, müssen sie von Anschauung begleitet sein. Während dies bei empirischen Begriffen kein Problem darstellt, benötigen Verstandesbegriffe bzw. Vernunftbegriffe Schemata bzw. Symbole zu ihrer Versinnlichung. Begriffen wie Staat, Liebe, Tod liegen nach Kants Auffassung keine aus Erfahrung gewonnenen Anschauungen zugrunde. Dennoch kann die Imagination zwischen Begriff und Wahrnehmung dadurch vermitteln, dass sie an vergleichbare Gegenstände der Wahrnehmung erinnert. Die Diskussion über die Rolle der Imagination in der Ästhetik hat deutlich gemacht, dass Imagination mehr ist als die Fähigkeit, Abwesendes in die Gegenwart zu bringen und sich die Welt einzubilden. Nicht weniger wichtig ist die Fähigkeit der Imagination, vorhandene Ordnungen umzustrukturieren und Neues zu erzeugen. Imagination erlaubt es, Dinge zu erfinden und Kreativität zu entfalten. Unentschieden ist nach wie vor, inwieweit die Imagination bei der Erzeugung ihrer Werke an die Voraussetzungen der Natur bzw. der Kultur gebunden ist. Selbst wenn man davon ausgeht, dass sich der Künstler wie die natura naturans, also wie die Schöpfungskraft der Natur verhält, ist mit dieser Metapher nicht geklärt, wie Originalität, Kreativität und Neuheit entstehen. Die Kreativität der Imagination basiert auf dem Akt der inventio, in dem sich die „Freiheit der Subjektivität“ ausdrückt. Die Imagination ist weder „ursprungslos noch nicht-ursprungslos“ (Mersch 2006), sondern sie ist den medialen Paradoxien und der Produktivität des Paradoxon geschuldet.
P RÄSENZ – R EPRÄSENTATION – S IMULATION Wie wir gesehen haben, ist der Mensch durch seine Fähigkeit charakterisiert, mit Hilfe der Fantasie Bilder zu schaffen. Die Spannweite von Bildern reicht von den Bildern mit einem hieratisch-magischen Charakter, in denen das Bild mit dem identisch ist, was es zeigt, bis zu den Bildern, die nichts mehr repräsentieren und nur noch simulieren. Zwischen diesen beiden Bildtypen befinden sich die Bilder, denen ein Repräsentationsverhältnis zugrunde liegt und deren Verhältnis zur Welt und zu anderen Bildern mimetisch ist. Demnach lassen sich drei Arten von Bildern unterscheiden:
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– das Bild als magische Präsenz; – das Bild als mimetische Repräsentation; – das Bild als technische Simulation. Zwischen diesen Arten von Bildern gibt es vielfältige Überschneidungen. Dennoch erscheint eine solche Unterscheidung sinnvoll; sie ermöglicht es, unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche ikonische Merkmale zu identifizieren. Das Bild als magische Präsenz: Zu den Bildern, die in einer Zeit entstanden, in der Bilder noch nicht zu Kunstwerken geworden waren, gehören Statuetten, Masken, Kultbilder, sakrale Bilder. Unter ihnen spielen Bilder, die Göttern magische Präsenz verschaffen, also Götter- oder Götzenbilder, eine besondere Rolle. Frühe Darstellungen von Fruchtbarkeitsgöttinnen in Lehm oder Stein aus archaischen Kulturen gehören dazu. Viele Idole, Statuetten und Masken der frühen Zeit sichern durch ihre Existenz die Präsenz des Göttlichen. Auch in der Verehrung des goldenen Kalbs, von der das Alte Testament berichtet, handelt es sich um ein Kultbild, in dem Gott und Bild zusammenfallen und die Präsenz eines Gottes im Kalb verkörpert und versinnbildlicht ist. Während Moses auf dem Sinai die Gebote Gottes empfängt, in denen ausdrücklich verboten wird, sich ein Bild von Gott zu machen und Bilder zu verehren, war das Volk unter Führung von Moses älterem Bruder Aaron dem alten Bedürfnis nach der Anbetung eines Bildes gefolgt. In Aaron zeigt sich die bildverehrende, ikonodule, in Moses die bildbekämpfende, ikonoklastische Position, die beide bis heute Grundpositionen im Umgang mit Bildern darstellen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie von der Macht der Bilder überzeugt sind. Diese „Macht erwächst aus der Fähigkeit, ein ungreifbares und fernes Sein zu vergegenwärtigen, ihm eine derartige Präsenz zu leihen, die den Raum der menschlichen Aufmerksamkeit völlig zu erfüllen vermag. Das Bild besitzt seine Kraft in einer Verähnlichung, es erzeugt eine Gleichheit mit dem Dargestellten. Das goldene Kalb ist (in der Perspektive des Rituals) – der Gott. Das Bild und sein Inhalt verschmelzen bis zur Ununterscheidbarkeit“ (Boehm 1994b, S. 330). Im Reliquienkult des Mittelalters reicht ein kleiner, einem Heiligen zugeschriebener Körperteil aus, den Heiligen präsent zu machen. „Hier liegen die Körper vieler Heiliger“, heißt es in der Reliquiensammlung in Conques. Die Heiligen sind präsent, sie werden nicht durch ihre Reliquien repräsentiert. Sie entwickeln ihre heilbringende Kraft für die Gläubigen an dem Ort, an dem sich Teile ihres Körpers befinden. Die Reliquien heiligen den Ort und die Teilnehmer der rituellen Handlungen. Mit Hilfe ritueller Handlungen wird ein Zusammenhang zwischen der Reliquie als bildhafter Verkörperung des Heiligen und dem in
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Folge der rituellen Handlung erwarteten Heil hergestellt, den man in anderen kulturellen Zusammenhängen magisch genannt hätte. In vielen Werken der modernen Kunst wird nichts außerhalb des Kunstwerks repräsentiert, sondern es wird lediglich eine Präsenz hergestellt, hierin durchaus frühen (kultischen) Werken vor dem Zeitalter der Kunst vergleichbar. Bei Mark Rothko und Barnett Newman werden ausdrücklich Bilderfahrungen des Sakralen bzw. des Numinosen initiiert, etwa in der Rothko-Kapelle in Houston, in der die Farben der Bilder den Betrachter in einem diffusen Schwebezustand lassen, in dem sich „Präsenz und Diffusion“ auf geheimnisvolle Weise die Waage halten. Auch die Bilder Newmans konfrontieren den Betrachter mit seiner Grenze und lassen ihn seine Ohnmacht erfahren. In Newmans Selbstverständnis wird hier die Erfahrung des Sublimen möglich. „Diese kennzeichnet die Überforderung der kognitiven Kapazität durch etwas Übergroßes. Das erkennende Versagen an diesem Übergroßen wird zu einem unerwarteten Gewinn. [...] Das Bild Newmans will insoweit gar nichts zeigen (auch nicht bloße Farbflächen); es will in reiner Form wirken, im Beschauer etwas auslösen. Es hebt sich als Bild vollständig auf, in dem Augenblick, da ihm dies gelingt“ (Boehm 1994b, S. 343). Das Bild als mimetische Repräsentation: Im Werk Platons werden Bilder zu Repräsentationen von etwas, das sie nicht selbst sind. Sie stellen etwas dar, bringen etwas zum Ausdruck, verweisen auf etwas. Nach Platons Auffassung produzieren Maler und Dichter nicht wie Gott Ideen und Handwerker Gebrauchsgegenstände. Sie bringen Erscheinungen der Dinge hervor, wobei Malerei und Dichtung nicht auf die künstlerische Darstellung der Dinge beschränkt sind, sondern auf die künstlerische Darstellung der Erscheinungen, wie sie erscheinen. Ziel ist nicht die Darstellung der Ideen oder der Wahrheit, sondern die künstlerische Darstellung von Phantasmen. Daher können Malerei und mimetische Dichtung prinzipiell das Sichtbare zur Erscheinung bringen. Hier geht es um die Bilder und Illusionen schaffende Mimesis, bei der die Differenz zwischen Modell und Abbild unwichtig wird. Ziel ist nicht die Ähnlichkeit, sondern der Schein des Erscheinenden. Bei Platon werden Kunst und Ästhetik als ein eigener Bereich konstituiert, in dem der Künstler bzw. der Dichter der Meister ist. Dieser hat nach Platon nicht die Fähigkeit, Seiendes zu produzieren und ist frei vom Wahrheitsanspruch, dem sich die Philosophie zu stellen hat und der dem „Staat“ zugrunde liegt. Somit gewinnen Kunst und Ästhetik Unabhängigkeit von den Belangen der Philosophie, ihrer Wahrheits- und Erkenntnissuche, ihrem Bemühen um das Gute und Schöne. Der dafür zu entrichtende Preis ist der Ausschluss aus dem „Staat“, der den nicht kalkulierbaren Charakter von Kunst und Dichtung nicht akzeptiert (Gebauer/Wulf 1998a).
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Der künstlerische Gestaltungsprozess zielt also auf die Ausgestaltung eines inneren, dem Maler bzw. Dichter vor Augen stehenden Bildes. Der die Gestaltung leitende Entwurf löst sich mehr und mehr in das Bild auf, das in einem anderen Medium als der imaginierte Entwurf entsteht. Dabei kommt es zu Veränderungen, Auslassungen, Ergänzungen und dergleichen, so dass Ähnlichkeit nur in begrenztem Maß gegeben ist. In den meisten Fällen sind die Vorbilder, auf die sich die Bilder und Entwürfe der Künstler beziehen, unbekannt, da es sie entweder nie gab oder sie nicht mehr erhalten sind. Im Zentrum des künstlerischen Prozesses steht das Bild, das Bezüge zu Vorbildern enthält und aus einem Transformationsvorgang entsteht. Die (mimetische) Herstellung von Repräsentationen gehört zu den elementaren anthropologischen Fähigkeiten. Eines ihrer zentralen Themen ist der menschliche Körper. In den Porträts der Renaissance und in den Fotografien der Gegenwart werden menschliche Körper abgebildet, die Menschen repräsentieren. In Form von Körperbildern stellen Fotografien Menschen in wichtigen Situationen ihres Lebens dar. An solche und an andere Formen der Repräsentation sind Fragen des menschlichen Selbstverständnisses gebunden. Ohne Bilder von uns selbst, also Repräsentationen unserer selbst, sind wir uns nicht verständlich. Um die Grenzen der Möglichkeiten menschlicher Selbstwahrnehmung zu begreifen, ist die Einsicht in den Bildcharakter solcher Repräsentationen unerlässlich. Seit frühester Zeit schaffen Menschen Bilder vom menschlichen Körper. Diese Körperbilder sind Menschenbilder, wie Menschendarstellungen immer Körperdarstellungen sind. Die Bilder stellen den Körper, der sich in historischer Zeit in biologischer Hinsicht nicht verändert hat, unterschiedlich dar. Eine Geschichte dieser Bilder ist repräsentativ für eine Geschichte des menschlichen Körpers. Sie ist zugleich eine Geschichte der Menschendarstellungen und Menschenbilder. Daraus lässt sich folgern: „Der Mensch ist so, wie er im Körper erscheint. Der Körper ist selbst ein Bild, noch bevor er in Bildern nachgebildet wird. Die Abbildung ist nicht das, was sie zu sein behauptet, nämlich Reproduktion des Körpers. Sie ist in Wahrheit Produktion eines Körperbilds, das schon in der Selbstdarstellung des Körpers vorgegeben ist. Das Dreieck Mensch-KörperBild ist nicht auflösbar, wenn man nicht alle drei Bezugsgrößen verlieren will“ (Belting 2001, S. 89). Das Bild als technische Simulation: Alles hat heute eine Tendenz, zum Bild zu werden: Selbst opake Körper werden transformiert, sie verlieren ihre Undurchsichtigkeit und Räumlichkeit, werden transparent und flüchtig. Abstraktionsprozesse münden in Bilder und Bildzeichen. Überall begegnet man ihnen; nichts ist mehr fremd und überwältigend. Bilder bringen Dinge, „Wirklichkei-
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ten“ zum Verschwinden. Neben der Überlieferung von Texten werden zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit auch Bilder in großem Ausmaß gespeichert und tradiert. Fotos, Filme, Videos werden zu Gedächtnishilfen, Bildgedächtnisse entstehen. Bedurften Texte bisher der Ergänzung durch imaginierte Bilder, so wird die Imagination heute durch die Produktion von „Bildtexten“ und ihre Überlieferung eingeschränkt. Immer weniger Menschen gehören zu den Produzenten, immer mehr zu den Konsumenten vorgefertigter, kaum noch die Einbildungskraft herausfordernder Bilder (vgl. Baudrillard 1981, 1987). Bilder sind eine spezifische Form der Abstraktion; ihre Flächigkeit transformiert den Raum. Der elektronische Charakter von Fernseh-Bildern ermöglicht Ubiquität und Beschleunigung. Solche Bilder können annähernd simultan an allen Orten der Welt verbreitet werden (vgl. Virilio 1990, 1993, 1996). Sie miniaturisieren die Welt und ermöglichen die spezifische Erfahrung der Welt als Bild. Sie stellen eine neue Form der Ware dar und unterliegen den ökonomischen Prinzipien des Marktes. Sie werden selbst dann produziert und gehandelt, wenn die Gegenstände, auf die sie sich beziehen, nicht zu Waren werden. Bilder geraten in einen Austausch mit anderen, werden auf andere bezogen; in ihnen werden Bildteile aufgegriffen und anders zusammengesetzt; fraktale Bilder werden erzeugt, die jedes Mal neue Ganzheiten bilden. Sie bewegen sich, verweisen aufeinander. Bereits ihre Beschleunigung gleicht sie einander an: Mimesis der Geschwindigkeit. Aufgrund ihres flächigen, elektronischen und verkleinernden Charakters werden Bilder trotz inhaltlicher Unterschiede einander immer ähnlicher. Sie reißen die Betrachter mit. Sie faszinieren und ängstigen. Sie lösen die gewordenen Beziehungen zwischen den Dingen und Menschen auf und überführen sie in eine Welt des Scheins. Die Welt, das Politische und das Soziale werden ästhetisiert. In einem mimetischen Prozess suchen Bilder Vorbilder, um sich ihnen anzugleichen; sie werden zu neuen fraktalen Bildern ohne Referenzrahmen transformiert. Eine Promiskuität der Bilder entsteht. Rauschhafte Spiele mit Simulakren und Simulationen entwickeln sich: äußerste Differenzierung der Bilder bei gleichzeitiger Implosion ihrer Differenz. Die Bilder als Bilder sind die Botschaft (McLuhan 1968). Bilder werden mit Lichtgeschwindigkeit verbreitet. Eine Welt des Scheins und der Faszination entsteht, die sich von der „Wirklichkeit“ loslöst. Die Welt des Scheins breitet sich aus und hat eine Tendenz, den anderen „Welten“ ihren Realitätsgehalt zu nehmen. Mehr und mehr Bilder werden produziert, die nur noch sich selbst zum Bezugspunkt haben und denen keine Wirklichkeit entspricht. In letzter Konsequenz wird alles zu einem Spiel von Bildern, in dem alles möglich ist, so dass auch ethische Fragen an Bedeutung verlieren. Wenn alles zum Spiel von Bildern wird, sind Beliebigkeit und Unverbindlichkeit un-
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vermeidbar. Die so erzeugten Bilderwelten wirken auf das Leben zurück. Eine Unterscheidung zwischen Leben und Kunst, Fantasie und Wirklichkeit wird immer schwieriger. Beide Bereiche gleichen sich einander an. Das Leben wird zum Vor-Bild der Welt des Scheins und diese zum Vor-Bild des Lebens. Das Visuelle entwickelt sich hypertrophisch. Die Welt wird transparent; die Zeit wird verdichtet, als gäbe es nur noch die Gegenwart der beschleunigten Bilder. Die Bilder ziehen das Begehren an, binden es, entgrenzen und verringern die Differenzen. Zugleich weichen sie dem Begehren aus; bei gleichzeitiger Anwesenheit verweisen sie auf Abwesendes. Dinge und Menschen verlangen nach einer Überschreitung in Bildern. Bilder werden zu Simulakren (vgl. Baudrillard 1981, 1987, 1990, 1991, 1992, 1995). Sie beziehen sich auf etwas, gleichen sich an und sind Produkte eines Mimikry-Verhaltens. Politische Auseinandersetzungen werden häufig nicht um ihrer selbst willen geführt, sondern für die Verbildlichung und Verbreitung im Fernsehen inszeniert. Was als politische Kontroverse stattfindet, ist bereits auf seine Verbildlichung ausgerichtet. Die Fernsehbilder werden zum Medium politischer Auseinandersetzung. Die Zuschauer sehen die Simulation einer politischen Kontroverse, in deren Verlauf alles so inszeniert wird, dass sie glauben sollen, die politische Auseinandersetzung sei authentisch. Alles ist immer schon auf eine Transformation in die Welt des Scheins angelegt. Insoweit diese gelingt, ist die Kontroverse erfolgreich. Als Simulation der Politik entstehen die Wirkungen des Politischen. Simulationen zeigen höhere Wirkungen als „wirkliche“ politische Auseinandersetzungen. Simulakren befinden sich auf der Suche nach Vor-Bildern, die erst durch sie selbst geschaffen werden. Simulationen werden Bild-Zeichen, die Rückwirkungen auf den Charakter der politischen Kontroverse haben. Grenzziehungen zwischen Wirklichkeiten und Simulakren werden schwierig; Entgrenzungen haben zu neuen Überschneidungen und Durchdringungen geführt. Mimetische Prozesse lassen die Vor-Bilder, Ab-Bilder und Nach-Bilder zirkulieren. Ziel der Bilder ist es, nicht mehr Vor-Bildern, sondern sich selbst zu gleichen. Ähnliches geschieht im Bezug auf Menschen. Ziel ist die außerordentliche Ähnlichkeit der Individuen mit sich selbst, erreichbar als Wirkung produktiver Mimesis vor dem Hintergrund umfassender Differenzierungen im gleichen Subjekt.
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D ER B LICK
AUF
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DER
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B LICK
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DER
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Die Bilder der Präsenz, der Repräsentation, der Simulation und auch viele der mentalen Bilder entstehen erst dadurch, dass sie oder die ihnen zugrunde liegenden Figurationen angeblickt werden. Doch was heißt anblicken? Blicke können sehr unterschiedlich sein. Sie können bescheiden, gütig, ungeduldig, böse, zornig usw. sein. Blicke sind eng mit der Geschichte des Subjekts und der Subjektivität sowie des Wissens verbunden. In ihnen drücken sich Macht, Kontrolle und Selbstkontrolle aus. In ihnen zeigen sich das Verhältnis zur Welt und zu anderen Menschen und das Selbstverhältnis. Die Blicke der Anderen konstituieren das Soziale. Intime Blicke lassen sich von öffentlichen Blicken unterscheiden. Sie sind nicht nur individuell, sondern auch sozial und an das kollektive Imaginäre und die sich in ihm ausdrückenden Menschenbilder gebunden. Weder als Flamme, die die Welt erst sichtbar macht, noch als Spiegel, der sie nur aufnimmt und reflektiert, ist der Blick angemessen beschrieben. Der Blick ist sowohl aktiv als auch passiv; er richtet sich auf die Welt und empfängt sie zugleich. Wie dieses Verhältnis von Aktivität und Passivität bestimmt wird, ist in der Geschichte des Sehens unterschiedlich interpretiert worden. Spätestens seit den Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty muss man davon ausgehen, dass auch die Welt und damit auch die von den Menschen geschaffenen Bilder uns anblicken. Der Blick ist chiastisch; in ihm kreuzen sich Welt und Mensch. Im Blick können Menschen sehr vieles ausdrücken und sodann dieses leugnen. Denn der Blick ist spontan und nicht dauerhaft. Er macht die Dinge sichtbar und ist zugleich Ausdruck des Menschen. Bezogen auf die Bilder der Kunst ergeben sich im Hinblick auf die Kunst folgende Überlegungen: „Die Blicke sind schon im Bild, bevor sie auf ein Bild treffen. Nur deshalb ist es möglich, die Bildgeschichte für eine Geschichte des Blicks heran zu ziehen“ (Belting 2006, S. 121). Deshalb gibt eine Ikonologie des Blicks Aufschlüsse über die Vielfalt der historischen und kulturellen Bildpraxen. Der Blick wechselt zwischen Bild, Körper und Medien hin und her; er verweilt weder im Körper noch im Bild, sondern entfaltet sich im Zwischenfeld zwischen ihnen; er lässt sich nicht festmachen und hat die Wahl, wie er sich den Medien gegenüber verhält. Bilder ködern den Blick und machen ihn „in unserem Bildverlangen selbst zum Objekt“. In den Kunstwerken geht die primäre Bildpraxis des Körpers in eine sekundäre Bildpraxis über. Im Erblicken von Bildern, die kein eigenes Leben haben, entfaltet sich die Imagination. Im Blick in den Spiegel oder durch das Fenster können wir des Blicks gewahr werden. „Der Monitor wiederholt den Fensterblick, das Video den Spiegelblick“ (ebd., S. 123).
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Beim Umgang mit den Bildern spielt der mimetische Blick eine wichtige Rolle. In ihm öffnet sich der Betrachter der Welt. Durch Anähnlichung an sie weitet er seine Erfahrungswelt aus. Er nimmt ein Abbild von der Welt und inkorporiert es in seine mentale Bilderwelt. Durch einen sehenden Nachvollzug der Formen und Farben, des Materials und seiner Strukturen werden diese in die Innenwelt transformiert und zum Teil des Imaginären. In einem solchen Prozess wird die Einmaligkeit der Welt in ihrer historischen und kulturellen Ausprägung aufgenommen. Dabei geht es darum, Welt und Bild vor schnellen Deutungen zu schützen, durch die sie in Sprache und Bedeutung transformiert, jedoch als „Bild“ erledigt werden. Vielmehr gilt es die Unsicherheit, Vieldeutigkeit, Komplexität der Welt auszuhalten, ohne Eindeutigkeit herzustellen. Im mimetischen Nachvollzug setzt man sich der Ambivalenz der Welt und der Bilder aus. In diesem Prozess gilt es, den Ausschnitt der Welt bzw. das Bild „auswendig“ zu lernen. Bezogen auf Bilder bedeutet das: Man muss die Augen schließen und das gesehene Bild mit Hilfe der Imagination vor dem inneren Auge erzeugen und seine Aufmerksamkeit auf es richten, es gegenüber anderen, vom inneren Bilderstrom herangetragenen Bildern schützen und mit Hilfe der Konzentration und Denkkraft das Bild „festhalten“. Das Nachschaffen eines Bildes in der Anschauung ist der erste Schritt, es festhalten, an ihm arbeiten, es in der Imagination zur Entfaltung bringen sind weitere Schritte einer mimetischen Auseinandersetzung mit Bildern. Die Reproduktion eines Bildes in der Anschauung, das aufmerksame Verweilen bei ihm ist keine geringere Leistung als der interpretatorische Umgang mit ihm. In Bildungsprozessen ist die Verschränkung dieser beiden Aspekte der Auseinandersetzung mit Bildern die Aufgabe.
Ikonische Formen der Imagination
In einer ersten Annäherung lässt sich Imagination als eine Energie bezeichnen, mit deren Hilfe abwesende Menschen, Gegenstände und Sachzusammenhänge anwesend gemacht werden können. Das Abwesende gewinnt seine Anwesenheit im Medium des Bildes. Im Bild ist das Abwesende einerseits anwesend; andererseits zugleich materiell abwesend. In dieser paradoxen Struktur liegt der repräsentative Charakter vieler Bilder begründet, der für die Entstehung der mentalen Bilder konstitutiv ist. Die Repräsentationsstruktur des Bildes macht es möglich, Außenwelt zur Innenwelt und Innenwelt zur Außenwelt zu machen. Allerdings unterscheiden sich die mentalen Bilder in der Intensität, in der in ihnen die Außenwelt zur Erscheinung kommt. Ein Vergleich zwischen den Bildern der Wahrnehmung und denen der Vorstellung macht dies deutlich. Im Allgemeinen erreichen Vorstellungsbilder nicht die Intensität von Wahrnehmungsbildern. Gegenstände der Vorstellungsbilder sind irreal; sie sind gegenwärtig, zugleich aber unerreichbar. Im Unterschied zu Wahrnehmungsbildern, die die ihnen zugrunde liegenden Objekte aus einer Perspektive zeigen, werden Vorstellungsbilder von mehreren Seiten gleichseitig gesehen. Eine Perspektive lässt sich kaum festhalten, die Imagination ergänzt sie und vermittelt eine Gesamtvorstellung. „Der Akt der Imagination ist [...] ein magischer Akt. Es ist eine Beschwörung, dazu bestimmt, das Objekt, an das man denkt, die Sache, die man begehrt, derart erscheinen zu lassen, daß man sie in Besitz nehmen kann“ (Sartre 1971, S. 197). Doch dies ist nur eine Seite im Umgang mit den mentalen Bildern. Andererseits widersetzen sich diese der Intention, mit der sie zur Erscheinung gebracht werden sollen, und zwingen uns dazu zu warten, bis sie sich einstellen. Dabei ist die Aufmerksamkeit auf eine absichtlich hergestellte Leere gerichtet, die ausgehalten werden muss und in der sich die inneren Bilder einstellen. Häufig erscheinen sie sehr zögerlich; sie lassen uns warten, bis sie erscheinen. Manchmal sind sie deutlich, dann wieder verlieren sie ihre Kraft und müssen wieder aufgerufen werden. In anderen Fällen stellen sie sich spontan und mit großer Intensität ein.
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Angesichts unseres Wunsches, die begehrten Bilder erscheinen zu lassen, stoßen wir auf die Grenzen unserer Möglichkeiten. Jede Vorstellung ist Ausdruck davon, dass ein Objekt fehlt; nicht einmal, wenn sich die Vorstellung eines Objekts einstellt, kann dieser Mangel behoben werden. Im Weiteren wird untersucht, wie sich Vorstellungsbilder von Wahrnehmungsbildern unterscheiden. Dabei wird bei den Vorstellungsbildern differenziert zwischen Erinnerungsbildern, projektiven Bildern der Zukunft, auf Wahrnehmungen beruhenden Bildern, pathologischen Bildern des Imaginären und Träumen. Im wechselseitigen Bezug aufeinander und besonders in Abgrenzung zu den Bildern der Wahrnehmung soll verdeutlicht werden, welche Rolle die Imagination für die Produktion der verschiedenen Bilder spielt. Dabei wird deutlich, dass es auch hier um unterschiedliche Erscheinungs- und Artikulationsformen der Imagination geht.
E RINNERUNG Vergegenwärtigen wir uns das Gesagte am Beispiel der Erinnerung. Ich habe gestern mit meinem besten Freund in einer Pizzeria zu Abend gegessen und versuche, mich daran zu erinnern. Das gelingt zunächst kaum; stattdessen drängen sich mir Bilder auf, die mich darauf hinweisen, was ich heute noch zu erledigen habe. Nach einiger Zeit gelingt es, diese Störbilder beiseite zu schieben: Ich sehe die Pizzeria und meinen Freund an einem Tisch auf mich warten. Ich spüre die Atmosphäre, sehe den Raum, höre die Geräusche, empfinde noch einmal das mit meiner Verspätung zusammenhängende schlechte Gewissen. Beliebig kann ich meine Erinnerungsvorstellungen präzisieren: Ich sehe den Pullover meines Freundes, sein Gesicht, seine leicht geröteten Wangen; ich sehe, wie er das Glas Rotwein trinkt, höre ihn den Ober rufen, erlebe noch einmal den vertrauten Charakter unseres Gesprächs. Beliebig kann ich die Szene erweitern; dabei kann ich mich streng an das Geschehen am gestrigen Abend halten; ich kann aber die Szene auch ausgestalten: mir fällt ein, was ich ihm gestern nicht gesagt habe, doch ihm hätte sagen sollen; ich korrigiere die Geschwindigkeit meines Essens: endlich einmal langsamer als er essen; ich sehe mich in dem Raum und erlebe die Zeit des allmählich vergehenden Abends. Indem ich mich zu einer Vorstellung von mir selbst mache, kann ich mich an dem nun irreal gewordenen Geschehen des gestrigen Abends beteiligen. Ich kann meinen Stuhl wechseln und mich neben meinen Freund setzen. Fast beliebig kann ich die Erinnerungsvorstellungen mit die Situation modifizierenden Vorstellungen verdrängen und verändern. Kaum merklich verschieben sich die Grenzen zwischen dem, was
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sich gestern ereignete und dem, was sich auch noch hätte ereignen können. Dieser spielerische Umgang mit der Erinnerung und ihrer Veränderung macht mir Freude. Mein Bewusstsein kann die Unterscheidung zwischen dem herstellen, was sich wirklich ereignete und dem, was sich hätte ereignen können. Ich weiß, was Erinnerung ist und wo das Spiel mit ihrer Veränderung einsetzt. Trotz der Freiheit, die ich meiner Erinnerung einräume, die Situation des gestrigen Abends mit Erweiterungen des Geschehens zu umspielen, verdichtet sich die Zeit des gestrigen Abends in den wenigen Minuten meiner Erinnerung. Ich glaube daran, dass unser Treffen in der Pizzeria stattgefunden hat und dass sich das ganze Geschehen so abspielte, wie ich es erinnere. Eine Kohärenz zwischen mir gestern Abend in der Pizzeria und mir als dem alles Erinnernden bildet sich. Ich kann unterscheiden zwischen den Erinnerungsvorstellungen vom gestrigen Abend und den Wahrnehmungen in meinem Arbeitszimmer mit dem von Ferne vernehmbaren Trompetenspiel eines jungen Musikers. Es gibt den Raum meines Arbeitszimmers und die Zeit meiner Gegenwart und neben ihr den Raum in der Pizzeria mit den Ereignissen des gestrigen Abends. Die Erinnerungswelt des gestrigen Abends entsteht in mir; sie ist keinem anderen zugänglich und kann auch von mir nur betreten werden, wenn ich bereit bin, zu einer Vorstellung von mir selbst zu werden. Genau so kann ich die Erinnerungen an den gestrigen Abend auch beenden: Sie zwingen mich nicht, die Ereignisse in meiner Vorstellung zu wiederholen. Auch wenn es mir Freude bereitet, verändernd in meine Erinnerungen einzugreifen, spüre ich die Willkür dieser Handlung. Ich spüre auch, dass die Wahrnehmungswelt um mich herum durch ihre Materialität gekennzeichnet ist, die mir Widerstand leistet und die ich nicht beliebig verändern kann. In der Erinnerung lassen sich also die in der Wahrnehmung einst empfangenen Bilder rekonstruieren. Dabei wird der Wert der Erinnerung häufig daran gemessen, wie sehr Erinnerungsbilder mit Wahrnehmungsbildern übereinstimmen. Jede Erinnerung ist eine Rekonstruktion des Vergangenen. Aus unterschiedlichen Gründen können sich jedoch die Erinnerungen auch verändern, etwa bei einem schmerzlichen Ereignis, das ich mit der Zeit „vergessen“ oder für das ich dem Schuldigen vergeben habe. Die Erinnerungen haben in diesem Fall nicht mehr die Intensität des damaligen Geschehens. Wenn sich der Kontext verändert hat, in dem es zu dem damals für mich schmerzlichen Ereignis gekommen ist, so werden auch die Erinnerungsbilder durch diesen Kontext beeinflusst. Da es sich bei den Erinnerungsbildern um Rekonstruktionen handelt, kann ich sie auch bewusst beeinflussen. Ich kann bestimmte Ereignisse anders bewerten, und dies mehr oder weniger intentional. David Hume hat den Unterschied zwischen der Erinnerung, in der es in der Regel darum geht, sich möglichst genau an das Vergangene zu erinnern, und der Imagination, der es durchaus
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erlaubt ist, die Erinnerung mit projektiven, sie verändernden Aspekten auszustatten, wie folgt beschrieben: „Denn wenn es auch eine spezielle Eigentümlichkeit der Erinnerung ist, die ursprüngliche Ordnung und Art des Zusammen der Vorstellungen festzuhalten, während die Einbildungskraft dieselben nach Belieben umstellt und ändert, so reicht doch die Tatsache dieses Unterschiedes nicht aus, um die Wirkungsweise beider Vermögen zu unterscheiden, oder die eine im Unterschied von der anderen für unser Bewusstsein erkennbar zu machen“ (Hume 1989, S. 113). Bergson (1991) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einem „mémoire d’automatismes“ und einem „mémoire-souvenir“, von denen nur die letztere Form der Erinnerung zwischen Wahrnehmung und Imagination unterscheiden kann. Wieder anders ist das Verhältnis der Erinnerung zur Wahrnehmung beim „mémoire involontaire“. Für diese von Bergson außerdem unterschiedene Form der Erinnerung ist die Madeleine-Passage in Prousts Du côté de chez Swan ein Beispiel, in der die Erinnerung gleichsam zu einer Auferstehung der Vergangenheit wird, die es dem Ich erlaubt, aus der sequenziellen Ordnung der Zeit herauszutreten und in die Vergangenheit einzutauchen und von der es dann später heißt, „in der Tat war es so, dass das Wesen, das damals in mir jenen Eindruck verspürt hatte, ihn jetzt in dem wiederfand, was es an Gemeinsamem zwischen einem Tage von ehemals und dem heutigen gab, was daran außerhalb der Zeit gelegen war; es war ein Wesen, das nur dann in Erscheinung trat, wenn es auf Grund einer solchen Identität zwischen Gegenwart und Vergangenheit sich in dem einzigen Lebenselement befand, in dem es existieren und die Essenz der Dinge genießen konnte, das heißt außerhalb der Zeit“ (Proust 1975, S. 274). Zwischen den Bildern der Erinnerungen und denen der Imagination kann es zu Konflikten kommen, dann nämlich, wenn die Erinnerung so schwer wiegt, dass das Individuum durch sie daran gehindert wird, sich von dem Gewicht der Vergangenheit frei zu machen, um kreativ leben zu können. Dieses Gewicht der Vergangenheit gilt z. B. für eine schuldbeladene Zeit, von der es dem Individuum nicht oder nur sehr schwer gelingt, sich frei zu machen. Der immer wieder auftretende Streit um das Verhältnis zur Vergangenheit bzw. zur Geschichte ist dafür ein Beispiel. Aus den bisherigen Überlegungen lassen sich folgende Thesen über den Zusammenhang von Imagination und Erinnerungsvorstellungen entwickeln: 1. Erinnerungsbilder lassen sich mit Hilfe der Imagination intentional hervorbringen.
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2. Im Vergleich zur Wahrnehmung sind Erinnerungsbilder durch eine „wesensmäßige Armut“ (Sartre) gekennzeichnet, die es nicht leicht macht, sie deutlich herauszubilden und in der mentalen Bilderwelt festzuhalten. 3. Der Prozess der Erzeugung von Erinnerungsbildern vollzieht sich nicht ohne Anstrengung. Störbilder müssen zur Seite geschoben und Widerstände überwunden werden, damit sich Erinnerungsbilder in einem von anderen Bildern entleerten Raum einstellen können. 4. Erinnerungsbilder stellen sich unterschiedlich schnell und deutlich ein; ihr Erscheinen ist nur in begrenztem Ausmaß kontrollierbar. 5. Erinnerungsbilder sind nicht nur auf das Visuelle beschränkt; an sie binden sich auch Atmosphären, Geräusche, Gerüche, Tast- und Geschmacksempfindungen. 6. Erinnerungsbilder sind nicht unveränderbar. Je nach Zeitpunkt und Kontext der Erinnerung können sich auch ihre figürlichen Ausprägungen ändern. 7. Die Grenzen zwischen Erinnerungsbildern und den sie verändernden Vorstellungsbildern sind fließend. 8. Das Spiel mit der Modifikation von Erinnerungsbildern kann Freude machen und sogar lustvoll sein. Dabei sind die Übergänge zu einem freien Spiel der Vorstellungen fließend. 9. Erinnerungsbilder sind Rekonstruktionen, in denen die mimetische Bezugnahme auf das vergangene Geschehen konstitutiv für ihre Hervorbringung ist. 10. Erinnerungsbilder sind mit vielen anderen Bildern der mentalen Bilderwelt vernetzt und stehen in kontinuierlichem Austausch mit ihnen, so dass sie häufig nicht leicht von anderen Bildern zu unterscheiden sind.
P ROJEKTION
ZUKÜNFTIGER
E REIGNISSE
Die Imagination erzeugt nicht nur Erinnerungsbilder. Sie ist genauso notwendig, wenn es um die Projektion zukünftiger Ereignisse geht. Wenn ich versuche, mir ein zukünftiges Ereignis, das noch nicht eingetreten ist und das auch keine Ähnlichkeiten mit bisherigen Ereignissen hat, vorzustellen, dann fällt dies der Imaginationskraft im Allgemeinen schwerer, als wenn das Ereignis schon stattgefunden hat und nur zu erinnern ist. Auch in diesem Fall hat das Bewusstsein die Möglichkeit, das zukünftige Ereignis von einem vergangenen oder einem ohne Realisierungsintention lediglich imaginierten zu unterscheiden. Allerdings bedarf es einer größeren Anstrengung der Einbildungskraft, das von der Zukunft entworfene Bild als mentales Bild festzuhalten und seine Figurationen zu kon-
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kretisieren. Stärker als beim Erinnerungsbild werden Störbilder und Widerstände gegen die Präzisierung der Figuration auftreten. Zwar sind beide Bilder ein Produkt der Imagination, doch hat das Ereignis, auf das sich das Erinnerungsbild bezieht, einen anderen Status als das noch nicht eingetretene Ereignis; von ihm eine Vorstellung zu entwickeln, erfordert eine wesentlich größere Anstrengung. Hier kann sich die Imagination nicht auf eine bereits wahrgenommene Situation beziehen; stattdessen fehlen im Fall des imaginierten Ereignisses alle weiteren Konkretisierungen und müssen von der Imaginationskraft ersonnen werden. Im ersten Fall gibt es das Wissen, dass das Ereignis unter ganz bestimmten Bedingungen stattgefunden und entsprechende Wirkungen entfaltet hat. Im Fall der Imagination eines zukünftigen Ereignisses kann dieses zum Träger von Hoffnung und Begehren werden; doch immer sind diese Gefühle auf etwas gerichtet, was noch nicht die Materialisierung eines vergangenen Ereignisses erreicht hat. Oft sind daher die Vorstellungen noch unscharf und müssen vor dem Horizont der Unschärfe eine Konkretisierung gewinnen. Dabei begleitet diese Vorstellung von einem zukünftigen Geschehen die Vorstellung, dass noch alles ganz anders kommen könnte. Denn das zukünftige Ereignis ist eines unter vielen möglichen, das noch der Realisierung harrt. Das Erinnerungsbild bezieht sich hingegen auf eine ausgewählte und bereits realisierte Möglichkeit. Doch auch das Bild eines zukünftigen Ereignisses enthält sinnliche Elemente und andere schmerzliche oder freudige Empfindungen; häufig sind diese nicht so ausgeprägt wie bei Erinnerungen, ist es noch unsicher, wie weit diese eintreten oder verschoben bzw. durch ganz andere emotionale Regungen ersetzt werden. Die Bilder projizierter Ereignisse werden durch ihren Möglichkeitshorizont, die wirklicher Ereignisse durch den Kontext und die Rahmung ihrer Verwirklichung bestimmt. Nur mit Hilfe der Einbildungskraft kann sich der Mensch darüber Rechenschaft ablegen, was sein könnte.3 Als „nicht festgestelltes Tier“ (Nietzsche) lebt er unter dem Zwang, sich Bilder der Zukunft machen zu müssen. Mit ihrer Hilfe entwirft er sich selbst, um der zu werden, der er sein kann. Indem sich Menschen ihre Zukunft vorstellen, versuchen sie ihre Ungewissheit in den Griff zu bekommen. Die Antizipation der Zukunft ist ein Versuch, die Angst vor der Ungewissheit, d. h. letztlich vor dem Tod zu bannen. Selbst wenn die Bilder der Zukunft nicht zutreffen und die damit verbundenen Enttäuschungen schmerzen, für die meisten Menschen ist nur ein Leben mit einer bebilderten Zukunft ertragbar. Die Imagination kann uns von der Vergangenheit und der Gegenwart befreien und uns für die Zukunft öffnen. Gaston Bachelard formuliert das so: „Die Einbildungskraft, in ihren lebendigen Handlungen, trennt uns zugleich von der 3
„La seule imagination me rend compte de ce qui peut être“ (André Breton, Manifeste du surréalisme, 1924).
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Vergangenheit und von der Wirklichkeit. Sie öffnet sich zur Zukunft. Zu der Funktion des Wirklichen, das von der Vergangenheit gelernt hat, im Sinne der klassischen Psychologie, muss eine Funktion des Unwirklichen hinzukommen, die ganz ebenso empirisch feststellbar ist, wie wir uns in früheren Arbeiten zu zeigen bemüht haben. Eine Verkümmerung auf Seiten der Funktion des Unwirklichen hemmt die produktiven seelischen Vorgänge. Wie kann man vorhersehen, ohne zu imaginieren?“ (Bachelard 1987, S. 24). Begründet liegt dieser Bezug der Imagination in den Strukturen des Begehrens. Insofern der Mensch darauf angelegt ist, zu handeln, muss er mit Hilfe der Einbildungskraft Entwürfe seines Handelns machen. Das gilt für Individuen wie für Gemeinschaften und Gesellschaften. „Die individuelle wie die kollektive Handlung bildet einen der konstantesten Kernpunkte für die Vorstellung der Zukunft; reine Fiktion und angemessene Antizipation sind in ihr so eng verschlungen, dass allein das eintretende Ereignis im Nachhinein erlaubt, über den Wahrheits- oder den Falschheitscharakter der hervorgebrachten Bilder zu urteilen“ (Wunenburger 1995, S. 38). Als begehrendes Wesen ist der Mensch nie mit dem gelebten Leben zufrieden; vielmehr entwirft er stets Alternativen und Bilder von dem, was ihm fehlt. Als endliches Wesen genügt er sich nie selbst und erlebt den Mangel als eine konstitutive Bedingung seines Lebens. Rousseau hat dies deutlich gesehen, wenn er schreibt: „Die Einbildungskraft weitet für uns, sei es im Guten oder Bösen, das Maß des Möglichen aus und erregt und nährt folglich die Wünsche durch die Hoffnung, sie auch zu befriedigen“ (Rousseau 1981, S. 57). Das führt den Menschen dazu, Bilder seiner Befriedigung zu entwerfen, die manchmal intensiver als die Bilder der Wahrnehmung sein können. Die Bilder der Zukunft antizipieren eine Welt, von der offen ist, ob bzw. inwieweit sie realisiert wird. In ihrer Antizipation der Zukunft ist die Einbildungskraft spontan, häufig radikal und nur schwer zu kontrollieren. In jedem Fall ist sie auf den Entwurf von Zukunft hin orientiert und darin auf die Antizipation kultureller Praxis ausgelegt. Versucht man auch hier die wichtigsten Aspekte in Thesen zusammenzufassen, so lässt sich formulieren: 1. Auf Zukünftiges projizierte Bilder sind Möglichkeitsbilder vor einem Horizont der Ungewissheit und Unschärfe. 2. Ob und wie sich diese Projektionen realisieren lassen, ist prinzipiell offen. 3. Projektionsbilder versuchen, die Zukunft einzuholen und vorzubereiten. 4. Sie sind notwendigerweise unscharf und harren der Konkretisierung. 5. Projektionsbilder sind Bilder der Sehnsucht, des Begehrens, der Antizipation, bedroht vom Fehlschlag.
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B ILDER DER W AHRNEHMUNG Nicht nur die Erinnerungsbilder, sondern auch die projektiven, auf zukünftige Ereignisse und Handlungen gerichteten Vorstellungsbilder verarbeiten Wahrnehmungsbilder. Im Fall der Erinnerungsbilder ist die Bezugnahme auf die Wahrnehmung offensichtlich. Erinnert wird zunächst einmal, was sich ereignet hat, was gesehen, gehört, gerochen, getastet, geschmeckt wurde, woran Empfindungen und Gefühle gebunden waren, und was mit Hilfe der Imagination ins Bewusstsein gebracht wird. In diesem Prozess erinnernder Rekonstruktion spielen die sozialen Bedingungen des Ereignisses und der mit ihm verbundenen Handlungen eine zentrale Rolle (Halbwachs 2006). Mit Hilfe von Erinnerungsbildern wird Vergangenes in die Gegenwart des Bewusstseins gebracht. Nicht selten kommt es dabei im Rekonstruktionsprozess zu Veränderungen des damaligen Geschehens, vor allem dann, wenn die Imaginationskraft nicht mehr ausreicht, das Ereignis präzise zu rekonstruieren. So entstehen Fehler, Irrtümer und Täuschungen der Erinnerung. Auch bei dem projektiven Entwurf zukünftiger Handlungen und Ereignisse spielt die Wahrnehmung eine wichtige Rolle. Zwar wird hier im Allgemeinen nicht erwartet, dass die vorgestellte Szene einer vergangenen gleicht. Doch werden für den Entwurf eines zukünftigen Geschehens Elemente benötigt, die aus der Wahrnehmung stammen und die mit Hilfe der Imagination in die mentale Bilderwelt eingebildet wurden. Ohne Imagination ist die Verarbeitung von Wahrnehmungen nicht möglich. Wie die Wahrnehmungspsychologie (Goldstein 2008) und die Gehirnforschung (Gegenfurtner 2003) der letzten Jahre gezeigt haben, erfordert auch Wahrnehmung Imagination. Beide Wissenschaften beschreiben diese Zusammenhänge in unterschiedlichen Sprachen. Die Wahrnehmungspsychologie weist nach, dass besonders in Situationen, in denen das Wahrnehmungsobjekt nicht deutlich gesehen werden kann, Gestaltergänzungen stattfinden, die sich nicht aus dem reinen Wahrnehmungsakt erklären lassen, sondern die darauf hinweisen, dass die Gestalt unvollständiger Bilder mit Hilfe der Imagination ergänzt wird. Nach Auffassung der Gehirnforschung ist die Fähigkeit zu sehen nicht angeboren, sondern wird seit frühester Kindheit erworben. Bereits das Gehirn des Kleinkindes stellt ein komplexes System von Schaltungen und Verbindungen her, das für das Sehen erforderlich ist und das später im Leben nicht mehr erworben werden kann. Von der Unmöglichkeit, in späteren Jahren noch sehen zu lernen, berichten viele Menschen, die erst im Erwachsenenalter von den Einschränkungen der Blindheit befreit wurden, jedoch nicht mehr in der Lage waren, sehen zu lernen, sondern sich eher von den visuellen Reizen überfordert und
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gequält sahen. Aus diesen Berichten geht hervor, dass sich im menschlichen Gehirn viele Prozesse vollziehen, die als Schaltungs- und Konstruktionsprozesse des Gehirns aufzufassen sind, ohne die Wahrnehmung nicht möglich ist. Offen ist zurzeit noch, um welche neuronalen Aktivitäten es sich bei diesen Prozessen genau handelt und inwieweit diese sich mit dem überschneiden, was hier als Imagination bezeichnet wird. Diesen Ansätzen ist die Auffassung gemeinsam, dass Wahrnehmung weder mit dem euklidischen Sender- noch nach dem keplerschen Empfängermodell erklärt werden kann, die beide mehrere Jahrhunderte lang Gültigkeit beanspruchten. Zusammenfassend charakterisiert Gérard Simon das euklidische Sendermodell: „Der Sehstrahl wird als eine Art Auswuchs der Seele aufgefasst, der mit dem Licht und dem Feuer verwandt ist und die Dinge sozusagen auf Distanz betastet. Die Theorie beruht auf einem unwillkürlichen Vergleich mit der Berührung, so als ob es sich um ein sensitives, aus der Pupille austretendes Psychopodium handelte. Daraus folgt, dass der Sehstrahl eine in unserer Kultur im strengen Sinne undenkbare Entität ist. Er ist räumlich, mehr oder weniger feurig, pflanzt sich geradlinig fort und wird von einem Hindernis abgelenkt – all dies Charakteristika, die für uns Moderne für ein physikalisches Objekt gelten. Und doch ist er aus sich heraus mit Sensibilität begabt, mit einer Sensibilität also, die sich außerhalb des Körpers betätigt – was ihn zugleich zu einem physischen Objekt macht, welches aber zudem und darüber hinaus in nichts dem entspricht, was uns Anatomie und Physiologie von unserem Körper zu denken gelehrt haben. Für einen antiken Menschen vollzieht sich die visuelle Sensation am Ort des Objektes selbst, dort, wo der Sehkegel mit dessen Oberfläche in Berührung kommt und mit seiner Basis dessen Form übernimmt“ (Simon 1992, S. 232). Wie in diesem Modell des Sehens, so ist auch in dem unter dem Einfluss der arabischen Optik von Johannes Kepler entwickelten Modell des Sehens, das im 17. Jahrhundert das euklidische Modell ablöst, nicht vorgesehen, dass die Wahrnehmung kulturell geprägte Schemata benötigt, die im Akt der Wahrnehmung zur Anwendung kommen. War es bei Euklid die Berührung der Dinge durch den Sehkegel des Auges, so ist es nun ein Empfängermodell des Sehens, in dem die „Strahlung“ durch die „Spiegelung“ ersetzt wird und das Kepler wie folgt beschreibt: „Das Sehen, wie ich es erkläre, kommt dadurch zustande, dass das Bild der gesamten Halbkugel der Welt, die vor dem Auge liegt, und noch etwas darüber hinaus auf die weißrötliche Wand der hohlen Oberfläche der Netzhaut gebracht wird“ (Kepler 1997, S. 105). Im Weiteren werden eine innere und eine äußere Phase des Sehens unterschieden. Bei der äußeren werden die Gegenstände auf der Netzhaut abgebildet; bei der inneren werden die von der „Seele“ empfangenen Bilder verarbeitet. Mit der Einführung einer solchen zweiten Phase
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wird die Einsicht vorbereitet, dass Wahrnehmung nicht länger als ein Prozess begriffen werden kann, in dem sich die Gegenstände lediglich auf der Netzhaut abbilden, sondern dass diese Bilder auch von der „Seele“ verarbeitet werden müssen. Hier knüpfen unsere Überlegungen an, nach denen mit Hilfe der Imagination in der Wahrnehmung die Außenwelt so verarbeitet wird, dass Gestalten und Figurationen entstehen, die zum Ausgangspunkt kulturell erzeugter Bedeutungen und Symbolisierungen werden können. In diesem Prozess kommt es zu einer Verschränkung zwischen Außenwelt und Innenwelt, zwischen kultureller und sozialer Welt und dem kollektiven und individuellen Imaginären, die es nicht länger möglich macht, von zwei voneinander getrennten, sequentiell angeordneten Phasen auszugehen. Stattdessen kommt es im Verlauf der Wahrnehmung zur Erinnerung, Aktualisierung und Anwendung von Schemata, Erfahrungen und Gewohnheiten, die in der Vergangenheit erworben wurden, auf die zur Wahrnehmung anstehenden Gegenstände und Situationen. Diese Verschränkung von Außenwelt, Wahrnehmung und Bewusstsein erfolgt mit Hilfe der Imagination. In diesem Prozess kommt dem Bewusstsein eine entscheidende Aufgabe zu. Es lässt sich begreifen als „ein doppeltes Verhältnis: einerseits als ‚inneres‘ Verhältnis (des Gedächtnisses, der Reflexion, der Selbstbeziehung), andererseits als ‚äußeres‘ Verhältnis (zu Personen, Gegenständen, Situationen der Welt). Bewusstsein wäre das ‚Innen‘ (als ‚Sehen zweiter Ordnung‘), das überhaupt erst ein ‚Außen‘ (ein ‚Sehen erster Ordnung‘) ermöglicht: jenes ‚innere Auge‘, das den wahrgenommenen Blick auf eine ‚äußere‘ Welt gestattet“ (Macho 2000, S. 215).4 Mit dieser Auffassung werden auch Vorstellungen zurückgewiesen, die von einer neutralen, allen Menschen gemeinsamen „natürlichen“ Wahrnehmung ausgehen, die erst im Nachhinein kulturell überformt wird. Stattdessen wird von einer die Wahrnehmung kulturell formenden und zugleich kulturell geformten Einbildungskraft ausgegangen. Wahrnehmung wird als ein performativer Akt begriffen, in dem die Imaginationskraft die Außenwelt und das Bewusstsein von Anfang an miteinander verschränkt, so dass sich eine innere Bilderwelt herausbilden kann, aus deren Elementen sowohl Erinnerungen als auch Entwürfe zukünftiger Situationen und Ereignisse geformt werden können. Da das Wahrneh4
Diese Position lässt sich durchaus als eine Fortschreibung der Auffassung Kants begreifen, nach der das „ich denke“ „alle meine Vorstellungen muss begleiten können“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe, hg. von W. Weischedel, Bd. 3. Frankfurt/M. 1968: Suhrkamp, S. 136). Bei Roth (1995, S. 213f.) findet sich eine ähnliche Position, die zwischen einem Aufmerksamkeitsbewusstsein, das bei der Wahrnehmung aktualisiert wird, und einem „Bewusstsein des eigenen Ich und der personalen Identität“ unterscheidet, das dazu „einen ständig vorhandenen Hintergrund“ bietet.
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men in historischen und kulturellen Kontexten gelernt wird, kann es wie das Sprechen und Denken als kulturelle Praxis begriffen werden. Daraus folgt, dass es kulturell unterschiedlicher ist, als dies im Allgemeinen angenommen wird. In jedem Fall wird Wahrnehmen im sozialen und kulturellen Gebrauch gelernt. Es vollzieht sich in „Wahrnehmungsspielen“, in denen auch die mentalen Bilder entstehen, in denen und mit denen wir die Welt, die anderen Menschen und uns selbst wahrnehmen, ohne dass uns bewusst ist, dass wir wahrnehmen. Erinnerungen, Zukunftsvorstellungen und Wahrnehmungen unterscheiden sich voneinander dadurch, dass wir ihren „Spielcharakter“ kennen und in der Regel relativ mühelos zwischen ihnen unterscheiden können. So sind die Bilder der Erinnerung in der Regel weniger deutlich artikuliert als die Bilder der Wahrnehmung, jedoch stärker ausgeprägt als die Bilder, die sich auf antizipierte Szenen der Zukunft beziehen. Im Falle der Erinnerung und der Vorwegnahme der Zukunft macht die Imagination Abwesendes anwesend, im Falle der Gegenwart ermöglicht sie es, die Außenwelt zur Innenwelt zu machen. Doch damit ist nur eine erste Bestimmung der Imagination gegeben.
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Eine weitere Bestimmung der Imagination wird durch ihre Pathologien möglich. Hier verfügt nicht mehr der Mensch über seine imaginären Bilder, sondern diese üben Macht über ihn aus und zwingen ihn, sich seinen mentalen Bildern gemäß zu verhalten. Zwangsvorstellungen, denen Menschen ausgeliefert sind und derer sie sich nicht erwehren können, gehören in diesen Zusammenhang. Sie tauchen auf und zwingen Menschen dazu, bestimmte Handlungen zu vollziehen und diese zu wiederholen. Mit diesen Handlungen wehren sie Ängste ab, denen sie sonst ausgeliefert wären. Durch die Inszenierung und Aufführung der immer gleichen Handlungen und Szenen können sie sich gegen die Gefährdung schützen, der sie jedoch gleichzeitig in ihren Zwangshandlungen erliegen. Auch die als Borderliner bezeichneten Menschen leben mit den Spaltungen der Imagination, denen die Schizophrenen erliegen. „Ich erinnere mich an die Krise, die ich früher gehabt habe: ich habe gesagt, dass ich die Königin von Spanien sei. Im Grunde wusste ich genau, dass das nicht wahr war. Ich war wie eine Kind, das mit der Puppe spielt und genau weiß, dass seine Puppe nicht lebendig ist, sich aber davon überzeugen will ... alles schien mir verzaubert ... ich war wie eine Schauspielerin, die eine Rolle spielt und sich in ihre Figur hineinversetzt. Ich war überzeugt ... nicht ganz. Ich lebe in einer imaginären Welt (Sartre 1971, S. 235f.). An diesem Bericht fällt auf, dass die Klientin eine
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Wahnvorstellung hat, zugleich aber auch das Bewusstsein davon, von einer solchen besessen zu sein. Einerseits nimmt die Patienten ihre Vorstellung, die Königin von Spanien zu sein, für eine Wahrnehmung ihrer Situation, die andererseits von dem Wissen begleitet ist, dass ihre Vorstellung von ihrer Situation nicht zutrifft und daher mit der Wahrnehmung doch nicht identisch sind. Die Klientin kann ihre Vorstellung nicht verlassen und sich klar machen, dass es sich bei dieser um eine Täuschung handelt. Noch kann sie das ihre Vorstellung begleitende Bewusstsein aufgeben und ganz in ihre Vorstellung eintreten. Sie lebt in einer imaginären Welt, in der sich das Objekt ihrer Vorstellung von dem ihrer Wahrnehmung unterscheidet darin, dass es „1. seinen eigenen Raum hat, während für alle wahrgenommenen Objekte ein gemeinsamer unbegrenzter Raum existiert; 2. darin, dass es sich unmittelbar als irreal gibt, während das Objekt der Wahrnehmung, wie Husserl sagt, ursprünglich einen Seinsanspruch erhebt“ (Sartre 1971, S. 237). Für die Situation der Klientin ist es charakteristisch, dass ihre Wahrnehmung und ihr vorstellendes Bewusstsein zwei einander abwechselnde Haltungen sind, die die Klientin zur Verschmelzung bringt, während ein (sogenannter) normaler Mensch beide Welten trennen kann. Auch dieser kann sich vorstellen, der König von Spanien zu sein, und kann an dieser Vorstellung so viel Freude haben, dass er ihr im Rahmen von Tagträumen viel Raum und Zeit widmet. Doch im Unterschied zu der Klientin ist er nicht Objekt dieser Vorstellungen und kann sie jederzeit verlassen und einer anderen Aktivität des täglichen Lebens nachgehen. Anders stellt sich die Situation in den Halluzinationen eines Deliriums oder einer Psychose dar. Hier gibt es kein – und sei es ein noch so schwach entwickeltes – Bewusstsein eines Außen. Der Patient ist in der Welt des Deliriums und seiner Halluzinationen, die ihn absorbiert und aus der er nicht heraustreten kann. Der Raum und die Zeit des Deliriums werden total; es gibt kein Jenseits irgendeines Geschehens, das sich im Delirium abspielt, keine Hoffnung auf ein Ende. Die Ereignisse erreichen eine im Alltagsleben nicht gekannte zwingende Macht. Das gilt für Gegenstände, Menschen, Handlungen, aber auch für Figurationen, Farben und Geräusche. Dem sich im Delirium befindenden Menschen widerfahren die Ereignisse mit einer solchen Intensität, dass er ihnen ausgeliefert ist und sich ihnen nicht entziehen kann. Das Geschehen ist voller Gewalt, so dass der Patient ihm gegenüber jede Kraft des Widerstands und jede Fähigkeit zu sprechen verliert. Kaum vorstellbare Ohnmachts- und Angstzustände sind die Folge; sie resultieren aus dem hermetischen Charakter dieser Welt, aus der es kein Entkommen gibt. Verloren sind in diesem Zustand alle Fähigkeiten, über die der Mensch ansonsten verfügt. Eine Wahrnehmung, ein Gedanke kann beobachtet werden. Die Halluzinationen des Deliriums können nicht beobachtet wer-
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den. Der Patient kann nicht Abstand nehmen, kann nicht die Perspektive wechseln; er ist unfähig, mit Hilfe der Sprache die ängstigenden Bilder zu bannen, sich ihrem Zugriff zu widersetzen, sie in eine von ihm bestimmte Ordnung zu bringen. Der Patient kann sich nicht den Bildern gegenüber stellen und einen eigenen Ort außerhalb ihrer gewinnen. Sie haben von innen von ihm Besitz ergriffen, so dass er nicht mehr ist, sondern nur noch in den ihn beherrschenden Bildern existiert, die mit ihm anstellen, was sich aus ihrer Dynamik ergibt. Der Patient kann nicht mehr handeln, keine Spontaneität entwickeln, die ihm helfen würde, sich von den Halluzinationen zu befreien. In dieser Welt des Deliriums präsentieren sich die Halluzinationen in absurder Form. Sie folgen nicht der Logik und Ordnung des alltäglichen Bewusstseins. Sie lassen keine Symbolisierungen zu; sie sind „Korrelate eines unpersönlichen Bewusstseins“ (Sartre). Nur in der Erinnerung, nachdem der Patient das Delirium wieder verlassen hat, kann er auszudrücken versuchen, was sich ereignet und was er erlebt hat. Nur in der Erinnerung kann die Halluzination eingeordnet und zu einer Erfahrung werden; nur im Nachhinein kann sie sprachlich so gefasst, in ihrer Unverständlichkeit verstehbar und anderen Menschen vermittelbar werden. Mit Hilfe der Imagination können nicht nur reale, sondern auch irreale Zustände wie Halluzinationen erinnert werden. In der Erinnerung werden deren Bilder rekonstruiert und wiederbelebt, ohne dass sie in diesem Prozess ihre einstige Intensität erlangen. Jetzt folgen die Bilder der Halluzination der Dynamik der Erinnerung; innerhalb dieser werden sie im Alltagsbewusstsein rekonstruiert, gebannt und verfügbar. Angesichts der nun erscheinenden Bilder versteht der Erinnernde kaum mehr, was die Halluzinationen mit ihm gemacht haben. Die erinnerten Bilder an die Geschehnisse von einst sind nur noch schwache Abbilder der Halluzinationen, deren Figurationen zwar noch erinnert werden, die aber die Macht und den Zwang, die sie als Halluzinationen ausübten, verloren haben. In der Erinnerung sind es nur noch Schemen der Ereignisse des Deliriums, angesichts derer der einstige Patient seine wiedergewonnene Freiheit als geschenktes Leben empfindet.
V ISIONEN Im Unterschied zu den Halluzinationen in der Psychose und im Delirium, die zweifellos zu den Pathologien gehören, bei denen die Imagination ein wichtige Rolle spielt, ist der Status der Visionen umstritten (Benz 1969). Mit diesem Begriff werden meist religiöse oder quasi-religiöse Vorstellungen bezeichnet. Sie spielen in allen Religionen eine wichtige Rolle, reichen aber auch in den
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Bereich der Parapsychologie und der säkularen Heils- und Glücksvorstellungen hinein. Unabhängig davon, ob nun diese Phänomene unter Anwendung eines mit der menschlichen Rationalität übereinstimmenden Kriteriums für prinzipiell möglich, für wahrscheinlich oder für unmöglich gehalten werden, geht es im Weiteren in erster Linie darum, Visionen als Ausdrucksformen der menschlichen Imagination anzusehen. In vielen Fällen wird von ihnen in einer Form berichtet, die in einigen Aspekten an die Halluzinationen der Psychose oder des Deliriums erinnert. So überkommen die Visionen den Visionär, zwingen sich ihm auf und lassen ihm keine andere Wahl als sich ihnen zu unterwerfen. Meistens wird von ihnen auch nur in der Erinnerung gesprochen; erst wenn sie vorüber sind, sind sie mitteilbar. Von den Halluzinationen unterscheiden sich die Visionen dadurch, dass sie nach Auffassung des Visionärs ihm von einem höheren Wesen eingegeben werden, das ihn oder sie zu seinem Sprachrohr macht. Zudem sind die Visionen darauf angelegt, anderen Menschen mitgeteilt zu werden. Sie künden von einem anderen Zustand, in den sie den Visionär versetzt haben und der auch für andere Menschen bedeutsam ist. Diese Visionen werden nicht jedem, sondern nur Auserwählten zuteil. Man kann sie sich nicht herbeirufen, sondern sie werden einem gegeben. Ihnen ist gemeinsam, dass sie eine Botschaft, eine Erkenntnis oder eine Erleuchtung enthalten, die das Leben des Visionärs verändert und die es wert ist, anderen Menschen mitgeteilt zu werden, auf dass auch sie ihr Leben verändern. Visionen sind an mehr oder weniger geschlossene Glaubenssysteme gebunden und verkünden einen höheren Zustand, an den sowohl der Visionär als auch die Gemeinschaft glauben muss. Oft ereignen sich die Visionen völlig unerwartet. Sie brechen ins Alltagsleben ein und verlangen gebieterisch seine Veränderung. Visionen sind nicht nur visuell; sie ereignen sich auch unter Bezug auf die anderen Sinne. So spielen das Hören, die Berührung und auch der Geruch und der Geschmack eine Rolle, wenn es darum geht, das Besondere des Ereignisses herauszukehren. Visionen brechen die Sequenzialität der Zeit auf; sie ereignen sich in einem besonderen Moment, einem kairos. Mit ihrem Erscheinen ändert sich nicht nur die Zeit, in eine Zeit vor und nach der Vision; auch der Raum, einschließlich seiner sozialen Struktur, verändert sich. Oft werden sie angekündigt durch ein besonderes Licht, ein besonderes lautliches Geschehen. Das Wetter verändert sich; nichts ist nach der Vision noch so wie vor ihr. Visionen bedienen sich bestimmter rhetorischer Formen topographischer Darstellungen und Bilder, ohne die es nicht möglich ist, das Besondere des visionären Geschehens darzustellen (Benz 1969). Im Fall der Visionen dient die Imagination einem höheren Zweck, der anders nicht mitgeteilt werden kann. Das imaginäre Geschehen der Vision macht eine höhere, ansonsten unsichtbare und unzugängliche Transzendenz sichtbar und dadurch den Menschen erfahrbar. Da-
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bei bleibt offen, wer und wo der Ursprung dieser Visionen ist und welche Bedeutung sie für die Gemeinschaft gewinnen.
T RÄUME Tagträume: Ein weiterer Ort, an dem sich die Produktivität der Imagination zeigt, sind die Träume, die sich in Tagträume und in Träume der Nacht unterscheiden lassen. Die zentrale Bedeutung der Tagträume für die Lebensführung ist offensichtlich. In den Träumen des Tages trägt die Imagination uns zahlreiche Bilder ins Halbbewusstsein. Manche von ihnen geraten ins Bewusstsein, andere ziehen an seiner Schwelle vorbei, ohne sie zu überschreiten, so dass wir ihrer nicht gewahr werden. In den Tagträumen umkreisen wir Probleme unseres Lebens und finden manchmal in ihnen deren Lösung. Tagträume sind nicht zielorientiert, sondern ungerichtet. Wir beschäftigen uns mit etwas und haben plötzlich die Lösung eines Problems, an das wir lange nicht gedacht haben. Diese Träume treten in Momenten ins Bewusstsein, in denen wir nicht durch unser Handeln absorbiert sind und in denen unsere Aufmerksamkeit auf nichts gerichtet ist. Tagträume suchen das offene Bewusstsein, um sich in ihm niederzulassen, so dass wir ihrer gewahr werden können. In ihnen artikuliert sich unser Begehren und umspielen Bilder unsere Sehnsüchte und Wünsche. Manchmal zeigen sich Schatten, die unser Bewusstsein verdrängt. In den Tagträumen folgen die Bilder ihrer eigenen Dynamik, nicht der Logik des Wachbewusstseins. Manchmal sind es Sprachfetzen, Bruchstücke von Gefühlen, Geräusche, Gerüche, Fragmente, die sich nicht entschlüsseln lassen, die sich jedoch plötzlich zu etwas verdichten, das wir begreifen und das Bedeutung gewinnt. Die Tagträume schwanken zwischen Erinnerungen und Entwürfen der Zukunft. Sie gleichen Gästen, die sich niederlassen, doch unerkannt bleiben wollen (Bloch 1985). Manchmal verdichten sich in ihnen auch Ängste, die es uns nahe legen, aus ihnen heraus zu treten, damit sie uns nicht zu sehr beunruhigen. Manchmal tragen sie auch Ahnungen an uns heran. Wir spüren, dass uns etwas bedroht, ohne dass wir es schon greifen können; wir ahnen etwas, werden gewarnt und können uns manchmal noch schützen. In diesen Tagträumen artikulieren sich Alternativen zum gelebten Leben, Korrekturen unseres misslingenden oder schuldhaften Handelns. Manchmal fliehen wir in diese Träume, die die Ansprüche des Alltags zurückdrängen und uns stundenlang mit Bildern eines anderen Lebens erfüllen. Träumen wir? Werden wir geträumt? Lösen wir uns in die Fluten der Bilder und Sehnsüchte auf? Meistens können wir uns von diesen Bildern wieder befreien; wir können sie auf Distanz bringen und den Geschäften des Alltags nachgehen.
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Nachtträume: Anders verhält es sich mit den Träumen der Nacht. In Descartes’ erster Meditation heißt es dazu: „Na großartig! Als ob ich nicht ein Mensch wäre, der gewöhnlich nachts schläft, und dem in Träumen dasselbe widerfährt wie jenen wachenden Geisteskranken, oder zuweilen sogar noch weniger Wahrscheinliches! Wie oft nämlich bin ich nachts im Schlaf von eben solchen Alltäglichkeiten überzeugt, wie etwa, daß ich hier bin, einen Mantel trage, beim Feuer sitze – während ich doch entkleidet im Bett liege! Jetzt hingegen erblicke ich dieses Papier gewiß mit wachenden Augen, dieser Kopf, den ich schüttele, ist nicht eingeschlafen, diese Hand strecke ich absichtlich und wissentlich aus und nehme es sinnlich wahr. Einem Schlafenden würde dies nicht so deutlich passieren. Fast ist es so, als ob ich mich nicht erinnern möchte, daß ich durch vergleichbare Gedanken in Träumen sonst irregeführt worden bin. Wenn ich aufmerksamer daran denke, sehe ich so unverhohlen, daß der Wachzustand niemals aufgrund sicherer Anzeichen vom Traum unterschieden werden kann, daß ich erstaune; und dieses Erstaunen bestärkt mich fast sogar noch in meiner Meinung, zu träumen“ (Descartes 2009, S. 20f.). Diese hier von Descartes beschriebene Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Wachen und Schlafen findet sich in vielen Zeugnissen über Träume in vielen Kulturen und scheint daher einer elementaren Erfahrung des Menschen zu entsprechen. Trotz dieser wird es im Weiteren darum gehen, den qualitativen Unterschied zwischen der Welt des Wachbewusstseins und der imaginären Welt des Traums im Hinblick auf Unterschiede der Imagination in beiden Fällen zu bestimmen. Im Traum können wir nicht aus unseren Vorstellungen heraustreten. Geschieht dies, so wachen wir auf. Solange wir träumen, sind wir jedoch in die Vorstellungen des Traumes, in seine imaginäre Welt eingetaucht. Im Traum leben wir in einer irrealen Welt, in der wir den Ereignissen des Traums folgen. Der Traum ist eine in sich geschlossene imaginäre Welt, in die wir eintreten müssen, um an den sich in ihr abspielenden Ereignissen teilzunehmen. Ihnen gegenüber lässt sich kein äußerer Standpunkt einnehmen. Dieser wäre gegeben, wenn wir etwas von der Welt wahrnehmen. Doch solange wir träumen, können wir nicht wahrnehmen. Die Welt des Traums ist eine isolierte Welt; sie ist ohne Vergangenheit und Zukunft; es gibt nichts außerhalb ihres imaginären Raums und der in ihm enthaltenen Figuren und Ereignisse. „Weil ein Traum uns plötzlich in eine zeitliche Welt eintreten lässt, gibt sich uns jeder Traum als eine Geschichte [...] Natürlich ist das raum-zeitliche Universum, in dem sich die Geschichte abspielt, rein imaginär, es ist nicht das Objekt irgendeiner Existenzsetzung [...] Als imaginäre Welt ist es das Korrelat eines Glaubens, der Schlafende glaubt, dass die Szene sich in einer Welt abspielt; das heißt, dass diese Welt das Objekt leerer Intentionen ist, die sich auf sie richten vom zentralen Bild
I KONISCHE F ORMEN
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her“ (Sartre 1971, S. 263f.). Jedes Traumbild umgibt sich mit einer „Atmosphäre von Welt“, das heißt, es wird zum Träger aller den Menschen auch außerhalb des Traums beschäftigenden Dinge; nur werden diese in die imaginäre Welt des Traums projiziert. Solange der Traum anhält, kann sich das Bewusstsein nicht dazu bringen, zu reflektieren. Ebenso wenig kann es wahrnehmen; es hat die Funktion des Realen verloren und kann daher auch keine Veränderungen an seinen Erlebnissen und Empfindungen vornehmen. Auch kann es sich nicht erinnern. Wäre dies möglich, erfasste das Bewusstsein das Reale; die Welt des Traumes, sein Imaginäres würde zerbrechen. Die Traumbilder hingegen haben nur die Eigenschaften, die ihnen die Imagination verleiht. Wegen ihrer Irrealität sind die Bilder des Traums undurchsichtig und unerreichbar und faszinieren gerade deswegen den Träumenden. Der Träumende kann keinen Abstand zu seinen Bildern und Geschichten gewinnen. Deshalb gibt es im Traum auch keine Möglichkeiten, sondern nur die Irrealität des Traumgeschehens. Im Traum sind alle Figuren irreal und imaginär; als solche erfassen sie auch das imaginäre Ich, mit dem der Träumende auch in der Welt des Traums handeln kann und von dem auch Wirkungen auf das reale Ich des Schläfers ausgehen können. „In Wirklichkeit ist es das Wesen des Traumes, dass die Realität dem Bewusstsein, das sie wieder erfassen will, überall entgleitet; alle Bemühungen des Bewusstseins führen wider seinen Willen dazu, Imaginäres zu erzeugen. Der Traum ist keineswegs die für die Realität gehaltene Fiktion, er ist die Odyssee eines Bewusstseins, das durch und gegen sich selbst dazu verurteilt ist, nur eine irreale Welt zu konstituieren“ (Sartre 1971, S. 279). Doch im Unterschied zu den Halluzinationen im Delirium und in der Psychose gibt es beim Traum ein Erwachen, das Alpträume beendet und Wahrnehmung, Distanzierung und Reflexion wieder möglich macht.
Theorien und Konzepte der Imagination
Z UR E TYMOLOGIE
DES
B EGRIFFS
Im Griechischen lautet der klassische Ausdruck für imaginieren plattein. Mit diesem Wort wird die Praxis des Herstellens und Modellierens von Dingen und Repräsentationen bezeichnet, in der es durchaus auch schon darum gehen kann, Dinge zu simulieren. Bei Platon wird die entsprechende geistige Tätigkeit als eidôlopoiein, als das Herstellen von Bildern bezeichnet. Allerdings wird die Tätigkeit, mit der man sich etwas vorstellt, um es zu untersuchen, als ennoein gekennzeichnet. Zielt die Aktivität auf die Antizipation einer Handlung, ist die Rede von epinoein. Liegt der Akzent auf der Repräsentation einer Sache als Bild, wird die Tätigkeit als eikazein bezeichnet, ein Verb, bei dem die griechische Bezeichnung für Bild eikôn mitklingt. In diesem Zusammenhang kommen auch die griechischen Wörter für erscheinen lassen phantazein, für Erscheinung phantasma und eine Erscheinung haben phantazesthai zur Anwendung. Im Unterschied zu der als Imagination bezeichneten Tätigkeit, die zunächst auf das Einbilden von Bildern zielt, die Paracelsus dann als Einbildungskraft ins Deutsche übertragen hat, legt die griechische Wortfamilie um phainesthai den Akzent auf das Erscheinen der Dinge. Im Lateinischen wird die Tätigkeit des Imaginierens zunächst als fingere bezeichnet, nach der durchaus praktischen Tätigkeit des Herstellens und Modellierens von Bildern, einer Handlung, die dem griechischen plattein entspricht und die sich von der geistigen Tätigkeit des Erfindens unterscheidet, die eher als invenire oder excogitare bezeichnet wird. Später ist dann die Rede von einer vis imaginativa bzw. seit dem 18. Jahrhundert einer facultas fingendi, die die Kraft bezeichnet, Bilder, Erscheinungen, Abbilder, Simulacren hervorzubringen. Hiermit wird die kreative Kraft der Imagination bezeichnet, die seit der Renaissance die Moderne beschäftigt. Im Deutschen wird diese kreative Seite der Imagination
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als Einbildungskraft bezeichnet. In etymologischer Hinsicht spielen hier Bild und Bilden sowie Hineinbilden eine wichtige Rolle. Im Englischen sind es vor allem zwei Begriffe, die für unseren Zusammenhang wichtig sind: fantasy und imagination. Mit fantasy werden eher illustrative und reproduktive Bilder bezeichnet; demgegenüber kennzeichnen imagination und imagine eher produktive Prozesse, in denen die Imagination Neues schafft. Der Begriff der Imagination beschreibt sowohl Prozesse, in denen bereits existierende, jedoch abwesende Bilder reproduziert werden, als auch Prozesse der Produktion und Neuschöpfung von Bildern. Dass die Übergänge zwischen beiden Formen der Imagination fließend sind, versteht sich von selbst. Auch lässt sich eine eindeutige Unterscheidung zwischen den Begriffen Fantasie, Imagination und Einbildungskraft im Deutschen nicht festmachen, so dass wir die Begriffe im Großen und Ganzen als Synonyme verwenden und die begrifflichen Unterschiede im jeweiligen Kontext bestimmen.
H ISTORISCHE P OSITIONEN Wie wir bereits gesehen haben, lässt sich die Imagination als Fähigkeit begreifen, abwesende Dinge in die Gegenwart zu bringen. Dazu ist es erforderlich, dass die Imagination etwas einmal Vorhandenes, doch zurzeit Abwesendes reproduziert. Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss sie eine Verbindung mit den Sinnen haben. Ohne dass die Dinge, die die Imagination reproduziert, schon einmal wahrgenommen und verarbeitet wurden, kann die Imagination sie später auch nicht reproduzieren. Zusammenfassend bestimmt Diderot daher die Imagination wie folgt: „Ich habe eine andere Idee von der Einbildungskraft: sie ist die Fähigkeit, sich die nicht vorhandenen Gegenstände so auszumalen, als wenn sie vorhanden wären. Sie ist die Fähigkeit, sich von den wahrnehmbaren Gegenständen Abbilder zu machen, die zum Vergleich dienen. Sie ist die Fähigkeit, ein abstraktes Wort mit einem Körper zu verbinden“ (Diderot 1967, S. 699). Auch für Hobbes und Locke steht die Abhängigkeit der Imagination von der sinnlichen Wahrnehmung außer Zweifel. Denn wie könnte die Imagination etwas gegenwärtig machen, wenn dieses nicht schon ein Teil ihrer selbst wäre. Nach Hobbes liegt der Ursprung der Imagination (fancy) in den sinnlichen Eindrücken. So heißt es im Kapitel II des ersten Teils des Leviathans dazu: „Vorstellung ist also nichts als schwächer werdende Empfindung“ (Hobbes 1996, S. 12). Und Malbranche bringt diesen Prozess noch einmal auf den Begriff, wenn er schreibt: „Um die Veränderungen der Einbildungskraft, die aus den mancherlei Ständen der Menschen entstehen, leichter zu fassen, erinnere man sich nur, dass bei jeder
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Einbildung gewisse Objekte und die Bilder derselben erfordert werden, dass diese aber nichts anderes sind als die von den Lebensgeistern im Gehirn gedrückten Züge – dass wir uns etwas umso viel stärker einbilden, je tiefer und besser die Züge eingedrückt sind, je heftiger und schneller dadurch der Lauf der Lebensgeister gewesen ist [...]“ (Malebranche 1920, S. 231). Allerdings vermag diese Reduktion der Imagination auf eine von den Sinnen abhängige und ihnen untergeordnete Fähigkeit nicht zu erklären, wie Invention und Inspiration, Veränderung und Modifikation, Spontaneität und Innovation entstehen. Schon bei Aristoteles findet sich ein Einspruch gegen eine Konzeption von phantasia, die diese lediglich als eine Bewegung der Seele begreift, die durch eine unmittelbare sinnliche Regung hervorgerufen wird; stattdessen wird hier die phantasia bereits als eine Fähigkeit verstanden, Bilder in Bezug zueinander zu setzen, die nicht unmittelbar aus sinnlichen Wahrnehmungen stammen und die eher einen mentalen als einen sinnlichen Charakter haben. Darüber hinaus heißt es in De anima (431b 39), kein Gedanke sei „ohne Vorstellungsbilder“. Auch Descartes schreibt der Imagination eine gewisse Unabhängigkeit von den Sinnen und eine eigene Spontaneität zu, wenn er schreibt: „Sind doch auch die Maler, selbst wenn sie Sirenen und Satyre in den fremdartigsten Gestalten zu bilden sich Mühe geben, nicht imstande, ihnen in jeder Hinsicht neue Eigenschaften zuzuteilen, sondern sie mischen nur die Glieder von verschiedenen lebenden Wesen durcheinander; oder wenn sie vielleicht etwas so unerhört Neues sich ausdenken, wie man ähnliches überhaupt nie gesehen hat, und das demnach rein erdichtet und unwirklich ist, so müssen es doch zum mindesten wirkliche Farben sein, aus denen sie es zusammensetzen“ (Descartes, Meditationen I, 6). Daher unterscheidet Descartes zwei Formen der Imagination. Die eine Form ist eine „imagination involontaire“, die daraus hervorgeht, „daß die verschieden bewegten Lebensgeister auf die Spuren der verschiedenen Eindrücke stoßen, die im Hirn vorhergegangen sind und hier ihren Weg mehr zufälligerweise bevorzugt durch gewisse Poren nehmen, statt durch andere. Solcher Art sind die Illusionen in unseren Träumen und auch die Traumvorstellungen, die man häufig wachend hat, unabsichtlich und ohne sich auf etwas in sich selbst zu beziehen“ (Descartes, Die Leidenschaften der Seele, I, 21). Andererseits gibt es eine wirkliche Intentionalität der Imagination, die es der Seele durch eine besondere contention des Geistes erlaubt, sich einen „palais enchanté ou une chimère“, „ein Zauberschloss oder eine Chimäre“ (ebd., I, 20) vorzustellen. Diese Bilder lassen sich ohne äußere Objekte, ohne einen Blick nach außen vorstellen und können abwesende Objekte gegenwärtig machen, ohne dass es sich dabei um bloße Abbildungen handeln muss.
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„Fantasie“ und „Imagination“ werden von Paracelsus mit dem Begriff „Einbildungskraft“ übersetzt, der die aktive Seite des Subjekts bei der Herstellung von Bildern betont. Mit Hilfe der Einbildungskraft wird die Welt ins Innere der Subjekte ein-gebildet. In der Vorromantik und Romantik findet dieser Begriff zunehmende Verwendung. Als einer der ersten benutzt ihn in dieser Zeit Christian Wolff. Auch die Zürcher Ästhetiker Johann Jakob Bodmer (1966) und Johann Jakob Breitinger (1966) sprechen in ihren Beiträgen zur Theorie der Dichtung und der Kunst ausdrücklich von der Einbildungskraft. Als anthropologisches Merkmal taucht die „Einbildungskraft“ in dieser Zeit im Zusammenhang mit der Selbstermächtigung und Subjektwerdung auf; bis heute beansprucht dieser Aspekt bei der Verwendung des Begriffes Geltung. Besonders wichtig werden hier Kants immer wieder aufgegriffene Überlegungen. Im 10. Paragraphen der Kritik der reinen Vernunft verknüpft Kant die Einbildungskraft mit dem synthetischen Vermögen, welches der Begriffsbildung vorausgeht, und schreibt: „Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind. Allein, diese Synthesis auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstande zukommt, und wodurch er uns allererst die Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschafft“. Hier muss „die Einbildungskraft zwischen dem Begriff und der Wahrnehmung vermitteln, indem sie – die abstrakten Wesensmerkmale der Vernunftidee reflektierend – sich an Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung erinnert, bei denen vergleichbare Regeln zur Anwendung kamen“ (Mattenklott 2006, S. 54). In dieser Möglichkeit der Einbildungskraft liegt ihre große anthropologische Bedeutung. Ein wichtiges Element der Kreativität liegt in der Imagination (vis creativa). Seit dem Beginn der Moderne ist es vor allem deren Möglichkeit, wie Gott zu schaffen, die die Menschen fasziniert und begeistert. Der Künstler der Renaissance, der im disegno wie Gott eine Welt entwirft und gestaltet, wird zum Modell des schöpferischen Menschen, der in seiner Kreativität seine Gottähnlichkeit verwirklicht. Das disegno ist eine Form gewordene Idee, die mithilfe der Imagination auf dem Papier realisiert wird. Dank seiner Imagination verhält sich der Mensch wenig später wie die Natur, nicht wie die natura naturata, sondern wie die natura naturans. Nicht gilt es die Erzeugnisse der Natur, ihre Formen und ihren Ausdruck nachzuahmen, vielmehr kommt es darauf an, schöpferisch wie sie zu sein. Drei Jahrhunderte später ist es das Genie, mit dessen Hilfe der Mensch seine Göttlichkeit verwirklicht und das zum Vorbild menschlicher Kreativität wird. Diesem Lebensgefühl und dieser Vorstellung von Kreativität hat
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Goethe im „Prometheus“ unnachahmlich Ausdruck verliehen: „Bedecke deinen Himmel, Zeus,/ Mit Wolkendunst! / Und übe, dem Knaben gleich,/ Der Disteln köpft,/ An Eichen dich und Bergeshöh’n!/ Mußt mir meine Erde/ Doch lassen steh’n.“ Der Mensch fordert die alten Götter heraus; er will sie übertreffen und seine Geschichte selbst entwerfen und gestalten. Unmittelbar auf die Imagination bezogen schreibt Novalis wenige Jahre später in seinen Studien aus Freiberg: „Die Einbildungskraft ist der wunderbare Sinn, der uns alle Sinne ersetzen kann und der so sehr schon in unserer Willkür steht. Wenn die äußeren Sinne ganz unter mechanischen Gesetzen zu stehen scheinen – so ist die Einbildungskraft offenbar nicht an die Gegenwart und Berührung äußerer Reize gebunden“ (Novalis 1965, S. 650). In dieser Zeit (vermutlich 1797) erscheint das „älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“, dessen Urheberschaft nicht geklärt ist, die auf Hegel oder wahrscheinlicher auf Schelling und auf Hölderlin als Autoren verweist. In ihm wird eine Poetisierung der Welt gefordert, wie anders als mit Hilfe der Imagination. Gefordert wird eine neue Mythologie. Ziel dieser Überlegungen ist es, die poietische Seite der Imagination zur bestimmenden Seite des menschlichen Lebens zu machen. Auch in den Avantgarde-Künsten des zwanzigsten Jahrhunderts wirkt diese Vorstellung von der kreativen Kraft der Imagination fort. Sie ist es, die das Neue in die Welt bringt und mit der der Mensch zur Vollendung seiner Möglichkeiten kommt. In diesem Verständnis ist Imagination die Kraft, die Unsichtbares sichtbar macht, die Dinge erzeugt, die noch nicht existieren, und die die Möglichkeiten des Menschen fast endlos erweitert. Denn mit jedem Hervorbringen von etwas Neuem erweitert sich auch der Horizont für die Erzeugung von abermals Neuem.
D AS B ILD ALS D ARSTELLUNG UND VON I MAGINATION
AUSDRUCK
Schon Aristoteles hatte gesehen, dass sich die Imagination als phanatasia aisthetike an den Sinnen und als phantasia logistike am Denken orientiert (De anima, 433b 29). Auch für Sartre ist die Imagination zwischen den Sinnen und dem Denken eingespannt, so dass ihre Theorie erklären muss, wie sich die Bilder der Wahrnehmung von denen der Imagination unterscheiden und welche Rolle die Bilder beim Denken spielen. Seit Kant besteht das Problem, ob sich Wahrnehmung ohne Imagination vollzieht oder ob die Imagination der Wahrnehmung vorgelagert ist und erst deren Bedingungen schafft. Geht man von Kants Überlegungen aus, dann schafft die Einbildungskraft die Voraussetzungen für die Ver-
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bindung zwischen der reinen Rezeptivität und der Herstellung der Synthese, z. B. zwischen dem Aussehen und der Bewegung eines Tieres und dem der Wahrnehmung des Tieres zugrunde liegenden Schema. Maurice Merleau-Ponty geht hier noch weiter. Nach seiner Auffassung lässt sich die Wahrnehmung der Dinge als ein Kontinuum begreifen, in dem die objektiven Eigenschaften der Dinge und die vom Subjekt erlebten Vorstellungen unauflösbar miteinander verschränkt sind. Grund dafür ist der Chiasmus zwischen Introjektion und Projektion, der es nicht erlaubt, eine Grenze zwischen Innen und Außen zu ziehen. Gaston Bachelard (1943) geht von einer grundsätzlichen Differenz zwischen Bild, Wahrnehmung des Bildes und dem in der Imagination erzeugten Bild aus: Das wahrgenommene Bild und das imaginierte Bild unterscheiden sich so grundlegend, dass man eigentlich zwei unterschiedliche Begriffe haben müsste, um diese beiden Arten der Bilder richtig zu bezeichnen. Das imaginierte Bild beeinflusst die Wahrnehmung des Bildes; die Wahrnehmung des Bildes hat Einfluss auf die imaginären, dem einzelnen Wahrnehmungsakt vorgelagerten Bildstrukturen. An dieses Verständnis von Wahrnehmung knüpfen später Gilbert Durand (1963) und seine Schule an. Sie gehen davon aus, dass die mentalen Bilder spontanen Veränderungs- und Symbolisierungsprozessen unterliegen, in denen sie eine eigene Dynamik entwickeln, die es nicht mehr sinnvoll macht, sie in Beziehung zu Wahrnehmungsbildern zu setzen. Vielmehr entfalten diese Bilder eine kulturelle Eigenständigkeit, die wie folgt charakterisiert wird: „Das Subjekt bewegt sich immer innerhalb einer für seine Lebenswelt konstitutiven mentalen Sphäre, die aus symbolischen Bildern besteht, deren sensibler Inhalt eng mit einem expressiven und subjektiven Sinn verbunden ist, welcher über die Bedeutung hinausgeht, die der begrifflichen Verbalisierung inhärent ist. Die Einbildungskraft ist weniger eine zweite Vorstellung des in der Perzeption oder im Konzept Gegebenen als eine ihnen vorausgehende bildliche Darstellung bzw. archetypische Vorstellung einer im originären mentalen Raum liegenden Realität, welche nicht zurückzuführen ist auf eine existentielle Gegebenheit der Sache selbst, die durch einen extensiven sensoriellen Eindruck hindurch erfolgen würde, noch auf einen geläuterten, eindeutigen ideellen Inhalt seiner abstrakten Vorstellung. Eine Träumerei oder die Vorausahnung eines Ereignisses, ein Gedicht oder ein Bild können deshalb auch für ,wahrer‘ gehalten werden als die Wirklichkeiten, die ihnen als konkrete Füllungen dienen, oder die Idealitäten, auf die sie verweisen“ (Wunenburger 1995, S. 31). Die Einbildungskraft erzeugt nicht nur Bilder, sondern verändert sie auch; sie organisiert neue Beziehungen zwischen ihnen und symbolisiert. Sie erzeugt miteinander verschränkte kollektive und individuelle dynamische Bildnetzwerke, mit denen wir die Welt, andere Menschen und uns selbst wahrnehmen. Diese
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Netzwerke strukturieren unsere Wahrnehmungen und sind zugleich ihr Ergebnis. In ihnen wirkt die Dynamik der Einbildungskraft; sie drückt sich in diesen Bildern aus und wird in ihnen fassbar. Diese Bilder erzeugen eine imaginäre Welt, in der wir uns bewegen, Nomaden, die von Ort zu Ort, von Bildsequenz zu Bildsequenz ziehen und die keinen Ort außerhalb haben. Diese Bildketten sind schöpferisch; denn sie erzeugen unsere Weltsicht, unsere Verirrungen und Verwirrungen. Diese Bilder sind immateriell, doch zugleich realitätsmächtig; denn sie bestimmen unsere Wahrnehmung, unsere Erinnerungen und unsere Antizipationen der Zukunft. Sie sind ludisch und verbinden sich mit anderen Bildern in einem kontinuierlichen Spiel, in das wir immer wieder Ordnung zu bringen versuchen. Diese Bilder des Imaginären sind Ausdruck von Energien, die sich in den Bildern und ihren Bewegungen konkretisieren. Diese Bilder sind nicht nur visuell; sie stammen aus allen Sinnen; Spuren von Tönen, Gerüchen, Geschmacks- und Tastempfindungen. Sie mischen sich mit den ikonischen Bildern, den sprachlichen Bildern, den Metaphern, Metonymien und Oxymora. Sie überlagern sich und bilden hybride Formen und Bildketten, Verdopplungen, Entkoppelungen. Am Anfang vollziehen sich mimetische Prozesse, aus denen die Bilder entstehen: kreative Nachschöpfungen kultureller Praktiken. Wie Repräsentationen, so bilden sich auch Bedeutungen; in mimetischen Prozessen folgen ihnen zahlreiche Symbolisierungen. Mentale Bilder entstehen, die sich auf der Suche nach Animation und Leben vervielfältigen. Diese Bilder gleiten, formen Bildketten, suchen Bedeutungen, die emergieren, zerbrechen und sich neu konstituieren. Sie sind polysemisch; in ihnen kreuzen sich heterogene Energien; sie sind multidimensional, enthalten emotionale Werte und sind rätselhaft. Sie widersetzen sich dem Gebot der Eindeutigkeit und der Reinheit. Stattdessen begegnet man in den Bildern Unschärfen, Uneindeutigkeiten und Rätselhaftem (Wulf 2013). Viele Bilder des Imaginären sind kollektive Bilder. Als ikonische stammen sie aus den Bereichen von Religion und Kunst, als verbale Bilder aus der Literatur. Andere Bilder sind Produkte des Handelns in Ritualen, Institutionen und Medien. Nicht nur ikonische oder verbale Bilder im engeren Sinne gehören zum Imaginären; auch die mit den anderen Sinnen verbundenen „Phänomene“ des Imaginären wie Gesänge und Musikstücke, Bewegungsbilder, Tänze, Rituale oder Handlungen des Sportes gehören dazu. Desgleichen haben die intimen Spuren von Geruch, Geschmack und Berührung ihren Anteil am kollektiven Imaginären einer Kultur. Die mit emotionalen und sozialen Bewertungen verbundenen Phänomene, Spuren und Bilder werden an die nachwachsende Generation weiter vermittelt. Sie werden Teil des individuellen Imaginären der jungen Menschen und über deren Sehnsüchte und Gewohnheiten inkorporiert. Schon
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früh werden viele Phänomene von Kindern erworben und dienen dazu, sich in verschiedenen Kulturen zu „beheimaten“. Zu den Charakteristika dieser frühen Vermittlungsprozesse von Spuren und Bildern gehört, dass sie sich vorwiegend mimetisch und unbewusst vollziehen. Folgt man einem in der Gehirnforschung verbreiteten Sprachgebrauch, so werden „Bilder“ auch die Spuren und „Entitäten“ genannt, die mithilfe anderer Sinne entstehen (Hüther 2004). Sie verhalten sich wechselseitig zueinander; sie durchdringen und ergänzen sich und stoßen sich voneinander ab. Die bisher in den französischen Kulturwissenschaften vorliegenden Untersuchungen privilegieren entweder die verbalen Bilder (Bachelard 1943, 1987, 1997) oder die ikonischen Bilder (Durand 1963). Aufschlussreich sind die Unterschiede zwischen den verbalen Bildern, etwa zwischen Metaphern und Metonymien, die Blumenberg (1981) und Ricoeur (1991) untersucht haben. Das Verhältnis zwischen den ikonischen, akustischen und verbalen Bildern in den Künsten und der Einfluss ihrer Wechselbeziehungen auf das Imaginäre einer Kultur wurden bisher kaum erforscht. Diachrone und synchrone Vergleiche böten für solche Untersuchungen des Imaginären wichtige Perspektiven. Bilder sind, einer Definition Bergsons zufolge, weniger und mehr als Dinge: „Unter ‚Bild‘ verstehen wir eine Art der Existenz, die mehr ist als was der Idealist ‚Vorstellung‘ nennt, aber weniger als was der Realist ‚Ding‘ nennt – eine Existenz, die halbwegs zwischen dem ‚Ding‘ und der ‚Vorstellung‘ liegt“ (Bergson 1991, S. 1. Dieses Mehr und Weniger der mentalen Bilder hängt damit zusammen, dass sie nicht materiell sind, sich aber auch nicht allein durch ihren repräsentativen Charakter erklären lassen. Als mentale Bilder sind sie vor allem Teil der Energie des Imaginären, die Bilder erzeugt, in Beziehung zu anderen setzt und verändert, die im Deutschen auch als Einbildungskraft bezeichnet wird, deren Spuren sich zwar heute bei den entsprechenden Untersuchungen des Gehirns zeigen, deren inhaltliche Seite jedoch mit diesen Verfahren bislang nur unzureichend auszumachen ist, die aber im Zusammenhang einer Theorie der Imagination von entscheidender Bedeutung sind. Im Unterschied zu den Bildern, die als Objekte in der Außenwelt vorhanden sind, sind die mentalen Bilder aufgrund ihrer Verbundenheit mit den Energien des Körpers lebendig. Diese ermöglichen es, die mentalen Bilder zu bewegen, sie zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Wir können mit diesen Bildern spielen, können sie vergrößern oder verkleinern, Ausschnitte aus ihnen herausheben. Wir können mit diesen Bildern so umgehen, als seien sie lebendige Monaden in unserer mentalen Welt. Manchmal kommen, manchmal verschwinden sie; dann widersetzen sie sich unserem Wunsch, sie uns bewusst zu machen, vor unseren „inneren“ Augen zu erscheinen; sie bleiben unscharf oder gewinnen keine Form und Figuration. Die Bilder, Töne, Gerüche oder Empfindungen haben eine von uns unabhängige
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Existenz und Identität; zugleich sind sie auch Teil unseres Körpers, unserer inneren Bilderwelt und unseres Begehrens. Die Imagination erneuert und verformt diese Bilder. Sie kann uns von den Bildern der Wirklichkeit befreien und uns Bilder erzeugen, die uns Lust, Freude und Glück verschaffen, manchmal auch dadurch, dass sie die Bilder, die die Wirklichkeit repräsentieren, vertreibt und nicht zulässt. Die Imagination ist spontan, sprunghaft; ihre Figurationen folgen eigenen Rhythmen und Gesetzmäßigkeiten, auf die unser Bewusstsein zwar Einfluss, doch keine Kontrolle gewinnen kann. Die Imagination kann Bilder aus unserer Erfahrungswelt gewinnen, sie in andere Zusammenhänge einordnen und sie in diesen mit neuem Leben und neuer Energie versehen; dabei folgen die Bewegungen der Imagination häufig unserem Begehren. Die Bilder folgen den Impulsen der Lust und Unlust, bringen sie zum Ausdruck und verändern sie nicht selten. In diesen Bewegungen der Bilder spielen Energien eine Rolle, die in die Konstitutionsbedingungen menschlichen Lebens hinein reichen, von denen wir jedoch oft nur eine Ahnung haben und von denen die Bilder uns nach wie vor etwas kundtun. André Leroi-Gourhan (1965, S. 96ff.) geht davon aus, dass die Bilder des Imaginären vor allem durch drei „organisch-muskuläre“ Formen des Verhaltens bestimmt werden. Bei ihnen handelt es sich um Verhalten, die auf die Nahrung, die physische Affektivität und die raum-zeitliche Orientierung bezogen sind. Gilbert Durand (1963, S. 51) denkt in die gleiche Richtung und verweist darauf, dass sich in den Bildern des Imaginären Spuren der „aktiven Körperhaltungen, der metabolischen Aktivitäten und der auf Rhythmen gegründeten Handlungen, insbesondere der sexuellen aufweisen lassen“ und folgert daraus: „Wir gehen von der Arbeitshypothese aus, dass ein enges Zusammenwirken besteht zwischen den Gesten des Körpers, den nervösen Zentren und den symbolischen Vorstellungen“ (ebd.). Dieses Zusammenspiel ermöglicht eine mimetische Beziehung zwischen der Außenwelt, den Rhythmen des Körpers und den menschlichen Möglichkeiten des Sprechens und Imaginierens (Jousse 1974/1978). Es entstehen Figurationen innerer Bilder in mimetischen Bewegungen und neurobiologischen Stimulierungen. Edgar Morin (1974, S. 117) generalisiert diese Prozesse und folgert aus ihnen: „Mit dem realistischen Bewußtsein der Verwandlung bricht gleichzeitig [...] das Imaginäre in die Wahrnehmung der Wirklichkeiten ein, und gleichzeitig hält der Mythos Einzug in die Vision der Welt. Mythos und Magie werden von nun an zu Erzeugnissen und zugleich Miterzeugern des menschlichen Schicksals.“
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In seinen Überlegungen zur Liebe vergleicht Stendhal die idealisierende Kraft der Imagination mit dem Kristallisationsprozess in einem Salzbergwerk, in dessen Verlauf sich viele Salzkristalle an den kleinen Zweigen eines Astes festsetzen und dort wie Diamanten zu funkeln und strahlen beginnen. So intensiviert und verschönert die Einbildungskraft auch die Liebe, indem sie ihr zahllose leuchtende Diamanten hinzufügt, die sie in faszinierender Schönheit leuchten lassen. So verhält es sich auch mit den mentalen Bildern, die manche Gefühle im Inneren der Menschen erst erzeugen, die sie intensivieren und den Wunsch entstehen lassen, sie zu verwirklichen. Bei den mit dem Begehren verbundenen Bildern ist dies offensichtlich. Doch auch wenn es um Lust, Furcht und Schmerz geht, spielt die Imagination insofern eine erhebliche Rolle, als sie Bilder erzeugt, die wir entweder zu leben oder aber zu vermeiden versuchen. Dabei können manchmal die Bilder so stark werden, dass deutlich wird: Nicht wir rufen sie her, sondern sie besetzen uns und lenken unsere Gefühle. So entstehen Bilder der Schwermut und Melancholie, gegen die wir uns nicht zu wehren vermögen. Andere Bilder hingegen erfüllen uns mit Glück und Freude. Auch ihnen gegenüber sind wir seltsam ohnmächtig. Nicht wir bestimmen sie, sondern sie bestimmen unsere Gefühle und Handlungen. Manchmal konfrontieren sie uns mit Aspekten, die wir lieber nicht wahrnähmen, die sie uns jedoch vor Augen führen, ohne dass wir ihnen widerstehen können. Bilder regeln unseren emotionalen Haushalt, ohne dass wir genau wissen, wie dies geschieht. Die Imagination bringt uns dazu, Gefühle zu empfinden, zu verstärken, ihnen standzuhalten oder vor ihnen zu fliehen. Manchmal werden diese Gefühle auch selbst imaginär, so dass es keine Möglichkeit gibt, in ihnen Halt und Ordnung zu finden. André Gide hat dies in einer skeptischen Bemerkung über die Psychoanalyse so zum Ausdruck gebracht: „Die psychologische Analyse war für mich von dem Tag an nicht mehr von Interesse, an dem ich erkannt habe, daß der Mensch empfindet, was zu empfinden er sich einbildet. Und wenn er sich nur einbildete zu empfinden, was er empfindet [...] Im Reich der Empfindungen ist das Wirkliche vom Eingebildeten nicht zu trennen“ (Gide 1993, S. 84). Unser affektives Leben hängt wesentlich davon ab, wie sehr wir an die inneren Bilder glauben. Diese können manchmal eine Intensität bekommen, die uns dazu führt, ihnen mehr als der „Wirklichkeit“ zu glauben. Dann wieder messen wir den Wert der mentalen Bilder daran, inwieweit sie mit den Bedingungen der Außenwelt bzw. mit unseren Erinnerungen übereinstimmen. In jedem Fall bestimmt das Ausmaß, in dem wir an sie glauben, ihre Bedeutung für uns. Häufig halten wir unsere mentalen Bilder für real, wohl wissend, dass wir von ihnen
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auch immer wieder Abstand gewinnen können. Wir lassen uns auf ein Spiel mit den Bildern ein, die – solange wir dazu bereit sind – auch mit uns spielen. Wir können unsere inneren Bilder als Außenwelt sehen. Wir können in den Bildern die Außenwelt und in der Außenwelt diese Bilder als Teil der „Innenwelt“ sehen. Solange wir mental gesund sind, können wir jederzeit aus diesem Spiel heraustreten. Rousseau beschreibt diese Situation in den Konfessionen wie folgt: „[...] meine lebhafte Fantasie [schlug] einen Weg ein, der mich vor mir selber rettete und meine entstehende Sinnlichkeit beschwichtigte: sie erfüllte sich nämlich ganz mit den Verhältnissen und Umständen, die mich in meinen Büchern etwa gefesselt hatten, ließ sich an, sie immer wieder zurückzurufen, zu verändern, neu zu verschlingen und sie mir derart anzupassen, daß ich zu einer der vorgestellten Personen wurde und stets in Umständen lebte, die meinen Neigungen am angenehmsten waren; und endlich ließ mich der erdichtete Zustand, in dem ich völlig aufzugehen wusste, meinen wirklichen, mit dem ich gar so unzufrieden war, völlig vergessen“ (Rousseau 1955, S. 52). Diese Situation wird in dem Augenblick schwierig, in dem das Individuum den Verführungen seiner inneren Bilder erliegt und nicht mehr in der Lage ist, sich ihnen gegenüber zu verteidigen und eine kritische Position einzunehmen. Die Literatur kennt viele solcher Beispiele, so die Wirkungsgeschichte von Goethes Werther, aus der bekannt ist, dass in den Jahren nach dem Erscheinen des Buches von ihm inspiriert deutlich mehr junge Männer den Freitod suchten. Auch in Flauberts Madame Bovary ist der Einfluss literarischer Narrationen und Bilder auf das Begehren, die Gefühle und das Handeln der Protagonistin ein zentrales Thema. Unter psychotischen Bedingungen ist die Situation noch eindeutiger; hier haben die Kranken keine Möglichkeit, die Grenzen zwischen ihrer mentalen Bilderwelt und der Außenwelt zu überschreiten. Die Kranken sind endgültig Gefangene der Bilderwelten des Wahns. Diese Bilderwelten bestimmen, was sie erleben und wie sie von ihren Gefühlen beherrscht werden. Abhanden gekommen ist die Kontrolle des Ichs, seine Möglichkeit, eine Ordnung im Taumel und Strudel der Bilder zu schaffen.
D IE D YNAMIK
DER
B ILDER
Die Dynamik mentaler Bilder folgt sowohl dem Prinzip der Ähnlichkeit als auch dem Prinzip des Kontakts. So assoziieren wir Wasser leicht mit Fluss, See oder Meer; oder wir stellen eine Verbindung her zwischen Wasser, Geburt und Tod. In beiden Fällen vermehren sich die Bilder geschwind. „Deshalb scheinen sich die Leute mitunter aufgrund der Gedächtniskunst zu erinnern. Der Grund dafür
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ist, dass sie schnell von dem einen zum anderen kommen, z. B. von ‚Milch‘ zu ‚weiß‘, von ‚weiß‘ zu ‚Dunst‘ und von diesem zu ‚feucht“ (Aristoteles 2004, 452a). Doch möglicherweise gehorcht die Imagination auch strikteren Regeln. Sigmund Freud glaubte sie für die Entstehung von Träumen gefunden zu haben, indem er unterschied zwischen: Rücksicht auf Darstellbarkeit, Verdichtung, Verschiebung und sekundäre Bearbeitung. Zwar haben diese Regeln auch heute noch eine gewisse Plausibilität für das Verstehen der Dynamik der Träume. Doch hat sich die psychoanalytische Traumdeutung weiter entwickelt. Sie hat diese Regeln relativiert und hat neue Perspektiven für den Umgang mit der Bilderwelt der Träume gefunden. Nicht zuletzt im Werk Carl Gustav Jungs wurden neue Perspektiven entwickelt, die den anthropologischen Charakter der Träume besser in den Blick kommen ließen. Mit den Arbeiten Jungs wurde eine Frage aufgeworfen, die noch heute die beschäftigt, die versuchen, die Bilderwelt der Träume bzw. des Imaginären systematisch zu erforschen. Sie zielt darauf, ob sich Bilder entdecken lassen, die zum Ausgangspunkt anderer Bilder oder gar Bildketten werden oder ob Bildern Schemata zugrunde liegen, die ihre Entstehung und Kombination erklären. Kant und Bergson, aber auch Jung und Durand sind davon ausgegangen, dass es solche Schemata bzw. Grundbilder gibt, die die Entstehung und Verbreitung bestimmter Bilder und Bilderketten über die Grenzen eines Individuums bzw. einer Kultur hinweg plausibel machen. Jung ging von solchen als Archetypen bestimmten Bildern aus: „Sie sind die Archetypen, welche jeder Phantasietätigkeit ihre bestimmten Bahnen anweisen [...] Es handelt sich [...] nicht um vererbte Vorstellungen, sondern um vererbte Möglichkeiten von Vorstellungen“ (Jung 1971, S. 62). Freud suchte in der gleichen Richtung, wenn er Komplexe wie den Ödipuskomplex identifizierte. Auch Jacques Lacan (1986) dachte ähnlich, wenn er von einem Komplex des Eindringlings ausging, der die Geschwisterkonstellation und damit das Verhältnis zur Mutter (und zum Vater) verändert. Gaston Bachelard versucht schließlich sogar kulturell geschaffene Komplexe zu identifizieren, die er bestimmt als „spontane Haltungen, welche die Arbeit der Reflexion steuern. Das sind zum Beispiel [...] Lieblingsbilder, die man glaubt, aus dem Schauspiel der Welt zu schöpfen, die aber nur Projektionen des obskuren Seelenlebens sind“ (Bachelard 1993, S. 25f.). In diesen Fällen geht es nicht nur um eine „ansteckende“ Verbreitung von Bildern; vielmehr entwickelt die Imagination eine symbolisierende Kraft, die Bilder hervorbringt, sie modifiziert und in neue Kontexte und damit in neue Bedeutungszusammenhänge stellt. Der in symbolischer Hinsicht unterschiedliche Gebrauch des imaginären Bildes „Wasser“ kann dafür als Beispiel dienen, das in unterschiedlichen Zusammenhängen innerhalb heterogener Zeit- und Raumdynamiken vielfältige Bedeutungen erhalten kann. Das „Bild kann somit
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nicht als eine flache, homogene Vorstellung begriffen werden; es ist bereits eine komplexe innere Konstruktion“ (Wunenburger 1995, S. 60). In seiner „Physik des Traumes“ versuchte Bachelard zu zeigen, „in welchem Maß die elementaren Bilder (des Wassers, des Feuers, der Luft und der Erde) ihre semantische Matrix nach einem Gesetz der Ambivalenz entwickeln (jedes große materielle Bild kann sich auf Positives oder Negatives richten, so dass Wasser Werte des Lebens oder des Todes hervorrufen kann) und in welchem Maße die Verbindung gegenteiliger Elemente (von Wasser und Feuer zum Beispiel) zum Erzeuger starker poetischer Bilder wird“ (Wunenburger 1995, S. 64). Gilbert Durand geht in seinen Bemühungen, Strukturen des Imaginären zu entwickeln, noch weiter. Nach seiner Auffassung liegen der Dynamik der Imagination die beiden fundamentalen oppositionellen syntaktischen Strukturen der „Ordnung des Tages“ und der „Ordnung der Nacht“ zugrunde, bei denen es sich um Schemata der Trennung und Opposition und der Integration und Intimität handelt. In räumlicher Hinsicht kommen im ersten Schema vor allem Formen der Distanzierung, der Schnitte und der Spannungen zum Ausdruck, im zweiten hingegen vermehrt Formen des Runden und des Hohlen. In zeitlicher Hinsicht enthalten beide Strukturen sowohl vereinheitlichende zeitliche Fixierungen und Entzeitlichungen. Im ersten Fall umfassen sie eher Formen des Heroischen, im zweiten Fall Formen des Mystischen und Leidenschaftlichen. Eine dritte Typisierung des Imaginären führt zu einer synthetischen Ordnung, die die beiden anderen Ordnungen in einem „Kreis der Versöhnung“ verbindet. „Deshalb kann man auch in jedem (literarischen oder bildhauerischen) Werk dominierende Konfigurationen auffinden, durch die sich das Imaginäre seines Schöpfers individualisieren lässt und mittels derer sich wiederholende figurative Strukturen aus der augenscheinlichen Vielfalt seiner Erfindungen herauslösen lassen, welche ihm einen Stempel aufdrücken und ihm Wesenszüge einer intimen Welt verleihen“ (Wunenburger 1995, S. 65).
B ILD
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B ILDLICHKEIT
Es gehört zu den Charakteristika aller Kulturen, dass sie über Symbole verfügen, mit denen sich die Angehörigen der Kulturen glaubend identifizieren und die dazu beitragen, eine kulturelle Gemeinschaft zu schaffen. Bei diesen Symbolen überlagern sich verschiedene Sinnschichten, die im Symbol als eine nicht auflösbare Einheit erfahren werden. Zwar können sie mit Hilfe mehrfacher Interpretationen herausgearbeitet werden, doch bleiben sie für den Gläubigen im Symbol selbst zusammengeschlossen und erzeugen so dessen Rätselhaftigkeit. Entschei-
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dend für die hermeneutische Interpretation der Symbole ist, dass sie im Bewusstsein ihrer Ausschnitthaftigkeit und Vorläufigkeit vollzogen wird. Dadurch kann vermieden werden, dass die spirituelle Bedeutung der Symbole reduziert anstatt erweitert wird. Diese Gefahr ist vor allem an den Stellen gegeben, an denen sich ein Symbol der Alltagsrationalität ausdrücklich entzieht und seine Andersartigkeit ins Spiel kommt. Die Interpretation von Symbolen ist darauf angewiesen, dass sich der Interpret auf sie einlässt und sie anerkennt. Fehlt diese wenigstens vorläufige und bedingte Akzeptanz des Symbols, ist es kaum möglich, seine Verweisung auf andere Symbole, Bedeutungen und Welten zu begreifen und seiner Komplexität gerecht zu werden. Dennoch bedarf es hier einer kritischen Perspektive; sie ist z. B. bei der Interpretation politischer Symbole totalitärer Staaten in Form einer Symbol- und Ideologiekritik erforderlich. In der Begegnung mit den symbolischen Bildern aller Kulturen wird die Erfahrung der Alterität gemacht, das heißt einer Andersheit, der man sich annähern kann, die sich aber nicht vollends erschließen lässt. Gelänge dies, wäre man Teil dieser Kultur und müsste seine eigene kulturelle Gebundenheit aufgeben. Dass dies nicht möglich ist, haben viele ethnographische Untersuchungen gezeigt, aus denen hervorgeht, dass das Verstehen des Anderen ein relationaler Prozess ist, in dem weder das Eigene noch das Andere als ontische Größe festgeschrieben werden kann, sondern in dem sich in der „Verflüssigung“ beider Bezugshorizonte erst der hermeneutische Prozess des Verstehens entwickeln kann. Was René Char von Gedichten gesagt hat, gilt analog auch für die symbolischen Bilder: Sie wissen etwas von uns, das wir nicht wissen. Sie erhalten ein Element der Überraschung, das sich nicht voraussehen lässt und sich häufig der Alltagsrationalität entzieht, und das uns gegeben ist, bevor sich uns der Sinn der Bilder erschließt. Die Interpretation des Symbolgehalts mentaler Bilder verweist auf die in der Kunstgeschichte entwickelten Verfahren der Bildinterpretation, zumal wenn diese Bilder den kollektiven kulturellen Bildern einer Kultur angehören. Zu überprüfen ist, inwieweit sich diese Verfahren für die Entschlüsselung mentaler symbolischer Bilder eignen. So sehr Erwin Panofskys Ikonologie ein Gewinn für die Kunstgeschichte ist, so deutlich sind heute die Grenzen seiner Interpretationslehre sichtbar, deren Kategorien, an der Renaissancekunst gewonnen, stark kognitiv und an der Lektüre von Texten ausgerichtet sind und nur begrenztes Gespür für den Umgang mit der Bildlichkeit der Bilder zeigen (Mitchell 1994). Bezieht man Panofskys Überlegungen auf die Interpretation mentaler Bilder, so lässt sich analog schlussfolgern: Auf der ersten Stufe des vor-ikonographischen Verstehens werden die Konturen und Farben eines imaginären Bildes zunächst als solche begriffen. Auf der zweiten, der ikonographischen Stufe ist dies anders. Hier ist es z. B. für das Verständnis eines mentalen Bildes notwendig, zusätzli-
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che Informationen über seine Figuration, Entstehung und Bedeutung zu gewinnen. Dabei können auch biographische Informationen wichtig werden. Die ikonologische Interpretation ist Thema der dritten Stufe. Hier muss das mentale Bild als Gehalt und Ausdrucksform der jeweiligen Kultur begriffen werden. Dazu ist es erforderlich, zusätzliche Untersuchungen über die historische und kulturelle Bedeutung des mentalen Bildes durchzuführen. Ziel ist hier die Würdigung der kulturgeschichtlichen Bedeutung des mentalen Bildes. Was bei Panofsky fehlt, ist die Einbeziehung des Bildsinns. „Dessen Inhalt ist die Anschauung als eine Reflexion über das Bildanschauliche wie ebenso über das nur Bildmögliche selbst. Man kann diese ikonische, auf das Bildanschauliche selbst bezogene Anschauungsweise Ikonik nennen (Ikonik zu Eikon wie Logik zu Logos oder wie Ethik zu Ethos)“ (Imdahl 1994, S. 308). Wenn mentale Bilder Geschichten darstellen, muss im Rahmen der Ikonik über das Verhältnis der Bilder zur Sprache nachgedacht werden, etwa über die Differenz, die zwischen der Sequenzialität einer Erzählung und der Simultaneität der mentalen bildlichen Darstellung besteht. Da bei vielen mentalen Bildern die Interpretationslehre Panofskys nicht weiter hilft, ist die Entwicklung eines ikonischen Umgangs mit mentalen Bildern unerlässlich. Bei diesem geht es um ein kreatives „und selbst unabschließbares Durchspielen des im Bilde gegebenen Strukturierungspotentials. Gerade im Durchspielen jener im Bilde enthaltenen Kontravalenzen wird sich der Beschauer [des inneren Bildes] seiner eigenen Strukturierungsaktivitäten, aber auch seiner eigenen Verfügungsohnmacht bewußt, und zwar in der sehr besonderen Erfahrung, daß jede Strukturierung, die er vollzieht, in ein und demselben Phänomen fundiert, dass aber auch keiner der möglichen Strukturierungsakte dazu führt, dieses Identische endgültig zu vereinnahmen und zu beherrschen“ (Imdahl 1994, S. 318). Das hier angesprochene Verfahren lässt den Betrachter mentaler Bilder seine „unüberwindbare Verfügungsohnmacht“ dem Bild gegenüber erfahren und öffnet ihn für die ästhetische Erfahrung, dass die „Identität des Bildes als jene stellvertretende Repräsentationsform selbst durch nichts anderes repräsentierbar“ ist (ebd., S. 319). Bilder haben eine in ihrer Bildlichkeit liegende, nicht reduzierbare Qualität, die den Betrachter immer wieder auf die Bildlichkeit des Bildes verweist.
B ILDER UND S PIELE
DER I MAGINATION
Für die Konstitution des Ich spielen Bilder eine zentrale Rolle; sie vermitteln zwischen Außen und Innen und ermöglichen es dem Individuum, sich in seiner Einmaligkeit zu konstituieren. In seiner mentalen Bilderwelt ist jeder Mensch
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einmalig; kein Mensch hat die gleichen inneren Bilder wie andere Menschen. In der Erzeugung seiner Bilderwelt ist jeder Mensch aktiv, sei es, dass es sich um Bilder der Erinnerung, Wahrnehmungsbilder oder Bilder der Antizipation von Zukunft handelt. Wenn es um die Verarbeitung symbolischer Bilder aus den kollektiven Beständen einer Kultur geht, dann sind die Anforderungen noch höher. Das Imaginäre „bildet ein wirkliches Gerüst von Projektionen und Identifikationen, von dem aus der Mensch, indem er sich maskiert, sich erkennt und errichtet“ (Morin 1958, S. 233). Um sich zum Menschen zu machen, muss man sich bilden, das heißt sich formen und gestalten, und dies geschieht zu erheblichem Maße nach den mentalen Bildern, die wir von uns haben. Mit ihrer Hilfe entwerfen und formen wir uns. Hinzu kommen dabei auch noch die Bilder, die die anderen Menschen von uns haben und die wir übernehmen, modifizieren oder von denen wir uns abstoßen. Insofern diese Bilder jedoch das Verhalten der anderen Menschen uns gegenüber bestimmen, tragen sie dazu bei, uns zu bilden. Doch wirkt die Imagination nicht nur über Bilder auf uns. Nicht weniger nachhaltig sind ihre Wirkungen über den performativen Charakter von Spielen, zu denen uns andere Menschen und Institutionen einladen und in denen wir uns entwerfen, neu erfahren und verändern. Insofern Spielen eine Praxis ist, wird hier Imagination als kulturelle Praxis sichtbar. Viele Spielformen lassen sich unterscheiden. Bereits Caillois’ bekannte Unterscheidung von vier Spielformen, Mimikry, Agon, Alea und Illinx, macht deutlich, wie vielfältig Spiele sind, die Menschen in Institutionen, Ritualen und anderen sozialen Konstellationen spielen (Caillois 1982). Ein entscheidendes Merkmal, an dem der imaginative Charakter eines Spiels erfahrbar wird, liegt darin, dass so getan wird, als sei das Spiel Ernst, ohne es natürlich zu sein. Dadurch gewinnt jede Handlung eine doppelte Bedeutung: Sie ist ernst gemeint und ist es zugleich auch nicht. Nur mit Hilfe der Imagination kann diese Unterscheidung getroffen und zugleich wieder außer Kraft gesetzt werden. In jedem Fall ist diese Doppeldeutigkeit für ein Spiel charakteristisch, das ohne diesen paradoxalen Charakter nicht möglich ist. Damit ein Spiel gelingen kann, müssen sich die Spieler mimetisch auf die Handlungen ihrer Mitspieler beziehen. Dazu müssen alle Teilnehmer des Spiels seine Praxis kennen, denn nur so können sie mitspielen und Freude am Spiel finden. Bekanntlich hat Schiller den besonderen Charakter des Spiels auch insofern betont, als er davon ausging, dass der Mensch im Spiel in besonderer Weise frei ist und erst im Spiel wirklich zum Menschen wird. Weniger idealisierend hat Montaigne die Erfahrung des Spielens ähnlich formuliert: „Die meisten unserer Beschäftigungen sind Mummenschanz (mundus universus exercet histrioniam).5 Man muss seine Rolle getreulich spielen, doch als eine angenommene Schauspielrol5
„Die ganze Welt treibt Schauspielerei“ (Petronius).
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le. Aus Maske und Faltenwurf darf man nicht ein wirkliches Wesen machen, noch aus dem Fremden sein Eigenes. Wir wissen nicht Haut und Hemd auseinander zu halten. Es ist genug, sich das Gesicht zu pudern, ohne auch noch das Herz zu pudern“ (Montaigne 1992, S. 764). Schon immer hat es auch innerhalb der Religionen Bemühungen gegeben, mit Hilfe der meditativen Arbeit an symbolischen Bildern wie Mandalas die Imaginationskraft für die spirituelle Höherentwicklung der Menschen zu nutzen. Seit Meister Eckart ist auch die Entbildlichung mit Hilfe der Einbildungskraft und die damit intendierte Ermöglichung höherer spiritueller Erfahrungen ein Thema am Rande des Christentums. Im öffentlichen Bildungswesen hat zwar die Bildung der Einbildungskraft schon immer eine Rolle gespielt, doch ist diese Aufgabe selten ausdrücklich angegangen worden. Will man die Imagination für die Selbstbildung nutzen, so ergeben sich mehrere Möglichkeiten. Um die Produktivität und Kreativität junger Menschen zu steigern, bieten sich auch die Bemühungen an, die sich auf die Entfaltung der Anschauungskraft richten (Flügge 1963). Dazu bedarf es keiner Idealisierung der Imagination im Sinne Rousseaus oder der Reformpädagogik, doch eines konsequenten Engagements für eine konzentrierte Arbeit an ihren Entwicklungsmöglichkeiten. Bruno de Latour hat diese Aufgabe so formuliert: Was wir „rigoroses Denken“ nennen, ist wahrscheinlich die Fähigkeit, Bilder auszudenken, die auf einer zweiten Stufe wieder neu bearbeitet werden können. Von ihnen ausgehend werden dann andere Sachen entdeckt, so dass die Vorstellungen letzten Endes die gesamte Macht innehaben (vgl. Wunenburger 1995, S. 106).
II. Imagination und Imaginäres
Kollektivität und Dynamik des Imaginären
Unter dem Einfluss Gaston Bachelards und Gilbert Durands hat es seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den französischen Humanwissenschaften umfangreiche Forschungen zum Imaginären gegeben (Wunenburger 2012, 2013). Im Unterschied zu den Untersuchungen, die von Jacques Lacan beeinflusst sind und die den Begriff des Imaginären dazu verwenden, die psychogenetisch bedingten Selbsttäuschungen und Verstrickungen zu analysieren, dient der Begriff in diesen Untersuchungen dazu, die kollektiven kulturellen Bilder der Menschen zu bezeichnen. Einerseits wird das Imaginäre als Synonym für die Einbildungskraft verwendet und bezeichnet die Fähigkeit des Menschen, Bilder zu entwerfen, in Beziehung zueinander zu setzen, miteinander zu verbinden. Andererseits werden unter dem Imaginären die Ergebnisse des Wirkens der Einbildungskraft, nämlich die Bilder und ihre kulturelle Bedeutung verstanden. Gemeint ist damit sowohl die materialisierte Bilderwelt als auch die menschliche Fähigkeit, diese hervorzubringen. In beiden sich wechselseitig durchdringenden Formen hat das Imaginäre Wirkungen: Es schafft Realität; zugleich dient ihm die Realität dazu, seine Produkte hervorzubringen. Das Imaginäre ist einer Karte vergleichbar, mit deren Hilfe wir die Welt in dem Bewusstsein lesen, dass sie uns als reale nicht zugänglich ist. Das Imaginäre ist performativ; es erzeugt Bilder und schafft Ordnungen; zugleich ist es selbst das Ergebnis inkorporierter Bilder und Ordnungen. Seine Bilder vermitteln zwischen uns, der Welt und den anderen Menschen. Das Imaginäre ist ein dynamisches System, das dadurch Bedeutungen erzeugt, dass es Beziehungen herstellt und Ordnungen schafft. „Der Begriff des Imaginären erscheint uns als Bild, das uns eine Perspektive eröffnet und in die Tiefe weist: Das Bild ist gewissermaßen nur der herausragende Teil des Eisbergs, und das Imaginäre die Erforschung der Beziehungen und der organisatorischen Dynamik, ohne die man nicht in das komplexe Netz der Bilder und in den mundus imaginalis, die Welt der Bilder, mit der sie verbunden sind, hineingelangen kann“ (Thomas 1998, S. 18). Das Imaginäre bezeichnet also
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auch ein System bzw. ein Netz unsichtbarer Elemente, die in unterschiedlichen Kombinationen ihre literarischen und ikonischen Spuren hinterlassen, in denen verschiedene Logiken und Stile zum Ausdruck kommen, in denen sich die Dynamik des Imaginären insofern nicht erschöpft, als sie immer wieder auch neue Kombinationen von Bildern und hybride Mischungen hervorbringt. Gaston Bachelards Untersuchungen zu den vier Elementen gehen in methodischer Hinsicht davon aus, dass Bilder mit Hilfe anderer Bilder untersucht werden müssen (Bachelard 1943, 1980, 1993, 1997). Dabei geht es ihm nicht nur um Literaturstudien, sondern auch darum, durch Selbstversuche herauszufinden, wie bestimmte Bilder in aufmerksamer Lektüre auf ihn wirken, welche Assoziationen sie in Tagträumen hervorrufen und wie sich dabei die Prozesse der Einbildungskraft vollziehen. Den Schwerpunkt seiner Untersuchungen bilden vor allem poetische Bilder. Mit ihrer Analyse grenzt er sich von psychoanalytischen Verfahren der Bildinterpretation ab, die sich mit einer zu eingeschränkten Perspektive, zu globalen Interpretationsgesichtspunkten und damit zu oberflächlich mit den Bildern auseinandersetzen. Es gibt keine Bilder ohne Einbildungskraft, ohne einen Prozess, der sie lebendig macht. Einbildungskraft ist die Fähigkeit, „die von der Wahrnehmung erfassten Bilder zu deformieren; sie ist vor allem die Fähigkeit, uns von den Urbildern zu befreien und die Bilder zu verändern“ (Bachelard 1943, S. 5). In diesem Prozess erweitert die Einbildungskraft die innere Welt der Menschen und befreit sie von Verstrickungen ihrer psychischen Entwicklung und alltäglichen Lebenspraxis. Dabei wird sie von einer auf das Leben gerichteten Willenskraft unterstützt, deren Verhältnis zueinander so bestimmt wird: „Einbildungskraft und Wille sind zwei Aspekte ein- und derselben tiefgreifenden Kraft [...] Zur Imagination, die das Wollen erhellt, gesellt sich der Wille, sich etwas vorzustellen, und das zu leben, was man sich vorstellt“ (ebd., S. 144). Die Einbildungskraft nimmt Einfluss auf die Erzeugung der Bilder, noch bevor sie als Repräsentationen von Wahrgenommenem in Erscheinung treten. Sie wird als eine transzendentale Kraft begriffen, die sich nicht in der bloßen Bewältigung lebenspraktischer Fragen erschöpft, sondern die mit einem leidenschaftlichen Begehren nach dem Schönen und dem Sakralen verbunden ist. Sie reißt die Welt aus ihrer Lethargie und macht sie lebendig. Die Einbildungskraft steht im Gegensatz und in Spannung zur realen Welt, auf die sich die Wissenschaft richtet; ihr Gegenstand und Thema ist das Irreale, Surreale, das seine eigene Wirklichkeit hat. Die Einbildungskraft durchdringt ihre Bilder mit emotional stark anziehenden oder abstoßenden Energien, die dazu führen, dass aus einer geträumten Welt eine Welt mit starker emotionaler Dichte wird. Es lassen sich mehrere Arten von Bildern unterscheiden. Die ersten Bilder sind unbewusst in den Tiefen der Psyche. Sie sind nur in Fragmenten in nächtli-
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chen Träumen zugänglich. In ihnen liegen die Ursprünge der Gefühle und Bedeutungen. Diese Bilder sind universeller Natur und sind nicht an die Lebensgeschichte einzelner Menschen gebunden; sie sind den Archetypen Carl Gustav Jungs vergleichbar. Diese unbewussten Bilder organisieren sich oft in „Komplexen“, die ihrerseits kulturspezifische Bezüge und Ausprägungen haben. Sie bilden die frühesten Organisationsformen kollektiven und individuellen Lebens. Deshalb muss die Erforschung der Einbildungskraft „systematisch vom Traum ausgehen und auf diese Weise vor den Formen der Bilder das eigentliche Element und die eigentliche Bewegung derselben enthüllen“ (Bachelard 1943, S. 39). Die ersten wirklich greifbaren Bilder sind uns in der spontanen Traumtätigkeit zugänglich, in der die Kontrollfunktion des Bewusstseins ausgeschaltet ist. Diese Traumbilder entstehen spontan, nehmen Form an, können zum Anlass von Kontemplation werden. Sie sind den Gedanken und Erzählungen vorgelagert. Sie altern nicht, sind daher zeitlos; zu ihnen gehören z. B. Bilder von Bäumen, Blumen, Felsen, Kristallen und Häusern. Da diese Bilder erste Formen der Orientierung und nicht mit konkreten Bedeutungen verbunden sind, sind sie noch nicht repräsentativ. Bilder zeigen ihre kreative Dynamik, wenn sie in Worte transformiert und aufgeschrieben werden. Die Einbildungskraft ist expressiv und findet Bachelard zufolge einen starken Ausdruck in literarischen Formen. In diesen können Bilder eine neue Universalität gewinnen. Jedes literarische Bild stellt eine Überformung bzw. Neuschöpfung von Bildern dar und gewinnt dadurch seinen besonderen Wert. Als Metapher kann das Bild nach Auffassung Bachelards seine höchste Vollendung erreichen. Literarische Bilder und Metaphern können die Menschen psychisch bewegen und erfüllen. Die Kreativität der Einbildungskraft entsteht durch den Austausch zwischen dem Unbewussten und der Natur des Körpers. Zwar entstehen diese Bilder im Unbewussten, doch greift ihre Zurückführung auf die Triebstruktur des Menschen zu kurz, um die Bedeutung von Traumbildern zu verstehen. Damit aus diesen Bildern literarische bzw. poetische Bilder werden, bedarf es der Sublimierung. Um ein literarisches Bild zu erzeugen, in dem Archetypen aktualisiert werden, bedarf das Bild außerdem einiger Elemente und Substanzen von außen, durch deren Mitwirkung erst ästhetisch wertvolle Bilder entstehen. „Die fundamentalen Bilder, jene also, die für die Imagination des Lebens bestimmend sind, müssen sich mit den elementaren Substanzen und den fundamentalen Bewegungen verbinden“ (Bachelard 1943, S. 340). Die sich im Umgang mit der Materie und den Dingen bildende Einbildungskraft wird durch die Dynamik der Einbildungskraft ergänzt und durchdrungen. Diese Dynamik der Einbildungskraft
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umfasst „Bilder des Impulses, des Elans, des Aufschwungs, kurz und gut Bilder, bei denen die hervorgebrachte Bewegung den Sinn einer aktiven, sich vorstellenden Kraft innehat (ebd., S. 121). Diese dynamische Einbildungskraft ist dem Raum und der Zukunft zugewandt. Auf der Grundlage der Begegnung mit den Elementen und den anderen Dingen im Traum und auf der Grundlage ihrer im Körper liegenden Energien ermöglicht es die Imagination den Menschen, der Welt zu begegnen und an der Mannigfaltigkeit des Lebendigen teilzunehmen. Mithilfe der Einbildungskraft werden die Räumlichkeit und die Zeitlichkeit des Bewusstseins und der Rhythmus von Spannung und Entspannung in den Bewegungen des Lebens erfahren. Die Verwebung und Vernetzung der Bilder folgt den dialektischen und rhythmischen Bewegungen der Einbildungskraft. Sie haben eine gewisse Autonomie, sind zugleich aber auch regelgeleitet oder sogar determiniert. Die Einbildungskraft befreit den Menschen von den Zwängen der Wirklichkeit; dieser Prozess folgt syntaktischen und semantischen Prinzipien. Die Bilder bleiben nicht isoliert, sondern bilden Ansammlungen, bei denen die dynamischen Bilder Kompositionsregeln und die materiellen Bilder Kombinationsregeln folgen. Durch eine Entgegensetzung z. B. zwischen den Bildern der Elemente Wasser und Feuer erfolgt eine Anziehung und Abstoßung und eine wechselseitige Bereicherung der Bilder sowie eine Intensivierung der Dynamik zwischen ihnen. In dem Hin-und-Her zwischen den einander entgegengesetzten Bildern entfaltet sich die Dialektik der Imagination. Neben den syntaktischen lassen sich auch semantische Gesetzmäßigkeiten festmachen. So kommt dem Isomorphismus bei literarischen Bildern erhebliche Bedeutung zu, nach dessen Regeln Bilder auch dann konstant sind, wenn sie sich in verschiedenen Formen manifestieren (z. B. Höhle, Haus, Bauch). Zu den wichtigen semantischen Gesetzmäßigkeiten gehört, dass das Verhältnis zwischen Bildern und Metaphern, etwa zwischen Blut und Wein, in hohem Maße umkehrbar ist. Auch die Reversibilität zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Universum spielt eine Rolle. Die Literatur stellt ein unerschöpfliches Reservoir für die Erforschung der Einbildungskraft und des Imaginären dar. Dies kann dazu führen, dass das ästhetische Interesse hinter das bildwissenschaftliche in den Hintergrund tritt. Trotz dieses kritischen Einwands hat der Versuch, die Bilder in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit literarischen Werken zu stellen, um mit und in ihnen das Imaginäre der Schriftsteller und Dichter zu erfassen und dadurch auch die Bilderwelt des Lesers bzw. der Leserin zu erweitern, zu vielen neuen Perspektiven für die humanwissenschaftliche Erforschung von Bildern geführt. Bachelard bemüht sich darum, vor allem mit den literarischen Bildern zu arbeiten, ihre
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Bildlichkeit im Fokus der Aufmerksamkeit zu halten und diese nicht durch naheliegende Interpretationen vorschnell zu „erledigen“. Ihm ist es wichtig, bei den Bildern zu verweilen, sie in der lauten Lektüre der Texte sinnlich zu erfassen, sie bis in die Ursprünge kreativer Träume nachzuverfolgen, in den träumerischen Grund der literarischen Schöpfung hinein vorzudringen und mit der Schöpfungskraft des Dichters zu kommunizieren. Ziel dieser Forschungen ist es auch, die Menschen dabei zu unterstützen, ihre negativen Bilder zu verarbeiten und dadurch besser mit ihren psychischen Unzulänglichkeiten, Ängsten und Neurosen umzugehen. Während Bachelard eher herauszufinden interessiert ist, welche Bedeutung den Bildern und der Einbildungskraft in einer Epistemologie der Humanwissenschaften zukommt, entwickelte Gilbert Durand, der während seines Studiums viele Anregungen von Bachelard erhalten hatte, vor allem ein anthropologisches Interesse an den Bildern, dem Imaginären und der Einbildungskraft. Ihn interessiert der wechselseitige Austausch zwischen den subjektiven und assimilatorischen Triebimpulsen und den objektiven, von kosmischen und sozialen Konstellationen ausgehenden Wirkungen. „Letzten Endes ist die Imagination nichts anderes als dieser Weg, auf dem die Vorstellung des Objektes durch die triebhaften Imperative des Subjektes assimiliert und modelliert werden und auf dem sich auch umgekehrt [...] die subjektiven Vorstellungen erklären lassen, die vorangegangene Anpassungen des Subjektes an das objektive Milieu sind“ (Durand 1963, S. 38). Im Mittelpunkt dieser anthropologischen Perspektive steht also der Austausch zwischen der menschlichen Triebstruktur und der sozialen Welt. Im Medium der Bilder, in den Strukturen des Imaginären und in der Funktionsweise der Einbildungskraft wird diese Wechselbeziehung sichtbar und erforschbar. Ausgangspunkt dieses Prozesses sind drei grundlegende Gesten, von denen die eine mit der Körperposition, die andere mit der Nahrung und die dritte mit dem Geschlechtsverkehr zusammenhängen. Wegen ihres grundlegenden Charakters wird jede dieser Gesten zu einem Schema, das eine dynamische und affektive Generalisierung von Bildern ermöglicht und den nichtsubstantiellen Charakter des Imaginären ausmacht. Die Geste der Körperposition umfasst zwei Schemata: eines der aufsteigenden Vertikalisierung und eines der visuellen oder manuellen Trennung; die Geste der Ernährung enthält das Schema des Abstiegs und das Schema des „Anschmiegens in der Intimität“ (ebd., S. 61). Der Geste des Geschlechtsverkehrs entspricht ein zyklisches Schema. Diese Schemata sind noch keine Bilder. Doch sie gewinnen Form und Gestalt in Archetypen, die grundlegende Symbole sind und über Kulturgrenzen hinweg konsistent bleiben. „Es gibt eine große Stabilität bei den Archetypen. So entsprechen den Schemata des Aufstiegs unverändert die Archetypen des Gipfels, der Leiter und des Lich-
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tes. [...] Das Schema des Abstiegs ergibt den Archetypus des Hohlen, der Nacht des ,Gulliver‘ etc., und das Schema des Sich-Anschmiegens beschwört den Archetypus des Schoßes und der Intimität herauf. Was den Archetypus vom einfachen Symbol unterscheidet, ist sein Mangel an Ambivalenz, seine konstante Universalität und sein Angepasst-Sein an das Schema: Das Rad ist z. B. der große Archetypus des zyklischen Schemas, weil man einfach nicht sieht, welche andere imaginäre Bedeutung man ihm zumessen könnte [...]“ (ebd., S. 63). Die Symbole sind also die historischen und kulturellen Spezifikationen der Archetypen. In ihnen wird das Besondere jeder historischen Epoche und Kultur greifbar. Auf ihrer Ebene entsteht wieder kulturelle Vielfalt. Die Symbole haben eine Tendenz, sich in Erzählungen zu manifestieren; so entstehen Mythen und andere Erzählungen. Mythen definiert Durand als „ein dynamisches System von Symbolen, Archetypen und Schemata, ein dynamisches System, das danach strebt, sich unter dem Impuls eines Schemas in Erzählung umzuwandeln“ (ebd., S. 64). Unter dem Einfluss der Schemata entstehen auch „normative Protokolle“ imaginärer Repräsentationen, die sich um die ursprünglichen Schemata, auch Strukturen genannt, gruppieren: Es gibt „normative, gut definierte und rückwirkend stabile Protokolle der imaginären Repräsentationen, die sich um Urschemata gruppieren und die wir Strukturen nennen wollen“ (ebd., S. 65). Diese Strukturen sind veränderbar und organisieren die Gruppierungen der Bilder. Wenn sich diese Strukturen in größeren Einheiten organisieren, dann ist die Rede von einer „Großstruktur“ (régime). Durand unterscheidet die beiden Großstrukturen (régimes) „Tag“ und „Nacht“. Die Großstruktur „Tag“ korrespondiert mit den Bildern, die im Zusammenhang mit der Geste der Körperposition und ihren beiden Schemata der ansteigenden Vertikalisierung und der visuellen oder manuellen Teilung stehen. Die Großstruktur „Nacht“ korrespondiert mit den Bildern, die im Zusammenhang mit der Geste der Ernährung und ihren Schemata „Abstieg“ und „Sichanschmiegen in der Intimität“ sowie mit der Geste des Geschlechtsverkehrs und seinen zyklischen Schemata stehen. Die Strukturen des „Tages“ sind schizomorph, durch Spaltungen charakterisiert; bei ihnen geht es um Trennung, Vermessung etc. Bei der Großstruktur „Nacht“ lassen sich zwei Arten unterscheiden: die mystischen Strukturen, in denen sich die Bilder der Intimität, und die synthetischen Strukturen, in denen sich zyklische Bilder finden. Der Zusammenhang zwischen Bild und Einbildungskraft wird durch das gleichzeitige Auftreten und Ineinanderwirken der Grundgesten des Körpers, der nervösen Zentren und der symbolischen Repräsentationen bestimmt. Die Körpergesten führen zur Ausbildung der symbolischen Repräsentationen des Imaginären. Im Unterschied zu Zeichen in der Semiotik, die willkürlich sind,
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sind Bilder als symbolische Repräsentationen Träger nicht willkürlicher Bedeutungen, die ihren Ursprung in den Gesten des Körpers und seinen Einwirkungen auf die Welt und deren Rückwirkungen auf das Imaginäre haben. Diese Funktion der grundlegenden Gesten, mit denen die Verschränkung von Körper und Welt erfolgt, lässt sich so beschreiben. Die Geste der aufrechten Körperposition schafft visuelle Dinge und bringt Techniken der Trennung hervor, für die z. B. Waffen, Pfeile und Schwerter ihre Symbole sind. Die zweite mit der Nahrungsverarbeitung verbundene Geste des „Abstiegs“ schafft Materien der Tiefe. So erzeugen Wasser oder Erdhöhlen Bilder von Behältern wie Schalen und Truhen und regen Träumereien über Nahrung und Getränke an. Die rhythmischen Gesten, für die in der Sexualität das Modell liegt, haben Entsprechungen in den Rhythmen der Jahreszeiten und werden auf Rad, Spinnrad oder Butterfass übertragen. Diese dreigliedrige Klassifizierung „stimmt folglich mit einer technologischen Klassifizierung überein, die unterscheidet einerseits stumpfe, aufschlagende Werkzeuge und andererseits Behälter und Gefäße, die mit Techniken des Aushöhlens verbunden sind, und schließlich die großen technischen Weiterentwicklungen des Rads bei den Transportmitteln und in der Textilindustrie“ (ebd., S. 55). Aus diesen Gesten entstehen Schemata und aus diesen sodann die Grundbilder, die Archetypen, die aufgrund ihrer semantischen Konstanz die Verbindung zwischen dem Imaginären und den Prozessen rationalen Denkens herstellen. Besondere Aufmerksamkeit wendet Durand den Mythen zu, die für ihn Modelle sind, an denen sich untersuchen lässt, wie sich Schemata und Archetypen auf Erzählungen auswirken. Seine Überlegungen zur Mythenkritik entwickeln ein Verfahren zur Analyse literarischer und künstlerischer Texte, mit denen Gesellschaften ihr Selbstverständnis ausdrücken. In der Analyse von Mythen sind Wiederholung und Redundanz besonders wichtig. Kein Mythos wird Teil des Imaginären, wenn er nicht, und sei es in anderer Form, wiederholt wird. Wiederholung und Redundanz können eine Art Synchronie in der Diachronie der mythischen Erzählung herstellen und können dafür wichtig werden, die im Hintergrund wirkende mythische Struktur herauszuarbeiten. Nach Durands Auffassung sollte eine Mythenanalyse mit der Mythenkritik relevanter Texte einer Zeit oder Kultur beginnen, aus der sich bereits wichtige Einsichten über die in der jeweiligen Gesellschaft relevanten Mythen gewinnen lassen. Menschen können weder etwas herstellen noch etwas denken, ohne dass Bilder dabei eine zentrale Rolle spielen. Deshalb sind die Kenntnis und Erforschung der Bilder, die die Menschen und ihre Werke strukturieren, von zentraler anthropologischer Bedeutung. Nach Durands Überzeugung erfolgte eine Abwertung der Bilder unter anderem aufgrund der aristotelischen Auffassung von den Mög-
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lichkeiten direkter Erkenntnis und aufgrund der Geringschätzung der Bilder bei Descartes. Erst seit dem deutschen Idealismus und der Romantik ändert sich die Situation hier allmählich und führt zu einem wachsenden anthropologischen Interesse an Bildern, dem Imaginären und der Einbildungskraft. In den Bildern begegnen sich Subjekt und Objekt, Welt und Mensch, Mensch und Mensch. Dabei ergibt sich die schwierige Frage, wie invariante Elemente wie die drei Grundgesten, die aus ihnen entstehenden Schemata und die sich aus ihnen wiederum entwickelnden Archetypen mit den historischen Veränderungen der menschlichen Gesellschaften und Kulturen und deren Einflüssen auf das Imaginäre zusammenhängen. Die Forschungen Durands und seiner Schüler haben, auch durch die Untersuchungen Carl Gustav Jungs über Symbole und Archetypen angeregt, stärker die Bedeutung der Invarianten des Imaginären betont. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie die Geschichtlichkeit des Imaginären nicht gesehen hätten. Nur haben sie diese nicht nachdrücklich genug auf alle Aspekte des Imaginären bezogen. In ihrem System sind die drei grundlegenden menschlichen Körpergesten Invarianten, die weder von historischen noch von kulturellen Bedingungen nachhaltig gestaltet werden. Auch die beiden Großstrukturen und die sich aus ihnen ergebenden Schemata und Strukturen sowie die aus deren Wirken entstehenden Archetypen werden nicht in ihrer Historizität und Kulturalität begriffen. Lediglich bei den Symbolen werden historische und kulturelle Differenzen angenommen und akzeptiert. Diese Auffassung vom invarianten Charakter der Körpergesten, Strukturen, Schemata und Archetypen steht mit dem zu dieser Zeit die Humanwissenschaften bestimmenden Strukturalismus in Zusammenhang, der dazu führte, dass die Historizität des Körpers und seiner Gesten nur unzureichend gesehen wurde. Man ging davon aus, dass es einen mit der Ausstattung des menschlichen Körpers gegebenen invarianten Teil gäbe, zu dem auch die Strukturen und Archetypen des Imaginären gehören, und dass es sodann einen zweiten, sich aus der Auseinandersetzung des invarianten Teils mit der Außenwelt ergebenden Bereich des Imaginären gäbe, in dem historische und kulturelle Modifikationen und Ausprägungen entstehen. Diese Unterscheidung ist wenig überzeugend. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass sich die Gesten des Körpers und die Strukturen des Imaginären schon im Prozess ihrer Konstitution historisch und kulturell voneinander unterscheiden. Auch wenn die drei grundlegenden Gesten des Körpers allen Menschen gemeinsam wären, so ist ihre jeweilige Praxis in jedem Fall historisch und kulturell verschieden. Das Gleiche gilt auch für die beiden Großstrukturen „Tag“ und „Nacht“ und die mit ihnen verbundenen Strukturen und Schemata. Nur wenn man erheblich von den jeweiligen Gegebenheiten abstrahiert, haben sie den Anschein, als seien sie allgemein.
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Bei genauerer Analyse stellt sich dann aber von vornherein – und nicht erst auf einer zweiten, gleichsam weniger abstrakten Ebene – heraus, dass „Nacht“ und „Tag“ in verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Bedeutungen haben. So ist z. B. die Nacht seit der Verbreitung der Elektrizität zu einem ganz anderen Phänomen geworden, als sie es davor war. Weiter hilft aus diesem Dilemma der Rückgriff auf Wittgensteins Überlegungen zum Sprachspiel. Bezogen auf „Tag“ und „Nacht“ gibt es Sprachspiele in allen Kulturen. Doch emergiert in diesen Sprachspielen kein invariantes Wissen über die Unterschiede zwischen „Tag“ und „Nacht“. Vielmehr sind die jeweiligen Sprachspiele an Unterschiede in den Lebenspraxen gebunden, die nachts andere als am Tag sind. Es entstehen viele unterschiedliche Handlungsund Sprachspiele. Indem diese des Öfteren wiederholt werden, entwickelt sich ein mannigfaltiges, mit den jeweiligen Spielen verbundenes praktisches Wissen. In dessen Konstitution gehen die in den verschiedenen Kulturen und historischen Zeiten gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen ein. Daher entsteht kein abstraktes invariantes Wissen über die Unterschiede zwischen „Tag“ und „Nacht“, sondern ein auf den verschiedenen Handlungs- und Sprachspielen basierendes praktisches Wissen. Über die kulturellen Grenzen hinweg ist dieses Wissen durch eine Familienähnlichkeit zwischen den verschiedenen Formen des Wissens verwandt. In keiner dieser Kulturen ist dieses Wissen mit dem Wissen in einer anderen Kultur identisch; es ist lediglich ähnlich. In einem Handlungsbzw. Sprachspiel kann z. B. eine Ähnlichkeit zwischen zwei Kulturen bestehen, deren Handlungs- und Sprachspiele sich in anderen Bereichen stark unterscheiden. Man kann daher nicht eine Gleichheit, sondern lediglich eine Familienähnlichkeit zwischen diesen Kulturen annehmen. So, wie es z. B. eine Familienähnlichkeit zwischen Vater und Sohn aufgrund der Form des Mundes und eine Familienähnlichkeit zwischen Mutter und Sohn aufgrund der Augen und eine zwischen Bruder und Schwester aufgrund des markanten Kinns geben kann. Die Sprach- und Handlungsspiele im Hinblick auf Tag und Nacht sind also in verschiedenen Kulturen und Zeiten nicht gleich, sondern lediglich ähnlich im Sinne einer Familienähnlichkeit. Diese Ähnlichkeit reicht aus, um ein praktisches Wissen davon zu haben, was die Sprach- und Handlungsspiele „Tag“ bzw. „Nacht“ bedeuten. Nach diesen Überlegungen ist der historische und kulturelle Charakter der körperlichen Gesten von vornherein gegeben. Das Gleiche gilt auch für die Großstrukturen „Tag“ und „Nacht“, die nun als Ensembles unterschiedlicher Handlungs- und Sprachspiele begriffen werden, deren Gemeinsamkeit ihre Familienähnlichkeit ist. Aufgrund der Bindung dieser Begriffe an verschiedene Lebenspraxen gehen auch deren materielle gesellschaftliche Bedingungen in die Konstitution des unterschiedlichen Wissens mit ein.
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Entsprechendes gilt für die Strukturen bzw. für die Schemata; es ist erforderlich, dass Schemata und Strukturen anders gedacht werden. Von Anfang an bilden sie sich in unterschiedlichen Handlungs- und Sprachspielen, die nicht durch Gleichheit, sondern durch Familienähnlichkeit gekennzeichnet sind. Diese Schemata und Strukturen sind einerseits das Ergebnis von Handlungs- und Sprachspielen, andererseits strukturieren sie auch das Handeln und Sprechen. Es sind also strukturierte und strukturierende Strukturen. Gerade dieser Doppelcharakter des Strukturierens und des Strukturiert-Werdens vollzieht sich in Sprachund Handlungsspielen. Somit sind es diese nun von Anfang an historisch und kulturell gedachten Strukturen, die auch Ensembles von Bildern des Imaginären schaffen. Solche Grundbilder bzw. Archetypen entstehen in Sprach- und Handlungsspielen. Am Beispiel des Rads lässt sich das Gesagte verdeutlichen. Wie ein Rad funktioniert, wird schon sehr früh in Handlungs- und Sprachspielen erfahren. In diesen entsteht ein praktisches Wissen davon, wie ein Rad gebraucht wird. Dieses praktische Wissen kann in verschiedenen Kulturen und historischen Zeiten etwa im Gebrauch einer Karre, eines Rollers, eines Fahrrads oder eines Schnellzugs unterschiedlich erfahren werden. Aufgrund der Familienähnlichkeit zwischen diesen Erfahrungen entsteht ein verallgemeinerbares Wissen, so dass schon ein Kind begreift, dass das Rad ein Gemeinsames dieser Objekte ist, das in allen Fällen eine ähnliche Funktion hat. Von solchen Überlegungen ausgehend, bedarf es nicht der Annahme eines Archetyps Rads, um zeigen zu können, dass es in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen ein Wissen vom Rad und seinem Gebrauch gibt. Diese Überlegungen reichen nicht aus, um neue Erfindungen im Hinblick auf den Gebrauch des Rads zu erklären. Auch tragen sie kaum zur Erklärung bei, wie es zur Entstehung eines Symbols wie etwa des Glücksrads kommt. Um diese Prozesse zu verstehen, muss man die symbolisierende Kraft der Imagination untersuchen, die häufig Neues schafft.
G ESCHICHTLICHKEIT DES I MAGINÄREN
UND SYMBOLISCHER
C HARAKTER
Dass die Strukturen des Imaginären nicht historisch gedacht werden, hat zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Le Goff und Durand geführt. Es erhebt sich die Frage, ob die identifizierten Strukturen nicht zu einem Korsett werden, das die Dynamik der Einbildungskraft nur noch in eingeschränkter Weise in den Blick kommen lässt, steht doch im Vordergrund die Stringenz der Struktur und weniger die Dynamik der Einbildungskraft, deren vegetativen mimetisch-körper-
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lichen Verdrehungen und Verschlingungen ein derart kohärent-rationales System nicht gerecht wird. Im Unterschied zu solchen Versuchen, Strukturen der Imagination zu identifizieren, scheint es mir sinnvoller, sich den symbolisierenden Charakter der Einbildungskraft zu vergegenwärtigen. Unter Symbol wird verstanden „jede Sinnstruktur, in der ein unmittelbarer, erster, wörtlicher Sinn überdies einen mittelbaren, zweiten, übertragenen Sinn anzielt, der nur durch den ersten erfasst werden kann“ (Ricoeur 1973, S. 22). Zweifellos erzeugt die Imagination nicht nur Bilder, deren Bedeutung nicht über das der Symbolisierung vorausgehende Bild hinausgeht. Im Gegenteil, sie schafft Bilder mit symbolischen Bedeutungen. In einem solchen Bild lässt sich sein figurativer Inhalt nicht auf eine einzige Bedeutung reduzieren; vielmehr enthält das Bild viele, zum Teil verborgene Bedeutungen, die sich erst in einer Interpretation erschließen lassen. Eine Interpretation lässt sich nur in einer Beziehung zwischen dem Bild und dem Interpreten entwickeln, in der die historischen und kulturellen Bedingungen des Bildes und des Interpreten wechselseitig aufeinander bezogen werden. Die Vorstellung, dass die Bedeutung eines Bildes nur in ihm selbst läge und nichts oder wenig mit dem Betrachter zu tun hat, ist wenig überzeugend. Insofern diese Relation für die Interpretation konstitutiv ist, ist sie unhintergehbar. Sie schafft erst den Sinnhorizont, angesichts dessen eine Interpretation der symbolischen Bedeutung eines Bildes möglich wird. „Das Paradoxon des Symbols liegt in der Präsenz und der Transzendenz seines Sinnes und in der Immanenz einer Leidenschaft gegenüber einem objektiv abwesenden Menschen. Das Symbol wird als inadäquat empfunden, insofern es nur ein Signifikant ist, gleichzeitig aber als einzig mögliche Angleichung gesehen, insofern das Signifikat nie allein gegeben ist. Somit ist das Symbol eine extreme Verdichtung des figuralen Sinnes; es verwandelt das Bild in eine wahre Ikone, verbirgt dabei seinen Sinn und verkörpert die Beständigkeit vielfältiger Bedeutungen“ (Durand 1963 S. 5). Die symbolisierende Einbildungskraft verändert eindeutige, lineare bildliche Repräsentationen, die an pragmatische Sinnzusammenhänge gebunden sind und entdeckt Sinnzusammenhänge, die weiter weg liegen und doch zugleich auch nah sind, in denen das Alltagsbewusstsein überschritten wird und in denen eine Öffnung für transzendente Fragen erfolgt. „Das Wesen des kosmischen Lebens, der Ursprung des Bösen oder die Erfahrung des Todes bilden auf diese Weise über die kosmogonischen oder eschatologischen Mythen hinweg wichtige symbolische Produktionsherde, denn ihre existentielle Verständlichkeit entzieht sich jeglicher diskursiven Erkenntnis, lässt sich aber gleichzeitig bildlich von der Imagination enthüllen“ (Wunenburger 1995, S. 69). In den Religionen haben die Symbole eine weitere wichtige Funktion, wenn sie wie z. B. das Kreuz oder der
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sitzende Buddha dazu dienen sollen, den Menschen bei ihrer Höherentwicklung eine Perspektive zu zeigen. Dazu verweisen sie auf das Heilige und seinen die spirituelle Entwicklung des Menschen fördernden Charakter. In vielen Kulturen weisen Symbole den Gläubigen der Weg aus dem Alltag in eine sakrale Welt. Viele von ihnen stehen mit Übergangsritualen in engem Zusammenhang, die z. B. bei Geburt und Tod aufgeführt werden, und öffnen den Blick auf eine transzendente Welt.
Imaginäres, Symbolisches und Reales
Dietmar Kamper zugeeignet
In diesem Kapitel soll das Verhältnis zwischen den drei Instanzen des Imaginären, des Symbolischen und des Realen untersucht werden, deren Analyse in Dietmar Kampers Forschungen zur Theorie der Imagination im Mittelpunkt steht (Kamper 1981, 1986, 1995). Ausgehend von Jacques Lacans Differenzierung zwischen diesen drei Instanzen wird dargelegt, dass sie nicht in einem harmonischen Verhältnis stehen. Vielmehr ist das Subjekt gespalten; doch es vermag „weder seiner Spaltung standzuhalten noch sie auf Dauer zu verdrängen bzw. sie zu vergessen. Darin wurzelt die Unruhe seines Entsetztseins über sich selbst. Andererseits hält Lacan – entgegen der Suspendierung des Subjekts durch Surrealismus und Post-Strukturalismus – an einer Wahrheit desselben fest: dass es sich in der dramatischen Bewegung des Begehrens und unter dem Diktat des Mangels auf die Bahn seiner Dezentrierung begibt, dass es in der Sprache, die weiser ist als alle Sprecher, über sich hinauskommt und dass es im Namen des toten Vaters den Omnipotenzwahn der imaginären Obsessionen, in denen das Begehren der verlorenen Mutter sich abspielt, überwindet“ (Kamper 1986, S. 134). Ersetzt wird hier der Begriff des Bedürfnisses durch den Begriff des Begehrens. Dieses ist exzentrisch, paradox und unbewusst, aber als Unbewusstes wie eine Sprache strukturiert, die sich in Signifikanten-Ketten vollzieht. Es funktioniert nur als Begehren des Anderen im Sinne eines Begehrens, das von diesem ausgeht und so vom Subjekt begehrt wird. Seinen Ursprung hat das Begehren in der durch die Geburtstrennung des Individuums entstandenen Verletzung und der daran gebundenen Suche nach der verlorenen Einheit im Imaginären. In der familiären Triangulation werden im Rahmen des Ödipuskomplexes die Inzestwünsche des Individuums abgelenkt und in das Gesetz des Vaters oder die symbolische Ordnung eingeführt. Es kommt zu einer Verschiebung der Wünsche und damit zum Eintritt in die „Struktur des Sozialen“. In dieser ödipalen Situa-
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tion liegt das Verhängnis, „dass die Selbstverkennung des Subjekts (nämlich Zentrum einer Welt und Herr des Begehrens zu sein oder sein zu wollen) gleichzeitig Anlass und Falle aller Wunsch- und Körperschicksale darstellt“ (ebd., S. 135). Mit der Verschiebung der Wünsche wird deutlich: Es kann keine Wunschbefriedigung geben und die aus der verlorenen Einheit stammende Wunde kann nicht geheilt werden. Versuche, Bedürfnisbefriedigung statt unstillbaren Begehrens einzuklagen, greifen zu kurz. Auch die Bemühungen, eine IchIdentität zu konstruieren, mit deren Hilfe das Individuum die in ihm wirkenden divergierenden Strebungen besänftigen kann, sind unzulänglich. In dieser hier entwickelten Sicht des Menschen gibt es keine Versöhnung. Das Individuum kann in seiner vergeblichen Suche nach der Wiederherstellung der Einheit im Imaginären und in seinen ödipalen Selbsttäuschungen den Verstrickungen in seine Wünsche und in die Strukturen der Ordnung des Vaters nicht entgehen. Es bleibt ein Rest, der nicht erfasst werden kann und der immer wieder verkannt wird: das Reale. Für Kant ist es das Ding an sich, für die Psychoanalyse das Unbewusste. An beiden scheitert die menschliche Erkenntnis bzw. Selbsterkenntnis aus prinzipiellen Gründen. Für die Verstrickungen der Menschen in die Bilder des Imaginären ist das rätselhafte Wiedererkennen des Spiegelbildes die Schlüsselszene, „das die frühkindliche Erfahrung des zerstückelten Körpers scheinbar beendet; doch das Phantasma überlagert nur das Trauma der UrSeparation und stellt einen Bild-Schirm dar, der ein Inkommensurables abschirmt und so den Anfang der Kette der abgelenkten und verschobenen Wünsche bildet“ (ebd., S. 127f.). Prinzipiell zeichnen sich von nun an zwei Strategien des Begehrens ab, „entweder das ‚Reale‘ als das Unbestreitbare, Fraglose in Anspruch zu nehmen und bei den Verhängnissen eines zwingenden ‚Imaginären‘ zu enden, oder das Reale gerade als das Unmögliche zu erfahren und den endlosen Umweg über das ‚Symbolische‘ zu nehmen, wohl wissend, dass die theoretische Differenz mit einer Fülle lebenspraktischer Risse, Brüche, Knicke, Nischen, Spalten usf. einhergeht“ (ebd., S. 138). Das Subjekt hat nur die Möglichkeit der Wahl zwischen einer imaginären Selbstverkennung in Omnipotenzfantasien oder einer Selbstrelativierung durch die allerdings nicht dauerhaft gelingende Einfügung in die symbolische Ordnung. Erforderlich ist ein Wechsel von einem Subjekt als Zentrum der Macht zu einem Subjekt als „entmächtigtem, konstituiertem Moment einer transsubjektiven Struktur (Begehren, Sprache, symbolische Ordnung)“ (ebd., S. 142). Dabei ist die Frage, inwieweit die Unzugänglichkeit des Realen durch das Symbolische kompensiert werden kann. Doch daran sind Zweifel angebracht: „Wo das Wort ist, hat das Reale keinen Platz. Dort herrscht stellvertretend für Körper und Dinge die Sprache“ (ebd., S. 144).
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Da es keine direkte Beziehung zum Realen gibt, ist für den Menschen als sprechendes Wesen nur die symbolische Ordnung möglich, um sich, wenn überhaupt, aus den Zwängen des Imaginären, der Selbstverkennung und seinen wahnhaften Objekten zu lösen. Ausdruck des menschlichen Dilemmas ist Lacans Formel „Je näher am Realen, desto tiefer im Imaginären“, die die Ausweglosigkeit der Situation kennzeichnet. Mit dieser Bestimmung wird eine historische Differenzierung aufgegeben, in der zwischen einer reproduktiven und einer produktiven Einbildungskraft unterschieden wird. Bei der reproduktiven Einbildungskraft geht es um das Nachschaffen von bereits Vorhandenem und die Einfügung des Erzeugten in die Reihe der Gewohnheiten. Bei der produktiven Einbildungskraft geht es hingegen darum, noch nicht Vorhandenes zu schaffen. Hier wird die Imagination als Neues erschaffende Kraft gedacht. Geradezu paradigmatisch gilt das Vermögen der Bilder als „Produktivkraft“: Sie sei in der Lage, „hervorzutreiben“, „sichtbar zu machen“, „vorzuführen“, „zum Vorschein zu bringen“. In Analogie zur göttlichen Schöpferkraft, die, indem sie denkt, hervorbringt, fällt von daher den Menschen qua Einbildungskraft die Aufgabe zu, ihre Welt im Bilde zu „erschaffen“. Die Imagination ist gespalten. In dem als Einbildungskraft bezeichneten Teil stehen den Menschen Kräfte zur Verfügung, mit denen sie sich aus den durch das Imaginäre besetzten Strukturen befreien können. Diese entstehen in einer Verschränkung zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und der Psychogenese des Einzelnen: „Wie der Schlaf die Erinnerung an das intra-uterine Leben wachhalte, so der Narzissmus das Bild einer Einheit, die an die Stelle einer unerträglichen Erfahrung trete, der Erfahrung einer Zerstückelung unter Lebensgefahr. Die Frucht eines imaginären Todes ist außerordentlich produktiv. Sie bildet zusammen mit den Träumen die Schubkraft des Überlebens der Menschen: eine Art Urphantasie. So betrachtet, fungiert sie als Narbe, aus der mittels ihrer synthetischen Kraft nach und nach der Wahn der Identität wuchert. Das Imaginäre hat Monadenstruktur und vertritt fortan das Reale, im Sinne der Überlagerung einer unzulänglichen, traumatischen, unverwindbaren Verletzung“ (ebd., S. 85). Aus dieser entsteht die Produktivität des Menschen; sie ist der Versuch mit den Verletzungen und Narben der menschlichen Existenz umzugehen. Seit der Renaissance und ihrem Glauben an die Sichtbarmachung der Welt hat die Produktion der Bilder ein kaum vorstellbares Ausmaß angenommen. Diese Bilder schreiben sich in das Imaginäre der Menschen ein, das die Erinnerung an die verlorene Einheit überwuchert und den Menschen als Schutz gegen ihre Todesangst dient. Mit der Hypertrophie der Bilder sind neue Konstellationen entstanden, die Auswirkungen auf den menschlichen Körper, auf das Erleben der Zeit und auf die Sprache haben. Seit langem ist der menschliche Körper
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zunehmender Abstraktion und Verbildlichung ausgesetzt. In der wachsenden, alle Bereiche des menschlichen Lebens erfassenden Ausbreitung des instrumentellen Denkens wird diese Entwicklung greifbar. Wertschätzung erhält nur, was funktional, rational und allgemeingültig ist. Was vielfältig, vielgestaltig, fragmentarisch ist, findet wenig Beachtung, wird verdrängt und unterdrückt. Am Beispiel des Verhältnisses von Sinn und Sinnen lässt sich diese Situation verdeutlichen. „Unter Sinn in der Einzahl wird verstanden das einheitliche Insgesamt der Bedeutungen, die man Ereignissen und Prozessen beimisst, jene identische Logik diversifizierter Verhältnisse, die das System des Selben als Grund und Horizont von Erfahrungen und Handlungen beizubehalten erlaubt. Früher nannte man es objektiven Geist, später die handhabbare instrumentelle Vernunft, die zu beliebigen Zwecken einzusetzen ist. – Die Sinne, in der Mehrzahl, das sind die körperlichen Organe für das Andere: das Auge, das Ohr, die Nase; der Mund, die Haut. Man muss auch den Gleichgewichtssinn nennen, der mit dem sensus communis auf noch rätselhafte Weise zusammenhängt. Diese Sinne garantieren die Empfänglichkeit für komplexe Daten. Ihr Zusammenspiel ist nach wie vor rätselhaft und gelegentlich wunderbar (Kamper 1995, S. 23). Mit diesen Überlegungen wird der Konflikt zwischen „Logik und Leidenschaft“ (Wulf/ Kamper 2002) noch einmal anders gedeutet. Geht es im einen Fall um das menschliche Bewusstsein als ein vielschichtiges System der Abwehr, Verneinung, Verleugnung und Verdrängung, wird mit den „Sinnen“ das Andere des Bewusstseins angesprochen: Körper und Begehren, Wünsche und Leidenschaften sowie die Wahrnehmung über die Sinne. Der mainstream der Wissenschaft schreibt sich ein in die Logik des Allgemeinen mit ihren Kontroll- und Machtmechanismen, innerhalb derer sich nur an wenigen Stellen Öffnungen für ihr Anderes ergeben. In diesen Auseinandersetzungen greifen instrumentelle Vernunft sowie Einbildungskraft und Imagination ineinander. Letztere werden bestimmt als „die Einbildungskraft, Imagination, Phantasie in ihrer fundamentalen Form, als transzendentale Synthesis der Sinnlichkeit, als innerer Zeitsinn und, in ihrer abgespaltenen Form, als mediales Imaginäres, wie es die audiovisuellen Bildmedien gegenwärtig zwanghaft strukturieren“ (ebd., S. 29). Und weiter wird das Imaginäre wie folgt beschrieben: „Das gesellschaftlich wirksame Imaginäre stellt einen Weltinnenraum dar, der eine starke Tendenz hat, sich zu verschließen und eine gewissermaßen unendliche Immanenz auszubilden; demgegenüber ist die menschliche Phantasie, Imagination, Einbildungskraft das einzige Vermögen, das geschlossene Räume aufsprengen und auf Zeit hin überschreiten kann, weil es mit der diskontinuierlichen Zeiterfahrung selbst identisch ist“ (ebd., S. 32f.). Damit wird deutlich: Das Imaginäre schafft den Verblendungszusammenhang
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eines Weltinnenraums, in dem immer mehr Menschen nicht zuletzt unter dem Einfluss der Neuen Medien leben und der von den Bildern so bebildert wird, dass er zu einem Gefängnis wird, aus dem der Ausbruch nur mit Hilfe der Phantasie möglich zu sein scheint. Damit wird eine Differenz zwischen Imaginärem und Phantasie gesetzt, bei der das Imaginäre negativ, Imagination, Fantasie, Einbildungskraft positiv gesetzt werden. Dadurch entsteht die Möglichkeit, bestimmte kulturelle Entwicklungsprozesse unterschiedlich zu werten. Das Imaginäre verbindet sich mit dem „Sinn“, der instrumentellen Vernunft, der Wissenschaft und der ökonomischen Rationalität, die Imagination hingegen mit den „Sinnen“, dem Körper sowie dem Widerstand gegen Abstraktion und Verbildlichung. „Bilder und Phantasmen haben also doch einen Doppelcharakter. Sie reflektieren das Selbe und sind Brücken zum Anderen. Die Schlußform der Reflexion ist das Imaginäre; die Kraft zum Brückenbau, zum Öffnen von Fenstern, ist die Imagination“ (ebd., S. 25). Die Vergeistigung als Körperaskese hat in der europäischen Renaissance begonnen, zur „Verbildlichung“, d. h. zur Transformation des Materiellen ins Bild zu werden. Seit Leonardo da Vinci ist das Wirkliche immer stärker als das Sichtbare begriffen worden; deshalb galt es auch alles Mögliche sichtbar zu machen. „Sichtbarmachen, Zum-Vorschein-Bringen ist seitdem der zentrale Sinn der wichtigsten menschlichen Tätigkeit: des Produzierens. Herstellen ist Vorstellen, Darstellen, Ausstellen“ (ebd., S. 39) „Die europäische Tafelmalerei war nicht Beschreibung, sondern Konstruktion der Welt. Wie die Wissenschaft der Beobachtung schrieb sie vor, wie zu sehen sei. Das Begehren des Subjekts wurde so organisiert, dass es sich mit der Welt als Bild zufrieden gab. Was die Menschen ihre Wirklichkeit nennen, ist mithin Effekt einer Vorschrift. Ohne die Bildfläche und die ingeniöse Erfindung einer neuen Sichtbarkeit vor 500 Jahren gäbe es heute keine normierte Wahrnehmung“ (ebd., S. 45). Diese Leidenschaft für das Sichtbare ist immer weiter gesteigert worden, sei es durch die Erfindung des Fernrohrs bzw. des Mikroskops, sei es durch den Aufbruch in fremde Länder, in denen Neues, bis dahin Unbekanntes entdeckt und der Kontrolle unterworfen wurde. Die Entdeckung der „Neuen Welt“ war das Ergebnis einer von Sehnsucht und Gier getriebenen Suche nach dem irdischen Paradies. „Beim Aufstand gegen die alten Ordnungen von 1500 haben die Menschen statt der Vernunft die Einbildungskraft zur Leitlinie der Errichtung einer menschlichen Welt gemacht. Neuzeit, Aufklärung und Moderne sind häretischen Ursprungs; sie wurden imaginär, d. h. in einer ,imagination fondatrice‘, fundamentiert“ (ebd., S. 46). Die Entwicklung ist weiter gegangen. Das Imaginäre hat sich ausgeweitet und schränkt die Möglichkeiten ein, Erfahrungen zu machen. Die Inthronisierung des Auges als „Leitsinn der Weltorientierung“ ist erfolgt. Kunst
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und Wissenschaft haben sich an dieser Entwicklung beteiligt. Der Kreis des Sichtbaren ist weiter ausgedehnt worden; er umfasst heute die Innenräume des Körpers. Das Bild ist zum Träger von Erkenntnissen geworden, die sich anders kaum darstellen und vermitteln lassen. Doch ist auch deutlich geworden: Je mehr der Kreis des Sichtbaren wächst, desto mehr weitet sich auch das Unsichtbare aus. Je mehr das Licht zunimmt, desto mehr wächst auch der Schatten. „Das optische Zeitalter hat es ex negativo bewiesen. Sein Wahlspruch: ‚Alles Unsichtbare sichtbar machen‘ war doppelt trügerisch. Er ist an das alte Unsichtbare nicht herangekommen und hat neues Unsichtbares produziert. Am Sehen haftet eine spezifische Blendung: je mehr Sichtbares, desto mehr Unsichtbares“ (ebd., S. 57). Die Dinge lassen sich nur identifizieren, wenn man sie stillstellt. „Weltaneignung im Suchraster der visuellen Wahrnehmung ist Mortifikation. Bilder sind Leichen von Dingen. Das unbeschränkte Imaginäre ist eine Todesmacht“ (ebd., S. 58). Der Blick vermag zu töten, und wo er nicht tötet, kontrolliert er. Dies hat Foucault in seinen Untersuchungen zum medizinischen Blick und zum benthamschen Panopticum gezeigt. Im ersten Fall ist es der Blick, der die Dinge nur so erfasst, wie er sie für seine Untersuchungen benötigt. Damit z. B. in SezierExperimenten die Reaktionen der Muskeln auf bestimmte Stimulationen untersucht werden können, muss der lebendige Körper (allmählich) getötet werden. Nur wenn der Körper in einen toten „Gegenstand“ transformiert wird, kann das Experiment mit wissenschaftlichem Blick durchgeführt werden. Im Fall des benthamschen Panopticums ist es der von den Gefangenen interiorisierte Blick, der zum Übergang von der Außen- zur Selbstkontrolle führt. Bei der Erfindung der Fotografie wurde ebenfalls ausführlich erörtert, dass Fotos die abgebildete Wirklichkeit töten. Die hierin zum Ausdruck kommende Auffassung über das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Foto ist auch heute noch in einigen Kulturen verbreitet. Auch Roland Barthes (1989) hat auf die enge Verbindung zwischen Foto und Vergangenheit sowie Vergehen und Tod verwiesen. Fotos halten einen Moment fest, der im Augenblick der Betrachtung des Fotos schon vergangen ist. Fotos sind also Bilder von etwas, was nicht mehr ist. Auch im Foto wird dieser Augenblick nicht als lebendiger wiedergegeben. Das Foto ist lediglich ein Hinweis auf diesen Moment und seine einstige Lebendigkeit. Damit der im Foto festgehaltene Moment bei seiner Betrachtung wieder „lebendig“ wird, bedarf es der Animation durch den Betrachter, weswegen der Foto- und Bildkult viel mit Animismus zu tun hat. Allerdings ist das Leben nicht in den Bildern, sondern es sind die Menschen, die die Bilder betrachten und dadurch sie lebendig machen. Die Vervielfältigung der Bilder ist eine weitere Form, den Bildern die Faszination zu nehmen. Walter Benjamin hat diesen Me-
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chanismus schon früh beschrieben und seine Auswirkungen mit dem Verlust der Aura der Bilder in Folge ihrer Vervielfältigung in Bezug gebracht. Mit der Vervielfältigung der Bilder droht der Verlust des Begehrens nach dem einen Bild, dem im Spiegelstadium erblickten Bild einer nicht vorhandenen und nicht erreichbaren Einheit: „Was wie unendliche Erweiterung aussieht, ist lediglich Auslöschung der Spur des Begehrens. Die Menschen werden deshalb die Lust am Sehen verlieren, und zwar durch die Technifizierung des Blicks. Die Beweiskraft der technischen Bilder und ihre Aura gehen schon jetzt gegen Null. Sie referieren nichts mehr und verlieren dadurch ihren Ort. Die Frage: Wo sind die Bilder? Drinnen oder draußen? Findet keine klare Antwort mehr. Die überschrittenen Bilderverbote zwingen dazu, sich wider Willen zu beteiligen an dem Versuch, die Macht des Imaginären nicht durch Verbote, sondern durch übertriebene Freigabe, durch Metastasen nach innen zu entwerfen“ (ebd., S. 65). In dieser Perspektive erscheint auch die Aufklärung als ein Versuch der „Transformation des Realen, der Schwere, der Körper ins aufgehellte Bild, De- oder Entmaterialisierung, unerwartet endend in einem transparenten Nihilismus, der ein maßloses Zwielicht verbreitet“ (ebd.). Die Bilder des Imaginären sind keine Bilder mehr, die Brücken zum Anderen darstellen, über deren mimetische Aneignung wir etwas von ihm erfahren. Sie sind keine Fenster, durch die wir hindurch blicken und etwas vom Anderen wahrnehmen, mit dem wir uns auseinandersetzten können. Diese Bilder sind zu Spiegeln geworden, in denen wir nicht den Anderen, sondern uns selbst sehen, in denen wir nicht die Erfahrung des Anderen, sondern nur die des Eigenen machen können. Diese Bilder werden zu Gefängnismauern, die uns keinen Ausgang gewähren. So wenig uns diese Bilder noch von einem uns fremden Außen vermitteln, sie schützen uns immer noch vor der Angst, dem horror vacui, auch wenn sie unseren Blick einschränken und als Spiegel auf uns selbst zurück werfen. Der Blick ist nun gezwungen, „in einer Welt aus puren Oberflächen zu agieren, in der nur noch Grundrisse, Skizzen, Zeichnungen bestenfalls mit Raumillusion, aber ohne die körperliche Erfahrung der Welt dominant sind. Der Lebensraum ist dann in aller Buchstäblichkeit der Bildschirm, der keineswegs dadurch räumlich wird, dass er in einem Raum steht oder sich durch entsprechende Zusatzschaltungen in virtuelle Räume hinein öffnet“ (ebd., S. 67). Die Beschleunigung von Bewegung und Wahrnehmung führt zu einer Vermehrung des Sichtbaren und zu einem Anwachsen der Bilder des Imaginären. Insofern die Bilder sich nicht mehr auf Außenwelten, sondern sich in gesteigertem Ausmaß aufeinander beziehen, führt ihre Beschleunigung auch zu einer Ausweitung des Imaginären. Immer mehr Institutionen produzieren immer mehr Bilder über immer mehr Dinge. Mit Hilfe neuer Technologien können auch die opaken In-
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nenräume des Körpers in Bilder transformiert werden, die für Vergleichs- und Kontrolluntersuchungen gespeichert werden. Gewaltige Bildarchive entstehen, deren digitale Bilder so gespeichert werden, dass sie potentiell vorhanden jeder Zeit aufgerufen werden können. Die Computertechnologien erzeugen virtuelle Räume, die Raum und Zeit simulieren. Es entstehen Universen von digitalen Daten, deren abstrakter Charakter in Differenz zur Materialität der menschlichen Körper steht, die von schneller und größer werdenden Bilderfluten erfasst werden. Hier zählt nur noch, was zum Bild geworden ist, seien es Politiker, Waren oder Körper. Mit dem Bildcharakter sind Politiker, Waren und Körper vervielfältigbar. Als Bilder sind sie nicht mehr an Orte und Zeitpunkte gebunden und sind annähernd universell. In der Form von Bildern sind Menschen und Dinge bedeutsam, versprechen sie die Überwindung des Alterns, der Hinfälligkeit und des Todes. Bilder altern nicht; sie vergehen nicht und sind im Vergleich zu den ihnen zugrunde liegenden Körpern nicht sterblich. Bilder führen ein Eigenleben im imaginären Kosmos der Medien, im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft und in der individuellen Erinnerung der Menschen. Die Bilder drängen darauf, alles sichtbar zu machen, die Grenzen zwischen privat und öffentlich aufzuheben und neue Formen intimer Öffentlichkeit zu schaffen. Auf dem Fernsehschirm verlieren Menschen und Dinge ihre Dreidimensionalität, ihre Materialität und werden als Bilder beliebig schnell kombinierbar. Bislang Verborgenes wird in die Sichtbarkeit gezogen. „Es handelt sich nicht mehr um die Obszönität des Verborgenen, Verdrängten, im Dunkel Liegenden, sondern um die des Sichtbaren, des Allzusichtbaren, dessen, was sichtbarer ist als das Sichtbare; es handelt sich um die Obszönität dessen, was kein Geheimnis mehr hat, was sich vollständig in Information und Kommunikation auflösen lässt“ (Baudrillard, zit. n. ebd., S. 39). Mit dem Verlust des Geheimnisses der Bilder geht auch der Verlust ihrer Widerständigkeit einher. Diese hat ihren Ursprung darin, dass die meisten Bilder auf etwas verweisen, was sie nicht sind, also auf eine außerhalb ihrer liegende Alterität. In dem Augenblick, in dem Bilder nur noch Bekanntes wiedergeben, also zu Spiegeln werden, lässt diese an den Verweis der Bilder auf Alterität gebundene Widerständigkeit nach. Die Bilder werden zu Waren und als solche schnell und leicht konsumierbar. Zu Recht ist von einer Ikonophagie die Rede. Mit dem Hinweis auf das Verschlingen und Verzehren der Bilder kommt auch der Suchtcharakter der Ikonophagie zum Ausdruck. An die Stelle des Konsums von Waren tritt der Konsum von Bildern, für die in der Realität Äquivalente gesucht werden. Bilderfluten sind an die Stelle des Warenkonsums getreten und werden wie Waren verschlungen.
I MAGINÄRES, S YMBOLISCHES UND REALES | 109
Möglicherweise geht die Spiegelmetapher für diese neuen digitalen Bilder nicht weit genug. Diese Bilder sind keine Flächen, werden auch nicht mehr aus Linien gemacht. „Auf dem Bildschirm und in den Digitalkameras gibt es nur noch den binären Code des ,Null-Eins‘, der die Energieströme nach einmal entwickelten Algorithmen lenkt und uns Bildstrukturen wahrnehmen lässt. Das Binäre, dieses ,Null-Eins‘ der Medien (es fließt nicht, es fließt), ersetzt nach und nach alle ternären, erst recht die quaternären Strukturen und bringt die gesamte Welt auf den Punkt einer Abfolge von Energien. Insofern ist es nicht mehr das Spiegelbild, das den Vorrang des Imaginären sichert, sondern eine Zeit-Maschine, die den Fluss der Punkte auf einer Fläche abbildet. Das Spiegelbild suggerierte noch eine visuelle Gegenwart, eine Gegenwart des Selbst, die nach dem Muster der wahren Gegenwart des Anderen organisiert war“ (ebd., S. 80). Viele der heute von den Menschen wahrgenommenen Bilder entstehen auf dem Fernsehschirm, dem daher eine besondere Bedeutung für die Bildung des Imaginären zukommt. Man kann in ihm einen „Ort der Angst“ sehen und das auf ihm stattfindende Bildgeschehen in Bezug auf im Imaginären vorhandene frühe Formen angstvollen körperlichen Wissens deuten: „Bildschirme finden sich zunächst nicht als Bestandteile von Fernsehgeräten, sondern von psychischen Apparaten in der kindlichen Seele. Sie dienen der Angstregulierung. Überforderungen, die Verletzungen gleichkämen, werden in Bildern festgehalten und besänftigt. Um eine Traumatisierung zu verhindern, ist das Phantasma notwendig. Zugleich verschwinden in den Bildern die wirklichen und möglichen Verletzungen. Sie werden der Erinnerung unzugänglich. Das Zwischending zwischen Trauma und Phantasma ist der Bildschirm. Er schützt einerseits vor zu viel Realität, andererseits gibt er der Erfahrung Gestalt und Form“ (ebd., S. 81). Die auf dem Bildschirm wahrgenommenen Bilderfluten treffen auf ein bereits ausgebildetes individuelles Imaginäres des Betrachters. Dieses enthält individuelle und kollektive Rezeptionsmuster, mit denen die wahrgenommenen Bilder selegiert, rezipiert und verarbeitet werden. In diesem Prozess erfolgt eine Überformung früher Angst-, aber auch früher Glückserfahrungen. Später gibt es keine bloßen Wahrnehmungen, denn alle Wahrnehmungen treffen auf die individuellen und kollektiven Strukturen des menschlichen Imaginären, die mitbestimmen, wie Bilder wahrgenommen, erlebt und verarbeitet werden. Mit den Bilderfluten, der Ästhetisierung der Wirklichkeit und der Ikonophagie haben die Bilder ihre Einheit und Sicherheit stiftende Wirkung verloren. Außer umfangreichen mimetischen Prozessen entstehen nun auch die Möglichkeiten der Simulation: „Simulation ersetzt eine Realität durch täuschend ähnliche Bilder. Mimesis erschafft eine Realität durch Körpergesten, die Wünschen Ausdruck verleihen“ (ebd., S. 91). Die Simulation führt dazu, dass sich die Bilder
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unabhängig von ihrer Herkunft verbreiten, sich als Bilder auf andere Bilder beziehen und eine Promiskuität der Bilder entsteht, die nicht mehr auflösbar ist. So zitieren Bilder andere, spielen mit ihnen und begnügen sich damit. Sie wollen nichts mehr sein als sie selbst und nur noch als solche rezipiert werden. Von der Selbstreferentialität der Bilder ist nun die Rede. Auch hier drohen der Verlust eines Außen und einer Bezugnahme auf Alterität. Nur noch eine Transformation selbstbezogener Bilder vollzieht sich, die sich – wenn sie sich überhaupt noch auf etwas ausrichten – nur noch auf andere, ebenfalls selbstreferentielle Bilder beziehen. So kommt es zu Ketten und Spiralen der Simulation, innerhalb derer sich die Bilder nachhaltig verändern. Unter Bezug auf Baudrillard wird das Konzept der Simulation weiter zugespitzt. „Erstens sei sie eine täuschend echte Nachahmung des Echten. Zweitens sei sie die ‚echtere‘ Ersetzung des Echten. Drittens sei sie die Behauptung, dass es nie etwas Echtes gegeben hat. Viertens sei sie ein in sich selbst ruhendes, wohliges Innesein, das sich gegen alle Beeinträchtigung von außen deshalb so erfolgreich zur Wehr setzt, weil es auf dem Gipfel seiner Ausdehnung keine Alternative kennt. Damit sei dann die Simulation in ihrer indifferenten, referenzlosen Form erreicht, ein Omnipotenzwahn, der alle Kraft in die Anstrengung investiert, reibungs- und störungslos zu funktionieren“ (ebd., S. 136). Damit ist eine Eskalation erreicht, die in den Dimensionen Vortäuschung, Ersetzung, Auflösung und Löschung von Realität zum Ausdruck kommt. In alle vier Dimensionen tritt das Imaginäre ein, das vor allem bei der Auflösung und Ersetzung des Realen seine ganze Gewalt entfaltet. Gegen diese kommt nur noch die Einbildungskraft des Schriftstellers an. Angesichts des kollektiven Eintritts in eine sich kontinuierlich ausbreitende Welt des Imaginären kann auch die Einbildungskraft nur noch punktuell Veränderungen bewirken. Diesen Überlegungen zum Verhältnis von Imaginärem, Symbolischem und Realem und damit zur Situation des Menschen in der Gegenwart liegen anthropologische Annahmen zugrunde, die auf die besonderen historischen Entwicklungen der europäischen Kulturen bezogen sind. Sie beanspruchen Evidenz und Plausibilität für eine Diagnose wichtiger Aspekte der Gegenwart westlicher Kulturen. Inwieweit diese Analysen auch für die Analyse der Situation von Menschen in anderen Kulturen Geltung beanspruchen können, ist eine offene Frage, die weiterer Erforschung und Klärung bedarf.
Die Performativität der Imagination
P ERFORMATIVITÄT
UND
M IMESIS
Seit mehr als zwei Jahrzehnten stellen Bilder einen Schwerpunkt anthropologischer und kulturwissenschaftlicher Forschung dar. Am Anfang dieses Interesses stand die Frage „Was ist ein Bild?“6 Ausgangspunkt war die Allgegenwart der Bilder in den Metaphern der Sprache, in den Werken der Kunst, in den Neuen Medien. Bilder hatten eine ubiquitäre Präsenz erlangt. Ein neues Verständnis des „Bildes als kultureller Figuration“ stand an. Von der Metapher als Brückenschlag des Subjekts zur Welt und der Metapherngebundenheit des Denkens ausgehend, galt es, die zentrale performative Rolle der Bilder in Kultur, Wissenschaften und Philosophie besser zu begreifen. Die „Entdeckung“ des Blicks und der in ihm erfolgenden Überkreuzung zwischen den Dingen und den in den Körper eingebundenen Augen eröffnete ein neues Verständnis des Verhältnisses von Bild, Blick und Körper. Das chiastische Modell der Blickverschränkung, in dem es zu einem Ineinander von Sicht und Ansicht kommt, macht deutlich, wie Bilder vom Blick erzeugt werden, im Gedächtnis deponiert und in der Erinnerung wieder belebt werden. Mit der phänomenologischen Betrachtung des Sehens und der Lektüre von Bildern erscheint das Sehen als eine eigenständige, durch nichts zu ersetzende kulturelle Leistung, für die die Performativität der Imagination eine konstitutive Rolle spielt. Bilder spielen für den performativen Charakter der Sprache, bei der Inszenierung und Aufführung sozialer Handlungen (etwa bei Ritualen) und bei der Aisthesis sozialer bzw. künstlerischer Handlungen (wie performances) eine zentrale Rolle. Im Fall der sprachlichen Dimension des Performativen sind es vor allem Metaphern, denen eine erhebliche Bedeutung zukommt. Im Fall sozialer Prakti-
6
Vgl. Bohn 1996; Didi-Huberman 1990, 1999; Boehm 1994b; Marin 1993; Mondzain 1996; Schäfer/Wimmer 1999.
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ken tragen die mentalen Bilder der Beteiligten wesentlich zu den Ergebnissen der jeweiligen Arrangements bei. Dabei mischen sich gruppenspezifische bzw. kollektive mit individuellen Bildern und erzeugen spezifische Inszenierungen und Aufführungen. Mithilfe der Erinnerung werden Bilder sozialer Szenen aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt und in mimetischen Prozessen in Handlungen überführt. Kulturelles Handeln erscheint als Folge der Performativität der Imagination. Zugleich werden diese Inszenierungen und Aufführungen zum Ausgangspunkt neuer mentaler Bilder der Beteiligten und ihrer Zuschauer, die frühere Bilder überlagern und zukünftige Handlungen hervorrufen, deren Inszenierung und Aufführung sie mitgestalten. Inszenierungen und Aufführungen werden zu Modellen, von denen die Einbildungskraft mentale Bilder erzeugt, die sie ins Imaginäre integriert. Schließlich hat das Performative sozialer bzw. kultureller Praktiken und Performances auch eine ästhetische Dimension. Sie ist als Bild, Ton, Geschmacks-, Geruchs- oder Tastempfindung gegeben und ist nur als solche erfassbar. Ohne Reduktion von Qualität und Komplexität kann sie nicht in Sprache transformiert werden. Der mimetische Umgang mit Bildern der Kunst vermittelt ikonische Erfahrungen. Denn mimetische Prozesse zielen auf die „Nachschaffung“ von Bildern mithilfe des Sehens und ihre Aufnahme in die innere Bilderwelt mit Hilfe der Einbildungskraft. Die sehende Nachschaffung von Bildern ist ein Prozess der Aneignung, der die Bilder in ihrer Bildlichkeit in die Vorstellungs- und Erinnerungswelt aufnimmt, in der sie performative Wirkungen entfalten. Die mimetische Verarbeitung der Bilder zielt auf die Aneignung ihrer Bildlichkeit, die vor, bei, nach und außerhalb jeder Interpretation gegeben ist. Wenn Bilder in die innere Bilderwelt aufgenommen sind, dann dienen sie als Bezugspunkte für Deutungen, die sich im Verlauf des Lebens immer wieder verändern. Unabhängig von den jeweiligen Interpretationen ist der wiederholte mimetische Umgang mit Bildern ein weiterer Akt der Aneignung, der Erkenntnis sogar. Er beinhaltet eine Konzentration und Hingabe an das Nachschaffen der imaginären Bilder und verlangt immer wieder nach einer „Auffrischung“ durch die sehende Begegnung mit den realen Bildern oder ihren Reproduktionen. In der mimetischen Begegnung mit Bildern wird auf Verfügbarkeit verzichtet. Der sehende Nachvollzug ihrer Formen und Farben erfordert eine Zurückdrängung der im Inneren des Betrachters aufsteigenden Bilder und Gedanken; er verlangt ein Festhalten des Bildes im Sehen, ein Sich-Öffnen für seine Bildlichkeit und ein Sich-ihmÜberlassen. Der mimetische Prozess besteht darin, dass sich der Betrachter durch sein sehendes Nachschaffen dem Bild ähnlich macht, es in sich aufnimmt und durch dieses Bild seine innere Bilderwelt erweitert.
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DER I MAGINATION
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In der mimetisch-performativen Aneignung eines Bildes lassen sich zwei ineinander übergehende Phasen unterscheiden. In der ersten Phase geht es um die Überwindung eines mechanischen Sehens, das Bilder der Kunst wie andere Gegenstände erfasst und durch „Bescheid-Wissen“ erledigt. Ein solches auf Orientierung und Verfügung gerichtetes Sehen stellt in vielen Fällen einen Schutz gegen die Überforderung durch Bilder dar. Doch dieses Sehen beinhaltet eine Reduktion der Möglichkeiten des Sehens. In Akten bewussten mimetischen Sehens ist die Entfaltung des Sehens das Ziel. Dazu gehören das Verweilen beim Gegenstand, die Überwindung des Geläufigen und die Entdeckung des Nichtgeläufigen. So gesehen ist die mimetische Aneignung von Bildern und Gegenständen ein retardierendes Element, das auf ein „ergriffenes Ergreifen“ zielt. In der zweiten Phase ist das Bild infolge des mimetischen Sehens bereits Teil der inneren Bilderwelt. Nun erst ist die mimetische Anähnlichung an das Bild erfolgt. Sie ist notwendigerweise unabgeschlossen und kann immer wieder neue Intensitäten erreichen. Das Festhalten eines in dieser Weise verinnerlichten Bildes in der Vorstellung übt die Konzentrationsfähigkeit und mit ihr die Vorstellungskraft. Insofern das Bild imaginär reproduziert wird, muss es kontinuierlich gegen den ihm inhärenten Zwang zu verschwinden hergestellt und gegen den Strom der im Inneren auftauchenden „Stör-Bilder“ festgehalten werden. Diese Tätigkeit der Imagination stellt ein Element jeder kreativen Bildproduktion dar. Ihr in Intensität und Ergebnis prinzipiell nicht abschließbarer Charakter fordert die Imagination zu weiterer Produktivität heraus. Mimetische Prozesse sind sinnlich auf Bilder als Bilder ausgerichtete Prozesse der Weltaneignung und Welterweiterung. In ihnen stellt die im Vegetativen des menschlichen Körpers wurzelnde Imagination die Verbindung zur Welt her und macht Außenwelt zur Innenwelt und Innenwelt zur Außenwelt. In diesen Prozessen spielt das Begehren, sich die Welt anzueignen, eine konstitutive Rolle. In diesem Begehren erzeugen nicht nur wir die Bilder, sondern auch die Bilder uns. Die Begehrensstruktur unseres Körpers und unserer Wahrnehmung bewirkt, dass, bevor sich unsere bewusste Wahrnehmung auf die Dinge richtet, die Dinge uns ansehen. Eine Ikonologie wird heute auch diese Zusammenhänge ausarbeiten müssen.
D AS Z USAMMENSPIEL
VON
B ILD , K ÖRPER , M EDIUM
Wenn wir vom performativen Charakter der Bilder reden, dann stellt sich die Frage, beziehen wir uns auf äußere oder innere Bilder. In der Tatsache, dass der Begriff „Bild“ beide Möglichkeiten umfasst, kommt etwas zum Ausdruck, was
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für Bilder charakteristisch ist. Äußere Bilder gehen auf innere und innere Bilder auf äußere Bilder zurück. In beiden Fällen haben sie einen das menschliche Verhalten bestimmenden Charakter. In jedem Fall sind Bilder Produkte der menschlichen, im Vegetativen des menschlichen Körpers wurzelnden Bildkraft, die in hohem Maße performativ ist. Hans Belting denkt in ähnliche Richtung, wenn er den Körper als den „Ort der Bilder“ bestimmt (Belting 2001, S. 12). Selbst über ihre Wahrnehmungsbilder und die aus ihnen erzeugten inneren Bilder verfügen Menschen nur eingeschränkt. Wo der Blick verweilt, was er ausgrenzt, was Menschen in ihr Gedächtnis aufnehmen, so dass sie es erinnern können, ist nur zum Teil von ihrem Bewusstsein abhängig. Nicht weniger wichtig ist das menschliche Begehren, andere Menschen, Situationen, Dinge in Form von Bildern zu einem Teil von sich zu machen. Die mentalen Bilder steuern die Wahrnehmung und bestimmen, was Menschen sehen, übersehen, erinnern oder vergessen. Die inneren Bilderströme bedingen nicht nur, welche Menschen oder Gegenstände außerhalb durch die Zuwendung der Aufmerksamkeit zum Bild werden, sondern auch, welche Bilder an der Aufmerksamkeit vorbei in die Menschen eindringen und sich in ihnen festsetzen. Menschen sind ihren inneren Bildern ausgeliefert, auch wenn sie immer wieder versuchen, Kontrolle über sie zu gewinnen. Diese Bilder fluktuieren und verändern sich mit dem Wandel des menschlichen Lebens. Einst wichtige Bilder verlieren an Bedeutung und werden durch neue ersetzt. Allen Bildern ist gemeinsam, dass Menschen sich in ihnen erfahren und sich mit ihrer Hilfe ihrer selbst vergewissern können. Mentale Bilder sind meistens eine Folge der äußeren Bilder, die an die Menschen herangetragen werden. Als Produkte unserer Kultur sind sie deren Ausdruck und unterscheiden sich von den Bildern anderer Kulturen und anderer historischer Epochen. Bei ihrem Weg von den vergegenständlichten Formen in der äußeren Welt ins „Innere“ der menschlichen Körper und durch die Überlagerung mit den dort bereits befindlichen Bildern wird der kollektive Charakter dieser Bilder individuell überformt. Zum Teil sind diese Bilder der kollektiven Bilderwelt Produkte, die medial erzeugt und verbreitet werden (Leroi-Gourhan 1965). Bilder existieren aufgrund ihrer Bindung an Medien, in denen sie vergegenständlicht werden. Dies gilt für die frühen Höhlenbilder, in denen der Stein das Medium ist, durch das sie existieren. Auch in den Totenmasken der Antike ist dies der Fall, in denen das Antlitz des vergänglichen Körpers als Bild auf einen anderen Träger übertragen wird und so den sterblichen Körper überlebt. Ähnlich ist es bei Fotografie, Film und Video. Beim Foto geht ein Lichtabdruck des menschlichen Körpers auf ein Negativ, das dann auf das Fotopapier transferiert wird und in diesem Medium erhalten bleibt und als Bild eine ganz andere Ge-
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schichte haben kann als der Körper, von dem es stammt. Entsprechend ist es bei Film und Video, bei denen noch die Bewegungen hinzukommen. Die jeweiligen Medien sind den Bildern nicht äußerlich; sie sind für die Bilder konstitutiv. Ohne Medium gäbe es kein Bild, das wir wahrnehmen und das wir in unsere innere Bilderwelt überführen und inkorporieren können. Die Bilder existieren nur, weil sie medial sind, d. h. weil sie in einem Medium in Erscheinung treten, das es erst möglich macht, sie wahrzunehmen, in den Körper einzuschreiben und ihre Wirkungen sinnlich zu erfahren. Die Medien, in denen uns die Bilder erreichen, bestimmen wesentlich die Art und Weise unserer Bilderfahrung. Als Medien beeinflussen sie, unabhängig vom jeweiligen Bild, unsere Art, die von ihnen transportierten Bilder wahrzunehmen. Es besteht ein qualitativer Unterschied darin, ob wir ein Bild als gemaltes, als fotografiertes oder als digitales wahrnehmen, der z. B. in der Bildsemiotik übersehen wird, wenn dort Bilder auf Bildzeichen reduziert werden. Als weitere zentrale Referenzpunkte menschlicher Bilderfahrung kommen Raum und Zeit ins Spiel. Körper, die zu Bildern werden, entgehen als Bilder ihrer Vergänglichkeit. Auch hierfür sind die frühen Totenmasken ein Beleg. Selbst die auf Papier erzeugten Bilder der Fotografie suggerieren dem menschlichen Körper die Überwindung seiner Zeitlichkeit. Das Foto bietet Anlass zur Erinnerung und zur Möglichkeit als Bild in einer sozialen Gemeinschaft zu überleben. Auf Grund ihres medialen Charakters können Bilder gespeichert werden und sind jeder Zeit verfügbar, d. h. sie können in einer anderen Zeit als in ihrer Entstehungszeit wahrgenommen werden. Der mediale Charakter der Bilder macht sie unabhängig vom Raum ihrer Entstehung und macht es möglich, sie in verschiedene räumliche Kontexte einzubringen. Bilder sind ubiquitär präsentierbar. Das Fernsehbild zeigt dem Zuschauer zu Hause einen Ort, der irgendwo in der Ferne liegt und den er in seiner Vorstellung „betritt“. Wo ist nun der Zuschauer? Ist er noch bei sich zu Hause oder ist er an jenem fernen Ort, zu dem ihn die Kamera führt? Trotz ihrer Raumund Zeitunabhängigkeit als Medien sind Bilder als Bilder nicht kontextunabhängig. Vielmehr ändern sie je nach Zusammenhang nicht nur ihre Bedeutung, sondern auch ihren Bildcharakter. Im medialen Charakter der Bilder liegen Dispositionen zu ihrem Gebrauch, zu ihrer performativen Verwendung, die eine Anleitung geben, wie sie wahrgenommen werden sollen. In jedem aufgrund seiner Medialität möglichen Gebrauch eines Bildes kommt es zur Überlagerung verschiedener Zeiten und Räume. So lassen sich unterscheiden: die Entstehungszeit des Bildes, die Zeit, auf die seine Darstellungen verweisen, die Zeit der Wahrnehmung. Entsprechendes gilt für den Raum.
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Für die gewaltsame Veränderung des Imaginären der Menschen kennt die Kulturanthropologie viele Beispiele (Augé 1994, 1997). Ein solcher Wandel fand z. B. mit der Kolonialisierung und Christianisierung Mexikos statt. Die spanischen Eroberer richteten alle Kräfte darauf, das kollektive Imaginäre der Eingeborenen zu zerstören und durch das christliche Imaginäre zu ersetzen, um damit der Kolonialisierung Dauer zu verleihen (Gruzinski 1988). In komplexen mimetischen Prozessen fand eine nachhaltige Umgestaltung der Vorstellungswelt der Indios statt; es entstand eine Amalgamierung aus imaginären „heidnischen“ und christlichen Figuren. Durch die Einverleibung der neuen christlichen Identifikationspunkte im Imaginären der Indios war deren Unterwerfung endgültig. Der Körper ist den Menschen in seinen Vergegenständlichungen im Bild, in der Sprache und in kulturellen Aufführungen zugänglich. Wie die anderen Objektivierungen sind Bilder historisch und kulturell unterschiedliche Ausdrucksund Darstellungsformen des Körpers. Das Verhältnis der menschlichen Körper zu den Bildern ändert sich, wobei dieser Wandel häufig durch mediale Veränderungen bewirkt wird. Bereits der Spiegel lässt die Menschen den Körper dort sehen, wo er nicht ist, im Glas oder im Metall. Außerdem findet bei ihm wie bei einem Gemälde die Übersetzung eines dreidimensionalen Körpers in die Fläche statt. Auch die Medialität der Fotografie verändert den Charakter des Bildes; bei ihr entsteht ein Lichtabdruck des Körpers, der sie auf der Fläche zur Erscheinung bringt. Wenn man die neuen Medien als Prothesen des Körpers begreift, treten selbst digitale Bilder in ein Verhältnis zum Körper, wenn auch in ein eher abstraktes. Generell scheint die mediale Vermittlung der Welt zuzunehmen und die Medialität des menschlichen Weltverhältnisses mit dem damit einher gehenden Selbstausdruck der Medien verstärkt Beachtung zu finden. Teil dieser Entwicklung sind auch die bildgebenden Verfahren (z. B. Röntgenbild, Elektronenmikroskop, Tomographie), die in den Naturwissenschaften nicht mehr wegzudenken sind, deren epistemologische und kulturwissenschaftliche Bedeutung uns erst allmählich bewusst wird. Diese Medialität lässt die Bilder in je unterschiedlicher Weise performativ werden. Im Bild sind die Anwesenheit und die Abwesenheit der Menschen und Gegenstände unauflösbar ineinander geschoben. Wie ein Körper im Medium der Fotografie gegenwärtig ist, so verweist sein Foto zugleich auf den abwesenden Körper. „Das Bild hat immer eine mentale, das Medium immer eine materiale Eigenschaft, auch wenn sich beides für uns im sinnlichen Eindruck zur Einheit verbindet“ (Belting 2001, S. 29). Zum Bild wird die Fotografie dadurch, dass Menschen sie ansehen und mit ihrem Blick lebendig machen. Dabei tritt der mediale Charakter der Fotografie in den Hintergrund. Bei Film und Fernsehen ist
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dies noch stärker der Fall. In beiden Fällen wird der Zuschauer in die ihm im Medium vor Augen geführte Welt der Bilder hineingezogen. Auch wenn er sich des medialen Charakters der Bilder grundsätzlich bewusst ist, „vergisst“ er ihn im Prozess des Zuschauens, in dem sich die medial erzeugten Bilder mit seinen eigenen mentalen Bildern verbinden und die Fernseh- bzw. Filmbilder als Erlebnisbilder des Menschen erzeugen. In diesem Prozess überlagern sich die medial übermittelten aktuellen Bilder mit denen, die der Zuschauer assoziiert und erinnert. Sowohl die aktuellen Fernseh- bzw. Filmbilder als auch die eigenen mentalen Bilder haben eine Tiefendimension im Imaginären der Kultur und der Gesellschaft, die immer wieder „angespielt“ wird und die vielen „aktuellen“ Bildern erst ihren Sinn und ihre Bedeutung vermittelt. Im Unterschied zu Film- und Fernsehbild haben die digitalen Bilder eine Matrix, die kein Bild mehr ist. Doch nicht nur ihr Bildcharakter, sondern auch ihre Medialität ist zum Problem geworden. Sie besteht in elektronischen, mathematisch generierten Prozessen, die nur noch wenigen zugänglich sind, die jedoch ein hohes Maß an Manipulierbarkeit garantieren. Im synthetischen Bild ist die traditionelle „Verbindung zwischen Bild, Subjekt und Objekt aufgelöst“ (Manovich, zit. n. Belting 2001, S. 39). Selbst wenn es sich so verhält, ist das synthetische Bild stets auf das bezogen, was es darstellt, selbst wenn die Art der Bezugnahme neu und anders ist. Außerdem bedarf das synthetische Bild zu seiner Darstellung des Bildschirms und damit einer Möglichkeit, „Bild“ zu werden. Als solches ist es auf die mentalen Bilder seiner Betrachter bezogen, mit denen es sich wie alle anderen Bilder überlagert und verschränkt. Das Erscheinen der Bilder auf dem Bildschirm suggeriert ihre Verfügbarkeit in einem überschaubaren und kontrollierbaren Rahmen. Zu dieser Illusion trägt auch bei die eher geringe Größe des Bildschirms, der ephemere Charakter der sich auf ihm einfindenden bewegten Bilder und die Standardisierung des Blicks. Als bewegte Bilder vermitteln synthetische Bilder dem Zuschauer eine doppelte Illusion, die des Bildes und die der Bewegung, letztere um so nachhaltiger, als sein eigener Körper in der Position des Sitzens stillgestellt ist. Wenn die zunehmende Ausbreitung synthetischer Bilder das Schwinden des Glaubens an den Repräsentationscharakter der Bilder fördert, dann kann dies zu nachhaltigen Veränderungen in der Einstellung zu Bildern und bei ihrem kulturellen Gebrauch führen. Mit Vilém Flusser lässt sich die Genese dieser Situation wie folgt beschreiben: „Zuerst trat man von der Lebenswelt zurück, um sie sich einzubilden. Dann trat man von der Einbildung zurück, um sie zu beschreiben. Dann trat man von der linearen Schriftkritik zurück, um sie zu analysieren. Und schließlich projiziert man aus der Analyse dank einer neuen Einbildungskraft synthetische Bilder [...] Mit anderen Worten: die an uns gestellte Herausforderung ist, aus der linea-
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ren Existenzebene in eine völlig abstrakte, nulldimensionale Existenzebene (ins ‚Nichts‘) zu springen“ (Flusser 1999, S. 125).
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PERFORMATIVE UND I MAGINATION
E NERGIE
VON
F ANTASIE
Die Fantasie hat eine chiastische Struktur, in der sich Innen und Außen kreuzen. Auf diese für die Wahrnehmung und für die Produktion von Bildern so wichtige Struktur haben sowohl Maurice Merleau-Ponty als auch Jacques Lacan hingewiesen. Unzulänglich ist eine Vorstellung vom Sehen, die davon ausgeht, dass die mit sich selbst identischen Objekte dem zunächst „leeren“ sehenden Subjekt gegenüber stehen. Vielmehr ist im Sehen etwas gegeben, dem wir uns nur nähern können, indem wir es mit dem Blick abtasten. „Der Blick [...] hüllt die sichtbaren Dinge ein, er tastet sie ab und vermählt sich mit ihnen. So als gäbe es zwischen ihnen und ihm eine Beziehung prästabilierter Harmonie, so als wüsste er von ihnen, noch bevor er sie kennt, bewegt er sich auf seine Art in seinem hektischen und gebieterischen Stil, und dennoch sind die erfassten Ansichten nicht beliebig, ich betrachte kein Chaos, sondern Dinge, sodass man schließlich nicht sagen kann, ob der Blick oder die Dinge die Oberhand haben“ (MerleauPonty 1994, S. 193). Nicht nur im Sehen, sondern auch beim Berühren, beim Hören und prinzipiell auch beim Riechen und Schmecken findet eine solche Überkreuzung zwischen den Sinnen und dem mit ihnen wahrgenommenen Außen statt. Menschliche Wahrnehmung ist also nicht voraussetzungslos. Einmal nehmen wir die Welt anthropomorph wahr, dass heißt auf der Grundlage der in unserem Körper liegenden physiologischen Voraussetzungen. Zum anderen gehen in unsere Wahrnehmung historisch-anthropologische bzw. kulturelle Voraussetzungen ein. Das heißt z. B.: Nach der Erfindung und Verbreitung der Schrift ändert sich die visuelle Wahrnehmung im Vergleich zum Sehen in oralen Kulturen. Ähnlich einschneidend verändern die neuen Medien und die mit ihnen gegebene Beschleunigung der Bilder unsere Wahrnehmungsprozesse. Wie die Forschungen der Gestaltpsychologie gezeigt haben, spielt die Fantasie schon bei der bloßen Wahrnehmung, etwa bei der Ergänzung der Wahrnehmung eine Rolle. Entsprechendes gilt für den kulturellen Referenzrahmen, der erst den wahrgenommenen Dingen ihren Sinn und ihre Bedeutung verleiht. Jedes Sehen ist historisch und kulturell ermöglicht und eingeschränkt zugleich. Als solches ist es veränderbar, kontingent und zukunftsoffen.
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Fragt man nach körperlichen Grundlage der Fantasie, so stößt man u. a. auf die folgende Annahme Arnold Gehlens: „Auf dem Grunde der Geschiebe des Traumes oder der Zeiten verdichteten vegetativen Lebens – in der Kindheit oder im Kontakt der Geschlechter, gerade da, wo die Kräfte werdenden Lebens sich anzeigen, gibt es wohl, unter sehr wechselnden Bildern, gewisse Urphantasien eines Vorentwurfs des Lebens, das in sich die Tendenz zu einem Mehr an Formhöhe, an ,Stromstärke‘ spürt: diese aber als Anzeichen einer unmittelbaren vitalen Idealität, d. h. einer in der substantia vegetans liegenden Richtung nach einer höheren Qualität oder Quantität hin – wobei selbst das Recht zu dieser Unterscheidung fraglich bleibt“ (Gehlen 1986, S. 325). Gehlen deutet Fantasie als Projektion von Antriebsüberschüssen. Doch vielleicht geht die Fantasie sogar den Antriebsüberschüssen voraus, „damit der Lebensdrang sich in ihr Bilder seiner Befriedigung entwerfen“ kann (Flügge 1963, S. 93). In jedem Fall ist in Gehlens Sicht Fantasie an den Status des Menschen als „Mängelwesen“, an seine residuale Instinktausstattung und an den Hiatus zwischen Reiz und Reaktion gebunden. Damit ist sie in Beziehung mit Bedürfnissen, Triebregungen und Befriedigungswünschen. Doch erschöpft sich die Fantasietätigkeit nicht in diesen. Menschliche Plastizität und Weltoffenheit verweisen auf die Notwendigkeit ihrer kulturellen Gestaltung. Fantasie spielt hierbei eine so zentrale Rolle, dass der Mensch „als Phantasiewesen so richtig bezeichnet (wäre), wie als Vernunftwesen“ (Gehlen 1986, S. 317). Offensichtlich widersetzt sich die Fantasie dem Begreifen. Selbst Bilder sind nur als Vergegenständlichung dieser elementaren Kraft zu verstehen, die sich entzieht und die nicht objektivierbar ist. In Bezug auf die Fantasie lassen sich vier Aspekte unterscheiden, die sich auf verschiedene historische Perioden und kulturelle Kontexte beziehen. Ein Aspekt der Fantasie bezieht sich auf die mögliche Teilhabe der Menschen an der Vollkommenheit der (klassischen) Kunst. Ein anderer richtet sich auf das Verständnis der Alterität kultureller und humaner Welten, die nur mit Hilfe der Fantasie so „nachgeschaffen“ werden können, dass sie verstanden werden. Ein dritter Aspekt verweist auf den Zusammenhang zwischen dem Unbewussten und der Fantasie. Hier ist Fantasie die Kraft, die außerhalb des Bewusstseins an der Gestaltung der menschlichen Bilderwelt mitwirkt, die sich in Träumen und Fantasien, in den Strömen des Begehrens und der vitalen Kräfte artikuliert. Ein vierter Aspekt ist schließlich auf den Wunsch und die Fähigkeit bezogen, Gewünschtes kontrafaktisch zu realisieren. In allen vier Fällen zielt die Fantasie darauf, die Welt zu verändern, jedoch eher spontan, ereignishaft und vagabundierend als strategisch (Iser 1991, S. 293f.). Adorno hat die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Rolle der Fantasie in Wissenschaft, Kunst und Kultur auf den Begriff gebracht, wenn er
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schreibt: „Eine Geistesgeschichte der Phantasie zu schreiben, um die es in den positivistischen Verboten eigentlich geht, verlohnte sich. Im achtzehnten Jahrhundert, bei Saint-Simon sowohl wie im Discours préliminaire von d’Alembert, wird sie samt der Kunst zur produktiven Arbeit gerechnet, hat teil an der Idee der Entfesselung der Produktivkräfte; erst Comte, dessen Soziologie apologetischstatisch sich umwendet, ist als Feind von Metaphysik auch der von Phantasie. Ihre Diffamierung, oder Abdrängung in ein arbeitsteiliges Spezialgebiet, ist ein Urphänomen der Regression bürgerlichen Geistes, doch nicht als dessen vermeidbarer Fehler, sondern im Zug einer Fatalität, welche die instrumentelle Vernunft, deren die Gesellschaft bedarf, mit jenem Tabu verkoppelt. Dass nur verdinglicht: abstrakt der Realität gegenübergestellt, Phantasie überhaupt noch geduldet wird, lastet nicht weniger denn auf der Wissenschaft auf der Kunst; verzweifelt sucht die legitime die Hypothek zu tilgen“ (Adorno 1969, S. 62f.). Auch die Begriffe Imagination und Einbildungskraft haben unterschiedliche Bedeutungsdifferenzierungen erfahren. Blickt man in die englische Geistesgeschichte, so ist für Locke die Imagination die „power of the mind“, für Hume eine „Art magischer Fähigkeit der Seele [...] Dieselbe bleibt aber trotz der äußersten Bemühungen des menschlichen Verstandes unerklärbar“.7 Coleridge begreift die Imagination als eine menschliche Fähigkeit bzw. als ein Vermögen und unterscheidet zwei Formen der Imagination. „Die primäre Imagination halte ich für die lebendige Kraft und den eigentlichen Beweger aller menschlichen Wahrnehmung, und für eine im endlichen Geist stattfindende Wiederholung des ewigen Schöpfungsaktes im unendlichen Ich bin. Die sekundäre Imagination betrachte ich als Echo der primären; sie koexistiert mit dem bewussten Willen, ist jedoch in der Art ihrer Wirksamkeit mit der primären Imagination identisch und unterscheidet sich nur in Grad und Modalität ihrer Wirkungsweise. Sie löst auf, zerstreut, verflüchtigt, um wieder zu erschaffen; wo dieser Prozess sich als unmöglich erweist, kämpft sie auf alle Fälle darum, zu idealisieren und zu vereinigen. Sie ist ihrem Wesen nach durch und durch lebendig, genauso wie alle Objekte (als Objekte) ihrem Wesen nach fixiert und tot sind.“8 Nach dieser Auffassung ist die Imagination ein Teil des Subjekts, in dem sie wirkt und mit dem dieses die Welt belebt. Nach Coleridge umfasst die Imagination auch die Fähigkeit, bestehende Verbindungen aufzulösen, zu zerstören und dadurch neue zu schaffen. Während die erste Form der Imagination eher analog zur Kraft der Natur, der natura naturans, gedacht ist, die alles erzeugt, ist die zweite Form der Imagination auf die Welt der Dinge bezogen, die sie zerstört und aufbaut. Hinzu kommt noch eine dritte Kraft, die Fantasie (fancy), die die Dinge und Beziehun7
Hume, zit. nach Iser 1991, S. 300.
8
Coleridge, zit. nach ebd., S. 320.
D IE P ERFORMATIVITÄT
DER I MAGINATION
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gen erzeugt und kombiniert. Diese drei Aspekte des imaginativen Vermögens wirken spielerisch aufeinander und miteinander. Sie erzeugen Bilder, zerstören sie, verbinden ihre Elemente zu neuen Bildern in einer oszillierenden Bewegung des Hin und Her. Sartre und Lacan betonen den performativen Charakter des Imaginären. Sartre bezeichnet das Imaginäre als die „irrealisierende“ Funktion des Bewusstseins, innerhalb derer das Bewusstsein abwesende Objekte erzeugt, gegenwärtig macht und dabei eine imaginäre Beziehung zu seinen Objekten herstellt (Sartre 1971). Für Lacan gehört das Imaginäre einem vorsprachlichen körperlichen Zustand zu, in dem sich das Individuum seiner Grenzen, seines Mangels noch nicht bewusst ist (Lacan 1994a). Danach hat das Imaginäre seinen Ursprung in der Identifikation des Kleinkindes mit der Mutter, die so stark ist, dass es die Mutter noch nicht als „verschieden“ von sich wahrnimmt. Die Faszination des Kleinkindes besteht darin, dass es von der körperlichen Geschlossenheit der Mutter beeindruckt wird. Wie in einem Spiegel wird in deren körperlicher Ganzheit die eigene Unversehrtheit und Macht erlebt. Doch zugleich führt die Erfahrung der Ganzheitlichkeit der Mutter zur Gefährdung der eigenen „Vollständigkeit“ und zum Erlebnis der Unvollständigkeit und Angewiesenheit auf den Anderen. In der Erfahrung der eigenen Unvollständigkeit und Endlichkeit liegt auch der Ursprung des sexuellen Subjekts. Für Lacan ist das Imaginäre mit seiner Welt der Bilder dem Symbolischen mit seiner Welt der Sprache vorgeordnet. Cornelius Castoriadis nimmt diese Positionierung auf und bestimmt das Verhältnis zwischen den beiden Welten wie folgt: „Das Imaginäre muss das Symbolische benutzen, nicht nur um sich ,auszudrücken‘ – das versteht sich von selbst –, sondern um überhaupt zu ,existieren‘, um etwas zu werden, das nicht mehr bloß virtuell ist. Der elaborierte Wahn ist ebenso wie die geheimste und verschwommenste Phantasie aus ,Bildern‘ gemacht, doch diese Bilder stehen für etwas anderes, haben also symbolische Funktion. Aber auch umgekehrt setzt der Symbolismus die Einbildungskraft (capacité imaginaire) voraus, denn er beruht auf der Fähigkeit, in einem Ding ein anderes – oder: ein Ding anders als es ist – zu sehen. In dem Maße jedoch, wie das Imaginäre letztlich auf eine ursprüngliche Fähigkeit zurückgeht, sich mit Hilfe der Vorstellung ein Ding oder eine Beziehung zu vergegenwärtigen, die nicht gegenwärtig sind (die in der Wahrnehmung nicht gegeben sind oder es niemals waren), werden wir von einem letzten oder radikalen Imaginären als der gemeinsamen Wurzel des aktualen Imaginären oder des Symbolischen sprechen. Es handelt sich um die elementare und nicht weiter rückführbare Fähigkeit, ein Bild hervorzurufen“ (Castoriadis 1984, S. 218).
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Bei Fantasie bzw. Imagination, Einbildungskraft und Imaginärem handelt es sich um Energien, die Bilder erzeugen, wenn sie performativ werden. Diese Bilder sind körperlich. Um gesehen zu werden, bedürfen diese Bilder eines Mediums. Im Zusammenspiel zwischen der im Körper wurzelnden Fantasie und einem Mediums werden aus mentalen Bildern äußere Bilder, die in mimetischen Prozessen wieder zu inneren Bildern werden können. Performativität spielt zweimal eine Rolle: einmal bei der Erzeugung der Bilder in einem Medium; dabei manifestieren sich mentale Bilder nicht nur in anderen Bildern, sondern auch im Medium der Inszenierung und des Arrangements kultureller Aufführungen. Sodann können diese kulturellen Aufführungen aufgrund ihrer ästhetischen bzw. aisthetischen Seite ihrerseits performativ werden. Dann regen sie die Fantasie der Handelnden und ihrer „Zuschauer“ an, die Bilder dieser Handlungen in mimetischen Prozessen in ihre Vorstellungswelt, in ihr Imaginäres aufzunehmen.
Bilder als Handlungen
Bilder haben eine performative Dimension. Das gilt vor allem für Bilder des Sozialen. Diese entstehen bei der Inszenierung und Aufführung sozialer Handlungen, zu denen unter anderen auch Rituale und Ritualisierungen gehören. Ihr ostentativer Charakter zielt darauf, ein bestimmtes Bild des rituellen Arrangements zu erzeugen, das sowohl für die Teilnehmer als auch für die Zuschauer der rituellen Handlungen bestimmt ist. In diesem Bild verdichtet sich die im rituellen Handeln vollzogene Selbstdarstellung der Gemeinschaft. Vielen Ritualen liegt die Absicht zugrunde, ein Bild der Zusammengehörigkeit zu erzeugen und dadurch die soziale Kohärenz der Gemeinschaft zu verstärken. Diese Bilder begleitet eine magische Intention, die darauf zielt, mit Hilfe des performativen Charakters sozialer Bilder die Teilnehmer und die Zuschauer von ihrer Zusammengehörigkeit zu „überzeugen“. Das rituelle Arrangement ist darauf angelegt, Bilder des Sozialen zu schaffen, die den Glauben der Ritualteilnehmer an ihre Gemeinschaft verstärken. Daher leisten diese Bilder einen wesentlichen Beitrag zu den Wirkungen der Rituale. Mit solchen Bildern werden ein kollektives und ein individuelles Imaginäres erzeugt, über die die Teilnehmer ritueller Handlungen miteinander verbunden sind. In diesem Imaginären gibt es sowohl allen gemeinsame als auch individuell sehr unterschiedliche Elemente. Zentrale Momente der Rituale werden von allen, andere Momente jedoch nur von wenigen und dann möglicherweise sehr unterschiedlich erinnert. Je nach Klassen-, Gender-, ethnischer und Feldzugehörigkeit sowie nach individuellen Konstitutionsbedingungen unterscheiden sich die Voraussetzungen, auf die diese Bilder sozialen Handelns treffen. Dementsprechend gehen sie unterschiedliche Verbindungen ein; daraus ergeben sich vielfältige Bildkombinationen, in denen sich unterschiedliche Erinnerungen und Zukunftsentwürfe bilden. Die Beziehungen zwischen dem kollektiven und dem individuellen Imaginären lassen sich am besten mit dem wittgensteinschen Konzept der Familienähnlichkeit beschreiben. Zwischen den individuell heterogenen Bildern
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gibt es Entsprechungen und Ähnlichkeiten, so dass es bei aller Unterschiedlichkeit der Bilder zugleich Gemeinsamkeiten gibt, in denen sich die „Familienähnlichkeit“ ausdrückt. Diese Bilder des Sozialen machen einen wesentlichen Teil der mentalen Bilderwelt der Menschen aus. Erst die seit früher Kindheit erworbenen und entwickelten, historisch und kulturell geprägten mentalen Bilder ermöglichen es uns zu sehen. Ohne diese Bilder sind wir dazu nicht in der Lage. Unterstützt wird diese Einschätzung durch Berichte von Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend blind waren, und die auch dann, als sie später die Welt wahrnehmen konnten, nicht in der Lage waren, zu sehen und das Gesehene zu begreifen. Aus dieser Tatsache ergeben sich drei Aspekte. Erstens, das Sehen sozialer Konstellationen und Arrangements wird gelernt. Zweitens, erst diese schon früh erworbene Sehfähigkeit ermöglicht es, die Welt sehend zu begreifen. Drittens, beim sehenden Begreifen spielen frühere Seherfahrungen und aus diesen resultierende Bilder eine zentrale, nicht ersetzbare Rolle. Ein begreifendes Sehen sozialer Handlungen kommt erst dadurch zustande, dass bereits biographisch geprägte historische und kulturelle Schemata und mentale Bilder dieses Sehen ermöglichen. Ohne sie wäre ein begreifendes Sehen unmöglich. Ohne mentale Bilder, die Teil des Imaginären sind, bleiben soziale Handlungen dem Wahrnehmenden äußerlich und lassen sich nicht begreifen. Es bedarf also einer bereits vorhandenen mentalen Bilderwelt, um soziale Handlungen zu verstehen und das eigene Handeln auf die wahrgenommenen Handlungen zu beziehen. Dieser Wahrnehmungs- und Verstehensprozess und das auf ihn bezogene Handeln vollziehen sich im Allgemeinen nicht bewusst. Erst wenn sich Schwierigkeiten ergeben, wird das Bewusstsein eingeschaltet. Dann kommt es zu einer Überprüfung der Wahrnehmung auf der Grundlage mentaler Schemata und Bilder. Differenzen und Übereinstimmungen zwischen den sich in rudimentären Bildern artikulierenden Erwartungen und den wahrgenommenen sozialen Handlungen treten ins Bewusstsein und erfordern Abwägung und Entscheidung. In der Regel vollzieht sich die Wahrnehmung sozialer Handlungen in Prozessen praktischer Mimesis. Wir sehen soziale Handlungen und setzen uns in der Wahrnehmung zu diesen in Beziehung. Dadurch gewinnen die Handlungen der Anderen an Bedeutungen. Wenn wir die Adressaten ihrer Handlungen sind, geht der Impuls zur Aufnahme der Beziehung von ihnen aus, bedarf jedoch einer Antwort unsererseits. In jedem Fall konstituiert sich in unserer Wahrnehmung sozialer Handlungen eine Beziehung, für deren Entstehung unsere mentalen Bilder eine wichtige Rolle spielen. Mimetisch sind viele Wahrnehmungen sozialer Handlungen auch deswegen, weil sie uns implizit auffordern, mitzumachen, mitzuspielen und wir entsprechend reagieren. Wir treten in ein Handlungsspiel
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ein und handeln entsprechend den uns in diesem sozialen Arrangement entgegen gebrachten Erwartungen, sei es, dass wir auf sie eingehen, sie modifizieren oder ihnen zuwider handeln. Mimetisch ist unser eigenes Handeln weniger aufgrund von Ähnlichkeit, sondern vielmehr aufgrund von Entsprechungen. In ein Handlungsspiel eingelassen, nehmen wir die Handlungen der Anderen wahr und handeln selbst in Bezug auf sie. Dazu sind mehrere Voraussetzungen erforderlich. Einmal müssen wir die im sozialen Handeln der anderen Menschen gegebenen Implikationen und Handlungserwartungen verstehen. Dafür bilden frühere soziale Erfahrungen und die mit diesen verbundenen mentalen Bilder eine wichtige Voraussetzung. Sodann müssen wir über ein praktisches Wissen verfügen, das es uns möglich macht zu handeln. In diesem praktischen Wissen spielen die in früheren mimetischen Prozessen erworbenen Handlungserfah-rungen, mentalen Bilder und Schemata eine wichtige Rolle. Allerdings reichen diese nicht aus, den performativen Charakter des Handelns zu begreifen. Bei der Inszenierung und Aufführung des sozialen Handelns spielen Spontaneität und ludische Elemente als Ausdrucks- und Erscheinungsformen der Imagination eine wichtige Rolle. Ferner sind diese Prozesse praktischer Mimesis sinnlich-körperliche Prozesse. Es bedarf der körperlichen Präsenz eines Anderen, eines sozial Handelnden, damit mimetische Prozesse ausgelöst werden. Die sinnliche Gegenwart seines Handelns initiiert die mimetischen Prozesse, die im gemeinsamen sozialen Handeln einen reziproken Charakter bekommen. Schließlich spielt in den Prozessen das wechselseitige Begehren eine Rolle, das häufig zum Motor mimetischer Prozesse wird. Wir wollen den Anderen verstehen und von dem Anderen verstanden werden. Wir möchten uns auf ihn beziehen oder werden von ihm eingeladen, eine Beziehung zu ihm aufzunehmen. Bei der Entstehung dieses Begehrens sind die Bilder der Vergangenheit und die auf die Gegenwart und die Zukunft gerichteten Wunschbilder von Bedeutung. Sie nehmen auf unsere Wahrnehmung der sozialen Handlungen anderer Menschen Einfluss. Darüber hinaus steuern sie das soziale Handeln, ohne dass dies den Handelnden bewusst wird. Die mimetische Bezugnahme auf das Handeln der Anderen ist eng damit verbunden, dass bei der Wahrnehmung sozialen Handelns Bilder des Begehrens und früher erworbene innere Bilder zusammenwirken und beeinflussen, wie soziale Handlungen anderer Menschen verstanden werden und wie die Bilder der Wahrnehmung aufgenommen, eingeordnet und gegebenenfalls verarbeitet werden. Dass sich dabei kollektive und höchst individuelle Schemata und Bilder überlagern, ist offensichtlich. Ihr Zusammenwirken bildet das Imaginäre der Menschen und vernetzt sie miteinander. Da sich diese Schemata und Bilder in historischen und kulturellen Zusammenhängen bilden, sind sie nur in ihrem
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historischen und kulturellen Charakter begreifbar. In ihrer konkreten Bildlichkeit wird etwas sichtbar, was anderenfalls unsichtbar bliebe. Insofern konkretisiert sich in ihnen die Imaginationskraft, ohne dass sie selbst dadurch schon begreifbar würde. Da Menschen in historisch und kulturell geprägte Lebensbedingungen hineingeboren werden, bilden sich auch ihre mentalen Schemata und Bilder in diesen Zusammenhängen. Diese Lebensbedingungen sind durch viele Faktoren bestimmt, zu deren wichtigsten gehören: die soziale Klasse, Genderzugehörigkeit, Ethnie und soziales Feld. Jeder dieser Faktoren ermöglicht die Entstehung bestimmter Schemata und Bilder und schließt dadurch zugleich andere aus. Infolge dieser Prozesse entsteht ein Habitus, der sich begreifen lässt als ein System „dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren“ (Bourdieu 1987, bes. S. 98). Als historisch-kulturelles Produkt erzeugt der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, deren Reichweite durch die genannten Faktoren Klasse, Gender, Ethnie und soziales Feld ermöglicht und eingeschränkt wird. Der Habitus sichert die aktive Gegenwart früherer Erfahrungen und der mit ihnen verbundenen mentalen Schemata und Bilder, die neben der Wahrnehmung und dem Handeln auch die Formen des Empfindens und Denkens beeinflussen. Er besteht aus einem inkorporierten, in sozialen Situationen mimetisch erworbenen praktischen Wissen, in dem die in Bildern und Schemata erworbenen Dispositionen das soziale Handeln bestimmen. Im Habitus werden die durch die Zugehörigkeit zu sozialer Klasse, Gender, Ethnie und sozialem Feld gegebenen Werte und Normen, Bilder und Schemata inkorporiert und können damit auch zum Ausgangspunkt weiterer Handlungen werden. Für die Inkorporierung der einen Habitus ausmachenden Dispositionen und der zu ihnen gehörenden Werte und Normen, Bilder und Schemata spielen Rituale eine besonders wichtige Rolle. Die Performativität von Ritualen initiiert mimetische Prozesse der Verkörperung. Ihr Wiederholungs-Charakter sichert die Inkorporierung der in ihrer Inszenierung und Aufführung erzeugten Handlungssequenzen und der mit ihnen verbundenen Schemata und Bilder. Ihr ludischer Charakter bewirkt auch die Hineinnahme dieser Komponente in den Habitus. Auch die in den rituellen Handlungen zum Ausdruck kommenden Machtbeziehungen gehen über mimetische Prozesse in den Habitus ein. Rituale dienen dazu, die in Institutionen, Organisationen und sozialen Feldern enthaltenen Werte, Normen und Dispositionen in mimetischen Prozessen im Habitus zu verkörpern und für zukünftiges Handeln bereit zu stellen. Dadurch entstehen die soziale und die kulturelle Realität nicht nur in den Institutionen und sozialen Feldern, sondern auch in den Körpern der Menschen in einer jeweils durch ihre Klassen-,
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Gender-, ethnische und Feldzugehörigkeit möglichen und zugleich eingeschränkten Weise. Mit der Inkorporierung sozialer Handlungsmuster in Ritualen und Ritualisierungen in einem Habitus entstehen Dispositionen, mit deren Hilfe soziales Handeln möglich wird. Dabei reicht das Spektrum sozialen Handelns von den durch Gewohnheiten bedingten Handlungen des Alltags, die sich weitgehend unreflektiert auf der Basis praktischen Wissens und der in ihm enthaltenen Dispositionen vollziehen, bis zu Handlungen großer Komplexität. Solche werden unter Bedingungen der Unsicherheit und Ungewissheit vollzogen. Bei ihnen ist der Ausgang offen; ihr Entwurf und ihre Steuerung sind nur mit Hilfe der Imagination möglich, zumal wenn sich solche Handlungsentwürfe unter unbekannten Bedingungen vollziehen. Wenn Spontaneität und ludische Elemente im sozialen Handeln wichtig werden, kommt die Imagination ins Spiel. Mit ihr wird Neues möglich, d. h. Alternativen und Innovationen. Nun gilt es umzustrukturieren und umzulernen. Mit Hilfe der Imagination befreit sich das soziale Handeln aus den durch den Habitus vorgeprägten Formen. In diesen Prozessen spielen Projektionen, auf Zukunft und Veränderung, Unbekanntes und Neues gerichtete Bilder eine Rolle. Wenn Lernprozesse im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu Klasse, Gender, Ethnie und sozialem Feld für die Entwicklung eines Habitus und einer sozialen Identität besonders wichtig sind, dann gilt dies auch für die dabei entstehenden Schemata und Bilder. Die Klassenzugehörigkeit von Menschen kommt dadurch zum Ausdruck, dass sie im sozialen Raum, der ein Raum der Unterschiede ist, je nach ihren Verfügungsmöglichkeiten über ökonomisches und soziales Kapital unterschiedliche Stellungen einnehmen. Doch ist dieser Raum nicht nur ein Raum der Unterschiede, sondern auch ein Raum der Beziehungen zwischen den Menschen. Die Abstände zwischen den Positionen, die die Menschen im sozialen Raum einnehmen, wirken sich auch auf ihre Lebensführung aus. Sie zeigen sich in den Unterschieden in den Sichtweisen der sozialen Welt und der sozialen Praxis, in der Unterscheidungen vollzogen und Unterschiede bewertet werden, die dadurch erst ihre soziale Bedeutung erhalten. „Die im Habitus eingelagerten Klassifikationen und Unterscheidungsprinzipien, Bewertungs- und Denkschemata schlagen sich nieder in den Praxen der Lebensführung; vermittelt über den Habitus werden die Dinge – Wohnungen, Bücher, Autos, Kleidung, Kunstgegenstände, Besitztitel und so weiter – und die Aktivitäten – sportliche Betätigungen, kulturelle Aktivitäten, Reisen, Geselligkeiten – umgewandelt in ‚distinkte und distinktive Zeichen‘, werden ‚aus kontinuierlichen Verteilungen [...] diskontinuierliche Gegensätze [...], geraten die Unterschiede aus der physischen Ordnung der Dinge in die symbolische Ordnung
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signifikanter Unterscheidungen‘ “ (Krais/Gebauer 2002, S. 37). Diese Distinktions- und Transformationsprozesse vollziehen sich weitgehend über den Geschmack und über die hierbei zwischen den Klassen bestehenden Unterschiede. Der entscheidende Unterschied zwischen den dominanten und den unteren Klassen besteht im „Primat der Form über die Funktion, der letzten Endes in die Verleugnung der Funktion mündet“ (Bourdieu 1982b, S. 288). Während für die oberen Klassen ein Luxusgeschmack, ist für die unteren ein Notwendigkeitsgeschmack (goût de nécessité) charakteristisch, der sich auf alle Bereiche der Lebensführung auswirkt: „Kein Bereich, der nicht nach diesem fundamentalen Gegensatz gegliedert wäre – mit den Antithesen von Quantität und Qualität, Materie und Manier, Substanz und Form“ (ebd.). In den Feinen Unterschieden hat Bourdieu diese Differenzen zwischen den verschiedenen Klassen detailliert beschrieben. So hat er deutlich gemacht, wie Unterschiede im Stil des Redens und Essens zu Differenzmerkmalen von Klassenunterschieden werden. „In Analogie zum ‚freimütigen Reden‘ könnte man in Bezug auf die Unterschichten vom ‚freimütigen Essen‘ sprechen. Essen steht hier unter dem Zeichen der Fülle (was Beschränkungen und Grenzen nicht ausschließt), vornehmlich aber der Freizügigkeit. Auf den Tisch des Hauses kommen ‚elastische‘ und ‚reichlich vorhandene‘ Speisen – Suppen und Soßen, Nudeln und Kartoffeln [...] –, die, mit Löffel und Schöpfkelle serviert, gar nicht den Eindruck aufkommen lassen, man müsse streng bemessen oder abzählen, ganz im Unterschied zu allem, was wie Braten geschnitten werden muss [...] gemeinhin [wird] auch nicht auf strikten Ablauf der einzelnen Gänge geachtet – es wird nahezu alles auf einmal aufgetischt [...], was zur Folge hat, dass die Frauen manchmal schon bei der Nachspeise sind (wie die Kinder, die sich samt Teller vor den Fernseher setzen), während die Männer gerade mit dem Hauptgang fertig sind oder ‚Junior‘, zu spät gekommen, rasch noch seine Suppe löffelt“ (ebd., S. 313f.). Demgegenüber besteht die Bourgeoisie auf einem formvollendeten Essen, das durch geregelte Abläufe bestimmt ist, in deren Mittelpunkt eine Speiseordnung steht, die vorschreibt, was zusammen auf den Tisch gestellt werden darf, und in deren Rahmen das gemeinsame und gleichzeitige Verzehren jeder Speise steht. Mit diesen verschiedenen Gewohnheiten und Lebensstilen tragen auch unterschiedliche Schemata und Bilder zum Prozess der Differenzerzeugung zwischen den Klassen bei. Die klassenspezifischen Geschmacksunterschiede bewirken unterschiedliche Präferenzen für Bilder und ikonische Arrangements. In mimetischen Prozessen werden diese Bilder und die ihren Arrangements zugrunde liegenden ästhetischen Werte inkorporiert und tragen zur Verfestigung und Ausdifferenzierung des Geschmacks und der über ihn vermittelten Differenzen bei.
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Auch die Bilder der verschiedenen Lebenswelten werden zu Trägern von Differenzmerkmalen zwischen den Klassen. So sind an die Bilder der oben beschriebenen unterschiedlichen Formen des Essens klassenspezifische Erfahrungen und Empfindungen gebunden. Diese werden in Bildern ausgedrückt und in ihnen kommunizierbar. Da diese Bilder an Lebenswelten verschiedener Klassen gebunden sind, werden bestimmte Bildkombinationen nahegelegt, andere jedoch erschwert oder sogar ausgeschlossen. Auch kanalisieren diese Bilder die Imagination, deren Ausdrucksmöglichkeiten sie bedingen und deren Vielfalt sie einschränken. Von ähnlicher Bedeutung für das Selbstverständnis und die Selbstauslegung eines Menschen sind die Bilder, die durch seine Gender-, ethnische und Generations-Zugehörigkeit erzeugt werden. Schon bei der ersten Begegnung nehmen wir andere Menschen wahr als jung oder alt, Mann oder Frau, als Deutsche, Türken oder Asiaten. Mit unserer Wahrnehmung werden bereits vorhandene mentale Bilder aktiviert, unter denen Stereotype eine wichtige Rolle spielen, die häufig nicht aus eigenen Erfahrungen stammen. Viele dieser Bilder sind mit dem kollektiven Imaginären einer Kultur verbunden. Mit seinen Bildern sind historische Erfahrungen und auf gesellschaftliche Bedingungen zurückgehende soziale Wertungen verbunden, die sich im „Inneren“ der einzelnen Menschen festgesetzt haben. Auf der Ebene von Einstellungen und Empfinden ist der Einzelne ihnen gegenüber relativ machtlos. Nur durch einen bewussten Umgang mit ihnen kann er ihre Auswirkungen auf sein soziales Handeln kontrollieren. Diese relative Ohnmacht gegenüber solchen Einstellungen hängt mit ihrem diffusen Charakter zusammen, der es schwer macht, auf der Ebene der Emotionen und Einstellungen mit ihnen konstruktiv umzugehen. Leichter ist da schon eine rationale Konfrontation mit diesen Schemata, Bildern und Stereotypen mit dem Ziel, ihre Auswirkungen zu kontrollieren, und mit der Hoffnung, sie allmählich durch andere Einstellungen zu ersetzen. Die intensiven Diskussionen über Stereotype im Hinblick auf Gender, Rassismus und die Abwertung älterer Menschen haben deutlich gemacht, dass sie häufig gegenüber dem Wandel durch Einsicht resistent sind. Zum Teil resultiert die Widerständigkeit dieser Bilder daraus, dass sie dazu geeignet sind, die Komplexität sozialer Beziehungen zu reduzieren. Werden diese Bilder, die unsere Einstellungen zum anderen Geschlecht und zu Angehörigen anderer Ethnien steuern, verflüssigt, wird es möglich, sie durch neue, an andere Erfahrungen gebundene Bilder zu modifizieren und zu differenzieren. Dass solche Veränderungen möglich sind, zeigen die Veränderungen, die in den letzten Jahrzehnten im Geschlechterverhältnis und in den Einstellungen zu anderen Ländern erfolgt sind.
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Die Resistenz unserer auf Gender und Ethnien bezogenen Schemata und Bilder hat ihre Ursache darin, dass diese Bilder inkorporiert und mit dem Habitus verbunden sind, so dass sie sich nicht einfach verändern lassen. Auch Judith Butler (1990) hat dies deutlich gemacht, indem sie darauf verwies, dass und wie wir zum Mädchen bzw. Jungen „gemacht“ werden. Dass sich die Anrufung als Mädchen oder Junge, Mann oder Frau und damit die Genderzuschreibung im alltäglichen Leben wiederholt und in Prozessen des doing gender im Körper verwurzelt wird, haben neuere Forschungen zur Herausbildung der Genderzugehörigkeit gezeigt (Paragrana 2004, S. 251-309). Das Geschlechterverhältnis gehört zu den frühesten Schemata sozialer Differenzierung. Von Geburt an entwickeln Menschen einen genderspezifischen Habitus, für dessen Entwicklung und Herausbildung der Identität der genderspezifische Charakter der Arbeitsteilung und die mit ihr verbundenen Differenzierungen eine zentrale Rolle spielen. „Das Geschlecht ist eine ganz fundamentale Dimension des Habitus, die, wie in der Musik die Kreuze oder die Schlüssel, alle mit den fundamentalen sozialen Faktoren zusammenhängenden sozialen Eigenschaften modifiziert“ (Bourdieu 1997, S. 222). Für das Geschlechterverhältnis in den meisten Gesellschaften ist es charakteristisch, dass es als polarer Gegensatz konstruiert ist. Somit ist Gender-Identität meistens das Ergebnis von Differenzierung und Distinktion und den damit einhergehenden Vereinfachungen und Exklusionen, mit deren Hilfe aus zunächst uneindeutigen Konstellationen eine eindeutige Genderzugehörigkeit konstruiert wird. Diese Differenzierung beruht auf einer körperlichen Grundlage, die zum Ausgangspunkt sozialer Zuschreibungen und ihrer Verkörperung wird. Somit werden das Geschlechterverhältnis und die mit ihm gegebenen Identitätsmuster inkorporiert. „Über den Habitus bestimmt die soziale Konstruktion des Geschlechterverhältnisses Körpervorstellung und Körpererleben, sinnliche Wahrnehmung, die Möglichkeiten, Freude und Leiden zu fühlen und auszudrücken. Was mit dem Körper zu tun hat, rührt, auch wenn es sich um scheinbar banale, völlig ‚äußerliche‘ Dinge handelt, unmittelbar an die Identität der Person“ (Krais/Gebauer 2002, S. 51). Über die Wahrnehmung genderspezifisch konnotierter sozialer Handlungen entstehen mentale Bilder von Gender-Identität, die die beschriebenen Prozesse der Herausbildung von Genderzugehörigkeit unterstützen und absichern. Die entsprechenden Wahrnehmungsbilder überlagern bereits vorhandene mentale Bilder, gehen mit diesen Verbindungen ein, verfestigen oder verändern diese und unterstützen die Herausbildung eines geschlechtsspezifischen Habitus. Neben Klasse, Geschlecht, Ethnie sind es die sozialen Felder, in denen Menschen wichtige Erfahrungen machen, die zur Entwicklung ihres Habitus beitragen und in denen Schemata und mentale Bilder erzeugt werden, die diese Pro-
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zesse fördern. Mit dem Begriff des sozialen Feldes werden die sozialen Sektoren bezeichnet, die in Folge der Arbeitsteilung und der Ausdifferenzierung sozialer Systeme entstehen und deren Funktionsweise durch relative Autonomie und Eigenlogik gekennzeichnet ist. In diesen Sektoren kommt es zu einem über den Habitus vermittelten Zusammenwirken zwischen den handelnden Subjekten und den Bedingungen der sozialen Felder. Soziale Felder lassen sich als Ensemble gesellschaftlicher Interaktionen begreifen. Sie umfassen Kräftefelder, deren Funktionsweise sich nicht auf Geld und Macht reduzieren lässt, wenngleich Geld und Macht in deren Dynamik und Logik eine wichtige Rolle spielen. Zu den sozialen Feldern gehören z. B. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, aber auch Religion, Bildung und Kunst. Sie sind durch fünf Merkmale charakterisiert (Krais/ Gebauer 2002, S. 56f.). Jedes soziale Feld ist erstens durch eine Eigendynamik und Eigenlogik charakterisiert. Die professionellen Tätigkeiten der Menschen, die z. B. im Bereich der Schule arbeiten, sind durch spezifische Bedingungen charakterisiert. Die sich in der Schule vollziehenden Lernprozesse sind u. a. durch die intergenerative Differenz zwischen Lehrer bzw. Lehrerin und Kindern sowie durch die institutionell verankerten Qualifikations-, Selektions- und Allokationsfunktionen charakterisiert. Diese Bedingungen beeinflussen die Dynamik und Logik der schulischen Lernprozesse, ohne sie vollständig zu bestimmen. Trotz ihrer das soziale Feld strukturierenden Bedeutung räumen sie den Lehrern und Lehrerinnen noch Möglichkeiten ein, individuelle Entscheidungen zu treffen. Mithilfe ihres Habitus nutzen diese ihre Möglichkeiten unterschiedlich, ohne dass durch die Unterschiedlichkeit ihrer Handlungen der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule gefährdet würde. Die im Rahmen ihrer alltäglichen Arbeit in ihre mentale Bilderwelt inkorporierten Bilder und Schemata beeinflussen die Weltsicht, das gesellschaftliche Verständnis und das soziale Handeln der Lehrerinnen und Lehrer, ohne sie jedoch festzulegen. In der Dynamik dieses sozialen Felds bleibt die Möglichkeit individueller Entscheidung, ohne dass durch diese der Sinn der Institution beeinträchtigt würde. Ein zweites Charakteristikum besteht darin, dass wie im Fall der Schule Menschen in diesem sozialen Feld professionell tätig sind. Die damit verbundene Arbeitsteilung dient auch dazu, dass Menschen in der gesellschaftlichen Realität unterschiedliche professionelle Kompetenzen entwickeln. Mit diesen gehen eine Komplexitätssteigerung ihrer Tätigkeit und eine Ausdifferenzierung ihrer Kompetenzen einher. Es macht einen Unterschied, ob ein Lehrer oder eine Lehrerin in einer Grundschule oder in einem Gymnasium arbeitet. Die Entwicklung eines unterschiedlichen Habitus ist die Folge. Auch die im Rahmen ihrer jeweiligen Tätigkeit entstehenden, ihr alltägliches Tun beeinflussenden mentalen Bilder
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unterscheiden sich, und damit auch das Selbstverständnis der jeweiligen Lehrpersonen. Da das soziale Feld als ein System von Kräften begriffen wird, besteht ein drittes Charakteristikum darin, die Vorstellung von der Homogenität eines sozialen Sektors aufzugeben. Dadurch wird im Rahmen des Konzepts „soziales Feld“ den einzelnen Handelnden mehr Raum für individuelles Handeln eingeräumt. Untersuchungen zur Unterschiedlichkeit des Berufs- und Selbstverständnisses von Lehrern belegen dies. Durch den jeweiligen Habitus und das von ihm strukturierte Handeln entsteht eine Vielfalt von Handlungen, in denen der Sinn und die Werte des sozialen Feldes und die individuellen Eigenschaften der Handelnden aufeinander bezogen sind. Selbst in der individuellen Ausrichtung ihres Handelns sind die Handlungen der Lehrer und Lehrerinnen darauf gerichtet, den Sinn der Institution Schule zu verwirklichen. In einem Kollegium gibt es Lehrer mit sehr unterschiedlicher individueller Orientierung, ohne dass dadurch die gesellschaftliche Funktion der Institution gefährdet würde. Die Differenz ihrer Handlungen sichert vielmehr die unterschiedliche Verteilung der sozialen Positionen im sozialen Feld und seine Dynamik. So gibt es z. B. in einem Kollegium Positionen wie die strenge, aber gerechte Lehrerin, den freundlichen, jedoch anspruchslosen Lehrer, den etwas trägen, seine Pflicht gerade noch erfüllenden Lehrer und die engagierte, viele extra-curriculare Aktivitäten in ihrer Freizeit mit den Kindern machende Lehrerin usf., ohne dass diese individuellen Differenzen den Bildungsauftrag und den Sinn der Institution gefährdeten. In Übereinstimmung mit diesen unterschiedlichen Verhaltensweisen ändern sich auch die mentalen Bilder, die Lehrerinnen und Lehrer von ihrer Arbeit haben, die ihr Selbstverständnis bestimmen und die zum Motor entsprechender Aktivitäten und Tätigkeiten werden. Zugespitzt formuliert: Je nach ihrer Tätigkeit verändert sich auch das professionelle Imaginäre der Lehrerinnen und Lehrer und präfiguriert die Wahrnehmung zukünftigen Handelns. Im sozialen Feld ist das Handeln der Akteure also nicht alternativlos festgelegt; vielmehr ist es viertens durch einen Handlungsspielraum bestimmt. Dabei ist „Spiel“ hier nicht im Sinne einer Metapher gemeint. Vielmehr verweist der Begriff darauf, dass es in sozialen Feldern unterschiedliche Handlungsspiele gibt, die das professionelle Handeln bestimmen. In den schulischen Handlungsspielen geht es darum, die Schüler und Schülerinnen dafür zu gewinnen, in den Handlungsspielen mitzumachen. Gelingt dies, so sind die Schülerinnen und Schüler in der Institution erfolgreich; misslingt dies, werden sie exkludiert und haben für ihr zukünftiges Leben erhebliche Nachteile. Ein wichtiges Mittel, die Schüler in die Handlungsspiele der Institution zu integrieren, besteht in der Inszenierung und Aufführung von Ritualen. Mit ihrer Hilfe lernen die Schülerin-
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nen und Schüler, sich an den unterschiedlichen Handlungsspielen der Schule zu beteiligen. Dadurch werden institutionelle Handlungsformen den Kindern vermittelt und schulische Werte, Normen und die ihnen entsprechenden Dispositionen durchgesetzt. Obwohl dieses Spiel für die Kinder in existentieller Hinsicht bitterer Ernst ist, verweist der Begriff auch auf die Handlungsfreiheit aller schulischen Akteure, deren Art und Weise die schulischen Handlungsspiele zu inszenieren und aufzuführen auch die Praxis des Spiels und damit der schulischen Lehr- und Lernprozesse verändert. Wie bei den Ritualen, so ist auch bei den Handlungsspielen des sozialen Feldes die entscheidende Voraussetzung, dass alle Handelnden an das Spiel glauben und sich darauf einlassen, es mitzuspielen. Gesichert wird dies durch Rituale und den in ihnen erzeugten Habitus. Einerseits ist der Habitus das Ergebnis „erfolgreicher“ Rituale und Handlungsspiele, andererseits trägt er dazu bei, dass die Rituale und Handlungsspiele gelingen und dadurch der objektive Sinn der Institution bzw. des sozialen Feldes subjektiv vermittelt wird. Die in den Handlungsspielen inkorporierten mentalen Bilder tragen zur Vernetzung des institutionellen sozialen Handelns bei; sie helfen dabei, die im sozialen Feld von allen geteilten Erwartungen den Handelnden wechselseitig zu vermitteln. Das soziale Feld ist fünftens durch eine Homologie zwischen den verschiedenen Handelnden im sozialen Feld und den mit ihren jeweiligen Positionen verbundenen inhaltlichen Ausrichtungen verbunden. Eine solche Entsprechung besteht z. B. in positiver oder negativer Hinsicht zwischen dem Schulleiter und den Lehrern, zwischen den Lehrern und Lehrerinnen und den Schülern und bezieht auch das Handeln der Eltern ein. Neben dem Glauben an die Angemessenheit der verschiedenen Positionen spielt die wechselseitige Anerkennung der Positionsinhaber und ihrer Handlungen für das Funktionieren des sozialen Feldes eine wichtige Rolle. Dazu gehört auch die Anerkennung der Unterschiedlichkeit der Handlungen der verschiedenen Positionsinhaber, die für die Herausbildung eines professionellen Selbstbewusstseins und die Erhaltung der Homologie im sozialen Feld von zentraler Bedeutung ist. Für die Entstehung der mentalen Bilder des Sozialen und ihre Wirkung auf den Habitus und die Strukturierung sozialen Handelns spielen Raum und Zeit eine wichtige Rolle. Wie soziale Handlungen, so sind auch die ihnen entsprechenden mentalen Bilder raum- und zeitgebunden. Da mit Hilfe der Imagination Bilder historisch und kulturell geprägten sozialen Handelns aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt werden können, kann auch das ihnen implizite Handlungspotential für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln genutzt werden. Dieses implizite Handlungspotential liegt in den mit diesen Bildern verbundenen Emp-
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findungen, Wünschen und Handlungsimpulsen. Es dient dazu, Handlungen zu entwerfen, sie situativ einzupassen. Die mit Hilfe der Imagination in die Gegenwart gebrachten mentalen Bilder umspielen die Situation, entwerfen Möglichkeiten des Handelns und bewirken eine Kohärenz des Handelns. Von besonderer Bedeutung sind sie, wenn der Handelnde nicht weiß, wie er handeln soll oder wenn die soziale Situation so komplex ist, dass er Alternativen zu seinen ersten Handlungsentwürfen sucht, um mit seinen Handlungen der sozialen Situation besser gerecht zu werden. Der entscheidende Beitrag der Imagination zum Handeln liegt darin, dass aus früheren Situationen gewonnene Erfahrungen in Form von Schemata oder mentalen Bildern an die neue Situation angepasst werden und hier Handlungsalternativen bieten. Dabei erfolgen eine Überwindung der Zeitdifferenz zu früheren Handlungen und deren Bedingungen und eine Anpassung an die gegenwärtigen oder zukünftigen Bedingungen. Dabei kann es entscheidend sein, dass nicht der erste von den mentalen Bildern als Lösung herangetragene Bildentwurf realisiert wird, sondern dass die Situation offen und in der Schwebe gehalten wird, bis sich gegebenenfalls bessere oder auch schlechtere Alternativen einstellen und eine Entscheidung getroffen werden kann. Diese mentalen Bilder spielen vor allem bei komplexeren Handlungsprozessen eine Rolle. Sie sind von eher untergeordneter Bedeutung, wenn automatisierte Handlungen erforderlich sind, bei denen der Habitus Handlungsentwürfe erzeugt, denen der Handelnde ohne weitere Reflexion folgt. Doch auch in diesen Situationen, in denen die Bilder nicht ins Bewusstsein geraten, spielen sie für die Auswahl der Vorlieben und die ihnen entsprechenden Handlungen eine Rolle. Der immaterielle Charakter dieser mentalen Schemata und Bilder ermöglicht ihre Beweglichkeit und Anpassung an neue Situationen. Die Imagination erzeugt neue Relationen zwischen vorhandenen und neu entstehenden Bildern. Hierin liegt ihre produktive Seite. Es geht weniger um die „Anwendung“ vorhandener Lösungsschemata als vielmehr um die Herstellung neuer Relationen zwischen unterschiedlichen mentalen Bildern und dem „Erfinden“ neuer Handlungsmöglichkeiten in komplexen sozialen Situationen. In diesen Situationen kommt es zu einem Zusammenspiel zwischen den in der Vergangenheit erworbenen mentalen Bildern, gegenwärtigen von der Imagination als Handlungsmöglichkeiten bereitgestellten Alternativen und zukünftige Situationen vorwegnehmenden projektiven Bildern. Soziale Bilder erzeugen mentale Schemata und Bilder, die Erinnerungen an vollzogene Handlungen sind und die Potentiale für gegenwärtige oder zukünftige Handlungen enthalten. Insofern diese Bilder dazu beitragen, Handeln zu inszenieren und aufzuführen, haben sie eine an die Imagination gebundene performative Kraft, die zu neuen Handlungen führt. Dadurch, dass Bilder einen Zwi-
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schencharakter zwischen vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Realität haben, können sie Handeln anregen und entwerfen, ohne in der Realisierung des Handelns aufzugehen. Als Bilder behalten sie ihre Differenz zur Wirklichkeit und können niemals mit ihr zur Deckung gebracht werden. Besonders deutlich wird dies bei den Bildern des Begehrens und den Wünschen, die ihren Ursprung in der Vergangenheit haben und deren imaginärer Charakter daher ihre Erfüllung unmöglich macht. Die Intensität der mentalen Bilder und ihre Relevanz für das soziale Handeln hängen von der Intensität der mimetischen Prozesse ab, in deren Verlauf sie Teil der mentalen Bilderwelt werden. Das Spektrum reicht von den bei der Wahrnehmung in Prozessen praktischer Mimesis entstandenen Bildern über solche Bilder, die ihren Ursprung im Begehren haben, dem Anderen ähnlich zu werden, und die dadurch ein starkes Motivations- und Handlungspotential haben, bis zu imaginären ikonischen und sprachlichen Bildern, die dadurch entstehen, dass sich Menschen auf solche richten und diese in mimetischen Prozessen zu ihren eigenen mentalen Bildern machen.
III. Imagination und Praktiken des Körpers
Die Welt des Spiels
„Was für Riesen?“ fragte Sancho Pansa. „Die du dort siehst“, erwiderte sein Herr, „die mit den langen Armen, denn manche haben ihrer, die sind an die zwei Meilen lang.“ „Gebt wohl acht, gestrenger Herr, was Ihr tut, denn was wir dort sehen, das sind keine Riesen, sondern Windmühlen, und was Ihr für die Arme haltet, das sind die Flügel, die den Mühlstein treiben, wenn der Wind sie dreht.“ „Da sieht man“, sprach Don Quichote, „wie schlecht du dich auf Abenteuer dieser Art verstehst. Und kommt dich etwa Furcht an, so hebe dich hinweg und bete dein Vaterunser, dieweil ich hingehe, um den kühnen, wenn auch ungleichen Kampf zu bestehen“ (de Cervantes 1975, S. 112).
Dass Imagination bereits bei der Wahrnehmung eine Rolle spielt, ist offensichtlich (Schürmann 2008). Wir würden nichts sehen, nichts in uns aufnehmen können, wenn nicht die Einbildungskraft die Außenwelt in Bilder und Vorstellungen transformieren würde. Einerseits sind diese Prozesse universell; zugleich sind sie historisch und kulturell normiert und darüber hinaus einmalig. Diese Szene bietet dafür ein gutes Beispiel. Natürlich handelt es sich um Windmühlen, deren Flügel eine allen Menschen dieser Region bekannte Funktion und ein entsprechendes Aussehen haben. So ist die Wahrnehmung der Welt, so unterschiedlich sie von Mensch zu Mensch ist, historisch und kulturell kodiert. Dadurch ist bei aller Differenz Verständigung möglich. Gegen diese gebräuchliche Sicht der Welt erhebt Don Quichote Einspruch. An die Stelle der Windmühlen setzt er Riesen, an die Stelle der Windmühlenflügel die langen Arme der Riesen, an die Stelle einer zielgerichteten Reise Abenteuer und einen „kühnen, wenn auch ungleichen Kampf“, den es zu bestehen gilt. Möglich wird dies durch die Welt erzeugende Kraft der Imagination. Sie bringt eine andere Welt zur Erscheinung und transformiert die Welt der realen Dinge in eine phantasmatische Welt. Es kommt zur Entwirklichung der realen Welt der Windmühlen und zur Erzeugung einer anderen Welt, der Welt der Abenteuer und der Kämpfe. Dabei wird deutlich: Ohne die reale Welt des Sancho Pansa
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kann die Abenteuerwelt des Don Quichote nicht zustande kommen. Es bedarf einer vorgängigen realen Welt, um eine Fantasiewelt erzeugen zu können, die die reale Welt transformiert und umdeutet. In Übereinstimmung mit der Bedeutung des griechischen Wortes „Fantasie“ wird mit ihrer Hilfe die Abenteuer- und Spielwelt Don Quichotes zur Erscheinung gebracht; Welt ereignet sich. Als ästhetisches Ereignis ist diese Welt fiktiv und als solche für die Leser, die sich auf sie einlassen, in ihrem Imaginären als Erlebens-und Erfahrungswelt gegeben. Der Eintritt in die Welt der Fiktion und des Spiels ist nur möglich, wenn man an sie glaubt. Wer an die Welt des Spiels glaubt, kann in ihr spielen. Ohne den Glauben ist es nicht möglich, an dem Als-ob des Spiels teilzunehmen. Don Quichote betrachtet die Windmühlen, als ob sie Riesen seien. Diese Sicht des Als-ob ermöglicht es ihm, in den Kampf zu ziehen und Abenteuer zu bestehen. Mit Hilfe des Als-ob werden Raum und Zeit, also wesentliche Bedingungen des Spiels geschaffen, damit das Spiel stattfinden kann. Ohne die Bestimmung von Räumen und Zeiten sind Spielhandlungen nicht möglich. Wer in der Nachfolge Buytendijks (1933), Huizingas (1981) und Finks (1960) darauf besteht, dass Spiele von den Zwängen der Lebenswelt abgekoppelt sind und daher einen Raum der Freiheit und eine Möglichkeit der Entfaltung des Menschen bieten, der muss im Anschluss an Wittgenstein auch sehen, dass Spiele geregelte soziale Handlungen sind, die die gesellschaftliche Welt gestalten (Wittgenstein 1960; Gebauer 1997). Nach Gebauers und meiner Auffassung besteht zwischen der internen Ordnung des Spiels und der Ordnung der Gesellschaft, in der es inszeniert und aufgeführt wird. ein mimetisches Verhältnis. „In Spielhandlungen zeigt sich die Art und Weise, wie sich die Gesellschaft organisiert, Entscheidungen trifft, wie sie ihre Hierarchien konstruiert, Macht verteilt, wie sie Denken strukturiert“ (Gebauer/Wulf 1998b, S. 192). Die Handlungen des Spiels nehmen Elemente und Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung auf, machen diese in der Inszenierung und Aufführung des Spiels sichtbar, verändern diese und wirken auf sie zurück. Im Spiel verdoppelt sich der Körper. Einerseits gibt es den individuellen Körper des Menschen, der in eine Spielwelt eintritt; andererseits legt sich über diesen Körper derjenige, den die Rolle des Spiels vorschreibt. Der Körper eines zehnjährigen Jungen wird im Indianerspiel zum Körper eines Indianerhäuptlings, doch nur solange, wie das Spiel anhält und er und seine Freunde daran glauben. In dieser Verdoppelung entsteht ein Spiel-Körper, der sich nach den Regeln und Kriterien des jeweiligen Spiels bewegt, ohne dadurch in seinem Handeln wesentlich eingeschränkt zu sein. Der Junge hat also seinen Körper und den eines Indianerhäuptlings. Mit seinem Körper als Kind vollzieht er Gesten und Handlungen, von denen er annimmt, dass sie einem Häuptling gut anstünden. Wenn er
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durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall gezwungen wird, seine Spielwelt zu verlassen, wird er schnell darum bemüht sein, nach der Störung wieder in sie einzutauchen und seinen Körper weiterhin als verdoppelten Spielkörper zu inszenieren. Mit Hilfe der Einbildungskraft erzeugen Spiele Spielwelten mit einer relativen Autonomie, die zugleich Bezug auf eine oder mehrere Welten außerhalb des Spiels nehmen. Wenn der oben genannte Junge Indianer spielt, dann erfolgt eine Bezugnahme auf die seinem Spiel in zeitlicher Hinsicht vorgeordnete Welt der Indianer. Das bedeutet nicht, dass die Welt des Jungen ein einfaches Abbild der Welt der Indianer ist. Die Bezugnahme ist komplexer. In ihrem Rahmen werden keine Aussagen über die Welt der Indianer getroffen. Vielmehr findet die Bezugnahme dadurch statt, dass der Junge, vom Begehren getrieben, für die Dauer des Spiels Indianer zu werden, sich seinen mentalen Bildern bzw. Vorstellungen von der Welt der Indianer anähnelt. In diesem Prozess kommt die Fantasie ins Spiel. Mit ihrer Hilfe entwickelt das Kind innere Bilder einer längst vergangenen, ihm vor allem über fiktive Texte und Filme zugänglichen Welt. Dabei geht es nicht um historisch exakte Vorstellungen, sondern um die Erzeugung von Bildern, in denen sich sein Begehren manifestiert, seine Alltagswelt zu verlassen und im Rahmen des Spiels ein anderer zu werden. Bestimmte Gesten und Requisiten wie das Rauchen der Friedenspfeife oder das Tragen eines Federkopfschmuckes sind Mittel für diese Transformation. Mit Hilfe ritueller Handlungen gelingt der „Identitätswechsel“. Erzeugt wird er durch den Wunsch, ein anderer zu werden. Der Wunsch schafft Bilder eines anderen Lebens, ermöglicht die Übernahme anderer Rollen und Identitäten. Das Kind wird zu einem andere Indianer anführenden, wilden Häuptling, der Kampf mit verfeindeten Stämmen oder mit bösen „Bleichgesichtern“ sucht. Seine Einbildungskraft erzeugt seine Indianerwelt, in deren Ausformung sein Verlangen nach neuen Erfahrungen gestaltet wird. Gelingt es, dieses Begehren zu leben, wird das Spiel intensiv und rauschhaft. Auf die Typologie des Spiels von Caillois (1982) bezogen, kommen Elemente von Agon, Mimikry und Illinx zur Wirkung: im Kampf mit anderen Indianern Agon; in der Verkleidung und Angleichung an das Aussehen der Indianer Mimikry; im Rausch des Andersseins Illinx. Das Zusammenwirken dieser durchaus heterogenen Elemente in vielen Spielen erzeugt deren Spannung und Intensität. In einem solchen Spiel entsteht eine paradoxe Situation: Das Kind ist der Indianerhäuptling und ist es zugleich nicht. Seine Handlungen und seine Aussagen sind die eines Häuptlings und sind es zugleich nicht. Die Behauptung, dass der Junge ein Indianerhäuptling sei, ist zutreffend und ist es zugleich nicht. Sie ist
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nur wahr, solange Spieler, Mitspieler und Umwelt an das Spiel und die in ihm gesetzten fiktionalen bzw. imaginären Bedingungen glauben. Im Spiel findet ein mimetischer Bezug auf vorausgehende Situationen anderer Spiele oder Welten statt. Der Glaube an das Spiel ist die Voraussetzung dafür, dass es in ihm zur Anähnlichung an imaginäre Bilder und Entwürfe kommt und eine Inszenierung und Aufführung des Spiels erfolgt. Es entsteht eine wirkliche Unwirklichkeit und mit ihr die Möglichkeit, die Grenzen des Alltagslebens zu überschreiten und neue Intensitäten zu leben und sich damit über sich selbst hinaus auszuweiten und in diesem Prozess ein Anderer zu werden. Dabei entwickelt das Indianer spielende Kind neue Gesten und Verhaltensweisen. Es lernt, andere Kinder anzuführen, bei allen Gefährdungen eine unerschütterliche Haltung zu bewahren und nach spielerischen Kämpfen sich wieder zu versöhnen, um sich sodann in einer neuen Spielkonstellation wieder zu entzweien und die Kräfte zu messen. Darüber hinaus übt es seine Fähigkeit, eine imaginäre Welt zu konstruieren, in sie einzutauchen, an ihr auch gegen Widerstände festzuhalten und sie zu gestalten. Spiele sind nachgeordnete Welten, die durchaus Auswirkungen auf die Alltagswelt haben können. Clifford Geertz hat in einem viel, aber auch kontrovers diskutierten Beitrag gezeigt, dass der Hahnenkampf in Bali eine Darstellung der treibenden gesellschaftlichen Kräfte ist, „nämlich der Abhängigkeitsbeziehungen, die sich ausdrücken in gegenseitigen Verpflichtungen, im Prestige und in der ,Notwendigkeit‘, es zu bestätigen, zu verteidigen, zu feiern und zu rechtfertigen oder sich einfach darin zu sonnen“ (Geertz 1983, S. 236). Im Hahnenkampf werden die balinesische Statushierarchie und das Netzwerk sozialer Verpflichtungen in ein Spiel transferiert, inszeniert, aufgeführt und sichtbar gemacht. In diesem Kampf kommt es zu einer Simulation der sozialen Matrix des komplizierten Systems der einander überschneidenden und überlappenden strikt kooperativen Gruppen, denen die Anhänger des Hahnenkampfes angehören. Alle Teilnehmer des Spiels glauben an diese soziale Hierarchie und an die Notwendigkeit, diese öffentlich zu zeigen, Ehre und Prestige ihrer Gruppe und Missachtung und Abwertung anderer, nicht zu ihnen gehörender Gruppen zu inszenieren und aufzuführen. Auch für ihr Handeln im Alltagsleben gelten diese Prinzipien. Im Hahnenkampf werden sie dargestellt. Im Kampf der Hähne und im leidenschaftlichen Engagement der auf die Hähne wettenden „Teilnehmer“ des Kampfes werden gesellschaftliche Konflikte stellvertretend inszeniert und aufgeführt; dabei erfolgt keine Imitation, sondern es wird im Hahnenkampf etwas sichtbar gemacht und differenziert dargestellt, das anderenfalls keinen Ausdruck fände. In diesem Wettkampf erfährt der Balinese völligen Triumph
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bzw. die vernichtende Niederlage und damit eine zentrale Dimension seiner Subjektivität. Selbst wenn man nicht jeder Deutung Geertz’ zustimmt, so hat sein Versuch, die gesellschaftliche und kulturelle Dimension des Spiels herauszuarbeiten, eine exemplarische Bedeutung. Für den Hahnenkampf wie für jedes andere Spiel gilt: Jede Inszenierung eines Spiels ist einmalig. Zwar finden Bezugnahmen auf vorherige Inszenierungen, auf gleiche oder ähnliche Spiele statt, doch unterscheidet sich jede Inszenierung durch die an ihr beteiligten Spieler, Orte und Zeitverläufe. Spiele sind repetitiv, doch niemals bloße Wiederholungen. Jedes Mal inszenieren sie die Welt neu und anders. Dabei entsteht niemals dasselbe; oft bilden sich Ähnlichkeiten und Kontingenzen oder aber komplementäre Handlungen und Situationen heraus. Wie Bateson gezeigt hat, kommt es angesichts der Unterschiede zwischen Personen oder Positionen, also angesichts einer Schismogenese, entweder zu Prozessen der Angleichung der unterschiedlichen Positionen oder aber zu Prozessen der Komplementarität (Bateson 1981). In beiden Fällen handelt es sich um einen mimetischen Bezug auf den durch Unterschiedlichkeit charakterisierten Anderen, der entweder zur Anähnlichung oder zur Verstärkung der Differenz und damit zu einem komplementären Verhältnis führt. Spiele werden inszeniert und aufgeführt. Ihre Aufführungen sind performativ. Als solche sind sie körpergebunden, expressiv und ostentativ. In vielen Fällen sind sie eine Folge von Inszenierungen mentaler Bilder, die jedes Mal neu kontextualisiert werden und die die Möglichkeit bieten, innere Bilder in körperlichen Aufführungen zu manifestieren. Spiele werden erzeugt und machen etwas sichtbar. Sie ereignen sich. In ihnen werden Emotionen ausgedrückt und öffentlich gemacht. Viele Spiele haben eine demonstrative Seite. Sie bringen nicht nur etwas zur Darstellung, sie zielen darauf, dass das, was sie ausdrücken, auch gesehen wird. Dazu benötigen sie Gestaltungsfreiraum, der Unterschiede in Inszenierung und Aufführung möglich macht. Mit der ostentativen Seite von Spielen geht auch ihr expressiver Charakter einher. In einer Zeit relativ geordneter Lebensverhältnisse drohen Langeweile und Spannungslosigkeit des Alltagslebens. Angesichts dieser Situation gewinnt die Erregungs- und Ausdruckskomponente vieler Spiele eine neue Bedeutung. Im Spiel spüren sich die Individuen, entstehen Emotionen und Leidenschaften. Elias und Dunning (1986) sprechen von einem Quest for Excitement. Zu den erstrebten Momenten gesteigerten Lebens führen Spiele aufgrund ihrer Körperlichkeit und ihrer damit verbundenen Performativität. Die Performativität von Spielen umfasst folgende Aspekte: Einmal gehört zu ihr der Übergang von den imaginären Vorstellungen zur Aufführung des Spiels und die damit verbundene Erzeugung einer Spielwelt,
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deren Protagonisten in ihren Bewegungen aisthetisch wahrgenommen werden können. Sodann umfasst die Performativität des Spiels den historischen und kulturellen Charakter der spielerischen Inszenierung und Aufführung, der Bezüge zu anderen Spielen aufweist und der prinzipiell verständlich wird, wenn Spieler oder Zuschauer wissen, was es bedeutet zu spielen. Ferner gehört auch die symbolische Seite dazu, die den Rahmen des Spiels festlegt. Schließlich umfasst die Performativität des Spiels die Erzeugung und den Gebrauch von Regeln und anderen Spielelementen. Nur im Spiel lässt sich bestimmen, was ein Spiel ist, und dies nicht durch eine Definition, sondern durch die handelnde Aufführung des Spiels, durch das Spielen des Spiels. Wittgenstein hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich Spiele nur in ihrem Gebrauch erschließen und Erläuterungen und Erklärungen nur Hilfsmittel sind. Spielen wird nur im Spiel gelernt. Zum Spiel bedarf es eines praktischen Wissens. Sprachliche Erläuterungen bieten nur unzulängliche Hilfen, spielen zu lernen. Das zum Spielen erforderliche praktische Wissen wird mimetisch erworben. Praktisches Spielwissen entsteht, wenn man sich mimetisch auf bestehende Spiele und Spielwelten bezieht, wenn man von diesen gleichsam einen Abdruck nimmt, diesen in seine Vorstellungswelt überführt und diese Vorstellungsbilder in die erforderlichen Spielbewegungen transferiert. In diesem Prozess ist eine kontinuierliche wechselseitige Abgleichung zwischen inneren Bildern, eigener Körperbewegung und äußeren Spielszenen und Spielbewegungen erforderlich. In diesem für mimetische Bewegungen charakteristischen Hin und Her entsteht das erforderliche praktische Spielwissen. Dieses ist ein Körperwissen, das zu seiner Transferierung in Inszenierungen und Aufführungen der mit dem Körper verbundenen Bewegungsfantasie bedarf. Mit dem mimetischen Erwerb eines praktischen Spielwissens findet eine Ausweitung eines Menschen im Hinblick auf den Erwerb neuer Kompetenzen statt. Indem der Spielende mit seinem Körper, seiner Sprache, seinen Gefühlen seine Version des Spiels inszeniert und darstellt, macht er sein individuelles Engagement zu einer öffentlichen, für andere sichtbaren Aufführung. Im Spiel kehrt sich der Mensch nach außen und erweitert sein Handlungsrepertoire. Es kommt zu einer Ausweitung seiner Empfindungen, Fähigkeiten und Möglichkeiten. Die organisierenden Prinzipien des Spiels werden zu Gewissheiten, indem sie „einerseits als subjektive, innere Zustände zur unerschütterlichen Grundlage des Spiels gemacht, andererseits in der Spielaktivität veräußerlicht, objektiviert werden. Die Modelle, mit deren Hilfe unser Inneres strukturiert wird, weisen analoge organisierende Prinzipien wie die soziale Praxis auf. Spiele sind in dieser Perspektive nicht nur Mimesis der sozialen Welt, sondern auch der inneren Verarbeitung der Welt. Sie sind ein Medium zwischen dem Inneren und der
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Sprache über das Innere. Man kann das Zeigen des Spiels nicht explizit formulieren; daher kann es durch Sprache nicht ersetzt werden. Man kann es nur auf wiederum andere Weise zeigen, in einem weiteren Spiel“ (Gebauer/Wulf 1998b, S. 205). Im Spiel wird der Einzelne Teil eines umfangreichen Netzes von Beziehungen. Sein spielerisches Handeln verbindet ihn mit anderen Spielern, mit Zuschauern, mit früheren und zukünftigen Spielen. Es ist auf die materiellen Bedingungen des Spiels bezogen, auf konkrete Räume und Zeitverläufe. In Bezug auf diese erfolgt sein praktisches Handeln, die Inszenierung und Aufführung des Spiels. Neben der Erfahrungsgewissheit entstehen im Spiel auch die „Ordnungen und Strukturierungen der Erfahrungen selbst, insbesondere räumliche, zeitliche und soziale Gliederungen. Dies sind praktische Interpretationen der Welt, die dem sozialen Handeln ein sicheres Fundament geben“ (ebd., S. 207). Spielen ist eine Form sozialen Handelns, das auf praktischem Wissen beruht und das sich in einem Rahmen vollzieht, der seinen Als-ob-Charakter konstituiert, auf dessen Struktur die Organisationsprinzipien der Gesellschaft Einfluss haben, die wiederum in mimetischen Prozessen im Spiel gelernt, geübt und inkorporiert werden. Der agonale Charakter, die Kombination von Einzelleistung und kollektiver Leistung, der Zwang zu Höchstleistung und Verausgabung, wie sie z. B. im Fußball sichtbar werden, entsprechen in vieler Hinsicht den Werten und Organisationsprinzipien der kapitalistisch organisierten bürgerlichen Gesellschaft. In jedem Fußballspiel werden diese Werte und Organisationsprinzipien inszeniert, aufgeführt, in mimetischen Prozessen gelernt, geübt und bestätigt. Da Arbeit zum zentralen Organisationsprinzip der Gesellschaft geworden ist, organisieren ihre Prinzipien nach Bateson das Verhalten der Spieler und Zuschauer. Wie die Sprache wird das Spiel zu einem Medium, in dem die Prinzipien der Arbeit, der Arbeitsteilung und der Gemeinschaft inszeniert, aufgeführt und bestätigt werden (Gebauer 1996). Mit dem Entstehen eines praktischen Wissens, das Kinder und Jugendliche mitzuspielen befähigt, werden diese Werte und Organisationsprinzipien mit erworben und in mimetischen Akten inkorporiert. Dabei entstehen TransweltElemente, die sich in der sozialen Welt und in vielen durch Familienähnlichkeit verbundenen Spielen finden. Diese wiederholt in verschiedenen Spielen, Ritualen und anderen sozialen Handlungen erworbenen Elemente schreiben sich in den sie aktiv verarbeitenden Körper und damit in das Körpergedächtnis ein. Zu den vielen Transwelt-Elementen, die in Spielen gelernt werden, gehören auch die in der Gesellschaft verbreiteten Gender-Rollen. Sie lassen sich im unterschiedlichen Spielverhalten von Jungen und Mädchen feststellen. Dabei zeigt sich: „Jungenspiele sind vorwiegend weiträumig, öffentlich, körperbetont,
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hierarchisch und wettkampfmäßig organisiert. Mädchenspiele sind dagegen weniger raumgreifend, eher privat und kooperativ, auf Beziehungen und Intimität gerichtet“ (Gebauer/Wulf 1998b, S. 210; vgl. Thorne 1993; Tervooren 2001). Eine solche Differenz mag man aus gesellschafts- und genderpolitischen Gründen ablehnen. Doch ist sie zunächst einmal gesellschaftlich und kulturell verankert und wird immer wieder in Spielen und Ritualen reproduziert und verfestigt, selbst dann, wenn die Häufigkeit der Abweichung von diesen Stereotypen zugenommen hat. So unterschiedlich Spiele von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Kultur zu Kultur sind und so sehr sie sich in historischer Hinsicht unterscheiden, in anthropologischer Hinsicht sind sie für Gesellschaften, Gemeinschaften und Individuen unhintergehbar. Das gilt für Sprachspiele, freie Spiele, Regelspiele in gleicher Weise. Darüber hinaus enthalten viele menschliche Handlungen, seien es Liturgien, Zeremonien, Feiern oder Interaktionsrituale, ludische Komponenten. Spiele stellen Kontinuität zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft her und führen aufgrund ihres innovativen Potentials zu sozialem und individuellem Wandel. In Spielen manifestieren sich Fantasie und Einbildungskraft; in ihnen kommt Unsichtbares zur Erscheinung und wird öffentlich, oft in ostentativer Geste. Spiele sind paradox; sie inszenieren Als-ob-Handlungen und erzeugen im Spielkörper eine Verdopplung des Körpers. In Spielen vollzieht sich eine Ausweitung in andere Welten; fremde Horizonte und Strukturen werden sichtbar. Neue Erfahrungen werden gemacht, bei denen Zufall und Kontingenz eine wichtige Rolle spielen. Um spielen zu können, bedarf es eines Spielwissens. Dieses ist kein theoretisches, sondern ein körperliches, performatives, praktisches Wissen, das in mimetischen Prozessen erworben, erinnert und gestaltet wird.
Anthropologie des Tanzes
E INLEITUNG Tänze gehören zu den wichtigsten Darstellungs- und Ausdrucksformen der Menschen. In ihnen wird kulturelle Identität ausgedrückt und das Selbst- und Weltverhältnis der Menschen dargestellt. Tänze lassen sich als „Fenster“ in eine Kultur begreifen, die es möglich machen, deren Identität und Dynamiken zu begreifen. Tänze sind produktiv; sie schaffen einen eigenen Bereich kultureller Praxis, in dem sich viele Merkmale verdichten (vgl. Jung 1977; Sorell 1983; Baxmann 1991; Brandstetter 1995; Klein/Friedrich 2011). Sie sind Teil jenes Kulturerbes der Menschheit, das praktisch überliefert wird und insofern nur schwer greifbar und erschließbar ist. Sie werden von der UNESCO als „immaterielles“ (intangible) kulturelles Erbe bezeichnet und sollen hier auch unter diesem Gesichtspunkt untersucht werden. Im Zentrum des Tanzes steht der Körper. Tänze zeigen sich bewegende Körper und führen Körperlichkeit und ihre historischen und kulturellen Bestimmungen auf. Aus Körperbewegungen und -rhythmen entstehen die Formen und Figuren der Tänze. Damit unterliegen sie den Gesetzen von Raum und Zeit, in denen die Bewegungen des Körpers verschränkt werden. Aus den Tanzbewegungen, die sich im Raum vollziehen und sich im Verlauf der Zeit konstituieren, erwachsen spezifische Tanzfigurationen. Viele Tänze vollziehen sich nicht nur im Medium des Körpers und der Bewegung in Raum und Zeit, sondern auch im Medium von Klängen, die sehr unterschiedlich sein können. Tänze verändern das Verhältnis zur Welt; sie lassen sich nur unzureichend in Sprache fassen, wenngleich diese dazu beiträgt, ihre Bedeutung besser zu begreifen. Sie entstehen aus den Bewegungen des Körpers, den Rhythmen und Klängen, nicht aus der Sprache. Dennoch ist die Frage, wie sich Tänze beschreiben und interpretieren lassen, für deren Verständnis und Erforschung von zentraler Bedeutung.
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Tänze haben synästhetische, von den verschiedenen Sinnen hervorgebrachte Wirkungen. Besonders wichtig sind dafür der Bewegungs-, Hör-, Tast- und Sehsinn. Sie spielen für die Bildung von Gemeinschaften eine zentrale Rolle. Durch Synästhesie und Performativität des Tanzes bildet sich zwischen Menschen, die miteinander tanzen, eine emotionale und soziale Gemeinsamkeit, aus der auch ein Beitrag zur Bildung von Gemeinschaft entstehen kann. Tänze haben einen synästhetischen und einen performativen Überschuss, die zu ihrer sozialen Dynamik und Bedeutung beitragen. Sie haben einen historisch-kulturellen Charakter, der sich einer historisch-anthropologischen Betrachtungsweise erschließt; in ihr werden die Historizität und Kulturalität der Tänze auf die historischkulturelle Situation ihrer Betrachter bezogen. Die Berücksichtigung dieser doppelten Historizität und Kulturalität (vgl. Wulf/Kamper 2002; Wulf 2009) ist für eine anthropologisch orientierte Erforschung von Tänzen konstitutiv. Tänze sind körperlich, performativ, expressiv, symbolisch, regelhaft, nichtinstrumentell; sie sind repetitiv, homogen, ludisch und öffentlich; sie bilden Muster, in denen kollektiv geteiltes Wissen und kollektiv geteilte Tanzpraxen inszeniert und aufgeführt werden und in denen eine Selbstdarstellung und Selbstinterpretation einer gemeinschaftlichen Ordnung stattfindet. Sie haben einen Anfang und ein Ende und damit eine zeitliche Kommunikations- und Interaktionsstruktur. Sie finden in sozialen Räumen statt, die sie gestalten. Tänze haben einen herausgehobenen Charakter, sind ostentativ und werden durch ihre jeweilige Rahmung bestimmt (Dinkla/Leeker 2002; Klein/Zipprich 2002; Klinge/Leeker 2003).
ANTHROPOLOGISCHE S TRUKTURMERKMALE Betrachtet man Tänze unter einer anthropologischen Perspektive, so lassen sich einige Strukturmerkmale unterscheiden, die wichtige Dimensionen des Tanzes charakterisieren. Raum und Zeit im Tanz. Tänze sind an die Räumlichkeit und Zeitlichkeit des menschlichen Körpers gebunden und entfalten ihre Figurationen im Raum und in der Zeit. Sie werden verbunden durch Bewegungen, in denen sich der menschliche Körper allein oder mit anderen Körpern in zeitlichen Sequenzierungen im Raum bewegt. In diesem Prozess spielen der Kontext und die Rahmung des Raums und der Zeit eine wichtige Rolle. In diese gehen historische und kulturelle, kollektive und individuelle Elemente ein, die die Darstellung, den Ausdruck und die Atmosphäre des Tanzes bestimmen. Die Bildszenarien, die virtuellen Räume und die mehrdimensionalen Zeitordnungen des zeitgenössischen Avant-
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garde-Tanzes schaffen Bedingungen von Raum und Zeit, welche die Potentiale des Tanzes erweitern. Tanz und Bewegung. In den Bewegungen des Tanzes macht der Körper Erfahrungen mit sich, mit der Musik und den Bewegungen der Mittänzer. In seinen Bewegungen entwickelt er die Fähigkeit des Entwurfs, er formt sich und wird zu einem Instrument, das eingesetzt wird, ohne im funktionalen Gebrauch aufzugehen. Die Bewegungen des Tanzes enthalten einen „Überschuss“ in Darstellung und Ausdruck. In ihnen werden Figurationen imaginiert und handelnd eingeholt. Die Bewegungen des Tanzes formen den Körper, der sie hervorbringt; sie erzeugen Imaginationen und realisieren diese in wiederholten Inszenierungen und Aufführungen. Sie sind regelmäßig und Ausdruck von Ordnung. In den Bewegungen des Tanzes zeigt sich die Gelehrigkeit des Körpers; sie stellt sich in Übungen und Wiederholungen dar. In den Bewegungen des Tanzes entsteht ein implizites Wissen, dessen Spektrum sehr umfangreich ist. Je nach Tanz sind seine Bewegungen mehr oder weniger in soziale Machtstrukturen eingebettet oder wie bei der zeitgenössischen Avantgarde von diesen weitgehend freigesetzt. Tanz und Gemeinschaft. Viele Gemeinschaften sind ohne Tänze undenkbar. Über den symbolischen Gehalt der Interaktionsformen und vor allem über die performativen Prozesse der Interaktion und Bedeutungsgenerierung tragen Tänze zur Herausbildung von Gemeinschaft bei. Die das Tanzen ermöglichenden Techniken dienen der Wiederholbarkeit der notwendigen Vollzüge, ihrer Steuerbarkeit und Kontrollierbarkeit. Informelle, um Tänze herum gebildete Gemeinschaften zeichnen sich nicht nur durch den Raum eines kollektiv geteilten symbolischen Wissens aus, sondern vor allem durch die entsprechenden Interaktionsformen der Tänze, in denen und mit denen sie dieses Wissen inszenieren. Diese Inszenierungen können als Versuch verstanden werden, eine Selbstdarstellung und Reproduktion der Gemeinschaft und ihrer Integrität zu gewährleisten. Tänze erzeugen Gemeinschaften emotional, symbolisch und performativ; sie sind inszenatorisch und expressiv, ohne dass sich eine vollständige Übereinkunft über die Mehrdeutigkeit der Symbolik der Tänze erzielen ließe. Tanz und Ordnung. Im Tanz vollzieht sich eine rhythmische Dynamisierung von Bewegungen und ein ludischer Umgang mit der Hervorbringung, Veränderung und Auflösung von Ordnungen. Als interaktive Handlungsmuster bilden Tänze eine spezifische Ordnung und Regelhaftigkeit heraus. Zwischen den Tänzen und den Strukturen ihrer Entstehungskultur lassen sich Entsprechungen und Ähnlichkeiten identifizieren und analysieren. Ein Vergleich der Tänze am französischen Hof und der bürgerlichen Gesellschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts mit den jeweiligen Gesellschaftsstrukturen macht das Gemeinte deutlich. Tänze können zu Quellen für die Analyse gesellschaftlicher Ordnungs- und
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Machtverhältnisse werden, und eine Analyse der gesellschaftlichen Ordnung kann Hinweise zum Verständnis der Strukturen von Tänzen geben (vgl. zur Lippe 1974; Braun/Gugerli 1993). Im Tanz vollzieht sich eine rhythmische Dynamisierung von Bewegungen und ein ludischer Umgang mit der Hervorbringung, Veränderung und Auflösung von Ordnungen findet statt. Tanz und Identifikation. Mimetische Prozesse führen zur Identifikation mit den Tanzenden und den Tänzen und damit auch zur Identifikation mit den in den Tänzen impliziten Körperbewegungen und Körperbildern, den von ihnen ausgelösten Gefühlen und den ihnen inhärenten Werten und Normen. Nicht selten sind damit auch Prozesse der Inklusion und Exklusion verbunden. Über die Identifikation mit bestimmten Tänzen wird auch eine Identifikation mit Lebensstilen, Milieus und Gruppen erzeugt und beim Tanzen verkörpert. Tanz und Erinnerung. Tanzen schafft Erinnerungen. Zu diesen gehören Bewegungen, Rhythmen, Klänge. An diesen machen sich fest: Atmosphären, erotische Erlebnisse, Gefühle des „Fließens“, des Rauschs und manchmal sogar der Ekstase, Erinnerungen an Intensitäten, an Rhythmen, in denen man sich und die anderen spürt. Es sind synästhetische Erinnerungen, die mehrere Sinne einschließen. Manche sind kollektiv geteilte Erinnerungen, andere sind höchst individuell. Einige Erinnerungen sind primär an mentale Bilder, andere an Klänge, wieder andere an Bewegungen gebunden. Tanz als Differenzbearbeitung. In vielen Tänzen werden Differenzen bearbeitet, die unter anderem aus Geschlechts-, Alters- und ethnischen Unterschieden resultieren. Indem verschiedene Menschen gemeinsam tanzen, stellen sie die ansonsten zwischen ihnen bestehenden Unterschiede in den Hintergrund. Ihre Tanzbewegungen gelingen nur, wenn sie sich aufeinander beziehen und kooperieren. Sie bearbeiten die sie trennenden Differenzen, indem sie sich im Tanz mimetisch zueinander verhalten und sich einander anähneln. Unter der momentanen Zurückstellung von Differenzen erzeugen sie in rhythmischen Bewegungen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Im Tanz, in dem gemeinschaftliche Gefühle erzeugt, bestätigt und verändert werden, rücken ritualisierte Inszenierungsformen, körperliche Handlungs- und Spielpraktiken sowie mimetische Zirkulationsformen in den Mittelpunkt. Unter einer performativen Gemeinschaft der Tanzenden wird deshalb ein Handlungs- und Erfahrungsraum verstanden, der sich durch inszenatorische, mimetische und ludische Elemente auszeichnet. Tanz und Transzendenz. In vielen Kulturen haben Tänze einen Bezug zur kosmischen Ordnung, zu Göttern, Geistern, Toten und Ungeborenen. Mit Hilfe von Tänzen wird versucht, Einfluss auf die Mächte des Jenseits zu gewinnen. In vielen Fällen sind diese Tänze Teil von Opferritualen, mit denen Götter und
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Geister wohlgesonnen gestimmt werden sollen. Meistens geschieht dies mit magischen Tänzen, in denen sich die Menschen mit Hilfe von Masken und anderen „Requisiten“ übernatürliche Kräfte zuschreiben, mit denen sie dann die bösen Götter und Geister vertreiben und bannen können. Nicht selten mobilisieren diese Tänze durch Rausch und Ekstase „übermenschliche“ Kräfte, mit denen die Bedrohung und Gefährdung der Welt abgewehrt werden soll. In diesen Tänzen etablieren die Menschen mit Hilfe von Exklusion und Inklusion Ordnung und Macht, durch die sie auch die kosmische Ordnung zu sichern trachten. Tanz und praktisches Wissen. Wer tanzt, lernt viel mehr als nur zu tanzen. Im Tanzen entwickelt sich eine weit über den Tanz hinaus reichende, auch für andere Lebenszusammenhänge wichtige körperliche Kompetenz. Mit ihr einher geht eine Sensibilität für Bewegungen und Rhythmen, für Raum und Zeit, für Klänge und Atmosphären. Im Tanz entsteht ein praktisches, körperbasiertes Wissen, das in mimetischen Prozessen erworben wird.9 In diesen nehmen die Handelnden Bilder, Rhythmen, Schemata, Bewegungen in ihre Vorstellungswelt auf. Ihre mimetische Aneignung führt bei den Handelnden zu einem praktischen Wissen, das auf andere Situationen übertragbar ist. Das praktische Wissen wird in der Wiederholung geübt, entwickelt und verändert. Das so inkorporierte Wissen hat einen historischen und kulturellen Charakter und ist als solches für Veränderungen offen.10 Tanz und Ästhetik. Auf Grund ihres Darstellungs- und Ausdruckscharakters sowie ihrer Performativität haben alle Tänze eine ästhetische Dimension, die deutlich macht, dass Tänze menschliche Ausdrucksformen sind, die sie zu wertvollen Bestandteilen des kulturellen Erbes der Menschheit machen, die durch nichts anderes ersetzbar sind. Ästhetische Dimensionen haben sowohl die Tänze am Hof Ludwig XIV. und der Avantgarde der zeitgenössischen Tanzkunst als auch die magischen Tänze der Götter- und Geisterbeschwörung, die Volks- und Gesellschaftstänze des 20. Jahrhunderts und die zeitgenössischen Tanzformen der Jugend. Der kulturellen Vielfalt der Tänze entsprechen unterschiedliche implizite Ästhetiken, die zwar durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten, vor allem aber durch gravierende Unterschiede gekennzeichnet sind.
9 Zum Zusammenhang von Inkorporierung und praktischem Wissen vgl. u. a. Bourdieu 1987. 10 Zum kreativen Potential praktischen Wissens vgl. ausführlich Wulf 2009; Boetsch/ Wulf 2005.
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AUSBLICK Wenn Tänze Darstellungsformen von Kulturen sind, dann spiegelt sich in ihnen auch die kulturelle Vielfalt wider, die trotz der vereinheitlichenden Tendenzen der Globalisierung das kulturelle Leben in der Welt bestimmt. Geht man davon aus, dass es für die Weiterentwicklung des menschlichen Zusammenlebens mehr denn je erforderlich ist, mit kultureller Diversität umgehen zu können, dann bieten Tänze als Praktiken des immateriellen kulturellen Erbes Möglichkeiten, sich gegenüber dem Fremden zu öffnen und Erfahrungen im Umgang mit kultureller Vielfalt zu machen. Auch für den Bereich der Bildung liegen hier Herausforderungen und Chancen (vgl. Featherstone 1995; Wulf 1997, 2006a). Tänze sind Darstellungs- und Ausdrucksformen der Menschen, die etwas erfahrbar machen, was ohne sie nicht erfahrbar wäre. In vielen Tänzen experimentieren die Menschen mit sich, mit ihrer Geschichte und ihrer Kultur und versuchen etwas auszudrücken, was sich anders nicht inszenieren und aufführen lässt. Daher haben viele Tänze, vor allem aus dem Bereich der Tanzkunst, einen experimentellen Anspruch, der die Tänzer dazu anregt, etwas mit den Mitteln der Inszenierung und Aufführung des Körpers zu erfinden und zu erforschen, was zum Wissen vom Menschen beiträgt. Nähert man sich diesem Wissen heute von Seiten der Anthropologie, so bieten sich mehrere Paradigmen anthropologischer Forschung an, an denen sich eine anthropologisch orientierte Tanzforschung orientieren kann. Dabei handelt es sich um die Evolution und Hominisation des Homo sapiens, die Philosophische Anthropologie, wie sie in Deutschland entwickelt wurde, die den prinzipiell offenen Charakter menschlicher Geschichte und die Möglichkeiten menschlicher Perfektibilität betont; die Historische Anthropologie mit ihren Anfängen in der „Schule der Annales“, die den historischen Charakter menschlicher Kultur und Fragen der Erforschung von Mentalitäten ins Zentrum stellt; die angloamerikanische Kulturanthropologie oder Ethnologie mit ihrem Interesse an kultureller Vielfalt und Heterogenität und die Bemühungen um die Entwicklung einer historisch-kulturellen Anthropologie (vgl. Wulf 2013, 2009, 2010a, Wulf/Zirfas 2014). Auf der Basis dieser Paradigmen steht die Entwicklung einer historisch-anthropologischen Tanzforschung an, die nicht auf bestimmte Kulturen und Epochen begrenzt ist und die in der Reflexion der eigenen Geschichtlichkeit und Kulturalität in der Lage ist, den Eurozentrismus großer Teile der Humanwissenschaften und der Ästhetik zu überwinden. Dazu bedarf es einer transdisziplinären und transkulturellen Orientierung sowie einer reflexiven Selbstkritik.
Die Unhintergehbarkeit der Rituale
E INFÜHRUNG Rituale gehören zu den konstitutiven Kräften des Imaginären. Sie inszenieren Soziales, bringen es zur Darstellung und spielen in Bildungs- und Lernprozessen eine wichtige Rolle. Als Kontinuität und Veränderung erzeugende Prozesse können sie nach Intention, Inhalt und Kontext sehr unterschiedlich sein. Aufgrund ihrer Körperlichkeit und ihrer Eingebundenheit in historische und kulturelle Zusammenhänge haben sie einen nicht einholbaren Bedeutungsüberschuss. Neben ihrer auf Einordnung, Anpassung oder sogar Unterdrückung zielenden Seite haben Rituale und Ritualisierungen eine oft weniger wahrgenommene produktive Seite, die Gemeinschaften erzeugt und es ihnen ermöglicht, ihre Probleme und Konflikte zu bearbeiten. Rituale sind sinnlich erfahrbare soziale Inszenierungen, in denen Beziehungen und Sachverhalte zur Darstellung gebracht werden und die ihrerseits auf diese einwirken, sie gestalten und verändern. Wie Tänze sind sie als kulturelle Aufführungen auch körperlich, performativ, expressiv, symbolisch, regelhaft, effizient; sie sind repetitiv, homogen, liminoid, öffentlich und operational; sie erzeugen Arrangements des Sozialen, die als Bilder sozialer Beziehungen wahrgenommen werden. Als Erinnerungsbilder schreiben sie sich in das individuelle und kollektive Imaginäre ein und gestalten dieses durch variierende Wiederholungen. Rituale sind institutionelle Muster, in denen kollektiv geteiltes Wissen und kollektiv geteilte Handlungspraxen inszeniert werden und eine Selbstdarstellung und Selbstinterpretation der institutionellen bzw. gemeinschaftlichen Ordnung bestätigt wird. Ihre szenischen Arrangements enthalten Momente der Reproduktion, Konstruktion und Innovation (Willems/ Jurga 1998). Rituelle Handlungen haben einen Anfang und ein Ende und damit eine zeitliche Struktur. Sie finden in von ihnen gestalteten sozialen Räumen statt. Rituelle Prozesse verkörpern und konkretisieren Institutionen und Organisationen. Sie haben einen herausgehobenen Charakter. Sie sind ostentativ und werden
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durch ihre jeweilige Rahmung bestimmt. In ihnen werden Übergänge zwischen sozialen Situationen und Institutionen gestaltet und Differenzen zwischen Menschen und Situationen bearbeitet. Rituale sind in Machtbeziehungen eingebunden und strukturieren soziale Wirklichkeit; sie schaffen und verändern soziale Ordnungen und Hierarchien. Ihre Inszenierung und Aufführung erfordert rituelles Wissen. Dieses ist ein praktisches Wissen (Wulf 2006b), das in der Beteiligung an rituellen Situationen mimetisch erworben wird (Wulf 2005b). Als praktisches Wissen ist es sinnliches Wissen, dessen mimetischer Charakter seine performative Macht sichert. Da in Ritualen die Inszenierung und Aufführung des menschlichen Körpers eine zentrale Rolle spielt, gehören sie zu den wirksamsten Formen menschlicher Kommunikation. Mit ihrer Hilfe werden Gemeinschaften erzeugt und Übergänge in und zwischen ihnen organisiert. Im Unterschied zu rein sprachlichen Formen der Kommunikation sind Rituale soziale Arrangements, in denen im gemeinsamen sozialen Handeln und in seiner Interpretation Ordnungen und Hierarchien geschaffen werden. Das Spektrum ritueller Handlungen umfasst Liturgien, Zeremonien, Feiern, Ritualisierungen und Konventionen; es reicht von den religiösen Ritualen, den Übergängen bei Eheschließung, Geburt und Tod bis hin zu den Interaktionsritualen des Alltags. Da Rituale als komplexe soziale Phänomene Gegenstand vieler wissenschaftlicher Disziplinen sind, gibt es in der internationalen Ritualforschung keine allgemein akzeptierte Theorie oder Definition des Rituals (Wulf/Zirfas 2003, 2004a). Zu unterschiedlich sind die Positionen in den verschiedenen Wissenschaften. Je nach Gegenstandsbereich, Disziplin und methodischem Ansatz werden unterschiedliche Aspekte betont. Doch besteht heute weitgehend Übereinstimmung darüber, dass es nicht sinnvoll ist, die Fülle und den Reichtum der Perspektiven zugunsten einzelner Theorien zu reduzieren. Vielmehr gilt es, die Vielfalt der Gesichtspunkte zu thematisieren und dadurch die Komplexität der Rituale und ihrer Erforschung sichtbar zu machen. Im Zusammenhang mit der wachsenden Bedeutung von Individualisierung und Selbstbestimmung in den modernen Gesellschaften begegnet man manchmal der Auffassung, dass Rituale heute überflüssig sind und durch andere soziale Praktiken ersetzt werden können. Eine solche Auffassung ist nicht einmal bei der Anwendung eines sehr traditionellen Ritualbegriffs haltbar. Nach wie vor ist gemeinschaftliches Leben ohne Rituale und Ritualisierungen nicht möglich. Denn jeder Wandel bzw. jede Reform von Institutionen und Organisationen bedarf auch einer Veränderung der Rituale. Rituale sind historische und kulturelle Produkte, in deren Wahrnehmung sich die Kulturalität der sozialen Phänomene und die Geschichtlichkeit der Ritualforschung überlagern (Wulf 2001, 2009).
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Rituale sind aber auch Konstruktionen der Forschung, in denen soziale Praktiken als Rituale gedacht und analysiert werden. Rituale spielen in allen Feldern der Sozialisation und Erziehung eine zentrale Rolle und tragen auch bei zur Erzeugung des kulturellen Imaginären. Besonders wichtig sind sie in Familie, Schule, Jugendkultur und Medien (Wulf/Althans u. a. 2001, 2004, 2007, 2011). So ist kein Familienleben ohne Rituale und Ritualisierungen möglich. Zu ihnen gehören z. B. die Rituale des Essens, des Weihnachtsfests, der Kindergeburtstage, der Kommunion oder der Konfirmation und der Urlaubsreisen. Auch die Schule ist eine rituelle Veranstaltung, in der Lehrer über eine professionelle rituelle Kompetenz verfügen müssen, ohne die sie ihre Aufgaben nicht angemessen erfüllen können. In der Schule spielen Rituale und Ritualisierungen bei der Organisation von Unterricht eine wichtige Rolle. Sie schaffen Rahmenbedingungen für Lernprozesse, ohne die institutionalisiertes Lernen nicht möglich ist. Darüber hinaus sind sie für die Gestaltung z. B. der Einschulungs- und Ausschulungsrituale, der Feier- und Festrituale in der Weihnachtszeit und bei den Sommerfesten und damit für die Erzeugung einer Schulund Klassenkultur wichtig. Auch in der Jugendkultur kommt Ritualen z. B. bei der Inklusion und Exklusion von Adoleszenten in Peergroups, beim Lernen im Breakdance und auf LAN-Partys (s. u.) Bedeutung zu. Für Bildungs- und Lernprozesse im Zusammenhang mit den elektronischen Medien sind Fernsehen und Computer besonders wichtig. Für die Herausbildung eines ihre unterschiedlichen kulturellen Hintergründe transzendierenden Imaginären spielen die Rituale des Fernsehprogramms und ihre Verarbeitung durch Kinder und Jugendliche eine wichtige Rolle (Bausch 2006). Auch Online-Communities von Adoleszenten entstehen in Folge neuer Rituale und erfordern ein entsprechend neues rituelles Wissen, ohne das Kinder und Jugendliche in diesen Gemeinschaften nicht kompetent handeln können. Bevor die Bedeutung von Ritualen in Erziehung und Sozialisation weiter untersucht wird, soll zunächst ein Überblick über wichtige Positionen in der Geschichte der Ritualforschung und über die Rolle von Ritualen in der modernen Kultur gegeben werden.
H ISTORISCHE P ERSPEKTIVEN In historischer Hinsicht lassen sich in der internationalen Ritualforschung vier Positionen unterscheiden, an denen deutlich wird, wie sehr die jeweiligen Voraussetzungen und Grundannahmen die Ritualforschung bestimmen. Bei der ersten steht die Erforschung von Ritualen im Zusammenhang mit Religion, Mythos und Kultur im Mittelpunkt (James Frazer 1998; Rudolf Otto 1979; Mir-
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cea Eliade 1998). Bei der zweiten dienen Rituale dazu, Strukturen und Werte der Gesellschaft zu analysieren. Hier wird der Zusammenhang zwischen Ritualen und Gesellschaftsstruktur herausgearbeitet (Émile Durkheim 1994; Arnold van Gennep 1986; Victor Turner 2000). Beim dritten Schwerpunkt werden Rituale als Text gelesen; Ziel ist die Entschlüsselung der kulturellen und sozialen Dynamik der Gesellschaft sowie die Untersuchung der Bedeutung ritueller Praxen für kulturelle Symbolisierungen und soziale Kommunikation (Clifford Geertz 1973; Marshall Sahlins 1981). Hier setzen viele neuere Forschungen zur Praxis von Ritualen und Ritualisierungen an (Catherine Bell 1992; Ronald Grimes 1995; Victor Turner 1995), die bereits den nächsten Schwerpunkt vorbereiten. Dieser vierte Schwerpunkt betont vor allem die praktische und die inszenatorische und performative Seite der Rituale; im Mittelpunkt dieser Betrachtungsweise stehen die Formen rituellen Handelns, die es Gemeinschaften ermöglichen, sich zu generieren, zu restituieren und ihre Differenzen zu bearbeiten (Stanley Tambiah 1979; Richard Schechner 1977; Pierre Bourdieu 1976; Christoph Wulf 2001, 2009). Weitere Differenzierungen des Feldes der internationalen Ritualforschung bieten sich an, auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann (Kreinath/Snoek/Stausberg 2006).
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In der gegenwärtigen politischen Situation, die von Diskussionen über den Zerfall des Sozialen, den Verlust von Werten und der Suche nach einer kulturellen Identität geprägt ist, gewinnen Rituale und Ritualisierungen eine wachsende Bedeutung. Lange wurden Rituale überwiegend unter dem Gesichtspunkt der Stereotypie, Rigidität und Gewalt thematisiert. Nun sollen sie eine Brückenfunktion zwischen den Individuen, den Gemeinschaften und den Kulturen übernehmen. Rituale erscheinen heute eher als Formen der Erzeugung sozialer Kohärenz, die durch ihren ethischen und ästhetischen Gehalt in Zeiten der Unübersichtlichkeit Sicherheit gewähren sollen. Rituale versprechen eine Kompensation der mit der Moderne verbundenen Verlusterfahrungen von Gemeinschaftlichkeit, von Identität und Authentischem, von Ordnung und Stabilität, die mit den Tendenzen zum Individualismus, den Abstraktions- und Virtualisierungserscheinungen, den Erosionen sozialer und kultureller Systeme verbunden sind (Soeffner 1992). Für die Entstehung und Praxis von Religion, Gesellschaft und Gemeinschaft, Politik und Wirtschaft, Kunst und Kultur, Erziehung und Bildung sind Rituale unerlässlich. Mit ihrer Hilfe werden die Welt und die menschlichen Verhältnisse
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geordnet und interpretiert; in ihnen werden sie erlebt und konstruiert. Rituelle Handlungen erzeugen einen Zusammenhang zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft; sie ermöglichen Kontinuität und Veränderung, Struktur und Gemeinschaft sowie Erfahrungen des Übergangs und der Transzendenz. Rituelle Aufführungen unterscheiden sich je nach sozialem Feld, Institution oder Organisation. Die oben erwähnte Unterscheidung zwischen Konvention, Ritualisierung, Zeremonie, Liturgie, Fest macht deutlich, dass es sich um unterschiedliche rituelle Aufführungen bzw. Praxen handelt, zwischen denen die Grenzen zwar fließend sind, die jedoch unterschiedliche Ordnungsansprüche erfüllen müssen, welche die jeweiligen kulturellen Praxen verändern. Entsprechendes gilt auch für folgende Typen von Ritualen: – Übergangsrituale (Geburt und Kindheit, Initiation und Adoleszenz, Ehe, Tod); – Rituale der Institution bzw. Amtseinführung (Übernahme neuer Aufgaben und Positionen); – jahreszeitlich bedingte Rituale (Weihnachten, Geburtstage, Erinnerungstage, Nationalfeiertage); – Rituale der Intensivierung (Feiern, Liebe, Sexualität); – Rituale der Rebellion (Friedens- und Ökobewegung, Jugendrituale); – Interaktionsrituale (Begrüßungen, Verabschiedungen, Konflikte). Bei diesen Ritualen handelt es sich um unterschiedliche kulturelle Aufführungen, deren jeweilige Bedingungen eine große Variabilität aufweisen, die die Qualität der kulturellen Aufführungen bestimmt (Grimes 1995). Auch hier gilt, dass die materiellen Voraussetzungen der Rituale erheblichen Einfluss auf ihre Aufführungen haben. Deutlich wird dies z. B. bei rituellen Festen wie Weihnachtsfeiern, Hochzeiten und Taufen. In vielen Fällen hängt der kulturelle Charakter ritueller Aufführungen vom symbolischen Kapital der rituell Handelnden ab. Über welches ökonomische, soziale und kulturelle Kapital verfügen die rituell Handelnden und wie kommt ihr Anteil daran in Ritualen szenisch zum Ausdruck? Zweifellos beeinflusst das symbolische Kapital der rituell Handelnden den Charakter ihrer kulturellen Aufführung. Viele Rituale haben sogar die Aufgabe, diese unterschiedlichen Bedingungen symbolischen Kapitals zum Ausdruck zu bringen. Sie dienen dazu, unterschiedliche Verfügungsmöglichkeiten über soziales und kulturelles Kapital im Ritual zur Darstellung zu bringen und Differenzen so zu bearbeiten, dass die sozialen bzw. kulturellen Hierarchien akzeptierbar sind. In rituellen Arrangements geschieht dies häufig dadurch, dass diese sich den Anschein geben, als
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seien sie natürlich und nicht historisch-gesellschaftlich erzeugt und damit veränderbar. Verdeckt werden diese Zusammenhänge durch die Magie vieler Rituale, die die an ihnen beteiligten Menschen an ihre Unveränderlichkeit und Angemessenheit glauben lässt und sie in der Illusion der Natürlichkeit festhält. Insofern Rituale Inszenierungen und Aufführungen von Körpern sind, haben sie meistens mehr soziales Gewicht als bloße Diskurse. Mit ihrer Körperlichkeit bringen die rituell Handelnden „mehr“ in die soziale Situation ein als lediglich sprachliche Kommunikation. Dieses „Mehr“ wurzelt in der Materialität des Körpers und der in dieser begründeten Existenz der Menschen, ihrer körperlichen Gegenwart und Verletzlichkeit. Mit der Inszenierung und Aufführung von Ritualen werden Differenzen bearbeitet und Gemeinsamkeiten geschaffen. Dies geschieht nicht nur sprachlich-kommunikativ, sondern auch körperlich-materiell. Menschen inszenieren sich, ihre Beziehungen zu anderen und schaffen das Soziale, indem sie es aufführen. In der Inszenierung und Aufführung des Sozialen erzeugen sie es. Sie schaffen Ordnungen; diese sind oftmals hierarchisch. In ihnen drücken sich Machtverhältnisse aus – zwischen den Angehörigen verschiedener Schichten, zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern. Indem diese Machtverhältnisse in körperlichen Arrangements aufgeführt und ausgedrückt werden, geben sie sich den Anschein, als seien sie natürlich und allgemein akzeptiert. Indem rituelle Arrangements zum „Mitspielen“ einladen, führen sie dazu, die sich in ihnen artikulierenden Ordnungen und Machtverhältnisse als gegeben zu akzeptieren. Wer die Einladung zum „Mitspielen“ in einer Gemeinschaft nicht annimmt, gliedert sich aus, wird ausgeschlossen und kann zum Sündenbock und damit zur Projektionsfläche für Negativität und Gewalt werden (Girard 1998).
D IE B ERLINER R ITUAL - UND G ESTENSTUDIE Rituale spielen in den modernen Gesellschaften eine größere Rolle als lange angenommen wurde. Von entscheidender Bedeutung sind sie jedoch in der Erziehung und Sozialisation. Dies verdeutlicht eine umfangreiche empirische Untersuchung zur Bedeutung von Ritualen und Ritualisierungen in den großen Erziehungs- und Sozialisationsfeldern Familie, Schule, Kinder- und Jugendkultur und Medien. In dieser Studie wird die Bedeutung von Ritualen und Ritualisierungen für die Entwicklung sozialer Kompetenz in Gemeinschaften (Wulf u. a. 2001), für Erziehung und Bildung (Wulf u. a. 2004) und für das Lernen von Kindern und Jugendlichen (Wulf u. a. 2007) fokussiert. Hinzu kommt die lange nicht angemessen begriffene Bedeutung von Gesten (Wulf/Althans u. a. 2011).
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Diese Untersuchung konzentriert sich auf Kinder und Jugendliche aus einer Grundschule in einem Berliner Innenstadtbezirk. Hier begegnet man mit dreihundert Kindern, die fünfundzwanzig verschiedene ethnische Hintergründe haben, den heutigen Bedingungen innerstädtischer Schulen. Bei dieser Schule handelt es sich um eine reformpädagogisch orientierte UNESCO-Modell-Schule mit einer hervorragenden Schulleiterin und einem sehr engagierten Kollegium. In dieser Schule wurden auch die Familien zur Mitarbeit gewonnen, deren Rituale erforscht werden. Zu diesen gehören die kleinen Rituale des Familienfrühstücks, mit deren Hilfe sich die Familienmitglieder an jedem Morgen ihrer Zugehörigkeit zueinander vergewissern. Dazu gehören jedoch auch die Kindergeburtstage. In ihnen stehen die Kinder, die die Familie im Unterschied zur Paarbeziehung ausmachen, im Mittelpunkt und werden gefeiert. Zugleich ist der Kindergeburtstag ein wichtiges Fest der Gleichaltrigen und ihrer bei den Kindergeburtstagen inszenierten Gemeinschaft. Das wichtigste Ritual der sich zyklisch wiederholenden Familienrituale ist in den christlichen Familien das Weihnachtsfest, bei dem sich die Familien in Bezug auf die Geburt Christi und auf die Einheit der „heiligen Familie“ inszenieren und aufführen. Auch der sich jährlich wiederholende Familienurlaub, in dem der Alltag verlassen wird und in dem man gemeinsam neue, an den Traum vom Paradies erinnernde Erfahrungen macht, gehört zu diesen die Familie erhaltenden und das Zusammengehörigkeitsgefühl immer wieder erneuernden Ritualen. Dass Schule eine rituelle Veranstaltung ist, in der sich grundlegende Erkenntnisse über den Zusammenhang von Institution und Ritual sowie über Hierarchie- und Machtstrukturen gewinnen lassen, ist offensichtlich. Schon bei den Einschulungs- und Ausschulungsfeiern, in denen Übergänge rituell inszeniert und aufgeführt werden, wird dies deutlich. In der Einschulungsfeier inszeniert sich die untersuchte reformpädagogische Schule als „schulische Familie“ mit dem Ziel, den Schulanfängern den Übergang von der Welt der Familie und des Kindergartens in die Welt der Schule zu erleichtern. Vielfältig sind die Rituale, mit denen sowohl die Gemeinschaft der Klasse, die den größten Teil der alltäglichen schulischen Lebenswelt der Kinder ausmacht, als auch die Gemeinschaft der Schule erzeugt wird. So sind rituelle Sommer-, Advents- und Faschingsfeiern Teil des Schulalltags, in dem Gespräch, Arbeit, Spiel und Feier zu den Prinzipien der Gestaltung von Unterricht und Schulleben gehören. Neben den genannten Ritualen lassen sich im Unterrichtsalltag viele Mikrorituale finden, in denen die Interaktionen zwischen den Kindern und zwischen Lehrerinnen und Kindern inszeniert und aufgeführt werden. An jedem Montagmorgen beginnt z. B. in den Klassen der Unterricht mit dem Ritual des „Morgenkreises“, in dem die Kinder einige Minuten lang einander erzählen, was sie am Wochenende
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erlebt haben. Mit der Durchführung dieses Rituals wird für die Kinder der Übergang von ihrer familiären Lebenswelt am Wochenende zu den Leistungs- und sozialen Anforderungen der Schule realisiert. Ein anderes, von vielen Lehrern durch einen Gong eröffnetes Ritual besteht darin, fünf Minuten lang meditatives Schweigen zu üben, eine Aufgabe, die vielen Kindern gefällt, obwohl sie sie nicht einfach finden. Lehrer und Schüler inszenieren unterrichtliche und schulische Lern- und Bildungsprozesse in Ritualen und Ritualisierungen und bearbeiten in ihnen die Differenzen zwischen den Intentionen der Kinder und denen der Institution Schule. Auch das Soziale in der Kinder- und Jugendkultur entwickelt sich mit Hilfe von und in Ritualen. Dies zeigt sich in den Pausen beim Spielen der Kinder auf dem Schulhof, in denen sich durch Exklusion und Inklusion verschiedene Spielgruppen bilden. Wichtige Kriterien sind dabei die Art des Spiels, die Genderund die ethnische Zugehörigkeit. In den Inszenierungen der Pausenspiele werden soziale Gruppen geschaffen, die über längere Zeiträume bestehen und die unterschiedlich offen gegenüber neu zu ihnen kommenden Kindern sind. Bei den Jugendlichen erfreuen sich Breakdance-Gruppen und ihre Rituale an den Orten offener Jugendarbeit besonderer Beliebtheit. Auch die bereits erwähnten LANPartys, in denen viele Jugendliche in großen Hallen zusammenkommen, um ein Computerspiel gegeneinander zu spielen, verfügen über eine feste rituelle Spielund Gruppenstruktur. Bei den auf die Medien bezogenen Ritualen wurden zunächst rituelle Medieninszenierungen untersucht, d. h. es wurde herausgearbeitet, welchen Einfluss ritualisierte Mediendarstellungen wie Werbung, Nachrichtensendungen, Talkshows und Kriminalfilme auf die Vorstellungswelt, auf das Imaginäre der Kinder haben. Um herauszufinden, welchen Einfluss solche ritualisierten Fernsehsequenzen auf das Verhalten und Handeln der Kinder und Jugendlichen haben, wurden diese eingeladen, in freiwillig gebildeten Arbeitsgemeinschaften mit einer Kamera Filme zu drehen, in denen einige von ihnen Schauspieler und andere Regisseure und Kamera-Leute waren. In diesen „Dreharbeiten“ war es faszinierend zu beobachten, wie sehr die rituellen Strukturen des deutschen Fernsehens über die Grenzen der Ethnien hinweg die kollektive Vorstellungswelt, das kollektive Imaginäre der Kinder und Jugendlichen prägen. Sodann wurde untersucht, welche Lernprozesse durch den unterrichtlichen Einsatz von Computern im offiziellen und im heimlichen Lehrplan der Schule stattfinden und welche Rituale Jugendliche in Online-Communities entwickeln. Zur Methode: In dem so konstruierten Untersuchungsfeld wurde mit qualitativen Methoden gearbeitet, mit deren Hilfe das empirische Material rekonstruiert und ausgewertet und die Fragen der Untersuchung gegenstandsnah bearbeitet
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wurden. Angeregt wurde die Untersuchung von der Grounded Theory und ihren Überlegungen, Theorie als Prozess zu begreifen, sowie durch die sich daraus ergebenden Empfehlungen zum Sammeln, Kodieren und Analysieren von Informationen (Glaser/Strauss 1969; Strauss/Corbin 1994). Da im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit der performative Charakter von Lern- und Bildungsprozessen in Ritualen und Ritualisierungen stand, wurden Untersuchungsmethoden gewählt, mit denen einerseits etwas über die Inszenierung und den Aufführungscharakter ritueller Handlungen erfahren werden konnte, andererseits aber auch Informationen darüber gewonnen werden konnten, welche Bedeutungen den Ritualen von ihren Teilnehmern zugeschrieben wurden und wie diese die Lernund Bildungsprozesse begriffen und interpretierten, die sich in diesen Ritualen vollzogen. Um das erste Ziel zu realisieren, wurden sowohl teilnehmende Beobachtungen als auch videogestützte teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Um der zweiten Zielsetzung gerecht zu werden, wurden außerdem Gruppendiskussionen und Interviews realisiert. Je nach Methode wurden unterschiedliche Informationen gewonnen, die verschieden kodiert und interpretiert wurden. Angesichts der prinzipiellen Begrenztheit jeder Forschungsmethode und der bekannten Vor- und Nachteile jeder Methode wurde in vielen Fällen versucht, die gleichen rituellen Handlungen mit Hilfe sich überschneidender Methoden zu erforschen (Flick 2004; Bohnsack 2003; Tervooren u. a. 2014). In den verschiedenen Teilen unserer Untersuchung wurden die genannten Verfahren mit unterschiedlichem Gewicht eingesetzt. Die Gründe dafür lagen in den jeweiligen Fragestellungen und in der Struktur des Untersuchungsfeldes.
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ALS PERFORMATIVE
H ANDLUNGEN
Die Forschungen der Berliner Ritualstudie im Bereich von Erziehung und Sozialisation, Bildung und Lernen haben ergeben, dass die Nachhaltigkeit der Wirkungen von Ritualen an ihren performativen Charakter, d. h. an die Körperlichkeit der szenischen Inszenierungen und Aufführungen gebunden ist (Wulf 2005b). In der körperlichen Darstellung von Ritualen und Ritualisierungen zeigen Menschen, wer sie sind und wie sie ihr Verhältnis zu anderen Menschen und zur Welt begreifen. Rituelle Prozesse lassen sich als szenische Aufführungen performativen Handelns verstehen, in deren Rahmen den Mitgliedern der Institutionen unterschiedliche Aufgaben zufallen. Manche rituelle Inszenierungen sind spontan; bei ihnen ist häufig nur schwer erkennbar, warum sie gerade in diesem Augenblick emergieren. Andere rituelle Aufführungen lassen sich aus dem Kontext und der identifizierbaren Vorgeschichte verstehen. Bei rituellen Arrange-
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ments spielen die Kontingenzen zwischen den Szenen von Ritualen eine wichtige Rolle. Szenische Aufführungen bestehen zwar aus spezifischen aufeinander bezogenen Elementen, doch bedeutet dies nicht, dass nicht jedes einzelne szenische Element durch ein anderes ähnliches oder ein neues Element ersetzt werden kann. Wegen des ludischen Charakters ritueller Aufführungen stehen die szenischen Elemente in einer kontingenten Beziehung zueinander, die die Dynamik der Rituale ausmacht (Wulf/Goehlich/Zirfas 2001; Wulf/Zirfas 2005, 2007). Rituale gehören zu den wichtigsten Formen performativen Handelns. Sie wirken in erster Linie über die Inszenierung und Aufführung der Körper der beteiligten Menschen. Selbst wenn die Deutung eines Rituals bei diesen verschieden ist, gehen von der Tatsache, dass das Ritual vollzogen wird, gemeinschaftsbildende Wirkungen aus. Ein Blick auf das Ritual des Weihnachtsfestes verdeutlicht dies. Unabhängig von den Unterschieden in der Wahrnehmung von Weihnachten zwischen kleinen Kindern, die noch das Christkind oder den Weihnachtsmann erwarten, deren Eltern, die sich an dem Glück ihrer Kinder erfreuen, dem halbwüchsigen Sohn, der das weihnachtliche Geschehen als abgestanden und leer erlebt, der Großmutter, die sich an die Feste ihrer Jugend erinnert, hat die Inszenierung und Aufführung des Weihnachtsrituals eine alle Beteiligten verbindende Wirkung. Diese Wirkung besteht vor allem darin, dass im Vollzug des Rituals die Differenzen zwischen den am Ritual beteiligten Personen bearbeitet werden. Trotz unterschiedlicher Befindlichkeit, differenter Deutungen, grundlegender Unterschiede erzeugt die rituelle Handlung eine (Fest-) Gemeinschaft. Dies wird dann besonders deutlich, wenn das Ritual misslingt, die zwischen den Personen bestehenden Spannungen und Aggressionen die Oberhand gewinnen und damit die Gemeinschaft intensivierende Wirkung des Weihnachtsfestes destruiert wird. Zur Inszenierung und Aufführung von Ritualen gehört eine angemessene Rahmung (Goffman 1993), die erkennen lässt, in welchem Zusammenhang das Ritual mit vorausgehenden Handlungen steht, und die Hinweise darauf gibt, wie das Ritual zu verstehen ist. Die Rahmung erzeugt den Unterschied zu anderen Alltagshandlungen, schafft den herausgehobenen Charakter des Rituals und sichert den magischen Charakter des rituellen Geschehens. Dieser resultiert aus dem Glauben aller Beteiligten an das Ritual, sei es, dass es wie beim Weihnachtsfest eine Gemeinschaft schafft, sei es, dass es wie bei Einsetzungsriten eine Grenze zieht, an deren Bestehen und Legitimität die Betroffenen glauben, und dies unabhängig davon, ob sie zu den Begünstigten oder zu den Ausgeschlossenen gehören. Doch auch bei Gemeinschaft stiftenden Ritualen wird eine Grenze zwischen den an dem rituellen Arrangement Beteiligten und den davon
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Ausgeschlossenen gezogen. Diese Grenzziehung kann spontan erfolgen; sie kann Durchlässigkeit erlauben oder auch dauerhaft ausschließen. Zur Inszenierung und Durchführung vieler Rituale bedarf es dazu gehöriger performativer Äußerungen und Requisiten: im Fall des Weihnachtfestes bestimmter Sätze und Lieder aus der Liturgie sowie des Weihnachtsbaumes, der Geschenke und des festlichen Essens. In Ritualen erzeugen performative Handlungen Szenen und Szenenfolgen. Zu deren Gestaltung gehört nicht nur die Inszenierung der menschlichen Körper, sondern auch das Arrangement der zum Ritual gehörenden Umwelten. Auch sie müssen in einer den Ritualen angemessenen Weise gestaltet sein, damit das erforderliche Ensemble entsteht. In diesem „Gesamtkunstwerk“ emergiert die rituelle Ordnung. Rituelle Aufführungen erfordern Bewegungen des Körpers, mit deren Hilfe Nähe und Distanz sowie Annäherung und Entfernung zwischen den Teilnehmern des Rituals in Szene gesetzt werden. In diesen Körperbewegungen kommen soziale Haltungen und soziale Beziehungen zum Ausdruck. So erfordern hierarchische, von Machtunterschieden bestimmte Beziehungen andere Bewegungen des Körpers als freundschaftliche oder gar intime Beziehungen. Durch die Beherrschung sozialer Situationen mit Hilfe von Körperbewegungen wird auch der Körper durch sie beherrscht; er wird zivilisiert und kultiviert. Mit den Bewegungen des Körpers werden soziale Situationen geschaffen. Wegen ihres figurativen und bildlichen Charakters sind solche Situationen besonders gut erinnerbar und bieten sich daher auch für Wiederaufführungen an. In rituellen Inszenierungen wirkt ein ostentatives Element mit; die am Ritual Beteiligten möchten, dass ihre Handlungen gesehen und angemessen gewürdigt werden. In den Bewegungen der Körper soll das Anliegen der Handelnden zur Darstellung und zum Ausdruck kommen. Wenn vom Performativen, von Performanz und Performativität die Rede ist, so liegt der Akzent auf der Welt konstituierenden Seite des Körpers. Diese zeigt sich in der Sprache und im sozialen Handeln. Wenn vom performativen Charakter des Körpers die Rede ist, wird damit Sprache als Handlung und soziales Handeln als Inszenierung und Aufführung bezeichnet. Wird menschliches Handeln als aufführendes kulturelles Handeln begriffen, so ergeben sich daraus Veränderungen für das Verständnis sozialer Prozesse. In diesem Fall finden die Körperlichkeit der Handelnden sowie der Ereignis- und inszenatorische Charakter ihrer Handlungen größere Aufmerksamkeit. Dann wird deutlich: Soziales Handeln ist mehr als die Verwirklichung von Intentionen. Dieser Bedeutungsüberschuss besteht u. a. in der Art und Weise, in der Handelnden ihre Ziele verfolgen und zu realisieren versuchen. In diesen Prozess gehen unbewusste Wünsche, frühe Erfahrungen und Empfindungen ein. Trotz der intentional gleichen
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Ausrichtung einer Handlung zeigen sich in der Inszenierung ihrer körperlichen Aufführung und in dem Wie ihrer Durchführung erhebliche Unterschiede. Der Charakter und die Qualität sozialer Beziehungen hängen wesentlich davon ab, wie Menschen beim rituellen Handeln ihren Körper einsetzen, welche körperlichen Abstände sie einhalten, welche Körperhaltungen sie zeigen, welche Gesten sie entwickeln. Über diese Merkmale vermitteln Menschen anderen Menschen vieles über sich selbst. Sie teilen ihnen etwas von ihrem Lebensgefühl mit, von ihrer Art und Weise, die Welt zu sehen, zu spüren und zu erleben. Trotz ihrer zentralen Bedeutung für die Wirkungen sozialen Handelns fehlen diese Aspekte körperlicher Performativität in vielen Handlungstheorien, in denen die Handelnden unter Absehung der sinnlichen und kontextuellen Bedingungen ihres Handelns noch immer auf ihr Bewusstsein reduziert werden. Will man diese Reduktion vermeiden, muss man untersuchen, wie rituelles Handeln emergiert, wie es mit Sprache und Imagination verbunden ist, wie es durch gesellschaftliche und kulturelle Muster ermöglicht wird und wie sich sein Ereignischarakter zu seinen repetitiven Aspekten verhält. Nachgehen muss man der Frage, wie weit sich Sprechen und Kommunikation als Handeln begreifen lassen und welche Rolle Ansprache und Wiederholung für die Herausbildung geschlechtlicher, sozialer und ethnischer Identität spielen. In einer solchen Perspektive wird Handeln als körperlich-sinnliche Nachahmung, Teilnahme und Gestaltung kultureller Praktiken begriffen. In dieser Perspektive werden künstlerisches und soziales Handeln als performance, Sprechen als performatives Handeln und Performativität als ein abgeleiteter, diese Zusammenhänge übergreifend thematisierender Begriff verstanden. Wenigstens drei Dimensionen der Performativität von Ritualen lassen sich unterscheiden. Einmal lassen sich Rituale als kommunikative kulturelle Aufführungen begreifen. Als solche sind sie das Ergebnis von Inszenierungen und Prozessen körperlicher Darstellung, in deren Verlauf es um das Arrangement ritueller Szenen geht, in denen die Ritualteilnehmer unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Indem sie sich im Sprechen und Handeln aufeinander beziehen, erzeugen sie gemeinsam rituelle Szenen. Wie Werke der Kunst und der Literatur lassen sich diese Rituale als Ergebnisse kulturellen Handelns ansehen, in dessen Verlauf die heterogenen gesellschaftlichen Kräfte in eine akzeptierte Ordnung gebracht werden. Zum anderen kommt dem performativen Charakter der Sprache bei rituellen Handlungen erhebliche Bedeutung zu. Deutlich wird dieser z. B. bei den Ritualen der Taufe und der Kommunion, des Übergangs und der Amtseinführung, in denen die beim Vollzug des Rituals gesprochenen Worte wesentlich dazu beitragen, eine neue soziale Wirklichkeit zu schaffen (Austin 1985). Entsprechendes
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gilt auch für die Rituale, in denen das Verhältnis der Geschlechter zueinander organisiert wird und in denen die wiederholte Ansprache eines Kindes als „Junge“ oder „Mädchen“ dazu beiträgt, Geschlechtsidentität herauszubilden (Butler 1995). Schließlich umfasst das Performative auch eine ästhetische Dimension, die für künstlerische performances konstitutiv ist. Diese Perspektive verweist auf die Grenzen einer funktionalistischen Betrachtungsweise der Performativität ritueller Handlungen. Wie die ästhetische Betrachtung künstlerischer performances dazu führt, dass diese nicht auf intentionsgeleitetes Handeln reduziert werden, so erinnert sie auch daran, dass sich die Bedeutung von Ritualen nicht in der Verwirklichung von Intentionen erschöpft. Nicht weniger wichtig ist die Art und Weise, in der die Handelnde ihre Ziele realisieren. Trotz gleicher Intentionalität zeigen sich bei der Inszenierung der körperlichen Aufführung von Ritualen häufig erhebliche Unterschiede. Zu den Gründen dafür gehören allgemeine historische, kulturelle und soziale sowie besondere, mit der Einmaligkeit der Handelnden verbundene Bedingungen. Das Zusammenwirken beider Faktorengruppen erzeugt den performativen Charakter sprachlichen, sozialen und ästhetischen Handelns in rituellen Inszenierungen und Aufführungen. In dem Ereignis- und Prozesscharakter von Ritualen werden die Grenzen ihrer Planbarkeit und die Voraussehbarkeit deutlich. Bei der Berücksichtigung der ästhetischen Dimension wird die Bedeutung des Stils ritueller Aufführungen sichtbar. Die zwischen der bewussten Intentionalität und den vielen Bedeutungsdimensionen der szenischen Arrangements von Körpern erkennbar werdende Differenz ist offensichtlich. Der performative Charakter rituellen Handelns bietet Anlass zu unterschiedlichen Deutungen und Interpretationen, ohne dass dadurch jedoch die rituellen Arrangements ihre Wirkungen verlieren. Vielmehr besteht gerade ein Teil ihrer Effekte darin, dass die gleichen rituellen Handlungen unterschiedlich gedeutet werden können, ohne dass dadurch die soziale Magie der Rituale zerstört würde. Soziale Kommunikation hängt wesentlich davon ab, wie Menschen beim rituellen Handeln ihren Körper einsetzen. Trotz der zentralen Bedeutung für die Wirkung sozialen Handelns fehlt der Aspekt körperlicher Performativität in vielen traditionellen Ritualtheorien, in denen die Handelnden unter Absehung der sinnlichen und kontextuellen Bedingungen ihrer Handlungen noch immer auf ihre kognitiven Seiten reduziert werden. Um diese Reduktion zu vermeiden, muss man erforschen, wie rituelles Handeln emergiert, wie es mit Sprache und Imagination verbunden ist, wie seine Einmaligkeit durch gesellschaftliche und kulturelle Muster ermöglicht wird und wie sich sein Ereignischarakter zu seinen repetitiven Aspekten verhält.
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M IMETISCHES L ERNEN IN R ITUALEN
PRAKTISCHEN
W ISSENS
Der performative Charakter von Ritualen ist eine Voraussetzung dafür, dass das für ihre Inszenierung und Aufführung erforderliche praktische Wissen in mimetischen Prozessen erworben werden kann. Das praktische rituelle Wissen ist die Voraussetzung dafür, dass Kinder und Jugendliche lernen, was sie in Ritualen zu tun haben, welche Handlungen von ihnen erwartet werden und welche Möglichkeiten sie haben, ihr Handeln individuell zu gestalten, ohne dass dadurch die Rituale insgesamt gefährdet werden. In den gegenwärtigen Bemühungen zur Verbesserung des Lernens in der Schule wird die Bedeutung des impliziten praktischen Wissens für Erziehung und Bildung stark unterschätzt. Lediglich der UNESCO-Bericht Learning. The Treasure within hat seine zentrale Bedeutung hervorgehoben. Neben dem Wissen-Lernen werden hier Zusammenleben-Lernen, Handeln-Lernen und Sein-Lernen als wichtige Formen des Lernens identifiziert (Delors 1996). Für den Erwerb dieser Wissensformen spielen Rituale und das in ihnen vermittelte praktische Wissen eine wichtige Rolle (Wulf 2005b, 2006a). Bei dem in rituellem Handeln gelernten praktischen Wissen handelt es sich nicht um ein theoretisches oder reflexives Wissen, dessen Elemente in der sozialen Praxis einfach angewendet werden können. Praktisches Wissen wird in mimetischen Prozessen erworben (Wulf 2006b). Mimetisches Lernen vollzieht sich, wenn Kinder und Jugendliche an den szenischen Aufführungen sozialer Handlungen teilnehmen und wahrnehmen, wie andere Menschen in rituellen Szenen handeln. Da die Art und Weise der sozialen Handlungen sinnlich erfasst wird, kommt dem Wie bei der mimetischen Rezeption und Verarbeitung erhebliche Bedeutung zu. Nur mit Hilfe der Aisthesis können die szenischen, die sozialen Handlungen konstituierenden und konkretisierenden Arrangements wahrgenommen und verarbeitet werden (Mollenhauer/Wulf 1996; Schäfer/Wulf 1999). Die sich dabei vollziehende mimetische Verkörperung ritueller Handlungen ist ein aktiver und produktiver Prozess, in dessen Verlauf eine individuelle Bearbeitung und Umarbeitung der wahrgenommenen Rituale und Ritualisierungen erfolgt. In der Bezugnahme des mimetischen Prozesses auf andere Menschen, auf eine szenische Aufführung ritueller Handlungen oder auf eine imaginäre Welt entsteht aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen des sich mimetisch Verhaltenden jedes Mal etwas Unterschiedliches. In mimetischen Prozessen kommt es zu einer Anähnlichung, die auf die Art und Weise zielt, wie sich Menschen körperlich und sozial inszenieren, wie sie sich zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst verhalten. Der mimetische Prozess richtet sich auf die
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Einmaligkeit anderer Menschen und führt dazu, dass „Abbilder“ von ihnen und ihren sozialen Handlungen in die mentale Bilder- und Vorstellungswelt aufgenommen werden. Mimetische Prozesse verwandeln Außenwelt in Innenwelt und führen zu einer Erweiterung der Innenwelt (Wulf 2005b, 2009). Der Erwerb von soziale Handlungen hervorbringendem praktischen Wissen in mimetischen Prozessen muss nicht auf Ähnlichkeit beruhen. Wenn beispielsweise in einer Bezugnahme auf eine vorgängige Welt ritueller Handlungen bzw. performativer Aufführungen mimetisches Wissen erworben wird, dann lässt sich erst in einem Vergleich der beiden Welten bestimmen, welches der Gesichtspunkt der mimetischen Bezugnahme ist. Ähnlichkeit ist nur ein, allerdings häufiger, Anlass für den mimetischen Impuls. Doch auch die Herstellung eines magischen Kontakts kann zum Ausgangspunkt der mimetischen Handlung werden (Frazer 1998). Selbst für die Abgrenzung von vorhandenen Ritualen und performativen Aufführungen ist eine mimetische Bezugnahme erforderlich. Sie erst erzeugt die Möglichkeit von Akzeptanz, Differenz oder Ablehnung vorgängiger Rituale und anderer sozialer Handlungen. Mittels der Disziplinierung und Kontrolle der Körperbewegungen entsteht ein diszipliniertes und kontrolliertes praktisches Wissen, das – im Körpergedächtnis aufbewahrt – die Inszenierung entsprechender Formen symbolischszenischen Handelns ermöglicht. Dieses praktische Wissen ist auf die im Zivilisationsprozess herausgebildeten sozialen Handlungs- und Aufführungsformen bezogen und daher ein zwar ausgeprägtes, in seinen historisch-kulturellen Möglichkeiten jedoch auch begrenztes performatives Wissen. Das für performative Handlungen relevante praktische Wissen ist körperlich, ludisch, rituell und zugleich historisch und kulturell; es bildet sich in face-to-face-Situationen und ist semantisch nicht eindeutig; es hat imaginäre Komponenten, lässt sich nicht auf Intentionalität reduzieren, enthält einen Bedeutungsüberschuss und zeigt sich in den Inszenierungen und Aufführungen des alltäglichen Lebens, der Literatur und der Kunst (Gebauer/Wulf 1998a, b, 2003).
Z ENTRALE F UNKTIONEN
VON
R ITUALEN
Rituale haben viele unterschiedliche Funktionen, in denen sie nie ganz aufgehen. Ihre Bedeutung für Erziehung und Sozialisation, Bildung und Lernen lassen sich in zehn Punkten zusammenfassen, die Grundelemente einer Theorie des Rituals bilden (Wulf/Zirfas 2004a): 1. Das Soziale als Ritual. Gemeinschaften sind ohne Rituale undenkbar; denn sie bilden und verändern sich in und durch rituelle Prozesse und Praktiken.
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Über den symbolischen Gehalt der Interaktions- und Kommunikationsformen und vor allem über die performativen Prozesse der Interaktion und Bedeutungsgenerierung gewährleisten und stabilisieren Rituale die Gemeinschaft selbst. Die Gemeinschaft ist Ursache, Prozess und Wirkung rituellen Handelns. Rituale rahmen spezifische Praktiken im alltäglichen Leben, so dass durch ihre Restriktivität unbestimmtes in bestimmtes Verhalten transformiert wird. In diesem Zusammenhang bilden Rituale einen relativ sicheren, homogenisierten Ablauf. Die damit verbundenen Techniken und Praktiken dienen der Wiederholbarkeit der notwendigen Vollzüge, ihrer Steuerbarkeit und Kontrollierbarkeit, der Überschaubarkeit der für die Prozeduren notwendigen Mittel und Ressourcen sowie der Erkennbarkeit von Wirkungen und Störungen. Soziale, institutionalisierte und informelle Gemeinschaften zeichnen sich nicht nur durch den gemeinsamen Raum eines kollektiv geteilten symbolischen Wissens aus, sondern vor allem durch ritualisierte Interaktions- und Kommunikationsformen, in denen und mit denen sie dieses Wissen inszenieren. Diese Inszenierungen können als Versuch verstanden werden, eine Selbstdarstellung und Reproduktion der sozialen Ordnung und Integrität zu gewährleisten, kommunikativ symbolisches Wissen herzustellen und vor allem Interaktionsräume und dramatische Handlungsfelder zu erzeugen. Rituale erzeugen Gemeinschaften emotional, symbolisch und performativ; sie sind inszenatorische und expressive Handlungsfelder, in denen die Beteiligten ihre Wahrnehmungs- und Vorstellungswelten mittels mimetischer Prozesse wechselseitig aufeinander abstimmen, ohne dass sich eine vollständige Übereinkunft über die Mehrdeutigkeit der rituellen Symbolik erzielen ließe. Indem Rituale die Integration eines interaktiven Handlungszusammenhangs gewährleisten, zielen sie auf die Bildung von Kommunität. 2. Das Ritual als Ordnungsmacht. Als kommunikative Handlungsmuster bilden Rituale eine spezifische Regelhaftigkeit, Konventionalität und „Richtigkeit“ (s. u.) heraus, die für Gemeinschaften einen praktischen Wissens- und Wahrnehmungshorizont implizieren. Dabei ist es nicht entscheidbar, ob das Ritual aus der sozialen Ordnung heraus entsteht oder diese erst durch Rituale generiert wird. Rituale sind körperliche Praktiken, die Erfahrungs-, Denk- und Erinnerungsformen und -inhalte determinieren, reduzieren und erweitern, kanalisieren und verformen. Daher schaffen Rituale eine besondere Form von Realität. In Ritualen geht es nicht um Wahrheit, sondern um die richtige Handlung. Die Richtigkeit gemeinsamen Handelns bedeutet, dass die Ritualteilnehmer das Symbolische der Situation gemäß bestimmter, durch Rituale geschaffener Regeln decodieren können. Rituale zielen auf Richtigkeit und damit auf die Ordnung eines gemeinsamen Handelns, das für alle Teilnehmer verbindlich ist. Liegt
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der Gemeinsamkeit rituellen Handelns eine strukturelle Asymmetrie zugrunde, so können Rituale auch zur Anpassung, Manipulation und Unterdrückung verwendet werden. Sie verkommen dann zu bloßen stereotypen Verhaltens- und Inszenierungsmodi. 3. Identifikationserzeugung durch Rituale. Betonen Rituale einen Übergang in räumlicher, zeitlicher oder sozialer Hinsicht, so ist die Rede von einem Übergangsritual (van Gennep 1986). Dieses verweist vor allem auf die Funktion von Ritualen, Identifikation zu erzeugen und Transformation zu ermöglichen. Ihr Transformations- und Innovationspotential liegt in dem symbolischen und performativen Charakter, in ihrer kreativen Wirklichkeit erzeugenden Seite. Mit ihrer Hilfe werden auch Einsetzungen (institution) vorgenommen, an denen sich wie am Beispiel der Beschneidung oder der Einschulung zeigen lässt, dass es in diesen Ritualen vor allem auf die Aufhebung und Bearbeitung von Differenz ankommt. In Identifizierungs- und Einsetzungsriten wird der Versuch gemacht, Menschen zu denen zu machen, die sie schon sind. Deshalb haben Übergangsrituale eine paradoxe Struktur. In ihnen wird eine neue Ordnung, die Festschreibung eines neuen Zustands, die Emergenz einer neuen sozialen Wirklichkeit erzeugt, die so aussieht, als sei sie natürlich, und die es daher schwer macht, sich von ihr zu distanzieren und sich gegen sie zu wehren. In vielen dieser Rituale geht es um die „Anrufung“ bzw. um die Zuschreibung einer Kompetenz, eines Könnens. Identifikatorische Rituale sind performative Handlungen, die erzeugen, was sie bezeichnen, indem sie Menschen zu einem Können auffordern, über das sie noch nicht verfügen, und sie dabei zugleich als diejenigen anzuerkennen, die sie noch werden sollen. In diesem Prozess entsteht das soziale Sein über Zuschreibungen, Bezeichnungen und Kategorisierungen. 4. Das Ritual als Erinnerung und Projektion. Rituale dienen dazu, sich der Gegenwart einer Gemeinschaft immer wieder zu versichern, deren zeitlose und unveränderlich gültige Ordnung und deren Transformationspotentiale durch Wiederholung zu bestätigen und ihnen Dauer zu verleihen. Sie zielen ebenso auf die Inszenierung von Kontinuität, Zeitlosigkeit und Unveränderlichkeit wie auf den Prozesscharakter und die Entwurfs- und Zukunftsorientierung von Gemeinschaften. Rituale bilden die Synthese von sozialem Gedächtnis und gemeinschaftlichem Zukunftsentwurf. Im ritualisierten Umgang mit der Zeit entstehen Zeitkompetenz und soziale Kompetenz. Zeitliche Ritualisierungen sind ein Medium sozialen Zusammenlebens, strukturiert doch die rituelle Ordnung der Zeit in den Industriegesellschaften das gesamte Leben. Die Zeit des Rituals ist die gemeinsame Anwesenheit der Angehörigen in einer Gemeinschaft, deren Zeit durch das Ritual selbst noch einmal in zeitliche Sequenzen untergliedert wird. So fördern rituelle Handlungen bestimmte Erinnerungen und geben andere dem
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Vergessen anheim. Durch ihre repetitive Struktur signalisieren sie Dauerhaftigkeit und Unveränderbarkeit und ihre Inszenierungen erzeugen und kontrollieren das soziale Gedächtnis. Rituelle Aufführungen bringen vergangene Ereignisse in die Gegenwart und lassen sie als Gegenwart erfahrbar werden. Mit Hilfe ritueller Erinnerungsarbeit lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen der vom Vergessen bedrohten Gegenwart und jener Vergangenheit, die als Tradition und Geschichte für Gemeinschaften bedeutsam ist. Rituale entwickeln sich deshalb weiter, weil sie nie gleich aufgeführt werden können, sondern immer mimetisch sind und weil in diesen mimetischen Prozessen die kreativen Potentiale durch die Wiederholung schon eingebaut sind. 5. Das Ritual als Bewältigung von Krisen. Wenn Gemeinschaften Differenzerfahrungen machen und Krisensituationen durchleben, sind Rituale erforderlich. Denn sie bilden einen relativ sicheren, homogenen Prozess, in dessen Verlauf Gemeinschaften z. B. die mit dem Übergang in einen anderen Status verbundenen Integrations- bzw. Segregationserfahrungen verhandeln können. Rituale können dazu dienen, eine kommunikative Verständigung über eine neue, den alltäglichen Rahmen sprengende, als Bedrohung empfundene Situation zu erzielen. Dabei bilden sie keine instrumentellen Handlungsarrangements und können nicht als technische Mittel zur Bewältigung konkreter Probleme eingesetzt werden. Die im gemeinsamen rituellen Handeln erzeugte Kraft reicht über die Möglichkeiten der einzelnen Menschen hinaus und führt zur Schaffung von Gemeinschaft und Solidarität. Krisenrituale wie die Identifizierung und Opferung von Sündenböcken bieten die Möglichkeit, soziale Gewalt zu kanalisieren und von der Gemeinschaft abzuwenden (Dieckmann/Wulf/Wimmer 1997). 6. Das Ritual als magische Handlung. In Ritualen werden Situationen mit Hilfe gemeinsam ausgeübter Praktiken eingeübt und geprobt, die in „realen“ Lebenszusammenhängen nicht vollkommen beherrschbar und kontrollierbar sind. Daher können Rituale als Arrangements der Komplexitätsreduktion gelten, mit deren Hilfe man sich in Beziehung zu seinem „Außen“ setzt, indem man Trennlinien zieht, Distanzen überbrückt und daran glaubt, dass die im Ritual entfalteten mimetischen und performativen Kräfte nicht nur nach innen, sondern auch nach außen, auf die „Wirklichkeit“ einwirken. So wird man in Ritualen zu einem „Anderen“ bzw. verhält sich als solcher zum „ganz Anderen“. Diese Alterierung wird einerseits durch die Symbolik unterstützt, die die Transformation von Erfahrungen auf eine z. B. soziale oder religiöse Bedeutungsebene ermöglicht und andererseits durch das gemeinsame, performative Handeln hervorgerufen, das neue Wirklichkeiten erzeugen kann. So gewährleistet das Heilige in rituellen Interaktionen eine organisierende Solidarität und stiftet als Distinktionsprinzip Grenzziehungen und Tabus, die Zeiten, Räume, Gegenstände und Hand-
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lungen als außerordentlich bedeutsam erfahrbar machen. Das Heilige kann als die Vorstellung einer spezifischen Form von transzendenter Wirksamkeit und Mächtigkeit verstanden werden, die sich auf Gegenstände, Handlungen, Schrift, Menschen und Gemeinschaften etc. bezieht und die mit Empfindungen der Ehrfurcht und Scheu sowie mit einem Kodex von Regeln, Normen und Tabus umgeben ist. Die Gemeinschaft scheint auf das Heilige angewiesen zu sein, wobei der rituelle Bezug zum Heiligen die Funktion übernimmt, die Integration, die Abgrenzung und den Austausch der Gemeinschaft zu gestalten. Insofern liegt dem Ritual der spezifische Glaube an das Transzendente, das Heilige einer Gemeinschaft zugrunde, das ihr eine gewisse Sicherheit und Vertrautheit vermittelt und damit Erwartungen immunisiert. Daher rührt die Bedeutung der heiligen Feste für Gemeinschaften. 7. Das Ritual als Medium der Differenzbearbeitung. Rituale sind Handlungssysteme der Differenzbearbeitung. Indem sie die Integration eines interaktiven Handlungszusammenhangs gewährleisten, zielen sie auf Integration und auf die Bildung von Gemeinschaft. Der Begriff der performativen Gemeinschaft verweist nicht auf eine vorgängige, organische oder natürliche Einheit, eine emotionale Zusammengehörigkeit, auf ein symbolisches Sinnsystem oder auf einen kollektiven Wertekonsens, sondern auf die rituellen Muster der Interaktion. Mit der Frage, wie sich Gemeinschaften erzeugen, bestätigen und verändern, rücken rituelle Inszenierungsformen, körperliche und sprachliche Praktiken, räumliche und zeitliche Rahmungen sowie mimetische Zirkulationsformen in den Mittelpunkt. Gemeinschaft erscheint damit weniger als homogener, integrativer und authentischer Nahraum, als vielmehr als prekäres Erfahrungsfeld von Spannungen, Grenzziehungen und Aushandlungsprozessen. Unter einer performativen Gemeinschaft wird ein ritualisierter Handlungs- und Erfahrungsraum verstanden, der sich durch inszenatorische, mimetische, ludische und Machtelemente auszeichnet (Wulf/Althans u. a. 2001, 2004, 2007, 2011). 8. Das Ritual als Initiator mimetischer Prozesse. Wie bereits dargelegt, erzeugt rituelles Handeln keine bloße Kopie früher vollzogener Rituale. Jeder Aufführung eines Rituals liegt eine neue Inszenierung zugrunde, die zur Modifikation früherer ritueller Handlungen führt. Zwischen früheren, gegenwärtigen und zukünftigen rituellen Handlungen besteht ein mimetisches Verhältnis, in dem unter Bezug auf vorausgegangene neue Handlungen erzeugt werden. In mimetischen Prozessen wird eine Beziehung zu einer rituellen Welt hergestellt. Häufig beruht diese auf einer Ähnlichkeitsbeziehung, die in der Ähnlichkeit der Anlässe, der handelnden Personen und der sozialen Funktionen der Rituale besteht. Entscheidend ist jedoch nicht die Ähnlichkeit, sondern die Herstellung der Beziehung zu der anderen Welt. Wird eine rituelle Handlung auf eine frühere
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bezogen und in Ähnlichkeit zu dieser durchgeführt, dann besteht der Wunsch, etwas wie die rituell Handelnden zu machen, auf die sich die Beziehung richtet, und sich ihnen anzuähneln. Diesem Wunsch liegt das Begehren zugrunde, wie die anderen zu werden, sich jedoch gleichzeitig auch von ihnen zu unterscheiden. Trotz des Begehrens, ähnlich zu werden, besteht ein Verlangen nach Unterscheidung und Eigenständigkeit. Die Dynamik von Ritualen drängt gleichzeitig auf Wiederholung und Differenz und erzeugt damit Energien, die die Inszenierungen und Aufführungen ritueller Handlungen vorantreiben. Bei der Wiederholung geht es darum, in einem mimetischen Prozess gleichsam einen „Abdruck“ früherer ritueller Handlungen zu nehmen und diesen auf neue Situationen zu beziehen. Die Wiederholung rituellen Handelns führt nie zur genauen Reproduktion der früheren Situation, sondern stets zur Erzeugung einer neuen rituellen Situation, in der die Differenz zur früheren ein konstruktives Element ist. In dieser Dynamik liegt der Grund für die Produktivität ritueller Handlungen. Unter Wahrung der Kontinuität bietet rituelles Handeln Raum für Diskontinuität. Rituelle Arrangements machen es möglich, das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität auszuhandeln. Dabei spielen die jeweiligen Bedingungen der Individuen und Gruppen, Organisationen und Institutionen für die unterschiedlichen Handhabungen ritueller Muster und Schemata eine wichtige Rolle. 9. Das Ritual als Generator praktischen Wissens. Um in sozialer Hinsicht kompetent handeln zu können, bedarf es weniger eines theoretischen als vielmehr eines praktischen Wissens. Dieses befähigt Menschen, in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern, Institutionen und Organisationen den Erfordernissen entsprechend zu handeln. Große Teile dieses praktischen Wissens werden in rituellen mimetischen Prozessen erworben. In diesen nehmen die Handelnden Bilder, Rhythmen, Schemata, Bewegungen ritueller Arrangements in ihre Vorstellungswelt auf. Mit deren Hilfe wird das in neuen Zusammenhängen erforderliche rituelle Handeln inszeniert und aufgeführt. Die mimetische Aneignung führt bei den Handelnden zu einem praktischen Wissen, das auf andere Situationen übertragbar ist. Der rituelle Charakter dieser Aneignung bewirkt, dass das mimetisch erworbene praktische Wissen in der Wiederholung geübt, entwickelt und verändert wird. Das so inkorporierte praktische Wissen hat einen historischen und kulturellen Charakter und ist als solches für Veränderungen offen (Wulf 2006b; Boetsch/Wulf 2005). 10. Das Ritual als Produzent von Subjektivität. Lange hat man Ritualität und Individualität bzw. Subjektivität für Gegensätze gehalten. Erst seit geraumer Zeit sieht man, dass dies in den modernen Gesellschaften nicht der Fall ist. Das Handeln von Individuen ist das Ergebnis praktischen sozialen Wissens, dessen Entwicklung ritueller Arrangements bedarf. Das heißt natürlich nicht, dass es zwi-
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schen Gemeinschaft und Individuum keine Spannungen und Konflikte gibt; zu ausgeprägt ist die nicht aufhebbare Differenz zwischen beiden. Doch bedingen sich beide wechselseitig. Erfülltes individuelles Leben ist nur möglich, wenn Individuen in der Lage sind, in Gemeinschaften kompetent zu handeln und zu kommunizieren. Desgleichen bedarf eine Gemeinschaft differenzierter Individuen, die sich sozial kompetent verhalten können und die diese Fähigkeit in rituellen mimetischen Arrangements erwerben.
Gesten als Sprache
E INLEITUNG Gesten sind verdichtende Darstellungen komplexer kultureller und sozialer Handlungen und Ereignisse. Selbst wenn ihre Bedeutungen widersprüchlich und keineswegs eindeutig sind, sind sie als körperliche Darstellungen und Formen des Ausdrucks ohne Worte partiell verständlich. Aufgrund ihres ikonischen Charakters spielen Gesten im Imaginären von Gesellschaften, Gemeinschaften und Subjekten eine wichtige Rolle. Sie eignen sich dazu, in mimetischen Prozessen erinnert und reproduziert zu werden. Bei jeder Inszenierung und Darstellung haben sie einen Handlungsspielraum, der eine kontextuelle Anpassung ermöglicht. Im Verlauf der Berliner Ritual- und Gestenstudie konnte nicht nur die zentrale Bedeutung von Ritualen und Ritualisierungen, sondern auch von Gesten für Erziehung, Bildung und Sozialisation herausgearbeitet werden (Wulf/Althans u. a. 2001, 2004, 2007; 2011; Wulf 2008a). Es zeigte sich, dass Gesten in Erziehung und Sozialisation eine zentrale Rolle spielen. Deshalb wurden ihre Erscheinung und ihre Verwendung in den Sozialisationsfeldern Familie, Schule, Peer-Gruppen und in der Mediennutzung detailliert untersucht und damit eine anthropologisch orientierte Gestenforschung begründet. Zwar gibt es einige Vorarbeiten, die dazu beitragen, die Relevanz dieser Forschungen deutlich zu machen (Flusser 1991; Barth/Markus 1996; Kotthoff 1998; Egidi u. a. 2000; Aiger 2002; Heidemann 2003; Rosenbusch/Schober 2004; Müller/Posner 2004; Prange 2005). Doch fehlte es bislang an einer umfassenden ethnographischen Forschung, die den Kontext und den Rahmen der Wirkungsweise von Gesten im Bereich der Erziehung und Sozialisation untersucht.11 In diesem Zusammenhang
11 Viele Anregungen verdanke ich hier unserer Projektgruppe mit den Mitgliedern Birgit Althans, Kathrin Audehm, Gerald Blaschke, Nino Ferrin, Ingrid Kellermann, Ru-
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sollte auch ihr Macht- und Gewaltpotential analysiert werden: etwa der fortwährende Wechsel zwischen Engagement und Distanz in pädagogischen Situationen, der durch Gesten sichtbar gemacht wird, die Anerkennungs-, Ausgrenzungs- und Autorisierungsprozesse, die durch Gesten vollzogen werden, und die sozialen Positionierungen in pädagogischen Zusammenhängen, die durch Gesten unterstrichen werden. Die Unterschiede zwischen den institutionellen Rahmungen der pädagogischen Handlungsvollzüge in den Sozialisationsfeldern Familie, Schule, Peer-Gruppen und Mediennutzung bilden hierbei einen wesentlichen Vergleichshorizont (Wulf/Althans u. a. 2011). Darüber hinaus gilt es das praktisch-reflexive Potential pädagogischer Gesten zu untersuchen, denn Gesten stabilisieren nicht nur soziale Beziehungen, sondern greifen in pädagogische Prozesse ein. Hierzu werden auch die Konzeptionen des Gestischen bei Bertolt Brecht und Walter Benjamin herangezogen, in denen hervorgehoben wird, dass Gesten zitierbar sind und so eine Distanznahme und die Unterbrechung einer Situation ermöglichen. Durch den reflektierenden Blick auf die Geste wird nicht nur die besondere Medialität der Geste, sondern auch ihr Potential deutlich. Insofern sind nicht nur Gesten Gegenstand der Untersuchung, sondern es gilt auch ein Konzept des Gestischen als Erweiterung der Untersuchungsperspektive und der angewandten ethnographischen Methoden zu untersuchen. Erst in der Beobachtung von Körperbewegungen in einer pädagogischen Situation wird die Geste isoliert und als Teil eines pädagogischen Tableaus signifikant. Die Analyse der Wirkungsweise pädagogischer Gesten vervollständigt die Einsicht in die Bedeutung körperlichen Darstellungsverhaltens und regt zu einer Wiederbelebung entsprechender pädagogischer Traditionen an. Anthropologische Gestenforschung bedarf zunächst der Auseinandersetzung mit verschiedenen unterschiedlichen Gestenkonzepten. So beschreibt z. B. Agamben die Geste als etwas, das zwischen dem Hervorbringen (agere) und dem Ausführen (facere) liegt, als potentiell reflexives „Mittel in einer Mittelbarkeit“ (Agamben 2001). Brecht verlangt vom Schauspieler, dieses „Dazwischenliegende“ der Geste als dialektisches – oder auch performatives – Phänomen sichtbar zu machen (Kuba 2005). Brecht zeigte mit seinem Begriff des Gestischen die Komplexität und Kontextbezogenheit der Gesten untereinander. Sie wirkt durch das Prinzip der Unterbrechung und eröffnet so die Möglichkeit, Zustände sichtbar zu machen. Für eine empirische Untersuchung ist es notwendig, zunächst mit einem weit gefassten Gestenbegriff zu arbeiten, denn nur so kann das Spektrum der precht Mattig, Sebastian Schinkel und besonders der langjährigen gemeinsamen Arbeit mit Gunter Gebauer (Gebauer/Wulf 1998a, b, 2003).
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empirischen Phänomene angemessen erfasst werden. George H. Meads Verständnis von Geste bietet daher einen wichtigen Ansatzpunkt. Er begreift die Geste als Phase körperlicher Bewegung, die aufgrund einer sozialen Sensorik des Körpers als Grundeinheit wechselseitiger Anpassung für sozial organisierte Lebewesen fungiert (Mead 1973). Wichtige Anregungen gehen auch von den umfangreichen Gestenforschungen aus, die Kendon (2004) und McNeill (1992, 2005) vorgelegt haben (Wulf/Fischer-Lichte 2010; Paragrana 2014). Der hier gewählte ethnographische Zugang zur Erforschung von Gesten im Bereich der Erziehungswissenschaft unterscheidet sich von den experimentellen Forschungen anderer Disziplinen, in denen versucht wird, durch den Vergleich einer oder mehrerer Experimental- und Kontrollgruppen Erkenntnisse über die Wirkungen von Gesten zu gewinnen (vgl. Goldin-Meadow 2005, Kap. 6). So wird z. B. in Teilen der linguistischen Gestenforschung untersucht, wie Äußerungen mit, ohne oder unter Verwendung nicht übereinstimmender (mismatching) Gesten auf Zuhörer wirken. So wichtig diese Studien sind, viele von ihnen messen die Rolle und Bedeutung der Geste lediglich an semiotischen und semantischen Kriterien, so dass ihnen die pragmatische Seite der Geste entgeht. Darüber hinaus sind sie durch die hinlänglich bekannten Vorteile und Nachteile experimenteller Forschung charakterisiert, die dadurch gegeben sind, dass im experimentellen Design Bedingungen erzeugt werden, die sich von denen im Feld, d. h. in unserem Fall der pädagogischen Praxis, wesentlich unterscheiden. Das Ziel meiner ethnographischen Erforschung von Gesten besteht vor allem darin, ihre Körperlichkeit, ihren mimetischen und ihren performativen Charakter zu untersuchen. Dabei möchte ich zeigen, wie Gesten in den verschiedenen Feldern und Kontexten der Erziehung von Erwachsenen und Kindern entwickelt werden, um sich auszudrücken und etwas zur Darstellung zu bringen, das anderenfalls unsichtbar bliebe. Dabei gilt es, das Wie der gestischen Darstellung und des gestischen Ausdrucks zu fokussieren. Davon ausgehend, dass Gesten in hohem Maße kontextabhängig sind, gilt es den sozialen Zusammenhang zu untersuchen, in dem sie auftreten, und zu zeigen, wie sich in ihnen Intentionen und Gefühle verdichten und welche Bedeutung sie dadurch für Erziehung und Bildung haben. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Gesten erstens durch kollektive Vorstellungen und Praktiken, zweitens durch institutionelle Bedingungen und Traditionen sowie drittens durch individuelle Bedingungen beeinflusst werden, die es herauszuarbeiten gilt. Um diese Forschungen erfolgreich durchzuführen, bedarf es der Entwicklung eines Referenzrahmens, auf den die Erhebung der teilnehmenden Beobachtung, der videogestützten Beobachtung, der Interviews und der Gruppendiskussionen bezogen werden müssen, um interpretiert und kommunikativ validiert zu wer-
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den. Ein solcher Referenzrahmen wird im Weiteren vorgestellt. Darüber hinaus werden folgende Dimensionen entwickelt, die für die Konstitution von Gesten als Gegenstand anthropologischer Forschung von zentraler Bedeutung sind: – – – –
Gesten als Bewegungen des Körpers, Gesten als Ausdruck und Darstellung, Gesten als Formen von Erziehung und Bildung, Gesten als Formen der Sinngebung.
Im Zentrum dieser Ausführungen stehen eine Reihe anthropologischer Merkmale, die in der bisherigen Gestenforschung kaum Beachtung gefunden haben, auf deren Basis aber für eine neu zu entwickelnde anthropologische Gestenforschung wichtige, die bisherigen Diskurse erweiternde Dimensionen und Kategorien vorgeschlagen werden sollen. Ihnen ist gemeinsam, dass sich Gesten als eine Sprache des Ausdrucks und der Darstellung von Gefühlen begreifen lassen.
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ALS
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Gesten lassen sich als Bewegungen des Körpers begreifen. Sie gehören zu seinen wichtigsten Darstellungs- und Ausdrucksformen. Da menschliche Körper stets in einer historisch-kulturellen Zurichtung in Erscheinung treten, müssen auch ihre Gesten in ihrem jeweiligen Kontext gelesen werden. Der Versuch, Gesten als universelle Körpersprache zu begreifen, hat nicht die erhofften Erwartungen erfüllt. Historische und kulturanthropologische Studien zeigen, wie verschieden Gesten in unterschiedlichen Kulturen und historischen Zeiten verstanden werden (Bremmer/Roodenburg 1992). Gesten sind signifikante Bewegungen des Körpers, deren Darstellungs- und Ausdrucksformen sich aus den sie bedingenden Intentionen nicht erschöpfend erklären lassen. Die Differenz zwischen Gesten als körperlichen Darstellungs- und Ausdrucksformen und der sprachlichen, mit Hilfe von Interpretationen ermittelten Bedeutung von Gesten ist unaufhebbar. Gesten enthalten einen über ihre Intentionalität hinausgehenden Gehalt, der nur im mimetischen Nachvollzug erfahrbar wird. In jeder verbalen Kommunikation und in jeder sozialen Interaktion spielen Gesten eine zentrale Rolle. Sie haben eine Mitteilungsfunktion, deren Bedeutung auch im Rahmen der Sozialpsychologie und Ethnologie zum Thema wird. Untersuchungen zur Proxemik zeigen, wie der Einzelne mit Hilfe seines Körpers und seiner Gestik symbolische Räume um sich herum entwickelt. In der Kinesik, der Erforschung von Körperbewegungen, hat Birdwhistell (1952, 1970) Kodes non-
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verbaler Kommunikation analysiert. In der Ethologie werden Ähnlichkeiten zwischen menschlichem und tierischem Verhalten, menschlichen und tierischen Ausdrucksformen untersucht. Darwins Studie über den Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren ist in diesem Zusammenhang nach wie vor eine lesenswerte, diese Forschungsrichtung begründende Schrift (Darwin 1979/1964). Morris u. a. (1979) haben den Ursprung und die Verteilung von Gesten in Europa untersucht, Ähnlichkeiten und Unterschiede empirisch erhoben, verglichen und analysiert. Diese Untersuchung aufgreifend, hat Calbris (1990) eine Semiotik der Gesten in Frankreich vorgelegt, die detaillierte Informationen über den Umgang mit Gesten enthält. Auch die Sprachwissenschaft hat die Bedeutung körperlicher Gesten seit längerem entdeckt und ihre Funktion für das Sprechen hervorgehoben. Verschiedentlich wird die Vermutung geäußert, dass die Gesten des Körpers Vorformen der Sprache darstellen, die für die Herausbildung des Sprechens wichtig waren und für die Entwicklung von Gedanken und Sätzen sowie deren Verständnis nach wie vor unerlässlich sind. Aus allen diesen Untersuchungen wird deutlich, wie zentral Gesten für Darstellung, Ausdruck und Verständnis sozialen Handelns und Sprechens sind. Zugleich zeigen sie, dass Gesten nur in begrenztem Maße bewusst eingesetzt und gesteuert werden. Im Grenzgebiet zwischen Gestik und Mimik treten weite Bereiche der Gestik nicht ins Bewusstsein und entziehen sich daher einer Steuerung und der Kontrolle. Bewusst eingesetzte und mit verschiedenen Körperteilen vollzogene Gesten sind Versuche (Benthien/Wulf 2001), aus Situationen des bloßen Im-KörperSeins herauszutreten und über den Körper zu verfügen. Voraussetzung dafür ist die exzentrische Position des Menschen. Diese beinhaltet, dass der Mensch anders als das Tier aus sich heraustreten und sich zu sich selbst verhalten kann. Imagination, Sprache und Handeln werden durch diese vermittelte Unmittelbarkeit der exzentrischen Position möglich (Plessner 1983). Von Gesten, die intentional gehandhabt werden und dabei voraussetzen, dass der Einzelne über seinen Körper verfügen und ihn einsetzen kann, lassen sich Formen mimischen Körperausdrucks und Formen des gestischen Ausdrucks unterscheiden, die sich der Steuerung und der Kontrolle entziehen. Dazu gehören z. B. die (mimischen) Ausdrucksformen der Freude und des Lachens, des Schmerzes und des Weinens, aber auch weniger eindeutige, oft ins Gestische hinübergehende Ausdrucksformen wie Stirnrunzeln, Kopfschütteln oder die erhobene bzw. die gebeugte Haltung des Kopfes. Daher greift eine Unterscheidung zwischen Mimik und Gestik zu kurz, die davon ausgeht, dass Gesten Intentionen ausdrücken, sich im mimischen Ausdruck jedoch Gefühle artikulieren. Zwar ist der mimische Ausdruck oft unmittelbar und unwillkürlich, doch bedeutet dies nicht, dass es nicht auf der
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der Mimik nahen Seite des Gesten-Spektrums auch Gesten gibt, die sich unwillkürlich und ungesteuert vollziehen. Verschiedentlich hat man diese als „beat“Gesten, als Gesten des Schlagens oder Taktens bezeichnet. Auf der anderen Seite des Gesten-Spektrums befinden sich die eher intentionalen, d. h. die ikonischen und vor allem die metaphorischen Gesten (McNeill 1992, 2005). Sie formen das mimische Material und verwenden es für eine Sprache der Gesten, die nicht universell, sondern kultur-, zeit- und situationsspezifisch ist. Im Unterschied zum mimischen Körperausdruck sind Gesten bis auf die eher unspezifischen Gesten des Schlagens bzw. Taktens ablösbar, gestaltbar und lernbar. Während in der Mimik Ausdruck und Gefühl, Form und Inhalt, seelischer Gehalt und körperliche Ausdruckserscheinung zusammenfallen, zeigen sich in der bewusst eingesetzten Gestik zwischen diesen Aspekten Differenzen, die ihre Gestaltung möglich machen. Vollkommene Gesten erreichen ein hohes Maß künstlicher Natürlichkeit und suggerieren die Verschränkung von seelischem Gehalt und körperlicher Ausdruckserscheinung. Insofern der Mensch Gesten als Ausdruck seiner selbst von innen und außen wahrnehmen kann, gehören sie zu den wichtigsten menschlichen Ausdrucks- und Erfahrungsmöglichkeiten. In Gesten verkörpert sich der Mensch und erfährt sich in der Verkörperung. Im sozialen Umgang mit Gesten kann körperliches Sein in Haben umgewandelt werden. Dieser Transformationsprozess ermöglicht menschliche Existenz. Zur Aufführung und Gestaltung von Ritualen bedarf es spezifischer Gesten. Besonders bei Ritualen im Bereich von Religion und Politik, in denen das repräsentative Element wichtig ist, kommt der Inszenierung und dem Arrangement entsprechender Gesten erhebliche Bedeutung zu.
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Insofern Menschen sind, ohne sich zu haben, und Gesten Entäußerungen sind, können sie über ihre Gesten allmählich auch ein Verhältnis zu ihrem Körper und zu ihrem Inneren gewinnen. In einem mimetischen Verhältnis zu ihren Gesten erleben sie sich in ihren Repräsentationen. In Mimik und Gestik entäußern sie sich und erfahren sie über die Reaktionen anderer Menschen auf ihre Entäußerungen, wer sie sind bzw. wie sie gesehen werden. Die Bilder- und Körpersprache der Gestik ist ein kulturelles Produkt, mit dessen Hilfe Kinder geformt werden und an deren Ausarbeitung sie selbst beteiligt sind. Mit dem mimetischen Erwerb von Gesten findet eine Einfügung in kulturelle Körper- und Bildtraditionen statt, die im Umgang mit Gesten aktualisiert und auf jeweils gegebene Bedingungen bezogen werden. In Gesten kommen eine körperliche Konfiguration,
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eine innere Intention und ein vermitteltes Verhältnis zur Welt zum Ausdruck. Organempfindungen und seelische Empfindungen fallen in der Geste zusammen. Daher lässt sich auch die Frage nicht beantworten, welche Anteile in einer Geste der Freude ihrer körperlichen und welche ihrer psychischen Seite zukommen. In der Leiblichkeit der Geste findet die Untrennbarkeit der beiden Dimensionen ihren Ausdruck. Viele Gesten werden aus kulturell geformtem mimischen und fließendem bzw. verschwommenem gestischen Ausdrucksmaterial erzeugt. Wie dieses mimische Rohmaterial der Gestik entsteht, hat die Forschung immer wieder beschäftigt. Verschiedene Erklärungsversuche liegen vor. Ausgehend von dem Funktionsverlust einzelner Organe wie des Blinddarms und ihrer damit verbundenen Rückbildung erklärt Darwin den mimischen Ausdruck als Rest einer einst zweckmäßigen Funktion. Auf der Grundlage dieses Theorems lässt sich dann die Verzerrung der Mundlinie mit der charakteristischen Entblößung der Eckzähne im Falle der Wut damit erklären, dass der frühe Mensch ein ausgebildetes Gebiss hatte, das beim Angriff und bei der Verteidigung für eine Drohgebärde eingesetzt werden konnte. Vermutet wird, dass die mimische Mundbewegung den Rückbildungsprozess der Eckzähne überdauerte. Die Analogisierung zwischen der aktuellen Mimik und ihrer archaischen Funktion wird als Erklärung für bestimmte in der menschlichen Mimik auftretende Ausdrucksformen angesehen. Unabhängig von Darwin vertrat Piderit die These, Mimik sei eine Handlung mit fiktivem Objekt. Dieses Theorem verweist auf die Bedeutung von Imagination und Mimesis für Mimik und Gestik. Nach dieser Auffassung bezieht sich der mimische Ausdruck auf etwas Fiktives und bildet sich in Bezug auf diese Fiktion heraus. Das Fiktive kann etwas Vergangenes, etwas Gegenwärtiges oder etwas Zukünftiges sein. Der mimische und der zunächst verschwommene gestische Ausdruck sind eine mimetische Reaktion auf eine Fiktion. Im Theater werden Mimik und Gestik mimetisch auf den imaginierten „Plot“ und seine szenische Darstellung bezogen. Dabei wird die weitgehend unbewusste Mimik und verschwommene Gestik in eine bewusst artikulierte Gestik transformiert und stilisiert. Diese wird zu einem Element im szenischen Arrangement, das für die mimetische Verarbeitung der Inszenierung des Stückes durch den Zuschauer von zentraler Bedeutung ist. Analoges gilt auch für die sozialen Inszenierungen und ihre Gestik in anderen Institutionen wie der Schule, der Familie und der Mediennutzung. Viele Gesten sind nicht Formen unmittelbaren Ausdrucks. Unmittelbarer Ausdruck artikuliert sich nur in der Mimik und einem Teil der Gestik. Nur schwer können die sich hier zeigenden Gefühle und Empfindungen verborgen werden. Die Zeichen des Körpers, seine Symptome, seine „Sprache“ gelten als
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unverfälschter Ausdruck des menschlichen Inneren, der menschlichen Seele. Die Physiognomik Lavaters und seiner Nachfolger hat versucht, diesen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen. Doch entziehen sie sich dem identifizierenden Zugriff weitgehend, ohne dass dadurch das Interesse an diesen Zusammenhängen aufgehört hätte. Mimik und Gestik des Alltags verweisen auf ein Körperwissen, das sie hervorbringt, gestaltet und verständlich macht. Dieses Wissen entsteht nicht aus der Analyse und Erklärung von Gesten. Im Vollzug sozialer Prozesse wird es mimetisch erworben.
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E RZIEHUNG UND B ILDUNG
Gesten spielen in Prozessen menschlicher Bildung eine wichtige Rolle. In ihnen fallen Innen und Außen zusammen. Der Weltoffenheit des Menschen geschuldet, schränken sie diese Bedingung des Menschseins gleichzeitig durch Konkretisierungen ein. Diese Begrenzung der kulturell und historisch zugelassenen gestischen Ausdrucksmöglichkeiten schafft soziale Zugehörigkeit und Sicherheit. Über die Vertrautheit mit bestimmten Gesten stellt sich Vertrautheit mit einzelnen Menschen und Gruppen ein. Kinder und Jugendliche wissen, was bestimmte Gesten bedeuten, wie sie einzuschätzen, wie sie zu beantworten sind. Gesten machen menschliches Verhalten kalkulierbar. Sie sind Teil der Sprache des Körpers, die den Angehörigen einer Gemeinschaft viel voneinander mitteilt. Selbst wenn diese Botschaften eher Teil der unbewussten Fremd- und Selbstwahrnehmung sind, als dass sie zu bewusstem Wissen über den Anderen, dessen Empfindungen und Intentionen werden, ist ihre soziale Bedeutung äußerst groß. Sie gehen in das soziale Wissen ein, das der Einzelne im Laufe seiner Sozialisation erwirbt und das für die angemessene Steuerung seines sozialen Handels eine große Rolle spielt (Wulf 2005b, 2006b). Die Bedeutung von Gesten ändert sich in Abhängigkeit von Raum und Zeit. Unterschiede lassen sich im Hinblick auf Geschlecht und Klasse feststellen. Manche Gesten sind geschlechts- oder klassenspezifisch; andere scheinen keine geschlechts- und klassenspezifischen Differenzen zu enthalten. Wieder andere Gesten sind an soziale Räume, Zeitpunkte und Institutionen gebunden. Institutionen wie Kirchen, Gerichte, Krankenhäuser und Schulen verlangen den Gebrauch bestimmter Gesten und sanktionieren deren Vernachlässigung. Über die Forderung, institutionsspezifische Gesten zu vollziehen, setzen Institutionen ihren Machtanspruch durch. Im Vollzug dieser Gesten werden die institutionellen Werte und Vorstellungen in die Körper der Angehörigen bzw. der Adressaten der Institutionen eingeschrieben und durch wiederholte „Aufführungen“ in
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ihrer Gültigkeit bestätigt. Zu diesen institutionsspezifischen Ausdrucksformen des Körpers gehören noch heute Gesten der Demut (Kirche), der Achtung (Gericht), der Rücksichtnahme (Krankenhaus), der Aufmerksamkeit und des Engagements (Schule). Bleiben diese ritualisierten Gesten aus, empfinden die Vertreter von Institutionen dieses Ausbleiben als Kritik an der sozialen und gesellschaftlichen Legitimität ihrer Institutionen. In der Regel sind Sanktionen die Folge. Da sich in diesen Institutionen häufig Menschen befinden, die von ihnen abhängig sind, hat die Androhung von Sanktionen ihre Wirkung. Über die Mimesis institutionsspezifischer Gesten unterwerfen sich die Angehörigen der Gesellschaft dem normativen Anspruch der Institutionen. Auch geschlechtsspezifische Unterschiede werden über Gesten inszeniert, wiederholt und bestätigt. So zeigen sich signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede schon bei Mädchen- und Jungenspielen, in denen das gestische Ausdrucksverhalten über unterschiedliche Spielinteressen (Kooperation und Intimität versus Wettkampf) eingeübt wird. Auch werden geschlechtsspezifische Unterschiede in der Art evident, wie Frauen und Männer sitzen, welchen Raum sie beim Sitzen einnehmen und wie sie ihre Beine beim Sitzen arrangieren. Entsprechendes kommt beim Sprechen, Essen und Trinken zum Ausdruck. Auch klassenspezifische Unterschiede zeigen sich in der jeweiligen Verwendung von Gesten. Im Hinblick auf Fragen des Geschmacks hat Bourdieu diese Differenzen untersucht und deutlich gemacht, dass sich über „feine Unterschiede“ soziale Hierarchien etablieren und verfestigen. Für die Wahrnehmung dieser Unterschiede spielen Differenzen in den körperlichen Gesten und Ausdrucksformen eine wichtige Rolle (Liebau 1992). In seinen Untersuchungen zum Zivilisationsprozess hat Elias (1978) gezeigt, wie die Gesten des Hofes vom Bürgertum nachgeahmt und allmählich übernommen und dabei verändert werden. Wie sich die Macht in den Körpern festsetzt und auch ihre Ausdrucks- und Darstellungsformen, ihre Gesten, in ihrem Sinne zurichtet, hat Foucault (1977) in Überwachen und Strafen gezeigt. Körpergesten dienen somit dazu, soziale und kulturelle Differenzen herzustellen, auszudrücken und zu erhalten. Sie vollziehen sich in einem historisch-kulturellen machtstrukturierten Kontext, aus dem heraus sich erst ihre Bedeutung erschließt. Gesten geben Auskunft über zentrale Werte einer Gesellschaft und erlauben einen Einblick in „Mentalitätsstrukturen“. Am Beispiel des Gestengebrauchs im mittelalterlichen Kloster lässt sich zeigen, welche Funktion Gesten in unterschiedlichen Bereichen einer Gesellschaft haben und wie sich aus ihrer Verwendung Aufschlüsse über das Verhältnis von Körper und Symbol, Gegenwart und Geschichte, Religion und Alltag gewinnen lassen (Schmitt 1992). Gesten begleiten die gesprochene Sprache, haben aber auch ein „Eigenleben“ ohne unmittel-
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baren Bezug zum Sprechen. Oft sind ihre Bedeutungen nicht eindeutig. Verschiedentlich transportieren sie Botschaften, die das Gesprochene ergänzen, sei es, dass sie einzelne Aspekte verstärken, relativieren oder durch Widerspruch in Frage stellen. Häufig sind die in Gesten zum Ausdruck gebrachten Gehalte dichter mit den Gefühlen des Sprechenden verbunden als seine verbalen Aussagen. Sie gelten als „sicherer“ Ausdruck des inneren Lebens eines Menschen gegenüber den stärker vom Bewusstsein gesteuerten Worten. Individuen, Gruppen, Institutionen inszenieren das soziale Leben. Sie entwickeln Choreographien menschlicher Gemeinschaft. Diese Inszenierungen von Körpern, Gesten und rituellen Ausdrucksformen lassen sich wie Texte lesen bzw. entschlüsseln. Clifford Geertz (1983) hat diese Sicht des Sozialen als Text für die Kulturanthropologie fruchtbar gemacht. Sein Versuch, die soziale Realität durch „dichte Beschreibung“ zu erfassen, entspricht dieser Auffassung von der Lesbarkeit des Sozialen. Innerhalb des Spektrums der sozialen Inszenierungen des Körpers kommt Gesten eine zentrale Bedeutung zu. Sie sind Teil der Zeichen-, Körper- und Sozialsprache und können wie die abstrakteren Zeichen eines Textes gelesen werden. Diese Betrachtung von Gesten muss durch eine Perspektive ergänzt werden, in der ihr performativer Charakter betrachtet wird, in der sie als ästhetische Handlungen, als kulturelle Aufführungen begriffen werden (Wulf u. a. 2001; Wulf/Zirfas 2004a, 2007). Um Gesten lesen und entschlüsseln zu können, müssen sie mimetisch erfasst werden. Wer eine Geste wahrnimmt, versteht sie, indem er sie nachahmt und so den spezifischen Charakter ihrer körperlichen Ausdrucks- und Darstellungsform begreift. Obwohl Gesten bedeutungsvoll und einer Analyse zugänglich sind, erfasst erst der mimetische Nachvollzug ihren symbolisch-sinnlichen Gehalt. So wichtig die Differenzierung unterschiedlicher Bedeutungsaspekte von Gesten ist, erst mit Hilfe der Mimesis kann die körperliche Darstellungs- und Ausdrucksweise der Geste aufgenommen werden. Über die Mimesis der gestischen Inszenierung erfolgt deren körperliche Verarbeitung, die sich demgemäß in einem anderen Medium als dem der verbalen Kommunikation vollzieht. Über die mimetische Perzeption der Geste wird der spezifische Charakter des körperlichen Selbstausdrucks eines anderen Menschen erfasst. In der Anähnlichung an die Gesten eines anderen werden seine Körperlichkeit und seine Gefühlswelt erfahren. In der Mimesis der Gesten eines anderen Menschen findet eine Überschreitung der personalen Grenzen des Sich-mimetisch-Verhaltenden in Richtung auf die körperliche Darstellungs- und Ausdruckswelt des anderen statt. Die Erfahrung eines Außen wird möglich. Dieses „Heraustreten“ des Sich-mimetisch-Verhaltenden aus seinen Strukturen in die gestische Darstellungs- und Ausdruckswelt eines anderen Menschen
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wird als bereichernd und lustvoll erlebt. Es führt zur Erweiterung der Innenwelt durch die aisthetisch-mimetische Aufnahme eines Außen und ermöglicht lebendige Erfahrungen. Lebendig sind diese Erlebnisse, weil die mimetischen Kräfte es erlauben, die Eigenart des Anderen in der Wahrnehmung zu erfassen. In diesem Prozess erfolgt weniger eine Reduktion der Gesten des Anderen auf den Bezugsrahmen des Sich-mimetisch-Verhaltenden, als vielmehr eine Ausweitung der Wahrnehmung auf die Gesten und die Bezugspunkte des Anderen. Obwohl beide Bewegungen nicht eindeutig voneinander abgrenzbar sind, liegt der Schwerpunkt der Bewegung in einer Erweiterung des mimetisch Wahrnehmenden bis hinein in die Darstellungs- und Ausdruckswelt anderer. Durch diese Orientierung der mimetischen Bewegung erfolgt weniger eine Einverleibung des Wahrgenommenen als eine mit assoziativen Bildern verbundene Ausweitung des Sich-mimetisch-Verhaltenden auf die Körpergesten des Anderen hin. Diese Erweiterung nach außen führt zu einer lustvollen Bereicherung des Lebens, in der bereits Aristoteles ein besonderes Merkmal der Mimesis sah.
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In sozialen Situationen sind Gesten Mittel der Sinngebung. Sie drücken Gefühle aus und artikulieren Stimmungen. Sie bringen individuelle Konzepte und Vorstellungen innerer Bilder und des Weltverständnisses zum Ausdruck. Darüber hinaus konstruieren konventionalisierte Gesten Homologien zwischen abstrakten und konkreten kollektiven Vorstellungsbildern und beeinflussen damit das individuelle Denken. Sie lassen sich als deren körperlich-symbolische Darstellungen begreifen. Häufig sind die sich in den Gesten artikulierenden Gefühle und Stimmungen weder denen bewusst, die die Gesten vollziehen, noch gelangen sie ins Bewusstsein derer, die diese Gesten wahrnehmen und auf sie reagieren. In dieser Wirkung unterhalb des Bewusstseins liegt ein wesentlicher Teil ihrer sozialen Bedeutung. Dies gilt auch für die von Institutionen suggerierten Gesten und die in ihnen enthaltenen Werte, Normen und Machtansprüche. Auch sie werden von denen, die mit den Institutionen in Berührung kommen, wahrgenommen und mimetisch verarbeitet, ohne dass dieser Prozess über das Bewusstsein läuft. Häufig stellen Institutionen Typen von Gesten bereit, die in ihrem Rahmen über lange Zeiträume entstanden sind und mit deren Hilfe ihre Vertreter die gesellschaftlichen Ansprüche der Institutionen zum Ausdruck bringen. Indem die Repräsentanten dieser Institutionen sich der „bereitstehenden“ Gesten bedienen, stellen sie sich in die Tradition dieser Institutionen und ihrer sozialen Ansprüche. Dieser Prozess führt einmal zur Übernahme der in der Institution bereits vorge-
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formten sozialen Gesten. Zum anderen bewirkt sein mimetischer Charakter, dass die zum institutionellen Potential gehörenden Gesten nicht bloß reproduziert, sondern von den Vertretern der Institutionen in der Übernahme gestaltet werden können. Die Mimesis von institutionell vorgeformten Gesten eröffnet den Repräsentanten der Institutionen ein hohes Maß gestalterischer Freiheit. Dieser Freiheitsspielraum führt zu einer allmählichen Veränderung gestischer Darstellungsund Ausdrucksformen und ihrer Bedeutung. In der Mimesis institutionell bereitstehender Gesten finden gleichzeitig eine Darstellung vorhandener Traditionen und ihre Veränderung statt. Dieser Prozess beinhaltet keine bloße Nachahmung der Gesten, sondern ihre kreative Ausgestaltung in Form und Bedeutung. So verändern in der Form gleich gebliebene Gesten im Verlauf neuer gesellschaftlicher Entwicklungen ihre soziale Bedeutung. Untersuchungen zur Geschichte von Gesten und ihrer Entwicklungen haben dies eindrucksvoll belegt (Starobinski 1994). Insofern Institutionen ihre Machtansprüche in den Gesten ihrer Repräsentanten „verkörpern“, werden diese Machtansprüche auch über die Mimesis dieser Verkörperungen wahrgenommen und aufrecht erhalten. Die Adressaten dieser Ansprüche werden in den mimetischen Prozess der Übernahme und kreativen Ausgestaltung der institutionellen Werte und Normen einbezogen. Wie die Adressaten institutioneller Handlungen in der Mimesis institutioneller Gesten deren Wirkungen mitgestalten, wirkt auf Form und Gehalt der Gesten der Repräsentanten der Institutionen zurück. Diesem Wechselverhältnis zwischen den Vertretern und den Adressaten institutioneller Gestik kommt für das Verständnis der sozialen Funktion von Gesten eine zentrale Bedeutung zu. Über die Mimesis der institutionellen Gesten stellt sich bei den Vertretern und den Adressaten von Institutionen eine Identifikation mit der Institution her, deren Ansprüche und Geltung durch den Vollzug der Gesten jedes Mal bestätigt werden. Gesten werden zu Emblemen von Institutionen, über die sich die Abgrenzung zu anderen Institutionen und sozialen Feldern vollzieht. Wer Form und Bedeutung derartig emblematischer Gesten teilt, identifiziert sich mit der Institution, in deren Rahmen sie erzeugt werden. Über den mimetischen Vollzug von Gesten wird eine soziale Gemeinsamkeit erzeugt, in deren Rahmen die sozialen Beziehungen unter anderem mit Hilfe von Gesten geregelt werden. Gefühle der Zugehörigkeit werden durch den rituellen Vollzug von Gesten erzeugt und bestätigt. Dies gilt nicht nur für Institutionen, sondern auch für professionelle, schichten-, geschlechts- oder funktionsspezifische Gruppen (vgl. Liebau 1999). Gesten sind körperliche Bewegungen, deren kulturelle Bedeutung sich im Verlauf historischer Prozesse ändert. So hat das Sitzen in der heutigen Gesellschaft eine andere Funktion als im Mittelalter oder zu Beginn der Sesshaftwer-
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dung des Menschen. Bereits innerhalb begrenzterer historischer Zeiträume wie im Laufe des Mittelalters wandelt sich die Bedeutung von Gesten. Soziales Handeln ist gestisch oder wird von Gesten begleitet, die seine Intentionen verdeutlichen. Um Gesten in ihrer körperlichen und symbolischen Beschaffenheit zu erfassen, zu reproduzieren und zu verändern, spielen mimetische Prozesse eine entscheidende Rolle. Insofern Mimesis die Fähigkeit ist, ein Verhältnis zur Welt körperlich auszudrücken und darzustellen, bringt sie auch neue Gesten hervor. Für diese Produktion neuer Gesten verwendet sie gestische Elemente, die sie aus ihrem traditionellen Kontext löst und in den neuen Kontext einbringt und entsprechend seinen Erfordernissen verändert. Oder sie erfindet aus dem Potential körperlicher Ausdrucksmöglichkeiten neue gestische Formen. Dies geschieht z. B. bei den Gesten des Telefonierens, Fotografierens, Filmens und VideoMachens. Gesten haben die geringe Instinktgebundenheit und Exzentrizität des Menschen zur Voraussetzung. Sie sind Bewegungen des Körpers, ohne sich auf ihre Körperlichkeit reduzieren zu lassen. Gesten liegt eine Intentionalität zu Grunde, ohne dass sie in ihrer Zielgerichtetheit aufgehen. Gesten sind Ausdruck und Darstellung von Gefühlen und sind auf Gegenstände und andere Menschen bezogen. In Gesten erfährt der Mensch sich und die Welt gleichzeitig. In der Regel erfolgt in ihnen eine für Gesten charakteristische Einschränkung der Perspektive. In Gesten gestaltet der Mensch die Welt und wird gleichzeitig durch sie gestaltet. So gesehen, sind Gesten rückbezüglich, d. h. reflexiv. Gesten sind Ausdruck und Darstellung körperbezogenen praktischen Wissens. Mit Hilfe von Analyse, Sprache und Denken können sie nicht erworben werden. Vielmehr bedarf es zu ihrem Erwerb mimetischer Prozesse. Durch die Nachahmung von Gesten und Anähnlichung an sie gewinnt der Sich-mimetischVerhaltende eine Kompetenz, Gesten szenisch zu entwerfen, einzusetzen und nach den Umständen zu verändern. Historische Untersuchungen ihrer anthropologischen Funktion verdeutlichen die starke gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung szenischen Verhaltens. Mit Hilfe von Gesten werden soziale Kontinuität erzeugt und gesellschaftliche Veränderungen angekündigt und im menschlichen Verhalten durchgesetzt. Unter Beibehaltung des gestischen Arrangements werden häufig tiefgreifende, auf den ersten Blick kaum bemerkte Bedeutungsveränderungen durchgesetzt. Der historische Wandel von Gesten erstreckt sich auf ihre Bedeutungen, ihr körperlich-sinnliches Arrangement oder auf beides. Der mimetische Erwerb gestischer Kompetenz sichert die Fähigkeit, Gesten mit Hilfe von Körperbewegungen aufzuführen, sie in unterschiedlichen sozialen Kontexten einzusetzen und an die jeweiligen Erfordernisse anzupassen. Im mimetischen Erwerb werden Gesten inkorporiert. Sie werden Teil der Körper- und
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Bewegungs-Fantasie und damit eines körperbezogenen praktischen Wissens. Dieses gestische Körperwissen entsteht weitgehend unabhängig vom Bewusstsein und damit von den Distanzierungsmöglichkeiten der Beteiligten, entfaltet aber gerade deswegen nachhaltige Wirkungen. Diese Fokussierung der mimetischen, performativen, körperlichen, sozialen, ludischen und imaginären Seiten der Geste bietet neue Perspektiven für die internationale anthropologische Gestenforschung (Wulf/Fischer-Lichte 2010; Wulf/Althans u. a. 2011).
IV. Mimesis und kulturelles Lernen
Kulturelles Lernen als mimetisches Lernen
Zu den wichtigsten Formen des Lernens gehört das mimetische Lernen, das Lernen durch Nachahmung. Mimetisches Lernen bezeichnet nicht bloßes Imitieren oder Kopieren, sondern einen Prozess, in dem in der mimetischen Bezugnahme auf andere Menschen und Welten eine Erweiterung der Weltsicht, des Handelns und Verhaltens erfolgt. Mimetisches Lernen ist produktiv; es ist körperbezogen und verbindet den Einzelnen mit der Welt und anderen Menschen; es schafft ein praktisches Wissen und ist daher für soziales, künstlerisches und praktisches Handeln konstitutiv. Mimetisches Lernen ist kulturelles Lernen und als solches von zentraler Bedeutung für Erziehung und Bildung.
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Mimetische Prozesse richten sich zunächst vor allem auf andere Menschen. In ihnen nehmen Säuglinge und Kleinkinder auf die Menschen Bezug, mit denen sie zusammenleben: Eltern, ältere Geschwister, andere Verwandte und Bekannte. Sie versuchen sich diesen ähnlich zu machen, indem sie z. B. ein Lächeln mit einem Lächeln beantworten. Doch sie initiieren auch durch die Anwendung bereits erworbener Fähigkeiten die entsprechenden Reaktionen der Erwachsenen. In diesen frühen Prozessen des Austauschs erlernen Kleinkinder auch Gefühle. Sie lernen, diese in Bezug auf andere Menschen in sich zu erzeugen und sie bei anderen Menschen hervorzurufen. Im Austausch mit der Umwelt entwickelt sich ihr Gehirn, d. h. es werden bestimmte seiner Möglichkeiten ausgebildet, andere hingegen verkümmern. Die kulturellen Bedingungen dieses frühen Lebens schreiben sich in die Gehirne und Körper der Kinder ein. Wer nicht in frühem Alter Sehen, Hören, Fühlen oder Sprechen gelernt hat, kann es zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr erlernen (Scheunpflug/Wulf 2006).
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Neuere Arbeiten in der Primatenforschung haben gezeigt: Zwar gibt es elementare Formen mimetischen Lernens auch bei anderen Primaten, doch sind Menschen in besonderer Weise fähig, mimetisch zu lernen. Kulturwissenschaftler überrascht diese Erkenntnis nicht. Schon Aristoteles hat in der Fähigkeit zu mimetischem Lernen und in der Freude der Menschen an mimetischen Prozessen eine besondere menschliche Begabung gesehen. Unter Bezugnahme auf die Erforschung des Sozialverhaltens von Primaten und im Vergleich zu diesen ist es Vertretern der Entwicklungspsychologie und der kognitiven Psychologie in den letzten Jahren gelungen, einige Charakteristika des menschlichen Lernens in diesem frühen Alter zu bestimmen und den besonderen Charakter des mimetischen Lernens beim Menschen im Säuglings- und Kleinkindalter herauszuarbeiten. Zusammenfassend beschreibt Michael Tomasello diese Fähigkeiten von Kleinkindern: „Sie identifizieren sich mit anderen Personen; nehmen andere als intentionale Akteure wie sich selbst wahr; nehmen mit anderen an Aktivitäten gemeinsamer Aufmerksamkeit teil; verstehen viele der kausalen Beziehungen, die zwischen physischen Gegenständen und Ereignissen in der Welt bestehen; erkennen die kommunikativen Absichten, die andere Personen durch Gesten, sprachliche Symbole und Sprachkonstruktionen ausdrücken; lernen anhand von Imitation durch Rollentausch anderen gegenüber dieselben Gesten, Symbole und Konstruktionen hervorzubringen; und bilden sprachlich basierte Gegenstandskategorien und Ereignisschemata“ (Tomasello 2002, S. 189).
Diese Fähigkeiten versetzen Kleinkinder in die Lage, an kulturellen Prozessen teilzunehmen. Sie können sich an den Inszenierungen der Praktiken und Fertigkeiten der sozialen Gruppe beteiligen, in der sie leben, und sich dadurch deren kulturelles Wissen aneignen. Die hier beschriebenen Fähigkeiten verweisen auf die zentrale Bedeutung von Vorbildern für die mimetischen Lernprozesse von Kleinkindern. Die Fähigkeiten, sich mit anderen Personen zu identifizieren, sie als intentional Handelnde zu begreifen und mit ihnen Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, sind an das mimetische Begehren des Kindes gebunden, den Erwachsenen nachzueifern, sich ihnen anzuähneln bzw. wie sie werden zu wollen. In diesem Begehren, den Älteren ähnlich zu werden, liegt die Motivation dafür, kausale Beziehungen zwischen den Gegenständen der Welt zu begreifen, die kommunikativen Absichten anderer Menschen in Gesten, Symbolen und Konstruktionen zu verstehen und wie diese Gegenstandskategorien und Ereignisschemata herauszubilden. Dabei erreichen Kleinkinder bereits mit neun Monaten diese in den mimetischen Möglichkeiten des Menschen liegenden Fähigkeiten,
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über die andere Primaten zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens verfügen (Tomasello 2009).
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Nach unserem heutigen Wissen liegen die Ursprünge des Mimesisbegriffes in Sizilien. „Mimesis“ verweist auf die Art und Weise, wie der „Mimos“ eine Posse aufführt. Der Begriff bezieht sich auf die Alltagskultur der einfachen Leute, auf die Szenen bei den Feiern der Reichen, die mit der Absicht vorgeführt werden, diese zu unterhalten. Die hier entwickelten Inszenierungen und Aufführungen sind oft deftig und despektierlich. Der Mimesisbegriff bezieht sich also anfangs auf kulturelle performative Praktiken und hat eine ausgeprägt sinnliche, auf Körperbewegungen bezogene Seite. Im 5. Jahrhundert v. Chr. findet der Begriff „Mimesis“ dann in Ionien und Attika eine größere Verbreitung. Bereits in vorplatonischer Zeit lassen sich drei Bedeutungsschattierungen unterscheiden, die bis heute wichtige Aspekte mimetischen Lernens beschreiben. So bezeichnet mimetisches Verhalten einmal die unmittelbare Nachahmung von Tieren und Menschen durch Rede, Lied und Tanz, sodann die Nachahmung menschlicher Handlungen und schließlich die Nachschaffung von Bildern von Personen oder Sachen in materieller Form (Else 1958, S. 79). In platonischer Zeit ist die Verwendung des Mimesisbegriffs zur Bezeichnung von Prozessen des Nachahmens, Nachstrebens, Nacheiferns, der Darstellung und des Ausdrucks bereits gebräuchlich. Im dritten Buch von Platons Staat findet erstmals eine Übertragung des Mimesisbegriffs auf die Erziehung statt (Platon 1971). Nach der dort entwickelten Auffassung erfolgt Erziehung weitgehend durch Mimesis. Den mimetischen Prozessen wird eine außerordentliche Macht zugeschrieben. Sie basiert auf der starken mimetischen Veranlagung des Menschen, die besonders im frühen Kindesalter die motorische, sinnliche und sprachliche sowie die geistige, soziale und personale Entwicklung ermöglicht. Nach Platons Auffassung erfahren und erwerben Kinder und Jugendliche soziales Verhalten in der Begegnung mit anderen Menschen und im Erleben von deren Verhaltensweisen. In diesen Prozessen werden Werte und Einstellungen mit allen Sinnen aufgenommen und inkorporiert. Neben den visuellen kommt den auditiven Sinneswahrnehmungen eine besondere Bedeutung zu. So betont Platon die Bedeutung der Musik und ihrer mimetischen Verarbeitung für die Entwicklung der seelischen Erlebnisfähigkeit. Er unterscheidet verschiedene Formen der Musik, denen er vielfältige Wirkungen auf die „Seele“ junger Menschen zuschreibt.
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Nach der im Staat entwickelten Auffassung sind die erzieherische Entwicklung und das Lernen des jungen Menschen durch sein mimetisches Begehren möglich (Girard 1987), das seine Angleichung an ein Vorbild „erzwingt“. Durch die Auswahl richtiger Vorbilder soll menschliche Unzulänglichkeit überwunden und Verbesserung erreicht werden. Strittig ist die Radikalität dieser Position, mit der auf der Basis einer normativen Anthropologie und einer normativen Erziehungstheorie das Leben und die Erfahrungen junger Menschen bestimmt werden. Bereits Aristoteles hat in seiner Poetik dieser platonischen Auffassung widersprochen. Zwar war er genauso von der Macht mimetischer Prozesse überzeugt, doch zog er daraus andere Schlussfolgerungen. Nicht dürfe das Unzulängliche und Unverbesserliche aus dem Erfahrungsbereich ausgeschlossen werden; vielmehr müsse man sich diesem stellen, sich mit ihm auseinandersetzen und sich dadurch gegen seine Ansteckungsmacht „immunisieren“. Schutz gegen die Macht negativer Vorbilder biete nicht ihre Vermeidung, sondern die Auseinandersetzung mit ihnen. Sonst bleibe der junge Mensch gegenüber negativen Einflüssen anfällig und wehrlos. Nur wenn eine Bearbeitung der negativen Vorbilder stattfinde, könnten sich Widerstandskraft und personale Stärke entwickeln. Ähnliche Überlegungen spielen bis heute in der politischen Bildung eine Rolle. Danach entstehen gefestigte politische Einstellungen nicht durch die Abwehr ihnen widersprechender Auffassungen, sondern durch deren kritische Bearbeitung. Gleiches gilt für Einstellungen und Werte in anderen Bereichen der Erziehung. Diese Position wird heute durch psychoanalytisches Wissen gestützt, das die negativen Folgen von Vermeidung und Abwehr für die Psychogenese herausgestellt hat. Wegen der nachhaltigen Wirkungen mimetischer Lernprozesse auf die Imagination verlangt Platon eine strenge Kontrolle ihrer Gegenstände und Inhalte und fordert Aristoteles die intensive Bearbeitung ihrer Wirkungen. Nicht nur Vorstellungen, Einstellungen und Werte, sondern auch soziale Lebens- und Handlungsformen werden über mimetische Prozesse gelernt. Aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen junger Menschen entsteht keine bloße Kopie des Vorbilds; der mimetische Prozess führt zu einer Differenz, die die Eigenständigkeit und den kreativen Charakter seiner Ergebnisse ausmacht. Das im mimetischen Akt angeeignete Vorbild ist also keine bloße Abbildung aufgrund äußerer Ähnlichkeit, sondern eine Konstruktion des sich mimetisch Verhaltenden, in der Raum für Differenz, Partikularität und Kreativität ist.
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M IMETISCHES L ERNEN : W ELTANEIGNUNG UND S UBJEKTKONSTITUTION Für mimetische Lernprozesse, in denen eine Weltaneignung erfolgt, bietet Walter Benjamins autobiographische „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ ein gutes Beispiel, in der der Autor beschreibt, wie er sich als Kind in Beziehung zu Orten, Räumen, Wegen, Häusern, Gegenständen, Ereignissen etc. setzt, wie er sie in seine innere Bilderwelt aufnimmt und dadurch in individueller Weise „aneignet“. Benjamins Erinnerungen verdeutlichen, wie ein Kind die Welt mimetisch erlebt. Einem Magier gleich stellt es Ähnlichkeiten zwischen sich und der Außenwelt her; mimetisch erschließt es sich Straßen, Plätze und die Räume und Kammern des Elternhauses. Seine magische Weltdeutung, in der die Welt der Dinge belebt ist und dem Kind antwortet, vollzieht sich über Prozesse der Angleichung und Anähnlichung an die Gegenstände; das Kind „liest“ die Welt und „schafft“ in diesem Prozess Korrespondenzen. Indem es die Arme ausstreckt und rotieren lässt und dabei mit seinem Mund den dazu benötigten Wind erzeugt, wird es zu einer „Windmühle“. Dadurch erweitert es seine Erfahrungen: Das Kind begreift, wie der Wind eine Mühle antreibt; es erfährt etwas von der Macht des Windes und der Macht menschlicher Naturnutzung; es erfasst die Faszination menschlicher Produktivität. Im mimetischen Akt der Verwandlung zur „Windmühle“ erlebt es seine Möglichkeiten – wenigstens im Spiel –, Macht über die Natur auszuüben. Indem das Kind mit seinem Körper zur „Windmühle“ wird, macht es sich mit einer ersten Form der Maschine und dem Maschinencharakter des menschlichen Körpers vertraut. Zugleich lernt es, seinen Körper als Instrument der Darstellung und des Ausdrucks zu verwenden. Dabei gewinnt es nicht nur konkrete Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten; es macht auch die Erfahrung, seinen Körper für bestimmte Zwecke einsetzen zu können und damit soziale Anerkennung zu erhalten. Derartige mimetische Prozesse sind von symbolischen Deutungen begleitet, so dass in ihnen auch Denken und Sprechen entwickelt werden. In dieser Welt der Kindheit spielen nicht nur Bilder, sondern auch Töne, Laute und Geräusche sowie Gerüche und Tasterfahrungen eine große Rolle. Oft transzendieren diese nicht-visuellen Eindrücke die Bilder ins Unbekannte und Unbewusste. So ist von dem „berauschenden Geräusch der Luft“ die Rede; so wird das Summen des Gasstrumpfs zur Stimme des „bucklichten Männleins“, das beschwörende Worte über die Jahrhundertschwelle flüstert; so endet die Welt des Sichtbaren und Greifbaren im Nachhall des Telefons, in den „Nachtgeräuschen“, im Unsichtbaren, Unerkennbaren, Anonymen. Über mimetische Prozesse setzen sich manche Bilder und Geräusche früher Kindheit im „tieferen Ich“
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fest, aus dem sie mit Hilfe optischer oder akustischer Anstöße wieder ins Bewusstsein gerufen werden können. Im Akt des Erinnerns findet ein mimetischer Bezug zum Material der Erinnerung statt, der dieses jeweils in einer spezifischen Weise zur Darstellung bringt. Erinnerungen unterscheiden sich in Intensität und Bedeutung im Augenblick des Erinnerns. Die Differenz zwischen verschiedenen Akten des Erinnerns der gleichen Begebenheit lässt sich auch als Differenz in der erinnernden Konstruktion und der mimetischen Repräsentation begreifen. Die mimetische Fähigkeit des Kindes, sich in Bezug zur Welt zu setzen, sich ihr ähnlich zu machen, sie zu lesen, geht nach Benjamins Auffassung in die Sprache und in die Schrift ein. Dabei schafft sich die „mimetische Begabung“, die früher das „Fundament der Hellsicht“ war, in Sprache und Schrift das „vollkommenste Archiv unsinnlicher Ähnlichkeit“. Das Ähnlichsein und das Ähnlichwerden stellen zentrale Momente kindlicher Entwicklung dar, über die sich allmählich das Verhältnis zur Welt, zur Sprache und zu sich selbst herausbildet. Mit Hilfe dieser Prozesse findet die Einfügung in die in der symbolisch kodierten Welt zum Ausdruck kommenden Struktur- und Machtverhältnisse statt, denen gegenüber erst später Distanz, Kritik und Veränderung möglich werden. Mit Hilfe seines mimetischen Vermögens übernimmt das Kind die Bedeutung der Gegenstände, Darstellungs- und Handlungsformen. In einer mimetischen Bewegung schlägt das Kind eine Brücke nach außen. Im Zentrum der mimetischen Aktivität steht der Bezug auf das Andere, das es nicht einzuverleiben, sondern dem es sich anzugleichen gilt. Im Akt der rezeptiven Wahrnehmung ist ein Innehalten der Aktivität mit einem Moment der Passivität für den „mimetischen Impuls“ charakteristisch. Die mimetische Begegnung mit der Welt erfolgt mit allen Sinnen, die im Verlauf dieser Prozesse ihre Sensibilität entfalten. Diese kindliche Möglichkeit einer mimetischen Welterschließung bildet eine Voraussetzung für die Qualität der sinnlichen und emotionalen Empfindungsfähigkeit des späteren Erwachsenen. Das gilt besonders für die Entwicklung seiner ästhetischen Sensibilität und seiner Fähigkeit zu Mitempfinden, Mitleiden, Sympathie und Liebe. Die mimetischen Fähigkeiten führen dazu, Empfindungen anderer Menschen nachzuvollziehen, ohne sie zu vergegenständlichen oder sich gegen sie zu verhärten.
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UND
Die Fähigkeit zu sozialem Handeln wird in kulturellen Lernprozessen mimetisch erworben. Zahlreiche Forschungen haben dies in den letzten Jahren ergeben.
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Menschen entwickeln die von Kultur zu Kultur unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeiten des Spielens, Tauschens von Gaben und rituellen Handelns in mimetischen Prozessen. Um jeweils „richtig“ handeln zu können, ist ein praktisches Wissen erforderlich, das über sinnliche, körperbezogene mimetische Lernprozesse in den entsprechenden Handlungsfeldern erworben wird. Auch die jeweiligen kulturellen Charakteristika sozialen Handelns lassen sich nur in mimetischen Annäherungen erfassen. Praktisches Wissen und soziale Handlungen sind stark historisch und kulturell geformt. Dies zeigt sich besonders in Ritualen und in dem in ihnen gelernten praktischen Wissen, für dessen Entstehung die Inszenierung und Aufführung, die Wiederholung und das damit verbundene mimetische Lernen von besonderer Bedeutung sind (Wulf u. a. 2001, 2004, 2007). In einer ersten Annäherung werden soziale Handlungen als mimetisch bezeichnet, wenn sie als Bewegungen Bezug auf andere Bewegungen nehmen, wenn sie sich als körperliche Aufführungen oder Inszenierungen begreifen lassen und wenn sie eigenständige Handlungen sind, die aus sich heraus verstanden werden können und die auf andere Handlungen oder Welten Bezug nehmen (Gebauer/Wulf 1998b). Nicht mimetisch sind damit Handlungen wie mentale Kalküle, Entscheidungen, reflexhaftes oder routiniertes Verhalten, aber auch einmalige Handlungen und Regelbrüche. Überall, wo jemand mit Bezug auf eine schon bestehende soziale Praxis handelt und dabei selbst eine soziale Praxis herstellt, entsteht ein mimetisches Verhältnis zwischen beiden; beispielsweise, wenn man eine soziale Praxis aufführt, wenn man nach einem sozialen Modell handelt, wenn man eine soziale Vorstellung körperlich ausdrückt. Dabei handelt es sich – wie wir gesehen haben – nicht einfach um imitatorische Handlungen. Mimetische Handlungen sind keine bloßen Reproduktionen, die exakt einem Vorbild folgen. In mimetisch vollzogenen sozialen Praxen kommt es zur Erzeugung von etwas Eigenem (Suzuki/Wulf 2007). Im Unterschied zu den Prozessen der Mimikry, in denen eine reine Anpassung an vorgegebene Bedingungen vollzogen wird, erzeugen mimetische Prozesse gleichzeitig Ähnlichkeit und Differenz zu anderen Situationen oder Menschen, auf die sie sich beziehen. Durch die „Anähnlichung“ an früher erfahrene Situationen und kulturell geprägte Welten erwerben Subjekte die Fähigkeit, sich in einem sozialen Feld zu orientieren. Durch die Teilnahme an der Lebenspraxis anderer Menschen weiten sie ihre Lebenswelt aus und schaffen sich neue Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten. Dabei überlagern sich Rezeptivität und Aktivität; in diesem Prozess verschränkt sich die vorgegebene Welt mit der Individualität derer, die sich auf sie mimetisch beziehen. Die Menschen schaffen die früher erfahrene Situation bzw. die Welt außerhalb ihrer noch einmal und
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machen sie in der Verdopplung zu ihrer eigenen. Erst in der Auseinandersetzung mit der früheren Situation bzw. der äußeren Welt gewinnen sie ihre Individualität. Erst in diesem Prozess formt sich der nicht festgestellte Antriebsüberschuss der Menschen zu individuellen Wünschen und Bedürfnissen sowie zu einem individuellen Imaginären. Die Auseinandersetzung mit dem Außen und die Selbstbildung entstehen in demselben System. Äußere und innere Welt gleichen sich kontinuierlich an und werden nur in der Wechselbeziehung erfahrbar. Ähnlichkeiten und Korrespondenzen zwischen Innerem und Äußerem entstehen. Die Menschen machen sich der Außenwelt ähnlich und ändern sich in diesem Prozess; in dieser Transformation wandeln sich ihre Wahrnehmung des Äußeren und ihre Selbstwahrnehmung. In mimetischen Lernprozessen werden vorgängige soziale Handlungen noch einmal gemacht. Sie werden inszeniert, aufgeführt und dadurch performativ (Wulf/Göhlich/Zirfas 2001; Wulf/Zirfas 2007). Dabei wird die Bezugnahme nicht vom theoretischen Denken, sondern mit Hilfe der Sinne aisthetisch hergestellt (vgl. auch Rizzolatti/Craighero 2004); verglichen mit der ersten sozialen Handlung entfernt sich die zweite Handlung von dieser insofern, als sie sich mit ihr nicht direkt auseinandersetzt, sie nicht verändert, sondern sie noch einmal macht; dabei hat die mimetische Handlung einen zeigenden und darstellenden Charakter; ihre Aufführung erzeugt wiederum eigene ästhetische Qualitäten. Mimetische Prozesse beziehen sich auf von Menschen bereits gemachte soziale Welten, die entweder wirklich gegeben oder imaginär sind. Der dynamische Charakter sozialer Handlungen hängt damit zusammen, dass das für ihre Inszenierung erforderliche Wissen ein praktisches Wissen ist. Als solches unterliegt es in geringerem Maße als analytisches Wissen rationaler Kontrolle. Dies ist auch der Fall, weil praktisches rituelles Wissen kein reflexives, seiner selbst bewusstes Wissen ist. Dazu wird es erst im Zusammenhang mit Konflikten und Krisen, in denen die aus ihm entstehenden Handlungen einer Begründung bedürfen. Wird die soziale Praxis nicht in Frage gestellt, so bleibt das praktische Wissen gleichsam halbbewusst. Wie das Habitus-Wissen umfasst es Bilder, Schemata, Handlungsformen, die für die szenische körperliche Aufführung sozialer Handlungen verwendet werden, ohne dass sie auf ihre Angemessenheit hin reflektiert werden. Sie werden einfach gewusst und für die Inszenierung der sozialen Praxis herangezogen (Krais/Gebauer 2002). Zum praktischen Wissen gehören auch die Körperbewegungen, mit deren Hilfe Szenen sozialen Handelns arrangiert werden. Mittels der Disziplinierung und Kontrolle von Körperbewegungen entsteht ein diszipliniertes und kontrolliertes praktisches Wissen, das – im Körpergedächtnis aufbewahrt – die Inszenierung entsprechender Formen symbolisch-szenischen Handelns ermöglicht. Die-
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ses praktische Wissen ist auf die in einer Kultur herausgebildeten sozialen Handlungs- und Aufführungsformen bezogen und daher ein zwar ausgeprägtes, in seinen historisch-kulturellen Möglichkeiten jedoch auch begrenztes Wissen. In mimetischen Prozessen vollzieht sich eine nachahmende Veränderung und Gestaltung vorausgehender Welten. Hierin liegt das innovative Moment mimetischer Akte. Mimetisch sind soziale Praxen, wenn sie auf andere Handlungen Bezug nehmen und selbst als soziale Arrangements begriffen werden können, die sowohl eigenständige soziale Praxen darstellen als auch einen Bezug zu anderen Handlungen haben. Soziale Handlungen werden durch die Entstehung praktischen Wissens im Verlauf mimetischer Prozesse möglich. Das für soziale Handlungen relevante praktische Wissen ist körperlich und ludisch sowie zugleich historisch und kulturell; es bildet sich in face-to-face-Situationen und ist semantisch nicht eindeutig; es hat imaginäre Komponenten, lässt sich nicht auf Intentionalität reduzieren, enthält einen Bedeutungsüberschuss und zeigt sich in den sozialen Inszenierungen und Aufführungen von Religion, Politik und alltäglichem Leben.
M IMETISCHES L ERNEN : E NKULTURATION ANÄHNLICHUNG UND D IFFERENZ
DURCH
Abschließend sollen einige Überlegungen zur Bedeutung mimetischer Lernprozesse für die Entstehung von Gemeinschaften, die Erzeugung von kulturellem Wissen und die Erziehung und Bildung von Subjekten entwickelt werden. 1) Im Unterschied zur Imitation und zur Simulation wird mit der Verwendung des Begriffs „Mimesis“ an einem Außen festgehalten, dem man sich annähert und ähnlich macht, in das hinein das Subjekt sich aber nicht „auflösen“ kann, zu dem also eine Differenz bestehen bleibt. Dieses Außen, auf das sich Subjekte hinbewegen, kann ein anderer Mensch, ein Teil der Umwelt oder eine konstruierte imaginäre Welt sein. In jedem Fall findet eine Annäherung an eine Außenwelt statt. Indem dieses Außen mit den Sinnen und der Einbildungskraft in mimetischen Lernprozessen in innere Bilder, Klangkörper, Tast-, Geruchsund Geschmackswelten überführt wird, lässt es lebendige, an die unhintergehbare Körperlichkeit des Subjekts gebundene Erfahrungen entstehen. 2) Mimetische Lernprozesse sind mit der Körperlichkeit gegeben und beginnen daher sehr früh. Sie vollziehen sich vor der Ich-Du-Spaltung und der Subjekt-Objekt-Trennung und tragen wesentlich zur Psycho-, Sozio- und Personagenese bei. Sie reichen hinein ins Vorbewusste. Aufgrund ihrer Verklammerung
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mit den frühesten Prozessen der Körperkonstitution durch Geburt, Entwöhnung und Begehren sind ihre Wirkungen sehr nachhaltig. 3) Noch bevor sich Denken und Sprache herausbilden, erfahren wir die Welt, uns und den Anderen mimetisch. Mimetische Prozesse sind an die verschiedenen Sinne gebunden. Besonders beim Lernen motorischer Fähigkeiten spielen mimetische Fähigkeiten eine wichtige Rolle. Doch auch der Erwerb der Sprache ist ohne diese Begabung nicht denkbar. In der frühen Kindheit erfährt das Kind die Welt in mimetischen Lebensformen. 4) In mimetischen Prozessen wird das geschlechtliche Begehren geweckt und entwickelt. Eine Geschlechterdifferenz wird erfahren und eine Geschlechteridentität gelernt und erworben. Begehren verhält sich zu anderem Begehren mimetisch; es wird angesteckt und steckt selbst an; dabei entfaltet es eine mit den Intentionen des Subjekts häufig in Widerspruch geratende Dynamik. Einmal entfaltete Vorstellungen werden modifiziert, neue probiert. Bezüge zu immer wieder anderen Entwürfen und Experimenten werden entwickelt. Viele dieser Prozesse vollziehen sich unbewusst. 5) Mimetische Prozesse unterstützen die Polyzentrizität des Subjekts. Sie reichen in Schichten der Körperlichkeit, der Sinnlichkeit und des Begehrens, in denen andere Kräfte als im Bewusstsein bestimmend sind. Zu diesen gehören Aggression, Gewalt und Destruktion, die ebenfalls in mimetischen Prozessen geweckt und gelernt werden. In Gruppen- und Massensituationen können sie besonders wirksam werden, da in diesen das Steuerungs- und Verantwortungszentrum des Subjekts durch eine Gruppen- bzw. Masseninstanz ersetzt wird, die durch eine rauschhafte Ansteckung destruktive Handlungen möglich macht, zu denen das einzelne Subjekt nicht in der Lage wäre. 6) In mimetischen Prozessen werden die in den Institutionen Familie, Schule und Betrieb verkörperten Werte, Einstellungen und Normen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gelernt. Wie z. B. die Diskussion über den „heimlichen Lehrplan“ (Zinnecker 1975) gezeigt hat, können die in der Institution tatsächlich wirkenden Werte in Widerspruch zum bewussten Selbstverständnis der Institution stehen. Institutionsanalyse und Ideologiekritik, Institutionsberatung und institutionelle Veränderungen können diese Widersprüche ins Bewusstsein bringen und Abhilfe ermöglichen. 7) Analoges gilt für die erzieherischen und sozialisatorischen Wirkungen von Menschen. Auch sie vollziehen sich weit mehr über mimetische Prozesse als allgemein angenommen wird. Auch hier gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Selbstbild des Erziehers und den Wirkungen seines tatsächlichen Handelns. Nicht selten beeinflussen die unbewussten und ungewollten – sich beispielsweise über die Charaktere von Lehrern und Erziehern vermittelnden – Wirkungen
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Kinder und Jugendliche nachhaltig. Insbesondere wird die Art und Weise, in der individuelle Lehrer empfinden, denken und urteilen, in mimetischen Prozessen erfahren und gelernt. Angleichung und Abstoßung spielen dabei eine in jedem einzelnen Fall unterschiedliche und in ihren Auswirkungen nur schwer einschätzbare Rolle. Die Schwierigkeit, die Wirkung erzieherischen Verhaltens einzuschätzen, resultiert auch daher, dass das gleiche Verhalten eines Lehrers oder Erziehers in verschiedenen Lebensphasen eines Menschen unterschiedlich eingeschätzt wird. 8) Die mimetische Aneignung von Orten, Räumen und Gegenständen ist für die Entwicklung des Subjekts von zentraler Bedeutung. Von früher Kindheit an setzt es sich in einen mimetischen Bezug zur umgebenden, als „beseelt“ erlebten Welt. In dieser Anähnlichung und Angleichung weitet sich das Kind in diese hinein aus, nimmt es sie in seine innere imaginäre Welt auf und bildet sich dadurch. Da es sich stets um eine historisch und kulturell bestimmte Welt handelt, deren Gegenstände Bedeutungen haben, also symbolisch kodiert sind, erfolgt in diesen mimetischen Prozessen auch eine Enkulturation des Kindes bzw. Jugendlichen. 9) Gegenstände und Institutionen, imaginäre Gestalten und praktische Handlungen sind in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebettet, die durch Anähnlichung und Angleichung mitvermittelt werden. In mimetischen Prozessen werden sie gelernt und erfahren, durchschaut jedoch zunächst meistens nicht. Um das mimetisch Erlebte zu begreifen, bedarf es der Analyse und der Reflexion. Nicht selten entstehen dann erst angemessene Einschätzungen und Urteile. Mimetische Prozesse stellen wichtige Voraussetzungen für das Entstehen lebendiger Erfahrungen dar; damit sich diese entwickeln, bedarf es auch der Analyse und der Reflexion. 10) Mimetische Prozesse sind ambivalent; ihnen ist ein Impuls zur Angleichung inhärent, der sich unabhängig vom Wert der vorgängigen Welt vollziehen kann. So finden Anähnlichungen an Erstarrtes und Lebloses statt, die die innere Entwicklung des Subjekts blockieren oder fehl lenken. Mimesis kann zu Simulation und Mimikry verkommen. Sie kann aber auch zur Ausweitung des Subjekts in die umgebende Welt führen, zu einem Brückenschlag zur Außenwelt und damit zu neuen Lernerfahrungen. Für die mimetische Annäherung an die Außenwelt ist ihre Gewaltlosigkeit charakteristisch. Es ist nicht Ziel des mimetischen Prozesses, die Welt zu gestalten oder zu verändern. Eher geht es darum, sich in der Begegnung mit ihr zu entwickeln und zu bilden. 11) In mimetischen Prozessen kann ein nicht-instrumenteller Zugang zu anderen Menschen gelernt werden. Die mimetische Bewegung lässt den Anderen, wie er ist, und versucht nicht, ihn zu verändern. Sie enthält eine Offenheit für das
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Fremde, indem sie es bestehen lässt, sich ihm nähert, aber nicht darauf zielt, die Differenz aufzulösen. Der mimetische Impuls zum Anderen akzeptiert dessen Nicht-Identität; er verzichtet auf Eindeutigkeit um der Andersheit des Anderen willen, dessen Eindeutigkeit nur durch Reduktion auf dasselbe, das Bekannte, möglich wäre. Der Verzicht auf Eindeutigkeit sichert den Reichtum der Erfahrung und die Andersartigkeit des Fremden. 12) In der mimetischen Bewegung wird dadurch gelernt, dass von einer symbolisch erzeugten Welt aus eine vorgängige Welt interpretiert wird, die selbst schon interpretiert ist. Es erfolgt eine Neudeutung einer bereits gedeuteten Welt. Dies gilt selbst für die Wiederholung oder einfache Reproduktion. So schafft eine Geste, die wiederholt vollzogen wird, andere Sinnstrukturen als ihre erste Ausführung. Sie isoliert einen Gegenstand oder ein Ereignis aus dem gewöhnlichen Kontext und stellt eine Perspektive der Rezeption her, die anders ist als diejenige, in der die vorgängige Welt wahrgenommen wird. Isolierung und Perspektivenwechsel sind Merkmale ästhetischer Prozesse, die an die enge Verwandtschaft anknüpfen, die zwischen Mimesis und Ästhetik besteht. Mimetische Neuinterpretation ist eine neue Wahrnehmung, ein Sehen-als (Wittgenstein 1993). Im mimetischen Handeln ist die Absicht involviert, eine symbolisch erzeugte Welt so zu zeigen, dass sie als eine bestimmte gesehen wird.
Immaterielles kulturelles Erbe
Das immaterielle Erbe ist ein zentrales Element des kulturellen Erbes und des Imaginären der Menschheit. Dies zeigen schon die masterpieces und die second proclamation of the oral and intangible heritage (UNESCO 2002, 2003a, b, 2004). Noch deutlicher wird es in den Prozessen, die seit der Verabschiedung der UNESCO-Konvention von 2003 dazu geführt haben, immaterielle kulturelle Praktiken auszuwählen und weltweit als Kulturgüter nicht nur eines Landes oder einer Region, sondern der Menschheit sichtbar zu machen. In der von annähernd 150 Staaten verabschiedeten Konvention werden folgende fünf Bereiche immateriellen kulturellen Erbes unterschieden: mündlich überlieferte Traditionen und Ausdrucksformen, einschließlich der Sprache als Trägerin des immateriellen Kulturerbes (z. B. traditionelle Gesänge, Sagen, Märchenerzählungen, Redensarten); darstellende Künste (z. B. Musik, Tanz, Theaterformen); gesellschaftliche Bräuche, Rituale und Feste (z. B. Umzüge, Prozessionen, Karneval, Spiele); Wissen und Bräuche in Bezug auf die Natur und das Universum (z. B. traditionelle Heilverfahren, landwirtschaftliches Wissen); traditionelle Handwerkstechniken. Vielfältig sind die in diesen Bereichen in den einzelnen Ländern und Regionen gelebten kulturellen Praktiken.12 Auch die Erforschung des immateriellen kultu-
12 Im Jahre 2013 ist auch Deutschland dieser Konvention beigetreten. Nun besteht die Möglichkeit, sich für die Aufnahme in das bundesweite Verzeichnis immateriellen kulturellen Erbes zu bewerben. Träger relevanter Praktiken können sich bei dem Kultusministerium des Bundeslandes bewerben, in dem das immaterielle kulturelle Erbe praktiziert wird, oder im Falle länderübergreifender Praktiken bei der Kultusminister-
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rellen Erbes hat stark zugenommen. Dabei werden sehr unterschiedliche Perspektiven thematisiert. Innovativ ist z. B. der Ansatz eines von der Europäischen Union geförderten Projekts, in dem es um die Zusammenhänge zwischen immateriellem kulturellen Erbe und nachhaltiger regionaler Entwicklung geht. Ziel ist es hier, kulturelle Traditionen mit wirtschaftlicher und sozialer Regionalentwicklung zu verbinden (CCC 2014). Im Weiteren sollen der Zusammenhang zwischen körperlichen kulturellen Praktiken, ihrer performativen Seite, ihrer mimetischen Vermittlung an die nachwachsende Generation und die Möglichkeit verdeutlicht werden, mit ihrer Hilfe Alteritätserfahrungen zu ermöglichen. Es gilt zu zeigen, welche spezifischen Charakteristika das immaterielle kulturelle Erbe ausmachen und welche Rolle es in einer globalisierten, durch kulturelle Verschiedenheit bestimmten Welt spielt. Vier Charakteristika des immateriellen kulturellen Erbes sollen dazu untersucht werden, die für das Verständnis der kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutung des immateriellen Kulturerbes wichtig sind: – – – –
der menschliche Körper; der performative Charakter sozialer Praktiken; Mimesis und mimetisches Lernen; Andersheit und Alterität.
konferenz bzw. der Deutschen UNESCO-Kommission. Im ersten Fall erfolgt zunächst eine Auswahl von zwei Praktiken durch eine vom jeweiligen Kultusministerium eingesetzte Jury. Die ausgewählten Praktiken werden dann an eine vom Vorstand der Deutschen UNESCO-Kommission in Abstimmung mit der Kultusministerkonferenz und den beteiligten Bundesministerien eingesetzte Expertenkommission weitergegeben. Ihr obliegt es, das bundesdeutsche Verzeichnis zu erstellen und Vorschläge für die Aufnahme von zwei Praktiken für die internationale Liste immateriellen kulturellen Erbes an die UNESCO zu machen. In der ersten Bewerbungsrunde erfolgte durch die Kultusministerien eine Vorauswahl aus 128 Vorschlägen, so dass dann insgesamt 83 Vorschläge zur weiteren Begutachtung an die Expertenkommission weitergereicht wurden. Unter den 83 Vorschlägen sind alle Bereiche vertreten, die in dem UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung und Förderung des immateriellen Kulturerbes genannt werden: 29 Bräuche, Rituale und Feste, 19 Beiträge aus dem Bereich der darstellenden Künste, 19 Handwerkstraditionen und 13 Formen des Wissens im Umgang mit der Natur und dem Universum. Drei Vorschläge gelten mündlichen Erzähltraditionen. Die Anzahl der Aufnahmen in das bundesweite Verzeichnis ist nicht beschränkt und wird sich in den nächsten Jahren sicherlich noch beträchtlich erhöhen.
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D ER
MENSCHLICHE
K ÖRPER
Während die Monumente der Architektur sich leicht identifizieren und meist auch relativ gut schützen lassen, sind die Formen immateriellen kulturellen Erbes viel schwieriger auszumachen, zu vermitteln, zu modifizieren und zu erhalten. Die architektonischen Werke des Weltkulturerbes sind aus haltbarem Material hergestellt. Die Formen immateriellen kulturellen Erbes sind weniger dauerhaft und unterliegen dem historischen und kulturellen Wandel. Während architektonische Werke materielle kulturelle Objekte darstellen, haben die Formen und Figurationen immateriellen kulturellen Erbes den sich wandelnden menschlichen Körper als Medium. Wenn man den besonderen Charakter immateriellen kulturellen Erbes verstehen will, muss man sich daher zunächst vergegenwärtigen, welche zentrale Rolle der menschliche Körper als sein Träger spielt. Wenn der menschliche Körper das wichtigste Medium immateriellen kulturellen Erbes ist, dann ergeben sich daraus einige Konsequenzen. Die körperbasierten Praktiken immateriellen Kulturerbes werden durch den Gang der Zeit und durch die Zeitlichkeit des menschlichen Körpers bestimmt. Sie hängen von der Dynamik von Raum und Zeit ab. Im Unterschied zu den kulturellen Monumenten und Objekten sind diese Praktiken nicht fixiert, sondern unterliegen Transformationsprozessen, die an den gesellschaftlichen Wandel und den Austausch zwischen Menschen und kulturellen Bewegungen gebunden sind. Verbunden mit den Dynamiken des Lebens haben die immateriellen kulturellen Praktiken einen Prozesscharakter und sind viel empfindlicher gegenüber homogenisierenden und uniformierenden Einflussnahmen. Deshalb sind sie auch schwerer gegen diese Prozesse der Globalisierung zu schützen. Damit die Praktiken des immateriellen kulturellen Erbes lebendig inszeniert und aufgeführt werden, bedarf es eines individuellen Körperwissens. In der Inszenierung und Aufführung von Praktiken wie Tänzen, Spielen, Ritualen entsteht häufig aus den einzelnen Körpern ein kollektiver Körper. Um diesen Prozess zu verstehen, sind zwei Gesichtspunkte wichtig. Einmal haben die immateriellen Praktiken einen historischen und kulturellen Charakter, in dem sich die jeweilige Gesellschaft ausdrückt und darstellt und der dazu beiträgt, Gefühle der Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit zu erzeugen. Hinzu kommt eine ästhetische, an die Körperlichkeit der Praktiken gebundene Seite, ohne die diese Praktiken und ihre Wirkungen nicht zureichend begriffen werden können (Wulf/Göhlich/ Zirfas 2001; Fischer-Lichte/Wulf 2001, 2004; Wulf/Zirfas 2007).
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D IE P ERFORMATIVITÄT
SOZIALER
P RAKTIKEN
Wenn der menschliche Körper das Medium der Praktiken immateriellen kulturellen Erbes ist, dann ergeben sich daraus Konsequenzen für die Wahrnehmung und das Verständnis dieser Praktiken. Nach meiner Auffassung ist es vor allem ihr performativer Charakter, der Rituale, Spiele, Tänze und andere Praktiken in sozialer und kultureller Hinsicht nachhaltig macht. Da diese Praktiken körperbasiert sind, müssen wir ihre körperliche Seite berücksichtigen und untersuchen, wie diese immateriellen kulturellen Praktiken durch besondere Arrangements des Körpers vollzogen werden. Eine entscheidende Frage ist dabei, auf welchen Körperbildern und Bildern des Sozialen die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes beruhen. Auf jeden Fall müssen die historischen und kulturellen Dimensionen der Körpervorstellungen untersucht werden, die sich in den sozialen Praktiken kulturellen Erbes ausdrücken. Viele immaterielle „Aspekte“ von Kultur und Gesellschaft werden in der Analyse des performativen Charakters dieser Praktiken sichtbar, die Differenzen und Alterität in Szene setzen und aufführen. Durch ihren performativen Charakter erschaffen diese Praktiken Gemeinschaften und kulturelle Identitäten und bieten einer Gemeinschaft die Möglichkeit, eine kulturelle Kontinuität ihrer Mitglieder von einer Generation zur anderen zu schaffen. Die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes bringen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein dynamisches Verhältnis. Einerseits übermitteln sie traditionelle kulturelle Werte, andererseits tragen sie dazu bei, diese an die aktuellen Anforderungen und Bedürfnisse der Menschen anzupassen. Immaterielle kulturelle Praktiken sind Fenster in eine Gesellschaft, die es möglich machen, deren kulturelle Identität und deren Dynamiken zu begreifen. Wenn sie lediglich traditionelle Werte verkörpern und sich nicht auf die Belange der gegenwärtigen Gesellschaft beziehen, verfehlen sie ihre Aufgabe, werden zu Stereotypen und verlieren ihre Gemeinschaft erzeugende Funktion. Wenn sie sich zu schnell den Herausforderungen der Globalisierung anpassen (Wulf/Merkel 2002) und ihren spezifischen kulturellen Charakter aufgeben, dann verfehlen sie ebenfalls ihre soziale Identität schaffende Kraft.
M IMESIS
UND MIMETISCHES
L ERNEN
Praktiken immateriellen kulturellen Erbes werden von den nachwachsenden Generationen zu einem erheblichen Teil in mimetischen Prozessen gelernt. Praktisches Wissen wird als implizites, „schweigendes“ Wissen in mimetischen
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Prozessen erworben. Dies geschieht vor allem dann, wenn Menschen an sozialen Inszenierungen und Aufführungen teilnehmen. Mimetische Prozesse führen nicht zur Herstellung bloßer Kopien sozialen Verhaltens; sie sind vielmehr Prozesse kreativer Nachahmung, die sich auf Modelle und Vorbilder beziehen. In diesem Prozess möchten diejenigen, die sich mimetisch verhalten, wie ihr Vorbild werden, ohne dies jedoch aufgrund der Unterschiede zwischen ihnen und ihren Vorbildern zu werden. Diese Prozesse der Anähnlichung sind von Mensch zu Mensch verschieden und hängen davon ab, wie Menschen sich zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst verhalten. In mimetischen Prozessen nehmen Menschen gleichsam einen „Abdruck“ von der sozialen Welt und machen dadurch diese zu einem Teil ihrer selbst. In diesem Prozess wird das immaterielle kulturelle Erbe an die nachwachsende Generation vermittelt und dabei von ihr verändert (Gebauer/Wulf 1998a, b, 2003; Wulf 2005b). Die Bedeutung mimetischer Prozesse für die Weitergabe der Praktiken immateriellen kulturellen Erbes kann kaum überschätzt werden. Diese mimetischen Prozesse sind sinnlich; sie sind an den menschlichen Körper gebunden, beziehen sich auf das menschliche Verhalten und vollziehen sich häufig unbewusst (Lakoff/Johnson 1999). In ihnen inkorporieren Menschen Bilder und Schemata sozialer Praktiken. Diese werden Teil ihrer inneren Bilder- und Vorstellungswelt. Mimetische Prozesse überführen die Welt des immateriellen kulturellen Erbes in das Imaginäre. Sie tragen dazu bei, diese imaginäre Welt anzureichern, zu erweitern und tragen dadurch zur Entwicklung und Bildung der Menschen bei. In mimetischen Prozessen wird immaterielles kulturelles Erbe zu einem Teil des praktischen Wissens. Dieses Wissen entwickelt sich im Kontext der Aufführungen des Körpers und spielt eine wichtige Rolle dabei, kulturelle Aufführungen in veränderter Form hervorzubringen. Das praktische Wissen ist das Ergebnis einer mimetischen Verarbeitung performativen Verhaltens (Alkemeyer u. a. 2009). Da bei der Entstehung praktischen Wissens Mimesis und Performativität sich wechselseitig durchdringen, spielt die Wiederholung bei der Weitergabe immateriellen kulturellen Wissens eine große Rolle. Kulturelle Kompetenz entsteht nur in Fällen, in denen ein sozial geformtes Verhalten wiederholt und in der Wiederholung kontextbezogen modifiziert wird. Ohne Wiederholung, ohne den mimetischen Bezug zu etwas Gegenwärtigem oder Vergangenem kann keine kulturelle Kompetenz entstehen. Deswegen ist Wiederholung ein zentraler Aspekt der Vermittlung des immateriellen kulturellen Erbes.
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ANDERSHEIT
UND
ALTERITÄT
Die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes sind wichtige Ausdrucksformen kultureller Diversität und Andersartigkeit. Um Vielfalt zu verstehen, bedarf es einer Sensibilisierung für den Anderen, der sich in den Praktiken immateriellen kulturellen Erbes inszeniert und ausdrückt. Um die Reduktion des Unterschiedlichen auf das Gleiche und die Homogenisierung kultureller Mannigfaltigkeit zu vermeiden, bedarf es einer Öffnung für kulturelle Heterogenität, d. h. für Andersheit und Alterität. Nur dadurch, dass sich ein Gespür für den Wert von Alterität entwickelt, kann eine Diversität reduzierende Vereinheitlichung von Kultur infolge uniformierender Globalisierungsprozesse vermieden werden (Todorov 1985; Gruzinski 1988; Waldenfels 1990; Greenblatt 1994). Hervorragende Zeugnisse und alltägliche soziale Praktiken immateriellen kulturellen Erbes spielen für die Erfahrung von Andersheit und Alterität eine zentrale Rolle. Im Verlauf ihrer Geschichte hat die westliche Kultur die folgenden drei Strategien zur Reduktion von Alterität entwickelt: Egozentrismus, Logozentrismus und Ethnozentrismus (Waldenfels 1990). Egozentrismus: Elias, Foucault und Beck haben die Prozesse beschrieben, die bei der Konstitution des modernen Subjekts und bei der Entstehung des Egozentrismus eine Rolle spielen (Elias 1978; Foucault 1977; Beck u. a. 1995). Technologien des Selbst sind an der Entwicklung der Subjekte beteiligt. Viele dieser Strategien sind an die Vorstellung eines sich selbst genügenden Selbst gebunden, das sein eigenes Leben führen soll und seine eigene Biographie entwickeln muss. Dennoch sind die ungewollten Nebenwirkungen eines sich selbst genügenden Subjekts vielfältig. Oft überfordern die Prozesse der Selbstbestimmung die Menschen. Andere Prozesse widersetzen sich der Selbstbestimmung und der Hoffnung auf autonomes Handeln. Einerseits konstituiert der Egozentrismus das moderne Subjekt, vermittelt ihm Kräfte des Überlebens, der Durchsetzung und der Anpassung, andererseits führt er dazu, Differenzen nicht zuzulassen und Vielfalt zu reduzieren. Der Versuch des Subjekts, den Anderen auf seine Nützlichkeit, Funktionalität und Verfügbarkeit zu reduzieren, ist erfolgreich und schlägt zugleich immer wieder fehl. Diese Einsicht eröffnet neue Perspektiven für den Umgang mit Andersheit und Alterität als einem neuen Feld des Wissens und der Forschung. Logozentrismus: Infolge des Logozentrismus nehmen wir den Anderen mit den Kriterien europäischer Rationalität wahr. Wir akzeptieren nur, was sich nach den Gesetzen der Vernunft verhält. Anderes wird ausgeschlossen. Wer auf Seiten der Vernunft steht, hat Recht, selbst wenn es sich um eine reduzierte funktionale Vernunft handelt. So haben Eltern meistens recht gegenüber ihren Kindern,
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zivilisierte Menschen gegenüber den so genannten Primitiven, Gesunde gegenüber Kranken usw. Wer Vernunft besitzt, ist denen überlegen, die über weniger entwickelte Formen vernünftigen Handelns verfügen. Je mehr eines Menschen Sprache und Vernunft von der allgemeinen Norm abweichen, desto schwieriger ist es, sich ihm zu nähern und ihn zu verstehen. Nietzsche, Freud, Adorno und viele andere haben diese Selbstgenügsamkeit der Vernunft kritisiert und darauf hingewiesen, dass das menschliche Leben der Vernunft nur in begrenztem Maße zugänglich ist. Ethnozentrismus: Im Verlauf der Geschichte hat der Ethnozentrismus nachhaltig viele Formen der Andersheit und Alterität zerstört. Todorov (1985), Greenblatt (1994) und andere haben die Prozesse analysiert, die zur Zerstörung fremder Kulturen geführt haben. Zu den fürchterlichsten Beispielen gehört die Kolonialisierung Mittel- und Südamerikas im Namen Christi und der christlichen Könige. Die Eroberung Südamerikas führte zu der Unterwerfung der dortigen Kulturen. An die Stelle der Werte, Vorstellungen und Glaubensformen der Eingeborenen wurden die Formen und Inhalte der europäischen Kultur gesetzt. Alles Fremde und Andersartige wurde vernichtet. Die indigenen Völker konnten die Hinterhältigkeit der Spanier nicht begreifen. Sie machten die Erfahrung, dass deren Freundlichkeit nicht das war, was sie zu sein schien. So wurden Versprechen nicht gegeben, um sie zu halten, sondern um die Eingeborenen in die Irre zu führen und zu täuschen. Jede Handlung diente anderen Zwecken, als sie es vorgab. Die Interessen der Krone, der christlichen Mission und die vermeintliche Inferiorität der Eingeborenen legitimierten das koloniale Verhalten. Ökonomische Motive kamen hinzu und führten zur Zerstörung anderer Formen der Weltsicht. Egozentrismus, Logozentrismus und Ethnozentrismus sind wechselseitig miteinander verbunden; als Strategien der Umformung des Anderen verstärken sie einander. Ihr gemeinsames Ziel besteht darin, die Andersartigkeit zu zerstören und an deren Stelle Vertrautes zu setzen. Die Vernichtung der Mannigfaltigkeit der Kulturen ist die Folge. Menschen konnten nur überleben, wenn sie die Kultur der Sieger übernahmen. Besonders tragisch ist diese Situation in den Fällen, in denen sie zur Auslöschung der lokalen und regionalen Kulturen führte. Heterologisches Denken: Praktiken des immateriellen kulturellen Erbes können Menschen für Alterität sensibilisieren und sie dabei unterstützen, allmählich mit Fremdheit und Differenz umgehen zu lernen und ein Interesse am NichtIdentischen zu entwickeln. Gelingt es, das Andere in den Praktiken des immateriellen kulturellen Erbes in der eigenen Kultur wahrzunehmen, können Interesse am Fremden in anderen Kulturen und die Möglichkeit entstehen, dieses wertzuschätzen. Dabei kann sich die Fähigkeit entwickeln, sich selbst mit den Augen
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anderer Menschen zu sehen und sich vom Anderen her, also heterologisch wahrzunehmen.
AUSBLICK Der Umgang mit Praktiken immateriellen kulturellen Erbes kann zu wichtigen Erfahrungen interkultureller Vielfalt und Alterität führen, die in der globalisierten Welt von zentraler Bedeutung sind. Für die zahlreichen Menschen, die heute mehr als einer Kultur angehören und deren Anzahl aufgrund der großen Migrationsströme stark steigt, besteht hier eine Möglichkeit zu lernen, mit den kulturellen Unterschieden in ihrer eigenen Person, in ihrem Umfeld und in der Begegnung mit anderen zurechtzukommen. Da Identität nicht ohne Alterität möglich ist, beinhaltet interkulturelle Bildung eine relationale Verbindung zwischen einem irreduziblen Subjekt und zahlreichen Formen von Alterität. In diesen Prozessen gewinnen auch hybride Formen der Kultur an Bedeutung (Featherstone 1995; Wulf 1997; Wulf/Merkel 2002). In jedem Fall gilt: Das Verständnis anderer Menschen verweist auf das Selbstverständnis und die Frage nach dem Selbstverständnis verweist auf das Verständnis anderer Menschen. Aus diesem Wechselverhältnis ergibt sich die Einsicht in die prinzipiellen Grenzen des Verstehens von Subjekt und Anderem (Wulf 2006a). Diese Einsicht führt auch dazu, einer Gefahr entgegen zu wirken, die darin besteht, dass die Menschen angesichts der Entzauberung der Welt und der Verringerung kultureller Vielfalt in der Welt nur noch sich selbst und ihren Produkten begegnen und dieser Mangel an Fremdheit zur Reduktion der Welt- und Selbsterfahrung führt. Begegnungen mit Praktiken des immateriellen kulturellen Erbes ermöglichen demgegenüber immer wieder Erfahrungen der Fremdheit und Alterität. Dies geschieht im mimetischen Nachschaffen fremder Figurationen, Arrangements und Techniken. Infolge mimetischer Nachvollzüge fremder Praktiken entstehen auch neue hybride Praktiken, bei denen sich die Herkunft der einzelnen Strukturelemente nicht mehr oder nicht mehr eindeutig bestimmen lässt. Angesichts der Tatsache, dass immer mehr Menschen gleichzeitig in mehreren Kulturen leben, nehmen diese zu neuen immateriellen kulturellen Praktiken führenden hybride Darstellungs- und Ausdrucksformen an Bedeutung zu (Bhabha 2000; Wulf 2006a).
Familienrituale
E INLEITUNG Rituale erzeugen nicht nur eine familiäre Gemeinschaft; sie schaffen auch ein Imaginäres dieser Gemeinschaft, das ihre Mitglieder miteinander verbindet und das für die Erhaltung der Gemeinschaft von zentraler Bedeutung ist. Nicht nur in den rituellen Praktiken des Alltags, sondern auch in gemeinsamen familiären Erinnerungen und Vorstellungen entstehen Gefühle wechselseitiger Zusammengehörigkeit, Verlässlichkeit und der Gemeinsamkeit. Mithilfe mimetischer Prozesse werden diese Gefühle in Ritualen kontinuierlich erzeugt und dynamisch verändert. Rituale stellen eine Balance zwischen Stabilität und Veränderung in der Familie her und geben der Dynamik zwischen den Familienmitgliedern einen Rahmen, in dem diese sich darstellen und entwickeln können. Rituale gestalten das Verhältnis zwischen den Generationen und den Geschlechtern. Sie sozialisieren, erziehen, bilden und formen das Imaginäre der nachwachsenden Generation. Das Spektrum der Familienrituale und ihr Niederschlag im Imaginären der Familienmitglieder reicht von Ritualen anlässlich einmaliger Ereignisse wie Hochzeit, Geburt, Konfirmation (Kommunion) und Bestattung über die sich an Weihnachten, Geburtstagen, Familienfesten und in Ferien wiederholenden intensiven Rituale bis hin zu den Alltagsritualen der gemeinsamen Mahlzeiten, Ausflüge, Einkäufe und Fernsehabende. Fragt man Menschen, woran sie sich in ihrer Kindheit besonders gut erinnern können, so verweisen sie häufig auf rituelle Situationen und Arrangements, in denen sich die familiären Beziehungen verdichten. Auf der „Familienbühne“ finden ständig Rituale statt. Sie inszenieren familiäre Traditionen und Muster familiärer Interaktion und führen sie auf. Rituale inszenieren das kollektiv geteilte symbolische Wissen der Familie (Douglas 1991) und bekräftigen die Selbstdarstellung und Reproduktion der familiären
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Ordnung. Familienrituale stellen soziale Praktiken dar, die für die Herausbildung eines Familienstils und einer Familienidentität von zentraler Bedeutung sind. Angesichts der Tatsache, dass es in Deutschland eine umfangreiche Familienforschung gibt (Ecarius 2007), überrascht es, dass Familienrituale in der Forschung bislang nur relativ wenig Aufmerksamkeit gefunden haben (vgl. Morgenthaler/ Hauri 2010; Audehm 2007; Keppler 1994). In der angelsächsischen Welt liegen einige Untersuchungen vor, in denen der intergenerationelle Charakter von Ritualen erforscht wurde (Bossard/Boll 1950). Ebenso wurden familiäre Übergangsrituale untersucht (Quinn u. a. 1985) und familiäre Ritualtypologien entwickelt (Wolin/Bennett 1984). Auch die familientherapeutischen Möglichkeiten von Ritualen wurden erforscht (Imber-Black u. a. 2006; Bowen 1978) Von diesen wurden viele Empfehlungen für Familienratgeber abgeleitet (u. a. MayerKlaus/ Efinger-Keller 2006). In diesen Ratgebern erhalten Familien Hinweise, wie sie Rituale gestalten können. So wird z. B. darauf verwiesen, wie wichtig die gemeinsame Planung eines Familienrituals, einer Geburtstagsfeier, einer Feier anlässlich eines Schulabschlusses oder einer gemeinsamen Reise ist. In Deutschland fehlt es bislang an umfassenden ethnographischen Untersuchungen, die Einblicke in den Prozess der rituellen und imaginären Konstituierung von Familien bieten und die als Fallstudien dazu beitragen können, die komplexe Funktionsweise familiärer Rituale zu begreifen. Bisher liegt lediglich eine Reihe von Studien vor, in denen einzelne Familienrituale erforscht werden. Dazu gehören z. B. die Rituale der familiären Mahlzeiten, des Übergangs von der Kindheit zur Jugend bei der Konfirmation, des Familienurlaubs (Wulf u. a. 2001, 2004, 2007, 2011; Morgenthaler/Hauri 2010). In Zeiten, in denen immer weniger Menschen in Familien bzw. familiären Gemeinschaften leben, jedoch annähernd zwei Drittel der jungen Menschen das familiale Zusammenleben nach wie vor für eine zentrale Bedingung eines erfüllten Lebens halten, sehen viele Familienforscher, -berater und -therapeuten in Ritualen die Möglichkeit, Gefühle der familiären Kohärenz, Zusammengehörigkeit und Solidarität zu intensivieren und dadurch zur Erhaltung von Familien beizutragen.
Z ENTRALE S TRUKTURMERKMALE Mit ihren Ritualen und den Inszenierungen und Aufführungen stellen sich Familien nach außen und innen dar. Nach innen vermitteln sie, in welcher Familie die Mitglieder leben und mit welcher sie sich identifizieren. Nach außen stellen Familienrituale den besonderen Stil jeder Familie dar. Dadurch geben sie den
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Familienmitgliedern eine soziale Identität. In diesem Prozess sind einige im Folgenden beschriebene Merkmale, Schemata und ikonische Verdichtungen von besonderer Bedeutung. Raum- und Zeitordnung: Familienrituale verändern die Raum- und Zeitordnung des Alltags. Während in einer Familie an den Wochentagen das morgendliche Frühstück mit den begleitenden Gesprächen in zwanzig Minuten in der Küche eingenommen wird, findet in der gleichen Familie das sonntägliche Frühstück im Wohnzimmer statt. Eine Kerze wird angezündet und die Familie verbringt plaudernd eine Stunde miteinander. Eine sich vom Frühstück in der Küche deutlich unterscheidende Raum- und Zeitordnung entsteht, in der von Zeit zu Zeit auch kleine „Familiendramen“ inszeniert und aufgeführt werden. Während eines Familienfrühstücks findet z. B. ein kleines „Tribunal“ statt, in dem der Mann von seiner Frau daran erinnert wird, einen von ihm zerbrochenen Salatlöffel zu ersetzen. Sofort identifiziert der Sohn sich mit dem Vater und weist darauf hin, dass dieser so viel zu arbeiten und daher noch keine Zeit gefunden hätte, einen neuen Salatlöffel zu kaufen. Die Partei der Mutter ergreifend, weist die kleine Schwester darauf hin, dass, wenn jemand einen Schaden verursacht habe, er diesen auch beheben müsse. Die täglichen Gespräche beim Essen enthalten zahlreiche Sequenzen, in denen Gender-Verhalten gelernt wird. Auch bei den großen Familienfesten schaffen die Rituale besondere Raumund Zeitordnungen. Am Heiligen Abend wird z. B. das Wohnzimmer durch eine Reihe von Gegenständen verändert, die nur in diesen Tagen verwendet werden und gleichsam als Requisiten das Wohnzimmer des Alltags in die Bühne des Weihnachtsabends verwandeln. Dazu gehören der Weihnachtsbaum, die Kerzen, die Weihnachtslieder, die bunten Teller, die Geschenke. Sie transformieren das alltägliche Wohnzimmer in einen Festraum für besondere Handlungen. Auch der Umgang mit der Zeit verändert sich; während des Festes verlangsamt er sich. Die Familienmitglieder nehmen sich länger Zeit als sonst füreinander. Zum Austausch der Geschenke versammeln sie sich vor dem Weihnachtsbaum. Das Schenk-Zeremoniell wird von intensiven Interaktionen und Gesprächen der Familienmitglieder begleitet, die die Gefühle der Nähe und Zugehörigkeit stärken. Die rituell erzeugten Raum- und Zeitordnungen ermöglichen veränderte Interaktions- und Kommunikationsprozesse. Bei Übergangsritualen, in denen ein Familienmitglied oder die ganze Familie in eine neue soziale Situation eintritt, spielen Veränderungen von Raum und Zeit eine wichtige Rolle (van Gennep 1986). Bei den Kindern sind es z. B. die Übergänge in neue Schulformen, deren lebensgeschichtliche Bedeutung durch ein Ritual und die mit ihm verbundenen räumlichen und zeitlichen Veränderungen markiert wird.
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Nach der Einschulung besucht ein Kind nicht mehr den Kindergarten, sondern die Schule; es wird zum Schulkind. Mit dem Beginn der Schulzeit und dem Übergang in den Raum der Schule kommt es zu weitreichenden, sich bereits im Einschulungsritual ankündigenden Veränderungen (Kellermann 2008). Demonstrativer und ludischer Charakter: Familienrituale haben häufig eine demonstrative Komponente, die in den rituellen Inszenierungen nach innen und nach außen zum Ausdruck gebracht wird (s. o.): Nach innen sollen die Rituale vermitteln, in welcher „einmaligen“ Familie ihre Mitglieder leben, nach außen stellen die Rituale den besonderen Stil jeder Familie dar. Das Spektrum der rituellen Darstellungs- und Handlungsmöglichkeiten ist groß. Das führt dazu, dass jede Familie darum bemüht ist, ihren unverwechselbaren Stil zu entwickeln, der den Familienmitgliedern ihre (familiäre) Identität gibt. In Momenten sozialer Unsicherheit im Zusammenhang mit familiären Krisen kann diese Komponente besonders an Gewicht gewinnen. Sie dient dann dazu, den Familienmitgliedern trotz aller Probleme ihre Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit zueinander vor Augen zu führen. Der demonstrative Charakter von Ritualen kommt in ihrer Performativität, in dem Wie ihrer Inszenierung und Aufführung zum Ausdruck. Er ist eine Folge der Multidimensionalität von Ritualen, in denen sich mehrere, manchmal sogar kontroverse Bedeutungsschichten überlagern (Turner 1969, 1982). Trotz aller Beharrlichkeit sind Familienrituale offen für Veränderungen; der kontinuierliche Wandel vorhandener ritueller Schemata ist wichtig. Ohne diese Veränderungsdynamik erstarren Rituale zu Stereotypen. Im Unterschied zu verbreiteten Vorurteilen gewinnen sie ihre Kraft daraus, dass es in ihnen keine rigiden Wiederholungen gibt, sie also nicht gleich bleiben, sondern sich je nach Zeit, Raum und Kontext verändern (Michaels 2007). Die Dynamik von Ritualen ergibt sich daraus, dass es im Sozialen kein einfaches Kopieren gibt. Jede rituelle Handlung muss neu entworfen und vollzogen werden. Dadurch sind Veränderungen unvermeidbar. Die Familien entwerfen Variationen zu bestehenden rituellen Schemata und gehen spielerisch mit den überlieferten Inszenierungen und Bräuchen um. Diese Gestaltungsfreiheit führt immer wieder von Neuem zu Freude an der Inszenierung und Aufführung. Der Austausch von Weihnachtsgeschenken in der einen beschriebenen Familie ist dafür ein Beispiel. Einige Geschenke sind Kleidungsstücke, die ohnehin hätten gekauft werden müssen. Dadurch, dass sie in Weihnachtspapier eingewickelt und zu Geschenken gemacht werden, werden sie in das Weihnachtsritual einbezogen und ihr Austausch bietet den Familienmitgliedern die Gelegenheit, mit spielerisch geäußerten Kommentaren den Fluss der Gefühle zu intensivieren und Momente intensiver Gemeinsamkeit zu erfahren. Bleiben solche spielerischen Variationen aus, fangen besonders
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die Jugendlichen an zu maulen und mahnen die Langeweile erstarrter Rituale an, so dass diese schließlich durch neue ersetzt werden müssen. Performativer Charakter: Familienrituale sind dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen die Mitglieder der Familie gemeinsam handeln. Ihrem Handeln liegt eine Inszenierung zugrunde, die zu einer rituellen Aufführung führt. Bei den „großen“ Familienritualen wie Weihnachtsfest, Geburtstagsfeiern, Ferienreisen liegt das auf der Hand. Doch auch viele Alltagsrituale erfordern eine Inszenierung. Dies wird bei gemeinsamen Mahlzeiten, Einschlafritualen mit kleinen Kindern und familiären Fernsehabenden sichtbar. Manchmal haben diese Familienrituale einen demonstrativen Charakter, durch den eine Familie Aspekte ihrer Identität zum Ausdruck bringt. Die Lektüre zweier Versionen der Weihnachtsgeschichte lässt sich als eine familiäre Aufführung bzw. performance begreifen, in der zum Ausdruck gebracht wird, dass die religiöse Orientierung ein wichtiges Element der Familienidentität ist. Der performative Charakter von Familienritualen umfasst drei Aspekte (Wulf/Göhlich/Zirfas 2001; Wulf/Zirfas 2007). Der eine besteht darin, dass Familienrituale kulturelle Aufführungen sind. Sie gewinnen ihre Bedeutung dadurch, dass sie Teil einer Kultur sind und sich nur aus dem Kontext dieser Kultur verstehen lassen. Das Weihnachtsfest in Deutschland und das Neujahrsfest in Japan sind dafür Beispiele. Ohne Kenntnisse der japanischen Kultur wird der spezifische Charakter des Neujahrfests nicht verständlich. Es bedarf einer Kontextualisierung des Familienrituals, um seinen historischen und kulturellen Charakter zu begreifen. In der Aufführung von Familienritualen spielt die Sprache bzw. das Sprechen eine wichtige Rolle. John Austin (1985) hat darauf aufmerksam gemacht, dass sprachliche Äußerungen Handlungen sein können. Dies gilt z. B. für den Segen, der den Familienmitgliedern von einem Geistlichen während des Gottesdiensts erteilt wird. Hier sind die segnenden Worte eine religiöse Handlung. In dem Augenblick, in dem sie gesprochen werden, erfolgt die Segnung Gottes durch den Pfarrer. Schließlich hat die Inszenierung und Aufführung, d. h. die Performativität von Familienritualen eine ästhetische Qualität, der für die Wirkung des rituellen Arrangements erhebliche Bedeutung zukommt. So berichtete z. B. die oben beschriebene deutsche Familie, dass sie ein Jahr zuvor Weihnachten in Australien verbracht habe. Dort habe es keinen Weihnachtsbaum gegeben; es sei nicht weihnachtlich-winterlich, sondern sommerlich-heiß gewesen. Man habe Weihnachten gar nicht „richtig“ feiern können. In der japanischen Familie wurde betont, wie wichtig es sei, am Neujahrsmorgen die Speisen in ganz bestimmten Formen und Arrangements zu essen. Dadurch entstünde der Unterschied zu den Mahlzeiten anderer Tage, der den besonderen Charakter des Neujahressens ausmache.
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Wiederholung: Die Wiederholung ist ein konstitutives Element in Familienritualen. In ihrer Häufigkeit gibt es jedoch Unterschiede. Die alltäglichen Mahlzeiten werden regelmäßig wiederholt, das feierliche Weihnachtsessen hingegen nur jedes Jahr einmal. Seltene Rituale wie anlässlich einer Hochzeit, Geburt oder Bestattung haben eine hohe emotionale Intensität. Weil sie sich vom familiären Alltag unterscheiden und bedeutende Ereignisse betonen, prägen sie sich nachhaltig in das Gedächtnis der Familienmitglieder ein. Bei ihrer Wiederholung tauchen immer wieder Erinnerungen an frühere Rituale auf, in denen sich etwas Besonderes ereignete. Auch zukünftige Feste werden imaginiert. Dieses Umspielen ritueller Handlungen in der Imagination trägt dazu bei, sich des besonderen Charakters des jeweiligen rituellen Geschehens zu vergewissern. Anders verhält es sich mit familiären Alltagsritualen, bei denen weniger die einzelnen Inszenierungen und Aufführungen erinnert werden. Vielmehr gehen diese ineinander über und werden als sich wiederholendes Arrangement erinnert. Bei diesen Ritualen gehen die sozialisierenden Wirkungen vor allem von der Ähnlichkeit und Häufigkeit der rituellen Arrangements aus. Gedächtnis und Erinnerung: Da die Familie nach wie vor zu den wichtigsten Lernorten des Menschen gehört, wissen auch viele Eltern, wie wichtig Rituale und Ritualisierungen für das Gelingen familiärer Lernprozesse sind. Der repetitive Charakter ritueller Handlungen spielt für die Entwicklung des Gedächtnisses und der Erinnerungsfähigkeit eine zentrale Rolle. Bereits in der frühen Kindheit wird mit Hilfe von Ritualen und rituellen Arrangements das Gedächtnis für routinisierte körperliche Kompetenzen entwickelt. Das geschieht z. B. beim Laufenlernen oder beim Lernen des Fahrradfahrens, wobei die gleichen Bewegungen kontinuierlich wiederholt werden. Rituelle Alltagshandlungen hinterlassen ihre Spuren auch im Priming-Gedächtnis, das unbewusste Wahrnehmungen enthält, die den Kindern helfen, sich in ihrer Umwelt zu orientieren. Walter Benjamins „Berliner Kindheit um Neuzehnhundert“ bietet viele Beispiele, in denen diese Prozesse beschrieben werden (Benjamin 1980). In sich wiederholenden Kinderspielen wird das perzeptuelle Gedächtnis entwickelt, das die Konsistenz der Wahrnehmung sichert. Wenn z. B. Kinder spielerisch ihren Kopf verdrehen und sich die Welt aus einer ungewöhnlichen Perspektive ansehen und dabei die Erfahrung machen, dass sich zwar ihre Wahrnehmung, nicht jedoch die Welt verändert, vergewissern sie sich in rituellen Wiederholungen der Konsistenz ihrer Wahrnehmung. Desgleichen ist das Erlernen eines kontextfrei verfügbaren Wissens im semantischen Gedächtnis auf den rituellen Umgang mit Sprachspielen angewiesen. Um dieses Gedächtnis zu entwickeln, wiederholen beispielsweise Kinder mit ihren Eltern oder älteren Geschwistern Wörter oder Sätze so lange, bis sie sie ohne Hilfe in verschiedenen Zusammenhängen repro-
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duzieren können. Für die Herausbildung des autobiografischen Gedächtnisses, aus dem sich Erinnerungen in intentionalen Akten hervorbringen lassen, sind Rituale besonders wichtig. Denn diese dem Bewusstsein verfügbaren Erinnerungen tragen dazu bei, dass sich Subjekte ihrer Lebensgeschichte vergewissern und ihre Individualität entfalten können (Tulving 2005). Rituale und rituelle Arrangements tragen nicht nur dazu bei, das Gedächtnis von Individuen zu erzeugen. Nicht weniger wichtig sind sie für die Schaffung kollektiver familiärer Erinnerungen. Im familiären Gedächtnis teilen wir mit den anderen Familienmitgliedern die Erinnerung an rituell geschaffene Ereignisse. Wenn wir uns gemeinsam an diese erinnern, empfinden wir uns als Teil unserer Familie. Mit der rituellen Wiederholung familiärer Erzählungen wird die Erinnerung an solche Ereignisse wach gehalten. Für die Mitglieder der Familie ist die Erinnerung der kollektive Bezugspunkt, der die familiäre Gemeinschaft hervorbringt und erhält. In Krisensituationen wie Scheidungen muss z. B. eine Umstrukturierung der Erinnerungen erfolgen, bei der Rituale eine wichtige Rolle spielen können. Mimetisches Lernen: In Familien vollziehen sich, auch zwischen den Generationen, in rituellen Arrangements zahlreiche Nachahmungsprozesse. Sie leisten einen zentralen Beitrag zur Herausbildung der individuellen Identität der Familienmitglieder und der kollektiven Identität der Familie. Vor allem die jüngeren Kinder möchten so wie ihre Eltern und älteren Geschwister werden. Dieses Begehren nach Anähnlichung hat körperliche und sinnliche Grundlagen. Das Kind nimmt gleichsam einen „Abdruck“ von den Eltern und Geschwistern in seine innere Bilder- und Vorstellungswelt auf. Dieser Prozess, der sich weitgehend außerhalb des Bewusstseins vollzieht, ist kein bloßer Akt des Kopierens, sondern ein aktives und kreatives Geschehen. Mit Hilfe der Nachahmung „erzeugen“ sich Kinder als soziale und kulturelle Personen (Wulf 2005b; Gebauer/ Wulf 1998a, b). Nur durch die Bezugnahme auf ihre Eltern und Geschwister können sie sich als soziale und individuelle Subjekte hervorbringen. Auf Grund des performativen Charakters von Ritualen finden mimetische Prozesse in rituellen Arrangements häufig und nachhaltig statt. Auch in dem oben skizierten kleinen „Familientribunal“ wird dies deutlich. Der Sohn verhält sich mimetisch zum Vater, die Tochter zur Mutter. Im Verhalten beider geht es um die familiäre Arbeitsteilung und damit implizit um Zuständigkeits- und Machtfragen. In den rituell organisierten familiären Arbeitsprozessen sind häufig Machtverhältnisse enthalten, die durch den rituellen Charakter der Handlungen verdeckt werden, der suggeriert, dass alle schon immer schon so gehandelt hätten und es deshalb „natürlich“ sei, weiter so zu handeln und daher Veränderungen nicht notwendig seien (Bourdieu 1976).
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In Familienritualen werden vielfältige soziale Kompetenzen erworben. Dies gilt vor allem für die Kinder, die sehen, wie ihre Eltern handeln und die in mimetischer Anähnlichung an deren Verhalten eigene Handlungskompetenzen erwerben, deren Grundlage kein theoretisches, sondern ein praktisches Wissen ist. Dieses durch die Teilnahme an Ritualen mimetisch erworbene Wissen ist ein implizites praktisches Wissen, das im Allgemeinen nicht ins Bewusstsein tritt. Seine zentrale Bedeutung für die Fähigkeit, ein mehr oder weniger gelingendes Leben zu führen, ist lange unterschätzt worden – dem praktischen Wissen kommt jedoch für das soziale Handeln außerordentliche Bedeutung zu. In den rituellen Anähnlichungsprozessen wird dieses Wissen erworben, das es möglich macht, in zunehmender Weise die eigene Lebenswelt zu gestalten. In den letzten Jahren wurde der mimetische Charakter des Erwerbs dieses Wissens in mehreren in paradigmatischer Hinsicht unterschiedlichen Wissenschaften untersucht und bestätigt (Tomasello 2002; Iacoboni 2008; Wulf 2005b, 2009). Familienrituale sind normative Inszenierungen, die einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung des individuellen und kollektiven Imaginären und damit zur Identitätsbildung leisten. Sie sind körperliche Aufführungen und tragen dazu bei, individuelle Handlungskompetenzen zu entwickeln und Autoritäts- und Anerkennungsbeziehungen zu inkorporieren. Sie zeichnen sich durch einen repetitiven, für Veränderungen offenen und mimetisches Lernen fördernden Charakter aus, in dem Homogenität und Kollektivität, Performativität und Symbolik eine Rolle spielen (Audehm/Wulf/Zirfas 2007). Gerade heute, wo das familiäre Zusammenleben der Menschen immer schwieriger wird und häufig von einer Krise der Familie die Rede ist, spielen Rituale und ihre imaginären Bezugspunkte für das Zusammenleben der Familienmitglieder eine lange nicht wahrgenommene wichtige Rolle. Waren wir bisher vor allem von Familien ausgegangen, die mit oder ohne Trauschein zusammenleben, so stellt sich die Frage nach der Bedeutung von Ritualen und imaginären Schemata auch für die vielen Familien, in denen die Eltern geschieden sind und in denen es nun darum geht, im Interesse der Kinder die Fortführung der Beziehungen zu ihnen zu erhalten. In Familientherapien besteht weitgehende Übereinstimmung darüber, dass in der Mehrzahl der Fälle nach Formen gesucht werden muss, die den Kindern die Kontinuität stabiler Beziehungen mit ihren nächsten Bezugspersonen bieten. Rituale sind weitgehend in der Lage, den Beteiligten bei der Bearbeitung ihrer Differenzen zu helfen, ohne dass diese jedes Mal thematisiert werden müssen. Mit Hilfe von Ritualen können Zuständigkeit und Verantwortung für Kinder organisiert werden. Auch in Patchwork-Familien bieten Rituale neue Möglichkeiten, Gemeinsamkeit zu
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erzeugen. Um das kreative Potential von Ritualen für die Gestaltung unterschiedlicher Formen familiären Lebens zu nutzen, bedarf es weiterer Forschung und Arbeit mit Ritualen.
Das Glück der Familie
E INFÜHRUNG Zu den heute sträflich vernachlässigten, aber für Erziehung und Bildung zentralen Problemen gehört die Frage danach, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene dabei unterstützt werden können, ein gutes und erfülltes Leben zu führen. Mit diesen Ausführungen möchte ich dieser Frage wieder die Bedeutung zukommen lassen, die sie seit den Anfängen der westlichen Kultur hat. Es reicht nicht, Bildung mit dem Erreichen curricularer Lernziele gleich zu setzen, so wichtig dies im Einzelfall sein mag. Solche Ziele bilden nur den sicht- und messbaren Teil der Bildung. Nimmt man zur Analogie einen Eisberg, dann stellen die Ziele der Bildung, deren Erreichen im Allgemeinen gemessen wird, nur den aus dem Wasser herausragenden Teil des Eisbergs, also der Wirkungen der Erziehungsprozesse dar. Die Bildungswirkungen reichen jedoch tiefer, bis in Schichten der Menschen, die anderen Menschen, der Umwelt und oft auch den Subjekten selbst verborgen sind. Oberstes Ziel aller Bildungsbemühungen ist es, Menschen in die Lage zu versetzen, ein erfülltes und glückliches Leben zu führen. In allen Phasen der Bildung muss man sich die Frage stellen, welchen Beitrag pädagogische Maßnahmen dazu liefern können, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene lernen, ein erfülltes Leben zu führen. Wenn ich von einem glücklichen Leben spreche, dann bedeutet das nicht, dass aus diesem das zeitweilige Leiden ausgeschlossen werden kann. Ohne Leiden gibt es keine Bildung des Menschen. Das hat schon der griechische Philosoph Menander gesehen, wenn er formuliert: Ho me dareis anthropos ou paideuetai: Der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen. Dennoch ist es natürlich wichtig, junge Menschen dabei zu unterstützen, durch Arbeit, gelingende Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen und die Beschäftigung mit anstehenden gesellschaftlichen und politischen Aufgaben ein erfülltes Leben zu führen.
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Biographie-Forschung ist für die Erziehungswissenschaft besonders wichtig, weil sie uns darüber informiert, wie Menschen die Ereignisse ihres Lebens, einschließlich der Maßnahmen der Erziehung, erleben und verarbeiten. Wir erfahren, wie und warum Menschen welche Bedeutung und welchen Sinn den Ereignissen ihres Leben zuordnen. Wir brauchen biographische Forschung, um etwas über die Tiefenwirkungen pädagogischer Maßnahmen zu erfahren. Dabei sind jedoch nicht nur die Erzählungen wichtig. Nicht weniger wichtig sind die Bilder und die Performativität pädagogischer Praktiken. Mit anderen Worten: Neben den biographischen Erzählungen bedarf es auch der Rekonstruktion und Erforschung der im Imaginären der Menschen lebenden Bilder und der Rekonstruktion wichtiger performativer Praktiken. Um diese Informationen zu erhalten, hat die pädagogische Ethnographie wichtige Verfahren entwickelt. Zu diesen gehören offene Interviews, Gruppendiskussionen und Verfahren teilnehmender und videogestützter teilnehmender Beobachtung. Bei den ersten beiden Verfahren besteht die Aufgabe darin, mit Hilfe von Fokussierungsmetaphern die Sinnkonstruktionen von Subjekten, Gruppen und Institutionen zu rekonstruieren und zu interpretieren. Bei den beobachtenden Verfahren geht es darum, in biographisch wichtige Bereiche vorzustoßen, die dem Bewusstsein der Subjekte zunächst nicht zugänglich sind. Hier besteht die Aufgabe darin, den performativen Charakter sozialisierender und pädagogischer Praktiken, also die Inszenierung und Aufführung des Körpers wahrzunehmen, zu rekonstruieren und zu interpretieren. Dabei spielt die Transformation performativer Handlungen in Bilder und ikonische Zeichen eine wichtige Rolle für die Erinnerung. Der Bereich performativen Handelns und Wissens ist für die biographische Forschung besonders wichtig, da es hier häufig um praktisches, d. h. implizites Wissen geht, das zwar handlungswirksam, dem Bewusstsein der Handelnden aber entzogen ist. Mehr noch als im Bereich sprachlich fassbarer Erinnerungen bedarf es hier eines Blicks von außen, um die Bedeutung performativer Praktiken zu verstehen. Mithilfe einer deutsch-japanischen ethnografischen Untersuchung über das Glück der Familie möchte ich meine Überlegungen konkretisieren. Mit dieser Untersuchung wollte ich zeigen, wie wichtig die Frage nach dem Glück und nach einem erfüllten Leben für Menschen ist und wie wichtig dabei die Familie ist, in der häufig die ersten Erfahrungen gelingenden, aber auch misslingenden Lebens gemacht werden. Um ein glückliches Leben zu führen, bedarf es nicht nur einer entsprechenden alltäglichen Lebenspraxis; es bedarf auch der mit dieser korrespondierenden imaginären Bilder und Schemata. Sie bilden eine wichtige Grundlage für die Bewertung der alltäglichen familiären Ereignisse.
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I NSZENIERUNGEN FAMILIÄREN G LÜCKS : EINE DEUTSCH - JAPANISCHE U NTERSUCHUNG Ein glückliches Leben zu führen, ist Ziel aller Menschen. Was ist unter Glück zu verstehen? Wie hängen Familie und Glück zusammen? Wie führen Menschen ein glückliches Leben und welchen Beitrag liefert dazu die Familie? Die Zahl der Ratgeberbücher, Zeitschriftenartikel, Fernsehsendungen und Internetplattformen, in denen Antworten auf diese Fragen gesucht werden, ist unübersehbar geworden. Welche Rolle die Familie für das Wohlbefinden und Glück spielt, steht im Zentrum der folgenden Überlegungen. Wir untersuchen nicht, was Glück ist, sondern wir fragen vorsichtiger, wie inszenieren Familien ihr Glück, wie führen sie es auf, wie erzeugen sie es? Wie ein glückliches und erfülltes Leben aussieht und wie es realisiert wird, gehört zu den zentralen Fragen von Religion und Philosophie, Soziologie, Psychologie, Pädagogik und Anthropologie. Die Antworten sind unterschiedlich, zum Teil widersprüchlich und oft so vielschichtig, dass sie nicht ohne den historischen und kulturellen Kontext begriffen werden können, in dem sie gegeben werden. Ziel unserer Untersuchung ist es, in sechs Fallstudien in Deutschland und Japan zu beschreiben und zu analysieren, wie Familien ihr Wohlbefinden und Glück erzeugen. In Übereinstimmung mit einer langen kulturanthropologischen Tradition erforschen wir dazu ein Familienritual, das uns gleichsam als Fenster in die eigene und die fremde Kultur dient (Morgenthaler/Hauri 2010; Baumann/Hauri 2008). Mit jeweils drei deutsch-japanischen Forschungsteams untersuchen wir das Weihnachtsfest in drei deutschen Familien und das Neujahrsfest in drei japanischen Familien. Dabei wollen wir herausfinden, in welchen Formen diese Familien ihr wichtigstes Familienfest so begehen, dass ihre Mitglieder zufrieden und glücklich sind. Uns interessiert die Frage, welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede sich in kulturell so unterschiedlichen Familien mit Hilfe kulturell gemischter Forschungsteams identifizieren lassen. Mit teilnehmenden und videogestützten Beobachtungen, mit Interviews und Gruppendiskussionen, mit Fotos und Filmen, mit historischen und kulturellen Analysen arbeiten wir die unterschiedlichen Inszenierungen und Aufführungen von Familienritualen heraus und zeigen, wie deren performativer Charakter zur Erzeugung des familiären Glücks an diesen Festtagen beiträgt. Es war nicht einfach, sechs Familien zu finden, die bereit waren, einem internationalen Forschungsteam Zugang zu ihrem intimen Familienfest zu gewähren und bei deren Auswahl die Kriterien eines theoretical sampling (Glaser/Strauss 1969, 1998) berücksichtigt werden konnten. Diese Familien gehören in das Milieu der gehobenen Mittelschicht, innerhalb derer sie
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ein breites Spektrum umfassen. In unseren kulturell gemischten Teams kam es zu einer methodisch interessanten Überschneidung unterschiedlicher kultureller Perspektiven hinsichtlich der Wahrnehmung und Interpretation von Familienritualen. Dies führte zu einer neuen Form kommunikativer Validierung, die uns wegen der Vielschichtigkeit der Untersuchung und der damit verbundenen offenen Fragen vor zahlreiche methodische Probleme stellte (Bohnsack 2003, 2009; Flick 2004) Mit der Erforschung des Glücks in heterogenen Familien leistet unsere ethnographische Untersuchung auch einen Beitrag zur biographischen Erforschung von Emotionen. Durch unsere Forschungen in zwei sehr unterschiedlichen Kulturen untersuchen wir ein weites Spektrum kultureller Differenz, innerhalb dessen die Vielfalt der rituellen Hervorbringung familiären Glücks sehr deutlich wird. Im Bewusstsein dieser bis in die Tiefenstrukturen der Familie und ihrer Mitglieder reichenden Unterschiede lassen sich einige transkulturelle Elemente identifizieren, die zur Schaffung familiären Glücks an Festtagen beitragen und später beschrieben werden. Glück als Sinn des Lebens: historische Perspektiven Wie unterschiedlich Glück verstanden werden kann, zeigt die Vielfalt der in den europäischen Kulturen und in Japan entstandenen Begriffe, deren semantische und kontextuelle Rekonstruktion eine eigene, hier nicht zu leistende Analyse erfordert. Die Begriffe tragen dazu bei, die Vielfalt der relevanten Aspekte sichtbar zu machen. Im Mittelhochdeutschen bedeutet gelücke den guten Ausgang einer Handlung bzw. eines Geschehens. Mit dem Begriff fortuna und seinen verwandten Ausdrücken in den romanischen Sprachen wird noch heute die Seite des Glücks bezeichnet, die den Menschen zufällt und für die sie nicht verantwortlich sind. Im Unterschied dazu bezeichnet beatitudo das Glücklichsein, zu dem Menschen durchaus etwas beitragen können. Diese Seite betont z. B. auch die Rede davon, dass „jeder seines Glückes Schmied“ sei, also für sein Glück selbst die Verantwortung trage. Bereits im Griechischen findet sich die entsprechende Unterscheidung zwischen der eutychia, dem den Menschen „zugeteilten“ Glück, und der eudaimonia, dem Glücklichsein, an dessen Erzeugung die Menschen mitwirken können. Auch in anderen europäischen Sprachen findet sich diese Differenzierung. So ist im Englischen die Rede von luck und von happiness, im Französischen von chance bzw. bonheur. In der amerikanischen Verfassung wird pursuit of happiness ausdrücklich als Menschenrecht genannt (Lauster 2004). Für Sokrates besteht das glückliche Leben, die Eudaimonia, in einer vernunftbegründeten tugendhaften Lebensführung, in deren Rahmen es besser ist,
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Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun. Für Platon wird ein glückliches Leben dadurch möglich, dass der Mensch die Ideen schaut und in der Lage ist, das Gute und Schöne, die Kalokagathia, als die Einheit von Gutem, Schönem und Gerechtem zu realisieren. Wenig später entwickelt Aristoteles ein Stufenmodell des Glücks, in dem die Glückseligkeit den anderen menschlichen Strebungen wie Ehre, Lust, Vernunft übergeordnet wird. Bei den Epikureern ist es die Ataraxia, die Unerschütterlichkeit, bei den Stoikern die Apatheia, die Leidenschaftslosigkeit, die die entscheidenden Bedingungen eines glücklichen Lebens sind (Horn 1998; Hoyer 2007). Seneca formuliert die Möglichkeiten eines glücklichen Lebens wie folgt: „Wer die Einsicht besitzt, ist auch maßvoll; wer maßvoll ist, ist auch gleichmütig; wer gleichmütig ist, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen; wer sich nicht aus der Ruhe bringen lässt, ist ohne Kummer; wer ohne Kummer ist, ist glücklich: also ist der Einsichtige glücklich, und die Einsicht reicht aus für ein glückliches Leben!“ (Epistulae morales 85, 2). Strukturelemente des Glücks In Japan und Deutschland gibt es unterschiedliche Vorstellungen vom Glück. Mit diesen gehen auch Unterschiede in den sozialen und kulturellen Praktiken der Hervorbringung des Glücks einher. Diese Praktiken sind ein wichtiger Teil des immateriellen kulturellen Erbes. Sie und die mit ihnen verbundenen Emotionen und Vorstellungen spielen bei der Herausbildung, Bewahrung und Veränderung kultureller Identität eine erhebliche Rolle. Diese Praktiken, mit denen Familien ihr familiäres Glück erzeugen, tragen zugleich dazu bei, eine kulturelle Identität hervorzubringen, die in Japan und Deutschland unterschiedlich ist. Mit kultureller Identität wird hier eine Verbindung von Merkmalen bezeichnet, durch die sich Individuen und Gruppen von anderen unterscheiden lassen. Innerhalb dieser Merkmale spielt das weite Spektrum der Symbolisierungen und Praktiken eine wichtige Rolle. Angesichts der durch die Globalisierung bedingten Tendenz zur Homogenisierung und Uniformierung der Welt wurde im letzten Jahrzehnt immer stärker die Bedeutung der Diversität mit dem Ziel der Erhaltung und Förderung kultureller Identität betont. In den beiden UNESCO-Konventionen über die Erhaltung des immateriellen kulturellen Erbes von 2003 und über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen von 2005 kommt diese Entwicklung deutlich zum Ausdruck. Gegenüber der vereinheitlichenden Tendenz betonen beide Konventionen die Notwendigkeit kultureller Differenz und Identität (Wulf 2005a, 2006a). Zu den wichtigsten Formen des immateriellen kulturellen Erbes gehören Rituale. Unter ihnen spielen familiäre Alltags- und Festrituale
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eine zentrale Rolle. Sie tragen dazu bei, Gefühle der Gemeinsamkeit und Kohärenz und damit des familiären Wohlbefindens und Glücks zu erzeugen. Dadurch haben sie einen wichtigen Einfluss auf die kulturelle Identität der Familienmitglieder. Bei unserer Untersuchung familiärer Festrituale, an Weihnachten in Deutschland und am Neujahrsfest in Japan, wird dies deutlich. Hier lässt sich zeigen, wie familiäre Rituale dazu beitragen, eine soziale und kulturelle Identität der Familienmitglieder zu entwickeln. In den Inszenierungen der deutschen und der japanischen Familienrituale wird deutlich, wie ähnlich und zugleich unterschiedlich die Praktiken sind, mit denen das Wohlbefinden und Glück der Familie hervorgebracht wird. In exemplarischer Absicht werden hier fünf Strukturelemente beschrieben, die bei der Gestaltung der zum immateriellen kulturellen Erbe gehörenden Rituale, der Erzeugung von Emotionen des Glücks und der Herausbildung kultureller Identität eine zentrale Rolle spielen. Sprache und Imagination. Neuere Emotionsforschungen haben deutlich gemacht, wie wichtig es aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist, Emotionen des Glücks nicht zu ontologisieren. Emotionen sind keine isolierbaren Substanzen, sondern stets mit anderen Merkmalen des Menschen verbunden. In vielen Fällen trägt die Sprache dazu bei, dass Emotionen des Glücks entstehen und empfunden werden können. Ein Beispiel dafür ist die Rhetorik der romantischen Liebe. Ohne sie hätten sich diese Liebesvorstellungen und die mit ihnen verbundenen Glückserwartungen nicht entwickeln können. Wenn es in einer Kultur einen Begriff gibt, mit dem ein bestimmter Aspekt des Glücks bezeichnet wird, so ist es wahrscheinlich, dass sich auch Ausdrucksformen dieser Emotion in dieser Kultur nachweisen lassen. Fehlt dieses Wort in einer anderen Kultur, so ist es wahrscheinlich auch schwer, den mit diesem Wort bezeichneten Aspekt des Glücks zu identifizieren. Das japanische amae ist dafür ein Beispiel. Versucht man den mit diesem Wort bezeichneten Aspekt der Liebe und des Glücks zu beschreiben, so könnte man sagen: „von der Liebe eines anderen abhängen“ oder „sich der Süße des anderen ausliefern“. In den indogermanischen Sprachen und im europäischen Imaginären gibt es keine Bezeichnung für diesen Aspekt der Liebe und des Glücks. Um jedoch die japanische Mentalität zu verstehen, ist dieses ins Deutsche unübersetzbare Wort von zentraler Bedeutung (Suzuki/Wulf 2013). Die Frage ist nun, wie weit die mit diesem Wort bezeichnete Emotion des Glücks und der Liebe von Menschen anderer Kulturen verstanden werden kann. Hier sind mehrere Antworten möglich. Eine geht davon aus, dass diese Emotion mit Hilfe sprachlicher Beschreibungen auch von Menschen anderer Kulturen verstanden werden kann. Eine andere Position weist darauf hin, dass dies nur unzulänglich möglich ist, bedarf es doch nicht nur der Sprachkenntnis, sondern auch der mit diesem Wort bezeichneten inkorporierten Vorstellungen, emotiona-
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len Beziehungen und performativen Handlungen. Während die erste Position eher die Ähnlichkeit in der emotionalen Ausstattung der Menschen betont, verweist die zweite Position auf kaum überwindbare kulturelle Unterschiede. Das Fließen von Emotionen. Viele Emotionen des Glücks entstehen in Interaktionen mit anderen Menschen, in der rituellen Kommunikation zwischen ihnen und im mimetischen Selbstbezug. Sie lassen sich als fließend beschreiben. Eine solche Charakterisierung impliziert, dass sich Emotionen des Glücks in den Praktiken des alltäglichen Lebens verändern. Sie überlagern sich mit früheren emotionalen Erlebnissen und bilden Ensembles von Emotionen. In diesem Prozess werden emotionale Dispositionen selegiert und aktualisiert. Ein besonderes Merkmal menschlicher Emotionalität besteht darin, dass sie durch länger anhaltende Stimmungen beeinflusst wird. Diese Stimmungen haben Einfluss darauf, wie Emotionen „getönt“ sind. „Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen“ (Wittgenstein). Emotionen bestimmen unsere Beziehungen zu anderen Menschen und zur uns umgebenden Welt. Sie sind evaluativ, d. h. sie bewerten die uns widerfahrenden Ereignisse und lassen uns nach dieser Bewertung handeln. Die emotionale Bewertung von Handlungen anderer Menschen vollzieht sich häufig unbewusst oder halbbewusst und ist dem Bewusstsein nur eingeschränkt zugänglich. Diese bewertende Seite der Emotionen unterstützt uns dabei, uns in der Welt und gegenüber anderen Menschen zu orientieren. Sie hilft uns, Unterscheidungen zu treffen und den Sinn sozialer Situationen, Handlungen und Zusammenhänge zu begreifen. Ihre energetische Seite befähigt Individuen und Gemeinschaften, Sinn, Bedeutung und Identität auszubilden (Le Breton 1998; Wulf/Kamper 2002; Wulff 2007; Greco/Stenner 2008; Harding/Pribram 2009; Paragrana 2010a, 2011; Wulf 2010a; Hahn 2010a, b). Körperlichkeit und Performativität. Akzentuiert man den performativen Charakter der Erzeugung des Glücks, so findet eine Aufmerksamkeitsverlagerung statt. Das Interesse richtet sich weniger darauf, wie Glücksvorstellungen zu verstehen und zu interpretieren sind, als vielmehr zu begreifen, wie Menschen die verschiedenen Gefühle des Glücks ausdrücken, darstellen, modifizieren und kontrollieren. In diesem Fall kommt es darauf an, den Prozess zu untersuchen, in dem das Glücklichsein inszeniert und aufgeführt wird. Damit geraten die Formen des körperlichen Ausdrucks von Emotionen ins Zentrum der Aufmerksamkeit (Ekman u. a. 1982). Körperlichkeit, Habitualisierung und Dramaturgie der Emotionen werden wichtig. In diesem Zusammenhang sind Rituale und Gesten von erheblicher Bedeutung (Wulf/Zirfas 2004a, c, 2007; Wulf/Fischer-Lichte 2010). Diese Perspektivenveränderung steht mit Entwicklungen im Zusammenhang, die dazu geführt haben, moderne Gesellschaften als Inszenierungsgesellschaften zu bezeichnen, in denen der Lebensraum der Menschen zu einem „kleinen Theater“
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wird, in dem sie ihr Selbst und ihre Rolle in der Gemeinschaft kontinuierlich zur Schau stellen und vermarkten. Mimetische Prozesse. Glückliche Menschen machen häufig auch andere Menschen glücklich. Ein Grund dafür liegt in den mimetischen Prozessen, in denen sich Menschen einander anähneln. Wie beim Lachen erfolgt auch bei den Emotionen des Glücks eine sinnliche Übertragung, in der unser Körper von der Freude und dem Glück anderer Menschen angesteckt wird. Ohne uns dessen bewusst zu sein, ähneln wir uns den Körperbewegungen und mimischen Ausdrucksformen an. Wir werden zu einem Resonanzkörper der Glücksemotionen anderer Menschen. Ihr Glück affiziert uns und unsere Affekte verstärken deren Emotionen. Durch eine Anähnlichung an die Emotionen des Glücks anderer Menschen können wir selbst glücklich werden, und zwar so, dass wir nicht glücklich wie die anderen, sondern in unserer eigenen Weise glücklich sind. Wir spiegeln anderen Menschen ihr Glück und intensivieren ihre Emotionen. Wir nehmen die performative Konkretisierung des Glücks wahr und lernen die Praktiken, mit denen wir es inszenieren, aufzuführen und an spätere Generationen weiterzugeben (Gebauer/Wulf 1998a, b, 2003; Suzuki/Wulf 2007; Paragrana 2010a; Wulf 2005b). Rituale. In allen menschlichen Gesellschaften tragen Rituale dazu bei, Emotionen zu intensivieren, zu steuern und zu kontrollieren (Michaels 1999, 2007; Wulf/Zirfas 2004a, 2004c; Michaels/Wulf 2011, 2012, 2014). Sie führen die beteiligten Menschen dazu, sich aufeinander zu beziehen. Für die Erzeugung familiären Glücks sind sie von zentraler Bedeutung. Ihre Performativität schafft soziale Formen des Glücks. In diesem Prozess spielen die Bewegungen des Körpers eine wichtige Rolle. In einem gemeinsamen Handeln schaffen sie soziale Emotionen der Nähe, der Zuneigung und des Vertrauens. Die Dynamik der familialen Rituale bewirkt, dass eine rituelle Handlung keine bloße Kopie einer früheren Handlung ist. Rituale sind zwar einander ähnlich, doch sie erzeugen unter Bezug auf Vorausgegangenes auch neue Praktiken. Wenn dies nicht der Fall ist, verlieren sie ihre Lebendigkeit und verkommen zu Stereotypen. Rituale sind soziale Praktiken, in denen Menschen lernen, wie sie familiäre Inszenierungen und Aufführungen schaffen können, die andere Menschen und sie selbst glücklich machen. Im rituellen Handeln erwerben alle Beteiligten das dazu erforderliche praktische Wissen (Wulf u. a. 2001, 2004, 2007, 2011). Gesten. Im Rahmen von Ritualen spielen Gesten eine wichtige Rolle. Gesten sind Handlungen wie z. B. die Darreichung eines Opfers in einem sakralen Ritual vor einem buddhistischen Familienaltar. Auch das Läuten eines Glöckchens zum Anfang der Bescherung am Heiligen Abend lässt sich als eine aussagekräftige Geste im Weihnachtsritual begreifen. In Familienritualen sind Gesten in hohem
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Maße performativ; sie werden mimetisch gelernt. Gesten sind Bewegungen des Körpers. Sie erzeugen, stellen dar und strukturieren den Fluss der Emotionen. In ihrer Inszenierung und Aufführung verdichtet sich häufig die Bedeutung eines Rituals. Gesten tragen dazu bei, das Soziale zu schaffen und die familiäre Kommunikation und Interaktion zu steuern. Sie machen etwas sichtbar, was ohne sie nicht in Erscheinung träte. Gesten sind spontan, ludisch und gestalten Übergänge. Sie sind unauflösbar mit Sprache, Denken und Imagination verbunden. Ihnen kommt eine große Bedeutung zu für die Entstehung geteilter Aufmerksamkeit und die menschliche Kommunikation und Kooperation (Tomasello 2009). Gesten können zur Herstellung und Darstellung von Emotionen des Wohlbefindens und Glücks beitragen (Wulf/Fischer-Lichte 2010; Wulf/Althans u. a. 2011). Ethnographie des Glücks Der Schwerpunkt unserer deutsch-japanischen ethnographischen Untersuchungen liegt auf der Frage nach der Form, d. h. der performativen und rituellen Gestaltung des Glücks. Familiäres Glück wird wesentlich durch Rituale hervorgebracht, stabilisiert und erneuert. Daher fokussieren auch wir den damit verbundenen modus operandi des familiären Glücks. Während der jeweiligen Familienfeste wird bei Familien untersucht, welches Glück sie in ihren Festen erwarten, wie die Mitglieder der Familie familiäres Glück inszenieren, wie sie Situationen familiären Glücks durch ihr soziales Handeln schaffen und wie sie schließlich Glück erfahren und verstehen. Zugleich wird herausgearbeitet, welche Interaktionen die verschiedenen Familienmitglieder vollziehen und welche Glückseffekte diese auf der sozialen sowie auf der persönlichen Ebene haben. Um diese Forschungsperspektive zu realisieren, wird im Unterschied zu den quantitativen oder qualitativen Interviewmethoden eine Erweiterung und Neufokussierung des Methodenspektrums vorgenommen. Bei den qualitativen Interviews, die sowohl episodischen als auch narrativen Charakter haben, stehen Inhalte, Formen, Bedingungen und Ziele familiären Glücks im Mittelpunkt; sie werden daher vor allem als Gruppeninterviews durchgeführt. Zudem werden ethnographische Daten durch teilnehmende Beobachtung (und beobachtende Teilnahme), durch Foto- und Videographien sowie durch informelle Gespräche mit den Familienmitgliedern ergänzt (Bohnsack 2009). Wir gehen davon aus, dass die Komplexität des familiären Glücks mit seinen Traditionen, Entwicklungen, aktuellen Inszenierungsformen, generativen Perspektiven und symbolischen Bezügen nur durch eine Kombination von visuellen, verbalen und textuellen Daten erfasst werden kann.
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Um die Komplexität familiären Glücks untersuchen zu können, haben wir diese ethnographische Forschung auf das jeweils wichtigste Familienritual beschränkt. Nicht nur in Erziehungsratgebern wird immer wieder die Bedeutung von Ritualen für das kindliche und familiäre Glück hervorgehoben. Auch in historisch-kultureller Perspektive sind bestimmte Familienrituale wie Essen in der Gemeinschaft der Familie, Urlaub, Geburtstag, (Freizeit-) Aktivitäten und Weihnachten für das familiäre Glück zentral. Daher dienen nach unserer Auffassung Familienrituale nicht nur dazu, die Zusammengehörigkeit und Gemeinsamkeit der Familienmitglieder zu bestätigen, die Integration und Solidarität der Einzelnen sichtbar zu machen, Werte und Traditionen anzuzeigen und zu vermitteln, einen gemeinsamen Handlungsrahmen zu erzeugen oder auch Identitäten, Rollen und Fähigkeiten herauszubilden – sie dienen auch der performativen Erzeugung familiären Glücks (Audehm/Wulf/Zirfas 2007). Weihnachten in einer Berliner, Neujahr in einer japanischen Familie In einem im Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin und im Exzellenzcluster „Glück“ der Universität Kyoto angesiedelten Projekt untersuchten drei deutsch-japanische Teams das Weihnachtsritual in drei deutschen und das Neujahrsritual in drei japanischen Familien. Ohne hier auf die für eine globale kulturwissenschaftliche Netzwerkforschung interessanten methodologischen Fragen eingehen zu können, lassen sich bei allen Unterschieden einige Gemeinsamkeiten in der Gestaltung des zentralen Familienrituals identifizieren. In meinen weiteren Ausführungen fokussiere ich zwei Familien in BerlinTegel und in Higashimonobe in der Nähe von Kyoto. Die Berliner Familie besteht aus den Eltern und vier Kindern, die japanische aus den Großeltern und den beiden Familien ihrer Kinder. Die deutsche und die japanische Familie gehören der oberen Mittelschicht an; sie begehen das Festritual in einem eigenen Haus; beide Familien haben eine religiöse Orientierung. Die Auswahl beider Familien erfolgte nach den Kriterien eines theoretischen Sampling und den diesem zugrunde liegenden Fragestellungen und Hypothesen. Weihnachten in einer Berliner Familie. Ankunft: Als wir (Shoko Suzuki und Christoph Wulf) uns am Nachmittag des 24. Dezembers dem Haus der Familie Schultz in Konradshöhe in einem Wohnviertel von Tegel nähern, hatte es leicht zu regnen begonnen. Unsere kleine Gruppe besteht aus drei Japanern und einem Deutschen. Wir fahren durch den Tegeler Forst, so dann an zahlreichen Einfamilienhäusern vorbei, bis wir in die Straße gelangen, in der die Doppelhaushälfte
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der Familie liegt. Die Familie besteht aus den beiden Eltern, Mutter Frauke (evangelisch), und Vater Ingo (katholisch) sowie vier Kindern (evangelisch). Wir werden schon erwartet und erst von der Mutter und dann vom Vater freundlich begrüßt. Neugierig kommen nun die vier Kinder aus ihren Zimmern in den beiden oben gelegenen Stockwerken. Sie werden uns vorgestellt. Auf die Frage, was wir erwarten würden, antworten wir der Familie, sie möge uns möglichst wenig beachten und ihr Weihnachtsfest wie stets feiern. In diesen Stunden des Jahres verwandeln die vertrauten Weihnachtslieder das Wohnzimmer in einen sakralen Raum, verstärkt durch die von allen Familienmitgliedern von Zeit zu Zeit mitgesungenen Lieder. Gegenüber dem Tisch befindet sich in einer Nische die Sitzecke mit dem Weihnachtsbaum und den unter ihm liegenden Geschenken. Der Tannenbaum ist mit roten Kugeln, Holzschmuck, roten Bändern und einer elektrischen Lichterkette dekoriert. Er ist das sakrale Zentrum des Wohnraums und der familialen Glücksinszenierung am Weihnachtsabend. Kirchenbesuch: Am frühen Abend gehen wir mit Mutter Frauke und Kevin zu der wenige Minuten entfernt gelegenen evangelischen Kirche, in der die anderen Familienmitglieder uns einen Platz freigehalten haben. Als die Glocken geläutet werden, geht der Pfarrer zum Altar. Nach einem kurzen Orgelspiel begrüßt er die Gemeinde, gedenkt der Abwesenden und Kranken und erbittet Gottes Segen für die Festgemeinde, die anschließend „Es ist ein Ros’ entsprungen“ singt. Sodann wird wie in jedem Jahr die Weihnachtsgeschichte nach dem Apostel Lukas verlesen. Im Anschluss daran singt die Gemeinde „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Es folgt die Predigt, die den Stern, der nur mit dem Herzen zu sehen ist, in den Mittelpunkt stellt, der wie Gott leuchtet und wie seine Liebe wärmt. Hier schließt eine Interpretation der Jesus von den heiligen Königen dargebrachten drei Geschenke an, in der das Gold mit Würde, Ehre und Anerkennung, der Weihrauch mit der zu Gott aufsteigenden Seele und die Myrre mit Ermutigung und Heilung gleichgesetzt werden. Ein Orgelspiel und weitere von der ganzen Gemeinde gesungene Weihnachtslieder erklingen. Wieder nach Hause gelangt, beginnt die Bescherung. Sie wird damit eingeleitet, dass Mutter Frauke allen dicht gedrängt vor dem Weihnachtsbaum sitzenden Kindern und ihrem Mann noch einmal die Weihnachtsgeschichte „Wie Jesus auf die Welt kam“ in der Berliner Mundart vorliest. Bei der Ankündigung dieser Geschichte klatschen alle zustimmend. Offensichtlich gehört es zur Familientradition, sich diese „Modernisierung“ der Weihnachtsgeschichte anzuhören. Es ist die gleiche Geschichte, die der Apostel Lukas erzählt, doch wirkt sie durch die Berliner Mundart so verschieden, dass alle genau zuhören müssen, um sie wiederzuerkennen und zu verstehen.
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Die Bescherung dauert über zwei Stunden. Da jedes der sechs Familienmitglieder von den anderen Familienmitgliedern ein Geschenk und die Kinder von den Eltern mehrere Geschenke erhalten, werden sehr viele Geschenke ausgetauscht. Diese Bescherung wird von allen als höchst intensiv und lustvoll erlebt. Elias erhält diesmal als das älteste Kind der Familie als erster ein Geschenk. Es ist eine DVD mit dem Film „Der Club der toten Dichter“. Vor den Augen aller packt er sie aus. Neugierig warten alle darauf zu sehen, was dies denn für ein Geschenk ist. Von mehreren Seiten wird das Geschenk kommentiert. „Die wolltest Du ja haben“, „cool“, „den Film möchte ich auch sehen“. Auch die drei anderen Kinder nehmen die DVD in die Hand und betrachten sie. Die Überreichung dieses Geschenks und die diese Handlung begleitenden Kommentare machen deutlich: Nicht nur Elias, sondern die ganze Familie wird mit dieser DVD beschenkt. Durch die Zuwendung der Aufmerksamkeit aller wird das Geschenk Teil der familiären Gemeinschaft. Zwar gehört es dem ältesten Sohn; doch sind alle anderen an dem Prozess des Schenkens und Beschenktwerdens beteiligt. Alle Familienmitglieder identifizieren sich mit dem Beschenkten. Jeder nimmt für einen Moment seinen Platz ein und freut sich mit ihm. Bei dem Geschenk geht es weniger um den materiellen Wert als um die dem Beschenkten von Familienmitgliedern entgegengebrachte Aufmerksamkeitszuwendung und Auszeichnung. Besondere Aufmerksamkeit erhält ein Geschenk für die Mutter, das die Kinder noch aus einem anderen Zimmer holen müssen und dessen Form auf ein Bild hindeutet. Groß ist das Erstaunen, als sich das Geschenk als eine für den Eingang bestimmte Fußmatte mit der Inschrift „Hotel Mama“ entpuppt. Über dieses Geschenk freut sich die Mutter besonders. Sie fühlt sich und ihr Engagement für die Familie bestätigt und anerkannt. Dementsprechend umfangreich sind die Kommentare aller Familienmitglieder, die die fortwährende Anwesenheit der Mutter und ihre Fürsorge hervorheben und vor der ganzen Familie anerkennen. Vater Ingo bringt auf den Punkt, was alle empfinden: „Mutti ist nun glücklich“. Während der Bescherung sitzen die Familienmitglieder eng in die Sitzecke am Weihnachtsbaum gedrängt. Ihre Körper berühren sich: Angezogene Beine befinden sich neben ausgestreckten Armen, Hüften neben hochgezogenen Knien, Köpfe an den Schultern der Geschwister. Vor dem Weihnachtsbaum drängt sich einer an den anderen. Manche sitzen auf der Couch, andere auf dem Boden, an die Beine der Geschwister gedrückt, wieder andere balancieren auf der Lehne der Couch. Die ineinander verschlungenen Körper der Familienmitglieder füllen die Nische vor dem Weihnachtsbaum. Ein kollektiver Körper entsteht, dessen Dynamik aus den Bewegungen während der Bescherung entsteht. Zu einem wesentlichen Teil ist die Bescherung ein körperliches Geschehen. Das Geben
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und Nehmen der Geschenke wird mit vielen Gesten und Kommentaren begleitet. Dabei spielt die körperliche Nähe eine wichtige Rolle. Eltern und Kindern berühren sich und drücken dadurch einander Freude und Dank aus. Besonders zwischen Mutter Frauke und ihren Kindern oszillieren Gesten des Ausdrucks von Emotionen. Im Schenken erfolgt eine körperliche Bewegung zum Körper des Anderen hin, die zu sinnlicher Nähe, festlicher Freude, Intimität und zu Gefühlen der Zusammengehörigkeit führt. Beim Tasten und Berühren werden die Geschenke und die anderen Familienmitglieder unmittelbar empfunden. Mehrfach ertastetet und streichelt Mutter Frauke ihre Geschenke, als ob sie sie mithilfe des Tastsinns besser erspüren und inkorporieren könne. In diesen Gesten wechselseitigen Sich-körperlich-Beschenkens erzeugt die Familie Schultz eine besondere Form eines kollektiven Familienkörpers (Butler 1995). Familienglück: Am ersten Weihnachtstag treffen wir uns morgens wieder mit der Familie. Heute wollen wir ein Gespräch darüber führen, worin die Familienmitglieder ihr familiales Glück sehen. Damit wollen wir unsere Eindrücke vom Heiligen Abend ergänzen. Wir möchten nicht nur beobachten, wie die Familie ihr Glück an diesem Tag inszeniert und aufführt, sondern wir möchten auch erfahren, worin die Familienmitglieder ihr Glück sehen. Wir möchten verstehen, welche Aspekte ihnen wichtig sind, wie sie sie gewichten und wie sie über ihr Glück sprechen. Nicht nur beim Weihnachtsfest, sondern auch im Familienalltag bemühen sich die Eltern Schultz darum, ihren Kindern alles zu ermöglichen, was für deren Leben wichtig ist, und sie glücklich zu machen. Dafür sind auch die materiellen Bedingungen wichtig, die die Erfüllung ihrer und ihrer Kinder Wünsche möglich machen. Sodann ist es vor allem die tägliche Betreuung der Kinder durch ihre Mutter, die beide Eltern für wichtig halten. Um sich der Betreuung der Kinder zu widmen, hatte Mutter Frauke – anfangs sogar gegen ihre Überzeugung – ihre Arbeit als Physiotherapeutin aufgegeben. Diese Entscheidung, die erst die umfangreiche Betreuung ihrer Kinder möglich machte, wird von Vater Ingo nachhaltig unterstützt, dessen Beruf es ihm erlaubt, häufig zu Hause zu arbeiten. Spontan weist Vater Ingo daraufhin, dass die Kinder im alltäglichen Leben eine all inclusive-Betreuung erhielten. „Es gibt die all inclusive und die XXL all inclusive Betreuung“ (20:58-21:05 CD 25.12.). Beiden Eltern ist es besonders wichtig, dass ihre Kinder an jedem Tag ein warmes Mittagessen bekommen und dass sich einer von ihnen um sie kümmert. So bringt die Mutter jedes Kind zur Tür und verabschiedet es individuell. Auch öffnet sie jedem Kind, auch wenn dieses längst einen Türschlüssel hat, die Tür, wenn es aus der Schule zurückkommt. Kürzlich stand Mutter Frauke mehrere Wochen lang jeden Morgen um 4.30 auf, um einem ihrer Söhne während seiner
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Praktikumszeit das Frühstück zu machen und ihn gestärkt in den Tag zu entlassen. Kinder brauchten zu jedem Zeitpunkt Unterschiedliches, das sich nicht immer voraussagen lässt und auch von Kind zu Kind verschieden ist. Ihre Kinder, so Mutter Frauke, könnten sich glücklich schätzen, dass sie so ziemlich alles mitmache. In den letzten zwanzig Jahren sahen die Eltern Schultz ihre Lebensaufgabe darin, sich ganz ihren Kindern zu widmen. Ich breche hier meine ethnografische Beschreibung ab und komme zum Neujahrsfest der japanischen Familie und deren Inszenierung von familiärem Glück, an der ich mit Shoko Suzuki, meiner Kollegin von der Kyoto Universität, teilgenommen habe. Neujahr in einer japanischen Familie in einem Dorf. Das Dorf Higashimonobe liegt im Norden des Biwa-Sees, des größten Sees Japans. Es ist eine typische Gegend für den Anbau von Reis (flache Lage und hohes Wasseraufkommen). Das Dorf hat eine lange Geschichte und alte Traditionen, die eng mit dem Reisanbau verbunden sind. So spielen die Wasserkanäle eine große Rolle. Sie sind Garant für die Ordnung und die Pflege der Felder. Das Dorf orientiert sich am Wassersystem. Ursprünglich waren fast alle Familien des Dorfes mit Reisanbau beschäftigt, was sich auch in den eng zusammenhängend gebauten Häusern widerspiegelt. Heute allerdings sind nur noch wenige Familien mit dem Reisanbau beschäftigt. Alle Familien haben als besonderen Familiennamen den Namen des Familienoberhauptes, welcher sich einst mit seiner Familie hier im Dorf angesiedelt hatte. Der 31.12. wird Omisoka genannt. Früher erhielten alle Geschäfte zu Omisoka neue Tücher für den Hauseingang. Jedes Haus hat einen kleinen Hausschrein; an Omisoka werden dort Kerzen entzündet und man bedankt sich dafür, dass die Familie das Jahr gut verbringen konnte; zudem erbittet man sich ein gutes nächstes Jahr. Am 31.12. isst man abends Soba (lange, spaghettiähnliche Nudeln aus Buchweizen). Soba sind ein Symbol für langes Leben. In der Nacht vom 31.12. auf den 1.1. werden um Mitternacht (Joya) in allen Tempeln die Glocken 108mal geschlagen. Durch dieses buddhistische Ritual sollen negative Begierden beseitigt werden. Normalerweise darf man in dieser Nacht nicht schlafen. Wer dennoch schläft, wird der Überlieferung gemäß mehr weiße Haare und Gesichtsfalten bekommen. Früher übernachtete man auch im Schrein (ohne zu schlafen). Deshalb wird am Schrein ein großes Feuer entzündet. Joya ist eine sehr heilige Feier: Mit ihr wird der Jahresgott des nächsten Jahres empfangen. Alle Dorfbewohner warten auf die Ankunft des Gottes (deshalb dürfen sie auch nicht schlafen). Es gibt zwölf Jahresgötter: Maus, Kuh, Tiger, Hase, Drache, Schlange, Pferd, Schaf, Affe, Vogel (Huhn), Hund, Wildschwein.
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Wenn der Jahresgott kommt, werden die Menschen – oder jedenfalls die Japaner – neu geboren. Am 1.1. müssen zwei Vertreter des Dorfrates vor Sonnenaufgang zum Nogita-Schrein gehen und den Empfang der anderen Dorfbewohner vorbereiten. Kurz nach Sonnenaufgang kommen dann die anderen Dorfbewohner für den Neujahrsgruß zum Schrein. Bei dieser Gelegenheit haben früher alle Kimono getragen. Heute wird zwar kein Kimono mehr, dafür aber offizielle Kleidung getragen. Zum Neujahrsgruß bringt jede Person drei in weißes Papier gewickelte Reiseinheiten mit (für die zwei Schreine und den einen Tempel des Dorfes). Zuerst geht man zu den Schreinen, dann zum Tempel. Danach besucht man kurz die Verwandten (vor allem den Familienvater und den ältesten Sohn), um ihnen ein glückliches neues Jahr zu wünschen. Dann schließlich wird eine Kleinigkeit zum Frühstück gegessen. Gegen 7.00 Uhr wird im Tempel eine Trommel geschlagen, als Zeichen dafür, dass der Tempeldienst (eine buddhistische Messe in der Haupthalle des Tempels) beginnt, zu dem die Dorfbewohner gehen. Der Familienvater bringt dazu eine in weißes Papier gewickelte Münze mit, die Frauen bringen einen Isho, einen Sack mit Reis mit. Später dann werden Neujahrsglückwunschkarten an Freunde, Kollegen usw. geschrieben, meist sehr viele. Das Haus, in dem wir (Shoko Suzuki und Christoph Wulf) bei der Familie Oda den Jahreswechsel verbrachten, besteht aus zwei, einen großen Raum bildenden Räumen, neben denen sich noch einmal zwei voneinander getrennte Räume befinden. Von einem dieser Räume geht eine große Küche ab. In der ersten Etage liegen weitere sechs Räume. An der Stirnseite des großen Wohnraums gegenüber dem Eingang befindet sich rechts ein prächtiger buddhistischer Familienaltar und links das Tokonoma, ein aufgerolltes Bild mit heiligen Schriftzeichen; vor ihm steht ein im Ikebana-Stil angeordneter Blumenstrauß. Links davon hängt an der Längswand oberhalb Kopfhöhe die Vorderseite eines ShintoSchreins. Darunter sind sakrale Gefäße angeordnet. Gegenüber dem ShintoSchrein hängen an der anderen Längswand neben dem buddhistischen Tempel Photographien der Ur- und der Ururgroßeltern. Der buddhistische Tempel und der Shinto-Schrein befinden sich nebeneinander und bilden in ihrer wechselseitigen Verschränktheit das sakrale Zentrum des Hauses. Hier ist die in der MejiZeit angestrebte Trennung zwischen buddhistischem und shintoistischem Heiligtum nicht erfolgt, oder aber sie ist wieder rückgängig gemacht worden. Für die Familie Oda ist der buddhistische Tempel von besonderer Bedeutung. Die Familie gehört der Jodo-Shinshu-Schule des japanischen Buddhismus an, in der der Urgroßvater Laienpriester war und der sich die Familie nach wie vor eng verbunden fühlt. In diesem Tempel liegen vom Urgroßvater überlieferte heilige Schriften. Aus einer von ihnen wird im Verlauf der Neujahrszeremonie ein Text
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auf Altjapanisch rezitiert. Am heutigen Tag ist der Tempel geschmückt. Ein besonderes, nur für den Jahreswechsel bestimmtes dreieckiges Tuch, frische Blumen, neue Kerzen und später zwei aufeinander gelegte Reiskuchen mit einer Mandarine verweisen auf den Jahreswechsel und die mit ihm verbundenen Hoffnungen auf ein gesundes und glückliches Leben. Über dem Ausgang des großen Wohnraums in Richtung auf den Eingangsbereich des Hauses hängt ein Ootsue, ein Teufelsbild, das im Shiga-Bezirk um den Biwa-See sehr verbreitet ist. Es zeigt einen Teufel in Wanderausrüstung mit einer zusammengerollten Schlafmatte auf dem Rücken und einer Reisschale auf dem Bauch, dessen eines Horn verstümmelt ist und der eher komisch als bedrohlich wirkt. Dieser Teufel verfügt nur eingeschränkt über die Macht des Bösen. Auch am Übergang in den daneben liegenden Raum, in dem vor allem die Kinder spielen, wird mit einem Bild des Fuji auf einen der wichtigsten sakralen Orte Japans verwiesen, an dem sich Naturliebe, religiöses Gefühl und ästhetische Empfindung überlagern. Friedhofsbesuch: Ein fester Bestandteil des Neujahrsfestes ist der Besuch des Friedhofs, zu dem wir am späten Nachmittag aufbrechen. Die Gräber der Verstorbenen liegen am Rande des Dorfes neben einer modernen Autobahn. Für die Japaner sind sie der Eingang zur Welt der Ahnen. Alle Familien im Dorf haben hier ein steinernes Grabmal, in dem die Überreste der Verstorbenen nach der Verbrennung des Leichnams aufbewahrt werden. Als wir uns dem Grabmal der Familie Oda nähern, beginnt es leicht zu schneien. Großvater Makato vollzieht das Ritual. Die auf dem Grabmal stehenden Blumen werden durch neue ersetzt. Zwei Kerzen werden angezündet und in windgeschützte Behälter gestellt. Räucherstäbchen werden entzündet und in den dafür vorgesehenen Becher gestellt. Wasser wird in eine vor den Kerzen stehende Schale gegossen; der Rest des Wassers wird über die Spitze des Grabmals gegossen. Schließlich werden zwei kleine Bücher hervorgeholt, aus denen Großvater, Sohn und Enkelin Gebete sprechen. Dazu knien sie vor dem marmornen Grabmal, die Hände zwischen einer Gebetskette gefaltet. Allmählich wird es dunkel, der Schneefall wird stärker, wir fahren zum Haus zurück. Neujahrsessen: Die Zubereitung des Neujahrsessens ist Frauenarbeit. Für gewöhnlich muss die Schwiegertochter die Gewohnheiten und Sitten der Familie erlernen, in die sie hineingeheiratet hat, z. B. die Art des Gemüseschneidens, des Kochens, des Abschmeckens der Speisen, die Tisch- und Tellerdekoration. Die junge Frau soll sich dabei an der Schwiegermutter orientieren. Als junge Schwiegertochter hatte Großmutter Oda dies früher genauso gelernt. Nach dem Tod ihrer Schwiegermutter hatte sie langsam begonnen, die Speisen nach ihrem eigenen Geschmack anzurichten. Im Laufe der Zeit berücksichtigte sie dabei auch die Wünsche der jüngeren Generation und der Enkelkinder sowie Elemente
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aus der westlichen Küche bei der Zubereitung des Neujahrsessens. Heute hilft ihr nun ihre Schwiegertochter bei der Zubereitung des Neujahrsessens. Wie früher sie selbst, so lernt dadurch heute ihre Schwiegertochter, das Familienessen nach den Traditionen und Gewohnheiten der Familie Oda für das Neujahrsfest vorzubereiten. In einem Interview erläutert Großmutter Kayoko die Bedeutung der Vorbereitung des traditionellen Familienessens. Familienglück: Ein wenig später bitten wir den ältesten Sohn Yasuo und seine Frau Nanako zu einem Interview über Familienglück. Wir fragen sie nach ihren Glücksvorstellungen und Glücksempfindungen. Wie selbstverständlich beginnt Yasuo zu reden; später schaltet sich Nanako ein. Beide erzählen von ihren Glücksvorstellungen und von der Bedrohung ihres familiären Glücks durch den Herzfehler ihres Sohnes Kijoichi. Für Yasuo und Nanako spielt die familiäre Gemeinschaft eine große Rolle. Yasuo versucht, mit den Kindern zusammen zu sein und so viel wie möglich mit ihnen zu spielen. Er möchte ihnen ähnlich schöne Erinnerungen ermöglichen, wie er sie an die eigene Kindheit hat. In diesen Erinnerungen spiegelt sich die Liebe seines Vaters Makato, und er versucht, seinen Kindern ähnliche Erinnerungen zu schaffen. Die Weitergabe der elterlichen Liebe an die nächste Generation erfolgt in einem mimetischen Prozess, in dem die Möglichkeiten, Glück in seinem späteren Leben zu empfinden, angelegt werden (Paragrana 2013). Neujahrsmorgen: Am frühen Morgen des Neujahrstages werden wir uns wiedersehen. Als wir noch vor sechs Uhr bei der Familie Oda ankommen, sind alle bereits wach und haben sich festlich gekleidet, um den ersten Tag des neuen Jahres feierlich zu begehen. Mit dem Großvater und seinem Sohn gehen wir im Dunkel des Morgens los, um in einem Schrein und in einem Tempel das Glück für das neue Jahr zu erbitten. Es hat wieder zu schneien begonnen. Unterwegs treffen wir viele Dorfbewohner, fast ausschließlich Männer, die wie wir zu den heiligen Orten gehen, um den Segen für das neue Jahr zu erbitten. Die Frauen sind zuhause geblieben, um das erste und besonders wichtige Mahl im neuen Jahr vorzubereiten. Als wir zum Schrein gelangen, sitzen dort zwei Priester in ihren blauen Gewändern. Die gestern vorbereiteten Geldgeschenke werden übergeben; die Glocke wird geschlagen; sie tönt; zweimal wird in die Hände geklatscht; ein Schälchen mit Reiswein wird getrunken. Dann gehen wir zum buddhistischen Tempel. Wem wir unterwegs begegnen, dem wünschen wir und der wünscht uns ein glückliches neues Jahr: Akemaskite omedeto gozaimasu ...
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Bedingungen familiären Glücks Ohne abschließend angeben zu können, welches die Bedingungen familialen Glücks sind, lassen sich auf der Grundlage unseres ethnographischen Materials drei zentrale Merkmale angeben: – Das während des Neujahrsfests erlebte Glück ist ein gemeinschaftliches Glück, das durch Inszenierungen und Aufführungen innerhalb der Familie erzeugt wird. – Familiäres Glück entsteht beim Neujahrsfest in und mit Hilfe performativer Praktiken. – Durch die die Intensität familialen Glücks erzeugenden Praktiken unterscheidet sich die familiale Gemeinschaft von anderen Gemeinschaften. Im Rahmen unserer Untersuchung über die Inszenierung und Aufführung des Glücks in der Familie Oda am Neujahrsfest sind zwei Familienpraktiken besonders wichtig: 1) die in Shintoismus und Buddhismus wurzelnden, für das Glück der untersuchten Familie konstitutiven sakralen Praktiken; 2) die damit eng verbundenen Praktiken und symbolischen Formen des Essens und Trinkens. Die sakralen Praktiken stellen die Verbindung mit der kosmischen Ordnung und die Einordnung des individuellen Lebens in die Ahnen- und Generationenfolge her. Die Praktiken des Essens und Trinkens werden als lustvoll und Gemeinschaft stiftend erlebt. Sie tragen zur Selbstvergewisserung der Familie bei, intensivieren die Kommunikation zwischen den Generationen und Geschlechtern und sichern dadurch den Fortbestand der Familie. Transkulturelle Elemente des Familienglücks In den in Deutschland und Japan untersuchten Familienritualen sind es die fünf Elemente Essen, Beten, Schenken, Erinnern und Zusammensein, denen für die Erzeugung familiären Glücks besondere Bedeutung zukommt. Je nach Fokus der Beschreibung und Interpretation lassen sich bei jedem dieser Elemente gemeinsame und differente Aspekte unterscheiden. Jedes Element lässt sich als eine unitas multiplex begreifen, bei deren Beschreibung und Interpretation es darum geht, das Gemeinsame und das Differente aufeinander zu beziehen. Dabei gilt es zu vermeiden, lediglich eine der beiden Perspektiven ohne die andere zu untersuchen. Nur in einer Betrachtungsweise, die zwischen beiden Perspektiven oszilliert, können unzulässige konzeptuelle und methodische Verkürzungen vermieden werden. Wittgenstein hat das Problem, die unitas multiplex dieser Elemente
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in den Familienritualen herauszuarbeiten, in seinen Überlegungen zur „Familienähnlichkeit“ von Spielen grundsätzlich beschrieben. In dem untersuchten Spektrum familiären Glücks gibt es viele unterschiedliche Ausprägungen, Ähnlichkeiten und Differenzen, so dass eine prinzipiell unüberblickbare Vielfalt entsteht, innerhalb derer sich jedoch Ähnlichkeiten ergeben, die es möglich machen, diese Vielfalt wahrzunehmen und zu strukturieren. Dabei ergibt sich die grundsätzliche Frage nach der Vergleichbarkeit kultureller Phänomene und den Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs und daran anschließend die Frage danach, was den Menschen im Hinblick auf familiäres Glück gemeinsam ist (Antweiler 2007). Für die beiden rituellen Familienfeste sind mehrere Elemente charakteristisch, deren Ausgestaltung allerdings bei den beiden Familien sehr unterschiedlich ist. In sechs Punkten sollen diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Gestaltung dieses zentralen Familienrituals abschließend kurz skizziert werden (Wulf/Suzuki/Zirfas u. a. 2011). (1) In beiden Familien spielt die sakrale Fundierung des Familienrituals eine wichtige Rolle. Die deutsche Familie, bei der das Wohnzimmer durch den Weihnachtsbaum, die zahlreichen Kerzen und die vertrauten Weihnachtslieder in einen sakralen Raum verwandelt wird, geht am Heiligen Abend in die in der Nähe gelegene evangelische Kirche, um am Weihnachtsgottesdienst teilzunehmen. Dort trifft sie auch andere Gemeindemitglieder. Nach der Bescherung wird die Weihnachtsgeschichte noch einmal in zwei neuen Versionen vorgelesen. Dadurch, dass eine der beiden Geschichten in der Berliner Mundart vorgetragen wird, wird sie verfremdet und in eine neue Geschichte transformiert, ohne dass dabei ihre Substanz verändert wird. In der zweiten Version wird die Geschichte in eine moderne Zeitungsnotiz „übersetzt“, aus der hervorgeht, auf wie große Widerstände das Weihnachtsgeschehen auch in unserer Welt heute stoßen würde. In der japanischen Familie erfolgt am letzten Tag des Jahres ein Besuch am Familiengrab; am sehr frühen Neujahrsmorgen besucht die Familie zwei Tempel. Auf dem Weg dorthin begrüßen sich die Einwohner des Ortes und wünschen sich ein gesundes und glückliches neues Jahr. In beiden Tempel wird das Neujahrsritual vollzogen. Dann gehen die Familien nach Hause, um nach einem weiteren Ritual, das der Großvater vor dem buddhistischen Altar im Wohnzimmer in Anwesenheit der ganzen Familie vollzieht, das Neujahrsessen einzunehmen, das die Frauen in der Nacht zubereitet haben. (2) Im Mittelpunkt des Festes steht das gemeinsame Essen. In der japanischen Familie wird es an einem Tisch auf dem Boden vor dem buddhistischen Haustempel sitzend eingenommen. Zum Neujahrstag werden besondere Speisen gekocht, über deren symbolische Bedeutung für das neue Jahr beim Essen ge-
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sprochen wird. Die Familienmitglieder sitzen dicht beieinander; gesprochen wird wenig. Bei der deutschen Familie kommt den am Esstisch verzehrten Speisen weniger Bedeutung zu. Die Mutter betont, dass sie „keine große Köchin“ sei und es ablehne, an diesem Tag einen besonderen Aufwand zu betreiben. Es sind vor allem die Gespräche am Tisch, die die familiäre Gemeinsamkeit schaffen, deren Intensität ein Merkmal des Stils dieser Familie ist. (3) In beiden Familienritualen spielt der Austausch von Geschenken eine Rolle. Während dieser in der japanischen Familie eher marginal ist, spielt er in der deutschen Familie eine zentrale Rolle. Dabei ist es weniger sein materieller Wert als vielmehr seine soziale Bedeutung, die ihn ins Zentrum des Familienrituals rückt. Der zwei Stunden währende Geschenkaustausch findet in der Sitzecke vor dem Weihnachtbaum statt. Alle Familienmitglieder sitzen dort dicht aneinander gedrängt. Jedes Geschenk wird von allen Mitgliedern der Familie auf seinen Nutzen für den Beschenkten und seine soziale und ästhetische Qualität kommentiert. (4) Familien konstituieren ihre Gefühle der Gemeinsamkeit durch Erzählungen, in denen sich die Mitglieder der Familie an gemeinsame erlebte Ereignisse erinnern, in denen sie ihre jeweilige Gegenwart in den Referenzrahmen der Familie einordnen und in der sie gemeinsam Zukunftsprojektionen artikulieren. Familiäre Narrationen erzeugen, bestätigen und bewahren Gefühle der Zugehörigkeit. (5) Die Familienmitglieder nehmen sich während des Festrituals Zeit füreinander, für ihr Zusammensein. Sie genießen es, beieinander und miteinander zu sein. Das kommt bei der deutschen Familie in den ausführlichen, von Zuneigung getragenen Gesprächen zum Ausdruck. In der japanischen Familie sind es die Spiele der Erwachsenen mit den Kindern, in denen diese besondere Aufmerksamkeit erhalten. In den von uns aufgezeichneten Gesprächen in der deutschen Familie bringen die Kinder wiederholt zum Ausdruck, dass sie später auch eine Familie und Kinder haben und ihr zukünftiges familiäres Leben nach dem Modell ihrer Familie gestalten wollen. In der japanischen Familie kommt in der gemeinsamen Zubereitung der Mahlzeiten durch die Großmutter, ihre Tochter und ihre Schwiegertochter und die hohe Wertschätzung der Mahlzeit der Wert dieses drei Generationen einbeziehenden Familienrituals für alle Beteiligten zum Ausdruck. (6) Ein deutlicher Unterschied zwischen der deutschen und der japanischen Familie ergibt sich aus der Bedeutung der Eltern und früherer Generationen für die Familienmitglieder. In der deutschen Familie werden die Eltern des Vaters, die in der Nähe wohnen und die man daher von Zeit zu Zeit sieht, am Nachmittag des ersten Feiertags besucht. Mit den Eltern der Mutter, die recht weit ent-
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fernt wohnen, werden Päckchen mit Geschenken ausgetauscht. Während des Weihnachtsfestes wird telefoniert. In der japanischen Familie sind es die Großeltern, in deren Haus das Familienritual stattfindet, an dem drei und bis vor ein paar Jahren vier Generationen beteiligt waren. Außerdem macht die Familie am letzten Tag des alten Jahres einen Besuch am Familiengrab, um der Ahnen zu gedenken, ihnen zu danken und ihren Segen für das neue Jahr zu erbitten. Der Großvater vollzieht ein Ritual mit Wasser, Feuer, Blumen und der Rezitation heiliger Sprüche, an dem er auch den kleinen Enkel beteiligt. In den Gesprächen mit den Familienmitgliedern beider Familien wurde deutlich, welche zentrale Bedeutung das Weihnachts- bzw. Neujahrsritual für die Kohärenz der Familie und das Glück ihrer Mitglieder hat. In beiden Familien wird durch narrative Rückgriffe auf frühere Weihnachts- bzw. Neujahrsfeste und narrative Projektionen auf zukünftige Feste die Gegenwart des Familienfestes in die Geschichte und in die erwartete Zukunft der Familie eingebettet. Dadurch entsteht eine emotionale Intensität und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das die Familienmitglieder als familiales Glück erleben. Schon Durkheim (1994) hatte zu Recht darauf verwiesen, wie wichtig der sich in solchen Ritualen konstituierende sakrale Charakter für die Familie ist, damit sie ihre gesellschaftliche und soziale Funktion wahrnehmen kann. In der Inszenierung solcher Rituale mit ihren performativen Praktiken und den sie begleitenden und ihren Sinn erzeugenden Narrationen werden die für die Familie verbindlichen Werte, Normen und Regeln zur Darstellung gebracht. In diesen Prozessen werden sie erzeugt, im Verhalten der Familienmitglieder inkorporiert und durch Wiederholungen immer wieder bestätigt. Diese Werte, Normen und Regeln sowie die mit ihnen verschränkten Gefühle treten nicht als abstrakte Werte ins Bewusstsein der Familienmitglieder. Vielmehr sind sie eingebunden in szenische Handlungen, Gespräche und Verhaltensweisen, die nur bei Konflikten oder auf Begründung zielenden Nachfragen bewusst werden. Sie sind Teil eines Handlungswissens, das die Familienmitglieder befähigt, situationsspezifisch richtig zu handeln.
Ausblick: Die Macht der Bilder
Menschen leben mit Bildern. Als Wahrnehmungsbilder gewähren sie ihnen Zugang zur Welt und zu anderen Menschen. Als Erinnerungsbilder geben sie ihnen Zugang zur Vergangenheit. Als Zukunftsbilder helfen sie ihnen bei neuen Handlungsentwürfen. In Bildern wird sichtbar, was sonst unsichtbar bliebe. Sie haben Macht über die Menschen, die sich in ihnen verirren. Bilder treten an die Stelle von Abwesendem und machen es präsent. Zugleich sind sie Ausdruck eines Mangels, der in Trieb- und Wunschbildern besonders deutlich wird und der allen Menschen gemeinsam ist. Zugleich wird in ihnen eine die Menschen als Sozial- und Kulturwesen hervorbringende Energie sichtbar. Sie zeigt sich in der Wahrnehmung der Welt und in der Vielfalt der Bilder. Als „Bild“ wird ein weites Spektrum unterschiedlicher Arten von Bildern bezeichnet. Je nach den Differenzierungs-Kriterien, die der Klassifikation zugrunde gelegt werden, haben die zahlreichen „Bildarten“ gemeinsame und unterschiedliche Elemente. Wittgensteins Begriff der „Familienähnlichkeit“ charakterisiert die Beziehung zwischen den „Bildarten“ am besten. Es sind jeweils unterschiedliche Aspekte der „Familienähnlichkeit“, die es möglich machen, die verschiedenen „Bildarten“ dennoch als Bild zu bezeichnen. Bilder sind das Ergebnis des Wirkens der Imagination, deren energetische Ströme sich zwar in neurowissenschaftlichen Forschungen visualisieren lassen, die jedoch unsichtbar bleiben, wenn sie sich nicht in Bildern manifestieren. In Übereinstimmung mit dem neurowissenschaftlichen Sprachgebrauch werden in diesem Kontext als „Bilder“ die Spuren nicht nur des Sehens, sondern auch der anderen Sinne bezeichnet. In der Genese des Homo sapiens lässt sich das Wirken dieser vielfältigen Imagination nachzeichnen Die Zeugnisse reichen von Faustkeilen und Knochenritzungen über von Jenseitsvorstellungen zeugende Grabspuren bis zu den Höhlenmalereien. Ohne die Bilder schaffende Imaginationskraft gäbe es keine Menschwerdung. In der geschichtlichen Zeit werden ihre Zeugnisse dichter und vielfältiger. Das Wirken der Imagination lässt sich sowohl in
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diachronen Untersuchungen der Geschichte als auch in synchronen Untersuchungen verschiedener Kulturen nachweisen. Die Imagination manifestiert sich in unterschiedlichen ikonischen Formen. Besondere Bedeutung haben die Wahrnehmungs- und Erinnerungsbilder sowie die Projektionen der Zukunft. Doch auch die Pathologien der Imagination, die Visionen und Träume haben jeweils unterschiedliche ikonische Ausprägungen. Von der Familienähnlichkeit unterschiedlicher Bilder, der Rolle der Imagination in der Genese des Menschen und verschiedenen ikonischen Ausprägungen der Imagination ausgehend galt es, Theorien und Konzepten der Imagination sowie ihre Beziehung zur Fantasie und Einbildungskraft zu analysieren. Dabei ließ sich zeigen, welche zentrale Rolle mentale Bilder für die Ausprägung von Emotionen spielen und wie sich ludische Elemente im Wirken der Imagination ausdrücken. Ohne Imagination sind auch Spiele nicht möglich. Die Imagination erzeugt den erforderlichen Rahmen und die für die Spielhandlungen notwendigen Fiktionen. Mit ihrer Hilfe kann das „Als-ob“ der Spiele geschaffen werden, das Bedingungen der „Wirklichkeit“ außer Kraft setzt und sie in die Welt des Spiels transformiert. Die Imagination entwickelt Bilder und Schemata, die aufgrund ihres performativen Charakters das Spiel gestalten und die ihrerseits Bilder erzeugen, die sich im kollektiven und im individuellen Imaginären festsetzen und in neuen Kontexten anders kombiniert werden können. Ähnlich verhält es sich mit dem Tanz, in dem gleichfalls imaginäre Darstellungs- und Ausdruckswelten geschaffen werden, die zu erzeugen und an denen teilzunehmen wir als lustvoll erleben. Auch hier wird die Imagination performativ. Sie manifestiert sich in den Inszenierungen und Aufführungen des Tanzes sowie in den Bewegungen des Körpers. Als „Bewegungsfantasie“ ist sie für den Tanz konstitutiv. Auch die Inszenierung und Aufführung von Ritualen und das ihnen zugrunde liegende praktische Wissen ist ohne Bezug auf die Bilder und Schemata des Imaginären nicht möglich. Wie bei Spielen und Tänzen, so gibt es auch in Ritualen ein bildloses Wissen des Körpers, das sich manifestiert und das sich als Ergebnis von Lernprozessen des Körpers begreifen lässt. Imagination und Imaginäres wirken auch an der Gestaltung dieser sozialen Praktiken mit, die nicht möglich wären, wenn Erinnerungsbilder nicht das Wissen von früheren Inszenierungen und Aufführungen in neuen Situationen verfügbar machen würden. Zugleich schaffen rituelle Arrangements auch Handlungssegmente, die mithilfe der Imagination in das soziale und kulturelle Imaginäre übertragen werden. Körper und Imagination werden performativ und ermöglichen so die veränderungsoffene Dynamik von Ritualen.
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Aufgrund ihres ikonischen Charakters können Gesten Rituale in einer Szene bzw. in einem Bild verdichten, das performativ ist und die Bedeutung des ganzen Rituals ausdrückt. Wegen ihres bildlichen Charakters werden Gesten gut erinnert. Sie vereinfachen und intensivieren Rituale und erzeugen ein Bild, in dem sich auch Emotionen festmachen können. Als Handlungen ohne Worte sind Gesten Inszenierungen und Aufführungen des Körpers, die durch „Familienähnlichkeit“ charakterisiert sind und die in mimetischen Prozessen verstanden werden. Gesten sind frühe Formen der Kommunikation, in denen sich unabhängig vom Bewusstsein auch ein implizites Körperwissen ausdrückt. Kulturelles Lernen ist weitgehend mimetisches Lernen, das mithilfe der Imagination stattfindet. Die diesem Lernen zugrunde liegenden Prozesse vollziehen sich weitgehend unbewusst. In ihnen nehmen die sich mimetisch verhaltenden Menschen gleichsam einen „Abdruck“ von dem sozialen bzw. kulturellen Geschehen und integrieren ihn in ihr Imaginäres, in dem dieser sich mit bereits vorhandenen Bildern, Schemata und Modellen verbindet. Dabei erfolgt eine Anähnlichung an bereits erzeugte soziale und kulturelle Praktiken. Ein dynamisches Nachschaffen findet statt, in dessen Verlauf Variationen und Neuerungen entstehen. Insbesondere in der Kindheit werden große Teile des impliziten praktischen Wissens mimetisch erworben. Dazu gehören z. B. Gefühle, aufrechter Gang und Sprache. Die Performativität der Imagination und des Imaginären trägt dazu bei, körperbasierte Praktiken zu inszenieren und aufzuführen und Handeln emergieren zu lassen. Die Beteiligung an den Praktiken des immateriellen kulturellen Erbes und die mimetische Verarbeitung der entsprechenden Praktiken tragen zur Herausbildung kollektiver und individueller Identität bei. Für die Herausbildung einer personalen Identität spielen Familienrituale und ihr Beitrag zur Entwicklung eines individuellen Imaginären eine wichtige Rolle. Ohne familiäre Praktiken und ihre rituelle Wiederholung und Veränderung bildet sich keine individuelle Identität. Im familiären Wohlbefinden und Glück liegen die Voraussetzungen eines erfüllten Lebens. Das individuelle Imaginäre, für das ein für die Inszenierung von Glück erforderliches praktisches Wissen benötigt wird, wird in mimetischen Lernprozessen erworben. Wie unsere deutsch-japanische ethnographische Untersuchung gezeigt hat, gibt es trotz aller kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Japan auch transkulturelle Dimensionen des Glücks der Familie, die Menschen unterschiedlicher Kulturen gemeinsam zu sein scheinen. Diese Forschungsergebnisse werfen die Frage danach auf, wie das Verhältnis zwischen universellem, kulturspezifischem und individuellem Imaginären in der globalisierten Welt zu begreifen ist. In der globalisierten Welt haben die Bilder und das Imaginäre eine starke Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen.
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Das Spektrum der Bilder enthält globale Ikonen, die überall in der Welt zu sehen sind, sowie regionale, lokale und individuelle Bilder mit begrenztem Bekanntheitsgrad. Auch in den Bildern der globalisierten Welt kommen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Ausdruck. Das Imaginäre der Menschen lässt sich als unitas multiplex, als Einheit in der Vielfalt begreifen, an der Menschen in unterschiedlicher Weise Anteil haben. Dass sich in den „Bildern des Menschen“ und im Imaginären der Menschheit große Veränderungen vollziehen, zeigt die Entwicklung der Gegenwartskunst von der modernen zur globalen Kunst. Waren die moderne Kunst und ihre Bilder mit der Zentrierung auf Europa und die USA weitgehend euroamerikanische, so verändert sich heute diese Situation in Richtung auf eine globale Gegenwartskunst. Inzwischen haben sich dynamische Kunstszenen und -märkte mit zahlreichen Museen und Ausstellungen in China, Indien, Brasilien sowie in der arabischen Welt entwickelt. Die globale Kunst ist nicht mehr euroamerikanisch, sondern sie ist polyzentrisch (Weibel/Buddensieg 2007; Belting/Buddensieg 2011). Diese Entwicklung ist ein Spiegel für die Veränderungen des Imaginären der Menschen, in dessen sich wandelnden Strukturen, Schemata und Bildern sich die Dynamik der Globalisierung manifestiert. Mithilfe der elektronischen Medien werden lokal und regional erzeugte Bilder weltweit verbreitet. In allen Teilen der Welt haben diese Prozesse nachhaltige Wirkungen auf die Erweiterung und Umstrukturierung des Imaginären. Diese Entwicklung ist auch für andere Bereiche der globalisierten Welt exemplarisch, in denen neue Bilderwelten entstehen, die in mimetischen Prozessen das Imaginäre der Menschen in der ganzen Welt besetzen. In diesem Prozess lassen sich zwei widersprüchliche Tendenzen unterscheiden. Die eine zielt auf die globale Verbreitung der gleichen Bilder und die Homogenisierung des kollektiven und individuellen Imaginären. Die andere Tendenz betont die kulturelle Diversität und die Bedeutung der Diversität des Imaginären für die Entwicklung kultureller und sozialer Vielfalt. In beiden Tendenzen spielen politische und ökonomische, soziale und kulturelle Machtkonstellationen eine wichtige Rolle. Über die Vielfalt unterschiedlicher Bilder wird das Imaginäre der Menschen geformt. Häufig geschieht dies nicht explizit, sondern implizit. Die den Bildern zugrunde liegenden und in ihnen zum Ausdruck kommenden Machtverhältnisse werden stillschweigend vermittelt und nehmen Einfluss auf die Strukturen und Schemata des Imaginären. Diese auch im Imaginären der Menschen wurzelnden Machtverhältnisse sind performativ und haben Wirkungen auf die Gestaltung der Welt und die Beziehungen der Menschen zueinander. Die entsprechenden Bilder des Imaginären beeinflussen den Umgang mit kultureller Differenz und Alterität, dessen Gelingen zu den großen Herausforderungen unserer Zeit gehört.
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Medienbilder, Großklaus 2004, S. 9 Abb. 2: Faustkeil, © Archäologisches Museum Frankfurt/M. Abb. 3: Knochenritzungen in Bilzingsleben (aus Le Tensorer 2001, nach Mania 1991) Abb. 4: Tierstatuette aus Vogelherdhöhle (Mammut), © Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Universität Tübingen Abb. 5: Detail (Löwen) aus der Höhle von Chauvet in Vallon Pont-d’Arc (Ardèche) Abb. 6: Totenschädel aus Neuirland, © Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Foto: Jean Christen Abb. 7: Totenschädel aus Jericho, © British Museum
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Karin Riedl Künstlerschamanen Zur Aneignung des Schamanenkonzepts bei Jim Morrison und Joseph Beuys Februar 2014, 248 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2683-4
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