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German Pages 330 Year 2014
Hans Christian Hönes Kunst am Ursprung
Image | Band 69
2014-06-18 12-01-06 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c6369502776336|(S.
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4) TIT2750.p 369502776344
Hans Christian Hönes (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der internationalen Forschergruppe »Bilderfahrzeuge – Warburg’s Legacy and the Future of Iconology« am Warburg-Institute London.
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Hans Christian Hönes
Kunst am Ursprung Das Nachleben der Bilder und die Souveränität des Antiquars
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Inhalt
I. Der Ursprung der Kunst: Spurensuchen | 9
§1 Nachleben und Gegengeschichte | 9 §2 Erdichtung der Ursprünge | 16 §3 „survivals“: Die Macht des Antiquars | 25 II. Ironie des Todes (D’Hancarville I) | 33
§1 Die Vergangenheit der Kunst (und Kunstgeschichte) | 33 §2 Sterben als Selbsterneuerung | 41 §3 Eine „neue Wissenschaft“ vom Nachleben | 46 §4 Die Souveränität der Willkür | 54 §5 Kunstgeschichte: Eine neue Gleichung | 64 III. Willkürliche Hypothesen (D’Hancarville II) | 67
§1 Öffnung der Anfänge | 67 §2 Das Ungeformte: Fetisch versus freier Wille | 77 §3 Bewegtes Beiwerk | 81 §4 Fiktion und Hypothese | 84 IV. Die Potenz des Antiquars (Richard Payne Knight I) | 87
§1 Feldforschung: Hamilton in Isernia | 87 §2 Das Erbe des Priapus | 91 §3 Die Natürlichkeit des Phallus | 98 §4 Wissenschaft im Zeichen des Satyrs | 105 §5 Kontroversen in Text und Bild | 111 §6 Die Hermetisierung der Bilder | 125 V. Der Sound des Ursprungs (Knight II) | 139
§1 Die Autorität Homers | 139 §2 Alphabet und Bildgeschichte | 145 §3 Der Widerstand der Hieroglyphen | 156 VI. Das Trauma der Heilsgeschichte (James Christie) | 167
§1 Säkularisierung der Kunstgeschichte? | 167 §2 Schattenbilder: Sintflut und „survival“ | 172 §3 „Fortleben“ ohne Phalli | 187 §4 Der Antiquar als Hierophant | 192
VII. Entzeitlichung: Nachleben und Naturgeschichte | 199
§1 Und die Welt steht still | 199 §2 Nichts Neues unter der Sonne | 207 VIII. Die neue Übersichtlichkeit | 217
§1 Verfall und Fortleben | 217 §2 Geschichte als ‚tableau‘ (I) | 224 IX. Verwicklungen | 235
§1 Geschichte als ‚tableau‘ (II) | 235 §2 Lizenz und Souveränität des Sammlers | 243 §3 Vergegenwärtigung: Eine Ästhetik der Verfügbarkeit | 254 §4 Cock and Bull Stories | 263 X. Was ist Nachleben? | 273 XI. Dank | 283 XII. Anhang | 285
§1 Quellenverzeichnis | 285 §2 Literaturverzeichnis | 299 §2 Abbildungsnachweise | 327
„Alles, was wir sehen könnte auch anders sein. Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein.“ (Wittgenstein 1984, 5.634) „[A]lles ist so, wie es ist, es sei denn, alles wäre anders.“ (Imdahl 1996, S. 492)
I. Der Ursprung der Kunst: Spurensuchen
§1 N ACHLEBEN
UND
G EGENGESCHICHTE
Bilder, so schrieb Karl Philipp Moritz 1791 in seiner Götterlehre, können „eine geheime Spur zu der ältesten verlohren gegangenen Geschichte“ bilden. Die materiellen Zeugnisse der Geschichte sind damit beschrieben als ein Rest, als letztes, nachträgliches Zeugnis einer vergangenen und anders nicht zu erschließenden prähistorischen Zeit.1 Diese Überlieferung, so Moritz, ist freilich nur eine Spur, ein äußerst unvollständiger Eindruck von dem, was gewesen ist. Der Betrachter kann „in der Flucht der Zeit von den Bildern, die vorüberrauschen gleichsam nur die Umrisse stehlen“.2 Sinnfälliger Ausdruck dieses Gedankens sind die durch das Werk John Flaxmans überaus populär gewordenen Umrisslinienzeichnungen, mit denen auch Moritz seine Schriften illustrierte (Abb. 1). Die Bilder sind eine Spur, eine reduzierte Form, aber eben lediglich ein Umriss der einstigen Fülle, der nur ahnungsvoll Rückschlüsse zulässt auf seine ursprüngliche Gestalt.3 Und doch ist da noch etwas: Die Vergangenheit ist nicht verloren, sie ist gespeichert und aufgehoben in Medien der Erinnerung, die der Geschichte ein Nachleben garantieren. Damit ist ein kunsthistorisches Narrativ angesprochen, das in der Forschung zur Kunsthistoriographie des 18. Jahrhunderts noch wenig Beachtung gefunden hat.4 Die weitaus populärere Geschichtserzählung scheint vom Gegenteil auszugehen: Überall wo der Betrachter Reste der Vergangenheit findet, muss ihm bewusst werden, dass er zu spät gekommen, die Kunst längst gestorben ist. Johann
1
Moritz 1791 [Götterlehre], S. 3. Dazu: Holzer 2009; Thimann 2012.
2
Moritz 1791 [Anthousa], S. 6.
3
Zum Verhältnis von Text und Bild bei Moritz: Münter 2005 und Thimann 2012, S. 29.
4
Ausnahmen bilden die Aufsätze von Lea Ritter Santini (1999), Whitney Davis (2008) und
Zu Flaxmans Umrisslinienzeichnungen grundlegend: Symmons 1984. Susanne Deicher (2008). Einführend zu Zeitkonzepten im 18. Jahrhundert: Stockhorst 2006; Mondot 2012.
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Joachim Winckelmann ist der bekannteste und einschlägigste Vertreter dieses Geschichtsbildes.5 Erzählungen, die um 1800 das erstgenannte Modell, eine durchgehende und bis in die eigene Gegenwart lebendige und wirksame Überlieferung seit den ältesten Zeiten annahmen, sind der Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Abb. 1 (links): Jean-Joseph Francois Tassaert nach Asmus Jakob Carstens, Umrisslinienstiche, in: Karl Philipp Moritz: Götterlehre, 2. Aufl. 1795, nach S. 250. Abb. 2 (rechts): Frontispiz zu Francesco Bianchini, La Istoria Universale Provata Con Monumenti, e figurata con simboli degli Antichi, Rom 1747.
Entsprechende historiographische Narrative, die zudem auf den besonderen Status von Bildern als Medien der Überlieferung abzielen, setzen freilich nicht erst um 1800 ein. Eine frühe Position nimmt hier Francesco Bianchini ein, der in seiner Istoria universale (1697) die Idee vertritt, dass die Menschheit in Bildwerken die Geschichte und Sitten der frühesten Zeiten quasi konserviert hat – und zwar dauerhafter und besser als in Texten. Diese Geschichtserzählung ist, so der Titel des ersten Kapitels, „pruovata, e figurata, con simboli, tratti da’ monumenti, che si conservano, de gli antichi“.6 Er setzte, so Brigitte Sölch, „eine kontinuierliche Überlieferung historischer Ereignisse, Bräuche und Riten in Form von Bildern und Symbolen vo-
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Dazu: Geimer 2002.
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Bianchini 1747, S. 1. Vgl. Pfisterer 2012, S. 100.
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raus“. Sinnbild dieser Gedächtnisfunktion der Bilder sind für Bianchini symbolische Hieroglyphen, die auch im Frontispiz seiner „Universalgeschichte“ gezeigt sind (Abb. 2). In diesen bildhaften Symbolen, so der Autor, sei über alle Veränderungen der Zivilisationen und Sprachen hinweg das Wissen seit den frühesten Zei7 ten gespeichert – und für einen kundigen Betrachter auch weiterhin lesbar. Objekte aus späteren Zeiten können so zu Quellen für frühere, vorschriftliche und damit – im modernen Sinne – prähistorische Epochen werden. Bianchini entwirft hier eine Konzeption von historischer Zeit, die man mit dem 8 Begriff des „Nachlebens“ beschreiben kann. Gemeint ist damit ein Modell, das Geschichte nicht als historisierbare Vergangenheit, sondern als auch die eigene Gegenwart betreffende, lebendige Überlieferung begreift. Die kunsthistorische Schule, mit der man im 18. Jahrhundert am deutlichsten eine entsprechende Zeitkonzeption historischer Kontinuität verbinden mag, ist die der epigraphisch geschulten Antiquare der „Scuola Mabillona“. Die Forschung hat als deren These eindringlich das Geschichtsbild einer Epochengrenzen nivellierenden, nachantiken Kontinuität künstlerischer Formen hervorgehoben. Ein Paradebeispiel dafür wären etwa Filippo Buonarrotis Forschungen zu frühmittelalterlichen Elfenbeintafeln, die er in eine entwicklungsgeschichtliche Reihe einordnete, welche von antiken Konsulardiptychen über frühe christliche Diptychen zu den Flügelaltären des Spätmittel9 alters führte. Die hilfswissenschaftlich akkurate, positivistisch-nüchterne Art, mit der diese Schule, allen voran ihr berühmtester Vertreter, der Benediktiner Bernard de Montfaucon, ihre Arbeit verrichteten, rührte einige moderne Forscher schier zu Tränen. Vor allem Arnaldo Momiglianos legendärer Aufsatz zu Ancient History and the An10 tiquarian prägte dieses Bild. Der „Alterthümler“ (so wurde das englische „antiquary“ sehr treffend in der Übersetzung von Walter Scotts gleichnamigem Roman
7
Sölch 2007, S. 47 u. 53.
8
Zu diesem Konzept siehe v.a. Didi-Huberman 2010 und – weiterhin – Hodgen 1936. Die Konjunktur, die der Begriff jüngst entfaltet, zeigt sich z.B. in seiner sehr äußerlichen Verwendung im Titel von Geimer/Hagner 2012.
9
Buonarroti 1716. Vgl. Herklotz 2000, S. 493, der resümiert: „Charakteristisch für alle Arbeiten der Scuola Mabillona waren der an den epigraphischen Studien orientierte Kontinuitätsgedanke, d.h. die Revision der humanistischen Barbarenthese und das Wissen um ein Weiterleben antiker Formen im Mittelalter.“ Wissenschaftsgeschichtlich dazu einschlägig: Bickendorf 1998.
10 Markus Völkel ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Die Wirkungsgeschichte des Aufsatzes wäre gleichbedeutend mit einer Wissenschafts- und Sozialgeschichte der Historiographiegeschichte“ (2007, S. 180). Ansätze dazu finden sich in Miller 2007, vor allem in den Beiträgen von Miller selbst (S. 8ff.) und Herklotz (S. 127ff.).
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wiedergegeben ) erscheint in seinen Ausführungen als ein rein der Materialität der Objekte, also der Wahrheit der Quellen zugewandter Forschertyp, der quasi in einem ‚erkenntnistheoretischen Naturzustand‘ verharrt und naiv fragt, ‚wie es 12 eigentlich gewesen‘ sei. Man mag sich hier ein Bild vorstellen, wie es Charles Renoux gemalt hat, das Bild eines graubärtigen, mönchisch bescheidenen Mannes, der in tiefer Andacht über sein Studienobjekt meditiert, um ihm die Vergangenheit abzulauschen (Abb. 3). Kritik an den Maurinern und diesem positivistischen Typus des Antiquars wurde freilich bereits von den Zeitgenossen geübt. Beispielhaft hierfür steht Chardins Gemälde vom „singe antiquaire“, als Sinnbild geistloser Samm13 lungswut und unreflektierter Kompilation (Abb. 4). Diese Hingabe zum Objekt und die damit einhergehende Apologie historischer Akkuratesse scheint „Ausdruck einer besonderen historiographischen Anstrengung, jene Kontinuität zu begreifen, welche die Bruchstücke einer zerrissenen Wirklichkeit zu einem verständlichen Ganzen“ fügen kann.14 Konfrontiert mit einer immer wieder brechenden, von Revolutionen zerrissenen Geschichte wird bei den Maurinern die These der nachantiken Kontinuität zu dem Versuch, noch diesen Verwerfungen einen Sinn abzutrotzen.15 Das ist exakt, was Nietzsche in Von Nutzen und Nachteil der Historie als eben die antiquarische Form der Geschichtsschreibung
11 Scott 1821. Der Begriff Antiquar ist in der aktuellen Forschung durchaus umstritten, da gerade Autoren, die auf die methodische Professionalität ihrer Protagonisten abzielen, ihnen gerne eine weniger, sagen wir: altertümliche Berufsbezeichnung zukommen lassen. Für Brigitte Sölch etwa „steht der Begriff ‚Antiquar‘ aufgrund [der] neuen Erkenntnisse zur Geschichte der Kunstgeschichte und Archäologie vor 1800 nicht mehr zur Diskussion“. Sie spricht stattdessen von Gelehrten, und auch von Archäologen und Historikern (2007, S. 14). 12 Eine treffende Kritik dieses Aufsatzes und vor allem der daran anschließenden „Momigliano-Orthodoxie […] welche die Worte des Meisters ohne weitere Überlegung fortschreibt“ gibt Markus Völkel 2007 (hier: S. 180). 13 Dazu: Kosenina 2003, S. 32ff. Zum „Antiquar als komischer Figur“ zuletzt Herklotz 2011. Für eine moderne Kritik, die jene historiographische Pionierstellung der Mauriner in Frage stellt, vgl. etwa die Polemik von Dietrich Boschung zu Montfaucon: „Es fällt schwer zu entscheiden, was man mehr bewundern soll: seinen gewaltigen Sammlerfleiß oder den Mut zur Oberflächlichkeit.“ (2005, S. 122) 14 White 1994, S. 84. 15 So Hayden White, der die Arbeit der Antiquare damit als Erben der Monadologie Leibniz ausweisen will (1994, S. 84-91).
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bezeichnete, nämlich das Bedürfnis, sich Wurzeln zu geben, also das Alte auf Grund seines Alters als absolut zu würdigen.16 Abb. 3 (links) : Charles-Caius Renoux, Antiquar (Ausschnitt), 1838. Öl auf Leinwand, 87 x 71 cm. Privatbesitz. Abb. 4 (rechts): Pierre-Louis Surugue nach Jean-Baptiste Chardin, L’Antiquaire, 1743. Radierung, 316 x 246 mm.
Die Protagonisten dieser Arbeit sind aber andere. Es sind Charaktere, deren historiographische Agenda denkbar weit von der der mönchischen Wahrheitssucher um Montfaucon entfernt liegt. Mein Gegenstand ist ein Zirkel englischer (oder in England wirkender) Antiquare, die ob ihrer phantastischen und höchst spekulativen Geschichtsentwürfe von der bisherigen Forschung gerne mit empörtem Entsetzen als Scharlatane abgetan wurden.17 Drei Autoren und ihre Werke stehen im Mittelpunkt: Pierre d’Hancarville, Richard Payne Knight und James Christie. Die Forschungslage zu diesen Autoren ist sehr unterschiedlich. Während vor allem zu Knight eine durchaus umfangreiche Literatur existiert, sind die Schriften James Christies, von einigen kursorischen Bemerkungen abgesehen, praktisch unerforscht.18 Letztlich gilt aber für die kunsttheo-
16 Vergangenheitsforschung diene hier dem „Glück sich nicht ganz willkürlich und zufällig zu wissen“. Auch Nietzsche attestiert dabei dem Menschen, dem „Bewahrenden und Verehrenden“, eine „blinde Sammelwuth“. Man schaffe sich ein „einfaches rührendes Lustund Zufriedenheitsgefühl“ (1972, S. 261-265). 17 Z.B. Momigliano 1966, S. 24; dazu mehr im nächsten Kapitel. 18 Zu Knight und d’Hancarville existieren immerhin Einträge in der Wikipedia sowie in weiteren gedruckten Handbüchern und Lexika. Siehe z.B. Bentz 2012 (zu d’Hancarville)
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retischen Positionen aller drei genannten Autoren was Helmut Zedelmaier über d’Hancarville geschrieben hat, nämlich dass sich ihre Namen zwar oft wie ein „roter Faden“ durch die Literatur zur englischen Kunstgeschichtsschreibung ziehen, 19 sich dabei meistens aber „kaum mehr als eine Namensspur zeigt“. Auffällig ist zudem, dass der Großteil der Beiträge zu diesen Autoren nicht aus der Feder von Kunsthistorikern stammt. Diese bleiben wohl zu oft dem Kanon der seit Julius von Schlosser vermeintlich fest umrissenen „Kunstliteratur“ treu. Die Geschichte der Kunstgeschichte beschäftigt sich dementsprechend zwar mit Richard Payne Knights wirkmächtigen Schriften zum „Erhabenen“ und „Pittoresken“, aber kaum mit seinen mythographischen Traktaten oder gar mit seinen Abhandlungen zur Schriftgeschichte. Mit diesen drei Protagonisten ist eine äußerst dichte Konstellation gewählt, bewegen sie sich doch alle im Umfeld der Society of Dilettanti und vor allem im Kreis 20 um den Sammler Charles Townley. Ihnen allen gemeinsam ist eine Geschichtserzählung, die ein „survival“ der Bildformen der frühesten Zeiten bis in die eigene Gegenwart annimmt. These ist, dass die Popularität solcher Erzählungen ein Resultat der mangelnden Historisierung gerade von Bildern ist, und umgekehrt durch diese Gegenwärtigkeit dem Erzählenden eine Verfügungsgewalt über das Geschehen gesichert wird. Diese Autoren sind damit einschlägige Beispiele dafür, dass in Eng21 land der „Historismus im Verzug“ war. Die intellektuelle Arbeit dieser peer group ist dabei nicht als kooperatives Verfahren idealistischer Prägung, wie es etwa das methodische Projekt der „Konstella22 tionsforschung“ annimmt, zu verstehen. Ich argumentiere vielmehr dafür, dass diese Autoren, in der engen Konstellation in der sie lebten, sich nach einem spezifisch anderen historiographischen Modell auf einander bezogen. Sie entwerfen Gegengeschichten.
sowie Berns 2012 und Feldman/Richardson 2000, S. 249-251 (zu Knight). Zu Christie dagegen nur: Stafford 2006, S. 159-162; Higginson 2011, S. 57-61; Kalkanis 2012, S. 506-511. Eine ausführliche Auflistung der Forschungsliteratur findet sich im Folgenden in den einzelnen Kapiteln. 19 Zedelmaier 2005, S. 224. 20 Zur Society of Dilettanti siehe vor allem die grundlegenden Bücher von Redford 2008 und Kelly 2009. 21 Ernst 1992. 22 Zur Konstellationsforschung: Mulsow 2005. Für eine Kritik dieses ideengeschichtlichen Ansatzes: Franks 2005.
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Mit „Gegengeschichte“ ist ein Terminus aufgerufen, dessen Definition auf Da23 vid Biale zurückgeht. Er bezeichnet damit ein Vorgehen, das es unternimmt – mit 24 Walter Benjamin gesprochen – Geschichte „gegen den Strich zu bürsten“. Gegengeschichten „erfüllen eine polemische Funktion. Ihre Methode besteht darin, die bewährtesten Quellen des Gegners systematisch entgegen ihrer Intention zu verwenden [...]. Sie wollen das Selbstbild, die Identität des Gegners verzerren, indem 25 sie seine Erinnerung angreifen.“ Gegengeschichte meint hier nicht „gegen die Historie überhaupt“. Es geht nicht um ein Plädoyer für unhistorische Neuanfänge und einen Befreiungsschlag gegen 26 den Ballast der Vergangenheit. Diese Erzählform zielt vielmehr auf zwei Gegner: Zum einen richtet sie sich gegen jene bereits kurz angesprochenen historistischen Narrative, die Kunst, zumindest in ihrer idealschönen antiken Ausprägung, für eine Sache der Vergangenheit halten. In Kontinentaleuropa war diese Auffassung in der Folge Winckelmanns zur herrschenden Lehre aufstiegen. Kunstgeschichte als „Nachleben“ zu erzählen richtet sich damit gegen herrschende historische Urteile 27 und unternimmt die Konstruktion einer alternativen Version der Geschichte. Untereinander eint die genannten Autoren zwar dieser gemeinsame Plot – doch sind auch ihre Geschichtsentwürfe, so ist zu zeigen, jeweils gegen die Erzählungen ihrer Vorgänger gerichtet. Bleibt innerhalb dieser peer group zwar die „Form“ der Geschichte gleich, so wird ihr „Inhalt“ jedoch mit jedem neuen Buch polemisch in das Gegenteil verkehrt. Um diese Absetzungsbewegungen, und nicht etwa um eine ideengeschichtliche Herleitung der Thesen unserer Autoren, soll es im Folgenden 28 gehen. Die Gefahren des Narrationsmodells der „Gegengeschichte“ sind nicht zu unterschätzen. Man kann es, wie Amos Funkenstein, wegen seines polemischen Charak29 ters grundsätzlich als ein destruktives Verhalten begreifen. Das gewichtigere Ar-
23 Biale 1979. Amos Funkenstein bemerkte zu diesen „Gegengeschichen“: „[E]s ist merkwürdig, dass sie in Abhandlungen über die Historiographie nicht eher als solche identifiziert worden sind.“ (1993, S. 38f.) 24 Benjamin 1974, S. 697. 25 Funkenstein 1993, S. 39. 26 Vgl. Krochmalnik (1997) für eine Systematisierung der verschiedenen Bedeutungsschichten des Begriffs. 27 In der Typologie von Krochmalnik wäre dies die dritte Bedeutung des Begriffs, ebd., S. 65 u. 73. 28 Mein Ansatz steht damit durchaus dem Modell einer „Kontroversengeschichte“, wie sie Jonathan Israel propagiert, nahe. Dazu: Israel 2006, S. 15ff. 29 „In ihren bösartigsten Formen berauben [Gegengeschichten] den Gegner seiner positiven Identität, seines Selbstbildes, und ersetzen dies durch ein negatives Gegenbild.“ Funken-
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gument ist wohl, dass die Lektüre der Quellen „gegen den Strich“, die sich nun gerade nicht aus der Motivation historischer Objektivität und Wahrheitssuche speist, auch den eigenen Standpunkt affiziert. Zumal wenn man eine Geschichte erzählt, die in die eigene Gegenwart führt, ist davon auch die jeweilige Selbstwahrnehmung betroffen. Gegengeschichte führt zwangsläufig zu einer Neuschreibung auch der 30 eigenen Identität – und sei es nur durch Abgrenzung vom Standpunkt des anderen. Der Lauf der Geschichte, erzählt als „Nachleben“, bleibt dabei bei allen drei genannten Autoren derselbe. Diese Antiquare teilen eine Haltung zur Geschichte als Ganzer, die ihnen frei von jeder „Trauer der Vollendung“ (Wyss 1997) lebendige Gegenwart ist. Ihre Interventionen sind vielmehr Versuche, dem jeweiligen Vorgänger ganz wörtlich den Boden unter den Füßen weg zu ziehen. Kunstgeschichte entwickelt hier, so die dritte These, eine systemimmanente Eigenlogik. Wo die Quellen nicht mehr Anker historischer Wahrheit, sondern Anlass zur Polemik sind, da rückt die Geschichte als Ganze unter die Verfügungsgewalt des Historiographen. Er wird zum Souverän über die Objekte und deren Geschichte, die er kombinieren und rekombinieren kann. Die Wahrheit der Geschichte entsteht daher in einem Raum, der der Logik der äußeren Welt (und damit auch: der Naturgeschichte) entzogen ist.
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Die Versuche von d’Hancarville, Knight und Christie setzten dabei an jenem Punkt an, wo die positivistische Geschichtsforschung an ihre Grenzen stieß. Dieses Problem ist der Anfang der Kunstgeschichte. Johannes Dobai schrieb sogar, dass „diese Frage vor d’Hancarville kein Autor mit dieser Leidenschaftlichkeit behandelt“ 31 habe. Selbst wenn man annahm, dass die Bilder der späteren Zeiten einen Rest der frühesten Geschichte, eine Spur ihrer Urszenen in sich trugen, so blieb doch oft genug offen, wie dieser Ursprung vorzustellen sei. Der genealogische Blick, mit dem die Mauriner oder Moritz in der Zeit zurückspürten und der Geschichte auf den Grund gehen wollten, hatte nur eine begrenzte Reichweite. Moritz’ Medium der
stein unterscheidet hier sogar zwischen „einer echten Erzählung und einer Gegenerzählung“ (Funkenstein 1993, S. 52 [Herv. H.C.H.]). Die Gegengeschichte ist ihm eher mit einer Geisteskrankheit, als mit einer literarischen Form zu vergleichen (ebd., S. 53). 30 Eine Gegengeschichte, so Funkenstein, führt „schließlich dazu, dass sie nicht nur die fremde Identität, sondern auch die eigene Identität des Zerstörenden zerstört. Sie ist notwendigerweise selbstzerstörerisch, sei es nur, weil der Verfälscher einer Gegenidentität des anderen seine eigene Identität von jener abhängig macht.“ (1993, S. 53) 31 Dobai 1974-1977, Bd. II, S. 1210.
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Umrisslinienzeichnung könnte dafür, historisch betrachtet, das beste Beispiel abgeben, leitet sich diese ästhetische Form doch, wie Frank Büttner gezeigt hat, in direk32 ter Linie aus einer Rezeption der italienischen Primitiven ab. Die Spur wird also weitaus später aufgegriffen, als man zunächst angesichts dieser vermeintlichen Form „à la grecque“ meinen könnte. Die Sehnsucht nach historischer Kohärenz bleibt damit unerfüllbar, die Überlieferung der Quellen setzt immer zu spät ein und lässt ihre Interpreten zurück als „schlecht abgefundene Erben“, wie Winckelmann 33 es formuliert hatte. Der Umgang mit der Frage nach den „Ursprüngen“ kam oft genug einer Kapitulation gleich. Als Antoine-Yves Goguet, Autor einer dreibändigen Abhandlung De l’Origine des Loix, des Arts, et des Sciences, auf die Frage nach den Ursprüngen der bildenden Kunst zu sprechen kommt, muss er sein Unwissen eingestehen. „Es wäre ebenso schwierig wie unnütz, in der Dunkelheit der frühesten Zeiten nach dem genauen Ursprung zu forschen, an dem die Kunst zu zeichnen, Metall zu gießen, es zu ätzen, sowie Holz und Stein usw. zu skulpieren, entstand. Man kann nichts Sicheres über diese Epoche sagen, und in welcher Reihenfolge diese Fähigkeiten entstanden. Mit Sicherheit vermag man nur zu sagen, dass sie aus dem tiefsten Altertum stam34 men“. Ausgerechnet ein Autor, der sich in vollem Umfang dem Thema der Ursprünge widmete und dies als die wichtigste Frage bezeichnete, die ein Historiker stellen kann (Ursprünge seien das „Thema dem sicherlich nichts an Bedeutung und Erha35 benheit gleichkommt“ ), verfällt hier dem Defätismus und erklärt das Kernziel seines Gesamtwerkes als „unnütz“ („inutile“)! Hiermit ist wohlgemerkt nicht irgendein obskurer Autor zitiert, sondern ein höchst erfolgreiches Werk, das im späteren 36 18. Jahrhundert „in aller Händen“ (wie Herder schrieb) war.
32 Büttner 2004. 33 Winckelmann 1996, S. 838. 34 „Il seroit aussi difficile qu’inutile de rechercher dans l’obscurité des premiers tems, l’origine précise de l’art de dessiner, de mouler les métaux, de les graver, de sculpter le bois, la pierre, &c. On ne peut rien dire de certain sur l’époque & la gradation de ces connoissances: on peut assurer seulement qu’elles sont de la plus haute antiquité.“ (Goguet 1758, Bd. I, S. 153) 35 „[S]ujet dont assurément rien n’égale la grandeur & l’importance.“ (Goguet 1758, Bd. I, S. V) 36 Herder 1785-1792, Bd. II, S. 364. Weitere Belege für den Erfolg des Werkes sind die Erwähnungen bei Gibbon, der ihn u.a. als „learned and rational“ bezeichnete (alle Nachweise: Gibbon 1994, Bd. III, S. 1220). Ähnlich begeistert war Winckelmann 1952-1957, Bd. II, S. 286 („eines der besten Werke, welche ich gelesen habe“). Die französische Ausgabe erfuhr bis 1820 fünf weitere Auflagen; Übersetzungen ins Deutsche, Englische,
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Goguets Probleme mit dem Ursprung der Kunst sind symptomatisch und gehören geradezu zum Handbuchwissen der Aufklärung. Nichts anderes bekam auch zu lesen, wer im Dictionnaire des Origines die entsprechenden Lemmata, die den Ursprung der Kunst diskutierten, nachschlug: „Auch die genauesten Nachforschungen über den Ursprung der Malerei haben nichts als Unsicherheiten produziert. Man kennt weder den Ort, wo diese Kunst ihren Anfang nahm, noch weiß man, wem 37 man sie zu verdanken hat“. Diese historiographische Hilflosigkeit hinsichtlich der Möglichkeit, den Ursprung der Kunst zu identifizieren, findet sich wie gesagt bei Autoren, deren zentrales Anliegen genau die Suche nach Ursprüngen war. Endgültig und lakonisch wird diese Frage erst recht bei anderen Autoren, die „Anfängen“ nicht denselben Stellenwert zumaßen, abgetan. Jaucourt etwa bemüht sich im Artikel „sculpture“ der Encyclopédie gar nicht, mögliche Antworten auf diese Frage zu geben: „Ich halte mich nicht damit auf, dieses [früheste] Zeitalter dieser schönen Kunst zu erforschen. Es verliert sich in der Dunkelheit der am weitesten zurückliegenden Jahrhunderte und ähnelt in dieser Hinsicht den anderen Künsten der Nachahmung, also 38 der Architektur, Malerei und Musik“. Und Ähnliches war im zweiten großen Nachschlagewerk des 18. Jahrhunderts, in Zedlers Universal-Lexicon zu lesen: „[W]er sie [hier: die Malerei] zuerst erfunden, kan [sic] wegen ihres Alterthums 39 nicht genau entschieden werden“. Bei aller Bedeutung, die man den Ursprüngen zumaß, war ihre genaue Bestimmung doch ein unüberwindliches Problem – schlicht weil die Quellen fehlten und man sich auf antike Historiker verlassen musste, die auch nur erzählten, was andere viel früher erzählt hatten. Einen direkten Zugang zu den frühesten Zeiten fand man so nicht. Bestenfalls standen mehrere mögliche Ursprungsszenen in direkter Konkurrenz nebeneinander. Es scheint daher nur konsequent, dass im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend überhaupt die Wahrscheinlichkeit eines einzigen, monogenetischen Ursprungs der Kunst zur Disposition gestellt wurde. Die bekannteste Stimme ist hier
Französische und Spanische lagen kurz nach Erscheinen vor. Zu Goguet allgemein: Holzkamp 2001; Zedelmaier 2003, S. 191ff. 37 „Les recherches les plus exactes sur l’origine de la Peinture, n’ont produit que des incertitudes. On ne sait ni les lieux où elle a pris naissance, ni ceux à qui on en est redevable.“ (Origny 1777, Bd. V, S. 359) 38 „Je ne m’arrêterai point à rechercher l’époque de ce bel art: elle se perd dans l’obscurité des siecles les plus reculés, & ressemble à cet égard aux autres arts d’une imitation sensible, tels que sont l’Architecture, la Peinture & la Musique.“ (Jaucourt, Art. Sculpture, in: Encyclopédie) 39 Zedler 1732-1754, Bd. 19, Sp. 260.
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natürlich Johann Joachim Winckelmann, der den Ursprung ganz verwarf und stattdessen postulierte, die „Kunst scheint unter allen Völkern, welche dieselbe geübt haben, auf gleiche Art entsprungen zu sein, und man hat nicht Grund genug, ein besonderes Vaterland derselben anzugeben: denn den ersten Samen zum Notwendi40 gen hat ein jedes Volk bei sich gefunden“. Die These einer Polygenese wurde für das Feld der Kunst jedenfalls weit eher anerkannt als etwa für die Frage nach dem 41 Ursprung der Menschheit, wo sie weiterhin eine Mindermeinung blieb. In der Kunstgeschichte fanden diese Überlegungen aber in Folge der Rezeption Winckelmanns breite Zustimmung. Aus dem Mangel der Konkurrenz zahlreicher nebeneinander stehender und jeweils gleich wahrscheinlicher (oder unwahrscheinlicher) Ursprungsmodelle wurde hier eine Tugend gemacht. Damit multiplizierte man das Problem freilich nur. Nun gab es eben viele verschiedene Urszenen, von denen „man nicht weiß, was man darüber sagen soll“, wie der niederländische Kunsttheo42 retiker Frans Hemsterhuis schrieb. In seinen Zugängen zur Prähistorie war das 18. Jahrhundert mehr oder weniger ge43 nauso beschränkt wie die vorigen Jahrhunderte. Die Ausgangs- und Quellenlage änderte sich allerfrühestens 1832, als Christian Jürgensen Thomsen erstmals das in der Vor- und Frühgeschichte noch heute (in freilich modifizierter Form) gebräuch44 liche Dreiperiodensystem (Stein-, Eisen-, Bronzezeit) formulierte. Aus keiner der verfügbaren Erkenntnisquellen – der (komparatistischen) Auslegung von Mythen, den Schriften antiker Historiker, etymologischen Ableitungen und natürlich auch dem sichtbaren Denkmalbefund – ließ sich ein gesichertes Wissen über eine Chronologie der Künste in frühester Zeit gewinnen. Oder wie James Christie schrieb: „Der Antiquar, der die heidnischen Sitten und Meinungen der Frühzeit erforscht, kann normalerweise, wenn sein Forschungsgebiet vor jenen Perioden liegt, in denen die Ereignisse der Geschichte mit Sicherheit verfolgt werden können, wenig mehr
40 Winckelmann 1996, S. 22. 41 Deutlicher noch formuliert es Arno Seifert, der entsprechenden Thesen des Polygenetismus attestiert, dass sie im Rahmen der zeitgenössischen Dispositive „sich nicht auf der Höhe des wissenschaftlichen Kenntnisstandes“ bewegten (1986, S. 91). 42 „[O]n ne sait qu’en dire.“ (Hemsterhuis, 2001, S. 510ff.) Dazu: Syndram 1990, S. 79. 43 So auch Ulrich Pfisterer: „Bei allem sonstigen Erkenntniszuwachs, den das 18. und frühe 19. Jahrhundert der Renaissance voraushatte, hinsichtlich der Frage ‚Anfänge der Bildkünste‘ blieben die prinzipiellen Zugangsmöglichkeiten weitgehend die gleichen.“ (2006, S. 22) 44 Thomsen 1837; dazu: Eggert 2012, Kap. III, S. 29-43.
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tun, als Überlieferungen in Betracht zu ziehen, Etymologien zu durchsieben, und 45 Allegorien auf eine irgendwie stichhaltige Bedeutung zurückführen“. Die antiken Traditionen, von Hesiod über die griechischen Aufzählungen mythischer Erfinder bis zu Plinius, blieben daher ein zentraler Bezugspunkt, mit denen auch archäologische Funde in Einklang zu bringen waren. Weithin verpflichtender Referenzrahmen aller (Kunst-)Geschichten blieb zudem die biblische Chronologie, die ein verhältnismäßig kurzes Weltalter beschrieb, das zudem zahlreiche antiquarische und archäologische Zeugnisse, vor allem der wesentlich älteren ägyptischen 46 Kunst und Kultur, in Zweifel ziehen musste. Entsprechend vage waren daher die Antworten, die die Frühe Neuzeit auf diese 47 Frage bieten konnte. Polydorus Vergilius’ De Re Inventoribus, das wichtigste Kompendium über die Ursprünge diverser Kulturtechniken in der Frühen Neuzeit, das bis ins 18. Jahrhundert neue Auflagen erfuhr, begnügt sich bezüglich der Frage nach dem Ursprung der Kunst mit der Auflistung verschiedener antiker Referen48 zen. Gleichermaßen unklar bleiben die Ursprünge auch bei Giorgio Vasari, der wahlweise die Ägypter („ich zweifele in gar keiner Weise daran“), Gott selbst (er „entdeckte dank seiner Erfindungskraft in der Formung des Menschen die erste Form von Bildhauerei und Malerei“) oder die vorsintflutlichen Menschen („glaubhaft, dass auch diese in jeglicher Weise meißelten und malten“) zum Erfinder der 49 Kunst erklärte. Trotz dieser langen Tradition der Ratlosigkeit war sich die Aufklärungshistorio50 graphie sicher, das Thema gänzlich neu behandelt zu haben. Es zeigt sich ein unvergleichliches Interesse an „Ursprüngen“ jeder Art, die die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts erfasste, und Zeugnis gibt vom „Wechsel des Geschmacks im Forschen und Bearbeiten der alten Geschichte“, weswegen seine Zeit dem deutschen Philosophiehistoriker Michael Hißmann im Jahre 1781 als „eine der merkwürdigs51 ten Epochen“ der Historiographiegeschichte erschien. Von den Ursprungssuchen
45 „The antiquary, who has investigated Pagan customs and opinions in very early times, when the field of his enquiry has extended beyond those periods to which the events of history can be traced with accuracy, has usually had little more than traditions to consider, etymologies to sift, and allegories to reduce to some consistent meaning.“ (Christie 1825, S. 1) 46 Zur Säkularisierung der Geschichte im 18. Jahrhundert: Seifert 1986; Zedelmaier 2003. 47 Zur Frage des Ursprungs der Kunst in Spätmittelalter und Früher Neuzeit: Kruse 2003. 48 Vergilius 1702, S. 98f. 49 Vasari 2004, S. 47f. 50 Zu den Ursprungssuchen der Aufklärung vgl. die Beiträge in Grell 1989; Zedelmaier 2003. 51 Hißmann 1781-1794, Bd. I, S. 174.
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erhoffte man sich nicht weniger als entscheidende Aufschlüsse über die eigene Gegenwart. Der Gang zu den Anfängen versprach Erhellung der „principes fondamentaux“ der eigenen Existenz. Grundlage für diese Prämisse war, wie der bereits zitierte Goguet schrieb, die Annahme, dass die Situation der Jetztzeit direktes Resultat einer historischen Entwicklung sei, die in den frühesten Zeiten begann. Die „chaîne d’une tradition non interrompue“ verbinde die Gegenwart auf direktem 52 Wege mit ihren seit Ursprung der Zeiten fortlebenden Grundprinzipien. Angesichts der, gerade im Falle der Kunst, notwendigerweise oft eingestandenen Vergeblichkeit der Suche nach Urszenen, verwunderten diese Konjunktur und ihre Resultate bereits die Zeitgenossen. „Man spricht in Paris“, so schreibt Hißmann weiter, „von Uriern und von Atlanten, von Universalmedicin und vom Stein der Weisen, von Riesen und Zwergen, mit eben der Glaubentheilnehmung, mit welcher man ehemals vom Priester-Johannisland und von Sangambien, und noch jetzt in den Kinderstuben vom Schlaraffenland spricht, ohne zu bedenken, dass die Quellen zur Geschichte der Urier und der Atlanten ohngefähr den gleichen Werth mit den Nachrichten von den Wunderländern haben. […] Keine Träumerey ist zu lächerlich, keine Erdichtung zu abgeschmackt, dass man nicht tiefe Weisheit in derselben wahr53 nehmen, und ihnen erhabne Deutungen aufzwingen sollte.“ Hißmanns Worte und seine Abneigung gegen solche mangelnde Quellenkritik hätte wohl auch Goguet geteilt. Jedenfalls attackierte er die Geschichtsforscher ähnlich scharf und warf ihnen vor, sie arbeiteten „unter Missachtung der Fakten, und sich gänzlich auf ihre Einbildungskraft [imagination] verlassend“. Stattdessen pro54 pagierte er eine „exaktere und der Historie angemessenere Vorgehensweise“. Dieser Zug dürfte es sein, den Historiker wie Winckelmann und Gibbon so an Goguet schätzten. Er erkaufte sich diese Zuneigung der historischen Zunft jedoch zumindest im Fall der bildenden Kunst mit dem Offenbarungseid des Nichtwissens um ihre Ursprünge. Doch die „imagination“ oder „Träumerey“ als legitime Quelle historischen Wissens 55 zu akzeptieren, wurde von den Zeitgenossen durchaus in Betracht gezogen. Rousseau propagiert im Vorwort zum Discours sur l’inégalité prominent die Methode der „conjectures“, also der hypothetischen Verknüpfung von Überlegungen, die
52 Goguet dazu weiter: „[L]es principes fondamentaux [...] n’ont pas été anéantis.“ (1758, Bd. I, S. VIIIf.) 53 Hißmann 1781-1794, Bd. I, S. 175. 54 „[E]n négliegeant les faits pour s’abandonner entierement à leur imagination“; „maniere plus exacte & plus conforme à l’Histoire.“ (Goguet 1758, Bd. I, S. Vf.) 55 Zur Rolle der Imagination in der Geschichtsschreibung der Aufklärung v.a. Gisi 2007.
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mehr Fragen öffnet als Antworten gibt. Entscheidend ist, dass Rousseau die Frage nach den „Ursprüngen“ hiermit als ein Gedankenexperiment deklariert, das nicht notwendigerweise historische Wahrheit beanspruchen muss. Es gehe ihm letztlich darum, „einen Zustand zu erkennen, der nicht mehr existiert, der vielleicht nie exis57 tiert hat, der wahrscheinlich niemals existieren wird“. Die Anfänge und Urzustände werden hier tendenziell zu einer metahistorischen Fiktion, zu einer nur – dies aber mit Gewinn! – hypothetisch zu rekonstruierenden Szene erklärt. Derselbe Gedanke findet sich etwa bei Diderot. Im Artikel Encyclopédie im gleichnamigen Werk schreibt er: „Man sollte den Ursprung einer Kunst angeben und Schritt für Schritt ihre Entwicklung verfolgen, sofern diese nicht unbekannt ist, oder die wirkliche Geschichte durch die Mutmaßung [conjecture] und die vermutliche Geschichte ersetzen. Der Roman, so kann man wohl behaupten, 58 wäre in diesem Fall oft lehrreicher als die Wahrheit“. Dem „Roman“ wird hier also mehr historische Wahrheit und Erkenntniskraft zugebilligt als der Geschichte. Historik wird zu einem dichterischen Genre und durch Metahistorie ersetzt. Die Agenda Hayden Whites, die manchen Historiker des 20. Jahrhunderts so fundamental verunsicherte, ist hier in gleichsam radikaler Form vorgezeichnet. Sichtbarster Ausdruck dieser Fiktionalisierung, bzw. Poetisierung von Ursprungserzählungen ist die unglaubliche Konjunktur, die ätiologische Ursprungsmythen im 18. Jahrhundert erfuhren. Gerade die bildende Kunst verzeichnet seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen signifikanten Anstieg entsprechender Motive, wobei der Mythos der Töpferstochter Dibutades bei weitem am populärsten 59 war. Zahllose Bilder – hier sei exemplarisch nur auf eine Zeichnung des irischen Illustrators Adam Buck verwiesen – zeigten die Szene, wie die korinthische Maid im Schein einer Fackel das Profil ihres in die Fremde aufbrechenden Geliebten umrandete (Abb. 5).
56 „[J]’ai hasardé quelques conjectures, moins dans l’espoir de résoudre la question que dans l’intention de l’éclaircir et de la réduire à son véritable état.“ (Rousseau 1984, S. 46) 57 Rousseau 1984, S. 47 (Herv. H.C.H.). Wobei paradoxerweise vom Ursprung, diesem Gespenst, einen „zutreffenden Begriffe zu haben dennoch notwendig ist, um über unseren gegenwärtigen Zustand richtig zu urteilen“ (ebd., S. 49). 58 Diderot 1969, S. 162. Im Original: „Il faudroit indiquer l’origine d’un art, & en suivre pié-à-pié les progrès quand ils ne seroient pas ignorés, ou substituer la conjecture & l’histoire hypothétique à l’histoire réelle. On peut assûrer qu’ici le roman seroit souvent plus instructif que la vérité.“ (Diderot, Art. Encyclopédie, in: Encyclopédie) 59 Dazu weiterhin grundlegend: Rosenblum 1957. Zur antiken Tradition: Bettini 1999; Suthor 1999.
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Historischen Wahrheitsgehalt wies man diesen Erzählungen jedoch nur bedingt zu. Jaucourt rechnet in der Encyclopédie solche Erklärungen nur zu den „contes les plus agréables“, den angenehmsten Märchen also. Gleich im nächsten Satz widmet er sich aber dem eigentlichen Sinn dieser Erzählungen. Sie seien „Apologien, die erfunden wurden, um die Wahrheit zu erklären, dass die Objekte, die dem Menschen ins Auge fallen [...] ihm beibringen, seinen Geschmack durch Imitation zu 60 befriedigen“. Abb. 5 (links): Adam Buck, The Origin of Painting, ca. 1795. Lithographie, 276 x 135 mm. Abb. 6 (rechts): John Condé nach Richard Cosway, Docet Amor, 1791. Punktierstich, 278 x 213 mm.
Zwar erkannte man an, dass die beschriebenen Urszenen nicht historisch waren, doch nahm man die Erzählungen als Sinnbilder für die anthropologische Motivation, aus der heraus Menschen begannen Bilder zu machen. So wird hier bei Jaucourt der angeborene Nachahmungstrieb des Menschen zum Grund hinter den Ätiologien vom Ursprung der Kunst erklärt. Der französische Maler Anne-Louis Girodet deutet in diesem Sinne etwa Amor zur eigentlichen Triebkraft, die hinter der Erzählung von Dibutades und ihrem Geliebten wirke: „Er ist es, der einst im antiken Argos einer jungen Schönheit die schüchterne Hand führte, als sie mit sichrem und behändem Finger das vergängliche Profil eines zärtlichen Geliebten auf der Mauer festhielt, dessen schwankender Schatten sich ohne Kunst dort abzeichne-
60 „[...] des apologues inventés pour l’explication de cette vérité, que les objets, mis sous les yeux de l’homme, [...] apprit aux hommes à satisfaire leurs goûts par imitation“ (Jaucourt, Art. Peinture, in: Encyclopédie).
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te“. Der ätiologischen Erzählung wird also eine tiefer liegende, anthropologisch 62 begründete Motivation vorgeschaltet. Freilich ist auch diese Idee einer „Psychologisierung“ der Ätiologien des Bildermachens nicht zwingend eine Erfindung des 18. Jahrhunderts. Auch bei dem bereits angeführten Polydorus Vergilius finden sich etwa die zahllosen divergierenden Erzählungen über die Erfindung der Skulptur zurückgeführt auf ihre Kernaussage, 63 nämlich dass der Ursprung dieser Kunst im Totengedächtnis zu suchen ist. Leon Battista Alberti optiert in der von ihm gewählten Verortung des Ursprungs der Malerei im Spiegelbild des Narziss für die Geburt dieser Kunst aus dem Movens der Selbstliebe. Hiermit wird ein Motiv aufgerufen, das ebenfalls geradezu „eine psychologische Erklärung für die künstlerische Tätigkeit überhaupt zu liefern“ 64 scheint. Auch diese „anthropologische Begründung“ ist freilich nur eine unter mehreren Möglichkeiten, der Alberti selbst an anderer Stelle alternative Urszenen zur Seite stellt, die etwa einen sich auf unbelebte Körper richtenden Animations65 und Nachahmungstrieb zum ersten Prinzip erklären. Die Konjunktur einer Interpretation dieser Ätiologien als beste Erklärung dafür, wie Bilder minimal zu definieren sind, hält bis heute an. Ralph Ubl und Wolfram Pichler etwa führen Dibutades prominent als Argumentationshilfe für die Konstruktion eines medialen „Dispositivs“ der Zeichnung an, durch das sie darzulegen versuchen, welche Ausgangsbedingungen die Möglichkeit eines Bildes „vor dem ers66 ten Strich“ konstituieren. Diese moderne Applikation des Mythos zeigt vielleicht am deutlichsten den Reiz der ätiologischen Erklärungsmodelle, der darin zu liegen scheint, dass man damit den Anfang aktualisierbar halten konnte, der Zeitgenosse also selbst an die Stelle des ersten Künstlers rücken kann. Der britische Maler Richard Cosway zeichnete sich in diesem Sinne mit seiner Frau Maria im Arm, die ebenfalls Künstlerin war, in der Rolle einer männlichen Dibutades, der ein geflügelter Amor die
61 „Oui! c’est lui qui, jadis, dans l’antique Argolide, / D’une jeune beauté guida la main timide, / Lorsque, d’un tendre amant, son doigt sûr et lêger, / Arrêta sur le mur le profil passager / Qu’y dessinait sans art une ombre vacillante.“ (Girodet 1829, S. 48) 62 Eine ähnliche Argumentation findet sich bei Rousseau, vgl. Stoichita 1999, S. 152. 63 „Damit man erhalten möcht die Gedächtnuß derer so von dem Tod entführet oder in Abwesen abgesondert weren ist darumb die Meynung oder Kunst Bildnussen zumachen von den Menschen erfunden worden daran niemands kein Zweiffel hat“ – um allerdings gleich darauf wieder einzugestehen: „Woher aber der Brauch Bildnusse zumachen kommen sey, sindt die Lehrer undereinander nicht wol eins.“ (Vergilius 1603, S. 226ff.) 64 Pfisterer 2002, S. 86. 65 Ebd., S. 87f. 66 Ubl/Pichler 2007.
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Lichtquelle hält (Abb. 6). „Docet Amor“ ist dieser Stich untertitelt. Von der Liebe belehrt, also aus der subjektiven biographischen Konstellation des Ehepaars heraus 67 schöpfend, stilisiert sich Cosway hier zu einem gänzlich originellen Künstler. Die Konsequenzen dieser Lösungsvariante sind offensichtlich. Die Kunst und ihre Geschichte sind damit nur noch bedingt aus einer Genealogie begründet, sondern aus einem Modus beständiger Neuheit erklärt. Christian Michel dürfte zuzustimmen sein, wenn er diese Idee von „Ursprüngen“ als einen „mode de création“ beschreibt, der weniger einen historischen Zeitpunkt als ein sich immer wieder re68 petierendes Produktionsszenario vorstellt. Die Funktion der Ursprünge, wie sie uns bei Goguet begegnete, nämlich im wahrsten Sinne eine Begründung der eigenen Gegenwart zu schreiben, ist hiermit allerdings gebrochen. (Anthropologische) Ätiologie stünde damit im Konflikt zu (antiquarischer) Archäologie. Die Wissenschaft vom Menschen ist konfrontiert mit einer Wissenschaft von den Dingen.
§3 „ SURVIVALS “: D IE M ACHT
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Ein solches Fehlen der Ursprünge mag zunächst als ein Charakteristikum des Zeitmodells des „Nachlebens“ betrachtet werden. Das scheint zumindest die Implikation dieses Begriffes zu sein, der eigentlich erst gut hundert Jahre nach den hier diskutierten Positionen geprägt wurde. Ausgehend von den Schriften des Anthropologen Edward Burnett Tylor hielt das darwinistisch begründete Konzept des „survivals“ Einzug in die Wissenschaftskultur der Fächer, die Tylor Kulturwissenschaft („science of culture“) nannte. In seinem Hauptwerk Primitive Culture argumentierte er gegen die Vorstellung einer durchgehend progressiven Entwicklungsgeschichte, die sich linear zwischen den 69 Polen „Primitivismus“ und „Zivilisation“ aufspannt. Stattdessen unternahm er den Nachweis, wie kulturelle Praktiken in oft bis zur Unkenntlichkeit veränderter Form in Gesellschaften als sogenannte „survivals“ fortleben, auch wenn ihre ursprüngli70 che Funktion längst obsolet geworden ist. Die Vielfalt dieser Überlieferungspro-
67 Als eine Art Programmbild wurde dieses Blatt dann auch als Frontispiz für den Auktionskatalog des Nachlasses des Künstlers verwandt. Dazu: Lloyd 1995. 68 Michel 1989, S. 41. 69 Zur Abgrenzung von den zeitgenössischen Entwicklungs- und Verfallstheorien: Tylor 1903, S. 27ff. 70 „When a custom, an art, or an opinion is fairly started in the world, disturbing influences may long affect it so slightly that it may keep its course from generation to generation, as a stream once settled in its bed will flow on for ages. […] On the strength of these survivals, it becomes possible to declare that the civilization of the people they are observed
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zesse führt ihn von zeitgenössischen Kinderspielen, die ursprünglich Imitationen von (heute nicht mehr existenten) Ritualen der Erwachsenen gewesen sind, bis zu obskuren magischen Praktiken, deren ursprüngliche Verwurzelung in einem lebendigen Kult verloren ging. Konstituierend für die Qualität eines „survival“ ist also gerade, dass sein ursprünglicher Sinn verlorengeht. Für die Wissenschaften, die sich mit den Hinterlassenschaften der materiellen Kultur beschäftigen, adaptierte und etablierte vor allem der dänische Prähistoriker Oscar Montelius das bereits von Tylor propagierte Konzept, das in der prähistorischen Archäologie bis heute unter dem Begriff „typologisches Rudiment“ von akademischer Relevanz ist. Einschlägig ist dafür vor allem seine wichtigste theoretische Abhandlung über Die typologische Methode (1903). Montelius verfolgt hier die formalen, stilgeschichtlichen Entwicklungen verschiedener Objektgattungen. Die leitende These dabei ist die einer kontinuierlichen Evolution der Formen, der eben auch die bildenden Künste unterworfen sind. Dabei bemerkte auch er, dass ehemals mit einer Funktion belegte Elemente eigentlich unnötiger Weise tradiert werden und eben als „survivals“, bzw. „typologische Rudimente“ nur noch eine de71 korative Funktion erfüllen. Zu einer kunsthistorischen Zentralkategorie wurde dieses Zeitkonzept mit dem Werk Aby Warburgs. Mit der Beschreibung seines Forschungsinteresses unter dem Schlagwort des „Nachlebens der Antike“ erfuhr zudem diese deutsche Übersetzung 72 für den englischen Terminus „survival“ erstmals eine gewisse Prominenz. Wie Montelius wandte sich auch Warburg den nur noch dekorativen Elementen zu: Flatternde Gewänder und bewegte Haare waren seit seiner Dissertation über Botticelli die bevorzugten Gegenstände, in denen er Reste antiker „Pathosformeln“ erkann73 te. Der komprimierteste Versuch, diese visuelle Überlieferung zu dokumentieren findet sich in seinem späten Atlaswerk Mnemosyne, das, wie der Titel schon andeutet, die in der menschlichen Erinnerung tradierten Bildformeln und ihre Überliefe-
among must have been derived from an earlier state, in which the proper home and meaning of these things are to be found.“ (Tylor 1903, Bd. I, S.70f.) 71 Zum Erfolg und den aus heutiger archäologischer Perspektive „katastrophalen Folgen“ (Richter 2005, S. 50) dieses Modells: Eggert 2012, S. 183-202. Die darwinistische Geschichtstheorie, entlang derer die typologischen Reihen von Montelius arrangiert werden, ist dabei offensichtlich. Es sei „wunderbar, dass der Mensch bei seinen Arbeiten dem Gesetze der Entwicklung unterworfen gewesen ist und unterworfen bleibt [… und] bei seinem Schaffen von neuen Formen genöthigt [ist] demselben Gesetze der Entwicklung zu gehorchen, welches für die übrige Natur gilt“ (1903, S. 20). 72 Julius von Schlosser z.B. hatte die englische Vokabel nicht übersetzt. Vgl. DidiHuberman 2001. 73 Warburg 1893.
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rungswege nachzuzeichnen versucht. Das Fehlen der Ursprünge wird hier endgültig problematisiert. Wenn Warburg etwa zu den Puebloindianern nach Neu-Mexiko reist und eine „Enklave primitiven heidnischen Menschentums“ sucht, findet er nur Kulturen, die einen unberührten Naturzustand längst verlassen haben: Der Ur75 sprungssucher stieß auf „kontaminiertes Material“. Trotzdessen fand er hier, weit weg von Europa, Bildwelten, die etwa mit der klassischen griechischen Zivilisation vergleichbar waren und ihn so auf einen ge76 meinsamen „Leidschatz der Menschheit“ schließen ließen. Aus solchen Formulierung begründen sich Interpretationen von Warburgs Geschichtsbild als einer psychohistorischen Kategorie. So attestiert etwa Aleida Assmann Warburg die „Vorstellung eines transindividuellen Gedächtnisses, das seine Wurzeln in der Vorzeit hat“. In einer „archaischen Seelenschicht“, so Assmann, verorte Warburg „die per77 petuelle Antriebsenergie menschlicher Kultur“. Damit ist die Engführung des „Nachlebens“ zu Theorien der Psychoanalyse, zu Freud und dessen Begriffsprägung der „Nachträglichkeit“ offensichtlich. So sieht etwa Beat Wyss „Warburgs Begriff der ‚Pathosformel‘ im Mechanismus von 78 Freuds ‚Nachträglichkeit‘ verankert“. Beide Autoren – Freud und Warburg – sind entsprechend auch die Ecksteine, von denen ausgehend Louis Rose in der einzigen systematischen Abhandlung zum Thema eine Theorie des Survival of Images be79 gründet. Auch Whitney Davis spricht ohne Unterscheidung von den „historical phenomena of Nachleben and Nachträglichkeit“, denen er Warburg und Freud glei80 chermaßen zuordnet. Dass damit gerade auch dieses Vokabular auf die Antiquare des 18. Jahrhunderts rückprojiziert wurde, ist offensichtlich. So beschrieb Nikolaus Pevsner Richard Payne Knights Methode als „psychoanalytisch“, und Whitney Davis nannte 81 ihn einen „precursor of both, Freud and Warburg“. Betrachtet man das Problem
74 Ders. 2008. 75 Ders. 1988, S. 10 und 2010, S. 589. 76 Zur Tradition dieses komparatistischen Schlusses, der sich gerade im 18. Jahrhundert größter Beliebtheit erfreute siehe Kapitel VIII. 77 Assmann 1999, S. 225 u. 372. 78 Wyss 2006, S. 102. 79 Rose 2001. 80 Davis 2010, S. 20. Gleichwohl ist bekannt, dass zumindest Warburg kein Interesse an Freud zeigte, siehe Gombrich 1981, S. 244 und 380. 81 „Knight’s approach to his subject is – I can think of no better term – psychoanalytical.“ (Pevsner 1949, S. 297) Umgekehrt interessierte sich Sigmund Freud jedenfalls intensiv für diese Texte der Aufklärungszeit. Dazu: Armstrong 2006, S. 67 und Davis 2010.
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des Umgangs mit den unsicheren Ursprüngen, so ist dieser Konnex sehr treffend gewählt. Mit „Nachträglichkeit“ ist jener Umgang mit Vergangenheit bezeichnet, den Freud 82 vor allem in der Analyse des „Wolfsmanns“ beschrieben hat. Dieses Zeitmodell Freuds beschreibt den Umgang mit einer erschreckenden Urszene, deren unfassbare Erinnerungsspuren in der folgenden Lebensgeschichte des Betroffenen beständig (also nachträglich) durch besser erklärbare und damit erträglichere Szenarien überschrieben und verdrängt werden. Die seelischen Eindrücke resultieren somit in einer vielschichtigen Überlagerung, in der dennoch der Schrecken der Urszene latent bleibt. Freud sprach diesbezüglich von einer „Erinnerungsspur“ oder von „Ein83 drucksspuren“. In einem Brief an Wilhelm Fließ konkretisierte Freud diese seelische Funktion vielleicht am prägnantesten, indem er von einer „Aufeinanderschichtung“ sprach, bei der „von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungs84 spuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt“. Die Urszene – die der Analyst aus therapeutischen Gründen aufzudecken bemüht ist – wird in diesem Geflecht aus Überschreibungen fast zwangsläufig verloren gehen und endgültig vergessen bzw. verdrängt werden. Ob das, was nachträglich vom Patienten als die Urszene seiner Ängste bestimmt wird – im Falle des „Wolfsmanns“ war es das kindliche Beobachten elterlichen Geschlechtsverkehrs – real oder nur erträumt ist, vermag der Analyst, als Historiker des Seelenlebens, nicht bestimmen. Wie Freud ausdrücklich schrieb: „Ich möchte selbst gerne wissen, ob die Urszene bei meinem Patienten Phantasie oder reales Erlebnis war.“ Der Patient „füllt die Lücken der individuellen Wahrheit mit prähistorischer Wahrheit aus, 85 setzt die Erfahrung der Vorahnen an die Stelle der eigenen Erfahrung ein“. Angesichts dieses offensichtlichen Verlusts des „wahren“ Ursprungs beschrieb Peter Geimer in seiner Dissertation mit dem Begriff der „Nachträglichkeit“ jene Kunsthistoriographien, die, wie Winckelmann, ihren Ausgang bei der These der „Vergangenheit der Kunst“ nahmen. Freuds Begriff nutzte er dabei zur Charakteri86 sierung eines Umgangs mit Zeit, den er als „Hegelschen Gestus“ versteht. Mithin
82 Freud 1994. 83 Ebd., S. 153 u. 155. 84 Ders. 1986, Nr. 112, hier: S. 217. Zu diesem Brief siehe auch die Beiträge in: Dirkopf et al. 2008. 85 Freud 1994, S. 209f. Zu Freuds Konzept der Urszene siehe jetzt umfassend: Klammer 2013. Auch er kommt dabei zu dem Schluss, dass „die ,Urszene‘ Freuds unentscheidbar zwischen realem Ereignis, phylogenetisch vorstrukturierter Phantasie und Konstruktion des Therapeuten [oszilliert]“ (S. 43). 86 Geimer 2002, S. 7ff.
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charakterisiert er damit also das genau entgegengesetzte Geschichtsmodell, als ich mit diesem Begriff beschreibe. Durch die Ruinierung der längst untergegangenen Kunst eröffnen sich, laut Geimer, im antiquarischen Diskurs „Leerstellen“, die imaginativ gefüllt werden können, wie es beispielhaft an Winckelmanns emphatischer Beschreibung des Torso vom Belvedere verfolgt werden kann. Die Vergangenheit wird zum Spielraum poetischer Beschreibungsakte gerade dadurch, dass sie von der Gegenwart getrennt ist, also mit ihr nicht durch einen Überschreibungsprozess, durch „Gedächtnisspuren“, wie Freud es genannt hat, verbunden ist. ‚Nachträglichkeit‘ handelt bei Geimer also von einer Füllung von Leerräumen. Die Zeitstruktur, die er beschreibt, ist damit gerade nicht die des Freud’schen Modells einer beständigen Überschreibung und Umdeutung von einem Geschehen an dem man selbst partizipiert, sondern sie 87 basiert auf der „Leitdifferenz“ Antike/Moderne. „Vergangenheit“ als Terminus, der einer Gegenwart entgegengestellt ist, muss dabei eigentlich als das Gegenteil des Freud’schen Zeitkonzepts gesehen werden. Denn „[e]ine der Bedeutungen für das Konzept der Zeitlichkeit, das in Freuds Nachträglichkeit impliziert ist, liegt darin, dass Zeit sich nicht (mehr) als Verhältnis 88 zweier Gegenwarten, einer vergangenen und einer gegenwärtigen denken lässt“. Die Leerstelle des Anfangs ergibt sich für Freud paradoxer Weise gerade erst dadurch, dass die Urszene nicht aufhört den Menschen zu beschäftigen – und darum permanent überschrieben wird. Wie die psychoanalytische Forschung mehrfach dargelegt hat, impliziert der Begriff der „Nachträglichkeit“ also einen doppelten 89 Zeitvektor. Der eine thematisierte Prozess bezieht sich dabei auf das beschriebene Modell der Überschreibung traumatischer Erinnerungen. Zugleich referiert „Nachträglichkeit“ für Freud aber auch auf die beschriebene Auflösung dieses Palimpsests aus Gedächtnisspuren, also die nachträgliche Installation der verdrängten Urszene, aus der heraus sich der Betroffene die ebenfalls quälenden, späteren Überschreibungen des Geschehens zu erklären versucht. Dieser Begriff von „Nachträglichkeit“ beschreibt also ein fundamental zirkuläres Zeitmodell: Der Ursprung bleibt permanent relevant und wird deswegen überschrieben. Und weil die Überschreibungen den (vermeintlichen) Ursprung präsent halten, wird er nachträglich mit einer neuen Erzählung verknüpft. Geimer bezieht sich in seiner Begriffsverwendung dagegen offenbar nur auf das Füllen einer Leerstelle. Die Ursache für diese Leerstelle, das Überschreiben, das gleichsam umgeformt die Erinnerung an den Anfang inkorporiert, thematisiert er kaum. Auf die Zirkularität des Freud’schen Modells geht er damit nicht ein. Für
87 Ebd., S. 10. 88 Erdle 1997, S. 82. 89 Vgl. zuletzt: Dahl 2010.
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eine Anwendung des Begriffs auf den Fall Winckelmann ist dies auch völlig zutreffend. Die Spezifik von Geimers Begriffsverwendung erklärt sich dadurch, dass er das Konzept „Nachträglichkeit“ letztlich offenbar gar nicht von Freud bezieht, sondern aus dessen Rezeption durch Jacques Derrida übernimmt. Dieser nun operiert mit der durch Lacan geprägten Übersetzung von „Nachträglichkeit“ mit „aprèscoup“ – ein Begriff, der in seiner Konnotation einer flashbackartigen Rückverweisung eben nur einen der beiden in Freuds Begrifflichkeit implizierten Zeitvektoren 90 beschreibt. Verstehen wir Freud korrekt, dann ist die Pointe der Nachträglichkeit gerade, dass sie die Vergangenheit auch a posteriori (also eben nachträglich) affizieren kann. Der Ursprung, selbst wenn er nachträglich erdacht bzw. imaginiert wird, schreibt die Geschichte, die auf ihm beruht, zwangsläufig um. Diese Unreinheit der Geschichte ist, folgt man der Interpretation Didi-Hubermans, genau das, was auch 91 Warburgs Modell des „Nachlebens“ auszeichnet. Allerdings können diese nachträglichen Einsetzungen auch höchst bewusst und subjektiv gelenkt sein. Als Freud in Totem und Tabu die Urszene der Tabuisierung beschreibt, nämlich den Mord und kannibalischen Verzehr des übermächtigen und gewalttätigen Vaters durch „die sich zusammenrottende Brüderschar“, dann relativiert er diesen Bericht durch eine Anmerkung: „Es wäre ebenso unsinnig, in dieser Materie Exaktheit anzustreben, wie es unbillig wäre, Sicherheiten zu fordern.“ Der Ursprung ist unbekannt, kein Archiv hat ihn dokumentiert, er „ist nirgends Gegenstand der Beobachtung geworden“. Was bleibt, ist die Möglichkeit, ihn zu erdichten, eine metahistorische Konjektur zu führen. Symptomatisch ist, wie Freud seine Erzählung einleitet, nämlich mit den Worten „Eines Tages...“. Er wählt damit eine 92 Formulierung, die dem märchenhaften „Es war einmal...“ nur zu ähnlich erscheint. Die Anfänge determinieren dabei alles Spätere und sind paradoxer Weise doch metahistorische und nachträgliche Setzungen. Ob die Urszene in Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, das Beobachten des elterlichen Geschlechtsverkehrs, tatsächlich stattfand, ist nicht behauptet. Doch entscheidend für mein Anliegen hier ist, dass dies überhaupt nicht wichtig ist – denn die Geschichte wird trotzdem kontaminiert durch die nachträgliche Setzung! Um Freuds bereits zitiertes Eingeständnis in die Unsicherheit der Wahrheit des Ursprungs nun vollständig anzuführen: „Ich möchte selbst gerne wissen, ob die Urszene bei meinem Patienten Phantasie oder reales Erlebnis war, aber mit Rücksicht auf andere ähnliche Fälle muss man 93 sagen, es sei eigentlich nicht sehr wichtig, dies zu entscheiden.“
90 Ebd., S. 729. Zu Derridas Interpretation Freuds siehe auch Erdle 1997. 91 Didi-Huberman 2010. 92 Freud 1970, S. 158. 93 Ders. 1994, S. 109f.
D ER U RSPRUNG
DER
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Das Archiv der Geschichte ist für die Gegenwart von Anfang an neu schreibbar, und genau darin liegt die Ermächtigung des Historiographen. Nicht ohne Grund stellt Jacques Derrida jene, die „dem Archiv verschrieben“ sind, unter die Herrschaftsgewalt der Archonten und macht sie damit abhängig von den Zugangsmög94 lichkeiten, die jene gewähren, die „die Macht, die Archive zu interpretieren“, haben. Und genau so handeln auch die hier besprochenen Vertreter der Kunsthistoriographie der Aufklärung. Standen bisher (ätiologisch argumentierende) Künstler gegen (historisch sondierende) Antiquare, so finden beide Standpunkte zusammen in den Erzählungen der hier verhandelten Geschichtenschreiber. Die Lücke des unbekannten Anfangs wird in einem souveränen Akt gefüllt durch eine Ursprungserzählung des Antiquars. Unsere Autoren erweisen sich dabei als klassische Vertreter des konjekturalen Denkens der Aufklärung, wie es am Beispiel Rousseaus eingeführt wurde. Grundlage der „conjectural histories“ bzw. ihre erste und wichtigste Konjektur ist, wie die Forschung deutlich herausgestellt hat, „die Annahme einer Analogie zwischen Ontogenese des Menschen und Phylogenese der Menschheit“.95 Aus seiner subjektiven Perspektive ist der einzelne Antiquar also dazu legitimiert, für die gesamte Geschichte zu sprechen. Damit deutet sich an, dass sich hier die historischen Ursprünge offenbar mit einem anderen Modell von Originalität vermischen, nämlich der im 18. Jahrhundert so prominenten Ästhetik des Originalgenies. Diese beiden Figuren, der Ursprung der Geschichte und der Ursprung geistiger und künstlerischer Innovationen, sind für das 18. Jahrhundert denkbar eng verwoben.96 Das ist vielleicht nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Man möge daran denken, dass Derrida neben den „Genesen“ unter anderem auch „das Genie“ unter den „Geheimnisse[n] des Archivs“ subsumierte.97 Der Ursprung der Kunst, so jedenfalls die These, wird für d’Hancarville und Co. erst erzählbar, wenn er, und damit die ganze Geschichte, der autoritären Verfügungsgewalt eines Antiquars unterstellt wird. Die Möglichkeitsbedingung dazu bietet das Narrativ des Nachlebens, das die Kunstgeschichte erst für die Gegenwart zugänglich macht. Der wahre Ursprung der Kunst ist damit ganz und gar in die Jetztzeit zu datieren.
94 „Die Archonten […] stellen nicht nur die physische Sicherheit des Depots und des Trägers sicher. Man erkennt ihnen auch das Recht und die Kompetenz der Auslegung zu.“ (Derrida 1997, S. 11) 95 Gisi 2007, S. 6. 96 Einschlägig dazu Catherine Labio: „[I]nquiries into origins made it possible for aesthetics, and one of its core constituents, the discourse of originality, to emerge. Not initially concerned exclusively with art, aesthetics in turn allowed art, that most human of activities, to be seen as giving the rule to knowledge.“ (2004, S. 5) 97 Derrida 2006.
II. Ironie des Todes (D’Hancarville I)
§1 D IE V ERGANGENHEIT DER K UNST ( UND K UNSTGESCHICHTE ) Es ist vielleicht die bekannteste und meistzitierte Szene in der Geschichte der Kunstgeschichte, zugleich die oft beschworene Geburtsstunde dieser Disziplin. Johann Joachim Winckelmann blickt am Ende seiner Geschichte der Kunst des Alterthums zurück auf die gerade erzählte Geschichte, die nun endgültig eine vergangene ist. Die große Zeit der Kunst ist vorbei, die Herrlichkeiten des Griechentums verfallen, jede Schönheit aus der Welt gewichen: „Ich bin in der Geschichte der Kunst schon über ihre Gränzen gegangen, und ungeachtet mir bey Betrachtung des Untergangs derselben fast zu Muthe gewesen ist, wie demjenigen, der in Beschreibung der Geschichte seines Vaterlandes die Zerstörung desselben, die er selbst erlebet hat, berühren müßte, so konnte ich mich dennoch nicht enthalten, dem Schicksale der Werke der Kunst, so weit mein Auge ging, nachzusehen. So wie eine Liebste an dem Ufer des Meeres ihren abfahrenden Liebhaber, ohne Hoffnung ihn wieder zu sehen, mit bethränten Augen verfolgt, und selbst in dem entfernten Segel das Bild des Geliebten zu sehen glaubt. Wir haben, wie die Geliebte, gleichsam nur einen Schattenriss von dem Vorwurfe unserer 1
Wünsche übrig; aber desto größere Sehnsucht nach dem Verlornen erwecket derselbe.“
Winckelmann wird zum Historiker der Kunst, weil deren Ende eingetreten ist. Die zeitliche Distanz der Beschreibung zu ihrem Gegenstand ist damit zur Möglichkeitsbedingung der Kunstgeschichte erklärt. Eine ganz ähnliche Szenerie findet sich auch bei anderen Historikern des mittleren 18. Jahrhunderts. Edward Gibbon beschreibt in seiner Autobiographie, wie er auf den Trümmern des Forums saß – und angesichts dieser nur noch imaginativ erfahrbaren, untergegangenen Welt die Idee hatte, eben die Geschichte dieses Untergangs, den Decline and Fall of the Roman
1
Winckelmann 1996, S. 837 u. 839.
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Empire, zu beschreiben. Es ist eine Szene der Melancholie, und als solche erscheint sie auch im von John Hall gestochenen Frontispiz zum dritten Band von Gibbons opus magnum (Abb. 7). Der Philosoph, den Kopf in die Hand gestützt, blickt auf eine Ruinenlandschaft mit Kolosseum, die räumlich merkwürdig verbindungslos zu ihm, dem Betrachter steht. Die Vergangenheit ist zu einem Bild geworden, das er nur aus der Ferne betrachten kann. Abb. 7: John Hall, Titelblatt zu Edward Gibbon, Decline and Fall..., Bd. 3, 1780 (Ausschnitt).
Die Schuld an diesem Untergang des Schönen ist dabei niemandem zuzuweisen. Die Geschichte der Kunst unterliegt für Winckelmann vielmehr einer immanenten Gesetzlichkeit, die ihren Entwicklungsgang determiniert. „Kunst“ wird als Organismus betrachtet, und wie ein derart lebendiges Wesen ist auch sie geboren, um zum Tode bestimmt zu sein. Sie unterliegt damit denselben Gesetzen „wie alle Erfindungen“. Der Niedergang nach dem Höhepunkt wird entsprechend mit lapidarer Selbstverständlichkeit angekündigt: „Nachdem alle Theile [zur höchsten Schönheit] vereinigt waren, und ihre Ausschmückung gesuchet wurde, gerieth man in das Überflüssige, wodurch sich die Großheit der Kunst verlor, und endlich erfolgete der 3 völlige Untergang derselben.“ David Hume hatte diese Gewissheit bereits einige Jahre zuvor ganz ähnlich formuliert: „When the arts and sciences come to perfection in any state, from that moment they naturally, or rather necessarily decline.“4 In dieser Notwendigkeit sah die Sache im Felde der politischen Geschichte auch ein Gibbon. Wenn ein Staat nur groß genug ist, muss er quasi natürlicherweise unter dieser Größe kollabieren. Die Frage ist also nicht, warum Rom untergegangen
2
„It was at Rome, on the 15th of October 1764, as I sat musing amidst the ruins of the Capitol, while the bare-footed fryars were singing vespers in the temple of Jupiter, that the idea of writing the decline and fall of the city first started to my mind.“ (Gibbon 1869, S. 79)
3
Winckelmann 1996, S. 4. Zu Winckelmanns organischem Geschichtsbild: Aebli 1991, Grave et al. 2007.
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Hume 1985 [Rise], S. 135.
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ist, sondern warum es so lange Bestand hatte. Genau in diesem Duktus argumentieren auch Antiquare wie der Comte de Caylus, der die Kunst nur solange als blühend 6 betrachtete, „que le poids de la machine suffisoit pour la soutenir“. Winckelmanns Konzeption der Kunstgeschichte gewann nicht nur für das 18. Jahrhundert entscheidende Verbindlichkeit als beständiger Referenzpunkt einer sich begründenden Disziplin. Die „Trauer der Vollendung“ der Kunst ist hier nicht zum letzten Mal die Möglichkeitsbedingung für die Historisierung selbiger. Die sich immer wieder neu gebärende Kunstgeschichte gründet sich spätestens seit Vasari 7 auf dieses Motiv. Geschichtsphilosophisch explizit sollte der Gedanke dann durch Hegel ausgeführt werden, der dem Zeitalter der Kunst das der Wissenschaft folgen 8 ließ. Abb. 8: Torquilino Borra, Ancient Ruins near Troy, in: Robert Wood, An Essay on the Original Genius..., 1775, nach S. 340.
Vor allem deckte sich diese theoretische Formulierung für viele Antiquare der Aufklärung auch mit den tatsächlichen Erfahrungen der Kunstbetrachtung. Wo immer man Kunst besichtigte, man schien zu spät gekommen und konnte nur noch klägliche Reste der alten Herrlichkeit erfahren. Wer, wie Robert Wood für sein Essay on the Original Genius of Homer, mit den Epen Homers in der Hand nach Griechenland reiste, musste spätestens wenn es darum ging, die Trojafrage zu lösen und den Standort der legendären Stadt zu bestimmen, seine Kapitulation einreichen. Das
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Vgl. Nippel 2006, S. 23.
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Caylus 1752-1767, Bd. VII, S. 182.
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Vasari 2004, S. 60ff.
8
Zu diesem Motiv im 18. Jahrhundert: Geimer 2002; ausgehend von Hegel: Wyss 1997.
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„present face of those countries“, die Wood antraf, ließ sich nicht mehr mit den antiken Berichten über sein Aussehen in Einklang bringen. Es bleibt nur ein Näherungswert. „Ancient Ruins near Troy“ werden illustriert (Abb. 8). Vom wahren Schauplatz der Ilias aber „there are not the least remains, by which we can judge of 9 its original position“. Die Kunst war, wie Wood bereits zwanzig Jahre davor festgestellt hatte, vergangen: „Troy, Babylon and Memphis are now known only from 10 books, while there is not a stone left of their situation.“ Abb. 9: Giambattista Piranesi, Mausoleum der Costanza, in: Le antichità romane... Bd. 2, 1756, Taf. XXI.
Die Stätten des antiken Lebens selbst waren ein Trümmerfeld. Erfahrbar war die Antike nur noch in einer imaginären Rekonstruktion, wobei die Vergangenheit des Monuments, also die Scheidung zwischen Fakt und Fiktion, stets präsent blieb. Winckelmanns berühmteste und emphatischste Beschreibung widmet sich mit dem Torso Belvedere nicht zufällig einem ruinierten Monument. Dieses wieder zum Leben erwecken vermag ein sterblicher Betrachter nicht mehr, sondern höchstens ein „Genius der Kunst“, wie ihn das Frontispiz der kurzlebigen Kunstzeitschrift Der Torso, mit Prometheusfackel in der Hand und inspiriertem Atem auf das Kunstwerk hauchend, zeigt (Abb. 10). Ein menschlicher, moderner Betrachter, wie er am prominentesten in den Werken Piranesis mit staunendem Blick durch die Ruinen der alten Welt wandert, kann dieser zerstörten Antike nicht mehr angehören. Wenn Piranesi schließlich in den Antichità Romane das Mausoleum der Costanza in einer ergänzenden Rekonstruktion zeichnet, so ist im Grundriss sehr deutlich die Bruch-
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Wood 1775, S. 75 u. 338.
10 Ders. 1753, S. 1. Vgl. Geimer 2002, S. 105ff.
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stelle markiert, die das Ruinenbild des Faktischen trennt von dem, was nicht mehr 11 bzw. nur in der Imagination existiert (Abb. 9). Weinte Winckelmann in der Geschichte der Kunst des Alterthums noch bittere Tränen ob des Untergangs derselbigen, so mussten die Leser der zweiten, 1776 erschienenen Auflage des Werkes zugleich noch einen zweiten Verlust betrauern, denn zwischenzeitlich war auch der Historiker, der diese Geschichte niedergeschrieben hatte, verstorben.12 Sein größtes Werk erschien also, wie schon der Titel vermerkte, „Nach dem Tode des Verfassers“, denn 1768 war Winckelmann in Triest einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen, dessen genaue Umstände zu manchen Spekulationen führten.13 Der Tod des Deutschen war ein Schlag für die gebildete Welt des 18. Jahrhunderts: „Il fut pleuré de ses amis & regreté de tous ceux qui s’intéressent aux progrès des Arts & des Sciences.“14 Auch wenn die tatsächlichen Geschehnisse wohl tragisch banal waren und es sich um einen simplen Raubmord ohne persönliche Motive handelte, bedeutete dieser Tod einen harten Schnitt. Winckelmann, der Historiker, war selbst Geschichte geworden. Er vollzieht damit einen weiteren Rollenwechsel und wird von der zurückgebliebenen Geliebten, mit der er sich in der Abschiedsszene der Geschichte 15 der Kunst identifizierte, nun zum entschwundenen „Geliebten“ selbst. Am Ufer zurück bleibt stattdessen das gebildete Europa, „mit bethränten Augen“ und in Trauer um den berühmtesten Kunstgelehrten seiner Zeit. Man mag dem durchaus eine positive Wendung geben: Im Tod war der Autor Winckelmann der geliebten Antike so nahe gekommen wie nie zuvor. Zur Vergangenheit der Kunst gesellt sich die Vergangenheit des eigenen Lebens. Der Gelehrte war so unerreichbar geworden wie die Ruinen der Antike, die ihre alte Herrlichkeit
11 Vgl. Geimer 2002, S. 172f. 12 Zur Editionsgeschichte der Geschichte der Kunst vgl. das Vorwort zu Winckelmann 1996. 13 Insbesondere Herder legte nahe, in Winckelmanns homosexuellen Neigungen, seiner Sehnsucht nach „griechische[r] Freundschaft“, eine Ursache für den Mord zu sehen (1963, S. 60; vgl. Gossman 1992, S. 219) – ein Motiv, das auch in modernen literarischen Umsetzungen des Stoffes von Winckelmanns Tod zuverlässig wieder auftaucht, z.B. Schrott 1995. Die Prozessakten sind ediert: Pagnini/Stoll 1965. Aus rechtshistorischer Perspektive dazu: Schmoeckel (2008), der den Prozess übrigens, entgegen der oft gelesenen kunsthistorischen Meinung, als „unspektakulär“ bezeichnet. 14 Winckelmann trad. Huber 1781, S. CXXXVI. 15 Vgl. zu ersterem Rollentausch die brillante Analyse von Whitney Davis 1996, Kap. 9.
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kaum noch erahnen lassen. Selbst Winckelmanns Grab war nicht mehr aufzufinden: 16 „Niemand wusste etwas davon“, wie Johann Gottfried Seume 1802 berichtet. Abb. 10 (links): Frontispiz zu: Der Torso. Eine Zeitschrift der alten und neuen Kunst gewidmet, 1796. Abb. 11 (rechts): Christian Gottlob Geyser nach Adam Friedrich Oeser, Fiktives Grab Winckelmanns, Titelblatt in: Winckelmann trad. Fea 1783.
In diesem Sinne scheinen jedenfalls die Zeitgenossen mit dem Tod des berühmtesten aller Kunstforscher umgegangen zu sein. Ein Großteil der in den Jahren nach Winckelmanns Tod erschienen Editionen und Übersetzungen der Geschichte der Kunst beinhalten einen Stich von Christian Gottlieb Geyser nach einer Vorlage von Adam Friedrich Oeser, der das (fiktive) Grab des Autors zeigt. Ob in den französischen Übersetzungen der Geschichte von Michel Huber und Gottfried Sellius, oder 17 der italienischen von Carlo Fea – die Szenen wiederholen sich (Abb. 11). Wie die „Geliebte“ in der Schlussszene des Textes stehen auch hier antikisch gewandete Frauen vor einem entschwundenen Schattenbild. Die Urne, bzw. den Kenotaph des
16 Seume 1811, S. 68. Erst 1833 wurde, auf Betreiben von Domenico de Rossetti, der auch als erster die Akten des Prozesses gegen Winckelmanns Mörder Arcangeli herausgab, ein Denkmal für den Gelehrten im Lapidarium von Triest aufgestellt. 17 Winckelmann trad. Huber 1781; Winckelmann trad. Sellius 1793; Winckelmann trad. Fea 1783. Zu Übersetzungen und Übersetzern der Geschichte siehe Griener 1998.
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Toten umklammernd betrauern sie ihren Verlust und stellen sich, wie einst Winckelmann angesichts der untergegangenen Kunst, wie ‚schlecht abgefundene Erben’ 18 „im Geiste an deine Asche“. Abb. 12: Carmine Pignatori nach Giuseppe Bracci, Kenotaph Winckelmanns, in: AEGR II. Abb. 13: Kenotaph Winckelmanns, in: Winckelmann trad. Sellius 1793, Bd. I, S. LXXXII.
Der Forscher war selbst zu einem Monument geworden, das sich bruchlos einreihte in den Reigen der antiken Werke, vor deren ruinösen Resten dem Betrachter ebenfalls Tränen der Trauer in die Augen stiegen. Aus dem lebenden Antiquar ist ein „verewigter Winkelmann“ geworden: „[D]er Traum deines Lebens sank dahin und lag zerschlagen, wie die Bildsäule eines Apollo-Musagetes von der Hand des Bar19 baren.“ Das Schicksal seines Lebens und das Schicksal der Kunst werden hier unmittelbar in Analogie gesetzt. Zumindest im Nachruhm gelang also Winckelmann, was ihm im Leben verwehrt blieb, nämlich die unmittelbare Teilhabe an der Antike. Dieses posthume Eingehen in die Antike scheint zuvor auch schon für andere Antiquare ein Modell des „guten Sterbens“ gewesen zu sein. Der Comte de
18 Heyne 1778, S. 35. 19 Ebd. und Herder 1963, S. 60. Zuzustimmen ist der treffenden Analyse Daniel Orrells’: „Winckelmann himself came to be viewed like the Geschichte he wrote: he was seen as a timeless, classical figure that transcended the ages, both ancient and modern, and as a man always romantically destined to die young“: Unsterblich und schon tot zugleich (Orrells 2011, S. 173f.).
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Caylus verfügte vor seinem Ableben etwa, in einem (zumindest vermeintlich) antiken Monument begraben zu werden: Aus dieser Welt geschieden konnte er ganz handfest in die Antike versetzt werden.20 Besonders deutlich wird diese Denkfigur in einem weiteren Entwurf des Grabes Winckelmanns, das sich im zweiten Band der Antiquités Grecques, Etrusques et Romaines befindet, der monumentalen Publikation der Vasensammlung Sir William Hamiltons, „envoy extraordinary“ Seiner Majestät Georges III. in Neapel (Abb. 12). Zwar haben wir es hier nicht mit einem von Winckelmann verfassten Werk zu tun, aber doch zumindest mit einem, für das er ursprünglich als Autor vorgesehen war. Dieser Stich jedenfalls, publiziert in dem schließlich von dem umtriebigen Antiquar Pierre Hugues gen. d’Hancarville verfassten zweiten Band der Antiquités, hatte besonderen Erfolg und wurde in modifizierter Form von mehreren anderen Ausgaben der Geschichte, wie in der bereits genannten französischen Übersetzung von Gottfried Sellius weiterverwendet (Abb. 13). Die Trauer um den Toten ist hier wahrlich ins Monumentale gesteigert. Gezeigt ist ein riesiger, an das Pantheon erinnernder Kuppelbau, ein Kolumbarium offenbar, denn ringsum an den Wänden finden sich die typischen Nischen, in denen die Römer ihre Urnen aufbewahrten.21 Inmitten dieses Raumes steht ein mannshohes, auf zwei Pfeilern aufgebocktes und so noch mehr erhöhtes Kenotaph. Mit zwei Löwenhäuptern und Strigilien verziert mutet auch dieses Monument, ebenso wie die auf dem Kenotaph angebrachte Dedikationsinschrift, gänzlich antikisch an. Die Inschrift kündet von dem, der hier betrauert wird: D.M. IOAN.WINKELMANN VIR.OPT.AMIC.KARISS PET. DHANCARVILLE. DOLENS FECIT ORCO PEREGRINO
Der Erfolg dieser innerbildlichen Inschrift war beträchtlich und sie wurde, neben den bereits genannten Adaptionen des gesamten Stiches, als isolierter Text auch in einer erstaunlichen Vielzahl von späteren Berichten über Winckelmanns Tod abge-
20 Abgebildet in Caylus 1752-1767, Bd. VII, S. 234, Taf. LXVI. Dazu Rees 2006, Kap. 6; AK München 2013, S. 165ff. 21 Der Übersetzer der Geschichte, Michel Huber, beschreibt das Gezeigte folgendermaßen: „Cette planche représente un Columbarium, ou l’interieur d’un tombeau, ou l’on voit un homme assis dans l’attitude de la tristesse au pié d’un sarcophage de pierre.“ (Winckelmann trad. Huber 1781, S. CXXXVI)
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druckt.22 Ein Grund des Erfolges mag in der ungewöhnlichen Formulierung vom „Orco Peregrino“ liegen. Die in der Antike nur selten nachzuweisende Formel wurde in Fällen gebraucht, wo der Verstorbene fern der Heimat verschieden ist, also weder der genaue Ort noch Zeitpunkt seines Todes zu ermitteln waren.23 Für Winckelmann, in Triest sowohl der tatsächlichen (Deutschland) wie der ideellen (Rom) Heimat fern, ist dies eine überaus treffende Formulierung. Mit dieser außergewöhnlichen Zeile ist Winckelmann nun endgültig in der Ferne der Geschichte entschwunden. Entsprechend sind auch das Kenotaph und das Gebäude, das ihn beherbergt, schon deutlich von der Zeit gezeichnet. Einige Fliesen fehlen, Risse ziehen sich durch den Deckel des Kenotaphs und das Gebälk bröckelt bedrohlich. Der Autor wird hier mit seinem Gegenstand identisch: Ausdrücklich beschreibt d’Hancarville die Vergangenheit mit einer geographischen Metapher als ein „fernes Land“, als einen Ort, „dont la distance est immense de celui que nous habiton“.24 Winckelmann, dessen Leichnam ebenfalls in der Ferne liegt, ist Teil des „fremden Landes“, dem „Orco Peregrino“ der Geschichte geworden, ebenso wie die antike Kunst.
§2 S TERBEN
ALS
S ELBSTERNEUERUNG
Im dritten Band der Antiquités errichtet d’Hancarville nun ein weiteres Denkmal, das dem Leser als Schlussvignette am Ende des Avant Propos präsentiert wird (Abb. 14 und Buchcover). Wie das Bild vom Kenotaph Winckelmanns ist auch die25 ses von Giuseppe Bracci entworfen. In einer kargen Landschaft, in der als einziges Leben einige Vögel kreisen, steht ein verfallenes, halb überwuchertes Bauwerk, ein geplündertes Grab wie es scheint – einige Vasen haben die Grabräuber zurückgelassen. Auf einem davor positionierten Statuensockel (das Standbild selbst ist ebenfalls verloren) kündet eine Inschrift weiterhin von der einst hier geehrten Persönlichkeit. Auch diese ist im „Orco Peregrino“ untergegangen. Nicht einmal ihr Alter scheint den Hinterbliebenen mehr si-
22 Z.B. Winckelmann trad. Huber 1781, S. CXXXVI; Anon. 1802, S. 441; Meusel 18021816, Bd. 15, S. 192; Gurlitt 1831, S. 410; Justi 1923, Bd. III, S. 424. 23 Ich folge hier Daniel Orrells, der auch die antiken Nachweise für diese Formel gibt (2011, S. 181). Hinzuzufügen ist, dass d’Hancarville diese Inschrift auch problemlos aus zeitgenössischen Repetorien für römische Epigraphik gekannt haben kann, z.B. Graevius 1707, Bd. II, S. DCCCLII; Pitiscus 1737, Bd. II, S. 699. 24 AEGR II, S. 9. Zu der Metapher von der Vergangenheit als einem „fremden Land“: Lowenthal 1986. 25 Über Bracci ist nur wenig bekannt, vgl. AKL 13, S. 502.
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cher zu ermitteln gewesen: „Mit mehr oder weniger 44 Jahren“ ereilte sie der Tod. Doch der Leser ist überrascht, angesichts des Namens, den die Grabinschrift nennt: DM P. Vict DHancarville Annum agens plus minus XXXXIIII Sibi fecit orco peregrino vixit parthenope tenet nunc florentia si quid oblectamenti apud vos est manes moestam reficite animam tu qui legis have et vale
Der hier Beerdigte sei kein anderer als Pierre-Francois Hugues, selbsternannter Baron d’Hancarville, also der Autor des vorliegenden Werkes. Nicht gering ist die Verwunderung, denn d’Hancarville war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Bandes, 1776, sehr lebendig, und noch fast dreißig Jahre Zeit auf dieser Erde sollten 27 ihm vergönnt sein. Ganz ohne Interesse am persönlichen Nachruhm ist dieses Vorgehen sicher nicht geboren – das zeigt sich allein schon, wenn d’Hancarville im vierten Band noch einen Stich mit dem ruinösen Grabmal des Comte de Caylus folgen lässt (Abb. 15), sich also endgültig in eine Höhenkammgeschichte der größten Antiquare (Bd. II gedenkt Winckelmann, Bd. III dem Autor selbst, Bd. IV schließlich Caylus) 28 einschreibt. Die Inschrift „sibi fecit“ scheint diese Deutung zu stützen, ist dies doch die klassische Formel für ein bereits zu Lebzeiten errichtetes Grabmal, also einen Akt, der in höchstem Maße auf Memorialvorsorge zielte. Ironie der Geschichte, dass es eher die erwähnte, viel zitierte und reproduzierte Inschrift auf dem Bild von Winckelmanns Kenotaph war, die d’Hancarvilles Namen und Selbstbezeichnung als „liebsten Freund“ Winckelmanns tradierte.
26 Diese Formulierung des „plus minus“ zur approximativen Bestimmung des Sterbealters eines fern der Heimat Verstorbenen, dessen genaues Todesdatum unsicher ist, dürfte d’Hancarville von derselben Grabinschrift übernommen haben, von der er auch die Formulierung „Orco Peregrino“ hatte, s.o. 27 Zu den Datierungen der einzelnen Bände (die nicht mit den auf den Titelseiten genannten Daten übereinstimmen): Ramage 1991. Zur Biographie d’Hancarvilles hier nur: Haskell 1984; Bentz 2012. 28 Diese Deutung dominierte entsprechend bisher die Forschung: Griener 1992, S. 79; Jenkins 1996, S. 41.
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Abb. 14: Carmine Pignatori nach Giuseppe Bracci, Fiktives Grabmal d’Hancarvilles, in: AEGR III, unpag. Abb. 15: Anon., Denkmal für den Comte de Caylus, in: AEGR IV, unpag.
Doch ausdrücklich verwahrt sich d’Hancarville in der Erläuterung „seines“ Grabmals gegen eine derartige, auf Memorialvorsorge abzielende Interpretation. Nicht um den ewigen Nachruhm geht es ihm, so erklärt er im Text, sondern im Gegenteil, um einen Bruch mit seinem alten Ich, und damit auch mit seinen bisherigen wissenschaftlichen Meinungen, die nun in den Orkus geschickt werden sollen. Zwar bemüht er sich weiterhin, mit ungewöhnlichen epigraphischen Formeln wie dem Gruß „have et vale“ seine Gelehrsamkeit auszustellen29, dennoch ist d’Hancarvilles Absage an das alte Ich ernst zu nehmen. Nicht weniger als eine „Kritik der Bände, die das Unglück hatten, diesem vorauszugehen“ soll der vorliegende dritte Band darstellen, wie er im Vorwort erklärt. Er selbst werde sich bemühen, seine alten Thesen so objektiv und kritisch zu betrachten, als habe er vergessen, dass sie einmal die seinigen waren. Mit großer Selbstaufhebungsgeste unternimmt d’Hancarville die Abkehr vom alten Ich, an dessen Stelle nun eine „neue Wissenschaft“ – „une science nouvelle“ – tritt.30 Die angesprochene Formulierung, dass er „sich selbst“ dieses
29 Dazu Davies (2000, S. 194), die auch einige moderne Missverständnisse bezüglich dieser Formel aufzeigt. 30 Der neue Band sei zu lesen „comme la Critique de ceux qui ont eu le malheur de le précéder [...] je parle effectivement de ces opinions, comme si j’eusse oublié,
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Grabmal machte („sibi fecit“) ist daher vielleicht noch in einem anderen Sinne zu verstehen: Sich selbst versetzte er in das Reich der Toten. So gelesen wäre das Grabmal in der Tat ein Monument des Vergessens, nicht der Erinnerung. Seine alten Meinungen und Forschungen will d’Hancarville hier beerdigen; der Leser möge sie als tot betrachten, wie die eines Mannes, der „vor geraumer Zeit ge31 storben ist“. Eine „neue Wissenschaft“ zu begründen bedarf also nicht nur einer intellektuellen, sondern auch einer persönlichen Neuerfindung, einer umfassenden Kehre. Genau diese Lehre hätte d’Hancarville aus einem anderen Werk ziehen können, das für sich in Anspruch nimmt, eine „neue Wissenschaft“ zu gründen. Die Rede ist natürlich von der Scienza Nuova des Neapolitaner Juristen Giambattista Vico. In seiner Person hätte d’Hancarville das perfekte Rollenmodell für einen Autor finden können, der sich von seinen alten Meinungen lossagt, um gänzlich originell zu denken.32 Auch Vico betont, dass er, um zu seinen neuen Erkenntnissen vorzudringen, auf alle Bücher, die je geschrieben wurden, verzichten muss.33 Um ganz originell zu werden, muss er Abstand nehmen von dem, was er bisher als „neue Wissenschaft“ verstanden hat, sprich, von dem, was er in den ersten beiden Auflagen seines Buches vertrat. Drei Abschnitte nimmt er davon zwar aus – doch im Grunde formt er hier genau d’Hancarvilles Manöver vor: Sich selbst wie einen Autor betrachten, dessen Thesen man aufs Schärfste zu kritisieren hat.34 Durchaus explizit scheint sich die Formulierung von dem Mann, der „vor einiger Zeit gestorben ist“, aber auf eine andere reale Persönlichkeit zu beziehen. Unser Autor ist hier, so die These, wörtlich zu nehmen. Kein anderer als Winckelmann dürfte hier gemeint sein. Indem d’Hancarville sich selbst (und seine bisherigen wissenschaftlichen Meinungen) beerdigt, distanziert er sich ausdrücklich von diesem Übervater der Kunstwissenschaft. Das ist wörtlich zu verstehen, standen die ersten beiden Bände der Antiquités doch ohne Zweifel ganz im Geiste des Deutschen, und
qu’anciennement elles étoient les miennes“. Sein Anliegen sei daher: „Ouvrir une carriere & Produire, en quelque sorte, une science nouvelle.“ (AEGR III, unpag. Avant-Propos) 31 „[J]e me crois autorisé à regarder mes opinions passées, comme celles d’un homme mort il y a long-temps.“ (AEGR III, unpag. Avant-Propos) 32 Auf Grund der Formulierung von der „neuen Wissenschaft“ wurde bisweilen ein ideengeschichtlicher Einfluss zwischen den beiden Autoren angenommen. Bisher galt jedoch: „Für eine solche Annahme liegen bislang keine Beweise vor und d’Hancarville zitiert Vico auch nicht.“ (Weissert 1999, Anm. 408, S. 106) 33 Vico, SN, § 330. 34 Um sich dieser Selbstrevision bewusst zu sein, hätte er zudem nicht die ganze Scienza Nuova lesen müssen, sondern nur Vicos Erläuterungen zu seinem Frontispiz, denn bereits dort äußert er sich zu den noch gültigen Passagen aus den früheren Bänden (Vico, SN, §§ 28, 32, 35).
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dieser wäre eigentlich sogar Hamiltons bevorzugter Autor für das Werk gewesen. Es mag sogar sein, dass von Winckelmann verfasste Texte Eingang in d’Hancarvilles 35 erste beide Bände gefunden haben. Ob jenseits des Wissenschaftlichen die Beziehung der beiden Männer dagegen so eng und freundschaftlich war, wie die Widmung des Kenotaphs an den „amicus karissimus“ nahe legt, mag man mit guten Gründen bezweifeln. Das Verhältnis dürfte zumindest ambivalent gewesen sein. Winckelmann scheint d’Hancarville durchaus als halbseidenen Charakter betrachtet zu haben. Zwar berichtet er einmal euphorisch von einem gemeinsamen Ausflug auf den Vesuv und nannte 36 d’Hancarville zumindest „einen Avantürier von großen Talenten“. Zugleich aber warnte er etwa den Baron von Stosch brieflich, er solle ihm genau auf die Finger schauen, wenn er ihn seine Gemmen studieren ließe – sonst verlören sich diese all37 zu leicht in die Taschen des vermeintlichen Barons. Dass d’Hancarvilles Selbstbegräbnis in Bezug auf das im früheren Band errichtete Kenotaph für Winckelmann konzipiert ist, steht außer Zweifel. Die Parallelen in Grammatik und Vokabular der beiden Grabinschriften sind deutlich: Wenn d’Hancarville sich nun selbst in den „Orco Peregrino“ schickt, um das alte Ich zu vergessen, dann ist dieses an den selben Ort verbannt, an dem schon Winckelmann weilt. Allein, nicht mehr sehnsüchtige Memoria, sondern die Aufforderung zum Vergessen ist nun gegen dieses „fremde Land“ gerichtet. Sich von der eigenen wissenschaftlichen Vergangenheit loszusagen bedeutet damit zugleich den Bruch mit der Kunst- und Geschichtstheorie des Deutschen. Neu anfangen ist eben immer eine „Usurpation und Selbstermächtigung“. Wenn die Erzählung vom Anfang zudem wie hier (so die These) als „Gegengeschichte“ erzählt wird, scheint sie tatsächlich 38 eine „Methode der Emanzipation“ zu sein.
35 Diesen Einfluss betont d’Hancarville im ersten Band der Antiquités auch ausdrücklich: „Nous renverrons souvent à [Winckelmann], parce que loin de pouvoir ajouter à ce qu’il dit, nous sommes persuadés, qu’à moins de le copier, nous ne pourrions pas dire aussi bien que lui.“ (AEGR I, Anm. 2, S. 52f.) Zur Frage nach einer Beteiligung Winckelmanns siehe die konträren Meinungen von Griener (1992, Kap. III) und Constantine (1993). 36 Sie haben zusammen „an dem feurigen Flusse oder der Lava, Tauben gebraten, und [… die] Abendmahlzeit nackend, wie die Cyclopen, gehalten.“ (Winckelmann 1952-1957, Bd. IV, S. 144) Das zweite Zitat: ebd., Bd. III, S. 242. 37 Winckelmanns Fazit hier ist: „Dieser du Han ist nichts von allen was er vorgiebt.“ (Winckelmann 1952-1957, Bd. II, S. 29) 38 Kemp 2004, S. 141 und Krochmalnik 1997, S. 81. Dramatisch formuliert, aber sachlich nicht unbegründet schlussfolgert Caecilie Weissert: „[D]’Hancarville hätte sich wohl oh-
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Von Winckelmanns Ideal der Schönheit griechischer Kunst und Kultur wendet sich d’Hancarville dabei freilich nicht ab. Vielmehr scheint es die Zeitkonzeption, in der Winckelmann die Antike verortet, mit der die Antiquités brechen. Nicht die „Vergangenheit“ der antiken Kunst ist was d’Hancarville im Blick hat, sondern ihre bis in die eigene Gegenwart andauernde Persistenz, jenseits eines biologischen Zyklus von Aufstieg, Blüte und unvermeidlichem Verfall, nach dem sich Winckelmanns Geschichte organisiert. D’Hancarville dagegen vertritt die These, dass die Urszene des Schöpferischen als „geheimer Einfluss“ in allen späteren Zeiten präsent bleibe: Die „Jahrhunderte berühren sich“, sie stehen untereinander in Kon39 takt. Die ursprünglichen Bildformen leben für ihn also fort: Die Spur der Anfänge in der Gegenwart nachzuzeichnen ist hier d’Hancarvilles Anliegen. Die Geschichte, die in den Antiquités damit erzählt wird, ist als Geschichte des Nachlebens zu beschreiben.
§3 E INE „ NEUE W ISSENSCHAFT “
VOM
N ACHLEBEN
Die bisherige, eher spärliche Forschung zu d’Hancarville hat die zentrale Bedeutung dieses Geschichtsmodells, das einen durchgängigen, „geheimen Einfluss“ der Ursprünge der Kunst bis in die Gegenwart postuliert, verschiedentlich betont und 40 ihn deswegen gar als „Vorfahre Aby Warburgs“ betitelt. Bereits Francis Haskell bemerkte in einem grundlegenden und bis heute einschlägigen Aufsatz zu d’Hancarville, dass dieser der griechischen Kunst gerade deswegen eine besondere Bedeutung zuweise, „weil sie immer noch die mythische Kraft“ der „primitiven Formen“ bewahre, also weil die Kunst durch die gesamte Geschichte hindurch 41 „survivals“ ihrer Ursprünge mit sich ziehe. Auch Pascal Griener identifizierte in seiner Monographie zum Buchprojekt der Antiquités den Satz vom „geheimen Einfluss“, der die Geschichte der Bildwerke verbindet, als „chiave fondamentale“ zu d’Hancarvilles Kunsttheorie, deren Kernsatz (so Ian Jenkins) sei, dass „even post-primitive art carried reminders of its ori-
ne Winckelmanns Tod niemals von dessen Methode befreien können und das Werk hätte einen deutlich anderen Charakter erhalten.“ (1999, S. 109) 39 „[C]es temps si éloignés de nous, se lient avec celui où nous vivons, c’est par la secrete influence qu’ils ont sur les Esprits, que les Siecles se touchent.“ (AEGR III, S. 32) 40 Ritter Santini 1999, S. 52. 41 „D’Hancarville is not just arguing that complex figurative sculpture develops naturally from primitive forms: he is claiming that such complex figurative sculptures are effective precisely because they still retain the mythic power of non-figurative forms.“ (Haskell 1984, S. 185)
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gins“.42 Die neuere Forschung hat sich dieser Meinung zu Recht angeschlossen. So resümiert etwa James Moore, d’Hancarvilles kunsthistorisches Anliegen sei es, „[to] trace the symbols of the past through successive artistic evolutions and [to] illustrate how ancient symbols could survive to the present“.43 Ihren Ausgangspunkt nimmt d’Hancarvilles Erzählung von den „geheimen Einflüssen“ bei Artefakten, die als gänzlich ungeformte Objekte zu verstehen sind. Aus verschiedenen Gründen, sei es aus Mitteilungsbedürfnis oder dem Wunsch, an ein bestimmtes Ereignis zu erinnern, stellten die Menschen einfache Erinnerungszeichen auf: unbehauene oder nur leicht geformte Steine, eine Stele oder eine Art Dreibock vielleicht, oder nur einen Baumstumpf.44 Der bemerkenswerte (und später noch ausführlich zu diskutierende) Ausdruck, mit dem d’Hancarville diese Dinge benennt, ist „signes“, Zeichen. Diese auch als „Andeutungen“ („indications“) bezeichneten „signes“ bildeten gleichermaßen bei allen Völkern, ob in China, Indien, Ägypten, Amerika oder Griechenland – mithin also auf allen Kontinenten – den Ursprung der Kunst, wenngleich auch das, was die verschiedenen Völker aus dieser gemeinsamen Grundlage entwickelten, sehr verschieden ist.45 Die Motivation, aus der heraus d’Hancarville den Menschen zum homo pictor werden lässt, ist damit offenbar. Indem er annimmt, dass die frühen Bilder zur Erinnerung an Götter oder vergöttlichte Helden der profanen Geschichte (die somit zur sakralen wird) errichtet wurden, scheint d’Hancarville einer der beliebtesten Varianten des aufgeklärten Mythenverständnisses, nämlich der euhemeristischen Deutungsschule, anzuhängen. Dieser Ansatz bedeutet, grob gesagt, „Mythen durch bloße geschichtliche Thatsachen zu erklären“.46 Die griechische Mythologie konnte dank dieser Perspektive wortwörtlich, also als nur leicht umgeschriebenes Dokument der tatsächlichen antiken Historie gelesen werden.47 Vor allem der Abbé Ba-
42 Griener 1992, S. 58; Jenkins 1996, S. 50. 43 Moore 2008, S. 150. 44 „[...] des Autels, des simples Trépieds, des Tombeaux posés quelquefois dans les Temples, souvent en plein air, suffirent dans ces premiers temps pour désigner les Dieux, & les Héros“ (AEGR III, S. 10). 45 AEGR III, S. 8. 46 Nork 1845, Bd. I, S. 22. 47 Diese äußerst typische Konsequenz eines euhemeristischen Geschichtsbegriffs stieß bei manchen modernen Kommentatoren auf Unverständnis: „[D]’Hancarville simply accepted the mythological imagery of ancient Greece as literal history, and where Winckelmann had preferred to make separate categories of myth and history, he made no such distinction.“ (Jenkins 1996 [Gems], S. 97) Letzteres ist wenig verwunderlich, ist Winckelmanns
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nier und (dessen Positionen aufgreifend und synthetisierend) Thomas Blackwell sind hier als die einschlägigen und weit verbreiteten Referenzautoren zu nennen.48 Die kunsthistorische Konsequenz dieses Denkens hat unüberbietbar treffend Werner Busch beschrieben, und sie scheint sich direkt auf den Bildbegriff der Antiquités übertragen zu lassen: Der Euhemerismus führt die Mythen „auf ihre bloße direkte und erschöpfende Zeichenfunktion zurück. Das entspricht ganz frühaufklärerischem Allegorieverständnis: Das Bild ist allein Zeichen für eine bestimmte Sache oder ein bestimmtes Ereignis“.49 Es ging den frühen Menschen, nach d’Hancarvilles Interpretation, also nicht darum, durch Bilder etwas mimetisch darzustellen, sondern darum, ein Erinnerungszeichen zu errichten, das nicht auf die äußere Gestalt der in ihm verehrten Götter oder Helden rekurrierte, sondern auf bestimmte Handlungen oder Ereignisse. Der Ursprung der Kunst ist anikonisch, im breitesten Sinne definierbar als Absenz von Mimesis.50 Um die Identifizierbarkeit der Bildzeichen (denn dass die Götter keine Ähnlichkeit zu den aufgestellten, zunächst ungeformten heiligen Steinen und Stämmen hatten, war den Menschen immer klar gewesen) und die Präzision der durch sie vermittelten Theologumena zu steigern, wandten sich die Menschen laut d’Hancarville mit der Zeit einer zunehmend anthropomorphen Darstellung ihrer Götter zu. Angefangen mit gelängten Steinen, die später mit einem Kopf versehen wurden und so den Darstellungstypus der Herme bildeten, entstand daraus – um die Geschichte ein wenig im Zeitraffer zu erzählen – die figürliche Plastik, für die natürlich Griechenland vor allen anderen Nationen bekannt war.51 Zunehmend trat die mimetische Nachahmung der menschlichen Figur an die Stelle der ehemals ungegenständlichen Bildkörper, zunehmend wurde das „signe“ durch die „figure“ verdrängt.52
Denken doch eindeutig einem anderen, kaum weniger populären Modell der Mythenerklärung, nämlich ihrer allegorischen Interpretation, zuzuordnen, vgl. Jamme 1998, S. 164. 48 Banier 1715; Blackwell 1757. Zum Euhemerismus im 18. Jh. siehe nur: Manuel 1959, Kap. III; zu Blackwell: Gisi 2007, S. 195ff. 49 Busch 1993, S. 196. 50 Milette Gaifman definiert Anikonismus als „abstention from mimesis“, wobei sie auch diese nicht-darstellenden Bildwerke (bereits diese Benennung zeigt die paradoxe Doppelbödigkeit des Begriffs „aniconic images“ an) in einem „Spektrum von Ikonizität“ verortet (2012, S. 1; 13). Gaifmans Analyse ist damit wesentlich differenzierter als die weitgehende Zurückweisung des Begriffs des Anikonischen bei Freedberg 1991, Kap. IV. 51 AEGR III, S. 13. 52 „En effet cette méthode accoutuma insensiblement ceux qui faisoient les images des Dieux, à les représenter par la figure, qu’ils substituerent à l’indication, & par les attributes qui prirent peu à peu la place des signes.“ (AEGR III, S. 19)
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Hiermit scheint zunächst ein fundamentaler Bruch postuliert zu sein: an Stelle eines Verweiszeichens rückt nun die „natürliche“ Mimesis, die Darstellung des Dinges selbst: Auf ein Zeitalter der Zeichen folgt das Zeitalter der Bilder. Doch trotz dieser darstellerischen Entwicklung hin zu „natürlichen“ Zeichen und zu einer narrativen Ausformulierung der mythischen Stoffe, die eigentlich an Stelle der „Andeutungen“ (indications) der Frühzeit traten, haben letztere doch im wahrsten Sinne ein „Nachleben“ erfahren. Die Antiquités beschreiben, trotz ihrer Rekonstruktion einer zunehmenden mimetischen Perfektionierung der Skulptur, keine Problemgeschichte, die „Naturnachahmung“ zum Movens der Kunstentwicklung erklärt, wie dies etwa bei Vasari der Fall ist.53 Vielmehr beobachtet d’Hancarville in den figürlichen Bildern immer wieder „un reste de l’ancienne maniere de représenter“.54 Den figürlichen Bildern wurden, um es kurz zu sagen, die „signes“, mit denen ehemals derselbe Gegenstand, bzw. derselbe Gott bezeichnet wurde, als Attribute beigegeben – eine Praxis, die bei allen Völkern üblich sein soll.55 Um etwa an die Dioskuren (die d’Hancarville ganz euhemeristisch als historische Gestalten, die später vergöttlicht wurden, ansieht56) und ihren ewigen brüderlichen Zusammenhalt zu erinnern, habe man zunächst ein Zeichen ersonnen, das Castor und Pollux als zwei Balken repräsentiert, die von zwei Querstreben zusammengehalten werden. Dieses Zeichen der zwei Balken in seiner ursprünglichen Form ist noch heute als Symbol für das Tierkreiszeichen der Zwillinge bekannt.57 Unser Autor verlässt sich hier vor allem auf eine Textstelle bei Plutarch; die tatsächlich mit dieser Beschreibung korrespondierenden spartanischen Reliefs scheinen ihm nicht bekannt gewesen zu sein.58 D’Hancarville erweist sich hier als unsystematischer Schreiber. So interessiert es ihn offenkundig nicht, dass die Übernahme dieses historisch überlieferten Fallbeispiels seinem Konzept der anikonischen „signes“
53 Zur Interpretation der Viten Vasaris als „Problemgeschichte“: Belting 1983. 54 AEGR III, S. 36. 55 „Cette maniere de conserver l’idée des Signes primitifs, dans les Statues, qui les remplacerent, paroit avoir été assez uniforme les anciens (sic); rien n’étoit en effet plus naturel, que de chercher à rappeller dans les figures, substituées aux Signes, ces anciens objets de la veneration publique. (AEGR IV, S. 7) 56 Vgl. AEGR IV, S. 5. 57 „[S]igne dont nous nous servons encore, pour répresenter la constellation des Jumeaux.“ (AEGR IV, S. 6) 58 Plutarch beginnt mit diesem Beispiel sein Traktat „Über die brüderliche Liebe“ (Plutarch 1972, Abs. 478A, S. 221). Zu den archäologischen Zeugnissen vgl. Gaifman 2012, S. 289-303.
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eigentlich zuwider läuft, ist die Paarung der beiden Balken doch sehr wohl eine mimetische Bezugnahme auf die brüderliche Zweiheit der Dioskuren.59 Interessanter als solche Logikmängel oder die im Tierkreiszeichen sichtbar werdende direkte und ungebrochene Überlieferung sind aber die indirekten und umgeformten „survivals“ desselben Bildes. Denn das Zeichen der verbundenen Balken sei so wirkungsvoll gewesen, dass man es auch in den „besseren Zeiten“ der Kunst, also als auch die Dioskuren bereits figürlich dargestellt wurden, bewahrt hat. Nun wurde der Balken, der ehemals den unverbrüchlichen Zusammenhalt der Brüder symbolisierte, substituiert durch den Arm des Pollux, den dieser in der antiken Ikonographie um Castors Schulter gelegt hat (Abb. 16). Nämlichen Überlieferungsmechanismus sieht d’Hancarville für zahllose andere Ikonographien wirksam. Das Bild der drei Grazien etwa führt er zurück auf einen Kult um drei weiße Steine, der in Orchomenos gepflegt wurde.60 Wie bereits das „survival“ des Tierkreiszeichens anzeigen mochte, betrachtet d’Hancarville die Überlieferungskette der ältesten Zeichen auch in der nachantiken Zeit als ungebrochen. Trotz des endgültigen Untergangs der Religion der Antike sind ihre signes doch weiterhin in Gebrauch; als direkten Erben der frühesten Bildformen betrachtet er etwa gar das christliche Kreuz.61 Und auch die Heiligen, die man etwa an gotischen Kirchenportalen sieht, sind, betrachtet man ihre Attribute genauer, „die Götter der Alten, dargestellt nach Art der ältesten Zeiten, und damit häufig sehr interessante Kopien der ersten Formen, die die Kunst ihnen gegeben hat“.62 Dem historischen Tradierungsprozess des Fortlebens entspricht in den Antiquités zudem eine räumliche Diffusion der Bilder in die Länder der Welt: Geographie
59 Bezogen auf die Vorlage d’Hancarvilles, Plutarch, beschreibt Fritz Graf den diesem Zeichen zu Grunde liegenden Bildbegriff zutreffend als „allegorische Bilddeutung“ (2005, S. 260). 60 AEGR III, S. 7. 61 Die „maniere de représenter les Dieux qui commenca dès les temps qui antérieurs à la découverte de la Sculpture subsista toujours avec elle, & ne finit pas, même par l’extinction de la Religion des Grecs & des Romains, puisque’elle existe encore chez nous en mille facons différentes, qu’il seroit trop long de rapporter ici“ (AEGR III, S. 64). „[C]es sortes de colonnes destinées à signifier les Dieux [...] comme à présent même on trouve en quelques pays des Croix de bois ou de pierre que la Dévotion à fait ériger sur les chemins publiques, & qui sont effectivement des Signes mis à la place de la Personne ou de la Chose qu’ils représentent.“ (Ebd., S. 62) 62 „[L]es Dieux des anciens représentés à la maniere des temps les plus reculés, & les copies souvent très intéressantes des premieres formes que l’Art put leur donner.“ (AEGR III, S. 147; ähnlich: ebd., S. 123 und passim).
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und Geschichte werden als kongruent begriffen. Ausgehend von den mythischen Pelasgern vertritt d’Hancarville die These einer monogenetischen Verbreitung der ursprünglichen Sprachen, Mythen und Bildformen in alle Welt. Besonders ausführlich beschreibt er dabei die Einflussnahme der griechischen Kultur auf Italien, wobei ihm vor allem die Zurückweisung der These einer autogenen etruskischen Kultur am Herzen liegt.63 Auch wenn die Antiquités bezüglich ähnlicher Diffusionsprozesse auf die außereuropäischen Kontinente weitgehend schweigen, dürfen hier ähnliche Verbreitungsmechanismen angenommen werden. Griechenland, als Ausgangspunkt einer Migrationsbewegung und der damit verbundenen kulturellen Diffusion, habe für die Antike jedenfalls eine ähnliche Rolle eingenommen, wie in jüngerer Zeit Spanien für die Neue Welt.64 Dem vierten Band der Antiquités, in dem die maßgeblichen Passagen zum eben umrissenen Diffusionsprozess zu finden sind, ist, wie schon erwähnt, wiederum ein Dedikationsstich vorangestellt, der an einen großen Antiquar erinnert, nämlich den Comte de Caylus. In diesem Falle ist diese Referenz nun sicher nicht als Absetzung zu verstehen. Bereits der Titel des Werks d’Hancarvilles, Antiquités étrusques, grecques et romaines, ist ein deutlich erkennbares Echo auf den Recueil d’Antiquités égyptiennes, etrusques, grecques, romaines et gauloises des großen Amateurs. Caylus ist zudem der prominenteste Vertreter einer Kunstgeschichte, die einen geographischen Diffusionsprozess ausgehend von einem klar benennbaren Volk entfaltet. Anders als Winckelmann, der behauptete, ein jedes Volk habe seine Kunst bei sich gefunden, nimmt dieser einen ägyptischen Ursprung aller Kunst an. Caylus Standpunkt gleicht damit Positionen wie denen Goguets, die eine „chaine non interrompue“ des ägyptischen Wissens, die bis in die Jetztzeit führt, annehmen.65 Hier schwingt sicher noch manches hermetische Gedankengut mit. D’Hancarville, der statt arkaner Weisheit, wie nun schon mehrfach betont, arbiträre und intentionale Zeichen an den Anfang setzte, stand dem zwar deutlich fern, adaptierte aber die entsprechenden Narrative. Dass die Kunstproduktion ostasiatischer, keltischer oder mittelamerikanischer Völker letztlich nur sehr geringe stilistische Gemeinsamkeiten mit der behaupteten griechischen Wurzel teilt, aus der sie entsprang, war d’Hancarville natürlich völlig ersichtlich. Umso stärker betont er gerade im Falle dieser räumlichen „survivals“ die Rolle der „signes“: Diese erweisen sich einmal mehr als das erhaltene und erhaltende Prinzip. Besonders deutlich wird dies bei seiner Analyse der Artefakte des
63 AEGR IV, S. 96. Ausführlich zur Rückführung der etruskischen Architekturgeschichte auf griechische Vorbilder: ebd., S. 79. 64 „La Grèce faisoit dans ces temps là, ce que fit l’Espagne après la découverte de l’Amérique, elle s’épuisoit d’hommes pour en fournier à l’Italie.“ (AEGR IV, S. 84) 65 Zur Ägyptenrezeption der genannten Autoren umfassend: Syndram 1990, S. 29-57.
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slawischen Stammes der Abotriten.66 D’Hancarville bezieht sich dabei auf einen spektakulären Antikenfund in Mecklenburg, den man fälschlicherweise für die Überreste der legendären Siedlung Rethra (deren Lage weiterhin unsicher ist) hielt. Unser Autor ist hier leider einem groben Irrtum aufgesessen, waren die sogenannten „Prillwitzer Idole“ doch nichts weiter als eine dreiste Antikenfälschung (Abb. 17).67 Abb. 16 (links): Dioskuren, in: AEGR IV, Taf. 9. Abb. 17 (rechts): Prillwitzer Idole, in: AEGR III, Taf. 23.
Gerade diese modernen Objekte, pasticcioartige Kombinationen aus allen nur denkbaren Stilen und Ikonographien, die die Fälscher aus der antiquarischen Handbuchliteratur zusammengeklaubt hatten, waren für d’Hancarville aber natürlich geeignetere Belege für seine Thesen, als die wahre Geschichte ihm je hätte liefern können. Angesichts dieser Versatzstücke der Kunstgeschichte fällt es leicht, dafür zu argu-
66 Siehe AEGR III, S. 110-130. 67 Zu diesen Fälschungen der Brüder Jacob und Gideon Sponholz: Szczesiak 2006; Niedermeier 2010. Zur Ehrenrettung d’Hancarvilles muss hier gesagt sein, dass die Fälschungen immerhin so geschickt gemacht waren, dass sich die Diskussion über die Echtheit der Funde noch weit bis ins 19. Jahrhundert erstrecken konnte. Unser Autor ist auch bei weitem nicht der einzige, der auf diese und ähnliche Objekte hereingefallen ist. Ob Montfaucon oder Caylus – bei praktisch allen bedeutenden Autoren des 18. Jahrhunderts finden sich mehr oder weniger viele derartige Fälle. Vgl. Bruer 2010.
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mentieren, hier die „vandalischen“ Äquivalente zu Venus oder einem Triton vor Augen zu haben. In diesen mecklenburgischen Funden könne man jedenfalls „die ersten Überreste der griechischen Skulptur der frühesten Zeiten wiederfinden“.68 D’Hancarville konstruiert dabei eine Wanderbewegung von Griechenland über Afrika, wo die Vandalen, die Vorfahren der mecklenburgischen Völker, die griechischen Bildwelten aufgriffen und von dort in den Norden verbrachten. Die abotritischen Werke seien mehr oder weniger exakte Kopien ihrer prähistorischen Vorbilder. Im Vergleich zu den griechischen Göttern habe sich meist wenig mehr als der Name geändert.69 Als besonders charakteristischer Unterschied wird aber die Vorherrschaft des „signe“ betont, die bei den Germanen besonders häufig zu Hybriddarstellungen geführt hätte. So ist die vermeintliche „Venus der Vandalen“ etwa mit zahlreichen Attributen ausgestattet, zum Beispiel einem Granatapfel in den Händen oder einer abstrahierten Taube auf dem Kopf, die sämtlich als Symbole für ihr Geschlecht interpretiert werden.70 Diese Neuformulierungen und Umdeutungen alter Bildthemen sind für d’Hancarville jedoch kein Zeichen künstlerischer Kreativität und Schaffenskraft. Deutlich wird dies gerade an den, verglichen mit der griechischen Kunst, sehr defizitären mecklenburgerischen Bildwerken. Die Triebe, die hinter den „survivals“ wirken, sind gänzlich andere als geniale künstlerische Anlagen. Die Überlieferung der alten „signes“ geschieht für d’Hancarville aus einer religiösen Motivation heraus. Die Heiligkeit der ersten Bildzeichen trieb die Menschen dazu, sie in quasi gottesdienstlicher Andacht kopierend zu tradieren. Dass paradoxerweise trotz dieser vornehmlich konservatorischen Absicht hinter dem Kopieren der überlieferten Formen dadurch gänzlich neue Bildthemen und hybride Formen entstehen, ist in d’Hancarvilles
68 „[O]n peut retrouver les premiers vestiges de la Sculpture des plus anciens temps de la Grèce. [...] leurs ouvrages ne sont que des copies plus ou moins exactes, des modèles qu’ils suivirent d’abord, moins ils y ont ajouté, plus ils les ont servilement imités.“ (AEGR III. S. 113). „Ces figures Vandales, où la forme naturelle des choses est manifestement altérée par le signe, ayant été déterrées & faites en Sardaigne, au moins pour la plupart, puisqu’elles sont en terre cuite, ne peuvent être plus anciennes que le cinquième siècle de notre Ere.“ (Ebd., S. 121) 69 „Si […] le lecteur se donne la peine de comparer les titres de ces Dieux barbares, avec ceux que les Grecs donnoient aux leurs, il verra, je crois avec étonnement, qu’il n'y a guere que les noms de changés; mais que le fond des idées sur la nature & l’emploi des Divinités étant le mêmes, les coutumes relatives à leur culte étant semblables, la maniere de procédér dans leurs représentations étant pareille.“ (AEGR III, S. 113) 70 AEGR III, S. 120.
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Augen die Schuld eines bestimmten menschlichen Vermögens. Ursache dieser Um71 deutungen ist die von religiösem Eifer befeuerte Imagination des Menschen. D’Hancarville bedient hier einen klassischen Topos, der Imagination und Aberglaube in unmittelbaren Zusammenhang setzt.72 Durch ihr Einbildungsvermögen hätten die Menschen begonnen, die rein als Zeichen konzipierten Erinnerungsmale mit dem Bezeichneten selbst zu verwechseln. Die „signes“ wurden also zu Fetischen. Imagination steht hier der Kunst entgegen, die sich vielmehr durch ein möglichst naturgetreues Nachahmen auszeichnet. Resultat dieser Überlieferungswege ist eine Geschichte, die in sich keine Wahrheit, bzw. keine Erinnerung an den ursprünglichen Sinn der tradierten Zeichen mehr birgt: „Die Wahrheit der Geschichte wurde durch dieselben Mittel verändert, 73 deren man sich auch zur Erhaltung der Erinnerung an Ereignisse bedient.“ Die Geschichtserzählung vom „Nachleben“ operiert also zumeist mit einem Vokabular, das ein nicht-intentionales, geradezu unbewusstes Tradieren von Autorität beanspruchenden Formen nahe legt. Dieser Gedanke ähnelt dem, was auch in späteren Jahrhunderten als Kennzeichen von „Nachleben“ oder „Nachträglichkeit“ beschrieben werden sollte. Die Überlieferung ist (um mit Warburg zu sprechen) ein unwillkürlicher „Leidschatz“, der den Menschen eigen ist. D’Hancarville, als aufgeklärter Interpret dieser „Wanderstraßen“ der Bilder, scheint damit jenseits dieser Geschichte der „survivals“ zu stehen. Sein eigenes Vorgehen als Historiker, der Wege und Sinnzusammenhänge dieser Überlieferungsschichten entziffert, erscheint hier zunächst sehr nahe an dem, was auch Winckelmann vertritt: Er, d’Hancarville, positioniert sich sozusagen nach der Geschichte, nach jenem unwillkürlichen Zwang zur Überlieferung und präsentiert sich, so scheint es, historistisch zurückschauend als ihr Interpret. Doch die Position, die sich d’Hancarville in dieser Geschichte zuweist – so wird zu zeigen sein – ist eine andere. Statt Geschichte zu dokumentieren (wie es etwa die Mauriner taten) unternimmt er es, sich in das Geschehen selbst ein- und damit nicht weniger als den Verlauf der Geschichte umzuschreiben.
§4 D IE S OUVERÄNITÄT
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Einen solchen Akt höchster Willkür, jenseits aller determinierten Verläufe, hat d’Hancarville nun bereits mit seinem Selbstbegräbnis und der Lossagung von sei-
71 Vgl. AEGR III, S. 12. 72 Vgl. etwa Vila 2004. Dieser Konnex z.B. in: Hume 1985 [Superstition]. 73 „[L]a vérité de l’histoire fut altérée par les moyens mêmes dont on se servit pour conserver la mémoire des faits.“ (AEGR III, S. 9)
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nen bisherigen Thesen und Gedanken vollzogen: Selbst für die eigene Biographie ist somit ohne weiteres ein Neuanfang erklärbar. Letztlich scheint dies ein äußerst passendes Vorgehen für einen Abenteurer wie d’Hancarville es war, dessen Leben eine einzige Reihe wechselhafter Episoden unter ebenso wechselhaften Pseudonymen war. Dieser Autor hatte sich schon mehrfach neu geboren. Seine Herkunft als Sohn eines Tuchhändlers namens Hugues aus Nancy lag weit hinter ihm.74 Die Biographie dieses Hazadeurs führt von Portugal bis Mecklenburg quer durch Europa und zeigt einen Menschen, der sich in der Tat „unstät, nirgends so recht zu Hause und mit Titeln und Namen handelnd, die ihm nicht eigen waren“75, seinen Weg bahnte. Unter seinem berühmtesten Pseudonym „Ancarville“ oder „Dancarville“ taucht unser Held zum ersten Mal beim Herzog von Mecklenburg auf, von wo aus er aber sehr rasch eingekerkert in der Zitadelle von Spandau landete.76 Von dort soll ihn der Herzog von Württemberg freigekauft haben, für den d’Hancarville in der Folge nicht weniger als einen Plan zur Eroberung Korsikas entwarf, wofür er als Gegenleistung die Hand einer brasilianischen Prinzessin einforderte.77 Wie er von hier nach Neapel kam, ist nicht bekannt. Dort angekommen gewann er jedenfalls die Gunst so wichtiger Antiquare wie eben Winckelmann und potenter Gönner wie William Hamilton, in dessen Diensten er die Antiquités verfasste. Deren ebenfalls äußerst wendungsreiche Editionsgeschichte (d’Hancarville erwies sich einmal mehr nicht als unbedingt zuverlässig) ist gut aufgearbeitet und muss hier nicht noch einmal rekapituliert werden.78 Gesagt sei nur, dass d’Hancarville auch Neapel unfreiwillig verlassen musste, und eine Flucht, wohl vor seinen Schuldnern, vielleicht auch vor seiner schwangeren (aber wohl nicht angetrauten) Frau antrat,
74 Die Eintragung im Taufregister, die d’Hancarvilles Herkunft und Alter endgültig geklärt hat, wurde erst kürzlich von einem Lorrainer Lokalhistoriker aufgefunden: Marsal 2008. Dass dieses Datum mit den Berichten aus einigen (im Folgenden zitierten) posthumen biographischen Notizen, v.a. Michaud 1839, übereinstimmt, erhöht deren Glaubwürdigkeit. 75 Hesperus 1829, S. 707. 76 Ebd. Lessing berichtet: „Er hatte sich für einen Grafen von Ducourt ausgegeben, und sich von dem Fr. Gesandten als einen solchen bey Hofe vorstellen lassen; ward aber von Frankfurt aus, Schulden oder falscher Wechsel wegen, verfolgt, ertappt und hingesetzt. Und nun fand es sich, dass er eines Kaufmanns Sohn aus Marseille, wo mir recht ist, sey.“ (1839, S. 232) 77 Anon. 1762, S. 257. Dazu nochmal Lessing: „Als er in der Hausvogtey saß ließ er seine Politique calculée drucken, die ich damals gesehen und gelesen habe […]. Der Prinz von Würtemberg befreite ihn, bezahlte für ihn und nahm ihn zu sich.“ (1839, S. 232) 78 Vgl. Griener 1992.
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die in Florenz im Gefängnis endete – ein Ereignis, das die Zeile „Parthenope vixit“ in der Grabinschrift seines papiernen Kenotaphs kommentiert (wobei Florenz das „Grab“, indem er nun gelandet ist, darstellt).79 Aus der Zeit in Italien stammt auch eines der wenigen Porträts d’Hancarvilles, angefertigt von Dominique VivantDenon (Abb. 18). Abb. 18: Dominique Vivant-Denon, Porträt d’Hancarvilles, in: L’oeuvre originale de Vivant-Denon, Bd. 1, 1873.
Sein Lebensweg führte unseren Helden anschließend vorübergehend wieder zurück in die französische Heimat. In Paris verkehrte er 1786 unter anderem mit dem späteren amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson – und ist dank dieser Bekanntschaft auch filmisch in Jefferson in Paris (1995) verewigt worden.80 Im Zuge der Revolution floh er dann nach England, wo er sich der Protektion von eminenten Antiquaren wie dem schon erwähnten Charles Townley und Richard Payne Knight versichern konnte. In späteren Jahren gelangte er schließlich nach Venedig und Padua, wo er 1805 verstarb. Vor diesem Hintergrund betrachtet ist es nur konsequent, dass unser Autor das Winckelmann’sche Narrativ einer organischen, dem Lebensrhythmus folgenden Kunstgeschichte verwarf. Wenn Geschichte tatsächlich, wie Vasari meinte, ein
79 Für die Flucht aus Neapel werden mehrere Gründe genannt, etwa dass er sich „mit dem Marchese Tanucci überwarf und dessen Rache fürchtete“ (Hesperus 1829, S. 707). Von der „sogenannte[n] Frau“, die er schwanger zurückgelassen hat, berichtet Winckelmann 1952-1957, Bd. II, S. 30f. 80 Jefferson 1829, Bd. I, S. 46 u. 55.
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„Spiegel des menschlichen Lebens“81 sei, so muss die Geschichte, die ein d’Hancarville schreibt, eine andere als die des Aretiners oder Winckelmanns sein. Aufstieg, Blüte und Verfall setzen zumindest eine Geburt voraus – und genau diesem determinierenden Anfang verweigert sich der selbsternannte Baron d’Hancarville ostentativ. Umso überraschender ist, was er in der Einleitung des dritten Bands der Antiquités, also nach erfolgtem Begräbnis des „alten Ichs“, als die zentrale Maxime seiner „neuen Wissenschaft“ beschreibt. Es seien die Anfänge, denen nun d’Hancarvilles vornehmliche Aufmerksamkeit gilt. In ihnen wurzelt die Kette der „geheimen Einflüsse“, die sich von der ersten Stunde bis in die Gegenwart ziehen. Die Ursprünge der Künste seien daher – hier argumentiert er ganz im Sinne der herrschenden Meinung seiner Zeit – der zentrale Gegenstand des historischen Interesses, denn aus ihnen bedinge und erkläre sich alles Spätere, das nur die Wirkung dieser ersten Ursache ist.82 Das mag auf den ersten Blick wenig verwundern, scheint ein bisweilen fetischhaft scheinender Glaube an den Anfang, sollte er auch verdrängt worden sein, doch ein wesentliches Charakteristikum von Konzepten wie „Nachträglichkeit“.83 Doch wird hiermit gerade jene Unausweichlichkeit des einmal Begonnen postuliert, die d’Hancarville für den eigenen Lebensweg mit seinem Selbstbegräbnis ausdrücklich aufgehoben hat. Dieser Widerspruch in der Einleitung des dritten Bandes der Antiquités, diese Spannung zwischen determinierenden Ursprüngen und willkürlicher Neusetzung selbiger ist so offensichtlich, dass er nur als eklatante Ironie gelesen werden kann. Solche Untertöne mögen auch den Grund dafür anzeigen, weshalb mancher Wissenschaftshistoriker auf d’Hancarville nicht gut zu sprechen ist. Keinem geringeren als Arnaldo Momigliano trieb die Unredlichkeit und Silberzüngigkeit, die er unserem Autor unterstellte, förmlich die Zornesröte ins Gesicht. Der „Missbrauch“ der Quellen, seine phantastischen Kunstgeschichten, mit denen er „viele, die es besser hätten wissen müssen täuschte“, diskreditierte d’Hancarville für Momigliano rest-
81 Vasari 2004, S. 77. 82 „[C]e sont ces commencemens qui me semblent si intéressans, l’influence qu’ils eurent sur les progress que firent les Arts, c’est le germe enfin des grandes choses qu’ils produisirent.“ (AEGR III, unpag. Avant-Propos) 83 Catherine Labio attestiert diesem Denkmodell ein „almost fetishistic clinging to the idea that there is such a thing as ‚the‘ (singular) origin“ (2004, S. 2).
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los. Damit stand er freilich nicht alleine da. Auch Adolf Michaelis nannte ihn den „professor of the fantastic“.85 Aus d’Hancarvilles wissenschaftlichen Irrtümern allein kann dieses Urteil dabei nicht begründet werden. Auch die fachlichen Erkenntnisse Winckelmanns waren etwa ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen seiner Schriften hoffnungslos überholt – und doch blieb sein Name in höchsten Ehren, sein methodisches Erbe ein beständiger Referenzpunkt.86 Der Grund dafür scheint mir nicht zuletzt darin zu liegen, dass man Winckelmann zumindest nicht das Ethos wissenschaftlicher Wahrheitssuche abstreiten kann, d’Hancarville dagegen diesen Anspruch an seine Ausführungen ironisch und – im Sinne einer das Erbe Winckelmanns attackierenden Gegengeschichte – polemisch unterläuft. Letzte Zweifel an dieser Lesart werden aufgehoben, wenn d’Hancarville im dritten Band der Antiquités, nur wenige Seiten nachdem die Frage nach dem Ursprung zum wichtigsten Thema überhaupt erklärt wurde, schreibt, man könne überhaupt nicht sagen, ob die Geschichte der Kunst ihren Anfang in gemalten Bildern oder bildhaften Gesten gehabt habe.87 Die gerade erst zum entscheidenden Problem stilisierte Frage nach den Anfängen wird hier lakonisch beiseite geräumt. Explizit konstatiert er dies wenige Zeilen zuvor, wenn er seine Erzählung bezeichnet als die „Histoire des causes inconnues“.88 Die entscheidende Bedeutung der Natalität ist in seiner Neuerfindung der eigenen Identität und Wissenschaft aufgehoben. Von hier scheint es im biographischen Felde nur ein kleiner Schritt zu einem nur unwesentlich extravaganteren Charakter wie dem Grafen St. Germain, der mit der Selbstinszenierung als Unsterblicher am anderen Ende der Geschichte ansetze und dem Tod
84 „Unable to reflect on principles they speculated on details. [...] D’Hancarville fascinated many of his betters by his misuse of vases.“ (Momigliano 1966, S. 24) 85 Michaelis 1882, S. 119. Entsprechende Urteile setzen sich übrigens auch in der modernen Forschung fort, vgl. etwa die von J. Scott verbreiteten Klischees in Fortführung Momiglianos, garniert mit platten Psychologismen. So sei nicht jedes Volk „temperamentally disposed to make the effort necessary for the detailed scholarship in which the Germans excelled“ (2003, S. 132, 169-71). 86 Dazu: Hofter 2008. Und selbst jene Stimmen, die Winckelmanns historiographiegeschichtliche Bedeutung schmälern wollen, behaupten nicht, dass er etwas falsch gemacht habe, sondern nur, dass er bei weitem nicht der erste gewesen sei, der alles richtig gemacht hat. So z.B. Bickendorf 1998. 87 „De même qu’il est probable que les Hommes commencerent à s’exprimer par le moyen des Gestes, il l’est aussi, qu’ils commencerent à écrire, & à représenter par le moyen des Signes.“ (AEGR III, S. 7) 88 AEGR III, S. 6.
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seine biographische Bedeutung absprach. Auf kunsthistorischer Ebene ist das Äquivalent zu einer solchen Negation des Todes – das Nachleben. Folgt man dieser Deutung einer eklatanten – und bewussten – Widersprüchlichkeit der Geschichtsbilder, die d’Hancarville beschreibt, so wäre hiermit geradezu idealtypisch ein Beispiel für jenen Wesenszug gegeben, aus dem sich nach Hayden White eine grundsätzlich ironische Ausrichtung der Geschichtsschreibung der Aufklärung ergibt, nämlich der unüberwindbaren Spannung zwischen kausaler Analyse und normativem Zweck.89 Wie bereits Friedrich Meinecke bemerkte „geschah es, dass man die Kausalitäten und die Werte innerlich nicht recht zusammenbringen konnte [...] Kausalitäten und Werte klafften in der Hauptsache auseinander“.90 D’Hancarville erklärt alles historisch Gewordene zu einer determinierten Wirklichkeit. Alle Ereignisse, bzw. im Falle der Kunstgeschichte alle Bildwerke der Geschichte sind Wirkungen, die sich aus einer Ursache ableiten lassen. Doch diese Ursache ist unbestimmbar, nein mehr noch, sie ist beliebig. Eine solche Begründung des historischen Feldes definiert die Kunstgeschichte damit in der Tat als „in ihrem Wesen irrationale Wirklichkeit“.91 Diese Spannung war genau die Herausforderung, vor die sich Winckelmann gestellt sah. Seine Lösung ist jedoch nicht der Fall in die Ironie, sondern die Abkehr von einem der beiden unvereinbaren Pole. Das (normative) Nachahmungspostulat der frühen Schriften wird in der Geschichte zu Gunsten der historisierenden Darstellung der antiken Kunst aufgegeben. In aller Deutlichkeit konstatiert dies Peter Geimer: „Das berühmte Nachahmungspostulat, programmatisch formuliert in den Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke (1756), ist für die Geschichte der Kunst des Alterthums bedeutungslos“.92 Die Emulation der Vorbilder historischer Größe betrachtet Winckelmann nun als vergebens; nie zum Höchsten wird eine solche Nachahmungsästhetik führen, sondern – immer dem Naturgesetz und nicht dem Willen des Künstlers unterworfen – wieder zum primitiven Ausgangspunkt der Kunst. „Der Verfall der Kunst musste notwendig durch Vergleichung mit den Werken der höchsten und schönsten Zeit merklich werden, und es ist zu glauben, dass einige Künstler gesucht haben, zu der großen Manier ihrer Vorfah-
89 „Wer sich der Geschichte als einer Sphäre von Ursache-Wirkung-Beziehungen nähert, der wird durch die Logik der sprachlichen Operationen selbst zu einem ironischen Verständnis der Dinge genötigt.“ (White 1994, S. 93) Ähnlich: Rohbeck 2004. Erwähnt sei aber, dass diese Interpretation der Aufklärungshistoriographie durch White nicht wenig Kritik hervorgerufen hat. Hierzu: Bahners 1997. 90 Meinecke 1953, S. 21. 91 White 1994, S. 92. 92 Geimer 2002, S. 22.
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ren zurückzukehren. Auf diesem Wege kann es geschehen sein, so wie die Dinge in der Welt vielmals im Zirkel gehen und dahin zurückkehren, wo sie angefangen haben, dass die Künstler sich bemühten, den älteren Stil nachzuahmen, welcher durch die wenig ausschweifenden Umrisse der ägyptischen Arbeiten nahekommt.“93 Winckelmann ist hier deutlich entschiedener als etwa Vasari, der sich trotz seines Postulats eines organischen Auf- und Verblühens der Kunst zumindest für die Zukunft erhofft, dass ein Kern des Schönen „am Leben zu erhalten“ ist, also nie mehr ganz sterben muss.94 Die gefährliche Nähe zur Ironie dürfte Winckelmann im Nacken gespürt haben, wenn er in den Gedanken über die Nachahmung sein berühmtes Paradox der Nachahmung des Unnachahmlichen aufstellt.95 In der Geschichte der Kunst des Alterthums rettete er sich eben in die titelgebende Geschichte. Mit deren nun als Gesetzmäßigkeit dargestelltem Verlauf von Blüte und Verfall verträgt sich die ReAktualisierung eines idealen, damit zeitlosen Höhepunktes offenbar nicht.96 In der Geschichte selbst betrachtet Winckelmann entsprechende Vorstöße jedenfalls als gescheitert. Hadrians Bemühungen in diese Richtung etwa seien, bei aller gelehrten und guten Absicht, im Effekt eben nichts anderes gewesen als „Speisen, welche die Ärzte den Kranken verordnen, die sie nicht sterben lassen, aber ihnen auch keine Nahrung geben“. D’Hancarville stand nun vor genau demselben Problem wie Winckelmann, denn die ersten beiden Bände seiner Antiquités verstanden sich, ganz im Sinne der Nachahmungsästhetik der Gedanken, wesentlich als eine Vorlagensammlung, die für zeitgenössische Künstler wie Konsumenten Anregung und Initiator zur Reform des
93 Winckelmann 1996, S. 466f. Dazu: Kernbauer 2007, S. 32. 94 Vasari 2004, S. 73. Georges Didi-Huberman bemerkt dazu treffend, dass diese Aussage mit der Heilserwartung an kunsthistorisches Wissen verbunden ist: Gesucht ist „eine konstruierte Unsterblichkeit, die von einem neuen Engel der Auferstehung mit dem Namen Kunsthistoriker“ etabliert wird (2000, S. 94). 95 „Der eintzige Weg für uns groß, ja wenn es möglich ist unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.“ (Winckelmann 1968 [Gedanken], S. 29) 96 Dass auch in der Geschichte der Kunst die Spannung zwischen Norm und Empirie auf anderer Ebene wiederkehrt, wurde oft bemerkt. Vgl. etwa Wolf Lepenies: „Für außerordentlich wichtig halte ich den Hinweis darauf, dass die Wachstumsmetaphorik von Winckelmann ausdrücklich zum theoretischen Teil seiner Kunstgeschichte gerechnet wurde; es handelte sich eher um ein vorläufiges Ordnungsschema, dessen aufschließende Kraft am Material selbst zu überprüfen war, als um die Beschreibung des faktischen Verlaufs der Kunstentwicklung.“ (1986, S. 227f.)
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Geschmacks sein sollte.97 Winckelmann war dabei zweifellos Leitbild für William Hamiltons Idee, eine Publikation einem derartigen didaktischen Zweck zu widmen, quasi als englischen „Versuch eines Lehrgebäudes“.98 In dieser Funktion dürfte, historisch betrachtet, auch die zentrale Bedeutung des Buches liegen, wurden die hier publizierten Stiche doch Vorlage für zahllose Interieurgestaltungen und Keramikdekorationen.99 Diesem Interesse entsprechend galt die Aufmerksamkeit dort weniger der Genese der Künste, sondern ihrem idealen Höhepunkt, der entsprechende Vorbildhaftigkeit beanspruchen kann.100 D’Hancarville kam zu einer anderen Lösung als Winckelmann. Er wandte sich keiner historischen Theorie zu, sondern ironisierte deren Möglichkeit durch den gezielten Verstoß gegen die postulierte Determination der Anfänge. Wenn er trotzdem erklärt, nun skrupulöser Historiker sein zu wollen und penibel und gründlich zu arbeiten101, dann ironisiert er damit zugleich auch die Agenda seines größten Konkurrenten. Weiter weg von der Methode der Mauriner, jener mönchischen Forscher, denen die Handgreiflichkeit der materiellen Überlieferung ein Symbol der Hoffnung gegen die Sinnlosigkeit der Geschichte wurde, kann man sich kaum bewegen. Für Momigliano (der, wie gesagt, d’Hancarville hasste) waren seine „Alterthümler“ in genau diesem Sinn ein Anker historiographischen Konservatismus: Ihr hemmungsloser Positivismus, ihr Glaube an die Wahrheit der Quellen errettete die Geschichtsschreibung vor dem Pyrrhonismus. Dessen Skepsis (und nichts anderes ist, positiv gewendet, das ironische Verfahren d’Hancarvilles) dagegen zerstört das Netz der historischen Kohärenz.102
97
Die selbst gesetzte Aufgabe sei „d’accélerer les progrès des Arts, en donnant à connoître leurs principes véritables & primodiaux“ (AEGR I, S. VII). Dem zweiten Anliegen der Bände, einen Katalog der Vasensammlung des Auftraggebers William Hamilton zu geben, kam der Text dagegen praktisch nicht nach.
98
Winckelmann 1996, S. XVI. Zum systematischen Anspruch der Antiquités siehe v.a.
99
Zur Wirkungsgeschichte: Griener 1992, Kap. V; Coltman 2009, Kap. 3. Mir noch nicht
AEGR I, S. VII. zugänglich ist die Ph.D. Thesis von Emmanouil Kalkanis, der eine Cultural Biography of Sir William Hamilton’s Vases vorgelegt hat (Ph.D. Thesis, Durham 2012). 100 AEGR I, S. XIII; XV. Er hofft, dass die Künstler nach der Lektüre seines Buches „éclairés sur les vrais principes de leur art, abandonneront bientôt ces formes Gothiques que l’habitude seule rend supportables“ (ebd., S. XXIII). 101 „[L]e plaisir sera de voir la marche débile & pénible, mais industrieuse de l’esprit humain.“ (AEGR III, S. 3) 102 Momigliano 1966; wiederholt z.B. bei Süssmann 2000, S. 53f. Diskussion: Völkel 1987, S. 28ff.
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Es mag nun scheinen, dass d’Hancarville, der ewige Betrüger, sich wiederum als skrupelloser Geschichtenerzähler erweist, der ganz bewusst Fiktionen, also eine „Metahistory“ ausarbeitet. Mit der lakonischen Unbestimmtheit der Ursprünge und der programmatischen Unabgeschlossenheit von deren „Nachleben“ entzieht sich d’Hancarvilles Kunstgeschichte, sein merkwürdig kontingenter und doch persistenter Entwurf einer Geschichte der von unsicheren Ursprüngen ausgehenden „geheimen Einflüsse“, offenbar jenen Elementen, die als das eigentlich fundamentale Gerüst des historischen Erzählens ausgemacht werden können, nämlich dass Geschehnisse einen Anfang und ein Ende haben. Zumindest diese grundsätzliche narrative Struktur jeden Ereignisses scheint dem Menschen doch aus der Erfahrung des eigenen Lebens vertraut, denn es ist bereits jedes Leben, jede Biographie in die Form von Anfang, Verlauf und Ende gefügt. David Carr führte auf diesen Erfahrungsschatz gar eine grundlegende narrative Struktur zurück, dem alle historiographischen Texte folgen müssen. Dass Geschichtserzählungen sich entlang von Anfang, Verlauf und Ende entwickeln, sei keine dichterische Phantasie, sondern eine den Ereignissen selbst inhärente Form. Bei gleichzeitigem vollem Bekenntnis zur narrativen Freiheit von Geschichte(n) 103 seien somit der „Metahistory“ doch ihre Grenzen zu setzen. Genau das war auch eine der theoretischen Überlegungen Winckelmanns, der Kunstgeschichte als Zeitform so beschrieb „wie eine jede Handlung und Begebenheit fünf Teile und gleichsam Stufen hat, den Anfang, den Fortgang, den Stand, die Abnahme und das Ende“ – wobei letzteres, im Falle der Kunst, nicht mehr dazu gehört, nicht mehr Kunst ist.104 Natalität und Sterblichkeit werden von d’Hancarville jedoch explizit ad absurdum geführt. Wenn er nun also diese fundamentalen Erzählformen vom Anfangen genauso wie vom Enden105 aufhebt, haben wir es dann hier mit der Leugnung jeder historischen Referentialität zu tun? In gewissem Sinne schon. D’Hancarvilles Vorgehen erweist sich ganz wesentlich als der Entwurf einer Gegengeschichte zu Winckelmann, also ein von vorneherein polemisches Modell, das in einem historiographsichen Metadiskurs angesiedelt ist.
103 „Narrative is not merely a possibly successful way of describing events; its structure inheres in the event themselves. Far from being a formal distortion of the events it relates, a narrative account is an extension of one of their primary features.“ (Carr 1986, S. 117) Zur theoretischen Diskussion über diese pränarrative Grundlage von Geschichtsschreibung: Breyer/Creutz 2010. 104 Winckelmann 1996, S. 429. 105 Zum „sense of an ending“: Kermode 2000. Auch er glaubt, ähnlich wie Carr, an „that concordance of beginning, middle, and end which is the essence of our explanatory fictions“ (S. 35f.).
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Die Strategie ist klar: Statt emulierend die Position Winckelmanns einzunehmen, der Historiker wurde, weil er nach der Geschichte steht, die er erzählt, schreibt sich d’Hancarville ironisierend in eine Position ein, die vor dem Beginn der Geschichte steht. Und das ist ganz wörtlich gemeint. Einer der auffälligsten Züge der Antiquités sind die extremen Frühdatierungen, die weite Teile der griechischen Kunstgeschichte in Jahrhunderte verlegen, wo Winckelmann noch nicht einmal zu erzählen begonnen hat. Wenn im dritten Band der Antiquités der Ursprung der Malerei und Plastik, d’Hancarvilles kruder und kaum nachvollziehbarer Chronologie zufolge, ziemlich genau auf das Jahr 3406 griechischer Zeitrechnung datiert wird, so entspricht das (wie Ian Jenkins und Kim Sloan verdienstvoller Weise rekonstruiert haben) dem Jahr 1218 vor Christus. Winckelmann, der die griechische Kunst erst um ca. 750 v. Chr. beginnen ließ, wird so im wahrsten Sinne der Boden unter den Füßen weggezogen.106 Mit der Evokation der eigenen Wiedergeburt wird d’Hancarville zum Souverän über die Anfänge. Der Historiker wird zur ersten Ursache der Geschichte, die er schreibt. Ein paradoxes Motiv: Indem er durch Ursachensetzung völlig über die Geschichte gebieten kann, ist auch die historische Trennwand von Vergangenem zu Gegenwärtigem übersprungen. Die historischen Ursprünge erweisen sich hier einmal mehr als eng verbunden mit den Vorstellungen vom Originalgenie. Der absolute Anfang ist abhängig von der Setzung eines Individuums. Bereits 1974 hat Wolfgang Hardtwig das Originalgenie als eine souveräne Figur, die über die Geschichte gebietet, beschrieben. „Die potentielle Beliebigkeit des Rückgriffs verrät die Herrschaft der Gegenwart“.107 Gleichwohl lässt sich unser Protagonist, anders als Hardtwigs Fallbeispiel Schinkel, nicht in einer Position nach der Geschichte verorten, sondern hat sich vor ihr angesiedelt. Nicht die historistische Perspektive eines von der Tradition gelösten, späteren Standpunkts, der einen Rückgriff auf die Anfänge erlaubt (wie es etwa Lavin für Picasso gezeigt hat, und eben auch Winckelmann für eine Rückkehr zu „ägyptischen“ Formen in Betracht zieht108), wird hier eingenommen. Antiquare wie d’Hancarville schreiben als Gründungsfiguren die Geschichte der Tradition vielmehr selbst neu. Ein d’Hancarville will damit nicht der modernste, sondern gewissermaßen der älteste Denker sein. Man mag dies als ein durchaus barockes Motiv ansprechen,
106 „Much of what d’Hancarville says of the origins of art as seen through Hamilton’s vases is intended ultimately to provide a challenge to Winckelmann’s claim that art did not exist among the Greeks or Etruscans until after 750 BC, and to go one better than the History by charting a previously unknown course of Greek art.“ (Jenkins/Sloan 1996, S. 155) 107 Hardtwig 2005, S. 229. 108 Lavin 1993.
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wobei der Ernst, mit dem ältere Universalgelehrte (man denke an Athanasius Kircher) diese Mission vorgetragen hätten, freilich gebrochen wurde. Die historiographische Konsequenz daraus ist offensichtlich: Der Antiquar als Originalgenie legt mit seiner Erzählung letztlich ebenso eine Kunstübung vor wie die Werke, von denen sie handelt.109
§5 K UNSTGESCHICHTE : E INE
NEUE
G LEICHUNG
In dieser Souveränität der Ursachensetzung sind die tatsächlichen Anfänge letztlich willkürlich vom Historiker zu setzen (und, so wird das nächste Kapitel zeigen, auch in sich selbst als willkürlich verstanden). Die hier niedergeschriebene „neue Wissenschaft“ scheint also nur eine Variante von vielen möglichen Geschichten. Der alles determinierende Anfang ist damit paradoxerweise prinzipiell offen. Glaubt man trotzdem daran, dass die Ursprünge alles Nachfolgende bestimmen, so wäre der Inhalt der Geschichte damit umcodierbar geworden, ohne dass ihr Lauf, die immanenten Relationen ihrer Erzählung angetastet werden müssen. In erstaunlicher Konsequenz führt d’Hancarville diese Umcodierung der Ursprünge in einer anderen kleinen, posthum veröffentlichten Schrift vor, die dem Parnass-Fresko Raffaels in den Stanzen gewidmet ist. Sie widmet sich mit dem Musenberg einem Thema, das den Ort des Ursprungs schlechthin darstellt. Es ist der Ort der Quelle der Kunst, der Ort, wo selbst aus einem „fressgierigen Hirten“ wie Hesiod ein Dichter wird.110 Unser Autor kommt hier jedoch zu dem Schluss, dass der dargestellte Berg nicht der Parnass sein kann, sondern den Helikon darstellen muss.111 Gräzistisch gedacht ist das durchaus richtig: Auch der zitierte Hesiod empfing dort seine musische Berufung, und tatsächlich trat der Parnass erst vornehmlich in nachantiken Zeiten als Musenberg auf den Plan.112 Wie sich Raffael dagegen zu dieser Tradition
109 Vgl. White 1994, S. 92. 110 Kittler 2006, S. 92. Die Originalstelle lautet: „αἵ νύ ποθ' Ἡσίοδον καλὴν ἐδίδαξαν ἀοιδήν ἄρνας ποιμαίνονθ' Ἑλικῶνος ὕπο ζαθέοιο“ (Hesiod, ed. West 1966, v. 22f.). Zum Parnass als Ursprungsort um 1800: Trempler 2010, S. 159f. 111 „I must here take the liberty of opposing tradition, and deny that this painting represents Mount Parnassus, which was a mountain of a different description, arid, stony and disagreeable.“ (D’Hancarville 1824, S. 1) 112 So Elisabeth Schröter: „Wenn uns gewöhnlich der Parnass in der Bedeutung als Musenund Dichterberg geläufig ist, so trifft das erst für eine relativ späte und in der antiken Dichtung beinahe nur in Ansätzen vorhandene Bedeutungsversion zu. Das ist eigentlich auch nicht befremdlich, denn da die Musen keine Beziehung zum Parnass besassen, sie
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positionierte, scheint weitgehend unerheblich. Auch dass der Künstler ziemlich sicher manchen, die ursprünglichen Sinnschichten seiner Ikonographie beschreibenden antiken Text nicht kannte, scheint d’Hancarville unproblematisch.113 Gerade die Verwechslung des Berges durch den Künstler dürfte für d’Hancarville vielmehr als Beleg gelten, im Parnass eben ein „survival“, eine spätere Umdeutung ursprünglicher Sinnschichten zu sehen. Der Nachweis, dass in den Stanzen der Berg Helikon dargestellt ist, wird gerade nicht aus einem Wissen über Raffael geführt, sondern über den Ursprung. Hier wird im wahrsten Sinne des Wortes eine andere Quelle eingesetzt – und das besprochene Bild funktioniert trotz dieser neuen Grundierung genau so wie bisher. Das Flussbett der Geschichte, in dem nun die Wasser des Helikon fließen, bleibt dasselbe. Geschichte erscheint hier verstanden wie eine Gleichung, an deren Anfang eine Variable steht. Der Weg der Rechenoperationen bleibt in seiner Abfolge unberührt von dem, was man für die Variable des Ursprungs einsetzt, und doch geht deren Wert in alle folgenden Schritte mit ein. Einen solchen mechanistischen Zugriff, der d’Hancarville als einen Vertreter der philosophischen Geschichtsschreibung114 erweisen würde, legt unser Autor selbst mit seinem Erstlingswerk, dem Essay de Politique et de Morale Calculée nahe. Die nun schon mehrfach zitierte Einleitung des dritten Bandes der Antiquités kann mehr oder weniger als Paraphrase des damals auf den ersten Seiten formulierten Programms verstanden werden. Hier versuchte d’Hancarville die Etablierung eines Systems zur Berechnung der Moral einer Nation, um den politisch Handelnden (das Buch war dem Herzog von Württemberg gewidmet) ein mathematisch-rationales Mittel zur Erziehung und Besserung der Gesellschaft, ein Mittel zur „calcul du bonheur“ an die Hand zu geben.115 Um das Glück des Menschen hervorzubringen, setzt d’Hancarville bereits hier auf eine Manipulation der „Motive“ des menschlichen Handelns (und nicht etwa
aber nach der griechischen Vorstellung die Gabe des Dichtens und Singens verliehen, kamen nur solche Plätze in Frage, die ihnen heilig waren. Das war vornehmlich der Helikon.“ (1977, S. 13) 113 Dass Raffael etwa Dikaiarchos nicht gelesen haben mag, akzeptiert er (d’Hancarville 1824, S. 6). 114 So bereits Griener 1992, S. 63. 115 D’Hancarville 1752, S. XVI. Dass sich hier die auch in den Antiquités präsente „passion for ‚systems‘“ zeige, bemerkte auch Jenkins (1996, S. 45). Martin Papenheim fasst das Anliegen des Buches treffend zusammen: „Politik war jetzt auch Erziehung und Sittenkontrolle. Es genügte nicht mehr, äußeres Wohl zu zeigen, sondern die Motive (motifs) menschlichen Handelns, die die Philosophie ergründet, werden nun Objekt der Politik um das Glück der Menschen hervorzubringen.“ (2007, S. 185)
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eine Reform der gegenwärtigen rechtlichen oder moralischen Verhältnisse).116 Denn ausgehend von den Ursprüngen entfaltet sich der menschliche „ésprit“ wie eine physikalische Gleichung, nach einer festen Gesetzmäßigkeit, wobei alle Folgen durch die erste Ursache bestimmt sind.117 Geschichte ist damit bestimmt als Nachleben der Anfänge, die, paradox, angesichts der Bedeutung, die ihnen zugemessen wird, eine arbiträre Variable sind. Der Plot, die Operationen dieser historischen Kalkulation sind damit festgelegt. Den Inhalt bestimmt dagegen der Historiker. Die „Gründe“ der Gleichung der Geschichte sind, wie bereits Francis Bacon ausführte, variabel: So beschreibt Physik die „causes“ der Dinge, „but variable or respective causes“, je nachdem welchen Ausgangspunkt man für ein jedes Experiment erfindet.118 Kunsthistoriographie, als experimentelle oder zumindest performative Tätigkeit, wird damit zu einer Simulation, durchgeführt und inspiriert durch das Originalgenie des Antiquars.
116 „[L]a morale dont il s’agit dans ce livre, est moins la connaissance des régles de la conduite que les hommes doivent ténir, que la recherché des motifs, qui dirigent leurs actions, & que la politique s’emprésse de mettre en oeuvre pour leur bonheur.“ (D’Hancarville 1752, S. XI) 117 „Dans la morale, comme dans la phisique, un mouvement en occasionne toujours un autre, qui produit de nouveaux rapports entre les êtres sur lesquels il agit; ce sont ces rapports, […] qui forment ce que l’on appelle l’esprit des différens siécles.“ (D’Hancarville 1752, S. 108) Klug analysiert dies Jean-Claude Perrot: „[O]n pouvait songer à substituer aux quantités inaccessibles des symboles algébriques qui suspendent les spécifications et permettent de poursuivre l’échafaudage d’un modèle plus général.“ (2003, S. 37) 118 Bacon 2000, S. 82. Ähnlich: „I know it well, that there is an entercourse betweene Causes and Effects, so as both these knowledges Speculatiue & Operatiue, haue a great connexion betweene themselues [...] ascending from experiments to the Inuention of causes; and descending from causes, to the Inuention of newe experiments.“ (Ebd., S. 80) Zur Vorstellung einer „Physik der Geschichte“ hervorragend: Häfner 1995, S. 189198.
III. Willkürliche Hypothesen (D’Hancarville II)
§1 Ö FFNUNG
DER
A NFÄNGE
Um die Ursprünge ändern zu können, den Anfang der Geschichte zu einer Variablen zu machen, muss auch das, was am Ursprung steht, veränderlich sein. An den Anfang seiner Kunstgeschichte setzt d’Hancarville daher, wie zu zeigen sein wird, einen sehr speziellen Bildbegriff, der genau dieser Rochade – der Manipulierbarkeit der Ursprünge – das Tor öffnet. Ein Schlüsselpunkt meiner Argumentation bis hierhin war, dass d’Hancarville, entgegen der postulierten, überragenden Bedeutung der Ursprünge, in der konkreten Beantwortung dieser Frage unentschieden bleibt: Ob die Geschichte der visuellen Kultur aus Gesten oder (Bild- und Schrift-)Zeichen geboren wurde, vermag er nicht 1 zu sagen. Diese Unentschiedenheit habe ich im vorherigen Kapitel als ironischen Bruch mit dem Wahrheitsanspruch an die vermeintlich entscheidende historiographische Frage nach den Ursprüngen gedeutet. Der informierte Leser mag hier natürlich einwenden, dass Gesten und Bildzeichen im ästhetischen Denken des 18. Jahrhunderts keineswegs als gegensätzliche Ausdrucksformen gegolten haben und die von d’Hancarville artikulierte Ähnlichkeit beider Kommunikationsmedien daher nicht weiter verwunderlich sei. Insbesondere bei einem der bekanntesten kunsttheoretischen Autoren seiner Zeit, nämlich bei Charles Batteux, erscheint diese Engführung prominent artiku2 liert. Auch bei ihm ist die Frage nach der Priorität der genannten Künste als unlösbar beschrieben, „[d]enn wenn sich irgend zwey Gattungen gleichen, so ist es gewiss die Malerkunst und diese körperliche Beredsamkeit; weil die eine das Vorbild
1
Die Stelle sei noch einmal zitiert: „De même qu’il est probable que les Hommes commencerent à s’exprimer par le moyen des Gestes, il l’est aussi, qu’ils commencerent à écrire, & à représenter par le moyen des Signes.“ (AEGR III, S. 7)
2
Eine Zusammenfassung kunsttheoretischer Positionen zur Geste bietet Rehm 2002 (zu Batteux: S. 142ff.).
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und die andere das Nachbild ist“. Welcher Kunst aber welche der genannten Rollen, also die Vorbildlichkeit für die andere zukommt, bleibt programmatisch offen. „Ich sage die eine, ohne Bestimmung; denn so wie die Natur das Muster der Maler ist, so müssen die Gemälde wiederum die Muster schöner Rednergeberden seyn.“3 In jedem Fall ist dieses (gestische oder zeichnerische) Ausdrucksvermögen des Menschen ein denkbar ursprüngliches und universelles.4 Batteux spricht von einer „langue que nous savons tous en naissant“; die Gesten bildeten daher das „dictionnaire de la simple nature“ des primitiven Menschen und diese Zeichensprache komme direkt „du coeur“.5 Batteux ist nur der kunsttheoretisch prominenteste Vertreter einer solchen Engführung von Gesten und Bildern, die im gattungsgeschichtlichen Denken des 18. Jahrhunderts geradezu ubiquitär war. Auch in der „Kulturwissenschaft“ Giambattista Vicos findet sich die These, dass die erste Sprache „eine stumme Sprache durch Zeichen oder Körper“ gewesen sei.6 Doch auch ein Autor wie der englische Bischof William Warburton schrieb in seiner Theorie der Schriftentwicklung von einer „Art, durch Handlungen zu reden“, die sich einerseits in Gesten manifestierte, mit denen die primitiven Menschen ihre noch unartikulierten Laute untermalten, und andererseits zu der Erfindung einer Bilderschrift führte, die das Gemeinte mimetisch nachahmte. Geste und Malerei sind auch hier zusammen gedacht unter dem Oberbegriff des Bildes, das Warburton der Kommunikation durch Töne entgegensetzt.7 Adaptiert wurden Begriff und Konzept des englischen Bischofs von so wirkmächtigen Autoren wie Condillac in seinem Essai sur l’origine des connaissances humaines.8 Dieser Konzepttransfer von England nach Frankreich scheint übrigens kein Einzelfall. So unternahm etwa Francis Bacon eine Herleitung der Schriftentstehung aus der ikonischen Notation von Gesten und seine Thesen sollten dann von Denis Diderot rezipiert werden.9
3
Zitiert nach Rehm 2003, S. 145f.
4
Zur Geschichte der Idee von Gesten als Universalsprache: Knowlson 1965; zur Frage
5
Batteux 1753, Bd. 1, S. 181f.
6
Vico, SN, § 32 (Herv. H.C.H.)
7
Warburton 1980, S. 47. Zur Unterscheidung der Kommunikationsart „durch Thöne und
8
Zu dessen Begriff der „langage d’action“ siehe: Rosenfeld 2001, S. 36ff.
9
Bacon zählt „die Hieroglyphen und die Geberden“ zur gleichen Klasse von Zeichen,
nach der Natürlichkeit der Gesten: S. 500ff.
der andere[n] durch Bilder“ siehe ebd. S. 3 und in dieser Arbeit Kap. V.
„welche ohne Hülfe oder ohne das Mittel der Wörter die Dinge bezeichnen“, wobei er denkt, „daß die Hieroglyphen und Geberden immer einige Gleichheit mit der bezeichnenden Sache haben“, sie also „Sinnbilder“ seien (1966, S. 499f.). Dazu: Roy 1966, S. 75f.
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Die Analogisierung von Gesten und Bildern könnte dabei gerade vor dem Horizont Batteuxs wiederum als kunsttheoretisch bedeutsam zu verstehen sein, ergibt sich aus der Unentschiedenheit doch jener Zirkel der Nachahmung (Batteuxs den Künsten zu Grunde liegendes „principe“), den auch Winckelmann beschreibt, wenn er die Künstler im Gymnasium die Schönheit der jungen Männer studieren lässt, und die jungen Athleten wiederum vom Wunsch beseelt sieht, ihre Körper nach dem Vorbild der schönsten Statuen zu modellieren.10 Der Absolutheitsanspruch der Ursprünge wäre damit gebrochen und in einem ewigen zirkulären Wechselspiel von Kunst und Natur aufgehoben. Doch genau in dieser programmatischen Unschärfe ergeht sich d’Hancarville überraschender Weise nicht. Ungeachtet seiner zu Beginn artikulierten Unsicherheit über die Gestalt der ersten Bildformen beschreibt er in seiner historischen Schilderung sehr bestimmt, welche Formen am Anfang der Kunstgeschichte gestanden haben. Er benennt als erste Werke der Kunstgeschichte, wie bereits zitiert wurde, das Aufstellen von ungeformten oder zumindest nicht anthropomorphen Erinnerungsmalen, die als „Zeichen“ (signe) auf religiöse oder historische Ereignisse verweisen. Dergestalt nicht an eine natürliche Erscheinung gebunden stellt d’Hancarville fest, dass diese frühesten „signe […] presque toujours Arbitraire“ gewesen sind.11 Hiermit ist der Punkt benannt, in dem sich d’Hancarville radikal von den übrigen Entwürfen, die für eine Engführung von Geste und Bild plädierten, unterscheidet. „Willkürliche Zeichen“: Diese Bestimmung ist mehr als bemerkenswert, denn mit „signe arbitraire“12 war ein stehender Begriff und eine Kategorie aufgerufen, die den zeitgenössischen Lesern der Antiquités völlig geläufig gewesen sein dürfte – jedoch wurde diese allgemein auf einen ganz anderen Gegenstandsbereich bezogen, nämlich den der Sprache.13 Die moderne Verwendung des Begriffs der Arbitrarität in Bezug auf (sprachliche) Zeichensysteme geht dabei mindestens auf Fénelon
Aus dieser gemeinsamen Lektüre von Bacon erklärt Roy auch die Gemeinsamkeiten der Zeichentheorien Diderots und Vicos. 10 „Die schönsten jungen Leute tanzten unbekleidet auf dem Theater, und Sophocles, der große Sophocles, war der erste, der in seiner Jugend dieses Schauspiel seinen Bürgern machte. Phryne badete sich in den Eleusianischen Spielen vor den Augen aller Griechen, und wurde beym Heraussteigen aus dem Wasser den Künstlern das Urbild einer Venus Anadyomene.“ (Winckelmann 1968 [Gedanken], S. 34) Mimesis ist zudem, wie bereits zitiert, auch das Thema, um das sich die Entwürfe von Warburton oder Bacon drehen. 11 AEGR III, S. 39. 12 Weitere Nachweise: AEGR III, S. 7, 39 und passim. 13 Zur Begriffsgeschichte, zurückgehend auf Aristoteles: Coseriu 2004. Zur Anwendung des Begriffs auf Bilder: Giuliani 2003, Kap. 1; Scholz 2005.
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zurück, der als „arbiträr“ jene Zeichen definierte, die keine formalen Ähnlichkeiten zum Bezeichneten aufweisen.14 Als einschlägiges Beispiel für derartige willkürliche Zeichen wäre auch die alphabetische Schrift zu nennen. Hier scheint es charakteristisch, dass d’Hancarville durchaus doppeldeutig schreibt, dass die „signes“ sowohl geschrieben (écrire) als auch dargestellt (représenter) werden können. Bildlichkeit und Schriftlichkeit werden damit aufs Engste verknüpft. Hier liegt nun aber der entscheidende Unterschied zwischen d’Hancarville und Batteux, respektive Vico. Denn diesen lag es fern, die Gesten (und analog die Bilder) als arbiträre Zeichen zu betrachten. Im Gegenteil: Diese beiden Gattungen repräsentierten für sie idealtypisch die Klasse „natürlicher“ Zeichen.15 In aller Deutlichkeit artikuliert Vico dies in der bereits zitierten Passage über die früheste, „stumme Sprache“ der Menschen, bestehend aus Gesten oder Bildzeichen. Dies seien Artikulationsformen, „die eine natürliche Beziehung zu den Ideen hatten, die sie bezeichnen sollten“.16 Diese Ausdrucksmittel des Anfangs, also die „Zeichen oder Gesten“, sind laut Vico nach dem „Prinzip der Hieroglyphen“ gestaltet. Er bezeichnet mit diesem Begriff, Hieroglyphe, offenbar im weitesten Sinne visuelle Zeichen, im Gegensatz zu ihren sprachlichen Pendants. Unter das Prinzip der Hieroglyphe stellt Vico letztlich auch sein gesamtes Werk, wenn er ein Frontispiz konzipiert, das (so die Erläuterung) die gesamte „Neue Wissenschaft“ komprimiert in einem solchen Bild enthält (Abb. 19). Vor allem mit dem Sinnbild des „wahren Homers“, der in der Mitte der Szene auf einem Sockel steht, will Vico hier visualisieren, dass die primitiven Menschen in „poetischen Charakteren“, in (hieroglyphischen) Bildern und Metaphern also, gedacht haben. Diese „göttliche“ Sprache ist für Vico zwar menschengemacht, zeichnet sich ansonsten aber durch ihre „natürliche[n] Beziehungen zu den Ideen [...,] die man bezeichnen wollte“ aus.17 Genau in diesem Punkt stellt d’Hancarville Vico förmlich auf den Kopf und stößt den „wahren Homer“ Vicos vom Sockel. Und das ist ganz wörtlich zu verstehen. Ich möchte hier die These aufstellen, dass das „Kenotaph“ d’Hancarvilles nicht weniger als eine bildliche Negation des für Vico so entscheidenden hieroglyphi-
14 „Les paroles ne sont que des sons dont on fait arbitrairement les signes de nos pensées. Ces sons n’ont en eux-mesmes aucun prix.“ (Fénelon 1970 [1716], S. 33) Für andere frühe Nachweise: Haßler 2009, S. 207ff. 15 Zur Geschichte der Unterscheidung von „Gesten“ und „Zeichen“: Kendon 2008, insbes. S. 352. Aus dieser Unterscheidung ein Argument für eine Differenzierung von Poesie und Malerei zu gewinnen geht jedoch wohl nur bis auf Dubos zurück, vgl. Giuliani 2001, S. 133. 16 Vico, SN, § 32. 17 Ebd., SN, § 34. Dazu: Trabant 1994, S. 43ff. u. 66ff.
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schen Frontispizes ist (vgl. Abb. 14 u. 19). Unser Autor übt hier im wahrsten Sinne einen Bildersturm, der die „natürlichen“ Zeichen, derer sich Vico bedienen will, aufhebt. Nicht nur, dass er sein Gegenbild zum Frontispiz der Scienza Nuova als Schlussvignette einsetzt, also in der Position umkehrt. Auch lässt er eben den „poetischen Charakter“ Homers weg. Der Sockel ist leer, die Statue, die wohl einst auf ihm thronte, vergessen. Die Hieroglyphe des „wahren Homer“ spielt für d’Hancarville keine Rolle; das Bild der frühesten Zeiten wird zur arbiträren Leerstelle. An die Stelle des „wahren Homers“ tritt der Historiker – und dieser kann sich selbst neu erfinden, wie es ihm beliebt. Statt bedeutungsvoller Hieroglyphen bleibt ein leeres Grab, vor dem einige zerbrochene Vasen liegen. Statt dem metaphysischen Licht der Wahrheit, das bei Vico vom Himmel scheint, kreisen dort bei d’Hancarville nur Aasgeier. Abb. 19 (links): Antonio Baldi nach Domenico Antonio Vaccaro, Frontispiz zu Giambattista Vico, Scienza Nuova, 1744. Abb. 20 (rechts): Anon., Ut Pictura Poesis erit, in: AEGR II, S. 4.
Diese hieroglyphische Bilderschrift, gerne noch mit Resten von arkanem Wissen assoziiert, wurde also gerade nicht als arbiträr betrachtet. Bilder wurden nach der herrschenden Meinung auf Grund ihrer Ähnlichkeitsbeziehung zu dem, was sie darstellen (einen Menschen, eine Landschaft etc.) als ebenfalls natürliche Zeichen betrachtet. Malerei sei demnach durch ein Abbildverhältnis zwischen den Zeichen und 18 ihrem Referenten zu kennzeichnen. Auch d’Hancarville hatte diese Meinung noch
18 Dass er diese Differenzierung d’Hancarvilles übersieht, ist der große Fehler des ansonsten grundlegenden Buches Pascal Grieners. In seiner starken Fokussierung auf das, was
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in den ersten beiden Bänden der Antiquités vertreten. Dort wurde die Kunst der Alten gerade nicht als arbiträr, sondern als „charakteristisch“, definiert als die De19 ckungsgleichheit von Bezeichnetem und Bezeichnendem, betrachtet. Als Schlagwort führte er hier die klassische Horazsche Formulierung des „Ut Pictura Poesis“, also der Gleichheit von Dichtung und Malerei an. Zwei Stiche, die sich auf einer Doppelseite gegenüberstehen, visualisieren und propagieren das Konzept. Auf einem monumentalen Steinblock stehen die berühmten Worte des römischen Dichters (Abb. 20). Nicht zufällig ist das Textfeld gerahmt von einem umlaufenden Fries aus hieroglyphischen Schriftzeichen, die auch weitere Gebäudereste in der umliegenden Ruinenlandschaft schmücken. Hieroglyphen, die idealtypischen Repräsentanten einer Bilderschrift, in der „Pictura“ und „Poesia“ wortwörtlich in eins fallen, dienen als sichtbarer Beweis der Horaz’schen These. In der Manier Piranesis betrachten zwei, gemessen an der Höhe des Steinblockes verschwindend kleine moderne Betrachter das Textfeld. Dennoch scheint damit weniger das Problem der Distanz der Moderne zur vergangenen Antike verhandelt zu werden. Ein zweiter Stich, der eine identische Szenerie zur eben beschriebenen zeigt, präsentiert auf dem Textfeld eine Zeile von Charles Alphonse Dufresnoy, die analog zu Horaz einfordert, dass „Similis que Poesi sit Pictura“. Das klassische Prinzip scheint hier auch für das moderne Frankreich seine Gültigkeit bewahrt zu haben. Die Wende, die d’Hancarville im dritten Band vornahm und die ihn zu einer Unterscheidung zwischen dem Ausdrucksvermögen der Bilder und dem der Sprache (nicht zu verwechseln mit der Schrift!) führte, mag man, angesichts der vorherigen Anrufung von Legitimationsfiguren des klassischen Zeitalters wie Dufresnoy, zunächst als eine dezidiert moderne Differenzierung betrachten. Sie führte im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer zunehmenden Erosion der Doktrin des „Ut Pictura Poesis“, die umgekehrt die Autonomie und Eigengesetzlichkeit spezifisch maleri20 scher Mittel in den Vordergrund rückte. Die pointiertesten Bestimmungen dieser Differenz zwischen natürlichen (ikonischen) und arbiträren (sprachlichen) Zeichen finden sich im 18. Jahrhunderts bei den einschlägigen Theoretikern der Ungleichheit von Bild und Sprache, Lessing
d’Hancarville (vermeintlich) bei anderen Autoren abgeschrieben hat, verliert er die Eigenheiten der Theorie unseres Autors aus den Augen (1992, Kap. IV, insbes. S. 64). 19 „Le Caractere“ könne man definieren als „un rapport de la chose représentante à la chose représentée tellement rendu sensible que la premiere indiquoit la seconde, de maniere qu’on ne pouvoit la méconnoître & la confondre avec toute autre“ (AEGR I, S. 93). Zu dem um 1800 kunsttheoretisch zentralen Begriff des „Charakteristischen“: Schönwälder 1995; Schönwälder/Kanz 2008. 20 Dazu einschlägig: Kohle 1989.
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und Dubos. So schreibt ersterer, „[d]ie Malerei brauchet Figuren und Farben in dem Raume. Die Dichtkunst artikulierte Töne in der Zeit. Jener Zeichen sind natürlich, dieser ihre sind willkürlich“. Und Dubos ergänzt: „[D]ie Zeichen, derer sich die Malerei bedient um zu uns zu sprechen, sind keine arbiträren Zeichen, die eingeführt wurden, wie die Worte derer sich die Poesie bedient. Die Malerei benutzt natürliche Zeichen, deren Wirkmacht nicht von Vorwissen abhängt“.21 Ein Bild ist damit als eine prinzipiell mimetische Kunstform bestimmt, die sich der Nachahmung der Umwelt widmet. Diese zeichentheoretischen Definitionen gehen damit konform mit jenen Ätiologien der Kunst (man denke an den bereits angeführten Mythos der Töpferstochter Dibutades), die die Urszene des Bilder-machens in einem mimetischen Akt verorteten. Einen derartig abbildenden Ursprung der Kunst anzunehmen lag d’Hancarville nach seiner intellektuellen Kehre aber fern. Überhaupt musste im Lauf des 18. Jahrhunderts die zunehmende Begegnung mit den denkbar vielfältigen und fremdartigen Stilen anderer Kulturen die These in Frage stellen, dass bildliche Mimesis eine Kulturkonstante ist und Kunst damit (im Gegensatz zu den arbiträren und daher verschiedenen Nationalsprachen) ein „natürliches“ Zeichensystem darstelle.22 Genau diese Differenz der Kunst bei verschiedenen Völkern (trotz einer gemeinsamen Wurzel) nimmt auch d’Hancarville explizit als Argument gegen „natürliche Zeichen“ als Wurzel der Kunst: „Es würde nur ein einziges Idiom geben, wenn die Ausdrucksmittel, derer sich die verschiedenen Nationen bedienen, mehr von der Natur als von der Konvention bestimmt sein könnten“.23 Zwar attestierte er den späteren, figürlichen Darstellungen der griechischen Kunst ebenfalls den Charakter „natürlicher“ Zeichen24, doch der Ausgangspunkt auch dieser Kunstentwicklung, die im höchsten Maße als mimetischer Perfektion verpflichtet betrachtet wird, ist im wahrsten Sinne des Wortes als „willkürlich“ bestimmt. Dieser unorthodoxe Punkt sollte auch bei engen wissenschaftlichen Weggefährten auf Widerspruch stoßen.25
21 Lessing 1990, S. 209. Dubos: „[L]es signes que la peinture employe pour nous parles ne sont pas des signes arbitraires & institués tels que sont les mots dont la poesie se sert. La peinture employe des signes naturels dont l’énergie ne dépend pas de l’éducation. […] Les mots doivent d’abord reveiller les idées dont ils ne sont que des signes arbitraires.“ (1732, Bd. I, S. 217f.) 22 Dazu: Pfisterer 2012. 23 „[I]l n’y eut qu’un seul idiôme, si les expressions employées par les diverses nations eussent pu être déterminées plutôt par la nature des choses, que par la convention.“ (AEGR III, S. 7) 24 „[L]es Formes & les Couleurs que les Arts furent obliges d’imiter, étant préscrites par la nature meme, & ne devant jamais être arbitraires.“ (AEGR III, S. 7) 25 Zu nennen ist hier vor allem Richard Payne Knight. Dazu mehr im nächsten Kapitel.
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Pascal Griener hat vermutet, dass d’Hancarville den Begriff des „signe“, wie überhaupt wesentliche Aspekte seiner Kunsttheorie, von einem anderen Autor, 26 nämlich Octaviano de Guasco, übernommen, ja geradezu plagiiert hat. In der Tat sind die Anleihen bei dessen Werk De l’usage des statues chez les Anciens durchaus deutlich und zahlreich, so dass diese Vorwürfe nicht einfach von der Hand zu 27 weisen sind. Für die entscheidende Frage nach Ähnlichkeiten und Differenzen des Bildbegriffs beider Autoren dürfte jedoch bereits mit dem Hinweis auf Vico, der ebenfalls von „Zeichen“ spricht, klar geworden sein, dass die Exklusivität dieses Konzepts, die Griener für Guasco in Anspruch nimmt, der Diskussion bedarf. Zunächst ist es richtig, dass auch Guasco den Ursprung der bildenden Kunst in der Aufstellung ungeformter Erinnerungsmale sieht, die auch er als „signes“ be28 zeichnet. Doch Guasco benutzt die Kategorie des „signe“ nicht als kurrenten Forschungsbegriff oder gar als persönliche Begriffsprägung, sondern als einen historischen Terminus, den er schon bei Plinius, Pausanias oder anderen nachgewiesen findet. Insgesamt legt Guasco vor allem auf die „Willkürlichkeit“, also den arbiträren Charakter dieser Zeichen kein besonderes Augenmerk, wie überhaupt die Formulierung des „signe arbitraire“ – soweit ich sehe – von ihm nicht verwendet wird. Den stehenden Begriff des „willkürlichen Zeichens“ scheint d’Hancarville damit eher aus sprachwissenschaftlichen Zusammenhängen denn von Abbé Guasco übernommen zu haben. Jenseits der konkreten Begrifflichkeit war die auch in De l’usage des statues vertretene Idee, den Ursprung der Kunst nicht in einer mimetischen Urszene, sondern in einer ungegenständlichen Verweisform zu verorten, überaus verbreitet. Gerade durch den Kontakt mit außereuropäischen Bildkulturen, vornehmlich der ägyptischen, wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts der Gedanke stark gemacht, dass die
26 Guasco 1768. „Ordina meglio il suo discorso e attinge tutto il suo materiale da un testo che offrica, già pronto, il modello sognato: l’opera dell’abate Ottaviano di Guasco.“ (Griener 1992, S. 73) Die Forschung hat sich dieser Meinung einhellig angeschlossen – ohne jedoch weiterführendes Beweismaterial in Form von Parallellektüren anzubieten. So bleiben die Urteile meist vage, und es „scheint die Verwendung der Begriffe ,signe‘, [u.a.] durchaus auf Guasco zurückzugehen“ (Weissert 1999, S. 106, Anm. 408), oder: Der „gegen d’Hancarville erhobene Vorwurf, ein 1768 von Octavian Guasco publiziertes Werk zu plagiieren, scheint hingegen zutreffend zu sein“ (Löwe/Effinger 1999, S. 58). Kritisch dagegen: Moore 2008. 27 Beispiele aus dem Feld der Gemmen liefert Ian Jenkins 1996 [Gems], S. 99. 28 „[L]e nom de signe désignoit originairement les images des Dieux ou des Héros, par la raison que dans leur origine, ces sortes d’images étoient […] plutôt des symboles sous lesquels on honoroit les Dieux, que l’image réelle des Divinités.“ (Guasco 1768, S. 1)
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Vor- und Frühformen der Kunst nicht als perfekte Abbilder (wie im DibutadesMythos), sondern als „Gedankenbilder“ zu verstehen sind. In keinem anderen als dem berühmtesten kunsthistorischen Buch seiner Zeit, in 29 Winckelmanns Geschichte der Kunst, konnte man genau diese These lesen. Auch er schreibt, dass man die ersten Bildwerke „noch nicht in menschlicher Gestalt gebildet hatte, und sich [in Griechenland] begnügte, dieselben durch einen unbearbeiteten Klotz, oder durch viereckige Steine, wie die Araber und Amazonen thaten, 30 anzudeuten“. Dass im antiken Griechenland unbehauene Steine nicht nur als Kultgegenstände an sich verehrt wurden (wie etwa der Stein, den Rhea dem Chronos anstelle von Zeus zu verschlingen gegeben habe), sondern auch als anikonische Götterbilder, ist völlig zutreffend und prominent vor allem bei Pausanias nachzulesen, der mit seiner Bezeichnung dieser Phänomene als „argoi lithoi“ zugleich den bis heute gebrauch31 ten Terminus technicus dafür einführte. Seine Passage über die Steine von Pharae dürfte in der Tat die mit Abstand meistzitierte Belegstelle für antike Steinverehrung 32 sein. Sie war natürlich auch allen hier diskutierten Antiquaren bekannt, die sie zudem alle ausdrücklich zitieren. Aus der Annahme des Ursprungs der griechischen Kunst in „argoi lithoi“ auf irgendwelche Einflussnahmen der Forscher untereinan-
29 Das Verhältnis Winckelmanns zu Guasco wäre wiederum zu diskutieren. Man mag natürlich annehmen, dass der Deutsche sich aus dem in Manuskripten bereits vor der Veröffentlichung zirkulierenden Buches des Abbé bediente (dies legt Griener 2007 nahe). Winckelmann bezeichnete den Abbé zwar als „ehrliche[n] Mann“, attestierte ihm jedoch, überhaupt keine Bindung an die aktuelle archäologische Forschung zu haben (Winckelmann 1952-1957, Bd. III, S. 350). In der Tat scheint Guasco das Erscheinen der Geschichte der Kunst erst mitbekommen zu haben, als sein Buch bereits im Druck war; er sah sich daraufhin genötigt, ausführlich zu begründen, warum sein Werk nach Winckelmanns opus magnum noch eine Berechtigung hat (Guasco 1768, S. 387). 30 Winckelmann 1996, S. 8. 31 „Pausanian terminology has acquired a central role in the way ancient evidence is classified and ultimately understood.“ (Gaifman 2012, S. 48) Zum Phänomen anikonischer Götterbilder v.a.: Kron 1992; Doepner 2002; Gaifman 2012. Sakrale Objekte scheinen tatsächlich sehr arbiträr sein zu können. „Mit den sprachlichen Zeichen teilen sie die Eigenschaft der Beliebigkeit. Grundsätzlich kann jedes materielle Objekt als Repräsentant des Heiligen angesehen werden und als solcher Verehrung erfahren.“ (Kohl 2003, S. 157) 32 In Pharae, so schreibt Pausanias, „stehen gegen dreißig viereckige Steine, diese verehren die Phareer, indem sie jedem den Namen eines Gottes beilegen. In den älteren Zeiten wurden auch bei allen Griechen unbearbeitete Steine statt Statuen göttlich verehrt.“ (1986/1987, Bd. II, S. 202 [Buch VII, Kap. XXII, Abs. 4]). Zur Rezeption dieser Passage: Gaifman 2010.
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der zu schließen dürfte also verfehlt sein. Es wären fast beliebig weitere Namen, von Clemens von Alexandrien bis zu James Frazer, zu nennen, die auf dieselbe 34 Stelle der Periegesis rekurrierten und daraus ähnliche Schlüsse gezogen haben. Zahlreiche sowohl von Guasco als auch d’Hancarville in ihren Argumentationen verwendete Fakten waren also weithin bekanntes antiquarisches Gemeingut, das sich meist auf einschlägige antike Quellen berief. Dasselbe gilt auch für die Überlieferungswege, die „survivals“ von Bildformeln durch die Geschichte hindurch, die teilweise bei Guasco und d’Hancarville mit den gleichen Bildbeispielen beschrieben werden. Einer dieser Fälle soll hier besprochen werden, da an ihm zugleich die deutlichen Unterschiede zwischen beiden Autoren hervorgehoben werden können. D’Hancarville schrieb, wie gesagt, vom Ursprung der Ikonographie von Castor und Pollux im „signe“ von zwei mit Querstreben verbundenen Balken, das sich in modifizierter Form bis heute im Sternzeichen der Zwillinge erhalten habe. Bei Guasco findet sich dasselbe Argument, und auf diese Passage folgen unmittelbar dieselben Beispiele, die auch d’Hancarville geben wird, wie die ursprünglich pyramidale 35 Form der Venus von Paphos. Jedoch sind diese Gedanken kein Eigengut des Schreibtischgelehrten Guascos, und die selben Beispiele finden sich, sogar fast in 36 derselben Reihenfolge, bereits 1764 bei Winckelmann. Vielmehr dürften auch hier antike Autoren die entscheidende Referenzquelle für alle genannten Gelehrten sein. Auf Grund eines wiederkehrenden Fallbeispiels, wie dem der Dioskuren und ihrer bildlichen Transformation in das Zeichen der zwei Balken, auf Abhängigkeiten der Autoren untereinander zu schließen ist sicherlich verfehlt. Diese Bildgeschichte zu Castor und Pollux findet sich etwa, wie im vorangegangenen Kapitel bereits zitiert, an so prominenter Stelle, wie in Plutarchs Essay über die brüderliche Liebe – ein Bericht, der bereits in der Antike mehrfach rezi37 piert wurde.
33 So auch James Moore: „[K]ey source for both Guasco and D’Hancarville is Pausanias, and D’Hancarville would clearly have read Pausanias independently of Guasco's account.“ (2008, S. 151) Für den Einfluss, den Pausanias auf Winckelmann ausübte: Harloe 2010; Pretzler 2010. 34 Vgl. Gaifman 2010. 35 „Castor & Pollux chez les anciens Lacédémoniens, n’étoient désignés que par quatre morceaux de bois paralleles, se coupant deux-à-deux à angles droits: signe qui s’est conserve jusqu’à nos jours dans le Zodiaque pour dénoter l’astérisme des Jumeaux.“ (Guasco 1768, S. 49f.) 36 Siehe Winckelmann 1996, S. 8. 37 Plutarch 1972, Abs. 478A, S. 221. Dazu: Gaifman 2012, S. 289f. Dass gerade die Dioskuren als ein derart prominentes „survival“ betrachtet wurden, könnte auch damit zu-
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Was sich jedoch, soweit ich sehe, nur bei Guasco findet, ist die Überlegung, dass die „signes“ trotz der Entwicklung zu anthropomorphen Darstellungsformen in 38 den Götterstandbildern erhalten blieben. Die Überlieferungsketten führt bereits Guasco bis zu den ersten christlichen Kultbildern fort, die wiederum in ungebro39 chener Kontinuität auf die frühesten Zeiten zurückgeführt werden. Interessant ist dennoch, dass er dies (wie schon die Einführung des Wortes) begriffsgeschichtlich begründet. Auch in der Beschreibung der vollendeten figürlichen Kunst würden Autoren wie Pausanias und Plinius nämlich, so schreibt Guasco, „ununterbrochen 40 den Begriff des Zeichens bemühen“. Diese Begriffsverwendung wird dabei als ausreichender Beleg für das Phänomen erachtet. Einen Nachweis derartiger symbolischer Kontinuitäten an konkreten Objekten zu geben und, wie es etwa d’Hancarville am Fallbeispiel von Castor und Pollux tut, mögliche Zwischenglieder der Überlieferungskette zu identifizieren, ist Guascos Anliegen, dessen Buch zudem ohne jede Illustration auskommt, nicht.
§2 D AS U NGEFORMTE : F ETISCH
VERSUS FREIER
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Die Idee, dass gerade in den „argoi lithoi“ ein Ausgangspunkt für „nachlebende“ Formen zu suchen ist, ergab sich spätestens aus dem auch in den Antiquités zitierten Hinweis von Pausanias, dass diese Steinmale auch lange nach ihrer Entstehung von 41 den Griechen in hohen Ehren gehalten wurden. Der Bericht der Periegesis erlaubte also, in ihnen mehr als nur defizitäre Vorstufen der wahrhaft großen griechischen Kunst zu sehen. Die religiöse Nutzungsdimension dieser Objekte war offensichtlich. In denkbar deutlicher Form beschreibt das Guasco: „Chez les Payens l’histoire 42 des statues est presque l’histoire de l’Idolâtrie, une statue d’un Dieu étoit un Dieu.“ 43 Kunstgeschichte wird damit ganz als Teil der Religionsgeschichte begriffen. Die zitierte Passage offenbart in aller Deutlichkeit die Konsequenzen dieses Konnexes. Kaum dass die früheste Kunstform des gegenstandslosen „signe“ eta-
sammenhängen, dass ein ihnen gewidmetes Denkmal in der Periegesis unmittelbar nach der Beschreibung der „argoi lithoi“ in Pharae erwähnt wird. Vgl. Pausanias 1986/1987, Bd. II, S. 202 (Buch VII, Kap. XII, Abs. 4). 38 „[Le signe] se conserva depuis même que les simulacres des Dieux eurent fait de plus grands progrès vers la figure humaine.“ (Guasco 1768, S. 51) 39 Ebd., S. 294. 40 „Pausanias & Pline se servant sans cesse de l’expression de signe.“ (Ebd., S. 51) 41 AEGR III, S. 11. 42 Guasco 1768, S. XI. 43 Zu Guasco im Kontext der Idolatrie-Debatten seiner Zeit: Weinshenker 2008, S. 129.
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bliert ist, lässt Guasco die zeichenhaften Objekte zu Idolen werden und postuliert, dass bei den Alten das Bild eines Gottes der Gott selbst war. Derartige Thesen, dass in den frühesten Bildwerken Signifikant und Signifikat als identisch anzusehen sind, sie also letztlich als Fetische benannt werden dürfen, müssen als das am weitesten verbreitete Verständnis der vermeintlich am Anfang der Kunstgeschichte stehenden, ungegenständlichen Bildformen betrachtet werden. Das Ungeformte gehörte zu den zentralen Charakteristika, mit denen Charles de Brosses, der wichtigste 44 und früheste Theoretiker des Fetischs im 18. Jahrhundert , seinen Untersuchungsgegenstand identifizierte: Ein Fetisch bezeichnet demnach einen „culte direct rendu 45 sans figure aux productions animales & végétales“. Die ungeformten Male, die Pausanias „argoi lithoi“ nannte, galten häufig als prototypisches Exempel für dieses Phänomen. Das prominenteste Beispiel hierfür ist sicher Edward Burnett Tylors Primitive Culture, wo die von Pausanias erläuterten Fälle neben zahllosen weiteren Beispielen als Formen des „Animismus“ (wie Tylor den Fetischismus nennt) angeführt werden. Die Verehrung von Steinen galt ihm dabei als Zeugnis einer primitiven Kultur und des Dienstes an einer Götze, die 46 „nicht einmal vorgab, ein Bild zu sein“. Damit waren, nach der herrschenden Meinung, als „Fetisch“ Objekte von genau jener Form benannt, die, wie d’Hancarvilles „signes“ und „indications“, nicht mimetisch auf das Bezeichnete verweisen. Auch in den Antiquités ist, wie bei de Brosses, „figure“ der Oppositionsbegriff um die (potentiell fetischhaften) „signes“ von den späteren anthropomorphen (also figurativen) Kunstwerken abzugrenzen. Dennoch liegt d’Hancarvilles Vorstellung von „signes“ nicht weniger als völlig konträr 47 zu der Kategorie des Fetischs, die sich geradezu als „Un-Zeichen“ definieren lässt.
44 Erst durch de Brosses hat der Begriff überhaupt seine moderne Definition erhalten, vgl. Kohl 2003, S. 71. Als klassischer Schreibtischgelehrter bewegte sich seine Theorie und Thesenbildung trotzdem im klassischen antiquarischen Rahmen; vgl. Manuel 1959, S. 184. Zu de Brosses „Erfindung des Fetisch“ siehe: Kohl 2003, 71ff.; Böhme 2006, S. 199ff. 45 Brosses 1760, S. 182. Die postkolonialistische Forschung hat indessen betont, dass viele der vermeintlichen Fetischkulte erst nach der Begegnung mit Europäern entstanden sind. Mit guten Gründen wurden aber auch gegenteilige Fälle benannt, wo tatsächlich eine Deifizierung kultisch verehrter Steine stattfand: Vgl. Toorn 1997 für nahöstliche Beispiele und eine entschiedene Warnung vor einer „hyper-correction“ der Begriffe. 46 Der Animismus „did not even pretend to be an image“ (Tylor 1903, Bd. II, S. 151). Dazu: Gaifman 2010, S. 271f. 47 Der Begriff von Weder 2007, Teil II passim. „Die Figur ‚Fetisch versus Zeichen‘ dominiert den Fetisch-Diskurs des späteren 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts.“ (Ebd., S. 149).
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Durch die Identität von Bezeichnetem und Bezeichnendem, dass also „das Bild eines Gottes der Gott selbst“ ist, wird jedes zeichenhafte Ähnlichkeitsverhältnis unterbunden. Genau dadurch, durch ihre arbiträre Zeichenhaftigkeit, charakterisieren sich für d’Hancarville aber die Ursprünge der Kunst. Genau deswegen sind sie 48 als „très sublime“ und eben nicht idolatrisch anzusprechen. Die Urszene der Antiquités ist also, entgegen der oft vertretenen gegenteiligen 49 Auffassung , nicht im Fetisch zu suchen, sondern lässt sich, in den Begriffen de Brosses, am entgegengesetzten Pol, dem „culte abstrait & mental“, der „pure & intel50 lectuelle“ ist, verorten. Zu einem Fetisch werden die Bildwerke für d’Hancarville erst später, nämlich interessanter Weise erst, wenn sie eigentlich bereits den Weg zur anthropomorphen Form genommen haben. Entscheidend für die Abgrenzung der „signes“ vom Fetisch ist zudem ihre von d’Hancarville postulierte bewusste und eben nicht aus einem dunklen Aberglauben geborene Einsetzung: Er beschreibt sie eindeutig als intentionale Setzungen. Bisweilen geht er in seiner Bestimmung der Intentionalität der „signes“ sogar so weit, ihnen jede Konventionalität abzustreiten. Und zwar nicht in dem Sinne, dass die „signes“ damit auf dem klassischen Gegenpol zur Konventionalität, den natürlichen Zeichen nämlich, zu verorten wären, sondern als radikale Steigerung der subjekti51 ven Willkürlichkeit ihrer Setzung. Ideengeschichtlich scheint dies ein Beiprodukt der Bestimmung der „signes“ als „arbiträr“. Dass solche arbiträren Zeichen auch intentional oder willkürlich zu begreifen sind, ist die Überzeugung einer Denkschule der Linguistik, die wohl auf Locke zurückreicht, der (so Eugenio Coseriu) „wie kein anderer zur Verbreitung der These des arbitraire und des Wortes willkürlich in diesem Zusammenhang beigetra52 gen“ hat. Lockes Überlegungen haben, vor allem ausgehend von der französischen Übersetzung seines Essays, europaweit Gehör gefunden, etwa bei Leibniz. Der Engländer jedenfalls bezeichnet die arbiträren Zeichen als eine Form der Sinn-
48 „Cette idée de représenter la présence, plutot que la figure des Dieux étoit assurément très sublime & par-la meme trop élevée.“ (AEGR III, S. 12) 49 So z.B. Carabelli 1996, S. 51 und Moore 2008, S. 145. 50 Brosses 1760, S. 189. 51 Das „signe“ sei „loin d’être fondé sur l’usage, est au contraire entierement arbitraire & n’a dépendu que de l’artiste & du style de son Siecle“ (AEGR III, S. 171). Diese Intentionalität betonte bereits Haskell 1984. Der Hinweis auf den „Stil“, in genanntem Zitat, der ja wohl als Konvention angesprochen werden muss, mag schon andeuten, dass unser Autor diese These freilich selbst nicht durchhalten kann. Andernorts spricht er dann auch eindeutig von „signes de convention“ (ebd., S. 108). Zur Theorie der „Konventionalität“ vgl. dieses Lemma in: Haßler 2009. 52 Coseriu 2004, S. 12.
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zuweisung, die „not by any natural connection […] but by a voluntary imposition 53 whereby such a word is made arbitrarily the mark of such an idea“ entsteht. Bei aller Willkürlichkeit und Intentionalität, aus der heraus für d’Hancarville die ersten Bildzeichen entstehen, bestimmt ein Aspekt deren Produktion offensichtlich nicht: Es ist kein spezifisch künstlerisches Vermögen, was den Mensch zum homo pictor werden lässt. Dass diese durchaus kreative „Willkür“ einen äußerst prekären Status einnimmt wird deutlich, wenn man daran zurückdenkt, wie scharf d’Hancarville umgekehrt die „Imagination“ als Wurzel des Irr- und Aberglaubens, und damit auch der Fetischisierung, zurückwies. Bei aller Arbitrarität, die er den ersten Bildzeichen zuwies, liegt es ihm dennoch fern, in ihnen eine artistische Lizenz am Werk zu sehen. In diesem Sinne definierte aber manch anderer Autor Fetische als Zeichen, die „jeder selbst nach seinem Willen aussucht“. Diese, zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Godefroy Loyer artikulierte Position, betont die Rolle der „diverse fantaisie d’un chacun“. Die Einsetzung eines Fetischs wird damit zu einem wahrhaft künstlerischen Akt, der maßgeblich aus einer imaginativen Fähigkeit begründet wird, womit Loyer ausgerechnet den Afrikanern einen vorzüglichen „esprit“ und „jugement“ attestiert.54 D’Hancarville dagegen unterscheidet sehr vorsichtig zwischen schädlicher Imagination, die eine abergläubische Blindheit impliziert, und einem originellen, kreativen Schaffensakt, als der letztlich auch seine historiographische Operation zu verstehen ist. Während die Fetischisierung durch die Blindheit der Imagination eine spätere Entartung der Bilder ist, attestiert d’Hancarville den Errichtern der ersten Bildzeichen ein Bewusstsein über die Künstlichkeit ihres Aktes. Sie handeln daher wie jener Bildhauer, den Horaz in einer berühmten Satire beschrieb: „Einst war ich nur ein Stumpf vom Feigenbaum, Holz ohne Nutzen. / Da der Meister in Zweifel, ob eine Bank oder ein Priapus draus zu machen sei, / Entschied er sich für den Gott. Darum bin ich ein Gott […]“.55 Unser Autor steht hier ganz offensichtlich vor einem Problem, das zahlreiche seiner Zeitgenossen beschäftigte. Noch Voltaire fällt es im Dictionnaire philosophique durchaus schwer, zwischen passiver, niederer Imagination und ihrem hochstehenden, aktiven und kreativen Pendant zu unterscheiden. Ähnliches wird etwa auch im Artikel zu „Enthousiasme“ in der Encyclopédie verhandelt.56 Die Ermächtigung des Menschen zur intentionalen Setzung von Fiktionen ist aber hier wie dort notwendig zur Definition des kreativen Potentials des Menschens. Das künstlerische Potential des Menschen, sein Vermögen zu kreativen Akten, die der Imagina-
53 Locke 1768, Bd. II, S. 4 (Herv. H.C.H.). 54 Loyer 1714, S. 141, 213, 217. Vgl dazu Gisi 2007, S. 282f.; Pfisterer 2012, S. 99. 55 Dazu nochmals: Pfisterer 2012. 56 Vgl. Goldstein 1998, v.a. S. 31f.
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tion (im breitesten Sinne) bedürfen, ist also letztlich bei aller Kritik doch unverzichtbar für ein aufgeklärtes Verständnis von Bildern. Entscheidend ist nun, dass gerade diese Variablen, die intentionalen Setzungen, für d’Hancarville das sind, was Geschichte ihre Bedeutung gibt, sprich, was im „survival“ zum Sinnträger wird. Das, was letztlich von geblendeten Geistern fortgeschrieben wurde, bewahrt der Geschichte ihren Sinn! Auch im Stammbaum der Wissenschaften und Künste, der der Encyclopédie beigegeben war, zweigt so die Imagination zwar vor „La Raison“ ab – steht dabei aber auf einer Ebene mit „La Memoire à laquelle se rapporte d’Histoire“.57 Erinnerung und Einbildungskraft sind sich ähnlich, auch in ihrer fehlenden Rationalität.
§3 B EWEGTES B EIWERK Gerade weil d’Hancarville nun das „Nachleben“ der „signes“ nicht nur postuliert, sondern an konkreten Orten lokalisiert, gewinnt sein Argument zusätzliches Interesse. Denn er verortet die nachlebenden Zeichen an einem bestimmten Punkt: Meist transformieren sie sich in ein attributives Element der figürlichen Ikonographie.58 Wurde ein Gott ursprünglich mit dem Zeichen eines bestimmten Baumes dargestellt, so findet man dessen Stamm später meistens als Stützelement in seinen figürlichen Darstellungen. Und wo ein Gott vor dem Zeitalter der Kunst etwa in Form einer Steinpyramide verehrt wurde, da lebt dieses Zeichen in der pyramidalen Frisur, die die figürlichen Darstellungen des betreffenden Gottes auszeichnete, fort.59 Diese Form des „survivals“ resultiert also in etwas, das man mit Warburg als „belebtes Beiwerk“ ansprechen könnte. D’Hancarville selbst nennt diese Residuen der 60 ursprünglichen Bildformen einmal die „Epitheta“ der bildenden Kunst.
57 Zu diesem Schaubild: Graczyk 2004, S. 41ff.; Weigel 2006, S. 37ff. 58 Das „signe“, das an den späteren anthropomorphen Figuren seine Funktion verloren hätte, „s’y changea en attribut“ (AEGR III, S. 160). 59 „La Branche de la Diane d’Orée se trouve presque toujours placée à côté des figures de cette Déesse, comme le laurier qui représentoit anciennement Apollon, sert ordinairement de soutien & d’appui à ses Statues. La mémoire de la Pyramide qui représentoit Jupiter Mélichius à Sicyone, s’est conserve dans la forme Pyramidale des cheveux de ce Dieu, cette forme […] rappelle clairement l’idée de l’ancienne maniere de le signifier.“ (AEGR IV, S. 8) 60 „Cette Méthode arbitraire de représenter, par les modifications des membres de la figure, les qualités attribuées à ceux qu’elle devoit représenter, donnant à ces modifications par rapport au dessein, la valeur qu’ont les épithètes par rapport à la poésie.“ (AEGR IV, S. 126. Siehe auch ebd., S. 17)
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Diese Epitheta müssen dabei nicht immer nur „schmückendes“ Beiwerk sein; bisweilen massieren sich an einer Figur so viele dieser „survivals“, dass diese den Charakter des Bildes dominieren.61 Dies kann zunächst durch eine übertriebene Darstellung des betreffenden Bildelements geschehen, wodurch die mimetische Darstellung der anthropomorphen Figuren wieder deformiert wird.62 Paradebeispiel dieses deformierenden Vorgehens „où le Signe dominoit“ ist für d’Hancarville aber die Diana von Ephesos.63 Hier sei die Betonung des bedeutungsrelevanten Zeichens nicht durch Übertreibung, sondern durch Multiplikation desselben erreicht worden. Auf diese additive oder, wie d’Hancarville es nennt, kombinierende Weise seien auch alle antiken Kompositfiguren, ob Zentauren oder Tritonen entstanden.64 Mit diesen geradezu zwanghaften Multiplikationen bewegt sich dieser Prozess natürlich wieder gefährlich nahe an den Vorgängen der abergläubischen Fetischisierung der „Zeichen“. Autoren wie Locke fanden zu solchen assoziativen Zusammenstellungen verschiedener Elemente durchaus kritische Worte und beklagten – in den Worten Laurence Sternes – die „unhappy association of ideas which have no connection in nature“.65 Auch d’Hancarville bewertet derartige Kombinationen und Deformationen immer wieder als Verstöße gegen den guten Geschmack.66 Dennoch zeigt sich hier sehr deutlich, dass in den Antiquités keineswegs eine teleologische Geschichte der sich steigernden mimetischen Darstellungsfähigkeiten geschrieben wird. Im Gegenteil, für die Bedeutungsproduktion des Bildes sind gerade die die Figur deformierenden, aus älteren Traditionen übernommenen Elemente verantwortlich. Durch sie, diese arbiträren Elemente, werden die Bilder zu einer „Art figuralen Schrift, wo alles, selbst die Mängel, zum Verständnis des Sujets beitra67 gen“. 68
Das Beiwerk wird als „survival“ letztlich zum Sinnträger der Kunst. Unserem Autor gelingt damit eine bemerkenswerte Rochade, benennt er hier doch genau jene
61 Vgl. AEGR III, S. 61 mit Bsp. 62 Exemplarische Bildbeschreibungen dazu: AEGR III, S. 174f., 177, 204. 63 Hier gelte die „maxime de subordonner la figure aux signes“ (AEGR III, S. 38). 64 Vgl. AEGR III, S. 109. 65 Sterne, TS, Buch 1, Kap. 4. 66 „Le Mélange bizarre du Signe qui est presque toujours Arbitraire, avec les formes de la Nature qui sont toujours précises, Défigura la Sculpture. […] L’Alliance des Signes propres à une Divinité, avec les Formes qui convenoient à quelque autre, produisit les figures Panthées“ (AEGR III, S. 39). 67 Er spricht von einer „espèce d’écriture figurée, où tout, jusqu’aux défauts mêmes, contribue à faire comprendre le sujet“ (AEGR III, S. 203). 68 Dies beobachtete auch, wie bereits zitiert, Francis Haskell 1984, S. 185.
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Aspekte, die von den meisten seiner Zeitgenossen als beliebig (also auch: arbiträr) beschrieben wurden, als die eigentlich bedeutungsvollen Elemente der Kunst. Wiederum zeigt sich d’Hancarville hier als Anti-Winckelmann, wendet er damit doch genau jenes Element der Kunst ins Positive, das den Deutschen in große Probleme stürzte. Mehrfach in seiner Karriere sinnierte Winckelmann ausführlich über die Bedingungen und Möglichkeiten einer Sinnbildkunst, die er als „höchstes Ziel“ der Kunst bezeichnet.69 Ausgehend vom zentralen Grundgedanken des „Ut Pictura Poesis“, also dass Malerei „eine stumme Dichtkunst“ sei, sucht er nach historischen Allegorien, um die zu erschaffen die größten Künstler der Griechen ihre Pinsel „im Verstande getunckt“ haben.70 Er sucht also nach jenen Bildern, in denen der Griechengeist seine höchste und reinste Verkörperung gefunden haben soll und will damit einmal mehr der eigenen Gegenwart nachzuahmende und nachahmbare Vorbilder aufzeigen. Ornament und Attribut waren für den Deutschen bei dieser Suche die erklärten Feindbilder seiner klassizistischen Ästhetik, deren mimetisches Programm stets die „Natürlichkeit“ der Bilderfindung als Maxime auffasste. Zum Gegenbild seiner ästhetischen Leitbilder, denen „eine edle Einfalt und eine stille Größe“ zu eigen sein soll, erklärte Winckelmann die mit attributiven Beigaben zu Personifikationen gemachten Sinnbilder in der Tradition von Ripas Iconologia.71 Dergestalt „nach einer willkürlichen Phantasie zu zieren“, so schreibt er, sei der sichere Weg ins Verderbnis der Kunst.72 Was Winckelmann stattdessen sucht sind allegorische Darstellungsweisen, die nicht durch arbiträres, also „willkürliches“ Beiwerk, sondern durch – wie Bernhard Fischer richtig festgestellt hat – „natürliche Zeichen“ Sinn erzeugen: „Die Natur 73 selbst ist der Lehrer der Allegorie gewesen“, wie Winckelmann schreibt. Zeichen und Bezeichnetes müssen hier, so seine Forderung, in eins fallen, sie müssen „der Natur der Sache und dem Ort gemäß“ sein: „Deutlichkeit gaben die Alten ihren Bildern mehrentheils durch solche ihnen zugegebene Zeichen, die dieser und keiner anderen Sache eigen sind.“74
69 Diese Haltung Winckelmanns zur Allegorie wurde in der Forschung bisher wenig beachtet. Zu nennen sind: Rüdiger 1977, Fischer 1990, Hertel 2007. 70 Winckelmann 1968 [Gedanken], S. 55; ders. 1766, S. 2; ders. 1968 [Gedanken], S. 59. 71 Ders. 1968 [Gedanken], S. 43. Zu Ripa: ebd. S. 56 und Winckelmann 1766, S. 23ff. 72 Winckelmann 1968 [Erläuterung], S. 139. Eine ausführliche Untersuchung der klassizistischen Ornamentkritik scheint ebenfalls noch ein Desiderat. Brauchbare Ansätze bietet z.B. Raulet 1993. 73 Fischer 1990, S. 251; Winckelmann 1766, S. 3. 74 Winckelmann 1968 [Erläuterung], S. 130 u. 139.
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Das Problem ist, dass die in dieser Natürlichkeit implizierte Ursprünglichkeit der gesuchten Sinnbilder per se unerreichbar ist. Denn genau diesen allegorischen Darstellungsmodus erklärt Winckelmann in seinem Versuch einer Allegorie im selben Zuge, wo er es unternimmt ihn zu suchen, zu etwas, „was die älteren Griechen noch nicht kannten“.75 An den natürlichen und ungezierten Ausgangspunkt der Geschichte führen also keine Quellen.76 D’Hancarvilles Schlussfolgerung, die Wirkmacht der antiken Sinnbilder gerade nicht auf „Natürlichkeit“, sondern im Gegenteil auf eine arbiträre Wurzel zurückzuführen, weist das Projekt der Antiquités einmal mehr als fundamentale Gegengeschichte zur Geschichte der Kunst aus. Das Ornament, für Winckelmann Verständnis hemmende Akzidenz, wird hier Träger des ursprünglichen Bildsinns.
§4 F IKTION
UND
H YPOTHESE
Im arbiträren Produkt menschlichen Vermögens liegt also letztlich die Wahrheit der Geschichte. Dieses Programm ist im Kern aufklärerisch, da der Mensch und seine subjektive Setzung zum alleinigen Maßstab erklärt werden. Diese Ermächtigung des Subjekts bedingt in letzter Konsequenz ein spezifisches, für das aufgeklärte Jahrhundert typisches Verhalten zur Wahrheit, dessen Grenze zur Fiktion nicht ohne weiteres zu bestimmen ist.77 Isaac Newton hatte zu Beginn des 18. Jahrhunderts geschrieben: „Hypotheses non fingo“ – ich simuliere keine Hypothesen.78 Dass er hier „fingo“ schreibt, also das Wort benutzt, aus dem sich etymologisch die „Fiktion“ herleiten lässt, ist sicher kein Zufall. Die französische Übersetzung der Marquise de Chastellet bestätigt diese zeitgenössische Interpretation: „Je n’imagine point d’hypothèses.“79 Newton beschreibt damit eine Forderung an die Wissenschaft, die Fiktionsfreiheit als Maxime setzt. Genau diese Forderung wurde ungefähr zur selben Zeit auch von Daniel Defoe in der Einleitung zu Robinson Crusoe beschworen.80 Der qualita-
75 Winckelmann 1766, S. 2. 76 Dazu: Hertel 2007, S. 43. 77 Hier und im Folgenden beziehe ich mich auf den hervorragenden Aufsatz von John Bender 1995. 78 Newton 1713, S. 484. Dazu: Gjertsen 1986, S. 266. 79 Newton 1759, Bd. II, S. 179 (Herv. H.C.H.). 80 „The Editor believes the thing to be just History of Fact; neither is their any Appearance of Fiction in it.“ (Defoe 1719, unpag. Preface) Zu den Interdependenzen von Roman und Geschichtsschreibung in England siehe die fundamentale Arbeit von Zimmerman 1996, dessen These es ist, dass die Entstehungsbedingungen für das Genre Roman erst dadurch
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tive Unterschied zwischen beiden Autoren dürfte unmittelbar ersichtlich sein: Defoe fordert Fiktionsfreiheit ein für einen Text, der per se als Fiktion zu gelten hat, nämlich einen Roman. Dass Robinson Crusoes Bericht von der einsamen Insel zudem (wie der Titel informiert) „written by himself“ ist, unterstreicht die Perspektivität, die absolute Wahrheit zu allererst in der Subjektivität findet. So konnte umgekehrt auch eine historische Quellensammlung wie Thomas Cartes Collection of original letters an den brieflichen Zeugnissen gerade die Geschichten, das fiktionale Element also, wertschätzen.81 Dagegen verstand Samuel Richardson seinen Briefroman Clarissa als nichts weniger als eine „History of Life and Manners“.82 William Warburton, der das Vorwort zu Clarissa schrieb und das Buch dort als Werk der Fiktion bezeichnete, entgegnete Richardson im April 1784, dass auch fiktionale Texte mit „historischer Treue“ gelesen werden müssen.83 Ein historischer Wahrheitsanspruch, der gerade in der Fiktion zu finden ist, ja durch sie erst kreiert wird, findet hier seine deutlichste Formulierung. Oder anders gesagt: Wahrheit wird hier simuliert. Nicht im Sinne einer Vortäuschung falscher Tatsachen, sondern in der Form einer Hypothese, die ausschließlich fiktional gestellt werden kann. Es geht hier also, wie John Bender resümiert, um „das Problem der Simulation, d.h. [...] das Problem offenkundiger, empirisch nicht gesicherter Fiktionalität“.84 Für d’Hancarville dagegen gilt: Insoweit die Ursprünge „arbiträr“ sind, sind sie kein fertiges, kein gemachtes Bild, sondern eines, das erst zu machen ist. Damit öffnet sich ein fiktionaler Raum, in dem die „Sprache der Phantasie“, wie Moritz es genannt hätte, tätig werden kann. Kunstgeschichtsschreibung gewinnt dabei eine experimentelle und romanhafte Eigengesetzlichkeit. Dies ist, wie Karl Löwith gezeigt hat, die Maxime einer mathematischen Wissenschaftlichkeit, die, wie von dem im vorigen Kapitel zitierten Bacon gefordert, aus einer Manipulation der Ursprünge die Produktion neuer Effekte ableiten will.
gegeben waren, dass umgekehrt ein verstärktes Bewusstsein über die Konstruiertheit und Fiktionalität jeder historischen Erzählung gewachsen war. 81 „These narrations are generally more enlivening than narrations purely historical on the same subjects [...] they are often as entertaining as any poetical descriptions [...] they afford us the same pleasure which the fiction of a warm and fine imagination in a Poet’s able to create.“ (Carte 1739, Bd. I, S. III) 82 Richardson 1784, Bd. I, S. IV. Dazu: Phillips 1996. 83 „Will you, good Sir, allow me to mention, that I could wish that the Air of Genuineness has been kept up, tho’ I want not the letters to be thought genuine.“ Man solle den Text also lesen unter den Vorzeichen „of Historical Faith which Ficition itself is generally read with, tho’ we know it to be Fiction“ (Richardson 1964 S. 85). Vgl. Zimmerman 1996, S. 1. 84 Bender 1995, S. 99.
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Möglich wird dies, weil hier „ihre demonstratio eine operatio ist“: Wie in einer Gleichung können Gegenstände „wahrhaft, d.i. aus ihren Ursachen“ abgeleitet und bewiesen werden, „weil sie vom menschlichen Geist verursacht oder hervorgebracht sind“.85 Genau das ist d’Hancarvilles Kalkül, wenn er den Bildzeichen ihre „Natürlichkeit“ abspricht. Das Bild zu einem arbiträren Zeichen zu öffnen, den Ursprung also zu einem umcodierbaren Moment zu machen, das ohne Absolutheitsanspruch dem fiktionalen Handeln des Antiquars zugänglich ist – das ist das im wahrsten Sinne geniale Kalkül der Antiquités.
85 „,Definieren‘ ist hier gleichbedeutend mit Demonstrieren und dieses mit Machen oder Bewirken, weil probare per causas ein efficere ist.“ (Löwith 1968, S. 11)
IV. Die Potenz des Antiquars (Richard Payne Knight I)
§1 F ELDFORSCHUNG : H AMILTON
IN I SERNIA
Am 30.12.1781 berichtete William Hamilton in einem Brief an Joseph Banks, den Präsidenten der Royal Society und Schatzmeister der Society of Dilettanti, von einer „interessanten Entdeckung“ die er im Vorjahr in Isernia, einem kleinen Ort in den Abruzzen, gemacht hatte. Hamilton hatte herausgefunden, dass dort, nicht einmal fünfzig Kilometer von der Hauptstadt des Königreichs Neapel entfernt, „immer noch dem PRIAPUS, der obszönen Gottheit der Alten gehuldigt wird (wenn auch 1 unter anderem Namen)“. Priapus, Sohn des Dionysos und der Aphrodite, Gott der Fruchtbarkeit und zumeist gut erkennbar durch das ikonographische Attribut eines mächtigen, erigierten Glieds, würde also weiterhin im katholischen Süditalien verehrt werden. Der „moderne Priapus“ der abruzzischen Bergvölker sei dabei kein anderer als der populäre Heilige St. Kosmas. So jedenfalls wurde es Hamilton von einem einheimischen Straßenbauingenieur von „liberaler Erziehung“ berichtet. Den (italienischen) Brief mit den Schilderungen des Informanten ließ Hamilton zusammen mit seinem Brief 2 an Banks drucken. Jedes Jahr am 27. September, so der Italiener, findet in Isernia eine dem heiligen Kosmas gewidmete Prozession statt, die nichts anderes als ein Fruchtbarkeitskult sei, wobei die dort abgehaltenen Riten alles andere als heilig, sondern vielmehr „poco devota“ seien. Anlässlich dieser Feiern würden die kinderlosen oder sich
1
„Having last year made a curious discovery, that in a Province of this Kingdom, and not fifty miles from its Capital, a sort of devotion is still paid to PRIAPUS, the obscene Divinity of the Ancients (though under another denomination), I thought it a circumstance worth recording.“ (DISC, S. 3f.)
2
DISC, S. 13-19.
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weitere Kinder wünschenden Frauen von Isernia dem Heiligen als Bittgeschenke 3 für ihre Fruchtbarkeit wächserne Votive in der Form von Phalli darbringen. Vier dieser Exemplare, die auch als Frontispiz für die gedruckte Fassung von Hamiltons Brief dienten (Abb. 21), schickte der Botschafter als Beleg mit nach London. Ganz öffentlich wechselten also in Isernia – neben weiteren Ex Voti von Armen, Beinen 4 und anderen Körperteilen – auch die Priapea ihre Besitzer. Die den Heiligen um Fruchtbarkeit bittenden Frauen brachten diese Votive unter Küssen schließlich in der Kirche dar, wo sie auch über Nacht blieben. Abb. 21: Anon., Ex Voti presented in the Church of Isernia, Frontispiz zu Richard Payne Knight, Discourse..., 1786.
Ein in der zeitgenössischen Wahrnehmung mehr als spektakuläres oder, je nach Perspektive, skandalöses Beispiel eines „Überlebsels“ heidnisch-antiker Kultpraktiken war damit aufgezeigt. Die Resonanz der Öffentlichkeit war jedenfalls groß. Prominente Autoren wie Lichtenberg verbreiteten die Nachricht von dem „Handel mit heiligen großen Zehen in Italien“ und sorgten dafür, dass Kunde von diesem „scandaleusen Verfahren“ außer der gelehrten Welt auch die katholischen Offiziellen erreichte und den Kult um den Heiligen Kosmas allgemein in ein dubioses Licht
3
Umfassend zu den historischen Hintergründen dieses Berichts: Carabelli 1996, v.a. Kap. 3.
4
„[V]endono membri virili di cera di diverse forme, e di tutte le grandezze, fino ad un palmo“ (DISC, S. 15).
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rückte. Als Isernia einige Jahre später von einem Erdbeben getroffen wurde, erschien das manchem Beobachter nichts als die folgerichtige himmlische Strafe für 6 das gotteslästerliche Verhalten der Bewohner des Ortes zu sein. Die Wirkung des Briefes Hamiltons war jedenfalls so mächtig, dass in Reaktion darauf mehrere Wallfahrtsstätten des Heiligen Kosmas von den zuständigen Autori7 täten aufgehoben wurden – die Prozessionen von Isernia inklusive. Bereits als Hamilton ein Jahr nach seinem italienischen Informanten die in Rede stehende Wallfahrt besuchen wollte, war von dem obszönen Kult, der die Phantasie des Botschaf8 ters so sehr angeregt hatte, nichts mehr zu sehen. Auch der Antiquar Richard Colt Hoare reiste 1790 vergebens nach Isernia. Keine Spur der Phalluskulte war mehr zu sehen, was allerdings auch daran gelegen haben mag, dass der Engländer sich ausgerechnet den Bischof von Isernia als lokalen Cicerone auserkoren hatte. Eine von Colt Hoare angefertigte Zeichnung des Ortes zeigt jedenfalls das Bild eines idylli9 schen Landlebens, das antiken bacchischen Kulten denkbar fern steht. Doch auch hier scheint die Beharrungskraft der Tradition letztlich gesiegt zu haben. So berichtet Francis Macaroni etwas später von einem ganz und gar vergleichbaren „festival of Priapus“, das er im Jahre 1811 in den Abruzzen besucht 10 hat. Ob dieser Bericht authentisch ist, oder nur nach den von Hamilton bereitgestellten Daten erdichtet wurde, mag hier unerheblich sein: Ein Nachleben war den Phalluskulten in beiden Fällen garantiert.
5
Lichtenberg 1853 [1784].
6
Vgl. Carabelli 1996, S. 80.
7
Betroffen waren etwa die Kultstätten in Mühlheim am Main, Bernhardsweiler im Elsass und St. Kosmann bei Schloss Greifenstein in Südtirol. Dazu: Wittmann 1967, S. 178. Die Gemeinde Isernia macht mit diesem öffentlichkeitswirksamsten Moment ihrer Geschichte freilich noch heute Werbung und publizierte etwa ein 52-seitiges Heft über diese „eremo dell’eros“, die der Ort einst (nur einst?) gewesen sei. Vgl. Gioielli 2000.
8
„I did intend to have been present at the Feast of St. COSMO this year; but the indecency of this ceremony having probably transpired, from the country’s having been more frequented since [...] orders have been given, that the Great Toe of the Saint should no longer be exposed.“ (DISC, S. 7)
9
Colt-Hoare 1819, Bd. I, S. 169-173. Dazu: Carabelli 1996, S. 78f. u. Abb. 1.
10 „I was much struck with the clear and absolute identity of this celebration in honour of the reproductive principle of the ancients which in Greece and Rome took place on the 1st of May, – our English May-day, and the feast of Saint Cosmo and Damiano.“ (Maceroni 1838, Bd. I, S. 461) „Maceroni“ – auch ein Spitzname für das männliche Glied – ist übrigens in der Tat der Geburtsname dieses Autors.
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Die Zusammenhänge von antiker und moderner italienischer Kultur, gerade auf dem Feld der Volkskultur, waren freilich nichts, was Hamilton mit ethnologischem Spürsinn exklusiv diagnostiziert hätte. Entsprechende Vergleiche von antiken mit modernen Sitten waren zumeist einer polemischen, antiklerikalen Haltung geschuldet, die gerade das katholische Stammland Italien als im Kern weiterhin heidnisch darstellen wollte. Das ist auch der argumentative Impetus Hamiltons, der in seinem Brief an Banks ausdrücklich auf eines der populärsten Werke dieser Gattung, Co11 nyers Middletons Letter from Rome verweist. So betont Hamilton in seinem Bericht auch besonders das zur Zeremonie gehörige Übernachten im Tempel – eine moderne Variante des aus der Antike bestens bekannten Ritual der „Enkoimesis“, des Tempelschlafs, der an vielen Orten etwa in Zusammenhang mit Äskulapkulten überliefert ist.12 Diese Praktik lieferte genug Anlass zu Spekulationen, ob die Rolle der Priester in der Befruchtung der Frauen nicht doch mehr als eine nur vermittelnde sei.13 Der Frage nach dem antiken und modernen Gebrauch von sexueller Symbolik galt dabei besondere Aufmerksamkeit. Im Zuge der Ausgrabungen von Pompeji und Herkulaneum war schlagartig klar geworden, in welch hohem Maße sich die Römer mit aus moderner Perspektive unglaublich anzüglichen Bildern umgeben hatten. Die einschlägigen Tafelbände, in denen die Funde der neu ausgegrabenen 14 Städte publiziert wurden, waren voll von entsprechenden Beispielen. Solche Funde lösten bei ihren Entdeckern oftmals erregte Freude aus. Kein anderer als Winckelmann schwärmte 1762 in seinem berühmten, „lettera incazzita“ genannten Brief an den Arzt und Antiquar Ludovico Bianconi von solch einem Priapus, den er unter 15 den Antiken von Herkulaneum entdeckt hatte. Auch Winckelmann fühlte sich angesichts dieses antiken Phallus’ unmittelbar an die eigene Gegenwart erinnert. Nicht nur, dass das Objekt der Begierde ihm geradezu von Michelangelo geformt scheint. Stärker noch fällt ihm die Ähnlichkeit auf, die das antike Bildwerk zu den Handgesten der modernen neapolitanischen
11 Zu diesen Parallelführungen mehr in Kapitel VIII dieser Arbeit. 12 Als Einführung in die antiken Äskulapkulte: Lehmann 2006. 13 Zu dieser subkutanen Logik im Bericht Hamiltons: Davis 2010, S. 65. 14 Vgl. z.B. Maréchal 1780-1798, Bd. VII, S. 75ff. Zu diesem Autor und dem allgemeinen Umgang mit pompejianischen Erotica: Kendrick 1987, Kap. 1. Weiterhin galt jedoch: „The apparent casualness with which first-century Romans surrounded themselves with images of the phallus must have been a surprise even to the mid-eighteenth century, not yet as sensitive to such matters as their Victorian descendants.“ (Johns 1982, S. 21) 15 „[V]i mando un fascio di Priapi; si! di Priapi [...] effrigati sul piùbello fra gli antichi Ercolanesi.“ (Winckelmann 1952-1957, Bd. II, S. 214)
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Landbevölkerung aufweist. Winckelmann scheint hier weniger an eine Kirchenkritik gedacht zu haben. Vielmehr führt er mit den Gesten, in denen er antike „survivals“ erkennen mochte, einen in der zeitgenössischen Forschung sehr prominent diskutierten Gegenstand an. Anders als bei Hamiltons recht statischem Modell, das einen direkten Kurzschluss zwischen Antike und Moderne sucht, nimmt Winckelmanns Analogie dabei stärker Umdeutungen und formale Modifikationen der Überlieferung in den Blick. Gerade für die von Winckelmann erwähnten Gesten der „Feige“ und des „bösen Auges“ wurde intensiv diskutiert, inwieweit beide in einem 17 genealogischen wie inhaltlichen Zusammenhang stehen. Eine umfassende Aufarbeitung und Katalogisierung erfuhr diese Gestensprache erst weit im 19. Jahrhundert durch das einschlägige und weithin bekannte Werk De 18 Jorios. Dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem viel diskutierten Phänomen erst recht spät einsetzt, mag symptomatisch sein. Bis ins frühe 19. Jahrhundert scheint auch das aufgeklärte Nordeuropa noch mit skeptischem Blick auf die Ausprägungen des süditalienischen Volksglaubens geblickt zu haben, der immer 19 noch im Geruch des Magischen stand.
§2 D AS E RBE
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In jedem Fall scheint es, als habe Hamilton hiermit einen empirischen, ethnologischen Beleg für die Geschichtstheorien der Antiquités gefunden. Das Narrativ des „survival“ scheint nun endgültig belegbar geworden zu sein. Der Brief des Botschafters leistete allerdings nur die Bekanntgabe der sensationellen Entdeckung. Die umfassende Aufbereitung der Funde von Isernia und ihre Interpretation im Kontext einer Kunst- und Kulturtheorie des „Nachlebens“ blieb einem anderen Autor überlassen. Die Rede ist von dem englischen Antiquar Richard Payne Knight, dessen Discourse on the Worship of Priapus 1786 als Privatdruck zusammen mit den Briefen von Hamilton und seinem Informanten publiziert wurde.
16 „Il piu bel Priapetto è una figurina di lunghezza di un dito in circa, ma di un disegno e lavoro che lo credereste formato dal Michel Agnolo [...] fa colla mano destra il gesto minchionatorio degl’Italiani [...] Credereste che questi fascini sieno ancorain uso fra i Napolitanti bugiard[d]oni? Gli portano ancora d`argento e di metallo legati al petto contro il mal occhio, e ne ho veduto io di diversa sorte fra la plebe, e tutti fanno la fica o la fichetta.“ (Winckelmann 1952-1957, Bd. II, S. 215) 17 Vgl. De Ceglia 2011, S. 76. 18 De Jorio 1832. Als Überblick zu diesem Werk sei nur genannt: Kendon 2002. 19 Dazu: De Ceglia 2011.
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Knight war ein typischer Exponent jener antiquarischen Kultur, die das englische 18. Jahrhundert hervorgebracht hatte.20 Aus einer berühmten Familie aus Herefordshire (das er später auch als Parlamentsabgeordneter vertreten sollte) stammend, die ihr Vermögen als Stahlproduzenten gemacht hatte, widmete sich der junge Knight ganz den schönen Künsten. Bereits mit siebzehn Jahren scheint Knight, noch als kränklicher Jugendlicher, der nie eine öffentliche Schule oder Universität besucht hatte, das erste Mal Italien bereist zu haben. 1777 folgte eine weitere Reise durch Sizilien, während der er sich intensiv mit den wichtigsten antiquarischen Zirkeln seiner Zeit vernetzte. Seine Reisebegleiter waren keine Geringeren als Charles Gore und Jakob Philipp Hackert. Nur folgerichtig wurde er 1781 Mitglied der Society of Dilettanti, deren „ruling spirit“ er bald werden sollte.21 Die Dilettanti zeichneten dann auch für die Veröffentlichung des Discourse verantwortlich.22 Knight bewegte sich also in denselben antiquarischen Zirkeln, in denen auch Hamilton und d’Hancarville verkehrten. Man mag die Unternehmungen des jungen Knights gar als imitatio, wenn nicht als aemulatio des wissenschaftlichen Profils Hamiltons beschreiben. Der Auftraggeber der Antiquités galt gemeinhin als der renommierteste Amateur seiner Zeit.23 Angesichts der Dichte der hier beschriebenen Konstellation und des engen Zusammenhangs mit den Forschungen Hamiltons, in dem Knights Buch entstand, verwundert es wenig, dass sich letzterer intensiv mit d’Hancarville auseinandergesetzt hatte und auseinandersetzen musste. Bereits auf den ersten Seiten des Discourse wird dem französischen Antiquar namentlich die Referenz erwiesen. Der Leser wird aufgefordert, „das große und elaborierte Werk von Mr. D’Hancarville zu konsultieren“, dessen „unendliche Gelehrsamkeit und Scharfsinn“ hoch gelobt wird. Auch wenn Knight gleich darauf vermerkt, dass er in vielen Einzelfällen von d’Hancarvilles Meinungen abweichen muss (dies aber „immer mit äußerster Ehrerbietung und Respekt“), so wird unzweideutig der Autor der Antiquités zum Referenzpunkt für das eigene Anliegen eingeführt, ja gar zum Begründer 24 der einzig möglichen Methode der Interpretation antiker Symbolik erklärt.
20 Zu Knights Person weiterhin grundlegend: Clarke/Penny 1982. Zur Familiengeschichte siehe auch Inglis-Jones 1968. 21 Cust 1898, S. 119. 22 Ebd., S. 122f. 23 So Redford (2008, S. 83ff.), der Knights Karriereplanung und Selbststilisierung in „almost typological fashion“ auf Hamilton bezogen sieht. 24 „[C]onsult the great and elaborate work of Mr. D’Hancarville, who, with infinite learning and ingenuity, has traced [the progress of symbols] over the whole earth. [...] If in doing this, I frequently find it necessary to differ in opinion with the learned author abovementioned, it will be always with the utmost deference and respect; as it is to him that we
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Vor allem das geschichtstheoretische Rahmenwerk scheinen beide Autoren zu teilen. Auch Knight bestätigt, „dass es im Bereich der Sitten, wie in der Physik, 25 keine Wirkung ohne einen adäquaten Grund gibt“. Auch der Discourse vertritt damit ein Geschichtsbild, das die Anfänge, die Ursachen der Dinge als prägend für die daraus resultierenden Folgen betrachtet. Die Kunstgeschichte wäre damit wiederum verstanden als Folge, die sich aus der Ursache des ersten Bildes ergibt. Die Forschung zu Knight hat dieses Geschichtsbild verschiedentlich bemerkt: Am explizitesten findet sich die auch hier vertretene These sicher in Giancarlo Carabellis großartigem Buch In the image of Priapus, wo er Knights Traktat in eine direkte Entwicklungsgeschichte zu den Survival-Theoretikern des 19. Jahrhunderts setzt: „Even the doctrine of ‚survivals‘, adopted by Frazer from Tylor, represented a development of a view that was already present in eighteenth-century practice if not 26 theory“. Zuletzt und mit wesentlich höherer analytischer Präzision hat Whitney 27 Davis diese Sichtweise bestätigt. Bildwerke, so schreibt Knight mit einer bemerkenswerten Formulierung, seien 28 „symbols of symbols“. Durch die Tradition legitimierte Symbole seien im Laufe der Geschichte beständig in neue Kontexte versetzt und mit neuen Erklärungen versehen worden und so zu Sedimenten von Sinnschichten geronnen, die man als Symbol zweiter Ordnung beschreiben könnte. Bilder wurden im Laufe der Geschichte permanent reproduziert, ihr Sinn und Symbolgehalt „blieb erhalten, lange nachdem die Ursachen auf denen sie gründeten entweder völlig verloren, oder nur 29 teilweise, in vagen Traditionen, erhalten geblieben waren“. Das „survival“ von 30 Isernia jedenfalls sei mehr Regel als Ausnahme. Entsprechend ist auch das Verb
are indebted for the only reasonable method of explaining the emblematical works of the ancient artists.“ (DISC, S. 25) 25 „[I]n morals, as well as physics, there is no effect without an adequate cause.“ (DISC, S. 25) 26 Carabelli 1996, S. 119. 27 Davis 2008 u. 2010, Kap. II. 28 DISC, S. 48. 29 „Like many other customs, both of ancient and modern worship, the practice, probably, continued long after the reasons upon which it was founded were either wholly lost, or only partially reserved in vague traditions.“ (DISC, S. 51) Und erneut: „Fragments of the same system [of ancient religion] every where occur, variously expressed as they were variously understood, and oftentimes merely preserved without being understood at all; the ancient reference being continued to the symbols, when their meaning was wholly forgotten.“ (Ebd., S. 163) 30 „[It] can scarcely be deemed an exception.“ (DISC, S. 185)
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„adopted“, als Beschreibung dieses „Adaptierens“ und Übertragen einer Symbolik 31 in neue Kontexte, eines der meistverwendeten des ganzen Traktats. Die Überlieferungsketten führen dabei weit vor jede schriftliche Tradition und tiefer in die Zeit, als selbst die gerne (etwa vom Comte de Caylus) als „Primärobjekte“ des menschlichen Kunstschaffens bezeichneten ägyptischen Werke zurückreichen. Wie Knight schreibt: „So weit uns auch die ägyptischen Überreste zurück in unbekannte Zeitalter führen, so scheinen deren Symbole doch nicht in diesem Land erfunden worden zu sein, sondern müssen von einem anderen Volk kopiert 32 worden sein, das noch früher wirkte.“ Die Begründung für diese Kohärenz der historischen Überlieferung ist einfach. Sie resultiert aus dem Phänomen, das Knight als das anthropologische Wesen des Menschen festlegt. Nachahmung sei das Prinzip, das die Wurzel aller menschlicher Handlungen bildet. Das mimetische Vermögen des Menschen liegt also seinem symbolschaffenden Handeln zu Grunde. Dieser Nachahmungstrieb wird als anthopologische Konstante beschrieben, die nie außer Kraft gesetzt werden kann; Knight sieht den Menschen „uniformely acting upon the same principles, and to the same 33 ends“. Während in den Antiquités der Ursprung der Kunst also gerade in der Absenz von Mimesis lokalisiert wurde, ist hier das Gegenteil behauptet. Der Mensch sei ein „nachahmendes Tier“ – ein Denken, das Knight an anderer Stelle selbst als 34 aristotelisches Konzept ausweisen wird. Diese entscheidende These einer keiner Veränderung unterworfenen Konstanz der menschlichen Natur postulieren gleich die Anfangsworte des Discourse: „Men, considered collectively, are at all times the same animals, employing the same organs, and endowed with the same faculties: their passions, prejudices, and conceptions, will of course be formed upon the same internal principles, although directed to various ends, and modified in various ways, by the variety of external circumstances operating upon them. Education and science may correct, restrain, and extend; but neither can annihilate or create: they may turn and embellish the currents, but can neither stop nor enlarge the springs, which continuing to flow with a perpetual and equal tide, return to their ancient channels, when the 35
causes that perverted them are withdrawn.“
31 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: DISC, S. 25, 28, 38f., 48, 69, 74, 85, 95, 108, 119, 139, 165-167, 169, 187, 189. 32 „[A]s far as these Egyptian remains lead us into unknown ages, the symbols they contain appear not to have been invented in that country, but to have been copied from those of some other people, still anterior.“ (DISC, S. 90) 33 DISC, S. 186. 34 „Man, as the Stagirite has observed, is an imitative animal.“ (Knight 1809, S. I) 35 DISC, S. 21f.
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Äußere Einflüsse mögen den Menschen in verschiedene Richtungen lenken, letztlich kehrt sein Verhalten aber immer wieder an die Quellen zurück. Knight spricht hier über Geschichte mit der Metapher eines Flusslaufes, der von der Quelle ab determiniert ist und immer wieder in sein Flussbett zurückkehrt. Kunstgeschichte wird damit zu einer großen Kette von Replikationen, wodurch Reste der ersten Formen durch ständige Wiederholung bis in die jüngste Gegenwart tradiert werden. Die aufrechten Formen der heiligen keltischen Obelisken leben etwa fort in Kirchturmspitzen und den Fialen der modernen gotischen Kirchen.36 Diese Traditionslinien – man mag es nach der Erzählung von Isernia angesichts der genannten Formen schon fast denken – seien auf antike Phalluskulte rückführbar. „Spuren und Erinnerungen davon scheinen jedenfalls in vielen Teilen der Christenheit bewahrt worden zu sein [...]. Daher die obszönen Figuren, die man an vielen unserer gotischen Kathedralen beobachten kann.“ Sogar vor dem Zentralmonument der Christenheit schreckt Knight im Folgenden nicht zurück. Entsprechende sexualisierte Symbole findet er „besonders auf den antiken Messingtüren von St. Peter in Rom, wo einige Gruppen zu finden sind, die den Emblemen auf Medaillen aus Lesbos gleichkommen“.37 Wenn in antiken Porträts dem Herrscher Hörner als Attribut gegeben sind, also das Bild, das man aus dem jüdisch-christlichen Kulturkreis am gehörnten Moses weiterverfolgen kann, dann weist das darauf hin, dass ursprünglich der Bulle als Symbol der männlich-generativen Kraft, als Urszene politischer Herrschaft, betrachtet worden wäre. Diese ursprünglichen Symbolschichten scheinen wie Symptome immer wieder in der Geschichte auf, so wenn die Juden sich am Sinai einen jungen Bullen – das goldene Kalb – zum Leitbild und Gottesersatz gewählt haben. „Survivals“ beobachtet Knight dann sogar am christlichen Kreuz, bei dem die phallische Urform noch offensichtlich sei; vormals „diente es als Emblem für Kreation und Fortpflanzung, bevor die Kirche es als Zeichen der Erlösung adaptier38 te“. Der Phallus und die aus ihm resultierenden Symbole sind jedoch bereits das, was Knight (wunderbar paradox) „figurative Abstraktionen“ nennt. Er versteht den
36 „From the ancient solar obelisks came the spires and pinnacles with which our churches are still decorated, so many ages after their meaning has been forgotten.“ (DISC, S. 116f.) 37 „Traces and memorials of it [the phallus worship] seem however to have been preserved, in many parts of Christendom, long after the actual celebration of its rites ceased. Hence the obscene figures observable upon many of our Gothic Cathedrals, and particularly upon the ancient brass doors of St. Peter’s at Rome, where there are some groups which rival the devices on the Lesbian Medals.“ (DISC, S. 186) 38 DISC, S. 48.
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Phallus als Symbol, das einen Teilaspekt, also nur eine Eigenschaft der Gottheit be39 zeichnet. Aus der Fülle der Fähigkeiten eines allmächtigen Gottes beziehe sich das Symbol des Phallus nur auf einen Aspekt dieser Macht, nämlich die Funktion von Gott als dem Schöpfer des Menschen. Dieses Symbol sei also nur der Verehrung der generativen Kräfte gewidmet und sei Teil einer ursprünglich komplexeren Symbolik. Knights Erkundungen in der Überlieferungsgeschichte der Bilder führen ihn dabei noch weiter in jene Regionen, die man modern wohl als „Prähistorie“ be40 zeichnen würde. Abb. 22: Anon., Bulle, der das „Ei des Chaos“ zerbricht, in: D’Hancarville 1785.
Als eine solche tiefere Überlieferungsschicht identifiziert Knight die bereits kurz angesprochene Ikonographie, in der die generative Kraft in der Form eines Stiers dargestellt ist. Diese ließe sich meist in einer Ikonographie nachweisen, wo der Stier ein Ei zerbricht (Abb. 22). Dieses „Ei des Chaos“ repräsentierte dabei das dem 41 männlichen entgegengesetzte weibliche Prinzip. Aus dieser Dualität von aktivem
39 DISC, S. 163. 40 So Davis 2008, S. 118. 41 „The Creator, delivering the fructified seeds of things from the restraints of inert matter by his divine strength, is represented on innumerable Greek medals by the Urus, or wild Bull in the act of butting against the Egg of Chaos, and breaking it with his horns.“ (DISC, S. 35)
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und passivem Prinzip schließt Knight nun auf eine noch fundamentalere, ursprünglichere symbolische Schicht. Denn entsprechend dem Zusammenwirken von „Stier“ und „Ei“ (wobei die ranghöhere Einordnung des aktiven, männlichen Prinzips offensichtlich ist) wäre die erste Darstellungsform für den Schöpfer, so schlussfolgert Knight einigermaßen spektakulär, ein beide Geschlechter besitzender Gott gewe42 sen: „The Creator, being of both sexes, is represented indifferently of either.“ „Materie in ihrem ersten Stadium“ sei androgyn zu betrachten. Knight, so scheint es fast, nimmt diesen Glaubenssatz der antiken Theologie als eine tatsächliche Wahrheit an.43 Doch vielleicht ist genau diese Unsicherheit ein bezeichnender Zug an Knights Historiographie, die den Ursprung, also das göttliche Urprinzip, erst erzählend zu konstruieren erlaubt. So steht letztlich fest: Man betrachtete den „Schöpfer sowohl als männlich und weiblich“. Im Felde der Kunst führt dieser Schluss zu einigen überraschenden Interpretationen: „Oft finden wir in antiken Skulpturen gewisse androgyne Wesen, denen die charakteristischen Organe beider Geschlechter zu eigen sind, und die ich für Darstellungen der organisierten Materie im ersten Stadium halte“. Minerva sei etwa in diesem Sinne als Zwitter zu betrachten, wie er mit Hinweis auf die orphischen Hymnen, eine seiner wichtigsten Referenzquellen, behauptet: „Der Geschlechterunterschied, egal wie wichtig bei physischen Wesen, hat wenig Bedeutung bei metaphysischen Wesen.“44 Nämliche Urbilder finden sich auch im Judentum. „Als Mann und Frau schuf er sie“, so sagt es schließlich bereits die Heilige Schrift. Und wenn direkt davor geschrieben steht, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild erschuf, so ist für Knight der Schluss evident, dass auch der Schöpfer selbst „Mann und Frau“ sein muss.45 Ob in Nordeuropa oder Asien: Knight findet überall ähnliche Überlieferungen.46 Die Validität dieser universellen und ursprünglichen Vorstellung ist damit nicht nur auf Griechenland beschränkt, sondern findet sich über die gesamte Erde
42 DISC, S. 56; ebenso: S. 66. 43 Whitney Davis bezeichnet Knights Vorstellung von der ursprünglichen Androgynität als „principle of thought itself“ (2008, S. 118) – doch jenseits des Denkens selbst kann eben kein Bewusstsein vorstellbar sein. 44 „[W]e often find in the ancient sculptures certain androgynous beings possessed of the characteristic organs of both sexes, which I take to represent organized matter in its first stage.“ (DISC, S. 70) „The difference of sexes, however important it may be in a physical, is of very little consequence in metaphysical beings.“ (DISC, S. 97) 45 „The Jewish legislator says expressly, that God made man in his own image, and, prior to the creation of woman, created him male and female, as he himself consequently was.“ (DISC, S. 73) 46 Vgl. z.B. für Nachweise aus Nordeuropa: DISC, S. 134-136, aus Indien u.a.: DISC, S. 81 u. 90f.
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diffundiert. So sei es etwa „evident that Stonehenge, and all the other monuments of the same kind found in the North, belonged to the same religion“; auch hier sei Apoll verehrt worden. Die Rundform des Megalithenhains, die ihm Vergleiche zum Beispiel mit dem davor diskutierten Tempel des Bacchus in Pozzuoli erlaubt, genügt hier als Konjektur.
§3 D IE N ATÜRLICHKEIT
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Eines dürfte bei diesem raschen Überblick über die (um mit Warburg zu sprechen) „Wanderstraßen“ der Symbole, die Knight zeichnet, deutlich geworden sein: Der Phallus, dessen Nachleben in Isernia dokumentiert werden konnte, ist in Knights Kulturtheorie mehr als nur ein beliebiges Symbol, dem potentiell auch andere Traditionsstränge hinzugesetzt werden können. Die daraus abzuleitende, ursprüngliche Verehrung der generativen Kräfte ist vielmehr der Ausgangspunkt für eine universelle Erklärung der Symbolik der Welt. Knights Anliegen ist eine monogenetische Theorie, die alle Bildkulturen in einem gemeinsamen Ursprung zusammenbindet. Sein ganzes Lehrgebäude beruht auf der Annahme eines antiken (oder besser: an47 fänglichen) „großen und erhabenen Systems eines allgemeinen ersten Grunds“. Alles was aus diesem Grund hervorgegangen ist, bezeichnet Knight als „emanations“, also Ausströmungen oder Ableitungen von dieser ersten Ursache.48 Dieser überraschend neuplatonische Begriff hat mehrere Autoren dazu bewegt, Knight in dieser Denkrichtung zu situieren.49 Ähnliche Gedankengebäude finden sich im engeren Umkreis der englischen Altertumskunde etwa in Thomas Hopes Essay on the Origin and Prospects of Man.50 Tatsächlich wurde auch im neuplatonischen Denken Gott als die erste Ursache gesetzt, deren Emanationen als Teilaspekte der göttlichen Ganzheit betrachtet werden müssen. Sie stehen jedoch nie für sich, sondern sind nur Ableitungen – „secondary causes“, wie Thomas Hope das mit Newton nennt. Knights Grund für diese Begriffsverwendung scheint jedoch weniger ein Bekenntnis zum Platonismus, als im Gegenteil eine polemische Gegenlektüre der christlichen Begriffe zu sein. Denn „Emanationen“ sind etwas, das Knights ansonsten beständig zitierter Leitstern Lukrez ausdrücklich zurückweist.51
47 „[The] grand and exalted system of a general first cause.“ (DISC, S. 174) 48 DISC, S. 43, 49, 59 und passim. 49 Z.B. Humphreys 2001, S. 178. Zur Geschichte des erst im Platonismus der Spätantike ausgeprägten Begriff der „Emanation“: Dörrie 1976, S. 70-88. 50 Hope 1831, Bd. I, S. 79ff. 51 Siehe Dörrie 1976, S. 76.
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Die bedeutungsvolle symbolische Form, in der die erste Theologie ihre Bilder formte, unterscheidet sich damit sehr deutlich von den als „arbiträr“ bestimmten, ungegenständlichen Bildformen, in denen d’Hancarville in den Antiquités die Urgeschichte der Kunst aufgehoben sah.52 Ganz im Gegenteil zur Konzeption der willkürlichen „signes“ ist mit dem Phallus ein „natürliches Zeichen“ par excellence aufgerufen.53 Genau dieser Punkt, die Frage nach der Arbitrarität der Symbole, ist auch eine der Stellen, wo Knight d’Hancarville explizit widerspricht. Die „imitative representations of ideas“, also das Konzept, das er selbst an den Anfang der Symbolgenese stellt, betrachtet er als konträr zu den „arbitrary signs of convention“.54 „Natürlichkeit“ und „natürlich“ gehören zu den Schlüsselbegriffen in Knights Text.55 Das mag auch ein Zeichen einer etwas apodiktischen Argumentation sein, lässt aber trotzdem auf die Bedeutung, die Knight der „Natürlichkeit“ der Phallusverehrung zuweist, schließen. Gerade im ersten Kapitel begegnet dieses Vokabular teils programmatisch gehäuft: „There is naturally no impurity of licentiousness in the moderate and regular gratification of any natural appetite. [...] Neiter are the organs of one species of enjoyment naturally to be considered as subjects of shame and concealement [...] [The ancients] naturally selected those objects.“56 Das Symbol (Priapus ist für Knight hier nur ein Beispiel, wenn auch ein besonders bedeutsames) wird im Discourse also als Mittel gesehen, um abstrakte Ideen in sinnlich erfahrbarer Gestalt darzustellen und so die dem Glauben zu Grunde liegenden Ideen für ein breiteres Publikum anschaulich zu machen.57 Die gewählten Sinnbilder erklären sich dabei aus einer Ähnlichkeitsbeziehung zu dem Bezeichneten. Um die Götter zu repräsentieren, haben die griechischen Künstler jene Dinge ausgewählt, die ähnliche Eigenschaften besaßen, wie sie dem Gott zugeschrieben wurden; die Alten „uniformely represented the attributes of the deity by the correspon-
52 Trotzdem sahen einige zeitgenössische Kommentatoren auch d’Hancarvilles Thesen als konform zum spätantiken Platonismus an. Vgl. Anon. 1818 [Charles Townley]. 53 Auch wenn damit Knight sich stärker als er es zugibt gegen d’Hancarville, positioniert ist trotzdem nicht Godwin zuzustimmen, der schreibt, Knight „acknowledges the Frenchman’s work with brief courtesy, but owes nothing to it“ (1994, S. 8). James Moore spricht dagegen sogar von „Knight’s ‚Translation‘ of D’Hancarville“ (2008, S. 157). 54 DISC, S. 39. 55 Wiederum ohne Anspruch auf Vollständigkeit: DISC, S. 26, 28f., 59, 62f., 64, 67, 72, 74, 85, 98, 101, 103, 106, 108, 122, 139, 142f., 164, 168, 173, 176, 179, 184, 194. 56 DISC, S. 28. 57 „[T]hese symbols were intended to express abstract ideas by objects of sight..“ (DISC, S. 28)
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ding properties observed in the objects of sight“.58 Im Falle von Gott als Schöpfer sei dies eben der Phallus gewesen – ein Symbol also, das genau jene erschaffende Potenz besitzt, wie sie auch dem Weltenschöpfer zugewiesen wurde.59 Darum seien die Phalli auch meistens erigiert dargestellt gewesen, denn dies „is necessary to the due performance of its functions“.60 Wichtig ist zu sagen, dass diese Bilder zwar konventionell (man denke an das alternative Bild des Stiers mit dem Ei), aber überhaupt nicht arbiträr sind. Sie beruhen auf einer Ähnlichkeitsbeziehung. Die früheste Schicht der Symbole bestehe eben aus „imitative representations of ideas“ – und dezidiert nicht aus „arbitrary signs of convention“. Alle Doppeldeutigkeiten und beliebigen Sinnzuweisungen verortet Knight in späteren Entwicklungsstufen, denn dies sind Phänomene „which could not possibly exist in an original tongue“.61 Knights Theorie vom Ursprung der Kunst widerspricht der These d’Hancarvilles in den Antiquités damit also diametral. Mit dem Phallus ist ein natürliches und keinesfalls arbiträres Zeichen an den Anfang gerückt. Auch die Entwicklung der Kunstgeschichte ist mehr oder weniger von den Füßen auf den Kopf gestellt. D’Hancarvilles These war ja, dass einzelne „Zeichen“ sich in späteren Entwicklungsstufen mit figurativen Darstellungen vereinigten und so komplexe Symbolkonglomerate entstanden, deren Vielfalt sich bis zu einer gewissen Monstrosität steigern konnte. Knights Geschichte nimmt genau den umgekehrten Weg. Am Anfang der Kunst steht eine allumfassende symbolische Repräsentation des Göttlichen, die prinzipiell eine (geschlechtliche) Mischform sei. Erst im Laufe der Geschichte werden aus dieser pantheistischen Urform einzelne Aspekte gelöst und zu separaten Symbolen wie dem Phallus gemacht. Die kombinierten Formen, in den Antiquités eine spätere Stufe der Bildgeschichte, sind im Discourse als ursprüngliche Form gedeutet: „Auf den Kapitellen eines der Tempel von Philae finden wir den Kopf der Venus immer noch in einer gemischten Form dargestellt; die Hörner und Ohren der Kuh sind vereint mit den schönen Zügen einer Frau in der Blüte
58 DISC, S. 27. Ähnlich: „[T]he contrivers of [these symbols] naturally selected those objects whose characteristic properties seemed to have the greatest analogy with the Divine attributes which they wished to represent.“ (DISC, S. 28) 59 „[W]hat more just and natural image could they find, by which to express their idea of the beneficent power of the great Creator, than that organ which endowed them with the power of procreation.“ (DISC, S. 28) 60 DISC, S. 46. 61 Ebd., S. 39f. Hier greift er passagenweise auf Ideen zurück, die er bereits im Reisetagebuch der Sizilianischen Reise äußerte, vgl. Knight 1986, S. 66. Diese Differenz zwischen d’Hancarville und Knight bemerkte bereits A. Ponte (1992, S. 284), allerdings ohne deren Konsequenz für den Bildbegriff beider Autoren zu bemerken.
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ihres Lebens“.62 Für d’Hancarville dagegen wäre ein solches Mischwesen (man denke an die Funde aus Mecklenburg) untrügliches Zeichen für eine spätere, von „survivals“ geprägte Stufe der Kunstentwicklung. Trotz dieser Auslösung und Absolutsetzung einzelner Aspekte der ursprünglich ganzheitlichen Symbole sieht Knight etwa im Phalluskult dennoch keine Fetischisierung am Werk. Ausdrücklich betont er, ein Gott wie etwa Priapus sei nicht um seiner selbst Willen verehrt worden, sondern sei als symbolische Repräsentation einer zunächst verborgenen Bedeutung zu betrachten.63 Hier zeigt sich ein weiterer, fundamentaler Unterschied zu den Antiquités. Während d’Hancarville einen euhemeristischen Erklärungsmodus präferierte, also die ersten Erinnerungszeichen als Gedächtnismale verstand, die eigentlich keine göttlichen, sondern historische Taten präsent halten sollten, deutet Knight diese Bildwelten allegorisch aus. Genau dies markiert in aller Deutlichkeit noch einmal den Unterschied zwischen einer Definition von Bildern als „arbiträren“ oder „natürlichen“ Zeichen. Die Antiquités führten die Bilder „auf ihre bloße direkte und erschöpfende Zeichenfunktion zurück“, wie Werner Busch die kunsthistorische Konsequenz euhemeristischen Denkens benannte.64 Der Allegorismus dagegen betont „die Eigenständigkeit des ästhetischbildlichen gegenüber dem logisch-diskursiven Prinzip“.65 Einfacher und vor allem universeller lesbar werden die „natürlichen“ Allegorien damit aber, wie noch zu zeigen ist, nicht. Die Unterschiede des Discourse zum Bildkonzept der Antiquités sind also evident. Dennoch ist (und das verwundert), wie bereits gesagt, Pierre d’Hancarville der zentrale Bezugspunkt für Knights Theorie, wenn er auch hinsichtlich der Arbitrarität der Bilder anderer Meinung ist. Knights Referenztext sind jedoch weniger die Antiquités als vielmehr d’Hancarvilles zweites Hauptwerk, die Recherches sur l’Origine, l’Esprit et les Progrès des arts de la Grèce. Der umtriebige d’Hancarville verfasste dieses Werk in London unter der Patronage Charles Townleys. Hier entwarf auch d’Hancarville eine sexualisierte Kulturtheorie, die viele der Gedanken des Discourse vorwegnimmt. So schreibt er hier ebenfalls vom Phallus als Symbol des „principe de la Vie“ und identifiziert als das „être génerateur“ ein androgynes 66 „être aux deux sexes“.
62 „On the capitals of one of the temples of Philae we still find the heads of this goddess [Venus] represented of a mixed form; the horns and ears of the cow being joined to the beautiful features of a woman in the prime of life“ (DISC, S. 106 [Herv. H.C.H.]). 63 Er sei eine „symbolical representation of some hidden meaning“ (DISC, S. 24). 64 Busch 1993, S. 196. 65 Jamme 1998, S. 162. 66 D’Hancarville 1785, Bd. II, S. 304 und 318.
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Abb. 23: Carmine Pignatori nach Beaulieu, Vignette, in AEGR IV, S. 1.
Wie genau es d’Hancarville gelang, sich der prestigeträchtigen Stelle bei Townley, einer der größten Kapazitäten des antiquarischen Londons, zu bemächtigen, muss offen bleiben. Seine notorische Unzuverlässigkeit hatte er bei der Produktion der Antiquités eigentlich zur Genüge bewiesen. Dennoch gelang es ihm, nachdem er völlig mittellos in England aufgeschlagen war, um bei seinem alten Patron Hamilton ein Auskommen zu suchen, durch dessen Vermittlung bei Townley unterzukommen. Hier entwickelte er nun, in enger Bezugnahme auf die Sammlung seines Patrons, jene Theorien einer universellen sexuellen Symbolik, die Knight dann für seinen Discourse adaptieren sollte. Die Konzentration auf die „generativen Kräfte“ als zentralen kulturtheoretischen Brennpunkt begann für d’Hancarville offenbar schon während des vierten Bandes der Antiquités an Konjunktur zu gewinnen. Bereits hier zeigte die erste Vignette die Darstellung eines kopulierenden Paares (Abb. 23). Intensiviert hat sich das Interesse an diesen Themen offenbar in den folgenden Jahren, in denen unser Autor – wohl schlicht aus materiellen Bedürfnissen – mehrere rundheraus pornographische Bücher verfasste. Auch wenn einige der in diesem Rahmen publizierten Bilder aus dem Privatleben der römischen Caesaren oder Denkmäler des Geheimkults der römischen Damen tatsächlich echte antike Gemmenbilder publizierten 67 (und nicht, wie lange vermutet, reine Erfindungen des Autors waren ), handelt es sich bei diesen Werken trotzdem um mit einem nur sehr dünnen antiquarischen Mäntelchen umhängte Gebrauchsliteratur. Dass diese Tätigkeit, wie oft in der Forschung vermutet, eine tatsächliche intellektuelle Kehre unseres Autors bewirkt haben soll, scheint fraglich. Sicher schulte sie aber seine Sensibilität für diese Ikono-
67 Für diesen Hinweis danke ich Andrei Pop, der erstmals einige historische Vorbilder für Abbildungen in diesen Schriften d’Hancarvilles identifizieren konnte. Vgl. Pop (2010), dem ich für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in sein noch unveröffentlichtes Manuskript herzlich danken möchte.
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graphien, machten ihn mit antiken Bildern dieses Themas vertraut und sicherten ihm vielleicht die Aufmerksamkeit eines Auftraggebers wie Charles Townley. So scheinen die im Folgenden zu besprechenden Gedanken eher ein Zeugnis davon, wie die arbiträren Anfänge, als leerer Signifikant vom selben Autor ein weiteres Mal neu besetzt werden, die Geschichte unter seiner Autorität ein weiteres Mal auf neue Füße gestellt und als neue, experimentelle Versuchsanordnung durchgespielt 68 wird. In jedem Fall entwirft d’Hancarville in seinen Recherches eine zu den Antiquités völlig konträre Idee davon, wie und warum Bilder entstanden und welche Charakteristika diese ersten Vertreter ihrer Art hatten. Nicht mehr die unbearbeiteten, arbiträren Steinzeichen sind hier das Zentrum der Überlegung. Statt Bilder als grundsätzlich bedeutungsoffene Zeichen zu verstehen, interpretiert er sie nun als Symbo69 le, die die Verehrung der generativen Kräfte zum Thema haben. Zum Paradigma wird ihm aus dieser Perspektive eine gänzlich andere Gattung, die quasi a priori prädestiniert für den Ausdruck „reproduktiver“ Symboliken ist. Hauptgegenstand seiner Argumentation wird in der Tat ein Reproduktionsmedium, Münzen nämlich, die er dann auf ingeniöse Weise wieder mit „argoi lithoi“ verbindet, jedoch mit einer ganz eigenen Klasse dieser Steine, nämlich den Donnerkeilen. Er bezieht sich damit auf solche Steine, denen, verstanden als versteinerte Blitze, ein ‚natürlicher‘ Ursprung zugewiesen worden war. Diese analogisiert er mit den Münzen, die beide raffiniert als ein Prägevorgang, als ein Abdruck also verstanden werden. Damit ist die Abkehr vom arbiträren Zeichen auch für d’Hancarville offensichtlich. Der Abdruck erzeugt vielmehr eine Spur dessen, von dem er abgedruckt wird. 70 „Spur“ ist hier kein postmodernes Vokabular. In der Tat spricht d’Hancarville von
68 Sehr richtig bemerkt dazu Andrei Pop: „It remains an open question whether d’Hancarville ‚believed‘ in his sexual pantheism.“ (2010, S. 272) 69 Hierzu v.a. d’Hancarville 1785, Bd. I, Kap. III. 70 Dennoch ist es mehr als bemerkenswert, wie verwandt d’Hancarvilles Ideen zu modernen Konzepten von „Abdruck“ und „Spur“ scheinen, wie sie etwa Georges Didi-Huberman (bezeichnenderweise ein einschlägiger Theoretiker des „Nachlebens“) entworfen hat. Vgl. Didi-Huberman 1999. Zusammenfassend über Theorien des Abdrucks in der Moderne, vor allem bezogen auf Fotografie: Geimer 2009, Kap. 1. Gerade angesichts der Überlegung, dass die ersten Bilder hier aus Blitzen entstehen, also als Abdrücke von Licht verstanden werden, ist die Analogie zur Fotografie überraschend eng und erscheint extrem virulent. Hier scheint ein weiterer Beleg für die These Annette Geigers vorzuliegen, dass die medialen Dispositive, die zur Entstehung der Fotografie in der Mitte des 19. Jahrhunderts nötig waren, bereits im 18. Jahrhundert formuliert wurden (Geiger 2004).
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den „traits de la foudre“. Dass diese, zur Grundlage der Kunst erklärt, eben nicht in arbiträren Akten der Signifikation wurzeln, erklärt unser Autor mit aller wünschenswerten Deutlichkeit. „Anstatt arbiträr zu sein, wie beinahe alle Worte der gesprochenen Sprachen, begründen sich die Ausdrucksformen dieser neuen Sprache [...] aus Analogien oder konventionellen Bezügen, die zwischen der unsichtbaren 72 Sache, die man darstellen wollte, und den sichtbaren Sachen existierte.“ Die ersten Bilder sind also dezidiert darstellend, und zwar in Formen darstellend, die ähnlich zu dem von ihnen Bezeichneten sind, auch wenn diese Ähnlichkeit als Konvention erkannt wird. Verschiedene Ähnlichkeiten sind dabei möglich. Beim Blitz ist das etwa die Wahl zwischen seinem Licht (Sonnenstrahlen) oder seiner Spitze (Donnerkeile). Dennoch sind diese Ähnlichkeiten als „natürliche“ Sinnbeziehungen, bzw. im wahrsten Sinne des Wortes als charakteristisch zu betrachten. Die etymologische Wurzel des „Charakters“, griechisch „charissein“, heißt „einprägen“ und bezeichnet den Vorgang, mit dem Münzen geprägt werden. Die „Spuren“ eines Abdrucks sind damit Sinnbild einer charaktervollen, abbildlichen Relation 73 von Zeichen und Bezeichnendem. Die Vorbildlichkeit dieses Modells für Knight ist offensichtlich. Auch für die Überlieferungswege lehnt sich der Discourse aufs Engste diesem, die reproduktive Medialität der Bilder betonenden Spurmodell an. Medaillen und Münzen, als reproduktiven Medien, kommt in seiner Argumentation eine besondere Rolle zu, weil sie qua ihres Verbreitungsgrades die sichersten Trägermedien, bzw. Zeugnisse eines kollektiven Bildgedächtnisses sind. Jonathan Scott zitiert einen Brief Knights an Charles Townley, wo er genau das bestätigt: „Medals are more important than any other remain of Art, because they were public acts and therefore the devices upon them cannot be attributed to individual caprice“– ein Argument, das mindestens auf 74 Joseph Addison zurückzuführen ist. Dazu kommen auch die praktischen Vorteile der Gattung, eignet sich ihre Überlieferungsdichte doch, wie bereits d’Hancarville 75 bemerkte, besonders dafür fundierte Stilgeschichten zu schreiben. In der Medaillenkunst würde also sichtbar, was allgemein rezipiert und geglaubt wurde und vor allem auch „mit Zustimmung der öffentlichen Gewalt entworfen und ausgeführt“ wurde. Für eine tragfähige Kulturgeschichte der Symbole müsse man
71 D’Hancarville 1785, Bd. I, S. 5. 72 „Au lieu d’être arbitraires, comme presque tous les mots des langues, les expressions de la langue nouvelle que l’art se forma & dont les formes conventionelles furent les élémens, se tirerent des analogies ou rapports de convenance, qui existoient entre la chose invisible qu’on vouloit représenter, & la chose visible.“ (D’Hancarville 1785, Bd. I, S. 4) 73 Zu dieser Etymologie: Trabant 1994, S. 49. 74 Zitiert nach Scott 2003, S. 190. Addison 1726. 75 D’Hancarville 1785, Bd. I, S. IIIf.
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sich also an diese Bilder halten, denn „egal welche Vorstellungen auf ihnen enthalten sind müssen nämlich die Vorstellungen von Nationen und nicht die Launen von Individuen gewesen sein“. Einziger Überlieferungsträger, der diese Einsicht erlaubt, sei eben die „Gattung der Münzen“. Hermeneutisch sind diese zudem von besonderem Wert, da ihr Avers und Revers sich wechselseitig erklären würde, und man damit automatisch zwei verschiedene Motive in einen Sinnzusammenhang rücken könne.76 Knight erweist sich damit als entscheidende Gestalt in der Entstehung der bis 1800 noch relativ marginalen britischen Numismatik, zumal da seine Sammlung später den Grundstock des Münzkabinetts des British Museum bilden sollte.77
§4 W ISSENSCHAFT
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Um das bisher Gesagte noch einmal zusammenzufassen: Obwohl Knight mit dem Discourse das kunsthistoriographische Narrativ adaptierte, das d’Hancarville seit den Antiquités verfolgte und das hier als „Nachleben“ bezeichnet wurde, schreibt er dieser Erzählung doch erneut eine andere erste Ursache ein. Dies betrifft nicht nur das Thema einer ursprünglichen, sexualisierten Symbolik, zu der auch d’Hancarville in Diensten seines neuen Patrons Charles Townley wechselte, sondern vor allem einen Begriff vom Bild, der die Kunstgeschichte statt auf arbiträren auf natürlichen Zeichen gründen sieht. Auch diese Absetzungsbewegung von den Lehren der Antiquités kann, so die im Folgenden zu entwickelnde These, wieder als der Entwurf einer Gegengeschichte gelesen werden. Der polemische bis ironische Ton, den der Discourse anschlägt, ist kaum zu überlesen. Dem Buch eine Gesinnung reiner wissenschaftlicher Wahrheitssuche zu attestieren ist, wie vor allem die Forschungen Bruce Redfords gezeigt haben, kaum 78 zu stützen. Einen Hinweis auf das eigentliche Anliegen Knights gibt bereits die Schlussvignette des Buches, die einen Satyr, der a tergo einen Ziegenbock penetriert, zeigt (Abb. 24). Die Bildüberschrift lautet passenderweise: „The End“; der Schluss-„Akt“ des Buches ist also wörtlich verstanden. Und der Leser dürfte, wenn
76 „[...] which must have been designed and executed under the sanction of public authority; and therefore whatever meaning they contain, must have been the meaning of nations, and not the caprice of individuals. This is the class of coins.“ (Knight 1835, S. 4) 77 Dazu: Burnett 2004. 78 Redford 2008, Kap. 5. Frühere Autoren waren hier anderer Meinung, z.B. Lionel Cust, der konstatiert, dass Knight „in issuing this work had no intention of publishing anything calculated to give offence or to be considered a breach of morality. Its spirit is meant to be truly antiquarian.“ (1898, S. 124) Ähnlich: Rousseau 1987, S. 102.
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er die gezeigte Szene genauso wörtlich betrachtet, dem Sinn des Textes ein Stück näher kommen. Gezeigt ist immerhin ein Satyr. Nehmen wir hier einen ähnlichen pun, eine vergleichbare Doppeldeutigkeit an, wie sie dem gezeigten „Ende“ innewohnt, so rückt der Satyr (gerade wenn man das Wort englisch ausspricht) sehr nah an die „Satire“. Auch wenn zu Knights Zeiten eigentlich längst geklärt war, dass beide Worte nicht auf eine gemeinsame etymologische Wurzel rückführbar sind, so blieb dieser so naheliegende pun der Parallelisierung beider Wörter doch weiterhin 79 äußerst populär. Erwähnt sei etwa William Hogarths Frontispiz zu Samuel Butlers satirischem Gedicht Hudibras, in dem eben ein Satyr (laut Erläuterung eine Personifikation des Genius des Autors) im Sinne einer Parodie der dichterischen Inspiration die Protagonisten des Gedichts, Hudibras und seinen Knappen Ralpho, um den 80 Parnass herumscheucht (Abb. 25). Abb. 24: Anon., „The End“, in: Knight, Discourse…, 1786, S. 195.
79 Zur Satire in England: Weiß 1992, zur Etymologie bes. S. 112ff. 80 Für den vielleicht nicht mit englischem Humor gesegneten deutschen Leser wurde der satirische Sinn des Gedichtes gleich im Titel der Übersetzung vermerkt, die mitteilt, dass man es hier mit „einem satirischen Gedichte wider die Schwermer und Independenten zur Zeit Carls des Ersten“ zu tun hat (Butler 1765). Das Werk darf in unserem Kontext zumal interessieren, da es (so Wolfgang Kemp) eine „elaborierte Stellungnahme zum Thema Anfang“ darstellt – und zu allem Überfluss auch tatsächlich Hogarths erstes Werk ist (Kemp 2004).
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Damit soll nicht suggeriert werden, dass Knights gesamtes Ideengebäude als großer Witz zu verstehen ist. Schon mit Hinblick auf d’Hancarvilles Recherches, die ja von Townley und Knight finanziert wurden, dürfte deutlich werden, dass hier ein seriös gemeintes wissenschaftliches Anliegen dahinter stand. Das satyrische Element, so die These, ist vielmehr ganz nach dem Leitmotto der Society of Dilettanti, als „seria ludo“, als ernster Scherz, zu verstehen. Auch hier machten die Dilettanten, deren Selbstbezeichnung ja ihren etymologischen Ursprung im lateinischen „delectare“ 81 hat, ihrem Namen alle Ehren. Doch damit ist zugleich eine klare Frontlinie gezogen zwischen denen, die sich innerhalb des Zirkels dieser Gesellschaft bewegen, und jenen außerhalb. Die Glaubenssätze und legitimatorischen Quellen der Anderen erfahren dabei, so ist zu zeigen, wiederum eine polemische Lektüre und werden, ganz im Sinne einer Gegengeschichte, „gegen den Strich gebürstet“. Abb. 25: William Hogarth, Frontispiz zu Samuel Butler, Hudibras, 1726.
Knights Gegenlektüren zielen dabei auf keine geringeren Gegner als die höchsten moralischen Autoritäten, die in England zu zitieren waren. Zahlreich beruft er sich auf solche über jeden Zweifel erhabene, legitimatorische Quellen und liest sie gänzlich gegen ihre Intentionen. Dies ist das klassische Vorgehen einer Gegengeschichte. Dass der Schöpfergott als androgynes Wesen vorzustellen ist, begründet er eben, wie bereits zitiert, mit der Heiligen Schrift. Wenn dort steht, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild und als Mann und Frau schuf, dann schließt er daraus, dass der Gott der Bibel eben beide Geschlechter besitzt. 81 Dazu z.B. Rosenbaum 2010, S. 89f.
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Ebenso ironisch erscheint die argumentative Legitimierung dafür, dass die Griechen eine gewisse Vorliebe für Analverkehr gepflegt haben. An einer ursprünglich hermaphroditischen Gestalt seien nur so die weiblichen Geschlechtsteile zu errei82 chen gewesen. Hier geschieht im wahrsten Sinne eine Umkehrung aller Werte. Die sodomistische Praxis wird zum „Anstand, gegen ihre Fleischeslust keine Nachsicht zu zeigen“ und die Handlung selbst zum Gottesdienst, dessen Zelebranten „[did] their duty in the way best adapted to answer the ends proposed by the Crea83 tor“. Letztes Zitat soll hier unübersetzt stehen bleiben, da das erneute Spiel mit der Doppeldeutigkeit der „ends“ nur unzureichend ins Deutsche übertragen werden kann. Auch und gerade zeitgenössische Autoritäten ge- oder besser missbraucht Knight für seine Argumentationen. So zieht er etwa den Bischof von Gloucester, William Warburton, als Belegstelle dafür heran, um die legendäre Praxis, dass sich Frauen in den ägyptischen Tempeln heiligen Ziegen hingeben, als eine äußerst anständige und fromme Sitte zu legitimieren.84 Knight bewegt sich hier offensichtlich in einer Tradition mit John Wilkes, dem Leitstern antikirchlicher (und zugleich sexualisierter) Polemik. Dessen berühmtes pornographisches Gedicht An Essay on Woman war selbst bereits ein polemisches Zitat von Popes Essay on Man (das Warburton herausgegeben hatte), das die rechtgläubigen Kommentare des Bischofs ironisch umdichtete.85 Warburton, eine der berühmtesten kirchlichen und moralischen Autoritäten seiner Zeit, bot für beide Autoren die perfekte Angriffsfläche.86 Hier wird eine „autor-
82 „[T]hey only took the most convenient way to get at the female organs of generation, in those mixed beings who possessed both.“ (DISC, S. 77) 83 „We may therefore conclude, that […] the artists meant to show their modesty in not indulging their concupiscence.“ (DISC, S. 77) 84 „It was one of the sacraments of that ancient church, and was, without doubt, beheld with that pious awe and reverence with which devout persons always contemplate the mysteries of their faith, whatever they happen to be; for, as the learned and orthodox Bishop Warburton, whose authority it is not for me to dispute, says, from the nature of any action morality cannot arise, nor from its effects; therefore, for aught we can tell, this ceremony, however shocking it may appear to modern manners and opinions, might have been intrinsically meritorious at the time of its celebration.“ (DISC, S. 55) 85 Vgl. Sainsbury 2006, S. 146f. So wurde etwa aus Popes Gedicht The Dying Christion to his Soul bei Wilkes die pornographische Variante The Dying Lover to his Prick. 86 Dessen „combination of self-righteousness and pedantry provided an irresistible target for the erudite Freethinker“ (Redford 2008, S. 122).
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ité incontestable“ (wie Pierre Mussard mit ähnlichem Impetus diese Texte nannte87) aufgerufen und das Argument des Opponenten zersetzend gelesen. Knight geht in dieser Tradition nur noch einen Schritt weiter: Wo das Frontispiz von Wilkes’ Essay nur einen Phallus zeigte (Abb. 26), präsentiert Knight dem Leser gleich deren vier. Mit dieser phallischen Fülle, wie überhaupt dem Thema Sexualität als Waffe gegen Glaube und Kirche, bewegte sich Knight durchaus im Mainstream der englischen Satire. Höchst ironische und anzügliche Kirchenkritik war in England keine Ausnahme; gerade die oft verhassten Katholiken, der „traditional whipping boy of 88 English satire“ , wurden angesichts des Zölibats bevorzugt mit diesen Themen angegriffen. Abb. 26 (links): Frontispiz zu John Wilkes, Essay on Woman, ca. 1755. Abb. 27 (rechts): Anon., Father Paul and the blue-eyed Nun of St. Catherines, 1776, Mezzotinto, 350 x 248 mm.
In Text und Bild war dieses Thema schon ungezählte Male durchgespielt worden. Die Karikaturen, die Priester und Nonnen bis hin zum Papst beim Geschlechtsverkehr zeigten, waren Legion. Man denke etwa an das schöne Beispiel des Stiches von Father Paul and the Blue-Eyed Nun, wo ein Mönch statt einer züchtigen Ma87 Mussard 1667. Auch dieses Buch gehört, wie der zu Beginn des Kapitels zitierte Middleton, zu jenen Autoren, die in religionskritischer Absicht Parallelen zwischen heidnischen und christlichen Kulten suchen. Vgl. AK Heidelberg 2012, Kat. Nr. I.11. 88 Wagner 1991, S. 167. Zum endlosen Thema „Sex and Satire“ im britischen 18. Jahrhundert siehe auch Gatrell 2007.
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donnenstatue das Antlitz einer lebendigeren Schönheit vorzieht (Abb. 27).89 Ähnliche Motive sind auch bei prominenten Künstlern wie Thomas Rowlandson zu finden, der 1801 einen lüsternen Mönch die Symptoms of Sanctity einer jungen Frau ganz und gar unheilig untersuchen ließ. Gerade hinter Klostermauern wurde offenbar ein Hort unsäglicher Lüsternheit vermutet. Dass im populären Sprachgebrauch eine „nunnery“, also eigentlich ein Kloster, öfter ein Bordell gemeint haben dürfte, bestätigt diese Engführung.90 Letztere Institution dürfte auch gemeint sein, wenn im Town and Country Magazine ein Artikel über ein der Gottheit Venus geweihtes „Monastery of St. Charlotta“ erscheint. Emphatisch werden hier die „sentiments of English liberty“ gepriesen sowie unter den Wundern, die die „Ordensgründerin“ bereits zu Lebzeiten bewirkt habe, unter anderem anführt, dass sie eine besondere Fähigkeit habe „for making any man’s wife hate him“.91 Auch in wissenschaftlichen Werken wie Bernard Picarts Cérémonies et coutumes religieuses de tous les peuples du monde waren die Übergänge von ethnologischen zu erotischen Bildern des Katholizismus fließend. Auch hier wird der Priapuskult als in der Moderne fortlebend gesehen, nämlich in Form des Kultes um den heiligen Réné, der in einer nicht genannten französischen Stadt gepflegt werden würde.92 Bereits 1700 hatte Daniel Defoe in einem Pamphlet die Kastrierung katholischer Priester gefordert, „as the best way to prevent the growth of popery in England“, wie der Titel mitteilt.93 Ein ähnliches Bild lüsterner Priester hatte ja auch Hamilton in seinem Brief nahegelegt, dessen Rhetorik wie gesagt suggeriert, dass die Priester die über Nacht in der Kirche bleibenden Frauen höchst selbst befruchten. Dass die Frauen von Isernia durch ein Wunder geschwängert werden, konnten die aufgeklärten Geister im London der 1770er nicht mehr glauben.
89 Die Bildunterschrift lautet: „The Lady of Loretto’s Image by / Is disregarded by the Fathers eye. / For if his Eyr is rightly understood, / He seems to like substantial Flesh & Blood.“ 90 Das entsprechende Lemma im Dictionary of the Vulgar Tongue lautet schlicht: „Nunnery, a bawdy house.“ (Grose 1785) 91 Anon. 1769, S. 65-67. 92 Unter allen Zeremonien, die das Christentum von den Heiden übernommen hatte, „il étoit fort juste de ne pas oublier le Dieu des jardins, le fameux Priape, Dieu respectable du côté de certaines faculté. Les Dames un peu galantes lui offroient des Couronnes & des fleurs; mais les plus zélées couronnoient une partie de son corps très remarquable.“ Die dazugehörige Fußnote informiert, dass dies keineswegs eine längst vergangene Skurillität sei: „Il y a quelques années qu’en certaine Ville de France les femmes [...] allerent adresser leurs Prieres à Saint René.“ (Picart 1723-1737, Bd. I, S. XXXV) 93 Defoe 1700.
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Diesen scharfen Antiklerikalismus darf man, bei aller Ironie mit der er vorgetragen wird, nicht als bloße Spitze gegen das Establishment abtun. Gerade Knights früher, zu Lebzeiten unpubliziert gebliebener sizilianischer Reisebericht, wo er aufs heftigste die „bigotry“ des lokalen Klerus anklagt, zeugt davon.94 Der deprivierte Status der Insel, deren Armut und Abgeschiedenheit den jungen Engländer sichtlich schockierte, wird direkt zurückgeführt auf die „sour mythology of the Christians“ und vor allem die betrügerischen und ausbeuterischen Machenschaften der Priester, die den Glauben offen als Mittel zur Machtsicherung missbrauchen.95 Die Intention ist ernst, die Mittel jedoch sind fundamental ironisch. Aus dieser Logik ergibt sich auch ein Grund, weswegen Knight, trotz seiner ironischen Grundhaltung, die „Natürlichkeit“ der ersten Symbole so intensiv betont. Diese Natürlichkeit scheint ja zunächst ein Aspekt, der gemessen an der lakonischen Unbestimmtheit von d’Hancarvilles „arbiträren“ Ursprüngen eher als ein Plädoyer für historische Wahrheit erscheint. Doch Knights historiographische Strategie zielt nicht auf Quellenkritik. Das Anliegen ist nicht, den Opponenten nachzuweisen, dass ihre Thesen falsch sind und ihre geheiligten Ursprünge durch prinzipiell sinnoffene, arbiträre Zeichen zu ersetzen sind. Nein, es geht darum, dass alle Geschichten wahr sind – sie sind eben natürlich begründet. Nur die Wahrheit, die sich in den Legitimationsquellen seiner Gegner ausdrückt, beschreibt er als völlig konträr zu allem, was diesen heilig ist.
§5 K ONTROVERSEN
IN
T EXT
UND
B ILD
Angesichts dieses satirischen und polemischen Grundgedankens des Discourse scheint es nur folgerichtig, dass die Veröffentlichung des Traktats einen großen öffentlichen Skandal nach sich gezogen habe. So jedenfalls beschreibt die herrschende Forschungsmeinung die Rezeptionsgeschichte von Knights Schrift – eine Erzählung, die mittlerweile bis weit in die populärere Literatur über die zwielichtigen
94 Knight 1986, S. 61. Dass dies keine reine Polemik war, lässt sich begründen mit Hinweis darauf, dass Knight hier keineswegs gänzlich einseitig urteilt, sondern etwa auch davon berichtet, wie „we were hospitably received by the Franciscans“ (ebd., S. 42). Zu Knights sizilianischer Reise: Stumpf 1986; Ponte 2000; Redford 2008, Kap. 3. 95 Knight 1986, S. 66. „Weak as human reason is, it would be sufficient in its lowest state to penetrate the thin veil of Priestcraft, if People only dared think; but the greatest Part of Mankind believe because they have never had the Courage to ask their own understandings, whether they believe or not. The Ecclesiasticks in Sicily, as well as every where else, are perfectly sensible of this.“ (Ebd., S. 61)
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Abgründe der „City of Sin“ diffundiert ist. So kursieren dramatische Geschichten über die persönlichen Konsequenzen, die die Veröffentlichung für Knight gehabt hätte, bis hin zu larmoyanten Beweinungen der in England so unzureichenden Mei97 nungsfreiheit. Abb. 28: Anon., „Soter Kosmou“, in: Knight, Discourse..., 1786, S. 3.
Ob diese Wahrnehmung des Discourse als Teil eines öffentlich anstößigen „Perver98 se Romanticism“ allerdings gerechtfertigt ist, scheint fraglich. Auch die in der modernen Wahrnehmung häufig besonders kontrovers erscheinenden Abbildungen des Bandes, wie das erwähnte Beispiel des kopulierenden Satyrs, waren durchaus schon aus Stichen in der antiquarischen Literatur bekannt gewesen. Dieses, auf eine neapolitanische Antike (bei der die Stellung der Beteiligten jedoch etwas anders gestaltet ist) zurückgehende Motiv, hatte bereits Joseph Nollekens für die Samm-
96 Z.B. Arnold 2011, Kap. 7. Ausgangspunkt dieser These dürfte der Haushistoriograph der Society of Dilettanti, Lionel Cust gewesen sein, der schreibt, Knight „was vehemently assailed on its account“ (1898, S. 124). 97 „[T]he truth of the matter is, the freedom to write on sexual subjects, proclaimed so widely in the Enlightenment and Revolutionary France, had not made much impact on English society.“ (Mitter 1977, S. 85) 98 So betitelt bei Sha 2009, S. 173ff. Die Korrektur dieser Meinung, auf die auch ich mich im Folgenden wesentlich stützen werde, ist vor allem der grundlegenden Forschung Jason M. Kellys zu verdanken (2009, S. 242ff.).
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lung Charles Townleys in Form einer Terrakottaplastik (heute im British Museum) populär gemacht (Abb. 29). Auch andere künstlerische Umsetzungen dieses Motivs, etwa von Dominique Vivant-Denon, existieren. Gleiches gilt für das wohl ebenso anstößige Motiv eines phallusgesichtigen Hahns, der als „Erlöser der Welt“ betitelt ist. Auch dieses Motiv geht auf eine antike Plastik zurück, die bereits in einschlägigen Handbüchern wie de la Chausses Romanum Museum publiziert worden war 99 (Abb. 28 u. 30). Nicht nur in der Literatur, auch in der visuellen Kultur waren Spiele mit solchen anzüglichen Aspekten gesellschaftlich auch im großen Format etabliert und akzeptiert. Selbst im katholischen Spanien konnte Goya 1771 einen (wenn auch kleinformatigen) Priapus malen (Abb. 31). Im frühen 18. Jahrhundert mag die Lage eine andere gewesen sein. So ersetzte etwa John Horsley in seinem Werk über die Britannia Romana das Bild eines Phallus durch ein Weinblatt, auch wenn er im Text sehr wohl beschreibt, was wirklich 100 dargestellt war, und was er sich zu camouflieren entschlossen hat (Abb. 32). Auf gelehrter textlicher Ebene scheint hier zumindest aussprechbar geworden zu sein, was im Bild nicht statthaft war. Auch Pater Montfaucon ließ den Priapus noch ganz ohne sein vornehmstes Attribut auftreten. Abb. 29 (links): Joseph Nollekens, COPPY FROM YE MARBLE GROUP..., ca. 1770er. Terrakotta, 161 x 172 x 75 mm. British Museum. Abb. 30 (rechts): Priapus, in: Michel Ange de la Chausse, Romanum Museum sive Thesaurus eruditae antiquitates, Bd. 1, 1746.
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Derselbe Ehrentitel ist allerdings auch dem Phallus auf dem Frontispiz von Wilkes Essay on Woman zugeeignet, vgl. Abb. 26 und Sainsbury 2006, S. 147.
100 Horsley 1732.
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Doch spätestens im Zuge der Entdeckungen in Pompeji und Herkulaneum war die visuelle und materielle Präsenz von entsprechenden Objekten überwältigend groß und zumal in graphischen Reproduktionen weithin verfügbar. Auch jenseits archäologischer Dokumentation hatte das Thema Konjunktur. So integrierte Angelika Kauffmann in eine Serie runder Stiche mit allegorischen Liebeszenen auch das Bild von zwei antikisch gewandeten Frauen, die eine priapische Herme bekränzen (Abb. 33). Hier konnten selbst Kommentatoren, die ansonsten jeder Beschäftigung mit diesen Themen äußerst kritisch gegenüberstanden, den Entwurf loben, denn das 101 „subject is purely classical“. Abb. 31 (links): Francisco Goya, Opfer an Priapu, 1771. Öl auf Leinwand, 33 x 24 cm, Privatbesitz. Abb. 32 (rechts): Priapus, in: Horsley, Britannia Romana…, Abb. XIX (Ausschnitt).
Wurden ähnliche Ikonographien mit zeitgenössischen Porträts versehen – am bekanntesten etwa in Joshua Reynolds Lady Elizabeth Keppel adoring a Bust of Hymen – so wurde der Priapus zu einem weniger verfänglichen Gott, hier zu Hymenaeus, dem Gott der Ehe, umgewandelt. Dass den Betrachtern die dem Motiv zu Grunde liegende Priapusikonographie dennoch sehr präsent war, zeigen die Reaktionen auf ein weiteres Gemälde Reynolds’ mit demselben Thema. Hier sind es die Montgomery-Schwestern, die im noch berühmteren Three Ladies Adorning a Bust of Hymen (1773) eine priapisch anmutende Büste schmücken (Abb. 34). Die tak101 Mathias 1798, S. 68.
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tisch klug, ithyphallisch vor der Herme platzierte Fackel provozierte in der Presse jedenfalls Assoziationen mit dem weniger anständigen Gott – ohne dass dies als 102 allzu skandalös wahrgenommen worden wäre. Abb. 33 (links): William Wynne Ryland nach Angelika Kauffmann, Nymphen bewundern die Stele des Pan, 1776. Aquaforte, 363 x 310 mm. Abb. 34 (rechts): Joshua Reynolds, Three Ladies adoring a term of Hymen, 1773. Öl auf Leinwand, 233 x 290 cm. Tate Britain.
Auch die Idee, den Ursprung der Kunst aus dem Liebestrieb und einer daraus resultierenden Nachahmung der Natur herzuleiten, war geradezu ubiquitär in der Gedankenwelt des 18. Jahrhunderts verankert (und auch schon davor). Das eingangs angeführte Beispiel des Dibutadesmythos ist hiervon nur die idealtypische Verkörperung. Eine durchaus ironische Variante des Themas findet sich dann bei Hogarth, der in seinem Stich Boys peeping at nature, dem Subskriptionsbilett zu A Harlot’s Progress, einen jungen Satyr einer Diana von Ephesos unter den Rock blicken lässt (Abb. 35). Nicht alle Protagonisten des Bildes widmen sich einem derart offensiven Naturstudium. Zwei kleine Jungen gehen auf andere Weise „aktiv“ mit der „passiven“ Natur um (denn Diana war, so das damalige Handbuchwissen, einschlägiges
102 Im St. James’s Chronicle (25.-27. Mai 1762) schrieb ein Kommentator: „I would not indulge a ludicrous Thought improperly; but cannot help thinking that the Torch of Hymen comes so unluckily in the way, that it puts one in Mind of the other Pagan Custom of adoring Priapus.“ (Zit. nach Wien [2009, S. 100], die dazu meint, dass hiermit ein „unkontrolliertes Ausufern der möglichen Bedeutungsassoziationen“ durch eine Ironisierung des Themas bewirkt sei)
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Symbol für die „universelle Natur“, also sozusagen das „passive“ Prinzip ). Sie wenden sich den künstlerischen Techniken zu, ahmen die Formen der Natur nach und malen, respektive zeichnen ein Bild der Diana. Sie scheinen sozusagen auf sublimiertem Weg dem Zusammenwirken von aktivem und passivem Prinzip nachzu104 gehen. Ab den 1790er Jahren wurden dann Theorien, die die Kulturentstehung aus dem Sexualtrieb der Menschheit herleiten, zum Allgemeingut. Größten Anteil an dieser Entwicklung hatte sicher der französische Autor Charles Dupuis, dessen 1794 erschienenes Großwerk über die Origine de tous les cultes ein sensationeller Erfolg wurde und vor allem der allegorischen Mytheninterpretation zu erneuter Konjunktur verhalf.105 Seine fundamental kosmographisch orientierte Mythenerklärung nahm an, dass das fruchtbringende Zusammenspiel von Himmel (aktives, männliches Element) und Erde (passives, weibliches Element) Ausgangspunkt der Allegorie- und Religionsbildung der ersten Völker gewesen wäre.106 In Analogie zu dieser beständig zusammenwirkenden und befruchtenden Struktur der Natur habe der Mensch sich Symbole geschaffen, die das Zusammenwirken von aktivem und passivem Prinzip in androgynen Urgottheiten verbildlichten.107 Eindrückliches Zeugnis für den Erfolg der Theorien Dupuis ist auch die Tatsache, dass schon bald mehrere Kurzfassungen erschienen, die das monumentale
103 Vgl. Richardsons Iconology (1779, Bd. II, S. 5f.), Taf. LIII; vgl. Cheetham 2012, S. 53. 104 Zu diesem Stich zuletzt: Cheetham 2012, S. 53f. Zur Bedeutung der Nachahmung in Hogarths Werk weiterhin einschlägig: Busch 1977. 105 Dazu v.a. Frank Manuel, der die Origine de tous les cultes wie folgt zusammenfasst: „Dupuis reflected the great optimistic outburst of energy in the French Revolution and the Directorate. Fear was banished and nature was described as endlessly fecund, bursting with diversity, with an interplay of masculine and feminine elements. Religious practices were not melancholy diluvian dirges disguised, but joy our Priapic cults.“ (1959, S. 265f.) 106 „L’univers ou la grande cause, ainsi animé et intelligent, subdivisé en une foule de causes partielles également intelligentes, fut partagé aussi en deux grandes masses ou parties, l’une appelée la cause active, l’autre la cause passive, ou la partie mâle, et la partie femelle, qui composèrent le grand Androgyne, dont les deux sexes étaient censés s’unir pour tout produire“. Dies sei die „première division de l’univers en cause active et en cause passive.“ (Dupuis 1822, S. 48f. u. 57) 107 „Le double sexe de la nature, ou sa distinction en cause active et passif, fut aussi représenté chez les Égyptiens par une divinité androgyne, ou par le dieu Cneph, qui vomissair de sa bouche l’oeuf symbolique destiné à représenter le monde. Les Brachmanes de l’Inde exprimaient la même idée cosmogonique par une statue imitative du monde, et qui réunissair les deux sexes.“ (Dupuis 1822, S. 56)
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Traktat auf seine Kernthesen komprimieren. Dass diese Aufgabe von selbst so renommierten Autoren wie Dulaure und Destutt de Tracy geleistet wurde, unterstreicht die Aufmerksamkeit, die diesen Thesen zuteil wurde.108 In der gekürzten Variante von Destutt informierte sich übrigens auch d’Hancarvilles alter Bekannter Thomas Jefferson über die Thesen Dupuis – und tauschte sich in seinem Briefwechsel mit John Adams (der allerdings angibt, den gesamten Dupuis gelesen zu haben) gleich mit einem weiteren zukünftigen Kollegen im Amt des US-Präsidenten darüber aus.109 Abb. 35: William Hogarth, Boys peeping at Nature, 1731. Kupferstich 150 x 122 mm.
Bei aller Phantastik und apriorischer Systembildung, die in diesen Entwürfen zweifellos eine prominente Rolle spielen, sei trotzdem betont, dass angesichts der unseren Antiquaren zur Verfügung stehenden Quellenlage der Schluss auf eine überragende Bedeutung von sexualisierten Ikonographien nicht unbegründet erscheint. Die aktuellen Funde aus Pompeji wurden hier schon genannt. Insbesondere aber die prominenten und weit verbreiteten, weil in Glasgüssen (vor allem aus der Werkstatt James Tassies) vielfach reproduzierten Kameogläser, scheinen hier einschlägig. Deren antike Vorlagen waren tatsächlich zu gut 90 Prozent mit dionysischen Themen bespielt (Abb. 36), wobei eindeutig phallische Ikonographien ebenfalls keine Sel-
108 Tracy 1804; Dulaure 1805. 109 Jefferson 1829, Bd. IV, S. 304.
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tenheit sind.110 Zuletzt sei nur darauf hingewiesen, dass auch höchst seriöse Archäologen des 20. Jahrhunderts wie der strukturanalytisch geprägte Guido von Kaschnitz-Weinberg ähnliche Theorien über den Ursprung der Kunst aus phallischen Grundformen entwickelten – von den darwinistischen Überlegungen zur Entstehung jeglicher Kultur aus der sexuellen Zuchtwahl einmal ganz abgesehen.111 Abb. 36 (links):Onyx Kamee mit bacchischer Szene, 1.-2. Jh. 3,7 cm Durchmesser. Abb. 37 (rechts): James Gillray, Richard Payne Knight as Priapus (Ausschnitt), ca. 1794. Graphitzeichnung, 360 x 297 mm. British Museum.
Nach dem bisher Gesagten dürfte deutlich geworden sein, dass der Discourse zwar sehr wohl als scharfer, polemischer Text verstanden werden muss, seine anzügliche Deutlichkeit jedoch in keinem Maße über das hinausging, was der englischen Öffentlichkeit ansonsten zugemutet wurde. Oder wie es der Herausgeber der Neuedition des Discourse von 1865 formulierte: „Some of the continental archaeologists had written on kindred subjects long before the time of Payne Knight.“112
110 Vgl. Simon (1999, S. 90), die vor allem den Einfluss der bacchischen Mysterien auf die Ikonographie dieser Gattung hervorhebt. Zu diesen Sammlungen siehe etwa Knüppel 2010. Zu Tassie liegt monographisch bisher nur der biographische Essay von Holloway (1986) vor. 111 Kaschnitz-Weinberg 1944. Diesen Hinweis verdanke ich Horst Bredekamp, der in seiner Theorie des Bildakts (2010) zudem selbst im darwinistischen Sinne eine Rückführung des menschlichen Schönheitssinns auf Kriterien der Zuchtwahl unternimmt. 112 Knight/Wright 1865, S. VI.
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Im Gegenteil: Man kann mit guten Gründen vom späten 18. Jahrhundert in London als einer in sexuellen Fragen äußerst offenherzigen und aufgeschlossenen Zeit sprechen.113 Die Feier der Fortpflanzung hatte längst die Gegenwart und England erreicht. Der obskure Quacksalber Dr. Graham mit seinem „Temple of Health“ sei hier etwa genannt, der in London eine proto-mesmerische Zeremonie zur Fruchtbarkeitssteigerung auf einem ‚elektrischen Bett‘ inszenierte, die dem katholischen Spektakel von Isernia wohl in nichts nachstand. Erwähnt sei diese Institution zumal, da bei ihm auch die zweite Frau William Hamiltons, die schöne Emma, gearbeitet haben soll – so berichtet es jedenfalls eine Biographie ihres späteren Liebhabers Horatio Nelson.114 Diese modernen Varianten der Fruchtbarkeitskulte von Isernia waren zwar allein schon wegen ihres Preises kein Massenvergnügen, waren aber zumindest durch die Publizistik in einem breiteren Bewusstsein verankert.115 Dass die Thesen des Discourse an sich nicht zwingend provokant waren, zeigt sich auch an der Rezeption der ebenfalls hochgradig sexualisierten Recherches d’Hancarvilles (die allerdings wesentlich dezenter illustriert waren). Zwar sah sich dieser gezwungen, den ganzen dritten Band seines Werkes nur der Erwiderung der an den bisher erschienenen Bänden geübten Kritiken zu widmen, doch scheint das mehr ein strategisches Manöver gewesen zu sein, um mit Hilfe einer inszenierten Kontroverse seinem Werk zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. Stein des Anstoßes war jedenfalls nur eine einzige Rezension von Paul Henry Maty, und auch dessen Kritik bezog sich mehr auf antiquarische Fragen denn auf moralische.116 Ansonsten aber war die Aufnahme seiner Ideen „surprisingly favourable“, wie Peter Funnell betonte.117 Umgekehrt könnte man anhand vieler Passagen des Discourse seine durchaus konservative Prägung vorführen. So mag die bereits erwähnte klare Hierarchisierung des „männlichen“ und „weiblichen“ Prinzips, die Knight für die antike Theo-
113 So die These von F. Dabhoiwala, der dem England der Aufklärung die „first sexual revolution“ attestiert (2012, insbes. S. 342ff.). 114 Pettigrew 1849, Bd. II, S. 596. Den historischen Wahrheitsgehalt der Aussage stufte Roy Porter (1989, S. 15) eher skeptisch ein, doch für unser Thema dürfte es genügen, dass diese Anekdote zu Lebzeiten Hamiltons zirkulierte, der Konnex zwischen Emma und Graham also schon damals diskutiert wurde. 115 Graham verlangte mit 50 Pfund für eine Nacht in seinem elektrischen Bett ungefähr das halbe Jahresgehalt eines durchschnittlichen Einkommens, vgl. Pop 2011, S. 942. Die Einrichtung war übrigens nicht besonders langlebig und galt den Meisten als „quackery“, die auch einigen Spott auf sich zog. Zu Karikaturen über Graham: Brandon Schnorrenberg 1991. 116 Maty 1785. 117 Funnell 1982, S. 55.
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logie annahm, auch als Festschreibung traditioneller patriarchalischer Geschlechterverhältnisse gelesen werden.118 Frauen betrachtete Knight in der Tat (dies legte er zumindest der antiken Theologie in den Mund) als „passives Instrument für die Anwendung der wohltuendsten Kräfte [des Schöpfers]“.119 Das weibliche Element scheint ihm, bevor der Mann es befruchtet, weitgehend nutzlos und ohne Ordnung. Bereits Ann Bermingham hat daher betont, dass die Lobreden auf die Verehrung der phallischen Kulte der Antike Züge einer bourgeoisen Phantasie der patriarchalischen Herrschaft haben. Knight schrieb den weiblichen Geschlechtsteilen die generative Kraft der Natur, den männlichen aber die von Gott zu. Die phallischen Riten erscheinen damit als Bestätigung sexueller Differenz, die Weiblichkeit als natürlich und Männlichkeit als göttlich, also sich fortpflanzend und daher wahrhaft schöpferisch (und nicht nur kopierend) versteht.120 Die öffentliche Reaktion auf Knights Traktat war jedenfalls keineswegs so durchdringend negativ, wie oft zu lesen ist. Die erste (gedruckte) Kritik an seinem Werk erschien überhaupt erst 1794, also acht Jahre nach Erscheinen. Verfasst war sie von T.J. Mathias, einem ausgewiesenen Satiriker (also keinesfalls einer hohen moralischen Instanz). Seine harschen Worte scheinen die meisten späteren Interpreten auf eine in Gänze ungünstige fortune critique des Werkes haben schließen lassen. Mathias wandte sich gegen den zu Richard Priapus Knight umbenannten Autor, dessen Text und Illustrationen er als „disgusting“ und voller „ordure and filth“, also als ekelerregend und voller Dreck und Unflat bezeichnete. Das Buch, so urteilt er, sei eindeutig gemacht für die „obscene revellings of Greek scholars in their private studies“. Der Kritikpunkt für Mathias ist aber weniger die Beschäftigung mit priapischen Sujets, sondern eben die These ihrer fortdauernden Aktualität. Dass hier pornographische, der „recreation of antiquaries“ dienende Interessen mit einer „neuen Art von Blasphemie kopulieren“, ist für den Satiriker der wahrhaft obszöne Zug des Discourse.121
118 So resümiert Jason M. Kelly: „[Knights] idea of a purposeful natural sexuality was a reflection of a heterosexual moral order acceptable to his contemporaries.“ (2009, S. 247) 119 „[T]he Creator [...] employed her as the passive instrument in the exertion of his most benefical power.“ (DISC, S. 46f.) 120 Bermingham 1993, S. 15. Aus dieser Perspektive schwindet auch die Plausibilität des Vorschlags Randolph Trumbachs, der den Inhalt des Discourse ganz aus dem Horizont der von ihm postulierten Homosexualität Knights betrachtet und in dem Text „das äußerste, ihm möglich erscheinende Bekenntnis zu seinen persönlichen Neigungen“ sah (1994, S. 214). 121 Mathias 1798.
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Damit ist nicht gesagt, dass nicht manch ein Zeitgenosse über „Priapus Knight“ lächelte. Den neuen Spitznamen hat etwa James Gillray in einer Zeichnung, die eine Priapusstatue mit den Gesichtszügen Knights zeigt, ausbuchstabiert (Abb. 37). Diese Karikatur erscheint aber eher witzig als aggressiv. Auch Joseph Farington berichtet in seinem Tagebuch von mehreren derartigen, jedoch keinesfalls bösartigen Reaktionen.122 In diesem Sinne zu verstehen scheint auch eine kleine, an Knight persönlich adressierte Schrift des berühmten Arztes und Dichters John Matthews, der sich vom Discourse sehr gut unterhalten zeigt. Der Stich, der seinem Büchlein beigegeben ist, zieht entsprechend mehr die Reaktionen der vermeintlich anständigen Kommentatoren ins Lächerliche als das Werk Knights: Gezeigt sind zwei Damen, die angesichts einer riesigen Priapusstatue erschrecken.123 Abb. 38 (links): Anon., Relief aus Elephanta, in: Knight, Discourse..., 1786, Taf. X. Abb. 39 (rechts): Friedrich Bury, Paar vor einer Priapusherme, 1786. Bleistiftzeichnung, 504 x 381 mm. Klassik-Stiftung Weimar.
Von wissenschaftlicher Seite fand der Discourse dagegen auch zustimmende Er124 wähnungen. Anklang fand die Grundthese vor allem im Umfeld der von William Jones herausgegebenen Zeitschrift Asiatick Research, die sich der ebenfalls auffäl-
122 Vgl. Farington 1978-1998, Bd. I, S. 185; Bd. III, S. 753; Bd. XV, S. 5156 – wobei der Vorwurf eines „lack of candour“ (Bd. IX, S. 3368) wohl die vielleicht schärfste Äußerung ist. 123 Matthews 1794. Dazu Kelly: „Knight and his Dilettanti friends would no doubt have been amused at these satires.“ (2009, S. 258) 124 Pennant 1796; Astle 1800.
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lig sexualisierten indischen Kunstgeschichte widmete.125 Ein Grund für die Sympathien gerade dieser Autoren dürfte darin zu suchen sein, dass Knight prominent mit indischen Beispielen, etwa einem Relief aus Elephanta (Abb. 38), argumentiert. Mehr noch, seine Gedanken dürften sich wesentlich erst in der Begegnung mit außereuropäischer Kunst, insbesondere der indischen ausgeprägt haben. Vor allem den zentralen Gedanken, dass alle Götter und Allegorien der Weltgeschichte „Emanationen“, also Ableitungen von einem ursächlichen Schöpfungsmoment waren, begründet Knight gerade nicht aus europäischen Traditionen (wie etwa dem zitierten Platonismus), sondern mit der indischen Bhagavat Gita, einem Text, der erst kurz zuvor, 1785 von Charles Wilkens erstmals ins Englische übersetzt worden war.126 Knights monogenetische Idee von Kulturentwicklung erinnert dabei nicht nur an d’Hancarville, sondern auch an den eben genannten William Jones, der in Büchern wie On the Gods of Greece, Italy and India ähnliche Diffusionsmodelle vertrat.127 Gerade im Ausland stieß das Buch auf eine äußerst freundliche Rezeption. Besonders Goethes Interesse an diesem Gegenstand ist gut bezeugt. Der Dichter hatte bereits die Bände II-IV der Antiquités nicht weniger als sieben Jahre lang, von 1789-96, aus der Weimarer Bibliothek entliehen.128 Er wandte sich diesen Büchern also zeitnah nach seiner italienischen Reise zu, auf der er 1787 auch William Hamilton in Neapel besucht hatte. Es ist gut anzunehmen, dass dessen damals noch recht rezenter Fund in Isernia Goethe, „obwohl nicht von ihm erwähnt, wenigstens seinem Inhalt nach nicht unbekannt geblieben“ ist.129 Knight zumindest war ihm, wenn auch wohl nicht persönlich (er nannte ihn irrtümlich Henry Knight130), wohl bekannt. Der von Goethe protegierte Jakob Philipp Hackert war Knights Gefährte auf dessen Reise durch Sizilien. Auch deswegen übersetzte Goethe später den Bericht Knights von dieser Reise und integrierte Auszüge davon in seine Biographie Hackerts.131 Andere Deutsche wie Tischbein berichteten ausdrücklich von dem seltenen Traktat in die Heimat. Der Maler war dabei von dem Gegenstand wohl nicht so an-
125 Dazu: Godwin 1994, S. 15ff. 126 DISC, S. 82f.; Wilkens 1785. Zur europäischen Auseinandersetzung mit indischer Kunst grundlegend: Mitter 1977; die zentrale Bedeutung indischer Funde für Knights (und Goethes) priapische Theorien betont auch Richter 2004, S. 203. 127 Vgl. Funnell 1982, S. 60. 128 Keudell 1931, Nr. 16. 129 Femmel/Michel 1990, S. 40. 130 Goethe 1811, S. 52. 131 Ebd., S. 53ff. Dazu v.a. Rees 2002. Zu den gemeinsamen Interessen an Priapea: Richter 2004, S. 202ff.
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getan wie Goethe, dessen Sammlung ähnlicher Priapea außerordentlich umfangreich war.132 Unter anderem erwarb er auch eine Zeichnung von Friedrich Bury, die ein tanzendes Paar vor einer Priapusherme zeigt (1786) – und die hier nur erwähnt sei, weil auch Bury ein Besucher des Haushalts Hamiltons war (Abb. 39).133 Carl August Böttiger widmete dem ein Jahr zuvor verstorbenen Knight und seinem Werk 1825 sogar einen lobpreisenden Nachruf. An die Thesen vom ursprünglich hermaphroditischen Kultus der Alten schließt sich der deutsche Antiquar vorbehaltlos an, auch wenn er „eine lichtvollere Uebersicht in diesen die ganze alte Welt durchdringenden Geschlechtsdualismus des befruchtenden und befruchteten Prinzips“ anmahnt, und gerade für die Frage der Diffusion des Motivs aus Kleinasien in das „pelasgische Griechenland“ einige wissenschaftliche Präzisierungen vornimmt. Moralische Kritik an diesen Thesen weist er jedenfalls zurück: „Wer hier obscönes wittert, hat schon eine befleckte Fantasie.“ Ausdrücklich bedauert er den „in harmloser Unbefangenheit“ forschenden Knight ob der bösen Nachrede der Kritik, die „seinen unbescholtnen Ruf verletzende Urtheile“ nach sich zogen.134 Moralische Einwände scheint es eher von jenen Autoren gegeben zu haben, die das Buch gar nicht gelesen hatten. Die restriktive Verbreitung, über die noch zu reden sein wird, hat dem Werk eine Fama gegeben, die es anders wohl nicht gehabt hätte. Viele verdammende Berichte stützen sich jedenfalls aufs Hörensagen, und längst nicht jedem Interessierten war es möglich, an den Text heranzukommen.135 Dies scheint etwa der Fall bei einer Kritik in dem von der Society for the Reformation of Principles (der Name spricht hier für sich) herausgegebenen British Critic. Der Rezensent stützt seine vernichtende Kritik an Knight, dessen Buch er in den tiefsten Orkus der Geschichte wünscht, offenbar auf eine Paraphrase des Discourse, die er einem Reisebericht aus Indien, verfasst von dem Militär Edward Moor (der Knight gegenüber zumindest neutral eingestellt scheint), entnimmt.136 Ein solcher Text mag insgesamt Zeichen eines sich verändernden gesellschaftlichen Klimas sein, das kritischer auf die in den 1770ern noch sehr offen kursierenden Pornographica reagierte. Nur wenige Jahre später sollten dann Petitionen wie die
132 Merck 1838, Nr. 259, hier: S. 510. 133 Vgl. im Katalog der Goethe’schen Priapea von Femmel/Michel 1990, Nr. Pr. 34, S. 200f. Siehe auch Willenberg 2010. 134 Böttiger 1825, S. 411-414. 135 So etwa der niederländische Maler Humbert de Superville: „Le livre anglois de Knight [...] ne m’est point connu.“ (1827, Anm. 40, S. 13) 136 „[A] treatise of which [...] we sincerely hope for the good of mankind, will never burst from the awful and Eleusinian darkness, in which it is at present reserved for the sight of the initiated alone.“ (British Critic 1794, S. 388-390) Moor 1794, S. 393.
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des heute als führender Abolitionist bekannten William Wilberforce für eine Pro137 klamation gegen die Untugend beim König auf Gehör stoßen. Dennoch haben einige Kritiken bei Knight klar persönliche Verletzungen hervorgerufen. Zu nennen sind hier vor allem die Autoren des British Critic, die ihm selbst als seine ärgsten und unversöhnlichsten Gegner erschienen.138 Auch aus diesen Gefühlen heraus scheint Knight sich mehrfach bemüßigt gefühlt zu haben seinen Gegnern zu antworten – ohne dabei von der ideologischen Linie des Discourse abzuweichen. Die oft zu lesende Legende, Knight habe aus Angst vor einem Skandal die Exemplare des Discourse, deren er habhaft werden konnte, zurückgekauft, wurde dagegen von Peter Funnell als Irrtum erwiesen.139 Vielmehr bekannte Knight sich in der Folge offensiv zu seinem Werk und trat mehrfach seinen Kritikern entgegen, wobei er einen mindestens ebenso persönlichen und aggressiven Ton anschlug wie jene. T.J. Mathias wirft er etwa puren Neid vor; er sei „continually seeking consolation for […] own disappointments, in abuse bestowed indiscriminately on every more fortunate competitor“.140 In seinem späten dramatischen Gedicht Alfred bekräftigt er zudem nochmal in aller Deutlichkeit seine These, dass die modernen Religionen nur eine Entartung „reinerer Lehren“ seien.141 Erst durch diese unversöhnlichen Gegenattacken scheint sich die Situation verschärft zu haben. Bis zum Erscheinen der Pursuits of Literature von Mathias war der Discourse weitgehend unbemerkt geblieben. Mehrere Rezensenten von Mathias’ Werk äußerten sich überrascht über dieses angeblich so obszöne, ihnen aber völlig unbekannte Werk.142 Erst Knights Verteidigungsreden in eigener Sache scheinen ihn auch persönlich in die Schusslinie gebracht zu haben.
137 Dazu: Roberts 2004, Kap. I. 138 Parr ed. Johnstone 1828, Bd. VII, S. 308. Vgl. Funnell 1982, S. 61. Zur Zeitschrift: Roper 1978, S. 180ff. 139 Funnell 1982, S. 63. 140 Knight 1796, S. XVII. Knights Erwiderung auf die Kritik insgesamt: S. XVII-XXIII. 141 „Till soon ambitious Priestcraft raised its head, / And proudly reign’d in meek Religions’s stead; / Till mitred hypocrites, with stiff grimace, / Sought worldly wealth beneath the garb of grace, / Worshipp’d their God but to partake his power, / And loved his church, – but only for her dower.“ „Let rival sects by rival virtues shew / The source divine from which their tenets flow; / And purer morals, charity, and love, / A juster claim to purer doctrines prove“ (Knight 1823, S. 193 u. 359). Zu diesem Werk: Messmann 1974, S. 161ff. 142 Vgl. Anon. 1798 („I have never seen it.“ [S. 289]). „We here learn the existence of a publication, (of which our author is the notice-man to all who understand English) viz. of a quarto volume as old as 1786, on the ‚worship of Priapus.‘“ (M. 1799, S. 331)
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Angesichts der Offenheit, mit der Knight zu seinem Text und seinen Thesen stand, scheint es aber umgekehrt fraglich, wie ernst es gemeint ist, wenn Knight an Joseph Banks schreibt, „wenn der Discourse auch nur im kleinsten Maße öffentlich werden soll, müssten viele weitere Teile unterdrückt werden, besonders die Tafel des Satyrs mit der Ziege und die dazugehörigen Beobachtungen, sowie alles, was 143 ich über Taufe, Wiedergeburt und Gnade gesagt habe“. Auch solche Aussagen mögen, gerade angesichts des bereits genannten Faktums, dass eben diese Szene durch die künstlerische Umsetzung von Nollekens bereits weithin bekannt war, als Selbststilisierung zu einer unangepassten Bravour verstanden werden.
§6 D IE H ERMETISIERUNG
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Dass der Discourse ein Buch war, über das man redete, oder besser: raunte, war also wohl in mindestens demselben Maße wie seinem Inhalt seiner Rarität geschuldet. Tatsächlich war der Text nur zu einer halböffentlichen Verbreitung bestimmt, deren Reichweite auf die antiquarische Clubkultur begrenzt bleiben sollte. Ursprünglich sollte lediglich je eine Kopie an jedes Mitglied der Society of Dilettanti verteilt werden und jeder dieser Empfänger einen persönlichen Freund als weiteren Empfänger vorschlagen dürfen.144 Und auch innerhalb dieses denkbar engen Adressatenkreises wurde nochmals differenziert. Knights Traktat erschien in verschieden illustrierten Fassungen, die das ganze Spektrum „von exoterisch zu esoterisch“ abdeckten.145 Mindestens drei Versionen wurden, wie Bruce Redford belegen konnte, verlegt. In einer fehlt das Frontispiz mit den Wachsphalli aus Isernia; in einer anderen ist dieses zwar erhalten, das bereits gezeigte pornographische Relief aus Elephanta wurde aber zensiert; die dritte Fassung enthält schließlich die gesamte Bandbreite an expliziten Bildern. Auch dieses Vorgehen scheint aber weniger eine Vorsichtsmaßnahme, weniger von der Angst geleitet, dass die Bilder in falsche Hände geraten könnten, denn eine bewusste Exklusivierung und Hermetisierung des Werkes. Denn die übrigen, nicht minder anstößigen Illustrationen, etwa der schon erwähnte, als „Erlöser der Welt“ betitelte phallusgesichtige Hahn, waren in allen Fassungen enthalten. Jedem Leser war damit zudem jene Illustration zugänglich, die Knight, wie eben zitiert, selbst angeblich als am problematischsten betrachtete, nämlich die programmatische Szene des mit einer Ziege kopulierenden Satyrs.
143 Zit. nach Redford 2008, S. 118. 144 Cust (1898, S. 123) zitiert die entsprechenden Sitzungsprotokolle und bietet auch eine komplette Liste der ursprünglichen Empfänger. 145 Redford 2008, S. 117f.
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Vor diesem Hintergrund einer bewussten Limitierung der Verbreitung des Buches ist es aufschlussreich sich anzusehen, wie dieser hermetisierende Umgang mit Wissen in Knights Text beschrieben wird. Das hierbei dominante Narrativ klang in den zitierten Passagen aus Knights Sizilianischer Reise bereits kurz an. Dort klagte er die Instrumentalisierung des Glaubens durch den Klerus an, der sich dadurch eine Machtposition sichert. Knight ruft damit die in der Aufklärungsliteratur omnipräsente These der Geburt der Religion als Priesterbetrug auf. Demnach sind alle Religionen eine Erfindung der herrschenden Klasse, die mit einfachen Erklärungen, spektakulären mythischen Erzählungen und vor allem Autorität beanspruchenden Bildern die Masse von der geheim gehaltenen, arkanen Wahrheit auszuschließen gedachte. Die Formen, in denen das göttliche Prinzip bildlich repräsentiert wurde, seien jedenfalls „only intelligible to the initiated“: „Obwohl alle Menschen bis zu einem gewissen Grade an den göttlichen Sendungen teilhaben sollten, sollten sie es nicht alle zum gleichen Grade tun“.146 In Versform artikuliert Knight diesen Gedanken auch in dem Lehrgedicht Progress of Civil Society: „Thus priests and princes, with confederate sway, / Made the deluded multitude obey; / Confirm’d their power ursurp’d with steady laws / And bade ambition serve in order’s cause.“147 Zunächst ist auch bei Knight, wie bei d’Hancarville, die Imagination verantwortlich für die Entartung der antiken Theologie. Die „phantoms of imagination“ machen aus den Dingen, die man nicht versteht, übermächtige Erscheinungen.148 So entsteht eine „poetische Mythologie“, die den einzelnen Taten und Attributen des ursprünglich „polymorphen“ Gottes einzelne Handlungsträger, also viele Götter zuschreibt, was Knight als Korruption der reinen Theologie verstand.149 Immer wieder finden sich im Discourse Gedanken, wo Knight insbesondere den ägyptischen Priestern die systematische Etablierung einer „doppelten Religion“ zuschreibt. Gemeint ist damit die Unterscheidung zwischen einer für die Öffentlichkeit gedachten, aus oberflächlichen Erzählungen bestehenden Lehre, die vor allem zur Disziplinierung der Gläubigen gedacht ist, und einer tieferen, arkanen Wahr-
146 DISC, S. 27. „Although all men were supposed to partake of the divine emanation in a degree, it was not supposed that they all partook of it in an equal degree.“ (Ebd., S. 173) 147 Knight 1796, S. 40. 148 DISC, S. 22. 149 „Another great means of corrupting the ancient theology, and establishing the poetical mythology, was the practice of the artists in representing the various attributes of the creator under human forms of various character and expression.“ (DISC, S. 175) Diese „confusion of epithets and titles contributed, as much as any thing, to raise that vast and extravagant fabric of poetical mythology, which, in a manner, overwhelmed the ancient theology“ (ebd., S. 174).
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heit. Paradoxerweise ist somit gerade das Verschleiern der Symbole verantwortlich für ihr Nachleben. Denn gerade die Medien der vulgarisierten Tradierung der mystischen Symbole, also vor allem die Münzen waren, wie oben zitiert, ein herrschaftlich autorisiertes Überlieferungsmodell. Abb. 40 (links): Johann Heinrich Füßli, Das verschleierte Bild zu Sais, 1805-10. Aquarellierte Bleistiftzeichnung, 484 x 373 mm. Kunsthaus Zürich. Abb. 41 (rechts): John Samuel Agar, Apollo Didymaeus, in: Knight 1809, Taf. XLIV.
Mythen seien also erfunden worden, „um die neugierige Ignoranz des gemeinen Volkes zu befriedigen, vor denen die Bedeutung der mystischen Symbole, die die 151 üblichen Embleme auf den Medaillen waren, streng verborgen wurde“. Das „survival“ resultiert somit aus einem unheilvoll erscheinenden Wechselspiel aus „avarice and superstition“. Der machthungrige Geiz der herrschenden Kaste, kombiniert
150 Vgl. auch Knight 1835, S. 2. Der Begriff der „doppelten Religion“ stammt von Jan Assmann 2001. 151 „[T]o satisfy the inquisitive ignorance of the vulgar, from whom the meaning of the mystic symbols, the usual devices on the medals, was strictly concealed“ (DISC, S. 141)
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mit dem naiven Aberglauben der Massen, haben also „diese symbolischen Darstel152 lungen fortgeführt“. Die Komplexität und Macht der ursprünglichen Symbole ist nicht für jeden geeignet. Durchaus dünkelhaft schreibt Knight, dass die ursprüngliche Religion eben „zu rein und philosophisch war, um lange eine populäre Religion zu bleiben“.153 Dies ist ein durchaus antiaufklärerisches Denken, das die Risiken einer grenzenlosen Entbergung der göttlichen Geheimnisse beschreibt, denn dahinter mag auch eine nicht verständliche, den gemeinen Betrachter überfordernde und überwältigende Wahrheit liegen. Ein prominentes Beispiel für dieses Denken findet sich etwa im Motiv des „Bildes von Sais“, das in Schillers gleichnamiger Ballade thematisiert und von Johann Heinrich Füßli bildlich umgesetzt wurde (Abb. 40). Der Jüngling, der hier unvorsichtiger Weise den Schleier der Isis lüftete, lebte fortan „nimmermehr erfreulich“ (Schiller).154 Symbole sind für Knight generell am meisten Wert, wenn sie semantisch komplex und am besten mehrdeutig sind, das heißt eine inhärente hermaphroditische Struktur aufweisen. Die einzelnen Symbole, auch der Phallus, seien eben nur Abstraktionen von einzelnen Eigenschaften, die aus der Fülle des ursprünglichen (beidgeschlechtlichen) Schöpfergottes gelöst wurden. Einen Rest von all dem, was „united in the true God“ war, findet er etwa in der Vision des Ezekiel, der Gott in „der zusammengesetzten Form eines Adlers, Bullen und Löwen darstellt, also mit den Emblemen des ätherischen Geistes, der schöpferischen und der zerstörerischen Kräfte“.155 Ein Symbol muss also ideal immer auch sein Gegenteil, sein geschlechtliches Gegenstück beinhalten.156 Es verwundert daher wenig, dass die Skulptur, der er den ersten Platz in der griechischen Kunstgeschichte einräumt, die Darstellung eines androgynen Apolls ist, „more truly feminine than […] any figure of the kind that we have seen“ (Abb. 41).157 Ebenso hoch schätzt er einen „double Apollo“ (das wohl nur geographisch gemeinte Epitheton
152 „It has often happened, that avarice and superstition continued these symbolical representations for ages after their original meaning has been lost and forgotten.“ (DISC, S. 24) 153 DISC, S. 174. 154 Vgl. Grave 2012, S. 36. 155 DISC, S. 147f. 156 Vgl. auch Carabelli 1996, S. 38. 157 Sie sei „perhaps the most perfect work of human art now extant“ und zeige die „unperverted influence of a dignified and exalted mind upon a free and unrestrained body“ (Knight 1809, S. 73f.). Dass diese Skulptur Bestandteil seiner privaten Sammlung war, mag noch mehr zu ihrer Wertschätzung beigetragen haben. Vgl. Ballantyne 2003, S. 137.
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„Didymaeus“ (δίδυμος = Zwilling) deutet er natürlich als Indikator für ein zwitterhaftes Wesen), den er auf einer makedonischen Münze sah. Das Bildnis sei „bemerkenswert wegen seiner extremen Delikatheit und femininen Eleganz“. Es zeigen sich darin die „Vereinigungen der schöpferischen und zerstörerischen Kräfte beider 158 Geschlechter vereint in einem Körper.“ An Kunstwerken lobt er auch im Weiteren vor allem Objekte wie einen riesigen Phallus in Florenz, der mit einem Löwen und verschiedenen anderen Tieren kombiniert ist: „Damit ist das Zusammenwirken der schöpferischen und zerstörerischen Kräfte dargestellt, die in einer Figur vereinigt wurden, weil sie beide einem gemeinsamen Grund entstammen“.159 Dieselben Bilder, die eben noch ins Zwielicht betrügerischer Machenschaften gestellt wurden, sind nun, wegen ihrer kombinatorischen Formen, doch wieder als noble und anspruchsvolle Ausdrucksformen begriffen. Denn nur Bilder, so Knight, „haben die Mittel, um Ideen möglichst vollständig auszudrücken, indem sie mehrere Formen kombinieren.“160 Darin sind sie etwa der im weiteren Verlauf des Textes diskutierten Zoolatrie, also der quasi fetischhaften Verehrung eines Tieres überlegen. Bilder erfahren hier eine neue Wertschätzung, gerade weil sie eine Überkomplexität, die nicht jedem zugänglich ist, ausdrücken können. Hier offenbart sich eine interessante Parallele: Offenbar schätzt Knight an Kunstwerken genau jene hermetischen Züge, die er an anderer Stelle als „Priesterbetrug“ attackiert. Zudem verhält er sich, als Autor bzw. Verleger seines Traktates, weitgehend strukturanalog zu besagten Priestern. Auch er und die Society of Dilettanti operieren mit ihrer restriktiven Verteilungspolitik und Selektion dessen, was sie wen sehen lassen, wie die Priester, die ihr arkanes Bilderwissen nur den Eingeweihten zugänglich machen. Tatsächlich ist die „Verschleierung“ der ursprünglichen Wahrheit in Knights Denken nicht per se negativ besetzt. Vielmehr führt dieser Vorgang in einem bemerkenswerten Wechselspiel auf einen Grat zwischen legitimen Formgebungen und demagogischen Verführungen. So scheint es in Knights Augen geradezu nötig gewesen zu sein, eine domestizierte Form der erhabenen Wahrheit zu finden, da sie ungefiltert „der plumpen Vorstellungskraft der Massen nicht angemessen war“. Den Lehrsätzen der ursprünglichen Theologie ein den Menschen zugängliches und ver-
158 DISC, S. 141f. 159 „By this is represented the cooperation of the creating and destroying powers, which are both blended and united in one figure, because both are derived from one cause.“ (DISC, S. 126) 160 „[Images] have thus the means of expressing their ideas more fully, by combining several form together.“ (DISC, S. 54)
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ständliches Gesicht zu geben sei also nötig gewesen. Die Verschleierung, der „Betrug“ der Priester sei daher „gewiss sehr weise berechnet gewesen, um zeitweilig 161 zum Guten zu führen“. Zweifellos ist der Akt der Verschleierung und Umdichtung der Wahrheiten durch die Priester ein Mittel der autoritären Herrschaftssicherung, doch steht durchaus in Frage, ob anders überhaupt eine gesellschaftliche Ordnung möglich sei. Die „ignorance of the vulgar“, ihre „gross conceptions“, scheinen eben nicht erst Konsequenz des Handelns der Autoritäten, sondern eine eingeborene Eigenschaft der „multitude“ der Menschen. Der Hermetisierung des Wissens wird hier also ein äußerst positiver Zug zugebilligt – ein Gedanke, den man nicht gerade bei einem liberalen Engländer der Aufklärung erwarten würde, sondern eher bei einem absolutistisch gesinnten, katholischen Barockmenschen wie dem Jesuitenpater Athanasius Kircher. Dieser ist sicher nur einer von vielen Namen, die man hier nennen könnte. Doch dieses etwas willkürlich gewählte Beispiel kann zeigen, wie ähnlich hier Argumente geführt werden und zwei denkbar verschiedene Charaktere plötzlich in eine „unheimliche Nachbarschaft“ gerückt werden. In seinem großen Werk zum Obeliscus Pamphilii beschreibt Kircher etwa, wie der legendäre, von ihm aber als sehr real (und von Knight sicherlich als betrügerischer Priester) verstandene Hermes Trismegistos die Schrift erfand. Als dieser sah, wie das gemeine Volk die zunächst unverschlüsselt offenbarte göttliche Weisheit sofort in die verschiedensten Aberglauben und Idolatrien umdichtet, entschließt er sich, so Kircher, zur Erfindung geheimer Symbole, der Hieroglyphen nämlich, mit denen er die göttlichen Mysterien so verschlüsselt, 162 dass sie nur von Personen, die ihrer würdig sind, gelesen werden können. Analog zu Hermes stilisierte sich dann auch Kircher selbst, etwa im Frontispiz zum Iter Exstaticum, als inspirierte Persönlichkeit, in der sich gleichsam innerlich göttlicher Wille und Wahrheit inkarnierte. Ist demnach auch Knight eine Art neuer Hermes Trismegistos, dessen eigenes Vorgehen mindestens ebenso viel (oder besser, für ebenso viele) verschleiert wie
161 „The grand and exalted system of a General First Cause did not suit the gross conceptions of the multitude“. Die Umformungen waren daher „certainly extremely well calculated to produce temporal good“ (DISC, S. 174 u. 188). 162 „Et quoniam nequaquam consultum esse videbat, tot tamque alta divinitatis, et Naturae mysteria illi propalare populo, quem sciebat et superstitionibus addictissimum, & dictorum sacramentorum incapacem, quemque in varios abusus ea haud dubiè traducturum cognoscebat. Hinc animum intendit, ad reconditiorum Symbolorum fabricam, qua mysteria divinitatis, et Naturae ira exhibebat, ut solis sapientibus et intellectu conspicuis manifesta, plebi verò et Idiotis praeter admirationem nihil aliud captu pervium relinqueret, ingenio summo a profanorum lectione munita.“ (Kircher 1650, S. 93f.) Vgl. Rowland 2001, S. 162.
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enthüllt? Bei weniger hermetisch verteilten Schriften und insbesondere bei den offiziellen, unter der Regie der Society of Dilettanti herausgegebenen Büchern, argumentiert Knight jedenfalls deutlich anders. Ausdrücklich nimmt er etwa im Inquiry into the Symbolical Language of Ancient Art and Mythology die „vom Lichte der Offenbarung begünstigten“ Nationen aus seiner phallozentrischen Entwicklungsgeschichte der Künste aus. Anders als alle übrigen (heidnischen) Kulte würde die offenbarte Religion selbstverständlich nicht ihren Anfang in der Verehrung der Elemente nehmen.163 Am Ende des Buches wird gar die Mission der Heiden als der einzige Weg zu moralischer Reinigung gepriesen.164 Dass diese Sonderstellung der jüdisch-christlichen Religion im Buch nicht durchgehalten wird und wenig später sehr wohl wieder christliche Formen, wie etwa Kirchturmspitzen und gotische Fialen, auf phallische Formen zurückgeführt 165 werden , ändert nichts daran, dass für die Öffentlichkeit anders formuliert werden musste. Und das nicht, weil die Inhalte des Discourse nicht ernst gemeint waren oder Knight hier ein „Opfer des Intellekts“ (wie Max Weber es genannt hätte), also ein Zugeständnis an seine Kritiker gemacht hätte, sondern weil die im Discourse verkündeten Geheimnisse so seriös und erhaben sind, dass sie eben nicht für jeden geeignet schienen. Um das Gesagte noch einmal zusammenzufassen: Bilderwissen wird damit zu hermetischem Expertenwissen. Und genau für einen solchen hermetisch geschlossenen Zirkel von Experten, denen ein entsprechendes Wissen zugemutet werden kann, war der Discourse auch geschrieben. Die limitierte Verbreitung der Schrift spiegelt genau das Vorgehen priesterlicher Geheimhaltung. Nicht für jedermann geeignet sind die delikaten Wissensschätze. Knight und sein Umfeld rücken hier in ihrem Umgang mit dem Wissen über die Ursprünge in genau jene Position, die sie für die Priester beschrieben haben. Die Dilettanti werden zu der neuen priesterlichen Gemeinschaft, die über das arkane Wissen um die Ursprünge verfügen. Hier zeichnet sich klar das Modell der Ideologie einer Elitekultur ab – ein Selbstbild, das die Society durchaus auch selbst zu pflegen wusste. So schreiben sie über sich selbst im ersten Band der Antiquities of Ionia, dass „kein Männerbund jemals gewissenhafter seiner ursprünglichen Zielsetzung treu geblieben ist“, ohne freilich präzise zu benennen, was letztere genau aus166 macht.
163 Knight 1835, S. 1f. 164 Ebd., S. 79. 165 Ebd., S. 36. 166 „[N]o set of men ever kept up more religiously to their original institution.“ (Society of Dilettanti 1821, Bd. I, S. II)
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Knight, der von der Forschung wohl nicht zufällig als „arrogant connoisseur“ betitelt wurde, scheint für solche Gedanken besonders anfällig. Wie Lionel Cust schreibt: „Knight posed as the arbiter of taste in London society; he delivered his opinions with somewhat the air of an oracle.“167 Zu dieser Selbststilisierung als Eingeweihter passt wohl auch die von Zeitgenossen überlieferte Angewohnheit Knights, bei Gesprächen über die fernste Vergangenheit in die erste Person zu wechseln – und sich quasi als Zeitgenossen unter Gleichen mit Homer und Lukrez zu inszenieren.168 Die Umstände der Veröffentlichung des Discourse legen also einen Blick auf die Society of Dilettanti als einen hermetischen bzw. hermetisierenden Zirkel nahe. Knight selbst wäre in dieser priesterlichen Schwurgemeinschaft eine Art Hohepriester, der den Zugang zu den tiefsten antiquarischen Geheimnissen limitiert und kontrolliert. Will man dem zustimmen, so greift Knight hier auf ein Modell der Selbstinszenierung zurück, das in der Clubkultur der Society of Dilettanti tief verwurzelt war. Vor allem Sir Francis Dashwood, elfter Baron Le Despencer und einer der berühmtesten Rakes seiner Zeit, war für diese Außenwirkung der Society of Dilettanti verantwortlich. 1740 beschloss die Society, dass von jedem ihrer Mitglieder ein Porträt durch den zum offiziellen Hausmaler der Gesellschaft gekürten George Knapton angefertigt werden sollte. In den folgenden neun Jahren sollten insgesamt 169 zweiunddreißig Porträts der Dilettanten entstehen. Praktisch alle Bildnisse der Bruderschaft sind historisierte Porträts und die Protagonisten treten in unterschiedlichstem Habit – antikisch, orientalisch oder katholisch kostümiert – auf. Das vielleicht zentrale Betätigungsfeld der Society, der Alkoholgenuss, spielt ebenso eine tragende Rolle wie sexuelle Anspielungen. Ein Bildnis sticht dennoch heraus. Es ist das von Sir Francis Dashwood (Abb. 42). Gezeigt ist der Dilettant im Habit eines Franziskanermönches, inklusive einer Tonsur, um die ein Heiligenschein schwebt, der mit einer Inschrift versehen ist. Hier ist in goldenen Lettern zu lesen: „San Francesco de Wycombo“ – der Heilige Franz von Wycombe (letzterer Ort war der Landsitz Dashwoods). Er ist offenbar im Begriff eine recht unheilige Kommunion zu vollziehen. In seiner Hand hält er einen goldenen Kelch mit der Aufschrift „Matri Sanctorum“. Seinen Kopf lehnt er nach
167 Cust 1898, S. 119. 168 So dokumentiert z.B. in diesem Bericht von einem festlichen Dinner: „Something was talked of as a recent invention by Knight, ,quite latterly, quite modern.‘ ,When about?‘ asked somebody. ,O! lately, since Croesus; Homer knew nothing of it,‘ answered the Pagan.“ (Holland 1923, S. 106) 169 Zu diesen Porträts v.a. Redford 2008, Kap. 1.
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vorne, in Richtung einer weiblichen Aktstatue, deren Schamregion prominent zu sehen ist und die, so mag man denken, das Äquivalent zur Hostie in diesem Ritus 170 darstellt. Abb. 42 (links): George Knapton, Sir Francis Dashwood, 1742. Öl auf Leinwand, 91,4 x71,1 cm. Society of Dilettanti. Abb. 43 (rechts): William Platt (?) nach William Hogarth, Sir Francis Dashwood worshipping Venus, Mitte 18. Jh. Kupferstich, 378 x 253 mm.
Dies blieb nicht die einzige Selbstinszenierung als derart unheiliger Mönch. Einige Jahre später malte Adrien Carpentiers Dashwood in ähnlicher Rolle, nun als „Innocens Pontifex Optimus Maximus“, der dieselbe Kommunion vor einer Herme vollzieht, die die Züge seiner Frau trägt. 1760 schließlich beauftragte Dashwood William Hogarth für eine letzte Variation über das Thema: Dashwood at his Devotions (Abb. 43). Auf dem Kruzifix, das er hier in der Hand hält, ist allerdings nicht der tote Heiland Gegenstand der Kontemplation, sondern eine Frauenfigur mit deutlich geöffneten Oberschenkeln. Dass auf Grund solcher Bilder die Society, ebenso wie Dashwood und seine Gefolgsleute, zum Gegenstand öffentlicher Fama wurden, scheint sie wenig gestört zu haben. Im Gegenteil: ihre durchaus blasphemischen Porträts hingen sie in der Taverne auf, die der Versammlungsort der Society war, und setzten sie so dem An-
170 Vgl. ebd., S. 33.
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blick eines öffentlichen Publikums aus.171 Vollends verbreitet wurde diese Selbstinszenierung spätestens mit dem Auftrag an Hogarth, dessen Komposition als Druck verlegt wurde und so maximale Öffentlichkeit generierte. Durch Gruppen von Porträts wurde damit an die Öffentlichkeit eine Gruppenidentität von Männerbünden kommuniziert, die anspielungsreich ein gemeinsames Interesse an höchst lüsternen Vergnügungen darstellte. In der öffentlichen Wahrnehmung mussten solche Bildpolitiken geradezu notwendig Assoziationen zu einer anderen Männergemeinschaft wecken, deren Mitglied Dashwood war. Die Rede ist von dem sagenumwobenen „Hell-Fire-Club“, auch „Medmenham-Monks“ genannt. Über das, was wirklich in den Räumen der Abtei von Medmenham vorging, ist so gut wie nichts bekannt. Der einzige Bericht stammt von John Wilkes und seine Verlässlichkeit ist äußerst strittig.172 Wilkes jedenfalls deutet all jene blasphemischen Akte an, die man angesichts des Porträts Dashwoods vermuten möge: „Neben anderen Vergnügungen äfften sie manchmal die Riten ausländischer religiöser Orden, vor allem die der Franziskaner nach. [...] Kein gewöhnliches Auge hat sich je gewagt in den Kapitelsaal dieser Englischen Eleusianischen Mysterien zu blicken, wo die Mönche sich zu allen feierlichen Anlässen versammelten und wo die geheimsten Riten vollzogen wurden.“173 Auch hier dürfte vor allem der heimliche und exklusive Charakter der ‚mönchischen‘ Gemeinschaft die Imagination und Spekulation der Außenstehenden befeuert haben.174 Ein einzigartiges Phänomen wäre der Mönchsbund von Medmenham dabei übrigens keineswegs gewesen. Ähnliche Männerclubs existierten auch anderswo in Großbritannien und waren in ihrer Verfasstheit teils noch expliziter auf die fleischlichen Lüste ausgerichtet. Genannt sei nur der schottische Beggar’s Benison, eine Vereinigung, die auch durch ihre materiellen Relikte faziniert; zu nennen wäre
171 So informiert uns John Wilkes, zit. nach Kelly 2009, S. 78f. 172 Zu den politischen und persönlichen Konflikten zwischen Dashwood und Wilkes, die den Hintergrund dieser Berichte abgeben: Frith 2002. Allerdings dürfen Wilkes Äußerungen nicht als reine Diffamierungskampagnen gesehen werden; er betonte stets selbst Teil dieser Gemeinschaft gewesen zu sein und nahm sich also nie die Position eines Anklägers von außen heraus. 173 „Among other amusements, they had sometimes a mock celebration of the rites of the foreign religious orders; of the Franciscans in particular. [...] No profane eye has dared to penetrate into the English Eleusinian mysteries of the chapter-room; where the monks assembled on all solemn occasions, and the more secret rites were performed.“ (Wilkes 1805, Bd. III, S. 61f.) 174 So auch John Sainsbury: „[T]he libertine society known as the Medmenham Monks retained its notoriety, partly because it was clandestine and ephemeral, and hence the object of lurid speculation.“ (2006, S. 103)
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etwa der mit einem Phallus geschmückte Teller, der angeblich als Auffangbecken bei der gemeinsamen Masturbation der Clubmitglieder diente.175 Die Gerüchte um diese Kreise als blasphemische und übersexualisierte Zirkel waren also wohl nicht ganz fehlgeleitet. Andere Quellen bestätigten, dass die „Franziskaner“ von Medmenham andernorts dieselben Rituale praktiziert haben. Kein Geringerer als Charles de Brosses berichtet etwa von einem Diner in Italien, bei dem er Dashwood, „diesen verdammten Hugenotten“, wie er ihn nennt, weitgehend dieselben Akte vollführen sah, die auch Wilkins beschrieb – und darin ein wahrhaftes „scandalum magnatum“ sah.176 Eine solche Szene fand wohlgemerkt vor Publikum statt, das nicht in die Geheimnisse des Ordens eingeweiht war. Es bestätigt sich hier, dass die Installation eines geschlossenen Clubs wie der Abtei von Medmenham mehr eine demonstrative Geste nach Außen, denn der Versuch einer wirklichen Verheimlichung der eigenen Praktiken war. Aus dieser Perspektive auf Knight, den „arrogant connoisseur“, der als eine Art neuer Hermes Trismegistos die Geheimnisse der bildlichen Überlieferung bewacht, ist zuletzt auch eine nochmals neue Perspektive auf seine Theorie der „natürlichen Zeichen“ zu gewinnen. Denn das Konzept einer „Natürlichkeit“ der Bilder wurde prominent, wie bereits im vorherigen Kapitel angeklungen ist, mit eben jenem Zeichensystem assoziiert, das auch Hermes, laut Kircher, institutionalisierte. Gemeint sind die Hieroglyphen. Die Natürlichkeit der Bilder meint in diesem Zusammenhang gerade nicht, dass ihnen eine unmittelbare Verständlichkeit zu eigen ist, sie also kein arbiträrer und erst zu lernender Code, sondern intuitiv verstehbar seien. Im Gegenteil: diese arkanen Bildzeichen wurden gerade im späteren 18. Jahrhundert zu einem Exempel für Kunstbetrachtung, die eben nicht jedem zum Verständnis offen steht, sondern nur dem Kenner. Bereits George Aglionby beschrieb Bilder auf diese Weise: „Pictures have that singular Priviledge, that though they seem Legible Books, yet they are 177 perfect Hieroglyphicks to the Vulgar.“ Maßgebliches Merkmal dieses Hieroglyphenbegriffs ist genau jene formale Eigenschaft, die auch Knight als das höchste Qualitätsmerkmal von Kunst bestimmt, nämlich ihre Überkomplexität. In dieser Verwendung findet sich der rein poetologisch, nicht historisch gebrauchte Begriff der Hieroglyphe auch bei Diderot, der ihn im Lettre sur les sourds et les muets verwendet (und teilweise synonym zum
175 Die umfassendste Studie dazu (mit Abbildungen der gesamten Hinterlassenschaften des Clubs): Stevenson 2001. 176 Brosses 1869, Bd. II, S. 369f. 177 Aglionby 1685, unpag. Dedikation.
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„Emblem“ verwendet). Hier bezeichnet „Hieroglyphe“ eine Kunstform, die, so Diderot, „unmöglich [...] in eine andere Sprache zu übersetzen“ ist, also eine dezidierte Eigenwirklichkeit des Kunstwerks postuliert, die sich durch eine komplexe und sprachlich kaum zu erfassende „Harmonie“ auszeichnet.178 Hieroglyphische Kunst, so Diderot, sei nicht bloß eine übersichtliche „Verknüpfung“ von Ausdrucksformen, sondern ein komplexes „Gewebe“, das aus „aufeinandergehäuften“ emblematischen Bildern besteht.179 Durch die Unerschließbarkeit dieses synästhetischen Erlebnis ist für Diderot den Künsten damit, so Annette Graczyk, eine auratische, wenn nicht gar „magische Potenz“ zu Eigen.180 Der Grund der Bedeutung dieser Zeichen ist damit kaum rational erschließbar, sondern zur Gänze den höheren Fähigkeiten des Connaisseurs überantwortet. David Hume erläuterte dieses Modell von Kennerschaft mit einer Episode aus Don Quixote, wo zwei Vettern von Sancho Pansa aus einem Weinfass kosten. Einer behauptet, der Wein sei sehr gut – schmecke aber etwas nach Metall. Der andere dagegen sagt auch, dass der Wein schmecke – aber ein wenig nach Leder. Als das Fass gelehrt ist, findet sich an dessen Boden ein eiserner Schlüssel, an dem ein Lederriemen be181 festigt ist. Das divergierende Urteil der Experten war also in beiden Fällen richtig. Das Problem an diesem Geschmacksurteil ist nur, dass durchaus mehrere Antworten richtig sein können. Man hat zunächst jedoch dem Connaisseur zu vertrauen. In diesem Sinne gibt Knight mit dem Discourse eine der möglichen Antworten auf die Frage nach dem Ursprung der Kunst. Dabei zeigt sich das Spielerische und Experimentelle dieses Konzepts von Historiographie. Er kann an d’Hancarville anknüpfen – und ihm doch diametral widersprechen. In beiden Fällen aber argumentieren die Antiquare aus einer elitistischen Perspektive. Das Urteil des Experten macht, wie bei Hume, die These wahr, auch wenn sie nicht verifiziert werden kann. Auch wenn Hume sein Geschmacksurteil grundsätzlich auf einen „standard of taste“ gründet, also auf ein von einer normgebenden Gemeinschaft institutionalisiertes Urteil, so bleibt die Erkenntnis dieser Normen, wie Andrea Kernbauer herausge182 stellt hat, doch nur einer Minderheit vorbehalten.
178 Diderot 1969, S. 68. Vgl. etwa Keiner 2003, S. 97ff. Zu Diderots Position im Autonomiediskurs des 18. Jahrhunderts: Kohle 1989. Zur umfassenden Literatur über Diderots Hieroglyphenbegriff nenne ich nur: Körner 1990; Déan 1999. 179 Diderot 1968, S. 53. 180 Graczyk 2011, S. 364. 181 Hume 1985 [Standard], S. 234f. 182 Kernbauer 2007A, S. 224. Hume selbst schreibt, der Standard gründe auf „general observations, concerning what has been universally found to please in all countries and all ages“ (1985 [Standard], S. 231).
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Umso härter trifft, angesichts dieses Anspruchs an das eigene, priesterliche Vermögen zur Erkenntnis der Wahrheit, natürlich ein nachweisbares Fehlurteil. Knight erging dies leider an allzu prominenter Stelle so. Sicher waren zahllose persönliche Animositäten ein wichtiger Grund für seinen verhängnisvollen Fehler, doch sei es wie es mag: mit einem Eifer, der ihn wahrhaft zu einem „arrogant connoisseur“ machte, erklärte Knight, dass die Skulpturen des Parthenon, die Lord Elgin nach London brachte und die heute noch zum geheiligsten Besitz des British Museum gehören, nur ein minderwertiges Produkt von Epigonen seien. Er hielt sie für Kopien aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert – ein verheerender Feh183 ler, der seine Reputation in der Gelehrtenwelt nachhaltig beschädigen sollte. Doch Knight hatte sein Talent zur Relektüre von Quellen mit dem Discourse schon einmal unter Beweis gestellt. Er sollte, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, noch ein weiteres Narrativ, eine weitere Gegengeschichte erproben. Zur unangreifbaren Autorität, zum Gebieter über den Ursprung der Kunst – dies sei schon vorweggenommen – führte ihn allerdings auch diese nicht.
183 Die beste Aufarbeitung der Kontroverse bietet Ballantyne 1997.
V. Der Sound des Ursprungs (Knight II)
§1 D IE A UTORITÄT H OMERS Im Jahre 1791 stellte der junge Thomas Lawrence in der Royal Academy of Arts eines seiner wenigen Historiengemälde aus. Das Motiv des eher kleinformatigen 1 Bildes ist Homer Reciting his Poems (Abb. 44). Im Zentrum des Bildes steht Homer, der blinde Barde, frontal auf den Betrachter ausgerichtet. Es ist eine beeindruckende Figur: Den Kopf leicht himmelwärts gewendet trägt die Blindheit der Augen nur noch mehr dazu bei dem Haupt, das von den effektvoll gegen den dunklen Bildgrund abgesetzten weißen Locken geradezu wie von einem Lichtnimbus umfangen wird, eine fast transzendentale, jedenfalls tief inspirierte Note zu geben. In starkem Kontrast dazu ist die Rechte des Dichters gebieterisch nach unten gehalten. Kein in sich gekehrter, versunkener Mensch brütet hier über seine Verse. Seine Wirkabsicht zielt ins Gegenwärtige. Und die Menschen hören ihn. Zuhörer nähern sich aus allen Himmelsrichtungen und gruppieren sich in kreuzförmiger Komposition um den Dichter, der das Zentrum bildet. Einige sind noch im Begriff heranzutreten. Rechts vorne führt eine Frau einen alten Mann zum Ort des Geschehens; einige junge Figuren klettern aus den Wäldern. Alle Altersstufen und Geschlechter finden hier zusammen. Die Zuhörer in unmittelbarer Nähe des Sängers lauschen ihm teils versunken; einige andere, wie die Gruppe am linken Bildrand, diskutieren sichtlich aufgewühlt über das Gehörte. Hier steht nicht irgendein beliebiger, dahergelaufener Wanderprediger, nicht irgendein Rhapsode, der in jedem griechischen Dorf seine Lieder singt, wie das etwa Robert Blyth nach John H. Mortimer (1781) in einer äußerst profanierten Lösung 2 des Bildthemas an der Figur des Homers erprobt hat (Abb. 45). Homer markiert
1
Zuletzt dazu: AK London 2010, S. 108-111 (Kat. Nr. 6).
2
Einen guten Überblick zu Homerdarstellungen im 18. und 19. Jh. bietet der AK Stendal 1999, insbes. Kap. VI.
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bei Lawrence den Mittelpunkt, den Schwerpunkt der Komposition, auf den hin alles zustrebt. Hier steht ein echter Mensch, ein historisches Individuum. Obwohl inspiriert ist der Dichter doch nicht entrückt in einen Musenhain, wie das etwa bei Angelika Kauffmanns Stich (1774), der Homer mit der Muse Kalliope zeigt, der Fall ist (Abb. 46). Abb. 44: Thomas Lawrence, Homer Reciting his Poems, 1790. Öl auf Leinwand, 93 x 109,9 cm. Tate Britain.
Lawrences Homer ist ein Originalgenie, und nicht bloß „repeating his Verses“, wie im Untertitel des Stichs von Blyth konstatiert. Die Umsetzung des Themas scheint damit sehr weit entfernt von jenen Thesen der „oral poesy“, die Ilias und Odyssee als Jahrhunderte lang von Rhapsoden mündlich tradierten Stoff betrachteten und die Existenz eines Individuums, das diese Epen dichtete und dessen Name Homer sein 3 mochte, oder auch nicht, bestritten. Ein solcher „Homer“, der nur ein Produkt des kollektiven Gedächtnisses der Griechen wäre, begegnet etwa im bereits diskutierten Frontispiz zu Vicos Scienza Nuova (1744). Hier ist der „wahre Homer“ nicht mehr Mensch, sondern Statue und auf einen Sockel entrückt (Abb. 19). Dieser „Homer“
3
Zur Geschichte der Beschäftigung mit der „homerischen Frage“ (also danach, ob Homer eine geschichtliche oder fiktive Person war, respektive ob seine Epen von einem oder mehreren Autoren, schriftlich oder mündlich geschaffen wurden) siehe Fowler 2004.
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ist ein Gedächtnisprodukt, eine kollektive Imagination, in der die poetischen Fähigkeiten des griechischen Volks nachträglich personifiziert wurden. Abb. 45 (links): Robert Blyth nach John Hamilton Mortimer, Homer repeating his verses to the Greek, 1780. Radierung, 501 x 604 mm. Abb. 46 (rechts): Antonio Zucchi nach Angelika Kauffmann, Kalliope und Homer, 1781. Radierung, 235 x 177 mm.
Lawrence dagegen beantwortet die „homerische Frage“ nach der wahren Identität des legendären Dichters offenbar zu Gunsten eines Individuums, doch es ist auffallend in welche historische Situation dieses eingefügt ist. Verschiedene kleine Menschengruppen scheinen zu Füßen des Sängers zusammenzufinden. Der Griechenmund, der hier singt, lebt offenbar nicht in einer gänzlich verstädterten Umgebung, wie das Thema etwa von Jacques-Louis David aufgefasst wurde, dessen Homer inmitten des Trubels der Stadt fast unterzugehen scheint.4 Nur ein kleines Heiligtum im Hintergrund des Bildes zeugt bei Lawrence von Architektur. Auch sonst sind nur wenige Spuren von Zivilisation zu sehen. Vor allem das Fehlen eines ikonographischen Details fällt auf: Niemand notiert die Worte Homers. Bei Kauffmann oder David etwa hängen verschiedene Schrifttafeln sehr prominent im Bild. Kauffmann lässt den Dichter die Worte, die die Muse ihm eingibt, sogar eigenhändig niederschreiben.5 In der Version des Themas von Asmus Jacob Carstens (1796), die im
4
Es ist sicher richtig dieses Werk, das David nach der Revolution im Kerker malte, als Reflexion über seine eigene politische und künstlerische Rolle in der sich erneut im Umsturz befindenden Gesellschaft zu verstehen. Dazu: Lajer-Burcharth 1999, S. 71ff.
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Schreiben konnte er offenbar sogar bereits vor Kalliopes Besuch; neben ihm liegen zwei leere Blätter, die bereits die Titel seiner beiden Werke, „odusseia“ und „ilias“ tragen.
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Auftrag eines Engländers entstand, weist ein älterer Mann einen Jüngling (die Hörerschaft ist hier eine reine Männergesellschaft) zum Mitschreiben an (Abb. 47) – ein Motiv, das auf Raffael zurückgeht, der in seinem Parnass-Fresko im Vatikan 6 dem blinden Homer einen mitschreibenden Jungen zugesellte. Lawrences Bild dagegen zeigt ein Initialmoment, in dem der inspirierte Poet ganz aus sich schöpft. Keine Schrift begleitet sein Wort und man mag überlegen, ob diese Kulturtechnik überhaupt schon erfunden ist. Abb. 47: Asmus Jakob Carstens, Studie zu „Homer singt den Griechen“, 1796. Bleistiftzeichnung, 520 x 365 mm. Klassik-Stiftung Weimar.
Lawrences Komposition ähnelt damit auffälliger Weise eher einer anderen ikonographischen Tradition, nämlich jener, in der zwar ebenfalls ein antiker Sänger auftritt, der jedoch dezidiert als mythologische Figur aufgefasst wird. Genannt seien hier etwa James Barrys Orpheus instructing a savage people aus dem Zyklus The Progress of Human Culture and Knowledge in der Royal Society of Arts, Gottlieb Schicks Apoll unter den Hirten (1806-08) oder das Frontispiz zum zweiten Band der Monde Primitif des Court de Gébelin, das Orphée ou les Effets de Discours (1778) zeigt (Abb. 48 u. 49). Jeweils finden wir in diesen mythischen Sujets – wie bei Lawrence – einen Sänger in offener Landschaft, um den sich diverse Zuhörer scharen. In allen Fällen hebt der Sänger die Rechte zum Redegestus und bindet so seine Zuhörer an sich.
6
Vgl. AK Stendal 1999, S. 177.
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Bei Schick, wie noch deutlicher bei Barry und Gébelin, ist eine Szene des Anfangens gezeigt. Der Autor der Monde Primitif verweist ausdrücklich auf die zentrale Rolle, die die Verkündung der poetischen Weisheit durch den orphischen Gesang bei der religiösen wie rechtlichen und gesellschaftlichen Bildung der frühesten (und im Frontispiz tatsächlich noch recht tierisch wirkenden) Menschen gespielt hat.7 Selbiges Motiv ist auch bei Barry bereits im Titel von Bild und Zyklus explizit thematisiert. Der Sänger steht am Anfang menschlicher Kultur und geschichtlicher Überlieferung.8 Abb. 48 (links): James Barry, Orpheus instructing a savage people, 1791. Radierung, 417 x 505 mm. Abb. 49 (rechts): Orphée ou les effets de discours, Frontispiz zu Court de Gébelin, Monde Primitif..., Bd. II, 1778.
Wenn Barry davon schreibt, sein Orpheus sei sowohl „the legislator, the divine, the philosopher, and the poet, as well as the musician“, deutet sich zudem eine weitere Wendung des Themas an, die dann bei Schick zentral wird. Sein programmatisches Gemälde zeigt „Apollo, welcher die Menschen die Dichtkunst lehrt“. Und dieser vermittelt seinen Zuhörern durch seine Kunst die Lehren, durch die sie „sich zu
7
Das Frontispiz „représente les heureux effets de la PAROLE, pour l’instruction du genre humain“ (Court de Gébelin, MP, Bd. II, 1778, S. XLV). Diesen didaktischen Aspekt der Monde Primitif betont besonders Rosenfeld 2001, S. 113ff.
8
Barry gab seinem Werk eine umfassende Beschreibung bei: Barry 1783; zu „Orpheus“: S. 42ff. Zu diesem Bild siehe die einschlägigen Arbeiten von W.L. Pressly 1981, S. 92-101 u. 2005.
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ihrer Vollkommenheit zu erheben“ vermögen, wie sein Biograph Ernst Platner schrieb.9 Die Kunst wird hier zur Lehrerin der Menschen erklärt, zum Instrument, das sie aus einem primitiven Naturzustand zu zivilisierteren Lebensformen führt.10 Der Gesang der Dichter ist damit in letzter Konsequenz als Quelle aller weiteren, auch der bildenden Künste gedeutet.11 Auch und gerade weil Lawrences Homer offenbar nicht als mythologisches, sondern historisches Thema konzipiert ist, erhärtet sich der Eindruck, dass hier eine Szene gezeigt ist, die an einem tatsächlichen (und nicht nur ätiologischen) Anfang der Geschichte steht, also vor der Schrift, vor vergesellschaftender Polisbildung. Man scheint noch einem primitiven Naturzustand nahe. So verwundert es auch nicht zu lesen, dass Lawrence sich offensichtlich gut mit dem Dichter Willam Cowper verstand, der die homerischen Epen übersetzte und ein wichtiger Vertreter der These der „Primitivität“ dieser Dichtungen war. Mit ihm unterhielt sich der Maler unter anderem über weitere Szenen aus Ilias und Odyssee, die gute Bildmotive 12 abgeben mögen. Cowper versuchte in seinen Übersetzungen in Blankversen und betont schmuckloser Sprache den in seinen Augen urwüchsigen Homer von den schmückenden Epitheta, die insbesondere die Übersetzung von Alexander Pope in 13 den Text eingeführt hatte, zu reinigen. Genau dieses ursprüngliche, reine Moment scheint auch Lawrence versuchen zu identifizieren und im Bild festzuhalten. Der Ursprung der Geschichte ist damit konkret lokalisierbar und der diffusen PräHistorie entrissen.
9
Platner 2010, S. 35 u. 39.
10 Vgl. Trempler 2010. 11 Ebd., S. 160. Interessant ist, dass zwar die These von der „Dichtung als Mutter der Künste“ zum „Urbestand der kunsttheoretischen Topoi“ gezählt werden kann (Osterkamp 1993, S. 177), die phonetisch artikulierte Form dieser Dichtung, also die Musik, jedoch tendenziell eher ans Ende der Genese der Kunstgattungen gerückt wurde (Gottdang 2004, S. 66-69). 12 Vgl. Cowper 1812, S. 112-114 (Brief Cowpers an Samuel Rose, 29. November 1793). 13 „[M]y diction is often plain and unelevated [...] Homer himself stands in the same predicament.“ (Cowper 1791, S. X) Überraschend ist, mit welchem bildkünstlerischen Phänomen Cowper die homerische Sprache vergleicht: „Homer, who writes always to the eye, with all its sublimity and grandeur, has the minuteness of a Flemish Painter.“ Es sind also die oft für ihre vermeintlich naive Naturnachahmung gescholtenen Holländer, die hier dem primitiven Griechen ähnlich sind (S. XV). Zur Geschichte der Homerübersetzungen ins Englische insgesamt: Steiner 1996.
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§2 A LPHABET
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Auftraggeber dieses Werks des jungen Thomas Lawrence war kein anderer als der uns bereits wohl vertraute Richard Payne Knight. Die beiden kannten sich wahrscheinlich über Knights Parlamentskollegen John Hamilton, 1st Marquess of Abercorn (übrigens einer der ganz wenigen Tories in Knights Umfeld), und das Bild scheint bereits seit 1788 in Arbeit gewesen zu sein.14 Es entstand damit genau in jenen Jahren nach der Publikation des Discourse, in denen sich Knight wissenschaftlich intensiv mit Homer beschäftigte. Auf Stonebrook Cottage, nahe des Familiensitzes Downton Castle in Herefordshire, arbeitete Knight zu dieser Zeit an der Rekonstruktion des Urtextes und der korrekten Aussprache des homerischen Epos.15 Den Text der Ilias (die Odyssee hielt er für ein gut hundert Jahre nach Homer entstandenes, epigonales Werk) von allen späteren, insbesondere alexandrinischen Emendationen und Konjekturen zu reinigen war sein Ziel – ein Unternehmen, das ganz auf der Linie dessen liegt, was der erwähnte William Cowper anstrebte, auch wenn Knight, wie wir sehen werden, ungleich radikaler vorging. Knights Bild von Homer war genau jenes, was sich bereits bei Lawrence abzeichnete, und es ist als sicher anzunehmen, dass beide Werke in einem gewissen 16 Austausch entstanden sind. Auch Knight jedenfalls betrachtet Homer ohne Zweifel als eine historische Persönlichkeit, und zwar als eine, deren überragende Bedeutung für die Kulturgeschichte der Menschheit kaum zu überschätzen ist. Dem „transcendent genius of one individual“ werden praktisch alle wesentlichen Innovationen der Geschichte zugeschrieben und Homer zu nicht weniger als der ersten Ursache der Zivilisation erklärt – eine Einschätzung, die selbst manchen seiner ho17 merbegeisterten Zeitgenossen „a little over-rated“ erschien.
14 Zur gemeinsamen Bekanntschaft mit Hamilton: AK London 2010, S. 112; zu Knights Abgeordnetentätigkeit und seiner sozialen Verwurzelung bei den Whigs: Rousseau 1987; zum Auftrag an Lawrence: Williams 1831, S. 122; AK London 2010, S. 108. 15 Dieses Buch fand in der Forschung zu Knight bisher kaum Beachtung. Hinweise: Messmann 1974, S. 55ff.; Penny 1982, S. 8-10. Relativ ausführlich: Clarke 1945, S. 140-142. 16 So auch die bisherige Forschung, vgl.: Clarke/Penny 1982, S. 180 (Kat. Nr. 183); AK London 2010, S. 108, wo Peter Funnell das Bild als „an imaginative extension of Knight’s philological speculations“ begreift, sich aber zugleich dagegen verwehrt, es „too literally as illustrative of Knight’s book“ zu interpretieren. Zugleich betont Funnell, dass Lawrences Gemälde auch sehr genau – etwa hinsichtlich des kleinen Formats – auf Knights Vorstellungen einer zeitgemäßen Historienmalerei reagiert. 17 Knight 1809, S. XII; Parson 1814, S. 9. Auch an solche Theorien mag Georg Zoega (1817, S. 312) gedacht haben, als er etwas später kritisierte, um Homer werde „eine förmliche Abgötterey“ getrieben.
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In seinem monumentalen Gedicht über den Progress of Civil Society schrieb Knight dem griechischen Poeten genau jene Fähigkeiten zu, die bereits in Lawrences Bildlösung deutlich wurden: der inspirierte Dichter vermittelt Weisheit und Grundsätze der Moral an das Volk. Mit seiner poetischen Sprache ist er zugleich auch erster Gesetzgeber der frühen Gesellschaften. Der Gesang der Poeten wirkt somit vergesellschaftend. Um seinen Worten zu lauschen, versammeln sich die Menschen und ausgehend von dieser Zusammenkunft konstituieren sich die ersten Gemeinschaften.18 Vor allem aber prägte, so Knights These, die Qualität der Sprache auch die Kunst.19 Denn die Melodie und Komposition der Sprache des Dichters diktierte auch den Bildwerken der Griechen ihre Maße und Proportionen. Das Genie der Sprache determiniert die Ausdruckskapazitäten eines Volkes auch im Feld der anderen Kunstgattungen. Homer ist hier nicht mehr nur, wie bei Winckelmann, Lieferant ikonographischer Themen für die Malerei, sondern sein „Sound“, also Maß und Ordnung seiner Worte, wird zum direkten formalistischen Leitbild der griechischen Kunst erklärt.20 Seine Rekonstruktion des angeblichen „Urtextes“ der Ilias konnte Knight zwar erst 1808 veröffentlichen, bereits 1791 aber, also im Jahre der Fertigstellung von Lawrences Gemälde, erschien sein Analytical Essay on the Greek Alphabet, in dem er die philologischen Prämissen darlegte, auf Grund derer er zum „wahren“, zum ur-
18 „The poet thus, with heavenly science fraught, / To listening nations wisdom’s lessons taught; / To life and manners modified his song, / And mark’d the bounds of moral right and wrong; / To wealth, esteem, and honour traced the way, / And show’d where virtue and contentment lay; / Exposed corruption in its secret springs, / And smote dishonour on the thrones of kings.“ (Knight 1796, S. 59f., V. 259-267) 19 „The Greeks, animated by the spirit of their ancient poets, and the glowing melody of their language, were grand and poetical in all their compositions; whilst the Phoenicians, who spoke a harsh and untuneable dialect, were unacquainted with fine poetry, and consequently with poetical ideas; for words being the types of ideas, and the signs or marks by which men not only communicate them to each other, but arrange and regulate them in their own minds, the genius of a language goes a great way towards forming the character of the people who use it. Poverty of expression will produce poverty of conception; for men will never be able to form sublime ideas, when the language they think (for men always think as well as speak in some language) is incapable of expressing them.“ (DISC, S. 157f.) So auch Knight 1809, S. XI. 20 Zur Ideengeschichte „musikalischer“ Malerei siehe Gottdang (2004), die sich aber auf das deutsche 19. Jahrhundert konzentriert.
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sprünglichen Homer vorstoßen wollte.21 Der wahrhaftigen Urform der homerischen Dichtung nähert sich Knight über die Notation der Gesänge, also über das griechische Alphabet. Denn obwohl er Homer zu allererst als Sänger verstand, sind es für Knight doch vor allem die graphischen Zeichen der Buchstaben, die als Garanten eines „survival“ der ursprünglichen Weisheit des Dichters ins Feld geführt werden. In ihnen findet sich, gerade da, wo ein Buchstabe über die Jahrtausende hinweg nur wenig Veränderung erfuhr, am direktesten ein Rest der „power“ (also der Lautwerte) des ursprünglichen Gesangs: „[I]n the dead languages, all sound is to be known only from the powers originally given to the characters, and show what their Powers really were, is the only way to acquire a knowledge of those sounds in which the antient poets conveyed their sense.“22 Zwar habe auch das Alphabet über die Jahrhunderte hinweg viele Korruptionen und Degenerationen erfahren, dennoch bleiben die ursprünglichen Lautwerte weiterhin in den Schriftzeichen erfahrbar. Das „G“ und „K“ etwa „retain their powers, with, I believe, little or no variation, in most of the modern languages“. Selbiges trifft auf andere Buchstaben wie das „B“ und damit auch auf ganze Wörter wie das 23 englische „BEAR“ zu. Überhaupt kommt den Angelsachsen in Knights Schriftgeschichte eine besonders privilegierte Rolle zu, scheinen sie ihre Schrift doch in direkter Translatio aus Griechenland gewonnen zu haben. So erscheint das auch in England verwendete lateinische Alphabet für Knight entwicklungsgeschichtlich viel näher an der Schrift zu stehen, die die alten Griechen verwendeten, als das moderne griechische Alphabet – denn dieses habe sich sowohl hinsichtlich seiner Schrift als auch der Aussprache weit von dem Homerischen Griechisch entfernt. Daraus begründet sich das dem Leser vielleicht schon ins Auge gefallene merkwürdige Faktum, dass ein Buch über die Macht der Zeichen des griechischen Alphabets mit lateinischen Buchstaben wie 24 „G“ und Wörtern wie „BEAR“ argumentiert.
21 Knight 1791 u. 1820 (die Rekonstruktion des homerischen Urtexts erschien 1808 zunächst in sehr kleiner Auflage als Privatdruck, vgl. Penny 1982, S. 8). 22 Knight 1791, S. 2f. 23 Ebd., S. 5. „[I]t appears that our Northern words BURGH and BEAR come from the same source as the corresponding ones in the Greek.“. Zum „P“, das ursprünglich eher wie das griechische Lambda ausgesehen hätte: „The power of this letter seems not to have varied at all, for it is precisely the same in all the languages of modern Europe, and, as far as we can judge from analogy and etymology, the same as it was in Greece in the days of Homer.“ Auch hier ist der Schluss: In „modern languages it retains its antient power“ (ebd. S. 6f.). 24 „I employ the Latin letters because much nearer to the primitive Greek than the Greek ones now in use.“ (Knight 1791, S. 4)
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Hier scheint sich ein durchaus nationalistisches Argument Gehör zu verschaffen, kommen trotzdessen die ebenfalls mit lateinischem Alphabet schreibenden italischen und französischen Sprachen in Knights Geschichte bedeutend schlechter weg.25 Auch die Aussprache mancher Zeichen wie dem Theta sei im Englischen mit dem Laut des „th“ so „griechisch“ wie sonst nur bei den Kopten, während der ursprüngliche Wohlklang dieses Buchstabens überall sonst einem „hereditary defect“ zum Opfer gefallen sei.26 Homer hat also englische Erben – und entsprechend erinnerte auch die Landschaft, in der Lawrence seinen Sänger auftreten ließ, eher an die Midlands denn den Peloponnes. Angesichts von Knights Idee von den in den Schriftzeichen konservierten „powers“ dürfte nun die entscheidende Relevanz dieser zunächst vielleicht eher philologisch anmutenden Themen für unseren Gegenstand deutlich werden: In den Buchstaben, verstanden als ikonische Zeichen, manifestiert sich für Knight in besonderer Deutlichkeit ein „survival“ der ursprünglichen griechischen Weisheit. Wir haben es also wiederum sowohl mit einer Geschichte des Nachlebens zu tun, wie offenbar auch mit einem weiteren Ursprungsmotiv – denn von Phalli hat Homer bekanntlich nicht 27 gesungen. Idealerweise bietet sich mit dem Alphabet, verstanden als Satz symbolischer Formen, ein Gegenstand an, der, so Knight, jenseits der konjekturalen Schlüsse auf die er sich auch im Falle des Priapus verlassen musste, einen Weg zum tatsächlichen Ursprung, zu Homers eigensten Worten und damit zur Urszene aller Kultur eröffnen kann. Durch eine graphische Rekonstruktion der ursprünglichen Form der Buchstaben sei also, Knight zufolge, der Zugang zum tatsächlichen Wortlaut der homerischen Epik zu gewinnen. Knights Text geht nur vereinzelt auf die genauen Überlieferungsgeschichten der Buchstaben ein. Beispielhaft demonstriert er sein Konzept aber etwa am „G“. Die-
25 „Lateinisch“ als Name für diese auch zur Notation englischer Wörter gebrauchte Schrift gilt es damit wohl in Anführungszeichen zu setzen. „Etruscan, as well as the Latin, is evidently a corrupt dialect of the Greek.“ (Knight 1791, S. 5) Schlimmer noch die Aussprache des Französischen, die „to a Greek would have appeared scarcely human“ (ebd., S. 10). 26 Knight 1791, S. 13. 27 Im Gegenteil – die Ilias ist derart prüde, dass Raoul Schrott (2008, S. 168) gar vermuten möchte, Homer sei ein Kastrat gewesen. Im Gemälde von Lawrence dagegen mag man einige Andeutungen auf die phallischen Vorlieben des Auftraggebers sehen. Der fast nackte, lorbeerbekränzte Knabe, der im Bildvordergrund sich keck auf den Schenkel eines älteren Herrn stützt, fällt doch auf. Das Modell hierfür scheint tatsächlich ein zeitgenössischer Boxer gewesen zu sein, der auf Knight offenbar Eindruck gemacht hat (vgl. Williams 1831, S. 122).
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ses Zeichen führt er über mehrere Münz- und Inschriftenfunde zurück auf seine ursprüngliche Form, die in einer „single perpendicular line“ bestand. Als nächster Schritt wurde diese gebogen, „a little curved“, und schuf ein Zeichen, das dem späteren römischen „C“ sehr ähnlich sieht. Als letzter Schritt der graphischen Entwicklung wurde dieser Bogen schließlich noch ein Stück eingebogen, so dass das heutige „G“ entstand. Das moderne griechische „Γ“ sei dabei als Zwischenstufe einzuordnen, die entstanden sei, weil die geraden Linien leichter zu meißeln gewesen seien. Das Gamma ist also als Abstraktion verstanden, die von der die unverfälschten Lautwerte erhaltenden Hauptlinie der Geschichte dieses Zeichens wegführt. Aus dieser Bildgeschichte entsteht für Knight dann das „K“, das als Kombination zweier Zeichen, die verschiedene Vorstufen des „G“ sind, beschrieben wird. Hier wird die geschwungene Linie, die zum „C“ werden sollte, mit der „single perpendicular line“ kombiniert. Das bereits angeführte Zitat, dass „all sound is to be known only from the powers originally given to the characters“, mag das Kalkül andeuten, das unseren Autor zu solchen graphischen Rekonstruktionen ursprünglicher Buchstabenformen antreibt: Es geht ihm nicht um die Schriftzeichen selbst, sondern weiterhin um den homerischen Gesang. Die Buchstaben aber sind Zeugnis, sozusagen materielles „survival“ dieser Klänge. Knight behauptet damit die Möglichkeit der Rekonstruktion des originalen „Sounds“ des Homer durch Dekonstruktion der graphischen Formen des Alphabets. Dem Gedanken zu Grunde liegt wiederum das Postulat eines universellen mimetischen Triebes der Menschen. So seien auch die Buchstaben des Alphabets, die ja phonetische Werte bezeichnen (und nicht etwa, wie die Hieroglyphen, Dinge oder Ideen) als graphische Wiedergaben der Stellung der Artikulationsorgane beim Aussprechen des jeweiligen Lautes zu verstehen. Man habe also die Position von Lippen und Zunge bei der Artikulation eines bestimmten Lautes abgemalt. Ein naheliegendes Beispiel für dieses System (Knights Operationen sind leider komplizierter) wäre etwa der Buchstabe „O“, den man graphisch als die Wiedergabe der gerundeten Lippen bei der Aussprache des entsprechenden Vokals zu verstehen habe. Die Buchstaben des Alphabets beziehen sich daher nicht im engeren Sinn auf den Klang des Lautes, sondern ganz physisch auf die physiologische Form seiner 28 Materialisierung.
28 „To represent [the …] modes of articulation, I am inclined to believe the first visible signs for sounds were invented; for, though articulation be only the form and tone the substance, of speech, yet as the form is finite and simple, and the substance infinitely variable, it is natural to suppose that the first signs were invented to represent form rather than substance.“(Knight 1791, S. 3)
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Das griechische Alphabet wäre demnach entworfen worden, um den Anforderungen der Niederschrift des poetischen Gesanges eines Dichters vom Range Homers gerecht zu werden.29 Die Attraktivität des Modells ist offenbar: Das phonetische Alphabet ist damit als ein Satz gänzlich natürlicher Zeichen zu verstehen. Ebenso wenig wie der Klang der Worte sind daher auch die ersten Zeichen nicht als arbiträr verstanden. Die primitive Sprache sei nämlich eine perfekte gewesen – die klassische Utopie, wo Signifikant und Signifikat in eins fallen, so dass es in ihr keine Ambiguitäten hätte geben können. Erst in den späteren Sprachen seien, wie bereits zitiert, die Wörter „arbitrary signs of convention, instead of imitative representations of ideas“ geworden. Dass die Worte „natürlich“ und damit wahr sind, ist ein altes Motiv, nur dass hier Homer Adam beerbt. Dessen Lyra gilt Knight entsprechend als Symbol der universellen Harmonie.30 Unser Autor hält hier also an seinen Thesen über die „Natürlichkeit“ der Zeichen fest, die bereits im Discourse angesichts der Frontstellung gegen die Antiquités deutlich wurden. Knight fasst die Zeichen des griechischen Alphabets also als Bilder auf, die man wohl als Ideographien, also Begriffszeichen ansprechen darf. Bereits die Sprache malt die Ideen und entsprechend sind auch die Lautzeichen, mit denen man die Klänge repräsentiert, zumindest indirekt Gemälde der Ideen selbst. Die Diskussion um dieses Thema findet sich spätestens seit Platons Kratylos. Im 18. Jahrhundert scheint dieser Dialog vor allem als Plädoyer für die ideogrammatische Position gelesen worden zu sein. So zeigt Court de Gébelin Platon in einer Vignette sinnierend über die „ewige Wahrheit“, die darin besteht, dass „die Dinge durch die Buchstaben gemalt werden“.31 Seine Monde Primitif war sicher der ambitionierteste Versuch dieser Art im 18. Jahrhundert. Gébelins etymologische Wissenschaft begriff die Grammatik ausdrücklich als „Malerei“ der Ideen: „La Grammaire nous offre également des modeles à imiter, par cela même qu’elle est un art de peindre, & ces modèles sont les IDÉES“, wobei eine Idee – daher ihre Abbildbarkeit – „signifie mot à mot une image, une figure, les formes d’un objet“.32 Die Idee ist offensichtlich und in ihrer Einfachheit verführerisch: Wenn der Text der Ilias nicht nur von den Sitten der Griechen kündet, sondern durch seine Notationsweise ganz physisch den Gesang Homers erfahrbar macht, dann ist es möglich, indem man alle Buchstaben des Textes wieder auf ihre ursprüngliche Form zurückführt (und damit auch die ursprüngliche Aussprache der Worte rekons-
29 Das ist bekanntlich auch die große These von Powell 1996. 30 Knight 1835, S. 43. 31 „[L]es choses se peignent par les lettres.“ (Court de Gébelin, MP, Bd. II, 1778, S. XLVI [Explication de la Vignette]) 32 Court de Gébelin, MP, Bd. II, 1777, Kap. V, S. 8 und passim. Auf die Zirkularität dieses Arguments hat v.a. Génette 2001 aufmerksam gemacht.
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truiert), wieder zu singen wie Homer. „[T]he Greek Alphabet was adapted to the 34 language, and not the language to the Alphabet.“ Seine Rekonstruktion des griechischen Alphabets eröffnete ihm nicht weniger als Zugang zu den tiefsten Geheimnissen der Ursprünge der Kultur. Abb. 50 (links): Thomas Lawrence, Richard Payne Knight, 1794. Öl auf Leinwand, 127 x 102 cm. Whitworth Art Gallery Manchester. Abb. 51 (rechts): Richard Westall, Orpheus, 1811. Privatbesitz
In diesem Sinne mag auch die Haltung, in der Thomas Lawrence einige Jahre später seinen Förderer Knight porträtierte (Abb. 50), als strukturelles Echo des älteren Bildes Homers zu verstehen sein. Auch Knight richtet seinen verklärten Blick inspiriert nach oben aus dem Bild heraus und auch die nach unten weisende Geste der rechten Hand erinnert an den blinden Barden. In so weit mag die Kritik des Satirikers Anthony Pasquin, der sich angesichts des Bildnisses an einen „jähzornigen Pädagogen“ erinnert fühlte (eine Charakterisierung, die zweifellos noch besser auf 35 Lawrences Homer anwendbar wäre) überraschend zutreffend sein. Wieder zeigt sich Knight als der „arrogante Connoisseur“, der als einziger den Schlüssel zur ur-
33 Angedeutet war dieser Gedanke bereits im Discourse, wo er schrieb: „[T]he Greeks [were] always accommodating their orthography to their pronunciation.“ (DISC, S. 124) 34 Knight 1791, S. 23. 35 Vgl. Williams 1831, S. 152; AK London 2010, S. 114.
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sprünglichen Weisheit in der Hand hält und damit Homer im wahrsten Sinne gleichkommen wird. Knights Thesen über diesen „natürlichen“ Gehalt der als Bildzeichen begriffenen Buchstaben mögen bestenfalls spekulativ wirken. Tatsächlich aber bewegte er sich mit diesen Vorstellungen im Rahmen einer breiten Forschungsrichtung, in der ebenfalls ein (wie Génette es genannt hat) „mimographisches“, also die Buchstaben als mimetische Graphien der Artikulationsorgane betrachtendes Verständnis des Alphabets propagiert wurde. Ich beschränke mich hier zunächst nur auf die auch heute noch geläufigen Namen, die dieses Konzept vertraten. Die Zahl weiterer Antiquare und Phantasten, die entsprechende Ideen entwickelten, ist Le36 gion. Der wohl bekannteste Autor dieser ideographischen Deutung der Alphabetzeichen war Franciscus van Helmont, dessen Alphabeti veri naturalis hebraici brevissima delineatio diese These vor allem mit durchaus überzeugenden Schaubildern illustrierte: Hier wurde im Querschnitt die Hals-Nasen-Ohren-Partie menschlicher Köpfe gezeigt, wobei unter die Formen von Zunge, Zäpfchen etc. ein dazu jeweils ähnliches hebräisches Schriftzeichen gesetzt wurde (Abb. 52). Abb. 52 (links): Diagramm zur Alphabetgenese, in: Franciscus van Helmont, Alphabeti veri naturalis Hebraici..., 1667, Abb. 2. Abb. 53 (rechts): Frontispiz zu Franciscus van Helmont, Alphabeti veri naturalis Hebraici..., 1667.
36 Für einen konzisen Überblick siehe v.a. Hudson 1994, Kap. 3; Drucker 1995, Kap. VII u. VIII.
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Court de Gébelin entwickelte ausgehend von diesem Grundgedanken vor allem visuell überzeugende typologische Reihen, die vergleichsweise detailliert die spätere Entwicklung dieser graphischen Formen, hin zum modernen Alphabet, nachvollziehbar machen (Abb. 54). Was Knight in seinem Buch nur selten, wie eben im Falle des „G“ ausbuchstabiert, ist hier visuell deutlich evidenter gemacht. Auch weitere, äußerst namhafte Autoren wie Charles de Brosses zeigten sich für diese Konzepte aufgeschlossen. Der „président de Brosses“ sah ein derart physiologisches Alphabet zwar nicht als historische Realität – nahm die Idee von „natürlichen Zeichen“, die mimetisch die Artikulationsorgane nachahmten, aber als Anregung für eine Reformation der Schrift. Er wollte nach Maßgabe dieser Idee ein künstliches, dank seiner physiologischen Begründung aber natürliches und damit intuitiv ver37 ständliches Alphabet zeichnen. Abb. 54: Diagramm zur Alphabetgenese, in: Court de Gébelin, Monde Primitif..., Bd. III, 1777, Taf. IV.
Es ist dabei auffällig, dass ein nicht geringer Teil der Autoren, die derartige Theorien verfolgten, in eine eher „konservative“ Richtung einzuordnen sind. Es ging mit der These einer derartigen „natürlichen“ Herkunft der Zeichen vor allem darum, die Arbitrarität der Schrift abzustreiten und wieder Gott zum Spender dieser
37 Brosses 1765. Dazu: Génette 2001, S. 97-136.
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Kulturtechnik zu erklären.38 Zur Begründung der Hypothese, dass Buchstaben Abbilder physiologischer Phänomene seien, scheint die Zufluchtnahme zu Gott tatsächlich noch die plausibelste Variante. Denn es erfordert einige Phantasie, um sich vorzustellen, wie die Menschen selbst auf die Idee kommen die Form ihres Gaumens abzuzeichnen, und wie sie dies rein technisch bewerkstelligen sollen. Helmont hat dazu, soweit ich sehe, den einzigen konkreten Vorschlag geliefert, und zugleich auch bildlich umgesetzt (Abb. 53). Doch dass die homerischen Griechen wirklich wie er vor einem Spiegel gesessen, mit einem Zirkel ihre Zunge vermessen und dabei die neuen Lautzeichen notiert haben, dürfte schon damals nicht unmittelbar zwingend erschienen sein.39 Für diese Hypothese der Alphabetentstehung brauchte es daher fast zwangsläufig den auch von Helmont postulierten göttlichen Eingriff, der den Menschen ein „wahrhaft natürliches Alphabet“ offenbart. Welche Schrift dabei als ursprüngliche Mimesis der phonetischen Organe anzusehen sei, war übrigens heftig umstritten und scheint, wie bereits bei Knight gesehen, stark ideologisch motiviert gewesen zu sein. Religiös hinterfangen ist der Gedanke natürlich bei Helmont, dessen These, wie bereits der Titel seines Buches sagt, war, dass die hebräischen die ursprünglichen Buchstaben sind. Diese Schrift sei nicht weniger als Gottes Design, um seine unendliche Weisheit Adam zugleich durch Sprache und Schrift zu vermitteln. Für lateinische Buchstaben als das Urmedium aller Weisheit dagegen plädierte zum Beispiel Johann Georg Wachter.40 Gerade hier wird jedoch wieder offenbar, wie umstritten die nationale Zuordnung der „lateinischen“ Schrift war. Praktisch jede europäische Sprache fand hier ihren Apologeten, der wahlweise das Angelsächsische, Deutsche oder Italisch-Lateinische als den wahren Ursprungspunkt dieser Schriftzeichen zu identifizieren trachtete.41 Die Resultate seiner grammatologischen Rekonstruktion, die Knight 1808 mit den Prolegomena vorlegen sollte, sind mit „peculiar“ recht freundlich umschrieben.42 Vor allem die deutsche Forschung sah in Knights Bemühungen eher „eine baare litterarische Lächerlichkeit […] eine dilettantische Grillenhaftigkeit, wie deren vielleicht nur ein Engländer fähig ist“.43 Nicht nur identifizierte Knight weite Passagen der Ilias als spätere Interpolationen und strich sie daher aus seinem „ge-
38 Hier kann noch einmal die im vorangegangenen Kapitel aufgestellte These erhärtet werden, dass Knights Adaption dieses Bildbegriffs im Discourse als „gegen den Strich lesen“ der Quellenkunde seiner rechtgläubigen Gegner zu verstehen war. 39 Helmont 1667. Als Einführung in sein Werk: Coudert/Corse 2007. 40 Wachter 1752. Dazu: Hudson 1994, S. 84f.; Genette 2001, S. 84-87. 41 Zu nationalistischen Schriftinterpretationen im 18. Jahrhundert: Drucker 1995, Kap. VIII. 42 Clarke 1945, S. 141f. (auf seine Ausführungen bezieht sich auch das Folgende). 43 Volkmann 1874, S. 167.
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reinigten“ Epos. Vor allem änderte er, seiner Rückführung der Buchstaben auf ihre ursprüngliche Form entsprechend, die Schreibweise vieler Wörter, wobei er neben der Tilgung diverser, als spätere Emandationen identifizierter Buchstaben, wie dem „Phi“, sowie der meisten Diakritika mit besonderer Vorliebe das Digamma hinzufügte. Aus der ΙΛΙΑΣ (Ilias) wurde so etwa die ϜΙΛϜΙΑΣ, sprich also ungefähr „Wilwias“.44 Bereits dem Rezensenten des Monthly Review erschien der Gebrauch dieses Zeichens „very liberally“ und ihm war nicht ganz ersichtlich, „how fifty or sixty thousand digammas should desert all at once, and escape detection for so a long time“.45 Der Text gewinnt in der Tat eine deutlich andere Gestalt; der Anfang der „Wilwias“ lautet nach Knight etwa wie folgt: Μηνιν αϝειδε, θεα, Πηλεϝιάδϝ αχιλεϝος ολομενην, τη μυϝρί’ αχαιϝοις αλγε’ εθῆχεν, πολλας δ’ ῖφθῖμοϝς πσυϝχας αϝιδι προῖαπτσεν ϝἡροϝων, αϝτοϝς δε τελωρἰ ετευχε χυνεσιν οιϝωνοισί τε παντσι· διoς δ ετελεϝετο βουλή εχς τοϝο δη τα πρωτα διαστητην ερισαντε Aτρεϝιδης τε, ϝαναχς ανδρων, χαὶ διϝος αχιλλεϝς. statt Μῆνιν ἄειδε, θεά, Πηληιάδεω Ἀχιλῆος οὐλομένην, ἣ μυρί’ Ἀχαιοῖς ἄλγε’ ἔθηκε, πολλὰς δ’ ἰφθίμους ψυχὰς Ἄϊδι προΐαψεν ἡρώων, αὐτοὺς δὲ ἑλώρια τεῦχε κύνεσσιν οἰωνοῖσί τε πᾶσι· Διὸς δ’ ἐτελείετο βουλή ἐξ οὗ δὴ τὰ πρῶτα διαστήτην ἐρίσαντε Ἀτρεΐδης τε ἄναξ ἀνδρῶν καὶ δῖος Ἀχιλλεύς. Dieser radikale Ansatz wurde nur vereinzelt von anderen Forschern akzeptiert. Zu den wenigen Autoren, die sich Knight anschlossen, gehört etwa Thomas Shaw Brandreth, der ebenfalls ein Buch über die Wilias schrieb – wobei schon der Titel verrät, dass sogar dieser Autor für die ϝιλιας nur die Hinzufügung eines Digammas 46 akzeptiert. Immerhin scheint die Rezeption von Knights Thesen so intensiv gewe-
44 Tatsächlich besteht die Möglichkeit, dass das homerische Ilios (also Troja) in früheren Zeiten mit einem anlautenden „w“, also „Wilios“ gesprochen wurde (Latacz 2003, S. 98ff.). 45 Parson 1814, S. 14 u. 10. 46 Brandreth 1841.
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sen zu sein und sein Name derart synonym für seinen schriftgeschichtlichen Ansatz, dass noch zu Zeiten der Weimarer Republik die deutsche Homerforschung sich in die Kategorien „Knightianer“, oder eben Gegner dieses „Knightianismus“ untertei47 len ließ. Ein Autor wie der hier zitierte Paul Cauer, der sich hinsichtlich seiner Methode selbst den „Knightianern“ zurechnete, kann sich jedoch ausgerechnet mit dem entscheidenden Ziel seines Leitbildes, nämlich der Rekonstruktion eines „Urgriechisch“, nicht identifizieren.
§3 D ER W IDERSTAND
DER
H IEROGLYPHEN
Es soll hier im Folgenden gar nicht darum gehen, was von Knights Überlegungen nun zumindest im Ansatz zutreffend, was geschickt gedacht und was völlig absurd 48 ist. Zu diskutieren ist nur, welchen Erfolg Knight mit der praktischen Anwendung seines theoretisch begründeten Systems auf seinen Gegenstand hatte, also inwieweit es ihm gelingt, eine in sich logisch schlüssige Argumentation zu konstruieren. Es geht also darum, in wie weit er tatsächlich an den Ursprung der Kultur vordringen kann und zu einem neuen Homer wird. Erinnern wir uns: Das Ziel war es, den Urtext Homers zu rekonstruieren, das heißt, die Geschichte der Buchstaben so weit zurück zu verfolgen, bis sie sich als „natürliche“ Bilder der Artikulationsorgane erkennen lassen – und uns damit erlauben ihren ursprünglichen Lautwert, also die authentische Stimme und Aussprache des antiken Rhapsoden zu erfahren. Genau mit diesem Vorhaben scheitert Knight äußerst schnell. Der Rekonstruktionsentwurf krankt allein schon an seiner radikalen 49 Reduktion des „Uralphabets“ auf nur drei Lautzeichen, nämlich B, T und G. Die These, dass diese drei Laute den Grundstock des homerischen Gesangs zu bilden haben, ergibt sich aus der rein physiologischen Erwägung, dass die Grundlaute, die der Mensch erzeugen kann, ein Dental-, ein Labial- und ein Gutturallaut sind. Alle weiteren Laute und Buchstaben seien erst entstanden, nachdem „several intermediate improvements had taken place in the art of expressing sounds by signs“. Wollte
47 Cauer 1921, Bd. I, S. 77. 48 Erwähnt sei trotzdem, dass auch moderne Kommentatoren der Ilias teils Emendationen von Knight akzeptieren – was allerdings höchst umstritten ist. Vgl z.B. Nardelli (2001), der in einer Rezension von Martin L. Wests Edition der Ilias sich bitterlich beklagt, dass dieser durchaus Konjekturen von „so irresponsible an emender as Payne Knight“ zu akzeptieren geneigt ist. 49 „The first signs of notes of articulation were, therefore, the G (as it was antiently pronounced, and as we still pronounce it when followed by an A, O, or U), the P and the T.“ (Knight 1791, S. 4)
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man wirklich den homerischen Text auf diese erste Aufschreibeform reduzieren, so dürfte er jedoch kaum mehr singbar sein. Bemerkenswert daran ist zudem, dass Knight hier seine im Discourse etablierte Entwicklungsgeschichte praktisch auf den Kopf stellt. Der Ausdifferenzierung einer ursprünglich komplexen, mehrdeutigen Form, wie sie Knight bezüglich der androgynen Urformen beschrieb, ist dieses reduktionistische Modell einer aus drei Lauten bestehenden Sprache genau entgegengesetzt. Erinnern wir uns an die Entwicklungsreihe, mit der die Entstehung des „K“ beschrieben wurde. Das „K“ wurde laut Knight aus zwei Buchstaben, die jeweils Vorläufer des „G“ waren, zusammengesetzt. Hier wird also eine einfache, ursprünglich klanglich eindeutige Form mit der Zeit angereichert und mit anderen Formen kombiniert: „[T]his letter is, in fact, a junction of two Gammas, in order to express a stronger and more emphatical enunciation with the same organs.“50 Erst den späteren Zeichen wird damit die semantische Komplexität zugesprochen, die Knight im Discourse den androgynen Urformen attestiert hatte. Noch problematischer wird es, wenn Knight tatsächlich versucht, die Überlieferungslinien der Alphabetzeichen, wie sie etwa im Falle des „G“ angedeutet wurden, auszubuchstabieren. Zwar ist die Ausgangslage seiner Theorie, dass sich in gewissen Schriftzeichen der Lautwert ihrer ältesten Vorläufer bewahrte, was ein durchaus zirkulär geführtes Argument für ihre Anciennität ist. Die Formen dieser bedeutungsvollen Buchstaben in einer lückenlosen typologischen Reihe zurückzuverfolgen gelingt ihm aber nicht: „The want of authentic monuments, however, prevents us from tracing the progress of these improvements, the earliest inscriptions extant having been made when the Alphabet was even more perfect than it is at present.“51 Überhaupt muss festgestellt werden, dass die Abkunft der Buchstaben aus dem Abmalen der Artikulationsorgane zwar behauptet wird, diese Herleitungen aber kein einziges Mal tatsächlich vorgeführt werden. Wie der beschriebene Fall der „single perpendicular line“, die zum heutigen „G“ führte, aus einer Lippen- oder Zungenstellung abgeleitet werden kann, bleibt völlig offen. In der Tat hatten alle Autoren, die entsprechende mimographische Theorien aufstellten, vergleichbare Probleme. Wenn etwa für Bernard Lamy die Lippen „bei der Aussprache eines I eine gerade Linie bilden“ fragt man sich instinktiv, wie und warum das graphische Zeichen dann um 90° gedreht wurde.52 Selbst wenn man über diese Ungenauigkeiten hinwegsieht bliebe noch das am Beispiel Helmont kurz angesprochene Problem offen, wie diese physiologischen
50 Knight 1791, S. 5. 51 Ebd., S. 4. 52 Zitiert nach Génette 2001, S. 83.
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Fakten abzumalen seien. Trotzdem sind diese Versuche und insbesondere natürlich die höchst illustrativen Darstellungen bei Helmont, wesentlich ambitioniertere Näherungswerte an das, was man zu belegen suchte, als das bloße Postulat bei Knight. Dies ist überhaupt auffällig: Zu keinem Zeitpunkt nutzt Knight diagrammatische Visualisierungsmethoden, mit denen die Entwicklung der Buchstaben anschaulich gemacht werden könnte. Bei anderen Autoren wie de Brosses und Court de Gébelin, ja bereits bei Athanasius Kircher (Abb. 55) sind solche Abbildungen, die die genealogische Abfolge der Zeichen vor Augen führten, gang und gäbe. Zu analytischen Zerlegungen der Buchstaben, die am Ende gar phonetisch nützlich gemacht werden können, gelangt er nur in seltenen Fällen. Meist muss er aber resigniert konstatieren: „[W]ith what degree or form of aspiration it was pronounced it is impossible for us now to tell.“53 Die Wahrheit der Form, ihre „natürliche“ Ableitung, ist hier unerreichbar geworden. Dazu kommt aber noch ein viel gravierenderes Problem: Das Zeitalter Homers sei „so much anterior to all monuments of art, or authentic records of history, that we cannot even tell whether or not he had the knowledge of any letters“.54 Soweit ist der Fall noch unproblematisch. Dass dank der späteren „mimographischen“ Zeichen die vorschriftlichen Worte Homers rekonstruiert werden können ist ja gerade der Witz des Systems. Jedoch schreibt Knight gleich darauf, dass an jener berühmten Stelle der Ilias über Bellerophons Tafel, wo Homer Schriftzeichen, genauer: „semata“ erwähnt, es unklar sei, ob er symbolische oder alphabetische Schrift meint.55 Tatsächlich steht hier nicht etwa „grammata“, also das Wort für Alphabet-
53 Knight 1791, S. 7. 54 Um ehrlich zu sein, wir wissen es heute auch nicht besser. Charakteristisch für diese Unsicherheit ist, wie abwartend Joachim Latacz seinen Homer genau auf der historischen Scheide zur Alphabetisierung platziert: „Einerseits steht [Homer] noch voll in der Tradition der Mündlichkeit, die für die Dichtungsform der mykenischen Epoche anzusetzen war, ist also noch lebendige Aoiden-Dichtung, andererseits weist sie bereits Züge einer sprachlichen, gedanklichen und strukturellen Komprimierung auf, wie sie nur durch den Einsatz von Schrift zustande kommen kann. Das weist nun auch von dieser Seite her auf eine Umbruchszeit. Der Autor dieser Dichtung muss an der entscheidenden Schnittstelle der europäischen Literaturentwicklung gelebt haben: Er war groß geworden mit der alten Dichtungstechnik der Mündlichkeit und hineingewachsen in die neue Technik der Schriftlichkeit.“ (2003, S. 184) Dagegen: Kittler (2006), für den Homers Dichtungen „älter als die älteste Silbenschrift sind“ (S. 117). Umfassend zum Thema: Powell 1996 und Ernst/Kittler 2006. 55 Knight 1791, S. 19.; Ilias VI, v. 168, hier zit. nach Bierl/Latacz 2009, S. 12f. (der Begriff „semata lygra“ wird hier mit „Unglückszeichen“ übersetzt). Knights Theorie, dass diese „Zeichen“ eine Art von Hieroglyphen gewesen seien, wird heute übrigens weiter von Au-
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schrift. Dies führt Knight zu dem Schluss, dass es sich hierbei um eine Bilderschrift wie etwa die Hieroglyphen ägyptischer Provenienz handeln muss.56 Unser Autor beugt sich hier den historischen Tatsachen – anders als andere Autoren. F.A. Wolf und Rousseau etwa lehnten trotz des eindeutigen Befundes nämlicher Stelle eine Kenntnis jeder (auch einer hieroglyphischen Bilder-)Schrift für Homer rundheraus ab. Bilder, als nicht-phonetische Schrift- bzw. Notationsform, müssen für Knight also offenbar vor der Alphabetschrift lokalisiert werden. Kunstgeschichte setzt damit deutlich früher an, als Homers Gesänge zurückreichen. Manche Medaillen etwa „sind sicherlich so alt wie alle bekannten Schriftzeugnisse, außer den hieroglyphischen Inschriften von Ägypten und, vielleicht, einige etruskische und pelasgische Altertümer“.57 Bereits im Discourse wurde klar, dass Knight die ältesten erhaltenen Kunstwerke in Ägypten verortet: Die Tempel von Philae oder die Ruinen von Theben dürften diesen Rang für sich beanspruchen. Doch auch sie selbst sind bereits Replikationen der Modelle eines aus dem Osten kommenden Urvolkes. Die Geschichte der Kunst führt so letztlich doch in eine Tiefenzeit, die selbst Homers „Sound“, also die Wurzel der griechischen Kultur, nicht auszuloten vermag, sogar wenn wir diesen in seiner Urform rekonstruieren könnten. Knights Geschichtsbild erkennt damit die Existenz hieroglyphischer Bilder vor der Geschichte des Alphabets an. Es bleibt zu klären, wie für ihn das Verhältnis dieser beiden Bildformen zu denken ist, denn bisher erschien das Alphabet als eine gänzlich autonome Setzung, geboren aus der urwüchsigen Dichtungskraft, die sich hinter den blinden Augen Homers entfaltete. In einiger Ausführlichkeit äußert sich Knight zu diesem Thema erst einige Jahre später, nämlich in seinem Inquiry into the symbolical language of Ancient Art and Mythology. Dort beschreibt er insgesamt vier Stufen der Schriftentwicklung, wobei sich das Gesagte bestätigt und er wiederum die Existenz von Hieroglyphen vor der Entstehung des Alphabets annimmt. Beide Aufschreibeformen sind dabei Bilderschriften. Doch das, was sie malen unterscheidet sich. Während die Hieroglyphen ursprünglich einfache Bilder der
toren wie Barry Powell vertreten. Zum Forschungsstand siehe den maßgeblichen BaslerKommentar: Bierl/Latacz 2008, S. 67. 56 Für die Unsicherheit dieses Thema betreffend ist vielleicht bezeichnend, wenn George Smith wenig später falsch zitiert und von „Homer’s grammata [!] lugra“ – und nicht semata spricht (1842, S. 29). 57 „[W]e may safely pronounce them to be as old as any written monuments extant, except the hieroglyphical inscriptions of Egypt; and, perhaps, some Etruscan of Pelasgian antiquities.“ (Knight 1791, S. 19)
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Dinge, über die man kommunizieren wollte, waren, malen die Alphabetschriften eben die „organs of the mouth“ bei Artikulation eines bestimmten Lautes.58 Angesichts der Vierstufigkeit dieser Entwicklungsgeschichte mag es zunächst so scheinen, als adaptiere Knight hier die Position des wahrscheinlich wichtigsten und wirkmächtigsten Traktats über die ägyptischen Hieroglyphen, nämlich William Warburtons Divine Legation of Moses. Seine Thesen gehören zu den verbreitetsten alterumswissenschaftlichen Gedanken des 18. Jahrhunderts. Zwar hatten sich bereits vor Warburton andere Autoren, wie etwa Nicolas Frérét, in eine ähnliche Richtung geäußert, sie erreichten jedoch nicht von Ferne den Wirkungsgrad der Schrift des Bischofs von Gloucester. Sie fand in allen Denkrichtungen Anklang, so etwa auch bei dem viel gelesenen physikotheologischen Autor Noel-Antoine Pluche. Kanonisiert wurde seine Theorie dann spätestens mit dem Eintrag Jaucourts zu „Hiéroglyphe“ in der Encyclopédie, aber auch durch die Referenz, die Warburton durch Autoren wie Condillac erfuhr.59 Im engeren Umkreis Knights ist vor allem Thomas Astle zu nennen, auch er ein habitué im Kreise Charles Townleys, der in seiner Schrift über The Origin and Progress of Writing intensiv auf Bischof Warburton rekurrierte.60
58 „The art of conveying ideas to the sight has passed through four different stages in its progress to perfection. In the first, the objects and events meant to be signified were simply represented: in the second, some particular characteristic quality of the individual was employed to express a general quality or abstract idea, as a horse got swiftness, a dog for vigilance, or a hare for fecundity; in the third, signs of convention were contrived to represent ideas; as is now practised by the Chinese: and, in the fourth, similar signs of convention were adopted to represent the different modifications of tone in the voice; and its various divisions, by articulation, into distinct portions of syllables. This is what we call alphabetic writing; which is much more clear and simple than any other; the modifications of tone by the organs of the mouth, being much less various, and more distinct, than the modification of ideas by the operations of the mind. The second, however, which, from its use among the Aegyptians, has been denominated the hieroglyphical mode of writing, was every where employed to convey or conceal the dogmas of religion.“ (Knight 1835, S. 3) 59 Pluche 1739, Bd. I, S. 122ff.; Art. Hiéroglyphe, in: Encyclopédie; Condillac 1977 („Alles oder fast alles, was ich [über die Geschichte der Schrift] sage, habe ich [Warburtons] Buch entnommen.“ [Anm. 96, S. 323]). Als Überblick zur Warburton-Rezeption immer noch nützlich: Cherpack 1957. 60 Astle 1803. Wenn es angesichts der hier genannten Namen so scheint, als sei die Rezeption Warburtons in Frankreich besonders intensiv gewesen, so trifft dies sicher zu. Der Grund dürfte darin zu suchen sein, dass seine Ausführungen über die Hieroglyphen dort separat publiziert wurden – während der Bischof in England, wie im letzten Kapitel er-
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Die Bilder, verstanden als mimetische Repräsentationen des zu Bezeichnenden, betrachtet der Bischof als die archaischste Form der Schrift: „Der erste und natürlichste Weg, die Gedanken der Menschen durch Merkmale oder Bilder andern mitzutheilen, bestunde darinnen, dass man die Sachen abmahlete [...] Der erste Versuch zu schreiben, bestunde also bloß in der Mahlerey.“61 Während hier also die Dinge, die man meinte, einfach dargestellt wurden, bestand die zweite Stufe der Schriftentwicklung aus einer Komprimierung und Abstrahierung dieser Bilder. Drei Abkürzungsstrategien nennt er: 1. Verkürzung der Bilder auf das Wesentliche: Statt eine ganzen Belagerung malte man z.B. nur eine Sturmleiter. 2. Die Darstellung eines Dinges durch sein „Werkzeug“ – z.B. das allwissende Auge Gottes; das Szepter für die Herrschaftsgewalt. 3. Über Analogieschluss. Hier scheinen stark mythologische Vorstellungen hineinzuspielen, etwa wenn die Welt durch eine Schlange abgebildet wird. Die dritte Stufe der Schriftentwicklung wird etwa durch die chinesische Schrift repräsentiert. Hier wird die Gegenständlichkeit ganz aufgegeben und nur noch die Linien der Objekte beibehalten. Dies ist ein Gedanke, den bereits der ansonsten von Warburton heftig kritisierte Athanasius Kircher bildlich vorgeführt hatte. Auch er hatte die chinesischen Zeichen formal von gegenständlichen Bildern abgeleitet.62 Überraschend kurz und lapidar wird dann der eigentlich erklärungsbedürftigste vierte Schritt, der Wechsel zu einem phonetischen Alphabet abgehandelt. Denn „die chinesischen Zeichen, sage ich, sind von den eigentlichen Buchstaben nicht mehr weit entfernet; indem ein Alphabet nichts anders ist, als eine zusammengezogene Abkürzung jener beschwerlichen Vielfältigkeit“.63 Zentral daran ist, dass Warburton eine durchgehende Genealogie von Hieroglyphen, als erster Form der Malerei, bis hin zum Alphabet, das nichts anderes als eine Abstraktion dieser Bilder sei, annahm.64 In diesem Sinne die Hieroglyphen „unter dem Primat der Bildlichkeit“ zu betrachten, scheint ein zentrales Charakteristikum der Beschäftigung des 18. Jahrhunderts mit diesem Thema.65 Aus heutiger Perspektive ist es dabei immer wieder überraschend, wie unklar der Unterschied zwischen ägyptischer Schrift und ägyptischer Kunst für die Betrachter bis einschließlich des 18. Jahrhunderts war. Noch für Johann Georg Sulzer
sichtlich wurde, vornehmlich als theologischer, nicht altertumskundlicher Schriftsteller galt. 61 Warburton 1980, S. 3. 62 Ebd., S. 17. 63 Ebd., S. 20. 64 Diese Ideen zur Entwicklung der Schrift als protoevolutionäres Gedankengut gedeutet hat Tort 1981. Dagegen: Derrida 1980. 65 Keiner 2003, S. 33.
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war zum Beispiel unstrittig, dass alle ägyptische Kunstwerke „bey der hieroglyphischen Bedeutung der Bilder stehen geblieben seyn“, sprich dass alle ägyptischen Bilder auch Bilderschriften sind.66 Das ist aus der Perspektive der modernen Ägyptologie sogar zunächst keine völlig falsche Vorstellung67 – in ihrer Betonung der Bildlichkeit der Hieroglyphen blockierte diese Annahme aber sicherlich auch eine frühere Entzifferung dieser Schrift, die ja dadurch ermöglicht wurde, dass sie vorrangig als Alphabetschrift, ihre Bilder also als phonetische, nicht ikonische Zeichen betrachtet wurden.68 Abb. 55 (links): Entwicklung des koptischen Alphabets, in: Athanasius Kircher, Oedipus Aegypticus, Bd. 1, 1652. Abb. 56 (rechts): Sibirische „Hieroglyphen“, in: William Warburton, Divine Legation of Moses, Bd. 6, 1741.
Der erste Autor, der überhaupt eine klare Unterscheidung zwischen beidem, Schrift und Bild der Ägypter, propagiert hat, war offenbar erst Carsten Niebuhr in seiner
66 Und weiter: „Wenigstens ist kein ägyptisches Bild bekannt, das außer seiner hieroglyphischen Bedeutung etwas vorzügliches hätte.“ (Sulzer 1786, S. 306) 67 In der Tat ist die Dynamik zwischen Bild und Text fließend – jederzeit können Bilder zu Zeichen werden, aber auch Zeichen eine Bildfunktion übernehmen (Hornung 2001, S. 80). Für einen Zusammenhang von ägyptischer Schrift und Bildkunst plädiert nachdrücklich auch Henry George Fischer: „L’unité de l’écriture et de l’art égyptiens est primodiale; tous les deux sortent de la même genèse, au même moment.“ (Fischer 1986, S. 25; für die angesprochene Flexibilität der ägyptischen Schrift: ebd., Kap. II) 68 In dieser Einordnung der Hieroglyphen in einem falschen System sieht Franz Mauelshagen (2008) den Grund dafür, dass sie nicht früher entziffert wurden.
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1774 erschienenen Reisebeschreibung nach Arabien.69 Niebuhr beklagt, dass genau wie bereits die alten Griechen auch die Gelehrten seiner eigenen Gegenwart diesen entscheidenden Fehler machen würden, an dem die Entzifferung der Hieroglyphen bisher gescheitert wäre. Sie sehen „bloß die großen Figuren, welche ihnen zuerst in die Augen fielen, und diese gehören meiner Meinung nach gar nicht zu der Schrift der alten Egypter. Sie scheinen Sinnbilder zu seyn, welche bloß gewisse Personen und Begebenheiten vorstellen sollen.“ Nur die kleineren Zeichen seien dagegen als Schrift zu verstehen. Ihre Aufgabe sei es vermutlich, die großen Bilder, deren Szenen „vielleicht aus der Götterhistorie“ stammen, zu erklären.70 Auch in Warburtons Divine Legation findet sich in den Kapiteln, wo es um die Frühform der Schrift geht, Beispiele, die man heute zweifellos als Petroglyphen oder Höhlenmalereien ansprechen würde (Abb. 56). Das genaue Schriftbild interessierte offenbar weniger. Und so ist es vielleicht doch gerechtfertigt, die genannten Abhandlungen als „theoretische Ägyptologie“ anzusprechen, in dem Sinne, dass sie die tatsächliche Form der in Frage stehenden Schriftzeichen kaum unter71 suchten. Wie dem auch sei: Warburton konstruiert also eine lückenlose Geschichte der Schriftentwicklung, „vom Bild zum Buchstaben“, wie ein berühmtes Buch des 72 Ägyptologen Kurt Sethe betitelt war. Wenn es auch für den vierten Schritt seiner Entwicklungsgeschichte, den Wechsel zu einem phonetischen Zeichensystem, der heroischen Einzelleistung eines „Adaptors“, den Warburton Thot nannte, bedurfte, so gewann dieser pharaonische Minister sein neues Alphabet doch aus dem Zeichenschatz der alten Hieroglyphen. Dieser Übergang wird von Knight nun gänzlich anders erklärt, ja er wird vielmehr ganz geleugnet. Seine Theorie, dass Lautzeichen bildliche Nachahmungen der phonetischen Organe des Menschen seien, bricht mit der einheitlichen Entwicklungsgeschichte Warburtons. Vielmehr beschreibt er die Entstehung der Alphabetschrift aus einer anderen Kette von Replikationen: Die Hieroglyphen malten die Dinge ab; das Alphabet dagegen die (physische) Lautproduktion. Beide sind damit imitative, bildnerische Zeichenformen und somit unter Knights Generalthese der
69 So Iversen 1961, S. 110 70 Niebuhr 1969, S. 201-208. 71 Keiner 2003, S.92. 72 Sethe 1939. Die im Titel postulierte Genealogie ist dabei durchaus stichhaltig. Sethes „grundlegende Hypothese kann aus moderner ägyptologischer Perspektive sowohl mit Material untermauert und mit weiteren Hypothesen verknüpft als auch weiter differenziert werden“ (Morenz 2004, S. 6).
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mimetischen Natur des Menschen zu subsumieren, doch das, was sie nachahmen ist verschieden. Die Folge dieser Operation ist offensichtlich: Die Geschichte der Schrift spaltet sich in zwei Sequenzen, in zwei Familien, die sich aus einem jeweils anderen Grund speisen. Die Einheit von Bild- und Schriftgeschichte, die jene Autoren, die auf das Modell Warburtons rekurrierten, postulieren konnten, war damit zerbrochen. Die Genealogie der Bilder, die Knight zurück an den Ursprung von Kunst und Zivilisation führen sollte, ist brüchig geworden. Ein Riss tut sich auf zwischen den Sequenzen von hieroglyphischer und alphabetischer Malerei. Die nachvollziehbare Kette zum Ursprung der Kunst kann Knight nicht mehr zusammenhalten. Auch die „survivals“ in den heutigen Alphabetzeichen haben nur eine gewisse Reichweite. Der Ursprung dagegen verliert sich in einer nur hypothetisch zu rekonstruierenden, mythischen Vorzeit, die man eben nur als Gedächtnisprodukt kennt. Knight hat diesen Punkt wohl selbst nur zu deutlich gesehen – und das vielleicht bereits bevor seine unbestechliche Kennerschaft, seine souveräne Herrschaft über die Ursprünge in der Kontroverse um die Elgin Marbles in die Brüche ging. Die Konsequenzen dieser Denkbewegung sind am prägnantesten wiederum in einem Bild auf den Punkt gebracht. 1811 malte Richard Westall, ein weiterer junger, von Knight protegierter Maler im Auftrag des Antiquars das Bild eines weiteren Barden (Abb. 51).73 Wieder steht ein lorbeerbekränzter Sänger, die Lyra zupfend auf einer Waldlichtung, den Blick inspiriert gen Himmel gewendet und wieder sammelt sich um ihn ein gebanntes Publikum. Doch es ist nicht Homer, der hier singt; der Jüngling mit nacktem Oberkörper, übrigens betont schönlinig, fast androgyn gebaut, ist Orpheus.74 Und die Hörer, die sich um ihn scharen, sind die wilden Tiere des Waldes, die von seinem Lied gezähmt werden. Das Bildthema der ursprünglichen, vergesellschaftenden Kraft der Dichtung ist also das Selbe geblieben. Allein, eine andere Sängerikonographie rückt an die Stelle des Homer. Mit Orpheus ist hier eine andere Tradition an den Anfang gesetzt und zur Gründerfigur erhoben, die aber gerade keine historische Wahrheit beinhaltet, sondern sich in mythischen Gründen verliert. Das Leitbild des Orpheus unterscheidet sich deutlich vom Homer. Nicht nur, dass die Hauptfigur hier wesentlich dezentrierter ins Bild gerückt ist und die Hörerschaft weniger geordnet und hierarchisiert als in Lawrences Bild wirkt. Auch das Lied ist bekanntlich eines, das von Verlust
73 Zum Patronageverhältnis zwischen Knight und Westall: Gear (1977, S. 157-201), die von einer sehr engen Einflussnahme Knights auf den Maler ausgeht. Teils wurde gar ein homoerotisches Verhältnis der beiden Männer angenommen: Rousseau 1987, S. 132. 74 Zu der androgynen Konnotation der „Wellenlinie“, hier geradezu idealtypisch in der Form, die Winckelmann „Ausschweifung der Hüften“ genannt hätte, vorgeführt: Fend 2003, Kap. III.1 und III.2.
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und Trauer handelt: mehr melancholisch als führend. Die Ursprungsfigur Orpheus ist kein identifizierbarer, kein historischer Anfang. Im Inquiry hat Knight dieser Figur wichtige Passagen gewidmet; Orpheus wurde ihm hier zum Sinnbild des „poetischen“ Glaubens schlechthin. Was früher „mystisch“ genannt wurde, war ihm hier „orphisch“.75 Der entscheidende Unterschied zu Homer ist: Orpheus ist wahrscheinlich bereits ein Mythos! Diese Figur muss nicht notwendigerweise gelebt haben. Von den euhemeristischen Deutungsansätzen, die d’Hancarville verfolgte, setzte sich Knight, wie gesagt, deutlich ab. Und wenn „Orpheus“ gelebt haben sollte, ist zumindest die Erzählung, dass (so will es der Mythos) durch ihn, einen Thraker, die Religion in Griechenland eingeführt wurde, ein Mythos.76 Die Figur des Orpheus ist nicht, wie Homer, selbst ein Ursprungspunkt, sondern bereits Symbol des Ursprungs. Er ist das Symbol des Symbolischen, nicht dessen Schöpfer – er ist „survival“. Damit ist dieser ursprüngliche Sänger bereits eine Figur des Nachlebens. Der Glaube an die Erreichbarkeit der Ursprünge scheint hier gewichen zu sein. Der optimistische Geist der Revolutionsjahre ist es vielleicht, der hier nach Terror und Direktorium auch bei Knight, einem Freund der Freiheit, gewichen ist.77 Indem die „survivals“ des Griechentums nun in der Schrift identifiziert werden, entschwindet der eigentliche Anfang der Bilder, der nun einer mythischen (nicht physischen) Logik gehorcht. Der wahre Ursprung der Bilder und des Mythos, notiert in Bilderschrift, ist durch Knights Versuch einer Rekonstruktion der ikonischen Reste des Alphabets nicht erreichbar. Doch die Sachlage ist vielleicht besser von einer anderen Perspektive aus zu betrachten. Bereits in der Analyse des Discourse wurde schließlich klar, dass die Identifizierbarkeit der Ursprünge an sich keinen allzu hohen Wert darstellt. Viel wichtiger schien es für Knight, genau diese Urszene im Zwielicht zu lassen, um das Unbekannte mit einer souveränen Setzung, der autoritativen Geste, die auch Homer vorführt, unter die eigene Kontrolle zu bringen. Nicht zufällig scheint, wie gesagt, sein Porträt analog zu dem des blinden Barden angelegt worden zu sein. Doch das Problem ist, dass damit eine direkte Konkurrenz, eine unmittelbare Konfrontation angelegt ist: Knight vs. Homer. Die historische Gestalt des alten Griechen hätte dabei letzten Endes zweifellos die höhere Autorität. Angesichts des originalen Gesangs Homers wäre sein Interpret, Knight, in aller Deutlichkeit auf den zweiten Platz verwiesen. In diesem Sinne war es vielleicht auch Kalkül, die Identifizierbar-
75 So spricht er von „the mystic, or, as it was otherwise called, the Orphic faith“ (Knight 1835, S. 5). 76 „[I]f he ever lived at all, [he] lived probably about the time of Melampus, or a little earlier.“ (Knight 1835, S. 6) 77 Vgl. Manuel 1959, S. 265f.
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keit der Ursprünge wieder aufzuheben und so, als erster Interpret des Ungewissen, die Kontrolle über den Anfang dem historischen Homer wieder zu entreißen und erneut der Domäne des Antiquars zuzuschreiben.
VI. Das Trauma der Heilsgeschichte (James Christie)
§1 S ÄKULARISIERUNG
DER
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Auffällig an den bisher diskutierten Positionen ist, dass trotz des enormen Interesses an Frühzeiten, modern gesprochen also an der Prähistorie, die Beschäftigung mit der dafür klassischer Weise zuständigen Disziplin, der Chronologie, eher unterentwickelt scheint. Das zentrale historiographische Problem des Vergleichs verschiedener Systeme der Zeitrechnungen, also des griechischen, ägyptischen oder chaldäischen Kalenders miteinander zwecks Schaffung eines gemeinsamen Referenzrahmens, interessiert Autoren wie d’Hancarville oder Knight praktisch nicht. Ihre Ursprungssetzungen zielen vielmehr in eine historiographisch noch nicht erschlossene Prähistorie. Sie setzen damit im wahrsten Sinne des Wortes vor Beginn der Zeit ein. Neben diesen antiquarischen Souveränen haben oppositionelle Autoritäten keinen Platz. Besonders auffällig an diesem Desinteresse an der Chronologie ist, dass gerade die maßgeblichen Eckdaten der Heilsgeschichte als dem weiterhin entscheidenden (und tatsächlich auch lückenlosesten, kohärentesten) Rahmenwerk der Geschichte, mit dem alle übrigen, heidnischen Kalendersysteme in Konkordanz gebracht werden mussten, völlig ignoriert werden. Dabei war auch am Ende des 18. Jahrhunderts die Bibel weiterhin der chronologische Maßstab für jede Vergangenheit und vor allem die einzige Geschichtserzählung, mit der man einen berechenbaren, konkreten Nullpunkt für die Schöp1 fung, d.h. für die Geschichte der Erde etablierten konnte. Selbst wo man bereits die Bibel als Buch der Geschichte und nicht als geoffenbartes Heilsgeschehen verstand,
1
Dabei war die Zeitspanne, innerhalb derer man die Schöpfung datierte, durchaus weit; alle divergierenden Vorschläge, die mit einem Erdalter zwischen 6984 und 3616 Jahren kalkulierten, beruhten aber auf fundierten Berechnungen. Vgl. z.B. Vignoles 1738. Dazu: Tortarolo 1994, S. 32.
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blieb sie gerade für die „Prähistorie“, das heißt für jenen nicht durch andere Schriftquellen dokumentierten vorgeschichtlichen Zeitraum, doch die zentrale Quelle.2 Unsere Autoren ignorieren diesen eigentlich wichtigsten Anfangspunkt der Geschichte. Sie retten sich nicht einmal in eine Konstruktion wie sie etwa Vico propagierte, der die Historia Sacra und die heidnische Geschichte als gänzlich getrennt zu untersuchende Problembereiche verstehen wollte.3 Von den hier diskutierten Antiquaren wird die Heilsgeschichte dagegen vielmehr marginalisiert und, wie vor allem bei Knight gesehen, mit durchaus polemischem Impetus als Epiphänomen der wahren Geschichte betrachtet. Jakobs Stein in Bethel wird so etwa in den Antiquités eingereiht in eine größere Geschichte der „argoi lithoi“, die dabei sicher nicht mit ihm beginnt, und das hebräische Alphabet wird bei Knight als Ableitung eines „natürlichen“ Satzes ur-griechischer Zeichen betrachtet. Haben wir hier also perfekte Beispiele für eine bereits weitgehend säkularisierte Geschichte vor uns? Fast scheint es so, bedenkt man, wie sehr sich unsere Autoren den zentralen biblischen Orientierungspunkten der Frühgeschichte verweigern. Das gilt gerade für jene Ereignisse, die auch unter den aufgeklärten philosophes weiterhin am ehesten als gemeinsamer historischer Referenzrahmen akzeptiert wurden. Besondere Prominenz hatte dabei vor allem ein Ereignis: Die Rede ist von der Sintflut, die gerade weil sie auch erdgeschichtlich Spuren hinterlassen haben müsste, das ganze 18. Jahrhundert hindurch sehr prominent diskutiert wurde. Als naturhistorisch überprüfbares und zugleich potentiell biblisches Ereignis gewann sie im Lichte einer unter Säkularisierungsdruck stehenden Geschichtsschreibung noch an Bedeutung.4 Genannt sei nur das Beispiel des englischen Monumentalprojekts der Universal History, die in Abwendung vom Referenzpunkt des Lebens Christi einen Kalender, der in Jahren nach der Sintflut rechnete, einführen wollte.5 Der Reiz solcher Wegmarken lag, neben der erwähnten erdgeschichtlichen Absicherung, sicher auch darin, hiermit einen potentiell universellen, also von allen Menschen gleich erfahrenen und damit vor allen konfessionellen Spaltungen liegenden Ausgangspunkt setzen zu können. In England wurde dieses Ereignis intensiv als Ausgangspunkt menschlichen Kunstschaffens diskutiert. Gerade in der Architekturtheorie rückte die Sintflut zunehmend an die Stelle anderer Ursprungserzählungen wie die von der Urhütte. Vor allem die Form der biblischen Arche wurde thematisiert und ihre Architektur (wie auch immer sie rekonstruiert wurde) zum Ursprungspunkt der Baugeschichte erklärt. In einem hochinteressanten Diagramm wurde diese These etwa von George
2
Vgl. v.a. Seifert 1986.
3
Vico, SN, § 44, 68 und passim. Vgl. Hösle 1990, S. CXXXIII.
4
Zu den umfassenden Debatten des 18. Jh. über die Sintflut v.a. Seguin 2001.
5
Vgl. Zedelmaier 2003, S. 152.
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Stanley Faber illustriert. Sind die einzelnen Entwicklungsschritte, die in seiner Darstellung von der halbmondförmigen Arche zum griechischen Tempel führen, zwar alles andere als logisch, so wird die Suggestionskraft einer solchen visuellen Darstellung doch unmittelbar evident (Abb. 57).6 Leitet Faber aus der Arche die klassische Architektur ab, so konnte diese höchst spekulative These zur Enstehung der Architektur auch mit einem gänzlich anderen Endpunkt erzählt werden. Rowley Lascelles leitete so etwa in seinem Buch über die Heraldic Origin of Gothic Architecture eben jene gotische Formensprache aus dem spitzbogigen Bug der Arche Noahs ab. Abb. 57 (links): Frontispiz zu George Stanley Faber, The Origin of Pagan Idolatry, Bd. III, 1816. Abb. 58 (rechts): Lekythos mit Bild der „Dibutades“, in: AEGR I, Taf. 36.
Gerade für die Debatten um die Schriftgeschichte und die Entstehung der Hieroglyphen, wie sie vor allem bezüglich des Falles Richard Payne Knights diskutiert wurden, wäre eine Bezugnahme auf dieses Ereignis eigentlich fast unausweichlich gewesen: Einer der zentralen Mythen um die Herkunft der hieroglyphischen Schrift war schließlich die Erzählung von den Säulen des Seth, auf denen der Sohn Adams 7 die prädiluviale Weisheit in hieroglyphischen Bildzeichen verewigt hätte. Schrift und Sintflut waren damit besonders eng verknüpft.
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Faber 1816, Bd. III.
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Die Diskussion um den ikonischen Charakter der Bildzeichen des Seth ist alt: vgl. Oechslin 1982, S. 224.
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Nach Josephus Flavius waren die Säulen des Seth zwei in Syrien zu verortende Pfeiler oder Stelen, eine aus Stein, eine aus Ton (gegen die Flut wie gegen das Feuer des Weltenbrands haltbar), auf denen Noahs Sohn Seth das gesamte über die 8 Sintflut hinweg gerettete Wissen niedergeschrieben hätte. Viele Zeitgenossen unserer Autoren wie der obskure Antiquar Lemuel D. Nelme, der eine Rückführung der ikonischen Bestandteile des englischen Alphabets auf die Eindrücke propagierte, die der Mensch während der Sintflut erfahren hatte, rezipierten diese Erzählungen 9 intensiv. D’Hancarville handelt die Sintflut, diesen für den Problembereich prähistorischen Wissens so zentralen Gegenstand, in den Recherches nur in einer Fußnote ab, wo er, dem Ort entsprechend, eher marginalisiert als verhandelt wird. Er interessiert sich im Grunde nur für die griechischen Überlieferungen zum Thema, die er nicht als Schilderungen einer universellen Flut, sondern von lokal sehr begrenzten Ereignissen verstanden wissen will. Diese Geschehnisse hatten in seinen Augen durchaus historisch folgenreiche Effekte, etwa kamen durch eine dieser Fluten die Pelasger nach Pisa, wo sie ihre Bauformen und Schrift einführten. Eine universelle Flut, die sich vielleicht davor ereignet haben möge, hat gemessen an diesen späteren, lokalen Ereignissen aber keine wirkliche Relevanz für die Kultur- und Gedächtnisgeschich10 te der Völker. Seinen Lesern, das nur nebenbei, war das übrigens durchaus recht. Der von den Textmassen und Argumentationssprüngen zur Verzweiflung getriebene Rezensent Maty seufzte erleichtert, dass d’Hancarville dieses Thema ausgespart habe und das
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In der damals verbreitetsten Übersetzung der Antiquitates (Kap. 2) von William Whiston lautet der Bericht: „And that their inventions might not be lost before they were sufficiently known, upon Adam’s prediction that the world was to be destroyed at one time by the force of fire, and at another time by the violence and quantity of water, they made two pillars, the one of brick, the other of stone: they inscribed their discoveries on them both, that in case the pillar of brick should be destroyed by the flood, the pillar of stone might remain, and exhibit those discoveries to mankind; and also inform them that there was another pillar of brick erected by them. Now this remains in the land of Siriad to this day.“ (Whiston 1841, S. 32) Dazu Jan Assmann: „Offenbar handelt es sich um eine Legende, die sich an ein mit unlesbaren Schriftzeichen, vermutlich ägyptischen oder hethitischen Hieroglyphen, bedecktes Monument geknüpft hat.“ (2006, S. 292) Bemerkenswert ist, dass es solche Überlieferungsträger in der Geschichte tatsächlich gab, etwa in einem buddhistischen Kloster in China, wo über 500 Jahre lang der gesamte buddhistische Textkanon eingemeißelt wurde (Ledderose 1992).
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Nelme 1772.
10 D’Hancarville 1785, Bd. II, Anm. 216, S. 346ff.
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ohnehin schon viel zu lange Buch so nicht noch weiter aufblähe.11 Tatsächlich interessiert d’Hancarville sich für das Thema der universellen, also biblischen Sintflut nur insoweit, dass er damit, den Argumenten anderer Autoren wie Walter Raleigh folgend, postulieren kann, der biblische Berg Ararat sei viel weiter im Osten zu lokalisieren, als allgemein angenommen. Ausgehend von dem nun von Armenien nach Ostasien verlagerten postdiluvialen Diffusionspunkt kann unser Autor noch stärker für die Kohärenz der chinesischen, indischen und europäischen Überlieferungen argumentieren.12 Die Flut ist hier mehr Mittel zum Zweck. Letztlich verweist d’Hancarville (der doch eigentlich die Anfänge erforschen wollte!) das Ereignis in eine Vorzeit, „dessen genauen Zeitpunkt zu bestimmen unsere Chronologien nicht ausreichen“. Jenseits der Geschichte liegend wird die Flut damit vernachlässigbar: „Die Entfernung, die uns von der Zeit, wo die Sintflut geschah, trennt, hat davon sicher jede Spur vernichtet“.13 Radikaler noch betrachtet Knight das Thema. Er weist die „vage Tradition einer universellen Sintflut“ rundheraus zurück, und sieht darin nur eine symbolische Erzählung – einen Ansatz, den so oder anders durchaus auch andere Stimmen (z.B. Hermann van der Haardt) vertreten haben.14 Auffällig an den bisher diskutierten Positionen ist, dass trotz des enormen Interesses an Frühzeiten, modern gesprochen also an der Prähistorie, die Beschäftigung mit der dafür klassischer Weise zuständigen Disziplin, der Chronologie, eher unterentwickelt scheint. Das zentrale historiographische Problem des Vergleichs verschiedener Systeme der Zeitrechnungen, also des griechischen, ägyptischen oder chaldäischen Kalenders miteinander zwecks Schaffung eines gemeinsamen Referenzrahmens, interessiert Autoren wie d’Hancarville oder Knight praktisch nicht. Ihre Ursprungssetzungen zielen vielmehr in eine historiographisch noch nicht er-
11 „I ought to be thankful that the book which, I think, might have been compressed into half a volume, was not lengthened out into four. Se cela est je rends graces à Mr. D’Ancarville d’avoir passé si vite au deluge.“ (Maty 1785, S. 24f.) 12 „Le Génie du Chevalier Walter Raleigh lui fit découvrir l’erreur dans laquelle on est tombé, en placant dans l’Arménie les monts Ararat de l’Ecriture.“ (D’Hancarville 1785, Bd. III, S. IX) Vgl. Raleigh 1614, Kap. VII, Abschnitt X-XV, S. 96ff. 13 Die historische Distanz zu der Sintflut sei so groß, dass „nos chronologies sont insuffisantes à déterminer l’Epoque. […] L’éloignement où nous sommes des tems où arriva le Déluge Universel, en a sans doute effacé les traces.“ (D’Hancarville 1785, Bd. III, S. 32) 14 „[W]hence we are led to suspect that the fabulous histories of this personage [Deukalion] are not derived from any vague traditions of the universal deluge; but from some symbolical composition of the plastic spirit upon the waters, which was signified in so many various ways in the emblematical language of ancient art.“ (Knight 1835, S. 74) Zu von der Haardt: Mulsow 2006.
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schlossene Prähistorie. Sie setzen damit im wahrsten Sinne des Wortes vor Beginn der Zeit ein. Neben diesen antiquarischen Souveränen haben oppositionelle Autoritäten keinen Platz.
§2 S CHATTENBILDER : S INTFLUT
UND
„ SURVIVAL “
Genau dieses Ereignis war nun aber der Schlüssel, die erste Ursache, die ein anderes Mitglied der Society of Dilettanti für die Geschichte der Kunst ansetzte. Die Rede ist von James Christie und seinen Disquisitions upon the painted Greek Vases and their probable connection with the Shows of the Eleusinian and other Mysteries. Das Buch erschien zuerst 1806 unter dem Titel A Disquisition upon Etruscan 15 Vases als Privatdruck und dann in einer erweiterten zweiten Auflage 1825. Der berühmte Inhaber und Sohn des Gründers des gleichnamigen Auktionshauses macht gleich auf den ersten Seiten seines Traktats deutlich, dass seine Ausfüh16 rungen als klare Absetzung von d’Hancarvilles Thesen zu verstehen sind. Gehen wir aber einen Schritt zurück, und rekonstruieren seine zur Sintflut zurückführende Argumentation: Zentrale These seines Buches, die, wie er nicht unbescheiden betont, eine „ori17 ginal supposition“ und „perfectly new“ sei, ist, dass zwischen den griechischen Vasenbildern und Mysterienspielen nicht nur ein ikonographischer, sondern auch ein formaler Zusammenhang besteht. Christie sucht eine Antwort darauf zu geben, warum die künstlerisch doch eigentlich sehr hoch veranlagten Griechen sich in ihrer Vasenmalerei darauf beschränkten, flächige und einfarbige, von einer durchgehenden Kontur umzeichnete Bilder zu fertigen. Sein Vorschlag erklärt dies mit einer ebenso einfachen wie plausiblen Erklärung zum Ursprung der Malerei. Über eine ausführliche Komparatistik vor allem mit chinesischen Riten und Festen gelangt Christie zu der Überzeugung, dass die eleusischen Mysterien wesentlich als ein großes Schattentheater aufzufassen sind.18 Er
15 Die erste Fassung erschien in einer Auflage von lediglich hundert Exemplaren. Das von mir konsultierte Exemplar in der Bayerischen Staatsbibliothek München ist „Revd. St. Weston from the Author“ zugeeignet. 16 „D’Hancarville was not justified in reasoning upon the art from the paintings upon Greek vases.“ Anliegen des Buches ist es „[to] justify his dissent from the opinions of D’Hancarville“ (Christie 1825, S. VIf.). 17 Christie 1825, S. VI; ders. 1806, S. IV. 18 „[T]he paintings upon the Greek vases were copied from transparencies.“ – „[T]ransparencies, of which the subjects are faithfully preserved upon what have been termed Etruscan vases. These scenes may be readily supposed to have consisted, either of
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entwirft hierfür, analog zu den damals auch in Europa populär gewordenen „ombres chinoises“, das Bild eines Schattenspiels, wo die Schauspieler, von einer Lichtquelle hinterfangen, ihre Schatten auf eine Leinwand werfen, die von den Gläubigen während der Zeremonie betrachtet wird.19 Stellt man sich derartige Schattenwürfe vor, so fällt es nicht schwer, daraus eine Begründung für die Formlösung der schwarz- und rotfigurigen Vasenmalereien zu gewinnen. Der Ursprung der Malerei liege im Abzeichnen eben dieser phantasmagorischen Schattenprojektionen. Als Beleg dafür meint Christie gar, an einigen Vasenbildern noch die Spuren der Verzerrungen durch die Projektion (also überlängte Füße und Köpfe) ausmachen zu können.20 Christies Überlegung mag auf den ersten Blick naiv erscheinen, ist aber durchaus von einer genialen Einfachheit. Thesen dieser Art blieben jedenfalls langfristig attraktiv und entfalteten ein nicht unwesentliches Nachleben. Gerade die Emphase auf den Zusammenhang zwischen Ancient Art and Ritual sollte etwa gut hundert Jahre später bei den „Cambridge Ritualists“ zu ungeahnter Bedeutung kommen.21 Und auch wenn heute allgemein davon ausgegangen wird, dass sich keine bildlichen Darstellungen der schon in der Antike hermetischer Geheimhaltung unterliegenden Mysterienspiele von Eleusis erhalten haben22, bleibt die Forschung der Metapher von den Lichtspielen doch gerne weiterhin treu. So formuliert Walter Burkert, ganz in der Tradition der Cambridge Ritualists: „Was sichtbar wurde im fla23 ckernden Feuerschein [...] ist nicht zu raten.“
a dark superficies, in which transparent figures were placed, and hence those vases with red figures upon a black ground, or of opaque figures moved behind a transparent canvas, and hence those earlier vases with black figures upon a red ground.“ (Christie 1825, S. 37) 19 Zur Popularität dieser Schattenspiele: Speaight 1990, S. 142ff.; Chen 2007, S. 46ff. 20 „[M]any projecting parts of the figures, such as the feet, and the points of their bonnets, are elongated to an extraordinary degree. These seem to be the shadows of solid substances lengthened, in consequence of the lamps, by which the scene was lighted, being accidentally removed to too great a distance from the figures.“ (Christie 1825, S. 37) 21 Vgl. das Buch dieses Titels von Jane Ellen Harrison (1912). Etwas früher schreibt K.B. Stark, der Christies Buch als „späte merkwürdige Frucht“ bezeichnet: „[D]erselbe Gedanke, die Vasenbilder als dramatische Schattenspiele aus den eleusinischen Mysterien zu erklären, hat noch bis vor Kurzem in Georg Rathgeber einen hartnäckigen, übergelehrten Verkünder gefunden.“ (Stark 1880, S. 251) 22 „Die Tatsache, dass jede Wiedergabe des ‚drama mystikon‘ in der Bildkunst fehlt, entspricht dem schon genannten Schweigegebot.“ (Steinhart 2004, S. 86) 23 Burkert 1997, S. 317.
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Man hüte sich also davor, die These von den abgemalten Projektionen vorschnell als spekulative Phantasterei abzutun. Der Gedanke, dass bestimmte Vasenbilder als mimetische Darstellungen zeremonieller Rollenspiele zu verstehen sind, ist archäologisch zunächst vollkommen richtig. Um es auf den Punkt zu bringen: „The evidence for performances in 6th (and early 5th)-century Greece is found in pictures rather than texts.“24 Christie erkannte hier intuitiv einen Zusammenhang, der, wenn zwar nicht für die Mysterien von Eleusis, so doch für eine ganze Reihe anderer Motivwelten völlig zutreffend ist.25 Und selbst dem recht absurd scheinenden Versuch, den Status eines Bildes als mimetische Kopie eines Schattenspiels durch „Überlebsel“ wie die Verzerrungen der Schatten zu determinieren, die beim Medienwechsel von Bühne zu Bild übernommen wurden, ist rein methodisch betrachtet nicht ohne Wert. Auch die moderne Forschung sucht zur Identifizierung des gleichen Kopiervorgangs nach einem „Bildbruch“, einer (zumeist ikonographischen) Abweichung wie Masken oder ungewöhnliche Kostüme, die im Medium des Vasenbilds Fremdkörper sind und sich daher als Nachahmungen von Bühnenbildern identifizieren lassen.26 Es soll mit diesen Hinweisen freilich nicht darum gehen, Christie zu einem geradezu proleptischen Denker zu stilisieren, oder gar darum, ihn an einer wie auch immer zu definierenden historischen „Wahrheit“ zu messen. Auch wenn ihm mancher heutige Kommentator auch aus archäologischer Perspektive positive Seiten abgewinnen kann27, sind die historischen Kurzschlüsse und Lücken seiner Arbeit zahlreich. Bereits die Zeitgenossen erkannten den oft spekulativen Charakter seiner Thesen. So konstatierte Karl August Böttiger: „Christie bleibt leider den Beweis von zwei Dingen schuldig, 1) dass man dergleichen Schattenspiele und Transparents in Eleusis gehabt habe [...] 2) dass man in Italien und Sicilien [wo die diskutierten, ,etruskischen‘ Vasen bekanntlich herstammen] auch Eleusische Weihungen kannte.“28 Und auch in England bemerkte die Kritik, trotz eines durchaus positiven
24 Rusten 2005. 25 Umfassend dazu: Steinhart 2004. Neben den von Steinhart zentral diskutierten Darstellungen der sog. korinthischen „Dickbauchtänzer“ sind es im Bereich von mythischen und religiösen Vorstellungen vor allem „die Satyrn, für die mimetische Rollenspiele besonders charakteristisch sind. Das liegt auch darin begründet, dass die Vorstellung vom nachahmenden Satyr durch das Satyrspiel besonders eng mit einer literarischen Gattung verbunden ist, in der das Nachahmen einen ganz eigenen Stellenwert hat“ (ebd., S. 101). 26 Steinhart 2004, S. 1. Eine tabellarische Liste solcher „Bildbrüche“ findet sich auf S. 130. 27 Vgl. Higginson 2011, S. 57ff. 28 Böttiger 1811, S. 164. Letzteren Einwand nennt auch ein englischer Rezensent: „[W]hy so many of the inhabitants of Italy should have gone to Attica for initiation, when they
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Grundtenors, Christie verliere sich in der „boldness of conjecture, and in the mazes of some labyrinth“.29 Abb. 59 (links): William Artaud, Zeichnung der Attitüden Lady Hamiltons, ca. 1796. Abb. 60 (rechts): Carlo Nolli nach Giuseppe Bracci, Vasenfund in süditalienischem Grab, in: AEGR II, S. 57.
Über diese konjekturale Methode hinausgehende Erkenntnismöglichkeiten blieben im Falle von Eleusis freilich dünn gesät. Auch eine 1814 unternommene (und von der Society of Dilettanti finanzierte) Expedition, die archäologische Ausgrabungen vor Ort vornahm, konnte Christies Thesen zumindest nicht falsifizieren und schloss sich ihnen schließlich an. So scheint die These, dass die Mysterien von Eleusis als 30 Schattenspiele zu verstehen sind, sich letztlich weithin durchgesetzt zu haben.
had mysteries on their own at home, we confess we cannot see.“ (Monthly Review 1826, S. 270) 29 Monthly Review 1810, S. 64. 30 „Mr. Christie, in his ingenious and learned illustration of the paintings of ancient vases, has given a probable account of the nature of the shews exhibited at the celebration of the Eleusinian mysteries“ (Antiquities of Attica 1817, S. 22). So auch ein Rezensent zur zweiten Auflage: „His suppostition of the shows having been represented by transparencies [...] is extremely probable.“ (Monthly Review 1826, S. 271) Geradezu hymnisch äußert sich gar der Rezensent im British Critic 1808. Vgl. weiter auch die oben angeführten Nachweise um 1900. Freilich gab es auch hier Gegenstimmen: So konstatiert eine bereits zitierte Rezension der ersten Auflage bezüglich der Projektionsthese: „In this case, we fear, the author has raised an Ombre Chinoise, or rather played off some Greek fire, of his
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Die Akzeptanz dieser Theorie vom Ursprung der Malerei mag sich auch dadurch begründen, dass Christies Urszene des Schattenrisses den Kommentatoren natürlich aus einer weitaus bekannteren und um 1800 höchst populären Ursprungserzählung wohl vertraut war: Die Geschichte der phönizischen Töpferstochter Dibutades, die das Profilbild ihres Geliebten vor dessen Abreise abzeichnete, ist das eindeutige (und von Christie auch explizit diskutierte) Dispositiv, das den Schattenbildern von Eleusis zu Grunde liegt.31 Die formalen Ähnlichkeiten zwischen Schattenrissen und dem, was man gerade auf schwarzfigurigen Vasenmalereien sehen kann, sind tatsächlich enorm hoch, so dass die heutige Forschung umgekehrt durchaus in Betracht zieht, dass entsprechende griechische Profilfiguren den Anlass zur Legende der Dibutades gegeben haben mögen.32 Auch d’Hancarville hatte in den Antiquités bereits das schwarzfigurige Profilbild auf einem Lekythos der Sammlung Hamilton mit diesem Mythos in Verbindung gebracht (Abb. 58).33 Zudem dürfte den Zeitgenossen die These von der Ableitung der Malerei aus „lebenden Bildern“ auch aus ihrer eigenen Bildpraxis sehr geläufig gewesen sein. Das bekannteste Beispiel hierfür sind die „Attitüden“ Emma Hamiltons, der schönen zweiten Frau William Hamiltons. In effektvollen und offenbar oft auch theatralisch beleuchteten Inszenierungen stellte die junge Frau bevorzugt Szenen aus den Bildwelten der Vasen ihres Mannes nach (Abb. 59).34 Strukturell folgen die Disquisitions aber gerade dem Dibutadesmythos aufs engste. Auch hier werden die Vasen und ihre Bilder betrachtet als „körperliche“ Ersatze für etwas Abwesendes.35 Christie hielt die Vasen für Grabbeigaben, die den in die Geheimnisse der Mysterien initiierten Personen gewidmet waren. Auch diese Funktionszuweisung ist völlig plausibel gedacht, entspricht sie doch zunächst
own invention, and has delighted his readers with an imaginary transparency.“ (Monthly Review 1810, S. 69f.) 31 „[T]he shadow was transferred to the vase, not from the lamp of the daughter of Dibutades, but from the scenes of the theatre of Eleusis.“ (Christie 1806, S. 24) Zu diesem Thema siehe bereits in Kapitel I, §2. 32 Belting 2001, S. 182. 33 Vgl. Jenkins/Sloan 1996, Kat. Nr. 36, S. 159. 34 Zu Emmas Attitüden grundlegend: Diers 1996; Ittershagen 1999; Faxon 2004. Zur Theatralität dieser Inszenierungen siehe den Bericht von Elisabeth Vigée-Lebrun, die 1802 in London in privatem Kreise einer solchen Darbietung beiwohnte. Hier wurde Emma beleuchtet mit „une énorme bougie qui répandait un grand foyer de lumière […] comme on éclaire un tableau“ (2008, S. 404). 35 Das Bild des Geliebten, das Dibutades zeichnet, lässt sich beschreiben als „Spur eines Körpers, der einmal vor dieser Wand stand und dort ein indexalisches Bild im Sinne der Photographie hinterließ.“ (Belting 2001, S. 24) Dazu weiter: Suthor 1999.
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schlichtweg dem tatsächlichen Befund – die „etruskischen“ Vasen (daher haben sie ja ihren Namen) wurden zu einem Großteil in süditalienischen Grabstätten gefunden. Die bekannteste Abbildung einer solchen Fundstelle findet sich im zweiten Band der Antiquités und erhielt einige Berühmtheit dadurch, dass John Soane sie später als Korkmodell nachbaute, das heute in der Dauerausstellung des British Mu36 seum zu sehen ist (Abb. 60). Christie erweist sich damit im Rahmen der Erforschung der Vasenmalerei durchaus als Pionier in der Beachtung von Fundkontexten – wenn auch poetischen Textquellen wie einigen Versen von Aristophanes ein mindestens ebenso großes Gewicht in seiner Argumentation zukommt. Abb. 61: Vignette mit Mischwesen, in: Christie, Disquisitions…, 1825, S. 10.
Trotzdessen muss Christies Forschungsagenda nicht nur hinsichtlich seiner Rückwendung zur Heilsgeschichte als betont konservativ angesehen werden. So beharrte er etwa erstaunlich lange darauf, die von ihm diskutierten griechischen Vasen als etruskische Produkte zu betrachten, und beharrte damit auf einem lange bekannten Irrtum. Die erste Auflage der Disquisitions trägt diese Benennung sogar noch im Titel, obwohl zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung, 1806, selbst äußerst etruskophile Stimmen wie William Hamilton eingestanden hatten, dass die in Süditalien gefundenen Vasen „mostly of pure Greek workmanship“ seien.37 Christie lenkte hier in der zweiten Auflage der Disquisitions zwar ebenfalls ein, trotzdem bleibt
36 Diese gilt als „the first ever accurate depiction of the newly opened interior of a South Italian tomb showing the vases in position“ (Higginson 2011, S. 32). 37 Die Vasen „have been usually called Etruscan Vases, altho there now seems to be little doubt of such monuments of Antiquity being truly Grecian“ (Hamilton 1791). D’Hancarville dagegen war, anders als sein Auftraggeber, schon immer von der griechischen Herkunft der Vasen überzeugt und betrachtete ihre Benennung als „etruskisch“ nur als eine Sprachregelung, die sich allgemein eingebürgert hatte.
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einer der wichtigsten Autoren, auf die er sich stützt, der Italiener Francesco Inghirami, den eine „stubborn etruscophilia“ (so Ronald Higginson) selbst weit im 19. Jahrhundert noch an der Etruskerthese festhalten ließ.38 Das Gemälde hält also das, was der Initiierte gesehen hatte, auch nach seinem Tod präsent. Christie schreibt: „Das Gemälde selbst stand für die religiösen Überzeugungen der [verstorbenen] Person, und die Person selbst wurde in gewisser Weise durch die Vase repräsentiert.“ Man könnte das geradezu mit Baudrillard als „symbolischen Tausch“ von Körper und Bild lesen: Das vormals mentale Bild im Kopf des Gläubigen nimmt eine nomadische Reise auf und wandert auf die Vase, die seinen Körper ersetzt.39 Doch worum ging es nun in den Mysterienspielen? Hier tritt, man mag es schon erwartet haben, die universelle, die biblische Katastrophe der Sintflut auf den Plan. Dieses für die kollektive Psyche der Menschheit zentrale Ereignis ist es, an das laut Christie in den Mysterienspielen von Eleusis erinnert wird. Zugleich wird dabei die Wiedergeburt der Menschheit aus den Fluten gefeiert. Dies sei dann auch der verborgene Sinn, nicht nur der Vasenbilder, sondern der gesamten Kunst: Ihre Symbolik lässt sich ohne Ausnahme auf die ersten, direkt nach Landung der Arche erbauten Tempel und deren Schmuck zurückführen. Abb. 62: Vignette mit mythischer Szene, in: Christie, Disquisitions…, 1825, S. 107.
Die Auswirkungen, die dieses katastrophale Geschehen der Flut auf die Menschheit hatte – dem Bibelwort folgend nur noch aus den acht Mitgliedern der Familie Noahs bestehend – beschreibt Christie vor allem in seinem 1814 erschienenen Essay on that earliest species of Idolatry, the Worship of the Elements. Nach der Sint-
38 Inghirami 1821-1826; Higginson 2011, S. 57. Für Christies Bezugnahmen auf ihn: Christie 1825, S. VI-VIII. 39 Zu dieser bildanthropologischen Denkfigur: Belting 2001.
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flut seien die Menschen erfasst gewesen von einem fundamentalen Gefühl der Gottverlassenheit. Völlig verstört ob dieses vermeintlichen Verlusts der Gunst Gottes und zumal aus Angst vor einer erneuten Strafe begannen sie daher, um Gottes Zuneigung wiederzugewinnen, Gottesdienste und Opferriten zu feiern, die den zürnenden Herrn gnädig stimmen sollten. Die Geburt sämtlicher Religionen und Riten der Menschheit ist also aus der Erinnerung an die Erfahrung der Sintflut motiviert. Auf Grund dieser Erinnerung seien vor allem auch die gesamte symbolische Bildwelt und die Fabeln entstanden, also alle Inhalte, die dann später in Zeremonien wie den Mysterien von Eleusis und damit auch auf den Bildern der Vasen repräsentiert werden sollten.40 Nur zwei kurze Beispiele für diese an das Trauma der Sintflut gemahnenden Vasenbilder seien hier angeführt. Das erste stammt von einer Terrakottavase aus der Sammlung Charles Townleys, die nach dessen Tod in den Besitz des British Museum überging. Das erste Bild (Abb. 61) zeigt, so Christie, „eine Figur auf einem Lotus mit dem Körper und den Gliedern eines Kindes, kraftlos Halt an zwei aufrechten Ranken der Pflanze suchend. Sein Kopf jedoch ist der eines alten Mannes, was in der klarest möglichen Art und Weise die Erinnerung eines früheren Zustandes und die Wiedergeburt aus dem Wasser ausdrückt. Die Erneuerung der pflanzlichen und tierischen Schöpfung ist durch Kompositfiguren an den Seiten repräsentiert. Alles in allem, die steinernen Monumente der grichischen und römischen 41 Antike sind voll von Allusionen auf die Noahsche Sintflut.“ Eine ähnliche Argumentation führt Christie bezüglich eines weiteren Vasenbildes, wo er ebenfalls den Kompositcharakter des Wesens – Pferd, Mensch, Schwan, Fisch sind in ihm vereint – als Verweis auf die verschiedenen Teile der Schöpfung sieht (Abb. 62). Dass es wohl um deren Erneuerung nach der Sintflut geht, schließt er aus der Anordnung der Teile. Ausgehend vom Fischschwanz (also im Wasser der
40 „To this sense of exclusion from the presence and favor of the Deity, was added the fear of excision, as due to sin, and as was actually experienced in the Flood [...]. This fallen state and merited punishment have been implied, if not directly acknowledged, in every sacred rite of the Gentile world, in their Sacrifices and Ceremonies, in the fables of their Poets, and the devices of their Sculptors, which also had their origin in Religion.“ (Christie 1814, S. 1) 41 „This monument represents a figure on the lotus with the body and limbs of an infant, feeble, and leaning for support on two perpendicular tendrils of the plant; but the head is that of an old man, expressing in the most evident manner a notion of a previous state, and of regeneration from water. The renovation of the animal and vegetable creation is represented by the composite figures in a state of rest on either side. In fact, the sculptured monuments of the ancient Greeks and Romans are full of allusions to the Noachic Deluge.“ (Christie 1825, S. 110)
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Sintflut) erhebt sich die Schöpfung (mit den Schwanenflügeln) aus diesem, und tritt 42 schlussendlich – mit den Pferdehufen – wieder auf festes Land. Kronzeuge für diese These der Herkunft letztlich aller kulturellen Zeugnisse der Menschheit aus der Erinnerung an die universelle Sintflut ist vor allem ein Autor: Die Rede ist von „the ingenious Mr. Boulanger“ und seinem Hauptwerk L’antiquité dévoilée par ses usages, posthum 1766 von Diderot herausgegeben.43 NicolasAntoine Boulangers These ist genau diese, nämlich die Geburt aller Kultur aus der Erinnerung an die Sintflut. Seine Theorie der Sintflut stellt sich, grob umrissen, wie folgt dar: Von Beruf Straßenbauingenieur fand er, wo auch immer er arbeitete, in der Erde zahllose fossile Versteinerungen. Aus ihrer universellen und scheinbar willkürlichen Verteilung (so fand man etwa versteinerte Fische im Hochgebirge) folgerte er – was kein unüblicher Gedanke war – dass die Fossilien Zeugen der großen, biblischen Sintflut waren.44 Diese versteinerten Funde interpretierte er als die Überreste dieser universellen Vernichtung allen Lebens. Er erkannte also richtig, dass es sich bei den Fossilien um versteinerte Lebewesen handelte. Statt aber eine Tiefenzeit anzunehmen, in deren unermesslichem Verlauf Arten auch auf natürliche Art und Weise aussterben konnten, setzte er mit der Sintflut einen geschichtlichen Nullpunkt, an dem die erfassbare Historie überhaupt erst begann. Alles davor Liegende wurde im wahrsten Sinne des Wortes zur Prä-Historie erklärt. Sein Interesse galt dementsprechend weder den Gründen noch dem Zeitpunkt dieser Urkatastrophe (ob die Sintflut z.B. göttlichen Ursprungs sei interessierte ihn nicht45), sondern vielmehr den „moralischen Folgen“ des diluvialen Geschehens,
42 Ebd., S. 11f. 43 „The memory of that recent catastrophe, by which the human race, with the exception of one family, had been destroyed, was preserved no doubt, with the learning they conveyed. The melancholy impression of this event, and the fear of its recurrence, are eloquently set forth by the ingenious Mr. Boulanger.“ (Christie 1806, S. 14) Zu Boulanger monographisch: Sadrin 1986. Zu seiner Sintfluttheorie in der Antiquité dévoilée zentral: Manuel 1959, S. 210-227; Seguin 2001, S. 414-430; Zedelmaier 2003, S. 213ff.; Mulsow 2006, S. 145ff. 44 Zu den geologischen Grundlagen seiner Überlegungen auf Basis noch unpublizierter Manuskripte: Asal 2004. 45 Gleichwohl nimmt Boulanger die Tradition sehr ernst und zitiert die Bibel etwa nie ironisch. Er glaubt zwar nicht an die Bibel als Offenbarung, hält den Bericht der Genesis aber auch nicht für wertlos, sondern sieht ihn, wie Sadrin schlussfolgert, als „témoignage majeur que l’on doit consulter comme un monument de l’homme, qu’il faut interpréter“ (1986, S. 23). Insoweit bleibt ihm die Bibel ein Buch der Geschichte, und er geht m.E. von einer Dauer der Geschichte aus, die mit nur wenigen tausend Jahren zumindest nicht
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also der Frage nach den Eindrücken „welche [die Sintflut] in sinnliche und denkende Wesen habe machen können“.46 Und diese Eindrücke waren, so Boulanger, gewaltig. Die Katastrophe der Flut war ein einschneidendes Erlebnis, das sich unauslöschlich in die Köpfe der wenigen Überlebenden eingebrannt hat. Der Mensch nach der Sintflut war für Boulanger ein zutiefst melancholisches, von der omnipräsenten Angst vor einer neuen Flut gelähmtes Wesen. Versprengt in kleinen Familiengruppen irrten die Menschen durch die Welt. Als Folge dieser alles bestimmenden Ängste verloren die Überlebenden alles Wissen der prähistorischen, also vorsintflutlichen Zeit.47 Stattdessen entwickelten und praktizierten sie in der Folge neue Rituale und Verhaltensweisen, die als beständiger Versuch der Verarbeitung des traumatischen Erlebnisses der Sintflut zu betrachten sind. Dies ist für Boulanger die Geburtsstunde der Religionen; in rituellen Gedächtnisfeiern („die ich Gedächtniß-Gebräuche nenne“) versuchten die Überlebenden der Flut die Geschehnisse zu verarbeiten. In diesen zyklisch wiederholten Zeremonien tradierte sich also, so Boulangers Kulturtheorie, auch für künftige Generationen die Symbolik und Erinnerung an die Urszene der Flut, so dass „fast alle Geschlechter des Erdbodens von ehemaligen Veränderungen in der Natur fortgepflanzte Traditionen gehabt, und noch haben“.48 Genau ein entsprechendes, parallel zu Boulanger entworfenes Modell einer in der Sintflut gründenden „Gedächtnisgeschichte“ (um mit Jan Assmann zu sprechen) entwirft nun auch Christie. Dass dabei ausgerechnet ein Ereignis, das eigentlich
weit von den traditionellen biblischen Chronologien entfernt ist (vgl. Boulanger 1767, S. 2). Im Sinne Jonathan Israels wäre er damit eher zum „mainstream enlightenment“ zu zählen (Israel 2006). Vor massiver Kritik von biblizistischer Seite schützte diese Historisierung der Bibel Boulanger freilich nicht, vgl. Sadrin 1986, S. 224ff. 46 Boulanger 1767, S. 3. 47 Gerade in der Beschreibung dieser Auswirkungen entwickelt Boulanger übrigens durchaus literarische Qualitäten, so wenn er beschreibt wie „unsere Einbildungskraft [...] uns die Gedanken nicht schaffen [kann], die sich in den mit Unruhe, Furcht und Schmerzen erfüllten Gemüthern erregen mussten. Nur sehr schwach kann sie uns die Züge von diesen Unglücklichen weisen, die vom Elende betäubt, von Hunger und Kummer schwach, und von Schrecken außer sich waren. Sinnlos vom ihrem Unglück erwarteten sie nur ihren Untergang und es fehlte ihnen an Kräften ihr ganzes Leiden zu fühlen […] das menschliche Geschlecht war einem schwachen Schiffe gleich, das dahin fortgehet, wohin es der Wind treibt oder der Eigensinn der Schiffer es auf einem unermesslichen Meer lenket, allwo es häufigen Schiffbrüchen aber doch unaufhörlichen Sturmwinden ausgesetzt ist.“ (Ebd., S. 529 u. 544) 48 Ebd., S. 14 u. 1.
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eine durch und durch vernichtende Wirkung hatte, zum Erhalter des Gedächtnisses wird, scheint aus heutiger Perspektive paradox, doch auch erdgeschichtlich diente die Sintflut vor allem als Argument „to prove the eternity of matter“, wie Horace 49 Walpole die Motivation hinter den Sintfluttheorien benannte. Unser Autor beschränkt sich mit seinem großen theoretischen Anspruch dabei nicht auf die Vasen und den Gegenstand der eleusischen Mysterien. Bereits diese Kulte betrachtete er als Modifikationen und Überschreibungen, also Verarbeitungen der ursprünglich nach der Sintflut installierten Kultpraktiken. Diese hätten sich etwa mit den Erinnerungen an spätere, lokale Fluten amalgamiert. Es ist eine Idee, die uns bereits gut bekannt ist: Man pflegte weiterhin die viel Autorität besitzenden Formen und Symbole, setzte sie jedoch in andere Kontexte. Beispiele für solche ‚entarteten‘ Rituale sind Christie etwa die St. Martinsumzüge (deren Lampions eine Erinnerung an die Projektionen der Mysterienspiele in sich bergen) oder die christliche Taufe (die natürlich nichts anderes als das Überleben einer gewaltigen Flut symbolisiert).50 Selbiges ist auch auf dem Feld der Kunst zu beobachten. Die Stoßrichtung dieser Theorie ist offenbar: Auch hier wird wieder eine Geschichte des Nachlebens erzählt, der jedoch wiederum ein anderer Ausgangspunkt unterstellt wurde. Ausführlich bespricht Christie diese Tradierungen für den Fall der bildenden Kunst am Beispiel des Motivs der Wasserlilie, deren Ikonographie er vor allem in einem der zweiten Auflage seine Disquisitions hinzugefügten Appendix diskutiert. Die Lilie wird dabei als das diluviale Hoffnungssymbol schlechthin interpretiert, wie schon an dem Beispiel des Vasenbildes des alten Mannes deutlich wurde, der sich an ihren Stängeln über Wasser hält. Diese Pflanze nämlich sei während der Flut – wo ansonsten außer Wasser wenig zu sehen war – das primäre Objekt der Aufmerksamkeit und Kontemplation der Menschen gewesen. Als einziges weit und breit sichtbares Zeichen von Wachstum und Leben war diese Pflanze den Menschen ein Sinnbild des göttlichen Versprechens auf erneuerte Fruchtbarkeit, die nach dem Rückgang des Wassers zu erwarten sei. Bei jeder folgenden, lokalen Flut, ob am
49 Alles in allem scheint Boulangers Ideenwelt in England aber nur wenig Anklang gefunden zu haben. Walpole, der Boulangers Ideen (aber nicht dem Autor selbst) im Salon des Baron d’Holbach in Paris begegnete, schreibt weiter über die dortigen Diskussionen zum Thema: „They soon turned my head with a new system of antediluvian deluges, which they have invented to prove the eternity of matter. The Baron is persuaded that Pall Mall is paved with lava or deluge stones.“ (1903-1925, Bd. VI, S. 370) Zum Verhältnis Boulangers zum Kreis um d`Holbach: Kors 1976, S. 38 u. 120. 50 Zu den Martinsumzügen: Christie 1825, S. 38f.; zur Herleitung der Taufe aus der Sintflut: Ebd., S. 141-144.
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Gelben Fluss, Ganges oder Nil, wurde dieses uralte Symbol durch die unmittelbare Anschauung wieder von neuem im kollektiven Gedächtnis der Menschen erinnert.51 Angesichts dieser zentralen Bedeutung des Motivs der Wasserlilie sei es nun nur natürlich, dass die ersten Kultstätten und Tempel, die Gott nach der Flut (wahlweise zum Dank fürs Überleben oder zur Bitte um Verschonung vor einer erneuten Katastrophe) errichtet wurden, von dieser Pflanze als Ornament dominiert wurden.52 Auch die griechischen Vasen seien übrigens in ihren Schwüngen und Ornamenten nach den vegetabilen Formen der Wasserlilien gestaltet.53 Vor allem aber durch die Architekturgeschichte hindurch verfolgt Christie im zweiten, ebenfalls der zweiten Auflage seines Buches hinzugefügten Appendix das Nachleben dieses Motivs. Wenig überraschend ruft er hier die ägyptischen Schilfbündelsäulen als eindeutigstes Beispiel der ursprünglichen Imitation dieser Pflanzenformen in der Kunst auf. Für die hier interessierende Zeitbeschreibungsform des Nachlebens ist nun aber entscheidend, dass Christie eine entsprechende motivische Wurzel auch bei Bauformen annimmt, denen man so eine gegenständliche Referenz nicht ohne weiteres ansieht. Auch die griechische Dorika, so seine These, war ursprünglich „gerietet“. Der ionischen Ordnung dagegen unterstellt er, dass ihre geschwungenen Voluten (wenn auch auf den Kopf gestellt) das Blatt der Wasserlilie, das sich auf der Wasseroberfläche entfaltet, darstellen sollen.54 Das Fortleben des Motivs spinnt unser Autor weiter bis zur gotischen Architektur. Auch deren Spitzbögen entstammen natürlich dem „ornament of the Nympheaea Lotus, and the pointed forms suggested by it“.55 Verständlich sei der tiefe Sinn dieser Bauformen in späterer Zeit freilich nicht mehr gewesen. Die Grundformen leben zwar fort, ihre Symbolik wird aber bis zur Unkenntlichkeit reduziert oder modifiziert. Dieses Postulat einer Entwicklung der
51 „[S]o long as the floods prevailed, the water-lily would have presented a principal object for contemplation. It would have been viewed as a promise of the fertility to be expected on the subsiding of the waters, it would have reminded observers of a select few during a more awful deluge, and of the ancient tradition that all things had been created from water.“ (Christie 1825, S. 137) 52 „The first temples erected after the flood would have required [!] such ornaments as were allusive to the mercies experienced, and would have been expressive to the gratitude of the few preserved.“ Das Lotusmotiv „furnished an important meaning in the ornaments of [Egyptian and Greek] architecture“ (Christie 1825, S. 137). 53 Eine Vase etwa „may be compared to an enlarged capsule of the same plant, after most of the petals have fallen off“ – eine andere betrachtet er als „resembling the capsule of the Nelumbium, but inverted“ etc. (Christie 1825, S. 122). 54 Christie 1825, S. 137f. 55 Ebd., S. 146.
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Kunst von einem Ursprung in perfekter Mimesis hin zur Degeneration in Abstraktion findet sich übrigens auch in Bezug auf die Geschichte der bemalten Vasen, wo Christie die unfigürlich bemalten Exemplare als späteste Variante in seine Systematik einordnet.56 Hier wird d’Hancarvilles von den „argoi lithoi“ ausgehende Entwicklungsgeschichte – ähnlich wie bei Knight – auf den Kopf gestellt, zumal Christie den späteren Produkten mehr und mehr eine zeichenhafte Offenheit unterstellt. Einen nicht weniger spektakulären Überlieferungsstrang präpariert Christie auch für die Zahl Acht heraus. Deren Symbolik, eine Erinnerung an die Anzahl der Überlebenden der Sintflut (Noah, drei Söhne, vier Ehefrauen), meint unser Autor bis in die christliche Architektur nachverfolgen zu können. Man beachte etwa die Säulenbündel im Mailänder Dom, wo sich um jeden Pfeiler acht Halbsäulen gruppieren. Die Christenheit begreift dabei offenbar nichts mehr von diesem Sinn, wogegen in China dieser Traditionsstrang noch sehr lebendig sei. Würde ein chinesischer Mandarin dieser Bauten ansichtig, so würde er, darin ist sich Christie sicher, ihre Symbolik unmittelbar begreifen.57 Gerade die christliche Tradition zeichnet sich für Christie besonders durch ein intensives Überblenden verschiedener Traditionsstränge aus. Im Lichte der Offenbarung Jesu wurden ältere Symbole im kulturellen Gedächtnis der Christen offenbar neu erinnert. Einschlägiges Beispiel ist ihm hierfür das Sakrament der Taufe und der Bautyp des Baptisteriums. Auch dessen Ikonographie sei ursprünglich an die Erinnerung des Überlebens der Flut geknüpft gewesen. Folglich hatte dieser eine oktogonale Form – wie auch bei frühchristlichen Bauten noch zahlreich zu beobachten ist. Das Überleben der Flut wurde mit der Zeit aber mit dem Überleben des Kreuzestodes, sprich, der Auferstehung Christi überblendet. Die oktogonale Form der Baptisterien wurde nun als Verweis auf einen anderen Bau erinnert, nämlich auf die runde Grabeskirche in Jerusalem; die Round Church in Cambridge sei ein Beispiel für diese neue Traditionsbildung (Abb. 63). Als „St. Sepulchre“ geweiht übernimmt sie die Rundform, erinnert aber zugleich an die Flut, indem ihr Äußeres mit acht Säulen geschmückt ist.58 Das Christentum produziert hier „symbols of symbols“, wie Knight es genannt hätte.
56 Ebd., Appendix I. 57 „The Chinese still preserve a recollection of the Patriarchal eight, who survived the general flood […]. A similar commemoration can be shown in the ornaments of Christian architecture. Of the latter we find an instance in certain massive columns in the cathedral at Milan, which are surrounded, each, by eight smaller ones clustered and joined to it. […] Were a Chinese Mandarin to view these columns, he would immediately recognise the symbol.“ (Christie 1825, S. 139) 58 Christie 1825, S. 141-143.
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An dieser Stelle scheint es angebracht, kurz auf die Unterschiede zwischen erster und zweiter Ausgabe der Disquisitions einzugehen. Davon, dass der Text schlicht neu aufgelegt wurde, wie Christie selbst nahe legt (und auch die moderne 59 Forschung mitunter behauptet) kann keine Rede sein. Vielmehr scheint es zunächst, gerade in Hinblick auf die hier im Zentrum des Interesses stehende Erzählform des „Nachlebens“, als hätte Christie zwischen 1806 und 1825 eine signifikante Wende vollzogen. Abb. 63 (links): James Storer nach George Shepard, Saint Sepulchre Church, Cambridge, 1805. Radierung, 330 x 250 mm. Abb. 64 (rechts): Johann Heinrich Füßli, Frontispiz zu Erasmus Darwin, The Temple of Nature, 1803.
Auch die Ausgabe von 1806 spricht viel von der Neuentstehung der Welt aus dem Wasser der Flut. Mit ihrer Emphase auf Vergehen und Entstehen scheint sie aber eher ein zyklisches Geschichtsbild zu propagieren, das die Flut als eine vollständige Erneuerung der Welt betrachtet. Die „vicissitude of decay and reproduction“ wird 60 betont. Wenn Christie hier „the continual succession of decay and renovation ob61 servable in nature“ beschreibt, scheint dies im Winckelmann’schen Sinne ein zy-
59 Dass hier signifikante Abweichungen zu erwarten sind, sollte allein schon der geänderte Titel vermuten lassen. 60 Christie 1806, S. 31. Vgl. auch S. 15, 58 und passim. 61 Ebd., S. 96.
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klisches Geschichtsdenken und gerade nicht ein Modell historischer Persistenz zu sein, das von Christie, wie beschrieben, vor allem in den für die zweite Auflage ergänzten Appendices entwickelt wurde. Das Konzept der „Erneuerung aus dem Wasser“ muss dabei aber genauer betrachtet werden. Hiermit scheint nämlich durchaus etwas anderes gemeint zu sein als ein biologisches Denkmodell, das in Analogie zur Pflanze und ihrem Lebenszyklus steht. Christies Idee der „Renovation from Water“ bezieht sich vielmehr auf ein anderes Modell leibhaftiger Wiederkehr, das er auch explizit anspricht: Es geht um die „doctrine of Metempsychosis“, um Reinkarnation also.62 Damit dürfte wiederum ein höchst christliches Modell angesprochen sein. Statt einer Geschichte der Brüche ist vielmehr das beschrieben, was etwas später beim deutschen Nazarener Johann David Passavant als „Fortleben“ bezeichnet wird. Mit „Fortleben“ wendet Passavant genau jenen Begriff auf eine kunsthistorische Zeitform an, mit dem die Auferstehung Christi (ohne e) beschrieben wurde. Damit beschreibt der Nazarener, wie Kunst „sich an etwas Vorherbestandenes, an eine Überlieferung anschließen muss, [... die ...] fast unbemerkt im Laufe der Zeit mit fortlebt“.63 Beschrieben ist damit eine Renaissance im Wortsinne, eine Wiedergeburt der Kunst, die weniger Bruch und Neuanfang als Persistenz des Alten ist. Die Vasenbilder werden also mehr als Kult- denn als Kunstbilder betrachtet. Tatsächlich insistiert Christie ausdrücklich auf der Kunstlosigkeit ihrer Produktion. Ihre Verfertigung beschreibt er mehr als eine Art gottesdienstliche Andacht, bei der die Maler mit höchster Treue die Schattenwürfe abzeichnen. Dass dies soweit gegangen sei, dass auch Fehler, wie die Verzerrungen der Projektionen abgezeichnet wurden, habe ich bereits erwähnt. Die Abzeichner der Zeremonien hätten sich schließlich selbst gar nicht als Künstler, sondern nur als Skiagraphoi, als Schattenmaler betrachtet. Christie beschreibt dieses Kopistenwesen im Idolatrie-Essay wie folgt: Die Formen werden „treu von früheren Modellen kopiert, die über einen langen Zeitraum hinweg von einander nachfolgenden Arbeitern wiederholt wurden, wobei diese wahrscheinlich nichts von der Bedeutung der Gemälde, die sie ausführten, wussten“.64 Wiederum verselbstständigt sich die Gedächtnisgeschichte. Die Kontinuität der Bilder ergibt sich paradoxer Weise gerade daraus, dass ihr Inhalt vergessen wurde.
62 Ebd., S. 38. 63 Passavant 1820, S. 1. Dazu: AK München 2013, S. 69-72. 64 Christie 1814, S. 14.
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§3 „F ORTLEBEN “
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Nach dem bisher Gesagten zeigt sich ein Befund, der sich bereits bei den bisher beschriebenen Fällen ergeben hat: Sowohl persönlich, institutionell wie auch im Argumentationsmuster, insbesondere hinsichtlich der historiographischen Erzählung, die ich „Nachleben“ nennen möchte, bewegt sich Christie denkbar nahe an Autoren wie Knight und d’Hancarville. Weltanschaulich positioniert er sich dagegen in diametraler Opposition zu seinen Freunden unter den Dilettanti. Ihre nihlistische bis neopagane Argumentation, ihre Polemik gegen den christlichen Glauben lag ihm völlig fern. Wenn Christie von der Sintflut spricht, dann bedeutet dies für ihn tatsächlich ein Bekenntnis zur uneingeschränkten Wahrheit der biblischen Historie. Ein größerer Kontrast zu einem Richard Payne Knight, dem gläubigen Homerverehrer, der die biblische Erzählung nur mehr als „vage Tradition“ abtat, ist schwerlich denkbar. Ausdrücklich distanziert sich Christie von der Absicht, die Religion der Antike neu zu beleben und wieder in ihr Recht zu setzen. Sein antiquarisches Anliegen ist vielmehr das Ausmaß der antiken Irrtümer aufzuzeigen; letztlich strebt er damit ein Stück moralische Reformation der neuheidnischen Gegenwart an, die überraschender Weise geradezu idealtypisch von seinem nächsten Umfeld verkörpert wurde.65 Zu den „disgusting errors of paganism“, die Christie unaufhörlich anzuklagen beschäftigt ist, zählt unbedingt auch, und vielleicht sogar am prominentesten, die „laxity of morals in Greece“66, also jene hoch erotisierte Kultur, die die übrigen Dilettanti so sehr an der griechischen Antike faszinierte. Dem Vergnügen seines Umfelds an diesen Thematiken stand Christie, der ursprünglich wohl sogar für die geistliche Laufbahn vorgesehen war67, äußerst fern. Es ist also denkbar, dass Christies Disquisitions nicht weniger als eine Gegenschrift zu den sexualisierten Thesen d’Hancarvilles und Knights, also zu Recherches und Discourse darstellen. Wieder erweist sich das rhetorische Vorgehen als
65 „It is no part of my design to restore the religion of the ancients to its original dignity; nor to defend those who formerly professed it from the injurious charge of heathenism or paganism. Rather let its absurdities be displayed. By discovering how much was needed, we shall be sensible how much we have gained.“ (Christie 1825, S. 52) Zum Neuheidentum um 1800: Pop 2010. 66 Christie 1806, S. 95 u. 77. 67 Vgl. Roberts 1897, S. 12; Tedder 2004. Seinem christlichen Ideal scheint Christie übrigens auch privat durchaus entsprochen zu haben. Selbst William Irelands satirische Gedichte der Chalcographimania, die den gesamten englischen Kunsthandel aufs Schärfste unter Beschuss nehmen, attestieren ihm, „in private life his character will stand the test of the most minuite enquiry“ (Ireland 1814, S. 50f.).
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der Entwurf einer Gegengeschichte, das die höchsten Autoritäten seiner Opponenten „gegen den Strich bürstet“ und genau umgekehrt interpretiert. Das ist wörtlich gemeint: Bereits das Titelblatt der Disquisitions zitiert die orphischen Hymnen, die für Knight die zentrale Quelle seiner phallischen Theorien waren – nur um die Quelle gänzlich ohne sexuelle Konnotationen, sondern natürlich als Beleg für die Hypothese der Schattenspiele von Eleusis zu zitieren. Es mag zunächst so scheinen, dass Knights Discourse, immerhin zwanzig, respektive sogar neununddreißig Jahre vor dem Erscheinen der Auflagen der Disquisitions angesiedelt, hier relativ weit weg sind. Doch Knight war, gerade nach dem Tod Charles Townleys 1805, zum unumstrittenen Führer der Society of Dilettanti, jener Gesellschaft deren Mitglied auch Christie war, aufgestiegen.68 Das historiographische Narrativ des „Nachlebens“ der Symbole einer ursprünglichen Theologie, die einen ursprünglichen Schöpfungsakt erinnern, bleibt dabei, wie gesagt, intakt. Nur die erste Ursache des Gangs der Geschichte ändert sich. Christies Gegenschrift konzentriert sich, wie zu zeigen ist, auf eine forcierte Entsexualisierung der Kulturentstehungslehren seines engsten Umfelds, denen hier ein christliches Modell entgegengesetzt wird. Das beginnt bereits bei seiner Erklärung des Sinns der Schattenspiele, die den Anstoß zu den ersten Bildern gaben. Nicht der sehnsüchtige Blick der liebenden Dibutades fällt für Christie auf die Schattenbilder, sondern das tränende Auge eines traumatisierten und verängstigten Gläubigen. Auch mit dem oben genannten antiquarischen Pin-up-Girl Emma Hamilton hat dies denkbar wenig zu tun. Diese Stoßrichtung bemerkten bereits einige Zeitgenossen sehr deutlich. So schrieb ein Rezensent: „We were sorry to find our author coinciding with the declamation of the Father [Clemens von Alexandrien] as to what he terms the offensive and disgusting picture of the mysteries“, und attestiert ihm mit einiger polemischen Schärfe einen „maidenish horror“ vor diesen Symbolen.69 Diese weltanschauliche Fundierung ist dem Traktat im wahrsten Sinne des Wortes „απ αρχης“, von Anfang an (Joh. 2:14) eingeschrieben.70 Nicht zufällig erschien dann auch eine der positivsten Rezensionen zu Christies Schrift im bereits angesprochenen, konservativen British Critic.71 Ironischer Weise ist es, mit der Erinnerung an das Zerstörungswerk der Flut, gerade ein Motiv der Furcht, das hier zum Ursprungspunkt erklärt wird. Damit ist ausgerechnet jenes Movens zum Ausgangspunkt für Kunst und Kultur gemacht (bzw. umgedeutet), das bei zahlreichen Auto-
68 Knight war, so Lionel Cust, phasenweise die „most prominent and most characteristic figure“ der Society (1898, S. 169). 69 Monthly Review 1826, S. 270 u. 274. 70 Christie 1825, S. 2. 71 British Critic 1808.
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ren der vornehmlichste Anlass war, um das Christentum als Religion der Furcht und Unterdrückung durch psychische Trugbilder zu diskreditieren.72 Wo ein Diderot die „tenèbres“ des Aberglaubens, mit denen die Pfaffen die Wahrheit verschleiern, anklagte, sieht ein Christie in genau diesen Schattenspielen die reine Offenbarung der Wahrheit.73 Die Gegenlektüre der Quellen beginnt schon mit vergleichsweise randständigen und wissenschaftlich bereits ziemlich sicher beantworteten Fragen: Zwar war im Grunde schon bei Winckelmann und Caylus bekannt, dass viele griechische Kunstwerke Geschenke in homoerotischen Beziehungen waren und dies durch die inschriftliche Dedikation an einen Eigennamen mit dem Zusatz ΚΑΛΟΣ, schön, gekennzeichnet wurde.74 Christie dagegen empört sich (aber bei weitem nicht als einziger und letzter Autor) über diese „injurious illustration“. Eine entsprechende Aufschrift könne niemals körperliche, sondern nur geistige Schönheit bedeuten und sei wahrscheinlich ein „certificate of initiation“ des so Betitelten in die Mysterienkulte. Die erotische Komponente der griechischen Kunst wird hier moralisch sublimiert.75 Wo ein Winckelmann beim Gedanken an die nackten griechischen Jünglinge im Gymnasium in Wallung geriet, stimmt Christie ein Loblied auf deren „self-denial, temperance, chastity, and bodily exercise“ an, die ihm den wahren Weg zur Tugend beschreiben.76 Dieses Zitat entstammt Christies erst posthum gedrucktem letztem Werk An Inquiry into the Early History of Greek Sculpture; hier befinden wir uns fast im Viktorianischen Zeitalter, und der Text dürfte ein endgültiges Zeugnis davon sein, dass sich die Haltungen gegenüber sexualisierten Ikonographien gewandelt hatten. Die Sintflut ersetzt in Christies Theorie also den Phallus – denkbar direkt findet diese Substitution in Hinblick auf das für Christie so bedeutungsvolle Symbol des Lotus statt, galt dieser dem mythographischen Handbuchwissen doch eigentlich als direkteste Umformung bzw. östliche Variation des Priapus.77 Selbiger Interpretation des Lotus als Symbol der generativen Kräfte und des Geschlechts schlossen sich
72 Z.B. Trenchard 1709; Fontenelle 1989. Zu beiden Autoren siehe die Einträge in Feldman/Richardson 2000, S. 7-10 u. 34f. 73 Vgl. Stafford 2006, S. 146. 74 Davis 2001, S. 92; Zum Forschungsstand in dieser Frage aus zeitgenössischer und heutiger Perspektive: Millin 1806, Bd. II, Lemma „KALOS“, resp. Bäbler 2004, S. 98. 75 Christie 1806, S. 25f. Das exakt gleiche Argument findet sich auch in der zweiten Auflage wieder: Ders. 1825, S. 7f. 76 Ders. 1832, S. XI. 77 Vgl. z.B. Bell’s New Pantheon 1790, Bd. II, S. 192; King 1722, S. 161.
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wenig überraschend auch d’Hancarville und Richard Payne Knight in Recherches respektive Discourse an.78 Doch bereits das Themenfeld der Mysterienspiele von Eleusis bietet sich, an um eine Neubegründung des Gangs der Geschichte, weg von einer Anthropologie der generativen Kräfte, zurück in das christliche Heilsgeschehen, vorzunehmen.79 Die äußerst spärliche Quellenlage und die polemischen Kommentare von diversen Kirchenvätern scheint die Phantasie der Antiquare des 18. Jahrhunderts zusätzlich befeuert zu haben. Ein schönes implizites Beispiel für die mit Eleusis assoziierten Sitten gibt der umtriebige Rétif de la Bretonne, wenn er in seinem Entwurf zur Reform des Prostitutionswesens dem geplanten Staatsbordell nach einem Demeter-Tempel in Eleusis den Namen Parthénion gab.80 Eine Verbindung der griechischen Mysterien mit allen denkbaren sexuellen Ausschweifungen, die man hinter Bacchuskulten oder verwandt scheinenden indischen Symbolen vermutete, war jedenfalls höchst populär, wobei vor allem die von Theodoret gegebenen Hinweise, dass während der Mysterienspiele riesige Phallusstatuen aufgestellt worden seien, die Aufmerksamkeit auf sich zogen.81 Christie gelingt es gerade in der ersten Auflage seiner Disquisitions freilich, auch dieses obszöne Monument mit einer diluvialen Deutung zu überziehen: Das Besteigen der Phalli beziehe sich auf die Flucht der Menschen vor den nahenden Wassermassen, „when all men betook themselves to higher places for safety“.82 Mit der Zeit scheint sich unser Autor der Meinung Graf Ouvarovs, zu dessen Buch über Eleusis er einen Kommentar verfasste, angeschlossen zu haben: „The Bacchic or Orphic mysteries bear a character wholly opposite to the Eleusian.“83 Vielleicht am deutlichsten betreibt Christie diese Re-Lektüre der von Knight unter generativen Vorzeichen interpretierten Symbole im sechsten Kapitel seiner Disquisitions. Hier spricht er explizit antike Phallussymbolik und die Priapea an,
78 D’Hancarville 1785, Bd. I, S. 5ff.; DISC, S. 84, 93, 100. Knight 1835, S. 36, 47ff., 74. 79 Zudem scheint das Thema in der Society of Dilettanti recht umstritten gewesen zu sein. Als man 1814 eine Ausgrabung in den dortigen Tempeln finanzierte, sollte der antiquarische Kommentar zur Abschlusspublikation ursprünglich von Richard Payne Knight verfasst werden, wozu es aber nicht kam (Steiner 2005, S. 47); was immer die genauen Gründe waren, das letztlich publizierte Buch argumentiert denkbar fern von Knights Ideenwelten – und zitiert, wie bereits erwähnt, stattdessen Christie äußerst lobend. 80 Rétif de la Bretonne 1770. Dazu: Vidler 1990, S. 358. 81 Vgl. z.B. Maurice 1794; Rolle 1824; kritischer zu diesen Überlieferungen: Sainte-Croix 1784; Taylor 1790. 82 Des weiteren zieht er auch in Betracht, dass diese Steinphalli ursprünglich aus Ägypten stammen und dort als Nilometer gedient haben. Christie 1806, S. 87. 83 Ouvarov 1817, S. 6.
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wenngleich er bezeichnenderweise auf die Abbildung entsprechender Objekte verzichtet.84 Mit Hilfe seines Kronezeugen Clemens von Alexandrien werden auch diese Bildwerke nun in Bezug zu den „Revolutionen“ der Erde gesetzt, die Zeugungskräfte also wiederum ausschließlich auf die „creation of terrestrial objects from water“ bezogen.85 Ansonsten artikuliert er sehr deutlich seine Abscheu für das ein oder andere „indecent emblem“, das d’Hancarville veröffentlicht hat.86 Und wenn er schreibt, dass Vulkane in Italien gnädigerweise viele ähnlich erschreckende Artefakte vernichtet haben, dann bezieht er sich damit womöglich direkt auf Isernia, das ebenfalls einige Jahre nach Hamiltons Funden von einem Vulkanausbruch getroffen wurde, was weithin als gerechte Strafe Gottes gedeutet wurde.87 Will man dem bisher Gesagten zustimmen, so distanzierte sich Christie durch diesen Umgang mit dem Mythos auch von einer sehr lebendigen Assoziation seines eigenen Clubs, der Society of Dilettanti, mit den Mysterien von Eleusis. Wie bereits zitiert wurden deren libertinäre Ausschweifungen, gewissermaßen mit einem antiquarischen Deckmantel versehen, gerne als „english-eleusian mysteries“ bezeichnet. Dass hier und in Medmenham Abbey für den damaligen wie heutigen Beobachter vieles im Dunkeln liegt, wurde bereits im vorletzten Kapitel deutlich – die englischen Mysterienspiele unterlagen eben ganz wie ihre ideellen Pendants in Eleusis einem höchst effektiven Schweigegebot.88 Um das Argument für eine „Gegengeschichte“ zu bekräftigen und im Sinne einer Kontroversengeschichte weiter zu schreiben, sei noch erwähnt, dass umgekehrt Richard Payne Knight im Inquiry wiederum mit einer ebenso indirekten Gegenlektüre auf die Disquisition zu reagieren scheint. Überraschend viele Ikonographien und Interpretationen Christies werden referiert und prinzipiell übernommen, ohne den Opponenten beim Namen zu nennen. Sein Sinngebäude wird am Ende schließlich mit einem Handstreich wieder auf ein neues Fundament gestellt, wenn Knight die Sintflut eben zu einer „vagen Tradition“ erklärt und die „Erneuerung“ aus dem Wasser zurück in den Hafen der Sexualsymbolik führt.89
84 Christie 1825, S. 46 u. 48. Vgl. Kalkanis 2012. 85 Christie 1825, S. 45. 86 Ders. 1806, S. 75, ähnlich: S. 77. 87 „[V]olcanos kindled by a Wise Hand have produced a moral, as well as a physical change in many parts of Italy.“ (Christie 1806, S. 96) 88 So ja auch Wilkes: „I am too fair a Man to disclose to the Public the English Eleusian Mysteries of that renown’d convent.“ 89 Dabei nimmt er gegenüber der Frage der historischen Realität der Sintflut eine noch radikaler ablehnende Position ein, als bereits zum Zeitpunkt der Sizilienreise, wo er die „great revolutions“ auch schon als „too remote for our Comprehension“ beurteilte. Damals schied er sie also aus dem menschlichen Gedächtnis aus, erkannte ihre prinzipielle Exis-
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§4 D ER A NTIQUAR
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Die Ursprungssuche Christies resultiert hier in der bereits bekannten Diagnose: Unser Antiquar erzählt eine Geschichte der Kunst, die in ihrem Entwicklungsgang den Theorien und Erzählformen, die er aus seinem engen Umfeld kannte, weitgehend entspricht. Und doch ist sie weltanschaulich deren komplette Antithese, wobei diese Umdeutung wiederum durch die Setzung einer anderen „ersten Ursache“ vollzogen wird. Nicht das geschriebene Wort, nicht ungeformte Steine und schon gar nicht die Verehrung der Geschlechtsteile sind Christies Ursprungsszene, sondern die Sintflut, ein heilsgeschichtliches Ereignis und erdgeschichtliche Revolution zugleich. Genau eine solche bewusste Umdeutung der Geschichte ist Christies Anliegen. Auch sein Traktat sucht nicht den Gestus der Objektivität, sondern versucht eine performative Neubegründung des Blicks auf Geschichte. Ziel ist das Bild in den Köpfen der Menschen umzugestalten, indem ein neuer Anfang gesetzt wird. Unser Autor erklimmt dafür selbst die Bühne und führt dem Leser, ganz wie in Eleusis, „a series of a few transparencies“ vor. Christie wird damit selbst zum Hierophanten, der den Lesern (hier als epoptai, also Betrachter angesprochen) das Spektakel der Mysterienspiele vorführt und sie in die Geheimnisse der antiken Weisheit initiiert: „I may doubtless be permitted to proceed; and, as the different illumined paintings pass before the reader’s eye, to take upon myself, as far as may be allowable for the immediate purpose, the office 90 of hierophant or expositor: – Καἰ ἐγω ποιήσω ‘Ιεροφάντην.“ Dieser Bilderschau scheint dabei ein sehr konkretes wissenschaftliches Leitbild zu Grunde zu liegen. Es ist Erasmus Darwin, in dessen Lehrgedicht Love of the Plants ebenfalls eine Verbindung der griechischen Mysterienspiele mit den „etruskischen“ Vasen gesucht wurde. Besonders in seinem Kommentar zur berühmten „Portlandvase“, ehemals im Besitz William Hamiltons, der sie zusammen mit den
tenz aber sehr wohl an, wenngleich er hier, inspiriert durch Hamiltons Ausführungen zum Ätna, eher vulkanologische Phänomene im Sinn gehabt haben dürfte; vgl. Ballantyne 1997, S. 66. 90 Christie 1825, S. 50. So übrigens auch schon in der ersten Auflage: „I may, surely, be permitted to ascend the stage, and, as the different illumined paintings pass before the reader’s eye, to take upon myself, (as far as may be allowable for the immediate purpose) the office of hierophant, or expositor […] I have compiled a short drama.“ (Ders. 1806, S. 28) Barbara Stafford hat überlegt, ob für dieses Interesse an einer „Performance“ vor Bildern nicht auch Christies hauptberufliche Tätigkeit als Auktionator verantwortlich sein könnte (2006, S. 160). Der große Showman des englischen Kunsthandels war aber eher sein Vater, James Christie Senior. Dazu: Sutton 1966.
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Phalli von Isernia 1782 nach London brachte91, macht der britische Naturforscher diese Verbindung stark. Darwin deutete die (übrigens weiterhin rätselhaften92) Bilder dieser spektakulären, in Kameentechnik gefertigten Amphore wiederum als Darstellungen der Mysterienspiele von Eleusis.93 Die genaue Auslegung der Ikonographie durch Darwin soll hier nicht weiter referiert werden. Interessanter ist, dass auch er versucht, den Leser mit der Suggestion der Aufführung eines Lichtspieles in die Geheimnisse seiner Lehren „einzuweihen“: „GENTLE READER! Lo, here a CAMERA OBSCURA is presented to thy view, in which are lights and shades dancing on a whited canvas, and magnified into apparent life!“94 Auch Darwin versetzt sich hier in die Rolle des Hierophanten, denn er versteht seine Rolle als populärer Wissenschaftsvermittler funktionell analog zu dem, was die antiken Priester taten: Auch er lüftet einen Schleier, der über der Wahrheit liegt. Nämlicher Prozess der Aufklärung (man beachte die Lichtmetaphorik, die in der Beschreibung der Schattenspiele beständig mitschwingt), den er in der Antike beobachtet hat, ist das Leitbild für die „Maschinerie“, die seinem Gedicht zu Grunde liegt.95 Ob Christie mit dem, was Darwin hinter dem Schleier hervorzauberte, einverstanden war, sei bezweifelt.96 Als die verborgene Wahrheit ließ er im von Füßli entworfenen Frontispiz seines Werkes die entblößte, vielbrüstige Diana von Ephe-
91 Heute im British Museum. Zum Schicksal dieses Objekts: Zwierlein-Diehl 2007, S. 248. Entsprechend dieser Provenienz diskutierte auch d’Hancarville das Werk sehr ausführlich, siehe d’Hancarville 1785, Bd. II, S. 133-159, wobei seine Thesen einiges Echo fanden, vgl. Gentleman’s Magazine 1786, S. 97f. 92 Zuletzt dazu und polemisch zu einigen jüngeren Deutungsversuchen: Mosch 2010. 93 Auch er bezieht sich auf einschlägige Autoren wie Warburton und St. Croix, wenn er konstatiert „that it represents what in antient times engaged the attention of philosophers, poets, and heroes, I mean a part of the Eleusian mysteries. […] They consisted of scenical exhibitions representing and inculcating the expectation of a future life after death.“ (Darwin 1973, S. 53) 94 Darwin 1973, S.V. Die Forschung hat diese vom Autor aufgerufene Metaphorik übrigens dankbar adaptiert, z.B.: „We might say then that The Temple of Nature we have is itself a kind of Eleusinian Mystery, constructed round a sequence of images – involving death, sex, light and heroes – whose full significance only slowly becomes clear.“ (Priestman 2005, S. 318) 95 „In the Eleusinian mysteries the philosophy of the works of Nature, with the origin and progress of society, are believed to have been taught by allegoric scenery explained by the Hierophant to the initiated, which gave rise to the machinery of the following Poem.“ (Darwin 1973, Preface, unpag.) 96 Zum Wandel der Rezeption der Gedichte Darwins: List 2009.
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sos auftreten (Abb. 64). Auch hier heißt es also (wie Johannes Dobai kommentierte) eher in „lukrezischem Geiste ‚Love‘ [– und nicht Gott –] created the Universe –“.97 Christie dürfte hier einen ähnlichen Schrecken bekommen haben, wie der junge Mann angesichts der ebenfalls von Füßli gezeichneten „entschleierten Isis“ (Abb. 40). Verglichen mit anderen bisher diskutierten Positionen war Darwins „Liebe der Pflanzen“ sicher eine eher milde Erotisierung der Welt. Ein Richard Payne Knight reagierte jedenfalls sehr ironisch auf Darwins Versuche, ästhetische Formen wie die geschwungene „Line of Beauty“ aus der Kontemplation natürlicher Formen, wie der Mutterbrust, herzuleiten.98 Doch diese Frage ist wiederum nicht entscheidend. Zentral ist, dass auch hier die Übernahme eines Erzählmodus zu beobachten ist. Der Inhalt der Form ist dabei austauschbar. Christie selbst benennt dagegen nicht Erasmus Darwin, sondern ein anderes Vorbild für seine Inszenierung, das die hier angezeigte Verbindung zu Praktiken populärer Wissenschaftsvermittlung explizit macht. Er vergleicht seine Tätigkeit als „Hierophant“ mit dem „Eidouranion unseres wissenschaftlichen Landsmannes Mr. Walker“.99 Adam Walker war einer jener zahlreichen Showmen, die in opulenten, theatralen Inszenierungen die populäre Vermittlung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse betrieben. Sein Eidouranion führte, angemessener Weise meistens auf Theaterbühnen, den Lauf der Himmelsgestirne vor. Im Grunde handelt es sich dabei also um eine Art Planetarium. Wissenschaftliche Nüchternheit war das Ziel dieser Shows natürlich nicht. Man darf sich vielmehr dramatische Szenen vorstellen, mit effektvoller Lichtregie inszeniert, wie man sie etwa aus Wright of Derbys Gemälde des Philosopher Lecturing on the Orrery (1766) kennt. Auch Walkers Aufführungen (allerdings wohl nur die seines Sohnes und Nachfolgers Deane) sind bildlich dokumentiert, wobei schnell deutlich wird, dass das Zentrum des vorgeführten Planetensystems weniger die Sonne als die Person des Wissenschaftlers war, der mit großen Gesten zum Zeremonienmeister dieser Himmelsschau wurde (Abb. 65).100 Der Experimentator, ebenso wie der Hierophant, ist kein neutraler Beobachter, kein Historiker, der aus der Distanz beobachtet, oder seine Position gar, wie es Winckelmann tat, gerade aus der Differenz zum von ihm be-
97
Dobai 1974-1977, Bd. II, S. 234. Zu Darwins Haltung in der Frage nach der Sexualität der Pflanzen: Schiebinger 1995. Füßli scheint sich übrigens sehr für die Theorien d’Hancarvilles und Knights interessiert zu haben. Dazu: Pop 2010, Kap. 3.
98
Knight 1805, S. 183.
99
Christie 1825, S. 36.
100 Siehe Altick 1978, S. 365.
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schriebenen Gegenstand definieren konnte. Der Hierophant ist ein Eingeweihter, ebenso wie der „master of ceremony“ einer (naturwissenschaftlichen) Bühnenshow. Abb. 65: James Stow nach Edward Francis Burney, Aufführung des Eidouranions im Royal Opera House, 1817. Radierung, 321 x 254 mm.
Die Darstellung von Walkers Auftritt vor dem Eidouranion im Royal Opera House demonstriert genau diese athletische Präsenz und Involvierung des Vorführers in seine Inszenierung. Steht Deane Walker hier auf der Bühne vor seinem Demonstrationsobjekt, so war die Involvierung seines Vaters in seine Experimente noch einen Grad höher. Adam Walker integrierte den eigenen Körper in seine Versuchsanordnungen und demonstrierte etwa den Stromfluss, in dem er sich selbst zum Teil des Schaltkreises machte.101
101 Vgl. Walker 1799, Taf. III (dazu: Stafford 1998, S. 195).
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Ganz ähnliche dramatische Versuchsanordnungen, wie sie ein Adam Walker inszenierte, finden sich dann auch im Feld der Kunst. Ozias Humphry berichtet etwa, wie Thomas Gainsborough in seinem Atelier in Bath (also bezeichnenderweise nicht in der Hauptstadt, sondern in einem Kurort, wo etwas divertissement wohl zusätzlich goutiert wurde102) mit theatralen Lichtregien arbeitete, die ähnlich wie Walkers Eidouranion gewirkt haben dürften. In einem weitgehend verdunkelten Raum waren während der Porträtsitzungen nur das Modell und die Leinwand mit schwachem Kerzenschein illuminiert.103 Das flackernde Licht mag man sich quasi als Antizipation des offenen, vibrierenden Pinselduktus des Malers vorstellen – Gainsborough selbst legt dies nahe, wenn er davon spricht, dass in „Portrait Painting there must be a Lustre“ und besagten „Glanz“ oder „Brillanz“ mit der „Variety of lively touches“ seines Pinsels analogisiert.104 Bezeichnend ist, dass Gainsborough zur Eigenbeschreibung dieser Atelierpraktiken ausgerechnet auf wissenschaftliches Vokabular zurückgriff, und seine Porträtmalerei (immerhin nicht die höchste aller möglichen Gattungen) sozusagen zu einer künstlerischen Forschungspraxis stilisierte: Er erklärte, „to try and experiment upon that Picture to prove the amazing Effect of dress“.105 Diese experimentelle Attitüde unterstrich Gainsborough mit bravourösen Kunststücken und malte etwa stehend mit einem Pinsel, der an einen sechs Fuß, also mannshohen Stock montiert war.106 Aus der Dunkelheit präparierte der Maler mehr wie mit einem Zauberstab denn mit dem üblichen Instrument seiner Kunst das Bild des Individuums aus dem Licht heraus.107 Ein wesentlich materielleres Zeugnis für diese Neigung zu mit Licht herbeigezauberten Bildern ist Gainsboroughs, heute im Victoria and Albert Museum aufbewahrte „peep-show box“, ein Kasten, in dem er, vielleicht inspiriert durch P.J. de
102 Die folgende Episode beschreibt Ozias Humphry sicher nicht zufällig als auf das Publikum gerichtete Aufmerksamkeitsstrategie bzw. als Reaktion darauf, dass „the fleeting Fashions varied and were changing from time to time“. Zitiert nach Rosenthal 1999, S. 62. 103 Derartige Lichtregien im Atelier waren natürlich nicht einzigartig und auch kein englischer Sonderfall. Erwähnt sei hier etwa die dramatische Inszenierung Dejuinnes, der Anne-Louis Girodet bei künstlichem Licht und vor Zuschauern im Atelier eine Demonstration seiner Kunst geben lässt. Dazu: Dagorne/Lemeux-Fraitot 2006. 104 Brief an William Hoare, 1773 (Gainsborough 2001, Nr. 65, S. 113). 105 Brief an den Earl of Dartmouth, Bath, 13. April 1771 (Gainsborough 2001, Nr. 53, S. 89 [Herv. H.C.H.]). 106 Whitley 1915, S. 109. 107 Der Vergleich mit einem Zauberstab bereits bei Rosenthal 1996, S. 170. Ebenfalls auf die magische Anmutung dieser Inszenierung abstellend: Vaughan 2004, S. 211; dort auch die Charakterisierung der Praxis als „bravura painting“.
D AS T RAUMA
DER
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Loutherbourgs sogenanntes „Eidophusikon“, auf Glas gemalte Landschaftsbilder mit Kerzenlicht auf eine Scheibe projizierte.108 Mit beständig wechselnden Bildern und hinterfangen von Musik ergab dies eine Inszenierung, gegen die Christies Idee der „slides“ reichlich amateurhaft wirkt; die Ähnlichkeit beider Ideen ist dennoch nicht zu verkennen. Zwei Schlüsse sind daraus zu ziehen. Zunächst ist hiermit ein weiterer Beleg gegeben für die enge Verwandtschaft, die der englische Diskurs über das Genie zwischen Wissenschaftler und Künstler sah. Bekanntlich hat sich das Konzept des „Originalgenies“ zuerst in der Sphäre der (Natur-)Wissenschaft herausgebildet. Zum zweiten gab dieses Konzept auch für Antiquare wie Christie ein tragfähiges Leitbild ab. Wiederum zeigt sich eine Selbstinszenierung des Kunstkenners als priesterlicher Experimentator, der vollständige Kontrolle über die Geschichte ausübt, sie sich aneignen kann und alleinige Hoheit in der Auslegung besitzt. Er ist zudem jener Souverän, der es auch vermag Lücken in der Überlieferung zu schließen und damit aus seiner Perspektive erst ein „Nachleben“ der Bilder zu etablieren. So führt Christie, als er seine Belege für den Zusammenhang von Vasenbildern und Bühnenshow doch etwas zu schwach – „more interrupted than I first expected“109 – befand, eine andere Quellengattung ein. Er bemüht Gemmen und geschnittene Steine, die er nun als authentische Überlieferungen der eleusischen Bilderwelten präsentiert. Gegen das Licht gehalten würden diese Steine einen ebenso beeindruckenden Lichteffekt erzeugen, wie die Schattenspiele von Eleusis.110 Fehlende Quellen können hier vom Kenner nach ästhetischem Kalkül ersetzt werden. Von der populären These des Priesterbetrugs, die bei d’Hancarville und Knight noch anklang, ist hier nichts zu spüren. Vielmehr wird der Priester, als Hüter hermetischen Wissens, das er nur an Eingeweihte verteilt, zum nachahmenswerten Rollenmodell. Somit wird auch der Antiquar zur priesterlichen Figur und der Kenner zum erhabenen, initiierten Wesen. Dabei ist sein Programm genauso wenig aufklärend, sondern exklusiv, wie das bereits bei Knight erschienen war. Auch Christies Disquisition erschien zunächst nur im Privatdruck, in hundert Exemplaren. Die Aufdeckung des ursprünglichen Sinns der Kunst obliegt wiederum nur einem begnadeten Seher, der seine Weisheit nur mit wenigen Erwählten teilt.
108 Vgl. Rosenthal 1999, S. 258f.; Vaughan 2004, S. 215. 109 Christie 1806, S. 29. 110 Ebd.
VII. Entzeitlichung: Nachleben und Naturgeschichte
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Spätestens hier, angesichts von James Christies Rückführung der Kunstgeschichte auf ein erdgeschichtliches Ereignis, der Sintflut nämlich, stellt sich in aller Deutlichkeit die Frage, in welchem Verhältnis das hier skizzierte Narrativ des „Nachlebens“ zu naturhistorischen Zeitkonzeptionen steht. Kunstgeschichte wird gerne als paradigmatisches Beispiel für die Adaption der viel beschworenen „Verzeitlichung“ der (Natur-)Geschichte im 18. Jahrhundert dargestellt.1 Gemeint ist damit, grob gesagt, die Ablösung eines biblisch motivierten, statischen Geschichtsmodells durch eine allgemeine Historisierung nicht nur der Natur, sondern aller Geschehnisse im Rahmen eines Modells historischen Fortschritts. Auch Kritiken an dieser Forschungskategorie, wie sie vor allem Arno Seifert dargelegt hat, konnten an ihrem durchschlagenden Erfolg bisher nichts ändern.2 Der Brückenschlag dürfte auch deswegen so populär sein, weil der Geschichtstheorie der Kunstgeschichte damit eine geradezu protodarwinistische Haltung zu attestieren wäre. Kunstgeschichte und Biologie gelten zudem als die seit ihren Formations- und Professionalisierungsphasen um 1750 am engsten verschwisterten Disziplinen. Beide Fächer diskutieren zentral die Morphologie von Formen (einmal von natürlichen, einmal von künstlerischen), also von ihren Veränderungen in der Zeit.3
1
Den Begriff scheint im Englischen als „temporalization“ erstmals A.O. Lovejoy (1936) eingeführt zu haben; die im deutschsprachigen Raum wohl populärste Formulierung dieser These stammt von Wolf Lepenies (1978). Für eine direkte Anwendung auf die Kunstgeschichte siehe etwa: Schmidt-Burckhardt 2005, S. 20f.
2
Seifert 1983; aktueller Forschungsüberblick: Stockhorst 2006.
3
„Wenn es zwei Fächer gab, die sich über Generationen hinweg methodisch angenähert hatten, so waren es Kunstgeschichte und Biologie. Beide waren mit dem Problem der
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Die interdisziplinären Verbindungen sind in der Tat augenfällig, so wurde etwa Winckelmanns Geschichte der Kunst ins Französische zuerst von zwei Naturforschern übersetzt. Gottfried Sellius war ein Pionier in der Benutzung von Mikroskopen, und sein Kompagnon Jean-Baptiste-Réné Robinet wird gar häufig als Vorläufer der Evolutionstheorie klassifiziert. Er veröffentlichte etwa Considérations philosophiques de la gradation naturelle (1768), die eindeutig vom Gedanken einer historischen „Entwicklung“ der Natur geprägt sind.4 Das gegenseitige Interesse der Disziplinen Kunstgeschichte und Biologie war also stark ausgeprägt. Umgekehrt gilt das auch für Winckelmann, der als begeisterter Leser eines anderen, gerne zum „Protodarwinisten“ stilisierten Autors, Georges-Louis Leclerc de Buffon, identifiziert werden kann. Sein biologisches Denkbild von Aufstieg, Blüte und Verfall geht zweifelsohne von einer animierten, historischen Veränderungen unterworfenen Natur aus.5 Dass dieses Zeitmodell nun für die Narrative des „Nachlebens“ gerade nicht zutrifft, sollte bisher deutlich geworden sein. Es stellt sich daher die Frage, welchen Blick auf die Naturgeschichte unsere Protagonisten, angefangen mit Christie, einnehmen. Im ersten Appendix zu der zweiten Auflage seiner Disquisitions unternahm Christie eine ausführliche Klassifikation der Formen der griechischen Vasen, die auch heu6 tigen Kommentatoren noch ein „particularly logical attempt“ zu sein scheint. Hier werden die griechischen Vasen zuerst, ausgehend von der Art ihrer Bemalung, in verschiedene „Klassen“ eingeteilt (rotfigurig, schwarzfigurig, ornamental bemalt, unbemalt). Je nach der genauen Maltechnik werden die Vasen innerhalb dieser „Klassen“ in verschiedene „Ordnungen“ unterteilt. Anschließend werden die Vasen nach den Formen ihrer Körper verschiedenen „Gattungen“ (z.B. „Lotus-artige“) zugeordnet, und innerhalb dieser „Gattungen“ nach verschiedenen „Arten“, d.h. nach Merkmalen wie konisch oder flach, geschieden.
Bewältigung unübersehbarer Objektmengen konfrontiert, und beide hatten die morphologische Bestimmung von Formen in das Zentrum ihrer Bemühungen gestellt.“ (Bredekamp 2005, S. 71) Diese Biologisierung der Kunst ist auch heute noch eine virulente Denkfigur. John Onians (2006) leitet aus ihr etwa programmatisch die Forderung nach einem Wandel „from Art History to World Art Studies“ ab. 4
Winckelmann trad. Sellius 1793. Zu Sellius’ Arbeit am Mikroskop: Ruestow 2004, S.
5
Zu Winckelmann und der Naturwissenschaft: Lepenies 1986; Dongowski 2000; Franke
6
Christie 1825, S. 119ff.; Higginson 2011, S. 58.
264ff. Zu Robinet als „Protodarwinisten“ etwa Bowler 1989, S. 63f. 2006. Zu seiner Buffon-Lektüre: Décultot 2004, S. 126ff.
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Das Ergebnis ist ein ausgefeiltes und detailliertes Klassifikationssystem, dessen Nähe zu biologischen Ordnungsverfahren offensichtlich ist. Das eindeutige Vorbild dieses Vorgehens wird von Christie auch expressis verbis genannt. Es ist Carl von Linné und dessen Systema Naturae (auch wenn Linnés letzte Unterteilung der Arten, die „Varietäten“, von Christie nur in Fußnoten angesprochen wird).7 Die Ordnung der Kunst wird hier also analog zur Ordnung der Natur vollzogen. Doch es ist bezeichnend, dass Christie sich gerade Linné zum Leitbild wählt. Denn weiter entfernt von einem Denkbild dynamischer, „verzeitlichter“ Natur hätte man sich kaum positionieren können. Die Linné’sche Taxonomie ist ein fundamental statisches System, das die Unveränderlichkeit der Schöpfung festschrieb. Diese Theorie der Artenkonstanz war – trotz der in der Rückschau extrem aufgewerteten protodarwinistischen Heroen wie Buffon und Lamarck – noch mindestens bis Darwin, also bis ins spätere 19. Jahrhundert, die herrschende Meinung.8 Das Linné’sche Modell eignete sich in soweit bestens für eine Stabilisierung des biblischen Schöpfungsberichts und steht dem Modell einer „Verzeitlichung“ der Naturgeschichte diametral entgegen.9 Die systematischen und taxonomischen Ordnungsformen, die Linné etwa für die Bestimmung der Pflanzengattungen fand, erinnern dabei häufig an tabellarische Strukturen, die vor allem eine entschiedene Statik vermitteln. Zwar zeichnen sich seine Systematiken durch Rangordnungen aus, wie sie sich auch in den Doppelnamen seiner Nomenklatur äußern, doch sind damit gerade Übergänge zwischen den Arten vermieden.10
7
Die Referenz auf Linné: Christie 1825, S. 119. Zu den „Varietäten“: ebd. S. 129.
8
Gemessen an dem vermeintlich proleptischen Geist der „Protodarwinisten“ wird der historische Mainstream daher, vor der Folie einer Teleologie hin zur Evolutionstheorie, gerne als betont rückständig beschrieben. So vermerkt Ingo Herklotz, „dass sich gerade die antiquarische Forschung dem grundlegenden epistemischen Wandel von der synoptischen Tafel hin zur linearen Chronologie, zur Geschichte, der Natur- und Geisteswissenschaften im 18. Jahrhundert so nachhaltig verändern sollte, hartnäckig widersetzte“ (2011, S. 145). Das taxonomische Modell, das Herklotz hier als konservatives Gegenmodell aufbringt, ist dabei im 18. Jahrhundert – man denke eben nur an Linné – höchst aktuell.
9
„Die Erschaffung eines ersten Menschenpaares passte gut mit dem biologischen Dogma von der Unmöglichkeit der Spontangeneration zusammen, das mit dem von Linné zementierten Prinzip der Unveränderlichkeit der natürlichen Arten allen evolutionistischen Phantasien einen Riegel vorschob.“ (Seifert 1986, S. 92)
10 Vgl. Graczyk 2004, S. 30.
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Statt zu Baumdiagrammen oder auch nur zu der traditionellen Stufenleiter der Lebewesen11 griff Linné zur Visualisierung seiner Taxonomien viel eher auf kartographische Denkbilder zurück. In seinen Praelectiones in Ordines arrangierte er die Ordnung der Natur in einem Diagramm, das er „Tabula genealogico-geographica“ nannte (Abb. 66). Die einzelnen Arten sind hier, je nach ihrer Verbreitung, mit verschieden großen Kreisen kartiert, ohne dass zwischen ihnen eine wie auch immer geartete Entwicklung, also eine historische Ordnung oder Abfolge, erkenntlich werden würde.12 Man könnte sagen, Linné begreift diese kartographierte Welt, in der seine Pflanzen angesiedelt sind, gewissermaßen als ein gigantisches Museum, für das er nun Inventare und Lagepläne anzufertigen hat. Linné ist damit der prototypische Vertreter für ein Arrangement des Wissens gemäß der Übersichtlichkeit eines „tableaus“.13 Abb. 66: Tabula genealogico-geographica, in: Carl von Linné, Praelectiones in Ordines, 1791.
11 Zu diesem klassischen Modell zuletzt unter Maßgabe der hier interessierenden Perspektive auf die Frage nach der „Verzeitlichung“ der Naturgeschichte (bzw. deren ausbleiben): Zeuch 2011. Der Klassiker bleibt natürlich Lovejoy 1936. 12 Linné 1792. Dazu: Müller-Wille 2010, S. 73. 13 „Die Einführung des Tableaus in die Naturkunde wird gewöhnlich mit Carl von Linnés Projekt, die Varietäten der Pflanzen auf ihre Art zurückzuführen, in Verbindung gebracht.“ (Weigel 2006, S. 37)
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Statt mit dem System einer Entwicklung verbindet sich Christies Geschichte des „Nachlebens“ hier also mit einem fundamental statischen System. Diese Stillstellung der Geschichte ist, so die These, ein maßgebliches Charakteristikum für diese historiographische Erzählform. „Survivals“, als Erzählung von dem was konstant bleibt, bedeutet also eine Entzeitlichung der Geschichte. Gerade die Sintflut war das naturhistorische Ereignis erster Güte, mit dem man die Zeitlosigkeit der Natur und eine Konstanz der Arten zu belegen trachtete. Die Flut war das maßgebliche Argument, um eine Unveränderlichkeit der Natur zu konstatieren. Oder einfacher gesagt: Alles, was Indizien dafür hätte liefern können, dass die Erde eine Geschichte hat, wurde einfach als Konsequenz der Sintflut gedeutet. Ohne hier ausführlich auf die verschiedenen Gründe einzugehen, die von einzelnen Wissenschaftlern für den Ausbruch der Flut und die ihr zu Grunde liegenden geologischen Vorgänge angenommen wurden14, seien die wichtigsten Positionen kurz genannt. John Woodward, in seinem Essay towards a Natural History of the Earth etwa beschreibt klassisch die Flut als zweite Schöpfung.15 Nach dieser sei aber keine weitere signifikante Veränderung der Gestalt oder gar Population der Erde mehr festzustellen. Für „diese letzten viertausend Jahre“ nach der Katastrophe sei zu konstatieren: „Es gibt keine Zeichen oder Spuren auf der ganzen weiten Erde von dergestalten Veränderungen.“ Nichts „durchkreuzt und stört den großen Plan der Vorsehung, will sagen, die Erhaltung der Erde“.16 Andere einflussreiche Autoren wie William Whiston schlossen sich dieser Meinung vorbehaltlos an. Auch in der genauen Datierung der Flut (es war ein Donnerstag) war dank der chronologischen Arbeit des Bischof Ussher ein weitgehender 17 Konsens erzielt, den die hier zitierten Autoren vorbehaltlos anerkannten. Auch Whiston jedenfalls postuliert, ausgehend von diesem sicheren Zeitrahmen: „Weder hat es seit der Sintflut irgendwelche großen und grundsätzlichen Veränderungen am
14 Die Literatur über den geohistorischen Umgang mit der Sintflut ist sehr umfangreich. Am umfassendsten: Seguin 2001. 15 „[M]uch such an Earth arose out of the Deluge, as at the Creation, sprung out of Nothing.“ (Woodward 1704, S. 264) 16 „[T]here are no Signs or Footsteps, in all the whole Globe, of such Alterations […] nor does it thwart and interfere with the grand Design of Providence, viz. the Conservation of the Globe.“ (Woodward 1704, S. 225 u. 237 [Herv. H.C.H.]) 17 „The Deluge began on the 17th Day of the second Month from the Autumnal Equinox, (or on the 27th Day of November in the Julian Stile extended backward) in the 2365th year of the Julian Period, and in the 2349th year before the Christian Aera.“ (Whiston 1696, S. 123; für die Präzisierung, dass es ein Donnerstag war: S. 303)
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Zustand der Welt gegeben, noch wird es diese geben, bis zu dem Tage, da dem 18 gegenwärtigen Lauf der Natur ein Ende gesetzt wird“. Abb. 67 (links): Frontispiz zu Thomas Burnet, The Sacred Theory of the Earth, 6. Aufl. London 1726. Abb. 68 (rechts): Frontispiz zu Francis Bacon, Instauratio Magna, 1620.
Die postdiluviale Erdgeschichte ist in der englischen Geologie und Geognosie also vor allem durch ihre Ent- und nicht Verzeitlichung gekennzeichnet. Selbiges trifft natürlich auch auf kontinentale Theoretiker zu, etwa den in jüngster Zeit viel disku19 tierten Johann Jakob Scheuchzer. Angesichts dieser eindeutigen Positionen der einschlägigen Sintfluttheoretiker ist daher mit Arno Seifert zu schlussfolgern: „[N]icht die Natur überhaupt, aber doch die postdiluviale Natur war in diesem
18 „Since the Deluge there neither has been, nor will be, any great and general Changes in the state of the World, till that time when a Period is to be put to the present Course of Nature.“ (Whiston 1696, S. 208) 19 Auch für ihn war eine „Verzeitlichung der Erdgeschichte indiskutabel“ (Müsch 2000, S. 143). So auch Robert Felfe, der konstatiert, dass „Scheuchzer als Verfechter der mosaischen Chronologie und mit seinen Klassifizierungen der Fossilien Tendenzen einer wirklichen Temporalisierung, hin zu einer Geschichte der Natur, entgegen [steht]“ (2001, Anm. 63, S. 293).
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Weltbild geschichtslos. Anders gesagt, hatte die Natur zwar einmal eine Geschichte gehabt, befand sich aber nun schon seit langem in einem Zustand wandelloser Dau20 er.“ Am anschaulichsten ist dies wahrscheinlich bei Thomas Burnet gemacht, dessen Schriften für die bisher zitierten Autoren zudem der wohl entscheidende Referenzpunkt sind. Im Frontispiz zu seiner Theoria Telluris Sacra, dem Werk, in dem Burnet seine „Sintfluttheorie“ („Theory of the Deluge“) darlegte, ist genau dieser Wandel der Erdoberfläche durch Katastrophen visualisiert (Abb. 67). Mehrere Darstellungen der Erde zeigen, wie sich deren Beschaffenheit im Laufe der Geschichte veränderte. Christus, als Weltenschöpfer, steht dabei an der Spitze dieses Entwicklungsdiagramms; unter seinem linken Fuß befindet sich die Erde vor der Schöpfung. Die nächste Weltkugel zeigt ihren Zustand nach der Schöpfung – ein perfektes, glattes Rund, das in der folgenden Stufe von der Sintflut getroffen wird und dann, als dritter Zustand, sich in der Gestalt unserer heutigen, zerklüfteten und mit Bergen übersäten Erde präsentiert. Als nächste Stufe wird diese durch den Weltenbrand vernichtet werden und so wieder zur ursprünglichen Form einer perfekten Kugel zurückkehren. Stephen Jay Gould hat diese Darstellung als eine Vermittlung der beiden historiographischen Modelle von Zeitpfeil und Zeitkreis interpretiert und Burnets Geschichte damit eine doppelte Zeitlichkeit attestiert.21 Das ist sicher richtig, doch sollte hervorgehoben werden, dass alle geschichtlichen Veränderungen, die Burnet beschreibt, immer nur durch die Katastrophen von Sintflut und Weltenbrand hervorgerufen werden. Dazwischen bleibt das Erdenrund, wie es auch im Frontispiz gezeichnet ist, unverändert. Eine Vorstellung von historischer Zeit, gemäß des Modells des Zeitpfeils, gibt es bei Burnet also durchaus, doch betrifft diese Geschichtlichkeit der Welt eben nicht die Periode der Erdzeit, in der wir leben. In Bezug auf diese Theorien ist mit Arno Seifert also nicht weniger als von einer „Stillstellung („Entzeitlichung“) der Natur“ zu sprechen, die wohl als Konsequenz der Mechanisierung des Weltbildes im 17. Jahrhundert zu verstehen ist.22 Auch der für Christie so wichtige Nicolas-Antoine Boulanger argumentierte so: Die Fossilien sah er als Belege für die Flut an: Die Arten, von denen die Versteinerungen zeugen und die es heute nicht mehr gebe, seien eben damals ausgestorben. Eine „verzeitlichte“ Vorstellung lag diesen Fossilientheorien denkbar fern. Mit dem er-
20 Seifert 1983, S. 473. 21 Gould 1992, Kap. 2, hier: S. 66-80. 22 Seifert 1983, S. 473f. Dass hinter den Weltbildern der genannten Sintfluttheoretiker ein mechanistisches Denken stand, erkannten bereits die Zeitgenossen: „Burnet, Woodvard [sic], Scheuchzer, &c. adoptent le système de Descartes sur la formation de la terre,“ (Art. Déluge, in: Encyclopédie)
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neuten Hinweis auf Boulanger dürfte deutlich werden, dass diese „Stillstellung“ der Naturgeschichte nach der Flut kein exklusives Denkmotiv um 1700 war, also zu der Zeit, als Burnet, Whiston und Woodward schrieben, sondern die hier verhandelten Debatten unmittelbar berührte.23 Die Theorie des Katastrophismus à la Boulanger gewann in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts – als berühmtes Beispiel sind etwa William Bucklands Reliquiae Diluvianae (1822) zu nennen – sogar ungeahnte Konjunktur.24 Gerade die von Christie nahe gelegte Verbindung der Linné’schen Taxonomie mit einem diluvialen Ursprungsdenken mag noch weitere ideengeschichtliche Motive auf den Plan rufen. Von zentralem Interesse scheint dabei vor allem Georges Cuvier, dessen erdgeschichtliche Theorien die hier verhandelte Thematik nicht nur ins 19. Jahrhundert (und damit in unmittelbare Zeitgenossenschaft zu Christie) führt, sondern geradezu idealtypisch eine Verbindung der Linné’schen Taxonomie mit dem Katastrophismus Boulangers vorführt. Auch wenn Christie ihn nicht zitiert können seine wirkmächtigen Schriften (in englischer Übersetzung erfuhr sein Essay on the Theory of the Earth allein zwischen 1813 und 1822 fünf Auflagen) seiner Aufmerksamkeit entgangen sein.25 Eine naheliegende Vermittlungsinstanz wäre zudem in dem Kreis um den mit Christie gut bekannten John Soane zu finden, der Cuviers Theorien intensiv rezipierte.26 Eine Büste des französischen Naturforschers in Soanes Wohnhaus in Lincoln Inn legt davon ein prominentes Zeugnis ab.27 Ähnlich wie bei Boulanger entstand auch Cuviers Theorie aus der Beschäftigung mit Fossilien. Auch er entdeckte im Erdboden Arten, die in der gegenwärtigen Welt nicht mehr aufzufinden waren. Er erklärte sie daher zu Opfern der universellen Katastrophen, die der Erde ihr heutiges Gesicht gaben. Auf gleiche Weise er-
23 Dass es im 18. Jahrhundert natürlich auch gänzlich konträre Meinungen zu Ursprung und Wesen der Fossilien gab, sei nur mit Hinweis auf die entsprechenden Artikel der Encyclopédie nachgewiesen, in der sich überhaupt ein klar verzeitlichtes Naturverständnis artikuliert. Vgl. z.B. Art. Revolutions de la Terre: „[L]a face de notre globe a été & est encore continuellement altérée dans ses différentes parties.“ 24 Dazu: Rudwick 2008, S. 73-87. 25 Cuvier 1825. Umfassend zu Cuvier: Cardot 2009; zu seiner Theorie des Katastrophismus v.a.: Gould 2002, S. 484-492. 26 Überliefert ist etwa, wie Soane und Christie gemeinsam die Sammlung in Lincoln’s Inn bei Kerzenschein besuchten – was für unseren Autor nochmals seine Thesen über die antike Kunstbetrachtung stärkte. Zudem scheint auch Soane, der ein eifriger Leser von d’Hancavilles Recherches war, von diesen Thesen über eine ursprüngliche sexuelle Symbolik moralisch etwas peinlich berührt gewesen zu sein. Vgl. Watkin 1997, S. 275f. u. 269. 27 Zu Soanes Rezeption der Kataklysmentheorie: Luckacher 2006, S. 173.
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klärte Cuvier auch die Existenz verschiedener geologischer Schichten, die er jede auf eine „Revolution“ der Erde zurückführt. Auch seine Grafiken, die diese Schichtenfolge illustrieren, sind daher nicht als stammbaumartige Abfolge, sondern als tabellarische Synopse im Geiste des Tableaus zu verstehen. Zwischen den „Revolutionen“ ist auch bei Cuvier die Erde als geschichtslos gedacht. Damit ist auch gesagt, dass diese entscheidenden Katastrophen natürlich größtenteils vor der Entstehung der Menschheit stattgefunden haben, denn sonst wäre auch diese Gattung eventuell ausgestorben.28 Die biblische Schöpfungsgeschichte ist damit durchaus reduziert auf eine nicht einzigartige Episode in der Weltgeschichte. Doch war der Mensch einmal in die Welt gesetzt, änderte er sich für Cuvier freilich nicht mehr. Er hat damit geradezu als idealtypischer Vertreter des „fixisme“, der Artkonstanz also, zu gelten, die auch Linné postulierte.29 Johannes Heinssen folgert daraus durchaus zutreffend, wenn auch teleologischtendenziös: „Cuviers Theorie stammte somit aus vorhistoristischer Zeit, stellte aber, als aufgrund ihrer theologischen Annahmen schon fast anachronistische Lehre, ein vorzügliches Einfallstor für ein dem Historismus entgegengesetztes Denken dar.“30
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Der Reiz der Sintflut als Ursprungsszenario lag, ich habe es bereits betont, zweifellos in der denkbar unbedingten Universalität, die das Thema implizierte. Die gesamte Menschheit kann vermöge dieses Motivs monogenetisch auf eine Familie, nämlich die von Noah und seiner Nachkommenschaft, zurückgeführt werden. Ein derartiges Ereignis bedeutete die im wahrsten Sinne natürliche Grundlegung eines gemeinsamen Erinnerungsschatzes der gesamten Menschheit. Dass diese Urszene fortlaufende Relevanz für die Menschen hat, dass also die Erinnerung an diese Katastrophe noch in heute gebräuchlichen Symbolen fortlebt, setzt einen zweiten logischen Schluss voraus: Die Menschen waren nicht nur alle gleich, sie sind es auch noch immer. Diese Grundbedingung, dass die Natur des
28 „[L]’histoire de ce monde est une succession d’événemens qui ont précédé la naissance du genre humain.“ (Cuvier 1825, S. 3 u. 18ff.) 29 Zu Cuviers „Anti-Transformatismus“: Cardot 2009, S. 281ff. Von zoologischer Seite: Wehner et al. 2007, S. 602 u. 610. 30 Heinssen 2003, S. 346. Der Hinweis auf den theologischen Rahmen Cuviers muss freilich eingeschränkt werden: Auch wenn die Existenz der biblischen Sintflut mit der Kataklysmentheorie sehr gut vereinbar ist, nahm Cuvier doch zweifellos eine viel längere Erdgeschichte an, als die biblische Chronologie zu decken vermochte, vgl. Rudwick 1997, S. 174.
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Menschen zu allen Zeiten dieselbe ist, und dadurch eine kohärente Überlieferung gewährleistet ist, ist die Prämisse eines Narrativs des Nachlebens. Richard Payne Knight schreibt sie gleich im ersten Satz seines Discourse fest: „Men, considered collectively, are at all times the same animals.“ Und d’Hancarville formulierte praktisch identisch, die Menschen seien „ce peuple, qui est le même dans tous les temps“.31 Auch andere, monogenetisch argumentierende Antiquare, wie der bereits zitierte Comte de Caylus bestätigten: „L’homme est et sera toujours le même.“32 Naturrechtslehre und ‚philosophische‘ Geschichtsschreibung betrachteten, spätestens seitdem Voltaire festsetzte, dass „l’homme, en générale, a toujours été ce qu’il est“, derartige Annahmen der Uniformität der menschlichen Natur als Axiom.33 Aus diesen Konzepten scheinen sich auch die Formulierungen unserer Antiquare zu speisen. Prominent findet sich dieser Gedanke vor allem bei David Hume, der in diesem Zusammenhang besonders interessiert, da seine Annahme der Konstanz der menschlichen Natur deutlich als „Übertragung der Theorie von der uniformen Natur(umwelt), die der jüngeren Naturforschung als stabiler Forschungsrahmen diente“, zu erkennen ist.34 Auch Hume schrieb, dass die „Menschheit zu allen Zeiten und an allen Orten sich so sehr ähnelt, dass die Geschichte uns in dieser Hinsicht wenig Neues oder Merkwürdiges mitteilen kann“. Ausgehend von seiner These einer anthropologischen Konstanz des menschlichen Wesens empfahl Hume etwa demjenigen, der etwas über das Verhalten der Griechen und Römer lernen möchte, schlicht das der Engländer oder Franzosen zu studieren. In ihren „Prinzipien und Abläufen“ bleibe die „menschliche Natur immer die Gleiche“.35
31 AEGR III, S. 12. 32 Zitat nach Rocheblave 1889, S. 340. Er beschreibt Caylus’ Haltung zur Naturgeschichte des Weiteren: „La nature lui apparaît avec son plan immutable et ce temps illimité sur lequel elle trame éternellement la même oeuvre silencieuse.“ Vgl. auch Lepenies 1986, S. 231. 33 Voltaire 1994, S. 1141. Vgl. insgesamt hierzu und zum Folgenden: Meyer 2008, S. 107ff. 34 Meyer 2008, S. 108. Darauf machte bereits Hermann Gogarten aufmerksam: „Der Ablauf der geschichtlichen Ereignisse ist [bei Hume] in derselben Weise der kausalen Gesetzlichkeit unterworfen wie das Geschehen der äußeren Natur: die Geschichte wird in den Kosmos des natürlichen Geschehens mit einbezogen und unter dem Gesichtswinkel der naturwissenschafltichen Betrachtung gesehen.“ (Gogarten 1979, S. 147) 35 „It is universally acknowledged that there is a great uniformity among the actions of men, in all nations and ages, and that human nature remains still the same, in its principles and operations. The same motives always produce the same actions: The same events follow from the same causes […].Would you know the sentiments, inclinations, and course of life of the GREEKS and ROMANS? Study well the temper and actions of the FRENCH
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In der Kunstgeschichte um 1800 war dies dagegen kein Allgemeingut. Philipp Otto Runge fasste den mangelnden Glauben daran, den großen historischen Vorbildern gleich zu sein, in dem viel zitierten melancholischen Diktum „Wir sind keine Griechen mehr“ zusammen.36 Die vielleicht wirkmächtigste Formulierung der Ungleichheit des künstlerischen Schaffensvermögens der verschiedenen Völker verfasste Winckelmann mit seiner klimatheoretischen Begründung des Ursprungs der Kunst. „Es scheinet, dass die Kunst unter allen Völkern, die dieselbe geübet haben, auf gleiche Art entsprungen sey, und man hat nicht Grund genug, ein besonderes Vaterland derselben anzugeben: denn den ersten Saamen zum Nothwendigen hat ein jedes Volk bey sich gefunden“, schreibt Winckelmann in der Geschichte.37 Statt einer monogenetischen „Emanation“ aus einem allen Menschen gemeinsamen Geist oder einem sie verbindenden Urerlebnis wie der Sintflut, haben für den Deutschen die verschiedenen Völker die Kunst also jeweils für sich entdeckt. Dieses Denkmotiv entspringt sicher einer „anxiety of influence“, hätte Winckelmann ansonsten doch wohl eingestehen müssen, dass die von ihm so sehr verehrten Griechen etwas von den als minderwertig betrachteten Ägyptern übernommen haben könnten.38 Winckelmann behauptet daher – in aller Kürze gesagt – dass der Einfluss des Klimas auf das menschliche Gemüt die entscheidende Prägung der Menschen sei und sich daher von seinem Geburtsland her die künstlerischen Kapazitäten eines Menschen bedingen. Winckelmann steht hier nur als der bekannteste Vertreter dieser Denkrichtung, die es schon lange vor dem 18. Jahrhundert gab.39 Zu nennen wäre unbedingt auch Montesquieu und, für das Feld der Kunstgeschichte, der Abbé du Bos, auf den sich Winckelmanns Argument maßgeblich stützt.40 Freilich gab es auch hier verschiedenste Abstufungen in der Rolle, die man dem Klima zuwies. Alexander Wilson
and ENGLISH: You cannot be much mistaken in transferring to the former most of the observations which you have made with regard to the latter. Mankind are so much the same in all times and places that history informs us of nothing new or strange in this particular.“ (Hume 1999, S. 150) 36 Runge 1840, Bd. I, S. 6. 37 Winckelmann 1996, S. 7. 38 Deren historische Priorität muss er eingestehen. Er schreibt, dass „sich die Chaldäer oder die Ägypter ihre eingebildeten höheren Kräfte zur Verehrung, zeitiger als die Griechen, werden sinnlich vorgestellt haben. […] In Ägypten blühte die Kunst bereits in den ältesten Zeiten“, d.h. zu einer Zeit, „da über die Kunst bei den Griechen noch Dunkelheit und Finsternis schwebten“ (Winckelmann 1996, S. 22f.). 39 Für England umfassend: Zacharasiewicz 1977. 40 Zu diesem Einfluss und den Unterschieden: Décultot 2004A. Zur Klimatheorie vgl. des Weiteren nur Kohl 1983, S. 109ff.; Fink 1987.
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etwa nahm zwar einen einheitlichen Ursprung des Menschengeschlechts an, stellte sich aber vor, dass in den klimatisch weniger begünstigten Regionen mit der Zeit eine um sich greifende zerebrale „Fäulnis“ die Fähigkeiten der Menschen erodieren 41 ließ. Diese Positionen hier zu referieren würde zu weit führen. Festgehalten werden sollte aber, dass gerade für den engeren Kontext der europäischen Kunstgeschichte dieses Modell schnell an seine Grenzen stoßen musste. Wodurch etwa die Griechen gegenüber den Etruskern oder Anatoliern klimatisch bevorzugt wären, ist nicht einfach zu begründen. Winckelmann weicht daher aus und betont das „Geblüt“ der einzelnen Völker stärker als sein großes Vorbild du Bos – und gibt damit sogar die physische und psychische Einheit der Menschen innerhalb einer Klimazone auf. Die Suche nach einem biologischen Alteritätskriterium läuft dabei aber nur noch entschiedener auf dasselbe Modell einer nicht mehr einheitlichen Menschheit hinaus.42 Angesichts ihrer Postulate der Konstanz der menschlichen Natur und ihrer auf universalistischen Ursprungskonstruktionen basierenden Geschichtsbilder verwundert es nun nicht, dass d’Hancarville und Knight mehr oder weniger ausdrücklich in Opposition zu dieser wirkmächtigen These Winckelmanns traten. Die Klimatheorie, also die Vorstellung, dass die lokale Umwelt einen „geographischen Determinismus“43 auf das menschliche Handeln entfaltet, steht der eben diskutierten Theorie einer Uniformität des menschlichen Wesens (und damit der Universalität seiner Hervorbringungen) diametral entgegen. Unsere Autoren stellen sich damit einer Theorie entgegen, die auch innerhalb der antiquarischen Zirkel Großbritanniens, etwa bei dem im Laufe dieser Arbeit schon mehrfach zitierten Thomas Hope, sehr beliebt war.44 Insgesamt aber trat die englische Kunstliteratur diesem Konzept – bei dem die britischen Inseln, als kaltes, nasses Land bekanntlich regelmäßig sehr ungünstig beurteilt wurden – eher ablehnend gegenüber. Explizit gegen Winckelmann richtete sich etwa der irisch-stämmige Maler James Barry.45
41 Wilson 1780. Dazu: Gisi 2007, S. 105. 42 Dazu umfassend: Gisi 2007, Kap. 3.2. 43 Kohl 1983, S. 116. 44 „[A]rchitecture, rising like an indigenous plant out of the nutriment, and modified by the checks of the soil and atmosphere […] must derive essentially out of the peculiar climate, and locality, and productions of the country.“ (Hope 1835, Bd. I, S. 2 u. 8) 45 Dieses Thema behandelt Barry im vierten Kapitel seines „inquiry into the real and imaginary obstructions to the acquisition of the arts in England“, das betitelt ist mit: „The different Styles of Art in the different Schools, not owing to Climate, but to Moral or accidental Causes.“ Gegen Winckelmann wendet er sich z.B. mit folgenden Worten: „This Abbé Wincleman was a German antiquary, and had warmly embarked in the system
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Entsprechend deutlich wandte sich auch Richard Payne Knight, etwa in einem Brief an George Romney, gegen diese Theorie.46 So tat er es bereits in seinem Reisebericht aus Sizilien, wo er konstatiert, dass obwohl das Klima ja gleich geblieben sei, die Zivilisation der Insel nun eine völlig andere sei.47 In dieselbe Richtung argumentierte d’Hancarville. Deutlich äußert er das gerade in seinem frühen Essay de politique.48 Auch für die Kunst weist er Kongruenzen zwischen Klima und Formgebung rundheraus zurück. Zwar sei natürlich die Kleidung eines Volkes den Witterungsbedingungen seiner Umgebung angepasst – doch bereits auf deren Schmuck habe dies keinen Einfluss.49 Das ist nur naheliegend, betrachtet d’Hancarville doch gerade Ornamente als Überlebsel aus den frühesten Zeiten. Immer wieder verweist d’Hancarville, wenn er über verschiedene Landschaften und die ihnen gemeinsamen Züge in der Kunstproduktion spricht, explizit auf die klimatischen Bedingungen in diesen Ländern. Die Betonung der Verwandtschaft ihrer materiellen Hervorbringungen trotz verschiedener klimatischer Bedingungen in den jeweiligen Herkunftsländern wendet sich dabei zweifelsohne gegen die Klimatheorie à la Winckelmann. Von den heißesten Ländern bis in polare Regionen betrachtet d’Hancarville die Erde vielmehr als „Patrie commune“ der verschiedenen Nationen.50
about the influence of climates; and that he was intemperate and absurd enough to maintain any opinion, however desperate, is as evident in his encomiums […] as in his censures.“ (1775, S. 44-62 u. 114f.) 46 Romney 1830, S. 323. 47 Knight 1986, S. 65. 48 „[J]e crois qu’il ne faut pas se prêsser d’attribuer au climat, ce qui pourrait n’être que l’ouvrage des préjugés destructeurs, qui dérangent souvent le cours des opérations de la nature même. […] le climat de l’Angleterre […] parait aussi-propre à seconder la propagation de l’espèce, que celui de la Chine.“ (D’Hancarville 1752, S. 53f.) 49 Die Kleider „tiennent à la nature du climat qu’elle habite, mais les ornemens dont on les embellit, tiennent toujours à l’esprit & au goût du siecle dont l’usage général en fait une mode“ (AEGR IV, S. 192). 50 „[L]es Productions des fables brulans de la Ligne, ont été portées jusques sous la Zone Glaciale, les Richesses de toutes les Contrées devenus publiques, se sont égallement répandues dans toutes les parties du Globe que nous habitons; lui même enfin n’est plus regardé, que comme une Patrie commune à tant de Nations, qui toutes travaillent les unes pour les autres, & cherchant leurs Avantages particuliers, contribuent sans le savoir au Bien géneral.“ (AEGR II, S. 5, 7) Dass d’Hancarvilles Kunstgeschichte „une histoire unifiée de l’homme“ voraussetze, bemerkt zutreffend bereits Schnapp (1992, S. 211).
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Statt Natur und Geschichte als einen „Organismus“ zu verstehen, der auch funktional in eine hierarchische Folge von Haupt und Glieder unterteilt werden kann, wählte Richard Payne Knight ein anderes Denkmodell. Sein Bild von Natur und Geschichte suchte nicht das organische Ganze, sondern die Kleinteiligkeit, die der Atomismus bot. Ausdrücklich offenbart Knight seine Verpflichtung gegenüber diesem atomistischen Denken in seinem Lehrgedicht über den Progress of Civil Society, den er selbst als nicht viel mehr als eine Paraphrase des wichtigsten atomistischen Textes der Antike, nämlich von Lukrez’ De rerum natura, bezeichnet. Gerade im Lichte von Knights Theorie der Schrift, die bereits Andrew Ballantyne (ohne es weiter auszuführen) als „perhaps in a sense ‚atomistic’ in its outlook“ bezeichnete, ist diese Denkfigur naheliegend.51 In der griechischen Antike wurde die Zerlegung der Worte in einzelne Buchstaben, also die Art und Weise ihrer phonetischen Bindung, stets atomistisch interpretiert. Von Platon bis zu Dionysius von Halicarnassos lassen sich hier Beispiele geben.52 Knights Reduktion der einzelnen Alphabetzeichen auf ihre Radikalen, also auf ihre grundlegenden graphischen Elemente, geht hier nur noch einen Schritt weiter. Das setzt sich fort bis zur Gestalt seines Analytical Essay: Das Buch hat kein Inhaltsverzeichnis, sondern ihm ist ein Index vorangestellt. Es ist hier also kein sequentieller Aufbau, keine sich entfaltende Ordnung angelegt, sondern der Zugriff auf den Text erfolgt via der einzelnen Buchstaben, nach denen die alphabetische Ordnung des Index’ angelegt ist. Knights Verfahren führt diese Zergliederung des Buches in einzelne Zeichen dann noch einen Schritt weiter: In seiner Rückführung der Buchstaben auf ihre ursprünglichen graphischen Elemente werden die Zeichen im wahrsten Sinne in ihre Atome zerlegt. Es ist bezeichnend, dass im Griechischen das Wort „stoikeia“ sowohl die kleinsten Elemente der Schrift wie auch der Physik meinte.53 Vor allem aber findet sich in den atomistischen Debatten des 18. Jahrhunderts ein Zentralbegriff an prominenter Stelle, mit dem Knight im Discourse argumentierte. Gemeint ist die Rede von den „Emanationen“, also dem Ausfluss aller Dinge aus einem Urgrund.54 Dass dieser Begriff auch von den Zeitgenossen durchaus un-
51 Ballantyne 1997, S. 78. 52 Vgl. Drucker 1995, S. 60-62. Dass die einzelnen Buchstaben dabei distinkte Lautwerte bezeichnen, spielt bereits bei diesen antiken Beispielen eine entscheidende Rolle. So schreibt Drucker zu Dionysius von Harlikanassos: „He linked the atomic character of the letters to their capacity to represent speech.“ (Ebd. S. 62) 53 Ernst/Kittler 2006, S. 11. 54 „[A]tomism and Neoplatonism share a basic metaphor, or set of metaphors. >From an original entity secondary images are continuously flowing. The word convenient for both, ‚emanation‘, means to flow from.“ (Glausser 1991, S. 80)
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platonisch, also umgekehrt in der Lukrez’schen, materialistischen Tradition gelesen werden konnte, lässt sich vielleicht am deutlichsten anhand von Thomas Carlyles 55 Kritik an Thomas Hopes Essay on the Origin and Prospects of Man belegen. Interessanter als diese Fragen dürfte aber sein, welche geschichtstheoretischen Konsequenzen Knights Atomismus mit sich bringt. Denn die Geschichte und Abfolge der „Emanationen“ wäre damit nicht mehr so eindeutig, wie das bisher der Fall schien, auf einem Zeitstrahl, der von einem Ursprungspunkt ausgeht, zu verorten. Aus epikureischer Perspektive kann aus dem Atomismus vielmehr ein Plädoyer dafür gewonnen werden, dass eine creatio ex nihilo, ein absoluter Ursprungspunkt also, nicht denkbar sei, da alles bereits auf Atomzusammensetzungen beruht.56 Dass nichts aus nichts entsteht, und nichts zu nichts vergeht, ist ein zentrales Axiom der epikureischen atomistischen Physik.57 Genau diesen Punkt adaptiert auch Knight im Discourse, wenn er schreibt, dass die Alten Erschaffen und Zerstören immer parallel gesehen hätten. Wo „formation and dissolution“ immer ineinander greifen sei man versichert, dass alles schon da ist und eben keine creatio ex nihilo stattfindet, wie die Genesis es glauben macht. Man glaubte „nothing could come from nothing, and that no power whatever could annihilate that which really existed“.58 Wie Annette Meyer (mit Blick auf Hume) klug analysierte: „Explizit werden Naturzustandtheorien und Berichte von sagenhaften Ursprungsmythen als unvereinbar mit den Kenntnissen über die Stetigkeit der menschlichen Natur deklariert.“59 Hier zeigt sich derselbe Glaube an eine historische Konstanz, wie sie bereits bei der Vorstellung von der Unveränderlichkeit der menschlichen Natur deutlich wurde. Die Frage nach dem Ursprung als einem absoluten Moment wird damit, wie bereits in der Einleitung deutlich wurde, historisch zweifelhaft. Genau dies war auch die Konsequenz, die die Naturwissenschaftler des 17. Jahrhunderts aus ihrer Einsicht in die Entzeitlichung der Natur zogen. Zur zentralen Denkfigur für die Beschreibung wissenschaftlicher Tätigkeit wurde dabei die Analogisierung des Forschers mit dem Entdecker, vor allem mit dem Modellfall von Christopher Kolum60 bus. Wie Amerika schlechthin existierte, auch bevor dieser es entdeckte, so waren auch Erkenntnisse wie die chemische Zusammensetzung von Luft oder die Diffe-
55 Zur Idee der „Emanationen“ siehe Kap. IV, §3. Carlyle nannte Hopes Werk eine „apotheosis of Materialism“ (1984, S. 95). 56 Ballantyne 1997, S. 65. 57 Hossenfelder 2006, S. 123. 58 DISC, S. 130. 59 Meyer 2008, S. 111. 60 Eine eingehende Parallelisierung der Tugenden des Wissenschaftlers mit denen des Kolumbus etwa bei: Hooke 1705, S. 20f.
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rentialrechnung Tatsachen, die es zwar für den Menschen neu zu entdecken gab, die als Naturgesetze aber schon immer existiert hatten.61 Auch in Francis Bacons berühmtem Frontispiz zur Instauratio Magna ist es keineswegs eindeutig, ob das Schiff, das die „Säulen des Herkules“ durchquert, gerade zurückkommt oder ablegt, ob es also zu neuen Ufern aufbricht, oder ob die ferne neue Welt bereits als bekannt vorauszusetzen ist (Abb. 68).62 Es ist daher nur konsequent, wenn sich Georg Philipp Harsdörffer ausgehend von dieser Metapher die mit der Querelle des anciens et des modernes klassisch gewordene Frage stellt, „Ob nichts neues zu erfinden und ob nichts gesagt und geschrieben werden könne, was nicht bereit zuvor gesagt und geschrieben worden?“63 Gerade diese naturwissenschaftlichen Dispositive sind es nun bekanntlich, aus denen sich im 18. Jahrhundert Begriff und Theorie des „Originalgenies“ entwickeln sollte. „Discovery“ und „Invention“ werden bereits gegen Ende des 17. Jh. zu Kernbegriffen, die dann von den englischen Theoretikern der Geniekonzeption – Alexander Gerard, Edward Young, William Duff, um nur die prominentesten zu nennen – auf den Künstler übertragen werden.64 So beschrieb Duff in seinem Essay on Original Genius (1767) die Fähigkeit zur originellen Entdeckung als allen geistigen Tätigkeiten gemeinsam, ob der des Philosophen, Naturwissenschaftlers, Dichters oder Künstlers. In diesem Sinne kann er Homer und Newton in einem Atemzug nennen, oder Miltons Paradise Lost mit Burnets Telluris Theoria Sacra vergleichen.65 Diesen Gedankengang wird noch Lessing führen, wenn er Newton und Homer (ein offenbar populärer Vergleich) als „zwei Geister gleich an Größ, und ungleich nur im Werk“ bezeichnet.66 Kurz: In den schönen Künsten wirkt dieselbe „power of invention“ wie in den Wissenschaften.67
61 Oder wie Bernhard Fabian es formuliert: Es sind „Tatbestände, die vor und außerhalb der Erfahrung existierten. Der Erkenntnisprozess bestand lediglich in einer Art von columbianischer Ankunft auf einem Gebiet, das in seiner Beschaffenheit durch den Entdecker nicht verändert wurde.“ (Fabian 1967, S. 52) 62 Siehe Bexte (2008, S. 206-212), der treffend diese Unklarheit und das beständige Pendeln zwischen Neu und Alt in Bacons Bild herausstellt. 63 Harsdörffer 1653, S. 4. 64 Grundlegend: Fabian 1967. 65 „[W]e consider ORIGINAL GENIUS as a GENERAL talent, which may be exerted in any profession […] the word ORIGINAL, considered in connection with Genius, indicates the DEGREE, not the KIND of this accomplishment“. Burnet zeige eine solche „strength of fancy, that […] here appears a degree of Imagination little inferior to what is discovered in Paradise Lost“ (Duff 1767, S. 87 u. 121f.). 66 Lessing 1989, S. 116. 67 Diese finde sich „in all the fine Arts, as well as in science“ (Duff 1767, S. 190).
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Was diese Originalgenies erreichen, ist jedoch nicht die Erfindung von etwas gänzlich Neuem. Vielmehr wird ein Naturgesetz durch einen genialen Akt in der Gegenwart „entschleiert“, um eine der Lieblingsmetaphern der Aufklärung zu benutzen. Den gleichen Erkenntnisweg kann, angesichts eines statischen Weltbildes, auch die Geschichtsforschung einschlagen. Zum Maßstab von historischem Denken wird etwa von David Hume einmal mehr die Erfahrung der eigenen Gegenwart erklärt. „What would become of history, had we not a dependance on the veracity of 68 the historian according to the experience which we have had of mankind?“ Geschichte kann nur wahr sein, soweit sie gemessen an der Gegenwart plausibel ist. Radikale Alterität zu denken ist damit freilich unmöglich geworden. Doch auch wenn Hume hier Mittel zur Überprüfung historiographischer Thesen angeben will, so bleibt deren Wahrhaftigkeit letztlich abhängig von der zitierten „veracity of the historian“. An dieser hängt hier wieder alles, bzw. diese „Aufrichtigkeit“ des Historikers kann nur mit dem Maßstab der Wahrscheinlichkeit kontrolliert werden. Die Gegenwart hat damit letztlich die Deutungshoheit über die Geschichte inne. Die Zurückweisung der Naturgeschichte und damit auch die Entzeitlichung der Kunstgeschichte können wiederum bestätigen, dass der Ursprung der Kunst sich nur aus dem ergibt was ist, was in der Jetztzeit gesetzt wird. Damit ist in jeder Hinsicht der Antiquar wieder zum alleinigen Gebieter über die konjekturalen Schlüsse geworden, durch die ein Ursprungsszenario überhaupt erst denkbar wird. Diese aktuellen Anfänge determinieren die Geschichte aller Vergangenheit.
68 Hume 1999, S. 155.
VIII. Die neue Übersichtlichkeit
§1 V ERFALL
UND
F ORTLEBEN
Statt also wie Winckelmann die Kunstgeschichte mit einer verzeitlichten Natur zu analogisieren, die wie ein Organismus eine notwendige Abfolge von Erblühen, Reife und Verfall durchläuft, nehmen die hier untersuchten Antiquare, so hat das letzte Kapitel erwiesen, ein statisches Geschichtsmodell an. Dies betrifft sowohl ihr Verständnis der Natur- als auch der Kunstgeschichte, wie vor allem an den Beispielen der Sintfluttheorie Christies und des atomistischen Denkens Knights gezeigt wurde. Ihre Narrative des „Nachlebens“ erweisen sich einmal mehr als Entwürfe, die konträr zu Winckelmanns Geschichte der Kunst argumentieren. Die Entzeitlichung der Geschichte scheint dabei paradoxerweise Möglichkeitsbedingung für ein Narrativ des „Nachlebens“, das Geschichte nicht aus einem distanzierenden, historistischen Blickwinkel betrachtet, sondern selbst die fernste Vergangenheit als äußerst gegenwärtig begreift. Der Leser mag dabei den Eindruck gewonnen haben, ich umgehe unliebsame Passagen in den Kunstgeschichten meiner Autoren. Im Fokus stand eine Historiographie des „Nachlebens“, die sich dem zyklischen, also quasi biologischen Modell von Genese und Geschichte der Künste verweigert, das zwangsläufig auch den Niedergang und Fall der Kunst implizieren würde. Zweifellos finden sich nun aber in den diskutierten Büchern zahlreiche Hinweise, die affirmativ genau jenen Niedergang der Künste behaupten. Dass hinsichtlich der Kunstschönheit die griechische Antike weiterhin als normatives Ideal zu gelten hat, war für die neoklassizistisch 1 gestimmten englischen Antiquare unzweifelbar. Man mag in dieser Parallelität zweier unvereinbar scheinender Zeitbeschreibungsformen zunächst aber eine theoretische Ambivalenz erkennen, die, wie bereits eingangs dargelegt, als typisch für die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts
1
Gleichwohl konnten sich unter dem Schlagwort ‚griechische Antike‘ höchst unterschiedliche ästhetische Konzepte verbergen. Siehe dazu nur: Busch 2005.
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erkannt wurde. In der Tat ist die Schizophrenie der theoretischen Entwürfe im Umkreis unserer Autoren bemerkenswert. Man denke etwa an Thomas Hope, dessen Essay on the Origins and Prospects of Man eine höchst spekulative Symboltheorie entwirft und, ähnlich wie Knight, eine Rückführung der gesamten Kunstgeschichte auf eine göttliche Urmaterie unternimmt. Ein solcher Autor (der ja zudem als praktischer Architekt ganz rationale und überhaupt nicht symbolische Bauten entwarf) konnte zugleich auch ein Buch wie sein Historical Essay on Architecture schreiben. Dieses erschien, posthum veröffentlicht, praktisch zeitgleich zum genannten Essay, präsentierte aber eine denkbar sachbezogene und essentiell an Winckelmann und seinem Entwicklungsgedanken angelehnte Architekturgeschichte.2 These dieses Kapitels ist dagegen, dass gerade diese in den Schriften der hier diskutierten Autoren zu beobachtende Strukturierung der Historie nach einem Verfallsmodell als Indiz für eine konzeptuelle Determinierung der Historie durch eine Urszene zu verstehen ist. Diese Erzählform trägt damit dezidiert dazu bei, die Geschichte für die Gegenwart verfügbar und somit für den ahistorischen Zugriff durch den Antiquar zugänglich zu machen. Entgegen der bisher betonten Kontinuität der Bildproduktion spricht auch d’Hancarville von der „décadence“ der Künste – und das nicht nur in den ersten beiden Bänden der Antiquités, wo er noch ubiquitär auf dieses Winckelmann’sche Deutungsmuster zurückgriff und sich beständig mit den „ruines éparses“ und den „tristes débris“ einer vergangenen Zeit konfrontiert sah.3 Immer wieder greift er zu biologisch motivierten Metaphern und beschreibt damit den Verfall der Blüte der griechischen Kunst: „Ähnlich wie empfindliche Pflanzen, die verenden, wenn sie nicht mehr unter der Sonne ihres heimatlichen Bodens stehen, konnten auch die Künste, als sie von Athen nach Rom verpflanzt wurden, nicht ihre Kraft und Energie bewahren, die sie unter dem Himmel, wo sie geboren waren, erworben hatten.“4 Sogar klimatheoretische Erwägungen scheinen hier zum Tragen zu kommen. Es muss jedoch betont werden, dass hier nur die Fähigkeit zur mimetischen Darstellung angesprochen ist und die prinzipiell arbiträren „signes“ davon nicht be-
2
Hope 1831 u. 1835. Zu diesen Büchern: Watkin 2008, Kat. Nr. 115 u. 116, S. 486-490. Zu erwähnen wäre auch Hopes Roman Anchises, den Peter Geimer mit guten Gründen als Vertreter der These von der „Vergangenheit der Kunst“ identifiziert (2002, S. 138148).
3
Vgl. z.B. AEGR I, S. 29 (hier die zitierten Stellen), 43, 93, 141; AEGR II, S. 25, 41, 109,
4
„Mais semblable à ces Plantes délicates qui dégénerent en quittant leur Sol Natal, les Arts
129 und passim. AEGR III, S. 100. transplantés d’Athenes à Rome, ne purent y conserver cette force & cette vigeur qu’ils avoient acquise sous le Ciel où ils étoient nés.“ (AEGR III, S. 33)
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troffen sind. Die Darstellungssysteme der „Kunst“, d.h. dessen, was d’Hancarville „figure“ nennt, und die Geschichte der „signes“ verlaufen, wie bereits hervorgehoben wurde, in zwei distinkten Sequenzen: Die „signes“ bleiben erhalten, obwohl eine naturalistische Darstellungsweise entstand. Und sie blieben auch erhalten, als letztere wieder verfiel. Eine Geschichte des „survivals“, und das heißt, eine Geschichte der ursprünglichen „signes“, ergibt sich gerade erst in Absetzung zur Kunstgeschichte der mimetischen, figuralen Errungenschaften. Deutlicher wird was ich meine am Beispiel von Richard Payne Knight. Nach einer Blütezeit in der griechischen Klassik setzt auch für ihn der Verfall der Kunst ein. Dieses Faktum wird denkbar lapidar als Notwendigkeit präsentiert: „Art, having thus reached its summit, began gradually to decline.“5 Dieser Satz, in seiner beiläufigen Kürze, ist natürlich nichts anderes als eine Paraphrase der berühmten Zusammenfassung der Kunstgeschichte durch Winckelmann, die dieser auf der ersten Seite seiner Geschichte präsentierte.6 Dieser Verfallsgedanke scheint allein schon eine notwendige Konsequenz aus Knights Betrachtung der Geschichte als einer Folge von „Emanationen“, also einem Ausfließen aller Bilder und Symbole aus einer ursprünglich ganzheitlichen Quelle. Gerade vor dem Hintergrund neuplatonischen Denkens folgt daraus eine Betrachtung des Weltengangs als Verarmungsgeschichte.7 Wiederum ganz im Sinne des auch für Winckelmann so prominenten Ideals griechischer Freiheit sieht Knight diesen Niedergang vor allem durch das Aufkommen anti-republikanischer Kräfte initiiert. Man mag, wie Andrew Ballantyne es getan hat, dafür durchaus zeitgenössische politische Tendenzen verantwortlich machen, war doch im Jahre des Erscheinens der hier zitierten Specimens of Antient Sculpture, 1809, eine napoleonische Invasion Britanniens sehr wohl noch im Rah8 men des Möglichen. Den historischen Scheitelpunkt setzt Knight überraschend früh an, nämlich mit 9 dem Siegeszug der Makedonen unter Alexander dem Großen. Unter seinen Nachfolgern, den Diadochen, verrohten Gesellschaft und Kunst dann zunehmend; Grie-
5
Knight 1809, S. LI.
6
Winckelmann 1996, S. 4.
7
Vgl. Dörrie 1976.
8
Die „tides of blood that flow on Gallia’s shore“ erwähnt er auch in seinem Gedicht The Landscape, mit der für die Zeit „typischen frankophoben Haltung“, wie Dobai (19741977, Bd. III, S. 37) vermerkt.
9
Hier muss ich Ballantyne (2003, S. 130) doppelt widersprechen: Weder lässt Knight den Verfall mit der römischen Kaiserzeit einsetzen, noch wäre dies ein besonders origineller Gedanke; kein Geringerer als Winckelmann sah bekanntlich in der römischen Kunst ebenfalls Verfallserscheinungen.
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chenland wurde korrupt und dekadent. Schlussendlich begann der Aufstieg Roms, in Knights Augen ein barbarischer Militärstaat, den er in den düstersten Tönen beschreibt.10 Am Ende jedenfalls scheint, ganz im Sinne Winckelmanns, das Ende der Kunst zu stehen. So schließt die Inquiry mit der Feststellung, die kulturelle Geltung der Griechen hätte nie wieder ein Volk erreicht. Dem heutigen Menschen bleiben nur „wertvolle Wracks und Fragmente“ dieser Kultur, als Zeugnis davon, wozu Menschen fähig sein können. Sie zu sammeln und zu bewahren ist die Aufgabe der Heutigen, um sich vor Augen zu halten, dass eine solche Größe, „die sich nur ein einziges Mal ereignete, sich nie wieder ereignen mag“.11 Doch gerade in der Schilderung des Niedergangs wird deutlich, dass – und hier liegt die Pointe der Theorie Knights – auch der Verfall aus einem Nachahmungsprozess heraus zu erklären ist. Wenn etwa einer der offenkundig barbarischen Könige der Makedonen einen besonders prestigeträchtigen Auftrag vergab, dann bestand die Aufgabe des Künstlers darin eine möglichst genaue Kopie, mit geringfügigen Veränderungen vielleicht, von einem der großen Werke der vorangegangenen Epochen zu fertigen.12 Das gleiche Bild bietet sich im römischen Kaiserreich, wo, in Ermangelung jeder eigenständig produktiven kulturellen Kraft, die Nachahmung der Tradition zum zentralen Produktionsprinzip wurde. Das mochte noch in durchaus respektablen Werken enden – der von Knight in diese Zeit datierte Belvederetorso sei etwa eine solche Kopie nach einem Bronzeoriginal des Lysipp13 – ein Aufstieg der Kunst könne aber auf diese Weise nicht mehr entstehen.14 „Gestorben“ ist die Kunst damit aber nicht. Letztlich reißt, trotz eines offensichtlichen Verfalls des Verständnisses wie der Form, die Überlieferungskette nie ganz ab. Das Schlusswort der Specimens ist daher folgerichtig: „Das mystische Sys-
10 Hiermit setzte die „größte Revolution ein, die bis dahin die zivilisierte Welt ereilte“. „Alle gelehrten und zivilisierten Nationen dieser Erde fielen unter die harte Herrschaft einer Militärrepublik, woraus folgte, dass sie der Barbarei und tiefen Dunkelheit verfielen.“ Die Zitate: Knight 1809, S. XLVI, LI, LIII. 11 „[P]recious wrecks and fragments […] which, as they have never occured but once, may never occur again!“ (Knight 1835, S. 80) 12 „[T]he most dignified employment that he [the artist] could expect, was to copy, with slight variations perhaps, the great works of preceeding periods.“ (Knight 1809, S. LIf.) 13 Knight 1809, S. XLVII. 14 „[T]hat kind of employment, which calls forth inventive genius, and which by joining the efforts of the hand to those of the mind, produces works of taste and feeling, as well as of technical skill and dexterity, seems to have ceased with the Greek republicks and Macedonian kings.“ (Knight 1809, S. LXXXVI)
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tem, obwohl niedergeworfen und korrumpiert, war nicht ausgelöscht.“ Eine positive Umdeutung des Verfalls ist damit keineswegs behauptet. Kein edler Trieb tradierte hier die schönen alten Bilder, im Gegenteil: „Geiz und Aberglaube“ sind die Motivationen, die die Menschen zum Festhalten an den symbolischen Darstellungen der alten Zeit bewegten.16 Gerade in der Verfallszeit, also jenseits der „schöpferischen“ Produktion des Menschen, beweist sich also die auf den angeborenen Nachahmungstrieb zurückzuführende Persistenz der Formen. Genau nämlicher Effekt wurde bereits bei Christie dargelegt. Auch hier sind es die frommen Töpfer, die nichts mehr vom Inhalt der Mysterienspiele verstehen, sie aber dennoch, aus Gründen der Tradition und religiöser Ehrfurcht, kopieren und damit tradieren. Und auch d’Hancarville beschrieb in diesem Sinne die Bildgeschichte als wesentlich durch den Aberglauben bzw. durch die diesen erst befeuernde schädliche Imagination der Menschen befördert. Angesichts dieser beständigen Betonung des „survivals“ von Bildformen in Zeiten des Verfalls, für das genau jene stumpfen Kopisten, die zugleich Ursache des Verfalls sind, verantwortlich sind, muss man zu dem Schluss kommen, dass gerade der Verfall der Kunst konstitutiv für das Narrativ des Nachlebens ist. Anders als bei der gängigen Konnotation des Begriffs „décadence“, der etwa in der Encyclopédie in einem Lemma mit „ruine“ (denn diese ist notwendige Folge des ersten) verbunden ist17, wird bei unseren Dilettanti die Konnexbildung von Nieder- und Untergang nicht als zwingend gegeben angesehen. Genau das unterscheidet die Vorstellung von Verfall bei einem Autor wie Knight von der Winckelmanns. Statt einen Untergang anzunehmen glaubt Knight immer noch an einen tradierten Rest, eine Spur, wie d’Hancarville es genannt hat – und mag sie noch so rudimentär sein. Dass im 19. Jahrhundert der englische Begriff „survival“ ins Deutsche als „Überlebsel“ übertragen wurde, gibt vielleicht das deutlichste Zeugnis dafür ab, wie sehr dieses historische Narrativ eine Geschichte des Niedergangs voraussetzt. In der Tat scheinen historiographische Motive, die eine Geschichte des „Nachlebens“ gewisser Symbole, Typen oder Formen postulieren, besonders bei jenen Forschern verbreitet zu sein, die sich mit den „Verfallszeiten“, das heißt für die Kunst-
15 „[T]he mystic system, though degraded and corrupted, was not yet extinct.“ (Knight 1809, S. LXXXI) 16 DISC, S. 24. 17 D’Alembert schreibt: „DECADENCE, RUINE, (Syn. Gramm.) Ces deux mots different en ce que le premier prépare le second, qui en est ordinairement l’effet. Exemple. La décadence de l’empire romain depuis Théodose, annonçoit sa ruine totale. On dit aussi des Arts qu’ils tombent en décadence, & d’une maison qu’elle tombe en ruine.“ (Art. Decadence, in: Encyclopédie)
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geschichte vor allem mit der Spätantike und dem Mittelalter, beschäftigten. Dabei war der Erfolg von Edward Gibbons Decline and Fall of the Roman Empire auch für die Erforschung der mittelalterlichen Kunst jenseits regionalhistorischer Studien eine wichtige Initialzündung, obwohl, oder gerade weil der britische Historiker, wie schon der Titel andeutet, sicher kein „Nachleben“ der Antike behauptet, sondern deren endgültigen Fall.19 Allein aber seine Hinwendung zur „Verfallszeit“ als untersuchungswürdigem Gegenstand motivierte zahlreiche andere Autoren, sich diesem Thema zuzuwenden, so etwa den Autor des bekanntesten Werks zur mittelalterlichen Kunstgeschichte, Séroux d’Agincourt.20 Diese Autoren, die über die (nicht mehr ganz so schönen) Künste der Verfallszeit arbeiteten, konzipierten auffällig oft Erzählungen, die – bezogen auf ihren Gegenstand – den „Fall“, den Gibbon beschrieb, gerade nicht sehen. Bei d’Agincourt finden sich jedenfalls immer wieder Argumentationsmuster, die aus den Erzählungen des „survivals“ bereits bekannt sind. So propagiert auch er die These von der Nachahmung als anthropologischem Trieb: Aus diesem „ésprit d’imitation“ begründet Séroux etwa die weltweite Verbreitung der Form des Spitzbogens.21 Auch die christliche Kultpraxis unterirdische Grabanlagen anzulegen und auszumalen, also die Übernahme einer heidnisch-antiken Sitte, führt Séroux auf das anthropologisch konstante Nachahmungsbedürfnis zurück.22
18 Zur Hinwendung der Kunstgeschichte zu diesem neuen Forschungsfeld: Mondini 2004. 19 Insoweit ist es wohl zutreffend zu sagen, dass Gibbons Werk „mehr der Zusammenfassung und Propagierung als einer Neufassung des zyklischen Dekadenzbegriffs“ gewidmet ist (Klein 2001, S. 5). Gerade in den Kapiteln, die sich der Wende zum Christentum widmen, wird deutlich, wie auffällig Gibbon Themenfelder vermeidet, die mögliche Kontinuitäten – etwa zwischen Kaiser- und Papsttum – erwägbar erscheinen lassen; dazu: Porter 1984, S. 146. Insofern stimme ich auch nicht der These von Bruce Redford (2008, S. 123) zu, dass Gibbons Decline and Fall als das rhetorische Modell zu verstehen ist, das Knights Discourse zu Grunde liegt. 20 Zu seinem Verhältnis zu Gibbons Werk: Haskell 1990; Mondini 2005, S. 55ff. Zu den erwähnten lokalhistorischen Forschern vgl. etwa Bickendorf 1998. 21 Vgl. Mondini 2005, Kap. 4.2.2.2.7: „Der Nachahmungsgedanke als anthropologischer Kunsttrieb.“ 22 Zu den „catacombes étrangères à la religion chrétienne“ schreibt er: „[O]n y verra que lorsque les Romains, inspirés par le génie du christianisme, appliquèrent les souterrains de Rome au service de la religion, ils suivirent en cela des exemples pratiqués auparavent, et que souvent ils se conformèrent aux usages qu’avaient suivis leurs pères euxmêmes, sous l’empire du paganisme [...] toutes ces particularités attestent que les dispositions adoptées par les chrétiens dans les catacombes, sont une imitation d'usages plus anciens. (Séroux d’Agincourt 1823, Bd. I, S. 23 u. 25)
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Dieses Prinzip scheint so fundamental, dass ihm gleich der erste Satz des monumentalen, sechsbändigen Stichwerks gewidmet ist: „Das Verlangen, Gegenstände die uns ins Auge stechen, zu imitieren, ist ein Empfinden, das dem Menschen geradezu angeboren ist.“23 Dieser Imitationstrieb bietet für Séroux nun, so die kluge Schlussfolgerung Daniela Mondinis, „an sich keine Garantie für künstlerischen Fortschritt; immerhin bewahrt [er] aber das Vorbild der Antike bzw. der Natur vor dem Verfall“.24 Explizt anerkannt wird diese Wertschätzung des Mittelalters als Bewahrerin der Antike, sehr zum Schrecken des Autors, in den Eindrücken, die der englische Geistliche und Bibliothekar Conyers Middleton in seinem berühmten Letter from Rome, den auch Hamilton in seinem Brief aus Isernia zitierte, beschreibt. Ganz von der Antike beseelt und fest entschlossen, ihr in der ewigen Stadt von Angesichts zu Angesicht zu begegnen, reiste er nach Rom – und musste dort feststellen, dass der eigentlich verhasste papistische Zauber seinen Erwartungen an das Erlebnis der Antike am nächsten kommt. Eben weil sich in ihm Spuren der alten Zeiten erhalten haben, fühlt sich der Anglikaner und Antikenfreund angesichts des eigentlich verdammten katholischen Aberglaubens am heimischsten.25 Das Beispiel Middletons zeigt also, dass man die verfallene, nachantike Zivilisation gerade als erfahrbaren Rest der Antike schätzen konnte. Deutlich wird das angesichts eines Autors wie dem Séroux-Schüler Paillot de Montabert. Dessen Dissertation sur les peintures du moyen-âge ist übrigens „die erste französische Kunstpublikation, die im Titel den Terminus „moyen âge“ verwendete“.26 Dass das Mittelalter in Paillots Geschichtsbild nur ein Übergangszeitalter ist, das ihn historisch lediglich als Brücke zwischen Antike und Renaissance interessiert, ist zunächst evident. Previtali hat diese Erzählung einen „gradus ad Raphaellum“ genannt und damit ein nicht gerade besonders progressives Mittelalterverständnis Montaberts ver-
23 „Le desir d’imiter les objets qui frappent notre vue, est un sentiment pour ainsi dire inné dans l’homme“; des weiteren bezeichnet er „Nachahmung“ als „disposition naturelle“ und „sentiment primitif“ (Séroux d’Agincourt 1823, Bd. I, S. 1). 24 Mondini 2005, S. 232. 25 Middleton schreibt, er kam nach Rom „to visit the genuin remains, and venerable reliques of Pagan Rome; the authentic monuments of antiquity“, und gerade nicht die christlichen Zeugnisse: „It was no part of my design, to spend my time abroad, in attending to the rediculous fictions of this kind.“ Doch „nothing, I found, concurred so much with my original intention of conversing with the anciens; or so much helped my imagination, to fancy myself wandering about in old Heathen Rome, as to observe and attend to their religious worship“ (Middleton 1742, S. 127-131). 26 Mondini 2005, S. 313; vgl. Voss 1972, S. 91.
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bunden.27 Aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet ist Paillots Position damit in der Tat konservativer als die Séroux d’Agincourts – „so konservativ, dass sie in Bezug auf die Rezeption des Mittelalters in eine positive Wertschätzung kippt“.28 Die Malerei des Mittelalters bewahrt für Paillot einen Rest der antiken Kunstpraxis. Sie gilt ihm daher als „Erhalterin der antiken Regeln der Malkunst“.29 Das Mittelalter ist somit eine Zeit der Dekadenz, nicht aber des Todes: kein Bruch mit der Antike, sondern deren Fortsetzung, ja geradezu ihr Bewahrer.30 Paillot geht sogar über diesen Zyklus hinaus und bestimmt die Normen und Regeln, die über das Mittelalter hinweg fortlebten, als immerwährenden Formenschatz der Menschheit, der offenbar bereits vor der Sintflut existierte und auch diese Katastrophe überdauerte.31 Auch hier wird also bis auf die Familie Noahs und weiter zurück eine monogenetische Einheit menschlicher Kunst und Kultur postuliert, die allen Verwerfungen der Historie zum Trotz als konstantes „survival“ verstanden wird.32
§2 G ESCHICHTE
ALS ‚ TABLEAU ‘
(I)
„Verfall“ als historische Diagnose, gepaart mit der These einer kulturellen Kontinuität, auch über die Perioden dieses Niedergangs hinweg, ist weder eine Erfindung der um 1800 aufblühenden Mittelalterforschung, noch ihrer antiquarischen Vorgänger. Vielmehr scheint dieses Modell ein lange praktiziertes, spezifisch christliches Geschichtsbild zu implizieren. Zahlreiche Autoren suchten, wiederum ausgehend von monogenetischen, durch die Bibel belegten Ereignissen wie der Schöpfung
27 Previtali 1964, S. 191. 28 Mondini 2005, S. 314; Agincourt distanzierte sich daher von ihm, vgl. ebd. S. 350. 29 „Je conclus de toutes ces différentes observations que les peintures du moyen âge sont les conservatrices des précieuses doctrines de l’art de l’antiquité.“ (Paillot de Montabert 2002, S. 69) 30 Dies betont auch George Levitine, der schreibt, Paillot betrachte „primitive art as a hallowed repository, almost a reliquary of uncorrupted candor, simplicity and greatness“ (1975, S.17f.). 31 „[S]i notre imagination, excitée par ces présomptueuses prétentions, se porte un instant vers les temps antérieurs, et ressaisit les époques lointaines des premiers âges du monde; si elle cherche à recueillir les débris des connaissances humaines qui échappèrent à cette grande catastrophe, connue sous le nom du déluge, elle retrouve encore au-delà des dates traditionelles de plus anciens propagateurs de l’industrie.“ (Paillot de Montabert 2002, S. 12) 32 Damit stellt sich übrigens auch Paillot in Opposition zum klimatheoretischen Denken Winckelmanns. Dazu: Wrigley 2009.
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oder der Sintflut, sämtliche Völker der Erde als Abkömmlinge des ursprünglich einheitlichen Menschengeschlechts auszuweisen. Insbesondere die Methode des Kulturvergleichs diente dazu, das Gemeinsame zwischen verschiedenen Völkern zu erkennen und auf diesem Wege den Kern dessen, was sich auf die gemeinsame historische Wurzel des Menschengeschlechts zurückführen lässt, heraus zu filtern. Angesprochen ist damit ein Vorgehen, das im bisherigen Verlauf dieser Arbeit schon mehrfach en passant angesprochen wurde. James Christie etwa gewann seine Erkenntnisse durch eine intensive Komparatistik griechischer und chinesischer Symbole und der eben zitierte Conyers Middleton verglich das Papsttum mit dem römischen Kaisertum. Obwohl Christie einen geographischen Vergleich zwischen zwei Nationen anstellt, Middleton dagegen (wie das auch David Hume jedem Geschichtsinteressierten geraten hatte) zwei diachrone Stufen einer Kultur vergleicht, ist ihr Impetus doch offensichtlich: Sie beschreiben Parallelen, aus denen eine gemeinsame Wurzel abgeleitet werden kann, wodurch die These von der Uniformität des menschlichen Wesens also quasi empirisch zu belegen wäre. Der bekannteste und wirkmächtigste Text dieser Gattung war Joseph-Francois Lafitaus Moeurs des sauvages Ameriquains, comparées aux moeurs des premiers temps (1724).33 Der Titel des Werkes beschreibt bereits sein zentrales Anliegen: Der Verfasser suchte nach Analogien zwischen den Sitten der amerikanischen „Wilden“ und des antiken Europas. Zentrale These seiner Forschung ist, dass in ersteren „Fußstapfen des entfernten Altertums anzutreffen“ sind. Die Nähe zu der diffusionistischen Kulturgeographie d’Hancarvilles – man denke an seine Thesen zu den Arbotriten in Mecklenburg, die als Nachkommen der Vandalen Reste der griechischen Kultur bewahrten – oder Knights, der ein Urvolk im Osten annahm, ist hier evident. Anders als die Mehrzahl der Autoren, die über die Sitten der Indianer schrieben, konnte sich Lafitau (ca. 1681-1746) dabei auf eine Kenntnis der amerikanischen Welt aus erster Hand stützen. Als Missionar hatte der Jesuit fünf Jahre bei den Irokesen am St. Louis Strom in Kanada verbracht und fundierte Kenntnisse der dortigen Sprachen und Kulturen erworben. Zeugnis davon sind auch die zahlreichen Illustrationen seines Hauptwerkes, die Szenen indianischer Lebenswirklichkeit mit hohem Einfühlungsvermögen und ohne die oft zu findende europäische Sensationslust am „Wilden“ darstellen.34
33 Zu Lafitau zuletzt: Mulsow 2012. 34 Zur jesuitischen Mission im heutigen Kanada, der auch Lafitau angehörte: Bitterli (1986, Kapitel 4), der ebenfalls resümiert, dass diese Unternehmung, „was Methoden und Zielsetzung der beteiligten Europäer anbetraf, durch echte Verständnisbereitschaft, hohes
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Entschieden verwehrt sich Lafitau gegen jene Stimmen, die den Indianern Kultur, Gesellschaftsordnung und Religion absprechen wollen. Epitheta, die das Buch etwa als „Pionierwerk der modernen Ethnologie“35 bezeichnen, kann man daher wohl zustimmen, auch wenn sein prinzipieller methodischer Ansatz des Vergleiches natürlich beliebig weit, mindestens bis zu den Kirchenvätern zurückverfolgt werden kann.36 Weitere zentrale Vorläufer dieser diffusionistischen Idee, wie vor allem Gerhard Vossius, wären zu nennen.37 In jedem Fall handelt es sich bei Lafitaus Buch aber um eines der einflussreichsten Traktate des 18. Jahrhunderts, das für Disziplinen wie Religionswissenschaft und Ethnologie mit seinem Plädoyer für Autopsie und Kenntnis der Ortssprachen, gepaart mit Skepsis gegen die antiken Überlieferungen, auch methodisch wegweisend war. Trotz all dieser Fortschrittlichkeit verfolgte der jesuitische Missionar aber letztlich ein gut christliches Ziel: Sein „Religionseifer“38, so schreibt er, führte ihm die Feder während der Arbeit an seinem Werk, das sich der Apologie der Bibel als historischer Quelle widmete. Es ging Lafitau darum, die durch die biblische Schöpfungsgeschichte dokumentierte Einheit des Menschengeschlechts zu beweisen. Letztlich kümmert ihn also „weniger ein ethnologisches als ein theologisches Problem“.39 Anders als etwa Fontenelle, der in seiner im selben Jahr erschienenen Schrift über den Ursprung der Fabeln die Ähnlichkeiten zwischen Antike und „Wilden“ als Merkmale jeweils primitiver Völker beschrieb40, betrachtet Lafitau im Rahmen eines diffusionistischen Weltbildes alle Völker der Erde als Nachkommen der Stammeltern der Genesis, die somit Ausgangspunkt aller Geschichte sind. Glaubenssätze und Sitten dieser frühesten Zeit finden sich daher, „gleichsam als eine Art einer algemeinen Erbschaft“, in Resten überall auf der Welt.41 Die Völker,
Verantwortungsbewusstsein und beispiellose materielle Desinteressiertheit gekennzeichnet war“ (S. 122). 35 Nippel 1990, S. 53. 36 „Der Vergleich ist das seit der patristischen Plagiatsthese eingeübte und im Synkretismus der Renaissance perfektionierte Verfahren, die verschiedensten Überlieferungen einander anzunähern.“ (Graevenitz 1987, S. 62) 37 Zu Vossius einführend: AK Heidelberg 2012, Kat. Nr. I.10, S. 147f. Umfassend zu seinem Geschichtsverständnis: Wickenden 1993. Die einschlägige Biographie bleibt Rademaker 1981. 38 Lafitau 1987, S. 3. Dass er auch den Märtyrertod im Lande der Barbaren zu sterben bereit war, und dieses ihm zudem etwas höchst Reizvolles schien, darf man dann aber wohl als etwas zu pathetische Rhetorik verstehen. 39 Krist 1995, S. 22. 40 Fontenelle 1989, S. 238. 41 Lafitau 1987, S. 8.
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sowohl der Antike als auch in Amerika betrachtet er daher eben nicht als „ursprünglich“, sondern im Gegenteil (und hier zeigt sich die erste Parallele zu unseren englischen Antiquaren), als Repräsentanten einer kulturgeschichtlichen Verfallsstufe, in der die Botschaft der göttlichen Offenbarung vergessen wurde, aber gleichwohl Überbleibsel der ursprünglichen Wahrheit erkennbar bleiben. Brauchtum und Religion der Antike wie auch Amerikas erweisen sich also, ausgehend von der Annahme einer von allen Menschen erfahrenen biblischen Offenbarung, als überall fundamental gleich. Es „findet sich in dieser Religion des ersten Heidentums eine so grosse Aenlichkeit mit verschiedenen Glaubenspuncten, die uns die Religion lehret, und welche eine Offenbarung voraussetzen [...] dass es scheinet, als ob beinahe alles Wesentliche aus einerley Vorrat hergeholet worden. Niemand kan diese Aenlichkeit und Uebereinstimmung leugnen.“42 Mit diesen Thesen stand Lafitau freilich nicht allein auf weiter Flur. Sehr ähnliche Formulierungen über Art und Herkunft des indianischen Glaubens finden sich etwa bereits im wohl erfolgreichsten englischsprachigen Buch des 17. Jahrhunderts, Alexander Ross’ 1653 erschienenem Pansebeia: Or, A View of All Religions in the World. Auch Ross postuliert, „daß kein Volck je so grausam gewesen, daß sie eine Gottheit geleugnet und alle Religion verworffen hetten“ und dass „Religion eine Eigenschafft ist, die dem Menschen nicht weniger wesentlich ist, und wodurch er von dem Vieh und Thieren underscheiden wirdt, als die Vernunfft selber“.43 Grundlage und Ausgangsprämisse dieser Beschreibung der Gottesdienste der gesamten Welt ist natürlich wiederum, „daß die Menschen, […] im anfang einerley Sprache und Religion hatten“.44 Auch die amerikanischen Indianer haben, dieser Argumentation folgend, wie dies auch Lafitau beschreibt, eine Religion. Und ebenso wie der Franzose gut siebzig Jahre später postuliert auch Ross die Fortdauer gewisser Reste der ursprünglichen, geoffenbarten Kulte in den Sitten der Wilden: „Die Americaner erkennen einen höchsten Gott, eine Drey-Einigkeit, die Unsterblichkeit der Seelen, und haben einige Tradition von Noahs Sündfluth.“ Die Kenntnis dieser Sintflutserzählungen, und umgekehrt die Tatsache, dass sie vom Wirken Christi „noch gar nichts“ wussten, führen Ross zum Schluss, dass es „demnach der warheit viel ähnlicher [ist], daß ihre Tradition auff die Fluth Noae gegründet seye; dan gleich wie
42 Ebd., S. 5. 43 Die These von der Religionslosigkeit der Indianer war eine weit verbreitete These, wodurch die amerikanischen Ureinwohner in der Hierarchie der Völker auf eine noch niedrigere Stufe als die „nur“ irrgläubigen Heiden gestellt wurden. Eine Aufzählung zahlreicher Autoren, von Kolumbus bis zu Vespucci, die diese Auffassung vertraten, gibt Wuthnow 2011, Anm. 7, S. 317. 44 Ross 1665, unpag. Vorrede.
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Noahs Nachkömlinge die ganze Welt mit Völckern erfüllet, also breiteten sie auch die gedächtnus dieser Fluth überall auß, wo sie sich nieder schlugen“.45 Prominenter als bei Ross werden bei Lafitau jedoch Bilder als historische Quellen diskutiert. Anhand ihrer vermag Lafitau ganz augenscheinlich die Ähnlichkeiten gewisser Vorstellungen nachweisen. In Bildern ist die gemeinsame Wurzel der antiken und amerikanischen Religionen also noch anschaulich erkennbar, auch wenn den jeweiligen Völkern diese ursprünglichen Sinnschichten nicht mehr bekannt sind. Der französische Jesuit stellt die These auf, dass gerade in diesem Medium das beschriebene „Nachleben“ einzelner Symbole festgestellt werden kann. Letztlich lassen sich so „alle symbolischen und hieroglyphischen Bilder auf die Gottheit und Grundwahrheiten unserer Religion“ rückführen.46 Abb. 69 (links): Frontispiz zu Joseph Francois Lafitau, Moeurs des Sauvages Amériquaines..., Bd. 1, 1724. Abb. 70 (rechts): Götzenbilder, in: Joseph Francois Lafitau, Moeurs des Sauvages Amériquaines..., Bd. 1, 1724, Taf. 4.
Ein solches „Nachleben“ präsentiert sich dem Leser bereits im Frontispiz (Abb. 69): Während der Gelehrte (so informiert uns die beigegebene Erklärung) zwischen verteilten Objekten griechischer und amerikanischer Provenienz, die ihm zwei Genien
45 Ross 1665, S. 211. 46 Lafitau 1987, S. 8.
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zuführen, an seinem Schreibtisch sitzt und die materielle Überlieferung beider Zivilisationen vergleicht, erfährt er eine Vision, in der er der himmlischen Heerscharen 47 und der Stammeltern ansichtig wird. Nicht nur dem Gelehrten, auch dem Leser wird hier, angesichts der formalen Ähnlichkeit des himmlischen Geschehens mit den modernen Objekten, ihre gemeinsame Abkunft von einem göttlichen Ursprung vor Augen geführt. Im Laufe des Textes finden sich noch mehrere ausgeführte Vergleiche solcher Übereinstimmungen von Objekten bzw. Symbolen. So zieht Lafitau in Betracht, dass die Amerikaner „dasjenige, was ihnen von Begriffen des Geheimnisses der heiligen Dreifaltigkeit übrig geblieben, in den dreien Seiten der Pyramiden abbilden wollen“48, wie er dann die Dreizahl auch in den bereits erwähnten anthropomorphen indianischen oder japanischen Götzenbildern finden will (Abb. 70 unten). Kunstgeschichte ist in diesem Falle natürlich immer und ausschließlich Idolatriegeschichte. Insoweit verwundert es auch nicht, dass für Lafitau künstlerische Perfektionierung und religiöse Entartung parallele Prozesse sind. Seine Thesen zur Entwicklung der Bilder gleichen dabei durchaus dem, was d’Hancarville skizzierte. Diese Gemeinsamkeiten sind Symptom einer strukturell verwandten Geschichtsauffassung. So sei laut Lafitau der „Anfang der Abgötterey […] durch über einander gesetzte cubik, pyramidal und conische Steine, durch hölzerne oder steinerne Denkseulen, und durch mit Kränzen und anderm Schmuck gezierte Bäume vorgestellt.“ Auch hier dürften wieder antike Quellen wie Pausanias die Leitidee vorgegeben haben. Die weitere Entwicklung der Kunst hätte dann zu „symbolischen und pantheistischen Bildern“ geführt, womit er offenbar auch anthropomorphe und vor allem allegorische Bildwerke meint.49 Lafitau präsentiert diese Entwicklung zudem bildlich in einer Illustration, die mehrere der beschriebenen Götterbilder zeigt (Abb. 70 oben). Gezeigt sind, von links nach rechts, ein gemauerter Pyramidenstumpf, ein hochrechteckiger Steinquader, drei Pyramiden, eine mit quadratischer, eine mit runder Grundfläche und eine, die mit einem Haupt bekrönt ist, zwei Varianten von Hermen sowie ein geschmückter Baum. Zweifellos ist die Illustration dabei nicht als Sequenz zu verstehen, die aufeinander folgende, aufsteigende Entwicklungsstufen darstellen will. Das Diagramm subsumiert all diese, im Text in einer historischen Abfolge vorgestellten Bildformen, unter dem Schlagwort „commencement de l'idolatrie“. Deutlich wird dies ins-
47 Zu diesem Frontispiz: Fries (1992), die allerdings wenig mehr als eine Identifikation der abgebildeten Gegenstände leistet. Zur Bildtradition: Kintzinger 1995, S. 194; für ähnliche Bildlösungen siehe dort etwa Abb. 177. 48 Lafitau 1987, S. 72. 49 Ebd., unpag. Erklärung der Kupferstiche.
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besondere daran, dass die geschmückten Bäume, nach Lafitaus Systematik der frühesten Stufe der Bildgeschichte zugehörig, an letzter Stelle in dieser Reihe der Götzenbilder platziert sind. Zudem zeigt er hier für die genannten Stufen (unförmig/anthropomorph/pantheistisch) jeweils mehrere Beispiele der nämlichen Phänomene, die z.B. auf der untersten Stufe einmal pyramidal, einmal konisch ausfallen können. Dass hier kein evolutionärer Verlauf präsentiert wird, wie man es in Kenntnis von späteren, vor allem darwinistischen Geschichtsdiagrammen erwarten würde (vgl. Abb. 89), ist umgekehrt charakteristisch dafür, dass die damit implizierte, gleichsam naturhistorische Vorstellung von Geschichte als „Entwicklung“ Lafitau denkbar fern ist. Vielmehr scheint das Bild der Kunstgeschichte, das Lafitau dem Betrachter präsentiert, ein tableauartiges Bild der Übersicht, das dem Betrachter den ahistorischen Zugriff auf alle darin niedergelegten Aspekte und Fakten ermöglicht, 50 ohne sie zu systematisieren oder in historische Prozesse zu gliedern. Die von Lafitau (wie auch Ross) durchgängig zitierte Referenzstelle für die These, dass die amerikanischen Indianer als Nachkommen der Söhne Noahs zu verstehen sind, ist der spanische Jesuit José Acosta. Der Erfolg seines 1590 veröffentlichten Werkes Historia natural y moral de las Indias war beträchtlich, seine Lehren wur51 den in den kommenden zwei Jahrhunderten „something of an orthodoxy“. Als den Weg, über den die Nachkommen Japhets (einer der Söhne Noahs) auf den amerikanischen Kontinent gelangten, bestimmte Acosta eine ursprünglich zwischen Asien und Alaska existente Landbrücke. Bei allen offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen Lafitau, Ross und ihrem großen Vorbild Acosta sind doch die Unterschiede zwischen den beiden erstgenannten Autoren zu letzterem entscheidend: Die Indianer werden in Lafitaus Blick auf Amerika nicht nur in einem geographischen Rahmen situiert, sondern durch den Vergleich mit den alten Griechen zudem in einem zeitlichen Feld verortet. Die Indianer sind, als Kollektivsingular, monolithisch einer kulturellen Stufe, nämlich jener „primitiven“ Zivilisationsform zugeordnet, auf der eben auch die europäische Antike anzusiedeln ist. Diese Verknüpfung von geographischer und historischer Dimen52 sion bemerkten bereits die zeitgenössischen Leser der Moeurs. Die gesamte ame-
50 Zur Bedeutung der Denkfigur „tableau“ (allerdings aus Sicht der Literaturwissenschaft): Graczyk 2004. 51 Pagden 1982, S. 198. 52 „[I]l vit d’abord que les distances des lieux étant toutes analogiques aux austances des tems.“ (Journal de Trevoux 1724, S. 1569)
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rikanische Kultur wird damit als „frozen in time“ betrachtet, wie Anthony Pagden treffend formuliert hat.53 Acosta dagegen unterteilt die außereuropäischen „Barbaren“, wie er sie nennt, in drei Entwicklungsstufen, wobei er die Rangfolge zwischen Ostasiaten und Mittelamerikanern im Zuge seiner weiteren Beschäftigung mit diesen Kulturen später umkehrte.54 Seine Theorie erinnert damit stark an das, was im 18. Jahrhundert als die „Stufentheorie“ Georg Forsters an Popularität gewinnen wird, auch wenn Acostas Stufen natürlich fortschreitenden zivilisatorischen Verfall und nicht Progression markieren. Seine Vorstellung von kultureller Entwicklung ist zudem gekoppelt an eine ebenfalls verzeitlichte Natur (siehe allein der Titel seines Hauptwerkes: Historia natural y moral de las Indias).55 Die Stufentheorie ging davon aus, dass sich die kulturgeschichtliche Entwicklung der Menschheit bzw. der einzelnen Völker in einer festen, regelmäßigen Abfolge vollzieht. Auch Georg Forster entwirft seine vier Stufen dabei analog zum Lebenszyklus des einzelnen menschlichen Individuums. Damit ist eine universelle Entwicklungslogik der Menschheitsgeschichte beschrieben, die es erlaubte vor allem außereuropäische Völker, aber auch die ländliche Bevölkerung Kontinentaleuropas auf der Stufe eines „Noch-Nicht“, also auf einem geringeren Entwicklungsniveau, zu verorten. Die Krönung dieser Stufenfolge nimmt selbstverständlich das aufgeklärte Europa ein.56 An genau diese Theorien Forsters dürfte auch William Hamilton gedacht haben, als er Joseph Banks (der auf Forsters Südsee-Expedition dabei war) brieflich mitteilte, dass, wenn er Isernia und seine Bewohner sehen könnte, er sich sicher stark an Tahiti erinnert fühlen würde.57 Dieser Vergleich ist sicher nicht nur adressatenspezifisch motiviert gewesen. Auch Hamiltons Informant, der italienische Straßenbauingenieur, vergleicht den Phalluskult von Isernia mit den Sitten der Südsee.58 Zwar schreibt auch Hamilton, dass diese Kulte Reste einer im übrigen Gebiet des ehemaligen römischen Reiches lange überwundenen Entwicklungsstufe sind: Der Phalluskult existiert noch fort. Auch im Falle einer „zivilisierten Hauptstadt“
53 Pagden 1982, S. 199. 54 Vgl. Gemegah 1999, S. 33. 55 Im Falle Forsters gilt: „Diese Geographisierung des Geschichtsbewusstseins im ausgehenden 18. Jahrhundert verbindet sich mit einer ihr vorausgehenden Methodeninnovation: der Verklammerung von Natur- und Menschheitsgeschichte.“ (Garber 2001, S. 101). Hier wird Kultur mit den Methoden der „histoire naturelle“ à la Buffon betrachtet, erfährt also wie diese eine „Verzeitlichung“. 56 Dazu: Gisi 2007, S. 351ff. 57 Den Brief zitiert Carabelli 1996, S. 29. 58 DISC, S. 16.
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wie Neapel ist es nur verwunderlich, wie kurz diese Kultpraktiken erst außer Gebrauch sind. Dass sie irgendwann verschwinden, scheint in Hamiltons Vorstellung von kultureller Entwicklung aber nur folgerichtig: „It is very natural then to suppose, that the Amulets representing the Phallus alone, so visibly indecent, may have 59 been long out of use in this civilized capital.“ Genau hier wird deutlich, wie stark sich Hamiltons Zeitkonzeption von der des „survival“, repräsentiert etwa durch Knight, unterscheidet. Die „survivals“ von Isernia sind für ihn nicht integriert in eine Geschichte beständiger Diffusion oder Emanation, sondern zeugen vom genau gegenläufigen Prozess, nämlich einer Fortschrittsgeschichte. Die Bewohner von Isernia sind in Hamiltons Augen tatsächlich noch wie die Römer, in dem Sinne, dass sie auf deren – niederen – Kulturstufe stehen. Der nächste Entwicklungsschritt der Geschichte wird dem Phalluskult und den damit verbundenen kultischen Praktiken aber ein Ende setzen. Die Teleologie der Geschichte erlaubt Hamilton so bereits das Gegenwärtige in der melancholischen Perspektive des bald Vergangenen zu sehen. Bezeichnend ist dann auch, was laut Hamilton der Ausübung dieses Kultes ein Ende setzt: Es sei eine neue Straße gewesen, die durch die Abruzzen führte und so einen größeren Verkehr in dieser abgelegenen Region hervorrief. Ignorierten die papistischen Priester bis dahin die unheiligen und primitiven Praktiken ihrer unzivilisierten Gläubigen, so setzten sie nun, angesichts der öffentlichen Aufmerksamkeit, 60 die der Priapuskult von Isernia auf sich zog , einige Anstrengungen daran selbigen zu unterbinden. Letztlich war es in Hamiltons Darstellung also die Ingenieurskunst, die Technik, die sich dem alten Aberglauben in den Weg stellte. Der Engländer verfolgt hier ein klassisches Narrativ des Fortschritts, in dem auch primitive, unter despotischen Herrschaften lebende Kulturen früher oder später dem Licht der Aufklärung teilhaftig werden. Umgekehrt ist damit gesagt, dass das „Nachleben“ von Symbolen, zumal in vorliegendem Fall, als Symptom eines Verharrens auf einer niedrigen Kulturstufe, eines noch nicht eingetretenen Fortschritts zur nächsten Entwicklungsstufe anzusehen ist.
59 Ebd., S. 6. 60 Dass auch die Publikation von Hamiltons Brief an selbiger nicht unwesentlich beteiligt war, sondern vielmehr ein zentraler Auslöser dafür war, dass die katholische Autorität ein gesteigertes Interesse daran hatte, die beschriebenen Formen des Volksglaubens in seine Schranken zu weisen, wurde bereits in Kapitel IV dargelegt.
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Abb. 71: Pietro Fabris, „Gemmen des Vesuvs“, in: William Hamilton, Campi Phlegraei, Bd. 2, 1776, Taf. LIV.
Wie konträr das von Hamilton vertretene Geschichtsmodell zu einer Erzählung des „Nachlebens“ ist, kann zuletzt in aller Kürze mit Blick auf seine Haltung zur Naturgeschichte gezeigt werden. Bezeichnend ist allein, dass der Botschafter Vulkanologe, Geologe und Vasensammler in einem war. Diese Wissensbereiche verbinden sich in seinem Schaffen. In den Illustrationen zu seinen Berichten über die vulkanischen Aktivitäten des Vesuv, den Campi Phlegraei, findet sich unter den opulenten Aquarellen von Pietro Fabris auch eine Darstellung, die die „Gemmen des Vulkan“ darstellt: Neben Gesteinsbrocken sind hier sogenannte „Gemmen“ platziert, von denen man nicht genau sagen kann, ob sie natürlichen oder künstlichen Ursprungs sind (Abb. 71).61 Umgekehrt erscheinen auch die Kunstwerke wie naturhistorische Zeugnisse. Eine andere Tafel des Buches zeigt die Ausgrabung des Tempels der Isis in Pompeji, der nahtlos mit dem Gestein verschmilzt und aus ihm hervorzugehen scheint.62 Die Kunst scheint hier denselben Prozessen zu unterliegen, wie die sich (gerade unter vulkanischem Einwirken) beständig verändernden Gestalten der Natur. Im Kontrast zu diesen, auf eine Stufenfolge des Fortschritts orientierten Autoren, zeichnet sich klar ab, welche Spezifik dem Geschichtsbegriff Lafitaus und der hier
61 Giancarlo Carabelli fühlt sich angesichts ihrer Muster an polynesische Tätowierungen erinnert (1996, S. 46). Zum Einfluss der Campi Phlegraei auf die (v.a. deutsche) Landschaftsmalerei: Cheetham 1984. 62 Ähnliche Darstellungen finden sich etwa bei Piranesi; dazu: Philipp 2002.
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verhandelten Antiquare zu eigen ist: Ihr Blick auf die Vergangenheit resultiert in einer geradezu ahistorischen Zeitvorstellung. Durchaus zutreffend hat Markus Krist hier von einem „Arrangier- und Montagebewusstsein“ gesprochen.63 Der Vergleich zweier weit voneinander getrennter Kulturen eliminiert die historische Differenz zwischen antikem Griechenland und modernen Indianern. Die Erzählform des Verfalls, als dessen Resultat beide Kulturen betrachtet werden, ist weit davon entfernt, historische Zeit zu sein.64 Die Fakten, die im Vergleich die Einheit der Geschichte beschreiben, stützen sich dabei gegenseitig, jedoch nicht in dem Sinne, dass sie, mit Condillac zu sprechen, ein geschlossenes System bilden.65 Vielmehr ist dieses Geschichtsbild Resultat einer Konjektur, bei der Späteres dazu dient Früheres zu erklären – und nicht etwa nur umgekehrt. Wortwörtlich verstanden sind die Theorien unserer Autoren daher (im Sinne Condillacs) unsystematisch. Zu Freuds Gegensinn der Urworte scheint es hier nur noch ein kleiner Schritt. „Unsere Begriffe entstehen durch Vergleichung“, schrieb Freud dort, wobei daraus gefolgert wird, dass in jedem Wort auch die Erinnerung an sein Gegenteil enthalten ist.66 Im Vergleich berühren sich die Dinge, anachronistische Schlüsse können gezogen werden und schließlich Geschichte in eine Unordnung geraten, der Ursache und Folge nichts mehr bedeuten.67 Um diese „Verwicklung“ der Zeit im Narrativ des Nachlebens wird es im nächsten Kapitel gehen.
63 Krist 1995, S. 27. Diesem grundlegenden Artikel folge ich auch in meinen weiteren Ausführungen. 64 Ebd., S. 31. 65 „Un systême n’est autre chose que la disposition des différentes parties d’un art ou d’une science dans un ordre où elles se soutiennent toutes mutuellement, et où les dernieres s’expliquent par les premières.“ (Condillac 1798, S. 1) 66 Freud 1910, hier: S. 181. 67 Zu diesem Effekt des (Bild-)Vergleichs siehe v.a. die Schriften George Didi-Hubermans.
IX. Verwicklungen
§1 G ESCHICHTE
ALS ‚ TABLEAU ‘
(II)
Festzuhalten ist, dass die von den hier verhandelten Antiquaren vertretene Erzählform des „Nachlebens“, entgegen ihres vordergründigen Entwicklungsganges entlang eines kontinuierlichen Verfalls, Geschichte eher in einem synoptischen Modus darstellt. Das Resultat davon ist, wie am Beispiel der anthropologischen Geschichtsschreibung Lafitaus gezeigt wurde, eine Visualisierung von Kunstgeschichte, die dezidiert kein Diagramm einer Entwicklungsgeschichte, sondern in sich ahistorisch strukturiert ist. Dieses Geschichtsbild bewegt sich jenseits des Darstellungsmodells historischer Zeit, d.h. der entwicklungsgeschichtlichen Reihenbildung. Vielmehr geht ein Autor wie Lafitau dazu über eine Synopse, ein tableau zu präsentieren, das in etwa dem entspricht, was Wittgenstein als „übersichtliche Darstellung“, im Gegensatz zur „historischen Erklärung“, beschrieben hat. Erstere Darstellungsform, so Wittgenstein, bezeichnet „die Art, wie wir die Dinge sehen“. Wittgenstein schreibt, dies resultiere aus den „Tatsachen“, die dem Betrachter vorliegen, das heißt also, den Objekten.1 Nirgendwo kann dies wahrer sein, als angesichts des Frontispizes der Moeurs, wo der Schreibtischgelehrte tatsächlich alle Dinge vor sich liegen hat. Seine Art zu sehen kennt gerade keine historische Distanz. Diese Zugänglichkeit der chronologisch nicht geordneten Dinge erlaubt ihm, seine Schlüsse aus beiden Richtungen zu ziehen. In diesem Kapitel geht es um diesen, vielleicht gerade für England typischen Umgang mit Kunstgeschichte, der die Bilder unter einer ahistorischen und synoptischen Perspektive betrachtet.2 Diese Vergegenwärtigung scheint die Möglichkeitsbedingung eines Narrativs des Nachlebens.
1
Wittgenstein 1989, S. 36f. Es ist vielleicht bezeichnend, dass der hier zitierte Text Wittgensteins sich Frazers Golden Bough, also einem zentralen Vertreter der „doctrine of survivals“ widmet. Vgl. dazu Pichler 2004, S. 175ff.
2
Vgl. Vine 2010.
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Zeit artikuliert sich hier nicht primär als Zeitfolge, sie nimmt vielmehr, wie bereits im letzten Kapitel an anderen Beispielen und aus anderer Perspektive gezeigt, eine Statik des menschlichen Bewusstsein und seiner Hervorbringungen an; eine Entwicklung kennt dieser Komparatismus nicht.3 Die Basis, auf der Lafitau, darin James Christie am ähnlichsten, dieses Modell entwickeln kann, ist natürlich die Autorität der Heiligen Schrift, die ihm in seinen hypothetischen Kulturvergleichen eine „Zusammenhangssicherheit“, wie Niklas Luhmann das genannt hat, gibt.4 Um dieses tableauartige Arrangement von Objekten, sowohl in ideellen Zusammenstellungen wie realen Sammlungsräumen, geht es in diesem Kapitel. Die neue „Übersichtlichkeit“ des Zuhandenseins, ob in einer tatsächlichen Sammlung oder einer imaginären Darstellung, wird sich dabei wiederum als fundamental „unsystematisch“ erweisen. In einem zweiten Schritt geht es zudem ein weiteres Mal um die Konsequenzen dieses Arrangements für das darin implizierte Geschichtsbild. Dieses erfährt, so die These, eine „Verwicklung“ im Wortsinne, bei dem der Lauf der Kunstgeschichte sich zu einem unentwirrbar scheinenden Knäuel, ohne Anfang und Ende, verschlingt. Der Begriff „Verwicklung“ ist die deutsche Übersetzung des englischen Wortes „intricacy“. Auch „Kompliziertheit“ wäre eine adäquate Übersetzung.5 Seinen prominentesten Auftritt als kunsttheoretischer Begriff hat diese Vokabel in Hogarths Analysis of Beauty. Ihm ist das fünfte Kapitel des wirkmächtigen Traktats gewidmet. Auf ästhetischer Ebene beschreibt „intricacy“ die von Hogarth postulierte Vorliebe des Menschen für komplizierte Formen, die sich vor allem durch den Gebrauch der geschwungenen Schlangenlinie artikuliert.6 Das Konzept der „Verwicklung“ ist, so Werner Busch, radikal, „denn es bedeutet nichts weniger als die Recht7 fertigung der Unordnung als Unordnung“. Die Beherrschung dieser Unordnung ist dabei, ich wiederhole mich, der große, souveräne Akt des Antiquars: „Übersicht-
3
Treffend zieht Bruce Trigger daraus den Schluss: „Lafitau’s writing marked a reaction against the beginning of an intellectual movement that during the eighteenth century was to win widespread support for an evolutionary view of human development.“ (1986, S. 23)
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Zitiert nach Krist 1995, S. 27.
5
Ein zeitgenössisches Wörterbuch übersetzt „intricacy“ als eine „verwickelte, verworrene, schwierige Beschaffenheit […] eine verwickelte, verworrene Sache, eine Schwierigkeit, eine Verwicklung von Handlungen oder Begriffen“ (Ebers 1793, S. 884).
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„The eye hath this sort of enjoyment in winding walks, and sepentine rivers, and all sorts of objects, whose forms, as we shall see hereafter, are composed principally of what, I call, the waving and serpentine lines.“ (Hogarth 1753, S. 25) Die „intricacy“ zum Ausgangspunkt einer anregenden Deutung der Zeitkonzepte Hogarths macht Bedenk 2004.
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Busch 2004, S. 120.
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lichkeit“ erreicht diese Anordnungsform wiederum nur für denjenigen, der diese Ordnung geschaffen hat. Abb. 72: Joseph Gandy, Comparative Architecture. An Emblematic Sketch, 1837. Aquarell, 44,5 x 61,7 cm. John Soanes Museum London.
Die Objekte auf dem Tisch des Gelehrten führen zu einem synoptischen Zuhandensein von Geschichte. Diese Form von „Übersichtlichkeit“ wurde in England vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts zahlreich visualisiert. Das vielleicht eindrücklichste tableau der Kunstgeschichte schuf der Architekt Joseph Gandy, ein enger Mitarbeiter John Soanes. Bereits der Titel seines Werkes, Comparative Architecture (1837, Abb. 72) kann andeuten, dass hier ein ähnliches Programm vertreten wird, wie es in der Tradition des Kulturvergleichs nach Lafitau von Autoren wie Christie, 8 Knight und d’Hancarville propagiert wurde. Die Szene, die sich hier vor dem Betrachter entfaltet, ist ein verwirrendes Traumbild, überbordend mit komplexen, hieroglyphisch anmutenden Symbolen, die sich längs der vertikalen Mittelachse des Blattes aufreihen. Am unteren Rand dieses Panoramas steht eine Stufenyramide, auf der anscheinend alle Völker der Erde versammelt sein sollen, und auf der vor allem Vertreter sämtlicher Religionen repräsentiert sind. Leuchtender Kern dieses Gebildes ist das christliche Kruzifix, wobei der Zusammenhang dieses Symbols mit dem auf der Spitze der Pyramide sitzenden Priester im Lotussitz nicht klar ist. Einige Treppen dieses Tempels scheinen auch nach innen, also auf das christlich besetzte Zentrum zuzulaufen, womit es so scheint, als finde ein kreislaufartiger Austausch zwischen der Inneren und Äußeren Ebene dieser Pyramide statt.
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Zu diesem Werk: Lukacher 1994 u. 2006, Kap. VI.
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Eine derartige Wechselwirkung deutet sich auch an den beiden großen Symbolen an, die Gandy links und rechts über der erwähnten Pyramide platziert. Eines dieser Bilder ist bereits aus zwei anderen hier diskutierten Schriften, nämlich den Werken von Knight und d’Hancarville über sexuelle Symbolik bekannt: Es ist der Stier, der ein Ei zerstößt, und von unseren Autoren als Symbol für die aktive Kraft des Schöpfergottes verstanden wurde (Abb. 22). Auf der anderen Seite scheint sich Gandy ein korrespondierendes Symbol für die oppositionelle passive (weibliche) Zeugungskraft ausgedacht zu haben: Eine Frau gibt sich einem Löwen hin. Eine andere zentrale Entwicklungslinie der Kulturgeschichte, die im Laufe dieser Arbeit bereits diskutiert wurde, versucht Gandy mit dem großen Zodiak anzudeuten. Gerahmt von ägyptisierendem Dekor füllt er die obere Bildhälfte. Es geht hier um die Entstehung des Alphabets aus den Zeichen des Himmels.9 Wie Gandy an anderer Stelle schrieb, führte das Abmalen dieser Himmelsbilder zunächst zur Entstehung der Hieroglyphen (daher wohl auch der ägyptisierte Dekor), und schließlich zu den Alphabetzeichen.10 Im Zentrum des Bildes und damit vielleicht am Wichtigsten (wenn auch, abgesehen von der Mittelstellung nicht weiter akzentuiert) ist ein anderes Bild: Es ist die Arche, präsentiert in einer ungewöhnlichen halbmondartigen Form, die auf dem Gipfel eines Berges erscheint.11 Über die Sintflut als zentrales Moment für die Entstehung der Kunstgeschichte schrieb Gandy ausführlich in einem seiner wenigen veröffentlichten Texte, den er als Philosophy of Architecture betitelte. Hier plädierte er emphatisch dafür, die Entstehung der Kunst aller Zeiten und aller Völker als einen monogenetischen Vorgang zu beschreiben.12 Die Sintflut, als gemeinsamer
9
Astronomie bzw. Astrolatrie gehört laut Gandy überhaupt zu den zentralen Triebkräften der Kunstentstehung: „many plans in early architecture had an astronomical origin“ (1821, S. 375).
10 „[...] the emblems of the zodiac, hieroglyphics, and heraldry, which led to the abbreviated marks of sound and writing“ (zit. nach Lukacher 1994, S. 299). Auch den Ursprung der ägyptischen Baukunst verstand er offensichtlich als aus „hieroglyphischem“ Geist erwachsen: „[T]he Egyptians made their walls scriptural and sculptural, pictorial and pyramidal.“ (Gandy 1821, S. 290) Zu Gandys Meinungen über die Schriftgeschichte siehe auch Lukacher 1994, S. 290ff. 11 Gandy dürfte diese Form aus dem bereits erwähnten Werk von Faber (1816) übernommen haben. 12 „The architecture of the ancient Egyptians, Hindostanese, and Persians, seems to have had but one origin.“ Gandy betrachtet das Bauen als eine anthropologische Konstante: „Let any one watch the manner in which boys pile up oyster-shells into grottoes, so called, in London streets, and they will perceive the natural and simple methods of the
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„Leidschatz“ der Menschen, nimmt dabei eine Schlüsselposition ein. Vor allem die Arche, als Urbild der Architektur, ist für seine Argumentation entscheidend. Gefertigt mit „scientific capentry“ hat sie für Gandy als Überlieferungsträger von vorsintflutlichem Wissen zu gelten. Nach der Flut jedenfalls wurde die Arche unmittelbar 13 ein Kultobjekt und das geheiligte Vorbild aller sakralen Architektur. Abb. 73: Charles Robert Cockerell, The Professors Dream, 1848. 1122 x 1711 mm. Royal Academy of Art Collection.
Alles in allem scheint das Blatt also eine Synopse verschiedener Ursprungsszenarien und der aus ihnen resultierenden Hauptlinien der Kulturentstehung darzustellen. Die einzelnen Elemente sind zwar untereinander diagrammatisch strukturiert, etwa durch die Stufenfolge unten im Bild oder die Polarisierung von aktivem und 14 passivem Prinzip. Wie diese Elemente sich zueinander verhalten und erst recht was sie mit Architekturgeschichte zu tun haben sollen, ist aber aus der Logik des
first recorded builders“, wobei hier nicht ganz klar wird, welchen Trieb oder welches Bedürfnis (Schmuck, Schutz etc.) er dahinter wirksam sieht (1821, S. 290f.). 13 „The ark built by Noah was held together by scientific carpentry […] it became a sacred model and a traditionary image, impressed on the minds of the successive descendants of Noah. […] The ark subsequently became an object of adoration. […] The ark of Noah was an observatory, a temple, and a palace, resembling a cavern on a pyramidal mountain.“ „Temples and oracles took the ark as a model.“ (Gandy 1821, S. 372f. u. 292) 14 So auch Brian Lukacher: „Architectural history is not traversed spatially, but diagrammatically“ (2006, S. 173).
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Bildes nicht ableitbar. So wirkt das Blatt mehr wie ein Ornament, wie eine nicht hierarchisierte Vision der ursprünglichen Symbolik. Abb. 74 (links): James Stephanoff, An Assamblage of Works..., 1845. Aquarell, 74,3 x 62,2 cm. British Museum. Abb. 75 (rechts): Joseph Gandy, Comparative Characteristics of 13 Selected Styles of Architecture. Aquarell, 103,7 x 67,8 cm. John Soanes Museum, London.
Die Ikonographie bietet unzählige Skurrilitäten, die hier nicht bis ins Letzte aufgeschlüsselt werden können. Gandys Programm scheint auf einer hermetischen Privatmythologie zu beruhen, die sich erst durch Lektüre seines nachgelassenen, mehrere tausend Seiten umfassenden Manuskripts über The Art, Philosophy, and Science of Architecture erschließen dürfte. Festgehalten sei nur noch einmal, dass hier tatsächlich wie in einer Übersichtsdarstellung kondensiert die Mythographien der in dieser Arbeit behandelten Autoren zusammengestellt werden: D’Hancarvilles und Knights „aktives Prinzip“, verkörpert durch den das Ei zerstoßenden Stier, Christies Arche und die Hieroglyphen – sie alle sind hier vereint.
15 Einige Hinweise aus den unpublizierten Manuskripten Gandys präsentiert wiederum Lukacher: „Gandy experimented with the idea that the entire chronology of universal history could be indicated by three geometric signs placed on axis: the circle or oval [im Bild: der Zodiak] signifying the creation, the crescent [in Form der Arche] for the deluge, and the cross [im Zentrum der Pyramide] for the advent of Christianity.“ (2006, S. 180)
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Populärer als solche komplexen, mythographischen Programme wie sie Gandy hier präsentierte war aber ein anderer Bildtypus, der eine ähnliche Form von „Übersichtlichkeit“ produzierte. Man könnte diese Bilder vielleicht mit dem etwas provisorischen Namen „composite pictures“ beschreiben.16 Es sind in der Tat Komposite, d.h. Arrangements von Kunstwerken verschiedenster Epochen und Stile, die auf eine synoptische Tafel montiert wurden. Auch Gandy partizipierte in den früheren Versionen seiner Serie Comparative Architecture an dieser Bildform. Auf dem Blatt Comparative Characteristics of Thirteen Selected Styles of Architecture (Abb. 75) stellt er etwa, wie der Titel schon sagt, dreizehn Architekturstile aus allen Kontinenten und allen Zeiten zusammen. Genau genommen zeichnete er drei Hochhäuser, bei denen jedes Stockwerk in einem anderen Stil gehalten ist. Verschwindend klein am Fuße dieser Komposition findet sich wiederum, als alles verbindende Wurzel, ein Kultobjekt bestehend aus einem halbmondförmigen Stein. Es ist eindeutig ein Sinnbild für die Geburt der ersten Kultstätten aus der Form der Arche Noahs.17 Auffällig ist, dass die große Popularität dieses Bildtyps nach dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts einsetzt, also genau zu jenem Zeitpunkt, wo auch in England sich das chronologisch geordnete, öffentliche Museum durchzusetzen beginnt.18 Die Entzerrung der Kunstgeschichte in die „period rooms“ der Museen wurde hier quasi rückgängig gemacht. Der vor allem als Aquarellist hervorgetretene James Stephanoff reichte 1845 bei der Old Watercolour Society ein Blatt ein, das er An assemblage of Works of Art in Sculpture and Painting, from the earliest period to the time of Phydias genannt hatte (Abb. 74). Es zeigt eine großartige und zugleich höchst unübersichtliche Schichtung praktisch der gesamten Kunstgeschichte auf einem Haufen. Von indischer und
16 Diesen Begriff verwendet David Watkin für Thomas Hopes gezeichnete Reisealben, die Zusammenstellungen von „Byzantine churches, Islamic mosques, Turkish palaces, Egyptian temples, as well as views of Mycenaean and Greek sites“ sind: „Thus the whole forms a composite picture of civilisations succeeding each other with none given undue emphasis or prominence.“ (1968, S. 65) – eine Beschreibung, die sich exakt auf die im Folgenden zu besprechenden Bilder anwenden lässt. 17 Gandy selbst beschrieb dieses Sinnbild wie folgt: „At the base of the centre is an emblem of the Deluge, a rocking stone embowered in wood between tumuli mounds.“ (Zitiert nach Lukacher 1994, S. 298) 18 Zur Entstehung des öffentlichen Museums in England siehe etwa Whitehead 2005. Zur Persistenz der alten Ordnungssysteme: Ernst 1992.
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mittelamerikanischer Architektur scheint die Geschichte der antiken Kunst sich hier in Höhen zu winden, bis sie an ihrem Gipfel, dem Parthenontempel, angelangt ist.19 Stephanoffs eigene Beschreibung des Bildes ließe vermuten, dass es sich hierbei um eine ordentliche, diagrammatische Abfolge der verschiedenen Stile, nach Maßgabe einer Tabelle handeln würde, doch dem ist nicht so. Zahlreiche Abweichungen von einer historischen Ordnung lassen sich beobachten. So platziert er achemenidische Reliefs unter (also historisch potentiell vor) die ägyptische Skulptur und das lykische Nereiden-Monument aus dem British Museum vor die Elgin Marbles.20 Vielmehr als eine chronologische Ordnung scheinen hier visuelle Analogien zwischen geographisch und historisch teils sehr unterschiedlich zu verortenden Stilen gesucht zu sein. Die ästhetische Ordnung der Ähnlichkeit triumphiert über die historische Reihung.21 Hinsichtlich Anspruch und Größe noch wesentlich weiter ausholend war dagegen das Schaubild des Architekten Charles Robert Cockerell. Auf seiner sogenannten „drop scene“ versammelte er die dreiundsechzig in seinen Augen bedeutendsten Bauwerke der Weltgeschichte.22 Während Stephanoff seine Beispiele übereinander schichtete und somit eine gewisse Hierarchisierung schuf, staffelte Cockerell alle Gebäude auf gleicher Höhe hintereinander. Die leicht transparenten, sich überlagernden Architekturen verschwimmen mehr ineinander, als dass sie einen synoptischen Vergleich der Stile aller Zeiten und Orte erlauben würden. Vor allem aber erlaubt diese Überblendung der gesamten Kunstgeschichte nicht die Identifikation einer sequentiellen Abfolge der Stile. Den Eindruck, den diese
19 Stephanoffs eigene Beschreibung des Werkes, das dem Ausstellungskatalog beigegeben war, lautet wie folgt: „An assemblage of Works of Art in Sculpture and Painting, from the earliest period to the time of Phydias, 1845. At the base of the picture are specimens of Hindu and Javanese sculpture, and on either side are the colossal figures and basreliefs from Copan and Palenque; those above them are from Persepolis and Babylon, followed by the Egyptian, Etruscan, and early Greek remains, and surmounted by the pediment from Aegina; bas-reliefs and fragments from Xanthus and Phygalia; the Theseus, Ceres and Latona, the Fates, and other figures from the Parthenon; and terminating in a portion of the equestrian bas-relief of the Panathenaic procession to the temple of Minerva.“ (Zit. nach Jenkins 1992, S. 61). 20 Vgl. Jenkins 1985, S. 180. 21 So auch Ian Jenkins: „Stephanoff’s own explanation implies a chronolgical progression, but the reality is a system based upon analogous styles.“ Er widerspricht damit seiner eigenen These, die in dem Werk ein „eloquent image of a nineteenth-century idea of progress“ sieht (1992, S. 61). 22 Siehe dazu: Watkin 1974, S. 107; Bredekamp et al. 2009 (dort Abbildung).
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Kunstgeschichte auf den Betrachter macht, ähnelt dem eines mehrfach belichteten Fotos – jedenfalls solange der Schöpfer des Blattes nicht zur Explikation schreitet. Wahrhaft ins Gigantische steigerte sich dieses Konzept dann in Cockerells Gemälde The Professor’s Dream (1848, Abb. 73). Nicht nur ist auf diesem 1,2 x 1,7 Meter großen Blatt die zentrale Auslegungsdistanz – der Professor – in den Titel aufgenommen worden. Vor allem hat sich die Anzahl der dargestellten Gebäude vervielfacht. Eine historische Ordnung ist nicht mehr auszumachen, auch die kulturelle Zusammengehörigkeit der nebeneinander stehenden Gebäude scheint kein Kriterium gewesen zu sein. So finden sich ganz vorne, klein, die Pylonen des Tempels von Luxor, während die ebenfalls ägyptischen Pyramiden die ganze Szene hinterfangen.
§2 L IZENZ
UND
S OUVERÄNITÄT
DES
S AMMLERS
Die englische Kunstgeschichte machte damit weniger die (stil-)geschichtliche Ordnung, als vielmehr die Unordnung der Kunst zum Gegenstand. Man kann dies als „Retotalisierung [der Kunst] zu neuen optischen Einheiten nach ornamentalen Gesichtspunkten“ bezeichnen. Diese Totalität, so Wolfgang Ernst, „deutet eher auf 23 einen intertextuellen denn linearen Geschichtsbegriff“ hin. Wer derjenige ist, der Ordnung in diese visuellen Montagen der gesamten Kunstgeschichte bringen kann, wurde bereits angedeutet. Cockerells Arbeiten waren bezeichnenderweise Illustrationen zu seinen Vorlesungen. Wie vor allem bei James Christie und seinem Vorbild Adam Walker beobachtet, ist es ein solcher ‚Master of Ceremony‘, dem die Enthüllung der Geheimnisse obliegt. Den geradezu prototypischen Gebieter über derartige Stoffmassen machte auch Stephanoff in seinen Aquarellen mehrfach zum Zentrum der Komposition. Es ist ein Virtuoso (Abb. 76 u. 77), der im Raum seiner Sammlung ideal die beschriebene „Zuhandenheit“ der Geschichte leben kann. Alleine sitzt er mit einem aufgeschlagenen Tafelband auf dem Schoß an einem Schreibtisch inmitten einer der prächtigen Hallen des British Museums, in dem die Elgin Marbles ausgestellt waren. Mit kleineren Stücken, wie etwa Vasen scheint der Virtuoso zu hantieren, wie überhaupt alles beständig in Bewegung ist. Der Kenner nimmt die Objekte in die Hand, arrangiert sie auf dem Tisch, vergleicht und ordnet neu zu. Es ist dieselbe Szene, wie wir sie bereits in Lafitaus Frontispiz (Abb.
23 Ernst 1992, S. 152. Diese Deutung, der sich meine Ausführungen anschließen, steht damit durchaus im Widerspruch zu den Thesen Alain Schnapps, der in d’Hancarvilles Schriften eine geradezu strukturalistische Logik, die sich eben aus der Beschäftigung mit der Sammlung Hamiltons ergeben hätte, sieht (1992).
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69) gesehen haben. Auch dort saß der Gelehrte an seinem Tisch und führte Gegenstände amerikanischer und antiker Provenienz im direkten Vergleich zusammen und konstruierte so sein ahistorisches Bild der Geschichte. Die Stimmung hier ist jedenfalls eine ganz andere als etwa bei dem andächtigen Altertümler, den Charles Renoux (Abb. 3) gemalt hatte. Stephanoffs Virtuoso gleicht in Haltung und Attitüde viel eher Richard Payne Knight, dessen Porträt von Thomas Lawrence (Abb. 50) hier eindeutig aufgegriffen wird – man vergleiche die Imitation der Körperhaltung 24 Knights – Rechte auf dem Buch, den Blick inspiriert gen Himmel gerichtet. Abb. 76 u. 77: James Stephanoff, The Virtuoso, 1833. Aquarell, 51 x 71 cm. British Museum (Gesamtansicht und Detail)
In genau dieser Situation am Schreibtisch, diesem Handlungsraum, der die Entstehungsbedingung zu ihren Schriften liefert, verorten sich nun auch die Protagonisten dieser Arbeit. Der deutschstämmige Künstler Johan Zoffany malte im Laufe der 1780er Jahre eine Szene, die im selben setting wie die eben genannten Gelehrtenbilder bei Lafitau und von Stephanoff angesiedelt ist. Sein Bild der Bibliothek des Sammlers Charles Townley vereint zentrale Protagonisten dieses Buches und ist eines der berühmtesten „conversation pieces“ des englischen 18. Jahrhunderts 25 (Abb. 78).
24 Diese Bezugnahme ist, angesichts des Schauplatzes der Szene, natürlich auch ein Seitenhieb auf den „arrogant connoiseur“, befindet sich Stephanoffs Virtuoso doch gerade unter jenen Elgin Marbles, denen Knight ihre herausragende kunsthistorische Stellung abgesprochen hat. 25 Die genauen Entstehungsumstände des Gemäldes sind weiterhin unklar. Es scheint ohne Auftrag entstanden zu sein. Denkbar ist, dass Zoffany als katholischer Maler sich mit dem Bild für den ebenfalls katholischen Townley in schwieriger wirtschaftlicher Lage einem bestimmten Auftraggeberkreis empfehlen wollte. Das Bild war 1790 in der Royal Academy ausgestellt. Zoffany gab es Townley 1798 als Geschenk. Zu Zoffanys ökonomischer Fortune: Joachimides 2008, Kap. IV.3, S. 215-236. Aus der umfangreichen Lite-
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Im Zentrum der Szene sitzt kein anderer als Pierre d’Hancarville. Mit der Rechten blättert er in einem Buch. Zu seinen Füßen liegen weitere Folianten, von denen einer auf einer Seite aufgeschlagen ist, die eine Vergleichsabbildung zu der daneben stehenden Statue eines liegenden Fauns zeigt. Den Blick richtet d’Hancarville auf einen weiteren Protagonisten, nämlich auf seinen Gönner und Auftraggeber Charles Townley, der rechts im Bild im Profil gezeigt ist. Offensichtlich diskutieren sie ihre Theorien über antike Kunst, wobei die Zentralität d’Hancarvilles als Hinweis auf die Wichtigkeit seiner Ideenwelt für die Zusammenstellung der Sammlung Townle26 ys zu lesen sein mag. Weiter hinten im Bild stehen zwei weitere Dilettanti, nämlich Charles Greville, der Neffe William Hamiltons, und Thomas Astle, der uns bereits als Schrifttheoretiker begegnet ist. Abb. 78: Johan Zoffany, Charles Townley in his Library, 1783-83 (überarb. 1792 u. 1798). Öl auf Leinwand, 123,5 x99,5 cm. Townley Hall Art Gallery Burnley.
Obwohl die Szene in einer Bibliothek, dem klassischen Ort für wissenschaftliche Debatten und das Studium der Klassiker, angesiedelt ist, stechen doch – mehr als das menschliche Bildpersonal – die steinernen Protagonisten der Szene ins Auge.
ratur zu diesem Gemälde nenne ich nur Vaughan 1996; Crossman 2005; Coltman 2006, Kap. 6; S. 165-193; Webster 2011, Kap. 20, S. 419-443; Jehle 2013. 26 So Viccy Coltman, die schreibt, seine prominente Position im Bild „celebrates the centrality of d’Hancarville’s mystical theories about ancient art in interpreting the artifacts in Townley’s collection“ (2006, S. 166).
246 | K UNST AM U RSPRUNG 27 Der Raum ist übervoll mit verschiedenen antiken Skulpturen. Die Forschung hat mehrfach bemerkt, dass die Antiken von Zoffany „imaginär konzentriert“ wurden und der Maler in mehreren Fällen die Größe der Originale modifizierte, so dass sie in den Bibliotheksraum passten, der nur im Falle der wenigsten gezeigten Skulpturen der tatsächliche Aufstellungsort gewesen war.28 Das Bild inszeniert damit wiederum den beschriebenen Effekt des „Zuhandenseins“ der Antike für den Antiquar am Schreibtisch, also genau jene Konstellation, wie sie uns bereits bei Lafitaus vergleichendem Gelehrten oder bei Stephanoffs Connaisseuren begegnete. Die Kunst passt sich dem Raum des Gelehrten an, nicht umgekehrt. Der Antiquar muss sich nicht zur Antike hinbewegen, sondern er ist umgekehrt vielmehr das Zentrum, das ihre Geschichte erst entwirft und nach eigenen Regeln arrangiert. Die Figuren sind nun in einem höchst lebendigen Rahmen angeordnet, der eine ähnlich ornamentale Wirkung entfaltet wie der Teppich, der der gesamten Szene zu Grunde liegt. Ronald Paulson befand sogar, dass die Statuen fast mehr interagieren 29 als die Menschen. Beginnend mit der Repoussoirfigur des Diskobolus, dessen dynamische Torsion in den Bildraum einführt, entfaltet sich zwischen den Antiken ein Reigen ineinandergreifender Bewegungen und Blickbeziehungen. Zoffany hat gründlich darauf geachtet, Überschneidungen der steinernen Körper zu vermeiden und fließende Übergänge zu schaffen. So scheint die Statue eines Jünglings ihren Fuß geradezu auf die Schulter des Diskobolus zu stützen. Eine dahinter stehende Venus scheint sich von der neben ihr platzierten Gruppe abzuwenden. Vielleicht flieht sie ebenfalls vor dem Satyr, der hier versucht, eine Nymphe in seine Fänge zu bekommen. Und die Statue einer Sphinx fügt sich in eine lebendige Reihe mit einer Büste Homers und dem (menschlichen) Profilbild Charles Townleys. Dies seien nur einige Beispiele für diese fast anekdotisch scheinende Verknüpfung der Antiken. Wie ein großes, lebendiges Ornament arrangieren sich die Antiken im Kreis um die Köpfe der Antiquare. Beinahe scheint die Szene einen Anklang an klassische Ikonographien der Inspiration und Phantasie zu machen. Man denke etwa an Cesare Ripas Personifikation der „Imaginatione“, der die Produkte ihrer Vorstellung, repräsentiert als kleine Figuren, um den Kopf tanzen. Durchaus vergleichbar bilden auch die Antiken der Sammlung Townleys einen Reigen um die Köpfe der im Zentrum des Bildes stehenden Antiquare. Die so inszenierte Zusammenhangsbildung zwischen den Figuren erinnert zudem durchaus an die tableauartigen Kompositionen von Gandy bis Stephanoff.
27 Für eine Identifikation sämtlicher Skulpturen: Cook 1977. 28 Ernst 1992, S. 173. Die auffälligste Größenkorrektur ist die stark verkleinerte VenusStatue im Hintergrund. 29 Paulson 1975, S. 152f.
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Auch hier ist keinesfalls eine diagrammatische Ordnung gesucht, die zum Beispiel historische Abfolgen visualisieren soll. Die Verbindung der Figuren folgt im wahrsten Sinne einer malerischen, keiner genealogischen Logik.30 Das ist durchaus überraschend, gerade angesichts der gewählten Gattung des „conversation pieces“, in dem es doch traditionell ganz zentral um die Visualisierung von (familiären) Genealogien ging.31 In Townleys tableau spielt dieser Aspekt keine Rolle. Im Gegenteil, man könnte überlegen, ob diese Gattungscharakteristik nicht sogar leicht ironisiert wird. Denn prominent in der Mitte des Bildes, auf dem Tisch auf den sich d’Hancarville stützt, ist eine besondere Statue zu sehen. Es ist eine Frauenbüste, die wechselnd als Isis oder Clytie identifiziert wurde und die von Townley, einem überzeugten Junggesellen, scherzhaft oft als seine Ehefrau betitelt wurde, ebenso wie seine Sammlung häufig als seine „Familie“ betrachtet wurde.32 Gerade diese „familiäre“ Verbindung, die sich im Rahmen der Bildtradition des „conversation pieces“ angeboten hätte, wird hier aber nicht aufgezeigt. Der Herr des Hauses am rechten Bildrand nimmt eine leicht distanzierte Position zum Geschehen um ihn herum ein. So erhält er einerseits eine durchaus souveräne, herausgehobene Stellung, ist andererseits aber auch weit weg von seiner „Ehefrau“. Stattdessen ist es ein anderer Mann, Charles Greville nämlich, der im Beisein des abgelenkten Townleys heimlich Hand an diese anlegt und die Statue vorsichtig an der Schulter zu streicheln scheint.33 Diese Spekulation sei erlaubt. Sie kommt vielleicht dem am nächsten, worüber die Dargestellten sich tatsächlich austauschten – man denke etwa zurück an das oben diskutierte Beispiel der „englischen eleusischen Mysterien“, die in Medmenham Abbey veranstaltet wurden. Das Beispiel der Clytie weist zudem darauf hin, wie abhängig die Interpretation der Kunst im Sammlungsraum von ihren Besitzern war. Die Skulpturen begegnen als lebendige Gegenwart, unterstehen aber zugleich der Verfügungsgewalt der Antiquare. Auch Zoffanys Szene in Townleys Bibliothek zeigt vielleicht ein solches Aushandeln von Bedeutungen nach Maßgabe der von d’Hancarville und Townley geteilten Überzeugung, dass diese Bildwerke als em-
30 Zum Konzept der Genealogie: Weigel 2006. 31 „Conversation Pieces“, so Marcia Pointon, „play a particular role in the construction of genealogical narratives. […] we are invited to construct narratives across time relating to those still figures“ (1993, S. 159). 32 Zu „Clytie“ (unter diesem Namen ist sie noch heute im British Museum ausgestellt): Walker 1992. Für zahlreiche Nachweise der „familiy affairs“ zwischen dem Sammler und seinem Kunstbesitz aus der Korrespondenz Townleys siehe Coltman 2006, S. 192. 33 So auch Ronald Paulson: Ihm erscheint „Townley stangely peripheral – rather like a preoccupied collector who leaves his flesh-and-blood wife to his friends“ (1975, S. 152).
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blematische Bedeutungsträger gelesen werden müssen.34 Ihnen steht die Kombination und Interpretation der Bedeutungen frei. Townley, der „dignified possessor of such treasures“35, ist letztlich der Herrscher, der wohl nicht zufällig mit dem Profil Homers, dem Originalgenie schlechthin, parallelisiert wird.36 Vielleicht ist es daher bezeichnend, dass die Forschung, obwohl sie es immer wieder postulierte, nicht einmal annähernd einen präzisen Zusammenhang zwischen der Anordnung der Skulpturen im Bild und den mythographischen Theorien 37 d’Hancarvilles herstellen konnte. Dem Außenstehenden muss die Vielfalt inmitten derer die souveränen Interpreten schalten und walten zwangsläufig undurchsichtig bleiben. Der Comte de Caylus beschrieb eine solche Situation sehr prägnant. Ihm scheine, so schreibt er, die Situation des Antiquars sehr vergleichbar mit der eines Reisenden zu sein. Kommt dieser in ein fremdes Land, so „sieht er, so zu sagen, die Objekte, ohne sie zu sehen. Er ist davon geblendet“. Eine Einordnung der gesehenen Dinge kann er angesichts dieser Überwältigung nicht mehr treffen. So ginge es auch dem Antiquar, dem „die Mangelhaftigkeit seines Auges oder die Unsicherheit seines Wissens nicht erlaubt, dass ihm etwas Festes erscheinen würde, und die Vielzahl der Objekte schockiert ihn“. Die Dichte der Sammlungen ist hier nicht als positives Faktum gedeutet, sondern als Ursache einer fundamentalen Verwirrung. Der Eindruck, der sich ihm bietet, ist „trop général“ und nicht mehr zu beherr38 schen.
34 In diese Richtung denkt Crossman 2005, S. 71. 35 Smith 1829, Bd. 1, S. 240. 36 Oliver Jehle schreibt – ohne es näher zu begründen – dass diese Büste „für die Erschließung inhaltlicher Bildbezüge und pikturaler Anspielungen kaum zu überschätzt ist [sic]“ (2013, §4). 37 In der Ordnung der Skulpturen einen Reflex der Theorien d’Hancarvilles behaupten z.B. Nicholls 2005, S. 245f.; Coltman 2006, S. 166; Webster 2011, S. 428. Am plausibelsten macht diesen Zusammenhang: Ernst 1992, S. 170f. 38 „La comparaison d’un Voyageur m’a paru convenir aux différentes remarques que l’on peut faire sur les Monumens. Un Voyageur, en arrivant dans un pays étranger, voit les objets, pour ainsi dire, sans les voir; il en est ébloui: bien éloigné de distinguer la différence des états, il est également frappé de tout; par conséquent ses idées sont long-tems imparfaites, ou plutôt très obscures. [… L’antiquaire] voyage constamment dans un pays fort éloigné; il voit sans voir, du moins l’imperfection de son coup d’oeuil, ou l’incertitude de son scavoir ne lui présentent rien de fixe, & la quantité des objets l’offusque. […] [L]a réunion & la confusion de plusieurs générations se rencontrent presque toujours devant ses yeux; l’impression qu’il en recoit est trop générale.“ (Caylus 1752-1767, Bd. 6, S. V-VII)
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Doch auch der Ruf nach skrupulöser Gelehrsamkeit und Klassifikation scheint Caylus nicht zu helfen, um gegen dieses Problem anzugehen. Denn es ist kein statisches und damit letztgültig kartographierbares Gebiet, mit dem man es hier zu tun hat. Die Antike scheint in seinen Augen vielmehr genauso lebendig wie die Bevölkerung eines tatsächlichen Landes es wäre. Die ferne Vergangenheit ist für den Betrachter „ein Land, wo unterdessen alles in Bewegung ist und sich vor seinen Augen 39 abspielt“. Das probateste Mittel, um dieser lebendigen Geschichte Herr zu werden und zu ihrer souveränen (dabei aber strikt subjektiven) Deutungsinstanz zu werden, schien weniger Detailarbeit als dichterische Aneignung zu sein. Eine Geschichte der Dinge und Artefakte, oder auch eine Geschichte aus Dingen, verlangt, wie Neil MacGregor geschrieben hat, dass man sich mit ihnen „so großzügig, so poetisch wie nur möglich befassen [muss], in der Hoffnung, es [das Artefakt] möge uns die Erkenntnisse vermitteln, die es in sich trägt“: „Denkt man mit Hilfe von Gegenständen über die Vergangenheit oder eine ferne Welt nach, so hat das immer etwas von einer po40 etischen Neuschöpfung.“ Genau dieser Hang zur dichterischen Aneignung der Antike zählt wohl zu den zentralen Charakteristika des englischen 18. Jahrhunderts. Ein Paradebeispiel für diese Tendenz dürfte eines der berühmtesten antiquarischen Handbücher des späte41 ren 18. Jahrhunderts sein, nämlich Joseph Spences Polymetis. In der Rolle seines Alter Egos Polymetis führt Spence, Professor an der Universität Oxford, seine Freunde Philander und Mysagetes im Laufe von zehn Büchern und einundzwanzig Dialogen durch seine außerordentlich umfangreiche Sammlung antiker Kunst. Doch weniger Belehrung als „entertainment“ scheint das vorherrschende Anliegen dieses Werkes gewesen zu sein, dessen Gespräche geprägt sind von einem „lively wit“ – 42 und nicht etwa von „erudition“ oder Ähnlichem.
39 Die Antike sei „un pays où cependant tout est en action, & se passe sous ses yeux.“ (Caylus 1752-1767, Bd. 6, S. VIII). 40 MacGregor 2010, S. 15 u. 17. 41 Das Buch war eines der „most influential“ Kunsttraktate seiner Zeit, und zudem „well, if not brillantly written“ (Feldman/Richardson 2000, S. 131f.). Zu Spence monographisch weiterhin nur: Wright 1950. Des Weiteren: Dobai 1974-1977, Bd. I, S. 151ff.; Boschung 2005. 42 So Thomas Gray 1807, Bd. II, S. 143. Unterhaltsam zu sein war auch explizit der Anspruch Spences (1747, S. IV). Das opulent ausgestattete Buch ist in der Tat eine helle Freude. Es wurde durch die üblichen Subskriptionen finanziert; der extrem gut vernetzte Spence konnte dafür praktisch den gesamten englischen Hochadel gewinnen, inklusive
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Der Text ist nicht zufällig in Dialogform gehalten; er nimmt damit die offene, subjektbezogene Perspektive an, die auch die Gattung des „conversation piece“ verkörpert. Spences ideale Sammlung befindet sich zudem am paradigmatischen Ort für kolloquiale Vergnügungen, in einem Garten nämlich, wo die Skulpturen in eigens dafür errichteten, antikisierenden Bauten nach Art der Follies des englischen Landschaftsgartens untergebracht sind.43 Warum Polymetis und seine Freunde überhaupt aufs Land gefahren sind, steht dabei außer Zweifel: „to relax themselves“.44 So viel Unterhaltung im ernsten Felde der Altertumskunde war nicht jedem geheuer, und gerade dem Kontinentaleuropäer scheint der Stil von Spences Buch oft fremd geblieben zu sein. Zwar schätzte man die philologische Kompetenz und den Materialreichtum des Texts, sah seine narrative Gestaltung aber sehr kritisch. Bezeichnend ist, was Joseph Burkhard in einer deutschen Übertragung aus dem Buch macht. Der Übersetzer selbst sagt: „Man würde sehr ungerecht gegen mich seyn, wenn man mir einerley Absicht mit Herrn Spence in seinem Polymethis zumuthen [!] wollte.“ Sein eigenes Anliegen sei dagegen „[w]eit entfernt, gleich ihm jeder Beschreibung der Dichter ein Augenmerk auf diese Statue, auf jenes Gemälde anzudichten [!]“.45 Nicht weniger als in das genaue Gegenteil wird das Buch also verkehrt. Dem Exodus des „wit“ fällt die gesamte Rahmenhandlung um den auch aus dem Titel getilgten Polymetis zum Opfer. Befreit vom vermeintlichen Ballast der Narration bleibt ein faktengesättigtes Buch zur antiken Ikonographie übrig. Diese darzustellen war, neben dem Unterhaltungsaspekt, nämlich das zweite zentrale Anliegen des Buches, das es unternahm, die Kunstwerke und was sie darstellen mit dem zu erklären, was zeitgleiche Dichter über dieselbe Materie geschrieben haben. Mit diesem Ansatz folgt Spence – ebenso wie mit der Dialogform – vor allem Joseph Addi-
des Prince of Wales und der Erzbischöfe Englands. Die Stiche stammen von der Hand des renommierten Illustrators Louis Pierre Boitard. 43 Umfassend zu Spences gartentheoretischen Positionen: Cook 1996, S. 73ff. Diese entwickelte Spence ausgerechnet in einem Brief an Richardson, wo er Rührung über gewisse Passagen in dessen „Clarissa“ ausspricht, also bezüglich eines Werkes, das einen Begriff von Geschichte verfolgt, der persönliche Erfahrung als höchste Maxime annimmt (vgl. Kap. III, §3). 44 Dies ist die Ausgangsszene des Buches: „Polymetis, who is as well known for his taste in the polite arts, as for his superior talents in affairs of state, took two or three of his friends with him the last summer to his villa near the town; to breathe fresh air, and relax themselves after the business of a long session.“ (Spence 1747, Bd. I, S. 1) 45 Spence trad. Burkard 1773, Bd. I, unpag. „Vorerinnerung“.
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son.46 Zu große Anstrengungen nimmt der Antiquar trotz allem nicht auf sich: „[S]tudy, or amusement, call it which you please.“47 Entsprechend haben die Gentlemen im Raum der idealen Sammlung explizit die Lizenz, über die eigentlich wissenschaftlich angemessene Interpretation hinauszugehen und sich in wilder, vergnüglicher Kombinatorik von Bildern und Texten zu ergehen. Die Kunst, noch dazu an einem locus amoenus wie dem Garten, ist der Wirklichkeit nur bedingt verpflichtet. Genau diese, die Wirklichkeit transzendierende Wirkung ist der Kunst nobelste Eigenschaft, wie Spence bereits in seinem Essay on Popes Odyssey deutlich machte.48 Vor allem aber darf die Kunst, offenbar auch deswegen, weil sie bereits fiktional ist, nicht nur ganz nach dem Sinne des Sammlers interpretiert, sondern auch modifiziert werden. Die Privatmythologie des Sammlers ist wichtiger als etwa die historische Ikonographie. Der Verstoß gegen letztere ist erlaubt. Wenn eine Statue besser in das eigene System passt, wenn sie etwas anderes darstellen würde als das, was sie erwiesenermaßen historisch bedeuten sollte, so wird sie kurzerhand umdeklariert. So schreibt Spence angesichts einer Statue: „[T]o say the truth, the artist meant it for a different goddess. What made me take this extraordinary licence, was the desire of compleating my set.“49 Der Wahrheitsanspruch, den der Sammler dabei an sich selbst stellen musste, dürfte nur schwer mit den herkömmlichen Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit in Einklang zu bringen sein. Die Lizenz zur spielerischen Kombination und dichterischen Erfindung, die der Antiquar sich zugestehen konnte, macht aus der Kunstgeschichte wieder Hypothesenbildung, betrieben von Originalgenies, denen eine intime Kenntnis der ihnen strenggenommen ganz zeitgenössischen Kunstwerke gestattet war. Die Geschichte der antiken Kunst ist also in diesen Sammlungsräumen keineswegs abgeschlossen und historisierbar. Die Bildwerke der Geschichte wurden weniger konserviert denn wiederbelebt, wobei ihnen ganz unproblematisch und bewusst aus zeitgenössischer Perspektive auch ein neuer historischer Platz zugewiesen wurde. Vor allem die allgemein übliche Praxis der Antikenergänzung, die hochberühmte
46 Addison 1726. Auf ihn verweist Spence explizit (1747, Bd. I, S. III). 47 Spence 1747, Bd. I, S. 45. Auch Christie beschrieb den Sinn seiner Arbeit als „rational entertainment“ (Christie 1806, S. 78). 48 „[W]e really see things more fully and with greater delight in the Poem, than we shou’d in the reality.“ (Spence 1726, S. 66) Zu Spences Kunstbetrachtung: Griener 2010, S. 4953. 49 Spence 1747, Bd. I, S. 144.
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und spezialisierte Bildhauer wie Bartolomeo Cavaceppi hervorgebracht hat, ist ein zentraler Beleg für diese Bereitschaft zum Eingriff in die Geschichte.50 In seiner berühmten Biographie des Bildhauers Joseph Nollekens berichtet so etwa J.T. Smith von Townleys Umgang mit einer antiken Statue: „Mr. Townley then desired [Nollekens] to send for his small Venus, in order to model a pair of arms to it. That gentleman also wished him to try them in various positions, such as holding a dove, the beak of which might touch her lips; entwining a wreath; or 51 looking at the eye of a serpent.“ Welche Ikonographie mit dieser Skulptur also verbunden werden sollte, war für Townley nicht von einer Perspektive historischer Richtigkeit aus zu bestimmen, sondern aus zeitgenössischen Erwägungen. Diese konnten, wie hier, vor allem ästhetischer Natur sein, folgten aber häufig, wie bei Spence deutlich wurde, auch den Ansprüchen des Sammlers an seine „Privatmythologie“, also an das ikonographische Programm seiner Sammlung.52 „[D]ie vom heutigen Standpunkt gestellte Frage, wie es mit der ‚Echtheit‘ der Antiken bestellt war, musste hierbei unerheblich sein.“53 Die Gründe für den Kauf einer Skulptur waren durchaus andere. So schrieb Charles Townley im Frühling 1788 an seinen römischen Antikenhändler Thomas Jenkins, dass er ein bestimmtes Bas-Relief kaufen möchte, weil es zu „der Erhellung der Prinzipien der antiken theologischen Mysterien“ dienlich sei. Offensichtlich interessierte er sich hier für ein Objekt, das zur Illustration der Theorien seines Haus-Mythographen d’Hancarville geeignet schien.54 Natürlich wollte niemand eine moderne Fälschung kaufen, doch war es selbstverständlich, dass eine Antike zumindest modern überformt war, und dies durchaus in entscheidendem Maße. Historische Akkuratesse war nicht der erste Maßstab, der hier angelegt wurde. So berichtete im Sommer 1775 Thomas Jenkins an seinen Auftraggeber Townley, wie er einer versehrten Statue verschiedene Köpfe, und damit auch verschiedene Identitäten anprobierte: „Last year I had a statue from Naples without a Head […]. I purchased a Head of Lysimachus from Cavaceppi thinking it might suit it, and had the joining made, but the head proved too large. A few weeks
50 Zu Antikenergänzungen im 18. Jahrhundert: Kocks 1981; Müller-Kaspar 1988; Howard 1990; Kunze/Rügler 2003; Coltman 2009, Kap. 3; . Zu Cavaceppi grundlegend: Howard 1982; AK Wörlitz 1999. 51 Smith 1829, Bd. 1, S. 171. 52 Zu diesen „Privatmythologien“ siehe etwa: Busch 2007. 53 Kocks 1981, S. 318. 54 Zitiert nach Coltman 2009, S. 109. Vgl. dort auch für eine Identifizierung des Reliefs und seine Einbettung in das theoretische Programm d’Hancarvilles.
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since a wonderful Head of an Achilles came from that same quarter, which proves 55 absolutely its own.“ Abb. 79 (links): Anon., Schlafender Hermaphrodit mit drei Kindern, Ende 18. Jh. Bleistiftzeichnung, 240 x 190 mm. British Museum. Abb. 80 (rechts): Restaurierte Venus, in: Blundell 1809, Taf. 41.
Der Torso einer namenlosen Statue wurde also mit einem Kopf versehen, der aus ihr einen Lysimachus werden ließ. Ein Diadoche blieb das Bildwerk jedoch nicht lange. Wie Jenkins schreibt, nahm er wenig später eine Ent-Restaurierung der besagten Ergänzung vor und tauschte den zuvor angesetzten Kopf durch den eines Achill aus. Offensichtlich ohne Probleme wechselt die Antike hier im Zuge einer wiederholten Restaurierung ihre Ikonographie und Identität. Ein ähnlich gelagerter Fall zeigt sich im Beispiel der Statue eines Hermaphroditen, an dessen Brust drei Kinder liegen, den Henry Blundell 1801 für seine Sammlung in Ince gekauft hatte. Der ursprüngliche Zustand dieses Werkes ist durch eine Zeichnung im Besitz Charles Townleys dokumentiert (Abb. 79). Einige Jahre später wurde die Skulptur zu einer schlafenden Venus umrestauriert (Abb. 80).56 Die Gründe dafür waren keinesfalls historische, sondern eindeutig ideologische.57 Blundell gibt dies im Katalog seiner Skulpturensammlung auch unumwunden zu: Die De-Restaurierung und Ergänzung, die die Plastik ihr Geschlecht wechseln ließ, beschreibt er als „Kastration“ einer „unnatürlichen und sehr ekelerregenden“ Erschei-
55 Zitiert nach Coltman 2009, S. 87. 56 Zu diesem Fall: Howard 1990. Zu Blundells Sammlung und Ergänzungspraxis auch: Southworth 2003. 57 Howard beschreibt Blundell als „an amateur transforming an antiquity for his pleasure“ und beschreibt diese Umwidmung als „one of the most extraordinary metamorphoses in the whole of restoration’s oftentimes alarming history“ (1990, S. 117).
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nung, aus der aber dank des Eingriffes eine „erfreuliche“ Figur gewonnen werden 58 konnte. Wiederum ändert ein Sammler also nach seinem persönlichen Geschmack und mit Blick auf den Kontext seiner Sammlung eine antike Skulptur ab, deren Originalsubstanz hier sogar signifikant beschädigt wurde, um eine neue Ikonographie zu schaffen. Blundell hielt dies ganz selbstverständlich für legitim: „[I]t is generally allowed to every virtuoso to give such names to his busts and statues as he thinks most appropriate.“59 Die genannten Fälle sind freilich Extrembeispiele und zeigen einen besonders willkürlichen Eingriff eines Sammlers in die antike Substanz. Die Tendenz dieser Eingriffe dürfte aber klar sein: Hier zeigt sich, wie Edmund Southworth geschrieben hat, „the perspective of the collector as owner. He has complete authority over his possessions.“60 Nicht um die Bewahrung eines historischen Artefakts ging es hier, sondern um dessen Transformation entsprechend den Bedürfnissen der Gegenwart.
§3 V ERGEGENWÄRTIGUNG : E INE Ä STHETIK DER V ERFÜGBARKEIT Festzuhalten ist, dass durch moderne Ergänzungen den oft nur fragmentiert erhalte61 nen antiken Skulpturen erst eine ikonographische Identität zugewiesen wurde. Dabei musste diese (Wieder-)Herstellung der durchaus ahistorischen Ganzheit gar nicht endgültig und definitiv sein. Schlechte Ergänzungen konnten entfernt, sowie durch bessere ersetzt werden und die Attribute einer Skulptur je nach dem Bedürfnis des Sammlers mit anderen, die ihr eine neue Bedeutung gaben, getauscht werden. Winckelmann kritisierte genau diese Bereitschaft zur historischen Falschheit an seinen Zeitgenossen, wenn er in unveröffentlicht gebliebenen Notizen die „Verge-
58 „When bought, it was in the character of an Hermaphrodite, with three little brats crawling about its breast. The figure was unnatural and very disgusting to the sight; but by means of a little castration and cutting away the little brats, it became a sleeping Venus, and as pleasing a figure as any in this collection.“ (Blundell 1809, Bd. I, Taf. 41) 59 Blundell 1809, Bd. I, unpag. [erste Textseite]; dort schildert er auch weitere ähnliche Fälle von Umrestaurierungen. 60 Southworth 2003, S. 113. 61 Dies gilt grosso modo natürlich auch für den Umgang mit beschädigten modernen Skulpturen. Für einen Bericht über den Fall von Berninis „Neptun und Triton“ siehe Coltman 2009, S. 101ff.
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hungen der Scribenten über die Ergäntzungen“ anprangerte.62 Interessanterweise gilt Winckelmanns Kritik gar nicht den Bildhauern, die derartige Ergänzungen vornehmen, sondern vielmehr den Sammlern und Historikern, welche die zeitgenössischen Künstler zu einem derartigen ahistorischen Umgang mit den wertvollen Fragmenten der Vergangenheit ermutigen: „Die Irrungen welche durch die Ergäntzungen entstanden sind, und die Vergehungen der Scribenten kommen nicht so wohl auf die Rechnung der Bildhauer, sondern sind denjenigen beyzumessen welche, ehe sie schreiben, besser unterrichtet seyn sollten.“63 Die Willkürlichkeit, mit der ein Thomas Jenkins den antiken Skulpturen nach eigenen Erwägungen ein neues Leben schenkte, war das erklärte Feindbild des Deutschen. Winckelmann verteidigte dagegen die reine Antike, die ihm allerdings nur als Fragment zugänglich war, aber gerade deshalb zu einem Sehnsuchtsort und zur Projektionsfläche wurde. Erst die Vergangenheit der Kunst erlaubte es ihm, sie zum idealschönen Traumland werden zu lassen. Alle Möglichkeiten tatsächlich nach Griechenland zu reisen, ließ Winckelmann bekanntlich verstreichen. Er blieb lieber in Rom, also an jenem Ort, wo seiner Meinung nach ohnehin – selbst in der Antike – nur ein Abglanz der höchsten griechischen Blüte der Kunst zu finden war.64 Gegenstand seiner Einfühlung ist also gerade die bereits versehrte Antike, das Fragment, wie es paradigmatisch in der berühmten, dem Torso vom Belvedere gewidmeten Werkbeschreibung der Geschichte der Kunst vorgeführt wird.65 Die Ruinierung der geliebten Kunst ist dabei die Möglichkeitsbedingung für ihre emphatische Aneignung. Beim „ersten Anblick“, so schrieb Winckelmann in beiden Auflagen der Geschichte, sah er angesichts des Torsos nur einen „verunstalteten Stein“. Das Werk war nur mehr ein Kadaver, „aufs äußerste gemißhandelt und verstümmelt“.66 Der Anblick des Torsos bedeutete für Winckelmann eigentlich ein krisenhaftes Moment, weil ihm gewahr wurde, dass er an der ersehnten Schönheit der Antike nicht mehr mit den eigenen Augen teilhaben konnte. Kunstgeschichte erscheint hier „als Trauerarbeit vor versehrten Körperbildern“.67 Doch genau diese Defizienz, diese vergangene Schönheit erlaubt es ihm, sie imaginär zu rekonstruieren. Die Leerstellen, die das Fragment eröffnet, ermöglichen die kreative Phantasietätigkeit des Betrachters, die sich dem Werk nicht mehr
62 Winckelmann 1996 [Vergehungen]. 63 Ebd., S. 27. 64 Zu dieser Denkfigur: Geimer 2002, S. 37ff. 65 Die Literatur über Winckelmanns Beschreibungskunst, speziell seiner Zeilen zum Torso im Belvedere, füllt mittlerweile Bibliotheken. Am treffendsten: Osterkamp 1998. Für eine Verortung im weiteren Kontext: Kase 2010, S. 26ff. 66 Winckelmann 1996, S. 714f.. Auch in ders. 1766, S. 155. 67 Grave et al. 2007, S. 7.
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nach dem tatsächlichen Befund, sondern, wie er bezüglich des Apollo vom Belvedere schreibt, „auf das Ideal“ gerichtet nähert.68 Angesichts dieser imaginativen Erweiterbarkeit und Vollendbarkeit eines fragmentarischen Ausgangspunktes fällt eine Spezifik der tatsächlichen Antikenergänzungen besonders ins Auge. Auch wenn die Identitäten einer Skulptur durch die wechselnden Restaurierungen geradezu im Fluss zu sein scheinen, so ist aber doch zu betonen, dass die ergänzten und so gedeuteten Figuren stets eine feste Identitätszuweisung erhalten. Sie blieben eben kein Fragment und die Bedeutungszuweisungen wurden gerade nicht nur in der Vorstellung der Antiquare vollzogen. Winckelmanns imaginative Betrachtung des Torsos führt dazu, die tatsächliche materielle Präsenz des anschaulichen Rests weitgehend zu vernachlässigen. Seine Beschreibungskunst erlaubt es ihm, „die Materie geistig zu machen“, sie letztlich also auszulöschen.69 Er bewegt sich weniger leibhaftig durch die Sammlungen des Vatikans, als im Geiste durch ein „Reich unkörperlicher Schönheiten“.70 Zweifellos war diese imaginative Ergänzung nach dem Vorbild von Winckelmanns „Torso“ auch in England um 1800 und auch im Umfeld der Protagonisten dieser Arbeit ein reizvolles Modell. Wie vorsichtig man sich ihm jedoch näherte belegt eine Publikation wie die von der Society of Dilettanti herausgegebenen Specimens of Antient Sculpture, zu denen Richard Payne Knight den Text lieferte. In den aufwändigen und höchst detaillierten Stichen von John Samuel Agar wurden die Skulpturen zumindest im Bild einer Teil-Entrestaurierung unterzogen.71 Die Teile der Plastiken, die man für spätere Ergänzungen hielt, wurden mit gestrichelten Linien markiert (Abb. 81). Sie sind somit in das Bild aufgenommen, zugleich allerdings deutlich als etwas anderes, als nicht originaler Bestandteil der Kunstwerke markiert. Damit scheint aber weniger ein Plädoyer gegen Restaurie-
68 Winckelmann legitimiert diesen Ansatz bekanntermaßen damit, dass dieses Werk selbst bereits „idealisch ist“ (1996, S. 781). 69 Winckelmann 1766, S. 157. Peter Geimer spricht hier sogar von einer „Auslöschung des Materials“ (2002, S. 41). Ähnlich Oliver Kase: „Der Enthusiasmus des Autors wirkt potenzierend auf den Enthusiasmus des Lesers, so dass sich das faktische Kunstwerk, das schon bei der Niederschrift imaginativ aufgeladen wird, beim Lesen des Textes schließlich völlig zum Traumbild verflüchtigt.“ (2010, S. 29) 70 Der Künstler habe zur Schaffung des Apollo vom Belvedere „nur eben so viel von der Materie dazu genommen, als nöthig war, seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen“ (Winckelmann 1996, S. 781). 71 Nicolas Penny nannte Agar’s Stiche „the finest ever made of sculpture“, zit. nach Lloyd/Sloan 2008, Kat. Nr. 67, S. 114.
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rungen impliziert zu sein, als gerade ein Hinweis auf die imaginativen Räume, die die fragmentierte Antike eröffnet, gegeben zu werden.72 Wenn Knight sich im begleitenden Text recht deutlich gegen Ergänzungen ausspricht, so könnten damit eher diese geistigen Spielräume gemeint sein.73 Denn dem menschlichen Vermögen der Imagination standen unsere Autoren nun gerade eher ablehnend gegenüber. Vor allem d’Hancarville erweist sich hier einmal mehr als Anti-Winckelmann. Seine Kritik an der Imagination, die er als potentiell blendendes Vermögen beschreibt, das daher eher mit einem schädlichen Aberglauben assoziiert wird, kam bereits zur Sprache. Wenn Viccy Coltman über die tatsächlichen Antikenergänzungen völlig zutreffend schreibt, dass „sculpture restoration in the later 18th century [...] in fact a fluid and piecemeal process“ ist, dann ist diese „Fluidität“ genauer zu spezifizieren. Hiermit ist gerade keine ‚Vergeistigung‘ des Steins gesucht. Die materielle Gegenwart der Skulpturen wurde nicht, wie bei Winckelmann, geleugnet, sondern durch die handfeste Vervollständigung der Fehlstellen vielmehr bestätigt. Es geht in der souveränen Uminterpretation einer Skulptur durch Ergänzung dezidiert nicht um das, was das zentrale Vermögen einer emphatischen Antikenbetrachtung à la Winckelmann ist. Die hier betrachteten englischen Antiquare betreiben einen materialistischen, keinen imaginären Zugriff auf die Skulpturen. Sich träumend in einen Torso zu versetzen war gerade d’Hancarvilles Sache nicht.74 Er gab dann schon lieber konkrete Anregungen, wie ein solches Fragment von einem Künstler wie Flaxman vervollständigt werden konnte (Abb. 82).75 Entsprechend seiner Theorien (denn diese, und weniger der historische Befund waren der zentrale Maßstab seines Handelns) schlug er eine sexualisierte Rekonstruktion vor. D’Hancarvilles These war, dass der Torso vom Belvedere, den er als Herkules interpretierte, ursprünglich Teil einer Zweiergruppe mit der stehenden Hebe neben ihm gewesen sein könnte. Als Vorbild dafür präsentierte er eine andere antike Bildquelle, nämlich ein Intaglio, das Herkules „im heftigen Liebesbegehren zu einer
72 Durch die Punktierung der Ergänzungen, so Wolfgang Ernst, „markierte, strich [der Stecher] sie geradezu heraus [...] und machte die permeable Membran zwischen Anblick und Imagination sichtbar“ (1992, S. 117). Dagegen: Redford (2008, Kap. 7), der in dem Buch einen wichtigen Schritt hin zu einer „Verwissenschaftlichung“ der englischen Kunstbetrachtung sieht. 73 Zu Knights Kritik an Ergänzungen: Redford 2008, S. 146ff. 74 Kritik an dieser Praxis Winckelmanns wurde natürlich auch von anderer Seite geübt, z.B. von Heyne 1779. 75 Vgl. Haskell/Penny 1981, S. 313. Zu den Entstehungsbedingungen des Bozzetto: Whinney/Gunnis 1967, S. 53; Symmons 1984, S. 81, Anm. 63.
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Nymphe“ zeigt, wie Raimund Wünsche so schön euphemistisch formuliert.76 Der historische Befund muss dabei einmal mehr hinter der mythographischen Kulturtheorie des Autors zurückstehen. Die Körperhaltung des liebestollen Herkules auf der Gemme hat nämlich eigentlich denkbar wenig mit der Haltung des Torsos zu tun. Entsprechend weist auch Flaxmans Entwurf deutliche Abweichungen vom eigentlich nur zu ergänzenden Vorbild auf.77 Abb. 81 (links): John Samuel Agar, Frauenbüste, in: Knight 1809, Taf. XLII. Abb. 82 (rechts): John Flaxman, Herkules und Hebe, 1792. Terrakotta, 190,5 cm. University College London.
Die Vergangenheit als Fragment interessierte d’Hancarville dagegen zu keinem Zeitpunkt. Wenn er Kunstwerke beschreibt, dann sucht er gerade nicht den Imagi78 nationsraum, den das „non-finito“ eröffnet , sondern er bezieht sich auf gänzlich intakte Bilder. Deutlich wird, was ich meine, wenn man die beiden wohl elaboriertesten Bildbeschreibungen in den Antiquités betrachtet. Die in Rede stehenden Passagen übertreffen in ihrem Umfang die übrigen Werkbeschreibungen des Textes jeweils um ein Vielfaches. Sie sind zwei grundsätzlich verschiedenen Bildern ge-
76 Wünsche 1998, S. 63. 77 Sarah Symmons meint dazu: „Flaxman cunningly slung the head, limbs and club of the Farnese Hercules onto the Belvedere Torso.“ (1984, S. 81) 78 Dazu: Rothstein 1976.
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widmet, zum einen der Schule von Athen von Raffael in den Stanzen, zum anderen der Ekphrasis des Schild des Achilles aus der Ilias. Auffallender Weise investiert d’Hancarville seinen größten literarischen Aufwand also nicht in ein antikes Werk, sondern zum einen in ein modernes Fresko und zum anderen in ein rein literarisches Artefakt. Zentral erscheint, dass d’Hancarville bei diesen Bildbeschreibungen jeweils eine komplizierte temporale Verwicklung sucht. Deutlich wird dies bei der Schule von Athen. Angesichts dieses Werkes fühlt er sich in der Zeit zurückversetzt – jedoch nicht in das Jahrhundert Raffaels. Via Rom landet er vielmehr unmittelbar in Athen, wo er Aristoteles begegnet und vor allem auch dessen Philosophie vermittelt bekommt. Im Bild der Denker und in ihren Gesten ist ihr ganzes Gedankengut geborgen.79 Das Bild ist keine historische Quelle für seine Entstehungszeit, sondern scheint für eine Spur zu garantieren, die zurückführt bis in die Antike. Das, was ihn interessiert, ist gerade nicht der Kontext der Entstehung (er stellt sich nicht den göttlichen Raffael vor), sondern das Dargestellte, die Ikonographie. Von wann das Bild ist scheint letztlich egal für sein Anliegen. Wie eine Statue auch in der Moderne restauriert worden sein kann und trotzdem eine wichtige Aussage über ein mythographisches System der Antike belegen kann, so ist auch Raffaels Fresko eine völlig valide Quelle für die Philosophie des Aristoteles. Diese Fähigkeit der Malerei, dass der Betrachter sich in ferne Zeiten einfühlen kann, beschreibt d’Hancarville als vergleichbar mit der Kunst der Navigation. Wie ein Schiff den Reisenden in ferne Länder transportiere, so macht ein Bild ihm ferne Zeiten zugänglich.80 Dieser Hang zu einer Verräumlichung der Geschichte wurde bereits in den vorangegangenen Kapiteln deutlich, in denen beschrieben wurde, wie d’Hancarville der zeitlichen auch eine räumliche Diffusion der Symbole – man
79 „[J]e fus transporté dans l’Académie d’Athenes; là, je vis Aristote affirmant de la main avec cet air d’autorité que donne la faveur des Rois, les Dogmes obscures de sa Philosophie. […] Les pensées, les sentimens de ces philosophes, leur caracteres particuliers, &, si j’ose le dire, celui de leur philosophie, étoient si clairement exprimés, dans leur maintien, & par leurs gestes, que sans entendre leurs voix, je croyois entendre leurs discours.“ (AEGR II, S. 9 u. 13) 80 „Et comme par la Navigation nous nous transportons en des Climats tout opposés à ceux que nous cultivons, & nous traitons avec des hommes dont la nature sembloit nous avoir séparés pour toujours. […] Par la Peinture, nous vivons dans les temps & avec les Hommes mêmes qui nous ont précédes; par elle, des contrées entiers renfermees dans le court espace d’un Tableau, sont retracées sous nos yeux comme si elles étoient présentes, & nous nous trouvons transportés d’un moment à l’autre, en des pays, dont la distance est immense de celui que nous habiton.“ (AEGR II, S. 7 u. 9)
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denke an den Fall der Abotriten – zur Seite stellt. Der Historiker wird hier sozusagen zum Kartograph. In der historischen Erzählung sind entsprechend, gleich wie auf dem tableau der Landkarte, das bereits bei Linné begegnete, alle Ereignisse gleichrangig zugänglich. Mit Joseph Frank könnte man diesem Verfahren eine „spatial form“ attestie81 ren. Gemeint ist damit eine Erzählform, die sich durch eine Gleichzeitigkeit der Handlungsstränge auszeichnet, die „in a moment of time“ konzentriert und konzipiert sind, „rather than as a sequence“.82 Ereignisse werden nicht in einem chronologischen Nacheinander, sondern simultan erzählt, wobei auch räumlich auseinanderliegende Schauplätze zusammengezogen werden. Diese Handlungsstruktur fordert mehr eine Einfühlung in das Geschehen als einen zeitlichen Nachvollzug.83 Die zentrale Konsequenz dieser Einfühlung, die gerade keine historische Distanz mehr kennt, wäre, dass sie als Strategie zur Unterdrückung von Zeitlichkeit betrachtet werden kann.84 Für den Betrachter der Kunst zieht sich die gesamte Geschichte in einer ewigen und vor allem auf einen Blick erfassbaren Gegenwart zusammen.85 Diese Ästhetik der Verfügbarkeit ist auch das Kalkül hinter d’Hancarvilles Beschreibung des Homer’schen Schild des Achill.86 Auf insgesamt siebzehn Seiten präsentiert unser Autor eine immer wieder von Stellenkommentaren unterbrochene und von langen Fußnoten begleitete Übersetzung der in Rede stehenden Passage der
81 Frank 1963 (erstmals 1945). Einführend zu diesem Konzept nenne ich nur: Smitten 1981. Frank prägte diesen Begriff zunächst nur für moderne Literatur. Für eine Diskussion über eine mögliche Erweiterung des Anwendungsbereichs: Mitchell 1980. 82 Frank 1963, S. 9. 83 Der Begriff der Einfühlung ist hier nicht zufällig gebraucht: Frank beruft sich wesentlich auf den Kunsthistoriker Wilhelm Worringer, einen der zentralen Protagonisten der Einfühlungsästhetik um 1900, dessen Werk den „key to the problem of spatial form“ bereitstelle. Zudem attestiert er der „spatial form“ auch generell eine „Parallel with the Plastic Arts“ siehe Frank 1963, S. 49ff. 84 Wie Frank schreibt: „Time is no longer felt as an objective, causal progression with clearly marked-out differences between periods; now it has become a continuum in which distinctions between past and present are wiped out. [...] Past and present are apprehended spatially, locked in a timeless unity that, while it may accentuate surface fidderences, eliminates any feeling of sequence by the very act of juxtaposition.“ (Frank 1963, S. 59) 85 So wenig wie diese Geschichten damit einen definitiven Anfang finden, haben sie ein Ende. Entsprechend kritisiert Frank auch den am Anfang dieser Arbeit zitierten Frank Kermode und seine These vom „Sense of an Ending“, gegen das, wie ich ausgeführt habe, auch d’Hancarville opponiert. Vgl. Frank 1981, S. 215-227. 86 Zur Rezeptionsgeschichte dieser Bildbeschreibung: Lecoq 2010 (zu d’Hancarville: S. 146-154).
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Ilias.87 Dass d’Hancarville sich ausgerechnet dem Schild des Achill zuwendet, dürfte bezeichnend sein. Wie Luca Giuliani schreibt: „Es gibt ehrgeizige und weniger ehrgeizige Bilder. Das denkbar ehrgeizigste Ziel für ein Bild würde wohl darin bestehen, dem Betrachter nichts Geringeres als die Welt vor Augen zu führen.“88 Und genau dies unternimmt Homers Beschreibung des genannten Bildwerks im 18. Buch der Ilias. Der Schild, den Hephaistos schmiedete, stellt nicht weniger als „die Erd’ und das wogende Meer und den Himmel“ dar, also den ganzen Erdkreis, dessen Gestalt und Bewohner in ausführlicher Breite beschrieben werden.89 Abb. 83: Samuel Gribelin nach Charles-Nicolas Cochin d.Ä. und Nicolas Vleughels, Der Schild des Achill, in: Alexander Pope, The Iliad of Homer, 1720.
D’Hancarville beschrieb hier nicht nur ein vollständiges, also nicht fragmentiertes Werk (das freilich in Wirklichkeit wohl nie existierte), sondern ein gleichsam totales Bild. Angesichts seiner guten Kontakte zu englischen Zirkeln (die Antiquités waren ja für einen englischen Auftraggeber verfasst) scheint es plausibel anzunehmen, dass d’Hancarville die berühmteste Kommentierung des „Schild des Achilles“
87 AEGR IV, S. 120-137. D’Hancarville beschreibt sein Anliegen wie folgt: „En la traduisant, j’aurai attention d’en conserver, autant que je le pourrai, les images intéressantes, & je penserai moins à faire une traduction élégante, qu’à faire connoître le sens des paroles d’Homere par rapport à l’Art.“ (ebd., S. 120) 88 Giuliani 2003, S. 39. 89 Bei d’Hancarville lautet die Stelle: „Il y représenta la Terre, le Ciel, la Mer, le Soleil infatigable dans sa course, & la Lune dans son plein.“ (AEGR IV, S. 122)
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in der englischen Literatur kannte.90 Sie stammt von Alexander Pope, der in seiner Übersetzung der Ilias vom Schild des Achill als einem „universal picture“ schrieb.91 Gemeint ist damit nicht nur, dass der dargestellte Gegenstand in seiner ganzen Fülle, jedoch im richtigen Maße und ohne Übertreibung repräsentiert ist, sondern auch, dass diese (literarische) Darstellung alle Möglichkeiten der Gattung Bild ausschöpft. Sowohl hinsichtlich der Erfassung der realen Welt, wie auch auf dem Feld des Künstlerischen, wäre dieses Werk damit als vollendet einzustufen. Ob die Version des Bildes, die Pope als Stich seiner Ilias-Übersetzung beigab, diesem Anspruch genügte, sei dahingestellt (Abb. 83).92 Auffallend ist auch, wie für d’Hancarville in diesem Werk die gesamte griechische Kunstgeschichte sozusagen in einem Moment komprimiert wird. Diese Präsenzleistung ergibt sich bereits aus der griechischen Vorlage. Homers Bildbeschreibung ist überraschenderweise im Imperfekt gehalten, also in jener Zeitform, die eine Dauer anzeigt. Sie ist also nicht, wie zu erwarten wäre, im Aorist verfasst, dem griechischen Tempus, der normalerweise bei epischen Erzählungen (für Sachen, die irgendwann zu einem bestimmten Zeitpunkt passiert sind) verwendet wird.93 Homers Phantasie, so die These d’Hancarvilles, entzündete sich an Bildwerken aus der Zeit des Daedalus. Er orientiert sich in seiner Ekphrasis damit an den Arbeiten des größten Künstlers der Vergangenheit. Umgekehrt deutet seine textliche Bildlösung voraus auf die Kunst der Zukunft, und sein Entwurf beinhaltet in nuce alles, was die Meisterschaft eines Phidias ausmachen wird.94 Vergangenheit, Gegen-
90 So Lecoq 2010, S. 154. 91 „It having been now shewn, that the shield of Homer is blameless as to its design and disposition, and that the subject (so extensive as it is) may be contracted within the due limits; […] What remains, is to consider this piece as a compleat idea of painting, and a sketch for what one may call an universal picture.“ (Pope 1720, Bd. V, S. 113) Dazu: Deutsch 1996, S. 56-58; Lecoq 2010, S. 126-31. 92 Eine Entwurfszeichnung dieser Illustration ist abgebildet in: Deutsch 1996, S. 57. 93 Vgl. Giuliani 2003, S. 40. Dazu auch K.J. Atchity, der schreibt, dass „the consistent use of the imperfect tense throughout the description serves to qualify the impression of contemporaneity“ (1978, S. 174). 94 Homer „prophétisa, pour ainsi dire, les grandes choses exécutées par les Art, plusieurs siecles après lui“ (AEGR IV, S. 118). Und noch einmal: „Par cette description singuliere, Homere indique moins ce que la Sculpture faisoit de son temps, que ce qu’elle promettoit de faire, & ce qu’un Artiste tel que lui pouvoit attendre d’elle: il lui donnoit à la fois des avis & des exemples, dont elle fut profiter.“ (AEGR IV, S. 137)
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wart und Zukunft fallen hier in einem totalen Präsens zusammen. Die Ganzheit eines „universellen Bildes“ scheint wiederum Ausgangsbedingung für die daraus abgeleitete Geschichte des „Nachlebens“, in der die Spuren aller vergangenen Zeiten permanent präsent bleiben.
§4 C OCK
AND
B ULL S TORIES
Diese Verräumlichung und Vergegenwärtigung der Geschichte unterläuft die Erfahrung einer unüberbrückbaren Distanz zur Vergangenheit. Geschichte ist, wie auch der Umgang mit den Ursprüngen erwiesen hat, ein Phänomen, das unter der Verfügungsgewalt des Antiquars steht. Unter der Maßgabe dieser „spatialen“ und weniger linearen Form können auch die Bücher unserer Autoren selbst betrachtet werden. Die Antiquités präsentieren sich dem Leser letztlich als genau so ein nichtlineares Textgewebe. Immer wieder verfällt d’Hancarville in überlange Digressionen, welche die Sequenz des Haupttexts beständig durchbrechen. Die ausufernden Fußnoten können sogar zu eigenständigen Abhandlungen anwachsen. Jedes Verhältnis von Anmerkung und Haupttext gerät hier aus den Fugen. Deutlich werden mag das mit dem Hinweis darauf, dass in der Neuauflage der Antiquités von F.A. David diese Fußnoten in einem eigenen, fünften Band abgedruckt wurden.96 Über diese Unordnung des Textes ist viel geklagt worden. Der Aufbau von d’Hancarvilles Buch ist, um in der Terminologie seines Autors zu bleiben, „arbiträr“ – und damit paradoxerweise trotzdem „charakteristisch“. Natürlich bleibt die Geschichte des Nachlebens, die ja eine „geheime“ Verbindung mit der Gegenwart zu etablieren hilft, letztlich eine Sequenz. Doch d’Hancarvilles Geschichte macht, wie schon Joseph Frank über Erzählungen, die einer „spatial form“ verpflichtet sind, schrieb, „no sense if read only as a sequence“.97 Dieser ahistorische und synoptische Zugriff auf Geschichte ist letztlich die Möglichkeitsbedingung dafür, die Vergangenheit auch in der eigenen Gegenwart als „nachlebend“ und damit zugänglich und verfügbar zu begreifen. Auch Christies
95 So auch Lecoq: „[I]l tend à brouiller les frontières de la phase classique: l’art de Phidias était déjà en germe dans celui de Dédale, et il a pris tout à fait corps, en quelque sorte, dans le cerveau d’Homère.“ (2010, S. 155) Der Gedanke d’Hancarvilles findet sich wiederum bereits bei Pope: „There is reason to believe that Homer did […] comprehend whatever was known of it in his time; if not (as is highly probable) from thence extend his ideas yet farther.“ (1720, Bd. V, S. 113) 96 D’Hancaville/David 1785, Bd. V. 97 Frank 1991, S. XI.
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Disquisitions präsentieren ja die Passagen, die am intensivsten ein Geschichtsbild des „Nachlebens“ diskutieren, in einem Appendix, also außerhalb der Sequenz des Haupttextes. Verbildlicht zeigt sich diese Durchbrechung der historischen Linearität auch in den auffallenden und höchst aufwendig gestalteten Initialen der Antiquités. In diesen Szenen, die angesichts ihrer ungewöhnlichen Größe teils den Charakter kleiner Gemälde annehmen, finden sich neben historisierten Initialen vor allem zahlreiche Szenen, in denen der Buchstabe in einer ausgreifenden Ruinenlandschaft platziert ist (Abb. 84 u. 85).98 Wie ein weiteres Trümmerstück steht die Initiale in diesen Szenen, allerdings sticht sie dadurch hervor, dass sie völlig überdimensioniert ist, maßstäblich also nicht zu den übrigen Ruinen passt, sondern diese um ein Vielfaches überragt.99 Abb. 84 und 85: Carmine Pignatori nach Giuseppe Bracci, Initiale, in: AEGR III, S. 101 u. 184.
Wie Fremdkörper stehen diese monumentalen Buchstaben in der sie umgebenden Landschaft. Sie erscheinen geradezu wie archaische Überlebsel, wie die „scattered limbs of a giant“, wie William Gunn dreißig Jahre später über die monumentalen Reste der antiken Baukunst schreiben sollte.100 Erinnern wir uns: In d’Hancarvilles
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Zu den Initialen und den dafür verantwortlichen Künstlern: Ramage 1987.
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Als Vorbilder für die Kompositionen lassen sich in den meisten Fällen Stiche Piranesis ausmachen. Vgl. Ramage 1987. Dieses Arbeiten mit Versatzstücken erinnert zudem stark an jene kombinatorische Bildpraxis Piranesis, die Bruno Reudenbach (1979) „strukturale Ikonologie“ genannt hat. Auch dieses Vorgehen kann, wie Susanne Deicher es getan hat, als Anklang an die Vorstellung von „survivals“ gelesen werden (2008, S. 43).
100 Zitiert nach Bizzarro 2006.
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Theorie der Kunstentwicklung galten Disproportionierungen an Figuren als Beleg für ein „survival“. Deformierende Ornamente und Attribute galten in den Antiquités als Überlebsel der ursprünglichen Zeichen, die ohne organische Einbettung in den neuen Kontext archaische Spuren der Vergangenheit sind. Sollte diese Analogie zutreffend sein, so wäre auch der Text selbst zu einem „survival“ erklärt.101 Dass ausgerechnet die Initialbuchstaben derartige „Spuren“ verkörpern können, ist auch insofern plausibel, als die Buchstaben natürlich in eindeutigster Form Vertreter der „arbiträren Zeichen“ waren, die d’Hancarville an den Beginn der Kunstgeschichte gestellt hatte. Abb. 86: Anon., Vignette, in: Knight, Discourse..., 1786, S. 12.
Diese Versetzung und Disproportionierung des Textes hat am subversivsten und ironischsten wohl Richard Payne Knight in den Aufbau seines Discourse eingeschrieben. Auf der ersten Textseite präsentiert sich dem Leser die Abbildung der Skulptur eines Hahnes mit einem Phallus als Schnabel (Abb. 28). Offensichtlich ist hier die Doppeldeutigkeit des Wortes „cock“ gesucht, das zugleich Hahn und Penis meint.102
101 Eine ähnliche Interpretation der Initialen unternimmt Carabelli, der zudem auf Freuds „Traumdeutung“ verweist, in der er ebenfalls wiederholt von hinsichtlich ihrer Größe und Verortung disproportionierten Objekten, die im Traum wiederkehren, schreibt (1996, S. 46f.). 102 Es sei trotzdem ein Wörterbucheintag, der diese Konnotation etwas nüchterner beschreibt, zitiert: „Cock is us’d to express several other Things, as the Penis; the Cock (or Pin) of a Sun-dial; the Cock (or Turn up) of a hat [etc.].“ (Bailey et al. 1736, Lemma
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Untertitelt ist der Stich mit „soter kosmou“; das obszöne Bild zeigt also den Erlöser der Welt. Diesem Hahn folgt einige Seiten später die Abbildung eines Amuletts mit Bullenkopf (Abb. 86) – jenem Symbol, das so prominent in d’Hancarvilles Theorien fungierte. Hahn und Bulle: sie finden sich zu Anfang und Ende von Hamiltons Bericht aus Isernia, sie rahmen ihn geradezu, und artikulieren damit recht deutlich, wie diese Erzählung zu lesen ist. Nämlich, ganz wörtlich betrachtet, als „cock and bull story“. Dieser ideomatische Ausdruck bezeichnet im Englischen eine satirische Geschichte, die weder Anfang noch Ende haben kann. Hier wird die Linearität der Textgestalt, ebenso wie die des in ihm verhandelten „survivals“ von Isernia konterkariert. Genau diese Facette der Nonlinearität betonten auch Definitionen des Begriffs, etwa im Classical Dictionary of the Vulgar Tongue, wo – für unser Anliegen der Zeitordnung des „Nachlebens“ bezeichnend – zu lesen ist: „Cock and a Bull Story, a roundabout story without head or tail, i.e. beginning or ending.“103 Eine deutsche Übersetzung dieser Definition spricht dann etwa von einem herumgehenden „Geschichtchen, das weder Kopf noch Schwanz, weder Anfang noch Ende hat“.104 Im Zeichen von Hahn und Bulle wird das Feld der Geschichte hier von hinten aufgerollt. Das Ende, das heißt die Gegenwart, wird zum möglichen Ausgangspunkt. So ist dann auch die letzte Seite des Discourse, auf der Knight sein einschlägiges Bild des eine Ziege penetrierenden Satyrs platziert, im wahrsten Sinne ein Moment des Anstoßes, kein Schluss. Die Möglichkeit eines Endes wird im Zeichen des Satyrs wortwörtlich satirisch gebrochen. Einer zyklischen Geschichte von Decline and Fall wird die sequenzielle Abgeschlossenheit verweigert. Gerade der Discourse, dessen Thema die reproduktiven Kräfte sind, verweigert sich also ironischerweise dem Lebensschema einer Geschichte von Wachstum, Blüte und Tod. Seine Geschichte ohne Anfang und Ende steht konträr zur sequentiellen Ordnung der biologischen Genealogie. Wie Stuart Peterfreund schrieb: „Cock and bull stories are both ,un-natural‘ and non-sequenturial – literally nothing can follow them.“105 Letztere Worte beziehen sich nicht auf Knight und Konsorten, sondern auf die berühmteste aller „Cock and Bull Stories“: Laurence Sternes Tristram Shandy.106
„Cock“, unpag.); interessant auch die Übertragung auf das weibliche Geschlecht: „Cock alley, or cock lane, the private parts of a woman.“ (Ebd.) 103 Grose 1785, Lemma „Cock and a Bull story“ (unpag.). 104 Ebers 1793, S. 280. 105 Peterfreund 1981, S. 42. 106 Diese Selbstbeschreibung des Buches ist zugleich sein Schlusswort. Er fällt als Antwort auf die Frage von Tristrams Mutter: „[W]hat’s all this story about?— A Cock and a
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Über diesen Roman im Zusammenhang mit dem hier Dargestellten zu sprechen, scheint fast unvermeidlich. Kaum ein anderer Text des 18. Jahrhundert hat derart explizit gegen eine lineare Auffassung von Geschichte gearbeitet und dies zugleich mit einer Ironisierung der Anfänge von Geschichte verbunden. Sternes Roman, der nur vorgeblich das Leben des Titelheldens erzählt, ist alles andere als eine lineare Biographie, die sich zwischen den Zeitpunkten von Geburt und Tod aufspannt. Vielmehr verwirrt die Erzählung mit unendlichen Zeitsprüngen, Auslassungen, die später nachgetragen werden, Regressionen, die teils weit vor Tristrams Geburt zurückreichen, Selbstkommentierungen des Autors und zahllosen weiteren Strategien, die den kohärenten Erzählfluss einer Lebensbeschreibung ad absurdum führen.107 Ganz bildlich vor Augen geführt wird die Wechselhaftigkeit der Narration in zwei Stichen, die Sterne in den Textfluss eingefügt hat (Abb. 87). Gezeigt sind mehrere kompliziert geschwungene, um viele Biegungen und Brechungen sich windende Linien.108 Sterne präsentiert dem Leser diese Bilder, um ihn noch einmal über den an Wendungen reichen Verlauf der bisher erzählten Geschichte ins Bild zu setzen und zu entschuldigen, dass er in seinem eigentlichen Anliegen – der Erzählung des Lebens von Tristram Shandy – bisher nicht besonders weit gekommen ist. Jede der Linien repräsentiert dabei den Gang der Narration in einem der bisherigen fünf Bücher. Zwar verspricht Tristram dem Leser, ab jetzt kontinuierlich seiner Erzählung zu folgen und von nun an so zu schreiben, dass der Gang der Geschichte voll und ganz einer geraden, horizontalen Linie gleiche, die er unmittelbar darauf in den Text zeichnet. Sogleich wird er sich jedoch bewusst, dass dieses Vorgehen, das sozusagen die Form von Borges’ Karte des Reiches im Maßstab 1:1 hätte, ihn mindestens die nächsten vierzig Jahre beschäftigen würde.109 Das Ideal der chronologischen Narration wird direkt wieder ad absurdum geführt. Die Form dieser Schlangenlinie ist dabei ein denkbar ironischer Umgang mit jenem graphischen Visualisierungsmodell, das wenige Jahre vor Erscheinen des Tristram Shandy begann, seinen Siegeszug anzutreten. Die Rede ist vom Modell
Bull, said Yorick—And one of the best of its kind, I ever heard.“ (Sterne, TS, Buch 9, Kap. 33) Das vermeintliche Ende des Romans zeigt dem Leser also nur an, dass alles auch wieder von vorne beginnen könnte. 107 Über das Problem der Zeit in Sternes Werk ist viel geschrieben worden. Ich nenne hier nur: Peterfreund 1981: Parker 2000; Henke 2002; Schwanitz 2002; Gurr 2006. 108 Zu diesen Bildern: Rosenberg 2007A, S. 274-290; Jehle 2008. 109 „I swore it should be kept a going at that rate these forty years, if it pleased but the fountain of life to bless me so long with health and good spirits.“ (Sterne, TS, Buch 1, Kap. 22)
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des Zeitstrahls, wie er Anfang der 1760er am wirkmächtigsten von Joseph Priestley in die Geschichtsschreibung eingeführt wurde.110 Im Sinne einer Idee von kontinuierlichem Fortschritt kennt dieser Pfeil nur eine Richtung: geradeaus. Priestley verkörpert damit idealtypisch jene Idee der Möglichkeit einer kohärenten Geschichtsschreibung, die Sterne so treffend in Zweifel zieht und sehr direkt als ziemlich geistlose Form der Auseinandersetzung mit Geschichte klassifiziert.111 Everett Zimmerman hat Sternes Roman daher als „parody of historical method“ bezeichnet.112 Abb. 87 (links): Laurence Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Bd. VI, 2. Aufl. 1767, S. 152. Abb. 88 (rechts): Adam Walker, Remarks made in a tour from London..., 1792, S. 171.
110 Dazu Rosenberg 2007. 111 „Could a historiographer drive on his history, as a muleteer drives on his mule,— straight forward;—for instance, from Rome all the way to Loretto, without ever once turning his head aside, either to the right hand or to the left,—he might venture to foretell you to an hour when he should get to his journey’s end;—but the thing is, morally speaking, impossible: For, if he is a man of the least spirit, he will have fifty deviations from a straight line to make with this or that party as he goes along, which he can no ways avoid.“ (Sterne, TS, Buch 1, Kap. 14) 112 Mindestens genauso sehr wie gegen die professionelle Historiographie richtet sich Sterne, dies sei nur am Rande vermerkt, damit aber auch gegen eine Naturgeschichte, die dem Paradigma der „Verzeitlichung“ verpflichtet ist. Dazu v.a. Gurr 2006, S. 198.
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Die Arbeit der Geschichtsschreibung beschreibt Sterne als ein vergebliches Geschäft. Man habe „Accounts to reconcile, Anecdotes to pick up, Inscriptions to make out, Stories to weave in, Traditions to sift, Personages to call upon, Panegyricks to paste up at this door“. Doch das Ergebnis dieses Aufwands sei denkbar bescheiden: „[T]he thing is yet far from being accomplished.“113 Einen Ausweg aus diesen Sackgassen scheinen ihm nur die Sprünge aus dem Korsett der linearen Erzählfolge heraus zu bieten. Man fühlt sich hier, allein angesichts der Wortwahl, stark an die bereits in der Einleitung zitierten Worte James Christies erinnert, mit denen er seine konjekturale Methode den begrenzten Methoden der klassischen Geschichtsschreibung entgegen setzte. Letztere habe „little more than traditions to consider, etymologies to sift, and allegories to reduce to some consistent meaning“. Man könnte überlegen, ob diese Zeilen einen direkten Bezug auf die historische Methode darstellen sollen, die Sterne seinem Tristram Shandy in den Mund legte. Eine verwickelte, oder zumindest gezackte, knickende (und jedenfalls nicht direkte) Linie zeichnete auch der von Christie zitierte Experimentator Adam Walker in einem Reisebericht aus Paris (Abb. 88). Beim Besuch in einer Tapisseriemanufaktur erstaunte Walker über die Kunstfertigkeit der Weber, die hinter den Teppichen sitzen, und vom Bild, das sie knüpfen nur ein Gewirr an Fäden sehen. Und doch erzeugen sie „such transcripts of Nature, as even a Sir Joshua Reynolds cannot produce with oil colours! — The Story rises under the hand of the Artist as if it were by Magic! — for the progress is by no means in a straight line […]. Hence you see half of a beautiful face at the bottom of the work, and above it nothing but threads.“114 Sterne stand hier zweifellos Pate. Daraüber hinaus gibt Walker dem Bild nochmals eine theatrale Wendung. Der Weber erscheint als Puppenspieler, der wie Christies Hierophant Bilder auf eine Bühne bringt, auf der sich ganz nach seinem Gutdünken die Geschichte geradezu „magisch“ entfaltet. Die Souveränität über diese verwickelten Erzählstränge und ihre für den Leser uneinholbare Zeitstruktur hat dabei auch in Sternes Roman genau eine Person in der Hand. Diese ist der Autor, das heißt nach der Logik des Romans, Tristram Shandy selbst. Bereits der Titel zeigt die entschiedene Subjektivität der folgenden Erzählung unmissverständlich an. Life and Opinions of Tristram Shandy werden hier wiedergegeben – und nicht etwa sein „Life and adventures“, also eine Tatsachenund Ereignisgeschichte, wie sie in vielen anderen Romanen der Zeit auf dem Titel
113 Sterne, TS, Buch 1, Kap. 14. 114 Walker 1792, S. 171.
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angekündigt wird.115 Wolfgang Iser sprach hier von „inszenierter Subjektivität“.116 Oder wie Sterne selbst schreibt: „[F]or in writing what I have set about, I shall confine myself neither to [Horace’s] rules, nor to any man’s rules that ever lived.“117 Die ästhetische Legitimation dieser verwirrenden Zeit- und Erzählstruktur des Romans wird von Sterne dabei sehr direkt benannt: „Great Wits Jump“. Große Geister machen Sprünge – womit im Umkehrschluss der Autor eines derart sprunghaften und subjektiven Textes zu einem wahrhaften Genie erklärt wird.118 Diese Souveränität zeigt sich auch und vor allem bezüglich der Frage nach den Anfängen. Allein schon die beständigen Selbstermutigungen des Autors, doch nun endlich mit der eigentlichen Geschichte zu beginnen, verschieben den Anfang des Romans immer wieder, bzw. stellen ihn in Frage. Man denke etwa an die Szene des Todes von Tristrams Bruder Bobby, wonach von Tristram (im vierten Buch!) angekündigt wird, dass „from this point properly that the story of my LIFE and my OPINIONS sets out.“119 Ausgerechnet mit dem Tod wird hier eine Geschichte begonnen – eine Operation, die durchaus vergleichbar zum Selbstbegräbnis d’Hancavilles erscheint. Es nimmt sich, wie Iser geschrieben hat, „das Ende manchmal wie ein Anfang aus, ebenso wie der Anfang manchmal ein Ende zu markieren scheint“. Wiederum ist damit ein Geschichtspanorama abgesteckt, das man als „spatial form“ benennen kann.120 Denn gerade auch der vermeintlich sichere Anfang der Life and Opinions of Tristram Shandy, die Geburt des Protagonisten, wird immer wieder verschoben und auf neue, vorangehende Gründe zurückgeführt. Sterne konterkariert damit beständig seine zu Beginn des Textes stolz vorgebrachte Missionsbeschreibung, nämlich seine Lebensgeschichte „as Horace says, ab Ovo“ zu verfolgen.121 Allein schon der Zeugungsakt, der zu Tristrams Geburt führen sollte, wird dabei wieder und wieder in Frage gestellt. Nur die bekannteste dieser Verzögerungen sei hier angeführt. Während des Geschlechtsakts, der zu Tristrams Zeugung führen soll, erinnert seine Mutter ihren Mann, ob die Standuhr auch aufgezogen sei. Die Antwort des Gatten fällt harsch aus: „Did ever woman, since the creation of the world, interrupt a man with
115 Zur bewussten Abgrenzung des Titels von den Konventionen der Gattung: Folkenflik 2009, S. 49-51. 116 Iser 1987. 117 Sterne, TS, Buch 1, Kap. 4. 118 Ebd., Buch 3, Kap. 9. Zu diesem Ausspruch: Busch 2011, S. 9-15. 119 Sterne, TS, Buch 4, Kap. 32. 120 „Konkurrierend nebeneinander stehen also zahlreiche Erzählungen. Werden diese gleichzeitig realisiert, dann hebt sich das zeitliche Nacheinander zu einer verräumlichten Geschichte auf.“ (Iser 1987, S. 19f. [Herv. H.C.H.]) 121 Sterne, TS, Buch 1, Kap. 4.
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such a silly question?“122 Ob der Zeugungsakt damit wirklich in diesem Moment vollzogen, oder vielleicht doch unterbrochen (interrupted) wurde, bleibt ungewiss. Die nicht aufgezogene Standuhr wird zudem zum Sinnbild für die Komplikationen mit Zeit, die den ganzen Roman durchziehen. Die Zeit läuft letztlich von Anbeginn dieser Geschichte nicht ab, sondern steht still.123 Die Folge davon ist allerdings wiederum keine Übersichtlichkeit, sondern zumindest für den Außenstehenden ein verwirrendes Bild verwickelter Linienzüge. Statt dem Leser eine übersichtliche, diagrammatische Abfolge zu präsentieren, zieht sich die gesamte Geschichte zusammen auf einen Zeitpunkt, oder besser, einen Standpunkt, nämlich den des Autors, von dessen Perspektive die Erzählung der Geschichte abhängt. Ironischerweise ist also gerade das „Nachleben“, als Narrativ einer in Urzeiten gründenden Genealogie, zur Gänze abhängig von der Perspektivität des metahistorischen Entwurfs eines Autors. Die Frage, die sich demnach abschließend stellen muss, lautet: Was ist Nachleben?
122 Ebd., Kap. 1. 123 Dazu: Henke (2002, S. 91f.), der auch die in der Sterne-Forschung verbreitete These referiert, dass diese Stelle eine uneheliche Geburt Tristrams andeute.
X. Was ist Nachleben?
„Mir kam irgendwann zu Bewusstsein“, so Joseph Imorde, „dass Kunstgeschichte – um es mit Kurt Karl Eberlein zu sagen – wirklich nichts anderes war, als die ‚Geschichte eines Spiegels und der Spiegelungen in ihm!‘ Was da hundertfach zurückgeworfen wurde, waren Bilder – oft Zerrbilder – identifikatorischer Überspannung 1 und auktorialer Überheblichkeit.“ Dieses Bild von Kunstgeschichtsschreibung hat sich auch auf den vergangenen Seiten abzuzeichnen begonnen. Thema dieses Buches war die metahistorische Konstruktion eines Ursprungs der Kunstgeschichte durch Antiquare, die sich durch ihre auktoriale Position in der eigenen Gegenwart zum Entwurf einer neuen Genealogie der Kunst ermächtigt sahen, durch die sie sich zugleich die Kontrolle über die Vergangenheit, wie auch die Deutungshoheit in Gegenwart und Zukunft aneignen konnten. Das überrascht insofern, da das von ihnen dafür gewählte Narrativ des „Nachlebens“ gemeinhin mit der genau gegenläufigen Idee verbunden wird. Die Idee hinter dieser Zeitbeschreibung ist meistens viel eher die einer Zirkulation von Objekten und Ideen, die gerade nichts mit „auktorialer Überheblichkeit“ zu tun haben. Auch bei unseren Autoren wurde das deutlich: Immer wieder betonen sie, dass die Geschichte, die sie erzählen, dadurch zu Stande kam, dass ein unwillkürlicher Überlieferungsprozess am Werk war. Der Aberglaube der Menschen, oder gar der Reproduktionstrieb der Bilder selbst (man denke an d’Hancarvilles Donnerkeile!) bewirkte, dass dieselben Darstellungen und Symbole wieder und wieder kopiert und damit tradiert wurden. In der späteren, durch die Evolutionsbiologie geprägten Theorie der „survivals“ wurde dieses Tradieren von „Resten“ sogar zu einer naturgesetzlichen Notwendigkeit erhoben. Diese These einer unreflektierten Tradierung von Bildlösungen bzw. von Symbolen, die auch unsere Autoren propagierten, könnte man mit dem Begriff der „Zirkulation“ beschreiben. Im 18. Jahrhundert hätte man dazu wohl „Ideenumlauf“ ge-
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Imorde 2009, S. 14.
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sagt. So jedenfalls nannte der jüngst wiederentdeckte und prominent diskutierte Josias Ludwig Gosch dieses Phänomen. Als Ursache für Kontinuitäten, wie sie einer Geschichte des „Nachlebens“ zu Grunde liegen, wurde bei ihm eine den Medien der Übertragung inhärente Logik ausgemacht und nicht das intentionale Handeln eines Individuums.2 Gosch konzipierte die Verbreitung von Ideen analog zum Denkbild des menschlichen Blutkreislaufs. Wie das Blut durch die Adern zirkulieren die Ideen durch die Gesellschaft und durch die Zeiten. Wissen und kulturelle Überzeugungen sind damit als System beschrieben, „das von Generation zu Generation weitergegeben und durch die Erfahrung und die denkende Aktivität der vielen Einzelnen zunehmend ausgebaut und verfeinert wird“.3 Wichtiger als die Gedanken, die von Individuen in diesen Kreislauf eingespeist werden, sind dabei die Medien der Übertragung, etwa Mündlichkeit oder Schriftlichkeit: Ideen erhalten sich „vermittelst der Töne oder ihrer Zeichen“, durch die sie kommuniziert werden. Die „Uebertragung der Gedanken“ erfolgt durch ihre Trägermedien, etwa „durch unsere Schriftzeichen“, durch „Hieroglyphen“ oder eben durch „Abdrücke von gewissen Tönen“.4 Die Ähnlichkeiten zu den Theorien der von mir diskutierten Autoren sind offensichtlich. Tatsächlich stellten ja gerade sie die medialen Spezifika von Bildwerken in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Dass etwa die Münzen, wie bei Knight und d’Hancarville gezeigt, als in sich bereits reproduktives Medium als Keimzelle von „survivals“ ausgemacht werden, liegt genau auf dieser ‚proto-medienwissenschaftlichen‘ Linie. In diesem Sinne könnte man nun auch ein großes Narrativ von der Ideengeschichte des Nachlebens entwerfen. Beginnend mindestens mit dem in der Einleitung zitierten Bianchini über eben die Zeit um 1800 würde ein Weg ins spätere 19. Jahrhundert führen und die Erzählung dann, über die darwinistische Kulturtheorie, schlussendlich im Schaffen Aby Warburgs (sowie Sigmund Freuds) kulminieren. Nichts würde dem gänzlich originellen Impetus von Autoren wie Knight und Christie freilich ferner liegen, als sich in so eine große Erzählung einbetten zu lassen. Und vielleicht wäre das genau der Fehler des Kunsthistorikers, der sich selbst zu einem Modus des „Fortschreibens“ von ideengeschichtlichen Zusammenhängen verführen lässt. Das Feststellen solcher Ähnlichkeiten zwischen geographisch und historisch durchaus weit getrennten Kulturtheorien bewegt sich am Ende gar nicht
2
Gosch 2006. Vgl. dazu die Einleitung durch die Herausgeber Stanitzek und Winkler, die Goschs Geschichtsbild als „nach dem Modell der Tradition gedacht“ (2006, S. 17) betrachten.
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Stanitzek/Winkler 2006, S. 11.
4
Gosch 2006, S. 118 u. 115.
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so weit entfernt von der diffusen Rede vom „Einfluss“, der eine gleichsam magische Qualität in sich birgt. Produktiver scheint es dagegen darauf zu achten, dass „Nachleben“ etwa im 19. Jahrhundert unter den Vorzeichen der darwinistischen Kulturtheorie eine ganz andere Erzählung als bei d’Hancarville und Co. ist – der aber ebenfalls deutliche metahistorische Konjekturen zu Grunde liegen. Betrachten wir etwa einen der wichtigsten Vertreter einer „doctrine of survivals“ im Feld der Kunst, nämlich den britischen Archäologen John Evans, mit dessen Schaffen die Debatte um die Anwen5 dung der Evolutionstheorie auf das Feld der Kunst „schlagartig“ ein neues Niveau erreichte. Abb. 89: John Evans, Coins of the Ancient Britons, 1864, Taf. B.
In seinem Buch über die Coins of the ancient Britons präsentierte er erstmals eine minutiöse typologische Reihe einer bestimmten Klasse künstlerischer Objekte, nämlich der titelgebenden, in der britischen Eisenzeit geprägten Münzen (Abb. 89). Evans sortierte seinen Untersuchungsgegenstand nach formalen Kriterien, ausge-
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Pfisterer 2007, S. 43. Evans Leistung gilt allgemein als die „foundation of modern scholarship on British Iron Age coinage“ (Jersey 2008, S. 152).
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hend von der Hypothese einer beständigen Metamorphose der Form, wie es die Naturgeschichte seit Darwin mit großem Nachdruck vorschlug.6 Seine Methode war, wie er erklärte, „das Alter der Münzen, anhand von Analogien von Typ und Gewicht, von einem Ausgangspunkt aus in die Tiefe der Zeit hinab zu verfolgen“.7 Resultat seiner Untersuchung war, kurz gesagt, dass die Geschichte der menschlichen Kunstproduktion keineswegs eine immerwährende Entwicklung hin zu höherer Komplexität ist, sondern umgekehrt auch eine „Degeneration“ durchlaufen kann. Hier zeigt sich die Spezifik des „survival“, nämlich dass „ein Organ, auch lange nachdem es aufgrund von Veränderungen des Organismus’ seine Funktion für diesen verloren hat, häufig in einer rudimentären Form weiter nachlebt (survives)“.8 Wenn sich die Münzbilder nun in der Geschichte immer mehr von ihrem ursprünglich gegenständlichen Motiv entfernen, bis davon nur noch ein ornamentaler Rest übrig ist, dann sind die dabei zu beobachtenden Prozesse für ihn „much the same as those which, according to our best naturalists, govern the succession of types in the organic kingdoms“. Bilder nehmen damit am „struggle for existence“ teil.9 Auch diese Beschreibung und der damit verbundene Glaube an ein quasi „bildaktives“ Evolutionssschema10 ist natürlich eine metahistorische Annahme. Der Glaube an die Geschichtlichkeit der Natur, die dabei Ausgangspunkt der Erzählung wird, ist nun aber eine Vorstellung, die den Erzählungen vom „Nachleben“ im 18. Jahrhundert, wie gezeigt wurde, nicht fremder sein könnte. Das Modell von Kunstgeschichte als einer Erzählung vom „Nachleben der Ursprünge“ beruht also zu verschiedenen Zeiten auf verschiedenen Prämissen. Dieser Befund, dass sich unter verwandten Erzählungen völlig konträre Inhalte verbergen können, und vor allem, dass die höchst phantasievollen und spekulativen Entwicklungshypothesen der hier behandelten Autoren hundert Jahre später eine wissenschaftliche Fundierung erfahren sollten, ist letztlich wohl nur als ironisch zu be-
6
Evans war mit Darwin zudem sehr gut bekannt, wobei dem Archäologen John Lubbock, ein Nachbar und Protege Darwins, hier eine wichtige Vermittlerrolle zukam, vgl. Owen 2008.
7
„[T]racing the age of a coin downwards in time from a given date, by means of the anal-
8
„Even long after some organ, owing to modifications in the mode of life, has ceased to be
ogy of type and weight.“ (Evans 1864, S. 26) of service to the organism, it frequently survives in what is known as a rudimentary form.“ (Evans 1873, S. 482) 9
Evans 1864, S. 27f.
10 Dass die darwinistische Evolutionstheorie ein Argument für eine Eigenwirksamkeit der Bilder sein kann, findet sich ausgeführt bei Bredekamp 2010, Kap. VI.1 („Evolution als Bildakt“), S. 309ff.
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zeichnen. Eine „longue durée“ eines derartigen Plots anzunehmen würde solche Brüche a priori übergehen. Im vorliegenden Fall der von mir diskutierten Antiquare würde man angesichts des gemeinsamen Narrativs der beschriebenen Autoren ihre Strukturierung von Geschichte als „Gegengeschichten“ wohl überlesen. Statt überindividuell und zirkulierend zu funktionieren scheint das Modell des „Nachlebens“ aus dieser Perspektive fundamental selbstbezüglich sein. Gerade weil es so sehr auf Traditionsketten beharrt und damit den eigenen Standpunkt potentiell mit allen historischen Ereignissen verbindet, begründet sich ein solches Narrativ immer aus der eigenen Zeitgenossenschaft. Diese Letztgültigkeit des subjektiven Urteils wird von den diskutierten Antiquaren in ihrer forciert genialischen Selbstinszenierung als priesterliche Offenbarer geheimer Wahrheiten auch offensiv vertreten. Nach dem Ursprung einer Sache kann man wohl gar nicht anders suchen, als aus einem aktuellen Interesse. Georges Canguilhem hat einmal sehr treffend danach gefragt, wovon die Geschichte der Wissenschaften denn eigentlich die Geschichte sei: „Diese Frage wird deswegen nicht aufgeworfen, weil man zumeist glaubt, sie sei mit dem Terminus ‚Geschichte der Wissenschaften‘ oder ‚Geschichte der Wissenschaft‘ bereits beantwortet.“11 Doch die Ahnen einer Sache ergeben sich immer erst aus dem, was man heute hat, also aus dem erst retrospektiv als solches zu identifizierenden „Erbe“. Peter Geimer hat diesen Gedanken auf die Frage nach dem Ursprung der Kunst übertragen.12 Jede mögliche Antwort darauf könne sich erst daraus ergeben, was Kunst (und Bilder im Allgemeinen) heute sind. Wie entscheidend diese Überlegung ist, hat sich im Verlauf der Kapitel dieser Arbeit gezeigt. Ob Bildgeschichte ihren Beginn in Alphabetzeichen, arbiträren Steinmalen oder naturalistischen Schattenbildern nahm, hängt entscheidend davon ab, welches (zeichentheoretische, mediale) Wesen man den Bildern an sich zuwies. Wer Bilder auch in der Gegenwart prinzipiell als „willkürliche Zeichen“ versteht, wird zwangsläufig einen anderen Ursprungspunkt suchen als derjenige, der einen allegorischen Bildbegriff verfolgt, der mit „natürlichen Zeichen“ rechnet. Diese Motivation aus der Gegenwart wurde bei unseren Autoren äußerst evident. Christies Theorien von den Projektionen nach Vorbild der „ombres chinoises“ sind wohl ohne diese populäre Bildpraxis nicht denkbar. Und wenn Lady Hamilton nicht die Szenen auf den Vasen ihres Gatten nachgestellt hätte, wäre die Idee, dass aus genau solchen theatralischen Aufführungen eine Aktualisierung alter Bilder entstehen kann, vielleicht nie aufgekommen. Und hätte Knight nicht eine hochgradig sexualisierte Trinkkultur im Clubleben der Dilettanti kennengelernt – er hätte
11 Canguilhem 1979, S. 22. 12 Geimer 2010, S. 22f.
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vielleicht nie die Bedeutung bacchischer und phallischer Symbolik auf diese Weise propagiert. D’Hancarville zuletzt steht gewissermaßen am fundamentalsten für diesen Konnex zwischen Leben und Werk ein. Hätte er sich nicht mehrfach unter wechselnden Identitäten neu erfunden, wäre ihm die Theorie eines „arbiträren“ Ursprungs der Bilder wohl nicht in den Sinn gekommen. Am deutlichsten wird es wohl an dem kunsthistorischen Nachleben-Theoretiker par excellence, Aby Warburg, wie stark der persönliche Lebensweg zu der Idee historischer „Wanderstraßen“ der Bilder beitragen kann. In seinem Aufsatz über Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara wird explizit gemacht, wie eng die Idee des „Nachleben“ mit der Idee einer Kohärenz auch des eigenen biographischen Horizonts zusammenhängt. Der eigene Denkweg und die Wege, die die Erzählung von der Kunst beschreitet, sind dieselben. Oder wie Christie es schrieb: „I shall present my thoughts, as they occurred, in a progressive course of reading and observation.“13 Der Vergleich zwischen Warburg und Christie sei zudem erlaubt, weil auch ersterer im gleich zu zitierenden Text davon spricht, dass sein Vortrag über die Wanderstraßen der Kultur ein „kinematographisch[es] scheinwerfen“ sei.14 In seinem Schifanoja-Aufsatz geht es Warburg darum zu zeigen, wie „Antike, 15 Mittelalter und Neuzeit als zusammenhängende Epoche anzusehen“ sind. Er dokumentiert dabei zugleich äußerst dicht den Weg seiner eigenen Auseinandersetzung mit dem Thema. Wenn er für die Bilder erklärt, wie „im nordischen Mittelalter dieses eigentümliche Interesse für klassische Bildung“ nie aufgehört hat, und die antiken Bildformeln über verschiedene „Wanderstraße[n]: Indien – Arabien nach Spanien“, und allgemein von Griechenland über den Orient wieder nach Europa 16 gewandert sind , so ist diese kohärente ‚Wanderung‘ auch auf das eigene Leben übertragen. „Vor etwa 24 Jahren war es mir in Florenz aufgegangen“, welche Potentiale das Thema bietet; weitere Fortschritte gab es, als „mir“ (Warburg schreibt hier ganz persönlich) „durch Inventarstudien über die weltliche Kunst um die Mitte des 15. Jahrhunderts klar [wurde]“, welchen Anteil auch der nordalpine Raum an solchen Bilderwanderungen hatte; und „schon seit längerer Zeit war es mir klar, dass eine eingehende ikonologische Analyse der Fresken im Palazzo Schifanoja diese zweifache mittelalterliche Überlieferung der antiken Götterbilderwelt 17 aufdecken müsste“. Von der Dissertation in Florenz zu den Studien zu flandri-
13 Christie 1806, S. 3. 14 Warburg 1912, S. 478. 15 Ebd., S. 478f. 16 Ebd., S. 462 u. 466. 17 Ebd., S. 461 u. 463.
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scher Kunst, die Warburg als seine nie vollendete Habilitationsschrift konzipiert hatte, führt der Gelehrte seinen eigenen Denkweg bis in die Gegenwart, wo der Schifanoja-Vortrag den nächsten Schritt bedeutet. Bilderwanderung und Ideenwanderung werden in Kongruenz gesetzt. Die Spur der Bilder zu verfolgen bedarf der selbst zurückgelegten Wegstrecke. Dies ist vielleicht der entscheidende Punkt einer jeden Geschichte der Bilder. Anders, denn als eine beständige Abfolge von Sehen und Interpretieren und einer erneuten Darstellung, die sich auf dieses Gesehene und Interpretierte bezieht, kann eine visuelle Kultur wohl nicht gedacht werden. Diese beruht immer, so Whitney Davis, auf Interdependenzen von (physiologischem) Sehen, (mentalen) Vorstellungen und (materiellen) Verbildlichungen. Blick, Betrachtergedächtnis und Umwelt schalten sich im täglichen Sehen zu einem komplexen, fließenden Kontinuum mit 18 einer beständigen, rekursiven Rückkopplung zusammen. Diese „Rekursion“ ist in ihrer Funktionslogik in der Tat nicht weit entfernt von dem, was oben „Zirkulation“ genannt wurde.19 Der fundamentale Unterschied ist aber, dass die hier gemeinten „Rekursionen“ zwischen Artefakten, optischer Wahrnehmung, mentalen Bildern und deren erneuter Externalisierung strikt subjektiv, also im Kopf eines einzelnen Individuums stattfinden. Das, was ich in Bildern sehe, und die Verbindungen, die ich als Historiker zwischen Bildern ziehe, beruhen immer auf bereits Gesehenem. Eine Geschichte des Nachlebens erscheint somit zu nicht geringen Teilen als Projektion der eigenen Wahrnehmung auf die Geschichte als Ganzes. Am treffendsten hat diese Pointe vielleicht der amerikanische Maler John Baldessari gesetzt. Er formulierte sie in seinem Painting for Kubler, als Volte gegen den Kunsthistoriker George Kubler, Autor des einflussreichen Buchs The Shape of Time.20 Darin postuliert Kubler, dass es eine eigengesetzliche „Geschichte der Dinge“ (so auch der Untertitel seines Werkes) gebe, wobei die materielle Kultur quasi ohne äußeres Zutun an (formalen) „Problemen“ arbeite. Die Artefakte gruppieren sich dabei untereinander in zeitlich und räumlich weit entfernte „Lösungsketten“, die Traditionslinien bilden, die konträr zur sonst in den Fokus gerückten menschlichen „Kultur“ liegen können. Baldessari hält dem den Subjektivismus des Betrach-
18 Davis 2011. 19 Dies betonen Stanitzek und Winkler. Rekursion definieren sie dabei als „Rückgriff auf Vorgegebenes unter je veränderten Bedingungen und damit selber auf einer linearen Zeitachse einzutragende Veränderung“ (2006, S. 16). 20 Kubler 1982 [1962]. Zur Einführung in das Werk des jüngst viel beschworenen und zu einem Theoretiker ersten Rangs erhobenen Kubler: Pfisterer 2008.
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ters entgegen, der doch immer erst im Sehen solche Zusammenhänge kreiert. Sein Bild, das nur aus Text auf weißer Leinwand besteht, sagt: „This painting owes its existence to prior paintings. By liking this solution, you should not be blocked in your continued acceptance of prior inventions. To attain this position, ideas of former painting had to be rethought in order to transcend former work. To like this painting, you will have to understand prior work. Ultimately this work will amalgamate with the existing body of knowledge.“
Hier wird Kublers These, dass die Dinge selbst sich in Traditionsketten arrangieren, zurückgeführt auf einen Betrachter, der das Gegenwärtige einerseits nach Maßgabe dessen bewertet, was er aus der Vergangenheit kennt, und zugleich immer aus der Perspektive des gegenwärtigen Wissens versteht. Auch zukünftige Wahrnehmungen werden von diesem Bild-Wissen geprägt sein, also durch rekursives Abgleichen des Neuen mit Gesehenem und Erinnertem wahrgenommen werden. Am Ende steht auch hier die „Verwicklung“ der Zeitebenen: Sehen, Erinnern und Wissen „amalgamieren“ sich, sie stützen sich gegenseitig. Das wichtige bei diesen fließenden Realitätskonstruktionen ist vielleicht, dass man sich dessen bewusst ist. Und das waren d’Hancarville, Knight und Christie. Ihre Entwürfe waren, so wurde gezeigt, immer auch kalkulierte Schachzüge, die auf einem metahistorischen Schlachtfeld gegen ihre Vorredner gerichtet waren. Sie betreiben damit eine „performative Kunstgeschichtsschreibung“, wie man mit Philipp 21 Ursprung sagen könnte. Dieser Begriff meint, dass der Kunsthistoriker, analog zum Performancekünstler, der ein Werk erst in der Aufführung entstehen lässt, Kunstgeschichte erst im Moment der historiographischen Arbeit produziert, beziehungsweise die Geschichte durch sein Schreiben modifiziert. Ursprung bezeichnet damit eine Kunstgeschichte, „die sich vornimmt, den eigenen Gegenstand nicht nur 22 zu beschreiben, sondern auch zu beeinflussen“. Ein solches Bewusstsein für die eigene Involviertheit haben auch die Protagonisten dieser Arbeit in höchstem Maße entwickelt. In dieser Hinsicht, in diesem Bewusstsein der Relativität und Subjektivität ihres Schaffens, sind sie nun vielleicht doch genial. Diese Qualität setzte jedenfalls T.S. Eliot in seinem berühmten Essay über Tradition und individuelle Begabung (1920) voraus, um modizifizierend in die Ursprünge eingreifen zu können. Der Vergangenheit kann nur derjenige Sinn geben, der ihr „Gegenwärtigsein deutlich spüre“. Der Dichter müsse dementsprechend
21 Ursprung 2003, S. 372. 22 Ders. 2008, S. 214. Einen ähnlichen Begriff einer „performativen“ Haltung, die das Schaffen der eigenen Vorgänger überschreibt, entwickeln auch Nagel/Wood 2010, S. 49.
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seine Verse so konzipieren, als ob er sie im Angesicht von Homer, Shakespeare und Milton vortragen müsse – wobei das Genie auf diese Ahnväter stark genug wirken könne, um ihr Verhältnis untereinander, wie gegenüber ihm selbst, zu verändern. Eliots These ist, „dass das Vegangene durch das Gegenwärtige eine genau so große Umwandlung erfährt, wie das Gegenwärtige seine Richtlinien von dem Vergange23 nen her empfängt“. Bei Eliot steht dahinter natürlich die Idee einer Eigengesetzlichkeit autonomer Kunst. Und diese Vorstellung liegt vielleicht nicht ganz konträr zu dem Selbstbild, das sich die hier diskutierten souveränen Interpreten von ihrer historischen Kunst, die eigengesetzliche Geschichtsbilder produziert, gemacht haben. In diesem Sinne sind die Positionen unserer Antiquare vielleicht auch sehr modern, wenn man „Moderne“ mit Hubertus Kohle definiert. Er beschreibt, durchaus in der Tradition der Annahme einer „Dialektik der Aufklärung“, die „Moderne“ als „eine Zeit des – vielleicht übertriebenen – Selbstbewusstseins und der Machbarkeit, die vor keinem Geheimnis zurückschreckt und alles der eigenen Verfügungsgewalt unterwirft“.24 Diese Definition, die das sich selbst ermächtigende Subjekt in den Fokus rückt, wie es uns in dieser Arbeit in Gestalt des souveränen Antiquars als Gebieter über die Geschichte begegnet ist, stellt ein gutes Stück der Selbstbezüglichkeit der Moderne aus. Das „autonome Genie“ begründet Geschichte selbst, aus seiner eigenen Perspektive, und reproduziert damit wohl nicht mehr als die seiner eigenen Wahrnehmung inhärente Zirkularität. Kunstgeschichte erweist sich hier als eine „seltsame Schleife“, um eine Formulierung von Douglas Hofstadter zu benutzen, mit der er diese prinzipielle Selbstbezüglichkeit des menschlichen Bewusstseins beschrieben hat.25 Genau das ist vielleicht die Wahrheit der Historiographie. Am Ende ist auch diese ein großes, selbstbezügliches und subjektives System. Und das ist vielleicht kein Fehler. Um selbst nun auch eine Schleife zu ziehen, sei das Wittgenstein-Zitat, das dieser Arbeit vorangestellt war, durchaus im Sinne des dort ebenfalls angeführten Max Imdahl komplettiert: „Hier sieht man, dass der Solipsismus, streng durchgeführt, mit dem reinen Realismus zusammenfällt.“26
23 Eliot 1950, S. 99. Vgl. dazu Gay 2008, S. 256. 24 Kohle 2012, S. 42. Zur Modernität dieses „performativen“ Konzepts siehe auch nochmals Nagel/Wood, wo dieses historische Überschreiben durch auktoriale Akte latent mit der Renaissance assoziiert und dem „mittelalterlichen“ Prinzip der „Substitution“ von Artefakten gegenüber gestellt wird (2010, S. 49f.). 25 Hofstadter 1985. 26 Wittgenstein 1984, 5.64.
XI. Dank
Dieses Buch geht zurück auf meine Dissertation, die 2013 unter dem Titel „GegenGeschichte(n). Ursprung und das Gedächtnis der Bilder“ an der LMU München eingereicht wurde. Mein größter Dank gilt Ulrich Pfisterer, der diese Arbeit von ihren Anfängen an inspiriert und begleitet hat. Für vielfältige Anregungen und Hinweise danke ich zudem den weiteren Gutachtern dieser Arbeit, Christine Tauber und Hubertus Kohle. Entscheidende Impulse für meine Beschäftigung mit den „Ursprüngen“ gab Helmut Zedelmaier; extrem profitiert habe ich vom Austausch mit Whitney Davis. Für Zuspruch, Inspiration und Unterstützung danke ich zudem den Freunden und Weggefährten, die diesen Text besonders in seiner finalen Phase begleitet haben: Léa Kuhn, Susanne Thürigen, Maurice Saß und vor allem Karen Appel. Für denkbar gute Arbeitsbedingungen und Unterstützung danke ich zudem dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte München und der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern – für alles, und noch viel mehr.
XII. Anhang
§1 Q UELLENVERZEICHNIS ADDISON 1726 | Joseph Addison: Dialogues upon the Usefulness of Ancient Medals: Especially in Relation to the Latin and Greek Poets, o. O. 1726. AEGR I-IV | Pierre-François Hugues d’Hancarville: Antiquités Etrusques, Grecques Et Romaines Tirées Du Cabinet De M. Hamilton, Envoyé Extraordinaire De S. M. Britannique En Cour De Naples, 4 Bände, Neapel 1766-67. AGLIONBY 1685 | William Aglionby: Painting Illustrated in Three Dialogues, Containing Some Choice Observations Upon the Art, London 1685. ANON. 1762 | Anon.: „Rezension von: The Political Testament of the Marshal Duke of Belleisle“, in: The Scots magazine XXIV (1762), S. 255-258. ANON. 1769 | Anon.: „Account of a protestant Nunnery, lately instituted“, in: The Town and country magazine, or universal repository of knowledge, instruction, and entertainment (1769), S. 65-67. ANON. 1798 | Anon.: Impartial Strictures on the Poem Called „The Pursuits of Literature“ and Particularly a Vindication of the Romance of „The Monk“, London 1798. ANON. 1802 | Anon.: „Account of the Assasination of Abbe Winkelman, the Celebrated Antiquary“, in: The Edinburgh Magazine XIX (1802), S. 440-441. ANON. 1818 [Charles Townley] | Anon.: „Charles Townley“, in: Illustrations of the Literary History of the Eighteenth Century: Consisting of authentic memoirs and original letters of eminent persons (1818), S. 721-746. ANTIQUITIES OF ATTICA 1817 | Society of Dilettanti (Hrsg.): The Unedited Antiquities of Attica, London 1817. ASTLE 1800 | Thomas Astle: „Observations on Stone Pillars, Crosses, and Crucifixes“, in: Archaeologia Or Miscellaneous Tracts Relating to Antiquity XIII (1800), S. 208-222. ASTLE 1803 | Thomas Astle: The Origin and Progress of Writing and Printing, 2 Aufl., London 1803. BACON 1966 | Francis Bacon: Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften, Darmstadt 1966.
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BACON 2000 | Francis Bacon: The Advancement of Learning, Oxford 2000. BAILEY ET AL. 1736 | Nathan Bailey u. a.: Dictionarium Britannicum; or, A more Compleat Universal Etymological English Dictionary than any Extant, 2. Aufl., London 1736. BANIER 1715 | Antoine Banier: Explication historique des Fables, 2. Aufl., Paris 1715. BARRY 1775 | James Barry: An Inquiry into the Real and Imaginary Obstructions to the Acquisition of the Arts in England, London 1775. BARRY 1783 | James Barry: An Account of a Series of Pictures in the Great Room of the Society of Arts, Manufactures, and Commerce, at the Adelphi, London 1783. BATTEUX 1753 | Charles Batteux: Cours de belles-lettres, ou, Principes de la littérature, 4 Bände, 2. Aufl., Paris 1753. BELL’S NEW PANTHEON 1790 | John Bell: Bell’s New Pantheon; or Historical Dictionary of the Gods, Demi-Gods, Heroes ..., 2 Bände, London 1790. BIANCHINI 1747 | Francesco Bianchini: La Istoria Universale Provata Con Monumenti, e figurata con simboli degli Antichi, Roma 1747. BLACKWELL 1757 | Thomas Blackwell: Letters concerning Mythology, 2. Aufl., London 1757. BLUNDELL 1809 | Henry Blundell: Engravings and Etchings of the Principal Statues, Busts, Bass-reliefs, sepulchral Monuments, Cinerary Urns, &c. in the Collection of Henry Blundell, Esq. at Ince, 2 Bände, o.O. 1809. BÖTTIGER 1811 | Karl August Böttiger: Ideen zur Archäologie der Malerei: 1. Theil. Nach Maasgabe der Wintervorlesungen im Iahre 1811, Dresden 1811. BÖTTIGER 1825 | Carl August Böttiger: „Ueber Richard Payne Knight“, in: Amalthea oder Museum der Kunstmythologie und bildlichen Alterthumskunde 3 (1825), S. 408-418. BOULANGER 1767 | Nicolas Antoine Boulanger: Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Alterthum. Oder kritische Untersuchung der vornehmsten Meynungen, Ceremonien und Einrichtungen der verschiedenen Völker des Erdbodens in Religions- und bürgerlichen Sachen. Übersetzt und mit Anmerkungen von Johann Carl Daehnert, Greifswald 1767. BRANDRETH 1841 | Thomas Shaw Brandreth: Ομηρου ϝιλιάς: littera digamma restituta ad metri leges redegit, London 1841. BRITISH CRITIC 1794 | Anon.: „Rezension von: Lieut. Edward Moor’s Narrative... London 1794“, in: British Critic IV (1794), S. 221-229 u. 381-391. BRITISH CRITIC 1808 | Anon.: „Rezension von: James Christie: Disquisition upon Etruscan Vases, London 1806“, in: British Critic XXXII (1808), S. 225-237. BROSSES 1760 | Charles de Brosses: Du culte des dieux fétiches, ou, Parallèle de l’ancienne religion de l’Egypte avec la religion actuelle de Nigritie, Paris 1760. BROSSES 1765 | Charles de Brosses: Traité De La Formation Méchanique Des Langues, Et Des Principes Physiques De L’Étymologie, 2 Bände, Paris 1765.
ANHANG
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Image Julia Burbulla Kunstgeschichte nach dem Spatial Turn Eine Wiederentdeckung mit Kant, Panofsky und Dorner September 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2715-2
Lotte Everts, Johannes Lang, Michael Lüthy, Bernhard Schieder (Hg.) Kunst und Wirklichkeit heute Affirmation – Kritik – Transformation September 2014, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2733-6
Lilian Haberer, Annette Urban (Hg.) Bildprojektionen Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur September 2014, ca. 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1711-5
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Image Kai-Uwe Hemken (Hg.) Kritische Szenografie Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert Oktober 2014, ca. 450 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2569-1
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Susi K. Frank, Sabine Hänsgen (Hg.) Bildformeln Visuelle Erinnerungskulturen in Osteuropa Oktober 2014, ca. 350 Seiten, kart., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2717-6
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