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German Pages 378 Year 2014
Katrin Ströbel Wortreiche Bilder
Image | Band 56
Katrin Ströbel (Dr. phil.) lebt als bildende Künstlerin in Stuttgart und auf Reisen. Lehrtätigkeiten u.a. an der Kunstakademie Stuttgart, der Goethe-Universität Frankfurt/Main und an der Villa Arson, école nationale supérieure d’art, Nizza.
Katrin Ströbel
Wortreiche Bilder Zum Verhältnis von Text und Bild in der zeitgenössischen Kunst
Der Druck dieser Publikation wurde gefördert von der Gerda-Weiler-Stiftung für feministische Frauenforschung D-53894 Mechernich (www.gerda-weiler-stiftung.de).
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Inhalt
1.
Einführung und Rückblick: Die wechselseitige Erhellung der Künste | 11
1.1. 1.2. 1.3. 1.4.
Forschungsstand | 12 Bilder werden Worte | 13 Das Verfransen der Künste | 22 Visualisierungstendenzen in der Literatur des 20. Jahrhunderts | 25 1.5. Die Invasion der Wörter: Schrift in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts | 31 2.
Ohne Titel? Kunst und Kommentar | 55
2.1. Sprache im System Kunst | 57 3.
Theoretische Ausgangspunkte | 67 3.1. Zur Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen | 69 3.2. Ut pictura poesis? Die ungleichen Schwestern in Lessings L aokoon | 74 3.3. Zeichen lesen – Zeichen sehen: semiotische Voraussetzungen | 85 3.4. Medientheorien: vom Ende der „Gutenberg-Galaxis“ und der Wiederkehr der Bilder | 104 4.
4.1. 4.2. 4.3. 4.4.
Zwischen Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft: Kriterien für die Analyse von Schrift in der zeitgenössischen Kunst | 123
Thematische Berührpunkte | 125 Varianten des formalen Zusammenspiels | 125 Text im Bild. Text als Bild | 127 Analyserahmen | 130
5.
Zur Verwendung von Text in der zeitgenössischen Kunst | 137
5.1. Vorstellung der Themen | 138 5.2. Künstlerische Strategien im öffentlichen Raum | 143 Barbara Kruger | 144 Jenny Holzer | 148 Jens Haaning | 159 Šejla Kameriü | 162 5.3. Confessions – Schrift als Mittel der Selbstreflexion | 167 Elke Silvia Krystufek | 167 Tracey Emin | 174 Sophie Calle | 182 5.4. Kunst und Werbung: Die Erben der Pop Art | 191 Michel Majerus | 193 Sylvie Fleury | 198 Ken Lum | 202 Daniele Buetti | 205 5.5. Kunst und Comic | 210 Roy Lichtenstein | 212 Jean-Michel Basquiat | 216 Raymond Pettibon | 219 Dan Perjovschi | 225 5.6. Bild-Wort-Witz | 230 Wim Delvoye | 232 Sigmar Polke | 235 Richard Prince | 241 5.7. Archive, Dokumente. Gedächtnis und Geschichte | 246 Archivierte Zeit: Hanne Darboven | 250 On Kawara | 256 The Atlas Group | 258 Fernando Bryce | 264 5.8. Text und Ornament. Im Grenzgebiet von Text und Bild | 270 Lalla Essaydi | 272 Shirin Neshat | 275 Christopher Wool | 282 5.9. Kunst trifft Literatur, Fact meets Fiction: Paul Auster und Sophie Calle | 288 6.
Schreiben statt Malen? Das Ende der Gattungen? Die bildende Kunst in der Krise? | 303
6.1. Warum Schrift? Strategien der Öffnung | 306 6.2. Crisis? What Crisis? Zur Krise der Repräsentation | 314 7. Schlussbemerkung und Dank | 329
8.
Literaturverzeichnis | 335
9.
Abbildungsverzeichnis | 359
1. Einführung und Rückblick: Die wechselseitige Erhellung der Künste
Betrachtet man die Kunst der letzten Jahrzehnte, so ist Schrift allgegenwärtig: Die Truisms der amerikanischen Künstlerin Jenny Holzer flackern über die Billboards am New Yorker Time Square, Sophie Calle ersetzt gestohlene Werke im Museum durch beschreibende Texte, Daniele Buetti tätowiert Models und Schauspielern Markennamen und Sinnsprüche auf die Haut, Lawrence Weiner schreibt in großen Lettern Satzfragmente in Museen und auf Häusermauern, Sylvie Fleury schmückt Galeriewände mit Logos und Schriftzügen aus der Kosmetikbranche – fast könnte man sich fragen, ob es noch Kunst ohne Schrift gibt. Die Verwendung von Schrift in der bildenden Kunst ist heute selbstverständlich geworden. So selbstverständlich, dass man als Betrachter/-in schon fast vergessen hat, dass Schrift, dass Text zunächst aus dem Bereich der Literatur entliehenes Fremdmaterial ist. Was für bildende Künstler/-innen ebenso wie für die Rezipient/innen heute zum festen bildkünstlerischen Repertoire gehört, setzt zunächst schlicht das Interesse am Austausch mit der „Schwesterkunst“ Literatur voraus. Dieser Austausch und das wechselseitige Interesse ändern sich jedoch kontinuierlich über die Jahrhunderte. Besonders deutlich verändert sich das Verhältnis von Kunst und Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es lässt sich ein erstarkendes Interesse am Dialog, ja geradezu eine „wechselseitigen Erhellung der Künste“1 feststellen. Neben
1
Oskar Walzel fordert bereits 1917 eine „wechselseitige Erhellung der Künste“ und schlug vor, kunst- und literaturwissenschaftliche Begrifflichkeiten zu übertragen sowie die inhärenten Gesetze von Literatur und bildender Kunst zu hinterfragen, um so durch ungewohnte Zugänge innerhalb der jeweiligen Gattung Neues zu entdecken. Walzel, Oskar: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. In: Philosophische Beiträge veröffentlicht von der Kantgesellschaft. Nr.15. Berlin: Reuther & Reichard, 1917. S.9.
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der allgemeinen Entwicklung, dass zu Beginn dieses Jahrhunderts „jede Kunstart an die Grenze der anderen gerät“2, ist für die bildende Kunst ab ca. 1910 kennzeichnend, dass sie – in deutlich größerem Ausmaß als die „Nachbarkünste“ – die bisher begrenzte Anzahl verfügbarer Medien radikal erweitert.3 Dabei kommt der Schrift eine wesentliche Rolle, sogar eine Vorreiterrolle zu. Ob Dadaismus, Kubismus, Surrealismus oder Pop Art, Konzeptkunst und Informel: Schrift und Sprache werden konstituierende Komponenten vieler Avantgarde-Strömungen. Knapp hundert Jahre nach dem Beginn dieser Entwicklung lohnt es sich, zunächst zurückzuschauen und die Rolle, die Schrift in der bildenden Kunst im letzten Jahrhundert hatte, zu analysieren, um festzustellen, ob die Integration von Schrift tatsächlich der vermutete Auslöser für die Öffnung der bildenden Kunst im Hinblick auf fremde Materialen und Arbeitsfelder ist. Zudem ist die Erweiterung der Ausdrucks- und Bedeutungsmöglichkeiten, die damit einhergeht zu untersuchen. Es gilt aber vor allem den Blick auf heute agierende Künstler/-innen zu werfen, um festzustellen, wie die „Ur-Enkel der Avantgarde“ mit eben diesem Erbe umgehen, in welchen Themenfeldern und in welcher Funktion Schrift auftaucht und was dies für das Selbstverständnis der Künstler/-innen als „Kommunizierende“ in Text und Bild bedeutet.
1.1.
F ORSCHUNGSSTAND
Bildende Kunst und Literatur berühren und befruchten sich bereits seit der Antike4 und so überrascht es nicht, dass das Verhältnis der beiden „Schwesternkünste“ die Kunst- und Literaturwissenschaft ebenfalls seit langem beschäftigt. Angesichts der stattlichen Anzahl von Neuerscheinungen, die gerade in den letzten Jahren erschienen sind und das Verhältnis von Text und Bild untersuchen, ist es umso erstaunlicher, dass sich relativ wenige Publikationen mit dem Text-Bild-Verhältnis in der bildenden Kunst, geschweige denn in der aktuellen Kunst beschäftigen. Die Literatur, die sich in den letzten Jahren mit dem Verhältnis von Text und Bild in der zeitgenössischen Kunst auseinandersetzt und für die vorliegende Arbeit von Bedeutung ist, lässt sich daher im Wesentlichen in vier Gruppen unterteilen: Hier
2
Heißenbüttel, Helmut. In: Ausstellungskatalog Schrift und Bild. Amsterdam, BadenBaden: Walter, 1963. S.XV.
3
Vgl. dazu: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Ausweitung der Kunstzone: Interart Studies – Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften. Bielefeld: transcript, 2010.
4
Vgl. dazu: Adler, Jeremy und Ernst, Ulrich (Hg.): Text als Figur: visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim: VCH, 1987.
E INFÜHRUNG & R ÜCKBLICK | 13
ist zunächst die Gruppe von Publikationen zu nennen, die zum Ziel haben, einen Überblick über das Thema zu geben. Dies sind in der Regel Ausstellungskataloge, die in den letzten 25 Jahren relevante Ausstellungen zum Thema begleiteten. Eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten und Dissertationen bespricht ausführlicher Einzelpositionen oder einzelne Aspekte des Text-Bild-Verhältnis in der bildenden Kunst. Die dritte Gruppe bilden kunstwissenschaftliche, medientheoretische, semiotische oder linguistische Texte, die sich Hybridisierung und Entgrenzungstendenzen zwischen den Künsten zum Thema machen. An vierter Stelle sind jene Publikationen zu nennen, die Klassifizierungen oder Typisierungsmodelle von Text-BildKombinationen im Kontext bildender Kunst vorschlagen und diskutieren.
1.2.
B ILDER WERDEN W ORTE
Eine bereits an dieser Stelle hervorzuhebende Überblicksdarstellung ist Wolfgang Max Fausts „Bilder werden Worte. Zum Verhältnis Bildender Kunst und Literatur im 20. Jahrhundert oder Vom Anfang der Kunst im Ende der Künste“5 aus dem Jahre 1977, da sie für die hier vorliegende Arbeit als Ausgangpunkt genommen wurde. Vor dem Hintergrund der Entgrenzungstendenzen in der bildenden Kunst und Literatur des frühen 20. Jahrhunderts stellt Faust eine zunehmende, schrittweise Lingualisierung der bildenden Kunst fest: Das bildkünstlerische Werk integriert zunächst Sprache, die in einem zweiten Schritt als gleichberechtigter Teil neben den visuellen Elementen erscheint, um diese in einem dritten Schritt vollständig zu ersetzen. Faust prognostiziert eine „Gesamtkunst jenseits der Künste, in der der medialen Vermischung eine soziale Dimension korrespondiert“6. Er orientiert seine Studie vorrangig an künstlerischen Positionen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Kunst nach 1945 wird nur ansatzweise erfasst, aktuellere Positionen der 60erund 70er-Jahre spielen kaum eine Rolle. An dieser Stelle setzt die hier vorliegende Arbeit an: Erstens prüft sie, ob und wie sich die von Faust diagnostizierte Lingualisierung der bildenden Kunst seit 1945 bis in die Gegenwart eingeschrieben hat. Zweitens hinterfragt sie kritisch am Beispiel aktueller Positionen, inwieweit man angesichts der Entwicklungen der letzten 20 Jahre tatsächlich von einer „Gesamtkunst jenseits der Künste“ sprechen kann. Dass gerade die Kunst der letzten Jahre um eine gesellschaftlich-soziale Dimension erweitert wurde, wie Faust vermutete,
5
Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis Bildender Kunst und Literatur im 20. Jahrhundert oder Vom Anfang der Kunst im Ende der Künste. Köln: DuMont, 1987. Erstausgabe 1977 erschienen im Hanser Verlag München.
6
Ebd. S.227.
14 | W ORTREICHE BILDER
lässt sich hingegen eindeutig feststellen. Daher versucht diese Arbeit drittens herauszuarbeiten, in welcher Hinsicht die von Faust prognostizierte soziale Erweiterung bildender Kunst mit der Integration von Schrift in Verbindung steht. 1.2.1.
Ausstellungskataloge und Überblicksdarstellungen
In den letzten 30 Jahren haben sich in regelmäßigen Abständen Ausstellungen die Integration von Text und Sprache in der bildenden Kunst zum Thema gemacht. Da die meisten hier genannten Publikationen als Ausstellungskataloge konzipiert wurden, begnügen sie sich in der Regel damit, die Existenz von Schrift in der bildenden Kunst zu konstatieren und durch Beispiele zu belegen. Eine tiefer gehende Auseinandersetzung findet nicht statt. Dennoch sollen hier die wichtigsten Überblicksdarstellungen genannt werden, da sie zeigen, unter welchen Aspekten das TextBild-Verhältnis in Ausstellungen diskutiert wurde. 1989 erscheint „In other words. Wort und Schrift in Bildern der konzeptuellen Kunst“7, die Publikationen zur gleichnamigen Ausstellung im Dortmunder Museum am Ostwall. „In other words“ zeigt 13 konzeptuelle Positionen und präsentiert Werke, die ausschließlich oder überwiegend aus Text bestehen (Hans Haacke, Joseph Kosuth, On Kawara, Thomas Locher). Das Centraal Museum in Utrecht zeigt 1991 mit „Tekst en beeld in de kunst van de twintigsrte eeuw/Text and image in the art of the the 20th century“8 in einer größeren Überblicksausstellung Text-Bild-Positionen von der Jahrhundertwende bis in die 80er-Jahre. Der von Kees Broos herausgegebene Katalog unterteilt die Werke in drei chronologische Einheiten: die Avantgardepositionen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, die Nachkriegspositionen (Pop Art, Konzeptkunst, Broodthaers) und abschließend ironische oder politische Positionen der 70er- und 80er-Jahre (Polke, Prince, Dwyer, Kruger). Im gleichen Jahr zeigt das Von der Heydt Museum in Wuppertal in der Ausstellung: „Buchstäblich: Bild und Wort in der Kunst heute“9 Arbeiten u.a. von Joseph Beuys, John Cage, Hanne Darboven und Joseph Kosuth. 1993 erscheint der von Eleonora Louis und Toni Stooss herausgegebene Ausstel-
7
Museum am Ostwall (Hg.): In other words. Wort und Schrift in Bildern der konzeptuellen Kunst. Stuttgart: Cantz, 1989.
8
Broos, Kees (Hg.): Tekst en beeld in de kunst van de twintigsrte eeuw/Text and image in the art of the the 20th century. Utrecht: Centraal Museum, 1991.
9
Von der Heydt Museum (Hg.): Buchstäblich: Bild und Wort in der Kunst heute. Wuppertal: Von der Heydt Museum, 1991.
E INFÜHRUNG & R ÜCKBLICK | 15
lungskatalog „Die Sprache der Kunst“10. Die umfangreiche Publikation, die anlässlich der in der Kunsthalle in Wien und im Frankfurter Kunstverein gezeigten großen Ausstellung erscheint, widmet sich vorrangig Positionen der 80er- und frühen 90erJahre, bietet aber auch einen historischen Überblick über das Verhältnis von Sprache und bildender Kunst im 20. Jahrhundert. Während sich viele Ausstellungskataloge auf einen einführenden Überblick beschränken, ist „Die Sprache der Kunst“ mit Texten von Hans Ulrich Reck, Siegfried J. Schmidt, Vilem Flusser u.a. nach wie vor ein nützliches Kompendium, dass viele relevante Aspekte des Wechselspiels von Kunst und Sprache zumindest anreißt. Zehn Jahre später, 2003, erscheint der Katalog „Talking pieces“11 zur gleichnamigen Ausstellung im Museum Morsbroich Leverkusen. Die Ausstellung zeigt neben einigen Beispielen der Konzeptkunst (Laurence, Weiner, Joseph Kosuth, On Kawara) und ironischen-witzigen Sprachspielen (Sigmar Polke, Richard Prince) hauptsächlich eine Auswahl aktueller Positionen der Jahrtausendwende (Ken Lum, Michel Majerus, Raymond Pettibon, Elke Silvia Krystufek), die auch für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind. Das Museion in Bozen gibt 2004 anlässlich der Ausstellung „Language in Art“12 einen umfangreichen Katalog heraus. Das Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Bozen hat seit Beginn der 90er-Jahre sowohl in Sonderausstellungen, aber auch in Bezug auf die eigene Sammlung, sprach- und textbezogene Arbeiten in den Mittelpunkt seines Interesses gestellt, so dass die Ausstellung „Language in Art“ ausschließlich mit Werken aus der eigenen Sammlung bespielt wird. Die von Andreas Hapkemeyer herausgegebene Publikation versteht sich dementsprechend nicht nur als Ausstellungskatalog. Sie unternimmt auch den Versuch, die gezeigten Positionen in thematische Blöcke zu untergliedern (Skulpturen aus Sprache, konkrete und konzeptuelle Texte, Sprechen als künstlerische Strategie etc.). Durch Aufsätze ergänzt und kommentiert gibt sie so einen über den Sammlungsbestand hinausgehenden Einblick ins Thema. Die Ausstellung „Un coup de dés. Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenklichen Sprache“13, die 2008 in der Generali Foundation stattfand und der von Sabine
10
Louis, Eleonora und Stooss, Toni (Hg.): Die Sprache der Kunst. Die Beziehung von Bild und Text in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Cantz, 1993.
11
Finckh, Gerhard (Hg.): Talking pieces – Text und Bild in der neuen Kunst. Leverkusen: Museum Morsbroich, 2003.
12
Hapkemeyer, Andreas (Hg.): Language in Art. Sprachliche Strukturen in der Gegenwartskunst. Regensburg: Lindinger + Schmid, 2004.
13
Folie, Sabine (Hg.): Un coup de dés. Bild gewordene Schrift; ein ABC der nachdenklichen Sprache. Wien: Generali Foundation, 2008.
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Folie herausgegebene umfangreiche Katalog stellen „Un coup de dés jamais n’abolira le hasard“ (1914) von Stephane Mallarmé und die gleichnamige auf Mallarmé bezogene Arbeit „Un coup de dés jamais n’abolira le hasard“ (1969) von Marcel Broodthaers in den Mittelpunkt einer Ausstellung. Weitere Arbeiten der beiden Künstler werden in dialogischen Konstellationen „im Denken verwandte[n] Künstler/-innen“14 (u.a. Robert Barry, Rodney Graham, Gerhard Rühm, Joëlle Tuerlinckx) gegenübergestellt. Zwei weitere Publikationen, die zwar keine Ausstellungskataloge, aber als Überblickswerke konzipiert sind, sollen in diesem Zusammenhang ebenfalls genannt werden: „Writing on the wall. Word and image in Modern Art“15 von Simon Morley (2003) bietet eine Übersicht über Text-BildWerke der Moderne, die jedoch, anders als die meisten vergleichbaren Publikationen, im späten 19. Jahrhundert mit Beispielen der Impressionisten beginnt. In vergleichbarer Weise zeigt „Art and Text“16, 2009 herausgegeben von Aimee Selby die Entwicklung von frühen Text-Bild-Kombinationen bei El Lissitzky oder Schwitters bis hin zu konzeptuellen Arbeiten von Baldessari, Weiner, Naumann und Kosuth. Der Versuch, die Werke nach der Funktion und Herkunft der textuellen Elemente in Kategorien wie Text, Context, Semiotext und Textuality zu untergliedern, kann nicht überzeugen, da die Eigenschaften der einzelnen Werke oft mehrere Kategorien gleichzeitig abdecken und die Kategorien zudem nicht deutlich voneinander abgegrenzt sind. 1.2.2.
Schrift oder Sprache in der bildenden Kunst
Während die genannten Publikationen vorrangig Überblicke über Text-Bild-Werke der (frühen) Kunst des 20. Jahrhunderts geben und keine tiefer gehenden Analysen bieten, beschäftigen sich einige wissenschaftliche Arbeiten mit Teilaspekten des Text-Bild-Verhältnisses. So untersucht Andrea Domesle in „Leucht – Schrift – Kunst“17 fünf Positionen der 70er- und 80er-Jahre (Joseph Kosuth, Mario Merz, Maurizio Nannuci, Bruce Nauman, Jenny Holzer) die Neonschriften oder elektronische Leuchtschriften in ihrer Arbeit verwenden. Domesle geht dabei u.a. auf die Zusammenhänge zwischen Kunst und Werbung bzw. Kunst und Alltagswelt ein, allerdings ohne die textuellen Bezüge (systematisch) zu analysieren. Alexander
14 15
Ebd. S.8. Morley, Simon: Writing on the wall. Word and image in Modern Art. London: Thames & Hudson, 2003.
16
Selby, Aimee (Hg.): Art and Text. London: Black Dog Publishing, 2009.
17
Domesle, Andrea: Leucht – Schrift – Kunst. Berlin: Reimer, 1998.
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Streitbergers überzeugende Dissertation „Ausdruck – Modell – Diskurs“18 untersucht weniger die Integration von Schrift und Sprache als die Sprachreflexion in exemplarischen künstlerischen Positionen des 20. Jahrhunderts. Er wählt für seine Analyse Werke von Künstler/-innen, die nicht nur Text verwenden, sondern ihn in ihrer Arbeit auch theoretisch vor dem Hintergrund von Sprachphilosophie und Linguistik reflektieren: Gerhard Rühm, Marcel Broodthaers und Joseph Kosuth. Mit „Seh-Texte. Zur Erweiterung des Textbegriffs in konkreten und nach-konkreten visuellen Texten.“ liefert Christina Weiss eine detaillierte Bestandsaufnahme von Text-Bild-Konstellationen im literarischen Kontext. Die Dissertation von 1982 ist bis heute ein wichtiger Vorschlag zur Klassifizierung von Text-Bild-Relationen am Beispiel der konkreten und visuellen Poesie.19 Weitere Autor/-innen untersuchen einzelne Positionen oder die textuellen, sprachlichen und narrativen Strukturen im Werk einzelner Künstler/-innen, einige von ihnen werden auch in dieser Arbeit eingehender untersucht (Raymond Pettibon, Tracey Emin, Cy Twombly)20.
18
Streitberger, Alexander: Ausdruck – Modell – Diskurs. Sprachreflexionen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Berlin: Reimer, 2004.
19
Weiss, Christina: Zur Erweiterung des Textbegriffs in konkreten und nach-konkreten visuellen Texten. Dissertation, Saarbrücken. Zirndorf: Verl. für moderne Kunst, 1984.
20
Stephanie Zaar untersucht zwei wiederholt auftretende Comicfiguren im Werk von Raymond Pettibon. Zaar, Stephanie: „Vavoom“ und „Gumpy“: Studie zu zwei ikonographischen Figuren in den Text-Bild-Assemblagen Raymond Pettibons. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller, 2011. Eva Maltrovsky stellt in „Die Lust am Text in der bildenden Kunst“ die Text-BildArbeiten von Künstler/-innen vor, die in den 60er- und 70er-Jahren in der NN-fabrik in Oslip im österreichischen Burgenland arbeiteten (u.a. Heinz Gappmayr, Klaus Basset, Fria Elfen). Maltrovsky versucht sich den – außer Gappmayr und Elfen – kaum bekannten Künstler/-innen über Semiotik und Linguistik insbesondere mit Hilfe der Sprechakttheorien zu nähern. Der gewählte regionale Schwerpunkt hat jedoch zur Folge, dass die Qualität der untersuchten Arbeiten zu sehr schwankt, um eine fruchtbare vergleichende Analyse zu ermöglichen und generelle Aussagen über die Verwendung von Text in der bildenden Kunst zu machen. Maltrovsky, Eva: Die Lust am Text in der bildenden Kunst. Frankfurt/Main: Lang Verlag, 2004. Jutta Göricke untersucht in ihrer Dissertation „Spurensuche“ Konstruktion und Dekonstruktion der Schriftelemente im Werk von Cy Twombly an fünf Beispielen, unternimmt jedoch nicht den Versuch einer Systematisierung. Göricke, Jutta: Cy Twombly, Spurensuche. München: Verlag Silke Schreiber, 1995.
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Anne-Kathrin Reulecke nähert sich dem Text-Bild-Verhältnis in ihrer Dissertation „Geschriebene Bilder: zum Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur.“21 von literaturwissenschaftlicher Warte und untersucht deutschsprachige Prosatexte, die Werke bildender Kunst reflektieren. Reulecke untersucht zwar ausschließlich Texte und keine Text-Bild-Kombinationen, dennoch waren vor allem Reuleckes Gedanken zum „Drama der Repräsentation“22 wichtige Impulse für diese Arbeit. Die Verschiebungen des Text-Bild-Verhältnisses durch die rasante Entwicklung von Internet und digitalen Bildmedien in den letzten Jahren bedurften einer Kommentierung und Neubewertung. Medientheorie, Semiotik und Linguistik reagierten auf die medialen Veränderungen der letzten Jahre mit zahlreichen Publikationen zum Text-Bild-Verhältnis.23 Angesichts der damit verbundenen wachsenden Präsenz von Text in der bildenden Kunst erstaunt die geringe Anzahl kunstwissenschaftlicher Arbeiten, die sich mit dem Thema befassen. Nur wenige Publikationen beschäftigen sich unmittelbar mit dem Text-Bild-Verhältnis in der bildenden Kunst oder lassen sich darauf anwenden. Die meisten Klassifizierungs- und Typisierungs-
Petra Metz untersucht in „Aneignung und Relektüre“ Text-Bild-Beziehungen im Werk von Marcel Broodthaers. Metz, Petra: Aneignung und Relektüre: Text-Bild-Metamorphosen im Werk von Marcel Broodthaers. München: Verlag Silke Schreiber, 2007. Barbara Josepha Scheuermann vergleicht in ihrer Dissertation die narrativen Strukturen im Werk von Tracey Emin und William Kentridge, geht dabei aber nicht auf Text- und Sprachelemente in den Arbeiten von Emin ein. Scheuermann, Barbara Josepha: Erzählstrategien in der zeitgenössischen Kunst. Narrativität in Werken von William Kentridge und Tracey Emin. Erlangen, 2005 zum Download unter: http://kups.ub.uni-koeln.de/ 2837/. 21
Reulecke, Anne-Kathrin: Geschriebene Bilder: zum Kunst- und Mediendiskurs in der
22
Ebd. S.11.
23
Exemplarisch seien hier in der Reihenfolge ihres Erscheinungsjahrs genannt:
Gegenwartsliteratur. München: Fink, 2002.
Fix, Ulla (Hg.): Bild im Text – Text und Bild. Heidelberg: Winter, 2000; Schmitz, Ulrich: Text-Bild-Metamorphosen in Medien um 2000. In: ders. und Wenzel, Horst: Bilder und Zeichen von 800 bis 2000. Berlin: Schmidt, 2003; Stöckl, Hartmut: Die Sprache im Bild – das Bild in der Sprache: zur Verknüpfung von Sprache und Bild in massenmedialen Text. Berlin: Gruyter, 2004; Voßkamp, Wilhelm und Weingart, Brigitte (Hg.): Sichtbares und Sagbares. Text-Bild-Verhältnisse. Köln: DuMont, 2005; Horstkotte, Silke: Lesen ist wie Sehen: Intermediale Zitate in Bild und Text. Köln: Böhlau, 2006; Belting, Hans (Hg.): Bilderfragen: die Bildwissenschaften im Aufbruch. München: Fink, 2007; Stjernfelt, Frederik (Hg.): Text and image. London: Routledge, 2011.
E INFÜHRUNG & R ÜCKBLICK | 19
versuche stammen zudem aus den 80er- und frühen 90er-Jahren. Die Diskussion verlagert ihren Schwerpunkt dann im Laufe der letzten zehn Jahre und greift mit Entgrenzungs- und Intermedialitätsdebatten erneut auf Adornos Begriff des Verfransens zurück und aktualisiert ihn vor dem Hintergrund der aktuellen medialen Veränderungen. 1.2.3.
Klassifizierungsversuche
Das DFG Symposium, das sich 1988 „Text und Bild – Bild und Text“24 zum Thema macht, nähert sich den vielfältigen Wechselbeziehungen von bildender Kunst und Literatur von kunstwissenschaftlicher Warte, allerdings beschäftigen sich nur zwei Beiträge unmittelbar mit Text-Bild-Kombinationen in denen, über Illustrationen oder Inschriften hinaus, explizit eine mediale Vermischung stattfindet. Gottfried Willems skizziert in seinem Beitrag methodische Grundlagen von Wort-BildBeziehungen.25 Seinem Fazit, dass Wort-Bild-Kombinationen eher Randerscheinungen in der bildenden Kunst bleiben, muss zwar aus heutiger Sicht widersprochen werden. Dennoch ist seine Einteilung in drei Typen von Text-BildBeziehungen in vielerlei Hinsicht plausibel und wird deshalb in Kapitel 4.0. als Vorschlag eines möglichen Analyserahmens von Text-Bild-Relationen kritisch reflektiert. Weitere Versuche einer Klassifizierung oder Typisierung von Text-BildRelationen unternehmen Christina Weiss, auf deren Dissertation bereits hingewiesen wurde sowie S.D. Sauerbier, der 1980 in zwei Beiträgen im Kunstforum ein Struktur-Modell vorschlägt und anhand von Beispielen Vorschläge für eine Typisierung unterbreitet. In „Wie Bilder zur Sprache kommen. Ein Struktur-Modell der Text/Bild-Beziehungen“26 schlägt er vor, die Bild-Text-Kombinationen nach Prinzipien von Nebenordnung, Überordnung, gegenseitigem Vervollständigen oder Abschließen in neun Typen einzuteilen. Die von ihm beschriebene Gewichtung und Arbeitsteilung der Bild- bzw. Textkomponenten wird im Kapitel 4 aufgegriffen, muss jedoch um weitere Kriterien ergänzt werden: So geht Sauerbier weder ausreichend auf die Wahl der Medien noch auf die sprachliche Ebene der Textelemente
24
Harms, Wolfgang (Hg.): Text und Bild – Bild und Text. Stuttgart: Metzler, 1990.
25
Willems, Gottfried: Kunst und Literatur als Gegenstand einer Theorie der Wort-BildBeziehungen. In: Harms, Wolfgang (Hg.): Text und Bild – Bild und Text. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1990. S. 414.
26
Sauerbier, Samson Dietrich: Wie Bilder zur Sprache kommen. Ein Struktur-Modell der Text/Bild-Beziehungen. In: Bechtloff, Dieter (Hg.): Kunstforum International. Band 37. Ruppichteroth: Kunstforum, 1980. S.12.
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oder auf die sich verändernden unterschiedlichen Funktionen von Text- und Bildebene ein, die sich aus jeweiligen formalen Charakteristika ableiten. 1.2.4.
Überschreitung der Gattungsgrenzen
„Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes“ versucht 1992 die Überschneidungen von Literatur und Kunst exemplarisch an Einzelaspekten (Emblematik, Bildgedicht, Montage) zu beleuchten.27 Die Einleitung von Ulrich Weisstein bietet neben der historischen Herleitung einen Typologisierungsversuch von Mischformen zwischen bildender Kunst und Literatur, allerdings beschränkt er sich letztlich doch auf primär literarische Erscheinungsformen (literarische Werke, die Kunstwerke beschreiben, literarische Werke, die bildkünstlerische Verfahrensweisen wie Collage adaptieren, Ideogramme, Bildgedichte etc.).28 Zwei aktuelle Beiträge zeigen, wie sich die Diskussion in den 20 Jahren verschoben hat: Der 2007 von Stefanie Rentsch und Dirck Linck herausgegebene Tagungsband „Bildtext – Textbild. Probleme der Rede über Text-Bild-Hybride.“29 stellt die Frage nach der Einordnung von vorrangig bildkünstlerischen Text-BildKombinationen im Rahmen geistes- und kulturwissenschaftlicher Forschung. Vor allem Carolin Meisters Beitrag „Die Ausweitung der Kampfzone. Gegen die mediale Begründung disziplinärer Grenzen“ zeigt am Beispiel der Text-Bilder von René Magritte, wie gerade die Kunstgeschichte die Herausforderung der Forschung an den disziplinären Grenzen annehmen und nutzen kann. Auch Erika Fischer-Lichte stellt im Vorwort des 2010 herausgegebenen Tagungsbands „Ausweitung der Kunstzone. Interart Studies – Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften“30 die Frage, wie die Kunstwissenschaften auf die von ihr konstatierte zunehmende Grenzverwischungen zwischen den Künsten, verursacht durch „Hybridisierung und Multimedialisierung“31,
27
Weisstein, Ulrich (Hg.): Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Berlin: Schmidt, 1992.
28
Ebd. S.11.
29
Linck, Dirck und Rentsch, Stefanie (Hg,): Bildtext – Textbild. Probleme der Rede über
30
Fischer-Lichte, Erike (Hg.): Ausweitung der Kunstzone. Interart Studies – Neue Perspek-
31
Ebd. S.7.
Text-Bild-Hybride. Freiburg: Rombach, 2007. tiven der Kunstwissenschaften. Bielefeld: transcript, 2010.
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reagieren können32. Fischer-Lichte benennt zwei grund-legende Modelle, die die Untersuchung von Beziehungen zwischen den Künsten bisher maßgeblich bestimmt haben: Das in der Tradition von Lessing stehende Modell vergleicht die einzelnen Künste im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit, während das Wagnerianische Modell die Wechselspiele zwischen den Künsten betont. Fischer-Lichte stellt diesen Entwürfen das Modell des Hybrids entgegen, das sich im Gegensatz zu den anderen beiden Modellen nicht nur auf „Entgrenzungen zwischen den Künsten, sondern auch auf solche zwischen Kunst und anderen kulturellen Bereichen anwenden lassen“33. Zwar ist der Begriff des Hybrids, der in kunst- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen häufig unklar und beliebig verwendet wird, nur bedingt hilfreich. Der Gedanke, dass beide, die innere (zur anderen künstlerischen Gattung) und äußere (zu angrenzenden Bereichen) Erweiterung in einem Modell gedacht werden müssen, bleibt für die hier vorliegende Arbeit jedoch zentral, da sie versuchen wird anhand der Analyse aktueller Positionen zu belegen, dass sowohl die Integration von Schrift (eben als Ereignis zwischen den Gattungen Kunst und Literatur), wie auch die in den letzten Jahren konstatierte Erweiterung der bildenden Kunst in gesellschaftspolitische Bereiche und die Öffnung der bildenden Kunst hin zum öffentlichen Raum, Teile ein und derselben Entwicklung sind. 1.2.5.
Ausgangspunkt
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die hier vorgestellten Publikationen beschäftigen sich zumeist mit Positionen der Moderne und haben in der Regel ihren Schwerpunkt auf der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert oder beleuchten die Positionen der Nachkriegszeit. Aktuelle Positionen werden kaum besprochen, Überblickdarstellungen beschränken sich darauf, aktuelle Beispiel zu nennen, wissenschaftliche Arbeiten bevorzugen eine Fokussierung auf die „abgesicherten“ Positionen der Avantgarden des 20. Jahrhundert oder beschränken sich auf die „textlastige“ Konzeptkunst und visuelle bzw. konkrete Poesie. Die Forschung hat seit Wolfgang Max Faust zwar einzelne Aspekte oder Positionen ausführlicher analysiert, sich aber bisher davor gescheut, in einem vergleichbaren Versuch die Positionen der zweiten Hälfte der 20. Jahrhundert und der Jahrtausendwende zu untersuchen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Angesichts der Fülle künstlerischer Positionen, die sich
32
Bereits 1997 greifen Irmale Schneider und Christian W. Thomsen in ihrem Sammelband das Phänomen der Hybridisierung auf: Schneider, Irmela und Thomsen, Christian W. (Hg.): Hybridkultur. Medien. Netzte. Künste. Köln: Wienand, 1997.
33
Fischer-Lichte, Erike (Hg.): Ausweitung der Kunstzone. Interart Studies – Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften. Bielefeld: transcript, 2010. S.28.
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in den letzten Jahren mit Schrift und Sprache auseinandergesetzt haben, läuft jede Untersuchung zum Thema, die versucht, eine Übersicht zu schaffen, Gefahr, sich in Oberflächlichkeit zu verlieren. Stellt man jedoch ausgewählte Aspekte von TextBild-Werken in das Zentrum einer Untersuchung, so fällt es am Ende schwer, verallgemeinerbare Erkenntnisse über das Verhältnis von Text und Bild der (aktuellen) Kunst zu gewinnen. Diese Gratwanderung hat sich die vorliegende Arbeit zum Ziel gemacht: Sie soll die Bandbreite der Integration von Text in der aktuellen bildenden Kunst aufzeigen, um eine vergleichende und systematische Analyse zu ermöglichen und dennoch fundierte Auseinandersetzung mit einzelnen Positionen gewährleisten. Sie zeigt zwar zunächst die Verbindungslinien auf, die von den Avantgarde-Positionen der 10er- und 20er-Jahre bis in die Gegenwart reichen, legt aber anschließend den Fokus vor allem auf die Analyse aktueller Positionen der letzten 20 Jahre. So wird die Arbeit die Verwendung von Text in der aktuellen bildenden Kunst reflektieren und zeigen, wie die Generation von Künstler/-innen , die mit Bilderflut, mit Internet und digitaler Bildbearbeitung, mit Sampling und subversiver Werbung aufgewachsen ist, eigentlich mit Text und Bild umgeht, und wie sich ihr Verständnis von Repräsentation visueller und verbaler Zeichen in ihren Arbeiten niederschlägt. Dementsprechend fungiert die Arbeit an einer Schnittstelle: Sie nimmt nicht in Anspruch einen vollständigen Überblick zu geben, versucht aber dennoch die relevanten Themenfelder von Text-Bild-Kombinationen in der aktuellen bildenden Kunst aufzuzeigen und gleichzeitig anhand von tiefer gehenden Analysen einzelner zeitgenössischer Positionen grundsätzliche Aussagen zur Verwendung von Text in der bildenden Kunst zu machen.
1.3.
D AS V ERFRANSEN
DER
K ÜNSTE
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint Schrift also zum selbstverständlichen Gestaltungsmittel der bildenden Kunst geworden zu sein. Die Integration von Schrift in Werken der bildenden Kunst ist dabei keine grundsätzlich neue Erscheinung: Die Verbindung von Wort und Bild, das Erscheinen von Wörtern und Sätzen in der bildenden Kunst hat es schon immer gegeben. Schrift hat in der bildenden Kunst durch die Jahrhunderte eine Rolle gespielt34, aber nun, zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat
34
So hat sie u.a. in Buchmalereien, der Emblematik und in der religiösen Malerei des Mittelalters eine Funktion und Bedeutung innerhalb der Kunst gehabt. Einen ausführlichen Überblick bietet die bereits genannte Publikation des DFG-Symposions 1988. Harms,
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das Einbeziehen von Schrift neue Qualitäten: Blieben Texte und Bilder früher trotz ihrer Kombination innerhalb ihrer Gattungen und fungierten als Ergänzungen (als Bildunterschrift oder Illustration), so entstehen im 20. und 21. Jahrhundert Werke, die entweder nicht eindeutig einer bestimmten Gattung zugeordnet werden können, oder Werke, die der bildenden Kunst zuzuordnen sind, in denen Schrift jedoch notwendiger, bisweilen sogar ausschließlicher Bestandteil geworden ist. Anfang des 20. Jahrhunderts beginnen sich die Gattungen zu berühren. Die von Lessing in Laokoon35 postulierte Trennung der Gattungen, die lange Zeit für bildende Kunst und Literatur prägend blieb, kann und will zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr länger aufrechterhalten werden. Futurismus, Kubismus, Surrealismus und Dadaismus arbeiten beständig daran, die Gattungsgrenzen zu überschreiten. Die Grenzen zwischen allen künstlerischen Bereichen, vor allem aber zwischen Literatur und bildender Kunst verschwimmen, „ihre Demarkationslinien verfransen sich“36. Diese Beobachtung Adornos bildet nicht nur die Basis für „Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei“37, sondern auch Grundlage für den darauf folgenden Essay „Die Kunst und die Künste“38. Er belegt seine These durch Beispiele neuerer musikalischer Tendenzen, die sich von konstruktiver oder informeller Malerei haben anregen lassen, oder musikalischer Konstruktionsprinzipien, die moderne Prosa und Malerei beeinflusst haben. Mit Adornos Begriff des Verfransens ist jedoch weitaus mehr gemeint als die Übernahmen von Konstruktionsprinzipien oder (bezüglich des Verhältnis von Literatur und bildender Kunst) die Integration von Buchstaben in Malerei oder die Visualisierungstendenzen in der Literatur: „Malerei möchte nicht länger auf der Fläche sich bescheiden. Während sie der Illusion von Raumperspektive sich entschlagen hat, treibt es sie selber in den Raum [...] In den Calderschen Mobiles hört Plastik, nicht länger wie in ihrer impressionistischen Phase Bewegung imitierend, auf, ruhig zu verharren und möchte [...], sich wenigstens partikular selbst verzeitlichen.“39 Es geht um eine tiefgreifende Veränderung, in der die Einzelkünste bis-
Wolfgang (Hg.): Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988. Stuttgart: Metzler, 1990. 35
Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und der Poesie. In: Lessings Werke. Herausgegeben von Walter Riezler. Vierter Teil. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart: Deutsches Verlagshaus Bong & Co, 1925.
36
Adorno, Theodor W.: Die Kunst und die Künste. In: Anmerkungen zur Zeit 12. Berlin: Akademie der Künste, 1967. S. 25.
37
Ebd. S.5.
38
Ebd. S.25.
39
Ebd. S.25.
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weilen explizit versuchen, Eigenschaften der Schwesternkünste zu erlangen, die ihnen bisher abgesprochen wurde.40 Zudem entstehen nun Mischformen (dies gilt für die um 1918 entstandenen Plakatgedichte Haussmanns ebenso wie die PlakatAktionen von Jens Haaning aus dem 90er-Jahren), die nicht mehr eindeutig der einen oder der anderen Kunstform zuzuordnen sind. Und selbst wenn die Arbeiten in ihrer Gattungszughörigkeit eindeutig sind, so entstehen dennoch Kombinationen, in denen Text und Bild zu gleichen Teilen vertreten sind. Teilweise verdrängt das neu integrierte Medium sogar das ursprüngliche, so dass grundsätzliche Fragen über die Definition der Gattungen aufgeworfen werden. Man denke an die Malerei On Kawaras, an die Schreibzeit Hanne Darbovens, die seitenweise abgeschriebene Interviews aus dem Spiegel und anderen Zeitschriften enthält, oder an die LexikonAuszüge Joseph Kosuths. Insbesondere die bildende Kunst öffnet sich also für Schrift, die Literatur jedoch nicht im gleichem Maße dem Bild. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Pop Art, Informel, Konzeptkunst) wird bis heute in der bildenden Kunst kontinuierlich Schrift integriert, in der Nachkriegsliteratur und Literatur der 60er-Jahre sind zwar vereinzelte Bestrebungen, aber keine vergleichbare gravierenden Veränderungen nachzuweisen. Die Integration von Schrift – diese These gilt es im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu überprüfen – wird somit zum Vorläufer der schrittweisen Öffnung der bildenden Kunst im letzten Jahrhundert. Die bildende Kunst öffnet sich, initiiert durch die Integration und Schrift und Sprache, zunächst anderen Künsten, dann anderen kulturellen und letztlich auch anderen gesellschaftlichen Bereichen. Durch diese Öffnung der Kunst, die sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Integration von Text erfährt, wird überhaupt erst möglich, dass heute neben Schrift noch ganz andere „kunstfremde“ Materialien oder nicht aus dem Kunstbereich entlehnte Verfahrensweisen eingesetzt werden. Eine Entwicklung, die soweit geht, dass nicht wenige Künstler/-innen bewusst eine Schnittstellen-Position suchen, an der sich Kunst explizit zu anderen gesellschaftlichen Bereichen hin öffnet oder bewusst als Bindeglied fungiert.
40
Die hier beschriebene Tendenz der Entgrenzung der Künste und ihr verändertes Verhältnis zueinander sind Gegenstand der Untersuchungen des Sonderforschungsbereichs 626 der FU Berlin. „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ befasst sich seit 2003 mit der wechselseitigen Erläuterung des ästhetischen Erfahrungskonzept und der dadurch veränderten Spezifik der ästhetischen Erfahrung in den einzelnen Künsten. Vgl. u.a: Degner, Uta und Wolf, Norbert Christian (Hg): Der neue Wettstreit der Künste. Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität. Bielefeld: transcript, 2010; sowie: Linck, Dirck (Hg.): Bildtext – Textbild. Probleme der Rede über Text-Bild-Hybride. Freiburg: Rombach, 2007.
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1.4.
V ISUALISIERUNGSTENDENZEN IN DER L ITERATUR DES 20. J AHRHUNDERTS
„Dieser Bezug der bildenden Kunst zur Sprache soll im Folgenden unter dem Begriff Lingualisierung gefasst werden. Er benennt die unterschiedlichen Möglichkeiten einer Verbindung von Kunst mit Sprache: ihre Einbeziehung ins Kunstwerk, ihre Verwendung als Medium der bildenden Kunst, ihre Benutzung neben dem Werk.“41
Es wurde bereits festgestellt, dass die beschriebene Dekonstruktion der Gattungsgrenzen nicht von beiden Seiten gleichermaßen betrieben wurde. Dennoch existieren auch in der Literatur Bestrebungen, sich zum Bild hin zu öffnen. So vereinzelt diese Visualisierungstendenzen auch sind, waren sie doch häufig Impulsgeber, nicht zuletzt für bildende Künstler/-innen . Daher sollen an dieser Stelle jene literarischen Positionen in Erinnerung gerufen werden, die für die nachfolgenden Analysen von Bedeutung sind. 1.4.1.
Mallarmé
Einen frühen und bereits sehr weit reichenden Versuch, den Text auf neue Weise dem Bild zu nähern, unternimmt bereits 1879 der französische Schriftsteller Stéphane Mallarmé42. In Un coup de dés43 bezieht er nicht nur die visuelle Wirkung, die typografische Gestaltung von Schrift mit ein: Die Seite eines Buches wird als Fläche gesehen, die grafisch gestaltet werden kann und die, jenseits der Bedeutung des geschriebenen Wortes, nach visuellen und kompositorischen Gesichtspunkten aufgebaut ist.44 Scheinbare Nebensächlichkeiten wie die Materialität des Papiers, das „Gewicht“ der leeren Fläche etc. werden als relevante Gestaltungselemente erkannt. Das Gedicht ist jedoch anti-mimetisch – will kein Bildgedicht sein – auch wenn immer wieder diskutiert wurde, ob noch Umrisse von konkreten Gegenständen
41
Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln: DuMont, 1987. S.15.
42
Wie Mallarmés Un coup de dés die Kunst bis ins 21. Jahrhundert beeinflusst hat, zeigt auch die gleichnamige Ausstellung, die 2008 in der Generali Foundation in Wien stattgefunden hat: Folie, Sabine (Hg.): Un Coup des Dés. Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenklichen Sprache. Wien: Generali Foundation, 2008.
43
Mallarmé, Stéphane: Ein Würfelwurf/Un coup de dés. Übersetzt und erläutert von MarieLouise Erlenmeyer. Olten, Freiburg: Walter, 1966.
44
Vgl. dazu: Melgarejo Granada, Gloria: Fragments et obstacles: Mallarmé et le 'génie' du livre inachevé, poésie et dédoublement esthétique. Frankfurt/Main: Lang, 2009. S.93 ff.
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assoziiert werden können.45 Durch die Konzeption als mehrseitiges, ungebundenes Gedicht wird die Linearität des vorhersehbaren Lesens aufgebrochen. Es kann immer wieder neu kombiniert werden und erhält dadurch eine Vielzahl an zusätzlichen Assoziations- und Interpretationsmöglichkeiten. Anders als bei vergleichbaren Arbeiten wie beispielsweise dem später entstandenen Bildgedicht il pleut von Apollinaire wird deutlich, dass Mallarmé die Leserichtung eines herkömmlichen Textes nicht primär mit dem Ziel auflöst, die Buchstaben und Wörter wieder Formen bildend zusammenfinden zu lassen.46 Die Umsetzung in ihrer freien Notationsweise geht über eine solch rein mimetische Funktion hinaus. Wenn auch Un coup de dés an Partituren erinnert, so geht es deutlich um mehr als musikalische Assoziationen: „Das Auftauchen von Wörtern und Wortgruppen aus dem Weiß der Seiten versteht Mallarmé als Auftauchen der Wörter aus dem Schweigen. Die Reflexion auf die semantische Dimension des gedruckten Worts führt zur Reflexion auf die semantische Dimension der weißen Fläche als eines ‚Nicht-Wortes‘.“47 Syntaktische Beziehungen werden auf diese Weise visualisiert, optisch erfahrbar gemacht. Der Text, ebenso wie die Fläche, die ihn umgibt, werden ikonisiert, von den Leser/-innen mit der inhaltlichen Ebene abgeglichen und potenzieren so ihre jeweiligen Bedeutungsfelder. 1.4.2.
Apollinaire
Der französische Dichter Guillaume Apollinaire sucht ebenfalls nach Erweiterungsmöglichkeiten der Literatur und findet neue Lösungen, wie der Inhalt eines Textes sich in der typografischen Gestaltung niederschlagen kann.48 Dabei zeichnet sich die Auseinandersetzung mit dem Kubismus zunächst ausschließlich in der Konstruktion und Struktur seiner Gedichte ab, ohne dass sie sich dadurch auch ihre äußere Gestalt verändern. Vorgefundenes Material, Gesprächsfetzen, fragmentierte
45
Vgl. dazu: Berger, Willi: Umrissgedichte. Apollinaires „Calligrammes“ und die europäische Tradition der figurierten Lyrik. In: Moog-Grünewald, Maria und Rodek, Christoph (Hg.): Dialog der Künste. Intermediale Fallstudien zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Erwin Koppen. Frankfurt/Main: Lang, 1989. S.38.
46
Damit entfernt er sich deutlicher als Apollinaire von der Tradition des Figurengedichts, wo der Text als relativ geschlossene Einheit eine Form ausfüllte. Vgl. dazu: Ebd. S.35 ff.
47
Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und
48
Vgl. dazu: Adelaar, Dick (Hg.): Apollinaire: Wortführer der Avantgarde – Avantgardist
Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln: DuMont, 1987. S.68. des Wortes. Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung. Rolandseck: Stiftung Jean Arp u. Sophie Taeuber-Arp, 1999.
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Wörter und Sätze aus der Werbung werden in den Corpus des Gedichtes collagiert. In den Calligrammes49 wird die grafische Qualität der Schrift zum wichtigen gestalterischen Element, sei es durch Handschrift, sei es durch typografische Variationen. Auch die optophonetische Ebene gewinnt – wie wenig später bei den Lautgedichten Hausmanns – bereits bei Apollinaire zusehends an Bedeutung.50 Zunächst orientiert sich Apollinaire sehr deutlich an der geschlossenen Form antiker Figurengedichte. Der Text füllt jedoch nach und nach nicht wie in frühen Bildgedichten die Form von Gegenständen, sondern umschreibt sie als deren Umrisslinie oder greift in anderer Weise Textinhalte auf. Die Typografie ist dabei nicht mehr zusätzliches Element, das den Text in seinen Aussagen unterstützt, sondern wird zum gleichwertigen gestalterischen Teil des Werkes: Inhalt und Form sollen sich wechselseitig spiegeln und ergänzen. Eines der radikalsten Beispiele ist das typografische Gedicht il pleut in dem die Buchstaben in diagonal angeordneten, unregelmäßigen Linien über das Blatt verteilt von oben nach unten geschrieben sind, so dass auf der grafischen Ebene Regen assoziiert wird. Apollinaire beschränkt sich auf ein einziges einfaches Kompositionselement: Er löst die Leserichtung nicht völlig auf, sondern setzt die Buchstaben vertikal bzw. leicht diagonal untereinander. Die Unregelmäßigkeit der Linienführung unterstützt den bewegten, prozessualen Charakter und weckt Assoziationen von Windböen. Auch hier verzichtet er, wie oben bereits angedeutet, zugunsten einer neuen Grazilität und Dynamik auf die vollständige Binnenfüllung. il pleut (des voix des femmes) bildet zwar ab, jedoch nicht in dem wie bisher streng mimetischen Sinne, da es viel mehr einen Zustand, eine Bewegung, denn ein konkretes Objekt wiedergibt.51
49
Apollinaire, Guillaume: Calligrammes. Paris: Gallimard, 1954.
50
Vgl. dazu: Whiteside, Anna: Apollinaire’s ideogrammes: sound, sense … and visible signs. In: Hunt, John (Hg.): Word & Image. Vol. 6, no 2. April-June. London, 1990. S. 163.
51
Vgl. dazu Willy Berger: „Der suggestiv mimetische Charakter des Textes wird dadurch noch verstärkt, dass die Regendiagonalen nicht in pedantischer Parallelität und Gleichförmigkeit nebeneinander gereiht sind, sondern geringfügige Unregelmäßigkeiten in sich selbst aufweisen und sich zudem gleichsam in einer wehenden Bewegung finden, die den text von links nach rechts erfasst zu haben scheint, drucktechnisch hervorragend realisiert durch Pierre Albert-Birot [...] eindrucksvoller noch veranschaulicht in Apollinaires Handschrift selbst...“ In: Berger, Willi: Umrissgedichte. Apollinaires „Calligrammes“ und die europäische Tradition der figurierten Lyrik. In: Moog-Grünewald, Maria und Rodek, Christoph (Hg.): Dialog der Künste. Intermediale Fallstudien zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Erwin Koppen. Frankfurt/Main: Lang, 1989. S.56.
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1.4.3.
Literarische Experimente
Der angedeutete Weg wird in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts auf vielfältige Weise weiter beschritten. Im Futurismus und im Dadaismus trifft man immer wieder auf bildende Künstler/-innen und SchriftstellerInnen, die zunächst vom Text ausgehen und ihm visuelle Qualitäten verleihen, indem sie herkömmliche Ordnungen und Leserichtungen ändern, die Linearität der Sätze aufbrechen und freier mit den typografischen Möglichkeiten umgehen. Im Folgenden sollen zwei explizit literarische Beispiele vorgestellt werden, da im Futurismus und im Dadaismus deutlich mehr Beiträge von literarischer Seite zur Öffnung der Grenze zwischen Kunst und Literatur geleistet wurden als im Kubismus. Zwar entsprachen die zu Beginn noch recht konventionellen Formen der literarischen Produktion der italienischen Futuristen zunächst kaum deren theoretischen Forderungen. Mit der parole in liberta schuf Marinetti 1912 dann jedoch eine Formensprache, die in ihrer Radikalität weit über bisherige Öffnungen der Literatur hinausging. Futuristische Texte sollten ein Konzentrat sein, verdichtet und, von dem Korsett der Syntax befreit, ihre Dynamik entfalten. „Überflüssige“ Elemente wie Artikel, Präpositionen und Konjunktionen wurden weggelassen oder durch mathematische Zeichen ersetzt. Was für die syntaktische Ebene galt, wurde auch auf der typografischen Ebene angewendet: Die durch ein konventionelles Schriftbild bedingte Leserichtung wurde völlig aufgehoben; Größe und Art der Schrift, sowie deren Setzung innerhalb der Seite wurden frei nach neuen kompositorischen Gesichtspunkten rhythmisiert.52 Auch wenn die politisch-kritische Botschaft der Dadaisten der kriegsverherrlichenden Haltung der Futuristen diametral entgegengesetzt war, so weisen die jeweiligen Formensprachen deutliche Parallelen auf. Wort und Bild begegnen sich im Dadaismus auf unterschiedlichen Ebenen, zum einen in den Aktionen der Künstler, zum anderen in Bildern und Druckgrafiken. Diese sind häufig eher literarischen Ursprungs. Die Lautgedichte Hugo Balls sind ein prominentes Beispiel dafür, wie die Dadaisten die von den Futuristen angestoßenen Prozesse aufgreifen und weiterentwickeln. Einer Partitur gleich, stehen verschiedene Schriftgrößen und -arten für an- und abschwellende Lautstärke und verschiedene Tonhöhen. So findet das Lautgedicht seine eigentliche Form erst in der von Hugo Ball mit „kubistischer“ Maske und priesterlichem Habitus auf der Bühne vorgetragenen Variante. Anders als die
52
Vgl. dazu: Bartram, Alan: Futurist typography and the liberated text. London: Yale University Press, 2005 sowie: Belli, Gabrielle und Avanzi, Beatrice (Hg.): Sprachen des Futurismus. Literatur, Malerei, Skulptur, Musik, Theater, Fotografie. Berlin: Jovis, 2009.
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Futuristen versucht Ball jedoch, die Sprache von ihrem zivilisatorischen Ballast zu befreien und zu einer Art Ursprache zurückzufinden. Hans Arp dagegen bedient sich in seinen Gedichten gerade der Alltagssprache. Nach dem Zufallsprinzip wählt er Wort- und Satzfragmente aus Anzeigen, Werbung und Inseraten aus und setzt sie neu zusammen. Durch Collage oder Montage wurde zwar auch im Kubismus oder Futurismus der Zufall miteinbezogen. Hier jedoch gibt der Künstler explizit das letzte Stück Eigenverantwortung ab53 und verabschiedet sich endgültig vom Typus des schöpferischen Künstlergenies – ein Schritt, den in dieser Radikalität ausschließlich die Dadaisten gehen. 1.4.4.
Visuelle und konkrete Poesie
In der konkreten und visuellen Poesie wird in den 50er-Jahren erneut die Berührung mit der bildenden Kunst gesucht. Durch den Nationalsozialismus von sämtlichen europäischen avantgardistischen Tendenzen abgeschnitten, war das Interesse der österreichischen und deutschen Literaten an den Strömungen der 20er-Jahre geradezu unstillbar. Fast 50 Jahre Kunst- und Literaturgeschichte, angefangen bei den Wurzeln des Expressionismus, mussten aufgeholt werden. Die nur zögerlich vonstatten gehende kulturelle Öffnung, „gesäuberte“ Bibliotheken und altbekannte Vorurteile54 erschwerten den Zugang zu dadaistischen, kubistischen und futuristischen Text- und Bilddokumenten. Diese waren jedoch für Literaten wie Eugen Gomringer oder den Mitgliedern der Wiener Gruppe auf ihrer Suche nach einem neuen, experimentelleren Umgang mit der Sprache von größtem Nutzen.55 Auch sie experimentieren mit den grafischen Eigenwerten einzelner Wörter und Buchstaben
53
So wählt Arp sein Rohmaterial häufig aus, indem er mit geschlossenen Augen willkürlich in Zeitungen Teile markiert oder dem Drucker bewusst unleserliche Vorlagen zukommen lässt, so dass sich durch dessen Übertragung Veränderungen ergeben.
54
„schnell wurde deutlich, dass die mehrheit wohl vieles gegen die nazistische kriegspolitik, aber im grunde nichts gegen die ‚gesunde‘ kulturpolitik einzuwenden gehabt hatte. jetzt, da man der ‚entarteten kunst‘ wieder offen begegnen konnte, erregte sie die gemüter oft bis zu handgreiflichkeiten, schon wer für sie interesse zeigte, würde für verrückt, abwegig erklärt – erst recht die, die sie vertraten.“ Gerhard Rühm im Vorwort des Ausstellungskatalogs. Ders. (Hg.): Die Wiener Gruppe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1985. S.7.
55
„das brennende interesse, das diejenigen jungen dichter der nachkriegsjahre, aus denen später die >konkreten< werden sollten, an mallarmé, arno holz, apollinaire, ezra pound, cummings, carlos williams [...] nahmen, lässt aber vor allem in diesen autoren die echten – literarischen – vorläufer, nebst dem bildkonkretismus, erkennen.“ Gomringer, Eugen in: ders. (Hg.): konkrete poesie. Stuttgart: Reclam, 1972. S.5.
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und schlugen Brücken zwischen Literatur und experimenteller Musik und Kunst. Während die Vertreter der visuellen Poesie mit der Bedeutung und der grafischen Qualität der Wörter spielerischer umgingen und sich programmatisch hin zur bildenden Kunst öffneten, indem sie auch rein visuelle Elemente in ihre Arbeiten integrierten, bezogen sich die konkreten Mitstreiter zwar konzeptuell auf die zeitgleich erstarkende konkrete Kunst, konzentrierten sich jedoch ausschließlich auf das Material der Sprache. In tiefer Verunsicherung, verursacht durch den instrumentalisierten Sprachmissbrauch des Nationalsozialismus, beschränkten sie sich auf die Darstellung und Reflexion sprachlicher Strukturen. Mit dem Ziel einer anti-metaphorischen und nicht subjektiven Realisierung von Sprache lehnten sie es endgültig ab, klar dechiffrierbare Botschaften zu übermitteln. Narratives, episches oder lyrisches Sprechen negierend und den damit verbundenen sukzessiven Textaufbau ablehnend, lösten sie die Sprache aus syntaktischen Zusammenhängen und bildeten Kompositionen aus reduzierten Sprach-Elementen. Als optische Zeichen isoliert und neu auf der Fläche des Blattes arrangiert, kann über begriffliche und optische Sinnwerte und damit über die Konstruktion von Sprache gleichzeitig reflektiert werden.56 Allerdings vermögen auch die radikalsten und experimentierfreudigsten Versuche wie beispielsweise jene der Wiener Gruppe am Ende kaum die Gesetze der Literatur zu durchbrechen. Auch die konkrete Poesie beruht letztlich auf sprachimmanentem Denken und die Literatur bleibt grundsätzlich und ausschließlich an das Medium Sprache gebunden57. Daher gilt zusammenfassend für die Vertreter der konkreten und visuellen Poesie, was generell für sämtliche literarischen Visualisierungstendenzen im letzten Jahrhundert gilt: Trotz aller Hinwendung zum Visuellen bleibt ein radikaler Bruch (im Gegensatz zu der Integration von Schrift in der bildenden Kunst) mit den literarischen Traditionen aus.58
56
Eine aufschlussreiche exemplarische Untersuchung der Sprachreflexion in der visuellen Poesie bieten die Kapitel zu Gerhard Rühm, Mitglied der Wiener Gruppe in Alexander Streitbergers Buch: Ausdruck – Modell – Diskurs. Sprachreflexionen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Berlin: Reimer, 2004.
57
Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und
58
Zur Frage der Öffnungs- und Entgrenzungstendenzen in der Literatur sei an dieser Stelle
Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln: DuMont, 1987. S.13/14. auf die Magisterarbeit von Jochen Dubiel verwiesen, der in seiner Analyse von Beispielen visueller Poesie versucht, grundsätzliche Bedingungen von Text-Bild-Beziehungen zu klären: Dubiel, Jochen: Intermediale Spielarten der visuellen Poesie. Versuch einer deduktive Analyse potenzieller Text-Bild-Relationen. Marburg: Tectum, 2004.
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1.5.
D IE I NVASION
DER W ÖRTER : S CHRIFT IN DER BILDENDEN K UNST DES 20. J AHRHUNDERTS
In der bildenden Kunst hingegen wird, anders als in der Literatur, das Medium selbst bzw. dessen bisherige Funktion grundsätzlich in Frage gestellt. Nicht nur die kubistischen Künstler versuchen dem Bild, das sich nun endgültig nicht mehr durch Darstellung einer „objektiven“ Wirklichkeit legitimieren kann, durch die Integration von Schrift neue Möglichkeiten zu eröffnen. Zunächst stehen in den kubistischen wie auch in den futuristischen und dadaistischen Anfängen noch die visuellen Qualitäten von Schrift im Vordergrund. Den Kubisten kommt die Schrift auf der Suche nach einer neuen Bildrealität gelegen. Ein neuer, anderer, nicht-ikonischer Bezug zur Wirklichkeit soll entstehen, der Realitätsbezug jedoch nicht grundsätzlich aufgegeben werden. Dies geschieht nicht nur im Kubismus durch die Integration von beschrifteten Realmaterialien. Auch im Dadaismus wird Schrift als der Realität entliehenen Material eingesetzt, um auf diese Weise Kunst und Leben neu zu vereinen. Die Surrealisten hingegen sind eher an der Erweiterung der Assoziationsmöglichkeiten durch diese zusätzliche Zeichenebene interessiert. Die Pop-Art-Künstler setzen Jahre später auf den Wiedererkennungswert von Zeitungen oder Werbung, die Schrift verwendet, um sicherzustellen, dass der Gebrauchsgegenstand als solcher eindeutig zu identifizieren ist. In anderen Stilrichtungen wird teilweise auf bildnerische Elemente ganz verzichtet. In der KonzeptKunst und späteren Positionen wird ganz auf die Bilder evozierende Kraft der Sprache gesetzt. Durch die Rezeptionen der zum Teil ausschließlich auf Text bestehenden Arbeiten, schafft bzw. ergänzt das Publikum die Kunstwerke in seiner Imagination. Auf die einzelnen Vorgehensweisen soll später ausführlicher eingegangen werden. Zunächst lässt sich jedoch festhalten: Zum einen verwenden Künstler/-innen Schrift-Zitate aus der Werbung, Reklame, Schriften oder Zeitungsausschnitte, um über eine neue, nicht-mimetische inhaltliche Ebene, das Bild wieder näher an die Realität heranzuführen. Zum anderen erhält durch die Verwendung von realen Zeitungsausschnitten, Werbeanzeigen etc. die Realität tatsächlich allein durch das Material Einzug in die Malerei, das Bild integriert die Wirklichkeit, anstatt auf sie zu verweisen. Auf der Suche nach neuen Darstellungsmöglichkeiten finden Künstler/-innen bald in der Schrift ein Medium, mit dem sie, jenseits der tradierten Mittel, eine zweite Realitätsebene innerhalb des Bildes schaffen können; ein neues Codesystem, das sich auf vielerlei Ebenen mit den visuellen Elementen des Bildes verbindet, rückkoppelt und die Interpretationsmöglichkeiten erweitert.
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1.5.1.
Kubismus
Im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geraten bis dahin gültige Weltbilder durch den Ersten Weltkrieg, die Folgen des Kolonialismus sowie die zunehmend allumfassende Industrialisierung und deren in alle gesellschaftlichen Bereiche hineinreichenden Auswirkungen ins Wanken. Auch die Entwicklungen in der bildenden Kunst spiegeln diese Verunsicherung wider. Die alten Lösungen gelten nicht mehr – die Kunst muss nach neuen Antworten suchen. Die Kubisten stellen die Frage nach der Wirklichkeit neu, da die Antworten der Malerei des 19. Jahrhunderts für sie nicht mehr befriedigend sind. Der Kubismus benennt jedoch nicht nur das Problem der Darstellung von Wirklichkeit, er findet einen Ausweg aus dem Dilemma.59 Auf die Erkenntnis, dass die Wiedergabe von Realität nicht durch Kopieren der Natur erreicht werden kann, muss nun eine andere Arbeitsweise folgen. Schrittweise reduzieren die Kubisten die Körper und Gegenstände auf geometrische Grundformen, fragmentieren sie, um gleichzeitig deren Allansichtigkeit gerecht zu werden. Damit verabschieden sie sich endgültig von einer zentralperspektivischen Darstellungsweise, von der bis dato gültigen Vorstellung, die Malerei habe auf der Leinwand die Illusion von Raumtiefe zu evozieren. Beim Versuch, Körper von verschiedenen Seiten zu erfassen und darzustellen, gerät die kubistische Malerei allerdings unfreiwillig nahe an die Grenze zum abstrakten Bild. Den Bezug zur Wirklichkeit wollen die Kubisten aber nach wie vor aufrechterhalten. Das Problem erkennend, versucht Braque dieser Entwicklung entgegenzuwirken, indem er ab 1911 Realmaterialien ins Bild einfügt. Im Frühjahr 1911 beginnt Braque zunächst, Worte und Zahlen in seine Bilder einzufügen, um das Bild wieder näher an die Realität heranzuführen60, jedoch gleichzeitig auf dessen Zweidimensionalität zu verweisen. Mit den papiers collées integrieren die Kubisten in einem zweiten Schritt ihrer unmittelbaren Umwelt entnommene Wirklichkeitsfragmente wie Tapetenstücke, Werbungen, Notenblätter oder Zeitungen. Sie schaffen Kompositionen,
59
Drück, Patricia (Hg.): Cubisme - Kubismus: ein künstlerischer Aufbruch in Europa 1906–
60
„Immer in dem Bestreben, mich soweit wie möglich der Realität zu nähern, führte ich
1926. Hannover: Sprengel Museum, 2003. 1911 Buchstaben auf meinen Bildern ein. Es waren Formen, die nicht mehr deformiert werden konnten, denn sie sind zweidimensional, sie existieren außerhalb der dreidimensionalen Sphäre; ihre Einbeziehung in ein Bild erlaubt die Unterscheidung zwischen Objekten, die in den Raum gestellt sind und solchen, die zu außerräumlichen Bereichen zugehören.“ Georges Braque im Gespräch mit Dora Vallier. In: Fauchereau, Serge: Georges Braques. Recklinghausen: Bongers, 1988. S.15.
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in denen sich zwei verschiedene Wahrnehmungssysteme durchdringen61, in denen sich aber gleichzeitig Malerei und Collage, Wort und Bild gleichberechtigt gegenüberstehen. Spätestens mit der Schrift, die nicht ins Bild gemalt, sondern in Form von Zeitungsfetzen oder Notenblättern als Realitätsfragment ins Bild eingearbeitet wird, ist jegliche Raumillusion explizit zerstört. Gleichzeitig wird angesichts der Integration von Massenmedien oder Materialien aus industrieller Herstellung deutlich, dass sich die Funktion des Künstlers vom Schöpfers oder Urheber zum Sammler und Arrangeur wandelt. Betrachtet man Schriftart und Inhalt dieser kubistischen Arbeiten, so ist offensichtlich, dass die Sätze und Buchstaben ihr Äquivalent in der unmittelbaren Umgebung der Kubisten hatten: Es handelt sich um Wörter, Texte oder Textfragmente, denen Braque und Picasso täglich in Cafés, in Werbung, in Zeitungen und Schaufenstern begegneten: Worte und Buchstaben, die Profanes bezeichneten. Der Alltag (wie auch die Ästhetik der Werbung) ziehen ein ins Bild. Braque benutzt, um Buchstaben ins Bild zu malen, häufig eine Schablone, deren Schrifttypus durch Ankündigungen, Werbung, öffentliche Schilder etc. bekannt und verbreitet ist. Die in den Stillleben auftauchenden Buchstaben sind meist an eine Gegenstandsform, wie z.B. Zeitungen gebunden. Sind sie dies nicht, so wird der Bezug häufig durch die Eindeutigkeit der Wörter hergestellt. So benennen die Wörter oft Dinge, die in einem Stillleben auftauchen könnten, auf der gemalten Ebene jedoch nicht zu finden sind, sie geben den entscheidenden Hinweis, um Formen mit einem konkreten Gegenstand zu assoziieren. Und sie verbildlichen in ihrer Funktion als Schrift den Kontrast zu den in Teilansichten fragmentierten Gegenständen, die trotz des Versuches, die Dinge in ihrer Komplexität zu erfassen, doch an die Grenzen der Malerei stoßen: Das Wort bleibt abstrakt und verweist doch auf einen konkreten Gegenstand, ohne an Allansichtigkeit und Perspektive zu scheitern. Durch die Integration der Schrift werden Unterschiede zwischen Text und Bild bewusst nebeneinander gestellt. Dabei wird nicht die Kohärenz des Ausdrucks angestrebt. Gerade das Nebeneinander wird zum konstitutiven Moment.62 Diese Feststellung scheint zunächst banal, ist aber im Hinblick auf die weiteren Untersuchungen bemerkenswert: Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, machen die Kubisten einen bedeutenden Schritt, indem sie die beiden zwei Zei-
61
Elger, Dietmar: Die Wörter und die Bilder. Beispiele der Integration von Schrift in der bildenden Kunst. In: Museum am Ostwall (Hg.): In other words – Wort und Schrift in der konzeptuellen Kunst. Stuttgart: Cantz, 1989. S.88.
62
Scheunenmann, Dietrich: Die Schriftzeichen der Maler – die Stillleben der Dichter. Grenzverwehungen zwischen den Künsten um 1910. In: Koebner, Thomas (Hg.): Laokoon und kein Ende. München: edition text + kritik, 1989. S.82.
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chensysteme explizit nebeneinander stellen und dadurch ihrer Zeichenhaftigkeit eher Sichtbarkeit verschaffen, als diese so transparent und unsichtbar wie möglich zu halten. Die Frage nach der „Arbeitsteilung“ der visuellen und verbalen Zeichensysteme und der Sichtbarkeit der Zeichen innerhalb eines Werkes wird uns weiter begleiten. Im Hinblick auf die Kubisten wird hier jedoch zunächst deutlich, dass sowohl der Ansatz, Schrift in der kubistischen Malerei allein als grafisches Element zu deuten, wie auch die Deutung, Schrift habe allein die Funktion, auf die Realität zu verweisen, zu kurz greifen. Das hier entwickelte Kunstverständnis macht dem Publikum möglich, das Sehen des Künstlers nachzuvollziehen, ohne dies durch illusionistische Nachahmung erreichen zu wollen. Repräsentation durch Ähnlichkeit steht nicht mehr im Vordergrund. Die Schrift verweist auf etwas anderes, steht als Bild für etwas anderes und dieser Verweis funktioniert ohne den bis dato nötigen Ähnlichkeitsbezug. Ein bildfremdes Medium wird nun benutzt, um das Problem des Bildes im Bild zu thematisieren und auf seine eigene Bedingtheit zu verweisen. Und so wie die Schrift zum System innerhalb des Bildes wird, wird auch das Bild selbst zu einem referentiellen System. Es wird zu einer Art Sprache, die durch Kenntnis des Codes und nicht durch Erkennen der abgebildeten Realität entziffert werden kann. In diesem Sinne muss Kahnweiler verstanden werden, wenn er davon spricht, dass der Kubismus erkannt habe, dass „alle plastische Kunst nur eine Schrift ist, deren Zeichen der Beschauer liest, und nicht ein Spiegelbild der Natur.“63 Trotz aller Öffnung hin zum Wort: Im Gegensatz zu Dadaismus und Surrealismus war das Ziel des Kubismus nie das Gesamtkunstwerk, eine Formverschmelzung von Text und Bild. Die Kubisten integrierten Text und Realmaterialien ins Bild, um die Krise des Bildes zu überwinden. Das bedeutet aber gleichzeitig auch, dass sie nach wie vor eine bildimmanente Lösung suchen. Die Maler des Kubismus integrieren Wörter und Buchstaben in ihre Gemälde, einen Kubismus der Wörter entwickeln Guillaume Apollinaire, Gertrude Stein und andere, ohne jedoch eine vergleichbare Synthese anzustreben. Eine in ihrer Radikalität der kubistischen Malerei vergleichbare Erscheinung ist in der Literatur nicht zu finden. 1.5.2.
Dadaismus
So unterschiedlich die Formen der gegenseitigen Annäherung von Kunst und Literatur auch sein mögen, einen wesentlichen Grundstein für alle folgenden Strömun-
63
Kahnweiler, Henry: Der Weg zum Kubismus. Stuttgart: Hatje, 1958. S.10.
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gen legen die Dadaisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Kubismus hatte durch die Integration von Fremdmaterial zur Aufweichung des Kunstbegriffs geführt, ihn aber nie grundsätzlich in Frage gestellt. Die Dadaisten hingegen suchten nach neuen künstlerischen Mischformen, die alle bisherigen Verfahrensweisen übertrafen.64 Es lag in der Logik des Protests gegen die bürgerlichen Vorstellungen von Kunst und Kultur, neue Formen zu finden, die nicht den tradierten und gesellschaftlich akzeptierten Formen entsprachen. Eine Möglichkeit findet sich in der Radikalisierung des kubistischen Impulses, kunstfremdes Material zu integrieren. Ihrem Anspruch werden die Berliner Dadaisten nicht nur gerecht, indem sie Realmaterialien wie Fotos, Werbung und Sprach-Zitate in Bilder einfügen. Sie erweitern zudem das künstlerische Spektrum um Plakate, Flugblätter, Annoncen, Telegramme und nicht zuletzt um Fotografie. Während bei den Schweizer Dadaisten um 1916 vor allem eine Verschmelzung von Literatur, Musik und Theater im Vordergrund steht, erproben die Berliner Dadaisten in Bild-Collagen, Flugblättern und experimentell gestalteten Zeitschriften verschiedenste Spielarten von Wort-Bild-Kombinationen. „Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkriegs 1914, gaben wir uns in Zürich den schönsten Künsten hin. Während in der Ferne der Donner der Geschütze grollte, sangen, malten, klebten und dichteten wir aus Leibeskräften. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte.“65 Zwar unterscheidet sich der Rückzug in die „schönsten Künste“ der Züricher Dadaisten von der explizit politischen Haltung der Berliner Kollegen, gemeinsam ist ihnen dennoch die Ablehnung des Krieges, wie auch den vom Bürgertum geprägten Kultur- und Gesellschaftsbegriff ihrer Zeit. Im Gegensatz zu den Zürichern verlassen die Berli-
64
„Dada und Surrealismus bezeichnen einen Moment heftigen Konflikts im Abstecken visueller Praktiken, so dass wir nicht von Text oder Bild, Buch oder Aufführung sprechen, sondern von Praxis, einer bedeutungstragenden Handlung sprechen, die nicht auf das Geflechts des Kunstmarktes [...] beschränkt ist. Textualität war der Domäne des Visuellen nicht bloß übergestülpt oder in sie eingeflochten, wie es im Kubismus und andernorts in der Malerei vor und während des ersten Weltkriegs der Fall gewesen war.“ Welchman, John C.: Nach der Wagnerianischen Bouillabaisse. In: Freeman, Judi (Hg.): Das WortBild in Dada und Surrealismus. München: Hirmer, 1990. S.59.
65
Arp, Hans; Huelsenbeck, Richard; Tzara Tristan: Dada. Dichtung und Chronik der Gründer. Zürich: Verlag der Arche, 1957. S.106.
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ner Dadaisten jedoch die Intimität des geschützten Kunstraums und überschreiten explizit die Grenze zur Nicht-Kunst.66 Einem vom Ersten Weltkrieg zerbrochenen Weltbild und einer zerfallenden Gesellschaft setzen die Dadaisten Sprachschutt und Bildfragmente, Dekonstruktion und Negation entgegen. Wort und Bild begegnen sich dabei auf den zwei beschriebenen Ebenen: Zum einen in den Aktionen der (Züricher) Dadaisten, zum anderen in den Bildern, Fotomontagen, Collagen, Druckgrafiken oder Zeitschriften der (Berliner) Künstler. Neben den Performance-Vortragsabenden gehören Konzipieren und Herausgeben der Zeitschriften zu den wichtigsten Aktivitäten von Dada. Sie erscheinen im eigens dafür von Huelsenbeck und Heartfield gegründeten Malik-Verlag. Aber nicht nur durch die selbst herausgegebene Zeitschrift knüpfen die Dadaisten an literarische Gebrauchsformen an. Auf ihrer Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksmitteln machen sie sich ebenso Annoncen, Plakate, Zeitungsmeldungen und Telegramme zu Eigen. Sie verabschieden sich mit diesem cross over nicht nur endgültig von der Vorstellung exklusiver künstlerischer Kreativität, sondern verweigern sich „der gesellschaftlichen und politischen Logik des 19. Jahrhunderts, das heißt [...] der herrschenden Machtstruktur und deren Methoden, unterschiedliche Wissensbereiche zu ordnen“.67 So wird Text durch die ausgewählten Medien automatisch Bestandteil der künstlerischen Produktion. In den Collagen, vor allem aber in den Zeitschriften begegnen sich Text und Bild auf spielerisch-satirische Weise. Häufig wird das Prinzip der Zeitschrift ad absurdum geführt: In den unzusammenhängenden Beiträgen werden Schrift und Bild als gleichwertige Materialien behandelt. Leserrichtungen, Zeilenordnungen und die Einheitlichkeit des Schrifttyps oder -grades werden zugunsten einer freien Seitengestaltung aufgehoben, Farbe und Fotomontage erhalten Einzug. In den Plakatarbeiten und den niedergeschriebenen Lautgedichten wird die visuelle Qualität der Buchstaben zum ausschließlichen grafischen Gestaltungselement. Semantisch wie grafisch findet eine Reduktion auf die Grundelemente statt, so dass Restbedeutungen nur noch vage assoziierbar sind. Nicht selten werden die Assoziationen durch die Titel der Arbeiten (vgl. Hugo Balls Lautgedichte Karawane oder Labadas Gesang an die Wolken) geleitet. In den Collagen bleiben
66
Zum Vergleich der Dada-Bewegungen in Zürich und Berlin empfehlen sich nach wie vor die beiden 2009 und 2010 überarbeiten und neu herausgegeben Reclam-Bände. Riha, Karl (Hg.): Dada Berlin: Texte, Manifeste, Dokumente. Stuttgart: Reclam, 2009, sowie Riha, Karl (Hg.): Dada Zürich: Texte, Manifeste, Dokumente. Stuttgart: Reclam, 2010.
67
Welchman, John C.: Nach der Wagnerianischen Bouillabaisse. In: Freeman, Judi (Hg.): Das Wort-Bild in Dada und Surrealismus. München: Hirmer, 1990. S.60.
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bei aller Dekonstruktion die sprachlichen Fragmente oft klarer lesbar. Damit bleibt die verbale Ebene erhalten und ist neben den Elementen der Bildebene relevanter Bedeutungsträger. Das im Kubismus, Futurismus und im Züricher Dadaismus durch die Integration von Fremdmaterial und Sprache entwickelte Vokabular erweitern die Berliner Dadaisten um die Fotomontage. Die Möglichkeiten, Text und Bild in unterschiedlichen Materialen zu kombinieren, potenzieren sich und ermöglichen eine neue, der Heterogenität der darzustellenden Welt angemessene Form von Wirklichkeitsbezug. So findet beispielsweise in Hannah Höchs Collage Der Schnitt mit dem Küchenmesser durch die erste Weimarer Bierbauchkulturepoche die Enttarnung der Schizophrenie und Doppelmoral der Weimarer Gesellschaft in der Montage aus zerstückelten Realitätsfragmenten ihre formale Entsprechung. Kurt Schwitters, dessen Aufnahme in den Kreis der Berliner Dadaisten am Widerstand Richard Huelsenbecks scheitert, entwickelt parallel zu DADA mit MERZ eine eigenständige Form.68 Ähnlich den Dadaisten schuf er Text-BildCollagen, aber auch rein typografische Arbeiten, in denen er die Reduktion der einzelnen Elemente radikal weiterentwickelte69. Im Gegensatz zu den Dadaisten führte er den Weg in die Abstraktion fort. Auf eine erste Ausstellung abstrakter Bilder in Waldens Galerie „Der Sturm“ folgte die Veröffentlichung von Gedichten in der gleichnamigen Zeitschrift. Waren diese Gedichte zunächst noch stark von der Wortkunst August Stramms beeinflusst, folgte mit Anna Blume70 ein neuer Stil, der noch stärker von (satirischen) Brechungen, Fragmentierungen und Auflösungen bestimmt war.
68
Boehm, Gottfried (Hg.): Schwitters_Arp. Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Basel. Cantz: Stuttgart, 2004.
69
Vgl. Schwitters „i-Gedicht“, das nur aus einem einzigen Buchstaben besteht.
70
Schwitters, Kurt: Die Blume Anna : die {neue Anna Blume}; eine Gedichtsammlung aus den Jahren 1918–1922. Berlin: Der Sturm, 1922.
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1.5.3.
Futurismus
So formal verwandt die Arbeiten der futuristischen und dadaistischen Künstler auf den ersten Blick auch scheinen mögen, so unterschiedlich sind hingegen ihre inhaltlichen Positionen. Mit dem 1909 veröffentlichten Manifest stellt sich Marinetti gegen jegliche Tradition. Moralismus, Feminismus und Pazifismus verachtend, Geschwindigkeit und technischen Fortschritt preisend, begeisterten sich die Futuristen für die scheinbar reinigende, alles erneuernde Wirkung des Krieges. Die von den Kubisten trotz aller Öffnung gewahrte Konzeption eines einheitlichen (Bild-)Raums, wird von den italienischen Futuristen gesprengt. Während der Kubismus primär eine Stilrichtung der bildenden Kunst war, deren Impulse in einem zweiten Schritt auch von der Literatur aufgenommen wurden, ist für den Futurismus kennzeichnend, dass er von Beginn an, verbunden mit dem Ziel gesellschaftlicher Veränderungen, alle Künste umfasst. Innerhalb der Künste sollen die Gattungsgrenzen verwischt und neue Mischformen geschaffen werden. Die sich im Kubismus ankündigende Tendenz zur Gattungsüberschreitung und Vermischung wird von den Futuristen zum programmatischen Ziel erklärt. Während der Kubismus Sprache kunstreflexiv verwendet, um bildimmanente Probleme zu lösen, setzen die Futuristen von Beginn an nicht zuletzt durch die Verwendung von Schrift auf einen totalitären Kunstbegriff, der die unterschiedlichsten Gattungen, vor allem aber Kunst und Leben miteinander verbindet. Ursprünglich von der Literatur ausgehend, wird der Futurismus durch die Einbeziehung von Malern, Bildhauern und Musikern, bis hin zu Architekten schnell zu einer verschiedenste Kunstformen umfassenden Bewegung. Damit wird der Futurismus zu einer unterschiedliche Gattungen vereinenden Gesamtkraft, in der die bildende Kunst eine wichtige, aber nicht die zentrale Rolle einnimmt. Den wichtigsten Impuls für die futuristische Malerei geben daher auch die literarischen Neuerungen von Marinettis parole in liberta: Die Wörter sollen von den Festlegungen und Einschränkungen der Syntax befreit werden und das damit verbundene konventionelle Schriftbild wird aufgehoben. Diesen Impuls nehmen die futuristischen Maler dankbar auf. Dennoch grenzen sie sich deutlich von den Kubisten ab, da deren Art der Reduktionen auf geometrische Grundformen für sie statisch und der dynamisierenden Formensprache, die der Umsetzung futuristische Ideen dienen soll, entgegengesetzt ist.71 Die Futuristen hingegen wollen eine Malerei, die nicht
71
„Sie versteifen sich darauf, das Unbewegliche, das Erstarrte und alle statischen Aspekte der Natur zu malen. [...] Wir hingegen streben mit völlig avantgardistischen Gesichtspunkten einen Stil der Bewegung an, was vor uns niemand versucht hat.“ Apollonio, Umbro: Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstlerischen Revolution 1908-1918.
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abbildet, sondern gleich einem Schwamm das futuristische Lebensgefühl aufsaugt und verkörpert. Die Darstellung der Simultaneität verschiedenster akustischer und optischer Eindrücke, die Visualisierung der Gleichzeitigkeit von Sinneserfahrungen ist daher eine der wichtigsten Charakteristika futuristischer Kunst. Der Versuch, Bewegung und Geräusche darzustellen, wird zum wesentlichen Motiv. Dem Prinzip der Simultaneität verpflichtet, versuchen sie Bewegung, Ton und Gerüche in ihrer Malerei umzusetzen. Hierbei geht es weniger um das formale Interesse an der Darstellung von Bewegung als um die Versinnbildlichung dynamischer Prozesse, die stellvertretend für das futuristische Lebensgefühl stehen: Geschwindigkeit, technischer Fortschritt und ein von Lärm und Schnelligkeit geprägtes Großstadtleben. Was nicht im Bild ausgedrückt werden kann, wird zunächst über die Titel hinzugefügt, oder durch Schriftelemente direkt ins Bild integriert. Das verwendete Sprachmaterial, das auch auf der verbalen Ebene die „Gleichzeitigkeit der Realitätssplitter“72 widerspiegeln soll, lässt sich dabei in unterschiedliche Gruppen einteilen. Zu Beginn werden Schrift-Fragmente vor allem in abbildendem Kontext verwendet. Durch die Auseinandersetzung mit dem Kubismus wird den Futuristen schnell klar, welches Potential für sie in der nicht rein mimetischen Funktion von Schrift liegt. Neben Werbematerial wird aus dem politisch-revolutionären Vokabular der Futuristen geschöpft. Verwenden die Futuristen einzelne Buchstaben oder Lautfolgen, so geschieht dies meist zum Zweck, um akustische Eindrücke wie Großstadtlärm, Maschinen- oder Kriegsgeräusche ins Bild zu integrieren. Sprachelemente werden aus dem syntaktischen Zusammenhang befreit und ebenso wie andere Stoffe, Elemente oder Fremdmaterialien gesehen und eingesetzt. In Carlo Carras Manifestazione interventista sind die visuellen wie verbalen Elemente zu einer dynamischen Spiralform vereinigt, die den Bildrahmen zu sprengen droht. Die abstrakte Komposition suggeriert dynamische Bewegung, die ihr Äquivalent in den verwendeten Lauten findet, die Assoziationen an signal- oder sirenenartige anschwellende Töne wecken. So ermöglicht die Verwendung von Schrift die simultane Darstellung von optischen und akustischen Eindrücken, auch wenn bei aller futuristischen Komprimierung und Fragmentierung das Problem der sukzessiven Wahrnehmung nicht gelöst werden kann.
Köln, 1972. S.59. Zitiert nach Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln: DuMont, 1987. S.91. 72
Möbius, Hanno: Montage und Collage. München: Fink, 2000. S.151.
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1.5.4.
Surrealismus
Ähnlich wie der Futurismus bleibt der Surrealismus zunächst auch von Schriftstellern geprägt. Dichter wie Breton, Éluard und Aragon führen die Bewegung. Nicht wenige der surrealistischen Künstler waren zuvor in der dadaistischen Bewegung engagiert. Zu Beginn der 20er-Jahre hatte sich der Dadaismus jedoch totgelaufen, die Bürgerschreck-Künstler waren etabliert und längst im Kunstbetrieb angekommen. Die junge, aufblühende surrealistische Bewegung schien eine Alternative zur in die Jahre gekommenen Dauerprovokation zu sein. So überrascht es wenig, dass die im Dadaismus angeeigneten Collage- und Montagetechniken als Verfahrensweisen, und das damit verbundene Interesse an Text und Bild, schnell in surrealistischen Kreisen Einzug hielten. Das surrealistische Interesse an Sprache und Unterbewusstsein findet in einer Zeit statt, in der sich Charles S. Peirce und Ludwig Wittgenstein mit Bedeutung und Struktur von Sprache auseinandersetzen und Erwin Panofsky an einer kunstwissenschaftlichen Methode arbeitet, die methodische Analogien zur Textanalyse aufweist.73 Es ist ungewiss, ob die Surrealisten die genannten theoretischen Schriften von Peirce und Wittgenstein gekannt haben. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die künstlerische Auseinandersetzung mit der Konstruktion und Bedeutung von Sprache zu einem Zeitpunkt stattfindet, in dem der Struktur der Sprache wie der des Bildes ein neues, auch wissenschaftliches Interesse, entgegengebracht wird. Nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung mit Sigmund Freud entwickeln die Surrealisten die écriture automatique, ein Verfahren, in trance- oder rauschähnlichen Zuständen unbewusste Bilder, Zeichen und Worte unter Ausschaltung eines kontrollierenden Verstandes niederzuschreiben: „Surrealistische Dichtung sollte die
73
So erscheint Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus, bereits 1918 vollendet, 1922 in Ostwalds „Annalen der Naturphilosophie“ (Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logicophilosophicus, Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003). Charles S. Peirce hat in den 20er-Jahren keine einzelnen Aufsätze veröffentlicht. Die meisten der in dieser Zeit entstandenen Schriften sind in der achtbändigen Ausgabe „Collected papers of Charles Sanders Peirce“ 1958 (herausgegeben von Charles Hartshorne and Paul Weiss) zum ersten Mal abgedruckt. Zur konkreten Fragstellung vgl. auch: Peirce, Charles S.: Semiotische Schriften: Hrsg. u. übers. von Christian Kloesel, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1986.
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Dichtung transzendieren. Das unbewusste, das automatische Schreiben und die Träume sollten Oberhand haben.“74 Die konkrete Auseinandersetzung mit dem Verhältnis Text und Bild innerhalb eines surrealistischen Kunstwerkes hat sich nirgends so deutlich in der Arbeit niedergeschlagen wie bei René Magritte, obwohl der Zeitraum, in dem Magritte Text in seine Malerei integriert, mit knapp vier Jahren (1927 bis 1931) relativ kurz ist. 75 1929 veröffentlicht Magritte in der von André Breton herausgegeben Zeitschrift La Révolution surréaliste, eine kleine Bildtheorie, in der er die Variationen des Verhältnisses von Text und Bild systematisch vorstellt.76 1929 kombiniert Magritte in la trahison des images die Abbildung einer Pfeife mit dem Satz „Ceci n’est pas une pipe“.77 Das sachlich neutral gemalte Bild der Pfeife bekommt in seiner Bildhaftigkeit geradezu lexikalischen Charakter, der zeichenhafte, verweisende Charakter der Abbildung wird dadurch verstärkt. Der Schriftzug, die Bezeichnungen wird im Gegenzug sorgfältig mit Ölfarben gemalt. Magritte integriert Text auf verschiedene Weise in seine Malerei. Gleich einem Bildrätsel versieht er Gegenstände mit ihrer tatsächlichen oder fremden Bezeichnungen, teilweise werden Begriffe auch unbestimmbaren meist wolkenähnlichen Objekten oder in Freiflächen integriert oder sie ersetzen den von ihnen bezeichneten Gegenstand innerhalb des Gemäldes. Ein Bild (und dies zeigt Magritte mit Hilfe des Wortes) ist mehr als das Abbild eines Gegenstandes. Wie die Kubisten stellt Magritte die beiden Zeichensysteme einander geradezu unversöhnlich gegenüber und rückt die Diskrepanz zwischen visueller und verbaler Ebene ins Zentrum des Werkes. Zwar hat Magritte kein linguistisches oder semiotisches Interesse, sondern möchte durch die Konfrontation von ebenso widersprüchlichen wie unauflöslichen Text-Bild-Konstellationen einen geheimnisvollen, im Verborgenen liegenden magischen Sinn der Bilder entschlüsseln. Er interessiert sich für eine Art nicht-rationale Ähnlichkeit, für verborgene Zusammenhänge, die sich offenbaren, wenn Bild und
74
Freeman, Judi: Bedeutungsschichten. Mehrfache Lesarten der Wort-Bilder in Dada und Surrealismus. In: dies. (Hg.): Das Wort-Bild in Dada und Surrealismus. München: Hirmer, 1990. S.37.
75
Vgl. Leen, Frederik: Ein Rasiermesser ist ein Rasiermesser. Wort und Bild in einigen Gemälden René Magrittes. In: ders. und Ollinger-Zinque, Gisèle (Hg.): Magritte. Stuttgart, Zürich: Belser, 1998. S.27.
76
Vgl. zur Bildtheorie Magrittes auch: Magritte – Wort, Bild und Gegenstand. In: Streitberger, Alexander: Ausdruck – Modell – Diskurs. Sprachreflexionen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Berlin: Reimer, 2004. S.38 ff.
77
Vgl. dazu: Prange, Regine: Der Verrat der Bilder. Freiburg: Rombach, 2001 und Foucault, Michel: Das ist keine Pfeife. München, Wien: Hanser, 1974.
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Text in ungewohnter Konstellation aufeinandertreffen. Mit der künstlerischen Kritik an klassischer Repräsentation soll die Rückkehr zu einem mythischen Ursprung vollzogen, eine Bedeutung aufgedeckt werden, die jenseits unserer (verbalen und visuellen) konventionellen Zeichensysteme liegt. Durch seinen kritischen Gebrauch von Sprache als Material legt er die Bedingtheit von visuellen und verbalen Zeichen offen dar und hinterfragt – mit Hilfe einer Herangehensweise, die sich aufgrund ihrer Systematik deutlich von den Bestrebungen der Kubisten, Dadaisten oder Futuristen unterscheidet – unsere Seh- und Sprachkonventionen.78 Während bei René Magritte die Sprache ins Bild dringt, wird sie bei Marcel Duchamp als Titel oder Beschriftung plötzlich relevanter Teil des Werkes. Seine Ready-mades betitelt Duchamp zum Teil mit ihren tatsächlichen Bezeichnungen (vgl. der Flaschentrockner), oder mit assoziativen Titeln, aufgrund derer das Publikum durch seine aktive Beteiligung eine Beziehung zwischen visueller und verbaler Ebene herstellt (vgl. Betitelung eines Pissoirs als „Fontaine“). Weiter können die Werke Visualisierungen von verschlüsselten Wortspielen sein (vgl. Apollinaire Enameled, L.H.O.O.Q.) oder Objekte direkt mit Aufschriften, die in keinem direkten Zusammenhang mit den beschrifteten Objekt stehen. Lange vor der KonzeptKunst stellt er das Konzept einer künstlerischen Arbeit an die Stelle ihrer Realisierung, beispielsweise indem er die Leserschaft dazu auffordert, ein Haushaltsgerät wie ein Ready-made zu kaufen.79 Anhand dieser Differenzierungen wird deutlich, dass Duchamp – über die Idee des Ready-mades hinaus – die Bedeutungsverschiebungen durch Abhängigkeit der Objekte vom Titel, sowie die Kontextabhängigkeit der Betitelung und Beschriftung thematisiert. Duchamp löst sich hier also mit Hilfe der Sprache, die durch die Bedeutungsverschiebungen die Kontextabhängigkeit des Objekts offenbart, von traditionellen Vorstellungen bildender Kunst. Gleichzeitig wird aber nicht nur das Objekt durch
78
„Im Unterschied zu bildenden Künstlern, die zur gleichen Zeit wie er oder früher gearbeitet haben, mied er in seinem Gebrauch der Sprache und der mit ihr verbundenen Bilder jede Symbolik. Als Folge davon veränderte sich der ganze Leseprozess, da Magrittes Methode des Kontrastierens vom Widersinnigen abhing. Angefangen bei La clefs des songes [...] waren seine ‚Kreidetafel‘ Gemälde, der konventionellen Symbolik zum Trotz, gemalte Lektionen in der Unvereinbarkeit von Wort, Bild und Gegenstand.“ Freeman, Judi: Bedeutungsschichten. Mehrfache Lesarten der Wort-Bilder in Dada und Surrealismus. In: dies. (Hg.): Das Wort-Bild in Dada und Surrealismus. München: Hirmer, 1990. S.48.
79
„Acheter une pince à glace comme Readymade“ zitiert nach: Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln: DuMont, 1987. S.149.
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die Sprache, sondern auch die Sprache selbst transformiert. Gerade in dieser Transformation zeigt sich die von Duchamp häufig beklagte Unzulänglichkeit der Verbalsprache als Mittel, Dinge zu wirklich zu benennen, Prozesse zu beschreiben und Aussagen zu machen. In den so erzielten Bedeutungsverschiebungen wird damit ebenso Duchamps tiefe Sprachskepsis sichtbar.80 Dieses Problem der Sprache kann für Duchamp nur durch weitere Transformation überwunden werden, durch die Umwandlung in Poesie. In der poetischen Verwendung von Sprache – und das bedeutet für Duchamp im assoziativen, offenen und spielerischen Umgang mit der Sprache – gelingt es ihr, annähernd das Auszudrückende zu um- und beschreiben. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt das Verhältnis von Text und Bild weiterhin Thema künstlerischer Auseinandersetzungen und die Beispiele sind zahlreich. Der belgische Künstler (und frühere Dichter) Marcel Broodthaers knüpft dabei wohl am direktesten an das Werk von Magritte aber auch an literarische Vorgänger wie Mallarmé an. Seine Bilder, Schilder, Zeichnungen und Objekte zielen ebenfalls auf die Fragen von Abbild und Wirklichkeit. Broodthaers geht jedoch einen Schritt weiter, indem er wie zuvor Duchamp den realen Gegenstand miteinbezieht und dadurch zusätzlich die Funktion und Definition des Kunstwerkes reflektiert. Triviale Gegenstände, literarische und künstlerische Vorlagen werden bearbeitet und in neue, häufig ironische Zusammenhänge gestellt, die Fragen nach Grenzen des Kunstwerks, der Urheberschaft oder Ausstellungskonzeptionen aufwerfen.81 1.5.5.
Pop Art
Die Frage nach dem künstlerischen Wert trivialer, alltäglicher Gegenstände und die Frage der Autorenschaft angesichts neuer massenmedialer Reproduktionsmöglichkeiten verbindet Duchamps und Marcel Broodthaers mit Künstlern der Pop Art,
80
„C’est une formule à la quelle je ne crois pas du tout : que la langue ou les mots puissent traduire de façon exacte ou précise tout ce qui, vraiment, se passe dans le monde […] La traduction par les mots de ces phénomènes est très approximative, plus qu’approximative et souvent fausse.“ zitiert nach: Streitberger, Alexander: Ausdruck – Modell – Diskurs. Sprachreflexionen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Berlin: Reimer, 2004. S.47.
81
Auf Broodthaers soll in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden, da sich einige Publikationen bereits mit dem Text-Bild-Verhältnis in seinem Werk auseinandersetzen. Vgl. dazu: Metz, Petra: Aneignung und Relektüre: Text-Bild-Metamorphosen im Werk von Marcel Broodthaers. München: Verlag Silke Schreiber, 2007; Zwirner, Dorothea: Marcel Broodthaers. die Bilder – die Worte – die Dinge. Köln: König, 1997 sowie Streitberger, Alexander: Ausdruck – Modell – Diskurs. Sprachreflexionen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Berlin: Reimer, 2004.
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auch wenn sie diese Frage auf andere Weise beantworten. Ganz im Sinne Duchamps wird Nicht-Kunst zu Kunst, werden Strategien und Inhalte der Werbung, Alltagsobjekte, Konsumartikel innerhalb des Kunst-Kontextes thematisiert.82 Unausgelebte Sehnsüchte werden bereits in den 60er-Jahren von der Medien- und Konsumindustrie markstrategisch thematisiert. Das so über Text und Bild transportierte Streben nach Glück und gesellschaftlicher Anerkennung wird von den Künstlern aufgegriffen. Menschliche Dramen, alltägliche Sehnsüchte werden in Arbeiten der Pop-Art-Künstler trivialisiert, Gefühle designt und marktkompatibel layoutet. Konsumartikel werden zu Statussymbolen: Colaflaschen, Zigarettenschachteln, Suppendosen und Waschmittelkartons stehen im Alltag wie auch in der Kunst für ein neues Lebensgefühl. Die der Werbung entnommenen Gegenstände werden aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und einem „künstlerisch-demonstrativen Prozess ausgeliefert.“83 Dass sie als Zeichen auf ihre alltäglich-banale Herkunft verweisen, verdanken sie nicht zuletzt der verwendeten Schrift. Schrift spielt jedoch auch angesichts der neuen Reproduktionsmöglichkeiten und dem damit verbundenen Verlust der Originalität eine wesentliche Rolle. Beliebige Reproduzierbarkeit, inflationärer Gebrauch von Bildern, willkürliche Verfügbarkeit sind die Herausforderungen, denen sich die Künstler stellen müssen. Die Pop-Art-Künstler übernehmen scheinbar die plakativen (und meist Schrift beinhaltenden) Erscheinungsformen, um dem Publikum auf den ersten Blick eine mit der Werbung vergleichbar einfache und schnelle Bildaufnahme zu ermöglichen, sie übertragen „massenmediale Strukturen und damit eine anonym wirkende oder auch maschinelle Produktionsweise“84 auf ihre Arbeit. Die (ironische) Erhöhung der Trivialkultur bringt mit sich, dass sich rund 50 Jahre nach Dada erneut Werbung, Zeitungen, Plakate und damit Schrift in der Kunst finden lassen. Das visuelle oder verbale Zitat nimmt einen zentralen Stellenwert in der Pop Art ein. Gerade aufgrund der Integration von trivialen Realmaterialien war der Dadaismus eine der wichtigsten Quellen für die Pop Art. Das Verwenden und Kombinieren von Reklametexten und Slogans, die Verwendung von Alltagsmaterial, das die Kunst „alltäglich“ machte und damit – in den 20er-Jahren wie auch in den Sechzigern – die Erwartungen und Vorstellungen des Publikums in Frage stellte. Allerdings werden solche Zitate „der modernen großstädtischen
82
Vgl. dazu: Madoff, Steven Henry: Pop Art. A Critical History. Berkeley: University of California Press, 1997.
83
Osterwold, Tilman: Pop Art. Köln: Taschen, 1992. S.26.
84
Ebd. S.44.
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Industriekultur“85 nicht wie bei den Dadaisten als Fragment in die Arbeit integriert, sondern sind selbst darstellungswürdig. Durch die Schrift wird zum einen die (alltägliche) Herkunft des Bildmaterials unterstrichen. Zum anderen wird der Informationsgehalt von visuellen wie verbalen Elementen dekonstruiert oder zumindest in Frage gestellt. Wie die „Erben“ der Pop Art im digitalen Zeitalter dieses Text-BildVerhältnis weiterentwickeln, wird im Kapitel 5.4. (Kunst und Werbung) weitergeführt.86 1.5.6.
Konzeptkunst
Als Reaktion auf die allseits dominierende Pop Art entsteht Ende der 60er-Jahre die Konzeptkunst, in der nicht die bildliche Anschaulichkeit, sondern methodischphilosophische Reflexion über Kunst im Vordergrund steht. Da das Konzept gegenüber der tatsächlichen Ausführung des Werkes betont wird, rücken schriftliche Entwürfe, Anleitungen, Texte und Skizzen ins Zentrum und werden zu Ausstellungsstücken, die das Publikum zum gedanklichen (Nach-)Vollziehen der Arbeit anregen sollen. In der Konzeptkunst wird zudem durch Schrift der Kommentar zur Kunst in die Kunst miteinbezogen. Das Nachdenken über Kunst und die Analyse von Kunst wird Teil des Kunstwerks. Schrift wird hier zum wesentlichen, häufig sogar zum ausschließlichen Medium. Als einer der Gründungsväter der Konzeptkunst reflektiert Joseph Kosuth in seinem Arbeiten auf einer abstrahierten sprachlichen Ebene den Kunstbegriff.87 In seinen Investigations kombiniert er jeweils einen Gegenstand, eine Reproduktion in Originalgröße und die entsprechende lexikalische Definition, um so die Grenzen der Aussagekraft eines Kunstwerks aufzuzeigen. Schrift wird aufgrund ihrer (scheinbaren) Neutralität zur Objektivierung eingesetzt. Kosuth selbst erklärt, „when you deal with language you deal with it conceptually and when you deal with things conceptually, you deal with them in a most general way. My recourse is a way of making it clear that I’m using language to go beyond language. One begins to realize that if one uses language, as a medium it becomes invisible, so that
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Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln: DuMont, 1987. S.17.
86
Vgl. dazu: Francis, Mark (Hg.): Pop art is: popular – transient – expendable – low cost – mass produced – young – witty – sexy – gimmicky – glamorous – big business. Yale: Yale University Press, 2007.
87
Zur Sprachreflexion bei Joseph Kosuth siehe auch: Streitberger, Alexander: Ausdruck – Modell – Diskurs. Sprachreflexionen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Berlin: Reimer, 2004. S.165 ff.
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you don’t focus on any specifics, which implies a sort of stance, a kind of philosophy. Composition and taste are specific but language is very neuter because it is used in so many ways.“88 Später verlässt Kosuth den reinen Kunst-Kontext und arbeitet mit Plakatwänden im öffentlichen Raum, die – so Kosuth – erst durch die Aufmerksamkeit der Passant/-innen bedeutsam und zum Kunstwerk werden. In einem weiteren Schritt reflektiert er in seinen theoretischen Schriften die Bedingungen des Kunstwerks. Gleichzeitig und ineinandergreifend findet in seiner künstlerischen Arbeit vor allem durch die Auseinandersetzung mit Wittgenstein eine durchaus sprachwissenschaftlich zu nennende Reflexion statt. Für Kosuth manifestiert sich in der Konzept-Kunst eine grundsätzliche Neubewertung der Funktion und Wirkung eines Kunstwerkes, die in der konsequenten Weiterführung auch aufzeigt, „wie Kultur an sich funktioniert: wie Bedeutungen sich ändern können, ohne dass sich Materialien ändern.“89 In der weitestgehend entmaterialisierten Konzeptkunst wird neben den „Materialresten“ wie Neonschriftenzügen und direkt auf die Wand geschriebenen Texten die Sprache selbst zum Material. Die Zusammensetzung und Funktion dieses Material wird nun für die Betrachter/-innen nachvollziehbar offen gelegt. Dies gilt – semiotisch argumentiert – für die Signifikaten- wie für die Signifikantenebene; die explizit gezeigten Verkabelungen, die einzelnen Neonbuchstaben miteinander verbinden und zum Leuchten bringen, ebenso wie für die syntaktische Wortketten, deren Sprachstruktur in (tautologischen) Konstruktionen analysiert wird. Kosuth, in der Tradition Duchamps stehend, versteht die Konzept-Kunst als Erweiterung der Konzeption des Ready-made. Sie führt die Idee des Ready-made zwar nicht in dem Sinne fort, dass sie Objekte aus ihrem alltäglichen Kontext nimmt und als erklärte Kunst-Objekte in den Kunst-Kontext stellt. Das „Objekt“ der Konzept-Künstler ist vom trivialen Alltagsgegenstand weit entfernt. Dennoch wird die Idee Duchamps weitergeführt durch das schriftlich fixierte Konzept, der geistige Bausatz eines (noch) nicht materiellen Ready-mades, das sich sowohl durch den Kontext als auch durch die Rezeption in diesem Kontext erst bildet: Wenn Kosuth in One and three chairs einen Stuhl in den Kunstraum stellt, so ist sein Ziel nicht, diesen zum Ready-made zu erklären, sondern anhand des Stuhles, den begrenzten Informationswert der einzelnen Zeichensysteme generell und den ebenso begrenzten des Kunstwerkes aufzuzeigen. Sprache hat also für Kosuth mehrere Funktionen:
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Kosuth in einem gemeinsamen Interview mit Robert Barry, Douglas Huebler und Lawrence Weiner, moderiert von Seth Siegelaub. In: Alberro, Alexander u.a. (Hg.): Lawrence Weiner. London: Phaidon, 1998. S.94.
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Kosuth, Joseph: Kein Ausweg – no exit. Stuttgart: Cantz, 1991. S.12.
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Sie ist das Material des Künstlers, das sowohl die Handlung des Produzierens von Kunst als auch die Rezeption von Kunst seitens der Betrachter/-innen nachvollziehbar macht. Durch die theoretische Reflexion in Text und Bild innerhalb und außerhalb des Werkes (z.B. in begleitenden Schriften) tritt für Kosuth zudem der bevormundete Künstler aus dem Schatten des Kunsthistorikers oder Kunstwissenschaftlers heraus und erweitert seinen Kompetenzbereich: „Das Tätigkeitsfeld des Künstlers schließt die Kunstkritik mit ein. Andererseits erlaubt die Sprache die Konstruktion einer Metaebene, von der aus über das Gesagte reflektiert werden kann. [...] Nicht die Werke >sprechen aus sichuneigentlichkleinen Leute< suchen. [...] Diese Lebensspuren wollen als gleichsam vorsprachliche Schrift entziffert werden, die weder wie ein geschriebener Text eindeutige Botschaft, noch ursprünglich für einen lesenden Adressaten vorgesehen ist.“ Christoph Vitali im Vorwort zu: Schaffner, Ingrid und Winzen, Matthias (Hg.): Deep Storage – Arsenale der Erinnerung. München: Prestel, 1997. S.7. 265 Legt man in diesem Zusammenhang wie von Christoph Vitali vorgeschlagen einen erweiterten Textbegriff zugrunde, so wird Schrift als Spur zum grundlegenden Element für jegliche Form des Dokumentierens und Erinnerns: „Schrift ist nicht nur der Text aus Buchstaben auf einer Schreibunterlage, sondern eben auch die Spur der zeichnenden oder malenden Hand, die Spur des Lichts auf der Foto- und Filmschicht, die Markierungen auf der Haut, die Spuren des Lebens an den Dingen und an der Bearbeitung im Material.“ Ebd. S.8.
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Raumes insgesamt“266 deutlich: Das Monument gegen den Faschismus in Hamburg besteht aus einer (ursprünglich) 12 Meter hohen Stehle, die über einen Zeitraum von 7 Jahren sukzessive im Boden versunken ist. Mit sich unter die Erde nimmt sie Notizen, Kritzeleinen, Beschimpfungen, die während ihres oberirdischen Daseins von Passant/-innen auf sie geschrieben oder hineingeritzt wurde. Die so als Zeitdokument archivierten Texte spiegeln einen nicht repräsentativen Ausschnitt wider, die geäußerten Ansichten entsprechen weder denen der städtischen Verantwortlichen noch denen des Künstlerpaars. Der Künstler als Geschichtsschreiber gibt bewusst seine korrektive Macht in die Hände jener, die diese Macht möglicherweise nicht nach seinem Willen ge- oder sogar missbrauchen. Die Säule wird im wahrsten Sinne des Wortes zum Zeit-Dokument. Während Hanne Darboven und On Kawara ihre eigenen Archive konstruieren, bereiten andere Künstler/-innen bereits archiviertes Material neu auf: Gesammeltes und Geordnetes wird neu zusammengefügt. Gliederungsprinzipien, die wir als so selbstverständlich erachten werden, dass wir sie kaum noch wahrnehmen, werden thematisiert und scheinen plötzlich nicht minder fragwürdig als die neu von den Künstler/-innen aufgestellten. So entstehen neue, andere Sinnzusammenhänge, im Strukturierten wird als Ordnende als selektierende und interpretierende Kraft sichtbar. Bis dato als objektiv oder logisch empfundene Ordnungskriterien werden in Frage gestellt.267
266 Ebd. S.144. 267 Als ein Beispiel unter vielen kann David Bunn gelten: Das Basismaterial des amerikanischen Künstlers besteht aus dem 1990 aufgelösten Zettelkatalog der Zentralbücherei von Los Angeles. Die auf den Karten verzeichneten Büchertitel kombiniert er zu Gedichten und Textfragmenten, indem er Karten übereinanderlegt oder die Titel einzelner Karten untereinander (ab-)schreibt. Diese neuen Texte, zwischen Post-Dadaismus und konkreter Poesie angesiedelt, präsentiert er in Ausstellungen gemeinsam mit in Regalen bis an die Decke gestapelten Kisten, in denen die restlichen Karteikarten systematisch sortiert sind. So zeigt Bunn nicht nur, auf welche Weise ein für eine eindeutige Funktion erstelltes Archiv umgenutzt werden kann und wie durch neue Kombinationen neue Sinnzusammenhänge entstehen. Die Karteikästen-Installationen wirken auch wie eine fast wehmütige Reminiszenz an jene Zeiten (und die damit verbundene Form von Wissensvermittlung), in denen die Umstellung auf elektronische Datenbanken solche Kartensysteme noch nicht überflüssig gemacht hatte. Vgl. dazu Christoph Vitali: „In der Bibliothek tobt ein heftiger Streit zwischen denen, die den Schritt ins 21. Jahrhundert ohne den Ballast von Möbeln und Papier befürworten, und denjenigen, für die deren Zerstörung einer Verbrennung der Bücher selbst gleichkommt. Für letztere ist der Kartenkatalog ein Archiv, eine eigene Literatur. Er enthält sich über viele Jahre erstreckende Anmerkungen, die mit dem Bleistift
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Parallel zur allgemeinen Entwicklung verlagern sich viele Künstler/-innen heute mehr und mehr auf elektronische Archivierung, nicht zuletzt da sie sich – im Gegensatz zu den Künstler/-innen der 60er-Jahre – weniger mit einer Produkt- und Konsumwelle als mit einer Informationsflut konfrontiert sehen. Der reale Ort des Archivs wird vermehrt gegen den virtuellen Datenraum eingetauscht oder zumindest in Mischformen (wie das Beispiel der Atlas Group Archive zeigen wird) verbunden. Damit stellt sich die Frage der Herkunft, Manipulierbarkeit und Authentizität des digitalen bzw. digitalisierten Materials neu. Dies gilt für das Bild- und Textmaterial gleichermaßen, da – wie im Kapitel zur Medientheorie festgestellt wurde – das Problem der elektronisch basierten visuellen und verbalen Daten die „alten“ Texte wie die „alten“ Bilder vor neue Herausforderung stellt. Parallel zur medialen Verschiebung entwickelt sich somit auch eine inhaltliche Veränderung weg von der Sammlung von Realmaterialien hin zur kritisch-reflektierten Archivierung der Datenberge der Informationsgesellschaft. Um der Material- und Datenflut die Stirn zu bieten, vor allem aber um deren Herkunft und Funktion zu hinterfragen, sammeln Künstler/-innen visuelle und verbale Informationen und speichern sie in Archiven, die sie oft nach offensichtlich subjektiven Kriterien geschaffen haben. So rückt die Idee des Archivs als kollektives Gedächtnis, das Prinzip und die Konstruktion von Archiven, und damit verbunden die Frage nach authentischer Dokumentation zwangsläufig ins Zentrum des künstlerischen Interesses. Gleichermaßen wird die Konstitution und Konstruktion von Geschichte kritisch reflektiert. Angesichts der Tatsache, dass die angesprochenen Fragen nach Sichtbarmachung, Archivierung und Dokumentation von persönlichen wie kollektiven Erfahrungen zentral für die documenta 11 waren, verwundert es kaum, dass Kawara und Darboven auf der documenta 11 ein regelrechtes Comeback erlebten. Hier trafen sie nicht nur auf die Positionen wie The Atlas Group, sondern auf eine ganze Generation von jüngeren Künstler/-innen , die auf die Bedingungen des Alltagslebens, auf individuelle, politische und gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen verweisen und diese in Archiven sammeln, kommentieren und neu ordnen: In seiner Installation Book of Words – Random reading reflektiert Ecke Bonk die „etymo-
oder Füllfederhalter notiert wurden und auf individuelle Hände und Stimmen zurückgehen, zusätzliche Zitate [...]. In der virtuellen Realität kann ein falsch getippter Buchstabe ein Buch für immer dem Fegefeuer der Unauffindbarkeit überantworten. Aber die neue Technologie wird auch von der Angst begleitet, dass alte Karten nicht der einzige veraltete Teil der Sammlung sind, der verschwinden wird.“ In: Schaffner, Ingrid und Winzen, Matthias (Hg.): Deep Storage – Arsenale der Erinnerung. München: Prestel, 1997. S.92.
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logisch-historische Untersuchung des deutschen Wortschatzes“268. Das Raqs Media Collective sucht auf der medialen Basis von Internet und kostenloser Software alternative Strategien für Vermittlung und Dokumentation von Informationen. Das auf der documenta 11 präsentierte Projekt 28°28’ N/77°15’ E : 2001-2002 (An Installation on the Co- ordinates of Everyday Life in Delhi) ist via Internet öffentlich zugänglich und dokumentiert die Veränderungen des städtischen Raums sowie die individuellen Erfahrungen und Konsequenzen für die Bewohner der betroffenen Gebiete. In David Smalls interaktiven Computerinstallation The Illuminated Manuscript können die Besucher/-innen sich mit einem elektronischen Stift in den virtuellen Raum eines 26-seitigen überdimensionalen Buchs eintragen und so die Geschichte des Wortes und ihre eigene neu schreiben. 5.7.1.
Archivierte Zeit: Hanne Darboven
„ich beschreibe nicht – ich schreibe.“269
Die individuelle Erfahrung von Zeit und der Versuch, sie visuell erfahrbar zu machen, ist auch der zentrale Aspekt des Werkes von Hanne Darboven. Mit unglaublichem Fleiß und Disziplin schrieb die 2009 gestorbene Künstlerin Tag für Tag ihr Lebenswerk. Zu Beginn weisen ihre Niederschriften hauptsächlich Zahlen auf. Mitte der 60er-Jahre beginnt dann Darboven, anhand von Tages-, Wochen- und Monatsdaten nach einem eigenen System Quersummen zu errechnen. Die jeweils errechnete Zahl, wird mit einem K (für Konstruktion) kombiniert. Diese errechneten Daten werden wiederum tabellarisch und systematisch angeordnet und auf unterschiedlichste Weise dargestellt. Ab den 70er-Jahren wird mehr und mehr Text integriert270. Hanne Darboven schreibt nun literarische Texte, aber auch Interviews
268 Die Projektionen aller 360.000 Einträge des Grimmschen Wörterbuches werden von einem Zufallsgenerator gesteuert, der Wörter herausgreift. http://www.documenta12.de/ archiv/d11/data/german/index.html. 269 Hanne Darboven zitiert nach: Bippus, Elke: Wiederholungen, Reihen und Netze. Zum Verhältnis von Konstruktionszeichnungen und Textarbeiten im Werk von Hanne Darboven. In: Kunsthalle Hamburg (Hg.): Hanne Darboven. Das Frühwerk. Hamburg: Christians, 1999. S.19. 270 Zu Beginn integriert Darboven einzelne Worte und Buchstaben, die sich auf die mathematischen Konstruktionen beziehen. Später erweitert sie den Themenbereich, integriert durch Abschrift zunächst literarische Texte (Homers Odyssee ab 1971, Bausteine von Baudelaire, Heine, Kraus, Rilke und anderen ab Mitte der 70er-Jahre), historische und politische Dokumente.
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ab und verleibt sie ihren Notationssystemen ein. So verbindet sie die Makroebene des Weltgeschehens mit der Mikroebene ihres hermetisch wirkenden Kosmos auf dem Hamburger Burgberg, setzt sich selbst, ihre eigene Existenz, in Relation zur Welt. Durch den Akt des persönlichen, handschriftlichen Niederschreibens wird Darboven in ihrer eigenen Arbeit sichtbar.271 5.7.1.1. Präsentationsformen Die Darstellung der Einzelblätter kann in Büchern oder in Rahmen dicht an dicht nebeneinander an die Wand gehängt geschehen und hängt von Inhalt der Arbeit und Ort der Präsentation ab (Abb.25). Im Galeriekontext werden die Einzelblätter häufig als Zeichnungen präsentiert. Dicht aneinandergereiht wachsen sie schnell zu raumgreifenden Wandinstallationen. Angesichts der so gebotenen Simultaneität und den damit möglichen Querverbindungen gibt das Publikum schnell den Versuch einer linearen Leseweise auf: „Die bildhafte Hängung betont den optischen Einruck, lässt neue Konstellationen entstehen, indem das Nacheinander mit einem Nebeneinander verbunden wird. [...] Zwar ist ein lineares Nachvollziehen weiterhin möglich, [...] zugleich bietet aber die netzartige Struktur, die im Nebeneinander der Reihen entsteht, eine Leseweise der Sprünge, Unterbrechungen und Verknüpfungen sowie die des Vor und zurück an.“272 Um dem Buch- bzw. Ordnercharakter zu entsprechen und den individuellen Zugriff zu ermöglichen, wählt Darboven als Alternative eine an Bibliotheken erinnernde Präsentationsform: schlichte Regale, in die Aktenordner eingestellt werden. Den Besucher/-innen ist der persönliche Zugriff möglich. Indem sie einen Ordner zu Hand nehmen, haben sie jedoch nicht die Dokumentation des Werkes vor Augen, sondern werden selbst Zeugen des sich vollziehenden Werkprozesses. Auch wenn Darbovens Papierarbeiten in den Ausstellungen an der Wand gerahmt eindrücklich präsentiert werden, so entspricht die Idee eine Buches, des Aktenordners, des Archivs doch vielmehr dem Kern dessen, was Darboven interessiert. Zwar
271 „Durch Zitate kulturgeschichtlich kanonisierter Quellentexte und deren neue Zusammenstellung schreibt sie Geschichte, ohne sie zu interpretieren. Die von ihr geschriebene Geschichte verlangt nach keiner wissenschaftlichen Objektivität oder Verallgemeinbarkeit, vielmehr ist sie eingebunden in das komplexe Beziehungsgeflecht von Hanne Darbovens eigener Situation.“ Bippus, Elke und Westheider, Ortrud: Das Buch als Werk. Eine neue Sicht auf Hanne Darbovens Schreiben. In: Dies. (Hg.): Hanne Darboven. Kommentiertes Werkverzeichnis der Bücher. Köln: König, 2002. S.11. 272 Bippus, Elke: Wiederholungen, Reihen und Netze. Zum Verhältnis von Konstruktionszeichnungen und Textarbeiten im Werk von Hanne Darboven. In: Kunsthalle Hamburg (Hg.): Hanne Darboven. Das Frühwerk. Hamburg: Christians, 1999. S.17.
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haben die Papierarbeiten durchaus Zeichnungscharakter, dennoch ist Darboven nicht unbedingt an einer Präsentation ihres Werkes im Sinne einer Präsentation von Tafelbildern interessiert, sondern vielmehr am Buch als eine Form bildender Kunst. Sie distanziert sich jedoch von der Charakterisierung als Künstlerbuch, das für sie hauptsächlich „Malerbuch [ist], in dem das Bildhafte die Darstellung bestimmt und die Abbildung Reproduktionen von Originalen sind“273. 5.7.1.2. Verfahrensweise Darbovens Verfahrensweise wird gerne mit literarischen Techniken, vor allem aber mit wissenschaftlichem Arbeiten verglichen274. Sie ordnet, zitiert mit Angabe der Quellen und strukturiert das Gelesene und Niedergeschriebene. Durch die Verbindung zu Film, Literatur, Musik, Kunst(-theorie), Politik und Geschichte und das Einverleiben dieser Bereiche „(re)konstruiert [Darboven] aus verschiedenen publizierten Texten einen handschriftlichen Text, der Kulturgeschichte schreibt.“275 Schreibzeit, ein Werk, das 1975 begonnen und im Oktober 1982 zunächst abgeschlossen wurde, kann exemplarisch für Darbovens Werk gelten: Die Schreibzeit ist eine „große rhythmische Collage“276 aus vorgefundenen und mit der Hand abgeschriebenen Texten, aus den aufgeklebten Blättern eines Kalenders und Fotografien, vor allem aber zitierte Textpassagen wichtiger kultureller, politischer und historischer Themen. Noch einmal wird hier die für Darbovens Werk so charakterisierende Verschränkung zwischen künstlerischer Arbeit und Leben deutlich. Texte von Heine oder Hölderlin sind ebenso zu finden wie Spiegel-Interviews mit Franz-Josef
273 Bippus, Elke und Westheider, Ortrud: Das Buch als Werk. Eine neue Sicht auf Hanne Darbovens Schreiben. In: Dies. (Hg.): Hanne Darboven. Kommentiertes Werkverzeichnis der Bücher. Köln: König, 2002. S.13. 274 Darboven sieht in ihrem Werk eine Fortführung der Arbeit von James Joyce, der ihrer Meinung nach die konventionelle Literatur in die Unlesbarkeit geführt hat. Vgl. Bippus, Elke und Westheider, Ortrud: Das Buch als Werk. Eine neue Sicht auf Hanne Darbovens Schreiben. In: Dies. (Hg.): Hanne Darboven. Kommentiertes Werkverzeichnis der Bücher. Köln: König, 2002. S.11. 275 Bippus, Elke und Westheider, Ortrud: Das Buch als Werk. Eine neue Sicht auf Hanne Darbovens Schreiben. In: Dies. (Hg.): Hanne Darboven. Kommentiertes Werkverzeichnis der Bücher. Köln: König, 2002. S.16. 276 Busche, Ernst A.: Hanne Darbovens „Für Rainer Werner Fassbinder“ (1982) Ein Traktat über die Pflicht des Künstlers. In: Gillen, Eckhart: Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land. Köln: König, 1997. S.325.
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Strauß oder Rudi Dutschke277. Zusammengehalten wird diese Enzyklopädie von Themenschwerpunkten, die einzelnes miteinander verbinden und Abschnitte gliedern. Würde die Auswahl, Fragmentierung und Kombination nicht einer inneren Logik folgen, welche für die Betrachter/-innen nicht immer entschlüsselbar ist, so könnte man Darbovens Herangehensweise fast wissenschaftlich nennen. Durch das Aneignen und Abschreiben fremder Texte wird jedoch deutlich: Hier geht es weder darum, Originale zu schaffen noch um Datensicherung, d.h. den Inhalt des abgeschriebenen Textes. Die – im doppelten Sinne – künstlerische Handschrift Darbovens manifestiert sich in der persönlichen Aneignung, Fragmentierung und Kombination der gewählten Fragmente. Durch die eigene Handschrift als Zeichen künstlerischer Individualität und der Transformation des Ausgewählten wird die Künstlerin als konstruierende und interpretierende Kraft sichtbar. 5.7.1.3. Aspekte der Zeitlichkeit Wie auch On Kawara versucht Hanne Darboven Zeitlichkeit fassbar, neu erlebbar zu machen. Hanne Darboven übersetzt das tägliche Datum in eine neue Ebene, in eine Konstruktion, deren Regeln ausschließlich sie bestimmt. Insofern ist der Begriff der Übersetzung unzutreffend, da das Gelesene von Darboven in einen Idiolekt transformiert wird, in ein System, das uns keine weiteren Informationen bringt, und dessen Code wir kaum entziffern können.278 Es funktioniert nicht mehr als Kalenderzahl und hat über die Eigenbedeutung als Zeichen hinaus keinen Informationswert. Da die Zahlen ihren ursprünglichen mathematischen Informationswert verloren haben, werden sie, von ihrer Bedeutung getrennt, als visuelle Zeichen wahrgenommen, die Etappen innerhalb eines Verlaufs, innerhalb eines Kontinuums markieren. Dabei müssen weder die Grenzen des Zeitverlaufs noch die innere Logik ihrer Positionierung verstanden werden. Die Konstruktion, in der sie visualisiert werden, ist künstlich und gesetzt und täuscht erst gar nicht vor, ein allgemeingültiges System zu sein. Selbst wenn man sie verstünde oder entziffern könnte, würde
277 „Die Texte und Notizen reflektieren beständig den durch die Nationalsozialisten verursachten Riss in der deutschen Geschichte; und sie beziehen sich direkt oder indirekt auf die aktuelle Tagespolitik, bis hin zum Tod der Ulrike Meinhof am 9. Mai 1976.“ Busche, Ernst A.: Hanne Darbovens „Für Rainer Werner Fassbinder“ (1982) Ein Traktat über die Pflicht des Künstlers. Ebd. S.325. 278 „Gleichgültig, ob man diesen Vorgang als Konkretion auffasst [...] oder als Abstraktion einer Abstraktion [...] immer ist das Ergebnis zunächst ein desemantisiertes Zeichen.“ Tragatschnig, Ulrich: Konzeptuelle Kunst. Interpretationsparadigmen. Berlin: Reimer, 1998. S.46.
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den Betrachter/-innen damit nicht geholfen. Die Zahlen sind als Zeichen Beweise für die Existenz dieses zeitlichen Kontinuums und ihrer selbst; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Besonders deutlich wird dies in Werken wie Ein Jahrhundert, in denen Hanne Darboven die unterschiedlichen Zeitebenen explizit gegeneinander (und damit in Frage) stellt: Die Arbeit umfasste am Ende über 40.000 Einzelblätter in über 400 Ordnern, die in Regalen präsentiert wurden. Die Ausstellung der Arbeit war 1971 ein ganzes Jahr lang zu sehen und wurde während der Laufzeit kontinuierlich erweitert. Jeden Tag wurde die aktuelle Seite aufgeschlagen. „Damit kommen drei Zeiten ins Spiel: Die Zeit der Produktion, die Zeit des Betrachtens und die eines zurückliegenden historischen Datums. [...] Mit HDs System wird Zeit nicht als kontinuierliches Nacheinander, sondern in einer Verklammerung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denkbar.“279 An dieser Stelle lohnt es, sich erneut das medientheoretische Kapitel dieser Arbeit zu vergegenwärtigen. Hanne Darboven widerlegt gerade mit ihrer Kunst, dass Schreiben, dass die Arbeit am Text linear sein muss. Ihre Arbeit lebt gerade von der von Flusser geforderten Vernetzung, von der Verknüpfung zeitlich paralleler Ereignisse, die auf verschiedenen Ebenen stattfinden. In ihrem Werk wird Privates und Öffentliches, Nebeneinander und Nacheinander zu einem komplexen Geflecht verwoben, das sich in Raum und Zeit ausdehnt. „Zeit ist so nicht als ein lineares Modell vorgestellt, sondern wird zu einer raumbildenden Figur.“280 5.7.1.4. Schrift „ich beschreibe nicht – ich schreibe.“ Die Handschrift, Darbovens Medium wird selbst Thema ihrer Arbeit. Es dient nicht dem Inhalt, sondern wird zum Inhalt. Arabische und römische Zahlen, reduzierte Anmerkungen, komplexe Textpassagen, (durchgestrichene) U- oder Wellen-Linien: Die scheinbar unmittelbare Handschrift wird gleichzeitig diszipliniert281 und inszeniert, und dies geschieht häufig auf Kosten der Lesbarkeit. Sie bewegt sich auf der Grenze zwischen visuellem und verbalem Zeichen, zwischen skripturalem Element und decodierbarem Informationsträger. Die Expressivität wirkt bisweilen künstlich, fast manieriert und die Modulation der Linie erschwert das Lesen. So wird der ohnehin schwer rekonstruierbare Inhalt zur Nebensache: „Die Inszenierungen des Schreibens in all den von Darboven vor-
279 Bippus, Elke und Westheider, Ortrud: Das Buch als Werk. Eine neue Sicht auf Hanne Darbovens Schreiben. In: Dies. (Hg.): Hanne Darboven. Kommentiertes Werkverzeichnis der Bücher. Köln: König, 2002. S.39. 280 Ebd. S.20. 281 Assoziationen an Hausaufgaben, repetitives Abschreiben als Disziplinierungsmaßnahmen und Strafarbeiten drängen sich auf.
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geführten Ausformungen haben den Effekt, dass die uns vertraute lesbare Schrift gerade nicht zugunsten ihres Inhalts transparent wird, sondern sich in ihrer Medialität zeigt und darüber zuallererst in ihrer Wirkungsweise reflektierbar wird.“282 Die Betrachter/-innen , die den ersten Schritt der Irritation Darbovens – die Präsentation von Texten statt Bildern – noch nachvollziehen konnten, geraten spätestens hier an seine Grenzen, denn das alternativ präsentierte verbalsprachliche Zeichensystem funktioniert ebenfalls nicht (mehr): „Die Materialität schiebt sich gewissermaßen störend vor die Funktionalität des Zeichens und erschwert die Semantisierung. Dennoch bleibt diese möglich, so dass die Betrachter in ihrem Betrachten/Lesen hin- und hergeworfen sind.“283 5.7.1.5. Die eigene Chronik Hanne Darboven geht nach ihrer eigenen Systematik vor. Sie hat Methoden und Strukturen entwickelt, um ihre Zeit, ihre Art, Zeit zu erleben, sichtbar zu machen. Dabei bestimmt sie „die Zeit, die räumlichen Ausmaße der Zeit aus internen und externen Zusammenhängen und Kontexten heraus.“284 So ist ihr Werk persönlich und neutral, logisch und nicht entzifferbar zugleich. Sie eignet sich die Weltgeschichte und ihre eigene Geschichte an, sie verleibt sie sich ein, indem sie schreibt und versteht dies als dokumentarische Arbeit. Dabei verweist die einzelne Seite nicht, oder zumindest nicht primär auf etwas anderes, sie ist nicht illustrativ, sondern ist die vollzogene vergangene Zeit. Das System Darbovens ist individuell und durch einen ihm eigenen Rhythmus strukturiert und stellt gerade dadurch die Allgemeingültigkeit unserer Zeitrechnung in Frage. Denn neben der allgemeinen Zeitrechnung existiert immer auch noch ein für das Individuum nicht minder relevantes Zeitsystem; das unserer eigenen Lebenszeit.
282 Bippus, Elke: Wiederholungen, Reihen und Netze. Zum Verhältnis von Konstruktionszeichnungen und Textarbeiten im Werk von Hanne Darboven. In: Kunsthalle Hamburg (Hg.): Hanne Darboven. Das Frühwerk. Hamburg: Christians, 1999. S.23. 283 Ebd. S.25 284 Osterwold, Tilman: Hanne Darboven: Zeit und Weltansichten. In: Institut für Auslandsbeziehungen (Hg.) Hanne Darboven. Stuttgart: ifa, 2000. S.6.
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5.7.2.
On Kawara
„I’m still alive.“285
Auch On Kawara visualisiert in seinen Arbeiten die Differenz zwischen scheinbar objektiver und subjektiv-individueller Zeitlichkeit. Seit 1966 arbeitet er an seiner Serie Date Paintings, monochrome Bildtafeln, auf die der Künstler in schlichter, serifenloser Schrift jeweils das Datum des Entstehungstages malt. Parallel dazu arbeitet er an den Serien I read (Sammlung der täglich gelesenen Zeitungsausschnitte, I went (Sammlung von Stadtplanausschnitten, in die der tägliche Weg eingezeichnet wird) I met (Auflistung der Menschen, die Kawara am jeweiligen Tag getroffen hat). Von 1968 bis 1979 verschickt er Postkarten an Kuratoren und Galeristen, auf denen die Zeit vermerkt war, zu der er am betreffenden Tag aufgestanden war. Dazu sendete er Telegramme mit dem stets gleichen Text (I’m still alive), die im Moment des Erhaltens ihre Aktualität bereits verloren hatten und dadurch nicht mehr die Information übermittelten, die sie eigentlich übermitteln sollten. 5.7.2.1. Date Paintings Die Date Paintings (Abb.26) entstehen seit 1966, jedoch nicht täglich. Sie entstehen in verschiedenen Formaten und in der Regel dunklen, gebrochenen Farben. Die Schreibweise des Datums, richtet sich nach der entsprechenden Landessprache. Dass die Schrift von Hand gemalt und nicht aufgedruckt ist, lässt sich anhand feiner, malerischer Nuancen und Abweichungen erschließen. Somit bewegt sich das Date Painting zwischen seriell produziertem Objekt und klassischem Tafelbild. Die standardisierten Formate und die stereotype Umsetzung des jeweiligen Datums und der ritualisierte, festgelegte Herstellungsprozess bilden den Gegensatz zur Zwecklosigkeit des hergestellten Objekts und dessen malerischen Qualitäten. Gerade durch letztere hat das Date Painting jedoch nicht nur Dokumentationscharakter. Indem Kawara die Schrift von Hand auf den Bildgrund malt, „insistiert er auf dem Ikon-Charakter der Schrift und unterbricht das gewöhnliche Lesen, das versucht, die konkrete Beschaffenheit des Artefakts – Schrifttype, Größe, Material – zu ignorieren.“286
285 Ausschließlicher Text der Telegramme, die Kawara in der 70er Jahren verschickte. 286 Weidemann, Henning: Der Chronograph. In: Kawara, On: Whole and Parts. Paris: Les Presses du réel, 1996. S.506.
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So ist Bild einerseits nicht mehr als eine Dokumentationseinheit und die „Maltätigkeit [...] entleert bis auf die Archivierung ihrer selbst.“287 Andererseits wird durch die gemalte Schrift das Bild eben nicht als reiner Informationsträger, sondern als Artefakt wahrgenommen.288 5.7.2.2. Zeit – Bild Die Date Paintings werden von Kawara als Today-Serie betitelt. Wie auch bei der Telegrammreihe werden den Betrachter/-innen bzw. Leser/-innen verschiedene Aspekte von Zeitlichkeit vor Augen geführt. Die Date Paintings werden in Pappschachteln mit (dem Titelblatt) der jeweiligen lokalen Tageszeitung archiviert und häufig mit den Zeitungen gemeinsam in Ausstellungen präsentiert. Die Geschehnisse des Tages, das Moment der Werkentstehung sind schon längst Vergangenheit, wenn der/die Betrachter/-in dem Bild in einer Ausstellung gegenübersteht. Das Werk ist bereits zu einem Teil der (Kunst-)Geschichte geworden.289 Obwohl die Date Paintings versuchen, ein Dokument der Gegenwart zu sein, verweisen sie doch immer auf die Vergangenheit und werden so „eine Urkunde, ein öffentliches Zeugnis einer geschehenen Handlung, der Fertigstellung des Date Paintings. Datum und Aktum in einem. Ein Andenken und Beweis einer vorgegangenen Handlung und damit Teil der Chronologie, die es selbst erstellt.“290 Im Kontext der Serie werden die Date Paintings zur Dokumentation ihrer selbst. Die Mal-
287 Liebs, Holger: Was vom Tage übrig blieb. On Kawara im Kölnischen Kunstverein. In: Germer, Stefan und Graw, Isabelle (Hg.): Texte zur Kunst. Nr. 20. Köln, 1995. S.162. 288 Hier unterscheidet sich die konzeptuelle Arbeitsweise Kawaras deutlich von Positionen wie etwa Joseph Kosuth oder Lawrence Weiner. Sprache wird bei Kawara nicht als ein Ideen evozierendes, aber weitgehend neutrales Transportmittel gesehen. Die visualisierte Sprache auf dem Bilder Kawaras ist explizit Malerei. Das Bild, in traditioneller Weise hergestellt, verweist auf diesen Prozess. Es ist Malerei und Konzept zugleich. 289 Das Verhältnis von Herstellungszeit, Präsentationszeit und Rezeptionszeit wurde 1995 im Kölnischen Kunstverein zudem durch die Ausstellungskonzeption thematisiert: Während der Ausstellung fertigte der Künstler weitere Date Paintings an, um die die Ausstellung sukzessive ergänzt wurde. Für jedes hinzugefügte Bild wurde das jeweils chronologisch älteste entfernt, im konstanten Raum verschoben sich „ die Exponate [...] auf dem Zeitpfeil“. Liebs, Holger: Was vom Tage übrig blieb. On Kawara im Kölnischen Kunstverein. In: Germer, Stefan und Graw, Isabelle (Hg.): Texte zur Kunst. Nr. 20. Köln, 1995. S.163. 290 Weidemann, Henning: Der Chronograph. In: Kawara, On: Whole and Parts. Paris: Les Presses du réel, 1996. S.504.
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zeit ersetzt die gelebte Zeit des Künstlers.291 Gerade weil der Künstler sich selbst aus dem Malprozess völlig ausblendet, thematisiert er als Leerstelle seine eigene Zeitlichkeit292 ebenso wie die des/der Betrachter/-in. So verweisen die Date Paintings nicht nach innen, sondern nach außen, nicht auf die eigene Materialität, sondern auf das, was während ihrer Entstehungszeit geschah und weiterführend auf das, was während ihrer Rezeptionszeit geschieht. „Das begrenzte Bild entwirft einen offenen Zeit-Raum. Ein Moment in der Geschichte, angebunden an eine Biographie, an die Totalität des Seins.“293 5.7.3.
The Atlas Group
„Kaum einer weiß, dass die bedeutendsten Historiker des Libanonkriegs begeisterte Glücksspieler waren.“294
The Atlas Group ist ein Projekt, das vom Künstler Walid Raad in Beirut ins Leben gerufen wurde und sich in einem Archiv manifestiert, das sich mit der Erforschung und Dokumentation der jüngsten libanesischen Geschichte beschäftigt. Das Archiv der Atlas Group gibt sich transparent. Unter www.theatlasgroup.org sind die Projekte der Gruppe aufgelistet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Echtheit der von The Atlas Group präsentierten Dokumente zweifelt das Publikum zunächst nicht an. Recherchiert man weiter, stößt man auf andere, sich teilweise widersprechende Informationen. Die libanesische Künstlerin Maha Traboulsi habe 1976 die Gruppe gegründet, um die Geschichte des Libanon und der libanesischen Bürgerkriege zu erforschen. So beinhaltet das Archiv der Atlas Group Dokumente (Fotografien, Texte und Filme) u.a. das Dokumentationsmaterial von Fadl Fakhouri, einem libanesischen Historiker, von ehemaligen Geiseln, Überle-
291 Liebs, Holger: Was vom Tage übrig blieb. On Kawara im Kölnischen Kunstverein. In: Germer, Stefan und Graw, Isabelle (Hg.): Texte zur Kunst. Nr. 20. Köln, 1995. S.163. 292 Durch seine kategorische Abwesenheit wird das Interesse umso mehr auf den Künstler gelenkt. Michel Butor spricht in diesem Zusammenhang vom Autobiografischen in Kawaras Werk treffenderweise als „Hohlform (gleich einem versenkten Relief)“. Butor, Michel: Die Lampe und das Parfum. Über On Kawara. In: Wilmes, Ulrich (Hg.): On Kawara – horizontally, vertically. Köln: König, 2000. S.28. 293 Faust, Max Wolfgang: Sich schneidende Parallelen. Notizen zu On Kawaras Date Paintings. In: Kawara, On: Whole and Parts. Paris: Les Presses du réel, 1996. S.436. 294 Kommentar zu Notebook volume 72: Missing Lebanese wars. Zitiert nach: Nakas, Kassandra und Schmitz, Britta (Hg.): The Atlas Group (1989–2004). A Project by Walid Raad- Köln: König, 2006. S.68.
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benden von Autobombenattentaten und unterschiedlichste Materialien ungeklärter Herkunft, die die Gruppe gefunden hat oder die ihr zugespielt worden sind. Seit 1992 hat der 1967 geborene Walid Raad die Leitung der Gruppe übernommen. Doch wer sind eigentlich die Mitglieder der Atlas Group? Gibt oder gab es Maha Traboulsi wirklich? Walid Raad verknüpft Realität und Fiktion zu einem kaum lösbaren Knoten. Denn das „Kollektiv“, das mit der zeitweiligen Hilfe von Tony Chakar im Wesentlichen von Raad allein betrieben wird, ist eine fiktive Gruppe, eine imaginäre Stiftung, die 1999 gegründet wurde. „Die Atlas Group ist eine 1999 gegründete, imaginäre Stiftung mit Sitz in New York und Beirut, deren Zweck darin besteht, Dokumente über die libanesischen Bürgerkriege (1975–1991) zu sammeln, zu erzeugen und zu archivieren.“295 Obwohl Raad auf den fiktiven Charakter des Archivs selbst wiederholt hingewiesen hat, gerät dieser bei der Rezeption des Archivs immer wieder in Vergessenheit. So herrscht nach wie vor größtenteils Unklarheit über den Status des gezeigten Materials. 5.7.3.1. Geschichte(n)erzähler Die archivierten und ausgestellten Dokumente unterteilt die „Gruppe“ selbst in drei Kategorien: von anonymen Personen, von konkreten Personen (wie z.B. dem genannten Historiker Fakhouri) und selbst geschaffenen Dokumenten. Doch auch die scheinbar authentischen Dokumente erweisen sich als Fiktion. Weder der libanesische Historiker noch das ehemalige Geiselopfer sind real existente Personen. Das verwendete Material ist eine Mischung aus tatsächlich historischem Archivmaterial (teilweise aus völlig anderen Kontexten) und von Raad geschaffenem Text-, Foto- und Filmmaterial. Das von The Atlas Group herausgegebene Notebook Volume 38 (Already been in a lake of fire)296 des Historikers Fakhouri besteht (angeblich) aus 145 Seiten, von denen jedoch nur 17 zugänglich sind (Abb.6). Es dokumentiert die Fahrzeuge, die zwischen 1975 und 1990 als Autobomben im Libanon zum Einsatz gekommen sind. Die Einzelblätter sind mit einer altmodisch anmutenden Druckschrift durchnummeriert und immer nach dem gleichen Prinzip aufgebaut. Auf jeder Seite sind ein oder mehrere ausgeschnittene Autos abgebildet und mit einem handschriftlich verfassten Kommentar versehen, der in arabischer Sprache über Datum und Uhrzeit und Ausmaß der Explosion Auskunft gibt. Für den angeblichen Autor des Werkes ist die
295 Walid Raad zitiert nach Lepecki, André: Im Nebel des Ereignisses: Performance und die Aktivierung der Erinnerung im Archiv der Atlas Group. In: Nakas, Kassandra und Schmitz, Britta (Hg.): The Atlas Group (1989 – 2004). A Project by Walid Raad, Köln: König, 2006. S.33/34. 296 Notebook Volume 38 (Untertitel: Already been in a lake of fire). Abgebildet ebd. S.74–79.
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Gestaltung der Einzelseiten jedoch recht unkonventionell und entspricht kaum einer wissenschaftlichen Arbeitsweise: Weder Text noch Bild wird ein konstanter Platz auf der Seite zugeordnet und die Konstellation der beiden Elemente zueinander variiert. Die Autos sind ohne ersichtlichen Grund abwechselnd senkrecht, waagerecht, diagonal, bisweilen übereinanderliegend eingeklebt und erinnern so daran, wie sie aufgrund der Explosion durch die Luft geschleudert wurden. Ebenso wird der Kommentar (mit unterschiedlich farbigen Stiften notiert) verschieden gesetzt, läuft selten waagrecht. Auf einigen Blättern wird das Geschriebene korrigiert oder durchgestrichen. Auch die Arbeit My neck is thinner than a hair: Engines beschäftigt sich mit dem Einsatz von Autobomben in den libanesischen Bürgerkriegen. Fotografien von Zeitungsausschnitten, die die Überreste von Bombenattentaten zeigen und deren Rückseiten, die mit Stempeln und Kommentaren in arabischer Schrift versehen sind, werden nebeneinander präsentiert. Das eigentliche Geschehen ist dabei abwesend. Da der Motor oft das einzige ist, das bei der Explosion von Autobomben übrig bleibt, wird er zur Metapher für das nicht abbildbare Grauen. Laut Raad ist er die Hauptattraktion für Fotojournalisten, wie dem Kommentar zur Serie entnommen werden kann: „Er wird mehrere zehn, manchmal sogar Hunderte Meter weit geschleudert und landet auf Balkonen, Dächern oder in Nebenstraßen. Während der Kriege veranstalteten die Fotojournalisten einen Wettlauf, wer die Motoren zuerst finden und fotografieren würde.“297 Die typische Verfahrensweise Raads kann an diesen beiden Beispielen exemplarisch aufgezeigt werden: Einerseits werden Stilmittel eingesetzt, um eine sowohl authentische also auch historisch-dokumentarische Wirkung der Dokumente zu erzielen: Die Untertitel Already been in a lake of fire und My neck is thinner than a hair suggerieren, Berichte von Opfern oder zumindest Augenzeugen zu sein. Die lockere Handschrift in Already been in a lake of fire spricht für Unmittelbarkeit, die Notizen in unterschiedlicher Farbe lassen die Niederschrift über einen längeren Zeitraum vermuten. Gleichzeitig sind jedoch Hinweise, die der Enttarnung dienen, ebenfalls im Werk impliziert: Die Systematik, die individuelle Gestaltung der Einzelseiten und die Kuriosität der Sammlung scheinen für die Arbeitsweise eines Historikers unadäquat.298
297 Ebd. S.96. 298 Vgl. auch hier die Arbeit Notebook Volume 72: Missing Lebanese Wars, in der Fakhouri Pferde-Wetten von libanesischen Historikern gegen Islamisten und Sozialisten u.a. und die jeweiligen Ergebnisse sowie ein Bild des siegenden Pferdes dokumentiert. Abbildungen von Notebook Volume 38 und 72 unter: www.theatlasgroup.org.
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Wie auch in anderen Arbeiten wird bei Already been in a lake of fire der scheinbare Auszug aus einem umfangreicheren Werk vorgetäuscht. Das Notebook hat die Nummer 38, es steht in einer fiktiven Reihe, wird verlinkt in einem nicht sichtbaren größeren archivarischen Kontext, der die Existenz des jeweiligen als Einzelstück legitimiert. Die verwendeten Zeitungsfotos in My neck is thinner than a hair sind „mit behördlichen Stempeln versehen, die ihre Authentizität zu bezeugen scheinen.“299 Gleichzeitig überraschen die Titel dieser scheinbar historischen Dokumente mit ihrem persönlichen, bisweilen poetischen Ton. Auch in den jeweiligen Kommentaren, die als Teil der Arbeiten verstanden werden müssen, verlässt Raad häufig den nüchtern-beschreibenden Stil und unternimmt Ausflüge ins Skurrile, in poetische Beschreibungen von Nebensächlichkeiten, in ironische Reflexionen von Absurditäten: „Kaum einer weiß, dass die bedeutendsten Historiker des Libanonkriegs begeisterte Glücksspieler waren. Sie sollen sich jeden Sonntag auf der Rennbahn getroffen haben [...]“300, „Dr. Fakhouri trug ständig, wohin er auch ging, zwei Super-8-mm-Filmkameras mit sich [...]“301 Von Offizieren heimlich aufgenommene Sonnenuntergänge, auf Balkonen landende Automotoren, der Wettlauf der Fotojournalisten sind neben Bereichten über marxistische Historiker und religiöse Fundamentalisten zu finden. Was André Lepecki im Hinblick auf die Erzähltechnik Raad bei seinen öffentlichen Vorträgen feststellt, kann auch für die Kommentare und Titel in der Arbeiten selbst gelten: „Diese fließende Wirkung erreicht Walid Raad durch sein Erzähltechnik, die ihn zu jenem Typus der materialistischen Historikers macht, den Walter Benjamin als jemanden beschrieb, der auch den nebensächlichsten Dingen, die ein Ereignis ausmachen, eine Bedeutung beimisst. [...] Es ist Raads Erzähltechnik, die ein Gefühl der Verzauberung hervorruft [...] Sein Spiel mit Bildern, Worten und Erinnerungen, das fließende Ineinanderweben von Tatsachen und Fiktionen, und die autoritätsheischende Ausdruckweise von jemandem, der sowohl die Rolle eines ‚einheimischen Informanten‘ als auch die eines Wissenschaftlers einnimmt, führen zur falschen Einordnung entscheidender Informationen.“302
299 Schmitz, Britta: Nicht auf der Suche nach der Wahrheit. In: Nakas, Kassandra und Schmitz, Britta (Hg.): The Atlas Group (1989–2004). A Project by Walid Raad, Köln: König, 2006. S.16. 300 Ebd. S.68. 301 Ebd. S.80. 302 Lepecki, André: Im Nebel des Ereignisses: Performance und die Aktivierung der Erinnerung im Archiv der Atlas Group. Ebd. S.35.
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In der österreichischen Zeitschrift springerin303 erscheint 2002 ein von Walid Raad geführtes Interview mit Souheil Bachar, der angeblich drei Monate lang als einzige arabische Geisel gemeinsam mit fünf Amerikanern in Geiselhaft war. Raad befragt den 42-jährigen Libanesen zur allgemeinen politischen Situation in Nah-Ost, seiner Zeit in Geiselhaft und zu zwei von 53 Videotapes, die Bachar in den letzten zwei Jahren produziert und der Atlas Group zur Verfügung gestellt hat. Die abgedruckten Auszüge aus dem (fiktiven) Interview sind thematisch in den Nahost-Kontext des Heftes integriert. Ihm voraus geht ein Gespräch libanesischer Intellektueller und Künstler/-innen zur aktuellen Situation im Libanon und Palästina. Raads Interview ist in nicht als künstlerischer Beitrag gekennzeichnet. Wer die Arbeit von The Atlas Group nicht kennt, wird keine Zweifel an der Existenz Bachars und der Echtheit des Interviews hegen. Im Wirrwarr aus historischen Fakten (so sind die im Interview angegebenen Namen der amerikanischen Geiseln und der Zeitraum ihrer Geiselhaft zumindest teilweise belegt) und Fiktion läst sich nicht vollständig klären, welche Teile „wahr“ und welche „erfunden“ sind. Die dadurch verursachte Verunsicherung hat Konsequenzen auf die Rezeption des ganzen Heftes. Vor diesem Hintergrund stellt sich augenblicklich die Frage nach der Authentizität des vorhergehenden Heftbeitrags (nicht zuletzt weil einer der interviewten Künstler, Tony Chakar, zeitweise mit Raad gemeinsam an Projekten von The Atlas Group gearbeitet hat) und in letzter Konsequenz die jeglicher medialer Berichterstattung. 5.7.3.2. Erkenntnis und Verunsicherung Raad will verunsichern, nicht jedoch verfälschen. Auch hier kann das genannte Interview exemplarisch für seine Arbeitsweise gelten: Er dekonstruiert seinen eigenen Text, überspitzt, gibt selbst Hinweise304. Er konstruiert Brüche und Widersprüche, häufig indem sich Text und Bild widersprechen, und lässt diese offen stehen305.
303 Raad, Walid: Interview with Souheil Bachar. springerin. Hefte für Gegenwartskunst. No. 2. Wien, 2002. S.36 ff. 304 So stellt Raad sich selbst zu Beginn des Interviews als Medienkünstler, Dozent und Mitarbeiter der 1976 ins Leben gerufenen Atlas Group vor und gibt damit zumindest für kundige Leser/-innen bereits den ersten Hinweis, dass auch die anderen im Interview angeführten Fakten in Frage zu stellen sind. 305 Raad: „Mir ist außerdem aufgefallen, dass der englische Off-Kommentar keine akkurate Übersetzung dessen ist, was Sie auf Arabisch sagen. Manchmal sagt der englische Kommentar das genaue Gegenteil des arabischen, und manchmal hat er mit dem arabischen Original rein gar nicht zu tun. Übersetzen Sie die Texte selbst? Und wenn ja, warum die Diskrepanz zwischen dem, was Sie auf Arabisch sagen und dem nicht-arabischen OffKommentar?“ Bachar: „Ja ich übersetze meine Texte selbst. Zum zweiten Teil der Frage
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Seine Strategie zielt dabei weder darauf ab, eine perfekte Fälschung zu schaffen noch die „offizielle“ Geschichtsschreibung als die „falsche“ zu entblößen und die „wahre“ Geschichte zu erzählen.306 Fiktive und reale Geschichten werden erzählt, vermischt, individuelle Erfahrung und kollektive Erinnerung werden gegeneinander gestellt, nicht jedoch hierarchisiert. Die Konflikte im Libanon werden nicht chronologisch als klar strukturierte Kette von Ursachen und Wirkung dargestellt, sondern so, wie sie das Individuum erfährt; als Ausschnitt, als Spur, als Fragment, als diffuse Mischung aus individueller Erfahrung und Medien-Rezeption, als zunehmend verschwimmende Erinnerung. Die Arbeit Raads geht über eine Kritik an jeglicher Form von offizieller (Kriegs-)Berichterstattung und deren Auswahl, Ge- und Missbrauchs des verwendeten Materials hinaus. Zwar soll sich durch die Verunsicherung, das Bewusstsein und die Wahrnehmung gegenüber vermeintlich authentischem Dokumentationsmaterial und Mediendarstellungen verändern. Das Publikum wird zunächst die libanesische, darüber hinaus aber jegliche Art von Geschichtsschreibung kritischer betrachten.307 Wie kann eine Form von kollektiver Erinnerung überhaupt aussehen? Wie und von wem wird sie konstruiert? Wie und von wem wird sie archiviert? Dabei wird Raad nie didaktisch. Der Knoten aus historischem und selbst geschaffenem Material kann auch von den nun geschulten, kritischen, medienkompetenten Rezipient/-innen nicht vollständig aufgelöst werden. Ist historisches Material, das aus einem Kontext in den anderen transformiert wird, nicht mehr authentisch? Wo ist die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion? Was teilt der Text, was das Bild mit – und was der jeweilige Kontext, der die visuellen
kann ich nichts sagen.“ In: springerin. Hefte für Gegenwartskunst. No. 2. Wien, 2002. S.37. 306 „I wouldn’t give up the term ‚alternative history‘ [...] But not an alternative history that is necessarily additional or that must be thought as something that completes something that was missing. It might contradict, it might just add temporarily and then disappear [...] A reductive notion of traditional history is written as a chronology of massacres, of events, or a biography of participants. We are not saying history should not include this. We are certainly saying that history cannot be reduced to this.“ Raad zitiert nach: Wilson-Goldie, Kaelen: Walid Raad: The Atlas Group opens its archives. In: www.bidoun.com/issues/ issue_2/01_all.html. 307 „In collecting and archiving documents related to the contemporary history of Lebanon, the Atlas Group seeks to analyze as yet unexplored dimensions of the civil war [...]. Along the way, it digs also into the manner in which that history has been written and communicated, the dominant narratives and prevailing discourses.“ Wilson-Goldie, Kaelen: Walid Raad: The Atlas Group opens its archives. In: www.bidoun.com/issues/issue_2/ 01_all.html.
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oder verbalen Informationen umgibt? Die Betrachter/-innen werden mit diesen Fragen zurückgelassen. So ist das Archiv am Ende ein fake und doch kein fake. Es dokumentiert nicht, was es vorgibt zu dokumentieren; es dokumentiert die Arbeit des Künstlers Raad. Der wiederum ist nicht an seiner eigenen (künstlerischen) Geschichtsschreibung interessiert, sondern dekonstruiert sein eigenes Archiv, um so das Paradoxien kollektiver Erinnerung zwar nicht aufzulösen, aber zumindest zu benennen. In der Gewissheit, dass eine universale Form der Dokumentation von Erinnerung nicht existiert, bleibt dies die einzige Möglichkeit kritisch reflektierter wie authentischer Positionierung als Künstler. 5.7.4.
Fernando Bryce
„My research is a kind of exhumation, an archaeology of texts and images that, ultimately, are ideological representations. The point is to give them a ,second existence‘, if you will, by way of drawing, as an image to meditate upon; as a reflection.“ 308
Fernando Bryce sammelt und archiviert, indem er (ab-)zeichnet: In großen Serien von Tuschezeichnungen wirft der 1965 in Peru geborene und heute in Lima und Berlin lebende Künstler einen kritisch-distanzierten Blick vorrangig auf die Geschichte seines Heimatlandes, aber auch auf die süd- und mittelamerikanischen Nachbarstaaten. Als Vorlagen dienen ihm Zeitschriften, Bücher, Fotografien und Werbung, die er minutiös, aber leicht verändert abzeichnet: Die Text- und BildElemente des Ursprungsdokuments sind in der Zeichnung häufig zugunsten einer formalen oder inhaltlichen Dichte reduziert, bisweilen getilgt. Das Verhältnis zwischen visuellen und verbalen Elementen ist dabei unterschiedlich und von der zitierten Quelle abhängig. Zeichnet Bryce vollständig Titelseiten von Zeitungen ab, so dominiert der Text, in fast allen Reihen sind jedoch auch Zeichnungen ohne jeglichen Text zu finden. In diesem Aneignungsprozess, den Bryce selbst „Mimetische Analyse“ nennt, „poetisiert“ er das vorgefundene Material: Er re-interpretiert und transformiert es durch den Akt des Abzeichnens in einen neuen subjektiven Kontext. Inhaltlich stehen weniger die individuelle als die kollektive Geschichtserfahrung, die Konstruktion von Mythen im Vordergrund. Die Serie Revolución (Abb.27) besteht aus 219 Zeichnungen und zeigt beispielhaft Bryce’ Herangehensweise. Wie der Titel der Serie lautet auch der Name einer kubanischen Zeitung aus den 60er-Jahren. Aus dieser Zeitung wurden Titelseiten,
308 Fernando Bryce im Interview mit Viviana Usubiaga, Oktober 2005 zitiert nach: http://www.latinart.com/transcript.cfm?id=71.
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Ausschnitte, Einzelabbildungen, Portraits, Cartoons, Werbung abgezeichnet und Texte (in der jeweiligen Landessprache) und mit Zeichnungen aus internationalen Zeitschriften und Dokumenten, die zeitgleich entstanden, kombiniert. Profane Werbeanzeigen stehen gleichberechtigt neben politischen Manifesten.309 Es entsteht ein Panorama, zunächst zusammengesetzt aus Erinnerungs-Fragmenten, beleuchtet von unterschiedlichen, durch regionale und politische Gegebenheiten eingeschränkte Blickwinkel. Zudem führt Bryce am Beispiel Kubas vor, wie der Blick auf Geschichte durch politisch motivierte, ideologische Berichterstattung und Geschichtsschreibung verstellt wird.310 Und er fragt dabei gleichzeitig: Gibt es den unverstellten Blick überhaupt? 5.7.4.1. Aneignen. Abzeichen. Wie auch in anderen Serien verschwindet das ursprüngliche Dokument hinter der stilistischen Gleichbehandlung, der kontinuierlichen Verwendung eines einheitlichen Papiers und der immer gleichen Tusche. Durch die künstlerische Transformation verbinden sich so die unterschiedlichen Quellen zu einer Einheit. In Atlas Peru arbeitet Bryce die Geschichte seines Heimatlandes von 1932 bis 2001 anhand von abgezeichneten Werbeanzeigen, Zeitungen, Tourismusbroschüren auf. Die Arbeit besteht aus einer Vielzahl von Zeichnungen, die Bryce in raumgreifenden Blöcken und Reihen präsentiert. Bryce ent-hierarchisiert auch hier die in ihrer historischen Relevanz unterschiedlich bewerteten Elemente: Haushaltsgeräte und Kriegsflugzeuge, Politiker und Verbrecher, Ausgrabungsstätten und Autobahnen – Bryce selektiert, seziert und setzt die Ergebnisse nebeneinander.311 In einer raumfüllenden Präsentation übereinander und nebeneinander gehängt unterstreichen sie die Vorstellung einer alinearen, auf vielfache Weise lesbaren Geschichte (Perus). Dies
309 „Although the drawing pile up in an apparently disconnected way, the dialogue in terms of the syntax of zapping, and degree rupture allegorically the frontiers between old high culture and popular mass culture.“ Quijano, Rodrigo: Present Allusion. In: Tatay, Helena (Hg.): Fernando Bryce. Barcelona: Fundació Antoni Tàpies, 2005. S.118. 310 Vgl. Bryce in einem Brief an Kevin Power. Zitiert in: ders: Fernando Bryce. Thinking with History. Ebd. S.183. 311 „Kurzlebige Medien wie Zeitungen [...] finden ebenso Verwendung wie historisch bedeutsame Briefwechsel prominenter Personen oder zu bloßen Ikonen der Populärkultur erstarrte Portraits. Dies entspricht der universalen Logik des Archivs, das nach einer (illusionären) Vollständigkeit strebt, und das Gesamtkorpus der dort versammelten Dokumente einer einheitlichen Ordnung unterwirft.“ Mundt, Katrin: Überlegungen zur Untiefe der Geschichte. In: Dressler, Iris und Christ, Hans D. (Hg): Michael Borremans, Fernando Bryce, Dan Perjovschi – Zeichnungen. Drawings. Frankfurt/Main: Revolver, 2006. S.41.
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geschieht nicht nur durch die Vereinheitlichung von Dokumenten unterschiedlicher Wertigkeit, sondern auch durch die stärkere Verschmelzung von Text und Bild. Katrin Mundt weist darauf hin, dass die im ursprünglichen Kontext (einer Zeitungsseite) voneinander getrennten Zeichensysteme Text und Bild durch den Akt des Abzeichnens vereinheitlicht werden. Wird der abgezeichnete Text jedoch wirklich zum Bild? Und bewirkt diese Verbildlichung des Textes tatsächlich, dass dieser im Sinne eines anderen Geschichtsverständnisses interpretiert werden kann?312 Deutlicher scheint dagegen eine Kritik in der Absurdität des Abzeichnens von Dokumenten und der anti-hierarchischen, alinearen Präsentationsform impliziert. 5.7.4.2. Gezeichnete Zeit Das archivarische Vorgehen von Fernando Bryce kommt nicht von ungefähr: Bryce hat bei Christian Boltanski in Paris studiert. Anders als Boltanski thematisiert er jedoch weniger die Fragen individueller Geschichtserfahrung als vielmehr die Bedingungen und Mechanismen von Geschichtsschreibung. Der Akt des minutiösen Abzeichnens macht – durchaus vergleichbar mit dem Vorgehen von Hanne Darboven – deutlich, dass hier nicht das tatsächliche Dokumentieren von Geschichte im Zentrum steht, sondern eine persönliche Aneignung von Geschichte. Aus dem historischen Original wurde eine archivierte Kopie. Aus dem kopierten Dokument wird nun wieder ein in der Gegenwart verortetes Original – und gerade in der Kopie der Kopie wird der Künstler sichtbar. So muss das selektive Abzeichnen von Hand als Metapher für individuelle Geschichtserfahrung verstanden werden.313 Der Künstler setzt sich, die räumliche und zeitliche Distanz zu den dargestellten Ereignissen kritisch-ironisch reflektierend, in Bezug zur Geschichte.314 Bryce führt uns zudem
312 Vgl. dazu Katrin Mundt: „In diesem Sinne markiert auch die Übertragung von Schriftdokumenten ins Medium der Zeichnung den Übergang von der Wortwörtlichkeit der Geschichte hin zum hybriden Schrift-Bild einer Interpretation. Die Text-Bild-Relation etwa einer Zeitungsseite, die ein gegenseitiges Verweisen, Illustrieren und Kommentieren, also eine hierarchische Ordnung zweier medialer Systeme, voraussetzt, wird in einer Oberfläche verdichtet.“ Ebd. S.42. 313 „Rather his approach to archival materials based on drawings develops in a very Benjaminian way a redemptive, numinous recreation, the starting-point of which is the quest for a collective memory inspired by their reactivation.“ Quijano, Rodrigo: Present Allusion. In: Tatay, Helena (Hg.): Fernando Bryce. Barcelona: Fundacio Tapies, 2005. S.117. 314 „This approach suggests that history [...] can, rather, only offer a representation of pastness. Bryce accepts this condition and his rhetorical figure for viewing the past is irony – a mixture of acerbic humour, cool distance, and analytical clarity.“ Power, Kevin: Fernando Bryce. Thinking with History. Ebd. S.171.
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vor, wie sich Geschichte konstituiert: Der Datenverlust beim Abzeichnen entspricht den Selektions- und Interpretationsmechanismen jeglicher Form von Geschichtsschreibung, die nicht empirisch sein kann.315 Der Akt des Abzeichnens transformiert und selektiert – so wie die Quellen, auf die sich Bryce bezieht, die damaligen Ereignisse, durch Selektion, Stil und Kombination bereits interpretiert und verändert haben: „Bryces Arbeiten scheinen [daher nur] oberflächlich die archivarische Bewegung des Sammelns, Wiederholens und Ordnens zu imitieren, verwickeln sich dabei jedoch in ein Spiel von Latenz und Sichtbarkeit, Differenzen und Dopplungen, die den Archivbegriff selbst, wie auch den Status des archivierten Dokuments zur Disposition stellen.“316 Da uns mitteleuropäischen Betrachter/-innen das verwendete Bildmaterial oft wenig vertraut ist und wir die Personen und deren Bedeutung nur teilweise kennen, fungieren die Textpassagen als Anker. Wo sich die Bilder von ihrem ursprünglichen Hintergrund lösen, verlinken Titel, Datums- und Ortsangaben die Arbeiten Bryce mit dem eigentlichen Kontext. In dieser Anbindung wird gleichzeitig jedoch die Distanz des Künstlers zum Geschehenen sichtbar. Ähnliches gilt für die Rezipient/-innen: Das Entziffern von Zeit- und Ortsangaben, die fremde Sprache, die uns den Inhalt nur teilweise erschließbar macht, führen uns beim Lesen der Arbeiten einerseits die Entfernung vor Augen und ermöglichen gleichzeitig eine zeitliche und räumliche Verortung. Dieser Mechanismus wird verstärkt durch die Verbildlichung der Schrift. Sie verdeutlicht zudem die durch die Transformation zurückgelegte Strecke zwischen ursprünglichem Dokumentationsmaterial und künstlerischem Endprodukt. Während Darboven sich in ihrem Zeitkontinuum der Gegenwart verortet, stellt Bryce, angesichts dieser nicht überbrückbaren Distanz jene Fragen, die auch Walid Raad bewegen: Wie entsteht das Bild, das man von Geschichte, von der geografischen und (gesellschafts-)politischen Situation eines Landes hat? Was verändert sich durch zeitliche und räumliche Distanz? Wie kann Geschichte (in Wort und Bild) überhaupt geschrieben und dokumentiert werden? Wie kann Geschichte erfahren wer-
315 „In other words, any meaning the teller wishes to ascribe to ‚the past‘ can only be achieved through the imaginative and represential processes characteristic of narrative discourse. No study of the past can be insulated from the narrator’s ontological existence. Even though historians may want to access past reality primarily as an act of empirical study the fact remains that it is essentially a function of their mind, their social existence and their narrative choices they make.“ Power, Kevin: Fernando Bryce. Thinking with History. Ebd. S.172. 316 Mundt, Katrin: Überlegungen zur Untiefe der Geschichte. In: Dressler, Iris und Christ, Hans D. (Hg): Michael Borremans, Fernando Bryce, Dan Perjovschi – Zeichnungen. Drawings. Frankfurt/Main: Revolver, 2006. S.40.
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den? Über den historischen Kontext hinaus ist dies in der Konsequenz die Frage nach der Konstitution und Legitimation von jeglicher Repräsentation, eine Frage, die mehr und mehr in Zentrum künstlerischer Aufmerksamkeit rückt. 5.7.5.
Fazit
Im Zusammenhang mit den zu Beginn dieses Kapitels erwähnten Beispielen der documenta 11 verweist Carlos Basualdo auf einen wesentlichen Aspekt der Ausstellung, wenn er von ihr als Enzyklopädie spricht.317 Der Begriff der Enzyklopädie kann nicht nur für die Gesamtkonzeption der documenta 11 als Leitmotiv gelten, die bereits in ihrer Struktur zeigt, dass sie weder repräsentativ noch linear sein kann und sein will, sondern ist auch für die hier besprochenen künstlerischen Positionen von Bedeutung: Sie ist ein komplexes Konstrukt aus Text und Bild, das sich in vielfältigen Systemen bricht, mit denen Künstler/-innen in aller Welt eben diese Welt oder ihre eigenen Welten zu ordnen und strukturieren versuchen. Die Künstler/innen bilden durch ihr jeweiliges Wissen, ihre künstlerische Arbeit einzelne oder zusammenhängende fragmentarische Archive ohne Ursprung, mit sich permanent ändernden Strukturen. Diese Archive haben ihren objektiven, dokumentarischen Anspruch und ihre linearen oder chronologischen, immer jedoch nach nachvollziehbaren Kriterien geordneten Strukturen aufgegeben oder zumindest in Frage gestellt. Dadurch verschwimmen die Grenzen zwischen Archiv und Werk, zwischen Kunst und Dokument. Dies gilt bereits in Ansätzen für Hanne Darboven und On Kawara und ist deutlich bei Fernando Bryce und The Atlas Group von Walid Raad festzustellen. Dabei verabschiedet sich Walid Raad mit dem online gestellten Archiv von The Atlas Group sicherlich am eindeutigsten vom Werkcharakter. Der von Boris Groys konstatierte Wandel bzw. die konstatierte Interessenverlagerung vom Kunstwerk hin zur Kunstdokumentation, die Kunst eben nicht vorrangig präsentiert, sondern dokumentieren will, wird hier offenbar.318 Die Kunst ist nicht aus-
317 „Mehr als ein einheitliches und initiatorisches Buch ist die Documenta 11 einer Sammlung von Enzyklopädien, eine Welt von Welten.“ Basualdo, Carlos: Die Enzyklopädie von Babel. In: documenta (Hg.): Documenta 11. Stuttgart: Hatje Cantz, 2002. S.56. 318 Gemeint sind damit künstlerische Aktivitäten wie „künstlerische Interventionen ins Alltagsleben, [...] langwierige und komplizierte Diskussions- und Analysevorgänge, [...] eine Schaffung ungewöhnlicher Lebenslagen, [...] eine künstlerische Erforschung der Kunstrezeption in verschiedenen Kulturen und Milieus, [...] politisch motivierte künstlerische Aktionen etc. Alle diese Kunstaktivitäten können überhaupt nicht anders präsentiert werden als mittels dieser Dokumentation, denn diese Aktivitäten dienen von Anfang an nicht dem Ziel, ein Kunstwerk zu produzieren, in dem sich die Kunst als solche manifestieren
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schließlich das Produkt, das Objekt, das möglicherweise am Ende der künstlerischen Aktivität steht, sondern auch die Aktivität selbst. Für die Dokumentation solcher Prozesse ist Schrift unerlässlich. Sie hat zunächst schlicht die Funktion, die zu dokumentierenden Handlungen und Prozesse zu beschreiben, die nicht oder nur unzureichend durch Bildmaterial dokumentiert werden (können), wie z.B. die Arbeiten von On Kawara I met, I went, I’m still alive oder die Arbeit über Pferdewetten Missing Libanese wars/Notebook No 72 von The Atlas Group319. Zum anderen wird wie bei Hanne Darboven durch die Schrift, durch das handschriftliche Auf- bzw. Abschreiben der Prozess als solcher dokumentiert. Schrift wird also sowohl Mittel zur Objektivierung individueller Erlebnisse (On Kawara) als auch als Mittel der Subjektivierung eingesetzt, indem durch sie individuelle Aneignung des Individuums deutlich wird. Selbst dort, wo sie ihre Funktion als Schrift teilweise verliert (siehe Hanne Darboven und Fernando Bryce), hilft sie den Rezipient/-innen durch die Sichtbarmachung des Transformationsprozesses die Positionierung der Künstler/-innen zwischen Geschichte und Gegenwart zu orten. Für alle hier vorgestellten künstlerischen Positionen gilt im Bezug auf die Verwendung von Schrift jedoch gleichermaßen: In diesen Arbeiten wird gerade durch den Einsatz von Schrift nicht primär auf die Kunst, sondern auf das Leben selbst, das sie hat entstehen lassen, verwiesen, ohne es direkt präsentieren oder repräsentieren zu wollen.
könnte.“ Groys, Boris: Kunst im Zeitalter der Biopolitik. In: documenta (Hg.): Documenta 11. Stuttgart: Hatje Cantz, 2003. S.107. 319 Missing Libanese wars/Notebook No 72 in: Nakas, Kassandra und Schmitz, Britta (Hg.): The Atlas Group (1989 – 2004). A Project by Walid Raad, Köln: König, 2006. S.68–73.
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„Nichts fürchteten die Pioniere der abstrakten Kunst wie Paul Klee oder Piet Mondrian mehr, als dass ihre revolutionären Errungenschaften mit Ornamenten verglichen würden. [...] Heute stehen wir vor der Situation, dass die Malerei der Gegenwart von Frank Stella bis Philip Taaffe ohne den Begriff des Ornaments gar nicht mehr zu diskutieren ist.“320
Die „Angst“ vor dem Ornament kannten Künstler wie Matisse, Mondrian, Kandinsky, Klee ebenso wie zeitgenössische Künstler/-innen heute. Viele ließen und lassen sich von zumeist nicht-westlicher Ornamentik inspirieren und beeinflussen – und wollen gleichzeitig keinesfalls Gefahr laufen, dass die Formensprache ihrer Werke mit den ornamentalen Strukturen handwerklicher Objekte und Architektur gleichgestellt wird. Das Ornamentale scheint zu sehr die Nähe zum Dekorativen und Angewandten zu suchen und sich damit gleichermaßen von autonomer Kunst zu entfernen. Dennoch überdauert das künstlerische Interesse am Ornament zeitliche und geografische Distanzen. Es kann nicht nur als Bindeglied zwischen unterschiedlichen Kulturen gesehen werden, sondern ist innerhalb der bildenden Kunst, vor allem der Malerei, zu einem wesentlichen Instrument der Selbstdefinition geworden, wie im Laufe diese Kapitels am Werk von Christopher Wool gezeigt werden soll. Der Kalligraphie als ornamentale Mischform zwischen Text und Bild, deren visuelle Qualitäten nicht zuletzt durch die unterschiedlichen Bilderverbote gefördert wurden, kommt hierbei ein besonderer Stellenwert zu. Die geometrische Ornamentik der Arabeske und die nicht minder geometrische Struktur arabischer Poesie verbinden sich ideal in der Kalligraphie.321 Als klassische Sprache der islamischen Welt ermöglicht das Arabische dank des grammatischen Aufbaus aus größtenteils dreibuchstabigen Wurzeln „eine geradezu mathematische Erweiterung der Wurzelbegriffe, die in Prosa und Poesie Möglichkeiten zu scheinbar endloser Entwicklung bieten.“322 Entsprechend unermesslich sind auch die visuellen Gestaltungsmöglichkeiten. Allein der viel zitierte und kalligraphierte Korangrundsatz „es gibt keinen
320 Brüderlin, Markus im Vorwort zu: Ders. (Hg.): Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog. Köln: DuMont, 2001. S.11. 321 Annemarie Schimmel weist darauf hin, dass das arabische Wort für Poesie (nazm) Ordnung bedeutet. Schimmel, Annemarie: Die Arabeske und das islamische Weltgefühl. In: Brüderlin, Markus (Hg.): Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog. Köln: DuMont, 2001. S.32. 322 Ebd. S.32.
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Gott außer Gott“ besteht fast ausschließlich aus zehn vertikalen Linien und bietet sich ideal für kalligrafische Ornamentik an. Die Grenzen zwischen Text und Bild sind fließend: Häufig scheint die Kalligraphie – wie wir später auch im Werk von Lalla Essaydi sehen werden – in reines Ornament überzugehen. Die im folgenden Kapitel vorgestellten künstlerischen Positionen nähern sich dem Thema Text und Ornament von denkbar unterschiedlichen Seiten. Mit Lalla Essaydi und Shirin Neshat sind zwei Künstler/-innen vorgestellt, die seit längerer Zeit in den Vereinigten Staaten leben, deren Wurzeln jedoch in arabischen bzw. persischen, in jedem Fall jedoch muslimisch geprägten Ländern liegen. Die Auseinandersetzung mit der Schrift- und Bildkultur, sowie der Tradition der islamischen Kalligraphie ist in beider Werk offensichtlich. Ihre Herkunft beeinflusst auch die inhaltliche Ebene ihrer Arbeiten. So setzen sich beide mit ihrer persönlichen Geschichte und der Identität und Rolle von Frauen in muslimischen Gesellschaften auseinander. Auch wenn sie in der öffentlichen Rezeption immer wieder als „arabische“ Künstler/-innen wahrgenommen werden, so sind beide nicht weniger westlich als arabisch bzw. persisch geprägt und gehören nicht wirklich zu jenem Kreis „nicht-westliche[r] Künstler/-innen , die das Recht geltend machen, sich die belebenden formalen künstlerischen Elemente, die moderne Künstler in Europa [und Amerika] von ihren Kulturen entliehen haben, wieder anzueignen, um über ihr Gefühl der Entfremdung innerhalb der kolonialen Matrix zu sprechen.“323 Das Gefühl der Entfremdung wird hier nicht im Kontext (post-)kolonialer Strukturen im Herkunftsland thematisiert, sondern unter dem Aspekt Identitätsfindung im Exil, das inzwischen längst die neue Heimat geworden ist. Mit den unterschiedlichen künstlerischen und kulturellen Kontexten vertraut, bedienen sie sich daher westlicher und nicht-westlicher Codes gleichermaßen. Der Amerikaner Christopher Wool steht dagegen in der Tradition der amerikanischen Nachkriegskunst. Wools spielt radikal mit einem Formenrepertoire, das sich irgendwo zwischen Straße, Tapetengeschäft und Abstraktem Expressionismus konstituiert: Graffiti, Siebdruck und Malerei prallen in seinen Arbeiten aufeinander. Wool stellt ornamentale und textuelle Strukturen gegeneinander, um die Bedingungen zeitgenössischer Malerei zu untersuchen. So unterschiedlich die inhaltlichen Ebenen der Beispiele auch sind, so bespielen sie alle doch jenes Feld, auf dem Text und Bild einander begegnen, sich manchmal vereinigen und bisweilen aneinander reiben. Sie sollen in diesem Kapitel gleichermaßen untersucht werden, weil sie stellvertretend für die zwei andeutenden Rich-
323 Enwezor, Okwui: In der Welt zu Hause: Afrikanische Schriftsteller und Künstler in ‚ExIle‘. In: Museum Ludwig (Hg.): Kunst-Welten im Dialog. Köln: DuMont, 2000. S.331.
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tungen, die Verwendung von Ornament bzw. Kalligraphie im Hinblick auf interkulturelle oder kunstreflexive Themen, stehen. 5.8.1.
Lalla Essaydi
„Und nun stehe ich hier, wie ein offenes Buch.“324
In den letzten Jahren haben sich nach und nach Künstlerinnen wie Shirin Neshat, Mona Hatoum und Ghada Amer mit ihrer deutlich von der Kultur ihrer Heimat geprägten Kunst im westlichen Kunstmarkt etabliert, so auch die in Marokko geborene Lalla Essaydi. Essaydis bevorzugtes Medium ist die Fotografie, die sie mit kalligrafischer Schrift ergänzt. Die Protagonistinnen ihrer Fotos stehen, in große Tücher gehüllt, im kaum definierten Raum. Während Neshat die Schrift nachträglich auf die Abzüge schreibt, sind Essaydis Texte jedoch in aufwändiger Weise direkt auf das Setting geschrieben: auf die Hintergründe und Untergründe, auf Tücher und nicht zuletzt auf die Frauen und Mädchen selbst werden von ihr selbst verfasste Texte mit Henna übertragen. Die abgebildeten Personen sind ausschließlich Frauen, größtenteils Familienangehörige und Bekannte Essaydis. Geboren in Marokko, führte sie ihr Weg über Saudi Arabien zum Studium nach Frankreich und in die Vereinigten Staaten, wo sie heute lebt. Dennoch spielt ihre eigene Geschichte, die Auseinandersetzung mit ihrer marokkanischen Kindheit und Jugend sowie der islamischen Kultur eine wesentliche Rolle in ihrem Werk. Dabei befragt sie Vorstellungen des westlichen ebenso wie des arabischen Blickwinkels. Die arabische Kalligraphie galt lange als eine Tätigkeit, die den Männern vorbehalten war. Die wortlosen ornamentalen Hennaverzierungen sind hingegen traditionell weibliche Dekorationsformen. Indem Essaydi beide Techniken kombiniert, setzt sie sich über die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen hinweg. Sie beginnt mit Henna, als einem weiblich besetzten Medium, eine männlich besetze Tätigkeit auszuüben. Was dem westlichen Publikum zunächst eher als Fortsetzung oder zumindest Reminiszenz an eine Tradition erscheint, impliziert somit auch eine Kritik an bestehenden Rollenzuschreibungen. 5.8.1.1. Territorien des Privaten In der Serie Converging Territories (Abb.28) beschäftigt sie sich wie in den meisten Fotoarbeiten mit Erinnerung an ihre Jugend in Marokko und den damit verbundenen gesellschaftlichen und kulturellen Prägungen der eigenen Identität. Ein Haus
324 Essaydi zitiert nach: Brielmayer, Isolde: Re-inventing the space within the images of Lalla Essaydi. In: aperture. No. 178. New York, 2005. S.20.
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ihrer Familie in Marokko dient als Rahmen für ihre Fotosettings. Der ortdurchaus ambivalenter Erinnerungen wird zum Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Aktivitäten. Eine Geschichte der Bestrafung ihrer jugendlichen Vergehen, gern und häufig in der Literatur über Essaydi zitiert, mystifiziert den Ort des Geschehens ebenso wie die Biographie der Künstlerin und untermauert das im Westen gern gesehene Zerrbild einer vormals unterdrückten Frau, die nun (dank der Freiheit der westlichen Gesellschaft) ihren Weg als Frau und Künstlerin gehen kann.325 Solche Betrachtungen sind wenig hilfreich und führen auch nicht zu jener inhaltlichen Ebene, die über die Verarbeitung der Jugenderinnerung hinaus, von Interesse sein könnte. Betrachtet man die Arbeiten Essaydis, so ist zunächst festzustellen: Das Haus als der Ort ihrer Jugend ist nicht wirklich sichtbar, der Raum, den wir in Essaydis Fotografien sehen, ist kaum definiert und nicht lokalisierbar. Die Betrachter/-innen erhalten keine Anhaltspunkte, mit deren Hilfe sie den Raum charakterisieren, geschweige denn in Marokko verorten könnten. Die Fotografien wirken flächig. Da auch Boden und Hintergründe mit Tüchern bedeckt und beschrieben sind, scheint der abgebildete Raum bisweilen fast zweidimensional. Die ambivalente Bedeutung des Hauses als zweite Haut, Gefängnis und Schutz zugleich wird in den Tschadorartigen Tüchern, die jedoch „less like clothing than great sheets of calligraphy“326 wirken, weitergeführt. Auch die Schrift legt sich wie ein weiter Schleier, eine dritte Haut über das Gesamtbild, verbindet Personen und Hintergrund zu einer Einheit. 5.8.1.2. Texte ohne Ende Überraschend wenig ist über die von Essaydi verwendeten Texte bekannt. Die meisten (westlichen) Interpretator/-innen betrachten das Geschriebene unter rein formalen Gesichtspunkten und beschränken sich auf die Feststellung, dass der Text, den westlichen Rezipient/-innen verschlossen bleibt. Von Essaydis Schriften existiert lediglich eine englische Übersetzung eines Textauszuges. Die poetischen Texte sind in der ersten Person geschrieben und kommentieren den (meditativen) Prozess des Schreibens selbst, sind Zeugnisse der Selbstreflexion, der Verortung der eigenen Identität: „Ich bin ein endloses Buch. Jede Seite, die ich schreibe, könnte die erste sein.“ 327 In den Texten werden die auf der fotografischen Ebene verwendeten
325 „She is part of a generation of expatriate feminist Muslim artists working in America. They have something very important to say, and they have to say it here because they can’t say it at home.“ Nick Capasso zitiert nach Cate McQuaid im Boston Daily Globe, April 10. Boston, 2005. S.6. 326 http://www.lisasettegallerynewsletter.com/vol8_p2.htm. 327 Ebd. S.20.
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Metaphern aufgegriffen. Das Buch als Bild für die eigene Persönlichkeit, in das Seite um Seite die eigene Geschichte eingeschrieben wird, wird ebenso thematisiert wie die raumschaffende Dimension von Schrift, die Reflexion von Innensicht und Außensicht.328 Doch auch für die des Arabischen kundigen Leser/-innen sind die Texte in Arbeiten von Essaydi nur fragmentarisch entzifferbar. Parallel angeordnete Zeilen in kleiner Schrift werden von größerer Schrift überschrieben, die unterschiedlichen Ebenen überlagern sich zu einer flirrenden, aber regelmäßigen skripturalen Struktur, die nur einzelne Wörter oder Satzfragmente erkennen lässt. Essaydi trägt die Schrift nicht alleine, sondern gemeinsam mit den fotografierten Frauen auf und betont den prozesshaften und partizipatorischen Aspekt ihrer Arbeit.329 Die meditative Arbeit des Schreibens, die Wiederholung der Schreibgeste hat sich verselbstständigt zu einer rhythmischen Schraffur, die den Inhalt in den Hintergrund rückt. Die Schrift oszilliert zwischen Text und Ornament. Wie auch der Ort und das Geschehen erahnbar, aber dennoch rätselhaft bleiben, gibt auch der Text sein Geheimnis nicht preis. Der gedankliche Freiraum, den sich Essaydi geschaffen hat, wird als (Sprach-)Raum sichtbar, der Inhalt hingegen bleibt wie der Innenraum des Hauses, dem Außenstehenden verborgen. So thematisieren die Arbeiten Essaydis über die Reflexion ihrer Position als im westlichen Kontext arbeitende arabische Künstlerin hinaus die grundsätzliche Frage, wie jegliche kulturellen, sozialen und lokalen Einflüsse die Konstruktion von Identität beeinflussen und prägen. „Essaydi’s first intention is to write an aesthetic language both domestic and wordly. [...] Essaydi applies this individual vocabulary to a larger project not necessarily beholden to gender or origin. Her more universal inquiry concerns the way that places, words and images come to effect one’s perceptions of oneself and the world.“330
328 „Ich frage mich, wie ganz ich gleichzeitig in mir und außer mir sein? Ich wusste nicht einmal, dass diese Welt existiert, ich dachte sie existiert nur in meinem Kopf, in meinen Träumen. Und nun stehe ich hier, wie ein offenes Buch.“ 329 „I don’t call these women ‚models‘ [...] It’s a workshop.“ Essaydi zitiert nach Cate McQuaid im Boston Daily Globe, April 10, 2005. S.6. 330 http://www.lisasettegallerynewsletter.com/vol8_p2.htm.
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5.8.2.
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Shirin Neshat
„Ich verstehe meine Arbeit als bildlichen Diskurs zum Thema Feminismus und zeitgenössischer Islam. [...] Ich muss jedoch betonen, dass ich mich nicht als Expertin, sondern als leidenschaftliche Forscherin verstehe. Ich stelle lieber Fragen, statt Fragen zu beantworten.“331
Kaum eine andere aus einem islamischen Land stammende Künstlerin ist Ende der 90er-Jahre so schnell bekannt geworden wie die in New York lebende Shirin Neshat. Kaum ein Werk wurde jedoch gleichzeitig vergleichbar kontrovers diskutiert wie die Foto- und Videoarbeiten der iranischen Künstlerin. Während die einen die politische Brisanz ihrer Arbeiten loben, bemängeln ihre KritikerInnen, dass sie mit ihren Arbeiten Klischees und Vorurteile eher verstärkt, als in Frage stellt.332 Seit 1975 lebt Neshat in den USA, sie absolviert dort ihr Kunststudium und besucht 1990 das erste Mal seit 15 Jahren nach der islamischen Revolution ihr verändertes Heimatland. Als Reaktion auf die Erfahrungen im Iran entsteht die Fotoserie Women of Allah, die ihren internationalen Durchbruch bedeutete. Auf kontrastreichen Schwarz-Weiß-Fotografien sind teilweise verschleierte Frauen in unterschiedlichen Posen abgelichtet, über deren Gesichter und Hände und andere unbedeckte Körperteile Neshat ein Netz aus in Farsi geschriebenem Text legt. Als Vorlagen für die fotografierten Posen dienten häufig Fotos aus Zeitungen, die sie in Amerika aus der Zeit des iranisch-irakischen Krieges gesammelt hatte.333
331 Neshat im Interview mit Gerald Matt in: Kunsthalle Wien (Hg.): Shirin Neshat. Wien: Kunsthalle Wien, 2000. S.12. 332 „Shirin Neshat is a phenomenon, and I don’t think she does it on purpose, but what she is doing is not good for our country – in a way it’s very American and it goes very will with what you can see on CNN about Iran. [...] She said that she has been misinterpreted and that people take out the personal aspects of her work (which is true) and that she is taken as some kind of ‚voice‘ for Iran, which of course she is not. [...] I think Shirin Neshat was definetely right when she said that if you take out the personal aspects of her work then it’s meaningless. It certainly is, but people do actually do that, and she doesn’t react to it. That’s why I think her work is highly arguable – and I don’t she that she takes responsibility for it.“ Shirana Shahbazi im Interview mit Michele Robecchi. Flash Art. v. 36, no 233. New York, 2003. S.79. 333 „Images of women, rifles at their sides, flowers in their hair [...] diametrically altered from the Iran she had known before. ‚Beautiful women‘ she said, of the earlier photojournalist samples, ‚wrapped in chadors, with huge machine guns. Brilliant, shocking amazingly contradictory
images.‘“
Goldberg,
Lee
Rose:
Shirin
Neshat.
Material
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Zu Beginn der Serie Women of Allah ist Neshat selbst Protagonistin ihrer Fotoserie.334 Der Einsatz ihres Körpers soll Intimität garantieren und verhindern, dass die Arbeiten etwas „Propagandistisches oder Dokumentatorisches“335 bekommen. Schnell jedoch scheint jenes Bild, das Neshat zeichnet, die Vorurteile eher zu bestätigen: Das Bild der orientalisch-muslimischen Frau entweder als stimmloses, unterdrücktes verschleiertes Wesen oder als exotische gefährlich-geheimnisvolle Schönheit. Neshat arbeitet jedoch mit genau diesen Stereotypen, um so Vorurteile und Klischees auf beiden Seiten in Frage zu stellen, auch wenn die Ambivalenz der von ihr verwendeten Symbolen im westlichen Kontext problematisch und bisweilen zu anderen Interpretationen führt.336 Dabei sollen die kontrastreiche Schwarz-WeißFotografie und Wahl der eindeutig wirkenden Motive gerade „the juxtapositions of the ideas [she is] visualizing“337 verdeutlichen. Wie auch bei Lalla Essaydi knüpft die Verwendung von Text und Ornament und das Verzieren und Beschreiben (weiblicher) Körper an die verschiedene muslimisch-arabisch Traditionen an: aufwändige Hennaverzierungen für feierliche Anlässe, Tätowierung und Kalligraphie. Im Gegensatz zu Essaydi beschreibt Neshat die Körper der Frauen nicht direkt, sondern legt die Text über die Fotografien. Die für westliche Betrachter/-innen nicht lesbareren Texte ziehen einerseits die Aufmerksamkeit auf sich, andererseits bleiben sie als Barriere bestehen, behalten ihr Geheimnis und führen des Persischen unkundigen Leser/-innen die unüberbrückbare Distanz vor Augen. So haben sie nicht nur die verdeckende, verhüllende Funktion eines Schleiers, der die Frauen vor unserem neugierigen Auge verhüllt. Nicht der Schleier, sondern die Sprache schafft die eigentliche Distanz zwischen den abgebildeten Frauen und den Rezipient/-innen . Mit der Sprache wird ein Raum geschaffen, der sich fast schützend vor die porträtierten Frauen stellt. Er birgt gerade auch ein anderes (Frauen-)Bild, einer sich frei
Witness. In: Museo d’Arte Contemporanea (Hg.): Shirin Neshat. Turin: Castello di Rivoli, 2002. S.66. 334 Danto, Arthur Coleman (Hg.): Shirin Neshat. New York: Rizzoli, 2010. S.18 ff. 335 Neshat im Interview mit Gerald Matt in: Kunsthalle Wien (Hg.): Shirin Neshat. Wien: Kunsthalle Wien, 2000. S.16. 336 So wird wiederholt darauf hingewiesen, dass beispielsweise der Tschador ebenso für das Einhalten islamischer Traditionen wie auch als Zeichen des Widerstands gegen westliche Kolonialisierung gelesenen werden kann und nicht zwangsläufig als Zeichen weiblicher Unterdrückung interpretiert werden muss. 337 Cickoki, Nina: Veils, Poems, Guns and Martyrs: four Themes of Muslim Women’s Experiences in Shirin Neshat’s Photographic Work. In: Thirdspace: journal for emergig feminist scholars. November, 2004. vol. 4, no. 1. zitiert nach www.thirdspace.ca.
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ihrer Sprache bedienenden Dichterin in sich, die – theoretisch – mit ihrem Gegenüber direkt kommuniziert. Während sich die vorausgegangene Serie Unveiling vor allem mit dem Körperbegriff beschäftigt, dreht sich die Serie Women of Allah um das Verhältnis von Frauen zu Gewalt, Krieg, Märtyrertum vor dem Hintergrund der iranischen Revolution. Neshat greift für diese beiden Serien auf die Werke zweier persischer Dichterinnen zurück, deren Wege und Werke konträrer nicht sein könnten. So verweist Neshat auf die Bandbreite von komplexen und differenzierten Frauenbildern, auf Identitäten, die in der (iranischen) Alltagsrealität möglich waren oder heute möglich sind. Neshat wählt für die Unveiling Gedichte von Forugh Farrokhzad, einer der bedeutendsten persischen Dichterinnen des 20. Jahrhundert. Farrokhzad, die 1967 mit nur 32 Jahren bei einem Autounfall starb, forderte in ihrem poetischen Werk nicht nur die konservativen Besitzstandswahrer heraus. Früh verheiratet, ließ sie sich mit 19 Jahren scheiden. Indem sie eigene Ängste und Gefühle offen aussprach, stellte sie mit ihren feministisch-kritischen Gedichten Wertevorstellungen und traditionelle Rollenzuweisungen in Frage338. Unter Khomeini wurde ihr Werk später als unmoralisch und zur Promiskuität verführend verboten, dennoch ist ihr Werk bis heute bekannt und für iranische Betrachter/-innen schnell identifizierbar. Ihr gegenüber stellt Neshat in Women of Allah die Werke von Tahereh Saffarzadeh. Während die Werke der beiden Dichterinnen zunächst durchaus inhaltliche Parallelen aufwiesen (auch Saffarzadeh thematisierte die sozialen und geschlechtsspezifischen Einschränkungen, die das Leben der iranischen Frauen prägte), verließ Saffarzadeh nach ihrer Scheidung den Iran, um in Amerika zu studieren. Als sie in den 70er-Jahren zurückkehrte, wurde aus der „verwestlichten“ Dichterin eine strenggläubige Muslimin, die sich und ihr Werk völlig in den Dienst der iranischen Revolution Khomeinis stellte, da sie die religiös-revolutionäre Bewegung als die einzige Rettung ihres bereits „verwestlichten“ Heimatlandes sah. Befremdet und fasziniert zugleich wählte Neshat die Gedichte jener Dichterin aus, deren Lebenslauf erstaunliche Parallelen zu ihrem eigenen Leben aufwies und sich dennoch in eine diametral entgegengesetzte Richtung entwickelt hatte.
338 „The frank revelation of hitherto unspeakable subjects – the body, love, lust, and death – is what accounts for the radicalism of her work.“ Cickoki, Nina: Veils, Poems, Guns and Martyrs: four Themes of Muslim Women’s Experiences in Shirin Neshat’s Photographic Work. In: Thirdspace: journal for emergig feminist scholars. November, 2004. vol. 4, no. 1. zitiert nach www.thirdspace.ca.
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5.8.2.1. Allegiance with Wakefulness In Allegiance with Wakefulness (Abb.29) blickt das Publikum auf zwei nackte weibliche Füße, die bloßen Fußsohlen sind ihm entgegengestreckt. Zwischen die Füße schiebt sich der Lauf eines Gewehres. Beide Sohlen sind, an traditionelle Hennabemalungen erinnernd, oben und unten mit einem blütenartigen Ornament verziert und gleichmäßig mit Schrift überzogen. Der Titel, den Neshat für diese Arbeit gewählt hat, ist nicht nur der Titel des Gedichts von Saffarzadeh, das sie auf die fotografierten Fußsohlen geschrieben hat. Allegiance with Wakefulness heißt auch jene 1980 erschienene Gedichtsammlung, die die Dekadenz und Gottlosigkeit der westlichen Welt anprangerte und Ayatollah Khomeini als jenen Führer pries, der die iranische Republik auf dem rechten und einzig wahren Weg des Islams zurückgebracht hatte. Die Inschrift auf den Füßen lautet wie folgt339: Mein Märtyrer/Halte meine Hände/Mit deinen Händen/frei von irdischen Banden, Halte meine Hände/ich bin deine Dichterin/mit meinem mir (noch) auferlegten Körper, komme ich zu dir/und am jüngsten Tage/werden wir gemeinsam auf(er)stehen. Oh, mein Führer/Im Herz der kalten Nacht/blickst du wie von außen auf das Haus deines Körpers/mit müden Augenlidern/– wie eine Nachtschwester –/damit die verwundete Stadt geschützt vor den Plünderern des Todes zur Ruhe kommt
Da das Gedicht in der ersten Person verfasst ist, verbinden die Leser/-innen automatisch den Körper der abgebildeten Frau mit der Stimme der Dichterin. So scheint die fotografierte Frau, deren Gesicht wir nicht sehen und deren Körper wir nur erahnen, sich über die Schrift doch unmittelbar an ihr Publikum zu richten. Im Gedicht wird der Körper als Last und Bürde empfunden. Die im Gedicht herbeigesehnte Entkörperlichung kontrastiert Neshat mit dem realen Körper der abgebildeten Frau. Das Gewehr verleiht der Frau Macht und verabschiedet sich von der Vorstellung der stimm- und wehrlosen muslimischen Frau. Während auf der Textebene die Kugeln aus dem Gewehr des Märtyrers die nächtliche Stille durchbrechen, scheint auch auf der Bildebene die Frau für ihre Rolle als Märtyrerin bereit zu sein. Gleichzeitig wird von Neshat das Bild der waffentragenden Frau als (ambivalentes) Symbol weiblicher Emanzipation thematisiert und kommentiert.340
339 Von der Autorin aus dem Englischen übersetzt aus: Milani, Farzaneh: Revitalization: Some Reflections on the Work of Saffar-Zadeh. In: Guity Nashat (Hg.): Women and Revolution in Iran. Boulder: Westview Press, 1983. S.170. 340 In der iranischen Revolution wurden auch Frauen für den Dienst an der Waffe ausgebildet. Gern wurde die Militarisierung von jungen Frauen argumentativ verwendet, um deren
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So lautet der Text von Offered Eyes341: Niemand denkt an die Blume/Niemand denkt an den Fisch Niemand möchte glauben/Dass der Garten im Sterben liegt Dass das Herz des Gartens von der Sonne geschwollen ist Dass der Garten langsam in grünen Erinnerungen austrocknen wird
In Offered Eyes schreibt die Künstlerin ein Gedicht von Forugh Farrokhzad in das Weiße des Auges einer jungen Frau, die die Betrachter/-innen direkt anblickt. Auch hier verbinden sich die abgebildete Frau und die Stimme der Dichterin für die Rezipient/-innen zu ein und derselben Person. Um die Pupille der schwarz umrandeten Augen steht kreisförmig geschrieben, wie die Protagonistin des Gedichtes Zeugin eines schleichenden Verfalls wird. Der sterbende Garten, der nach und nach austrocknet, kann als Metapher für die iranische Nation bzw. die ehemals vielfältige persische Kultur gelesen werden. Das Publikum scheint im Blick der jungen Frau ihre Gedanken lesen zu können. Gleichzeitig wird das Auge durch die Inschrift zum Spiegel, in dem die erlebten Ereignisse sicht- und lesbar werden. Durch die Verwendung von Schrift, durch die Texte persischer Dichterinnen, verbindet Neshat Körper und Sprache zu einer Einheit.342 Die abgebildeten Frauen sind nicht mehr speechless und trotz des getragenen Tschadors unveiled (so die Titel weiterer Arbeiten Neshats). Die Fotografie spricht durch das ihr eingeschriebene Wort, die körperlose Sprache findet im konkreten Köper der abgebildeten Frauen einen Ort:
scheinbare Gleichberechtigung im iranischen Staat zu demonstrieren. „[…] The Islamic Republic shows that women are valued’ says Marzieh Shahbodaghi, 25, holding a Kalashnikov rifle through the gap in her black veil. ‚We are worth as much as men and probably more [...] I am ready to fight.‘“ Eine Meldung von Reuters, zitiert nach: Cickoki, Nina: Veils, Poems, Guns and Martyrs: four Themes of Muslim Women’s Experiences in Shirin Neshat’s Photographic Work. In: Thirdspace: journal for emergig feminist scholars. November, 2004. vol. 4, no. 1. zitiert nach www.thirdspace.ca. 341 Von der Autorin aus dem Englischen übersetzt aus: Larson, Jacqueline: Shirin Neshat: Women of Allah. Vancouver: Artspeak Gallery, 1997. S.29. 342 Der Zusammenhang zwischen (verschleiertem) Körper und (verstummtem) Wort, den Neshat hier beschreibt, spiegelt sich auch in der Entwicklung der iranischen Gesellschaft wider: So weißt Farzaneh Milani darauf hin, dass „the onset of modern tradition in feminine literature in Iran coincidences precisely with the attempts to shed the veil made by many Iranian women.“ Zaya, Octavio: An Exteriority of the Inward. In: MUSAC (Hg.): Shirin Neshat. La ultima palabra/the last word. Mailand, León: Edizioni Charta, 2005. S.19.
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„The poetry is the literal and symbolic voice of women whose sexuality and individualism have been obliterated by the chador or the veil.“343 Shirin Neshat wendet sich in späteren Arbeiten dem Medium des Films zu. Die Begründung hierfür gibt gleichzeitig eine Erklärung für die Verwendung von Schrift in den Women of Allah: „Ich glaube, dass alle Menschen zu Geschichten gleich welcher Art eine besondere Beziehung haben. [...] Ich befürchte, dass die bildende Kunst weitaus isolierter und für das breite Publikum unzugänglicher ist [...] Erwähnen möchte ich auch, dass es für mich eine große Herausforderung war, eine Erzählform zu schaffen, die nicht an Sprache gebunden ist, sondern auf Bildund Tonebene funktioniert.“344 Die Text-Ebene hat demnach für Neshat die Funktion, die mangelnde Narrativität der Bildebene zu kompensieren und die Gesamtaussage deutlicher zu formulieren. Gleichzeitig wählt sie, seit über 20 Jahren in den Vereinigten Staaten lebend, bewusst die persische Sprache. Damit verschließt sich ihr Werk auf relevanten Ebenen – einige Exiliraner/-innen ausgenommen – dem Großteil potenzieller Rezipient/-innen . Gleichzeitig werden ihre Arbeiten im Iran bzw. persischen Sprachraum nicht gezeigt. So wirken ihre Arbeiten plakativ und hermetisch zugleich, das Publikum wird neugierig gemacht und gleichzeitig zurückgestoßen. Die Sprache, zwischen formalem Element und Bedeutungsträger, zwischen Text und Ornament wechselnd, wird als Ebene sichtbar, über die ein Unterschied und eine Distanz sichtbar werden. Wie ein Schleier verbirgt er Teile des Sichtbaren und lässt den vollständigen Inhalt nur erahnen. Um die differenzierten Verwendungen der Texte beraubt und auf eine ornamentale Struktur reduziert, laufen Neshats Arbeiten schnell Gefahr, scheinbar einfache Botschaften zu transportieren.345 5.8.2.2. Übersetzungsprobleme Neshat möchte keine jedoch eindeutige Interpretation geben. Die in ihrem Werk thematisierten Spannungen und Differenzen zwischen Religion und (Staats-) Gewalt, Männern und Frauen bleiben bestehen und sind weniger eindeutig als eine
343 Shirin Neshat im Interview mit Shadi Sheybani in: Women of Allah. A Conversation with Shirin Neshat. Michigan Quarterly Review. Frühjahr. Ann Arbor, 1999. S.207. 344 Neshat im Interview mit Gerald Matt in: Kunsthalle Wien (Hg.): Shirin Neshat. Wien: Kunsthalle Wien, 2000. S.22. 345 „[...] der zweite Eindruck, den [...] so mancher [...] von Shirin Neshat gewinnt, nachdem er sich zuerst beeindrucken hat lassen, wird vielleicht der der Durchschaubarkeit sein. Shirin Neshats Kunst ist plakativ, selbst und gerade die offenen Fragen sind gemacht, gekünstelt.“ Michael Wögerbauer zitiert nach: http://www.artmag.com/photogr/michael/ neshat.html.
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vorschnelle Einordnung meinen lässt. Es muss jedoch in Frage gestellt werden, inwiefern diese Ambivalenz, die Diskrepanz der Bilder, die Neshat auf Bild- und Textebene verwendet, bei den Rezipient/-innen überhaupt ankommen können, wenn das Publikum kein Farsi spricht. Es ist aber ebenso festzustellen, dass die (westlichen) Interpretatoren bisher kaum versucht haben, die Texte auf Neshats Fotografien übersetzen zu lassen und sich in der Regel damit begnügen, dass ihnen eine Ebene des Werkes verschlossen bleibt.346 Noch mehr als bei Essaydi muss die Tatsache, dass ihr Werk vor allem in der westlichen und weniger in der muslimischen Welt gezeigt wird und dort erfolgreich ist, nicht allein an der „Brisanz“ ihres Werkes liegen, sondern ist möglicherweise auch darin begründet, „that it is the elaboration of Western preconceptions of Islam and Iran, paired with the tantalizing hermetic quality of her work, that captures the audience. This dependence on Western preconceptions courts ignorant responses from uninformed critics and audiences.“347 Festzustellen bleibt am Ende, dass Shirin Neshat weder auf die Rolle der folklorisierenden Wahlamerikanerin noch auf jene der feministischen Iranerin festzulegen ist. Deutlich wird zudem einmal mehr, dass es keine Bildsprache gibt, die kontextunabhängig Grenzen überspringt und global einheitlich dechiffrierbar ist, auch wenn sich manches Publikum dies wünscht, und manche den Glauben an die Universalität visueller Botschaften noch nicht verloren haben: „Es ist jedoch eine Sache, auf die Interdependenzen zwischen den Kulturen aufmerksam zu machen, auf die Tatsache, das dass, was wir vielleicht heute unter kultureller Identität einzelner Nationalstaaten verstehen, nichts anderes ist als der historische Niederschlag globaler ökonomischer und politischer Beziehungen, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen. Etwas ganz anders ist es, wenn die gegenseitige Bedingtheit kultureller Identitäten mit Metaphern belegt wird, die ihrerseits den freien künstlerischen Transit suggerieren [...] als gäbe es den widerspruchsfreien Raum einer Kunst, die fähig ist, zwischen den gegensätzlichen Positionen zu vermitteln. Und als gäbe es lückenlose Übersetzungen kultureller Codes. Die Rezeption reagiert vorschnell, wenn die
346 Vgl. z.B. Ruth Noack: „Ich kann kein Farsi lesen. Es ist eigenartig, dass gerade diese Botschaft, mit der die Frauen uns konfrontieren, (für mich) unentschlüsselbar bleibt.“ Dies: Produktive Dualismen. In: Kunsthalle Wien (Hg.): Shirin Neshat. Wien: Kunsthalle Wien, 2000. S.36. 347 Cickoki, Nina: Veils, Poems, Guns and Martyrs: four Themes of Muslim Women’s Experiences in Shirin Neshat’s Photographic Work. In: Thirdspace: journal for emergig feminist scholars. November, 2004. vol. 4, no.1. zitiert nach www.thirdspace.ca.
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Diskussion um Shirin Neshat und ihre Werke nicht auf die Brüche und Widersprüche aufmerksam macht, die sich aus ihrer interkulturellen Praxis ergeben.“348 5.8.3.
Christopher Wool
„I became more interested in ‚how to paint‘ than ‚what to paint‘ “349
Auf völlig andere Weise wird das Verhältnis von Text, Bild und Ornament in den Arbeiten von Christopher Wool thematisiert: Hier oszilliert keine ornamental anmutende Textstruktur zwischen Wort und Bild, hier stehen sich Ornament und Text geradezu unversöhnlich gegenüber. Während Neshat und Essaydi innerhalb eines Werkes Text und Bild auf unterschiedlichen Ebenen übereinanderlegen, stellt Wool textliche und bildliche Elemente explizit auf einer medialen Ebene gegeneinander. Wool überlagert dabei innerhalb seiner großformatigen Arbeiten zwar Siebdrucke, Abdrucke, Gemaltes und Gespraytes, die unterschiedlichen visuellen und verbalen Ebenen treffen jedoch nie innerhalb eines Werkes aufeinander, sondern werden als Wort-Bilder und floral-ornamentale, bisweilen tapetenartige Bilder erst in der Präsentation exemplarisch gegenübergestellt. Gerade durch die Gleichbehandlung von ornamentalen Tapetenmustern und fragmentierten Wörtern hinterfragt er die Repräsentationsmöglichkeiten von visuellen und verbalen Strukturen und reflektiert die Möglichkeiten und Bedingungen von Malerei heute. Wools Werke wirken hermetisch und offen zugleich. Einerseits bilden die Motive ebenso wie die Buchstaben reine Muster, deren dekorativer Charakter kaum ignoriert werden kann und formieren sich zu flächigen Ornamenten bar jeder Bedeutung. Die auf visueller verbaler Ebene zunächst plakativ wirkenden Wortbilder schreien ihre Botschaften den Betrachter/-innen geradezu ins Gesicht. Andererseits scheinen sich die Bilder gleichsam zu verweigern: Sie verweisen auf ihre serielle, mechanische Wiederholung und wollen keine Bilder sein, die Wörter sind überdeutlich in ihrer visuellen Erscheinung und wirken doch gleichzeitig sinnentleert. 5.8.3.1. TRBL und andere Sprachprobleme Wools zerhackt die gewählten Wörter und Sätze, indem er die Wort-Trennungen dem Format des Bildes unterordnet. Zudem fragmentiert er die einzelnen Wörter,
348 Noack, Ruth: Produktive Dualismen. In Kunsthalle Wien (Hg.): Shirin Neshat. Wien: Kunsthalle Wien , 2000. S.31/32. 349 Christopher Wool im Gespräch mit Ann Goldstein zitiert nach: Goldstein, Ann: What they are not: The Paintings of Christopher Wool. In: Dies. (Hg.): Christopher Wool. Los Angeles: Scalo Publishers, 1998. S.258.
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da er sie um einzelne Buchstaben reduziert und so inhaltliche Ambivalenzen schafft. Die Lesbarkeit der verwendeten Sätze und Wörter wird so nicht nur durch die lückenlose, blockhafte Setzung innerhalb der Malfläche, sondern auch durch das Auslassen von Vokalen erschwert.350 Die visuellen Regeln dominieren über die grammatikalischen: Die einfachen, serifenlosen Großbuchstaben und die Blockhaftigkeit des Satzes machen horizontale wie vertikale Leserichtungen gleichermaßen möglich. Worte werden umgedeutet und verlieren ihren ursprünglichen Sinn. Die Worte werden von der „formalen Kraft ihrer Zeichen gefressen [...], so dass im Betrachter nur noch so etwas wie die Erinnerung an einen Klang verbleibt.“351 Die Überfrachtung und materielle Präsenz kippt in Bedeutungsleere. Die Bilder schleudern uns emotional aufgeladene Begriffe entgegen (tr[ou]bl[e], fear, riot, amok, run), sind eindeutig und doch gleichsam abstrakt, sind laut und kryptisch zugleich352. Das Wort wird zum plastischen Material und spielt seine materielle Präsenz gegen die syntaktische Ebene aus. Die (Schrift-)Zeichen verbinden sich zu einer grafisch-ornamentalen Struktur. So wie die Ornamentstrukturen und Tapetenmuster dazu dienen, die Grenzen malerischer Repräsentation aufzuzeigen, wird uns auch die Beschränktheit der Sprache vor Augen geführt: „The word paintings are no representations of words: they are words.“353 Die Rezipient/-innen sehen das Unaussprechliche, den missing link, die Distanz zwischen Zeichen und Realität. Sie sehen das Versagen von Sprache354: „Während die Arbeiten von Kruger und Holzer
350 Vgl. dazu auch: Crow, Thomas: Streetcriesinnewyork. Ebd. S.280. 351 Ermen, Rainer: Christopher Wool. Kunstforum International. Band 114. Ruppichteroth, 1991. S.357. 352 „Wool sieht dir direkt ins Gesicht [...] er bricht die kommunikative Macht der Wörter; er bekräftigt die kommunikative Macht der Buchstaben. Einer schreit, aber man weiß nicht recht, versucht er dich begreifen zu machen oder will er im Gegenteil nur darauf hinweisen, dass dir jeder Anhaltspunkt fehlt.“ Greil, Marcus: Wools Wortbilder. Parkett. Nr. 33. Zürich, New York: Parkett-Verlag, 1992. S.99. 353 Lewis, Jim: Wool. In: Goldstein, Ann (Hg.):Christopher Wool. Los Angeles, Scalo Publishers, 1998. S.284. 354 „These works bear on the very crux of symbolic meaning, through their focus on language. That the predominant pictorial elements in these paintings are words only complicates this art’s purported intent to clearly ‚speak‘, for inherent in any viewer’s reception is the experimental fact of reading and looking simultaneously exclusive acts. The word as plastic material – as shape, medium, colour – will always rub against the word as syntax and conjurer of mental images. Wool deliberately choreographs a collision between different components of language – grammatical, semantic, visual, imaginary, and spoken – that conveys an emotional magnitude beyond the range of everyday speech and closer in spirit
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klar und deutlich lesbar sind (wobei diese Lesbarkeit möglichst eine Tür ins Unterbewusstsein öffnen soll, um dort subversiv wirken zu können), sind jene von Christopher Wool bestenfalls schwer lesbar.[...] Die philosophische Aussage über den Sinn des Lebens ist allen voran subjektiv. Als Sinnbild/Botschaft ist sie instabil.“355 Christopher Wool beginnt mit seinen Textarbeiten Ende der 80er-Jahre. Beeindruckt von der reduzierten Sprachlichkeit der konkreten Poesie, beginnt er zunächst mit Four-letter-words wie FEAR, RIOT, AMOK, die er zerteilt und übereinander stellt. Bereits in AMOK (auf der Bildfläche unterteilt in AM und OK, so dass die Betrachter/-innen zudem [I] AM OK assoziierte), TRBL oder DRNK kündigte sich an, was Wools nächster Schritt sein würde: „These so called ‚word‘ paintings focused on words or expressions with multiple meanings, particularly as they broke up in composition, repeated or modified or abbreviated through the deletion of letters.“356 Ende der 80er-Jahre beginnt Wool mit einer Serie von Werken, die aus jeweils ca. neunlettrigen Wörtern bestanden, die Charakterbeschreibungen oder Typisierungen waren: Pessimisten, Heuchler (Hypocrite), Überredungskünstler (Persuader), Extremisten, Paranoiker. Vielleicht handelt es sich um Künstlerklischees, vielleicht um gesellschaftliche Rollenzuschreibungen von Individuen. Eigenschaften, die man dem Künstler selbst unterstellen mag – oder die man möglicherweise als die eigenen erkennt. Wenn Wool ganze Sätze verwendet, greift er meist auf Vorlagen aus der Populärkultur oder Literatur zurück, ohne dass die Verbindung zum Ursprungstext jedoch von relevanter Bedeutung ist.357 Auch hier wird der Satz als Material verstanden und behandelt, aus dem Kontext entnommen und umgedeutet. 5.8.3.2. If you canތt take a joke… Am Beispiel IF YOU (Abb.30) soll die Arbeitsweise exemplarisch beschrieben werden: Auf monumentale Aluminiumplatten (wie häufig bei Wool existieren mehrere Versionen eines Themas) schreibt Wool: IF YOU CANT TAKE A JOKE GET THE FUCK OUT OF MY HOUSE. In sieben Reihen sind die Wörter übereinander
to the true proportions of Wool’s subject: the inherent inefficacy and near-constant failure of language.“ Grynsztejn, Madeleine: Unfinished Business. Ebd. S.267. 355 Greil, Marcus: Wools Wortbilder. Parkett. Nr. 33. Zürich, New York: Parkett-Verlag, 1992. S.97. 356 Goldstein, Ann: What they are not: The Paintings of Christopher Wool. In: Dies. (Hg.): Christopher Wool. Los Angeles: Scalo Publishers, 1998. S.260. 357 So spielt „float like a butterfly, sting like a bee“ auf ein Zitat Mohammed Alis an, „Apocalypse now“ erinnert an Ford Coppolas Film und „The show is over...“ greift eine TextPassage des Situationisten Raoul Vaneigems auf.
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geschichtet, sie sind blockhaft, füllen aber die Fläche nicht vollständig aus. Die Vertikalen einzelner übereinander stehender Buchstaben verbinden sich über mehrere Zeilen zu dominierenden Gestaltungseinheiten, die – ebenso wie die ungewohnten Zeilenumbrüche und Lücken zwischen den einzelnen Buchstaben bzw. den Einzelteilen – die horizontale Lesbarkeit stören. „ [...] the composition [...] contradicts traditional rules of writing. Words and sentences are made to stall and stammer.“358 Die Spuren des Prozesses sind sichtbar: Verdickungen am unteren Ende der einzelnen Buchstaben, Tropfspuren, Abdrücke der Schablonenkanten lassen die Betrachter/-innen den Herstellungsprozess rekonstruieren. Der simple Schrifttypus erinnert an die Typografie von Werbebotschaften. Zur banalen Herstellungsweise gesellt sich eine scheinbar ebenso banale inhaltliche Ebene; Straßenparolen, wenig virtuos und auf den ersten Blick ebenso plakativ wie ihre malerische Umsetzung; fast schon eine Provokation des Publikums. Das Bild selbst scheint sich an die Rezipient/-innen zu wenden, die nicht wissen, für welche Deutung sie sich entscheiden sollen: Ist das Bild tatsächlich ein Witz, nimmt uns Wool alle auf den Arm? Ein Bild, das im Hause eines Sammlers dessen Gäste beschimpft? In jedem Fall ist es ein Werk, das für sich in Anspruch nimmt, Malerei zu sein, sich scheinbar jeglicher malerischer Raffinesse, jeglicher inhaltlicher Feinheit verweigert und deshalb genau auf das verweist, was es ist. „It’s easier to define things by what they’re not than by what they are.“,359 beschreibt Wool seine eigene Vorgehensweise. Vor diesem Hintergrund beinhaltet IF YOU CANT TAKE A JOKE eine differenzierte, selbstreflexive Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Werk und Publikum und stellt zudem grundsätzliche Fragen zur Sprachlichkeit und Aussagekraft von Kunst: (Wie) Spricht das Kunstwerk zu uns? Spricht der Künstler durch sein Werk? Welche Funktion übernehmen die Rezipient/-innen?360 Was sind die konstituierenden Merkmale von Malerei? Wie kann Malerei als zeitgenössisches und zeitgemäßes Medium funktionieren? So ist das Bild, dass sich selbst in Frage stellt, auch ein ironischer Seitenhieb auf die unerschütterliche Ernsthaftigkeit der abstrakten Malerei.361
358 Grynsztejn, Madeleine: Unfinished Business. In: Goldstein, Ann (Hg.): Christopher Wool. Los Angeles: Scalo Publishers, 1998. S.268. 359 Christopher Wool zitiert nach: Kunsthaus Zürich (Hg.): The Birth of the Cool. Stuttgart: Cantz, 1997, S.34. 360 Die Position des/der Betrachters/-in wird exemplarisch in Wools Werk YOU MAKE ME (1997) thematisiert. 361 „Wool’s work has followed a trajectory that is at once historically reflexive, very much of it’s own moment, and keenly self-critical. Wool’s work has drawn from a variety of expe-
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In den frühen 90er-Jahren ergänzt Wool die typografischen Arbeiten durch die scheinbar dekorative Ornamentik der Tapetenmuster. Mit den Gummirollen, die zur Herstellung von Tapeten benutzt werden, hat Christopher Wool jenseits der Buchstabenschablonen auf der bildnerischen Ebene ein Vervielfältigungsverfahren entdeckt, mit dessen Hilfe er im Rahmen der Malerei die Bedingungen der Malerei im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit hinterfragen kann.362 Dabei wird das Ornament durch die Übertragung in den künstlerischen Kontext geadelt, gleichzeitig seiner Funktion beraubt und damit nutzlos gemacht.363 Wools Umgang mit ornamentalen Elementen entspricht dem sezierenden Verfahren, das er bei den Textbildern anwendet. Seine ornamentalen Bilder sind seriell, dekorativ und mechanisch reproduziert – und sind all dies gleichzeitig nicht, da sie wie auch die Textelemente in der Behandlung eine Umdeutung und Neubestimmung erfahren: „Als Maler entblößt Wool das Dekorative bis auf die Knochen – das heißt, er abstrahiert vom Dekorativen statt dekorative Abstraktion hervorzubringen.“364 Im Spiel des Kräftemessens zwischen künstlerischer Kontrolle und Eigendynamik des malerischen Prozesses wird Wool selbst als Künstler sichtbar. Und so wie die scheinbar banalen Tapetenrollmuster durch Wool expressive Sprengkraft entwickeln, wird paradoxerweise die schablonenartige Schrift zu Wools Handschrift.
riences both inside and outside art, within a framework that is concerned with the history, conventions and problematics in the 1980s and 90s.“ Goldstein, Ann: What they are not: The Paintings of Christopher Wool. In: Dies. (Hg.): Christopher Wool. Los Angeles: Scalo Publishers, 1998. S.256. 362 „Mittlerweile ist wohl klar, dass die größte Herausforderung für die zeitgenössische Malerei darin besteht, einen Weg zu finden, die gegenwärtige kulturelle Situation anzuerkennen, eine Situation, die durch eine Übersättigung mit photografischen Darstellungen gekennzeichnet ist, und gleichzeitig alternative, nichtphotografische Mittel zur Bewusstmachung der Konsequenzen dieser Situation zu entdecken.“ Perrone, Jeff: Im Schatten der Malerei. Parkett. Nr. 33. Zürich, New York: Parkett-Verlag, 1992. S.105. 363 Zu Recht weist Samuel Herzog darauf hin, dass das Ornament zwar in der westlichen Kunst, wie die Kunst selbst weitestgehend autonom ist und in seiner Funktion, nicht aber in seinem Inhalt vom Träger abhängig ist. Die meisten nicht-westlichen Ornamente sind dagegen sehr wohl Träger von Bedeutungen und erfüllten z.B. symbolische, religiöse Funktionen. In: Herzog, Samuel: Die schnelle Bedeutung – Ornament und nicht-westliche Kunst. In: Brüderlin, Markus (Hg.): Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog. Köln: DuMont, 2001. S.51/52. 364 Perrone, Jeff: Im Schatten der Malerei. Parkett. Nr. 33. Zürich, New York: Parkett-Verlag. 1992. S.107.
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Anders als bei Neshat und Essaydi weist das Werk von Christopher Wool nur bedingt Verbindungen zur Kalligraphie als vielmehr zum Abstrakten Expressionismus auf (wobei die Vertreter jener Richtung sich durchaus von asiatischer und arabischer Kalligraphie beeinflussen ließen). Wool verknüpft seine Arbeit durch zahlreiche Anspielungen mit der amerikanischen Kunstgeschichte der Nachkriegszeit: Er übernimmt das „allover“ der Malerei der 50er- und 60er-Jahre, die kontrollierten Tropfspuren wirken wie eine Reminiszenz an Jackson Pollock, und die serielle Wiederholung der Bildmotive sowie die florale Ornamentik der Tapetenrollen verweisen zudem auf die Siebdrucke Warhols.365 Wool lotet die Grenzen der Malerei innerhalb und mit Hilfe des malerischen Prozesses aus, gerade weil mit den von ihm verwendeten Materialien – Aluminium als Malgrund und Oberflächen versiegelnde Emailfarbe – kaum malerische Qualitäten erreicht werden können.366 Im Sichtbarmachen der Möglichkeiten und Grenzen des malerischen Prozesses lenkt das „offene“ Kunstwerk hier ganz im Sinne Ecos das Interesse der Betrachter/-innen auf die eigene Form und die konstituierenden Elemente: Form, Linie, Farbe, Wort und Bild. Wool reflektiert und dekonstruiert die Materialität und damit auch den Inhalt seiner Arbeiten fortwährend: Die simple Schablonenschrift, die Parolen, die ihren Ursprung in Graffiti und Street Art zu haben scheinen, werden mit Emailfarbe auf Aluminiumplatten übertragen und damit gleichsam aufgewertet. Aufgrund ihrer Materialität müssten sie clean und steril wirken, würde Wool nicht, durch Fehler und Störungen, wie Tropfspuren, Farbränder etc. die kühle Oberfläche öffnen und das unkontrolliert Wuchernde des Ornaments, der aggressive Ton des Straßengraffitis hervorbrechen. Die fragmentierte Sprache, die Fehler, die Korrekturen und Übermalungen zerstören die Idee von Massenproduktion und lassen den Künstler aus seiner Anonymität zwischen Schablonenbuchstaben und Tapetenrollen hervortreten. Dem Text wird dabei die Rolle des agent provocateur zuteil. So ist der Schaffensprozess das Thema der Bilder selbst, er wird jedoch nicht abgebildet und dargestellt, sondern die auf dem Malgrund sichtbaren Spuren dokumentieren den
365 „Wools painting constitute the absolute, refined, Protestant, ne plus ultra in a tradition of ornamental imagemaking that in America, runs from Pollock and Warhol to Wool [...].“ Hickney, Dave: Christopher Wool. Museum of Contemporary Art. In: Korner, Anthony (Hg.): Artforum. New York, 1998. October. S.115. 366 „Wools Bildfläche ist völlig undurchsichtig und frontal, so, als sei sie gebrannt oder glasiert, und die Farbe fließt nicht schön gleichmäßig, sondern vermittelt immer noch die Illusion ihrer ursprünglichen Beschaffenheit, einer teerähnlichen Klebrigkeit.“ Perrone, Jeff: Im Schatten der Malerei. Parkett. Nr. 33. Zürich, New York: Parkett-Verlag, 1992. S.107.
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physischen und intellektuellen Prozess in Wort- und Bildfragmenten. Sie sind die visualisierte Reflektion, das sichtbar gewordene Bewusstsein des Künstlers während des Entstehungsprozesses des Werkes. Die künstlerische Geste und die kritisch-reflektierende gedankliche Arbeit werden gleichermaßen Teil eines ebenso praktischen wie theoretischen Erkenntnisprozesses.
5.9.
K UNST TRIFFT L ITERATUR , F ACT MEETS F ICTION : P AUL AUSTER UND S OPHIE C ALLE
„The author extends special thanks to Sophie Calle for permission to mingle fact with fiction.“367 „The author extends special thanks to Paul Auster for permission to mingle fiction with fact.“368
Das folgende Kapitel wird sich nicht Werken widmen, die primär mit dem unmittelbaren bzw. formalen Verhältnis von Text und Bild spielen, sondern jenen, an denen das grundsätzliche Wechselspiel zwischen den beiden Schwesterkünsten abzulesen ist: bildende Kunst, die sich mit einem konkreten Beispiel der Literatur beschäftigt, Literatur, die von bestimmten bildkünstlerischen Werken inspiriert ist. „Ich war an Ideen interessiert – nicht bloß an visuellen Produkten. Einmal mehr wollte ich die Malerei im Dienst des Geistes stellen. Und meine Malerei wurde natürlich gleichzeitig als >intellektuelleliterarische< Malerei angesehen. [...] In Wirklichkeit ist alle Malerei bis in die letzten Jahrhunderte literarisch oder religiös gewesen.“369 So beschreibt Marcel Duchamp im Hinblick auf sein Werk die Beziehung, die Kunst und Literatur über die Jahrhunderte geradezu selbstverständlich miteinander verbunden hat. Nicht nur die Bildbeschreibung in der Literatur hat Tradition370, gerade für die bildende Kunst hat die Auseinandersetzung mit Werken der anderen Gattung eine lange Geschichte: Schließlich bezogen sich Werke bildender
367 Auster, Paul: Leviathan. New York: Viking, 1992. 368 Calle, Sophie und Auster, Paul: Double-Jeux. Arles: Actes Sud, 2002. 369 Duchamp zitiert nach: Hans Fischli u.a. (Hg.): Dokumentation über Marcel Duchamp. Zürich, 1960. S.27. 370 Vgl. dazu u.a: Reulecke, Anne-Kathrin: Geschriebene Bilder. Zum Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur. München: Fink, 2002; Scheunemann, Dietrich: Die Schriftzeichen der Maler – die Stillleben der Dichter. Grenzverwehungen zwischen den Künsten um 1910. In: Koebner, Thomas (Hg.): Laokoon und kein Ende, München: Hanser, 1998.
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Kunst thematisch lange Zeit fast ausschließlich auf mythologische und religiöse Motive – und damit auf literarische Vorlagen. Diese Wechselbeziehung hat, wie bereits zu Beginn festgestellt, nicht zwangsläufig Auswirkungen auf die formalen Elemente der jeweiligen Gattung, da die literarischen Vorlagen in bildnerische Elemente umgewandelt wurden oder in – für die Literatur gesprochen – Worte gekleidet wurden. Zudem gibt es natürlich zahlreiche Beispiele der Doppelbegabungen, malende Schriftsteller/-innen, dichtende (bildende) Künstler/-innen 371, die das Interesse an den Schwesternkünsten innerhalb ihres Werk vereinen, oder Künstler/-innen und Schriftsteller/-innen, die in Gemeinschaftsprojekten und Kooperationen bildende Kunst und Literatur aufeinandertreffen lassen. Im deutschen Sprachraum erarbeitet die Lyrikerin Barbara Köhler372 seit Jahren in regelmäßigen Kooperationen mit bildenden Künstler/-innen wie Anja Wiese oder Suse Wiegand raumbezogene Textinstallationen. Der Büchner-Preisträger Durs Grünbein und der Künstler Via Lewandowsky entwickeln seit Ende der 80er-Jahre immer wieder gemeinsame Performanceprojekte. Als ein Beispiel für klassische Kooperationen sei die gemeinsame Edition von Cy Twombly und Octavio Paz genannt. Literarische Motive finden sich seit jeher in der Malerei Cy Twomblys wieder373 und nicht wenige Gedichte von Paz sind von bildender Kunst oder Künstlern inspiriert, so ist das Interesse für Arbeit des jeweils anderen nicht überraschend.374 Letztlich war es jedoch dem Sammlerehepaar Brandhorst zu verdanken, das Twombly und Paz zu einem offenen Dialog anregte, der in einer Edition des Gaeta-Sets Twomblys und von Paz eigens dafür ausgewählten Gedichten seine Form fand.
371 Böttcher, Kurt; Mittenzwei, Johannes (Hg.): Zwiegespräch: deutschsprachige Schriftsteller als Maler und Zeichner. Leipzig: Edition Leipzig, 1980 sowie Scheidegger, Ernst (Hg.): Malende Dichter, dichtende Maler: eine Anthologie von Goethe, Gottfried Keller, Eichendorff bis zu Hermann Hesse, Garcia Lorca u. Friedrich Dürrenmatt. Mit Gedichten von Modigliani u.a. Zürich: Arche, 1957. 372 Vgl. dazu: Metzger, Anneka: Zur Rede Stelle. Die performativen Textinstallationen der Lyrikerin Barbara Köhler. Bielefeld: Aisthesis, 2011. 373 Das Werk Cy Twombly und seine Beziehung zu Schrift und Zeichen ist Gegenstand zahlreicher Publikation. Vgl. dazu u.a. Göricke, Jutta: Cy Twombly. Spurensuche. Dissertation. München: Verlag Silke Schreiber, 1995. 374 Vgl. dazu: Schreier, Christoph: Dos en uno. Cy Twombly und Octavio Paz. In: Brandhorst, Udo und Annette (Hg.): Cy Twombly – Octavio Paz. Bonn: Kunstmuseum Bonn, 1993, S.9.
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Über solche besondere Beziehungen zwischen bildender Kunst und Literatur ist vieles geforscht und geschrieben worden375, was an dieser Stelle nicht wiederholt werden muss. Hier soll das Augenmerk auf ein gemeinsames Projekt von Sophie Calle und Paul Auster gerichtet werden, das in seinem Ansatz so grundlegend und umfassend ist, dass es weit über sonstige Künstlerkooperationen hinausgeht. 5.9.1.
Double Jeux
Sophie Calle und Paul Auster haben mit ihrer Zusammenarbeit ausgehend von Austers Roman Leviathan376 eine besonders radikale Form des Dialogs der Gattungen geschaffen. Die beiden „Meister im Verwirren“377 haben das Spiel zwischen Kunst und Realität, zwischen „Fakten und Fiktion“ bis an die Grenze ausgereizt. Ganz programmatisch heißt der 2004 erschienene Katalog von Sophie Calle Wahre Geschichtenͽ;. Calle ist Geschichtenerzählerin – und ihre „wahren“ Geschichten erzählt sie uns in Text und Bild. Die Französin verwickelt die Leser/innen in ein verworrenes Spiel aus Realität und Fiktion und erzählt auf diese Wies eigene und fremde (Lebens-)Geschichten. Die Objekte, Texte und Fotografien werden dabei so inszeniert, dass die Betrachter/-innen dazu aufgefordert werden, die von Calle gegebenen visuellen und verbalen Indizien zu einer Geschichte zu verknüpfen. Wie bei Calle ziehen sich Identitätsspiele, das Verwenden und Variieren von biografischen Elementen durch das literarische Werk Paul Austers. In seiner New York-Trilogie steht seine eigene Person im Zentrum, die im Roman u.a. in den Schriftsteller Daniel Quinn und den Detektiv Paul Auster aufgespalten, sich immer wieder selbst begegnet379. In Leviathan steht jedoch eine andere Person im Fokus. In Austers Roman, der 1992 erschienen ist, begegnen die Leser/-innen einer Künstlerin namens Maria Turner. Diese im Roman ausführlich beschriebene Künstlerin weist starke Ähnlichkeit mit Sophie Calle auf. Äußerlich ähnelt die französische Künstlerin ihrem Pendant im Buch zwar keineswegs, allerdings fällt auf, dass
375 Reulecke, Anne-Kathrin: Geschriebene Bilder. Zum Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur. München: Fink, 2002. 376 Auster, Paul: Leviathan. Reinbek bei Hamburg, 1994. Englische Originalausgabe: Leviathan. New York: Viking, 1992. 377 Buchholz, Elke Linda: Wahre Geschichten – Die Doppelspiel von Sophie Calle und Paul Auster. In: Literaturblatt. Januar/Februar 2005. zitiert nach http://www. literaturblatt.de/ heftarchiv/heftarchiv-2005/. 378 Calle, Sophie: Wahre Geschichten. München: Prestel, 2004 379 Auster, Paul: Die New-York-Trilogie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1989.
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Maria, „eine große, selbstbeherrschte junge Frau mit kurz geschorenen blonden Haaren und einem schmalen Gesicht“380 im Grunde das Negativ der kleinen, zierlichen Französin mit längeren dunklen Haaren ist. An einer Stelle in Leviathan wird der Verweis auf Calle besonders deutlich. Zudem beschreibt die Szene exemplarisch das Zusammenspiel von Identität, Zufall und Verwechslung, das Calle wie Auster so zentral in ihrem jeweiligen Werk behandeln: „Doch aufgrund irgendeiner Verwechslung auf jener Party vor sieben Jahren hatte Sachs nie so ganz begriffen, wer Maria Turner eigentlich war. An dem Abend hatten drei oder vier junge Künstler/-innen am Tisch gesessen, und da Sachs sie alle zum ersten Mal sah, war ihm der durchaus gewöhnliche Fehler unterlaufen, ihre Namen und Gesichter durcheinanderzubringen und jedem Gesicht einen falschen Namen zuzuordnen. Für ihn war Maria Turner eine kleine Brünette mit langen Haaren, und wann immer ich ihm von ihr erzählt hatte, hatte ihm dieses Bild vorgeschwebt.“381 Anders als das Äußere entspricht die Beschreibung des Wesens von Tuner hingegen auch dem von Sophie Calle, oder präziser: dem, was Calle uns über ihre Person glauben machen will.382 Auster verwandelt also das reale Leben und Werk der Künstlerin Calle in Fiktion, ihre realen Arbeiten in fiktive Werke der Künstlerin Turner: Dabei übernimmt Auster einige ihrer Arbeiten fast unverändert, andere variiert er leicht. Eine Gegenüberstellung der Werke Turners und Calles soll dies verdeutlichen: So beschreibt Auster, dass Turner seit ihrem 14. Geburtstag all ihre Geburtstaggeschenke unausgepackt und geordnet in Regalen aufhebt. Er erwähnt, dass sie einen Privatdetektiv anheuerte, der sie durch New York verfolgte und dies in Fotos und Notizen dokumentierte sowie das spontane Anheuern als Tänzerin in einer Oben-ohne-Bar. Diese Beispiele entsprechen exakt oder in Variationen Arbeiten von Sophie Calle. Die Geschenkesammlung verweist auf die Arbeit The Birthday Ceremony, eine Sammlung ihrer Geburtstagsgeschenke, die Sophie Calle allerdings im Gegensatz zu Maria erst mit 27 begann.383 Während Maria ein Privatdetektiv
380 Auster, Paul: Leviathan. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1994. S.83. 381 Ebd. S.151. 382 „Maria empfand keine Sehnsucht nach der Art von Bindungen, wie sie die meisten Leute offenbar erstrebten, und Liebe im herkömmlichen Sinn war für sie etwas Fremdes, eine Leidenschaft, die außerhalb ihrer Fähigkeiten lag. [...] Anfangs fand ich sie ein wenig unheimlich, vielleicht sogar pervers [...], aber im Laufe der Zeit kam ich dahinter, dass sie bloß exzentrisch war, eine unorthodoxe Frau, die ihr Leben einer Reihe ebenso raffinierter wie bizarrer Privatrituale unterwarf.“ Ebd. S.84. 383 Zudem beinhaltete „The Birthday Ceremony“ nicht nur die Sammlung der Geschenke in jeweils einer Vitrine pro Jahr, sondern auch das alljährliche Ritual, Gäste zu ihrem Geburtstag einzuladen, wobei die Anzahl der Gäste jeweils ihrem Lebensalter entsprach.
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durch New York folgt, bittet Sophie Calle ihre Mutter für das Projekt The Shadow darum, sie von einem Detektiv in ihrem Pariser Alltag beschatten zu lassen.384 Auch Marias Projekt, während eines Jobs als Zimmermädchen im Hotel die Gegenstände und Kleider abwesender Hotelgäste zu fotografieren und deren (fiktive) Lebensgeschichte aufzuschreiben, ist die direkte Übernahme von Calles Arbeit The Hotel385. Maria verfolgt zudem einen Mann, den sie zufällig am Abend davor kennengelernt hatte, nach New Orleans ebenso wie Calle in Suite Vénitienne, einem Mann auf seiner Reise nach Venedig hinterher reist und beschattet. Und nicht zuletzt erzählt Auster die Geschichte des gefundenen Notizbuchs, das im wahren Leben der Sophie Calle zur Arbeit The Adress Book führte und in Austers Roman Ausgangspunkt für weitreichende Verwicklungen mit tödlichem Ende für Austers Protagonisten Sachs ist. 5.9.2.
Revanche
Einige Arbeiten erfindet Auster jedoch neu. Maria Turner ernährte sich beispielsweise bisweilen mit einer „chromatischen Diät“, und nimmt tageweise nur Lebensmittel einer bestimmten Farbe zu sich.386 Außerdem unterwirft sie sich an manchen Tagen dem Diktat des Alphabets und richtet ihren kompletten Alltag nach einem konkreten Buchstaben aus. Diese von Paul Auster erfundenen Arbeiten von Turner sind der Ausgangspunkt für Sophie Calles Reaktion auf den Roman. So entsteht beispielsweise The Chromatic Diet nach der Vorlage von Auster, allerdings nicht ohne Calles Ergänzungen, die sie wiederum dokumentiert bzw. schriftlich festhält.387 In einem zweiten Schritt bittet Sophie Calle anschließend Paul Auster um eine Art Gebrauchsanweisung für ihren Alltag, der sie sich ein Jahr lang unterwerfen wollte. Möglicherweise hielt Auster dieses Unterfangen für etwas zu gewagt und so erhielt Calle von ihm nur Anleitungen für einen Aufenthalt in New York, Personal Instructions for SC on How to Improve Life in New York City (because she asked...)388. Sophie Calle reiste darauf hin nach New York und setzte die von Auster
384 Vgl. The Shadow (1981) und Twenty Years Later (2001). Calle, Sophie: M’as-tu vue. München: Prestel, 2003. S.101. 385 Calle, Sophie: M’as-tu vue. München: Prestel, 2003. S.157 ff. 386 Die Beschreibung der Chromatic Diet, wie auch die folgende Arbeit Personal Instructions for SC: Auster, Paul: Leviathan. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1994. S.84 ff. 387 In dem gemeinsam herausgegebenen Buch „Double Game/Double Jeux“ sind daher von Calle mit Rotstift korrigierte Auszüge aus Leviathan abgedruckt. 388 Vgl. Calle, Sophie: M’as-tu vue. München: Prestel, 2003. S.273.
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beschriebenen Anweisungen um: Da sie u.a. einen öffentlichen Ort verschönern sollte, wählte sie eine Telefonzelle aus, die sie putzte, dekorierte und u.a. Schreibutensilien und Zeitschriften ausstattete.389 Wie angeordnet, lächelte sie zudem Passant/-innen an, führte Buch über deren Reaktionen, und verschenkte an Obdachlose Zigaretten und Sandwichs. Alle Vorgänge wurden von Calle detailliert dokumentiert. Das Projekt wird durch ein gemeinsames Abendessen mit Paul Auster abgeschlossen. Am Ende findet sich die Realität gewordene Fiktion erneut zwischen Buchdeckeln wieder: Das gemeinsame Wechselspiel nach Leviathan wurde am Ende wieder in einem Künstlerbuch zusammengefasst. In der englischfranzösischen Dokumentation der einzelnen Projekte, die in sieben kleinen Bänden erschienen ist, finden sich Textausschnitte aus Leviathan und die Dokumentation jener Arbeiten von Calle, die Auster als Vorlage für die Werke von Maria dienten sowie die Arbeiten, die Calle entsprechend der Handlungsanweisungen Austers oder seiner Beschreibungen von Marias Werken nach geschaffen hat. Ergänzt wird die Sammlung durch die Auszüge aus der amerikanischen Originalausgabe von Leviathan, die mit roten Korrekturen und Kommentaren von Calle versehen sind. Einige der in Double Jeux/Double Games390 dokumentierten Aktionen Calles sollen im Folgenden ausführlicher betrachtet werden. 5.9.3.
Die Realisierung der Werke von Maria Turner
Sophie Calle präsentiert die Chromatic Diet als Installation mit Fotografie und Text. Die Tagesessen auf den schlicht gerahmten, quadratischen Fotos sind präzise arrangiert. Trotz der Farbigkeit und Absurdität der zusammengestellten Essen bewahren die Fotos ihren dokumentarischen Charakter, der für Calles Arbeitsweise so typisch ist. Ob sie diese chromatischen Gerichte jemals zu sich genommen hat, bleibt unklar. Calle hält sich, wie oben angedeutet, präzise an Austers Anweisungen, ergänzt die Arrangements der Essen jedoch um eine farblich passende Tischdecke sowie ebenfalls passendes Geschirr und Besteck, um die monochrome Wirkung der einzelnen Ensembles zu unterstreichen. Zudem ergänzt Calle die Essens-
389 „Final clause: CULTIVATE A SPOT. I choose the phone booth located at the corner of Greenwich and Harrison streets. It’s a double phone booth. I pick the one to the right. To decorate it, I buy: Glass Plus window cleaner, Brasso metal polish, Krylon „clover green“ spray paint, six writing pads, six pencils, one mirror, Devon epoxy glue, two twelve-foot chains, two padlocks, one bouquet of red roses, one ashtray, two folding chairs, and the current issue of Glamour magazine.“ Ebd. S.274. 390 Calle, Sophie und Auster, Paul: Double Game/Double-Jeux. Sieben Bände, Arles: Actes du Sud, 2002.
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vorschläge Austers um passende Getränke, erweitert sie durch zusätzliche Zutaten und – hier zeigt sich dann doch, was die bildende Künstlerin vom Schriftsteller unterscheidet391 – verändert die Zusammenstellung aus farblichen Gründen. Außerdem erweitert sie die Liste der Menüs um zwei weitere Farben, um gelb und pink. Die Texte werden nicht gerahmt präsentiert, sondern stecken in Menükartenhaltern. Jeder Fotografie ist eine Karte zugeordnet, auf der Austers Essensvorschlag sowie die Ergänzungen notiert sind, die Calle vorgenommen hat. Als weitere Arbeit befolgt Calle die Anweisung Austers, wie Maria einen Tag einem bestimmten Buchstaben zu widmen: wie in Leviathan beschrieben, verbringt sie drei Tage im Zeichen von B, C und W. Die Arbeit Days Under the Sign of B, C and W von 1998 besteht aus drei zweiteiligen Foto-Text-Kombinationen. Jedem Tag hat Calle ein Foto und ein Textblatt zugeordnet, die in gleichgroßen quadratischen Holzrahmen präsentiert werden. Die Grundstruktur ist dabei immer ähnlich: Links befindet sich das Textblatt (die Längen der Texte variieren), auf den nach wenigen einleitenden und erklärenden Worten, in die Wörter des Tages aufgezählt oder in einem Text zusammengefasst sind. Diesem Text wird auf der rechten Seite eine Fotografie gegenübergestellt. Innerhalb dieses Rasters werden die einzelnen Tage dabei unterschiedlich behandelt, sowohl in der Vorgehensweise als auch in der Präsentation innerhalb dieses Rasters. Im Vergleich zur Chromatic Diet hat Calle hier aufgrund der vagen Angaben Austers (Auster beschreibt nicht, was Maria Turner an diesen Tagen konkret unternimmt392) einen größeren Gestaltungsfreiraum. So inszeniert sich Calle für den B-Tag als Brigitte Bardot, und lässt sich als blonde Tierschützerin fotografieren, im Bett residierend, umgeben mit einer skurrilen Mischung aus lauter (ausgestopften) Tieren. Den C-Tag – „C comme Calle et Calle au Cimetière“393 – verbringt sie auf dem Friedhof (engl.: Cemetery, franz.: Cimetière) von Montparnasse, auf dem sie vor Jahren gemeinsam mit ihrem Vater ein Familiengrab erstanden hat (wobei man auch hier nicht weiß, ob diese Geschichte des gekauften Familien wirklich wahr und autobiografisch ist). Am dritten Tag, dem W-Tag, versuchte sie, alle Wörter in ihr Handeln zu integrieren, die sie unter
391 Vgl. dazu Calle über das weiße Menu: „I changed this menu, because I was not satisfied with the yellow colour of the potato, and added Rice and Milk.“ Calle, Sophie: M’as-tu vue. München: Prestel, 2003. S.281 ff. 392 Vgl. dazu die entsprechende Beschreibung im Roman Austers: „In anderen Phasen legte sie ihren Einstellungen die Buchstaben des Alphabets zugrunde und verbrachte dann ganze Tage unter dem Bann des B, des C oder des W, um schließlich auch dies abrupt abzubrechen und sich etwas anderem zuzuwenden.“ Auster, Paul: Leviathan. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1994. S.85. 393 Zitat aus dem Intro des Textteils der C- Arbeit aus der Alphabet-Serie.
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W in ihrem Englisch-Wörterbuch fand. Der Tag wird zur 24-stündigen Alliteration: So reiste sie Whisky trinkend und Wagner hörend, ausgerüstet u.a. mit Büchern über die Geschichte des Western, einem Bildband des Fotografen William Wegman und einem Buch des Schriftstellers Walt Whitman in die Wallonie. Wie Maria Turner führt auch Calle das Konzept nicht weiter, sondern beschränkt sich ebenfalls auf die drei von Maria gewählten Buchstaben und bricht den Versuch danach ab. 5.9.4.
Personal Instructions for SC
Auch jene Teile des Projekts, die nicht bereits in Leviathan beschrieben waren, führt Calle in gewohnter Ästhetik in ihr Werk über: Cultivate a spot lautet eine der Anweisungen Austers und Calle folgt der Anweisung, indem sie eine öffentliche Telefonzelle verschönert. Dabei passt Sophie Calle sich in ihrer formalen Gestaltung so weit an, dass ihre Arbeiten im öffentlichen Raum nicht sofort als künstlerische Handlungen zu erkennen sind. Zwar fällt die dekorierte Telefonzelle (Abb.31) auf, die Wahl ihrer Materialien und die Art der Installation lassen zunächst nicht zwangsläufig auf eine künstlerische Intervention schließen. Calle unterwirft sich auch hier bewusst der Alltagsästhetik des öffentlichen Raums: Die von ihr gewählte Telefonzelle und der unmittelbare Boden wurden zunächst in grüner Farbe als abgegrenzter Ort markiert. Boden und Zelle sind großflächig, aber unpräzise besprüht. Tropfspuren, unregelmäßige besprühte Flächen etc. verweisen eher auf den schnellen illegalen Akt eines Graffitisprayers. Vergleichbar einfach gehalten sind auch die anderen von ihr verwendeten Materialien. Bilder und kleinere Texte sind als Schwarz-Weiß-Kopien oder Computerausdrucke und Postkarten mit schwarzem Klebeband an den Wänden der Zelle befestigt und erinnern an Zettel von Wohnungs- oder Arbeitssuchenden. Der Gesamtcharakter wirkt äußerst temporär, keine der angebrachten Gegenstände wurde verschraubt oder dauerhaft installiert, alle Elemente wurden durch Klebeband oder Epoxy-Kleber befestigt. Gleichzeitig soll der so geschaffene Raum zum Verweilen einladen: In abgeschnittenen Wasserflaschen stehen Blumen. Zeitungen und Zeitschriften liegen zum Lesen bereit, für Sitzgelegenheiten (zwei angekettete Plastik-Klappstühle), Getränke und Chips ist ebenfalls gesorgt. Auf ebenfalls angebrachten Blättern sollten comments, complaints or suggestions394 hinterlassen werden. In gewisser Weise wirkt der Raum auch durchaus intim, da er von der persönlichen Aneignung eines Individuums erzählt und schnell deutlich wird, dass es sich nicht um ein von öffentlicher Hand oder Werbung initiiertes Projekt handelt. Den-
394 Abbildung der suggestion pages in: Calle, Sophie: M’as-tu vue. München: Prestel, 2003. S.276 und 278.
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noch erzählt der so inszenierte Versuch, einen gemütlichen, geschützten Raum innerhalb es öffentlichen Raums zu schaffen, gleichzeitig von seinem Scheitern und definiert die Grenzen des privaten wie des öffentlichen Raums. Sophie Calle inszeniert in ihren Arbeiten oft genug Privates als Öffentliches, gibt intime Details ihres Privatlebens der Öffentlichkeit preis, inszeniert öffentliche Orte als private und umgekehrt. Den Betrachter/-innen fällt es dagegen schwer, sich in Calles öffentlichprivaten Räumen geborgen oder entspannt zu fühlen.395 Nicht zuletzt, weil über all dem doch der investigative Blick Calles wacht: So ist der Computerausdruck zweier Augen, der am oberen Rahmen der Zelle angebracht, durchaus metaphorisch zu verstehen. Was immer sie auch in der Zelle tun oder lassen, der allgegenwärtige Blick Calles ruht auf den Besucher/-innen: Big sister is watching you. In Ausstellungen präsentiert Calle die Arbeit als Kooperation mit Paul Auster in einer Mischung aus Fotoserie, in der sie die Passant/-innen und Benutzer/-innen der Telefonzelle festhält, kombiniert mit den Handlungsanweisungen und „Originaldokumenten“ wie den Fotos und Kommentarsammlungen, die in der Zelle ausgehängt waren. 5.9.5.
Spielregeln
Verwirrende Doppelungen und Spiegelungen vom Autoren- bzw. Künstler-Ich beschäftigen sowohl Calle als auch Auster in vielen Werken. Biografische Ähnlichkeiten, scheinbare oder tatsächliche Double, die sich bisweilen innerhalb eines Buches begegnen, finden sich gerade in früheren Werken Austers,396 im Spiel der unterschiedlichen Identitäten nimmt er sich selbst nicht aus – eine zentrale Gemeinsamkeit mit Sophie Calle. Im Gegensatz zu Austers Werk kreisen jedoch Sophie Calles Arbeiten „explizit und fast ausschließlich um die eigene Identität als Künstlerin, eben als ‚studies in this shifting of nature itself‘. Nicht zuletzt kommt hinzu, dass sowohl Sophie Calles als auch Paul Austers künstlerisch-literarisches Vorgehen gekennzeichnet wird durch eine unentwirrbare Vermischung von (scheinbaren) Realitätsfragmenten und fiktionalen Elementen. Für Calles Vorgehen und die Präsentation ihrer Arbeiten gilt – und dies ist ebenfalls eine deutliche Parallele zu den literarischen Werken Austers –, dass sie diese drei Elemente aufs Engste ineinan-
395 Vgl. dazu beispielsweise die Arbeit The Sleepers von 1979. Im Rahmen dieser Arbeit lud Calle bekannte und unbekannte Menschen ein, in ihrem Bett zu schlafen, sich dabei fotografieren zu lassen und Calles Fragen zu beantworten. 396 Vgl. (wie bereist oben angedeutet) beispielsweise die Variationen des Autoren-Ichs in Austers New-York-Trilogie. Auster, Paul: New York Trilogie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1989.
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dergreifen, wodurch die Arbeiten beider Künstler/-innen einen Gutteil ihrer Spannung beziehen.“397 Dabei spielt das Selbstauferlegen und Befolgen von Regeln bei beiden eine wichtige Rolle. In Leviathan beschränkt sich Auster durch die Wahl eines existenten Werkes und einer realen Person freiwillig selbst. Diese Dialektik von (künstlerischer) Freiheit und (selbst gewählter) Einschränkung teilt er in diesem Projekt auf geradezu exemplarische Weise mit Calle, in deren Werk die Unterwerfung durch Rituale und Regeln eine zentrale Rolle spielt.398 Für beide liegt darin der besondere Reiz, die Einschränkung – aber auch das Nichteinhalten der Regeln399 – ermöglicht vor allem bei Calle erst das künstlerische Schaffen.400 Für die Künstlerin, die sich sonst ihre Regeln selbst erschaffen muss, ist die Vorgabe durch Auster umso interessanter; die Fremdbestimmung ist die logische Konsequenz ihres künstlerischen Prinzips. Für Calle wie Auster ein perfekter Deal; das Spiel mit der eigenen Identität im Falle Calles und der fremden im Falle Austers, erweitert ihre jeweilige Arbeitsweise um eine weitere Ebene.401 Durch den literarischen Ursprung dieser
397 Umathum, Sandra und Rentsch, Stefanie: Vom Gehorchen. Über das Verhältnis von Handlungsanweisungen und ästhetischer Erfahrung. In: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Berlin, 2006. Zitiert nach www.sfb626.de/index.php/veroeffentlichungen/online/artikel/30/. 398 „I like being in control and I like losing control. Obedience to a ritual is a way of making rules and then letting yourself go along with them. [...] That’s the rule of the game, but I’m the one who chose the rule.“ Sophie Calle im Interview mit Christine Macel in: Calle, Sophie: M’as-tu vue. München: Prestel, 2003. S.75. 399 Vgl. dazu: Buchholz, Elke Linda: Wahre Geschichten – Die Doppelspiel von Sophie Calle und Paul Auster. In: Literaturblatt. Januar/Februar 2005. zitiert nach http://www.literatur blatt.de/heftarchiv/heftarchiv-2005/: „Die eingangs klar aufgestellten Spielregeln des Rituals entpuppen sich damit letztlich als Folie, auf der sich die Varianten und Unterlassungen nur umso deutlicher als der eigentliche Zielpunkt ihrer Handlungen abzeichnen.“ 400 Vgl. dazu Rentsch, Stefanie: „Charakteristisch ist hierfür ein dialektisches Moment, das zwischen der Last der Einschränkung und der paradoxerweise erst dadurch gewonnenen letzten künstlerischen Freiheit changiert.“ In: Umathum, Sandra und Rentsch, Stefanie: Vom Gehorchen. Über das Verhältnis von Handlungsanweisungen und ästhetischer Erfahrung. Sonderforschungsbereich 626 (Hg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte,
Geschichtlichkeit.
Berlin,
2006.
Zitiert
nach:
www.sfb626.de/index.php/
veroeffentlichungen/online/artikel/30/. 401 Vgl. dazu: Buchholz, Elke Linda: Wahre Geschichten – Die Doppelspiel von Sophie Calle und Paul Auster. In: Literaturblatt. Januar/Februar 2005. Zitiert nach: http://www.literatur blatt.de/heftarchiv/heftarchiv-2005/: „Doch während Calles Arbeiten egozentrisch in Spi-
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Vorgaben verwischen sich die ohnehin schwer zu ortenden Übergänge zwischen Kunst und Leben in Calles Werk, zwischen Realität und Literatur umso mehr. Mit diesem Gemeinschaftsprojekt werden daher gleich mehrere Grenzen in Frage gestellt. Zum einem wird die Grenze zwischen künstlerischem Schaffen eines Menschen und seinem Handeln als Individuum völlig verunklärt. Wir wissen nicht (mehr), wer Sophie Calle ist und in wessen Auftrag sie arbeitet, wenn sie eine New Yorker Telefonzelle verschönert. Unterwirft sie sich dabei den Anweisungen Austers oder vielmehr ihrem eigenen Konzept und ist dadurch nicht (nur) die Ausführende, sondern diejenige, die entscheidet (sich zu unterwerfen)?402 Während beide in ihrem Ressort weiter arbeiten und ihre Handschrift bewahren, werfen sie eine viel grundlegendere Frage künstlerischen Handels auf, nämlich die Frage nach der Autorenschaft. Ist die Idee das Werk oder das visualisierte oder verbalisierte Ergebnis? Wem gehört die Chromatic Diet? Sophie Calle? Paul Auster? Oder am Ende Maria Turner? Dennoch kommen kaum Zweifel auf, wenn Calle die so entstandenen Arbeiten unter ihrem Namen in Ausstellungen präsentiert. Im freiwilligen Unterwerfen wird die tatsächliche Kontrolle, die Calle über die Entwicklung des Projektes hat, umso deutlicher. Und durch das vermeintliche Aneignen oder Umsetzen von Werken einer fiktiven (Maria Turner) oder realen Person (Paul Auster), wird Calles Autorität als Erzählerin wie Gestalterin in Text und Bild deutlich: So entscheidet sie sich bewusst dagegen, andere Facetten Marias, die ebenfalls ausführlich im Roman beschrieben sind, zu übernehmen, sondern bezieht sich ausschließlich auf eine relativ kurze Passage, in der Auster vor allem die Arbeiten Marias beschreibt- und beispielsweise nicht jene Teile, in denen die zwischenmenschlichen Beziehungen von Turner und anderen Protagonisten des Romans thematisiert werden.403 Sie wählt aus, sie entscheidet, welche Teile wie umgesetzt
ralen und Ellipsen die eigene Person umkreisen, fixiert Austers Blick auch die Menschen und Lebenswege um ihn herum.“ 402 Vgl. dazu Calle: „I wonder if Paul got his idea for the instructions concerning ways of making life in New York more beautiful by reading the twelve steps of an Alcoholics Anonymous program or whether he based them on a community service order. Anyway, I have the duty to obey. That was the agreement. I have no other choice but to submit. If I fulfill the assignment maybe he will offer me the novel that I have been asking for as a reward.“ In: Calle, Sophie: M’as-tu vue. München: Prestel, 2003. S.274. 403 „But when Calle through her art rewrites the rules of the game and responds to her double, Maria, she ignores the fictional Maria’s overtly erotic and aggressive acts in Leviathan and, not incidentally, Maria’s relationship to Auster’s Double, the narrator.“ Laud, Mauvin: Double Game – Review. In: Art in America. July. New York, 2000. Zitiert nach www.findartcles.com/p/articles/mi_m1248/is_7_88/ai_63365621.
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werden. „Sie bleibt, wie Paul Auster für die Handlung seines Romans, letztlich die Autorin ihrer eigenen Erzählung, die Kontrollmöglichkeiten durch die Rezipient/innen werden wiederum von ihrer Autorität kontrolliert.“404 So weiß der/die Leser/in des Buches am Ende, dass das Projekt mit einem gemeinsamen Abendessen von Auster und Calle abgeschlossen wird: Ein Essen, das dargestellt wird als letzte Aktion, die abschließend zum letzten Mal zwischen Realität und Fiktion, zwischen finaler Aufgabenstellung und informellen Essen changiert.405 Doch über deren Beziehung zueinander kann man nur Vermutungen anstellen. Trotz und gerade durch das scheinbare Offenlegen des ganzen Projektes, wird den Leser/-innen bewusst, dass sie am Ende nichts wissen. Nicht über Auster – und schon gar nicht über Sophie Calle. Der scheinbare Exhibitionismus der Sophie Calle führt also ebenso wenig zu Erkenntnissen über die Persönlichkeit der Künstlerin, wie die scheinbare Fremdsteuerung Calles dazu führt, dass am Ende ihre Autorenschaft angezweifelt werden könnte. Durch den radikalen Akt der (vermeintlichen) künstlerischen Selbstaufgabe behält sie letztendlich mehr denn je die Kontrolle und ihre Autorität als Künstlerin. Je mehr Calle ihre Arbeit der Austers unterordnet, umso mehr wird die Abweichung und damit ihre eigene, autonome Sprache als Künstlerin deutlich. Aus Gehorchen wird plötzlich Vereinnahmung: Je mehr sie sich der literarischen Fiktion unterwirft, desto deutlicher wird dieser Akt eindeutiger Werkbestandteil Calles, wird realexistente künstlerische Aneignung, deren Ergebnis eine Arbeit Sophie Calles ist.
404 Vgl. dazu: Buchholz, Elke Linda: Wahre Geschichten – Die Doppelspiel von Sophie Calle und Paul Auster. In: Literaturblatt. Januar/Februar 2005. zitiert nach http://www.literatur blatt.de/heftarchiv/heftarchiv-2005/. 405 „Part III, the books last section, ends with Calle and Auster having dinner. […] What is their friendship really like? Calle would never tell. Instead she puts Auster, perhaps ironically, in the role of the authoritative doctor, but then retains control by being the author of the story and giving it its final twist: ‚That same evening I have dinner with Paul Auster. I inform him that I have put an end to the Gotham Handbook. Maybe I am still wearing that contrived smile during the evening, because at one point Paul leans over to me, speaking softly as if at a patient’s bedside: It’s over Sophie … It’s over. You can stop smiling now. ‘“ Laud, Mauvin: Double Game – Review. In: Art in America, Juli 2000. Zitiert nach www.findarticles.com/p/articles/mi_m1248/is_7_88/ai _63365621.
6. Schreiben statt Malen? Das Ende der Gattungen? Die bildende Kunst in der Krise?
Wolfgang Max Faust diagnostiziert 1987 in Bilder werden Worte1 eine Krise der (bildenden) Kunst. Er prognostiziert das Ende der (Gattungs-)Künste und den Beginn einer universal-künstlerischen Avantgarde, einer Kunst jenseits von Gattungsbegriffen. Steckt die bildende Kunst heute, knapp 30 Jahre später, tatsächlich in einer Krise, die für sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts begonnen hat und auf die sie bis heute (da sie nicht nur jeder reproduzieren, sondern scheinbar auch produzieren kann) keine Antworten gefunden hat? Lassen sich keine gattungsimmanenten Lösungen (mehr) finden? Ist tatsachlich von einer „Kunst jenseits der Künste“ (Faust) zu sprechen? Und wo stehen angesichts dieser Fragen die bildenden Künstler/innen, die Schrift in ihr Werk integrieren? Die Abkehr von einem letztlich auf Mimese basierenden Kunstbegriff ist in den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts in der Tat mit dem Bestreben nach Gattungen überschreitende Formen beantwortet worden. Künstler/-innen des 20. und 21. Jahrhunderts haben an diese Errungenschaften angeknüpft. Sie waren und sind bestrebt, Gattungsgrenzen zu erweitern, durchlässig zu machen und in Frage zu stellen. Ziel scheint jedoch nicht eine alles zusammenführende Kunst jenseits der Einzelkünste, sondern vielmehr eine größtmögliche Freiheit innerhalb der bildenden Kunst zu erreichen. Dies ändert sich weder durch neue Reproduktionstechniken im frühen 20. Jahrhundert noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts als die schnelle Entwicklung neuer Bildmedien die Möglichkeiten visueller Repräsentation erweitert und auch die (bildende) Kunst vor neue Herausforderungen stellt. Anhand der in dieser Arbeit vorgenommenen Werkanalysen konnte aufgezeigt werden, dass die wenigsten Künstler/-innen den Gattungsbegriff als solchen explizit
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Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln: DuMont, 1987.
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in Frage stellen oder die Antwort auf die Herausforderungen der Moderne in einer die Gattungsgrenzen überschreitenden Gesamtkunst sehen. Es ist vielmehr festzustellen, dass die Künstler/-innen die Möglichkeiten der visuellen (und verbalen) Repräsentation, nicht aber die der bildenden Kunst grundsätzlich in Frage stellen. Daher kann eigentlich nicht von einer Krise der bildenden Kunst gesprochen werden, aus der heraus sich die Künstler/-innen andere, in unserem Falle zunächst literarische Verfahrensformen aneignen müssen, um Lösungen zu finden, die außerhalb dessen liegen, was sich unter dem Gattungsbegriff der bildenden Kunst zusammenfassen lässt. Eine „generelle[n] epochale[n] Entwicklung hin zu ‚Grenzüberschreitungen‘, ‚Hybriden‘ […]“2 kann festgestellt werden, von ‚Gesamtkunstwerken‘3 aber daher nur teilweise die Rede sein. Wie wir festgestellt haben, nutzten gerade die frühen Avantgarde-Künstler/innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Schrift, um bildimmanente Probleme zu lösen, aber auch, um den Bild-Begriff zu erweitern. Das bildkünstlerische Werk als solches wird hier zunächst nicht in Frage gestellt; es wird durch die Möglichkeiten, die sich durch die Verwendung von Schrift und Sprache ergeben, ergänzt und kommentiert. Das Spektrum dessen, was dargestellt werden soll, wächst und verändert sich und damit auch die Darstellungsmittel. Weder in den frühen Arbeiten der Avantgarde der 20er-Jahre, noch in den modernen oder postmodernen Positionen steht jedoch Schrift an der Stelle eines Bildes, weil das Bild als solches nicht mehr funktioniert und die Schrift ein adäquater Ersatz sein könnte. Die Möglichkeiten des Bildes sind beschränkt, das haben Künstler/-innen erkannt und in ihren Arbeiten durch die Integration von Schrift deutlich gemacht. Sie zeigen aber gleichzeitig, dass Sprache als Medium an durchaus vergleichbaren Problemen scheitert und machen deutlich, dass Schrift und Sprache das grundsätzliche Dilemma einer ursprünglich auf Mimese basierten Kunstauffassung auch nicht lösen können. Denn das Problem ist weder ein Problem der Bildmedien noch der Textmedien, es ist ein Problem jeglicher Repräsentation, die visuelle und verbale Zeichencodes gleichermaßen betrifft. Daher macht es für die Künstler/-innen auch keinen Sinn, sich völlig von der Idee eines bildbasierten Werkes zu verabschieden. Und selbst in Arbeiten von Lawrence Weiner oder Joseph Kosuth hat die ausschließlich eingesetzte Schrift letztlich das Bild, das visuelle Werk als Ausgangspunkt und Zielpunkt. Schrift ersetzt nie, Schrift ergänzt. Denn auch wenn wir vor einer Textarbeit Weiners stehen, haben wir es letztlich mit einem Künstler zu tun, der in grafisch-visuellen und
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Willems, Gottfried: Die Künste, ihre Medien und die Fallen der Spezialisierung. In: Linck, Dirck und Rentsch, Stefanie (Hg.): Bildtext – Textbild. Probleme der Rede über TextBild-Hybride. Freiburg: Rombach, 2007. S.59.
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Ebd. S.59.
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in begrifflichen Bildern denkt, und so zielt alles Geschriebene am Ende auf die Frage der Visualisierung und „Bildwerdung“ eines Werkes. Der Ausgangspunkt bleibt also die Position eines bildenden Künstlers. Dennoch wird zudem die Gattung als solche geöffnet. Denn gleichzeitig erweitern Künstler/-innen ihren Arbeitsbereich und arbeiten explizit in Arbeitsfeldern, die der bildenden Kunst bisher nicht zugehörig war. Dies führt aber nicht zu einer völligen Auflösung der Gattungsgrenzen oder zur Auflösung einer Trennung zwischen Kunst und Nicht-Kunst, da das Ergebnis immer wieder rückgebunden wird an die Ausgangsbasis der bildenden Kunst. Wolfgang Max Faust stellt an das Ende seiner Betrachtungen die Vermutung, die Einzelkünste würden in der Zukunft von einer allumfassenden, Gattungsgrenzen überschreitenden Kunst jenseits der (durch die bürgerliche Gesellschaft definierten) Künste ersetzt werden: „Was sich im Enden der Kunst als der getrennten Künste andeutet, ist nicht eine neue Kunst der Vereinigung der Künste, sondern eine ‚Gesamtkunst‘ jenseits der Künste, in der der medialen Vermischung eine soziale Dimension korrespondiert.“4 Fast 30 Jahre nach Fausts Prognose ist festzustellen, dass eine in seinem Sinne „spätbürgerliche“ Kunstauffassung gesiegt hat. Diese wurde zwar – das zeigen viele der hier vorgestellten Arbeiten – um eine soziale Dimension erweitert, dennoch ist bei aller Hybridisierung die eigene Gattung für die bildkünstlerische Avantgarde Ausgangspunkt geblieben. Dies bedeutet jedoch gerade nicht, dass der hier aufgezeigte Prozess der Öffnung weniger radikal ist. Im Gegenteil: Die Entlassung der Kunst in die Autonomie und ihre damit verbundene Entwurzelung5 hat zur Folge, dass die bildenden Künstler/-innen ihren Zuständigkeits- und Kompetenzbereich ausdehnen6 und den Kunstbegriff ebenso souverän wie radikal verändern und erweitern. Durch die Integration der Schrift und der anschließenden Aneignung von anderem Fremdmaterial bis hin zu kunstfremden Strategien und Arbeitsfeldern, löst sich die bildende Kunst gerade nicht in Allgemeinen auf, sondern verleibt sich mit neuen Selbstverständnis das sie Umgebende ein. Gattungsgrenzen müssen durch die Integration von Sprache gar nicht „verwischt“ (Faust) werden, um damit auf die „Möglichkeit einer Kunst jenseits der
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Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln: DuMont, 1987, S.227.
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Willems, Gottfried: Die Künste, ihre Medien und die Fallen der Spezialisierung. In: Linck, Dirck und Rentsch, Stefanie (Hg.): Bildtext – Textbild. Probleme der Rede über TextBild-Hybride. Freiburg: Rombach, 2007. S.70.
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Vgl. dazu: Meister, Carolin: Die Ausweitung der Kompetenzzone. Gegen die mediale Begründung disziplinärer Grenzen. Ebd. S.171 ff.
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Künste“7 zu verweisen. Denn die bildende Kunst hat sich durch ihre Öffnung längst zu eigen gemacht, was ursprünglich jenseits ihres Aufgabenbereiches gelegen hat.
6.1.
W ARUM S CHRIFT ? S TRATEGIEN
DER
Ö FFNUNG
Warum bedienen sich Künstler/-innen heute also Schrift und Sprache, wenn sie damit nicht die Gattungsgrenzen zwischen Kunst und Literatur auflösen wollen? Die vorerst einfach klingende Antwort lautet: Sie integrieren Schrift in ihr Werk, weil Schrift öffnet. Durch Schrift und Sprache öffnet sich der Raum der bildenden Kunst. Schrift und Sprache eröffnen der Kunst Räume; durch die Verwendung von Schrift öffnet sich ein Werk nach innen und nach außen. Eine Öffnung nach innen soll hier das genannt werden, was zur einer Erweiterung des Themenspektrums führt, das unmittelbar mit der Konstitution und Konstruktion des Werks selbst und der (Selbst-)Positionierung der Künstler/-innen verbunden ist. So werden nicht nur werkimmanente, sondern kunstimmanente Fragestellungen durch die Integration von Schrift vermehrt Thema des Werkes. Als Öffnung nach außen“kann verstanden werden, wie sich Kunst, um eine soziale Dimension erweitert, der gesellschaftlichen Realität öffnet. Gleichzeitig verankert sie sich neu in ihr. Zwar hat Kunst schon immer auch historische und bisweilen auch gesellschaftspolitische Themen als Motive aufgegriffen. In den Beispielen von The Atlas Group, Jens Haaning oder Jenny Holzer werden die Themen jedoch nicht illustriert, sondern „Realitätsfragmente“ durch die Verwendung von Schrift in die Werke integriert – oder das Werk selbst erfährt seine Integration in die Alltagsrealität des öffentlichen Raums. Von dieser Öffnung durch die Schrift profitieren seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Künstler/-innen , die den so neu zur Verfügung stehenden Raum auch für schriftlose Arbeiten nutzen, und die Erweiterung der Arbeitsbereiche fortführen. 6.1.1.
Öffnung nach innen: Schrift als Aktionsspur
Der künstlerische Arbeitsprozess wird im Werk mit dargestellt und ist relevantes, bisweilen sogar ausschließliches Thema, wie u.a. in den Werken von Christopher Wool, Cy Twombly, Hanne Darboven, Lalla Essaydi festzustellen war. Die Reflexion des Schaffensprozesses wird zum wesentlichen Bestandteil. Handlungen und das Nachdenken über diese Handlungen werden mit Hilfe der eingesetzten Schrift sichtbar. Das Werk hat keine versiegelte Oberfläche, es öffnet sich dem Publikum
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Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln: DuMont, 1987, S.227.
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und macht durch Kommentare, Chiffren, Schriftfragmente die unterschiedlichen Arbeitsschritten und Reflexionsebenen, die zum finalen Werk geführt haben, sichtbar und nachvollziehbar. Auch die Position der Künstler/-innen bleibt nicht stabil: Den Rezipient/-innen wird hier kein Endprodukt mit souveräner Geste präsentiert, sie werden in den bildnerischen Schaffensprozess miteinbezogen und können Fehler, Zweifel, Korrekturen, Kommentare nachvollziehen. Dies gilt nicht nur für Schrift als handgeschrieben-expressive Geste: Die Nachvollziehbarkeit des Konzeptions- und Schaffensprozesses durch den Gebrauch von Schrift wird gerade auch bei konzeptionellen Arbeiten relevanter Teil zur künstlerischen Zielsetzungen. Schrift öffnet hier einmal mehr einen (Imaginations-)Raum, in dem die Rezipient/-innen die Werke entweder zu Teilen oder vollständig (re-)konstruieren. Wesentlich wird dabei auch der Aspekt von Zeit: Arbeitszeit der Künstler/innen und Rezeptionszeit gewinnen an Bedeutung. Dabei geht es nicht darum, sich die Eigenschaften der „Schwesternkunst“ Literatur anzueignen, um das Defizit der Darstellung chronologischer oder linearer Prozesse zu kompensieren. Die lineare Darstellung von Zeit wird von den Künstler/-innen als ebenso unzureichend empfunden, wie die eigenen beschränkten Möglichkeiten. Dieses Unvermögen wird aber nicht als Mangel bedauert, sondern produktiv genutzt. Die Künstler/-innen nutzen vielmehr beide Zeichensysteme, um aufzuzeigen, wie unterschiedliche körperliche und geistige Handlungen innerhalb des Schaffensprozesses auf verschiedenen zeitlichen Ebenen miteinander verwoben sind. Linearität und Gleichzeitigkeit überlagern sich im komplexen Geflecht aus Entstehungszeit, Rezeptionszeit, Weltgeschichte, und persönlichem Zeitempfinden. So zeigen Hanne Darboven, On Kawara oder Cy Twombly wie sie Spuren in, durch und mit der Zeit hinterlassen, ohne narrativ zu sein. 6.1.2.
Schrift als Psychogramm
Durch die Verwendung von Schrift im Werk öffnen sich die Künstler/-innen dem Publikum. Was in den visuellen Elementen eines Werkes oft angedeutet bleibt, wird auf der verbalen Ebene ausgesprochen. Schrift lässt die Rezipient/-innen am Seelenleben der Künstler/-innen teilhaben und erzählt von jenen Themen, die sie beschäftigen oder ausschlaggebender Impuls für das Werk waren. Aus vagen und expliziten, ausgesprochenen und unausgesprochenen, visuellen und verbalen Informationen ergibt sich nicht nur das Werk, sondern auch ein Psychogramm der dahinterstehenden Künstler/-innen. Gerade wenn Künstlerinnen wie Tracey Emin oder Elke Silvia Krystufek (zudem in unmittelbar wirkender Handschrift) tagebuchartig von ihren Sorgen und Ängsten berichten oder über ihre Position als Künstlerin reflektieren, meint das Publikum ihnen nahe zu sein, sie zu ver-
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stehen. Emin und Krystufek öffnen sich durch ihr Werk (scheinbar) dem Publikum. Die Distanz zwischen Werk und Publikum schrumpft. Und über das so geöffnete Werk fühlt sich auch das Publikum den Künstler/-innen nahe. Denn schließlich geben sich diese nicht als souveräne Instanz, sondern als verletzliche, zweifelnde, zögernde Wesen, die die Rezipient/-innen an ihrem (Arbeits-)Leben teilhaben lassen. Und auf die Neugier und Bereitschaft des Publikums, auch kleinste und unleserliche Details zu entziffern ist Verlass; die Übergänge zwischen Anteilnahme und Voyeurismus sind fließend. Im Kapitel über Elke Silvia Krystufek, Sophie Calle und Tracey Emin wurde ausführlich besprochen, wie diese Authentizität häufig nur suggeriert wird, um einen bestimmten Künstlertypus zu inszenieren. Die Frage, ob die geschilderte Begebenheit oder eine bestimmtes Persönlichkeitsbild wahr oder inszeniert sind, spielt hier keine Rolle, denn die Funktion der Schrift ist zunächst die gleiche. Sie konkretisiert oder lenkt, was im visuellen Material zunächst angedeutet bleibt. Werke von Emin, Calle und Krystufek vermitteln durch visuelle und verbale Informationen das (Zerr-)Bild einer sich dem Publikum bisweilen pathologisch öffnenden Persönlichkeit. Durch Brüche, Dopplungen und Verschiebungen im eingesetzten Text- und Bildmaterial wird dem Publikum jedoch gleichzeitig der Schlüssel für eine kritische Reflexion des vorgesetzten Materials mit an die Hand gegeben. 6.1.3.
Öffnung nach außen: Schrift als Dokumentation
Schrift bringt kulturelle, soziologische, historische Ereignisse und Prozesse ins Werk und öffnet das Werk hin zur (Kommunikations-)Gesellschaft. Was Kubisten und Dadaisten durch die Verwendung zumeist auf Schrift basierendem Werbematerial und Zeitungsmaterial begonnen haben, trug dazu bei, dass sich Kunst zum Publikum und dessen Alltagswelt hin öffnet. Das lokale, kulturelle oder historische Umfeld erlangt größere Bedeutung und wird bereits in die Konzeption des Werkes integriert. Das verwendete Text- und Bildmaterial verweist nicht nur auf gesellschaftliche Ereignisse oder kulturelle Zusammenhänge, sondern transformiert sie unmittelbar in den Werkkontext, anstatt auf sie zu referieren. So werden u.a. Zeitdokumente, Geschichte und politische Diskurse Teil eines Werkes. Wenn On Kawara oder Hanne Darboven in ihren Arbeiten ganze Titelseiten oder Zeitungsfragmente verwenden, verbinden sie ihr Leben als Künstler/-in unmittelbar mit dem Zeitgeschehen und stellen so ihr Werk in einen zeitlichen bzw. kulturellen Kontext, den die Rezipient/-innen mit ihnen teilen. Die Schrift hilft dem Publikum, diesen Kontext (wieder) zu erkennen: Wir lesen, wir erinnern uns. Das Publikum kann das präsentierte Textmaterial dechiffrieren, weil es über den gleichen kulturellen, sprachlichen oder historischen Hintergrund wie die Künstler/innen verfügt. Auch hier arbeitet allerdings nicht die Schrift allein, auch hier wird
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sie ergänzt und unterstützt von visuellen Informationen: Von historischem Bildmaterial, das vergleichbar funktioniert, weil es im kollektiven Gedächtnis gespeichert ist, und von Logos und visuelle Qualität der verwendeten Schrift. Wir erkennen die Headlines und Schrifttypen uns bekannter Zeitungen, Markenlogos, die uns helfen, das Material zeitlich einzuordnen usw. Wir erkennen ein Interview aus dem Spiegel bei Hanne Darboven, die Guevaras, Castros und DDR-Politiker von Fernando Bryce, die Titelseite der New York Times bei On Kawara. Wir „erkennen“ aber auch das Material, das wir nicht kennen, aber meinen zu kennen, wie uns z.B. die Arbeiten von Walid Raads The Atlas Group zeigen. Wie bereits im entsprechenden Kapitel erörtert und auch im Zusammenhang mit Arbeiten von Tracey Emin oder Sophie Calle festgestellt, gilt auch hier, dass die Authentizität oder historische Echtheit der einzelnen Dokumente und deren Verknüpfung untereinander oft nur suggeriert ist. Der Abstand zwischen Werk und Publikum wird durch die Schrift im jedem Fall geringer, die Rezipient/-innen fühlen sich kompetent, da sie meinen, das Text- und Bildmaterial leichter einordnen zu können. Unabhängig, ob Wahres oder Falsches gezeigt wird, ist die Intention der Künstler/-innen daher die gleiche: Sie verwenden diese „Realitätsfragmente“, um einen Raum zu öffnen, in das Publikum sich selbst und das Werk gleichermaßen verorten kann. Das Publikum wird so durch das im Werk Gesehene, das vom Publikum Erlebte oder angeeignete Wissen an das Werk gebunden. Durch das so eingesetzte Text- und Realmaterial spiegelt das Publikum sich selbst im Werk oder Teile von Zeitgeschichte, die wenn nicht selbst erlebt, zumindest erkannt und nachvollzogen werden. So identifizieren wir uns als Publikum mit den Künstler/-innen. Die gelebte Geschichte der Künstler/-innen wird unsere Geschichte. So wird das Werk Teil kollektiv ge- und erlebter Zeitgeschichte. Im Gegenzug wird unsere eigene Geschichte zum Teil des Werkes. Indem Realität im Werk integriert wird, anstatt durch das Werk auf sie zu verweisen, können also die Probleme Mimese und Realitätsbezug durch den Einsatz von Schrift in Form von Werbematerialen, Zeitungsausschnitten etc. vordergründig gelöst werden. Die Künstler/-innen sind sich durchaus im Klaren, dass auch der Zeitungsausschnitt, das historische Dokument etc. nicht die Realität ist, sondern dieselbe auch nur repräsentiert. Das ist jedoch wieder kein kunstimmanentes, sondern ein grundsätzliches repräsentationales Problem und so wird es auch von den Künstler/-innen verhandelt. Daher geht es in den hier analysierten Werken nicht um Geschichtsillustration oder Verbildlichung soziologischer oder kultureller Kontexte. Die hier behandelten Künstler/-innen agieren gerade nicht als Hobbysoziologen und Geschichtsschreiber. Sie zeigen Alternativen zu gängigen Repräsentationssystemen auf und machen deutlich, wie bildende Kunst – gerade um eine textuelle Ebene ergänzt – anders von den Dingen, die uns umgeben erzählen kann: Weil Geschichte nicht linear, komplex und bisweilen unzusammenhängend ist, weil soziologische und kulturelle Phänomene und deren Kontexte heute schwer überschaubar, hierar-
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chisierbar und katalogisierbar sind, machen gerade diese Künstler/-innen durch die Integration von Schrift ein Angebot an die Rezipient/-innen, dass sie als Publikum ernst nimmt. Sie nutzen die Möglichkeiten, Text und Bild in unterschiedlichen Materialien und auf verschiedenen Ebenen miteinander zu kombinieren, Decodierungs- und Interpretationsmöglichkeiten potenzieren sich und ermöglichen eine komplexere Form von Wirklichkeitsbezug, die angesichts der Heterogenität der darzustellenden Realität nötig geworden ist. 6.1.4.
Schrift als Verbindung zum öffentlichem Raum
Der Einsatz von Schrift öffnet nicht nur häufig den Raum des Werkes für gesellschaftspolitische und soziale Fragestellungen, sondern bedeutet oft in der Konsequenz, dass sich das Werk selbst in den öffentlichen Raum begibt. Die künstlerische Arbeit eignet sich den öffentlichen Raum an, da es ihn zu seinem direkten Kontext oder zum unmittelbaren Teil der Arbeit macht. Wenn Künstler/-innen auf visuellen und verbalen Codes basierende Arbeiten in den öffentlichen Raum integrieren, bedienen sie sich häufig der Ästhetik von Werbematerialien und eignen sich Strategien der Werbung an und können so (öffentliche) Räume besetzen, die bisher der Werbung vorenthalten waren. Wo sie bisher auf Werbung traf, musste bildende Kunst lernen, sich gegen die schnell rezipierbare Konkurrenz durchzusetzen. Denn Werbung ermöglichte schnelle Aufnahme wesentlicher Informationen, sowohl auf verbaler als auch auf visueller Ebene. Durch kritisch-affirmative Aneignung verleibt sich nun die Kunst diese Eigenschaften einfach ein. Die Grenzen zwischen Kunst und Werbung verschwimmen formal gesehen auf den ersten Blick. Die optischen Erscheinungsformen gleichen sich an: Leuchtanzeigen, Plakate, Aufkleber – Arbeiten von Jenny Holzer, Barbara Kruger, Jens Haaning oder Šejla Kameriü werden die potenziellen Rezipient/-innen nicht auf den ersten Blick erkennen. Sie sind keine Störfaktoren, sondern fungieren vielmehr als Undercover-Agenten, die sich zunächst unbemerkt in das Sichtfeld des Publikums schieben. Erst über irritierende Bild- oder Textinformationen, durch bewusste Brüche zwischen Text und Bildebene – oder eine explizite Auseinandersetzung mit dem Umraum (z.B. als Bruch, Störung, Affirmation) werden die Betrachter/-innen feststellen: Bei der rezipierten Text-Bild-Kombination kann es sich nicht um Werbe- oder Informationsmaterial handeln, da sie sich den Funktionen, die Werbung, Informationstafeln oder Hinweisschilder im öffentlichen Raum haben sollten, verweigert. Das Werk öffnet sich und setzt sich dem ihn umgebenden Raum aus; der unmittelbare Umraum, bisweilen der ganze Stadtraum wird so Teil des Werkes. So im öffentlichen Raum platzierte Werke, verändern aber nicht nur das Verhältnis zwischen Werk und Kontext bzw. Umraum, sondern öffnen und verändern auch das
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Publikum: Die Anzahl und die Zusammensetzung der (potenziellen) Rezipient/innen erweitert sich. Die hier beschriebene kritisch-affirmative Herangehensweise wird von Künstler/-innen, die im öffentlichen Raum arbeiten, am häufigsten angewendet. Dennoch gibt es auch Künstler/-innen , die gerade nicht als „Under-Cover-Agenten“ agieren, sondern ihr Werk bewusst als Fremdkörper im öffentlichen Raum platzieren oder mit den unterschiedlichen urbanen Situationen und den sich daraus ergebenden Code-Verschiebungen arbeiten: In Arbeiten über Zoll- und Grenzsituationen, die plötzlich weit von den eigentlichen Grenzen in der heilen Welt der Fußgängerzonen entfernt thematisiert werden (Šejla Kameriü) oder arabischen Neonschriftzügen, die Jens Haaning in europäischen Städten dort positioniert, wo sich die Präsenz von Migrant/-innen gerade nicht im Stadtbild niederschlägt. Möglich ist natürlich, dass das potenzielle Publikum die Werke nicht bemerkt. Künstler/-innen gehen, gerade wenn sie affirmativ arbeiten (man denke an die Plakat-Arbeiten von Šejla Kameriü oder Jens Haaning), ein Risiko ein. Auch hier zeigt sich ein veränderter Werkbegriff. Die künstlerische Arbeit, als „gut getarnte“ TextBild-Intervention wird Teil des Raumes; ein Teil, der gegebenenfalls gesehen oder übersehen werden kann. Doch auch wenn die Werke identifiziert worden sind, muss das Publikum auf neue Weise aktiv werden. Die Struktur des Werkes und seine Grenzen müssen abgesteckt werden, um die inhaltliche Ebene überhaupt fassen zu können. So muss schlicht geklärt werden, was zum Werk gehört und was nicht. Der (Um-)Raum wird ästhetisiert und kontextualisiert und auf potenzielle Bedeutungen hinterfragt. Auch der weitere öffentliche Raum, die dort vorhandene Werbung und andere Text-BildKombinationen rücken plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit. So setzen sich die Rezipient/-innen grundsätzlich intensiver und kritischer mit den im öffentlichen Raum präsentierten Werbemedien und deren Botschaften auseinander. 6.1.5.
Schrift verändert das Verhältnis von Künstler/-in und Rezipient/-in
Durch die Integration von Schrift können Künstler/-innen zu Beginn des 21. Jahrhunderts vieles, was ihren VorgängerInnen nicht möglich war. Auch wenn wir festgestellt haben, dass bildenden Künstler/-innen im Vergleich zu jenen anderer Gattungen von diesen Erweiterungsmöglichkeiten besonders profitieren, ist dies aber kein rein osmotischer Prozess. Umgekehrt gilt daher nun auch: Viele können nun, was früher nur Künstler/-innen konnten. Doch wenn (bildende) Künstler/-innen sich nicht mehr über die ihnen bisher zugewiesenen Medien definieren können, wie
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definieren sie sich dann? Zunächst verändert sich also das Verhältnis zwischen den Künstler/-innen unterschiedlicher Kunst-Gattungen.8 Doch noch bedeutender sind diese Veränderungen für das Verhältnis zum Publikum. Die Integration von Schrift verändert, das zeigen alle hier untersuchten Beispiele, das Verhältnis von Werk und Publikum sowie von Künstler/-in und Rezipient/-in. Das Werk öffnet sich zu beiden Seiten. Die Rezipient/-innen sehen sich selten mit einer geschlossenen Oberfläche konfrontiert, sondern mit einem aufgebrochenen Werk, dessen Inhalt und Bedeutung teilweise erst durch ihr Zutun konstruiert wird. Ein offenes Werk gibt seine visuellen und verbalen (Doppel-)Strukturen preis und verweist sowohl auf seine Konstruktion als auch auf seine Konstitution. Ein solches Werk ist als ein (Kooperations-)Angebot an das Publikum zu verstehen, was aber durchaus auch als Machtverlust der Künstler/-innen gesehen werden kann.9 Doch warum verändert gerade Schrift so grundsätzlich das beschriebene Verhältnis? Zunächst gewinnt die Schrift, selbst als Fragment, durch ihre einfache Lesbarkeit und scheinbare Eindeutigkeit schnell die Aufmerksamkeit des Publikums. Dagegen scheinen die visuellen Informationen meist schwerer dechiffrierbar und vage. Doch Schrift als der vermeintliche Schlüssel zum Werk führt, wie wir an den vorgestellten Beispielen sehen konnten, meist in die Irre. Die Rezipient/-innen stellen schnell fest, dass visuelle und verbale Zeichen gleichermaßen eindeutig und ambig sind und beginnen daher, die unterschiedlichen Bedeutungsebenen miteinander zu verbinden, und ihr Verhältnis zueinander zu hinterfragen.
8
Vgl. dazu erneut Faust: „Die wechselseitige Durchdringung der Künste enthält auch die Frage nach dem Künstler. Sie stellt sich durch die Tatsache, dass sich in den visuellverbalen Formulierungen Maler wie Schriftsteller nicht mehr über ihre tradierten Medien, Bild und Spreche definieren können. Denn indem der bildende Künstler mit einem Medium arbeitet, das tradierter Maßen den Fähigkeiten des Künstlers einer anderen Gattung entspricht, stellt er den durch die Gattung definierten Begriff des Künstlers selbst in Frage. [...] Die Produktion des Künstlers war dabei über den Begriff des Künstlers mit einer, seine Person auszeichnenden Fähigkeit verbunden. [...] Wird aber der Kunstbegriff dergestalt verändert, dass er den Künstler nicht mehr durch sein ‚Künstlersein‘ definiert, so erweitert sich der Legitimationskonflikt.“ Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln: DuMont, 1987, S.32/33.
9
Durch diese Öffnung kann der Kompetenzbereich der Künstler/-innen jedoch auch erweitert werden, wenn – wie beispielsweise in Falle Kosuths – die theoretische Reflexion in Text und Bild innerhalb und außerhalb des Werkes zum Arbeitsfeld des Künstlers wird. Hier wird das Verhältnis zu einem ganz besonderen Teil des Publikums, den Kunsthistoriker/-innen und Kunstwissenschaftler/-innen neu definiert.
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Die zunehmende Komplexität eines Werkes, die mit der Integration von Schrift einhergeht, liegt also nicht an der Struktur der Schrift, sondern daran, dass das Publikum innerhalb eines Werkes mit zwei miteinander verwobenen Ebenen konfrontiert wird. Nun liegt es an ihm, diese Ebenen, die visuellen und verbalen Informationen gegeneinander abzugleichen, zu verbinden. Dabei handelt es sich nicht um ein von den Künstler/-innen ausgehecktes didaktisches Rätselspiel, das gelöst werden will, sondern um einen nicht mehr eindeutig vorhersehbaren oder abzusteckenden Prozess, der bestenfalls mit einer Rückkopplung endet: Das Wissen, die Erkenntnis, die aus dem Abgleichen und Verbinden der Text- und Bildelemente gewonnen wird, verändert auch den Blick auf das jeweilige visuelle oder verbale Ausgangsmaterial. Dies entspricht zwar (im Sinne Ecos) dem Rezeptionsablauf eines jeglichen offenen Kunstwerkes, das auch nur aus visuellen Elementen bestehen kann, in einer Text-Bild-Kombination potenzieren sich aber die möglichen Bedeutungen, Verschränkungen und Lesbarkeiten. Dessen sind sich Künstler/-innen wie Sophie Calle und Raymond Pettibon oder Walid Raad bewusst, wenn die Rezipient/-innen gerade im Bezug auf das Bewerten und Abgleichen der einzelnen Werkelemente herausfordern. Somit wird der Rezeptionsprozess wesentlicher Bestandteil des Werkes, da er von Beginn an von den Künstler/-innen mitgedacht ist. Indem das Werk durch eine zweite (verbalsprachliche) Zeichenebene an Komplexität und Mehrdeutigkeit gewinnt, lassen die KünsterInnen mehr Offenheit zu und gibt einen Teil der Verantwortung an die Rezipient/-innen ab. Diese müssen aktiver werden, da der Rezeptionsvorgang aufgrund der Wahrnehmung zweier Zeichensysteme, die unterschiedlich arbeiten, vielschichtiger wird. Die Künstler/-innen bleiben zwar die Akteure, aber das Publikum erweitert deutlich seinen Kompetenzbereich, es wird stärker einbezogen, wird kompetenter, übernimmt einen größeren Teil der Deutungshoheit, was den Produzent/-innen im Bezug auf ihr Selbstverständnis durchaus Probleme bereiten kann. Künstler/-innen begeben sich so auf unsicheres Terrain: Wer produziert das Kunstwerk? Wo fängt die Arbeit des Publikums an, wo hört die der Künstler/-innen auf? Wenn nicht nur die Ränder des Werkes, sondern zudem auch das „Künstlersein“ nun nicht mehr klar definiert wird, und am Ende möglicherweise sogar das Publikum die Kunst macht, kann es für Künstler/-innen in der Tat zum Legitimationskonflikt kommen. Denn für sie wird der beim Publikum ausgelöste Rezeptionsvorgang (wo das bisherige Ziel eine intendierte Botschaft, die als Erkenntnis das Ergebnis des Prozesses war) deutlich weniger planbar und offener. Gleichzeitig erfährt das Werk durch diese Öffnung einen Zugewinn an potenziellen Interpretationsfeldern, was wiederum durchaus im Sinne der künstlerischen Intention sein kann. Die Künstler/-innen verlieren also zunächst vordergründig einen Teil der Macht über das eigene Werk. Sie gewinnen aber aktive und engagierte Rezipient/-innen , die sich intensiv mit dem Werk auseinandersetzen und das Werk im Gegenzug durch die „rückgespeisten“ Erkenntnisse berei-
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chern. Dennoch geben die Künstler/-innen den Rezeptionsprozess nicht völlig aus der Hand. Oft genug wirkt diese „Rückkopplung“ daher freier oder zufälliger als sie tatsächlich ist. Die Künstler/-innen sind es schließlich, die über den Grad der Öffnung und den Rahmen entscheiden. So sehen sie letztendlich den Rezeptionsprozess zu großen Teilen vorher, stecken den Rahmen potenzieller Assoziationen und Referenzen ab und steuern das Publikum in seiner Rezeption.
6.2.
C RISIS ? W HAT C RISIS ? Z UR K RISE DER R EPRÄSENTATION
Vor dem Hintergrund der bisherigen Erkenntnisse, soll an dieser Stelle noch einmal überlegt werden, wie Repräsentation in unserem Zusammenhang definiert werden kann, als Darstellung von etwas – in Korrelation zur geistigen Vorstellung. Damit ist ganz allgemein die veräußerlichte, materialisierte, codierte und daher auch immer symbolisch und kollektiv wirksame Referenz auf und ein „Stehen-für“ etwas gemeint, das nicht notwenig im Hier und Jetzt anwesend sein muss, um als präsent vorgestellt, gedacht, erinnert werden zu können, sei es mittels der Sprache, der Schrift, der Bilder oder sei es mit Hilfe anderer möglicher Zeichen und ihrer als Zeichenträger fungierenden Medien.10 So unterschiedlich die künstlerische, technische oder wissenschaftliche Auseinandersetzung in den diversen Disziplinen auch sein mag, so ist doch festzustellen, dass in allen Bereichen eine durchaus vergleichbare Abkehr von einem Darstellungskonzept stattgefunden hat, das ausschließlich auf Wiedergabe oder Reproduktion beruht. Repräsentation soll also nicht nur als abbildbasierte Darstellung sondern auch als abstrakte, oder zumindest nicht auf Ähnlichkeit basierender Stellvertretung verstanden werden.11 Aber auf welcher Basis lässt sich ein erweiteter Repräsentationsbegriff definieren, ohne sich in einem „faktischen Pluralismus der Weltbilder, Theorien, Methodologien, Normenverständnisse und Einstellungen“12 zu verlieren? Nach dem Kommen und Gehen der diversen turns scheint nun allein die Krise jeglicher Form von Repräsentation zu bleiben, mit der sich zunächst die Wissen10
Vgl. dazu Schulz, Martin: Körper sehen – Körper haben? Fragen bildlicher Repräsentation. In: Belting, Hans u.a (Hg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation. München: Fink, 2002. S.2/3.
11
Vgl. dazu Jamme, Christian und Sandkühler, Hans Jörg: Repräsentation, Krisen der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Skizze eines interdisziplinären Forschungsprogramms. In: Freudenberger, Silja und Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Repräsentation, Krisen der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Frankfurt/Main: Lang, 2003. S.22.
12
Ebd. S.17.
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schaft konfrontiert sieht. Der Kritik eines abbildtheoretischen Repräsentationsbegriffes folgt zwangsläufig die Frage, wie Repräsentation in der Konsequenz noch begrifflich gefasst werden kann, wenn man den Begriff als solchen nicht völlig aufgeben will und Repräsentation weiterhin als eine in irgendeiner Form strukturerhaltende Abbildung einer unabhängig existierenden Realität formuliert werden soll.13 Was zunächst nur für die Wissenschaft gilt, kann gleichermaßen auf die Kunst übertragen werden, denn natürlich muss sich auch die bildende Kunst fragen, welche Alternativen zu einem abbildtheoretischen Repräsentationsmodell noch Sinn machen.14 Diese Fragestellung trifft die Kunst nicht wirklich später als die Wissenschaft, denn das „Drama der Repräsentation“15 beschäftigt die Kunst spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Und somit ist es nicht weiter verwunderlich, dass die in dieser Arbeit vorgestellten künstlerischen Positionen zeigen, dass die Künstler/-innen auf die nun auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen diagnostizierte Krise nicht mit Verunsicherung reagieren. Das Repräsentationsproblem ist eine zentrale Frage jeglichen künstlerischen Schaffens. Die Künstler/-innen wissen, wie es um die Unzulänglichkeit bildlicher Darstellung steht. Zudem sind sie durch die medialen Neuerungen in den letzten Jahren ganz besonders herausgefordert gewesen; gerade sie sind mit neuen Formen von Text-Bild-Kombinationen wie Fernsehen und Internet konfrontiert worden. Viele der hier vorgestellten Arbeiten, von Sophie Calle über Daniele Buetti bis Elke Silvia Krystufek, zollen diesen medialen Veränderungen Tribut.16 Daher ist es den Künstler/-innen möglich, diese Krise pro-
13 14
Freudenberger, Silja: Repräsentation: Ein Ausweg aus der Krise. Ebd. S.72. „Der Prozess der epistemologischen Problematisierung des Konzepts seit dem 19. Jahrhundert ist zunehmend als Krise der Repräsentation interpretiert worden [...] die Problematisierung des Konzepts ‚Repräsentation‘ ist durch die Annahme veranlasst, dass unter ‚Repräsentation‘ eine strukturerhaltende Abbildung von Wirklichkeit verstanden werde. bzw. zu verstehen sei. Es ist dieses abbildungstheoretische Verständnis von Repräsentation, das auf einer realistischen Ontologie/Metaphysik der Substanz, auf einer realistischen Epistemologie und auf einer Korrespondenztheorie der Wahrheit beruht, das die Krise der Repräsentation evoziert und zur Entwicklung alternativer Paradigma führt.“ Jamme, Christian und Sandkühler, Hans Jörg: Repräsentation, Krisen der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Skizze eines interdisziplinären Forschungsprogramms. Ebd. S.16.
15
„Das ‚Drama der Repräsentation‘ besteht darin, dass Menschen mit Zeichen auf die Welt verweisen, die ihnen gleichzeitig de unmittelbaren Zugang zur Welt verunmöglichen [...].“ Reulecke, Anne-Kathrin: Geschriebene Bilder. Zum Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur. München: Fink, 2002. S.11.
16
Gottfried Willems weist darauf hin, dass die avantgardistische Kunstformen in den letzten 100 Jahren am deutlichsten auf das gewandelte mediale Umfeld, das Dominantwerden von
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duktiv zu nutzen, indem sie die zur Verfügung stehenden Zeichensysteme offen legen, deren Begrenztheit akzeptieren und zur Diskussion stellen, in welchem Verhältnis Werk und Realität miteinander stehen17. Ganz explizit stellen Künstler/-innen diese Frage, wenn sie Schrift als ein zweites Repräsentationssystem einführen. Sie tun dies weder, um die Unzulänglichkeiten der jeweiligen Repräsentationssysteme zu überspielen oder auszugleichen, noch um einen Wettstreit zwischen den Ebenen auszufechten. Im Gegenteil: Angriff ist die beste Verteidigung. Die Krise wird nicht nur akzeptiert, sondern auch explizit thematisiert. Die zusätzliche Ebene erweitert das Spektrum an Repräsentationsvarianten, macht aber gleichermaßen deutlich, dass weder das eine noch das andere Zeichensystem (und auch nicht beide gemeinsam) dem Anspruch einer Repräsentation ohne Leerstellen gerecht zu werden vermag. Die Assoziationsfelder und die Möglichkeiten, die jeweiligen Werke zu lesen potenzieren sich zwar, aber die beiden Ebenen werden in der Regel gleichberechtigt eingesetzt, um gegenseitig ihre Möglichkeiten wie auch ihre Grenzen aufzuzeigen und diese von innen und außen gleichermaßen auszuloten. Das Werk thematisiert durch die Integration die eigenen Bedingungen, wie auch die des neu integrierten verbalsprachlichen Zeichensystems. Somit wird das Prinzip der Repräsentation kritisch hinterfragt, aber gleichzeitig an der grundsätzlichen Idee, durch Zeichensysteme (auch wenn sie unzulänglich sind) die Welt abzubilden, festgehalten. So kann von einer Problematisierung und Kritik, nicht aber von einer völligen Abkehr gesprochen werden. Vielmehr wird deutlich, wie Künstler/-innen auf der Suche nach repräsentationalen Alternativen auf dem grundsätzlichen Anspruch beharren. 6.2.1.
Zwischen Selbstreferentialität und Repräsentation
„Jedes Zeichen präsentiert sich, indem es etwas repräsentiert; jede Repräsentation präsentiert die Tatsache der Repräsentation selbst, jedes Zeichen verdoppelt und
Mehr-Kanal-Medien reagiert haben. In: Willems, Gottfried: Die Künste, ihre Medien und die Fallen der Spezialisierung. In: Linck, Dirck und Rentsch, Stefanie (Hg.): Bildtext – Textbild. Probleme der Rede über Text-Bild-Hybride. Freiburg: Rombach, 2007. S.54. 17
Vgl. dazu Marin: „Die mysteriöse Lust der Mimesis fände so in der Repräsentation ihre Erfüllung, im Spiel zwischen zwei gegensätzlichen Aussagen, die derselben Logik gehorchen: zwischen einer Mimesis, die sich in dem Vermögen ihrer Verdopplung erschöpft, und einer Mimesis, die mit ihrer Gestaltung sowohl Ähnlichkeit als auch Verschiedenheit erarbeitet.“ Marin, Louis: Die klassische Darstellung. In: Hart Nibbrig, Christian (Hg.): Was heißt „Darstellen“? Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994. S.382.
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reflektiert die Operation der Repräsentation in seiner Präsentation selbst.“18 Louis Marin legt dar, dass die Selbstreferentialität eines Zeichens, bereits in der Konstruktion des Zeichens selbst angelegt ist. Wir haben festgestellt, dass sich der Status der Zeichen u.a. durch die beschriebenen medialen Veränderungen nicht nur für WissenschaftlerInnen, sondern eben auch für Künstler/-innen , ändert. Die Funktion der Zeichen als Repräsentation einer dem Bild (oder der Schrift) vorausgehenden Realität gerät in der bildenden Kunst spätestens seit der Moderne zunehmend ins Wanken. In der Postmoderne steht nun die reine Selbstreferentialität der ästhetischen Zeichen zur Debatte.19 Dies bleibt ein wesentlicher Grund, warum Künstler/-innen bis heute und gerade heute Schrift integrieren: Ein Werk, das auf Schrift zurückgreift und somit zwei unterschiedliche Zeichensysteme präsentiert, stellt automatisch nicht nur die Frage nach dem Bezeichneten, sondern nach dem Zeichen selbst. Die beiden Systeme stellen sich wechselseitig in Frage und machen sich sichtbar: Als gleichzeitig eingesetzte Zeichensysteme können sie nicht transparent bleiben, der Blick des Publikums wird zwangsläufig an der semiotischen Beschaffenheit hängen bleiben. Durch das gleichzeitige Präsentieren zweier Codesysteme werden die Grenzen der jeweiligen Repräsentationssysteme aufgezeigt. Ziel ist nicht mehr, das verwendete Zeichensystem so transparent wie möglich zu machen. Im Gegenteil: Die Struktur des Werkes wird nicht (mehr) verborgen, sondern explizit präsentiert, um so den Rezipient/-innen zu ermöglichen, die inhaltlichen Ebenen mit den formalen abzugleichen und so auch die Konstruktion nachvollziehen zu können. Diese Autoreflexivität gehört (nicht nur für Eco) zu den Grundeigenschaften eines offenen und im besten Sinne zeitgenössischen Werkes, das die Rezipient/-innen nicht nur an seiner Oberfläche, sondern auch an seinem Aufbau und Entstehungsprozess teilhaben lässt. Wir haben bereits festgestellt, dass der Rezeptionsprozess an Bedeutung gewinnt und dem Publikum eine aktivere Rolle zuteil wird. Dies ist zwar auch bei Werken ohne Schriftanteil möglich. Bei den hier vorgestellten Arbeiten kommt das Publikum jedoch nicht umhin, sich Fragen über die unterschiedlichen Ebenen so stellen: Wie stehen die verwendeten Zeichensysteme zueinander? Welche Zeichen verweisen auf was? Ersetzt die Schrift etwas? Etwas, das vorher das Bild geleistet hat? Oder findet eine Ergänzung, eine Dopplung statt? Und wenn ja, warum? Es wurde deutlich, dass die unterschiedlichen Möglichkeiten von Repräsentation von einer Vielzahl von Variablen (Form, Zweck, Medium etc.) abhängig ist.
18
Ebd. S.380.
19
Vgl. Reulecke, Anne-Kathrin: Geschriebene Bilder. Zum Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur. München: Fink, 2002. S.17.
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Entscheidend für das Verstehen der Repräsentation ist daher auch das Bewusstmachen und Nachvollziehen des Blickwinkels, der „Perspektivität der Repräsentation“20. Die bildende Kunst reagiert, indem sie Material, Bildwerdung und Konstruktion des Werkes thematisiert. Die ausschließliche Beschäftigung mit Abbildlichkeit wird auf mehreren Ebenen ergänzt durch die Thematisierung bzw. Präsentation der Repräsentation. So werden Fragen gestellt, die viel weiter greifen, als eine kunstimmanente Infragestellung des Prinzips von Mimese und Ähnlichkeit gehen würde: Es geht ganz grundsätzlich um die Bedingungen des Sehens – sowohl für Künstler/in als auch Rezipient/-in – und die Bedingungen des Handelns (sowohl als schöpferischen als auch als epistemologischen Akt). Und darum, wie sich diese Bedingungen in das Verhältnis von Subjekt (Künstler/-in oder Rezipient/-in) und Objekt (Werk) einschreiben, wie wir später sehen werden. Nun kann auch den in dieser Arbeit untersuchten Künstler/-innen der Vorwurf gemacht werden, dass sie Gefahr laufen, sich in formalistischen Spielereien zu verlieren. W.J.T. Mitchell etwa kritisiert, dass dort, wo die Art und Weise der Repräsentation auf Kosten des zu repräsentierenden Gegenstands betont wird, die „Bedeutung der beiden anderen Relationsstellen des Repräsentationsdreiecks“21 (in unserem Falle das Abbild selbst und sein Referenzobjekt) heruntergespielt wird. Der repräsentierte Gegenstand kann in letzter Konsequenz sogar ganz wegfallen, wenn „das Medium sich auf seine eigenen Codes zurückzieht und sich spielerisch mit sich selbst beschäftigt. Die potenziellen Rezipient/-innen des Repräsentationsaktes werden letztlich auf eine Elite von technischen Experten und Kennern reduziert, die das angeblich nichtrepräsentierende Zeichen als solches zu würdigen wissen.“22 Mitchell bezieht sich wohl vorrangig auf moderne Musik bzw. Malerei. Im Bezug auf die in dieser Arbeit vorgestellten postmodernen Positionen lässt sich feststellen, dass sich die Künstler/-innen gerade nicht von der Funktionalität des Zeichens verabschieden, sich jedoch mit der unleugbaren Differenz zwischen Zeichen und Bezeichneten beschäftigen. Sie arbeiten mit dem Faktum, dass Zeichen und Bezeichnetes nicht kongruent, sondern verschoben zu einander liegen. Das
20
Jamme, Christian und Sandkühler, Hans Jörg: Repräsentation, Krisen der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Skizze eines interdisziplinären Forschungsprogramms. In: Freudenberger, Silja und Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Repräsentation, Krisen der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Frankfurt/Main: Lang, 2003. S.30.
21
Mitchell, W.J. Thomas: Repräsentation. In: Hart Nibbrig, Christian (Hg.): Was heißt „Darstellen“? Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994. S.25.
22
Ebd. S.25.
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bedeutet aber gerade nicht, dass sie überhaupt kein Verhältnis mehr zueinander haben. Zudem dreht sich zwischen Moderne und Postmoderne das Verhältnis von Zeichen und Bezeichneten in gewisser Weise um: „Das Musterbeispiel für die Künste ist nicht mehr der reine, nichtrepräsentierende Formalismus der abstrakten Malerei und Musik, sondern mehr und mehr dienen Massenmedien und die Werbung als paradigmatische Kunstformen, in denen alles als Ware unbegrenzt reproduzierbar und repräsentierbar ist. Kategorien wie das Ding an sich, das Authentische und das Wirkliche, die früher als Gegenstand der Repräsentation galten [...], werden nun selbst zu Repräsentationen, die unaufhörlich vervielfältigt und als Ware abgesetzt werden.23 6.2.2.
Das aktive Publikum
Mit zunehmender Selbstreferentialität müssen Rezipient/-innen also nicht nur das im Werk Repräsentierte auf sein Verhältnis zur Welt untersuchen, sondern zudem ein Augenmerk auf die formalen Bedingungen werfen und diese mit dem vermuteten Inhalt abgleichen. Auch hier potenzieren sich bei Text-Bild-Kombinationen die Prozesse. Bei den hier vorgestellten Positionen müssen die Rezipient/-innen sogar dreifach aktiv werden: Die visuellen Elemente müssen mit der inhaltlichen Ebene abgeglichen, die verbalen Elemente mit der inhaltlichen Ebene abgeglichen und die beiden ZeichenEbenen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Das Gesehene und Gelesene wird miteinander abgeglichen. Dabei wird meist festgestellt, dass weder visuelle und verbale Information noch Objekt und Abbild kongruent sind. Das bewusst eingesetzte Fragment, die expliziten Brüche zwischen den unterschiedlichen Komponenten bewirken, dass das Publikum vermehrt gefordert ist, das Rezipierte um das eigene Wissen und die eigenen Erfahrungen zu ergänzen.24 Die Rezipient/-innen begeben sich in eine äußerst produktive Interaktion mit dem Werk, die Grenzen zwischen Leistung des Werkes und Leistung des Publikums sind nicht mehr klar zu
23 24
Ebd. S.25/26. „Ausgehend von der phänomenologischen Kritik an der Vorstellung gewinnen die Entwicklungen der modernen Kunst aufgrund der engen Verschränkungen von Sehen und Wissen philosophische Bedeutung.“ Jamme, Christian und Sandkühler, Hans Jörg: Repräsentation, Krisen der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Skizze eines interdisziplinären Forschungsprogramms. In: Freudenberger, Silja und Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Repräsentation, Krisen der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Frankfurt/Main: Lang, 2003. S.33.
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ziehen: „Mit der Zurückweisung des Abbildlichkeit in der Malerei und der Reflexion auf die Bedingungen des Sehens wird die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt unterwandert.“25 Die Offenheit des Werkes und die Verschränkung der Rezeptionsprozesse Lesen und Sehen führt in der Konsequenz zur hier bereits diagnostizierten Verschiebung des Verhältnisses von Werk und Publikum und damit zu einer Veränderung der Arbeitsaufteilung zwischen Künstler/-in und Rezipient/-in. Es stellt sich heraus, dass „die Darstellung in das Dargestellte eingreift und der repräsentative Sachverhalt gewissermaßen als Erzeugnis der Rezeption zu gelten hat, wird die Darstellung zum performativen Akt, der etwas hervorbringt, was es vorher so nicht gab.“26 6.2.3.
Das Werk als Spiegel des Publikums
Man kann die Zunahme an Eigenverantwortung des Publikums durchaus kritisch sehen. Was Michael Fried über das Verhältnis von Publikum und Werk im Bezug auf die Minimal Art sagte, als er diese Beziehung als eine Art offene, anspruchslose und uneindeutige Rückkopplung27 kritisierte, die den Raum des Publikums geradezu theatralisch in eine Bühne für die Betrachter/-innen verwandeln würde, kann auch den hier vorgestellten Künstler/-innen vorgeworfen werden. Natürlich ist unbestritten: Je mehr der abbildbare Gegenstand der Repräsentation aus dem Bild verschwindet (wie im Falle von Frieds zitiertem Beispiel der Minimal Art) oder gleichzeitig auf einer alternativen repräsentationalen Ebene (re-) präsentiert wird (wie in unseren Beispielen) desto mehr verliert die mediale Oberfläche der Zeichen bzw. des Werkes ihre Transparenz. Und umso mehr wird man zunächst auf die Struktur des Werkes und in einem zweiten Schritt zwangsläufig „auf die Präsenz seines eigenen Körpers und seines eigenen Blickes zurückgeworfen. [...] Die Geschichte der bildenden Kunst ist hier an einen Punkt gelangt, an dem sich die Verhältnisse umgekehrt haben: von der klassischen Repräsentation zur kritischen Präsentation der Bedingungen der Repräsentation, welche das betrach-
25
Ebd. S.33.
26
Ebd. S.28.
27
„The beholder knows himself to stand in an indeterminate, open-ended – and unexacting – relation as subject to the impassive object on the wall or floor. “ Fried, Michael: Art and Objecthood. In: Battcock, Gregory (Hg.): Minimal Art. A critical Anthology. Los Angeles, London: University of California Press, 1969. S.118.
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tende Subjekt einschließt und es wie in einem Spiegelbild in ein Objekt der Selbstbetrachtung verwandelt.“28 Die Frage ist jedoch, ob sich das Publikum tatsächlich ausschließlich wie Narziss in dem Kunstwerk, mit dem es konfrontiert wird, spiegelt. Sicherlich fließen die eigenen Betrachtungen, die eigene Verfasstheit mit ein. Doch das Spiegelbild wird auch wieder ins Werk zurückgespiegelt. Der von Rezipient/-innen geleistete Erkenntnisprozess ist Teil der künstlerischen Konzeption und wird in das Werk zurückgespeist. Zudem ist der Spiegel getrübt und ruft durch die Verzerrungen und blinden Stellen den Rezipient/-innen während der Rezeption sehr wohl ins Gedächtnis zurück, dass es eigentlich nicht um sie, sondern um das betrachtete Werk geht. Gerade durch die Integration von Schrift wird das Spiegelnde aufgebrochen. Das Werk ist daher noch lange nicht nur auf die ausschließliche Funktion einer Bühne oder eines Spiegels zu reduzieren. Die Rezipient/-innen werden wichtiger, aber nicht wichtiger als die Themen, die die Künstler/-innen in ihrem Werk behandeln. Gerade weil sie an der Idee einer kommunizierbaren inhaltlichen Aussage festhalten, versuchen sie auf die beschriebene Weise, die Betrachter/-innen enger an das Werk zu binden und das Gesehene mit den Erlebten zu verknüpfen. Sicherlich ist irritierend, wenn die bildnerische Repräsentation nicht mehr im Sinne von Abbildhaftigkeit funktioniert, wenn das Werk zusehends abstrakt und damit körperlos wird. Eine deutlich stärkere und weiter reichende Irritation findet aber statt, wenn das eine bildbasierte Repräsentationssystem von einem anderen textbasierten gestört wird und beide innerhalb eines Werkes in einen Wettstreit miteinander treten. Das Publikum sieht sich also doppelt – jedoch in unterschiedlich verzerrten und angelaufenen Spiegeln. Bisweilen sieht es sich selbst, bisweilen das repräsentierte Objekt. Beide Erkenntnisprozesse laufen unvollständig und stören sich gegenseitig. So stellt das Publikum fest, dass die beiden Spiegelungen weder untereinander, noch zu ihnen selbst, noch zu dem kongruent sind, was es sieht. Es muss nun die Fragmente zu einem Ganzen zusammensetzen. Vielleicht bietet es sich an dieser Stelle an, die Vorstellung des Werkes als Spiegel durch das Bild des Fensters zu ersetzen. Das Fenster gibt den Blick frei auf etwas anderes. Der Grund für das Hinausblicken liegt nicht in der Eitelkeit des Hinausschauenden, dennoch spiegelt man sich beim Betrachten bisweilen in der Scheibe. Umso mehr wird das Spiegelbild des Betrachtenden gebrochen, wenn mit der Schrift eine zweite Ebene hinzukommt, eine Art „Doppelverglasung“, um im Bild
28
Schulz, Martin: Körper sehen – Körper haben? Fragen bildlicher Repräsentation. In: Belting, Hans u.a (Hg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation. München: Fink, 2002. S.13.
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zu bleiben. Gleichzeitig führt diese Verdopplung den Rezipient/-innen vor Augen, dass es eine Trennung zwischen dem eigenen Raum und dem gesehenen Raum gibt. Dies bedeutet, dass die hier vorgestellten Künstler/-innen nicht nur den Gebrauch von Sprachmaterial als auch Bildmaterial kritisch reflektieren, sondern diese Haltung durch die beschriebene Struktur des Werkes als eine Art „Arbeitsauftrag“ an das Publikum weitergeben. Somit bedeutet Integration von Text einmal mehr gerade nicht, dass die bildnerischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind und daher auf die sprachlichen Ausdruckmöglichkeiten zurückgegriffen wird. Die dahinterstehende Kritik gilt vielmehr der unreflektierten Verwendung visueller wie verbaler Zeichensysteme gleichermaßen. Der kritische Blick der Künstler/-innen wird durch das Werk an die Rezipient/-innen weitergegeben. Sie drücken damit eine tiefe Skepsis gegenüber jeglichen Zeichensysteme und deren kaum hinterfragte, alltägliche Verwendung aus: Wir sind angekommen am Ende der „Repräsentationsgalaxis“. 6.2.4.
(Aus-)Wege
Wenn sich die Rezipient/-innen vom bestehenden Repräsentationssystem verabschieden müssen, andere Repräsentationsalternativen jedoch noch nicht definiert oder mehrheitlich anerkannt sind, kann unter Umständen (wir erinnern uns an das Problem des Idiolekts bei Eco) „die Basis der Kommunikation [...] vorübergehend auf ein Minimum schrumpfen; um dann in einem Prozess des sozialen Lernens von Codes wieder gesichert zu werden [...]. Krisen der Repräsentation sind damit Übergangserscheinungen, bis einerseits die Verankerung der neuen Repräsentationen in einer veränderten Wahrnehmungs-, Verstehens-, eventuell Lebensform geleistet ist, und andererseits die benützten Konstruktionsverfahren durchsichtig, lernbar und kontrollierbar geworden sind.“29 Selbstverständlich schlägt sich die Krise der Repräsentation in einer großen Unsicherheit im Umgang mit Zeichensystem nieder. Es stellt sich die Frage, ob tatsächlich alternative Formen der Repräsentation gefunden werden können. Die in dieser Arbeit behandelten Künstler/-innen stehen der Vorstellung eher kritisch gegenüber. Denn solange an der Idee des Zeichens festgehalten wird, ist es wahrscheinlich, dass, unabhängig davon, wie alternative Zeichensysteme aussehen könnten, das grundsätzlich problematische Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichne-
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Jamme, Christian und Sandkühler, Hans Jörg: Repräsentation, Krisen der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Skizze eines interdisziplinären Forschungsprogramms. In: Freudenberger, Silja und Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Repräsentation, Krisen der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Frankfurt/Main: Lang, 2003. S.29.
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tem mitübertragen wird. Sie suchen daher keine anderen Repräsentationssysteme, sondern einen anderen Umgang mit den bisherigen. Christian Samme und Hans Jörg Sandkühler fragen in der Einleitung ihres Sammelbandes, „inwieweit repräsentationale Funktionen auf semiotischer Stabilität beruhen und postrepräsentationale Funktionen (par excellence in der avantgardistischen bzw. ‚Grundlagenforschung‘ betreibenden Kunst, die Bedingungen des Bildes und die Bildwahrnehmung selbst thematisiert) mit semiotischen Innovationen verknüpft sind, die zu neuen repräsentationalen Standards führen können.“30 Anhand der hier vorgestellten Beispiele lässt sich feststellen: Die bildende Kunst erfindet keine neuen oder alternativen Systeme, sondern versucht eher durch produktiven Einsatz des als unzureichend erkannten repräsentationalen Systems einen Weg aus der Krise zu finden. Durch Fragmentierung des (in unserem Falle) visuellen Zeichensystems wird dessen Relativität und Unzulänglichkeit thematisiert und das Problem der Repräsentation bewusst gemacht. Durch die Ergänzung bzw. Störung mit dem verbalsprachlichen Zeichensystem werden die Grenzen beider Systeme präzise herausgestellt und gleichzeitig gezeigt, dass man durch Abgleichen, Bewegen, Überlagern und Vergleichen der beiden Ebenen dem zu repräsentierenden Objekt am nächsten kommt. Das repräsentierende Zeichen tritt nie isoliert auf, sondern ist stets in ein ganzes Netz von anderen Zeichen verwoben.31 Dieses Netz besteht in unseren Beispielen nicht nur aus Zeichen des eigenen Systems. Es wird umso dichter und bildet das repräsentierte Objekt umso besser ab, je mehr visuelle und verbale Zeichen miteinander verflochten sind. Die Künstler/-innen wissen um die Unzulänglichkeit repräsentationaler Systeme. Daher liegt für sie im Relativieren, Fragmentieren und Überlagern zwei Systeme die einzige Möglichkeit, einen Weg aus der Krise zu beschreiben. Nicht zuletzt, weil sie durch die epistemologische Struktur ihres Werkes dem Publikum Werkzeuge an die Hand geben, die ihm das Einkreisen und Erkennen der Thematik bzw. des Objekts ermöglichen. Diese Krise der Repräsentation ist unmittelbar mit der Feststellung verbunden, dass der Interpretant, hier das Publikum, an Bedeutung gewinnt. Die hier vorgestellten Künstler/-innen nutzen diese Erkenntnis, indem sie das Publikum als selbstständigen und aktiven Akteur in ihre Konzeption mit einbeziehen. Und so wird am Ende dieser Arbeit doch das Peirce’sche Modell wieder interessant: „Repräsentation [ist] nicht als einfache Abbildung, sondern ‚als Repräsentation-als‘ zu verstehen,
30 31
Ebd. S.34 Mitchell, W.J. Thomas: Repräsentation. In: Hart Nibbrig, Christian (Hg.): Was heißt „Darstellen“? Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994. S.19.
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also als Repräsentation, die immer in bestimmten Hinsichten erfolgt.“32 Mit Peirce greift Silja Freudenberger auf eine dreigeteilte Beziehung zurück, die eine dyadische Beziehung zwischen Objekt/Welt und Zeichen um den Interpretanten ergänzt. Dabei legt sie sich nicht zwangsläufig auf eine triadische Relation fest. Vielmehr geht es darum, das dyadische System um mindestens eine Stelle zu erweitern, da „eine zweidimensionale Betrachtungsweise, die nur die Beziehung zwischen Zeichen und Objekt in den Blick nimmt, das Erkenntnisproblem verflacht und die Krise der Repräsentation verursacht.“33 Auch für Mitchell und Eco sollte die Struktur eines funktionierenden Repräsentationsmodells mindestens dreiteilig sein: „Repräsentation ist stets von etwas oder jemand, durch etwas oder jemand und für jemand. [...] Es gibt auch noch eine vierte Stelle in der relationalen Struktur, die von dem Urheber der Darstellungsintention eingenommen wird [...].“34 In unserem Falle von Text-Bild-Arbeiten ist die Struktur noch zu erweitern. Die Repräsentation durch etwas, wird quasi verdoppelt oder zumindest durch die Einführung eines zweiten Systems ergänzt. Sie ist nicht mehr nur für jemand, sondern wird von jemandem aktiv rezipiert. Wir haben bereits bei Ecos Konzeption des offenen Kunstwerkes und erneut im Laufe dieses Kapitels festgestellt, dass sich die beschriebene Bewegung des Repräsentationsvorgangs nicht mehr nur in eine Richtung vollzieht. Urheber/-in der Darstellungsintention und Rezipient/-in derselben haben sicher nicht den gleichen Status, nähern sich aber an. Die Darstellungsintention wird nicht nur im Prozess zwischen Künstler/-in, Repräsentationsgegenstand und künstlerischem Werk bedeutsam, sondern auch zwischen Repräsentationsgegenstand, künstlerischem Werk und Rezipient/-in. Die Künstler/-innen akzeptieren diese Stärkung der Position der Rezipient/innen, weil sie wissen, dass das Konzept eines erweiterten Repräsentations-Systems ohne aktivere Rezipient/-innen nicht funktioniert. Dabei bleiben die Künstler/-innen die Akteure, sie legen den Rahmen fest, in dem das Publikum (re-)agieren soll. Sowohl die Erweiterung des Repräsentationsmodells, von der sie als Künstler/innen profitieren als auch die Fragmentierung, Infragestellung und gleichzeitige Dopplung der Zeichensysteme kann nicht ohne ein aktives Publikum gedacht werden, das versucht, die einzelnen Ebenen zu einem Ganzen zusammenzufügen. Jeg-
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Freudenberger, Silja: Repräsentation: Ein Ausweg aus der Krise. In: Freudenberger, Silja und Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Repräsentation, Krisen der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Frankfurt/Main: Lang, 2003. S.73.
33 34
Ebd. S.82 Mitchell, W.J. Thomas: Repräsentation. In: Hart Nibbrig, Christian (Hg.): Was heißt „Darstellen“? Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994. S.18.
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liche visuelle und verbale Information ist ambig, ambivalent und fragmentiert. Es bleiben beide eingesetzten Zeichensysteme zumeist fragmentarisch. Es gibt kein vollständiges Abbild (mehr), keine eindeutig lesbare Botschaft. Weder eine geschlossene gestalterische noch eine inhaltliche Einheit ist zwangsläufig das Ziel künstlerischer Produktion. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die Künstler/-innen völliger Willkür ausgesetzt sehen, noch, dass sich die Rezipient/-innen – um mit Eco zu sprechen – im „weißen Rauschen“ der Informationen verlieren. Denn alle in dieser Arbeit besprochenen Künstler/-innen legen im Wissen der Relativität visueller (und verbaler) Möglichkeiten doch durch Wahl, Setzung und Struktur die Regeln und Rahmenbedingungen fest, in denen sich der Rezeptions- und Erkenntnisprozess dann abspielen wird. Die Integration von Schrift hat so paradoxerweise zur Folge, dass sich Text und Bild, dass sich die unterschiedlichen Systeme innerhalb eines Werkes relativieren, gleichzeitig gegenseitig stützen und am Ende bestätigen. Gemeinsam gelingt ihnen, woran die einzelnen Systeme gescheitert sind.
7. Schlussbemerkung und Dank Die vorliegende Publikation ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2011/12 vom Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität Marburg angenommen wurde. Für mich als bildende Künstlerin ist die theoretische Reflexion, das Nachdenken und Schreiben über Kunst ein relevanter Teil künstlerischer Praxis. Theoretische und praktische Arbeit stehen in einem produktiven Wechselverhältnis, von dem beide Seiten profitieren. Meine Praxis als Künstlerin hat daher die Struktur und Konzeption der vorliegenden Arbeit maßgeblich geprägt. Gleichermaßen hat die wissenschaftliche Arbeit, die theoretische Beschäftigung mit den Wechselwirkungen zwischen Bild und Text sowie die Frage nach den Grenzen visueller und verbaler Repräsentationssysteme auch meine künstlerische Praxis in den letzten Jahren deutlich beeinflusst und verändert. Ganz konkret bezieht sich eine Serie von 120 Zeichnungen, die in den letzten Jahren entstanden ist, auf einzelne behandelte Themen und Aspekte meiner Dissertation. Einige ausgewählte Zeichnungen sind den Kapiteln in diesem Buch vorangestellt. Meine Janusköpfigkeit stellte jedoch nicht nur mich als Verfasserin dieser Arbeit immer wieder vor Herausforderungen. Ich möchte mich daher an erster Stelle bei Prof. Dr. Hubert Locher für seine Betreuung, Hilfe und Geduld bedanken. Seine sorgfältige Lektüre des Manuskripts sowie seine Anregungen und Kritik haben mir geholfen, die Arbeit an entscheidenden Stellen zu verbessern, zu aktualisieren und das erarbeitete Wissen zu einem funktionierenden Ganzen zusammenzufügen. Bei meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Ulrich Schütte möchte ich mich für die unkomplizierte und angenehme Zusammenarbeit bedanken. Die vielen Anregungen und Impulse von Anneka Metzger im Rahmen unserer „Frankfurter Gespräche“ haben mir geholfen, eine adäquate Struktur für diese Arbeit zu finden. Annika Plank und Yvonne P. Doderer haben der Dissertation durch kritische Lektüre, konstruktive Anregungen und Rückmeldungen wichtige Impulse gegeben. Bei Anja Fleischhauer möchte ich mich für Lektorat und Formatierungsnachhilfe bedanken.
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Das Studienwerk der Heinrich-Böll-Stiftung hat mir durch ein Stipendium die Realisierung meines Promotionsvorhabens erst ermöglicht. Die Gerda-Weiler-Stiftung hat den Druck der vorliegenden Publikation gefördert, ihr gilt mein herzlicher Dank. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei den Künstler/-innen und Galerien, die mir freundlicherweise Abbildungen und/oder Bildrechte für die vorliegende Publikation zur Verfügung gestellt haben: Lothar Albrecht (L.A. Galerie), Daniele Buetti, Contemporary Fine Arts Berlin, Mary Boone Gallery, Hanne Darboven Stiftung, Wim Delvoye, Galerie Konrad Fischer, Sylvie Fleury, Anita Froehlich (Sammlung Froehlich), Gladstone Gallery, Jens Haaning, Ni Haifeng, Studio Jenny Holzer, Tess Vinnedge (Edwynn Houk Gallery), Bernhard Knaus Fine Art, Susanne Küper (Michel Majerus Estate), Elke Silvia Krystufek, Luhring Augustine Gallery, galerie neugerriemschneider, Galerie Nusser & Baumgart, Pietro Sanguineti, Galerie Sfeir-Semler, Galerie Nicola von Senger, Galerie Tanja Wagner, Philipp Ziegler (ZKM), Christopher Wool und dem Württembergischen Kunstverein Stuttgart. Und nicht zuletzt gilt mein Dank vor allem meiner Familie und meinen Freunden, die mich unterstützt, ermutigt und begleitet haben.
8.
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Welchman, John C.: Nach der Wagnerianischen Bouillabaisse. In: Freeman, Judi (Hg.): Das Wort-Bild in Dada und Surrealismus. München: Hirmer, 1990. S.59 Wenzel, Horst: Zur Narrativik von Bildern und zur Bildhaftigkeit der Dichtung. Plädoyer für eine Text- Bildwissenschaft. In: Belting, Hans (Hg.): Bilderfragen: die Bildwissenschaften im Aufbruch. München: Fink, 2007. S.317 Wetzel, Michael: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift. Weinheim: VHC, 1991 White, Edmund: Bad Jokes – Schlechte Witze. In: von Graffenried, Dieter (Hg.): Parkett Nr.34. New York, Zürich: Parkett-Verlag, 1992. S. 74 Whiteside, Anna: Apollinaire’s ideogrammes: sound, sense... and visible signs. In: Hunt, John (Hg.): Word & Image. Volume 6. No.2. London, 1990. S. 163 Wiehager, Renate (Hg.): Sylvie Fleury. Stuttgart: Cantz, 1999 Wilhelm Lehmbruck Museum (Hg.): Designing Truth. Freiburg: Modo, 2006 Willems, Gottfried: Die Künste, ihre Medien und die Fallen der Spezialisierung. In: Linck, Dirck und Rentsch, Stefanie (Hg.): Bildtext – Textbild. Probleme der Rede über Text-Bild-Hybride. Freiburg: Rombach, 2007. S.53 Willems, Gottfried: Kunst und Literatur als Gegenstand einer Theorie der WortBild-Beziehungen. In: Harms, Wolfgang (Hg.): Text und Bild – Bild und Text. Stuttgart: Metzler, 1990. S. 414 Wilmes, Ulrich (Hg.): On Kawara – horizontally, vertically. Köln: König, 2000 Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und der Bildhauerkunst, 1755. Hrsg. von Ludwig Uhlig. Stuttgart: Reclam, 1991 Winter, Rainer und Eckert, Roland: Mediengeschichte und kulturelle Differenzierung. Opladen: Leske und Budrich, 1990 Woithe, Gabriele: Das Kunstwerk als Lebensgeschichte. Berlin: Logos, 2008 Zaar, Stephanie: „Vavoom“ und „Gumpy“: Studie zu zwei ikonographischen Figuren in den Text-Bild-Assemblagen Raymond Pettibons. Saarbrücken: VDM, 2011 Zaya, Octavio: An Exteriority of the Inward. In: MUSAC (Hg): Shirin Neshat. La ultima palabra/the last word. Mailand, Leon, 2005 Zwirner, Dorothea: Marcel Broodthaers. die Bilder – die Worte – die Dinge. Köln: DuMont, 1997 Zybok, Oliver (Hg.): Pietro Sanguineti. Stuttgart, Hatje Cantz, 2010
9. Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Nicolas Poussin: Die arkadischen Hirten, 1638-40
Öl auf Leinwand, 85 × 121 cm, © Musee du Louvre, Paris
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Abbildung 2: Ni Haifeng: Xeno-Writings, 2003
Bücher, Single Channel Video, Videoprojektion, 600 x 400 x 60 cm © Ni Haifeng / Courtesy der Künstler
Abbildung 3: Pietro Sanguineti: toxic gestures, 2002
12 digitale Filme, 12 Monitore, Sockel, 12 DVD Player, 280 x 180 x 55 cm Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland, Muttenz, 2003 © Pietro Sanguineti / Courtesy Galerie Nusser & Baumgart, München
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Abbildung 4: Jeffrey Shaw: The legible city, 1988–91
Interaktive Installation mit Grafik-Projektor und modifiziertem Fahrrad © Jeffrey Shaw und ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe
Abbildung 5: Sigmar Polke: Höhere Wesen, 1968
Acryl und Lack auf Leinwand, 150 x 125 cm © The Estate of Sigmar Polke, Cologne / VG Bild-Kunst, Bonn 2013 Courtesy Sammlung Froehlich, Stuttgart
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Abbildung 6: The Atlas Group: Notebook Volume 38; Already Been in a Lake of Fire, plates 57 and 58, 1999–2002
Digitaldrucke aus 9teiliger Serie (Archival inkjet print auf Papier), je 30 x 42 cm © Walid Raad / Courtesy der Künstler und Galerie Sfeir-Semler, Hamburg /Beirut
Abbildung 7: Fernando Bryce: Revolución, 2004
Detail (Installationsansicht), Serie mit 219 Zeichnungen, Tusche auf Papier 153 Zeichnungen 29,7 x 21 cm, 63 Zeichnungen 42 x 29,7 cm, 3 Zeichnungen 59,5 x 42 cm © Fernando Bryce / Courtesy Württembergischer Kunstverein Stuttgart
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Abbildung 8: Ken Lum: Melly Shum Hates Her Job, 1990
Offsetdruck auf Papier auf Billboard, Public art-Projekt in Rotterdam © Ken Lum / Courtesy L.A. Galerie Lothar Albrecht, Frankfurt/Main
Abbildung 9: Barbara Kruger: (Untitled) We don’t need another hero, 1987
Fotografischer Siebdruck auf Vinyl, 228,6 x 297,2 cm © Barbara Kruger / Courtesy Mary Boone Gallery, New York
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Abbildung 10: Jenny Holzer: Lustmord, Süddeutschen Zeitung, No 46, 1993
Aufklappbare Karte auf der Titelseite des Magazins Offsetdruck 21,5 x 27 cm (Maße des Magazins) © Jenny Holzer / VG Bild-Kunst, Bonn 2013
Abbildung 11: Jens Haaning: Arabic Jokes, 1996
Offsetdruck, Projekt im öffentlichen Raum, Kopenhagen © Jens Haaning / VG Bild-Kunst, Bonn 2013 / Courtesy Jens Haaning
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Abbildung 12: Šejla Kameriü: Bosnian Girl, 2003
Offsetdruck, Projekt im öffentlichen Raum u.a. Berlin und Sarajevo © Šejla Kameriü / Courtesy Galerie Tanja Wagner, Berlin
Abbildung 13: Elke Silvia Krystufek: Men don´t run u say, 2006
Acryl auf Leinwand, 70 x 70 cm © Elke Silvia Krystufek / Courtesy die Künstlerin und Galerie Nicola von Senger, Zürich
366 | W ORTREICHE BILDER
Abbildung 14: Tracey Emin: Everyone I slept with 1963–95, 1995
Zelt mit Applikationen, Matratze, Lampe, 122 x 245 x 215 cm 2004 zerstört durch den Momart-Brand. Courtesy Saatchi Gallery, London © Tracey Emin / VG Bild-Kunst, Bonn 2013
Abbildung 15: Sophie Calle: Autobiographies (true stories), 1988-2003
Ausstellungsansicht Arndt & Partner, Berlin, 2004, Foto: Bernd Borchardt © Sophie Calle / VG Bild-Kunst, Bonn 2013 / Courtesy Galerie Arndt, Berlin
A BBILDUNGSVERZEICHNIS | 367
Abbildung 16: Michel Majerus: Untitled aus der Serie HIGHARTEATSPOP, 1998
Acryl auf Baumwolle, 480 x 700 cm, 15-teilig, je 160 x 140 cm © Michel Majerus Estate, 1998 / Courtesy neugerriemschneider, Berlin
Abbildung 17: Sylvie Fleury: Egoïste, 2000
White Neon, Neonschrift, 19,7 x 50 cm © Sylvie Fleury / Courtesy die Künstlerin
368 | W ORTREICHE BILDER
Abbildung 18: Daniele Buetti: Truth can only be recalled – never invented, 2001
Perforierter C-print, Leuchtkasten, Maße variabel © Daniele Buetti / VG Bild-Kunst, Bonn 2013 Courtesy Bernhard Knaus Fine Art, Frankfurt/Main
Abbildung 19: Roy Lichtenstein: Drowning Girl, 1963
Ölfarbe und Polymerfarbe auf Leinwand, 171,6 x 169,5 cm © VG Bild-Kunst, Bonn 2013/ Courtesy MoMA New York
A BBILDUNGSVERZEICHNIS | 369
Abbildung 20: Jean-Michel Basquiat: Riddle me this Batman, 1987
Acryl, Ölkreide, Blei- und Buntstift auf Leinwand, 297 x 290 cm © VG Bild-Kunst, Bonn 2013 / Courtesy Giraud Pissarro Ségalot
Abbildung 21: Raymond Pettibon: No title (Detail), 2008
Ausstellungsansicht (Foto: Jan Bauer, Berlin) © Raymond Pettibon/Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin
370 | W ORTREICHE BILDER
Abbildung 22: Dan Perjovschi: solid ground, 2006
Wandzeichnung Württembergischer Kunstverein Stuttgart © Dan Perjovschi / Courtesy WKV Stuttgart
Abbildung 23: Wim Delvoye: Susan, out for a Pizza…, 1996
Laser ink print auf Leinwand, 500 x 740 cm © VG Bild-Kunst, Bonn 2013 / Courtesy Wim Delvoye
A BBILDUNGSVERZEICHNIS | 371
Abbildung 23: Richard Prince: Untitled 1994
Acryl und Siebdruck auf Leinwand, 274,3 x 190,5 cm Courtesy der Künstler und Guggenheim Museum New York
Abbildung 24: Hanne Darboven: Ein Jahrhundert in einem Jahr, 1971
Installationsansicht Konrad Fischer Galerie, Andreasstrasse 25, Düsseldorf, 1. Januar - 31. Dezember 1971 (Foto: Dorothee Fischer) © VG Bild-Kunst, Bonn 2013 Courtesy Konrad Fischer Galerie, Düsseldorf/Berlin
372 | W ORTREICHE BILDER
Abbildung 25: On Kawara: Date Paintings, 26. Jan.1989 und 27.Jan.1989
Liquitex auf Leinwand, Kiste, Zeitung, (Kat. 122 und 123), je 22,5 x 33 cm © On Kawara / Courtesy Sammlung Froehlich, Stuttgart
Abbildung 26: Lalla Essaydi: Converging Territories # 10, 2003
Chromogenic Print, 73,7 x 89 cm © Lalla Essaydi / Courtesy Edwynn Houk Gallery, New York
A BBILDUNGSVERZEICHNIS | 373
Abbildung 27: Shirin Neshat: Allegiance with Wakefulness, 1993
Black & white RC print & ink (Foto: Cynthia Preston), 117 x 86,5 cm © Copyright Shirin Neshat / Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels
Abbildung 28: Christopher Wool: IF YOU, 1992
Emaille auf Aluminiumplatte, 274,3 x 182,9 cm © Christopher Wool / Courtesy der Künstler und Luhring Augustine Gallery, New York
374 | W ORTREICHE BILDER
Abbildung 29: Sophie Calle: Telefonzelle in Manhattan (The Gotham Handbook), 1998
Fotografie unter Plexiglas, 180 x120 cm © Sophie Calle / VG Bild-Kunst, Bonn 2013
Image Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen (Hg.) Interieur und Bildtapete Narrative des Wohnens um 1800 März 2014, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2418-2
Fabian Goppelsröder, Toni Hildebrandt, Ulrich Richtmeyer (Hg.) Bild und Geste Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst Dezember 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2474-8
Lilian Haberer, Annette Urban (Hg.) Bildprojektionen Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur Dezember 2013, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1711-5
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Image Guido Isekenmeier (Hg.) Interpiktorialität Theorie und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge September 2013, ca. 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2189-1
Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur September 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0
Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus (Hg.) Wohnen zeigen Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur Februar 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2455-7
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Image Anne Becker 9/11 als Bildereignis Zur visuellen Bewältigung des Anschlags
Katja Hoffmann Ausstellungen als Wissensordnungen Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11
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Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen
Birgit Hopfener Installationskunst in China Transkulturelle Reflexionsräume einer Genealogie des Performativen
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Burcu Dogramaci (Hg.) Migration und künstlerische Produktion Aktuelle Perspektiven August 2013, 388 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2365-9
Patricia Stella Edema Bilder des Wandels in Schwarz und Weiß Afro-amerikanische Identität im Medium der frühen Fotografie (1880-1930) April 2013, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2203-4
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Lill-Ann Körber Badende Männer Der nackte männliche Körper in der skandinavischen Malerei und Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts April 2013, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2093-1
Rahel Puffert Die Kunst und ihre Folgen Zur Genealogie der Kunstvermittlung März 2013, 292 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2337-6
Silke Feldhoff Partizipative Kunst Genese, Typologie und Kritik einer Kunstform zwischen Spiel und Politik
Thomas Strässle, Christoph Kleinschmidt, Johanne Mohs (Hg.) Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten Theorien – Praktiken – Perspektiven
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)
Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012
2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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